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German Pages 368 [321] Year 1987
V&R
KURT NOWAK
Schleiermacher und die Frühromantik Eine literaturgeschichtliche Studie zum romantischen Religionsverständnis und Menschenbild am Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland
Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Nowak, Kurt: Schleiermacher und d i e F r ü h r o m a n t i k : e. literaturgeschichtl. Studie zum romant. Religionsverständnis u. Menschenbild am Ende d . 18. Jh. in Deutschland/Kurt N o w a k . — Göttingen: V a n d e n h o e c k und Ruprecht, 1986 ISBN 3-525-55404-4
Printed in the German Democratic Republic © Hermann Böhlaus Nachfolger • W e i m a r 1986 Lizenzausgabe V a n d e n h o e c k & Ruprecht, Göttingen 1986 Gesamtherstellung: IV/2/14 V E B Druckerei „Gottfried W i l h e l m Leibniz", 4450 Gräfenhainichen/DDR - 6287
INHALTSVERZEICHNIS
GELEITWORT
. . . . •
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EINLEITUNG
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Schleiermacher als Problem der deutschen Literaturgeschichtsschreibung seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts . . .
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I. „Leben Schleiermachers" und „Romantische Schule" II. Schleiermacher in Gesamtdarstellungen der Romantik 2wischen 1870 und 1945 • III. Ältere Einzelforschungen IV. Gesamtaufrisse seit 1945 V. Neuere und neueste monographische Literatur VI. Erwägungen zur literarhistorischen Neuerschließung Schleiermachers . ERSTES
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KAPITEL
Zum historisch-sozialen Hintergrund der Frühromantik
. . .
I. Stellung der Frühromantik im Zeitalter der Französischen Revolution . II. Die ästhetische Revolution 1. Sublimierung des Politischen 2. Fortschritt als Fortschreiten der Kunst 2.1. Die Verwandlung des Schriftstellers zum Künstler . . . . 2.2. Die Vermählung von Philosophie und Poesie 3. Die Kluft zwischen Geist und Geschichte . . . . . . . . ZWEITES
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43 43 47 47 49 49 51 56
KAPITEL
Werdegang Schleiermachers bis zum Eintritt in den frühromantischen Kreis I. Lebensstationen der Kindheit und Jugend 1. Herkunft 2. Niesky und Barby 3. Studienzeit in Halle und Aufenthalt in Drossen 4. Hofmeister und Predigtadjunkt II. Literarische Projekte und philosophische Studien 1. Arbeiten über das höchste Gut und die Freiheit 2. Betrachtungen über den Wert des Lebens
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6
Inhaltsverzeichnis
3. Der Kanzclredner 4. Spinoza- und Jacobi-Studien 4.1. Inhärenz des Endlichen im Unendlichen 4.2. Individuation III. Politischer Standort 1. Stellung zur Französischen Revolution 2. Keime einer Revolutionstheorie IV. Prediger im Charite-Krankenhaus 1. Umsiedlung nach Berlin und Berufspflichten 2. Kirchenpolitik DRITTES
82 84 87 89 92 92 95 98 98 103
KAPITEL
Weggenosse der Frühromantik
106
I. Vom jüdischen Salon zum frühromantischen Kreis II. Position Schleiermachers im frühromantischen Kreis 1. Persönliche Kontakte und schriftstellerische Entwicklung . . . . 2. Krisenbewußtsein und symphilosophischer Erneuerungsanspruch . VIERTES
106 107 107 115
KAPITEL
Schleiermachers Schwerpunkte
frühromantisches
Werk.
Hauptlinien
und
I. Religion und Frühromantik 1. Aufbruch in die religiöse Dimension 2. Antithetik und Kontinuität 3. Das religiöse Thema im Vorfeld von Schleiermachers Religionsschrift von 1799 3.1. Künstler und Kunstwerk als Träger des Religösen . . . . 3.2. Der naturhaft-religiöse „Familienmensch" 3.3. Der Mittler-Gedanke (Novalis) 3.4. Friedrich Schlegels Bibelprojekt II. „Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern" (1799) 1. Notizen zur Werkgeschichte 1.1. Der Plan 1.2. Die Niederschrift 1.3. Zwischen Geist und Buchstaben 1.4. Anonymität 2. Eigenarten des Werks 2.1. Literarisches Genus 2.2. Reden in der „Maske"? 3. Der Redner als Apologet 3.1. Der geweihte Orator 3.2. Die captatio bemevolentiae der Gebildeten 3.3. Der apologetische Neueinsatz 4. Die moderne Schöpfungsstunde der Religion
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Inhaltsverzeichnis
4.1. Entscheidungszeit 4.2. D i e Revolution als Incitament der Religion 4.3. Stützen der Philosophie 4.3.1. Einheit - Differenzierung - Wiedervereinigung . . . 4.3.2. Polarität und Vermittlung 5. Das Wesen der Religion 5.1. D i e allgemeinste und höchste Formel der Religion 5.2. Universum-Frömmigkeit . . . 5.2.1. Umformulierung der Unsterblichkeitsidee (Exkurs) . . 5.2.2. Umformulierung der Gottesidee 5.3. Kampfansage gegen Metaphysik und Moral 6. D i e Menschheit - ewiges Kunstwerk des Universums 6.1. Mensch und Menschheit 6.2. Sein und Werden der Menschheit 7. Homo religiosus - totus homo 7.1. Abkehr von Prometheus 7.2. D e r antireduktionistische Aufstand 8. Zwischen Polemik und Vision: Äußere Religionsgesellschaft und religiöse Menschheitsrepublik 8.1. Kritik der Religionsgesellschaften 8.2. Ecclesia vera 9. Religion und Christentum 9.1. D e r Geist des Christentums 9.2. Der Gott-Mensch 10. D i e neue und unendliche Welt III. Die Reden als Bestandteil der „heiligen Revolution" 1. Zeichen des fernher nahenden Orients 1.1. Das Evangelium der Menschheit und der Bildung ( F . Schlegel) 1.2. Neugeburt der Welt und Neuwerdung Europas (Novalis) . . 2. Positive Religion und romantische Literaturreligion 3. Religion und Natur 4. Erfüllung der Menschheitsgeschichte I V . Schleiermacher und die frühromantische „Revolution der Moral" . . 1. Vom civis zum homo humanus 2. Literarischer Beitrag zur „Moralrevolution" ( 1 7 9 8 - 1 8 0 0 ) im formalen Überblick 3. Abkehr vom Räsonnement der Aufklärung 4. Philosophische Anthropologie 4.1. Auslegung der anthropologischen Leib-Geist-Relation . . . 4.2. Individualität als Platzhalter des Sittlichen 4.3. Das Individuum als Gemeinschaftswesen 4.4. Anschauung des Menschen im Fragment 5. D e r Mensch in seiner Sozialexistenz 5.1. Geselligkeit 5.1.1. Frühromantische Gemeinschaftsbildung 5.1.2. Gesetzgebung der Geselligkeit 5.1.3. Weiterentwicklung kleinfamilialer Subjektivität . . .
~J
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Inhaltsverzeichnis
5.2. Erneuerung des Mann-Frau-Verhältnisses 5.2.1. Zweieinige Menschheit in der Liebe 5.2.2. Bildungsgeschichte der Frau („Katechismus der Vernunft") 5.2.3. Ethik der Ehe 6. Das Leben des freien Geistes 6.1. Ewige Jugend 6.2. Das Bündnis der Verschworenen für die bessere Zeit . . . .
277 279 283 285 288 290 291
SCHLUSS
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VERZEICHNIS DER ABKÜRZUNGEN
300
QUELLEN UND LITERATUR
301
PERSONENREGISTER
315
GELEITWORT
Die als „Renaissance" gekennzeichnete Neuentdeckung Friedrich Daniel Ernst Schleiermachers ( 1 7 6 8 - 1 8 3 4 ) , die vor allem in der Theologie und Philosophie zu beobachten ist, läßt es als reizvoll und notwendig erscheinen, sein Werk auch dort neu aufzuschließen und der Gegenwart nahezubringen, wo es in den letzten Jahrzehnten wenig Aufmerksamkeit gefunden hat, in der Literaturgeschichtsschreibung. Neben Johann Gottfried Herder war Schleiermacher der letzte große protestantische Theologe, der als frühromantischer Schriftsteller und Mitstreiter im „Athenaeum" einen unmittelbaren Beitrag zur Ausbildung der deutschen Nationalkultur geleistet hat. Anliegen der hier vorgelegten Studie ist es, Schleiermachers frühromantisches Werk in den Kontext der gegenwärtigen Romantikforschung einzustellen und dabei neue Interpretationsakzente zu setzen. Ein verändertes Niveau der literaturgeschichtlichen Forschung zieht Konsequenzen für die Schleiermacherinterpretation nach sich, denen auszuweichen von falsch verstandener Pietät vergangenen Werken gegenüber zeugen müßte. Eine längere forschungsgeschichtliche Einleitung versucht, sich des bislang erreichten Standes der literaturgeschichtlichen Schleiermacherforschung im deutschen Sprachraum zu vergewissern und so auch eine bessere Einordnung der eigenen Arbeit in den Gang der Forschung zu ermöglichen. W a s der Verfasser im übrigen der theologischen und philosophischen Schleiermacherforschung verdankt, wird sicher selbst dort noch hervortreten, wo er - gemäß dem Charakter seiner Studie - der literaturgeschichtlichen Betrachtung den Vorrang eingeräumt hat. Mein herzlicher Dank gilt folgenden Personen und Institutionen: Herrn Prof. Dr. sc. Claus Träger (Sektion Germanistik und Literaturwissenschaft an der KarlMarx-Universität Leipzig) für seine selbstlose fachliche Beratung und die Förderung dieses Projekts in wissenschaftlicher und organisatorischer Hinsicht über mehrere Jahre hinweg, Frau Dr. Kirsten und Herrn Dr. Klauß (Zentrales Archiv der Akademie der Wissenschaften der D D R ) , Herrn Dr. Kossack (Archiv der HumboldtUniversität zu Berlin) und Frau Pastorin Ingeborg Baldauf (Archiv der Evangelischen Brüderunität Herrnhut) für ihre großzügige archivalische Unterstützung. Dem Leiter der Schleiermacher-Forschungsstelle in Kiel und Mitherausgeber der „Kritischen Gesamt-Ausgabe" von Schleiermachers Werken, Herrn Prof. Dr. Hans-Joachim Birkner, verdanke ich manche unaufdringlich-wirksame Hilfestellung. Einen herzlichen Dank darf ich auch Frau Liselotte Schulze (Leipzig) für die zügige und präzise Reinschrift des Manuskripts sagen. Möge dieser literaturgeschichtliche Beitrag als ein Versuch verstanden werden, die Kommunikation zwischen Kirchen-, Theologie-, Philosophie- und Literaturge-
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Geleitwort
schichtsschreibung zu fördern. Denn anders als im offenen Horizont des Gesprächs mehrerer Disziplinen dürfte dem Werk Schleiermachers in der faszinierenden Vielfalt seiner Perspektiven schwerlich beizukommen sein. Leipzig, März 1984.
Kurt Nowak
EINLEITUNG
Schleiermacher als Problem der deutschen Literaturgeschichtsschreibung seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts
Das Interesse der Literaturgeschichtsschreibung an Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher ( 1 7 6 8 - 1 8 3 4 ) gilt gemeinhin einem begrenzten, wenn auch höchst bedeutsamen Abschnitt aus dem Leben des berühmten Theologen, Predigers und Universitätslehrers: dem Berliner Aufenthalt vom Herbst 1796 bis Frühjahr 1802. Während dieser Jahre verbanden sich Leben und Werk Schleiermachers mit einer literarischen Programmbewegung, deren Faszinationskraft noch immer ungebrochen ist. Gleichwohl markieren die Beiträge Schleiermachers zur Hermeneutik, Ästhetik, zur Theorie von Sprache und Dialog, die nach den frühromantischen Jahren entstanden sind, noch weitere germanistisch belangvolle Themenfelder 1 . Die im strengen Sinn wissenschaftliche Aufarbeitung von Schleiermachers Beitrag zur Frühromantik begann im Jahre 1870 mit dem fast gleichzeitigen Erscheinen von Wilhelm Diltheys „Leben Schleiermachers" und Rudolf Hayms „Romantischer Schule" 2 . Diese historiographischen Leistungen sind für die Literaturgeschichtsschreibung jahrzehntelang maßstabsetzend gewesen, wirkten aber auch als Barriere, sich Gestalt and Werk des jungen Schleiermacher neuerlich mit großen Untersuchungen zu nähern. Erschwerend mochte hinzukommen, daß Dilthey bis zu seinem Tode (1911) sein Interpretationsmonopol, das ihm durch Schleiermachers Tochter, die Gräfin Schwerin-Putzar, zugefallen war, nicht aus der Hand gab 3 , und neue Quellen erst allmählich erschlossen wurden. In der Gegenwart wird im Blick auf die literarhistorische Schleiermacher-Forschung von einem Nachholebedarf gesprochen, der angesichts der extensiven Friedrich-Schlegel- und Novalis-Forschung besonders spürbar geworden ist 4 . Der Schleiermacher-Renaissance in der Theologie steht zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch keine ähnlich intensive literaturwissenschaftliche Schleiermacher-Forschung gegenüber. 1 Vgl. etwa Manfred Frank: Das individuelle Allgemeine. Textstrukturierung und -Interpretation nach Schleiermacher. Frankfurt/M. 1977 ; Hendrik Birus (Hg.) : Hermeneutische Positionen. Schleiermacher - Dilthey - Heidegger - Gadamer. Göttingen 1982 (Kleine Vandenhoeck-Reihe 1497) ; für den jungen Schleiermacher Hermann Patsch: F. Schlegels „Philosophie der Philosophie" und Schleiermachers frühe Entwürfe zur Hermeneutik. In: ZThK 63 (1966), 434-472. 2 Wilhelm Dilthey : Leben Schleiermachers. Erster Band. Berlin 1870 ; Rudolf Haym : Die Romantische Schule. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Geistes. Berlin 1870. 3 Andreas Arndt/Wolfgang Virmond: Zur Entstehung und Gestaltung der beiden ersten Bände „Aus Schleicrmacher's Leben. In Briefen." In: ZKG 92 (1981), 60-68. 4 So Hermann Timm: Die heilige Revolution. Das religiöse Totalitätskonzept der Frühromantik. Schleiermacher - Schlegel - Novalis. Frankfurt/M. 1978, 25.
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I.
Einleitung
„Leben Schleiermachers" und „Romantische Schule"
Daß das Jahr 1870 für die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit Schleiermacher als terminus a quo zu gelten hat, ist kein bloßer editorischer Zufall. Durch Dilthey und Haym ist in der Reichsgründungsära ein neues Interesse an der bislang von der liberalen Literaturgeschichtsschreibung mit negativen Zensuren bedachten Romantik angemeldet worden, das mit spürbar veränderten Akzentsetzungen einherging. Während Diltheys einfühlsam-intime Beziehung zur Romantik nicht zuletzt in den Formen eines feinnervigen Protests gegen die Realität der bismarckischwilhelminischen Epoche gesehen werden muß, war bei Haym angesichts der scheinbar ins Erfüllungsstadium tretenden Ziele des Nationalliberalismus eher der Impuls objektiver Verständigung über das nationalgeschichtliche Erbe wirksam. Dabei zeigte Hayms Romantikkonzeption durchaus weiterhin das Kritikpotenial der liberalen Traditionslinie. Dilthey hatte vor Erscheinen des „Leben Schleiermachers" bereits in seiner Preisschrift (1859/60) und in „De principiis ethices Schleiermacheri" (1864) die Fundamente seiner Schleiermacherinterpretation sichtbar gemacht, nachdem er einige Jahre zuvor an der Briefausgabe „Aus Schleiermacher's Leben" mitgewirkt und in den „Preußischen Jahrbüchern" den Aufsatz „Schleiermachers politische Gesinnung und Wirksamkeit" vorgelegt hatte. 6 Dilthey war, wie auch seine späteren Arbeiten ausweisen, nicht an dem Frühromantiker schlechthin interessiert. Das „Leben Schleiermachers" war für ihn Kristallisationspunkt und breit ausgearbeitetes Paradigma einer historischen Methode, die von ihm als biographische Geschichtsschreibung verstanden worden ist. Deren erklärtes Thema war das wechselweise Einwirken des einzelnen zur Gesamtheit, ein Gedanke, der auf Schleiermacher selbst zurückverwies. In Schleiermacher wollte Dilthey die geistesgeschichtlichen Objektivationen des Zeitalters, wie sie sich in Kunst und Literatur, Philosophie und Ethik niedergeschlagen hatten, anschaulich machen und deren Umformungen in der „Werkstatt des einzelnen Geistes" nachgehen, durch die sie zu einem „originalen Ganzen" geworden waren. 7 In diesem Sinne stellte Diltheys Schleiermacherbuch den Versuch einer Vermittlung zwischen dem „innersten Wesensgesetz" Schleiermachers und den geistigen Bewegungen der Zeit dar, die Dilthey in extensiven Exkursen einbrachte (Kant, Goethe, Gebrüder Schlegel, Novalis, Wackenroder u. a.). D a ß bei derart „zerstreuten Einwirkungen" entwicklungsgeschichtlich einige „Lücken und Zweifel" blieben, räumte Dilthey bereitwillig ein 8 , ein Unschärfemoment, das deshalb nicht als Mangel zutage zu treten brauchte, weil in die „Einwirkungsgeschichte" immer schon die selbständige Entfaltung des Menschen Schleiermacher gemäß seinem innersten Antriebsmotiv (Entdeckung des Gesetzes des individuellen Ich und Aufdeckung 5 Aus Schleiermacher's Leben. In Briefen. Bd. 1 - 4 , Hg. von Ludwig Jonas und Wilhelm Dilthey. Berlin 1 8 5 8 - 1 8 6 3 (Bd. 1 2. A u f l . 1 8 6 0 ; Bd. 2 2. A u f l . 1 8 6 0 ) . 6 Wilhelm Dilthey: Schleiermachers politische Gesinnung und Wirksamkeit. In: Preußische Jahrbücher 1 0 ( 1 8 6 2 ) , 2 3 4 - 2 7 7 . - Die weiteren Schriften Diltheys über Schleiermacher bei Terrence N. Tice: Schleiermacher Bibliography. With Brief Introductions, Annotations and Index. Princeton: New Yersey 1 9 6 6 , Nr. 4 1 3 - 4 1 6 ; 6 8 2 - 6 8 4 (Princeton Pamphlets 1 2 ) . - D i e Bibliographie von Tice ist fortgesetzt und aktualisiert bei Giovanni Moretto: Etica e storia in Schleiermacher. Napoli 1 9 7 9 , 5 5 3 - 5 6 2 (Istituto Italiano per gli Studi filosofici. Serie Studi II). 7 Dilthey: Leben Schleiermachers, Vorwort. 8 Ebenda, 2 9 8 .
I. „Leben Schleiermachers" und „Romantische Schule"
13
eines Ethos, das nicht einem Sollensgesetz verpflichtet war, sondern dem Gang des menschlichen Lebens in der ihm eigentümlichen Bestimmung entsprach) eingebunden war und ihren eigenen, unableitbaren Rang beanspruchte. Ausgehend von der Prämisse, daß Schleiermachers Werk nicht ohne Kenntnis von dessen Leben verstanden werden könne, widmete sich Dilthey der Biographie Schleiermachers seit ihren Anfängen im Breslauer Elternhaus mit großer Sorgfalt. Außerordentlich verdienstvoll war die Bereitstellung neuer Quellen zu Schleiermachers intellektueller und religiöser Entwicklung vor und während seiner frühromantischen Zeit, die Dilthey im Anhang seiner Biographie als „Denkmale der inneren Entwicklung Schleiermachers" drucken ließ. Auf eine Volledition der Jugendmanuskripte „Über das höchste Gut", „Über die Freiheit", „Über den Wert des Lebens" und auch der wichtigen Spinoza- und Jacobi-ÄTanuskripte hatte Dilthey allerdings verzichtet und auch sonst manches Manuskript nur kurz gestreift bzw. gänzlich unerwähnt gelassen. Unter den gedruckten Schriften des Frühromantikers war Dilthey, der sich seinerzeit auch schon der Mühe unterzogen hatte, eine stichhaltige Zuweisung von Schleiermachers Fragmenten im „Athenaeum" vorzunehmen und sie im geschlossenen Druck' darzubieten, der anonym im „Berlinischen Archiv der Zeit und ihres Geschmacks" erschienene Beitrag „Versuch einer Theorie des geselligen Betragens" entgangen. Er konnte erst Jahrzehnte später durch Hermann Nohl aufgespürt werden und erschien erstmals in der von Braun/Bauer besorgten vierbändigen Schleiérmacherausgabe. 9 Eine gewisse darstellerische Unausgewogenheit, die schon von zeitgenössischen Rezensenten beklagt wurde, 10 ergab sich aus dem Ehrgeiz Diltheys, die geistige Gesamtkontur des Zeitalters zu erfassen, was ihn oft weit von seinem eigentlichen Gegenstand abführte, und aus der Dominanz seiner philosophischen Interessen über die historischen. Zu wenig Verständnis brachte der Philosoph dem religiösen Themenkreis in Schleiermachers Leben entgegen. Schleiermachers Eintritt in den frühromantischen Kreis war für Dilthey die lebendige Erfüllung und Weiterführung der trockenen philosophischen Gedankenarbeit des jungen Theologen während der Jahre bis 1796. Dilthey beschrieb die Frühromantik weniger als einheitliche Gruppe denn als Defensivbündnis charakterlich und geistig heterogener Dichter und Philosophen, wie die „neue Generation" nach Goethe, Kant und Fichte für ihn generell nicht in Begriffen aufging. Insbesondere meldete er dem Sammelnamen Romantik gegenüber erhebliche Zweifel an. 11 Dilthey übernahm zur Unterstreichung seiner Sicht das aus unmittelbarer Zeitgenossenschaft formulierte Urteil Schleiermachers. 12 Die hier nicht zu referierende breite Analyse von Schleiermachers frühromantischen Schriften mit den bekannten Schwerpunktsetzungen bei den Reden „Über die Religion", den „Monologen" und den „Vertrauten Briefen" erfolgte in einer wesentlich werkimmanenten Interpretation, in der die Bezüge zum geistigen Umfeld und zur Tradition schon vorher hergestellt waren, ohne dann noch einmal im einzelexegetischen Befund bewährt zu werden. In manchen Wendungen deutete sich 9 Otto Braun/Johannes Bauer: Friedrich Ernst Daniel Schleiermachers Werke. Auswahl in vier Bänden. Leipzig 1910-1913 (21. Aufl. 1927/1928. - Reprint Aalen 1967). Bd. 2, 3 - 3 1 . 10 Rudolf Haym: D i e Dilthey'sche Biographie Schleiermachers. In: Preußische Jahrbücher 26 (1870), 556-604. Wiederabdruck in Rudolf Haym: Gesammelte Aufsätze. Berlin 1903, 355-407. 11 12 Dilthey: Leben Schleiermachers, 260 ff. Ebenda, 266.
14
Einleitung
an, daß der frühromantische Schleiermacher für Dilthey eine Interpretationsetappe zu dem männlich gereiften Schleiermacher an der Seite Humboldts, Goethes und Fichtes gewesen ist: Auch nach der Zertrümmerung des frühromantischen „Staats der Gedanken" hätten die „Lebensideale" Schleiermachers fortwirken, ja erst eigentlich zur Entfaltung kommen können. Eingebunden in die öffentlichen Angelegenheiten hätten sich die romantischen Elemente in Schleiermachers Religion, Philosophie und Ethik zu einem national förderlichen Ideenbestand um- und weitergebildet. Schleiermachers Leben „gewinnt damit erst festen Boden, seine Gesinnung den Kreis der Handlung, für die sie bestimmt w a r , seine männliche Seele die W e l t , in der sie frei zu atmen vermochte". 1 3 Die bei Dilthey anklingende Tendenz, Schleiermachers Romantik als Propädeutikum für größere nationalpolitische Taten zu verstehen, trat noch eindeutiger bei Rudolf H a y m hervor, dessen „Romantische Schule" unter dankbarer Benutzung der ersten zehn Druckbogen von Diltheys Biographie und von vier Bogen der „Denkmale" abgefaßt worden ist. 1 4 D i e prononciert beschriebene national- und wissenschaftspolitische W e n d e des mittleren und späteren Schleiermacher (Neueinsetzung der durch den frühromantischen „Hyperidealismus" und „Hypersubjektivismus" verschlungenen W e l t in ihre Rechte nach der politischen und - unter dem Einfluß von Schellings Philosophie - nach der philosophischen Seite hin) gestattete es H a y m , gegen den Frühromantiker kritischer zu verfahren als Dilthey. Zudem w a r Haym nicht der In-Sich-Ständigkeit der Einzelperson in der (Geistes-) Geschichte in dem M a ß e verpflichtet w i e Dilthey und ließ kein besonderes Interesse erkennen, an der Einheit im W e r k Schleiermachers festzuhalten. D i e Hervorkehrung der praktischwirksamen Seite Schleiermachers entsprach der Überzeugung Hayms, daß das Zeitalter der Metaphysik und einer im Reich des schönen Scheins träumenden Dichtung vorüber und die Nation zum politischen Schaffen und handelnden Leben aufgerufen sei. D a Haym - anders als Dilthey, der als später Nachfahre Hegels noch von der Gewißheit durchdrungen war, daß sich der geistesgeschichtliche Prozeß zu einem Entwicklungsganzen zusammenfügen lassen müsse - aller panlogistischen Geschichtsphilosophie abhold w a r und einen strikt pragmatischen Standpunkt vertrat, besaß er eine größere Freiheit dem Ideengut Schleiermachers gegenüber und vermochte es zugleich historisch zu relativieren. D i e Methode, Ideenkomplexe historisch-genetisch zu rekonstruieren und sie in den Geschichtsgang einzustellen, hatte Haym 1854 bereits in seiner Gentz-, 1856 in seiner Humboldt-Biographie und 1857 in den Vorlesungen „Hegel und seine Zeit" praktiziert. „Es ist einer der aufklärendsten Schritte, welche überhaupt getan werden können, wenn man, die Arbeit der Geschichte rückwärts nachmachend, etwas, w a s bis dahin als etwas Dogmatisches, als etwas objektives Ideelles, als eine Metaphysik oder Religion, als etwas Ewiges und Fixes gegolten hat, zu einem rein Historischen herabholt und bis auf seinen Ursprung im bewegten Menschengeist hinein verfolgt". 1 5 1 3 Ebenda, 509 f ; 541. - Zur nationalgeschichtlichen Interpretation Schleiermachers bei Dilthey, Haym, Heinrich von Treitschke u. a. Kurt Nowak: Die Französische Revolution in Leben und Werk des jungen Schleiermacher. Forschungsgeschichtliche Probleme und Perspektiven. Beitrag zum Internationalen Schleiermacher-Kongreß in Berlin (West) 7 . - 1 0 . März 1984 (im Druck). 14 Haym: Romantische Schule, aaO., 391 (Anm.). l j Rudolf Haym: Hegel und seine Zeit. Vorlesungen über Entstehung, Wesen und Wert der Hegel'schen Philosophie. 2. Aufl. Leipzig 1927, 9.
1. „Leben Schleiermachers" und „Romantische Schule"
15
In der Verarbeitung und Anordnung des Materials folgte Haym Dilthey in wesentlichen Punkten, gestaltete den Entwicklungsbogen Schleiermachers mit den darin eingelagerten Referaten der Schriften jedoch schlanker und ohne die für Dilthey kennzeichnenden geistesgeschichtlichen Ausflüge. Das Urteil über die frühromantischen Schriften, nicht über die Person Schleiermachers, die Haym wertschätzte, war im wesentlichen kritisch. Er sah in ihnen eine Zuspitzung des subjektivistischen Ansatzes der Frühromantik, die zwar die Schranken des Subjektivismus habe durchbrechen wollen, bei diesem Unterfangen den Subjektivismus und Idealismus aber nur potenziert habe. Dementsprechend galten die Reden „Über die Religion" als Verschärfung Kants und Verinnerlichung Spinozas („subjectiv-kritischer Spinozismus") und schillerten im übrigen nach Haym, der starke Akzente auf Wehmut, Verwelken und Tod gelegt sah, in alle Farben der „romantischen Doctrin" hinüber. 16 Kritisch war auch Hayms Beurteilung der „Monologen", deren inneres Motiv er in dem Bestreben sah, die Fichtesche Allmacht des Ich ins Leben zu übertragen und als Charakter darzustellen. Nach Haym hatte Schleiermacher den Fichteschen Satz, daß man im gewöhnlichen Leben das weltsetzende Ich vergessen dürfe, widerlegen wollen und deshalb die totale Freiheit des Ich von allen Bedingtheiten postuliert. Mit der Radikalisierung Fichtes stand Schleiermacher für Haym ganz in der frühromantischen Linie einer je anders gearteten Übersteigerung des Subjektivismus: bei F. Schlegel als Willkür, bei Schleiermacher als die Setzung von „nichts als Freiheit und Unendlichkeit" 17 . Der Radikalfichteanismus Schleiermachers wurde von Haym allerdings modifiziert durch das Urteil, daß Schleiermachers Ethik im ganzen eine Synthese aus Fichteanismus und Goetheanismus sei, gerade aber auch darin völlig der romantischen Bildungsform entspreche. 18 Bei den „Vertrauten Briefen", die schon Dilthey als einen eklatanten Mißgriff ansah, versuchte Haym eine Ehrenrettung Schleiermachers zu Ungunsten F. Schlegels: naiv-idealistische Verkennung des „Frechen" und „Cynischen" bei F. Schlegel bei gleichzeitiger Veredelung von dessen Ideen. 19 Insgesamt war Schleiermacher für Haym, den einstigen Bewunderer von D . F. Strauß, weniger als religiöser Denker denn als Ethiker interessant. Die idealistische Haltung, die er bei ihm vorfand, kam seiner Konzeption insofern entgegen, als er im Gegensatz zu den nachhegelianischen „Realisten" der Reichsgründungsära von einem idealitätslosen Empirismus nichts wissen wollte und an der Bewahrung des Geistes der klassisch-romantischen Zeit der Philosophie und Dichtung (nicht seiner Formen) interessiert blieb. Die umfänglichen Arbeiten von Dilthey und Haym sind von der Materialbereitstellung her wie in vielen ihrer Urteile als gültig auch noch dort angesehen worden, wo sich mit der Erforschung der Romantik eine ganz andere literargeschichtliche Konzeption verband. Die bestechende Fülle der philosophiegeschichtlichen Durchblicke Diltheys (etwa auch zu Piaton, Spinoza, Leibniz), das reiche archivalische Material und die weitausgreifende Darstellung der romantischen Bewegung in ihren Hauptrepräsentanten haben der Schleiermacherbiographie Diltheys wie auch der „Romantischen Schule" Hayms wissenschaftsgeschichtlich einen Platz gesichert, der 16 17 18 19
Haym: Romantische Schule, aaO., 432. 435. 437. Ebenda, 535. Ebenda, 537 f. Ebenda, 519. 523 f. 529.
16
Einleitung
nur durch andersgeartete und den überragenden Vorbildern zumindest ebenbürtige Konzeptionen hätte infrage gestellt werden können. Wiewohl die Erweiterung der Quellenbasis zu Schleiermacher seit dem Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Beginn der 20. Jahrzehnte, vornehmlich im Bereich der Kindheits- und Jugendentwicklung (E. R. Meyer) 20 , des Briefkorpus (J. L. Jacobi, O. F. Walzel, F. Jonas, H. Meisner/E. Schmidt, J. Bauer, J. Elstner/E. Klingner) 21 , mancher Frühschriften (J. Bauer, H. Mulert) 22 , relativ lebhaft vorangetrieben worden war, ist die Geltungsmacht der Schleiermacherdarbietungen Diltheys nach dem 1. Weltkrieg (2. Auflage 1922) und Hayms (4. Auflage 1920) editionspolitisch wieder unterstrichen worden. Die von H. Mulert besorgte Neuausgabe des „Leben Schleiermachers" (1922) war um Stücke aus dem Nachlaß vermehrt und erweitert und suchte auch sonst den Kontakt zur zeitgenössischen Editionslage zu halten, verzichtete jedoch auf den Abdruck der „Denkmale", eine Entscheidung, die nicht problemlos war. D a die Erstausgabe von 1870 nicht mehr leicht greifbar war, erschwerte diese Editionspraxis den Zugang zu den wichtigen, nur von Dilthey gebotenen Frühdokumenten. Im Blick auf Leben und Werk des Frühromantikers Schleiermacher ist dann bis in die Gegenwart durch die dritte Ausgabe von Diltheys „Leben Schleiermachers" durch M. Redeker (1970) und den Nachdruck der „Romantischen Schule" Hayms (1961) deren Präsenz noch einmal sichergestellt worden. 23
II.
Scbleiermacber in Gesamtdarstellungen der Romantik zwischen 1870 und 1945
Wenngleich viele der nach Diltheys und Hayms opera miranda entstandenen Gesamtdarstellungen heute nur noch antiquarischen Wert besitzen, ist die Sichtung dieser Publikationsmasse unter dem Aspekt des dort entwickelten Schleiermacherbildes lehrreich. In den Gesamtdarstellungen spiegelt sich noch im Konzentrat einer einzigen Person und ihres Werkes ein ganzer Prozeß, nämlich das Auf und 20
E. R. Meyer: Schleiermachers und von Brinkmanns Gang durch die Brüdergemeine. Leipzig
1905. 21 Justus Ludwig Jacobi (Hg.): Schleiermachers Briefe an die Grafen zu Dohna. Halle 1887; Oskar F. Walzel (Hg.): Friedrich Schlegel. Briefe an seinen Bruder August Wilhelm. Berlin 1890; F. Jonas: Aus Briefen von Dorothea Veit an Schleiermacher. In: Euphorion 1 (1894), 6 0 8 - 6 1 2 ; Heinrich Meisner/Erich Schmidt (Hg.): Mitteilungen aus dem Litteraturarchive in Berlin. N . F. 6; 7; 8. Berlin 1912-1913; Johannes Bauer (Hg.): Ungedruckte Predigten Schleiermachers aus den Jahren 1820-1828, mit Einleitungen und mit einem Anhang ungedruckter Briefe von Schleiermacher und Henriette Herz. Leipzig 1909; ders.: Neue Briefe Schleiermachers aus der Jugendzeit Niesky 1784 bis 1785. In: ZKG 31 (1910), 5 8 7 - 5 9 2 ; Josefa Elstner/Erich Klingner: Briefe F. Schleiermachers an A. W. Schlegel. In: Euphorion 21 (1914), 5 8 4 - 5 9 8 ; 730-773. 22 Bei J. Bauer: Ungedruckte Predigten, 100-104 gilt der Brief Schleiermachers an Wilhelm zu Dohna aus dem Jahre 1795, von Bauer mit „Wissen, Glauben, Meinen" überschrieben, als ein wichtiges Dokument für Schleichermachers Religionsauffassung in der Landsberger Zeit (1794-1796). Mulert besorgte 1923 eine (Teil-) Edition von Schleiermachers Ausarbeitung Spinozismus (NL Schleiermacher Nr. 138) in: Chronicon Spinozanum 3 (1923), 295-316. 23 Wilhelm Dilthey: Leben Schleiermachers. 2 Halbbände. Auf Grund des Textes der 1. Aufl. von 1870 und Zusätzen aus dem Nachlaß herausgegeben von Martin Redeker. Berlin (West) - New York 1970; Rudolf Haym: Die Romantische Schule. Neudruck: Hildesheim 1961.
11. Gesamtdarstellungen
1870 bis 1945
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A b der älteren deutschen Romantikforschung, die nach den Worten von Franz Schultz auf dem Münchener Germanisten tag von 1950 in einer methodischen „Agonie" enden sollte. 2 4 Schleiermacher ist unbeschadet der Tatsache, d a ß er in den meisten dieser Publikationen keinen zentralen Platz einnimmt, in deren methodologisch-methodische Vorentscheidungen unlöslich verwickelt gewesen. Dies soll an einigen Beispielen verdeutlicht werden, wobei unserer Auswahl zwei Gesichtspunkte zugrunde liegen: Hinlängliche Repräsentanz Schleiermachers und wissenschaftsgeschichtliches w i e editionspolitisches Gewicht der jeweiligen Gesamtdarstellung. D a sich eine erschöpfende Charakteristik dieser Darstellungen von selbst verbietet, bleibt unsere Sondierung eng am Gegenstand (Schleiermacher), kommt freilich nicht umhin, zumindest die Hauptkonturen der jeweiligen Konzeption insoweit zu umreißen, als es für die Einordnung der Schleiermacherpassagen unumgänglich ist. Aus den Jahren des Deutschen Kaiserreiches heben sich die Darstellung von Georg Brandes ( 1 8 7 2 - 1 8 7 6 ) , Ricarda Huch (1899/1902), Oskar F. Walzel (1908) und Josef Nadler (1912 f f ) heraus. 2 5 In Methode, Konzeption und wissenschaftspolitischem Anspruch repräsentieren sie ganz unterschiedliche Sichtweisen, wobei lediglich zwischen Ricarda Huch und Oskar Walzel, der sich in manchen Grundsatzentscheidungen als Adept der Kulturphilosophin und Dichterin erwies 2 6 , konzeptionelle Überschneidungen zu konstatieren sind. D a diesen Darstellungen weniger eine historisch-genetische Betrachtung eigen w a r , die Intention vielmehr auf eine systematische Erfassung des Phänomens ging, tauchte Schleiermacher in ihnen zumeist nur als Bestandteil eines größeren Zusammenhanges auf. Lediglich Brandes widmete dem frühromantischen Ethiker und Verfasser der „Vertrauten Briefe" ein eigenes Kapitel. Freilich w a r gerade auch bei Brandes die Tendenz offenkundig, das literarhistorische Material konzeptionell zu beschneiden oder auch in forcierten Interpretationsgängen zu überfordern. Aus seinerzeit aufsehenerregenden Vorlesungen an der Kopenhagener Universität hervorgegangen, lebte Brandes' W e r k aus dem Geist aufgeklärt-liberaler Romantikkritik. Die polemische Stoßrichtung des jungen dänischen Literaturwissenschaftlers erklärte sich aus seiner ablehnenden Beurteilung der zeitgenössischen skandinavischen Literatur, die seinen Worten zufolge einem „phantastischen Mystizismus" huldigte und in einem „marasmus senilis" enden mußte, falls sie sich nicht auf die großen humanitären Traditionen der europäischen Literatur besann. 2 7 Brandes zeichnete die deutsche Romantik in scharfen Strichen als katholisierende Bewegung. 2 4 Franz Schultz: Klassik und Romantik der Deutschen. 2 Teile. 2. durchgesehene A u f l a g e Stuttgart 1 9 5 2 . Bd. 2, Anhang: Der gegenwärtige Stand der Romantikforschung. Vortrag auf dem Germanistentag in München vom 1 5 . IX. 1 9 5 0 , 4 2 9 - 4 3 9 ; 4 3 9 . 2 5 Georg F. Brandes: D i e Hauptströmungen der Literatur des 1 9 . Jahrhunderts. Vorlesungen an der Kopenhagener Universität. Übersetzt und eingeleitet von Adolf Strodtmann. 4 Bde. Berlin 1 8 7 2 bis 1 8 7 6 ; (10. A u f l . 1 9 0 6 ) ; Ricarda Huch: Blütezeit der Romantik. Leipzig 1 8 9 9 ; Ausbreitung und V e r f a l l der Romantik. Leipzig 1 9 0 2 ; Oskar F. W a l z e l : Deutsche Romantik. Leipzig 1 9 0 8 ( 1 9 2 6 5 ) ; Josef Nadler: Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften. 4 Bde. Regensburg 1 9 1 2 - 1 9 2 8 (Bd. 3 : Hochblüte der Altstämme bis 1 8 0 5 und der Neustämme bis 1 8 0 0 ) ; ders.: Die Berliner Romantik 1 8 0 0 - 1 8 1 4 . Ein Beitrag zur gemeinvölkischen Frage: Renaissance, Romantik, Restauration. Berlin 1 9 2 1 . 2 6 Nähe und Distanz zu Ricarda Huch sind formuliert in Oskar F. W a l z e l : Ricarda Huchs Romantik. In: Ders.: V o m Geistesleben des 1 8 . und 1 9 . Jahrhunderts, Aufsätze. Leipzig 1 9 1 1 , 9 5 - 1 2 7 . 2 7 Brandes: Hauptströmungen, aaO., Bd. I, Vorwort ( V I - V I I I ) .
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Nowak, Schleiermacher
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Einleitung
Er geißelte bei peripherer Würdigung des romantischen „Freisinns" das romantische Ich als schrankenlosen Subjektivismus („das losgerissene Ich in seiner Willkür") und tadelte an der romantischen Bewegung eine im humanen Sinn bedenkliche Zwecklosigkeit. 2S Unter diesen Voraussetzungen mußte auch Schleiermacher Tadel widerfahren. Brandes apostrophierte kritisch seinen sinnlichen Mystizismus. Allerdings hätte bei dem Charite-Prediger später die „protestantisch-rationalistische Richtung" das Übergewicht erlangt. Dies, wie auch ein allenthalben fühlbarer Antiromanismus, veranlaßte Brandes, Schleiermacher ingesamt zu schonen. Deshalb klammerte Brandes die Reden „Über die Religion" aus seiner Betrachtung aus. Die „Vertrauten Briefe" fand er in freisinnig-emanzipatorischer Hinsicht löblich. „Aber wie bezeichnend ist diese ganze Grübelei über das Gefühl für die Nation, welcher der Verfasser angehört". 2 9 In einen psychologischen Urteilsrahmen wurde der frühromantische Prediger in Ricarda Huchs „Blütezeit der Romantik" (1899) eingestellt. Das an Nietzsches Prinzip des Dionysischen und Apollinischen angelehnte psychologische Typenmuster R. Huchs (unbewußter Mensch - bewußter Mensch - mann-weiblicher Idealtyp) schlug auch bei ihrer Schleiermacherinterpretation durch. Unter der Vorgabe, der romantische Mensch sei der mannweibliche bzw. bewußt-unbewußte Mensch, konnte Schleiermacher für Ricarda Huch zwar als „romantischer Charakter" bestehen (Mischung von intellektueller Schärfe und Weichheit), nicht aber als frühromantischer Programmatiker und Denker. Bei der Entfaltung des religiösen Themas hatte Schleiermacher nach R. Huch den Fehler begangen, das Unbewußte rational auflichten zu wollen, was auf nichts anderes hinausgelaufen sei, als auf dessen verflachende Okkupation. 3 0 Wieviel unmittelbarer sprächen doch hier Novalis, Wackenroder und selbst noch F. Schlegel! Folgerichtig wurde Schleiermacher bei der Erörterung des frühromansch-religiösen Umbruchs ausgeklammert, eine Interpretation, die völlig aus der von Dilthey und Haym vorgezeichneten Linie lief, welche die Reden in diesem Zusammenhang als einen Kernpunkt angesehen hatten. 3 1 Positiv bewertete R. Huch Schleiermachers Leistungen im Umfeld der Themen Liebe und Frauenemanzipation, wie überhaupt um die Jahrhundertwende diesbezügliche Texte Schleiermachers zu gern zitierten Belegen der Frauenbewegung geworden sind. 3 2 Ricarda Huchs Romantikrezeption erfolgte in den Bahnen der Neoromantik der 1890er Jahre. Trotz programmatischer Absicht, der neoromantischen Verflachung des originären Phänomens entgegenzuarbeiten, zollte sie der Neoromantik auf ihre Weise Tribut - mit Folgen für ihr Schleiermacherbild, die zumindest in einer außerordentlich ungleichgewichtigen Präsentation des frühromantischen Theologen und Ethikers bestanden. Die konzeptionelle Vereinseitigung Schleiermachers trat auf andere Weise bei Walzel hervor, dessen einflußreiche „Deutsche Romantik" (1908) bis zum Jahre 1926 fünf Auflagen erlebte und einen nicht unerheblichen Stellenwert bei der Etablierung einer geistesgeschichtlich-gestalthaften Literaturgeschichtsschreibung Ebenda, Bd. IV, 2 6 9 ; Bd. II, 29. 4 1 . 4 4 . 60 f f . Ebenda, Bd. II, 1 1 8 f. 1 2 3 . 3 0 Huch: Blütezeit, aaO., 2 0 f. 50. 56. 3 1 Ebenda, 3 5 6 f f . 3 2 Vgl. Hermann Walsemann: Schleiermacher und die Frauen. In: Preußische Jahrbücher Bd. 1 5 4 ( 1 9 1 3 ) , 4 5 0 - 5 8 2 , der auf entsprechende Passagen bei Gertrud Bäumer und Helene Lange verweist^ 28
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II. Gesamtdarstellungen
1870 bis 1945
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einnahm. Walzel versuchte die Romantik dem generalisierenden Interpretament „Sehnsucht nach dem Absoluten" zu unterwerfen, wobei gleichzeitig ein „proteisches Element" konstitutiv war: das Prinzip des Dualisten, der vom Einheits- und Harmoniegedanken ausgehe, sein Ziel aber nie erreiche. 33 In Walzels Romantikkonzeption erschien Schleiermacher als partikularer Bestandteil dieser Grundbestimmungen. An den Reden „Über die Religion" hob Walzel deshalb den Gedanken, im Endlichen das Unendliche zu erblicken, als einen der Wege hervor, „auf denen im romantischen Sinne dem Menschen das Absolute zugänglich wird". An den „Monologen" unterstrich Walzel das Eingehen des Individuums ins Ewige. Durch Schleiermacher seien auch die romantischen Topoi Liebe und Poesie im Sinne der Absolutheitssehnsucht vertieft worden. Relativ gering bewertete Walzel Schleiermachers philosophischen Einfluß auf die Frühromantik, da die philosophische Schlüsselstellung für ihn mit Schelling besetzt war. Walzels Konzeption faßte die Romantik in weitgehender Absehung vom politisch-sozialen und gesellschaftlichen Kontext, wie er im Gange der biographischen Methode Diltheys und der pragmatischen Geschichtsschreibung Hayms noch partiell gegenwärtig gewesen war. Bei Walzel war die Romantik eine geistig-emotionale Bewegung mit einheitlichem Grundzug, die dann nur noch in geistesgeschichtliche Traditionen (Piaton, Neuplatonismus, Hamann, Herder, Kant, Shaftesbury, Rousseau) zurückvermittelt werden mußte. Weder Schleiermacher noch sonst ein Vertreter der Frühromantik wurde in Walzels, im übrigen von nationalistischen Tönen nicht freien Aufriß in seiner Eigenart hinreichend charakterisiert. 34 Als ein Korrektiv zur geistesgeschichtlichen Richtung auf einem neuen, freilich höchst fragwürdigen Methodenfundament verstand sich Josef Nadlers „Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften", innerhalb derer Bd. III 33
Walzel: Deutsche Romantik, 14 (zitiert wird nach der 2. und 3. umgearbeiteten Auflage Leipzig 1912). Walzels „Einheitsidee" ist scharf attackiert worden von Siegbert Elkuss: Zur Beurteilung der Romantik und zur Kritik ihrer Erforschung. München/Berlin 1918 (Historische Bibliothek 39). Elkuss bezeichnete Walzel als „bloßen Gelegenheitsdenker", der nicht aus der Sache spreche und lediglich mit deren Begriffen operiere. Die Kritik des (bereits 1916 verstorbenen) S. Elkuss muß Walzel hart getroffen haben. Noch 1934 setzte er sich mit seinem Gegner auseinander, allerdings ohne ihm die Ehre der Namensnennung zu erweisen. Vgl.: Oskar F. Walzel: Romantisches. Bonn 1934, 15 (Mnemosyne, Arbeiten zur Erforschung von Sprache und Dichtung 18). Eine Distanzierung von einer allzu starken Unifizierung der Romantik unter Betonung ihrer unabgeltbaren Mannigfaltigkeit nahm Walzel in seinem Aufsatz: Wesensfragen deutscher Romantik. Inn: JBFDH Bd. 29 (1929), 253-276 vor. - Wiederabdruck bei Helmut Prang (Hg.): Begriffsbestimmung der Romantik. Darmstadt 1968, 171-194 (Wege der Forschung CL). 34 Walzel: Deutsche Romatik, aaO., 13 f. 20. 34. 35. 63. Eine gewisse Widersprüchlichkeit in Walzels Aussagen über die „Reden" ist unverkennbar. Einerseits stufte er deren Bedeutung (in Anlehnung an Ricarda Huch) herab, an anderer Stelle (S. 59) hieß es, sie hätten eine „mächtige Wirkung" auf die romantischen Genossen ausgeübt. Positiv bewertete Walzel die Emanzipationsleistung des „Katechismus" (59 f), was freilich im Widerspruch zu der von ihm sonst betonten ethischen Verwandtschaft Schleiermacher - Schiller stand, da das Frauenbild des „Katechismus" wie der Frühromantik generell in schroffem Gegensatz zu Schillers Frauenideal stand. - Die Methode der geistesgeschichtlichen Entgegenständlichung der realen Geschichte ist seinerzeit auch von Rudolf Unger: Hamann und die Aufklärung. Studien zur Vorgeschichte des romantischen Geistes im 18. Jahrhundert. 2 Bde. Jena 1911 auf breiter Grundlage praktiziert worden. Bei Unger war Schleiermacher neben Herder, Schelling und F. Schlegel Repräsentant einer Bewegung, welche die rationalistische und sensualistische Aufklärung und die aus „Orthodoxismus, Pietismus und Mystizismus" geborene lutherische Gläubigkeit des 18. Jahrhunderts zu einem „konkreten immanenten Idealismus" zusammengeführt hatte (Bd. I, 233 f). 2*
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Einleitung
(„Hochblüte der Altstämme bis 1805 und der Neustämme bis 1800"), daneben auch die „Berliner Romantik 1 8 0 0 - 1 8 1 4 " einschlägig sind. Als Repräsentant einer regional-stämmegeschichtlichen Literaturgeschichtsschreibung besaß Nadler Vorläufer in Verner van Heidenstam, in seinem Wiener Lehrer August Sauer, in Reinhold Steig u. a. Zwar spielte, zumal Nadler die deutsche und osteuropäische Stämmebewegung ins Geistig-Kulturelle transzendierte, der „Blut- und Rassengedanke" bei ihm keineswegs jene Rolle wie bei dem nachmals im Dritten Reich hochgeehrten Adolf Bartels. Doch ist Nadlers Werk, bis zum massiven Antisemitismus, vom völkisch-rassischen Ideendunst des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts nicht unbeeinflußt geblieben. Es bedurfte gar nicht erst des programmatischen GobineauZitats in der „Berliner Romantik", um auf diese Affinitäten aufmerksam zu werden. 35 Nadlers regionalisierte Literaturgeschichtsschreibung bot ein Beispiel für die stammesgeographische Verformung des Frühromantikers Schleiermacher: ein „schlesischer Charakter" von „schweigsamer Tiefe und sturmgestillter Ruhe". 3 6 Gemäß seiner These von der Romantik als der Kultur des nordöstlichen Kolonistenlandes war Nadler bestrebt, die schlesisch-lausitzischen Einflüsse auf Schleiermacher zu unterstreichen. Die Reden „Über die Religion" erinnerten Nadler hingegen an den Wortgebrauch der „Nürnberger Mystiker des späten 18. Jahrhunderts". Für die „Monologen" bemühte er die „mystische Kunst des 14. Jahrhunderts" und verwies auf Heinrich Seuse. 37 Mit der stämmekundlichen Beschreibung Schleiermachers als „schlesischer Religionsheros" war eine regionalhistorische Betrachtung ausgebildet, an die weitere Fachvertreter anknüpfen sollten, ohne sich allerdings in direkter Schülerschaft zu Nadler mit seiner „bedeutenden" Konzeption (so Benno von Wiese 1934) 3 8 zu wissen, zumal in Nadlers „östlichen Siedelstämmen" das ostischbaltische Element als ein irritierend aufgewerteter Faktor empfunden wurde. Die seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts durch Ricarda Huch und Oskar Walzel neu belebte Rekonstruktion der Romantik, welche bei Walzel auch die Funktion eines Regulativs zu der von ihm beargwöhnten „Neoromantik" besaß, zerfloß nach 1918 mit großer Schnelligkeit in den Bahnen eines geistesgeschichtlichen und gestaltpsychologischen Intuitionismus. Diese Entwicklung wurde besonders in den zwanziger Jahren sichtbar. Begünstigt wurde sie durch die von Hermann Heimpel so bezeichnete „antihistorische Revolution", 3 9 die alle geschichtswissenschaftlichen Teildisziplinen erfaßte. In der Zeit der Weimarer Republik erschien eine nachgerade inflationäre Fülle von Darstellungen zur Romantik, die dem Phänomen weniger historisch denn in seinem „Wesen" oder auch als überzeitlichem Seelen- oder Stiltypus beizukommen versuchten. Hinzu traten, nachdem 1912 schon Christoph Flaskamp seinen Signalruf zur Beerbung der (Spät-)Romantik im Zeichen einer kon3£> Nadler: Berliner Romantik: „Lassen wir also diese Kindereien und vergleichen wir nicht Menschen, sondern Menschengruppen". :lti Nadler: Literaturgeschichte, aaO., Bd. 3, 1 7 5 . 1 6 1 . 3 7 Nadler: Berliner Romantik, 66. 68. 3 8 Benno von W i e s e : Dichtung und Geistesgeschichte des 1 8 . Jahrhunderts. In: D V f L G 1 2 ( 1 9 3 4 ) , 4 4 2 . Zur Entstehung der Literaturgeschichte, die in immer wieder umgearbeiteter Form zuletzt als einbändiges W e r k im Jahre 1 9 5 1 erschien, vgl. Josef Nadler: Geschichte der deutschen Literatur. Wien 1 9 5 1 , 1 0 0 3 - 1 0 0 8 („Schlußrede"). 3 3 Hermann Heimpel: Geschichte und Geschichtswissenschaft. In: Bericht über die 23. Versammlung deutscher Historiker in Ulm. In: Beih. G W U . Stuttgart o. J., 1 7 - 3 4 .
II. Gesamtdarstellungen
1870 bis 1945
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servativ-katholischcn Kulturkritik publiziert hatte, auch katholische Schriften, die an dem Protestanten Schleiermacher nur in zurückhaltender Art interessiert waren (Ursprungsunmittelbarkeit des Religiösen) und ihn oftmals ausklammerten. 40 Die Romantikforschung der Weimarer Jahre gewann im Gefüge der tiefgestaffelten „konservativen Revolution" mit ihren zivilisationskritischen, antiliberalen und irrationalistischen Aspirationen unmittelbare politische Bedeutung und verstärkte antimodernistische Tendenzen in Gesellschaft und Politik. Die Berufung auf Schleiermachers „Erbe" (Betonung der organologischen Elemente in seiner Staats- und Gesellschaftsauffassung) erfolgte dabei in der Literaturwissenschaft weithin im Nachtrab zu Forschungsergebnissen von Juristen, Historikern und Philosophen, während Schleiermacher in der protestantischen Theologie, die seit 1918 durch einen Neuaufbruch unter dem Signum der „Dialektischen Theologie" geprägt war, in den zwanziger und dreißiger Jahren vorerst einen erheblichen Wirkungsverlust erlitt. 41 Literaturhistorische Geltungsmacht während der Jahre der Weimarer Republik und des „Dritten Reiches", partiell auch über die Zäsur des Jahres 1945 hinaus, haben, neben der für Schleiermacher wenig ergiebigen Darstellung Fritz Strichs, vor allem Paul Kluckhohns „Deutsche Romantik" (1924) und das „Ideengut der deutschen Romantik" (1941), das Werk von Richard Benz „Die deutsche Romantik" (1937; 1940 4 ), H. A. Korffs „Geist der Goethezeit" mit dem für uns einschlägigen Band III „Frühromantik" (1940) und das zweibändige Werk von Franz Schultz „Klassik und Romantik der Deutschen" (1934/1940) erlangt. 42 D a diese Gesamtdarstellungen sich von vordergründigen politischen Äußerungen fernzuhalten suchten, ja im Falle H. A. Korffs eine von der marxistischen Literaturgeschichtsschreibung der Gegenwart wieder gewürdigte geschichtsphilosophische Höhe gewannen, 43 erscheint es ratsam, sie besonders in Augenschein zu nehmen. Charakteristisch für Kluckhohn wie für Benz war, ungeachtet der erklärten Absicht, wieder stärker in die literaturgeschichtliche Konkretheit des Phänomens zurücklenken zu wollen, eine stark typisierende Betrachtungsweise. Bei Kluckhohn wurde sie noch durch seinen systematischen Ansatz bei der Entfaltung des Themas 40
Christoph Flaskamp: D i e deutsche Romantik. Warendorf 1916. D i e konfessionspolitische Zurückdrängung Schleiermachers findet sich z. B. bei Alois Stockmann S. J.: D i e deutsche Romantik. Ihre Wesenszüge und ihre ersten Vertreter. Freiburg i. B. 1 9 2 1 ; Erna Callmann: Der religiöse Gehalt der Romantik. Düsseldorf 1 9 2 7 ; Hennig Brinkmann: D i e Idee des Lebens in der deutschen Romantik. Augsburg - Köln 1926 (Schriften zur deutschen Literatur. Für die Görres-Gesellschaft hg. von Günter Müller Bd. 1). 41 D i e s e W e n d e markierte Emil Brunner: D i e Mystik und das Wort. Der Gegensatz zwischen moderner Religionsauffassung und christlichem Glauben dargestellt an der Theologie Schleiermachers. Tübingen 1924. (2. Aufl. 1928). 42 Paul Kluckhohn: D i e deutsche Romantik. Bielefeld/Leipzig 1 9 2 4 ; ders.: D a s Ideengut der deutschen Romantik. Halle/S. 1941; Richard Benz: D i e deutsche Romantik. Geschichte einer geistigen Bewegung. Leipzig 1937 (1940 4 ); Hermann August Korff: Geist der Goethezeit. Versuch einer ideellen Entwicklung der klassisch-romantischen Literaturgeschichte. III: Romantik Frühromantik. Leipzig 1940 (9. Aufl. Darmstadt 1977 = Nachdruck der 7. Aufl. Leipzig 1 9 6 6 ) ; Franz Schultz: Klassik und Romantik der Deutschen. Teil 1: D i e Grundlagen der klassisch-romantischen Literatur. Stuttgart 1 9 3 4 ; Teil 2 : Wesen und Form der klassisch-romantischen Literatur. Stuttgart 1940 (2. durchgesehene Auflage 1952). 43 Claus Träger: Aufklärung - Sturm und Drang - Klassik - Romantik. Epochendialektik oder „Geist der Goethezeit"? In: Ders.: Studien zur Erbetheorie und Erbeaneignung. Leipzig 1981, 247 bis 2 7 1 ; 2 6 2 - 2 6 4 (RUB 907).
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Einleitung
verstärkt. Die Interpretationen Kluckhohns fußten auf der Theorie vom Unendlichkeits- und Synthesestreben der Romantiker (eine an Walzel gemahnende Sicht) und der These von der „Idee des Lebens" in ihrer seinshaften, aller rationalen Auflichtung überlegenen Geltung. Hinzu traten bei Kluckhohn, der immer gemeint hatte, eine Trennung von Wissenschaft und politischer Vernunft durchhalten zu können, dem politischen Zeitgeist verhaftete Vor-Urteile: Romantik als „deutsche Bewegung"; scharfe Trennung von Aufklärung und Romantik bei dezidierter Bejahung der „antiaufklärerischen" Elemente in der romantischen Bewegung, verbunden mit einer politischen Depotenzierug der Französischen Revolution und ihrer Ausblendung aus dem romantischen Weltanschauungsprogramm. 44 In seiner „Deutschen Romantik" von 1924 fand Kluckhohn, die Romantik lasse sich neben ihrem tiefgreifenden Gegensatz zur Aufklärung am besten aus der Opposition gegen die Ideale der klassischen Dichter begreifen. Im „Ideengut" hieß es dazu erläuternd, die Romantiker hätten in der klassischen Dichtung und Philosophie nur einen Teil des Lebens bewältigt gefunden, während die metaphysischen Bedürfnisse zu kurz gekommen seien. 45 Dieses Stichwort bot Kluckhohn die Plattform, den Verfasser der Reden „Über die Religion" in das „Grunderleben aller mystischen Bewegungen" einzuordnen und den Zug demütiger Hingabe an das Universum an ihm hervorzuheben. Den Schleiermacher der herrnhutischen Lebensetappe stilisierte Kluckhohn fast wie einen mittelalterlichen Mönch („klösterliche Stille"). In ihm habe das religiöse Erleben der Romantik, charakterisiert als Strömen, Schweben und Berührung mit dem Absoluten, den „überzeugendsten und stärkst wirkenden Ausdruck" gefunden. 46 Unter dem Vorzeichen der seinshaften „Idee des Lebens" genoß auch der Autor der „Monologen" hohe Wertschätzung. Kluckhohn faßte die „Monologen" im Anschluß an Haym als Versuch, die Fichtesche Philosophie ins Leben zu übertragen, dies bei Wahrung der sittlichen Freiheit und Autonomie des Individuums. Diese subjektive Linie wurde von Kluckhohn jedoch durch den Hinweis auf das Erlebnis organologischer Totalität in den „Monologen" eingeschränkt. 47 In Schleiermachers Auffassung der Persönlichkeitskultur fand er unter dem Aspekt permanenter Steigerung „Nietzsche vorweggenommen". Schleiermachers Kritik an der deutschen Gesellschaft wurde von Kluckhohn zivilisationspessimistisch umgedeutet. 48 Hatte Kluckhohn nur von einer „Opposition" der Romantik gegen die Klassik gesprochen, so übersteigerte Benz diese Gegenläufigkeit zu einem „Urgegensatz" und zu einer die deutsche Kultur seit dem Mittelalter prägenden „Dichotomie" in geistig-kultureller und religiös-konfessioneller Hinsicht. Den Grundgedanken der Romantik verstand Benz als Willen zur Wiedervereinigung des „schicksalhaft" Getrennten mit dem Ziel, „seit dem Mittelalter zum erstenmal wieder eine deutsche Gesamtkultur zu verwirklichen". Wegen dieser Intention konnte die Romantik 44
Kluckhohn: Die deutsche Romantik, aaO., 3; Ideengut, aaO., 6 f. Kluckhohn: Ideengut, aaO., 178-180. 46 Kluckhohn: Die deutsche Romantik, aaO., 67 f.; 71; 72; Ideengut, aaO., 125. 47 Kluckhohn: Die deutsche Romantik, aaO., 68; 159. 48 Ebenda, 69. - Auf dem Tübinger Romantikkolloquium (Theodor Steinbüchel [Hg.]: Romantik. Ein Zyklus Tübinger Vorlesungen. Tübingen 1948) fiel Kluckhohn das Referat: Voraussetzungen und Verlauf der romantischen Bewegung (11 ff) und der Beitrag: Romantische Dichtung (29 ff) zu. Hier modifizierte Kluckhohn die Antithetik Klassik - Romantik (13), hielt aber sonst am Grundbestand seiner Interpretationen fest. 45
II. Gesamtdarstellungen 1870 bis 1945
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bei Benz eine der Renaissance in Italien vergleichbare Stellung einnehmen („germanische Wiedergeburt"), wobei Benz die Erreichung dieses Ziels in die Dimension eines ständig neu zu unternehmenden Wagnisses einstellte, von dem die Gegenwart nicht entbunden werden könne. 49 Im Rahmen dieser großlinigen kulturphilosophischen Konzeption, die zudem mit musikgeschichtlichen Betrachtungen verflochten war, erhielt Schleiermacher einen nur bescheidenen Platz angewiesen. Kluckhohns religiös-mystischer Genius war für Benz ein bloßer Ideenlieferant für Friedrich Schlegels Religionsprogramm. 50 D a Benz die Überwindug der kulturellen Dichotomie Deutschlands auch in konfessionspolitischen Bezügen thematisierte und dabei offenbar Friedrich Schlegel, dem nachmaligen Konvertiten zur römisch-katholischen Kirche, eine hervorgehobene Rolle zuschrieb, mußte der Protestant Schleiermacher auch unter diesem Aspekt zurücktreten. Benz beschränkte sich darauf, mit überlangen Briefzitaten die Freundschaft Schleiermacher - F. Schlegel zu schildern und im übrigen den protestantischen Prediger als Satrapen der „geistigen Revolution" F. Schlegels einzuordnen. 51 Der methodologische Ansatz von Franz Schultz verstand sich, wohl in dezidierter Abwendung von Synthesen der Romantik im Stile Kluckhohns und von der abendländischen Kulturphilosophie eine Richard Benz, als nacherlebende Betrachtung. Zugleich ist Schultz' Darstellung ein Gegenentwurf zu H. A. Korff gewesen, artikulierte sich doch bei ihm ein erhebliches Unbehagen an dem, wie er es nannte, „blutleeren Schematismus" Korffs, der an einem in der Nachfolge Hegels stehenden Geschichtsverständnis abgezogen sei. 52 An die Stelle Hegelscher „Systemzwänge" versuchte Schultz eine „Morphologie" der klassisch-romantischen Epoche zu setzen, die durch Begriffe wie Einheit und Vielfalt, Ab- und Auflösung sowie durch ein nicht normierbares vital-geschichtlich und absichtslos „Gegebenes" konstituiert werden sollte. Die Inhalte dieser Morphologie, innerhalb derer literargeschichtliche Schulbegriffe wie Sturm und Drang, Geniezeit, Klassik, Klassizismus, Romantik ihren Rang verloren, verstand Schultz als etwas historisch unüberbietbar auf den „nacherlebenden" Rezipienten Zukommendes. Denn in der klassisch-romantischen Epoche habe eine Neubegründung des Menschen in seiner Wirklichkeit und seiner Bewußtseinsgrundlagen stattgefunden. Es ist deutlich, daß im Rahmen einer so verstandenen Morphologie, einer multivalenten Schau, welche die Epoche als Sammelbecken entgegengesetzter und sich aneinander abarbeitender Kräfte und Haltungen verstand, Schleiermacher in einer gewissen Eigenwertigkeit hervortreten mußte. Allerdings verzichtete Schultz darauf, sich dem Werk Schleiermachers mit eigenen Untersuchungen zu nähern. Ausführlicher behandelt wurden lediglich die Reden „Über die Religion". Schultz sah 49 Benz: D i e deutsche Romantik, aaO., 2 3 ; 4 7 6 - 4 8 2 . D i e These vom „Urgegensatz" ist programmatisch formuliert auch in: Ders.: Klassik und Romantik. Vom Ursprung und Schicksal eines deutschen Dualismus. Eine Rede. Berlin 1938. 50 Benz: D i e deutsche Romantik, aaO., 9 6 - 1 0 0 . 51 Ebenda, 98. 62 Schultz: Klassik und Romantik der Deutschen, aaO., Bd. 2, 4 3 6 (2. Aufl. 1952). D e r AntiKorffianismus von Schultz, 1952 verbis expressis bekundet, kann als methodologisches Prinzip seiner Darstellung von Anfang an aufgefaßt werden. D i e prekäre N ä h e der Konzeption von Schultz ru völkisch-organologischer Ideologie kam in seiner kleinen Schrift: D i e deutsche Romantik. Köln 1940, zum Ausdruck.
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Einleitung
in ihnen einen Gegenentwurf zur „fichtesch-romantischen Ichherrlichkeit" und deutete ihren Zusammenhang mit den Plänen zur Schaffung einer neuen Religion bei F. Schlegel an (Über die Philosophie; Ideen). Das Unterscheidende zwischen der Religiosität Schleiermachers, F. Schlegels und Novalis' sei das ästhetische Moment; F. Schlegel und Novalis mißachteten die Grenze zwischen ästhetischen und religiösen Eindrücken, so daß deren Religion ins bloß „Stimmungshafte" hinüberspiele. 53 Entsprechend seiner Weigerung, das „Wechselnd-Farbige" der Epoche begrifflich eindeutig zu fixieren und Entwicklungslinien auszuarbeiten, stand Schleiermacher in dem Werk von Schultz als partikularer Bestandteil seiner Epochen-Morphologie im Raum. Was in Schultz' anti-teleologischer Konzeption als geschichtsphilosophischer Konstruktivismus erschien, war bei H. A. Korff der großangelegte Versuch, die scheinbaren oder tatsächlichen Widersprüche von Sturm und Drang - Klassik - Romantik in einem großräumigen Entwicklungsmodell einzufangen, dessen Sinnmitte der „Geist der Goethezeit" war. Korff begriff die Abfolge Sturm und Drang - Klassik - Romantik im Schema einer Überbietung der jeweils vorangegangenen Stufe bzw. „Generation", wobei der Generationsbegriff von seinem biologischen Inhalt abgelöst war. Der Generationsbegriff bezeichnete als geistesgeschichtliches Strukturelement eine „Schöpfungsstufe" des „absoluten Geistes" und war primär als „Werkgemeinschaft" und ein von ihr hervorgebrachtes Werk verstanden. In den Termini „Werk" und „Werkgemeinschaft" war die individuell-persönliche und „organische Begrenztheit" der Manifestationen des objektiven Geistes gesichert, der dann weiter über sich hinausdrängte. 54 Korff zielte darauf ab, die Entwicklung von Sturm und Drang zur Klassik als den „Reifeprozeß" der „ersten Generation" zu fassen und die „zweite Generation" als deren objektive Überbietungsgestalt zu charakterisieren: und zwar in (vorläufig) humanistischer und sodann (vorerst endgültiger) romantischer Gestalt. Die „zweite Generation" war für Korff gleichsam doppelt strukturiert. Mit der „Romantisierung" des von der humanistischen Generation geschaffenen Werkes (dies die Korffsche Grundaussage für die Romantik überhaupt) habe die romantische Generation alle Probleme der Väter noch einmal in anderer Qualität durchlaufen und sich dabei zunächst an Sturm und Drang angeschlossen. So gewiß nach Korff die klassisch-romantische Epoche zusammengeschaut und gegen Aufklärung des 18. und bürgerlichen Realismus des 19. Jahrhunderts in ihrer Eigenständigkeit abgegrenzt werden mußte, so divergent im qualitativen Neuansatz waren Klassik und Romantik doch untereinander. Die neue Qualität der Romantik erblickte Korff in der Philosophie, im Geschichtsverständnis, im Ethos, in der Religion, im ästhetischen Kanon. „Fassen wir das Gesagte zusammen, so ist die Romantik, literarhistorisch, das Auftauchen einer neuen Welt, der Wunderwelt des christlich-germanischen Mittelalters in der Dichtung; ideengeschichtlich das Eindringen des Übernatürlichen, Wunderbaren und Märchenhaften, das Vordringen des christlichen Geistes, vor allem im Sinn einer neuen ethischen Haltung, der romantischen Frömmigkeit, und endlich die bewußte Verwurzelung des deutschen Gegenwartsmenschen in der Geschichte seines Volkstums und seiner Kultur". 5 5 53 64 55
Schultz: Klassik und Romantik der Deutschen, aaO., 388-391. Korff: Geist der Goethezeit, aaO., III, 3-18. Ebenda, 15. - Schon 1929 hatte Korff gemeint, die entscheidende Frage sei, ob man den
II. Gesamtdarstellungen
1870 bis
1945
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Schleiermacher kam für Korff im Rahmen dieser Konzeption für den qualitativen Umbruch im Religiösen und Ethischen in Betracht, so daß es notwendig war, den Autoren der Reden „Über die Religion" und der „Monologen" eingehend zu behandeln. Ansatzpunkt im Religiösen war für Korff nicht der von Walzel und Kluckhohn unterstrichene Hang zum Übersinnlichen, sondern zunächst die romantische Geschichtsschau F. Schlegels. Die durch sie eingeleitete Romantisierung des Geschichtsbildes habe ein neues „Gefühlsverhältnis" zum Christentum als eine der Säulen der abendländischen Kultur geschaffen. Mit der „Entdeckung" des Christentums habe sich eine „überraschende Gleichheit" zwischen romantischem und christlichem Geist herausgestellt: Unendlichkeitsdrang. Möglich geworden sei dieses Verwandtschafts- und Gleichheitserlebnis dadurch, daß der für die Romantik konstitutive Geist der Transzendentalphilosophie als Religion begriffen worden sei, dies bei Abstreifung der spezifisch philosophischen Ausdruckselemente. Diesen Schritt habe kein anderer als Schleiermacher, „ein tiefsinniger Schüler der modernen Philosophie", vollzogen. Mit der Gleichsetzung Idealismus - Religion Christentum schloß sich für Korff eine Beweiskette, die es ihm ermöglichte, den unorthodoxen Christianismus Schleiermachers wie auch die religiöse Welt Novalis', Tiecks und Wackenroders in der Mitte zwischen philosophischem Idealismus, Gefühlsreligion und christlichem Glauben zu halten und in einem höheren Reich („Reich des Geistes") aufgehen zu lassen. Diese interpretatorischen Vorgaben mußten bei der Exegese der Reden „Über die Religion" fühlbar zu Buche schlagen. So meinte Korff, es komme in ihnen nichts anderes als ein Gefühlspantheismus zum Ausdruck, der sein „offenkundiges Vorbild" in Spinozas amor Dei intellectualis habe, gleichzeitig eine „besonders hohe Form der ästhetischen Apperzeption", die sehr stark von Philosophie bestimmt sei. Die sogenannte „religiöse Intuition" sei „nichts anderes als das Resultat der ganzen philosophischen Kultur der Goethezeit, die nur tut, als sei ihr diese Anschauung gleichsam im Schlaf gekommen". 56 Erlangte Schleiermacher für Korff schon im Religiösen eine Schlüsselfunktion für die Deutung der romantischen Weltanschauungs-, Geschichts- und Kunstrevolution, so erst recht bei der Romantisierung des Humanitätsideals. Korff räumte Schleiermacher, dem „Humanitätsphilosophen der Frühromantik", den gleichen Rang ein, den Herder als Humanitätsphilosoph der frühen Klassik besaß und meinte, die humanitär-ethische Ideenwelt des Romantikerkreises sei nur von der „Gedankensonne" Schleiermacher her richtig zu berechnen. 57 Korff arbeitete die UnterBegriff Romantik „allgemein psychologisch oder historisch entwickeln will" (Hermann August Korff: Das Wesen der Romantik. In: Zeitschrift für Deutschkunde 4 3 [1929], 5 4 1 - 5 6 1 . Wieder abgedruckt bei H. Prang [Hg.]: Begriffsbestimmung, 1 9 5 - 2 1 5 ) . Eine Vorstudie zum „Geist der Goethezeit" war auch schon ders.: Humanismus und Romantik. D i e Lebensauffassung der Neuzeit und ihre Entwicklung im Zeitalter Goethes. Fünf Vorträge über Literaturgeschichte. Leipzig o. J. (1924). Hier legte Korff die großen Linien seiner Konzeption dar und spannte den Bogen von der Renaissance bis zum klassisch-humanistischen Ideal. D i e Romantik habe dem deutschen Humanismus „ein Haus in der Metaphysik geschaffen, worin dem letzteren eine Heimat ward" (116). „Humanität und Romantik gehören also zusammen. Sie bilden den natürlichen Kreislauf einer Kultur, in welchem sie sich w i e die Pflanze im Kreislauf von Blüte zu Frucht vollendet" (140). 56 57
Korff: Geist der Goethezeit, aaO., III, 3 2 9 ; 3 3 4 - 3 4 5 . Ebenda, 351.
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Einleitung
schiede zwischen klassischer und romantischer Ethik in schroff antithetischen Wendungen heraus. „Die klassische Humanität ist eine Religion der Tat, die romantische eine Religion des tatenlosen Genießens. Praktisch ist die eine, mystisch die andere". Die prinzipielle Andersartigkeit beider war in einem anderen Religionsbegriff fundiert; der klassische war „praktisch-sittlich", der romantische „ästhetischallharmonisch". Die geistig-sittliche Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit habe bei den Romantikern an die zweite Stelle rücken müssen. „Zwar gibt es zahllose Dokumente, die beweisen, daß auch für die Romantiker das Sittliche ein Anliegen ersten Ranges war - ist doch das Hauptwerk ihres Humanitätsphilosophen eine ,Kritik der Sittenlehre', durch welche die Ethik neu begründet werden sollte - , aber vollenden tut sich nach ihrer Meinung der Mensch in der Religiosität und damit in einer Sphäre oberhalb der Tat und oberhalb des Endlich-Einzelnen". Unter dem kritischen Vorbehalt des zuletzt quietistischen Zielpunktes romantischer Humanität und Ethik vermochte Korff den Individualitätsgedanken der Romantik in seinen ethischen Dimensionen (Durchbruchsschrift: Schleiermachers „Monologen") durchaus zu würdigen und als Pendant zu Kants Ethik zu verstehen.58 Die Romantikkonzeption Korffs verkannte zweifellos die Eigenart von Schleiermachers Religions- und Christentumsverständnis. Prinzipiell muß gefragt werden, ob das „Emporsteigen des Christentums" aus den von Korff entwickelten Determinanten (romantisiertes Geschichtsbild, übersinnlicher Zug der Transzendentalphilosophie, Eigenart der ästhetischen Wahrnehmung bei den Romantikern) hinreichend erklärt werden kann. Einseitig mutet auch die Charakteristik der romantischen Ethik an. Da Korff Literaturgeschichte im strengen Sinn als Geschichte von Dichtung verstand, verstellte er sich zudem den Blick für Zusammenhänge sozialgeschichtlicher und allgemein politisch-gesellschaftlicher Art. Auch der Systemwille, die Romantik mit der Klassik in der Relation Frucht - Blüte zusammenzusehen, führte zu perspektivischen Verkürzungen etwa im Blick auf das Verhältnis Romantik - Aufklärung, welches Korff, hierin einer erdrückenden opinio communis folgend, als kontradiktorisch ansah. Bei Schleiermacher fielen aus diesem Grunde auch alle Bezüge zur Aufklärung weg. Immerhin bleibt mit der Schleiermacherinterpretation Korffs, deren Scharfsinn sich freilich am konkreten Überlieferungsmaterial nur partiell bewähren läßt, ja ihm teilweise zuwiderläuft, eine noch heute wirksame Position markiert. Die gleitende Erscheinungsweise von Korffs opus magnum über den Epocheneinschnitt von 1945 hinweg und die zahlreichen Neuauflagen (9. unveränderte Auflage 1977) haben dazu beigetragen, sie zu verstärken.
III. Ältere Ein^elforscbungen Die literarhistorische Forschung zu Schleiermacher auf der Ebene der wissenschaftlichen Monographie und des Aufsatzes setzte in beachtenswertem Umfang um die Jahrhundertwende ein, wobei sie in den zwanziger Jahren ihre größte Dichte erreichte. Während des „Dritten Reiches" knickte sie spürbar ab. In der Einzelforschung eine immanente Logik auszumachen und Bezüge zu einer wie auch immer gefaßten Forschungslage („Fortschritte der Forschung") herzustellen, ist schwer, 58
Ebenda, 3 5 1 - 3 6 5 .
III. Ältere Einzelforscbungen
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zumal viele Arbeiten hinter die von Dilthey und Haym gesetzten interpretatorischen Wegmarken zurückfielen. Dem retrospektiven Blick erzeugt sich an vielen Stellen der Eindruck eines unverbundenen Mit-, Gegen- und Nacheinanders. E s fällt auch auf, daß nicht zielstrebig in Forschungslücken hineingestoßen wurde und die Betrachtung zumeist um die gleichen Themata kreiste: Religionsauffassung, Freundschaft und Liebe, Individualität. D e r eigentlich relevante Erkenntniszuwachs zum jungen Schleiermacher vollzog sich damals in der theologischen und philosophischen Forschung (S. E c k , G . Wehrung, J . Wendland, W . Schultz u. a.) 5 9 , partiell auch in der Biographik (H. Hering, H. Meisner) 6 0 . Ein Aufbruch zu neuen Ufern wäre in jenen Jahren nur durch einen Methodenwechsel und eine Erweiterung der Betrachtungsperspektive zu erzielen gewesen, wie sie sich, unter freilich ganz anderen Voraussetzungen, in der systematischen Theologie im Gefolge des theologischen Epochenumbruchs nach dem 1. Weltkrieg ereignete, ohne ihrerseits von neuen Verkürzungen und Einseitigkeiten verschont zu bleiben. D a es wenig ergiebig erscheint, die ältere Literatur in extenso zu rekonstruieren, soll nur auf einige Beiträge hingewiesen werden, die forschungsgeschichtliche Relevanz besitzen. An erster Stelle ist Friedrich Gundolfs Essay „Schleiermacher" ( 1 9 2 4 ) zu nennen. E r stellt bis auf den heutigen Tag den einzigen Gesamtdurchgang durch Schleiermachers frühromantisches Werk seit Dilthey und Haym dar. Gundolfs zunächst separat erschienener Aufsatz, der dann in dem Band „Romantiker" ( 1 9 3 0 ) als Bestandteil weiterer Essays zu F . Schlegel, C. Brentano, A. von Arnim, G . Büchner erschien, war von dem Ehrgeiz getragen, die Arbeiten Diltheys und Hayms zu überholen. 61 Gundolf, ein in mannigfachen Farben schillernder Literaturgeschichtief und Kulturphilosoph, strebte bei Schleiermacher eine „Ganzheitsschau" jenseits und außerhalb bloß historischer Kategorien an, die auch sonst für sein in der Nähe Stefan Georges angesiedeltes Werk charakteristisch war. Historisch-kritische Philologie 6 2 und Psychologie bildeten nur das Unterfutter seiner die geistesgeschichtliche Richtung der Literaturwissenschaft in die künstlerischintuitive Schau des Gegenstandes treibenden Betrachtung. Logische Stringenz des Gedankenganges war nicht Gundolfs Anliegen, der von einem „einheitlichen Ge5 9 Samuel E c k : Über die Herkunft des Individualitätsgedenkens bei Schleiermacher. Universitätsprogramm. Gießen 1 9 0 8 ; Johannes Wendland: Die religiöse Entwicklung Schleiermachers. Tübingen 1 9 1 5 ; Georg Wehrung: Der geschichtsphilosophische Standpunkt Schleiermachers zur Zeit seiner Freundschaft mit den Romantikern. Diss. phil. Straßburg 1 9 0 7 ; ders.: Schleiermacher in der Zeit seines Werdens. Gütersloh 1 9 2 7 ; Werner Schultz: Die theoretische Begründung der Individualität in Schleiermachers ethischen Entwürfen. I n : Z T h K 5 ( 1 9 2 4 ) , 3 7 - 6 3 ; ders.: Das Verhältnis von Ich und Wirklichkeit in der religiösen Anthropologie Schleiermachers. Göttingen 1 9 3 5 . 6 0 Hermann Hering: Samuel Ernst Timotheus Stubenrauch und sein Neffe Friedrich Schleiermacher. Gütersloh 1 9 1 9 (Beiträge zur Förderung christlicher Theologie 2 3 ) ; ders.: Schleiermachers Familienheimat und Vorfahren väterlicherseits. In: Theologische Studien und Kritiken 9 2 ( 1 9 1 9 ) , 8 1 - 1 1 2 ; archivalisch orientiert Heinrich Meisner: Schleiermachers Lehrjahre, hg. von Hermann Mulert. Berlin 1934. 6 1 Friedrich Gundolf: Schleiermachers Romantik. In: D V f L G 2 ( 1 9 2 4 ) , 4 1 8 - 5 0 9 ; ders.: Romantiker. Berlin-Wilmersdorf 1 9 3 0 , 1 4 1 - 2 7 5 . 6 2 Zur Beurteilung der wissenschaftlichen und weltanschaulichen Position Gundolfs aus marxistischer Sicht Rainer Rosenberg: Zehn Kapitel zur Geschichte der Germanistik. Literaturgeschichtsschreibung. Berlin 1 9 8 1 , 2 3 0 - 2 3 6 (Literatur und Gesellschaft).
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Einleitung
sieht" sprach, aus dem seine Beschäftigung mit der Romantik geboren sei, und in schulwissenschaftlicher Nüchternheit die selbstgenügsame Methodenarbeit einer geistesfernen Scholastik am Werke sah. 63 Gundolf ordnete Schleiermacher in die Linien einer „überschwenglichen Vergottung des Ich" unter dem Signum des Fichteanismus und dem Einfluß seiner „verfichteten Gefährten" (primär F. Schlegels) ein. Allerdings habe Schleiermacher die Transzendenz des Universums nie geleugnet, um das Ich zum alleinigen Träger und Inhalt der Welt zu machen. Auch habe er sich erst Fichtes „individualitäts-blinde Erlebnisart" individualistisch zugerichtet. Das gleiche Verfahren habe er bei Kant und Spinoza geübt, so daß sich folgender Befund ergab: „Aus Kant hat er die Autonomie der Menschen auf die Autonomie der Individuen übertragen. Zu Spinozas zwei Attributen der einen Substanz Denken und Ausdehnung hat er . . . gleichsam als drittes die Individuation gebracht, das Vermögen in Einzelwesen und für Einzelwesen zu erscheinen. Fichtes einheitliches Ich, das die Welt setzt, ist bei ihm zu vielheitlichen Ichen geworden, deren jedes das All auf eine eigentümliche Weise empfängt und schafft". 64 Das Prekäre an Schleiermachers Individualitätscredo war Gundolf zufolge die Tatsache, daß der Individualist im tiefsten Sinne unfähig zum Individualisieren gewesen sei, das heißt zu einer plastisch-realen Empfindung und Darstellung seines Credo: Es werde ein abstrakter und steriler Kult der Individualität getrieben, dem der Herzton fehle. Dieses Urteil galt sowohl für das in den /Reden entwickelte Individualitätsmuster (in den Reden sei Schleiermacher nur echt und überzeugend, wenn er sich auf dialektische Darlegung seiner Gedanken beschränke) wie für die „Monologen". Das Ich der „Monologen" schweife trotz „unendlicher Haarspaltereien und Subtilitäten" immer wieder im Allgemeinen und nehme keinen festen Charakter an. 65 Ein weiterer schwerer Vorwurf richtete sich gegen die Formlosigkeit Schleiermachers, die seiner Sucht entspringe, entgegen Goethes Warnung hinter die Phänomene greifen zu wollen. Dadurch würden die transphänomenalen Geheimnisse entweiht und verschwätzt, in zwielichtigen Regionen angesiedelt, wie besonders an den Reden bemerkbar: Mißbrauchter Spinozismus, verkappte Theologie, überspannter Bildungskult, dies alles in der Haltung eines „feigen Schwiemelns zwischen Theologie und Philosophie". 66 Charakterlich war Schleiermacher nach Gundolf ein typisch romantischer Genußmensch („Geschmack für das Unendliche"), und selbst seine aufrichtige und berechtigte Polemik gegen das materielle Aufklärungs- und Fortschrittsideal im fünften Teil der „Monologen" sei im Vergleich mit Hölderlins Klage im „Hyperion" eher tändelnd, da dem Schreiber nur seine eigene Individualität wichtig sei. Das der Renaissance entstammende Persönlichkeitsideal Humboldts wurde als positives Gegenstück ins Feld geführt. 67 So problematisch Gundolfs Schleiermacherinterpretation war - schon der duldsame Hermann Mulert reagierte auf sie in seinem Forschungsbericht von 1933 höchst kritisch 68 - , so bezeichnend war sie doch für die Lage der geistesgeschichtlichen 63
Gundolf: Romantiker, aaO., Vorwort. Gundolf: Schleiermachers Romantik, aaO., 435. 65 66 Ebenda, 481. Ebenda, 454. 67 Ebenda, 436 f. 68 Hermann Mulert: Neuere deutsche Schleiermacher-Literatur. In: ZThK 14 (1933), 3 7 0 - 3 7 8 . Zu Gundolf 377 f; vgl. weiter ZThK 15 (1934), 7 7 - 7 8 ; 2 5 6 - 2 7 3 ; ZThK 2 (1921), 2 9 5 - 3 1 0 . 64
III. Ältere Einzelforscbungen
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Literaturgeschichtsschreibung in der Mitte der 20er Jahre. R. Rosenberg spricht in kategorischer Diktion von einem „Nullpunkt" 69 . In der Tat war Gundolfs Schleiermacher-Essay weniger informativ bezüglich Schleiermachers denn für die „Gestaltbetrachtung" Gundolfs und ihres mythenschaffenden Charakters selbst. Auf der Folie von Gundolfs Ideal der wahren Helden und Dichter - er verstand sie als von innen strahlende Kräftekugeln, die zeitlos am Firmament stehen - , erschien Schleiermacher als ein kläglicher und kraftloser Theoretiker des Individualismus. Gundolfs Aufsatz beleuchtete in seinen ungenauen Schleiermacherzitaten unfreiwillig die unbefriedigende Editionslage bei den Primärquellen. Die nach dem Tode Schleiermachers veranstaltete Ausgabe der „Sämmtlichen Werke" (1834-1864) konnte schon vor einem halben Jahrhundert kritisch-philologischen Ansprüchen nicht mehr genügen. Zudem waren dort die beiden frühromantischen Hauptschriften Schleiermachers, die Reden „Über die Religion" und die „Monologen", nicht in der Erstgestalt von 1799 und 1800 abgedruckt. Die kritische Edition der Reden, die schon 1879 durch Pünjer veranstaltet worden war, und die Jubiläumsedition von Rudolf Otto (1899; 1967 6 ), daneben auch die kritische Edition der „Monologen" durch M. Schiele (1902) und H. Mulert (1914), sind von der Literaturgeschichtsschreibung nur sporadisch beachtet worden. 70 Gleiches traf auf die Werkausgabe von Braun/Bauer zu. Schon im Jahre 1914 hatte Johannes Wendland die dringende Bitte an die Berliner Akademie der Wissenschaften gerichtet, nicht länger auf die kritische Schleiermacher-Ausgabe warten zu lassen, eine Forderung, die 1927 durch H. Mulert erneuert, 1961 von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften in Angriff genommen wurde, jedoch erst seit den 1970er Jahren mit der „Kritischen Gesamt-Ausgabe" in fünf Abteilungen in ihr Realisierungsstadium getreten ist. 71 In der älteren Einzelforschung spiegelte sich die unbefriedigende Editionslage in der oft willkürlichen Heranziehung von Schleiermachertexten und einer unzureichenden Auswertung der Quellenbasis wider. Die Briefeditionen Meisners, die nach dem 1. Weltkrieg fortgesetzt wurden, fanden in der Literaturgeschichtsschreibung kaum Beachtung. 72 Zum Religionsthema bei Schleiermacher erschien 1913 die Monographie M. O. Stammers, deren literarhistorischer Ansatz indes stark von einem theologischen Beweiszwang beherrscht war. 73 Stammer unterstellte dem Frühromantiker, einer verwerflichen Ästhetisierung der Religion Vorschub geleistet zu haben. Demgegenüber war Theodor Siegfried (1916) am Nachweis der Gemeinsamkeiten Schleiermachers mit den Frühromantikern in „Gesamthaltung" und „Grundvoraussetzungen" interessiert. 74 In wesentlichen Punkten (Idee der Vermittlung von Endlichem 69
Rosenberg: Zehn Kapitel, aaO., 232. Friedrich Martin Schiele: Friedrich Schleiermacher: Monologen nebst den Vorarbeiten. Kritische Ausgabe. Leipzig 1902. - 2. erw. Aufl. von Hermann Mulert 1914 (Nachdruck Hamburg 1978). 71 Johannes Wendland: Neuere Literatur über Schleiermacher. In: Th R 17 (1914), 133-145; 135. Zur Vorgeschichte der seit 1980 bei W. de Gruyter: Berlin (West) - New York erscheinenden Kritischen Gesamt-Ausgabe (KGA) vgl. aus der I. Abteilung Bd. 7/1. 72 In Betracht kam vor allem neben den bereits in Anm. 21 genannten Titeln Heinrich Meisner (Hg.): Schleiermacher als Mensch. Sein Werden. Familien- und Freundesbriefe 1783-1804. Gotha 1922. 73 Martin Otto Stammer: Schleiermachers Asthetizismus in Theorie und Praxis während der Jahre 1796 bis 1802. Diss. theol. Rostock 1913 (Druck: Leipzig 1913). 74 Theodor Siegfried: Das romantische Prinzip in Schleiermachers Reden über die Religion. Diss. phil. Jena 1916 (Druck: Berlin 1916). 70
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Einleitung
und Unendlichem, Liebesthema, Verbindung Kunst - Religion, Sehnsucht nach dem Unendlichen, Opposition gegen den Aufklärungsrationalismus) fand Siegfried bei Schleiermacher genuin romantisches Vorstellungsgut, legte aber Wert darauf, auch das Trennende zu unterstreichen. E r sah es in der Schärfe und Unerbittlichkeit von Schleiermachers intellektuellem Vermögen, das ihn vor den „Verschwommenheiten" und „Inkonsequenzen" der Romantik bewahrt habe. Während die Dissertation von W . Schrank ( 1 9 2 4 ) Schleiermacher wenig Raum ließ, 7 5 versuchten Alfred von Martin ( 1 9 2 4 ) und Käte Friedemann ( 1 9 2 5 ) eine Wesensbestimmung der romantischen Religiosität, die relativ ausführlich auch auf Schleiermacher einging. 7 6 Beide Arbeiten entwickelten das Thema mit deutlicher Sympathie für den „spezifisch religiösen Wert der romantischen Geistigkeit", wobei sich A. von Martin in einer Kampfstellung gegen das kritische Scherbengericht Carl Schmitt-Dorotics über die Romantik sah. Bei Käte Friedemann schlugen die Kulturkonzeption der Görres-Gesellschaft und apologetische Interessen im Blick auf die romantischen Konvertiten durch. 77 In einer Reihe von Einzelbeobachtungen (Verhältnis von Religion, Philosophie, Poesie bei Schleiermacher, Beziehung zur Philosophie Fichtes und Spinozas, Synthese-Gedanke) war die Studie v. Martins erhellend, während das Interpretationsziel von Käte Friedemann, die von den Frühromantikern entwickelte Religiosität „an sich" herauszuarbeiten, zu einer eklektizistischen Blütenlese aus dem Schrifttum Schleiermachers und anderer Romantiker (F. Schlegel, Solger, A. Müller, Baader, Görres, Eichendorff) führte. Gegenüber den auf Wesensschau tendierenden Arbeiten brachte das geistesgeschichtlich und literarhistorisch orientierte Buch des Gießener Kirchenhistorikers Gustav Krüger „Die Religion der Goethezeit" ( 1 9 3 1 ) einen wichtigen Akzent ein. 7 8 Schleiermachers religiöse Konzeption wurde als Bestandteil eines tiefgreifenden neuzeitlichen Umformungsprozesses von Religion begriffen. Zwischen einer aufklärerisch-idealistischen „Religion des Erlebens" und einer dogmatisch verfestigten objektiven „Religion des Glaubens" gewinne Schleiermacher im Umkreis des deutschen Idealismus eine eigenständige und beachtenswerte Position. ' Dilthey und Haym hatten das frühromantische Religionsthema als einen E n t 7 o Werner Schrank: D i e Einstellung der älteren Romantik zum Katholizismus und ihr W e g zur Kirche. Diss. phil. München 1 9 2 4 (Kennzeichnung der frühromantischen Religion in ihrer Schöpfungsphase durch F . Schlegel, Schleiermacher und Novalis als „Religion der Gemeinschaft", gegründet auf Liebe und wechselseitiges Verstehen; Kunst als Mittler zwischen Gott und Mensch. Mit dem Plan einer neuen Mythologie sei das Scheitern dieser Religion und die Hinwendung zum Katholizismus vorgezeichnet gewesen). 7 6 Alfred von Martin: Das Wesen der romantischen Religiosität. I n : D V f L G 2 (1924), 367-417,-. K ä t e Friedemann: Die Religion der Romantik. In: Philosophisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 38 (1925), 1 1 8 - 1 4 0 ; 2 4 9 - T 7 6 ; 3 4 5 - 3 7 3 . 7 7 A. von Martin kritisierte an Carl Schmitts „Pronunciamento eines leidenschaftlichen Antiromantikers" die Abdankung des „idealen Moralismus vor dem Formalismus des reinen Praktikers". Gemeint war die seinerzeit in die politische und literaturwissenschaftliche Landschaft mit der Vehemenz eines Blitzes einschlagende Studie Carl Schmitt-Dorotic: Politische Romantik. München/Leipzig 1 9 1 9 ( 1 9 2 5 2 ; 1 9 8 0 4 ) , deren Urteile ihrerseits auf höchst verfänglichen Voraussetzungen beruhten. Der in seiner Extensität ungewöhnliche Abdruck der Studie von K ä t e Friedemann ordnete sich dem missiologischen und kulturintegrativen Ansatz der Görres-Gesellschaft mit großer Bewußtheit ein, wie etwa die permanente Unterstreichung der These von der Religion als Fundament der Kultur belegte. 78
Gustav Krüger: Die Religion der Goethezeit. Tübingen 1 9 3 1 .
III. Ältere Einzelforschungen
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wicklungsweg mit wechselseitigen Anstößen darzustellen versucht, wobei Schleiermacher eine Schlüsselrolle zufiel. Diese Betrachtung ist in der älteren Einzelforschung weithin verloren gegangen; in dieser Hinsicht läßt sich durchaus eine Korrespondenz mit den methodologischen Voraussetzungen der seit Walzel (1908) vorgelegten Gesamtdarstellungen mit ihrer Konzentration auf „Wesensschau" der Phänomene konstatieren. Ein zweites in den literarhistorischen Studien bevorzugtes Themenfeld waren die mit Individualität, Gemeinschaft, Liebe, Ehe und Freundschaft zusammenhängenden Gedankenkomplexe Schleiermachers. Die Fülle der dazu vorgelegten Arbeiten, z. T. auch mehr populärwissenschaftlichen Charakters, ist von höchst ungleichem Wert. Als anregend muß die 1974 durch einen Neudruck geehrte Studie Hermann Gschwinds über die ethischen Neuerungen der Frühromantik (1903) gelten. Unbeeindruckt von moralischen Einwänden hob Gschwind den rigoristischen Impetus Schleiermachers in dessen Athenaeum-Fragmenten und den „Vertrauten Briefen" hervor und versuchte zugleich, die Komplexität der ethischen Revolution der Frühromantik zu konturieren, ein Anliegen, dem auch F. Krumbholz (1904) verpflichtet war.79 Im Vergleich mit Arbeiten, die Schleiermacher als einen Präzeptor der deutschen Nation idealisierten und ihn an die Seite Fichtes, Schillers und Goethes stellten (J. Vogel, L. Vietor, H. Scholz u. a.), 80 zeichnete sich die Studie von Gschwind durch eine enge Beziehungsnähe zur Frühromantik in ihrer originären Gestalt aus. Wiewohl nicht auf Schleiermacher im direkten Sinne abgestellt, besaß auch P. Kluckhohns Monographie „Die Auffassung der Liebe in der Literatur des 18. Jahrhunderts und in der deutschen Romantik" (1922; 1966 3 ) für das tiefere Verständnis des frühromantischen Ethikers ihren Wert, namentlich für die Einbettung seiner Gedanken in den von Kluckhohn für das Jahrhundertende konstatierten „Dualismus": leidenschaftliche Sinnenliebe und seelische Gefühlsschwärmerei, der auf Überwindung gedrängt habe.81 Eine Vereinseitigung Schleiermachers stellten dagegen die Passagen in Kluckhohns „Persönlichkeit und Gemeinschaft" (1925) dar, die im Anschluß an das Buch von Günther Holstein (1922) Schleiermacher neben Novalis als ersten Vertreter der organischen Staatsauffassung charakterisierte, dies unter Ausblendung des frühromantischen Geistes der Utopie. 82 Korrigierend griff hier A. D. Verschoer ein (1928), wenngleich in seiner Arbeit, einer literarhistorischen Dissertation an der Universität Groningen, vorwiegend die Zeit 1806/07 behandelt wurde.83 7 9 Hermann Gschwind: D i e ethischen Neuerungen der Frühromantik. Bern 1 9 0 3 (Untersuchungen zur neueren Sprach- und Literaturgeschichte 2). Neudruck Hildesheim 1 9 7 4 ; Krumbholz, Friedrich: Schleiermachers Weltanschauung in den Monologen und die literarisch-philosophischen Voraussetzungen dazu. Eine historisch-kritische Studie. Diss. phil. Leipzig 1 9 0 4 ( D r u c k : Gräfenhainichen 1 9 0 4 ) . 8 0 Johannes Vogel: Die Pädagogik Fichtes in ihrem Verhältnis zu derjenigen Schleiermachers dargestellt und kritisch gewürdigt. Diss. phil. Erlangen 1 9 0 9 (Druck: Borna - Leipzig 1 9 1 0 ) ; Lukas V i e t o r : Schleiermachers Auffassung von Freundschaft, Liebe und E h e in der Auseinandersetzung mit Kant und Fichte. Eine Untersuchung zur Ethik Schleiermachers. Diss. phil. Erlangen 1 9 0 9 ( D r u c k : Tübingen 1 9 1 0 ) ; Heinrich Scholz: Schleiermacher und Goethe. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Geistes. Leipzig 1 9 1 3 . 8 1 Paul Kluckhohn: D i e Auffassung der Liebe in der Literatur des 18. Jahrhunderts und in der deutschen Romantik. Halle 1 9 2 2 , 3 4 3 ff. (3. Aufl. 1 9 6 6 ) . 8 2 Paul Kluckhohn: Persönlichkeit und Gemeinschaft. Studien zur Staatsauffassung der deutschen Romantik. Halle 1 9 2 5 ( D V S 5 ) . 83
Andries D a v i d Verschoer:
D i e ältere deutsche Romantik und die Nationalidee.
Amsterdam
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Einleitung
Aus der Reihe der Arbeiten zum Thema Ehe und Freundschaft (z. B. J. Steinberg 1921; M. Peters 1934) 84 ragt die Studie Betty Heimanns (1929) über die Freundschaft in Schleiermachers Leben und Lehre heraus. 85 Ausgehend von der Freundschaftsdefinition Ciceros wird Schleiermachers Freundschaftsauffassung in Beziehung gesetzt zu seiner religiösen Vorstellungswelt. Als Hauptbezugspunkt der Freundschaft erscheint die „Menschheit", die im Freund manifest ist. D a die Beziehung zum Nächsten für Schleiermacher der Weg zu Gott sei, gewönne die Freundschaftsbeziehung zum Menschensohn und Mittler Jesus Christus zentrale Bedeutung. Allerdings sei bei Schleiermacher das Verhältnis zu Christus zugunsten der freundschaftlichen Beziehungen der Menschen in Christus zurückgetreten. Fazit: Das Christentum sei bei Schleiermacher zur Religion der Freundschaft oder der Menschheit geworden. Die gewiß nicht unanfechtbare Interpretation B. Heimanns besaß das Verdienst, das Thema aus den Niederungen einer biographischen Andachtsliteratur auf eine ihm gemäße gedankliche Höhe zu bringen. Zu den ersten Versuchen, die in dem Aufsatz von 1799 entwickelte Geselligkeitstheorie Schleiermachers zu interpretieren, gehört die Dissertation H. Töllners (1927). Der stark deskriptive Ansatz des Autors verhinderte zwar eine KontextAnalyse (Geselligkeitskultur am Ende des 18. Jahrhunderts; andere zeitgenössische Äußerungen zum Thema), brachte aber doch, indem er die Aufmerksamkeit auf dieses Thema lenkte, einen neuen Akzent ein. 86 Der Beziehung Schleiermacher - F. Schlegel ging die Dissertation H. Stocks (1930) nach. Stock war an der Herausarbeitung des Motivs für die „Bruderschaft" Schlegels und Schleiermachers und zugleich des sich seit 1799 abzeichnenden Bruchs in der Freundschaft beider interessiert. Methodisch beabsichtigte Stock, zwischen einer bloß psychologischen oder auch nur ideengeschichtlichen Betrachtung hindurchzusteuern, verfing sich aber doch in einem psychologisierend-ideengeschichtlichen „Wesens"-Ansatz, innerhalb dessen empirisch-soziologische Faktoren außer Betracht blieben. Die Charakteristik Schleiermachers (übertriebener Kult mit inneren Dingen in mitunter spitzfindig-frömmelnder Art) war dem Urteil F. Gundolfs verpflichtet. D a nach Stock bei Schleiermacher die Selbstanschauung dominierte, boten ihm die Analyse der „Monologen" und der Reden „Über die Religion" immer nur Belege für diese These. Entgegen der vor allem in der theologischen Forschung verbreiteten Einsicht, beide Schriften stünden in einem komplementären Verhältnis zueinander, gab Stock den „Monologen" die Priorität und interpretierte deshalb auch die Reden aus ihren Voraussetzungen. Ergebnis: „hypostasierte Ablösung der Seele von allen Weltlichkeiten und selbstgenügsames Einsiedlertum des Geistes". 87 Für das Verhältnis F. Schlegel - Schleiermacher glaubte Stock eine 1928. Während Kluckhohn die organologischen Elemente in Schleiermachers (national verstandener) Staatsidee unterstrich, betonte Verschoer (S. 1 2 1 - 1 2 4 ) , daß Schleiermachers Position auch noch in der patriotischen Phase 1806/07 ihren Zielpunkt in der Gattung besessen habe. D i e „Menschheit" sei ihm noch immer das Wichtigste gewesen. 8/ * Julius Steinberg: Liebe und Ehe in Schleiermachers Kreis. Dresden 1921; Maria Peters: Liebe und Ehe in Schleiermachers Leben. Leipzig 1934. 85 Betty Heimann: D i e Freundschaft in Schleiermachers Leben und Lehre. In: Romantik-Forschungen. Halle 1929, 3 - 4 9 (DVS 16). 86 Heinrich Töllner: D i e Bedeutung der Geselligkeit in Schleiermachers Leben und Schriften. Diss. phil. Erlangen 1927. 87 Hans Stock: Friedrich Schlegel und Schleiermacher. Diss. phil. Marburg 1930, 7; 55 ff.
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„profane Periode" (bis 1797/98) ausmachen zu können, während der F. Schlegel die wesentlichen Anstöße gab. Mit dem Vordringen des Religionsthemas im Spätsommer 1798 (Brief an Dorothea) habe eine Umkehrung eingesetzt, wie dann auch durch die Reden „Über die Religion" das Thema „Christianismus" endgültig auf die frühromantische Tagesordnung gesetzt worden sei. 88 Die Krise F. Schlegel Schleiermacher beschrieb Stock anhand von Briefzitaten als charakterlich-geistige Verschiedenheit, ohne an diesem Punkt - wie auch schon bei der Klärung der Motive für die ursprünglich enge Freundschaft beider - Aspekte von echter Signifikanz entwickeln zu können. In den Jahren des „Dritten Reiches" sank die literarhistorische Einzelforschung zu Schleiermacher auf Restbestände herab und entsprach damit dem allgemeinen Verfall der Disziplin als „Deutschkunde". 88 "
IV. Gesamtaufrisse seit 1945 Nach 1945 war die Lage der Romantikforschung in den westlichen Besatzungszonen und der nachmaligen BRD vorerst von einem Rückzug auf innerliterarische freie Forschungstechniken gekennzeichnet, da sich die Germanistik mit ihrer Einordnung in die Kulturpolitik des „Dritten Reiches" erheblich desavouiert hatte. Wenn noch Gesamtaufrisse (Tübinger Romantikkolloquium 1948; posthume Edition des überarbeiteten Werks von F. Schultz „Deutsche Klassik und Romantik" 1952) gewagt wurden, so handelte es sich in der Substanz um die Rekapitulation von Positionen der Vorkriegsforschung. Auch H. A. Korffs 1953 abgeschlossenes und seitdem immer wieder aufgelegtes opus magnum gehört hierher. Symptomatisch war auch, daß Erich Ruprechts ehrgeiziges Programm (1948) nicht zum Ziel kam. 89 Die Tendenz, werkimmanente Interpretationen zu bevorzugen, gleichzeitig die historisch-philologischen Fundamente auszubauen (Editionsprogramm zu Friedrich Schlegel, Novalis, C. Brentano u. a.), hielt bis in die sechziger Jahre an, konnte aber in zwei Richtungen auseinanderlaufen: existenziale Textinterpretation und Strukturanalysen im Sinne des New Critizism. Für die Ausarbeitung von Gesamtkonzeptionen waren diese Präferenzen eher ungünstig. Zu einem Umbruch kam es in der Mitte der 60er Jahre, der durch eine neue ideologiegeschichtliche Einordnung der Frühromantik ausgelöst wurde. Die Romantikforschung in der D D R war zunächst mit schwersten Vorbehalten gegen eine literarisch-philosophische Bewegung belastet, die in der Vergangenheit so oft restaurativen Interessen gedient hatte. In direkter Verlängerung der Kritik Heines an der „Romantischen Schule" wie auch der Junghegelianer und der Marx88
Ebenda, 86. 88a Vgl_ dazu etwa Eberhard Lämmert: Germanistik - eine deutsche Wissenschaft. In: Germanistik - eine deutsche Wissenschaft. Beiträge von Eberhard Lämmert, Walter Killy, Karl Otto Conrady und Peter von Polenz. Frankfurt/M. 1967, 7 - 4 1 . 89 Erich Ruprecht: Der Aufbruch der romantischen Bewegung. München 1948 (Ursprünglich phil. Habil.-Schrift Freiburg i. B. 1943). Ruprecht strebte danach, die Beliebigkeit des Romantikbegriffs durch Rückführung auf die historischen Formen des Phänomens (als „Denk- und Wesensform") einzugrenzen. D i e Reihe begann für ihn mit Hamann und Herder. Als zentral sah er in der Romantik das Mythosproblem an. 3
N o w a k , Schleiermacher
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Einleitung
sehen Sicht verdichtete sich die ideologiekritisch in den Blick genommene Verurteilung der Rezeptionsgeschichte der Romantik zu einer Verurteilung der Romantik überhaupt. Richtungsweisend in diesem Zusammenhang war Georg Lukäcs' „Skizze einer Geschichte der neueren deutschen Literatur". 9 0 Interessant ist immerhin, daß Schleiermacher bei Lukäcs keine ungünstige Beurteilung erfuhr, da sich Lukäcs eng an die in den Kreisen des „Jungen Deutschland" entwickelten Wertungen hielt. 9 1 In dieser Phase wurde die Romantik primär nach ihrem politisch-ideologischen Gehalt beurteilt (G. Schneider 1 9 6 2 ) . 9 2 Gattungstheoretische und dichtungsästhetische Fragestellungen spielten eine untergeordnete Rolle. Es bedurfte erst des Abbaus erheblicher sachlicher und wohl auch emotionaler Barrieren, um in den produktiv-kritischen Aneignungsprozeß auch dieses Erbes einzutreten, das „rechts" liegenzulassen auf die Dauer nicht dem Selbstverständnis der sozialistischen Kulturnation in der D D R entsprach. Marksteine auf diesem W e g waren in den sechziger und siebziger Jahren Vorträge und Aufsätze von W . Krauss, H. Mayer, C. Träger, H.-D. Dahnke, W . Heise u. a. 9 3 Der auch durch Dissertationen zur Romantik vorangetriebene Prozeß einer neuen Aneignung der Romantik ist weiterhin im vollen Gange. 9 4 Verständlich angesichts des Umstandes, daß noch keineswegs alle Problemfelder von der marxistischen Forschung neu abgeschritten worden sind, ist manche konzeptionelle Unausgewogenheit in den seither vorgelegten Gesamtaufrissen „Romantik" ( 1 9 6 7 ; 1 9 8 0 4 ) und „Geschichte der deutschen Literatur von 1 7 8 9 - 1 8 3 0 " ( 1 9 7 8 ) . 9 5 So ist auch die Charakteristik von Schleiermachers Reden „Über die Religion" in dem Band „Romantik" ambivalent. Einerseits wird deren antiaufklärerischer und individualistischer Gehalt getadelt, wobei die These, daß A . L. Hülsen zwischen Schelling und Schleiermacher eine Vermittlerrolle gespielt habe, da er den Anschauun90 Georg Lukács: Skizze einer Geschichte der neueren deutschen Literatur. Neuwied und Berlin (West) 1963 (1. Aufl.: Deutsche Literatur im Zeitalter des Imperialismus. Berlin 1945; Fortschritt und Reaktion in der deutschen Literatur. Berlin 1947). 9 1 Ebenda, 72; 77; 99. - Kritisch hingegen die Bewertung der Religion: Umschlag des extremen Subjektivismus in ein „ebenso extremes Sichaufgeben": der Salto mortale in die Religion (79). 92 Gerhard Schneider: Studien zur deutschen Romantik. Leipzig 1962 (Proprium: Romantik als konservative Adelsopposition; dies unter Konzentration auf die zivile Phase der romantischen Bewegung, der gegenüber die Frühromantiker als bloße „philosophierende Schöngeister" (7) galten. 93 . Werner Krauss: Französische Aufklärung und deutsche Romantik. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Karl-Marx-Universität Leipzig. Ges.- und Sprachwiss. Reihe 12 (1963), H. 2, 496-501; Hans Mayer: Fragen der Romantikforschung. In: Ebd., 493-496; Claus Träger (Hg.): Novalis. Dichtungen und Prosa. Leipzig 1975, 5 - 6 1 (RUB 394); ders.: Historische Dialektik der Romantik und Romantikforschung. In: WB 24 (1978), H. 4, 4 7 - 7 3 ; Hans-Dietrich Dahnke: Zur Stellung undi Leistung der deutschen romantischen Literatur. Ergebnisse und Probleme ihrer Erforschung. In: Ebd., 5 - 2 0 ; Wolfgang Heise: Weltanschauliche Aspekte der Frühromantik. In: Ebd., 26-41 (Wiederabdruck in ders.: Realistik und Utopie. Aufsätze zur deutschen Literatur zwischen Lessing und Heine. Berlin 1982, 227-253 [Literatur und Gesellschaft]). - Zur Diskussionslage in ihren Entwicklungsetappen Olaf Reincke: Romantikkonferenz in Frankfurt/O. In: WB 24 (1978), H. 7, 147 bis 157; Hannelore Schulz: Romantikkonferenz des Kulturbundes. In: WB 28 (1982), H. 8, 163-166. 94 Gabriele Rommel: Der Mensch als Universum - die Verteidigung des Humanismus in den Studien und Fragmenten Friedrich von Hardenbergs (Novalis). Diss. phil. Leipzig 1980. 95 Romantik. Erläuterungen zur deutschen Literatur. 4. Aufl. Berlin 1980; Geschichte der deutschen Literatur 1789 bis 1830. Leitung und Gesamtbearbeitung Hans-Dietrich Dahnke (1789-1806) und Thomas Höhle in Zusammenarbeit mit Hans-Georg Werner (1806-1830). Berlin 1978 (Geschichte der deutschen Literatur 7).
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gen Schellings eine „religiös-ethische Wendung" gegeben habe, auffällt. Andererseits wird die als individualistisch und passiv-mystisch gewertete Religionsauffassung Schleiermachers, die schon Hegel kritisiert habe, da ihr die „Kraft geschichtlich vorwärtsweisender Aktionen" fehle, nicht generell abqualifiziert: „Gemüt, Anschauung, Unbewußtes, Genie usw. sind lebendige Wesensäußerungen des Menschen und gleichsam Komponenten seines ganzheitlichen Seins". Freilich bleibt als grundlegender Einwand bestehen, die Romantik habe diese Gegebenheiten aus dem „menschlichen Totum" herausgebrochen, wie denn auch behauptet wird, Schleiermachers Reden besäßen kein Verhältnis zur Historie, zum „geschichtlichen Geschehen". 9 6 Das Schleiermacherbild der „Geschichte der deutschen Literatur 1 7 8 9 - 1 8 3 0 " lebt im wesentlichen aus zwei Interpretationsvorgaben: dem Durchbruch der subjektiven Innenwelt in der Frühromantik seit 1 7 9 9 bei gleichzeitiger Zurücknahme der bisherigen „aktivistischen Tendenzen" und, damit einhergehend, der frühromantischen Wende zur Religion. Schleiermacher erscheint in diesem Interpretationsgefüge als jener Frühromantiker, in dem sich die frühromantischen Religionsneigungen bündelten. D i e Reden hätten mit ihrer Distanzierung von allen gesellschaftlichen Bindungen, welche die Autonomie des Individuums nicht respektierten, die Tendenz subjektivistischer Entgeschichtlichung des frühromantischen Weltanschauungshorizonts folgerichtig weitergeführt: bewußte Negierung von Aktivität und Praxisbeziehung als Vermittlungsglieder zur Wirklichkeit, kontemplative Hingabe an die religiösen Gefühle. Der hier schon sichtbare Bruch „mit der Kontinuität progressiv-humanistischer bürgerlicher Emanzipationsbestrebungen" sei dann endgültig von Novalis („Europa"-Rede) besiegelt worden. 9 7 In beiden marxistischen Gesamtaufrissen fällt ein nahezu ungebrochen positives Licht nur auf den Verfasser der „Vertrauten Briefe", ein Urteilsmuster mit langer Tradition, das insofern auch einen wissenschaftspolitischen Aspekt besitzt, als es der Schleiermacher-Rezeption sonst oft darum zu tun gewesen war, diese Schrift als eine Jugendsünde des Theologen und Predigers anzusehen. 98 D i e insgesamt eher marginale Behandlung Schleiermachers, die im Wertungsstandard wie auch in manchen Faktenungenayigkeiten Forschungsdefizite erkennen läßt, ist in noch stärkerem Maße als bei diesen und anderen marxistischen Darstellungen (Berkowski 1 9 7 9 ; W. Hecht 1 9 8 3 ) 9 9 auch in Gesamtaufrissen der B R D sichtbar. D i e bibliographische Präsentation der Forschungen zur Romantik ( G . Hoffmeister 1978) und zu F. Schlegel (V. Deubel; K . Peter) bestätigt diesen Sachverhalt nur. 1 0 0 Mag schon verständlich sein, daß in Benno von Wieses „Deutsche DichRomantik, aaO., 52 f. 53. 54. 61. Geschichte der deutschen Literatur 1789 bis 1830, 404. 408. 9 8 Ebenda, 421 f. Romantik, 116. - Diese Wertschätzung kommt auch noch in der Tatsache zum Ausdruck, daß von Schleiermachers frühromantischen Schriften in der D D R 1970 die „Vertrauten Briefe" ediert wurden (Eike Middell [HgJ : Friedrich Schlegel: Lucinde. Friedrich Schleiermacher: Vertraute Briefe über Schlegels „Lucinde". Leipzig 1970 [RUB 457]). 9 9 N. J. Berkowski: Die Romantik in Deutschland. Leipzig 1979 (russ. Original: Romantizm v Germanii. Leningrad 1 9 7 3 ) ; Wolfgang Hecht: Deutsche Frühromantik. Leipzig 1983. 1 0 0 Gerhart Hoffmeister: Deutsche und europäische Romantik. Stuttgart 1 9 7 8 ; Volker Deubel: Die Friedrich-Schlegel-Forschung 1 9 4 5 - 1 9 7 2 . In: D V f L G 47 (1973), 4 8 - 1 8 1 (Sonderheft Forschungsreferate); Klaus Peter: Friedrich Schlegel. Stuttgart 1978 (Sammlung Metzler 171 Abt. D, Literaturgeschichte). 96
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ter der Romantik" (1971) Schleiermacher aus konzeptionellen Gründen keinen eigenständigen Platz finden konnte, so verwundert doch, daß er auch in den dort abgedruckten Beiträgen von E. Behler (zu F. Schlegel) und von H.-J. Mähl (zu Novalis) nur nebenher genannt wird. 1 0 1 Dabei vertritt Behler die These, Schleiermacher sei im Blick auf die Themen Moral und Religion für F. Schlegel eine A r t Führer und Impulsgeber gewesen. 102 Noch schwerer fällt ins Gewicht, d a ß auch Clemens Heselhaus in seinem Beitrag in dem repräsentativen Sammelband „Die europäische Romantik" (1972) den frühromantischen Theologen und Prediger lediglich als Wohngenossen F. Schlegels und als Verteidiger der „Lucinde" nennt. 1 0 3 Kaum weniger befriedigend ist die Sachlage in Viktor 2megacs „Geschichte der deutschen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart", für deren Beitrag „Die Romantik. Wirkungen der Revolution und neue Formen literarischer Autonomie" Ernst Ribbat verantwortlich zeichnet. Zwar kann es ganz gewiß nicht darum gehen, eine auf Schleiermacher zentrierte Konzeption in der Frühromantik zu entwickeln, zumal Schleiermacher auf einem wesentlichen literarischen Wirkungsfeld dieser Bewegung (Dichtung) nicht anwesend ist. Doch ist sein sonstiger Beitrag, auch über die Reden und die „Vertrauten Briefe" hinaus, gewichtig genug. Diese Einsicht schlägt bei Ribbat immerhin mit zwei weiterer Diskussion fähigen Bemerkungen zu Buche: Schleiermachers Apologie der „Lucinde" übertreffe das Original „in gewisser Hinsicht an geschichtlicher Bedeutung", da dessen Konzeption von Liebe und Ehe ausdrücklich zu den politischen Erschütterungen der Epoche in Beziehung gesetzt und deren Verwirklichung nicht bloß als „Künstlerboheme" (wie bei F. Schlegel) vorgestellt sei. Ribbats zweite Bemerkung zielt auf die Reden, durch die den beiden großen Konfessionen erstmals wieder eine öffentliche Geltung „außerhalb des engen kirchlichen Lebens und ein geistiger Anspruch gerade für die fortgeschrittene Literatur zuerkannt" worden sei. 104 In dem von E. Ribbat herausgegebenen Studienbuch „Romantik" (1978) wird Schleiermacher unter systematischem Aspekt der Aufklärungstradition innerhalb der Frühromantik zugeordnet, allerdings nach mehr äußerlichen Gesichtspunkten. 1 0 5 Es scheint, d a ß die außerdeutsche Romantikforschung in ihren Gesamtdarstellungen der Person und dem W e r k Schleiermachers gegenüber eine wesentlich höhere Verpflichtung empfindet, wie sich zumindest an der französischen Forschung (Le romantisme allemand; 1966; R. Ayrolt; 1 9 6 1 - 1 9 7 0 ) 1 0 6 erweisen ließe. 101 Benno von W i e s e ( H g . ) : D e u t s c h e Dichter der Romantik. Berlin (West) 1 9 7 1 , 1 6 3 - 1 8 9 (E. Behler); 1 9 0 - 2 2 5 (H.-J. Mähl). 102 Ebenda, 174 f. 103 Clemens Heselhaus: D i e romantische Gruppe in Deutschland. In: D i e europäische Romantik. Mit Beiträgen v o n Ernst Behler et al. Frankfurt/M. 1 9 7 2 , 4 4 - 1 6 2 , 44. 77. 10,1 Ernst Ribbat: D i e Romantik: Wirkungen der Revolution und neue Formen literarischer Autonomie. In: Viktor Zmegac ( H g . ) : Geschichte der deutschen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Königstein/Ts. 1978, 9 2 - 1 5 1 ; bes. 98. 121. 105 Ernst Ribbat (Hg.) : Romantik. Ein literaturwissenschaftliches Studienbuch. Königstein/Ts. 1 9 7 9 , 12 f. (Athenäum Taschenbücher Literaturwissenschaft). 108 Le romantisme allemand. Études publiées sous la direction de Albert Béguin 1966 (Cahier du Sud) 1949. Vgl. bes. den Beitrag v o n E d m o n d V e r m e i l : Le Romantisme religieux (S. 3 7 - 4 6 ) ; Roger Ayrolt: La genèse du romantisme allemand 1 7 9 7 - 1 8 0 4 . Paris 1 9 6 1 - 1 9 7 0 . Schleiermacher wird innerhalb des Kapitels „Vers la Religion" ( 3 3 9 ff.) mit einem breiten Referat seiner Reden „Über die Religion" vorgestellt ( 3 7 6 - 4 3 5 ) ; wobei Ayrolt konstatiert, Schleiermacher binde in ihnen „deux
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Neuere und neueste monographische Literatur
Auch die monographische Forschung literarhistorischer Provenienz zu Schleiermacher ist seit 1945 stark rückläufig. Nimmt man die bei Gerhard Kaiser entstandene Dissertation K. Lindemanns (1971) aus, ist im deutschen Sprachraum seit mehreren Jahrzehnten keine literarhistorische Monographie zum jungen Schleiermacher vorgelegt worden, wobei auch Lindemanns Arbeit nur streckenweise unter Schleiermacheriana verbucht werden kann. Das Primärinteresse des Autors geht auf die Umsetzung der religiösen Idee der Vermittlung in der Gestalt des Priesters in der romantischen Dichtung. 107 Diese aporetische Situation wird durch einige theologische Arbeiten mit literarhistorischen Bezügen nur an bestimmten thematischen Rändern abgedeckt. 1973 erschien W. Sommers Dissertation „Schleiermacher und Novalis", die der religiösen Verwandtschaft beider nachgeht. 108 Zu Recht stellt der Autor fest, daß zwar die jeweiligen Beziehungen von Schleiermacher und Novalis zur Philosophiegeschichte und zu ihrer geistigen Umwelt in vielfältigen Untersuchungen aufgewiesen seien. „Dennoch betreten wir . . . ein Gebiet, das bisher weder von theologischer noch literarhistorischer Seite bearbeitet wurde". Sommer nimmt, offenbar durch Hinweise Richard Samuels und Friedrich Hertels angeregt, an, daß sich in Person und Werk Christi das Hauptanliegen der Frühromantik verdichte: die Verbindung und Vermittlung von Göttlichem und Menschlichem, Zeitlichem und Ewigem. Sommers These ist, daß Schleiermachers religiöse Gedankenwelt, wie die Forschungen von P. Seifert und F. Hertel unterstrichen hätten, weniger durch romantische Einflüsse als durch das Erbe Herrnhuts geprägt worden sei. Im Blick auf die Mittleridee sieht Sommer Schleiermacher jedoch stark von Novalis (Mittlerfragment im „Blüthenstaub") beeinflußt. „Hier ergibt sich die Möglichkeit, eine bisher wenig beachtete, wesentliche Wurzel für Schleiermachers Reden aufzufinden, der neben den zahlreichen anderen, vor allem dem herrnhutischen Erbe, entscheidende Bedeutung zukommt". Die These Sommers findet sich auch schon bei Haym! Vom Primat der Christologie bei beiden ausgehend, versucht Sommer durch die Einbeziehung der Christologie des Novalis, die mit ihrer kosmologischen Weite in einer bedeutenden christologischen Tradition stehe, die Grundintentionen Schleierrriachers besser zu verstehen. Dieser Ansatz macht Novalis' religiöse Vorstellungswelt zur Kontrastfolie für Schleiermacher, ein Verfahren, dem Momente der Statik innewohnen. 109 Von einer ganz anderen Intention ist die im Zwischenbereich von Religionsphilosophie, Theologie und Literaturgeschichte angesiedelte Studie von Hermann Timm: „Die heilige Revolution" (1978) getragen. 110 Timms Studie ist Bestandteil attitudes contradictoires" (434) zusammen: die These von der Wiedergeburt der Religion und das Ja zur Geistesaufklärung und den politisch-sozialen Zielen der Französischen Revolution. 107 Klaus Lindemann: Geistlicher Stand und religiöses Mittlertum. Ein Beitrag zur Religionsauffassung der Frühromantik in Dichtung und Philosophie. Frankfurt/M. 1971 (Gegenwart der Dichtung 5). 108 Wolfgang Sommer: Schleiermacher und Novalis. D i e Christologie des jungen Schleiermacher und ihre Beziehung zum Christusbild des Novalis. Bern/Frankfurt/Main 1973 (Europäische Hochschulschriften Reihe XXIII: Theologie Bd. 9). 109 Ebenda, 8 ff. 1,0 Timm: Heilige Revolution (vgl. Anm. 3).
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eines umfassenden Forschungsprogramms zur Religion der Goethezeit, das die Formel ev y.cd TCOCV als die offene und geheime Mitte religiös-philosophischen Denkens im Zeitraum zwischen 1770 und 1820 begreift. Timm bringt Schleiermachers, F. Schlegels und Novalis' religiöses Denken in ein relationales Gefüge ein. „Die je individuelle Subjektivität erscheint als virtuos ausdifferenzierte Teilfunktion eines ganzheitlichen Klangkörpers". Der Autor diagnostiziert dabei einen „Überbietungsanspruch", von der die Logik der frühromantischen Religionstexte geleitet würde. Ziel der „heiligen Revolution" der Frühromantiker sei die metakritische Versöhnbarkeit der in Gefühlsschwärmerei und Rationalitätskult heimatlosen Existenz im Zeichen des „Christianismus", wobei das „Schweben" als die charakteristische Denk- und Erlebnishaltung der Frühromantiker in einer - nicht ohne messianische Prätentionen hergestellten - gott-menschlichen Mitte erscheint. Den zeitgenössisch-philosophischen Hintergrund für das frühromantische Religionsprogramm bildet nach Timm die Spinoza-Renaissance der 1780er Jahre. 1 1 1 Timms glänzende Studie, die allerdings unter der souveränen Vernachlässigung des realen geschichtlichen Kontextes in allgemein-historischer wie historisch-biographischer Hinsicht leidet, stellt den Versuch einer Ganzheitsinterpretation des Religionsthemas der Frühromantik (Kohärenz und Überbietung) dar, das gleichzeitig als eine bestimmte Etappe auf einem größeren W e g e sichtbar gemacht w i r d . Redlicherweise gesteht Timm seinen Lesern, sich der Fragwürdigkeit seiner methodischen Abstraktionen bewußt zu sein, verweist freilich auch auf die Chancen, die derartige Retardationen zu bieten vermögen. D a die theologische Reden-Forschung seit 1945 (F. Flückiger, P. Seifert, F. Hertel u. a.) 1 1 2 sich weithin auf werkimmanente und theologisch-philosophische Aspekte im engeren Sinne konzentrierte, andererseits die F. Schlegel- und Novalis-Forschung das religiöse Thema nicht in seiner Eigenständigkeit entfaltete und es weithin unter Kunstphilosophie und Poetik subsumierte, kommt der Arbeit Timms auch von daher gesteigerte Bedeutung zu. 1 1 3 Für das Verständnis von Schleiermachers Kindheits- und Jugendentwicklung, auf das nicht verzichtet werden kann, will man den Frühromantiker in seiner Eigenständigkeit und Gemeinsamkeit mit der frühromantischen Bewegung zureichend erfassen, ist die materialreiche, ebenfalls der theologischen Disziplin entwachsene biographisch-systematische Arbeit von Erwin H. U. Quapp (1972) zu beachten. 114, Quapp versucht mit deutlich erkennbarem Ehrgeiz zur Vollständigkeit allen Einflüssen und Anstößen auf Schleiermachers W e g zwischen 1768 und 1796 nachzugehen und bedient sich dabei eines wechselnden Instrumentariums. An den biographischen Dokumenten festgemachte psychologische Erörterungen wechseln ab mit Diskussionen zu dem philosophischen Hintergrund der Frühschriften, zum theologischen Hintergrund der Predigten und des Religionsverständnisses bis 1796. D i e Ebenda, 1 9 . 20. Felix Flückiger: Philosophie und Theologie bei Schleiermacher. Zürich 1 9 4 7 ; Paul Seifert: D i e Theologie des jungen Schleiermacher. Gütersloh 1 9 6 0 (Beiträge der Förderung christlicher Theologie 4 9 ) ; Friedrich Hertel: Das theologische Denken Schleiermachers, untersucht an der ersten A u f lage seiner Reden „Uber die Religion". Zürich/Stuttgart 1 9 6 5 . 111
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1 1 3 Unbefriedigend dagegen Jack Forstmann: A Romantik Triangle: Schleiermacher and Early G e r man Romanticism. Missoula: Montana 1 9 7 7 (American Academy of Religion, Studies in Religion 1 3 ) . 1 1 4 Erwin H. U. Quapp: Christus, im Leben Schleiermachers. V o m Herrnhuter zum Spinozisten. Göttingen 1 9 7 2 (Studien zur Theologie- und Geistesgeschichte des 1 9 . Jahrhunderts).
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sich teilweise etwas zu stark in der empirischen Mikroforschung verlierende Untersuchung versteht sich als partieller Gegenentwurf zu Dilthey, weil Quapp dem theologisch-religiösen Thema beim frühen Schleiermacher einen höheren Stellenwert geben möchte. Da Quapps eigenes Verständnis von Theologie und Religion in der Nähe des Pietismus zu stehen scheint und seine Wertungen von daher geprägt sind, ergeben sich Urteile (durchgängiger Primat des Christusthemas), die weiterhin der Überprüfung bedürfen. Wichtig ist Quapps Arbeit in der Materialbereitstellung und wegen der (allerdings philologisch nicht gänzlich exakten) Volledition der Frühmanuskripte zu Spinoza und Jacobi. Weiterführend für Schleiermachers intellektuelle Frühgeschichte sind auch die Arbeiten von E. Herms und F.Weber.115 Die okkasionelle Mitverwaltung literarhistorischer Bezüge in der theologischen Literatur kann nicht darüber hinwegsehen lassen, daß die eigenständige literarhistorische Auseinandersetzung mit Schleiermacher nach wie vor ansteht. Es besteht die Gefahr, daß Schleiermacher dem Blickfeld der Literaturwissenschaft entgleitet. Folgt man Gerda Heinrichs Vorwort in ihrer Querschnittspräsentation des „Athenaeum" (1978), ist Schleiermacher literaturhistorisch nur knapper Erwähnung wert. Zurückhaltend ist auch seine Behandlung in der Monographie derselben Autorin von 1976. 1 1 6 In Klaus Peters Auswahlbibliographie zur Romantik (1980) fehlt Schleiermacher gänzlich. 117 Eine Erklärung für diesen im tieferen Sinne aufschlußreichen Sachverhalt liegt darin, daß Schleiermachers Werk von der Literaturwissenschaft im Prozeß arbeitsteiliger Spezialisierung mehr und mehr als opus proprium der Theologie- und Kirchengeschichtsschreibung angesehen wird. Eine Verstärkung dieses Trends mag sich aus der Eigenart der theologischen Schleiermacherrezeption seit 1945 ergeben, die sich stark auf den Theologen konzentriert und dazu neigt, Schleiermachers frühromantischen Kulturbeitrag zu übersehen, zumal sie sich nicht mehr im Traditionsstrang des Kulturprotestantismus angesiedelt versteht. Derartige Konstellationen machen begreiflich, warum M. Redeker, ehemals Ordinarius für Systematische Theologie in Kiel, in seiner Schleiermacherbiographie (1968) die Frage zu stellen vermochte: „War Schleiermacher Romantiker?" 1 1 8 Wahrscheinlich wirkt bei der theo1 1 5 Ellert Herms: Herkunft, Entfaltung und erste Gestalt des Systems der Wissenschaften bei Schleiermacher. Gütersloh 1 9 7 4 ; Fritz Weber: Schleiermachers Wissenschaftsbegriff. Eine Studie aufgrund seiner frühesten Abhandlungen. Gütersloh 1973. - Die Arbeit von Albert L. Blackwell: Schleiermacher's early philosophy of life. Determinism, Freedom, and Phantasy. Scholars Press 1 9 8 2 (Harvard Theological Studies 23) ist primär als Einführung für amerikanische Leser geschrieben und oszilliert sehr stark durch die methodisch ungeklärte Vermischung problemanalytischer und biographischer ijetrachtungslinien. Für die literarhistorische Betrachtung ist der S. 1 7 7 ff durchgeführte Vergleich von Schleiermachers und Schillers ethischem Ideal interessant. 1 1 6 Gerda Heinrich (Hg.): Athenäum. Eine Auswahl. Leipzig 1 9 7 8 (RUB 7 5 2 ) ; diess.: Geschichtsphilosophische Positionen der deutschen Frühromantik (Friedrich Schlegel und Novalis). Berlin 1 9 7 6 (Literatur und Gesellschaft). Die Urteile über Schleiermacher sind nahezu durchgängig negativ („apriorischer Erkenntnisverzicht" und „praktische und theoretische Entmündigung" des Menschen in den Reden „Über die Religion" [ 1 9 8 ] ; „Kapitulation vor der bürgerlichen Misere" [204] usf.). 1 1 7 Klaus Peter (Hg.): Romantikforschung seit 1945. Königstein/Ts. 1 9 8 0 (Neue Wissenschaftliche Bibliothek 9 3 : Literaturwissenschaft). 1 1 8 Martin Redeker: Friedrich Schleiermacher. Leben und W e r k ( 1 7 6 8 - 1 8 3 4 ) . Berlin (West) New York 1 9 6 8 , 4 9 (Sammlung Göschen 1 1 7 7 / 1 1 7 7 a).
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Einleitung
logischen Zurückhaltung gegen Schleiermachers Romantik auch das Negativbild von Romantik nach, das sich seit dem 19. Jahrhundert in das protestantische Bewußtseins eingegraben hatte (Polemik Heines, Hegels, Echtermeyer/Ruges, Kierkegaards, D. F. Strauß', H. Hettners, J. Schmidts u. a.), und nach dem kritischen Scherbengericht über die Romantik in den Jahren nach 1945 noch verstärkt worden ist. Die mangelnde Berücksichtigung Schleiermachers in der literarhistorischen Disziplin seit 1945 mag noch einen weiteren Grund haben, der sich aus der leicht „unsicheren" Stellung Schleiermachers in der frühromantischen Bewegung überhaupt ergibt. Schon bei Dilthey ging Schleiermacher unter den „romantischen Genossen" umher wie ein „Nüchterner unter Träumenden". Diese Unsicherheit lebt aus dem Bewußtsein eines Überschusses und eines Mangels. Der Überschuß ist Schleiermachers nachromantische Biographie, der Mangel ein von Schleiermacher selbst eingestandenes dichterisch-literarisches Unvermögen, wie denn auch Schleiermachers frühromantisches Schrifttum primär dem „Weltanschauungsschrifttum", näherhin der Theologie, Philosophie und Ethik, zuzurechnen ist. Die relativ wenigen literarästhetischen Reflexionen und Beobachtungen Schleiermachers und seine poetischen Produktionen - bescheiden an Umfang und Qualität - und die nur teilweise gelungene poetische Stilisierung der Reden „Über die Religion", der „Monologen" und der „Vertrauten Briefe" bieten nur wenige Anreize zu poetologischdichtungstheoretischen Betrachtungen. D a die Germanistik in der Bundesrepublik Deutschland lange Jahre aber gerade solche Themenbereiche bevorzugte, mußte Schleiermachers Schrifttum auch deshalb in den Hintergrund treten. Andererseits war auch in der DDR-Literaturgeschichtsschreibung kein Bedürfnis erkennbar, sich diesem Schrifttum unter Weltanschauungsaspekt zu widmen. Insgesamt ist die Gegenwartslage in der literarhistorischen Einzelforschung ähnlich wie bei den Gesamtdarstellungen: Sofern der jeweilige Zusammenhang die Einbringung Schleiermachers gleichsam unumgänglich macht, findet er Erwähnung, ohne daß jedoch eine nähere thematische Entfaltung als zwingend angesehen wird. Selbst bei Sachkonstellationen, die die Beiziehung von Schleiermachers Vorstellungswelt dringend nahelegen, etwa bei der Exegese der „Europa"-Rede (Mähl, Malsch), fällt Schleiermacher weitgehend aus. 119
VI. Erwägungen %ur literarhistorischen Neuerscbließung Schleiermachers Der Neueinsatz der deutschen Romantikforschung seit den 60er Jahren, der zu einer in allen ihren Folgen gegenwärtig noch nicht absehbaren Um- und Neubewertung der Romantik wie auch des Werks einzelner Romantiker geführt hat, macht die Forderung, Schleiermacher in diesen Forschungsprozeß einzubeziehen, unausweichlich. So muß es, um schwerpunkthaft eine Reihe von Aspekten zu nennen, die sich von der Romantikforschung der Gegenwart her nahelegen, unter anderem darum 119 Hans-Joachim Mähl: D i e Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis. Heidelberg 1965 (Probleme der Dichtung. Studien zur deutschen Literaturgeschichte 7 ) ; Wilfried Malsch: „Europa". Poetische Rede des Novalis. Deutung der Französischen Revolution und Reflexion auf die Poesie in der Geschichte. Stuttgart 1965.
VI. Erwägungen
zur literarhistorischen
Neuerschließung
41
gehen, den Ursachenkomplex, der das Phänomen Frühromantik aus der geistigen und gesellschaftlich-sozialen Landschaft der 1790er Jahre in Deutschland hervortrieb, auch in bezug auf die Person und das Werk Schleiermachers näher zu durchleuchten. D a der innere Zusammenhang Frühromantik - Französische Revolution als gesicherter Ausgangspunkt gelten kann, ist es notwendig, die politische Ideenwelt des jungen Schleiermacher stärker zu beachten. Sowohl Dilthey wie Haym und nach ihnen eine ganze geistesgeschichtlich orientierte Literaturgeschichtsschreibung haben diesen Gesichtspunkt nicht zureichend ausgearbeitet. Auch bei Andreas Müller kam er seinerzeit nicht zum Tragen, was um so erstaunlicher bleibt, als von nichtgermanistischer Seite dazu schon einige, wenngleich unter diesem Aspekt wenig befriedigende Arbeiten vorlagen. 120 Die Zuordnung des jungen Schleiermacher zu den Revolutionsanhängern, die bei H. Meisner (1934) zumindest angeklungen war, wenngleich gerade von ihm die wichtigen Passagen im Briefwechsel Schleiermacher - Spener von 1799 vernachlässigt wurden, 121 erfolgte programmatisch erst in dem Dokumentarwerk von C. Träger (1975). 122 Beim Revolutionsthema kann es nicht allein darum gehen, diesbezügliche politische Tagesäußerungen Schleiermachers einfach nur zu sammeln und additiv zusammenzustellen. Wichtiger ist die Nachzeichnung des für die Frühromantik insgesamt charakteristischen Prozesses einer Transformation der politisch-sozialen Impulse der Revolution in philosophische, ethische, religiöse und ästhetische Programme. Ein weiterer Problemkreis wäre der Versuch historisch-kontextualer Interpretation von Schleiermachers frühromantischem Schrifttum auf dem Hintergrund der damaligen geschichtlichen Wirklichkeit in ihren gesellschaftlichen, sozialen und politischen Dimensionen. Allerdings werfen Methoden dieser Art grundsätzlich Fragen nach den Gelenkstellen zwischen gesellschaftlicher Basis und geistigem Prozeß auf. Einen „starren Determinismus" zu unterstellen, ist nicht angängig. 123 Literatursoziologisch muß versucht werden, Schleiermachers Werk, beispielsweise die Reden „Über die Religion", historisch konkret zu vermitteln, und zwar nicht nur im theologie- und geistesgeschichtlichen, sondern eben auch im allgemeinen gesellschaftlichen und soziomentalen Horizont - dies bei gleichzeitiger Einbindung in den frühromantischen Geistesprozeß in seiner immanenten Logik. Besondere Bedeutung besitzt das unter dem Stichwort „Symphilosophie" zusammenfaßbare Problemfeld. Inwieweit verstand sich Schleiermacher als bewußter Teilhaber romantischer Symphilosophie (Mitarbeit an den Fragmenten des „Athenaeum" nebst Redaktionstätigkeit; Relationalität seines selbständigen frühromantischen Schrifttums zur frühromantischen Programmatik), so daß sein Werk dann strikt unter der Vorgabe dieses Sachverhalts zu interpretieren wäre? Die Frage ist 120
Andreas Müller: D i e Auseinandersetzung der Romantik mit den Ideen der Revolution. In: Romantikforschung Halle/S. 1929, 2 4 5 - 3 3 3 ( D V S 16), der die Beeinflussung Wackenroders, Novalis', Tiecks, F. Schlegels durch die Französische Revolution herausarbeitete, bezog sich auf Schleiermacher lediglich mit wenigen Bemerkungen im Zusammenhang mit der organischen Staatsbegrifflichkeit der späteren Romantik. 121 N L Schleiermacher Nr. 771 (Abschriften); zu beachten sind auch die Abschriften in Nr. 788. 122 Claus Träger (Hg.): D i e Französische Revolution im Spiegel der deutschen Literatur. Leipzig 1975 (RUB 577). 123 Zu den prinzipiellen Methodenproblemen von Vermittlung und relativer Selbständigkeit von gesellschaftlichem und literarischem Prozeß Claus Träger: Antikes Erbe und sozialistische Gegenwart. Methodologische Probleme des Realismus. In: Ders.: Studien, aaO., 179 ff.
42
Einleitung
weitreichend und führt bis in Strukturprobleme der frühromantischen Texte Schleiermachers hinein. Ein fruchtbares, in der Sehleiermacherforschung bislang weithin im theologischphilosophischen Zirkel verbliebenes Arbeitsfeld ist Schleiermachers Haltung zur Aufklärung. Gemeinhin sind für Schleiermachers Frühzeit die Elemente aufklärerischer Rationalität und Skepsis unterstrichen worden, während dann die frühromantische Lebensstrecke unter den Interpretationsgegensatz Aufklärung - Romantik gestellt worden ist. Die Antithese Romantik - Aufklärung hat eine lange, auch politisch bedingte Forschungstradition. Seit W. Krauss und Träger in ihren Aufsätzen von 1962 und 1967 und H. Schanze in seiner Studie „Romantik und Aufklärung" (1966; 1976 2 ) diese Antithetik im Prinzip wie im Detail infrage stellten, 124 hat die Forschung in steigendem Maße die Aufklärungslinie der Frühromantik beachtet. Man kann dieses Verhältnis einerseits als intendierte Perfektion der Aufklärung durch die Romantik begreifen, andererseits als eine darin beschlossene folgenreiche Transformation, die dann auch antiaufklärerisch umschlagen konnte. Die Aufklärungselemente in den Reden „Über die Religion" hat neuerdings wieder W. Rasch (1978) in allerdings mehr pointillistischen Bemerkungen unterstrichen. 125 Freilich wird man den Reden nur dann mit dem Begriff Aufklärung zureichend beikommen können, wenn man immer gleich die versuchte Vollendung der Aufklärung im Sinne der Frühromantik mit im Auge hat. Auch die sonstigen Schriften Schleiermachers, bis hin zu dem für die Theoretisierung bürgerlicher Geselligkeit am Ende des 18. Jahrhunderts wichtigen Aufsatz im „Berlinischen Archiv", wären in diesen Rahmen einzubringen. Natürlich kann, bei insgesamt schwieriger Methodenlage in der Literaturgeschichtsschreibung, sofern es um die hinreichend konkrete Vermittlung literarischer Texte zur politischen Geschichte geht, vorerst nur ein Teil dieser noch weiter fortsetzbaren Desiderate in Angriff genommen werden. Im Folgenden wird in einer Vermittlung von historischer, biographischer und systematisch-problemorientierter Betrachtung der frühromantische Weg Schleiermachers im Kontakt mit der modernen Romantikforschung neu nachzuzeichnen versucht. D a ß dabei auch Schleiermachers Lebensgang und intellektuelle Entwicklung bis zum Eintritt in den frühromantischen Kreis in einer hinführenden Skizze zu berücksichtigen war, legte sich vom Gesamtanliegen der Arbeit her nahe. 124
Helmut Schanze: Romantik und Aufklärung. Untersuchungen zu Friedrich Schlegel und Novalis. 2. erw. Aufl. Nürnberg 1976 (Erlanger Beiträge zur Sprach- und Kunstwissenschaft 27). Schanze bemühte sich, im Anschluß an eine Formulierung von S. Elkuss, um die „Übergangs- und Verbindungspunkte" zwischen beiden Strömungen. 125 Wolfdietrich Rasch: Zum Verhältnis der Aufklärung zur Romantik. In: E. Ribbat (Hg.): Romantik, aaO., 1 2 - 1 5 .
ERSTES KAPITEL
Zum historisch-sozialen Hintergrund der Frühromantik
I.
Stellung der Frübromantik im Zeitalter der Französischen
Revolution
Als literarische und philosophische Gruppe umfaßte die deutsche Frühromantik eine relativ kleine Anzahl von Schriftstellern, Philosophen, Theologen und Naturwissenschaftlern. Zu ihrem festeren Kreis werden die Gebrüder Schlegel, Friedrich von Hardenberg (Novalis), Ludwig Tieck, Wilhelm Heinrich Wackenroder, Schleiermacher, Bernhardi und August Ludwig Hülsen gezählt. Freundschaftlich verbunden waren ihm Schelling und Heinrich Steffens, Beziehungen bestanden zu Franz Xaver von Baader und Johann Wilhelm Ritter, vor allem aber zu Fichte. Eine bedeutende Rolle innerhalb dieser Gruppierung spielten Dorothea Veit (geborene Mendelssohn, nachmalige Schlegel), und Caroline Böhmer (geborene Michaelis, nachmalige Schlegel und Schelling). Umstritten ist in der Forschung, seit wann von der Frühromantik als eigenständiger Bewegung gesprochen werden darf. Nach C. Heselhaus bildete sich die „erste und bedeutendste romantische Gruppe in Jena, als Friedrich Schlegel 1796 bei seinem Bruder August Wilhelm ein Jahr Aufenthalt nahm". 1 Nach Emil Staiger ist die Romantik auf dem Berliner Pflaster begründet worden, „in einer Stadt, die damals - etwa 1795 - schon nahezu zweihunderttausend Einwohner zählte". 2 Die Jenenser Gründungsthese stellt Friedrich Schlegel und seine Geisteskonkurrenz zu Schiller in den Mittelpunkt, während für Staiger Ludwig Tieck der „Meister der romantischen Schule" ist. Gegen derlei alternative Auskünfte machte E. Ribbat noch einmal auf den „doppelten Ansatz" aufmerksam, den seinerzeit Rudolf Haym seiner „Romantische Schule" zugrunde gelegt hatte: „Das Entstehen einer romantischen Poesie" (bei Tieck und Wackenroder) und „Das Entstehen einer romantischen Kritik und Theorie" (bei den Gebrüdern Schlegel). Den Zeitpunkt der Gründung der romantischen Schule datierte Haym auf 1797/98. Damals habe sich in Berlin „der erste Keim einer Genossenschaft, einer Schule", gebildet. 3 Ergänzend zu Haym, dessen doppelter Ansatz am einleuchtendsten erscheint, wird man den fließenden Übergang zwischen privatem Freundeskreis, literarischer Gesinnungsgemeinschaft und „Schule" festhalten müssen, so daß es als statthaft gelten dürfte, auch schon vor 1797, dem Jahr der 1 Clemens Heselhaus: D i e romantische Gruppe in Deutschland. In: D i e europäische Romantik. Frankfurt/M. 1972, 44. 2 Emil Staiger: Ludwig Tieck und der Ursprung der deutschen Romantik. In: Wulf Segebrecht (Hg.): Ludwig Tieck. Darmstadt 1976, 322 (Wege der Forschung 386). 3 Ernst Ribbat: Poesie und Polemik. Zur Entstehungsgeschichte der romantischen Schule und zur Literatursatire Ludwig Tiecks. In: Ders.: (Hg.): Romantik. Ein literaturwissenschaftliches Studienbuch. Königstein/Ts. 1979, 5 8 - 7 9 ; 61.
44
Zum historischen
Hintergrund,
der
Frühromantik
zeitweiligen Übersiedlung F. Schlegels nach Berlin und Verknüpfung des Bandes zwischen der Schlegel-Novalis-Gruppe in Thüringen und Sachsen bzw. 1798 (Erscheinungsjahr des „Athenaeum"), von der frühromantischen Gruppe zu sprechen. Der siegreiche Einzug der frühromantischen Bewegung in die deutsche Literatur* und Geisteslandschaft des ausgehenden 18. Jahrhunderts deutet darauf hin, daß in ihr Motive lebendig waren, die weit über die Grenzen einer Gruppe oder „Schule" hinausreichten. Ihre Ursprungslandschaften waren Preußen, bis zum Tode Friedrichs II. als aufgeklärter Musterstaat geltend, und Sachsen, territorial zersplittert, aber wirtschaftlich hoch entwickelt. Das Grunderlebnis dieser um 1790 herangewachsenen Generation war die durch den Bastillesturm vom 14. Juli 1789 eingeleitete Revolution in Frankreich. Keiner der Frühromantiker blieb von ihr unberührt. „Ob sie von Anhängern zu Gegnern der Revolution und zu Konservativen wurden, von Weltbürgern zu Nationalisten, ob sie in den Turm einer apolitischen Philosophie flohen oder über allen Gegensätzen der Zeit kunstvoll ausgedachte versöhnende Stellungen bezogen - ganz fort kamen sie nie mehr von dem, was am Beginn ihres geschichtlichen Lehrgangs gestanden hatte. Das hatten sie erlebt, das fuhren sie fort zu erleben, das gab ihnen Denkstoff ihr Leben lang". 4 Bei der Rezeption jenes welthistorischen Umbruchs lassen sich deutliche Unterschiede bei den um 1770 Geborenen und der älteren Generation ausmachen. Gewiß war die Revolutionsbegeisterung der Gebildeten in Deutschland, solange die Entwicklung noch nicht in die Herrschaft des Jakobinismus und die Ochlokratie der Pariser Faubourgs eingemündet war, allgemein. 5 Doch die Begeisterung für eine Welt- und Zeitenwende allergrößten Ausmaßes war vor allem der jungen Generation eigen. Sie ließ sich nicht vom Knall der Guillotine und den Tumulten in den Straßen von Paris, die ihnen in den Berichten reisender Zeitgenossen und einer haßerfüllten Emigrantenpropaganda vor Augen geführt wurde, abschrecken. Novalis, Wackenroder, Friedrich Schlegel, Tieck und Schleiermacher traten mit zustimmenden Äußerungen zur Revolution zu einem Zeitpunkt hervor, da der Sympathiepegel in Deutschland längst unter Null gefallen war. 6 Die konservativen Exorzismen, welche in Preußen und Österreich, jenen Ländern, die 1792 ihre Interventionsarmee unter dem Herzog von Braunschweig und Lüneburg gegen das revolutionäre Frankreich vorrücken ließen, zur Ausrottung des revolutionären Bazillus in ihrem Herrschaftsbereich angewandt wurden, beeindruckten diese junge Generation nicht. 1792 drohte die staatlich protegierte „Wiener Zeitschrift", die sich dem Motto verschrieben hatte „Non impune tentaveris Pacem reipublicae trucidare", die „fanatische Philosophie" und die Früchte aller Art einer 4 G o l o Mann: Deutsche Geschichte des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts. Frankfurt/M 1 9 5 8 , 57.
° Dazu Claus Träger (Hg.): Die Französische Revolution im Spiegel der deutschen Literatur, a a O . ; Jacques Droz: L' Allemagne et la Révolution française. Paris 1 9 4 9 ; für die kirchlichen Reaktionen Edward Dixon Junkin: Religion versus Revolution. The Interpretation of the French Revolution by German Protestant Churchmen 1 7 8 9 - 1 7 9 9 . Austin (Texas): Best Printing (2 Bde.) 1 9 7 4 . 6 Material bei Andreas Müller: D i e Auseinandersetzung, aaO., 2 4 5 - 3 3 3 ; Gerda Heinrich: Geschichtsphilosophische Positionen der deutschen Frühromantik (Friedrich Schlegel und Novalis). Ber!in 1 9 7 6 ; Werner W e i l a n d : D e r junge Friedrich Schlegel oder die Revolution in der Frühromantik. Stuttgart - Berlin - Köln - Mainz 1 9 6 8 ; Richard Brinkmann: Frühromantik und Französische Revolution. In: Deutsche Literatur und Französische Revolution. Göttingen 1 9 7 4 (Kleine VandenhoeckReihe 1 3 9 5 ) , 1 7 2 - 1 9 1 .
I. Die Frühromantik
im Zeitalter
der Französischen
Revolution
45
„Horde kosmopolitischer und philanthropischer Schriftsteller von Mirabeaus Geschlecht und Zwek" zum Verstummen zu bringen. In ähnlicher Drohgebärde trat 1795 die hochkonservative „Eudämonia" auf. Ihr Zehnpunkteprogramm sah die „Anzeige und Rüge der Revolutionssünden" vor, welche „die gelehrten und politischen Zeitungsschreiber, Journalisten, theologische, philosophische, historische und politische Schriftsteller unserer Zeiten begehen". 7 Die Eruptionen, unter denen der Boden Europas erzitterte, führten Novalis zu der Vision einer zweiten Reformation, deren Konturen in allumgreifender Totalität gedacht waren. 8 War nicht die Zeit gekommen, da alle Elemente der Menschheit: die Philosophie, die Poesie, die Moral und Religion auf eine höhere Stufe rücken sollten? 9 Die Hoffnungsträume der frühromantischen Generation lassen sich nur partiell als Verlängerung eines aufgeklärten Fortschrittsoptimismus begreifen, so tief die Frühromantiker auch ihre Wurzeln im Boden des Aufklärungsjahrhunderts hatten. Es mußte das Erlebnis einer Krise der überkommenen Wertvorstellungen hinzutreten, die wiederum einer Krise der deutschen Gesellschaft in ihrer wirtschaftlich-sozialen, gesellschaftlichen und politischen Struktur überhaupt entsprach. In Preußen waren die Probleme bestürzend kompliziert. Kein Bereich des öffentlichen Lebens, keine Institution waren gegen Ende des Jahrhunderts in ihrem Recht mehr unbestritten. In die sich rasch erweiternden Städte drangen Landarbeiter, entlaufene Leibeigene und ihrem angestammten Milieu entrissene vagabundierende Existenzen ein. Der Adel fürchtete um seine Privilegien. Das im Zuge der Industrialisierung erstarkende Bürgertum forderte politische Mitsprache. Was das Aufklärungsjahrhundert als Recht der Vernunft in seinen Journalen, philosophischen Zirkeln, ja noch von den Kanzeln herab gepriesen hatte: Gerechtigkeit, Billigkeit und eine dem common sense angemessene Ordnung des Staates und der Gesellschaft, drängte unter dem Eindruck der im Westen fortbrennenden Flamme der Revolution über sich selbst hinaus in eine ungewisse Zukunft. „Es ist", notierte ein Zeitgenosse, „eine Periode, wie der berühmte Kant sagt, wo die Kritik sich alles unterwirft - wo alles gesichtet wird wie der Weizen, wo man nicht mehr auf Glauben annimmt, sondern dem Grunde oder Urgründe aller substituierenden Dinge nachforscht; wo Meinungen, die Jahrhunderte lang als unbezweifelbare Grundsätze galten, nicht länger ungeprüft bleiben; wo die grauesten Possesionen 7 D i e fotomechanisch reproduzierten Texte der Wiener Zeitschrift und der „Eudämonia" bei Jörn Gaber: Kritik der Revolution. Theorien des deutschen Frühkonservatismus 1 7 9 0 - 1 8 1 0 , Bd. 1: Dokumentation (Monographien Literaturwissenschaft 6) Kronberg/Ts 1976. Zitate S. 141 f. 145. 147 f. - Zum Konservatismus generell Klaus Epstein: D i e Ursprünge des Konservatismus in Deutschland. Frankfurt/M. - Berlin (West) - Wien 1973, der drei Hauptgruppen des Konservatismus unterscheidet (Reform-Konservative, Status-quo-Konservative, Reaktionär-Konservative); zur Bedeutung von 1789 für die Formierung des Konservatismus Siegfried Schmidt: Junkertum und Genesis des deutschen Konservatismus im 19. Jahrhundert. In: ZfG 27 (1979), 1 0 5 8 - 7 2 ; 1063. 8 Novalis: D i e Christenheit oder Europa* Ein Fragment. In: Hans-Joachim Mähl/Richard Samuel (Hg.): Novalis. Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. 2 Bde. München 1978. Bd. 2, 7 3 2 - 7 5 0 ; 743 (fortan: Novalis, Werke). 9 In diesem Sinne waren die Französische Revolution, Fichtes „Wissenschaftslehre" und Goethes „Wilhelm Meister" die größten Tendenzen des Zeitalters, aber, wie F. Schlegel dann im Aufsatz „Über die Unverständlichkeit" hinzufügte, doch eben nur Tendenzen: „ohne gründliche Ausführung" (Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hg. von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. München/Paderborn/Wien 1958 ff. - Vgl. Bd. 2, 198. 366; Bd. 18, 85 (Nr. 6 6 2 ) ; (fortan KA).
46
Zum historischen Hintergrund, der Frühromantik
und uralte Observanzen angefochten und umgeworfen werden, wenn die K r i t i k sie streitend mit unverjährten Menschenrechten erachtet". 1 0 „Salut et fraternité" grüßten sich die Frühromantiker im vertrauten Kreis. Indes, ihr Verhältnis zur Revolution erhielt bei aller Begeisterung bald einen Sprung. D i e Revolution war nicht nur Hoffnung auf Zukunft, sondern auch ein tiefer R i ß in der Zeit. D i e alte Gesellschaft war in Frankreich real, in Deutschland gedanklich dahin. W a s am Horizont an Neuem aufstieg, war nicht, wie jugendlicher Enthusiasmus zunächst gehofft hatte, das goldene Zeitalter, es war die bürgerliche W e l t . D i e deutsche Gesellschaft wuchs evolutionär, wenn auch mit gegen E n d e des Jahrhunderts deutlich beschleunigtem Tempo in sie hinein. Welche Krisenstimmung der tiefgreifende Milieuwechsel im Übergang zum industriellen Zeitalter hervorbrachte, zeigt der „Monolog des wahnsinnigen Weltschöpfers" in Bonaventuras „Nachtwachen". D e r G o t t der Aufklärung war G a r a n t von Vernunft, Recht, H u manität und einer weisen und gütigen Vorsehung gewesen. Nun verrätselte sich die Wirklichkeit zur Schöpfung einer fratzenhaften, allen Vernunft- und Moralbegriffen fernen Gottheit - ein Schreckensbild, das in verwandelter Gestalt schon in Jean Pauls „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab" enthüllt worden war. In Deutschland stürzten die Ungleichzeitigkeiten über- und gegeneinander. G e werbezentren von übergreifender Bedeutung wie das Rheinland, das Saargebiet und Oberschlesien standen die unterentwickelten Regionen des Nordens und Ostens gegenüber. Liberale wirtschaftliche Prinzipien wurden durchkreuzt von einer streng hierarchischen sozialen Gliederung, welche die für Westeuropa so charakteristische Konkurrenz zwischen Adel und Bürgertum wenn nicht ausschloß, so doch erheblich minderte. Analphabetentum und Pauperismus auf dem Lande und den sich entwickelnden städtischen Ballungsräumen stand eine mancherorts schon bis zur décadence verfeinerte städtische Kultur gegenüber. 1 1 D i e frühromantische Bewegung fand sich in einer vielfach widerspruchsvollen Epoche vor. D i e gewichtigste Erscheinung war für sie die als Anbruch eines neuen Zeitalters und nicht bloß als excès d'un faction gewertete französische Revolution. Dieser Erfahrung kontrastierte das Erlebnis der zum Teil noch mittelalterlichen Herrschaftsstrukturen und der starken gesellschaftlichen Spannungen in Deutschland, die jedoch nicht revolutionär zur Entladung kamen, sondern sich zu einem als fremd und unerfreulich empfundenen bürgerlichen Alltag wandelten. D i e nachhaltig enttäuschten Hoffnungen mußten dabei in dem M a ß e eine Vertiefung erfahren, in dem die Revolution im Nachbarland die in sie gesetzten Erwartungen nicht mehr einlöste. Schließlich, und hier kumulierte sich im frühromantischen Bewußtsein die gesellschaftliche Problematik sowohl Frankreichs wie Deutschlands, wiesen die Zeichen einer unerfüllt gebliebenen, ja beängstigend zerbrochenen Zeit auf die noch kaum angefaßte Aufgabe einer Bewältigung der Epoche nach neuen geistigen Gestaltungsprinzipien hin. Menschheitshoffnung und nationale Enttäuschung, Krisenstimmung und die Überzeugung, mit geistigen Mitteln eine neue W e l t zu 10 August Friedrich Cranz: Ein Wort an die Fürsten und Herren Deutschlands. 1790, 5 (Zit. nach Träger [Hg.] : Die Französische Revolution, aaO., 650). 11 Sozialgeschichtliche Lagebeschreibung bei Martin Greschat: Das Zeitalter der Industriellen Revolution. Das Christentum vor der Moderne. Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1980, 37 ff; 63 ff (Christentum und Gesellschaft 11).
II. Die ästhetische Revolution
47
schaffen, gingen bei den jungen deutschen „Jacobinern der Poesie", wie Friedrich Schlegel ihr Selbstbewußtsein charakterisierte, 12 ineinander. Die menschheitsgeschichtlichen Impulsgebungen des frühromantischen Weltanschauungsprogramms, sie sind auch für die gegenwärtige Problemlage im geistigen Orientierungsbereich bedeutsam, sind in der Literaturgeschichtsschreibung der Gegenwart immer wieder hervorgehoben worden. 13 Die „Revolution" der frühromantischen Jakobiner, keine geringere Bezeichnung war ihnen für ihr eigenes Programm angebracht, 14 war eine Revolution des Geistes, näherhin der Poesie und Philosophie. Einige Elemente in der intellektuellen und ästhetischen Geschichte dieser Revolution sind etwas genauer zu bezeichnen, um den Transformationsprozeß der ursprünglich weiter gefaßten Erneuerungshoffnung in ihr aufzuspüren. Die weder in direkter politischer und sozialer Aktion noch in aktuell-politischen Programmformulierungen entbundenen Energien verlagerten sich in die Philosophie, die schöngeistige Literatur, die Theologie und Ethik.
II. Die ästhetische Révolution 1. Sublimierung des Politischen Den engeren Rahmen einer Interpretation der „ästhetischen Revolution" der Frühromantik aus dem Geist der französischen Revolution bilden die frühen politischen Schriften Friedrich Schlegels, vorab seine Condorcet-Besprechung (1795) und 6ein „Versuch über den Begriff des Republikanismus" (1796) wie auch die beiden Staatsschriften des Novalis, „Glauben und Liebe" (1798) und die „Christenheit oder Europa" (1799). In der Rezension von Condorcets „Esquisse d'un tableau historique des progrès de l'esprit humain" zitierte Schlegel ausführlich den von ihm als „groß und erhaben" gekennzeichneten Schluß des ganzen Werks. „Wie sehr gewährt dieses Gemälde des von seinen Ketten befreiten, der Herrschaft des Zufalls und aller Feinde seines Fortschritts entrißnen, auf der Bahn der Wahrheit, der Sittlichkeit und Glückseligkeit mit festem und sicherem Schritt wandelndem Geschlechts dem Philosophen ein Schauspiel, welches ihn über Irrtümer, Verbrechen und Ungerechtigkeiten, von denen die Erde noch befleckt ist, tröstet. In der Betrachtung dieses Gemäldes empfängt er den Lohn seiner Anstrengung für die Fortschritte der Vernunft und für die Verteidigung der Freiheit". 15 Im „Versuch über den Begriff des Republikanismus" ließ Schlegel die Einschränkung der republikanischen Verfassung, wie sie Kant in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden" 12
Dazu Gerda Heinrich: Geschichtsphilosophische Positionen, aaO., 137 ff (Poesie als Muster produktiver Beherrschung und Bewältigung der Wirklichkeit). 13 Die Interessenpositionen, die sich damit verbinden, sind dabei nach wie vor völlig konträr. Dies nachzuzeichnen wäre als Gegenstand einer rezeptionsgeschichtlichen Analyse des neuen Aufbruchs in der Romantikforschung seit ca. zwei Jahrzehnten höchst interessant. - Zum marxistischen Rezeptionsvorgang Claus Träger: Ursprünge und Stellung der Romantik. In: Novalis. Dichtungen und Prosa. Hg. von Claus Träger und Heidi Ruddigkeit. Leipzig 1975, 5 - 6 1 (Redams UniversalBibliothek 394). 14 F. Schlegel bezeichnete den „nicht politische(n) Practiker" als „Schwärmer und Revoluzionär" (KA 18, 22; Philosophische Lehrjahre I. Nr. 40). 15 KA 7, 3 - 1 0 (Esquisse d'un tableau Historique des progrès de l'esprit humain. Ouvrage posthume de Condorcet). Zitat Seite 9 f.
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Zum historischen Hintergrund der Frühromantik
vorgenommen hatte (Überwölbung der bürgerlichen Legislative durch die monarchische Exekutive), nicht gelten. Er gestand dem Bürgertum beide Formen der Machtausübung zu und bejahte das Recht revolutionärer Gewaltanwendung. 16 Auch in den beiden Staatsschriften von Novalis lebte, unbeschadet der „Transzendierung der staatstheoretischen Begrifflichkeit", 17 eine freiheitliche politische Vision. In der Europa-Rede wird eine große visionäre Friedensbotschaft verkündet. Der Rückgriff in das Mittelalter erscheint als Zurückverlagerung des als Leitbild für die Zukunft vorgestellten Ideals in die Vergangenheit. Es wird dort als verwirklicht vorgestellt, um die Grundlage für eine Theorie der Zukunft zu gewinnen. „Die Französische Revolution ist auch hier das Incitament eines Entwurfs, der ihre Ideale aus der Zufälligkeit gegenwärtiger Verstrickungen befreien und auf eine politische Zukunft hin wirksam machen soll." 18 In den vor der Europa-Rede entstandenen Betrachtungen „Glauben und Liebe", verfaßt aus Anlaß des Thronwechsels von 1797 in Preußen, ist die Reflexionsebene noch ungleich politischer. Ihr Leitgedanke ist das Problem der politischen Repräsentation. Es wird von Novalis einmal im direkt politischen Sinn als Repräsentation der volonté de tous verstanden, zum anderen als utopisches, gleichwohl handlungsorientiertes Ideal einer vollendeten Liebesharmonie des corps politique und aller ihm zugehörigen Glieder, vor dem sogar das Staatsprinzip (Monarchie oder Republik) gleichgültig wird. Die politischen Programmäußerungen, welche die Frühromantiker zunächst dem progressiven Lager der deutschen Intelligenz zuordneten, das sich seit 1789 in die politischen Ideenströmungen des Konservatismus, Liberalismus und eines revolutionären Demokratismus aufzuspalten begonnen hatte, traten im weiteren Verlauf der frühromantischen Bewegung zurück. Mit dem Versuch, die „Teleologie der Revolution" 19 festzuhalten, fand eine Entpolitisierung ihres Inhalts statt. „Nicht in die politische Welt verschleudere Du Glauben unid Liebe", notierte F. Schlegel für Novalis in den „Ideen", „aber in der göttlichen Welt der Wissenschaft und der Kunst opfre Dein Innerstes in den heiligen Feuerstrom ewiger Bildung". 20 Wir treffen in dieser frühromantischen Denkfigur auf die gleiche zur Tugend umfunktionierte Not des deutschen Bürgertums, wie sie generell um 1800 charakteristisch zu werden begann. Revolution der Wissenschaft, der Kunst und der Moral wurden zur eigentlichen und wahren Revolution erklärt. Revolutionen, so Novalis, zeugten eigentlich gegen die Kraft einer Nation, da sie nur das Unvermögen bekundeten, aus dem Inneren Moralität hervorzubringen. 21 16 KA 7, 11-25 (Versuch über den Begriff des Republikanismus, veranlaßt durch die Kantische Schrift zum ewigen Frieden [1796]). 17 Träger: Ursprünge und Stellung, aaO., 42. 18 Brinkmann: Frühromantik und Französische Revolution, aaO., 182 f. 19 Novalis. Schriften. D i e Werke Friedrich von Hardenbergs. Hg. von Paul Kluckhohn und Richard Samuel. Zweite, nach den Handschriften ergänzte, erw. und verb. Auflage in vier Bänden und einem Begleitband. Stuttgart 1960 ff. Bd. 3, 575 (fortan: Novalis, Schriften). Der stark revisionsbedürftige Bd. 1 wird zitiert nach der 3. Auflage (Stuttgart 1977), hg. von Paul Kluckhohn (t) und Richard Samuel unter Mitarbeit von Heinz Ritter und Gerhard Schulz. - Charakteristisch für die gedankliche Überbietung der Revolution auch F. Schlegel: „Ihr habt ein Bild von Revoluz[ion] von d[er] franz[ösischen] abstrahirt, die euch Sache ist. Was euch Sache ist, ist mir wieder nur Bild" (KA 18, 392; Philosophische Lehrjahre V, Nr. 867). 20 KA 2, 266 (Ideen, Nr. 106). 21 Novalis. Schriften 2, 459; 437; 593.
II. Die ästhetische Revolution
2.
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Fortschritt als Fortschreiten der Kunst
Seinen Ausgang nahm das Programm der ästhetischen Revolution mit Friedrich Schlegels Aufsatz „Über das Studium der griechischen Poesie" (1797), dem ältesten Systemprogramm der neuen Schule. 22 Schlegel beabsichtigte, die objektive Natürlichkeit der Alten und die subjektive Künstelei der neuen Kunst, das bloß „Interessante", miteinander zu versöhnen. D i e Vereinigung des „Wesentlich-Modernen" mit dem „Wesentlich-Antiken" sollte sich in der „höchsten Erschlaffung des Zeitalters" als ein dialektischer Umsprung ins Objektive manifestieren. Schlegel wähnte sich der „ewigen Gesetze der Kunstbildung" auf der Spur und hoffte, „daß nach dieser Ansicht der Streit der antiken und modernen ästhetischen Bildung wegfällt, daß das Ganze der alten und neuen Kunstgeschichte durch einen innigen Zusammenhang überrascht und durch seine vollkommene Zweckmäßigkeit befriedigt". 2 3 Die Versöhnung von antiker und moderner Kunst sollte zum Fundament eines neuen Zeitalters werden. Allerdings sah Schlegel die Literatur der Neueren zunächst noch als ein System von Verirrungen an; erst mit der Gewinnung der Dimension „romantische Poesie" (ab 1797) konnte die moderne Literatur der alten in qualitativer Gleichwertigkeit gegenübergestellt und so auf eine wirkliche Synthese abgezielt werden. Sie bestand als „progressive Universalpoesie" in der Vereinigung aller getrennten Gattungen, in der Berührung der Poesie mit Philosophie und Rhetorik. An den Künstler richtete F. Schlegel die Forderung, kein Gesetz über sich zu dulden als seine eigene Willkür. Er forderte von der Kunst, „frei von allem realen und idealen Interesse auf den Flügeln der poetischen Reflexion in der Mitte (zu) schweben, diese Reflexion immer wieder (zu) potenzieren und wie in einer endlosen Reihe von Spiegeln (zu) vervielfachen". 24 Das produktionsästhetische Mittel für dieses Verfahren hieß für Schlegel Ironie. Ironie befähigte dazu, im ständigen Wechsel von Enthusiasmus und Selbstkritik das, was wir „anbeten, in Gedanken zu vernichten", sich also immer wieder von den eigenen poetischen Verdinglichungen zu distanzieren und erneut den Ausgriff ins Werden der Dichtung vorzunehmen. 2 5 Unter weltanschaulich-philosophischem wie ästhetischem Blickwinkel war Ironie von einem Freiheitspathos getragen. Sie forderte zur Negation des status quo in Permanenz heraus. Allerdings war ihr auch die Versuchung artistischen Spiels eingeboren, bei dem die poetisch zu gestaltende Wirklichkeit in der Gefahr stand, zum bloßen Material des Kunstwillens herabzusinken. 2.1. Die Verwandlung
des Schriftstellers zum Künstler
Politisch-konkrete Kritik oder publizistischer Tageskampf mit journalistischen Waffen, der in Deutschland um 1800 einen beträchtlichen Teil des literarischen Lebens ausmachte, griff nach frühromantischem Verständnis zu kurz. Auch die poetisch22 Friedrich Schlegel: Prosaische Jugendschriften, hg. von Jacob Minor, Bd. 1. Wien 1882, 171. Zur Interpretation Ingrid Oesterle: Der „glückliche Anstoß" ästhetischer Revolutionen und die Anstößigkeit politischer Revolutionen. Ein Denk- und Belegversuch zum Zusammenhang von politischer Formveränderung und kultureller Revolution im Studium-Aufsatz Friedrich Schlegels. In: Dietei Bänsch (Hg.): Zur Modernität der Romantik. Stuttgart 1977 (Literatur und Sozialwissenschaften 8). 23 Minor, 110 ff. -'> K A 2, 182 f (Athenaeum-Fragment Nr. 116). Zum Gesamtproblem Ingrid Strohschneider-Kohrs: D i e romantische Ironie in Theorie und
4
N o w a k , Schleiecmachec
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Zum historischen Hintergrund
der
Frühromantik
analytische Nachgestaltung der Wirklichkeit, wie sie Goethe im „Wilhelm Meister", den „Wahlverwandtschaften" und seinen Novellen vornahm, befriedigte die Frühromantiker nicht. Dies ist der Quellgrund für die folgenreiche Verwandlung des in der Zeit stehenden Schriftstellers zum Typus des Künstlers. Im modernen Verständnis war der „Schriftsteller", der zugleich als Dichter, Herausgeber, Kritiker, Philosoph und Volksaufklärer wirkte, in Frankreich und England ausgebildet worden. In Deutschland tauchte der Begriff zum ersten Mal bei C. F. Weichmann in der Vorrede zur zweiten Auflage seiner „Poesie der Niedersachsen" ( 1 7 2 3 ) auf. D i e Geburt des Schriftstellers war ein Ergebnis der allmählich zu Bewußtsein kommenden Konfliktlage zwischen Adel und Bürgertum, deren Wortführer der Schriftsteller war. Damit war der Schriftsteller mit einer Sozialverpflichtung behaftet. Teilweise war das künstlerische Selbstverständnis der Frühromantiker vom Wissen um die soziale und politische Aufgabe des Schriftstellers durchaus mitgeprägt. So konnte F . Schlegel bekennen, es sei eine „heilige Pflicht des Philosophen, sich wenigstens insoweit unter den Haufen zu mischen, als es die Beförderung dieses großen Zwecks erfordert und sobald auch nur eine Möglichkeit sich zeigt, daß das Gute in den Staaten die Oberhand behalten könne . . . auch politisch tätig (zu) sein". 2 6 Mit der Umprägung des Schriftstellers zum Künstler fand, wie H. J . Haferkorn unterstrichen hat, ein „sprachlicher Kompetenzverlust" statt. 27 Was heutiger literatursoziologischer Wertung als Verlust erscheint, empfanden die Frühromantiker als Gewinn, war ihnen doch vom Geist ihrer Revolution her konkreter Wirklichkeitsbezug zum „bösen Prinzip" und Politik verächtliche „Empirie in der höchsten Potenz" geworden. 28 D e r Praxisbegriff hatte sich der ästhetischen Revolution zu beugen. Ein Praktiker war nach Schlegel nicht der geschichtlich handelnde Mensch und nicht einmal der politische Publizist oder der aufgeklärte Schriftsteller, sondern der Künstler. E r war es auch, dem ausdrücklich die Bezeichnung „Revolutionär" beigelegt wurde. D a Fortschritt, Bildung und höhere Entwicklung sich für die Frühromantiker nicht mehr im Medium der politischen und Sozialgeschichte ereignen konnten, fanden sie zuerst und vor allem im Reich des Geistes, näherhin "der Poesie statt. Nur folgerichtig, daß die Frühromantik auch den Künstler als den Prototyp der Menschen schlechthin setzte. Im Reich der Poesie durfte der Künstler in „freier Erhebung über sich selbst" 2 9 unentfremdet herrschen und dienen. In diesem Reich bildete er sich heran, indem er es ausbildete. Nach Hegel gewann der romantische Künstler dabei eine Perspektive, in der die Welt zur „bloßen Zufälligkeit" herabgesetzt wurde. E r mußte deshalb seine künstlerische Subjektivität universal emporsteigern, um die so tief abgeGestaltung. 2. Aufl. Tübingen 1 9 7 7 . - D i e entscheidende Funktion des Ironieprinzips kann in der Begründung der Autonomie des Ästhetischen gesehen werden. Bei F . Schlegel lassen sich nach Strohschneider-Kohrs drei Gedankenkreise ausmachen, die indes in ihrem Zusammenhang nicht systematisch geklärt seien: Probleme der philosophischen Begründung, Bestimmungen der künstlerischen Verhaltens- und Schaffensweise und Reflexionen auf Gestaltungsmomente im künstlerischen Werk. K A 2, 2 3 (Rezension von Schillers „Hören". Sechstes Stück). Hans J . Haferkorn: Die Entstehung der bürgerlich-literarischen Intelligenz und des Schriftstellers in Deutschland zwischen 1750 und 1 8 0 0 . In: Ders.: Deutsches Bürgertum und literarische Intelligenz 1 7 5 0 - 1 8 0 0 . Stuttgart 1974, 1 1 3 - 2 7 5 ; 114 (Literatur und Sozialwissenschaften 3). 2 8 K A 18, 3 7 1 ; 3 0 2 (Philosophische Lehrjahre V. Nr. 6 0 1 ; IV. Nr. 1 3 0 0 ) . 2 9 Wie Anm. 24. 26
27
II. Die
ästhetische
Revolution
51
sunkene Welt in anderer, verwandelter Gestalt wieder bei sich Einzug halten zu lassen. Schmerz, Tod, Qual des Geistes und des Leibes, die in der Welt herrschten, kehrten in der Poesie in verwandelter Form zurück und dienten dazu, das Ringen des Menschen um sich selbst zu vollenden, mit Hegel: die absolut gestaltete Subjektivität als das „Göttliche in sich habend" zu wissen, sich also in der Subjektivität des Selbst-Habens, Selbst-Wissens und Selbst-Vollendens als Gott zu entdecken. 3 0 Der alter deus des frühromantischen „Gott-Künstlers" war der Renaissancepoet, in dem das Bewußtsein göttlicher Sendung lebte. Bei ihm fehlte jedoch jene Philosophie, die Novalis im „Blüthenstaub" veranlaßte, nach der Bemächtigung des „transcendentalen Selbst" zu rufen, das „Ich seines Ich's zugleich zu seyn". 31 Der Künstler als Anfänger einer neuen, der wahren „Race" Mensch bildete auf der Gipfelhöhe seines Bewußtseins elitäre Züge aus, die zum aufklärerischen égalitéPostulat in merklicher Spannung standen. „Der Künstler steht auf dem Menschen, wie die Statüe auf dem Piédestal". 3 2 D e m Künstler war das „Geheimniß der schönen Entfaltung" eigen, indem er durch „Zweyfache Thätigkeit des Schaffens und Begreifens" in der Wechselwirkung von Gegenstand und Begriff das Kunstwerk schuf. 33 Nach F. Schlegel waren die Künstler das „höhere Seelenorgan", durch welches äußere und innere Menschheit erst zu Stande kam und mittels Verknüpfung der Vor- und Nachwelt durch ihn ein Individuum wurde. 3 4 2.2. Die Vermählung von Philosophie und Poesie Krisenbewußtsein und revolutionärer Erneuerungswille im Reich der überkommenen Geisteswelt formierten sich bei den Frühromantikern zu dem höchst eigenwilligen Versuch einer ganzheitlichen Synthese. Die analytisch-deduzierende, in ihren vernünftelnden Begriffen gefangene Epoche sollte glanzvoll überwunden und die menschlichen Bewußtseinsinhalte in eine neue Form gegossen werden. In ihrem Willen zur Ganzheit, die dem Erleben einer intellektuell zerbrochenen und geschichtlich vorerst unüberschaubaren und änigmatischen Welt entsprach (man vergleiche in diesem Zusammenhang auch Tiecks „Blonden Eckbert"), partizipierte die Frühromantik an einer Bewegung, deren Spuren schon vorher sichtbar geworden waren, bei Lessing, Goethe und Herder. Analoge Bestrebungen fanden sich in den Naturwissenschaften bei Eschenmayer und Ritter. Ganzheitsphilosophie war auch das Stichwort bei Schelling. Friedrich Schlegel, neben Novalis am intensivsten um die ganzheitliche Synthesis bemüht, unterschied drei Epochen der Wahrheit: die Epoche der Einsicht, die Epoche der Vernunft und die Epoche des Verstandes. Letztere galt ihm als höchste Vollendung des geistig-denkenden Vermögens der Menschheit. In diese Epoche „begreifen wir erst die ganze Welt, das Ganze". 3 5 Die Verstandesepoche war für Schlegel durch die Aufhebung eines bloß vernünftig-begrifflichen Sprechens ge30
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik. 2 Bde. Hg. von Friedrich Bassenge. 3. Aufl. Berlin 1976. Bd. 1, 498 ff. 31 Blüthenstaub Nr. 28 (Novalis, Werke 2, 239). 32 Novalis, Werke 2, 3 2 3 (Vorarbeiten . . . [Poesie] Nr. 38). 33 Novalis, Werke 2, 655 (An A. W. Schlegel v. 12. 1. 1798). 3/1 K A 2, 262 (Ideen, Nr. 64). 3d K A 12, 13 (Vorlesungen zur Transzendentalphilosophie). 4»
52
Zum historischen
Hintergrund
der
Frühromantik
kennzeichnet. An die Stelle logisch-rationaler Welterklärung sollten symbolträchtige Deutevorgänge treten. „Hier deuten wir alles". 36 Beabsichtigt war, sowohl die im logischen Denken getrennten Kategorien Sinnlichkeit und Vernunft zu vereinen als auch den Dualismus von Transzendenz und Immanenz als lediglich konstruierte Gegensätze zu erweisen. Schlegel entwickelte frühzeitig einen Begriffs-Kanon, mit dem er das Ziel des Ganzheitsanliegens wie auch die methodischen Wege dorthin einzukreisen versuchte. Ein Leitmotiv, das die „Philosophischen Lehrjahre" durchzog, war der Begriff „Chaos". 37 Chaos meinte für Schlegel die unendlich fazettierte Realität und Possibilität der Welt, die mit philosophischen Schulbegriffen nicht einzuholen waren. Nur im immerwährenden Umgießen von Sprach-, Gefühls- und Denkakt in einen offenen Horizont hinein war eine ganzheitliche Schau zu gewinnen. „Chaos" war das eigentliche „System" der Welt. An die Stelle von Abstraktion, Spekulation und Analyse traten in den „Philosophischen Lehrjahren" Enthusiasmus, Mystik und Poesie. Auch sonst versuchte Schlegel in seinem philosophischen Programm gegenläufige Begriffe auszuarbeiten: Fragment als Gegenbegriff zu System, Witz als Gegenbegriff zu logisch-rationaler Verknüpfung, Ironie als Kontrastmethode zu sich endgültig setzenden und deshalb verdinglichenden Aussagen. Der stärkste Angriff gegen logisch-rationale Denkformen lag in der Vorstellung von einer Poetisierung der Wissenschaften. Besondere Energie wendete Schlegel in den 1790er Jahren an die Ausbildung des Fragments. Im Fragment waren die nie festgelegte Bedeutungsvielfalt der Sprache und die Beziehungen der Begriffe untereinander am ehesten in den Schwingungsbereich unendlicher Variation zu bringen. Aber selbst noch das Fragment als Form („die eigentliche Form der Universalphilosophie") 38 wurde von Schlegel konsequenterweise ironisch relativiert: „An der Form liegt nichts". 39 Gegen die „Demonstrationen der Philosophie" als Demonstrationen im Sinne der „militärischen Kunstsprache" war dem Fragment gleichwohl eine größere philosophische Kraft eigen. Es besaß größere Annäherungskraft an die ewig-schöpferischen Hervorbringungen des Universums und an seine unendlich-vielfachen Entäußerungen, Mischungen und Trennungen. Gleiches traf auf den Witz als „Prinzip und Organ der Universalphilosophie" zu. Dem Witz war es gegeben, nicht nur in müheloser Eleganz zusammenzubiegen, was in der Schulphilosophie auseinanderstrebte. Er war als ars combinatoria, ja als der „Geist der Universalität" schlechthin, in der Lage, sich als eine „Grundwissenschaft" zu etablieren: als „die Wissenschaft aller sich ewig mischenden und wieder trennenden Wissenschaften, eine logische Chemie". 40 Der Witz war die Betätigungsart des „synthetisierenden Genies". Schlegel, radikal seinen eigenen Schöpfungen gegenüber, relativierte, wie schon das Fragment, auch den Witz. Er legte ihn eine nur interimistische Bedeutung bei, denn „die Philosophie (ist) erst dann in einer guten Verfassung, wenn sie nicht mehr auf genialische Einfälle zu 36
Ebenda. Zum Gesamtkomplex Heinz Gockel: Friedrich Schlegels Theorie des Fragments. In: Ribbat (Hg.): Romantik, aaO., 2 3 - 3 7 ; bes. 25 ff. 38 K A 2, 209 (Athenaeum-Fragment Nr. 259). 39 Ebenda. 40 K A 2, 200 (Athenaeum-Fragment Nr. 220). 37
I. Die Frübromantik
im Zeitalter
der Französischen
Revolution
53
warten und zu rechnen braucht, und zwar nur durch enthusiastische K r a f t und mit genialischer Kunst, aber doch in sicherer Methode stetig fortschreiten kann". E r war Durchgangsstadium zu einer „kombinatorischen Kunst und Wissenschaft". „Und wie", fragte Schlegel, „kann es diese geben, solange wir die meisten Wissenschaften nur noch buchstabieren wie Quintaner und uns einbilden, wir wären am Ziel, wenn wir in einem der vielen Dialekte der Philosophie konjugieren und deklinieren können und noch nichts von Syntax ahnden, noch nicht den kleinsten Perioden konstruieren können?". 4 1 D i e Syntax war die Einheit aller Erscheinungen im Kosmos des Geistes, der als solcher unendlich war. D i e besten Witze waren „échappées de vue" ins Unendliche. 4 2 D e r die perspektivisch-unendliche Einheit des Geistes stiftenden Funktion des Witzes entsprach auf einer anderen Anschauungsebene der „Mystizismus". Mystizismus war für Friedrich Schlegel nicht ein vorreflexives, der Region des begreifenden Verstandes enthobenes Begegnungsverhältnis. D e r Mystiker verstand sich durchaus auf „Ideen", definiert als „unendliche, selbständige, immer in sich bewegliche göttliche Gedanken". 4 3 Die besondere Qualifikation des Mystikers lag in seinem „Genie und Neigung am meisten für solche Wissenschaften, die auf Vereinigung hinzielen", 4 4 also in der Fähigkeit, die Einheit des als Geist erlebten Universums auch in ihrem Getrenntsein festzuhalten und das Einzelne mit dem Ganzen zu versöhnen. D i e im begrifflichen Denken auseinandergesetzten Teile des Universums wurden „mystisch" zusammengesetzt. Das universalistische Ideal führte Friedrich Schlegel alsbald aus der bloßen Selbstanschauung des Geistes hinaus. E r suchte Ergänzung und Verobjektivierung in fremden Geistesmanifestationen. Dieser Impuls ließ ihn zu einer historischen Begründung der Geisteswissenschaften gelangen. In den Manuskripten von 1 7 9 7 / 9 8 versuchte er den ganzen Geistes-Kosmos auf die ihn hervorbringenden Strukturund Entwicklungsgesetze zu befragen. „Aus ihnen ragen die Bestimmungen der großen Geistsysteme Philosophie, Poesie, Moral und Religion hervor, in denen die Schlegelsche Theqrie des Kulturzusammenhanges zum Ausdruck kommt". 4 5 Noch eindrucksvoller trat die „neue Philosophie" bei Novalis hervor. Bewundernd schrieb Friedrich Schlegel: „Nicht auf der Gränze schwebst du, sondern in Deinem Geist haben sich Poesie und Philosophie innig durchdrungen. Dein Geist stand mir am nächsten bey diesen Bildern der unbegriffnen Wahrheit. Was D u gedacht hast, denke ich, was ich gedacht, wirst D u denken oder hast es schon gedacht . . ." 4 6 . Bei Novalis wurden mit ungleich größerer Entschiedenheit Philosophie, Poesie, Ethik und Religion ineinander verschränkt und im qualitativen Umschlag vom kognitiven zum ästhetischen Status in das Reich der Kunst eingepflanzt. Das schöpferische Ich selber war dabei in diesen interdisziplinären Entgrenzungen auf Poesie hin disponiert. E s war schon Schlegels Bestreben gewesen, Fichtes „Ich" durch Einbeziehung der Elemente Witz, Bildung, Kunst, Genialität,. Liebe auszuweiten, um dessen „Trockenheit" in die lebendige Fülle des Lebens zu überfühEbenda. Ebenda. 4 3 K A 18, 9 (Philosophische Lehrjahre I. Nr. 5 9 ) ; K A 2, 257 (Ideen, Nr. 10) 4 '' K A 18, 6 ; Philosophische Lehrjahre I. Nr. 22). 4 3 K A 18, X X V (Einleitung) 4 6 K A 2, 272 (Ideen, Nr. 156). 41 42
54
Zum historischen Hintergrund
der
Frühromantik
ren. Bei Novalis hieß es: „Wir erwecken die Thätigkeit, wenn wir ihr reitzenden Stoff geben. Das Ich muß sich, als darstellend setzen". 47 Diese Bestimmung korrespondierte den Plänen Hardenbergs von einer „Philosophie", welche die den Scholastikern und Eklektizisten eigentümliche Denkart überwand, und zwar durch ein dem Künstler beigelegtes höheres Wahrnehmungsbewußtsein der Welt. Novalis begriff die Poesie als den O r t der vollständigen Tätigkeit des Geistes, in dem sich die unendliche Reihe der Erscheinungen in der Sinnenwelt mit der Unendlichkeit des denkenden und vorstellenden Vermögens des Ich vereinte. Die Schwierigkeiten, diesen neuen Rollenstatus der Poesie durchzuhalten, sind ablesbar an immer wieder neuen sprachlichen Ausgriffen, Wirklichkeit und Wesen der Poesie zu bestimmen. „Die Poesie ist für den Menschen, was der Chor dem griechischen Schauspiele ist - Handlungsweise der schönen, rhythmischen Seele - begleitende Stimme unsers bildenden Selbst - Gang im Lande der Schönheit - überall leise Spur der Humanität - freye Regel - Sieg über die rohe Natur in jedem Worte - ihr Witz ist Ausdruck freyer, selbständigem Thätigkeit - Flug - Humanisierung. Aufklärung - Rhythmus - Kunst". 4 8 Die poesis et philosophia nova war in dieser Erkenntnisstufe noch dem subjektiven Idealismus verhaftet. Etwa seit dem Sommer 1798 vollzog sich unter dem Eindruck der Lektüre Jacob Böhmes bei Novalis der Übergang zu einem an die natura naturans gehefteten Realismus. Bedeutsam wurde für Novalis die Überzeugung von der strukturellen Analogie zwischen Mikrokosmos (Mensch) und Makrokosmos (Natur, Universum). „Das Individuum lebt im Ganzen und das Ganze im Individuum". 4 9 Mit derartigen Thesen hat Novalis dann die Beziehung zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos als dialektisches Begegnungs- und Einbettungsverhältnis zu denken versucht. Darin ging er weit über Fichtes sich selbst hervorbringendes Ich hinaus. Novalis hat unter dem Stichwort „Belebung" einen Vorgang wechselseitiger Penetration zu beschreiben versucht. „Ich kann etwas nur erfahren, in so fern ich es in mir aufnehme; es ist also eine Alienation meiner selbst und eine Zuneigung oder Verwandlung einer andern Substanz in die meinige zugleich: das neue Product ist von den beyden Factoren verschieden, es ist aus beyden gemischt . . . Jeder Action in jenem entspricht eine gleichzeitige Action in mir, die Action des Vernehmens. Jeder Beschaffenheit dort entspricht eine vernehmende ErkenntnißBeschaffenheit in mir. Ich unterscheide so viel Erkenntniß Kräfte in mir - als es wirckende Kräfte dort giebt." 50 Novalis schwebte eine „wechselseitige Bestimmung" von „Zentripetalkraft" (synthetisches Bestreben) und „Zentrifugalkraft" (analytisches Bestreben) vor, durch die „jene höhere Synthesis der Einheit und Mannichfaltigkeit selbst hervorgebracht (wird) - durch die Eins in Allem und Alles in Einem ist". 51 Novalis entwickelte einen unermüdlichen, enzyklopädischen Drang nach dem einzelnen, der sich auf alle Gebiete menschlichen Wissens erstreckte - von der Poesie und Musik bis zur Mathematik, Physik, Geologie und Chemie. Er strebte nach einer romantischen Universalwissenschaft, nach einem lebendigen wissenschaft" Novalis, Ebenda, 49 Ebenda, 50 Ebenda, 51 Ebenda, 4S
Werke, 2, 194 (Fichte-Studien Nr. 633). 146 (Fichte-Studien Nr. 435). 322 (Vorarbeiten . . . [Poesie] Nr. 31). 341 (Vorarbeiten . . . Nr. 118). 378 (Vorarbeiten . . . Nr. 274).
II. Die ästhetische Revolution
55
liehen Organon, nach einer Enzyklopädistik von wahrhaft integralem Format. Diese Vision zeigt die Nähe zur „Encyclopédie" und gleichzeitig die Distanz zu ihr. Das Ziel der „Encyclopédie" war eine integrale Wissenschaftskonzeption mit demonstrablen Prämissen, was freilich, wie der Vergleich der Hauptartikel zu den Wissenschaftssparten mit den einzelnen Sachartikeln beweist, nur unzureichend gelang. 52 Enzyklopädie nach Novalis' Intention war eine zuletzt transrationale Unio. Sowenig Novalis daran dachte, der wissenschaftlichen Denkform zu entsagen, sosehr war ihm doch sicher, daß die „höchste Sympathie und Coactivität, die innigste Gemeinschaft des Endlichen und Unendlichen", nur durch Poesie entstand. Durch Poesie erst wurde das Ganze im eigentlichen und tiefsten Sinne zum „Organ des Individuums und das Individuum zum Organ des Ganzen". 53 In der UniversalPoesie fand die Synthese von Idealismus und Realismus statt. Die Poesie wurde gefaßt als „eine ursprüngliche Kraft, die in beiden Brennpunkten, in dem vom Idealismus ergründeten schöpferischen Geist, und in der vom Realismus hervorgehobenen schöpferischen Natur wirksam ist . . . Auf ihrer höchsten Stufe erscheint sie aber als Kunstform der romantischen Poesie, wo sie göttliche Züge trägt". 54 Die eigentliche schöpferische Spitze dieses Entwurfs war der Gedanke, daß das Sein nicht einfach rekonstruktiv im Vernehmen dessen, was ist, zu erschließen war. So wie der Mensch sein Leben nicht als einen gegebenen, sondern von ihm gemachten „Roman" 55 anzusehen hatte, sollte auch die Welt im Vorgang des Romantisierens über sich selbst hinaus erhoben werden, und zwar durch „qualitative Potenzierung". Das „niedre Selbst" war dabei mit dem „besseren Selbst" zu identifizieren, das „Höhere, Unbekannte, Mystische, Unendliche" der umgekehrten Operation zu unterwerfen: „Wechselerhöhung und Erniedrigung". 56 Novalis erklärte den logischen Erkenntnisakt nicht für ungültig, wohl aber kam die Philosophie erst in der Poesie an ihr wahres Ziel. „Die Poesie hebt jedes Einzelne durch eine eigenthümliche Verknüpfung mit dem übrigen Ganzen - und wenn die Philosophie durch ihre Gesezgebung die Welt erst zu dem wircksamen Einfluß der Ideen bereitet, so ist gleichsam Poésie der Schlüssel der Philosophie, ihr Zweck und ihre Bedeutung; denn die Poésie bildet die schöne Gesellschaft - die Weltfamilie - die schöne Haushaltung des Universums". 57 Während der Philosoph nur alles ordnete und in sein logisches Kategoriensystem zwängte, „lößte der Dichter alle Bande auf . . . Seine Worte sind nicht allgemeine Zeichen - Töne sind es - Zauberworte, die schöne Gruppen um sich her bewegen". 58 Das Instrument der Poesie, dessen Noten die 02 Hannelore Gärtner: D i e Lexikographie der Encyclopédie. Anspruch und Verwirklichung, dargestellt am Beispiel des ersten Bandes. Diss. phil. Leipzig 1980. 53 Novalis, Werke 2, 322 (Vorarbeiten . . . [Poësie] Nr. 31). K A 18, XXXIV. ;jJ Zum frühromantischen Roman Helmut Schanze: Friedrich Schlegels Theorie des Romans. In: Reinhold Grimm (Hg.) : Deutsche Romantheorien. Frankfurt/M. 1968, 6 1 - 8 0 . Schanze arbeitet unter Verwendung von F. Schlegels eigenen Kategorien vier konstitutive Vorstellungskomplexe heraus: 1. „Charakteristik". 2. „Poetische Ideen". 3. „Unendliche Rhetorik". 4. „Witz". - Peter Szondi: Friedrich Schlegels Theorie der Dichtarten. Versuch einer Rekonstruktion auf Grund der Fragmente aus dem Nachlaß. In: Euphorien 64 (1970), 1 8 1 - 1 9 9 faßt Schlegels Romanbegriff als konsequente Liberwindung der Gattungspoetik, die sich zur „Tönepoetik" wandle. 56 Novalis, Werke 2, 334 (Vorarbeiten . . . [Sapphische Fragmente] Nr. 105). 57 Novalis, Werke 2, 321 f (Vorarbeiten . . . [Poësie] Nr. 31). 58 Ebenda, 322 (Vorarbeiten . . . [Poësie] Nr. 32).
56
Zum historischen Hintergrund der
Frühromantik
Worte des Dichters waren, besaß die Fähigkeit unendlicher Kombinatorik und war insofern das Medium eines ständigen schöpferischen Neuschaffens von Welt. Die Welt trat aus dem Zustand des Seins (esse) in den Zustand der Possibilität und einer unendlichen Fülle von Konpossibilitäten. „Dichten ist zeugen". 59 In der Bestimmung der romantischen Poesie als transzendental („Die trancendentale Poesie ist aus Philosophie und Poesie gemischt. Im Grunde befaßt sie alle transcendentale Functionen und enthält in der That das transscendentale überhaupt" 60 ), konnte deren Zielfunktion beschrieben werden als Aufbau einer „Tropik", „die die Gesetze der symbolischen Construktion der transcendentalen Welt begreift". Damit war Kunst im transzendentalen Symbol festgemacht.
3. Die Kluft zwischen Geist und Geschichte Unter ideengeschichtlichem Aspekt ordnete sich die ästhetische Revolution der Frühromantik in einen Prozeß der Dematerialisierung der Geschichte ein. Ein wichtiger Grund dafür war die Bewertung det französischen Revolution als ein vor allem geistig-moralisches Ereignis. Offensichtlich fiel es dem philosophischen Denken in Deutschland schwer, in der Geschichte Fuß zu fassen. Im Umfeld der frühromantischen Bewegung hatte August Ludwig Hülsen in seiner Preisschrift auf die Frage der Berliner Akademie „Was hat die Metaphysik seit Leibniz und Wolff für Progressen gemacht?" durch die Vorwegnahme- des Konstruktionsprinzips dialektischer Geschichtsmetaphysik im Sinne Schellings und Hegels einen Grund zum geschichtlichen Denken gelegt. Allerdings hat dann auch Hülsen nicht den Widerspruch zwischen geistiger und geschichtlicher Welt aufzuheben gewußt. Gerade an ihm, dem Sproß einer märkischen Pfarrerfamilie, sollte sich das frühromantische Emigrantenschicksal aus der Zeit in besonders eindrücklicher Art erfüllen. Bewegt von naturmystischen und agrarromantischen Ideen lenkte er seine Schritte nach einem in Schleswig-Holstein gelegenen „Arkadien". 61 Noch Johann Gottlieb Fichte, der bewunderte Jenenser Philosoph, dessen „Wissenschaftslehre" für den jungen Friedrich Schlegel neben der französischen Revolution und Goethes „Wilhelm Meister" zu den „Haupttendenzen des Zeitalters" gehörte, hätte, konsequent rezipiert, den Frühromantikern den Weg in die geschichtliche Wirklichkeit bahnen können. Fichte hatte im „Machtspruch der Vernunft" verlangt, das Sein als abschließende Totalität zu vernichten und die maßgebende Wahrheit dem Sollen zuzusprechen. Der Mensch sollte die Welt seines Ideals in immer neuen Bestimmungen produzieren und realisieren. Erst im Sollen trat das Ich (die Gattung) aus sich selbst heraus und sich gegenüber. Das Sollen wurde zum Vollstrecker wahren Seins in einer neuen, erst zu schaffenden Wirklichkeit, in der Geschichte. Entsprechend der Einzeichnung der Französischen Revolution in den Entwick59
Ebenda, 323 (Vorarbeiten . . . [Poesie] Nr. 36). Ebenda, 325 (Vorarbeiten . . . [Poesie] Nr. 47). 61 Zu A. L. Hülsen Willy Flitner: August Ludwig Hülsen und der Bund der freien Männer. Jena 1913 (Anhang: Briefe an A. W. Schlegel und Sophie Bernhardi); Haym: Romantische Schule, aaO., 445-456; NDB 9 (1972), 734 f; Dieter Klawon: Geschichtsphilosophische Aufsätze der Frühromantik. Diss. phil. Frankfurt/M. 1977; Klaus Rek: August Ludwig Hülsen - Biographie und grundlegende Positionen. Dipl.-Arbeit/Sektion Germanistik und Literaturwissenschaft Leipzig. 60
II. Die ästhetische Revolution
57
lungsgang des geistigen und moralischen Reiches wurden deren destruktive Tendenzen oder, wie Edmund Burke sagen sollte, die Tyrannei einer zügellosen, wilden und rohen Menge, in der deutschen gebildeten Welt auf eine geistig-moralische und religiöse Fehlentwicklung zurückgeführt. Die wahre Revolution, so die Schlußfolgerung, war nicht mit politischen Aktionen ins Werk zu setzen, sie war ein permanenter Akt sittlicher Bildung, öffentlicher Erziehung und fortschreitender Geisteserkenntnis. Erst mußten innerer Wandel des alten Menschen und moralische Vervollkommnung Platz greifen, ehe an eine äußere Veränderung zu denken war was dann auch für die Weimarer Klassiker bei ausdrücklich formulierter Politikabstinenz die Ausbildung der harmonischen Persönlichkeit zur wichtigsten Gegenwartsaufgabe werden ließ. Verinnerlichung von Freiheit, Pflicht und Menschenwürde mußte die Folge sein. Die Bewegung sollte von innen nach außen gehen, nicht von außen nach innen. Dieses sich breit durch das zeitgenössische Schrifttum (übrigens auch des kirchlichen Protestantismus) ziehende Theorem war abhängig vom Axiom einer vorstaatlichen Menschenpflicht, deren Erfüllung für die Interessen von Staat und Gesellschaft größere Bedeutung besaß als direktes politisches und soziales Handeln. Auch an diesem Punkte wurde der Dualismus von Geist und geschichtlicher Gegenstandswelt offenkundig, nämlich als ungelöstes Problem des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft! Ungelöst im weiteren Sinne war darin vor allem die Theorie-Praxis-Relation. Nirgends läßt sich so deutlich wie bei der Errichtung des frühromantischen Weltanschauungsgebäudes die Verschiebung des Zusammenhangs von Idee und Interesse in den Zusammenhang Idee als Interesse verfolgen. Dennoch blieben in der Frühromantik Haftpunkte zur politischen und Sozialgeschichte sichtbar, die es verbieten, sie als „weltlos" zu begreifen, zum Beispiel in ihren Bemühungen, die Kulturgeschichte der Menschheit für den europäischen Kulturprozeß fruchtbar zu machen, in der Abtragung des Schutts der Vergangenheit von den nationalen deutschen Kulturquellen, in den utopisch-politischen Visionen von Frieden, Gleichheit und Gerechtigkeit, in der Philosophie der Geschlechtervereinigung, die eine eminent emanzipatorische Qualität besaß, in der Vision des harmonisch vergesellschafteten Menschen überhaupt. Die frühromantische Auseinandersetzung mit der Epoche fand, wie in der deutschen Geistesprovinz insgemein, vornehmlich auf der Kampfbahn der Ideen statt. Dabei ist es wichtig, sich den zukunftsgerichteten Charakter der Frühromantik vor Augen zu halten. Novalis hoffte, in der Vermittlung von „äußern" und „innern" Sinn „jene Stelle außer der Welt", den archimedischen Punkt zu finden, der in der Darstellung einer vollendeten genialischen Konstitution des ersten Genies Gestalt gewann und den „typischen Keim einer unendlichen Welt" legte. Diese Entdeckung mußte nach Novalis die merkwürdigste in der Welt sein, denn „es beginnt damit eine ganz neue Epoke der Menschheit - und auf dieser Stufe wird erst wahre Geschichte aller Art möglich". 62 Die Neuschöpfung der Welt im vorgängigen Werk des Geistes und die Selbstfindung des Individuums war zuletzt als rückvermittelt gedacht in das geschichtliche Sein und Werden.
62
Novalis, Werke 2, 270 (Vermischte Bemerkungen 1797/98).
ZWEITES KAPITEL
Werdegang Schleiermachers bis zum Eintritt in den frühromantischen Kreis
I.
Lebens Stationen der Kindheit und Jugend
1. Herkunft Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher 1 stieß zur frühromantischen Bewegung als protestantischer Prediger reformierten Bekenntnisses und als ein junger Intellektueller, der bereits ein unverwechselbares geistiges Profil ausgebildet hatte. Sein Heimatland war Preußen, in der Mitte des 18. Jahrhunderts durch die Eroberung Schlesiens in den Rang einer europäischen Großmacht aufgestiegen. Schleiermachers Familie war dem preußischen Staat unter Friedrich II. auf kirchlichem und universitärem Sektor eng verbunden. D e r Vater, Gottlieb Adolph Schleyermacher, diente seit 1760 nach einer bewegten Jugend im Umfeld des Radikalpietismus am Niederrhein als Prediger in der friderizianischen Armee und wirkte bei der Reorganisation des Freimaurertums mit, 2 dessen kosmopolitische und sozialreformerische Bestrebungen durch den König gefördert worden waren. Von mütterlicher Seite war die Familie Schleiermachers durch Christian Timotheus Stubenrauch mit dem kirchlichen Leben in Berlin verknüpft. Stubenrauch war von 1 7 2 3 - 1 7 5 0 Hofprediger in Berlin. Über die Stubenrauchs zogen sich Verbindungsfäden zu den Repräsentanten der aufgeklärten Predigeraristokratie Berlins, Johann Joachim Spalding ( 1 7 1 4 - 1 8 0 4 ) und Friedrich Samuel Gottfried Sack (1738 bis 1817). Ein Onkel Schleiermachers, Samuel E . Th. Stubenrauch, lehrte als Theologieprofessor an der Universität Halle und ist in der gelehrten Welt durch seine Übersetzung von Spanheims „Introductio" bekannt geworden. 3 Schleiermachers Vater verkörperte unbeschadet mancher überraschender Wen1 Biografica bei Dilthey: Leben Schleiermachers, a a O . (1. Aufl. 1 8 7 0 ; 3. Aufl. 1 9 7 0 ) ; Redeker: Friedrich Schleiermacher, a a O . ; Friedrich-Wilhelm Kantzenbach: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Hamburg 1 9 6 7 (rowohlts monographien); Q u a p p : Christus im Leben Schleiermachers, a a O . ; Herms: Herkunft, a a O . 2 Details bei Hering: Schleiermachers Familienheimat, a a O . ; Meisner: Schleiermachers Lehrjahre, a a O . ; Andreas W a c k w i t z : Johann Gottlieb Schleyermacher, Mitbegründer und erster Prediger der evangelisch-reformierten Kolonie Anhalt Kreis Pleß/Oberschlesien. I n : Jahrbuch für Schlesische Kirchengeschichte 4 3 ( 1 9 6 4 ) , 8 9 - 1 5 3 . - Im N L Schleiermacher N r . 7 3 4 - 7 3 6 liegen Materialien zur Freimaurertätigkeit G. A. Schleyermachers vor. 3 Hering: Angaben bei hundert. Ein Berlin 1 9 5 9 .
Samuel Ernst Timotheus Stubenrauch, a a O . ; Zu Christian Timotheus Stubenrauch die Rudolf von Thadden: Die brandenburgisch-preußischen Hofprediger im 17. und 18. JahrBeitrag zur Geschichte der absolutistischen Staatsgesellschaft in Brandenburg - Preußen. 2 1 3 f.
I. Kindheit und Jugend
59
•düngen in seinem geistigen und religiösen Entwicklungsgang einen praxisnahen reformierten Predigertypus. E r erwarb sich Verdienste bei der kirchlichen und gemeindlichen Organisation der Emigrantenkolonie Anhalt, einer Gründung des Fürsten Erdmann von Anhalt. Ohne selbst schriftstellerisch hervorzutreten, besaß er wissenschaftliche Interessen und versuchte eine Zeitlang, Friedrich und dessen Geschwister, Charlotte und Karl, durch Privatunterricht heranzubilden. Bei Schleiermachers Geburt lebte die Familie in Breslau. 1 7 7 8 siedelte sie nach Pleß, 1 7 7 9 nach Anhalt über. Breslau zählte damals mit seinen rund 5 0 0 0 0 Einwohnern zu den Großstädten Preußens. D i e Einwohnerschaft war konfessionell bei nahezu gleicher Verteilung aus Protestanten und Katholiken zusammengesetzt und auf die Praktizierung religiöser Toleranz angewiesen. Handelspolitisch war Breslau für die Erschließung des Ostens von Bedeutung. Seine erste schulische Unterweisung erhielt Schleiermacher in Breslau. Nach Auskunft der auf amtliche Veranlassung verfaßten Selbstbiographie von 1 7 9 4 durchlief er die unteren Klassen „mit ziemlicher Schnelligkeit" und geriet dadurch in den „sehr frühen Ruhm eines guten Kopfes". Wenig Geschmack konnte er an dieser Schule dem naturkundlichen und dem Geschichtsunterricht abgewinnen. Letzterer verursachte ihm „tödtliche Langeweile". Nach der Übersiedlung von Breslau nach Pleß, ein Jahr darauf nach der Kolonie Anhalt, wurde Schleiermacher umgeschult. Von seinem zwölften bis zum vierzehnten Lebensjahr war er in Pleß in Pension, wo sich ein Schüler Ernestis, ein Kandidat Schubert aus Teschen, um ihn verdient machte. E r hielt ihn „zu Uebungen in der Kunst (an), über einen Gegenstand ordentlich nachzudenken und meine Gedanken zu Papier zu bringen". 4 Kennzeichnend für die Biographie des Kindes waren, will man den diesbezüglichen Passagen der Selbstbiographie folgen, schwere religiöse Skrupel. „Die Lehre von den unendlichen Strafen und Belohnungen hatte schon meine kindische Phantasie auf eine äußerst beängstigende Art beschäftigt, und in meinem elften Jahre kostete es mich mehrere schlaflose Nächte, daß ich bei der Berechnung des Verhältnisses zwischen den Leiden Christi und der Strafe, deren Stelle dieselben vertreten sollten, kein beruhigendes Facit bekommen konnte". 5 Treffen diese Auskünfte zu, wäre das Problem der stellvertretenden Genugtuung, das im Jahre 1787 zu einem Bruch in Schleiermachers religiöser Entwicklung führen sollte, bereits in eigenen Überlegungen des Kindes und seinen selbstquälerischen Phantasien angelegt gewesen.
2.
Niesky und Barby
Die gelegentlich einer Einquartierung schlesischer Soldaten in der herrnhutischen Kolonie Gnadenfrei (Schlesien) erfolgte Hinwendung des Stabspredigers Gottlieb Adolph Schleyermacher zum Zinzendorfschen Pietismus hatte zur Folge, daß die Eltern ihre drei Kinder Charlotte, Karl und Friedrich im Jahre 1783 den Herrnhutern zur weiteren Erziehung und Ausbildung übergaben. 4
Briefe 1, 5 (Selbstbiographie vom 10. 4. 1 7 9 4 ) .
0
Ebenda, 7.
60
Scbleiermacher bis zum Eintritt in den frühromantiscben Kreis
Was die vier Lebensjahre Schleiermachers von 1783-1787, in denen er vom: Geist und der Frömmigkeit Herrnhuts geprägt wurde, für seine weitere Entwicklung bedeuteten, kann schwerlich überschätzt werden. Schleiermacher selber hat seine lebenslange Beziehung zum herrnhutischen Glaubenstypus immer wieder hervorgehoben und die Begegnung mit Herrnhut als „Ausgangspunkt" seines Bewußtseins vom Verhältnis des Menschen zu einer höheren Welt" bezeichnet. 6 In seiner Selbstbiographie hat er bekannt, er hätte für den Fall der Ablehnung seines Eintritts in das Pädagogium lieber eine „ehrbare Hanthierung" erlernt, als außerhalb der Brüdergemeine „den Weg zu dem gelehrten Ruhm zu betreten, für den mich mein Lehrer in Pleß so zu enthusiasmiren gewußt hatte". 7 Offenbar hat der damals knapp fünfzehnjährige Schleiermacher die herrnhutische Glaubenswelt als einen' Zufluchtsort vor den ihn bedrängenden religiösen Skrupeln gesehen und sich mit Enthusiasmus ihren Glaubens- und Lebensformen geöffnet 8 Als Schleiermacher Zögling der Herrnhuter wurde, hatte der ältere Pietismus seine Blütezeit bereits hinter sich. Ursprünglich im Zentrum des geistig-religiösen Lebens Deutschlands stehend, hatte er sich seit der Jahrhundertmitte eine Verdrängung in die Konventikel und Zirkel der „Stillen im Lande" gefallen lassen müssen. Das gilt allerdings nicht für den von A. H. Francke geprägten Halleschen Pietismus, der trotz geminderter Öffentlichkeitsrelevanz das staatlich-gesellschaftliche Leben Preußens weiterhin stark bestimmte und von innen heraus zu jener Gestalt formte, die man als „Preußentum und Pietismus" bezeichnet hat. 9 - Schleiermacher lernte während seiner herrnhutischen Zeit zwei Spielarten des Zinzendorfschen Pietismus kennen: einen weltoffenen pietistischen Neuhumanismus im Pädagogium Niesky und die sich von den zeitgenössischen Entwicklungen des Geistes- und Kulturlebens: mehr und mehr isolierende Theologie und Frömmigkeit des Seminars von Barby. Die Nieskyer Pädagogisten, unter die Schleiermacher im Frühsommer 1783 eingereiht wurde, erhielten einen auch für damalige Verhältnisse gediegenen Unterricht. Der Conspectus „Von den Lectionen im Pädagogio" des Jahres 1787 weist Unterricht in alten und neuen Sprachen (Latein, Griechisch, Hebräisch, Englisch, Französisch), Geschichts- und Mathematikunterricht aus. „Im Zeichnen und Musik bekommt ein jeder Unterweisung, der nur einigermaßen Fähigkeit und Lust hat". 10 ' Die freie Zeit nutzte Schleiermacher gemeinsam mit seinem adligen Freund Johann Baptist von Albertini, später Bischof der Brüdergemeine, zu „kolossalisch(en) und 6 Briefe 1, 295 (Schleiermacher an Georg Reimer v. 3 0 . 4 . 1 8 0 2 aus Gnadenfrei); vgl. auch Schleiermacher an Ehrenfried von Willich (Meisner 1, 222). - D i e lebenslange Verbindung Schleiermachers zu Herrnhut zeigt auch noch ein undatierter Brief an eine Freundin der Schwester (Abschrift) : von einem anderen Wunsche wird Ihnen Lotte wol erzählt haben, nemlich eine Reise in die von den alten Zeiten her geliebten Orte zu machen" (Archiv E B U R 21 A Nr. 155). 7 Briefe 1, 8. - Zur Sozialstruktur Herrnhuts Otto Uttendörfer: Wirtschaftsgeist und Wirtschaftsorganisation Herrnhuts und der Brüdergemeine 2. Teil. Herrnhut 1 9 2 6 ; Hans-Christoph Hahn/Hellmut Reichel (Hg.): Zinzendorf und die Herrnhuter Brüder. Quellen zur Geschichte der Brüder-Unität von 1 7 2 2 - 1 7 6 0 . Hamburg 1977. 8 Grundlegend für Schleiermachers Herrnhuter Zeit E. R. Meyer: Schleiermachers und von Brinkmanns Gang, aaO. - Leider entbehrt diese Arbeit archivalisch präziser Angaben. N e u e archivalische Aspekte sind der Herrnhuter Zeit Schleiermachers trotz Meyer noch abzugewinnen. 9 Carl Hinrichs: Preußentum und Pietismus. Der Pietismus in Brandenburg - Preußen als religiössoziale Reformbewegung. Göttingen 1971. 10 Conspectus lectionum 1 7 7 1 ; 1 7 7 2 ; 1 7 7 4 ; 1 7 9 1 - 1 7 9 8 ; 1 8 0 0 - 1 8 0 4 . Schulpläne 1 8 2 8 - 1 8 9 3 . Der Conspectus von 1787 (wie alle anderen) in Archiv E B U R 4 B IV a Nr. 4, Bl. 6 ff.
I. Kindbett und Jugend
61
abenteuerlich(en) literarischen Unternehmungen", die, „obgleich sie nicht nach Verhältnis ihrer Mühsamkeit und unseres Zeitaufwandes nutzen konnten . . . doch nicht fruchtlos" waren. 1 1 Blickt man vom Pädagogium Niesky auf die vom württembergischen Pietismus geprägten Klosterschulen Denkendorf und Maulbronn, in denen zur gleichen Z e i t Schleiermachers Generationsgenosse Hölderlin ( 1 7 7 0 - 1 8 4 3 ) ausgebildet wurde, muß man Schleiermachers Pädagogistenjahre eine glückliche Z e i t nennen. Nichts von starrer Bildungszucht nach den „Statuten der Alumnorum der vier besezten Clöster des Herzogthums Würtemberg", nichts von Kadavergehorsam und früher Fesselung kindlicher Phantasiewelten. Friedrich Freiherr von Moser urteilte übet die Erziehungsprinzipien Herrnhuts: „Kein Erziehungsplan ist von der Seite moralischer Perfektibilität höher getrieben worden als die Erziehung der Kinder beiderlei Geschlechts in den Evangelischen Brüdergemeinen. W e r ' s nicht gesehen hat, dem kann man das Erstaunen, die Bewunderung, die Begeisterung, womit man bei dem Anblick einer solchen Kinderanstalt übernommen und hingerissen wird, beinahe •ohne Beleidigung nicht zumuthen . . . " Allerdings erhob Moser auch kritische B e denken. Sie galten einer insularen Existenzform, die beim Übergang in die W e l t stärksten Gefährdungen ausgesetzt war. „Welch traurige Beispiele sind mir bekannt von jungen, in Brüdergemeinen erzogenen Leuten von Stand, deren Geburt und Familienumstände notwendig machten, in den Umgang und Dienst der großen W e l t einzutreten". 1 2 Als Pädagogist hat Schleiermacher in der Frömmigkeit der Herrnhuter, die vor dem Übertritt nach Niesky bereits auch nach der Gnadenfreier „Bekehrung" des Vaters im elterlichen Hause gepflegt worden war, bemerkenswert schnell F u ß gefaßt. In kurzer Zeit wurde er, was als besondere Auszeichnung galt, Abendmahlsteilnehmer. Sein religiöser Enthusiasmus schlug sich in Gelegenheitsgedichten nieder, die den missionarischen E i f e r des pietistischen Neophyten bekunden. 1 3 In seinem curriculum von 1 7 8 5 sprach der Pädagogist überschwenglich von gnädiger Herausführung aus dem verderbten Jahrhundert. „Deus Salvatorque . . . vitam mihi dedit, ille sanguine suo et morte redimit, ille omnipotenti sua manu me tuitus est, ille me ex seculi huius pernicie in ecclesiam suam perduxit". 1 4 Gleiche T ö n e schlug er noch im Herbst 1 7 8 5 aus B a r b y an den Hallenser Onkel an - V e r anlassung für den mild-aufgeklärten Stubenrauch, den Neffen vor Überspannung des brüderisch interpretierten salus nulla extra ecclesiam zu warnen und zu tolerantem Urteil zu mahnen. 1 5 In der international gemischten mit Aristokratensprößlingen durchsetzten Schülerschaft Nieskys muß es für den aus ärmlichen Verhältnissen kommenden Feldpredigersohn nicht leicht gewesen sein, sich in seinem sozialen Selbstwertgefühl zu behaupten. In dem Mulus-Lehrgang von 1 7 8 5 waren die Aristokraten in der Überzahl. D i e Briefe 1, 9 (Selbstbiographie). Patriotisches Archiv für Deutschland 1786 (zit. nach Meyer: Schleiermachers und von Brinkmanns Gang, aaO., 2 7 6 - 2 7 8 ) . 1 3 Ebenda, 144. „Sieh fleißig ihn am Kreuze an, das giebt vergnügte Stunden / den liebevollen Martermann, den Herrn voll Blut und Wunden, / daß seine Tod'sgestalt Dir nimmermehr veralt! / Und Du ihn gnädig stets erblickst, wenn Du ihm einen Seufzer schickst . . . " (Gedicht v. 31. 3. 1785). 1 4 Curriculum v. 22. 8. 1785. 4 Blatt (Archiv E B U R 4 B I V a Nr. 8 ) ; der Druck bei Meyer: Schleiermachers und von Brinkmanns Gang, aaO., 147 f ist nicht völlig korrekt! 1 5 Briefe 1, 35 (Stubenrauch an Schleiermacher v. 19. 11. 1785). 11 12
62
Schleiermacher
bis zum Eintritt in den frühromantischen
Kreis
Liste verzeichnet fünf bürgerliche und sechs adlige Z ö g l i n g e . 1 6 Hinzu kam,
daß
die Nieskyer Erziehungsprin^ipien nicht auf Nivellierung der Standesunterschiede ausgerichtet w a r e n . 1 7 Im Frühherbst 1 7 8 5 w u r d e Schleiermacher Seminarist in B a r b y . V o m Lebensalter her für diesen Ü b e r g a n g eigentlich noch zu jung, w u r d e er (wie auch Albertini) schon für „geschickt" gehalten, so d a ß man es für unvertretbar hielt, den reichbegabten Zögling noch länger im P ä d a g o g i u m zu h a l t e n . 1 8 D a s völlig v e r ä n d e r t e geistige K l i m a , das Schleiermacher in der Pflanzstätte des herrnhutischen L e h r e r - und Predigernachwuchses kennenlernte, kündigte sich bereits in der Einweisungszeremonie durch die U n i t ä t s - Ä l t e s t e n - K o n f e r e n z an. A m 8 . / 9 . September 1 7 8 5 wurden die Seminaranwärter der Ältestenkonferenz vorgestellt. Im Protokoll heißt es d a z u : „Man redete mit ihnen von der Wichtigkeit derselben und empfahl ihnen mit vieler Angelegenheit, diesen neuen Schritt mit dem lieben H e i l a n d zu thun, und sich bey der mehreren Freiheit, die sie von nun an zu e r w a r t e n haben, ein gehorsames H e r z und die Stimme des Heiligen Geistes schenken zu laßen . . . N a c h weiteren E r m a h nungen, Gesang der V e r s e , D u wollest ihnen geben, d a ß dir Geist, Seele und L e i b und Leben zu Preise sey' und Segen wurden sie liebreich entlassen". 1 9 In B a r b y herrschte ein strenges disziplinarisches R e g l e m e n t in geistiger wie in körperlicher Hinsicht. Zugleich ließ ein auf die K e r n s t ü c k e der herrnhutischen T h e o logie
verengtes theologisches Wissenschaftsverständnis
das
Seminarium,
welches.
Archiv E B U R 4 B IV a Nr. 6. 7 (Kataloge und Personalien: Niesky). Umständlicher Bericht von den Unitaetsanstalten in Niesky im Monat November 1784. 16 unpaginierte Blätter (Archiv E B U R 4 B Vd. Nr. 2). Das Standesgefälle blieb auch im Seminarium Barby spürbar. Vgl. Ausgaben der Seminaristen (Archiv E B U R 4 B III Nr. 21 f : Seminarium, Hauptbuch Nr. 4 ) : 16
17
Name
Jahr
Ausgaben (Taler/Gr./Pf.)
J . B. v. Albertini Joh. Jacob Beyer Johannes Ewald Friedrich Renatus Frühauff Carl Fr. Wilh. v. Gavel Joh. Christlieb Mahler Joseph Mortimer Samuel Okely Gottfr. Sebastian Oppelt Christian Fr. Quandt Heinrich d. 54. Reuß Joh. Heinr. Rumpel Fr. Schleyermacher Gustav Joh. v. Vietinghof Joh. Christian Fr. v. Wattewille
205. 1786 1786 126. 1786 169. 1786 91. 332. 1786 1786 213. 92. 1786 295. 1786 1786 236. 1786 111. 1786 327. 234. 1786 144. 1786 1786 (bis Juni) 260. 299. 1786
23. 9. 16. 9. 19. 7. 7. 5. 4. 5. 5. 6. 20. 2. 5. 4. 1. 1. 17. 6. 12. 17. 11. 14. 17. 3. 16. 7.
18 Protokoll der Unitaets-Aeltesten-Konferenz. April, May, Juni. Herrnhut 1785 Sitzung v. 2. Juli 1785 (Archiv E B U ) . 19 Protokoll . . . Sitzung v. 8./9. September 1785 (Archiv E B U ) . Dazu die Eindrücke Schleiermachers (Briefe 1, 184): „Wie gern habe ich mich dabei auch meiner Reise erinnert, ehe ich von Niesky nach Barby ging. Ich war freilich sehr isoliert da; alle meine Reisegefährten hatten Freunde und Verwandte die Fülle dort und ich keinen Menschen. Aber der Ort selbst und der Anblick der ehrwürdigen Männer von der Unitätsältestenkonferenz und die herrliche Gegend haben mir dennoch glückliche Tage gemacht . . . Wir reisten dann von Herrnhut aus noch über Zittau nach dem Oybin".
I. Kindheit
und Jugend
63
1 7 5 4 als Nachfolgeeinrichtung des Marienborner „Seminarium theologicum Augustanae Confessionis" auf sächsischen Boden verlegt worden war, 2 0 zur zeitgenössischen Philosophie und Theologie hoffnungslos in Nachtrab geraten. 2 1 D i e Gegenreaktionen der Seminaristen bestanden in Disziplinlosigkeit und dem illegalen Erwerb und dem gemeinsamen Studium verpönten oder gar verbotenen Schrifttums. Durch „meilenweite heimliche Gänge" besorgten sich Schleiermacher und seine Gesinnungsfreunde (von Albertini, Okely, Beyer, Zäslin) die Schriften Kants, die „Allgemeine Litteratur-Zeitung", Goethes Prosaschriften und Dramen, die G e dichte Höltys und Albrecht von Hallers „Alpen". 2 2 „Du verlierst nichts, wenn D i r auch die Einwendungen und Erklärungen der Neueren unbekannt bleiben", versuchte Gottlieb Schleyermacher seinen Sohn von verbotenen Geistesfrüchten abzuhalten. „Vermeide diesen Baum der Erkenntnis und die gefährlichen Lockungen zu demselben unter dem Schein der Gründlichkeit". 23 Statt die vom Vater besonders empfohlenen Schriften von Harvey, Bonnet und Sander zu lesen, gab sich Schleiermacher im „Club" seiner Freunde der Lektüre aktuellen philosophischen und belletristischen Schrifttums hin, damit einer allgemeinen Tendenz im Seminarium folgend. Auflehnung und Unwille der Seminaristen gegen die ihnen angelegten Fesseln waren eine generelle Erscheinung. Sogar nach Einsicht der Unitäts-Ältesten-Konferenz hatte das Seminarium zu Schleiermachers Zeit einen krisenhaften geistigen Tiefstand erreicht. Schleiermachers lakonisches Urteil dazu lautete: „Wir sahen in der Brüdergemeine keine recht sich auf das Leben verbreitende, der Mühe lohnende Anwendung der Wissenschaften". 2 4 Innerhalb weniger Monate spitzte sich Schleiermachers Verhältnis zu Barby, 20 Archiv EBU R 4 B III a Nr. 4 : „Plan der Einrichtung des Seminarii in Barby 1750-1754" (Faszikel von 130 Blättern). - In den „Ordnungen des Seminarii . . ." vom 11. 11. 1780 heißt es: „Es ist bei der Errichtung des Seminarii der Evangelischen Brüder-Unitaet die Hauptabsicht gewesen, daß in derselben eine Anzahl Brüder unter der Aufsicht eines Inspektoris und unter Anführung dazu ernannter Docenten in Sprachen und Wissenschaften unterrichtet und zum Dienst des Herrn in seiner Brüdergemeine zubereitet werden möchten". - Zur Geschichte des Seminarium auch wichtig Archiv EBU R 4 B III a Nr. 5 (Aufsätze und Schreiben das Seminar in Barby und Niesky betreffend. 1765-1796). 2 1 In den „Ordnungen des Seminarii . . ." (Punkt 29) war angewiesen: „So haben die Studierenden sich überhaupt vor dem Lesen unnützer, leichtsinniger und mit dem verdorbenen genio der Welt angesteckten Bücher, wie solche in ihre Hände kommen möchten, zu hüten, weil der Schaden, den sie sich dadurch zuziehen könnten, offenbar ist" (Archiv EBU R 4 B III a Nr. 4). - Noch 1807 schrieb J. G. Cunow: „Einige Gedanken und Vorschläge zum Behuf einer neuen Einrichtung des Seminarii" (Archiv EBU R 4 B III a Nr. 9) zu der „Idee der älteren Zeit", das Seminarium soll eine „Universität en miniature" vorstellen: „Die Studenten-Idee, die unglaublichen Schaden angerichtet hat, muß auf alle Weise vertilgt werden". 22 Briefe 1, 10 (Selbstbiographie). 23 Briefe 1, 40 (Vater an Schleiermacher v. 2 2 . 8 . 1 7 8 6 aus Anhalt). Allerdings war Schleiermachers Vater keineswegs ein wissenschaftlicher Ignorant. Er brachte der Philosophie lebenslang lebhaftes Interesse entgegen. Seine Briefe belegen immer wieder Lektüreanregungen für den Sohn. Die empfohlene Bücherpalette umfaßte Aufklärungstheologen wie Leß (Briefe 1, 75 v. 10. 10. 1789 aus Anhalt), Schriftsteller wie Lessing (Briefe 1, 83 f v. 7. 5.. 1790 aus Schweidnitz: „Ich wünschte, mein lieber Sohn, daß Du mit Nachdenken Lessings Erziehung des Menschengeschlechts lesen wolltest; da würdest Du über verschiedene Dinge, die von den Neueren so sehr bestritten werden, Dir lichtvolle Ideen verschaffen . . ."), Philosophen wie Kant und Erbauungsschriftsteller wie Jung-Stilling (Briefe 1, 63 f, o. O. u. D.). 24 Briefe 1, 155 (Schleiermacher an Charlotte v. 9. 9. 1797). - Die tiefgreifenden Spannungen im Seminarium seit den 1780er Jahren sind in den überlieferten Dokumenten auf Schritt und Tritt zu
64
Scbleiermacher
bis zum Eintritt in den frübromantiscben
Kreis
nachdem auch schon der befreundete englische Zögling Okely als Freigeist verstoßen worden war, krisenhaft zu. E s kam zum Bruch. Am 16. April 1787 verließ er das Seminarium. Im „Diarium des Chors der led'gen Brüder" war aus diesem Anlaß vermerkt: „Deßelben Tages ging auch der arme Schleyermacher von uns ab und nach der Universität Halle. E r konnte, weil er aller an ihm bewiesenen Geduld und Ermahnungen ungeachtet sich gantz in den Unglauben hingegeben hatte, nicht länger bei uns geduldet werden". 2 5 E s wirkt wie eine nachträgliche Rehabilitation der Entscheidung Schleiermachers, der im Zusammenhang mit den in Barby gemachten Erfahrungen von einer „Beleidigung seines Wahrheitsgefühls" sprach, daß die Unitäts-Ältesten-Konferenz kurze Zeit nach seinem Abgang einschneidende Reformmaßnahmen einzuleiten versuchte. Sie verlegte das Seminarium nach Niesky und berief Bernhard Garve, einen Bruder des Philosophen Christian Garve, in eine Dozentur. Garve trug die Lehren von Kant, Jacobi, Reinhold und Fichte vor, um kritischen Kontakt mit der Zeit zu halten und einen „Idealherrnhutismus" auszubilden. 1797 wurde Garve wieder abberufen, da man erkannte, daß seine Konzeption nicht integrierbar war. 2 6 Was im Diarium des ledigen Brüderchors als Unglaube erschien, war für Schleiermacher eine erste Gestaltwerdung des Ideals von der sittlichen Bedeutung und dem Wert des Menschen. Sie schlug sich zunächst nieder in einer Verneinung der Gottnatur Jesu und der stellvertretenden Versöhnungslehre, wie es in dem berühmten „mit zitternder Hand und mit Thränen" geschriebenen Brief an den Vater vom 21. Januar 1787 zu lesen war. 2 7 Dieser Brief stellte Schleiermacher in eine Front, die sich wenige Jahre zuvor im neologischen Streit um das Problem der oboedientia activa und passiva gebildet hatte. J . G . Töllner hatte die aktive Obödienz Jesu lebhaft bestritten. In einem weiteren Schritt hatten dann W . A . Teller und J . A. Eberhard, Schleiermachers späterer philosophischer Lehrer in Halle, der Satisfaktionslehre gänzlich den Boden zu entziehen versucht und festgestellt, der Mensch sei auf dem Wege bessernder Bestrafung durch den göttlichen Weltenlenker tendenziell in der Lage, seine Sündhaftigkeit abzustreifen. In der „Neuen Apologie des Socrates" von Eberhard ( 1 7 7 2 ) hieß es, nur die am sündigen Subjekt selbst vollzogene Strafhandlung habe bessernde Wirkung, so daß Jesu stellvertretendes Strafleiden kein echtes Fundament besitze. 2 8 Schritt man auf dieser Argumentationslinie weiter fort, mußte bald auch die Erbsündenlehre zur Disposition stehen. Vorbelegen. So meinte J. G. Cunow am 6. Juli 1789 in einer längeren Darlegung: „Daß das Seminarium in seinem bisherigen Gange nicht fortgeführt werden kann . . ., das leidet mal keinen Zweifel. Zügellosigkeit, Widersetzlichkeit, Leichtsinn,
Trägheit, Weltgeist, Gleichgültigkeit gegen die Gemeine,
ihre Verfassung und Versammlung, ja gegen den Heiland und seine Lehre selbst, haben leider die Oberhand bekommen . . . ernstliche Ermahnungen fruchten wenig; sie werden nur insofern befolgt, als es den jungen Leuten beliebt . . . so sind sie wol imstande, eine Art Aufstand gegen ihre Vorgesetzten zu wagen . . ." (Archiv E B U R 4 B III a Nr. 4/5). Diarium . . . vom Januar bis September 1787 (Archiv E B U R 4 B III a Nr. 8 b). Näheres bei Christian Garve: Zur Wirksamkeit Karl Bernhard Garves am Theologischen Seminar der Brüder-Unität 1 7 8 9 - 1 7 9 7 (Dipl.-Arbeit/Sektion Theologie Halle 1978); interessant im Archiv EBU (R 21 a Nr. 42) die Korrespondenz Garves mit seiner Schwester zwischen 1783 und 1793 (172 Briefe). 2 7 Briefe 1, 4 2 - 4 5 ; 42 f. - Zur Reaktion des Vaters Briefe 1, 4 6 - 5 0 (Vater an Schleiermacher v. 8. 2. 1787 aus Anhalt). 2 8 Karl Aner: Die Theologie der Lessingzeit. Halle/S. 1929, 2 8 5 - 2 9 0 (Nachdruck Hildesheim 1964). 25 26
I. Kindheit
und Jugend
65
arbeit dazu hatte vor dem Satisfaktionsstreit schon H. S. Reimarus ( 1 6 9 4 - 1 7 6 8 ) geleistet. Schleiermachers frühes Aufbegehren gegen das stellvertretende Versöhnungswerk Christi erscheint auf diesem theologiegeschichtlichen Hintergrund als Teilhabe am Prozeß aufklärerischer Destruktion der Erbsündenlehre. Im gleichen M a ß , in dem das Subjekt des Aufklärungszeitalters den Anspruch erhob, den Untertanenstand zu verlassen und gleichberechtigter Bürger unter Bürgern zu sein, mußte auch Adam als Menschheitstypos abdanken. 2 9 Schleiermacher hatte wohl recht, wenn er von der „kleinen Gestalt" des herrnhutischen Christentums sprach, „wie man auch sagt, daß auch Geister oft als Kinder oder Zwerge erscheinen". In den „Monologen" wertete er den Bruch mit Herrnhut als Geburtsstunde seiner Freiheit. 30 Dennoch ist Schleiermacher, der seine Religiosität als „mystische Anlage" bezeichnete, Herrnhut weiterhin zutiefst verpflichtet geblieben. Den Ertrag der herrnhutischen Lebensstrecke zu summieren, ist naturgemäß schwer, zumal vielfältige individualpsychologische Momente hineinspielen, die sich dem historischen Zugriff entziehen. Herrnhutisches Erbe hält sich bei Schleiermacher vor allem in der lebendigen Anschauung der Offenbarung, in der Überzeugung von der Imago-Dei-Qualität des Menschen und in seiner aus dem je eigenen Gottesverhältnis erwachsenden Individualität durch. Auch die christologisch zentrierte Pneumatologie und die Ekklesiologie (Betonung des Gemeinschafts- und Geselligkeitscharakters der Kirche) sind herrnhutisches Erbe. Als Differenzpunkte kommen in Frage - sie werden vor allem von Quapp als solche gewertet - die Bestreitung der stellvertretenden Versöhnung in Jesus Christus, die Absc'nwächung der Erbsündenlehre und ein unsakramentales Abendmahlsverständnis. 3 1 Allerdings sind diese Differenzpunkte auch auf die lutherische Orthodoxie anwendbar und insofern nicht spezifisch antiherrnhutisch. Durch Herrnhut erhielt Schleiermacher auch wichtige nichttheologische Anstöße. Der weitgespannte Bildungszirkel Nieskys prägte seine philologischen, mathematischen und philosophischen Interessen aus. W a s in religiöser Hinsicht an der herrnhutischen Frömmigkeitspraxis als quälend empfunden werden mochte: die permanente Selbstbeobachtung der eigenen Person, verwandelte sich in ein gesteigertes Interesse an der Vielfalt und Verschiedenartigkeit der menschlichen Individuen. In Niesky machte sich Schleiermacher auch - im Verein mit Freunden wie Okely, Zäslin, Albertini - das Kantsche sapere aude zu eigen. Es kam besonders in der Überzeugung von den sittlichen Fähigkeiten der menschlichen Natur zum Ausdruck.
3.
Studienzeit in Halle und Aufenthalt in Drossen
Die Immatrikulation als Student der Theologie an der Universität Halle im Frühjahr 1787 bedeutete eine Rückkehr auf preußischen Boden. Theologie war, ungeachtet der Negativerfahrungen von Barby, nach wie vor Schleiermachers „Lieblings2 9 So Gerhard Freund: Sünde im Erbe. Erfahrungsinhalt und Sinn der Erbsündenlehre. Stuttgart/ Berlin/Köln/Mainz 1979, 1 2 - 4 6 . - Einen philosophie- und theologiegeschichtlichen Durchblick zum Problem des Bösen von Leibniz bis Kant bietet Hansjürgen Günther: Das Problem des Bösen in der Aufklärung. Bern/Frankfurt/M. 1 9 7 4 (Europäische Hochschulschriften Reihe XXIII), 3 1 - 1 6 5 . 3 0 Monologen, 36 und Briefe 1, 295. 3 1 Quapp: Christus, aaO., 9 8 - 1 1 2 .
5
Nowak, Schleiermachc-r
66
Schleiermacher
bis zum
Eintritt
in den frühromantischen
Kreis
Materie". Zudem empfand er gegen ein etwaiges Jura- oder Medizinstudium tiefe Abneigung. 3 2 Offenbar ist Schleiermachers Vater, der den konfessorischen Januarbrief mit den Worten quittiert hatte „O Du unverständiger Sohn! wer hat Dich bezaubert, daß Du der Wahrheit nicht gehorchtest"?, 33 zunächst dagegen gewesen, den herrnhutischen Apostaten Theologie studieren zu lassen. Schleiermacher überzeugte ihn, ermuntert durch den Zuspruch des Onkels Stubenrauch, mit dem Argument, daß er gerade unter den vielen „heterodoxen'" Lehrern Halles einen soliden theologischen Standpunkt ausbilden werde; „ich käme in eine Lage, wo ich alles prüfen könnte". Falls sich seine Gesinnungen nicht änderten, werde er ohnehin nur ein Schulamt annehmen können. 34 Bis zum Herbst 1788 - zu diesem Zeitpunkt übernahm Stubenrauch das Landpfarramt in Drossen - lebte der Student im Hause seines Onkels. Schleiermacher hat von seinen Studienjahren an der Universität Halle, an die er im Jahre 1804 auf Empfehlung Friedrich Wilhelms III. als Professor berufen werden sollte, als von einem „fragmentarischen Studium" gesprochen, „welches von allem etwas anzufassen strebt". 35 Die Studienzeit war wegen der finanziellen Verhältnisse des Vaters, der neben den Hallenser Kosten noch alte Barbyer Schulden seines Sohnes zu begleichen hatte, sehr kurz bemessen. Belastet war der Studiengang auch durch das Drängen des Vaters, der Sohn möge sich in Mathematik, Englisch und Französisch vervollkommnen, „um damit vom künftigen Herbst an zu wuchern und durch Information Dir selbst forthelfen zu können". 36 Der Vater drängte auf eine materielle Sicherung seines Sohnes als Hauslehrer in einer adligen Familie, ein Plan, der mit manchen Demütigungen für den sensiblen und bürgerstolzen Sohn verbunden war. Gegen das Projekt, ins Schulamt zu gehen, sprachen Schleiermachers Kleinwüchsigkeit und eine leichte Mißbildung (verwachsene Schulter). Trotz der kurzbemessenen Zeit hat sich Schleiermacher in Halle ein solides akademisches Fundament zu bauen gewußt. Er studierte damals „auf Mord". 3 7 Durch, den schwedischen Adligen und ehemaligen Zögling Herrnhuts, Carl G. von Brinkmann, ist Schleiermacher in das studentische Leben Halles eingeführt und vor allem mit dem bedeutendsten ortsansässigen Philosophen, J. A. Eberhard, bekannt gemacht worden. Unter dem Einfluß Eberhards wurde Schleiermachers „Lieblings-Materie" die Philosophie; kaum minder intensiv beschäftigte sich der Theologiestudent unter Anleitung des glanzvollen Altphilologen Friedrich August Wolf mit griechischer Sprache und antiker Philosophie. Im Mittelpunkt standen Aristoteles und Piaton. Gegenüber diesen neugeweckten und geförderten Interesse trat das theologische Studium in die zweite Reihe. Die theologische Fakultät hatte während Schleiermachers Studienzeit außer Johann Salomo Semler, der sich in alchimistischen Experimenten und Fehden mit C. F. Bahrdt verzettelte, keine überragenden Lehrer aufzuweisen. Augenscheinlich war es Schleiermacher ein leichtes, den Anforderungen B r i e f e 1 , 5 1 (Schleiermacher an V a t e r v . 1 2 . 2. 1 7 8 7 aus Barby). B r i e f e 1, 4 6 - 5 0 ( V a t e r an Scfileiermacher v. 8. 2. 1 7 8 7 aus Anhalt). 3 4 W i e Anm. 32. 3 5 B r i e f e 1, 1 0 (Selbstbiographie). 3 6 B r i e f e 1, 6 7 ( V a t e r an Schleiermacher v . 1 3 . 1 0 . 1 7 8 7 aus Anhalt). 3 7 Briefe 3, 2 2 (Albertini an Schleiermacher: aber mit dem auf Mord ja in Acht"). 32 33
studiren nimm D i e b
1. Kindheit
und Jugend
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des theologischen Ausbildungsganges zu genügen, so daß das glänzende Abgangszeugnis, das ihm von Professor Samuel Mursinna, einem entfernten Verwandten, ausgestellt wurde, nicht als Gefälligkeitsattest angesehen werden muß. D a s Zeugnis lobte den Eifer des Studenten in den theologischen Disziplinen und würdigte zugleich dessen philosophische und philologische Studien. 38 D e r durch die Hallenser Schulphilosophie, einen durch Eberhard weiterentwikkelten Wolffianismus, gepflegte Geist einer gemäßigten Aufklärung, ist durch die Restriktionen des Wöllnerschen Religionsedikts von 1788, das breite Schwenkungen von Intellektuellen auf mehr konservative Positionen zur Folge hatte, kaum beeinträchtigt worden. Eine Bedrohung ganz anderer und wesentlich ernsthafterer Art für die Hallenser Schulphilosophie ging vom Siegeszug der Philosophie Kants aus. D i e Kantsche Erkenntnistheorie deckte mit großer Unerbittlichkeit die erkenntnistheoretischen Schwächen Halles auf. D e r Systembau der Hallenser Philosophie, gegliedert in Ontologie, empirische und rationale Psychologie, Kosmologie und Theologie, war auf eine Erkenntnistheorie gegründet, die zwischen empirischen und reinen Vernunftsaussagen hin- und herpendelte, ohne über das Verhältnis beider zueinander letzte Klärung erzielen zu können. Schleiermacher erkannte dieses Defizit und eignete sich deshalb die Erkenntnistheorie Kants an, in der Wahrnehmung und Vorstellung als Produkte einer rezipierten Datenmannigfaltigkeit im Begriff in eins fielen. E r weigerte sich jedoch, den Schritt in den apriorischen Teil der Kantschen Erkenntnistheorie nachzuvollziehen. In diesem Punkt blieb er, den Einflüssen der Hallenser Philosophie folgend, einem induktiven psychologischen Empirismus verhaftet. Entgegen Dilthey, der den Einfluß Kants auf den jungen Schleiermacher allzu pointiert hervorhob, wird heute stärker die erkenntnistheoretische Beeinflussung Schleiermachers durch das philosophische System Halles unterstrichen. 39 Als fruchtbar hat sich dabei ein Vergleich mit Eberhards „Allgemeiner Theorie des Denkens und Empfindens" ( 1 7 7 6 ) 4 0 erwiesen. Ein Wert eigener Art war die informative Breite von Eberhards Vorlesungsangebot, das Sittenlehre, Ästhetik, Philosophiegeschichte ebenso einschloß wie Synonymik und Theorie der schönen Künste. Schleiermachers Berufsaussichten waren nach viersemestrigem Studium in Halle völlig ungeklärt. E i n e Anfrage beim Vater, ob er während der Monate der Examensvorbereitung in dessen Haus wohnen dürfe, wurde abschlägig beschieden. Nach dem Tode von Schleiermachers Mutter war der Stabsprediger Schleyermacher eine zweite Ehe eingegangen und wollte deshalb den Sohn nicht im Hause haben. Stubenrauch bot dem Neffen ein Zimmer im Drossener Pfarrhaus an. Von Mai 1789 bis zum April 1790 lebte Schleiermacher bei Stubenrauch in Drossen. Notgedrungen mußte er sich um des Examens willen, das die Grundlage für sein berufliches Weiterkommen bot, mit „theologischem Wust" beschäftigen. 41 Sein eigentliches Interesse lag bei Beschäftigungen ganz anderer Art, dem Studium Kants, der Ethik des Aristoteles, der Lektüre Montaignes und Lukians und bei weitreichenden schriftstellerischen Plänen. Von Drossen aus suchte er Verbindung zur nahegelegenen Universität Frankfurt, um sich dort eventuell als akademischer Lehrer etablieren 38 39 40 41
5»
Meisner: Lehrjahre, 34. Herms: Herkunft, aaO.; F. Weber: Schleiermachers Wissenschaftsbegriff, aaO. Herms: Herkunft, aaO., 82 ff. Briefe 4, 43 (Schleiermacher an Brinkmann v. 3. 2. 1790).
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Schleiermacher
bis zum Eintritt in den frühromantischen
Kreis
zu können. 42 Diesem Projekt blieb der Erfolg versagt. Auch nach dem 1. theologischen Examen (pro licentia concionandi) vor dem reformierten Kirchendirektorium in Berlin von Mai bis Juli 1790 waren Schleiermachers Zukunftsaussichten mehr als ungewiß. Erwogen wurde sein Eintritt ins Domkandidatenstift, in das Große Waisenhaus und eine Anstellung als Lehrer und Inspektor am Joachimsthaler Gymnäsium. Auch diese Versorgungsperspektiven zerschlugen sich. Schleiermacher, der unbedingt in Berlin bleiben wollte, freilich nur wenige gesellschaftliche Verbindungen besaß, wollte sich durch Privatunterricht seinen Lebensunterhalt verdienen. Durch Protektion von F. S. G . Sack, der zu den theologischen Prüfern Schleiermachers gehörte und dessen Prüfungsaufsatz „Zu welchem Zweck studiert ein künftiger christlicher Lehrer die Polemik, und wie verhütet er den Nachteil, den dieses Studium, wenn es zu weit getrieben wird, haben kann?" „mit Vergnügen" gelesen hatte, 4 3 erhielt Schleiermacher die Stelle eines Hofmeisters bei dem ostelbischen Magnaten Graf zu Dohna in Schlobitten.
4.
Hofmeister und Predigtadjunkt
Vom Antritt der Hofmeisterstelle in Schlobitten, wo Schleiermacher nach beschwerlicher Reise am 22. Oktober 1790 ankam, bis zum Amtsantritt als reformierter Prediger an der Berliner Charité im Herbst 1796 war Schleiermacher trotz relativer finanzieller Absicherung einer jener zahlreichen deutschen Intellektuellen, die große Mühe hatten, einen Platz in der ständischen Gesellschaft zu finden. Das Verhältnis zu seinem adligen Brotgeber in Schlobitten war gewiß nicht von den Hofmeistererfahrungen einen J . M. R. Lenz geprägt, da die Dohnas die geistige und menschliche Reife Schleiermachers anerkannten und ihm freundschaftlich verbunden waren. Doch hieß das Gesetz auch dieser Anstellung Konsens mit den Meinungen des Brotgebers. Als dieser Konsens über quälende Etappen von Mißverständnissen nicht mehr gegeben war, verließ Schleiermacher aus eigenem Antrieb das Schlobittener Herrenhaus (1793) und war von diesem Zeitpunkt fast ein ganzes Jahr lang neuerlichen Existenzsorgen ausgesetzt. In der verzweifelten Lage nach dem Abgang von Schlobitten blieb zunächst wieder nur der Drossener Zufluchtsort. Sondierungen in Berlin bei F. S. G . Sack verliefen unbefriedigend. Sack hatte wieder nur eine Hofmeisterstelle - bei einem General von Hanstein (Danzig) - zu bieten, die Schleiermacher ablehnte. Schließlich kam Schleiermacher in dem Seminar für gelehrte Schulen des Berliner Aufklärungspädagogen Friedrich Gedike unter, das dieser im Jahre 1787 gegründet hatte. Eine Ausarbeitung über den geschichtlichen Unterricht für die „pädagogische Societät" des Seminars stammt aus dieser Zeit. 4 ' 1 Als Seminarist Gedikes unterrichtete Schlei/|2 Meisner: Lehrjahre, aaO., 3 8 : „. . . suchte er Verbindungen mit der Universität in Frankfurt a. O., um aber bald einzusehen, daß auch dort für ihn keine Möglichkeit sei, sich durchzusetzen". ' l3 Zur 1. theologischen Prüfung Schleiermachers Näheres bei Meisner: Lehrjahre, 4 6 - 4 8 . '*'' N L Schleiermacher Nr. 2 2 8 ; Druck in: Friedrich Schleiermacher. Kritische Gesamtausgabe I. Abt. Bd. 1. Jugendschriften 1 7 8 7 - 1 7 9 6 , hg. von Günter Meckenstock. Berlin (West) - N e w York 1984, 4 8 7 - 4 9 7 (fortan K G A I, 1). Nach Meckenstock ist dieses Manuskript im November 1 7 9 3 entstanden ( K G A I 1, L X X ) . Am 25. 9. 1 7 9 3 war Schleiermacher als Schulamtskandidat in Gedikes Seminar eingetreten. Für die „philologische Societät" des Seminariums arbeitete Schleiermacher An-
I. Kindheit und Jugend
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ermacher am Friedrichwerderschen Gymnasium wöchentlich zehn Stunden Religion und Mathematik. D i e geringe Besoldung zwang ihn, durch Privatstunden nebenher Geld zu verdienen. Am Waisenhaus des Hofrats Kornmesser bekam Schleiermacher freie Wohnung und Verpflegung geboten. Offensichtlich hat er im Herbst und Winter von 1 7 9 3 / 9 4 ernsthaft geschwankt, ob er sich für den Schuldienst oder das Pfarramt entscheiden sollte. D i e Aussicht, ein „Schulmann" zu werden, war indes wenig verlockend. 4 5 D i e Chance, lebenslangen Nahrungssorgen zu entgehen, war durch Übernahme einer Pfarrstelle größer. Sozial gesehen bot sich das Pfarramt jungen Intellektuellen, die nicht aus dem Adel kamen oder als Abkömmling eines materiell gesicherten bourgeoisen Vaters auf eine Stellung in der gehobenen Verwaltungsbürokratie oder im Staatsdienst hoffen durften, noch immer als die zuträglichste Lösung an. Aus diesem Grund war allerdings das Pfarramt um 1 7 9 0 längst nicht mehr auf der Höhe seines einstigen Sozialprestiges. Adolph Freiherr Knigge stattete in seinen Ratschlägen „Über den Umgang mit Geistlichen" den Pastorenstand mit Zügen wie Habsucht, Unbildung, Neid und Scheelsucht aus. E r tadelte an den Trägern des „Pfaffengeistes" die Schmeichelei gegen Große und den Übermut gegen Niedrige. 4 6 Schleiermachers Entscheidung für den Pfarrerberuf mag neben der nicht zu unterschätzenden Familientradition und den materiellen Sicherungserwägungen vor allem auf die noch in den „Stürmen des Sceptizismus" 47 erhaltenen Elemente religiöser Sozialisation aus der frühen Kinderzeit und der herrnhutischen Lebensstrecke zurückzuführen sein. Anfang 1 7 9 4 reichte Schleiermacher dem Hof- und Domministerium in Berlin seine Bewerbung zum Examen pro ministerio ein. Im Prüfungskollegium saßen u. a. F. S. G . Sack und die Hofprediger C. F. Conrad und Ferdinand Stosch. Das Prüfungszeugnis war glänzend. 4 8 Am Karfreitag, dem 23. April 1794, hielt Schleiermacher seine Antrittspredigt in Landsberg a. d. W . , wohin er zur Unterstützung des hinfälligen Predigers Schumann als Predigtadjunkt „cum spe succedendi" entsandt worden war. 4 9 D i e Antrittspredigt zeigt, daß Schleiermacher sein Amt damals als religiöser Volkspädagoge verstanden hat. „Ich soll euch immer näher unterrichten von den Wahrheiten der Religion; ich soll Irrthümer und Vorurtheile, wo ich dergleichen gewahr werde, mit sanfter Stärke angreifen und ausrotten; ich soll in euren Herzen immer mehr zu erwecken suchen die Liebe zu allem was rechtschaffen und gut ist; ich soll euch fleißig an die heilsamen Gebote unseres Erlösers erinnern, von den Mitteln, ihnen immer genau nachzukommen und mit euch zu reden und euch die mancherlei verborgenen Schwächen und Thorheiten des menschlichen Herzens aufdekken; ich soll gute Hoffnungen und stärkenden Trost bei allen Widerwärthigkeiten darreichen aus der Quelle unserer göttlichen Belehrungen . . fang 1 7 9 4 zudem eine lateinische Abhandlung „Philosophia política Piatonis et Aristotelis" aus ( N L Schleiermacher N r . 1 8 7 . Druck: K G A I, 1, 5 0 1 - 5 0 9 ) . In diesem Zusammenhang gehört auch eine Übersetzung der „Politik" des Aristoteles ( K G A I 1, L X X I V ) . 45
Schleiermacher an Vater v. 2 1 . 9. 1 7 9 3 (Meisner 1, 7 9 - 8 2 ; 8 1 ) .
Adolph Freiherr Knigge: Über den Umgang mit Menschen. Nachwort von Wolfgang Becker. Leipzig 1 9 7 5 2 , 2 7 3 - 2 7 7 ( R U B 4 2 1 ) . /l7 Vgl. die eindrucksvolle Schilderung der Selbstbiographie von 1 7 9 4 (Briefe 1, 7 - 1 2 ) . Méisner: Lehrjahre, aaO., 6 3 - 6 7 . /,!) Meisner 1, 81 (Schleiermacher an Vater v. 2 1 . 9. 1 7 9 3 aus Drossen). S W II, 7 (Friedrich Schleiermachers literarischer Nachlaß. Predigten. 3 . Bd. Berlin 1 8 3 6 ) , 46
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Schleiermacher bis zum Eintritt in den frühromantischen
Kreis
Im Winterhalbjahr 1793/94 beschäftigte sich der Predigtadjunkt intensiv mit der Philosophie Spinozas und Jacobis und, auf Bitten und Anregung Sacks, mit der Übertragung englischer Predigten, zunächst von Hugh Blair, dann auch von Fawcett in die deutsche Sprache. 51 D a der Prediger Schumann Anfang Juni 1795 verstarb, erweiterten sich auch Schleiermachers pastorale Pflichten. D i e Hoffnung, in Landsberg zu verbleiben und in die Predigerstelle einzurücken, erfüllte sich nicht.
II.
Literarische Projekte und philosophische Studien
In der Drossener Zeit scheint Schleiermacher ernsthaft an eine Karriere als philosophischer Schriftsteller und Übersetzer gedacht zu haben. Am 27. Mai 1789 berichtete er seinem Intimus Brinkmann, er werde nunmehr darangehen, „die Aristotelische Theorie von der Gerechtigkeit zu bearbeiten, und zugleich meine Gedanken darüber aufzusezen". 52 Wenige Wochen später war ein Aristoteles-Aufsatz fertiggestellt; er enthielt Schleiermachers Ansichten „über das Verhältnis der Aristotelischen Theorie von den Pflichten zu der unsrigen". Brinkmann wurde gebeten, ihn Eberhard zur Begutachtung vorzulegen. 53 Schleiermacher beabsichtigte, den Aufsatz eventuell als Grundlage zu einer Einleitung der „Ethik" des Aristoteles zu verwenden. Im gleichen Zeitraum war Schleiermacher in den Besitz einer EthikAusgabe gelangt und arbeitete jetzt „wirklich an einer Übersetzung der Ethik". 54 D i e Anregung zu diesen Arbeiten ging offenbar auf das Bestreben Eberhards zurück, den griechischen Philosophen in Deutschland neu zu popularisieren und sich dabei auf die Mitarbeit seiner Schüler zu stützen. Bereits in Halle hatte Schleier205-217: „Daß wir aus Dankbarkeit gegen Jesum seinen Tod zu verkündigen haben. Über 1. Kor. 11, 26. Antrittspredigt gesprochen zu Landsberg a. d. W. am Charfreitage 1794". - Zitat S. 215. 51 Schleiermacher übersetzte von Ende 1794 bis März/April 1795 13 Predigten Blairs (Briefe 3, 62. - Sack an Schleiermacher v. 17. 4. 1795; Briefe 3, 61. - Sack an Schleiermacher v. 26. 11. 1794). Die Predigten erschienen zusammen mit den von Sack selbst übersetzten Teilen unter dem Titel: Hugo Blairs Predigten. Aus dem Englischen übersetzt. Vierter Band. Leipzig, in der Weidmannschen Buchhandlung. Zu Schleiermachers Ubersetzungsanteil vgl. die Vorrede Sacks, S. V. - 1802 gab Schleiermacher noch den 5. Band heraus: Hugo Blairs Predigten. Aus dem Englischen übersetzt. Nebst einer Nachricht von dem Leben und Charakter des Verfassers. Leipzig 1802. - Übersicht über homiletische Anlehnungen Schleiermachers an Blair bei Quapp: Christus, aaO., 224-229. Die von Blair postulierte Analogie zwischen natürlicher und geoffenbarter Religion lehnte Schleiermacher ab. 52 Briefe 4, 7 (Schleiermacher an Brinkmann v. 27. 5. 1789); vgl. auch Briefe 4, 19. 32. 35. 53 Briefe 4, 19 f (Schleiermacher an Brinkmann v. 22. 7. 1789). ° 4 Näheres zu den Aristoteles-Übersetzungen und -exzerpten Schleiermachers in K G A 11, XXXVI; XLVIII. - Dilthey (Denkmale, 4) urteilt über die frühen Schleiermacherschen Übersetzungen: „Überall werden die schneidenden, straffen Sätze des aristotelischen Styls in die langgegliederten Perioden eines Engel und Mendelssohn verwandelt; die Mittelglieder, deren Wegfall einen so eigenthümlichen Reiz der aristotelischen Form ausmacht, werden eingeschoben, concrete Züge in eine gleichmäßig erhabene Sphäre erhoben". Die Übersetzung sei gleich der Garves „Paraphrase". Schleiermacher selber dachte über seine Übersetzungspraxis freilich anders: „ . . . frei, wo es der Genius der Sprachen erfordert, getreu überall und wörtlich da, wo es notwendig ist, um in den Geist der Terminologie und der Ableitung der Gedanken einzudringen" (Briefe 4, 20. - Schleiermacher an Brinkmann v. 22. 7. 1789). - Der Bewunderung des Hallenser Studenten für Aristoteles können später ganz pejorative Aussagen gegenüberstehen, so das Urteil im „Dritten Tagebuch", daß Aristoteles den Wald vor Bäumen nicht sieht, mithin das „absolute nicht vor dem Einzelnen" (NL Schleiermacher Nr. 144, Bl. 27; Denkmale, 145, Nr. 195).
II. Literarische
Projekte und philosophische
Studien
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raacher Anmerkungen zum 8. und 9. Buch der „Ethik" konzipiert und Übersetzungserwägungen niedergelegt. Das Projekt versandete, da ein Schüler Eberhards 1791 eine Teilübersetzung der „Ethik" (8. Buch) vorlegte. Ende 1791 brachte dann auch Daniel Jenisch seine Übersetzung heraus, was Schleiermachers Bemühungen vollends gegenstandslos machte. Stubenrauch ist darüber etwas verbittert gewesen. „Freilich ist's wohl eine Folge Ihrer Saumseligkeit, daß Ihnen nun Herr Jenisch mit seiner Übersetzung des Aristoteles zuvorgekommen ist. . . .'