Seele, Denken, Bewusstsein: Zur Geschichte der Philosophie des Geistes [Reprint 2011 ed.] 9783110895896, 9783110174052

The most important thinkers in the history of the philosophy of mind are presented from the point of view of analytical

232 88 12MB

German Pages 410 [412] Year 2003

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Table of contents :
Vorwort
Platon: Der Vorrang des Geistigen
Aristoteles’ Philosophie des Geistes: Weder Materialismus noch Dualismus
Plotins Philosophie des Geistes. Ideenwissen, Selbstbewusstsein, Subjektivität
Augustins Begriff des menschlichen Geistes
Thomas von Aquin zum Verhältnis von Leib, Seele und Intellekt
Die erste moderne Konzeption mentaler Repräsentation
Die Obskurität des Geistes. Zum Problem der Selbsterkenntnis bei Malebranche
David Hume. Die Transparenz des Geistes sowie das Ich als Bündel und Einheit von Perzeptionen
Ein ,vielfarbiges verschiedenes Selbst‘? Bewusstsein und Selbstbewusstsein bei Kant
Die Aktualität Husserls für die moderne Philosophie des Geistes
Glossar
Sachindex
Liste der Autoren
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Seele, Denken, Bewusstsein: Zur Geschichte der Philosophie des Geistes [Reprint 2011 ed.]
 9783110895896, 9783110174052

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de Gruyter Studienbuch

Seele, Denken, Bewusstsein Zur Geschichte der Philosophie des Geistes herausgegeben von

Uwe Meixner und Albert Newen

W DE _G Walter de Gruyter · Berlin · New York 2003

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-Ansi-Norm über Haltbarkeit erfüllt ISBN 3-11-017405-7 Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar

© Copyright 2003 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Datenkonvertierung: Readymade Berlin. Wolfram Burckhardt Druck und Buchbinderische Verarbeitung: WB-Druck, Rieden/Allgäu Einbandgestaltung: Hansbernd Lindemann, Berlin

Inhaltsverzeichnis Vorwort Franz von Kutschera Piaton: Der Vorrang des Geistigen

VII

1

Michael-Thomas Liske Aristoteles' Philosophie des Geistes: Weder Materialismus noch Dualismus

20

Christoph Horn Plotins Philosophie des Geistes. Ideenwissen, Selbstbewusstsein, Subjektivität

57

Johannes Brachtendorf Augustins Begriff des menschlichen Geistes

90

Christof Rapp Thomas von Aquin zum Verhältnis von Leib, Seele und Intellekt

124

Andreas Kemmerling Die erste moderne Konzeption mentaler Repräsentation . . . 153 Dominik Perler Die Obskurität des Geistes. Zum Problem der Selbsterkenntnis bei Malebranche

197

Albert Newen David Hume. Die Transparenz des Geistes sowie das Ich als Bündel und Einheit von Perzeptionen

232

VI

Inhaltsverzeichnis

Christiane Schildknecht Ein »vielfarbiges verschiedenes Selbst'? Bewusstsein und Selbstbewusstsein bei Kant

285

Uwe Meixner Die Aktualität Husserls für die moderne Philosophie des Geistes

308

Frederik Herzberg, Uwe Meixner und Albert Newen Glossar

389

Sachindex

397

Liste der Autoren

403

Wir müssen uns außerhalb von uns betrachten, um uns zu sehen. (Malebranche, Recherche de la verite)

Vorwort In der gegenwärtigen Philosophie des Geistes sind die historischen Wurzeln und Vorläufer moderner Positionen meist nicht bekannt. Diese Lücke soll der vorliegende Band schließen helfen. Wir möchten zudem die weit verbreitete Meinung, dass die Philosophie des Geistes eine Disziplin des 20. Jahrhunderts ist, die bestenfalls bei Descartes noch einige wichtige Grundlagen hat, revidieren. Dazu wird die Philosophie des Geistes von zehn Klassikern der Philosophiegeschichte (von Piaton bis Husserl) ausführlich vorgestellt. Indem die Theorie des Mentalen für jeden Klassiker klar herausgearbeitet wird, kann gezeigt werden, dass viele Überlegungen in der modernen Debatte wichtige Vorläufer in der Tradition haben. Die Frage, in welcher Relation Körper und Geist bzw. physische und mentale Phänomene des Menschen zueinander stehen, gehört seit Piaton zu den Grundfragen der Philosophie. Aristoteles hat mit seiner Theorie des Hylemorphismus, der Annahme eines unverzichtbaren Zusammenspiels von Materie und Form, eine in die Moderne weisende Antwort entwickelt. Zwar wird der Formbegriff in der modernen Debatte kaum mehr verwendet, aber an seine Stelle sind Begriffe wie Disposition oder Funktion getreten. Es wird gegenwärtig beispielsweise behauptet, dass die mentalen Zustände eines Menschen letztlich dispositionale Zustände (G. Ryle) oder funktionale Zustände (Funktionalismus) des Körpers bzw. des Gehirns sind. Auch die Frage, was menschliches Selbstbewusstsein und Subjektivität ausmacht, ist schon in der Spätantike bei Plotin und Augustinus ausführlich diskutiert und von Kant schließlich in eine systematische Erkenntnistheorie eingebettet worden. Bei Descartes finden wir die erste moderne Konzeption der mentalen Repräsentation. Bemerkenswerterweise gehört die Tragfähigkeit einer repräsentationalen Theorie des Geistes zu den Kernpunkten

VIII

Vorwort

der modernen Diskussion. Das traditionelle Bild, dass ein Mensch alle seine mentalen Phänomene kennt, die so genannte These von der Transparenz des Geistes, ist nicht erst durch die Freudsche Entdeckung des Unbewussten kritisch hinterfragt worden, sondern bereits bei Malebranche finden sich mehr als nur kritische Ansätze dazu. Darüber hinaus vertrat Malebranche die fortschrittliche These, dass wir die Natur des menschlichen Geistes nicht dadurch hinreichend verstehen können, dass wir einzelne mentale Zustände bewusst erfassen. Er war damit seiner Zeit weit voraus. Er wandte sich gegen eine Position, die als armchair psychology noch zu Beginn des 2 0 . Jahrhunderts ihren Höhepunkt erlebte, bevor sie dann durch den Behaviorismus völlig zurückgedrängt wurde. Mit der Ablösung des Behaviorismus durch die kognitive Psychologie wurde zwar die Existenz einer geistigen Innenwelt des Menschen wieder anerkannt, nicht aber in der Weise, die die armchair psychology annahm. Die ontologische Frage, welchen Status das Ich bzw. das Selbst hat, ist von Descartes mit der These beantwortet worden, dass es zwei radikal verschiedene Substanzen gibt, nämlich die denkende Substanz (res cogitans bzw. das Ich) und die ausgedehnte bzw. körperliche Substanz (res extensa). Hume hat demgegenüber die These entwickelt, dass das Ich nichts anderes ist als ein Bündel von Sinneseindrücken (Perzeptionen). Humes These ist der Vorläufer des modernen Versuchs, eine Theorie des Selbstbewusstseins zu entwickeln, die ohne die Annahme eines ontologisch eigenständigen Ichs auskommt. Schließlich finden sich bei Husserl grundlegende Kritikpunkte an einer physikalistischen Theorie des Geistes, die die gegenwärtige Hauptströmung in der Philosophie des Geistes darstellt, die aber nach wie vor mit zentralen offenen Fragen und Herausforderungen zu kämpfen hat. Die Frage, ob eine Form des Physikalismus oder des Dualismus den angemessenen theoretischen Rahmen für eine Theorie des menschliches Geistes darstellt, ist eine der zentralen philosophischen Streitfragen der Gegenwart. Der Band ist so konzipiert, dass er als Grundlage für eine Veranstaltung im Hauptstudium gut geeignet ist. Die Beiträge sollen erstens die Philosophie des Geistes eines Klassikers für Studierende des Hauptstudiums verständlich vorstellen, zweitens Interpretationen

Vorwort

IX

wichtiger Stellen diskutieren und schließlich drittens auch eigene Interpretationen und systematische Kritikpunkte integrieren. Jeder Autor hat jedoch die inhaltlichen Schwerpunkte selbst wählen dürfen, so dass die Beiträge auch in der Länge stark variieren. Um die Orientierung in Bezug auf Fachbegriffe aus der Philosophie des Geistes zu erleichtern, haben wir ein Glossar mit zentralen Begriffen angelegt und einige allgemeine Literaturhinweise (Lexika und Einführungen) im Anhang ergänzt. Wir waren aufgrund der Vorgaben für ein Studienbuch gezwungen, eine Auswahl von zehn Klassikern zu treffen. Es wäre zweifelsohne wünschenswert in einem solchen Band auch Beiträge zum späten Mittelalter, zu Leibniz und zum deutschen Idealismus zu haben. Doch - wie so oft im Leben - ist die Auswahl nicht nur von einem theoretischen Ideal, sondern auch von subjektiven Vorlieben und praktischen Möglichkeiten mitbestimmt worden. Wir hoffen jedoch, dass wir den Studierenden des Fachs Philosophie und den interdisziplinär arbeitenden Bewusstseinsforschern einen Band bieten, der einen fundierten Überblick über die Geschichte der Philosophie des Geistes von Piaton bis Husserl ermöglicht und zugleich die Wurzeln der modernen Diskussionen aufzeigt. Uwe Meixner

*

Albert Newen*

Die Fertigstellung des Bandes fiel in meine Zeit als Fellow am HanseWissenschaftskolleg in Delmenhorst. Daher gilt mein Dank dem Rektor, Prof. Dr. Dr. Gerhard Roth, und dem wissenschaftlichen Beirat, deren Unterstützung meine Arbeit an der Edition ermöglicht hat.

Piaton: Der Vorrang des Geistigen FRANZ VON KUTSCHERA

Wenn von der Philosophie des Geistes die Rede ist, denkt man nicht unbedingt an Piaton, denn zu manchen zentralen Fragen der heutigen Philosophie des Geistes, wie etwa Bewußtsein und LeibSeele-Problem, hat er nichts oder fast nichts gesagt. Eines ihrer zentralen Probleme, das Verhältnis von Geistigem und Physischem, ist jedoch für ihn in den späten Dialogen zunehmend zu dem Grundproblem der Philosophie schlechthin geworden. Daneben finden sich in seinen Schriften auch interessante Analysen geistiger Phänomene wie etwa Wahrnehmen, Erinnern und Wollen, ich will mich aber hier ganz auf seine Aussagen zum Verhältnis von Geistigem und Physischem beschränken. Aus Raumgründen kann ich mich nicht auf detaillierte Textinterpretationen einlassen, sondern muß dafür generell auf Kutschera, 2002, verweisen.

1

Die Wandlungen des psycho-physischen Dualismus bei Piaton

Schon in seinen frühen Dialogen hat Piaton einen leib-seelischen Dualismus vertreten. Er ist zuerst im Gorgias faßbar, den ich mit Charles Kahn zu den ersten Frühdialogen rechne und kurz vor oder nach der ersten Sizilischen Reise Piatons ansetze,1 und in der benachbarten Apologie. Dabei handelt es sich noch nicht um eine metaphysische, sondern zunächst eher um eine existentielle

1

Vgl. Kahn, 1 9 9 6 , Kap. 5.

2

Franz von Kutschera

Position: Ausgangspunkt ist die Erfahrung eines Antagonismus zwischen Leiblichkeit und Geistigkeit des Menschen. Der Leib wird, wie in orphischen Lehren, als Gefängnis der Seele gesehen, als etwas, das mit seinen Bedürfnissen, Trieben und Schwächen die geistige Entfaltung behindert. Daher begrüßt der Philosoph den Tod als Trennung der Seele vom Leib.2 Die Seele ist der Kern der Person, das, was wir meinen, wenn wir „ich" sagen. Eine explizite Formulierung dieser These von der Seele als Kern der Person findet sich zwar erst spät, in den Gesetzen, wo der Athener sagt: „Schon in diesem Leben ist das, was das Selbst eines jeden von uns ausmacht, nichts anderes als die Seele (τό παρεχόμενον ήμών εκαστον τοϋτ' είναι μηδέν άλλ' ή την ψυχήν). Der Leib aber begleitet jeden von uns lediglich als äußere Erscheinung, und man sagt zurecht, daß die Leiber der Toten bloße Abbilder der Verstorbenen seien." (959a6-b3) 3 Die These leitet jedoch schon die Überlegungen im Gorgias und den folgenden Frühdialogen, in denen die traditionellen Tugenden in Tugenden der Seele umgedeutet werden, in Tüchtigkeiten der Vernunft, denn Piaton begreift die Seele bis zum Staat im wesentlichen als Vernunft. Ein Argument für die These steht im Alkibiades I (128d-133c), den ich nicht für echt halte, der aber doch Überlegungen aus dem Umkreis Piatons wiedergeben wird, mit denen man versuchte, eine für ihn, vielleicht auch schon für den historischen Sokrates, leitende Konzeption nachträglich zu begründen. 4 Im Phaidon begegnen wir dann dem Dualismus als einer metaphysischen Position.5 „Es gibt zwei Arten des Seienden", heißt es nun, „das Sichtbare und das Ewige (δύο είδη των όντων, τό μεν όρατόν, τό δέ άιδές)." (79a6-7) Das Sichtbare ist die körperliche 2 3

4 5

Vgl. Phaidon, 62b, 65b ff. Vgl. a. Gesetze, 726a, 828d. Implizit kommt die These von der Seele als Kern der Person schon früher zum Ausdruck, etwa in der Apologie, 29d-e, wo die Sorge für die Seele ohne weiteres mit der Sorge für das wahre eigenen Wohl gleichgesetzt wird, und im Staat, 469d. Vgl. dazu Kutschera, 2002, Bd. III, Kap. 10. Ein Argument dafür findet sich mit der Lehre von der Anamnesis, der Wiedererinnerung, bereits im Menon, der jedoch aus Gründen, die hier nicht erörtert werden können, schwer einzuordnen ist. Vgl. dazu a. a. O., Bd. I, Kap. 15.

Piaton: Der Vorrang des Geistigen

3

Welt, das, was entsteht und vergeht und stetem Wandel unterworfen ist, während das Ewige die Welt der Ideen ist, dessen, was allein durch Denken erfaßbar ist und was nur die vom Körper befreite Seele unmittelbar anzuschauen vermag. In diesem Dualismus findet die Seele keinen rechten Platz, denn sie gehört weder der körperlichen Welt an, noch der ewigen. Sie ist zwar dem Ewigen insofern verwandt, als sie Ewiges zu erkennen vermag,6 sie selbst ist aber nicht ewig, denn sie ist Lebens- und Erkenntniskraft, und Leben und Erkennen impliziert Veränderung. Daher ist der Dualismus des Phaidon wie des Staates eigentlich kein psychophysischer, sondern ein ideo-physischer Dualismus. Ein genuines Heimatrecht im Ewigen erhält Seelisches bei Piaton erst im Sophisten. Thema dieses Dialoges ist das Nichtsein. Bevor er dieses Problem ernsthaft angeht, hat er aber einen Exkurs über die Gigantomachie zwischen Materialisten und „Ideenfreunden" eingeschoben (246a-249d), wobei die Ideenfreunde Leute sind, welche die Realität von Unkörperlichem, von Ideen, anerkennen. Weil für sie das Ewige das eigentlich Seiende ist, können sie Sein nicht als Fähigkeit zu wirken oder zu leiden begreifen (247d-e). Erkenntnis ist aber Veränderung, bei der das Erkenntnissubjekt etwas tut und das Erkenntnisobjekt etwas leidet (248d-e), und daher gäbe es keine Erkenntnis von Ewigem, wenn in ihm keinerlei Veränderung möglich wäre.7 Und nun bricht es geradezu aus dem Eleaten, der als Gesprächsführer agiert, heraus: „Aber wie, beim Zeus! Sollen wir uns einfach überreden lassen, daß Bewegung und Leben und Seele und Vernunft dem wahrhaft Seienden gar nicht zukommt? Daß es weder lebe noch denke, sondern hehr und heilig, aber vernunftlos, unbeweglich dastehe?" (248e6-249a2) Das ist ein Protest gegen Piatons eigene, frühere Position, seinen ideophysischen Dualismus. Weder die Weltseele noch die Seelen der

6 7

Vgl. z.B. Phaidon, 78b-80e. Damit nimmt Piaton ein Problem auf, das im Parmenides (133a-134e) der greise Parmenides dem jungen Sokrates stellt: Wie sollen ewige Ideen für uns erkennbar sein und wie sollen sie, die Sokrates als Ursache der Beschaffenheit ihrer Instanzen versteht, auf Materielles einwirken können, wenn doch Erkenntnis und Wirken grundsätzlich mit Veränderungen verbunden sind?

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Franz von Kutschera

Menschen sind freilich ewig. Nach dem Timaios sind sie vielmehr geschaffen und auch nicht ihrer eigenen Natur nach, sondern nur nach göttlichem Ratschluß unvergänglich. Ewig sind nur göttliches Leben und göttliche Vernunft. In den Spätdialogen wandeln sich auch die Konzeptionen von Physischem und Geistigem: Rein materiell ist nun allein die Materie selbst, die „Amme des Werdens", das Unbegrenzte, rein geistig sind nur Gott und mathematische Ideen. Alles andere zählt zur Kategorie des aus Grenze (als Inbegriff der Ideen) und Unbegrenztem „Gemischten". 8 Dabei wird die Körperwelt nun erheblich aufgewertet, da sie wegen ihrer Ähnlichkeit mit der Ideenwelt jedenfalls partiell erkennbar ist, angefangen von den Atomen, welche die Gestalt von regulären Polyedern haben sollen, bis hin zu den Bahnen der Gestirne, die als Superpositionen von Kreisbahnen begriffen werden. Im Phaidon erschien das Physische noch als Bereich heraklitischen Fließens: Alle Dinge wandeln sich ständig, sie haben keine festen Eigenschaften und Strukturen und sind daher auch nicht erkennbar.9 Andererseits wird der Ideenkosmos in Piatons Spätphilosophie entvölkert, da die meisten empirischen Eigenschaften im Theaitetos zu sekundären Qualitäten erklärt werden, die nicht der Wirklichkeit an sich zugehören, sondern nur der Welt unserer menschlichen Wahrnehmung. So können sie nicht mehr die Dignität ewiger Ideen beanspruchen. Darauf will ich hier aber nicht eingehen. Die Dialoge bilden im übrigen auch nur eine unsichere Basis für die Ansichten Piatons zu dieser späten Prinzipienlehre, so daß alle Rekonstruktionen einen stark hypothetischen Charakter haben.

2

Die Seele als Ursprung von Bewegung

Der Dualismus der späten Dialoge verbindet sich nun mit der These vom Vorrang des Seelischen vor dem Körperlichen. Im Philebos (23b-27c) spricht Piaton von vier Kategorien des Seienden. Drei

8 9

Vgl. Philebos, 23b-27c. Vgl. z.B. Phaidon, 65a-66a.

Piaton: Der Vorrang des Geistigen

5

davon wurden gerade schon erwähnt: Grenze, Unbegrenztes und das aus beiden Gemischte. Die vierte Kategorie soll die Ursachen dieser Mischungen umfassen und damit die Ursachen der gesamten körperlichen Welt. Erste Ursachen sind für Piaton nun Handlungen beseelter Wesen. Grundlage für diese zentrale Bedeutung, die Seelisches in der späten Metaphysik Piatons damit erhält, ist die Wesensbestimmung der Seele, die uns zuerst im Phaidros begegnet. „Beseelt", heißt es dort, „ist, was sich selbst bewegt." (245e5-6) Selbstbewegung ist Wesen und Begriff der Seele (245e3-4). Bewegung, nicht unter äußerer Einwirkung, unter Druck oder Stoß, sondern aus innerem Antrieb, galt allgemein als Kennzeichen des Lebens, insbesondere animalischen Lebens. Das Wort κίνησις, das man in Ermangelung eines hinreichend allgemeinen deutschen Äquivalents meist mit „Bewegung" übersetzt, kann auch Veränderung, ja Entstehen und Vergehen bedeuten. Seelen sind also allgemein Ursprung von Geschehen. Durch ihre Aktivitäten rufen sie Wirkungen hervor, im eigenen Körper wie in der Umwelt. Sie können, wie Kant sagt, „von sich aus Kausalketten anfangen". Vor dem Staat hat Piaton die menschliche Seele praktisch mit Vernunft gleichgesetzt, mit dem Erkenntnisvermögen, insbesondere mit der Fähigkeit, die ewigen und körperlosen Ideen zu erkennen. Im Staat traten neben die Vernunft zwei weitere seelische Vermögen, niedere und höhere Antriebe und Gefühlsregungen. Im Phaidros stellt Piaton nun eine neue, geistesgeschichtlich außerordentlich wichtige Bestimmung der Seele in der Mittelpunkt: Sie - wir würden sagen: die Person - ist ein freier Agent, dessen Handlungen nicht von außen bewirkt werden, sondern ihren Ursprung im handelnden Subjekt selbst haben. Mit der Charakterisierung seelischer Subjekte als freier Agenten, die fähig sind, von sich aus Kausalketten anzufangen, können wir uns leicht befreunden, wenn wir nicht gerade materialistische Scheuklappen tragen. Weit problematischer ist die Behauptung, jeder Träger eines Prozesses, der eine Erstursache darstellt, sei beseelt. Wir nehmen ja auch zufällige Ereignisse an, die ebenfalls keine Ursachen haben und die, wie etwa der Zerfall eines Radiumatoms, nichts mit seelischen Vorgängen zu tun haben. Piaton selbst spricht im Timaios von Zufälligkeiten in der physischen Welt,

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Franz von Kutschera

die er auf den Einfluss der materiellen Grundlage dieser Welt zurückführt. Er müßte daher entweder sagen, Zufallsereignisse seien keine vollwertigen Ursachen, sondern beeinflußten nur das Wirken genuiner Ursachen, was wenig plausibel wäre, oder er müßte den Begriff der Selbstbewegung enger fassen und nur absichtliche Aktionen darunter verstehen, dann wären Zufälle zwar keine Selbstbewegungen, es wären aber offensichtlich auch nicht alle Erstursachen Selbstbewegungen. Man muß also wohl davon ausgehen, daß Piaton - aus welchen Gründen auch immer - in jenen Kontexten, in denen er Erstursachen mit freien Akten seelischer Agenten identifiziert, Zufallsereignisse aus seinen Betrachtungen ausschließt. Die Bestimmung der Seele als etwas, das sich selbst bewegt, verwendet Piaton im Phaidros im Kontext eines Unsterblichkeitsbeweises für die Seele. Argumente für die Unsterblichkeit der Seele hat er zuerst im Phaidon formuliert und einen weiteren im Staat (608c-611a). Auf sie kann ich hier nicht eingehen.10 Ihre Unhaltbarkeit hat Piaton vermutlich bald erkannt. Daher unternimmt er im Phaidros einen erneuten Beweisversuch. Schon Alkmaion aus Kroton hatte, wie Aristoteles in De antma (405a30) berichtet, in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts gesagt, die Seele sei unsterblich, weil sie sich immer bewege, ebenso wie alles Göttliche, die Gestirne und der ganz Himmel. Piaton will nun die Behauptung, die Seele bewege sich immer, lebe also auch immer, begründen.11 Im Phaidon war ein Gedanke, eine Seele sei als Lebenskraft wesentlich lebendig, es gebe also keine toten Seelen. Aus „Eine Seele lebt notwendigerweise, solange sie existiert" folgt aber nicht „Sie lebt immer." Im Phaidros unterscheidet er nun (von außen) bewirkte Bewegung, die immer von endlicher Dauer sein soll (245c5-7), von einer Aktivität, die ihren Ursprung in sich hat, also nicht Wirkung von etwas ist. Sie allein hört nie auf, „weil sie sich selbst nicht im Stiche läßt" (245c7-8). Gemeint ist vielleicht: Was Handlungsfreiheit hat, hört nicht auf zu existieren, denn es hat ja in jedem Moment die Fähigkeit, Handlungen anzufangen, die 10 11

Vgl. dazu Kutschera, 2 0 0 2 , 1.3, 1.6 und 3.5. Vgl. dazu E. Heitsch, 1 9 9 7 , S. 107ff.

Piaton: Der Vorrang des Geistigen

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sich dann in die Zukunft erstrecken, und diese Fähigkeit hätte es nicht, wenn seine Existenz mit diesem Moment enden würde. Aus diesem Gedanken ergibt sich zwar nicht, daß eine Seele ewig lebt, sondern nur, daß es keinen letzten Zeitpunkt ihrer Existenz gibt - und das kann auch dann der Fall sein, wenn sie bereits nach einer Sekunde nicht mehr existiert - , aber dieser Fehlschluß liegt doch nahe. Die Fähigkeit, von sich aus Kausalketten anzufangen, schließt jedenfalls nicht ohne weiteres die Möglichkeit ein, das eigene Fortleben zu garantieren. Piaton ergänzt diese Überlegung durch den Hinweis: Als Ursprung (αρχή), als Erstursache, kann etwas nicht aus anderem entstehen, ist also ungeworden. Was aber ungeworden ist, ist auch unvergänglich. Denn alles, was entsteht, hat einen Ursprung, würde es also keinen Ursprung mehr geben, so könnte nichts mehr entstehen, und alles Geschehen käme zum Stillstand (245dl-e2). Auch diese Argumentation ist nicht haltbar. Um ihre Mängel zu verstehen, müssen wir uns zunächst daran erinnern, daß man in der Antike die Kausalbeziehung nicht, wie wir heute, als Beziehung zwischen zwei Ereignissen ansah, sondern zwischen einem Gegenstand oder einer Person und einem Ereignis - oft sogar zwischen zwei Gegenständen. So wird nicht, wie wir das tun würden, eine Aktivität des Baumeisters als Ursache für das Entstehen eines Hauses bezeichnet, sondern der Architekt als Ursache (oder besser: Urheber) des Hauses. Wenn nun die Seele Urheber von Aktivitäten ist, heißt das nur, daß diese Aktivitäten keine äußeren Ursachen haben und die Seele (die Person) sie vielmehr von sich aus in Gang setzt. Daraus folgt natürlich nicht, daß es keine äußere Ursache für die Existenz der Seele gibt. Eine Erstursache - hier eine Handlung - hat selbst keine Ursache, der Urheber der Handlung kann seine Existenz aber sehr wohl einem anderen verdanken. Als ens a se bezeichnet man ein Seiendes, das seine Existenz nicht anderem verdankt. Man kann das nicht so ausdrücken, daß es selbst Urheber seiner Existenz ist, denn nichts kann sich selbst bewirken, da die Ursache immer vor der Wirkung dasein muß, und nichts kann Urheber seiner eigenen Existenz sein, da es sonst schon dasein müßte, bevor es existiert - nur Existierendes kann ja wirken. Ein ens a se in diesem Sinn

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Franz von Kutschera

kann also nur etwas sein, dessen Existenz nicht bewirkt ist, das also nicht entstanden ist, sondern ungeworden. Ein Agent, dessen freie Aktivitäten Erstursachen sind, ist aber nicht notwendig ein ens a se, wie umgekehrt ein ens a se auch nicht notwendigerweise ein Agent ist, ein Urheber von Erstursachen. Aus einer Ungewordenheit der Seele würde ferner nicht ihre Unvergänglichkeit folgen. Piatons Beweisgedanken für die Unvergänglichkeit der Seelen als Urheber beruht erstens auf dem Fehlschluß „Wenn alle Seelen einmal vergehen, dann wird es einmal der Fall sein, daß alle Seelen vergangen sind" und zweitens auf der Annahme, Wirkungen hielten nur solange an wie ihre Ursachen. Nur mit diesen beiden Voraussetzungen kann man so argumentieren: Wenn alle Seelen sterblich sind, wird einmal ein Zeitpunkt kommen, in dem es keine Erstursachen mehr gibt; damit wird dann auch alle Wirkung aufhören und alles Geschehen zum Stillstand kommen. Piaton hat den Unsterblichkeitsbeweis des Pbaidros zwar später offenbar als unzulänglich erkannt, denn im Timaios ist von einer Unsterblichkeit der Seele - der menschlichen Seele wie der Weltseele - aufgrund ihrer eigenen Natur nicht mehr die Rede; dort wird vielmehr erklärt, die Seele sei zusammengesetzt, also prinzipiell auch wieder auflösbar, Gott habe sie aber so gut zusammengefügt, daß er sie nicht wieder auflösen wolle.12 An der Unsterblichkeit der Seele hält Piaton also fest, sie besteht nun aber nicht aufgrund ihres Wesens, sondern nach dem Willen Gottes. In unserem Zusammenhang ist nun auch weniger der Glaube Piatons an die Unsterblichkeit der Seele von Interesse als seine Behauptung, Ursprung allen Geschehens sei immer eine Seele. Denn damit wird der ontische Vorrang des Seelischen vor dem Physischen begründet und zugleich die teleologische Ordnung der Welt. Davon soll später die Rede sein. Hier ist zunächst noch auf die Definition der Seele in den Gesetzen hinzuweisen. Dort steht die Bestimmung der Seele als das, was sich selbst bewegt (896a) - oder wie es auch genauer heißt: was sich selbst und anderes bewegt - , im Kontext der ersten Version des kosmologischen Arguments für die Existenz Gottes. Der Athener, der 12

Vgl. Timaios, 41a-d.

Piaton: Der Vorrang des Geistigen

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das Gespräch der drei alten Männer in den Gesetzen leitet, unterscheidet zunächst zwei Arten von Bewegung (894b-c)13: Bewegung, die anderes bewegt, nicht aber sich selbst, und Bewegung, sie sowohl anderes wie sich selbst bewegt. Selbstbewegung ist wieder zu verstehen als Bewegung (im weiten Sinn dieses Wortes) eines Subjekts oder Objekts, die ihren Ursprung in ihm selbst hat, also als Geschehen, das eine Erstursache darstellt. In diesem Sinn ist Selbstbewegung Ursprung (άρχή) aller Bewegung, alles Geschehens überhaupt. Denn stellt ein Ereignis Ε keine Selbstbewegung dar, so hat es eine von Ε selbst verschiedene Ursache E'. Ist die keine Selbstbewegung, also keine Erstursache, so wird Ε mittelbar durch die Ursache E " von E ' bewirkt, usw. Da es für Piaton keinen unendlichen Regress von Ursachen geben kann, hat also jedes Ereignis eine Erstursache, die insofern seine eigentliche Ursache darstellt, als sie für sich schon für das Eintreten des Ereignisses hinreichend ist. Wo nun Selbstbewegung ist, sagt der Athener, nehmen wir Leben an und damit ein beseeltes Subjekt, denn Seele, ψυχή, ist Lebenshauch und Lebenskraft. Umgekehrt gilt: Wo Seele ist, ist Leben und das äußert sich in Selbstbewegung (895c). Also ist Seele das, was sich selbst bewegt (896a). Auch hier ist das Problem die Existenz von Zufallsereignissen, die ebenso Erstursachen sind wie freie Handlungen.

3

Antimaterialistische Argumente

Seit der Formulierung seines metaphysischen Dualismus im Phaidon hat Piaton gegen den Materialismus argumentiert. Da Geistiges für ihn von offensichtlich völlig anderer Art war als Physisches, ging es ihm dabei nicht, wie uns heute, um den Nachweis der Irreduzibilität von Geistigem auf Physisches, sondern einfach um 13

Zuvor (893b-894a) werden unter dem Titel κίυησις acht Typen von „Bewegungen" unterschieden: Rotation und Translation, Separation und Fusion, Wachsen und Schwinden (Vermehrung und Verminderung), sowie Zugrundegehen und Entstehen. Das zeigt noch einmal, wie weit der Bedeutungshorizont dieses Wortes ist.

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Franz von Kutschera

den Nachweis der Existenz von Geistigem. Mit dem Wort „geistig" will ich hier sowohl subjektiv Geistiges, also Seelisches bezeichnen wie Denken, Fühlen und Wollen, als auch die Welt der Ideen, der Zahlen, Attribute und Propositionen. Für ein konzeptualistisches Verständnis dieser abstrakten Objekte, nach dem sie Konstrukte unseres Denkens sind, liegt ihre Bezeichnung als „geistig" freilich weit näher als für Piatons realistisches Verständnis, nach dem sie unabhängig vom menschlichen Denken von Ewigkeit zu Ewigkeit existieren. Im Rahmen dieses Realismus kann man sie nur insofern „geistig" nennen, als sie Erkenntnisgegenstände unseres Geistes sind. Gorgias bewies im Stile der Eleaten: Es gibt nichts, und gäbe es etwas, so wäre es doch nicht erkennbar, und wenn erkennbar, so doch nicht mitteilbar. Nach diesem Vorbild will ich im ersten antimaterialistischen Argument drei Teilargumente zusammenfassen: Eine Realität ohne Geistiges kann es nicht geben; gäbe es sie, so ließe sie sich doch nicht erkennen; ließe sie sich erkennen, so könnte man doch keine sinnvollen Aussagen über sie machen. Das erste Teilargument findet sich im Theaitetos (152d-e, 153d-160c) und besagt im wesentlichen: Gibt es keine Attribute, so haben die Dinge auch keine bestimmten Beschaffenheit; von einer wohlbestimmten Realität kann dann also nicht die Rede sein. Attribute sind aber nichts Physisches. Physisches entsteht und vergeht und wandelt sich, solange es existiert. Attribute entstehen aber weder noch vergehen sie oder wandeln sich. Ein Materialist, heißt es auch im Sophisten (246e-247d), muß jedenfalls die Existenz von Ideen anerkennen; er kann lediglich die Eigenständigkeit von Seelischem leugnen. Das zweite Teilargument besagt, daß es ohne Attribute keine Erkenntnis gäbe, denn Erkenntnis prägt sich in Urteilen aus, und Urteile stellen Verbindungen von Ideen dar.14 Schon im Phaidon (72e-78b) läßt Piaton Sokrates darlegen, daß Relationen wie Gleichheit und Verschiedenheit keine Begriffe sind, die wir uns aufgrund unserer Erfahrung bilden, sondern vielmehr apriorische

14

Vgl. dazu Sophist, 259e.

Piaton: Der Vorrang des Geistigen

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Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung, wie man mit Kant sagen könnte. Da wir exakte Gleichheit nie beobachten können und die Feststellung von mehr oder weniger genauer Gleichheit die Kenntnis des Ideals exakter Gleichheit voraussetzt, muß unsere Kenntnis der Idee der Gleichkeit anderswo her stammen. Dieser Gedanke führt Piaton zur Annahme einer Anamnesis, einer Wiedererinnerung der Seele an die Ideen, die sie einst in körperlosem Zustand geschaut hat,15 und an die sie sich angesichts ihrer empirischen Instanzen erinnert.16 Im Phaidon wird das Argument nicht zum Nachweis der Existenz der Ideen oder der Seele verwendet, die dort vorausgesetzt wird, sondern zum Beweis der Präexistenz der Seele. Im Theaitetos (151d ff.) argumentiert Sokrates für den sekundären Charakter aller Qualitäten, die einzelnen Sinnen zugeordnet sind. Als primäre Qualitäten, die sich den Dingen selbst zusprechen lassen, bleiben allein jene Attribute, die sich auf Dinge aller Sinnesgebiete anwenden lassen, also logisch-mathematische sowie geometrische und chronometrische Begriffe. Sie sind nicht aus der Erfahrung abstrahiert, der Urteilende muß sie schon mitbringen. Das dritte Teilargument findet sich im Kratylos. Dort unterscheidet Piaton zwischen der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke und ihrem Bezug, und sieht Ideen als Bedeutungen genereller Terme an.17 Jede Sprache setzt damit Ideen und in diesem Sinn Geistiges voraus.18 Will das erste antimaterialistische Argument die Unverzichtbarkeit der Annahme von Geistigem im Sinne von Ideen zeigen, so geht es im zweiten und dritten um die Existenz von subjektiv Geistigem, von Seelischem. Beide Argumente sind geistesgeschichtlich außerordentlich interessant, denn das zweite Argument hat einen astronomischen Hintergrund, während das dritte die erste Version des kosmologischen Gottesbeweises ist. Beide stehen in den 15 16

17 18

Vgl. dazu den Mythos im Phaidros, 2 4 6 a ff. Im Menort wird die apriorische Evidenz mathematischer Sachverhalte mit der Anamnesis begründet. Das hat E. Heitsch, 1984, nachgewiesen. Vgl. dazu auch den Anhang zur heraklitischen Lehre vom Fließen aller Dinge im Kratylos, 439b-440e.

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Franz von Kutschera

Gesetzen, in der Vorrede zu den Religionsgesetzen (885b-907d), in der Piaton zeigen will, daß es Götter gibt, daß sie sich um die Menschen kümmern und daß sie sich nicht durch Opfer und Gebete bestechen lassen. In beiden Argumenten geht es allein um den ersten Punkt, die Existenz von Göttern. Der Athener sagt, die Ansicht der Atheisten, es gebe keine Götter, habe ihren Ursprung in der materialistischen Weltsicht. Nach ihr ist alles aus dem Wirken der Natur, durch Zufall oder durch Technik, d.h. durch menschliche Tätigkeit entstanden, die sich aber auch im Rahmen des natürlich Entstandenen bewegt. Heute würde ein Materialist sagen: Alles entsteht durch Zufall und naturgesetzliche Notwendigkeit, auch menschliche Tätigkeiten sind physische Prozesse und daher letztlich mit Zufall und Notwendigkeit zu erklären. Die Götter sind für den Materialisten Produkte menschlicher Konvention (889e) - Fiktionen politischer List, wie Kritias meinte.19 Auch das sittlich Gute und Gerechtigkeit sind Sache der Konvention, und letztlich bestimmt Gewalt, was als gerecht gilt.20 Dieser Materialismus, sagt der Athener, entspringt der Ansicht, die physische Natur sei das Erste, aus dem alles weitere, insbesondere beseeltes Leben, entstanden ist; Seelisches ließe sich aus Physischem erklären. Er will demgegenüber zeigen, daß Seelisches nicht später, sondern früher ist als Körperliches. Am Ende der Gesetze (966d-967e) kommt Piaton noch einmal auf die Theologie zurück. Der Athener sagt, der Glaube an Götter beruhe auf zwei Überzeugungen: Erstens, daß die Seele „das älteste und göttlichste von allen Dingen ist", zweitens daß die Bewegungen der Gestirne intelligiblen Gesetzen folgen. Die Menge meint, wer sich mit Astronomie befasse, würde zum Atheisten, weil er entdecke, daß das Geschehen am Himmel blinder Notwendigkeit folgt, nicht aber einer Vernunft, die auf Verwirklichung von Gutem zielt.21 Heute sei es jedoch genau umgekehrt wie damals, als die Naturphilosophen sich die Gestirne als unbeseelt vorstellten. Schon 19 20 21

Vgl. Diels-Krantz, B25. Vgl. Gorgias, 4 8 2 c ff., und Staat, 3 3 8 a ff. und 358b ff. Notwendigkeit ist blind, weil sie bloß kausal wirkt und nicht final, zielgerichtet. Daher tritt Notwendigkeit, ανάγκη, auch häufig in Verbindung mit Zufall, τύχη, auf.

Piaton: Der Vorrang des Geistigen

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damals freilich hätten jene, die sich um ein genaueres Verständnis bemühten, vermutet, was heute als bewiesen gelten könne, daß nämlich die Gestirne, wenn sie unbeseelt wären und daher keine Vernunft hätten, niemals so genau derart wunderbaren Gesetzen folgen könnten (966e-967d). Den Hintergrund dieser Aussagen bildet die Analyse der Bahnen von Sonne, Mond und den damals bekannten, mit bloßem Auge sichtbaren fünf Planeten durch Eudoxos von Knidos. Nach Simplicius (In De caelo, 488, 21-24), der Sosigenes, einen Peripatetiker des 2. Jahrhunderts v. Chr. zitiert, hat Piaton den Astronomen die Aufgabe gestellt, die Bahnen dieser Gestirne durch „uniforme und geordnete Bewegungen" darzustellen, d.h. als Superpositionen von Rotationen um den Erdmittelpunkt. Diese Aufgabe hat Eudoxos, einer der bedeutendsten Mathematiker der Antike, welcher der Akademie Piatons nahestand, zuerst gelöst, wenn auch nur in Annäherung. Für die Planeten benötigte er je vier Sphären mit unterschiedlichen Drehachsen, für Sonne und Mond je drei. Rotation galt als die perfekteste, den „Bewegungen" der Vernunft ähnlichste Bewegung. Das Modell von Eudoxos, auf das sich Piaton schon im Timaios bezog, zeigte für ihn am denkbar eindrucksvollsten Beispiel, dem des gestirnten Himmels über uns, daß die Welt vernünftigen, intelligiblen Gesetzen folgt. Sein Argument für die Göttlichkeit der Gestirne ist, daß sie mit ihren komplexen Rotationen perfekte, vernunftähnliche Bewegungen ausführen, daß sich ihre Bewegungen gewissermaßen rational als vernünftig erklären lassen, und daß nur intelligente Wesen im Stande sind, derart komplizierte Bewegungen auszuführen. Schon in der Apologie erscheint die Astronomie als Bruchstelle zwischen Religion und Naturwissenschaft. Sokrates war wegen Asebie angeklagt, weil er - nach Piaton angeblich, vielleicht aber doch tatsächlich - die Göttlichkeit der Gestirne leugnete und sie, wie Anaxagoras, als bloße Steine bezeichnete. Auch im 16. und 17. Jahrhundert n. Chr. brach der Streit zwischen Religion und Naturwissenschaft wiederum in der Astronomie aus, im Kampf um das kopernikanische Modell der Planetenbewegung. In diesen Horizont muß man den Versuch Piatons einordnen, Religion und Wissenschaft zu verbinden und gerade die Astronomie als

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Stütze des Glaubens an Götter zu verwenden. Überzeugen kann uns sein Argument freilich nicht: Erstens läßt sich, wie wir heute wissen, jede scheinbare Bewegung an der Himmelskugel durch Überlagerung von Bewegungen auf den Äquatorkreisen von Kugeln darstellen, die um den Erdmittelpunkt rotieren. Man würde annehmen, daß ein Mathematiker vom Rang eines Eudoxos das bereits erkannt hat, wenn nicht Piaton in den Gesetzen gerade davon ausginge, daß die Möglichkeit einer solche Analyse der Bahnen der Gestirne etwas ganz Ungewöhnliches sei, das die Göttlichkeit der Himmelskörper demonstriere. Wenn zweitens ein Stern exakt intelligiblen Bewegungsgesetzen folgt, so impliziert das nicht, daß er über Intelligenz verfügt. Wenn natürliche Kräfte das Verhalten von Körpern nach einem festen Gesetz bestimmen, so ist das kein absichtliches Befolgen dieses Gesetzes. Da die Bewegungen der Gestirne jedoch die ersten Bewegungen waren, die man gesetzmäßig beschreiben konnte, und da man noch nicht über das Konzept von Naturgesetzen verfügte, lag es sicher nahe anzunehmen, daß nur intelligentes Verhalten sich auch verstehen ließe, daß alle rein physischen Bewegungen mehr oder minder zufällig und daher nicht exakt beschreibbar seien. Das dritte Argument für die Existenz von Geistigem endlich ist der kosmologische Gottesbeweis in den Gesetzen (894e-896c). Zur Rekonstruktion gehen wir von der oben geschilderten platonischen Auffassung der Kausalrelation als einer Beziehung zwischen einem Subjekt oder Objekt Α und einem Ereignis Ε aus, die genau dann besteht, wenn Α durch eine Aktivität Ε bewirkt. Das Ereignis £ , die Wirkung, kann dabei insbesondere das Entstehen eines Subjekts oder Objekts Β sein. Das muß man insbesondere dann annehmen, wenn von Kausalketten die Rede ist, in denen ja die mittelbaren Ursachen, die selbst Wirkungen von anderem sind, nicht Ereignisse sein können, sondern nur Subjekte oder Objekte, deren Entstehen von anderem bewirkt ist. Sehen wir wieder von Zufallsereignissen ab, so ist eine Erstursache zunächst eine Aktivität des Urhebers A, die nicht Wirkung von anderem ist, also eine freie Handlung von A, die Ε bewirkt. Dabei kann jedoch die Existenz von Α durch etwas bewirkt worden sein. Dann könnte man sagen: Ε wird nicht allein durch Α bzw. die Handlung von Α bewirkt, sondern auch

Piaton: Der Vorrang des Geistigen

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durch das, was (die Entstehung von ) Α bewirkt hat. Daher unterscheiden wir Ersturheber und Erstursachen im bisher verwendeten weiten Sinn des Wortes als Urheber, deren Aktivitäten keine äußere Ursache haben, bzw. als diese Aktivitäten selbst, und Ersturheber und Erstursachen im engeren Sinn als Urheber, die ihre Existenz nicht anderem verdanken, bzw. als freie Aktivitäten solcher Urheber. Wenn Piaton nun von dem Prinzip ausgeht (1)

Alles, was verursacht ist, hat eine Erstursache

so ist dabei von Erstursachen bzw. Ersturhebern i. e. S. auszugehen, denn nur dann ergibt sich die gewünschte Konklusion. Das Argument lässt sich dann so rekonstruieren: (2) (3) (4) (5) (6)

Es geschieht etwas. Alles, was geschieht, hat eine Ursache. Es gibt also Erstursachen i. e. S. Erstursachen i. e. S. sind Götter. Es gibt also Götter.

Die Prämisse (2) ist offensichtlich, (3) ist das allgemeine Kausalprinzip,22 (4) ergibt sich aus (3) mit (1). (5) ergibt sich so: Daß Ereignisse, die Erstursachen (i.w.S.) sind, für Piaton wegen der Absehung von Zufallsereignissen freie Handlungen beseelter Agenten sind, haben wir schon gesehen. Erstursachen i.e.S. können aber nur freie Handlungen beseelter Agenten sein, die ihre Existenz nicht anderem verdanken. Sie müssen also entia a se sein, und da sie sich nicht Urheber ihrer eigenen Existenz sein können, müssen sie ungeworden sein und damit göttlich. Die Gültigkeit des Arguments hängt also an der Prämisse (1). Daß alles, was eine Ursache hat, auch eine Erstursache hat - und sei es auch nur i. w. S. - , ist nun eine zwar naheliegende, aber doch problematische Annahme. Es ist ja nicht ausgeschlossen, daß es anfangslose Kausalketten gibt, Ketten von Ereignissen E.+1, E^ Ej l} ..., E 0 , bei denen E.Wirkung von E.+1 und Ursache von Ε ist. Das setzt nicht einmal eine unendliche Vergangenheit voraus. Nur

22

Vgl. dazu z.B. Philebos, 26e3-4.

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wenn man, wie das Piaton getan zu haben scheint,23 annimmt, daß eine Wirkung nur solange andauert wie ihre Ursache, und aktuale unendliche Mengen von Gegenständen und Ereignissen ablehnt, ist dieses Prinzip akzeptabel. Auch ohne diese Annahme hat die Prämisse (1) jedoch prima facie eine starke Plausibilität, und daher ist das kosmologische Argument über die Jahrhunderte hinweg so attraktiv geblieben. 4

Die teleologische Struktur der Welt

Der ontische Vorrang, oder wie man auch sagen kann: der kausale Vorrang, des Geistigen vor dem Körperlichen wird damit begründet, daß alle Erstursachen freie Handlungen beseelter Wesen sind. Alle Wirkung geht so von ihnen aus und es gibt keine physikalischen (Erst-) Ursachen. Im engeren Sinn kann ein Ersturheber des Geschehens nur ein ewiges Lebewesen sein, ein ewiger Gott, ein Schöpfer der Welt.24 Von ihm ist im Timaios die Rede.25 Mit dem Gedanken eines Schöpfers ergibt sich auch der Gedanke einer teleologischen Ordnung der Welt: Als Werk eines vernünftigen Schöpfers muß die Welt intelligibel sein, und wenn der Schöpfer gut ist, gestaltet er die Welt so, daß in ihr eine möglichst große Wertfülle verwirklicht wird. Die Gestalten und Strukturen der Welt lassen sich dann von ihrem eigenen Wert oder ihrer Funktion für die Verwirklichung von anderem Wertvollen begreifen, also teleologisch verstehen. 23

24

25

Vgl. dazu etwa Timaios, 79e ff. Auch Aristoteles geht in der Physik, VIII, 10, und in De caelo, III, 2, von diesem Prinzip aus. Im Timaios (39e ff.) gibt es auch erschaffene Götter, die Gestirnsgötter und die Götter der griechischen Mythen, wobei Piaton die letzteren offensichtlich nur aus Rücksicht auf die traditionelle Frömmigkeit erwähnt. In seiner Kosmologie bleiben sie funktionslos. In der Literatur ist heftig umstritten, ob der Demiurg nicht eine mythische Fiktion Piatons ist und die Erzählung von der Erschaffung der Welt nicht nur ein didaktisches Mittel zur Darstellung der Strukturen einer in Wahrheit als ewig angesehenen Welt. Das nehmen z.B. U. v. Wilamowitz, 1 9 2 0 , I, S. 6 0 5 , und H. Cherniss, 1945, an. Auf diese Diskussion kann ich hier nicht eingehen und muss wiederum auf Kutschera, 2 0 0 2 , hier Bd. III, Kap. 3 verweisen.

Piaton: Der Vorrang des Geistigen

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Die Güte des Schöpfers beweist Piaton in den Gesetzen (S96d898c) damit, daß die Welt vernünftig eingerichtet ist. Gut, sagt der Athener, ist eine Seele, die sich der Vernunft bedient, „die auch für Götter ein Gott ist." (897bl-2) Daß die Welt vernünftig eingerichtet ist, ergibt sich aber schon aus den Bewegungen der Gestirne, denn die setzen sich aus Rotationsbewegungen zusammen, aus Bewegungen also, die der Vernunft am besten entsprechen (898a-b): Beide, Kosmos wie Vernunft, bewegen sich an derselben Stelle und um dasselbe und auf dasselbe hin nach einer einzigen Regel. Was sich Piaton bei den Bewegungen der Vernunft gedacht hat, läßt sich schwer ausmachen, die Wiederholung der Worte iv und αυτόν weist aber darauf hin, daß damit auf das Eine und die Identität Bezug genommen wird. Im übrigen galt Rotation, wie gesagt, immer als eine besonders vollkommene Bewegungsform. Man sieht hier noch einmal, welche Bedeutung für Piaton die Erkenntnis hatte, daß sich die Himmelskörper auf Überlagerungen von vollkommenen Kreisbahnen bewegen - für ihn war das eine starke Stütze für den Glauben an einen guten Schöpfergott. Aus der Intelligibilität der Welt würden wir nun allenfalls auf einen intelligenten Schöpfer schließen, nicht schon auf einen guten. Der teleologische Gottesbeweis, den nach Xenophon schon Sokrates formuliert hat, 26 geht daher auch von der Wertfülle in der Welt aus. Für Piaton war jedoch Vernunft nicht bloß Zweck-Mittel-Rationalität, sondern die Fähigkeit, Wahres und Gutes zu erkennen, verbunden mit der Bereitschaft, sich daran zu orientieren. Im Timaios erschafft der Demiurg die Welt nach dem besten Vorbild, das es gibt, dem „Lebewesen selbst". Das ist zunächst die Idee des Lebens, dann aber auch selbst ein Lebewesen, das ewige Leben, der höchste und einzige ungeschaffene Gott, mit dem der Demiurg im Verlauf der Darlegungen zunehmend verschmilzt - Piaton scheute sich offensichtlich, seine Konzeption Gottes deutlich zu präsentieren, und so bleibt über allem, was er dazu sagt, ein Schleier der Unbestimmtheit. Gott erschafft also die Welt nach seinem eigenen Bilde, und so ist der Kosmos selbst für Piaton ein beseeltes Wesen (Timaios, 30b-c). Das göttliche Schaffen wird als 26

Vgl. Memorabilia,

1,4 und 4,3.

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Abbilden ewiger mathematischer Strukturen in die Materie geschildert, die als ungeworden und gestaltlos gedacht wird. Von diesem ihren materiellen Substrat her steht die Erschaffung der Welt unter den Bedingungen der „Notwendigkeit", und die bewirken, daß die Abbilder die Vollkommenheit ihrer ewigen Vorbildern nicht erreichen. Der Athener sagt: „Diese Welt entstand aus einer Verbindung von Notwendigkeit und Vernunft. Indem aber Vernunft über die Notwendigkeit dadurch die Oberhand gewann, daß sie diese überredete, das meiste in bestmöglicher Form entstehen zu lassen, bildete sich, indem Notwendigkeit durch besonnene Überredung besiegt wurde, am Anfang das All." (47e5-48a5) Daher gliedert sich der Timaios nach der Einleitung in drei Teile, in denen das aus Vernunft, das aus Notwendigkeit und das aus einem Zusammenwirken beider Entstandene untersucht werden. Wie später bei Leibniz ist die Welt für Piaton im Timaios die beste aller möglichen Welten, wobei die Grenzen des Möglichen sich aus der Natur der Materie ergeben. Daher läßt sich zwar nicht alles teleologisch erklären, wohl aber „das meiste", die Grundstrukturen der empirischen Welt, beginnend vom System der Planeten über die Gestalt der Atome bis hin zu physiologischen Details des menschlichen Körpers. Die Überzeugung vom kausalen Vorrang des Geistigen vor dem Physischen ist so die Grundlage, auf der das gegenüber dem Phaidon so positive, teleologische Bild der empirischen Welt im Timaios gezeichnet wird. Literatur Cherniss, H., 1945, The Riddle of the Early Academy, Berkeley, 2. Aufl. New York: Russell and Russell, 1962. Heitsch, E., 1984, Willkür und Problembewußtsein in Piatons Kratylos, Akad. der Wiss. und der Lit. Mainz, Abh. d. Geistes- und Sozialwiss. Klasse, Jahrgang 1984, Nr. 11, Stuttgart: Franz Steiner. - , 2 1997, Phaidros (Piatons Werke, hrsg. von Ε. Heitsch und C. W. Müller, Bd. ΠΙ.4), Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht. Kahn, C., 1996, Plato and the Socratic Dialogue, Cambridge: University Press.

Piaton: Der Vorrang des Geistigen

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Kutschera, F. v., 2002, Piatons Philosophie, 3 Bde., Paderborn: Mentis. Wilamowitz-Moellendorff, U. v., 1920, Piaton, 2 Bde., 5. Aufl. hrsg. von B. Snell, Berlin: Weidmann.

Aristoteles' Philosophie des Geistes: Weder Materialismus noch Dualismus* MICHAEL-THOMAS LISKE

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Grundmerkmale des Materialismus und Dualismus in der heutigen Philosophie des Geistes

Kann Aristoteles' Seelenlehre, außer dass sie historisch äußerst aufschlussreich ist, vielleicht auch für die gegenwärtige Philosophie des Geistes systematisch fruchtbar gemacht werden?1 Dies ist sicher nicht so zu verstehen, dass wir Einzelheiten beispielsweise aus Aristoteles' Wahrnehmungslehre unmittelbar und unverändert in eine heutige Theorie übernehmen können. In den Detailuntersuchungen sind die viel ausgefeilteren Forschungsmethoden der empirischen Kognitionswissenschaften weit über Aristoteles hinausgelangt. Nichtsdestoweniger besteht die Chance, dass wir von Aristoteles in einem viel grundsätzlicheren und bedeutenderen Sinne lernen können, indem er uns auf eine Denkmöglichkeit aufmerksam macht, das Verhältnis von Leib und Seele zu begreifen, die in der heutigen systematischen Diskussion faktisch nicht be* 1

Ich bin meinem Assistenten, Herrn Markus Geisler, für aufwendige Literaturrecherchen und Korrekturen zu Dank verpflichtet. Einen guten Überblick über die neuere Literatur zu Aristoteles' Philosophie des Geistes, auch im Hinblick auf die gegenwärtige systematische Diskussion, gibt Shields, 1 9 9 3 a . Vgl. auch die Sammelrezension Dilcher, 2 0 0 0 . Eine Orientierung über die Problematik und Forschungsdiskussion im Hinblick auf die Wahrnehmungslehre kann sich der systematisch interessierte Leser auch bei Modrak, 1 9 8 7 , ch. 1: 1-19, 1 8 3 - 1 8 7 , verschaffen und (zentriert vor allem auf die Funktionalismusdebatte) bei Leiber, 1 9 9 5 , 3 8 0 - 3 8 3 . Die Stationen der Beschäftigung angloamerikanischer Philosophen mit Aristoteles' Seelenlehre auf dem Hintergrund der zeitgenössischen Leib-Seele-Debatte zeichnet Berti, 1 9 9 8 , nach.

Aristoteles' Philosophie des Geistes

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achtet wird. Wenn wir diese stark vereinfachend, aber doch nicht falsch auf einen Punkt bringen wollen, so können wir sie von dem Gegensatz eines materialistischen Monismus und eines cartesisch inspirierten Dualismus bestimmt sehen. Unbestreitbar lassen sich (wie die einschlägige Literatur ausgiebig dokumentiert) innerhalb des materialistischen Monismus oder Physikalismus als der heute weitaus vorherrschenden Position zahlreiche feinsinnige und philosophisch durchaus bedeutsame Differenzierungen vollziehen. Denn wenn man die physikalistische Grundannahme vertritt, es gebe letztlich nur eine einzige physische Wirklichkeit, dann bleiben einem zahlreiche Optionen offen. So kann man annehmen, die Rede von mentalen Entitäten gehöre einer veralteten ζ. T. noch magischen Weltsicht an und werde daher mit dem wissenschaftlichen Fortschritt zwangsläufig über kurz oder lang zugunsten einer rein physikalischen Sprache eliminiert werden (eliminativer Materialismus); oder man nimmt an, die Rede von mentalen Entitäten sei durchaus berechtigt, aber nur insofern, als sich diese vollständig auf die wissenschaftlich allein ästimablen physikalischen Entitäten zurückführen lassen (reduktiver Materialismus). Oder man ist der Auffassung, dass ontologisch gesehen nur eine einzige physische Realität existieren kann; nichtsdestoweniger stelle das Mentale phänomenal oder in der Art, wie es unserer Erfahrung oder unserem Erkennen gegeben sei, ein irreduzierbares Mehr dar, so dass prinzipiell ausgeschlossen sei, dass es sich je auf physische Entitäten und die sie bestimmenden grundlegenden Naturgesetze zurückführen lasse (nicht-reduktiver Physikalismus). Bei all dieser Unterschiedlichkeit lassen sich aber alle physikalistischen Positionen durch eine gemeinsame Minimalannahme kennzeichnen: Es gibt hinreichende physische Bedingungen für das Mentale. 2 Das heißt anders ausgedrückt: Wenn ein bestimmter Im Rahmen seines Versuchs aufzuweisen, dass Aristoteles' Auffassung der Handlung einen ontologischen Materialismus impliziere, präzisiert Charles, 1 9 8 4 , 2 1 4 , dieses Kriterium des Materialismus. Es ist nicht gefordert, dass physische Entitäten für mentale Entitäten (Ereignisse, Zustände, Eigenschaften) kausal hinreichend sind. Die Wirkursächlichkeit (die sicher eine hinreichende Bedingung darstellt) ist nämlich eine Relation zwischen voneinander verschiedenen Entitäten. Daher müsste gegen den Grundsatz

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physikalisch beschreibbarer und erklärbarer Zustand vorherrscht, dann führt dieser unausweichlich zu einem ganz bestimmten mentalen Zustand. Ein Physikalismus kann dem Mentalen, wenn überhaupt, dann nur eine erkenntnismäßige (epistemische) Eigenständigkeit zubilligen: Wir erleben das Mentale in so anderer Weise, dass es prinzipiell nicht gelingen kann, mentale Beschreibungen aus physikalischen Tatsachen abzuleiten. Ontologisch hingegen darf ein Physikalist, wenn denn seine Position berechtigt als ein Physikalismus anzusehen ist, im Mentalen keine über die physische Basis hinausgehende Realität ansetzen. Ein mentaler Zustand ist vollständig von dem ihm zugrundeliegenden physischen Zustand bedingt. Wenn dieser physische Zustand als hinreichende Bedingung des Mentalen herrscht, dann stellt sich als seine unausweichliche Folge dieser und kein anderer psychologischer Zustand ein. Der Dualist demgegenüber nimmt eine solche Eigenständigkeit des Mentalen an, dass er es nicht einmal als von notwendigen physischen Bedingungen abhängig betrachtet. Auch innerhalb des Dualismus lassen sich verschiedene Ausprägungen differenzieren. Den cartesischen Substanzdualismus, nach dem das Mentale eine substantielle Wirklichkeit ist, die einer vom Körperlichen unabhängigen, selbständigen Existenz fähig ist, vertritt heute kaum noch jemand. Heute wird in der Regel ein Eigenschaftendualismus vertreten. Danach ist ein und dasselbe grundständig physische Subjekt Träger zweier grundlegend verschiedener Typen von Eigenschaften, die nicht nur für unser Erkennen, sondern auch seinsmäßig voneinander unabhängig sind, so dass weder bestimmte mentale Eigenschaften bestimmte physische (als ihre Basis) voraussetzen noch umgekehrt bestimmte physische Eigenschaften (als ihre zwingende Folge) genau angebbare mentale Eigenschaften bedingen oder einschließen. Wenn wir den Substanz- und Eigenschaftendualismus zusammen betrachten, dann können wir des Materialismus Mentales als selbständig anerkannt werden. Das Hinreichendsein bezieht sich damit nur auf die Geltung oder das Wahrsein einer Beschreibung. Stets gibt es einen rein physisch beschreibbaren Sachverhalt, dessen Bestehen hinreichend ist, eine psychologische Beschreibung der Welt wahr zu machen (ohne real zu verursachen, dass die beschriebenen mentalen Entitäten existieren).

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vielleicht folgendes präzisere Merkmal des Dualismus formulieren: Nach dualistischer Auffassung gibt es zwei Seinsbereiche, die zwar voneinander gänzlich getrennt und unabhängig, aber doch insoweit parallel sind, als sie beide Entitäten grundsätzlich derselben Seinskategorie enthalten. So gibt es für den Dualisten in der ursprünglich cartesischen Fassung sowohl im physischen wie im mentalen Bereich in Form von Körper und Seele zwei Typen von Entitäten, die zumindest in der allgemeinen formalen Einordnung übereinstimmen, d. h. darin, dass sie beide der Seinskategorie einer der selbständigen Existenz fähigen Substanz angehören, wenngleich sie der Eigenart des jeweiligen Bereiches entsprechend inhaltlich ganz anders beschaffen sind und einander nicht bedingen. Oder der physische wie der mentale Bereich enthalten beide Entitäten der gemeinsamen Kategorie Eigenschaft, wenngleich natürlich die Eigenschaften beider Bereiche qualitativ gesehen ganz andersartig sind. Diese genauere Kennzeichnung, dass für den Dualisten der physische wie der mentale Bereich gänzlich heterogene Entitäten derselben Kategorie enthalten, die voneinander auch ontologisch gesehen ganz unabhängig sind, impliziert natürlich das allgemeine Merkmal, dass es nach dem Dualisten nicht einmal notwendige physische Bedingungen für mentale Zustände gibt.

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Aristoteles' Hylemorphismus als Zwischenposition

Aus dieser Charakterisierung des materialistischen Monismus und des Dualismus ergibt sich unmittelbar, dass eine Zwischenposition möglich ist, die für das Mentale notwendige, aber nicht hinreichende physische Bedingungen fordert. Eben eine solche mittlere Denkmöglichkeit scheint der Hylemorphismus darzustellen, wie er von Aristoteles und der aristotelischen Tradition zumal in der Scholastik nicht nur allgemein vertreten worden ist, sondern auch und sogar vorzüglich darauf angewandt wurde, das Verhältnis von Leib und Seele beim Lebendigen zu beschreiben. Hylemorphismus meint, dass Form und Materie als zwei grundlegende Seinsprinzipien verstanden werden, die zumindest die konkreten Körperdinge konstituieren und u. U. sogar noch weitere Entitäten, wenn man

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unter Materie (gr. byle) nicht bloß den greifbaren körperlichen Stoff versteht, sondern allgemeiner jegliche Aufbauelemente der jeweiligen Sache, sofern diese aus sich heraus ein unstrukturiertes und unorganisiertes Agglomerat von Bestandteilen darstellen. Parallel dazu ist auch Form nicht im vordergründigen Sinne einer äußeren Gestalt (morphe), ja nicht einmal bloß struktureller Merkmale zu verstehen, wie es Aristoteles' veranschaulichendes Beispiel einer Statue nahe legen könnte, die sich aus einem bestimmten Werkstoff sowie der ihr vom Künstler verliehenen Gestalt aufbaut. In den eigentlichen Fällen, nämlich bei den Lebewesen, besteht die Form in dem für sie charakteristischen Werk {ergon) oder der für sie konstitutiven Verrichtung.3 Erst wenn wir Form so auffassen, wird voll verständlich, weshalb Aristoteles das Verhältnis von Materie und Form als eines von Vermögen und Verwirklichung, von dynamis und energeia interpretieren kann. Betrachten wir dies zunächst an einem Körperteil wie dem Auge, wo ,ergon' am zutreffendsten als ,Funktion' wiedergegeben werden kann. Das, was ein Auge wirklich zu dem macht, was es ist, d. h. seine Verwirklichung ist offenbar die Funktionsfähigkeit, dass es seine charakteristische, zum Leben des gesamten Lebewesens beitragende Verrichtung auszuüben vermag, eben dass es sehfähig ist. Damit es diese für es konstitutive Verrichtung auszuüben vermag, in der sein Augesein besteht, bedarf es freilich bestimmter körperlicher Voraussetzungen; es muss ein angemessen strukturiertes und organisiertes Körperorgan vorhanden sein. An diesem Beispiel sehen wir nicht nur, inwiefern die Form, verstanden als die für eine bestimmte Entität charakteristische Verrichtung, etwas wirklich zu diesem Gegenstand macht; wir sehen auch, dass die Wer wie Aristoteles die Form oder Seele als ein ontologisches Prinzip auffasst, das etwas als einen Gegenstand einer bestimmten Art begründet, versteht sie weder als ein Attribut (das ein schon bestehendes Subjekt verlangt) noch als ein Ding (einen Gegenstand). Von daher muss man wohl gegen die Hauptthese von Granger, 1996, skeptisch sein, Aristoteles begreife die Seele in einer Kreuzung unvereinbarer Kategorien als Eigenschaften-Ding. Auf der einen Seite führe der Hylemorphismus dazu, sie attributivistisch als Eigenschaft eines Körpers anzusehen. Sofern sie andererseits ein kausal Wirkendes sei, werde die Seele substantialistisch als Ding begriffen.

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Materie, die die ermöglichende Voraussetzung dazu darstellt, nicht die völlig unstrukturierte, unorganisierte Körpermasse ist. Es ist vielmehr der angemessen strukturierte Stoff. Materie ist für den Hylemorphismus nicht bloß das völlig Ungeformte, es meint auch das nieder Geformte, das eine höhere Formung ermöglicht. Der geeignet strukturierte Stoff stellt aber die ermöglichende Bedingung für jene Tätigkeitsweise dar, die als die höhere oder eigentliche Form etwas zu diesem Gegenstand macht. Wenn man in dieser Weise das Verhältnis begreift, im Sinne etwa von: ein angemessen aufgebauter und organisierter Leib macht als materielle Grundlage jene für das jeweilige Lebewesen charakteristischen Tätigkeiten oder seine spezifische Lebensweise möglich, deren Prinzip die Seele ist, dann ist hier offenbar eine Zwischenposition zwischen materialistischem Monismus und Dualismus realisiert.4 Die materialistische Kernannahme, eine angemessen strukturierte und organisierte Materie sei zumindest ontologisch gesehen hinreichend, die mentalen Tätigkeiten hervorzubringen (die Aristoteles im umfassenderen Rahmen der Lebensfunktionen im allgemeinen betrachtet), ist dadurch offenkundig ausgeschlossen, dass er die Materie als bloße Ermöglichung (dynamis) betrachtet, die Möglichkeit aber aus sich heraus nicht der Verwirklichung fähig ist, sondern nach Aristoteles von etwas Äußerem verwirklicht werden muss, das die zu verwirklichende Bestimmung bereits aktuell besitzt. Aristoteles macht es sich in dieser Frage indes nicht so einfach, sondern er differenziert bei seiner Rede von Vermögen und Verwirklichung zwischen verschiedenen Stufen. Unfähig, sich aus sich selbst heraus zu verwirklichen, ist sicher das bloße oder passive Vermögen der Materie, so oder anders geformt zu werden. Da dieses von sich aus jeder Formung gegenüber neutral sein muss, kann es nicht aus sich heraus zu einer bestimmten Form gelangen. Dies gilt nicht für dispositionelle Fähigkeiten zu bestimmten Tätigkeiten, wie sie die Seele darstellt. Aristoteles geht hier von der Beobachtung aus, dass der Zustand des Belebt- oder Beseeltseins, der offenbar auch im Schlaf kontinuierlich andauert, nicht darin Bereits Sorabji, 1974, sieht im Hylemorphismus eine eigenständige Zwischenposition jenseits von Materialismus und Dualismus, vermag dies aber nicht zureichend zu begründen.

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bestehen kann, die charakteristischen Lebenstätigkeiten alle stets aktuell auszuüben. Daher definiert Aristoteles in de anima (an.) II 1 die Seele nicht durch die Lebenstätigkeiten, sondern versteht sie als die Disposition, diese Tätigkeiten in einer entsprechenden Situation unmittelbar ausüben zu können. Eben dies bezeichnet er mit dem Terminus einer ersten Verwirklichung (εντελέχεια ή πρώτη). Darunter ist die erste oder untere (grundlegende) Stufe der Verwirklichung zu verstehen im Unterschied zur Betätigung als der endgültigen Verwirklichung. Verfolgen wir das Gesagte etwas näher an den drei Fassungen der Seelendefinition in an. II 1.5 Zuerst definiert Aristoteles die Seele als Wesen im Sinne der Form (ούσία s εΤδοξ) eines natürlichen Körpers, der dem Vermögen nach Leben besitzt (412a 19-21). Die Seele als Form ist deshalb das Wesen des jeweiligen Lebendigen, weil erst dank der durch die Seele begründeten spezifischen Tätigkeiten oder Verrichtungen, die das Leben eines Einzelnen der betreffenden Spezies ausmachen, etwas zu dem Lebewesen wird, das es ist. Der Leib stellt nur die ermöglichende Voraussetzung zu diesem Leben als ein Lebewesen der jeweiligen Spezies dar. Wenn Aristoteles vom natürlichen Leib spricht, dann denkt er keineswegs an die bloße, aus sich heraus völlig ungeformte Materie. Unter Natur versteht Aristoteles vielmehr ein der Sache an sich innewohnendes Prinzip der Bewegung (Physik (phys.) II 1,192b 21-23). Wenn die Materie trotz der ihr innewohnenden Bewegungstendenzen das Leben bloß möglich macht, es aber nicht wirklich hervorbringt, dann heißt das modern gesprochen: Die materiellen Prozesse sind gemäß den für sie bestimmenden fundamentalen Naturgesetzen nicht in der Lage, das Leben und die für die verschiedenen Formen des Lebens charakteristischen Tätigkeiten hervorzubringen. Daher bedarf es der Seele, die etwas wirklich zu diesem Lebewesen macht. Von hier aus wird verstehbar, inwiefern Aristoteles aus der ersten Fassung der Seelendefinition dadurch die zweite Fassung gewinnt, dass er statt von Form von Verwirklichung spricht: „Die Seele ist die erste Stufe der Verwirklichung eines natürlichen Körpers, der dem Vermögen

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Vgl. Bolton, 1978, und Charlton, 1980.

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nach Leben besitzt."6 (412a 27f.) Diese Definitionen bestätigen, was wir zuvor bereits herausgearbeitet haben: Die Seele oder die Wesensform, die die jeweilige Sache in dem, was sie wesentlich ist, begründet, besteht in der charakteristischen Tätigkeits- oder Lebensweise, genauer darin, zu dieser Tätigkeit disponiert zu sein. Eine Disposition ist sicherlich eine Form der Möglichkeit. Aber von ihr gilt nicht Aristoteles' These, ein Mögliches könne nicht von sich aus, sondern nur unter Einwirkung eines bereits Wirklichen zum Wirklich- oder Tätigsein (beides heißt energeia) überführt werden. Die Seele disponiert vielmehr dazu, die entsprechenden Tätigkeiten bei gegebenen Voraussetzungen unmittelbar oder von sich aus zu beginnen. Dies gilt jedenfalls für das Vermögen zum Denken. Deshalb wohl bezeichnet Aristoteles die Seele nicht als (dispositionales) Vermögen, sondern als Verwirklichung, wenngleich bloß als die anfängliche, grundlegende. Dies gilt namentlich gegenüber dem Leib. Dieser bildet (wie wir bereits betont haben) nicht als ungeformte, unstrukturierte Masse, sondern sofern er mit angemessenen Organen ausgestattet, also geeignet organisiert oder strukturiert ist, die materielle Ermöglichung von Leben, das die funktional verstandene höhere Form darstellt. Darum kann Aristoteles in der dritten Fassung der Definition der Seele als „erste Verwirklichung des natürlichen, organischen Körpers" (412b 5f.) die Eigenschaft des Körpers, Leben zu ermöglichen (= dem Vermögen nach Leben zu besitzen; vgl. erste und zweite Fassung), durch die Eigenschaft des Körpers ersetzen, eine geeignete Organisation aufzuweisen. Die hier implizierte Aussage dürfte recht deutlich sein: Auch wenn die Materie nicht als an sich selbst völlig unbestimmt und ungeformt aufgefasst wird, sondern als im Hinblick auf das Leben geeignet strukturiert, organisiert und mit einer inneren Bewegungstendenz ausgestattet, so bleibt sie doch bloße Voraussetzung des Lebens, die nicht von sich aus Leben schaffen kann, sondern dazu der Seele als des Lebensprinzips bedarf. Damit ist für Aristoteles auf der einen Seite die Materie keine hinreichende Bedingung, die Lebenstätigkeiten im allgemeinen und unter ihnen insbesondere die mentalen Tätigkeiten hervorzubringen (wie es der Materialismus annimmt). Auf der anderen Seite aber kann man Übersetzungen vom Verfasser.

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Aristoteles auch nicht die dualistische Annahme unterstellen, das Mentale sei in solchem Maße vom Materiellen unabhängig, dass es nicht einmal auf notwendige materielle Bedingungen verwiesen ist. Als Verwirklichung ist es offenbar bereits von seinem Begriff her von einer zu verwirklichenden materiellen Basis abhängig und zwar nicht irgendeiner beliebigen, sondern einer, die als stofflicher Träger der einschlägigen Tätigkeiten geeignet ist: dynamis lässt sich natürlicherweise als ermöglichende Voraussetzung oder negative Vorbedingung (conditio sine qua non) auffassen. 3

Das Mentale als Handlungsdisposition

Wenn man Aristoteles' Klassifizierung der Seele als eine erste Verwirklichung nicht unzutreffend so interpretieren darf, dass die Seele eine Disposition ist, dann drängen sich einem bemerkenswerte Parallelen zur Position von Gilbert Ryle, 1949, auf. Ryles erklärtes Ziel ist, nicht mehr im Sinne eines cartesischen Dualismus mentale Akte als eine eigenständige Wirklichkeit annehmen zu müssen. Zu einer besonders gravierenden Schwierigkeit führt dieser Leib-Seele-Dualismus bei der mentalen Verursachung, inwiefern ein mentaler Vorgang, der einem unabhängigen Bereich angehört, im physischen Bereich eine Wirkung hervorrufen kann, ohne die kausale Geschlossenheit der physischen Welt zu sprengen. Ryle glaubt, diese Schwierigkeiten dadurch vermeiden zu können, dass er die Erklärung eines physischen Vorgangs aus einem mentalen Ursprung heraus nicht als eine kausale, sondern als eine dispositionelle Erklärung auffasst. Eine Kausalerklärung bezieht Ryle mit der im angloamerikanischen Bereich nahezu ausschließlich herrschenden humeschen Tradition auf die Ereigniskausalität. Glaubt man, Mentales könne eine so verstandene Kausalerklärung darstellen, so führte dies nahezu unvermeidlich zu einem Dualismus (in dem von uns charakterisierten Sinne): Neben den allgemein anerkannten physischen Ereignissen gäbe es auch in dem eigenständigen mentalen Bereich Entitäten der Kategorie Ereignisse wie vernünftige Überlegungen oder Willensentschlüsse. Damit käme es zu notorischen Schwierigkeiten. Wie sollen diese ganz andersartigen Ereignisse, die grundsätzlich privat nur aus der

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Innenperspektive des jeweiligen Subjekts erfahrbar sind, äußerlich beobachtbare Ereignisse, nämlich die vom Körper ausgeführten Handlungen, verursachen können? Diese Schwierigkeiten sind offenbar nur zu vermeiden, wenn bloß ein einziger Ereignistypus, der physische, anerkannt wird. Dass Handlungen, die bei dieser Sichtweise eine besondere Form physischer Ereignisse darstellen, mental erklärbar sind, heißt dann nur, dass sie im Kontext durch besondere Merkmale charakterisiert sind. Eine Handlung sei willentlich, heißt nicht, sie sei von dem inneren Ereignis des Willensentschlusses verursacht, sondern nur, sie weise bestimmte Merkmale auf wie dasjenige, durch keinerlei äußere Verhältnisse erzwungen zu sein. Mentale Erklärungen erklären eine Handlung damit nicht kausal aus einem voraufliegenden Ereignis heraus, sondern dispositionell, nämlich aus der Disposition heraus, in bestimmter Weise zu handeln. Zu dieser Ryle'schen Auffassung findet sich bei Aristoteles nun eine recht enge Entsprechung, deutlicher noch als in der Seelenlehre von de anima7 in der Tugendlehre im zweiten Buch der Nikomachischen Ethik (NE). Terminologisch bestimmt Aristoteles die Tugend zwar in NE II 4 (bes. 1106a 10-12) als eine (Grund)haltung oder einen Habitus (bexis). Aber in II 8, 1108b 11 tritt auch der Terminus diathesis' auf, dessen Latinisierung ,dispositio' lautet. Offenkundig betrachtet Aristoteles ,hexis' und diathesis' als synonym. Wichtiger als diese terminologische Beobachtung ist, dass Aristoteles die Tugend oder besser Tüchtigkeit (arete) der Sache nach in einer Weise charakterisiert, dass man sie berechtigt als eine dispositionelle Eigenschaft im heutigen Sinne auffassen kann. 7

In an. I 4, 408b 13-15 erblickt man indes eine rylesche Passage. Hier fordert Aristoteles dazu auf, nicht in der Seele ein eigenes Subjekt mentaler Akte (ζ. B. des Bemitleidens, Lernens oder Denkens) zu sehen, sondern dem Menschen diese Akte kraft seiner Seele zuzuschreiben. Vgl. Shields, 1988b, 147-149; Granger, 1996, 76-81. An dieser Stelle wendet sich Aristoteles wohlbemerkt gegen eine platonische Konzeption, nach der nicht der leibliche Mensch, sondern eine eigenständige immaterielle Entität, die Seele, das eigentliche Subjekt jener Akte ist, die wir als mental oder psychologisch bezeichnen. Diesen hier verworfenen platonischen Seelenbegriff hat Descartes erneuert (vgl. Frede, 1992). Den cartesischen Begriff der Seele oder des Geistes attackiert wiederum Ryle, ζ. T. mit aristotelischen Gedanken.

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Als Grundmerkmal einer Disposition kann gelten, dass sie eine (relativ) dauerhafte Eigenschaft ist, die einem Gegenstand auch dann eignet, wenn sie sich nicht empirisch nachweisen lässt, die aber unter entsprechenden Bedingungen stets zu einem zu beobachtenden charakteristischen Verhalten führt. Die gängigen Beispiele einer Disposition wie Wasserlöslichkeit oder Zerbrechlichkeit sind sicherlich passive, materielle Dispositionen, dass mit einem bestimmten Stoff (ζ. B. Kochsalz oder Glas) unter gegebenen Bedingungen etwas geschieht. Aristoteles' aretai sind schon von ihrer Stellung her, dass sie mentale Eigenschaften sind, die ein bestimmtes Handeln erklärbar machen sollen, aktive Dispositionen, oder eben Handlungsdispositionen. Und noch ein weiterer wichtiger Unterschied besteht: Die materiellen Dispositionen kommen ihrem Subjekt von Natur aus und damit von Anfang an zu. Die mentalen Handlungsdispositionen demgegenüber sind nach NE II 1 durch Gewöhnung erworben. Sie entstehen durch wiederholtes Ausüben von Handlungen solcher Qualität, zu denen sie dann disponieren sollen (1103 b 21-25). Indem man beispielsweise Gerechtes oder Besonnenes tut, erwirbt man die entsprechende Disposition der Gerechtigkeit oder Besonnenheit (II 3, 1105a 1719). Diese Grundhaltungen führen ihrerseits dazu, dass der so disponierte Mensch, sowie er mit einer entsprechenden Situation konfrontiert ist, eine charakteristische Verhaltensweise offenbart, dass er als Gerechter in einer Situation, wo es Güter zu verteilen gilt, jedem den gebührenden Anteil zuweist und nicht für sich und seine Günstlinge einen Vorteil sucht, oder dass er als Besonnener in einer Situation, wo er sich Lockungen durch Lüste ausgesetzt sieht, ein gesundes Maß nicht überschreitet. Damit entsprechen die aretai dem Grundmerkmal einer Disposition. Einmal erworben bleiben sie auch dann erhalten, wenn sie sich nicht bemerkbar machen, führen aber in einer entsprechenden Situation stets zu einer typischen Handlungsweise. Aristoteles hat bereits recht klar die Gefahr der Zirkularität gesehen, die hier droht. Um die Disposition der Gerechtigkeit oder Besonnenheit zu erwerben, muss man Gerechtes oder Besonnenes tun. Aber um Gerechtes oder Besonnenes tun zu können, muss man offenbar bereits in dieser Weise disponiert sein, also gerecht oder besonnen sein (a 19-21).

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Ein Zirkel wäre hier in der Tat unvermeidlich, wenn Aristoteles im Sinne eines Behaviorismus das Mentale auf ein äußeres Verhalten zurückführte, die mentalen Grundhaltungen der aretai also lediglich als Verhaltensmuster interpretierte. Dann bliebe Aristoteles nämlich eine wichtige Differenzierung verschlossen, durch die er diese Frage zu lösen vermag. Bevor einer die entsprechende Disposition erworben hat, vermag er zwar solche Handlungen zu vollbringen, die äußerlich all die Merkmale einer Handlung aufweisen, wie ein Gerechter oder Besonnener sie in dieser Situation vollbrächte (b 5-10). Damit einer auf Grund einer solchen Handlungsweise freilich als gerecht oder besonnen gelten kann, muss er sie auch aus einer bestimmten inneren Verfassung heraus (πω$ εχων) getan haben, die die bereits erreichte Disposition voraussetzt, nämlich 1.) in vollem Bewusstsein um sein Tun, 2.) vorsätzlich, indem er diese Handlungsweise um ihrer selbst willen wählte, und 3.) aus einer festen und unerschütterlichen Grundhaltung heraus (a 30-33). Eines wird hier sehr deutlich: Auch wenn Aristoteles Mentales wie die sittlichen Vorzüge (aretai) als Dispositionen zu einem äußeren Verhalten interpretiert, so reduziert er es jedenfalls nicht auf ein körperliches Verhalten, geschweige denn dass er es zugunsten dieses Materiellen zu eliminieren versucht. Vielmehr sind für eine solche Handlungsdisposition auch die Bezüge zu anderen mentalen Einstellungen wie der Bewusstheit, Vorsätzlichkeit und dem unerschütterlichen Entschlossensein konstitutiv. Wenn man Aristoteles' Auffassung des Mentalen mit einer heutigen Position gleichsetzen möchte, dann kommt wohl am ehesten der Funktionalsimus in Frage (wie wir noch näher besprechen werden). Dieser versteht die mentalen Zustände als funktionale Zustände, die ihrerseits durch dreierlei Relationen charakterisiert sind: zu der Eingabe (input), zur Ausgabe (output) und zu anderen funktionalen Zuständen. Damit wird das Mentale nicht auf Physisches reduziert, darauf nämlich, dass das System, das sich in diesem mentalen oder funktionalen Zustand befindet, dazu disponiert ist, auf eine bestimmte äußere Situation durch ein bestimmtes äußeres Verhalten zu reagieren. Vielmehr sind auch die Beziehungen zu anderen funktionalen, also mentalen Zuständen konstitutiv.

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Bei all ihren Vorzügen ist die Auffassung vom Mentalen als einer Disposition aber wohl doch kein generelles Modell, das erlaubte, die Philosophie des Geistes insgesamt so darzustellen, dass wir dadurch allen Schwierigkeiten überhoben sind. Aristoteles im Unterschied zu Ryle hat dies wohl gespürt, indem er diese Konzeption nicht so sehr in seiner allgemeinen Seelenlehre, als vielmehr in der Ethik, also in Bezug auf bestimmte mentale Dispositionen entfaltete. Ryles Rede von einer dispositionellen im Unterschied zu einer kausalen Erklärung ist nämlich irreführend. Suggeriert sie doch, es gäbe zwei parallele Erklärungen eines Ereignisses entweder aus einem voraufliegenden Ereignis oder aus einer Disposition. Dass aber eine Disposition für sich genommen niemals eine vollständige Erklärung darzustellen vermag, kann man bereits an der logischen Struktur einer Dispositionsaussage ablesen. Das Zuschreiben einer Disposition ,a hat die Disposition D' ist äquivalent zu einem Bedingungsgefüge ,Wenn a in die Situation S kommt, dann zeigt a das Verhalten V'. Damit macht eine dispositionelle Eigenschaft für sich genommen niemals eine vollständige Erklärung eines Verhaltens aus, sondern es bedarf dazu stets noch einer auslösenden Situation, etwa eines Ereignisses, das den Anstoß gibt. Erst dann ist der Vordersatz des Bedingungsgefüges erfüllt, so dass sich das typische Verhalten als Nachsatz ableiten lässt. Damit sind wir aber bei Aristoteles' Vierursachenlehre (phys. II 3 , 1 9 4 b 1 6 - 1 9 5 b 3 0 ) . Deren philosophisch bedeutsamste Aussage liegt wohl darin, dass es für das Bestehen einer Sache oder das Zustandekommen eines Ereignisses stets einer Vielheit erklärender Faktoren bedarf. Was epistemisch gesehen ein Erklärungsfaktor ist, sieht Aristoteles stets auch ontologisch als ein ursächliches Moment an, m. E. mit vollem Recht. Denn es gibt wohl keinen vernünftigen philosophischen Grund, den Ursachenbegriff im Gefolge Humes auf Ereigniskausalität einzuschränken. Eine Disposition kann für Aristoteles damit stets nur als causa materialis fungieren. Denn darunter ist nicht bloß ein konkreter Stoff, sondern jede ermöglichende Voraussetzung oder Grundlage zu verstehen. Damit sie ursächlich wirken kann, bedarf es stets auch eines auslösenden Moments, von dem der Veränderungsprozess seinen Ausgangspunkt nimmt (δθεν ή άρχή της μεταβολής, 194b 29), der so genannten causa efficiens.

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Hieraus wird sogleich ersichtlich: Wenn wir der Selbsterfahrung oder dem alltäglichen Verständnis des Mentalen gerecht werden wollen, dann dürfen wir es nicht durchweg als Disposition verstehen. Glauben wir doch, dass wir durch unsere vernünftigen Überlegungen und willentlichen Entschlüsse aktiv unser Handeln zu gestalten vermögen. Durch eine Disposition wie die Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit sind wir dagegen determiniert, uns in bestimmter Weise zu verhalten. Denn eine Disposition wird ja (wie unsere logische Analyse ergeben hat) durch eine äußere Situation aktiviert und bedeutet: Sowie diese Situation gegeben ist, folgt zwangsläufig ein bestimmtes Verhalten. Gewiss, Aristoteles zeigt (an der schon zitierten Stelle), dass wir durch entsprechendes Handeln unsere mentalen Dispositionen auf lange Sicht hin in die gewünschte Richtung verändern können. Dazu müssen wir aber unseren Handlungen eine entsprechende Ausrichtung geben. Diese Steuerung der Handlung geschieht (nach unserem gewöhnlichen Selbstverständnis) mental. Wenn dies bloß wiederum hieße, dass unser Handeln von (anderen) Dispositionen bestimmt ist, dann könnten wir uns wohl nicht berechtigt aktiv als verantwortliche Urheber unserer Handlungen verstehen. Hierzu sind wohl auch mentale Akte anzunehmen. 4

Aristoteles' umfassendes Verständnis der Seele als Lebensprinzip

So eindeutig, wie sich uns die Sachlage nach dem ersten Durchgang darzustellen scheint, ist sie indes doch nicht. Bevor wir uns den Einwänden gegen diese Sichtweise und möglichen Alternativen zu ihr zuwenden, sollten wir kurz einen Punkt klären, auf den wir bereits wiederholt gestoßen sind. In der Tradition von Descartes pflegen wir heute dem Körperlich-Materiellen das Mentale gegenüberzustellen, das im wesentlichen vernünftigen Geschöpfen wie dem Menschen vorbehalten ist. Neben den kognitiven Akten und Zuständen (wie Wissen, Glauben, Bewusst-Wahrnehmen) umfasst es die volitiven (Ein-bewusst-erfasstes-Ziel-Erstreben, Wollen, Wünschen etc.) sowie die bewusst erlebten Empfindungen, Gefühle, Emotionen etc. Aristoteles demgegenüber geht statt vom

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Mentalen ganz allgemein vom Seelischen aus. Von diesem hat er einen ausgesprochen weiten Begriff: „Seele ist das, kraft dessen als Ursprung wir leben, wahrnehmen, denken." (an. II 2, 414a 12f.) Freilich kann man Leben im weiten Sinne verstehen und darunter auch das von Wahrnehmung und sinnlichem Streben bestimmte Leben der Tiere und die vernunftgeprägte Lebensweise der Menschen begreifen. Hier versteht Aristoteles unter Leben aber im Gegensatz zu den höheren Funktionen (Wahrnehmen, Denken) die elementaren vegetativen Funktionen, die allen Lebenden, auch den Pflanzen zukommen, nämlich sich durch sich selbst zu ernähren und dank dieser innengesteuerten Nahrungsaufnahme aus der Umwelt zu wachsen (412a 14f.). Dieses Verständnis von Seele als ein inneres Prinzip, kraft dessen ein Lebendes sich selber zu organisieren und in Stoffwechselprozessen auf Kosten seiner Umwelt zu erhalten vermag, erscheint nicht bloß uns, sondern wohl bereits Aristoteles' Zeitgenossen recht weit. In I 2, 403b 252 7 referiert er die communis opinio (das was allgemein so über die Seele erscheint (δοκεΐ). Danach zeichnet sich das Beseelte vom Unbeseelten vor allem durch zwei Vermögen aus, dem der Bewegung und dem der Wahrnehmung. Hier wird das Beseelte folglich mit den Tieren gleichgesetzt, die wahrzunehmen vermögen, sich das Wahrgenommene, auch wenn es nicht mehr gegenwärtig ist, vorstellen können, daher etwas erstreben und es in ihren Bewegungen zu erreichen suchen. Aristoteles erweitert demgegenüber den Begriff der Seele nach oben wie nach unten, indem er sie zum einen als allgemeines Lebensprinzip auffasst, zum anderen auch die spezifisch menschlichen mentalen Dispositionen einschließt. Es führte uns hier zu weit, wenn wir eingehend prüfen wollten, ob eine solche umfassende Sicht der Seele der heutigen Beschränkung auf das Mentale überlegen oder unterlegen ist.8 Uns geht es hier 8

Wilkes, 1 9 9 2 , betrachtet den aristotelischen Begriff der Seele (psyche) für angemessener als den Begriff des Geistes (mens, mind) aus der cartesischen Tradition, gerade auch, wenn es um eine funktionalistische Deutung geht. - Anstey, 2 0 0 0 , 239f., kritisiert Wilkes und andere Autoren, die glauben, Aristoteles gegen Descartes ausspielen und als Vorläufer heutiger physikalistischer Positionen zumal des Funktionalismus ins Feld führen zu können. Aristoteles sei einem wohlverstandenen Descartes viel näher als zeitgenössischen materialistischen Positionen.

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vor allem darum herauszufinden, ob Aristoteles eine Sichtweise der Seele zu entwickeln vermochte, die weder materialistisch noch dualistisch ist. Falls sich eine solche Sicht nicht bloß als prinzipiell denkmöglich erweisen sollte, sondern auch als plausibel und erklärungskräftig, dann ist die Frage der Abgrenzung nicht so wichtig. Auch wenn die grundlegenden vegetativen Lebensfunktionen (wie man heute allgemein annimmt) sich aus der Materie, und den sie als solche charakterisierenden fundamentalen Eigenschaften und Gesetzmäßigkeiten ableiten lassen, mag es noch immer ein großer Gewinn sein zu sehen: Jedenfalls die mentalen Tätigkeiten im engeren Sinne können nicht rein materiell verursacht sein, dennoch braucht man ihnen, falls diese Voraussetzung zutrifft, keine dualistische Eigenständigkeit zuzuschreiben, sondern kann sie von notwendigen materiellen Bedingungen abhängig sein lassen.

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Inwiefern hat Aristoteles keinen Funktionalismus im heutigen materialistischen Sinne mit seiner These einer multiplen Realisierbarkeit vertreten?

Nun zu den Einwänden und Schwierigkeiten der hier vorgeschlagenen Lesart von Aristoteles' Seelenlehre. Nicht bloß, dass der Interpretationsbefund nicht so eindeutig ist, wie es nach dem bislang Dargestellten erscheinen mag. Man kann auch gegen unsere systematische Einordnung opponieren, bei Aristoteles könnten wir lernen, wie sich die Dichotomie von: entweder materialistischer Monismus oder Dualismus, die die heutige Diskussion durchgängig bestimmt, überwinden lässt. Nun ist aber in der heutigen Philosophie des Geistes der so genannte Funktionalismus eine viel diskutierte Option, der als eine ontologisch neutrale Position den Gegensatz Materialismus - Dualismus überwunden zu haben scheint. Hiernach sind mentale Zustände als funktionale Zustände aufzufassen. Was ein funktionaler Zustand ist, lässt sich - zumindest wenn man den Funktionalismus in der Gestalt, wie er ursprünglich von Putnam entwickelt worden ist, als Maschinenfunktionalismus auffasst, - recht gut am Computermodell erläutern. Ein funktionaler Zustand, in dem sich ein System befindet, ist hiernach durch dreierlei definiert:

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die Eingaben in das System (input), die Ausgaben, die es liefert (output), sowie das Verhältnis zu anderen funktionalen Zuständen. Die Vorzüge dieser Position sind offenbar, dass sie das Mentale nicht als etwas Verborgenes, Inneres ansieht, das nur aus der Ichperspektive zugänglich ist, es vielmehr am öffentlich beobachtbaren Verhalten (input, output) festmacht, es aber nicht einfach behavioristisch erschöpfend durch die Reaktionen auf Außenreize bestimmt sieht, vielmehr auch die Verhältnisse der mentalen Zustände untereinander bedenkt. Vor allem erblickt man den Vorzug des Funktionalismus in seiner These von der multiplen Realisierbarkeit der funktionalen und damit mentalen Zustände. Nehmen wir eine Funktion wie eine Rechenoperation, deren einzelne Schritte von einem Algorithmus genau vorgegeben sind. Diese Funktion kann offenbar von materiell ganz verschieden konstituierten Systemen ausgeführt werden, nicht bloß von unterschiedlich konstruierten Computern, sondern sie kann statt durch Computer, die auf Halbleiterbasis funktionieren, auch durch biochemische Gehirnprozesse materiell realisiert werden. Ja, grundsätzlich lässt sich auch denken, dass ein reiner Geist diese Funktionen immateriell realisiert. Da die vielfältigen möglichen Realisationen der funktionalen und damit mentalen Zustände auch immaterielle einschließen, ist der Funktionalismus offenbar keine materialistische und erst recht keine dualistische Position, sondern diesem Gegensatz gegenüber ontologisch neutral. Da Aristoteles (wie sich uns gezeigt hat) gleichfalls eine Position jenseits von Materialismus und Dualismus vertreten hat, da er ferner die Form im eigentlichen Sinn als Prinzip einer charakteristischen Tätigkeit oder Funktion aufgefasst hat, ist es sehr nahe liegend, dass man ihn nicht selten als ersten Funktionalisten ausgelegt hat. 9 9

Putnam, 1 9 7 5 , 3 0 2 , beruft sich auf Aristoteles als Vorläufer der von ihm entwickelten funktionalistischen Position. Nussbaum, 1978, 67-74, versucht dies interpretatorisch am Aristotelestext zu bestätigen. Auch Wilkes, 1978, ch. 7: 1 1 4 - 1 3 7 , sieht im Rahmen eines eher systematischen Zugangs in Aristoteles einen Vorläufer der funktionalistischen Methode, die das Leib-Seele-Problem eigentlich gar nicht erst entstehen lasse. Gegen die einflussreiche Kritik von Burnyeat, 1 9 9 2 , der Aristoteles' Position für die gegenwärtige systematische Philosophie des Geistes für indiskutabel hält und glaubt, Aristoteles werde zu Unrecht für einen Funktionalismus in Anspruch genommen, versuchen Nussbaum/Putnam, 1992, die funktionalistische Auslegung modifiziert zu verteidigen.

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Dennoch ist hier Vorsicht angesagt. Denn die Vorstellung von einer Funktion, die sich auf irgendeine beliebige Weise realisieren lässt, ist ein bloßes Abstraktum. Die kritische Auseinandersetzung mit dem Funktionalismus10 hat ergeben, dass sich kaum Fälle nennen lassen, wo eine gleiche Funktion auf bemerkenswert verschiedene Weise realisierbar ist. Vor allem wird eine immaterielle Realisation einer Funktion lediglich als eine vage Denkmöglichkeit erwogen. Alle ernstlich ausgeführten Beispiele laufen doch auf materielle Realisationen hinaus. Damit präsentiert sich der Funktionalismus heute faktisch als eine Form des Physikalismus, der bemüht ist, einen zu starken Materialismus zu vermeiden, eine Position, die Physisches und Mentales letzten Endes schlankweg gleichsetzt. Wir haben gesehen, dass eine wesentliche Annahme von jedem Materialismus darin liegt, die ontologische Eigenständigkeit des Mentalen zu bestreiten, so dass für den Materialisten ein bestimmter physischer Zustand in jedem Falle hinreicht, zwingend einen bestimmten mentalen Zustand als seine Folge herbeizuführen. In dieser Richtung herrscht Eindeutigkeit. Soll die Annahme der Identität vermieden werden, dann bleibt nur, in der anderen Richtung eine Variabilität zuzulassen. Und sicherlich lassen sich Phänomene der Multikausalität beobachten, dass ein und dieselbe Wirkung in verschiedenen ursächlichen Konstellationen ihre hinreichende Bedingung haben kann. Die zentrale funktionalistische These einer multiplen Realisation übt offenbar in der heutigen Philosophie des Geistes nicht deshalb eine so große Anziehungskraft aus, weil sie eine ontologisch neutrale Position zu formulieren erlaubt, sondern weil sie einem Grundanliegen der Materialisten entgegenkommt und statt einer platten Identischsetzung mentaler mit physischen Zuständen einen differenzierten Physikalismus zu formulieren gestattet.11 So gesehen liegt bereits im Begriff der Realisation eine

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Einen konzisen Überblick über die Funktionalismusdebatte in der Gegenwartsphilosophie gibt Block, 1980. So zählt Ostenfeld, 1987, ch. V.B: 49-68, 89-100, zu den heutigen materialistischen Ansätzen in der Philosophie des Geistes, für die Aristoteles fälschlicherweise als Vorläufer reklamiert werde, neben dem Behaviorismus und der Identitätstheorie vor allem den Funktionalismus. Hartman, 1977, 156-166, dagegen hält Fodor und Putnam, die er als Aristoteles'

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klar physikalistische Tendenz. Mentale qua funktionale Zustände haben nicht bereits für sich genommen Wirklichkeit. Vielmehr bedarf es eines Materiellen, um sie zu realisieren oder wirklich zu machen. Wenn sie so durch Materielles realisiert werden, dann ist dieses Materielle offenkundig hinreichend, sie zu bewirken oder real werden zu lassen. Dieses Materielle wird hier jedenfalls als die grundlegende primäre Wirklichkeit betrachtet. In Aristoteles' Konzeption von der Seele als Form oder Verwirklichung liegt eine völlig andere Aussage. Hiernach ist das Seelisch-Mentale die eigentliche Wirklichkeit. Die näheren Aspekte ergeben sich, wenn wir bedenken, dass Verwirklichung im Griechischen entweder energeia heißt, was wörtlich Am-Werk-Sein meint, also ein Tätigsein bezeichnet, oder aber entelecheia, worin der Zielcharakter ausgedrückt ist. Die Seele ist also das Prinzip einer Tätigkeit, die ein Ziel darstellt, die mithin Zweck und Wert in sich selbst hat oder die das ist, worauf etwas anderes abzielt. Aus dieser doppelten Bedeutung, die der Begriff des Zieles haben kann, kann ein zentraler Punkt in der aristotelischen Leib-Seele-Problematik erhellt werden, die Frage nach der Abtrennbarkeit der Seele, also das platonische Problem des cbörismos.12 Betrachten wir dazu die Stelle an. II 1, 413a 3-7: „Dass die Seele vom Körper nicht abtrennbar ist, oder Teile von ihr, falls sie ihrer Natur nach teilbar ist, das ist klar. Denn sie ist die Verwirklichung bestimmter Körperteile. Indes besteht kein Hinderungsgrund, dass einige Seelenteile abtrennbar sind, sofern sie keines Körpers Verwirklichung sind." Gegen Piaton betont Aristoteles hier die Körpergebundenheit der meisten Seelenteile. Aber weil er diese Nichtabgetrenntheit gerade durch den Begriff der Verwirklichung begründet, kommt hierdurch keine

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heutige Nachfolger in der funktionalistischen Sicht mentaler Zustände bezeichnet, gerade (vom Standpunkt eines Identitätsmaterialismus) vor, den Materialismus fälschlich abzulehnen. Angesichts der Unabtrennbarkeit der Seele glaubt Barnes, 1972, Aristoteles' Position als schwachen Materialismus auslegen zu müssen. Ein solcher schwacher Materialismus (wie ihn auch andere Autoren, ζ. B. Charles, 1 9 8 4 , bei Aristoteles sehen) behauptet keine Typenidentität zwischen mentalen und physischen Zuständen. Mentale Entitäten ließen sich aber nur dann auf physische reduzieren, wenn nicht bloß ihre Einzelfälle, sondern auch ihre Typen identisch gesetzt werden könnten.

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materialistische Position zustande, schon gar nicht ein Identitätsmaterialismus, aber nicht einmal ein Konstitutionsmaterialismus. Denn da die seelische Tätigkeit als Ziel und Verwirklichung das ontologisch Höherrangige ist, ist auch eine angemessen strukturierte Materie nicht hinreichend, sie zu konstituieren. Die Seele ist an eine geeignete Materie nur als ihre ermöglichende Voraussetzung (notwendige Bedingung) gebunden, deren Verwirklichung sie darstellt, indem jede Verwirklichung eine Wirklichkeit bedeutet, die in ihrer Basis noch nicht vorhanden war. Oder umgekehrt: Die materielle Basis ist auf die Seele als auf ihr Ziel ausgerichtet, das über sie hinausgeht. Weil die seelischen Tätigkeiten als das ontologisch Höherrangige aber auch Wert und Ziel in sich selbst darstellen, sind manche autark, bedürfen keines anderen und können sich daher wie das reine Denken auch unabhängig vom Körper vollziehen. - Wir können es auch so sehen: Die Seele qua energeia ist eine Wirksamkeit. Eine Wirksamkeit kann autark sein, sie kann aber auch eine Verwirklichung sein und ist damit, weil Verwirklichung wesentlich ein Relativbegriff ist, an einen Träger gebunden, dessen Verwirklichung sie ist.13 Dass zwischen einer materiellen Konstitution als hinreichender Bedingung des Seelisch-Mentalen, wie sie die heute geläufigen materialistischen Formen des Funktionalismus annehmen, und bloß notwendigen materiellen Vorbedingungen sorgfältig zu unterscheiden ist, ist keine bloße Interpretation in heutigen logischen Begriffen, die wir an Aristoteles herantragen. Er selbst vollzieht diese Unterscheidung recht deutlich in Physik II 9, am Ende des Buches also, wo sich seine wohl ausführlichste Darstellung der Teleologie findet. In diesem Kontext (nämlich in der Passage 13

Da Aristoteles' Lehre eines von der Materie abtrennbaren Geistes (νούς) sehr schwierig sowohl zu interpretieren wie systematisch zu rechtfertigen ist, ist es nicht glücklich, wenn Robinson, 1 9 8 3 , vor allem den immateriellen voOs bemüht, um Aristoteles' Position als nicht materialistisch zu erweisen. Im Kontext von Aristoteles' Philosophie ist viel bedeutsamer: Das hylemorphistisch verstandene Verhältnis des Leibes zu einer nicht abtrennbaren Seele als seiner Verwirklichung geht über einen Materialismus hinaus. Vielleicht ist Aristoteles' Auffassung vom autarken tätigen Geist in an. III 5 sogar allein auf den göttlichen Geist zu beziehen; vgl. Rapp, 2 0 0 1 , 185.

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200a 7-15) geht es ihm auch darum, die bloß hypothetische Notwendigkeit einer conditio sine qua non, wie sie die teleologische Betrachtungsweise einschließt, von einer absoluten Notwendigkeit und damit einer durchgängigen Determination abzugrenzen, die herrschte, wenn die materiellen Verhältnisse hinreichende Ursache wären. Das Materielle kennzeichnet er nämlich als das, dessen Natur notwendig ist (9f.). Wäre das Weltgeschehen folglich allein von materiellen Verhältnissen als hinreichenden Bedingungen bestimmt, so herrschte eine durchgängige kausale Notwendigkeit. Die mentalen Funktionen als notwendige Folge notwendiger materieller Bedingungen wären selbst notwendig. Nun ist das Körperliche aber nicht eigentliche Ursache (διά ταύτα, 9), sondern bloß ermöglichende Grundlage (hyle, 10) oder conditio sine qua non (ούκ άνευ, 8). Eigentliche Ursache ist das Ziel oder Weswegen. Bei einem Artefakt ist dieses Ziel seine charakteristische Funktion (ergon autou, 13), um derentwillen das Artefakt da ist. Diese Funktion nun schafft eine hypothetische Notwendigkeit: Wenn die charakteristische Funktion der Säge, das Sägen, statthaben soll, dann kann sie nicht aus einem beliebigen Material, sondern muss aus einem geeigneten Stoff wie Eisen bestehen. Ohne Eisen käme es nicht zur Sägefunktion. Nach Aristoteles herrscht also gerade keine multiple Realisierbarkeit. Und diese Auffassung ist sicher die intuitiv plausiblere: Wenn eine bestimmte Funktion stattfinden soll, kann diese nicht von beliebigen, irgendwie strukturierten Materialien ausgeführt werden, sondern bedarf einer angemessenen stofflichen Grundlage. (Dass sich diese innerhalb eines gewissen Variationsspielraums bewegen kann, etwa zum Sägen verschiedene Metalllegierungen möglich sind, dürfte Aristoteles nicht bestritten haben. 14 Während hinreichende Bedingungen als vollständig determinierend keine Abweichungen zulassen können, gestatten unvollständige notwendige Bedingungen sehr wohl innerhalb eines Rahmens Veränderungen. Damit vermag Aristoteles auch ohne

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So verlangt er part. an. 1 1, 642a lOf. notwendig nur die Qualität der Härte, die zur Spaltfunktion des Beils unerlässlich ist; kontingent ist dagegen, ob das Beil aus Bronze oder Eisen ist, sofern beide die erforderliche Härte aufweisen.

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die These einer multiplen Realisation der beobachteten Vielfalt gerecht zu werden.) Wenn Funktionalisten die (wenn überhaupt vorhanden) sehr seltenen Beispiele einer vielfältigen Realisierbarkeit einer selbigen Funktion zu einem durchgängigen Grundzug hochstilisieren, dürfte dies die schon angedeuteten eher ideologischen Gründe haben: Nur so ist ein Kollaps des Konstitutionsmaterialismus (materielle Zustände sind hinreichend, das Mentale zu konstituieren) in eine Identitätstheorie zu vermeiden. Die in Physik II 9 auftretenden Termini einer Funktion (ergon) und des Ziels oder Weswegen sollten uns also nicht verführen, hier einen teleologischen Funktionalismus im heutigen Sinne zu sehen.15 Die Argumente von Aristoteles, in denen eine multiple Realisation zurückgewiesen wird, operieren vor allem mit zwei Begriffen: Eines hält sich an den hylemorphistischen Kernbegriff der energeia, eines gerade an den Begriff des ergon, an dem man (wenn überhaupt) Aristoteles' Funktionalismus festzumachen hat. Dieses letztere Argument, das sich Metaphysik (Met.) Ζ 11 findet, lässt sich am trefflichsten durch den Gegensatz von substantieller und akzidenteller Form interpretieren. Eine multiple Realisation gesteht Aristoteles bei akzidentellen Formen zu, die er an den Gestalten der Geometrie wie der Kreisgestalt exemplifiziert. Dass derartige geometrische Formen für Aristoteles bloß akzidentell sind, ergibt sich daraus, dass er sie als durch gedankliche Abstraktion gewonnen und daher als solche nur in der Abstraktion oder in Gedanken bestehend betrachtet. Was sich von einem Gegenstand gedanklich loslösen lässt, kann ersichtlich nicht substantiell, d. h. für seine Identität als dieser Gegenstand konstitutiv sein. Nur wenn eine substantielle Form multipel realisierbar wäre, wäre dies für den Funktionalismus bemerkenswert. Denn für Aristoteles, ζ. B. Meteorologica IV 12, 390a 10-12, ist das ergon, also die Funktion, das definierende Wesensmerkmal oder die substantielle Form, die etwas als einen Gegenstand der jeweiligen Art konstituiert: Was dazu disponiert ist, die für die jeweilige Art von Gegenstand charakteristische Funktion zu verrichten, ist 15

Zu einer Aristotelesauslegung im Sinne eines teleologischen Funktionalismus tendiert Irwin, 1991. Einen Funktionalismus im heutigen (physikalistischen) Sinne halten dagegen als unvereinbar mit Aristoteles u. a. Robinson, 1978; Granger, 1990; Heinaman, 1990.

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wahrhaft ein Gegenstand der jeweiligen Art (so wie etwas durch die Sehfähigkeit als ein Auge konstituiert wird), sonst ist es bloß dem Namen nach dieser Gegenstand. Aber für substantielle Formen, zu denen die Seele und ihre einzelnen Fähigkeiten gehören, bestreitet Aristoteles in Met. Z l l gerade, dass sie multipel realisierbar sind, eben weil die charakteristische Funktion oder Tätigkeitsweise (ergon) eine angemessen strukturierte Materie verlangt. Nur bei einer akzidentellen Form wie dem Kreis ist es kontingent, an welchem Material sie vorkommt, ob sie an Holz, Stein oder Bronze realisiert ist; denn das Akzidentelle ist für Aristoteles der Bereich relativer Beliebigkeit. Etwas genauer am Text von Met. Ζ II 1 6 orientiert, verläuft das Argument folgendermaßen: Ausgangspunkt ist die Frage, welche Teile bloß materielle Aufbauelemente des konkreten Gegenstands sind, welche hingegen in die Form oder Wesensbestimmung eingehen. Der jüngere Sokrates argumentiert hier mit folgender Analogie. Bei einer akzidentellen Form wie der Kreisgestalt ist eindeutig, dass das jeweilige Material, an der sie gerade vorkommt, nicht Teil des Wesens oder der Form sein kann, weil die Form auch unabhängig von diesem Material an andersartigen Materialien auftreten kann. Wenn nun die Kreisgestalt zufällig oder faktisch nur an einer Sorte Material vorkommen sollte, dann wäre es für uns mental recht schwierig zu erkennen, dass dieses Material kein konstitutierendes Moment der Kreisform ist, obgleich es der Sache nach genausowenig zur Kreisform gehört wie im tatsächlichen Fall, wo die Kreisgestalt vielfältige materielle Realisationen haben kann. Liegt diese Situation nicht auch bei einem Lebewesen wie dem Menschen vor, dessen Form wir tatsächlich nur an organischen Materialien wie Fleisch und Knochen beobachten, obgleich sie materiell ganz anders realisiert sein könnte? (1036a 26 - b 7) In seiner Erwiderung (1036b 24-32) deckt Aristoteles den Fehler dieser zunächst recht plausibel erscheinenden Argumentation auf. Anders als eine abstrakte und damit akzidentelle Form wird eine 16

Wedin, 1996, 15-32, 35-37, untersucht die einschlägigen Passagen aus Met. Ζ 11 eingehend daraufhin, ob Aristoteles eine Plastizität oder Variabilität im materiellen Aufbau eines Gegenstands (compositional plasticity) annimmt.

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natürliche Körpersubstanz wie ein Lebewesen durch eine charakteristische Tätigkeitsweise definiert, die Bewegung einschließt. Damit sie diese für sie charakteristische und konstitutive Funktion verrichten kann, darf sie sich nicht aus beliebigen Bestandteilen als ihrer Materie aufbauen, sondern verlangt Bestandteile in einer ganz bestimmten Disposition (μέρη εχοντά ττως): Denn nur aus Teilen, die imstande sind, jeweils ihre Teilfunktion auszuführen, kommt ein Ganzes zustande, das durch abgestimmtes Zusammenwirken der Teilfunktionen eine charakteristische Gesamttätigkeit zu verrichten vermag. Damit sind auch die Teile des Lebewesens für Aristoteles keine bloß materiellen Bestandteile, sondern setzen die Seele als Lebens- und Tätigkeitsprinzip voraus. Ein Advokat der multiplen Realisierbarkeit könnte noch immer entgegnen: Hier wird nicht ausgeschlossen, dass eine Lebewesenart durch verschiedenartige Bestandteile materiell realisiert wird, sofern diese nur für die charakteristische Tätigkeitsweise angemessen sind. Hiergegen gilt jedoch zu bedenken: Auch wenn eine multiple Realisierbarkeit nicht expressis verbis ausgeschlossen wird, ist ein solcher Ausschluss doch recht deutlich in der Gegenüberstellung impliziert: Akzidentelle Formen wie geometrische Gestalten sind multipel realisierbar, oder sie treten bei artverschiedenen Stoffen auf (1036a 31 f.), offenbar gerade deshalb, weil sie kein Prinzip einer charakteristischen Tätigkeit einschließen. Das besagt im Gegenzug: Eine für eine Spezies charakteristische Tätigkeitsweise verlangt auch einen ganz bestimmten Stoff, der grundlegend oder der wesentlichen Art nach der gleiche sein muss.17 Eine graduelle 17

Dies verkennt Shields, 1990, 22f. und Anm. 14, der das 1036a 31 - b 7 vorgetragene Argument nicht als die später verworfene Auffassung des jüngeren Sokrates erkennt und es so als Beweis dafür anführt, dass Aristoteles eine multiple Realisation anerkannt hat. In Aristoteles' eigener Auffassung 1036b 24-32 sieht er nur irgendeine für die funktionale Rolle geeignete Materie verlangt und übersieht, dass in der Gegenüberstellung zu einer vielfach realisierbaren akzidentellen Form die Forderung einer bestimmten Materie beschlossen liegt. Zu einer Auseinandersetzung mit Shields, die vor allem den Begriff des mind functionalism zu klären sucht, vgl. Nelson, 1990. Olshewsky, 1992, bes. 275-277, ist gegenüber Shields' Absicht skeptisch, bei Aristoteles einen Funktionalismus im heutigen Sinne nachzuweisen (auch wenn Aristoteles sicher schwach funktionalistische Annahmen gemacht habe).

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Differenzierung des Mehr oder Minder oder akzidentelle Unterschiede, d. h. solche, die für die einschlägige Funktion irrelevant sind, hat Aristoteles sicher nicht ausgeschlossen. Aber diese machen nach dem funktionalistischen Verständnis keine multiple Realisation aus. Das zweite Argument gegen eine grundsätzlich beliebige Realisation einer Funktion, wie sie Putnam in einer gewissen Phase glaubte annehmen zu können, operiert mit dem Begriff der energeia. Betrachten wir dazu an. II 2, 414a 19-28. Ausgangspunkt für Aristoteles ist hier die Körpergebundenheit der Seele, dass sie etwas vom Körper (σώματος τι) ist. Da er ausdrücklich eine materialistische Identität bestreitet (20f.), ist gemeint: Sie ist ein selbst nicht körperliches Prinzip des Körpers. Als solches ist sie im Körper und zwar einem ganz bestimmten. Damit wendet Aristoteles sich gegen seine Vorgänger, die glaubten, die Seele rein äußerlich in einen beliebigen Leib hineinversetzen zu können. Dass sich nicht Beliebiges mit Beliebigem verbinden kann, ergibt sich zum einen aus den Phänomenen, vor allem aber aus dem Begriff (logos) des Verhältnisses von Vermögen und Verwirklichung. Die Verwirklichung ist stets Verwirklichung einer geeigneten Materie, die bereits dem Vermögen nach die Beschaffenheit hat, die sie dann wirklich erlangen soll, und auf die sie als ihr Ziel ausgerichtet ist. Aus Aristoteles lässt sich noch ein anderer Grund ablesen, weshalb man eine multiple Realisierbarkeit anzweifeln mag. Ein genuiner, nicht trivialer Fall einer vielfältigen Realisation liegt nur dann vor, wenn die zu realisierende Funktion im strengen Sinne begrifflich oder der Art nach identisch ist, die sie realisierenden materiellen Konstitutionen sich hingegen in einer für die zu realisierende Funktion bedeutsamen Weise unterscheiden. Die zweite Bedingung scheint in einem Beispiel von Aristoteles erfüllt. Die vitale (für Aristoteles also seelische) Funktion der Ernährung wird bei Pflanzen unten von der Wurzel, bei Tieren dagegen oben vom Mund ausgeführt (vgl. an. II 1, 412b 3f.; II 4, 416a 3-5). Ist aber auch die erste Bedingung erfüllt, dass die Ernährung bei beiden Gruppen unter einen identischen Begriff fällt? Von einem heutigen wissenschaftlichen Standpunkt aus ist das zu verneinen, da die Ernährung bei Pflanzen zum Aufbau von Kohlenhydraten in einer

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Photosynthese führt, bei Tieren dagegen Kohlenhydrate gerade verbrannt werden. Das konnte Aristoteles noch nicht wissen. Dennoch ist er vermutlich zum selben Resultat gekommen. Denn anders als neuzeitliche Philosophen, die um der wissenschaftlichen Vereinheitlichung willen möglichst viele Phänomene unter einem einheitlichen (univoken) Allgemeinbegriff zu subsumieren versuchten, war Aristoteles sehr sensibel für die Vielfältigkeit der Wirklichkeit. Damit sind Pflanzen- und Tierernährung nur scheinbar Beispiele einer multiplen Realisation, weil gar keine einheitlichen, sondern begrifflich verschiedene und einander bloß entsprechende, also analoge Funktionen vorliegen. Wahrscheinlich lassen sich in vielen Fällen einer vermeintlichen multiplen Realisation bloß analoge Funktionen nachweisen. 18

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Gibt es in Aristoteles' Seelenlehre physikalistische Annahmen?

Nachdem der Versuch zurückgewiesen ist, in Aristoteles einen Funktionalisten im heutigen Sinne zu sehen, mag der Hinweis vielleicht verwundern, dass damit noch keineswegs die Interpre-

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Auch bei Burnyeat, 1992, spielt dieser Gegensatz von Univozität und analogischer Vielfalt eine wichtige Rolle. Aristoteles könne für die heutige Philosophie des Geistes, etwa den Funktionalismus, deshalb nicht fruchtbar gemacht werden, weil er nicht den heute allgemein anerkannten einheitlichen (univoken) Begriff der Materie habe. Er kenne vielmehr im Hinblick auf die jeweilige Tätigkeit (ergon) ganz verschiedene Materien, da er in einem obsoleten Hylezoismus die Materie als von sich aus bereits belebt, ja mit Geist und Bewusstsein begabt ansehe. Aristoteles habe (wie Langton, 2000, Burnyeats Kritik präsentiert) einen geradezu magischen Begriff der Materie, indem er in sie all die zu erklärenden mentalen Fähigkeiten (etwa der Wahrnehmung) bereits hineinlege. - Indes, wenn man Aristoteles' Philosophie des Geistes (gegen Burnyeat) eine systematische Bedeutung zuerkennen möchte, ist man dann gehalten, sie als einen Funktionalismus aufzufassen? Kann ihre Bedeutung nicht gerade darin liegen, jenseits des Funktionalismus eine eigenständige nicht-materialistische Position entwickelt zu haben, die keine hinreichenden materiellen Bedingungen für mentale Dispositionen annimmt? Vgl. dazu die Diskussion um Burnyeats Kritik bei Code, 1991; Code/Moravcsik, 1992 und Cohen, 1987 und 1992. (Cohen ist eher funktionalistisch, Code antifunktionalistisch eingestellt.)

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tationskontroversen ausgeräumt sind, mit denen uns der Text von Aristoteles' de anima konfrontiert. Man mag meinen: Wenn schon der Funktionalismus als diejenige Position, die bei Aristoteles wohl am ehesten anzutreffen ist, nicht berechtigt als seine Sicht interpretiert werden kann, dann lässt sich seine Auffassung noch viel weniger als ein Materialismus oder als ein Dualismus auslegen. Und dennoch gibt es nicht wenige durchaus ernstzunehmende Deutungsansätze, die das versuchen. In der Tat lassen sich Stellen anführen, die dies zu stützen scheinen. Hier gilt aber wohl das einleitend Gesagte zu bedenken. Wir können von Aristoteles systematisch lernen, was die Möglichkeit einer grundsätzlichen ontologischen Position anbelangt, die sich jenseits der heute geläufigen Optionen bewegt. In den Detailbetrachtungen findet sich hingegen manches, über das wir nicht bloß naturwissenschaftlich gesehen hinausgegangen sind, sondern das sich auch nicht in ein schlüssiges ontologisches Gesamtkonzept fügt.19 Betrachten wir dazu den Grundsatz der Wahrnehmungslehre, die Verwirklichung des Wahrnehmbaren einerseits und des Wahrnehmungsvermögens andererseits seien ein und dasselbe, den Aristoteles in III 2, 425b 26 - 26a 1 am Tönenden und am Gehör erläutert. Das aktuelle Tönen ζ. B. eines Gongs ist sicherlich ein rein physischer Vorgang, dass Schallwellen erzeugt werden. Wenn nun das aktuelle Hören damit eines sein soll, und sei es auch bloß im Sinne eines vorübergehenden Einswerdens und nicht der notwendigen Zusammengehörigkeit einer Identität, dann muss jedenfalls auch der Hörvorgang als ein rein physiologisches Verarbeiten von Schallwellen verstanden werden. Aristoteles' PotenzAkt-Unterscheidung ist sicherlich universal anwendbar und kann daher auch dazu eingesetzt werden, um das Hören als einen über das Physiologische hinausgehenden mentalen Vorgang zu erweisen, etwa folgendermaßen: Das Schallen oder Tönen schafft nur die 19

Van der Eijk, 2 0 0 0 , weist darauf hin, dass sich in Aristoteles' Seelenlehre, bedingt durch die verschiedenen Traditionen, die ihn prägten: die platonische Jenseitsmetaphysik ebenso wie die physiologischen Einzeluntersuchungen der Biologie und Medizin, gegenläufige Tendenzen finden, die Aristoteles nicht zu einer konsistenten Gesamtsicht zu vereinigen vermochte.

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Möglichkeit zum Hören; damit daraus ein aktuelles Hören wird, bedarf es eines genuin mentalen Vorgangs, nämlich des geistigen Aufmerkens auf bestimmte Geräusche innerhalb der uns umgebenden und rein physiologisch von uns verarbeiteten Geräuschkulisse. So verstanden wäre das Hören der mentale Vorgang des Gewahrwerdens und eine spontane Selbstverwirklichung unseres Hörvermögens. Aristoteles setzt an dieser Stelle die Potenz-AktUnterscheidung aber wohl eher dazu ein, eine Wahrnehmung wie das Hören als einen rezeptiven Vorgang darzustellen, bei dem das Vermögen von außen verwirklicht werden muss. Zuerst muss das Vermögen des Gongs zu schallen, von außen aktualisiert werden, indem man ihn anschlägt. Der aktuell tönende Gong verwirklicht dann seinerseits das Vermögen des Gehörs, so dass in diesem Moment das aktuelle Schallen und das aktuelle Hören eines sind. So gesehen ist das Hören sicher ein bloß physiologischer Vorgang.20 Wenn bei Aristoteles im einzelnen auch gewisse physikalistische Lehren anzutreffen sind, finden sich doch keine Stellen, die es erlaubten das Leib-Seele-Verhältnis generell physikalistisch aufzufassen. Materialistische Interpretationen berufen sich gerne auf eine Passage in II 1, 412b 6-9: „Deshalb braucht man gar nicht erst zu suchen, ob die Seele und der Leib eins sind, so wie sich diese Frage auch beim Wachs und seiner Gestalt und generell beim Stoff der jeweiligen Sache und dem, dessen Stoff [materielle Grundlage] er darstellt, erübrigt. Vom Einen und vom Sein spricht man in mehrfacher Bedeutung, im eigentlichen Sinne aber ist es die Verwirklichung." Man wollte diese Passage im Sinne einer materialistischen Identitätstheorie auslegen, dass Leib und Seele qua materielle Grundlage und Form fraglos eines seien.21 Ihre Identität sei nicht fraglich, 20

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Eine physikalistische Deutung von Aristoteles' Wahrnehmungslehre findet sich bereits bei Slakey, 1961. Vgl. Shields, 1993a, 162f. Nussbaum, 1 9 8 4 , 2 0 6 , bemerkt gegen Robinson zu Recht, dass durch diese Stelle die dualistische Suche nach dem, was Leib und Seele als zwei verschiedene Entitäten vereint, von vornherein als verfehlt ausgeschlossen wird. Indes, ein Verwerfen des Dualismus braucht noch kein Materialismus zu sein.

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sondern von vornherein gewährleistet, da zwischen ihnen die eigentliche oder stärkste Form der Einheit bestehe, die der Verwirklichung. Derartige Thesen impliziert die vorliegende Stelle nun aber keineswegs. Denn unter der Einheit, von der hier die Rede ist, braucht durchaus nicht eine Identität im heutigen Sinne einer notwendigen Beziehung verstanden zu werden, bei der die beiden Gegebenheitsweisen einer selbigen Sache einander notwendig einschließen. Die materielle Gegebenheitsweise als dieser Leib müsste also zwingend mit der formalen Gegebenheitsweise als diese bestimmten seelischen Vermögen verbunden sein und umgekehrt. Bereits das illustrierende Beispiel erweist, dass dies nicht gemeint sein kann. Auch wenn eine stoffliche Masse wie das Wachs stets irgendeine Gestalt haben muss, und insofern mit ihrer jeweiligen Gestalt eins ist, so schließt sie sicher nicht diese bestimmte Gestalt ein, die ihr gar ein Künstler verliehen hat. Einheit kann bei minimalem Verständnis bedeuten, dass zwei Faktoren, die nicht zwingend aneinander gebunden sind, vorübergehend eine Vereinigung eingegangen sind. Die Einheit, die eine Verwirklichung stiftet, ist sicher mehr als ein solches zufälliges Zusammen vorliegen. Sonst spräche Aristoteles nicht davon, dies sei die eigentliche Form der Einheit. Diese Aussage findet ihre Erklärung in der teleologischen Sichtweise, wie sie nicht beim illustrierenden Exempel der Wachsfigur, wohl aber bei den eigentlichen Fällen, die Aristoteles gemäß der Materie-Form-Unterscheidung beschreibt, den Lebendigen, angemessen ist. Ein geeignet strukturierter organischer Körper (oder ein angemessenes Körper organ) ist auf eine bestimmte Funktion oder Tätigkeitsweise als auf sein Ziel ausgerichtet. Wenn er diese Tätigkeit tatsächlich ausübt oder unmittelbar auszuüben disponiert ist, dann erreicht er Ziel und Bestimmung, so dass der entsprechend strukturierte Körper und seine Funktionstüchtigkeit eine eigentliche Form der Einheit eingehen. Die ermöglichende Basis geht in ihrer Bestimmung sozusagen auf. Im Begriff der Verwirklichung liegt aber gerade, dass dies keine Identität sein kann, bei der der organische Körper und die charakteristische Tätigkeitsweise, deren Prinzip die Seele ist, jeweils voneinander hinreichende und notwendige Bedingung sein müssten. Wir haben vielmehr gesehen, dass das Ziel die Materie nur als notwendige

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Vorbedingung einschließt, so dass die Verwirklichung im Sinne der Funktionsfähigkeit auch ontologisch eine über die Basis hinausgehende Wirklichkeit bedeutet.

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Impliziert das Homonymieprinzip einen Physikalismus?

Dass der Hylemorphismus in der Leib-Seele-Debatte eine Zwischenposition einzunehmen vermag (so hat sich uns erwiesen), verdankt er vor allem dem, dass er die Materie-Form-Unterscheidung im Sinne der Potenz-Akt-Differenz auslegt. Durch die Annahme, der angemessen strukturierte Leib oder sein Organ sei bloß dem Vermögen nach die charakteristische Lebenstätigkeit oder Funktion, d. h. er könne die Disposition zu dieser Tätigkeit ebenso aufweisen wie sie ihm fehlen kann, ist der Konstitutionsmaterialismus vermieden mit seiner These, eine entsprechende Materie führe kraft der sie bestimmenden Gesetze unausweichlich zu bestimmten seelisch-mentalen Dispositionen oder Tätigkeiten. Sofern umgekehrt das Seelisch-Mentale auf eine bestimmte zu dieser Tätigkeit geeignete Materie verwiesen ist, die es im Sinne dieser Tätigkeit verwirklichen kann, ist auch die dualistische Annahme von einer Selbständigkeit des Mentalen vermieden. Ist Aristoteles aber überhaupt dazu berechtigt, die Potenz-Akt-Unterscheidung in dieser Weise auf das Leib-Seele-Verhältnis zu beziehen? Das Wachs mag unbestreitbar eine bestimmte Gestalt anzunehmen oder nicht. Aber vermag auch ein Auge ebenso wohl die Sehfähigkeit aufzuweisen wie erblindet zu sein? Dieses bestreitet Aristoteles ausdrücklich. Der nicht belebte Leib oder das nicht sehfähige Auge seien nur dem Namen nach (homönymös) und nicht wahrhaft von der Sache her ein Leib oder ein Auge, ebenso wie ein bloß gemalter Gegenstand oder der Gegenstand aus einem ungeeigneten Material (ζ. B. ein Auge aus Stein) bloß so heißen, aber nicht wahrhaft dieser Gegenstand sind.22 Impliziert dies nicht - entgegen unserer 22

Ackrill, 1973, hat die Debatte ausgelöst, ob angesichts der Homonymie die Leib-Seele-Beziehung überhaupt legitim hylemorphistisch durch die Materie-Form-Unterscheidung beschrieben werden könne. Vgl. dazu etwa: Irwin, 1981; Cohen 1987; Whiting, 1992; Shields, 1993b. Perler,

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ganzen Interpretation dass der organische Leib und seine Teile notwendig beseelt und damit funktionsfähig sein müssen, damit sie wahrhaft sie selbst sein können? Nun, Aristoteles' Begriff der Homonymie ist ein Terminus der Sprachphilosophie. Dies lässt bereits vermuten, dass es hier weniger um eine Sachfrage als vielmehr ein terminologisches Problem geht. Unter Materie lässt sich nämlich recht Verschiedenes verstehen. So kann Materie sowohl den Stoff meinen, der einen Wandlungsprozess durchläuft, der also vor dem Entstehen einer bestimmten Sache bereits vorhanden ist und in den sie wieder zerfällt, der also ihr Vergehen überdauert, als auch ein immanentes Konstitutionsprinzip einer Sache. Im zweiten Sinne wird die Materie nicht als unabhängig von der Sache vorhanden betrachtet, sondern als dasjenige in ihr, was eine bestimmte Funktion als ihre Voraussetzung möglich macht, im Unterschied zu dem, was diese Funktion tatsächlich bewirkt. Anders ausgedrückt, die Sache wird unter dem Gesichtspunkt des ihr innewohnenden niedriger Geformten betrachtet, das die Voraussetzung für die höhere Form oder Funktion darstellt, die etwas wirklich zu dieser Sache macht. Um die so verstandene Materie geht es natürlich beim Homonymieprinzip. Nicht der Leib, der die Seele als Lebensprinzip verloren hat, sondern der im beseelten Lebewesen existierende Leib ist die Ermöglichung von Leben (412b 25f.). Betrachten wir dazu eine Stelle aus an. II 1, 412b 10 - 413a 3. Hier erläutert Aristoteles seine Konzeption von der Seele als Tätigkeitsprinzip an zwei Analogien, dem Beil als einem Artefakt und dem Auge als einem Körperteil. Bei diesen lassen sich die Tätigkeiten, die sie zu diesem Gegenstand machen, klar benennen: Schneiden bzw. Sehen. Beim gesamten Lebewesen ist die charakteristische Tätigkeitsweise dagegen so komplex, dass Aristoteles 1996, bes. 349ff., gründet auf dieses Homonymieprinzip einen zentralen Unterschied von Aristoteles zum modernen Funktionalismus. Während für Aristoteles der organische Körper notwendig die Seele als Lebensprinzip haben muss und ohne sie gar kein (belebter) Körper im eigentlichen Sinne sein kann, sei für die Funktionalisten der Körper bereits von sich aus oder als materieller belebt, so dass nur die (über die physiologischen hinausgehenden) mentalen Zustände funktional zu erklären seien.

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sie nicht in einem einzigen Begriff erfassen kann, deshalb spricht er hier bloß vom Wachen (έγρήγορσις), was die Tätigkeitsweise nicht so sehr inhaltlich charakterisiert, als vielmehr nur ihren modalen Status angibt: Es ist das aktuelle Ausüben der Tätigkeit. Gerade deshalb bedient er sich der einfachen Analogien, Beil und Auge, wo die eigentümliche Funktion namhaft gemacht werden kann. Wären nun Beil oder Auge ein natürlicher Körper oder ein Lebewesen, dann wären nicht das Schneiden oder Sehen, wohl aber das Vermögen zum Schneiden oder das Sehvermögen (δψι$) die Seele oder das begriffliche Wesen (ούσία ή κατά τον λόγον, τό τί ήν είναι), d. h. dasjenige Prinzip, kraft dessen etwas unter den Begriff vom jeweiligen Gegenstand fällt, also ein Beil oder Auge ist. Von da aus ist es ganz natürlich, dass etwas ohne diese Funktionsfähigkeit nicht wahrhaft, sondern nur dem Namen nach (homönymös) ein Beil (14f.) oder ein Auge (20f.) sein könnte. Hier ist die Tatsache, dass die Funktionstüchtigkeit notwendig zum Begriff der Sache gehört, unverfänglich, da sie nicht notwendig als zur Materie, sondern zum Auge gehörig gewertet wird, das Auge aber das Ganze aus dem Augapfel als der Materie und der Sehkraft als der Form ist (413a 2f.). Oder ist das Auge doch die Materie? Denn es heißt wörtlich: „Das Auge ist die Materie der Sehkraft." (412b 20) Wir beobachten hier etwas Bemerkenswertes: Zwischen der Materie, als einem der Sache innewohnenden Konstitutionsprinzip, die die eigentümliche Tätigkeit (Form) möglich macht, die aber von sich aus diese Form noch nicht hat, und der bereits geformten Materie sind die Grenzen für Aristoteles fließend, wohl angesichts seiner teleologischen Sichtweise: Die geeignete Materie (etwa der entsprechend strukturierte Augapfel) ist immer schon auf die jeweilige Form oder Funktion als ihr Ziel ausgerichtet, in der sie ihre eigentliche Bestimmung und Erfüllung findet. Daher gehört diese Funktion irgendwie zur Materie dazu, auch wenn die Materie sie nicht aus sich selbst hervorzubringen vermag. Deshalb ist der Übergang von der immanenten zur geformten Materie fließend. In Bezug auf den konkreten geformten Gegenstand gilt jedenfalls, dass er ohne die Funktion oder die Seele als ihr Prinzip nur dem Namen nach dieser Gegenstand wäre. Die geeignet organisierte immanente Materie des Leibes

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schließt die Funktionstüchtigkeit irgendwie ein, so dass sie ohne diese nicht wahrhaft sie selbst wäre, aber wohl nicht (im Sinne des Konstitutionsmaterialismus) als notwendige Folge, sondern eher im Sinne eines Verweises auf ein Ziel oder eine Bestimmung, in der sie ihre eigentliche Erfüllung findet.

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Hat Aristoteles einen Substanzdualismus vertreten?

Dass man Aristoteles auf der anderen Seite sogar einen Substanzdualismus unterstellen könnte, scheint eine Stelle aus Met. Ζ 17, 1041b 11-33 zu belegen. Die materiellen Elemente werden hier mit Buchstaben verglichen. Dies legt der griechische Terminus ,stoicheion' nahe, der ebenso wohl ,Buchstabe' wie ,Element' bedeutet. An dieser Doppelbedeutung wird ein wichtiges Merkmal von Materie im philosophischen Sinne deutlich: Sie ist nicht bloß der greifbare Stoff, sondern jede Ansammlung von Bestandteilen, die aus sich heraus ohne jede innere Ordnung untereinander einfach nebeneinander stehen. Aristoteles will nun zeigen, dass diese materiellen Elemente von sich aus unfähig wären, die Einheit eines Gegenstandes, beispielsweise des Wortes, erklärbar zu machen. (Am Wort lässt sich das Gemeinte noch besser verdeutlichen als an Aristoteles' eigenem Beispiel der Silbe.) Denn so oder so käme es zu einem unendlichen Regress. Entweder versuchte man die Einheit durch ein neu hinzutretendes stoicheion zu erklären und bräuchte dann ad infinitum stets ein weiteres Element, um die Einheit der bisher vorhandenen mit dem neu hinzukommenden zu erklären. Oder das hinzutretende Moment ist selbst aus Elementen aufgebaut; dann muss man seine Einheit ebenso wie die des ursprünglichen Aggregats erklären. Die Einheit lässt sich schlüssig mithin nur durch etwas erklären, das von ganz anderer Art ist als alle materiellen Elemente, das folglich ein immaterielles Prinzip der Form oder Funktion sein muss. Was aus der bloßen Aneinanderreihung von Buchstaben die Einheit des Wortes begründet, ist die Bezeichnungsfunktion, dass wir mit der Buchstabenfolge etwas Bestimmtes meinen oder zu bezeichnen intendieren. Eine solche Intentionalität ist eindeutig etwas Immaterielles, Mentales.

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Diese Bezeichnungsfunktion setzt freilich ganz bestimmte materielle Elemente (Buchstaben) voraus, die zudem eine bestimmte Struktur (Anordnung) haben müssen. (Hier wird deutlich, dass die Struktur als niedere Formung der (Bezeichnungs)funktion als der eigentlichen Form dient.) Diese Funktion kann keine bloß akzidentelle Bestimmung sein. Das Akzidentelle meint (schon von der Wortbedeutung des lateinischen .accidens' wie des griechischen ,συμβεβηκός' her) das sich beiläufig Einstellende. Aristoteles will aber gerade zeigen, dass die einheitsstiftende Funktion nicht bloß etwas sein kann, was sich als beiläufige Folge aus den materiellen Bestandteilen ergibt, vielmehr etwas ist, das in keiner Weise bereits in ihnen enthalten ist, sondern auch seinsmäßig über sie hinausgeht (Supervenienz23 in einem nicht bloß epistemischen, sondern auch ontologischen Sinn). Deshalb lehnt er die Konzeption der Seele als Harmonie ab (an. I 4, 407b 27 - 408a 28).24 Harmonie wäre eine Form des Zusammenstimmens oder der Einheit, die sich aus den harmonisch sich zusammenfügenden Teilen ergibt. Man kann die Funktion demnach wohl berechtigt als substantielles Prinzip betrachten. Das schließt aber wohlbemerkt keinen Substanzdualismus ein. Denn die Komplementarität, dass die Funktion (Form) notwendig auf geeignete materielle Bestandteile in geeigneter Anordnung oder Struktur verwiesen ist, vereitelt einen dualistischen Grundzug: In zwei Seinsbereichen treten Entitäten auf, die einander zwar kategorial entsprechen, aber doch völlig unabhängig voneinander sind. - Ganz zu schweigen von der selbständigen Existenz einer Substanz.

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Plotins Philosophie des Geistes Ideenwissen, Selbstbewusstsein, Subjektivität CHRISTOPH HORN

Plotins Philosophie des Geistes beruht auf Prämissen, die uns denkbar fern liegen und daher einiger Erläuterung bedürfen. Man muss sich verdeutlichen, dass Plotin unter dem Geist oder Intellekt (nous) nicht in erster Linie die mentalen Fähigkeiten oder Leistungen menschlicher Individuen versteht. Vielmehr denkt er primär an ein kosmisches Prinzip. Beim plotinischen Intellekt handelt es sich also um eine selbständige Entität, die jenseits der sinnlich wahrnehmbaren Welt existieren soll und die herangezogen wird, um einige ihrer Eigenschaften zu erklären - darunter natürlich die mentalen Phänomene beim Menschen. Zu beachten ist außerdem, dass das kosmische Modell Plotins hierarchisch angelegt ist; dabei bildet der Intellekt die zweite Ebene einer vierteiligen Stufenfolge. Die jeweils untergeordnete Stufe gilt als das Resultat oder die Wirkung der übergeordneten: Grob gesprochen soll sich der Geist aus einem ersten, absolut einfachen Prinzip ergeben, welches von Plotin meist als das Eine (to hen) bezeichnet wird. Aus dem Intellekt geht sodann die Weltseele (psyche) hervor, und diese konstituiert schließlich die wahrnehmbare Welt. Um dem gemeinten Modell gerecht zu werden, darf man den Vorgang, von dem hier die Rede ist, natürlich nicht als zeitlichen Entstehungsprozess auffassen, sondern muss ihn als eine zeitlos-ewige Konstitution begreifen. Zweifellos handelt es sich bei Plotins Derivationstheorie nicht um eine naturphilosophische, sondern um eine metaphysische Konzeption der Weltentstehung. Zu metaphysischen Stufenkonzeptionen des beschriebenen Typs tendierten nicht erst die Neuplatoniker des späten Alter-

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turns, vielmehr traten diese bereits in der klassischen Philosophie in Erscheinung. Wie wir wissen, gab es in Piatons Akademie eine kontrovers geführte Diskussion über Modelle, in denen man sich die wahrnehmbare Welt als Derivat höherrangiger Prinzipien vorstellte, welche als immateriell und geistig interpretiert wurden. Piaton selbst, Aristoteles, Speusipp, Xenokrates und andere Autoren der sogenannten Älteren Akademie scheinen unterschiedliche (teils affirmative, teils kritische) Vorschläge gemacht zu haben, wie man sich die Ableitung der sinnlichen Welt aus einer geistigen denken kann (oder keinesfalls denken darf). Zur leichteren Verständigung empfiehlt es sich, diese gesamte Denkrichtung als «Otts-Metaphysik zu bezeichnen.1 Die «ows-Metaphysik geriet in der hellenistischen Philosophie ins Abseits, kam aber mit einer Bewegung erneut stark zur Geltung, die man als Mittelpiatonismus bezeichnet. Der Mittelpiatonismus ist zeitlich zwischen Antiochos von Askalon (ca. 130-68 v.Chr.) und Numenios (2. Jahrhundert n.Chr.) anzusiedeln; er bildet ein wichtiges historisches Bindeglied zwischen der Älteren Akademie und Plotin, den man als Begründer des Neuplatonismus ansieht. 2 Doch was spricht dafür, eine solche Position zu vertreten und sich den Intellekt als etwas selbständig Existierendes vorzustellen? In der platonischen Tradition galt die «o«s-Metaphysik als attraktiv, weil sie eine Erklärungsbasis für einige Phänomene bereitstellt, die sich nur schwer auf der Grundlage sinnlicher Erfahrung begreifen lassen. Dazu gehört etwa unsere Fähigkeit, Einzelobjekte oder -ereignisse unter allgemeine Begriffe zu bringen, und insbesondere, mit hochgradig abstrakten Konzepten wie Sein, Einheit, Identität oder Differenz zu operieren. Schon Piaton scheint die Ansicht vertreten zu haben, dass ein solches Begriffswissen in gewissem Sinn unerwerbbar ist; man kann es nicht hinreichend aus den Bedingungen der sinnlichen Welt herleiten. Eine ähnliche Überlegung ergab sich aus der Frage, wie man menschliches Handeln erklären kann. Es war wiederum bereits Piaton, der seinen 1

2

Vgl. den Ausdruck Geistmetaphysik in der klassischen Studie von H.J. Krämer 1964. Einen nützlichen Überblick über diese Bewegung bieten J. Dillon 1977 sowie C. Zintzen 1981.

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Sokrates im Phaidon bemerken lässt, dass man das Handeln einer Person (hier Sokrates' Verbleiben im Gefängnis trotz der drohenden Hinrichtung) nur mit Blick auf deren Geist (nous) verstehen kann (nämlich bezogen auf die Gründe, die eine Handlungsoption für jemanden attraktiv machen), nicht jedoch als Wirkung der Sehnen, Knochen oder Gelenke des betreffenden Akteurs. 3 Von Bedeutung ist sodann die Verbindlichkeit moralischer Forderungen, die man üblicherweise unter dem Stichwort Gerechtigkeit aufzuweisen suchte; nach Auffassung dieser Tradition handelt es sich bei ihnen um objektiv gültige Standards. Ferner verwies man auf die Mathematik, die man als nicht-sinnliche Erkenntnisform verstand und als Inbegriff systematischen Wissens auffasste, da sie streng schlussfolgernd vorgeht und einen hohen Grad an interner Konsistenz erreicht. Einen wichtigen zusätzlichen Aspekt bildete das ästhetisch Schöne, das die Gegebenheiten der wahrnehmbaren Welt gleichfalls zu transzendieren scheint. Alle genannten Aspekte spielen auch bei Plotin eine mehr oder minder prominente Rolle. Dennoch scheint bei ihm ein Aspekt von entscheidender Bedeutung zu sein: Die Vorstellung vom Intellekt als einer Einheit allen Wissens; Abschnitt 1 beschäftigt sich daher mit seiner Theorie der Interdependenz aller geistigen Inhalte. Diejenige Innovation in der Philosophie des Geistes, für die Plotin am meisten Aufmerksamkeit verdient, hängt aber sicherlich mit seiner Theorie des Selbstbewusstseins zusammen; sie wird in Abschnitt 2 erläutert. Und schließlich scheint es nützlich, in Abschnitt 3 noch einen Blick auf Plotins Stellung in der prä-cartesischen Geschichte des Begriffs der Subjektivität zu werfen.

1

Der Intellekt als Einheit interdependenter Ideen

Plotins Rolle in der Geschichte der «ows-Metaphysik lässt sich am besten verstehen, wenn man seine Position zunächst vor dem Hintergrund des Mittelplatonismus beschreibt. Dieser ist in seinem Intellekt-Begriff von zwei Interpretationstendenzen bestimmt. Zum 3

Phaidon 98c-99a.

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einen ist es für ihn kennzeichnend, dass man die Figur des Demiurgen aus Piatons Timaios, besonders aufgrund der Stelle 28a-29b, im Sinn eines göttlichen Geistes auffasste; der platonische Demiurg stellt demnach keine bloße literarische Illustration dar, sondern repräsentiert eine selbständige geistige Entität, die oberhalb der wahrnehmbaren Welt zu situieren ist. Zum anderen spielt im Mittelpiatonismus die Überzeugung eine wichtige Rolle, Piaton habe seine berühmten Ideen (eide, ideai) als die Inhalte dieses demiurgischen Intellekts verstehen wollen. Nimmt man beide Vorstellungen zusammen, so gelangt man dazu, die Ideen als «ows-immanente Denkobjekte zu interpretieren. Die Ideen bilden mithin die ewigen Paradigmen innerhalb des göttlichen Intellekts, an denen dieser sich orientiert, wenn er die wahrnehmbare Welt gestaltet. Belege für eine solche Lehre von den Ideen als den „Gedanken" des demiurgischen Gottes finden sich bei Antiochos von Askalon, Philon von Alexandrien, Attikos, Alkinoos sowie Numenios. Erwähnenswert sind noch einige weitere Details der mittelplatonischen Theoriegeschichte. So ist es etwa bemerkenswert, dass bereits Alkinoos, nicht erst Plotin, den göttlichen Intellekt dadurch charakterisiert sein lässt, dass er sich selbst und seine immanenten Gedanken permanent denkt.4 Zum anderen finden wir schon bei Numenios eine Konzeption, in der - ebenso wie bei Plotin - die «ows-Metaphysik mit einer Drei-Prinzipien-Lehre verknüpft ist. Anders als Plotin beschreibt Numenios aber alle drei Prinzipien als Formen des Intellekts: Danach ist der „erste Gott" einfach, unteilbar und ruhend; der „zweite" und der „dritte Gott" bilden eine Einheit: den Demiurgen, welcher bewegt sein soll, die Materie gestaltet und dabei selbst geteilt wird.5 Der erste nous richtet sich auf das Intelligible, der demiurgische (also zweite und dritte) Intellekt sowohl auf die Ideen als auch auf das Sinnliche.6 Der erste Gott gilt hierbei als Entität, die für das gewöhnliche Bewusstsein unerkennbar ist und die kein Gegenstand adäquaten Sprechens sein kann - ein Motiv, das Plotin bekanntlich zuspitzt und auf das 4 5 6

Vgl. Didaskalikos X 3, 2 3 Whittaker. Frg. 11; 12; 16; 19 des Places. Frg. 15 des Places

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erste Prinzip überträgt, das bei ihm jedoch nicht selbst Intellekt ist, sondern den Intellekt transzendiert. Angesichts eines solchen doxographischen Referats fragt man sich natürlich, welcher sachliche Sinn hinter den hochgradig spekulativen Konzeptionen steht. Da wir von den mittelplatonischen Philosophen nur spärliche Textzeugnisse besitzen, ist es schwer zu sagen, wie sie ihre Standpunkte in der Auseinandersetzung mit den anderen Philosophenschulen der späten römischen Republik und der frühen Kaiserzeit verteidigt haben mögen. Gut greifbar sind solche Argumente dagegen bei Plotin. Auch er vertritt die Auffassung, der Intellekt sei mit dem Demiurgen des Timaios gleichzusetzen; auch er verlagert die platonischen Ideen in ihn. 7 Doch bei Plotin stoßen wir überdies auf ausführliche Überlegungen, die über den sachlichen Sinn solcher Thesen Auskunft zu geben suchen. Das Zentrum der plotinischen Philosophie des Geistes dürfte demnach in einer epistemologischen Überlegung bestehen. Diese nimmt ihren Ausgang von der Frage, welche Rückschlüsse man daraus zu ziehen hat, dass es sicheres Wissen gibt. Dass überhaupt sicheres Wissen existiert, behauptete vor allem Piaton in einer für Plotin maßgeblichen Weise. In den Büchern V-VII seiner Politeia ergibt sich diese These im Rahmen einer besonders starken Epistemologie, mit der Piaton dort die Vorstellung einer Philosophenherrschaft untermauert. Ihr zufolge kann man von Wissen in einem gegebenen Fall nur sprechen, wenn es sich um Erkenntnisse handelt, die sich systematisch zu einem Ganzen verbinden lassen, die kohärent sind, die auf methodischem Weg gewonnen sind, zu Gewissheit führen und die das Merkmal der Infallibilität aufweisen. Piaton band diese ungewöhnlich voraussetzungsreiche Konzeption an die Vorstellung, von Wissen könne dann und nur dann die Rede sein, wenn es sich bei den Erkenntnisobjekten um Ideen handelt; und über genau dieses Ideenwissen sollen die herrschenden Philosophen verfügen. Was uns daran besonders anstößig scheint, ist die Tatsache, dass wir uns selbst oder anderen bereits unter wesentlich bescheideneren Bedingungen Wissen zubilligen würden. So hätten wir keinerlei Mühe, die Fest7

Enneade V 9 [5] 3, 26; V 1 [10] 8, 5; 1 [40] 5; II 3 [52] 18, 15.

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Stellung „Ich weiß, dass es vorgestern geregnet hat" (vorausgesetzt, sie wäre wahr, und ich könnte z.B. einen Zeugen dafür benennen) als Beispiel für tatsächliches Wissen durchgehen zu lassen. Jedoch, präzise in jenem maximalistischen Sinn, also im Sinn eines vollkommenen, systematischen, kohärenten, methodischen, gewissen und irrtumsfreien epistemischen Erfassens, hat man in der Tradition des Piatonismus den Wissensbegriff fortgeführt, und Plotin ist einer der relevanten Vertreter einer solchen anspruchsvollen Epistemologie. Unserem am Alltagssprachgebrauch orientierten Begriffsverständnis bereitet diese Position freilich so erhebliche Schwierigkeiten, dass es sinnvoll scheint, zunächst auf zwei ihrer Verständnisvoraussetzungen einzugehen. Eine erste Verständnisvoraussetzung der starken platonischen Epistemologie besteht in der Überzeugung, dass man von einer philosophischen Klärung eines Begriffsgehalts nur sprechen kann, wenn man den jeweiligen Begriff sozusagen in Reinform, das bedeutet, unter bewusstem und methodischem Ausschluss aller anderen Sachgehalte, zu fassen bekommt. Bekanntlich ist es bereits eine Grundforderung der platonischen Dialoge, Begriffsklärungen mit dem Ziel eines solchen gereinigten Verständnisses durchzuführen. Piaton hält eine Antwort auf eine der sokratischen Was-istX?-Fragen erst dann für hinreichend, wenn der volle Sachgehalt des betreffenden X aufgedeckt ist. So wäre z.B. eine angemessene Begriffsbestimmung des Kreises für ihn erst erreicht, wenn wir den Kreis unter Ausschluss begriffsfremder Aspekte (etwa dem der Geradlinigkeit) erfassen würden; ein angemessenes Verständnis des Einheitsbegriffs ergäbe sich entsprechend erst dann, wenn es gelänge, Einheit ohne jede Vielheit zu bestimmen.8 Von hier aus sieht man leicht, warum Wissen nur von Ideen möglich sein soll: Ideen sind dem Wissen deswegen vollkommen zugänglich, weil sie unvermischte, reine, eindeutige Begriffsgehalte darstellen. Damit Wissen möglich ist, müssen intelligible Objekte der beschriebenen Art existieren. Eine zunächst nur methodische Forderung führt auf diese Weise zu einem ontologischen Postulat: es muss selbständige begriffliche Entitäten geben, Repräsentanten reiner Bedeutungen, die unserem Wissen als Basis dienen. 8

VII. Brief 343a; Sophistes 245a-c.

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Eine zweite implizite Grundannahme besteht im veritativen Seinsverständnis Piatons und des Piatonismus: Danach bedeutet Sein soviel wie Wahrsein, und Erkenntnis von etwas Seiendem ist folgerichtig gleichbedeutend mit wahrer Erkenntnis. Falschheit, Irrtum und Täuschung müssen in einem solchen Modell auf irgendwelche Formen von Seinsmangel zurückgeführt werden. Der wichtigste Seinsmangel, den etwas aufweisen kann, ist seine Unbeständigkeit in der Zeit: Und in der Tat ist es richtig, dass eine Feststellung über das Wetter i.d.R. weniger solide Wahrheitsbedingungen besitzt als eine Aussage im Rahmen der Mathematik. Vor diesem Hintergrund wirkt es nicht überraschend, dass Piaton eine hierarchische Ontologie vertritt, ein degrees of reality-Modell (so Gregory Vlastos), an dessen Spitze die strikt invarianten Ideen stehen sollen. Man charakterisiert die Vorstellung, die einem solchen Stufenmodell zugrunde liegt, gewöhnlich als ontologischen Komparativ: Ihm zufolge gilt ein χ dann als „seiender" als ein y, wenn es konstanter als dieses ist. Analog zu dem ontologischen Stufenmodell verteidigen Piaton und der Piatonismus eine stufenförmige Erkenntniskonzeption, man könnte sagen: ein degrees of knowledge-Modell. Dabei soll eine exakte Isomorphic zwischen Seins- und Erkenntnisstufung bestehen; diese Entsprechung ergibt sich daraus, dass das Wissen von etwas nach dieser Auffassung nur in dem Maße möglich ist, in dem das betreffende Erkenntnisobjekt beständig ist. Wissen im Vollsinn des Wortes heißt mithin stets soviel wie etwas invariant Seiendes wissen, und etwas invariant Seiendes wissen heißt stets soviel wie etwas invariant Wahres wissen. Soweit lässt sich erklären, wie die Mittelplatoniker und Plotin zu der Annahme einer „höheren Welt" selbständiger begrifflicher Entitäten gelangen konnten, welche die Basis sicheren Wissens abgeben sollen: Die Ideen stellen die erstrangigen Erkenntnisobjekte dar, weil sie einen Sachgehalt in Reinform repräsentieren, und sie bilden aufgrund ihrer Invarianz das Sein in einem eminenten Sinn, sozusagen den Inbegriff des Seins (ta onta), welches ein konstantes Wissen garantiert. Die «ows-Metaphysik Plotins umfasst daneben fünf weitere zentrale Merkmale, von denen sich drei auf diesen epistemologischen Hintergrund beziehen lassen.

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(1) Die Vorstellung vom Enthaltensein der Ideen im Intellekt: Plotin grenzt die Form des Wissens, die sich aus der Ideenerkenntnis ergibt, pointiert gegen die epistemische Erfassung räumlichzeitlicher Gegenstände ab. Letztere kennzeichnet er mittels der Metapher des „Außen"; die Ideen dürfen demgegenüber „nicht außerhalb des nous" situiert werden.9 Plotin ist mit dieser Antithese einer der Begründer der uns vertrauten Unterscheidung zwischen objektiver Außenwelt und subjektiver Innenwelt (vgl. dazu Abschnitt 3). Der sachliche Hintergrund einer solchen Metaphorik ergibt sich aus den epistemologischen Kontroversen der hellenistischen Philosophie: Während nämlich die Stoiker behaupteten, es gebe eine adäquate Erkenntnis der Außenwelt auf dem Weg der Sinneserfahrung, wandten die Kyrenaiker und die Skeptiker gegen deren Adäquatheit ein, das wahrnehmende Subjekt verfüge lediglich über Sinneseindrücke (pathe) und Vorstellungen (phantasiai) und schließe von ihnen aus zu Unrecht auf die Beschaffenheit der Objekte in der Außenwelt. Sextus Empiricus referiert diesen Punkt wie folgt: „Ferner, selbst wenn wir zugäben, dass man die Vorstellung tatsächlich erkennte, so können die Dinge dennoch nicht nach ihr beurteilt werden. Denn nicht durch sich selbst sucht der Verstand die Außendinge auf und stellt sie vor, wie sie [die Stoiker] behaupten, sondern durch die Sinne. Die Sinne aber erkennen die äußeren Gegenstände nicht, sondern nur, wenn überhaupt, ihre eigenen Erlebnisse. Auch die Vorstellung kann also nur Vorstellung vom Erlebnis des Sinnes sein, das vom äußeren Gegenstand verschieden ist. Denn der Honig ist nicht dasselbe wie meine süße Empfindung und der Wermut nicht dasselbe wie meine bittere Empfindung, sondern davon verschieden."10 Plotin erkennt die skeptischen Bedenken gegen den wahrnehmungstheoretischen Realismus der Stoiker an, zieht daraus aber den anti-skeptischen Schluss, Objekte adäquater Erkenntnis müss-

9 10

Besonders in Enneade V 5 [32]. Grundriss der pyrrhonischen Skepsis II 7, 7 2 (Übersetzung M. Hossenfelder, leicht modifiziert).

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ten innerhalb des Verfügungsbereichs des erkennenden Subjekts situiert werden. (2) Die Vorstellung von der Einheit des Wissenden mit seinem Objekt: Damit verknüpft ist die plotinische Überlegung, vollkommenes Wissen sei nur möglich, wenn Wissendes und Gewusstes eine unmittelbare Verbindung eingehen könnten. Um dies sicherzustellen, führt Plotin eine spezifische Form intuitiv-direkter Erkenntnis ein, die noesis, und setzt sie mithilfe einer umfangreichen visuellen Metaphorik (theorein, blepein, idein), die auf Piatons Phaidon, Phaidros, Symposion und Politeia zurückgeht, vom dianoetischen, d.h. diskursiv-indirekten Denken ab. Dieser Denkvorgang ist zwar unmittelbar-intuitiv im Unterschied zum sukzessiv-diskursiven Denken der Seele; es handelt sich dennoch um ein begrifflich-propositionales Denken - nicht um ein vages intellektuelles Anschauen.11 Die Differenz zwischen dem nichtdiskursiven, holistischen Erfassen des Intellekts und dem diskursiven Denken kommt nach einem bildhaften Vergleich Plotins in den ägyptischen Hieroglyphen im Unterschied zur griechischen Buchstabenschrift zum Ausdruck.12 Das Denkvermögen der Seele (dianoia, logizomenon, logistikon, dianoetikon) ist eng mit dem Wahrnehmungsvermögen verbunden; es verfährt dihairetisch sowie synthetisch, geht also isolierend und verbindend vor, verfügt jedoch nicht über den Zusammenhang aller Wissensinhalte. In der Denkform der dianoia wird der Gehalt einer Idee reduziert und isoliert.13 Noetisches und dianoetisches Denken stehen zueinander in einer Urbild-Abbild-Relation.14 Wir, d.h. das Ich des gewöhnlichen Bewusstseins, sind nicht Intellekt, sondern dianoetisches Denken.15 Zudem benutzt Plotin nach dem Vorbild des Eleaten Parmenides die Vorstellung einer Identität von Denken und Sein, von Subjekt und Objekt im Erkenntnisakt. Die schrittweise Vervollkommnung des Erkennens ist nach Plotin als zunehmende Einswerdung von 11

12 13 14 15

So Sorabji 1983, 152-163 mit Recht gegen die These von A.C. Lloyd 1969/70. Enneade V 8 [31] 6, 1-9. Enneade I 2 [19] 3, 24-30; IV 3 [27] 18. Enneade V 1 [10] 3. Enneade V 3 [49] 3.

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Wissenssubjekt und gewusstem Objekt zu verstehen.16 Der Intellekt gilt als dasjenige, bei dem das Moment der Aktivität vollkommen zur Deckung gelangt mit dem Moment des intelligiblen Gegenstands. Plotin erläutert diesen Gedanken wie folgt: „Wenn er [der Intellekt] aber das Denken nicht als etwas Hinzugefügtes besitzt, sondern, sooft er etwas denkt, dieses von sich selbst her denkt, so ist er selbst das, was er denkt. Denn wenn seine Substanz etwas anderes als er selbst wäre und das, was er denkt, etwas anderes als er selbst, dann wäre seine Substanz nicht-intelligibel (anoetos). Und sie wäre dann potentiell und nicht aktuell. Die beiden sind also nicht voneinander zu trennen; man darf nicht, wie es unserer Gewohnheit aus der wahrnehmbaren Welt entspricht, auch jene in Gedanken zerteilen."17

(3) Die Vorstellung von der Interdependenz aller Gehalte des Intellekts: Nach dem Vorbild Piatons, der in seinem Sophistes von einer „Verflechtung" (symploke) der obersten Allgemeinbegriffe spricht18, entwickelt Plotin die Auffassung, im Intellekt seien sämtliche Ideen miteinander zu einer dynamischen Einheit verknüpft. Plotin versteht den Intellekt als ein in sich differenziertes Ganzes, als eine pluralisierte Einheit19, nämlich als den Ort aller in einem Interdependenzverhältnis miteinander verflochtenen Ideen.20 Für diese Konzeption verwendet Plotin häufig die auf den Vorsokratiker Anaxagoras zurückgehende Formel „Alles bildet ein gleichmäßiges Ganzes" (homou panta): Nach Plotin impliziert jede

16

17 18

19

20

Vgl. besonders Enneade II 8 [30] 6. Eine zentrale Quelle dieser plotinischen Konstruktion lässt sich bei Alexander von Aphrodisias ausmachen; in dessen Kommentierung von De anima III 4-5 erscheint bereits der Gedanke, dass der nous die noeta denkt und die noeta deshalb mit dem nous im Denkakt geeint sein müssen: vgl. Alexander von Aphrodisias, De anima 89, 16-29 Bruns. Enneade V 9 [5] 5, 4 - 1 1 . Sophistes 269e5; vgl. Plotins Formel symploke kai synthesis in Enneade VI 2 [43] 21, 53 ff. hen polla nach Piaton, Parmenides 144e; vgl. Enneade V 1 [10] 8, 12; III 9 [13] 1 u.ö. Vgl. plethos adiakriton kai au diakekrimenon: Enneade VI 9 [9] 5, 16; vgl V 3 [49] 4-5; 15; 17; V 9 [5] 6; 8; IV 8 [6] 1; V 5 [32] 1-2.

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Idee zugleich jede andere und das Ganze des Intellekts.21 Zur Veranschaulichung dieser Wechselimplikation gebraucht Plotin gerne den Vergleich mit einer wissenschaftlichen Disziplin (episteme); besonders eingehend wird dieser in einem frühen Text ausgeführt.22 Eine Wissenschaft wie die Geometrie bildet, so Plotin, stets ein systematisch-wohlgeordnetes Ganzes. Dabei muss jeder ihrer Teile, hier also eine geometrische Einzeluntersuchung {analysis), ein sinnvolles und vollständiges Ganzes der Beweisführung darstellen. Die Vollständigkeit eines Teils ist aber immer nur so möglich, dass jede Einzeluntersuchung zugleich jede andere und die Gesamtwissenschaft voraussetzt oder zur Folge hat. Folglich impliziert nicht nur die Gesamtwissenschaft alle Einzeluntersuchungen, sondern auch umgekehrt jede Einzeluntersuchung alle anderen sowie die Gesamtwissenschaft. Plotin differenziert hier näherhin zwischen dem aktuellen Implikationsverhältnis (energeiai), das zwischen einem Ganzem und seinen Teilen herrscht, und dem potentiellen Implikationsverhältnis (dynamei), das zwischen einem Teil und dem Ganzen einer Gesamtwissenschaft bestehen soll. (4) Die Vorstellung vom Intellekt als dem Paradigma der wahrnehmbaren Realität: Nach Plotin enthält der Intellekt alle Gegenstände und Eigenschaften der wahrnehmbaren Welt gleichsam in Form von Prototypen. In diesem Zusammenhang knüpft er eng an Piatons Begriff des „vollkommen Seienden" (pantelös on)23 an und verbindet damit die Vorstellung, der Intellekt enthalte alles Seiende geordnet nach Gattung, Art und Individuen. Um im Intellekt eine solche gestufte Gliederung unterbringen zu können, verwendet er ferner das aristotelische Begriffspaar von dynamis und energeia. In seiner Derivationstheorie dient dieses dazu, eine unentfaltetpotentielle von einer entfaltet-aktuellen Phase zu unterscheiden, und zwar um damit die Priorität bzw. Nachrangigkeit aufeinander folgender Entfaltungsstufen behaupten zu können. Anders als Aristoteles verbindet er den dynamis-Begriff meist mit dem vorrangigen Moment einer Ableitungsbeziehung und den energeia21

22 23

Enneade III 6 [26] 6, 23; VI 6 [34] 7, 4; V 5 [5] 8,2 ff; V 4 [7] 2 , 4 - 7 ; V 1 [10] 4 , 2 7 - 3 0 ; V 8 [31]4,22-25. Enneade IV 9 [8] 5, 8-25. Sophistes 248e.

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Begriff eher mit dem nachrangigen Aspekt. Dabei unterscheidet er gemäß seiner Innen-Außen-Metaphorik zwischen einer inneren und einer äußeren energeia·, die innere energeia bezeichnet die untergeordnete Stufe ein und derselben Entität, die äußere energeia steht für eine untergeordnete selbständige Entität. In diesen Kontext gehören auch die gliedernden Triaden, z.B. die von zöe,

nous und phronesis24 oder die von on, nous und zöe25.

(5) Die Vorstellung vom Intellekt als dem Ziel der individuellen Selbstperfektionierung: Mit der «o«s-Metaphysik verbindet Plotin schließlich nicht nur eine Derivationstheorie, sondern umgekehrt auch eine Aufstiegskonzeption. Seiner ethischen Bestimmung nähert sich der Mensch demnach durch eine „Vergeistigung" oder „Geistwerdung" (noöthenai) an.26 Der Aufstieg des Menschen zum nous beruht auf einer philosophisch-intellektuellen Asketik; Plotin versteht unter Tugend folgerichtig einen intellektuellen Habitus. Dabei greift er auf eine Antithese aus Piatons Phaidon zurück und führt auf ihrer Basis eine pointierte Unterscheidung zwischen bürgerlichen Tugenden (politikai aretai) und höheren Tugenden (meizous) ein.27 Plotin unterlegt diesem Begriffspaar den neuartigen Sinn, dass bürgerliche Tugenden diejenige Charakterhaltung bezeichnen, welche unter den Bedingungen einer zeitlich-irdischen Existenz angemessen ist, während ihre Urbilder, die höheren Tugenden, die vortreffliche seelische Verfassung in einer intelligiblen und unkörperlichen Welt darstellen. Die bürgerlichen Tugenden weisen für Plotin hauptsächlich zwei Fehler auf: Zum einen spiegeln sie eine insgesamt uneinheitliche Seelenverfassung, da sich die vier Kardinaltugenden auf die drei verschiedenen Seelenteile sowie ihr Zusammenspiel beziehen; zum anderen ist derjenige, der sie besitzt, alles andere als frei, über ihre Ausübung selbst zu entscheiden, weil es ja die jeweiligen äußeren Umstände sind, die zu ihrem Einsatz nötigen; so ist es beispielsweise die Konfrontation mit Unrecht, welche den Gerechten zum Handeln zwingt. Sophistes 2 4 8 e ff. Timaios 39e. 2« Vgl. Enneade VI 7 [38] 35, 5 und VI 8 [39] 5, 35. 27 Phaidon 82a; Enneade I 2 [19] 1,16 f.

24

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Soweit die wichtigsten Merkmale der plotinischen nous-Metaphysik. Offenbar handelt es sich bei ihr um eine konsequente Fortführung von Überzeugungen und Theorien, die auf Piaton und die Mittelplatoniker zurückgehen - vor allem was die These vom vollkommenen Wissen betrifft. Natürlich ändert dies nichts Grundlegendes daran, dass wir diese Konzeption nur aus großer historischer Distanz zur Kenntnis nehmen können. Sieht man aber einmal davon ab, welche Einwände wir vor dem Hintergrund einer zeitgenössischen Philosophie des Geistes bzw. Epistemologie gegen dieses Modell erheben würden, so verbleiben einige theorieimmanente Kritikpunkte. Das plotinische nows-Modell bildet zwar mehr als ein bloßes Sammelsurium aus traditionellen geistmetaphysischen Begriffselementen. Dennoch wirkt es durch seine zahlreichen Theorieelemente überlastet; man gewinnt den Eindruck, zu viele unterschiedliche und nicht vollkommen harmonisierbare Absichten seien hier gleichzeitig im Spiel. Es handelt sich besonders um drei Spannungen: (a) Eine gewisse Dissonanz herrscht zweifellos zwischen der These von der Interdependenz der Ideen und dem Ableitungsmodell, also zwischen der homou panta-Konzeption einerseits und der Derivationstheorie andererseits. Denn wenn man den Intellekt als Geflecht unaufhebbarer korrelativer Teilaspekte darstellt, die zueinander in einer dynamischen Identitätsbeziehung stehen, dann scheint es unzulässig, zugleich Primats- und Abhängigkeitsverhältnisse zu behaupten, wie Plotin dies tut. Entweder, so lässt sich einwenden, besteht eine vollkommen symmetrische Interdependenz, oder es liegt ein einseitiges, ein asymmetrisches Abhängigkeitsverhältnis vor. Die dynamis-energeia-Dichotomie wird jedoch sowohl zur Formulierung der Ebenengleichheit aller Momente des Intellekts herangezogen als auch zur Formulierung der Ebenendifferenzen im Derivationsmodell. (b) Hinzu kommt der Eindruck, dass Plotin einige weitere Traditionselemente unzulänglich in sein Modell integriert: Er nennt ganz unterschiedliche Begriffsmomente, die den Intellekt strukturieren sollen. Man erfährt dabei nicht, wie die zahlreichen konkurrierenden Beschreibungen ineinander greifen oder miteinander gleichzusetzen sein könnten. Beispielsweise macht er teilweise präzise numerische

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Angaben zur Menge jener Korrelate, die er im Intellekt aufeinander beziehen will. Es wirkt aber nicht nachvollziehbar, weshalb der selbstbezügliche Intellekt etwa gerade durch drei, vier oder fünf aufeinander bezogene Relata gekennzeichnet sein sollte. Um z.B. die triadische Struktur zu begründen, müsste aber die Vollständigkeit und Nicht-Ergänzbarkeit dieser Relationen gezeigt werden. Daran scheint Plotin jedoch überhaupt nicht interessiert zu sein.28 (c) Hiermit hängt das Problem zusammen, dass Plotin der fundamentalen ontologischen Verschiedenheit der von ihm eingeführten Teilmomente des nous nicht ausreichend Rechnung trägt. In seiner Beschreibung des Intellekts tritt etwa der Denkakt, verstanden als eine Relation, mit der sich das Denksubjekt auf das Denkobjekt, die Ideen, bezieht, gleichberechtigt mit Subjekt und Objekt selbst auf. Daran ist zweierlei zu beanstanden. Zum einen kann man Denkakte wohl kaum im selben Sinn als Teilaspekte des Geistes auffassen wie Subjekt und Objekt; Denkakte bezeichnen die Tatsache und die Weise der Gegebenheit eines Objekts für ein Subjekt. Zum anderen darf die Relation zwischen Denksubjekt und Denkobjekt nicht selbst zu einem noetisch Seienden hypostasiert werden; wäre die Relation nämlich selbst ein Relatum, dann müssten auch die Relationen zwischen Subjekt und Denkakt sowie zwischen Denkakt und Objekt als Relata aufgefasst werden, und man hätte es mit fünf Relata zu tun statt mit dreien usw. ad infinitum.

2

Plotins Theorie des Selbstbewusstseins

Wie es scheint, Plotins Konzept Theorieelemente einer Reihe von 28

sprechen gute Gründe für die Annahme, dass des Intellekts zu viele und zu unterschiedliche miteinander verknüpft. Es spiegelt den Versuch, Anliegen gerecht zu werden, die untereinander

Bei den vier- oder fünfgliedrigen Relationen handelt es sich um Darstellungen des Intellekts, die sich auf die megista gene-Konzeption aus dem Sophistes stützen: vgl. besonders Enneade V 9 [5] 10; VI 9 [9] 3; V 1 [10] 4; II 6 [17] 1; VI 7 [38] 13; III 7 [45] 3. Im Traktat V 6 [34] 9 erscheint eine viergliedrige Relation aus on, onta, nous und zöon.

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kaum harmonisierbar sein dürften. Jedoch besitzt dieses Konzept auch einen interessanten argumentativen Kern. In der Forschung wurde wiederholt darauf hingewiesen, dass Plotin über eine historisch innovative und philosophisch bedeutende Beschreibung des Selbstbewusstseins verfügt.29 Diese Beschreibung scheint er sich in Auseinandersetzung mit der pyrrhonischen Skepsis erarbeitet zu haben. Der Bezugspunkt für Plotins Überlegungen lässt sich in der Schrift Adversus Mathematicos des kaiserzeitlichen Pyrrhoneers Sextus Empiricus identifizieren; da dieser gegen Ende des 2. Jahrhunderts in Rom lebte, steht er Plotin zeitlich und räumlich sehr nahe (was uns allerdings nicht zu übertriebenen Vermutungen über eine Verbindung zwischen den beiden Philosophen verleiten sollte). Eines der zentralen Anliegen des Sextus Empiricus bestand darin, die stoische Auffassung zu erschüttern, wonach es wahrheitshaltige Erkenntnis gibt - stoisch ausgedrückt, ein mit Evidenz ausgestattetes, adäquates Erfassen (katalepsis) epistemischer Sachverhalte. In diesem Zusammenhang wandte sich Sextus auch gegen die aus seiner Sicht aporetische Vorstellung, der Mensch könne sich selbst erkennen. Sein Einwand gegen die Möglichkeit von Selbsterkenntnis weist eine raffinierte Struktur auf: Gäbe es Selbsterkenntnis, dann, so Sextus, müsste sie sich nach einem von drei Modellen beschreiben lassen: (a) Entweder wäre „der ganze Mensch" dasjenige Subjekt, das den Versuch einer Selbsterfassung unternimmt; oder (b) der ganze Mensch wäre das Objekt, auf das sich dieser Versuch richtet; oder (c) ein Teil des Menschen bildete das Subjekt, ein anderer Teil das Objekt. Nun sind aber alle drei Modelle ausgeschlossen. Denn im Fall (a) bliebe, so immer noch Sextus, nichts vom Menschen übrig, das noch als Objekt der Selbsterfassung dienen könnte; ebenso verbliebe im Fall (b) kein Rest des Menschen, welcher noch das Subjekt der Erkenntnis darstellen würde. Im Fall (c) schließlich wäre der ganze Mensch zu einem bestimmten Zeitpunkt Subjekt, zu einem anderen Objekt; und in jeder der Phasen bliebe nichts, was jeweils noch als Objekt bzw. als Subjekt der Selbsterkenntnis dienen könnte. Der Wortlaut von Sextus' Einwand ist folgender: 29

Dazu u.a. J. Pepin 1 9 5 6 , R.T. Wallis 1 9 8 7 , W. Beierwaltes 1 9 9 1 , J. Halfwassen 1994, S. Rappe 1996, I. Crystal 1 9 9 8 .

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Christoph Horn „Allerdings ist es möglich, denselben Punkt auch noch auf eine andere Weise zu erreichen: Wenn der Mensch etwas [durch sich selbst] Erfassbares ist, dann doch wohl entweder so, dass er sich als Ganzer durch sich als Ganzen sucht und erfasst, oder so, dass er als Ganzer das Gesuchte darstellt und unter das Erfassen fällt, [oder so, dass er mit dem einen Teil das Suchende bildet, mit dem anderen das Gesuchte,] so wie wenn man sich vorstellen würde, dass sich der Gesichtssinn selbst sieht. Denn entweder wäre dann der gesamte Gesichtssinn dasjenige, was sieht, oder es wäre dasjenige, was gesehen wird, oder es wäre dasjenige, was sich mit dem einen Teil sieht, mit dem anderen gesehen wird. Doch wenn man annehmen sollte, dass sich der Mensch als Ganzer sich selbst durch sich als Ganzen sucht und dass er auf diese Weise gedacht würde - indem er sich nämlich als Ganzer durch sich als Ganzen denken würde dann wäre nichts mehr übrig für das, was erfasst wird, und das ist absurd. Wenn er hingegen als Ganzer das Gesuchte wäre und auf diese Weise gedacht würde - nämlich als Objekt der Suche - , dann bliebe wiederum nichts übrig, was das Suchende wäre, sowie dasjenige, was das Erfassen vollzieht. Ebenso wenig ist es aber möglich, dass das Ganze zum einen Zeitpunkt das Suchende darstellt und zu einem anderen Zeitpunkt das Gesuchte. Denn sobald er als Ganzer das suchende Subjekt darstellt und auf diese Weise als Ganzer gedacht wird - nämlich so, dass er insgesamt sucht - , ist nichts mehr übrig, was er suchen kann. Und ebenso: sobald er als Ganzer durch sich als Ganzen das gesuchte Objekt ist, wird es nichts Suchendes mehr geben." 30

Was Sextus an der vorliegenden Stelle kritisiert, ist die Vorstellung, etwas könne gleichzeitig das Subjekt und das Objekt eines Erkenntnisaktes bilden. Entweder stellt es nur das Subjekt des Erkenntnisvorgangs dar oder nur sein Objekt, oder aber es entsteht eine Folge phasenverschobener Subjekt-Objekt-Relationen, bei denen das, was zum aktuellen Objekt wird, nicht das aktuelle Subjekt ist. In keinem der Fälle kommt das Subjekt mit dem Objekt unmittelbar zur Deckung. In einer etwas anderen Wendung dieser Argumentation sagt Sextus, Selbstbewusstsein sei „anfangslos"

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Adversus Matbematicos VII 284,1-287,1; vgl. 310-312.

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(anarchon), weil man sich nicht vorstellen könne, wie sich erstmals ein Subjekt auf sich selbst als Objekt gerichtet haben soll. 31 In der Philosophiegeschichte ist Sextus' Bedenken gegen die Möglichkeit, Selbsterkenntnis zu verstehen, in mehreren Varianten entwickelt und diskutiert worden. 32 Doch so interessant das Argument auch ist: es scheint trotzdem nicht bei allen möglichen Theoriemodellen zu verfangen, sondern nur auf das sogenannte Reflexionsmodell zuzutreffen. Damit ist diejenige Theoriefamilie gemeint, in der Selbstbewusstsein als eine reflexive Beziehung gedeutet wird. Solange man Selbsterkenntnis so zu verstehen sucht, dass es durch die Reflexion eines Subjekts auf sich selbst als Objekt zustande kommt, gerät man in Aporien der beschriebenen Art. Aber worin könnte eine Alternative hierzu liegen? Plotin versucht an mehreren Stellen seines Werks, für das Sextus-Dilemma eine Lösung zu finden, um daran festhalten zu können, dass der Intellekt über Selbsterkenntnis verfügt. Das wichtigste Textzeugnis für diese Bemühungen ist zweifellos Enneade V 3 [49]. Was dort zunächst ins Auge fällt, ist Plotins Problembewusstsein, welches recht präzise an den von Sextus vorgegebenen Schwierigkeiten orientiert ist. Zunächst gibt Plotin Sextus darin recht, dass ein Sich-selbst-denken des Intellekts nicht als eine Beziehung zweier Teile des Intellekts, also nicht als TeilTeil-Relation, konzipiert werden darf: „Dasjenige, von dem wir sagen, es denke als ein Zusammengesetztes (syntbeton) sich selbst, insofern es durch eines in sich das andere denkt, [...] gelangt wohl nicht zum wahren Denken seiner selbst. Denn dann würde nicht das Ganze {to pan) erkannt, wenn nämlich jenes, das das andere mit ihm Verbundene denkt, nicht auch sich selbst denkt. Und dies wäre ja gerade nicht der gesuchte Vorgang des Sich-selbst-denkens, vielmehr dächte dann etwas ein anderes." 33 Eine andere Stelle formuliert denselben Punkt wie folgt:

31 32 33

Adversus Mathematicos VII 3 1 2 , 5 . Vgl. etwa K. Düsing 1 9 9 7 , 9 7 - 1 2 0 . Enneade V 3 [49] 1, 5 - 1 2 .

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„Sieht er [der Intellekt] also mit einem Teil seiner selbst einen anderen Teil seiner selbst? Nein, denn auf diese Weise wäre der eine Teil das Sehende, der andere das Gesehene; das aber wäre gerade kein Sich-selbst-sehen."34 Nach Plotin kann Selbstbewusstsein mithin nicht nach einem mereologischen Modell verstanden werden. Denn gemäß einer solchen Konzeption würde sich lediglich ein Teil des Intellekts auf einen anderen Teil beziehen, was der Vorstellung einer vollständigen Selbsterkenntnis zuwider liefe. Ablehnung erfährt bei ihm sodann auch ein Lösungsvorschlag, dem bei Sextus kein Vorbild entspricht: das /jomoiomere-Modell.35 Der Ausdruck homoiomere geht auf die Philosophie des Anaxagoras zurück; er erscheint dort innerhalb einer Theorie, nach der sich die Wirklichkeit aus gleichteiligen Elementarbausteinen zusammensetzen soll. Die von Plotin ins Spiel gebrachte homoiomere-Lösung dürfte somit folgende Vorstellung bezeichnen: Sich-selbst-denken ist als Beziehung zweier Teile zu verstehen, welche zwar voneinander unterscheidbar sind, sich aber jeweils aus gleich beschaffenen Bestandteilen zusammensetzen. So verstanden handelt es sich bei diesem Vorschlag jedoch nur um eine Variante des mereologischen Modells: Selbsterkenntnis wird in ihm immer noch so interpretiert, als ob ein Teil des Intellekts einen anderen denken würde, jetzt freilich mit dem Zusatz, dass beide Teile wegen ihrer inhaltlichen Ununterscheidbarkeit miteinander identifiziert werden können. Doch offenbar trifft auf dieses Modell dasselbe zu, was zuvor bereits gegen das mereologische Modell eingewandt worden ist: insofern die beiden Teile voneinander unterscheidbar bleiben, denkt der eine nicht den anderen. Ob die voneinander distinkten Teile inhaltlich gleich beschaffen sind, scheint demgegenüber von untergeordneter Bedeutung zu sein. Und schließlich verwirft Plotin in gewissem Umfang die Vorstellung, Selbstbewusstsein sei im Sinn einer Relation des ganzen Intellekts auf sich als ganzen zu verstehen. Zumindest lehnt er ein solches holistisches Modell in einem Punkt ab: Man dürfe, sagt er, nicht einmal in einem „Gedankenexperiment" (epinoia) 34 35

Enneade V 3 [49] 5, 1-3 und 6, 7. Enneade V 3 [49] 5, 3-7.

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unterstellen, hierbei sei der sich selbst denkende Intellekt ein anderer als der, der denkt, dass er denkt usw.36 Mit dieser Einschränkung scheint Plotin dann jedoch der Annahme zuzustimmen, das Sich-selbst-denken des nous sei so zu verstehen, dass „dieser als ganzer durch sich als ganzen denkt".37 Was Plotin mit Blick auf die (von ihm grundsätzlich gutgeheißene) Theorie, Selbstbewusstsein sei im Sinn einer Ganzes-Ganzes-Relation zu verstehen, vermeiden möchte, ist die Unterstellung, das erste Ganze sei in irgendeinem Sinn ein anderes Ganzes als das zweite. Tatsächlich enthält das Reflexionsmodell folgende Schwierigkeit: Damit es zu einer Koinzidenz zwischen dem denkenden Subjekt und dem gedachten Objekt kommen kann, müsste sich ersteres als Denkendes denken können, das sich als Denkendes denkt usw. ad infinitum. Plotin konstatiert ausdrücklich die drohende Gefahr eines solchen infiniten Regresses, sieht also das Problem der Auffassung, Selbstwissen sei als eine Ganzes-Ganzes-Relation aufzufassen.38 Die Schwierigkeit wäre auch dann nicht gelöst, wenn Plotin auf die zeitfreie Ewigkeit des Intellekts hinweisen würde; denn das Problem liegt nicht darin, dass zwischen dem Akt des Sich-selbst-denkens und dem Akt des Sich-selbst-als-Denkendendenkens Zeit vergeht; vielmehr handelt es sich um zwei inhaltlich verschiedene Denkakte: Mich zu denken ist etwas anderes als mich als Denkenden zu denken.39 Soweit die abgelehnten bzw. modifizierten Vorschläge. Immerhin kann man bis hierher festhalten, dass Plotin über ein respektables Problembewusstsein verfügt. Aber worin besteht seine eigene Lösungsidee? Das ist erheblich schwieriger zu sagen; er scheint zwei ganz unterschiedliche Vorschläge zu unterbreiten, Lösungen, die auf den ersten Blick nicht zueinander passen. Der eine Lösungsvorschlag beruht (gemäß den Ausführungen von Abschnitt 1) auf der Vorstellung, dass man von einer Selbsterkenntnis des Intellekts deswegen sprechen könne, weil dieser 36 37 38 39

Enneade II 9 [33] 1, 34 ff. Enneade V 3 [49] 6,7: kolos bolö. Nämlich in Enneade II 9 [33] 1, 23 und 54. Plotin weist diesen Punkt explizit in Enneade II 9 [33] 1, 33 ff. und in V 3 [49] 5, 3-9 zurück.

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eine geeinte Vielheit, eine Einheit aus Identität und Differenz bilde. So verstanden denkt der Intellekt sich selbst, indem er als Ganzer und die einzelnen Denkobjekte, die in ihm als Teile enthalten sind und ihn ausmachen, in Form einer wechselseitigen (oder besser allseitigen) Korrelation aufeinander bezogen sind. Die wechselseitige Korrelation wird bei Plotin gelegentlich in Form einer dreistelligen Relation ausgedrückt: Der nous bildet demnach eine Einheit der drei Momente Denksubjekt {nous, nooun), Denkakt (noesis, noein) und Denkobjekt (noeton, nooumenon); identifizierbar sollen diese Momente aufgrund der dynamis-energe/tf-Relation sein, in der sie zueinander stehen.40 In der Tat sieht auch die überwiegende Mehrzahl der Interpreten Plotins Lösung im Gedanken einer Interdependenz des Ganzen und seiner Teile sowie der Teile untereinander gegeben.41 Doch dieser Vorschlag ist sachlich wenig befriedigend. Denn wenn sich der nous so denkt, dass das Ganze des Intellekts jeden seiner Teile erfasst und jeder seiner Teile jeden anderen Teil einschließt, dann scheint das Problem des Sextus nicht im mindesten gelöst zu sein. Solange sich im göttlichen Intellekt einzelne Momente oder unterschiedliche Teilaspekte voneinander isolieren lassen, liegt exakt darin das Zugeständnis, dass der Intellekt nicht sich selbst denkt, sondern einer seiner Teile, Momente, Phasen oder Aspekte einen anderen Teil, ein anderes Moment usw. erfasst. Plotin scheint soweit dem Einwand des Sextus allenfalls rhetorisch entgangen zu sein. Nicht allein das mereologische, auch das holistische Modell führte in Aporien, da sich das Grundproblem aus der Ausweisung irgendwelcher Korrelationen ergibt - wie auch immer diese beschaffen sein mögen. Kommen wir damit zu dem anderen Lösungsvorschlag, den man in den plotinischen Schriften identifizieren kann. Er lässt sich zunächst an einer Aussage festmachen, die Plotin über die Art und Weise trifft, wie der Intellekt eine Einheit aus Denksubjekt und Denkobjekt bildet. Er stellt nämlich fest, dass es nicht die Teilung des nous in Momente sein kann, was dessen 40 41

Enneade V 3 [49] 6, 1 f. Vgl. etwa W. Beierwaltes 1991 und 1998; J. Halfwassen 1994; E.K. Emilsson 1996; I. Crystal 1998.

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Selbsterkenntnis sicherstellt. Im Gegenteil, Sich-selbst-denken sei zu verstehen als eine Selbsterfassung „vor der Selbstaufteilung des nous" (prin tou merisai heauton).42 Sollte man diesen Hinweis ernst nehmen können, so würden sich bei Plotin Umrisse einer Theorie eines unmittelbaren Selbstbewusstseins zumindest andeuten. Eine Bestätigung hierfür findet sich in einer knappen Bemerkung aus derselben Schrift, wo es etwas später heißt: „Überhaupt scheint ja das Denken, bei welchem viele Momente in ein und demselben Punkt zusammenkommen (pollön eis tauto synelthonton), ein Bewusstsein des Ganzen {synaisthesis tou holou) zu sein - nämlich wenn etwas sich selbst denkt, was ja Denken im eigentlichen Sinn ist." 43 Zunächst entsteht möglicherweise der Eindruck, als wollte Plotin das Sich-selbst-denken auch hier als ein Zusammentreten verschiedener Momente interpretieren; entscheidend ist jedoch, dass diese Momente auf ein und denselben Punkt zurückgeführt werden und dass der daraus resultierende Zustand als „Bewusstein des Ganzen" (synaisthesis tou holou) beschrieben werden kann. Anscheinend hat Plotin hier ein unmittelbares und einheitliches Bewusstsein im Visier; denn er kontrastiert dieses Sich-selbstdenken erkennbar mit jeder anderen Form des Denkens, womit nur ein intentionales, ein gegenstandsbezogenes Denken gemeint sein kann. Bei genauerem Hinsehen lassen sich noch weitere Indizien dafür ausmachen, dass Plotin Selbsterkenntnis als ein unmittelbares, einheitliches Selbstbewusstsein ansieht. Er exponiert z.B. das Problem des Sich-selbst-denkens bereits in der Einleitung der Schrift so, dass er ein intentionales Modell zurückweist und sagt: „Man muss also annehmen, dass es gerade vom Einfachen ein Denken seiner selbst gibt" (dei toinyn thesthai kai haplou katanoesin heautou)44 Anders ausgedrückt, interne Pluralität oder Aspektvielfalt bildet für ihn keine Bedingung der Möglichkeit von Selbsterkenntnis; vielmehr ist diese gerade Einfachem 42 43 44

Enneade V 3 [49] 5, 20. Enneade V 3 [49] 13, 12-14. Enneade V 3 [49] 1, 12 f.

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zuzuschreiben. In einem anderen plotinischen Traktat wird die Selbsterkenntnis bezeichnet als „ein einziger, seiner Wirkungen keineswegs unbewusster Zugriff" (mia prosbole ouk anaistbetos ton energematön beautes).45 Die Formulierung dürfte wohl besagen, dass Selbsterkenntnis im selben Moment unverständlich wird, in dem man sie als uneinheitlich interpretiert; sie ist nicht aus Teilmomenten rekonstruierbar. Denselben Punkt führt ein Text vor, der die Wissensform derjenigen Person beschreibt, die den Aufstieg zur intellektuellen Selbsterkenntnis vollzogen hat. Der Text nennt drei Merkmale dieser Person: Ihr Selbstwissen beruht darauf, dass sie ihr Ich zu einer strikten Einheit gemacht hat (bemas hen pepoiekotes); sodann heißt es, es werde nichts Inhaltliches gewusst (das fragliche Wissen gleiche vielmehr der Unwissenheit [agnoein]), und schließlich soll bei dieser Einsichtsform jeglicher Zweifel ausgeschlossen sein.46 Einschlägig ist schließlich auch der bildhafte Vergleich für das Selbstwissen des nous, welchen Plotin an einer anderen Stelle verwendet: Danach besitzt die Selbsterkenntnis des Intellekts den Charakter eines übergreifenden Konsensus, wie er in einer Volksversammlung auftreten kann. 47 Damit gemeint ist sicher kein politischer Kompromiss zwischen partikularen Interessen, sondern ein Bewusstsein der Einheit oder Zusammengehörigkeit der Bürger. Die Pointe liegt auch hier in einer Entpluralisierung des beschriebenen Bewusstseins. Wie ist nun die Sachlage zu interpretieren, dass Plotin offenkundig zwei verschiedene Lösungen für das Problem des Sich45 46

47

Enneade II 9 [33] 1, 35 f. Enneade V 8 [31] 11, 31-40: „Das, was zu uns gehört, und uns selbst können wir nicht (äußerlich) wahrnehmen; indem wir aber so beschaffen sind [nämlich gesund; C.H.] sind wir unser selbst am allermeisten (innerlich) bewusst, indem wir das Wissen um uns und uns selbst zu einer Einheit gemacht haben. So ist es also auch dort [im Intellekt; C.H.]: Was wir am intensivsten wissen, kommt uns wie ein Nichtwissen vor, weil wir (vergeblich) auf einen äußeren Eindruck der Wahrnehmung warten, die aber feststellt, sie habe nichts gesehen. Sie hat nämlich nichts gesehen und dürfte derartiges auch niemals sehen. Was also zweifelt, ist die Wahrnehmung, der andere hingegen [sc. der Intellekt; C.H.] ist der Schauende. Andernfalls könnte jener, wenn auch er zweifelte, nicht einmal glauben, dass er selbst existiert. Denn er kann sich nicht außerhalb seiner stellen, als wäre er etwas, das man mit den Augen des Körpers sieht." Enneade VI 5 [23] 10, 18-22.

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selbst-denkens anbietet? Zunächst muss man festhalten, dass nur der zweite der beiden Vorschläge der Herausforderung des Sextus gerecht wird und dass nur er als Ausdruck jenes Problembewusstseins gelten kann, das wir bei Plotin vorfanden. Beschreibt man die Selbsterkenntnis des Intellekts dagegen im Sinn einer geeinten Differenz, also gemäß der ersten Lösung, dann bleibt das Problem zurück, wie aus einer Relation, und seien deren Glieder noch so eng miteinander verbunden, jemals Identität entstehen soll. Die Bezugsgrößen einer Relation sind nie einfach miteinander gleichzusetzen. Will man Plotin also mehr als ein Problembewusstsein attestieren, so muss man zusehen, ob die genannten Stellen aussagekräftig genug sind, um zu zeigen, dass er Selbsterkenntnis als nicht-relationales Selbstbewusstsein, nicht als Resultat der Identifizierung von Teilmomenten aufgefasst hat. Und in der Tat scheint sich Plotin darüber im klaren gewesen zu sein, dass man jede Art von Relation in der Beschreibung des Sich-selbst-denkens ablehnen muss, um dem Argument des Sextus zu entgehen. Das Resultat dieser Überlegung liegt im Begriff eines unmittelbar-einheitlichen Selbstbewusstseins. Aber wie passen die beiden Lösungen dann zueinander? In dieser Frage sind ganz verschiedene Interpretationen möglich. Beispielsweise wäre es nicht auszuschließen, dass ein historischer Autor, der als Urheber einer bestimmten Theorie gelten kann, in Mehrzahl seiner anderweitigen Äußerungen das Niveau dieser Theorie noch nicht erreicht oder bereits wieder aus den Augen verloren hat. Inhaltlich attraktiver wäre jedoch eine andere Interpretation. Man könnte annehmen, Plotin habe mit seinem Beschreibungsmodell 1 gar keinen alternativen Lösungsvorschlag zu 2 unterbreiten wollen, sondern eher zu zeigen beabsichtigt, wie sich der zunächst einheitliche Intellekt beim Sich-selbst-denken in einem sekundären Sinn pluralisiert. Man muss sich erneut vor Augen halten, dass Plotins nous höchst unterschiedliche, nicht miteinander zur Deckung zu bringende Teilaufgaben zu erfüllen hat. Dazu gehört auch, wie wir sahen, dass er das ideale Urbild der sinnlich wahrnehmbaren Welt bilden muss, und hierzu muss er eine interne Pluralität aufweisen. Dem Beschreibungsmodell 1 könnte so betrachtet die Aufgabe zufallen zu erklären, wie

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aus einem einheitlichen Selbstbewusstsein sekundär voneinander differenzierbare Teilmomente zu unterscheiden sind. Und in der Tat äußert sich Plotin häufig dahingehend, dass er hervorhebt, wie der Intellekt durch seine Selbsterkenntnis zu einer Vielheit pluralisiert wird, d.h. wie er auf diesem Weg seine Teilmomente und die einzelnen Ideen generiert. 48 Ein wichtiger Testfall für jede Interpretation des plotinischen Theorie des Sich-selbst-denkens des Intellekts besteht darin, mit den Aussagen zurecht zu kommen, die der neuplatonische Philosoph über eine Selbsterkenntnis im Fall des ersten Prinzips, des hen, trifft. Interessanterweise wird von Plotin keineswegs grundsätzlich negiert, dass man ein Selbstbewusstsein des Einen annehmen dürfe. Hervorgehoben wird lediglich, dass man dem Einen kein Sich-selbst-denken unterstellen dürfe, das auf einer mereologischen Konzeption beruht. 49 Eben dies deckt sich mit unseren Beobachtungen. Mehr noch, es wird wiederholt deutlich gemacht, dass das hen das Selbstbewusstsein (synaisthesis) nicht deswegen transzendiert, weil es ohne Selbstbesitz wäre, sondern weil es durch reinen Selbstbesitz charakterisiert ist. 50 Hierin liegt vermutlich auch der Hintergrund, vor dem die merkwürdige Rede von einem „gleichsam" (hoion) bestehenden Selbstbewusstsein des Einen gelesen werden muss. Wir besitzen zumindest eine prägnante Stelle, an der es heißt, das Eine blicke „sozusagen auf sich selbst hin" 5 1 - eine typisch plotinische Formulierung für ein Selbstbewusstein. Man kann den interpretatorischen Schluss ziehen, dass ein Selbstbewusstsein, welches als unmittelbar und einheitlich aufgefasst wird, auch problemlos einer Zuschreibung an das hen fähig ist. 52 Eine weniger beachtete Stelle erläutert das Selbstbewusstsein des ersten Prinzips ebenfalls in affirmativer Weise: 48

49

50 51 52

Vgl. Enneade III 8 [30] 11, 1-6; VI 7 [38] 2, 25-27; 39, 14-16; 40, 17; V 3 [49] 10, 9 ff.; 13, 12 ff.; 23, 37 ff. u.ö. Vgl. Enneade VI 9 [9] 6, 49; II 9 [13] 9, 14; VI 7 [38] 38, 10; 41; V 3 [49] 12, 47; 13, 35. Enneade V 3 [49] 13. Enneade VI 8 [39] 16, 19-21. W. Beierwaltes 1 9 9 8 , 1 7 5 f. relativiert daher mit Recht das abschwächende hoion.

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„[...] es [das Eine] ist keineswegs ohne Bewusstsein (anaistheton), vielmehr [...] bildet es selbst das Denken seiner selbst (katanoesis hauto auto), vergleichbar einem Bewusstsein (hoionei synaisthesei), welches in einem ewigen Stillstand begriffen ist und sich darin anders als das Denken des Intellekts verhält (heteros e kata ten nou noesin)."53 Wie die Passage belegt, kann Plotin den Ausdruck synaisthesis (hier: Selbstbewusstsein) mühelos für das Eine verwenden, auch wenn er einen Unterschied in der Denkform zwischen dem Einen und dem Intellekt konstatiert: Während das Eine ein statisches Denken praktiziert, soll dem Intellekt ein dynamisches zukommen. Offenbar ist die Zuschreibung von synaisthesis unabhängig von der Frage der jeweiligen Denkform. Halten wir soweit fest: Plotin fundiert seine platonische Epistemologie mittels der Konzeption eines Intellekts, der die Ideen in sich hat und daher adäquates systematisches und irrtumsfreies Wissen ermöglicht. Dieses Modell einer rcows-Metaphysik erweist sich jedoch im Kontext einer Selbsterkenntnistheorie als sachlich nur begrenzt brauchbar; hier tendiert Plotin zum Modell eines nicht-korrelativen, unmittelbaren Selbstbewusstseins, ja er scheint sogar der Begründer dieser Vorstellung zu sein.

3

Plotins Stellung in der Theoriegeschichte von Subjektivität

Man muss sich klar machen, dass die referierte Theorie des Selbstbewusstseins nicht das Phänomen behandelt, welches moderne Konzeptionen meist in den Blick nehmen: Es geht also nicht um das gewöhnliche menschliche Selbstwissen, wenn Plotin vom Sich-selbst-denken oder der synaisthesis des Intellekts (und des Einen) spricht. Den Gegenstand seiner Theorie bildet also nicht das Phänomen, dass ich mir bewusst bin, augenblicklich in meinem Arbeitszimmer zu sitzen, in einem Buch zu blättern oder 1,80m groß zu sein. Wenn Plotin wiederholt erklärt, dass uns das von ihm beschriebene Selbstbewusstsein des Intellekts den meisten 53

Enneade V 4 [7] 2, 15-19.

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Menschen verborgen bleibe, meint er offenbar etwas anderes als unser alltägliches Selbstwissen. Gemeint ist ein ethisch-protreptisch gefordertes und nicht-alltägliches Phänomen.54 Wir sahen, dass er einerseits ein vollkommenes Wissen, das Ideenwissen, im Sinn hat und andererseits an ein unmittelbares Selbstbewusstsein denkt. Natürlich gilt dieselbe Beobachtung auch für Sextus Empiricus' Zurückweisung der Möglichkeit von Selbsterkenntnis; auch diese hat erkennbar ein anderes Thema als das gewöhnliche Selbstwissen - von welchem nur schwer zu sehen wäre, wie es sich bestreiten ließe. Plotins Verteidigung wie auch Sextus' Ablehnung deuten darauf hin, dass es irgendeinen grundlegenden Themenwechsel in der philosophischen Behandlung von Selbstwissen seit der Spätantike gegeben haben muss. Diese Veränderung hat natürlich mit der Aufwertung subjektiver Bewusstseinszustände in der neuzeitlichen Philosophie zu tun, die in manchen Positionen bis zu einer Vorrangstellung der als Prinzip verstandenen Subjektivität führt.55 Auch wenn es bei Plotin nichts Vergleichbares gibt, ist es doch interessant zu sehen, wie er das alltägliche Selbstwissen interpretiert. Allerdings beschreibt er das Phänomen, dass ein Mensch von sich selbst irgendetwas im gewöhnlichen Sinn weiß, stark abwertend: als eine bloße Spiegelung oder Reflexion und somit als Verfallsform jenes Selbstbewusstseins, welches er dem Intellekt attestiert: „Es scheint, dass das Erfassen seiner selbst (antilepsis) darin besteht und dann zustande kommt, wenn der Denkakt sich umkehrt und der aktive Intellekt durch das Leben der Seele gleichsam wieder zurückgeworfen wird, so wie in einem Spiegel seitens des Glatten und Glänzenden [d.h. der Spiegelfläche; C.H.], sofern dieses in Ruhe ist."56 Plotin verwendet in dem zitierten Text den Ausdruck antilepsis für das menschliche Selbstbewusstsein. Eine solche Selbsterfassung soll dadurch zustande kommen, dass die Seele des Menschen den 54 55

56

Vgl. u.a. Enneade V 8 [31] 10, 42; 11, 5; V 3 [49] 7, 1 ff. Die historische Antithese wird etwa von K. Oehler 1997 plastisch herausgearbeitet. Enneade I 4 [46] 10, 6-11; ähnlich IV 3 [27] 30.

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Denkvorgang des Intellekts wie ein Spiegel reflektiert. Es ist schwer, diese bloße Andeutung mit einem klaren Sinn zu erfüllen: gemeint ist aber mit Sicherheit, dass Menschen zunächst lediglich über eine partielle und transitorische, über eine indirekte Form von Selbsterkenntnis verfügen (allerdings können sie, wie wir aus anderen Passagen wissen, zu einer vollen Selbsterkenntnis „aufsteigen", zumal es in jedem Menschen einen geistigen, „nicht-abgestiegenen" Seelenteil geben soll).57 Hierbei scheint es für Plotin ein wichtiger Punkt zu sein, dass die menschliche antilepsis ein inhaltlich bestimmtes Selbstwissen bezeichnet, d.h. ein Selbstbewusstsein, das ein Begleitwissen über sich selbst einschließt. Anders ausgedrückt, die Tatsache, dass Menschen über kein vollständiges Selbstbewusstsein verfügen, sondern nur ein Sekundärphänomen besitzen, soll sich auch daran zeigen, dass das wahre Selbstbewusstein, besäßen wir es denn, ohne ein begleitendes Wissen seiner selbst auskommen würde. Plotin veranschaulicht das Gemeinte am Beispiel des Lesens, das genau dann, wenn es völlig sachorientiert ist, kein Wissen von sich selbst einschließt: „Denn es ist auch keineswegs nötig, dass der Lesende ein Begleitbewusstsein davon besitzt (parakolouthein), dass er liest, und dies gilt besonders dann, wenn er mit großer Intensität liest. Und ebenso wenig muss der Tapfere über ein Begleitbewusstsein davon verfügen, dass er tapfer handelt und dass er gemäß der Tapferkeit agiert, soweit er dies tut; dasselbe gilt auch in tausend anderen Fällen. Daher scheinen die Akte des Begleitbewusstseins diejenigen Tätigkeiten zu schwächen, auf die sie sich beziehen, während diese, wenn sie allein stattfinden, rein sind und in höherem Maß aktiv sind und leben [...]." 58 Was Plotin an dieser Stelle für minderwertig erklärt, ist natürlich nicht das Selbstbewusstsein verstanden als ein Erkennen seiner selbst (ginöskein heauto), sondern das Wissen um mich als diejenige Person, die sich augenblicklich in diesem oder jenem äußeren Zustand befindet oder die in dieser oder jener psychischen Aktivität 57 58

Enneade IV 8 [6] 3; zu dieser Vorstellung vgl. A. Smith 1978. Enneade I 4 [46] 10, 24-31: ebenso IV 4 [28] 4, 10 f.

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begriffen ist (parakolouthein heautö). Etwas über sich in dem Sinn zu wissen, dass man über ein Begleitbewusstsein verfügt, ist eine schwächere Form von Selbstwissen, als unmittelbar seiner selbst bewusst zu sein. Mit der unmittelbaren Selbsterkenntnis und dem reflexiven Begleitbewusstsein haben wir mittlerweile zwei Varianten des plotinischen Bewusstseinsbegriffs kennen gelernt: Während das letztere sinngemäß bereits bei Aristoteles belegt ist59, bildet das erstere, wie wir sahen, eine Innovation Plotins. Offenbar verfügt der neuplatonische Autor über ein recht differenziertes Vokabular zur Beschreibung von Bewusstseinsphänomenen: neben den Begriffen synaisthesis und antilepsis, die uns bereits begegnet sind, handelt es sich um die Ausdrücke parakolouthesis sowie synesis, die für Bewusstseinsformen und -zustände gebraucht werden können.60 Hinzu kommt, dass er einen ausgedehnten, philosophisch gehaltvollen Gebrauch von den Personalpronomina Ich (egö) und besonders Wir (hemeis) macht.61 An solche Beobachtungen hat man in der Literatur häufig die Frage angeschlossen, wie nahe Plotin der neuzeitlichen Vorstellung von Subjektivität steht, welche paradigmatisch von Descartes zum Prinzip der Philosophie gemacht worden ist.62 Eine markante und provokative These hierzu stammt von Myles Burnyeat (1982). Burnyeat vertritt die Ansicht, dass kein Philosoph vor Descartes den eigenen Körper als Teil der Außenwelt aufgefasst, sondern ihn stets der Sphäre des Eigenen zugeordnet habe. Verstehe man unter einem Idealismus die philosophische Position, wonach es „eindeutig subjektive Zustände" (unambiguosly subjective states·. 28) gebe, etwa den cartesischen 59

60

61

62

Vgl. Nikomachische Ethik I X 9, 1 1 7 0 a 2 5 - b l 0 ; De somno II 4 5 5 a l 6 u.ö. Zu den bei Plotin intendierten Bedeutungsnuancen und ihren wortgeschichtlichen Hintergründen vgl. H.R. Schwyzer 1 9 6 0 , E.W. Warren 1 9 6 4 und R. Violette 1 9 9 4 . Das Wir als Ausdruck für das diskursive oder aber intelligible Selbst scheint eine eigenständige Begriffsprägung Plotins zu sein: vgl. G.J.P. O'Daly 1967, 20. Zum Wir verstanden als Subjekt des diskursiven Denkens vgl. besonders V 3 [49] 3, 31 {ou gar nous hemeis); zudem 4, 5 und 6, 2 ff. Plotin reflektiert seine Doppelverwendung von Wir ausdrücklich in V 3 [49] 3, 2 3 - 2 7 (e hemeteron kai ouch hemeteron) sowie in I 1 [53] 8 und 10. Dazu besonders R.E. Aquila 1 9 9 2 .

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Zweifel, so könne man mit Blick auf die vormoderne Philosophie nicht von einem Idealismus sprechen. Prima facie wirkt Burnyeats These sicherlich attraktiv. Zwar existieren in der Antike zweifellos idealistische Positionen in dem Sinn, dass dem menschlichen Geist die Fähigkeit zur Erfassung subjekttranszendenter, intelligibler Entitäten zuerkannt wird. Aber Burnyeat scheint darin recht zu haben, dass Subjektivität nicht als etwas verstanden wird, dem die Sphäre sämtlicher äußerer Gegenstände, Ereignisse, Sachverhalte usw. gegenübergestellt würde. Ein Argument zugunsten der Burnyeatschen These besteht etwa darin, dass kein einziger Philosoph der Antike die Existenz einer extramentalen Außenwelt bestritten hat, ein anderes darin, dass das Problem des Fremdpsychischen in der antiken Philosophie unbekannt war. Dennoch bedarf die These mit Blick auf Plotin einer gewissen Relativierung. So hat Eyjolfur Emilsson (1988) darauf hingewiesen, dass sich die Leib-Seele-Relation bei Plotin erstmals in der Philosophiegeschichte - und zwar im Kontrast zum aristotelischen Hylemorphismus und zum stoischen Materialismus - deutlich an die cartesische Distinktion von res extensa und res cogitans annähert. Der Körper besitzt nach Plotin Ausdehnung, Größe und Teilbarkeit als herausragende Eigenschaften, während die Seele unausgedehnt und unteilbar sein soll; daher verfügt jeder Körper über eine feste räumliche Position, während die Seele an verschiedenen Körperstellen zugleich sein kann, und zwar überall zugleich als Ganze.63 Was Plotin mittels seiner Lehre von der Omnipräsenz der Seele im Leib insbesondere zu erklären sucht, ist die Schwierigkeit, wie es eine Koordination von Sinneseindrücken geben kann, die beispielsweise gleichzeitig im Fuß und in der Hand auftreten. Hierzu sagt er etwa: „Die weiße Farbe [welche einem ausgedehnten Gegenstand als Akzidens anhaftet] empfindet nicht mit derjenigen mit, welche sich an einem anderen Teil befindet. Auch ist im Fall der weißen Farbe das Weißsein an einem Teil mit dem Weißsein an einem anderen Teil lediglich artidentisch, nicht aber numerisch identisch, 63

Vgl. bes. Enneade VI 4 [22] 1.

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während für die Seele dasjenige [d.h. diejenigen Eindrücke], die im Fuß zu lokalisieren sind, numerisch identisch sein können mit denen, die in der Hand zu lokalisieren sind, wie die Wahrnehmungen belegen. Uberhaupt gilt für [körperliche] Eigenschaften, dass Identität bei ihnen stets nur als im Sinn von etwas Teilbarem anzusehen ist, während Identität bei der Seele etwas Unteilbares ist, so dass man [im zweiten Fall] von Teilen nur sprechen kann, insofern sie [die Seele] überall ist." 64 Die Seele ist im Leib überall als ganze und unteilbare präsent, so dass die Lokalisierung einzelner Wahrnehmungen (etwa eines Schmerzes, der im Fuß auftritt, im Unterschied zu einem Schmerz, der in der Hand gespürt wird), ohne Bedeutung für die Seele ist. Die seelische Schmerzempfindung ist selbst nichts Räumliches. Mehr noch, werden Fuß und Hand gleichzeitig verletzt, so wird nur ein einziger Schmerz empfunden, während die gleiche Weißfärbung an zwei verschiedenen Körperstellen nicht zu einer Einheit synthetisiert wird. Um den Hintergrund dieser Vorstellung besser zu verstehen, muss man sich klarmachen, wie Plotin die Leib-Seele-Beziehung interpretiert. Die klassische Stelle hierfür lautet wie folgt: „Soll man nun folglich behaupten, dass die Seele, wenn sie sich im Leib aufhält, in ihm so anwesend ist wie das Licht in der Luft? Denn auch für dieses gilt ja, dass es als [in der Luft] Anwesendes zugleich nicht präsent ist und dass es, obwohl überall präsent, dennoch mit nichts vermischt wird, und dass es selbst verharrt, während sie vorüberfließt. Und wenn sie [die Luft] außerhalb des Bereichs gerät, in dem das Licht präsent ist, dann behält sie beim Weggehen nichts davon, sondern ist nur solange voll Licht, solange sie unter der Einwirkung des Lichts steht. Daher kann man hier mit Recht eher behaupten, dass sich die Luft im Licht befindet, als dass umgekehrt das Licht in der Luft anwesend wäre." 65 Wie der bildhafte Vergleich mit Licht und Luft gut veranschaulicht, interpretiert Plotin die Leib-Seele-Beziehung im Sinn eines 64 65

Enneade VI 4 [22] 1, 22-29. Enneade IV 3 [27] 22, 1-7.

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Dualismus. Licht und Luft werden dabei als bloß kopräsente Phänomene dargestellt; sie treten also an einem bestimmten Ort gleichzeitig auf, gehen dabei aber keinerlei Verbindung miteinander ein. Weder bedarf das Licht der Luft als ihres Trägers, noch bindet sich das Licht an die Luft eines bestimmten Ortes. Die Unabhängigkeit des Lichts von der Luft soll sich daran zeigen, dass ein vorübergehender Luftstrom nicht die Helligkeit, die an einem bestimmten Ort wahrnehmbar ist, (wohl aber, so könnte man ergänzen, die dort präsenten Gerüche oder Geräusche) mit sich forttragen kann. Insofern das Licht verharrt und die Luft bewegt wird, scheint es sogar angemessener zu sagen, dass die Luft vorübergehend im Licht präsent ist als umgekehrt das Licht in der Luft. Für Plotins Deutung der Leib-Seele-Beziehung kann man daraus lernen, dass die Präsenz der Seele im Leib ohne eine Verbindung der beiden Größen gedacht werden soll. Beide sind lediglich kopräsent (und in etwa auch koextensiv)66, ohne dass die eine einen Einfluss auf die andere ausüben könnte. Insofern der Körper einer stärkeren Bewegung ausgesetzt ist als die Seele, scheint es Plotin angemessener zu sagen, der Körper sei in der Seele, als zu behaupten, diese befinde sich im Körper.67 Offenkundig weist Plotins Leib-Seele-Konzeption Ungereimtheiten auf, die daraus resultieren, dass er lediglich eine semi-cartesische, keine strikt dualistische Auffassung von der Immaterialität der Seele vertritt: Zum einen unterstellt er deutlich, dass die mit dem Körper verbundene Seele durch eine gewisse Art der Ausdehnung charakterisiert ist; denn andernfalls würde weder die These von der Kopräsenz von Leib und Seele noch die von der Omnipräsenz der Seele im Leib einen Sinn ergeben. Ein strikter Dualist müsste diese Widersprüche sorgfältig vermeiden. Zum anderen muss er annehmen, dass Leib und Seele bei solchen Vorgängen wie der Wahrnehmung, dem Körperempfinden, bei den Affekten oder beim Begehren irgendwie interagieren (wofür Plotin partiell doch noch auf Anleihen beim Hylemorphismus zurückgreift). Wie 66

67

Plotin nimmt an, dass die Ausdehnung der Seele die des Körpers leicht übertrifft, ohne in die anderer Körper einzugreifen. Zum Inhalt dieser Passage vgl. näherhin H.J. Blumenthal 1971.

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Christoph Horn

erkennbar wird, besteht in der plotinischen Konzeption noch kein radikaler Einschnitt zwischen Leib und Seele. Diese Beobachtungen zeigen, dass Plotins res extensa-res cogitans-Distinktion noch nicht sonderlich weit durchdacht ist; er steht zwischen Piaton, dessen Dualismus sicher keine radikale Verschiedenheit von Leib und Seele impliziert, und Descartes, wo die Antithese einen nahezu maximalen Grad erreicht. Immerhin zeigt eine solche Analyse aber, dass Burnyeats These nicht ohne weiteres zuzustimmen ist. Literatur Aquila, R. E., 1992, On Plotinus and the ,Togetherness' of Consciousness, Journal of the History of Philosophy 30, 7-32. Beierwaltes, W., 1991, Selbsterkenntnis und Erfahrung der Einheit. Plotins Enneade V 3, Frankfurt a. M.: Klostermann. - , 1998: Piatonismus im Christentum, Frankfurt a.M.: Klostermann. Blumenthal, H. J., 1971, Plotinus' Psychology. His Doctrine of the Embodied Soul, The Hague: Martinus Nijhoff. Burnyeat, M., 1982, Idealism and Greek Philosophy: What Descartes Saw and Berkeley Missed, Philosophical Review 91, 3-40. Crystal, I., 1998, Plotinus on the Structure of Self-Intellection, Phronesis 43, 264-286. Dillon, J., 1990, Plotinus, the First Cartesian?, Hermathena 149, 19-31. Düsing, K., 1997, Selbstbewusstseinsmodelle. Moderne Kritiken und systematische Entwürfe zur konkreten Subjektivität, Bonn: Bouvier. Emilsson, Ε. K., 1988, Plotinus on Sense-Perception: A Philosophical Study, Cambridge: CUP. - , 1995, Plotinus on the Objects of Thought, Archiv für Geschichte der Philosophie 77, 21-41. - , 1996, Cognition and its Object, in: Gerson, L. (Hrsg.), The Cambridge Companion to Plotinus, Cambridge: CUP, 217-249. Halfwassen, J., 1994: Geist und Selbstbewusstsein. Studien zu Plotin und Numenios, Stuttgart: Franz Steiner. Horn, Ch., 2000, Selbstbezüglichkeit des Geistes bei Plotin und Augustinus, in: Brachtendorf, J. (Hrsg.), Gott und sein Bild. Augustins

Plotins Philosophie des Geistes

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Augustins Begriff des menschlichen Geistes JOHANNES BRACHTENDORF

1

Die Natur der Seele

In seinem Versuch, die Quellen der modernen Auffassung vom Selbst zu erheben, schreibt Charles Taylor dem Denken Augustins eine geistesgeschichtliche Schlüsselstellung zwischen Piaton und Descartes zu.1 Augustinus habe den platonischen Gedanken einer Seinshierarchie übernommen, jedoch die These hinzugefügt, dass das Höchste nicht im Aufstieg entlang einer äußeren Seinsordnung, sondern nur durch eine Wendung nach innen erreicht werden könne. 2 Dadurch habe er die „Innerlichkeit der radikalen Reflexivität ins Spiel gebracht und sie dann der abendländischen Denktradition vermacht." 3 Augustinus stehe somit am Anfang einer kulturellen Entwicklung, in deren Verlauf die „Sprache der Innerlichkeit" und der „Standpunkt der ersten Person" entscheidende Bedeutung erlangt habe. 4 Ob die moderne abendländische Kultur dadurch auf einen Irrweg geraten ist, wie Taylor meint, muss hier dahingestellt bleiben. Doch sicher hat Taylor Recht, wenn er hervorhebt, Augustins epochemachende Wendung nach innen sei durch die Gottesfrage motiviert. Der Schritt nach innen stellt für Augustinus einen Schritt zu Gott dar. Das Bemühen um Selbsterkenntnis hat letztlich die Gotteserkenntnis zum Ziel und steht somit in einem theologischen Entdeckungszusammenhang. 1 2

3 4

Taylor, 1 9 9 4 , 2 3 5 - 2 6 1 . Die bekannteste Belegstelle für den Weg von außen nach innen zu Gott lautet: „Noli foras ire, in teipsum redi; in interiore homine habitat Veritas." (Ver.rel. 3 9 . 7 2 ) Taylor, 1 9 9 4 , 2 4 3 . Taylor, 1 9 9 4 , 2 4 3 ; 2 5 7 .

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Schon in seinen frühen Dialogen bezeichnet Augustinus die Erkenntnis Gottes und der Seele als sein Hauptanliegen 5 und in seinen späten Schriften wird der Begriff des menschlichen Geistes als eines Bildes Gottes zur zentralen Kategorie. 6 Im Folgenden seien zunächst einige Zentralthesen Augustins zur Natur der Seele dargestellt. Anschließend soll seine Theorie der Selbstbezüglichkeit des menschlichen Geistes erörtert werden. Unter dem Einfluss des Neuplatonismus konzipiert Augustinus die Gesamtheit des Universums als gestufte Ordnung nach oben hin zunehmender Einfachheit, Gutheit und Schönheit, wobei Gott als die Einheit selbst, die Gutheit selbst und die Schönheit selbst an der Spitze der Hierarchie steht. Das Maß der Einheit verhält sich umgekehrt proportional zur Veränderlichkeit und Vergänglichkeit; je mehr Einheit ein Seiendes aufweist, desto stärker sind seine Teile integriert und desto weniger ist es dem Zerfall oder der Veränderung ausgesetzt. Nach diesem Kriterium kommt der Seele eine ontologische Mittelstellung zwischen den physischen Dingen und Gott zu. Sie ist eine geistige Realität und als solche nicht wie die Körper dem Auseinanderbrechen der Teile ausgesetzt, sondern unteilbare, nicht quantifizierbare Einheit. Dennoch gehört sie der veränderlichen Wirklichkeit an und unterscheidet sich dadurch vom unwandelbaren Gott. Die Wandelbarkeit der Seele zeigt sich etwa darin, dass sie lernt, sich erinnert, vergisst, dass sie dem Kommen und Gehen der Leidenschaften unterworfen ist und an Tugend zuaber auch abnehmen kann. 7 Augustinus grenzt die Seele durch ihre Immaterialität ontologisch nach unten zur physischen Welt hin ab, aber auch nach oben hin zur göttlichen Sphäre, da sie ein Geschöpf und somit weder Teil Gottes noch Gott wesensgleich sei. Augustinus erörtert mehrfach die Frage des Ursprungs der Seele, ohne zu einem eindeutigen Ergebnis zu gelangen. Vier Auffassungen erweisen sich als möglich und vertretbar: 1) Gott 5

6

7

Vgl. Soliloquia 1.2.7; 2.1.1; De ordine 2.11.30; 16.44; 18.47. Siehe dazu Verbeke, 1954, 495-515. Für eine Gesamtdarstellung der Auffassungen Augustins zur Natur der Seele vgl. O'Daly, 1987. Ausführlich zu Augustins Begriff des menschlichen Geistes als eines Bildes des trinitarischen Gottes: Brachtendorf, 2000a; 2000b; 2001; 2002. Vgl. Trin. 5.4.5; Gen. litt. 7.2.3.

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Johannes Brachtendorf

hat eine Gesamtseele geschaffen, die Seele Adams, aus der die Einzelseelen der später Geborenen jeweils herausgenommen werden (Traduzianismus). 2) Jede Einzelseele wird bei der Entstehung eines Menschen neu geschaffen. (Kreatianismus) 3) Die Einzelseelen präexistieren an einem himmlischen Ort, von wo aus sie jeweils ausgesendet werden, um einen entstehenden Körper zu beseelen. 4) Die präexistierenden Einzelseelen werden nicht ausgesendet, sondern gehen auf eigenen Entschluss hin in einen Körper ein.8 Abzulehnen ist nach Augustinus jedoch die in der Antike anzutreffende These, die Einkörperung der Seele sei eine Strafe für Vergehen, die in einem vorangegangenen körperlichen oder auch rein geistigen Leben begangen wurden.9 Die Reinkarnationslehre Piatons und Porphyrios' weist Augustinus ebenso zurück10 wie Porphyrios' Maxime, die Seele müsse den Körper fliehen (omne corpus esse fugiendwn) und die Loslösung der Seele vom Körper im Tod sei kein Übel, sondern ein Gut. 11 Augustinus stellt die Seele mit ihren verschiedenen Vermögen in eine metaphysische Hierarchie von Sein, Leben und Denken ein. Die unbelebten Körper stehen auf der niedersten Stufe, derjenigen des bloßen Seins, während die Seele zusätzlich die Bereiche des Lebens und Denkens abdeckt. Die Seele ist in ihrer niederen Form ein den Leib durchdringendes, Leben verleihendes Prinzip.12 In den Sinnenwesen besitzt sie zudem das Vermögen der sinnlichen Wahrnehmung. Dazu gehören nach Augustinus nicht nur die fünf, mit Körperorganen verbundenen Sinne, sondern auch der Innensinn (sensus interior), durch den die Lebewesen das im Sehen Wahrgenommene meiden oder erstreben 13 , und durch den das Wahrnehmen selbst wahrgenommen wird 14 . Diesen inneren Sinn, 8 9

10 11 12 13 14

Vgl. Lib. arb. 3 . 5 8 . 1 9 8 . Vgl. Contra Jul. 4 . 1 5 . 7 8 ; 16.83; siehe auch Augustins Kritik an Origines in Civ. dei 11.23. Vgl. Civ. dei 10.30. Vgl. Civ. dei 10.29. Vgl. etwa Co«/". 10.6.10. Vgl. Lib. arb. 2 . 8 . 2 7 . Da wir wahrnehmen, dass wir mit geschlossenen Augen nicht sehen, müssen wir Augustinus zufolge auch wahrnehmen, dass wir sehen, wenn die Augen geöffnet sind. (Vgl. Lib. arb. 2 . 8 . 3 9 )

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der sowohl das durch die Körpersinne Wahrgenommene als auch den Zustand des Körpersinns selbst wahrnimmt, besitzt auch die Tierseele.15 Der Menschenseele kommt zusätzlich das Vermögen des Denkens (ratio, intellectus) zu, dessen Überlegenheit gegenüber den Sinnen sich schon darin äußert, dass sie diese voneinander zu unterscheiden und jeden einzelnen zu definieren vermag. Die Rangordnung von Sein, Leben und Denken erweist sich als eine Urteilshierarchie: Das je Höhere beurteilt, d. h. bestimmt und bewertet das je Niedrigere.16 Die ratio zerfällt zwar nicht in Teile, doch ist sie funktional zu differenzieren in eine höhere (ratio sapientiae), deren Aufgabe die Betrachtung der ewigen, unkörperlichen Gründe des Seienden ist (contemplatio aeternorum), und in eine niedere (ratio scientiae), die mit dem rechten, d. h. am Ewigen orientierten Gebrauch der veränderlichen Dinge betraut ist.17 So geht die ratio scientiae zwar mit dem Zeitlichen um, doch tut sie dies - anders als das Strebevermögen der Tiere - im Ausgang von der ratio sapientiae und in deren Diensten, weshalb auch sie dem „inneren Menschen" zuzurechnen ist.18 Besondere Aufmerksamkeit widmet Augustinus dem Gedächtnis [memoria), dem er eine Sonderstellung zuerkennt.19 Als Vermögen des Festhaltens sinnlicher Eindrücke und des Wiedererkennens von Wahrgenommenem gehört es der Stufe des Lebens an und ist Tier und Mensch gemeinsam. Doch enthält es auch Wissen um Gegenstände wie Zahlen, Gesetzmäßigkeiten, Wortbedeutungen und Proportionen, die nicht sinnlich, sondern nur vernünftig erfassbar sind, und ist insofern eher der ratio zuzurechnen.20 Zudem ist das Gedächtnis nach Augustinus der Ort des apriorischen Wissens, in dem wir intelligible Gegenstände und Sachverhalte erinnernd wie15 16

17 18 19 20

Vgl. Lib. arb. 2 . 8 . 4 5 ; C o n f . 10.7.11. Vgl. Lib. arb. 2 . 1 2 . 4 4 - 1 3 . 5 3 ; zum Aufbau der Seele vgl. auch das Sieben-Stufen-Schema in De quantitate animae 70-76, wo allerdings auch Vollkommenheitsgrade der einzelnen Teile als eigene Stufen gezählt werden. Vgl. Tritt. 12.2.2. Vgl. Trin. 12.8.13. Vgl. Conf. 1 0 . 8 . 1 2 - 2 6 . 3 7 . Vgl. Conf. 1 0 . 1 2 . 1 9 .

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dererkennen. Hier liegt das durch göttliche Erleuchtung mitgeteilte Vor-Wissen, das wir etwa in ästhetischen und moralischen Urteilen implizit zur Anwendung bringen, ohne uns explizit darüber Rechenschaft zu geben. Selbst eine vorgängige Vorstellung von Glück liegt hier: Wie sonst wäre es zu erklären, dass alle Menschen nach Glück streben, noch bevor sie es je erfahren haben?21 Memoria ist also nicht nur das Vermögen der Erinnerung an Vergangenes, sondern der Ort der Gegenwart des implizit Gewussten, zu dem sich das Bemühen um Explikation zu wenden hat.22 Augustinus kann zur Erinnerung an Gott und auch an sich selbst auffordern, meint damit aber nicht eine Reaktualisierung einer zeitlich zurückliegenden Begegnung im Sinne einer anamnesis-Lehre, sondern die reflexive Bewusstmachung eines latenten Wissens.

2

Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis - die trinitarische Struktur des menschlichen Geistes

Zwar bleibt der Zusammenhang der Selbsterkenntnis mit der Gotteserkenntnis für alle Phasen des Denkens Augustins konstitutiv, doch zeigen sich zum Spätwerk hin Verschiebungen in der Frage der Erkennbarkeit Gottes, die eine Vertiefung der Subjekttheorie bewirken. In Augustins früheren Werken stellt die Selbstreflexion des menschlichen Geistes eine Selbstbesinnung der Vernunft auf ihre Tätigkeit des Urteilens und deren Möglichkeitsbedingungen dar. Dabei zeige sich, dass die Vernunft alle ihre Urteile, seien sie theoretischer, praktischer oder ästhetischer Art, in Anwendung unveränderlicher, universal-gültiger Maßstäbe fälle. Diese Maßstäbe könne der menschliche Geist als ein wandelbares Wesen nicht aus sich selbst generieren. Vielmehr müsse er sie von einer höheren Instanz - der Wahrheit selbst - empfangen haben. Die Selbstbesinnung führt zunächst zur Einsicht in die Natur des menschlichen Geistes als eines intelligiblen, unsterblichen Wesens, und von dort 21

22

Vgl. Co«/. 10.20.29. Eine zeitliche Erinnerung an einen Glückszustand vor dem Sündenfall als Ursache dieses Vorbegriffes schließt Augustinus aus (vgl. Tritt. 1 4 . 1 5 . 2 1 ) Vgl. die Deutung von Vergil, Äneis 3, 6 2 8 f. in Tritt. 14.11.14.

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durch einen Schluss vom Begründeten auf den Grund zur Erkenntnis Gottes als der Quelle der Prinzipien allen Urteilens.23 In den Confessiones - zunächst im 7. Buch, das über Augustins Aneignung neuplatonischen Gedankengutes berichtet, vor allem aber im 9. Buch mit der Schilderung der gemeinsam mit der Mutter erlebten Ekstase von Ostia 24 - wird diese schlussweise Vergegenwärtigung Gottes noch überboten durch eine unmittelbare, wenn auch nur flüchtige Anschauung und „Berührung" Gottes. Dazu war jedoch nicht nur das „Getöse der Sinne" zurückzulassen, sondern auch die Seele musste gegen sich selbst verstummen und über das Denken ihrer selbst hinausschreiten, damit Gott nicht vermittelt durch die Schöpfung, weder durch Worte, noch auch in „Rätsel und Gleichnis", sondern direkt und unmittelbar vernommen werde. In den Confessiones führt die Selbsterkenntnis letztlich zu einer Transzendierung des Selbst und zu einem Aufstieg bis zur Unmittelbarkeit des Seins bei Gott, die nur erreichbar ist, wenn die Seele auch noch das Denken ihrer selbst hinter sich läßt. 25 In seinem Werk De Trinitate entwickelt Augustinus eine vertiefte Analyse menschlicher Subjektivität. Die Dreifaltigkeit, von der im Titel der Abhandlung die Rede ist, betrifft keineswegs nur das Wesen Gottes, sondern auch das Wesen des menschlichen Geistes. Nur die erste Hälfte des Werkes ist der begrifflichen Durchdringung des Trinitäts-Dogmas gewidmet; die zweite Hälfte soll dagegen die trinitarische Struktur des menschlichen Selbstbewusstseins erweisen. Augustinus beabsichtigt, die Rede vom Menschen als Bild Gottes zu deuten, indem er Strukturanalogien zwischen dem menschlichen Geist und der göttlichen Dreifaltigkeit aufzeigt. Dabei speist sich sein verstärktes Interesse am Thema des Bildes Gottes durch die Einsicht, dass die Konzeption eines geistigen Aufstiegs zur Anschauung Gottes, wie sie sich in den Confessiones findet, nicht ohne weiteres mit der Lehre von der Dreifaltigkeit 23

24

25

Vgl. Ord. 2.11.30-19.51; Sol. 2.1.1; De immortalitate animae; Lib. arb. 2.3.7-16.41. Siehe dazu Neumann, 1986. Vgl. Conf. 7.10.16; 17.23; 9.10.23-26. Zum „plotinischen" Charakter dieser Aufstiegsberichte vgl. Beierwaltes, 1998, 180-184. [...] et ipsa sibi anima sileat et transeat se non se cogitando [...]. (Conf. 9.10.25)

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Gottes zu harmonisieren ist. Der Aufstieg von den Körpern zum Geist und über diesen hinaus zu Gott, wie die Confessiones ihn beschreiben, führt nicht zur Anschauung Gottes als des dreifaltigen. Augustinus demonstriert dies, indem er in einem Dialog mit der „Seele" anhand der Ideen „Wahrheit", das „Gute selbst", „Gerechtigkeit" und „Liebe" Aufstiegsbewegungen einleitet. Die Seele solle sich darüber klar werden, dass allem Wahren die Wahrheit selbst zugrunde liege, und diese anschauen. Sie solle von den vielen guten Dingen zum Guten selbst26 gelangen, die Gerechtigkeit als das in allen gerechten Seelen wirkende Prinzip27 erfassen und die Liebe als den jedem Akt des Liebens vorausliegenden Grund anschauen.28 Jeder der vier Aufstiege endet enttäuschend, nicht weil die gewünschte Anschauung nicht gelänge - sie gelingt durchaus - , sondern weil in ihr die göttliche Trinität nicht sichtbar wird. Veritas, bonum ipsum, iustitia und amor erweisen sich je als in sich einheitlich, nicht aber als trinitarisch strukturiert. Das Scheitern der Trinitätsschau resultiert nach Augustinus aus den Eigenarten der trinitarischen Ontologie. Augustins Lehre vom dreifaltigen Gott basiert ontologisch auf vier Prinzipien, die der am natürlichen Weltumgang orientierten Substanz-Akzidenz-Ontologie Aristotelischer Prägung in zentralen Hinsichten zuwiderlaufen: 1) Gott ist einer - una essentia bzw. una substantia.29 2) Die drei Personen besitzen je für sich Substanzcharakter. Indikator eines substanzhaften Seins in se ipso ist der Umstand, dass jede Person als Subjekt in auf sie selbst bezogenen Aussagen (sogenannten ad se-Aussagen) auftreten kann, wie z.B.: der Vater ist Gott, der Sohn ist Gott, der Geist ist Gott. 30 3) Die Personen sind einander gleich, denn von jeder Person ist in der ad se-Perspektive das Gleiche 26

27 28 29

30

Bonum hoc et bonum illud. Tolle hoc et illud, et vide ipsum bonum si potes; ita Deum videbis [...]. (Tritt. 8.3.4) Vgl. Tritt. 8.6.9 Vgl. Tritt. 8 . 8 . 1 2 - 1 0 . 1 4 Augustinus hält „essentia" für den passenderen Ausdruck, weil es die Identität Gottes mit seinem Sein ausdrückt. „Substantia" sei dagegen für veränderliche und vergängliche Dinge zu verwenden. In einer lockeren Sprachregelung lässt Augustinus aber die Anwendung des Substanz-Begriffes auch auf Gott zu. (Vgl. Tritt. 5.2.3; 7.5.10) Tritt. 7.1.2

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auszusagen. Der Vater ist gütig, gerecht etc., der Sohn ist gütig, gerecht, ebenso der Geist, und auch von „Gott" schlechthin gilt dies.31 Der Subsumtionslogik gemäß bedeutete dies, dass es drei Götter gebe, so wie aus den Aussagen: Petrus ist ein Mensch, Paulus ist ein Mensch, Johannes ist ein Mensch, folgt, dass es drei Menschen gibt. Das Einheitsaxiom verbietet aber jede derartige Pluralisierung in der göttlichen Trinität. Die Gleichheit der Personen ist, wie Augustinus sagt, von solcher Kraft, dass sie zur Einheit wird.32 Dies hat zur Konsequenz, dass jede einzelne Person zugleich alle anderen Personen inkludiert und die Gesamtheit repräsentiert. In der göttlichen Trinität ist zwei oder drei nicht mehr als eins.33 4) Unterscheidbar sind die Personen lediglich durch ihre spezifischen Relationen, die sich in Aussagen ad aliquid relative spiegeln, in denen eine Person in Bezug auf eine andere charakterisiert wird. So heißt der Vater „Vater" in Bezug auf den Sohn, und der Sohn heißt „Sohn" in Bezug auf den Vater.34 Relationen setzen auch in der Trinität Substanzen als ihre Träger voraus35, gelten aber wegen ihrer Unveränderlichkeit hier nicht als Akzidentien36. Die Dreipersönlichkeit des einen Gottes entzieht sich einer Deutung mithilfe des Aristotelischen Substanzbegriffes, denn weder stehen die drei Personen wie eine Mehrzahl von Substanzen in abzählbarer Weise nebeneinander, noch sind sie Akzidentien an einer göttlichen Substanz.

31 32

33

34 35 36

Trin. 5 . 8 . 9 tantamque vim esse eiusdem substantiae in Patre et Filio et Spiritu sancto ut quidquid de singulis ad se ipsos dicitur non pluraliter in summa sed singulariter accipiatur. (Trin. 5.8.9) Deinde in his rebus non tantum est unus homo, quantum tres homines simul; et plus sunt aliquid homines duo quam unus homo: et in statuis aequalibus plus auri est tres simul quam singulae, et minus auri est una quam duae. At in Deo non ita est: non enim maior essentia est Pater et Filius et Spiritus sanctus simul, quam solus Pater aut solus Filius; sed tres simul illae substantiae sive personae, si ita dicendae sunt, aequales sunt singulis: quod animalis homo non percipit. Non enim potest cogitare nisi moles et spatia, vel minuta vel grandia, volitantibus in animo eius phantasmatibus tanquam imaginibus corporum. (Trin. 7.6.11) Vgl. Trin. 5.5.6; 5 . 1 1 . 1 2 - 1 5 . 1 6 Vgl. Trin. 7.1.2 Vgl. Trin. 5.4.5-5.6

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Vor dem Hintergrund einer solchen trinitarischen Ontologie lässt sich leicht sehen, warum der Aufstieg zur Schau der göttlichen Dreifaltigkeit nicht gelingen konnte. Bei den vier genannten Begriffen handelt es sich um ad se-Bestimmungen Gottes, die von jeder Person wie auch von der Gesamtheit gleichermaßen auszusagen sind und somit keinen Anhalt für die Wahrnehmung einer Pluralität von Personen bieten. Das neuplatonische, von Augustinus zunächst hoch geschätzte Konzept eines Zusammenhanges von Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis derart, dass durch eine Wendung des Geistes nach innen schließlich zu einer direkten Anschauung Gottes zu gelangen wäre, scheitert an der Trinitätsstruktur Gottes. Ab dem 9. Buch De Trinitate entwickelt Augustinus eine Ersatzstrategie, die bedeutende Konsequenzen für die Charakterisierung der mens humana mit sich bringt. Wenn eine direkte Anschauung der göttlichen Trinität nicht zu haben ist - wenigstens nicht in diesem Leben - , so könnte doch ein indirekter Zugang möglich sein, eine Anschauung im „Rätsel und Gleichnis", eine Schau Gottes wie im „Spiegel", oder die Anschauung eines „Bildes Gottes". Dieses Bild Gottes ist nach Augustinus der menschliche Geist. Zu Augustins Zeiten besaß die Bestimmung der mens humana als einer imago Dei bereits eine Tradition, die sich teils aus biblischen, teils aus platonischen Motiven speiste.37 Originell ist jedoch Augustins These, die mens humana sei deshalb ein Bild Gottes, weil auch sie trinitarisch strukturiert sei. Der dreifaltige Gott ist unserem Anschauungsvermögen entzogen, aber nichts ist dem menschlichen Geist so nahe wie er selbst. Wenn nun der menschliche Geist eine Trinität darstellt, dann liegt es nahe, in ihm den dreifaltigen

37

Vgl. den biblischen Schöpfungsbericht (Gen 1, 26f.). Nach Plotin ist der dianoetische Seelenteil des Menschen wegen seines Ideenwissens Bild des göttlichen Nous, der ursprünglich alle Ideen in sich enthält. (Vgl. Enn. V 3, 4, Z. 21-22). Dem frühen Augustinus zufolge liegt die Bildlichkeit der mens humana vor allem in ihrer Immaterialität, hinsichtlich derer sie Gott gleicht. (Vgl. Conf. 6.3.4, wo er Ambrosius als Quelle dieses Gedankens nennt.) Vgl. zum Thema: Hadot, 1962; Pepin, 1971, 20-28; 189-196. Für einen Vergleich Augustins mit Plotin siehe: Booth, Ε., 1977-1979; Horn, 2000; siehe auch DuRoy, 1966.

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Gott wie in einem Spiegel oder wie im Bild anzuschauen.38 Für Augustinus stellt sich somit die Aufgabe nachzuweisen, dass die genannten Prinzipien der göttlichen Trinität: Substanzeinheit, Dreisubstantialität und Relationalität, auch von der mens humana gelten. Diese Aufgabe treibt Augustins Analyse des menschlichen Geistes voran. Die Relativierung des Substanz-Akzidenz-Schemas, wie sie die Prinzipien trinitarischer Ontologie mit sich bringen, eröffnet auch eine neue Perspektive auf den menschlichen Geist. Den Schlüssel zum Verständnis des Geistes und seiner trinitarischen Struktur bildet die Idee der Selbstbezüglichkeit. Augustinus argumentiert zunächst für eine Dreierstruktur des menschlichen Geistes, gebildet durch die mens, ihre Liebe zu sich selbst (amor sui) und ihre Kenntnis ihrer selbst (notitia sui). Durch Abgrenzung gegen ontologisch ähnliche, letztlich aber dem untergeordneten Wirklichkeitsbereich des Körperlichen angehörige Strukturen wie diejenige von Substanz und Akzidenz, Ganzem und Teil sowie der vollständigen Mischung arbeitet Augustinus die trinitarische Struktur der mens humana heraus.39 Dass der Geist einer sei, bedarf Augustinus zufolge keines besonderen Aufweises. Begründungsbedürftig ist hingegen die These von der Dreisubstantialität. Vor allem argumentiert Augustinus gegen eine Deutung von amor und notitia als Akzidentien der mens.40 Diese seien viel38

39

40

Vgl. den Beginn des 9. Buches, wo es heißt: „Noch nicht sprechen wir von den höheren Dingen, noch nicht von Gott Vater, Sohn und Heiligem Geiste, sondern von diesem ungleichen Bilde, aber immerhin vom Bilde, das heißt vom Menschen. Vertrauter nämlich und leichter ist vielleicht für die Ohnmacht unseres Geistes der Blick auf das Bild." (Nondum de supernis loquimur, nondem de Deo Patre et Filio et Spiritu sancto, sed de hac impari imagine attamen imagine, id est homine; familiarius enim earn et facilius fortassis intuetur mentis nostrae infirmitatis. Tritt. 9.2.2) Vgl. dazu den Rückblick in Trin. 15.6.10. Vgl. Trin. 9.2.2-4.7. Die Idee der vollständigen Mischung (κρασις δι' όλου) spielte eine bedeutende Rolle in der stoischen Physik und wurde auch zur Deutung des Verhältnisses von Körper und Seele verwendet. Vgl. die Zeugnisse in: Long/Sedley, 1987, 48 C. Simul etiam admonemur si utcumque videre possumus haec in anima exsistere, et tamquam involuta evolvi ut sentiantur et dinumerentur substantialiter vel, ut ita dicam, essentialiter, non tamquam in subiecto ut color aut figura in corpore aut ulla alia qualitas aut quantitas. (Tritt. 9.4.5)

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mehr wie Substanzen zu behandeln, und zwar aus drei Gründen: Erstens haften sie nicht bloß an der mens als ihrem Träger, wie dies für Akzidentien typisch sei, sondern reichen aufgrund ihrer Intentionalität über ihren Träger hinaus; zweitens durchdringen sie in ihrer rückgewendeten Intentionalität als amor sui und notitia sui die mens, was bei Akzidentien nicht der Fall ist; und drittens weisen notitia und amor immer auch ihrerseits ein Selbstverhältnis auf. Die notitia kenne sich stets selbst und der amor liebe sich selbst. Aufgrund dieses Selbstverhältnisses seien ad se-Aussagen nicht nur über die mens, sondern auch über amor und notitia möglich, wie etwa notitia noscens est, oder notitia nota est - Aussagen, die ein Sein in se ipso, d. h. Substantialität anzeigen.41 Schließlich demonstriert Augustinus, wie jede der drei Substanzen nicht nur in se ipsa sei, sondern auch „in" den anderen. Die mens liebe sich als wissende und wisse sich als liebende. Sie liebe sich ganz und kenne sich ganz, sie kenne ihre ganze Liebe und liebe ihre ganze Kenntnis. Die These vom Sein in alternis zielt auf die relationale Bezogenheit der drei Glieder aufeinander, verschärft die Relationalität aber zur Untrennbarkeit, um so die Substanzeinheit der Glieder nachzuweisen.42 Wenn mens, amor sui und notitia sui ganz ineinander sind, dann gilt was von einem der Glieder ausgesagt werden kann zugleich von allen anderen. Wie in der göttlichen Trinität, so inkludiert auch in der mens bumana jedes Glied jedes andere und repräsentiert das Ganze. Auch der menschliche Geist entzieht sich einer Deutung durch den Aristotelischen Substanzbegriff, insofern Selbstkenntnis und Selbstliebe einerseits nicht als Akzidentien an einer Seelen-Substanz kategorisiert werden können, andererseits aber auch nicht wie eine Mehrzahl von Substanzen in abzählbarer Weise nebeneinander stehen. Allerdings ist die Begründung der Dreifaltigkeitsstruktur je eine andere. Während in Gott die metaphysische Einheit und Unendlichkeit, verbunden mit der biblisch begründeten Unterscheidung von Vater, Sohn und Geist, auf die Trinitätsstruktur 41

42

Trin. 9.4.7-5.8. Augustinus bemüht sich um eine Zurückweisung der Aristotelischen Auffassung, derzufolge die επιστήμη ein Akzidenz an der Seelensubstanz darstellt (vgl. Kat. lb 1-2). Trin. 9.5.8

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führten, ist es beim menschlichen Geist die Reflexivität, in der die Trinitätsstruktur wurzelt. Selbstbezüglichkeit begründet nach Augustinus sowohl die Substantialität von amor und notitia, so dass überhaupt von einer Dreiheit die Rede sein kann, als auch die Verschränkung der Dreiheit zur Einheit. Augustinus begreift die Selbstreferentialität gleichsam als diejenige Art und Weise, auf die ein intelligibles, aber endliches Wesen die ontologische Struktur des dreifaltigen Gottes in sich abbildet.

3

Die Entdeckung des unmittelbaren Selbstbezugs

Augustinus meint, die These der Selbstreferentialität in bewusstseinstheoretischer Hinsicht vertiefen zu müssen. Dazu verwendet er einen gegen die Idee der Selbstreflexion gerichteten Zirkularitätseinwand. Diesem Einwand zufolge ist das Delphische Gebot: „Erkenne dich selbst" sinnlos, weil der hier geforderte Akt der Selbsterfassung gar nicht möglich sei. Der zur Selbstsuche Aufgeforderte müsste nämlich schon vorgängig wissen, was er sucht, weil er den Gegenstand seiner Suche, selbst wenn er auf ihn stieße, sonst gar nicht als das Gesuchte erkennen könnte. Das Gebot zur Selbsterkenntnis setzt offenbar eine bereits bestehende Selbstkenntnis voraus. Augustinus setzt den Zirkeleinwand ein, um ein Selbstverhältnis zu erschließen, das tiefer liegen muss als jene willentliche Selbstreflexion, zu der das Delphische Gebot auffordert. Er exemplifiziert dies anhand des amor, der zum Wissenserwerb motiviert.43 Liebe ist nach Augustinus intentional, d.h. sie liebt immer etwas, und sie enthält ein Wissen um das, was sie liebt. Derjenige amor, der nach Buch 9 zur Selbstreflexion in einer notitia sui antreibt, muss also eine Selbstbekanntschaft beinhalten, die nicht erst Resultat der Selbstreflexion ist, sondern deren Möglichkeitsbedingung.44 43

44

Quamobrem omnis amor studentis animi, hoc est volentis scire quod nescit, non est amor eius rei quam nescit sed eius quam seit propter quam vult scire quod nescit. (Trin. 10.1.3) neque omnino quidquam ametur incognitum [...]. (Trin. 10.2.4) Quapropter eo ipso quo se quaerit magis se sibi notam quam ignotam

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Augustinus unterscheidet demnach zwei Ebenen des Selbstbezugs der mens humana, die er terminologisch als se cogitare und se nosse unterscheidet.45 Cogitatio meint das Vermögen, Einzelnes aus der Vielzahl möglicher Objekte auszuwählen und die Aufmerksamkeit darauf zu lenken. Das Delphische Gebot ermahnt dazu, die cogitatio von den äußeren Denkobjekten abzuwenden und auf sich selbst als Gegenstand zu richten. Mit se nosse bezeichnet Augustinus hingegen jenen ursprünglichen Selbstbezug, der das se cogitare ermöglicht, indem er das Gebot zur Selbstreflexion überhaupt erst verstehbar macht. Die cogitatio ist diskursiv, da sie nicht Mehreres zugleich erfassen kann, sondern einen Gedanken fallen lassen muss, um einen anderen ergreifen zu können, so dass die Reflexion auf das Selbst alternativ ist zum Denken anderer Gegenstände. Das se nosse ist dagegen prä-reflexiv und intuitiv. Es ist weder durch einen Begriff vermittelt, noch ist das Denken des Selbst hier ein möglicher Inhalt unter vielen anderen. Vielmehr ist es der einzig mögliche. Während der menschliche Geist auf der Ebene der cogitatio erst aus dem Denken der Welt zum Denken seiner selbst zurückkehren muss, ist er im se nosse immer schon bei sich. Die Entdeckung des se nosse darf wohl als Augustins besondere Leistung in der Geschichte der Philosophie des Geistes bezeichnet werden. Zu fragen bleibt allerdings, ob und inwiefern Augustins bewusstseinstheoretische Überlegungen gegen die Aporien des Reflexionsmodells gefeit sind. Dieter Henrich hat Fichtes Beitrag zur Aufdeckung dieser Aporien hervorgehoben.46 Wenn Selbstbewusstsein als identifizierende Reflexion auf sich selbst gedacht werde, wie es in der neuzeitlichen Tradition bis zu Fichte generell der Fall gewesen sei, dann müsse entweder vorausgesetzt werden, was erklärt werden solle, weil das reflektierende Ich sich unter der Vielzahl möglicher Gegenstände nur identifizieren kann, wenn es sich bereits kennt,

45 46

esse convincitur. (Tritt. 10.3.5) Über den nach Selbsterkenntnis strebenden Geist heißt es: „Amat igitur: sed quid amat? Se ipsam? Quomodo, cum se nondum noverit, nec quisquam possit amare quod nescit?" {Tritt. 10.3.5) Ita cum aliud sit non se nosse, aliud non se cogitare [...]. (Tritt. 10.5.7) Vgl. Henrich, 1966. Ähnlich Pothast, 1 9 7 1 . Die Berechtigung des Zirkeleinwandes bestreitet grundsätzlich: Düsing, 1 9 9 7 .

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also schon Selbstbewusstsein hat, oder es entstehe eine unendliche Iteration, wenn man ein der Selbstidentifikation vorausgehendes Selbstbewusstsein ansetzt, dieses aber wieder nach dem Reflexionsmodell zu erklären sucht. Augustinus, der mit dieser Problematik durch ein analoges skeptisches Argument des Sextus Empiricus durchaus vertraut ist,47 hält das se nosse für ein Selbstwissen letzter Instanz, das nicht wie das se cogitare aus einem Reflexionsakt resultiert und daher auch nicht reflexionstheoretisch hinterfragt werden kann. Augustins Argument gegen den Reflexionseinwand besagt, dass Selbstsuche faktisch stattfindet, so dass deren Möglichkeitsbedingung, nämlich das Bestehen einer unmittelbaren Selbsthabe, erfüllt sein muss. Wie immer auch die richtige Vorstellung von der Rückkehr des Geistes zu sich beschaffen sein mag, so zeigt doch die Tatsache der Selbstsuche, dass ein ursprüngliches Wissen des Geistes um sich selbst immer schon besteht. Aufgrund seiner Unmittelbarkeit ist dieses Wissen täuschungsfrei.

4

Das Augustinische se nosse und das Cartesische cogito

Augustinus setzt sich seit seinen Frühschriften mit dem antiken Skeptizismus auseinander. Dabei gelangt er bald zu der These, zumindest die Existenz dessen, der sich über die Berechtigung seiner Erkenntnisansprüche täuschen mag, sei täuschungsfrei und somit sicher (si enim fallor, sum).4(1 Die Nähe zu Descartes' Formulierung: cogito, (ergo) sum, liegt auf der Hand. 49 Beide Autoren meinen, mit der Existenz des Denkenden eine gewisse, jeder skeptischen Attacke widerstehende Instanz gefunden zu haben. Im Einzelnen lassen sich weitere Parallelen aufweisen. Über die Existenz des Zweifelnden hinaus halten beide die mentalen Akte selbst zwar nicht objektiv in ihrem Erkenntnisanspruch, aber doch 47

48

49

Vgl. Sextus Empiricus, Adversus Matbematicos VII 284-286; 310-312. Für Plotins Antwort vgl. Enn. V 3, 1. Dazu Halfwassen, 1994, 12 f. Vgl. Civ. dei 11.26. Die wichtigsten Stellen, in denen ein solches Argument zur Sprache kommt, sind außerdem: Beata v. 2.7; Sol. 2.1.2; Lib. arb. 2.3.7; Trin. 10.10.13-16; 15.12.21. Für Vergleiche zwischen Augustinus und Descartes siehe: Gilson, 1930; Bubacz, 1981, 39-60; Matthews, 1992; Menn, 1998.

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subjektiv für gewiß.50 Die Überzeugung, dass mir etwas in gewisser Weise erscheint, ist - im Gegensatz zu der Behauptung, es verhalte sich in der Wirklichkeit so - unangreifbar.51 Ferner existiert bei beiden ein Zusammenhang zwischen der Theorie des Ich und der Gotteserkenntnis. Nachdem Descartes die Unbezweifelbarkeit der cogitationes als solcher und damit auch der Idee eines unendlichen Wesens dargelegt hat, argumentiert er für den transzendenten Ursprung dieser Idee, um so die Existenz Gottes zu erweisen. Aus der Tatsache, dass der wandelbare Geist des Menschen über unwandelbare, apriorische Normen und Maßstäbe des Urteilens über Zeitliches verfügt, schließt Augustinus in analoger Weise, dass ihm diese Konzepte von einer göttlichen Sphäre her mitgeteilt worden sein müssen (wobei er es offen lässt, ob die mitteilende Instanz schon Gott selbst sei, oder ob Gott noch einmal oberhalb ihrer zu suchen sei52). Bei beiden Denkern führt also die Frage nach der Herkunft einer im menschlichen Geist auffindbaren, aber wegen ihrer 50

51

52

So schreibt Augustinus: „Ich sehe nämlich nicht, wie der Akademiker jemand widerlegen wollte, der sagt: ,Ich weiß, daß mir dieses weiß vorkommt, weiß, daß das mein Gehör ergötzt, weiß, daß das für mich angenehm duftet, weiß, daß mir dieses süß schmeckt, daß das für mich kalt ist." (contra, ac. 3.11.26) Bei Descartes heißt es: „Ich sehe doch offenbar jetzt das Licht, ich höre das Geräusch, fühle die Wärme; aber nein - das ist doch falsch, denn ich schlafe ja. Aber es scheint mir doch, als ob ich sähe, hörte, Wärme fühlte, das kann nicht falsch sein, das ist es eigentlich, was an mir Empfinden genannt wird, und dies, genau so verstanden, ist ein Bewußtsein." (II. Meditation, S. 22; AT VII, S. 29) Ein interessanter Detail-Unterschied liegt in der Behandlung des TraumArgumentes. Augustinus insistiert in Contra ac. 3.11.25 auf der auch im Traum bestehenden Wahrheit logischer Sätze und mathematischer Sachverhalte: „Denn daß drei mal drei neun ist und ein Quadrat aus intelligiblen Zahlen, bleibt notwendigerweise wahr, auch wenn die ganze Menschheit schnarcht." Descartes nimmt diese These in dem anti-skeptischen Argument auf, auch im Traum sei 3 + 2 = 5 und das Quadrat habe 4 Seiten, doch erkennt er dieses Argument letztlich nicht an. Über Augustinus und den antiken Skeptizismus hinausgehend führt Descartes einen „genius malignus" ein, der uns sogar in mathematischen Dingen zu täuschen vermöge, so dass die Evidenz von 3 x 3 = 9 oder 2 + 3 = 5 kein irrtumsresistentes Fundament mehr darstellt. (Vgl. I. Meditation, S. 14; AT VII S. 20 f.) Faktisch verlässt sich aber auch Augustinus in seiner anti-skeptischen Argumentation nicht auf die Mathematik, sondern schreitet weiter zur Unbezweifelbarkeit der Existenz des Denkenden. Vgl. Lib. arb. 2.39.153-155.

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hervorragenden Eigenschaften genetisch nicht aus ihm erklärbaren Idee zum Nachweis der Existenz Gottes. Allerdings lässt bei Descartes der Inhalt der Gottes-Idee selbst - ein „unendliches Wesen" - auf Gott als deren causa formalis schließen, während Augustinus mathematische, moralische und ästhetische Regeln heranzieht, um - nicht aus deren Inhalt, sondern - aus deren Unwandelbarkeit und Universalität auf Gott als Ursache zu schließen. Schließlich gewinnen beide aus der Unbezweifelbarkeit der Existenz des Denkenden ein Argument für die Immaterialität des Geistes. Wenn das se nosse auf Grund seiner Unmittelbarkeit auch täuschungsfrei und unbezweifelbar ist, so bedeutet dies doch nicht, dass der Mensch sein Wesen stets richtig auffasse. Augustinus hebt im Gegenteil hervor, dass wir uns zumeist selbst missverstehen und unsere eigene Natur fehldeuten. Doch diese Fehldeutung findet nicht auf der Ebene des se nosse, sondern auf der des se cogitare statt.53 Hier kann die Selbstinterpretation des Geistes misslingen, aber nicht weil der Geist sich selbst entzogen wäre, sondern weil er, statt bloß die im se nosse bereitliegende Selbstkenntnis zum Inhalt des se cogitare zu machen, noch die Raum-/Zeitschemata hinzuzieht, an die er sich im Umgang mit der Körperwelt gewöhnt hat, und so sich selbst letztlich als materielles Wesen interpretiert. Das Delphische Gebot fordert dazu auf, sich von diesen Schemata „wegzukennen", wie Augustinus sagt, um das immer schon bestehende Wissen von sich selbst richtig zu deuten. Eine Sache zu kennen heißt für Augustinus, auch ihr Wesen zu kennen. Also müsse sich aus der Selbstkenntnis der mens ein Argument für ihre Unkörperlichkeit ableiten lassen.54 Charakteristischerweise gewinnt Augustinus dieses Argument aber nicht 53

54

„Wenn dem Geist also die Weisung wird, sich selbst zu erkennen, so soll er sich nicht suchen, als ob er sich selbst w e g g e n o m m e n worden wäre; er soll vielmehr wegnehmen, was er zu sich hinzufügte. [...] Nicht erkenne der Geist sich, als ob er sich noch nicht kennte, sondern von einem anderen, das er kennt, soll er sich wegkennen." Cum igitur et praecipitur ut se ipsam cognoscat, n o n se tamquam sibi detracta sit quaerat, sed id quod sibi addidit detrahat. [...] N e c se quasi non norit cognoscat, sed ab e o quod alterum novit dinoscat. (Tritt. 1 0 . 8 . 1 1 - 9 . 1 2 ) Nulla m o d o autem recte dicitur sciri aliqua res, dum eius ignoratur substantia. Quapropter, cum se mens novit, substantiam suam novit. (Tritt. 1 0 . 1 0 . 1 6 )

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von einem der mens gegenüber externen Standpunkt - ein solches Argument könnte etwa lauten: Selbstbezüglichkeit findet sich nur bei geistigen Wesen - sondern er nimmt die Perspektive der mens selbst ein, indem er auf deren Selbsterfahrung rekurriert. In allem Zweifel sei sich die mens ihres (mentalen) Lebens, Denkens und Wollens sicher; hingegen sei sie sich nicht sicher, Luft, Feuer oder sonst etwas Körperliches zu sein.55 Also müsse sie unkörperlich sein. Das, was die mens selbst ist, denke sie eben auf andere Weise als das, was sie nicht ist. Denn weil sie sich selbst präsent sei, denke sie das, was sie selbst sei, durch sich selbst, wobei sich die hierin liegende Selbstgegenwart als Unbezweifelbarkeit äußere. Was sie nicht ist, was also außerhalb ihrer liege, könne sie hingegen nicht durch sich selbst, sondern nur durch die Einbildungskraft sowie durch vermittelnde Vorstellungsbilder denken, wobei sich die hier vorliegende Innen-Außen-Distanz epistemologisch als Anzweifelbarkeit niederschlage.56 Ganz analog fragt Descartes in der II. Meditation nach der Natur der Seele, ob sie etwa Wind, Feuer oder Äther sei.57 Auch nach Descartes scheiden all diejenigen Selbstdeutungen aus, die sich durch das Zweifelsargument in Frage stellen lassen. Dies seien aber die materialistischen Seelentheorien, weil wohl die Existenz des Denkens, nicht aber die der Körper als unzweifelhaft bewiesen worden sei. Auch für Descartes kann die Seele nur das sein, was sie durch sich selbst erfasst, nicht aber was sie durch die Einbildungskraft vorstellt.58 So zeige sich, dass die Seele ihrer Natur nach kein körperliches, sondern ein denkendes Ding (res cogitans) sei, d.h. ein „Ding, das zweifelt, einsieht, bejaht, verneint, will, nicht will und das auch Einbildung und Empfindung hat". 59 Für Descartes ist der Geist ebenso wie für Augustinus ein immaterielles Wesen, weil er das sein müsse, als was er sich auf 55 56

57 58 59

Vgl. Tritt. 1 0 . 1 0 . 1 5 . Neque ullo modo fieri potest ut ita cogitaret id quod ipsa est, quemadmodum cogitat id quod ipsa non est. Per phantasiam quippe imaginariam cogitat haec omnia, sive ignem, sive aerem, sive illud vel illud corpus, partemve illam, [...]. (Tritt. 1 0 . 1 0 . 1 6 ) Vgl. II. Meditation, S. 19-20 (AT VII S. 2 6 - 2 7 ) Vgl. ebd., S. 2 1 . (AT VII, S. 2 7 ) Vgl. ebd. (AT VII, S. 28)

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unbezweifelbare, weil unmittelbare und originäre Weise selbst erfasst, nämlich als denkend. Allerdings geht Augustins Theorie des se nosse, wie er sie in De Trinitate entwickelt, in grundsätzlicher Weise über Descartes' cog/io-Argument hinaus. Das Cartesische cogito ist in Augustins Sinne eben nur eine cogitatio, also ein willentlicher, diskursiver Akt der Selbstreflexion, der der Fundierung in einer unmittelbaren, intuitiven Selbstgegenwart bedarf. Während Descartes allein auf der Ebene des se cogitare argumentiert, erschließt Augustinus mit dem se nosse eine tiefere, der Selbstreflexion zugrunde liegende Dimension der Selbsthabe. Dieser Unterschied manifestiert sich besonders deutlich dort, wo Augustinus das se nosse nicht nur als einen dem se cogitare vorgängigen, sondern auch als einen immerwährenden Akt erklärt. Anders als das se cogitare wird das se nosse nach Augustinus nicht erst je und je geleistet, wenn der Geist sich auf sich selbst besinnt, sondern es ist immer schon vollzogen. 60 Porro autem in mente non sic est; neque enim adventicia sibi ipsa est quasi ad se ipsam quae iam erat venerit aliunde eadem ipsa quae non erat, aut non aliunde venerit sed in se ipsa quae iam erat nata sit ea ipsa quae non erat sicut in mente quae iam erat oritur fides quae non erat, aut post cognitionem sui recordando se ipsam velut in memoria sua constitutam videt quasi non ibi fuerit antequam se ipsam cognosceret, cum profecto ex quo esse coepit, numquam sui meminisse, numquam se intellegere, numquam se amare destiterit sicut iam ostendimus. (Trin. 14.10.13)

„Er [sc. der Geist] ist sich nämlich kein Ankömmling, gleich als ob er zu seinem Selbst, sofern es schon war, von anderswoher käme eben in diesem seinem Selbst, sofern es noch nicht da war, oder als ob er zwar nicht von anderswoher käme, sondern in seinem Selbst, das schon war, eben dies sein Selbst geboren worden wäre, das noch nicht war, wie im Geiste, der schon war, der Glaube entsteht, der noch nicht war, oder als ob er sich, wenn sich nach seiner einmal vollzogenen Selbsterkenntnis seiner erinnert, in seinem Gedächtnis sähe, wie wenn er dort hinterlegt worden wäre und wie wenn er nicht dort gewesen wäre, bevor er sich selbst erkannte, während er doch in der Tat, seit er zu sein begann, niemals aufhörte, sich seiner zu erinnern, niemals aufhörte, sich einzusehen, niemals aufhörte, sich zu lieben [...]."

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Die identitätsbildende Funktion des ursprünglichen Selbstbezugs

Seit den späten Büchern der Confessiones reflektiert Augustinus über die für ihn erstaunliche Tatsache, dass der mens nichts so nahe steht wie sie selbst, und dass sie sich dennoch (jedenfalls unter den Bedingungen dieses Lebens) nicht vollständig gegenwärtig ist. In den einschlägigen Passagen des raeraora-Traktates (Conf. 10) legt Augustinus auf beinahe psychoanalytisch anmutende Weise dar, dass das Ich sich nicht einmal die Inhalte seines eigenen Gedächtnisses vollständig präsent machen könne.61 In De Trinitate greift er erneut die Frage auf, wie sich die These von der nur fragmentarischen Selbstpräsenz des Ich zu der Feststellung verhält, nichts, nicht einmal Gott, sei dem Ich gegenwärtiger als es selbst.62 Dabei diskutiert er den wiederum von Sextus Empiricus ins Spiel gebrachten Vorschlag, von einer Teilbarkeit der mens zu sprechen, so dass nur ein Teil der Seele sich selbst gegenwärtig sei, ein anderer Teil aber nicht. Augustinus hält diesen Vorschlag für abwegig, weil Teilbarkeit eine Bestimmung materieller, nicht aber geistiger Wesen sei: „Es ist absurd zu behaupten, die mens wisse nicht als ganze, was sie weiß. Ich sage nicht, sie weiß das Ganze, sondern was sie weiß, weiß sie als ganze."63 Offensichtlich weiß die mens nicht alles, ja sie weiß nicht einmal alles über sich. Aber das, was sie weiß, weiß sie als ganze. Für Augustinus bedeutet dies, dass jedes Wissen einen Wissenden voraussetzt, der im Wechsel der Inhalte des Wissens seine Identität bewahrt. Mit der Feststellung, alles, was die mens wisse, wisse sie als ganze, zielt Augustinus auf die sich durchhaltende Identität der mens, die in der Selbstkenntnis des se nosse gründet. 61

62

63

Magna ista vis est memoriae, magna nimis, deus meus, penetrale amplum et infinitum. Quis ad fundum euis pervenit? Et vis est haec animi mei atque ad meam naturam pertinet, nec ego ipse capio totum, quod sum. Ergo animus ad habendum se ipsum angustus est, ut ubi sit quod sui non capit? Numquid extra ipsum ac non in ipso? Quomodo ergo non capit? (Conf. 10.8.15) Et certe videmus nunc per speculum in aenigmate, nondum facie ad faciem; et ideo, quamdiu pereginor abs te, mihi sum praesentior quam tibi [...]. {Conf. 10.5.7) Trin. 10.4.6. Vgl. auch die parallelen Ausführungen in Gen. litt. 7.21.2728.

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Auf der Ebene der cogitatio bleibt das Wissen des Geistes um sich fragmentarisch. Als ein endliches Wesen vermag er nicht einmal sich selbst ganz zu durchschauen. Auf der Ebene des se nosse muss die Selbsthabe dagegen vollständig sein, denn nur so ist ein Ich möglich, das in all seinen wie auch immer beschränkten diskursiven Vollzügen ein identisches ist. Die im se nosse sich konstituierende Identität garantiert die Einheit des Bewusstseins in dem Sinne, dass all mein Wissen, wie viel oder wie wenig es auch immer beinhalten mag, meines ist. Dieses se nosse stellt aber kein punktuell im Akt der Selbstreflexion zustande kommendes, diskontinuierliches Selbstwissen dar.64 Vielmehr hebt Augustinus die Stetigkeit der grundlegenden Selbstbeziehung hervor, wenn er sagt, dass der Geist „immer sich kennt und immer sich will", dass er „immer sich seiner erinnert, immer sich selbst einsieht und liebt" 65 . Der Vollzug des se nosse scheint nicht vorauszusetzen, dass auf der Ebene ausdrücklichen Bewusstseins Akte vollzogen werden. Weder kommt es erst durch ein se cogitare zustande, noch wird es erst dann gleichsam aktiviert, wenn überhaupt cogitationes vollzogen werden. Vielmehr schreibt Augustinus ihm eine Kontinuität zu, mittels derer es die Identität des in den jeweiligen Akten nur punktuell seiner selbst mit-bewusst werdenden Vollziehers der Akte als eine sich durchhaltende ermöglicht. Zu beachten ist, dass Augustinus hier ein Konzept endlicher Subjektivität entwickelt, nicht aber eine Lehre vom göttlichen Geist, die auf einen absoluten Idealismus hinauslaufen könnte. Die unmittelbare Selbsthabe beinhaltet nach Augustinus kein über das Faktum des Selbst-seins hinausgehendes Wissen. Dadurch unter64

65

Descartes scheint in der Tat die Existenzgewissheit der res cogitans auf die Zeitpunkte, in denen Akte des se cogitare vollzogen werden, beschränken zu wollen, wenn er schreibt: „Wie lange aber bin ich? Nun, so lange, als ich denke. Denn es wäre vielleicht möglich, daß ich, wenn ich gänzlich aufhörte zu denken, alsbald auch aufhörte zu sein." (II. Meditation, S. 2 0 ; AT VII, S. 2 7 ) Mentem quippe ipsam in memoria et intellegentia et voluntate suimetipsius talem reperiebamus ut quoniam semper se nosse semperque se ipsam velle comprehendebatur, simul etiam semper sui meminisse semperque se ipsam intellegere et amare comprehenderetur; quamvis non semper se cogitare discretam ab eis quae non sunt quod ipsa est. (Tritt. 1 0 . 1 2 . 1 9 )

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scheidet sich Augustins Subjekttheorie etwa von derjenigen Plotins, die eine Theorie des göttlichen Nous darstellt. Plotin konzipiert den Nous als ein allumfassendes Subjekt derart, dass sein Selbstwissen alles mögliche Ideen-Wissen einbegreift, so dass er in jedem Denken gleich welcher Idee sich selbst denkt.66 Zwar erkennt Augustinus der mens humana mit dem se nosse eine unmittelbare Selbstbeziehung zu, wie Plotin sie dem Nous zuschreibt, doch dieses se nosse bleibt vom cogitare verschieden, weil es kein Wissen über anderes als die mens beinhaltet, während es für den Nous keinen Unterschied von unmittelbarem Selbstwissen und Wissen über anderes gibt. Auch Fichtes Idealismus, der behauptet, ein Wissen von äußeren Gegenständen, wie der Realismus es vertrete, sei unmöglich, weshalb das vermeintliche Wissen von Gegenständen ein bloß nicht als solches erkanntes Wissen des Geistes um sich selbst darstelle, entspricht nicht Augustins Auffassung. Augustinus hätte einen Fichteschen Programmsatz wie: „Was du siehst, bist immer du selbst",67 nicht akzeptiert. Augustins mens humana ist ein endliches, kein göttliches Subjekt. Sie kann ihr Wissen über die Welt nicht aus sich heraus entwickeln, sondern muss es empfangen. Nur ein Wissen ist allein durch ihren Selbstbezug gegeben: nämlich das Wissen, dass sie - sie selbst ist. So ist die mens humana weder ein Weltprinzip noch eine allgemeine Vernunft, die erst zur Individualität weiter bestimmt werden müsste, sondern sie ist von vornherein ein einzelnes Wesen unter anderen. 6

Die Struktur des unmittelbaren Selbstbezugs

Augustinus versteht den natürlichen Selbstbezug des menschlichen Geistes keineswegs bloß als eine einfache, nicht weiter differen" 67

Vgl. Enn. V 3, 5; V 5, 1-2. Siehe dazu Kremer, 1981; Halfwassen, 1994, 24-30; sowie Emilsson, 1995. J.G. Fichte, Einleitungsvorlesungen 1813, in: Fichtes Werke, hrsg. v. I.H. Fichte, Berlin 1971, Bd. IX, S. 78. In Die Bestimmung des Menschen heißt es: „[...] daß wir bei dem, was wir Erkenntniss und Betrachtung der Dinge nennen, immer und ewig nur uns selbst erkennen und betrachten, und in allem unserem Bewusstseyn schlechterdings von nichts wissen, als von uns selbst, und unseren eigenen Bestimmungen." (Fichtes Werke, Bd. II, S. 239; siehe auch S. 2 2 8 )

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zierbare Selbstgegenwart. Vielmehr unterscheidet er in diesem Selbstbezug drei Momente, die er memoria sui, intellegentia sui und voluntas sui nennt. Natürlich hat die Aufstellung dieses Ternars auch einen trinitätstheologischen Hintergrund, da Augustinus zeigen will, dass der menschliche Geist gerade in seiner ihm wesentlichen Selbstgegenwart ein Bild der göttlichen Dreifaltigkeit darstellt.68 Doch zugleich verleiht er dieser Unterscheidung auch einen bewusstseinstheoretischen Gehalt. In ihrer eigentlichen Bedeutung bezeichnen memoria, intellegentia, und voluntas geistige Vermögen, die im Bereich diskursiver Vollzüge ihren Ort haben und in einem zeitlichen Nacheinander aktiv werden. Bei einem gewöhnlichen Lernvorgang tritt zunächst der Wille (voluntas) zum Wissenserwerb hervor. Er richtet das Auffassungsvermögen auf einen konkreten Gegenstand, der sodann erkannt und verstanden wird (intellegentia). Danach reicht die intellegentia das so erworbene Wissen gleichsam weiter an das Gedächtnis (memoria), wo es abgespeichert wird, während die intellegentia nun Raum gewinnt für einen neuen Gedanken. Zu einem späteren Zeitpunkt kann der Wille die Aufmerksamkeit wieder dem im Gedächtnis hinterlegten Gedanken zuwenden, so dass er abermals zum aktuellen Inhalt der intellegentia wird. Während diese Vorgänge für das diskursive, in der Zeit sich verändernde Denken charakteristisch sind, können sie in der Dimension unmittelbarer Selbstgegenwart nicht stattfinden. Denn in ihrem unmittelbaren Selbstbezug muss sich die mens nicht erst kennenlernen, sondern sie kennt sich immer schon. Daher ist an eine zeitliche Aufeinanderfolge von intellegentia sui und memoria sui hier nicht zu denken. Die entsprechenden Termini können somit nur unter Vorbehalt zur Beschreibung des unmittelbaren Selbst-

68

Vgl. Tritt. 10.11.17-18. Daher führt er für diese drei Elemente einen Nachweis der Trinität, wobei er die meisten Argumente aus der vorangegangenen Diskussion des Verhältnisses von mens, notitia sui und amor sui übernimmt. Es handele sich um eine mens, doch sei jedes Element als Substanz zu zählen, da es als Subjekt von ad se-Aussagen auftreten könne. Außerdem sei die Durchdringung dieser Elemente im grundlegenden Selbstbezug so innig, dass jedes einzelne Glied allen anderen gleich werde.

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bezugs angewendet werden. Diesen Vorbehalt macht Augustinus deutlich, wenn er von einer „inneren" memoria sui, intellegentia sui und voluntas sui spricht und diese von den diskursiven Vermögen als „äußeren" Instanzen unterscheidet. Die inneren Vollzüge finden nach Augustinus simultan statt, und sie sind immer aktiv, seitdem die mens zu sein begann, gleichgültig ob sie ihrerseits zum Inhalt diskursiven Denkens werden oder nicht.69 Im Gedächtnis aufbewahrte Inhalte liegen dort stetig und kontinuierlich bereit. Die Rede von der „inneren" memoria sui bringt zum Ausdruck, dass das se nosse ebenfalls durch Stetigkeit und Kontinuität ausgezeichnet ist. „Innere" intellegentia sui zeigt an, dass der unmittelbare Selbstbezug ebenso aktuell ist, wie diskursive Verstehensvollzüge es sind. Die Behauptung der Simultaneität beider korrigiert mögliche Missverständnisse. Der memoria-Charakter macht deutlich, dass die innere intellegentia sui keinen transitorischen, sondern einen immerwährenden Akt darstellt; das intellegentia-Moment zeigt an, dass die Stetigkeit des se nosse, auch wenn dieses nicht zum Gegenstand der Aufmerksamkeit gemacht wird, nicht im Sinne der Inaktualität gewöhnlicher Gedächtnisinhalte zu verstehen ist, sondern als eine unterhalb der Ebene diskursiven Denkens anzusiedelnde Aktualität des Selbstwissens. 69

Nam si nos referamus ad inferiorem mentis memoriam qua sui meminit et interiorem intellegentiam qua se intellegit et interiorem voluntatem qua se diligit, ubi haec tria simul sunt et simul semper fuerunt ex quo esse coeperunt sive cogitarentur sive non cogitarentur, videbitur quidem imago illius trinitatis [...]. (Tritt. 14.7.10) Gerade diese Simultaneität macht es den „langsameren Geistern" schwer, hier überhaupt noch Momente gegeneinander zu differenzieren. Ac per hoc difficile in ea [sc. mens] dinoscitur memoria sui et intellegentia sui. Quasi enim non sint haec duo sed unum duobus vocabulis appelletur, sie apparet in ea re ubi valde ista coniuncta sunt et aliud nullo praeceditur tempore. {Tritt. 10.12.19) Augustinus konzipiert die Bücher 11-13 De Trinitate insofern als „exercitatio animi", als die Leser von langsamerer Fassungskraft durch die Analyse intern zeitlich differierender Ternare zum Verständnis der simultanen Dreiheit des se nosse geführt werden sollen: Quapropter etiam tardioribus dilucescere haec possunt dum ea tractantur quae ad animum tempore accedunt et quae illi temporaliter accidunt cum meminit quod antea non meminerat et cum videt quod antea non videbat et cum amat quod antea non amabat. (Tritt. 10.12.19)

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Da nach Augustinus jede Art von Wissen eine Strebens-Dimension besitzt, weist er dem unmittelbaren Selbstbezug mit der „inneren" voluntas sui auch ein praktisches Moment zu. Die innere voluntas ist jedoch im Gegensatz zu anderen Strebenstendenzen nicht als Bedürfnis wahrnehmbar, da der Gegenstand ihres Strebens, das Selbst, immer gegenwärtig ist.70 Die ursprüngliche Selbstliebe hat bereits, was sie haben will. Ferner ist sie auch nicht diskursiv zu verstehen derart, dass sie sich mehrere Ziele setzen könnte, die sie in einem zeitlichen Nacheinander anstrebte. Die innere voluntas sui kann nichts anderes wollen als das Selbst, und dieses hat sie immer schon. Da diese Art von Selbstliebe zu den Konstitutionsbedingungen des menschlichen Geistes gehört, ist sie durch den Geist selbst nicht regulierbar und fällt daher auch nicht in den Bereich derjenigen Willensregungen, die einer Bewertung nach gut und böse fähig sind. Die innere voluntas sui ist kein möglicher Adressat von Imperativen. Insbesondere lässt sie sich nicht in ein Konkurrenzverhältnis zur Gottesliebe bringen, etwa im Sinne der Rede vom homo incurvatus in se, die die Forderung beinhaltet, der Mensch solle nicht sich selbst, sondern Gott lieben. Vielmehr liegt die innere voluntas allen Akten des äußeren Willens voraus, zu denen der Erwerb von Tugend, aber auch religiöse Vollzüge wie die Gottesverehrung gehören. Im Sinne des se nosse auf sich zurückgewendet zu sein, ist keine moralische Fehlhaltung, sondern eine Konstitutionsbedingung des menschlichen Geistes. Die Frage, worin der Mensch sein höchstes Gut suchen solle, betrifft nicht die innere, sondern die diskursive, äußere voluntas, durch die ein geistiges Wesen seine Handlungsziele in normativ beurteilbarer Weise wählt. Augustinus zufolge ist zwar die Ähnlichkeit (similitudo) des Menschen mit Gott der Zu- und Abnahme fähig, je nach dem moralischen Rang des Individuums. Der Charakter des Bildes Gottes (imago) haftet dem menschlichen Geist jedoch auf unverlierbare Weise an71 und bleibt selbst auf der niedersten charakterlichen 70

71

amorque ipse non ita sentitur esse cum eum non prodit indigentia quoniam semper praesto est quod amatur. (Tritt. 1 0 . 1 2 . 1 9 ) Sed prius mens in se ipsa consideranda est antequam sit particeps Dei et in ea reperienda est imago eius. Diximus enim eam etsi amissa Dei

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Stufe erhalten, denn das Bild der göttlichen Dreifaltigkeit liegt im Wesenskern des Geistes, in dem er seinem konkreten Wollen und Denken voraus immer schon auf sich selbst zurückgewendet und mit sich bekannt ist. Nicht in Zuständen wie dem Glauben oder der Weisheit, die der Geist während seines Daseins erst annimmt, sondern in dem, was er immer war und immer sein wird, solange er existiert, liegt das Bild Gottes. 72 Angesichts der identitätsbildenden Funktion des unmittelbaren Selbstbezugs kann es sich bei der inneren memoria sui, intellegentia sui und voluntas sui nicht um Vermögen des Geistes handeln, die sich aktivieren oder deaktivieren lassen, sondern nur um ein Geflecht immerwährender Vollzüge. In der Konstanz ihres aktuellen Selbstbezuges ist die mens humana unwandelbar „seit sie zu sein begann", und in der trinitarischen Struktur dieses Selbstbezuges gleicht sie der göttlichen Dreifaltigkeit mehr als jedes andere Geschöpf, so dass diese in ihr wie in einem Bild erkennbar ist.

7

Zur Wirkungsgeschichte der Augustinischen Selbstbewusstseinslehre im Mittelalter

In formaler Hinsicht blieb die Autorität Augustins das gesamte Mittelalter hindurch unangefochten. Inhaltlich weisen die mittelalterlichen Interpretationen seines Denkens jedoch eine erhebliche Bandbreite auf. Kristallisationspunkte der Diskussion waren einerseits die These der Nicht-Akzidentalität der geistigen Vollzüge und andererseits die Struktur und Funktion des unmittelbaren Selbstbezugs. Die wichtigste Instanz der Vermittlung der Augustinischen Selbstbewusstseinslehre ins Mittelalter stellen die Libri quattuor 73 sententiarum (ca. 1157/58) des Petrus Lombardus dar. In der dritten distinctio des ersten Buches behandelt Lombardus das

72 73

participatione obsoletam atque deformem Dei tarnen imaginem permanere. (Trin. 14.8.11) Vgl. Trin. 14.3.4 Magistri Petri Lombardi Sententiae in IV Libris disctinctae, Ed. Collegii S. Bonaventurae ad ciaras aquas, Grottaferrata 1 9 7 1 .

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Thema des menschlichen Geistes als eines Bildes der göttlichen Dreifaltigkeit, indem er die wichtigsten einschlägigen Passagen aus Augustins De Trinitate zu einer Kollage zusammenstellt. Da die Sentenzen zum zentralen theologischen Lehrbuch der Hochscholastik wurden - jeder Lehrer der Theologie musste sie kommentieren - waren Augustins Texte ständig präsent. Die Art ihrer Zusammenstellung in den Sentenzen zeugt jedoch von einer nur selektiven Rezeption durch Lombardus. Dieser ist vor allem am Hervorgehen der notitia sui aus der mens, sowie der intellegentia sui aus der memoria interessiert, weil er darin Parallelen zum Hervorgang des Sohnes aus dem Vater in der göttlichen Trinität sieht. Die reflexionstheoretische Problematik sowie die Ebenenunterscheidung von se nosse und se cogitare, die Augustinus zur Behandlung dieser Problematik einführt, bleibt bei Lombardus unbeachtet. Mens, amor sui und notitia sui, sowie memoria sui, intellegentia sui und voluntas sui gelten ihm als zwei nebeneinander stehende Ternare, die je für sich die göttliche Trinität symbolisieren, untereinander aber keinen Zusammenhang aufweisen. Wilhelm von Auvergne zählt zur ersten Generation derer, die sich unter dem Eindruck der zu Beginn des 13. Jhdts. wiederentdeckten naturphilosophischen Schriften des Aristoteles mit dessen Psychologie auseinandersetzen mussten. In seinem Werk De anima74 (um 1230) weist Wilhelm von einem Augustinischen Standpunkt aus die Aristotelische These zurück, bei den geistigen Vermögen handele es sich um Akzidentien der Seelen-Substanz. Insbesondere das Phänomen der Selbsterfassung - wer denkt, der weiß auch, dass er denkt75 - nutzt Wilhelm, um an Augustins These von der Unteilbarkeit (und damit von der Unkörperlichkeit) der Seele anzuschließen - wer sich als denkend denkt, denkt sich darin ganz76 - und um in Anlehnung an Augustins „si fallor, sumu-Argument einen Existenzbeweis für die Seele zu führen77.

74

75 76 77

Guilielmi Alverni Opera omnia, Paris 1 6 7 4 (Nachdruck Frankfurt/M. 1963), vol. II, S. 6 5 - 2 2 8 . De anima, Kap. I, pars 4, S. 68. Ebd., Kap. II, pars 3, S. 75; pars 10, S. 80. Ebd., Kap. I, pars 4, S. 68.

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Mit Bonaventura setzt die Wiedergewinnung des Themas der ursprünglichen Selbstgegenwart ein, und zwar im Kontext der Frage, ob der menschliche Geist eher in der Gotteserkenntnis oder in der Selbsterkenntnis Bild der göttlichen Dreifaltigkeit sei. In seinem Sentenzenkommentar78 stellt Bonaventura fest, die Seele als geistiges Wesen sei sich selbst gegenwärtig und verbunden. Das Vermögen, sich ihrer zu erinnern, sich zu denken und zu lieben, folge unmittelbar aus dem Wesen der Seele und sei daher nicht akzidentell, sondern der Seele konsubstantiell.79 Nach Bonaventura ist der Geist unmittelbar mit sich selbst vereint (indistanter unitus) und besitzt deshalb wesentlich den Habitus der Selbstliebe (amor sui). Ebenso sei er immer sich selbst präsent, so dass ihm auch der Habitus des Denkens seiner selbst (notitia sui) wesensmäßig zukomme.80 Zum ersten Mal seit Augustinus tritt hier die natürliche Selbstgegenwart des Geistes als Grundlage aller reflexiven Selbstzuwendung wieder ins Blickfeld. Allerdings rezipiert Bonaventura Augustins Lehre von der trinitarischen Struktur des unmittelbaren Selbstbezuges nicht. Er unterscheidet nicht die innere memoria sui, intellegentia sui und voluntas sui von der äußeren, sondern ordnet sie, obwohl der Seele konsubstantiell, generell der Reflexionsebene zu. Die Forschung hat die Geistphilosophie des Thomas von Aquin meist in Gegensatz zu derjenigen Augustins gebracht, weil Thomas in der Erkenntnistheorie, speziell in der Frage der Herkunft unseres Begriffswissens, die Aristotelische Abstraktionstheorie mit ihrer Lehre vom intellectus agens übernimmt und damit die Illuminationstheorie Augustins fallen lässt.81 Dies trifft sicher zu, verhindert aber nicht, dass Thomas ebenso wie Bonaventura die Augustinische These von der natürlichen Selbstpräsenz des Geistes82 als einer im Wesen der mens liegenden, d. h. per 78 79 80

81

S. Bonaventurae Opera omnia,

torn. I, Quaracchi (ad ciaras aquas) 1882. Vgl. I Sent., dist. III, p. II, art. I, q. III (Quaracchi, S. 86) Per hoc enim, quod anima sibi praesens est, habet notitiam; per hoc, quod est unum sibi, habet habitum amoris." (Quaracchi, S. 92) Vgl. Gilson, 1 9 2 6 / 2 7 . Ausführlicher zum Folgenden Brachtendorf,

2002.

82

Vgl. I Sent., d. 3, q. 4, a. 4, S. 2 6 6 , 10. (Seitenzahlen nach der Edition von E. Booth in: Brachtendorf, 2000b, 2 4 9 - 2 7 3 . )

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essentiam suam stattfindenden Selbsterkenntnis83 vertritt. Diese Selbstgegenwart sei nicht begrifflich vermittelt, weshalb sie auch nicht durch die Aristotelische Abstraktionstheorie erfassbar sei, sondern vollziehe sich als einfacher intuitus.84 Sie konkurriert nicht mit anderen Wissensinhalten, da sie nicht auf der Ebene der cogitatio stattfindet, sondern sie vollzieht sich wie das Augustinische se nosse simultan zu allen diskursiven Denkakten. Vom Standpunkt der Reflexion gesehen handelt es sich bei der ursprünglichen Selbstgegenwart um ein habituelles Wissen85, weil es wie ein gewöhnlicher Gedächtnisinhalt bereitliegt, um zum Gegenstand reflexer Aufmerksamkeit gemacht zu werden. In sich selbst stellt die praesentia mentis aber eine wesensmäßige Selbstgegenwart des Geistes dar, die jeder expliziten Selbstzuwendung vorausgeht und sie fundiert.86 Das Phänomen der ursprünglichen Selbstgegenwart des Geistes deutet Thomas gerade nicht mithilfe der Aristotelischen Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, sondern durch das Augustinische Konzept des se nosse. Allerdings übergeht Thomas ebenso wie Bonaventura Augustins Unterscheidung innerer von äußeren Vollzügen. Memoria sui, intelligentia sui und voluntas sui werden ausschließlich als Reflexionsakte verstanden und somit als cogitationes gedeutet, wobei sich Thomas stärker als Bonaventura die Aristotelische Lehre von der Akzidentalität der Seelenvermögen zu Eigen macht.87 Die Selbstgegenwart des Geistes gilt damit als strukturlos, so dass 83

84 85 86

87

Vgl. Ver. q. 10, a. 8 (Quaestiones disputatae I, ed. P. Fr. R. Spiazzi O.P., Turin/Rom 1964). Vgl. I Sent., d. 3, q. 4, a. 5 (ed. Booth, S. 2 6 8 , 15-20). Thomas spricht von einer „cognitio habitualis" {Ver. q. 10, a. 8). Thomas unterscheidet zwischen einer Selbstwahrnehmung der anima intellectiva, die einfach dadurch geschehe, daß ein Individuum wahrnehme, daß es denke, und einer wissenschaftlichen Erkenntnis der Natur der menschlichen Seele. Über die erste Form der Selbsterfassung schreibt er: „Nam ad primam cognitionem de mente habendam, sufficit ipsa mentis praesentia, quae est principium actus ex quo mens percipit seipsam. Et ideo dicitur se cognoscere per suam praesentiam." (Stb. I, q. 87, a. 1) Die natürliche praesentia mentis stellt demnach die Möglichkeitsbedingung derjenigen Selbsterfassung dar, die geschieht, wenn ein Denkender sich als denkend erfährt. Vgl. auch Ver., q. 10, a. 8, lb. Vgl. I Sent., d. 3, q. 4 , a. 2 (ed. Booth, S. 261); Sth. I, q. 77, a. 1.

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die Gottebenbildlichkeit der mens nicht in der Selbstbeziehung, sondern erst in der Gottesbeziehung hervortrete. In der Generation nach Bonaventura und Thomas tritt die mittelalterliche Augustinus-Rezeption in eine neue Phase ein. Einerseits wird Augustins Lehre von der Dreieinigkeits-Struktur des se nosse wiedergewonnen, andererseits wird Augustins Geistphilosophie (in einer neuartigen Synthese mit der Aristotelischen Intellektlehre) stärker als bisher auf den Neuplatonismus zurückbezogen. Dietrich von Freiberg88 übt scharfe Kritik an Thomas von Aquin, weil dieser unter dem Einfluss der Aristotelischen Lehre von der Akzidentalität der Seelenvermögen den trinitarischen Charakter des se nosse hinweginterpretiert habe. Er verteidigt Augustins Unterscheidung innerer von äußeren Vollzügen und hebt die Substantialität aller Glieder der Augustinischen Ternare hervor, um so die Dreieinigkeitstruktur des se nosse (Dietrich verwendet bevorzugt den ebenfalls Augustinischen Ausdruck abditwn mentis) zu restituieren.89 Im abditum mentis seien memoria sui, intelligentia sui und voluntas sui immer zugleich, seitdem die mens zu sein begann, gleichgültig ob sie Gegenstand der (stets äußeren) cogitatio würden oder nicht.90 Daher sei das Bild des dreifaltigen Gottes primär nicht in der Gotteserkenntnis, sondern in der ursprünglichen Selbstbeziehung gelegen.91 Allerdings setzt Dietrich das se nosse dem Aristotelischen intellectus agens gleich und deutet diesen im Sinne einer weltkonstituierenden, göttlichen Vernunft, die im Denken ihrer selbst zugleich alles andere denkt. Als Exemplar-Ursache des Seienden verleiht sie allem Seienden Sein, indem sie es denkt. Das se nosse ist nach Dietrich nicht nur aktuale, wesenhafte Selbsterkenntnis, sondern intellektuelle Anschauung des Seienden in seinem ganzen Umfang.92 88

89

90

91 92

Einschlägig ist vor allem sein Werk De visione beatifica, in: Dietrich von Freiberg, Opera omnia I, S. 13-124. Zum Verhältnis Dietrichs zu Augustinus vgl. Mojsisch, 1994 und 2000. Vgl. De vis. beatifica 1.1.1.3.1.-2., Opera omnia I, S. 18-20; 1.1.10., Opera omnia I, S. 35-36. Vgl. De vis. beat. 1.1.2.3.-4., Opera omnia I, S. 24-25, (zusammen mit Trin. 14.7.10). Vgl. De vis. beat. 1.2.1.3., Opera omnia I, S. 44-46. Vgl. De vis. beat. 1.1.1.3.6., Opera omnia I, S. 22.

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Somit ist das se nosse für Dietrich nicht nur die Identitätsbedingung des Geistes in der Vielzahl seiner cogitationes, sondern zugleich die Quelle allen Wissens. Damit nähert Dietrich den menschlichen Geist in einer Weise an den göttlichen Geist an, die dem Denken Augustins nicht mehr entspricht. Dieser hatte die Endlichkeit des menschlichen Geistes dadurch zum Ausdruck gebracht, dass er dessen Verhältnis zu Gott als dasjenige des Geschöpfes zu seinem Schöpfer bestimmte. Nach Dietrich hingegen ist der Geist nicht mehr Geschöpf, sondern Emanation (emanatio) und Ausfluss (defluxus fortnalis) Gottes.93 In seiner Lehre vom Bild Gottes greift auch Meister Eckhart Augustins Geistphilosophie auf. Eckhart schreibt der Seele ebenfalls ein Bild Gottes zu, das diese wesenhaft besitzt, so dass es immer schon in der Seele vorhanden ist und wohl verschüttet werden, aber niemals verloren gehen kann.94 Die Gottebenbildlichkeit der Seele ermöglicht es ihr, Gott in sich selbst zu erkennen. Andererseits verstärkt Eckhart aber noch die schon bei Dietrich anzutreffenden Tendenzen zur Divinisierung der mens. Nach Eckhart existiert das Bild Gottes in der Seele „natürlicherweise", was bei ihm bedeutet: ohne Vermittlung durch den Willen und die Weisheit die Schöpfers, wie auch Gott Sohn aus Gott Vater natürlicherweise hervorgeht.95 Weiterhin entfernt sich Eckhart von Augustinus, indem er die von Dietrich wiederentdeckte These von der Dreieinigkeitsstruktur des se nosse fallen lässt. Gedächtnis (memoria), Vernunft (intellegentia) und Wille (voluntas) als geistige Kräfte (potentiae animae) „vervielfältigen" die Seele und müssen ebenso zurückgelassen werden wie ihre Werke96, wenn man zur „Einfalt" des göttlichen Bildes im Innersten der Seele gelangen wolle.97 Das „Fünklein der Seele" sei ein „Bild göttlicher Natur" 98 , das sich dort einstelle, wo Gott - nicht der Mensch - wirke und sich in die Seele ergieße.99 93 94 95 96

97 98 99

Vgl. De vis. beat. 1.2.1.1.7., Opera omnia I, S. 43-44. Zu Eckharts Lehre vom Bild vgl. Mojsisch, 1983, 74-81; 111-146. Pr. 16a, S. 258 f. Pr. 59, (Meister Eckebart, Deutsche Predigten und Traktate, hg. v. Josef Quint, München 1963, S. 432). Pr. 16b, S. 268. Pr. 20b, S. 342-352. Pr. 59, (Meister Eckebart, Deutsche Predigten und Traktate, hg. v. Josef Quint, München 1963 S. 435).

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Nach Augustinus gilt zwar, dass der Mensch sich von der Körperwelt mit ihrer abzählbaren Vielheit abwenden müsse, um sich selbst in seiner dreiheitlichen Einheit zu erfassen, doch ist dies kein seiner selbst entfremdet werden, sondern ein wahrhaft zu sich selbst finden. Auch fordert Augustinus keine Ablegung aller Kräfte der Seele und ihres Wirkens, sondern nur ein Absehen von den „äußeren", gegenstandsbezogenen Akten und eine Hinkehr zu den „inneren" Vollzügen und deren Wirken. Nach Augustinus liegt das Bild Gottes dort vor, wo der menschliche Geist in natürlicher und ursprünglicher Weise sich kennt und liebt, nicht aber dort, wo er allen Selbstbesitz aufgibt, damit Gott von ihm Besitz ergreife. Während Augustinus ein Konzept des Selbstseins eines endlichen geistigen Wesens entwickelt (als welches es auch von Bonaventura und Thomas von Aquin rezipiert worden ist), lenken Dietrich und Eckhart Augustins Ideen auf eine Theorie absoluter, göttlicher Subjektivität hin um, die in manchen Zügen auf den deutschen Idealismus vorausweist.

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Thomas von Aquin zum Verhältnis von Leib, Seele und Intellekt CHRISTOF RAPP

Thomas von Aquin (1224/5-1272) äußert sich immer wieder zum Wesen der Seele, zum Verhältnis von Leib und Seele und anderen Themen, die heute unter dem Titel „Philosophie des Geistes" abgehandelt werden. Einschlägig sind vor allem folgende Schriften: Der Kommentar zu Aristoteles' De Anima mit dem Titel Sententia super De Anima (In DA), die Quaestiones disputatae de anima (QDA), die Kapitel II 56-101 aus Summa contra Gentiles (SCG), ein größerer Abschnitt aus Thomas' systematischem Hauptwerk Summa Theologiae (STh I 75-89) mit dem Untertitel „Über den Menschen" (De homine) sowie die kürzere Streitschrift De unitate intellectus contra Averroistas (DUI). Wie in anderen wichtigen Fragen so bewegt sich Thomas auch mit seiner Konzeption der menschlichen Seele in der Nachfolge des antiken Philosophen Aristoteles. Die Übereinstimmung mit Aristoteles wird aber durch zwei Faktoren grundsätzlich begrenzt: 1. Thomas' Wirken als Theologe und Philosoph hat insgesamt das Ziel zu zeigen, dass sich die Ergebnisse rational betriebener Philosophie - d.h. für Thomas insbesondere: aristotelischer Philosophie - und christlicher Offenbarung grundsätzlich gegenseitig bestätigen. Aus diesem generellen Anliegen erhellt, dass Thomas in der Regel auch dann zu einer mit christlichen Grundsätzen vereinbaren Deutung der aristotelischen Philosophie neigt, wenn entgegengesetzte Deutungen möglich wären - dies betrifft im vorliegenden Kontext vor allem die Frage nach der Unsterblichkeit der menschlichen Seele. 2. Thomas' Verständnis aristotelischer Philosophie ist stark von

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den Fragestellungen zeitgenössischer Kontroversen und von der Interpretation der aristotelischen Werke durch neuplatonische Philosophen, durch die Kirchenväter und durch die arabischen Kommentatoren beeinflusst. Daher wendet Thomas oft aristotelische Begriffe und Grundsätze auf Probleme an, die sich so Aristoteles noch gar nicht gestellt haben können. Schon deshalb sind Thomas' Ausführungen zum Begriff der Seele nicht nur ein Neuaufguss aristotelischer Thesen. Die folgenden Ausführungen stellen Thomas' Position im Ausgang von der antiken Diskussionslage dar.

1

Die antike Debatte als Hintergrund

Thomas meint in der antiken Diskussion zum Verhältnis von Körper und Seele mindestens drei Positionen ausmachen zu können: a) eine materialistische Position, nach welcher die Seele nichts anderes ist als eine Art von Körper, b) eine dualistische Position, der zufolge Körper und Seele zwei eigenständige Entitäten sind, die unabhängig voneinander existieren können, und c) die hylemorphistische Position des Aristoteles, welcher die Seele als die Form eines lebendigen Körpers ansieht und dadurch die Alternative von Materialismus und Dualismus unterlaufen will. a) Thomas spricht vor allem den „alten" Philosophen - den Vorsokratikern - einen materialistischen Standpunkt hinsichtlich der Seele zu. Tatsächlich deuten in eine solche Richtung z.B. die Bemerkungen des Heraklit, die Seele sei ein Feuer, das aus Wasser entsteht und stirbt, wenn es wieder zu Wasser wird.1 Klarer belegt ist ein solcher Materialismus für die antiken Atomisten: Epikur und Lukrez sprechen deutlich aus, dass auch die Seele aus feinen Atomen zusammengesetzt sei.2 Eine solche Annahme wird plausiblerweise auch auf die Erfinder des Atomismus, Leukipp und Demokrit, zurückprojiziert; auch für Philosophen wie Empedokles, die annehmen, dass Ähnliches durch Ähnliches erkannt werde, ergibt

1 2

Vgl. Fragment 2 2 Β 36 (Diels/Kranz). Epikur, Brief an Herodot 63, 3; Lukrez 3, 2 5 8 - 2 7 2 .

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sich die Konsequenz, dass alle erkennbaren Stoffe und Substanzen in der Seele vorhanden sein müssen.3 Eine starke Affinität zum Materialismus sieht Thomas außerdem bei allen Positionen gegeben, die die sinnliche Wahrnehmung und die Tätigkeit des Intellekts gleichsetzen,4 insofern diese das für Thomas stets unkörperliche Denken nach dem Vorbild der Sinne - und das heißt: körperlich - erklären müssen. Eine solche Auffassung wäre wiederum Empedokles5 und Demokrit6 zuzuschreiben. Schließlich identifiziert Thomas auch antike Positionen, die die Seele zwar nicht einfach mit dem Körper gleichsetzen, sie aber als eine Art Mischung oder Proportion körperlicher Bestandteile konzipieren; stellvertretend nennt er die Galen zugeschriebene Auffassung, die Seele sei eine Mischung aus Körpersäften, und die aus dem pythagoreischen Umfeld stammende These, die Seele sei Harmonie. 7 b) Eine Position, die man heute als „dualistisch" bezeichnen würde, sieht Thomas bei Piaton gegeben. In der Tat zählt die Position, die Piaton in seinem Dialog Phaidon umreißt, zusammen mit den Schriften Rene Descartes' auch heute noch zu den geradezu paradigmatischen Formulierungen des Leib-Seele-Dualismus. Piaton gibt in dieser Schrift nämlich verschiedene Beweise für die Unsterblichkeit der Seele; und die Unsterblichkeit der Seele setzt voraus, dass die Seele unabhängig vom Körper bestehen kann und zumindest einige ihrer Funktionen auch ohne Körper ausüben kann. Piaton gibt für seine These im Phaidon insgesamt vier Beweise. Einer davon führt die berühmte Platonische These an, dass Lernen in einem Wiedererinnern (anamnesis) besteht,8 so dass die Seele einige Ideen schon vor der Geburt aufgenommen haben muss. Ein anderer Beweis führt an, dass die Seele zur Erkenntnis unvergänglicher Ideen auch selbst dem Unvergänglichen ähnlich und verwandt sein müsse;9 doch machen Piatons Gesprächspartner 3 4 5 6 7 8

9

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. 41e. Vgl.

Aristoteles, De Anima 405bl3ff. SCG II 66. Aristoteles, De Anima 427a21-b7. Theophrast, De sensu et sensibilibus 58, 2. SCG II 63 und 64. Piaton Menon 80d-86c, Phaidon 72e-77a, Phaidros 249b-c, Timaios Piaton, Phaidon 77b-84b.

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selbst deutlich, dass diese Beweise noch nicht alle Zweifel aufheben können. Schließlich wird argumentiert, dass die Seele als Grund des Lebendigseins für den dem Leben entgegengesetzten Zustand des Todes wesentlich unempfänglich sein muss.10 Den aus diesen Bemerkungen folgenden Dualismus sieht Thomas in dem Piaton zugeschriebenen Slogan gut veranschaulicht, die Seele wäre in einem Körper wie der Kapitän auf seinem Schiff.11 c) Aristoteles versteht seine Position weder als materialistisch noch als dualistisch. Allgemein vertritt Aristoteles die Auffassung, dass konkrete Gegenstände als aus Form (eidos, morphe) und Materie (hyle) zusammengesetzt zu betrachten sind. Diesen allgemeinen Ansatz - den sogenannten Hylemorphismus - wendet Aristoteles auch auf das Verhältnis von Leib und Seele an: Seele ist demnach die Form eines belebten Körpers12 und das Beseeltsein ist genau das, was den Unterschied zwischen einem lebendigen und einem toten Körper ausmacht. Ein beseelter, lebendiger Körper unterscheidet sich demnach von einem toten Körper durch bestimmte Fähigkeiten, wie das Vermögen zum Wachstum, zur Ernährung; bei manchen Lebewesen außerdem die Fähigkeit zur Wahrnehmung und Selbstbewegung, bei den Menschen schließlich die Fähigkeit zum Denken. Das Seelische im Hylemorphismus beschreibt daher weder wie bei Piaton das Unveränderliche und Denkende im Unterschied zum Bereich des Wahrnehmbaren, Inkonstanten und Materiellen noch wie bei Descartes das Bewusste und Geistige im Unterschied zum Ausgedehnten. Für den Hylemorphisten sind Wachsen und Verdauen ebenso Fähigkeiten, die dem Lebewesen durch seine Seele zukommen, wie das Wahrnehmen und Denken. Was wir als geistige, bewusste usw. Vorgänge beschreiben würden, nimmt für den Hylemorphisten als solchen keine Sonderrolle ein. Insofern versteht sich der Hylemorphismus zu Recht als ein Standpunkt sui generis; er setzt sich sowohl vom Leib-Seele-Dualismus als auch vom reduktiven Materialismus ab. 10 11 12

Vgl. Piaton, Phaidon 103c-107b. Vgl. Aristoteles, De Anima 413a9. Vgl. Aristoteles, De Anima II 1.

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Gegen die These, die Seele sei nichts als Körper, wendet der Hylemorphist ein, dass dann der Unterschied zwischen einem toten und einem lebendigen Leib nicht mehr erfasst werden könnte, da sich diese hinsichtlich ihrer materiellen Bestandteile nicht unterschieden. Gegen dualistische Theorien grenzen sich Hylemorphisten mit dem Argument ab, dass weder Form noch Materie für sich genommen eigenständige, zählbare Individuen sind; vielmehr handle es sich um diejenigen Aspekte, in welche die Konstitution eines zählbaren Dings analysiert werden kann. Bezogen auf das Verhältnis von Leib und Seele sagt Aristoteles daher, man dürfe nicht fragen, „ob die Seele und der Körper eines sind, wie man ja auch nicht fragt, ob das Wachs und seine Gestalt und überhaupt die Materie von jedem und das, wovon sie die Materie ist, eines sind".13 Offenbar sieht er in der bloßen Frage nach der Identität von Körper und Seele eine Art von Kategorienfehler vorliegen: Seele und Leib sind für ihn nicht eines und sind auch nicht verschieden; zwischen ihnen besteht das genuine Verhältnis des „Bestehens aus", der materiellen Konstitution. Daher fordert der Hylemorphist, dass die sogenannten seelischen Zustände dem Körper und der Seele gemeinsam sein müssen oder zumindest nicht ohne Körper sein können.14 Wenn das wiederum der Fall ist, dann scheint ausgeschlossen, dass die Seele vom Körper abgetrennt werden oder ohne ihn weiterexistieren kann. Ausnahmen von dieser Regel zieht Aristoteles nur für das Denken bzw. den Intellekt (nous) in Betracht; jedoch bleibt auch aus Sicht der modernen Aristoteles-Forschung umstritten, wie weit Aristoteles mit dieser Ausnahme gehen will. 2

Thomas' Kritik am Materialismus und am Platonischen Dualismus

Der Aristotelismus in der Thomasischen Seelenlehre zeigt sich zunächst daran, dass sich Thomas kritisch von denselben Positionen absetzt, die auch Aristoteles und die antiken Aristoteliker 13 14

Aristoteles, De Anima 412b6ff. Aristoteles, De Anima 403a3ff.

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abgelehnt haben. Dass Thomas auf der einen Seite den Materialismus als allgemeines Erklärungsprinzip ablehnt, liegt auf der Hand, da für ihn Gott und auch die Engel absolut materiefreie Wesen sind. Die „alten", vorsokratischen Materialisten hätten hingegen, so meint Thomas, noch gar nicht entdeckt, dass es neben der körperlich-materiellen Realität noch eine andere Art von Wirklichkeit gebe. Interessanter ist schon, dass Thomas die Reduktion auf materielle Erklärungen auch für konkrete, materiell konstituierte Lebewesen ablehnt. Gegen die These, die Seele sei ein Körper oder eine bestimmte Konstellation körperlicher Bestandteile, wählt Thomas - wie schon Piaton 15 - einmal die Strategie zu argumentieren, dass die Seele über den Körper herrsche und sich dessen Leidenschaften widersetzen könne. Wie aber könnte man das Phänomen erklären, dass Menschen ihre Leidenschaften beherrschen können, obwohl ihre körperliche Konstitution, z.B. die Mischung ihrer Körpersäfte, sie zu einer solchen Leidenschaft disponiert, wenn die Seele selbst nur als eine bestimmte physiologische Konstellation erklärbar wäre? 16 Ein anderes Argument lautet so: Zwei Körper können nicht am selben Ort sein. Die Seele ist aber nicht außerhalb des Körpers, dessen Seele sie ist. Also kann die Seele nicht selbst ein Körper sein. Oder: Jeder Körper ist teilbar. Was teilbar ist, bedarf einer Sache, die die Teile zusammenhält und sie eint. Das Einende bei einem Lebewesen ist die Seele, was man daran ersieht, dass sich der Körper in seine Teile auflöst, sobald das Lebewesen stirbt und seine Seele es verlässt. Wäre nun die Seele als das Einigende selbst ein Körper, so wäre die Seele selbst teilbar und bedürfte wiederum einer Sache, die sie zusammenhält, so dass man weiter zurückgehen müsste, bis man entweder zu einer Entität gelangt, die unkörperlich ist (und mit größerem Recht „Seele" heißen würde) oder in einen unendlichen Regress gerät.17 Ein Argument, das näher am Kern der Thomasischen Seelenkonzeption liegt, ist folgendes: Auf den Gedanken, die Seele sei ein 15 16 17

Vgl. Piaton, Phaidon 94b-c. Vgl. SCG II 63. Ebd.

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Körper, wird man am ehesten durch die Beobachtung kommen, dass die Lebensfunktionen, die wir kennen, in der Regel durch ein körperliches Organ ermöglicht werden. Wollte man so argumentieren, dann müsste man aber auch das Auge oder das Herz jeweils eine Seele nennen, denn beide sind in einem gewissen Sinn Grund oder Prinzip des Lebens bzw. der vitalen Funktionen (principia vitae bzw. Vitalis operationis).u Daher muss man differenzieren: Ein Körper oder ein körperliches Organ kann zwar auch Grund des Lebens sein, aber nicht erster Grund,19 denn wäre dies der Fall, dann wäre jeder Körper ein lebendiger. Da dies aber nicht der Fall ist, muss etwas Bestimmtes hinzukommen, was hinreichend dafür ist, dass ein Körper ein lebendiger ist, und dieses kann nicht selbst körperlich sein. Eine ganz andere Argumentationsstrategie gegen materialistische Auffassungen der Seele besteht für Thomas darin, die Identifikation von Verstand (intellectus) und Sinnen anzugreifen; dabei nimmt Thomas an, dass die Eigenart des Intellekts im Vergleich mit den Sinnen nur dadurch hinreichend erfasst werden kann, dass man ihn als ein unkörperliches Vermögen konstruiert. Kann seine Funktion aber nur auf diese Weise erklärt werden, greifen alle materialistischen Konzeptionen der Seele zu kurz. Konkret argumentiert er daher, dass der Gegenstand der Sinne das Einzelne sei, was durch körperliche Organe aufgenommen werde, während Gegenstand des Intellekts das Allgemeine und Unkörperliche sei, die nicht in derselben Weise körperlich erfasst werden können.20 Thomas von Aquin wendet sich aber auf der anderen Seite ebenso gegen den platonischen Leib-Seele-Dualismus. In Anbetracht des Fernziels einer philosophischen Seelenkonzeption, die mit dem christlichen Wiederauferstehungsglauben zumindest 18 19

20

STh I, qu. 75, art. 1, corpus. M.a.W. vertritt Thomas die Auffassung, dass Körper zwar die (notwendige) Mitursache des Lebens, jedoch nicht die hinreichende Ursache desselben sein können. Der entsprechende Unterschied wird - ebenfalls mit Blick auf die Frage der Seele - schon von Piaton in Phaidon 99b formuliert: zwei Dinge seien auseinander zu halten, nämlich „das, was wirklich der Grund einer Sache ist, und das, ohne welches der Grund nicht Grund sein könnte." SCG II 66.

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nicht unvereinbar ist, stellt dies eine erhebliche Komplikation dar, denn natürlich wäre es theoretisch einfacher, in der platonischen Tradition für ein Weiterleben der menschlichen Seele nach dem Tod zu argumentieren. Was Thomas an der platonischen Auffassung auszusetzen hat, ist im Grunde dies: Weil Seele und Körper nicht - wie im Aristotelismus - im Sinne von Form und Materie zusammengesetzt sind, bestehe kein wesentlicher Zusammenhang zwischen beiden, sondern bestenfalls ein kontingenter Zusammenhang. Thomas belegt diese Implikation des platonischen Dualismus immer wieder mit Formulierungen, die nur aus indirekter Überlieferung entnommen sind, nämlich mit der schon erwähnten Formel, die Seele wäre in einem Körper wie der Kapitän auf seinem Schiff, 21 sowie mit der Nemesius' Platon-Referat entnommenen Bemerkung, der Mensch sei nicht etwas aus Leib und Seele Zusammengesetztes, sondern er sei die den Körper nur gebrauchende Seele.22 Gegen die Erklärung des Menschen durch eine derart flüchtige Verbindung von Körper und Seele hat Thomas ganz unterschiedliche Einwände: Wäre die Seele mit dem Körper wie ein Kapitän mit dem Schiff verbunden, dann bestünde der Zusammenhang beider nur in einer Art von Kontakt, durch den ein Bewegungsimpuls vom einen auf das andere übertragen würde; doch entsteht durch einen bloßen Kontakt nicht schon etwas Einheitliches, während wir den Menschen als etwas schlechthin Einheitliches und (deswegen) als etwas Seiendes betrachten. 23 Nun scheint Thomas zuzugestehen, dass dieses Einheitsproblem eher behoben werden kann, wenn man sagt, der Mensch sei die den Körper gebrauchende Seele; jedoch würde sich dann das Problem einstellen, dass der Körper für den Menschen gar nicht mehr wesentlich schiene, während die Körperlichkeit für den Menschen wie für alle Sinneswesen als wesentlich angesetzt werden muss. Auch könnte, wenn die Seele nur als Beweger mit dem Körper verbunden wäre, die Trennung von Körper und Seele nicht das Vergehen eines Lebewesens erklä-

21 22 23

Siehe oben, Fußnote 11. Nemesius, De natura hominis I 24ff. Vgl. SCG II 5 7 .

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ren, da Beweger und Bewegtes nicht dem Sein nach, sondern nur der Bewegung nach miteinander verbunden wären. 24 Überhaupt ergebe sich, wenn man Körper und Seele als zwei selbstständig seiende Entitäten versteht, das Problem, dass jede Aktivität eines Lebewesens in zwei unabhängige Akte, einen seelischen und einen körperlichen, zerfalle, während wir annehmen, dass einige Aktivitäten (z.B. Wahrnehmen, Zornigwerden) dem Lebewesen als ganzem zukommen. 25 Schließlich sieht Thomas mit dem platonischen Dualismus auch eine erkenntnistheoretische Grundhaltung verbunden, die er ablehnt. Hatte er beim Materialismus kritisiert, dass dieser die intellektuelle Erkenntnis nach dem Vorbild körperlicher Sinneswahrnehmung erklären muss, kritisiert er am Piatonismus, dass dieser die dem menschlichen Intellekt wesentliche Verbindung mit der Sinneswahrnehmung nicht erklären kann. Zwar bedarf der Intellekt nicht unmittelbar des Körpers, jedoch bedarf er der Sinneswahrnehmung um der Erkenntnis des Einzelnen willen, aus der er das Allgemeine abstrahiert;26 da die Sinneswahrnehmung nur durch einen bestimmten Körper möglich ist, ist daher auch der menschliche Verstand notwendig mit einem solchen Körper verbunden. 27 Beim Platoniker dagegen entspreche der nur kontingenten Verbindung von Seele und Körper die epistemologische Auffassung, dass der Intellekt auch ohne den Beitrag der Sinne28 und erst recht ohne Beitrag des Körpers tätig sein könnte (z.B. durch Erinnerung an eine vorgeburtliche Ideenschau), weswegen es aus platonischer Sicht auch keinen zwingenden Grund für den Zusammenschluss von Seele und Körper gebe.

24

25 26 27 28

Bei einer kontingenten Verknüpfung von Seele und Körper im Sinne von Beweger und Bewegtem sieht Thomas außerdem das Problem gegeben, dass Seele und Körper durch ein Medium verbunden sein könnten, was er selbst strikt ablehnt: vgl. QDA Art. 9, SCG II 71, STh I, qu. 76, art. 6-7. Ebd. Vgl. STh I, qu. 86, art. 1. Vgl. STh I, qu. 76, art. 5, ad secundum. Thomas versteht Piaton so, dass ihm zufolge auch die Sinneswahrnehmung der Seele eigentümlich sei; vgl. STh I, qu. 75, art. 4, corpus.

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3

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Die Seele als Form und Prinzip des Lebendigseins

Aus der Ablehnung der materialistischen und der dualistischen Position lässt sich Thomas' eigener Standpunkt verständlich machen: Die Materialisten konnten aus Thomas' Sicht keinen hinreichenden Grund für das Lebendigsein benennen, diese Rolle übernimmt nun bei Thomas die unkörperliche Seele; daher wird sie „erster Grund des Lebens (primum principium vitae)"29 genannt. Beseelt ist das, was lebt, und das Leben offenbart sich vor allem in der Fähigkeit zur Erkenntnis (im weitesten Sinn) und der Bewegung. Die Dualisten scheiterten aus seiner Sicht vor allem daran, die im konkreten Lebewesen vorhandene Einheit von Seele und Körper plausibel zu machen; daher wird die Seele als Form konzipiert, denn die Form ist dasjenige, was zusammen mit einem Stück Materie ein einheitliches Ganzes ausmacht. Es gehöre zum Wesen der Seele, Form zu sein,30 so dass erstens die Seele nicht aus Form und Materie zusammengesetzt sein kann und zweitens die Seele nicht mit dem ganzen Menschen zusammenfällt.31 Der Zusammenhang zwischen beiden Formeln - die Seele als Form und die Seele als Grund/Prinzip des Lebendigseins - wird deutlich, wenn Thomas erläutert, dass eine Entität a sich nur dann zu einer Entität b als die substantiale Form von b verhalte, wenn zwei Kriterien erfüllt sind: (i.) a muss das formhafte Prinzip von b sein, durch das b zu einem Etwas wird und als Seiendes bezeichnet werden kann, (ii.) a und b müssen zu einem einzigen und selbstständigen Seienden zusammenkommen; das aus a und b zusammengesetzte Ganze verdankt dabei sein selbständiges Sein dem formgebenden Prinzip a.32 So wird ein einzelner Mensch zu dem, was er ist, weil ihm die substantiale Menschform zukommt; und diese ist zugleich der Grund für sein Lebendigsein und wird daher als seine Seele bezeichnet. Nun gibt es bei allen Lebewesen einen solchen Grund für ihr Lebendigsein und somit eine Seele. Ein wichtiger Unterschied 29 30 31 32

STh, qu. 75, art. 1, corpus. Vgl. STh I, qu. 75, art. 5. Vgl. STh I, qu. 75, art. 4. SCG II 68.

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zwischen den Seelen verschiedener Gattungen von Lebewesen besteht aber darin, dass das Lebendigsein einer Pflanze nur ihr Vermögen zur Ernährung beinhaltet, während das Lebendigsein von Tieren neben dem Ernährungsvermögen bereits die Fähigkeit zur Wahrnehmung mit einschließt; nur das Lebendigsein des Menschen beinhaltet neben der Ernährung und Wahrnehmung auch das Vermögen zu denken, also den Verstand oder Intellekt. So scheint es auf den ersten Blick, als seien im Tier zwei und im Menschen sogar drei Arten von Seelen vorhanden. Eine solche Auffassung, dass mehrere Seelen in einem Körper sind, meint Thomas tatsächlich bei Piaton zu erkennen, selbst lehnt er diese Auffassung entschieden ab, weil die Seele als die substantiale Form eines Lebewesens bestimmt wurde, und es generell nicht möglich sei, dass eine Sache über mehr als eine substantiale Form verfüge.33 Als Vorteil der hylemorphistischen Erklärung des Menschen war gerade erschienen, dass nur sie den Menschen als wirkliche Einheit begreifen kann; wenn aber etwas als schlechthin eines bezeichnet wird, dann stets nur deshalb, weil es sein Sein einer einzigen substantialen Form verdankt. Hätte der Mensch daher neben der vernünftigen Seele zugleich eine ernährende und eine sinnliche Seele, könnte er nicht mehr als etwas schlechthin Einheitliches gelten.34 Es muss daher numerisch ein und dieselbe Seele sein, die in einem Menschen Nähr- (anima nutritiva), Sinnes- (anima sensitive) und Verstandesseele (anima intellectiva) ist.35 Dies werde plausibel, wenn man bedenke, dass diese unterschiedlichen Vermögen auf unterschiedlichen Stufen der Vollkommenheit stehen, woraus Thomas schließt, dass die vollkommeneren Stufen die weniger vollkommenen Stufen in einem gewissen Sinn inkludieren.36 Er erläutert dieses Verhältnis an einem Aristoteles entnommenen Beispiel37: Bei geometrischen Figuren sei immer im nachfolgenden Glied einer Reihe das frühere der Möglichkeit nach enthalten, so wie im Fünfeck das Viereck und im Viereck das Dreieck der 33 34 35 36 37

Vgl. In DA II 1, 224. Vgl. STh I 76, 3, corpus. Vgl. dazu auch SCG II 58. Ebd. Vgl. Aristoteles, De Anima 414b20ff.

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Möglichkeit nach enthalten sei. Ebenso sei in der Verstandesseele die Sinnesseele und in der Sinnesseele die Ernährungsseele mit enthalten, ohne dass es sich um verschiedene Seelen in einem Menschen handelt. Die Seele, die Sokrates zu einem Menschen macht, sei daher keine andere als die, die ihn zum Sinneswesen macht. Wenn Thomas daher von der „anima rationalis" spricht, dann kann er sich damit einerseits auf die spezifisch intellektuellen Fähigkeiten eines Menschen beziehen als auch andererseits auf die menschliche Seele als ganze. Aus demselben Grund kann Thomas auch den Intellekt selbst als die Form des menschlichen Körpers bezeichnen,38 womit zugleich die ganze menschliche Seele und die spezifische Differenz des Menschen angesprochen wird.

4

Die menschliche Seele als subsistent

Die Behauptung, dass die Seele Form des Lebewesens und als solche erstes Lebensprinzip sei, geht Thomas aber nicht weit genug. Immer wieder wirft er die Frage auf, ob die Seele denn auch selbstständig (subsistens) sei. Während diese Frage für die Tierseele strikt verneint wird;39 begründet Thomas für die menschliche Seele, also für die anima rationalis oder intellectiva, eine positive Antwort. An dieser positiven Antwort hängt einiges; denn sie ist eine notwendige Bedingung für die noch stärkere These, dass die menschliche Seele unzerstörbar (incorruptibilis)40 oder unsterblich (immortalisY 1 sei.42 Sein Argument zugunsten der Selbstständigkeit der Seele beruht im Kern darauf, dass der Intellekt nichts von dem enthalten darf, was er erkennen soll. Daraus wird geschlossen, dass der Intellekt eine Tätigkeit für sich ausübt, an der der Körper nicht teilnimmt. Das Argument hat wiederum verschiedene Vorbilder in der antiken Philosophie.43 Besonders einflussreich war die Aristotelische Version,44 38 39 40 41 42 43 44

Vgl. STh I, qu. 76, art. 1, corpus. Vgl. STh I, qu. 75, art. 3. Vgl. STh I, qu. 75, art. 6. Vgl. QDA, art. 14. Vgl. dazu Cross, 1997. Z.B. in Timaios 50d51-b. De Anima 429al 8-27.

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wonach der Geist {nous) alles denken kann und bestimmte Eigenschaften oder Bestandteile des Geistes das Erkennen entsprechender Qualitäten45 behindern würden, so dass der Geist mit dem Körper unvermischt sein muss, um für die Erkenntnis aller Dinge offen zu sein. Während Aristoteles damit aber nur zu zeigen beabsichtigt, dass sich das Erkennen bzw. Denken nicht durch ein körperliches Organ vollzieht,46 zielt Thomas' Version desselben Arguments auf die Unabhängigkeit der intellektuellen Seele von der materiellen Welt überhaupt: (Pj) Der Intellekt kann die Natur aller Körper erkennen. (P2) Was der Intellekt erkennen soll, darf nicht bereits in seiner Natur liegen. (Zwischenkonklusion) Der Intellekt hat nicht die Natur von irgendeinem Körper in sich. Aus der Zwischenkonklusion wiederum leitet Thomas ab, (i.) dass das principiwn intellectuale kein Körper ist, (ii.) dass sich das Erkennen des Intellekts durch kein körperliches Organ vollzieht, (iii.) dass der Intellekt eine Tätigkeit für sich ausübt, von der alles Körperliche ausgeschlossen ist. Aus (iii.) wird die angestrebte Konklusion (K) gezogen, dass der Intellekt bzw. die menschliche Seele für sich besteht, also subsistent ist, weil nichts eine Tätigkeit für sich ausübe, was nicht subsistent ist.47 Prämisse (P2) begründet Thomas am Beispiel des Kranken, dessen Zunge mit einer bitteren Feuchtigkeit behaftet ist, weshalb ihm selbst das Süße bitter vorkommt. Jedoch scheint nicht nur das Beispiel von der Zunge des Kranken wenig hilfreich (begründet werden müsste eigentlich, dass man die Eigenschaft nicht erkennen kann, die dem Erkennenden bereits zueigen ist, und nicht, dass man die entgegengesetzte Eigenschaft nicht erkennen kann), auch sonst lässt das Argument einige Fragen offen: Warum muss der Geist unkörperlich sein, nur um die Natur oder das Wesen eines Körpers zu erkennen? Schließlich soll er ja nicht den Körper oder eine körperliche Eigenschaft selbst aufneh-

45

46 47

Im Allgemeinen wird dieses Argument mithilfe von De Anima 4 2 3 b 3 0 4 2 4 a 1 0 interpretiert, w o für Sinnesqualitäten ein „blinder Fleck" für die Wahrnehmung solcher Qualitäten angenommen wird, die das Wahrnehmungsorgan selbst hat. Wenngleich mithilfe körperlich repräsentierter phantasmata. Vgl. STh I qu. 7 5 , art. 2, corpus.

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men. Wie ist der Übergang zu (iii.) sowie der Übergang von (iii.) zu (K) zu rechtfertigen, wenn man bedenkt, dass auch nach Thomas der Intellekt die allgemeinen Formen, die er denkt, erst aus der Sinneswahrnehmung abstrahieren muss, und dass sich das Denken nie ohne Bilder des Vorstellungsvermögens (phantasia) vollzieht, welche es nicht ohne Körper geben kann? Einige dieser Probleme sind notorisch, vielleicht sind sie schon in der ursprünglichen aristotelischen Version des Arguments angelegt. Immerhin wird der Einwand, der die Bindung des Denkens an die Vorstellungsbilder (phantasmata) hervorhebt, auch von Thomas selbst diskutiert.48 Er erwidert darauf, dass sich die Vorstellungsbilder zum Denken verhielten, wie die Farbe zum Gesichtssinn, allgemein also wie die Sinnesqualitäten (sensibilia) zu der Sinneswahrnehmung. Deshalb sei der Intellekt genauso wenig von den körperlichen Vorstellungsbildern abhängig wie die Sinneswahrnehmung von der wahrnehmbaren Außenwelt abhängig sei. Für diese Aussage meint sich Thomas sogar direkt auf Aristoteles berufen zu können. 49 Allerdings scheint sich an dieser Stelle eine kleine, aber folgenreiche Differenz eingeschlichen zu haben: Dass die Tätigkeit des Intellekts auf (körperlich vermittelte) Vorstellungsbilder angewiesen ist, wird bei Aristoteles damit begründet, dass man allgemeine Begriffe nicht denken könne, ohne sich jeweils ein bestimmtes Exemplar des betreffenden Typs vorzustellen, ähnlich wie man beim Zeichnen geometrischer Figuren, auch wenn es auf eine bestimmte Größe gar nicht ankommt, stets Dreiecke einer bestimmten Größe zeichnet.50 In dieser Begründung spielen die Vorstellungsbilder weniger die Rolle eines zu erkennenden Gegenstandes (wie beim Verhältnis von Farbe zum Gesichtssinn), vielmehr würde man sagen, dass sich das Denken durch oder mithilfe solcher Bilder vollzieht - in scholastischer Terminologie sind für Aristoteles die Vorstellungsbilder daher eher ein quo (ein Wodurch) als ein quid (ein Was) des Denkens, so dass ein Denkakt stets mit einer Aktivität der

48 49

50

Z.B. STh I qu 75, art. 2, ad tertium. Vgl. QDA, art. 15: „ut enim dicit Philosophus in III De anima, intellectivae animae fantasmata sunt sicut sensibilia sensui. Vgl. Aristoteles, De Memoria 4 5 0 a l - 6 .

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phantasia einhergeht, wenngleich beide numerisch verschiedene Akte sind. Und in der Tat sagt Aristoteles an der von Thomas referierten Stelle nicht, die Vorstellungsbilder verhielten sich zum Intellekt wie ein Wahrnehmungsgegenstand (griechisch: aistheton), sondern wie ein Wahrnehmungsgehalt (aisthema) zur Sinneswahrnehmung.51 - Sollten die Vorstellungsbilder beim Denken aber eher dem Wahrnehmungsgehalt analog sein, lässt sich gerade nicht die von Thomas intendierte Schlussfolgerung ziehen, dass die (unkörperliche) Tätigkeit des Intellekts von den (körperlichen) Vorstellungsbilder ebenso unabhängig sei wie die Tätigkeit der Wahrnehmung von der wahrnehmbaren Welt.

5

Beruht Thomas' Konzeption der Seele auf unvereinbaren Anforderungen?

Nach der bisherigen Bestandsaufnahme ist die Seele für Thomas einerseits eine Form, andererseits aber subsistent. Wenn man die Seele als Form bezeichnet, will man damit - zur Absetzung vom Dualismus - zum Ausdruck bringen, dass sie nicht einfach wie eine weitere Entität neben dem Körper existiert, sondern dass sie erst zusammen mit einer angemessenen Materie ein individuierbares Ganzes ausmacht. Bezeichnet man andererseits eine Sache als subsistent, will man damit gerade zum Ausdruck bringen, dass sie unabhängig von der Existenz anderer Dinge existieren kann. Da Thomas nun auch die menschliche Seele als subsistent erweisen möchte, scheint es, als beruhe seine Seelenkonzeption auf unvereinbaren Anforderungen. Thomas selbst scheint sich durchaus darüber im Klaren zu sein, dass es sich hierbei um einen kritischen Punkt für seine gesamte Konzeption handelt. Er geht auf diese Frage daher an mehreren Stellen seines Werks ein, meistens indem er die Frage stellt, ob die 51

Aristoteles, De Anima 431al4f. Vermutlich aber war Thomas der Unterschied zwischen aistheton und aisthema gar nicht bewusst, zumal die von Thomas benutzte Übersetzung von Wilhelm von Moerbeke den griechischen Ausdruck „aisthema mit „sensibiliau übersetzt, was sonst als lateinische Übersetzung für „aistheton" dient.

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Seele zugleich eine Form und ein hoc aliquid (dieses Etwas) sein kann: Ein hoc aliquid zu sein, ist ein Merkmal selbstständiger, subsistenter Entitäten; der Ausdruck ist eine lateinische Übersetzung des Aristotelischen Terminus tode ti (dieses Etwas bzw. ein Dieses), womit in der Regel individuelle, selbstständige Dinge bezeichnet werden, die eine Artbestimmung aufweisen. Wenn nun die Form dasjenige ist, was einer Sache erst eine Artbestimmung verleiht und sie so zu einem hoc aliquid macht, dann scheint es in der Tat problematisch, auch die Form selbst schon als ein hoc aliquid anzusehen. Im Kern besteht Thomas' Lösung darin, dass er verschiedene Weisen (rationes) unterscheidet, in denen etwas ein hoc aliquid genannt werden kann, und nur eine dieser Weisen für die Seele in Anspruch nimmt. In einer einfacheren Version des Arguments52 sagt Thomas, etwas könne auf zweierlei Weise ein hoc aliquid sein, einmal wie etwas, das auf irgendeine Weise subsistent ist, und das andere Mal wie etwas, das in der Natur der betreffenden Art vollständig subsistent ist. Die erste Bedeutung kennzeichne den Gegensatz zur Unselbstständig der Materie oder des Akzidens. In diesem Sinn könnte etwa auch der Teil einer selbstständigen Sache, ζ. B. die Hand als Teil eines Menschen, als hoc aliquid bezeichnet werden. Im zweiten Sinn kann nur das als hoc aliquid angesehen werden, was über die vollständige Selbstständigkeit verfügt, so wie ein einzelner Mensch nach den Maßstäben der Art „Mensch" über eine uneingeschränkte Selbstständigkeit verfügt. Somit kann Thomas für die Seele die erste, eingeschränkte Weise, ein hoc aliquid zu sein, in Anspruch nehmen, während die volle Selbstständigkeit dem individuellen Exemplar einer bestimmten Art, wie im vorliegenden Fall dem einzelnen Menschen, vorbehalten bleibt. Daraus würde sich wiederum ergeben, dass die Seele in einem ähnlichen Sinn als hoc aliquid anzusehen wäre wie ein beliebiger Teil eines Menschen, ζ. B. eine Hand, ein Bein oder ein Organ desselben. Diese Schlussfolgerung ist in gewisser Weise enttäuschend, erstens weil damit die Funktion der Seele, die als Formursache natür-

52

Vgl. STh I, qu. 2, ad secundum.

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lieh einen ganz anderen Beitrag zur Konstitution des Ganzen leistet als ein beliebiger anderer Teil desselben, unterbestimmt bleibt und zweitens weil der ontologische Status eines Teils kein überzeugendes Vorbild für die Subsistenz der als unsterblich zu erweisenden Seele darstellt. In einer ausführlicheren Version seines Arguments geht Thomas deshalb deutlich über den Vergleich mit dem Status von Teilen hinaus: Die Seele sei ein hoc aliquid und könne aus eigener Kraft subsistieren, und zwar nicht insofern sie die vollständige Art in sich habe (was dem zweiten der vorhin unterschiedenen Bedeutungen von hoc aliquid entsprechen würde), sondern insofern sie gleichsam die menschliche Art wie die Form des Körpers vervollständige.53 Das würde bedeuten, dass die Seele zwar nicht im uneingeschränkten Sinn des ganzen Individuums ein hoc aliquid sein kann, andererseits aber auch nicht nur den Status eines beliebigen Teils hat, sondern sich den Status des hoc aliquid dadurch erwirbt, dass sie als Formprinzip Individuen einer bestimmten Art erst ermöglicht. - Im Grunde stellt Thomas' Argumentation daher eine Art Abwägung dar, die die Seele einerseits klar dem unselbstständig Seienden (den Akzidentien, der Materie, und - in gewissem Sinn - den Teilen) gegenüberstellt, sie aber andererseits auch von der Selbstständigkeit der aus Materie und Form zusammengesetzten Entitäten unterscheidet. Am Ende einer der ausführlichsten Diskussionen zu dem vorliegenden Problem steht eine ähnlich abwägende Einschätzung 54 : „Insofern sie nämlich über eine die materiellen Dinge übersteigende Operation verfügt, ist ihr Sein über den Körper erhoben und nicht von ihm abhängig. Insofern es aber von Natur so eingerichtet ist, dass man immaterielle Erkenntnis ausgehend von dem Materiellen erwirbt, steht fest, dass sie ihre artspezifische Natur nicht ohne die Vereinigung mit dem Körper vollenden kann. Nichts nämlich ist in seiner jeweiligen Art vollendet, was nicht über dasjenige verfügt, was für die der jeweiligen Spezies eigentümliche Operation erforderlich ist. Falls nämlich die menschliche Seele, insofern sie mit dem 53

54

quasi perficiens speciem humanam ut forma corporis": Q D A , art. 1, corpus. Q D A , art. 1, corpus.

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Körper wie eine Form vereint ist, ein über den Körper erhobenes Sein hat, ist sie von diesem nicht abhängig; es steht also fest, dass die Seele im Grenzbereich zwischen körperlichen und abgetrennten Substanzen angesiedelt ist." Thomas entgeht also dem sich abzeichnenden Konflikt zwischen unterschiedlichen Anforderungen, indem er erstens der Seele nicht die volle Subsistenz zuerkennt und indem er zweitens verschiedene Aspekte der Seele unterscheidet, um die Subsistenz dann nicht der Seele insgesamt, sondern nur der immateriellen Tätigkeit des Intellekts zuzuschreiben. 6

Sinneswahrnehmung und hylemorphistische Theorie

Offenbar ist es eine Konsequenz des hylemorphistischen Ansatzes, dass die sogenannten seelischen Zustände und Widerfahrnisse (mit Ausnahme der intellektuellen Aktivitäten) immer der Seele und dem Körper gemeinsam zukommen, denn kämen sie ausschließlich der Seele zu, erschiene ihre Verbindung mit dem Körper als überflüssig. Für Aristoteles stellen Emotionen wie der Zorn das Paradigma für die seelisch-physiologische Doppelnatur solcher Zustände dar.55 Auch für die sinnliche Wahrnehmung gilt, dass Prädikate wie „er sieht", „sie hört" immer zugleich die Vereinigung aus Seele und den Körper zum eigentlichen Subjekt haben.56 Aristoteles beschreibt die sinnliche Wahrnehmung wiederholt mit der Bemerkung, das wahrnehmende Sinnesorgan oder der Sinn würden in der Wahrnehmung wie das Wahrgenommene, und die Form des Wahrgenommenen werde dabei ohne Materie aufgenommen.57 Um die Deutung dieser Formeln ist in der neueren Aristoteles-Forschung eine intensive Debatte entstanden58: Will Aristoteles damit 55 56

57 58

Vgl. Aristoteles, De Anima 4 0 3 a l 6 . Auch Thomas selbst bekräftigt, dass dies eine Konsequenz des hylemorphistischen Ansatzes ist: vgl. STh I, qu. 7 7 , art. 5, corpus und ad tertium. Vgl. Aristoteles, De Anima 4 1 7 a 2 0 , 4 2 4 a l 8 - 1 9 , 4 3 4 a 2 9 - 3 0 u.a. Vgl. aus der neueren Literatur Everson, 1 9 9 7 , für die Auffassung, der Wahrnehmung liege eine buchstäbliche Veränderung zugrunde, und Johansen, 1 9 9 8 , für die entgegengesetzte Auffassung, es vollziehe sich nur eine „geistige" Veränderung.

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sagen, dass das Wahrnehmungsorgan buchstäblich so wird wie die wahrgenommene Qualität, so dass das Auge, das die Farbe Blau wahrnimmt, selbst an irgendeiner Stelle blau wird, die Wärme empfindende Hand selbst warm, usw.? Oder weist die Formel „Form ohne Materie aufnehmen" darauf hin, dass der Sinn oder das Sinnesorgan die entsprechende Veränderung nur formal, aber nicht materiell durchlaufen, so dass das Auge die Farbe Blau nicht an seinen materiellen Bestandteilen aufnimmt, sondern sie nur „formal", „geistig" o.ä. aufnimmt. Die Befürworter einer buchstäblichen Veränderung im Wahrnehmungsvorgang verstehen die Formel „Form ohne Materie aufnehmen" hingegen so, dass bei der Wahrnehmung zwar keine Materiestücke ins Wahrnehmungsorgan gelangen, wie es die materialistischen Wahrnehmungstheorien der Vorsokratiker tatsächlich angenommen hatten, dass es aber dennoch das körperliche Sinnesorgan selbst ist, das die entscheidende Veränderung durchläuft. Aus Sicht des hylemorphistischen Theorieansatzes hätte die „buchstäbliche" Lesart den Vorteil, dass auf unproblematische Weise klar würde, warum die Wahrnehmung wesentlich eine körperliche Veränderung mit einschließt. Bei einer „geistigen" Lesart müsste die Frage, ob der Grundsatz des Hylemorphismus gewahrt wird, zumindest als problematisch gelten. Wenn das Auge nur in einem „formalen" oder „geistigen" Sinn blau wird, um blau wahrzunehmen, braucht dann die Wahrnehmung überhaupt eine körperliche Veränderung? Und braucht sie überhaupt eine bestimmte oder nur eine beliebige Veränderung? Warum würde dann Aristoteles so viel Mühe darauf verwenden, die materielle Konstitution der Sinnesorgane aus dem spezifischen Sinnesobjekt und den allgemeinen Gesetzen über die kausale Einwirkung entgegengesetzter Qualitäten zu erschließen? Thomas' Erklärung der fünf „äußeren Sinne"59 folgt nun ganz seiner Aristoteles-Auslegung60 und zwar im Sinn der sogenannten „geistigen" Lesart. Von einer sinnlich wahrnehmbaren Form (z.B. Blau, Laut, Warm) sagt Thomas, sie habe unterschiedliche Seinsweisen (modi esse) im wahrnehmbaren Objekt und im Sinn; im 59 60

Vgl. STh I, qu. 78, art. 3. In DA § 553.

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Objekt nämlich verfüge sie über natürliches (esse naturale), im Sinn hingegen über geistiges oder intentionales Sein (esse intentionale et spirituale).61 Entsprechend unterscheidet Thomas auch zwischen einer geistigen und einer natürlichen Veränderung62: „Es gibt aber eine doppelte Veränderung (immutatio): eine natürliche und eine geistige. Eine natürliche, insofern die Form des Verändernden dem natürlichen Sein nach in dem Veränderten aufgenommen wird, wie die Wärme in dem Erwärmten. Eine geistige aber, insofern die Form des Verändernden dem geistigen Sein nach in dem Veränderten aufgenommen wird, wie die Form der Farbe im Auge, welches dadurch nicht gefärbt wird. Zur Operation des Sinnes aber ist eine geistige Veränderung erforderlich, durch die ein Abbild (intentio) der wahrnehmbaren Form im Sinnesorgan entsteht. Wenn nämlich andererseits die natürliche Veränderung allein zur Wahrnehmung hinreichen würde, würden alle Körper wahrnehmen, solange sie verändert werden." Leider wird der Begriff der geistigen Veränderung (immutatio spiritualis) nicht näher erläutert; auch das Beispiel des Auges ist nicht wirklich hilfreich, denn gerade der Status der im Auge befindlichen Farbe erscheint problematisch. Im Grunde erfahren wir nur, dass bei einer geistigen Veränderung ausschließlich die Form der sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaft übermittelt wird, ohne dass das aufnehmende Organ die entsprechende Eigenschaft selbst annimmt. Außerdem ist es die geistige Veränderung, die für die Wahrnehmung als solche verantwortlich ist. Beim Sehen findet allein eine solche geistige Veränderung statt, beim Hören und Riechen findet neben der geistigen Veränderung auch noch eine natürliche Veränderung auf Seiten des Gegenstandes statt, bei der Tast- und Geschmackswahrnehmung schließlich ereignet sich neben der geistigen Veränderung auch noch eine natürliche Veränderung des Organs. Der Gesichtssinn ist deshalb der geistigste (maxime spiritualis) aller Sinne, der Tast- und der Geschmackssinn der materiellste (maxime materialis) Sinn. Daher haben wir es zumindest im Falle des Gesichtssinns mit der erstaunlichen Situation 61

Ebd.

62

STh I, qu. 78, art 3, corpus.

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zu tun, dass eine geistige Veränderung eintritt, ohne dass sich dabei ein Teil des Körpers auf natürliche Weise verändert. Gegenüber Aristoteles scheint das Verständnis der Sinneswahrnehmung so etwas wie eine „Vergeistigung" durchlaufen zu haben, 63 denn im Vergleich von Aristoteles und Thomas fällt - ungeachtet der oben geschilderten Kontroverse - auf, dass Aristoteles nie explizit zwischen „geistigem" und „natürlichem" Sein für den Bereich der Sinneswahrnehmung unterscheidet und dass die ausführlichen und detailreichen Überlegungen des Aristoteles zur Physiologie der Sinneswahrnehmung bei Thomas überhaupt keine Entsprechung mehr haben. Außerdem fragt man sich, ob die Annahme einer rein „geistigen" Veränderung nicht den Grundzügen des Hylemorphismus widerspricht. Assoziiert man „geistig" mit „seelisch" und „natürlich" mit „körperlich", wie kann dann der Zustand des Sehenden noch der Seele und dem Körper gemeinsam sein? Erstaunlicherweise sieht Thomas selbst gar keinen Widerspruch zwischen einer rein geistigen Erklärung des Gesichtssinns und den Grundannahmen des Hylemorphismus; er scheint noch nicht einmal ein Problem damit zu haben, die geistige Veränderung, die sich beim Sehen vollzieht, als eine Veränderung des Körpers anzusehen. Das ist in einem bestimmten Sinn nur konsequent, denn auch Thomas kann nicht daran gelegen sein, den geistigen Aspekt der Sinneswahrnehmung der Unkörperlichkeit des Intellekts anzugleichen, 64 zumal genau daran auch der Unterschied zwischen humaner und animalischer Seele festgemacht wird. So erklärt er über die Körpergebundenheit der bei den Tieren vorliegenden Sinnesseele65: „Das sinnliche Wahrnehmen aber und die daraus folgenden Operationen der Sinnesseele gehen offensichtlich mit einer Veränderung des Körpers einher, so wie beim Sehen das Auge durch das Abbild der Farbe verändert wird." 63

64

65

Geschichtliche Stationen dieses Vergeistigungsprozesses, der schon in der Antike beginnt, schildert Sorabji, 1991. Eines der Vorbilder für Thomas' Verwendung des Begriffs „spiritualis" dürfte Augustin sein, bei dem das „spirituale" zwischen dem „ corporate" und dem „intellectuale" steht. STh I, qu. 75, art. 3, corpus.

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Da er hier gerade das Sehen als Beispiel nimmt, obwohl für diesen Sinn jedwede natürliche Veränderung ausgeschlossen wurde, ist die Folgerung unumgänglich, dass für Thomas auch die geistige Veränderung eine Veränderung des Körpers bzw. des entsprechenden Organs ist - wenngleich freilich keine Veränderung, bei der die betreffende Eigenschaft materiell aufgenommen wird. Die für den modernen Leser nahe liegende Identifikation des Paars „geistig - natürlich" mit dem Paar „seelisch/bewusst - körperlich, physikalisch" scheint daher für Thomas unangemessen zu sein.66 Wenn nämlich schon die geistige Veränderung eine Veränderung des Körpers ist, bedarf der geistige Akt nicht noch eines begleitenden körperlich-physikalischen Vorgangs. Die neuere ThomasLiteratur ist auf diesen Umstand aufmerksam geworden und hat verschiedene Erklärungen angeboten. Cohen zum Beispiel vertritt die Auffassung, dass die Aufnahme einer wahrnehmbaren Form - egal ob geistig oder natürlich - für Thomas immer auch ein physisches Ereignis darstellt.67 Teilkamp möchte zeigen, dass Thomas' Begriff der immutatio spiritualis (durch die Vermittlung der arabischen Kommentatoren) vom stoisch geprägten spiritus-Begrifi beeinflusst ist, welcher selbst materialistische Momente enthält. Daher sei auch der Begriff der immutatio spiritualis in Thomas' Wahrnehmungslehre einer materialistischen Hintergrundstheorie verpflichtet,68 so dass in der Thomasischen Lehre gewissermaßen unvereinbare Traditionen verknüpft würden. Burnyeat folgt Cohen darin, dass die geistige Veränderung nicht im Gegensatz zum Physischen oder Physikalischen stehe, sie sei physikalisch, aber nicht materiell.69 Perler argumentiert, dass die Gleichsetzung von „geistig" und „immateriell" einerseits und „natürlich" und „materiell" nicht aufrecht erhalten werden kann. 70 - Es scheint sich also in diesen neueren Erklärungen eine Auffassung durchzusetzen, bei der das Merkmal der Geistigkeit der Wahrnehmung nicht in 66

67 68 69 70

Einer solchen Erwartung entspricht z.B. die Deutung von Hamlyn, 1961. Vgl. Cohen, 1982, 195. Haidane, 1983, widerspricht ihm. Vgl. Tellkamp, 1999, 128f. Vgl. Burnyeat, 2001, 149. Vgl. Perler, 2002, § 5.

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einen Konflikt mit dem hylemorphistischen Gebot der Körpergebundenheit seelischer Zustände gerät. Eine andere Frage ist, in welchem Verhältnis eine geistige Veränderung zu dem Körperorgan steht, dessen Veränderung sie ist: Bietet das Organ nur eine Art Behausung für die geistige Veränderung? Unterliegen geistige Veränderungen ähnlichen Wirkungsgesetzen wie die natürlichen Veränderungen? usw.

7

Die Debatte um die Deutung des aristotelischen Intellekts

Wie wir gesehen haben, gehen Aristoteles und Thomas davon aus, dass sich die Tätigkeit des Intellekts ohne ein körperliches Organ vollzieht; denn wenn sich das Denken durch ein körperliches Organ mit bestimmten Eigenschaften vollzöge, würde das die Fähigkeit beeinträchtigen, alles zu erkennen. Diese Annahmen bilden die Basis dafür, dass in der peripatetischen Tradition für den Intellekt eine Ausnahme von der hylemorphistischen Regel gemacht wird, dass seelische Zustände selbst zugleich körperlich sind. - Heißt das auch, dass es dem Intellekt im Prinzip freistehen würde, sich auch ohne Körper zu betätigen? Aristoteles würde diese Frage mit Sicherheit verneinen: Nicht nur werden nämlich die allgemeinen Begriffe, durch die der Intellekt denkt, aus der sinnlich vermittelten Erfahrung genommen; auch wenn solche Begriffe im individuellen Intellekt bereits etabliert sind, vollzieht sich das Denken immer in pbantasmata, Vorstellungsbildern, und diese stellen körperliche Veränderungen dar. Auch wenn der Intellekt daher kein Organ hat, impliziert jeder Denkakt einen davon numerisch verschiedenen körperlichen Vorgang. Da das Denken an Dreiecke außerdem andere Vorstellungsbilder erfordert als das Denken an Schildkröten, folgt, dass eine Kovarianz zwischen dem Denken verschiedener Gegenstände und dem Gesamtzustand des Körpers bestehen muss. Auch wenn der Denkakt also nicht wie die Wahrnehmung aus einer körperlichen Veränderung besteht, bleibt das menschliche Denken wesentlich auf Veränderungen des Körpers angewiesen.

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Soweit also steht für Aristoteles außer Frage, dass der Intellekt auf den Körper angewiesen ist. Allerdings beschreibt Aristoteles in einem dunklen und nur 15Vi Zeilen langen Kapitel {De Anima III 5) den tätigen oder bewirkenden Intellekt (nous poietikos), für den nicht dieselben Bedingungen zu gelten scheinen. Während der bis dahin beschriebene Intellekt sich leidend verhält, insofern er alle denkbaren Formen aufnehmen kann, heißt es von diesem tätigen Intellekt, dass er alles bewirkt. Außerdem sagt Aristoteles von dem tätigen Intellekt, er würde ununterbrochen denken und sei ewig und unsterblich. Man kann also davon ausgehen, dass zumindest diese eine, tätige oder bewirkende, Funktion des Intellekts ohne Körper realisierbar ist. - Die entscheidende Frage ist nun aber, ob Aristoteles hier überhaupt von einem Vermögen der menschlichen Seele oder von einem abgelösten, vielleicht sogar göttlichen Vermögen spricht, denn nur im ersten Fall wäre die Basis gegeben, um einen Teil der individuellen menschlichen Seele als unsterblich anzusehen. Die Frage wird schon von den antiken Kommentatoren unterschiedlich beantwortet. Alexander von Aphrodisias setzt den nous poietikos mit dem ersten Gott (protos theos) gleich, den Aristoteles selbst in Metaphysik XII beschreibt. Für Alexander kennzeichnet dieses Vermögen daher keinen Teil der menschlichen Seele. Themistios sieht den bewirkenden Intellekt zwar als göttlich an, setzt ihn aber nicht mehr mit dem ersten Gott gleich. Weil sich nach Themistios der bewirkende Intellekt zum passiven verhält wie die Form zur Materie, ist hier bereits klar, dass der passive Intellekt allein nicht mehr als vollständiges Vermögen angesehen wird. Bei Philoponos schließlich (wie vermutlich schon bei seinem Lehrer Ammonios) wird der bewirkende Intellekt bereits vollständig in die menschliche Seele aufgenommen. Thomas' Lehre vom Intellekt knüpft nun an eine Tradition an, die ihre systematischen Grundzüge aus der Auseinandersetzung mit den Aristotelischen Vorgaben gewinnt. Auch Thomas kennzeichnet den Intellekt zunächst als ein leidendes Vermögen; das bedeutet, dass sich der Intellekt gegenüber allem Erkennbaren in einem Zustand der Möglichkeit befindet (wie eine Schreibtafel, auf der noch nichts geschrieben steht). Erkennt der Intellekt eines der verstehba-

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ren Dinge, geht er jeweils in den Zustand der Wirklichkeit über.71 Von diesem passiven Intellekt (intellectus passivus) unterscheidet Thomas einen tätigen, aktiven oder bewirkenden Intellekt (intellectus agens). Anders aber als Aristoteles liefert Thomas für den intellectus agens ein Argument, das zeigen soll, warum dieser ein notwendiger Bestandteil des menschlichen Erkenntnisvermögens darstellt. Weil dieses Argument sogar ein spezifisches Anliegen des Hylemorphismus zum Ausdruck zu bringen scheint, war es so erfolgreich, dass es oft noch in der Aristoteles-Literatur des 20. Jahrhunderts umstandslos zur Kommentierung des Aristoteles herangezogen wurde, obwohl sich bei Aristoteles, der den bewirkenden Intellekt vermutlich gar nicht als Teil der menschlichen Seele angesehen hat, nichts Vergleichbares findet. Das Argument hat etwa folgende Struktur72: 1. Prämisse: Der passive Intellekt ist ein erleidendes Vermögen und kann nur durch ein aktuales, nicht durch ein mögliches Objekt aktualisiert werden. 2. Prämisse: Da der Hylemorphist anders als der Platoniker keine separat existierenden Ideen, sondern nur in der Materie verwirklichte Formen annimmt, sind diese Formen kein geeignetes Objekt, um den passiven Intellekt in den Zustand der Wirklichkeit zu versetzen. 3. Prämisse: Es muss ein aktives Vermögen geben, welches in der Materie verwirklichte Formen abstrahiert und so zum geeigneten Gegenstand für den passiven Intellekt macht. - Daraus folgert Thomas, das ein solcher tätiger Intellekt anzunehmen sei und zwar als etwas, das zur individuellen Seele gehört. Außerdem legt er Wert darauf, dass letzteres auch die Meinung des Aristoteles gewesen sei. Zur sachlichen Begründung dieser These beruft er sich unter anderem auf die Erfahrung, dass wir uns selbst dabei beobachten, wie wir allgemeine, verstehbare Formen gewinnen, indem wir von einer Sache die jeweils besonderen Bedingungen abziehen, d.h. von ihnen abstrahieren; eine solche Tätigkeit könnte aber nicht uns zukommen, wenn sie ihren Grund nicht in unserer Seele hätte. 73

71 72 73

Vgl. Sth I, qu. 79, art. 2. Vgl. STh I, qu. 79, art. 3, corpus. Vgl. STh I, qu. 79, art. 4, corpus.

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Die zuletzt angeschnittene Frage, ob der Intellekt zur individuellen Seele gehört, hatte für Thomas durch den aktuellen Diskussionskontext erhebliche Bedeutung erlangt. In den Jahren 1270 und 1277 nämlich verurteilte der Bischof von Paris die Thesen der sogenannten „Averroisten"; in diesem Konflikt spielte Thomas als philosophischer Wortführer der Anti-Averroisten eine maßgebliche Rolle. Der arabische Aristoteles-Kommentator Averroes hatte Aristoteles' Bemerkungen zur „Abgetrenntheit" des Intellekts offenbar so verstanden, dass der Intellekt als solcher ein überindividuelles Vermögen darstellt, das gar nicht einer einzelnen Seele zuzurechnen ist. Der Konflikt um die averroistischen Thesen, zu dem Thomas mit der Streitschrift De unitate intellectus contra Averroistas beitrug, entzündete sich aber nicht an Averroes selbst, sondern an den „lateinischen Averroisten", vor allem an Siger von Brabant, der wie Averroes die Einheit des Intellekts lehrte. Thomas kritisiert an den Averroisten, dass sie den Intellekt nicht als die Form des menschlichen Körpers ansehen und dass sie den Intellekt als einen einzigen für alle betrachten. Weil sich für sie der Intellekt nicht gemäß der Anzahl der Menschen individuiert, wird das Denken des überindividuellen Intellekts nur dadurch zum Denken einzelner Menschen, dass es sich der individuell gegebenen Vorstellungsbilder einzelner Menschen bedient. Thomas versteht die Averroisten deshalb so, dass sich für sie die Vereinigung des Intellekts mit dem Körper nur durch vermittelnde Erkenntnisbilder (species intelltgibiles) einstelle, die mit dem möglichen Intellekt und den Vorstellungsbildern einen doppelten Träger haben. Für Thomas ist dieser Ansatz natürlich von Grund auf verfehlt, weil er nicht mit der Auffassung vereinbar ist, dass der Intellekt bzw. die intellektuelle Seele die Form des menschlichen Körpers sei, worin Thomas die Kernlehre des aristotelischen Hylemorphismus erblickt.74 Er argumentiert, dass sich der Intellekt entsprechend der Vermehrung der Menschen vereinzelt, und dass anderenfalls auch gar nicht erklärbar wäre, wie ein Denkakt einem bestimmten Menschen zugeschrieben werden kann; vielmehr würde sich bei einem averroistischen Ansatz ergeben, dass Sokrates und Piaton, 74

Vgl. STh I, qu. 76, art. 1.

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da es ja nur ein Denken gibt, auch nur ein einziger Denker wären.75 Dass jemand vom intellectus agens annimmt, er sei einer für alle Menschen, hält Thomas noch für erwägenswert (obwohl er klar stellt, dass dies nicht die Auffassung des Aristoteles war), wogegen er sich aber entschieden wendet, ist die Auffassung, der mögliche oder passive Intellekt könnte einer für alle Menschen sein.76 Außerdem führt Thomas auch noch moralphilosophische Konsequenzen an: da für ihn der Wille (voluntas) im Intellekt angesiedelt ist, würde ein überindividueller Intellekt die Möglichkeit der Zuschreibung willentlicher Akte aufheben: es könnte kein bestimmter Mensch mehr für einzelne Handlungen verantwortlich gemacht werden, was für Thomas die Aufhebung der moralphilosophischen Grundlagen bedeuten würde. 77 Schließlich sei darauf hingewiesen, dass Thomas im averroistischen Ansatz nicht nur philosophische Probleme, sondern auch eine Verletzung wichtiger Glaubenssätze sieht; würde man nämlich den Menschen die Verschiedenheit des Intellekts nehmen, so könnte auch keine Kontinuität eines Individuums über den Tod hinaus bestehen, was unter anderem die Voraussetzung dafür darstellt, dass jemand für seine diesseitigen Taten nach dem leiblichen Tod belohnt oder bestraft werden kann. 78 Kommen wir zuletzt noch auf das schwierige Problem zu sprechen, wie die Seele als selbstständig (subsistens) und sogar wörtlich als abtrennbar angesehen werden kann, wenn sich das Denken - wie Thomas ganz im Sinne des Aristoteles bekräftigt - körperlich vermittelter Vorstellungsbilder (phantasmata) bedienen muss. Wie kann dann die vom Körper getrennte anima intellectiva denken? Thomas sagt, die abgetrennte Seele denke durch Hinwendung zum schlechthin Erkennbaren. Man könnte daher folgern, dass das Denken in Vorstellungsbildern eine kontingente Eigenschaft der im Leib befindlichen Seele sei. So will es Thomas aber gerade nicht verstanden haben, weil das gegen das hylemorphistische Prinzip

75 76 77 78

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

STh I, qu. 76, art. 2, sowie DUI Kap. III, §§ 216ff. DUI, Kap. IV, § 236. DUI, Kap. III, $ 232. DUI, prooemium, § 174.

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verstoßen würde, dass die Seele wesentlich in einem Körper sein muss. Thomas verwendet sehr viel Scharfsinn darauf, genau diese Konsequenz abzuwenden.79 Das greifbare Ergebnis dieser Diskussion ist jedoch nur dies, dass es der menschlichen Seele natürlich sei, in Verbindung mit dem Körper tätig zu sein, während es praeter rationem suae naturae (gegen die ihr natürliche Betätigungsweise) sei, dass sie ohne Vorstellungsbilder denke. Das heißt wohl, dass bezogen auf das dem Menschen natürliche Denken die Verwendung von Vorstellungsbildern wesentlich sein mag, dass aber bezogen auf das natürliche und außernatürliehe Denken (also bezogen auf das Denken der anima separata) die Körpergebundenheit des Denkens doch zu einem nur kontingenten Merkmal wird. Mit dieser Konstruktion scheint Thomas zuzugestehen, dass die Annahme einer abgetrennt tätigen Seele letztlich doch eine Ausnahme von den Grundsätzen des Hylemorphismus darstellt; indem er aber die Betätigung der anima separata als widernatürlich beschreibt, räumt er indirekt auch ein, dass überhaupt die Grundsätze einer für das Diesseits konzipierten philosophischen Seelenkonzeption nicht ohne weiteres für Fragen des postmortalen Daseins angewandt werden können.

Literatur Bumyeat, M. F., 2001, Aquinas on ,Spiritual Change' in Perception, in: Perler, D. (Hrsg.), Ancient und Medieval Theories of Intentionality, Leiden/Boston/Köln: Brill, 129-153. Cohen, S. M., 1982, St. Thomas Aquinas on the Immaterial Reception of Sensible Forms, Philosophical Review 91, 193-209. Cross, R., 1997, Is Aquinas's Proof for the Indestructibility of the Soul Successful? The British Journal for the History of Philosophy 5, 1-20. Everson, S., 1997, Aristotle on Perception, Oxford: Clarendon Press. Haldane, J. J., 1983, Aquinas on Sense-Perception, Philosophical Review 92, 233-239. 79

Vgl. STh I, qu. 89, art. 1.

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Hamlyn, D. W., 1961, Sensation and Perception: A History of the Philosophy of Perception, London: Routledge & Kegan Paul/New York: The Humanities Press. Johansen, Τ. K., 1998, Aristotle on the Sense-Organs, Cambridge: Cambridge University Press. Kenny, Α., 1993, Aquinas on Mind, London: Routledge. Kretzmann, Ν., 1993, Philosophy of Mind, in: Kretzmann, Ν., Stump, Ε. (Hrsg.), The Cambridge Companion to Aquinas, Cambridge: Cambridge University Press, 128-159. Mahoney, E., 1982, Sense, Intellect and Imagination in Albert, Thomas and Siger, in: Kretzmann, Ν., Kenny, Α., Pinborg, J. (Hrsg.), The Cambridge History of Later Medieval Philosophy, Cambridge: Cambridge University Press, 602-622. Perler, D., 2002, Theorien der Intentionalität im Mittelalter, Frankfurt a. Μ.: Klostermann. Sorabji, R., 1991, From Aristotle to Brentano: The Development of the Concept of Intentionality, in: Blumenthal, Η., Robinson, Η. Μ. (Hrsg.), Aristotle and the Later Tradition, Oxford Studies in Ancient Philosophy, Supplementary Volume, 227-259. Tellkamp, J. Α., 1999, Sinne, Gegenstände und Sensibilia: Zur Wahrnehmungslehre des Thomas von Aquin, Leiden/Boston/Köln: Brill.

Die erste moderne Konzeption mentaler Repräsentation ANDREAS K E M M E R L I N G

Im ersten Teil dieser Arbeit werde ich, einer Bitte der Herausgeber entsprechend, versuchen, zwei berühmte Lehrstücke der Philosophie Descartes' kurz darzustellen: den Beweis, den er seinen Denker in der Zweiten Meditation für dessen eigene Existenz geben lässt, und das sog. Offizielle Argument für die reale Verschiedenheit von Körper und Geist aus der Sechsten Meditation. Im zweiten, ein wenig ausführlicheren Teil wird es dann um einen winzigen Aspekt der Philosophie Rene Descartes' gehen: um seinen Begriff der Idee. Selbst innerhalb dieses schmal gewählten Felds - schmal insbesondere angesichts der immensen Breite und Tiefe des Cartesischen Denkens insgesamt, das dazu noch ehrfurchtgebietend scharfsinnig ist - werde ich dennoch vieles beiseite lassen, das für solch ein Vorhaben einschlägig sein müsste und des genaueren Nachdenkens lohnt: so zum Beispiel seine Lehre von den angeborenen Ideen oder die für seinen Gottesbeweis entscheidende Lehre, dass keine Idee mehr beinhalten kann als das, wovon sie verursacht ist. Ich werde im zweiten Teil des Folgenden ausschließlich versuchen, Descartes' Theorie wenigstens in einigen ihrer Grundzüge verständlich zu machen - und deutlich zu machen, weshalb sie zutiefst unbefriedigend ist. Am Ende dieser Arbeit gibt es eine kleine Abschweifung zu John Locke.1 Zur Zitierweise: Die Werke Descartes' werden nach der Ausgabe von Charles Adam und Paul Tannery (Oeuvres de Descartes, Paris 1 8 9 7 - 1 9 1 0 , Neuauflage als Taschenbuch: Paris 1996) zitiert; die Angabe „AT VII 25" verweist auf Seite 25 des siebten Bands dieser Ausgabe. Lockes An

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Zwei Beweise

Zwei Beweise Descartes' bewegen noch heute die Gemüter: der Beweis, mit dem der Denker der Meditationen sich seiner eigenen Existenz vergewissert, und der Beweis, den er später, in der Sechsten Meditation, dafür gibt, dass er von seinem Körper real verschieden ist. (Den Terminus „real verschieden" behalte ich trotz seines merkwürdigen Klangs bei, um daran zu erinnern, dass es sich um einen Fachterminus Descartes' handelt, den er im 60. Abschnitt seiner Prinzipien der Philosophie eigens erläutert.2) Die Überzeugungskraft dieser beiden Beweise wird sehr unterschiedlich eingeschätzt: die des ersten bestreitet fast niemand, die des zweiten fast jeder. 1.1

Die Gewissheit der eigenen momentanen Existenz

Der erste Beweis ist nicht zuletzt deshalb über die Jahrhunderte hinweg ein philosophisches Faszinosum geblieben, weil er unter Extrembedingungen geführt wird: Der Denker verbietet es sich, dabei auf irgendwelche inhaltlichen Annahmen zurückzugreifen, die überhaupt nur in Zweifel gezogen werden könnten. Der Beweis der eigenen Existenz soll von einem epistemischen Nullpunkt aus gelingen. Oder von einer Annäherung an diesen Punkt aus. Wie soll das gehen? Muss nicht doch etwas vorausgesetzt werden? Nun, allerlei Semantisches und Logisches muss der Denker gewiss voraussetzen: so zum Beispiel, dass er die Begriffe, die in diesem Beweis eine Rolle spielen, hinreichend gut versteht, um ihn als einen zwingenden Beweis erkennen zu können. Doch solcherlei Voraussetzungen bedarf jeder Beweis. Wer sie nicht machte, könnte gar nichts beweisen - könnte nicht einmal etwas beweisen wollen. Man darf Descartes nicht vorwerfen, dass er doch immerhin unterstellt, er wisse schon hinreichend gut, was

2

Essay concerning Human Understanding wird nach der Ausgabe von P. H . Nidditch (Oxford 1975) zitiert; die Angabe „II.10.7" verweist auf den siebten Abschnitt des zehnten Kapitels des zweiten Buchs des Essay. Vgl. AT VIII-1 28 f.

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die Wörter „ich" und „existieren" bedeuten, und deshalb sei sein Beweis eben doch nicht voraussetzungslos. Das wäre so, als würfe man dem Hochseilakrobaten vor, er komme in Wirklichkeit gar nicht ohne Netz aus, weil sein Seil ja auch eine Art Netz sei. Descartes beansprucht, ohne inhaltliche Voraussetzungen auszukommen, die sich kohärent in Zweifel ziehen lassen. Ohne begriffliche Voraussetzungen einen Beweis zu führen wäre wie ein Hochseilakt ohne Seil. Wie führt Descartes den Beweis seiner eigenen Existenz? Im Text der Zweiten Meditation ist ein Beweisweg angedeutet und ein zweiter deutlich formuliert. Den ersten, nur angedeuteten Beweis nenne ich das Cogito-Argument. Er lässt sich so rekonstruieren: Zunächst fällt dem Denker auf, dass es rein geistige Tätigkeiten gibt: Tätigkeiten, zu deren Begriff es gehört, dass man sie schon dann ausübt, wenn es einem so vorkommt, als übe man sie aus. Fassen wir, wie Descartes, alle diese Tätigkeiten unter dem Begriff „Denken" zusammen, dann gilt: Wer denkt, der kann dabei nicht kohärent bezweifeln, dass er denkt. (Denn der Fall, dass es jemandem nur so scheint, als ob er denkt, während er in Wirklichkeit doch nicht denkt, ist begrifflich ausgeschlossen. Wem es so scheint, als denke er, der denkt.) Des weiteren ist dem Denker klar, dass der Schluss „Wenn ich (jetzt) denke, dann existiere ich" unbezweifelbar gültig ist. Er ist vom Typ „Wenn χ zum Zeitpunkt ζ die Tätigkeit t ausübt, dann existiert χ zu z"; alle Schlüsse dieses Typs sind unbezweifelbar gültig. Es gilt also: Ich denke. [unbezweifelbar wahr, wenn etwas gedacht wird] Wenn ich denke, dann existiere ich. [unbezweifelbar wahr] Also:

Ich existiere,

[unbezweifelbar wahr, wenn etwas gedacht wird]

Das ist das Cogito-Argument in seiner krudesten Darstellung. Aus zwei unbezweifelbaren Prämissen wird, in einer offenkundig gültigen Manier, eine logische Folgerung gezogen, die deshalb ebenfalls unbezweifelbar wahr ist. Den zweiten Weg, die eigene Existenz als unbezweifelbar einzusehen, nenne ich das Existo-Argument. Es beruht auf der Einsicht, dass es keiner Prämisse bedarf, um den Satz „Ich existiere" als

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unbezweifelbar wahr einzusehen; der Satz selbst (bzw. das, was er besagt) kann ja das sein, was gedacht wird. Descartes schreibt: Nachdem alles übergenug erwogen wurde, ist nun endgültig festzuhalten, dass dieser Satz „Ich bin", „Ich existiere" - wann immer ich ihn ausspreche oder im Geiste erfasse - erwiesenermaßen [necessario] wahr ist.3 Was „Ich existiere" besagt, kann bei keiner Verwendungsgelegenheit falsch sein: Wer das denkt, was der Satz besagt, denkt unweigerlich etwas Wahres. Führt man sich vor Augen, was da gedacht wird, sieht man unmittelbar, dass es gar nicht anders als wahr sein kann, solange man es denkt. Descartes nennt solch eine unmittelbare und unabweisbare Einsicht in die Wahrheit eines Gedankens eine Intuition. In dieser Intuition perzipiert der Denker im höchsten Maße klar&deutlich, dass er existiert, und das heißt4: Es wäre eine offenkundige Widersinnigkeit, beim Denken dieses Gedankens einen Zweifel an der eigenen Existenz zu hegen. Nun sind allerdings auch andere Gedanken von der Art, dass ihre Wahrheit - laut Descartes - mittels Intutition eingesehen werden kann: dass 2 plus 3 gleich 5 ist, zum Beispiel, oder auch, dass in einer vollständigen wirkenden Ursache wenigstens so viel Realität sein muss wie in ihrer Wirkung. 5 Warum ist dem Denker gerade der Gedanke an die eigene momentane Existenz „die gewisseste und evidenteste Erkenntnis von allen",6 durch die er sich aus dem Großen Zweifel zu befreien versucht? Zweierlei scheint den Gedanken an die eigene Existenz gegenüber den übrigen höchst klaren&deutlichen Gedanken auszuzeichnen. Erstens handelt dieser Gedanke von einem kontingenten Sachverhalt: dass der Denker existiert, ist keine formale oder begriffliche Tatsache; 3

4 5 6

AT VII 25. Ich folge bei meiner Übersetzung von „necessario" dem Hinweis von Rainer Specht, daß „notwendig" gelesen werden darf als: durch Beweis gesichert. Vgl. R. Specht, „Pragmatische Aspekte der cartesischen Metaphysik", in: A. Kemmerling/H.-P. Schütt (Hrsg.), Descartes nachgedacht, Frankfurt a.M. 1996, S. 9. Vgl. AT VII 36. Vgl. AT VII 40. AT VII 25.

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zum zweiten hat der Gedanke an die eigene momentane Existenz - zumal wenn er unter den epistemischen Ausnahmegegebenheiten des Großen Zweifels gefasst wird - eine erkenntnistheoretisch brisante Besonderheit, die nicht einmal den einfachsten mathematischen Wahrheiten und sonstigen klarsten&deutlichsten Gedanken zueigen ist: Dieser Gedanke ist evidentermaßen wahrheitsautonom, d.h. er ist auf keinerlei Gegebenheiten außerhalb seiner selbst angewiesen, um gewiss wahr zu sein. Und wer solch einen Gedanken hat, dem kann nicht entgehen, dass er etwas denkt, das allein deshalb schon wahr ist, weil er es denkt, und das mithin unbezweifelbar wahr ist. Betrachten wir diese zweite Besonderheit kurz ein wenig genauer. Bedenken wir, welchen Sinn der Denker in der epistemischen Extremsituation eingangs der Zweiten Meditation mit dem Wort „ich" noch verbinden kann. Der Denker setzt in dem Großen Zweifel nicht mehr voraus, dass er einen Körper hat; darin könnte er sich irren. Ein hinreichend mächtiger Täuscher könnte es ihm nur so vorkommen lassen, als habe er einen Körper. Anders gesagt, es liegt für ihn kein offenkundiger Widerspruch in dem Gedanken, dass er ohne Körper existiere. Der Denker ist sich in dem Moment, in dem er seine eigene Existenz als unbezweifelbar einsieht, nur noch als einer gegeben, der denkt - und zwar genau diesen Gedanken denkt. Wessen er sich beim Denken des Gedankens, dass er existiert, gewiss ist, lässt sich so wiedergeben: „Der Denker dieses Gedankens existiert". Nennen wir dies den Existo-Gedanken. Dabei verweist der kursiv hervorgehobene Ausdruck auf den Gedanken selbst: dass der Denker dieses Gedankens existiert. Solch ein selbstbezüglicher Gedanke mag irritierend sein und für inhaltlich verfänglich gehalten werden. Solange wir solche Bedenken beiseite lassen, um das Faszinosum von Descartes' Existo-Argument zu verstehen, müssen wir einräumen, dass diesem Gedanken nichts fehlt, um von jedem, der ihn denkt, unweigerlich als wahr eingesehen zu werden. Er bewahrheitet sich selbst, sofern zu seinem Inhalt gehört, dass der Denker dieses Gedankens diesen Gedanken hat. Und wer das denkt, dem kann nicht entgehen, dass wahr ist, was er da denkt. Dieser im Existo-Gedanken enthaltene Gedanke gibt an sich selbst zu erkennen, dass er allein schon deshalb wahr ist,

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weil er gedacht wird; er ist evidentermaßen wahrheitsautonom. Der Existo-Gedanke folgt aus diesem Gedanken, ist also ebenfalls evidentermaßen wahrheitsautonom. Es muss sich bei alldem jedoch um einen einzigen Gedanken handeln, weil sonst durch die Selbstbezüglichkeit mehrerer verschiedener Gedanken der gewünschte Folgerungszusammenhang nicht zustandekäme; deshalb scheint es passend, die obige Formulierung des Existo-Gedankens als eine Kurzform des Folgenden zu betrachten: Der Denker dieses Gedankens [hat diesen Gedanken und] existiert [folglich].7 *

*

*

Das Cogito-Argument ist ein Schluss aus zwei unbezweifelbaren Prämissen (allerdings kein Syllogismus, der den allgemeinen Satz „Alles, was denkt, existiert" enthält, wie Descartes in den Zweiten Erwiderungen und in seinem Brief an Clerselier betont).8 Das Existo-Argument hingegen ist die Beobachtung, dass ein einzelner Satz unbezweifelbar wahr ist. Descartes scheint das eher einerlei gewesen zu sein. Er spricht über die Gewissheit der eigenen Existenz manchmal als über etwas, das mittels eines Schlusses gewonnen wird,9 manchmal hingegen als über etwas, das durch Intuitionserkenntnis der Wahrheit eines einzelnen Satzes gewonnen wird.10 Wenn wir die logischen Feinheiten der beiden Argumentationen einmal beiseite lassen, sind die beiden Argumentationen auch nicht sonderlich unähnlich; entscheidend ist für Descartes wohl allein, dass es sich bei der eigenen momentanen Existenz um ein kontingentes Faktum handelt, dessen Unbezweifelbarkeit ihresgleichen sucht. Mit der Einsicht, dass er selbst existiert, ist der Denker noch nicht sehr viel weiter gekommen. Denn erstens weiß er noch nicht, 7

8 9 10

Eine ausführlichere Diskussion des hier Dargestellten findet sich in A. Kemmerling, Ideen des Ichs - Studien zu. Descartes' Philosophie, Frankfurt a.M. 1 9 9 6 , insbesondere in den Kapiteln 2-4. AT VII 140f. und AT IX-1, 2 0 5 . Vgl. z.B. AT III 2 4 8 , AT V 147, AT VIII-2 165 f. Vgl. z.B. AT V 137f. und AT VII 140.

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ob er sich auf diese Einsicht wirklich verlassen kann. Könnte ihn der Täuscher letztlich nicht auch in diesem Punkt täuschen, selbst wenn der Denker dies nicht für möglich hält, solange er an seine eigene Existenz denkt? Diesen letzten, „metaphysischen" Rest von Zweifel räumt der Denker erst mit seinem Gottesbeweis aus. Und zweitens weiß der Denker noch gar nicht genau, wer er selbst eigentlich - seinem Wesen nach - ist. Er zieht zwar ohne größere Umstände noch den Schluss, dass er eine Substanz (oder wie es in den Meditationen stattdessen heißt: ein Ding oder eine Sache) ist, die wirklich existiert und zu deren Beschaffenheit das Denken gehört (AT VII27). Aber insbesondere weiß er nicht, ob zu seinem Wesen auch körperliche Eigenschaften gehören. In der Sechsten Meditation versucht Descartes den Nachweis zu führen, dass sie jedenfalls nicht wesentlich zu ihm gehören: dass es ihn ohne sie geben könnte. 1.2

Die reale Verschiedenheit von Körper und Geist

Was Descartes zeigen möchte, ist: dass er real verschieden ist von seinem Körper. Und das heißt: Sein Wesen besteht in nichts anderem als darin, dass er etwas ist, das denkt; er könnte wirklich ohne seinen Körper existieren. Das Wesen einer Sache besteht in ihren wesentlichen Eigenschaften; und eine Eigenschaft Ε einer Sache S gehört zu ihren wesentlichen Eigenschaften (in dem speziellen Sinn, in dem Descartes diesen Terminus verwendet), wenn S ohne Ε nicht existieren kann und wenn jede kontingente Eigenschaft von S ein Modus von Ε ist.11 Eine Eigenschaft Ε * ist ein Modus von E, wenn es begrifflich ausgeschlossen ist, dass etwas E* hat und zugleich Ε nicht hat; in diesem Sinne bezeichnet Descartes das Urteilen z.B. als einen Modus des Denkens: nichts kann urteilen, das nicht denken kann. Eine wesentliche Eigenschaft einer Sache ist also eine, auf die j e d e ihrer kontingenten Eigenschaften bezogen ist; es ist, wie Descartes sagt, die eine Haupt-Eigenschaft [una ... praecipua proprietas] 11

Wir lassen dabei triviale Eigenschaften, die allen Sachen zukommen, außer Betracht; Selbstidentität z.B. ist also keine wesentliche Eigenschaft irgendeiner Sache. Ebenso beiseite bleiben hier relationale Eigenschaften.

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der Sache, von der alle andern Eigenschaften abhängen. 12 Damit lässt sich nun genauer verstehen, was das erste Beweisziel der Cartesischen Argumentation ist: Für jede kontingente Eigenschaft, die der Denker der Meditationen sich sogar im Großen Zweifel guten Gewissens zuschreiben kann, gilt, dass daraus, dass er sie hat, folgt, dass er die Haupt-Eigenschaft hat, zu denken. Anders gesagt: Er kann sich dann guten Gewissens keine kontingente Eigenschaft zuschreiben, die nicht von der Haupt-Eigenschaft, ein denkendes Ding zu sein, abhängt. Descartes' zweites Beweisziel ist es, dass der Denker ohne seinen Körper existieren kann. Es ist zu beachten, dass es dabei nicht darum geht zu beweisen, dass der Denker jemals ohne seinen Körper war, ist oder sein wird; sondern darum, dass er es sein k a n n . Und das heißt für Descartes: Es steht zumindest in Gottes Macht, den Denker von seinem Körper zu trennen. Die sog. reale Verschiedenheit, die Descartes beweisen möchte, ist also kein faktisches Getrenntsein, sondern die prinzipielle Möglichkeit des Getrenntseins oder Getrenntwerdens. - Nun zunächst einmal der Wortlaut (in Übersetzung), in dem Descartes das Argument für die reale Verschiedenheit von Körper und Geist in der Sechsten Meditation präsentiert 13 : Ich weiß, dass alles, was ich klar&deutlich begreife [intelligo], so von Gott gemacht werden kann, wie ich es begreife. Folglich ist es dafür, dass ich Gewissheit habe, dass ein Ding von einem anderen verschieden ist, hinreichend, dass ich das eine Ding klar&deutlich ohne das andere begreifen kann; denn das Ding könnte zumindest von Gott für sich abgesondert gesetzt werden. Dafür, dass diese Dinge als verschieden eingeschätzt werden, ist es unerheblich, durch welche Macht dies [d. h. eine solche Absonderung] geschehe. · Daraus, dass ich um meine Existenz weiß und in der Zwischenzeit [d.h. seit der Zweiten Meditation] einfach nichts anderes als zu meiner

12 13

AT VIII 25. AT VII 78. In der Sekundärliteratur spricht man von diesem Textstück gerne als von dem Offiziellen Argument. Dies nicht ohne Recht, denn von dieser Fassung des Arguments ist Descartes, so weit ich sehe, nie mehr abgerückt.

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Natur bzw. meinem Wesen gehörig bemerkt habe als den Umstand, dass ich ein denkendes Ding bin, schließe ich somit zurecht, dass mein Wesen einzig und a l l e i n d a r i n b e s t e h t , dass i c h e i n d e n k e n d e s D i n g b i n . · Auch wenn ich vielleicht [...] einen Körper habe, der mir sehr eng verbunden ist, so ist doch gewiss, dass ich von m e i n e m K ö r p e r w i r k l i c h vers c h i e d e n b i n und o h n e i h n e x i s t i e r e n k a n n ; denn zum einen habe ich eine klare&deutliche Idee meiner selbst, insofern ich nur ein denkendes und nicht ein ausgedehntes Ding bin; und zum andern habe ich eine klare&deutliche Idee des Körpers, insofern er nur ein ausgedehntes und kein denkendes Ding ist. Das Textstück habe ich in drei Abschnitte gegliedert. Im ersten handelt es sich um einen vorbereitenden Schritt der eigentlichen Argumentation. Descartes nennt hier eine hinreichende Bedingung für die Verschiedenheit zweier Substanzen, die sich so reformulieren lässt: (1)

Wenn ich eine Substanz χ klar&deutlich ohne die Substanz y begreifen kann, dann sind χ und y verschieden.

Dieses Kriterium für Substanzverschiedenheit steht in Zusammenhang mit seinem Wahrheitskriterium, demzufolge alles wahr ist, was er klar&deutlich perzipiert. Wenn er also klar&deutlich begreift, dass χ ohne y sein kann, dann kann χ ohne y sein; χ ist ontologisch nicht auf y angewiesen; wenigstens Gott könnte es zustandebringen, dass χ ohne (oder getrennt von) y existiert. Und zwei Substanzen heißen gerade dann verschieden, wenn sie getrennt voneinander existieren können. Überspringen wir den Mittelteil und wenden uns dem letzten Textabschnitt zu. Darin bringt Descartes dieses Kriterium für Substanzverschiedenheit zur Anwendung. Zunächst stellt er Thesen über sich und über den (also auch seinen eigenen) Körper auf. (2)

(3)

Ich begreife mich selbst klar&deutlich als etwas, das die Eigenschaft hat, eine denkende Substanz zu sein, und nicht die Eigenschaft hat, ausgedehnt zu sein. Ich begreife den Körper klar&deutlich als etwas, das die Eigenschaft hat, ausgedehnt zu sein, und nicht die Eigenschaft hat, eine denkende Substanz zu sein.

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Man darf unterstellen, dass er implizit folgendes Kriterium dafür annimmt, was es heißt, eine Substanz χ klar&deutlich ohne die Substanz y zu begreifen: (4) Ich begreife Substanz χ klar&deutlich ohne die Substanz y, wenn es Eigenschaften F und G gibt, so dass gilt: Ich begreife χ klar&deutlich als etwas, das F hat und G nicht hat, und ich begreife y klar&deutlich als etwas, dass G hat und F nicht hat. Aus (2) - (4) folgt: (5) Ich begreife mich selbst klar&deutlich ohne die körperliche Substanz. Aus (1), (5) und dem schon in der Zweiten Meditation erreichten Ergebnis, dass ich eine Substanz bin, ergibt sich: (6) Ich und mein Körper sind verschiedene Substanzen. Weil zumindest Gott die Fähigkeit hat, zwei verschiedene Substanzen getrennt voneinander existieren zu lassen, ergibt sich aus (6) auch das zweite Beweisziel: (7) Ich könnte ohne meinen Körper existieren, und mein Körper könnte ohne mich existieren. Diese Argumentation, die nur aus dem ersten und dem letzten Teil des Zitats aus der Sechsten Meditation rekonstruiert ist, findet sich auch im Anhang zu den Zweiten Erwiderungen (AT VII169-170). Der mittlere Textabschnitt ist also argumentativ überflüssig, soweit es darum geht, die beiden Beweisziele (6) und (7) zu erreichen. Was also soll er? Die Argumentation, die sich im Mittelteil des Zitats findet, können wir so wiedergeben: (8) Ich bin ein denkendes Ding. (9) Es ist mir nichts über (8) Hinausgehendes darüber bekannt, was zu meinem Wesen gehört. Also: (10)

Zu meinem Wesen gehört ausschließlich, dass ich ein denkendes Ding bin.

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Eine Schwierigkeit mit dieser eingeschobenen Argumentation ist, dass sie von Descartes selbst für nicht zwingend gehalten wird. In der Zweiten Meditation lässt Descartes seinen Denker im Anschluss an den Beweis seiner eigenen Existenz auf Folgendes hinweisen: Daraus, dass der Nachweis der eigenen Existenz auch unter der Annahme gelungen ist, dass ich gar keinen Körper habe, darf nicht gefolgert werden, dass nichts Körperliches zu meinem Wesen gehört. Denn „vielleicht ist es ja so, dass genau dasjenige, was ich hier als nichtexistierend unterstelle, weil ich kein Wissen von ihm habe, in Wirklichkeit nicht verschieden ist von diesem Ich, von dem ich Wissen habe. Ich weiß das nicht und möchte diesen Punkt jetzt nicht erörtern; ein Urteil kann ich nur über das fällen, was mir bekannt ist" (AT VII 27). Und im Vorwort für den Leser stellt Descartes klar, dass er den Schluss von (8) und (9) auf (10), den er früher schon im Discours de la Methode vorgebracht hat, für nicht zwingend hält und in den Meditationen zeigen möchte, wie er dennoch in einen zwingenden Schluss überführt werden kann. Und genau dies könnte man als den Hinweis zum richtigen Verständnis des mittleren Textstücks unseres Zitats verstehen: Dieses Textstück ist die noch nicht ausgereifte Rohform der eigentlichen Argumentation, die Descartes für einen zwingenden Beweis hält; es ist der Auftakt zum Offiziellen Argument, das im letzten Textstück dargelegt wird. Entscheidende Annahmen, die Descartes macht, sind offensichtlich die Prämissen (1) und (2): (1) Wenn ich eine Substanz χ klar&deutlich ohne die Substanz y begreife, dann sind χ und y verschieden. (2) Ich begreife mich selbst klar&deutlich als etwas, das die Eigenschaft hat, eine denkende Substanz zu sein, und nicht die Eigenschaft hat, ausgedehnt zu sein. Zunächst einmal: Was heißt es überhaupt, etwas klar&deutlich zu begreifen? Descartes' offizielle Erläuterung dieses Terminus technicus - sie findet sich im 45. Abschnitt des ersten Teils der Prinzipien der Philosophie - ist wenig hilfreich; besser ist der oben bereits erwähnte Hinweis, der sich in der Dritten Meditation findet: Etwas wird (im höchsten Maße) klar&deutlich begriffen,

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wenn in seiner Negation eine offenkundige Widersinnigkeit zu erkennen ist.14 Wenden wir dies unter Zuhilfenahme von (4) auf (1) an, dann ergibt sich: (1*) Wenn es Eigenschaften F und G gibt, so dass gilt: (a) ich kann χ als etwas begreifen, das F hat und G nicht hat (und in der Annahme, dass χ etwas ist, das entweder F nicht hat oder sowohl F als auch G hat, eine offenkundige Widersinnigkeit erkennen), und (b) ich kann y als etwas begreifen, das G hat und F nicht hat (und in der Annahme, dass y etwas ist, das entweder G nicht hat oder sowohl G als auch F hat, eine offenkundige Widersinnigkeit erkennen), dann sind χ und y verschiedene Substanzen. Dies ist Descartes' Kriterium für Substanzverschiedenheit, das wir als eine begriffliche Erläuterung akzeptieren sollten. Zum Nachweis der Substanzverschiedenheit von Geist und Körper muss der Denker also zeigen: (2a) Ich kann mich als etwas begreifen, das geistige Eigenschaften und keine körperlichen Eigenschaften hat (und in der Annahme, dass ich entweder keine geistigen Eigenschaften habe oder sowohl geistige als auch körperliche Eigenschaften habe, kann ich eine offenkundige Widersinnigkeit erkennen). (3a) Ich kann meinen Körper als etwas begreifen, das körperliche Eigenschaften und keine geistigen Eigenschaften hat (und in der Annahme, dass mein Körper entweder keine körperlichen Eigenschaften hat oder sowohl körperliche als auch geistige Eigenschaften hat, kann ich eine offenkundige Widersinnigkeit erkennen). Der schwierigste Punkt für Descartes liegt wohl darin, folgende Teilbehauptungen plausibel zu machen: (2b) In der Annahme, dass ich sowohl geistige als auch körperliche Eigenschaften habe, kann ich eine offenkundige Widersinnigkeit erkennen. 14

Vgl. AT VII 36.

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(3b) In der Annahme, dass mein Körper sowohl körperliche als auch geistige Eigenschaften hat, kann ich eine offenkundige Widersinnigkeit erkennen. Es liegt auf der Hand, dass (2b) falsch ist, solange „ich" im ganz gewöhnlichen Sinn verstanden wird: als ein Wort, mit dem man auf sich als eine Person Bezug nimmt, die sowohl geistige als auch körperliche Eigenschaften hat. Im gewöhnlichen Sinn des Wortes „ich" ist es ja völlig angemessen - und jedenfalls nicht offenkundig widersinnig - , Dinge wie die Folgenden zu sagen: „Ich bin einsachtzig groß", „Ich wiege 80 Kilo" und so weiter. Descartes leugnet diesen gewöhnlichen, personalen Sinn des Wortes „ich" nicht; in der Sechsten Meditation drückt er sich z.B. so aus: „... ich als ganzer, insofern ich aus Körper und Geist zusammengesetzt bin". 15 Aber in (2b) legt er einen andern Sinn von „ich" zugrunde; „ich" soll nur dasjenige bezeichnen, dessen Existenz durch das Cogito- bzw. das Existo-Argument bewiesen wurde. Nur in diesem Sinne des Wortes „ich" konnte Descartes aus dem Großen Zweifel heraus zu der Gewissheit gelangen, die er als „Ich existiere" formuliert. Es ist der Sinn von „ich", der von jenem Ich handelt, das er kennt [ille ego, quem novi, AT VII 27]. Dieser nicht-personale, sondern rein geistige Sinn von „ich" ist für Descartes der grundlegende Sinn, der beim metaphysischen Versuch, das eigene Wesen zu ergründen, zugrunde gelegt werden muss. Wir sollten (2b) also folgendermaßen reformulieren: (2c) In der Annahme, dass ich als das geistige Ding, dessen Existenz ich durch das Cogito-Argument (bzw. das ExistoArgument) erkennen konnte, auch körperliche Eigenschaften habe, kann ich eine offenkundige Widersinnigkeit erkennen. Dies nun wiederum wirkt geradezu trivial: Wenn es um mich a u s s c h l i e ß l i c h qua geistiges Wesen geht, dann liegt - gewissermaßen nach Voraussetzung - eine Widersinnigkeit darin, mir körperliche Eigenschaften zuzuschreiben. Neben allen andern Einwänden, die gegen Descartes' offizielles Argument für die reale 15

AT VII 81.

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Verschiedenheit von Körper und Geist erhoben wurden und immer noch erhoben werden, scheint also auch folgende grundsätzliche Schwierigkeit zu bestehen: Es ist auf eine Annahme angewiesen, die entweder offensichtlich falsch ist - wir lesen (2) als (2b) - oder inhaltlich trivial: wir lesen (2) als (2c). *

*

*

Der Begriff der Substanz scheint eine wesentliche Rolle in diesem Argument zu spielen; aber es scheint nur so. Die gesamte Argumentation, die wir betrachtet haben, ließe sich auch ohne Rückgriff auf den Begriff der Substanz formulieren. Man beachte auch, daß Descartes jedenfalls keinen metaphysisch mysteriösen Substanzbegriff hat. Eine Substanz ist für ihn nicht das nackte (von allen Eigenschaften entblößte) Substrat von Eigenschaften. Zwischen Substanzen und ihren Haupt-Eigenschaften besteht laut Descartes nur ein Vernunftsunterschied: ein Unterschied, der in der Sache keiner ist: Solch ein Unterschied ist bloß logisch gesehen, aber nicht metaphysisch von Belang. Descartes hat dies in den Abschnitten 60-64 des ersten Teils der Prinzipien der Philosophie ausgeführt.16 Heute müsste man ihn, recht verstanden, wohl am besten als einen Eigenschaftsdualisten rubrifizieren (sein Substanzdualismus ist ein bloß logisch anderer Aspekt des Eigenschaftsdualismus). Für Descartes liegt eine begriffliche Ungereimtheit darin, eine geistige Eigenschaft als einen Modus der Materie zu betrachten (in Cartesischer Terminologie heißt das: eine solche Eigenschaft als einen Modus der Haupt-Eigenschaft, ausgedehnt zu sein, zu betrachten). „Wenn ich das Wesen des Körperlichen genau prüfe, dann treffe ich darin überhaupt nichts an, was nach Denken riecht", bemerkt er in seinen Erwiderungen auf Arnaulds Einwände.17 Eine entsprechende Ungereimtheit liegt für ihn darin, materielle Eigenschaften als Modi des Denkens betrachten zu wollen. Wenn einem Menschen materielle Eigenschaften zugeschrieben werden, 16

17

AT VIII-1 2 8 - 3 1 . Wie Descartes in diesem Punkt meines Erachtens verstanden werden sollte, habe ich in einer ungebührlich langen Fußnote zu erläutern versucht in: A. Kemmerling, op. cit., S. 169 f. AT VII 2 2 7 .

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darf der Körper des Menschen als das eigentliche Subjekt solcher Zuschreibungen betrachtet werden; werden dem Menschen geistige Eigenschaften zugeschrieben, dann wäre es für Descartes hingegen ein kategorialer Fehler, den Menschen mit seinem Körper gleichzusetzen. „Ich habe niemals menschliche Körper denken [...] gesehen, sondern nur, daß es dieselben Menschen sind, die denken und einen Körper haben", sagt er in den Sechsten Erwiderungen. 18 Seine metaphysische Kern-Aussage ist: In der wirklichen Welt - deutlicher gesagt: im Menschen - sind rein geistige, rein körperliche und geistig/körperlich gemischte Eigenschaften exemplifiziert; die geistigen und die körperlichen sind gleichermaßen wirklich und kategorial verschieden: in beiden Richtungen nicht begrifflich aufeinander zurückführbar. Dies wird in der betrachteten Argumentation sicherlich nicht bewiesen; aber ebensowenig ist dies eine überholte metaphysische Skurrilität, deren Falschheit uns heutzutage offenkundig wäre. 19

2

Mentale Repräsentation

Der Begriff der mentalen Repräsentation ist einer der erfolgreichsten Begriffe in der Philosophie der Moderne. Er zieht sich, unter verschiedenen Bezeichnungen, wie ein roter Faden durch die philosophischen Ansätze bzw. Systeme von Descartes, Arnauld, Malebranche, Locke, Spinoza, Leibniz, Wolff, Berkeley, Hume und Kant, bis hin zu denen heutiger Philosophen wie J. Fodor. Descartes' Terminus für diesen Begriff war „idea" (gelegentlich spricht er aber auch von einer „repraesentatio mentis"), im Französischen wurden daraus „les ideesu, im Englischen die „ideas", im Deutschen die „Vorstellungen". Heutzutage spricht man vorzugsweise von mentalen Repräsentationen. Mit diesem terminologischen Wandel von den „Vorstellungen" zu den 18 19

AT VII 444. Von der immensen Literatur zu Descartes' Beweis der realen Verschiedenheit von Körper und Geist haben mich zwei Monographien besonders beeindruckt: Peter J. Markie, Descartes's Gambit, Ithaca, N.Y. 1986 und H.-P. Schutt, Substanzen, Subjekte, Personen, Heidelberg 1989.

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„mentalen Repräsentationen" geht einher, dass jener ursprünglich philosophische Begriff in viele andere, stärker empirisch ausgerichtete, Bereiche der Theoriebildung übernommen wurde. Chomskys Theorie der sprachlichen Kompetenz ist ein berühmtes Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit, aber es gibt heute gewiss Hunderte von Theorieansätzen in den sog. Kognitionswissenschaften, denen ganz selbstverständlich die Annahme zugrunde liegt, dass es mentale Repräsentationen schlicht gibt. Seit Descartes' Meditationen hat sich der Begriff der mentalen Repräsentation (besser wäre es eigentlich zu sagen: der Begriff der mentalen Repräsentationen) in beeindruckender Weise in der Philosophie durchgesetzt. Die philosophische Erfolgsgeschichte unseres Begriffs ist noch nicht geschrieben, aber es scheint, dass es bis ins achtzehnte Jahrhundert nur wenige Denker gab, die gegenüber diesem Begriff grundsätzliche Vorbehalte hatten - oder gar nennenswerte Einwände gegen seine Verwendung.20 In dem Wenigen und allzu Verkürzten, was nun kommen wird, möchte ich auf gewisse Aspekte der Cartesischen Konzeption mentaler Repräsentation eingehen, die es im Nachhinein als überraschend erscheinen lassen, dass dieser Begriff einen derartigen Siegeszug angetreten hat. Meine Darstellung wird vergröbernd sein, und deshalb möchte ich vorsichtshalber zweierlei vorab anmerken, um keinen völlig irrigen Eindruck zu erwecken. Erstens gab es in dieser von mir als Erfolgsgeschichte bezeichneten Entwicklung und Ausbreitung des Begriffs nach Descartes natürlich mannigfache Veränderungen, denen er unterworfen war. (Auf eine von ihnen möchte ich am Ende kurz zu sprechen kommen.) Mithin hat das, was ich hier als d e η Begriff der mentalen Repräsentation bezeichne, bei genauerer Betrachtung womöglich gar nicht einen präzise spezifizierbaren Gehalt, der in den Konzeptionen aller genannten Denker von Descartes bis Fodor anzutreffen wäre. Und insofern ist das, was sich im Laufe der vergangenen dreihundert Jahre unter der Rubrik „mentale Repräsentationen" ausgebreitet hat, eher als eine Ansammlung von verwandten Begriffen denn 20

John Sergeant (1622-1707), Edward Stillingfleet (1635-1699) und Thomas Reid (1710-1797) gehören zu den Ausnahmen, die gewiss zu nennen wären.

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als ein einzelner Begriff zu betrachten. Zweitens sei bemerkt, dass Descartes diesen Begriff natürlich nicht „erfunden" hat. Auch in der philosophischen Begriffsgeschichte sind die creationes ex nihilo bestenfalls eine Rarität. Aber dennoch gibt es ein gewisses Recht für die Auffassung, dass der Siegeszug dieses Begriffs in der modernen Philosophie mit Descartes beginnt. Er hat diesem Begriff in seinem System großes Gewicht und eine erkennbar zentrale Rolle gegeben, und nicht zuletzt diesem Umstand verdankt sich dessen rasante Ausbreitung. 2.1

Was machte Descartes' Ideenbegriff prima facie so attraktiv?

Fragen wir uns: Was ist eigentlich an Descartes' Begriff der Idee, das ihn so attraktiv machte? Und warum konnte dieser Begriff - z.B. von Locke, dazu mehr am Ende der Arbeit - mit solcher Selbstverständlichkeit übernommen werden, d.h. ohne dass man sich überhaupt darum kümmerte, was Descartes' Konzeption mentaler Repräsentation, die mit diesem Begriff einhergeht, im einzelnen besagt? Descartes' Begriff der Idee hat auf den ersten Blick zwei einnehmende Eigenschaften: er ist erstens bequem und zweitens insofern völlig harmlos, als es unbestreitbar zu sein scheint, dass es Ideen gibt. Die Bequemlichkeit, die der Ideenbegriff mit sich bringt, liegt in Folgendem. Man kann mit seiner Hilfe mit anscheinend höchster Präzision über G e d a n k e n b e s t a n d t e i l e sprechen, und überdies auf eine verlockend einfache Weise. Man nehme einfach ein beliebiges bedeutungsvolles Wort X und setze den Operator „die Idee von . . . " davor, und schon hat man einen Ausdruck gebildet, der sich auf einen bestimmten Gedankenbestandteil bezieht. (Zu sagen, man möge ein b e l i e b i g e s bedeutungsvolles Wort nehmen, ist ein wenig übertrieben, aber nur ein ganz klein wenig.) Dieses Manöver hat große Ähnlichkeit mit Folgendem: Man nehme ein beliebiges bedeutungsvolles Wort X und setze ihm den Operator „die Bedeutung von . . . " voran, und schon hat man einen Ausdruck gebildet, der sich (die Nicht-Mehrdeutigkeit des betreffenden Worts vorausgesetzt), so mag es scheinen, auf

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eine ganz besondere Entität bezieht: und zwar auf die Bedeutung des Wortes X . Und so, wie der Bedeutungsbegriff (der Begriff der Wortbedeutung) jedem gelegen kommt, der über semantische Strukturen in der Sprache theoretisieren möchte, so kommt der Cartesische Ideenbegriff jedem gelegen, der Theorien über die Strukturen des menschlichen Denkens aufstellen möchte. Die Analogie weist auch auf den zweiten Aspekt hin, den ich genannt hatte. Wendungen wie „die Idee von . . . " oder „die Bedeutung von . . . " wirken nicht nur praktisch, sondern sind allem Anschein nach auch völlig harmlos. Es lässt sich leicht einsehen (so mag es zumindest scheinen), dass es Bedeutungen gibt. Wenn wir es mit einem bedeutungsvollen Wort zu tun haben, dann haben wir es mit einem Wort zu tun, das eine Bedeutung hat. Wenn ein Wort eine Bedeutung hat, dann gibt es etwas, „außer dem Wort", über das sich guten Gewissens sprechen lässt: eben seine Bedeutung. So einfach ist das, oder scheint es zumindest zu sein, prima facie. Es mag eine offene Frage der Metaphysik sein, was genau eine Bedeutung ist, z.B. die Bedeutung des Wortes „Apfel". Aber es scheint doch so, als müsse es sie geben. Denn wenn es sie nicht gäbe, hätte das Wort „Apfel" keine Bedeutung, und wäre mithin so bedeutungslos wie das Wort „Upfel". Und wir wissen, dass dies nicht der Fall ist. Eine völlig entsprechende Überlegung lässt sich im Hinblick auf Ideen anstellen. Wann immer jemand einen Gedanken an Harvey hat, dann muss an diesem Gedanken irgendetwas sein, so scheint es, das ihn zu einem Gedanken an Harvey macht. Führen wir nun die Wendung „Idee von Harvey" einfach einmal in folgender Weise ein: Sie soll d a s j e n i g e bezeichnen, w a s a u c h i m m e r es i s t , d a n k dem ein G e d a n k e an H a r v e y ein G e d a n ke an H a r v e y i s t . Wer könnte dann noch bestreiten wollen, dass es Ideen gibt? Das schiene völlig abwegig. Würde man sich bei diesem Versuch nicht in Selbstwidersprüche oder andere Absurditäten verstricken müssen? - Es mag eine offene Frage der Metaphysik sein, was genau eine Idee ist, z.B. meine Idee eines Apfels. Aber geben muss es sie. Denn sonst könnte ich doch wohl gar keine Gedanken an einen Apfel haben, was ich aber (wie mir selbstevident ist) kann. Also: es ist unbestreitbar, dass es Ideen

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gibt, auch wenn ihre Natur oder Beschaffenheit nicht völlig klar ist. So mag es jedenfalls scheinen. Das sind natürlich keine zwingenden Gedankengänge, sondern eher an die Intuition appellierende Andeutungen. Doch vielleicht waren es gerade solche eher intuitiven Auffassungen, die den Siegeszug des Cartesischen Ideenbegriffs mit ermöglicht haben. Es wirkt ja prima facie alles so praktisch, so harmlos und so unbestreitbar an diesem Begriff, dass man ihn gerne ohne Bedenken aufgreift und übernimmt. Man achtet kaum darauf, in welche theoretische Konzeption er eingebettet ist. Genau darum jedoch soll es uns im Folgenden gehen. Was besagt Descartes' Theorie der mentalen Repräsentation eigentlich? Viele Repräsentationalisten der heutigen Zeit scheinen der Auffassung zu sein, dass an Descartes' Konzeption im Wesentlichen nur eines fundamental falsch sei - und zwar seine Auffassung, dass mentale Repräsentationen immateriell sind. Man müsse sie nur aus der immateriellen Geistsubstanz in die materielle Welt transferieren (sie z.B. als konkrete physische Entitäten im Hirn lokalisieren), dann sei das Hauptübel der Cartesischen Konzeption kuriert. Diese Auffassung halte ich für vollständig falsch. Sie beweist eine profunde Unkenntis der Cartesischen Konzeption mentaler Repräsentation. Denn die Immaterialität des Geistes und die Cartesische Konzeption mentaler Repräsentation sind füreinander gemacht; letztere lässt sich nicht einmal im Kern bewahren, wenn erstere preisgegeben wird. Dazu später mehr. Bevor wir uns der ausgereiften Cartesischen Konzeption zuwenden, wie sie in den Meditationen und den Prinzipien vorliegt, sei kurz angemerkt, dass Descartes in früheren Stadien seiner Theorie-Entwicklung Ideen mit Hirnzuständen identifiziert hat. Doch er gelangte zu der Auffassung, dass diese (wie man heute sagen würde: naturalistische) Konzeption ein Fehler ist. „Denn", wie er in seiner Erwiderung auf Gassendi sagt, „das Gehirn kann bei den reinen Verstandestätigkeiten zu überhaupt nichts nutze sein, sondern nur beim Vorstellen und beim sinnlichen Empfinden" [nam sane nullus cerebri usus esse potest ad purum intelligendum, sed tantum ad imaginandum vel sentiendum, AT VII 358]. Der reine Intellekt operiert mit Ideen, die nach Descartes' Meinung nicht

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physisch sein können. In der Arithmetik geht es um beliebig große Zahlen, und wenn der reine Intellekt sich der Geometrie zuwendet, ist er in der Lage, zu beweisen, dass ein Polygon mit sehr vielen Seiten bestimmte Eigenschaften besitzt und gewisse andere Eigenschaften nicht besitzt. Der entscheidende Punkt scheint für Descartes folgender zu sein: In den reinen Verstandestätigkeiten können wir, mit Leichtigkeit und zugleich mit völliger Präzision, Zahlen und Figuren begreifen, die jenseits unseres Vorstellungsvermögens liegen (AT VII 72 ff.). Descartes entwickelt diese Überlegung nirgendwo im Detail. Doch vielleicht lässt sie sich, sei's auch ein wenig anachronistisch, in folgender Weise rekonstruieren. In meinem Hirn gibt es eine endliche Anzahl von Neuronen, jedes Neuron kann sich in einer endlichen Anzahl von Zuständen befinden; nehmen wir an, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt die Zustände aller Neuronen im Prinzip unabhängig voneinander sind. Mein Hirnzustand zum Zeitpunkt t ist die Gesamtheit meiner Neuronenzustände zu t; dieser Hirnzustand lässt sich auf folgende Weise vollständig charakterisieren: Neuron 1 ist im Zustand A, Neuron 2 ist im Zustand B, usw. für alle Neuronen. Nun sei η die Anzahl meiner möglichen Hirnzustände; klarerweise handelt es sich bei η um eine endliche Zahl. Wie groß auch immer diese Zahl sein mag, ich kann beispielsweise ohne weiteres beweisen, dass sie kleiner ist als n+2. Aber wie könnte ich diesen Beweis führen, wenn meine mentalen Repräsentationen von n, von n+2 und meine Idee vom Kleinersein Hirnzustände wären? Wenn ich nur η Hirnzustände hätte, mit denen ich denken könnte, wie könnte ich demonstrieren, dass η kleiner ist als n+2? Vielleicht könnte ich ja, zu diesem speziellen Anlass, eine besondere Anstrengung unternehmen, und meine repräsentationale Ausstattung reorganisieren. Vielleicht könnte ich, für einen Moment, Opfer im Hinblick auf die Repräsentation sehr kleiner Zahlen machen. Wenn ich etwa, für einen kleinen Moment, auf die Repräsentation der Zahlen 1, 2 und 3 verzichtete, gewönne ich dadurch nicht ein bisschen Raum in meinem gegenwärtigen Hirnzustand, um die großen Zahlen klar und deutlich zu repräsentieren, die ich ja repräsentieren muss, um den gewünschten Beweis zu führen?

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Doch all dies ist lächerlich. Die gesamte Idee einer Neu-Zuordnung von Hirnzuständen und Zahlen taugt nichts. Wie sollte dies überhaupt funktionieren können? Müsste das Hirn nicht seine eigenen Zustände um-interpretieren? Aber wie könnte ein Hirn das tun? Wie auch immer, vermutlich bedürfte es einer ausgesprochen komplizierten Vorbereitung, bevor der Beweis beginnen könnte. Aber nichts dergleichen erleben wir, wenn wir uns vornehmen, zu beweisen, dass η kleiner ist als n+2. Keine besonderen Anstrengungen sind vonnöten, alles ist einfach, gleichgültig, welche Zahl wir für η einsetzen. Denkt man darüber nach, so wird man finden, dass Descartes hier vielleicht einen Punkt hatte, der in seinen Augen zu offenkundig war, um ihn im Detail auszuarbeiten. (Er war ein stolzer Mann und ein großer Mathematiker.) Ich wünschte, ich könnte sagen: Und dies ist der Grund, weshalb Descartes der Auffassung war, nicht alle mentalen Repräsentationen könnten materiell sein. Doch leider bin ich nicht sicher, ob sein Grund für diese Auffassung tatsächlich der war, den ich gerade skizziert habe. Es gibt Andeutungen anderer Argumente gegen die physische Natur des intellectus purus in seiner reifen Philosophie. - Worauf es mir hier nur ankommt, ist dies: Descartes war nicht irgendein bornierter Dualist, der die Immaterialität mentaler Repräsentationen einfach voraussetzte, weil er die Immaterialität des Geistes als gegeben angenommen hätte. Im Gegenteil. Meines Erachtens spricht einiges dafür, dass es sich umgekehrt verhält: Er gelangte gerade deshalb zu der Auffassung, dass der Geist immateriell ist, weil er keine Aussichten für etwas sah, was wir heute als eine naturalistische Theorie mentaler Repräsentationen bezeichnen würden.

2.2

Descartes' Definition des Ideenbegriffs

Die Idee von X hängt, wie eingangs angeklungen ist, eng mit der Bedeutung des Wortes „X" zusammen. Descartes weist auf diesen engen Zusammenhang verschiedentlich hin, insbesondere aber auch an einer für den hier gegebenen Zusammenhang ganz speziellen Stelle seines Werks, an der er schreibt: „... kann ich etwas in

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Worten ausdrücken und verstehe, was ich sage, so ergibt sich allein schon daraus mit Gewissheit, dass in mir eine Idee desjenigen ist, was die betreffenden Wörter bedeuten" (AT VII 160). Jene Stelle, an der dies steht, ist deswegen eine ganz spezielle, weil sie die einzige ist, an der sich Descartes je dazu herbeilässt, eine Definition für seinen Terminus „idea" vorzustellen. Sie findet sich im Anhang zu den Erwiderungen auf Einwände, die sein Freund Mersenne zusammengestellt hat. In jenem Anhang präsentiert Descartes einen axiomatischen Beweis für die Existenz Gottes, und zum Zwecke dieses Beweises definiert er eine Reihe von Begriffen, als zweiten darunter den der Idee. Doch leider ist mit dieser Definition inhaltlich nicht viel anzufangen. Ich zitiere in einem deutsch-lateinischen Kauderwelsch: Unter dem Ausdruck idea verstehe ich die forma einer beliebigen cogitatio, dank deren unmittelbarerperceptio ich mir der cogitatio bewusst ( c o n s c i u s ) bin.21 Das Definiens ist wenig hilfreich. Nur der Begriff der cogitatio wurde zuvor erläutert; wer mit dieser Definition etwas anfangen kann, müsste schon verstehen, was „Form", „Perzeption", „Unmittelbarkeit" und „Bewusstsein" hier heißen soll. Besondere Schwierigkeiten des Verständnisses bereitet dabei „forma", einer der schillerndsten und verbrauchtesten Termini der scholastischen Metaphysik. (Es ist bezeichnend, wie unterschiedlich die vieldeutige Wendung „forma cogitatiortis", die Descartes hier verwendet, in der Sekundärliteratur gedeutet wird.22) Aber auch die übrigen Begriffe des Definiens bieten reichlich Anlass zu Nachfragen. Nun muss man aber wissen, dass Descartes von Definitionen in der Philosophie nicht viel hielt. An mehr als einer Stelle hat er betont, dass nicht alle Begriffe hilfreich definierbar sind. In seinen Augen ist die Versessenheit auf Definitionen eine intellektuelle Verirrung und ein Kennzeichen schlechten Philosophierens. Einige Begriffe sind nicht in hilfreicher Weise definierbar, weil es schlicht 21

22

Hieran schließt dann die gerade zitierte Bemerkung über den Zusammenhang von Idee und Wortbedeutung an. Vgl. dazu A. Kemmerling, op. dt., insb. S. 26-30 und S. 74 f.

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nichts gibt, womit sie sich erhellend definieren ließen. Jeder Versuch, sie zu definieren, wird diese Begriffe eher unklarer als klarer machen. Als Beispiel nennt Descartes wiederholt den Begriff des Denkens. Cogitatio ist für ihn ein Paradigma eines nicht hilfreich definierbaren Begriffs.23 Dennoch beginnt er die Folge seiner Definitionen im Anhang zu den Zweiten Erwiderungen mit einer Definition von „cogitatio Darauf folgt die Definition von „idea". Überspitzt gesagt: Als erstes wird der Inbegriff des Undefinierbaren definiert; als zweites der Begriff der Idee. Vor nicht allzu langer Zeit dachte ich, diese Definitionen könnten den Schlüssel zu Descartes' Theorie der mentalen Repräsentation enthalten, und versuchte, ihnen einen philosophisch aufschlussreichen Gehalt zu entwinden. Das ist mir nicht gelungen - genauso wenig wie allen anderen, deren diesbezügliche Versuche ich studiert habe. 24 Inzwischen neige ich zu einer anderen Betrachtungsweise dieser Definitionen. Sie sind Descartes' ironische Verbeugung vor den definitorischen Üblichkeiten seiner Zeit, denen gegenüber er eine tiefe und wohlbedachte Verachtung hegte. Seine Einstellung war vielleicht von dieser Art: „Man stelle mir keine törichten Fragen nach der Definition meiner Grundbegriffe. Wer aber dennoch unbedingt Definitionen sehen möchte, dem kann ich helfen. Also, bitteschön: Unter dem nicht hilfreich definierbaren Ausdruck cogitatio verstehe ich das-und-das; und unter dem nicht hilfreich definier baren Ausdruck idea verstehe ich dies-und-dies". Zwar findet sich bei Descartes eine explizite Definition des Begriffs der Idee, aber sie hilft uns nicht zu verstehen, was mentale Repräsentationen im Lichte seiner Konzeption eigentlich sein sollen. Doch dies ist kein schwerer Mangel, solange der Begriff in einer Theorie „implizit" definiert ist (wie man das heute nennt).

23

24

Vgl. hierzu insbesondere AT X 523 f. Im neunten Abschnitt des ersten Teils der Principia gibt Descartes wiederum eine Erläuterung seines Begriffs der cogitatio, aber er fügt im nächsten Abschnitt gleich hinzu, warum er nichts davon hält, Begriffe wie „Denken", „Existenz" oder „Gewissheit" zu definieren (vgl. AT vm 7 f.). Vgl. A. Kemmerlang, op.cit., 21-38.

176 2.3

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Eine bemerkenswerte Äquivokation des Wortes „Idee" und zwei ideentheoretisch zentrale Beziehungen: Denker/Idee und Idee/Gegenstand

Deshalb nun also zur Frage: Welches ist Descartes' Theorie oder Konzeption mentaler Repräsentation? Welche Rolle spielt der Idee-Begriff in ihr? Bei der Beantwortung dieser Fragen gilt es allerdings, eine weitere Misslichkeit sorgfältig zu beachten. Sein Terminus technicus „idea" ist, wie Descartes freimütig einräumt, mehrdeutig (AT VII 8): Dieser Ausdruck beziehe sich sowohl auf den geistigen Akt des Repräsentierens als auch auf das, was in einem solchen Akt repräsentiert wird. - Dies ist eine wahrlich bemerkenswerte Äquivokation. Denn es scheint ja, als hätten wir es hier mit zwei ganz und gar verschiedenen Dingen zu tun: einerseits mit dem Repräsentationsakt, andererseits mit dem repräsentierten Ding selbst. Welchen Reim kann man sich darauf machen? Die Antwort auf diese Frage führt uns schnurstracks zum Kern der Cartesischen Konzeption. Jede Theorie des Denkens, die Repräsentationen als Denkvehikel postuliert, muss die Frage beantworten: Von welcher Art sind die Beziehungen, die zwischen dem Denker, dem Denkvehikel und dem Gedachten (also insbesondere auch dem Gegenstand, an den gedacht wird) bestehen? Unterstellen wir einmal, dass die Beziehung, die zwischen dem Denker und seinen Ideen besteht, keiner inhaltlichen Erläuterung bedürftig ist. Descartes nennt diese Beziehung „Perzeption", aber er sagt nicht, worin sie besteht. Und obwohl er in diesem Zusammenhang gelegentlich Terminologie aus dem Bereich der visuellen Wahrnehmung einfließen lässt (indem er z.B. davon spricht, dass Ideen manchmal mit dem scharfen Blick des Intellekts klar&deutlich perzipiert werden), ist er nicht der Auffassung, dass diese Perzeptionsbeziehung eine tiefgreifende Ähnlichkeit mit irgendeiner genuin visuellen Beziehung hat, wie sie z.B. zwischen einem Betrachter und dem Ding besteht, das er anschaut. Wir erhalten von Descartes also bloß eine rein terminologische Auskunft zu der Beziehung, die zwischen dem Denker und seinen Ideen besteht: Im Denken p e r z i p i e r t er die Ideen, mit denen er denkt.

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Wenden wir uns nun der anderen Beziehung zu, der Beziehung, die zwischen der Idee und dem Gegenstand besteht, an den mit ihr gedacht wird. Worin besteht die Verbindung zwischen der Idee und ihrem Gegenstand? Was macht z.B. die Idee von einem Hasen zur Idee von einem H a s e n ? Auf diese Frage hat Descartes eine bemerkenswerte Antwort. Sie besagt letzten Endes: Es ist Quasi-Identität. Die Idee, die jemand von einem Hasen hat, und der Hase, an den beim Perzipieren dieser Idee gedacht wird, sind ein und dasselbe. Um besser zu verstehen, was die Cartesische Lehre in diesem entscheidenden Punkt besagt, wollen wir dem Hasen und der Idee von ihm einen Namen geben. Nennen wir den Hasen P e t e r und die Idee von ihm Idea Petri. Was wir verstehen wollen, ist dies: Dank welcher Art von Beziehung zwischen Peter und Idea Petri ist letztere eine Idee des ersteren? Verdankt sich das vielleicht einer wie auch immer gearteten Ähnlichkeit zwischen den beiden oder dem Umstand, dass Idea Petri ein geistiges Symbol oder Wort für Peter ist? Nichts dergleichen kommt der Konzeption Descartes' auch nur nahe. Seine Antwort ist, wie ich sagte, bemerkenswert. Sie besagt, dass Peter und Idea Petri ein und dasselbe sind. Doch dies mag abwegig erscheinen, denn schließlich ist Peter ein Hase, mithin eine materielle Entität, die irgendwo durch die Landschaft hoppelt, wohingegen Idea Petri ein immaterieller Geisteszustand ist. Die Annahme, die beiden könnten identisch sein, liefe, so scheint es, unweigerlich auf die Preisgabe eines Unterschieds hinaus, der für Descartes (und für fast jedermann nach ihm) so viel bedeutet hat: der Unterschied zwischen materiellen und immateriellen Sachen. Nun, es ist eine ganz besondere Art von Identität, die nach Descartes zwischen Peter und Idea Petri besteht. Es ist eine Identität, die sich dem Umstand verdankt, dass sowohl Peter als auch Idea Petri zwei Seinsweisen haben. Peter besitzt a k t u a l e ( o d e r a u c h : „ f o r m a l e " ) E x i s t e n z draußen in der Landschaft. Im Geist des Denkers besitzt er hingegen das, was Descartes o b j e k t i v e E x i s t e n z nennt. Aber was soll das denn sein, der im Geist des Denkers objektiv existierende Peter? Darauf hat Descartes eine Antwort parat; sie lautet: es ist Idea Petri. Dies ist so bemerkenswert, dass es noch einmal wiederholt sei: Der im Geist

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des Denkers existierende Peter ist Idea Petri. Peter, der materielle Hase da draußen, und Idea Petri, der innere Geisteszustand des Denkers, sind ein und dieselbe Entität, sei's auch in unterschiedlichen Seinsweisen. Zur mentalen Repräsentation gehört also ganz wesentlich eine besondere Art von Identität, und zwar die Quasi-Identität, die zwischen zwei Aspekten einer metaphysisch hybriden Entität besteht, die zugleich sowohl auf die aktuale als auch auf die objektive Weise existiert. Und genau dies ist das Herzstück der Semantik mentaler Repräsentation nach Descartes. Eine Idee i repräsentiert χ genau dann, wenn x, in seiner objektiven Seinsweise, mit i identisch ist. Ein weiteres sei noch hinzugefügt. Nach Descartes gibt es drei Hinsichten, in denen Ideen betrachtet oder thematisiert werden können. M a t e r i e l l gesehen (wie er das nennt), ist eine Idee nichts weiter als eine Tätigkeit des Intellekts. O b j e k t i v gesehen, ist eine Idee (wie wir gerade gesehen haben) das repräsentierte Ding in seiner objektiven Seinsweise. Und wenn man eine Idee f o r m a l betrachtet, bezieht man sie auf etwas außerhalb ihrer selbst - z.B. indem man sich die Frage stellt, ob dasjenige Ding, das objektiv im Geist existiert, auch eine aktuale Existenz außerhalb des Intellekts hat. Daraus ergibt sich also, dass es für Descartes wenigstens drei Betrachtungsweisen von Ideen gibt. Man kann eine Idee betrachten (a) (b)

(c)

als einen Geisteszustand bzw. eine geistige Tätigkeit, wobei man von deren repräsentationalen Eigenschaften absieht; als das von solch einem Geisteszustand repräsentierte Ding, wobei dieses Ding allerdings etwas Geistiges ist, von dessen außergeistiger („aktualer") Existenz man absieht; als etwas, das auf den Bereich des Außergeistigen bezogen ist und dann entweder ein aktual existierendes Ding außerhalb des Intellekts repräsentiert oder kein solches Ding repräsentiert. 2.4

Zweierlei Repräsentationsbeziehung

Dementsprechend gilt es, zwei wesentlich unterschiedliche Beziehungen nicht miteinander zu verwechseln, wenn wir - im Sinne

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Descartes' - über mentale Repräsentation sprechen. Z u m einen ist da die repräsentationale Beziehung zwischen einem Geisteszustand und dem, was er i n t e r n repräsentiert; das Vorderglied dieser Beziehung, das interne Repraesentans, ist die Idee, materialiter genommen; das Hinterglied dieser Beziehung, das interne Repraesentatum, ist die Idee, objektiv genommen. Beim internen Repräsentieren bleibt die Idee sozusagen ganz bei sich: Sie ist Repräsentierendes und Repräsentiertes. Zum andern gibt es die repräsentationale Beziehung zwischen der Idee und dem, was sie e x t e r n repräsentiert. Das, was hier repräsentiert, ist die Idee insgesamt (Descartes spricht meines Wissens nicht davon, dass nur die Idee, materialiter genommen, oder nur die Idee, objektiv genommen, das Repraesentans der externen Repräsentationsbeziehung sei); das, was hier repräsentiert wird, ist etwas, das der repräsentierenden Idee extern ist. Wohlgemerkt, „extern" soll dabei nicht heißen, dass das Repraesentatum etwas Körperliches sein muss. Das extern Repräsentierte kann auch etwas Geistiges sein, z.B. eine andere Idee, eine Empfindung, ein geistiges Vermögen, der Geist des Denkers selbst oder ein anderer Geist. Es ist die interne Repräsentation, die durch Quasi-Identität konstituiert ist. Diese interne Repräsentation besitzt semantische Priorität. Ein Geisteszustand muss ein internes Repraesentatum haben, damit die Frage danach, was er extern repräsentiert, überhaupt einen Sinn hat. Denn das interne Repraesentatum ist das Wesen des dazugehörigen außergeistigen Dings, falls es ein solches überhaupt gibt. Und Fragen der Existenz lassen sich erst dann stellen, wenn die Wesensfragen beantwortet sind. Um es in ganz einfachen Worten zu sagen: M a n muss schon leidlich Klarheit darüber haben, was das ist, wovon man wissen will, ob es wirklich existiert. Dies ist, wie Descartes einmal sagt, ein Gesetz der wahren Logik (AT VII 107 f.). Internes und externes Repraesentatum sind quasi-identisch. Das interne Repraesentatum konstituiert das Wesen des externen Repraesentatums, falls es solch ein Repraesentatum gibt (AT VII 371). Falls es keines gibt, hat diese Situation eine strukturelle Ähnlichkeit mit dem Fall des Portraits einer nicht-existierenden Person. Ideen können, wie Bilder, etwas im internen Sinne repräsentieren, das

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nicht wirklich existiert. Es gibt noch ein paar weitere Strukturanalogien zwischen Ideen und Bildern, aber die Anwendbarkeit einer Unterscheidung zwischen interner und externer Repräsentation ist meines Erachtens die tiefgreifendste von allen. Ein Bild kann etwas (intern) darstellen, worüber sich in Maßen sinnvoll reden lässt, ohne dass überhaupt die Frage aufgeworfen wird, ob es wirklich existiert. Wohl vornehmlich dieser Strukturanalogie wegen spricht Descartes gelegentlich davon, Ideen seien „gleichsam Bilder" (ζ. B. AT VII 37), obwohl er sich darüber im klaren war, dass dieser Vergleich zu Missverständnissen geradezu einlädt. Die dann natürlich auch entstanden sind und sich bis auf den heutigen Tag durchhalten. Eines sollte ganz deutlich geworden sein: Ideen sind für Descartes keine „geistigen Bildchen", wie für Hume vielleicht; sie repräsentieren nicht vermittels Ähnlichkeit, und erst recht nicht vermittels irgendeiner Form von visueller Ähnlichkeit, wie abstrakt man sie auch immer konzipieren mag. Die Quasi-Identität von internem und externem Repraesentatum ist in dem Maße unverständlich, in dem es die Lehre der unterschiedlichen (simultanen) Seinsweisen ein und derselben Entität ist. Doch über diese Unverständlichkeit hinaus birgt diese Konzeption auch noch eine weitere Unerfreulichkeit in sich: Es ist nicht zu sehen, wie sie auf Ideen von Innergeistigem anzuwenden ist: zum Beispiel auf die Idee, die ein Denker von seinem eigenen Geist oder von einer seiner Ideen hat. Betrachten wir den Fall, in dem der Denker eine Idee der Grundstufe - nennen wir sie idea0 - hat, d.h. eine gewöhnliche Idee von einem gewöhnlichen außergeistigen Gegenstand (z.B. von unserm Hasen Peter), und außerdem eine Idee erster Stufe, idea1, und zwar sei dies eine Idee von der Idee idea0. Descartes' Lehre besagt in dem Punkt, auf den es mir jetzt ankommt (es geht dabei um internes Repräsentieren): „Idee i repräsentiert x" heißt: x, als Ding-im-Intellekt (d.h. in seiner objektiven Seinsweise), ist mit i identisch. Dieses Schema ergibt, angewandt auf idea0·. Sie repräsentiert Peter genau dann, wenn Peter, in seiner objektiven Seinsweise, mit ihr identisch ist. Versuchen wir das nun auf idea1 zu übertragen. Also: Dass idea1 idea0 repräsentiert, heißt, dass idea0, als Ding-im-Intellekt, mit idea1 identisch ist. Nun ist aber idea0 - anders als der Hase Peter

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- bereits in ihrer formalen Seinsweise etwas, das im Intellekt ist. Und darin liegt eine grundlegende Schwierigkeit. Der Unterschied zwischen Peter in seiner formalen Seinsweise (ein materieller Gegenstand) und Peter in seiner objektiven Seinsweise („Dingim-Intellekt", etwas Immaterielles) ist erheblich; der Unterschied zwischen idea0 in ihrer formalen Seinsweise und idea0 in ihrer objektiven Seinsweise ist völlig unklar - jedenfalls ungeklärt. Welcher Unterschied genau soll das sein? In beiden Seinsweisen ist diese Idee etwas, das im Intellekt ist; der Unterschied kann also nicht, wie im ersten Fall, einfach mit Rückgriff auf die Unterscheidung zwischen etwas, das außerhalb des Intellekts ist, und etwas, das innerhalb des Intellekts ist, erläutert werden. Als Mindestes schuldet uns Descartes eine zusätzliche Erläuterung dessen, worin die objektive („intra-intellektive") Seinsweise von etwas, das wirklich („formal") im Intellekt ist, sich von dessen formaler Seinsweise unterscheidet. Es muss eine andere Art der Quasi-Identität sein als die, die zwischen Peter und idea0 besteht; aber es darf keine echte Identität sein, denn sonst ergäbe sich die unhaltbare Konsequenz, dass idea0 und idea1 dieselbe Idee wären. - Ein weiterer Punkt in diesem Zusammenhang: Was repräsentiert idea1 eigentlich, wenn sie idea0 repräsentiert: idea0, materiell genommen (also als Repräsentationsakt), oder idea0, objektiv genommen (also als internes Repraesentatum), oder idea0, irgendwie auf beide Weisen zugleich betrachtet? Das heißt: entweder ist der Begriff der Idee einer Idee systematisch irreführend, weil es von jeder Idee immer zwei grundsätzlich verschiedene Ideen geben muss; oder er ist korrekt, aber in dem Maße unverständlich, in dem es unverständlich ist, wie sich etwas zugleich als Akt und Repraesentatum dieses Akts repräsentieren lässt. Kurz, Descartes' Lehre zur internen Repräsentation ist schon im Kern (bei den Ideen unterster Stufe) wegen der involvierten Metaphysik der zwei Seinsweisen ein und derselben Entität unverständlich; und sie enthält zudem eine Reihe von theoretischen Löchern, bei denen nicht leicht zu sehen ist, wie sie überhaupt nur kohärent zu stopfen sind. Was besagt nun Descartes' Lehre der externen Repräsentation? Wie repräsentiert eine Idee insbesondere ihr außenweltliches

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Repraesentatum, falls sie eines hat? Nun, eine Antwort darauf kennen wir bereits: dank der Quasi-Identität, die zwischen der objektiv genommenen Idee und ihrem externen Repraesentatum besteht. Nun kann man jedoch weiterfragen: Wodurch ist eine Idee i gerade mit dem außenweltlichen Gegenstand χ quasi-identisch und nicht mit einem andern Gegenstand y? Diese Frage ist in dem Maße berechtigt, in dem jene Quasi-Identität, die zwischen der Idee und ihrem Repraesentatum besteht, eben keine echte Identität ist. Handelte es sich um echte Identität, so wäre unsere Frage abwegig, falls „die Idee i, objektiv genommen" und „der Gegenstand x" starre Designatoren sind, und dass sie das sind, unterstelle ich. Es gibt, Starrheit der Designatoren „a" und „b" vorausgesetzt, keine inhaltlich hilfreiche Antwort auf die Frage: Wenn α mit b sensu stricto identisch ist, was macht, dass α gerade mit b identisch ist - und nicht mit einem andern Ding c? Da eine objektiv genommene Idee und ihr externes Repraesentatum aber nicht sensu stricto identisch, sondern nur in einem unbestimmt abgeschwächten Sinn identisch sind, an den ich durch das vorgesetzte „quasi-" erinnere, ist es nicht von vornherein abwegig, eine inhaltlich hilfreiche Antwort auf die Frage zu erhoffen, was sie quasi-identisch macht. Und in der Tat finden sich bei Descartes Hinweise auf den Versuch, eine inhaltlich hilfreiche Antwort auf diese Frage zu geben. Auch wenn diese Antwort uns heute kaum noch gefallen mag. Denn sie lautet, um es vorwegzunehmen, kurz gefasst: Gott hat es so eingerichtet. Wie sieht Descartes' Lehre der externen Repräsentation von Ideen nun im einzelnen aus? Es gibt dazu nur wenige Bemerkungen Descartes', aus denen sie sich mit allem Vorbehalt rekonstruieren lässt; die aufschlussreichsten finden sich in der Sechsten Meditation. Diese betreffen zunächst einmal nur einen der drei Typen von Ideen, die Descartes unterscheidet: nur die „erworbenen" Ideen [(ideae) adventiciae, AT VII 37], d.h. die, die der Denker durch die Sinneswahrnehmung erworben hat. Ob überhaupt, und wie im einzelnen, das Modell der externen Repräsentation, das Descartes für die Sinnes-Ideen skizziert, sich auch auf die andern beiden Ideen-Typen - die angeborenen und die vom Denker

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selbst gemachten - übertragen lässt, sei dahingestellt; womit ich solcherlei Übertragbarkeit nicht infrage stellen, sondern hier nur beiseite lassen möchte. Deswegen spreche ich, der Einfachheit des Ausdrucks halber, weiterhin schlicht von Ideen und nicht, was für das Folgende angemessener wäre, von Sinnes-Ideen. Descartes' Lehre der externen Repräsentation von Ideen ist eine Kausaltheorie: Das externe Repraesentatum einer Idee ist derjenige außenweltliche Gegenstand, der sie verursacht hat. Wobei gleich zu beachten ist: Es ist derjenige außenweltliche Gegenstand, der die Idee nicht einfach als irgendeine Repräsentationstätigkeit des Geistes verursacht, sondern vielmehr die Idee als etwas, das intern gerade das repräsentiert, was sie de facto intern repräsentiert. Die Formel, die ich zur (mit gehöriger Vorsicht zu genießenden) Rekonstruktion von Descartes' Lehre über die externe Repräsentation von Ideen vorschlage, lautet: Die Idee i repräsentiert denjenigen außenweltlichen Gegenstand x, für den gilt: χ hat i insgesamt verursacht, d.h. i sowohl materialiter als auch obiective betrachtet. Mithin verursacht Peter - der Hase draußen auf der "Wiese, der im Denker, der ihn sieht, die Idee von Peter bewirkt - nicht nur, dass der Denker in irgendeinen neuen Geisteszustand gerät, sondern Peter ist auch kausal dafür verantwortlich, was der Geisteszustand, in den der Denker gerät, ihm intern repräsentiert (z.B. just diesen Hasen als einen, der braune Löffel hat). Solcherlei Kausaltheorien haben das Betrübliche an sich, dass es für keinen Zustand etwas gibt, das sich ohne weiteres als „die Ursache" bezeichnen ließe. Was in der langen Kausalkette, an deren Ende die Idee i steht, ist die Ursache der Idee /? Descartes war sich dieses Problems deutlich bewusst. Seine Lehre von der internen IdeenRepräsentation ist ein Teil der Lösung, die er anbietet. Betrachten wir dazu folgende Stelle aus der Sechsten Meditation: ... wenn ich Schmerz im Fuß empfinde, dann wird diese Sinnesempfindung durch die im Fuß verteilten Nerven zustandegebracht ... Wird an ihnen im Fuß gezogen, so ziehen sie auch an denjenigen inneren Teilen des Gehirns, bis zu denen sie reichen, und rufen dort

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eine gewisse Bewegung hervor. Die Natur hat es so eingerichtet, dass diese Bewegung den Geist mit der Empfindung eines gleichsam im Fuß vorhandenen Schmerzes affiziert. (AT VII 87) Die physische Kausalkette, die zu der Sinnesempfindung Schmerz-imFuß führt, hat als Endpunkt eine Idee, die von einer Bewegung „in demjenigen Teil des Gehirns" hervorgerufen wird, „der unmittelbar den Geist affiziert" (AT VII86). Nehmen wir an, der Schmerz wurde dadurch hervorgerufen, dass der Denker mit seinem nackten Fuß auf ein glühendes Stück Holz trat. Man beachte: Die Kausalkette, die zur Schmerz-Idee führt, ist sehr lang; sie reicht zurück über Ereignisse in andern Teilen des Gehirns, über Ereignisse auf den Nervenbahnen, die vom Fuß zum Gehirn führen, über Ereignisse, die an den Nervenenden im Fuß auftraten, über die Ursachen dieser Ereignisse (die Berührung des Holzstücks; das Feuerfangen des Holzstücks, das Entstehen des Feuers, durch welches das Holzstück in Brand gesetzt wurde, usw.) bis schließlich hin zur Entstehung der Welt. Man kann also nicht einfach sagen: Dasjenige, wovon die Idee, die am Ende dieser Kausalkette steht, eine Idee ist, das ist einfach „die" Ursache dieser Idee. Das Geschehen im Fuß ist ja nur ein Glied unter vielen andern in dieser langen Kausalkette. Die Frage muss sich regen: Wodurch wird jenes eine bestimmte Glied dieser Kausalkette (das Geschehen im Fuß) zu demjenigen, wovon die Idee eine Idee ist? Anders gefragt, warum ist die so zustandegekommene Idee die Idee von etwas, das sich im Fuß abspielt? Warum ist sie nicht die Idee von etwas, das sich im Gehirn abspielt, oder auf den Nervenbahnen zwischen Fuß und Gehirn? Oder von etwas, das sich im Holzstück abspielt? Oder, oder, oder? Descartes hat, wie gesagt, dieses Problem klar gesehen. Seine Antwort besagt: Die beliebig lange Kausalkette, die zu der Idee insgesamt führt, repräsentiert i n t e r n etwas, das im Fuß ist. Und deshalb repräsentiert sie auch extern nichts anderes: keine Aktivität im Gehirn, in den Nervenbahnen oder gar in dem glühenden Stück Holz. Descartes' Kausaltheorie der externen Repräsentation setzt also das Vorhandensein des internen Repraesentatums voraus, das in diesem Beispiel ein Geschehen im Fuß ist. Doch damit ist die Frage, warum die Idee just dieses externe Repraesentatum hat,

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nicht befriedigend beantwortet, sondern nur verschoben auf die Frage, warum sie just dieses interne Repraesentatum hat. Descartes weicht dieser Nachfrage nicht aus; seine Antwort auf sie lautet: Das interne Repraesentatum einer Idee ist das, was für die betreffende Person unter normalen Umständen das optimale Repraesentatum ist. In unserm Beispiel wird der Geist durch die Sinnesempfindung gerade auf den Fuß aufmerksam gemacht und durch sie - weil sie just dieses und kein anderes Repraesentatum hat - dazu angespornt, die Ursache dieses Schmerzes als etwas, das dem Fuß schadet, so gut es geht zu beseitigen (AT VII 88). Descartes sieht, dass es im Prinzip auch anders hätte sein können: Die menschliche Natur hätte von Gott zwar auch so eingerichtet werden können, dass genau dieselbe Bewegung im Gehirn dem Geist etwas anderes repräsentiert [„exhibere" wird von Descartes in solchen Zusammenhängen als austauschbar mit „repraesentare" verwendet] hätte: zum Beispiel hätte die Bewegung sich selbst (als im Gehirn oder im Fuß oder als an irgendeiner dazwischenliegenden Stelle) repräsentieren können. Oder sie hätte sogar etwas x-beliebiges anderes repräsentieren können. Aber nichts anderes wäre der Erhaltung des Körpers gleichermaßen zuträglich gewesen. (AT VII 88)

Dass die Idee dem Denker Schmerz-im-Fuß repräsentiert, trägt zur Erhaltung seines Körpers bei, weil sie ihn auf diejenige Stelle seines Körpers aufmerksam macht, die tatsächlich beschädigt ist; mit seinem Gehirn und den Nervenbahnen ist ja - so wollen wir annehmen - weiterhin alles zum besten bestellt. Wenn er sich nun darum kümmert, die Ursache des Schmerzes im Fuß zu beseitigen und die Fußverletzung zu behandeln, dann tut er in seiner Lage ceteris paribus das Beste, was er für seinen Körper tun kann. Wir können versuchen, Descartes' Lehre der externen Repräsentation folgendermaßen kurz zusammenzufassen: Wenn eine Idee i einen außenweltlichen Gegenstand repräsentiert, dann repräsentiert sie denjenigen Gegenstand x, für den gilt: χ ist dasjenige Glied der Kausalkette, die zu i führt, welches von i intern repräsentiert wird; und das interne Repraesentatum von i wurde - aus einer prinzipiell beliebigen Vielfalt möglicher Repraesentata

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- von Gott gewählt, weil es normalerweise das für die Selbsterhaltung des Denkers optimale Repraesentatum einer Idee ist, die auf so einem Weg kausal zustandekommt. 2.5

Irreführende und material falsche Ideen

Ideen können, wie Descartes in der Dritten Meditation betont, im eigentlichen Sinne nicht falsch sein, solange sie „allein in sich selbst betrachtet und nicht auf etwas anderes bezogen" werden (AT VII 37). Objektiv betrachtet (in Descartes' speziellem Sinn von „objektiv") sind Ideen niemals falsch; solange der Denker seine vorliegende Idee objektiv, „allein in sich selbst", betrachtet, verweilt er beim internen Repraesentatum, und dieses zeigt ihm die Idee, wie sie ist. Die Idee ist, objektiv betrachtet, so, wie der Denker sie - ihr internes Repraesentatum - perzipiert. Wird sie hingegen formal betrachtet - d.h. auf ihr externes Repraesentatum bezogen - , so mag allerdings Irrtum drohen. Ja, es kann sogar vorkommen, dass das interne Repraesentatum einer Idee in gewissem Sinne irreführend ist. Das kann an speziellen Gegebenheiten des Zustandekommens der Idee liegen. Unter gewissen besonderen Umständen kann es ja geschehen, dass der Denker eine Idee von Schmerz-im-Fuß hat, obwohl mit seinem Fuß alles in Ordnung ist (ein Chirurg stimuliert eine geeignete Stelle im Oberschenkel oder im Gehirn des Denkers). Doch es gibt noch andere, erkenntnistheoretisch interessantere, Hinsichten, in denen die Idee - ihr internes Repraesentatum - irreführend sein kann: gewissermaßen systematisch, „von sich aus", irreführend. Etwa dann, wenn sie bzw. es dazu angetan ist, den Denker zu verlocken, die Idee auf etwas außerhalb des Geistes zu beziehen, obwohl die Kausalkette gar kein passendes außergeistiges Glied enthält, auf das die Idee bezogen werden könnte. In solch einem Fall spricht Descartes von der „materialen Falschheit" der betreffenden Idee. Sein Lieblingsbeispiel dafür ist die Kälte. Wenn Kälte nur ein Fehlen von Wärme ist, aber die Idee der Kälte ein internes Repraesentat hat, das ihm sich wie „etwas Reales und Positives" (AT VII 44) darstellt, dann repräsentiert sie ihm ein Nicht-Ding wie ein Ding [non rem tanquam rent, AT VII 43].

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Wie macht eine Idee das: ein Nicht-Ding wie ein Ding repräsentieren? Nun, im Wesentlichen dadurch, dass sie unklar und undeutlich ist. Material falsche Ideen sind solche, bei denen der Denker ganz besonders versuchen sollte, sie zu Klarheit&Deutlichkeit (heute würden wir wohl sagen: zu begrifflicher Klarheit) zu bringen, bevor er sie auf etwas draußen in der Welt bezieht. Untersuchte er sorgfältig, was in der Idee der Kälte enthalten ist, so würde er bemerken, dass sie nichts in sich enthält, das etwas Außergeistiges repräsentiert. Vielmehr repräsentiert sie, laut Descartes, ausschließlich eine Sinnesempfindung; und eine Sinnesempfindung ist (letztlich) nur im Geist dessen, der sie hat. Wenn wir allzu naiv mit unserer Idee von Kälte umgehen, dann mag sie in zweierlei Weise irreführend sein: Erstens mag sie es uns so erscheinen lassen, als sei in der externen Kausalkette ein Glied vorhanden, das es in Wirklichkeit nicht gibt; und zweitens mag sie zu der kategorialen Verwechslung von etwas Geistigem (der Kälte-Empfindung) mit etwas Materiellem (einer vermeintlichen Kälte im Ding selbst) Anlass geben. Man fragt sich nach dem Vorausgegangenen natürlich: Was ist denn nun aber das interne Repraesentatum einer materiellen Idee wie der der Kälte? Über das interne Repraesentatum kann der Denker sich ja nicht irren; in ihm zeigt sich dem Denker die Idee genau so, wie sie objektiv betrachtet ist. Descartes hat auch dies gesehen, natürlich. Darin ist er gewohnt subtil. Seine Antwort ist - wie manchmal - letztlich ein wenig enttäuschend. Gegenüber Arnauld weist er in den Vierten Erwiderungen darauf hin, dass das interne Repraesentatum der undeutlichen Idee der Kälte sich nicht beschreiben lässt als „Kälte, wie sie objektiv im Intellekt ist" (AT VII 233). Diese Beschreibung setzte ja voraus, dass es Kälte (wie den Hasen Peter) als etwas in der materiellen Welt Vorhandenes gibt - und dass die Idee von ihr sich mit Rückgriff auf dieses materiell Vorhandene beschreiben lässt. Aber eine Beschreibung wie „Peter, wie er objektiv im Intellekt ist" taugt nur deshalb als Charakterisierung des internen Repraesentatums einer Idee, wenn und weil es Peter wirklich (in „formaler Seinsweise") gibt. Gerade das ist ja im Falle material falscher Ideen nicht gegeben: sie haben kein „formal existierendes" externes Repraesentatum

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in der materiellen Welt, das sich zur korrekten Beschreibung des internen heranziehen ließe. Was ist nun Descartes' Antwort? Sie fällt reichlich unbestimmt aus. Die Idee der Kälte sei nicht Kälte, wie sie objektiv im Intellekt ist, sondern vielmehr etwas anderes [aliud quid], das wir irrtümlich für diesen Mangel [pro ista privatione] nehmen. Diese Antwort ist enttäuschend. Sie erklärt uns nicht, was wir erklärt haben möchten. Unsere Frage war: Was ist das interne Repraesentatum einer material falschen Idee, die uns einen Kausalfaktor in der materiellen Welt zu zeigen scheint, wo keiner ist? Descartes' Antwort ergibt bis zu diesem Punkt: Es ist nicht etwa irgendein fehlendes Glied der außenweltlichen Kausalkette (so weit ist seine Antwort gut); es ist etwas anderes (so weit ist seine Antwort unbestimmt). Descartes versucht noch im selben Satz (AT VII233), auch eine bestimmtere Auskunft zu geben: Es ist eine gewisse Sinnesempfindung [sensus quidam], die er nicht weiter kennzeichnet. Nehmen wir diese Auskunft ganz ernst, so geraten wir in ein Problem. Die material falsche Idee der Kälte hat als ihr tatsächliches externes Repraesentatum eine Sinnesempfindung, also etwas, das Descartes vorzugsweise als etwas wesentlich Geistiges charakterisiert. Diese Idee hat es allerdings zugleich an sich, den Denker dazu zu verlocken, sie auf etwas anderes zu beziehen: auf das - bloß vermeintlich vorhandene - Kaltsein körperlicher Gegenstände. Wie ist solch eine kategoriale Fehlorientierung innerhalb des von Descartes vorgezeichneten Rahmens überhaupt möglich? Wie kann das interne Repraesentatum einer seiner Ideen den Denker dazu verlocken, sie auf etwas zu beziehen, das es erstens gar nicht gibt und das zweitens kategorial verschieden ist von dem tatsächlichen externen Repraesentatum? Wenn das externe Repraesentatum der Idee der Kälte diejenige Sinnesempfindung ist, die wir z.B. dann haben, wenn wir unter normalen Bedingungen einen Eiswürfel in die Hand nehmen, dann müsste das interne Repraesentatum dieser Idee einfach Folgendes sein: diese Sinnesempfindung, wie sie objektiv im Intellekt ist. Ein internes Repraesentatum wird aber, wie wir gerade festgestellt haben, vom Denker so perzipiert, wie es ist. Also müsste an der Sinnesempfindung, wie sie objektiv im Intellekt ist, etwas sein,

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das den Denker dazu verleitet, sie - wenn er sich nach ihrem externen Repraesentatum fragt - auf eine Eigenschaft (das Kaltsein) im Eiswürfel zu beziehen. Was ist an der Sinnesempfindung (wie sie objektiv im Intellekt ist), das sie in dieser Weise irreführend macht? Wie kommt es, dass die Idee dieser Sinnesempfindung vom Denker so unklar und undeutlich perzipiert wird, dass sie ihm - lax gesprochen - etwas Falsches zu zeigen scheint: eine körperliche Eigenschaft des Eiswürfels, die es nicht gibt und womöglich gar nicht geben kann? Darauf gibt Descartes, so weit ich sehe, keine Auskunft. Stattdessen konstatiert er wieder und wieder, dass Sinnesideen eben unklar und undeutlich sind. Aber das ist gerade das, was zu erklären ist, und nicht die Erklärung. Man beachte, dass Descartes' Lehre von der materialen Falschheit mancher unserer Ideen nicht nur irgendein unausgeführtes Teilstück seiner Ideen-Lehre ist, sondern erstens ist es ein für seine gesamte Erkenntniskonzeption zentrales Theorie-Element und zweitens ist es nicht nur unausgeführt, sondern es ist auch nicht zu sehen, wie es sich überhaupt in die restliche Ideen-Lehre einfügen lassen könnte. Zentral ist es, weil die grundlegende Unzulänglichkeit der Sinneswahrnehmung das negative Kernstück der Cartesischen Erkenntniskonzeption ist, und weil die material falschen Ideen Descartes als das schlagendste Beispiel für die Unzulänglichkeit der Sinneswahrnehmung dienen. Die drohende Inkohärenz liegt darin, dass für Ideen, die dem Denker etwas zu zeigen scheinen, ihm aber in Wirklichkeit etwas ganz anderes zeigen, kein Platz in der Cartesischen Ideen-Semantik vorgesehen zu sein scheint. Denn es gilt ja: (1) (2)

Das interne Repraesentatum wird vom Denker unmittelbar perzipiert und ist so, wie es von ihm perzipiert wird. Das interne Repraesentatum einer material falschen Idee ist ein Geisteszustand (eine Sinnesempfindung), wie er objektiv im Intellekt ist.

Es liegt nahe, daraus folgenden Schluss zu ziehen: (3)

Das interne Repraesentatum einer material falschen Idee wird vom Denker als ein Geisteszustand perzipiert.

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Es gilt nun aber außerdem: (4) (5) (6)

Geisteszustände sind ihrem Wesen nach Modi des immateriellen Geistes. Modi des Geistes sind ihrem Wesen nach verschieden von den Modi einer körperlichen Substanz. Die material falsche Idee wird vom Denker gewöhnlich auf einen Modus einer körperlichen Substanz bezogen.

Wie kann es geschehen, dass ein Denker etwas, das er als einen Geisteszustand perzipiert, in kategorial fehlerhafter Weise auf einen körperlichen Gegenstand bezieht? Er begeht damit einen so einschneidenden Kategorien-Fehler, dass nur eine Erklärung sich anzubieten scheint: Er perzipiert die Idee selbst kategorial falsch; er „missdeutet" bereits ihr internes Repraesentatum. Dies jedoch scheint durch die Unmittelbarkeit der Ideen-Perzeption ausgeschlossen: Was könnte „unmittelbar perzipieren" noch heißen, wenn bei solcherlei Perzeption ein Deutungsakt im Spiel wäre, der auch bis ins Extrem der kategorialen Falschheit misslingen kann? Es ist mithin schwer zu sehen, wie Descartes seine Lehre von den material falschen Ideen ausführen könnte, ohne seine nicht minder grundlegende These von der Unmittelbarkeit der IdeenPerzeption aufzugeben oder einzuschränken. 2.6

Eine Spekulation dazu, warum der Geist für Descartes etwas Immaterielles ist

Fragen wir uns etwas scheinbar ganz anderes: Wozu braucht Descartes eigentlich die Immaterialität des Geistes? Nun, sein AntiSkeptizismus lässt sich Schritt für Schritt durchführen, ohne ein Reich der immateriellen Substanzen und ihrer Modi anzunehmen. (Man denke nur daran, dass dem Skeptizismus in der Zweiten Meditation, spätestens in der Vierten, Einhalt geboten wird, dass aber die reale Verschiedenheit von Körper und Geist erst in der Sechsten Meditation bewiesen wird.) Auch seine Gottesbeweise hängen nicht davon ab, dass der Geist des Denkers immateriell ist. Bedarf Descartes der Immaterialität des Geistes vielleicht, um

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die Unsterblichkeit der Seele begreiflich zu machen? Auch dies ist höchst unplausibel. Erstens war der Beweis für die Unsterblichkeit der Seele allem Anschein nach keines seiner dringenderen philosophischen Anliegen. Zweitens ist nicht klar, dass Unsterblichkeit nur unter dieser Annahme verständlich ist. Und drittens war Descartes nicht der Auffassung, dass alles, was einem guten Christen zu glauben aufgegeben ist, sich begreiflich machen lässt. Welchen theoretischen Vorteil gewinnt Descartes eigentlich dadurch, dass er auf der Immaterialität des menschlichen Geistes besteht? Diese Frage mag merkwürdig klingen, aber man muss sie sich stellen, weil die Lehre von der Immaterialität ja schwer wie ein Mühlstein an Descartes' Philosophie hängt. Wir haben nun allerdings etwas kennen gelernt, für das Descartes den Geist dringend braucht. Der Geist gibt den metaphysischen Ort für alle Dinge ab, an die wir denken. Denken ist für Descartes Dinge-imGeist-Haben. Der Geist ist jener besondere Quasi-Ort, an dem Dinge sich in ihrer objektiven Seinsweise befinden, ohne dass sie gleichzeitig in der materiellen Welt verschwinden müssten. D a f ü r braucht Descartes die Immaterialität des Geistes. Descartes' Konzeption mentaler Repräsentation ist eine Theorie, derzufolge Dinge an mehreren „Orten" zugleich sein können. Wird an einen materiellen Gegenstand gedacht, dann steht das, woran gedacht wird, gleichsam mit einem Fuß im Denken und mit dem andern in der Welt; es befindet sich zugleich in der Immaterialität und der Materialität. Doch dabei ist es ein und dasselbe Ding. Descartes hebt dies verschiedentlich ganz ausdrücklich hervor (AT IV 350, AT VII 102). Es ist ein und dieselbe entitas. Nur ihre gleichzeitigen Seinsweisen sind verschieden. Mit diesem metaphysischen Kunstgriff der Seinsweisen löst Descartes ein Problem auf, das in der Folgezeit und bis auf den heutigen Tag vielerseits als das Hauptproblem der mentalen Repräsentation betrachtet wird: Was macht meinen Gedanken, dass Peter ein Hase ist, zu einem Gedanken an Peter? Für Descartes: nun, eigentlich gar nichts. Im Lichte der Cartesischen Konzeption ist diese Frage einfach falsch gestellt, soweit in ihr vorausgesetzt wird, es müsse außer dem Gedanken an Peter und Peter selbst noch etwas Drittes geben, durch das eine repräsentationale Ver-

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Andreas Kemmerling

bindung zwischen diesen beiden hergestellt würde. Die beiden sind, quasi, identisch. Es gibt schlicht und ergreifend keine besonderen repräsentationalen Beziehungen zwischen einer mentalen Repräsentation und ihrem Repraesentatum. 2.7

Descartes und Locke

Angesichts all dessen mag es uns heute, im Nachhinein, als ziemlich überraschend erscheinen, dass Descartes' Begriff der Idee solch ein grandioser Erfolg beschieden sein konnte. Kaum einer glaubt heute mehr an unterschiedliche Seinsweisen von Entitäten, aber viele sprechen noch immer von mentalen Repräsentationen. Das tat auch schon John Locke, der das Wort „idea" mit all seinen philosophischen Verheißungen und Bequemlichkeiten übernahm, seinen Sinn jedoch ganz und gar unbestimmt ließ. Bereits Locke hatte gar keine Theorie der mentalen Repräsentation mehr, nicht einmal mehr eine unverständliche, wie Descartes. Locke ist, begriffsgeschichtlich gesehen, wohl der eigentliche Groß Verteiler des Terminologie-Pakets „Idee/Bewusstsein". Er hat jedoch, so weit zu sehen ist, die Cartesische Konzeption mentaler Repräsentation schon vergessen oder als inadäquat beiseite gelegt, als er den Essay concerning Human Understanding in seine erste endgültige Fassung bringt, mit dem er diesem Begriffspaar zum bis heute anhaltenden Durchbruch verhilft. Selbst hat er wenig dazu zu sagen, was Ideen ihrem Wesen nach sind. Er gibt keine Definition, und er hat keine Konzeption der allgemeinen Beziehung zwischen einer Idee und dem von ihr Repräsentierten. Dadurch, dass er seinen Ideenbegriff ohne dies beides verwendet, setzt er voraus, dass hinreichend klar sei, was Ideen sind, und entwickelt unter dieser wahrlich bemerkenswerten Voraussetzung seine berühmten Hypothesen darüber, wie Menschen ihre Ideen unterschiedlichster Art erwerben. Statt einer Definition liefert uns Locke reichlich Erläuterungen dazu, was er unter einer Idee versteht: „was auch immer das Verstandesobjekt ist, wenn ein Mensch denkt" (1.1.8); „was auch immer es ist, womit sich der Geist beim Denken beschäftigt" (1.1.8); „die Materialien der Vernunft und des Wissens", „die Materialien

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des Denkens" (II. 1.2); „was auch immer es ist, das der Geist in sich selbst perzipiert oder das unmittelbare Objekt der Perzeption, des Denkens oder Verstandes ist" (II.8.8); „nichts als die nackten Erscheinungen oder Perzeptionen in unserm Geist" (11.32.1). Hinzu kommt eine Fülle erläuternder nominaler Paraphrasierungen, mit denen Locke seine Verwendung des Wortes „idea" je nach Zusammenhang versieht; ich gebe eine kleine Auswahl (ohne den jeweiligen Zusammenhang kenntlich zu machen): „Perzeption"; „Erscheinung" [appearance], manchmal: „nackte Erscheinung"; „Kopie", „Ähnlichkeit" [resemblance], „Bild" [image], „Repräsentation", „like pictures"; „Marke", „Zeichen", „Schriftzeichen" [character]; „Notion", „Apprehension", „Konzeption", „Komponente einer mentalen Proposition"; „Eindruck" [impression], „Wirkung", „Erzeugnis von Dingen, die außerhalb von uns sind", „Sentiment" (IV. 1.4); und schließlich auch „(unmittelbares) Objekt im Geist". - Wer dieses Sammelsurium in eine Definition gießen kann, vermag mehr, als Locke sich selbst zutraute. Außer der unübersichtlich inhomogenen Vielfalt von Assoziationen, die Locke mit seinem Ideenbegriff verband, gab es ein weiteres, theoretisch vielleicht noch einschneidenderes Hindernis, das einer Definition im Wege stand. Er war ganz dezidiert agnostizistisch gegenüber der Frage, ob der Geist („das, was in uns denkt") etwas Materielles oder etwas Immaterielles ist; besonders eindrücklich ist hier der Abschnitt IV.3.6 des Essay. Er könnte also nicht einmal sagen, ob Ideen etwas Materielles oder etwas Immaterielles sind. Wo man schon ganz grundsätzlich nicht weiß, was es mit einer Sache auf sich hat, ist es nur klug, sie gar nicht erst definieren zu wollen. Doch Locke war es nicht nur versagt, seinen Terminus „idea" zu definieren. Er hatte auch keine allgemeine Konzeption der Beziehung, die zwischen einer Idee und dem, was sie repräsentiert, besteht. Mit dem Kern der Cartesischen Konzeption dieser Beziehung die Idee von χ = χ selbst, wie χ objektiv im Geist existiert - konnte er nichts anfangen. In seinem zweiten Brief an Edward Stillingfleet, den Bischof von Worcester, amüsiert Locke sich im Jahre 1699 darüber, wie dieser - in gut cartesianischer Manier - überhaupt

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nur meinen könne, die Kathedrale, an die er denke, sei in seinem Verstand: ob sie dafür nicht ein bisschen zu groß sei.25 Wir dürfen uns heute darüber amüsieren oder jedenfalls wundern, dass Locke, der vermutlich zu etwa derselben Zeit die vierte Auflage seines Essay vorbereitete, darin an prominenter Stelle (im Brief an den Leser) folgenden Zusatz macht: unter einer determinierten Idee verstehe er „ein beliebiges unmittelbares Objekt im Geist, [...] wenn es jederzeit objektiv im Geist und dort determiniert ist". Die cartesoide Wendung in dieser Erläuterung habe ich hervorgehoben; Locke tat das nicht, aber er hat sie wie selbstverständlich benutzt. Den Gehalt dieser Wendung bespöttelt er gegenüber Stillingfleet, aber er gibt ihr keinen eigenen Sinn, wenn er sie verwendet, um damit seinen eigenen Begriff der Idee zu erläutern. Dass Locke selbst keine allgemeine Konzeption der Beziehung zwischen einer Idee und dem von ihr Repräsentierten hatte, sei hier nur mit folgendem knappen Hinweis untermauert. Die Beziehung, die Locke im Falle von Sinnes-Ideen (d.h. Ideen von sinnlich wahrnehmbaren Qualitäten körperlicher Gegenstände) postuliert, ist eine kausalbasierte Zeichen/Angezeigtes-Beziehung (besonders deutlich: IV.21.4). Solch eine Konzeption lässt sich nicht übertragen auf die Ideen der Reflexion, für die Locke überhaupt keine Theorie der Idee/Repräsentiertes-Beziehung zu haben scheint. Und bei den abstrakten Ideen skizziert Locke eine durch und durch andersartige Theorie: Abstrakte Ideen repräsentieren letztlich nur sich selbst (dazu besonders: III.3.12). Für seine drei wichtigsten Arten von Ideen hat Locke keine einheitliche Konzeption der Idee /Repräsentiertes-Beziehung. *

*

*

Descartes gab uns noch beides zu seinem Ideenbegriff: erstens eine Definition und zweitens eine Erläuterung dessen, worin ganz allgemein die theoretisch entscheidende Beziehung besteht, dank der eine Idee gerade das repräsentiert, was sie repräsentiert. Locke übernimmt von Descartes den Terminus technicus „idea". Mit all dem, was er 2i

John Locke, Works, hrsg. von Thomas Tegg, London 1823, Band 4, S. 390 f.

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an theoretischen Bequemlichkeiten verheißt. Er gibt uns aber schon beides nicht mehr, was wir bei Descartes noch finden. Er präsentiert weder eine Definition noch eine einheitliche Konzeption des begrifflich Entscheidenden: der Idee/Repräsentiertes-Beziehung. Descartes' Ideenbegriff hat noch das Erfreuliche an sich, (wenn auch vielleicht nur ironisch, so doch immerhin explizit) definiert und überdies theoretisch aus scheinbar einem Guss entwickelt zu sein. Zugleich hat er das Bedauerliche an sich, dass Definition und theoretische Entwicklung unverständlich oder jedenfalls bis in den Kern hinein von Inkohärenz bedroht sind. Locke bringt mit seinem Begriff der Idee einige Neuerungen, unter anderm das Unerfreuliche, ihn ohne Definition und auch ohne Aussicht auf eine einheitliche Konzeption der Idee/Repräsentiertes-Beziehung zu lassen. Der inhaltliche Nachteil dabei ist: Lockes Ideenbegriff kommt ohne eine theoretisch greifbare Festlegung einher. Der begriffsgeschichtliche Vorteil gegenüber Descartes dabei war: vermutlich genau dasselbe. Erst Lockes Begriff der Idee - eigentlich kein Begriff mehr, sondern nur ein beständig und mit dem Gestus der Selbstverständlichkeit gebrauchtes Wort, mit dem man sich auf nichts festlegt und vielerlei verheißt - , hatte dann das Zeug zum grandiosen philosophischen Erfolg.26

Literatur Ariew, Roger/Grene, Marjorie (Hrsg.), 1995, Descartes and his Contemporaries. Meditations, Objections, and Replies, Chicago and London: The University of Chicago Press. Baker, Gordon/Morris, Katherine J. (Hrsg.), 1996, Descartes' Dualism, London and New York: Routledge. Chappell, Vere, 1986, The Theory of Ideas, in: Oksenberg Rorty, Amelie (Hrsg.), Essays on Descartes' Meditations, Berkeley: University of California Press, 177-98. - , 1997, Descartes's Ontology. Topoi 16, 1997, 1-17. 26

Dank an Judith Eckfelder, Tobias Rosefeldt und Uli Vogel für hilfreiche Anmerkungen zu einer früheren Fassung des ersten Teils dieser Arbeit.

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Cottingham, John, 1986, Descartes, Oxford: Blackwell. Gaukroger, Stephen, 1995, Descartes: An Intellectual Biography, Oxford: Clarendon Press. Frankfurt, Harry G., 1970, Demons, Dreamers, and Madmen, Indianapolis: Bobbs-Merrill. Gueroult, Martial, 1953, Descartes selon Vordre des raisons, Paris: Montaigne. Kemmerling, Andreas, 1996, Ideen des Ichs. Studien zu Descartes' Philosophie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Kemmerling, Andreas/Schütt, Hans-Peter (Hrsg.), 1996, Descartes nachgedacht, Frankfurt a.M.: Klostermann. Markie, Peter, 1986, Descartes's Gambit, Ithaca: Cornell University Press. Perler, Dominik, 1996, Repräsentation bei Descartes (= Philosophische Abhandlungen 68), Frankfurt a.M.: Klostermann. Schütt, Hans-Peter, 1990, Substanzen, Subjekte und Personen. Eine Studie zum Cartesischen Dualismus, Heidelberg: Manutius Verlag. Specht, Rainer, 1966, Commercium mentis et corporis: Über Kausalvorstellungen im Cartesianismus, Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann. Williams, Bernard, 1978, Descartes: The Project of Pure Enquiry, Harmondsworth: Penguin. Wilson, Margaret D., 1978, Descartes, London: Routledge &c Kegan Paul. - , 1999, Ideas and Mechanism. Essays on Early Modern Philosophy, Princeton, New Jersey: Princeton University Press.

Die Obskurität des Geistes Zum Problem der Selbsterkenntnis bei Malebranche D O M I N I K PERLER

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Malebranches Obskuritätsthese

Kennen wir unseren eigenen Geist? Auf diese Frage scheint es eine einfache Antwort zu geben: Natürlich kennen wir unseren eigenen Geist, denn die meisten unserer geistigen Akte und Zustände (wenn vielleicht auch nicht alle) sind uns unmittelbar präsent. Dies gilt für nicht-intentionale Akte und Zustände ebenso wie für intentionale. Wenn ich etwa niedergeschlagen bin, ist mir mein Zustand der Niedergeschlagenheit unmittelbar präsent; und wenn ich mich an den letzten Urlaub erinnere, ist mir mein Akt der Erinnerung mit seinem spezifischen Inhalt ebenfalls unmittelbar präsent. Genau durch diese Präsenz, über die ich mich nicht täuschen kann, unterscheidet sich der epistemische Zugang zum eigenen Geist von demjenigen zum Geist einer anderen Person. Denn ich kann lediglich das Verhalten einer anderen Person beobachten und annehmen, dass es - genau wie mein eigenes Verhalten - durch bestimmte geistige Akte und Zustände ausgelöst wurde. Doch ich habe keinen unmittelbaren Zugriff auf fremde geistige Akte und Zustände. Daher verfüge ich höchstens über eine indirekte Kenntnis von einem fremden Geist. Von meinem eigenen Geist hingegen habe ich eine direkte, durch keine Annahmen oder Überlegungen vermittelte Kenntnis, weil mir meine eigenen Akte und Zustände direkt präsent sind. Aufgrund dieser Präsenz kenne ich nicht beliebige Aspekte oder Merkmale des Geistes, sondern das, was meinen Geist auszeichnet. Diese scheinbar einfache, nahe liegende Antwort erweist sich bei näherer Betrachtung allerdings als problematisch, denn sie ist Aus-

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druck einer impliziten Theorie des Geistes, die auf mindestens vier Thesen beruht. Erstens geht eine solche Theorie von einer Transparenzthese aus. Der eigene Geist wird - mit R. Rorty gesprochen - als ein „gläsernes Wesen" aufgefasst, das derart transparent ist, dass seine Bestandteile (die einzelnen Akte und Zustände) unmittelbar gegeben sind und gleichsam mit einem inneren Auge erfasst werden können. 1 Zweitens nimmt diese Theorie eine Untrüglichkeitsthese an. Es wird behauptet, dass hinsichtlich der Präsenz der eigenen Akte und Zustände (einschließlich ihres spezifischen Inhalts) kein Irrtum möglich ist, und zwar unabhängig davon, ob und wie die materielle Welt präsent ist. Drittens wird auch eine Asymmetriethese postuliert, denn es wird behauptet, der eigene Geist könne ganz anders erkannt werden als ein fremder Geist. Viertens schließlich wird eine Essentialismusthese angenommen. Es wird nämlich argumentiert, der unmittelbare Zugang zu den eigenen geistigen Akten und Zuständen ermögliche eine Kenntnis von dem, was den eigenen Geist auszeichnet: von dessen Natur oder Wesen. Diese vier Thesen sind in der neueren Debatte bekanntlich mehrfach unter Beschuss geraten.2 Sie sind allerdings nicht nur Ausdruck einer impliziten Theorie, die man Schritt für Schritt widerlegen könnte, sondern Bestandteil eines tief greifenden „Mythos des Geistes", wie D. Davidson treffend festgestellt hat. 3 Als Quelle dieses Mythos wird meistens der Cartesianismus angegeben, der die philosophischen Debatten seit dem 17. Jh. beherrscht, und zwar so hartnäckig, dass er auch nach der Überwindung des Substanzendualismus weiter wirksam bleibt. Denn selbst wenn im Zuge der Naturalisierung des Geistes argumentiert wird, geistige Akte und Zustände dürften keiner immateriellen Substanz zugeschrieben 1 2

3

Vgl. Rorty, 1980, 17-69. Besonders die Transparenz- und die Untrüglichkeitsthese sind unter zunehmendem Einfluss externalistischer Theorien ins Kreuzfeuer der Kritik geraten. Vgl. einen konzisen Überblick in der Einleitung zu Cassam, 1994. Vgl. Davidson, 1988. In Davidson, 1987 (Nachdruck in Cassam, 1994,61) spricht er von einem „picture of the mind which has become so ingrained in our philosophical tradition that it is almost impossible to escape its influence even when its worst faults are recognized and repudiated."

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werden, wird teilweise immer noch angenommen, man könne die Natur des eigenen Geistes durch die unmittelbare und untrügliche Präsenz der eigenen Akte und Zustände kennen. Betrachtet man die Geschichte des Cartesianismus, zeigt sich jedoch, dass der Mythos (oder zumindest ein Teil davon) bereits sehr früh angegriffen wurde. Nicolas Malebranche, der Descartes sonst in vielen Punkten folgte, hielt dezidiert fest: „... wenn wir auch die Existenz unserer Seele viel deutlicher kennen als die Existenz unseres Körpers sowie der uns umgebenden Körper, haben wir doch keine so vollkommene Kenntnis von der Natur der Seele wie von der Natur der Körper ..." 4 Die Natur oder das Wesen des eigenen Geistes, behauptet Malebranche, ist uns unbekannt, denn wir verfügen über keine klare Idee von dieser Natur.5 Wir können höchstens feststellen, dass wir einen Geist haben, wir wissen aber nicht, was er ist. Der Geist ist etwas Obskures, das uns in seiner Natur epistemisch nicht zugänglich ist. Diese These ist für einen Cartesianer äußerst erstaunlich. Im Titel der Zweiten Meditation hält Descartes nämlich explizit fest, dass uns die Natur des Geistes nicht nur bekannt ist, sondern dass sie uns sogar besser bekannt ist als jene des Körpers.6 Warum greift Malebranche diese These an? Und mit welchen Argumenten bekämpft er sie? Diesen Fragen möchte ich im Folgenden nachgehen, indem ich zunächst die Cartesische These erläutere und die Schwierigkeiten darstelle, die sie aufwirft (Abschnitte 2-3). Danach werde ich Malebranches Kritik untersuchen und dabei vor allem die impliziten Annahmen analysieren, die ihr zugrundeliegen (Abschnitte 4-5). Schließlich möchte ich verdeutlichen, welche Konsequenzen sich aus dieser Kritik für eine Konzeption des Geistes ergeben (Abschnitt 6). 4

5

6

De la recherche de Ια νέήίέ (= Recherche) III, 2, vii (OC I, 451). Sämtliche Übersetzungen aus dem Französischen und Lateinischen stammen vom Verfasser. Vgl. Recherche, Eclaircissement X und XI (OC III, 151 und 163); Meditations chretiennes et mitaphysiques IX, 19-20 (OC X , 103f.); Entretiens sur la metaphysique III, 7 (OC XII, 67). Vgl. II. Med. (AT VII, 23).

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Denkakte und denkendes Ding

Auf die Frage, worin die Natur des eigenen Geistes bestehe, scheint es im Rahmen der Cartesischen Theorie eine simple Antwort zu geben. Nachdem Descartes festgestellt hat, dass einzig und allein die eigenen geistigen Akte und Zustände unbezweifelbar sind, stellt er nämlich fest: „Was bin ich also? Ein denkendes Ding. Was ist das? Etwas, das zweifelt, versteht, bejaht, verneint, will, nicht will, das auch Vorstellungen und Empfindungen hat." 7 Offensichtlich zeichnet sich der Geist dadurch aus, dass er ein denkendes Ding ist, und zwar ausschließlich ein derartiges Ding. Genau darin besteht seine besondere Natur. Da im Falle des eigenen Geistes die einzelnen Denkakte (Zweifeln, Verstehen, Bejahen usw.) unbezweifelbar gegeben sind, lässt sich die Natur des eigenen Geistes auch unbezweifelbar erkennen. Gegen diese Argumentation lassen sich freilich zahlreiche Einwände vorbringen. So könnte man einwenden, dass aus einer epistemischen Feststellung (nämlich dass die eigenen Denkakte unbezweifelbar gegeben sind) nicht einfach eine metaphysische These (nämlich dass die Natur des Geistes ausschließlich im Denken besteht) abgeleitet werden darf. Es könnte ja sein, dass zwar nur die eigenen Denkakte unbezweifelbar gegeben sind, aber trotzdem noch andere Merkmale zur Natur des Geistes gehören - Merkmale, die uns aufgrund unserer beschränkten kognitiven Fähigkeiten verborgen sind.8 Überdies ließe sich einwenden, dass Descartes das Denken erstaunlich weit fasst, wenn er auch das Empfinden (sentire) dazu zählt. Normalerweise wird das Empfinden nicht einfach als eine Form von Denken aufgefasst, sondern als eine Tätigkeit oder ein Zustand, der auch körperliche Komponenten aufweist. Selbst wenn man diese Einwände zurückstellt, bleibt indessen noch ein Problem bestehen. Descartes geht nämlich von der Prämisse 7 8

II. Med. (AT VII, 28). Darauf wies bereits Arnauld in seinen Einwänden hin; vgl. IV. (AT VII, 2 0 1 - 2 0 2 ) .

Objectiones

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(Ρ) Es ist unbezweifelbar, dass ich denke aus und leitet aus ihr die These (Tl)Es ist unbezweifelbar, dass ich ein denkendes Ding bin ab. Da er das Referenzobjekt von ,ich' mit seinem Geist gleichsetzt, gilt (T2)Es ist unbezweifelbar, dass mein Geist ein denkendes Ding ist. Doch warum folgt aus der Unbezweifelbarkeit der eigenen Denkakte, dass der eigene Geist ein denkendes Ding ist? Aus der Prämisse scheint höchstens zu folgen, dass der eigene Geist eine Menge von Denkakten ist. (T2) ergibt sich nur, wenn eine weitere Prämisse eingeführt wird, nämlich (P*) Denkakte sind ohne ein Ding, von dem diese Akte vollzogen werden, nicht möglich. Offensichtlich geht Descartes von der Überlegung aus, dass es keine gleichsam frei schwebenden Denkakte geben kann. Akte bedürfen immer eines Trägers, genauer: einer Substanz, deren Modifikationen (modi) sie sind.9 Daher kann der eigene Geist nicht einfach eine Menge von Denkakten sein. Er muss eine Substanz sein, in der all die unbezweifelbaren Akte existieren. Nur mithilfe der zusätzlichen Prämisse (P*) kann Descartes (T2) verteidigen. (P*) ist jedoch eine substanztheoretische Prämisse, die keineswegs aus dem Argumentationsgang der Ersten Meditation hervorgeht und für die sich auch in der Zweiten Meditation kei9

In Principia philosopbiae I, 56 (AT VIII-1, 2 6 ) hält Descartes fest, die Modi seien das, wodurch eine Substanz „affiziert oder variiert" werde. In der neueren Forschung ist teilweise bestritten worden, dass die Relation zwischen der affizierten Substanz und dem affizierenden Modus einfach eine Ding-Eigenschaft-Relation ist. So behauptet Secada 2 0 0 0 , 1 8 9 - 1 9 4 , die Substanz sei vielmehr etwas durch den Modus Determinierbares; hier liege eine Relation zwischen Determinierbarem und Determinierendem vor. Selbst wenn man die Relation in diesem Sinne versteht, bleibt die Tatsache bestehen, dass Descartes eine zusätzliche Prämisse annimmt: Es gibt nicht nur die einzelnen Modi, sondern auch etwas, was sie determinieren, und dieses Determinierbare ist eine Substanz.

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ne Begründung findet. Warum sollte (P*) vom radikalen Zweifel der Ersten Meditation ausgenommen sein? Descartes könnte doch daran zweifeln, dass seine Denkakte eines Dinges als ihres Trägers bedürfen. Könnte es nicht sein, dass der böse Dämon nur einzelne Denkakte in ihm erzeugt, ohne dass er auf ein Ding als deren Träger angewiesen ist? Könnte es nicht sein, dass Descartes' Geist nichts anderes ist als eine Menge von Denkakten? Nicht erst Hume wurde darauf aufmerksam, dass Descartes von einer versteckten substanztheoretischen Prämisse Gebrauch macht. Bereits Malebranche stellte fest, dass sich (T2) nur dann aufrechterhalten lässt, wenn auch (P*) angenommen wird. Er deutete diese Prämisse als die metaphysische Annahme „Das Nichts hat keine Eigenschaften" („Le neant n'a point de proprietes"). Das heißt: Eigenschaften (oder Akte, Zustände) können nur existieren, wenn es ein Ding gibt, dessen Eigenschaften sie sind; sie sind unselbständige Entitäten. Doch solange diese Prämisse nicht begründet wird, ist die These, dass der eigene Geist ein Träger für alle Denkakte und somit ein denkendes Ding ist, bloße Spekulation. Malebranche stellte daher kritisch fest: „Das Nichts hat keine Eigenschaften. Ich denke. Also bin ich. Aber was bin ich, der ich denke, solange ich denke? Bin ich ein Körper, ein Geist, ein Mensch? Ich weiß noch nichts von alledem."10 An dieser Aussage ist nicht nur bemerkenswert, dass Malebranche die metaphysische Annahme „Das Nichts hat keine Eigenschaften" und nicht etwa die berühmte Feststellung „Ich denke" an erster Stelle erwähnt. Mindestens so interessant ist die Schlussfolgerung, die er zieht: Selbst wenn man von der - zunächst unbegründeten - metaphysischen Annahme ausgeht, folgt daraus noch nicht die Einsicht, dass der Träger für die unbezweifelbar festgestellten Eigenschaften und Akte der Geist (und nicht etwa der Mensch als Geist-Körper-Verbindung) ist. Denn wie kann Descartes in der Zweifelssituation wissen, dass ausschließlich der Geist der erforderliche Träger ist? Könnte es nicht sein, dass für bestimmte Eigenschaften und Zustände (z.B. für Sinnes Wahrnehmungen) die 10

Entretiens sur la metapbysique

I (OC XII, 32).

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Existenz des Körpers erforderlich ist, auch wenn es dem Zweifelnden scheint, er könne von der Existenz des Körpers absehen? Indem Malebranche die metaphysische Annahme dem „Ich denke" voranstellt, macht er zudem darauf aufmerksam, dass die bloße Unbezweifelbarkeit des eigenen Denkens nicht die These rechtfertigt, dass es ein denkendes Ding gibt (sei dies nun ein reiner Geist, ein Körper oder eine Verbindung aus beiden). Wer sich auf das beschränkt, was unbezweifelbar gegeben ist, kann nur auf die eigenen Denkakte verweisen. Descartes ist also nur zu Aussagen wie „Es ist unbezweifelbar, dass es einen Zweifelsakt gibt, solange ich zweifle" oder „Es ist unbezweifelbar, dass es einen Vorstellungsakt gibt, solange ich mir etwas vorstelle" berechtigt. Doch er darf nicht behaupten „Es ist unbezweifelbar, dass ich ein denkendes Ding bin". Vielleicht ist der Geist ja nur eine Ansammlung von Akten und Zuständen. Malebranche zufolge lässt sich aus der - auch für ihn unstrittigen - Unbezweifelbarkeit der eigenen Denkakte keine Erkenntnis gewinnen im Hinblick auf die Natur des eigenen Geistes. Das eigene Zweifeln, Vorstellen, Vermuten usw. verweist nur auf die Existenz des Geistes, oder vorsichtiger ausgedrückt: des Geistigen. Es gibt aber keinen Aufschluss über die Natur des Geistigen. Diese bleibt uns auch dann verborgen, wenn wir uns auf das konzentrieren, was uns unbezweifelbar gegeben ist.11

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Verwendung des Geistes - Erkenntnis des Geistes

Wenn der Ansatz beim berühmten „Cogito" auch scheitert, scheint es doch noch einen anderen Weg zu geben, der zu einer Erkenntnis der Natur des eigenen Geistes führt. In der Zweiten Meditation hält Descartes nämlich nach der Diskussion des Wachs-Beispiels fest: n

In dieser Argumentation zeigt sich deutlich ein „Zerfall des Cogito", wie Gueroult, 1955, 60, zu Recht festgestellt hat. Das Cogito ist nicht mehr ein erstes Prinzip (es setzt ja die substanztheoretische Prämisse voraus) und verhilft nicht zu einer sicheren Erkenntnis, die über die Feststellung einzelner Denkakte hinausgeht.

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„Wenn mir nun aber das Erfassen des Wachses deutlicher erschien, nachdem es mir nicht allein durch den Gesichts- oder den Tastsinn bekannt wurde, sondern durch mehrere Ursachen, muss man wohl zugeben, dass ich mich selber noch viel deutlicher erkenne. Denn alle Gründe, die zum Erfassen des Wachses oder irgendeines anderen Körpers beitragen, beweisen noch viel besser die Natur meines Geistes." 12 Die Begründung, die Descartes im letzten Satz anführt, erscheint zunächst nicht überzeugend. Warum sollten jene Gründe, die zur Verdeutlichtung der Natur eines Körpers angeführt wurden, auch zeigen, worin die Natur des Geistes besteht? In der Diskussion des Wachs-Beispiels erläutert Descartes ja nur, dass die Natur eines Körpers nicht durch eine Wahrnehmung erfasst werden kann, auch nicht durch eine Vorstellung, sondern einzig und allein durch eine „Betrachtung des Geistes"; denn nur eine solche Betrachtung liefert eine klare und deutliche Idee von einem Körper als einem ausgedehnten Ding. 13 Indem man eine solche Idee gewinnt, verfügt man jedoch noch nicht über eine Idee vom eigenen Geist. Daher erfasst man dadurch auch nicht die Natur des eigenen Geistes. Descartes' Begründung bedarf offensichtlich ihrerseits einer Begründung, wenn sie eine Überzeugungskraft haben soll. Betrachtet man die gesamte Argumentationslinie in der Diskussion des WachsBeispiels 14 , lässt sich folgende Begründungsstrategie erkennen: (1)

(2) (3) (4)

12 13 14

Ich kann die Natur eines Körpers weder mit den Sinnen noch mit der Vorstellungskraft erkennen, sondern einzig und allein mit dem Geist. Etwas mit dem Geist erkennen heißt nichts anderes, als etwas mittels geistiger Akte erkennen. Die Natur des Geistes besteht in nichts anderem als im Denken, d. h. im Vollziehen geistiger Akte. Also kann ich die Natur eines Körpers nur erkennen, indem ich die Natur des Geistes einsetze.

II. Med. (AT VII, 33). Vgl. II. Med. (AT VII, 31). Vgl. II. Med. (AT VII, 30-33).

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(5) Also muss mir die Natur des Geistes schon bekannt sein, wenn ich sie doch einsetzen muss, um die Natur eines Körpers zu erkennen. (6) Also muss mir die Natur des Geistes mindestens ebenso gut wenn nicht sogar besser und früher bekannt sein als die Natur eines Körpers. Ist diese Begründungsstrategie überzeugend? Sie geht natürlich von verschiedenen Prämissen aus, die zu Diskussionen Anlass geben können. So kann man sowohl (1) als auch (3) infrage stellen. Es ist nämlich keineswegs selbstverständlich, dass die Sinneswahrnehmung für das Erkennen der Natur eines Körpers keine Rolle spielen soll; über diese anti-empiristische Prämisse lässt sich streiten.15 Es ist auch nicht selbstverständlich, dass die Natur des Geistes in nichts anderem als im Denken bestehen soll; diese intellektualistische Prämisse lässt sich ebenfalls anfechten. 16 Doch selbst wenn diese starken Prämissen angenommen werden (Descartes glaubt, dass er in der Zweiten Meditation überzeugend für sie argumentiert hat) 17 , stellt sich immer noch die Frage, ob (6) überzeugend gezeigt ist. Folgt aus den Prämissen tatsächlich, dass die Natur des Geistes ebenso gut wenn nicht sogar besser und früher bekannt sein muss als jene des Körpers? Dieser Schluss ist kaum überzeugend, weil die Argumentation einen schwachen Punkt aufweist: Aus (4) folgt nicht (5). Dies lässt sich zunächst anhand eines modernen Beispiels verdeutlichen. Angenommen, ein Biologe möchte die besondere Natur eines noch unbekannten Virus bestimmen. Dies gelingt ihm sicherlich nicht, wenn er das Virus mit bloßem Auge oder mit einem Lichtmik15

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17

Bereits Gassendi bemerkte, ihm sei unverständlich, was unter einer Betrachtung des „reinen Geistes" zu verstehen sei und wozu diese - ohne Mithilfe der Sinne oder der Vorstellungskraft - imstande sei. Vgl. V. Obj. (AT VII, 272). Wie in der modernen Diskussion bereits verschiedene Interpreten (vgl. Wilson, 1 9 7 8 , 83; Williams, 1 9 7 8 , 2 2 2 ) bemerkt haben, ist die anti-empiristische These höchstens dann verständlich, wenn Descartes einzig und allein auf das Erfassen des Begriffs von einem Körper (nicht auf das Erfassen des konkreten Wachsstücks) abzielt. Bereits Hobbes griff sie in III. Obj. (AT VII, 1 7 2 - 1 7 4 ) von einem materialistischen Standpunkt aus an. Er argumentiert für (1) in II. Med. (AT VII, 3 0 - 3 1 ) und für (2) ibid. (AT VII, 28).

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roskop betrachtet. Er muss es unter einem Elektronenmikroskop untersuchen, das sich seinerseits durch eine bestimmte Natur - oder technischer ausgedrückt: durch ein bestimmtes Konstruktionsprinzip - auszeichnet. Es gilt also, dass der Biologe die Natur des Virus nur erkennen kann, wenn er sich des Elektronenmikroskops bedient, das nach einem bestimmten Konstruktionsprinzip gebaut ist. Heißt dies, dass er dieses Konstruktionsprinzip bereits kennen muss? Keineswegs. Er muss nicht über ingenieurtechnische Spezialkenntnisse verfügen, sondern lediglich in der Lage sein, das Elektronenmikroskop korrekt anzuwenden. Die Tatsache, dass sich das Mikroskop durch ein bestimmtes Konstruktionsprinzip auszeichnet und dass es nur mit diesem Prinzip zur Anwendung kommen kann, hat nicht zur Folge, dass das Konstruktionsprinzip dem Anwender auch bekannt sein muss. Ähnlich gilt nun auch für die Natur des Geistes: Die Tatsache, dass sich der Geist durch eine bestimmte Natur auszeichnet (nämlich denkend zu sein) und dass er nur mit dieser Natur zur Anwendung kommen kann (nämlich wenn er die Natur eines Körpers erkennt), hat nicht zur Folge, dass diese Natur dem Anwender auch bekannt sein muss. Jemand kann sehr wohl denken, ohne zu wissen, dass die Natur seines Geistes im Denken besteht. Der Fehler in der Argumentation besteht darin, dass aus einer metaphysischen Tatsache (der Geist zeichnet sich durch eine bestimmte Natur aus und kann nur mit dieser zur Anwendung kommen) einfach eine epistemische abgeleitet wird (die Natur des Geistes muss dem Anwender bekannt sein). Dass hier ein Fehler vorliegt, bemerkte bereits Pierre Gassendi. In seinen Einwänden wies er darauf hin, Descartes sei aufgrund der Argumentation in der Zweiten Meditation höchstens zur Behauptung berechtigt, dass sein Geist existiert. Denn wenn die Natur eines Körpers tatsächlich erkannt werde und dies nur mit dem Geist gelinge, müsse der Geist existieren. Descartes sei aber keineswegs zur weiteren Behauptung berechtigt, dass er auch die Natur seines Geistes kenne, ja diese sogar noch besser kenne als jene eines Körpers.18 Um diese These 18

Vgl. V Obj. (AT VII, 2 7 5 ) . Siehe auch Disquisitio Metaphysica, VIII (Opera III, 3 1 1 - 3 1 4 ) .

dubitatio

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plausibel zu machen, müsste er eine Analyse seines Geistes liefern. Gassendi verglich diese mit einer Analyse von Wein. Wenn wir die Natur des Weines bestimmen wollen, müssen wir dessen Bestandteile untersuchen und herausfinden, aus welchen Flüssigkeiten er sich zusammensetzt und in welchem Verhältnis diese miteinander vermischt sind. Ähnlich müssten wir auch die Bestandteile des Geistes untersuchen, wenn wir dessen Natur bestimmen wollten. Daher müsste Descartes sich selber „gleichsam nach einer chemischen Methode" untersuchen, um „uns die innere Substanz aufdecken und vorzeigen zu können." 19 Mit dieser Aufforderung zielte Gassendi offensichtlich auf den Punkt ab, dass die Anwendung des Geistes in konkreten Situationen nur die Existenz des Geistes verdeutlicht. Um darüber hinaus dessen Natur zu erkennen, muss man eine gesonderte Untersuchung anstellen und den Geist gleichsam im Labor prüfen. Descartes kam Gassendis Aufforderung freilich nicht nach. Mit der Bemerkung, man könne den Geist doch nicht mittels einer chemischen Methode untersuchen, wies er sie schroff zurück. Er berief sich auf folgende Methode: „... was mich betrifft, so habe ich niemals geglaubt, dass man etwas anderes braucht, um eine Substanz zu ermitteln, als deren verschiedene Attribute; je mehr Attribute einer Substanz wir erkennen, desto vollkommener erkennen wir deren Natur."20 Auf den Geist angewendet heißt dies: Je mehr Attribute des Geistes wir erkennen, desto besser erfassen wir dessen Natur. 21 Wir erkennen aber zahlreiche Attribute, noch dazu auf unmittelbare und untrügliche Weise. Denn wann immer wir mit Bezug auf das Wachsstück etwas erkennen (dass es weiß ist, dass es hart ist usw.), erkennen wir auch Attribute des Geistes (dass er die Fähigkeit hat, Weiße zu erkennen, dass er die Fähigkeit hat, Härte zu erkennen usw.). Also erkennen wir auch die Natur des Geistes. 19 20 21

Vgl. V Ob). (AT VII, 277). V Resp. (AT VII, 360). Da Descartes ausdrücklich von „attributa" (im Plural) spricht, hat er hier nicht einfach das wesentliche Attribut des Geistes im Auge, sondern dessen Eigenschaften. In Principia philosophiae I, 11 (AT VIII-1, 8) redet er daher auch von „affectiones sive qualitates".

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Dies ist freilich keine befriedigende Erwiderung auf Gassendis Einwand. Zunächst fällt auf, dass Descartes dem Geist plötzlich die Fähigkeit zuschreibt, Sinneseigenschaften zu erkennen. Doch wie soll dies durch eine Betrachtung des „reinen Geistes" möglich sein? Dadurch kann höchstens die Ausdehnung als das wesentliche Attribut erkannt werden. Um die Weiße oder die Härte eines Wachsstückes zu erkennen, ist der Geist immer auf die Sinne angewiesen. Daher lässt sich die Fähigkeit, Weiße oder Härte zu erkennen, höchstens dem Geist zusammen mit den Sinnen zuschreiben. Dies bedeutet freilich, dass sich mithilfe der vorgeschlagenen Methode die Natur des Geistes nur bestimmen lässt, insofern dieser zusammen mit den Sinnen tätig ist. Noch bedenklicher ist aber die Tatsache, dass Descartes mit dieser Methode einen rein quantitativen Zugang zum Geist wählt. Er fordert ja, dass wir möglichst viele Attribute erkennen sollen, um die Natur des Geistes möglichst genau erfassen zu können. Ein solches Vorgehen hat zur Folge, dass es höchstens eine graduelle Annäherung an ein vollständiges Erfassen gibt. Könnte es aber nicht sein, dass jemand nur eine beträchtliche Anzahl von Attributen erfasst, jedoch genau jene außer Acht lässt, die für die Natur des Geistes entscheidend sind? Der Vergleich mit dem Elektronenmikroskop mag diesen Punkt wiederum verdeutlichen. Angenommen, der Biologe kann zahlreiche Attribute des Mikroskops aufzählen, ζ. B. dass es ein bestimmtes Baujahr hat, eine bestimmte Größe aufweist und grau ist. Da der Biologe aber über keine ingenieurtechnischen Kenntnisse verfügt, kann er genau jene Attribute nicht beschreiben, die für das Konstruktionsprinzip des Mikroskops relevant sind. Daher ist er nur imstande, gleichsam oberflächliche Attribute aufzuzählen. Selbst wenn er eine große Anzahl auflistet, gewinnt er dadurch keine Kenntnis vom spezifischen Konstruktionsprinzip. Könnte es sich mit dem Geist nicht ähnlich verhalten? Vielleicht sind wir nur in der Lage, eine große Anzahl von oberflächlichen Attributen aufzuzählen, uns entgehen aber genau jene, die für die Natur des Geistes relevant sind. Dieser Einwand lässt sich nur widerlegen, wenn gezeigt wird, dass alle Attribute, die wir aufzählen, immer auf das wesentliche Attribut des Geistes verweisen und dass genau in diesem Attribut die Natur des Geistes besteht. Doch

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einen solchen Nachweis bleibt Descartes mit seiner quantitativen Methode schuldig.22 Der Cartesische Ansatz wirft offensichtlich ein Problem auf. Wenn wir uns auf das beschränken, was uns unmittelbar und unbezweifelbar gegeben ist, können wir nur die Existenz des eigenen Geistes feststellen.23 Wir können lediglich konstatieren, dass genau dann, wenn wir etwas erkennen, vermuten, annehmen usw., die jeweilige geistige Tätigkeit und damit auch der Geist existiert. Aber wir sind nicht zur Behauptung berechtigt, dass wir dadurch auch die Natur des Geistes erkennen. Dazu wären wir erst berechtigt, wenn wir den Geist analysiert hätten. Da wir den Geist aber nicht in Bestandteile zerlegen und im strengen Sinne analysieren können (er ist etwas Einfaches und Unteilbares, wie Descartes betont) 24 , scheint es prinzipiell unmöglich zu sein, die Natur des Geistes zu erkennen. 4

Wissen durch „inneres Gefühl" und begriffliches Wissen

Angesichts dieses Fazits ist es nicht erstaunlich, dass Malebranche behauptete, wir könnten höchstens wissen, dass der eigene Geist existiert, nicht aber, was dessen Natur ist. Doch Malebranche begnügte sich nicht damit, auf eine Aporie in der Cartesischen 22

23

24

Auch Wilson, 1 9 7 8 , 9 6 , bemerkt, „a simplistically quantitative conception" sei kaum überzeugend. Sie weist zudem darauf hin, dass eine seltsame Disanalogie zwischen dem Erkennen der Natur des Geistes und dem Erkennen der Natur eines Körpers besteht. Im ersten Fall muss eine möglichst lange Liste von Attributen erstellt werden, im zweiten Fall hingegen muss - wie das Wachs-Beispiel verdeutlicht - von zahlreichen Attributen abgesehen und nur ein Attribut, nämlich die Ausdehnung, bestimmt werden. Descartes würde überzeugender argumentieren, wenn er behauptete, dass auch im ersten Fall von einer Liste abgesehen und nur ein Attribut, das Denken, bestimmt werden sollte. Streng genommen können wir nur die Existenz eigener geistiger Akte und Zustände feststellen. Da Descartes aber von den in Abschnitt 2 genannten Prämissen ausgeht, (i) dass es geistige Akte und Zustände ohne einen Träger nicht gibt und (ii) dass es für die eigenen geistigen Akte und Zustände genau einen Träger gibt, geht er in II. Med. (AT VII, 2 7 ) sogleich zur Feststellung über, dass die Existenz eines denkenden Dinges unbezweifelbar ist. Vgl. Med., Synopsis (AT VII, 13f.); VI. Med. (AT VII, 85f.)

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Position hinzuweisen. Er führte auch mehrere Argumente an, um seine Behauptung zu stützen. Ein erstes Argument zielt auf die simple Tatsache ab, dass zahlreiche Menschen ihren Geist nicht kennen. Wenn sie gefragt würden, worin dessen Natur besteht, könnten sie keine Antwort geben oder sie würden diese Natur mit jener des Körpers verwechseln. Daher lässt sich Malebranche zufolge kaum behaupten, die Natur des Geistes sei uns Menschen ebenso gut oder sogar besser bekannt als jene des Körpers.25 Dieses Argument lässt sich aus Cartesischer Sicht freilich leicht widerlegen. Denn Descartes' These besagt nicht einfach, dass jeder Mensch in jeder Situation die Natur seines Geistes erkennt und sie von derjenigen des Körpers zu unterscheiden vermag; sie weist nicht auf eine anthropologische Konstante hin. Die Natur des Geistes wird nur dann erkannt, (i) wenn man sich auf das beschränkt, was unbezweifelbar gegeben ist, (ii) wenn man einsieht, dass dies nichts anderes als die Menge der eigenen Denkakte ist, und (iii) wenn man weiter einsieht, dass die Natur des Geistes genau darin besteht, derartige Akte zu vollziehen. Es ist also eine gewisse kognitive Leistung erforderlich, damit die Natur des Geistes tatsächlich erkannt wird. Descartes betont daher, man dürfe seine These nicht isoliert betrachten, sondern müsse sie im Kontext des ganzen Gedankenganges (dem „ordre des raisons") evaluieren.26 Nur wer bereits mehrere Schritte auf diesem Gang zurückgelegt und eingesehen hat, dass die drei genannten Bedingungen erfüllt sein müssen, ist imstande, die Natur seines Geistes zu erkennen. Des Weiteren ist zu bemerken (auch wenn dies Descartes nicht explizit festhält), dass man hier sorgfältig zwischen Denkakten erster und zweiter Stufe unterscheiden muss. „An die Sonne denken", „an ein Dreieck denken" oder „an Gott denken" sind Akte erster Stufe, die jeder Mensch aufgrund seiner natürlichen kognitiven 25 26

Vgl. Recherche, Eclaircissement XI (OC III, 170). Es handelt sich dabei um eine allgemeine methodologische Maxime, die nicht nur für diese These gilt. Vgl. den Brief an Mersenne vom 24. 12. 1640 (AT III, 266f.). Bereits in den frühen Regulae ad directionem ingettii 12 (AT X, 418) weist Descartes darauf hin, dass die epistemologische Ordnung sorgfältig von der metaphysischen zu unterscheiden ist. Siehe ausführlich zu den beiden Ordnungen Gueroult, 1953, 15-29.

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Fähigkeiten unter normalen Bedingungen vollziehen kann. „An die Natur des Geistes denken" ist hingegen ein Akt zweiter Stufe. Er setzt den Vollzug von Akten erster Stufe voraus, und er setzt auch voraus, dass diese Akte als eine Manifestation der Natur des Geistes erkannt werden. Dazu ist nicht jeder Mensch spontan imstande. Nur wer seine Denkakte prüft, sie mit körperlichen Akten vergleicht und feststellt, dass sie sich von diesen unterscheiden, kann die Natur seines Geistes erkennen. Kurzum, nur wer zu einer gewissen Reflexion über seine Denkakte erster Stufe bereit ist, kann auch den erforderlichen Akt zweiter Stufe vollziehen. Malebranche beschränkt sich allerdings nicht auf dieses erste, leicht widerlegbare Argument. Er weist in einem zweiten Argument auch darauf hin, dass der quantitative Zugang zum Geist, den Descartes vorschlägt, nicht überzeugend ist. Denn wir können noch so viele Attribute oder Tätigkeiten unseres eigenen Geistes erkennen, dadurch haben wir noch keine Gewähr, dass wir auch die Natur des Geistes erkennen: „Es kann aber sein, dass das, was wir an ihr [sc. der Seele] erkennen, fast nichts von dem ist, was sie in sich selber ist. [...] Um die Seele vollkommen zu erkennen, reicht es daher nicht aus, das zu wissen, was wir allein durch das innere Gefühl (le sentiment interieur) wissen. Denn das Bewusstsein (conscience), das wir von uns selber haben, zeigt uns vielleicht nur den geringsten Teil von unserem Sein. " 27 Mit diesem Einwand trifft Malebranche eine empfindliche Schwachstelle in Descartes' Argumentation. Dieser geht nämlich nicht nur von der Annahme aus, dass die Denkakte, die wir in der radikalen Zweifelssituation durch ein „inneres Gefühl" an uns feststellen, von den körperlichen Akten real verschieden sind. Er nimmt auch an, dass diese Denkakte immer auf das Wesen oder die Natur des Geistes verweisen und nicht etwa bloße Begleiterscheinungen oder Nebenprodukte des Geistes sind. Doch welche Gewissheit hat er für diese Annahme? Könnte es nicht sein, dass die festgestellten Denkakte nicht mehr als Epiphänomene sind? 27

Recherche III, 2, vii (OC I, 451).

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Ein moderner Vergleich möge diesen Punkt wiederum veranschaulichen. Angenommen, jemand kauft zum ersten Mal einen Computer, installiert ihn zu Hause auf dilettantische Weise und stellt dann fest, dass er seltsame Geräusche von sich gibt, ab und zu blinkt und auf dem Bildschirm immer wieder „error" anzeigt. Als blutiger Anfänger meint dieser Computer-Benutzer nun, die Natur eines Computers bestehe darin, seltsame Geräusche zu produzieren und immer wieder sinnlos zu blinken. Hat er die wahre Natur eines Computers erkannt? Natürlich nicht. Er hat ausgehend von bloßen Nebengeräuschen und Fehlermeldungen irrtümlicherweise auf eine angebliche Natur geschlossen. Könnte es sich mit unserem Geist nicht ähnlich verhalten? Vielleicht stellen wir ebenfalls nicht mehr als „Nebengeräusche" fest und meinen irrtümlicherweise, diese seien Ausdruck der wahren Natur unseres Geistes. Vielleicht sind wir mit Bezug auf unseren Geist ebenso dilettantische Anfänger wie hinsichtlich eines Computers. Descartes begeht einen Fehler, wenn er meint, es reiche aus, irgendwelche Denkakte an sich festzustellen, um die Natur des eigenen Geistes erkennen zu können. Man muss doch zuerst die fundamentalen Denkakte, die tatsächlich dessen Natur manifestieren, von epiphänomenalen Denkakten unterscheiden. Gegen diesen Einwand könnte Descartes allerdings Einspruch erheben. Er könnte darauf insistieren (wie er dies in den Principia auch explizit tut), dass alle Denkakte auf die Natur des Geistes verweisen.28 Ob ich nun feststelle, dass ich zweifle, vermute, wünsche oder hoffe, spielt keine Rolle. Wichtig ist nur, dass ich irgendeinen geistigen Akt feststelle, denn alle derartigen Akte verweisen auf die Natur meines Geistes. Man muss hier nicht zwischen fundamentalen und epiphänomenalen Akten unterscheiden. Eine solche Differenzierung ist höchstens dann erforderlich, wenn man den spezifischen Inhalt dieser Akte untersuchen möchte. Hier geht es aber nicht um den Inhalt, sondern nur um die Tatsache, dass Denkakte vollzogen werden. Allein aufgrund dieser Tatsache kann ich 28

Principia philosophiae I, 53 (AT VIII-1, 25): „Eine Substanz wird durch jedes beliebige Attribut erkannt. Es gibt aber eine besondere Eigenschaft für eine Substanz, die ihre Natur und ihr Wesen festlegt und auf die sich alle anderen beziehen."

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erkennen, dass die Natur des Geistes im Denken besteht. Descartes könnte den Einwand zudem mit einem Verweis auf seine Erkenntnistheologie zurückweisen, die den allgemeinen Rahmen für die Argumentation in den Meditationes bildet:29 Wir sind nur deshalb imstande, Denkakte zu bilden, weil Gott uns mit einem kognitiven Vermögen ausgestattet hat. Da Gott gütig ist, will er uns nicht täuschen. Er will uns also nicht mit einem kognitiven Vermögen ausstatten, das uns bezüglich der Außenwelt oder unseres eigenen Geistes in die Irre führt. Gott gibt uns ein zuverlässiges kognitives Vermögen, das Akte hervorbringt, die uns ein zuverlässiges Wissen über unseren eigenen Geist liefern. Daher ist es ausgeschlossen, dass wir bloß über epiphänomenale Akte verfügen, die uns keinen Aufschluss über unseren Geist geben. Gott ist also nicht mit einem böswilligen Computerhersteller vergleichbar, der ein Gerät liefert, das nur sinnlos blinkt und Fehlermeldungen anzeigt.30 Eine solche Verteidigung vermag Malebranches Einwand allerdings nicht zu entkräften. Würde sich Descartes einfach auf die Tatsache berufen, dass doch alle Denkakte auf die Natur des Geistes verweisen, würde er eine metaphysische Tatsache anführen, nämlich dass Denken das wesentliche Attribut des Geistes ist und dass somit die Natur des Geistes in nichts anderem als im Denken besteht. Daraus folgt aber nicht einfach die epistemische Tatsache, dass ich auch weiß, dass nichts anderes als Denken das wesentliche Attribut des Geistes ist, und dass ich auch weiß, dass alle Denkakte - seien diese nun fundamental oder epiphänomenal - auf dieses Attribut verweisen. Gerade wenn man dem epistemologischen „ordre des raisons" folgt, wie Descartes dies fordert, und diesen klar vom metaphysischen „ordre des matieres" trennt, 29

30

Ich übernehme den treffenden Ausdruck „Erkenntnistheologie" von Schütt, 1996, 195. Natürlich sind „Fehlermeldungen" in einigen Fällen auch möglich (ζ. B. in dem von Descartes mehrfach erwähnten Fall des Phantomschmerzes). Der entscheidende Punkt besteht aber darin, dass es sich dabei um Ausnahmefälle handelt, die bei genauer Prüfung auch als solche erkannt werden können. Descartes betont in VI. Med. (AT VII, 87f.), Gott habe die menschliche Natur so eingerichtet, dass Körper und Geist aufeinander abgestimmt sind und dass geistige Zustände somit im Prinzip zuverlässig sind.

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darf die epistemische Tatsache nicht einfach mit Rekurs auf die metaphysische behauptet werden. Denn wie sollte ich in der Situation des radikalen Zweifels wissen, dass alle meine Denkakte Ausdruck des wesentlichen Attributs des Geistes sind? Ich stelle doch nur diesen oder jenen konkreten Denkakt an mir fest, aber ich konstatiere nicht, dass er auf ein einziges wesentliches Attribut zurückgeführt werden kann. Dazu wäre ich erst in der Lage, wenn ich alle Denkakte geprüft und ausgeschlossen hätte, dass sie auf mehrere unterschiedliche Attribute zurückzuführen sind.31 Ebenso wenig hilft ein Verweis auf die Erkenntnistheologie. Natürlich trifft es zu, dass am Ende der Meditationes die Güte Gottes feststeht und dass damit am Ende eine Garantie für die Zuverlässigkeit der kognitiven Fähigkeiten gegeben ist, auch im Hinblick auf die Erkenntnis des eigenen Geistes. Aber dies gilt eben nur für den Abschluss des Argumentationsganges. In der Zweiten Meditation, in der Descartes behauptet, die Natur des eigenen Geistes werde erkannt, ist die Existenz Gottes noch nicht gezeigt worden. Auch hier gilt wieder: Wenn man streng dem „ordre des raisons" folgt, darf man nicht etwas antizipieren, was erst am Ende der Argumentation feststeht. Man darf sich nur auf das berufen, was unbezweifelbar gezeigt ist, nämlich dass der jeweilige Denker nicht an der Existenz der eigenen geistigen Akte zweifeln kann. Aber daraus folgt keineswegs, dass er auch weiß, dass alle diese Akte auf genau ein wesentliches Attribut und damit auf die Natur des Geistes verweisen. Malebranches Einwand bleibt somit bestehen: Es könnte sein, dass wir nur den „geringsten Teil von unserem Sein" - nur ein unwesentliches Attribut - erfassen, wenn wir die Existenz unserer Denkakte feststellen. 31

Gegen diese Forderung könnte vielleicht eingewendet werden, dass es unmöglich ist, alle Denkakte zu prüfen. Es reicht doch aus, einige Akte zu prüfen; diese geben exemplarisch Auskunft über die Natur des Geistes. Ein solcher Einwand übersieht jedoch, dass wir dann entweder schon wissen müssen, welche Akte exemplarisch Auskunft geben, oder dass wir dann voraussetzen müssen, dass alle Akte - von welchen auch immer wir ausgehen - Auskunft geben. Wenn wir jedoch das Zweite voraussetzen, nehmen wir an, was erst noch gezeigt werden sollte: Alle beliebigen Akte sind Ausdruck der Natur des Geistes und geben Aufschluss über diese Natur.

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Malebranche führt noch ein weiteres Argument für seine These von der epistemischen Unzugänglichkeit des Geistes an. Er behauptet, dass wir nur durch ein inneres Gefühl („sentiment interieur") einen Zugang zu unserem Geist haben. Uns fehlt aber eine klare Idee von unserem Geist. Daher verfügen wir streng genommen nicht über eine Kenntnis („connaissance") von unserem Geist.32 Es scheint zunächst, als ließe sich dieses Argument leicht zurückweisen. Eine klare Idee vom Geist, so könnte man argumentieren, entsteht doch dadurch, dass man zahlreiche geistige Akte vollzieht und feststellt, dass sie durch eine besondere Entität hervorgebracht werden. Wenn ich ein Wachsstück erkenne, wenn ich zweifle, vermute, hoffe usw., stelle ich doch fest, dass es sich hier um Akte eines denkenden - nicht etwa eines ausgedehnten - Dinges handelt, die auch nur von einem solchen Ding hervorgebracht sein können. So gelingt es mir, eine klare Idee vom Geist zu bilden, d. h. ihn auf klare Weise als ein denkendes Ding zu repräsentieren. Doch diese Zurückweisung greift zu kurz, denn sie berücksichtigt nicht den besonderen Status, den Malebranche den Ideen zuschreibt. Für ihn sind sie nicht Repräsentationen, die von einem individuellen Denker gebildet werden, sondern abstrakte Entitäten im göttlichen Intellekt.33 Ausgehend von einer platonisch-augustinischen Konzeption behauptet Malebranche, dass wir Menschen gar nicht in der Lage sind, Ideen zu bilden. Wir können sie höchstens erfassen, indem Gott uns an ihnen teilhaben lässt; er lässt uns Ideen in seinem Intellekt „sehen".34 Dies ist natürlich eine metaphorische Ausdrucksweise, die sogleich die Frage aufwirft, was für eine epistemische Relation unter diesem intellektuellen Sehen zu verstehen ist und wie sie sich zum sinnlichen Sehen verhält. Eine detaillierte Beantwortung dieser 32

33

34

Vgl. Recherche III, 2, vii (OC I, 453); ibid., Eclaircissement XI (OC III, 163f.). Genau in diesem Punkt liegt der Kern seiner Auseinandersetzung mit Arnauld, der behauptete, Ideen seien Repräsentationen, die von einem individuellen Denker hervorgebracht werden und in dessen Geist existieren. Vgl. Reponse au livre „Des vraies et des fausses idees", V (OC VI, 50-54) und eine Analyse in Moreau, 1999, 127-214. Malebranche leitet die ganze Abhandlung über die Ideentheorie mit dem Titel „Dass wir alle Dinge in Gott sehen" ein; vgl. Recherche III, 2, vi (OC I, 437). Siehe auch ibid., Eclaircissement X (OC III, 127-161).

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Fragen würde eine sorgfältige Analyse der Ideentheorie erfordern. Hier soll lediglich festgehalten werden, dass Malebranche unter dem intellektuellen Sehen der Ideen das Erfassen von Begriffen versteht.35 Die Ideen bzw. Begriffe zeichnen sich durch folgende Merkmale aus: (i) Sie sind abstrakte Entitäten; (ii) sie existieren unabhängig von allen konkreten materiellen und immateriellen Entitäten; (iii) sie entstehen nicht und vergehen nicht.36 Entscheidend ist nun für Malebranche, dass wir einen bestimmten Begriff erfassen müssen, um einen sinnlich wahrnehmbaren Gegenstand als Gegenstand einer bestimmten Art erkennen zu können. Konkret heißt dies: Wenn ich nicht einfach einzelne Sinneseindrücke von der Sonne haben will, sondern die Sonne als Sonne erkennen will, muss ich den Begriff der Sonne erfassen.37 Dieser lässt sich nicht aus den Sinneseindrücken abstrahieren, und er ist auch nicht meinem Geist angeboren. Er existiert vielmehr unabhängig von jeder Sinneswahrnehmung im Reich der abstrakten Entitäten (im göttlichen Intellekt) und lässt sich nur durch einen Zugriff auf dieses Reich erfassen. Erst wenn ich alle meine Sinneseindrücke unter diese Entität subsumiere, gelingt es mir, mehr als bloße Eindrücke von etwas Hellem, Gelbem, Heißem zu haben. Aus dieser Auffassung von Ideen ergibt sich eine unmittelbare Konsequenz für die Frage, wie der eigene Geist erkannt werden kann. Er lässt sich sicherlich nicht dadurch erkennen, dass man zahlreiche Akte des Geistes an sich selber wahrnimmt. Denn mit einem solchen Vorgehen lassen sich höchstens einzelne Modifikationen des Geistes feststellen. Wie man im Fall der Sonne aufgrund der äußeren Wahrnehmung Eindrücke von etwas Hellem, Gelbem und Heißem hat, so verfügt man im Fall des eigenen Geistes aufgrund der inneren Wahrnehmung über Eindrücke von etwas Zweifelndem, Vermutendem oder Hoffendem. Aber damit haben 35

36

37

Vgl. ausführlich Perler, 1996; siehe auch Nadler, 1992, 98-151, und Schmaltz, 2000. In den späteren Erläuterungen hält Malebranche zudem fest, dass sie allgemein und nicht partikulär sind; vgl. Recherche, Eclaircissement X (OC III, 154). Diese Bestimmung fehlt allerdings in der ersten Auflage der Recherche. Malebranche erörtert diesen Fall in Recherche III, 2, i (OC I, 413f.).

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wir den Geist noch nicht als Geist erkannt. Dies gelingt uns erst, wenn wir über eine Idee bzw. einen Begriff vom Geist verfügen. Um den Geist von anderen Entitäten abgrenzen zu können, muss es sich sogar um einen klaren und deutlichen Begriff handeln. Doch ein solcher Begriff lässt sich weder aus der inneren Wahrnehmung gewinnen, noch ist er uns angeboren. Er ist Malebranche zufolge auch nicht im göttlichen Intellekt vorhanden, denn dieser ist eine „intelligible Ausdehnung" und enthält nur die Begriffe für die ausgedehnten Entitäten. Daher sind wir nicht imstande, einen klaren und deutlichen Begriff vom Geist zu erfassen. Dies hat freilich zur Folge, dass wir nicht in der Lage sind, die Natur des Geistes zu erkennen. Denn was der Geist ist, lässt sich ja erst erkennen, wenn wir ihn als Geist und nicht bloß als eine beliebige Ansammlung von einzelnen Akten erkennen. Der entscheidende Punkt in Malebranches Argument besteht darin, dass wir es nicht einfach versäumt haben, eine klare und deutliche Idee vom eigenen Geist zu bilden. Hier liegt nicht ein epistemisches Defizit vor, das bei einer entsprechenden Anstrengung behoben werden könnte. Malebranche zufolge sind wir prinzipiell nicht in der Lage, eine derartige Idee zu bilden, da uns die möglichen Quellen für einen solchen Begriff verschlossen sind.38 Auf dieses Argument könnte man allerdings erwidern, dass wir vielleicht in der Tat keine Idee bzw. keinen Begriff vom Geist erfassen können, aber dass wir doch zahlreiche geistige Akte und Zustände an uns erfassen, sogar auf unmittelbare und untrügliche Weise. Reicht dies nicht aus, um den eigenen Geist zu erkennen? Es gibt doch nicht nur eine begriffliche Erkenntnis, sondern - mit Russell ausgedrückt - auch eine „knowledge by acquaintance". Eine solche Erwiderung würde Malebranche teilweise konzedieren. Er betont nämlich, dass wir aufgrund der inneren Wahrnehmung über ein Wissen bzw. eine Erkenntnis („connaissance") von unserem Geist 38

Hinter dieser These verbirgt sich ein Anti-Psychologismus, der für die gesamte Methodologie Malebranches charakteristisch ist (vgl. Lennon, 2 0 0 0 ; Jolley, 2 0 0 0 , 44). Er betont immer wieder, dass die Menschen aus einer Analyse ihrer eigenen geistigen Akte sehr wenig gewinnen können, solange sie keinen Zugriff auf das haben, was außerhalb ihres Geistes liegt: das Reich der abstrakten Entitäten.

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verfügen, und zwar über ein Wissen, das „unvollkommen ist - dies ist wahr - , aber keineswegs falsch." 39 Wenn ich etwa erfasse, dass ich zweifle, ist es auch der Fall, dass ich zweifle; und wenn ich eine Schmerzempfindung habe, ist es ebenfalls der Fall, dass ich eine solche Empfindung habe. Entscheidend ist aber, dass ich auf diese Weise nur punktuell ein untrügliches Wissen von einzelnen Akten gewinne. Ich weiß jedoch nicht, dass alle diese Akte einem einzigen Ding zuzuschreiben sind, und ich weiß noch viel weniger, dass die Natur dieses Dinges im Denken und in nichts anderem besteht. Daher muss man mindestens zwei Stufen unterscheiden, wenn man über das Wissen oder die Erkenntnis vom eigenen Geist spricht: (a) Erkennen, wie der Geist sich zu bestimmten Zeitpunkten präsentiert (zweifelnd, hoffend, Schmerz empfindend usw.); (b) Erkennen, was der Geist ist. Stufe (a) ist zwar eine genuine Form von Erkennen, aber lediglich eine Form mit einem schwachen epistemischen Grad. 40 Will man die Natur des eigenen Geistes erkennen, benötigt man (b). Und um (b) zu gewinnen, braucht man eine klare Idee bzw. einen klaren Begriff vom eigenen Geist. Genau dieser lässt sich aber ausgehend von (a) nicht gewinnen. Doch warum reicht Stufe (a) nicht aus, wenn wir eine Erkenntnis des eigenen Geistes anstreben? Wir können doch ausgehend von einzelnen Akten und Zuständen, die wir an uns erfahren, einzelne Begriffe bilden und den Geist - modern ausgedrückt - mit einem „cluster" von Teilbegriffen charakterisieren. Ein solches Vorgehen ist für Malebranche aus mindestens zwei Gründen nicht akzeptabel. Zunächst setzt es einfach voraus, dass wir Teilbegriffe bilden 39 40

Recherche III, 2, vii (OC I, 453). Es ist zu betonen, dass es sich um eine genuine, nicht irreführende Form von Erkennen handelt, die Malebranche ausdrücklich „connaissance" nennt. Wie Gueroult, 1 9 5 5 , 55, bereits gezeigt hat, ist unter (a) keineswegs eine Scheinerkenntnis oder eine trügerische Erkenntnis zu verstehen, sondern vielmehr eine sehr begrenzte, aber durchaus zuverlässige Form von Erkenntnis. In Reponse au livre „Des vraies et des fausses idees", XXIII, 4 (OC VI, 161) nennt Malebranche sie in Anlehnung an Augustinus sogar eine „certissima scientia". Es scheint mir daher problematisch, wenn Jolley, 2 0 0 0 , 44f., behauptet, Malebranche bestreite, dass eine „scientia" vom Geist möglich sei. Er bestreitet dies nur, wenn unter „scientia" die höchste Form von Erkennen (nämlich das Erfassen eines allgemeinen Begriffs) verstanden wird.

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können, die gleichsam auf Teilaspekte des Geistes zutreffen. Aber wie sollen wir dazu in der Lage sein, wenn doch alle Begriffe, die auf den Geist zutreffen könnten, besondere Entitäten sind, die wir nicht selber hervorbringen können? Streng genommen können wir nicht einmal Begriffe für Zweifel oder Schmerz bilden und unseren Geist als zweifelnd oder Schmerz empfindend umschreiben. Wir sind nur imstande, ein inneres Gefühl („sentiment interieur") zu haben, das uns unmittelbar präsent ist. Doch sobald wir dieses kategorisieren wollen, benötigen wir Begriffe, die nicht in uns angelegt sind und die auch nicht aus dem bloßen Gefühl gewonnen werden können. (Wer Schmerzen empfindet, hat einfach Schmerzen, ist durch diese bloße Empfindung aber nicht in der Lage, den Begriff „Schmerz" zu bilden. Andernfalls könnten ja auch Neugeborene sogleich diesen Begriff bilden.) Zudem übersieht das vorgeschlagene Vorgehen, dass selbst dann, wenn wir entsprechende Begriffe gewinnen könnten, diese immer an eine bestimmte innere Erfahrung gebunden wären und ohne diese wertlos wären. Malebranche illustriert diesen Punkt mit einem Beispiel: „Wenn ein Mensch niemals eine Melone gegessen oder Rot oder Blau gesehen hätte, könnte er gut und gerne die angebliche Idee von seiner Seele konsultieren, er würde niemals auf deutliche Weise entdecken, ob sie zu solchen Gefühlen oder Modifikationen fähig ist oder nicht."41 Nur wer selber eine Rotempfindung gehabt hat, könnte den Geist als zu einer Rotempfindung fähig charakterisieren. Da es aber zahlreiche Empfindungen gibt, die ein Mensch nie gehabt hat (und vielleicht auch nie haben wird), sind seine Möglichkeiten, den Geist zu charakterisieren, sehr begrenzt. So könnte jemand, der nie eine Depression erlebt hat, nicht sagen, ein menschlicher Geist sei prinzipiell in der Lage, depressiv zu sein. Doch genau zu solchen Aussagen müsste er fähig sein, wenn er den Anspruch erhöbe, die Natur des Geistes zu erkennen. Er müsste dann imstande sein, die wesentlichen Dispositionen und Akte des Geistes zu erfassen, und zwar auch jene, die er nicht an sich selber erlebt 41

Recherche, Eclaircissement XI (OC III, 164).

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hat. Da dies auf der Grundlage der eigenen, sehr beschränkten Erlebnisse nicht möglich ist, ist es kaum hilfreich, ausgehend von den eigenen geistigen Akten und Zuständen einzelne Teilbegriffe für den Geist zu bilden. Man benötigt vielmehr einen umfassenden Begriff, der sämtliche wesentlichen Merkmale des Geistes einschließt.42 (Zum Vergleich: Wer die Natur eines Computers erkennen will, erreicht sein Ziel kaum, wenn er seinen eigenen Computer detailliert beschreibt. Er muss vielmehr grundsätzlich verstehen, wie ein Computer gebaut ist und wozu er fähig ist, unabhängig von den konkreten Leistungen seines eigenen Computers.) Ein solcher Begriff ist uns Menschen aber nicht zugänglich. Wir sind gleichsam kognitiv gefangen in der begrenzten Erfahrung einzelner geistiger Akte und Zustände.

5

Objektiver und subjektiver Standpunkt

Malebranches These, dass wir die Natur des eigenen Geistes nicht erkennen können, beruht offensichtlich auf zwei grundlegenden Thesen. Erstens: Erkenntnis im strengen Sinne setzt das Erfassen von Begriffen voraus. Zweitens: Wir sind prinzipiell nicht in der Lage, einen Begriff vom eigenen Geist zu erfassen. Es scheint mir wichtig, diese beiden Thesen genau in den Blick zu nehmen, um Missverständnisse oder einseitige Interpretationen zu vermeiden, wie sie sich zum Teil auch in der neuesten Forschungsliteratur finden. T. Schmaltz hat behauptet, Malebranche ziele mit seiner These von der fehlenden Erkenntnis des eigenen Geistes darauf ab, einen subjektiven Standpunkt von einem objektiven (im Sinne Th. Nagels) zu unterscheiden.43 Denn den eigenen Geist könne man Malebranche zufolge nur aus einer subjektiven Perspektive 42

43

Da ein solcher Begriff fehlt, kann man den Geist auch nicht mit anderen Entitäten vergleichen, wie Malebranche in Recherche, Eclaircissement XI (OC III, 167f.) betont. Denn ein Vergleich ist nur dann möglich, wenn man zunächst angeben kann, wodurch sich die zu vergleichenden Entitäten auszeichnen. Dies wiederum setzt voraus, dass man die wesentlichen Eigenschaften und Dispositionen dieser Entitäten angeben kann, und zwar auch jene, die man nicht selber erfahren hat. Vgl. Schmaltz, 1996, 41-43.

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erkennen: nur so, wie er uns in bestimmten Situationen erscheint. Die materiellen Gegenstände hingegen seien aus einer objektiven Perspektive erkennbar: so, wie sie tatsächlich sind. Malebranches Pointe bestehe darin, dass er hinsichtlich des eigenen Geistes die Möglichkeit eines objektiven Standpunktes bestreite. Der subjektive Standpunkt könne prinzipiell nicht in einen objektiven integriert oder auf einen solchen reduziert werden. Diese Interpretation scheint mir in mehrfacher Hinsicht unangemessen zu sein. Zunächst ist zu beachten, dass Malebranche nicht zwischen den beiden genannten Standpunkten unterscheidet. Jede Erkenntnis erfolgt für ihn von einem subjektiven Standpunkt aus, da sie immer eine Erkenntnis von einem Subjekt für ein Subjekt ist. Einen objektiven Standpunkt im Sinne eines „view from nowhere" zieht Malebranche an keiner Stelle in Erwägung.44 Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass Malebranche keineswegs behauptet, der eigene Geist könne von uns nur so erkannt werden, wie er uns erscheine, während die materiellen Gegenstände so erkennbar seien, wie sie tatsächlich sind. Wenn wir nämlich eigene geistige Akte erfassen, ζ. B. das eigene Zweifeln, Vermuten oder Empfinden von Schmerzen, so erfassen wir geistige Akte, wie sie tatsächlich sind. Hier gibt es keine Trennung zwischen Sein und Schein. Indem Malebranche immer wieder auf die untrügliche Präsenz der eigenen geistigen Akte und Zustände verweist45, betont er, dass er 44

45

Dies gilt sogar für die göttliche Erkenntnis, denn auch diese erfolgt von einem bestimmten Standpunkt aus. Wenn Malebranche immer wieder zwischen göttlicher und menschlicher Erkenntnis unterscheidet, so macht er damit nur darauf aufmerksam, dass es sich bei Gott und Mensch um unterschiedliche Erkenntnissubjekte handelt, die über unterschiedliche kognitive Vermögen verfügen. Doch auch Gottes Erkenntnis ist kein „view from nowhere", sondern eben eine Erkenntnis aus seiner Perspektive. Malebranche stellt auch nicht die Forderung auf, ein Mensch solle durch eine Ausweitung der eigenen Perspektive zu einem „centerless view" (vgl. Nagel, 1986, 61-62) gelangen. Er berücksichtigt vielmehr die Tatsache, dass die Perspektiven der einzelnen Menschen beschränkt sind - eine Tatsache, die kognitive Irrtümer zur Folge haben kann. Ähnlich wie Descartes in V/. Med. (AT VII, 88) begründet er diese Untrüglichkeit in Recherche I, 10, ν (OC I, 128) mit einem pragmatischen Argument: Da ein Schmerz auf eine bestimmte Verletzung verweist, die es zu heilen gilt, muss er auch untrüglich als Schmerz empfunden werden und von einem Zustand der Freude unterscheidbar sein.

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eine solche Trennung für unangebracht hält. Wenn ich etwa einen Zahnschmerz empfinde, ist es Malebranche zufolge abwegig zu fragen: „Habe ich nun tatsächlich eine Schmerzempfindung, oder erscheint mir bloß eine Schmerzempfindung?" Was mir erscheint, ist hier auch tatsächlich der Fall. Daher lässt sich kaum behaupten, im Bereich des Geistigen werde lediglich das erkannt, was einem Subjekt erscheine. Malebranche zielt nicht auf eine Trennung von Sein und Schein ab, sondern auf die Tatsache, dass uns nur einzelne Akte und Zustände des eigenen Geistes zugänglich sind. Ihm geht es um die beschränkte Reichweite unserer Erkenntnis (genauer: unseres „inneren Gefühls"), nicht um einen bloßen Schein-Charakter des Erkannten. Umgekehrt lässt sich Malebranche kaum die Ansicht zuschreiben, im Bereich des Materiellen werde das erkannt, was auch tatsächlich der Fall ist. Malebranche verweist nämlich auf zahlreiche Fälle von Sinnestäuschungen und betont, angeregt von Descartes, dass wir uns von unseren Sinnen oft in die Irre führen lassen: Wir schreiben jene Eigenschaften, die uns in der sinnlichen Erfahrung präsent sind (Farbe, Hitze, Geschmack usw.), den materiellen Gegenständen selbst zu.46 Dabei übersehen wir, dass diese Sinneseigenschaften streng genommen nur in uns selbst existieren. Wenn Malebranche zwischen Sein und Schein unterscheidet, dann im Hinblick auf die Erkenntnis der materiellen Gegenstände. Er warnt davor, dass wir das, was uns bloß erscheint (die Sinneseigenschaften), nicht vorschnell für das halten, was tatsächlich in den Gegenständen selbst existiert (die geometrischen Eigenschaften). Natürlich betont er, dass wir neben der sinnlichen Erfahrung auch eine intellektuelle Erkenntnis haben. Aber diese bezieht sich streng genommen nicht auf die materiellen Gegenstände, sondern auf die Ideen bzw. auf die Begriffe. Wir erfassen nämlich intellektuell einen Begriff, d. h. eine abstrakte Entität im göttlichen Intellekt, und wenden diesen dann auf das an, was uns in der Sinneserfahrung gegeben ist. Ein Begriff ist für Malebranche in der Tat etwas, was tatsächlich existiert und nicht bloß erscheint. Aber ein Begriff 46

Vgl. Recherche II, 302).

I, 1, i (OC I, 42); I, 16, iv (OC I, 169-170); VI, 2, ii (OC

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ist eben eine distinkte Entität, die nicht mit einem materiellen Gegenstand verwechselt werden darf. Wer etwa eine Erkenntnis von der Sonne gewinnt, hat streng genommen eine Erkenntnis vom Begriff der Sonne und wendet diesen auf die Sinneseindrücke von etwas Hellem, Gelbem, Heißem an. Die materielle Sonne ist etwas, was ihm in der Sinneswahrnehmung bloß erscheint, noch dazu auf irreführende Weise. Denn solange der Wahrnehmende keine Unterscheidung zwischen geometrischen und sinnlichen Eigenschaften trifft, glaubt er, die materielle Sonne sei hell, gelb und heiß. Erst wenn er lernt, sich auf den bloßen Begriff der Sonne zu konzentrieren und die Sinneseindrücke im Hinblick auf diesen Begriff auszuwerten, kann er diesen Glauben korrigieren. Schmaltz' Interpretation ist somit gleich in zweifacher Hinsicht zu korrigieren. Die eigenen geistigen Akte und Zustände erfassen wir Malebranche zufolge so, wie sie tatsächlich sind; die materiellen Gegenstände hingegen erfassen wir mithilfe der Wahrnehmung nur so, wie sie uns in den jeweiligen Wahrnehmungssituationen erscheinen. Erst wenn wir Begriffe von den materiellen Gegenständen erfassen (die freilich von den Gegenständen selbst zu unterscheiden sind), können wir den Bereich des bloßen Erscheinens verlassen. Entscheidend ist für Malebranche hinsichtlich des eigenen Geistes aber keineswegs die Frage, ob wir mit Sein oder mit bloßem Schein konfrontiert sind. Wichtig ist für ihn vielmehr die Frage, ob wir über einen Begriff vom eigenen Geist verfügen. Da er diese Frage verneint (seiner Ansicht nach haben wir ja nur eine „inneres Gefühl" einzelner Akte und Zustände), bestreitet er auch, dass wir im strengen Sinne eine Erkenntnis vom eigenen Geist haben. N. Jolley hat kürzlich eine weitere Interpretation vorgeschlagen. Seiner Ansicht nach zielt Malebranche mit seiner These von der fehlenden Erkenntnis des eigenen Geistes auf eine Unterscheidung zweier Arten von Wissen ab.47 Malebranche wolle nämlich verdeutlichen, dass wir von den materiellen Gegenständen ein Wissen α priori haben können, indem wir unabhängig von der Sinneserfahrung die entsprechenden Begriffe für diese Gegenstände erfas47

Vgl. Jolley, 2 0 0 0 , 4 5 - 4 8 .

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sen. Vom eigenen Geist hingegen sei nur ein Wissen α posteriori möglich, da wir stets auf die Erfahrung einzelner geistiger Akte und Zustände angewiesen sind. Diese Interpretation weist zu Recht darauf hin, dass für Malebranche die Frage nach dem Erfassen von Begriffen im Mittelpunkt steht. Und sie betont ebenfalls zu Recht, dass wir im Falle der materiellen Gegenstände nicht zu Begriffen gelangen, indem wir auf die sinnliche Erfahrung von diesen Gegenständen zurückgreifen. Wir können Malebranche zufolge noch so oft in die Sonne blicken und noch so viele Sinneseindrücke gewinnen, wir werden dadurch nicht in der Lage sein, einen Begriff von der Sonne zu erfassen. Wir müssen vielmehr unabhängig von allen Sinneseindrücken den Begriff als eine distinkte Entität erfassen. Wenn Jolley diesen Punkt auch zu Recht betont, ist seine Rede von einem Wissen a posteriori hinsichtlich des eigenen Geistes doch problematisch.48 Streng genommen gibt es nämlich kein derartiges Wissen. Wir können ja nicht ausgehend von der Erfahrung einzelner geistiger Akte und Zustände einen Begriff für unseren Geist bilden und auf diesem Wege ein Wissen erwerben. Wenn wir ein Wissen im strengen Sinn erwerben wollten, müssten wir unabhängig von jeder Erfahrung einen Begriff erfassen. Aber genau dies ist uns nicht möglich, weil es gar keinen Begriff für unseren Geist gibt. Wir haben somit überhaupt kein Wissen von unserem Geist, weder ein apriorisches noch ein aposteriorisches.49 An dieser Stelle könnte allerdings ein Einwand erhoben werden. Malebranches These, dass wir kein Wissen und keine Erkenntnis im strengen Sinne von unserem Geist haben können, beruht offensichtlich auf der These, dass es keinen entsprechenden Begriff im göttlichen Intellekt - im Reich der abstrakten Entitäten - gibt. 48

49

An den meisten Stellen drückt sich Jolley vorsichtig aus und spricht nur vom Fehlen eines Wissens α priori. In Jolley, 2 0 0 0 , 50, erwähnt er aber ausdrücklich die Gegenüberstellung „a priori - α posteriori". Zumindest haben wir kein Wissen im strengen Sinne, d. h. kein begriffliches Wissen. Wie in Anm. 4 0 bereits festgehalten wurde, räumt Malebranche ein, dass ein Wissen in einem weiteren Sinne möglich ist. Dabei handelt es sich aber bloß um ein nicht-begriffliches „inneres Gefühl" von einzelnen Akten und Zuständen. Es ist hier entscheidend, die beiden Formen von Wissen voneinander zu unterscheiden.

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Aber warum sollte es dort keinen solchen Begriff geben? Warum sollte es in einer so großzügigen Ontologie wie derjenigen Malebranches, die neben den materiellen und den mentalen Entitäten auch Begriffe als besondere Entitäten annimmt, keinen Platz für einen Begriff des Geistes geben? Malebranche geht nicht explizit auf diese Frage ein. Er hält nur fest, der göttliche Geist sei eine „intelligible Ausdehnung" und enthalte deshalb nur Ideen bzw. Begriffe für ausgedehnte Gegenstände.50 An einer Stelle deutet er aber eine Antwort an, die über diese allgemeine Feststellung hinausgeht. Er hält fest, Gott habe uns absichtlich keinen Begriff für unseren Geist zur Verfügung gestellt, „denn wenn du klar sehen könntest, was du bist, könntest du nicht mehr so eng mit deinem Körper verbunden sein. Du würdest ihn nicht mehr als einen Teil von dir betrachten."51 Diese Aussage, die auf den ersten Blick vielleicht seltsam erscheinen mag, enthält eine für Malebranche zentrale These: Die Grundbegriffe, die uns zur Verfügung stehen, sind derart, dass wir uns als Personen verstehen können, d. h. als Lebewesen, die aus Körper und Geist bestehen. Hätten wir einen klaren Begriff für unseren Geist, so würden wir uns ausschließlich als geistige Lebewesen verstehen und die körperliche Dimension vernachlässigen. Die Tatsache, dass wir nicht über einen Begriff für unseren Geist verfügen, ist somit nicht als ein Defizit zu deuten, sondern im Gegenteil als ein entscheidender Vorteil. Gerade der mangelnde begriffliche Zugang zu unserem Geist ermöglicht es uns, die geistigen Akte und Zustände stets in Verbindung mit den körperlichen aufzufassen. Hier zeigt sich einmal mehr ein anti-cartesianischer Zug bei Malebranche. Für Descartes ist es ja entscheidend, dass wir unseren eigenen Geist klar und deutlich erkennen können und dass wir uns somit zunächst als geistige Wesen verstehen. Den Begriff der Person führt Descartes erst ganz am Ende seines Argumentationsganges ein, nachdem er Gott als Garanten für die Existenz 50

51

Vgl. Recherche, Eclaircissement X (OC III, 151-154); zum Begriff der intelligiblen Ausdehnung vgl. Laporte 1951. Meditations chretiennes IX, 19 (OC X , 104). Siehe auch Recherche III, 2, vii (OC I, 4 5 3 ) .

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des Körpers und damit auch für die Einheit von Körper und Geist etabliert hat.52 Verkürzt ausgedrückt könnte man sagen: Descartes zufolge verstehen wir uns zuerst als geistige Wesen und erst in einem späteren Schritt als Personen. Malebranche dreht diese Reihenfolge um: Wir verstehen uns zuerst als Personen, weil wir uns mangels eines Begriffs für den Geist immer als ein geistig-körperliches Konglomerat auffassen, und können erst dann versuchen, einzelne geistige Zustände isoliert zu erfassen. Doch den Geist als solchen können wir nie klar und deutlich erkennen.

6

Systematische und philosophiehistorische Bedeutung der Obskuritätsthese

Ich hoffe, die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass Malebranche die Cartesische Theorie des Geistes einer radikalen Kritik unterzieht. Diese Theorie begeht seiner Ansicht nach den grundlegenden Fehler, dass sie aus der korrekten These (T) Wir können in uns selber einzelne geistige Akte und Zustände erfassen in unzulässiger Weise die viel stärkere These (T*) Wir können die Natur unseres eigenen Geistes erkennen ableitet. (T*) wäre nur dann überzeugend, wenn wir einen klaren und deutlichen Begriff für unseren Geist hätten. Doch genau eines solchen Begriffes entbehren wir, und zwar prinzipiell und nicht nur faktisch. Welche Konsequenzen ergeben sich aus dieser Kritik für eine Konzeption des Geistes? Ich habe eingangs erwähnt, dass eine cartesianisch inspirierte Theorie des Geistes von vier Thesen aus52

Dies gilt zumindest für die Meditationes, denn die Einheit von Körper und Geist wird erst in VI. Med. (AT VII, 81) eingeführt. In späteren Briefen modifiziert Descartes allerdings diese Position. Er führt dort gleichzeitig mit den Grundbegriffen für Körper und Geist einen dritten, nicht reduzierbaren Begriff für die Einheit von Körper und Geist ein. Vgl. die Briefe an Prinzessin Elisabeth vom 2.5. 1643 und 28.6.1643 (AT III, 665 und 691).

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geht: von der Transparenz-, der Untrüglichkeits-, der Asymmetrie· und der Essentialismusthese.53 Wie verhält sich Malebranche zu diesen Thesen? Die Transparenzthese lässt er höchstens mit Bezug auf einzelne geistige Zustände gelten. Wenn etwa jemand niedergeschlagen ist, so kann er unmittelbar erfassen, dass er niedergeschlagen ist, und er kann die besonderen Merkmale der Niedergeschlagenheit aufgrund des inneren Gefühls („sentiment interieur") bestimmen. Doch die Transparenz gilt nur für dieses innere Gefühl, nicht für eine Erkenntnis im strengen Sinne. Zudem weist Malebranche die Transparenzthese im Hinblick auf den ganzen Geist entschieden zurück. „Wir sind uns selbst nur eine Finsternis", behauptet er. „Wir müssen uns außerhalb von uns betrachten, um uns zu sehen." 54 Damit fällt auch die Untrüglichkeitsthese, zumindest für den ganzen Geist. Uns sind höchstens einzelne Akte und Zustände untrüglich präsent, nicht aber der diesen Akten und Zuständen zugrundeliegende Geist. Weiter gerät auch die Asymmetriethese ins Wanken. Malebranche betont zwar, dass eine gewisse Asymmetrie besteht. Denn bei uns selber können wir zumindest einzelne geistige Akte und Zustände erfassen; bei anderen können wir aufgrund ihres Verhaltens höchstens vermuten, dass sie ähnliche Akte und Zustände haben und somit auch über einen Geist verfügen.55 Doch im Hinblick auf die Natur des Geistes sind wir im eigenen Fall genauso unkundig wie bezüglich eines fremden Geistes. Wir verfügen über kein Wissen im strengen Sinn. Schließlich wird auch die Essentialismusthese hinfällig, ja

53

54

55

Es ist freilich zu betonen, dass dies nur für eine cartesianisch inspirierte Theorie gilt. Ob die vier Thesen auch Descartes selber (nicht nur der gewöhnlich „cartesianisich" genannten Tradition) zugeschrieben werden können, müsste im Detail geprüft werden. So ist es beispielsweise fraglich, ob die berühmte These Descartes', alle geistigen Akte und Zustände seien uns bewusst, tatsächlich im Sinne der Transparenzthese zu verstehen ist. Sie kann auch dahingehend verstanden werden, dass der Geist einfach über die Fähigkeit verfügt, höherstufige Akte zu vollziehen, ohne dabei in einen „inneren Spiegel" zu blicken (vgl. Kemmerling, 1996). Recherche, Eclaircissement X (OC III, 150); siehe auch Entretiens sur la metaphysique III, 7 (OC XII, 67). In Recherche III, 2, vii (OC I, 4 5 4 ) nennt er daher das Wissen von Fremdpsychischem ein bloßes Wissen „par conjecture".

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genau diese These steht im Mittelpunkt von Malebranches Kritik. Er bestreitet, dass wir durch das bloße Erfassen einzelner Akte und Zustände die Natur oder das Wesen des Geistes erkennen können. Damit stellt er natürlich auch in Abrede, dass wir den Geist als eine distinkte Entität von anderen Entitäten unterscheiden können. Man könnte nun freilich einwenden, dass damit die cartesianische Konzeption des Geistes nicht im Kern tangiert wird. Malebranche geht ja nach wie vor von einem dualistischen Schema aus und hält an einer substanztheoretischen Bestimmung des Geistes fest: Der uns unbekannte, gleichsam in der Finsternis liegende Geist ist eine immaterielle Substanz, die als Trägerin für einzelne Akte und Zustände dient. Erst eine Kritik an einer solchen Substanztheorie (wie sie bekanntlich Hume formulierte) ermöglicht eine Überwindung der cartesianischen Theorie und damit auch einen Ausweg aus den Aporien dieser Theorie. Ein solcher Einwand ist sicherlich berechtigt, vernachlässigt aber das innovative Potenzial von Malebranches Ansatz. Dieses Potenzial besteht erstens darin, dass Malebranche ein von Descartes weitgehend vernachlässigtes methodisches Problem in den Vordergrund rückt: Wie sollen wir je in der Lage sein, das Wesen des Geistes zu bestimmen, wenn uns doch nur punktuell einzelne Akte und Zustände präsent sind? Wie sollen wir - metaphorisch gesprochen - in das finstere, tiefe Meer vorstoßen können, wenn uns prinzipiell nur einige Wellen auf der Oberfläche zugänglich sind? Wäre es nicht vernünftiger, auf der Oberfläche zu bleiben und die Suche nach einem verborgenen Wesen aufzugeben? Eine detaillierte Beschreibung der aktuellen Zustände scheint mehr zu einer Analyse des Geistes beizutragen als eine reichlich spekulative These darüber, was der Geist in seinem Wesen ist. Malebranches Ansatz ist zweitens auch bemerkenswert, weil er verdeutlicht, dass zwei Zugänge zum Geist zu unterscheiden sind: ein nicht-begrifflicher und ein begrifflicher. Wenn wir aufgrund der unmittelbaren Präsenz einzelner geistiger Zustände auch über den ersten Zugang verfügen, dürfen wir doch nicht voreilig behaupten, wir hätten auch den zweiten Zugang. Es ist nämlich eine Sache, Zustände wie Freude oder Traurigkeit mit einer bestimmten Qualität zu empfinden; eine ganz andere Sache ist es, alle diese

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Zustände unter etwas zu subsumieren, was wir begrifflich erfassen. Aus dem bloßen Haben oder Empfinden geistiger Zustände lässt sich noch kein Begriff für den Geist gewinnen. Drittens schließlich ist Malebranches Ansatz auch in einem weiteren historiographischen Kontext von Bedeutung. Die Philosophie des 17. Jhs. wird nämlich häufig im Sinne einer subjektivitätstheoretischen Wende verstanden. Den Ausgangspunkt des Philosophierens, so wird behauptet, bildet nun das Subjekt, das durch eine Reflexion auf seinen eigenen Geist die Grundlage für jede weitere philosophische Überlegung schafft. 56 Der Fall Malebranches zeigt, dass eine solche Charakterisierung der frühneuzeitlichen Philosophie zu kurz greift. Malebranche verteidigt ja gerade die These, dass wir uns nicht nach innen wenden sollen; denn wir können noch so konzentriert über unseren Geist reflektieren, wir werden nicht erkennen, was er ist. Wir müssen uns vielmehr „außerhalb von uns betrachten", um überhaupt etwas erkennen zu können. 57 Vor allem müssen wir unseren Geist (genauer: die einzelnen geistigen Akte und Zustände) immer in Relation zu Entitäten außerhalb von uns betrachten. Denn was wir denken, hoffen, vermuten usw., wird durch etwas außerhalb von uns bestimmt. Genau diese externe Festlegung des Inhalts unserer geistigen Akte gilt es zu untersuchen, wenn wir den Geist erklären wollen. Natürlich vertritt Malebranche damit noch nicht einen Externalismus im modernen Sinne. Er vertritt ja im Gegensatz zu gegenwärtigen Externalisten (H. Putnam, Τ. Bürge u.a.) die These, dass der Inhalt der geistigen Akte durch abstrakte Entitäten im göttlichen Intellekt und nicht durch Gegenstände in der materiellen Welt bestimmt wird. Trotzdem findet sich bei ihm, versteckt hinter einem theologisch-augustinischen Modell, eine interessante Kritik an einem Internalismus, der annimmt, wir könnten unseren Geist und den Inhalt sämtlicher geistiger Aktivitäten gleichsam durch

56

57

So prominenterweise Taylor, 1989, Teil II, der in der Suche nach einer „inneren Natur" das Leitmotiv der frühneuzeitlichen Philosophie sieht. Ähnlich auch Rorty, 1 9 8 0 , Teil I. Vgl. Anm. 53.

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eine Wende nach innen erkennen. Genau dies ist nicht möglich, denn nous ne sontmes que tenebres ä nous-memes.s%

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58

Ich danke Albert Newen und Markus Wild für hilfreiche Bemerkungen zu einer früheren Fassung dieses Aufsatzes.

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David Hume Die Transparenz des Geistes sowie das Ich als Bündel und Einheit von Perzeptionen* ALBERT N E W E N

David Hume war der wichtigste Gegenspieler von Descartes. Hume bezweifelt zum einen die Evidenz des cartesischen Cogito-Arguments und zum anderen weist er die These zurück, dass das Ich bzw. das Selbst eine res cogitans sei. Humes Alternative ist eine Bündeltheorie des Selbst. Interessant ist es zu sehen, dass Descartes und Hume sich beide die neuzeitliche Naturwissenschaft als Vorbild nehmen und ein neues Fundament für eine wissenschaftliche Philosophie und alle anderen Wissenschaften zu bauen versuchen. Der wesentliche Unterschied der beiden Autoren besteht in der Auffassung, wie man sicheres Wissen gewinnt. Während Descartes sich dabei einzig auf Vernunfterkenntnis verlässt, vertritt Hume die Position, dass sichere Erkenntnis sich nur auf Erfahrung stützen könne. Dieser Unterschied wird gewöhnlich als der Gegensatz zwischen rationalistischer und empiristischer Erkenntnistheorie bezeichnet. Descartes' Position resultiert aus einem radikalen Skeptizismus, der selbst mathematisches Wissen bezweifelbar macht, aber trotzdem das Cogito-Argument als eine unbezweifelbare Vernunfterkenntnis ausweisen möchte. Hume dagegen vertritt nur einen gemäßigten Skeptizismus, der sich vor allem gegen die zu seiner Zeit gängigen metaphysischen Prinzipien Descartes' richtet.

*

Bei dem vorliegenden Beitrag handelt es sich um eine leicht gekürzte Fassung eines Kapitels meiner Habilitationsschrift Theorien des Selbstbewusstseins.

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Er unterscheidet zwischen Erkenntnissen a priori und a posteriori. Die sogenannten Vernunfterkenntnisse sind Erkenntnisse a priori und gemäß seiner Auffassung deshalb nicht informativ, wie noch zu zeigen sein wird; daher kann ein echter Erkenntniszuwachs sich nur auf Erfahrung stützen. Hume ist sich im klaren darüber, dass Behauptungen, die sich auf Erfahrung stützen, niemals den Grad an „intuitiver oder demonstrativer Gewißheit" 1 haben können, wie es bei Erkenntnissen a priori der Fall ist. Trotzdem entwickelt er eine systematische Philosophie, die sich wesentlich auf Erfahrungssätze stützt. Dies zeigt, dass seine skeptische Grundhaltung kein radikaler cartesischer Skeptizismus ist, sondern ein prinzipieller Vorbehalt gegen alle Strömungen, die behaupten, letzte Wahrheiten gefunden zu haben. Daher betrachtet er auch seine eigene Theoriebildung explizit nicht als eine endgültige Antwort. Ganz im Sinne einer modernen wissenschaftlichen Methodologie behauptet er jedoch durchaus, die beste Erklärung im Rahmen der Wissenschaften seiner Zeit geliefert zu haben, und folgert daraus, dass seine Theorie wahr ist. Daher können wir ihm als ein methodisches Prinzip, den Schluss auf die beste Erklärung zuschreiben. Obwohl Descartes und Hume sich beide an der neuzeitlichen Philosophie orientieren, entwickeln sie gegensätzliche Theorien des Selbst und des Wissens von den eigenen mentalen Phänomenen, des Selbstwissens. Dies ist letztlich die Folge des unterschiedlichen Umgangs mit dem Skeptizismus trotz skeptischer Grundhaltung bei den beiden Philosophen sowie ihrer unterschiedlichen metaphysischen Grundprinzipien. In diesem Kapitel möchte ich Humes metaphysische Grundlagen aufzeigen sowie seinen Umgang mit dem Skeptizismus, der es erlaubt, seine Position als eine Vorläuferposition der modernen kognitionswissenschaftlichen Theorie des Geistes zu bezeichnen. Diese Sichtweise erlaubt es, seine Theorie der Transparenz des Geistes und der personalen Identität angemessen zu verstehen.

Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand (UMV), PhB 35, 35.

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1

Die Grundlagen der Philosophie Humes

Trotz der unterschiedlichen Nuancen in den beiden Hauptwerken Humes werden für die folgende Darstellung beide zugrunde gelegt, wobei diese wie folgt abgekürzt werden: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand (UMV) und Ein Traktat über die menschliche Natur (TMN). Die philosophischen Grundlagen von Humes Empirismus sind in beiden Hauptwerken dieselben, so dass wir gleichermaßen aus beiden Bänden schöpfen können. Die Frage nach den Grundlagen der persönlichen Identität, seine Theorie des Ich, wird jedoch nur in T M N diskutiert; daher ist der T M N auch die Hauptquelle. 1.1

Philosophie als Wissenschaft

Hume sieht die Philosophie und insbesondere die Metaphysik seiner Zeit als in katastrophalem Zustand befindlich. Sein Anliegen ist es, die Philosophie zu einer Wissenschaft zu machen, die sich nicht nur auf haltlose Spekulationen oder Aberglauben stützt (UMV, PhB 35, 9). Dabei orientiert er sich an den neuzeitlichen Naturwissenschaften und sucht nach einem Weg, die erfolgreiche Vorgehensweise der Naturwissenschaften auf die originär philosophischen Fragen zu übertragen, wobei er sich im klaren darüber ist, dass dies nur eingeschränkt möglich ist. Hume kann aufgrund dieses Hauptanliegens durchaus als ein Vorläufer der kognitionswissenschaftlich orientierten Philosophie des Geistes betrachtet werden. Jedenfalls möchte ich deutlich machen, dass diese Charakterisierung viel treffender für Humes Werk ist als die verbreitete Charakterisierung als radikaler Skeptiker, der jeder Wissenschaft den Boden entzieht.2 Es ist die Orientierung an den Naturwissenschaften, die zusammen mit seiner empiristischen Erkenntnistheorie den Kern seiner Philosophie ausmacht. Ein Beispiel für diese Deutung Humes als radikaler Skeptiker ist die Darstellung in der einflussreichen Philosophiegeschichte von Hirschberger: „(...) und daß alle Naturwissenschaft nur Glaube sein soll, wiederum weil nichts dahinter steht als Erwartungsgefühle, das war eine Lehre, die zwar auf soundso viele Erkenntnisse zutreffen mag, grundsätzlich aber

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Im Folgenden sollen die wesentlichen Parallelen zwischen der Humeschen Philosophie und der neuzeitlichen Naturwissenschaft herausgearbeitet werden. Damit wird dann Humes Sichtweise von der Rolle und der Funktion der Philosophie deutlich. Das gemeinsame Fundament der Philosophie und der anderen Wissenschaften ist die philosophische Tugend des systematischen Vernunftgebrauchs: „Genaue und richtige Vernunfttätigkeit ist das einzige Allheilmittel für jedermann und in jeder Gemütslage." (UMV, PhB 35, 11) Gemäß Hume ist der Kern der Philosophie die Lehre vom Menschen. Wenn man sie gründlich und mit Bedacht entwickelt, so wird auf diese Weise eine Grundlage für alle Wissenschaften gelegt: „Es gibt keine Frage von Bedeutung, deren Lösung in der Lehre vom Menschen nicht miteinbegriffen wäre und keine kann mit einiger Sicherheit entschieden werden, solange wir nicht mit dieser Wissenschaft vertraut geworden sind. Wenn wir daher hier den Anspruch erheben, die Prinzipien der menschlichen Natur klarzulegen, so stellen wir damit zugleich ein vollständiges System der Wissenschaften in Aussicht, das auf einer fast vollständigen neuen Grundlage errichtet ist, der einzigen zugleich, auf welcher die Wissenschaften mit einiger Sicherheit stehen können." (TMN, PhB 283a, 4) Um diese Lehre vom Menschen zu entwickeln, stehen gemäß Hume einer wissenschaftlichen Philosophie genauso wie der Naturwissenschaft nur Erfahrung und Beobachtung als Quelle zur Verfügung. „Wie die Lehre vom Menschen die einzig feste Grundlage für die anderen Wissenschaften ist, so liegt die einzig sichere Grundlage, die wir dieser Wissenschaft geben können, in der Erfahrung und Beobachtung." (TMN, PhB 283a, 4) den Wissenschaftsbegriff zerstören mußte. Darum gibt es eben keine „Wissenschaft" mehr, d. h. keine allgemeingültigen Sätze, sondern nur noch Wahrscheinlichkeit - und der Skeptizismus ist die Folge." Hirschberger 14. Aufl. 1992, 133-134.

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Wie bei den Naturwissenschaften ist uns das Wesen des zu untersuchenden Objekts gemäß Hume auch im Fall der Untersuchung des menschlichen Geistes unbekannt. Die Untersuchung der menschlichen Natur ist nichts, was a priori erfolgen könnte. Vielmehr ist das Wesen des menschlichen Geistes erst durch eine sorgfältige Beobachtung und systematische Zusammenstellung der Wirkungen des menschliches Geistes in verschiedenen Situationen zu erfassen: „Das eigentliche Wesen des Geistes ist uns ebenso unbekannt wie das der Körper außer uns. Darum, scheint mir, können wir auch von den Fähigkeiten und Eigenschaften des Geistes, ebenso wie von denen des Körpers, auf keinem anderen Wege ein Bild gewinnen, als auf dem der sorgfältigen und genauen Erfahrung, und der Beobachtung der besonders gearteten Wirkungen, die der Geist unter verschiedenen Umständen und in verschiedenen Situationen zutage treten läßt." (TMN, PhB 283a, 5) Da die Erfahrung die Quelle alles sicheren Wissens darstellt, können wir gemäß Hume bei dem Versuch, eine auf wenigen Prinzipien aufbauende Lehre vom Menschen zu entwickeln, nicht über die Erfahrung hinaus gehen. Es ist daher nicht zu erwarten, dass eine Lehre vom Menschen ein für allemal die „letzten und ursprünglichen Eigenschaften der menschlichen Natur" (TMN, PhB 2 8 3 a , 5) entdecken kann. Humes Anspruch ist von vornherein bescheidener. Er möchte mit der Lehre vom Menschen nur denselben Grad an Verlässlichkeit erreichen, den auch die anderen Wissenschaften, insbesondere die Naturwissenschaften, erreicht haben, denn auch bei diesen sind die letzten Prinzipien nicht bekannt. Die Lehre vom Menschen und die anderen Wissenschaften sind auch insofern im selben Boot als für beide prinzipiell die letzten Prinzipien nicht ausgemacht werden können: „Sollte aber die Unmöglichkeit, zu letzten Prinzipien zu gelangen, für einen Mangel in der Lehre vom Menschen gehalten werden, so wage ich zu behaupten, daß es ein Mangel ist, den sie mit allen Wissenschaften und Künsten teilt, denen wir uns widmen mögen . . . " (TMN, PhB 283a, 6)

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Ein Fortschritt in der Lehre des Menschen kann sich nicht direkt wie die Naturwissenschaften auf gezielte Experimente unter Idealbedingungen stützen, aber sie kann die systematische sorgfältige Beobachtung alltäglicher Lebenssituationen zu ihrer entsprechenden Methode machen. Hume ist sich dabei durchaus bewusst, dass eine Untersuchung, die sich nur auf Selbstbeobachtung von geistigen Zuständen, in denen man sich befindet, stützt, verfälschte Ergebnisse produziert, weil die Selbstbeobachtung den zu beobachtenden geistigen Zustand verändern kann. Die praktische Vorgehensweise zur Entwicklung einer Lehre vom Menschen erfordert gemäß Hume, dass Aktivitäten des menschlichen Geistes auch bei anderen systematisch beobachtet, gesammelt, verglichen und analysiert werden, um dadurch das Wesen des menschlichen Geistes erfassen zu können: „Wir müssen unsere Erfahrungen in dieser Wissenschaft [in der Geisteswissenschaft und damit auch in der Lehre des Menschen, Α. N.] also aus einer sorgfältigen Beobachtung des menschlichen Lebens gewinnen, und sie nehmen, wie sie im gewöhnlichen Lauf der Welt, in dem Benehmen der Menschen in Gesellschaft, in ihren Beschäftigungen und Vergnügungen sich darbieten. Wo Erfahrungen dieser Art mit Verständnis gesammelt und miteinander verglichen werden, da können wir hoffen, auf sie eine Wissenschaft zu gründen, die an Sicherheit den Resultaten anderweitiger menschlicher Forschung nicht nachsteht, sie zugleich an Nutzen weit übertrifft." (TMN, PhB 283a, 7) Die Materialquelle für die Erforschung des menschlichen Geistes sind somit systematische Beobachtungen und Analysen menschlicher Verhaltensweisen und typisch menschlicher Erfahrungen. Da Beobachtung und Erfahrung die Quelle für eine Theorie des Geistes darstellen, ist es Hume wichtig, eine systematische Theorie der Erfahrung zu entwickeln. 1.2 Der empiristische Grundsatz: Alle Vorstellungen („ideas") stammen aus Eindrücken („impressions") Unter Perzeptionen versteht Hume alle Bewusstseinsinhalte. Der Kontrastbegriff zum Begriff der Perzeptionen ist der Begriff der

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Gegenstände. Hier wird bereits eine erste ontologische Grundannahme deutlich, die später explizit dargestellt wird, nämlich dass Hume die klassische Unterscheidung in Substanzen und Akzidenzien verwirft. In seiner Ontologie gibt es nur Entitäten, die keines Trägers bedürfen, d. h. wenn man die klassische Terminologie beibehalten möchte, dann gibt es nur Substanzen und keine Akzidenzien. Da Hume voraussetzt, dass es keine Entitäten gibt, die eines Trägers bedürfen, stellt sich für ihn nur noch die Frage, ob es neben den Perzeptionen als selbständigen Entitäten auch noch (äußere) Gegenstände als selbständige Entitäten gibt. Letztlich wird die Annahme, es gäbe (äußere) Gegenstände als selbständige Entitäten, die unabhängig von unserem Bewusstsein sind, von Hume verworfen, weil die einzige Quelle, auf die sich diese Behauptung stützen könnte, die Erfahrung wäre. Die Erfahrung liefert uns jedoch stets nur Perzeptionen. Die nachfolgende Textstelle belegt, dass Perzeptionen alle Bewusstseinsinhalte umfassen: „Alles, was ins Bewußtsein tritt, ist tatsächlich eine Perzeption, es kann darum nicht als etwas anderes von uns unmittelbar erlebt werden." (TMN, PhB 283a, 254) Die Perzeptionen zerfallen in zwei Gruppen, nämlich die Eindrücke („impressions") und die Vorstellungen („ideas"). Diese unterscheiden sich nur dadurch, dass Eindrücke lebhafte Empfindungen sind, während Vorstellungen schwache Abbilder der Eindrücke sind: „Diejenigen Perzeptionen, die mit größter Stärke und Heftigkeit auftreten, nennen wir Eindrücke. Unter diesem Namen fasse ich alle unsere Sinnesempfindungen, Affekte und Gefühlserregungen, so wie sie bei ihrem erstmaligen Auftreten in der Seele sich darstellen, zusammen. Unter Vorstellungen dagegen verstehe ich die schwachen Abbilder derselben, wie sie in unser Denken und Urteilen eingehen;" (UMV, PhB 35, 18) Zu den Eindrücken gehören gemäß Humes Definition nicht nur Sinneserfahrungen, wie sehen, hören etc., sondern auch lebhafte Auffassungen von Gefühlen, Emotionen und propositionalen Einstellungen:

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„Unter der Bezeichnung Eindruck verstehe ich also unsere lebhafteren Auffassungen, wenn wir hören, sehen, tasten, lieben, hassen, wünschen oder wollen." (UMV, PhB 35,18) Vorstellungen sind zeitlich später als Eindrücke, sie werden von den Eindrücken verursacht und sie haben als Abbilder alle Eigenschaften mit den Eindrücken gemeinsam, abgesehen davon, dass Eindrücke lebhafter sind. Einfache Vorstellungen sind genaue Abbilder von einfachen Eindrücken: „... wage ich zu behaupten, daß die Regel hier ohne Ausnahme zutrifft, und daß jeder einfachen Vorstellung ein einfacher Eindruck entspricht, der ihr gleicht, daß es ebenso für jeden einfachen Eindruck eine ihm entsprechende Vorstellung gibt." (PhB 283a, 12) Da komplexe Vorstellungen sich stets auf eine Verknüpfung von einfachen Vorstellungen zurückführen lassen und zusammengesetzte Eindrücke aus einfachen Eindrücken gebildet werden, gilt auch - im wesentlichen - eine solche Ähnlichkeitsbeziehung zwischen zusammengesetzten Eindrücken und komplexen Vorstellungen. Allerdings können komplexe Vorstellungen sich entweder auf einen zusammengesetzten Eindruck oder bloß auf eine Verbindung von einfachen Eindrücken stützen. Letzteres ist der Fall, wenn wir die komplexe Vorstellung eines blauen Menschen mit Flügeln bilden, die sich auf die Verbindung der einfachen bzw. einfacheren Eindrücken des Blauen, des Menschen und der Flügel stützt, wobei wir nie einen zusammengesetzten Eindruck dieser Art gehabt haben. Wir können somit einfache Eindrücke, zusammengesetzte Eindrücke sowie Verbindungen von einfachen Eindrücken unterscheiden. Diese Unterscheidung ist für Hume sehr wichtig und ist wegen der strikten Analogie auch auf die Vorstellungen zu übertragen: Einfache Vorstellungen sind einfachen Eindrücken nachgebildet. Eine komplexe Vorstellung kann entweder eine zusammengesetzte Vorstellung sein, wenn sie einem zusammengesetzten Eindruck nachgebildet ist, oder sie kann eine Verbindung von (einfacheren) Vorstellungen im Sinne einer kompositionalen Verknüpfung sein, wenn sie einer Verbindung von (einfacheren) Eindrücken nachgebildet ist. Da die Bewusstseinsinhalte sich in Vorstellungen

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und Eindrücke aufteilen und komplexe Vorstellungen sich stets auf eine Verknüpfung von einfachen Vorstellungen zurückführen lassen, so ist das Verhältnis von einfachen Vorstellungen zu Eindrücken für Hume der Angelpunkt für alle Relationen zwischen Eindrücken und Vorstellungen. Er behauptet, dass alle einfachen Vorstellungen letztlich von einfachen Eindrücken verursacht und diesen nachgebildet werden. Diese These bezeichne ich als die

spezielle Grundthese des

Empirismus:

„Hier begnügen wir uns damit, den einen allgemeinen Satz festzustellen, daß alle unsere einfachen Vorstellungen bei ihrem ersten Auftreten aus einfachen Eindrücken stammen, welche ihnen entsprechen und die sie genau wiedergeben." (TMN, PhB 283a, 13) Hume erwähnt auch den Fall, dass wir uns Vorstellungen von Vorstellungen, also Vorstellungen zweiter Ordnung, machen, beispielsweise dann, wenn wir über Vorstellungen nachdenken. Vorstellungen zweiter Ordnung sind nicht unmittelbar, sondern nur mittelbar aus Eindrücken hervorgegangen. Daher muss das einfache Grundprinzip des Empirismus entsprechend ergänzt werden: „(...) so bleibt es doch dabei, daß alle unsere einfachen Vorstellungen, nämlich entweder mittelbar oder unmittelbar, aus ihnen entsprechenden Eindrücken hervorgehen." (TMN, PhB 283a, 16) Da Hume annimmt, dass jede Vorstellung die mittelbare oder unmittelbare Nachbildung eines einfachen Eindrucks, eines zusammengesetzten Eindrucks oder einer Verbindung von mehreren Eindrücken ist, so gilt die folgende allgemeine Grundthese des

Empirismus:

Vorstellungen sind mittelbar oder unmittelbar durch Eindrücke verursacht und ihnen nachgebildet.

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1.3

241

Eine Methode zur Entlarvung bedeutungsloser philosophischer Ausdrücke

Diese Grundthese verbindet Hume mit einer subjektivistischen Bedeutungstheorie zu einer Methode, die es erlaubt, Klarheit in die philosophische Begriffsbildung zu bringen und so mit Entgleisungen der traditionellen Metaphysik aufzuräumen. Gemäß einer subjektivistischen Bedeutungstheorie ist die Bedeutung eines Ausdrucks ein Bewusstseinsinhalt; bei Hume ist die Bedeutung eines Ausdrucks somit stets eine Vorstellung oder ein Eindruck. Da alle Vorstellungen letztlich auf Eindrücke zurückgeführt werden können, lässt sich die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks stets auf einen einfachen Eindruck oder einen zusammengesetzten Eindruck oder eine Verbindung von mehreren (einfacheren) Eindrücken zurückführen.3 Diese Sprachphilosophie verwendet Hume zur Überprüfung der Brauchbarkeit von philosophischen Ausdrücken: Wenn ein philosophischer Ausdruck bedeutungsvoll ist, so muss sich ein einfacher Eindruck oder ein zusammengesetzter Eindruck oder eine Verbindung von mehreren Eindrücken aufzeigen lassen, die diesem zugrunde liegen. Ist dies nicht möglich, so hat der Ausdruck keine Bedeutung, auch wenn es zunächst den Anschein hat. In diesem Fall ist der als bedeutungslos entlarvte philosophische Ausdruck aus einer wissenschaftlichen Philosophie zu verbannen: „Haben wir daher Verdacht, daß ein philosophischer Ausdruck ohne irgend einen Sinn oder eine Vorstellung gebraucht werde, was nur zu häufig ist, so brauchen wir bloß nachzuforschen, von welchem Eindruck stammt diese angebliche Vorstellung her? Und läßt sich durchaus kein solcher aufzeigen, so wird dies zur Bestätigung unseres Verdachts dienen. Indem wir die Vorstellungen in ein so klares Licht stellen, dürfen wir billig hoffen, allem Streit, der über ihre Natur und Wirklichkeit sich erheben könnte, ein Ende zu machen." (TMN, PhB 283a, 22) Die subjektivistische Bedeutungstheorie wird von Hume ohne weitere Diskussion implizit vorausgesetzt. Sie ist von John Locke eingeführt und diskutiert worden. Es ist anzunehmen, dass Hume Lockes subjektivistische Sprachphilosophie als eine für den gesamten britischen Empirismus feststehende Theorie übernommen hat.

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1.4

Die Vorstellungen der Substanz, der Existenz und der Identität 1.4.1

Die Vorstellung der Substanz

Die Frage, ob es Substanzen gibt, ist für Hume gleichbedeutend mit der Frage, ob es eine einfache Vorstellung, eine zusammengesetzte Vorstellung oder eine Verbindung von Vorstellungen gibt, die die Bedeutung des Ausdrucks „Substanz" ausmacht. Die Frage, was eine Substanz ist, wird gemäß Humes Methodologie in die Frage transformiert, welche Vorstellung bzw. Verbindung von Vorstellungen es ist, die die Bedeutung des Ausdrucks Substanz ausmacht. Da Vorstellungen sich stets auf Eindrücke zurückführen lassen, muss dementsprechend gemäß Hume letztlich genau eine der folgenden drei Möglichkeiten für die Bedeutung eines Ausdrucks in Bezug auf Eindrücke zutreffen: Wenn ein philosophischer Ausdruck bedeutungsvoll ist, so muss sich ein einfacher Eindruck oder ein zusammengesetzter Eindruck oder eine Verbindung von mehreren Eindrücken aufzeigen lassen, die diesem zugrunde liegen. Hume behauptet, dass die Vorstellung der Substanz eine Verbindung von einfachen Vorstellungen ist. Seine Argumentation dafür sieht wie folgt aus:4 (51) Es gibt keinen (einfachen oder zusammengesetzten) Eindruck aus einer Sinneswahrnehmung, welcher ein Eindruck sein könnte, aus dem die Vorstellung der Substanz gebildet werden könnte. (52) Es gibt keinen (einfachen oder zusammengesetzten) Eindruck aus einer Selbstwahrnehmung, welcher ein Eindruck sein könnte, aus dem die Vorstellung der Substanz gebildet werden könnte. (53) Die Eindrücke aus Selbstwahrnehmung und Sinneswahrnehmung sind die einzigen Eindrücke, die der Vorstellung der Substanz zugrunde liegen könnten. Die relevanten Textpassagen finden sich auf den folgenden Seiten: TMN, PhB 2 8 3 a , 2 7 - 2 8 .

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Aus SI, S2 und S3 folgt: (54) Es gibt keinen (einfachen oder zusammengesetzten) Eindruck, der der Vorstellung der Substanz zugrunde liegen könnte. (55) Wir haben die Vorstellung der Substanz. Aus S4 und S5: (56) Humes These: Die Vorstellung der Substanz ist die Vorstellung einer Verbindung von (einfachen) Vorstellungen. Humes Hauptthese in bezug auf die Frage, was eine Substanz ist, ist somit die These, dass eine Substanz nichts anderes ist als eine Verbindung von Vorstellungen, und zwar eine Verbindung von einfachen Vorstellungen. Der Hinweis auf einfache Vorstellungen in der Konklusion folgt letztlich daraus, dass alle komplexen Vorstellungen sich als Verbindungen von einfachen Vorstellungen darstellen lassen. Betrachten wir kurz die Überlegungen, die der Argumentation zugrunde liegen: Die These S1 und S2 werden dadurch begründet, dass eine Substanz weder eine Farbe, ein Ton oder ein Geschmack etc. noch ein Affekt oder eine Gefühlserregung etc. ist, so dass eine Substanz weder einem Eindruck der Sinneswahrnehmung noch einem Eindruck der Selbstwahrnehmung nachgebildet sein kann. These S3 formuliert Humes Annahme, dass alle unsere Eindrücke aus Sinneswahrnehmung oder Selbstwahrnehmung stammen. Dies ist eine Grundannahme, die die Autoren des britischen Empirismus teilen. Es bleibt dann noch die Prämisse S5, die unsere Intuition festhält, dass der Ausdruck „Substanz" nicht bedeutungslos ist; der Satz S4 ist ein gefolgertes Zwischenergebnis und S6 die angestrebte Konklusion. Dieser Umgang mit dem Ausdruck „Substanz" ist charakteristisch für Humes Umgang mit allen philosophischen Ausdrücken. Etwas vereinfacht können wir Humes Haltung gegenüber philosophischen Ausdrücken wie folgt beschreiben: Philosophische Ausdrücke zeichnen sich dadurch aus, dass sich ihre Bedeutung nicht durch (einfache oder zusammengesetzte) Eindrücke angeben lässt. So sind sie entweder als bedeutungslos zu entlarven oder, falls sie eine Bedeutung haben, so besteht sie darin, dass sie eine Verbindung von Vorstellungen bezeichnen. Diese Strategie wählt

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Hume nicht nur, um zu zeigen, was die Bedeutung des Ausdrucks „Substanz" ist, sondern auch um die Bedeutung der Ausdrücke „Identität" und „personale Identität" zu klären. Etwas anderes, wenn auch auf derselben Linie, ist die Behandlung des Ausdrucks „Existenz" einzuordnen. Bevor ich zur Diskussion seiner Bemerkungen zur Existenz übergehe, betrachte ich zur Vervollständigung seiner ontologischen Grundlagen den Unterschied zwischen Substanz und Modus. Zunächst einmal ist die Kernthese, dass die Ausdrücke „Substanz" und „Modus" zwei bedeutungsvolle Ausdrücke sind, wobei sie jeweils eine Verbindung von Vorstellungen bezeichnen: „Die Vorstellung einer Substanz, und ebenso die eines Modus ist nichts als ein Zusammen einfacher Vorstellungen, die durch die Einbildungskraft vereinigt worden sind, und einen besonderen Namen erhalten haben, durch welchen wir dieses Zusammen uns oder anderen ins Gedächtnis zurückrufen können." (TMN, PhB 283a, 28) Den Unterschied zwischen Modus und Substanz erläutert Hume, indem er darauf verweist, das mit der Vorstellung der Substanz gewöhnlich ein unbekanntes Etwas verbunden ist: „Der Unterschied zwischen beiden Vorstellungen besteht darin, daß die bestimmten Eigenschaften, die das Wesen einer Substanz ausmachen, gewöhnlich auf ein unbekanntes Etwas bezogen werden, an dem sie, wie man meint, haften. Oder, falls man diese Fiktion nicht macht, so werden sie wenigstens durch die Beziehungen der Kontiguität und der Ursächlichkeit eng und untrennbar verbunden gedacht. Die Folge davon ist, daß wir jede beliebige einfache Eigenschaft, von der wir entdecken, daß sie mit anderen bereits zur Einheit einer Substanz verknüpften Eigenschaften in derselben Weise verknüpft ist, diesen sofort einverleiben, auch wenn sie in unserer ersten Vorstellung dieser Substanz nicht enthalten war." (TMN, PhB 283a, 28) Der im Zitat beschriebene Umgang mit Eigenschaften ist das eigentlich charakteristische Element einer Substanz, welches gerade bei einem Modus nicht gegeben ist. Statt von Eigenschaften spreche

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ich im folgenden von Qualitäten.5 Ein Modus ist eine Menge von Qualitäten, für die gilt: Wenn wir eine neue Qualität hinzufügen, so ändern wir den Modus. Eine Substanz kann gemäß Hume als eine variable Menge von Qualitäten charakterisiert werden, für die gilt: Wenn wir ausgehend von einer Ausgangsmenge von Qualitäten, die zunächst die Substanz bestimmen, eine neue Qualität entdecken, die mit dieser Ausgangsmenge verknüpft ist, so wird diese als weitere Qualität der Substanz in die bisher charakteristische Menge der Qualitäten aufgenommen. Wir können eine Substanz statt durch eine variable Menge von Qualitäten formal angemessener als ein Klasse von Mengen von Qualitäten charakterisieren, d. h. als eine Klasse von Modi. Wenn wir annehmen, dass wir die Mengen von Qualitäten, um die es jeweils geht, durch eine Kennzeichnung angeben können, in der die Qualitäten jeweils durch Prädikate angegeben sind, so lässt sich die Grundidee dieser Unterscheidung auch durch die moderne Unterscheidung von unterschiedlichen Verwendungsweisen von Kennzeichnungen gemäß Donnellan erläutern. Eine Kennzeichnung, ζ. B. „der Mörder von Schmidt" wird in der Äußerung „Der Mörder von Schmidt ist verrückt" attributiv verwendet, wenn damit genau die Person bezeichnet werden soll, die als einzige das Prädikat der Kennzeichnung in einer möglichen Welt erfüllt. Die Kennzeichnung wird in der Äußerung referentiell verwendet, wenn sie von einem Sprecher verwendet wird, um eine ganz bestimmte Person im Äußerungskontext zu bezeichnen, auch wenn das Prädikat gar nicht auf diese zutrifft, ζ. B. wenn die Kennzeichnung auf einen zu Unrecht Angeklagten angewendet wird, über den ich vor Gericht spreche.6 Nur im Fall von referentiell verwendeten Kennzeichnungen ist es sinnvoll zu fragen, ob das Prädikat der Kennzeichnung auch tatsächlich auf 5

6

In der deutschen Ausgabe wird „qualities" mit „Eigenschaften" übersetzt. Dies ist insofern irreführend als damit der Eindruck erweckt wird, Hume würde Eigenschaften als Gegenstück zu Substanzen in seiner Ontologie akzeptieren. Dies ist jedoch nicht der Fall. Er spricht deshalb ganz bewusst von Qualitäten, um zunächst vom Ausdruck her offen zu lassen, ob diese eines Trägers bedürfen oder nicht. Er stellt jedoch in seinem „Traktat" klar, dass alle Qualitäten, die er als existierend annimmt, keines Trägers bedürfen. Newen 1996, 58-63.

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das bezeichnete Objekt zutrifft. Eine Kennzeichnung, die eine Substanz bezeichnet, entspricht einer referentiell verwendeten, während eine Kennzeichnung, die einen Modus bezeichnet, einer attributiv verwendeten Kennzeichnung entspricht. Sowohl bei Substanzen als auch bei Modi handelt es sich um Mengen von Qualitäten als etwas, was keines Trägers bedarf; der Unterschied zwischen der Vorstellung der Substanz und des Modus besteht darin, dass ein Modus durch eine konstante Menge von Qualitäten festgelegt wird, während dies im Fall einer Substanz durch eine variable Menge von Qualitäten bzw. durch eine Menge von Modi geschieht. Entsprechend gibt bei einer attributiv verwendeten Kennzeichnung stets das Prädikat der Kennzeichnung an, wie das Referenzobjekt festgelegt wird, nämlich indem es die Kennzeichnung als einziges erfüllt, während dies für referentiell verwendete Kennzeichnungen nicht gilt. Mit seiner Erläuterung des üblichen Substanzbegriffs als einer Verbindung von (einfachen) Vorstellungen weist Hume die klassische Auffassung von Substanz, zu der die Unterscheidung von Substanz und Akzidenz gehört, zurück. „Die Anschauungen der alten Philosophen nun, die Fiktion von Substanzen und Akzidenzien, die Spekulationen über substantielle Formen und verborgene Eigenschaften, sind gleich den Gespenstern im Dunkeln." (TMN, PhB 283a, 296) Der Ausdruck „Substanz" bleibt bei Hume im folgenden Sinne verwendbar, nämlich insofern der Satz „Eine Entität ist eine Substanz" nur besagt, dass diese Entität keines Trägers bedarf. Es wird jedoch nicht mehr wie in der klassischen Auffassung behauptet, dass es sich um eine „verborgene" Entität handelt, die Träger von Eigenschaften ist und die wir nur dadurch erfassen können, dass wir ihre Eigenschaften erfassen. In bezug auf die von Hume akzeptierte Verwendungsweise gilt, dass Perzeptionen Substanzen sind. Diese These Humes ist eine entscheidende Voraussetzung für seine Theorie des Selbst. Daher möchte ich Humes Argumentation ausführlich darstellen: „Was immer ich deutlich vorstelle, kann existieren; und was ich [als] in bestimmter Weise [existierend] deutlich vorstelle, kann in

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eben dieser Weise existieren. Dies ist einer der Grundsätze, die wir bereits als gültig haben anerkennen müssen. Weiterhin: Alles, was verschieden ist, ist unterscheidbar, und alles, was unterscheidbar ist, ist durch die Einbildungskraft trennbar. Dies ist ein zweiter [feststehender] Grundsatz. Der Schluß, den ich aus diesen beiden Sätzen ziehe, lautet: Da alle unsere Perzeptionen voneinander und von der ganzen übrigen Welt verschieden sind, so sind sie auch gesondert [vorstellbar] und [in der Vorstellung von Anderem] trennbar; sie können [also] als für sich existierend vorgestellt werden und [demnach] tatsächlich für sich existieren. Sie bedürfen keines Anderen, das den Träger ihrer Existenz abgäbe. Sie sind also Substanzen, soweit nämlich jene Definition das Wesen der Substanz zutreffend bezeichnet." (TMN, PhB 283a, 305) Humes Argumentation ist bereits recht klar. Es ist jedoch sinnvoll, die metaphysischen Grundannahmen explizit herauszustellen: (PI) (P2)

Alle Perzeptionen sind voneinander verschieden. Alles, was verschieden ist, ist unterscheidbar, und alles, was unterscheidbar ist, ist durch die Einbildungskraft trennbar.

Aus PI und P2 folgt: (P3)

Alle unsere Perzeptionen sind durch die Einbildungskraft trennbar.

Anders formuliert ergibt sich: (P3a) Alle unsere Perzeptionen können wir uns als getrennt vorstellen. (P4) Wenn wir uns etwas vorstellen, so stellen wir uns es als existierend vor. Da wir uns gemäß Hume Perzeptionen vorstellen, 7 ergibt sich aus (P4) der folgende Anwendungsfall: (P4a) Alle unsere Perzeptionen können wir uns als existierend vorstellen. 7

Diese Redeweise setzt wiederum den Humeschen Fehler voraus, demgemäß man nicht zwischen Vorstellungsakt und Vorstellungsinhalt unterscheidet.

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Aus P3a und P4a folgt: (P5)

Alle unsere Perzeptionen können wir uns als getrennt und als existierend vorstellen.

Von (P5) müssen wir Hume den Übergang zu (P5a) zuschreiben8: (P5a) Wir können uns alle unsere Perzeptionen als getrennt existierend vorstellen. (P6) Was man sich als in bestimmter Weise existierend deutlich vorstellen kann, das kann auch in dieser Weise existieren. Aus P5 und P6 folgt: (P7)

Perzeptionen können getrennt existieren.

Wenn Perzeptionen getrennt existieren können, dann bedürfen sie keines Trägers, d. h. sie sind Substanzen im Humeschen Sinne. Diese Argumentation stützt sich vor allem auf zwei Prinzipien, die unser Vorstellungsvermögen und die Annahmen über ontologische Strukturen direkt miteinander verbinden. Sie können auch als die grundlegenden metaphysischen Hintergrundannahmen Humes bezeichnet werden. Die erste Annahme ist in These Ρ6 formuliert, wobei das allgemeinere Prinzip, das These P6 zugrunde liegt, besagt, dass alles, was wir uns deutlich vorstellen können, auch möglich ist: „Es ist ein anerkannter Grundsatz der Metaphysik, daß alles, was der Geist sich deutlich vorstellt, zugleich die Vorstellung seines möglichen Bestehens einschließt, oder mit anderen Worten, daß nichts, was wir uns in unserer Einbildungskraft vergegenwärtigen können, absolut (= apriori) unmöglich ist." (TMN, PhB 283a, 49)

Dieser Übergang ist formal nicht korrekt, denn aus „als F und als G vorstellen können" folgt nicht „als FG vorstellen können", ζ. B. folgt aus „etwas als blau und etwas als rot vorstellen können" nicht „etwas als rotblau vorstellen können". Allgemeiner ist das folgende ein klassischer Fehlschluss der Prädikatenlogik: Aus Möglich-p und Möglich-q folgt nicht: Möglich-(p λ q). Wir können Hume allerdings wohlwollend so interpretieren, dass er (P5) und (P5a) als bedeutungsgleich betrachtet hat.

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Das zweite Prinzip ist in These P2 formuliert: Alles, was verschieden ist, ist unterscheidbar, und alles, was unterscheidbar ist, ist durch die Einbildungskraft trennbar. Damit wird behauptet, dass jede Verschiedenheit, die de facto vorliegt, auch vorstellbar ist. Hume hält darüber hinaus auch die Umkehrung für richtig: „Erstlich haben wir schon bemerkt, daß Gegenstände, die verschieden sind, unterscheidbar, und daß Gegenstände, die unterscheidbar sind, durch das Denken und die Einbildungskraft trennbar sind. Wir können hier hinzufügen, daß diese Behauptungen auch wahr bleiben in der Umkehrung, daß also trennbare Gegenstände auch verschieden sind." (TMN, PhB 283a, 31-32) Wir können somit festhalten, dass zu den metaphysischen Grundannahmen der Philosophie Humes zum einen der Übergang von einer epistemischen Möglichkeit zu einer metaphysischen Möglichkeit gehört und zum anderen die Annahme, dass Unterschiede im Sein und Unterscheidungen beim Vorstellen einander direkt entsprechen. 1.4.2

Die Vorstellung der Existenz

Ähnlich wie der Ausdruck „Substanz" als bedeutungsvoll ausgewiesen wurde, soll auch der philosophische Ausdruck „Existenz" seine korrekte Bedeutung zugewiesen bekommen. Der Unterschied ist allerdings der, dass die Vorstellung der Existenz nicht eine Verbindung von Vorstellungen ist, sondern mit jeder einzelnen Vorstellung identisch ist. Hume argumentiert dabei wie folgt: (El) (E2)

(E3)

Jeder Eindruck und jede Vorstellung in unserem Bewusstsein wird von uns als existierend vorgestellt. Wenn jeder Eindruck und jede Vorstellung in unserem Bewusstsein von uns als existierend vorgestellt wird, dann ist es entweder der Fall, dass die Vorstellung der Existenz aus einem besonderen Eindruck stammt, der mit jeder Perzeption verbunden ist, oder die Vorstellung der Existenz ist identisch mit der Vorstellung dessen, was wir uns als existierend vergegenwärtigen. Es gibt keinen besonderen Eindruck der Existenz, der jede Perzeption begleiten würde.

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Aus El, E2 und E3 folgt: (E4)

Die Vorstellung der Existenz ist identisch mit der Vorstellung dessen, was wir uns als existierend vergegenwärtigen.

Vor einer kurzen kritischen Betrachtung möchte ich diese Argumentation zunächst erläutern. Sie beruht im wesentlichen auf Prinzipien, die Hume aufgrund von Selbstwahrnehmung als evident ansah. Dazu gehört als Ausgangspunkt die These El, die Hume schlicht konstatiert: „Was immer wir uns vorstellen, stellen wir uns als existierend vor." (TMN, PhB 283a, 91) These E3 liegt für ihn ebenso auf der Hand, denn es ist leicht einzusehen, dass es nichts gibt, was all unseren verschiedenen Eindrücken und Vorstellungen gemeinsam wäre, außer eine Perzeption zu sein. Doch eine Theorie von Universalien, mit der Eigenschaft, eine Perzeption zu sein, als einer realen Entität kommt für Hume nicht in Frage, denn für ihn ist es evident, dass reale Entitäten nur Individuen, nicht aber Universalien sein können. 9 Auch dies ist ein feststehendes Prinzip seiner Ontologie. Die Alternative in These E2 ergibt sich aus seiner allgemeinen empiristischen Grundthese, der gemäß Vorstellungen auf Eindrücke zurückgeführt werden können. Die auf den ersten Blick durchaus mögliche Annahme, dass die Vorstellung der Existenz eine Vorstellung von einer Verbindung von bestimmten Vorstellungen sein könne, kommt nicht in Frage, die These El ist eine intuitive Gewissheit, der gemäß jede einfache Vorstellung und jeder einfache Eindruck und jede beliebige Art von Verbindung von Vorstellungen gleichermaßen als existierend vorgestellt werden. So bleibt gemäß Hume nur, dass es entweder einen besonderen Eindruck der Existenz gibt, der mit allen anderen Eindrücken und Vorstellungen verbunden auftritt, oder dass

„Drittens belehrt uns ein in der Philosophie allgemein angenommener Grundsatz, alles in der Natur sei individuell, es sei also vollständig ungereimt, ein Dreieck als wirklich vorhanden zu denken, das nicht ein genau bestimmtes Verhältnis der Seiten und Winkel habe." (TMN, PhB 283a, 33)

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die Vorstellung der Existenz mit der Vorstellung dessen, was wir uns als existierend vorstellen, identisch ist. Den Ausweg, dass der Begriff als bedeutungslos verworfen werden kann, erwägt Hume ganz zu recht nicht bzw. er schließt ihn implizit aus. Aus den Prämissen El, E2 und E3 ergibt sich die These, dass die Vorstellung der Existenz identisch ist mit jeder Vorstellung, die jemand hat. „Jede Vorstellung, die es uns beliebt zu vollziehen, ist die Vorstellung von etwas Seiendem; und die Vorstellung von etwas Seiendem ist nichts anderes als eben eine beliebige von uns vollzogene Vorstellung." (TMN, PhB 283a, 91) Diese These, dass jede Vorstellung zugleich eine Vorstellung von Existenz ist, ist jedoch auch innerhalb von Humes Philosophie nicht akzeptabel: Denn die Vorstellung der Existenz ist dem gemäß zum Beispiel identisch mit der Vorstellung des Grünen und zugleich identisch ist mit der Vorstellung des Roten, obwohl die Vorstellung des Roten und des Grünen nicht identisch sind; somit müsste Hume die Eigenschaft der Transitivität für die Identität aufgeben, was unakzeptabel ist, zumal er hier - anders als bei der Diskussion personaler Identität - strikte Identität im Sinn hat. Bei einer wohlwollenden Interpretation kann man herausstreichen, dass Hume die Sonderstellung des Ausdrucks „Existenz" bereits erkannt hat, ohne sie jedoch richtig zuordnen zu können. In Humes Sprache könnte man seine Position wie folgt formulieren: Existenz ist keine neue Qualität (in bezug auf eine Perzeption). Damit nimmt er Kants Einsicht, dass Existenz kein reales Prädikat ist, in Ansätzen vorweg, wobei beide Autoren von einer modernen Betrachtungsweise von Existenz als Eigenschaft zweiter Stufe natürlich weit entfernt sind. Mit einer Klärung der Vorstellung der Existenz kann nun auch im Rahmen der Philosophie Humes die Frage beantwortet werden, ob es äußere Existenzen gibt. Damit steht die für Hume entscheidende Frage im Raum, ob es neben den Perzeptionen auch noch „äußere" Gegenstände gibt. Eine äußere Existenz gibt es gemäß Hume genau dann, wenn es eine von den Perzeptionen verschiedene Entität gibt, welche die Vorstellung der äußeren Existenz ausmacht. Die Untersuchung der allgemeinen Vorstellung

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der Existenz hat gemäß Hume ergeben, dass die Vorstellung der Existenz identisch ist mit jeder beliebigen Vorstellung. Wenn die allgemeine Vorstellung der Existenz adäquat durch Vorstellungen charakterisiert werden kann, so ist dies auch für die besondere Vorstellung der äußeren Existenz zu erwarten. Bevor ich Humes Erklärung erläutere, warum wir immer wieder die Vorstellung der äußeren Existenz ausgehend von unseren anderen Vorstellungen bilden, möchte ich seine Argumentation darlegen, mit der er die Annahme, dass es äußere Gegenstände gibt, zurückweisen möchte. Um keine petitio principii zu begehen, akzeptiert er zunächst die Präsupposition der Vertreter der These, dass es äußere Gegenstände gibt, der gemäß äußere Gegenstände von Perzeptionen spezifisch verschieden sind. Die entscheidende Textpassage für seine Argumentation ist die folgende: „Wenn nun dem Geiste nichts gegenwärtig ist als Perzeptionen, und Vorstellungen immer aus etwas entstanden sein müssen, das zuvor schon dem Geiste gegenwärtig gewesen ist, so folgt, daß es uns unmöglich ist, eine Vorstellung von etwas zu bilden oder zu vollziehen, das von Vorstellungen und Eindrücken spezifisch verschieden wäre." (TMN, PhB 283a, 92) Eine ausführliche Rekonstruktion der gesamten Argumentation sieht wie folgt aus: (Gl) (G2)

Das einzige, was in unserem Bewusstsein ist, sind unsere Perzeptionen (Eindrücke und Vorstellungen). Wir können uns nur Vorstellungen von etwas bilden, das in unserem Bewusstsein ist.

Aus G l und G2 folgt: (G3) (G4)

Es ist uns unmöglich, eine Vorstellung von etwas zu bilden, das von Perzeptionen spezifisch verschieden ist. Äußere Gegenstände sind von Perzeptionen spezifisch verschieden.

Aus G3 und G4 folgt: (G5)

Es ist uns unmöglich, eine Vorstellung von äußeren Gegenständen zu bilden.

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(G6)

Wenn wir uns keine Vorstellung von äußeren Gegenständen machen können, dann ist der Ausdruck „äußerer Gegenstand" bedeutungslos. (G7) Wenn der Ausdruck „äußerer Gegenstand" bedeutungslos ist, dann gibt es keine äußeren Gegenstände. Aus G5, G6 und G7 folgt:10 (G8)

Äußere Gegenstände können nicht existieren.

Wenn man Humes Argumentation akzeptiert, dann hat dies wichtige Konsequenzen für seine metaphysischen Grundannahmen. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass Hume voraussetzt, dass es nur Entitäten gibt, die keines Träger bedürfen, und dass er auf der Basis dieser Annahme diskutiert, ob es neben Perzeptionen, deren Existenz nie in Frage steht, auch noch „äußere" Gegenstände als Entitäten gibt, die nicht vom Bewusstsein abhängig sind. Da Hume glaubt, gezeigt zu haben, dass es keine äußeren Gegenstände gibt, so bleiben in seiner Ontologie nur noch Perzeptionen und deren Verknüpfungen übrig. Da Hume feststellt, dass wir im Alltag trotzdem immer wieder die Überzeugung bilden, dass es „äußere", vom Bewusstsein unabhängige Gegenstände gibt, anerkennt er auch, dass wir uns eine Vorstellung von äußeren Gegenständen bilden. Wie lässt sich dies mit der obigen Argumentation vereinbaren? In bezug auf die Rolle des Ausdrucks „(äußerer) Gegenstand" ist bei Hume ein zweifacher Gebrauch zu unterscheiden. Der metaphysische Gebrauch ist der seiner Gegner, denen er zunächst die These G4 zugesteht:11 10

11

Das Prinzip, welches G6 und G7 zugrunde liegt, ist die These, dass eine Entität nur dann existieren kann, wenn wir uns eine Vorstellung davon machen können. Zu den Gegnern in diesem Punkt gehört auch Locke, da er annimmt, dass es primäre Qualitäten gibt, die einen „äußeren" Gegenstand konstitutieren, der nicht wahrnehmbar ist, da nur sekundäre Qualitäten wahrnehmbar sind. Lockes Position lässt sich plakativ so darstellen: (LI) Es gibt primäre und sekundäre Qualitäten und Gegenstände werden nur aus primären Qualitäten konstitutiert. (L2) Wir können nur sekundäre Qualitäten wahrnehmen. Konklusion: (L3) Wir können keine Gegenstände wahrnehmen. Vgl. zum Verhältnis von Locke und Hume die Ausführungen von Bennett 1971, Kap. XIII.

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(Äußere) Gegenstände sind von Perzeptionen spezifisch verschieden.

Unter der Annahme dieses Gegenstandsbegriffs soll Humes Argumentation zeigen, dass es keine (äußeren) Gegenstände geben kann. Der zweite Gegenstandsbegriff, der dem Alltagsgebrauch entstammt, stützt sich auf die Negation von These G4: (Äußere) Gegenstände sind nicht spezifisch von Perzeptionen verschieden. Dieser Gegenstandsbegriff ist es, der gemäß Hume unseren Alltagsüberzeugungen zugrunde liegt. Die Annahme, dass es sich dabei um einen Alltagsbegriff von Gegenstand handelt, übernimmt Hume von Berkeley. Überhaupt stimmt er in diesem Punkt weitgehend mit Berkeley überein, wobei Berkeleys Position plakativ wie folgt dargestellt werden kann: (Bl)

Nur diejenigen Gegenstände, die man unmittelbar wahrnimmt, sind die wirklichen Gegenstände.

(B2)

Unmittelbar wahrgenommene Gegenstände sind Perzeptionen.

Konklusion: (B3) Nur Perzeptionen sind die wirklichen Gegenstände.12 Aus systematischer Perspektive handelt es sich jedoch um unakzeptable Voraussetzungen, die Hume von Berkeley übernimmt. Die implizite Annahme Humes, dass nur das existieren kann, von dem wir ein Bewusstsein haben, ist unhaltbar, weil damit die Existenz von vom Bewusstsein unabhängigen Alltagsgegenständen wie Tischen und Stühlen aufgegeben werden muss. Hume sieht darin kein Problem und behauptet entsprechend, dass auch Tische Perzeptionen sind: „Dieser Tisch, den ich jetzt eben vor Augen habe, ist nur eine Perzeption und alle seine Eigenschaften sind Eigenschaften einer Perzeption." (TMN, PhB 283a, 312) 12

Statt von Perzeptionen spricht Berkeley von Vorstellungen, die nur im Geiste existieren. Berkeley, Drei Dialoge, PhB102, 146.

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Es fehlt bekanntlich bei Hume die Unterscheidung zwischen einem Wahrnehmungsakt und dem Objekt der Wahrnehmung. Das Fehlen dieser Unterscheidung ist dann auch der wesentliche Grund, warum die zweite Annahme, dass das einzige, von dem wir eine unmittelbare Wahrnehmung, ein Bewusstsein haben, Perzeptionen sind, aus systematischer Perspektive unhaltbar ist. Wenn wir die kurze systematische Betrachtungsweise wieder zurückstellen, so ist die These, dass nur Perzeptionen Gegenstände sind, die Behauptung, mit der Hume dem Ausdruck „Gegenstand" im Rahmen seiner Philosophie eine Bedeutung gibt. Während Hume mit der obigen Argumentation den philosophischen Gebrauch des Ausdrucks „äußerer Gegenstand" - als vom Bewusstsein unabhängiges Objekt - als bedeutungslos zurückweisen möchte, anerkennt er, dass der Alltagsgebrauch von „äußerer Gegenstand" eine Bedeutung hat und er behauptet, dass diese Bedeutung dieselbe ist wie die des Ausdrucks „Gegenstand", wobei, ein Gegenstand zu sein, dasselbe heißt wie, eine Perzeption zu sein: „Im allgemeinen nehmen wir aber freilich gar nicht an, daß die äußeren Objekte von unseren Perzeptionen spezifisch verschieden sind." (TMN, PhB 283a, 92) Da unsere Alltagsrede von Gegenständen sinnvoll ist, stellt sich für Hume nicht die Frage, ob es Gegenstände gibt, sondern nur was uns dazu veranlasst, „äußere, vom Geist unabhängige", also Gegenstände im philosophischen Sinne anzunehmen: „Wir können uns wohl fragen: Was für Ursachen veranlassen uns, an die Existenz von Körpern zu glauben. Dagegen wäre es umsonst zu fragen: Ob es Körper gibt oder nicht. Die Existenz der Körper ist ein Punkt, den wir in allen unseren Überlegungen als feststehend voraussetzen müssen. (...) Wir sollten jede der beiden folgenden Fragen, die gewöhnlich zusammengeworfen werden, für sich untersuchen, nämlich einmal die Frage: weshalb wir Gegenständen, auch wenn sie den Sinnen nicht gegenwärtig sind, doch Existenz, oder kurz, warum wir Gegenständen dauernde Existenz beilegen; und dann: weshalb wir annehmen, daß sie als etwas vom Geist und Bewußtsein Gesondertes existieren." (TMN, PhB 283a, 250-251)

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Humes Antwort besagt, dass die Einbildungskraft uns vorgaukelt, dass einander ähnliche Wahrnehmungen numerisch identisch sind und dass wir deshalb zu der Überzeugung gelangen, es gebe äußere, vom Bewusstsein unabhängige Gegenstände: „Es ist eine grobe Täuschung, anzunehmen, dass die einander ähnlichen Wahrnehmungen numerisch identisch seien; und doch ist es diese Täuschung, welche uns zu dem Glauben führt, die Wahrnehmungen seien ununterbrochen und existierten, auch wenn sie den Sinnen nicht gegenwärtig sind. So steht es mit der Anschauung des gewöhnlichen Lebens." (TMN, PhB 283a, 286) Da jeder vernunftbegabte Mensch zugleich akzeptieren muss, dass einander ähnliche Wahrnehmungen, die wir zu unterschiedlichen Zeitpunkten haben, numerisch verschieden sind, sagt uns einerseits die reine Verstandestätigkeit, dass alle Wahrnehmungen voneinander verschieden sind, während die Einbildungskraft uns andererseits stabil das Bild der numerischen Identität der ähnlichen Wahrnehmungen vortäuscht. Um beides miteinander zu vereinen, vertreten die philosophischen Gegner Humes, ζ. B. Locke, die These, dass es einerseits vom Bewusstsein unabhängige Gegenstände gibt, die über die Zeit hinweg dieselben bleiben, und andererseits Wahrnehmungen gibt, die sich ständig verändern: „Die Einbildungskraft sagt uns, dass die einander ähnlichen Wahrnehmungen dauernde und ununterbrochene Existenz besitzen, und wenn sie entschwinden, nicht vernichtet werden. Die Überlegung sagt uns, dass auch die einander ähnlichen Wahrnehmungen in ihrer Existenz Unterbrechungen erfahren und voneinander verschieden sind. Dem Widerstreit dieser Gedanken [nun] entgehen wir durch eine Fiktion, die zugleich dem, was uns die Überlegung, und dem, was uns die Einbildungskraft sagt, gerecht wird, indem sie die einander widerstreitenden Merkmale verschiedenen Existenzen zuschreibt, die Unterbrechung den Wahrnehmungen, die Dauer den Gegenständen." (TMN, PhB 283a, 283-284) Für Hume ist die Lockesche Sichtweise völlig unakzeptabel und ein großer philosophischer Irrtum, weil er die Annahme, dass es äußere Gegenstände gibt, seiner Meinung nach als unhaltbar

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ausgewiesen hat. Diese Erläuterung Humes ist ein gutes Beispiel dafür, welche herausragende Rolle die reine Verstandestätigkeit bei dem Empiristen Hume spielt. Die empiristische Grundannahme, dass alles Material für die Verstandestätigkeit aus der Erfahrung stammt, führt nicht zu einer Abwertung der reinen Verstandestätigkeit. Vielmehr kann sie dazu dienen, Vortäuschungen der Einbildungskraft und des Erinnerungsvermögens als solche zu entlarven. Hume hält an der Verstandeseinsicht fest, dass Wahrnehmungen zu verschiedenen Zeitpunkten verschieden sind, auch wenn sie noch so ähnlich sind. Da es keine äußeren Gegenstände im Sinne von bewusstseinsunabhängigen Gegenständen gibt, bewertet er die bei allen Menschen durch die Einbildungskraft produzierte Meinung, es gebe solche äußeren Gegenstände, als eine stabile Täuschung: „Die Natur ist hartnäckig und will das Feld nicht räumen, wie stark auch der Angriff von seiten der Vernunft ist; die Vernunft ihrerseits ist in diesem Punkt so klar, daß es keine Möglichkeit gibt, sich über ihre Aussage hinwegzutäuschen." (TMN, PhB 283a, 286) Es ist hilfreich, Humes Thesen zu der Frage, ob es äußere Existenzen gibt, zusammenzufassen, weil die Antwort auf diese Frage ein Muster für seinen Umgang mit der Frage nach der personalen Identität darstellt: (G-i) Äußere Gegenstände als bewusstseinsunabhängige Entitäten kann es nicht geben. (G-ii) Unsere Alltagsrede von äußeren Gegenständen ist sinnvoll. (G-iii) In einer sinnvollen Rede von äußeren Gegenständen bezeichnen wir damit Perzeptionen, wobei wir dabei der Täuschung erliegen, diese Perzeptionen seien dauerhafte Entitäten und könnten auch unabhängig vom Bewusstsein existieren. (G-iv) Diese Täuschung ist ein Produkt der Einbildungskraft, die mit dieser Tendenz zur Natur des Menschen gehört. Diese Position Humes zur Diskussion um äußere Gegenstände lässt sich direkt auf seine Diskussion der personalen Identität übertra-

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gen. Bevor ich dazu übergehe, möchte ich als letzten Grundbegriff den bereits verwendeten Begriff der Identität erläutern. 1.4.3

Die Vorstellung der Identität

Hume unterscheidet eine numerische und eine qualitative Identität. Unter numerischer Identität versteht er dabei eine „vollkommene" Identität. Damit ist eine Identität bezüglich aller Qualitäten gemeint, so dass die Tatsache, dass sich zwei Wahrnehmungen dadurch unterscheiden, dass eine unterschiedliche Qualität erfasst wird, genügt, um festhalten zu können, dass es sich um zwei verschiedene Entitäten handeln muss. Perzeptionen, die ja als die einzigen Entitäten ausgewiesen wurden, werden gemäß Hume als Vorkommnisse individuiert, wobei ein Vorkommnis nicht einfach durch einen Zeitpunkt individuiert wird, sondern es auch eine Dauer haben kann. Entscheidend dafür, ob ein und derselbe Gegenstand vorliegt, sind zwei Merkmale, nämlich die Unveränderlichkeit und die Ununterbrochenheit: „So ist das Prinzip der Individuation [gemeint ist die Vorstellung der Identität, Α. N.] nichts als die Unveränderlichkeit und Ununterbrochenheit eines Gegenstandes während des von uns angenommenen Wechsels in der Zeit." (TMN, PhB 283a, 268) Auf Perzeptionen übertragen bedeutet dies, dass solange dieselbe Perzeption vorliegt, wie wir eine unveränderte und ununterbrochene Wahrnehmung haben. Jede Veränderung der Perzeption, die ja darin besteht, dass eine neue Qualität ins Spiel kommt, oder jede Unterbrechung der Perzeption, bedeutet, dass eine andere Perzeption beginnt. 13 Von dieser strikten numerischen Identität 13

Unklar ist bei Hume, ob man zu einem Zeitpunkt nur eine oder gleich mehrere Perzeptionen haben kann: Ist jede Wahrnehmung zu einem Zeitpunkt genau eine Perzeption oder besteht sie manchmal aus mehreren Perzeptionen? Eine komplexe Wahrnehmung zu einem Zeitpunkt hat mehrere Qualitäten und Hume macht explizit deutlich, dass jede Qualität einer Perzeption selbst wieder eine Perzeption ist. Gemäß diesen Ausführungen können komplexe Perzeptionen zu einem Zeitpunkt aus mehreren Perzeptionen bestehen. Andererseits macht ein Individuationskriterium für eine Entität zu einem Zeitpunkt gemäß Hume gar keinen Sinn. Identitätskriterien sind seiner Auffassung gemäß nur sinnvoll, wenn für eine

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unterscheidet Hume nur noch eine scheinbare qualitative Identität, die unserer Alltagsrede zugrunde liegt. Wir behaupten im Alltag, dass ein und derselbe Gegenstand vorliegt, auch wenn nur einige Qualitäten konstant sind, während andere variieren. Die konstanten Qualitäten gelten dabei als die für den Gegenstand wesentlichen, während die variablen Qualitäten als unwesentlich gelten. Gemäß Hume liegt aber in diesen Fällen keine echte, sondern nur eine scheinbare Identität vor, denn die einzige echte Identität ist die strikte bzw. numerische Identität.14 In einem ersten Schritt ist nun zu klären, welches die Vorstellung der Identität ist, die wir beispielsweise in einer informativen Identitätsaussage der Form „Jeder Gegenstand ist mit sich selbst identisch" zum Ausdruck bringen. Hume charakterisiert die Vorstellung der Identität dadurch, dass er sie von der Vorstellung der Einheit und der Vorstellung der Mehrheit (bzw. Vielheit) abgrenzt. Die Vorstellung der Identität nimmt eine Mittelstellung zwischen den beiden Vorstellungen ein. Hume interpretiert dazu die Identitätsaussage „Jeder Gegenstand ist mit sich selbst identisch" als gleichbedeutend mit der folgenden Aussage: (IZ) Für alle Gegenstände χ gilt: Der Gegenstand χ zum Zeitpunkt t, ist identisch mit sich selbst (dem Gegenstand x) zum Zeitpunkt t2.15 Gemäß meiner Lesart von Hume - die ich an anderer Stelle ausführlich entwickele (Newen, Theorien des Selbstbewusstseins,

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Entität festgelegt wird, dass sie zu verschiedenen Zeitpunkten dieselbe ist. Vgl. dazu das folgende Zitat: „Wir können, wenn wir es irgend genau nehmen, nicht sagen, ein Gegenstand sei mit sich selbst identisch, es sei denn, daß wir damit sagen wollen, der Gegenstand, als in einem Zeitpunkt existierender, sei identisch mit sich selbst, als in einem anderen Zeitpunkt existierendem." T M N , PhB 283a, 268. Hume gibt keine Kriterien zur Unterscheidung von konstanten und veränderbaren Qualitäten eines Gegenstandes an. Dies würde auch seiner Grundthese nicht entsprechen, der gemäß es sich bei unserer Rede von konstanten und variablen Qualitäten eines Gegenstandes stets um eine scheinbare Identität handelt. Wir können Hume zuschreiben, dass die scheinbare Identität letztlich eine konventionale Festlegung und daher für einen Gegenstand veränderbar ist. Dies ist eine moderne Formulierung des Inhalts der Textstelle, T M N , PhB 283a, 268.

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mentis, im Druck) - sind alle wahren Identitätsaussagen notwendig wahr. Es stellt sich für Hume die Frage, ob es wahre Identitätsaussagen gibt, die zugleich notwendig wahr und informativ sind.16 Humes These ist, dass wir mit Hilfe der Dimension der Zeit der gesuchten Informativität und damit gerade der Vorstellung der Identität Rechnung tragen können. Dies möchte ich nun kurz erläutern. Hume macht deutlich, dass zwischen der Vorstellung, die mit dem Wort „der Gegenstand x " bezeichnet wird und der Vorstellung, die mit dem Ausdruck „sich selbst" bezeichnet wird, ein Unterschied besteht, der die Aussage in der erwünschten Weise informativ macht, indem die strikte Identität bzw. die Einheit aufgegeben werden kann, ohne dass eine falsche Identitätsbehauptung über mehrere Entitäten bzw. über eine Mehrheit daraus würde: „Mit dieser Wendung [gemeint ist die obige Identitätsaussage IZ] statuieren wir einen Unterschied zwischen der Vorstellung, die unter dem Wort Gegenstand verstanden wird und derjenigen, die mit „sich selbst" gemeint ist, ohne daß wir doch, sei in die Mehrheit uns verlieren, sei es andererseits in der strikten und absoluten Einheit stecken bleiben." (TMN, PhB 283a, 268) Dies interpretiere ich mit Hilfe moderner Begrifflichkeit so, dass diese Identitätsaussage informativ ist, weil sie die Vorstellung der strikten Einheit, das ist die Apriorität, aufgibt, ohne dadurch jedoch eine Aussage über eine Mehrheit zu werden, und folglich falsch zu sein. Gemäß meiner Deutung Humes ist die Identitätsaussage IZ notwendig wahr, aber wegen des Unterschieds der Vorstellungen nicht a priori, sondern a posteriori als wahr erkennbar. Diese Deutung hat den Vorzug, dass sie Hume im Umgang mit dem Begriff Identität eine aus heutiger Sicht zutreffende Analyse 16

Hier weicht meine Interpretation von Bennetts Interpretation ab. Gemäß Bennett ist Hume auf der Suche nach wahren kontingenten Identitätsaussagen, so dass Bennett die Vorstellung der Einheit als Notwendigkeit interpretiert: „If my account of the problem is right, we are looking for contingent identity-statements" (Bennett 1971, 334). Meiner Meinung nach erhält man eine angemessenere Rekonstruktion, wenn die Vorstellung der Einheit als Apriorität gedeutet wird.

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zuschreiben kann, nämlich dass er im Prinzip nach notwendig wahren Identitätsaussagen gesucht hat, die aber a posteriori als wahr erkennbar sind. Wie aber kann eine Identitätsaussage gemäß Hume wahr sein, wenn die beiden singulären Terme Vorstellungen bezeichnen, die sich unterscheiden? Hier ist der entscheidende Punkt, dass der Unterschied der beiden Vorstellungen durch das Merkmal der Zeit hineinkommt. Die Zeit ist jedoch, ebenso wie der Raum, gemäß Hume keine eigene, selbständige Vorstellung, sondern nur eine Vorstellung, die die Ordnung der Vorstellungen betrifft. 17 Insofern können die beiden singulären Terme „der Gegenstand x" und „sich selbst" dieselbe Vorstellung bezeichnen, wobei ein Unterschied nur durch das Merkmal der Zeit hinzukommt. Dass es sich bei einer Wahrnehmung über eine Zeitdauer hinweg um eine Perzeption handelt, kann nur a posteriori festgestellt werden, nämlich indem ich diese Perzeption als unverändert und ununterbrochen für eine bestimmte Zeitdauer erfasse. Bislang habe ich nur die Vorstellung der strikten bzw. numerischen Identität betrachtet. Im Alltag verwenden wir jedoch den Begriff in einer nichtstrikten Weise, die Hume qualitative Identität nennt. Eine qualitative Identität ist nur eine scheinbare Identität, die aufgrund von Ähnlichkeiten angenommen wird. Wir wissen mit Hilfe der Vernunft, dass, wenn wir zwei unterbrochene Wahrnehmungen der Möbel eines Zimmers haben, dies zwei verschiedene Perzeptionen sind, aber sie können sich natürlich sehr ähnlich sein: „Ich betrachte die Möbel in meinem Zimmer, schließe die Augen und öffne sie wieder; ich finde dann, daß die neue Wahrnehmung denen vollkommen gleichen, die vorher meinen Sinnen sich aufdrängten. Solche Ähnlichkeit [nun] wird von uns in tausend Fällen beobachtet" (TMN, PhB 283a, 272) „Die Vorstellungen von Raum und Zeit sind daher keine besonderen oder für sich bestehenden Vorstellungen, sondern nur Vorstellungen, die die Art und Ordnung, in welcher Gegenstände existieren, zum Inhalt haben, oder mit anderen Worten, es ist ebenso unmöglich, einen leeren Raum oder eine Ausdehnung ohne Materie vorzustellen, als eine Zeit, ohne daß eine Folge oder ein Wechsel in irgend welcher realen Existenz gegeben gewesen wäre." (TMN, PhB 283a, 57-58)

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Wenn wir im Alltag dann dazu übergehen zu sagen, dass die Möbel, die ich jetzt sehe, dieselben sind, wie die, die ich eben gesehen habe, so ist dies gemäß Hume die Annahme einer qualitativen, scheinbaren Identität, denn die relevanten Entitäten sind Perzeptionen und aufgrund der Unterbrechung der Wahrnehmungen liegt keine strikte Identität vor. Die Fiktion einer scheinbaren Identität entsteht dadurch, dass unsere Einbildungskraft die ähnlichen Vorstellungen als numerisch identisch bewertet: „Daß die Einbildungskraft an den Vorstellungen ähnlicher Wahrnehmungen ungehemmt hingleitet, dies macht [wie wir sahen], daß wir diesen vollkommene Identität zuschreiben." (TMN, PhB 283a, 273) Bei der Diskussion der personalen Identität stützt sich Hume auf den Begriff der qualitativen Identität. Als Grundlage für diese Diskussion fasse ich die zentralen Thesen zur Vorstellung der Identität zusammen: (Id-i) Wir können die strikte bzw. numerische von der qualitativen Identität unterscheiden. Nur numerische Identität ist Identität, während die qualitative Identität eine Fiktion der Einbildungskraft ist. (Id-ii) Eine Perzeption ist genau dann ein und dieselbe Entität gemäß Hume, wenn sie ohne Unterbrechung erfasst wird und wenn keine Veränderung der Qualitäten stattfindet.18 (Id-iii) Die Vorstellung der Identität kann nur durch wahre informative Identitätsaussagen ausgedrückt werden. Informative Identitätsaussagen sind notwendig und a posteriori wahr. Zum Abschluss der Diskussion der Vorstellung der Identität möchte ich auf ein Problem der Humeschen Ontologie aufmerksam machen. Es ist für Humes Identitätsbegriff wesentlich, dass Perzeptionen nicht als Vorkommnisse zu jeweils genau einem be18

Zwei Perzeptionen sind genau dann verschiedene Entitäten, wenn sie durch eine Unterbrechung getrennt sind, d. h. es liegt keine ununterbrochene Wahrnehmung vor, oder wenn sie sich durch mindestens eine Qualität unterscheiden, d. h. es hat eine Veränderung stattgefunden.

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stimmten Zeitpunkt individuiert werden. Wäre dies der Fall, so wäre eine Identitätsaussage in bezug auf zwei Perzeptionen, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten erfasst werden, stets falsch. Wenn Perzeptionen als Eindrücke oder Vorstellungen zu jeweils genau einem Zeitpunkt individuiert würden, so würde eine prinzipielle Unstimmigkeit seiner Prinzipien entstehen. Diese Unstimmigkeit zeigt sich durch die Unverträglichkeit der folgenden Sätze, wobei II die naheliegende Individuation von Perzeptionen als Wahrnehmungen zu bestimmten Zeitpunkten ist und Hume die Thesen 12 und 13 als wesentlich für seine Theorie betrachtet: (11)

(12) (13)

Nur Perzeptionen sind Gegenstände und Perzeptionen werden als Vorkommnisse zu Zeitpunkten individuiert, d. h. zwei Perzeptionen zu unterschiedlichen Zeitpunkten sind unterschiedliche Gegenstände. Die Vorstellung der Identität kann nur durch informative Identitätsaussagen zum Ausdruck gebracht werden. Identitätsaussagen können nur dann informativ sein, wenn sie behaupten, dass ein Gegenstand zum Zeitpunkt t, identisch ist mit einem Gegenstand zum Zeitpunkt t2.

Diese Schwierigkeit zeigt, dass Humes Versuch, innerhalb seines theoretischen Gebäudes einen stimmigen Identitätsbegriff für Gegenstände einzuführen, nur gelingt, weil er voraussetzt, dass Perzeptionen nicht durch Zeitpunkte individuiert werden. Doch es gibt keinen Grund, warum Perzeptionen de facto nicht so ablaufen könnten, dass wir auch nach Humes Definition zu jedem Zeitpunkt eine andere Perzeption hätten. Zudem liegt eine Individuierung als Vorkommnisse von Wahrnehmungen zu Zeitpunkten bei einer systematischen Betrachtungsweise von Perzeptionen nahe, so dass hier aus systematischer Sicht eine ernsthafte Schwierigkeit vorliegt, die darauf hinweist, dass Humes Verständnis von Identität unangemessen ist; zumindest ist es durch die unnötige Forderung belastet, dass Identitätsaussagen stets informativ sein müssen.

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Humes Theorie der Transparenz des Geistes und der personalen Identität

Humes Theorie mentaler Phänomene kann durch zwei wesentliche Merkmale charakterisiert werden, die zugleich seine Antwort auf die Fragen sind, ob wir einen privilegierten Zugang zu unseren mentalen Phänomenen haben und ob es ein Selbst gibt. Beginnen wir mit der Frage nach dem privilegierten Zugang. 2.1

Die Transparenz des Geistes

Für Hume ist es evident, dass wir nur von Perzeptionen ein unmittelbares Bewusstsein haben. Zugleich ist das, was in unserem unmittelbaren Bewusstsein ist, das einzige, dessen wir gewiss sein können, denn gemäß Hume ist das Bewusstsein irrtumsfrei. „Das Bewusstsein aber täuscht uns niemals." (UMV, PhB 35, 81) Unser zuverlässiges Wissen muss daher von unseren Perzeptionen seinen Ausgang nehmen und kann sich letztlich nur darauf stützen. Sie werden irrtumsfrei erfasst und sind die Grundlage für alle weiteren Schlussfolgerungen: „Die einzigen Existenzen, deren wir [unbedingt] bewußt sind, sind die Perzeptionen. Weil sie uns unmittelbar durch das Bewußtsein gegenwärtig sind, fordern sie im stärksten Maße unsere Anerkennung und bilden [damit] die erste Grundlage für alle unsere Schlüsse." (TMN, PhB 283a, 280) Die Perzeptionen sind damit nicht nur aus ontologischer Sicht zentral, weil sie die einzigen Entitäten sind, die Hume als real anerkennt. Sie sind auch aus epistemischer Sicht zentral als das einzige, was uns mit Gewissheit zur Verfügung steht. Wissenschaftliches Wissen muss sich daher auf das irrtumsfreie Erfassen der Perzeptionen als Fundament stützen. Die Irrtumsfreiheit ist bei Hume ein Definitionsmerkmal für unmittelbares Bewusstsein. Genaugenommen wird die Irrtumsfreiheit dabei noch durch die Forderung der Transparenz des Geistes ergänzt. Dabei besteht die

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Irrtumsfreiheit darin, dass notwendigerweise gilt, dass, wenn ich glaube, dass ein mentaler Zustand Ζ vorliegt, dann dieser auch tatsächlich vorliegt, während die Transparenz die umgekehrte Beziehung darstellt: Es gilt notwendigerweise, dass wenn ein mentaler Zustand Ζ vorliegt, ich dann auch überzeugt bin, dass dieser vorliegt. „Alle Vorgänge im Geiste und alle sinnlichen Wahrnehmungen sind uns doch eben nur durch das Bewußtsein bekannt, sie müssen darum notwendigerweise in jeder Hinsicht als das erscheinen, was sie sind, und das sein, als was sie erscheinen. Alles, was ins Bewußtsein tritt, ist tatsächlich eine Perzeption, es kann darum nicht als etwas anderes von uns unmittelbar erlebt werden. Dies [der Fall, daß etwas, was in unser Bewußtsein tritt, nicht als Perzeption, sondern als Gegenstand aufgefaßt würde, Α. N.] hieße annehmen, daß wir auch da, wo etwas für uns Gegenstand des unmittelbarsten Bewußtseins ist, irren können." (TMN, PhB 283a, 254) Die Irrtumsfreiheit und Transparenz können jedoch nicht uneingeschränkt für alle Perzeptionen gelten, auch wenn Hume oft als der Vertreter einer uneingeschränkten These der Transparenz und der Irrtumsfreiheit dargestellt wird; denn ansonsten wäre die Natur des Geistes uns unbezweifelbar und unmittelbar zugänglich. Es wurde zu Beginn dieses Kapitels bereits deutlich gemacht, dass Hume gerade dies für falsch hält. Die Erforschung der Natur des Geistes bedarf systematischer Beobachtung und Untersuchung und ist gerade nicht irrtumsfrei. Die Transparenz des Geistes sowie dessen Irrtumsfreiheit bezieht sich nur auf Eindrücke und wegen der getreuen Abbildrelation zwischen Eindrücken und Vorstellungen auch auf alle Vorstellungen, die ein unmittelbares Abbild eines Eindrucks sind, nicht jedoch auf Verbindungen von Vorstellungen. Diese Einschränkung wird auch dadurch untermauert, dass im obigen Zitat von „unmittelbarsten Bewußtsein" gesprochen wird, für das die Irrtumsfreiheit klarerweise vorliegt. Außerdem Hume weist immer wieder darauf hin, dass die Einbildungskraft uns oft unzutreffende Vorstellungen vermittelt, die es als Täuschung zu entlarven gilt: Dazu gehören die dargestellten philosophischen Fiktionen von einer verborgenen Substanz, von äußeren

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Gegenständen sowie die Fiktion einer numerischen Identität von Alltagsgegenständen. Komplexe Vorstellungen, die uns durch die Einbildungskraft nahegelegt werden, können falsch sein und sie sind es gemäß Hume auch oft. Daher können wir Humes These zur Frage, ob wir einen privilegierten Zugang zu unseren eigenen mentalen Phänomenen besitzen durch zwei Thesen beantworten: (PZ1) Die Privilegien der Transparenz und der Irrtumsfreiheit besitzen wir in bezug auf Eindrücke und alle Vorstellungen, die unmittelbare Abbilder von Eindrücken sind, nicht jedoch in bezug auf Verbindungen von Vorstellungen. (PZ2) Die Einbildungskraft legt uns oft Fiktionen, falsche Annahmen, nahe, die aus einer unangemessenen Interpretation von Verbindungen von Vorstellungen entstehen. Nachdem die Antwort Humes in bezug auf die epistemische Frage, ob wir einen privilegierten Zugang zu unseren eigenen mentalen Phänomenen haben, dargelegt ist, wenden wir uns nun der ontologischen Frage nach dem Status des Ich zu. Wie auch in dem letzten Zitat nochmals deutlich wurde, wird der Inhalt des Bewusstseins nur von Perzeptionen gebildet. Daher stellt sich nun die Frage, ob der Geist bzw. das Ich - so wie es beispielsweise Descartes behauptet - eine geistige Substanz ist, welche der Träger der Perzeptionen ist. 2.2

Das Ich ist keine geistige Substanz

Wie wir bereits gesehen haben, weist Hume die traditionelle SubstanzAkzidenz-Unterscheidung zurück. Während Descartes daran festhält, dass Wahrnehmungen eines Trägers bedürfen, argumentiert Hume erstens, dass Perzeptionen die einzigen wirklichen Entitäten sind und zweitens, dass sie keines Trägers bedürfen. Teile von Perzeptionen, also Qualitäten, die wir einer Perzeption zuordnen, haben zudem denselben ontologischen Status wie Perzeptionen: „Ich habe bereits gezeigt, daß wir keine vollkommene Vorstellung einer Substanz haben, daß aber, wenn wir unter Substanz etwas verstehen, das für sich allein existieren kann, jede Perzeption offen-

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bar eine Substanz und jeder gesonderte Teil einer Perzeption eine gesonderte Substanz ist." (TMN, PhB 283a, 317-318) Wenn Perzeptionen keines Trägers bedürfen, so ist die Annahme, dass es eine Substanz gibt, nicht weiter erforderlich. Hume gibt sich jedoch nicht damit zufrieden, dass die Annahme einer cartesischen res cogitans überflüssig ist. Darüber hinaus zeigt er, dass sie im Rahmen seines Empirismus sinnlos ist, weil es keinen Eindruck gibt, der dem Ausdruck „Seelensubstanz" bzw. „geistige Substanz" zugrunde liegt: „Da jede Vorstellung aus einem früheren Eindruck herstammt, so müßten wir, wenn wir eine Vorstellung von der Substanz unseres Geistes haben sollten, auch einen Eindruck von derselben haben; und dies ist schwer denkbar, wenn nicht undenkbar." (TMN, PhB 283a, 304) Hume macht deutlich, dass er es für undenkbar und damit unmöglich hält, dass es einen Eindruck gibt, der die Bedeutung des Ausdrucks „Seelensubstanz" im Sinne von „verborgenem" Träger von Wahrnehmungen ausmacht. Daher handelt es sich um einen sinnlosen Ausdruck, der aus der philosophischen Sprache zu verbannen ist. Noch deutlicher sagt er dies in dem kurzen Anhang: „Wenn wir vom Ich oder einer [denkenden] Substanz reden, so müssen wir mit diesen Ausdrücken eine Vorstellung verbinden können; oder aber die Ausdrücke sind überhaupt nichtssagend. Jede Vorstellung nun entstammt einem vorangehenden Eindruck. Einen Eindruck von einem Ich oder einer Substanz als einem einfachen oder einzelnen Etwas haben wir nicht. Wir haben also auch keine Vorstellung eines Ich oder einer Substanz in diesem Sinne." (TMN, PhB 283a, 360) Wir haben bereits dargestellt, dass Hume jedoch zwei Verwendungsweisen des Ausdrucks „Substanz" als bedeutungsvoll ausgewiesen hat, nämlich erstens diejenige der gemäß „ist eine Substanz" genauso viel bedeutet wie „ist keines Trägers bedürftig" und zweitens die Verwendungsweise, die für komplexe Entitäten mit der These verbunden ist, dass die Vorstellung der Substanz die Vorstellung einer

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Verbindung von einfachen (bzw. einfacheren) Vorstellungen ist. Der erste Sinn von Substanz ist derjenige, demgemäß Perzeptionen Substanzen sind. Der zweite Sinn ist derjenige, mit dessen Hilfe wir komplexe Einheiten wie Alltagsgegenstände, aber auch das Ich gemäß Hume angemessen beschreiben können. 2.3

Die Bündeltheorie des Ich

Hume verwendet die Begriffe „Geist" und „Ich" synonym. Die These, dass es keine geistige Substanz gibt, ist damit gleichbedeutend mit der These, dass das Ich keine Substanz im Sinne eines „verborgenen" Trägers von Perzeptionen ist. Der positive Begriff von Substanz als Einheit von Vorstellungen, der zur Erklärung unserer Vorstellungen von Alltagsgegenständen eingeführt wurde, wird nun auch zur Erklärung unseres Geistes bzw. des Ichs angewendet. Humes Kernthese ist prägnant schon in dem Abschnitt Vom Skeptizismus in bezug auf die Sinne zusammengefasst: „(...), so ist zu bemerken, daß was wir Geist nennen, nichts ist, als ein Haufen oder ein Zusammen von verschiedenen Perzeptionen, das durch gewisse Beziehungen zur Einheit verbunden ist und von dem man, ob zwar fälschlich, annimmt, daß es sich einer vollkommenen Einfachheit und Identität erfreue." (TMN, PhB 283a, 275) Der Geist bzw. das Ich ist lediglich eine Verbindung von verschiedenen Perzeptionen zu einer Einheit. Hier wird deutlich, dass Hume annimmt, dass es eine Verbindung zu einer Einheit gibt, die mehr ist als eine bloße Ansammlung von Perzeptionen. In diesem Punkt anerkennt Hume unsere Intuition, dass das Ich eine Einheit darstellt. Gleichzeitig hebt er jedoch hervor, dass diese Einheit keineswegs so missverstanden werden darf, dass es dabei um eine vollkommene Einfachheit oder eine strikte Identität geht. Mit vollkommener Einfachheit meint er in diesem Kontext dabei das, was wir zuvor die Vorstellung der Einheit im Gegensatz zur Vorstellung der Mehrheit bzw. Vielheit genannt haben (vgl. 2.1.5.3). Die Einheit des Ich ist gemäß Hume weder eine Einfachheit zu einem Zeitpunkt, wie sie zum Beispiel für eine Perzeption zu einem Zeitpunkt vorliegt, noch eine strikte Identität zu verschiedenen Zeitpunkten, wie sie zum

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Beispiel für eine unveränderte und ununterbrochene Perzeption zu verschiedenen Zeitpunkten vorliegt, sondern eine Einheit in einem schwächeren Sinne. Diese Einheit in einem schwächeren Sinne betrachtet Hume - wie das obige Zitat zeigt - durchaus als real und unterscheidet sie von der Fiktion der Einfachheit zu einem Zeitpunkt und der Fiktion der Identität zu verschiedenen Zeitpunkten, die dem Ich durch die Einbildungskraft zugeschrieben wird. Die Annahme, dass das Ich in einem gewissen Sinne eine reale Einheit von Perzeptionen darstellt, bereitet Hume jedoch im Rahmen seiner philosophischen Theorie große Schwierigkeiten und führt letztlich zu einer prinzipiellen Unverträglichkeit, wie gleich deutlich werden wird. In den meisten Passagen beschränkt sich Hume daher auch auf die negative These, dass das Ich keine Substanz ist und dass wir ihm nur aufgrund einer Täuschung durch die Einbildungskraft Einfachheit zu einem Zeitpunkt und Identität in bezug auf verschiedene Zeitpunkte zuschreiben: „Der Geist ist eine Art Theater, auf dem verschiedene Perzeptionen nacheinander auftreten, kommen und gehen, und sich in unendlicher Mannigfaltigkeit der Stellungen und Arten der Anordnung untereinander mengen. Es findet sich in ihm in Wahrheit weder in einem einzelnen Zeitpunkt Einfachheit noch in verschiedenen Zeitpunkten Identität, so sehr wir auch von Natur aus geneigt sein mögen, uns eine solche Einfachheit und Identität einzubilden. Die einander folgenden Perzeptionen sind allein, das, was den Geist ausmacht, während wir ganz und gar nichts von einem Schauplatz wissen, auf dem sich jene Szenen abspielten, oder von einem Material, aus dem dieser Schauplatz gezimmert wäre." (TMN, PhB 283a, 327-328) Die Neigung der Einbildungskraft zur Annahme eines Ichs, dem Einfachheit und Identität zukommt, erklärt Hume mit Verweis auf die drei Arten von Beziehungen zwischen Vorstellungen, nämlich der Ähnlichkeit, des raumzeitlichen Zusammenhangs („Kontiguität") und der Kausalität. Im Fall des Ichs spielt ein raumzeitlicher Zusammenhang der Perzeptionen keine Rolle. Es sind die Vorstellung der Ähnlichkeit und der kausalen Verknüpfung unserer Perzeptionen, welche die Einbildungskraft dazu verleiten,

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eine personale Identität in dem Sinne anzunehmen, daß dem Ich die genannte Einfachheit und Identität zukommt. Wenn wir nur diese negativen Thesen, die das Ich in jedem Sinne als Fiktion zu entlarven suchen, berücksichtigen, so erhalten wir das verbreitete Bild der Humeschen Bündeltheorie des Ichs, dem gemäß das Ich aus der Theorie des Mentalen eliminiert wird: „Wegen der Streichung des Ich-Subjekts, das in der Tradition als Identitätsträger fungierte, und wegen seines Zusammenfalls mit dem Bewußtseinsstrom qualifiziert sich diese Theorie als nicht-egologische. Wenn dem Ich überhaupt noch ein Sinn zukommt, dann nur der Name für die jeweilige individuelle Bewußtseinsgeschichte zu sein." (Gloy 1998, 269) Zu diesem Bild gehört die Betonung der Fiktionalität der personalen Identität, die eine qualitative Identität ist und durch die Einbildungskraft fälschlich als numerische Identität aufgefasst wird. Genauso wie bei Pflanzen und Tieren handelt es sich beim Menschen um die Fiktion einer numerischen Identität: „Auch die Identität, die wir dem Geist eines Menschen beilegen, ist nur eine fingierte; sie ist von gleicher Art wie diejenige, die wir Pflanzen und tierischen Körpern beilegen." (TMN, PhB 283a, 335) Daneben gibt es jedoch auch Bemerkungen, die darauf hinweisen, dass Hume das Ich in einem gewissen Sinne als reale Einheit von Perzeptionen betrachtet. Dazu gehört zum einen das erste Zitat dieses Abschnitts, in dem es heißt, dass „was wir Geist nennen, nichts ist, als ein Haufen oder ein Zusammen von verschiedenen Perzeptionen, das durch gewisse Beziehungen zur Einheit verbunden ist (unified together by certain relations)" ( T M N , PhB 2 8 3 a , 275). Sodann weist John Biro darauf hin, dass bei Hume nur eine Person das Subjekt von echten intentionalen Prädikationen ist, während Perzeptionen bestenfalls das Subjekt von quasi-intentionalen Prädikationen sind: „Briefly, it is that he almost never makes anything other than a person the subject of a seriously intentional - as opposed to

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what we may call a quasi-intentional - predication. While he talks of perceptions „attracting", „producing", „destroying", and „influencing" each other, he never talks of them as thinking, understanding, willing, or desiring." (Biro 1993, 55) Biro stützt auf diese Beobachtung die These, dass es Hume nicht darum ging zu behaupten, dass es kein Selbst gibt, sondern erstens zu erläutern, dass die Annahme eines Ichs als Substanz falsch ist und zweitens darzulegen, wie seine alternative Sichtweise aussieht: „Hume's purpose is not to deny that there is a self. Nor is it to deny that the self is the thing that thinks - has beliefs, desires, and other cognitive states and dispositions. However, telling us what such a self is does require him to spend considerable time telling us what it is not. Thus he can easily appear to be saying that it is not anything. (...) Hume's real argument is that only a self constituted in the way he describes can be intelligibly said to do the things people (...) are said to do. Only such a self can be made the subject of the predications - in particular, of the intentional ones - peculiarly appropriate to intelligent creatures, and to persons in particular." (Biro 1993, 54-55) Eine noch deutlichere Evidenz für die These, dass Hume nur das Substanz-Ich eliminieren, nicht aber jedwede Annahme eines Ichs aus dem Weg räumen möchte, bietet der kurze Anhang, den Hume zu dem Problem der personalen Identität verfasst hat. Dort stellt er fest, dass seine Bündeltheorie letztlich darauf hinausläuft, dass die persönliche Identität erst durch das Bewusstsein als eine Einheit von Vorstellungen entsteht, während er jedoch keine akzeptable Erklärung dafür finden kann, wie das Bewusstsein unsere getrennten Vorstellungen vereinheitlichen kann: „Es ergibt sich also, daß wir lediglich in unserem Vorstellen die persönliche Identität auffinden, dann nämlich, wenn wir die Folge der vergangenen Perzeptionen betrachten und es dabei unmittelbar erleben, daß die Vorstellungen derselben als aneinander geknüpft sich darstellen, oder in natürlicher Weise eine die andere mit sich

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ziehen. (...) Die meisten Philosophen scheinen zu der Annahme geneigt, die persönliche Identität e n t s t e h e erst aus dem Bewußtsein; Bewußtsein ist aber nichts als die innerlich vergegenwärtigte Vorstellung oder Perzeption. Insofern stände es um die hier von mir vorgetragene Philosophie nicht schlecht. Aber alle meine Hoffnungen schwinden, wenn ich daran gehe, die Faktoren zu bezeichnen, die unsere sukzessiven Perzeptionen für unsere Vorstellung oder unser Bewußtsein vereinigen. Ich kann keine Theorie ausfindig machen, die in diesem Punkte befriedigt." (TMN, PhB 283a, 363) Da Hume - wie bereits festgehalten - durchaus die Ähnlichkeit und die Ursächlichkeit als Beziehungen zwischen unseren Vorstellungen als verantwortlich dafür erachtet, dass unsere Einbildungskraft die Fiktion eines Ichs bildet, dem wir Einfachheit und numerische Identität zuschreiben, so ist dies ein klarer Hinweis darauf, dass es ihm nicht darum geht, in welchen Beziehungen Perzeptionen zueinander stehen können - denn darauf hat Hume eine Antwort - , sondern gerade um die Frage, wie eine gewisse Einheit der Perzeptionen im Bewusstsein entstehen kann. Hume setzt somit als evident voraus, dass es tatsächlich der Fall ist, dass wir im Bewusstsein eine gewisse Einheit unserer Perzeptionen bilden, welche die Grundlage für die weiterreichende Fiktion der personalen Identität mit den Merkmalen von Einfachheit und numerischer Identität ist. Auf der Basis dieser Interpretation wird gut verständlich, warum Hume eine Unverträglichkeit von zwei Prinzipien dafür verantwortlich macht, dass seine Theorie der personalen Identität unzureichend bleibt: „Um es kurz zu sagen, so gibt es zwei Prinzipien, die ich nicht in Einklang bringen, von denen ich doch auch keines preisgeben kann; nämlich, daß alle unsere gesonderten Perzeptionen auch gesondert [oder für sich] bestehen können, und: daß der Geist nirgends eine reale Verknüpfung zwischen dem, was für sich bestehen kann, wahrzunehmen vermag." (TMN, PhB 283a, 363-364) Eine Unverträglichkeit der beiden Prinzipien entsteht erst dann, wenn wir Hume zuschreiben, dass der Geist eine reale Verknüp-

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fung zwischen Vorstellungen produzieren kann; 19 die Annahme, dass es eine reale Verknüpfung von Vorstellungen gibt, ist die Grundlage für Humes positive These zum Ich; die durch Evidenz oder Intuition gestützte Annahme, dass das Ich durch eine gewisse Einheit der Perzeptionen gebildet wird, kann nun so konkretisiert werden, dass es sich gemäß Hume um eine reale Verknüpfung von Vorstellungen handelt. Wenn wir die implizite Annahme Humes explizit machen, so können wir eine Unverträglichkeit von drei Sätzen aufzeigen, an denen Hume festhalten möchte. Diese Unverträglichkeit ist für Humes Theorie des Ichs bzw. der personalen Identität charakteristisch: (PI-1) Alle unsere Perzeptionen können gesondert für sich bestehen; sie bedürfen keines Trägers. (PI-2) Der Geist kann nirgends eine reale Verbindung zwischen Entitäten erfassen, die gesondert für sich bestehen können bzw. keines Trägers bedürfen. (PI-3) Das Ich ist eine durch (unseren) Geist erfasste reale Verbindung von Perzeptionen. 20 Hume sieht zur Erklärung von These PI-3 nur zwei Modelle, die beide für ihn nicht akzeptabel sind: „Inhärierten unsere Perzeptionen einem einfachen und einzelnen Etwas, oder nähme der Geist eine reale Verknüpfung zwischen ihnen wahr, in jedem dieser beiden Fälle bestände keine Schwierigkeit." (TMN, PhB 283a, 364) 19

20

Aufgrund der bisherigen Betrachtungsweise können wir eine Verknüpfung dann als real bezeichnen, wenn sie nicht bloß als Fiktion der Einbildungskraft betrachtet werden muss. Dies schließt nicht aus, dass Hume letztlich glaubt, dass eine reale Verknüpfung der Vorstellungen durch die Einbildungskraft hergestellt werden muss, aber sie darf nicht ein Produkt der Einbildungskraft sein, welches als Fiktion eingestuft werden muss. Hier sind die Abgrenzungen Humes unscharf. Dies zeigt sich im folgenden deutlich darin, dass Hume intuitiv einen Sinn von realer Verknüpfung von Perzeptionen fordert, den er im Rahmen seiner Theorie nicht einlösen kann. Humes positive These zum Ich setzt die ausführlich begründeten negativen Abgrenzungen voraus: Das Ich ist weder eine geistige Substanz noch kommt ihm eine Einfachheit zu einem Zeitpunkt oder eine numerische Identität in Bezug auf verschiedene Zeitpunkte zu.

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Eine der beiden Alternativen ist das Substanz-Akzidenz-Modell: Wenn Perzeptionen einer Substanz inhärieren, dann wird die reale Verbindung gerade durch die Zugehörigkeit zur Substanz hergestellt. Diese Alternative ist nicht akzeptabel, weil damit die These PI-1 aufgegeben werden müsste. Die These, dass Perzeptionen keines Trägers bedürfen, gehört jedoch zu Humes ontologischen Grundannahmen. Das zweite Modell besteht in der Annahme, dass der Geist eine reale Verbindung der getrennten Perzeptionen wahrnehmen kann; da die Perzeptionen als unabhängige Substanzen keine realen Verbindungen haben, müsste eine reale Verbindung in diesem Fall durch eine Wahrnehmung geschaffen werden. Doch damit müsste die These PI-2 aufgegeben werden. Dies ist wiederum für Hume nicht akzeptabel, denn die These PI-2 ist ein besonderer Fall der allgemeinen Humeschen Grundannahme, dass Unterschiede im Sein und Unterscheidungen beim Vorstellen einander direkt entsprechen. Es ist klar, dass Perzeptionen keines Trägers bedürfen und dass ihre Eigenständigkeit derart ist, dass es kein reales Band zwischen den Perzeptionen gibt. Wenn dies für die Ebene des Seins gilt, so gilt es gemäß Hume entsprechend auch für die Ebene der Vorstellungen, d. h. wir können keine reale Verknüpfungen zwischen den Vorstellungen wahrnehmen; ansonsten würde das Prinzip verletzt, dass es Unterschiede und Verbindungen in den Vorstellungen nur geben kann, wenn es sie auch im Sein gibt.21 Auch dies ist ein unentbehrliches Grundprinzip der Humeschen Philosophie. Eine weitere Möglichkeit sieht Hume nicht, d. h. es kommt für ihn nicht in Frage, die These PI-3 aufzugeben, die besagt, dass das Ich eine durch unseren Geist erfasste Verbindung von Perzeptionen ist. Abschließend soll ein weiteres Zitat die Interpretation untermauern, dass Hume die These vertritt, dass das Ich eine Einheit von Vorstellungen in unserem Bewusstsein ist. Zunächst einmal „Erstlich haben wir schon bemerkt, daß Gegenstände, die verschieden sind, unterscheidbar, und daß Gegenstände, die unterscheidbar sind, durch das Denken und die Einbildungskraft trennbar sind. Wir können hier hinzufügen, daß diese Behauptungen auch wahr bleiben in der Umkehrung, daß also trennbare Gegenstände auch verschieden sind." (TMN, PhB 283a, 31-32)

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wird im folgenden betont, dass es keinerlei reales Band zwischen den Perzeptionen gibt, wobei damit gesagt wird, dass es keine reale Verbindung der Perzeptionen auf der Ebene des Seins gibt. Gleichzeitig wird jedoch als einzige Alternative konstatiert, dass es eine durch das Bewusstsein erfasste Verbindung zwischen den Vorstellungen gibt, die wir uns von diesen Perzeptionen machen. Diese durch das Bewusstsein erfasste Verbindung der Vorstellungen ist gemäß Hume das Ich bzw. die personale Identität: „... so drängt sich die Frage auf, wie diese Beziehung der Identität sich näher bestimme, ob sie insbesondere unsere voneinander unterschiedenen Perzeptionen selbst miteinander verbinde, oder nur ihre Vorstellungen in der Einbildungskraft assoziiere; d. h. mit anderen Worten, ob wir mit der „Identität" einer Persönlichkeit sagen wollen, daß wir ein reales Band zwischen ihren Perzeptionen zu entdecken vermögen, oder ob wir uns nur eines Bandes zwischen den Vorstellungen, die wir uns von ihnen machen, bewußt sind. Diese Frage nun können wir leicht entscheiden, wenn wir uns an das erinnern, was oben ausführlich [genug] dargetan worden ist, daß nämlich der Verstand niemals eine wirkliche Verknüpfung zwischen Gegenständen wahrnimmt, daß sich auch die Verbindung von Ursache und Wirkung, bei genauer Prüfung, in eine gewohnheitsmäßige Assoziation von Vorstellungen auflöst." (TMN, PhB 283a, 335-336) Wenn das Ich eine durch das Bewusstsein erfasste Verbindung von Vorstellungen ist, so stellt sich die Frage, welches geistige Vermögen dafür verantwortlich ist, dass wir die Ununterbrochenheit und das Aufeinanderfolgen von Perzeptionen erfassen, aufgrund dessen wir die Vorstellung der personalen Identität bilden. Hier ist Humes Antwort, dass unser Erinnerungsvermögen die ausschlaggebende Instanz ist. Das Erinnerungsvermögen erlaubt es uns, nicht nur unmittelbar erinnerte Vorstellungen miteinander zu verbinden, sondern auch Vorstellungen von Ursachen zu konstruieren, die der unmittelbaren Erinnerung entschwunden sind. Damit kann mit Hilfe des Erinnerungsvermögens und der darauf aufbauenden Verknüpfung von Ursache und Wirkung auch eine Verbindung von Vorstellungen erfolgen, die nicht nur die unmittelbar erinnerten Vorstellungen einschließen:

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„Daß uns die Erinnerung allein Kunde gibt von der Ununterbrochenheit und [zeitlichen] Ausdehnung der Aufeinanderfolge der Perzeptionen in uns, dies ist es hauptsächlich, was sie für uns zur Quelle der persönlichen Identität macht. Hätten wir kein Erinnerungsvermögen, so wüßten wir nichts von Ursächlichkeit, folglich auch nichts von jener Kette von Ursachen und Wirkungen, die unser Ich oder unsere Person ausmachen. Haben wir aber einmal vermöge der Erinnerung dieses Bewußtsein der Ursächlichkeit gewonnen, so können wir jene Kette von Ursachen, folglich auch die Identität unserer Persönlichkeit über die Grenzen unserer Erinnerung hinaus ausdehnen und sie Zeiten, Umstände und Handlungen in sich begreifen lassen, die wir vollständig vergessen haben, von denen wir nur in ganz allgemeiner und unbestimmter Weise annehmen, daß sie existiert haben." (TMN, PhB 283a, 338) Zusammenfassend können wir festhalten, dass wir bei Hume keine konsistente Theorie der personalen Identität finden, sondern dass wir vielmehr unterscheiden müssen zwischen der Humeschen Theorie, die an den Thesen PI-1 und PI-2 festhält und die auf eine ansonsten systematisch entwickelte Bündeltheorie aufbaut und bei der die Existenz eines Ich in jeder Form geleugnet wird, und der Humeschen Intuition, die in der These PI-3 zum Ausdruck kommt. Eine Theorie der personalen Identität, die an der Humeschen Intuition festhält, muss aber, wie wir dargelegt haben, eine seiner Grundannahmen, PI-1 oder PI-2, aufgeben. Wenn wir diese für Hume charakteristische Spannung vor Augen haben und seine Ausführungen zum Ich insgesamt ernst nehmen, so lässt sich seine Bündeltheorie des Ich thesenhaft wie folgt zusammenfassen: (BI-1) Das Ich ist weder eine geistige Substanz noch kommt ihm eine Einfachheit zu einem Zeitpunkt oder eine numerische Identität in bezug auf verschiedene Zeitpunkte zu. (BI-2) Unsere Alltagsrede vom Ich bzw. der personalen Identität ist sinnvoll. Das Ich ist das Subjekt intentionaler Prädikation. (BI-3) Das Ich ist eine im Bewusstsein erfasste Verbindung bzw. Einheit von Perzeptionen. (BI-4) Die Verbindung der Vorstellungen, die das Ich ausmacht, wird durch das Erinnerungsvermögen hergestellt.

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Der von Hume selbst konstatierte große Mangel seiner Theorie des Ichs besteht darin, dass er innerhalb seine theoretischen Gebäudes nicht anzugeben vermag, wie eine reale Verbindung bzw. Einheit von Perzeptionen im Bewusstsein gebildet werden könnte, die nicht bloß eine Fiktion von Einfachheit oder numerischer Identität ist. Wie in BI-1 festgehalten wird, ist die personale Identität keine numerische Identität. Folglich ist sie nur eine qualitative Identität. Da qualitative Identitäten prinzipiell als Fiktionen eingeordnet wurden, steht diese Charakterisierung auch im Widerspruch zu der Humeschen Intuition. Bei einer qualitativen Identität entscheidet prinzipiell der Gesichtspunkt einer relevanten Qualität, ob Identität oder Verschiedenheit vorliegt. Da die Qualität sich jedoch graduell („in unmerklichen Stufen") verändern kann, wird die Unterscheidung von qualitativer Identität und Verschiedenheit sehr unscharf. Sie wird letztlich eine Sache der konventionalen Festlegung. Damit sind die philosophischen Fragen, die mit der personalen Identität verbunden sind, entweder nicht entscheidbar oder in Fragen zum Sprachgebrauch transformiert und damit gemäß Hume keine echten philosophischen Probleme mehr: „Das Ganze unserer Lehre von der persönlichen Identität führt schließlich zu dem Ergebnis, das für die Sache von großer Wichtigkeit ist, nämlich dem Ergebnis, daß es unmöglich ist, alle die feinen und spitzfindigen Fragen über die persönliche Identität zu entscheiden, da es sich dabei zuletzt viel eher um Fragen des Sprachgebrauchs, als um philosophische Fragen handelt." (TMN, PhB 283a, 339)

3

Humes Nähe zur kognitionswissenschaftlich orientierten Philosophie des Geistes

Die Interpretation Humes als Vertreter einer Theorie der eingeschränkten Irrtumsfreiheit und Transparenz des Geistes sowie einer Theorie der personalen Identität, die die Spannung zwischen Intuition und theoretischen Annahmen nicht aufzulösen vermag, passt sehr gut zu der Charakterisierung Humes als Vorläufer der modernen Philosophie des Geistes. Diese Interpretation bestätigt

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die selbstkritische wissenschaftliche Haltung, die Humes Philosophie auszeichnet. Ich möchte im folgenden die bereits eingangs skizzierte Nähe zur kognitionswissenschaftlich orientierten Philosophie des Geistes noch deutlicher werden lassen, denn es ist die moderne selbstkritische wissenschaftliche Grundhaltung, die Humes Theoriebildung wesentlich prägt. Wenn wir von der spezifischen Theorie der Perzeptionen absehen und stattdessen allgemein von Vorkommnissen von mentalen Phänomenen sprechen, so lässt sich aus der prinzipiellen Unverträglichkeit, die zwischen Humescher Theorie und Humescher Intuition festgestellt wurde, eine moderne verwandte Variante des Problems der Einheit unseres Bewusstseins bilden, welches die Grundintuitionen Humes aufnimmt und leicht modifiziert: (i) (ii)

(iii)

Unser Bewusstseinsinhalt ist ein Fluss von Vorkommnissen von mentalen Phänomenen. Wenn das Ich nur als ein Bewusstseinsinhalt konstruiert ist, also nur durch das Erfassen von Vorkommnissen von mentalen Phänomenen, so kann es nicht real sein. Das Ich bzw. die personale Identität ist ein reales Phänomen.

Die These (i) stützt sich dabei auf dieselbe Art von intuitiver Selbstbeobachtung, die Hume bereits zugrunde gelegt hat. These (ii) ist ein Ausdruck der Überzeugung, dass etwas, das nur im Bewusstsein konstruiert ist, nicht real sein kann. Grundlage dieser These ist die Überzeugung, dass wir den Begriff von Realität so verwenden, dass wir damit den Gegensatz zwischen real und fiktiv voraussetzen, wobei fiktiv eben jene Dinge sind, die bloß vom Bewusstsein konstruiert sind, während real solche sind, die auch unabhängig vom Bewusstsein Eigenschaften haben, in Relationen stehen etc. Schließlich ist These (iii) die Annahme, dass das Ich ein reales Phänomen ist. Bei dieser Variante des Problems sieht man auch, dass das Problem lösbar ist, indem man die These (ii) aufgibt, denn sie enthält einen fragwürdigen Realitätsbegriff: Bewusstseinsinhalte sind natürlich nicht unabhängig von einem Bewusstsein, aber deshalb sind sie noch lange nicht fiktiv. Bewusstseinsinhalte sind real in dem Sinne, dass sie Ursachen sein können. Wünsche

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und Überzeugungen sind Ursachen von Handlungen. Gerade diese Rolle von mentalen Phänomenen zu verstehen, ist die zentrale Herausforderung der modernen Philosophie des Geistes. Wir können dies auch wie folgt auf den Punkt bringen: Während ein naiver Realitätsbegriff nur das als real anerkennt, was unabhängig vom Bewusstsein besteht, ist ein erkenntnistheoretisch geprägter Realitätsbegriff - wie zum Beispiel bei Hume - einer, demgemäß nur das als real anerkannt wird, was im Bewusstsein erfasst werden kann. Beide Thesen sind aus systematischer Perspektive falsch. Dies wird besonders deutlich, wenn wir zwischen Bewusstseinsakt und Bewusstseinsinhalt trennen. Es ist im Rahmen eines wissenschaftlichen Realismus klar, dass Bewusstseinsakte reale Vorkommnisse sind und dass sie einen Inhalt haben, genauso wie es klar ist, dass es vom Bewusstsein unabhängige Gegenstände gibt. Wenn „real" der Gegenbegriff zu „fiktiv" bleiben soll, dann müssen wir unterscheiden zwischen der Realität eines Bewusstseinsaktes, der einen Inhalt hat, und der Realität, die vorliegt, wenn der Inhalt des Bewusstseinsaktes wahr ist. Ein Bewusstseinsinhalt, der mit einer Behauptung ausgedrückt wird, beschreibt genau dann fiktive Sachverhalte, wenn dieser Bewusstseinsinhalt falsch ist. Die Herausforderung der modernen Philosophie des Geistes besteht nun darin zu klären, in welchem Sinne Bewusstseinsakte und -inhalte real sind, wie sie in Beziehung zu vom Bewusstsein unabhängigen Entitäten stehen; konkreter ist damit natürlich die moderne Frage gemeint, wie die Beziehung zwischen den mentalen Phänomenen und den physischen Phänomenen (insbesondere Hirnzuständen), von denen man guten Grund hat anzunehmen, dass sie die mentalen Phänomene konstituieren, adäquat beschrieben werden kann. Auch wenn Hume diese moderne Frage aufgrund seiner Ontologie, in der nur Platz für Perzeptionen ist, für unverständlich halten müsste, so besteht aufgrund seiner Haltung zur Wissenschaft und seiner methodischen Vorgehensweise doch einige bemerkenswerte Verwandtschaften zur modernen Kognitionswissenschaft. Wie wir bereits festgestellt haben, ist es unangemessen, Hume einen radikalen erkenntnistheoretischen Skeptizismus - wie ihn beispielsweise Descartes vertreten hat - zuzuschreiben. Er sagt explizit, dass es für ihn keine Frage ist, ob es Gegenstände gibt;

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dies ist eine selbstverständliche Voraussetzung. Die kritische Frage, die er stellt, betrifft die Frage, welcher Art diese Gegenstände sind. Diesbezüglich argumentiert er dann, dass es keine äußeren, vom Bewusstsein unabhängigen Gegenstände gibt. Humes kritische Haltung ist kein Skeptizismus gegenüber wissenschaftlichen Ergebnissen, sondern eine Aufforderung, eine kritisch hinterfragte wissenschaftliche Theorie des menschlichen Geistes zu entwerfen, die seiner Meinung nach auch als Grundlage für alle wissenschaftlichen Erkenntnisse dienen sollte. Mit diesem Anliegen bereitet Hume den Boden für eine wissenschaftliche Untersuchung des Geistes, die in der Gegenwart von der analytischen Philosophie des Geistes fortgeführt wird. Humes Skeptizismus bezieht sich dementsprechend nur auf die zu seiner Zeit gängigen außerwissenschaftlichen, metaphysischen Annahmen, wobei seine Kritik vor allem gegen Descartes gerichtet ist: „Thus, while there is a sense in which Hume can be said, as he so often is, to be a sceptic, his scepticism is better understood as one about pretended supra-scientific metaphysical knowledge, rather than about scientific knowledge itself." (Biro 1993, 38) Sodann gibt es in bezug auf die Untersuchung unserer Überzeugungen eine Veränderung bei Hume, die paradigmatisch für seine Vorgehensweise ist und zugleich eine wichtige Entsprechung beim methodische Vorgehen der modernen Kognitionswissenschaften besitzt. Hume stellt sich nicht vorrangig die Frage, was eine bestimmte Alltagsüberzeugung ausmacht oder ob sie wahr oder falsch ist, sondern wie wir zu dieser Alltagsüberzeugung gelangen. Die Antwort auf die letzte Frage liefert dann in seinem philosophischen Gebäude meist die Antwort auf die erste Frage mit. Denn wenn wir klären, wie wir zu einer bestimmten Überzeugung gelangen, können wir Klarheit über die zugrunde liegenden relevanten Vorstellungen und Eindrücke gewinnen und zum Beispiel feststellen, ob die Überzeugung sinnlos ist, weil darin ein Ausdruck vorkommt, dem keine Vorstellung und kein Eindruck entspricht. In der modernen Kognitionswissenschaft ist analog nicht die Frage primär, was eine Überzeugung ausmacht oder ob sie wahr oder falsch ist, sondern wie sie in einem Menschen entstehen kann. Um

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die letzte Frage zu klären, sucht man im Rahmen einer naturalistischen Philosophie des Geistes nach neuronalen Korrelaten von mentalen Phänomenen: „We have seen that the so-called naturalization programs in recent epistemology and philosophy of mind bear a striking resemblance to Hume's project in at least some respects. The most important of these involves a somewhat similar shift from the justification of beliefs in the traditional sense to an explanation of their provenance through an examinaton of our cognitive endowments." (Biro 1993, 57) Neben diesen von Biro besonders herausgestellten Parallelen ist es sehr bemerkenswert, dass Hume explizit für die These argumentiert, dass mentale Phänomene durch materielle Phänomene verursacht sein können und dass sie es auch tatsächlich sind. „so können wir mit Sicherheit schließen, daß [materielle] Bewegung auch die Ursache unserer Gedanken und Perzeptionen sein kann, vielmehr daß sie es tatsächlich ist." (TMN PhB 283a, 322) Dabei ist diese These unabhängig von seiner Ontologie der Perzeptionen. Hume würde also an dieser These festhalten können, auch wenn er die Ontologie der Perzeptionen aufgibt, der gemäß es letztlich ja keinen Unterschied zwischen materiellen Phänomenen und Perzeptionen gibt. Dies wird dadurch deutlich, dass Hume die Frage nach der Ursache von Perzeptionen als eine Frage betrachtet, die von der Frage nach der Substanz des Geistes verschieden ist. Während letztere nur unter Voraussetzung seiner Ontologie der Perzeptionen beantwortet werden kann, ist erstere unabhängig von dieser Voraussetzung, ganz allgemein, beantwortbar, nämlich im obigen Sinne: „(...) so heißt es allzu hastig schließen, wenn man aus der bloßen Betrachtung der Vorstellungen folgert, es sei unmöglich, daß Bewegungen Denken erzeuge, oder daß voneinander verschiedene räumliche Lagen der Teile eines Körpers voneinander verschiedene Affekte oder Gedanken hervorrufen. In der Tat ist es nicht allein denkbar, daß wir solche Erfahrungen machen können, sondern es

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ist sicher, daß wir sie machen; jeder kann sich überzeugen, daß Unterschiede in den Zuständen des Körpers die Gedanken und Gefühle verändern. Sagt man, dies beruhe auf der Verbindung von Seele und Körper^ so antworte ich, daß wir hier die Frage nach der Substanz des Geistes von der nach der Ursache des Denkens trennen müssen." (TMN PhB 283a, 321-322) Dieses Zitat macht nochmals deutlich, dass die Vorstellungen, die wir uns beim „hastigen Schließen" von etwas machen, gemäß Hume nicht generell irrtumsfrei sind. Doch auch wenn die Einbildungskraft uns täuschen kann, so bleiben wir auf sie angewiesen, weil wir nur mittels Vorstellungen zu Erkenntnissen gelangen können: „Es beruht also alle Erkenntnis, die uns das Gedächtnis, die Sinne und der Verstand vermitteln, auf der Einbildungskraft, oder der Lebhaftigkeit unserer Vorstellungen." (TMN PhB 283a, 343) Wir müssen uns also der Einbildungskraft bedienen, um überhaupt zu Erkenntnissen zu gelangen, dürfen dieser aber nicht unkritisch folgen. Was wir benötigen, ist ein methodisch systematischer Gebrauch unser Einbildungskraft in Verbindung mit reiner Verstandestätigkeit. Das ist es jedoch, was gemäß Hume eine wissenschaftliche Untersuchung auf der Basis unserer irrtumsfrei erfassten Eindrücke und einfachen Vorstellungen ausmacht. Erst eine solche Vorgehensweise mit einer selbstkritischen Einstellung gegenüber erreichten Ergebnissen, erlaubt es uns, dass Wesen des Geistes zu beschreiben. Dabei können wir mit der besten verfügbaren Theorie, die Hume glaubt, vorgelegt zu haben, immer nur eine vorläufige Erkenntnis erlangen, die prinzipiell weiterentwickelt werden kann und soll. Mit dieser Einstellung ist Hume ein Vorläufer einer selbstkritischen wissenschaftlichen Erforschung des menschlichen Geistes. Dies zeigt auch seine Antwort auf die Frage, ob wir einen privilegierten Zugang zu unseren eigenen mentalen Phänomenen haben, denn Hume behauptet gemäß einer selbstkritischen wissenschaftlichen Einstellung nur eine eingeschränkte Transparenz und Irrtumsfreiheit des Geistes. Die unüberwindbare Spannung zwischen unseren (und Humes) Intuitionen in Bezug

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auf ein Ich und Humes Theorie der Perzeptionen spiegelt sich in einer analogen Schwierigkeit moderner Kognitionswissenschaften wider, die in einer Forschungsrichtung versuchen, die Theorie neuronaler Netze mit den Alltagsintuitionen zum Ich in Verbindung zu bringen.

Literatur Eine Auswahl aus Humes Schriften: Hume, D., The Philosophical Works of David Hume, ed. by Thomas Hill Green and Thomas Hodge Grose, 4 volumes. Reprint of the new edition London 1882-1886, Aalen 1964. - , A Treatise of Human Nature, ed. by L. A. Selby-Bigge, 2nd edition with text revised and notes by P. H. Nidditch, Oxford 1978. - , An Enquiry Concerning Human Understanding. Reprinted from the posthumous edition 1777, ed. by L. A. Selby-Bigge, 3rd edition with text revised and notes by P. H. Nidditch, Oxford 1978. - , An Enquiry Concerning the Principles of Morals. Reprinted from the posthumous edition of 1777, ed. by L. A. Selby-Bigge, 3rd edition with text revised and notes by P. H. Nidditch, Oxford 1975. - , Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand. Übers, von Raul Richter. Mit einer Einleitung hrsg. von Jens Kulenkampff, 12. Auflage, Hamburg 1993. - , Ein Traktat über die menschliche Natur: in 2 Bden. Übers, mit Anm. u. Reg. vers, von Theodor Lipps. Mit neuer Einf. u. Bibliogr. hrsg. von Reinhard Brandt. Bd 1. Über den Verstand. Nachdr. d. 2. Aufl. von 1904, Hamburg 1989. Bd 2. Über die Affekte. Über die Moral. Nachdr. d. 1. Aufl. von 1906, Hamburg 1978. Weitere verwendete Literatur: Ayer, A. J., 1980, Hume. Oxford. Bennett, J., 1971, Locke, Berkeley, Hume: Central Themes, New York. Biro, J., 1976, Hume on Self-Identity and Memory, Review of Metaphysics 30, 1, 19-38. - , 1993, Hume's new science of the mind, in: Norton, D. E, 1993, 33-63.

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Fogelin, R. J., 1993, Hume's scepticism, in: Norton, D. F., 1993, 90-116. Gawlick, G., Kreimendahl, L., 1987, Hume in der deutschen Aufklärung: Umrisse einer Rezeptionsgeschichte, Stuttgart-Bad Cannstatt. Kulenkampff, J., 1989, David Hume, München. Macnabb, D. G. C., 1991, David Hume: His Theory of Knowledge and Morality, 3. Aufl., Hampshire. Norton, D. F. (Hrsg.), 1993, The Cambridge Companion to Hume, Cambridge. Strawson, G., 1989, The Secret Connexion: Causation, Realism, and David Hume, New York. Streminger, G., 1994a, David Hume: Sein Leben und sein Werk. 2., unveränd. Aufl., Paderborn. - , 1994b, David Hume: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand: Ein einführender Kommentar, Paderborn.

Ein ,vielfarbiges verschiedenes Selbst'? Bewusstsein und Selbstbewusstsein bei Kant CHRISTIANE SCHILDKNECHT

Die Überlegungen Kants zu Bewusstsein und Selbstbewusstsein lassen sich allgemein als Fortschreibung der einem empiristischen Ansatz verpflichteten erkenntnistheoretischen Analysen Humes zum Begriff des Selbst verstehen. Insbesondere präsentieren sie sich als Versuch, die mit diesen Analysen verbundenen Probleme aufzulösen.1 Dabei sind die Analysen Humes ihrerseits bezogen auf den von Locke im Zusammenhang mit der Diskussion um den Begriff der personalen Identität als zentral ausgewiesenen Begriff des Selbstbewusstseins. Zentral ist der Begriff des Selbst in diesem Kontext insofern, als mit ihm die im Hinblick auf Fremd- und Selbstzuschreibungen von Wahrnehmungen oder Denkinhalten erforderliche unveränderliche und konstante basale Entität bereitgestellt wird. Denn nur vermittels einer derartigen Basis ist die zur Debatte stehende Identifikation des Objekts der Zuschreibung von Wahrnehmungen oder Denkinhalten aus der Perspektive der ersten wie aus derjenigen der dritten Person zu gewährleisten. Humes Analysen sind nun insbesondere deswegen aporetischer Natur, weil sich - wie er selbst eingesteht - die für Selbstzuschreibungen unverzichtbare basale Komponente eines ,Ich' oder ,Selbst' hinsichtlich der voneinander unterschiedenen

Diese Herstellung eines derartigen Interpretationszusammenhangs erscheint auch dann gerechtfertigt, wenn man anerkennt, dass Kant den Namen Humes - anders als etwa im Zusammenhang mit der Skeptizismusproblematik - in den für die Bewusstseinsproblematik einschlägigen Stellen nicht erwähnt; vgl. hierzu Kitcher, 1 9 9 0 , 9 7 ff.

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und separat existierenden Bewusstseinsinhalte (perceptions) nicht ausmachen lässt: For my part, when I enter most intimately into what I call myself, I always stumble on some particular perception or other, of heat or cold, light or shade, love or hatred, pain or pleasure. I never can catch myself at any time without a perception, and never can observe any thing but the perception.2 Diese Diagnose Humes trifft im Kern auch auf den substanzegologischen Ansatz Descartes' zu, der dem empiristischen Modell von Bewusstsein und Selbstbewusstsein entgegengesetzt ist. Bei Descartes prägt die aus der Selbstgewissheit folgende Konzeption einer denkenden Substanz (,res cogitans') sein Verständnis der Begriffe ,Ich' oder .Selbst'.3 Obwohl Hume (wie nach ihm auch Kant) die von Locke angeführte Analogie zwischen äußerer Wahrnehmung und innerem Sinn, anerkennt, stellt er deren Grenzen im Zusammenhang mit der Erkenntnis eines Selbst klar heraus.4 Mit der Wahrnehmung des Selbst durch den inneren Sinn steht auch die Auffassung Descartes' im Hinblick auf die Wahrnehmung und Existenz des Selbst in Frage. Während sich das Cartesische Substanzmodell jedoch als defizitär hinsichtlich der Spezifizierung eines möglichen intentionalen Korrelats von Selbstbewusstsein erweist, so ist es in Bezug auf Hume die Vergeblichkeit des von ihm vertretenen empiristischen Modells, ein Prinzip auszumachen, das das Bündel von sukzessive aufeinander folgenden Bewusstseinsinhalten {perceptions) zusammenzuhalten vermag.5 Dieses Prinzip, so das 2

Hume, ΤΗΝ, 2 5 2 . Für Hume sind perceptions (Perzeptionen) im wesentlichen in Form von impressions (Eindrücke der äußeren und inneren Wahrnehmung) und ideas (Vorstellungen als Abbilder der Eindrücke) gegeben. Vgl. auch ΤΗΝ, 6 3 4 : When I turn my reflection on myself, I never can perceive this self without some one or more perceptions; nor can I ever perceive any thing but the perceptions. 'Tis the composition of these, therefore, which forms the self.

3 4 5

Zu Descartes, vgl. etwa Μ, Zweite Meditation. Hume, ΤΗΝ, 2 5 2 . Vgl. Hume, ΤΗΝ, 2 5 2 f.: [...] I may venture to affirm of the rest of mankind, that they are nothing but a bundle or collection of different perceptions, which succeed each

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verzweifelte Eingeständnis Humes, lässt sich auf der Grundlage eines empiristischen Ansatzes nicht ausmachen: But all my hopes vanish, when I come to explain the principles, that unite our successive perceptions in our thought or consciousness. [...] In short there are two principles, which I cannot render consistent; nor is it in my power to renounce either of them, viz. that all our distinct perceptions are distinct existences, and that the mind never perceives any real connexion among distinct existences.6 An dieser sich aporetisch die Waage haltenden Stelle bewusstseinstheoretischer Reflexionen setzen der Sache nach die Analysen Kants ein. Deren Ziel ist es, auf grundlagentheoretischer Ebene eine Strukturbestimmung derjenigen Bedingungen vorzunehmen, die der Möglichkeit von Erfahrung zugrunde liegen, insofern das Zustandekommen von Erfahrung - im Unterschied zu der empirischen Natur ihres propositionalen Gehalts - nur aus einer transzendentalen Perspektive heraus erklärt werden kann. Anders ausgedrückt, der Versuch Kants, die für eine Identifikation des Ich oder Selbst benötigte Grundlage bereitzustellen, die der empiristische Zugriff Humes - wie vor ihm schon der substanztheoretische Ansatz Descartes' - schuldig bleibt, stellt ein zentrales Element seines transzendentalphilosophischen Ansatzes dar. Die Kantische Konzeption ist dementsprechend insbesondere in Abgrenzung von Konzeptionen des empirischen Ich bzw. von einem aus Vorstellungen abgeleiteten empirischen Begriff des Selbst zu verstehen. Denn in Übereinstimmung mit der aporetischen Diagnose Humes gilt auch nach Kant:

other with an inconceivable rapidity, and are in a perpetual flux and movement. [...] The mind is a kind of theatre, where several perceptions successively make their appearance; pass, re-pass, glide away, and mingle in an infinite variety of postures and situations. There is properly no simplicity in it at one time, nor identity in different [...]. The comparison of the theatre must not mislead us. They are the successive perceptions only, that constitute the mind; nor have we the most distant notion of the place, where these scenes are represented, or of the materials, of which it is compos'd. 6

Hume, ΤΗΝ, 635 f.

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Das empirische Bewußtsein, welches verschiedene Vorstellungen begleitet, ist an sich zerstreut und ohne Beziehung auf die Identität des Subjekts. Diese Beziehung geschieht also dadurch noch nicht, daß ich jede Vorstellung mit Bewußtsein begleite, sondern daß ich eine zu der anderen hinzusetze und mir der Synthesis derselben bewußt bin.7 Der in diesem Zusammenhang zentrale Begriff ist derjenige der Apperzeption, mit dem Kant die einheitsstiftende Funktion des Verstandes bezeichnet. 8 Gegenüber den äußere Dinge repräsentierenden Perzeptionen ist die Apperzeption wesentlich als deren notwendige Bedingung ausgewiesen. Insofern die empirische Apperzeption „kein stehendes oder bleibendes Selbst in diesem Flusse innrer Erscheinungen" 9 ausweisen kann, erweist sich der Begriff der transzendentalen Apperzeption als der für den Ansatz Kants zentrale Begriff. Entgegen den Bestimmungen von Leibniz zeichnet sich der die Synthesis der Vorstellungen gewährleistende Begriff der Apperzeption bei Kant nicht durch eine der Perzeption gegenüber besondere reflexive Struktur aus, sondern ist als notwendige Bedingung der Möglichkeit von Perzeptionen überhaupt selbst inhaltlich nicht weiter zu spezifizieren. Nur um den Preis inhaltlicher Unbestimmtheit der transzendentalen Apperzeption kann diese also die Fundierungsfunktion, die ihr im Hinblick auf die Denk- und Vorstellungsinhalte des Subjekts im Rahmen der Kantischen Konzeption zukommt, erfüllen. Analog dazu ist auch das dem empirischen Ich entgegengesetzte transzendentale Ich, dessen ich mir aufgrund der reflexiven Struktur der Apperzeption bewusst bin, inhaltlich nicht bestimmbar und demzufolge kein Gegenstand der Erkenntnis. Kant bestimmt das transzendentale Ich entsprechend folgendermaßen: [...] die einfache und für sich an Inhalt gänzlich leere Vorstellung: Ich, von der man nicht einmal sagen kann, daß sie ein Begriff sei, 7 8

9

Kant, KrV Β 133. Für Kant (KrV Β 135) ist der Verstand selbst „nichts weiter [...], als das Vermögen, a priori zu verbinden, und das Mannigfaltige gegebener Vorstellungen unter Einheit der Apperzeption zu bringen". Kant, KrV A 107.

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sondern ein bloßes Bewußtsein, das alle Begriffe begleitet. Durch dieses Ich, oder Er, oder Es (das Ding), welches denket, wird nun nichts weiter, als ein transzendentales Subjekt der Gedanken vorgestellt = x, welches nur durch die Gedanken, die seine Prädikate sind, erkannt wird, und wovon wir, abgesondert, niemals den mindesten Begriff haben können; um welches wir uns daher in einem beständigen Zirkel herumdrehen, indem wir uns seiner Vorstellung jederzeit schon bedienen müssen, um irgend etwas von ihm zu urteilen.10 Den Überlegungen Kants zufolge zerfällt das Ich aus erkenntnistheoretischen Gründen in ein transzendentales und in ein empirisches Ich. Im Paralogismuskapitel der Kritik der reinen Vernunft (B 410 ff.), das die traditionelle Bestimmung des Ich als Seele und Substanz zum Thema hat, geht es Kant um den Nachweis, dass unser Wissen über das Ich bzw. über die Seele ein empirisches Wissen ist. Daraus ergibt sich die Konsequenz, dass die Rede vom Ich als einer einfachen und unzerstörbaren Substanz jeglicher Begründung entbehrt. Insofern unser Wissen über das Ich als ein empirisches Wissen denselben Bedingungen unterliegt, die für die Erkenntnis der äußeren Wirklichkeit gelten, kann die mit der Bestimmung des Ich als Substanz einhergehende These von der Unsterblichkeit der Seele - so das Ergebnis dieser Überlegungen - weder begründet noch widerlegt werden. Nach Kant unterliegt das empirische Wissen über das Ich, das dem Erfahrungswissen der Struktur nach identisch ist, selbst einer Bedingung: dem Bewusstsein von der Struktur des Selbstbewusstseins.11 Dementsprechend fällt das Ich bei Kant in das bestimmende Ich der transzendentalen Apperzeption einerseits und das bestimmte Ich als eines Objekts der inneren Anschauung andererseits auseinander. Mit Hume stimmt Kant darin überein, dass das Ich oder Selbst nicht im

10 11

Kant, KrV A 3 4 5 f. Im Hinblick auf die Identität des Selbstbewusstseins gilt im Unterschied zu dem mit den Gegenständen äußerer Reflexion verbundenen Identitätsbegriff, dass sie in Bewusstseinszuständen der reflektierten Art unmittelbar vorliegt und von daher keines ihrer Erfassung dienenden zusätzlichen kognitiven Aktes bedarf. „Wegen dieser Unmittelbarkeit seines Identitätssinns ist das Selbstbewußtsein epistemologisch konsequenzenlos für die Ontologie des Subjekts des Denkens" (Sturma, 1985, 75).

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Sinne einer Substanz zu verstehen ist. Im Unterschied zu Hume vermag Kant es jedoch, die aus der Kritik an einem substanzegologischen Ansatz resultierende Fundierungsaporie des empiristischen Modells zu vermeiden. Dies gelingt Kant dadurch, dass er dem deskriptiv fassbaren empirischen Ich vermittels seiner Konzeption der transzendentalen Apperzeption ein auf der logischen Ebene verankertes Fundament verleiht: Neben dem empirischen Ich, das sich erkenntnistheoretisch als bestimmtes Ich im Sinne eines Objekts der inneren Anschauung präsentiert, weist die Kantische Differenzierung des Ich das bestimmende Ich der transzendentalen Apperzeption als oberste Bedingung des Erfahrungswissens aus.12 Die Annahme eines bestimmenden Ich ist ihrerseits keinesfalls als Beleg dafür zu deuten, dass das Ich im Sinne einer selbständigen Substanz oder objektiven Entität zu verstehen ist. Derartige Behauptungen über das Ich als einfache Substanz sind als synthetische Sätze aus begründungstheoretischer Sicht von dem analytischen Satz zu unterscheiden, dem gemäß aus dem Begriff des Denkens auf das Ich der Apperzeption als eines logisch einfachen Subjekts geschlossen werden kann:13 Der Satz der Identität meiner selbst bei allem Mannigfaltigen, dessen ich mir bewußt bin, ist ein eben so wohl in den Begriffen selbst liegender, mithin analytischer Satz; aber diese Identität des Subjekts, deren ich mir in allen seinen Vorstellungen bewußt werden kann, betrifft nicht die Anschauung desselben, dadurch es als Objekt gegeben ist, kann also auch nicht die Identität der Person bedeuten, wodurch das Bewußtsein der Identität seiner eigenen Substanz, als denkenden Wesens, in allem Wechsel der Zustände verstanden wird [...] Also ist durch die Analysis des Bewußtseins meiner selbst im Denken überhaupt in Ansehung der Erkenntnis meiner selbst als Objekts nicht das mindeste gewonnen. Die logische Erörterung des Denkens überhaupt wird fälschlich für eine metaphysische Bestimmung des Objekts gehalten.14

12 13 14

Vgl. Baumgartner, 1988, 93. Vgl. Kant, KrV Β 407. Kant, KrV Β 408 f. Zum Begriff der Person bei Kant, vgl. Teichert, 1999, 197-206.

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Der empirischen Apperzeption gegenüber zeichnet sich die transzendentale Apperzeption dadurch aus, dass das ,Ich denke* die Einheit des Selbstbewusstseins zum Ausdruck bringt. Wesentlich an der Kantischen Konzeption der transzendentalen Apperzeption ist dabei ihr fundamentaler Status, der darin zum Ausdruck kommt, dass das ,Ich denke' alle Vorstellungen oder empirischen Apperzeptionen potentiell als etwas qualitativ Identisches begleitet. 15 Denn insofern Vorstellungen meine Vorstellungen sind, habe ich sie nicht nur, sondern weiß ich darüber hinaus auch, dass ich sie habe. Das Denken, dass alle meine Vorstellungen begleiten können muss, ist also das auf diese Vorstellungen bezogene Wissen bzw. das Urteil, dass es meine Vorstellungen sind. Die Vorstellung des ,Ich denke', d.h. die Identität des Selbstbewusstseins, kann - angesichts der »Zerstreutheit* des empirischen Bewusstseins - ihrerseits weder aus der empirischen Anschauung noch - angesichts des Kantischen Begriffs der Verbindung - aus der reinen Anschauung abgeleitet werden. 16 Die Bedingung der Möglichkeit der Identität des Selbstbewusstseins müssen wir also „noch höher suchen". 17 Kant spricht an dieser Stelle von der synthetischen Einheit der Apperzeption. Die Verbindung zwischen der transzendentalen Synthesis einerseits und der Thematik der Selbst-Identität andererseits wird dabei auf der Basis einer Identifikation von transzendentaler Synthesis und transzendentaler Einheit der Apperzeption hergestellt: Ich bin mir also des identischen Selbst bewußt, in Ansehung des Mannigfaltigen der mir in einer Anschauung gegebenen Vorstellungen, weil ich sie insgesamt meine Vorstellungen nenne, die eine 15

Vgl. Kant, KrV Β 132 f.: Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können-, denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was gar nicht gedacht werden könnte, welches eben so viel heißt als die Vorstellung würde entweder unmöglich, oder wenigstens für mich nichts sein.

16

Vgl. Kant, KrV Β 130 f.: „Verbindung ist Vorstellung der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen. Die Vorstellung dieser Einheit kann also nicht aus der Verbindung entstehen, sie macht vielmehr dadurch, daß sie zur Vorstellung des Mannigfaltigen hinzukommt, den Begriff der Verbindung allererst möglich". Kant, KrV Β 131.

17

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ausmachen. Das ist aber so viel, als, daß ich mir einer notwendigen Synthesis derselben a priori bewußt bin, welche die ursprüngliche synthetische Einheit der Apperzeption heißt, unter der alle mir gegebene [sie] Vorstellungen stehen, aber unter die sie auch durch eine Synthesis gebracht werden müssen.18 Entgegen der Auffassung Humes, wonach Vorstellungen als voneinander unterschiedene, separat existierende Entitäten verstanden werden, ist Kant also der Ansicht, dass das Mannigfaltige der Vorstellungen immer schon miteinander im Bewusstsein verbunden ist: Der Gedanke: diese in der Anschauung gegebene Vorstellungen gehören mir insgesamt zu, heißt demnach so viel, als ich vereinige sie in einem Selbstbewußtsein, oder kann sie wenigstens darin vereinigen, und ob er gleich selbst noch nicht das Bewußtsein der Synthesis der Vorstellungen ist, so setzt er doch die Möglichkeit der letzteren voraus, d. i. nur dadurch, daß ich das Mannigfaltige derselben in einem Bewußtsein begreifen kann, nenne ich dieselben insgesamt meine Vorstellungen.19 Durch die Verbindung der Vorstellungen untereinander in einem Bewusstsein wird Kant zufolge ermöglicht, dass Vorstellungen überhaupt zu meinen Vorstellungen werden; wäre dem nicht so, „würde ich ein so vielfarbig verschiedenes Selbst haben, als ich Vorstellungen habe, deren ich mir bewußt bin". 20 Das Bewusstsein, das Kant hier als a priori-Bewusstsein der Synthesis der Vorstellungen bestimmt, ist ein durch eben diese synthetisierende Funktion ausgezeichnetes Selbstbewusstsein. Solchermaßen spezifiziert, ist die synthetische Einheit der transzendentalen Apperzeption nach Kant „der höchste Punkt" 21 , dem nicht nur der Verstandesgebrauch 18 19 20

21

Kant, KrV Β 135 f. Kant, KrV Β 134. Kant, KrV Β 134. Wie Kant (KrV Β 135) weiter ausführt, kann ohne „eine Synthesis des in einer Anschauung gegebenen Mannigfaltigen [...] jene durchgängige Identität des Selbstbewußtseins nicht gedacht werden". Kant, KrV Β 134 Anm. In diesem Sinne spricht Kant (KrV Β 132) davon, dass die reine Apperzeption dasjenige Selbstbewusstsein ist, das, „indem es die Vorstellung Ich denke hervorbringt [...], von keiner weiter begleitet werden kann".

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und mit ihm die Logik, sondern darüber hinaus die Transzendentalphilosophie unterstehen muss und der schließlich mit dem Verstand selbst identifiziert wird. Als hinsichtlich seines synthetisierenden Charakters ausgezeichnete höchste Bedingung für das Erfahrungswissen wird die Bedeutung des Selbstbewusstseins für die transzendentale Deduktion der Kategorien deutlich. Das skeptische Resultat des empiristischen Ansatzes, wie es von Hume im Enquiry concerning human understanding formuliert wird, ist vor allem darauf zurückzuführen, dass es ihm nicht gelingt, einen über eine bloß gewohnheitsmäßige Verknüpfung hinausgehenden kausalen Zusammenhang als Begründungsprinzip für Tatsachen auszumachen.22 Hinsichtlich der Begründung des Kausalprinzips selbst gilt, dass diese - entgegen der rationalistischen Annahme - nur empirisch sein kann, wobei sich insbesondere der Induktionsschluss als nicht-begründet erweist und von daher lediglich praktische, jedoch keine verstandesmäßige Geltung beanspruchen kann. Die skeptischen Zweifel Humes in Bezug auf die Grundlage unseres Tatsachenwissens sind Anlass genug, Kant aus seinem - wie er es nennt - „dogmatischen Schlummer"23 zu wecken. In Anbetracht des Zirkelproblems, mit dem sich Hume deswegen konfrontiert sieht, weil er versucht, die Gültigkeit des Kausalgesetzes unter Rekurs auf Erfahrung begründen zu wollen, sucht Kant diese Gültigkeit als ,Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung* auszuweisen. Das Kausalgesetz stellt somit eine notwendige Voraussetzung von Erfahrung dar. Es handelt sich um ein synthetisches Urteil a priori. Kausalität ist demzufolge einer derjenigen Begriffe, durch die der Verstand Einheit in seine Urteile bringt - Kantisch ausgedrückt: eine Kategorie. Dabei sind die Kategorien zum einen diejenigen reinen Verstandesbegriffe, durch die der Verstand (aufgrund der analytischen Einheit) die logische Form eines Urteils zustande bringt; andererseits drücken sie die Funktion des Verstandes aus, das Mannigfaltige gegebe-

22

23

Für eine kritische Betrachtung der Verbindung von Perzeptionen durch Kausalität im Zusammenhang mit der Bündeltheorie Humes, vgl. Stroud, 1 9 7 7 , 126 f. Kant, PM A 13.

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ner Vorstellungen (aufgrund der synthetischen Einheit) unter die Einheit der Apperzeption zu bringen. Im Hinblick auf die Kategorien oder reinen Verstandesbegriffe sucht Kant die ihnen zugeschriebene objektive Gültigkeit als Bedingungen a priori der Möglichkeit von Erfahrung durch ihre sogenannte transzendentale Deduktion' zu begründen. Dabei handelt es sich um den „Nachweis, daß eben dies für die Kategorien gilt, d.h. daß sie apriorische Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung sind".24 Im einzelnen erbringt Kant diesen Nachweis anhand der Bestimmung von Erkenntnis als Verbindung des Mannigfaltigen der Anschauung sowie anhand der Bestimmung des Begriffs .Verbindung' im Sinne einer Verstandeshandlung, die neben dem Begriff des Mannigfaltigen und der Synthesis dieses Mannigfaltigen insbesondere den dieser Synthesis selbst zugrunde liegenden Begriff der Einheit umfasst: „Verbindung ist Vorstellung der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen". 25 Insofern die Kategorien auf die logischen Funktionen, die dem Urteil seine Einheit verleihen, gegründet sind und von daher Verbindung bereits voraussetzen, muss der Grund dieser die Verbindung und Synthesis leistenden Einheit auf einer höheren Stufe liegen: in der Einheit des Bewusstseins, der reinen ursprünglichen Apperzeption, d.h. der durch das ,Ich denke' zum Ausdruck gebrachten transzendentalen Einheit des Selbstbewusstseins.26 Dementsprechend verleiht Kant der die transzendentale Apperzeption auszeichnenden Synthesis-Funktion einen fundamentalen Status von höchstem Rang, der seinerseits die Abstraktheit dieser Analysen zum Begriff des Selbstbewusstseins erklärt: Und so ist die synthetische Einheit der Apperzeption der höchste Punkt, an dem man allen Verstandesgebrauch, selbst die ganze Logik und, nach ihr, die Transzendental-Philosophie heften muß

24 25 26 27

Baumgartner, 1988, 76. Kant, KrV Β 130 f. Vgl. Kant, KrV Β 132 f. Kant, KrV Β 134 Anm.

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Die Fundierungsfunktion, die das transzendentale Ich leistet, bestimmt sich nach Kant dadurch, dass das ,Ich denke' alle meine Vorstellungen begleiten können muss.28 Diese Möglichkeit der Vorstellungsbegleitung setzt ihrerseits voraus, dass das ,Ich denke' durch den jeweiligen Gehalt meiner Vorstellungen nicht affiziert, sondern diesem als etwas Unveränderliches im Sinne einer notwendigen Bedingung aller möglichen Fälle kognitiven Bewusstseins gegenübersteht. Als ,bloßes Bewusstsein' ist die Identität des transzendentalen Ich inhaltlich nicht weiter durch prädikative Bestimmungen zu spezifizieren und von daher nicht als eine numerische Identität, sondern lediglich als eine Art qualitativer Identität zu bestimmen, die den einzelnen empirischen Apperzeptionen notwendigerweise begriffslogisch zugrunde liegt und von ihnen kategorial zu trennen ist.29 Das Kantische Verständnis der Synthesis kann nach den bisherigen Analysen folglich nicht im Sinne eines bloßen Kausalnexus von Vorstellungsinhalten interpretiert werden. Insofern ein derartiger Synthesis-Begriff das Auftreten und den Gehalt des resultierenden Bewusstseinszustandes Bs als synthetisches Produkt der diesem Zustand vorausgehenden mentalen Zustände Ba und Bb, einschließlich derer Gehalte, auffasst, steht er den Kantischen Bestimmungen der Synthesis von Vorstellungen als notwendige und hinreichende Bedingung der analytischen Einheit des Bewusstseins entgegen.30 Die Explikationen Kants zum Synthesis-Begriff sind aus den genannten Gründen letztlich also nicht als Präzisierungen einer spezifischen inhaltlichen Kausalverbindung zu lesen, von der angenommen wird, dass sie im Hinblick auf die Bewusstseinszustände einer Person gilt, sondern sie sind vielmehr als begriffliche Bestimmun28 29

30

Vgl. Kant, KrV Β 132. Vgl. hierzu Sturma, 1985, 8 2 f. und Teichert, 1 9 9 9 , 198 f.: „Es gibt kein transzendentales Du oder transzendentales Sie/Er, das eine Opposition zu dem transzendentalen Ich bilden und es inhaltlich charakterisieren würde". In der Frage der numerischen Identität der transzendentalen Apperzeption ist Kant nicht immer eindeutig; vgl. Kant, KrV A 3 6 3 und A 3 6 5 . Vgl. Kant, KrV A 118 und Β 134. - Der Kantische Begriff der Vorstellung umfasst alle „Modifikationen des Gemüts" (Kant, KrV A 99) und bezeichnet demzufolge einen Bewusstseinszustand, einschließlich des ihm zukommenden Gehalts.

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gen der zwischen den Vorstellungsinhalten bestehenden Struktur zu lesen, die eine notwendige Bedingung für die Möglichkeit von Erfahrung darstellt.31 Während die Kategorien ihrerseits als Denkformen die Gesetzmäßigkeit der durch sie geordneten Gegenstände der Erfahrung begründen, führt die transzendentale Deduktion der Kategorien über den Begriff der Synthesis auf deren Grund - nämlich auf die Einheit der transzendentalen Apperzeption als einer synthetischen Einheit. 32 Die Begründungsstrategien Kants für die transzendentale Synthesis sind unterschiedlicher Art, sowohl was ihren Gehalt als auch was ihr begründungstheoretisches Gewicht betrifft. 33 So geht etwa die transzendentale Deduktion Β davon aus, dass die Verbindung eines Mannigfaltigen uns, insofern sie ein Akt der Spontaneität der Vorstellungskraft ist, niemals durch die Sinne gegeben sein kann; vielmehr zeichnet sich die Synthesis als eine Verstandeshandlung unter allen Vorstellungen dadurch aus, dass „wir uns nichts, als im Objekt verbunden, vorstellen können, ohne es vorher selbst verbunden zu haben". 34 Im Vorgriff auf seine Bestimmung der Möglichkeit der analytischen Einheit der Apperzeption unter der Voraussetzung einer synthetischen Einheit betont Kant hier

31 32

33

34

Für eine derartige Unterscheidung, vgl. Kitcher, 1982, 56 f. Vgl. Baumgartner, 1 9 8 8 , 79: „Die Kategorien sind so nicht nur Bestimmungen apriori der Gegenstände, sondern bedingen auch zugleich die Gesetzmäßigkeit dieser Gegenstände der Erfahrung". Der Begriff der Erfahrung wird von Kant im Zusammenhang mit den Kategorien als deren mögliche Anwendung auf die empirische Anschauung und damit als „zur Möglichkeit empirischer Erkenntnis" (Kant, KrV Β 148) dienend verstanden: Die „Kategorien sind nichts anderes, als die Bedingungen des Denkens in einer möglichen Erfahrung" (Kant, KrV A 111). Im Zusammenhang mit der Auflösung der von Hume überkommenen aporetischen Situation im Hinblick auf die Einheit des Bewusstseins ist insbesondere die Kantische Bestimmung zentral, die die Einheit der Synthesis des Mannigfaltigen „außer uns oder in uns" als „Verbindung des Mannigfaltigen einer gegebenen Anschauung überhaupt in einem ursprünglichen Bewußtsein, den Kategorien gemäß, nur auf unsere sinnliche Anschauung angewandt" (Kant, KrV Β 161) fasst und damit die Kategorien als Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung versteht. Für eine ausführliche Darstellung der unterschiedlichen Ansätze, vgl. Kitcher, 1982, 5 9 ff. und Carl, 1989. Kant, KrV Β 130.

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abermals den fundamentalen Status der Synthesis, indem er auf die zwischen Analysis und Synthesis bestehende logische Struktur hinweist: Analysis setzt Synthesis „jederzeit voraus [...]; denn wo der Verstand vorher nichts verbunden hat, da kann er auch nichts auflösen, weil es nur durch ihn als verbunden der Vorstellungskraft hat gegeben werden können".35 Vorausgesetzt werden muss nach Kant die transzendentale Synthesis auch im Sinne einer Bedingung der Möglichkeit einer Synthesis der Apprehension sowie einer Synthesis der Reproduktion des Mannigfaltigen der äußeren Anschauung (Erscheinung), die ihrerseits aller Erfahrung zugrunde liegt. Denn mit der Annahme einer Identität der Vorstellungen innerhalb der gegebenen Mannigfaltigkeit setzt die empirische Synthesis der Reproduktion ihrerseits bereits das voraus, was diese Reproduktion der Erscheinungen erst möglich und aus einem „Gewühle von Erscheinungen"36 Erfahrung macht: die transzendentale Apperzeption.37 Darüber hinaus muss Kant zufolge auch der begrifflichen Erkenntnis von Gegenständen ein Bewusstsein zugrunde liegen, „was das Mannigfaltige, nach und nach Angeschaute, und denn auch Reproduzierte, in eine Vorstellung vereinigt".38 Dieses Bewusstsein „kann oft nur schwach sein", so dass es lediglich mit der Wirkung, nicht aber mit dem Akt der Erzeugung von Vorstellungen, verbunden ist.39 Dass Kant - ungeachtet dieser ,Schwäche' - auf einem derartigen, die Verbindung von Vorstellungen begleitenden Bewusstsein insistiert, spricht für eine Interpretation dieser Analysen in kritischer Abgrenzung von einer aporetischen Bestimmung der Begriffe ,Selbst' und Selbstbewusstsein', wie sie insbesondere bei Hume vorliegt. Im Hinblick auf die Kantische Bestimmung des hier zentralen Begriffs der durchgängigen Identität des Bewusstseins gilt nun folgendes: Wir sind uns a priori der durchgängigen Identität unserer selbst in Ansehung aller Vorstellungen, die zu unserem [sie] Erkenntnis 35 36 37 38 39

Kant, KrV Kant, KrV Vgl. Kant, Kant, KrV Kant, KrV

Β 130. A 111. KrV A 100 ff. A 103. A 103 f. Vgl. Kant, KrV Β 134.

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jemals gehören können, bewußt, als einer notwendigen Bedingung der Möglichkeit aller Vorstellungen (weil diese in mir doch nur dadurch etwas vorstellen, daß sie mit allem andern zu einem Bewußtsein gehören, mithin darin wenigstens müssen verknüpft werden können). Dies Prinzip steht a priori fest, und kann das transzendentale Prinzip der Einheit alles Mannigfaltigen unserer Vorstellungen [...] heißen.40 Die an dieser Stelle thematisierte Frage nach dem Zusammenhang des repräsentationalen Charakters von Vorstellungen („weil diese in mir doch nur dadurch etwas vorstellen, daß sie mit allem andern zu einem Bewußtsein gehören, mithin darin wenigstens müssen verknüpft werden können") mit der zu allem anderen aktuell oder potentiell bestehenden Beziehung der Synthesis führt zurück zu der Unterscheidung Kants zwischen Sinnlichkeit und Verstand bzw. zu derjenigen zwischen Anschauung und Begriff.41 Der Konzeption Kants gemäß sind Anschauungen „vor uns nichts, und gehen uns nicht im mindesten etwas an, wenn sie nicht ins Bewußtsein aufgenommen werden können, sie mögen nun direkt oder indirekt, darauf einfließen, und nur durch dieses allein ist Erkenntnis möglich".42 Unmittelbar im Anschluss an diese Betonung der Bewusstseinsabhängigkeit von Anschauungen thematisiert Kant das „transzendentale Prinzip der Einheit alles Mannigfaltigen unserer Vorstellungen (mithin auch in der Anschauung)" 43 und stellt damit die Verbindung zwischen der Anschauung und der Synthesis-Struktur von Vorstellungen her: Wir sind uns a priori der durchgängigen Identität unserer selbst in Ansehung aller Vorstellungen, die zu unserem [sie] Erkenntnis jemals gehören können, bewußt, als einer notwendigen Bedingung der Möglichkeit aller Vorstellungen [...].44

40 41 42 43 44

Kant, KrV A 116. So auch Kitcher, 1982, 65. Kant, KrV A 116. Kant, KrV A 116. Kant, KrV A 116.

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Anschauungen sind nach Kant Komplemente zu Begriffen. Von daher können sie ihrer epistemischen Rolle nur in Verbindung mit Begriffen gerecht werden. So wie uns „ohne Sinnlichkeit [...] kein Gegenstand gegeben" würde, so würden „Anschauungen ohne Begriffe [...] blind" sein.45 Insofern Erkenntnis für Kant ein Denken „durch Begriffe" ist,46 erfüllen Anschauungen ihre epistemische Funktion erst dann, wenn sie unter Begriffe gebracht und damit verständlich gemacht werden. Während nun Anschauungen unmittelbar auf den in der Anschauung gegebenen Gegenstand bezogen sind, gilt dies für Begriffe gerade nicht. Da Begriffe auf die anschauliche oder ihrerseits begriffliche - und damit mittelbare - Vorstellung von Gegenständen bezogen sind, überträgt sich die Indirektheit der begrifflichen Gegenstandserfassung auf das aus Begriffen gebildete Urteil: „Das Urteil ist also die mittelbare Erkenntnis eines Gegenstandes, mithin die Vorstellung einer Vorstellung desselben".47 Vermittels der transzendentalen Funktion der Einbildungskraft als eines Grundvermögens der menschlichen Seele, „das aller Erkenntnis a priori zum Grunde liegt"48 wird das Mannigfaltige der Anschauung mit der Bedingung der notwendigen Einheit der reinen Apperzeption in Verbindung gebracht. Die reine Einbildungskraft als ein Vermögen einer Synthesis a priori, das „in Ansehung alles Mannigfaltigen der Erscheinung nichts weiter, als die notwendige Einheit in der Synthesis derselben zu ihrer Absicht hat", 49 stellt demnach den notwendigen Zusammenhang zwischen den beiden äußersten Enden der Erkenntnis - der Sinnlichkeit und 45 46 47

48 49

Kant, KrV A 51/Β 75. Kant, KrV A 69/Β 94. Kant, KrV A 69/Β 94. An einigen Stellen der Kritik der reinen Vernunft argumentiert Kant direkt für die mit Anschauungen verbundene synthetisierende Struktur; vgl. etwa A 117 Anm., A 120, A 122 und A 123. Danach haben alle Vorstellungen notwendigerweise eine Beziehung auf ein mögliches empirisches Bewusstsein, alles empirische Bewusstsein aber hat eine notwendige Beziehung auf ein transzendentales Bewusstsein: die ursprüngliche Apperzeption. Für die Wahrnehmung als empirisches Bewusstsein einer Anschauung als Erscheinung gilt, dass sie nur vermittels der Fundierungsfunktion der reinen Apperzeption zu einer bewussten Wahrnehmung wird; vgl. A 122. Kant, KrV A 124. Kant, KrV A 123.

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dem Verstand - her.50 Der Kantischen Konzeption gemäß sind diese Überlegungen zum Begriff der Anschauung nicht im Sinne eines naiven Verifikationismus zu lesen, sondern weisen darauf hin, dass der mit einer Anschauung verbundene Vorstellungsgehalt die inhaltliche Basis des durch diese Anschauung hervorgerufenen Inhalts eines Urteils darstellt. Das Urteil muss seinerseits in seiner Funktion als Verbindung von Vorstellungen in einem Bewusstsein in einer Relation der Synthesis zu anderen Urteilen stehen. Auch für Anschauungen gilt damit, dass sie im Hinblick auf diese Synthesis-Relation verständlich zu machen sind: Denn nur dadurch, daß ich alle Wahrnehmungen zu einem Bewußtsein (der ursprünglichen Apperzeption) zähle, kann ich bei allen Wahrnehmungen sagen: daß ich mir ihrer bewußt sei.51 Es ist genau dieser von Kant postulierte synthetische Zusammenhang von Anschauungen, der es ihm erlaubt, dem von Hume hinsichtlich einer Verbindung voneinander unterschiedener und gegen andere Entitäten abgegrenzter Perzeptionen erhobenen Zweifel entgegenzutreten. In Bezug auf den zum Begriff der Anschauung komplementären Begriff des Begriffs gilt, dass, so wie der Gegenstand der Erfahrung in der Anschauung gegeben wird, er durch einen Begriff gedacht wird, der der Anschauung entspricht. Von Begriffen kann der Verstand Kant zufolge keinen „andern Gebrauch machen, als daß er dadurch urteilt". 52 Dabei ist der Begriff „nur dadurch Begriff, daß unter ihm andere Vorstellungen enthalten sind, vermittelst deren er sich auf Gegenstände beziehen kann". 53 Eine genaue Spezifikation dieser im Unterschied zur Anschauung mittelbaren Bezugnahme auf die Gegenstände liefert Kant in A 103: Ohne Bewußtsein, daß das, was wir denken, eben dasselbe sei, was wir einen Augenblick zuvor dachten, würde alle Reproduktion in der Reihe von Vorstellungen vergeblich sein. Denn es wäre eine 50 51 52 53

Vgl. Kant, Kant, KrV Kant, KrV Kant, KrV

KrV A 124. A 122. Β 93; vgl. Β 125 f. Β 94.

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neue Vorstellung im jetzigen Zustande, die zu dem Actus, wodurch sie nach und nach hat erzeugt werden sollen, gar nicht gehörete [...]. Vergesse ich im Zählen: daß die Einheiten, die mir jetzt vor Sinnen schweben, nach und nach zu einander von mir hinzugetan worden sind, so würde ich die Erzeugung der Menge, durch diese sukzessive Hinzutuung von Einem zu Einem, mithin auch nicht die Zahl erkennen; denn dieser Begriff besteht lediglich in dem Bewußtsein dieser Einheit der Synthesis. Was Kant hier betont, ist nicht die Notwendigkeit der bloßen Reproduktion von Vorstellungen im Hinblick auf den Beitrag, den sie als Bestandteile von Urteilen hinsichtlich der Möglichkeit von Erkenntnis leisten.54 Vielmehr akzentuiert er eine spezifische Synthesis, nämlich eine einheitsstiftende Bedingung der Erkenntnis, die hier eine diachrone Dimension hat: die Rekognition. Es handelt sich um eine Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung, die im Gegensatz zu einem bloßen wiederholten Vorkommen einzelner Vorstellungen (Reproduktion), den Aspekt der diachronen ReIdentifikation einzelner Vorstellungen (Rekognition) betrifft. Die zitierte Passage weist auf die Abhängigkeit der jeweiligen Vorstellungs- und Denkinhalte von der sukzessiven Addition der korrespondierenden Anschauungen hin, deren Einheit der Synthesis in dem Bewusstsein gegründet ist, dessen Ausdruck der Begriff ist. Im Hinblick auf die Position Humes ist in diesem Zusammenhang insbesondere die Frage zentral, inwieweit es Kant gelingt, die Möglichkeit von Erfahrung in Abhängigkeit von einer zwischen Vorstellungen bestehenden Synthesis-Relation aufzuweisen. Die

54

Vgl. hierzu Kant, KrV A 102: Nun ist offenbar, daß, wenn ich eine Linie in Gedanken ziehe, oder die Zeit von einem Mittag zum andern denken, oder auch nur eine gewisse Zahl mir vorstellen will, ich erstlich notwendig eine dieser mannigfaltigen Vorstellungen nach der andern in Gedanken fassen müsse. Würde ich aber die vorhergehende (die erste [sie] Teile der Linie, die vorhergehende [sie] Teile der Zeit, oder die nach einander vorgestellte [sie] Einheiten) immer aus den Gedanken verlieren, und sie nicht reproduzieren, indem ich zu den folgenden fortgehe, so würde niemals eine ganze Vorstellung, und keiner aller vorgenannten Gedanken [...] entspringen können.

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Unterscheidung Kants zwischen Anschauungen auf der einen Seite und Begriffen auf der anderen Seite, einschließlich der in Β 75/A 51 formulierten Komplementaritätsthese, dient diesem Aufweis. Denn unter der Voraussetzung, dass Anschauungen und Begriffen ein Synthesis-relevanter Zusammenhang zugeschrieben werden kann, bietet die Komplementaritätsthese eine Garantie dafür, dass Gedanken ein Inhalt zugeschrieben werden kann. Diesen Nachweis führt Kant in A 103 über die Reproduktion von Anschauungen, deren Synthesis in einer Vorstellung durch das Bewusstsein der Begriff reflektiert. Die dem empirischen Bewusstsein a priori zugrunde liegende reine Apperzeption, d.h. die „[durchgängige] Identität unserer selbst in Ansehung aller Vorstellungen",55 gewährleistet als Bedingung der Möglichkeit aller Vorstellungen (und damit von Erkenntnis), dass Vorstellungen nicht nur zum Bewusstsein gehören, sondern dass ihnen diese Zugehörigkeit immer schon als miteinander verbundene, d.h. in einem synthetischen Zusammenhang stehende Vorstellungen zukommt. Dieses a priori-Bewusstsein der notwendigen Synthesis der Vorstellungen des Ich bestimmt Kant als Selbstbewusstsein; wesentlich für dieses Selbstbewusstsein ist demnach dessen im ,Ich denke' zum Ausdruck gebrachte synthetisierende Struktur: Dagegen bin ich mir meiner selbst in der transzendentalen Synthesis des Mannigfaltigen der Vorstellungen überhaupt, mithin in der synthetischen ursprünglichen Einheit der Apperzeption, bewußt, nicht wie ich mir erscheine, noch wie ich an mir selbst bin, sondern nur daß ich bin. Diese Vorstellung ist ein Denken, nicht ein Anschauen,56

Selbstbewusstsein ist nach Kant also ein intern auf die selbstreferentielle transzendentale Synthesis bezogenes Denken, wobei die präzise begriffliche Bestimmung entscheidend davon abhängt, welche Referenz diesem Gedanken ,Ich denke' gegeben werden kann:

55 56

Kant, KrV A 116. Kant, KrV Β 157.

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Der von Kant exponierte Zusammenhang von kategorialer Synthesis und Selbstbewußtsein schließt ein, daß Selbstbewußtsein offensichtlich mehr bedeutet als bloße Selbstgewißheit im Sinne eines punktuellen Gewahrens seiner selbst; es darf jedoch auch nicht weniger bedeuten, denn gerade wegen des Vorrangs des Logischen in der Lehre von der transzendentalen Einheit des Selbstbewußtseins hat sich diese [...] als bewußtseinstheoretisch unter bestimmt erwiesen, was schon aus epistemologischen Gründen unvermeidlich ist. Mit dem Begriff der transzendentalen Einheit des Selbstbewußtseins kann also der spezifische Charakter des Selbstbewußtseins noch nicht deutlich werden.57 Im Anschluss an die Thematisierung des problematischen Umstandes, dass einerseits zwischen dem Ich, das denkt, und dem Ich, das sich selbst anschaut, differenziert wird und andererseits beide als dasselbe Subjekt identifiziert werden, so dass ich mich, die ich denkendes Subjekt bin, selbst als gedachtes Objekt, d.h. insofern ich mir in der Anschauung gegeben bin, erkenne (B 155 f.), weist Kant mit dem obigen Zitat darauf hin, dass dieses Ich weder Erscheinung noch Ding an sich sein kann. 5 8 Diese Diagnose Kants läuft darauf hinaus, dass die Referenz des transzendentalen Ich des Selbstbewusstseins nicht hinreichend bestimmt ist. Die in der analytischen Philosophie gestellte Frage, ob ,ich' überhaupt als ein referentieller Ausdruck interpretiert werden kann, bleibt im Rahmen der Kantischen Konzeption zumindest an dieser Stelle offen, insofern das potentielle Referenzobjekt hier nur in negativer Hinsicht beschrieben wird. 59

57 58

Sturma, 1 9 8 5 , 84 f. Die strukturelle Differenz zwischen dem der reinen Apperzeption entsprechenden logischen und dem als intentionales Korrelat kognitiven Bewusstseins verstandenen psychologischen Ich betont Kant, PFM, 2 7 0 : Ich bin mir meiner selbst bewußt, ist ein Gedanke, der schon ein zweifaches Ich enthält, das Ich als Subject und das Ich als Object. [...] Es wird dadurch aber nicht eine doppelte Persönlichkeit gemeynt, sondern nur Ich, der ich denke und anschaue, ist die Person, das Ich aber des Objectes, was von mir angeschauet wird, ist gleich andern Gegenständen außer mii; die Sache.

59

Vgl. Sturma, 1 9 8 5 , 85. Zur Weiterentwicklung dieser Problematik im Opus postumum vgl. Sturma, 1 9 8 5 , 85 ff.

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Die auf den Begriff der transzendentalen Apperzeption fokussierende Argumentation Kants stimmt mit den Überlegungen Humes zu Bewusstsein, Selbstbewusstsein und personaler Identität hinsichtlich ihrer Kritik am Cartesischen Substanzmodell zwar überein, sie übernimmt jedoch offensichtlich nicht deren aporetische Schlussfolgerungen. Vielmehr setzt Kant der Aporie Humes eine transzendentale Argumentationsstruktur entgegen, mit dem Ziel, den aus logischen Gründen fundamentalen Bestand der Begriffe des Bewusstseins und des Selbstbewusstseins zu sichern. Dabei zeichnet sich die transzendentale Argumentationsstruktur dadurch aus, dass sie bestimmte Bedingungen als notwendige Voraussetzung der Möglichkeit von Erfahrung auszuzeichnen sucht. Im Zusammenhang mit semantischen Rekonstruktionen transzendentaler Argumentationsstrukturen ist insbesondere darauf hingewiesen worden, dass letztere bestenfalls in der Lage seien, die Notwendigkeit der Verwendung eines Begriffs sicherzustellen, nicht jedoch den Sachbezug eines Begriffs zu garantieren.60 Um aus der Notwendigkeit eines Begriffs auf die Existenz des jeweiligen Referenzobjektes zu schließen, müsse man eine zusätzliche verifikationistische Prämisse ins Spiel bringen, derart, dass die Notwendigkeit eines Begriffs die Existenz des entsprechenden Referenzobjektes garantiert. Dieser Einwand verkennt allerdings die Tatsache, dass die Kantische Position, in der Terminologie der analytischen Gegenwartsphilosophie, einem internen Realismus im Sinne Putnams entspricht, wonach der Gegenstandsbezug ohnehin nur relativ zu dem jeweiligen begrifflichen Schema bestimmt ist. Dieser semantische Befund entspricht der erkenntnistheoretischen Diagnose Kants, wonach sich die objektive Gültigkeit von empirischen Begriffen in deren Bezug auf Gegenstände möglicher Erfahrung manifestiert, nicht jedoch in deren Bezug auf Gegenstände im Sinne von Dingen an sich.61 Die Möglichkeit eines Bezugs von 60

61

Vgl. die Kritik an transzendentalen Argumenten bei Wittgenstein und Strawson in Thomson, 1 9 6 4 und Stroud, 1 9 6 8 sowie den Versuch, diese Kritik auf Kant zu übertragen, in Kitcher, 1990, 2 7 f. Wenn Rorty (1971, 5) also zustimmend die Pointe des Einwandes von Thomson und Stroud gerade darin sieht, „that appearance is as good as reality for giving meaning to terms", so gibt er damit genau die Kantische Position wieder, mit der Folge, dass die Kritik daran ins Leere läuft.

Ein .vielfarbiges verschiedenes Selbst'?

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Vorstellungen auf Gegenstände möglicher Erfahrung, d.h deren objektive Gültigkeit, wird ihrerseits gerade durch die Einheit des Selbstbewusstseins sichergestellt, insofern diese Einheit die Voraussetzung der Vereinigung des Mannigfaltigen einer gegebenen Anschauung in ein Objekt ist. Insofern ist die objektive Gültigkeit zumindest der empirischen Begriffe im Rahmen der Kantischen Konzeption durchaus gewährleistet. Dem problematischeren Nachweis der objektiven Gültigkeit der reinen Verstandesbegriffe oder Kategorien dient dann die transzendentale Deduktion dieser Begriffe. Die Leistung der transzendentalen Überlegungen Kants besteht insbesondere darin, die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung dahingehend spezifiziert zu haben, dass sie letztlich auf die präzise Analyse des Begriffs einer zwischen den Vorstellungen bestehenden Synthesis-Struktur hinauslaufen.62 Kants Konzeption der transzendentalen Apperzeption bleibt damit nicht nur von der erwähnten Kritik an transzendentalen Argumenten aus semantischer Perspektive unberührt, sondern erweist sich insbesondere im Hinblick auf das aporetische Erbe Humes als dessen empiristischem Ansatz gegenüber überlegen. Zum einen gelingt es ihr, die Inkonsistenz dieses Ansatzes aufzuweisen, die darin besteht, dass es nach Hume einerseits unmöglich ist, ein unveränderliches Ich oder Selbst als Grundlage mentaler Aktivitäten und Zustände zu identifizieren, er andererseits aber mit seiner Bündeltheorie daran festhält, dass impressions (Eindrücke) und ideas (Vorstellungen) einem korrespondierenden Selbst zugeschrieben werden können.63 62

63

Dabei ist mit Sturma zu betonen, dass der Kantische Ansatz, wie derjenige traditioneller Selbstbewusstseinstheorien allgemein, „der Intention nach die Struktur von Bewußtsein und Selbstbewußtsein jenseits der sprachlichen Manifestationen von Begriffen über Bewußtseinszustände [aufklärt]" (1985, 133). Allerdings sind es gerade diese sprachlichen Manifestationen, die von analytischer Seite zumeist als ausgezeichneter Gegenstandsbereich von Selbstbewusstseinstheorien in Anspruch genommen werden (vgl. etwa Tugendhat, 1 9 7 9 , 2 0 ff.), wobei „unausgesprochen [...] die grundsätzliche Voraussetzung gemacht [wird], daß die interne Struktur des Bewußtseins identisch ist mit der semantischen Struktur von Sätzen über Bewußtseinszustände" (Sturma, 1985, 133). Die Inkonsistenz, die zwischen seiner Theorie isolierter und gegen andere Entitäten abgegrenzter Perzeptionen und der Unmöglichkeit besteht, die für

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Christiane Schildknecht

Zum anderen stellt die Kantische Konzeption der transzendentalen Apperzeption die Einlösung jener Erwartung dar, die Hume selbst im Hinblick auf die von ihm konstatierte aporetische Situation folgendermaßen formuliert: For my part, I must plead the privilege of a sceptic, and confess, that this difficulty is too hard for my understanding. I pretend not, however, to pronounce it absolutely insuperable. Others, perhaps, or myself, upon more mature reflection, may discover some hypothesis, that will reconcile those contradictions.64 Hinsichtlich der von Hume skizzierten Situation gelingt es Kant mit seinem Begriff der transzendentalen Apperzeption zum einen, die aus strukturbestimmender Sicht erforderlichen notwendigen Kriterien dafür anzugeben, was es heißt, ein erkennendes Subjekt zu sein, und was es bedeutet, einem Subjekt aus der Perspektive der ersten wie aus derjenigen der dritten Person mentale Zustände und Aktivitäten zuzuschreiben. Literatur Baumgartner, H.M., 1988, Kants „Kritik der reinen Vernunft". Anleitung zur Lektüre, Freiburg: Alber, 2 1988. Carl, W., 1989, Der schweigende Kant. Die Entwürfe zu einer Deduktion der Kategorien vor 1781, Göttingen: Vandenhoeck Sc Ruprecht. eine Theorie personaler Identität geforderte Verbindung dieser diskreten Einzelentitäten angeben zu können, gesteht Hume (ΤΗΝ, 6 3 3 und 636) selbst ein: I had entertain'd some hopes, that however deficient our theory of the intellectual world might be, it wou'd be free from those contradictions, and absurdities, which seem to attend every explication that human reason can give of the material world. But upon a more strict view of the section concerning personal identity, I find myself involv'd in such a labyrinth, that, I must confess, I neither know how to correct my former opinions, nor how to render them consistent. [...] In short there are two principles, which I cannot render consistent; nor is it in my power to renounce either of them, viz. that all our distinct perceptions are distinct existences, and that the mind never perceives any real connexion among distinct existences. 64

Hume, ΤΗΝ, 636.

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Descartes, R., 1983, Meditationes de prima philosophia [M], (Hrsg.) Ch. Adam und P. Tannery, in: Oeuvres, Bd. VII, Paris: Vrin. Hume, D., 1975, Enquiries Concerning Human Understanding and Concerning the Principles of Morals [EHU], (Hrsg.) L.A. SelbyBigge und P.H. Nidditch, Oxford: Clarendon Press. Hume, D., 1978, A Treatise of Human Nature [ΤΗΝ], ed. L.A. SelbyBigge und P.H. Nidditch, Oxford: Clarendon Press. Kant, I., 1781/1787, Kritik der reinen Vernunft [KrV], (Hrsg.) W. Weischedel, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1968, Bde. III und IV. Kant, I., 1783, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik [...] [PM], (Hrsg.) W. Weischedel, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1968, Bd. V. Kant, I., 1804, Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik [PFM], (Hrsg.) Preußische Akademie der Wissenschaften, Berlin: de Gruyter, 1942, Bd. VII, 253-351. Kitcher, P., 1982, Kant on Self-Identity, The Philosophical Review 91, 41-72. Kitcher, P., 1990, Kant's Transcendental Psychology, New York: Oxford University Press. Rorty, R., 1971, Verificationism and Transcendental Arguments, Nous 5, 3-14. Stroud, B., 1968, Transcendental Arguments, The Journal of Philosophy 65, 241-256. Stroud, B., 1977, Hume, London: Routledge & Kegan Paul. Sturma, D., 1985, Kant über Selbstbewußtsein. Zum Zusammenhang von Erkenntniskritik und Theorie des Selbstbewußtseins, Hildesheim: Olms. Teichert, D., 1999, Personen und Identitäten, Berlin: de Gruyter. Thomson, J., 1964, Private Languages, American Philosophical Quarterly 1, 20-31. Tugendhat, Ε., 1979, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung. Sprachanalytische Interpretationen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Die Aktualität Husserls für die moderne Philosophie des Geistes UWE MEIXNER

Der späte Husserl hat zwei gründliche Einführungen in die Phänomenologie verfasst, die Cartesianiscben Meditationen von 1929 und die unvollendet gebliebene so genannte Krisisschrift von 1936. 1 Ziel dieses Aufsatzes ist es in erster Linie, aufzuzeigen, dass Husserl insbesondere in der Krisisschrift Gedanken entwickelt, die geeignet sind, im Hinblick auf dominante Entwicklungen der modernen Philosophie des Geistes (der „philosophy of mind") ein erhebliches kritisches Potenzial zu entfalten. Das mag den sehr wenigen Philosophen, für die Husserl (ich meine dabei den phänomenologischen Transzendentalphilosophen) eine lebendige philosophische Größe darstellt, ohnehin klar sein; aber dieser Aufsatz wendet sich vor allem an die Analytischen Philosophen, für die Husserls Philosophie, insbesondere die spätere, weitgehend terra incognita ist, während sie bestens bewandert sind in Dennett, Churchland(s), Searle et al. Gemessen an der großen Zahl von Veröffentlichungen zum Thema Bewusstsein und dessen Verhältnis zur physischen Welt kann davon gesprochen werden, dass dieses Thema gegenwärtig das philosophische Thema überhaupt ist. Es ist dabei durchaus Volle Titel: Cartesianische Meditationen. Eine Einleitung in die Phänomenologie und Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie. Die Krisisschrift („Krisis") wird hier zitiert nach der Ausgabe von Elisabeth Ströker in Band 8 der Gesammelten Schriften, die Cartesianischen Meditationen ( „ C M " ) nach der von Elisabeth Ströker herausgegebenen Ausgabe von 1 9 8 7 .

Die Aktualität Husserls für die moderne Philosophie des Geistes

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verwunderlich, dass ein so bedeutender Bewusstseinsphilosoph wie Husserl in der regen Debatte so gut wie nicht vorkommt (ebenso wenig Hume, mit dem Husserl mehr gemeinsam hat, als manchem scheinen mag), wo doch Husserl für die moderne Philosophie des Geistes ein weit interessanterer Gesprächspartner wäre als der gern interpretierte und kritisierte Descartes. Doch, wie im folgenden deutlich werden wird, ist es nicht unplausibel, diese Vorliebe für Descartes auch, und nicht an letzter Stelle, zurückzuführen auf eine fundamentale Gemeinsamkeit in der Denkweise Descartes' und moderner Philosophen des Geistes - eine Gemeinsamkeit, die aller Kritik an Descartes zum Trotz dennoch besteht. Bekanntlich sind ja die meisten modernen Philosophen des Geistes Vertreter des Physikalismus, der modernen Form des Materialismus; aber was ist ein Materialist, auch ein moderner, anderes als ein einseitiger cartesischer Dualist? Der Gehalt dieser zweifellos zunächst recht dunklen Worte, die aber schon an dieser Stelle eines jedenfalls klar und deutlich zum Ausdruck bringen, nämlich dass Descartes (oder vielmehr, eine gewisse Seite dieses für Husserl zu Recht doppelsinnigen Philosophen2) immer noch nicht überwunden ist, auch nicht, und schon gar nicht, durch eine materialistische Neurophilosophie - dieser Gehalt wird im Anschluss an Husserls Spätschriften unter anderem hier zu entfalten sein.

1

Ein Geschichtsbild

Zu den weniger beachteten Inhalten der Krisisschrift gehört es, dass Husserl (um der Krisis auf den Grund zu gehen) eine großangelegte philosophiehistorische Rückbesinnung durchführt und ein bestimmtes Bild der Geschichte der neuzeitlichen Philosophie entwirft. Er deutet sie zusammenfassend wie folgt (und es lohnt sich - hier und auch im Folgenden - , Husserl selbst ausführlicher zu Wort kommen zu lassen): Vgl. Krisis, S. 80 f. Nach Husserl war Descartes ganz nah daran, der erste Transzendentalphilosoph zu werden (vgl. CM, § 10; Krisis, S. 83 f.), verfehlte dies aber und wurde stattdessen der Begründer des neuzeitlichen (zunächst noch dualistischen) Objektivismus.

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Uwe Meixner

„Die ganze neuzeitliche Philosophie, im ursprünglichen Sinne als universale, letztbegründete Wissenschaft, ist nach unserer Schilderung, mindestens seit Kant und Hume, ein einziges Ringen zwischen zwei Wissenschaftsideen: der Idee einer objektivistischen Philosophie auf dem Boden der vorgegebenen Welt und derjenigen einer Philosophie auf dem Boden der absoluten, transzendentalen Subjektivität 3 - letztere als ein historisch völlig Neuartiges und Befremdliches, mit Berkeley, Hume und Kant durchbrechend." (Krisis, S. 212; Kursives hier und in folgenden Zitaten aus der Krisisschrift ist - wenn nichts anderes vermerkt ist - im Original gesperrt gedruckt.) Um es kurz zu sagen: Mit diesem Geschichtsbild, mit seiner, in Husserls Worten, Charakteristik der philosophischen Entwicklung nach Kant unter dem Gesichtspunkt des Kampfes zwischen physikalistischem Objektivismus und dem immer wieder sich meldenden „transzendentalen Motiv" (Krisis, S. 194, Abschnittsüberschrift von § 56) hat Husserl schlicht recht (natürlich nur im Großen und Ganzen - und im Großen und Ganzen wie das bei globalen 4 historischen Aussagen ja immer so ist). Aus heutiger Sicht, mehr als 6 0 Jahre später, ist nur zu Husserls Geschichtsbild erstens hinzuzufügen, dass der heutige physikalistische Objektivismus monistische Gestalt hat: Er äußert sich als reiner Physikalismus, und nicht mehr, wie die Dinge noch für Husserl sich darstellten, als objektivistischer psycho-physischer Dualismus, der neben physischen Entitäten psychische anerkennt, letztere aber ganz analog zu physischen auffasst, eben doch quasi-physikalisch objekthaft. Der Materialismus hat den psycho-physischen Dualismus als offizielle Doktrin, als die noch Ryle in The Concept of Mind (1949) den Dualismus ansah, längst abgelöst. 3

4

Man beachte, dass wenn Husserl hier von zwei Wissenschaftsideen spricht und dann zwei Ideen der Philosophie anführt, er sowohl ein äußerst umfassendes Wissenschafts- als auch ein umfassendes Philosophieverständnis voraussetzt und beide in eins setzt - was heute freilich kaum mehr jemand tut. Wie fügt sich die Analytische Philosophie in dieses Bild? Da sie nur eine bestimmte Weise (Methode) ist, Philosophie zu betreiben, kann sie beiden Seiten des Streites dienen. Allerdings stehen die meisten Analytischen Philosophen auf der Seite des physikalistischen Objektivismus und meinen sogar, ihre Methode ließe ihnen keine andere Wahl.

Die Aktualität Husserls für die moderne Philosophie des Geistes

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Es ist daher zweitens hinzuzufügen, dass gegenwärtig der von Husserl konstatierte Kampf de facto überwältigend zu Gunsten des physikalistischen Objektivismus steht. Auch Husserls Gedanken, für den der physikalistische Objektivismus emphatisch eine „transzendentale Naivität" ist,5 haben keine tiefer gehende und weiter reichende Wirkung entfaltet. Im Gegenteil entwickelt gerade auf dem Gebiet der Philosophie des Geistes der Physikalismus eine alle konkurrierenden Geisteshaltungen geradezu hinwegfegende Dynamik. Zwei Ausprägungen dieser Dynamik seien angegeben: (1) Der Physikalismus wird weithin propagiert, und ist mittlerweile in popularisierter Hochglanzform in sehr großem Ausmaß in das allgemeine Bewusstsein vorgedrungen. Ob dies ausreichen wird, die von manchen Materialisten prophezeite Elimination des Mentalen - so, wie es traditionell konzipiert wurde - herbeizuführen, muss freilich dahingestellt bleiben. Der Physikalismus hat aber (2) heute schon die Rationalitätsherrschaft so gut wie erobert, was bedeutet, dass praktisch nur noch Auffassungen, die in sein Paradigma passen, als rational gelten und wissenschaftlich ernst genommen werden, ja überhaupt auch nur verstanden werden (denn mit der Rationalitätsherrschaft einher geht die Herrschaft über die legitime Deutung der Begriffe). Gegen unsere menschliche natürliche Neigung zum Objektivismus (die „Verschossenheit ins Objekt", wie man sie im Anschluss an Husserl, Krisis, S. 179, nennen könnte; vgl. auch Krisis, S. 209, wo Husserl von dem der natürlichen Einstellung eigenen gänzlichen Hingegebensein an die Gegenstandspole spricht), die durch jahrhundertelange Tradition - die freilich zum größten Teil dualistisch geprägt war - noch weiter verstärkt worden ist, ist eben schwer anzukämpfen, 6 zumal dann, wenn der ObjektiKühn sagt Husserl: „Hinfort [mit der Heraufkunft der phänomenologischen Transzendentalphilosophie, der husserlschen] ist, ich darf wagen, es zu sagen: für immer nicht nur der neuzeitliche physikalistische Naturalismus, sondern jede objektivistische Philosophie, ob der Vorzeit oder der nachkommenden Zeiten, als ,transzendentale Naivität' gekennzeichnet." (Krisis, S. 196.) Leider sind das Worte, die, wenn man auf ihre tatsächliche Beherzigung sieht, in den Wind gesprochen waren. Dies ist auch die Diagnose Husserls der Gründe für die gewisse Aussichtslosigkeit dieses Kampfes, wenn es darum geht, das allgemeine Bewusstsein

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vismus - augenscheinlich zu Recht - die glänzenden und immer mehr sich akkumulierenden Erfolge der Naturwissenschaften auf seine Fahnen schreibt. Die Naturwissenschaften seien doch nun, meint man standardmäßig gerade innerhalb der Analytischen Philosophie, schließlich und endlich auch noch dabei, den Geist vollständig zu objektivieren oder zu „naturalisieren", die „Physik des Geistes" eine realistische Erwartung, der richtige Weg zur Lösung eines der zentralen Menschheitsrätsel - die Natur des Bewusstseins und seines Verhältnisses zur physischen Welt - endlich eingeschlagen. Man übersieht, dass den Geist schon Descartes objektivierte und naturalisierte (nur dass seine Natur eben noch zwei Seiten hatte), der darin nur Nachfolger der gesamten philosophischen Tradition vor ihm war, und dass man seit 4 0 0 Jahren im Wesentlichen unbeirrt weiter auf seiner Schiene fährt. Freilich: Manche Analytische Philosophen, wie Thomas Nagel (The View front Nowhere) oder, hierzulande, Franz von Kutschera (Grundfragen der Erkenntnistheorie, Die falsche Objektivität), haben am Objektivismus Kritik geübt - aber, wie zu erwarten, ohne durchschlagenden Erfolg und leider offenbar mit wenig oder keinem Bewusstsein davon, dass Husserl sie antizipiert hat. (Im Abschnitt 7 wird darauf kurz zurückgekommen.) Nun stehen einige der älteren Protagonisten des „transzendentalen Motivs", die Husserl nennt, nämlich Berkeley und Hume, im Ruf des philosophischen Extremismus. Von philosophischen Extremisten lässt man sich nicht gern beirren, sondern gebraucht sie nur als abschreckende Beispiele. Doch Kant, den Husserl auch nennt, und Husserl selbst gehören zu den besonnensten und ausgewogensten Philosophen, die darauf bedacht sind, „alles zu seinem Recht kommen zu lassen" (ein oft vernachlässigter Grundsatz philosophischer Rationalität). Es für den transzendentalphilosophischen, nichtobjektivistischen Ansatz zu gewinnen: Vgl. Krisis, S. 2 2 8 : ,,[M]ag der Philosoph noch so eindringlich von prinzipiellem Widersinn sprechen, er kommt nicht auf gegen die Macht der Tradition." Und Krisis, S. 2 0 4 : „Der natürliche Menschenverstand und der in ihm verhaftete Objektivismus wird jede Transzendentalphilosophie als Verstiegenheit, ihre Weisheit als unnütze Torheit empfinden, oder er wird sie als eine Psychologie interpretieren, die sich durchaus einbilden will, keine Psychologie zu sein."

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wäre an der Zeit, dass Analytische Philosophen diesen Professoren wieder mehr bzw. überhaupt Gehör schenken - und nicht aus historischem Interesse, sondern weil das, was sie zu sagen haben, von aktueller Bedeutung für systematische Fragen ist, eben insbesondere für diejenigen der Philosophie des Geistes. Kant ist in diesem Aufsatz nicht das gewählte Thema und benötigt als im Allgemeinen überragend beachteter philosophischer Klassiker wohl auch weniger Unterstützung als Husserl. Auch kann die phänomenologische Gestalt der Transzendentalphilosophie durchaus mit Recht als deren einstweilige Vollendung angesehen werden.7 Aus diesen, eben genannten Gründen soll hier ausschließlich Husserl, der phänomenologische Transzendentalphilosoph, zur Sprache kommen, der gerade in der Krisisschrift auf einige fundamentale Wahrheiten über das Verhältnis von Geist (Bewusstsein) und physischer Welt nachdrücklich hingewiesen hat. Um dem Anliegen dieses Aufsatzes eine gewisse Emphase zu geben: Einen wohlbekannten alten Wahlspruch der deutschen Philosophie könnte man geradezu um den folgenden, abgewandelten ergänzen: „Es muss auf Husserl zurückgegangen werden." Weniger pathetisch und anspruchsvoll gesagt: Es muss endlich einmal ernst genommen werden, was er gesagt hat. Dabei ist es natürlich nicht notwendig, Husserl zur Gänze philosophisch zu folgen; es muss dabei insbesondere nicht ein Wechsel zur totalen transzendental-phänomenologischen Einstellung vollzogen werden, die nach Husserl eine personale Wandlung bewirken kann, die er mit einer religiösen Bekehrung vergleicht.8 7

8

Husserl wirft Kant mit einigem Recht „mythische Begriffsbildung" vor (d. h., Kants transzendentale Begriffe ermangeln nach Husserl der anschaulichen, evidenzstiftenden Klarheit), in die Kant gemäß Husserl dadurch hineingerät, dass er die empiristische, naturalistische Psychologie seiner Zeit zwar ablehnt, aber doch gleichzeitig durch sie gebunden bleibt (Krisis, S. 117 f.), also in transzendentalen Dingen zu keiner anschaulichen, in Evidenzen fortschreitenden Methode finden kann (dazu findet erst, wie man im Sinne Husserls ergänzen muss, die transzendentale Phänomenologie). Und natürlich hat Husserl Recht damit, dass Kant seine unbefragten Selbstverständlichkeiten hatte. Vgl. zur Kritik an Kant auch Krisis, S. 202 f. Krisis, S. 140. Diese Einstellung birgt darüber hinaus nach Husserl in sich „die Bedeutung der größten existenziellen Wandlung [...], die der Menschheit als Menschheit aufgegeben ist" {ebd.). Husserl verwendet für

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Worum man offenen Geistes nicht herumkommen wird, ist aber die Anerkenntnis dessen, dass das transzendentale Paradigma gegenüber dem objektivistischen nicht geringeres philosophisches Recht hat - gemessen durch den Maßstab einer metaphysisch unvoreingenommenen, erkenntniskritischen philosophischen Rationalität. Doch selbst die Anerkenntnis einer Parität der beiden Paradigmen würde in vielen Zeitgenossen eine Meinungsrevision erfordern, die angesichts des Herrschaftscharakters der herrschenden Auffassungen schier unmöglich erscheint. 2

Objektivistische Philosophie und Transzendentalphilosophie

Es ist an der Zeit, herauszustellen, worin eigentlich der Gegensatz zwischen objektivistischer Philosophie und Transzendentalphilosophie genau besteht. Husserl sagt dazu das Folgende: „Das Charakteristische des Objektivismus ist, daß er sich auf dem Boden der durch Erfahrung selbstverständlich vorgegebenen Welt bewegt und nach ihrer,objektiven Wahrheit' fragt, nach dem für sie unbedingt, für jeden Vernünftigen Gültigen, nach dem, was sie an sich ist. Das universal zu leisten, ist Sache der Episteme, der Ratio, bzw. der Philosophie. Damit werde das letztlich Seiende erreicht, hinter das zurückzufragen keinen vernünftigen Sinn mehr hätte. Der Transzendentalismus dagegen sagt: der Seinssinn der vorgegebenen Lebenswelt ist subjektives Gebilde, ist Leistung des erfahrenden, des vorwissenschaftlichen Lebens. In ihm baut sich der Sinn und die Seinsgeltung der Welt auf, und jeweils der Welt, welche dem jeweilig Erfahrenden wirklich gilt. Was die ,objektiv wahre' Welt anlangt, die der Wissenschaft, so ist sie Gebilde höherer Stufe, aufgrund des vorwissenschaftlichen Erfahrens und Denkens bzw. den Wechsel von der „natürlichen Einstellung" zur transzendentalen, um die Radikalität des Wechsels zu bezeichnen, auch die kantische Bezeichnung „kopernikanische Umwendung" (CM, S. 147 f.). Ins Geistesgeschichtliche gewendet, bezeichnet er unter Gebrauch sozio-politischer Metaphorik „die Umwendung des wissenschaftlichen Objektivismus, des neuzeitlichen, aber auch desjenigen aller früheren Philosophien der Jahrtausende, in einen transzendentalen Subjektivismus" als „die größte aller Revolutionen" (Krisis, S. 69).

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seiner Geltungsleistungen. Nur ein radikales Zurückfragen auf die Subjektivität, und zwar auf die letztlich alle Weltgeltung mit ihrem Inhalt und in allen vorwissenschaftlichen und wissenschaftlichen Weisen zustandebringende Subjektivität, sowie auf das Was und Wie der Vernunftleistungen kann die objektive Wahrheit verständlich machen und den letzten Seinssinn der Welt erreichen. Also nicht das Sein der Welt in seiner fraglosen Selbstverständlichkeit ist das an sich Erste, und nicht die bloße Frage ist zu stellen, was ihr objektiv zugehört; sondern das an sich Erste ist die Subjektivität, und zwar als die das Sein der Welt naiv vorgebende und dann rationalisierende oder, was gleich gilt: objektivierende." (Krisis, S. 70.) Diesen Aussagen kann man entnehmen, dass die Entgegensetzung von Transzendentalismus und Objektivismus eine Entgegensetzung zweier ontologisch-erkenntnistheoretischer Standpunkte ist, die sich als Behauptungen über ein jeweiliges ontologisches Primat und eine korrespondierende wissenschaftliche Zielsetzung formulieren lassen: A. Gemäß dem Objektivismus ist die Natur, die objektive Welt, also vor allem die physische Welt, das ontologisch Erste. 9 Diese Der Einfachheit halber werden im Folgenden „die Natur" und „die objektive Welt" synonym gesetzt. Vorausgesetzt einen entsprechenden Objektivitätsbegriff, wonach das Objektive in etwa dem heideggerschen Vorhandenen entspricht (siehe Sein und Zeit, § 15, § 16), ist dies nicht unberechtigt. Die Synonymsetzung hat die Konsequenz, dass auch die folgenden Termini synonym werden: „Naturalismus" und „Objektivismus", „Naturalist" und „Objektivist". Husserl selbst unterscheidet allerdings in den CM, S. 98, jedenfalls die bloße Natur von der objektiven Welt, nämlich als deren abstraktiven Teil, der „durch Abstraktion [...] von allem Psychischen und von den personal entsprungenen Prädikaten der objektiven Welt" gewonnen wird (zu Husserls Bestimmung der objektiven Welt und Natur vgl. auch CM, S. 140, S. 149). Ich ziehe es aber vor, auch „objektives Psychisches" (CM, S. 98), wenn es dergleichen gibt, als Teil der Natur anzusehen. Alles Kulturobjektive („den objektivierten Geist", wozu Husserl auch als höchststufige Kulturleistung die „wissenschaftliche Natur" zählen würde - siehe CM, S. 150 worin ihm aber nicht gefolgt sei) sowie ideale Objektivitäten seien hier hingegen von vornherein von der objektiven Welt ausgeklammert („ideale Objektivitäten" nimmt offenbar auch Husserl von der objektiven Welt aus; siehe CM, S. 101). Auch auf diesem Wege rechtfertigt sich die Synonymsetzung von „die Natur" und „die objektive Welt".

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Welt begegnet in der Erfahrung, wenn auch nicht so, wie sie an sich ist, und es ist Aufgabe der Wissenschaften dieses An-sich-sein ausgehend von der Erfahrung zu enthüllen (allgemein verbindlich und definitiv). Was Husserl in der zitierten Passage nicht sagt, aber zu ergänzen ist: Das so genannte Subjektive ist nach objektivistischer Auffassung selbst etwas zur Gänze Objektives und ist von den Wissenschaften ebenfalls in seinem An-sich-sein zu enthüllen. Aus der historischen Perspektive eines modernen Objektivisten wäre hinzuzufügen, was Husserl noch nicht absehen konnte: Nach immensen Erfolgen in der Erkenntnis der objektiven Welt stehen die Wissenschaften, spezifisch: die Hirnforschung, heute ganz nah davor, auch das An-sich-sein des Subjektiven (Psychischen) zu enthüllen. Das Hauptsächliche dabei, so der moderne Objektivist, ist die Erkenntnis, dass das Subjektive nicht nur etwas Objektives, sondern darüber hinaus im Grunde etwas Physisches ist; damit wird, nach gängiger objektivistischer Auffassung, der Dualismus in absehbarer Zeit überwunden sein, der den Objektivismus über Jahrhunderte hinweg geprägt hat, und der Objektivismus vollständig als ein Physikalismus sich darstellen. B. Gemäß dem Transzendentalismus ist dagegen die Subjektivität, also das Bewusstseinsleben das ontologisch Erste. Alles Objektive, auch das paradigmatisch Objektive, das Physische der Physik, geht daraus erst durch eine rationale Konstitutionsleistung hervor, bleibt also in einem gewissen Sinn subjektives Gebilde. (Äußerst irreführend wäre es aber, das konstituierte Objektive als „etwas Subjektives" zu bezeichnen; der Transzendentalismus ist kein naiver Idealismus. Siehe dazu des Näheren die Abschnitte 4 und 5.) Aufgabe der transzendental-phänomenologischen Wissenschaft ist es, jene Konstitutionsleistung auf allen ihren Stufen von Grund auf zu enthüllen und vollständig zu verstehen (ohne Unbefragtes, ohne Übergänge, denen es an Evidenz mangelt). In Verfolgung dieses Ziels werden neben allen anderen höherstufigen Leistungen der Subjektivität schließlich auch die objektiven Wissenschaften „eingeholt", in einem ausgezeichneten Sinn rational erfasst werden, darunter insbesondere und an erster Stelle die Physik (mit der von ihr betrachteten Welt von physikalischen Objekten).

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3

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Ein eingehenderer Vergleich

Es ist instruktiv, Transzendentalismus und Objektivismus in einigen wesentlichen Punkten eingehender zu vergleichen. Hier sind die entsprechenden leitenden Fragen: (I)

Was stellt sich für den Objektivismus als besondere Schwierigkeit, ja als Rätsel dar, was für den Transzendentalismus? (II) Wie kommen wir zur Erkenntnis einer objektiven Welt gemäß dem Objektivismus, gemäß dem Transzendentalismus? (III) Was ist der Charakter der Physik gemäß dem Objektivismus, gemäß dem Transzendentalismus?

Zur Frage (I): Die besondere Schwierigkeit für den Objektivismus ist die ontologische und erkenntnistheoretische Einordnung des Psychischen, insbesondere des Bewusstseins. Der Objektivismus tritt zwar mit der Prämisse an, dass das Psychische etwas Objektives ist, sieht sich dann aber mit der Konsequenz konfrontiert, dass das psychisch Objektive (etwa Sinnes- und Gefühlsdaten) als Objekt ganz eigener Art erscheint, das nicht recht zu den anderen objektiven Objekten, nämlich den physischen, passen will. Wie sie dennoch zueinander passen könnten (sie müssen es ja irgendwie), stellt sich alsbald als Rätsel aller Rätsel dar und zieht ein gewaltiges Ausmaß an philosophischer Aufmerksamkeit auf sich. So war es schon zu Descartes' Zeiten, und so ist es heute. Bei David Chalmers, wie Descartes ein naturalistischer Dualist -oder dualistischer Naturalist, wie Husserl sagen würde (Krisis, S. 235) -, 1 0 lesen wir:

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Chalmers selbst bezeichnet seine Position als „naturalistic dualism". Die Ähnlichkeit zwischen Descartes und Chalmers besteht zum einen darin, dass sie beide dem objektivistischen oder naturalistischen Paradigma verhaftet sind, zum anderen, dass sie der Natur zwei Seiten zuerkennen, die physische und die psychische (insbesondere: bewusstpsychische). Sie sind demnach in der Tat beide naturalistische Dualisten. Die Ähnlichkeit zwischen beiden ist sogar so weitreichend, dass die Argumente, auf deren Grundlage sie zu ihren Positionen kommen, ähnlich sind: Sowohl Descartes als auch Chalmers machen von Vorstellbarkeitsargumenten Gebrauch, die darauf abzielen, logische Möglichkeiten zu etablieren. Um dies zu sehen, muss man nur Descartes' Argument in der 6. Meditation der Meditationes

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Uwe Meixner

„Consciousness is the biggest mystery. [...] The science of physics is not yet complete, but it is well understood [...] Consciousness, however, is as perplexing as it ever was. It still seems utterly mysterious that the causation of behavior should be accompanied by a subjective inner life. We have good reason to believe that consciousness arises from physical systems such as brains, but we have little idea how it arises, or why it exists at all. [...] We do not just lack a detailed theory; we are entirely in the dark about how consciousness fits into the natural order." (The Conscious Mind, S. xii.) Ähnlich äußert sich Colin McGinn: „This book is about the mystery of consciousness. My main theme is that consciousness is indeed a deep mystery, a phenomenon of nature 11 on which we have virtually no theoretical grip. The reason for this mystery, I maintain, is that our intelligence is wrongly designed for understanding consciousness." (The Mysterious Flame, S. xi.) Nicht wenigen physikalistischen einem Rätsel oder gar Geheimnis,

Objektivisten wird die Rede von das das Phänomen des Bewusst-

seins angeblich darstellt, ein Ärgernis sein (und schon gar der Erkenntnispessimismus bzgl. Bewusstsein, der von McGinn vertreten

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vergleichen mit Chalmers' Argument gegen den Materialismus (The Conscious Mind, S. 123) und mit Chalmers' Begründung für die 2. Prämisse jenes Arguments (ebd., S. 94 ff.). (Eine Rekonstruktion des Arguments von Descartes biete ich in „Descartes' Argument für den psycho-physischen Dualismus im Lichte der modal-epistemischen Logik".) Chalmers legt allerdings Wert darauf, sich vom cartesianischen (Substanz-)Dualismus abzusetzen, den er als unvereinbar mit „contemporary science" ansieht (ebd., S. 124 f.); auch betont er, dass sein Argument letztlich doch wesentlich anders sei als das von Descartes (ebd., S. 130 f.). So wesentlich scheinen mir allerdings die Unterschiede letztlich nicht zu sein. Wie Chalmers ist somit auch McGinn ein Objektivist: Bewusstsein ist ein Teil der Natur, der objektiven Welt. Diese Geisteshaltung offenbart schon der Untertitel von McGinns Buch: „Conscious Minds in a Material World". Man vergleiche hiermit Husserl, den phänomenologischen Transzendentalisten: „Solange dieses Vorurteil der Jahrhunderte [die Seele sei Reales eines gleichen Sinnes wie die körperliche Natur, das Thema der Naturwissenschaften] nicht in seinem Widersinn enthüllt wird, solange wird es keine Psychologie geben, welche Wissenschaft vom wirklich Seelischen ist" (Krisis, S. 216).

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wird12); aber ihre angestrengten Dementis unter Beschwörung des wissenschaftlichen Fortschritts scheinen gerade das zu bestätigen, was sie dementieren. Bewusstsein soll und darf kein Rätsel für sie sein - und ist eben doch eines. Dieses Rätsel ist nicht erst ein Produkt des psycho-physischen Dualismus, wie immer wieder unterstellt wird; es ist schon ein Produkt des Objektivismus, der Dualismus (in seiner historischen Gestalt) und Physikalismus gemeinsam ist. Für einen Transzendentalisten wie Husserl ist dagegen ganz etwas anderes ein Rätsel: „Für den Transzendentalphilosophen ist aber die gesamte reale Objektivität, die wissenschaftliche Objektivität aller wirklichen und möglichen Wissenschaften, aber auch die vorwissenschaftliche der Lebenswelt mit ihren,Situationswahrheiten' und der Relativität ihrer seienden Objekte, nun zum Problem, zum Rätsel aller Rätsel13 geworden. Das Rätsel ist gerade die Selbstverständlichkeit, in der für uns beständig und vorwissenschaftlich ,Welt' ist, als Titel für eine Unendlichkeit von allen objektiven Wissenschaften unentbehrlichen Selbstverständlichkeiten." (Krisis, S. 208.) Diese Konstatierung des Rätsels der Objektivität hat bei Husserl aber nicht einmal eine skeptische Note (und stellt sich somit völlig anders dar als die Konstatierung des Rätsels des Bewusst12

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Als Motto von McGinns Buch steht ein Zitat aus Oskar Wildes The Picture of Dorian Gray: „The separation of spirit from matter was a mystery, and the union of spirit with matter was a mystery also." Der mystifizierende psycho-physische Skeptizismus, der bei McGinn zum Ausdruck kommt, scheint wie ein Echo des spätantiken Objektivisten Augustinus, der in De Civitate Dei ( X X I , 10, S. 6 8 2 der angg. Ausgabe) schreibt: ,,[M]odus, quo corporibus adhaerent spiritus et animalia fiunt, omnino mirus est nec conprehendi ab homine potest, et hoc ipse homo est." Oder wie ein Echo des hochmittelalterlichen Objektivisten Thomas von Aquin, der in der Summa contra Gentiles (II, 68, S. 2 8 8 der angg. Ausgabe) das LeibSeele-Verhältnis als eine „mirabilis rerum connexio" bezeichnet. Nicht erst mit Descartes wurde das Verhältnis des Psychischen zum Physischen für Objektivisten zum Rätsel, und McGinns „naturalized mysterianism" ist von dem seiner theistischen Mitobjektivisten nicht so sehr verschieden, wie er glauben machen will (vgl. The Mysterious Flame, Kap. 3). Husserl nennt freilich auch das alles enthaltende transzendentale ego (das kein sinnvoll annehmbares „Draußen" hat) ein Paradoxon und das größte aller Rätsel (Krisis, S. 82).

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seins bei McGinn, und auch anders als dessen Konstatierung bei Chalmers, der sich dem Rätsel gegenüber dann doch in eigener Sache vorsichtig erkenntnisoptimistisch gibt: siehe The Conscious Mind, S. xii, S. 379). Im Gegenteil: Kraftvoll steckt Husserl ein transzendentalphilosophisches Zuständigkeitsgebiet ab: „Es gilt nicht, Objektivität zu sichern, sondern sie zu verstehen. Man muß endlich einsehen, daß keine noch so exakte objektive Wissenschaft irgend etwas ernstlich erklärt oder je erklären kann. Deduzieren ist nicht Erklären. Voraussagen oder objektive Aufbauformen physikalischer oder chemischer Körper erkennen und danach voraussagen - das alles erklärt nichts, sondern bedarf der Erklärung. Das einzig wirkliche Erklären ist: transzendental verständlich machen. Alles Objektive steht unter der Forderung der Verständlichkeit." (Krisis, S. 193.) Die Absichtserklärung, Objektivität verstehen zu wollen, wobei die Zuversicht, das gesteckte Ziel auch erreichen zu können, unverkennbar ist, ist begleitet von der Aussage, dass die objektiven Wissenschaften ihrerseits nicht in der Lage sind, das Objektive zu verstehen.14 Wenn Husserl Recht hat, dann gibt es noch ein anderes unlösbares Rätsel für den Objektivismus als das eine, dessen Unlösbarkeit sich gelegentlich bedrohlich am Bewusstseinshorizont mancher Objektivisten abzeichnet. Nicht nur Bewusstsein, sondern auch das paradigmatisch Objektive, die physische Welt, kann womöglich vom objektivistischen Standpunkt aus nicht wirklich verstanden werden. Die weithin propagierte und bei Objektivisten ganz unfragliche Behauptung, dass die objektiven Wissenschaften, insbesondere die Physik, ein wirkliches (und letztes) Verständnis der Natur liefern, wäre dann nichts weiter als der Ausdruck eines tiefen Missverständnisses der objektiven Wissenschaften durch die Objektivisten bzgl. dessen, 14

Nebenbei bemerkenswert ist, dass Husserl in der zuletzt zitierten Passage implizit das so genannte deduktiv-nomologische Modell der Erklärung kritisiert, lange bevor es überhaupt explizit formuliert werden sollte, indem er diesem Modell vorhält, dass es keinen Unterschied zwischen Erklären und deduktivem Vorhersagen machen kann. Das DN-Modell kann in der Tat zwischen Erklären und Vorhersagen keinen tieferen Unterschied machen. Die Frage wäre nur, ob Erklären und Vorhersagen am Ende nicht doch im Wesentlichen dasselbe sind.

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was das eigentlich ist, das jene Wissenschaften tun und leisten.15 Wie dem auch sei, die Leichtigkeit, mit der Physikalisten die (ins Auge gefasste, einstweilen nur hypothetische) Rückführung aller Fakten auf fundamentale physikalische Naturgesetze und auf Fakten über die physikalische Mikrostruktur der Welt für eine Letzterklärung der Welt ausgeben, gibt zu denken: Als ob diejenigen Fakten, die auch fundamentale physikalische Naturgesetze nun einmal sind, und die Fakten über das Ultrakleine ohne weiteres verständlicher wären als alle anderen Fakten! Husserls Diagnose wäre, dass hier nicht einmal verstanden wurde, was Erklären, Verständlichmachen eigentlich bedeutet, und dass das, was die objektiven Wissenschaften an Stelle der bloß beanspruchten Leistung wirklich leisten,X6 und die wahre Bedeutung ihrer Methoden nicht begriffen wurden und unter den fraglosen Selbstverständlichkeiten des Objektivismus - seinen „Naivitäten" - auch nicht begriffen werden können. Seinerseits erhebt Husserl den Anspruch, dass in den Fragen der Verständlichmachung des Objektiven und der auf es bezogenen Wissenschaften letzte Erhellung nur von der transzendentalen Phänomenologie erwartet werden kann. Es ist hinzuzufügen, dass Bewusstsein und sein Verhältnis zum Physischen für den Transzendentalismus von vornherein kein Problem darstellt: Für ihn gibt es einfach kein ontologisches „Leib-Seele-Problem" und korrelatives erkenntnistheoretisches „Problem der Erkennbarkeit der Außenwelt". Was unter diesen 15

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Hierauf wird in der Behandlung der Frage (III) zurückgekommen werden. Es ist vielleicht nicht unnötig, zu betonen, dass Husserl kein Wissenschaftsfeind ist. Ihm liegt es fern, die wohlverstandenen Leistungen der Naturwissenschaften zu negieren oder kleinzumachen. Er übt allein Kritik an den, wenn man so will, metaphysischen Ansprüchen, die mit diesen - unbestreitbaren - Leistungen verbunden werden (wobei er allerdings oftmals nicht hinreichend zwischen Physikern und Physikalisten unterscheidet, als ob erstere alle letztere wären). Vgl. Krisis, S. 53, S. 193, und insbesondere S. 92: „[Z]eigte sich hier [bei Berkeley und Hume, also bei frühen, noch unvollkommenen Transzendentalisten] nicht eine völlig neue Art an, die Objektivität der Welt und ihren ganzen Seinssinn und korrelativ den der objektiven Wissenschaften zu beurteilen, die nicht dessen eigenes Recht, wohl aber ihren philosophischen, ihren metaphysischen Anspruch angriff: den einer absoluten Wahrheit?"

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(oder weniger traditionellen) Namen seit Jahrhunderten ein philosophischer Dauerbrenner ist, das sind die ganz eigenen Probleme des Objektivismus, aus Sicht des Transzendentalismus: PseudoProbleme. Darauf wird in den Aussagen zu Frage (II) ausführlicher eingegangen werden. Zur Frage (II): Der objektivistische Zugang zur objektiven Welt wird sehr schön von David Chalmers beschrieben: „At first, I have only facts about my conscious experience. From here, I infer facts about middle-sized objects in the world, and eventually microphysical facts. From regularities in these facts, I infer physical laws, and therefore further physical facts. From regularities between my conscious experience and physical facts, I infer psychophysical laws, and therefore facts about conscious experience in others." (The Conscious Mind, S. 87.) Chalmers nennt das einen „epistemologischen Mythos", doch soll diese Bezeichnung nicht etwa besagen, dass das angegebene Geschichtchen aus der Sicht eines Objektivisten wie Chalmers prinzipiell falsch ist, sondern nur, dass die im Geschichtchen präsentierte saubere Abfolge - erst das, dann das, und dann das - und insbesondere die späte Gewinnung des Intersubjektiven die erkenntnistheoretische Wahrheit auch für einen Objektivisten wohl nicht so genau trifft. Die zentrale, von objektivistischer Seite ernstlich vertretene Botschaft des „Mythos" ist aber demgegenüber, dass der objektivistische Weltzugang ein inferentieller ist; so war es schon für Descartes, so ist es bei den modernen Objektivisten. Der Unterschied zwischen älterem und neuerem Objektivismus ist nur, dass an die logische Qualität der Schlussfolgerungen, durch die die objektive Welt erschlossen wird, von den modernen Objektivisten weit weniger strenge Anforderungen gerichtet werden als von den älteren. Um logisch gültige Schlussfolgerungen konnte es sich bei der Erschließung der objektiven Welt ja ohnehin nie handeln; denn daraus, dass mir etwas objektiv so und so zu sein scheint, und sei es klar und deutlich objektiv zu sein scheint, folgt einfach nicht logisch, dass es objektiv so ist. Descartes berief sich bekanntlich zur Stützung der Schlussfolgerung von Schein auf Sein auf die Wahrhaftigkeit Gottes, der uns jedenfalls in dem, was wir klar und

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deutlich auffassen, nicht täuscht. Seine säkulareren Nachfolger, für die eine Berufung auf Gott rational vollkommen ausgeschlossen, ja Anathema ist, begnügen sich mit einem Schlussverfahren, das unter dem Namen „Schluss auf die beste Erklärung" bekannt ist. Genau dieses Schlussverfahren ist es, auf das sich Chalmers mit den Worten „I infer" wiederholt bezieht. Es ist für einen passionierten Skeptiker keine große Schwierigkeit, die vollkommene logische Brüchigkeit von Schlüssen auf die beste Erklärung zu erweisen. Erstens ist unklar, was unter einer „besten Erklärung" überhaupt zu verstehen ist, und es dürfte sich dies ohne ein starkes rein konventionelles Element in der Begriffsbestimmung auch nicht eindeutig klären lassen. Hat man sich aber irgendwie auf eine Klärung des Begriffs „beste Erklärung" geeinigt, dann ist zweitens schwerlich nachzuvollziehen, warum daraus, dass eine Erklärung eine beste ist, folgen soll, dass sie eine wahre oder auch nur eine wahrscheinlich wahre ist. Einschätzungen der Güte von Erklärungen berufen sich ja gewöhnlich auf Kriterien wie Einfachheit, Fruchtbarkeit (über den spezifischen Anwendungsfall hinaus, d. h. das Gegenteil von „Ad-hoc-heit"), Konservativität (d. h. die Erklärung widerspricht nicht den nicht in Frage stehenden Prinzipien). Wahrheit hingegen kann jedenfalls dann nicht ein Kriterium für die Güte einer Erklärung sein, wenn man daraus, dass eine Erklärung eine beste ist, ohne eine petitio principii zu begehen, d. h. ohne bereits vorauszusetzen, dass sie wahr ist, erschließen möchte, dass sie wahr ist (und das möchte man ja). Die übrigen Kriterien für die Güte einer Erklärung haben nun aber offenbar keinerlei allgemeinen inneren Anzeigebezug zur Wahrheit, schon gar nicht zur Wahrheit bzgl. dessen, was objektiv der Fall ist. Wie soll man dann mit Schlüssen auf die beste Erklärung etablieren, was objektiv der Fall ist oder auch nur wahrscheinlich objektiv der Fall ist? Ganz einfach: Moderne Objektivisten (anders als Descartes) scheren sich nicht um Bedenkenträger, wie es Skeptiker sind. Denn das Verfahren funktioniert doch ganz offensichtlich wunderbar. Und es funktioniert deshalb, weil die Welt ganz zufällig so ist, dass es funktionieren kann (und eben nicht deshalb, weil zwischen dem von uns spezifizierten Charakter der Bestheit von

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Erklärungen und der objektiven Wahrheit ein innerer, nämlich logischer Zusammenhang bestünde). Die Welt hätte auch so sein können, dass das Verfahren nicht funktioniert, aber sie ist nun einmal so, dass es funktioniert; sein Funktionieren ist einfach eine weitere empirische Tatsache. Der Wissenschaftstheoretiker Richard Boyd spricht in „Realism, Approximate Truth, and Philosophical Method" von der radikalen Kontingenz der Erkenntnistheorie und konstatiert: ,,[T]he justifiability of scientific principles of inference rests ultimately on a contingent matter of empirical fact, just as the epistemic role of the senses rests upon the contingent empirical fact that the senses are reliable detectors of external phenomena. Thus, inference foundationalism is radically false; there are no a priori justifiable rules of non-deductive inference, and it is an a posteriori question about any such inference whether or not it is justifiable." (The Philosophy of Science, S. 227.) Die augenfällige Zirkularität, die in dieser Sicht der Dinge beschlossen ist, stört moderne Objektivisten nicht. Dass hier aber etwas vorliegt, über das man sich doch ein wenig mehr erkenntnistheoretische Sorgen machen sollte, vermag vielleicht die folgende Parallelisierung von zwei Frage-Antwort-Spielchen zu zeigen: 1. Dialog: Frage: Woher weißt du, dass die Welt so-und-so an sich ist? Antwort: Ich habe es mit Schlüssen auf die beste Erklärung aus der Erfahrung erschlossen. Frage: Aber woher weißt du, dass dieses Verfahren verlässlich ist? Antwort: Es ist verlässlich, weil die Welt eben so-und-so an sich ist. 2. Dialog: Frage: Woher weißt du, dass Gott existiert? Antwort: Es steht in der Bibel. Frage: Aber woher weißt du, dass die Bibel verlässlich ist? Antwort: Sie ist verlässlich, weil sie eben Gottes Wort ist.

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Es ist eine nicht ganz leicht zu beantwortende Frage, warum der Antwortende im 1. Dialog als rationaler gelten sollte als der Antwortende im 2. Dialog. Sollte es am Ende so sein, dass moderne Objektivisten (sie laufen gewöhnlich unter der Bezeichnung „wissenschaftliche Realisten", „scientific realists") sich erkenntnistheoretisch nicht rationaler verhalten als religiöse Fundamentalisten? Beiden Gruppen gemeinsam ist jedenfalls, dass sie sich im Besitz einer Wahrheit sehen (über das An-sich der Welt, bzw. über das Jenseits der Welt), und wenn sie sich recht besinnen und demzufolge die Zirkularität der obigen Frage-Antwort-Spielchen als unbefriedigend empfinden, dann müssen sie sich eingestehen, dass sie für ihre fraglichen Überzeugungen keine Begründungen haben, gleichwohl sie natürlich im Lichte dieser Überzeugungen erklären (erklärend Auskunft darüber geben) können, wie sie zu ihnen, zu ihren jeweiligen Wahrheiten gekommen sind (das ist kein Problem, ist aber, was oft übersehen wird, etwas anderes, als eine Begründung für eine Überzeugung zu liefern). Ob da der Erkenntnisfundamentalismus, oder wie man auch im Deutschen, um irritierende Konnotationen fernzuhalten, besser sagen sollte: der Erkenntnisfundationalismus (im Englischen heißt es „foundationalism", nicht „fundamentalism"), dem Transzendentalisten wie Husserl anhängen (aber auch ein transzendental angehauchter Objektivist wie Descartes), nicht doch der philosophisch bessere, nämlich vernünftigere Weg ist? Der Erkenntnisfundationalismus ist nicht an den Transzendentalismus gebunden, aber, wie der gescheiterte Versuch Descartes' zeigt, hat das Programm einer vollkommenen Rationalisierung der Erkenntnis von Grund auf wohl nur unter dem Paradigma des Transzendentalismus überhaupt eine Chance. Husserl sagt: „Echte Erkenntnistheorie ist [... ] allein sinnvoll als transzendental-phänomenlogische, die, statt mit widersinnigen Schlüssen von einer vermeinten Immanenz auf eine vermeinte Transzendenz, die irgendwelcher angeblich prinzipiell [in sich?] unerkennbarer ,Dinge an sich', es ausschließlich zu tun hat mit der systematischen Aufklärung der Erkenntnisleistung, in der sie durch und durch verständlich werden müssen als intentionale Leistung. Eben damit wird jede Art Seiendes selbst, reales und ideales, verständlich als

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eben in dieser Leistung konstituiertes ,Gebilde' der transzendentalen Subjektivität. Diese Art Verständlichkeit ist die höchste erdenkliche Form der Rationalität." (CM, S. 87 f.) Den von Objektivisten eingeschlagenen inferentiellen Zugang zur objektiven Welt weist Husserl, wie in der eben zitierten Passage, auch in der Krisisschrift zurück (dort unter besonderer Bezugnahme auf den in den Objektivismus umgekippten Beinahe-Transzendentalisten Descartes): „Diese fast unausrottbare Naivität [des natürlichen Menschenverstands] macht es [...], daß in Jahrhunderten fast niemand an der Selbstverständlichkeit' der Möglichkeit von Schlüssen von dem ego und seinem cogitativen Leben aus auf ein ,Draußen' Anstoß nahm und eigentlich niemand sich die Frage stellte, ob hinsichtlich dieser egologischen Seinssphäre ein,Draußen' überhaupt einen Sinn haben könne." (Krisis, S. 82.) Die ontologisch-erkenntnistheoretische Alternative, die dem Weltzugang des Transzendentalismus zugrunde liegt und die die gleichzeitige Erledigung des Leib-Seele-Problems und des Problems der Erkenntnis der Außenwelt impliziert, ist nun diese: „Das Universum wahren Seins fassen zu wollen als etwas, das außerhalb des Universums möglichen Bewußtseins, möglicher Erkenntnis, möglicher Evidenz steht, beides bloß äußerlich durch ein starres Gesetz aufeinander bezogen, ist unsinnig. Wesensmäßig gehört beides zusammen, und wesensmäßig Zusammengehöriges ist auch konkret eins, eins in der einzigen absoluten Konkretion der transzendentalen Subjektivität. Ist sie das Universum möglichen Sinnes, so ist ein Außerhalb dann eben Unsinn." (CM, S. 86.) Mit diesen etwas lapidaren Worten lässt sich Konkreteres verbinden. Nach Husserl hat die Erfahrung eine essentiell dreieinige Struktur (in dem Sinne, dass keines der drei Strukturelemente der Erfahrung von dem anderen abgelöst werden kann): das Subjekt - bat Bewusstsein von - dem Objekt. Oder anders gesagt (nämlich von der Objektseite her): das Objekt - ist für - das Subjekt. In der Erfahrung - ganz allgemein genommen, so dass sie nichts anderes als der Bewusstseinsstrom selbst ist - tritt wesenhaft, wie

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auch immer sie beschaffen sein mag, niemals das Subjekt ohne ein Objekt für es auf, oder ein Objekt ohne das Subjekt, für das es ist. Zudem: Subjekte und Objekte, die außerhalb einer möglichen Extension der Bewusstseinsrelation (oder, mit anderen Worten, ihrer Inverse, der Ist-für-Relation) stehen - Husserl spricht auch hier von der Relation der Intentionalität17 - , sind für Husserl metaphysische Chimären, mit denen vernünftigerweise nicht gerechnet werden darf: Ihre Annahme ist funktionslos („unsinnig"). Zwei sehr bedeutsame und plausible Thesen sind im Anschluss hieran zunächst herauszuheben (weitere werden hinzukommen): These 1: Bewusstsein ist eine Art zweipoliges Medium, in dem der eine Pol (das Subjekt) auf den anderen Pol (die Objekte im allgemeinsten Sinn) durch die Relation des Bewusstseins-von (der Ich-Intentionalität·, siehe Fußnote 17) bezogen ist. Auf diese These, die brentano-husserlsche These von der intrinsischen Relationalität des Bewusstseins, wird später ausführlich eingegangen (in Abschnitt 6), wenn aufgezeigt wird, wie wenig diese These in der modernen Philosophie des Geistes gewürdigt wird und wie sehr sie es verdienen würde, gewürdigt zu werden. Neben sie tritt These 2: Die objektive Welt (die Welt des Objektiven, der Objekte im engeren Sinn, der objektiven Objekte)18 ist, soweit sie für uns Thema ist, vollständig bewusstseinsimmanent. 17

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Man muss bei Husserl zwei Intentionalitätsrelationen unterscheiden: die des transzendentalen Egos zu seinen cogitationes und cogitata, und die seiner cogitationes zu ihrem jeweiligen Inhalt, ihrem cogitatum. Wenn man will, kann man von Icb-Intentionalität und Es-Intentionalität sprechen. Im hier gegebenen Kontext ist von der Ich-Intentionalität die Rede, aber auf die Es-Intentionalität wird weiter unten im Abschnitt 5 eingegangen, und auf beide Intentionalitäten zusammen im Abschnitt 6. Für „objektive Welt" sagt Husserl gewöhnlich einfach „Welt", und dementsprechend für „objektives Objekt" oft „weltliches Objekt" (siehe etwa CM, S. 43). Was Objektivität ausmacht, also auch objektive Objekte von anderen Objekten unterscheidet, ist, wie schon gesagt, das große und zentrale Thema der transzendentalen Phänomenologie. Wir brauchen dieses hier nicht eingehend zu entwickeln. Merkmale der Objektivität sind aber vom transzendental-phänomenologischen Standpunkt neben (bewusstseinsimmanenter) Transzendenz (siehe dazu Abschnitt 5) prinzipielle

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Diese beiden Thesen, erstens die These von der intrinsischen Relationalität des Bewusstseins und zweitens die These von der Bewusstseinsimmanenz der thematisierten objektiven Welt, ziehen nun für einen Transzendentalisten wie Husserl nach sich, dass der transzendierend-inferentielle Zugang zur objektiven Welt, der dem Objektivismus eignet, nicht angemessen ist; an seine Stelle ist im Transzendentalismus ein immanent-konstitutiver Zugang zur objektiven Welt zu setzen. 4

Exkurs: Historisch-systematische Betrachtung der These von der Bewusstseinsimmanenz der thematisierten objektiven Welt

Aber bevor dem näher nachgegangen werden soll, was nach Husserl die Umrisse eines konstitutiven Weltzugangs in dem durch die Thesen 1 und 2 gesteckten Rahmen sind, ist es zunächst aufschlussreich, in der Geschichte des Transzendentalismus zurückzublicken und zu beobachten, wie die These von der Bewusstseinsimmanenz der thematisierten objektiven Welt von den Denkern, die Husserl als seine denkerischen Ahnen nennt, im Kern immer wieder formuliert wird, und zwar mit dem Anspruch, dass es sich dabei um eine These handelt, die ganz offensichtlich richtig ist, doch dann teilweise höchst problematische weitere Annahmen, nämlich naiv-idealistische, mit ihr verbunden werden. Zunächst George Berkeley: „Some truths there are so near and obvious to the mind that a man need only open his eyes to see them. Such I take this important one Inter Subjektivität (zum Zusammenhang zwischen Objektivität und Intersubjektivität siehe des näheren Abschnitt 14), sowie, in letzterer begründet, Rationalität (vgl. Krisis, S. 70 und, konkreter, S. 2 7 ) und Fremdheit (siehe CM, S. 94, S. 98). Die Rede von „objektiven Objekten" ist im Übrigen kein Artefakt dieser Arbeit. Husserl selbst spricht von „als objektiv bewußten Gegenständen" (= objektiven Objekten, Objekten i. e. S.) und von „nicht objektiven (bloß subjektiven) Gegenständen", „immanenten Gegenständen" (= nichtobjektiven Objekten); vgl. CM, S. 5 4 f., und CM, S. 66, wo auch deutlich wird, dass er das Wort „Objekt" im Sinne von Gegenstand (= Objekt i. w. S.) als gemeinsamen Obertitel für objektive und bloß subjektive Gegenstände verwendet.

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to be, viz. that all the choir of heaven and furniture of the earth, in a word all those bodies which compose the mighty frame of the world, have not any subsistence without a mind; that their being is to be perceived or known; [...] To be convinced of which, the reader need only reflect, and try to separate in his own thoughts the being of a sensible thing from its being perceived." (The Principles of Human Knowledge, Abs. 6, S. 63 der angg. Ausgabe.) Zu Berkeley ist zu sagen, dass daraus, dass man an kein Objekt denken kann, ohne an es zu denken, nicht folgt, dass das Sein jedes Objekts darin besteht, dass an es gedacht, dass es perzipiert wird. Dann David Hume: „Now since nothing is ever present to the mind but perceptions, and since all ideas are derived from something antecedently present to the mind; it follows, that it is impossible for us so much as to conceive or form an idea of anything specifically different from ideas and impressions. Let us fix our attention out of ourselves as much as possible; let us chase our imagination to the heavens, or to the utmost limits of the universe; we never really advance a step beyond ourselves, nor can conceive any kind of existence, but those perceptions, which have appeared in that narrow compass. This is the universe of the imagination, nor have we any idea but what is there produced." (Λ Treatise of Human Nature, Buch I, Teil II, Abschnitt VI, S. 113 f. der angg. Ausgabe.) Zu Hume ist zu sagen, dass daraus, dass, was wir auch betrachten, wir als Betrachter stets dabei sind, nicht folgt, dass wir es immer nur mit unseren Perzeptionen und mit nichts, was von Eindrücken und Vorstellungen spezifisch verschieden wäre, zu tun haben. Am trockensten und knappsten ist Kant: „Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können; denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was gar nicht gedacht werden könnte, welches eben so viel heißt, als die Vorstellung würde entweder unmöglich, oder wenigstens für mich nichts sein." (Kritik der reinen Vernunft, Β 131 f., S. 136 der angg. Ausgabe.)

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Gegen diese letzteren Ausführungen lässt sich wenig einwenden. Aber es fragt sich nun, was an Bedeutsamen sich daraus ergeben soll, dass alle meine Vorstellungen mit dem „Ich denke" kompatibel sein sollen. Heißt das denn mehr als die Trivialität „Es ist notwendigerweise so, dass alle meine Vorstellungen meine Vorstellungen sein können" ? Während also Berkeley und Hume unhaltbare Entstellungen der These 2 bieten, naiv-idealistische, liefert Kant anscheinend eine - ebenfalls entstellende - Trivialisierung. Tatsächlich dürfte aber im Gegenteil das, was Kant als erkenntnistheoretischer Idealist mit seiner lakonischen Aussage meint, über die These von der Bewusstseinsimmanenz der thematisierten objektiven Welt noch hinausgehen. In der zitierten Passage deutet sich nicht nur deutlich die These von der intrinsischen (dreiseitigen) Relationalität des Bewusstseins an (ich - denke - Vorstellungsinhalte), sondern es lässt sich aus ihrer konzisen Allgemeinheit auch die folgende logische Verstärkung von These 2 entnehmen (eine Verstärkung, die übrigens auch aus der oben zuletzt zitierten Husserl-Passage herauslesbar ist): These 2*: Alles, was ist, die Welt überhaupt (nicht nur die objektive), ist, soweit es (sie) für uns Thema ist, vollständig bewusstseinsimmanent. (These von der Bewusstseinsimmanenz des

thematisierten

Seienden.19)

Schließlich, als ein Nachkomme seiner philosophischen Ahnen, sagt Husserl selbst (und es klingt zunächst, wenn auch wortreicher, ähnlich trivial wie bei Kant, ist aber im Sinne von These 2 * zu verstehen): „Alles, was für mich ist, ist es dank meinem erkennenden Bewußtsein, es ist für mich Erfahrenes meines Erfahrens, Gedachtes meines Denkens, Theoretisiertes meines Theoretisierens, Eingesehenes meines Einsehens. [...] Alles, was für den Menschen, was für mich ist

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Husserl formuliert diese These gleich zu Anfang der Krisisschrift lapidar als Frage und vermutlich im Echo des Fragmentes Β 3 des Parmenides (,,τό γάρ αύτό νοεΐν εστίν τε καΐ είναι", S. 2 3 1 der angg. Ausgabe): „Ist Vernunft und Seiendes zu trennen, wo erkennende Vernunft bestimmt, was Seiendes ist?" (Krisis, S. 9.)

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und gilt, tut das im eigenen Bewußtseinsleben, das in allem Bewußthaben einer Welt und in allem wissenschaftlichen Leisten bei sich selbst verbleibt. Alle Scheidungen, die ich mache zwischen echter und trügender Erfahrung, und in ihr zwischen Sein und Schein, verlaufen in meiner Bewußtseinssphäre selbst [...] Jede Begründung, jede Ausweisung von Wahrheit und Sein verläuft ganz und gar in mir, und ihr Ende ist ein Charakter im cogitatum meines cogito." (CM, S. 84 f.; ähnlich ebd., S. 22, S. 27.) Wie Hume (oben zitiert) sagt: ,,[W]e never really advance a step beyond ourselves". Das bedeutet nun aber nicht die Leugnung einer Außenwelt, von physischer Objektivität; es bedeutet nicht die Psychisierung dessen, was einfach nicht psychischer Natur ist (etwa die Ersetzung von Tischen und Stühlen durch Vorstellungen von Tischen und Stühlen), und doch besagt es mehr als die platte Tautologie, dass alles, was mir zu Bewusstsein kommt, notwendigerweise eben mir zu Bewusstsein kommt bzw. kommen kann. Es besagt, dass wir keinen anderen Zugang zu Objektivem und zu Seiendem überhaupt haben als im Medium unseres Bewusstseins. Daraus folgt: Die Grundlage und die Weise all dessen, was wir irgend bzgl. objektivem Sein und Sein überhaupt befinden, sofern es irgend begründeter Natur ist, muss in diesem Medium selbst zu finden sein. Aber für Husserl folgt noch mehr als das: Mag sein, dass es außerhalb des Bewusstseins noch etwas gibt,20 aber das ist (jedenfalls zunächst, würde ich hier einschränken: siehe dazu Abschnitt 13) eine gänzlich müßige (funktionslose, in diesem Sinne sinnlose) Hypothese; soweit Objektives, ζ. B., uns angeht, Thema für uns ist und soweit unser Wissen wahrhaft reicht, ist alles Objektive im Bewusstsein selbst schon ontologisch beschlossen. Oder wie Husserl sagt:

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Husserl lehnt allerdings offenbar sogar diese gänzlich leere, rein grenzbegriffliche Möglichkeit einer Welt von Dingen an sich ab, da er sich vom kantianischen Idealismus gerade unter Bezugnahme auf diesen Punkt absetzt (siehe CM, S. 88). An der logischen Möglichkeit einer Welt an sich jenseits des Bewusstseins ist aber nicht zu zweifeln, und eine solche Welt nicht doxastisch auszuschließen, ist erkenntnistheoretisch angemessener, weil weniger dogmatisch, als es doch zu tun. Ich korrigiere Husserl also in diesem - kantianischen - Sinn.

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„Die objektive Welt, die für mich ist, die für mich je war und sein wird, je sein kann mit allen ihren Objekten, schöpft, sage ich, ihren ganzen Sinn und ihre Seinsgeltung, die sie jeweils für mich hat, aus mir selbst, aus mir als dem transzendentalen Ich" (CM, S. 27). Das ist nun gewissermaßen eine idealistische These. Aber, wie hoffentlich schon deutlich geworden ist, eine idealistische These, die sich vom Idealismus Berkeleys, Humes und auch Kants unterscheidet; es ist nämlich ein Idealismus, der eben nicht in den alten Fehler der Verwechslung von Vorstellung und Vorstellungsinhalt verfällt 21 (was im nächsten und übernächsten Abschnitt noch klarer herausgearbeitet werden wird). Es ist nicht unpassend, zur Charakterisierung dieses Idealismus einen Satz Wittgensteins in einen anderen Satz umzuwandeln, der viel plausibler als das Original ist: Jener Idealismus besagt nicht weniger, aber auch nicht mehr als „Die Grenzen meines Bewusstseins bedeuten die Grenzen meiner Welt" (vgl. Tractatus, 5.6). Wie merkwürdig nehmen sich neben diesem Satz, an dem sicherlich das meiste wahr ist (wenn auch, ebenso sicherlich, nicht alles - darüber wird zu sprechen sein), die Intention mancher Physikalisten, etwa Paul Churchlands und Daniel Dennetts, aus, im Namen des wissenschaftlichen Fortschritts den durch Intentionalität und Qualia geprägten Bewusstseinsbegriff mit der an ihm hängende Alltagspsychologie (Husserl würde sagen: „die Psychologie der Lebenswelt") theoretisch zu eliminieren. 22 Diese Leute müssen ein sonderbares Bewusstsein haben (es verschließt sich meinem Verständnis), dass sich darin eine derartige Verknotung des Verstandes ausbilden kann, dass sie meinen, nach dem theoretischen

Vergessen der Bewusstseinsbrille, ohne die sie ja wahrhaftig rein gar nichts sehen könnten, nach dem Hinabwerfen ihres Begriffs in den Orkus obsoleter Begriffe, philosophisch besser sehen zu können als vorher. In Selbstblendung aus der philosophischen Vernunft hinausgefallen, der Wissenschaftsgläubigkeit rettungslos verfallen - das ist hier wohl die angemessene Diagnose. 21

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Vgl. hierzu Franz von Kutschera, Grundfragen der Erkenntnistheorie, S. 2 0 3 f. Auch Kant (und in der Nachfolge: Schopenhauer) erliegt diesem Fehler; vgl. dazu Meixner, Ereignis und Substanz, S. 3 2 2 f. Siehe Paul Churchland, „Eliminative Materialism and the Propositional Attitudes", und Daniel Dennett, Consciousness Explained.

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Der husserlsche Idealismus ist die philosophisch durchdachteste Gestalt, die der Idealismus jemals angenommen hat. Die zentrale Frage dieses „transzendentalen Idealismus", die oben im Abschnitt 3 bei der Behandlung der Frage (I) schon als „Rätsel des Transzendentalismus" zur Sprache gekommen ist, ist nun: „Aber wie kann dieses ganze, in der Immanenz des Bewußtseinslebens verlaufende Spiel objektive Bedeutung gewinnen?" (CM, S. 85.)

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Die Transzendenz in der Bewusstseinsimmanenz

Ich kehre daher dazu zurück, die Frage (II) im Rahmen des eingehenderen Vergleichs zwischen Objektivismus und Transzendentalismus zu beantworten. Wir waren dabei stehen geblieben, dass der Transzendentalismus keinen transzendierend-inferentiellen Zugang zur objektiven Welt hat - ein solcher Zugang ist dem Objektivismus eigen - , sondern vielmehr einen immanent-konstitutiven. Was heißt das genau? Dies im Einzelnen aufzuklären, war natürlich die wissenschaftliche Lebensarbeit Husserls; hier kann es nur um Grundsätzliches gehen. Neben der These von der Bewusstseinsimmanenz der thematisierten objektiven Welt (These 2) nimmt sich die folgende Aussage Husserls zunächst merkwürdig aus: „Das Objektive ist eben als es selbst nie erfahrbar" (Krisis, S. 131). Doch dürfte Husserl hier nur auf ein zentrales Merkmal des Objektiven hinweisen: seine Transzendenz, womit er die Tatsache meint, dass man etwas Objektives zu keiner Zeit vollständig im erkennenden Blick haben kann. Immer bleibt eine Seite an ihm verborgen, immer gibt es für Objektives, gewissermaßen an ihm und um es, einen partiell, nie aber vollständig in der Erfahrung realisierbaren und als solchen bewussten Horizont von spezifisch oder mehr oder weniger unspezifisch angenommenen Möglichkeiten des Bewussthabens, darunter auch unspezifisch als unvorhergesehen angenommene und als ungeahnte. 23 Aber die so gemeinte Transzendenz des 23

Vgl. CM, S. 24: „[I]n diesem Selbstdastehen hat es [das Ding] für den Erfahrenden einen offenen endlosen, unbestimmt allgemeinen Horizont

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Objektiven ist keine Transzendenz, wie sie die Objektivisten meinen, kein An-sich, 24 sondern eine Transzendenz, die sich im Bewusstsein selbst aufbaut. Sie ist eine bewusstseinsimmanente, im Bewusstsein konstituierte Transzendenz: „Transzendenz in jeder Form ist ein innerhalb des Ego sich konstituierender Seinssinn", sagt Husserl (CM, S. 86). In diesem Sinne gilt dann von dem, was diesen Seinssinn hat: „Zum eigenen Sinn alles Weltlichen gehört diese Transzendenz, obschon es den gesamten es bestimmenden Sinn, und mit seiner Seinsgeltung, nur aus meinem Erfahren, meinem jeweiligen Vorstellen, Denken, Werten, Tun gewinnt und gewinnen kann" (CM, S. 28). „Daß das Sein der Welt in dieser Art [in der Weise der äußeren Erfahrung] dem Bewußtsein [...] transzendent ist und notwendig transzendent bleibt, ändert nichts daran, daß es das Bewußtseinsleben allein ist, in dem jedwedes Transzendente als von ihm Unabtrennbares sich konstituiert, und das speziell als Weltbewußtsein in sich unabtrennbar den Sinn Welt und auch .diese wirklich seiende' Welt trägt." (CM, S. 63 f.) Will man der bewusstseinsimmanenten Transzendenz des Objektiven näher nachgehen, so muss man die „Korrelation von Welt (der Welt, von der wir je sprechen) und subjektiven Gegebenheitsweisen" (Krisis, S. 168) erforschen, d. h. nichts anderes als transzendentale Phänomenologie als Wissenschaft betreiben, deren umfassendes Thema eben dadurch gegeben ist, dass „[a]lles

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von eigentlich nicht-selbst-Wahrgenommenem, und zwar als einen - das liegt darin als Präsumtion - durch mögliche Erfahrung zu erschließenden." Vgl. auch die folgende allgemeinere Aussage zur Grundlage des Transzendenzbewusstseins: „Intentionale Analyse ist geleitet von der Grunderkenntnis, daß jedes cogito als Bewußtsein zwar im weitesten Sinne Meinung seines Gemeinten ist, aber daß dieses Vermeinte in jedem Momente mehr ist (mit einem Mehr Vermeintes), als was im jeweiligen Moment als explizit Gemeintes vorliegt." (CM, S. 4 8 . ) Eine sehr gute eingehendere Beschreibung des Transzendenzbewusstseins in der äußeren Erfahrung bietet Husserl im § 2 8 der CM. Wenngleich Husserl selbst sagt, ,,[j]edes Seiende ist in einem weitesten Sinn ,an sich'" (CM, S. 62), so ist doch damit nur gesagt, dass Husserl eben sein eigenes (bewusstseinsimmanentes) Verständnis von „an sich" und Objekttranszendenz im weitesten Sinne hat.

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Seiende jeden Sinnes und jeder Region25 [...] Index eines subjektiven Korrelationssystems" (Überschrift von § 48 der Krisisschrift, S. 168 der angg. Ausgabe) ist, d. h. das eine komplementäre Was eines subjektiven, höchst vielfältigen, aber organisierten möglichen Wie: „Jedes [Seiende, das für mich und jedes erdenkliche Subjekt als in Wirklichkeit seiend in Geltung ist] indiziert eine ideelle Allgemeinheit der wirklichen und möglichen erfahrenden Gegebenheitsweisen, deren jede Erscheinung von diesem einen Seienden ist, und zwar derart, daß jede wirkliche konkrete Erfahrung einen einstimmigen, einen kontinuierlich die erfahrende Intention erfüllenden Verlauf von Gegebenheitsweisen aus dieser totalen Mannigfaltigkeit verwirklicht." (Krisis, S. 169.) „Jeder der vom Ego je gemeinten, gedachten, gewerteten, behandelten, aber auch phantasierten und zu phantasierenden Gegenstände indiziert als Korrelat sein System [der Intentionalität: von möglichen intentionalen Gegebenheitsweisen], und er ist nur als dieses Korrelat."26 (CM, S. 67.) Wir können demnach die folgende weitere These des Transzendentalismus festhalten: These 3: Alle bewusstseinsimmanenten Objekte (also insbesondere alle objektiven Objekte unter diesen) sind wesenhaft-intrinsisch eineindeutig abbildbar auf gewisse organisierte Mengen von mög-

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26

Eine Seite weiter (Krisis, S. 169) formuliert Husserl scheinbar eingeschränkter: ,,[}]edes Seiende, das für mich und jedes erdenkliche Subjekt als in Wirklichkeit seiend in Geltung ist [Hervorhebung U. M.], ist damit korrelativ, und in Wesensnotwendigkeit, Index seiner systematischen Mannigfaltigkeiten." Doch fällt hier wohl für Husserl zusammen nicht nur Seiendes und Seiendes für ihn oder jedes erdenkliche Subjekt, sondern auch Seiendes und Seiendes, das für ihn und [dieses „und" dürfte hier den logischen Sinn von „oder" haben!] jedes erdenkliche Subjekt als in Wirklichkeit seiend in Geltung ist, gleichwohl man durchaus einen Unterschied machen kann zwischen seiend und in Wirklichkeit (aktual) seiend. Der Nachsatz „[...] und er ist nur als dieses Korrelat" gibt einen Fingerzeig darauf, wie Husserl sich das In-sein des Bewussten im Bewusstsein denkt.

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liehen subjektiven Gegebenheitsweisen. (These

von der

bewusst-

seinsimmanenten subjektiven Abbildung der Objekte.)27 Das macht objektive Gegenstände nicht zu „Schwebeteilchen im Teich des Bewusstseins", was gerade der Transzendenz dieser Objekte widersprechen würde und wogegen sich Husserl explizit verwahrt: ,,[D]ie Welt und jedes weltliche Objekt [ist] nicht Stück meines Ich, nicht in meinem Bewußtseinsleben als dessen reeller Teil, als Komplex von Empfindungsdaten oder Akten reell vorfindlich" (CM, S. 2 7 f.). Husserl spricht vielmehr von der „Transzendenz irreellen Beschlossenseins", die zum eigenen (Seins-) Sinn der Welt dazugehöre (CM, S. 28), und er bestimmt dieses Beschlossensein, dieses „völlig eigenartige Darinsein" der weltlichen Objekte im Bewusstsein näherhin als ein intentionales, „oder, was dasselbe besagt", weltliche Objekte sind im Bewusstsein „als dessen immanenter gegenständlicher Sinn'" (CM, S. 44): „Der Gegenstand des Bewußtseins in seiner Identität mit sich selbst während des strömenden Erlebens kommt nicht von außen her in dasselbe hinein, sondern liegt in ihm selbst als Sinn beschlossen, und das ist als intentionale Leistung der Bewußtseinssynthesis." (CM, S. 44.) Der Schlüssel des Weltzugangs der Transzendentalisten, der für sie die Tür zu Objektivität als eine Form bewusstseinsimmanenter Transzendenz eröffnet, ist demnach das im Bewusstsein globale Strukturphänomen der Intentionalität. Für die transzendentale Phänomenologie als Wissenschaft ist Intentionalität der Leitbegriff zu ihrem großen Ziel, Objektivität in all ihren Erscheinungsformen von Grund auf zu erklären, d. h. rational verständlich zu machen (vgl. Abschnitt 3). Husserl sagt: „Intentionalität ist der Titel für das allein wirkliche und echte Erklären, Verständlichmachen. Auf die intentionalen Ursprünge und

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Husserl spricht hier vom „universalen Korrelationsapriori von Erfahrungsgegenstand und Gegebenheitsweisen" (Krisis, S. 169, Fußnote), dessen erster Durchbruch („ungefähr im Jahre 1 8 9 8 " ) ihn so tief erschüttert habe, dass seitdem seine gesamte Lebensarbeit von der Aufgabe einer systematischen Ausarbeitung dieses Korrelationsaprioris beherrscht gewesen sei.

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Einheiten der Sinnbildung zurückführen - das ergibt eine Verständlichkeit, die (was freilich ein Idealfall ist), einmal erreicht, keine sinnvolle Frage übrig ließe." (Krisis, S. 171.)

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Intentionalität - und was Objektivisten daraus machen

Bevor ich zur Beantwortung der Frage (III) komme, die in unserem eingehenderen Vergleich zwischen Objektivismus und Transzendentalismus die Auffassung beider philosophischer Fundamentalpositionen von der Physik betrifft, ist hier nun der natürliche Ort, über Intentionalität zu sprechen - ein Begriff, der ja auch in der modernen Philosophie des Geistes keine unbedeutende Rolle spielt. Wie schon andeutungsweise sich abgezeichnet hat, und worauf ich in Fußnote 17 im Abschnitt 3 auch schon explizit hingewiesen habe, gibt es für Husserl zwei Arten von Intentionalität, die IchIntentionalität und die Es-Intentionalität, wie ich sie nenne: die Intentionalität des auf seine cogitationes und cogitata bezogenen transzendentalen ego, und die Intentionalität der auf ihre cogitata bezogenen cogitationes. Die beiden Intentionalitäten stehen nicht unverbunden nebeneinander, sondern die Es-Intentionalität ist gewissermaßen in die Ich-Intentionalität eingeschachtelt. Husserl stellt dies so dar: „Für das jeweilige Subjekt ist diese Intention das cogito, dessen cogitatum nach Was und Wie die (weitest zu verstehenden) Gegebenheitsweisen sind, die ihrerseits in sich als ihre Einheit das eine und selbe Seiende zur ,Darstellung' bringen." (Krisis, S. 170.) Zur Ergänzung und Beleuchtung dieser Aussage sei zudem ein Zitat aus den Cartesianischen Meditationen angeführt, das nebenbei die transzendentalistischen Thesen 2,2* und 3 noch einmal aufklingen lässt: „Durch diese neue Einstellung [die durch die Epoche gewonnene] sehe ich erst, daß das Weltall, und so überhaupt alles natürlich Seiende, für mich nur ist als mir mit seinem jeweiligen Sinne geltendes, als cogitatum meiner wechselnden und im Wechsel miteinander verbundenen cogitationes, und nur als das halte ich es in Geltung.

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Demnach habe ich, der transzendentale Phänomenologe, als Thema meiner universalen deskriptiven Feststellungen einzeln wie nach universalen Verbänden ausschließlich nur Gegenstände als intentionale Korrelate ihrer Bewußtseinsweisen." (CM, S. 39.) Ein kleines Diagramm kann die etwas undurchsichtige husserlsche Beschreibung dieser komplexen Verhältnisse, die zudem mit einer Äquivokation bzgl. des cogitatum-Begriffs belastet ist,28 erhellen: ego

|

- Ich-Int.-»-1. cogitata

(cogitationes)

Ich-Int.

-Es-Int. •

2. cogitata

(Objekte)

f

Hiernach ist die Ich-Intentionalität die umfassendere Relation (eventuell nur prima facie; siehe nämlich Fußnote 28), denn sie ist direkt auf die cogitationes (die Erstcogitata, Bewusstseinsweisen) bezogen und mittels der Es-Intentionalität indirekt auch noch auf die (intentionalen) Gehalte der cogitationes (deren Objekte, die Zweitcogitata). Entsprechend spricht Husserl von „dem Gang [Descartes'] zum ego cogito, dem ego der cogitationes jeweiliger cogitata"' (Krisis, S. 76), und vom „identischen Ich, das als Bewußtseinstätiges und Affiziertes in allen Bewußtseinserlebnissen lebt und durch sie hindurch auf alle Gegenstandspole bezogen ist" (CM, S. 67 f.). Ζ. B. sind für mich ich-intentional, und zwar direkt, die perspektivischen Wahrnehmungen dieses Tisches, und der Tisch ist es-intentional Gehalt dieser Wahrnehmungen; der Tisch ist daher ebenfalls ich-intentional für mich, aber indirekt. Es ist hier wichtig, wie bemerkt sei, Ich-Intentionalität nicht mit einer anderen, engeren Bewusstseinsbeziehung zu verwechseln, nämlich mit der Beziehung Bedachtes-für-mich. Dass ζ. B. meine Wahrnehmungen für mich sind, dass ich Bewusstsein von ihnen habe (direkt ich-intentional), bedeutet nicht, dass sie etwas Bedachtes für mich 28

Nämlich mit der folgenden Äquivokation: cogitatum einerseits als vom ego (in einem ganz allgemeinen Sinn) Gedachtes, cogitatum andererseits als Inhalt oder Korrelat von cogitationes. Die Äquivokation ist aber eventuell insofern nicht schlimm, als zwischen beiden cogitatum-Rtgniitn wesenhaft Extensionsgleichheit bestehen könnte: Alles vom ego (im weitesten Sinne) Gedachte ist Korrelat von cogitationes (wenn nötig höherstufiger), jedes Korrelat von cogitationes wird vom ego gedacht (wenn auch oft nicht bedacht; siehe dazu gleich unten im Haupttext).

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sind (schon gar nicht, dass sie ein begrifflich erfasstes Bedachtes für mich sind). Im Gegenteil, gewöhnlich verschwende ich keinerlei Aufmerksamkeit an sie. Ja, nicht einmal alle Wahrnehmungsobjekte, die für mich sind, von denen ich Bewusstsein habe (indirekt ich-intentional), sind in der Regel Bedachtes für mich - noch bin ich es, übrigens, selbst - , sondern nur ganz wenige ausgewählte. Es ist, wie Husserl in den Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie sagt: „Wir befaßten danach in das Wesen der Intentionalität nicht mit das Spezifische des cogito, den ,Blick-auf' [ein von dem reinen Ich ausstrahlender ,Blick' auf den ,Gegenstand' des jeweiligen Bewußtseinskorrelats; ebd., S. 188], bzw. die [...] Ichzuwendung; vielmehr galt uns dieses Cogitative als eine besondere Modalität des Allgemeinen, das wir Intentionalität nennen." (S. 189 der angg. Ausgabe, im folgenden kurz: Ideen.) Betrachtet man demgegenüber, wie in der modernen Philosophie des Geistes von Intentionalität die Rede ist, so ist die ins Auge springende Feststellung die, dass sie als Ich-Intentionalität so gut wie nicht vorkommt, sondern nur als Es-Intentionalität. Charakteristisch hierfür ist John Searles Definition: „Intentionality is that property of many mental states and events by which they are directed at or about or of objects and states of affairs in the world." (Intentionality, S. 1.) Entsprechend erläutert auch David Chalmers den Begriff der Intentionalität wie folgt: „The central feature of these mental states [propositionale Haltungen, wie ζ. B. Glauben, Hoffen etc.] is their semantic aspect, or intentionality·. the fact that they are about things in the world." (The Conscious Mind, S. 19.) Zwar verwendet Chalmers in diesem Zusammenhang den Ausdruck „propositional attitude", aber, dass da doch jemand sein müsste, der die propositionale Haltung zu einem Sachverhalt einnimmt, bleibt gänzlich unerwähnt. Stattdessen wird Intentionalität behandelt wie eine rein apersonale Beziehung. Eine semantische

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Beziehung, eng verwandt mit der Referenzbeziehung, soll sie zudem sein - was nun, selbst als Analyse von Es-Intentionalität, eine Analyse ist, die mehr als schief ist, denn die Beziehung ζ. B. eines Glaubenszustandes zu dem geglaubten Sachverhalt ist keine semantische im eigentlichen Sinn und sollte wohl auch besser nicht mit einer semantischen Beziehung verglichen werden. Glaubenszustände sind einfach in keinem Sinn Zeichen für, oder wie physikalistische Intentionalitätstheoretiker gerne sagen: (glaubensmäßige) Repräsentationen von einem Gehalt, der ihnen in irgendeinem Grade äußerlich wäre, wie das doch bei allen Repräsentationen oder Zeichen der Fall ist.29 Der propositionale Gehalt von Glaubenszuständen ist ihnen vielmehr vollständig intrinsisch-essentiell mitgegeben. Bei jedem Zeichen ist es richtig zu sagen, es hätte auch etwas anderes oder rein gar nichts bedeuten können. Bei keinem Glaubenszustand ist es dagegen richtig zu sagen, er hätte sich auch auf etwas anderes beziehen, Überzeugung von etwas anderem sein können. Chalmers gilt ja nun als eine Art dualistischer Hecht im physikalistischen Karpfenteich, als einer, der, wie er sich ausdrückt, Bewusstsein ernst nimmt und der dies mit Argumenten tut, die beachtet werden. So ernst, wie Husserl und jeder Transzendentalist Bewusstsein nimmt, nimmt er es aber offenbar doch nicht, denn sonst müsste er mit Husserl darin übereinstimmen,30 dass „das Wort Intentionalität [...] nichts anderes als diese allgemeine Grundeigenschaft des Bewußtseins, Bewußtsein von etwas zu sein, als cogito sein cogitatum in sich zu tragen, bedeutet" (CM, S. 35). Aber im Gegenteil: Chalmers erachtet es als kontrovers, dass Bewusstsein partiell konstitutiv für intentionalen Gehalt ist (The Conscious Mind, S. 82) und tendiert nicht unbeträchtlich zur Physikalisierung der Intentionalität, an der Philosophen wie Lewis, Dennett, Dretske und Fodor gearbeitet haben (während 29

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Man beachte in diesem Zusammenhang, dass es in der Tat zweifelhaft ist, ob echte semantische Beziehungen apersonal sind. Worte bedeuten (und referieren) wohl, recht besehen, nur (auf) etwas für jemanden, und nicht an sich. Freilich, wie es scheint, unbekannterweise, denn Husserl wird in Chalmers dickem Buch kein einziges Mal erwähnt.

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er, Chalmers, wenigstens die Physikalisierung von Bewusstsein für unmöglich erachtet): „Leaving any phenomenological aspects aside, intentional properties are best seen as a kind of third-person construct in the explanation of human behavior, and should therefore be analyzable in terms of causal connections to behavior and the environment. If so, then intentional properties are straightforwardly logically supervenient on the physical." (The Conscious Mind, S. 82.) In dieser gewissen Dissoziierung von Bewusstsein und Intentionalität bei Chalmers zeigt sich eine ganz erhebliche Eingeschränktheit seines Bewusstseinsverständnisses (von dem seiner materialistischen Gegner natürlich ganz zu schweigen): Keine Spur der transzendentalistischen These 1 bei ihm! Chalmers sieht vielmehr die Essenz von Bewusstsein im Anschluss an Thomas Nagels „What Is It Like to Be a Bat?" darin, dass es sich in bestimmter Weise anfühlt, ein gewisses bewusstes Wesen zu sein, bzw. dass ein bewusster mentaler Zustand sich in gewisser Weise anfühlt: „We can say that a being is conscious if there is something it is like to be that being [...] Similarly, a mental state is conscious if there is something it is like to be in that mental state. To put it another way, we can say that a mental state is conscious if it has a qualitative feel - an associated quality of experience." (The Conscious Mind, S. 4.) Man könnte sagen, das Wesentliche am Bewusstsein ist für Chalmers dessen qualitative Färbung. Und das ist nun nichts anderes als die gegenwärtige Standardmeinung bei denjenigen, die den Bestrebungen in Richtung einer Physikalisierung des Bewusstseins Widerstand leisten, weshalb sie auch als „Qualia-Freunde" bekannt sind. An Chalmers Bestimmung von Bewusstsein fällt zunächst auf, dass Bewusstsein nach Chalmers keinen expliziten Bezug auf ein Bewusstseinssubjekt aufweist. Genau genommen dürfte es ja nicht heißen „if there is something it is like to be that being", sondern vielmehr „if there is something it is like for that being to be that being"; und genau genommen dürfte es nicht heißen „if

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there is something it is like to be in that mental state", sondern vielmehr „if there is something it is like for a being to be in that mental state". Mag sein, dass Chalmers mit seinen eigenen Wendungen nichts anderes sagen will. 31 Tatsache ist aber, dass die strukturierende Bewusstseinsrelation der Ich-Intentionalität in Chalmers' Buch einfach nicht thematisiert wird. Ein Subjektpol des Bewusstseins scheint demnach in Chalmers' Bewusstseinstheorie keine wesentliche Rolle zu spielen - was philosophisch nicht recht nachvollziehbar ist. Chalmers möchte aber wohl auf keinen Fall auch nur in den Verdacht geraten, ein Substanz-Dualist zu sein, und will jedenfalls in dieser Hinsicht ganz auf der sicheren Seite des mainstream der Philosophie des Geistes bleiben, der (dabei ganz in der Tradition Humes und Nietzsches) dazu tendiert, das Subjekt herunterzuspielen oder gar abzuschaffen: ,,[B]y avoiding any commitment to a ghost in the machine, this view [Chalmers' naturalistic dualism] avoids the worst implausibilities of the traditional dualist views." (The Conscious Mind, S. 128.) Da ist es offenbar am sichersten, wenn man von einem Bewusstseinssubjekt erst gar nicht spricht. 32 Doch hat Husserl demgegenüber gezeigt, wie man ein Bewusstseinssubjekt annehmen kann, ohne an ein „Gespenst in der Maschine" zu glauben, und das mehr als ein Jahrzehnt bevor Ryle dieses geflügelte Wort überhaupt geprägt hat (siehe dazu Abschnitte 11 und 12). Der wahrhaft philosophisch große Kritiker des cartesianischen Dualismus in diesem Jahrhundert war eben nicht Wittgenstein oder sein Schüler Ryle, sondern niemand anderes als Husserl, wobei sich philosophische 31

32

Auf S. 12 von The Conscious Mind finden wir nämlich neben der Wendung „[W]hat it means for a state to be phenomenal is for it to feel a certain way" auch die Wendung „[A] phenomenal feature of the mind is characterized by what it is like for a subject [Hervorhebung U. M.] to have that feature". Auf S. 296 f. von The Conscious Mind sagt Chalmers: „The subject [of the experiences of a thermostat] is the whole system, or better, is associated with the system [the thermostat] in the way that a subject is associated with a brain. The right way to speak about this is tricky. [...] We will not find a subject 'inside' the thermostat any more than we will find a subject inside a brain." Das ist alles.

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Größe danach bemisst, inwieweit ein Philosoph in der Lage ist, eine große Idee nicht nur zu kritisieren und zu destruieren, sondern auch zu würdigen und das, was an ihr richtig ist, herauszuarbeiten und systematisch zu bewahren. Doch zurück zum Thema Intentionalität. Die Es-Intentionalität wird von Chalmers, wie schon deutlich geworden ist, offenbar ebenfalls nicht als wesentlich für Bewusstsein erachtet. Auch dies ist philosophisch nicht nachvollziehbar. Chalmers hebt die qualitative Gefärbtheit des Bewusstseins, das Wie-es-sich-anfühlt, hervor. Aber kann denn eine erlebte Färbung ohne eine erlebte Gestalt sein, in der sie auftritt? Wohl nicht, ebenso wenig wie umgekehrt eine erlebte Gestalt ohne eine erlebte Färbung sein kann, durch die sie getragen wird.33 Husserl verwendet in den Ideen (S. 191) die Bezeichnungen sensuelle hyle und intentionale morphe an herausgehobener Stelle (in einer Überschrift), womit er erstens (durch eine philosophiegeschichtliche Anspielung) die Zusammengehörigkeit der Bewusstseinsaspekte der erlebten Färbung und der erlebten Gestalt hervorhebt, und zweitens auf den Anknüpfungspunkt der Intentionalität bei der Gestalt hinweist: Bewusstseinsgestalten implizieren per se die globale Bewusstseinsstruktur der Intentionalität; es sind intentionale Gestalten, Gestalten in der Intentionalität, ja, wenn man so will, Gestalten der Intentionalität. All dies scheint Chalmers zu entgehen. Zwar kommt er in der Tat im weiteren Verlauf von The Conscious Mind auf eine Struktur des Bewusstseins („structure of consciousness"; siehe ebd., S. 223) zu sprechen und beschreibt Aspekte dieser Struktur auch noch in eindeutig intentionaler Redeweise: „In three dimensions, I have experiences of shapes such as cubes, experiences of one thing as being behind another [...] My visual field consists in a vast mass

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Ohne Qualia, ohne diese Färbung bliebe von Bewusstsein nichts übrig, und damit wäre auch die Welt für uns einfach weg und kein Objekt der Erkenntnis mehr gegeben. Das ist es, was die Negation der Existenz von Qualia (vgl. hierzu etwa Beckermann, Analytische Einführung, S. 413 ff.) einfach als absurd erscheinen lässt. Es gehört zu den wahrhaft schwer verständlichen Verrenkungen philosophischer Vernunft, dass den „QualiaFeinden" nicht auffällt, dass ohne Qualia gar keine Welt für sie und ihre Erkenntnis da wäre.

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of details, which fit together into an encompassing structure" (ebd., S. 223); aber dass all dies irgendetwas mit Intentionalität zu tun haben könnte, kommt ihm nicht in den Sinn. Dabei ist räumliches Erleben das Paradigma für die Intentionalität des Erlebens! Intentionalität als Intentionalität des Bewusstseins, also das, was Husserl meinte und dessen zentrale Bedeutung für eine Beschreibung von Bewusstsein er zu Recht immer wieder betonte, kommt in Chalmers' Bewusstseinstheorie nicht vor (genauer gesagt: so gut wie nicht; siehe Fußnote 34). Chalmers ist vielmehr, wie gesagt, aufgeschlossen dafür, Intentionalität rein kausal-funktionalistisch aufzufassen, d. h. aber: ohne irgendeinen wesenhaften Bezug zu Bewusstsein. 34 Eine solche Auffassung hat die wahrhaft absurde Konsequenz (die freilich Chalmers nicht sonderlich absurd zu finden scheint), dass „ein System", wie man so sagt, beispielsweise eine Überzeugung, und zwar im eigentlichen Sinn, von einem gewissen Sachverhalt haben könnte, ohne überhaupt über Bewusstsein zu verfügen. Mein Zombie-Zwilling, ein bewusstseinsloser funktionaler Isomorph von mir, soll also dieselben Überzeugungen wie ich haben. Wie Chalmers an solch einer Möglichkeit, und sei es nur als eine bei gewisser Begriffswahl rein logische Möglichkeit, nichts gänzlich Unmögliches zu finden,35 kann einem nur

34

35

Ganz entschlossen ist Chalmers diesbezüglich aber nicht. Er spricht von den „difficult issues about the relationship between intentionality and consciousness" (The Conscious Mind, S. 20). Er ist sich bewusst, dass Searle den unerlässlichen Bewusstseinsbezug von Intentionalität urgiert hat (ebd., S. 19, S. 323). Der brentano-husserlsche Intentionalitätsbegriff ist Chalmers im Übrigen bekannt (wenn auch vielleicht nicht mit der eben angegebenen Herkunftsbezeichnung), denn an einer Stelle (ebd., S. 3 2 7 ) spricht er ihn Searle zu: „For Searle, the central sort of intentionality is phenomenological intentionality, the kind that is inherent in consciousness." (Man beachte, dass „phenomenological" sich in Chalmers Sprachgebrauch nicht auf Husserls Phänomenologie bezieht.) - Siehe des Weiteren zum Thema „Entschlossenheit Chalmers zur kausal-funktionalistischen Auffassung von Intentionalität" die nächste Fußnote. Vgl. The Conscious Mind, S. 2 5 6 f. Allerdings entscheidet Chalmers sich an einer Stelle durchaus gegen eine rein kausal-funktionalistische Auffassung von Überzeugungen: siehe The Conscious Mind, S. 2 0 7 f. Doch stützt er sich darauf nicht weiter. Zudem ist die Entscheidung auf Überzeugungen bzgl. der eigenen Bewusstseinszustände („phenomenal beliefs") beschränkt.

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gelingen, wenn man die notwendige Bewusstseinsimmanenz von Überzeugungen als spezielle Ausprägungen der Intentionalität des Bewusstseins ignoriert. So liest man denn bei Chalmers auch befremdlicherweise, dass die entscheidende Frage („crucial question") sei, ob eine gewisse bewusste Qualität einen Zustand zu einer Überzeugung macht und ihr den Inhalt gibt, den sie hat (The Conscious Mind, S. 20) (oder aber nicht). Welch sonderbare Frage - und schon gar, wenn sie auch noch als zulässigerweise negativ beantwortbare angesehen wird {ebd., S. 20) - , wenn man sich vor Augen hält, dass die besagte bewusste Eigenschaft nicht allein in erlebter Färbung, dem „what it is like", bestehen kann, sondern auch in erlebter Gestalt bestehen muss, eben in sensueller hyle und intentionaler morphe. Was sonst sollte dann aber einen Zustand zu einer (aktuellen oder dispositionellen) Überzeugung machen, wenn nicht eben eine solche (aktuell oder dispositionell) bewusste, strukturierte Qualität? Die kausal-funktionalistischen, im Prinzip in ihrer konkreten Realisation rein physikalisch beschreibbaren Relationen von der Perzeption zu einem mentalen Zustand, von dem Zustand zum Verhalten und zu anderen mentalen Zuständen, die Chalmers doch zweifellos für primär konstitutiv für Überzeugungen hält (ebd., S. 20), sind demgegenüber sekundär.

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Objektivismus und Physik als Ideologie

Ich komme nun endlich zur Frage (III) im eingehenderen Vergleich zwischen den beiden philosophischen Grundhaltungen des Objektivismus und des Transzendentalismus: dazu, welchen Charakter jede von ihnen der Physik zuweist. Auf Seiten des Objektivismus ist hier zu konstatieren, dass moderne Objektivisten in der Regel die Physik zu einer Metaphysik im vollen Sinne erheben; d. h. die Physik liefert für die meisten modernen Objektivisten, d. h. für die Physikalisten, in einer zwar vorläufig noch nicht erreichten, aber doch schon im Voraus in Anspruch genommenen vollständigen Idealgestalt, von der übrigens nicht erwartet wird, dass sie sich grundlegend von der gegenwärtigen Gestalt unterscheiden wird, die ultimative fun-

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damental-allgemeine Wahrheit über die Gesamtheit des Seienden. Das ist weitgehend im Sinn von Descartes, nur dass eben Descartes als dualistischer Objektivist die Physik nicht als metaphysische Wahrheit für die Gesamtheit des Seienden, sondern nur für die physische Welt, das Reich der res extensae, behauptet hätte, also die Physik nur als eine Metaphysik im eingeschränkten Sinn (nämlich nicht mit totaler Reichweite) in Anspruch genommen hätte. Ein anderer dualistischer Objektivist, der hier schon wiederholt herangezogene David Chalmers, dieser späte Nachfahre Descartes', wäre demgegenüber nicht abgeneigt, genauso wie seine physikalistischen Gegner zu meinen, dass die Physik die letztgültige Fundamentalwissenschaft über alles überhaupt sei, nur dass er dabei im Unterschied zu den Physikalisten (im normalen Sinne) die Physik als um eine weitere Grundgröße - nämlich Bewusstsein oder Proto-Bewusstsein - erweitert sehen wollte.36 Doch bleiben wir bei der einstweilen noch normalen Konzeption von Physik und bei der Mehrheit moderner Objektivisten, den Physikalisten. Es sei dann zur Unterstreichung hingewiesen auf gewisse augenfällige Anzeichen dafür, dass die Physik für diese Objektivisten metaphysischen Charakter hat, dass die Physik für sie insbesondere den Charakter einer ultimativen Wirklichkeitserkenntnis besitzt. Der metaphysische Charakter der Physik für Physikalisten zeigt sich darin, dass sie α priori bereit sind, jedes Phänomen, für das die Physik zunächst nicht zuständig zeichnet, so zurechtzustutzen, dass die Physik für es dann doch noch zuständig wird; dergleichen nennt man „Reduktion aufs Physische". Sollte aber ein Phänomen sich nur bei kompletter Entstellung und Verstümmelung so auffassen lassen, dass es in den Rahmen der 36

Vgl. hierzu The Conscious Mind, S. 126 ff., S. 2 1 4 f. Allerdings lehnt Chalmers die Bezeichnung „Physik" für die um die Bewusstseinsdimension erweiterte neue Wissenschaft dann doch eher - aus gewissen Natürlichkeitsgründen - ab (ebd., S. 128 f.); „but nothing much turns on this terminological issue, as long as the shape of the view is clear" (ebd.). Besonders treffend zum Ausdruck gebracht wird Chalmers' zugleich objektivistisch-naturalistischer und dualistischer Standpunkt durch das folgende Zitat: „There need be nothing especially transcendental about consciousness; it is just another natural phenomenon. All that has happened is that our picture of nature has expanded." (The Conscious Mind, S. 128.)

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rezenten Physik passt - so dass also bei ihm von einer Reduzierbarkeit aufs Physische beim besten Willen nicht gesprochen werden kann - , so ist man α priori ohne weiteres bereit, das Phänomen zur Illusion zu erklären. Der metaphysische Charakter der Physik für Physikalisten, und nun auch für andere moderne Objektivisten, zeigt sich außerdem darin, dass sie der Meinung sind, die Physik sei zum Wesen der Dinge vorgestoßen - ein unbescheidener Anspruch der endlichen Erfüllung faustischen Strebens, zu dem sich mittelalterliche Metaphysiker nie erkühnt hätten.37 Die metaphysische Physikauffassung moderner Objektivisten, der „scientific realists" (im landläufigen Verständnis), findet sich sehr schön zum Ausdruck gebracht in dem folgenden Zitat aus Richard Boyds Aufsatz „Realism, Approximate Truth, and Philosophical Method", S. 228: „If scientific realism is true for any of the standard reasons, then scientists have discovered the real essences of chemical kinds [...], and have thus done some real metaphysics. Moreover, the fact that scientific knowledge of unobservables is possible makes it a serious question whether or not scientific findings have (or will have) resolved some traditional metaphysical questions. Certainly the recent near-consensus in favour of a materialist conception of mind reflects a realist understanding of the possibility of experimental metaphysics." Nun bin ich, ζ. Β., der Allerletzte, der gegen das Haben und Vertreten einer ultimativen Weltanschauung etwas hätte. Die rationale systematische Entfaltung ultimativer Weltanschauungen, von allgemeinen Theorien darüber, wie es sich mit der Welt insgesamt im Letzten verhält, eben von Metaphysiken, ist eine wichtige Aufgabe für die Philosophie, und es wäre zu erwarten, 37

Bekannt ist der Ausspruch Thomas von Aquins am Ende seiner wissenschaftlichen Laufbahn: „Alles, was ich geschrieben habe, erscheint mir wie Spreu." (Nachzulesen ζ. B. in: Thomas von Aquin, Sentenzen über Gott und die Welt, S. 39.) Weniger bekannt ist sein speziell auf Wesenserkenntnis bezogenes Wort, dass nicht einer einzigen Mücke Wesen die Denkbemühung des Menschen zu erspüren vermocht habe. (Siehe ebd., S. 45.)

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dass die Öffentlichkeit der Philosophie wieder mehr Aufmerksamkeit schenken würde, wenn die Philosophen sich dieser wahrhaft bedeutsamen Aufgabe wieder verstärkt widmen würde. Eine bedenkliche Wendung nimmt aber das Haben und Vertreten ultimativer Weltanschauungen, wenn es deren Vertretern nicht klar ist, dass sie eine Weltanschauung vertreten, sondern von ihnen Erkenntnisansprüche mit ihrer Weltanschauung verbunden werden, die sie mit ihr gar nicht verbinden können, da sie ja eine Weltanschauung, Anschauung über die Gesamtheit des Seienden ist und darum zwar ein menschliches theoretisches Grundbedürfnis erfüllt, aber in ihren Aussagen weit über das hinausgeht, was jemals als gesicherte Erkenntnis gelten könnte. Unter solchen Umständen wird eine Weltanschauung oder Metaphysik zur Ideologie. Und das ist es, was Physikalisten aus der Physik machen: nicht nur eine Metaphysik, sondern eine Ideologie, d. h. eine Weltanschauung, die größere Erkenntnisansprüche erhebt, als ihr zustehen. Das Perniziöse daran ist, dass im Unterschied zu älteren Ideologien der Ideologiecharakter des Physikalismus nicht so leicht erkennbar ist. Denn der Physikalismus ist die Ideologie der Aufklärer (und darum, in der Tat, dem guten anti-ideologischen Geist der Aufklärung entgegen, den Vertreter anderer Metaphysiken - ζ. B. christliche Theisten - sich in der Regel längst zu Eigen gemacht haben); er stellt sich dar im Gewand der Kritik, er beruft sich auf Empirie und Experiment und suggeriert, dass die Frage, ob der menschliche Geist materieller Natur ist, im Grunde von derselben erkenntnistheoretischen Wertigkeit sei, wie die Frage, ob die Erde um die Sonne kreist. So wie der richtigen Beantwortung der letzteren Frage, nachdem die Wissenschaft einen gewissen Stand erreicht hatte, nur religiöser Obskurantismus („the forces of darkness", wie Chalmers womöglich keineswegs ironisch bemerkt38) entgegengestanden habe, genauso, meinen Physikalisten, verhalte es sich heute, beim heutigen Stande der Wissenschaft, auch bei der ersteren Frage. Wie weit von alledem ist Husserl entfernt! Zwei Zitate mögen dies belegen: 38

The Conscious Mind, S. 170.

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„Die Naivität der Rede von ,Objektivität', die die erfahrende, erkennende, die wirklich konkret leistende Subjektivität ganz außer Frage läßt, die Naivität des Wissenschaftlers von der Natur, von der Welt überhaupt, der blind ist dafür, daß alle die Wahrheiten, die er als objektive gewinnt, und die objektive Welt selbst, die in seinen Formeln Substrat ist (sowohl als alltägliche Erfahrungswelt wie auch als höherstufige begriffliche Erkenntniswelt), sein eigenes, in ihm selbst gewordenes Lebensgebilde ist - ist natürlich nicht mehr möglich, sowie das Leben in den Blickpunkt rückt. Und muß diese Befreiung nicht dem zuteil werden, der sich ernstlich in den ,Treatise' vertieft und nach der Enthüllung der naturalistischen Voraussetzungen Humes der Macht seiner Motivation bewußt wird?" (Krisis, S. 99.) „Den Physikalismus Philosophie nennen, das heißt nur, eine Äquivokation als Realisierung von unseren Erkenntnisverlegenheiten ausgeben, in denen wir seit Hume stehen. Die Natur kann man als definite Mannigfaltigkeit denken und diese Idee hypothetisch zugrundelegen. Aber sofern die Welt Erkenntniswelt ist, Bewußtseinswelt, Welt mit Menschen, ist für sie eine solche Idee in einem unübersteiglichen Ausmaß widersinnig." (Krisis, S. 269.) Die beiden Zitate verweisen auf die Affinität Husserls zu Hume, die bei aller heftiger Kritik an Humes Skeptizismus, und von Husserl auch ganz ungeleugnet, dennoch besteht (vgl. Krisis, S. 89 ff.). In der Tat, die Lektüre von Humes hierzulande immer noch viel zu wenig zur Kenntnis genommenem Werk, insbesondere des Treatise, wäre vielleicht auch geeignet, kleinere Geister als Kant aus ihrem dogmatischen Schlummer zu erwecken und ihnen in der Konfrontation mit dem humeschen „Bankrott der objektiven Erkenntnis" (Krisis, S. 90) eine sehr nötige Befreiung zukommen zu lassen. Wie wir gleich sehen werden, hat Husserl ein im Großen und Ganzen humesches Bild von der Physik, und das bedeutet: ein ganz und gar unmetaphysisches. Husserl packt den metaphysischen Anspruch auf ultimative Fundamentalerkenntnis der Welt (als Gesamtheit des Seienden) durch die Physik, den Physikalisten - Husserl unterscheidet sie nicht von den Physikern, was er allerdings sollte - geltend machen, an der Wurzel. Gemäß Husserl ist zu sagen: Diesem Anspruch liegt

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eine erkenntnistheoretische Naivität, eine philosophisch verkehrte Haltung zugrunde, nämlich eine, die vergisst, dass in der Erkenntnis der Welt das Subjekt immer fungierend dabei ist. Nur in dieser Vergessenshaltung kann es so scheinen, als könnte man die Welt, hier eben: die Gesamtheit des Seienden, die Welt überhaupt, in der Weise eines axiomatisch vollständig beschreibbaren Modells, einer „definiten Mannigfaltigkeit" 39 als Ganzes vor sich hinstellen, sie vollständig zum definiten Objekt, gar zum definiten objektiven Objekt machen, wie hypothetischerweise, meint Husserl, die Natur (die objektive Welt), von der Husserl noch denkt, dass sie als definite Mannigfaltigkeit denkbar wäre. 40 Die vollständige definite Objektivierung der Welt insgesamt ist aber unmöglich, „in einem unübersteiglichen Ausmaß widersinnig", denn das Subjekt, auch ein Seiendes, kann sich eben nicht vollständig vor sich selbst hinstellen, und also auch nicht in dieser Erkenntnisposition vollständig beschreiben, und kann eben deshalb rein gar nichts vollständig vor sich hinstellen und vollständig so (als vollständig vor sich Hingestelltes) beschreiben, schon gar nicht die Welt. Denn alles, was ist, soweit es für uns Thema ist, ist nach der These von der Bewusstseinsimmanenz des thematisierten Seienden (siehe Abschnitt 4, These 2*) in unserem Bewusstsein und dort nach der

These von der intrinsischen Relationalität des Bewusstseins (sie-

he Abschnitt 3, These 1) als Objekt für uns auf einen Subjektpol intrinsisch bezogen. Den intrinsischen Subjektbezug all dessen, was ist, soweit es uns überhaupt angeht, werden wir also nicht los. Immer verweist, was für uns ist, und seien wir es selbst, von sich weg auf uns, und hat eben deshalb ein plus ultra, das uns nicht Objekt geworden ist, schon gar nicht ein rein physikalisch vollständig beschreibbares Objekt.

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Zu diesem Begriff vgl. Ideen, S. 152. Tatsächlich gibt es, wie wir seit Gödels Resultaten wissen, nur recht uninteressante „definite Mannigfaltigkeiten" in Husserls Sinn: Das Reich der natürlichen Zahlen ist bereits keine definite Mannigfaltigkeit. Dennoch fahren Objektivisten fort, von einer physikalischen oder die Physik aufstockenden vollständigen Theorie von allem überhaupt zu träumen (siehe Chalmers, The Conscious Mind, S. 126 f.).

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Auf diese zentrale philosophische Erkenntnis, dass man nicht aus sich heraustreten kann und sich nicht wie ein abgeschlossenes Ganzes von außen betrachten kann, so als wäre man als Betrachter gar nicht da, darum aber auch nicht die Welt so betrachten kann, nicht einmal die objektive, nicht einmal die physische, da das Subjekt bei allem, was für uns ist, dies alles intentional anzielend, immer unablöslich dabei ist und mitmischt, auf diese Erkenntnis muss immer wieder hingewiesen werden, da wir Menschen offenbar einen ganz natürlichen Hang dazu haben, sie zu vergessen. Zwei Wiedererinnerer der Gegenwart, die sich insbesondere auf die moderne Philosophie des Geistes beziehen, seien hier erwähnt: Thomas Nagel in dem weithin rezipierten Buch The View from Nowhere, („[Τ]he objective conception [of the world] has a subject", betont Nagel ebd., S. 64), Franz von Kutschera in Die falsche Objektivität und, im Effekt, auch schon in seinem leider viel zu wenig beachteten, als bloßes Lehrbuch verkannten früheren Werk Grundfragen der Erkenntnistheorie. Beide Autoren erwähnen freilich nicht, dass der philosophische Wahn des physikalistischen Objektivismus schon lange vor ihnen von Husserl in unmissverständlicher Weise kritisiert worden ist.41 Dabei ist besonders auch auf Husserls weniger grundsätzliche Kritik am Objektivismus hinzuweisen, nämlich auf diejenige Kritik, die nicht direkt die Unobjektivierbarkeit des Subjekts hervorhebt, sondern die unaufhebbare Verwurzelung objektiv-wissenschaftlicher Erkenntnis in der subjektiv-relativen Lebenswelt 41

Ein anderer älterer Kritiker des physikalistischen Objektivismus ist Robert Reininger; er schreibt im 2. Band von Metaphysik der Wirklichkeit (1948), S. 75 (und verweist dabei auf einen noch älteren Kritiker): „Wenn die Transzendentalphilosophie uns lehrt, auch das scheinbar Fernste und Fremdeste als Eigenes dem Ich Verbundenes zu begreifen, so läßt der Materialismus unser Eigenstes, nämlich das erlebnishafte Ich, als ein Fremdes erscheinen, da es in seiner Welt keinen Platz findet. Er ist nach einem treffenden Ausspruch Schopenhauers die Philosophie des bei seiner Rechnung sich selbst vergessenden Subjekts." Aber: „Der Subjektbezogenheit vermag man sich, wie man gesagt hat, so wenig zu entschlagen, wie man über den eigenen Schatten springen kann." (Ebd., S. 16.) Trotz der deutlichen Affinitäten zu Husserl (die besonders im § 3 von Metaphysik der Wirklichkeit, Bd. 2, hervortreten) erwähnt Reininger Husserl (anders als Schopenhauer) mit keinem Wort.

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aufzeigt, eine Verwurzelung, die insbesondere bei Messvorgängen sichtbar wird. Lassen wir Husserl selbst sprechen: „[W]ährend der Naturwissenschaftler [...] objektiv interessiert und in Tätigkeit ist, fungiert andererseits doch für ihn das SubjektivRelative nicht etwa als ein irrelevanter Durchgang, sondern als das für alle objektive Bewährung die theoretisch-logische Seinsgeltung letztlich Begründende, also als Evidenzquelle, Bewährungsquelle. Die gesehenen Maßstäbe, Teilstriche usw. sind benützt als wirklich seiend, und nicht als Illusionen; also das wirklich lebensweltlich Seiende als gültiges ist eine Prämisse." (Krisis, S. 129.) „Die Verächtlichkeit, mit welcher alles ,bloß Subjektiv-Relative' von dem dem neuzeitlichen Objektivitätsideal folgenden Wissenschaftler behandelt wird, ändert an seiner eigenen Seinsweise nichts, wie es daran nichts ändert, daß es ihm doch selbst gut genug sein muß, wo immer er darauf rekurriert und unvermeidlich rekurrieren muß." (Krisis, S. 128.) „Das wirklich Erste ist die ,bloß subjektiv-relative* Anschauung des vorwissenschaftlichen Weltlebens." (Krisis, S. 127.)42 Mir ist keine Äußerung Husserls zur Quantentheorie bekannt, aber die Kopenhagener Deutung Bohrs dürfte, wie die letzten drei Zitate deutlich nahelegen, in Husserls Sinn gewesen sein. Signifikanterweise lehnt David Chalmers, als Objektivist, die Kopenhagener Deutung als idealistisch ab (siehe The Conscious Mind, 42

Ähnlich: „Die schlichte Erfahrung, in welcher die Lebenswelt gegeben ist, ist letzte Grundlage aller objektiven Erkenntnis." (Krisis, S. 229.) Dies klingt nun, als setzte Husserl in der Krisisschrift die schlichte lebensweltliche Erfahrung an die Stelle der transzendentalen, durch Epoche zu gewinnenden Erfahrung (was eine wesentliche Änderung seines Denkens bedeuten würde). Doch dagegen spricht, dass Husserl an anderer Stelle betont, dass auch von den Geltungen der Lebenswelt Epoche geübt werden müsse: „Das die Weltgeltung des natürlichen Weltlebens leistende Leben läßt sich nicht in der Einstellung des natürlichen Weltlebens studieren. Es bedarf also einer totalen Umstellung, einer ganz einzigartigen universalen Epoche(Krisis, S. 151.) In der Tat geht Husserl in der Krisisschrift von einer doppelten Epoche aus: die Epoche von den objektiven Wissenschaften, die deren lebensweltlichen Boden enthüllt, und die Epoche von den Geltungen der Lebenswelt, die deren subjektiven Seinsboden enthüllt (Krisis, § 35, § 38 und § 39, insbesondere S. 150 f.).

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S. 342 f.). Die Behauptung, die in der Kopenhagener Deutung liegt, der Beobachtungs-, also Lebenswelt- und Subjektrelativität aller physikalischen Objektivität (Objektivität, die deshalb, anders als der Objektivismus meint, keine absolute sein kann) ist freilich, gleichwohl sie in Husserls Sinn ist, noch kein Idealismus (auch kein husserlscher).

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Husserls Bild der Physik: ein anti-realistisches

Wie zu erwarten hat Husserl eine philosophisch deflationäre Auffassung der Physik. Für ihn ist in der Krisisschrift die Physik, und insbesondere die Welt der Physik, das Ergebnis eines durch gewisse einseitigen Interessen motivierten, an der Lebenswelt ansetzenden, durch und durch mathematisch bestimmten langanhaltenden Abstraktions- und Idealisierungsprozesses. Die Physik liefert daher laut Husserl ein einseitiges, aber in seinen Grenzen, nämlich für ihre Zwecke, berechtigtes Bild der Wirklichkeit, das aber nun von vielen, die dabei Ursprung, Genese und ursprüngliche Motivation des Bildes ganz und gar vergessen, zur absoluten ganzen Fundamentalwahrheit über das Seiende überhaupt erhoben wird. Hierzu zwecks Belegung und näherer Bestimmung eine Reihe von einschlägigen Zitaten und Kommentaren: „Wir wissen schon: die Physiker, Menschen wie andere Menschen, lebend im Sich-Wissen in der Lebenswelt, der Welt ihrer menschlichen Interessen, haben unter dem Titel Physik eine besondere Art von Fragen und (in einem weiteren Sinne) von praktischen Vorhaben, auf die lebensweltlichen Dinge gerichtet, und ihre ,Theorien' sind die praktischen Ergebnisse." (Krisis, S. 143.) Die Physiker betreiben etwas, das Husserl als „theoretische Kunst" („Kunst" im Sinn des griechischen τέχνη) bezeichnet (Krisis, S. 197; ebd., S. 113, spricht er von der „τέχνη, die objektive Wissenschaft heißt"; vgl. CM, S. 157, wo Husserl die positiven Wissenschaften „Werkgebilde einer klugen theoretischen Technik" nennt), nämlich die „Kunst, neue Formeln, neue exakte Theorien zu erfinden, um den Verlauf der Naturerscheinung vorauszusagen,

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um Induktionen von einer Tragweite zu machen, die in früheren Zeiten undenkbar gewesen wäre" (Krisis, S. 197). Das Absehen auf die immer exaktere und immer weiterreichende Voraussage der Naturerscheinungen und, wie man hinzufügen kann, des Verhaltens von menschlich hergestellten Artefakten ist die zentrale Motivation hinter dieser immens nützlichen Kunst: „Ist man einmal bei den Formeln, so besitzt man damit im voraus schon die praktisch erwünschte Voraussiebt des in empirischer Gewißheit, in der anschaulichen Welt des konkret wirklichen Lebens, in welcher das Mathematische nur eine spezielle Praxis ist, zu Erwartenden." (Krisis, S. 43.) Dabei „ist es verständlich, daß man dazu verführt wurde, in diesen Formeln und ihrem Formelsinn das wahre Sein der Natur selbst zu fassen" (Krisis, S. 43), aber „die Natur der exakten Naturwissenschaft [ist] nicht die wirklich erfahrene Natur [...], die der Lebenswelt. Es ist eine aus Idealisierung entsprungene, der wirklich angeschauten Natur hypothetisch substituierte Idee. Die Denkmethode der Idealisierung ist das Fundament für die gesamte naturwissenschaftliche (rein körperwissenschaftliche) Methode der Erfindung von ,exakten' Theorien und Formeln, sowie für deren Rückverwertung innerhalb der in der Welt wirklicher Erfahrung sich bewegenden Praxis."

(Krisis, S. 224.) „In der geometrischen und naturwissenschaftlichen Mathematisierung messen wir so der Lebenswelt - der in unserem konkreten Weltleben uns ständig als wirklich gegebenen Welt - [ . . . ] ein wohlpassendes Ideenkleid an, das der sogenannten objektivwissenschaftlichen Wahrheiten [...] und eben damit gewinnen wir Möglichkeiten einer Voraussicht der konkreten, noch nicht oder nicht mehr als wirklich gegebenen, und zwar der lebensweltlich-anschaulichen Weltgeschehnisse; einer Voraussicht, welche die Leistungen der alltäglichen Voraussicht unendlich übersteigt." (Krisis, S. 51.) „Das Ideenkleid .Mathematik und mathematische Naturwissenschaft' [...] befaßt alles, was wie den Wissenschaftlern so den Gebildeten als die ,objektiv wirkliche und wahre' Natur die Lebenswelt vertritt, sie verkleidet. Das Ideenkleid macht es, daß

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wir für wahres Sein nehmen, was eine Methode ist - dazu da, um die innerhalb des lebenswirklich wirklich Erfahrenen und Erfahrbaren ursprünglich allein möglichen rohen Voraussichten durch wissenschaftliche' im Progressus in infinitum zu verbessern: die Ideenverkleidung macht es, daß der eigentliche Sinn der Methode, der Formeln, der ,Theorien' unverständlich blieb und bei der naiven Entstehung der Methode niemals verstanden wurde." (Krisis, S. 52.) Der wissenschaftsphilosophische Standpunkt Husserls, der sich diesen Aussagen entnehmen lässt, ist ein so genannter Anti-Realismus, nicht so weit entfernt von dem Anti-Realismus Pierre Duhems oder dem Anti-Realismus Bas van Fraassens, um zwei prominente Vertreter zu nennen. Der philosophiegeschichtlich wichtigste Ahne ist niemand anderes als David Hume. Husserl scheint sogar so weit zu gehen, im Sinne Humes theoretische Begriffe als nützliche (aber eben auch erkenntnistheoretisch gefährliche, nämlich potentiell irreführende!) bloße Fiktionen anzusehen, also einen Instrumentalismus zu befürworten. Einen Instrumentalismus in der Wissenschaftsphilosophie wird man aber jedenfalls nicht als kennzeichnend für die transzendentalphilosophische Haltung überhaupt erachten dürfen, ja auch, recht besehen, nicht für Husserl; ist es doch ein gerade von Husserl selbst nachdrücklich formuliertes Ziel des Transzendentalismus, Objektivität, und insbesondere eben auch die naturwissenschaftliche Objektivität, die Objektivität der Physik, von Grund auf zu verstehen (siehe Abschnitt 3). Dieses Ziel anzupeilen, wäre aber sinnlos, wenn man leugnete, dass es so etwas wie physikalische Objektivität überhaupt gibt, weil angeblich die eigentümlichen Objekte, auf die sie sich beziehen könnte, ihrer Existenz und Beschaffenheit nach bestenfalls nichts weiter als ein ontologisches Fragezeichen bildeten. Mit anderen Worten, es kann nicht Anliegen des Transzendentalphilosophen, es kann nicht Anliegen Husserls sein, uns unsere uns mittlerweile so vertrauten Elektronen, Protonen, Photonen und anderen Teilchen wegzunehmen. Nein, wie alle anderen Objekte, die uns angehen, muss ein Transzendentalphilosoph auch diese Objekte im Sinne der transzendentalphilosophischen Thesen 1-3 als Bewusstseinskorrelate begreifen. Und tatsächlich ist eine solche

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integrative transzendentalphilosophische Haltung, welche sich eben nicht dem Anti-Realismus oder gar Instrumentalismus beiordnen lässt, sondern diese wesenhaft skeptischen Standpunkte ebenso hinter sich lässt und überwindet wie den von metaphysischem Anspruch durchtränkten üblichen wissenschaftlichen Realismus, als wahrlich in Husserls Sinn anzusehen. Man wird aber wohl konstatieren müssen, dass Husserl in der Reaktion auf die metaphysischen Ansprüche der Objektivisten ein wenig die transzendentalphilosophische Balance verloren hat und sich Hume stärker angenähert hat, als es bei seinem eigentlichen Standpunkt, dem transzendentalphilosophischen, richtig sein kann. Skeptizismus und objektivistische Metaphysik sind nämlich nur zwei Seiten ein und derselben philosophischen Falschmünze, von deren Wertschätzung der Transzendentalphilosoph sich fernhalten muss.

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Argumente des wissenschaftlichen Realismus

Das transzendentalphilosophische Bild der Physik, oder, ganz allgemein, ein Bild der Physik, das nicht im Sinne des üblichen wissenschaftlichen Realismus ist, erscheint vielen heute etwas kümmerlich: Physik, aus der alle metaphysische Luft herausgelassen wurde, scheint ihnen „keine runde Sache" mehr zu sein (dafür ist sie aber zweifellos keine aufgeblasene!), so sehr haben sie sich schon daran gewöhnt, die Physik als letztgültige Wirklichkeitswissenschaft zu sehen, d. h. ihre doch wesentlich auf Erscheinungen bezogene Erkenntnis als vollendete (ultimative) Erkenntnis der Dinge an sich zu nehmen, somit den alten Fehler wiederholend, den Kant dem dogmatischen Denken angekreidet hat. Ein gewöhnlicher wissenschaftlicher Realist („scientific realist") und schon gar ein Physikalist43 hat freilich eine ganz andere Vorstellung als

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Wie man Objektivist sein kann, ohne Physikalist zu sein (aber nicht umgekehrt), so kann man im Prinzip auch, ohne Physikalist zu sein, wissenschaftlicher Realist bleiben (aber nicht umgekehrt). Descartes und David Chalmers liefern Beispiele für wissenschaftliche Realisten, die keine Physikalisten sind, ebenso wie sie Beispiele abgeben für nichtphysikalistische Objektivisten. (Objektivismus und wissenschaftlicher Realismus wiederum

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Husserl vom „eigentlichen Sinn" naturwissenschaftlicher Theorien und ist nicht der Meinung, dass ihm da naiverweise etwas unverstanden geblieben sei. Alles, was Physik für einen Non-Realisten leistet, das leistet sie auch für den gemeinen Realisten, darüber hinaus aber für letzteren, wie wir gesehen haben, noch wesentlich mehr. Es ist instruktiv, dem nachzugehen, wie der gemeine Realist eigentlich zu dieser Ansicht kommt. Was wohl den stärksten Eindruck macht, ist, dass physikalische Theorien, und alle naturwissenschaftlichen Theorien sind letztlich solche, uns Menschen offenbar reale Macht an die Hand geben, den Lauf der Dinge für unsere Zwecke in präzise ausgemessener Weise zu beeinflussen, ja ganz erheblich zu verändern, ihn ζ. B. mit allen möglichen mehr oder minder nützlichen Apparaten zu bereichern, als da sind: Autos, Flugzeuge, Fernsehgeräte, Elektronenmikroskope, Mondraketen, Zyklotrone, Atombomben, CD-Spieler, usw. usf. Wie könnte das sein, wie könnte Physik uns diesen gewaltigen Machtzuwachs geben, der gegen die hilflose Ohnmacht, in der unser Wissen vor dem großen Kommen der Physik uns beließ, in wahrhaft eindrucksvoller Weise absticht, wäre Physik nicht zumindest ganz nah dran an der Wahrheit des Seins? Also, schließt der wissenschaftliche Realist, ist die Physik ganz nah dran an der Wahrheit des Seins. Um noch ein spezielleres Beispiel dieses Denkens beizubringen: In der Philosophie des Geistes überzeugt nicht so sehr irgendeine prinzipielle Erwägung so viele Menschen von der Richtigkeit des Physikalismus als die einfache Tatsache, dass Neurophysiologen durch Manipulationen am Gehirn nach Belieben Verhaltensweisen, insbesondere verbale Bewusstseinsreporte wie „Ich habe jetzt eine intensive Rotempfindung oben rechts im Gesichtsfeld" realisieren fallen gewöhnlich zusammen, gleichwohl man durchaus wissenschaftlicher Realist - nämlich ein immanenter, im Sinne Putnams oder Kutscheras - sein kann, ohne Objektivist zu sein. Hingegen: kein Objektivist, der nicht ein wissenschaftlicher Realist wäre.) Typisch für die gegenwärtige geistesgeschichtliche Lage ist aber, dass der Wissenschaftstheoretiker Brian Ellis das Vertreten einer physikalistischen Ontologie als de facto Merkmal des wissenschaftlichen Realismus ansieht: „We can isolate a number of strands in the thought of scientific realists [...] First, there is a commitment to a physicalist ontology." („What Science Aims to D o " , S. 170.)

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können, und das mit einem immer größer werdenden Grad an Genauigkeit. Dass die ultimative Wahrheit über den Geist eine rein physikalische sei, drängt sich unter dem Eindruck solcher Tatsachen mit einer Gewalt auf, der sich zu entziehen einer besonderen Anstrengung (des Geistes) bedarf. Und doch sind für die Hervorbringung all dieser staunenerregenden Vorgänge, von denen wir meinen und sagen, „die Physik hat's möglich gemacht", die bei deren Hervorbringung verwendeten physikalischen Theorien als Theorien von der Welt prinzipiell entbehrlich. Es ließe sich nämlich einfach sagen, wir besitzen heute - im Unterschied zu den Magiern früherer Jahrhunderte - eine Unzahl von Rezepten, die mit einem unglaublich hohen Effizienzgrad tatsächlich „funktionieren", also tatsächlich dazu führen, dass das Ersehnte sich einstellt, sei es eine Voraussage, die sich als tatsächlich richtig erweist, sei es eine Maschine, die tatsächlich fliegt. Am Anfang des 17. Jahrhunderts sind wir auf „den Dreh" gekommen, wie man solche Rezepte generiert, und seither haben wir sie in immer größerer Menge und in immer größerer Perfektion generiert. Natürlich kommt es auch heute noch immer wieder einmal vor, dass ein Rezept sich als nicht brauchbar erweist. Nun, dann werfen wir es eben weg, und wenn nötig, wenn es gar nicht anders geht, dann arbeiten wir an der Perfektionierung unseres Rahmens für die Generierung von Rezepten, an „dem Dreh". Das ist es nämlich, ließe sich sagen, was unsere Physik in Wahrheit ist, ein Meta-Rezept, ein Rezept für die Generierung von Rezepten. In den Rezepten ist letztlich von nichts anderem die Rede, als von Bedingungen, die wir mit unseren unbewehrten Händen setzen können und deren Vorliegen wir mit unseren unbewaffneten Sinnen kontrollieren können. In komplexere Rezepte, ζ. B. in das für den Bau eines Langstreckenflugzeugs, gehen freilich die Ergebnisse der Umsetzung einfacherer Rezepte ein, in die wiederum die Ergebnisse der Umsetzung noch einfacherer Rezepte eingehen, usw.; aber letztlich führt alles zurück auf Bedingungen, die wir mit unseren unbewehrten Händen setzen können und deren Vorliegen wir mit unseren unbewaffneten Sinnen kontrollieren können. Keine Rede da von irgendwelchen hochtheoretischen Begriffen, von einer physikalischen Welt an sich hinter den Erscheinungen! Kein Anhaltspunkt für eine physikalische

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Metaphysik oder metaphysische Physik! Wie kann man da meinen, der so genannte „Erfolg der Physik" stütze die wörtliche Wahrheit ihrer Theorien, wenn der Weg zur Gewinnung dieses Erfolges auch so beschrieben werden kann, dass die Physik als theoretische Disziplin dabei gar keine Rolle spielt, sondern nur als Rechenhilfe und Wegweiser empirischer Induktionen, d. h. auch so beschrieben werden kann, dass der „Erfolg der Physik" gewissermaßen gar nicht ihr Erfolg ist? Solche Erwägungen prallen an den meisten wissenschaftlichen Realisten freilich einfach ab. Sie halten es vielmehr gewöhnlich mit einem bekannten Ausspruch Hilary Putnams, dass ,,[t]he positive argument for realism is that it is the only philosophy that doesn't make the success of science a miracle." (Aus Mathematics, Matter, and Method, zitiert in The Philosophy of Science, S. 107.) Daran ist zweierlei falsch: Erstens ist der Erfolg der Naturwissenschaften, insbesondere der grundlegenden unter ihnen, der Physik, nicht nur für Realisten kein Wunder, sondern mit vollem Recht auch für einen Anti-Realisten wie Husserl. Um sich davon zu überzeugen, braucht man nur seine Deutung der Anfänge der mathematischen Naturwissenschaft bei Galilei in der Krisisschrift nachzulesen, und ich verweise auf seine oben schon beschriebene Deutung des Wesens der Physik: Eine Disziplin, die zumindest auch als Vorhersage-Instrument gedacht ist - und soweit hat Husserl mit seinem Physikbild sicher recht - und diesbezüglich sich durch die Verwendung mathematischer und experimenteller Methoden de facto als optimierbar erweist und fortwährend kooperativ optimiert wird, wird Erfolg haben bei der Erreichung ihres (Teil-) Ziels (ein effektives Vorhersage-Instrument zu sein). Was könnte daran irgend)emandem berechtigterweise wie ein Wunder scheinen oder überhaupt nur verwunderlich sein? Zweitens ist aber der Erfolg der Naturwissenschaften gar nicht ein Erfolg, den sie qua theoretische Disziplinen haben, sondern eben haben als Vorhersage-Instrumente. Über ihre metaphysische Wahrheit ist also, anders als Realisten gewöhnlich meinen, durch ihren Erfolg gar nichts ausgesagt.

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Die fehlerhafte Bewusstseinsauffassung der Objektivisten

Nichtsdestoweniger ordnen physikalistische Naturalisten, durch die Betrachtung der Erfolge der Naturwissenschaften metaphysisch beflügelt, oder vielmehr trunken davon, uns, und also sich selbst, vollständig ein in die Natur, die für sie die Gesamtheit des Seienden ist und die sie als rein physikalisch beschreibbar auffassen, und zwar im Wesentlichen im Sinne der gegenwärtigen Physik. „Comment se pourrait-il qu'une partie connüt le tout?", fragt Pascal (Pensees, Brunschvicg 72; S. 69 der angg. Ausgabe). Physikalisten bedenken die ernste Frage des Skeptikers nicht. Die kritische Frage des Transzendentalismus ist demgegenüber keine skeptische; sie ist, bei gleichem Vokabular, ganz anders gewendet als die Pascals: „Wie kann das erkennende Ganze ein Teil sein?" Physikalisten bedenken auch diese Frage nicht, schon gar nicht diese Frage. Dabei muss nach der These von der Bewusstseinsimmanenz der thematisierten objektiven Welt die Natur, die objektive Welt, die die Physikalisten mit der Welt der Physik gleichsetzen, soweit sie für uns Thema ist (und eine andere Natur als eine, die für uns Thema ist, meinen wir doch nicht), vollständig bewusstseinsimmanent sein, also nach der These von der intrinsischen Relationalität des Bewusstseins am Objektpol des Bewusstseinsmediums angesiedelt werden und deshalb in jenem dem Bewusstsein intrinsischen polaren Verhältnis auf den Subjektpol bezogen sein. Das Ganze ist dieses Medium, und wie könnte es ein Teil, gar ein Teil der physikalischen Natur sein, die doch nirgends in anderer Weise für uns ist denn als unselbständige Komponente des Bewusstseinsmediums? Es wäre ja - um ein sehr anschauliches, wenn auch vom transzendentalphilosophischen Standpunkt aus ein wenig hinkendes Bild zu gebrauchen - , wie wenn das Ei Teil seines Eigelbs wäre. Eine rein physikalische, vollständige Theorie des Bewusstseins, auf die sich Physikalisten nach wie vor Hoffnungen machen, erscheint von da her als eine komplette Absurdität. Aber nicht minder erscheint von da her als Absurdität das Unterfangen objektivistischer Dualisten, wie es Descartes und Chalmers sind, Bewusstsein immer noch vollständig in einer Theorie der Natur,

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der objektiven Welt abhandeln zu wollen, nur dass sie eben meinen, diese Theorie könne keine rein physikalische Theorie sein (wobei „physikalisch" im vertrauten Standardsinn zu verstehen ist). Der Fehler aller objektivistischen Bewusstseinstheorien, der dualistischen und der physikalistischen, sofern sie unbescheiden Vollständigkeit behaupten oder anstreben, tritt somit zu Tage: Es ist die Nichtunterscheidung des Mediums von seinem Objekt. 44 Was ist der tiefere Grund dieses Fehlers? Es ist die Nichtunterscheidung des einen Pols des Bewusstseinsmediums von dem anderen: Für Objektivisten wird der Subjektpol des Bewusstseins von dem Objektpol aufgesogen und verschluckt, der Subjektpol wird ihnen, in philosophischer Konfusion, ganz zum Objekt oder seine Existenz schwindet ihnen gar, und damit stürzt das universale Medium des Bewusstseins, das im Auseinander-aufeinanderbezogen-sein der beiden Pole aufgespannt ist, für Objektivisten zusammen ins subjektlose Objekthafte, schließlich unter dem überwältigenden Eindruck der Naturwissenschaften ins subjektlose Objektive, und verkrümelt sich, wenn nicht zu einem Teil des Physischen, so doch jedenfalls zu seinem bloßen Epiphänomen (so bei Chalmers und so, im Effekt, schon bei Descartes, trotz seines hochgehaltenen zirbeldrüsigen Interaktionismus).

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Das Ich ist kein Stück der Welt

Demgegenüber hat Husserl betont, dass der Subjektpol des Bewusstseins, also das transzendentale Ego, das methodisch durch die Ausschaltung allen Weltglaubens (durch die Epoche) für sich 44

Im Grunde denselben Fehler - man könnten ihn kurz „Intentionalitätsblindheit" nennen - haben auch die naiven Idealisten begangen, nur dass sie ihn in umgekehrter Richtung begingen. Bei einer Nichtunterscheidung As von Β kann man ja A in Β aufgehen lassen, oder umgekehrt Β in A. Objektivisten lassen das Bewusstseinsmedium in seinem Objekt aufgehen, naive Idealisten das Objekt in seinem Bewusstseinsmedium. Letztere berücksichtigen somit nicht, was Husserl „diese Transzendenz irreellen Beschlossenseins" nennt, die „zum eigenen Sinn alles Weltlichen [der objektiven Welt, die dem Bewusstsein immanent ist] gehört" (CM, S. 28). Vgl. hierzu Abschnitt 5.

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selbst rein gewonnen werden kann, kein Teil der objektiven Welt ist. „[D]as reduzierte Ich [ist] kein Stück der Welt", sagt er (CM, S. 27). Descartes hält er vor, dass es keineswegs als selbstverständlich gelten dürfe, „als ob wir in unserem apodiktischen reinen Ego ein kleines Endchen der Welt gerettet hätten" (CM, S. 25), und spricht (CM, S. 26) von der „unscheinbaren, aber verhängnisvollen Wendung, die das Ego zur substantia cogitans, zur abgetrennten menschlichen mens sive animus" bei Descartes gemacht habe. „Descartes macht sich nicht klar, daß das ego, sein durch die Epoche entweltlichtes Ich, in dessen funktionierenden cogitationes die Welt allen Seinssinn hat, den sie je für ihn haben kann, unmöglich in der Welt als Thema auftreten kann, da alles Weltliche eben aus diesen Funktionen seinen Sinn schöpft, also auch das eigene seelische Sein, das Ich im gewöhnlichen Sinne. Erst recht war ihm natürlich unzugänglich die Erwägung, daß das ego, so wie es in der Epoche als für sich selbst seiend zur Entdeckung kommt, noch gar nicht ,ein' Ich ist, das andere oder viele Mit-Iche außer sich haben kann. Es blieb ihm verborgen, daß alle solchen Unterscheidungen wie Ich und Du, Innen und Außen erst im absoluten ego sich konstituieren'." (Krisis, S. 83 f.) Später (Krisis, S. 222) spricht Husserl von der „prinzipielle[n] Verkehrtheit, Menschen und Tiere ernstlich als Doppelrealitäten ansehen zu wollen, als Verband von je zwei verschiedenartigen, in ihrem Realitätssinn gleichzustellenden Realitäten, und danach die Seelen ebenfalls in der körperwissenschaftlichen Methode erforschen zu wollen, also naturkausal raumzeitlich seiend wie Körper" in „einer der Naturwissenschaft analog zu gestaltenden Methode". Es liegt hier also eine Kritik des psycho-physischen Dualismus vor, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt. Aber es ist wichtig, sich über den Charakter der Kritik Klarheit zu verschaffen. Dieser Charakter ist ein grundsätzlich anderer als derjenige ist, den Argumentationen und Polemiken moderner Physikalisten gegen Descartes und den psycho-physischen Dualismus aufweisen. Sieht man genau hin, so leugnet ja Husserl ja nicht einmal die Existenz einer seelischen Substanz im traditionellen cartesischen Sinn, sondern wendet sich nur entschieden dagegen,

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Subjektivität und Subjekt in einer solchen, zu körperlichen res, den res extensae, analog konstruierten res aufgehen zu lassen. Schon gar nicht leugnet er die Existenz einer Seele in einem lebensweltlichen oder gar transzendentalphilosophisch reformierten Sinn, als Subjekt der Alltagserfahrung oder als transzendentales Ego - Sinne, die Descartes, wie Husserl ihm offenbar vorwirft, in den ihm eigentümlichen, objektivistisch konstruierten Sinn von „Seele" hineinkonfundiert hat. Wäre Husserl prinzipiell gegen den Seelenbegriff und die Existenz von Seelen eingestellt, wie könnte Husserl da von dem „Widersinn der prinzipiellen Gleichstellung von Seelen und Körpern als Realitäten" (in der Überschrift von § 62 der Krisisschrift) sprechen? Es ist hiermit doch offenbar unterstellt, dass es eine richtige Weise, eine nichtcartesische, d. h. nicht quasi-physikalisierende Weise des Sprechens von Seelen gibt. Und in der Tat sagt Husserl auch, dass die Seele in der transzendentalen Betrachtung nicht ihren Seinssinn verliere, sondern dieser nur zu ursprünglicher Verständlichkeit gebracht werde (CM, S. 151). Husserls Kritik ist also eine Kritik am objektivistischen quasiphysikalisierenden Dualismus und wendet sich eigentlich gegen das Objektivistisch-Physikalistische daran und nicht gegen das Dualistische; sie wendet sich nämlich dagegen, Seelisches wie die paradigmatischen objektiven Objekte, die Körper, aufzufassen. Husserls Kritik ist also, eigentlich, eine Kritik am dualistischen PhysicoObjektivismus, also an derjenigen Form des Objektivismus, die zu Husserls Zeit noch vorherrschend war. Wie entsetzt würde Husserl aber sein über die für ihn sicherlich weit monströsere, gegenwärtig vorherrschende Gestalt des Objektivismus, über den heute, siegreich wie nie, überall vordringenden uneingeschränkten Materialismus! Und doch ist diese Form des Objektivismus bei Husserls Kritik schon mitgemeint, ist doch der Physikalismus nichts anderes als ein einseitig gewordener cartesischer Dualismus (wie ich ähnlich zu Anfang gesagt habe), oder ohne Paradox gesagt: ein einseitig gewordener, von Descartes, aber nicht nur von ihm, ererbter Objektivismus, der den Fehler einer Objektivierung des Nichtobjektivierbaren in einer Art Verdunkelung philosophischer Vernunft bis zur äußersten Konsequenz treibt. Wenn Descartes den Fehler beging, in Husserls Worten, „die Seelen ebenfalls in

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der körperwissenschaftlichen Methode erforschen zu wollen, also naturkausal raumzeitlich seiend wie Körper" (Krisis, S. 222), so werden heute psychische Phänomene - von der Seele wird in wissenschaftlichen Kontexten nicht mehr gesprochen, wohl aber noch vom Subjekt - in den Körperwissenschaften selbst, und nicht etwa bloß in Analogie zu ihrer Methode, als naturkausal raumzeitlich seiend wie deren angestammten Gegenstände erforscht. Wäre das nur als eine begrenzte Perspektive auf psychische Phänomene gemeint, so wäre dagegen nichts Prinzipielles einzuwenden; aber die vielfach hinzukommende Unterstellung ist, dass psychische Phänomene wesenhaft nichts anderes sind als gemeinhin in ihrem ontologischen Status für ganz unproblematisch erachtete naturkausal raumzeitliche Phänomene, nämlich eben physische Phänomene. Im § 62 der Krisisschrift bringt Husserl zwei Einwände vor gegen die Physikalisierung des Psychischen, sei sie quasi (wie bei Descartes und Chalmers) oder eigentlich (wie bei den modernen Physikalisten). Der eine bezieht sich auf die raumzeitliche Verortung der Seelen, die wesentlich verschieden sei von der raumzeitlichen Verortung von Körpern; der andere, interessantere, bezieht sich darauf, dass Seelen ein wesentlich anderes Verhältnis zur Kausalität hätten als Körper und eine von der „Naturkausalität" wesentlich verschiedene Kausalität: „Ein Körper ist, was er ist, als dieser bestimmte ein in seinem eigenen Wesen raumzeitlich lokalisiertes Substrat .kausaler' Eigenschaften. Nimmt man also die Kausalität weg, so verliert der Körper seinen Seinssinn als Körper, seine Identifizierbarkeit und Unterscheidbarkeit als physische Individualität. Das Ich aber ist ,dieses4 und hat Individualität in sich und aus sich selbst, es hat nicht Individualität aus Kausalität. [...] Für es sind Raum und Zeit keine Prinzipien der Individuation, es kennt keine Naturkausalität, die ihrem Sinn nach von Raumzeitlichkeit unabtrennbar ist" (Krisis, S. 221 f.). Was Husserl hier sagt, ist, dass eine rein funktionalistische Auffassung, die alles und jedes in seiner kausalen Rolle aufgehen lässt, also in der Gesamtheit dessen, was es verursacht und durch

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was es verursacht wird, zwar für Körper und deren Zustände angemessen ist, nicht aber für Seelen und Seelisches. Diese sind eben mehr als bloße Knotenpunkte von Kausalverhältnissen und von raumzeitlichen Relationen, mehr als Knotenpunkte von Relationsgeflechten; sie haben ein Sein in sich selbst. Wir können es dahingestellt lassen, ob Husserl Recht hat (natürlich hat er Recht); wichtig ist hier, dass Husserl an einer für die moderne Philosophie des Geistes ganz entscheidenden Stelle Position bezieht. Eine rein funktionalistische Auffassung alles Mentalen, auch des Psychischen im engeren Sinne, ist nämlich das Paradigma, unter dem das Programm der Physikalisierung des Psychischen (wobei die prinzipielle Richtigkeit dieses Ziels vorweg angenommenen wird) vorangetrieben wird, seit den primitiven Anfängen zur Blütezeit des Behaviorismus bis heute, wo die Realisationen der kausalen Rollen, mit denen psychische Entitäten identisch sein sollen, nicht mehr nur durch makrophysikalische externe Reize und Reaktionen charakterisiert werden. Muss dieses Paradigma verworfen werden, und nach Husserl muss es das (in dieselbe Richtung gehen übrigens 50 Jahre später die Auffassungen David Chalmers' 45 ), so wird das Physikalisierungsprogramm als Versuch, alles Psychische den Beschreibungsweisen der Physik (wobei diese dem Charakter nach so sein soll, wie sie jetzt ist) vollständig unterzuordnen, zum Stillstand kommen. Das Ich kennt keine Naturkausalität, sagt Husserl (siehe oben); wohl aber kennt es eine ihm eigene Kausalität: ,,[S]ein Wirken ist ichliches Walten, und das geschieht unmittelbar durch seine Kinästhesen als Walten in seinem Leib, und erst mittelbar (da dieser auch Körper ist) auf andere Körper." (Krisis, S. 222.) Husserl spricht hiermit das Thema der Agenskausalität an und betont deren Eigenständigkeit, während er vorher schon darauf 45

Siehe Abschnitt 5 von Kap. 4 von The Conscious Mind, und insbesondere das folgende Zitat: „Once we reject reductive functionalism and eliminativism, it follows inexorably that consciousness is not logically supervenient on the physical." (Ebd., S. 168.)

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hingewiesen hat, dass „die Kausalität einen prinzipiell ganz anderen Sinn [hat], ob von Naturkausalität die Rede ist oder von ,Kausalität' zwischen Seelischem und Seelischem und Körperlichem und Seelischem" (Krisis, S. 221). Auch hiermit bezieht Husserl an einer entscheidenden Stelle Position. Ein wesentlicher Teil des Programms der Physikalisierung des Psychischen ist nämlich die Angleichung jeder Form der (effizienten) Kausalität an die natürliche Kausalität, an die durch Naturgesetze und physikalische Übertragungsmechanismen vermittelte Kausalität zwischen physischen Ereignissen. 46 Auch an diesem Punkt wird die Entscheidung für oder gegen die Vollendung der Physikalisierung des Psychischen fallen müssen. Eine der tiefsten Aussagen Husserls gegen die physikalistische und jede andere wissenschaftliche Verobjektivierung, Naturalisierung des Psychischen ist aber die folgende, weil sie aufzeigt, dass die unweigerliche Voraussetzung dafür, nämlich ein entsprechender Ansatzpunkt in der Lebenswelt, ein lebensweltliches Motiv, eine Praxis in ihr, gar nicht gegeben ist: „Das Seelische [...] hat keine Natur, hat kein denkbares An-sich im naturalen Sinn, kein raumzeitlich kausales, kein idealisierbares und mathematisierbares An-sich, keine Gesetze nach Art der Naturgesetze; es gibt dort keine Theorien von einer gleichen Rückbezogenheit auf die anschauliche Lebenswelt, keine Beobachtungen und Experimente einer ähnlichen Funktion für eine Theoretisierung wie hinsichtlich der Naturwissenschaft" (Krisis, S. 225). Dass es so vielen so ganz anders erscheint, als Husserl es sagt, liegt wohl daran, dass sie, objektivistisch verblendet, die nomologische Erklärung und Voraussage von etwas Physischem, nämlich von Verhalten, und sei es sprachliches Verhalten und das Verhalten von Gehirnen, wofür ganz selbstverständlich ein lebensweltlicher 46

Oft wird ein Verständnis von Kausalität als Naturkausalität im eben angegebenen Sinn von Physikalisten schon von vornherein vorausgesetzt und dann kritisch gefragt, wie denn Seelen, und Psychisches überhaupt, wenn vom Physischen ganz verschieden, Kausalität entfalten können sollen? Natürlich können sie im unterstellten Sinn nicht kausal sein - was dann seltsamerweise als gutes Argument für den Physikalismus angesehen wird.

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Ansatzpunkt vorhanden ist - nämlich einer, der dem der sonstigen Naturwissenschaft im Wesentlichen identisch ist mit Psychologie im eigentlichen Sinne des Wortes verwechseln. 12

Das transzendentale Ego, andere Iche von mir und andere Egos

Wie im vorausgehenden Abschnitt schon angeklungen ist, scheint Ich für Husserl nicht gleich Ich zu sein. Da ist das transzendentale Ego, bei dem Husserl wiederum zwei Sichtweisen (desselben) unterscheidet: das Ego als identischen Pol (Pol-Ich) und das Ego als in voller Konkretion genommen, das Husserl, bewusst an Leibniz anknüpfend, als „Monade" bezeichnet (CM, S. 69), „das monadisch konkrete Ego", das „das gesamte wirkliche und potentielle Bewußtseinsleben mit befaßt" (CM, S. 70).47 Weiter ist da das lebensweltliche und darum weltliche Ich („das eigene seelische Sein, das Ich im gewöhnlichen Sinne", Krisis, S. 84; vgl. Krisis, S. 215 f.), und dann ein hybrides Konstrukt, von dem sich Husserl distanziert: das cartesische Ich, die res cogitans, die als eine ihrer Quellen die mittelalterliche Ontologie der substantiae incorporeae, deren unterste Stufe von den animae humanae eingenommen wird, nicht verleugnen kann. 48 Zudem erscheint aber in korrigierter Auffassung die res cogitans bei Husserl in einer Weise wieder auf, die trotz aller seiner Dualismus-Kritik keinen Physikalisten erfreuen kann, nämlich letztlich doch dualistisch, wenn auch nicht objektivistisch und deshalb ganz unbelastet mit den schwerwiegenden bekannten Problemen (der „Passung der Hälften", könnte man sagen) eines objektivistischen Dualismus, 47

48

Husserl spricht außerdem vom „Ich als Substrat von Habitualitäten" (CM, § 32), „das bleibende Ich", das „als Pol bleibender Ich-Bestimmtheiten kein Erlebnis und keine Erlebniskontinuität ist" (CM, S. 69), und, in eigentümlicher Spannung dazu, vom „Ego als ein [...] in der Einheit universaler Genesis verknüpfter Zusammenhang von synthetisch zusammengehörigen Leistungen [...] - in Stufen" (CM, S. 83). Letzteres gemahnt an anti-substantialistische Personalitätstheorien, wie die von Derek Parfit in Reasons and Persons. Siehe auch David Lewis, „Survival and Identity". Die objektivistische Auffassung des Psychischen ist eben älter als Descartes' Philosophie.

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nämlich nicht nur als transzendentales Ego, sondern auch als das „Menschen-Ich, konkret als rein in sich und für sich gefaßte Seele" (CM, S. 75), das Ich als Gegenstand (Objekt) einer rein aus innerer Erfahrung schöpfenden Psychologie, das dem transzendentalen Ego entspricht, so wie jene Innenpsychologie bis auf das Verbleiben in der natürlichen Weltbetrachtung (der unbefragten Voraussetzung der objektiven Welt) der transzendentalen Phänomenologie entspricht (CM, S. 75). 4 9 Hinzukommt schließlich die menschliche Person, das leibseelische Ich („psychophysischer Mensch", „Ich, im gewöhnlichen Sinne des menschlich-personalen Ich", CM, S. 101 f.). 50 Wer von diesen Ichen, wenn ζ. B. von mir die Rede sein soll, bin ich? Für einen Transzendentalisten kann es auf diese Frage nur eine letzte Antwort geben: Ich bin, letztlich, das transzendentale Ego, der Subjektpol meines Bewusstseins oder mein Bewusstsein in Konkretion inklusive dieses Subjektpols, das transzendentale Ego, das ebenso objektbezogen 51 und doch objekttranszendent ist, wie die Objekte für mich subjektbezogen und doch, sofern sie objektive sind, subjekttranszendent sind, wobei aber diese unterschiedlichen Transzendenzen die letztliche Bewusstseinsimmanenz von Ego und Objekt nicht sprengen. An der Benennung des transzendentalen Egos durch das schlichte klein geschriebene Personalpronomen

49

50

51

Husserl sagt auch, dass die reine Seele eine in der Monade [im transzendentalen Ego in voller Konkretion genommen] sich vollziehende Selbstobjektivierung derselben sei (CM, S. 134). Restlos kann die Objektivierung freilich nicht sein, denn sonst wären wir am Ende doch bei der Möglichkeit eines dualistischen Objektivismus angelangt. Auch in der menschlichen Person objektiviert sich nach Husserl das transzendentale Ego. Husserl spricht „von der Verweltlichung des [transzendentalen] Ego in der Wesensform Mensch", dem animal rationale (CM, S. 76). Wie übrigens auch in der vorausgehenden Fußnote, sollte „Verweltlichung" und „Objektivierung" vielleicht eher nicht als Umsetzung, Umwandlung ins Objekthafte bzw. Objektive / objektiv Weltliche verstanden werden, sondern eher als Darstellung, Repräsentation im Objekt bzw. Objektiven. (Man beachte, dass hiermit vier verschiedene mögliche Bedeutungen des Wortes „Objektivierung" angegeben sind.) Husserl sagt, „daß das transzendentale Ego (in der psychologischen Parallele die Seele) nur ist, was es ist, in bezug auf intentionale Gegenständlichkeiten" (CM, S. 66 f.).

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hält Husserl fest, wenngleich er weiß, dass jeder, der den Weg zum transzendentalen Ego geht, sich selbst dabei auf eine, gemessen am normalen Selbstbild, äußerst fremdartige Weise begegnen wird. Er stellt zunächst fest: „Ich bin zwar in Wahrheit transzendentales ego, aber dessen nicht bewußt, ich bin in einer besonderen Einstellung, der natürlichen, den Gegenstandspolen ganz hingegeben, ganz gebunden an die ausschließlich auf sie gerichteten Interessen und Aufgaben. Ich kann aber die transzendentale Umstellung [...] vollziehen." (Krisis, S. 209.) Tut man das nun, dann begegnet das Folgende: ,,[I]n der Epoche und im reinen Blick auf den fungierenden Ichpol und von da auf das konkrete Ganze des Lebens und seiner intentionalen Zwischen- und Endgebilde zeigt sich eo ipso nichts Menschliches, nicht Seele und Seelenleben, nicht reale psychophysische Menschen - all das gehört ins ,Phänomen', in die Welt als konstituierten Pol." (Krisis, S. 187.) Und weiter: „Das Ich, das ich in der Epoche erreiche, das in der kritischen Umdeutung und Verbesserung der Descartes'schen Konzeption das ,ego' wäre, heißt eigentlich nur durch Äquivokation ,Ich', obschon es eine wesensmäßige Äquivokation ist, da, wenn ich es reflektierend benenne, ich nicht anders sagen kann als: ich bin es, ich, der Epoche-Übende, ich, der die Welt, die mir jetzt nach Sein und Sosein geltende Welt, mit allen ihren Menschen, deren ich so völlig gewiß bin, als Phänomen befrage; also ich, der ich über allem natürlichen Dasein, das für mich Sinn hat, stehe und der Ichpol bin des jeweiligen transzendentalen Lebens, worin zunächst Welt rein als Welt für mich Sinn hat: Ich, der ich, in voller Konkretion genommen, all das umfasse." (Krisis, S. 188.) Angesichts solcher Formulierungen fühlt man sich an Das Große Wort der Upanishaden erinnert: Das „Das bist du" („tat tvam asi") scheint Husserl nur von der Zweiten in die Erste Person gewendet zu haben: „Ich bin es", nämlich das, worin die Welt ist,

370 von der ich doch,

Uwe Meixner anders

gesehen,

ein (winziger)

Teil bin.51

Aber

m a n fragt sich: K a n n dies denn w a h r sein, und w e n n d e n n ja, wie? A u c h Husserl hat sich das gefragt u n d sogleich den Beginn einer A n t w o r t angeschlossen: „Ich selbst als transzendentales Ich »konstituiere' die Welt und bin zugleich als Seele menschliches Ich in der Welt. [...] Das sich selbst setzende Ich, von dem Fichte spricht, kann es ein anderes sein als das Fichtes? Wenn dies keine wirkliche Absurdität sein soll, sondern eine auflösbare Paradoxie, wie könnte eine andere Methode uns zur Klarheit verhelfen als die der Befragung unserer inneren Erfahrung und einer in ihrem Rahmen erfolgenden Analyse? Wenn von einem transzendentalen ,Bewußtsein überhaupt' gesprochen wird, wenn nicht Ich [sie], als dies individuell-einzelne, Träger des Natur-konstituierenden Verstandes sein kann, muß ich nicht fragen, wie ich

52

Es kann erhellend sein, Husserls transzendentalen Idealismus als eine einzige große Auslegung der Stelle in den Upanishaden aufzufassen, an der Das Große Wort fällt: „Uddälaka Äruni belehrt seinen Sohn Shvetaketu. .Bringe mir eine Frucht von dem Feigenbaum dort.' .Hier ist sie, Erhabener.' .Spalte sie.' .Sie ist gespalten, Erhabener.' .Was siehst du darin?' .Diese fast atomgroßen Kerne.' .Spalte einen von diesen.' .Er ist gespalten, Erhabener.' .Was siehst du darin?' .Gar nichts, Erhabener.' Da sagte (der Vater) weiter zu ihm: .Dieses ganz Feine, das du nicht mehr wahrnimmst, mein Lieber, aus diesem (erwachsen) steht dieser große Feigenbaum da. Glaube mir, mein Lieber, aus diesem Feinen besteht diese ganze Welt. Dies ist das Wahre (d. h. die letzte wirkliche Realität), dies ist der ätman, das bist du (tat tvam asi), ο Shvetaketu.'" (Zitiert nach Helmuth von Glasenapp, Indische Geisteswelt, Bd. I, S. 36.) Siehe hierzu ergänzend auch die folgenden anderen Passagen aus den Upanishaden: „Dieses ganze All ist das Brahma [...] Dieses mein Selbst im innersten Herzen ist kleiner als ein Reiskorn oder ein Gerstenkorn oder ein Senfkorn oder ein Hirsekorn oder eines Hirsekorns Kern. Dieses mein Selbst im innersten Herzen ist größer als die Erde, größer als der Luftraum, größer als der Himmel, größer als diese Welten. Allwirkend, allwünschend, allriechend, allschmeckend, allumfassend, ohne Worte und unbekümmert: so ist mein Selbst im innersten Herzen. Dies ist das Brahma. [...] So sprach Shändilya." (Ebd., S. 35 f.) Hier findet man bildhaft ausgedrückt das merkwürdige Gefühl („stränge sense") philosophischer Verwunderung („feeling of amazement"), von dem Thomas Nagel spricht: „that I both am and am not the hub of the universe" (The View from Nowhere, S. 64).

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über mein individuelles Selbstbewußtsein hinaus ein allgemeines, ein transzendental-intersubjektives haben kann. Das Bewußtsein der Intersubjektivität muß also zum Problem werden." (Krisis, S. 2 0 5 f.) Ganz zu Recht empfindet Husserl ein philosophisches Unbehagen. Es ist eben gefordert, dass das transzendentale, Objekt und Objektivität konstituierende Ego etwas Unpersönlicheres ist, als ich (oder Fichte) als dieser Mensch oder auch als bloß dieses individuelle transzendentale Ego bin (ist). Um diese Forderung zu erfüllen, muss nun nach Husserl das transzendentale Ego, d. h. ich als dieses transzendentale Ego, die anderen transzendentalen Egos sozusagen aus sich heraus (nirgendwo anders her!) in sich aufnehmen und sich mit ihnen vergemeinschaften und sich so entpersönlichen. 53 Ein schwieriger Gedanke. Aber nur so ist transzendentale Intersubjektivität verträglich mit der transzendentalistischen These 2 *, der These von der Bewusstseinsimmanenz des thematisierten Seienden. Husserls feste Überzeugung einer Immanenz der transzendentalen Intersubjektivität in der transzendentalen Subjektivität tritt besonders deutlich in den folgenden beiden Zitaten hervor:

53

Husserls Gedankengang ist konvergent mit Thomas Nagels Überlegung zur Gewinnung eines „objective self" (und hat einen ähnlichen Ausgangspunkt): „How can I, who am thinking about the entire, centerless universe, be anything so specific as this [Thomas Nagel: TN] [...] How do I abstract the objective self [d. h.: mich als „objektives Ich"] from the person TN? By treating the invidual experiences of that person as data for the construction of an objective picture. [...] Though I receive the information of his [TN's] point of view directly, I try to deal with it for the purpose of constructing an objective picture just as I would if the information were coming to me indirectly. I do not give it any privileged status by comparison with other points of view. [...] Because a centerless view of the world is one on which different persons can converge, there is a close connection between objectivity and intersubjectivity." (The View from Nowhere, S. 61 ff.) Nagel selbst weist darauf hin, dass sein „objective self" etwas gemeinsam hat mit Husserls (Objektivität konstituierendem) transzendentalem Ego (ebd., S. 62, Fußnote). Doch ist das transzendentale Ego, als solches, eben nichts Objektives, sondern vielmehr das alle Objektivität Konstituierende. Freilich könnte die Korrektur von „objective self" in „objectifying self" durchaus in Nagels Sinn sein.

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„Methodisch kann nur vom ego aus und der Systematik seiner transzendentalen Funktionen und Leistungen die transzendentale Intersubjektivität und ihre transzendentale Vergemeinschaftung aufgewiesen werden, in der von dem fungierenden System der Ichpole aus die ,Welt für alle' und für jedes Subjekt als Welt für alle sich konstituiert." (Krisis, S. 189.) Und er schärft darüber hinaus gehend, ein wenig geheimnisvoll, ein: „Unter allen Umständen muß aber, aus tiefsten philosophischen Gründen, auf die nicht weiter eingegangen werden kann, und nicht nur aus methodischen, der absoluten Einzigkeit des ego und seiner zentralen Stellung für alle Konstitution genuggetan werden." (Krisis, S. 190.) 5 4

13

Grenzen der B e w u s s t s e i n s i m m a n e n z ?

Es soll nun in Anknüpfung hieran der Frage nachgegangen werden, ob die je verschiedene bewusstseinsimmanente

Transzendenz

von eigenem E g o und fremden Egos und objektiven Gegenständen philosophisch hinreichend ist, insbesondere gemäß Husserls

54

Im unmittelbaren Anschluss hieran lautet die Überschrift von § 55 der Krisisschrift: „Die prinzipielle Korrektur unseres ersten Ansatzes der Epoche durch Reduktion derselben auf das absolut einzige letztlich fungierende ego". Die Rede von Korrektur ist nicht unangebracht, erwecken doch manche Aussagen Husserls in der Krisisschrift den Eindruck, als wäre eine irreduzibel plurale und externe „intersubjektive Subjektivität" der Ursprung der Weltkonstitution. Husserl spricht etwa von der „Menschheit, als die in Vergemeinschaftung intentional die Leistung der Weltgeltung zustandebringende Subjektivität" (Krisis, S. 178). Aber wenig später hält er zwar an „einer transzendentalen, die Welt als ,Welt für alle' konstituierenden Intersubjektivität" (Krisis, S. 188) fest, spricht aber von der methodischen Verkehrtheit des „sogleich Hineinspringen[s] in die transzendentale Intersubjektivität und [des] Überspringen^] des Ur-Ich, des ego meiner Epoche, das seine Einzigkeit und persönliche Undeklinierbarkeit nie verlieren kann. Dem widerspricht nur scheinbar, [...] daß es [...] von sich aus und in sich die transzendentale Intersubjektivität konstituiert, der es sich dann zurechnet, als bloß bevorzugtes Glied, nämlich als Ich der transzendentalen Andern." (Krisis, S. 188 f.)

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eigener Perspektive und Zielsetzung, oder ob Husserl gezwungen ist, transzendente Metaphysik zu betreiben, was er unter der Bedingung, dass die transzendentale Phänomenologie seinem Anspruch einer Wissenschaft aus Evidenz (einer „echten Wissenschaft"; vgl. CM, § 5) genügen soll, nicht darf, was er aber auch aus einem Grund nicht darf, der viel gravierender ist als ein vorausgesetztes Wissenschaftsideal, nämlich deswegen, weil dadurch einem vollständigen Transzendentalismus (verkörpert durch die Thesen 1,2,2* und 3) widersprochen würde, da Husserl dabei Bewusstseinstranszendentes thematisierend annehmen müsste und damit gegen die transzendentalistische These 2 *, die eben erwähnte These von der Bewusstseinsimmanenz des thematisierten Seienden verstieße. Zunächst bereitet die bewusstseinsimmanente Transzendenz von manchen objektiven Gegenständen Schwierigkeiten. Nehmen wir ein großes physisches Objekt, wie ζ. B. die Sonne. „Wie soll dieses riesige und außerdem sehr heiße Objekt in meinem Bewusstsein sein?", könnte man fragen und urteilen: „Das ist doch offensichtlicher Unsinn!" Aber der Einwand unterstellt fälschlich, dass das behauptete In-sein der Sonne in unserem Bewusstsein vergleichbar ist mit dem In-sein eines Knopfes in der Tasche oder eines Tassenbodens in der Tasse. Das Bild, das sich dem objektivistisch ausgerichteten Gesunden Menschenverstand mit unwiderstehlicher Gewalt aufdrängt, ist, dass die Transzendentalisten behaupten, die Sonne wäre irgendwie in unserem Kopf, - was ja doch unmöglich ist. Aber das ist es ja nicht, was der transzendentale Idealist sagt. Im Gegenteil, er stimmt völlig zu, dass die Sonne nicht in unserem Kopf ist, denn beide, Kopf und Sonne, sind ja so in unserem Bewusstsein, dass die Sonne eben nicht räumlicher Teil des Kopfes sein kann. So verkehrt freilich der Gesunde Menschenverstand hier eben lag, dennoch bleibt ein ungutes Gefühl zurück. Sind physische Objekte, und gerade die, die Thema für uns sind, nicht doch mehr als in einem gewissen Sinn bewusstseinsimmanent transzendente Bewusstseinskorrelate? Postulieren wir sie nicht einfach, und zwar zu Recht, nämlich ihrem Seinssinn nach, als mehr als das, als mehr als Bewusstseinsobjekte, welches Postulieren zwar, natürlich, selbst ein Bewusstseinsakt ist, aber doch einer, der über

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die Grenzen des Bewusstseins hinaus weist und etwas außerhalb von ihm .annehmend' setzt? Nun, Husserl könnte eben das „zu Recht" in dieser Frage zu Recht in Frage stellen, er braucht sich auf derartige objektivistische Intuitionen nicht einzulassen. Doch mag auch die ontologische Würde der Sonne noch nicht verletzt sein, wenn sie zum bloßen Bewusstseinsobjekt deklariert wird, wie steht es mit der ontologischen Würde der Anderen, insbesondere mit der der anderen transzendentalen Egos? Können denn diese ihrem Seinssinn nach nichts weiter sein als Bewusstseinskorrelate? Wohl nicht, denn soweit sie Bewusstseinsobjekte sind, sind sie Objekte für mich und nicht Subjekte mit mir, was sie aber doch sind: Subjektpole anderen Bewusstseins. Will ich also den anderen transzendentalen Egos in ihrem Sein gerecht werden, dann kann ich sie nicht am Objektpol meines Bewusstseins ansiedeln, sie nicht durch Bewusstseinsweisen voll und ganz intentional konstituiert sein lassen. Ich muss sie dann offenbar mitsamt ihrem Bewusstsein als außerhalb meines Bewusstseins seiend schlicht postulieren, und damit wäre nicht nur ein Akt transzendenter Metaphysik vollzogen, sondern auch eindeutig gegen die transzendentalistische These 2 * verstoßen. Der einzige Ausweg für mich, wenn ich vollständig Transzendentalist bleiben und Bewusstseinstranszendentes nicht postulieren wollte, scheint unter Preisgabe der mir gleichen Andersheit der Anderen der transzendentale Solipsismus zu sein, wonach es nur ein einziges Bewusstsein im vollen Sinn gibt, nämlich meines, und ein einziges transzendentales Ego, nämlich mich, der Subjektpol jenes Bewusstseins. Aber der transzendentale Solipsismus erscheint kontraintuitiv, und seine Kontraintuitivität hat ein ganz anderes Kaliber als die Kontraintuitivität dessen, dass nach dem Transzendentalismus etwa die Sonne in einem Bewusstseinsobjekt aufgehen soll. Husserl sieht die Problematik, er lehnt den transzendentalen Solipsismus als Endposition aber ab (wie seine bloße Ausdrucksweise schon zeigt) und er macht sich und anderen Mut, dass bei einem transzendentalen Solipsismus nicht stehengeblieben werden müsse: „Wir [!] dürfen uns durch solche Bedenken als anfangende Philosophen nicht schrecken lassen. Vielleicht, daß die Reduktion auf das transzendentale Ego nur den Schein einer bleibend solipsistischen

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Wissenschaft mit sich führt, während ihre konsequente Durchführung gemäß ihrem eigenen Sinn zu einer Phänomenologie der transzendentalen Intersubjektivität überleitet [...] In der Tat wird sich zeigen, daß ein transzendentaler Solipsismus nur eine philosophische Unterstufe ist und als solche in methodischer Absicht abgegrenzt werden muß, um die Problematik der transzendentalen Intersubjektivität als eine fundierte, also höherstufige in rechter Weise ins Spiel setzen zu können." (CM, S. 32.) Husserl meint also, wie ja im vorausgehenden Abschnitt schon deutlich geworden ist, irgendwie doch transzendentale Intersubjektivität voll und ganz als im Bewusstsein, und zwar im eigenen, konstituiert gewinnen zu können, und eben nicht, um den transzendentalen Solipsismus zu vermeiden, bewusstseinstranszendierend postulieren zu müssen, wodurch sein zugleich transzendentalistischer und unmetaphysischer Ansatz zerstört würde. Die transzendentale Intersubjektivität ist dabei aber nicht nur ein Erfordernis gegen den kontraintuitiven Solipsismus, ein Erfordernis um der Wahrung der Anderen als mir gleiche Andere willen, sondern auch, wie schon deutlich angeklungen ist, ein Erfordernis der Objektivitätskonstitution im Sinne eines rechten Objektivitätsverständnisses und erwächst daher aus grundlegenden Anliegen der transzendentalen Phänomenologie selbst (siehe Abschnitte 3 und 4). Denn auch im Sinne der transzendentalen Phänomenologie kann keine eigentliche Objektivität ohne Intersubjektivität sein. Eigentliche (oder wahre) Objektivität55 - eben auch die eigentliche Objektivität der Sonne ζ. B. - ist phänomenologisch mehr als die bloß „immanente (primordiale) Transzendenz", die Objektivität und Transzendenz der „primordialen Welt", wie Husserl sie nennt, also der Welt, wie sie sich im Bewusstsein darstellt, wenn das fremde Bewusstsein für es ausgeschaltet bleibt (vgl. CM, § 47, § 48 und § 55). 56 Von eigentlicher Objektivität gilt vielmehr: 55

56

Husserl spricht von „echter Objektivität"; siehe CM, S. 152. Auf S. 9 7 der CM wiederum ist die Rede von den „alter ego's" [stc] und „alle[m], was von diesen her Sinnbestimmungen gewinnt, kurzum eine[r] objektive[n] Welt in der eigentlichen und vollen Bedeutung [Hervorhebung U. M . ] " . Es bleibt aber nach Husserl dabei, wie sich zeigen wird, dass die eigentliche Objektivität, wenn sie auch mehr ist als die von ihm so genannte

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„Zum Seinssinn der Welt und im besonderen der Natur als objektiver gehört [...] das Für-jedermann-da, als von uns stets mitgemeint, wo wir von objektiver Wirklichkeit sprechen." (CM, S. 94.) Ist es Husserl gelungen, zwischen der Skylla des transzendentalen Solipsismus und der Charybdis eines, wenn auch begrenzten und untypischen, metaphysischen Realismus hindurchzusteuern? Ich glaube nicht, trotz der gewaltigen Anstrengung, die Husserl diesbezüglich in der V. Meditation der Cartesianischen Meditationen unternommen hat. Zwar meint Husserl, „[n]ach diesen Aufklärungen [in der V. Meditation] ist es [...] kein Rätsel mehr, wie ich in mir ein anderes Ich, und radikaler, wie ich in meiner Monade eine andere Monade konstituieren und das in mir Konstituierte eben doch als Anderes erfahren kann; und damit auch, was ja davon unabtrennbar ist, wie ich eine in mir konstituierte Natur mit einer vom Anderen konstituierten identifizieren kann (oder in notwendiger Genauigkeit gesprochen: mit einer in mir als vom Anderen konstituiert konstituierten)" (CM, S. 129); jedoch ist doch wohl der Andere und die im eigentlichen Sinne objektive Welt per se, und deshalb auch phänomenologisch, etwas jedenfalls nicht vollständig aus mir Konstituiertes, sondern immer auch etwas sozusagen in mich, mehr oder minder sanft, „Durch-" oder „Einbrechendes", und zwar aus einem postulierten Außen, das, eben weil es postuliert ist, nicht bewusstseinsimmanent konstituiert sein kann. Wenn Husserl von der transzendentalen Intersubjektivität schreibt, ,,[s]ie ist, wie kaum gesagt werden muß, rein in mir, im meditierenden Ego, rein aus Quellen meiner Intentionalität für mich als seiend konstituiert, aber als solche, die in jeder (in der Modifikation »Anderer') konstituierten [Intentionalität?] als dieselbe, nur in anderer subjektiver Erscheinungsweise konstituiert ist, und konstituiert als dieselbe objektive Welt notwendig in sich tragend" (CM, S. 133 f.), so scheint er letztlich das Fremde, das zu „immanente Transzendenz", immer noch bewusstseinsimmanent ist. Die bewusstseinsimmanente Transzendenz des Objektiven (im vollen, eigentlichen Sinn) bei Husserl und im Transzendentalismus überhaupt, von der in diesem Aufsatz wiederholt die Rede war, ist genau zu unterscheiden von dem, was Husserl mit dem Ausdruck „immanente Transzendenz" meint.

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Intersubjektivität und eigentlicher Objektivität wesenhaft dazugehört, nicht angemessen ernst genommen zu haben und schließlich doch beim transzendentalen Solipsismus, den er eigentlich auch selbst vermeiden wollte, gelandet zu sein. Dass Husserl nicht dieser Meinung ist, liegt aber daran, dass er in die phänomenologische Analyse der „Fremderfahrung", der Erfahrung des Fremden, des Anderen als (mir bzw. Husserl gleichen) Anderen, ohne es zu merken, postulative metaphysische Elemente einfließen lässt, die zwar dann den Anderen doch noch adäquat als Anderen im Bewusstsein darstellbar werden lassen, aber ihn dabei, rechtbesehen, als das Bewusstsein transzendierende Entität zum Thema machen, womit die These von der Bewusstseinsimmanenz des thematisierten Seienden am Ende verletzt ist und der transzendentale Idealismus mindestens zugunsten eines Monadenrealismus verlassen wird. Husserl war sich sehr klar darüber, was hier hätte vermieden werden müssen. Im § 62 der Cartesianischen Meditationen spricht er von dem „Einwand gegen unsere Phänomenologie, sofern sie von vornherein den Anspruch erhöbe, Transzendentalphilosophie zu sein, also als solche die Probleme der Möglichkeit objektiver Erkenntnis zu lösen" (CM, S. 152). Der Einwand ist, ,,[d]azu sei sie im Ausgang von dem transzendentalen Ego der phänomenologischen Reduktion und daran gebunden nicht mehr befähigt, sie verfalle, ohne es wahrhaben zu wollen, in einen transzendentalen Solipsismus, und der ganze Schritt zur fremden Subjektivität und echten Objektivität sei nur möglich durch eine uneingestandene Metaphysik, durch eine geheime Übernahme Leibnizischer Traditionen" (CM, S. 152). Der Einwand, meint Husserl gleich darauf, zerfließe nach den durchgeführten Auslegungen in seiner Haltlosigkeit. Es könne „in einem erweiterten Sinne sehr wohl gesagt werden, daß das Ego [...] durch Selbstauslegung, nämlich Auslegung dessen, was ich in mir selbst finde, alle Transzendenz gewinne, und als transzendental konstituierte" (CM, S. 153). Es verschwinde somit „der Schein, daß alles, was ich als transzendentales Ego aus mir selbst als seiend erkenne und als in mir selbst Konstituiertes auslege, mir selbst eigenwesentlich zugehören muß" (CM, S. 153). „Der Schein eines Solipsismus ist aufgelöst", sagt Husserl, „obschon der Satz [siehe These 2 *!] die fundamentale Geltung behält, daß alles, was für

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mich ist, seinen Seinssinn ausschließlich aus mir selbst, aus meiner Bewußtseinssphäre schöpfen kann" (CM, S. 154). Dies leisten soll der transzendental-phänomenologische Akt der „analogischen Appräsentation", wodurch „im Eigenen auch Nichteigenes Seinssinn bekommt, und zwar als analogisch Appräsentiertes" (CM, S. 154). Unter „Appräsentation" versteht Husserl dabei ,,[e]ine gewisse Mittelbarkeit der Intentionalität [...], die ein ,Mit-da' vorstellig macht, das doch nicht selbst da ist, nie ein Selbst-da werden kann", „eine Art des Mitgegenwärtig-Machens" (CM, S. 111 f.). Für das Wort „Appräsentation" gibt Husserl auch die Explikation „Als-mitgegenwärtig-bewußtmachen" (CM, S. 112) und spricht davon, dass sich in dem Wort der Erfahrungscharakter von Appräsentationen schon andeute. Die Appräsentation des Anderen ist nun motiviert durch die Ähnlichkeit des Körpers dort mit meinem Körper, ihr wesentlicher Schritt ist eine „analogisierende" Auffassung des ersteren als anderen Leib (CM, S. 113), nämlich Leib des Anderen. Dabei ist aber festzuhalten, „daß das vermöge jener Analogisierung Appräsentierte nie wirklich zur Präsenz kommen kann, also zu eigentlicher Wahrnehmung" (CM, S. 115). Gleichwohl betont Husserl immer wieder den Erfahrungscharakter der fraglichen analogisierenden Appräsentation. Es handle sich um eine „apperzeptive Übertragung", eine „verähnlichende Apperzeption", um keinen Schluss, nämlich keinen Analogieschluss, sondern eben um eine „Apperzeption, in der wir vorgegebene Gegenstände [...] ohne weiteres auffassen und gewahrend erfassen" (CM, S. 113). Weiter spricht Husserl davon, der fremde Leibkörper und das fremde waltende Ich seien „in der Weise einer einheitlichen transzendierenden Erfahrung gegeben" (CM, S. 117), und sagt, „[w]as [...] in jener fundierten Weise einer primordial unerfüllbaren Erfahrung, einer nicht original selbstgebenden, aber Indiziertes konsequent bewährenden, erfahren ist, ist ,Fremdes'" (CM, S. 117 f.). Es fällt Husserl nicht auf, dass diese Überforderung des Erfahrungsbegriffs, die offensichtlich zur Abwehr des Verdachts, transzendente Metaphysik zu betreiben, dienen soll, nicht zu seiner vorausgehenden Bestimmung von „Erfahrung in einem weitesten [...] Sinne" als „Evidenz überhaupt" passt, als

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„die ganz ausgezeichnete Bewußtseinsweise der Selbsterscheinung, des Sich-selbst-Darstellens, des Sich-selbst-Gebens einer Sache" (CM, S. 59). In dieser ursprünglichen und wohl berechtigteren Bestimmung des Erfahrungsbegriffs ist der Andere, wie aus Husserls eigenen Worten hervorgeht, eben nicht erfahrbar. 57 Was ist demnach die „analogische Appräsentation" des Anderen anderes als ein metaphysisches Postulieren des Anderen als fremdes Analogon meiner selbst jenseits meines Bewusstseins? Dabei braucht dieses Postulieren als ein Postulieren weder explizit zu erfolgen, noch überhaupt mit Reflexion oder Aufmerksamkeit bedacht zu werden. Es ist etwas Selbstverständliches, etwas, das sich von selbst versteht, es hat diesen phänomenologischen Charakter. Aber deshalb ist es noch lange keine Erfahrung. Metaphysik beginnt eben nicht erst, wenn Schlüsse gezogen und schwere Begriffe gehievt werden, wenn „metaphysische Konstruktionen", und schon gar nicht erst, wenn „spekulative Überschwenglichkeiten" und „metaphysische Abenteuer" in Angriff genommen werden (vgl. CM, S. 1 5 4 , S. 142). Tatsächlich spricht schließlich auch Husserl selbst in den Cartesianiscben Meditationen von seinen eigenen Auffassungen als Metaphysik (transzendentale „Metaphysik"; siehe CM, S. 1 4 8 ; 57

In den Ideen, S. 11, unterscheidet Husserl Selbstgegebenheit und, als Besonderung davon, originäre Gegebenheit; entsprechend unterscheidet er Erfahrung und originär gebende Erfahrung (Wahrnehmung). Husserl sagt dann: „Wir ,sehen den anderen ihre Erlebnisse an' auf Grund der Wahrnehmung ihrer leiblichen Äußerungen. Dieses Ansehen der Einfühlung ist zwar ein anschauender, gebender, jedoch nicht mehr originär gebender Akt. Der andere und sein Seelenleben ist zwar bewußt als .selbst da' und in eins mit seinem Leibe da, aber nicht wie dieser bewußt als originär gegeben." Es fällt aber schwer, Erfahrung und originär gebende Erfahrung substantiell voneinander zu unterscheiden, insbesondere angesichts dessen, dass Husserl sagt, ,,[e]in Reales originär gegeben haben, es schlicht anschauend .gewahren' und .wahrnehmen' ist einerlei" (Ideen, S. 11). Wie kann der Andere, der, wie Husserl zugibt, nicht schlicht anschauend „gewahrt" und „wahrgenommen" wird (nicht originär erfahren wird), dennoch, wie Husserl meint, anschaulich „selbst da" sein (erfahren sein)? Es ist nicht recht ersichtlich. Die Unterscheidung von Erfahrung (Selbstgegebenheit) und originärer Erfahrung (originärer Gegebenheit) erscheint mithin doch sehr als eine rein konventionell terminologische, die offenbar von Husserl ad hoc zur Ermöglichung der Rede von einer Erfahrbarkeit des Anderen eingeführt wird. Sie ist darum nicht sachlich verpflichtend.

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die Anführungsstriche sind im Original und weisen darauf hin, dass er sich doch nur recht zögerlich dazu bekennnen mag, sie als metaphysisch anzusehen), von den metaphysischen Ergebnissen seiner Auslegung der Fremderfahrung: „Sie sind metaphysisch, wenn es wahr ist, daß letzte Seinserkenntnisse metaphysische zu nennen sind." (CM, S. 142.) In der letzten Seinserkenntnis hat sich aber doch wohl der Andere als mehr als „mein Modifikat" (CM, S. 119) erwiesen - „mein Modifikat", wie Husserl dort sagt, wo er, ein transzendentaler Idealist doch durchaus sein wollend, weggeschert von der metaphysisch-realistischen Schiene auf der solipsistischen fährt - , erwiesen als mehr als eine in einen anderen Körper investierte bloße Abwandlung meiner selbst. In der Krisisschrift spricht Husserl, lange Gedankengänge in den Cartesianischen Meditationen zusammenfassend, sehr „solipsistisch" davon, die philosophische Selbstauslegung in der Epoche könne „aufweisen, wie das immerfort einzige Ich in seinem originalen in ihm verlaufenden konstituierenden Leben eine erste Gegenstandssphäre, die »primordiale', konstituiert, wie es von da aus in motivierter Weise eine konstitutive Leistung vollzieht, durch die eine intentionale Modifikation seiner selbst und seiner Primordialität zur Seinsgeltung kommt unter dem Titel ,Fremdwahrnehmung', Wahrnehmung eines Anderen, eines anderen Ich, für sich selbst Ich wie ich selbst" (Krisis, S. 189). Aber der Andere erschöpft sich eben nicht in einer bloßen Modifikation meiner selbst, noch in sonst irgendetwas von mir irgendwie Abgeleitetem oder aus mir Geschöpftem, noch kann ich ihn aus mir „gewinnen" (vgl. CM, S. 132 f.; tertium comparationis: wie man aus Erz ein Metall gewinnt); denn wie könnte ich mit etwas aus mir Gewonnenem, mit meinen Mitteln Konstituiertem58 eine „wirkliche Gemeinschaft" haben (was Husserl allerdings annimmt: CM, S. 132)? 58

Husserl sagt: „Innerhalb und mit den Mitteln dieses Eigenen [der Eigenheitssphäre des Ego] konstituiert es [das Ego] [...] die .objektive' Welt, als Universum eines ihm fremden Seins, und in erster Stufe das Fremde des Modus alter ego." (CM, S. 102 f.) Doch das Fremde lässt sich nicht aus mir „herausspinnen"; ich kann es nur aufgrund des Eigenen postulieren. - Das Fremde fällt dabei nicht eigentlich mit dem Objektiven zusammen, sondern ragt eigentlich darüber hinaus; fremde Subjektivität wird man ja nicht ohne weiteres als etwas Objektives bezeichnen wollen, weil sie

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Husserl nähert sich somit - ungewollt zwar, aber, wenn man dem geklärten Gehalt seiner eigenen phänomenologischen Analysen folgt, doch eindeutig - nach dem Durchgang durch die Reflexion sehr stark metaphysischen Denkern an, die im Vergleich zu ihm epistemologisch unvergleichlich naiv sind, nämlich Berkeley und Leibniz.59 Es erwächst schließlich aus seinen diffizilen phänomenologischen Analysen eine Monadologie, wie Husserl selbst es nennt (CM, S. 154), die inhaltlich Leibnizens naiver Metaphysik so unähnlich nicht ist: die Konzeption von bewusstseinstranszendenten (und eben nicht bloß bewusstseinsimmanent transzendenten) geistigen Substanzen, das eigene transzendentale Ego aus Symmetriegründen eingeschlossen, die in echter Gemeinschaft in sich

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ja irgendwie gar nicht recht Objekt ist. Deshalb verwendet Husserl hier wohl (im Zitat) die Anführungszeichen um das Wort „objektive", freilich ohne den tieferen Grund des mangelnden Objektstatus von fremder Subjektivität zu sehen: sie ist ganz und gar postuliert, nicht erfahren. An anderer Stelle scheint Husserl allerdings das Fremde tatsächlich mit dem eigentlich Objektiven zu identifizieren (und bezeichnenderweise - und obwohl die Erfahrbarkeit von Objektivem für Husserl auch negierbar ist; siehe den Beginn von Abschnitt 5 - spricht er da unterscheidungslos von einer Erfahrung des Objektiven, des Fremden, darunter eben auch des Anderen): „Das Faktum der Erfahrung von Fremdem (Nicht-Ich) liegt vor als Erfahrung von einer objektiven Welt und darunter [Hervorhebung U. M.] von Anderen (Nicht-Ich in der Form: anderes Ich)" (CM, S. 108). Es ist hier gleichsam in der Philosophie, wie es in Kleists berühmten kurzen Text „Über das Marionettentheater" gesagt wird: ,,[W]ie sich der Durchschnitt zweier Linien, auf der einen Seite eines Punkts, nach dem Durchgang durch das Unendliche, plötzlich wieder auf der andern Seite einfindet, oder das Bild des Hohlspiegels, nachdem es sich in das Unendliche entfernt hat, plötzlich wieder dicht vor uns tritt: so findet sich auch, wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist, die [ursprünglich bewusstlose] Grazie wieder ein [...]" (S. 345 der angg. Ausgabe). - Wie sehr und wie lange Husserl mit dem Problem der transzendentalen Intersubjektivität gerungen hat, das dokumentieren die drei umfangreichen Nachlass-Bände Zur Phänomenologie der Intersubjektivität (1905-1920,1921-1928,1929-1935). Husserls Schwierigkeiten, als transzendentaler Idealist, mit der Intersubjektivität verspürten auch Zeitgenossen; E. Ave-Lallemant berichtet über ein Seminar Husserls zum Thema Einfühlung im Sommersemester 1929: „Leider ist hier ein völliger Niedergang eklatant. Er [Husserl] klammert ununterbrochen ein, kennt nur noch die transzendentale Phänomenologie, das reine Ich als ,Urmonade' und macht sich nun natürlich große Sorgen, wie er von dieser Urmonade auch zu den anderen Ichen kommt." (Husserl-Chronik, S. 346.)

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und aus sich wahrhaft objektive Welt konstituieren. Husserl selbst sagt schließlich unversehens (was er in der Krisisschrift bemüht sein wird zurückzunehmen; siehe Fußnote 54): „Das an sich erste Seiende, das jeder weltlichen Objektivität vorangehende und sie tragende, ist die transzendentale Intersubjektivität, das in verschiedenen Formen sich vergemeinschaftende All der Monaden." (CM, S. 160.) Und schon vorher kann man lesen: ,,[J]ede Monade ist reell eine absolut abgeschlossene Einheit. [...] [Und doch] Seiendes ist mit Seiendem in intentionaler Gemeinschaft. Es ist eine prinzipiell eigenartige Verbundenheit, eine wirkliche Gemeinschaft, und eben die, die das Sein einer Welt, einer Menschen- und Sachenwelt, transzendental möglich macht." (CM, S. 132.) Nach meinen eigenen Auffassungen, die ich in Ereignis und Substanz dargelegt habe, stellt dieses Resultat, das weit metaphysischer ist, als Husserl es sich eingestehen will, nun aber keinesfalls eine philosophische Katastrophe dar, sondern jedenfalls eine Annäherung an die Wahrheit, wenn sich auch dabei der Transzendentalismus, der transzendentale Idealismus nicht in Vollständigkeit als haltbar erweist und dabei eben nicht allein aus der „transzendentalen Erfahrung", „aus der ursprünglichsten Evidenz, in der alle erdenklichen Evidenzen gründen müssen" (CM, S. 154), geschöpft wird. Auch in erkenntnistheoretischer Hinsicht ist aber mitnichten „alles verloren". Wenn auch die Welt alles Seienden und insbesondere die (wahrhaft) objektive Welt, auch soweit sie von uns thematisiert werden, nicht vollständig bewusstseinsimmanent sind, und nicht sein können, weil das Bewusstsein selbst als ihm Transzendentes (inklusive Fremdpsychisches) postulierendes und mithin gewissermaßen als sich selbst überschreitendes wesenhaft angelegt ist, 60 so bleibt es doch dabei, dass unser einziger Zugang zur Welt 60

Weil das so ist, ist Husserls der Bewusstseinsimmanenz verpflichtete Deutung des Wahrheitsbegriffs keine überzeugende. Er meint: „Es ist klaii daß Wahrheit bzw. wahre Wirklichkeit von Gegenständen nur aus

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im Medium des Bewusstseins erfolgt. Wenn es auch nicht im Sinne der These 2 * so ist, „ d a ß alles für es [das Ego] Seiende sich in ihm selbst Konstituierendes ist" ( C M , S. 8 6 ) , so lesen wir doch die Welt nirgendwo anders als im Buch unseres Bewusstseins, in der Schrift der zweipoligen Intentionalität, und können die Welt nirgendwo anders oder in anderer Weise lesen, w o r a n m a n bei der Lektüre Husserls immer wieder nachdrücklich erinnert wird, 6 1 und es w ä r e an der Zeit, dass physikalistisch orientierte und sich im Duktus des „die Wissenschaft hat festgestellt" gerierende Philosophen sich der vollen Tragweite dieser elementarsten Grunderkenntnis aller Erkenntnistheorie endlich einmal klar bewusst würden.

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der Evidenz zu schöpfen ist [...] Jedes Recht stammt von da her, stammt also aus unserer transzendentalen Subjektivität selbst, jede erdenkliche Adäquation entspringt als unsere Bewährung, ist unsere Synthesis, hat in uns letzten transzendentalen Grund." (CM, S. 61 f.) Wahrheit (der auf das Meinen bezogene Begriff) bzw. Wirklichkeit (der auf das Vermeinte bezogene Begriff; vgl. CM, S. 57 f.) ist für Husserl so etwas (um seine recht unklaren Formulierungen zu interpretieren) wie im Bewusstseinsverlauf sich evident bewährende bzw. jederzeit evident bewährbare Geltung (des Meinens bzw. des Gegenstands des Meinens), die mit einer ursprünglichen Evidenz anheben mag, oder auch nicht. (Vgl. CM, § 23, § 26 - § 28.) Husserls Wahrheitstheorie ist sozusagen eine kohärenztheoretische Deutung der Adäquationstheorie, die wesentlich vom Evidenzbegriff Gebrauch macht (und damit das Motiv der brentanoschen Wahrheitstheorie integriert; zur Wahrheitstheorie Brentanos vgl. Kutschera, Grundfragen der Erkenntnistheorie, S. 43). Doch wird man sagen müssen, dass Husserl den vollen Sinn des auch phänomenologisch geforderten adäquationstheoretischen Wahrheitsbegriffs verfehlt. Es ist nämlich ein aus dem Bewusstsein selbst erwachsendes Postulat, dass ein Meinen wahr sein könnte, ohne eine Evidenz zu sein, ohne durch eine Evidenz erfüllt werden zu können, ja auch ohne im Zusammenhang mit Evidenzen zu stehen (so wie es auch ein solches Postulat ist, dass ein vermeinter Gegenstand wirklich sein könnte, ohne evident zu sein, ohne evident gemacht werden zu können, ja auch ohne im Zusammenhang mit Evidentem zu stehen). Ganz in diesem guten, vom Idealismus abgelösten husserlschen Sinn schreibt Franz von Kutschera in Die großen Fragen, S. 108 (und man meint beinahe, Husserl selbst zu hören): „All unser Erkennen und Verstehen kann nur eine immanente Auslegung unserer Erfahrungen von der Welt sein. Erfahrung setzt ein Subjekt aber ebenso voraus wie die Wirklichkeit, auf die sie sich bezieht, und keiner dieser beiden Pole der Erfahrung läßt sich auf den anderen reduzieren."

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Ein Appell

In der Krisis der europäischen Wissenschaften, die Husserl trotz all deren ungeleugneten Erfolge sieht und die sich für ihn allgemein im Verlust der sinnvermittelnden Lebensbedeutsamkeit ausdrückt (Krisis, § 2), kommt der Krisis der Psychologie zentrale Bedeutung zu. Husserl spricht von „der Fraglichkeit, an welcher die Psychologie nicht erst in unseren Tagen, sondern schon seit Jahrhunderten krankt, - einer ihr eigentümlichen .Krisis'" (Krisis, S. 3). Worin besteht die Krisis der Psychologie? Es lässt sich mit einem Wort benennen: Subjektivitätsvergessenheit. Es ist dies eine Vergessenheit allererst, und wegen der Auswirkungen am fatalsten, bei der Psychologie, dann aber auch, und nun unkorrigierbar, bei allen anderen Wissenschaften. Wenn aber Subjektivität, und also das Subjekt, vergessen wird, dann ist es nicht anders als zu erwarten, dass die Wissenschaften, einschließlich sogar der Philosophie, über den Sinn von Welt und menschlichem Dasein - d. h. über das, was das Subjekt wirklich angeht - nichts mehr zu sagen haben, und schon gar nichts Überzeugendes. „Man hat der Psychologie [sagt Husserl] die gleiche Objektivität zugemutet wie der Physik, und eben damit ist eine Psychologie im vollen und eigentlichen Sinn ganz unmöglich gewesen; denn für die Seele, für die Subjektivität als individuelle, als Einzelperson und Einzelleben, ebenso wie als gesellschaftlich geschichtliche, als soziale im weitesten Sinne, ist eine Objektivität nach Art der naturwissenschaftlichen geradezu ein Widersinn. Das ist der letzte Sinn des Vorwurfs, den man der Philosophie aller Zeiten machen muß - mit Ausnahme der freilich die Methode verfehlenden Philosophie des Idealismus - , daß sie den naturalistischen Objektivismus nicht überwinden konnte, der von Anfang an eine sehr natürliche Versuchung war und immerfort blieb. Wie gesagt, erst der Idealismus in allen seinen Formen versucht der Subjektivität als Subjektivität habhaft zu werden und dem gerecht zu werden, daß Welt nicht anders dem Subjekt und Subjektgemeinschaften gegeben ist denn als die ihr mit jeweiligem Erfahrungsinhalt subjektiv relativ geltende, und als eine Welt, die in der Subjektivität und von ihr her immer neue Sinnverwandlungen annimmt,

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und daß auch die apodiktisch verharrende Überzeugung einer und derselben Welt als sich in wechselnder Weise subjektiv darstellender eine rein in der Subjektivität motivierte ist, deren Sinn Welt selbst, wirklich seiende Welt, die Subjektivität, die ihn zustande bringt, nie überschreitet." (Krisis, S. 271 f.) Die moderne Philosophie des Geistes hat demgegenüber das Subjekt und die Subjektivität weitgehend vergessen·, sie weiß weithin gar nicht mehr, was das eigentlich ist: Subjektivität. Das gilt auch für die wenigen noch verbliebenen psycho-physischen Dualisten. David Chalmers beispielsweise hat, ungeachtet seiner pan-psychistischen Spekulationen,62 doch ein reichlich reduziertes Bild des Bewusstseins, versteht er es doch, im Effekt, als nichts weiter als eine epiphänomenale Einfärbung der physischen Tatsachen. Es ist bezeichnend für die neue dogmatische Verdunkelung, in die die Philosophie immer weiter hineinfährt, dass Chalmers dennoch damit, nämlich mit so wenig, die etablierte physikalistische Orthodoxie zu einem nicht unbeträchtlichen Aufschrei gereizt hat. Das großartige Projekt einer umfassenden Bewusstseinshermeneutik,63 das Husserl im § 41 der Cartesianischen Meditationen entwirft: „die echte phänomenologische Auslegung des ego cogito" {ebd., S. 85), „eine universale Phänomenologie als eine in steter Evidenz und dabei in Konkretion durchgeführte Selbstauslegung des Ego" {ebd., S. 88), die dabei auch explizieren würde, in welchem Sinne das aristotelische Wort richtig ist, dass die Seele gewissermaßen alles ist64 - von diesem Projekt spricht, dass ich wüsste, kein so genannter „Philosoph des Geistes", und daran arbeitet, dass ich wüsste, schon gar nicht irgendeiner. Deshalb sollte die moderne Philosophie des Geistes vielleicht eher „Philosophie des Un-Geistes" heißen, könnte man mit böser Zunge bemerken. Eine ernstliche und weitverbreitete Beschäftigung mit dem Werk Husserls, der sein philosophisches Leben der 62 63

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The Conscious Mind, S. 2 9 3 - 3 0 1 . Husserl selbst sagte in einem Vortrag im Jahre 1931 den Satz: „Echte Bewusstseinsanalyse ist sozusagen Hermeneutik des Bewusstseinslebens". (Zur Phänomenologie der Intersubjektivität, 3. Band, S. XLVII.) De anitna, III, 8, 431 b 21, S. 184 der angg. Ausgabe.

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Aufgabe widmete, aus der Innenperspektive den Phänomenen der Welterfahrung begrifflich nachzugehen, und diese Aufgabe redlich erfüllte, wäre geeignet, die in die totale SubjektivitätsVergessenheit führende gegenwärtige philosophische Fehlentwicklung zu korrigieren, ohne dass man deshalb gleich ein transzendentaler Idealist werden müsste. Betrachtet man aber die Fiebrigkeit, mit der die meisten modernen Philosophen des Geistes die baldige materialistische Auflösung des größten philosophischen Rätsels herbei beschwören und schon im Voraus feiern, und die Inertheit der meisten heutigen Phänomenologen, die oft zu bloßen HusserlPhilologen degeneriert sind, und schließlich die weithin gegebene Ignoranz und Gleichgültigkeit beim allgemeinen philosophischen Publikum gegenüber einem der größten Philosophen, insbesondere als Philosophen wahrer Subjektivität, dann sind die Aussichten dafür nicht eben günstig einzuschätzen. Möge es aber anders kommen: „Es muss auf Husserl zurückgegangen werden." 65

Literatur Aristoteles, 1995, Ober die Seele (De attima), griechisch und deutsch, hrsg. von H. Seidl, Hamburg: Meiner. Augustinus, Α., 1979, Der GottesstaatIDe Civitate Dei, lateinisch und deutsch, Bd. II, Paderborn: Schöningh. Beckermann, Α., 1999, Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, Berlin/New York: De Gruyter. Berkeley, G., 4 1980, The Principles of Human Knowledge, in Berkeley's Philosophical Writings, hrsg. von D. M. Armstrong, New York/London: Collier. Boyd, R., 1996, Realism, Approximate Truth, and Philosophical Method, in: Papineau, D. (Hrsg.), The Philosophy of Science, Oxford: Oxford University Press, 215-255. Chalmers, D., 1997, The Conscious Mind. In Search of a Fundamental Theory, Oxford/New York: Oxford University Press.

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Das Vorbild dieses Rufes findet sich in Otto Liebmann, Kant und die Epigonen, S. 2 1 5 : „Es muß auf Kant zurückgegangen werden."

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Glossar FREDERIK H E R Z B E R G , U W E M E I X N E R UND A L B E R T N E W E N

Apperzeption Oft als „Selbstbewusstsein" übersetzt, spielt Apperzeption insbesondere bei Leibniz und Kant eine große Rolle. Leibniz unterscheidet die bewusste ,Apperzeption' von der unbewussten .Perzeption'. Kant dagegen unterscheidet die ,empirische' Apperzeption (,innerer Sinn', empirisches Selbstbewusstsein) von der transzendentalen' oder »reinen' Apperzeption. Letztere verknüpft sämtliche Vorstellungen des Subjekts und schafft so die bewusstseinsmäßige Einheit der Vorstellungen. Damit ist sie Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung. Behaviorismus Ursprünglich handelt es sich beim Behaviorismus um eine von W. McDougall und J. B. Watson (1912/13) begründete methodische Richtung der Psychologie, die keine Introspektion, sondern ausschließlich die Auswertung objektiv beobachtbaren Verhaltens zulässt. Mentale Zustände ließen sich demgemäß nur mit Hilfe von beobachtbaren Reizen und damit einhergehenden Reaktionen beschreiben. Im philosophischen Behaviorismus (etwa von G. Ryle) wird behauptet, dass alle mentalen Zustände auf Verhaltensdispositionen zurückführbar sind. Demiurg (griech.: Handwerker, Künstler) Der Ausdruck wird von Piaton (in seinem Dialog Timaios) im Sinne von „Schöpfergott" gebraucht. Der Demiurg unterscheidet sich vom christlichen Schöpfer, der alles aus dem Nichts erschafft, dadurch, dass er lediglich ein bereits vorhandenes Chaos geordnet hat.

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Frederik Herzberg, Uwe Meixner und Albert Newen

Disposition Die Fähigkeit bzw. das Vermögen von Gegenständen, unter bestimmten Umständen gewisse Eigenschaften zu manifestieren. Dispositionen sind ζ. B. die Zerbrechlichkeit eines Glases oder die Löslichkeit (einer chemischen Substanz) in Wasser; aber auch mentale Eigenschaften wie Jähzorn sind Dispositionen. Eigenschaftsdualismus Eigenschaftsdualistische Positionen zeichnen sich durch die These aus, dass mentale Eigenschaften von physischen Eigenschaften verschieden und erstere nicht auf letztere reduzierbar sind. Die These des Eigenschaftsdualismus ist schwächer als die des * Substanzdualismus. Eliminativer Materialismus Der eliminative Materialismus (etwa von P. M. Churchland) vertritt die Grundannahme, dass mentale Phänomene neurophysiologische Zustände sind, die sich durch eine wissenschaftliche Psychologie bzw. Neuro Wissenschaft vollständig erfassen lassen. Die mentalen Prädikate der Alltagssprache treffen dagegen nur wissenschaftlich irrelevante Unterscheidungen. Der eliminative Materialismus fordert daher die Elimination der Alltagsbegriffe für Mentales aus dem wissenschaftlichen und philosophischen Sprachgebrauch. Entität eine Entität ist alles, was im weitesten Sinne existiert. Unter den Begriff der Entität fallen also nicht nur materielle Körper, sondern ebenso Eigenschaften, Relationen, Mengen, Zahlen, Vorstellungen etc. Epipbänomenalismus Als Epiphänomenalismen bezeichnet man solche Theorien in der Philosophie des Geistes, die mentale Zustände als bloße Begleiterscheinungen (,Epiphänomene') neurophysiologischer Prozesse betrachten. Weil hierdurch insbesondere kausale Wirkungen mentaler Prozesse auf physikalische bestritten werden, stellt sich

Glossar

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für epiphänomenalistische Theorien nicht das Problem der mentalen Verursachung. Funktionalismus Der im wesentlichen auf H. Putnam und W. Sellars zurückgehende Funktionalismus in der Philosophie des Geistes stellt eine Fortentwicklung des *Behaviorismus dar. Ihm zufolge sind mentale Zustände funktionale Zustände. Funktionale Zustände eines Systems wiederum sind jene Zustände des Systems, die vollständig durch ihre kausale Rolle in dem System beschrieben werden können, d. h. durch die Relationen zwischen Reizen (inputs) und Reaktionen (outputs) sowie durch die kausalen Relationen zu anderen funktionalen Zuständen des Systems. Hyletnorphismus Der Hylemorphismus ist die ursprünglich aristotelische, von der Scholastik aufgenommene Lehre, dass jede konkrete Substanz eine Verbindung von Form und Materie ist. Identitätstheorien Vertreter von Identitätstheorien eint die These, dass mentale Zustände mit physischen Zuständen identisch sind. Es werden zwei Grundversionen unterschieden: Die Typen-Identitätstheorie besagt, dass alle Typen mentaler Zustände mit Typen physischer Zustände identisch sind. Mit einer Vorkommnis-Identitätstheorie wird behauptet, dass jedes Vorkommnis (auf Englisch: "'token) eines mentalen Zustande mit einem Vorkommnis eines physischen Zustands identisch ist. Intentionalität Das Gerichtetsein eines mentalen Zustands auf ein Ereignis oder allgemeiner ein Objekt, ζ. B. Angst vor etwas, Glauben an etwas, Hoffnung auf etwas etc. F. Brentano hat den Begriff der Intentionalität eingeführt, um einen nach seiner Auffassung grundsätzlichen, irreduziblen Unterschied zwischen mentalen und physischen Phänomenen zu benennen.

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Frederik Herzberg, Uwe Meixner und Albert Newen

Kategorialer Fehler, Kategorienfehler Einen Kategorienfehler begeht, wer einen Ausdruck eines unpassenden logischen Typs in eine Aussageform einsetzt, ζ. B. „Peter traf gestern den Durchschnittssteuerzahler" statt „Peter traf gestern Hans". Nach Ryle liegen solche Fehler in der Alltagsrede über mentale Entitäten vor; dabei würden Ereignisse und Dispositionen miteinander verwechselt. Kausale Geschlossenheit Die Behauptung, dass physikalische Ereignisse nur physikalische Ereignisse als Ursachen haben können, wird oft als These von der kausale Geschlossenheit der physikalischen Welt bezeichnet. Häufig bekommt diesen Namen auch die schwächere These, dass jedes physikalische Ereignis, das eine Ursache hat, ein physikalisches Ereignis als Ursache hat. Knowledge by acquaintance (engl.: Wissen durch Bekanntschaft) Russell unterscheidet zwischen dem Wissen um Wahrheiten und dem Wissen um Dinge. Bei letzterem differenziert er zwischen einem direkten Wissen durch Bekanntschaft (knowledge by acquaintance) und einem indirekten Wissen durch Beschreibung (knowledge by description). Ein Wissen durch Bekanntschaft besitzen wir, so Russell, nur vom Inhalt unserer mentalen Zustände, von abstrakten Universalien und möglicherweise von uns selbst. Alles Wissen über die externe Welt ist uns dagegen indirekt, als Wissen durch Beschreibung, gegeben. Eine mögliche Beschreibung in diesem Sinne ist ζ. B. „die Ursache meiner gerade vorliegenden Sinneserfahrung". Mentale Verursachung und das Problem der mentalen Verursachung Mentale Verursachung nennt man insbesondere die Verursachung eines physischen Ereignisses (ζ. B. einer Körperbewegung) durch ein mentales Ereignis (ζ. B. durch ein Vorkommnis von Wut, Zorn oder Freude). Das Problem der mentalen Verursachung besteht in der folgenden Feststellung:

Glossar

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(1) Die Annahme eines Dualismus von mentalen und physischen Zuständen in Verbindung mit (2)

der These der ""kausalen Geschlossenheit (die Ursache eines physischen Ereignisses kann nur ein physisches Ereignis sein)

schließt aus, dass es mentale Verursachung gibt. Wenn man an der mentalen Verursachung festhalten möchte, muss man also eine der beiden Annahmen (1) oder (2) aufgeben. Mereologie Als Mereologie bezeichnet man allgemein die Theorie von Teil und Ganzem. S. Lesniewski entwickelte Anfang des 20. Jh. eine gleichnamige Theorie als Alternative zu der von B. Russell eingeführten Typentheorie. Besondere ontologische Relevanz erhält die Mereologie dadurch, dass sie im Gegensatz zur gewöhnlichen extensionalen Mengenlehre nicht zwischen der Element-Relation und der Teil-Ganzes-Relation unterscheidet, sondern die ElementRelation als speziellen Fall der Teil-Ganzes-Relation ansieht. Monismus Als Monismus bezeichnet man die Gegenposition zu einem Dualismus bzw. allgemeiner zu einem Pluralismus. Ein physikalischer Monist vertritt die These, dass alle Phänomene physikalische Phänomene sind, während ein mentaler Monist (ontologischer Idealist) behauptet, dass alle Phänomene mentale Phänomene sind. Materialismus, Physikalismus Unter Materialismus bzw. Physikalismus versteht man einen physikalischen * Monismus bzw. gewisse Abschwächungen dieser These (siehe * Physikalismus, reduktiver und nicht-reduktiver). Ein Vertreter des Physikalismus behauptet, dass die Tatsache, dass ein Mensch einen mentalen Zustand hat, aus der Tatsache, dass er bestimmte physische Zustände hat, zusammen mit den geltenden Naturgesetzen folgt. Im Allgemeinen gebraucht man die Termini „Materialismus" und „Physikalismus" synonym. Allerdings hat sich der Begriff „Physikalismus" durchgesetzt, weil nicht alle physikalischen Phänomene materielle Phänomene sind.

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Frederik Herzberg, Uwe Meixner und Albert Newen

Multiple Realisierbarkeit Ein und derselbe Typ von mentalem Zustand kann durch verschiedene Typen physischer Zustände realisiert werden. Auf die Möglichkeit der multiplen Realisierung wurde von H. Putnam als Argument gegen die * Identitätstheorien und für den "'Funktionalismus hingewiesen. Neuplatonismus Als Neuplatonismus bezeichnet man eine auf Plotin und dessen Lehrer Ammonios Sakkas zurückgehende, überwiegend Piaton rezipierende philosophische Schule des 3. - 6. Jh. n. Chr., und zwar in Abgrenzung zum ebenfalls stark an Piaton orientierten, früheren Mittelplatonismus (etwa 50 v. Chr. - 250 n. Chr.). Ein Grundproblem sah der Neuplatonismus darin, eine ganzheitliche Weltsicht mit dem platonischen Dualismus von Sinnlichem und Übersinnlichem zu verbinden. Noesis (griech. das Denken) Noesis bezeichnet allgemein den Denkakt im Unterschied zu den Noema, den Gegenständen des Denkens. Im engeren Sinne steht „Noesis" für einen intuitiven, direkten Akt der Erkenntnis, wohingegen „Dianoia" einen diskursiven, indirekten Erkenntnisakt - etwa beim Führen eines mathematischen Beweises - bezeichnet. E. Husserl hat diese Begriffe in seiner Phänomenologie aufgegriffen und systematisch verwendet. Physikalismus, reduktiver und nicht-reduktiver Während der reduktive Physikalismus (ζ. B. *eliminativer Materialismus, *Behaviorismus) mentale Phänomene auf physische Phänomene zurückzuführen versucht, bezweifelt der nicht-reduktive Physikalismus gerade diese Möglichkeit bzw. behauptet, dass es unmöglich ist. Zentrale Begriffe im nicht-reduktiven Physikalismus sind *Supervenienz und "'multiple Realisierbarkeit. Beispiele für nicht-reduktive Physikalismen sind der * Funktionalismus oder der anomale Monismus von D. Davidson, wobei letzterer eine Vorkommnis-Identität zwischen mentalen und physischen Zuständen behauptet. (Siehe auch * Materialismus.)

Glossar

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Substanzdualismus, Cartesischer Descartes zufolge handelt es sich bei Geist und Körper um grundverschiedene Arten von Substanzen. Die vorrangige Bestimmung des Geistes ist nach Descartes das Denken, die des Körpers die Ausdehnung - daher bezeichnet er sie als res cogitans bzw. res extensa. Geist und Körper stehen gemäß dem Cartesischen Substanzdualismus in einer gegenseitigen kausalen Interaktion. Supervenienz Eine Menge Β von Eigenschaften superveniert über einer Menge Α von Eigenschaften genau dann, wenn allgemein gilt: Wenn zwei Objekte dieselben Α-Eigenschaften haben, dann haben sie auch dieselben B-Eigenschaften; anders formuliert: wenn zwei Objekte verschiedene B-Eigenschaften haben, dann haben sie auch verschiedene Α-Eigenschaften. In diesem Sinne (und in weiteren Varianten) wird von der Supervenienztheorie in der Philosophie des Geistes die Supervenienz mentaler Eigenschaften über physischen Eigenschaften behauptet. Transparenz des Geistes Die These von der Transparenz des Geistes besagt: Wenn ich mich in einem bestimmten mentalen Zustand befinde, weiß ich auch, dass ich mich in diesem mentalen Zustand befinde. Insbesondere im Anschluss an S. Freuds Arbeiten zum ,Unbewussten' ist die Allgemeingültigkeit bestritten worden. Auch die schwächere These, die nur einen privilegierten Zugang des Individuums zu seinen mentalen Zuständen behauptet, ist an prominenter Stelle kritisiert worden, etwa von L. Wittgenstein und G. Ryle. type - token Bei Schriftzeichen unterscheiden wir das raumzeitliche Vorkommnis (token) eines Zeichens von dem Typ (type) des Zeichens. Dies können wir am Beispiel von Vorkommnissen von Schriftzeichen verdeutlichen: a , a , b , A , Α. In der letzten Zeile stehen fünf verschiedene Vorkommnisse. Wenn wir diese Vorkommnisse gemäß ihrem Charakter als Buchstaben

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Frederik Herzberg, Uwe Meixner und Albert Newen

zu Typen zusammenfassen, dann stellen wir fest, dass es sich um vier Vorkommnisse des ersten Buchstabens und ein Vorkommnis des zweiten Buchstabens unseres Alphabets handelt. Wenn wir jedoch bei der Klassifikation in Typen auch noch die Groß- und Kleinschreibung berücksichtigen, so handelt es sich um zwei Vorkommnisse des Typs Kleinbuchstabe a, um zwei Vorkommnisse des Typs Großbuchstabe Α und ein Vorkommnis des Typs Kleinbuchstabe b. Wenn wir zur Klassifikation nur den Typ Buchstabe verwenden, so handelt es sich um fünf Vorkommnisse dieses Typs. Damit wird deutlich, dass die Klassifikation von Vorkommnissen unter Typen eine Frage der gewählten Klassifikationsmerkmale ist, die einen Typ auszeichnen. Die Unterscheidung von Vorkommnis und Typ wird in der Philosophie nicht nur bei Schriftzeichen, sondern allgemein verwendet. Lexika Audi, R. (General Editor), 1995, The Cambridge Dictionary of Philosophy, Cambridge (UK): Cambridge University Press. Blackburn, S., 1994, The Oxford Dictionary of Philosophy, Oxford, New York, Oxford University Press. Guttenplan, S., 1994, A Companion to the Philosophy of Mind, Cambridge (Mass.), Oxford (UK): Blackwell. Honderich, Τ., 1995, The Oxford Companion to Philosophy, Oxford, New York: Oxford University Press. Mittelstraß, J. (Hrsg.), 1980 - 1996, Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Mannheim (u.a.): Bibliographisches Institut. Ritter, J. (Hrsg.), 1971 - 2001, Historisches Wörterbuch der Philosophie, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Einführende Literatur zur Philosophie des Geistes Beckermann, Α., 1999, Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, Berlin, New York: de Gruyter. Newen, Α., Savigny, E. von, 1996, Einführung in die Analytische Philosophie, München: Fink Verlag, Kapitel 10. Pauen, M., 2001, Grundprobleme der Philosophie des Geistes. Eine Einführung, Frankfurt: Fischer.

Sachindex Abstraktion 41 Abstraktionstheorie 116f Agenskausalität 7, 365 Aktuale, formale Existenz 177ff Akzidentien, Akzidens 42, 53, 96f, 99f, 114f, 139f Anima - intellective 134f - nutritive 34f, 134 - rationalis 34, 135 - sensitiva 34, 92f, 134 Anschauung 118, 289ff, 294, 297ff, 305 Anti-Realismus siehe unter Realismus Aporie 73, 76, 102 Apperzeption 288, 290ff, 294, 296, 299, 302, 389 empirische - 291, 295, 389 transzendentale - 288,294,296f, 304ff, 389 Appräsentation 378f A priori/a posteriori 233, 260 Außenwelt 64, 84f, 137, 213, 321, 326, 331 Begleitbewusstsein 83f Begriff 58f, 62f, 65-70, 79, 84, 102, 125, 137, 143, 145f, 216f, 220, 222f, 298ff, 304f Begrifflich-propositionales Denken 65 Begriffsgehalte 62 Begriffswelt siehe Ideenwelt Begriffswissen 58, 116 Behaviorismus 31, 36f, 365, 389, 391 Bewusstsein 60, 62, 77, 81, 83f, 101, 109ff, 237ff, 252-256, 272-275, 278ff, 285f, 289,291f, 294f, 297f,

300ff, 304,308,317ff, 327f, 332, 340-346, 360, 383, 385 Bewusstseinsimmanenz, sowie bewusstseinsimmanente Transzendenz 327f, 330, 333f, 336, 360, 368, 371ff, 377, 382 Bewusstseinskorrelat siehe Intentionales Korrelat Bewusstseinsmedium 327, 331, 360f Bewusstseinstranszendenz 373f, 377, 381f Bündeltheorie 268ff, 276 Causa formalis, Formursache 105, 139 Cogitatio 102, 104,107, 109, 117ff, 327, 337f Cogito 103, 107, 155ff, 203, 338ff, 385 Das Eine (to hen) 57, 80f Das Große Wort 369f Definite Mannigfaltigkeit 350 Demiurg 16ff, 60f, 389 Denken 39, 58, 65f, 72-75, 77, 79ff, 92f, 102f, HOf, 114,116ff, 126ff, 134,136ff, 146f, 149ff, 155,200, 213 Derivat 58 Derivationstheorie 57, 67ff Disposition 25-33, 49, 389f Dreifaltigkeit siehe Trinität Dualismus, dualistisch 21ff, 25, 28, 35f, 46f, 49, 53, 125-128, 130133, 138, 316f, 319, 342, 360f, 363, 367, 393 cartesianischer,cartesischer-309, 318, 342, 363, 389, 395 psycho-physischer - 310, 319, 362, 385

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Sachindex

(siehe auch Eigenschaftsdualismus) (siehe auch Substanzdualismus) Ego, sowie transzendentales Ego 84, 334, 338, 361ff, 367ff, 371f, 374, 385 (siehe auch Ich) Eigenschaften 57, 67, 85f, 136, 143, 145f, 202, 222, 390, 395 kontingente - 159f wesentliche - 159f Eigenschaftsdualismus 22f, 390 Einbildungskraft 256f, 269, 275, 282 Eindrücke („impressions") 237-241 (siehe auch Sinneseindrücke) Emanation 119 Ens a se 7f, 15 Epiphänomen, epiphänomenal 212f, 361, 390f Epoche 352, 361, 369 Ereignis 28f, 32, 58, 85, 145 Erfahrung 58, 64, 88, 146, 148, 233, 236f, 287,283f, 296f, 300f, 304f, 326, 378f Ergon, charakteristische Tätigkeit oder Funktion 24-27, 36, 3845, 48-53 Erkenntnis, erkennen 59, 61, 63ff, 71 f, 103, 126, 132f, 135f, 140, 146, 217f, 220, 222f, 233, 282, 286, 288f, 294, 297ff, 301f Erkenntnistheorie, erkenntnistheoretisch 81,116f, 132,235,321-326, 351,382f Erklärung 28f, 3 2 , 5 8 , 1 2 9 , 1 3 1 , 1 3 4 , 142, 144f, 320f, 336 Schluss auf die beste - 233, 323f Evidenz 373, 378, 382f Existenz 68, 85, 104ff, 109, 115, 138, 203, 209, 249-258 Form (morphe)/Materie (hyle) 2327, 42f, 47-53, 125, 127f, 131, 133ff, 137-143, 145, 147f - des Bewusstseins 343, 345 (siehe auch Hylemorphismus)

Formale Existenz siehe Aktuale Existenz Fremdpsychisches, fremder Geist 85, 197, 227, 371, 374-382 Funktionalismus 31, 35-39, 41, 4346, 50, 364f, 391, 394 Gedächtnis 93f, 107f, U l f , 114119 Gegenstand siehe Objekt Gehalt, Inhalt 62f, 65f, 229, 340 intentionaler - 338, 340 Gott 16ff, 60,90f, 96,104f, 108,113, 119f, 129, 147, 213ff, 322f Gotteserkenntnis 14ff, 91, 94f, 98, 104, 116, 118 Handlung 29ff, 33, 59, 150 Hylemorphismus 23ff, 39, 41, 49, 85, 87, 125, 127f, 134, 141f, 144, 146,148-151, 391 Ich, sowie transzendentales Ich 65, 78, 84,157f, 165,201,232,266276, 278, 283, 285ff, 295, 302f, 305, 361f, 365, 367ff (siehe auch Ego) Idealismus 84, 109f, 120, 316, 332f, 352f, 361, 382 transzendentaler - 333, 370f, 373, 386, 393 (siehe auch Transzendentalphilosophie) Ideen lOf, 59-64, 66, 69f, 110, 126, 148, 167-196, 215f Ideenwelt, intelligible Welt 63, 68 Ideenwissen 57, 61, 82 Identität 11, 37f, 44, 46ff, 58, 65, 76, 79, 86, 108f, 114, 119, 128, 258-263, 269f, 291, 297 numerische - 258-261, 295 personale - siehe Personale Identität qualitative - 261f, 295 (siehe auch Quasi-Identität) Identitätstheorie 37ff, 41, 47, 391, 394 Implikationsverhältnis 67 aktuelles - 67 potentielles - 67

Sachindex Inhalt siehe Gehalt Instrumentalismus 355f Intellectus 130 - agens 116, 118, 150 - passivus 148 Intellegentia 109, l l l f , 112, 114119 Intellekt 57-61,64-70,73-76, 78-82, 93,126,128,130,132,134-138, 141, 144, 146-150 göttlicher - 215, 224, 229 Intentionales Korrelat 303, 335, 338, 373f Intentionalität, intentional 100,143, 327, 336-345, 391 Interdependenz 59, 66, 69, 76 Interne/externe Repräsentation 179ff Intersubjektivität 371f, 375f, 380f Intrinsische Relationalität des Bewusstseins 327f, 330, 360 Introspektion 29, 36 Isomorphic 63 Kategorialer Fehler, Kategorienfehler 128, 392 Kausale Geschlossenheit 28, 392f Kausalität, kausal 28f, 32, 37, 142, 364ff, 392f (siehe auch Agenskausalität) Knowledge by aquaintance 217, 392 Körper Körperliches 26f, 38, 44, 48, 50,78,84f, 87,125-138,140-147, 149ff, 204ff, 362-366, 378 Konstitution 57, 128f, 140, 142, 334, 370f, 376, 380 Kopenhagener Deutung (der Quantentheorie) 352f Lebenswelt 351-354, 366 Leib 25ff, 44, 49f, 85-88, 124, 127f, 131, 150 Leib-Seele-Problem 20, 23, 36, 38, 47, 49, 85-88, 92,106,159-167, 321, 326 Materialismus, materialistisch lOff, 25, 35-39, 41, 46f, 49, 85, 125130, 132f, 142, 145, 309, 351, 363,393f

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eliminativer - 21, 31, 332, 390 reduktiver - 21, 31, 127 Materie, materiell 4, 18, 24-27, 40, 44f, 48,50ff, 60,127ff, 131,133, 136, 139-143, 145, 147f (siehe auch Form/Materie) Materielle Bedingungen für Mentales 2Iff, 25-28, 35, 37-40, 45, 48 Materielle Existenz 105f, 108 Memoria siehe Gedächtnis Mens humana, menschlicher Geist 94f, 98, 100, 102, 104ff, 108, 110-117, 119f Mereologie, mereologisch 74, 76, 80, 393 Metaphysik 57, 346ff, 356, 359, 374, 379, 381f (siehe auch Nous-Metaphysik) Mittelplatonismus 58ff, 89, 394 Modus 159 Monadenrealismus 376, 381f Monismus 21, 25, 35, 393 Multiple Realisierbarkeit 36f, 4045, 394 Natur 312, 315, 350, 354, 360 Naturalismus 312, 317, 366, 384 Neuplatonismus 58, 91, 95, 98, 118,394 Noesis, noetisch 65, 70, 76, 81, 394 Nous-Metaphysik 58ff, 63, 68f, 81, 110 Objekt, sowie intentionales Objekt 60-66, 70-73, 75f, 142f, 148, 258f, 326f, 350, 360f Objektive Existenz 177ff Objektiver Standpunkt 103, 220ff Objektivismus 310ff, 314-326, 328, 333, 345f, 35Iff, 356, 361, 363, 366, 384 Objektivität, objektiv 315f, 319ff, 327f, 331, 333-336, 349f, 352f, 355, 375ff Ontologie 262f, 281 Person 59, 78, 83, 96ff, 225f Personale Identität 257, 285, 304

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Sachindex

Perzeption(en) 176,247f, 266f, 252f, 237f, 288, 300, 305, 329 Phänomenologie 308, 385, 394 transzendentale - 308, 313, 321, 334, 336, 373, 375, 377 Physik, physikalisch 145, 316, 320, 345-349, 353, 355-360, 384 Physikalismus 21f, 37f, 47, 309ff, 319, 332, 346-349, 356f, 360f, 363, 385, 393 nichtreduktiver - 21, 31, 394 Qualia 341, 343 Qualitäten 136, 142, 266, 245f, 258f Quantentheorie 352 (siehe auch Kopenhagener Deutung) Quasi-Identität 177f Realismus 64, 110 immanenter, sowie interner - 304, 357 wissenschaftlicher - /Anti-Realismus 325, 347, 353-359 (siehe auch Monadenrealismus) Reflexionsakt 94, 103, 117 Reflexionsmodell 73, 75, 102f Repraesentans/Repraesentatum 176ff Repräsentation 340 mentale - 167-196 Res cogitans/res extensa 85, 88,109, 159ff, 267, 346, 363, 367, 395 Seele, Seelisches 2f, 5f, 8f, 12, 26ff, 34f, 38f, 42ff, 48, 50f, 53, 57, 65, 68, 82f, 85-88, 91, 93, 95f, 106, 115-120, 124-136, 138141, 144, 147-151, 211, 289, 299, 362-366, 385 (siehe auch Anima) Se nosse, sowie se cogitare 102f, 105, 107-110, 112f, 115, 117f Selbst 2 , 1 0 2 , 107, 285ff, 289, 291f, 297, 305, 371 Selbstbewusstsein 57, 59, 70-75, 7783,88f, 95,102f, 114,155ff,285f, 289, 29Iff, 297, 302ff

Selbstbezug 100-103, 106-111, 114, 116f Selbsterkenntnis 73-84, 88, 90, 94f, 98, lOOf, 105, 116ff, 197 Selbstidentifikation 102f Selbstliebe 99f, 113, 116 Selbstwissen 75, 78, 81-84, 112, 116 Sich-selbst-Denken 73ff, 77, 79ff Sinne 64 Sinneseindrücke 64, 85 Skepsis, sowie Skeptizismus 64, 71, 89, 103, 232, 323, 349, 356, 360 Solipsismus, sowie transzendentaler Solipsismus 374-377, 380 Subjekt 64ff, 70-73, 75f, 84, 94, 96, 110, 229, 288, 290, 303, 306, 326f, 342, 35Of, 360f, 363, 368, 384f Subjektiver Standpunkt 104, 220ff Subjektivität 57, 59, 81f, 84f, 88f, 95, 109, 120, 316, 363, 372, 384ff Subsistenz, subsistent 135f, 138141, 150 Substantialität, substantial 99ff, 133f Substantiell/akzidentiell, sowie substantielle/akzidentelle Form 41ff, 53, 99, 116ff, 246, 274 Substanz 6 6 , 1 6 6 , 96f, 9 9 , 1 0 0 , 1 1 5 , 126, 141, 228, 242f, 289f, 391 Modus und - 201, 244ff Substanzdualismus 22f, 52f, 166, 198, 342, 362, 395 Substanzmodell, Substanztheorie 228, 242-246, 266ff Supervenienz 53, 394f Synthesis 66, 288, 294ff, 305 Tat tvam asi siehe Das Große Wort Teleologie 39f, 48, 51 Tode ti 139 Transparenz des Geistes 198, 227, 264ff, 395 Transzendentalphilosophie, Transzendentalismus 308, 313-317, 319-322, 325f, 328, 333, 335f,

Sachindex 345, 351, 355, 360, 373f Trinität 95f, 98-101, 111, 114ff, 118f Trinitätsschau 96, 98 Ursache im aristotelischen Sinn 32, 40 Urteil 104 Vermögen (dynamis) / Verwirklichung (energeia) 24-28, 38f, 44, 46-49, 67f Verstand 288, 293, 301 (siehe auch Intellekt) (siehe auch Intellectus) (siehe auch Intellegentia) Vierursachenlehre siehe Ursache im aristotelischen Sinn Voluntas 109, 111-119, 150 Vorstellung 61, 64, 238ff, 242ff, 248ff, 288, 291f, 294ff, 305, 332

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Vorstellungsbilder 137f, 146, 149, 151 Vorstellungsvermögen 137 Wahrheit 323, 382f Wahrnehmung 33f, 46f, 285f, 299, 338 379 Welt 136, 138, 336, 350, 360ff physische - 308, 320 sinnlich wahrnehmbare - 57-60, 66f, 79 (siehe auch Außenwelt) (siehe auch Ideenwelt) Weltseele 17, 57 Wille 113, 119, 150 (siehe auch Voluntas) Wissen 61ff, 65, 69, 78, 81-84, 93, 108-111, 117, 119, 209ff, 223f (siehe auch Knowledge by acquaintance) Ziel 38-41, 44, 48, 51f

Liste der Autoren Priv. Doz. Dr. Johannes Brachtendorf, Philosophisches Seminar, Universität Tübingen, Bursagasse 1, D-72070 Tübingen Prof. Dr. Christoph Horn, Philosophisches Seminar LFB I, Universität Bonn, Am Hof 1, D-53113 Bonn Prof. Dr. Andreas Kemmerling, Philosophisches Seminar, Universität Heidelberg, Schulgasse 6, D-69117 Heidelberg Prof. Dr. Franz von Kutschera, Institut für Philosophie, Universität Regensburg, D-93040 Regensburg Prof. Dr. Michael-Thomas Liske, Katholisch-Theologische Fakultät, Lehrstuhl für Philosophie, Universität Passau, D-94030 Passau Apl. Prof. Dr. Uwe Meixner, Institut für Philosophie, Universität Regensburg, D-93040 Regensburg Priv. Doz. Dr. Albert Newen, Philosophisches Seminar LFB III, Universität Bonn Lennestraße 39, D-53113 Bonn Prof. Dr. Dominik Perler, Philosophisches Seminar, Universität Basel, Nadelberg 6-8, CH-4051 Basel Prof. Dr. Christof Rapp, Institut für Philosophie, Humboldt-Universität zu Berlin, Unter den Linden 6, D-10099 Berlin Prof. Dr. Christiane Schildknecht, Philosophisches Seminar LFB I, Universität Bonn, Am Hof 1, D-53113 Bonn