Räume im Völker- und Europarecht [1 ed.] 9783428545919, 9783428145911

Der weltweite Frieden wird hauptsächlich durch Streitigkeiten um Land- und Seegebiete gefährdet. In der Regel wird dabei

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German Pages 230 Year 2014

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Räume im Völker- und Europarecht [1 ed.]
 9783428545919, 9783428145911

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Veröffentlichungen des Walther-Schücking-Instituts für Internationales Recht an der Universität Kiel

Band 189

Räume im Völker- und Europarecht Herausgegeben von

Kerstin Odendahl und Thomas Giegerich

Duncker & Humblot · Berlin

Kerstin Odendahl und Thomas Giegerich (Hrsg.)

Räume im Völker- und Europarecht

Veröffentlichungen des Walther-Schücking-Instituts für Internationales Recht an der Universität Kiel In der Nachfolge von Jost Delbrück herausgegeben von Andreas von Arnauld, Nele Matz-Lück und K e r s t i n O d e n d a h l Walther-Schücking-Institut für Internationales Recht

189

Völkerrechtlicher Beirat des Instituts: Christine Chinkin London School of Economics James Crawford University of Cambridge Lori F. Damrosch Columbia University, New York Vera Gowlland-Debbas Graduate Institute of International Studies, Geneva Rainer Hofmann Johann Wolfgang GoetheUniversität, Frankfurt a.M. Fred L. Morrison University of Minnesota, Minneapolis

Eibe H. Riedel Geneva Academy of International Humanitarian Law and Human Rights Law Allan Rosas Court of Justice of the European Union, Luxemburg Bruno Simma Iran International States Claims Tribunal, The Hague Daniel Thürer Universität Zürich Christian Tomuschat Humboldt-Universität, Berlin Rüdiger Wolfrum Max-Planck-Stiftung für Internationalen Frieden und Rechtsstaatlichkeit, Heidelberg

Räume im Völker- und Europarecht Herausgegeben von

Kerstin Odendahl und Thomas Giegerich

Duncker & Humblot  ·  Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2014 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Meta Systems, Berlin Printed in Germany ISSN 1435-0491 ISBN 978-3-428-14591-1 (Print) ISBN 978-3-428-54591-9 (E-Book) ISBN 978-3-428-84591-0 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Territorialstreitigkeiten stellen die Hauptgefährdung des weltweiten Friedens dar. Rechtlich betrachtet sind sie jedoch in der Regel wenig interessant. Gestritten wird zumeist nicht über das anwendbare Völkerrecht, sondern über (historische) Fakten und deren rechtliche Bewertung. Das ist bei Räumen jenseits staatlicher Herrschaft anders. Sie werfen komplizierte und teils völlig neuartige Fragen auf. Angesichts der Bedeutung von Fragestellungen, die gewissermaßen „quer“ zur geographischen Raumverteilung stehen, führte daher das Walther-SchückingInstitut für Internationales Recht an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel im Wintersemester 2012/2013 und Sommersemester 2013 eine Ringvorlesung mit dem Titel „Räume im Völker- und Europarecht“ durch. Der Begriff der „Räume“ wurde dabei in einem weiten Sinne verstanden. Die Veranstaltung bestand dementsprechend aus zwei großen thematischen Blöcken: einem Block zu geographischen Räumen jenseits nationaler Souveränität in Form des Luft- und Weltraums (Stephan Hobe) sowie der Antarktis (Sönke Lorenz) und einem zweiten Block zu virtuellen und schwer fassbaren Räumen in Form des Cyberspace (Udo Fink) sowie der kulturellen (Dagmar Richter), Nachbarschafts- (Carsten Nowak), Wirtschafts- (Wolfgang Weiß), politischen (Andreas von Arnauld) und Rechtsräume (Stefan Oeter). Die Ringvorlesung wurde von Thomas Giegerich konzipiert und in die Wege geleitet. Nach seinem Wechsel an das Europa-Institut der Universität des Saarlandes im Wintersemester 2012/2013 übernahm Kerstin Odendahl die Durchführung der Ringvorlesung sowie die Arbeiten zur Veröffentlichung der Beiträge im vorliegenden Sammelband. Dieser enthält die schriftliche Fassung der acht Vorträge, die im Laufe der beiden Semester gehalten wurden, ergänzt um eine Einleitung mit Reflexionen über „Räumlichkeit“ und „Persönlichkeit“ im Recht. Großer Dank gebührt der wissenschaftlichen Mitarbeiterin am WaltherSchücking-Institut, Frau Katrin Kohoutek. Sie hat bei der redaktionellen Überarbeitung und Überprüfung der Beiträge wertvolle Hilfe geleistet und die entsprechenden Arbeiten der studentischen Hilfskräfte, Frau Sina Hartwigsen und Herr Benjamin

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Vorwort

Jüdes, koordiniert. Dank gebührt auch und insbesondere Frau Andrea Neisius, die für die Formatierungsarbeiten und die Herstellung der Druckvorlage verantwortlich war. Kiel/Saarbrücken, im November 2014

Kerstin Odendahl und Thomas Giegerich

Inhaltsverzeichnis Thomas Giegerich und Kerstin Odendahl Einleitung: Reflexionen über „Räumlichkeit“ und „Persönlichkeit“ im Recht . . .

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Stephan Hobe Die unterschiedlichen Rechtsordnungen für Luft- und Weltraum – Auswirkungen für Völker- und Europarecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

Sönke Lorenz Die Antarktis – ein Kontinent jenseits der Souveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37

Udo Fink Recht im virtuellen Raum: Die Rechtsordnung des Cyberspace . . . . . . . . . . . . . .

53

Dagmar Richter Die neuen Konflikte um Kulturräume – Zur Bewahrung kultureller Identität im post-territorialen Zeitalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

71

Carsten Nowak Die Nachbarschaftspolitik der Europäischen Union: Mittelmeerraum und Osteuropa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Wolfgang Weiß Wirtschaftsräume: Freihandelszonen, Zollunionen und Gemeinsame Märkte . .

145

Andreas von Arnauld Politische Räume im Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Stefan Oeter Rechtsräume im Völkerrecht und transzivilisatorische Völkerrechtsperspektive

205

Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229

Abkürzungsverzeichnis a.A. ABl. EG ABl. EU Abs. ACEERev AEUV AJIL Anm. AöR APJHRL APSR ApuZ APZ Art. AsYIL ATCM Aufl. AVR AWI AW-Prax BalYIL Bd. BGBl. BGH BGHSt BVerfG CCAMLR CCC CEP CEPSWorkDoc ChJIL CJIL CJTL COMNAP CRTA ders. d.h. DÖV

andere Ansicht Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaft Amtsblatt der Europäischen Union Absatz The Analyst – Central and Eastern European Review Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union American Journal of International Law Anmerkung Archiv des öffentlichen Rechts Asia Pacific Journal on Human Rights and the Law American Political Science Review Aus Politik und Zeitgeschichte Abkommen über Partnerschaft und Zusammenarbeit Artikel Asian Yearbook of International Law Antarctic Treaty Consultative Meeting Auflage Archiv des Völkerrechts Alfred-Wegener-Institut Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung Außenwirtschaftliche Praxis Baltic Yearbook of International Law Band Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen Bundesverfassungsgericht Convention on the Conservation of Antarctic Marine Living Resources, Übereinkommen über die Erhaltung der lebenden Meeresschätze der Antarktis Convention on Cybercrime Comparative European Politics Centre for European Studies Working Documents Chinese Journal of International Law Canadian Journal of Law and Jurisprudence Columbia Journal of Transnational Law Council of Managers of National Antarctic Programs Committee on Regional Trade Agreements, Ausschuss für Regionale Handelsabkommen derselbe das heißt Die öffentliche Verwaltung

10 Drucks. ebd. EEA EFAR EG EGMR ELR EMA EMPA endg. ENP EU EuGH EUI WPLaw EuR EuR-Beih. EUV EuZW EYIEL f. FA FAZ ff. FS GATS GATT GD GJ GR HHRJ HILJ Hrsg. IA ibid. ICJ ICLR i.d.F. IGH insb. IO IS i.V.m. JCES JCMS JEI JEPP JHIL

Abkürzungsverzeichnis Drucksache ebendort European Economic Area European Foreign Affairs Review Europäische Gemeinschaft Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte European Law Review Europa-Mittelmeer-Abkommen Euro-Mediterranean Parliamentary Assembly endgültig Europäische Nachbarschaftspolitik, European Neighbourhood Policy Europäische Union Europäischer Gerichtshof Working Papers of the Law Department of the European University Institute Europarecht Europarecht Beiheft Vertrag über die Europäische Union Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht European Yearbook of International Economic Law folgende Foreign Affairs Frankfurter Allgemeine Zeitung fortfolgende Festschrift General Agreement on Trade in Services/ Allgemeines Übereinkommen über den Handel mit Dienstleistungen General Agreement on Tariffs and Trade/Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen Global Dialogue The Geographical Journal Geographical Review Harvard Human Rights Journal Harvard International Law Journal Herausgeber International Affairs ibidem International Court of Justice International Community Law Review in der Fassung Internationaler Gerichtshof insbesondere International Organization The International Spectator in Verbindung mit Journal of Contemporary European Studies Journal of Common Market Studies Journal of European Integration Journal of European Public Policy Journal of the History of International Law

Abkürzungsverzeichnis JIEL JöR JSEEBSS JZ KOM LIEI Lit. McGillLJ MelJIL MichJIL Mithrsg. MJ MLR MMR MPYUNL m.w.N. NATO NJW No. Nr. NVwZ NYIL OECD OER o.g. OHLJ Para. PLJ PLO PTAs PVS-SH RdC RDUE RIAA RIS RJEA Rn. Rs. RUE S. SCAR SEER SJZ Slg. sog. SOM SPS

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Journal of International Economic Law Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart Journal of Southeast European and Black Sea Studies Juristenzeitung Europäische Kommission Legal Issues of Economic Integration Litera McGill Law Journal Melbourne Journal of International Law Michigan Journal of International Law Mitherausgeber Maastricht Journal of European and Comparative Law Michigan Law Review Multimedia und Recht – Zeitschrift für Informations-, Telekommunikations- und Medienrecht Max Planck Yearbook of United Nations Law mit weiteren Nachweisen North Atlantic Treaty Organization Neue Juristische Wochenschrift Number Nummer Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Netherlands Yearbook of International Law Organisation for Economic Cooperation and Development Osteuropa-Recht oben genannt Osgoode Hall Law Journal Paragraph Polish Legal Journal Palästinensische Befreiungsorganisation Preferential Trade Agreements Politische Vierteljahresschrift-Sonderheft Recueil des Cours Revue du Droit de l’Union Européenne Reports of International Arbitral Awards Review of International Studies Romanian Journal of International Affairs Randnummer Rechtssache Revue de l’Union européenne Satz Special Committee on Antarctic Research, Scientific Committee on Antarctic Research South-East Europe Review Schweizerische Juristenzeitung Sammlung sogenannt/e/er Südosteuropa Mitteilungen Agreement on the Application of Sanitary and Phytosanitary Measures

12 StWP SWD SWP-Aktuell SydLR TAIEX TBT TJICL TRIPS TWQ u. u.a. UN UNCh UN-Charta UNCTAD UNEP UNTS UPR v. v.a. vgl. VO Vol. VRÜ WD WE WILJ WissRBeih WTO WTR WVK ZaöRV ZAR ZESAR ZeuS ZIB Ziff. ZUM

Abkürzungsverzeichnis Staatswissenschaften und Staatspraxis Staff working documents Stiftung Wissenschaft und Politik – Aktuell Sydney Law Review Technical Assistance and Information Exchance Instrument (Informationsaustausch und technische Unterstützung) Agreement on Technical Barriers to Trade Tulane Journal of International and Comparativ Law Agreement on Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights Third World Quarterly und und andere/unter anderem United Nations UN-Charta Charta der Vereinten Nationen United Nations Conference on Trade and Development United Nations Environment Programme United Nations Treaty Series Umwelt- und Planungsrecht versus/vom vor allem vergleiche Verordnung Volume Verfassung und Recht in Übersee Wirtschaftsdienst The World Economy Wisconsin International Law Journal Wissenschaftsrecht Beiheft World Trade Organisation World Trade Review Wiener Vertragsrechtskonvention Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik Zeitschrift für europäisches Sozial- und Arbeitsrecht Zeitschrift für Europäische Studien Zeitschrift für Internationale Beziehungen Ziffer Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht

Einleitung: Reflexionen über „Räumlichkeit“ und „Persönlichkeit“ im Recht Von Thomas Giegerich und Kerstin Odendahl Staaten sind nach der Drei-Elemente-Lehre Gebietskörperschaften mit einem territorialen und einem personalen Element, die durch eine Herrschaftsgewalt miteinander verbunden werden. Treten Staaten in völker- oder europarechtliche Beziehungen miteinander, so muss die jeweilige Rechtsordnung sie in ihrem Doppelcharakter als territorial verankerter Personenverband annehmen. Was aber ist für das Recht primär: die Territorialität der Staaten oder ihre Personalität, in der sich die Gesamtheit ihrer Bürgerinnen und Bürger widerspiegelt? Klassischer und immer noch nicht eliminierter Störfaktor für die friedlichen und freundschaftlichen Beziehungen in der internationalen Gemeinschaft sind Gebietsstreitigkeiten zwischen Staaten. Hinzu treten Streitigkeiten um Hoheitsrechte über Seegebiete in vielen Teilen der Welt. Aktuelle Beispiele bilden die Quasi-Annexion der ukrainischen Krim durch die Russische Föderation1 und der Streit um die territoriale Souveränität zwischen China und Japan über die Diaoyu-/SenkakuInseln im Ostchinesischen Meer. Der Erwähnung wert sind auch territoriale Streitigkeiten mit EU-Bezug: der Disput zwischen Spanien und dem Vereinigten Königreich um die Zukunft Gibraltars und die seit 1974 andauernde militärische Besetzung Nordzyperns durch den Beitrittskandidaten Türkei. In derartigen Fällen herrscht jedoch zumeist kein Dissens über die anwendbaren Völkerrechtsregeln, sondern nur über (historische) Fakten und deren rechtliche Bewertung, die korrekte Subsumtion im Einzelfall oder auch die politische Entschärfung unliebsamer Rechtsfolgen. Territoriale Streitigkeiten gefährden den Weltfrieden vor allem deshalb, weil das Völkerrecht nach wie vor keine effektiven obligatorischen Streitbeilegungsverfahren zur Verfügung stellt. Bei aller politischen Bedeutung oder gar Brisanz sind jene klassischen Problemlagen indessen rechtlich überwiegend wenig ergiebig.

1 Vgl. die mit 100 gegen 11 Stimmen bei 58 Enthaltungen angenommene Resolution 68/262 der UN-Generalversammlung vom 27.3.2014.

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Thomas Giegerich und Kerstin Odendahl

Die Ringvorlesung des Walther-Schücking-Instituts über „Räume im Völker- und Europarecht“ im Studienjahr 2012/132 wandte sich daher anderen Fragestellungen zu, die gewissermaßen „quer“ zur geographischen Raumverteilung auf die Staaten der Welt stehen. Der Begriff „Räume“ wurde in einem weiten Sinne verstanden, denn es sind die Räume jenseits der staatlichen Herrschaft über Landes- und Meeresgebiete, die rechtlich interessante und ganz verschiedenartige Fragen aufwerfen. Ist unser Zeitalter der Globalisierung gar schon ein postterritoriales Zeitalter, in dem Grenzen zwischen Land- und Meeresgebieten infolge der Migration von Personen und Ideen ihre Bedeutung eingebüßt haben? Das trifft die Realität gewiss nur zum Teil. Sicherlich leben wir aber in einem Zeitalter, das sich ausdrücklich dem Ideal der Rechtsstaatlichkeit bzw. International Rule of Law verschrieben hat.3 Es besteht Einigkeit darüber, dass politische, wirtschaftliche, militärische, soziale, religiöse und andere Formen von Macht im Zivilisationsinteresse völker- und europarechtlich eingehegt werden müssen, ganz unabhängig davon, ob sie raumgebunden oder raumbezogen ist. Denn im Kern geht es stets darum, die Macht von Menschen über andere Menschen im Interesse der Menschlichkeit zu begrenzen. Als noch geographische Räume in den Blick geraten zunächst der Weltraum, die Antarktis und die Hohe See als staatsfreie, d.h. jenseits der territorialen Souveränität von Staaten liegende Räume, die entsprechend ihren Besonderheiten einem jeweils ganz eigenen völkerrechtlichen Rechtsregime unterstehen. Stellvertretend enthält der vorliegende Band Beiträge von Stephan Hobe zum (Luft- und) Weltraumrecht sowie von Sönke Lorenz zur Rechtsstellung der Antarktis, über die zahlreiche Staaten seit Jahrzehnten Gebietsansprüche aufrechterhalten, aber eingefroren haben. Die Territorialstaaten als Herren der Völkerrechtsordnung müssen sich im Äther und im Eis auf Regeln zur Benutzung gemeinsamer Räume im gemeinsamen Interesse einigen. Es geht letztlich um die angemessene Verwaltung von Kollektivgütern zugunsten der Menschheit insgesamt. Ein solches Kollektivgut stellt auch der neuartige virtuelle Raum des Cyberspace dar. Udo Fink macht deutlich, dass dieser die Anwendung herkömmlicher völkerrechtlicher Regeln z.B. zur Zulässigkeit extraterritorialer Hoheitsausübung und zum Verbot der (gewaltsamen) Intervention (Cyberwar) besonderen Belastungsproben aussetzt. Eine weitere Eigentümlichkeit des Cyberspace besteht 2

Die Ringvorlesung wurde von Thomas Giegerich konzipiert und organisiert. Nach seinem Wechsel an das Europa-Institut der Universität des Saarlandes im Wintersemester 2012/2013 übernahm Kerstin Odendahl die Durchführung der Ringvorlesung sowie die Arbeiten zur Veröffentlichung der Beiträge im vorliegenden Sammelband. 3 Vgl. Art. 2, 21 EUV; Declaration of the High-level Meeting of the General Assembly on the Rule of Law at the National and International Levels of 24 September 2012 (UN Doc. A/RES/67/1).

Reflexionen über „Räumlichkeit“ und „Persönlichkeit“ im Recht

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darin, dass dort private Akteure4 einen dominanten Regulierungseinfluss ausüben. Können die Staaten eine solche Privatisierung eines Kollektivguts einfach zulassen, oder stehen sie nicht vielmehr in einer Gewährleistungsverantwortung für die Legitimität und Völkerrechtmäßigkeit der (Soft-Law-)Standards, die den Zugang zum und das Verhalten im Cyberspace regeln?5 Die gegenüber einem wachsenden Zuwanderungsdruck ziemlich offenen Grenzen vor allem der entwickelten Staaten des Westens führen zur Entstehung kulturell pluralistischer Gesellschaften, in denen Überfremdungsängste der alteingesessenen Mehrheit vor der neu zugewanderten Minderheit entstehen. Für Dagmar Richter ergibt sich daraus folgende Frage: Können um des öffentlichen Friedens willen für eine Übergangszeit neue Grenzziehungen innerhalb der Staaten erforderlich werden (und auch rechtlich zulässig sein), um bestimmte kulturell besonders geprägte Räume in ihrem Charakter zu bewahren? Sie bejaht die Frage vorsichtig unter Rückgriff auf die Erfahrungen einer Sprachenordnung aufgrund des Territorialitätsprinzips in der viersprachigen Schweiz. Die EU-Perspektive kommt stärker ins Spiel im Beitrag von Carsten Nowak zur europäischen Nachbarschaftspolitik im Mittelmeerraum und Osteuropa. Dort geht es auch um die Schaffung von Einflusszonen mit friedlichen Mitteln (Art. 8 EUV), die freilich durch die Verwerfungen des „Arabischen Frühlings“ und der durch unfriedliche Mittel hervorgerufenen Ukraine-Krise unter Druck geraten ist. Wenn die „Nachbarschaft“ der EU von Drittstaaten als „nahes Ausland“ in Anspruch genommen wird, sind Interessenkonflikte unausweichlich. Diese müssen dann allerdings mit zivilisierten Mitteln im Rahmen des Völkerrechts bewältigt werden. Wer geglaubt hatte, dass darüber zumindest innerhalb von Europarat und OSZE Konsens bestünde, wurde durch die Ereignisse der letzten Monate auf der Krim und im Donbass eines Besseren belehrt. Unter Wirtschaftsräumen versteht dieser Band die Geltungsbereiche der völkerrechtlichen Verträge, mit denen Freihandelszonen, Zollunionen oder gar Gemeinsame Märkte gegründet werden. Unter dem Dach der Welthandelsorganisation überziehen zahlreiche derartige Verträge die Welt mit einem Gewirr sich überschneidender Kreise unterschiedlicher Größe, Integrationsdichte und politischer Bedeutung. Hinzu treten noch Tausende von bilateralen Investitionsschutzabkommen. Wolfgang Weiß arbeitet das Spannungsverhältnis zwischen Multilateralismus und Regionalismus heraus, welches das internationale Handelsrecht zunehmend charakterisiert. Er weist darauf hin, dass es sich dabei um einen Aspekt der viel 4

Z.B. die Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN). Vgl. Thomas Giegerich, Internationale Standards – aus völkerrechtlicher Perspektive, in: Andreas Paulus et al. (Hrsg.), Internationales, nationales und privates Recht: Hybridisierung der Rechtsordnungen? – Immunität, 2014, 101 (131 ff., 153, 154 ff.). 5

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Thomas Giegerich und Kerstin Odendahl

diskutierten Fragmentierung des Völkerrechts handelt. Bei einigen dieser regionalen Wirtschaftsräume – das Paradebeispiel bildet die EU – dient überdies der Abbau von Wirtschaftsschranken nicht allein der Förderung wirtschaftlichen Wohlergehens, sondern einem weitergehenden Zweck, nämlich der quasiföderalen politischen Einheitsstiftung (finalité politique). Es spricht viel dafür, dass die EU auf dem Weg zu „einer immer engeren Union der Völker Europas“6 inzwischen eine eigenständige Rechtsordnung ausgebildet hat, die nicht mehr Bestandteil des Völkerrechts ist, sondern neben diesem steht.7 Der politische Streit um das Für und Wider neuer Freihandels- und Investitionsschutzzonen ist letzthin schärfer geworden. Die beide gerade ausgehandelten Beispiele – das Comprehensive Economic and Trade Agreement (CETA) zwischen der EU und Kanada und die Transatlantic Trade and Investment Partnership (TTIP) zwischen der EU und den USA – belegen dies.8 Deren Gegner auf beiden Seiten befürchten erstens die Verwässerung der angeblich überlegenen eigenen Umwelt- und Gesundheitsstandards. Sie kritisieren zweitens die Möglichkeit der Konzerne der jeweils anderen Seite, ihre Interessen zum Nachteil der öffentlichen Interessen des Investitionsziellandes vor privaten Schiedsgerichten außerhalb der Kontrolle der nationalen Gerichte durchzusetzen. Normen- und Jurisdiktionskonflikte sind angesichts der Mehrfachmitgliedschaften vieler Staaten in unterschiedlichen Wirtschaftsräumen ohnehin unausweichlich. Die jahrelangen Querelen um die offensichtlich mit dem WTO-Recht unvereinbare Bananenmarktordnung der Europäischen Gemeinschaft sind noch in lebhafter Erinnerung.9 Eine neue Konfliktvariante ist kürzlich erkennbar geworden: Die Europäische Kommission hat ein Beihilfenverfahren gegen Rumänien eingeleitet, weil dieses in Erfüllung eines bindenden ICSID-Schiedsspruchs, der auf einem bilateralen Investitionsschutzabkommen beruhte, mehreren schwedischen Unternehmen Schadensersatz geleistet hat. Darin soll eine mit dem Binnenmarkt unvereinbare Beihilfe liegen.10 Dem belasteten Erbe des politischen Raumgedankens und der damit verbundenen Vorstellung von Machtprojektionen etwa in Form der Hegemonie stellt sich Andreas von Arnauld. Er macht deutlich, dass sich das Völkerrecht auf die 6

Art. 1 Abs. 2 EUV. Martin Nettesheim, Integration durch Recht, in: Thomas Oppermann/Claus Dieter Classen/Martin Nettesheim (Hrsg.), Europarecht, 6. Aufl. 2014, § 9 Rn. 1 ff. Anders BVerfGE 123, 267 (passim). 8 Weitere Informationen der Europäischen Kommission abrufbar unter http://ec.europa. eu/trade/policy/in-focus/ttip/ (letzter Zugriff am 16.11.2014). 9 EuGH, Urteil vom 5.10.1994, Rs. C-280/93 – Deutschland/Rat, Slg. 1994, I-4973; Urteil vom 9.9.2008, verb. Rs. C-120/06 P und C-121/06 P – Fiamm & Fedon, Slg. 2008, I-6513. 10 ABl. 2014 C 393/27 ff. 7

Reflexionen über „Räumlichkeit“ und „Persönlichkeit“ im Recht

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veränderten heutigen Formen der Machtprojektion einstellen muss, wenn es seine Regulierungsaufgabe zum Wohle der gesamten Menschheit erfüllen will. Die Weltordnung des 21. Jahrhunderts wird sicherlich multipolar sein. Europa kann sich an ihrer Gestaltung als „Global Player“ nur effektiv beteiligen, wenn es seine eigene politische Einigung vorantreibt. Die europäische Integration erfolgt seit 1950 in nicht-hegemonialer Weise allein mit den Mitteln des Rechts.11 Das Europarecht ist in seinen verfassungsrechtlichen Grundlagen ein Produkt des Konsenses aller kleinen, mittleren und großen Mitgliedstaaten, die an seiner Fortentwicklung stets gleichberechtigt mitwirken.12 Der Wirtschaftsraum und politische Raum namens Europäische Union kommt im kleineren (ein-kontinentalen) Maßstab dem Kantischen Ideal einer demokratischen Weltrepublik13 näher als jedes andere überstaatliche politische Gebilde in Geschichte und Gegenwart. Die EU stellt ein Modell für die Integration anderer Kontinente zur Verfügung. In seinem Beitrag zu den Rechtsräumen erinnert Stefan Oeter an die kolonialen Ursprünge der heutigen Völkerrechtsordnung. Zur Erreichung unseres Ideals der International Rule of Law instrumentalisieren wir also ein ebenfalls stark belastetes Erbe. Dessen Eignung leidet überdies daran, dass die Völkerrechtsordnung als primär zwischenstaatliche Rechtsordnung effektive souveräne Staatlichkeit voraussetzt, die in vielen Teilen der außereuropäischen Welt gar nicht vorhanden ist. Stattdessen sind viele Staaten der Dritten Welt fragil, wenn nicht gar gescheitert. Die (rechts-) kulturellen Unterschiede zwischen den Weltteilen machen überdies die Herausbildung einer universell einheitlichen Völkerrechtsordnung schwierig. Hier kann nur eine transzivilisatorische Perspektive auf das Völkerrecht anstelle des traditionellen Eurozentrismus weiterhelfen. Lenken wir trotz der negativen Konnotation des Eurozentrismus den Blick noch einmal nach Europa zurück, um das Verhältnis zwischen Territorialität und Personalität von Recht allgemeiner zu beleuchten. Wer nach dem Unterschied zwischen Völkerrecht und Europarecht fragt, erhält als Antwort zumeist den Hinweis, Völkerrecht sei „international“ (also zwischenstaatlich), Europarecht hingegen „supranational“ (also überstaatlich). Diese zutreffende Unterscheidung spiegelt auch die andersartige Raumbezogenheit der beiden Rechtsordnungen wider. Das Völkerrecht regelt immer noch vorrangig die hoheitlichen Rechtsbeziehungen zwischen souveränen Staaten als territorial verankerten und impermeablen Herrschaftsverbänden („Gebietskörperschaften“). Sein prägendes Merkmal ist das 11

Walter Hallstein, Die Europäische Gemeinschaft, 5. Aufl. 1979, 53. Vgl. Art. 48 EUV für das Primärrecht; Art. 294 AEUV i.V.m. Art. 14 Abs. 2, Art. 16 Abs. 4 EUV für das Sekundärrecht. 13 Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden, 1795, Zweiter Definitivartikel (zit. nach der Reclam-Ausgabe von Rudolf Malter, 1984). 12

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Thomas Giegerich und Kerstin Odendahl

Territorialitätsprinzip, während das Personalitätsprinzip erst an zweiter Stelle folgt: Personen kommen vor allem als Angehörige oder Bewohner staatlich beherrschter Räume in den Blick des Völkerrechts, seit der mittelalterliche Personenverband durch den neuzeitlichen Flächenherrschaftsstaat abgelöst wurde.14 Originäre und nach wie vor wichtigste Völkerrechtssubjekte sind die Territorialstaaten. Die allesamt nicht territorial organisierten sonstigen Völkerrechtssubjekte (in erster Linie die internationalen Organisationen, zunehmend aber auch die Privatpersonen und im Hinblick auf das Selbstbestimmungsrecht auch die Völker) leiten ihre Völkerrechtssubjektivität von diesen Territorialstaaten ab. Seit der Menschenrechtsrevolution der Nachkriegszeit gewinnt jedoch auch in der Völkerrechtsordnung die Erkenntnis an Boden, dass der Mensch mit seiner Würde und nicht der Territorialstaat im Zentrum der Regulierungsanstrengungen stehen muss. Das Recht der Europäischen Union ist im Gegensatz zum Völkerrecht primär personenbezogen, denn die EU übt – anders als ihre Mitgliedstaaten – keine territoriale Souveränität oder Gebietshoheit aus. Träger der Union sind nach Art. 1 und Art. 10 EUV diese Mitgliedstaaten gemeinsam mit den Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern. Daher stellt die EU sich in erster Linie als Verband verschiedenartiger Personen dar. Der Gerichtshof der EU hat durch seine Rechtsprechung zum Vorrang des Europarechts vor dem nationalen Recht zudem deutlich gemacht, dass die europäische Rechtssubjektivität der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger nicht zur Disposition der Mitgliedstaaten steht, selbst wenn sie letztlich auf Verträge zurückgeht, welche diese Mitgliedstaaten geschlossen haben.15 Da dem Personenverband EU aber in Gestalt der Mitgliedstaaten auch gebietskörperschaftlich organisierte Hoheitsträger angehören, kommt selbst im EU-Recht ein territoriales Element ins Spiel, das etwa im räumlichen Geltungsbereich der Verträge nach Art. 52 EUV und Art. 355 AEUV aufscheint, aber hinter dem personalen Element sekundär bleibt. Welcher Bestandteil dieses personalen Elements der EU ist aber nun seinerseits primär: der mitgliedstaatliche oder der unionsbürgerschaftliche? Während Art. 1 EUV zunächst die Mitgliedstaaten als Ursprung und erst danach die Völker Europas als Ziel der europäischen Einigung nennt, verfährt Art. 10 Abs. 2 EUV in Bezug auf das Demokratieprinzip umgekehrt.16 Der Vertragstext lässt also offen, 14

Vgl. Wolfgang Graf Vitzthum, Staatsgebiet, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 18 Rn. 2, 5. 15 Vgl. die Erklärung (Nr. 17) zum Vorrang der Regierungskonferenz von Lissabon (ABl. 2007 C 306/256 ff.). 16 Deutlich war die Reihenfolge hingegen in Art. I-1 des nicht in Kraft getretenen Vertrages über eine Verfassung für Europa vom 29.10.2004 (ABl. C 310/1 ff.): „Geleitet von dem Willen der Bürgerinnen und Bürger und der Staaten Europas, ihre Zukunft gemeinsam zu gestalten, begründet diese Verfassung die Europäische Union …“.

Reflexionen über „Räumlichkeit“ und „Persönlichkeit“ im Recht

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ob die EU in erster Linie ein Staatenverein oder ein Völkerverein ist.17 Wofür der Gründungsvater und Ehrenbürger Europas, Jean Monnet, optierte, wird an dem Motto deutlich, mit dem er seine Memoiren überschrieb: „Nous ne coalisons pas des États, nous unissons des hommes“.18 Wir jedoch stehen vor der Herausforderung, das völkerrechtsnahe Prinzip der Gleichheit der Mitgliedstaaten ungeachtet ihrer Einwohnerzahl (Art. 4 Abs. 2 Satz 1 EUV) mit dem verfassungsrechtsnahen Prinzip der Gleichheit der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit und ihres Wohnorts (Art. 9 Satz 1 EUV) in eine Synthese zu bringen. Dies macht Kompromisse etwa bei der Zusammensetzung des Europäischen Parlaments und dem Stimmgewicht im Rat unausweichlich.19 Im deutschen Verfassungsrecht tritt das Territorium als Regelungsgegenstand gegenüber den Personen – den grundrechtsgeschützten Privatpersonen und den Ländern als gebietskörperschaftlich organisierten Hoheitsträgern – völlig in den Hintergrund.20 Träger des deutschen Staates ist das allein aus natürlichen Personen bestehende (freilich in Landesvölker untergliederte) Deutsche Volk als Inhaber der verfassungsgebenden Gewalt.21 Unsere abschließende These lautet daher: Je enger sich eine politische Gemeinschaft integriert, desto mehr tritt die „Räumlichkeit“ in den Hintergrund und die „Persönlichkeit“ in den Vordergrund ihres Rechts. Hinter der „Persönlichkeit“ jedes staatlichen Verbandes steht letzten Endes eine Vielzahl einzelner Menschen mit ihrer angeborenen Würde und ihren gleichen und unveräußerlichen Rechten.22 Die Staaten, in die die Menschheit sich und die bewohnbaren Gebiete der Erde aufgeteilt hat, sind nichts als Mittel zu einem einzigen Zweck: Sie sollen mit ihrem nationalen und dem von ihnen gemeinsam geschaffenen internationalen und supranationalen Recht Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt um jedes einzelnen Menschen willen sichern – über alle geographischen und sonstigen Räume hinweg. 17

Da die EU aber ohne jeden Zweifel auch ein Völkerverein ist, führt ihre Bezeichnung als „Staatenverbund“ (so u.a. BVerfGE 89, 155 Leitsatz 8 und öfter; BVerfGE 123, 267 Leitsatz 1 und öfter) in die Irre. 18 Jean Monnet, Mémoires, 1976, 7. 19 Art. 14 Abs. 2, Art. 16 Abs. 4 EUV. Übertrieben kritisch zu den gefundenen Kompromissen BVerfGE 123, 267, 372 ff.; dagegen Thomas Giegerich, The Federal Constitutional Court’s Judgment on the Treaty of Lisbon, GYIL 52 (2009), 9, 34 ff. 20 Nur die Präambel des Grundgesetzes lässt heute noch dessen territorialen Geltungsbereich erkennen. Graf Vitzthum (Anm. 14), § 18, Rn. 12, 16 ff. 21 In der Schweiz sind das Schweizervolk und die Kantone gemeinsam Träger der verfassungsgebenden Gewalt und bilden gemeinsam die Schweizerische Eidgenossenschaft (Präambel und Art. 1 der Bundesverfassung vom 18.4.1999, BB AS 1999, 2556 ff.). 22 Vgl. die erste Erwägung der Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10.12.1948 (UN Doc. A/RES/217 A III).

Die unterschiedlichen Rechtsordnungen für Luft- und Weltraum – Auswirkungen für Völker- und Europarecht* Von Stephan Hobe

Avant-propos Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist mir natürlich eine besonders große Freude, hier heute Abend zu Ihnen in Kiel sprechen zu können. Einige mögen sich noch erinnern, Anderen mag es mitgeteilt werden, dass Kiel für mich eine ganz besondere Bedeutung hat. Hier habe ich am Walther-Schücking-Institut die wohl schönste Zeit eines damals noch jungen Wissenschaftlers verleben können; ich habe nämlich sowohl Promotion als auch Habilitation in Kiel am berühmten Walther-Schücking-Institut für Internationales Recht anfertigen können. Die große Anziehungskraft war die einzigartige wissenschaftliche Atmosphäre an diesem Institut, beginnend unter den Kollegen Rüdiger Wolfrum und Jost Delbrück und dann maßgeblich später unter Jost Delbrücks Ägide, bei dem ich sowohl promoviert wurde, als mich auch habilitiert habe. Ich denke mit großer Freude und auch großer Dankbarkeit an diese Zeit in Kiel zurück, die im besten Sinne – Juniorprofessuren von heute hin oder her – auch eine besonders intensive Form der Betreuung und des Lernens ermöglicht haben. Doch im Nu sind dann viele, viele Jahre vergangen, und es mag ein wenig die besondere geographische Situation von Kiel sein, die mein Lehrer Jost Delbrück zwar als sehr zentral zwischen Nordpol und Gibraltar verortet hatte, die aber – was die etwas kleineren deutschen Verhältnisse angeht – denn vielleicht doch nicht so ganz zentral ist. So hat es mich seither – sehr zu meinem Bedauern – nur relativ selten nach Kiel geführt. Doch umso glücklicher bin ich, hier heute Abend sein zu dürfen. Ich danke also zunächst einmal dem Walther-Schücking-Institut und hier *

Die Vortragsfassung dieses am 15.11.2012 im Rahmen der Ringvorlesung des Walther-Schücking-Instituts an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel gehaltenen Beitrages wurde weitgehend beibehalten und für die Schriftfassung nur um Fußnoten ergänzt.

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Frau Kollegin Kerstin Odendahl für die freundliche Einladung. Sie haben ja eine ganz besonders interessante Reihe zu Räumen im Völker- und Europarecht ins Leben gerufen, die zu eröffnen ich heute die Ehre habe. Und einigen wird sicherlich bewusst sein, dass in Kiel von Räumen zu sprechen, doch eine ganz besondere Bedeutung hat. Schließlich ist es im Jahre 1939 niemand anderes als der berühmte und auch berüchtigte Carl Schmitt gewesen, der in Kiel bei einem Vortrag seine epochale Idee von der „Völkerrechtlichen Großraumordnung mit Interventionsrecht für raumfremde Mächte“ vorstellte,1 was ja, wie mir relativ deutlich zu sein scheint, auf nichts anderes hinauslief, als auf die Legitimation eines Interventionstitels für die in Großräumen herrschenden Mächte, etwa also das Deutsche Reich.2 Diese Aussage entbehrte natürlich also im April 1939 nicht einer erheblichen Brisanz. Wenn wir heute die Konzeption der UN-Charta betrachten, so sind wir natürlich bei ganz anderen sicherheitspolitischen Erwägungen zur Idee sicherheitspolitischer Räume und deren Sicherung durch Großmächte, maßgeblich erhalten durch das Vetorecht der fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats, angelangt. Aber wenden wir uns nun der eigentlichen Themenstellung zu, die sich also mit luft- und weltraumrechtlichen Fragestellungen und der dort enthaltenen Raumkonzeption befassen soll. Dazu erlauben Sie mir bitte eine weitere kurze Vorbemerkung: Auch den Bezug zu Luft- und Weltraumrecht habe ich maßgeblich Kiel zu verdanken. Meiner ursprünglichen Absicht, mich der ja in Kiel sehr weit verbreiteten und vertieften Forschung im Seerecht zu widmen, wurde durch die damaligen Direktoren der dies modifizierende Vorschlag einer Beschäftigung mit Luft- und vor allem Weltraumrecht entgegengesetzt. Meine Reaktion war damals eine solche, wie sie wohl viele auch bei der Lektüre dieses ersten Themas Ihrer Vorlesungsreihe empfunden haben: Was will man denn mit diesem merkwürdigen Rechtsgebiet? Gibt es das überhaupt? Ist das ernst zu nehmen? Ja, meine Damen und Herren, ich kann Ihnen bestätigen, dass man unter gestandenen „richtigen“ Völkerrechtlern auch immer wieder ein wenig belächelt wird, wenn man mit Analogien oder Fragestellungen im Luft- und Weltraumrecht kommt – das gilt als „völlig abgespaced“, um es einmal neudeutsch zu formulieren. Und als einzig verbliebene Quelle der Seriosität bleibt dann der Verweis auf das einigermaßen

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Carl Schmitt, Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsrecht für raumfremde Mächte: Ein Beitrag zum Reichsbegriff im Völkerrecht, 1939. 2 Rüdiger Wolfrum, Nationalsozialismus und Völkerrecht, in: Franz-Jürgen Säcker (Hrsg.), Recht und Rechtslehre im Nationalsozialismus: Ringvorlesung der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Kiel, 1992, 89.

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gängige Völkerrechtslehrbuch aus derselben Feder.3 Aber diese scheinbare Esoterik der Materie besteht, wie ich hoffe, heute zeigen zu können, nicht so ganz zu Recht! Es ehrt mich deshalb, dass ich Ihnen zunächst einmal die völkerrechtliche und später, so vorhanden, auch europarechtlich raumgeprägte Ordnung des Luft- und Weltraums vorstellen darf. Und ich tue dies mit einer leichten Modifikation des mir zunächst von den Veranstaltern gestellten Themas. Da es mit dem „Äther“ so eine Sache ist – trotz bedeutender Vorveröffentlichungen hierzu aus Kiel im berühmten German Yearbook of International Law4 – habe ich mir die Freiheit genommen, die Themenstellung etwas zu verändern und möchte jetzt deshalb zu Ihnen sprechen zum Thema: Die unterschiedlichen Rechtsordnungen für Luft- und Weltraum – Auswirkungen für Völker- und Europarecht.

A. Einleitung Die wissenschaftliche Einleitung unseres Themas soll zunächst einmal eines verdeutlichen, was dort schon angeklungen ist: Die Raumordnungen für den Luftraum und für den Weltraum basieren auf völlig unterschiedlichen Grundkonzeptionen: Während der Luftraum seit Beginn des 20. Jahrhunderts – Einzelheiten sogleich – von der Konzeption staatlicher Souveränität durchzogen ist5 und sich deshalb im Rahmen einer heute vollständigen Kommerzialisierung der Nutzung des Luftraums die Frage erhebt, ob und in welchem Umfang diese staatliche Souveränität durch völkerrechtliche Abmachungen zur Erlaubnis des Überflugs und des Landerechts zurückgenommen werden kann, gibt es all diese Probleme im Weltraumbereich vor allem aus zwei Gründen nicht: Zum einen – und das ist grundlegend – aus dem einfachen Grunde, weil es sich beim Weltraum um einen Staatengemeinschaftsraum handelt, der kraft Prägung internationalen Rechts – hier ist Artikel II des Weltraumvertrages von 19676 maßgeblich – nicht staatlicher Souveränität unterworfen werden kann. Aber andererseits ist dies auch deshalb so, weil das Kommerzialisierungsausmaß für den Weltraum bislang bei weitem nicht dem des Luftraums entspricht.

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Stephan Hobe, Einführung in das Völkerrecht, 10. Aufl. 2014. Christian Patermann, Aktuelle Völkerrechtsfragen des Direkt-Satelliten-Fernsehens, Jahrbuch für internationales Recht 18 (1975), 387 ff. 5 Susanne Brinkhoff, Introduction, in: Stephan Hobe/Nicolai von Ruckteschell/David Heffernan (Hrsg.), Cologne Compendium on Air Law in Europe, 2013, Rn. 17. 6 Vertrag über die Grundsätze zur Regelung der Tätigkeiten von Staaten bei der Erforschung und Nutzung des Weltraums, einschließlich des Mondes und anderer Himmelskörper, 27.1.1967, BGBl. 1969 II, 1968. 4

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Es sind also – rechtlich gesprochen – zwei beinahe diametral entgegengesetzte Rechtsordnungen, die uns heute Abend begegnen, und wir wollen sowohl einerseits nach den Gründen hierfür fragen, als auch andererseits ausloten, ob und inwieweit es hier eine gewisse Harmonisierungsnotwendigkeit und auch ein Harmonisierungspotential gibt.

B. Unterschiedliche Nutzungen von Luft- und Weltraum Blicken wir zunächst einmal kurz auf die jeweiligen Nutzungspotentiale von Luft- und Weltraum, so liegen diese für den Luftraum auf der Hand: Mit dem Fliegen beginnt es zaghaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die Deutsche Lufthansa wird im Jahre 1919 wie auch einige andere Fluglinien gegründet, aber so richtig kommerziell beginnt der Flugverkehr dann erst nach dem Zweiten Weltkrieg.7 Beide Weltkriege haben übrigens durch den zunehmend massiven Einsatz von Flugzeugen sehr dazu beigetragen, den Einsatz von Flugzeugen zu popularisieren. Man wird zudem sagen müssen, dass seit ungefähr 15 Jahren noch ein weiterer Schub dadurch eingesetzt hat, dass nämlich das Fliegen zunehmend – durchaus unter massiver Mithilfe der Luftverkehrslinien – den Hauch der Exklusivität verliert und als ein ganz normales Verkehrsmittel darzustellen versucht wird. Ganz anders das Nutzungspotential des Weltraums: Obwohl wenig bekannt, haben wir täglich mit dem Weltraum zu tun, wenn wir uns etwa die Tätigkeit von Telekommunikationssatelliten vor Augen führen und damit auch, dass – jedenfalls in dem Umfang, wie entsprechender satellitärer Empfang im Raume steht – die tägliche Telefonie und auch das Fernsehen satellitengesteuert sein können. Dabei steht unter kommerziellen Gesichtspunkten diese telekommunikations-satellitäre Nutzung immer noch ganz im Mittelpunkt der Weltraumnutzung.8 Es kommen noch zusätzliche Nutzungsformen wie die der Navigationssatelliten9 (Stichwort GPS – Global Positioning System – oder GLONASS oder auch GALILEO10) dazu, und es gibt darüber hinaus – weitgehend im wissenschaftlichen Bereich – Fernerkundungssatelliten (sogenanntes Remote Sensing of the Earth by Satellite). Die Nutzung des Weltraums durch Weltraumstationen11 – die einzige derzeitig genutzte Station ist die International Space Station Freedom in einer niedrigen Erdumlauf7

Brinkhoff (Anm. 5), Rn. 13. Stephan Hobe, The Impact of New Developments on International Space Law (New Actors, Commercialisation, Privatisation, Increase in the Number of “Space-faring Nations”) ULR 15 (2010), 869. 9 Hobe (Anm. 8), 873. 10 Ibid. 11 Ibid. 8

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bahn von 200 km und damit – jedenfalls wenn man wie ich weitsichtig ist – teilweise sogar für das Auge erkennbar – ist freilich ohne erkennbares wirtschaftliches Nutzungspotential, sondern vielmehr wissenschaftszentriert – das mag zukünftig für die in konkreter Planung befindliche chinesische Weltraumstation anders sein. Daneben gibt es zaghafte Ansätze weltraumtouristischer Tätigkeit12 und Startdienste der großen Weltraumnationen – wobei nach dem Ende des ShuttleProgramms die Vereinigten Staaten derzeit eine Privatisierungswelle durchmachen, daneben aber mit Russland, Kasachstan, der Ukraine, Indien und vor allem China andere – teilweise sehr ambitionierte – Weltraummächte parat stehen.13 Das sind die wesentlichen Nutzungen des Weltraums. Eines wird nun vor allem beim Weltraum besonders deutlich, was sich auch in der Diskussion des rechtlichen Regimes des Luftraums in gewisser Weise als relevant erwiesen hat: Viele der Weltraumtechnologien, insbesondere die der Erdbeobachtung – haben trotz ziviler Applikation eine durchaus militärische Komponente – wir sprechen nicht zu Unrecht vom dual use-Charakter mancher Weltraumanwendungen.14 So ist es dann auch im Wesentlichen die militärische Komponente, die von Anfang an die Nutzung des Weltraums maßgeblich mitbestimmt hat und damit auch mitbestimmt hat, ob und inwieweit weltraumrechtliche Gewährleistungen die Völkerrechtsordnung kennzeichneten.15 Der Beginn des modernen Weltraumzeitalters durch den Start des ersten künstlichen Satelliten Sputnik 1 – frühe Versuche der deutschen V 2-Rakete im Zweiten Weltkrieg lassen wir hier einmal unberücksichtigt, indes hat die Person Wernher von Braun, wegen dessen Wirken sowohl unter den Nationalsozialisten als auch später als Begründer des amerikanischen Weltraumprogramms nachhaltige Wirkung gehabt16 – rief geradezu panische Abwehrreaktionen der Vereinigten Staaten von Amerika auf den Plan.17 Dies deshalb, weil damit – wie dann später weiter in provozierender Absicht – durch den Start des ersten Tieres in den Weltraum (die russische Hündin Laika) wie auch des ersten Menschen (Juri Gagarin) jeweils immer durch die Sowjets/Russen – deutlich wurde, dass die damalige Sowjetunion durch die Nutzung von Raketen interkontinentale Kapazität besass und insofern auch der sowjetische Besitz von 12

Hobe (Anm. 8), 870, 874. Hobe (Anm. 8), 872. 14 Hobe (Anm. 8), 879. 15 Walter A. McDougall, The Heavens and the Earth: A Political History of the Space Age, 1985. 16 Michael J. Neufeld, Wernher von Braun: Visionär des Weltraums – Ingenieur des Krieges – Biographie, 1. Aufl. 2007. 17 McDougall (Anm. 15), 263. 13

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Atomwaffen mit nuklearem Zerstörungspotential interkontinentale Dimension hatte.18 Schon zu Beginn des Flugverkehrs war die Frage des Sicherheitsbedürfnisses der Staaten ganz maßgeblich dafür verantwortlich gewesen, dass der Luftraum gerade nicht – wie dies später für den Weltraum gesagt und festgelegt wurde – für alle Staaten frei sein, sondern der ausschließlichen Souveränität des darunter liegenden Staates unterliegen sollte. Heute ist es relativ irrelevant, dass es sozusagen die staatliche Schutzhülle der Souveränität über den Luftraum gibt – denn Satellitenbilder haben eine so hohe Auflösung, dass sie Kriegsszenarien auch aus sehr großen Höhen Eins zu Eins abbilden können. Ihnen allen wird vielleicht bewusst sein, dass die letzten großen bewaffneten Auseinandersetzungen allesamt nicht ohne den Einsatz von Weltraumlenkungswaffen à la GPS bewältigt wurden – bezeichnenderweise ist GPS ja auch eine militärische Anwendung gewesen, die dann später für den allgemeinen Gebrauch „zugelassen“ wurde.

C. Daraus folgende unterschiedliche Rechtsordnungen Die Rechtsordnungen für beide Räume sind also entsprechend völlig unterschiedlich ausgestaltet. I. Rechtsordnung des Luftraums 1. Völkerrecht Für den Luftraum zeichnet sich nach der Pariser Konvention von 191919 das Regime staatlicher Lufthoheit ab,20 welches dann als logische Folge im Wege völkerrechtlicher Abkommen durchlässig gemacht werden musste. Diese Abkommen zu schließen gelang den Staaten nicht auf multilateraler Ebene. Das berühmte grundlegende Abkommen von Chicago von 194421 legt einerseits zwar die staatliche Souveränität über den Luftraum der Staaten fest, schafft es andererseits jedoch 18

McDougall (Anm. 15), 397 ff. Convention relating to the regulation of Aerial Navigation, 13 October 1919, LNTS Vol. 11, 173. 20 Stephan Hobe, Airspace, in: ders./Nicolai von Ruckteschell/David Heffernan (Hrsg.), Cologne Compendium on Air Law in Europe, 2013, Rn. 35, 36. 21 Abkommen über die Internationale Zivilluftfahrt, 7.12.1944, BGBl. 1956 II, 412; Brinkhoff (Anm. 5), Rn. 20 ff. 19

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nicht, in zwei Zusatzabkommen („Air Transit Agreement“22 und „Air Transport Agreement“23) alle wirtschaftlich relevanten Freiheiten der Luft (man spricht von den 8 Freedoms of the Air)24 auch auf multilateraler Ebene festzulegen. Sie sind – bei völkergewohnheitsrechtlicher Geltung des Rechts des Überfluges und der Notlandung (also der ersten beiden Freiheiten) – weiter den speziellen Regelungen bilateraler Luftverkehrsabkommen vorbehalten. So hat jeder Staat eine Fülle solcher bilateraler Luftverkehrsabkommen abgeschlossen, die dazu dienen, mit dem jeweiligen Partnerstaat die Bedingungen der Landung bezüglich der Kapazität der Flugzeuge, des einzusetzenden Luftfahrtgeräts und auch der Tarife, also der Preise für die entsprechenden Flüge festzulegen. Die hier ganz zentrale, das Archaische der luftrechtlichen Ordnung besonders deutlich machende Zentralbestimmung ist aber die sogenannte Eigentümer- und Kontrollklausel25 – bislang immer noch Gegenstand aller bilateraler Luftverkehrsabkommen: Hierin wird festgelegt, dass die jeweiligen Parteien des bilateralen Luftverkehrsabkommens die Vorteile und Früchte, die sie jeweils bilateral ausgehandelt haben, auch zu einem jedenfalls großen Teil – hier schwanken die Quoten zwischen 2/3 (EU) und 3/4 (US) – eigenen Staatsangehörigen zugute kommen lassen wollen – widrigenfalls eine Genehmigung für die den Luftverkehr durchführenden Luftverkehrslinien von der Partnerregierung des bilateralen Luftverkehrsabkommens verweigert werden kann. Auf dieser protektionistischen Grundlage konnte bislang keine wirkliche Liberalisierung des Handels mit den entsprechenden Dienstleistungen eintreten; nicht ohne Grund sind Luftverkehrsdienstleistungen weiterhin von den entsprechenden multilateralen und wirtschaftlichen Abkommen GATT und GATS ausgenommen und stattdessen in einem Plurilateralen Abkommen geregelt.26 2. Europarecht Einzig im Bereich der Europäischen Union ist es zwischen den Unionsstaaten durch eine maßgeblich vom Europäischen Gerichtshof veranlasste Liberalisierung 22

Vereinbarung über den Durchflug im Internationalen Fluglinienverkehr, 7.12.1944, BGBl. 1956 II, 442, 934 (Transitvereinbarung). 23 Vereinbarung über die internationale Luftbeförderung, 7.12.1944, abrufbar unter http://www.transportrecht.de/transportrecht_content/1145516037.pdf (letzter Zugriff am 15.10.2014) (Transportvereinbarung). 24 Hobe (Anm. 20), Rn. 37 ff. 25 Romina Polley, Competition Law, in: Stephan Hobe/Nicolai von Ruckteschell/David Heffernan (Hrsg.), Cologne Compendium on Air Law in Europe, 2013, Rn. 376, 378 ff. 26 Agreement on Trade in Civil Aircraft of 15 April 1994, Annex 4(a) to the WTOAgreement, UNTS, Vol. 1186, 170.

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gelungen, den Luftverkehr als Ausübung einer Dienstleistung an den Freiheiten des gemeinsamen Marktes teilhaben zu lassen und so einen allgemeinen Austausch unter den europäischen Staaten festzulegen.27 Dies geht mittlerweile so weit, dass weitgehend die Europäische Kommission Verhandlungsrechte in vielen Feldern für bilaterale Luftverkehrsabkommen mit Drittstaaten erhalten hat.28 Europa ist jedenfalls für den Bereich des Luftverkehrs zusammengewachsen, was relativ schnell, nämlich in nur 20 Jahren, gelungen ist. Eine Frucht dieser Liberalisierung ist etwa die Tatsache, dass sogenannte Low Cost Carrier und andere ausländische Luftverkehrslinien als ausländische Luftverkehrslinien sogenannte Kabotage-Rechte nutzen, also etwa in Deutschland einen Verkehr von Hamburg nach München durchführen, obwohl sie – ganz entgegen der normalen Symmetrie des an Eigentümer- und Kontrollklauseln orientierten internationalen Luftverkehrs – gar kein nationaler Carrier sind; aber Europa hat durch die entsprechende Liberalisierung diese Entwicklung herbeigeführt.29 Und es ist streitig – sehr streitig sogar –, aber m.E. eine Kernfrage der Rechtsordnung der Zukunft für den Luftverkehr, ob eigentlich eine internationale Liberalisierung à la Europa in diesem Falle anzustreben wäre. Viele sind der Auffassung, dass es für kleine schwache Staaten sehr schädlich wäre, wenn sie nicht über die Eigentümer- und Kontrollklauseln ihre nationalen Luftverkehrslinien schützen könnten.30 Dies sind natürlich alles keine besonders rosigen Perspektiven für jemanden, der eigentlich im Kern an Freihandel glaubt, und dieser Glaube wird ja letztlich dann auch wohl durch den weltwirtschaftlichen Ordnungsrahmen mit GATT und GATS bestärkt. Wenn Sie freilich die derzeitigen Schwierigkeiten betrachten, die fast alle Luftverkehrslinien außer den Low Cost Carriern erfassen, 27

John Balfour, European Community Air Law, 1995. EuGH, Urteile vom 5.11.2002: Rs. C-466/98 – Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Vereinigtes Königreich Grossbritannien und Nordirland, Slg. 2002, I-09427; Rs. C-467/98 – Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Königreich Dänemark, Slg. 2002, I-09519; Rs. C-468/98 – Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Königreich Schweden, Slg. 2002, I-09575; Rs. C-469/98 – Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Republik Finnland, Slg. 2002, I-09627; Rs. C-471/98 – Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Königreich Belgien, Slg. 2002, I09681; Rs. C-472/98 – Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Großherzogtum Luxemburg, Slg. 2002, I-09741; Rs. C-475/98 – Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Republik Österreich, Slg. 2002, I-09797; Rs. C-476/98 – Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Bundesrepublik Deutschland, Slg. 2002, I-09855. 29 Steffen Heyn/Sebastian Roth, Air traffic, in: Stephan Hobe/Nicolai von Ruckteschell/ David Heffernan (Hrsg.), Cologne Compendium on Air Law in Europe, 2013, 351, 474 ff. 30 Nachweise bei Anna Recker, Die Reform des rechtlichen Rahmens für den internationalen Luftverkehr, 2014, 7 ff. 28

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können Ihnen schon Zweifel an dem möglichen Ziel einer immer weitergehenden Liberalisierung ggf. auch weltweit kommen. Im europäischen Luftraum selbst vollzieht sich dann seit etwa 10 Jahren etwas Erstaunliches: Um eine einheitliche Überwachung von Flugzeugen im europäischen Luftraum zu gewährleisten, werden die Staaten angehalten, insgesamt acht sogenannte „funktionale Luftraumblöcke“ (FABs) zu schaffen.31 Im Wege von völkerrechtlichen Verträgen schließen sich die Staaten zusammen bzw. schließen die Nutzung ihrer Lufträume zusammen, was in interessanter Weise die staatliche Souveränitätsausübung über den Luftraum modifiziert.32 3. Sonderfragen Und um schließlich die Rechtsordnung im Luftraum abschließend zu beschreiben, gibt es dort angesichts terroristischer Bedrohung internationale luftstrafrechtliche Abkommen33 – meistens Abkommen zur Verhinderung bzw. Sanktionierung von Flugzeugentführungen, die alle nicht mit der Katastrophe des 11. September gerechnet hatten – dazu sogleich noch. Es gibt zudem luftrechtliches Privatrecht durch das Warschauer Abkommen von 192934 in seiner novellierten Form des Montrealer Übereinkommens von 1999,35 wo im Wesentlichen die vertragliche 31

Exemplarisch geschildert für den Functional Air Space Block Europe Central (FABEC) bei Kathrin Bethkenhagen/Dieter von Elm/Dirk Nitschke, Der Staatsvertrag zur Errichtung des Funktionalen Luftraumblocks „Europe Central“ (FABEC), ZLW 60 (2011), 412. 32 Micha-Manuel Bues, Der „Single European Sky“, 2012. 33 Vgl. Convention on Offences and Certain Other Acts Committed On Board Aircraft of 14 September 1963, UNTS Vol. 704, 219 (Tokyo Convention); Convention for the Suppression of Unlawful Seizure of Aircraft of 16 December 1970, UNTS Vol. 860, 105 (The Hague Convention); Convention on the Suppression of Unlawful Acts relating to International Civil Aviation, abrufbar unter http://cil.nus.edu.sg/rp/il/pdf/2010%20 Convention%20on%20the%20SUA%20Relating%20to%20International%20Civil%20A viation-pdf.pdf (letzter Zugriff am 15.10.2014) (Beijing Convention 2010 – not yet in force); Protocol supplementary to the Convention for the Suppression of unlawful seizure of aircraft, abrufbar unter http://cil.nus.edu.sg/rp/il/pdf/2010%20Protocol%20 Supplementary%20to%201970%20Hague%20Convention-pdf.pdf (letzter Zugriff am 15.10.2014) (Beijing Protocol 2010 – not yet in force). 34 Convention for the Unification of Certain Rules Relating to International Carriage by Air of 12 October 1929, LNTS Vol. 137, 11 (Warsaw Convention – Warschauer Abkommen). 35 Convention for the Unification of Certain Rules for International Carriage by Air of 28 May 1999, UNTS Vol. 2242, 309 (Montreal Convention – Montrealer Übereinkommen).

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Haftung des Luftverkehrsbeförderers geregelt ist. Hier steht dann im Einzelnen geschrieben, was Sie alles hoffentlich noch nicht erlebt haben, dass nämlich gewisse Sanktionen fällig sind, wenn Gepäck nicht den Ankunftsort erreicht, ein Passagier sehr verspätet ist oder sich bei der Nutzung des Luftfahrzeugs verletzt – an Schlimmeres wollen wir zunächst nicht denken, obwohl dies natürlich auch in den Haftungsregeln steht. Was schließlich höchst kontrovers diskutiert wird und zu zwei noch nicht in Kraft befindlichen Konventionen36 geführt hat, ist die sogenannte völkerrechtliche Dritthaftung des Luftverkehrsbeförderers, also die Frage der möglichen Entschädigung eines Opfers, welches keinen konkreten Beförderungsvertrag mit der ihn schädigenden Luftverkehrslinie hat. Internationale Vereinbarungen sind entsprechend relativ wenig erfolgreich gewesen. Man hatte sich gerade 2001 angesichts des großen Erfolges des soeben erwähnten Montrealer Übereinkommens von 1999 dazu entschlossen, hier nun den großen Wurf zu wagen, als der 11. September 2001 dieses zentrale Feld und die Diskussion darüber vollständig besetzt hat. Denn typischerweise symbolisieren terroristische Risiken eigentlich externe Eingriffe in den Luftverkehr – alle Opfer in den Twin Towers hatten natürlich keine Verträge mit den in die Twin Towers rasenden Flugzeugen von United Airlines geschlossen – und insofern stellen sich Fragen der Risikotragung für den Missbrauch von Flugzeugen durch internationalen Terrorismus. Dies ist nur mäßig Erfolg heischend gelungen, man hat insgesamt unter Aufspaltung der Rechtsinstrumente in eine allgemeine Haftungsrisikokonvention und eine Konvention gegen terroristische Risiken einen Fonds für den letzteren Bereich eingerichtet und versucht, hier eine Stufenhaftung einzuführen. Experten sind sich darüber einig, dass entsprechend die beiden Konventionen, also ein allgemeines Betriebsrisikoabkommen und das Terrorrisikoabkommen aller Voraussicht nach niemals in Kraft treten werden.37 Es bleibt insofern wohl auch weiter bei den nationalen Entschädigungsregelungen.

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Convention on Compensation for Damage Caused by Aircraft to Third Parties, Montreal, 2009, abrufbar unter http://cil.nus.edu.sg/rp/il/pdf/2009%20Convention%20on% 20Compensation%20for%20Damage%20Caused%20by%20Aircraft%20to%20Third%20 Parties-pdf.pdf (letzter Zugriff am 15.10.2014) (not in force); Convention on Compensation for Damage to Third Parties resulting from Acts of Unlawful Interference Involving Aircraft, Montreal 2009, abrufbar unter http://cil.nus.edu.sg/rp/il/pdf/2009%20 Convention%20for%20Damage%20to%203rd%20Parties%20from%20Acts% 20of%20Unlawful%20Interference%20Involving%20Aircraft-pdf.pdf letzter Zugriff am 15.10.2014) (not in force). 37 Siehe dazu demnächst Kristina Moll-Osthoff, Die Neuregelung der Haftung für Schäden Dritter im internationalen Luftverkehr, erscheint 2014.

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II. Rechtsordnung des Weltraums 1. Völkerrecht Kehren wir zur Rechtsordnung für Weltraumaktivitäten zurück – kodifiziert weitgehend zwischen 1967 und 197938 – so ist neben der statusprägenden Norm des Artikels II des Weltraumvertrages, der die Aneignung von Territorium im Weltraum und vor allem auch auf Himmelskörpern untersagt, vor allem die Garantie der Forschungs- und Nutzungsfreiheit im Weltraum wesentlich, wobei hier – relativ undeutlich – Artikel I Abs. 1 des Weltraumvertrages davon spricht, dass die Erforschung und Nutzung des Weltraums „zum Wohle der gesamten Menschheit“ durchzuführen seien. Erstmals hat der früher hier in Kiel lehrende Kollege Rüdiger Wolfrum – heute emeritierter Direktor am Heidelberger Max-Planck-Institut – die sehr zutreffende Auffassung vertreten, dass durch diese sogenannte Staatengemeinschaftsklausel die jedenfalls exklusive Nutzung des Weltraums, als allein an eigenstaatlichen Interessen orientiert, untersagt ist.39 Mehr an Restriktionen wird man hier aber kaum hineinlesen können, insbesondere fehlt es der gesamten weltraumrechtlichen Grundordnung an jeder Form von Institutionalisierung, wie sie durch die Installation der Meeresbodenbehörde etwa so kennzeichnend ist für das Tiefseebergbauregime. Das von manchen immer wieder beklagte völkerrechtliche Umverteilungsszenario, etwa durch den Mondvertrag40 mit seiner Konzeption des „Common Heritage of Mankind“, ist insofern ein Hirngespinst.41 Die weltraumrechtliche Grundordnung kennt zudem Grundsätze der Registrierung von Weltraumgegenständen, dies weiter spezifiziert im internationalen Registrierungsübereinkommen von 1975,42 und der Haftung – hier mit einem sehr fortschrittlichen völkerrechtlichen Haftungsregime für Schäden durch Weltraumobjekte auf der Erde, insbesondere ausgearbeitet im internationalen Haftungsabkommen von 197243, das den Grundsatz der Gefährdungshaftung für Schäden, 38 Zur frühen doktrinären rechtlichen Befassung mit der Rechtsordnung des Weltraums, siehe Stephan Hobe (Hrsg.), Pioneers of Space Law, 2013. 39 Rüdiger Wolfrum, Die Internationalisierung staatsfreier Räume, 1984, 269 ff. 40 Agreement governing the activities of States on the moon and other celestial bodies of 5 December 1979, UNTS Vol. 1363, 3. 41 Siehe dazu Stephan Hobe, The Moon Agreement – Let’s use the Chance!, ZLW 59 (2010), 372. 42 Siehe dazu die Kommentierung von Bernhard Schmidt-Tedd et al., The 1975 Convention on Registration of Objects Launched into Outer Space (REG), in: Stephan Hobe/ Bernhard Schmidt-Tedd/Kai-Uwe Schrogl (Hrsg.), Cologne Commentary on Space Law, Vol. II, 2013, 227, wo auch das Übereinkommen abgedruckt ist. 43 Übereinkommen über die völkerrechtliche Haftung für Schäden durch Weltraumgegenstände, 29.3.1972, BGBl. 1975 II, 1210.

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die ein Weltraumobjekt auf der Erde hervorruft, stipuliert, sowie eine Schuldhaftung bei einem Unfall zwischen zwei Weltraumobjekten. Sie kennt schließlich den Grundsatz, dass private Weltraumaktivitäten nur aufgrund staatlicher Lizensierung durchgeführt werden, aber insgesamt durchaus erlaubt sind (Art. VI des Weltraumvertrages), Ansätze eines Regimes des Umweltschutzes in Artikel IX des Weltraumvertrages und zudem eine äußerst löchrige und von den Großmächten der damaligen Zeit (USA und UdSSR) bewusst so formulierte Vorschrift des Artikels IV des Weltraumvertrages, die nur in Ansätzen die Demilitarisierung des Weltraums – aber immerhin in größerem Umfang die Demilitarisierung der Himmelskörper – vorsieht.44 Nein, die Weltraummächte wollten sich die Nutzung des Weltraums zu militärstrategischen Zwecken offen halten. Und es ist kein Wunder, dass alle fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates nicht nur Atommächte sind, sondern auch über Weltraumkapazität verfügen. 2. Europarecht Hat, wie wir gesehen haben, im Luftrecht das Europarecht durch die vollzogene Liberalisierung geradezu in fortschrittlicher marktherstellender Weise gegriffen, so ist dies im Weltraumrecht angesichts eines sehr viel geringeren Kommerzialisierungspotentials – Europarecht ist ja zu einem Großteil Wirtschaftsrecht – derzeit nur in Ansätzen der Fall. Dies hängt damit zusammen, dass die völkerrechtliche Natur auch der Weltraumaktivitäten und deren rechtliche Beschreibung auch von Anbeginn der Aktivitäten im europäischen Rahmen dominierend war. Denn diese Ansätze zur gemeinsamen, weil finanzielle Ressourcen schonenden Erforschung und Nutzung des Weltraums in Europa gab es von Anfang an auf eher völkerrechtlicher Basis. Es wurde eine durch Zusammenschluss der European Launcher Development Organisation und der European Space Research Organisation geschaffene internationale Organisation, die European Space Agency (ESA) mit Sitz in Paris ins Leben gerufen.45 Diese Organisation hat verschiedene Zentren in ganz Europa – unter anderem ein europäisches Satellitenbeobachtungszentrum in Darmstadt – und das Astronautenzentrum in Köln und funktioniert auf rein völkerrechtlicher Ebene.

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Dazu Sergio Marchisio, Art. IV Outer Space Treaty, in: Stephan Hobe/Bernhard Schmidt-Tedd/Kai-Uwe Schrogl (Hrsg.), Cologne Commentary on Space Law, Vol. I, 2009, 70. 45 Übereinkommen zur Gründung einer Europäischen Weltraumorganisation, 30.5.1975, BGBl. 1976 II, 1862; zur ESA siehe u.a. Mathias Spude, Integrierte Zusammenarbeit: Die Europäische Weltraumorganisation ESA, in: Karl-Heinz Böckstiegel (Hrsg.), Handbuch des Weltraumrechts, 1991, 667.

Die unterschiedlichen Rechtsordnungen für Luft- und Weltraum

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Letztlich zu industriepolitischen Zwecken geschaffen – es kommt nämlich zentral darauf an, bestehende Forschungs- und Nutzungszentren für Weltraum als hochrangigen Industriezweig zu erhalten und dies über Auftragsvergabe auf europäischer Ebene indirekt auch staatlicherseits sicher zu stellen – war es allerdings insbesondere das europäische Satellitennavigationsprojekt GALILEO, an welchem die Europäische Union Interesse bekundet hatte, was dann eine gewisse Rivalität zwischen der Europäischen Union und der europäischen Weltraumagentur ESA zutage gefördert hat.46 Die Rivalität ist bis heute nicht überwunden, wird aber zu kanalisieren versucht, wobei die Ansätze der beiden europäischen Institutionen sehr unterschiedlich sind.

D. Gemeinsamkeiten und Unterschiede Was sind nun Gemeinsamkeiten und Unterschiede, und wo sind die Perspektiven – gibt es ggf. eine Harmonisierungsnotwendigkeit und ein gewisses Harmonisierungspotential zwischen den beiden Rechtsordnungen für Luft- und Weltraum, so wollen wir zum Abschluss fragen. Derzeit überwiegen die Unterschiede: Eine sich durch ein hohes Nutzungspotential auszeichnende Luftverkehrsrechtsordnung kontrastiert mit einer vergleichsweise noch relativ wenig weit ausdifferenzierten Weltraumrechtsordnung. Das Kommerzialisierungspotential ist im Luftraum weitaus höher als im Weltraum. Entsprechend gibt es auch die Ausprägung einer internationalen zivilrechtlichen Nutzungsordnung für den Flugverkehr, die es im Weltraum bislang nicht gibt. Sollte aber dereinst einmal etwa Transport durch Raketen denkbar werden, wird sich natürlich die Notwendigkeit ergeben, hier auch zu Rechtsnormierungen des Zivilrechts und des Internationalen Privatrechts zu kommen. Die Gehversuche etlicher Projekte weltraumtouristischer Aktivitäten sind hier wichtige erste Anzeichen. Die Lösung des Luftrechts, für die militärische Nutzung des Luftraums Sperrgebiete vorzuhalten, wird im Weltraum wegen praktischer Undurchführbarkeit auch rechtlich nicht in Anspruch genommen. Die militärische Nutzung ist also, schaut man hinter die Formulierung der dieses verdeckenden Formel des Artikels IV des Weltraumvertrages, grundsätzlich für den, der es kann, erlaubt – spezifische Diskussionen über Beschränkungen laufen nicht im allgemeinen weltraumrechtlichen Kontext, sondern in den Abrüstungsdialogen der Staaten. Zuständig ist für die Abrüstungsfragen deshalb im Wesentlichen nicht der ansons-

46 Stephan Hobe/Katharina Kunzmann/Thomas Reuter, Rechtliche Rahmenbedingungen einer zukünftigen kohärenten Struktur der europäischen Raumfahrt, 2006.

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ten zuständige Weltraumausschuss der Vereinten Nationen mit Sitz in Wien, sondern die Disarmament Conference in Genf. Ein großes gemeinsames Ziel wird allerdings am Horizont immer deutlicher erkennbar: Es ist die für so viele Nutzer drängender werdende Frage der Bedrohung der Nutzungsmöglichkeiten durch die immer gravierendere Beeinträchtigung der Umwelt. Für den Luftraum ist unlängst die Europäische Union vorangegangen, indem sie den Luftverkehr dem Kyoto-Protokoll unterstellt hat und für den Einflug in den Luftraum der Europäischen Union bzw. bereits die Wege dahin gewisse umweltrelevante Abgaben nach dem Kyoto-Protokoll verlangt.47 Dabei soll es wohl 2014 oder 2015 zum Schwur kommen, weil dann erstmals von den europäischen Luftraum durch An- und Abflug nutzenden Luftverkehrslinien Verschmutzungszertifikate erworben werden müssen, die USA, China und einige andere Staaten indes ihren Luftverkehrslinien die Teilnahme an diesem Zertifikate-Handel untersagt haben. Dies alles ist streitbefangen. Obwohl der Europäische Gerichtshof hier keine extraterritoriale Wirkung dieses europäischen Regimes erkennen will,48 weigern sich also etliche Luftverkehrslinien, sich dem European Emission Trade System (ETS) zu unterwerfen. Tatsache ist hier, ohne dass wir uns in Einzelheiten verlieren wollen, dass zunehmend Maßnahmen ergriffen werden, um den Luftraum reiner zu machen. Und analog dazu gibt es erste, immer deutlicher werdende Ansätze, die zunehmende Verschmutzung der attraktiven Umlaufbahnen um die Erde, mit dem sogenannten Weltraumschrott (space debris) durch verschiedenste Maßnahmen einzuschränken.49 Das Recht sieht sich hier vor das große Problem gestellt, dass die Produktion von Weltraummüll bisher in keiner Weise sanktioniert war, also eine erlaubte Tätigkeit ist. Es entsteht hier also die völkerrechtlich sehr interessante Situation einer möglichen Haftung für erlaubtes Handeln. Die internationale Gemeinschaft ist zunehmend dabei, zunächst Regeln für die Vermeidung von Weltraummüll zu entwickeln und sodann – unter maßgeblicher Anteilnahme meines Instituts – Regeln zu entwickeln, die zur Rückholung von Weltraumschrott rechtlich verpflichten sollen, und wird dabei dann auch die Produktion von Weltraummüll als eine verbotene Tätigkeit charakterisieren müssen. 47 Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott vom 6.10.2011, Rs. C-366/10 – Air Transport Association of America and Others. 48 EuGH, Urteil vom 21.12.2011, Rs. C-366/10 – Air Transport Association of America and Others, Slg. 2011, I-13755. 49 Vgl. UN Office for Outer Space Affairs, Space Debris Mitigation Guidelines of the Committee on the Peaceful Uses of Outer Space,Official Records of the General Assembly, Sixty-second Session, Supplement No. 20 (A/62/20), Annex, auch abrufbar unter http:// www.iadc-online.org/References/Docu/Space_Debris_Mitigation_Guidelines_COPUOS. pdf (letzter Zugriff am 15.10.2014).

Die unterschiedlichen Rechtsordnungen für Luft- und Weltraum

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Sie sehen also, hier gibt es eine große Übereinstimmung zwischen Luft- und Weltraum, was rechtstheoretisch wohl im Wesentlichen darauf zurückzuführen ist, dass es sich bei der Umwelt selbst um ein globales öffentliches Gut handelt, das zu bewahren im Interesse der gesamten Menschheit besteht. Dem werden die Ansätze im Luft- und Weltraumrecht mittlerweile jedenfalls ansatzweise gerecht.

E. Ausblick Abschließend möchte ich noch einmal betonen, wie frappierend es ist, dass es bis heute keine wirkliche Abgrenzung – Grenzen sind ja immer auch normative Festlegungen – zwischen Luft- und Weltraum gibt. Es wird allerdings im UN Weltraumausschuss seit Beginn der Weltraumfahrt, also seit über 50 Jahren diskutiert, wo eine solche Grenze möglicherweise liegen könnte50 – das Ergebnis bleibt das Gleiche, man kann sich nicht einigen. Irgendwo zwischen 80 und 120 Kilometern über dem Meeresspiegel soll diese entsprechende Grenze liegen – man kann auch sagen, dort, wohin ein Flugzeug höchstens aufsteigen kann und ein Satellit niedrigsten Falls hinfliegen kann, sei diese Grenze ggf. zu verorten.51 Ob es wirklich noch eine praktische Relevanz dieser Frage gibt, mag deshalb dahinstehen, weil, wie ich hoffe, deutlich geworden ist, militärstrategische Fragen, die bisher an der Lösung der Grenzziehungsfrage hinderten, heute praktisch keine Rolle mehr spielen. Zusammenfassend bleibt damit festzuhalten, dass trotz verschiedener Kommerzialisierung und recht divergierender Rechtsentwicklung, basierend auf den jeweiligen menschlichen Bedürfnissen, wir heute eine recht umfassende Rechtsordnung für den Luftraum vorfinden, während für den Weltraum, bei insgesamt kürzerer und auch weniger intensiver kommerzieller Nutzung erst ein wirkliches Einsetzen einer stärkeren privaten Nutzung auch eine höhere normative Verdichtung der Nutzungsordnung mit sich bringen dürfte. Dass die verbindende Klammer die umweltrechtlichen Bestimmungen wie in fast allen anderen Raumordnungen des Völkerrechts sein könnte – Ihr nächstes Referat über die Antarktis wird das ja wohl ebenfalls zeigen – ist kennzeichnend und spricht für die zunehmende Bedeutung der Umwelt und des Umweltrechts in den verschiedenen Raumordnungen des Völkerrechts. Dass hier jedenfalls mittlerweile richtige Fragen gestellt und erste Antworten gegeben werden, stimmt einigermaßen hoffnungsvoll. 50

Siehe etwa der Tagesordnungspunkt V 67 der Sitzung (2013) des Rechtsunterausschusses des Weltraumausschusses, Report of the Legal Subcommittee on its fifty-second session, held in Vienna from 8 to 19 April 2013 (UN Doc. A/AC.105/1045), para. 12. 51 Zu den Abgrenzungstheorien vgl. Francis Lyall/Paul B. Larsen, Space Law – A Treatise, 2009, 153 ff.

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So ist insgesamt auch festzuhalten, dass das Recht für beide Räume eine sehr konstruktive, die Erforschung und Nutzung begleitende Rolle gespielt hat. Dieses an dem Ort feststellen zu können, an dem ich gelernt habe, dass nicht nur „pax optima rerum“ ist, sondern „Frieden durch Recht“ unser oberstes normatives Leitmotiv sein sollte, ist eigentlich ein ganz beglückendes Fazit.

Die Antarktis – ein Kontinent jenseits der Souveränität Von Sönke Lorenz*

A. Einleitung 14 Millionen Quadratmeter ist sie groß, die Antarktis. Damit ist sie größer als die USA und Indien zusammen und 40 % größer als Europa. Ihre Landmasse ist fast völlig von einem Eispanzer bedeckt. Er ist durchschnittlich 2 km dick und gleitet vom Zentrum zu den Rändern ins Meer (Schelfeis). Die Antarktis ist von einem Gebirge durchzogen. Der höchste Berg ist der Mount Erebus, ein aktiver Vulkan von 3.794 m Höhe. Nach ihrer Abspaltung vom Urkontinent Pangäa verlagerte sich die Antarktis zum Südpol, wo sie seit 20 Millionen Jahren liegt. Die Antarktis ist ein extrem kalter Kontinent. Auf dem Polarplateau herrscht eine Jahresdurchschnittstemperatur von -55° C. An den eisfreien Küstengebieten werden im Südsommer -18° C bis 0° C gemessen. Die tiefste jemals gemessene Temperatur war -89° C. Die Antarktis ist auch ein extrem windiger Kontinent. In ihrem Innern werden häufig Windgeschwindigkeiten von über 250 km/h gemessen. Angesichts dieser harschen Klimaverhältnisse erstaunt es nicht, dass es in der Antarktis keine menschlichen Ureinwohner gegeben hat. Allerdings kommen heute nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Touristen. In der Saison 2012/2013 waren es etwa 34.300, und in der Saison 2013/2014 sollen es etwa 35.300 werden, schätzt die Internationale Vereinigung von Antarktistour-Operateuren (IAATO).1 Im Vergleich dazu halten sich nicht viele Wissenschaftler in der Antarktis auf. Im Südwinter sind es etwa 1.000, im Südsommer etwa 4.000, in etwa 85 Forschungsstationen. Die Vegetation ist spärlich: Es kommen Moose, Algen, Flechten und zwei Blütenpflanzen vor, die Antarktische Schmiele und die Antarktische Pestwurz. An Land leben Robben, Pinguine und Seevögel, im Meer Wale, Fische und Krill (eine Garnelenart).

* Der nachfolgende Beitrag gibt ausschließlich die persönliche Auffassung des Verfassers wieder. 1 Webseite abrufbar unter www.iaato.org (letzter Zugriff am 8.10.2014).

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B. Völkerrechtlicher Raum Der Antarktisvertrag von 19592 enthält zwar keine Definition des völkerrechtlichen Raums der Antarktis, legt aber in seinem Artikel VI fest, wo der Vertrag gelten soll: Dieser Vertrag gilt für das Gebiet südlich von 60° südlicher Breite einschließlich aller Eisbänke, jedoch lässt dieser Vertrag die Rechte oder die Ausübung der Rechte eines Staats nach dem Völkerrecht in Bezug auf die Hohe See in jenem Gebiet unberührt.

Zu den 14 Millionen Quadratkilometern Landmasse kommen also noch 20,3 Millionen Quadratkilometer Meeresfläche dazu, der „Südliche Ozean“. Damit macht das Vertragsgebiet 6,7 % der Erdoberfläche aus. I. Wem gehört die Landmasse der Antarktis? Artikel IV Absatz 1 des Antarktisvertrags zeigt auf, welche widerstreitenden Interessen bei den Vertragsverhandlungen bestanden haben. Die Lösung besteht darin, dass diese Interessen fortbestehen, ohne dass über sie entschieden würde, weil keine Partei zu einem Rechtsverzicht bereit war. Die Unterzeichnerstaaten wahren ihre divergierenden Positionen, ohne dass sie Maßnahmen ergreifen müssten, um sie zu erhalten, so lange der Antarktisvertrag in Kraft ist (unbefristet). Artikel IV Absatz 1 des Antarktisvertrages nimmt insgesamt drei Klarstellungen vor, wie der Vertrag nicht auszulegen ist. Er hat folgenden Wortlaut: „Dieser Vertrag ist nicht so auszulegen, a) ‚als stelle er einen Verzicht einer Vertragspartei auf vorher geltend gemachte Rechte oder Ansprüche auf Gebietshoheit in der Antarktis dar;‘ Diese Formulierung sichert die Interessen der Vertragsstaaten, die in der Antarktis Gebietsansprüche erheben: Argentinien, Chile, Australien, Neuseeland, Frankreich, Norwegen und das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland.3 Diese Staaten begründen ihre Ansprüche auf verschiedene Art.4 Einige führen als Rechtsnachfolger der spanischen Krone historische Rechte an: Im Vertrag von Tordesillas von 1494 habe der Papst die noch nicht bekannte Erde zwischen Spanien und Portugal aufgeteilt.5 Andere berufen sich auf die Ent2

Antarktis-Vertrag vom 1.12.1959, BGBl. 1978 II, 1518. Vgl. Emilio J. Sahurie, The International Law of Antarctica, 1992, 193. 4 Die meisten betroffenen Staaten haben sich über die Zeit hinweg auf verschiedene Rechtsgründe berufen. Es würde für diese Darstellung zu weit führen, dies im Detail darzustellen. 5 Sahurie (Anm. 3), 200 ff. 3

Die Antarktis – ein Kontinent jenseits der Souveränität

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deckung,6 Erforschung und kartografische Vermessung7 der Antarktis durch ihre Landsleute. Näher an heutigen Völkerrechtsüberzeugungen liegt die Behauptung effektiver Inbesitznahme durch die Beherrschung eines Gebiets. Nach der weiten Okkupationstheorie bedarf es dazu einer permanenten Verwaltungstätigkeit.8 Die enge Okkupationstheorie setzt dagegen eine permanente Besiedlung voraus.9 Auf ihre geographische Nähe zur Antarktis setzen einige Gebietsansprüche erhebende Staaten (Kontiguitätstheorie).10 Die Grenzziehung untereinander soll danach durch eine Verlängerung der Längengrade bis zum Südpol erfolgen (Sektorentheorie).11 Schließlich wird die Kontinuitätstheorie vertreten, nach der Antarktisgebiete zu dem Staat gehören, dessen natürliche geographische Fortsetzung sie bildeten.12 Artikel IV Absatz 1 des Antarktisvertrages fährt fort, dass er auch nicht so auszulegen sei, b) ‚als stelle er einen vollständigen oder teilweisen Verzicht einer Vertragspartei auf die Grundlage eines Anspruchs auf Gebietshoheit in der Antarktis dar, die sich aus ihrer Tätigkeit oder derjenigen ihrer Staatsangehörigen in der Antarktis oder auf andere Weise ergeben könnte‘. Mit diesem Wortlaut sicherten die Vereinigten Staaten von Amerika13 und die damalige Sowjetunion,14 die zwar keine Gebietsansprüche erheben, aber behaupten, dafür möglicherweise eine Grundlage zu haben, ihre Interessen ab. Dabei berufen sie sich einerseits auf die Entdeckung, Erforschung und kartografische Vermessung durch Landsleute, andererseits auf effektive Inbesitznahme durch permanente Besiedlung.15 Nach Artikel IV Absatz 1 a) und b) des Antarktisvertrages ist der Erwerb von Gebietshoheit in der Antarktis grundsätzlich möglich und folgt den Regeln des allgemeinen Völkerrechts. Die Norm nimmt aber noch eine dritte Einschränkung vor. Der Antarktisvertrag sei nicht so auszulegen,

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Sahurie (Anm. 3), 226 ff. Sahurie (Anm. 3), 248 ff. 8 Vgl. Sahurie (Anm. 3), 260 ff.; Rüdiger Wolfrum, Die Internationalisierung staatsfreier Räume, 1984, 45. 9 Vgl. Sahurie (Anm. 3), 277 ff.; Wolfrum (Anm. 8), 45. 10 Sahurie (Anm. 3), 310 ff.; Wolfrum (Anm. 8), 46 ff. 11 Sahurie (Anm. 3), 314 ff.; Wolfrum (Anm. 8), 47 ff. 12 Sahurie (Anm. 3), 319 ff. (Argentinien, Chile); Wolfrum (Anm. 8), 48. 13 Wolfrum (Anm. 8), 42. 14 Wolfrum (Anm. 8), 43. 15 Vgl. Wolfrum (Anm. 8), 42 ff. 7

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c) ‚als greife er der Haltung einer Vertragspartei hinsichtlich ihrer Anerkennung oder Nichtanerkennung des Rechts oder Anspruchs oder der Grundlage für den Anspruch eines anderen Staats auf Gebietshoheit in der Antarktis vor‘. Dieser Wortlaut wahrt die Interessen von Belgien, Japan und Südafrika.16 Den drei Staaten ist gemein, dass sie keine Gebietsansprüche in der Antarktis erheben.17 Diese Haltung nimmt auch die Bundesregierung ein. Darüber hinaus erkennt Deutschland aber generell Rechte oder Gebietsansprüche in der Antarktis nicht an. Die Antarktis ist danach ein staatsfreier Raum. Staatsfreie Räume definiert Wolfrum als Gebiete, „in denen verschiedene nationale Rechtsordnungen nebeneinander und konkurrierend Anwendung finden, während ein einheitliches territorial bezogenes, damit allgemeingültiges Rechtssystem ebenso fehlt wie eine Distributionsordnung bezüglich der dort befindlichen Ressourcen“.18 Diese Definition entspricht der Situation, wie sie bis heute in der Antarktis vorzufinden ist. Artikel IV Absatz 2 des Antarktisvertrags bestimmt, dass während der Geltungsdauer des Antarktisvertrags keine neuen Grundlagen für Gebietsansprüche geschaffen werden können. Das bedeutet auch, dass für diejenige Fläche der Antarktis, die frei von Gebietsansprüchen ist, solche nicht erhoben werden können. II. Strategische Interessen in der Antarktis in den 1950er Jahren Es überrascht zunächst, dass es mitten im „Kalten Krieg“ den damals in der Antarktis engagierten Staaten gelungen ist, Einigung über den Status der Antarktis zu erzielen. Bei näherem Hinsehen zeigt sich aber, dass dadurch in erster Linie die Interessen der damaligen Supermächte Vereinigte Staaten und Sowjetunion befriedigt wurden. Die Vereinigten Staaten wollten den freien Zugang zur Antarktis für Forschung und internationale Zusammenarbeit vertraglich absichern.19 Hinzu kam ihr strategisches Interesse, eine militärische Nutzung der Antarktis durch die Sowjetunion zu verhindern, und nicht in den Streit zwischen dem Vereinigten Königreich, Argentinien und Chile um Gebietsansprüche hineingezogen zu werden.20 Die Sowjetunion verfolgte hingegen das Ziel der Gleichberechtigung mit den Vereinigten Staaten.21 Diesem Ziel wäre es nicht zuträglich gewesen, wenn die Statusfrage der Antarktis im Rahmen der Vereinten Nationen geklärt worden wäre. 16 17 18 19 20 21

Wolfrum (Anm. 8), 36. Ibid. Wolfrum (Anm. 8), 28. Wolfrum (Anm. 8), 56. Wolfrum (Anm. 8), 56, 57. Sahurie (Anm. 3), 42.

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Auf dem Weg zum Antarktisvertrag spielte die internationale wissenschaftliche Zusammenarbeit eine besondere Rolle. 1957/1958 organisierte ein privater Zusammenschluss von Wissenschaftlern, der „International Council of Scientific Unions“, das „Internationale Geophysikalische Jahr“.22 Dieser Zusammenschluss wurde als unpolitisch angesehen, und seine Aktivitäten boten keine Grundlage für Gebietsansprüche. In der Antarktis beteiligten sich Wissenschaftler aus den 12 Staaten, die später zu den Unterzeichnerstaaten des Antarktisvertrags zählten. Am Ende des Geophysikalischen Jahrs gründeten sie den Wissenschaftlichen Ausschuss für Antarktisforschung („Special Committee on Antarctic Research“ SCAR),23 der bis heute dem Austausch wissenschaftlicher Erkenntnisse in der Antarktis dient.24 Die Vereinigten Staaten übernahmen am Ende des Jahres die Einladung zur Washingtoner Antarktiskonferenz, die vom 15. Oktober bis zum 1. Dezember 1959 tagte. Der Antarktisvertrag ist am 23. Juni 1961 in Kraft getreten.25

C. Grundsätze des Antarktisvertrags und Antarktisvertragssystem Drei Grundsätze tragen den Antarktisvertrag. Die Antarktis soll nur für friedliche Zwecke genutzt werden (Demilitarisierung, Artikel I; Verbot von Kernexplosionen, Artikel V). In der Antarktis soll wissenschaftliche Forschungsfreiheit bestehen (Artikel II und III), und die internationale wissenschaftliche Forschung und Zusammenarbeit sollen erleichtert werden (Artikel IX Absatz 1 lit. b und lit. c). Schließlich sollen die lebenden Schätze erhalten und geschützt werden (Artikel IX Absatz 1 lit. f) und kein radioaktiver Abfall im Vertragsgebiet beseitigt werden (Artikel V). Die genannten Grundsätze werden durch weitere internationale Vereinbarungen und völkerrechtliche Verträge verwirklicht, welche die Rechtsgrundlage für eine Reihe von Institutionen bilden. Zunächst soll auf diese Vereinbarungen bzw. Verträge eingegangen werden, um im Anschluss daran die von ihnen geschaffenen Einrichtungen darzulegen. Der Antarktisvertrag bildet zusammen mit den weiteren Vereinbarungen bzw. Verträgen und den von ihnen ins Leben gerufenen Einrichtungen ein kohärentes Geflecht von Rechtsgrundlagen, das sogenannte Antarktisvertragssystem. 22

Wolfrum (Anm. 8), 55. Wolfrum (Anm. 8), 55. 24 Inzwischen umbenannt in „Scientific Committee on Antarctic Research“, abrufbar unter http://www.scar.org/ (letzter Zugriff am 8.10.2014). 25 Vgl. die Angabe in der Datenbank der United Nations Treaty Series, abrufbar unter https://treaties.un.org/Pages/showDetails.aspx?objid=0800000280136dbc (letzter Zugriff am 8.10.2014). 23

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I. Vereinbarungen und Verträge des Antarktisvertragssystems 1. Der Antarktisvertrag wird gemäß Artikel IX Absatz 1 durch sogenannte „Maßnahmen“ („measures“) ausgeführt, die nach ihrer Inkraftsetzung durch alle Antarktisvertragsstaaten mit Konsultativstatus (siehe Artikel IX Absatz 4) rechtsverbindlich werden.26 Die Vertreter der Antarktisvertragsstaaten mit Konsultativstatus beschließen die Maßnahmen während ihrer jährlichen Konsultativtagungen, Art. IX Absatz 1 Antarktisvertrag. Vor 1995 wurden diese „Maßnahmen“ als „Empfehlungen“ („recommendations“) bezeichnet.27 „Entschließungen“ („decisions“) und „Resolutionen“ („resolutions“) sind dagegen nicht rechtsverbindlich. 2. Das Übereinkommen zur Erhaltung der antarktischen Robben (Convention for the Conservation of Antarctic Seals) von 1972 dient dem Schutz der Robben im Vertragsgebiet.28 Dieses Übereinkommen verfolgt das Ziel, eine übermäßige Bejagung zu vermeiden. Durch das Umweltschutzprotokoll von 1991 (siehe unten 4.), dort insbesondere Anlage 2, Artikel 3 wird jedoch jede nachteilige Einwirkung auf die Fauna und Flora der Antarktis unter Genehmigungsvorbehalt gestellt und nur noch in engem Rahmen zu wissenschaftlichen Zwecken zugelassen. Das Übereinkommen zur Erhaltung der antarktischen Robben hat daher heute nur noch eine sehr eingeschränkte praktische Bedeutung. 3. Von großer Bedeutung für die Fischerei im „Südlichen Ozean“ ist das Übereinkommen über die Erhaltung der lebenden Meeresschätze der Antarktis (Convention on the Conservation of Antarctic Marine Living Resources, CCAMLR) von 1980.29 Es wird ausgeführt durch sogenannte „Erhaltungsmaßnahmen“ („Conservation Measures“), die 180 Tage nach Notifizierung der Vertragsstaaten rechtsverbindlich werden, sofern kein Vertragsstaat Widerspruch erhebt, Art. IX Absatz 6 CCAMLR. Dieses Übereinkommen führt das Gebot der nachhaltigen 26

Nach dem Protokoll des ersten Konsultativtreffens, ATCM I, I-XIV Nr. 4 und 5, abrufbar unter http://www.ats.aq/documents/ATCM1/fr/ATCM1_fr001_e.pdf (letzter Zugriff am 8.10.2014), werden die 12 Unterzeichnerstaaten des Antarktisvertrags darüber informiert, dass ihre Repräsentanten einer Maßnahme zugestimmt haben. Ebenso werden die Regierungen der Staaten informiert, die berechtigt sind, an Konsultativtagungen teilzunehmen. 27 Silja Vöneky/Sange Addison-Agyei, Antarctica, in: Max Planck Encyclopedia of Public International Law, abrufbar unter http://opil.ouplaw.com/view/10.1093/law:epil/9780 199231690/law-9780199231690-e1244?rskey=b0EBdp&result=1&prd=EPIL (letzter Zugriff am 8.10.2014), Rn. 35. 28 Übereinkommen zur Erhaltung der antarktischen Robben vom 1.6.1972, BGBl. 1987 II, 92. 29 Übereinkommen zur Erhaltung der lebenden Meeresschätze der Antarktis vom 20.5.1980, BGBl. 1982 II, 421.

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Nutzung der lebenden Meeresschätze ein, Art II Absatz 3 CCAMLR. Nicht unterschritten werden darf die Mindestpopulation, die als diejenige definiert wird, die den größten jährlichen Reinzuwachs ermöglicht, Artikel II Absatz 3 lit. a CCAMLR. 4. Das Umweltschutzprotokoll zum Antarktisvertrag (Protokoll von Madrid, Protocol on Environmental Protection to the Antarctic Treaty, mit Anhang und fünf Anlagen) von 199130 ergänzt die drei genannten Grundsätze des Antarktisvertrages um einen weiteren: Nach seinem Artikel 2 ist die Antarktis ein dem Frieden und der Wissenschaft gewidmetes Naturreservat. Das Protokoll enthält keine Bestimmungen über die Beschlussfassung über rechtsverbindliche Maßnahmen. Es obliegt den Vertragsstaaten, das Protokoll in eigener Verantwortung umzusetzen. Das Protokoll führt Umweltverträglichkeitsprüfungen ein (Artikel 8) und untersagt jede Tätigkeit im Zusammenhang mit mineralischen Ressourcen mit Ausnahme wissenschaftlicher Forschung (Artikel 7). Obwohl auf unbefristete Zeit geschlossen, kann nach Artikel 25 Absatz 2 im Jahr 2048 eine Konferenz zur Überprüfung der Wirkungsweise des Protokolls einberufen werden. II. Institutionen des Antarktisvertragssystems 1. Konsultativtagung zum Antarktisvertrag Zurzeit einmal jährlich finden nach Artikel IX Absatz 1 des Antarktisvertrages Konsultativtagungen der Vertragsstaaten statt, die Konsultativstatus haben („Antarctic Treaty Consultative Meeting“ – ATCM). Diese Tagung ist eine Staatenkonferenz ohne eigene Rechtspersönlichkeit. Sie wird von einem Vertragsstaat mit Konsultativstatus ausgerichtet. 2012 übernahm Australien die Ausrichtung, gefolgt von Belgien (2013), Brasilien (2014) und Bulgarien (2015). Die Reihenfolge bestimmt sich nach der alphabetischen Reihenfolge der englischen Staatsbezeichnung.31 Da ab 2014 die Tschechische Republik als Konsultativstaat teilnehmen wird, müsste Deutschland die Tagung im Jahr 2022 ausrichten, es sei denn, bis dahin erlangt ein weiterer Vertragsstaat Konsultativstatus, der nach dem englischen Alphabet vor „Germany“ kommt. Teilnahme- und stimmberechtigt sind die 12 Unterzeichnerstaaten (Argentinien, Australien, Belgien, Chile, Frankreich, Japan, Neuseeland, Norwegen, Russland als Rechtsnachfolger der Sowjetunion, Südafrika, das Vereinigte Königreich und die Vereinigten Staaten von Amerika).32 Außerdem haben Konsultativstatus solche 30 31 32

Umweltschutzprotokoll zum Antarktis-Vertrag vom 4.10.1991, BGBl. 1994 II, 2479. Vgl. http://www.ats.aq/e/ats_meetings_atcm.htm (letzter Zugriff am 8.10.2014). Art. IX Absatz 1 i.V.m. Präambel Antarktisvertrag.

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später beigetretenen Vertragsstaaten, die ihr Interesse an der Antarktis durch die Ausführung erheblicher wissenschaftlicher Forschungsarbeiten in der Antarktis bekunden (Artikel IX Absatz 2 Antarktisvertrag). 16 weitere Staaten besitzen diesen Status, darunter die Bundesrepublik Deutschland seit 1981.33 Die Vertragsstaaten ohne Konsultativstatus können ohne Stimmrecht an ATCM teilnehmen.34 Eingeladen zum Beitritt sind nach Artikel XIII Absatz 1 alle Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen. Beobachterstatus haben die Kommission zur Erhaltung der lebenden Meeresschätze der Antarktis, der Rat der Leiter der nationalen Antarktisprogramme COMNAP, und der Wissenschaftliche Ausschuss für Antarktisforschung SCAR.35 Nichtregierungsorganisationen und VN-Organisationen nehmen als Experten teil.36 Das Sekretariat des Antarktisvertrags („Antarctic Treaty Secretariat“ – ATS) unterstützt das ATCM administrativ in der Zeit zwischen den Konsultativtagungen als Element der Kontinuität und in der Durchführung der Konsultativtagungen gemeinsam mit dem ausrichtenden Konsultativstaat. Außerdem unterstützt es den Ausschuss für Umweltschutz (siehe unten 4.). Das Sekretariat nahm seine Arbeit am 1. September 2004 in Buenos Aires auf und besitzt Rechts- und Geschäftsfähigkeit in Argentinien.37 Sein Exekutivdirektor ist seit dem 1. September 2009 der Deutsche Dr. Manfred Reinke (vormals Mitarbeiter im Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI) in Bremerhaven).38 2. Übereinkommen zur Erhaltung der antarktischen Robben (CCAS) Artikel 7 dieses Übereinkommens sieht vor, dass seine Vertragsstaaten alle fünf Jahre zusammen kommen, um die Wirkungsweise zu überprüfen. Dies ist bisher nur einmal (1988) geschehen. Außerdem können die Vertragsstaaten gemäß Artikel 6 jederzeit nach Aufnahme des kommerziellen Robbenfangs eine Kommission zur 33

Gesetz zum Antarktis-Vertrag vom 1.12.1959, BGBl. 1978 II, 1517. Vgl. Art. IX Abs. 2 Antarktisvertrag und Rule 29 der Revised Rules of Procedure (2011), ATCM XXXIV Final Report, Decision 2 (2011) Annex I, abrufbar unter http:// www.ats.aq/documents/ATCM34/fr/ATCM34_fr001_e.pdf (letzter Zugriff am 8.10.2014). 35 Vgl. nur Ziffer 3 ATCM XXXV Final Report Volume I, abrufbar unter http://www. ats.aq/documents/ATCM35/fr/ATCM35_fr001_e.pdf (letzter Zugriff am 8.10.2014). 36 Vgl. nur Ziffer 4 ATCM XXXV Final Report Volume I, abrufbar unter http://www. ats.aq/documents/ATCM35/fr/ATCM35_fr001_e.pdf (letzter Zugriff am 8.10.2014). 37 Art. 2, 3 Abs. 2 Headquarters Agreement for the Secretariat of the Antarctic Treaty, abrufbar unter http://www.ats.aq/documents/keydocs/vol_1/vol1_15_Secretariat_ Headquarters_Agreement_e.pdf (letzter Zugriff am 8.10.2014). 38 Abrufbar unter http://www.ats.aq/e/about.htm (letzter Zugriff am 8.10.2014). 34

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Wahrnehmung der Aufgaben im Rahmen dieses Übereinkommens einsetzen. Zu einem kommerziellen Robbenfang ist es allerdings bislang noch nicht gekommen. 3. Übereinkommen über die Erhaltung der lebenden Meeresschätze der Antarktis (CCAMLR) Die Vertragsstaaten bilden die Kommission zur Erhaltung der lebenden Meeresschätze der Antarktis (Artikel VII Absatz 1 CCAMLR). Derzeit sind 24 Staaten und die Europäische Union Mitglied der Kommission. Da die Bundesrepublik Deutschland Unterzeichnerstaat des Übereinkommens ist, gehört sie der Kommission dauernd an (Artikel VII Absatz 2 lit. a), ebenso wie Argentinien, Australien, Belgien, Chile, Frankreich, Japan, Neuseeland, Norwegen, Polen, Russland, Südafrika, das Vereinigte Königreich und die Vereinigten Staaten von Amerika. Darüber hinaus gehören der Kommission zehn weitere Staaten an, die an der Forschung oder Nutzung in Bezug auf lebende Meeresschätze interessiert sind (Artikel VII Absatz 2 lit. b), sogenannte „Acceding States“. Die Zugehörigkeit von Organisationen regionaler wirtschaftlicher Zusammenschlüsse wie der Europäischen Union leitet sich von der Zugehörigkeit ihrer Mitgliedsstaaten ab (Artikel VII Absatz 2 lit. c). Die Kommission hat volle Rechtspersönlichkeit, Art. VIII CCAMLR. Ihr Sitz ist in Hobart, Australien, wo auch der Exekutivsekretär und das Sekretariat arbeiten, Art. XIII Abs. 1, XVII CCAMLR. Die Kommission hält jährlich Tagungen ab, außerdem Sondertagungen wie im Juli 2013 in Bremerhaven, Art. XIII Abs. 2 Satz 1, 2 CCAMLR. Unterstützt wird sie vom Wissenschaftlichen Ausschuss des Übereinkommens (SC-CAMLR), der regelmäßig parallel zur Kommission zusammen tritt.39 4. Umweltschutzprotokoll zum Antarktisvertrag Das Umweltschutzprotokoll hat den Ausschuss für Umweltschutz („Committee for Environmental Protection“, CEP) etabliert. Ihm gehören alle Vertragsparteien des Umweltschutzprotokolls an (Artikel 11). Alle Vertragsstaaten des Antarktisvertrags mit Konsultativstatus sind auch Vertragsparteien des Umweltschutzprotokolls. Vertragsstaaten des Antarktisvertrags, die nicht Vertragspartei des Umweltschutzprotokolls sind, haben Beobachterstatus, Art. 11 Abs. 3 Umweltschutzprotokoll. Dasselbe gilt für den Wissenschaftlichen Ausschuss für Antarktisforschung (SCAR), den Wissenschaftlichen Ausschuss des Übereinkommens zur Erhaltung 39 Abrufbar unter http://www.ccamlr.org/en/meetings/meetings (letzter Zugriff am 8.10.2014).

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der lebenden Meeresschätze der Antarktis (SC-CAMLR)40 und den Rat der Leiter der nationalen Antarktisprogramme (COMNAP).41 Der Ausschuss für Umweltschutz berät das ATCM in der Durchführung und Weiterentwicklung des Umweltschutzprotokolls. Er hat keine eigene Rechtspersönlichkeit und tritt regelmäßig parallel zum ATCM zusammen.42 5. Weitere Institutionen Darüber hinaus spielt der Wissenschaftliche Ausschuss für Antarktisforschung (SCAR) des Internationalen Rats für Wissenschaft („International Council for Science“ – ICSU) seit 1957/1958 für den wissenschaftlichen Austausch und die Koordinierung wissenschaftlicher Aktivitäten in der Antarktis eine wichtige Rolle. SCAR führt alle zwei Jahre ein Delegiertentreffen durch43 und unterhält ein Sekretariat am Scott Polar Research Institute in Cambridge, England.44 Das deutsche Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung hat den Status eines Vollmitglieds.45 Ergänzt werden diese Aktivitäten durch den Rat der Leiter der nationalen Antarktisprogramme („Council of Managers of National Antarctic Programs“ – COMNAP) aller Antarktisvertrags-Konsultativstaaten. COMNAP besteht seit 1988, sein Sekretariat ist der Canterbury Universität in Christchurch, Neuseeland angegliedert.46 Der Schwerpunkt von COMNAP liegt auf der Zusammenarbeit der nationalen Antarktisprogramme bei der logistischen Unterstützung von Forschungsaktivitäten in der Antarktis.47 Vorsitzender ist der Deutsche und vormalige Direktor des AWI, Prof. Heinrich Miller.48

D. Eigentum an den Ressourcen der Antarktis Wie bereits ausgeführt, ist die Antarktis als staatsfreier Raum anzusehen. Damit ist aber noch nicht geklärt, wem die Nutzung ihrer Ressourcen zusteht. 40

Artikel 11 Abs. 4 Satz 1 Umweltschutzprotokoll. Eingeladen gemäß Art. 11 Absatz 4 Satz 2 Umweltschutzprotokoll. 42 Vgl. www.ats.aq/e/ep.htm (letzter Zugriff am 8.10.2014). 43 Abrufbar unter www.scar.org/events (letzter Zugriff am 8.10.2014). 44 Abrufbar unter www.scar.org/contacts (letzter Zugriff am 8.10.2014). 45 Vgl. www.scar.org (letzter Zugriff am 8.10.2014). 46 Vgl. https://www.comnap.aq/Contact/SitePages/Home.aspx (letzter Zugriff am 8.10.2014). 47 Vgl. https://www.comnap.aq/Projects/SitePages/Home.aspx (letzter Zugriff am 8.10.2014). 48 Vgl. https://www.comnap.aq/SitePages/Home.aspx (letzter Zugriff am 8.10.2014). 41

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I. Gemeinsames Erbe der Menschheit oder etwas Eigenständiges? Handelt es sich bei der Antarktis um ein „gemeinsames Erbe der Menschheit“, wie es zum Beispiel Artikel 136 des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen49 für das „Gebiet“, also für den Meeresboden und Meeresuntergrund jenseits der Grenzen des Bereichs nationaler Hoheitsbefugnisse, und seine Ressourcen bestimmt? Der Vergleich der beiden völkerrechtlichen Ordnungssysteme „Antarktisvertragssystem“ und „Seerechtsübereinkommen“ führt weiter. Das „Gebiet“ wird nach Artikel 157 des Seerechtsübereinkommens von der Internationalen Meeresbodenbehörde verwaltet, einer internationalen Organisation mit Distributionsfunktion. Im Gegensatz dazu ist das Antarktisvertragssystem keine internationale Organisation. Seine Institutionen üben eng begrenzte Zuständigkeiten aus, die keine Distributionsfunktion beinhalten. Auch das CCAMLR steht dieser Auffassung nicht entgegen. Denn was die Nutzung der lebenden Meeresschätze angeht, legt die Kommission keine Fangquoten für die Vertragsstaaten fest, sondern beschränkt sich darauf, in ihren Erhaltungsmaßnahmen verbindliche Obergrenzen für die Nutzung der lebenden Meeresschätze festzulegen, die von den Vertragsstaaten einzuhalten sind („Nutzungsquoten“, Artikel IX Absatz 1 lit. f, Absatz 2 CCAMLR). Die Präambel des Umweltschutzprotokolls stützt diese Auffassung. Sie spricht von einem „besonderen rechtlichen und politischen Status der Antarktis“. Auch in der Völkerrechtslehre wird diese Auffassung geteilt. Nach Wolfrum „entzieht sich (…) die antarktische Rechtsordnung einer Einordnung unter die bekannten völkerrechtlichen Ordnungssysteme. Sie vereinigt in sich in atypischer Weise Internationalisierungs- mit Nationalisierungselementen und ist daher für eine Entwicklung sowohl in Richtung einer Nationalisierung wie einer Internationalisierung offen“.50 II. Beziehung des Antarktisvertragssystems zu anderen völkerrechtlichen Ordnungssystemen Wenn das Antarktisvertragssystem also ein atypisches völkerrechtliches Ordnungssystem ist, fragt sich, in welcher Beziehung es zu anderen völkerrechtlichen Ordnungssystemen steht. Im Zusammenhang mit seiner Entstehungsgeschichte wurde bereits erwähnt, dass es nicht zum System der Vereinten Nationen gehört. Aber wie steht es zu den primären Trägern von Souveränität, den Staaten? Gewährt es ihnen Rechte, und legt es ihnen Pflichten auf? Praktische Relevanz 49

Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen vom 10.12.1982, BGBl. 1994 II,

1799. 50

Wolfrum (Anm. 8), 95.

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entfaltet diese Frage zum Beispiel, wenn Fischereifahrzeuge unter der Flagge eines Staates, der nicht Vertragspartei des CCAMLR ist, im CCAMLR-Vertragsgebiet fischen wollen. Müssen sie sich dennoch an die CCAMLR-Bestimmungen halten? Oder müssen sich Staatsangehörige eines Staates, der nicht dem Umweltschutzprotokoll angehört, gleichwohl an die Umweltschutzbestimmungen halten? 1. Der Grundsatz pacta tertiis nec nocent nec prosunt Das Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge51 stellt in seinem Artikel 34 klar: „Ein Vertrag begründet für einen Drittstaat ohne dessen Zustimmung weder Rechte noch Pflichten“. Im Folgenden soll daher der Frage nachgegangen werden, ob sich das Antarktisvertragssystem im Rahmen dieses völkerrechtlichen Grundsatzes hält, oder ob es im Widerspruch dazu steht. Sollte ein Widerspruch erkennbar werden, wäre zu prüfen, ob das Antarktisvertragssystem eine Ausnahme rechtfertigen könnte. Drei Bestimmungen des Antarktisvertragssystems sind in diesem Zusammenhang von besonderer Relevanz: Artikel X des Antarktisvertrags besagt: „Jede Vertragspartei verpflichtet sich, geeignete, im Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen stehende Anstrengungen zu unternehmen, um zu verhindern, dass in der Antarktis eine Tätigkeit entgegen den Grundsätzen oder Zielen dieses Vertrages aufgenommen wird“. Artikel 13 Absätze 2 und 5 des Umweltschutzprotokolls verfolgen dieselbe Richtung: „Die Konsultativtagungen zum Antarktisvertrag machen jeden Staat, der nicht Vertragspartei ist, auf jede Tätigkeit dieses Staates, (…) aufmerksam, welche die Verwirklichung der Ziele und Grundsätze dieses Protokolls berührt“. Und abschließend Artikel X Absatz 1 CCAMLR: „Die Kommission macht einen Staat, der nicht Vertragspartei dieses Übereinkommens ist, auf alle Tätigkeiten seiner Staatsangehörigen oder Fahrzeuge aufmerksam, die nach Ansicht der Kommission der Zielsetzung dieses Übereinkommens zuwiderlaufen“. Es ist dem Wortlaut aller drei Bestimmungen zu entnehmen, dass Drittstaaten keine unmittelbar gegen sie wirkenden Verpflichtungen auferlegt werden. Die Vertragsstaaten untereinander verpflichten sich aber, gegen zuwiderhandelnde Drittstaaten vorzugehen. Kommt es dadurch möglicherweise doch zur Auferlegung von Verpflichtungen gegenüber Drittstaaten?

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BGBl. 1985 II, 926.

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2. Das Antarktisvertragssystem als ein objektives Regime? Drittstaaten würden Verpflichtungen auferlegt, wenn es sich beim Antarktisvertragssystem um ein sogenanntes „objektives Regime“ handelt, also ein Regime, das für alle Staaten verbindlich wäre. a) Ob es ein solches Regime geben kann, bezweifelt Watts: „The general question of the possibility of such regimes being created by treaty has been much debated, and the general view appears to be that, save in very particular circumstances, there is no legal basis for asserting that such regimes exist apart from the consent – which may be implied, as well as express – of third States, in which case the legal basis is probably to be found in that consent rather than in the original treaty regime taken on its own“.52 Watts umgeht also die Problematik, ob ein Vertragssystem Drittstaaten völkerrechtlich problematische Verpflichtungen auferlegt, durch die Suche nach einer Zustimmung zu den Verpflichtungen durch deren Einwilligung. Dazu stellt er vier Voraussetzungen auf: Die ursprünglichen Vertragsparteien müssten die Absicht verfolgt haben, ein Vertragsregime auch mit Geltung für Drittstaaten zu schaffen. Außerdem müsse der Regelungsgegenstand des Regimes ausreichend präzise sein. Die internationale Gemeinschaft müsse ein generelles Interesse haben, diesen Regelungsgegenstand in der Form eines objektiven Regimes zu regeln. Schließlich bedürfe es zumindest impliziter genereller Akzeptanz der internationalen Gemeinschaft.53 Prüft man diese Voraussetzungen, so ergibt sich, dass sie als gegeben angesehen werden können. Die Vertragsstaaten haben in den drei genannten Vertragsbestimmungen deutlich gemacht, dass sie von Drittstaaten erwarten, dass sie den Prinzipien und Zielen des Antarktisvertragssystems folgen. Als klar definierte Regelungsgegenstände sind die jeweiligen Aktivitäten und die Art ihrer Ausübung anzusehen. Auch hat die internationale Gemeinschaft ein generelles Interesse an einer Regelung in der Form eines objektiven Regimes, denn eine Missachtung von Demilitarisierung, Forschungsfreiheit, umfassendem Umweltschutz und nachhaltiger Nutzung der lebenden Meeresschätze durch Drittstaaten würde auch den Interessen der internationalen Gemeinschaft schaden. Die wachsende Zahl von Antarktisvertragsstaaten (inzwischen 50), die alle in der Antarktis unmittelbar involvierten Staaten umfassen, spricht ebenso für die generelle Akzeptanz der internationalen Staatengemeinschaft wie die Tatsache, dass die UN-Generalversammlung 2006 beschlossen hat, dass Thema Antarktis von der jährlichen Tagesordnung herunter zu nehmen; die Verwaltung und die Nutzung der Antarktis sollten weiter in Übereinstimmung mit den Prinzipien und Zwecken der UN-Charta und 52 53

Arthur Watts, International Law and the Antarctic Treaty System, 1992, 295. Watts (Anm. 52), 296.

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im Interesse der Bewahrung von internationalem Frieden und Sicherheit sowie der Förderung internationaler Zusammenarbeit zum Nutzen der Menschheit als Ganzes gefördert werden.54 Im Ergebnis stellt das Antarktisvertragssystem ein objektives Regime dar, das nicht im Widerspruch zum Grundsatz des völkerrechtlichen Verbots von Verträgen zu Lasten von Drittstaaten steht, diesen Drittstaaten aber zugleich auch gegenüber den Vertragsstaaten das Recht auf Einhaltung der Prinzipien und Ziele des Antarktisvertragssystems gewährt. b) Einen anderen Ansatz verfolgen Stokke/Vidas. Sie fragen nach der Effektivität eines internationalen Regimes. Es sei gegeben, wenn es Legitimität besitze. Legitimität sei abhängig von Anwendbarkeit (applicability) und Akzeptanz (acceptance).55 Stokke/Vidas unterscheiden innerhalb des Kriteriums der Anwendbarkeit nach interner und externer Anwendbarkeit. Die externe Anwendbarkeit definieren sie als die Konsistenz normativer und struktureller Komponenten des Regimes mit den Hauptentwicklungslinien der internationalen Gemeinschaft.56 Auch beim Kriterium der Akzeptanz unterscheiden sie zwischen interner und externer Akzeptanz. Externe Akzeptanz sei gegeben, wenn das internationale Regime explizit auf Drittstaaten bezogen sei oder Drittstaaten durch das Regime betroffen seien.57 Die Prüfung des Antarktisvertragssystems nach Anwendbarkeit und Akzeptanz ergibt, dass beide vorliegen, es deshalb Legitimität genießt und ein effektives internationales Regime darstellt. Denn das Antarktisvertragssystem ist zunächst normativ konsistent mit den Hauptentwicklungslinien der internationalen Gemeinschaft: Auch ein noch 2005 dem Antarktisvertragssystem gegenüber kritisch eingestellter Staat wie Malaysia hat das anerkannt und ist mit Wirkung vom 31. Oktober 2011 dem Antarktisvertrag beigetreten.58 Die UN-Generalversammlung hat bereits 1993 das im Umwelt54 UN-Generalversammlung, Question of Antarctica, Resolution of 8 December 2005 (UN Doc. A/RES/60/47). 55 Olav Schram Stokke/Davor Vidas, Effectiveness and legitimacy of international regimes, in: Olav Schram Stokke/Davor Vidas (Hrsg.), Governing the Antarctic: the effectiveness and legitimacy of the Antarctic Treaty System, 1996, 22 ff. 56 Stokke/Vidas (Anm. 55), 24. 57 Stokke/Vidas (Anm. 55), 25. 58 Vgl. Anmerkungen des malaysischen VN-Botschafters Hamidon Ali vor dem Ersten Ausschuss der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 1.11.2005, in: Ingo Winkelmann, Die Vereinten Nationen, das Seerecht und die Polarregionen, in: Markus Loewe et al. (Hrsg.), Die Vereinten Nationen zehn Jahre nach dem Millenniumsgipfel 2000 – eine Bilanz, 2011, 34.

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schutzprotokoll enthaltene Verbot der Prospektion und Ausbeutung mineralischer Ressourcen begrüßt und damit das Umweltschutzinteresse höher als das Ressourcenausbeutungsinteresse gestellt.59 Das Antarktisvertragssystem ist auch strukturell konsistent, da es kontinuierlich weitere Staaten aufgenommen hat und Nichtregierungsorganisationen in die Konsultativtagungen des Antarktisvertrags einbezieht. Der Transparenz gegenüber Drittstaaten und der Öffentlichkeit dient darüber hinaus die Einrichtung des Antarktisvertragssekretariats und die umfassende Veröffentlichung aller Dokumente auf seiner Internetseite www.ats.aq. Schließlich liegt zwar keine explizite externe Akzeptanz des Antarktisvertragssystems durch Drittstaaten vor, denn es verpflichtet und berechtigt sie – wie oben dargelegt – nicht ausdrücklich. Aber entweder sind alle Drittstaaten durch das Antarktisvertragssystem betroffen, wie zum Beispiel hinsichtlich der Demilitarisierung und des Umweltschutzes, oder wenigstens manche, wie zum Beispiel bei der nachhaltigen Nutzung der lebenden Meeresschätze, bei bestimmten Forschungsinteressen oder bei Antarktistourismus. c) Sowohl nach dem von Watts gewählten Ansatz als auch nach der Argumentation von Stokke/Vidas gelangt man zu dem Ergebnis, dass sich das Antarktisvertragssystem zu einem objektiven Regime entwickelt hat, das auch Drittstaaten verpflichtet und berechtigt. Es steht nicht im Widerspruch zu dem in Artikel 34 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge enthaltenen Prinzip, dass Verträge für Drittstaaten weder Pflichten noch Rechte begründen, weil eine Zustimmung der Drittstaaten gegeben ist. Konsequenterweise ist die Prüfung, ob eine Ausnahme von diesem Prinzip vorliegt, nicht mehr erforderlich. III. Fazit Die Antarktis ist somit ein Kontinent jenseits der Souveränität. Die Vertragsstaaten im Antarktisvertragssystem haben mit Zustimmung der Drittstaaten ein objektives Regime errichtet, das im Interesse der internationalen Staatengemeinschaft steht. Sie sind verpflichtet, dieses System für die Teilnahme von Drittstaaten offen zu halten und es im Rahmen der Hauptentwicklungslinien der internationalen Staatengemeinschaft weiter zu entwickeln. Für die internationale Staatengemeinschaft nehmen sie die Pflicht wahr, die für die Wahrung der Vertragsprinzipien nachteiligen Aktivitäten von Drittstaaten zu verhindern. Sie können daher zu Recht auch als Sachwalter der Interessen der internationalen Staatengemeinschaft bezeichnet werden. 59 UN-Generalversammlung, Question of Antarctica, Resolution of 16 December 1993 (UN. Doc A/RES/48/80), Rn. 8.

Recht im virtuellen Raum: Die Rechtsordnung des Cyberspace Von Udo Fink

A. Einleitung Das Internet hat in den letzten zwei Jahrzehnten unsere Welt mindestens genauso verändert wie zuvor das Rad und der Buchdruck. Wir haben uns von der Agrargesellschaft über die Industriegesellschaft hin zu einer Informationsgesellschaft entwickelt. Jeder kann heute die schier immense Fülle der im Internet angebotenen Informationen gleichsam auf Knopfdruck aus der ganzen Welt beziehen. Dies lässt uns nicht nur weltweit immer enger zusammen rücken. Das Internet lässt auch die territorial begrenzten Rechtsordnungen der Staaten an ihre Grenzen stoßen. Durch die „Steckdose“ sehen wir uns Inhalten ausgesetzt, die unser Zusammenleben nachhaltig beeinflussen, die aber gleichzeitig nur sehr beschränkt oder gar nicht unserer Regelungshoheit unterliegen. Ich möchte aus der Fülle der dadurch ausgelösten Rechtsfragen drei Problemkreise ansprechen. Erstens: Wo liegen die völkerrechtlichen Grenzen nationaler Regelungsbefugnisse im Internet? Zweitens: welche spezifischen Regelungen hat das Völkerrecht für die Sicherheit des Internets selbst entwickelt? Und drittens: führt das Internet zu vollkommen neuen Formen der Intervention, ja vielleicht sogar der Gewaltanwendung in internationalen Beziehungen?

B. Nationale Regelungsbefugnisse im Internet Das Internet wirft besondere Probleme auf, wenn einzelne Staaten durch ihre Gerichte oder andere Hoheitsträger auf Inhalte zugreifen wollen, die nicht im Inland eingestellt worden sind. Zwar wirken sich diese Inhalte wegen ihrer weltweiten Verbreitung grundsätzlich auch im Inland aus, fraglich ist aber, ob die bloße Abrufbarkeit einer Webseite oder einer E-Mail im Inland ausreicht, um deren Inhalte der eigenen Gerichtsbarkeit zu unterwerfen.

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Das Territorialitätsprinzip als völkerrechtlich allgemein anerkannter Anknüpfungspunkt für die Anwendung eigener Gerichtsbarkeit spricht in solchen Fällen dafür, den Staat für zuständig zu erklären, auf dessen Gebiet die in Streit stehende Handlung vorgenommen wurde. Dies ist der Staat, auf dessen Gebiet der betreffende Inhalt in das Internet eingestellt wird. Erstreckt ein Staat dagegen seine Hoheitsgewalt auch auf Handlungen außerhalb seines Hoheitsgebietes, bedarf es eines besonderen Anknüpfungspunktes, eines „genuine link“. Andernfalls verstößt die Anwendung eigener Hoheitsgewalt auf Auslandssachverhalte gegen das Interventionsverbot, das die Souveränität der Staaten schützt, die entweder unmittelbar territorial betroffen sind oder einen vorrangigen Bezug zu dem Sachverhalt aufweisen.1 Diese Erkenntnis gilt im Völkerrecht bereits seit der fundamentalen Entscheidung des ständigen Internationalen Gerichtshofs im Fall der S.S. Lotus. Damals hat der Gerichtshof die Flaggenhoheit des betroffenen Staates Türkei als Rechtsgrund für die Ausübung von Gerichtsbarkeit über einen Schiffsunfall auf Hoher See akzeptiert. Als neben dem Territorialitätsprinzip allgemein anerkannter Anknüpfungspunkt kann auch auf die Staatsbürgerschaft des Handelnden abgestellt werden. Ist der Täter eigener Staatsbürger kann man ihn auch verfolgen, wenn er die Tat im Ausland begangen hat. Dagegen ist die Anknüpfung an die Staatsbürgerschaft von Opfern einer im Inland verfolgten Tat nicht allgemein akzeptiert, unterwirft man in diesem Falle doch den Täter einer fremden Rechtsordnung und gerät damit in Konflikt mit der Personalhoheit seines Heimatstaates. Haben weder Täter noch Opfer die eigene Staatsbürgerschaft, scheint auf den ersten Blick eine unzulässige Intervention in die inneren Angelegenheiten der Staaten vorzuliegen, die wegen des Handlungsorts oder der Staatsbürgerschaft der Beteiligten einen anerkannten Bezug zu dem Vorgang haben. Hier kann grundsätzlich nur das Weltrechtsprinzip helfen, dessen Anwendungsbereich jedoch bis heute nicht sicher geklärt ist. Namentlich bei der Verfolgung des Völkermordes befindet man sich bis heute in einer Grauzone, wie auch die zahlreichen Sondervoten von Richtern des IGH im Falle der Verhaftung des kongolesischen Außenministers Yerodia in Belgien zeigen.2 Dennoch haben mehrfach Gerichte bei Auslandstaten im Internet weit unterhalb der Schwelle des Weltrechtsprinzips ihre Zuständigkeit angenommen. Besonders weit geht insoweit die französische Gerichtsbarkeit. So entschied das Tribunal de Grande Instance von Paris im Jahr 2000, dem Internetprovider Yahoo! mit Sitz in 1

Permanent Court of International Justice, The Case of the S.S. “Lotus”, Series A. No. 10, 18 f.; vgl. zum Lotus-Urteil Viktor Bruns, Völkerrecht als Rechtsordnung, ZaöRV 1 (1929), 1 ff. 2 I.C.J., Arrest Warrant of 11 April 2000 (Democratic Republic of the Congo v. Belgium), Judgment, I.C.J. Reports 2002, 3, 35 ff.

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Sunnyvale, Kalifornien, aufzugeben, für alle Nutzer mit einer französischen IPAdresse den Zugang zu Versteigerungen von Nazi-Andenken oder Gegenständen, die einen Bezug zum Holocaust haben, zu sperren.3 Der Northern District Court of California San Jose Division lehnte es jedoch ab, dieses Urteil zu vollstrecken. Zur Begründung wurde insbesondere darauf verwiesen, dass die Vollstreckung eines ausländischen Gerichtsurteils, das mit der im First Amendment zur US-amerikanischen Bundesverfassung geschützten Meinungsfreiheit unvereinbar sei, von Verfassung wegen unmöglich sei. Der United States Court of Appeal for the Ninth Circuit ließ zwar in letzter Instanz die Vollstreckung zu.4 Dies geschah aber nur deshalb, weil Yahoo entgegen der „local remedies rule“ das Verfahren in Frankreich nicht weiter betrieben hatte und weil die durch das französische Gericht angeordnete Sperrung französischer IP-Adressen nicht dazu führte, dass InternetNutzer in den USA diese Seiten nicht mehr aufrufen könnten. Für die völkerrechtliche Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Erstreckung der eigenen Gerichtshoheit auf solche Auslandssachverhalte wird auch in Europa häufig auf die US-amerikanische Doktrin verwiesen. In den Vereinigten Staaten verlangen die Gerichte für Verfahren mit Sachverhalten außerhalb der eigenen Territorialhoheit, ausgehend von einer Leitentscheidung des U.S. Supreme Court,5 grundsätzlich, dass der Beklagte einen „minimum contact“ zum Forumstaat hat, dass die Klage sich auf diesen „minimum contact“ stützt, und, dass die Ausübung der Gerichtsbarkeit vernünftig sein muss.6 Bezogen auf das Internet haben US-amerikanische Gerichte einer Entscheidung eines District Courts in Pennsylvania7 folgend den sogenannten „Zippo Test“ entwickelt. Danach werden Webseiten in drei Kategorien eingeteilt. Passive Webseiten, die lediglich Informationen anbieten, erzeugen in der Regel keinen „minimum contact“, es sei denn ihr Inhalt stellt für sich genommen eine Verleumdung oder sonst wie eine verbotene Handlung dar. Interaktive Webseiten, die den Austausch von Informationen zwischen dem Inhaber der Webseite und seinen Nutzern erlauben, können abhängig vom Grad der Interaktivität einen „minimum contact“ erzeugen. Dies gilt insbesondere dann, wenn sich in dem Forumstaat genügend Nutzer am Informationsaustausch beteiligen. Kommerzielle Webseiten, die den 3

Tribunal de Grande Instance de Paris, Beschluss vom 20.11.2000, LICRA et MRAP contre Yahoo! Inc., MMR 2001, 309. 4 United States Court of Appeals, Ninth Circuit Yahoo! Inc. v. La Ligue contre le Racisme et L’Antisemitisme and L’Union Des Etudiants Juifs De France, Judgment of 12 January 2006 No. 01-17424 433 F.3d 1199. 5 US-Supreme Court, International Shoe Co. v. Washington, 326 U.S. 310, 90 L. 6 Burger King Corp. v. Rudzewicz, 471, U.S. 462, 475, 85 L. 7 District Court for the Western District of Pennsylvania, Zippo Manufacturing Co. v. Zippo Dot Com, Inc., 952 F. Supp. 1119, 1997.

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Nutzer in die Lage versetzen, mit dem Anbieter ohne weiteres in Geschäftskontakt zu treten, erzeugen immer einen genügenden „minimum contact“. Für rein passive Webseiten, die nach dieser Rechtsprechung keinen „minimum contact“ erzeugen, greifen Gerichte zur Begründung ihrer Zuständigkeit bei Sachverhalten mit Bezug zum Internet vermehrt auf die „effects doctrine“ zurück. Nach dieser Doktrin, die auch in Section 402 des Restatement of Foreign Relations Law of the United States enthalten ist,8 ist die Zuständigkeit des Gerichts dann gegeben, wenn durch eine Handlung des Beklagten ein substantieller Effekt, in der Regel ein Schaden, im Forumstaat, ausgelöst wird. Der Schaden muss sich dabei aber in besonderer, die daneben möglicherweise auch gegebenen Interessen anderer Staaten übersteigender, Art und Weise manifestieren. Dies ist etwa der Fall, wenn sich die Internetseite spezifisch gegen eine Privatperson oder eine Gesellschaft, die im Inland ihren Sitz hat, oder gegen die besondere Interessen eines Staates richtet. Soweit unmittelbar Rechtsgüter von Inländern oder des eigenen Staates betroffen sind, wird die Anknüpfung hier durch das passive Personalitätsprinzip oder durch den Schutz der staatlichen Souveränität begründet. Insoweit wird auch vom „Schutzprinzip“ gesprochen.9 Wenn aber kein zielgerichteter Bezug zu einem bestimmten Staat und dessen Bürgern auszumachen ist, wie es häufig für Internetseiten anzunehmen ist, dann versagt das „Schutzprinzip“. Dann muss man einen anderen „objektiven“ Anknüpfungspunkt zum Inland suchen. Ein solcher Bezugspunkt kann zum Beispiel in der Sprache liegen, in dem Inhalt, der im Internet angeboten wird, oder in dem Markt, der durch die Inhalte erreicht werden soll. Auch in Deutschland hat sich nach anfänglicher Unsicherheit die Auffassung durchgesetzt, dass die bloße Abrufbarkeit einer Seite im Inland nicht genügt, um die Zuständigkeit deutscher Gerichte zu begründen.10 So hat der Bundesgerichtshof für die Begründung des Gerichtsstands der unerlaubten Handlung nach Art. 5 Nr. 3 EuGVÜ bzw. Art. 5 Nr. 3 EuGVVO auf Grund einer Kennzeichenverletzung im Internet verlangt, dass sich der Internetauftritt bestimmungsgemäß zumindest auch auf das Inland ausrichtet.11 8

§ 402 Bases of Jurisdiction to Prescribe: „Subject to s 403, a state has jurisdiction to prescribe law with respect to (1) (a) conduct that, wholly or in substantial part, takes place within its territory; (b) the status of persons, or interests in things, present within its territory; (c) conduct outside its territory that has or is intended to have substantial effect within its territory; (…)“, in: The American Law Institute (Hrsg.), Restatement of the Law Third: The Foreign Relations Law of the United States, Vol. 1, 237 f. 9 Vgl. United States v. Yousef, 327 F2d 56, 2d Cir. 2003. 10 Vgl. Landgericht Düsseldorf, Beschluss vom 9.1.2008, Aktenzeichen 12 O 393/02. 11 BGH, Urteil vom 2.3.2010 – „New York Times“, Aktenzeichen VI ZR 23/09.

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Umstritten sind insoweit aber die Feststellungen des BGH in der Entscheidung „New York Times“. Hier ging es darum, dass der in Deutschland wohnhafte Kläger die Verlegerin der Tageszeitung „The New York Times“ sowie den in New York ansässigen Autor eines am 12. Juni 2001 in den Internetauftritt der Zeitung eingestellten und dort im „Online-Archiv“ zum Abruf bereit gehaltenen Artikels, auf Unterlassung in Anspruch nahm. In dem angegriffenen Artikel, eingestellt unter der Rubrik „Lokales“, wurde der in Deutschland wohnhafte Kläger namentlich genannt und ihm unter Berufung auf Berichte europäischer Strafverfolgungsbehörden Verbindungen zur russischen Mafia nachgesagt. Der BGH bejahte die Zuständigkeit der deutschen Gerichte, weil es sich bei der „The New York Times“ um ein international bekanntes Presseerzeugnis handele, das auch in Deutschland über einen nicht unerheblichen Kreis von Lesern verfüge. Deutschland ist im Registrierungsbereich des Online-Portals ausdrücklich als „country of residence“ aufgeführt. In diesem Portal waren zum Zeitpunkt der Entscheidung 14.484 Leser der Online-Ausgabe registriert. Gegen den Bezug zu Deutschland spricht aber, dass die Nachricht für den Lokalteil der New York Times bestimmt war und erkennbar daran anknüpfte, dass der Betroffene in New York einen Wohnsitz hatte und dort geschäftliche Aktivitäten entfaltete. Folgt man hier dem BGH, dann entsteht, wie in vielen vergleichbaren Sachverhalten auch, das Problem des „forum shoppings“. Der Kläger kann sich dann den Gerichtsstand aussuchen, bei dem die Chance einer Verurteilung des Beklagten wegen der Eigenheiten der Rechtsordnung oder der Spruchpraxis der Gerichte besonders wahrscheinlich ist.12 Auch in Strafverfahren hat der BGH bei einer besonderen inhaltlichen Ausrichtung der Straftaten auf Deutschland seine Zuständigkeit angenommen. Besonders bekannt geworden ist in diesem Zusammenhang die Entscheidung Töben.13 Frederick Töben ist australischer Staatsbürger deutscher Abstammung. Er gründete mit Gleichgesinnten das „Adelaide Institute“ und bekleidet dort die Funktion des Direktors. Im Rahmen dieses „Instituts“ befasst er sich unter anderem mit dem Holocaust. Im März 1999 veröffentlicht er auf der Webseite des Instituts drei englischsprachige Artikel, in denen er die Aussage trifft, dass die Zahl der in Auschwitz ermordeten Juden weitaus niedriger gewesen sei als die allgemein angenommenen Zahl von 4 Millionen Menschen. Des Weiteren leugnet er die Existenz von Gaskammern zur Massentötung und erklärt, die Deutschen könnten daher ohne den ihnen „aufgezwungenen Schuldkomplex“ leben.

12 Für die Möglichkeit von Wahlgerichtsständen vgl. EuGH, Urteil vom 25.10.2011, verbundene RS C-509/09, C-161/10, Slg. 2011 I-10269, NJW 2012, 137. 13 BGH, Töben, BGHSt 46, 212.

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Die Webseite, auf der die Artikel in englischer Sprache kommuniziert werden, ist auf einem Server in Australien gespeichert. Sie ist nicht passwortgeschützt und für jeden Internetnutzer zugänglich. Der BGH wandte in seiner Entscheidung das der „effects doctrine“ ähnliche „Schutzprinzip“ an, welches jedem Staat das Recht einräumen soll, im Ausland begangene Delikte zu bestrafen, welche die Existenz oder andere wichtige Rechtsgüter des Staates bedrohen. Im Hinblick auf die jüngere deutsche Geschichte habe die Bundesrepublik eine besondere Verantwortung gegenüber dem Andenken der ermordeten Juden und der jüdischen Bevölkerung. Das Selbstverständnis des deutschen Staates beruhe auf der Anerkennung der historischen Schuld und Verantwortung in Bezug auf den Holocaust. Mithin habe die Bundesrepublik ein berechtigtes Interesse an der Verfolgung solcher Taten.14 Nachdem Töben aufgrund eines internationalen Haftbefehls in Österreich verhaftet und an Deutschland ausgeliefert worden war, konnte die Strafe auch gegen ihn vollstreckt werden. Dies unterscheidet den Fall wesentlich von vielen anderen Konstellationen, in denen der im Ausland beheimatete Täter, der etwa in Australien oder auch in den USA und Kanada wegen solcher Äußerungen zum Holocaust nicht verurteilt werden kann und deshalb auch nicht ausgeliefert wird, sich hüten wird, Reisen in den Einzugsbereich des deutschen Strafrechts zu unternehmen. Der Fall Töben hatte noch ein Nachspiel, das die Problematik verdeutlicht. 2008 stellten die deutschen Behörden wegen weiterer vergleichbarer Artikel Töbens einen Auslieferungsantrag im Vereinigten Königreich auf der Grundlage eines europäischen Haftbefehls. Töben wurde am 1. Oktober 2008 bei einer Zwischenlandung in Heathrow verhaftet und dem Westminster Magistrates’ Court vorgeführt. Da der Tatbestand der Veröffentlichung antisemitischer Inhalte im Vereinigten Königreich jedoch nicht strafbar ist, wurde dem Auslieferungsbegehren nicht stattgegeben.

C. Völkerrechtliche Regelungen mit Bezug zum Cyberspace Um dem grenzüberschreitenden Phänomen des Internets gerecht zu werden, sind deshalb nationale Regelungen insgesamt nur sehr begrenzt tauglich. Es liegt mithin nahe, im Wege eines völkerrechtlichen Vertrages zu gemeinsamen Standards zu gelangen. Dabei stehen jedoch häufig, wie am Fall Töben deutlich wurde, die sehr unterschiedlich ausgeprägten Vorstellungen über die anzuwendenden Rechtsprinzipien einem Konsens entgegen.

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BGH (Anm. 13), Rn. 74–75.

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Dies belegt auch das zurzeit wichtigste geltende Instrument auf diesem Gebiet, die Convention on Cybercrime (CCC).15 Sie wurde am 8. November 2001 im Europarat verabschiedet, steht aber auch Nichtmitgliedern offen.16 Mittlerweile haben 53 Staaten einschließlich der Nichtmitglieder USA, Kanada, Australien, Argentinien, Südafrika, Japan, Costa-Rica, Domenicanische Republik, Chile und Mexiko die Konvention unterschrieben. Sie ist nach Hinterlegung der 5. Ratifikationsurkunde am 1. Juli 2004 in Kraft getreten. Allerdings haben erst 42 Staaten die Cybercrime-Convention ratifiziert. Auch Deutschland hat die Konvention erst sehr spät, im März 2009, ratifiziert. Die Probleme lagen für die Bundesrepublik Deutschland dabei weniger im materiellen Recht als, wie noch zu zeigen sein wird, in dessen verfahrensrechtlicher Durchsetzung. Von den Staaten, die nicht Mitglieder des Europarates sind, haben bisher nur die USA, Japan, Australien, die Dominikanische Republik, Mauritius und Panama die Cybercrime-Convention ratifiziert. Die Vertragstaaten haben zudem nahezu alle eine Fülle von Vorbehalten zu einzelnen Regelungen erklärt und auch von vereinbarten „opting out“ Klauseln des Vertrages Gebrauch gemacht.17 Allein für die USA können dreizehn Erklärungen und Vorbehalte festgestellt werden. Deutschland hat einen Vorbehalt zu Art. 42 erklärt und ebenfalls mehrere Auslegungserklärungen abgegeben.18 Materiellrechtlich decken sich die Tatbestände der Cybercrime Convention weitgehend, wenn auch nicht vollständig, mit denen des Strafgesetzbuchs. Laut der Cybercrime Convention sollen der unbefugte Zugang zu Computersystemen, das Abfangen nichtöffentlicher Datenübermittlungen, das Beschädigen, Löschen, Beeinträchtigen, Verändern oder Unterdrücken von Daten sowie der Computerbetrug unter Strafe gestellt werden. Dabei ist der Begriff „Computerbetrug“ jedoch schief, da der Betrug eine Täuschung und einen dadurch veranlassten Irrtum verlangt. Im Gegensatz zu Menschen kann man aber Computer durch Vorspiegelung von falschen Tatsachen weder täuschen noch kann dadurch ein Irrtum hervorgerufen werden. Es handelt sich vielmehr um die Manipulation an Computerdaten oder Eingriffe in den Betrieb eines Computersystems, die in betrügerischer Ab15

Convention on Cybercrime vom 23.11.2001, CETS No.: 185, abrufbar unter http:// www.conventions.coe.int/Treaty/en/Treaties/Html/185.htm (letzter Zugriff am 17.11.2014). 16 Art. 37 Abs. 1 CCC. 17 List of declarations made with respect to treaty No. 185, abrufbar unter http:// conventions.coe.int/Treaty/Commun/ListeDeclarations.asp?NT=185&CM=&DF=&CL= ENG&VL=1 (letzter Zugriff am 17.11.2014). 18 Auslegungserklärungen zu Art. 2, 7, 24, 27, 35, 40 einsehbar unter http://conventions. coe.int/Treaty/Commun/ChercheSig.asp?NT=185&CM=&DF=&CL=ENG (letzter Zugriff am 17.11.2014).

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sicht vorgenommen werden.19 Im deutschen Recht ist der „Computerbetrug“ deshalb in § 263a StGB als eigenständiger Tatbestand geregelt. Daneben schützt die Convention auch Rechtsgüter außerhalb des Cyberspace. So pönalisiert Art. 9 CCC das Herstellen, Anbieten oder Zugänglichmachen, das Beschaffen und den Besitz von kinderpornographischem Material. Dabei sind jedoch Umfang und Grenzen der Kinderpornographie zwischen den Mitgliedstaaten umstritten.20 Art. 9 Abs. 2 CCC definiert die Kinderpornographie als Darstellung einer minderjährigen Person bei eindeutig sexuellen Handlungen. Minderjährig ist dabei gemäß Art. 9 Abs. 3 CCC jede Person, die noch nicht 18 Jahre alt ist. Ein Absenken der Altersgrenze auf 16 Jahre ist zulässig. Dem entspricht, bezüglich der Tathandlungen, § 184b StGB, wobei allerdings § 176 StGB ein Kind als eine Person unter 14 Jahren definiert. Art. 9 Abs. 2 lit. b und lit. c CCC regeln, dass Kinderpornographie auch bei Handlungen von Personen mit dem Erscheinungsbild Minderjähriger und bei real erscheinenden Bildern, die eine minderjährige Person zeigen, vorliegen soll. Ob damit auch virtuelle Kinderpornographie erfasst werden soll, ist nicht ganz eindeutig.21 Denkbar ist auch, dass mit dieser Formulierung nur die Mitwirkung scheinbar als Kinder wirkender Erwachsener und die scheinbare Mitwirkung realer Kinder an sexuellen Handlungen gemeint sind. Die USA haben in Ausübung der in Art. 9 Abs. 4 CCC enthaltenden „escape clause“ einen Vorbehalt zu dieser Norm angebracht. Darin erklären sie: „The United States of America, pursuant to Articles 9 and 42 of the Convention, reserves the right to apply paragraphs (2) (b) and (c) of Article 9 only to the extent consistent with the Constitution of the United States …“.22 Wäre auch virtuelle Kinderpornographie erfasst, würde die Umsetzung in den USA an der Rechtsprechung des U.S. Supreme Courts scheitern. Dieser hatte in der Entscheidung Ahscroft v. The free Speech Coalition den U.S. Child Pornographie Prevention Act wegen Verletzung des Rechts auf freie Rede insoweit für verfassungswidrig erklärt, als dass auch die virtuelle Darstellung sexueller Hand19

Deutscher Bundestag, Drucksache 10/318, 18. Vgl. Council of Europe, Convention on Cybercrime – Explanatory Report, Offences related to child pornography (Article 9) Rn. 105, abrufbar unter http://conventions.coe.int/ Treaty/EN/Reports/Html/185.htm (letzter Zugriff am 17.11.2014). 21 Vgl. Council of Europe (Anm. 20), Rn. 101. 22 Reservation contained in the instrument of ratification deposited on 29 September 2006, abrufbar unter http://conventions.coe.int/Treaty/Commun/ListeDeclarations.asp? NT=185&CM=&DF=&CL=ENG&VL=1 (letzter Zugriff am 17.11.2014). 20

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lungen von Kindern unter Strafe gestellt wurde.23 Der Supreme Court begründete dies ausdrücklich damit, dass der Grund für die Strafbarkeit von Kinderpornographie im Wesentlichen in den Taten gegen die sexuelle Selbstbestimmung der Kinder liege, welche bei deren Herstellung begangen werden. In Deutschland wird dies überwiegend anders gesehen.24 Die §§ 184 b und c StGB sollen nach überwiegend vertretener Ansicht auch der Gefahr von Nachahmungen solcher Handlungen vorbeugen, die virtuell rezipiert und dann real nachgeahmt werden. Deshalb erfassen diese Tatbestände auch jede mindestens einigermaßen realistische Darstellung von Kindern im Internet.25 Eine besondere Rolle haben diese Rechtsfragen im Jahr 2007 bei zwei Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaften Halle und Bremen im Zusammenhang mit dem Computerspiel Second Life gespielt.26 Bei Second Life handelt es sich um ein Spiel, das dadurch gekennzeichnet ist, dass eine große Zahl von Nutzern gleichzeitig die ihnen zur Verfügung gestellte virtuelle Plattform benutzt. Second Life ist dabei ein auf die Kreativität seiner Nutzer aufbauendes Rollenspiel. Die von ihnen erschaffenen sogenannten Avatare – das Wort steht im Sanskrit für eine herabgestiegene Gottheit – können durch vielfältige Einstellungsmöglichkeiten eine „virtuelle Identität“ annehmen, die eine individualisierbare Abgrenzung von den Mitspielern möglich macht. Zudem können sich die Avatare in den, im Rahmen der technischen Vorgaben weitgehend von den Benutzern selbst geschaffenen, Handlungsszenarien in ganz unterschiedlicher Art und Weise betätigen. In Second Life kann man auch die Zurschaustellung sexueller Aktivitäten von minderjährig erscheinenden Avataren, sowie deren Beteiligung an sexuellen Handlungen mit volljährig erscheinenden Avataren beobachten. Dabei bleibt allerdings vollkommen unklar, ob hinter den minderjährig erscheinenden Avataren auch minderjährige reale Spieler stecken. Zwar soll nach Auskunft der Betreiber der Zugang zu dem Spiel für Minderjährige unmöglich sein, angesichts der Kompetenzen vieler Kinder im Umgang mit den Medien ist diese Aussage jedoch nicht wirklich überzeugend. Allerdings wird man den Strafgrund der Nachahmungsgefahr nur dann zum Zuge kommen lassen können, wenn es sich bei den Vorgängen in Second Life um 23

U.S. Supreme Court, Ashcroft v. Free Speech Coalition, 535 U.S. 234 (2002). U.a. Tatjana Hörnle, § 184b, Rn. 11 ff., in: Klaus Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 2. Auflage 2012, m.w.N. 25 Walter Perron/Jörg Eisele, § 184b, Rn. 11, in: Albin Eser u.a. (Hrsg.), Schönke/ Schröder – Strafgesetzbuch – Kommentar, 28. Auflage 2010. 26 Vgl. den Bericht von Report Mainz vom 7. Mai 2007, abrufbar unter http://www.swr. de/report/presse/-/id=1197424/nid=1197424/did=2146960/1ehhkmz/index.html (letzter Zugriff am 17.11.2014). 24

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einigermaßen real anmutende Darstellungen handelt. Erkennbar wirklichkeitsfremde Fiktivpornographie wird nach allgemeiner Auffassung durch das Tatbestandsmerkmal „kindliche Darsteller“ in § 184b StGB nicht erfasst.27 Man wird zumindest zur Zeit noch annehmen müssen, dass es sich bei den Avataren in Second Life erkennbar um künstliche Figuren handelt, denen die erforderliche Verwechslungsgefahr mit realen Menschen nicht eigen ist, weshalb eine Strafbarkeit nach deutschem Recht bisher wohl nicht gegeben ist. Die genannten Staatsanwaltschaften haben deshalb die Strafverfahren auch wieder eingestellt. In Anbetracht der hohen Leistungsfähigkeit heutiger Computerhardware und der dadurch erreichbaren hohen Auflösung animierter Grafiken sind jedoch auch wirklichkeitsnahe Darstellungen durchaus möglich.28 Art. 10 der Cybercrime Convention regelt zudem die Verletzung von Urheberrechten und verwandten Rechten im Internet, einer der Hauptgründe für die USA, dem Abkommen beizutreten. Der materiellrechtliche Umfang der Verpflichtung richtet sich dabei gemäß Art. 10 Abs. 1 für Urheberrechte nach der Berner Übereinkunft von 1971, dem WIPO-Urheberrechtsvertrag und den einschlägigen Regelungen der WTO in den Trade related Aspects of Intellectual Property Rights. In Deutschland sind diese Verpflichtungen in den §§ 106 – 108b UrhG umgesetzt worden. Ein Zusatzprotokoll zur Cybercrime Convention29 mit bisher 22 Ratifikationen, darunter neben Deutschland auch Kanada und Südafrika aber nicht den USA, will Handlungen rassistischer und fremdenfeindlicher Art, wenn sie mittels Computern begangen werden, unter Strafe stellen. Die darin enthaltenen Tatbestände sind der Verbreitung solchen Materials über Computersysteme (Art. 3), der Drohung mit schweren Straftaten mittels Computersystemen (Art. 4), der rassistisch und fremdenfeindlich motivierten Beleidigung (Art. 5) und der Leugnung, groben Verharmlosung, Billigung oder Rechtfertigung von Völkermord oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Art. 6) gewidmet. Durch Art. 6, der ausdrücklich auf durch die Kriegsverbrechertribunale in Nürnberg festgestellte Taten verweist, wird dadurch auch die Holocaust-Lüge ausdrücklich pönalisiert. Bezogen auf die verfahrensrechtlichen Regelungen der Konvention hat sich Deutschland lange Zeit insbesondere mit Art. 20 CCC schwer getan. Danach 27

Deutscher Bundestag, Drucksache 12/4883, 8; vgl. auch Perron/Eisele (Anm. 25), Rn. 11 m.w.N. 28 Kristina Hopf/Birgit Braml, Virtuelle Kinderpornographie vor dem Hintergrund des Online-Spiels Second Life, ZUM 2007, 354, 360. 29 Additional Protocol to the Convention on Cybercrime, concerning the criminalisation of acts of a racist and xenophobic nature committed through computer systems, 28.1.2003, CETS No.: 189, abrufbar unter http://conventions.coe.int/Treaty/en/Treaties/Html/189.htm (letzter Zugriff am 17.11.2014).

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schaffen die Mitgliedstaaten geeignete Regelungen, um ihre Behörden zu ermächtigen, Verkehrsdaten durch Anwendung technischer Mittel in Echtzeit zu erheben und aufzuzeichnen. Zudem sollen gemäß Art. 20 Abs. 1 lit. b CCC Regelungen geschaffen werden, um Dienstanbieter zu verpflichten, bei der Erhebung der Daten mit den zuständigen Behörden zusammenzuarbeiten. Lange Zeit schien diese Pflicht zur Vorratsdatenspeicherung mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. mit Art. 1 Abs. 1 GG, sowie dem Recht auf das Fernmeldegeheimnis gemäß Art. 10 GG nicht vereinbar zu sein, vor allem deshalb, weil eine Datenspeicherung ohne konkreten Tatverdacht unverhältnismäßig schien. Erst nachdem die Bundesrepublik in Umsetzung der – allerdings bezogen auf die Kompetenz der EU zum Erlass außerordentlich problematischen – Richtlinie 2006/24/EG30 gesetzliche Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung erlassen hatte, schien der Weg für die Ratifikation des Abkommens frei zu sein. Dies galt auch nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Vorratsdatenspeicherung.31 Zwar hat Karlsruhe die konkrete Ausgestaltung der Vorratsdatenspeicherung durch das Telekommunikationsgesetz für verfassungswidrig erklärt. Grundsätzlich soll die Vorratsdatenspeicherung jedoch bei genügender Sicherung der Daten mit den genannten Grundrechten vereinbar sein. Allerdings ist auch insoweit noch nicht das letzte Wort gesprochen, da sich nach Auffassung des wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages „zweifelsfrei keine Ausgestaltung dieser Richtlinie umschreiben (lasse), die eine Vereinbarkeit mit der Grundrechtecharta sicherstellte“.32 Diese Frage ist aufgrund einer Vorlage des Irischen High Court und des österreichischen Verfassungsgerichtshofs beim EuGH anhängig.33 Bei einer Unvereinbarkeit mit dem ebenfalls für die EU geltenden Recht auf Datenschutz als Teil der Privatsphäre gemäß Art. 8 EMRK würde auch eine Umsetzungspflicht von Art. 20 CCC entfallen. Gemäß

30

Richtlinie 2006/24/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über die Vorratsspeicherung von Daten, die bei der Bereitstellung öffentlich zugänglicher elektronischer Kommunikationsdienste oder öffentlicher Kommunikationsnetze erzeugt oder verarbeitet werden, und zur Änderung der Richtlinie 2002/58/EG, ABl. EG Nr. L 105/2006, 54. 31 BVerfGE 125, 260. 32 Wissenschaftliche Dienste Deutscher Bundestag, Zur Vereinbarkeit der Richtlinie über die Vorratsspeicherung von Daten mit der Europäischen Grundrechtecharta, WD 11 – 3000 – 18/11, 21. 33 EuGH verb. Rs. C-293/12 und C-594/12 – Digital Rights Ireland und Seitlinger u.a., abrufbar unter http://curia.europa.eu/juris/liste.jsf?num=C-293/12&language=de (letzter Zugriff am 17.11.2014).

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Art. 15 CCC sind die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung nämlich zwingend an die subjektiven Rechte aus der EMRK gebunden. Die Erhebung inhaltsbezogener Daten soll gemäß Art. 21 CCC nur im Zusammenhang mit der Verfolgung schwerer Straftaten erfolgen. Auch bezüglich dieser inhaltsbezogenen Daten sind die Diensteanbieter im Rahmen ihrer technischen Möglichkeiten verpflichtet, solche Daten zu erheben und aufzuzeichnen oder bei der Erhebung und Aufzeichnung mit den zuständigen Behörden zusammenzuarbeiten. Die für die Erhebung in Betracht kommenden schweren Straftaten sind durch das innerstaatliche Recht zu bestimmen, dabei muss jedoch auch insoweit mit Blick auf Art. 8 EMRK der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet werden. Keinen Aufschluss gibt die Cybercrime Convention über den Umfang und die Grenzen nationaler Regelungskompetenzen im Internet. Die zuvor diskutierten Konzepte des „minimum contact“, die „effects doctrine“ und das „Schutzprinzip“ werden in der Konvention nicht berücksichtigt. Stattdessen knüpft Art. 22 CCC für die Zuständigkeit der Vertragsstaaten lediglich an die völkerrechtlich unbedenklichen Fälle des Territorialprinzips, an die Flaggenhoheit und an das aktive Personalitätsprinzip an.34

D. Der Cyberwar Für den Friedensvölkerrechtler von besonderem Reiz ist die Frage, ob im Internet auch die Grenzen des Interventions- und des Gewaltverbots überschritten werden können. Die Zahl bekannt gewordener „Cyberangriffe“ hat in den letzten Jahren erheblich zugenommen.35 Zweifellos führt der hohe digitale Vernetzungsgrad moderner Streitkräfte zu einer fortschreitenden Abhängigkeit der militärischen Operationsführung von Computersystemen. Eine vergleichbare Verletzlichkeit hochtechnisierter Staaten besteht hinsichtlich der Steuerungssoftware ihrer informationstechnisch gestützten Infrastruktur. Angriffe im Cybernetz eröffnen damit ein ganzes Spektrum an schädigenden Möglichkeiten. Diese reichen von der Manipulation und Vernichtung von Daten durch die Einspeisung von schädlichen Programmen wie Viren und Trojanern bis hin zu Eingriffen in die elektronische Steuerung potentiell schädlicher Anlagen wie Chemiefabriken, Kraftwerke, Atommeilern oder

34

Vgl. Udo Fink, Die Cybercrime Convention, in: Udo Fink/Mark D. Cole/Tobias O. Keber, Europäisches und Internationales Medienrecht, 2008, 199 ff. 35 Significant Cyber Incidents since 2006, abrufbar unter http://csis.org/program/ significant-cyber-events (letzter Zugriff am 17.11.2014).

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Verkehrsleitsystemen. Damit kann es mittelbar auch zu Schäden an Personen und Sachwerten kommen.36 Dabei können die Grenzen des Interventionsverbots im Internet ziemlich schnell überschritten sein. So war etwa im Frühjahr 2007 Estland drei Wochen lang Ziel zahlreicher Attacken auf seine Informationssysteme.37 Hintergrund der Angriffe war die am 30. April 2007 bekannt gewordene Entscheidung der estnischen Regierung, die Bronzestatue eines Soldaten der Roten Armee von einem zentralen Platz in der Hauptstadt Tallinn auf den Militärfriedhof zu verlegen. Betroffen waren die Webseiten von Staatsorganen und Behörden, von Nachrichtenportalen sowie Server von Banken und Telefonschaltzentren. Die Webseiten wurden so manipuliert, dass sie statt des vorgesehenen Inhalts pro-russische Parolen zeigten, und außerdem wurden die Server, die diese Webseiten hosten, so manipuliert, dass sie wegen Überlastung ihre bestimmungsmäßigen Aufgaben nicht mehr erfüllen konnten. Aber auch die Grenze zur Gewaltanwendung und zur Aggression sind im Internet schon überschritten worden. Für besondere Aufmerksamkeit sorgte der Einsatz des Schadprogramms „Stuxnet“ gegen iranische Atomanlagen im Juni 2010.38 Das Schadprogramm soll über einen Zeitraum von mehreren Monaten operiert und bis zu eintausend Nuklearzentrifugen in einer iranischen Urananreicherungsanlage dauerhaft zerstört haben. „Stuxnet“ veränderte erstens die Rotationsfrequenz der Zentrifugen, was letztlich zu deren physischer Zerstörung führte. Damit die Änderung der Rotationsgeschwindigkeit nicht bemerkt wurde, fütterte „Stuxnet“ zweitens das Steuerungsprogramm, welches die Messwerte der Zentrifugen anzeigen sollte, mit falschen Daten. So wurde ein fehlerfreies Funktionieren der Zentrifugen vorgetäuscht. Damit ist neben der Zerstörung der Anlagen auch die Gefahr eines atomaren Störfalls mit erheblichen Folgen für die dort arbeitenden Menschen, unter Umständen sogar für weite Kreise der Bevölkerung des Iran, ausgelöst worden. Wer „Stuxnet“ entwickelt und angewandt hat, ist nicht zweifelsfrei geklärt. Es deuten allerdings einige Indizien auf den israelischen und vielleicht auch auf den US-amerikanischen Geheimdienst hin.39 Dies vor allem deshalb, weil sich „Stuxnet“ von den bisher bekannt gewordenen Schadprogrammen durch seine Komplexität 36

Tobias O. Keber/Przemystaw Nick Roguski, Ius ad bellum electronicum? Cyberangriffe im Lichte der UN-Charta und aktueller Staatenpraxis, AVR 49 (2011), 399. 37 Keber/Roguski (Anm. 36), 401. 38 NATO Parliamentary Assembly, Committee Report 074 CDS 11 E – Information and National Security, abrufbar unter http://www.nato-pa.int/default.asp?SHORTCUT=2443 (letzter Zugriff am 17.11.2014), Rn. 40. 39 Keber/Roguski (Anm.36), 404 m.w.N.

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unterscheidet. Die gezielte Programmierung für einen bestimmten Industrieanlagentyp zeigt, dass der Angreifer über eingehende Kenntnisse der Zielsysteme verfügte und zudem in der Lage gewesen sein musste, die Wirkung des Schadprogramms bei dessen Programmierung vorab zu testen. Zudem zeugen die Programme von einem hohen computertechnischen Wissensstand, wodurch Hobbyhacker weitgehend ausgeschlossen werden können. Angesichts des hohen Schädigungspotentials solcher Computerviren stellt sich die Frage nach der Anwendbarkeit des Gewaltverbots gemäß Art. 2 Ziffer 4 UNCharta sowie einer Prüfung der tatbestandlichen Voraussetzungen mindestens einer Bedrohung des Weltfriedens im Sinne von Art. 39 UN-Charta. Gemäß Artikel 2 Ziffer 4 UN-Charta unterlassen die Mitglieder in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt. Wie der Wortlaut der Präambel sowie eine systematische Zusammenschau mit den Artikeln 41 und 42 der Charta zeigen, bedeutet Gewalt im Sinne der Charta bewaffnete, d.h. militärische Gewalt. Weder die UN-Charta, noch die Friendly Relations Declaration aus dem Jahr 1970, die als nachfolgende Praxis für die Interpretation der UN-Charta herangezogen werden kann, legen aber einen Begriff der Waffe fest.40 Dies gilt im Übrigen auch für das humanitäre Völkerrecht, auf das nachfolgend noch eingegangen wird. Gegebenenfalls könnten aus Artikel 41 UN-Charta Rückschlüsse auf die Behandlung des Einsatzes von schädlicher Software zu ziehen sein. Art. 41 UNCharta nennt als Beispielsfall für eine Sanktion des Sicherheitsrates, die nicht die Anwendung von Waffengewalt impliziert, die Unterbrechung von Kommunikationsverbindungen. Deshalb wird man annehmen können, dass solche Manipulationen, die wie im Falle Estlands lediglich den Informationsfluss erschweren oder blockieren, nicht als Einsatz von Waffengewalt zu qualifizieren sind.41 Vernetzte Informationssysteme mit militärischer Zielsetzung hatte der Satzungsgeber bei der Formulierung des Sanktionskatalogs in Art. 41 UN-Charta allerdings nicht vor Augen. Zudem gibt es keine nennenswerte Praxis für Embargos der Kommunikationswege, weshalb belastbare Aussagen über Umfang und Grenzen dieser Klausel in Art. 41 UN-Charta nicht getroffen werden können. Man wird deshalb nicht umhin kommen, die für andere Waffengattungen allgemein akzeptierten Kriterien vergleichend auf schädliche Manipulationen im 40 Vgl. I.C.J., Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons, Advisory Opinion, I.C.J. Reports 1996, 226, Rn. 39. 41 Keber/Roguski (Anm. 36), 406 f.

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Internet zu übertragen. Waffen sind ganz allgemein dadurch gekennzeichnet, dass ihr Einsatz unmittelbar erhebliche physische Schäden an Personen sowie Sachen verursachen kann.42 Dabei kommt es auf eine ursprüngliche Bestimmung als Waffe nicht an. Dies gilt etwa für den Einsatz chemischer oder biologischer Substanzen, die entweder bereits in der Natur vorgefunden werden oder zu ganz anderen Zwecken entwickelt worden sind. Auch zivile Luftfahrzeuge, deren vorrangiger Zweck der Transport von Passagieren ist, können, wie die Geschichte gezeigt hat, zur Waffe umfunktioniert werden. Deshalb wird in der Literatur meines Erachtens zu Recht allein auf die sogenannte Effekt-Äquivalenz von Attacken im Internet abgestellt. Viel beachtet worden ist die Abhandlung von Schmitt, der einen Katalog von Kriterien hierzu herausgearbeitet hat.43 Abzustellen sei zum einen darauf, ob die schädigende Wirkung an Personen oder Sachen in ihrer Schwere mit der anderer, allgemein als Waffen akzeptierter Mittel, vergleichbar ist. Die schädigende Wirkung müsse zudem zeitlich unmittelbar dem Einsatz nachfolgen und das gewählte Mittel müsse kausal für den eingetretenen Schaden sein. Schließlich müsse der Einsatz der schädlichen Software geographisch eingegrenzt sein und der Effekt müsse in besonderer Weise im Zielgebiet messbar sein. Gemessen an diesen Kriterien kann man etwa „Stuxnet“ eindeutig als Waffe bezeichnen. Lediglich das letzte Kriterium von Schmitt überzeugt nicht. Er fragt auch danach, ob das Mittel an sich legal ist oder ob es bereits entgegen geltendem innerstaatlichen Recht oder Völkerrecht entwickelt worden ist. Zum einen liegt darin ein Zirkelschluss, da die Rechtswidrigkeit das Ergebnis der Prüfung und nicht Teil ihrer Voraussetzungen sein kann. Zum anderen gilt dieses Kriterium auch bei anderen, allgemein als Waffen anerkannten Mitteln nicht. Ein Jäger kann beispielsweise ein Gewehr rechtmäßig besitzen und kann es natürlich auch als Waffe in einem völkerrechtlich relevanten Zusammenhang einsetzen. Das eigentliche Problem des Cyberwars liegt darin, dass wegen der Anonymität, in der sich der Einsatz der Waffe vollzieht, regelmäßig die Bestimmung des Angreifers nicht möglich ist. Dies war bisher in allen bekannt gewordenen Fällen von Cyberangriffen der Fall.44 Damit scheitert die Zurechnung des Einsatzes zu einem anderen Staat, der dann gegebenenfalls das Ziel eigener Selbstverteidigungsmaßnahmen sein könnte.

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Andreas von Arnauld, Völkerrecht, 2012, Rn. 1007 ff. Michael N. Schmitt, Computer Network Attack and the Use of Force in International Law – thoughts on a normative framework, CJTL 37 (1999), 885. 44 Vgl. Sandro Gaycken/Michael Karger, Entnetzung statt Vernetzung – Paradigmenwechsel bei der IT-Sicherheit, MMR 2011, 3, 4. 43

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Zudem ist bisher vollkommen ungeklärt, wie sich der allgemein anerkannte Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auf die Selbstverteidigung auswirkt. So wird in der Literatur vertreten, betroffene Staaten hätten sich vornehmlich computergestützter Gegenmaßnahmen zu bedienen. Dies wird als „right to hack back“ bezeichnet. Dagegen wird der Einsatz konventioneller Waffen für den Fall, dass ein Staat nicht in der Lage ist, im Netz zurückzuschlagen, für problematisch gehalten, soll allerdings auch nicht kategorisch ausgeschlossen sein.45 Angesichts dieses Dilemmas gibt es Bemühungen in der Staatengemeinschaft, eine Pflicht zur Vermeidung von schädlichen Attacken im Internet vertraglich festzuschreiben. Bereits 1998 hat die Generalversammlung in einer Resolution die Mitgliedstaaten aufgefordert, dem Generalsekretär mitzuteilen, ob sie es befürworten, internationale Grundsätze auszuarbeiten, die die Sicherheit der weltweiten Informationssysteme verbessern.46 Bis heute haben allerdings erst 43 Staaten auf diesen Aufruf reagiert. Dabei vertrat die Russische Föderation die Auffassung, dass der Einsatz neuer Informationstechnologie im Rahmen der Kriegsführung je nach Sachlage dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen gleich kommen könne, und legt ihrem Positionspapier einen Prinzipienkatalog zur internationalen Informationssicherheit bei, in dem sie sich für die Schaffung eines speziell auf „information weapons“ zugeschnittenen Regelwerks ausspricht.47 Auch die Volksrepublik China vertritt einen vergleichbaren Standpunkt.48 China präsentierte im Jahr 2011 der Generalversammlung einen Resolutionsentwurf, der einen „International Code of Conduct for Information Security“ enthält. Dieser allerdings unverbindliche Verhaltenskodex hat zum Ziel, die Rechte und Pflichten der Staaten im Informationsraum zu identifizieren. Die Staaten sollen sich verpflichten, keine Technologien im Internet einzusetzen, welche feindliche Akte oder gar Akte der Aggression darstellen und damit den internationalen Frieden und die Sicherheit bedrohen. Auch die Bemühungen Deutschlands gehen in diese Richtung. Im Februar 2011 verabschiedete die Bundesregierung eine „Cyber-Sicherheitsstrategie für Deutschland“.49 Darin setzt die Bundesregierung auf multilaterale Zusammenarbeit im 45

Marco Roscini, World Wide Warfare – Ius ad bellum and the Use of Cyber Force, MPYUNL 14 (2010), 85, 120. 46 UNGA, Developments in the field of information and telecommunications in the context of international security, Resolution of 4 December 1998 (UN Doc. A/RES/53/70). 47 Keber/Roguski (Anm. 36), 420 f. m.w.N. 48 Keber/Roguski (Anm. 36), 423 m.w.N. 49 Bundesministerium des Innern, Cyber-Sicherheitsstrategie für Deutschland, abrufbar unter http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Themen/OED_Verwaltung/ Informationsgesellschaft/cyber.pdf?__blob=publicationFile (letzter Zugriff am 17.11.2014).

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Rahmen der UNO, dem Europarat, der OECD und der NATO. Auch die Bundesregierung tritt für die Etablierung eines von einer Staatenmehrheit getragenen Cyber-Kodex ein. Sie sieht die Probleme bei der Feststellung der Herkunft der Angreifer und ihrer Motive, ist aber zugleich der Auffassung, dass der Bündnisfall nach Art. 5 NATO-Vertrag ausgelöst werden könnte, wenn der Cyberangriff einem Staat zurechenbar sei, sich der Einsatz gegen die Souveränität eines anderen Staates richtete und sich die Wirkung des Angriffs mit derjenigen herkömmlicher Waffen vergleichen ließe. Die Vereinigten Staaten von Amerika gehen bisher einen anderen Weg. Sie entwickeln außerhalb des internationalen Dialogs eigene Strategien, um den Gefahren im Internet zu begegnen. In einer „International Strategy for Cyberspace“ werden eine Reihe von innerstaatlichen Maßnahmen vorgeschlagen, welche die Reichweite der eigenen Jurisdiktionshoheit, Regeln zur Staatenverantwortlichkeit und zur Anwendung von Gewalt enthalten sollen.50 Im völkerrechtlichen Kontext legen die USA besonderen Wert auf die Wahrung des „Free Flow of Information“. Das Völkerrecht müsse nicht ergänzt, sondern lediglich in seiner Auslegung den Besonderheiten des Cyberspace angepasst werden. Auch die USA gehen davon aus, dass Cyberangriffe das Recht auf Selbstverteidigung auslösen können. Darin könne auch eine Bedrohung des Weltfriedens im Sinne von Art. 39 UN-Charta liegen. Zudem bestehe eine Pflicht der Staaten sicherzustellen, dass ihr Territorium nicht durch andere Staaten oder durch nicht-staatliche Akteure für bewaffnete Angriffe gegenüber Drittstaaten benutzt wird. Die Russische Föderation ist jetzt einen Schritt weiter gegangen. Jüngst hat sie den Entwurf einer „Convention on International Information Security“ vorgestellt.51 Dieser bezeichnet bestimmte Formen von Cyberwar als Akte der Aggression und möchte die Staaten zur Übernahme von Schutz- und Sicherungspflichten anhalten. Angesichts der sehr unterschiedlichen Konzepte in der Staatengemeinschaft ist es jedoch mehr als zweifelhaft, ob diesem Projekt in naher Zukunft Erfolg beschieden sein wird.

E. Der Einfluss des humanitäres Völkerrechts „Stuxnet“ wirft auch Fragen bezüglich der Anwendbarkeit des humanitären Völkerrechts auf. Wer die Steuerung eines Atomreaktors manipuliert, nimmt damit auch in Kauf, dass eine unbestimmte Vielzahl von Zivilisten schwer geschädigt 50

Keber/Roguski (Anm. 36), 423, 424 m.w.N. Concept of a Convention on International Information Security, abrufbar unter http:// www.rusemb.org.uk/policycontact/52 (letzter Zugriff am 17.11.2014). 51

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werden kann. Damit wird das Verbot der unterschiedslosen Kampfführung aktiviert. Das Verbot der unterschiedslosen Kampfführung bedeutet, dass weder die Zivilbevölkerung als solche, noch einzelne Zivilpersonen, das Ziel von Angriffen sein dürfen und dass sie soweit wie möglich zu schonen sind. Ein unterschiedsloser Waffeneinsatz ist gemäß Art. 51 Abs. 4 des 1. Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen immer dann gegeben, wenn die eingesetzte Waffe nicht gegen ein bestimmtes Ziel gerichtet werden kann, oder deren beabsichtigte Wirkungen sich nicht auf das militärische Ziel begrenzen lassen. Anlagen und Einrichtungen, die gefährliche Kräfte enthalten, etwa Staudämme, Deiche und Kernkraftwerke, dürfen gemäß Art. 56 Abs. 1 ZP I auch dann nicht angegriffen werden, wenn sie militärische Ziele darstellen, sofern ein solcher Angriff gefährliche Kräfte freisetzen und dadurch schwere Verluste unter der Zivilbevölkerung verursachen kann. Der Schutz solcher Anlagen entfällt allerdings, wenn sie zur regelmäßigen, bedeutenden und unmittelbaren Unterstützung von Kriegshandlungen genutzt werden und ein Angriff das einzige praktisch mögliche Mittel ist, diese Nutzung zu beenden.52 Eine regelmäßige, bedeutende und unmittelbare Unterstützung von Kriegshandlungen stellt auch – wie im Falle des Iran vermutet – die Herstellung von Waffen, Munition und Wehrmaterial dar. Die Entscheidung über einen Angriff ist dabei auf der Grundlage aller im Zeitpunkt des Handelns zur Verfügung stehenden Informationen zu treffen.

F. Ergebnis Zusammenfassend kann man daher feststellen, dass das Internet viele neue Fragen aufwirft. Ob diesen Herausforderungen jedoch mit neuen Regelungen, gar solchen, die im Internet selbst entwickelt werden, zu begegnen ist, kann noch nicht abschließend beurteilt werden. Häufig wird eine den Sachgesetzlichkeiten des Internets angepasste Anwendung des geltenden Rechts genügen. Es mag aber auch Bereiche wie die Jurisdiktion der Staaten und die Pflichten der Staaten zur Vermeidung von Schäden für andere Staaten geben, wo über neue Ansätze, seien sie vertraglicher oder gewohnheitsrechtlicher Natur, nachgedacht werden sollte.

52

Vgl. Keber/Roguski (Anm. 36), 409; auch Katharina Ziolkowski, Computernetzwerkoperationen und die Zusatzprotokolle zu den Genfer Abkommen – zum „virtuellen Raum“ des Internet und dem Schutzstandard der vor 30 Jahren in Kraft getretenen Protokolle, Humanitäres Völkerrecht 21 (4/2008), 202.

Die neuen Konflikte um Kulturräume – Zur Bewahrung kultureller Identität im post-territorialen Zeitalter Von Dagmar Richter

A. Einführung Die Inanspruchnahme kulturbezogener und insbesondere Minderheiten schützender Rechte bleibt unter den Bedingungen großer globaler Wanderungsbewegungen nicht ohne Folgen. Machen Angehörige einer anwachsenden Minderheit kollektiv von der Religionsfreiheit, der Sprachenfreiheit oder von ihrem Recht Gebrauch, sonstige gruppenbezogene Eigenheiten und Traditionen auch in der Öffentlichkeit zu leben, verändert dies den öffentlichen Raum. Der auf Pluralismus hinsteuernde freiheitliche Rechtsstaat erkauft den Zuwachs an Liberalität zugunsten Verschiedener mit einem Verlust an Identität auf Seiten derer, die sich in einem kulturrelevanten Merkmal gleichen, vormals unter sich waren und bislang den Raum prägten. Nach jahrzehntelangem Kampf um die Durchsetzung der Menschenrechte und des Minderheitenschutzes sehen wir heftige Formen der Auflehnung von Mehrheiten gegen die Zumutungen des kulturellen Pluralismus. Es gibt den friedlichen Wandel, aber auch die massive Bekämpfung kultureller „Überwältigung“ – oder was eine altansässige Mehrheit als solche empfindet. Der Beitrag behandelt die Frage, ob der moderne Rechtsstaat auch im post-territorialen Zeitalter noch die Wahl hat, überlieferte Kulturräume gegen allzu schnelle Veränderung zu schützen.1 I. Kulturräume „Kulturräume“ haben die Eigenschaft, als solche allgemein erkannt zu werden, ohne mit letzter Genauigkeit beschreibbar zu sein. Der Kulturraum entsteht aus der Fülle der in einen gemeinsamen Rahmen passenden Eindrücke, die ihm insgesamt einen spezifischen Charakter verleihen. Er knüpft an menschliche Ausdrucks- und Zivilisationsformen wie Sprache, Religion, Sitten, Bauten, Kleidung, Wirtschafts1

Siehe bereits Dagmar Richter, Die Verteidigung tradierter Identitätsräume als Schranke der Religionsfreiheit, in: Marten Breuer et al. (Hrsg.), Der Staat im Recht. Festschrift für Eckart Klein zum 70. Geburtstag, 2013, 1263. Dieser Beitrag wird hier fortentwickelt.

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formen, aber auch an natürliche Rahmenbedingungen wie die Landschaft, in der sich eine Kommunität entfaltet, an. Symbole unterstreichen die Prägung des Raumes durch eine ganz bestimmte Kultur und keine andere. Ein kultureller Raum kann religiös, etwa durch Kirchenbauten, geprägt sein – oder aber säkular, z.B. durch Wolkenkratzer oder Blockhütten. Das sächsische Kulturraumgesetz2 fördert z.B. kulturelle Einrichtungen oder Maßnahmen, die „regionale Bedeutsamkeit“ für den Kulturraum haben. Das ist gem. § 3 Abs. 3 SächsKRG i.d.R. der Fall, wenn diesen a. für das Selbstverständnis und die Tradition der jeweiligen Region ein spezifischer, historisch begründeter Wert oder b. ein besonderer Stellenwert für Bewohner und Besucher der jeweiligen Region oder c. Modellcharakter für betriebliche Organisationsformen, insbesondere bei den Voraussetzungen für eine sparsame Wirtschaftsführung, oder d. eine besondere künstlerisch-ästhetische oder wissenschaftliche Innovationskraft zukommt …

Solche Beschreibungen greifen das Phänomen „Kulturraum“ auf, dessen Existenz von allen Beteiligten, insbesondere „Bewohnern und Besuchern der jeweiligen Region“ wahrgenommen wird. Ob die einzelne Einrichtung oder Maßnahme jedoch einen Beitrag dazu leistet, den Kulturraum also mitprägt und Teil davon ist, hängt von einer weiteren Bewertung ab. Insoweit geht es um die „‚positive‘ Prägewirkung“ einzelner Einrichtungen und Maßnahmen für den gesamten Kulturraum. Umgekehrt gibt es aber auch eine „als negativ wahrgenommene Prägewirkung“ von Einrichtungen, insbesondere baulicher Objekte, die als störend im Hinblick auf den spezifischen Charakter des Kulturraums empfunden werden. Um diesen Effekt geht es hier. Er wird allerdings nur verständlich, wenn man das Beharrungsvermögen und den Unveränderlichkeitsanspruch einer vorhandenen Kultur mit einbezieht. Denn an und für sich könnte man den „Kulturraum“ auch veränderbar und täglich neu formbar denken; tatsächlich scheint zu seinem Wesen aber auch die „Verfestigung“ eines überlieferten Bildes zu gehören, welche die „Wiedererkennbarkeit und Identifizierung“ über die Zeiten und Generationen hinweg erlaubt. Dieser Aspekt der Verfestigung und Stabilisierung klingt in gesetzlichen Formulierungen wie z.B. der „Tradition der jeweiligen Region“ (§ 3 Abs. 3 lit. a SächsKRG) an. II. Symbole Der hier behandelte Konflikt entzündet sich an Symbolen, die stellvertretend für die beteiligten Kulturgruppen (Mehrheit und Minderheit[en]) stehen. Ein Symbol ist ein Gegenstand, Wort, Zeichen oder Bild, das über seine konventionelle 2 Gesetz über die Kulturräume in Sachsen (SächsKRG) vom 20.1.1994, SächsGVBl. 1994, 1016, zuletzt geändert durch Gesetz vom 18.8.2008, SächsGVBl. 2008, 539.

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Bedeutung (z.B. „Lamm“) hinaus auch eine besondere über das Alltägliche hinausweisende Bedeutung („Sohn Gottes“) hat, also mehr enthält, als man bei unbefangener (in diesem Falle: religiös uninformierter) Betrachtung erkennen kann. Indem es etwas Unbestimmtes, Unbekanntes oder Unsichtbares ausdrücken kann, erlaubt es dem menschlichen Geist Vorstellungen, die sich dem Verstand entziehen.3 Symbolische Zeichen weisen stellvertretend für jede stets ungenügende Abbildung des Göttlichen auf das Unaussprechliche, Absolute und Unendliche hin.4 Religiöse Symbole, wie z.B. das Kruzifix oder Bauwerke mit symbolischem Charakter wie z.B. das Minarett, können aber auch wie Markierungszeichen die Vorherrschaft bestimmter Gruppen in bestimmten Räumen versinnbildlichen.5 Insbesondere der Turm, sei es der Kirchturm, Geschlechterturm oder Wolkenkratzer, welcher über alles hinausragt, symbolisiert die Überlegenheit einer bestimmten Kultur oder Religion, einer Familie oder eines Unternehmens, insbesondere unter den Bedingungen einer kulturellen bzw. religiösen Spaltung oder aber des scharfen Wettbewerbs. Umgekehrt findet mit dem Einreißen religiöser Bauwerke oder der Zerstörung religiöser Symbole6 zugleich eine „rituelle Tötung“ der durch sie repräsentierten Gruppe statt.7 Zivilisationsgeschichtlich steht der Gebrauch von Symbolen für ein Stadium der unkritischen Fixierung von Menschen, die im Kollektiv Anschluss und Orientierung suchen.8 Das Symbol erhebt Menschenmassen sinnlich erfahrbar nach innen und außen zu Nationen oder Religionsgemeinschaften9 und grenzt sie von 3 Vgl. Carl Gustav Jung, Zugang zum Unbewussten, in: ders. et al. (Hrsg.), Der Mensch und seine Symbole, 4. Aufl. der Sonderausgabe 1968, 20, 20 f. 4 Vgl. Hans Saner, Animal Symbolicum, in: ders. (Hrsg.), Macht und Ohnmacht der Symbole, 1993, 225, 233. 5 Vgl. Andreas Kley, Kutten, Kopftücher, Kreuze und Minarette – religiöse Symbole im öffentlichen Raum, in: René Pahud de Mortanges (Hrsg.), Religion und Integration aus der Sicht des Rechts: Grundlagen, Problemfelder, Perspektiven, 2010, 229, 233: Zurschaustellen religiöser Symbole beanspruche stets einen Richtigkeits- und Herrschaftsanspruch. 6 Zur Zerstörung der Buddha-Statuen von Bamiyan/Afghanistan im März 2001 UN General Assembly, Protection of religious sites, Resolution of 11 June 2001 (UN Doc. A/ RES/55/254); zur Zerstörung von UNESCO-Weltkulturerbe in Timbuktu/Mali UN Security Council, Resolution 2056 of 5 July 2012 (UN Doc. S/RES/2056). 7 Vgl. zur Zerstörung von Denkmälern politischer Führer Aniela Jaffé, Bildende Kunst als Symbol, in: Carl Gustav Jung et al. (Hrsg.), Der Mensch und seine Symbole, 4. Aufl. der Sonderausgabe 1968, 235. 8 Vgl. Luigi Lombardi Vallauri, Simboli e realizzazione, in: Edoardo Dieni et al. (Hrsg.), Symbolon/diabolon: simboli, religioni, diritti nell’Europa multiculturale, 2005, 13, 14. 9 Vgl. Elias Canetti, Masse und Macht, Sonderausgabe Fischer-Taschenbuch-Verlag, 1992, 187.

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anderen Gemeinschaften mit anderen Symbolen ab.10 „Symbolische Gewalt“ benutzt Fahnen, Propaganda und Uniformen, um autoritäre Ideologien im Bewusstsein der Menschen zu verankern.11 Aber auch und gerade religiöse Symbole werden zu „Katalysatoren der Aggression“,12 weil die eigenen religiösen Überzeugungen und Lebensweisen nicht verhandelbar sind. Der öffentliche Raum ist somit nicht neutral oder bedeutungslos:13 Er spiegelt die gesellschaftlichen, politischen und kulturellen (Macht-)Verhältnisse wider. Jede Teilhabe an Öffentlichkeit, wie insbesondere die Errichtung fester Bauten oder der Einsatz von Symbolen, unterliegt der Deutung und dem Abgleich mit dem Vorhandenen. Bevölkerungsgruppen, die lange auf einem bestimmten Territorium anwesend sind, haben den öffentlichen Raum in einer Weise gestaltet, die nicht nur als Normalform begriffen wird, sondern als solche auch „implizite Normativität“ erlangt.14 Es entsteht ein gefühltes Recht auf den Erhalt der vertrauten Umgebung, deren einzelne Erscheinungsformen im Laufe der Zeit zu Tradition (z.B. „Bautradition“) geronnen sind. Stellen massive Einflüsse von außen, etwa starke Zuwanderung, diese Umgebung infrage, indem zuwandernde Gruppen eigene Symbole gebrauchen oder sich gar gegen die vorhandenen Symbole wenden, verläuft der kulturelle Wandel krisenhaft und wird der öffentliche Raum als gefährdet und verteidigungsbedürftig wahrgenommen.15

B. Exemplarische Konfliktfälle Ein Kulturraum kann auf zweierlei Weise in Bedrängnis geraten. Zum einen können Angehörige einer zuwandernden Minderheit sich gegen die Symbole einer altansässigen Mehrheit wenden. Zum Beispiel will die Bevölkerungsmehrheit bzw. der aufgrund ihres demokratischen Mehrheitsvotums handelnde Staat auch weiterhin der örtlichen Tradition entsprechende Symbole (Kruzifix, Weihnachtskrippe) ausstellen, wogegen Angehörige der religiösen Minderheit bzw. Nicht10

Siehe Susanna Mancini, The Power of Symbols and Symbols As Power: Secularism and Religion As Guarantors of Cultural Convergence, Cardozo LR 30 (2008–2009), 2, 2630. 11 So eine Kernthese von Saner (Anm. 4). 12 Vgl. Vallauri (Anm. 8). 13 Siehe auch zum Folgenden Martin Baumann/Andreas Tunger-Zanetti, Migration und religiöse Bauten – zur Neuaushandlung des öffentlichen Raums, Kunst und Kirche 71 (4/ 2008), 32, 32 f. 14 Baumann/Tunger-Zanetti (Anm. 13), 33, sprechen insoweit von einem Aushandlungsprozess, der zur Gestaltung des öffentlichen Raums in seiner konkreten Form führt. 15 Baumann/Tunger-Zanetti (Anm. 13), 33.

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gläubige opponieren. Zum anderen kann eine vorhandene Mehrheit aber auch die neuen Symbole einer Minderheit ablehnen. Die erstere Konstellation soll hier an exemplarischen Streitigkeiten um die Ausstellung religiöser Symbole behandelt werden, wobei der Schwerpunkt der Betrachtung aber nicht auf der Reichweite der angerufenen Grundrechte, sondern auf den „kulturellen“ Rechtfertigungsgründen für deren Zurückweisung (Einschränkung) liegt. I. Abwehr der Symbole der Mehrheit: Die Kruzifixproblematik In den „Kruzifix-Fällen“ machen Angehörige von religiösen Minderheiten, aber auch Nichtgläubige von ihren Grund- und Menschenrechten Gebrauch, um sich dem unausweichlichen Anblick eines Kruzifixes im öffentlichen Raum zu entziehen. Kreuze und Kruzifixe sind dabei Symbole der Mehrheitsbevölkerung, die im Stadtbild wie in Gebäuden eine markierende Funktion haben. Sie zeigen die Vorherrschaft der christlich-abendländischen Kultur und Tradition in einer bestimmten Region an. Zumeist dreht sich der Streit um Kruzifixe auf öffentlichem Gelände und in öffentlichen Gebäuden; sie werden in Einzelfällen aber auch von Privatleuten auf privatem Grund in ostentativer Weise eingesetzt.16 1. Bayerische Kruzifixe – Symbole christlicher oder politischer Identität? Der Kruzifix-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 16. Mai 199517 erschütterte die Grundfesten christlich-katholischer Identität in Bayern und erregte die Gemüter in Politik und Wissenschaft.18 Gegenstand des Streits war eine inzwi16 Zum Fall eines über sieben Meter großen, nachts beleuchteten Kreuzes, das ein Privatmann in der Schweiz auf seinem Grundstück errichten wollte: Schweizerisches Bundesgericht, Urteil vom 21.6.2004 – 1 P.149/2004; dazu Kley (Anm. 5), 243 f. 17 BVerfG, Beschluss vom 16.5.1995 – 1 BvR 1087/91, BVerfGE 93, 1 (Kruzifix). 18 Siehe statt vieler Winfried Brugger/Stefan Huster (Hrsg.), Der Streit um das Kreuz in der Schule – Zur weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates, 1998; Axel von Campenhausen, Zur Kruzifix-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, in: Christoph Link/ Manfred Seitz (Hrsg.), Kirchenrecht und Kirchenpolitik, 1996, 324; Martin Heckel, Das Kreuz im öffentlichen Raum: Zum „Kruzifix-Beschluß“ des Bundesverfassungsgerichts vom 16. Mai 1995, DVBl 111 (1996), 453; Josef Isensee, Bildersturm durch Grundrechtsinterpretation. Der Kruzifix-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts, in: ZRP (1996), 10; Matthias Jestaedt, Das Kreuz unter dem Grundgesetz, JRP 1995, 237; Detlef Merten, Der „Kruzifix-Beschluß“ des Bundesverfassungsgerichts aus grundrechtsdogmatischer Sicht, in: Joachim Burmeister/Michael Nierhaus (Hrsg.), Verfassungsstaatlichkeit: Festschrift für Klaus Stern zum 65. Geburtstag, 1997, 987.

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schen aufgehobene Regelung, der zufolge in allen Klassenräumen der öffentlichen Schulen in Bayern Kruzifixe obligatorisch anzubringen waren. Wie der Bayerische Ministerpräsident dazu im Verfahren erläuterte, habe die Bayerische Verfassung „nach dem vorrechtlichen Gesamtbild“ ebenso wie auch das Grundgesetz (Präambel) einen „christlich-abendländischen Gottesbegriff vor Augen gehabt“,19 den das Schulkreuz lediglich konkretisiere; zudem habe das Staatsvolk durch Volksentscheid mehrheitlich für die auch in der Landesverfassung verankerte Gemeinschaftsschule christlicher Prägung votiert.20 Hierauf müsse auch der von den Beschwerdeführern geforderte „Schutz der religiösen Vorstellung einer Minderheit“ Rücksicht nehmen. Das gelte umso mehr, als die zu unterrichtenden Grundsätze Werte umfassten, die zwar maßgeblich vom Christentum geprägt, aber auch Gemeingut des abendländischen Kulturkreises geworden seien. Die damit aufgestellte These vom unspezifischen Symbolwert des Kruzifixes teilte das Bundesverfassungsgericht nicht, sondern qualifizierte es als das Glaubenssymbol des Christentums schlechthin.21 Da die Schulkinder kraft der Schulpflicht unausweichlich mit dem Kreuz konfrontiert seien, entstehe ein Konflikt zwischen positiver und negativer Religionsfreiheit, der sich nicht nach dem Mehrheitsprinzip zugunsten der christlichen Religion auflösen lasse; Andersdenkenden müssten daher zumutbare, nicht diskriminierende Ausweichmöglichkeiten gelassen werden.22 Den besonderen Zorn der Kruzifix-Befürworter zog sich das Bundesverfassungsgericht allerdings mit der Aussage zu, dass die Kinder in Bayern „unter dem Kreuze“ lernen müssten.23 Denn während diese Formulierung Assoziationen der Unterwerfung und Unfreiheit erweckte, wollte das Land Bayern das christliche Kreuz gerade als Sinnbild für Toleranz, Menschenwürde und Freiheit im modernen Verfassungsstaat verstanden wissen. Damit verweigerte sich das Gericht nicht nur der gewünschten Extension der religiösen Symbole in die säkulare Welt – christliche Symbole stünden für Toleranz und Menschenwürde, Symbole anderer Religionen für Anderes – sondern sprach sogar von Zwang und Unausweichlichkeit. Dementsprechend fühlten sich die Anhänger des Kruzifixes nicht nur missverstanden, sondern geradezu in das kulturell-politische Gegenlager gestellt: Nicht nur die kulturelle, sondern auch die politische Identität schienen hier

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Zugleich unterliegt der Freistaat Bayern heute wie damals einem ausdrücklichen Verbot der Staatskirche (Art. 142 Abs. 1 BayVerf); seine staatlichen Institutionen dürfen sich nicht mit bestimmten Religionsgemeinschaften identifizieren (Identifizierungsverbot). 20 BVerfG (Anm. 17), 8 f. 21 BVerfG (Anm. 17), 19. 22 BVerfG (Anm. 17), 24. 23 BVerfG (Anm. 17), 18.

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in Zweifel gezogen worden zu sein. Das erklärt auch die Heftigkeit der Reaktionen.24 Das danach ergänzte Bayerische Gesetz über das Erziehungs- und Unterrichtswesen (BayEUG) sah zwar eine Ausgleichs- und Widerspruchslösung vor, machte das Recht Einzelner, die Abhängung von Kreuzen zu verlangen, aber von der Berücksichtigung des Interesses der jeweiligen Mehrheit abhängig.25 Die Gesetzesbegründung führt insoweit aus, dass Bayern geschichtlich und kulturell wesentlich vom Christentum geprägt sei und „als Kulturstaat“ (Art. 3 BayVerf) die kulturelle Überlieferung zu schützen habe. Deshalb halte es der Freistaat – unter Beachtung des Neutralitätsgebots – für gerechtfertigt, die religiöse Lebensform und Tradition des Volkes in die Schulerziehung einzubringen.26 Im Ergebnis hängen die Kruzifixe bis heute in den bayerischen Schulen und haben nur verschwindend wenige Einzelne es gewagt, sich gegen den Willen jener Mehrheit zu erheben,27 die im Kruzifix ihre Identität verkörpert sieht. Damit werden die Aussagen des Bundesverfassungsgerichts zur Irrelevanz des Mehrheitsprinzips erfolgreich unterlaufen. Obwohl in dieser Lage die Durchsetzung der Rechte der Beschwerdeführenden (§ 93 Abs. 2 lit. b BVerfGG) mehr als nötig erscheint, entzieht sich das Gericht 24

Der bayerische Ministerpräsident äußerte, dass der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts respektiert, aber nicht akzeptiert würde; es kam zu Massendemonstrationen, an denen sich Staatsregierung, Kirchen und Bevölkerung beteiligten, Protestbriefen und Unterschriftenlisten. Siehe Hans Vorländer, Regiert Karlsruhe mit? Das Bundesverfassungsgericht zwischen Recht und Politik, APuZ 35–36/2011, 15 m.w.N. 25 Art. 7 Abs. 3 BayEUG a.F. (Änderungsgesetz vom 23.12.1995, GVBl S. 850): „Angesichts der geschichtlichen und kulturellen Prägung Bayerns wird in jedem Klassenraum ein Kreuz angebracht. Damit kommt der Wille zum Ausdruck, die obersten Bildungsziele der Verfassung auf der Grundlage christlicher und abendländischer Werte unter Wahrung der Glaubensfreiheit zu verwirklichen. Wird der Anbringung des Kreuzes aus ernsthaften und einsehbaren Gründen des Glaubens oder der Weltanschauung durch die Erziehungsberechtigten widersprochen, versucht die Schulleiterin bzw. der Schulleiter eine gütliche Einigung. Gelingt eine Einigung nicht, hat er nach Unterrichtung des Schulamts für den Einzelfall eine Regelung zu treffen, welche die Glaubensfreiheit des Widersprechenden achtet und die religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen aller in der Klasse Betroffenen zu einem gerechten Ausgleich bringt; dabei ist auch der Wille der Mehrheit, soweit möglich, zu berücksichtigen“. Nahezu wortgleich der heutige Art. 7 Abs. 4 BayEUG i.d.F. vom 31.5.2000, GVBl. S. 414. 26 Begründung der bayrischen Staatsregierung zum damals neu eingefügten Art. 7 Abs. 3 BayEUG (heute Art. 7 Abs. 4 BayEUG), Bayerischer Landtag Drucks. 13/2947, 4; siehe auch Bayerischer Verfassungsgerichtshof, Entscheidung vom 1.8.1997 – Vf. 6-VII96, Vf. 17-VII-96, Vf. 1-VII-97, NJW 50 (1997), 3157, 3158. 27 Siehe etwa zur Klage eines Lehrers Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Urteil vom 21.12.2001 – 3 B 98.563, NVwZ 21 (2002), 1000.

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dieser Aufgabe, indem es die Sache nicht mehr zur Entscheidung annimmt.28 Durch dieses Nicht-Entscheiden wurde die Rechtslage in Deutschland dahingehend neu justiert, dass die Bundesländer wieder mehr Gestaltungsspielraum in Fragen der religiösen Prägung erlangten, letztlich also auch föderale Sonderwege auf Kosten des Bundesgrundrechts auf Freiheit vom Kruzifix hingenommen werden. 2. Kruzifixe im säkularen Italien a) Rechtsprechung auf schwankendem Grund In Italien gibt es eine reichhaltige und durchaus disparate Fallpraxis zur Frage der obligatorischen Kruzifixe, die nicht nur Schulen, sondern auch Wahlräume oder Gerichtssäle betrifft. Grund für diese Disparität ist eine Rechtslage, die im Laufe der Jahrzehnte immer wieder zwischen Staatskirchentum und Trennsystem schwankte und mit ihren unterschiedlichen Entstehungsschichten bis heute Signale in verschiedene Richtungen gibt.29 Die obligatorische Anbringung von Kruzifixen in Schulräumen stützt sich bis in die jüngste Zeit hinein auf zwei königliche Dekrete von 1924 und 1928, die in der Frühphase des Faschismus erlassen wurden. Art. 1 des Konkordats von 1929 (Lateranverträge) setzte die aus früherer Zeit stammende Formel vom Katholizismus als einziger Religion des Staates wieder in Kraft. Als das „Neue Konkordat“ von 1984 diese Formel explizit strich, stellte sich deshalb die Frage, ob dadurch zumindest implizit auch die Verpflichtung zur Anbringung von Kruzifixen in Schulräumen aufgehoben sein sollte. Dies verneinte der Staatsrat in einem grundlegenden Gutachten von 1988, dem zufolge das Kruzifix universelle Werte verkörpere, die nicht auf eine bestimmte Konfession beschränkt seien und zum Erbe der italienischen Nation gehörten; folglich könne die bloße Präsenz des Kruzifixes die Freiheit Andersgläubiger nicht beeinträchtigen.30 1989 stellte demgegenüber das italienische Verfassungsgericht klar, dass das Prinzip der Säkularität zu den höchstrangigen Werten der italienischen Verfassungsordnung zähle. Es schütze aber weder Aversion noch Gleichgültigkeit in religiösen Fragen, sondern die religiöse Freiheit innerhalb eines Systems, das sich

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BVerfG, Beschluss vom 27.10.1997 – 1 BvR 1604/97, 1615/97, 1659/97, NJW 52 (1999), 1020 f. 29 Auch zum Folgenden Carlo Panara, Lautsi v. Italy: The Display of Religious Symbols by the State, EPL 17 (2011), 139. 30 Consiglio di Stato, 2. Abteilung, Gutachten Nr. 63 vom 27.4.1988; dazu Panara (Anm. 29), 141.

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auf den konfessionellen und kulturellen Pluralismus gründe (sogenannte „positive Säkularität“ oder Laizität).31 Der Spagat zwischen dem Verfassungsprinzip der Säkularität und der den Schulbehörden auferlegten Pflicht, Kruzifixe in den staatlichen Schulen zu exponieren, gelingt nur, indem die Bedeutung der Kreuze neutralisiert bzw. säkularisiert wird, d.h. die Kruzifixe zu Symbolen umgedeutet werden, die – in den Worten des Staatsrats – „universelle Werte“ verkörpern.32 Entsprechend zerrissen stellt sich die Rechtsprechung in Italien dar. Als ein Regionalgericht 2003 im Fall eines muslimischen Bürgers anordnete, die Kruzifixe auch ohne besonderes Verlangen abzuhängen,33 löste dies einen Aufruhr im betroffenen Schulort aus.34 Im krassen Gegensatz hierzu entschied ein anderes Regionalgericht 2009, dass es das Prinzip der Säkularität selbst sei, welches die Disposition der Kruzifixe erlaube, weil es auf der Meinungs- und Religionsfreiheit sowie dem Prinzip des Respekts gegenüber allen Religionen beruhe.35 Entscheidend für die Weichenstellung in die eine oder die ganz andere Richtung scheint dabei zu sein, ob und wie weit die originär religiösen Symbole säkularisiert werden und mit welchen Methoden deren Wirkung auf die verschiedenen Beteiligten festgestellt wird. b) Der Fall Lautsi vor dem EGMR Einer der italienischen Fälle, die Sache Lautsi, führte zu einer Grundsatzentscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. In diesem Fall hatte eine aus Finnland stammende italienische Staatsangehörige beanstandet, dass ihre beiden Kinder in der staatlichen Schule in Klassenräumen lernen mussten, die obligatorisch mit einem Kruzifix ausgestattet waren. Nachdem die Kammerentscheidung des EGMR von 200936 noch in unausgesprochener Anlehnung an das 31 Corte costituzionale, sentenza n. 203 vom 12.4.1989, abrufbar unter www.giurcost. org/decisioni/ (letzter Zugriff am 16.10.2014); dazu Panara (Anm. 29), 142 m.w.N. 32 A.A. Schweizerisches Bundesgericht, Urteil vom 26.9.1990 – Comune di Cadro c. Guido Bernasconi e Tribunale amministrativo del Cantone Ticino, BGE 116 Ia 252: Aufhängung von Kreuzen in öffentlichen Schulen verstößt gegen das Gebot der konfessionellen Neutralität. 33 Zur Entscheidung des Tribunals von L’Aquila im Fall Adel Smith (2003) siehe Panara (Anm. 29), 153 f. m.w.N. 34 Die betroffene Kommune soll als „Gegenmaßnahme“ ein großes Kruzifix vor der Schule installiert haben, siehe Panara (Anm. 29), 154. 35 Zur Entscheidung des Tribunals von Terni im Fall Coppoli (2009) siehe Panara (Anm. 29), 155 f. m.w.N. 36 EGMR, Lautsi et al. v. Italy, 30814/06, Urteil vom 3.11.2009.

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deutsche Bundesverfassungsgericht das Recht der Beschwerdeführer anerkannt hatte, ungeachtet des Willens der Mehrheit die Entfernung der Kruzifixe zu verlangen, brach auch über Straßburg ein Sturm der Entrüstung los. Die Stellungnahmen der politischen Institutionen Italiens, man lasse sich das Kruzifix in den Schulen nicht wegnehmen, weil es die Wurzeln der eigenen Zivilisation, eines der Symbole der Einheit des Landes repräsentiere,37 und die Ankündigung offenen Widerstandes38 blieben nicht ungehört. 2011 gelangte die Große Kammer in derselben Sache zu dem Schluss, dass die offiziell säkulare (!) Republik Italien doch das Recht habe, in staatlichen Schulen die überlieferte Tradition und Identität auch mithilfe obligatorischer Kruzifixe als christlichem Symbol zu bewahren.39 Sie prüfte diesen Fall anhand von Art. 2 Satz 2 ZP 1 (Recht auf Bildung und religiöses Erziehungsrecht der Eltern), las ihn jedoch im Lichte des Art. 9 EMRK (Religionsfreiheit): Die Religionsfreiheit enthalte einerseits auch das negative Recht, einer Religion nicht anzuhängen, und erlege den Vertragsstaaten eine „Pflicht zur Neutralität und Unparteilichkeit“ auf. Andererseits beschränke sich das aus Art. 2 ZP 1 folgende Gebot, die religiösen Überzeugungen der Eltern zu respektieren, jedoch auf ein Verbot der Missionierung und Indoktrinierung. Selbst wenn es sich daher um ein religiöses Symbol der Bevölkerungsmehrheit handele, habe das bloße Aufhängen eines solchermaßen per se „passiven Symbols“ keinen Einfluss auf die zu Unterrichtenden. Denn es gehe weder mit einer zwangsweisen Unterweisung im Christentum noch mit Intoleranz gegenüber Andersgläubigen einher. Somit erfülle es den Tatbestand des Indoktrinierens nicht und deshalb liege keine Verletzung des Art. 2 ZP 1 vor.40 Da es mit Hilfe dieser Begründung schon am Eingriff in das Konventionsrecht fehlte, wurde die Prüfung auf der Rechtfertigungsebene eigentlich hinfällig. Dennoch referierte die Große Kammer die Gründe der italienischen Regierung, an den obligatorischen Kruzifixen festzuhalten. Es existiere nämlich eine historisch gewachsene Praxis, die den Kruzifixen über den religiösen Gehalt hinaus eine „identitätsbezogene Konnotation“ verleihe, die mit einer Tradition korrespondiere, deren Perpetuierung der Staat Italien für wichtig halte. Da es an einem Konsens der europäischen Staaten in dieser strittigen Frage fehle, liege die Entscheidung 37

Siehe La Repubblica vom 4.11.2009, abrufbar unter www.repubblica.it/2009/11/ sezioni/scuola_e_universita/servizi/crocefissi-aule/bertone-su-sentenza/bertone-susentenza.html?ref=search (letzter Zugriff am 16.10.2014). 38 Siehe Richter (Anm. 1), 1271 m.w.N. 39 EGMR, Lautsi et al. v. Italy, 30814/06, Urteil vom 18.3.2011; dazu statt vieler Panara (Anm. 29); Christian Walter, Religiöse Symbole in der öffentlichen Schule – Bemerkungen zum Urteil der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Fall Lautsi, EuGRZ 38 (2011), 673. 40 EGMR (Anm. 39), insb. Rn. 60, 62, 66, 71 f., 74, 77.

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zur Fortsetzung dieser Tradition jedenfalls noch innerhalb des Beurteilungsspielraums der italienischen Regierung.41 Während die vorgängige Kammerentscheidung die Kruzifixe noch als „machtvolle externe Symbole“ bezeichnet hatte, welche die Atmosphäre der Schule prägten und einen erheblichen Einfluss vor allem auf jüngere Kinder ausübten, stellte die Große Kammer die Unerheblichkeit der Wirkung von Kruzifixen auf Kinder fest, indem sie den Maßstab für relevante Beeinflussungen – ganz im Sinne einer neueren Strömung in der U.S.-amerikanischen Debatte42 – drastisch erhöhte: An die Stelle des auf Zurückhaltung zielenden Maßstabs des Art. 2 ZP 1, wie er im Begriff des Respektierens zum Ausdruck kommt, trat eine nurmehr äußerste Grenze, nämlich das Verbot der Missionierung und Indoktrinierung. Durch diese Reduzierung des Schutzbereiches vermied die Große Kammer zwar die Aussage, dass die Verteidigung der staatlichen Identität durch ein Symbol des christlichen Glaubens ein legitimes öffentliches Interesse darstelle, das Einschränkungen der (negativen) Religionsfreiheit Andersdenkender erlaube; sie umging damit aber auch die Frage, ob die obligatorische Ausstattung von Klassenräumen mit Kruzifixen eine notwendige Maßnahme in einem Staat sein kann, in dem zugleich das Prinzip der Säkularität als oberster Verfassungswert mit staatsbeschreibendem Charakter gilt.43 Vor allem entzog sich der EGMR jedoch der zu erwartenden Machtprobe mit religiös und/oder politisch bewegten Kruzifixstreitern in Italien. In weiteren katholischen Ländern waren die Kruzifixe nur zum Teil schon an der inländischen Justiz gescheitert,44 eine Wiederholung des Konflikts anhand von Fällen aus Polen45

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EGMR (Anm. 39), insb. Rn. 67–70. Siehe Gidon Sapir/Daniel Statman, Why Freedom of Religion Does Not Include Freedom from Religion, L&Phil 24 (2005), 467, 491: Freiheit von der Religion bestehe nur im (eng interpretierten) Fall von „coercion“, da die Religionsfreiheit als spezielles Grundrechte nicht die persönliche Autonomie im umfassenden Sinne, sondern nur positives religiöses Verhalten als Wert anerkenne, insb. 495 f.; noch radikaler Anthony Ellis, What is Special about Religion?, L&Phil 25 (2006), 219: selbst religiöse Unterrichtung sei nicht per se mit Zwang verbunden und daher kraft demokratischer Mehrheitsentscheidung zu rechtfertigen. 43 Zur dogmatischen Kritik bereits Richter (Anm. 1), 1272 f. 44 Zu Fällen aus der Schweiz und Spanien Panara (Anm. 29), 150 f.; rechtsvergleichend zur Praxis in einer Reihe europäischer Länder Silvio Ferrari/Sabrina Pastorelli (Hrsg.), Religion in Public Spaces: A European Perspective, 2012. 45 Siehe zum Fall des Leslaw Maciejewski, der sich durch das Kammerurteil im Fall Lautsi (Anm. 36) zur Klage gegen die Kruzifixe in der Stadtverwaltung von Swinouscie (Swinemünde) ermutigt sah, Die Presse (Wien) vom 7.1.2010, abrufbar unter http:// diepresse.com/home/panorama/religion/531501/print.do (letzter Zugriff am 16.10.2014). 42

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oder Österreich46 hätte zweifellos gedroht. Letztlich überantwortete der EGMR den Streit um die Ausstattung öffentlicher Räume mit religiösen Symbolen der demokratischen Mehrheitsentscheidung und reduzierte das freiheitliche Interesse der Angehörigen der Minderheit auf einen elementaren Schutz vor Indoktrination und Zwangsbelehrung. Damit schuf der EGMR eine Grauzone zwischen „nicht mehr neutral“ und „nicht schon indoktrinierend“, in der die behauptete „Pflicht zur Neutralität und Unparteilichkeit“ der Staaten nicht mehr eingefordert werden kann. II. Abwehr der Symbole der Minderheit: Die schweizerische Minarettinitiative Umgekehrt zu den Kruzifix-Fällen gelagert und doch Teil derselben Problematik ist die Konstellation, dass eine religiöse Minderheit mit repräsentativen Symbolbauten (z.B. Minarettbau) in die Öffentlichkeit treten will und hiermit auf den Widerstand einer altansässigen Mehrheit stößt. In deren Augen entfalten die neuen Symbole die „negative“ Prägewirkung einer neuen Kulturrichtung, die das überlieferte Ortsbild stört. Beim Verbot solcher Bauten, z.B. von Minaretten in der Schweiz, stellt sich die Frage nach der Reichweite der Befugnisse der kulturellreligiösen Mehrheit, die sich mittelbar über den Gesetzgeber oder unmittelbar als Souverän im Wege der Volksentscheidung äußert. Anders als in den KruzifixFällen ist hier aber kein geschlossener Raum gegeben, der zu öffentlich-amtlichen Zwecken aufgesucht werden muss, sondern eine grundsätzlich frei begehbare und auch begrenzt vermeidbare Außenwelt. Auseinandersetzungen um die Sakralbauten muslimischer Zuwanderer spielen nicht nur in der Schweiz, sondern in etlichen europäischen Staaten eine konfliktträchtige Rolle.47 Auch in anderen Staaten wurde versucht, Moscheebauten direkt im Wege des Bürgerbegehrens48 oder aber verschleiert aufgrund baurechtlicher 46

Art. 2 b Abs. 1 Bundesgesetz vom 13.7.1949 betreffend den Religionsunterricht in der Schule (Religionsunterrichtsgesetz), BGBl. Nr. 190/1949: „In den unter § 1 Abs. 1 fallenden Schulen, an denen die Mehrzahl der Schüler einem christlichen Religionsbekenntnis angehört, ist in allen Klassenräumen vom Schulerhalter ein Kreuz anzubringen“. Diese Norm ist „Grundsatzbestimmung“. Darüber hinaus verlangen die Schulorganisationsgesetze etlicher Bundesländer die Anbringung von Kreuzen ausnahmslos in jedem Klassenzimmer. Siehe auch (mit Bezug auf Kindergärten) den Grundsatzentscheid des österreichischen Verfassungsgerichtshofs vom 9.3.2011 – G 287/09-25. 47 Eingehend zu einer Reihe von deutschen Gerichtsfällen betreffend Moschee- und Minarettbauten Dorothea Gaudernack, Muslimische Kultstätten im öffentlichen Baurecht, 2011, 235 ff. 48 Zum Bürgerbegehren „Pro Köln“ und anderen Fällen sowie einer gegen islamische Sakralbauten gerichteten Petition an den Deutschen Bundestag Gaudernack (Anm. 47),

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Vorschriften zu unterbinden.49 Als extremer Fall der Bekämpfung symbolischer Bauten einer ganz bestimmten Minderheit fällt aber immer noch die schweizerische „Minarettinitiative“ auf, die als Volksinitiative von der rechtspopulistischen Schweizerischen Volkspartei und der evangelikalen Kreisen nahestehenden Eidgenössischen Demokratischen Union betrieben worden war. Auf sie geht die Ergänzung der Schweizerischen Bundesverfassung (BV) um den heutigen Art. 72 Abs. 3 zurück, indem es seither heißt: „Der Bau von Minaretten ist verboten“.50 Obwohl die schweizerische Regierung (Bundesrat) wegen drohender Verletzung von Verfassungs- und Völkerrecht die Ablehnung der Initiative empfohlen hatte51 und die wichtigsten gesellschaftlichen Kräfte (Wirtschaftsdachverband, Gewerkschaften, christliche Kirchen [!]) sich gegen sie ausgesprochen hatten,52 wurde sie in der Volksabstimmung vom 29. November 2009 von 57,5 % der teilnehmenden wahlberechtigten Bevölkerung sowie von der Mehrheit der „Stände“ (Kantone) unterstützt.53 Zum Erfolg kam es, weil sich in dieser Frage ein ausgeprägtes Rechts-Links-Schema gebildet und die politische Mitte gegen die Stimmempfehlung ihrer Parteien dem rechtspopulistischen Lager angeschlossen hatte.54 Der Kampf gegen die Minarette ist deshalb so erstaunlich, weil nur zwei neuere Bauanträge zur Debatte standen und in der gesamten Schweiz bis zur Volksab-

263 f., 267 f. m.w.N.; die Autorin weist darauf hin, dass sämtliche Bürgerbegehren in Deutschland daran scheiterten, dass abschließende Entscheidungen in Verfahren der Bauleitplanung wegen der hier erforderlichen komplexen Abwägung kein zulässiger Gegenstand von Bürgerentscheiden sein können. 49 Z.B. wurde im österreichischen Bundesland Kärnten auf Betreiben der FPÖ Anfang 2008 das Landesortsbildpflegegesetz so geändert, dass Bauvorhaben mit außergewöhnlicher Architektur oder Größe, sofern sie von der örtlichen Bautradition wesentlich abweichen, unterbunden werden können. Dazu sowie zum Vorstoß der FPÖ, ein Bauverbot für Minarette in die österreichische Bundesverfassung einzufügen, Gaudernack (Anm. 47), 268 f. 50 Dazu im Einzelnen Botschaft des Bundesrates vom 27.8.2008 zur Volksinitiative „Gegen den Bau von Minaretten“, BBl 2008, 7603. 51 Botschaft des Bundesrates (Anm. 50); die Bundesversammlung kam zum selben Ergebnis, erklärte die Initiative aber nicht wegen Unvereinbarkeit mit zwingendem Völkerrecht (Art. 139 Abs. 2 BV) für ungültig, siehe Bundesversammlung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Bundesbeschluss über die Volksinitiative „Gegen den Bau von Minaretten“, BBl 2009, 4381. 52 Dazu im Einzelnen Doris Angst, Das Minarettverbot in der Schweiz: Eine Diskursanalyse mit Blick auf die Menschenrechte, ZfMR 1/2010, 158, 158 f. 53 Siehe Sachverhalt zu EGMR, Hafid Ouardiri v. Switzerland, 65840/09, Urteil vom 28.6.2011, NVwZ 2012, 289, 289. 54 Siehe Angst (Anm. 52), 165 m.w.N. insb. zur VOX-Analyse.

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stimmung insgesamt nur vier Minarette tatsächlich errichtet worden waren.55 Dieses Missverhältnis zwischen der minimalen Wahrnehmbarkeit islamischer Kultusbauten in der Schweiz und der Heftigkeit der Debatte bei gleichzeitiger Gleichgültigkeit gegenüber den Bauten anderer Religionsgemeinschaften56 zeigt eine gesteigerte Symbolbedeutung gerade der islamischen Bauten an: Offensichtlich floss in die Minarettinitiative nicht nur das Unbehagen am muslimischen Sakralbau in der schweizerischen Provinz, sondern auch alles Andere ein, was am Verhalten oder Vorhandensein muslimischer Einwanderer störte.57 Man wollte speziell die in der Schweiz lebenden Muslime „in die Schranken weisen“,58 weil sie und keine andere Gruppe die eigene Kultur zu bedrohen schienen. Die alteingesessene Bevölkerung entnahm ihren Baugesuchen nicht nur die Botschaft „wer baut, der bleibt“, sondern sah sich mit einer konkurrierenden muslimischen Kultur konfrontiert, die mit eigenen Symbolbauten den Anspruch auf Repräsentanz in der Öffentlichkeit59 und Mitgestaltung des öffentlichen Raums erhob. Der Streit um das gewünschte „Symbolverbot“60 zulasten muslimischer Bauten setzte sich auch in einem Folgestreit um die bildliche Darstellung des Abstimmungsgegenstands auf öffentlichen Plakaten fort.61 55 Angst (Anm. 52), 161; zu den Einzelheiten des besonders umstrittenen Bauantrags für ein Minarett in Wangen bei Olten Kley (Anm. 5.), 245; siehe auch Schweizerisches Bundesgericht, Urteil vom 4.7.2007 – 1P.26/2007, abrufbar unter www.bger.ch (letzter Zugriff am 17.10.2014). 56 Andreas Kley/Alexander Schaer, Gewährleistet die Religionsfreiheit einen Anspruch auf Minarett und Gebetsruf?, in: Mathias Tanner et al. (Hrsg.), Streit um das Minarett, 2009, 87, 94 (mit Hinweis auf den Sikh-Tempel in Langenthal und den buddhistischen Tempel in Gretzenbach); eine kurze Auflistung aller nicht-christlichen Sakralbauten in der Schweiz findet sich bei Baumann/Tunger-Zanetti (Anm. 13), 39, eine Vorstellung der vorhandenen muslimischen Bauten bei Felix Müller/Mathias Tanner, Muslime, Minarette und die Minarett-Initiative in der Schweiz: Grundlagen, in: Mathias Tanner et al. (Hrsg.), Streit um das Minarett, 2009, 21, 32 ff.; siehe auch die Zusammenstellung des Zentrums Religionsforschung der Universität Luzern, abrufbar unter http://www.religionenschweiz. ch/bauten/liste.html (letzter Zugriff am 17.10.2014). 57 Das zeigte sich insbesondere in reißerischen Plakaten der Initianten, die eine schwarz verhüllte Frau vor einem Wald von Minaretten zeigten, und den Vorwurf des Rassismus aufkommen ließen; dazu Kley (Anm. 5), 246 f.; aufschlussreich zur Vermengung zahlreicher weiterer Themen mit der Minarettinitiative das Manifest „Nein zur Islamisierung der Schweiz“ vom 29.11.2010 des Komitees „Ja zum Minarett-Verbot“, abrufbar unter www.minarette.ch/downloads/101129-manifest.pdf (letzter Zugriff am 18.07.2014). 58 Kley (Anm. 5), 249. 59 Vgl. Müller/Tanner (Anm. 56), 40 f.: Anspruch auf Öffentlichkeit. 60 Kley (Anm. 5), 235. 61 Zum „Plakatverbot“ Kley (Anm. 5), 246 f.: Die eine Symbolpolitik überlagerte sich mit einer anderen.

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Das Vorgehen gegen (die Symbole) eine(r) bestimmte(n) Minderheit wäre ohne die weit reichenden schweizerischen Volksrechte nicht vorstellbar gewesen: Eine Möglichkeit, konkrete Bauvorhaben durch Volksabstimmung zu Fall zu bringen, bestand vor der Verfassungsänderung nicht.62 Denn auch in der Schweiz mussten Sakralbauten genehmigt werden, wenn die Bauvorschriften eingehalten und die Zonenkonformität gegeben waren;63 auch hier galt unter der Geltung der Gebote staatlicher Neutralität und Gleichbehandlung aller Religionen: „Wo eine Kirche zulässig ist, ist es auch eine Moschee“64 – wo der Kirchturm stehen kann, kann es auch das Minarett. Deshalb blieb den Gegnern des Minaretts nur, aber immerhin, die Möglichkeit, eine Verfassungsänderung zu bewirken. Dabei zeigte sich auch hier, wie politische Aspekte die religiöse Frage überlagern: Selbstverständlich gestand man den Muslimen die Religionsfreiheit zu. Der Vorwurf an sie lautete jedoch, dass sie die Minarette zur Demonstration politischer Macht bzw. als „Symbol der politischen Islamisierung“ missbrauchten,65 vermeintlich also nur Missbrauchsbekämpfung betrieben würde. Erst diese Umdeutung der religiösen Symbole in politische erzeugte jenes allgemein relevante, von individueller Gläubigkeit enthobene Konfliktthema, das für breite Bevölkerungsschichten anschlussfähig, geradezu zur Identitätsfrage werden konnte. Völkerrechtliche Sicherungen liefen in diesem Falle bislang leer. Zwar gelangte eine Vielzahl rechtswissenschaftlicher Studien zu dem Ergebnis, dass das verfassungsrechtliche Minarettverbot die Religionsfreiheit und das Verbot der Diskriminierung anhand des Merkmals der Religion, zu deren Einhaltung sich die Schweiz international verpflichtet hat (Art. 9, 14 EMRK, Art. 2 Abs. 1, 18, 27 IPbpR), verletzt.66 Auch Rassismus-Vorwürfe stehen im Raum, weil mit der gegen 62

Kley/Schaer (Anm. 56), 87, 93 m.w.N. So auch zum streitauslösenden Fall des in Wangen bei Olten geplanten Minaretts Schweizerisches Bundesgericht (Anm. 55). 64 René Pahud de Mortanges, Die schweizerische Rechtsprechung und Verwaltungspraxis zum Islam in der Schweiz, in: Urs Altermatt et al. (Hrsg.), Der Islam in Europa, 2006, 265, 270. 65 Siehe etwa das Manifest „Nein zur Islamisierung der Schweiz“ (Anm. 57): „Das Minarett ist das Symbol der politischen Islamisierung (…)“. 66 Siehe statt Vieler Yvo Hangartner, Religionsfreiheit – Ein Überblick aus Anlass des neuen Art. 72 Abs. 3 BV (Verbot des Baus von Minaretten), AJP 2010, 441; Kley, (Anm. 5), 247 f.; Ralph Zimmermann, Zur Minarettverbotsinitiative in der Schweiz, ZaöRV 69 (2009), 829, 836 ff.; siehe auch Council of Europe, Parliamentary Assembly, Islam, Islamism and Islamophobia in Europe, Resolution 1743 (2010) vom 23.6.2010, Rn.13: „(…) In this context, the Assembly is particularly concerned about the recent referendum in Switzerland and urges the Swiss authorities to enact a moratorium on and repeal as soon as possible, the general prohibition on the construction of minarets for mosques“. In Rn. 1 derselben 63

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islamische Bauformen und Verhaltensregeln gerichteten Initiative ganz überwiegend Menschen aus bestimmten Ethnien zum Opfer gezielter Beschränkung wurden.67 Alle bisherigen Versuche, das Verbot des Baus von Minaretten vor dem EGMR anzugreifen, scheiterten jedoch an der Zulässigkeit, da die Beschwerdeführer keine hinreichend konkreten Auswirkungen des Verbots auf sich selbst plausibel machen konnten.68 Die Prognose, dass sich Symbolverbote wie das Minarett-Verbot selbst zu Fall bringen werden, indem das unterdrückende Gesetz allmählich an die Stelle des unterdrückten Symbols tritt,69 erscheint gewagt, weil es den Kontrahenten um visuell erfahrbare Raum- und Machteindrücke geht. Die Frage, die sich der Schweiz nachhaltig stellt, ist die, ob die Volksinitiative sich künftig zum Instrument der Unterdrückung von Minderheiten bzw. einer „Diktatur der Mehrheit“ entwickelt und, daran anschließend, wie man das Verhältnis zwischen dem Demokratieprinzip (Volksrechten) auf der einen Seite und dem Rechtsstaatsprinzip (Grundrechte) bzw. dem Völkerrecht (Menschenrechte) auf der anderen Seite wieder neu justieren kann.70

C. Problemanalyse I. Symbolwirkung 1. Selektivität der Wahrnehmung Wie die Praxisbeispiele gezeigt haben, richtet sich die „bedrohte Mehrheit“ keineswegs konsequent gegen alle als fremdartig empfundenen Symbole, sondern z.B. in europäischen Ländern gegen islamische Sakralbauten. Dies wird zum Teil damit erklärt, dass das Ansehen einer religiösen Minderheit innerhalb der Mehrheitsgesellschaft eine wesentliche Rolle spiele, d.h. erst das „gute Ansehen“ die Sichtbarkeit durch repräsentative Sakralbauten ermögliche.71 Damit wird allerResolution beanstandet die Parlamentarische Versammlung freilich auch „Islamic radicalism and manipulation of religious beliefs for political reasons“. 67 Siehe Anm. 57. 68 EGMR, Ouardiri v. Switzerland (Anm. 53); sowie EGMR, Ligue des musulmans de Suisse et autres, 66274/09, Urteil vom 28.6.2011. 69 So die These von Kley (Anm. 5), 236, 255. 70 Siehe zur Neujustierung des Verhältnisses von Völkerrecht und Landesrecht den sehr zurückhaltenden Bericht des Bundesrats vom 5.3.2010, BBl 2010, 2263, und Zusatzbericht vom 30.3.2011, BBl 2011, 3613, insb. 3652 f. 71 Martin Baumann/Andreas Tunger-Zanetti, Ansehen und Sichtbarmachung. Religion, Immigration und repräsentative Sakralbauten in Europa, Herder Korrespondenz 65 (8/ 2011), 407, 409.

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dings in problematischer Weise eine Mitschuld der Minderheit an ihrer Ablehnung suggeriert, ohne dass feststeht, inwieweit das Ansehen einer zugewanderten Religionsgemeinschaft überhaupt fair und unparteilich beurteilt wird. Wahrscheinlicher ist, dass sich der Widerstand der vorhandenen Mehrheit selektiv gegen solche Minderheiten richtet, die ihr nach Größe und Stärke als bedrohlich erscheinen bzw. aufgrund ihrer Größe und Anwesenheitsdauer einen besonders vernehmlichen („provokanten“) Anspruch auf Teilhabe an der Gestaltung der Öffentlichkeit erheben. Dieser korrespondiert mit einer Konsolidierung der Zuwandererpopulation im Empfangsstaat. Das gilt z.B. für jene lange als „neue Minderheiten“ bezeichneten Gruppen, die inzwischen in dritter und vierter Generation in den Staaten Westeuropas leben, vielfach die Staatsangehörigkeit angenommen haben und nun zu klassischen Minderheiten geworden sind.72 2. Die „Säkularisierung“ religiöser Symbole Die untersuchten Beispiele belegen eine neue Bedeutung religiöser Symbole. Einerseits legen die Menschen entgegen mancher Modernisierungstheorie73 wieder mehr Wert auf religiöse Ausdrucksformen, andererseits nimmt die eigentliche (innerliche) Religiosität ab. Wesentlich für das Verständnis der hier behandelten Konfliktlagen ist, dass ein zuvor unbestrittenes Monopol der christlichen Kultur durch zugewanderte, insbesondere islamische Bevölkerung infrage gestellt wird, während zugleich der Anteil der christlichen Bevölkerung zurückgeht.74 Die Angst vor „Islamisierung“ wird dabei oft als Indiz dafür angesehen, dass die europäischen Gesellschaften sich ihrer religiös-kulturellen Verankerungen gerade nicht mehr gewiss sind.75 In einer zunehmend säkularen und multikulturell-pluralisti72

Siehe Eckart Klein, Traditional and New Minorities in Germany: Different Degrees of Protection, in: Martin Scheinin/Reetta Toivanen (Hrsg.), Rethinking Non-discrimination and Minority Rights, 2004, 15; ders., Minderheiten, Minderheitenrechte, Minderheitenschutz, in: Martin Honecker et al. (Hrsg.), Evangelisches Soziallexikon, 2001,Sp. 1083; zur Kontroverse um die Minderheiteneigenschaft von Migrant(inn)en Ingrid Gogolin/Stefan Oeter, Sprachenrechte und Sprachminderheiten: Übertragbarkeit des internationalen Sprachenregimes auf Migrant(inn)en, RdJB 2011, 30; Hartmut Esser, Migranten als Minderheiten?, RdJB 2011, 45; siehe auch Jörg Künzli/Alberto Achermann, Do You Speak Swiss? – Rechte und Pflichten von Angehörigen neuer Sprachminderheiten in einem mehrsprachigen Zuwanderungsstaat, RdJB 2011, 93. 73 Siehe etwa Johannes Berger, Was behauptet die Modernisierungstheorie – und was wird ihr nur unterstellt?, Leviathan 25 (1996), 45. 74 Siehe auch Baumann/Tunger-Zanetti (Anm. 13), 34. 75 Vgl. René Rhinow, Will „das Volk“ wirklich Minarette verbieten? Rechtsordnung und Toleranz gegenüber Minderheiten, in: NZZ vom 9.12.2009, 13: Sie glaubten nicht

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schen Gesellschaft, der es an gemeinsamen Werten fehlt, kommt es zur „Deprivatisierung der Religionen“, da diese verstärkt in den öffentlichen Raum drängen. Dort werden die Symbole der christlichen Mehrheitsgesellschaft zu Ausdrücken einer historisch gewachsenen kulturellen und nationalen Identität mit rechtsstaatlichdemokratischem Charakter, die Symbole der zugewanderten (insbesondere islamischen) Minderheit hingegen zu Ausdrücken illiberaler, nicht demokratischer Werte umgedeutet.76 So stellt sich im Ergebnis eine „komplexe Symbolproblematik“ ein: Minarett und Kirchturm symbolisieren nicht nur bestimmte Religionen, sondern zugleich verschiedene kulturelle Identitäten, ethnische Zugehörigkeiten und politische Werte, die der eigenen und der fremden Gemeinschaft mehr oder weniger zutreffend zugeschrieben werden. Es entsteht eine spezielle Form von „Säkularisierung“ der religiösen Zugehörigkeiten, durch welche der Konflikt erst für die zunehmende Schar der Nichtgläubigen auf beiden Seiten bedeutsam und anschlussfähig wird. Indem Angehörige einer Minderheit von ihrer positiven oder negativen Religionsfreiheit Gebrauch machen, stellen sie in den hier behandelten Konfliktfällen die Identitätsbedürfnisse und -ansprüche einer sich im Besitz des älteren Rechts glaubenden altansässigen Mehrheit in Frage. Die eigentliche Konfliktlinie verläuft demnach nicht zwischen religiöser Mehrheit und religiöser Minderheit, sondern zwischen der Betätigung oder Ablehnung von Religion und der Verteidigung von Identität im Sinne einer „christlich-abendländischen Tradition“, wie sie die Beteiligten – eher religiös oder aber eher säkular/politisch – interpretieren. Eine Konsequenz der beschriebenen Säkularisierung stellt die Politisierung dar. Sie spielt im vorliegenden Kontext eine besondere Rolle, weil die Angehörigen einer sich bedrängt fühlenden Mehrheit keine effektiven individuellen Abwehrrechte gegen die wahrgenommene Veränderung ihrer Lebensumwelt besitzen: Weder können die Sakralbauten der zugewanderten Minderheit durch Prozesse um die Erfüllung von Stellplatzverpflichtungen verhindert werden, noch wird der aufgrund gesellschaftlicher Vorurteile entstehende (reale) Wertverlust von Privatgrundstücken im Sichtbereich einer Moschee von den Gerichten für baurechtlich erheblich befunden.77 Unter diesem Eindruck von Ohnmacht kommt es zur „politischen Aufladung“ des Konflikts, indem sich christlich-konservative und rechtspopulistische Parteien des Themas bemächtigen und einseitige Lösungen auf der Basis politischer Majorisierung versprechen. So wird z.B. das Kreuz – zum Miss-

mehr an die Stärke des eigenen Christentums und es fehle ihnen an gesundem Selbstvertrauen. 76 Vgl. Mancini (Anm. 10), 2630 f. 77 Siehe unten D. II.

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fallen der christlichen Kirchen – zum pseudochristlichen Code und Kampfsymbol in der politischen Auseinandersetzung.78 3. Religiöse Relevanz von Symbolen In allen Konfliktfällen, die sich um die Ausgestaltung öffentlicher Räume mit religiösen Symbolen durch den Staat selbst drehen, wird üblicherweise der religiöse Charakter der Symbole bestritten und versucht, dieselben als Verkörperung universeller positiver Werte, insbesondere der Menschenwürde, darzustellen. Auch hierin liegt eine Erscheinungsform der zu beobachtenden Säkularisierung.79 Die betreffenden Deutungsversuche sind jedoch sowohl vor dem EGMR als auch vor dem Bundesverfassungsgericht gescheitert.80 Denn so wie der Staat nicht über Inhalte, Gebote und Praktiken einer Religion befinden darf, kann er auch nicht die „religiöse Relevanz oder Irrelevanz der Wirkung von Symbolen“ beurteilen: Sie ist im Zweifel vorhanden, wenn die Adressaten sie so wahrnehmen. Und je mehr ein Staat betont, wie unabdingbar das Kruzifix in öffentlichen Gebäuden zur Festigung der staatlichen Identität sei, umso mehr Wirkung misst er dem Symbol selbst zu, umso mehr spricht er Anders- und Nichtgläubigen die Identifizierung mit der staatlichen Gemeinschaft ab. Eine Wahl, den religiösen Charakter der Symbole oder auch nur deren Wirksamkeit zu leugnen, besteht mit Blick auf diese Lage nicht. 4. Hinzufügen und Entfernen von Symbolen, staatliche und gesellschaftliche Formen der Prägung Während das Hinzufügen islamischer Sakralbauten eine örtlich vorhandene „christlich-abendländische“ Prägung beschädigen kann (und umgekehrt), löst das 78

Siehe z.B. das Grundsatzprogramm der CSU vom 28.9.2007, CSU-Landesleitung (Hrsg.), Chancen für alle! In Freiheit und Verantwortung Zukunft gestalten, abrufbar unter: http://www.hss.de/fileadmin/media/downloads/ACSP/Grundsatzprogramm_2007.pdf (letzter Zugriff am 20.10.2014), Teil III: Christliche Werte, Eigenverantwortung, Zusammenhalt, S. 29: „Der christliche Religionsunterricht und das Kreuz in den Klassenzimmern und in allen öffentlichen Gebäuden sind unverzichtbar …“ Zu „Österreichs Rechten“ Elisalex Henckel, Österreichs Rechte machen Politik mit dem Kruzifix, in: Die Welt vom 28.5.2009, abrufbar unter: http://www.welt.de/politik/article3820435/Oesterreichs-Rechtemachen-Politik-mit-dem-Kruzifix.html (letzter Zugriff am 20.10.2014). Zur politischen Funktionalisierung in Italien (Mussolini, Berlusconi) Richter (Anm. 1), 1271, 1273, sowie in der Schweiz oben B. II. 79 Siehe zuvor C. I. 2. 80 Siehe oben B. I.

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Weglassen von Kruzifixen aus öffentlichen Gebäuden keine unmittelbar störende Wirkung auf eine vorhandene Prägung aus. Allerdings kann das bloße Abhängen religiöser Symbole die Wiedererkennbarkeit von und Vertrautheit mit bestimmten staatlichen Räumen (Schulen, Gerichten etc.) beeinträchtigen und so die Identifizierung mit dem Staat auf der Basis gemeinsamer, visuell erfahrbarer Werte schwächen. Ein gerichtlich erzwungenes Abhängen löst, wie die betreffenden Fälle gezeigt haben, bei Teilen des Publikums Verlustgefühle und mitunter sogar Aggressionen aus. Das Interesse an der Beibehaltung einer vertrauten kulturellen Prägung hat im Falle der Kruzifixe jedoch eine andere Qualität als im Falle der Abwehr islamischer Kulturbauten: Denn mit dem Kreuz hat der Staat das Symbol einer Religionsgemeinschaft in der Vergangenheit für eigene Zwecke instrumentalisiert, so dass es zur staatskulturellen Prägung öffentlicher Räume gekommen ist; im Falle der Sakralbauten geht es dagegen um rein gesellschaftliche Formen der kulturellen Prägung. Nur in der erstgenannten Konstellation steht die Neutralität des Staates in Frage, was der Schutzwürdigkeit des staatlichen Anliegens enge Grenzen setzt. II. Der Staat als „neutraler Organisierer“ und die Autonomie des Neutralitätsprinzips Wird der Staat aktiv zur Ermöglichung individueller und kollektiver Religionsausübung tätig, muss er sich sowohl mit Blick auf die Menschenrechte als auch auf innerstaatliches Verfassungsrecht zurückhalten: Wie der EGMR in ständiger Rechtsprechung verdeutlichte, darf das friedliche Zusammenleben der Religionen nur in neutraler, unparteilicher Weise geregelt werden, weshalb Staaten, in denen mehrere Religionen vertreten sind, die Rolle des „neutralen und unparteilichen Organisierers“ zufällt.81 Man kann insoweit vom Neutralitätsprinzip als Bestandteil des europäischen Ordre public sprechen. In entsprechender Weise leitet das Bundesverfassungsgericht aus dem grundgesetzlichen Neutralitätsprinzip82 ab, 81

EGMR, Refah Partisi et al. v. Turkey, 41340/98, 41342/98, 41343/98 und 41344/98, Urteil vom 13.2.2003, Rn. 91: „The Court has frequently emphasised the State’s role as the neutral and impartial organiser of the exercise of various religions, faiths and beliefs, and stated that this role is conducive to public order, religious harmony and tolerance in a democratic society“. Siehe bereits EGMR, Kokkinakis v. Greece, 14307/88, Urteil vom 25.5.1993, Rn. 33. 82 Ständige Rechtsprechung, siehe m.w.N. BVerfG (Anm. 17), 16 f.; BVerfG, Beschluss vom 26.6.2002 – 1 BvR 670/91, BVerfGE 105, 279, 294 (Osho); BVerfG, Urteil vom 24.9.2003 – 2 Bvr 1436/02, BVerfGE 108, 282, 299 f. (Kopftuch); BVerfG, Beschluss vom 12.5.2009 – 2 BvR 890/06, BVerfGE 123, 148, 178 f (Vergabe staatlicher Mittel).

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dass der Staat „auf eine am Gleichheitssatz orientierte Behandlung der verschiedenen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zu achten“ hat, was explizit zwar keine Verpflichtung zur strikten Trennung von den Religionsgemeinschaften beinhaltet; „sichert“ er jedoch zur Stärkung individueller und kollektiver Religionsfreiheit selbst den „Raum“ für religiöse Gemeinschaften, muss er „eine offene und übergreifende, die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördernde Haltung“ einnehmen.83 Arbeitet er mit Religionsgesellschaften zusammen oder fördert er sie, darf dies nicht zur Identifikation mit bestimmten Religionsgesellschaften oder zur Privilegierung bestimmter Bekenntnisse führen und kann er zur Sicherstellung seiner Nicht-Identifikation „auch zu Vorkehrungen organisatorischer Art verpflichtet“ sein.84 Nur so ist der religiöse Frieden in einer Gesellschaft, in der unterschiedliche Glaubensüberzeugungen nebst Nichtgläubigen um die Prägung des öffentlichen Raums konkurrieren, zu bewahren.85 Es kann eigentlich keinen Zweifel daran geben, dass der Staat diese Grenzen der Neutralität mit der Exposition christlich-katholischer Kruzifixe in Räumen, welche von Angehörigen der gesamten Bevölkerung zur Inanspruchnahme öffentlichrechtlicher Dienstleistungen besucht werden müssen, überschreitet. Damit betätigt er sich nicht mehr als „neutraler Organisierer“ im Konfliktfeld der Kulturen, sondern identifiziert sich und ergreift Partei. Auch wenn dies die Zustimmung der Bevölkerungsmehrheit findet, stellen sich die Kruzifixe mit Blick auf die Umstände der Exposition nicht als gesellschaftliche Aktivität, sondern als Ausdrucksformen einer Staatskultur dar, die sich auf eine ganz bestimmte, wenn auch traditionell stark verankerte Religion fokussiert. Anders mag es zu bewerten sein, wenn der Staat sich um eine Exposition der verschiedenen Symbole bemühen oder den verschiedenen Gemeinschaften spezielle Räume zur Dekoration mit ihren jeweiligen religiösen Symbolen überlassen würde. Der bloße Hinweis auf Tradition genügt für eine Relativierung der Pflicht zum allenfalls neutralen Fördern der Religionsgemeinschaften nicht. Während das Bundesverfassungsgericht die Konsequenzen aus seinen Grundsätzen zur Neutralität zog, suchte der EGMR den Ausweg aus der Neutralität, indem er die Disposition von Kruzifixen wenig überzeugend zu einer tatbestandlich unerheblichen Einwirkung herabstufte.86 Dass es in der Beurteilung der 83

BVerfGE 108 (Anm. 82), 299 f. BVerfGE 123(Anm. 82), 178, m.w.N. 85 Vgl. BVerfG (Anm. 17), 16: „Der Staat, in dem Anhänger unterschiedlicher oder gar gegensätzlicher religiöser und weltanschaulicher Überzeugungen zusammenleben, kann die friedliche Koexistenz nur gewährleisten, wenn er selber in Glaubensfragen Neutralität bewahrt“. 86 Siehe oben B. I. 84

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Verfassungsmäßigkeit überhaupt zur Ausbildung unversöhnlich gegensätzlicher Positionen gekommen ist, erklärt sich damit, dass beide Lager in der Kruzifixdebatte über unterschiedliche Dinge reden: Während die eine Seite neutralitätsrechtlich argumentiert, will die andere Seite die Grundrechte der Angehörigen von religiöser Mehrheit und (a)religiöser Minderheit gegeneinander abgewogen wissen.87 Dabei bleibt aber die entscheidende Frage, warum eine religiöse Mehrheit für ihre religiöse Entfaltung gerade staatliche Innenräume in Anspruch nehmen muss, die der Erfüllung öffentlich-rechtlicher Aufgaben gegenüber der Allgemeinheit dienen, zumeist offen. Konsequent verfährt hier lediglich die Anhängerschaft eines christlichen Kulturvorbehalts,88 die eine schlüssige Antwort geben, die behauptete Befugnis zur öffentlichen Identifizierung mit einer bestimmten Religion aber nicht nachweisen kann: Selbst Verfassungsordnungen, die eine explizite Gottesanrufung beinhalten, können nicht in diesem Sinne interpretiert werden.89 Letztlich darf der Gleichklang zwischen dem Neutralitätsprinzip und den grundund menschenrechtlichen Interessen der Angehörigen von Mehrheit und Minderheit nicht darin gesucht werden, dass man aus dem, was im Interesse der Mehrheit liegt und zugleich der Minderheit noch zumutbar ist, die Einhaltung der Grenzen der Neutralität ableitet. Vielmehr muss umgekehrt zugrunde gelegt werden, dass das Neutralitätsprinzip, auch wenn es keine „Laizität“ erzwingt, die Auflösung des

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So zutreffend Stefan Magen, Neutralität und negative Religionsfreiheit im staatlich verantworteten öffentlichen Raum, in: Lothar Häberle/Johannes Hattler (Hrsg.), Islam – Säkularismus – Religionsrecht, 2012, 95, 98. 88 Siehe exemplarisch Christian Hillgruber, Der deutsche Kulturstaat und der muslimische Kulturimport, JZ 1999, 538; siehe auch Udo Di Fabio, Christentum und Rechtskultur als Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: Wolfgang Huber/Christian Waldhoff/Udo Di Fabio (Hrsg.), Die Verfassungsordnung für Religion und Kirche in Anfechtung und Bewährung, Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche, 2008, 129; weitere Nachweise bei Gaudernack (Anm. 47), 203 f.; einen sehr speziellen Neutralitätsbegriff vertritt Stefan Huster, Die ethische Neutralität des Staates. Eine liberale Interpretation der Verfassung, 2001, 250 ff., insb. 299. 89 Siehe in Bezug auf das Grundgesetz Gaudernack (Anm. 47), 203 ff.; zur invocatio dei in der Präambel der Schweizerischen Bundesverfassung („[i]m Namen Gottes des Allmächtigen! …“) Bundesrat Arnold Koller, Amtl. Bull. NR(ReformBV) 1998, 128, 129: „Der Gott, der hier angerufen wird, ist allerdings nicht für jedermann derselbe. (…) Die Anrufung Gottes deutet zwar auf ein christlich-abendländisches Verständnis von Staat und Gesellschaft hin, kann aber heute auch als Gemeingut säkularisierter Humanität verstanden werden“. Entsprechend Nationalrat Andreas Gross, Amtl. Bull. NR(ReformBV) 1998, 460: „Bei der Anrufung Gottes bezieht man sich nicht nur auf die christliche Religion, sondern auch auf andere Religionen“.

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Interessenkonflikts zwischen Mehrheit und Minderheit „autonom steuert“.90 Es gibt kein „mehr oder weniger neutral“ in Abhängigkeit von der jeweiligen Wirkung eines Symbols auf Andersdenkende, sondern es entscheidet die Beachtung des aus dem Neutralitätsprinzip fließenden Identifizierungsverbots darüber, ob der sich engagierende Staat noch neutral geblieben ist. Auf die Grundrechte der Angehörigen einer Mehrheit kann sich der Staat weder berufen, um die Erfordernisse der Neutralität zu relativieren, noch um Rechte Dritter einzuschränken.91 Und auch zur Abwägung mit kollidierenden Grundrechten kann es nur kommen, soweit das Neutralitätsprinzip mit Rechten Dritter kollidiert, die unmittelbar und selbst von der Verpflichtung des Staates zur Neutralität nachteilig betroffen werden. Das sind in erster Linie Amtspersonen, die religiöse Symbole (z.B. Kleidung oder Schmuck) während ihrer dienstlichen Tätigkeit zum Zwecke eigener Religionsausübung gebrauchen und damit an die Grenzen der Neutralität stoßen.92 Wird dagegen Angehörigen der Mehrheitsreligion zugemutet, dass Kruzifixe entgegen ihrem Wunsch aus Klassenzimmern der öffentlichen Schule entfernt werden, sind sie nicht in ihren eigenen Grund- und Menschenrechten berührt, da die Religionsfreiheit kein Recht darauf verleiht, staatliche Räume in einer bestimmten Weise zu gestalten. III. Die grundrechtliche Dimension: Zur Reichweite der Pflicht, den Anblick religiöser Symbole zu ertragen Soweit es die Interpretation und Reichweite der betroffenen Grund- und Menschenrechte betrifft, besteht die grundsätzliche Pflicht Aller, den Anblick der Ausübung von Religionsfreiheit durch Andere zu ertragen,93 so dass der bloße Anblick des Symbols einer jeweils fremden Religionsgemeinschaft nicht unter Berufung auf die eigenen Grund- und Menschenrechte abgewehrt werden kann. Diese Regel betrifft aber nur den gesellschaftlichen Raum, also Beziehungen zwischen 90 Vgl. auch Magen (Anm. 87), 102: Das Neutralitätsprinzip untersagt dem Staat Urteile über Religion und Parteinahmen für eine bestimmte Religion auch dann, wenn die Schwelle zur Freiheitsbeeinträchtigung noch nicht überschritten ist. 91 Erst recht helfen die Freiheitsrechte der Amtspersonen nicht weiter, welche religiöse Symbole ausstellen wollen. 92 Eingehend zur Rechtslage in den Niederlanden, England, Frankreich und unter Berücksichtigung der EMRK Hana van Ooijen, Religious Symbols in Public Functions: Unveiling State Neutrality, 2012. 93 Siehe etwa BVerfG (Anm. 17), 16; sowie Schweizerisches Bundesgericht, Urteil vom 14.2.1992, BGE 118 Ia 46, Erwägung 4c (Verein Scientology Kirche Zürich gegen Verein infoSekta und Regierungsrat des Kantons Zürich et al.).

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Privaten, die sich untereinander nicht auf die Geltung der negativen Religionsfreiheit berufen können. Diese wird vielmehr erst dadurch aktiviert, dass der Staat eigene Räume mit religiösen Symbolen dekoriert oder sich an der Exposition solcher Symbole aktiv beteiligt.94 Das Bundesverfassungsgericht verknüpft diese Aktivierung mit „einer vom Staat geschaffene[n] Lage, in der der Einzelne ohne Ausweichmöglichkeiten dem Einfluß eines bestimmten Glaubens, den Handlungen, in denen dieser sich manifestiert, und den Symbolen, in denen er sich darstellt, ausgesetzt ist“; insofern entfalte sich die freiheitssichernde Wirkung der Religionsfreiheit „gerade in Lebensbereichen, die nicht der gesellschaftlichen Selbstorganisation überlassen, sondern vom Staat in Vorsorge genommen worden sind“.95 Damit gewinnt der Aspekt der Unausweichlichkeit eine maßgebliche Bedeutung, soweit der Staat selbst an der Ausstellung religiöser Symbole beteiligt und aus diesem Grunde die negative Religionsfreiheit „aktiviert“ ist. Insoweit unterscheidet sich der unbegrenzte Außenraum wesentlich von jenen Innenräumen, in die sich im Falle von Schulräumen, Wahllokalen oder Gerichtssälen die Person zur Erfüllung öffentlich-rechtlicher Pflichten oder Wahrnehmung von Rechten hineinbegeben muss. Je unausweichlicher das Symbol, etwa infolge der Geltung der gesetzlichen Schulpflicht in öffentlichen Schulen, ist, umso mehr Rücksicht muss auf die „Gegner“ insbesondere religiöser Symbole genommen werden. Dabei zeigt die Entscheidung der großen Kammer des EGMR im Falle Lautsi96 allerdings: Je enger man den Anspruch der Erziehungsberechtigten auf Achtung ihrer (a)religiösen Vorstellungen (Art. 2 ZP 1), aber auch die negative Seite der Religionsfreiheit (Art. 9 EMRK) interpretiert, umso mehr kann die Mehrheit den öffentlichen Raum durch ihre religiösen Symbole prägen. Respekt oder Rücksichtnahme, wie Art. 2 ZP 1 sie für die EMRK im Schulwesen einfordert, korrespondiert aber gerade mit der Unausweichlichkeit, welche die Schulpflicht für den Besuch bestimmter Räume schafft, und bezieht aus ihr auch ihren besonderen Sinn. Deshalb muss die Vorschrift einen weiter reichenden Schutz als lediglich den Schutz vor zwangsweiser Indoktrinierung verleihen. Die Verpflichtung zur Rücksichtnahme bedeutet mehr als nur als ein bloßes „Achten“ oder ein „in Betracht ziehen“ elterlicher Erziehungsvorstellungen.97 Auch deshalb wurde der ursprünglich für Art. 2 ZP 1 vorgesehene Begriff „berücksichtigen“ („have regard to“) durch den Begriff „achten“ (respect)

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Siehe Magen (Anm. 87), 98. BVerfG (Anm. 17), 16. 96 Siehe oben B. I. 2. b). 97 EGMR, Efstratiou v. Greece, 24095/94, Urteil vom 18.12.1996, Rn. 28; siehe auch Christine Langenfeld, Kapitel 24: Das Elternrecht im Schulwesen, in: Oliver Dörr/Rainer Grote/Thilo Marauhn (Hrsg.), Konkordanzkommentar EMRK-GG, Band II, 2. Aufl. 2013, Rn. 16. 95

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ersetzt.98 Der Begriff des Achtens verbietet nicht nur den Übergriff, sondern gebietet die Anerkennung des jeweils Anderen als gleichwertig, d.h. ein Recht auf einen grundsätzlich gleichen Status. Dieser Anspruch auf weltanschauliche Gleichberechtigung schließt es aus, Angehörigen von religiösen Minderheiten oder Nichtgläubigen in der staatlichen Schule die Botschaft zu vermitteln, dass der öffentliche Raum ein Raum der religiösen Mehrheit ist, in dem sie Außenseiter bleiben. In einer besonders „verletzlichen Situation“,99 welche die Schutz- und Rücksichtnahmepflichten des Staates noch zusätzlich steigert, befinden sich minderjährige Kinder und Jugendliche, deren Bedürfnis „dazu zu gehören“ besonders ausgeprägt und von elementarer Bedeutung für die persönliche Entwicklung ist. Je mehr – wie z.B. im Falle des schulischen Klassenverbands – eine temporäre Gemeinschaft“ entsteht, umso eher vermittelt der geschlossene Innenraum den Eindruck, man werde als Individuum in eine Außenseiterposition gedrängt, umso zurückhaltender muss sich der Staat im Gebrauch ausgrenzender Symbole verhalten. Im Ergebnis gilt aber für jeden geschlossenen Raum, welcher der Erfüllung öffentlicher Zwecke im Kontakt mit der gesamten – unterschiedlichen Glaubensrichtungen angehörigen bzw. nichtgläubigen – Bevölkerung dient: Der Staat greift hier unausweichlich in die negative Religionsfreiheit Andersdenkender ein, so dass allenfalls zwingende Gründe des öffentlichen Wohls die Exposition religiöser Symbole rechtfertigen könnten. Nicht einmal das explizite Bekenntnis einer Verfassungsordnung zum Staatskirchentum könnte hierfür jedoch genügen; denn ungeachtet aller Gestaltungsspielräume für die Konventionsstaaten schließt die Formel des EGMR von der Rolle des Staates als „neutralem Organisierer“100 die Staatskirche jedenfalls für Staaten mit mehreren Religionen aus; in (weitgehend) homogenen Staaten stellen sich stattdessen Probleme der Verhältnismäßigkeit.101 Beteiligt sich der Staat im Außenraum an der Ausstellung religiöser Symbole, z.B. 98

EGMR, Campbell u. Cosans v. U.K., 7511/76, Urteil vom 25.2.1982, Rn. 37, m.w.N. Siehe zur „vulnerable situation“ bzw. „disadvantaged and vulnerable minority“ (mit Bezug auf Roma) z.B. EGMR, D.H. et al. v. Czech Republic, 57325/00, Urteil vom 13.11.2007, Rn. 182; EGMR, Chapman v. UK, 27238/95, Urteil vom 18.1.2001, Rn. 93. 100 Siehe oben C. II. 101 Siehe etwa EGMR, Buscarini et al. v. San Marino, 24645/94, Urteil vom 18.2.1999, Rn. 36 ff.: Hier hatte der EGMR die Methode des Vertragsstaats, die vormalig christliche Prägung zu einer fortgeltenden traditionellen Prägung zu erklären, nicht grundsätzlich beanstandet, sondern in diesem Kontext vom Gestaltungsspielraum des Staates gesprochen. Für unverhältnismäßig hielt er aber dann die Verpflichtung neu gewählter Parlamentsabgeordneter, auf dieser Basis einen Eid u.a. auf „die Evangelien“ zu schwören. Ferner EGMR, Efstratiou v. Greece (Anm. 97): Auch in diesem Fall wurde Art. 3 Abs. 1 der griechischen Verfassung von 1975 („The dominant religion in Greece is that of the Christian Eastern Orthodox Church …“) nicht per se beanstandet. 99

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der Errichtung eines Kreuzes auf dem Marktplatz, kann von Unausweichlichkeit zwar nur noch in einer abgeschwächten Form die Rede sein. Letztlich kommt es aber in all diesen Fällen nicht mehr auf eine grundrechtliche Abwägung an, wenn religiöse Symbole durch oder mithilfe des Staates so ausgestellt werden, dass dieser damit seine als autonomes Prinzip geltende Neutralitätspflicht verletzt.

D. Lösungswege I. Moderne Bauten als Symbole gelungener Integration? Die Integration zugewanderter Populationen in eine Altgesellschaft stellt eine der großen Herausforderungen für die heutigen Staaten dar.102 Speziell im Bereich der baulichen Symbole wird dabei auch über einen möglichen Zusammenhang zwischen der Modernität der Sakralbauten einer Minderheit und deren Akzeptanz durch die Mehrheitsgesellschaft diskutiert. Grundlegend hierfür ist die Prämisse, dass die Mehrheitsbevölkerung moderne Sakralbauten tendenziell als Zeichen für die „Offenheit“ einer Migrationsgruppe, traditionelle Bauten hingegen als Zeichen der Verschlossenheit und des religiösen Traditionalismus interpretiert.103 Nach diesem Deutungsmuster wäre der Sakralbau nicht nur Symbol für eine bestimmte Religion, sondern auch Symbol für den Integrationszustand der hinter ihr stehenden Religionsgemeinschaft. Die Auffassung, religiöse Minderheiten könnten die Akzeptanz ihrer Sakralbauten und möglicherweise auch ihre eigene Akzeptanz durch äußerliches Design beeinflussen, überzeugt aber letztlich nicht. Es mag zwar sein, dass in der konkreten Gestaltung von umstrittenen Symbolen zusätzliches Konflikt- wie umgekehrt Befriedungspotential liegt; Beispiele für die Gefahr einer „Ideologisierung des Bau- und Planungsrechts“ gibt es auch aus dem nicht-religiö-

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Exemplarisch Art. 2 Abs. 1 Verordnung des (schweizerischen) Bundesrates vom 24.10.2007 über die Integration von Ausländerinnen und Ausländern (SR 142.205), AS 2007 5551: „Ziel der Integration ist die chancengleiche Teilhabe der Ausländerinnen und Ausländer an der schweizerischen Gesellschaft“. Siehe auch Walter Kälin/Judith Wyttenbach, in: Mathias Tanner et al. (Hrsg.), Streit um das Minarett, 2009, 255, 262 f. zum Konzept der „Integration“ als „zweiseitiges Geschäft“ (Gewährung kultureller Autonomie gegen Achtung der Verfassungswerte); sowie Jutta Limbach, Integration durch Sprache – unter dem Leitprinzip der Gegenseitigkeit, RdJB 2011, 5; grundlegend zum Thema Walter Kälin, Grundrechte im Kulturkonflikt, 2000. 103 Edwin Egeter, Neue Sakralbauten von Migranten in der Schweiz zwischen Tradition und Modernität, 2009, insbesondere 41, abrufbar unter http://www.religionenschweiz.ch/ pdf/egeter-sakralbauten.pdf (letzter Zugriff am 17.10.2014).

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sen Bereich.104 Dass sich aber jene konservativ-heimatliebenden Kräfte, die gegen Moschee- und Minarettbauten zu Felde ziehen, von moderner Architektur bezaubern ließen, ist wenig wahrscheinlich. Zudem verteilt dieser Ansatz die „Integrationsschuld“ einseitig. Rechtlich werden Gestaltungsfragen in jedem Falle erst dort relevant, wo die Dimension einer Störung des Vorhandenen erreicht ist. II. Das Fremdartige als „Störung“, „Nichteinfügen“ oder „Immission“? In der Rechtspraxis treten die „störenden“ Symbole religiöser Gemeinschaften vornehmlich in bestimmten Bereichen der Spezialgesetzgebung auf, etwa im Schulrecht, Dienstrecht oder Bauplanungsrecht. Dabei wird jedoch der eigentliche Streit über die Ansprüche rivalisierender Gruppen auf Außendarstellung im öffentlichen Raum und die Prägung des öffentlichen Raums weitgehend ausgeblendet. Beispielhaft hierfür steht das Baurecht, wo Prozesse um die Sakralbauten zugewanderter Minderheiten zumeist um Stellvertreterthemen wie Bauhöhen, Stellplatzverpflichtungen oder die Lärmbelastung kreisen.105 Soweit im Einzelfall versucht wird, das Fremdartige direkt gerichtlich anzugreifen, etwa die angebliche Wertminderung von Nachbargrundstücken im Sichtfeld einer Moschee zu reklamieren oder aus der religiösen „Andersartigkeit“ die Geltung eines Sonderregimes für islamische Sakralbauten abzuleiten bzw. diesen per se die Fähigkeit zur Einfügung in bestimmte Baugebiete oder Zonen abzusprechen, hat dies keinen Erfolg.106 Denn de lege lata gibt es für die Gerichte und Behörden, zumal unter dem Aspekt der Gleichheit der Religionen, keinen Grund, Moschee und Minarett im Bereich des Baurechts anders zu behandeln als Kirche und Kirchturm. Die ebenso kreativen wie fragwürdigen Vorschläge, die als fremdartig empfundenen Symbole einer zugewanderten Minderheit als „ideelle Immissionen“107 oder als eine die Umgebung mehr oder weniger „störende“ Einwirkung108 zu qualifizieren, haben sich zu Recht nicht durchgesetzt. Gleichwohl bleibt damit der eigentliche 104 Siehe zur in der Schweiz geführten Debatte über Rundholzbauten (Blockhäuser), die in sensiblen Gebieten zum falschen Identitätsträger geworden seien und – vergleichbar dem Minarett – im christlich-abendländisch geprägten Baugebiet einen „Fremdkörper“ darstellten, Felix Müller, Rechtliche und politische Aspekte der eidgenössischen Volksinitiative, in: Mathias Tanner et al. (Hrsg.), Streit um das Minarett: Zusammenleben in der religiös pluralistischen Gesellschaft, 2009, 61, 75 f. 105 Siehe zur Fallpraxis Gaudernack (Anm. 47), 235 ff. 106 Siehe z.B. VG München, Beschluss vom 7.6.2005 – M 8 SN 05.1628, KirchE 47, 234. 107 Kritisch dazu Kley (Anm. 5), 250 f. 108 Kritisch zum betreffenden Ansatz des schweizerischen Bundesgerichts im Falle einer Kopftuch tragenden Lehrerin Kälin/Wyttenbach (Anm. 102), 266, m.w.N.

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Konflikt unreguliert: Auf die Frage, ob die Erhaltung einer vorgefundenen Raumprägung ein schützenswertes öffentliches Interesse sein kann, gibt das Recht keine befriedigende Antwort. III. Ausweisung sensibler Räume als Kulturräume bestimmter Prägung 1. Das Instrument der kulturellen Ausweisung von Gebieten Wo sich Menschen beheimatet fühlen und ihre Identität finden, hängt nicht nur vom sozialen Kontext mit seinen religiösen, sprachlichen und sonstigen Eigenheiten ab, sondern auch von der städtebaulichen Landschaft oder der Dekoration öffentlicher Gebäude. Aus der Fülle der in einen gemeinsamen Rahmen passenden Eindrücke und damit konform gehender Symbole entsteht jener „Kulturraum“, der sich von anderen unterscheidet. Dass nicht nur kulturell-religiöse Minderheiten, sondern auch die Mehrheit ein legitimes Interesse am Erhalt ihrer kulturellen Identität hat,109 zeigt die Überlegung, dass sich die Mehrheit als „Volk“, hätte sie noch keinen Staat gebildet, für dieses Anliegen auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker berufen könnte.110 Zwar erledigt sich der originäre Selbstbestimmungsanspruch mit der Bildung eines Staates, in dem die kulturelle Mehrheit sich als politisch-demokratische Mehrheit selbstbestimmen kann; in der Substanz geht das Selbstbestimmungsrecht dadurch aber nicht verloren. Das heißt weder, dass es zwangsläufig zur Koinzidenz von kultureller und politischer Mehrheit kommen muss, noch, dass sich das Interesse der demokratischen Mehrheit ohne Rücksicht auf die geschützten Interessen anderer durchsetzen kann. Kulturräume können ebenso wie Sprachräume, in denen nur eine bestimmte Sprache als Amtssprache gelten soll, geformt werden. Unter „Kulturraumformung“ versteht man die gezielte Gestaltung eines Kulturraumes mit dem Ziel, auf das mentale Wahrnehmungsbild einzuwirken, um eine Identifikation des Raumes mit seiner Bevölkerung durch Ansässige wie außenstehende Beobachter zu erreichen, zu befestigen und letztlich auch, um territoriale Ansprüche zu legitimieren.111 Hier geht es allerdings nicht um kulturelle Eroberung, sondern um eine 109

Siehe im Einzelnen Dagmar Richter, „Ansprüche“ der Mehrheit auf Einsprachigkeit im Spannungsfeld des Minderheitenschutzes – Nationale und internationale Rechtslage, in: Georges Lüdi et al. (Hrsg.), Sprachenvielfalt und Kulturfrieden, 2008, 253. 110 Siehe zum Recht der Völker, ihre eigene kulturelle Entwicklung zu gestalten, den fünften Teil der Friendly Relations Declaration der UN-Generalversammlung, Anhang zu Resolution 2625 (XXV) of 24 October 1970 (UN Doc. A/RES/2625[XXV]) . 111 Zum Begriff Jürgen Joachimsthaler, Kulturraumformung durch Sprach- und Literaturpolitik. Mit einführenden Bemerkungen zum „Kulturraum“-Begriff, Orbis Linguarum 21

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defensive Festschreibung des überlieferten Charakters eines bestimmten Gebiets. Das Anliegen rebellierender Mehrheiten, wie es hier anhand der Streitigkeiten um Sakralbauten und Kruzifixe gezeigt wurde, ist einerseits im Interesse des Kulturund Religionsfriedens ernst zu nehmen. Andererseits darf es nicht dazu kommen, dass das unfriedlichste Verhalten und die aggressivsten „Gebietsforderungen“ zu den größten Erfolgen führen. Deshalb verlangt die gesetzliche Ausweisung eines „sensiblen Gebiets“ als äußerlich von einer bestimmten Kultur bzw. Religion geprägt – z.B. Altötting vom Katholizismus – nach einer objektiv-wissenschaftlichen Analyse der Vor-Ort-Situation anhand aller relevanten Kriterien.112 Das können sein: die besonders hohe Dichte der schon vorhandenen Sakralbauten und Symbole, die im gewählten Beispiel ganz überwiegend katholische Bevölkerung, die fortdauernde Traditionspflege und Lebendigkeit der Kultur, eine lange Überlieferungsgeschichte, etc. Die so fundierte „kulturelle Ausweisung“ kann, vergleichbar der in der Schweiz praktizierten sogenannten „sprachlichen Ausscheidung“, ein Instrument sein, das auf der Basis des Territorialitätsprinzips die Stellung einer traditionell ansässigen Mehrheit gegen den allzu heftigen Veränderungsdruck infolge von Zuwanderung schützt.113 Ihre Wirkung liegt darin, das kulturelle „Umkippen“ von Gebieten zu verlangsamen und allein dadurch – wie im analogen Fall des Sprachfriedens – den „kulturellen Frieden“ zu erhalten. 2. Wahrung der staatlichen Neutralität Wie gezeigt wurde, entsteht ein Problem der staatlichen Neutralität erst, wenn der Staat sich in irgendeiner Form selbst an der Ausstellung religiöser Symbole beteiligt.114 Im hier unterbreiteten Vorschlag geht es darum, dass ein Gebiet von einer bestimmten Kultur geprägt ist und der Staat aus diesem Grunde die Träger und Trägerinnen dieser Kultur (insbesondere auch Religionsgemeinschaften) gegenüber anderen Kulturen privilegiert, indem er den Schutz der überlieferten Prägung eines solchen Gebiets aktiv betreibt. Auch das erscheint neutralitätsrecht(2002), 109, 109 ff.; siehe auch Maria Katarzyna Lasatowicz (Hrsg.), Kulturraumformung. Sprachpolitische, kulturpolitische, ästhetische Dimensionen, 2004. 112 Der hier verwandte Begriff des kulturell „sensiblen“ Gebiets hat nichts gemein mit den sogenannten „sensiblen Zonen“, mithilfe derer die Stadt Bremgarten im schweizerischen Aargau versucht hatte, Asylbewerbern den Zutritt zu bestimmten öffentlichen Einrichtungen zu versagen. Zu dieser unhaltbaren Praxis siehe Julian Staib, Badeverbot für Asylbewerber, in: FAZ vom 9.8.2013, 4. 113 Eingehend zu den Mechanismen des sprachlichen Territorialitätsprinzips einschließlich der „sprachlichen Ausscheidung“ Dagmar Richter, Sprachenordnung und Minderheitenschutz im schweizerischen Bundesstaat, 2005, insb. 145 ff. 114 Siehe oben C. II.

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lich relevant. Aber selbst in dieser Konstellation ist eine Beachtung der Neutralitätspflicht möglich, sofern der Staat an eine gesellschaftlich entstandene, d.h. nicht von ihm selbst vorgenommene Prägung anknüpft und es sich um eine allgemeine Politik handelt, die sich an objektiven Kriterien der Raumprägung und nicht an einer bestimmten Religion orientiert. Anderenfalls könnte der Staat, der seine eigenen Prägeaktivitäten einem besonderen Gebietsschutz unterstellen dürfte, das Neutralitätsprinzip unterlaufen. Deshalb erfüllen Kruzifixe in Amtsräumen die Voraussetzungen für den Schutz im Rahmen einer überlieferten kulturellen Prägung nicht. Im Ergebnis mündet ein konsequent angewandtes Neutralitätsprinzip, das nur Differenzierungen zwischen „gesellschaftlich bedingt“ und „staatlich bedingt“, aber nicht die Annahme von mehr oder weniger neutralem Staatshandeln erlaubt, in die Geltung einer „Non-Establishment Clause“115 ein. 3. Wahrung der Grundrechte derer, die eine überlieferte Prägung verändern wollen Erkennt das staatliche Recht lediglich an, dass eine Religionsgemeinschaft in Ausübung ihrer Religionsfreiheit bauliche Symbole, etwa einen Kirchturm oder ein Minarett, errichtet, berührt dies weder die staatliche Neutralität noch die Grundrechte Dritter, die sich durch den Anblick dieser Bauten behelligt fühlen. Schützt der Staat dagegen gezielt eine vorgefundene kulturell-religiöse Prägung, schränkt dies die Angehörigen anderer Kulturen und Religionen in der Exposition anderer, damit nicht konform gehender Symbole ein. Die Erhaltung des religiösen Friedens ist allerdings ein gewichtiges und legitimes öffentliches Interesse, das solche Einschränkungen grundsätzlich rechtfertigen kann. Ob eine solche Einschränkung das kulturelle „Umkippen“ eines Gebietes tatsächlich verlangsamt und so dem religiösen Frieden dient oder umgekehrt mit Blick auf die konkreten Umstände vor Ort mehr Schaden als Nutzen stiften wird, muss der Gesetzgeber entscheiden, dem bei seiner Prognose ein weiter Gestaltungs- und Beurteilungsspielraums zuzubilligen ist. Begrenzend wirken insoweit die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, aber auch die Beachtung des Prinzips der grundsätzlichen Gleichberechtigung aller Kulturen und Religionen und der Anforderungen des Minderheitenschutzes. 115 Siehe zum U.S.-amerikanischen Verfassungskonzept etwa Leonard W. Levy, The Establishment Clause and the First Amendment, 2. Aufl. 1994; Andrew Koppelman, Corruption of Religion and the Establishment Clause, WMLR 50 (2009), 1831; zum insoweit einschlägigen „Lemon Test“ U.S. Supreme Court, Lemon v. Kurtzman, 403 U.S. 602 (1971), 612/613: „(…) First, the statute must have a secular legislative purpose; second, its principal or primary effect must be one that neither advances nor inhibits religion; finally, the statute must not foster an excessive government entanglement with religion“.

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4. Gleichberechtigung der Kulturen, Minderheitenschutz und Offenheit für den kulturellen Wandel Wie die Erfahrungen der Schweiz mit der Integration von vier identitätsbildenden Sprach- und Kulturgruppen in einen gemeinsamen Staat zeigen, können territorialstaatliche Lösungen heute nicht mehr schematisch angewandt werden. Vielmehr bedarf das Territorialitätsprinzip, wie es in Europa seit den Zeiten des Augsburger Religionsfriedens mit der Ausweisung der konfessionellen Zugehörigkeit von Gebieten (cuius regio eius religio) praktiziert wird, der rechtsstaatlichen Überformung und Sublimierung. Ein Gebiet kann zwar in Bezug auf die Amtssprachenordnung als französischsprachig oder in Bezug auf das Städtebau- und Planungsrecht als „kulturkatholisch“ oder „islamisch“ ausgewiesen werden; dies darf aber weder zur Unterdrückung altansässiger Minderheiten missbraucht werden noch die Grund- und Menschenrechte Einzelner übermäßig einschränken.116 Das bedeutet, dass die gesetzliche Ausweisung einer besonderen Prägung von Gebieten nur ein verstärktes öffentliches Interesse am Erhalt der schon vorhandenen, gesellschaftlich hervorgebrachten Prägung begründet, das aber gleichwohl im Einzelfall mit kollidierenden Interessen, insbesondere Individualrechten und Anforderungen des Minderheitenschutzes, abzuwägen ist. Die wichtigste Regel, die dabei im Interesse des kulturellen bzw. religiösen Friedens zu beachten ist, ist die, dass alle im Lande vertretenen Kulturen grundsätzlich „gleichwertig“ sind: Jede Kultur kann in bestimmten Gebieten prägend sein oder es in Zukunft werden. Die Freiheitsrechte der Angehörigen einer zugewanderten Minderheit dürfen immer nur in neutraler und unparteilicher Form eingeschränkt werden. Sollte eines Tages z.B. die islamische Kultur stadtbildprägend für bestimmte Stadtteile von Köln oder Berlin sein und ihrerseits wieder von einer neuen Zuwanderungswelle bedrängt werden, käme also auch für sie eine den Status quo stabilisierende Ausweisung als spezifischer Kulturraum in Betracht; dies könnte allerdings nicht zur Verdrängung der dort noch vorhandenen christlichen Sakralbauten führen, da das Territorialitätsprinzip nicht als Instrument zur Unterdrückung alteingesessener Minderheiten dienen darf.117

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Vgl. auch Artikel 34 Erklärung der UN über die Rechte der indigenen Völker, wonach indigene Völker das Recht haben, ihre institutionellen Strukturen, Traditionen und Rechtsgewohnheiten „im Einklang mit den internationalen Menschenrechtsnormen“ zu fördern, weiterzuentwickeln und zu bewahren, UN General Assembly, Resolution 61/295 of 13 September 2007 (UN Doc. A/RES/61/295). 117 Vgl. zum Sprachenrecht Schweizerisches Bundesgericht, Urteil vom 25.4.1980 – P 707/79, BGE 106 Ia 299, 302 (Brunner), EuGRZ 8 (1981), 221 (Auszug).

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Die Ausweisung eines Gebiets als äußerlich von einer bestimmten Kultur bzw. religiösen Tradition geprägt hätte zur Folge, dass Symbole einer anderen Kultur grundsätzlich ferngehalten werden könnten, so wie z.B. deutschsprachige Aufschriften und Reklametafeln in französischsprachigen Kantonen oder rätoromanischen Gemeinden der Schweiz unterbunden werden können, um den sprachkulturellen Charakter dieser Gebiete zu erhalten.118 Wollte z.B. ein islamischer Verein eine Moschee in Oberammergau errichten und wäre dieser Ort gesetzlich als „kulturkatholisch“ definiert, könnte nur ein überwiegendes, insbesondere religiöses Interesse ausnahmsweise die Durchbrechung der gesetzlich festgelegten Prägung gebieten, etwa eine Situation, in der das geschützte religiöse Interesse der islamischen Bevölkerung anderenfalls gar nicht mehr verwirklicht werden könnte. Ungeachtet aller rechtsstaatlichen Sicherungen hat jede Anwendung des Territorialitätsprinzips homogenisierende bzw. „assimilierende“ Wirkungen,119 die jedoch zu seinem Wesen gehören und als Kehrseite seiner stabilisierenden Funktion in Grenzen hinzunehmen sind.120 Am Einsatz dieses Prinzips zum Erhalt einer möglichst einheitlichen Prägung besteht dann kein legitimes Interesse mehr, wenn andere Kulturen einen so erheblichen Anteil an der Sichtbarkeit im öffentlichen Raum erlangt haben, dass sie das betreffende Gebiet ebenfalls mit prägen. Die Ausweisung als spezifisch geprägter Kulturraum ist, vergleichbar der Ausweisung eines Gebiets als deutsch- oder italienischsprachig, nicht für alle Zeiten gegen Veränderung gefeit. Sinn der territorialen Lösung ist es, eine geordnete Entwicklung zu ermöglichen, bei der die Kulturen nicht ungebremst aufeinander prallen, nicht hingegen, Gebiete nach Art eines Reviers einer bestimmten Kulturgruppe endgültig zuzuweisen. Ein „Kulturwechsel“ (Wechsel in der kulturell-religiösen Raumprägung) kann wie im vergleichbaren Fall des Sprachenwechsels stattfinden, sobald sich das geschützte Gebiet eben doch gewandelt hat, und sei es nur deshalb, weil die vorhandenen Sakralbauten jede Bedeutung verloren haben, eine zugewanderte Kulturgruppe sich dauerhaft etabliert hat, also über mehrere Generationen ansässig ist, und eine starke Minderheit innerhalb der Bevölkerung stellt. Welche Kriterien im Einzelnen für einen Kulturwandel erfüllt 118

Siehe Richter (Anm. 113), 1036 f. m.w.N. Zur grundsätzlichen Pflicht von Zuwanderern, sich sprachlich zu „assimilieren“, soweit es die Sprache im öffentlichen Raum betrifft: Schweizerisches Bundesgericht, Urteil vom 31.3.1965, BGE 91 I 480 (487) (Association de l’Ecole française); siehe auch Richter (Anm. 113), 180 ff. 120 Zur Vereinbarkeit des sprachlichen Territorialitätsprinzips mit der EMRK EGMR, Case „Relating to Certain Aspects of the Laws of the Use of Languages in Education in Belgium“ v. Belgium, 1474/62 et al., Urteil vom 23.7.1968, insb. The Law II, Rn. 7, 19: Ein System, das einsprachige Regionen mit einer jeweils allein geltenden Amts- und Schulsprache ausweist, beinhaltet nicht per se eine unzulässige Diskriminierung. 119

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sein müssen, hängt von den Eigenarten des jeweiligen Typus von Kulturräumen ab121 und sollte generell-abstrakt fixiert werden. Wechsel bedeutet dabei nur, dass die prägende Kultur ihre Alleinstellung verliert und eine weitere im betreffenden Gebiet Anerkennung findet, die in fernerer Zukunft möglicherweise selbst zur prägenden Kraft wird. Während der faktische Sprachenwechsel bei den Amtssprachen allerdings anhand der dauerhaft veränderten sprachlichen Zusammensetzung relativ einfach festgestellt werden kann, ist die Veränderung von Kulturräumen viel komplexer. Auch hier sind aber faktische und normative Kriterien für die Annahme eines Wechsels vorstellbar, etwa dass die vormaligen Kulturträger und -trägerinnen zur kleinen Minderheit geworden sind, die vormals prägende Kultur nicht mehr gelebt wird, Sakralbauten verfallen oder säkularisiert sind, etc. 5. Gefahren einer „Lokalisierung der Religionen“ Die hier skizzierte territoriale Lösung für die Bewältigung von Streitigkeiten um Symbole, welche den öffentlichen Frieden gefährden können, wirft Fragen nach möglicherweise kritischen Folgen einer „Lokalisierung der Religionen“ auf. Unter diesem Stichwort wird z.B. mit Bezug auf Israel diskutiert, ob und wieweit religiöse Mehrheiten in einzelnen Kommunen das kommunale Recht dazu missbrauchen können, die Einhaltung religiöser Regeln allgemeinverbindlich für die gesamte örtliche Bevölkerung zu machen.122 Beispiele hierfür sind Streitfälle um die Schließung von Straßen am Sabbat oder ein Verkaufsverbot für Schweinefleisch.123 Wie die Erfahrung in diesem Lande zeigt, ist es hier unter Ausnutzung kommunaler Autonomie zu einer Segregation der Bevölkerung gekommen, die sich zunehmend in orthodoxe, gemäßigt religiöse und eher säkulare Wohnorte ausdifferenziert. Zutreffend ist darauf hingewiesen worden, dass solche Erscheinungen äußerst negative Folgen für die Angehörigen örtlicher Minderheiten bis hin zur Gefahr einer rassistisch motivierten Steuerung der Wohnbevölkerung haben.124 Diese Gefahren bestehen jedoch nicht, wenn man den Schutz einer überkommenen kulturellen Prägung auf die rein äußere Präsentation des Kulturraums insbesondere durch Symbole beschränkt und diesen in keiner Weise als

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Siehe zu den möglichen, stark umstrittenen Kriterien im Sprachenrecht Richter (Anm. 113), 678 ff. 122 Siehe Yishai Blank, Localising Religion in a Jewish State, ILR 45 (2012), 291. 123 Siehe Blank (Anm. 122), 297, zu High Court of Justice Axel v. Netanyah, sowie High Court of Justice The League for the Prevention of Religious Coercion v. the Council of Jerusalem, m.w.N. 124 Blank (Anm. 122), 317 ff.

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Territorium versteht, in dem es einer religiösen Mehrheit gestattet wäre, Andersdenkenden bestimmte Lebensformen vorzuschreiben. 6. Vom territorialen Übergangsregime zum kulturellen Pluralismus Der Beitrag hat den Versuch unternommen, einen territorial ansetzenden Mechanismus zur Bewältigung sprachlicher Vielfalt für die Bewältigung religiöskultureller Vielfalt nutzbar zu machen. Es handelt sich dabei um eine Übergangslösung, die sich vorwerfen lassen muss, dass sie in frühmoderne Konzepte zurückfällt: Indem einzelne Gebiete als einer bestimmten Sprache, Religion oder Kultur zugehörig ausgewiesen werden, so dass die Ansprüche zuwandernder Minderheiten auf eigene Formen der Selbstdarstellung abgewehrt werden können, kehrt der alte Nationalstaat in den Teilgebieten eines Staates zurück. Dennoch kann das kulturelle Territorialitätsprinzip den konflikthaften, allzu schnellen Übergang in den kulturellen Pluralismus regulieren, wo eine altansässige Bevölkerungsmehrheit noch nicht bereit ist, die traditionelle, einheitliche Raumprägung aufzugeben und die Symbole anderer Kulturen zu tolerieren. Der Kulturfrieden kann jedenfalls in sensiblen Gebieten nur gewahrt werden, wenn der Gesetzgeber den schmerzhaften Prozess der Veränderung aktiv reguliert und zeitlich in die Länge zieht. Dazu bedarf es des Schutzes der überlieferten Prägung eines Gebiets und der Festlegung jener Kriterien des Kulturwandels, welche die „implizite Normativität“ der vorgefundenen Prägung entkräften können. Das ändert nichts daran, dass eine von Kulturräumen abgelöste Anwendung von Individualrechten jener Welt gemäß ist, in der territoriale Begrenzungen so wie die Staaten selbst zunehmend an Bedeutung verlieren: Tolerant ist eine Gesellschaft, die mit kulturneutralen Beschränkungen der Religionsausübungsfreiheit gegenüber den Angehörigen der Mehrheit wie auch der Minderheiten auskommen kann.

Die Nachbarschaftspolitik der Europäischen Union: Mittelmeerraum und Osteuropa Von Carsten Nowak*

A. Einführung Die Ringvorlesung trägt den weitgespannten Titel „Räume im Völker- und Europarecht“. Unter diesem Titel könnten außerordentlich viele Einzelthemen behandelt werden, da bereits das Europarecht mehrere verschiedene Räume bzw. Raumkonzepte kennt und zugleich den maßgeblichen Bezugspunkt für ein seit bald fünfundzwanzig Jahren permanent zunehmendes Raumdenken bzw. raumstrategisches Integrationsdenken bildet.1 Exemplarisch ist diesbezüglich zunächst einmal an den im europäischen Wirtschafts- und Wirtschaftsverfassungsrecht bedeutsamen Begriff des Binnenmarktes zu erinnern, der nach Art. 26 Abs. 2 AEUV2 einen „Raum ohne Binnengrenzen“ umfasst, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen der Verträge gewährleistet ist.3 Einen weiteren wichtigen Raum stellt sodann der im europarechtlichen Schrifttum ebenfalls überaus intensiv behandelte „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ im Sinne der Art. 67–89 AEUV dar,4 der *

Der Beitrag stellt eine schriftliche und um Fußnoten erweiterte Fassung des Vortrags dar, den der Verfasser im Rahmen der vom Walther-Schücking-Institut für Internationales Recht im Wintersemester 2012/2013 und im Sommersemester 2013 angebotenen Ringvorlesung am 18.4.2013 an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel gehalten hat. 1 Instruktiv dazu vgl. m.w.N. Ulrich Battis/Jens Kersten, Europäische Raumentwicklung, EuR 2009, 3, 4 f. 2 Die jüngste konsolidierte Fassung des hier angesprochenen Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union findet sich im ABl. 2012 C 326/47 ff. 3 Ausführlich zum unionsrechtlichen Binnenmarktbegriff, -ziel und -konzept vgl. m.w.N. Carsten Nowak, Binnenmarktziel und Wirtschaftsverfassung der Europäischen Union vor und nach dem Reformvertrag von Lissabon, EuR-Beih. 1/2009, 129, 132 ff. 4 Näher zu diesem zuletzt durch den Lissabonner Reformvertrag modifizierten Raum vgl. statt vieler Kay Hailbronner, Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, in: Waldemar Hummer/Walter Obwexer (Hrsg.), Der Vertrag von Lissabon, 2009, 361 ff.; Georg Kristian Kampfer, Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, in: An-

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neben bestimmten Grenzkontroll-, Asyl- und Einwanderungsfragen vor allem die justizielle Zusammenarbeit in Zivil- und Strafsachen sowie die polizeiliche Zusammenarbeit zum Gegenstand hat, weshalb in diesem Kontext gelegentlich auch von einem europäischen „Ermittlungs- und Strafverfolgungsraum“ gesprochen wird5 bzw. von einem neuen „Kontrollraum“ der grenzüberschreitenden polizeilichen Kooperation in Europa die Rede ist.6 Darüber hinaus verfolgte die Europäische Union (EU) mit ihrer im Jahre 2000 verabschiedeten „Lissabon-Strategie“,7 die etwa eine Dekade später durch die so genannte Nachfolgestrategie „Europa 2020“ ersetzt wurde,8 das überaus ambitionierte Ziel, sich zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten „Wirtschaftsraum“ der Welt zu entwickeln. Eine unterschiedlich häufige Verwendung finden im europarechtlichen Schrifttum jeweils in Ansehung verschiedenster unionsrechtlicher Sachzusammenhänge und Politikbereiche schließlich auch die Begriffe des europäischen „Sozial-, Euro-, Verfassungs-“ und „Kulturraums“,9 des „Schengen-Raums“,10 des „einheitlichen europäischen Luftraums“,11 des „einheitlichen europäischen Eisenbahnraums“,12 des dreas Marchetti/Claire Demesmay (Hrsg.), Der Vertrag von Lissabon – Analyse und Bewertung, 2010, 73 ff.; Peter-Christian Müller-Graff, Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts in der Lissabonner Reform, EuR-Beih. 1/2009, 105 ff.; Matthias Ruffert, Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts nach dem Reformvertrag – Kontinuierliche Verfassungsgebung in schwierigem Terrain, in: Ingolf Pernice (Hrsg.), Der Vertrag von Lissabon: Reform der EU ohne Verfassung?, 2008, 169 ff. 5 Vgl. nur Eckhart von Bubnoff, Institutionelle Kriminalitätsbekämpfung in der EU – Schritte auf dem Weg zu einem europäischen Ermittlungs- und Strafverfolgungsraum, ZEuS 2002, 185 ff. 6 Vgl. nur Azilis Maguer, Der neue Kontrollraum der grenzüberschreitenden polizeilichen Kooperation in Europa, ZEuS 2003, 447 ff. 7 Grdlg. dazu vgl. Europäischer Rat, 23. und 24.3.2000 (Lissabon), Schlussfolgerungen des Vorsitzes, abrufbar unter http://www.europarl.europa.eu/summits/lis1_de.htm (letzer Zugriff am 17.10.2014). 8 Vgl. dazu insb. das Strategiepapier der Europäischen Kommission „Europa 2020 – Eine Strategie für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum der Kommission“, KOM(2010) 2020 endg. 9 Vgl. m.w.N. Battis/Kersten (Anm. 1), 4 f. 10 Vgl. nur Volker Röben, Art. 67 AEUV, in: Eberhard Grabitz/Meinhard Hilf/Martin Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union – Kommentar, Band I (Stand: 50. Ergänzungslieferung Mai 2013), Rn. 131. 11 Vgl. Art. 1 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 550/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 10. März 2004 über die Erbringung von Flugsicherungsdiensten im einheitlichen europäischen Luftraum, ABl. 2004 L 96/10 ff. 12 Vgl. dazu insb. die Richtlinie 2012/34/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21.11.2012 zur Schaffung eines einheitlichen europäischen Eisenbahnraums, ABl. 2012 L 343/32 ff.

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„Europäischen Seeverkehrsraums“,13 des europäischen „Rechtsraums“,14 des europäischen „Verwaltungs(rechts)raums“,15 des europäischen „Forschungsraums“,16 des europäischen „Steuerrechtsraums“17 sowie der europäischen „Raumentwicklung“18 bzw. der „Raumdimension in der Europapolitik“,19 wodurch die enorme Pluralität EU-relevanter Raumbegriffe bzw. die offenkundige Beliebtheit und Vielgestaltigkeit des Raumdenkens im Europarecht in zusätzlicher Weise unterstrichen wird. Die nachfolgend im Vordergrund stehende Nachbarschaftspolitik der EU ist von dem heute nahezu inflationären Raumdenken im europarechtlichen Kontext nicht unverschont geblieben. Dies zeigt mit aller Deutlichkeit der erstmals durch den Lissabonner Reformvertrag20 in das primäre Unionsrecht integrierte Art. 8 13

Vgl. Art. 1 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 1406/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27.6.2002 zur Errichtung einer Europäischen Agentur für die Sicherheit des Seeverkehrs, ABl. 2002 L 208/1 ff., i.d.F. der Verordnung (EU) Nr. 100/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15.1.2013 zur Änderung der VO(EG) Nr. 1406/2002, ABl. 2013 L 39/30 ff. 14 Vgl. nur Heinz-Peter Mansel, Anerkennung als Grundprinzip des Europäischen Rechtsraums – Zur Herausbildung eines europäischen Anerkennungs-Kollisionsrechts: Anerkennung statt Verweisung als neues Strukturprinzip des Europäischen Internationalen Privatrechts?, RabeksZ 70 (2006), 651 ff. 15 Mathias Hong, Subjektive Rechte und Schutznormtheorie im europäischen Verwaltungsrechtsraum, JZ 2012, 380 ff.; Heinrich Siedentopf/Benedikt Speer, Europäischer Verwaltungsraum oder Europäische Verwaltungsgemeinschaft? – Gemeinschaftsrechtliche und funktionelle Anforderungen an die öffentlichen Verwaltungen in den EU-Mitgliedstaaten, DÖV 2002, 753 ff.; Karl-Peter Sommermann, Verwaltungskontrolle im Europäischen Verwaltungsraum: zur Synchronisierung der Entwicklung von Verwaltungsrecht und Verwaltungskontrolle, in: Siegfried Magiera/Karl-Peter Sommermann/Jacques Ziller (Hrsg.), Verwaltungswissenschaft und Verwaltungspraxis in nationaler und transnationaler Perspektive – Festschrift für Heinrich Siedentopf, 2008, 117 ff. 16 Vgl. etwa Thomas Groß, Der Europäische Forschungsrat – ein neuer Akteur im europäischen Forschungsraum, EuR 2010, 299 ff.; Ralph Alexander Lorz/Mehrdad Payandeh, Die Institutionalisierung des Europäischen Forschungsraums – Zur Organisationsstruktur des Europäischen Forschungsrates, WissRBeih 22 (2012), 1 ff. 17 Vgl. nur Michael Droege, Europäisches Steuerverwaltungsrecht, in: Jörg Philipp Terhechte (Hrsg.), Verwaltungsrecht der Europäischen Union, 2011, § 28 Rn. 14 ff. 18 Battis/Kersten (Anm. 1). 19 Angelika Siehr, „Entdeckung“ der Raumdimension in der Europapolitik: Neue Formen territorialer Governance in der Europäischen Union, Der Staat 48 (2009), 75 ff. 20 Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, ABl. 2007 C 306/1; dieser Reformvertrag ist am 13.12.2007 unterzeichnet worden und am 1.12.2009 in Kraft getreten. Zur enormen Vielfalt der auf diesen Vertrag zurückzuführenden Änderungen des Unionsrechts vgl. im Überblick und jeweils m.w.N. Carsten Nowak, Europarecht nach

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EUV, der wortgleich dem Art. I-57 des „gescheiterten“ Vertrags über eine Verfassung für Europa21 entspricht und dessen erster Absatz bestimmt, dass die Union besondere Beziehungen zu den Ländern in ihrer Nachbarschaft entwickelt, um einen „Raum des Wohlstands und der guten Nachbarschaft“ zu schaffen, der auf den Werten der Union aufbaut und sich durch enge, friedliche Beziehungen auf der Grundlage der Zusammenarbeit auszeichnet. Für die Zwecke dieses Absatzes verleiht Art. 8 Abs. 2 Satz 1 EUV der Union die Befugnis zum Abschluss spezieller Übereinkünfte mit den betreffenden Ländern. Zur Konkretisierung dieser Befugnis verdeutlicht der zweite Satz dieser Bestimmung sodann, dass die vorgenannten Übereinkünfte gegenseitige Rechte und Pflichten umfassen und die Möglichkeit zu gemeinsamem Vorgehen eröffnen können. Ergänzend verlangt Art. 8 Abs. 2 Satz 3 EUV schließlich, dass zur Durchführung der hier in Rede stehenden Übereinkünfte regelmäßige Konsultationen stattfinden. Der ausschließlich aus den beiden vorgenannten Absätzen bestehende „Nachbarschafts“-Artikel 8 EUV stellt zwar seit dem am 1. Dezember 2009 erfolgten Inkrafttreten des Lissabonner Reformvertrags die zentrale unionsverfassungsrechtliche Bestimmung im Kontext der (Fort-)Entwicklung und der Pflege nachbarschaftlicher Beziehungen zwischen der EU und den zahlreichen Ländern in ihrer Nachbarschaft dar.22 Die Entdeckung oder „Geburtsstunde“ der EU-NachbarschaftsLissabon, 2011, 51 ff.; Rudolf Streinz/Christoph Ohler/Christoph Herrmann, Der Vertrag von Lissabon zur Reform der EU, 3. Aufl. 2010, 45 ff. 21 Vertrag über eine Verfassung für Europa, ABl. 2004 C 310/1. 22 Ausführlich zu Art. 8 EUV vgl. Joachim Bitterlich, Art. 8 EUV, in: Carl-Otto Lenz/ Klaus-Dieter Borchardt (Hrsg.), EU-Verträge – Kommentar nach dem Vertrag von Lissabon, 5. Aufl. 2010, Rn. 1 ff.; Rudolf Geiger, Art. 8 EUV, in: Rudolf Geiger/Daniel-Erasmus Khan/Markus Kotzur (Hrsg.), EUV/AEUV – Kommentar, 5. Aufl. 2010, Rn. 1 ff.; Waldemar Hummer, Art. 8 EUV, in: Christoph Vedder/Wolff Heintschel von Heinegg (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht – EUV/AEUV/Grundrechte-Charta, Rn. 1 ff.; Andreas Kellerhals/Wesselina Uebe, Art. 8 EUV, in: Jürgen Schwarze (Hrsg.)/Ulrich Becker/Armin Hatje/Johann Schoo (Mithrsg.), EU-Kommentar, 3. Aufl. 2012, Rn. 1 ff.; Markus Kotzur, Europäische Nachbarschaftspolitik, in: Andreas von Arnauld (Hrsg.), Enzyklopädie Europarecht – Bd. 10: Europäische Außenbeziehungen, 2014, § 7 Rn. 9 ff.; Franz Merli, EUErweiterung und Nachbarschaftspolitik, in: Ulrich Fastenrath/Carsten Nowak (Hrsg.), Der Lissabonner Reformvertrag – Änderungsimpulse in einzelnen Rechts- und Politikbereichen, 2009, 259, 266 ff.; Carsten Nowak, Art. 8 EUV, in: Hans von der Groeben/Jürgen Schwarze/Armin Hatje (Hrsg.), EUV/AEUV – Kommentar, 7. Aufl. (im Erscheinen), Rn. 1 ff.; Kirsten Schmalenbach, Art. 8 EUV, in: Christian Calliess/Matthias Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV – Kommentar, 4. Aufl. 2011, Rn. 1 ff.; Rudolf Streinz, Art. 8 EUV, in: Rudolf Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Rn. 1 ff.; Daniel Thym, Art. 8 EUV, in: Eberhard Grabitz/Meinhard Hilf/Martin Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union – Kommentar, Band I (Stand: 50. Ergänzungslieferung Mai 2013) Rn. 1 ff.

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politik markiert das Inkrafttreten des Lissabonner Reformvertrags indes nicht. Vielmehr haben sich bereits weit im Vorfeld der durch diesen Reformvertrag herbeigeführten Veränderungen der Unionsrechtsordnung zahlreiche unterschiedliche Nachbarschaftsverhältnisse zwischen der EU und ihren Nachbarstaaten herausgebildet, die in ihrer Vielzahl und Unterschiedlichkeit zunächst einmal dafür sprechen, dass es nach wie vor nicht nur „eine“ EU-Nachbarschaftspolitik, sondern eher verschiedene und dabei jeweils zwischen einzelnen Nachbarstaaten und/oder Ländergruppen differenzierende Nachbarschaftspolitiken der EU gibt, die sich zum Teil mit der EU-Erweiterungs-, Partnerschafts- und Assoziationspolitik überschneiden (dazu sogleich unter B.). Einen überaus wichtigen Teilbereich dieser verschiedenen Nachbarschaftpolitiken, der sich speziell auf die zwischen der EU auf der einen Seite und Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Georgien, Ukraine, Moldawien, Algerien, Marokko, Tunesien, Libyen, Ägypten, Jordanien, Libanon, Israel, der Palästinensischen Autonomiebehörde und Syrien auf der anderen Seite bestehenden Nachbarschaftsbeziehungen bezieht, stellt insbesondere die jetzt seit gut zehn Jahren existierende „Europäische Nachbarschaftspolitik“ bzw. die so genannte „European Neighbourhood Policy“ (ENP) dar, innerhalb derer – wie bereits im Titel dieses Beitrags angedeutet – wiederum zwei verschiedene Teilräume in Gestalt der südlichen ENP-Dimension („Mittelmeerraum“) und der östlichen ENP-Dimension („Osteuropa“) voneinander zu unterscheiden sind (dazu unter C.). Die im Rahmen der ENP somit feststellbare Differenzierung zwischen den beiden vorgenannten (südlichen und östlichen) Dimensionen führt den in Art. 8 Abs. 1 EUV angesprochenen und ein gewisses Maß an Einheitlichkeit bzw. Kohärenz suggerierenden „Raum des Wohlstands und der guten Nachbarschaft“ zwar nicht ad absurdum; allerdings unterliegen diese beiden ENP-Dimensionen gegenwärtig einer bereits im Jahre 2011 initiierten Neuausrichtung der Europäischen Nachbarschaftspolitik, mit der das bereits seit jeher recht hohe Maß an externer Differenzierung im Rahmen des in Art. 8 Abs. 1 EUV angesprochenen Nachbarschaftsraums vermutlich noch weiter gesteigert wird (D.).

B. Die Pluralität unterschiedlichster Nachbarschaftsbeziehungen zwischen der EU und zahlreichen Ländern in ihrer Nachbarschaft In den zurückliegenden Jahren und Jahrzehnten hat sich ein überaus facettenreiches Netz partnerschaftlicher und – mehr oder weniger „guter“ – nachbarschaftlicher Beziehungen zwischen der seit dem Inkrafttreten des Lissabonner Reformvertrags

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als Rechtsnachfolgerin der Europäischen Gemeinschaft (EG) auftretenden EU23 und zahlreichen ihrer Nachbarstaaten herausgebildet, das in gewisser Weise ein von der EU verfolgtes Konzept der flexiblen Integration europäischer Drittstaaten zu erkennen gibt.24 Während etwa das zwischen der EU und ihrem Nachbarn Russland bestehende Verhältnis nach wie vor als eine in vielerlei Hinsicht lückenhafte, spannungsgeladene und reformbedürftige „Strategische Partnerschaft“ einzustufen ist,25 besteht zwischen der EU und dem Nachbarstaat Türkei eine recht tiefgreifende „Beitrittspartnerschaft“,26 die in ein bereits seit einigen Jahrzehnten bestehendes Assoziationsverhältnis überaus intensiver Art eingebunden ist.27 23

Zur EU als Rechtsnachfolgerin der EG vgl. Art. 1 Abs. 3 Satz 3 EUV i.d.F. von Lissabon; die jüngste konsolidierte Fassung des hier angesprochenen Vertrags über die EU findet sich im ABl. 2012 C 326/13. 24 Instruktiv dazu vgl. insb. Sandra Lavenex/Dirk Lehmkuhl/Nicole Wichmann, Flexible Integration von Drittstaaten im Vergleich – Ein konzeptueller Rahmen, in: Fritz Breuss/ Thomas Cottier/Peter-Christian Müller-Graff/Armin Hatje (Hrsg.), Die Schweiz im europäischen Integrationsprozess, 2008, 307 ff. 25 Ausführlicher dazu vgl. Sabine Fischer, The EU and Russia: Democracy promotion in a “strategic partnership”?, in: Annette Jünemann/Michèle Knodt (Hrsg.), Externe Demokratieförderung durch die Europäische Union, 2007, 247 ff.; Paul Flenley, Russia and the EU: The Clash of New Neighbourhoods?, JCES 2008, 189 ff.; Amelia Hadfield, EU-Russia Energy Relations: Aggregation and Aggravation 1, JCES 2008, 231 ff.; Christophe Hillion, Russian Federation (including Kaliningrad), in: Steven Blockmans/Adam Lazowski (Hrsg.), The European Union and its Neighbours – A legal appraisal of the EU’s policies of stabilisation, partnership and integration, 2006, 463 ff.; Sebastian Schäffer, EU-Russia Relations and the Eastern Partnership, in: Edmund Ratka/Olga Spaiser (Hrsg.), Understanding European Neighbourhood Policies – Concepts, Actors, Perceptions, 2012, 239 ff.; Eckart Stratenschulte, Meerwert Ostsee – Die Ostseestrategie der EU und Russland, Osteuropa 11/2009, 71 ff.; Alexander Warkotsch, Russland und die Europäische Union: Inventur einer Partnerschaft, Blätter für deutsche und internationale Politik 2008, 72 ff. 26 Vgl. dazu insbesondere den Ratsbeschluss 2006/35/EG vom 23.1.2006 über die Grundsätze, Prioritäten und Bedingungen der Beitrittspartnerschaft mit der Türkei, ABl. 2006 L 22/34. 27 Ausführlicher dazu etwa Haluk Kabaalioglu, EU-Turkey Customs Union: Has the Association „Advanced far enough to justify full acceptance by Turkey of the obligation arising from membership“?, in: Wulfdiether Zippel (Hrsg.), Spezifika einer Südost-Erweiterung der EU – Die Türkei und die EU-Türkei-Beziehungen, 2003, 73 ff.; Spiridon Paraskewopoulos, Sozioökonomische Rahmenbedingungen und Perspektiven der Türkei, in: Wulfdiether Zippel (Hrsg.), Spezifika einer Südost-Erweiterung der EU – Die Türkei und die EU-Türkei-Beziehungen, 2003, 35 ff.; Edgar Lenski, Turkey (including Northern Cyprus), in: Steven Blockmans/Adam Lazowski (Hrsg.), The European Union and its Neighbours – A legal appraisal of the EU’s policies of stabilisation, partnership and integration, 2006, 283 ff.; Barbara Lippert, Erweiterungsfragen und Nachbarschaftspolitik der Europäischen Union, insbesondere die Türkeifrage und ihre Implikationen, in: Peter-

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Eine ähnlich intensive Beitrittspartnerschaft bestand einige Jahre auch zwischen der EU und Kroatien,28 das allerdings zum 1. Juli 2013 der EU beigetreten ist und insoweit nicht mehr als Nachbarstaat der EU, sondern vielmehr als einer der nunmehr 28 EU-Mitgliedstaaten einzuordnen ist.29 Im Hinblick auf die anderen Staaten des westlichen Balkans ist zwar ausweislich des Amtsblatts der EU nach wie vor zwischen Beitrittspartnerschaften30 und Europäischen Partnerschaften31 zu differenzieren. Die Grenzen zwischen diesen unterschiedlichen Partnerschaftskategorien sind jedoch durchaus fließend, da die EU nicht nur mit Mazedonien, sondern nunmehr auch mit Montenegro und Serbien in Beitrittsverhandlungen eingetreten ist. Folgerichtig spricht die Europäische Kommission in Bezug auf Mazedonien, Montenegro und Serbien von „Kandidatenländern“, während Bosnien und Herzegowina, Albanien und das Kosovo als „potenzielle Beitrittskandidaten“ bezeichnet werden.32 Eine wichtige Gemeinsamkeit teilen die Staaten des westlichen Balkans allerdings insoweit, als sie allesamt von dem so genannten – häufig auch unter dem Aspekt der „externen Demokratieförderung“ thematisierten33 – StabiliChristian Müller-Graff (Hrsg.), Die Rolle der erweiterten Europäischen Union in der Welt, 2006, 175 ff.; Michael Slezak, Rechtliche Grundlagen und Entwicklung der Assoziation EWR-Türkei, ZESAR 2013, 53 ff. 28 Vgl. dazu insb. den Ratsbeschluss 2008/119/EG vom 12.2.2008 über die Grundsätze, Prioritäten und Bedingungen der Beitrittspartnerschaft mit Kroatien und zur Aufhebung des Beschlusses 2006/145/EG, ABl. 2008 L 42/51. 29 Zum diesbzgl. Beitrittsvertrag und zur dazugehörigen Beitrittsakte vgl. ABl. 2012 L 112/10 und ABl. 2012 L 112/21. 30 Beschluss des Rates vom 18. Februar 2008 über die Grundsätze, Prioritäten und Bedingungen der Beitrittspartnerschaft mit der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien und zur Aufhebung des Beschlusses 2006/57/EG, ABl. 2008 L 80/32. 31 Beschluss des Rates vom 18. Februar 2008 über die Grundsätze, Prioritäten und Bedingungen der Europäischen Partnerschaft mit Albanien und zur Aufhebung des Beschlusses 2006/54/EG, ABl. 2008 L 80/1; Beschluss des Rates vom 18. Februar 2008 über die Grundsätze, Prioritäten und Bedingungen der Europäischen Partnerschaft mit Bosnien und Herzegowina und zur Aufhebung des Beschlusses 2006/55/EG, ABl. 2008 L 80/18; Beschluss des Rates vom 18. Februar 2008 über die Grundsätze, Prioritäten und Bedingungen der Europäischen Partnerschaft mit Bosnien und Herzegowina und zur Aufhebung des Beschlusses 2006/55/EG, ABl. 2008 L 80/46; sowie Beschluss des Rates vom 22. Januar 2007 über die Grundsätze, Prioritäten und Bedingungen der Europäischen Partnerschaft mit Montenegro, ABl. 2007 L 20/16. 32 Vgl. Europäische Kommission, Die Europäische Union erklärt: Erweiterung, Luxemburg 2014, 6; zu jüngsten Entwicklungen und Fortschritten einzelner Staaten des westlichen Balkans auf ihrem Weg in die EU vgl. auch Wolfgang Tiede, Kosovo und Serbien auf dem Weg in die Europäische Union, EuR 2014, 129 ff. 33 Näher dazu vgl. nur Katrin Bergholz, Demokratie von unten oder von außen? Bürgerbeteiligung und externe Demokratieförderung in Bosnien und Herzegowina, SOM 2007,

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sierungs- und Assoziierungsprozess34 erfasst werden, mit dem die EU die verschiedenen Länder des westlichen Balkans auf ihrem Weg zum EU-Beitritt begleitet35 und zu dessen Kernelementen diverse bilaterale Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen oder zumindest vorbereitende Interimsabkommen gehören.36 Ein überaus enges Nachbarschaftsverhältnis verbindet die EU ferner mit der Schweiz,37 dieses Verhältnis hat sich in den vergangenen Jahren in einer Weise 88 ff.; David Chandler, The EU’s promotion of democracy in the Balkans, in: Zaki Laïdi (Hrsg.), EU Foreign Policy in a Globalized World – Normative Power and social preferences, 2008, 68 ff.; Susan Stewart, EU Democracy Promotion in the Western Balkans, in: Annette Jünemann/Michèle Knodt (Hrsg.), Externe Demokratieförderung durch die Europäische Union, 2007, 231 ff. 34 Grundlegend dazu die Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament vom 26.5.1999 über den Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess für die Länder Südosteuropas, KOM(1999) 235 endg.; ferner in diesem Kontext die nachfolgend von der Kommission verfassten Jahresberichte „Der Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess für Südosteuropa“ vom 3.4.2002, KOM(2002) 163 endg., vom 26.3.2003, KOM (2003) 139 endg. und vom 30.3.2004, KOM(2004) 202 endg.; sowie Jens Becker, The European Union and the Western Balkans, SEER 2008, 7 ff.; Annegret Benediek, Komplexität und Kohärenz? – Die Geschichte des Stabilitätspaktes für Südosteuropa und die Rolle der Europäischen Union, in: Mathias Jopp/Peter Schlotter (Hrsg.), Kollektive Außenpolitik – Die Europäische Union als internationaler Akteur, 2007, 211 ff.; Erhard Busek, South Eastern Europe: On the Way to Political and Economic Integration within the EU, ACEERev 4/2007, 5 ff.; Lykke Friis/Anna Murphy, #Turbo-charged negotiations,: the EU and the Stability Pact for South Eastern Europe, JEPP 2000, 767 ff. 35 Instruktiv dazu die Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament vom 21.5.2003 „Der Westbalkan und die Europäische Integration“, KOM(2003) 285 endg.; die Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und an den Rat vom 5.3.2008 „Westlicher Balkan: Stärkung der europäischen Perspektive, KOM(2008) 127 endg. i.V.m. der Verordnung (EG) Nr. 533/2004 des Rates vom 22.3.2004 über die Gründung Europäischer Partnerschaften im Rahmen des Stabilisierungs- und Assoziierungsprozesses, ABl. 2004 L 86/1, geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 269/2006 des Rates vom 14.2.2006 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 533/2004 über die Gründung Europäischer Partnerschaften im Rahmen des Stabilisierungs- und Assoziierungsprozesses, ABl. 2006 L 47/7; sowie George Aspridis/Marina Petrelli, When the EU met the western Balcans: Ready for the wedding?, SEER 2012, 5 ff. 36 Ausführlicher dazu jeweils m.w.N. Frank Hoffmeister, Die Beziehungen der Europäischen Union zu den Staaten des Westbalkans, in: Stefan Kadelbach (Hrsg.), Die Außenbeziehungen der Europäischen Union, 2006, 125, 131 ff.; Carsten Nowak, Multilaterale und bilaterale Elemente der EU-Assoziations-, Partnerschafts- und Nachbarschaftspolitik, EuR 2010, 746, 764 ff.; Tiede (Anm. 32), 129 ff. 37 Ausführlicher zu diesem intensiven bzw. weitreichenden Nachbarschaftsverhältnis statt vieler Daniel Thürer, Europa und die Schweiz: Status quo und Potenziale einer Partnerschaft – Überlegungen zu einem pluralistischen Ansatz, SJZ 108 (2012), 477 ff.;

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fortentwickelt und verdichtet, dass es nicht zu Unrecht als eine „privilegierte Partnerschaft“ eingestuft wird38 und dass in diesem Kontext gelegentlich sogar bereits von einer „Quasi“-Mitgliedschaft bzw. von einer de facto-Mitgliedschaft der Schweiz in der EU gesprochen wird.39 Weitere intensive und weitreichende Nachbarschafts- und Vertragsbeziehungen bestehen darüber hinaus zwischen der EU und einigen europäischen Mikrostaaten (Vatikanstaat, Andorra, Monaco und San Marino)40 sowie zwischen der EU und den am Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) teilnehmenden Staaten in Gestalt von Norwegen, Liechtenstein und Island.41 Soweit Island im Juli 2009 sogar einen Antrag auf Mitgliedschaft in der Union gestellt hat, ist dieser Antrag bislang weitgehend folgenlos geblieben, da die Regierung Islands im Mai 2013 entschied, die im Juni 2010 aufgenommenen Beitrittsverhandlungen mit der EU „auf Eis zu legen“. Parallel zu den vorgenannten Nachbarschaftsbeziehungen, die größtenteils als Binnenmarkt-, Freihandels- und/oder Beitrittsassoziationen eingestuft werden können,42 unterhält die EU seit einigen Jahren eine Vielzahl weiterer Nachbarschaftsbeziehungen, die unter der Überschrift der parallel zur finalen Phase der zurückliegenden EU-Osterweiterung in den Jahren 2003/2004 entwickelten „Europäischen Nachbarschaftspolitik“ („European Neighbourhood Policy“ – ENP) zusammengefasst werden und sechzehn östliche sowie südliche Nachbarn der EU in Gestalt von Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Georgien, die Ukraine, Moldawien, Ruth Christa Tobler, Der Acquis der rechtlichen Verbindung der Schweiz zur EG und EU – Eine unsichere Größe?, in: Fritz Breuss/Thomas Cottier/Peter-Christian Müller-Graff/ Armin Hatje (Hrsg.), Die Schweiz im europäischen Integrationsprozess, 2008, 11 ff.; sowie Stephan Breitenmoser/Robert Weyeneth, Die Abkommen zwischen der Schweiz und der EU, EuZW 2012, 854 ff. 38 So etwa von Christian Calliess, Die Privilegierte Partnerschaft der Schweiz als Modell für die Erweiterungsfrage der EU, in: Fritz Breuss/Thomas Cottier/Peter-Christian Müller-Graff/Armin Hatje (Hrsg.), Die Schweiz im europäischen Integrationsprozess, 2008, 283 ff. 39 In diesem Sinne vgl. Lavenex/Lehmkuhl/Wichmann (Anm. 24). 40 Vgl. Fiona Murray, Micro-States (Andorra, Monaco, San Marino and the Vatican City), in: Steven Blockmans/Adam Lazowski (Hrsg.), The European Union and its Neighbours – A legal appraisal of the EU’s policies of stabilisation, partnership and integration, 2006, 185 ff. 41 Vgl. Waldemar Hummer, Die räumliche Erweiterung des Binnenmarktrechts, EuRBeih. 1/2002, 75, 94 ff.; Adam Lazowski, EEA Countries (Iceland, Liechtenstein and Norway), in: Steven Blockmans/Adam Lazowski (Hrsg.), The European Union and its Neighbours – A legal appraisal of the EU’s policies of stabilisation, partnership and integration, 2006, 95 ff. 42 Zur Unterscheidung dieser Assoziationsformen etwa Hummer (Anm. 41), 87 ff.; instruktiv dazu ferner Thomas Bruha, Binnenmarktassoziierungen, EuR-Beih. 3/2002, 109 ff.

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Algerien, Marokko, Tunesien, Libyen, Ägypten, Jordanien, Libanon, Israel, die Palästinensische Autonomiebehörde und Syrien einschließen. Die so bezeichnete ENP, die als Europäische Nachbarschaftspolitik im engeren Sinne bezeichnet werden kann und im Verbund mit den oben genannten Nachbarschaftsbeziehungen bzw. Nachbarschaftspolitiken, die sich auf zahlreiche nicht von der ENP erfasste Nachbarstaaten beziehen, für die Existenz mehrerer verschiedener EU-Nachbarschaftspolitiken spricht,43 oder zumindest eine zwischen unterschiedlichen Ländern und/ oder Ländergruppen differenzierende und sich partiell mit der EU-Assoziations-, Partnerschafts- und Erweiterungspolitik überschneidende Europäische Nachbarschaftspolitik im weiteren Sinne zu erkennen gibt,44 steht im Mittelpunkt der nachfolgenden Ausführungen.

C. Ziele, Instrumente und unterschiedliche Dimensionen der ENP bzw. der Europäischen Nachbarschaftspolitik im engeren Sinne Die angesichts der im vorangegangenen Abschnitt aufgezeigten Existenz verschiedener EU-Nachbarschaftspolitiken als EU-Nachbarschaftspolitik im engeren Sinne einzuordnende ENP ist nach einigen Vorarbeiten der Europäischen Kommission in den Jahren 2003 und 2004 als ein neuer Politikbereich oder Politikansatz der EU etabliert worden,45 dem in der europarechtlichen und vor allem in der politikwissenschaftlichen Literatur überaus große Aufmerksamkeit geschenkt wird.46 Dieser Politikbereich oder -ansatz stellt seit nunmehr knapp zehn Jahren 43

In diesem Sinne etwa Sandra Lavenex/Dirk Lehmkuhl/Nicole Wichmann, Die Nachbarschaftspolitiken der Europäischen Union: zwischen Hegemonie und erweiterter Governance, in: Ingeborg Tömmel (Hrsg.), PVS-SH 40 (2007), 367 ff.; Edmund Ratka/Olga Spaiser, Introduction: Understanding European Neighbourhood Policies, in: Edmund Ratka/Olga Spaiser (Hrsg.), Understanding European Neighbourhood Policies – Concepts, Actors, Perceptions, 2012, 15 ff. 44 Vgl. dazu auch Steven Blockmans/Adam Lazowski, Conclusions: Squaring the Ring of Friends, in: Steven Blockmans/Adam Lazowski (Hrsg.), The European Union and its Neighbours – A legal appraisal of the EU’s policies of stabilisation, partnership and integration, 2006, 613 ff.; Nowak (Anm. 36), 746 ff. 45 Grundlegend dazu die an den Rat und an das Europäische Parlament adressierte Mitteilung der Kommission vom 11.3.2003 „Größeres Europa – Nachbarschaft: Ein neuer Rahmen für die Beziehungen der EU zu ihren östlichen und südlichen Nachbarn“, KOM (2003) 104 endg.; sowie die Mitteilung der Kommission vom 12.5.2004 „Europäische Nachbarschaftspolitik – Strategiepapier“, KOM(2004) 373 endg. 46 Aus der enormen Vielzahl einschlägiger Veröffentlichungen vgl. etwa Johannes Varwick/Kai Olaf Lang (Hrsg.), European Neighbourhood Policy – Challenges for the EUPolicy Towards the New Neighbours, 2007; Edmund Ratka/Olga Spaiser (Hrsg.), Under-

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ein ernst gemeintes Angebot der EU zur Schaffung und Fortentwicklung privilegierter Nachbarschaftsbeziehungen dar, das sich ausschließlich auf Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Georgien, die Ukraine, Moldawien sowie auf Algerien, Marokko, Tunesien, Libyen, Ägypten, Jordanien, Libanon, Israel, die Palästinensische Autonomiebehörde und Syrien bezieht. Die der ENP unterfallenden Nachbarschaftsverhältnisse werden zwar vielfach als Alternativen bzw. Surrogate für eine nicht gewährte EU-Mitgliedschaft verstanden;47 dies schließt aber nicht für alle Zeit die Beitrittsperspektiven derjenigen ENP-Staaten aus, die zu den „europäischen Staaten“ im Sinne des Art. 49 Abs. 1 EUV gehören.48 Die mit verschiedenen Instrumenten operierende ENP verfolgt zwar im Hinblick auf alle vorgenannten standing European Neighbourhood Policies – Concepts, Actors, Perceptions, 2012; sowie Rosa Balfour, The Challenges of the European Neighbourhood Policy, IS 40 (2005), 7 ff.; Michaela Dodini/Marco Fantini, The EU Neighbourhood Policy: Implications for Economic Growth and Stability, JCMS 2006, 507 ff.; Pau Duta, European Neighbourhood Policy and Its Main Components, RJEA 10 (2005), 229 ff.; Geoffrey Edwards, The Construction of Ambiguity and the Limits of Attraction: Europe and its Neighbourhood Policy, JEI 30 (2008), 45 ff.; Michael Emerson, European Neighbourhood Policy: Strategy or Placebo?, CEPSWorkDoc Nr. 215 (2004),1 ff.; Iris Kempe, Zwischen Anspruch und Wirklichkeit – Die Europäische Nachbarschaftspolitik, Osteuropa 2–3/2007, 57 ff.; Barbara Lippert, Teilhabe statt Mitgliedschaft? – Die EU und ihre Nachbarn im Osten, Osteuropa 2–3/2007, 69 ff.; Nowak (Anm. 36); ders., Rechtliche Arrangements zur Förderung und zum Schutz ausländischer Investitionen im Rahmen der EU-Assoziationspolitik und der Europäischen Nachbarschaftspolitik, in: Marc Bungenberg/Jörn Griebel/Steffen Hindelang (Hrsg.), Internationaler Investitionsschutz und Europarecht, 2010, 155 ff.; Clara O’Donnell/Richard Whitman, Das Phantom-Zuckerbrot – Die Konstruktionsfehler der ENP, Osteuropa 2–3/2007, 95 ff.; Andrea Ott, Is second best still good enough? – The European neighbourhood policy as an alternative to EU accession, MJ 2006, 377 ff.; Florent Parmentier, The reception of EU neighbourhood policy, in: Zaki Laïdi (Hrsg.), EU Foreign Policy in a Globalized World – Normative Power and social preferences, 2008, 103 ff.; Karen Elizabeth Smith, The Outsiders: The European Neighbourhood Policy, IA 81 (2005), 757 ff.; Bart Van Vooren, A case study of „soft law“ in EU external relations: The European Neighbourhood Policy, ELR 34 (2009), 696 ff.; Georg Vobruba, Das politische Potential der Europäischen Nachbarschaftspolitik – Zur Überwindung des Widerspruchs zwischen Integration und Erweiterung der Europäischen Union, Leviathan 38 (2010), 45 ff. 47 Vgl. Bitterlich (Anm. 22), Rn. 5; Hummer (Anm. 22), Rn. 6 und 39; Streinz (Anm. 22), Rn. 8. 48 In diesem zutreffenden Sinne vgl. auch Katrin Alsen, Der Europäische Integrationsauftrag der EU – Überlegungen zur Erweiterungs-, Assoziierungs- und Nachbarschaftspolitik der EU aus der Warte einer europäischen Prinzipienlehre, 2008, 254; Marise Cremona, The European Neighbourhood Policy – More than a Partnership?, in: Marise Cremona (Hrsg.), Developments in EU External Relations Law, 2008, 244, 261; Katharina Ludwig, Die Rechtsstaatlichkeit in der Erweiterungs-, Entwicklungs- und Nachbarschaftspolitik der Europäischen Union – Entwicklung einer European Rule of Law?, 2011, 173.

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EU-Nachbarn weitgehend einheitliche Ziele (I.). Diese Einheitlichkeit kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass im Rahmen der ENP deutlich zwischen der auf den Mittelmeerraum bezogenen „südlichen ENP-Dimension“ (II.) und der auf die sechs ENP-Partnerländer in Osteuropa bezogenen „östlichen ENP-Dimension“ (III.) zu differenzieren ist, und, dass diese Differenzierung im Verbund mit der bereits im vorangegangenen Abschnitt thematisierten Pluralität unterschiedlichster Nachbarschaftsbeziehungen zwischen der EU und zahlreichen Ländern in ihrer Nachbarschaft insoweit die Frage aufwirft, ob sich der in Art. 8 Abs. 1 EUV angesprochene Raum des Wohlstands und der guten Nachbarschaft nicht längst in mehrere unterschiedliche Nachbarschaftsräume aufgespalten hat. I. Ziele und Instrumente der ENP unter besonderer Berücksichtigung des Art. 8 EUV Das wesentliche Ziel der ausschließlich auf die vorgenannten sechzehn östlichen und südlichen Nachbarn der EU bezogenen ENP besteht ausweislich einiger der Gründungsphase dieses Politikbereichs zuzuordnender Kommissionsmitteilungen darin, die Entstehung neuer Trennlinien zwischen der durch die o.g. Osterweiterung auf zunächst 25 Mitgliedstaaten – später durch den im Jahre 2007 erfolgten EUBeitritt Bulgariens und Rumäniens auf 27 Mitgliedstaaten und nun durch den zum 1. Juli 2013 bewirkten EU-Beitritt Kroatiens sogar auf 28 Mitgliedstaaten – angewachsenen EU und ihren dadurch zum Teil neuen Nachbarn zu verhindern und stattdessen Wohlstand, Stabilität und Sicherheit der beteiligten Akteure zu stärken.49 Darüber hinaus strebt die ENP, die in einem starken Maße auch auf die Förderung bzw. den „Export“ von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ausgerichtet ist50 und in erheblicher Weise nicht zuletzt energiepolitischen Interessen der EU 49 Vgl. dazu insb. die beiden oben in Anm. 45 genannten Kommissionsmitteilungen KOM(2003) 104 endg. und KOM(2004) 373 endg.; die an den Rat und das Europäische Parlament adressierte Kommissionsmitteilung „Über die Stärkung der Europäischen Nachbarschaftspolitik“, vom 4.12.2006 KOM(2006) 726 endg. sowie ihre Mitteilung vom 5.12.2007 „Für eine starke Europäische Nachbarschaftspolitik“, KOM(2007) 774 endg. 50 Instruktiv dazu statt vieler Timm Beichelt, Externe Demokratisierungsstrategien der Europäischen Union: Die Fälle Belarus, Moldova, Ukraine, in: Annette Jünemann/Michèle Knodt (Hrsg.), Externe Demokratieförderung durch die Europäische Union, 2007, 207 ff.; Filipa Bismarck Coelho, From Accession Policy to Neighbourhood Policy: A Legal Perspective on EU Democracy Promotion, in: Edmund Ratka/Olga Spaiser (Hrsg.), Understanding European Neighbourhood Policies – Concepts, Actors, Perceptions, 2012, 308 ff.; Pamela Jawad, The European Union as an External Democracy Promoter in the South Caucasus Region, in: Annette Jünemann/Michèle Knodt (Hrsg.), Externe Demokratieförderung durch die Europäische Union, 2007, 269 ff.; Sandra Lavenex, EU external go-

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dient,51 nach offiziellen Verlautbarungen eine Vertiefung des politischen Dialogs und der Zusammenarbeit zwischen der EU und den hiervon betroffenen Nachbarstaaten sowie ein sehr hohes Maß an wirtschaftlicher Integration mit diesen Staaten an.52 Seit dem am 1. Dezember 2009 erfolgten Inkrafttreten des Lissabonner Reformvertrags muss sich die ENP natürlich vor allem der Erfüllung des in Art. 8 Abs. 1 EUV geregelten Kernziels der EU-Nachbarschaftspolitik im weiteren Sinne in den Dienst stellen. Dieses Ziel besteht ausweislich der vorgenannten Norm in der Schaffung eines Raums des Wohlstands und der guten Nachbarschaft, der auf den Werten der Union aufbaut und sich durch enge, friedliche Beziehungen auf der Grundlage der Zusammenarbeit auszeichnet (1.). Zur Verwirklichung dieses Ziels ermächtigt und verpflichtet Art. 8 Abs. 1 EUV die Union zur Entwicklung besonderer Beziehungen zu den Ländern in ihrer Nachbarschaft, ohne dabei aber hinreichend deutlich zu machen, wodurch sich das Besondere der hier in Rede stehenden Nachbarschaftsbeziehungen auszeichnen soll und auf welche Nachbarländer sich dieser unionsverfassungsrechtliche „Handlungsauftrag“53 konkret bezieht (2.). Die Instrumente, die zur Verwirklichung der in Art. 8 Abs. 1 EUV niedergelegten Ziele bereitstehen, sind durchaus vielfältig (3.). 1. Schaffung eines wertorientierten und kooperativen Raums des Wohlstands und der guten Nachbarschaft Das zentrale Ziel europäischer Nachbarschaftspolitik stellt nach Art. 8 Abs. 1 EUV die durch die Entwicklung besonderer Beziehungen zwischen der EU und den Ländern in ihrer Nachbarschaft projektierte Schaffung eines Raums des Wohlstands und der guten Nachbarschaft dar, der auf den in Art. 2 EUV angesprochenen Werten in Gestalt der Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und der Wahrung der Menschenrechte unter Einschluss von Minderheitenrechten aufbaut und sich durch enge, friedliche Beziehungen auf vernance in ‘wider Europe’, JEPP 2004, 680 ff.; Ludwig (Anm. 48), 173 ff.; Luis Martinez, European Union’s exportation of democratic norms – The Case of North Africa, in: Zaki Laïdi (Hrsg.), EU Foreign Policy in a Globalized World – Normative Power and social preferences, 2008, 118 ff. 51 Näher dazu vgl. nur Severin Fischer/Barbara Lippert, Mehr Gleise – Energieaußenpolitik und Nachbarschaftspolitik der EU, Osteuropa 11/2009, 53 ff. 52 Zu diesem Aspekt vgl. insb. die Mitteilung der Kommission vom 12.5.2010 „Die Europäische Nachbarschaftspolitik – eine Bestandsaufnahme“, KOM(2010) 207 endg., 2. 53 Zu dieser weitgehend konsensfähigen Einordnung der in Art. 8 Abs. 1 EUV enthaltenen Regelung vgl. etwa Kellerhals/Uebe (Anm. 22), Rn. 10; Schmalenbach (Anm. 22), Rn. 8; ähnlich Thym (Anm. 22), Rn. 10, der in diesem Kontext von einer vertraglichen Handlungspflicht der Union spricht.

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der Grundlage der Zusammenarbeit auszeichnet. Dieses „idyllische“ Leitbild54 wird zu Recht dahingehend gedeutet, dass sich die Union damit werthaltungskonforme und sicherheitspolitisch relevante strategische Vormauern im Sinne eines auch in offiziellen Mitteilungen der Kommission55 angesprochenen ring of friends von der Ostsee bis zum Mittelmeer schaffen will.56 Hierbei handelt es sich um ein ziemlich ambitioniertes Unionsziel, da es nicht nur von der Union verlangt, in diesem Kontext ihre allgemeinen außenpolitischen Vorgaben insbesondere im Sinne des Art. 21 EUV zu beachten, sondern darüber hinaus voraussetzt, dass sich auch die jeweiligen Partnerländer in der Nachbarschaft der EU mit den vorgenannten Werten und mit dem vorgenannten Geist friedlicher und enger Zusammenarbeit identifizieren können. Art. 8 EUV stellt im Grundsatz – etwas anders als Art. 49 Abs. 1 EUV, der die auf einen EU-Beitritt bezogene Antragsbefugnis auf europäische Staaten beschränkt, die die in Art. 2 EUV genannten Werte achten und sich für ihre Förderung einsetzen – keine spezifischen Anforderungen an die politischen Systeme der überaus heterogenen EU-Nachbarstaaten, die erfüllt sein müssten, damit die EU mit ihnen besondere Nachbarschaftsbeziehungen aufbauen darf.57 Dies verlangt auch nicht der in Art. 8 Abs. 1 EUV enthaltene Hinweis auf die in Art. 2 EUV genannten Werte, da der auf diesen Werten aufbauende Raum des Wohlstands und der guten Nachbarschaft nach Art. 8 Abs. 1 EUV erst geschaffen werden soll. Auf der anderen Seite ist aber die Schaffung eines solchen Raums unmöglich, wenn das jeweilige Partnerland in der Nachbarschaft der EU die in Art. 2 EUV genannten Werte missachtet und diesbezüglich keine Besserung im Prozess der Schaffung besonderer Nachbarschaftsbeziehungen erkennen oder erwarten lässt. In solchen Fällen spricht die Wertorientierung des Art. 8 Abs. 1 EUV dafür, dass die EU ihre diesbezüglichen Nachbarschaftsbeziehungen ruhen oder „schleifen“ lässt, wie dies etwa im Rahmen des durchaus schwierigen Verhältnisses zu Belarus praktiziert wird,58 und, dass die EU die Intensivierung einzelner Nachbarschaftsverhältnisse im Sinne der Konditionalität vor allem davon abhängig macht, ob und inwieweit sich das jeweilige Partnerland den vorgenannten Werten tatsächlich verpflichtet fühlt.59

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Vgl. Merli (Anm. 22), 259, 267. Vgl. etwa KOM(2003) 104 endg. (Anm. 45), 4. 56 Hummer (Anm. 22), Rn. 24. 57 Zutreffend Schmalenbach (Anm. 22), Rn. 6; Streinz (Anm. 22), Rn. 9. 58 Dazu m.w.N. Belarus Eugeniusz Piontek, in: Steven Blockmans/Adam Lazowski (Hrsg.), The European Union and its Neighbours – A legal appraisal of the EU’s policies of stabilisation, partnership and integration, 2006, 531 ff.; Schmalenbach (Anm. 22), Rn. 6. 59 Ausführlicher dazu Cremona (Anm. 48), 254 ff. 55

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2. Die der Union obliegende Entwicklung besonderer Beziehungen zu den Ländern in ihrer Nachbarschaft Um den vorgenannten Raum des Wohlstands und der guten Nachbarschaft zu schaffen, der auf den Werten der Union aufbaut und sich durch enge, friedliche Beziehungen auf der Grundlage der Zusammenarbeit auszeichnet, entwickelt die EU nach Art. 8 Abs. 1 EUV „besondere Beziehungen zu den Ländern in ihrer Nachbarschaft“. Insoweit ermächtigt und verpflichtet diese Norm die EU zur Entwicklung besonderer Beziehungen zu den Ländern in ihrer Nachbarschaft, ohne dabei allerdings den konkreten Inhalt derartiger Nachbarschaftsbeziehungen vorzugeben.60 Nicht ganz klar ist hierbei vor allem, was in diesem Kontext unter einer „besonderen“ Beziehung zu verstehen ist bzw. wodurch das Besondere der insoweit zu entwickelnden Nachbarschaftsbeziehungen gekennzeichnet sein soll. Nicht ganz ausgeschlossen ist, dass das Besondere der nach Art. 8 Abs. 1 EUV zu entwickelnden Nachbarschaftsbeziehungen im zweiten Satzteil dieser Bestimmung beschrieben wird; demnach wäre das Besondere dieser Nachbarschaftsbeziehungen in der dort angesprochenen Maßgeblichkeit der in Art. 2 EUV angesprochenen Werte, in ihrer Enge und Friedlichkeit sowie in dem diese Beziehungen kennzeichnenden Geist der Zusammenarbeit zu erblicken. Auf der anderen Seite ist die Union nach Art. 3 Abs. 5 EUV und Art. 21 Abs. 1 und 2 EUV auch in anderen Teilbereichen ihres auswärtigen Handelns den in Art. 2 EUV niedergelegten Werten sowie den Geboten der Friedlichkeit und der Zusammenarbeit verpflichtet, so dass das Besondere der nach Art. 8 Abs. 1 EUV zu entwickelnden Nachbarschaftsbeziehungen möglicherweise auch nur darin zu erblicken ist, dass es sich hierbei um „enge“ Beziehungen handelt.61 Unabhängig von den vorgenannten Auslegungsfragen besteht weitgehende Einigkeit darin, dass Art. 8 Abs. 1 EUV im Hinblick auf den politischen Gehalt der hier in Rede stehenden Nachbarschaftsbeziehungen ein qualitatives Mehr im Vergleich zu den üblichen internationalen Beziehungen der EU verlangt62 und insoweit die Entwicklung nachbarschaftlicher Beziehungen anordnet, die – sofern dem nicht im Einzelfall die Wertorientierung des Art. 8 Abs. 1 EUV entgegensteht – auf privilegierte Partnerschaften hinauslaufen63 oder intensiver als die üblichen Außenbeziehungen der EU sind64 bzw. in ihrem Gehalt oder in ihrer Intensität über die vielfältigen – strategischen, verstärkten oder vertieften – Partnerschaften hinausgehen, die bereits seit geraumer 60

Zutreffend Hummer (Anm. 22), Rn. 4. In diesem Sinne etwa Merli (Anm. 22), 269. 62 So etwa Kellerhals/Uebe (Anm. 22), Rn. 11; Kotzur (Anm. 22), Rn. 18; Schmalenbach (Anm. 22), Rn. 9. 63 In diesem Sinne auch Streinz (Anm. 22), Rn. 8. 64 So etwa Merli (Anm. 22), 269. 61

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Zeit die EU beispielsweise mit Lateinamerika, Afrika und Indien sowie mit Asien im Allgemeinen und China im Besonderen verbinden.65 Im Übrigen ist an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass bei der Entwicklung besonderer Beziehungen im Sinne des Art. 8 Abs. 1 EUV auch auf die 3. Erklärung der einschlägigen Regierungskonferenz66 zu achten ist, wonach die Union der besonderen Lage der Länder mit geringer territorialer Ausdehnung Rechnung trägt, die spezifische Nachbarschaftsbeziehungen zur Union unterhalten. Mit dieser nach allgemeiner Auffassung auf Andorra, Monaco, San Marino sowie auf den Vatikanstaat bezogenen Erklärung67 soll den Befürchtungen der vorgenannten „Mikrostaaten“ entgegengetreten werden, zugunsten strategischer Partnerschaften mit größeren Nachbarstaaten zurückgesetzt zu werden.68 Insoweit soll die Union bei der Entwicklung besonderer Nachbarschaftsbeziehungen der besonderen Lage der „Mikrostaaten“ Rechnung tragen, wobei weder der 3. Erklärung der Regierungskonferenz noch dem Art. 8 EUV zu entnehmen ist, wie die hier in Rede stehende Vorgabe konkret umzusetzen ist. Etwas unklar und auslegungsbedürftig bleibt Art. 8 Abs. 1 EUV schließlich auch im Hinblick auf die Frage, auf welche Nachbarländer sich der darin geregelte Handlungsauftrag der EU zur Entwicklung besonderer Beziehungen „zu den Ländern in ihrer Nachbarschaft“ konkret bezieht. Der in diesem Zusammenhang

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Vgl. dazu insb. die Mitteilung der Kommission an den Rat und an das Europäische Parlament vom 8.12.2005 „Eine verstärkte Partnerschaft zwischen der Europäischen Union und Lateinamerika“, KOM(2005) 636 endg.; ihre Mitteilung an den Rat, an das Europäische Parlament und an den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss vom 16.6.2004 „Eine strategische Partnerschaft zwischen der EU und Indien“, KOM(2004) 430 endg.; ihre Mitteilung an den Rat und das Europäische Parlament vom 24.10.2006 „Die Beziehungen EU-China: Mit der engeren Partnerschaft wächst die Verantwortung“, KOM(2006) 631 endg.; die Mitteilung der Kommission an den Rat vom 4.9.2001 „Europa und Asien – Strategierahmen für vertiefte Partnerschaften“, KOM(2001) 469; sowie ihre Mitteilung vom 9.7.2003 „Eine neue Partnerschaft mit Südostasien“, KOM(2003) 399 endg.; zur „Africa-EU Strategic Partnership: A Joint Africa-EU Strategy“ siehe http://www.africa-eupartnership.org/ (letzter Zugriff am 17.10.2014) i.V.m. etwa mit dem neuen Freiwilligen Partnerschaftsabkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Republik Ghana über Rechtsdurchsetzung, Politikgestaltung und Handel im Forstsektor sowie über die Einfuhr von Holzprodukten in die Gemeinschaft, ABl. 2010 L 70/3. 66 Erklärung zu Artikel 8 des Vertrags über die Europäische Union, Erklärungen zur Schlussakte der Regierungskonferenz, die den am 13.12.2007 unterzeichneten Vertrag von Lissabon angenommen hat, ABl. 2012 C 326/339. 67 Dies ist – soweit ersichtlich – unstreitig, vgl. etwa Geiger (Anm. 22), Rn. 5; Streinz (Anm. 22), Rn. 2. 68 Vgl. nur Streinz (Anm. 22), Rn. 2.

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maßgebliche Begriff der Nachbarschaft69 wird weder in Art. 8 EUV noch anderswo im Unionsrecht definiert. Insoweit stellt sich die Frage, ob der hier in Rede stehende Nachbarschaftsbegriff eher eng bzw. im grenznachbarschaftlichen Sinne oder eher weit bzw. im regional-nachbarschaftlichen Sinne auszulegen ist. Gegen ein grenznachbarschaftliches Verständnis des Art. 8 Abs. 1 EUV spricht vor allem, dass Aserbaidschan und Armenien von Anfang an in den Kreis der ENP-Länder aufgenommen worden sind,70 obwohl diese beiden Staaten (noch) keine gemeinsamen Grenzen mit der EU haben. Im Übrigen ist mangels einer entsprechenden Eingrenzung in Art. 8 EUV davon auszugehen, dass sich Art. 8 Abs. 1 EUV nicht allein auf die bislang sechzehn ENP-Länder bezieht,71 sondern auf alle Länder in der nicht grenznachbarschaftlich zu verstehenden Nähe der EU Anwendung findet.72 Daher reicht Art. 8 EUV in geografischer Hinsicht weiter als der auf den EU-Beitritt europäischer Staaten bezogene Art. 49 Abs. 1 EUV.73 Insoweit könnte eventuell auch der Iran, der seit geraumer Zeit verschärften EU-Sanktionen ausgesetzt ist,74 in den Anwendungsbereich des Art. 8 EUV fallen, zumal dieser Staat im Falle eines EU-Beitritts der Türkei ohnehin zu den direkten EU-Nachbarn gehören würde. Eine solche frühzeitige – d.h. bereits vor dem nicht auszuschließenden EUBeitritt der Türkei erfolgende – Einbeziehung des Irans in den weiten Kreis der in Art. 8 Abs. 1 EUV angesprochenen EU-Nachbarländer wäre für die Union durchaus verträglich und unproblematisch, solange das Verständnis des Art. 8 Abs. 1 EUV als Handlungsauftrag75 oder als vertragliche Handlungspflicht der Unionsorgane76 nicht dazu führt, dass die EU ihren vor allem durch die oben angesprochene Wertorientierung des Art. 8 Abs. 1 EUV begründeten außenpolitischen Entscheidungsspielraum im Hinblick auf das „Ob“ der Aufnahme und vor allem im Hinblick auf das „Wie“ der konkreten Ausgestaltung nachbarschaftlicher Beziehungen verliert.

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Instruktiv zu diesem Nachbarschafts-Begriff vgl. insb. auch Kotzur (Anm. 22), Rn. 12 ff. 70 Siehe dazu bereits oben unter B. 71 In diesem Sinne vgl. auch Thym (Anm. 22), Rn. 7. 72 Zutreffend Merli (Anm. 22), 259, 268 f.; a.A. offenbar Bitterlich (Anm. 22), Rn. 1 ff. 73 So auch Thym (Anm. 22), Rn. 7. 74 Ausführlicher dazu etwa Gerd Schwendinger, Die neuen Iran-Sanktionen, AW-Prax 2013, 37 ff. 75 Zu diesem weitverbreiteten Verständnis des Art. 8 Abs. 1 EUV vgl. etwa Kellerhals/ Uebe (Anm. 22), Rn. 10; Schmalenbach (Anm. 22), Rn. 8. 76 Zu diesem Verständnis des Art. 8 Abs. 1 EUV vgl. Thym (Anm. 22), Rn. 10.

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3. Instrumente zur Verwirklichung der in Art. 8 Abs. 1 EUV niedergelegten Ziele Die der EU zur Verwirklichung ihrer in Art. 8 Abs. 1 EUV niedergelegten Ziele zur Verfügung stehenden Instrumente werden in Art. 8 EUV nur sehr lückenhaft angesprochen. Besondere Bedeutung kommt in diesem Kontext zunächst einmal Art. 8 Abs. 2 Satz 1 EUV zu, der die Union ermächtigt („kann“), zum Zwecke des Art. 8 Abs. 1 EUV spezielle Übereinkünfte mit den betreffenden Ländern in ihrer Nachbarschaft zu schließen. Damit wird der Union nach allgemeiner Auffassung eine neuartige Vertragsabschlusskompetenz auf dem Gebiet der Nachbarschaftspolitik eingeräumt, deren Verhältnis zu anderen vertraglichen Rechtsgrundlagen zum Abschluss völkerrechtlicher Verträge mit Drittstaaten nach wie vor umstritten ist.77 Weitgehend konsensfähig ist aber immerhin, dass sich diese in Art. 8 Abs. 2 Satz 1 EUV geregelte Vertragsabschlusskompetenz, die die Union übrigens nicht zum Abschluss der hier in Rede stehenden Nachbarschaftsübereinkommen verpflichtet,78 nicht nur auf den Abschluss neuer – und dann integrale Bestandteile des Unionsrechts darstellende und der Auslegungsbefugnis des Gerichtshofs der EU unterliegende – Übereinkommen auf dem Gebiet der Nachbarschaftspolitik, sondern auch auf den Abschluss solcher Verträge oder Vereinbarungen bezieht, mit denen bestehende – bereits in der Vergangenheit zwischen der EU und verschiedenen Nachbarstaaten abgeschlossene – Assoziierungs-, Partnerschafts- oder Kooperationsabkommen79 geändert werden.80 Lückenhaft ist der vorgenannte Regelungsgehalt des Art. 8 Abs. 2 EUV insoweit, als diese Bestimmung vollkommen unerwähnt lässt, dass der EU zur Verwirklichung der in Art. 8 Abs. 1 EUV niedergelegten Ziele weitaus mehr Instrumente als nur der Abschluss bilateraler Übereinkünfte zur Verfügung stehen. Zu dem „Instrumentenmix“, auf den die EU im Rahmen der ENP zurückgreift, gehören nämlich zum einen auch bilaterale – zwischen der EU und dem jeweiligen Partnerland vereinbarte und durch so genannte Länderberichte vorbereitete – Aktionspläne, die jeweils eine Agenda politischer und wirtschaftlicher Reformen mit kurz- und 77 Vgl. etwa Hummer (Anm. 22), Rn. 28, wonach Art. 8 Abs. 2 EUV eine lex specialis zu Art. 217 AEUV darstelle; a.A. aber Schmalenbach (Anm. 22), Rn. 13; Thym (Anm. 22), Rn. 12; stärker differenzierend Merli (Anm. 22), 259, 271 f. 78 Zutreffend Thym (Anm. 22), Rn. 12. 79 Zur Vielzahl derartiger Abkommen vgl. etwa Nowak (Anm. 36), 746, 764 ff.; ders., Legal Arrangements for the Promotion and Protection of Foreign Investments Within the Framework of the EU Association Policy and European Neighbourhood Policy, in: Marc Bungenberg/Jörn Griebel/Steffen Hindelang (Hrsg.), International Investment Law and EU Law, 2011, 105 ff. 80 In diesem Sinne etwa Geiger (Anm. 22), Rn. 6; Streinz (Anm. 22), Rn. 10.

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mittelfristigen Prioritäten in verschiedensten Bereichen (wie etwa politischer Dialog; Handel und Binnenmarkt; Justiz und Inneres; Energie; Verkehr; Informationsgesellschaft; Umwelt; Forschung; Innovation; Sozialpolitik) enthalten.81 Über die jeweils erzielten Fortschritte informiert die Kommission in der Folge in sogenannten Fortschrittsberichten, in denen die politischen und wirtschaftlichen Entwicklungsfortschritte länderspezifisch aufgezeigt und bewertet werden. Auf der Grundlage dieser Bewertung überprüfen die EU und die Partnerländer wiederum den Inhalt der jeweiligen Aktionspläne und beschließen gegebenenfalls deren Anpassung und Verlängerung. Die vorgenannten Fortschrittsberichte sind insoweit nicht mit den in der Regel an den Rat und das Europäische Parlament adressierten Mitteilungen der Kommission zu verwechseln, in denen in regelmäßigen Abständen über bestimmte Fortschritte, die Umsetzung und einzelne Schwachpunkte der ENP sowie über diesbezügliche Verbesserungsmöglichkeiten berichtet wird.82 In finanzieller Hinsicht wird die ENP seit dem 1. Januar 2007 vor allem durch das so genannte Europäische Nachbarschafts- und Partnerschaftsinstrument (ENPI) unterstützt,83 das zunächst auf der VO (EG) Nr. 1638/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 2006 zur Festlegung allgemeiner Bestimmungen zur Schaffung eines Europäischen Nachbarschafts- und Partnerschaftsinstruments84 beruhte und im Zeitraum 2007–2013 für die Bereitstellung

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Ausführlicher dazu Katrin Böttger, Die Entstehung und Entwicklung der Europäischen Nachbarschaftspolitik – Akteure und Koalitionen, 2010, 99 ff.; Cremona (Anm. 48), 275 ff.; KOM(2004) 373 endg.; Lior Herman/Evgeny Finkel, Zweierlei Maß – Die ENPAktionspläne: Israel und die Ukraine, Osteuropa 2–3/2007, 185 ff.; Barbara Lippert, Europäische Nachbarschaftspolitik, in: Werner Weidenfeld/Wolfgang Wessels (Hrsg.), Jahrbuch der Europäischen Integration 2009, 2010, 229 ff.; Kotzur (Anm. 22), Rn. 22 ff.; Ludwig (Anm. 48), 193 ff. 82 Exemplarisch dazu etwa die Kommissionsmitteilungen vom 4.12.2006 „Über die Stärkung der Europäischen Nachbarschaftspolitik“, KOM(2006) 726 endg., vom 4.12.2006 „Über das allgemeine Konzept zur Ermöglichung einer Beteiligung von ENP-Partnerstaaten an Gemeinschaftsagenturen und -programmen“, KOM(2006) 724 endg.; KOM(2007) 774 endg. (Anm. 49); vom 23.4.2009 „Umsetzung der Europäischen Nachbarschaftspolitik im Jahr 2008“, KOM(2009) 188 endg., vom 12.5.2010, KOM(2010) 207 endg. (Anm. 52), und vom 7.7.2011 „Die EU und ihre Nachbarregionen: Ein neues Konzept für die Zusammenarbeit im Verkehrsbereich“, KOM(2011) 415 endg. 83 Ausführlicher dazu etwa Böttger (Anm. 81), 95 ff.; Cremona (Anm. 48), 277 ff.; Waldemar Hummer, Die Union und ihre Nachbarn – Nachbarschaftspolitik vor und nach dem Verfassungsvertrag, Integration 3/2005, 233, 241; Ludwig (Anm. 48), 184 f. 84 Verordnung (EG) Nr. 1638/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24.10.2006 zur Festlegung allgemeiner Bestimmungen zur Schaffung eines Europäischen Nachbarschafts- und Partnerschaftsinstruments, ABl. 2006 L 310/1.

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eines Förderungsbetrags in Höhe von rund 11,5 Milliarden Euro sorgte.85 Diese Verordnung ist nunmehr durch die VO (EU) Nr. 232/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. März 2014 zur Schaffung eines Europäischen Nachbarschaftsinstruments86 ersetzt worden, deren Art. 17 Abs. 1 Satz 1 die Finanzausstattung für die Durchführung dieser Verordnung im Zeitraum 2014–2020 auf 15.432.634.000 Euro festlegt. Die Durchführung des ENPI obliegt gemäß Art. 9 eines Ratsbeschlusses vom 26. Juli 201087 und Art. 18 VO (EU) Nr. 232/2014 im Wesentlichen dem Europäischen Auswärtigen Dienst. Weitere damit zusammenhängende Details, die sich unter anderem auch auf ENPI-spezifische Aufgaben und Befugnisse der Europäischen Kommission beziehen, sind in der dazugehörigen VO (EU) Nr. 236/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom11. März 2014 zur Festlegung gemeinsamer Verfahren für die Anwendung der Instrumente der Union für die Finanzierung des auswärtigen Handelns88 geregelt. Ein weiteres Finanzierungsinstrument, das im Rahmen der ENP für die Unterstützung etwa infrastruktur-, umwelt-, bildungs- und/oder gesundheitspolitischer Maßnahmen genutzt werden kann, stellt die so genannte Nachbarschafts-Investitionsfazilität dar, aus deren Mitteln einzelnen Nachbarstaaten der EU beispielsweise in den Jahren 2007– 2009 ein Betrag in Höhe von 185 Mio. Euro zur Verfügung gestellt wurde.89 Zusätzliche Mittel, die sich auf die Förderung demokratischer und rechtsstaatlicher Reformen beziehen, können auf der Grundlage der so genannten GovernanceFazilität90 bzw. der einschlägigen VO (EU) Nr. 235/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. März 2014 zur Schaffung eines Finanzierungsinstruments für die weltweite Förderung der Demokratie und der Menschenrechte91 in die EU-Nachbarschaftspolitik einfließen. Im Übrigen werden aus der vorgenannten ENPI-Verordnung auf der Grundlage eines Ratsbeschlusses vom 23. Januar 200692 auch diverse „Twinning“-Projekte, technische Hilfsmaßnahmen und sonstige

85

Vgl. die Mitteilung der Kommission vom 12.5.2010 „Die Europäische Nachbarschaftspolitik – eine Bestandsaufnahme“, KOM(2010) 207 endg., 12. 86 ABl. 2014 L 77/27. 87 Beschluss des Rates vom 26. Juli 2010 über die Organisation und die Arbeitsweise des Europäischen Auswärtigen Dienstes, ABl. 2010 L 201/30. 88 ABl. 2014 L 77/95 ff. 89 Vgl. KOM(2010) 207 endg. (Anm. 52), 13. 90 Vgl. KOM(2007) 774 endg. (Anm.49), 12 f. 91 ABl. 2014 L 77/85 ff. 92 Beschluss des Rates vom 23. Januar 2006 zur Befähigung der Länder, die von der Europäischen Nachbarschaftspolitik erfasst werden, sowie Russlands, in den Genuss des Programms für technische Hilfe und Informationsaustausch (TAIEX) zu kommen, ABl. 2006 L 32/80.

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Maßnahmen zur Verbesserung des Informationsaustausches finanziert.93 Diesen Kooperationsinstrumenten tritt schließlich die von der EU und der OECD auf den Weg gebrachte „SIGMA-Initiative“ hinzu, die seit dem Jahre 2008 auch auf die Verbesserung und Modernisierung der öffentlichen Institutionen in den Nachbarländern nach den Vorgaben der jeweiligen Aktionspläne abzielt.94 Die letztgenannten Finanzierungs- und Kooperationsinstrumente sind in Art. 8 EUV bislang ebenso unerwähnt geblieben wie der Umstand, dass sich die zuvor genannten Übereinkünfte, Aktionspläne und Fortschrittsberichte jeweils bilateraler Art im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik mit bestimmten multilateralen Kooperationsformen in einem gewissen Komplementärverhältnis gegenüberstehen. Zu den multilateralen Kooperationsformen, die dem EU-nachbarschaftspolitischen Bilateralismus komplementär hinzutreten, gehört zum einen die seit dem 1. Juli 2006 bestehende und seit kurzer Zeit auch Moldawien und die Ukraine einschließende „Energiegemeinschaft für Südosteuropa“, die auf dem am 25. Oktober 2005 in Athen von der damaligen EG, Rumänien, Bulgarien und den Staaten des westlichen Balkans unterzeichneten Vertrag zur Gründung dieser Energiegemeinschaft95 beruht. Hierbei handelt es sich um einen sektorspezifischen Vertrag, der ebenfalls eine wichtige Säule der zunehmenden Multilateralisierung nachbarschaftlicher Beziehungen zwischen der EU und verschiedenen Nachbarländern darstellt, da er einen weitreichenden „Export“ unionsrechtlicher Regelungen vor allem aus den Teilbereichen des EU-Energie-, Umwelt- und Wettbewerbsrechts bewirkt, um auf diese Weise für die Schaffung, Fortentwicklung und Funktionsfähigkeit eines weit über das gegenwärtige EU-Territorium hinausreichenden Energiebinnenmarkts zu sorgen.96 Darüber hinaus ist in diesem multilateralen Kontext auf die so genannte „Schwarzmeersynergie“ hinzuweisen, die sich im Hinblick auf ihre verschiedenen Zielsetzungen und Akteure teilweise mit der vorgenannten Energiegemeinschaft sowie mit den zwischen der EU auf der einen Seite und Russland und der Türkei auf der anderen Seite bestehenden Partnerschaften überschneidet.97 Diese 93 Vgl. dazu etwa die Kommissionsmitteilung KOM(2010) 207 endg. (Anm. 52), 12 f.; sowie Cremona (Anm. 48), 264 f. 94 Vgl. m.w.N. Schmalenbach (Anm. 22), Rn. 18. 95 Vertrag zur Gründung der Energiegemeinschaft, ABl. 2006 L 198/18. 96 Ausführlich dazu Carsten Nowak, The Energy Community of South East Europe, EYIEL 3 (2012), 405 ff. 97 Instruktiv dazu Svetlozar Andreev, The future of European neighbourhood policy and the role of regional cooperation in the Black Sea area, JSEEBSS 8 (2008), 93 ff.; Alina Homorozean, Carrots, Sticks and Regional Cooperation: A Critical Analysis of the EU’s Approaches towards the Black Sea Region, in: Edmund Ratka/Olga Spaiser (Hrsg.), Understanding European Neighbourhood Policies – Concepts, Actors, Perceptions, 2012, 193 ff.

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auf entsprechende Initiativen der Europäischen Kommission zurückzuführende und im Februar 2008 eingerichtete Schwarzmeersynergie steht den Ländern der Schwarzmeerregion in Gestalt Armeniens, Aserbaidschans, Bulgariens, Griechenlands, Georgiens, Moldawiens, Rumäniens und Russlands sowie der Türkei und der Ukraine offen und ermöglicht neben einer verstärkten regionalen Kooperation vor allem auch sektorspezifisch-multilaterale Partnerschaften zwischen der EU und den vorgenannten Nachbarstaaten unter anderem in den Politikbereichen Umwelt, Energie und Verkehr.98 Weitere wichtige Kooperationsformen multilateraler Art, die ebenfalls der Verwirklichung der in Art. 8 Abs. 1 EUV genannten Ziele dienen, stellen im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik schließlich die so genannte „Union für das Mittelmeer“ und die so genannte „Östliche Partnerschaft“ dar, die im Rahmen der nachfolgenden Ausführungen zur Koexistenz der südlichen ENPDimension und der östlichen ENP-Dimension nunmehr in besonderer Weise hervorgehoben werden. II. Koexistenz der südlichen ENP-Dimension (Mittelmeerraum) und der östlichen ENP-Dimension (Osteuropa) Die im vorangegangenen Abschnitt thematisierten Ziele und Instrumente der ENP gelten im Grundsatz zwar für alle sechzehn ENP-Partnerländer der EU in gleicher Weise. Dieser Umstand kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass heutzutage – sehr viel mehr als in der Gründungsphase und in den Anfangsjahren dieses Politikbereichs – zwischen einer auf Algerien, Marokko, Tunesien, Libyen, Ägypten, Jordanien, Libanon, Israel, die Palästinensische Autonomiebehörde und Syrien bezogenen „südlichen“ ENP-Dimension (1.) sowie einer auf Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Moldawien, Belarus und die Ukraine bezogenen „östlichen“ ENP-Dimension (2.) zu differenzieren ist,99 die jeweils durch bestimmte Besonderheiten und Alleinstellungsmerkmale gekennzeichnet sind.

98 Dazu sowie zu weiteren Anliegen und Zielen dieser Kooperationsform vgl. insb. die an den Rat und das Europäische Parlament adressierte Mitteilung der Kommission vom 11.4.2007 „Die Schwarzmeersynergie – Eine neue Initiative der regionalen Zusammenarbeit“, KOM(2007) 160 endg. 99 Vgl. dazu auch Florent Parmentier, The Clash of Neighbourhoods? The Impact of the Arab Spring on the EU’s Neighbourhood Policy, in: Edmund Ratka/Olga Spaiser (Hrsg.), Understanding European Neighbourhood Policies – Concepts, Actors, Perceptions, 2012, 355 ff., der mit Blick auf die östliche ENP-Dimension und die südliche ENP-Dimension sogar von zwei Nachbarschaften („neighbourhoods“) spricht.

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1. Besonderheiten und Alleinstellungsmerkmale der südlichen ENP-Dimension Zu den prägenden Kernbestandteilen der südlichen ENP-Dimension gehören neben einigen bilateralen Kooperations- und Interimsabkommen vor allem die bilateralen Assoziierungsabkommen in Gestalt der „Europa-Mittelmeer-Abkommen“ (a) sowie die am 13. Juli 2008 gegründete Union für das Mittelmeer (b). a) Bilaterale Abkommen zwischen der EU und den südlichen ENP-Partnern Zu den von der südlichen ENP-Dimension erfassten EU-Nachbarn, die über bilaterale Interims-, Kooperations- oder Europa-Mittelmeer-Abkommen mit der EU und ihren Mitgliedstaaten verbunden sind, gehören Algerien, Ägypten, Israel, Jordanien, Libanon, Marokko, die Palästinensische Autonomiebehörde, Syrien, und Tunesien; Libyen spielt insoweit nach wie vor eine Sonderrolle.100 Die Europa-Mittelmeer-Abkommen, die im Zeitraum 1998 bis 2005 geschlossen worden und in Kraft getreten sind, stellen bilaterale Assoziierungsabkommen der „neuen Generation“ dar, da sie an die Stelle der so genannten Kooperationsabkommen der „ersten Generation“ getreten sind, die bereits in den 1970er Jahren zwischen der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und einzelnen Staaten Nordafrikas und des Nahen Ostens abgeschlossen worden waren. Von diesen Abkommen der ersten Generation ist heute nur noch das Kooperationsabkommen mit Syrien101 relevant, da es in dieser speziellen Nachbarschaftsbeziehung, in deren Rahmen gegenwärtig bestimmte Sanktionen bzw. „restriktive Maßnahmen“ der EU dominieren,102 bislang noch nicht zu einer Ersetzung des 100

Zu restriktiven Maßnahmen der EU, die sich gegen Libyen richten, vgl. etwa Durchführungsverordnung (EU) 50/2013 des Rates vom 22. Januar 2013 zur Durchführung des Artikels 16 Absatz 2 der Verordnung (EU) 204/2011 über restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in Libyen, ABl. 2013 L 20/29 ff.; Verordnung (EU) 488/2013 des Rates vom 27. Mai 2013 zur Änderung der Verordnung (EU) 204/2011 über restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in Libyen, ABl. 2013 L 141/1 ff. 101 Kooperationsabkommen zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Arabischen Republik Syrien, ABl. 1978 L 269/2. 102 Vgl. dazu nur Verordnung (EU) 168/2012 des Rates vom 27. Februar 2012 zur Änderung der Verordnung (EU) 36/2012 über restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in Syrien, ABl. 2012 L 54/1; Beschluss 2012/206/GASP des Rates vom 23. April 2012 zur Änderung des Beschlusses 2011/782/GASP über restriktive Maßnahmen gegen Syrien, ABl. 2012 L 110/36; Durchführungsverordnung (EU) 1117/2012 des Rates vom 29. November 2012 zur Durchführung des Artikels 32 Absatz 1 der Verordnung (EU) 36/2012

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alten Kooperationsabkommens durch ein neues Europa-Mittelmeer-Abkommen gekommen ist. Ein Europa-Mittelmeer-Abkommen fehlt im Übrigen auch im Verhältnis zwischen der EU und der Palästinensischen Autonomiebehörde, die beide nach wie vor lediglich über ein im Jahre 1997 in Kraft getretenes Interimsassoziationsabkommen103 miteinander verbunden sind. Der erste nordafrikanische Staat, dem es gelang, mit der damaligen EG bzw. mit den seinerzeit existierenden Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten ein Europa-Mittelmeer-Abkommen der neuen Generation abzuschließen, war Tunesien.104 Dem folgten im Jahre 2000 Marokko105 und Israel.106 Weitere dieser Europa-Mittelmeer-Abkommen wurden im Jahre 2002 mit Jordanien,107 im Jahre

über restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in Syrien, ABl. 2012 L 330/9; Beschluss 2012/739/GASP des Rates vom 29. November 2012 über restriktive Maßnahmen gegen Syrien und zur Aufhebung des Beschlusses 2011/782/GASP, ABl. 2012 L 330/21; Berichtigung des Durchführungsbeschlusses 2013/185/GASP des Rates vom 22. April 2013 zur Durchführung des Beschlusses 2012/739/GASP über restriktive Maßnahmen gegen Syrien, ABl. 2013 L 123/28; Beschluss 2013/255/GASP des Rates vom 31. März 2013 über restriktive Maßnahmen gegen Syrien, ABl. 2013 L 147/14; Verordnung (EU) 697/2013 des Rates vom 22. Juli 2013 zur Änderung der Verordnung (EU) 36/2012 des Rates über restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in Syrien, ABl. 2013 L 198/28; sowie Philip Haellmigk, Neue Sanktionen gegen Syrien, AW-Prax 2012, 121 ff. 103 Europa-Mittelmeer-Interimsassoziationsabkommen über Handel und Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Gemeinschaft einerseits und der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) zugunsten der Palästinensischen Behörde für das Westjordanland und den Gaza-Streifen andererseits, ABl. 1997 L 187/3 i.V.m. der Empfehlung des Gemischten Ausschusses EU-Palästinensische Behörde vom 14.4.2013 zur Umsetzung des Aktionsplans Europäische Union-Palästinensische Behörde im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik, ABl. 2013 L 125/34. 104 Europa-Mittelmeer-Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Tunesischen Republik andererseits, ABl. 1998 L 97/2; nachfolgend „EMA-Tunesien“. 105 Europa-Mittelmeer-Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und dem Königreich Marokko andererseits, ABl. 2000 L 70/2; nachfolgend „EMA-Marokko“. 106 Europa-Mittelmeer-Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und dem Staat Israel andererseits, ABl. 2000 L 147/3; nachfolgend „EMA-Israel“. 107 Europa-Mittelmeer-Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und dem Haschemitischen Königreich Jordanien andererseits, ABl. 2002 L 129/3; nachfolgend „EMAJordanien“.

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2004 mit Ägypten,108 im Jahre 2005 mit Algerien109 und schließlich im Jahre 2006 mit der Libanesischen Republik110 unter Dach und Fach gebracht. Zu den typischen Zielen, die mit diesen Europa-Mittelmeer-Abkommen verwirklicht werden sollen, gehören ausweislich ihrer zum Teil uneinheitlichen Zielbestimmungen unter anderem die Schaffung eines geeigneten Rahmens für den politischen Dialog, die Förderung des Handels, die schrittweise Liberalisierung des Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs, die Ausweitung der wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen, finanziellen und regionalen Zusammenarbeit, der Schutz und die Förderung von Investitionen sowie die Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung. In inhaltlicher Hinsicht bestehen zwischen den unterschiedlichen Europa-Mittelmeer-Abkommen zahlreiche Gemeinsamkeiten insoweit, als sie zum einen einleitende Bestimmungen enthalten, die deutlich machen, dass die Wahrung der Grundsätze der Demokratie, der Menschenrechte, des Völkerrechts, der Rechtsstaatlichkeit und der Marktwirtschaft „wesentliche Bestandteile“ dieser Abkommen sind.111 Zum anderen beziehen sich die jeweils nachfolgenden Titel und Vorschriften dieser Abkommen allesamt im Wesentlichen auf die in ihrer Reihenfolge und Formulierung nur geringfügig voneinander abweichenden Regelungsgegenstände in Gestalt politischer Dialoge, des freien Warenverkehrs, des Dienstleistungsverkehrs und des Niederlassungsrechts, der Bereiche Zahlungen, Kapital und Wettbewerb, der Förderung und des Schutzes bestimmter Investitionen, der wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und finanziellen Zusammenarbeit, der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres sowie in Gestalt abschließender institutioneller und allgemeiner Aspekte.112 In institutionell-rechtlicher Hinsicht 108 Europa-Mittelmeer-Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Arabischen Republik Ägypten andererseits (ABl. 2004 L 304/39 ff.); nachfolgend „EMA-Ägypten“. 109 Europa-Mittelmeer-Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Demokratischen Volksrepublik Algerien andererseits, ABl. 2005 L 265/2; nachfolgend „EMA-Algerien“. 110 Europa-Mittelmeer-Assoziationsabkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Libanesischen Republik andererseits, ABl. 2006 L 143/2; nachfolgend „EMA-Libanon“. 111 Vgl. Art. 2 EMA-Algerien (Anm. 109); Art. 2 EMA-Ägypten (Anm.108); Art. 2 EMA-Israel (Anm. 106); Art. 2 EMA-Jordanien (Anm. 107); Art. 2 EMA-Libanon (Anm. 110); recht ähnlich vgl. auch Art. 2 EMA-Tunesien (Anm.104) und Art. 2 EMAMarokko (Anm. 105). 112 Vgl. Art. 3–110 EMA-Algerien (Anm. 109); Art. 3–92 EMA-Ägypten (Anm.108); Art. 3–85 EMA-Israel (Anm. 106); Art. 3–107 EMA-Jordanien (Anm. 107); Art. 3–93 EMA-Libanon (Anm. 110); Art. 3–96 EMA-Marokko (Anm. 105); Art. 3–96 EMATunesien (Anm. 104); ausführlicher speziell zu den investitionsschutzrechtlichen Regelungsgehalten dieser Abkommen vgl. Nowak (Anm. 79), 105 (118 f.).

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bestehen weitere Gemeinsamkeiten zwischen diesen Europa-Mittel-Abkommen insoweit, als jede Vertragspartei im Geltungsbereich des jeweiligen Abkommens die hierdurch jeweils eingesetzten „Assoziationsräte“ mit Streitigkeiten über die Anwendung und Auslegung des jeweiligen Abkommens befassen kann, die diese Streitigkeiten durch „Beschluss“ beilegen können.113 Im Übrigen können sich diese Assoziationsräte eigene Geschäftsordnungen geben114 und unterschiedlichste Empfehlungen abgeben.115 Neben den vorgenannten Europa-Mittel-Abkommen gibt es auch noch eine Reihe weiterer Abkommen zwischen der EU und einzelnen südlichen ENP-Partnern,116 mit denen der hohe Stellenwert der bilateralen Kooperation im Rahmen der südlichen ENP-Dimension zusätzlich unterstrichen wird. Darüber hinaus ist in diesem Kontext auf das noch recht junge „Regionale Übereinkommen über PanEuropa-Mittelmeer-Präferenzursprungsregeln“117 hinzuweisen, das im Unterschied zu den vorgenannten Abkommen bilateraler Art nahezu alle südlichen ENPPartner mit der EU, den EFTA-Staaten, den Staaten des westlichen Balkans und der Türkei verbindet.

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Vgl. Art. 101 Abs. 1 u. 2 EMA-Algerien (Anm. 109); Art. 82 Abs. 1 u. 2 EMAÄgypten (Anm. 108); Art. 75 Abs. 1 u. 2 EMA-Israel (Anm. 106); Art. 97 Abs. 1 u. 2 EMA-Jordanien (Anm. 107); Art. 82 Abs. 1 u. 2 EMA-Libanon (Anm. 110); Art. 86 Abs. 1 u. 2 EMA-Tunesien (Anm. 104) und Art. 86 Abs. 1 u. 2 EMA-Marokko (Anm. 105). 114 Exemplarisch dazu vgl. den Beschluss Nr. 1/2012 des Assoziationsrates EU-Libanon vom 17.9.2012 zur Festlegung der Geschäftsordnung des Assoziationsrates, ABl. 2012 L 293/37. 115 Exemplarisch dazu vgl. die Empfehlung des Assoziationsrats EU-Jordanien vom 3.10.2012 zur Umsetzung des ENP-Aktionsplans, ABl. 2012 L 287/13. 116 Exemplarisch dazu vgl. das Abkommen zwischen der EU und dem Königreich Marokko zur Festlegung eines Mechanismus für die Beilegung von Streitigkeiten im Namen der Union, ABl. 2011 L 27/1 i.V.m. ABl. 2012 L 300/1; das Abkommen zwischen der EG/EU und dem Haschemitischen Königreich Jordanien über wissenschaftliche und technologische Zusammenarbeit, ABl. 2012 L 116/1; das Abkommen zwischen der EU und der Demokratischen Volksrepublik Algerien über wissenschaftliche und technologische Zusammenarbeit, ABl. 2012 L 287/3; das Europa-Mittelmeer-Luftverkehrsabkommen zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten einerseits und dem Haschemitischen Königreich Jordanien andererseits, ABl. 2012 L 334/1; sowie das Europa-Mittelmeer-Luftverkehrsabkommen zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Regierung des Staates Israel andererseits, ABl. 2013 L 208/1. 117 Beschluss des Rates vom 26. März 2012 über den Abschluss des Regionalen Übereinkommens über Pan-Europa-Mittelmeer-Präferenzursprungsregeln, ABl. 2013 L 54/3.

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b) Die multilaterale Union für das Mittelmeer Für eine komplementäre Multilateralisierung der bilateralen Vertragsbeziehungen hat im Rahmen der südlichen ENP-Dimension vor allem die durch eine Gemeinsame Erklärung118 am 13. Juli 2008 ins Leben gerufene Union für das Mittelmeer gesorgt, deren offizieller Name anfänglich „Barcelona Process: Union for the Mediterranean“ lautete.119 Dieser in der Literatur vielfach thematisierten Union120 haben sich neben der Europäischen Kommission und den seinerzeit 27 EU-Mitgliedstaaten auch Albanien, Algerien, Bosnien und Herzegowina, Kroatien, Ägypten, Israel, Jordanien, Libanon, Mauretanien, Monaco, Montenegro, Marokko, die Palästinensische Autonomiebehörde, Syrien, Tunesien und die Türkei angeschlossen, um im Rahmen dieser multilateralen Partnerschaft einige überaus ambitionierte Ziele und Projekte in Angriff zu nehmen. Zu den in der vorgenannten Abschlusserklärung vom 13. Juli 2008 explizit aufgeführten (prioritären) Projekten dieser Union, die auch die Befreiung des Nahen Ostens von Massenvernichtungswaffen, die Schaffung einer Freihandelszone und die Verstärkung der regionalen Kooperation anstrebt, gehört neben der Säuberung des Mittelmeeres und der Einrichtung transnationaler Schifffahrtsstraßen und Autobahnen auch die Schaffung eines gemeinsamen Katastrophenschutzes sowie bestimmte Energie-, Bildungs- und Mittelstandsprojekte. Neben diesen Projekten, die durch EU-Mittel unterstützt werden, ist es unter dem gemeinsamen Dach der Union für das Mittelmeer zur Aufstellung eines visionären Plans für Sonnenenergie gekommen, der am 13. Juli 2009 die Gründung des anfänglich auch in den Medien vielbeachteten „Desertec“-Projekts nach sich gezogen hat. Darüber hinaus kann die Gründung der Union für das Mittelmeer, die sich aufgrund der Einbeziehung der Türkei partiell mit der aktuellen EU-Erweiterungs- und Assoziationspolitik überschneidet und damit zugleich verdeutlicht, dass sich die 118 Joint Declaration of the Paris Summit for the Mediterranean vom 13.7.2008, abrufbar unter http://www.auswaertiges-amt.de/cae/servlet/contentblob/363400/publication File/3694/EuroMed-ErklParis.pdf (letzter Zugriff am 17.10.2014). 119 Vgl. dazu u.a. die Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat vom 20.5.2008 „Barcelona Prozess: Union für den Mittelmeerraum“, KOM(2008) 319 endg. 120 Aus der Vielzahl einschlägiger Veröffentlichungen zur Union für das Mittelmeer vgl. etwa Thomas Demmelhuber/Andreas Marchetti, Die Union für das Mittelmeer: Ambitionen und Realität – eine ernüchternde Zwischenbilanz der französisch-ägyptischen Präsidentschaft, Integration 2/2011, 132 ff.; Günter Gloser, Neue Dynamik für konkrete Ergebnisse – Barcelona-Prozess: Union für den Mittelmeerraum, Integration 4/2008, 399 ff.; Michael Reiterer, From the (French) Mediterranean Union to the (European) Barcelona Process: The ‘Union for the Mediterranean’ as Part of the European Neighbourhood Policy, EFAR 14 (2009), 313 ff.; Daniela Schwarzer/Isabelle Werenfels, Formelkompromiss ums Mittelmeer, SWP-Aktuell 24 (2008), 1 ff.

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beiden vorgenannten Politikbereiche nicht trennscharf von der auch instrumentell recht ähnlichen ENP121 abgrenzen lassen, auch als Fortsetzung und zugleich als Intensivierung des bereits Mitte der 1990er Jahre gestarteten „Barcelona“Prozesses122 und der darin eingebetteten Euro-Mediterranen Partnerschaft123 eingeordnet werden,124 der in den vergangenen Jahren mit der durch diesen Prozess intendierten Schaffung einer euro-mediterranen Freihandelszone125 den zentralen Gegenstand der so genannten EU-Mittelmeerpolitik126 bildete. Für eine partielle Multilateralisierung der im Rahmen der südlichen ENPDimension bestehenden Nachbarschaftsbeziehungen sorgt die Union für das Mittelmeer zum einen insoweit, als die oben genannte Gemeinsame Erklärung vom 13. Juli 2008 die Durchführung zweijährlicher Gipfeltreffen der Gründungs121 Zu den hier in Rede stehenden Überschneidungen und einigen instrumentellen Gemeinsamkeiten zwischen der EU-Erweiterungspolitik und der ENP vgl. etwa Elena Baracani, Pre-accession and Neighbourhood: The European Union’s Democratic Conditionality in Turkey and Morocco, in: Annette Jünemann/Michèle Knodt (Hrsg.), Externe Demokratieförderung durch die Europäische Union, 2007, 335 ff.; Elsa Tulmets, Alter Wein in neuen Programmen – Von der Osterweiterung zur ENP, Osteuropa 2–3/2007, 105 ff. 122 Näher zu diesem Prozess etwa George Howard Joffé, European Union and the Mediterranean, in: Mario Telò (Hrsg.), European Union and New Regionalism – Regional actors and global governance in a post-hegemonic era, 2001, 207 ff. 123 Näher dazu Federica Bicchi, #Our size fits all,: normative power Europe and the Mediterranean, JEPP 13 (2006), 286 ff.; sowie Anette Jünemann, Ein Raum des Friedens, der Stabilität und des gemeinsamen Wohlstands – Die Euro-Mediterrane Partnerschaft zwischen Anspruch und Wirklichkeit, in: Cilja Harders/Annette Jünemann (Hrsg.), Zehn Jahre Euro-Mediterrane Partnerschaft: Bilanz und Perspektiven, 2005, 360 ff. 124 In diesem Sinne vgl. auch Gloser (Anm. 120), 399 ff.; Schwarzer/Werenfels (Anm. 120), 1 ff. 125 Näher dazu Volker Nienhaus, Euro-Mediterrane Freihandelszone: Intensivierung der Wirtschaftsbeziehungen und Förderung nachhaltiger Entwicklung?, in: Wulfdiether Zippel (Hrsg.), Die Mittelmeerpolitik der EU, 1999, 91 ff. 126 Ausführlich dazu Charlotte Bretherton/John Vogler, The European Union as a Global Actor, 2. Aufl. 2006, 154 f.; Claire Demesmay/Carsten Främke/Katrin Sold, Auf der Suche nach Kohärenz – Die europäische Mittelmeerpolitik nach dem arabischen Frühling, Leviathan 40 (2012), 52 ff.; Jean-Domenique Giuliani, L’Union européenne et la Méditerranée, RDUE 2011, 5 ff.; Anette Jünemann, Europas Mittelmeerpolitik im regionalen und globalen Wandel: Interessen und Zielkonflikte, in: Wulfdiether Zippel (Hrsg.), Die Mittelmeerpolitik der EU, 1999, 29 ff.; Volker Perthes, Der Mittelmeerraum, der nahöstliche Friedensprozeß und die Europäische Union: Die Suche nach einer politischen Rolle, in: Wulfdiether Zippel (Hrsg.), Die Mittelmeerpolitik der EU, 1999, 173 ff.; Martinez (Anm. 50), 118 ff.; Peter Schlotter, Kohärenz und Akteursqualität? – Die Mittelmeerpolitik der Europäischen Union, in: Mathias Jopp/Peter Schlotter (Hrsg.), Kollektive Außenpolitik – Die Europäische Union als internationaler Akteur, 2007, 279 ff.

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mitglieder unter einem jeweils rotierenden Vorsitz vorsieht.127 Den jeweiligen Vorsitz teilen sich im Sinne einer Doppelspitze ein südlicher Mittelmeeranrainerstaat und ein EU-Mitgliedstaat oder – wie in jüngerer Zeit – die Hohe Vertreterin der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik. Darüber hinaus sind jährlich stattfindende Außenministertreffen und noch häufigere Treffen der „Senior Officials“ vorgesehen, die von einem „Joint Permanent Committee“ mit Sitz in Brüssel sowie durch ein Sekretariat mit Sitz in Barcelona vorbereitet und unterstützt werden.128 Komplettiert wird die institutionelle Struktur dieser Union für das Mittelmeer durch die Euro-Mediterrane Parlamentarische Versammlung bzw. die „Euro-Mediterranean Parliamentary Assembly“ (EMPA) sowie durch die „Anna Lindh Euro-Mediterranean Foundation for the Dialogue between Cultures“,129 die zusätzliche multilaterale Aktionsmöglichkeiten und Diskursforen eröffnen. 2. Besonderheiten und Alleinstellungsmerkmale der östlichen ENP-Dimension Die östliche ENP-Dimension bezieht sich auf Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Georgien, Moldawien und die Ukraine. Die meisten dieser östlichen ENP-Partner sind durch bilaterale Assoziierungsabkommen mit der EU und ihren Mitgliedstaaten verbunden (a)). Über diese bilateralen Vertragsverhältnisse spannt sich die multilateral ausgerichtete Östliche Partnerschaft, die am 7. Mai 2009 gegründet wurde und darauf abzielt, neue Impulse für die Verfestigung und den Ausbau bestehender politischer und wirtschaftlicher Beziehungen zwischen den daran teilnehmenden Akteuren zu geben (b)). a) Bilaterale Abkommen zwischen der EU und den östlichen ENP-Partnern Sieht man einmal von Belarus ab, das aus politischen Gründen bislang keine nennenswerten Vertragsbeziehungen zur EU aufbauen konnte,130 sondern vielmehr in konstanter Weise „restriktiven Maßnahmen“ der EU ausgesetzt ist,131 sind die von 127

Joint Declaration of the Paris Summit for the Mediterranean (Anm. 118), 13. Ebd., 15. 129 Ebd., 14. 130 Zu diesem problematischen Nachbarschaftsverhältnis vgl. etwa Alessandra Nervi Christensen, The Making of the European Neighbourhood Policy, 2011, 154 f.; Tobias Hausotter/Arne Niemann/Alexander Schratz, Die Belarus-Politik der EU: Handlungsspielräume und Politikoptionen, Osteuropa 7/2007, 57 ff. 131 Vgl. dazu nur den Beschluss 2012/642/GASP des Rates vom 15. Oktober 2012 über restriktive Maßnahmen gegen Belarus, ABl. 2012 L 285/1; die Verordnung 114/2012 des 128

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der Östlichen Partnerschaft erfassten Staaten in Gestalt von Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Moldawien sowie der Ukraine seit einigen Jahren über völkervertragsrechtlich begründete (bilaterale) Partnerschaften mit der EU und ihren Mitgliedstaaten verbunden.132 Den Auftakt bildeten zwei „Abkommen über Partnerschaft und Zusammenarbeit“, die im Jahre 1998 zwischen den seinerzeit existierenden Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits, und der Ukraine133 und Moldawien134 andererseits abgeschlossen worden sind. Dem Rates vom 10. Februar 2012 zur Veränderung der Verordnung 765/2006 über restriktive Maßnahmen gegen Belarus, ABl. 2012 L 38/3; Durchführungsverordnung (EU) 170/2012 des Rates vom 28. Februar 2012 zur Durchführung des Artikels 8a Absatz 1 der Verordnung (EG) 765/2006 über restriktive Maßnahmen gegen Belarus, ABl. 2012 L 55/1, und Durchführungsbeschluss 2012/126/GASP des Rates vom 28. Februar 2012 zur Durchführung des Beschlusses 2010/639/GASP über restriktive Maßnahmen gegen Belarus, ABl. 2012 L 55/19; Durchführungsverordnung (EU) 265/2012 des Rates vom 23. März 2012 zur Durchführung des Artikels 8a Absatz 1 der Verordnung (EG) 765/2006 über restriktive Maßnahmen gegen Belarus, ABl. 2012 L 87/37, und Durchführungsbeschluss 2012/171/ GASP des Rates vom 23. März 2012 zur Durchführung des Beschlusses 2010/639/GASP über restriktive Maßnahmen gegen Belarus, ABl. 2012 L 87/95; Verordnung (EU) 354/ 2012 des Rates vom 23. April 2012 zur Änderung der Verordnung (EG) 765/2006 über restriktive Maßnahmen gegen Belarus, ABl. 2012 L 113/1, und Beschluss 2012/212/GASP des Rates vom 23. April 2012 zur Änderung des Beschlusses 2010/639/GASP über restriktive Maßnahmen gegen Belarus, ABl. 2012 L 113/11; Verordnung (EU) 1014/2012 des Rates vom 6. November 2012 zur Änderung der Verordnung (EG) 765/2006 über restriktive Maßnahmen gegen Belarus, ABl. 2012 L 307/1, und Durchführungsverordnung (EU) 1017/2012 des Rates vom 6. November 2012 zur Durchführung von Artikel 8a Absatz 1 der Verordnung (EG) 765/2006 über restriktive Maßnahmen gegen Belarus, ABl. 2012 L 307/7; Durchführungsverordnung (EU) 494/2013 des Rates vom 29. Mai 2013 zur Durchführung der Verordnung (EG) 765/2006 über restriktive Maßnahmen gegen Belarus, ABl. 2013 L 143/1, und Durchführungsbeschluss 2013/248/GASP des Rates vom 29. Mai 2013 zur Durchführung des Beschlusses 2012/642/GASP über restriktive Maßnahmen gegen Belarus, ABl. 2013 L 143/24; Beschluss 2013/308/GASP des Rates vom 24. Juni 2013 zur Änderung des Beschlusses 2012/642/GASP über restriktive Maßnahmen gegen Belarus, ABl. 2013 L 172/31. 132 Ausführlicher dazu vgl. auch Kazimierz Lankosz, Die Partnerschaftsabkommen mit osteuropäischen Nachbarstaaten, in: Kazimierz Lankosz/Peter-Christian Müller-Graff/Udo Fink (Hrsg.), Osteuropäische Nachbarschaft der Europäischen Union, 2009, 15 ff.; Nowak (Anm. 79), 105, 127 ff. 133 Abkommen über Partnerschaft und Zusammenarbeit zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten und der Ukraine, ABl. 1998 L 49/3; nachfolgend „APZ-Ukraine“. 134 Abkommen über Partnerschaft und Zusammenarbeit zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Moldau andererseits, ABl. 1998 L 181/3; nachfolgend „APZ-Moldawien“.

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folgten im Jahre 1999 drei weitere Abkommen über Partnerschaft und Zusammenarbeit, die zwischen den vorgenannten Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits, und Georgien,135 Armenien136 und Aserbaidschan137 andererseits geschlossen wurden. Gemäß den in den fünf vorgenannten Abkommen über Partnerschaft und Zusammenarbeit jeweils enthaltenden Zielbestimmungen, die viele Gemeinsamkeiten mit den in den vorab erörterten Europa-MittelmeerAbkommen enthaltenen Zielbestimmungen138 aufweisen, sind die durch diese Abkommen gegründeten „Partnerschaften“ insbesondere auf die Schaffung eines geeigneten Rahmens für den politischen Dialog zwischen den Vertragsparteien, die Ausweitung des zwischen ihnen bestehenden Handels und von Investitionen, eine verbesserte Zusammenarbeit in den Bereichen Gesetzgebung, Wirtschaft, Soziales, Finanzen, zivile Wissenschaft, Technik und Kultur, die Festigung demokratischer Strukturen sowie auf die Unterstützung der jeweiligen Partnerländer bei der Vollendung ihres Übergangs zur Marktwirtschaft ausgerichtet.139 Die vorgenannten Abkommen über Partnerschaft und Zusammenarbeit lassen erhebliche strukturelle Gemeinsamkeiten zum einen insoweit erkennen, als sie allesamt einleitende Bestimmungen enthalten, nach der die Achtung der Grundsätze der Demokratie, des Völkerrechts der Menschenrechte und der Marktwirtschaft sowohl Grundlage der Innen- und Außenpolitik der Vertragsparteien als auch „wesentliche Bestandteile“ der durch diese Abkommen gegründeten Partnerschaften sind bzw. sein sollen.140 Dem folgen in diesen Abkommen weitere Titel und Vorschriften, die sich im Wesentlichen auf politische Dialoge, den Warenverkehr, Geschäftsbedingungen und Investitionen, laufende Zahlungen und Kapital, einzelne Aspekte im Zusammenhang mit dem Wettbewerb, dem Schutz geistigen Eigentums, dem gewerblichen und kommerziellen Eigentum und mit der Zu135

Abkommen über Partnerschaft und Zusammenarbeit zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und Georgien andererseits, ABl. 1999 L 205/3; nachfolgend „APZ-Georgien“. 136 Abkommen über Partnerschaft und Zusammenarbeit zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Armenien andererseits, ABl. 1999 L 239/3; nachfolgend „APZ-Armenien“. 137 Abkommen über Partnerschaft und Zusammenarbeit zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Aserbaidschan andererseits, ABl.EG 1999 L 246/3; nachfolgend „APZ-Aserbaidschan“. 138 Siehe dazu oben unter C. II. 1. a). 139 Vgl. Art. 1 APZ-Ukraine (Anm. 133); Art. 1 APZ-Moldawien (Anm. 134); Art. 1 APZ-Georgien (Anm. 135); Art. 1 APZ-Armenien (Anm. 136); Art. 1 APZ-Aserbaidschan (Anm. 137). 140 Vgl. Art. 2 APZ-Moldawien (Anm. 134); Art. 2 APZ-Georgien (Anm. 135); Art. 2 APZ-Armenien (Anm. 136); Art. 2 APZ-Aserbaidschan (Anm. 137); sehr ähnlich auch Art. 2 APZ-Ukraine (Anm. 133).

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sammenarbeit auf dem Gebiet der Gesetzgebung, wirtschaftliche, kulturelle und finanzielle Zusammenarbeit sowie auf einige wichtige institutionell-rechtliche Aspekte beziehen.141 Hierzu gehört beispielsweise die in ähnlicher – aber nicht identischer – Weise auch in den oben erwähnten Europa-Mittelmeer-Abkommen vorgesehene Garantie, dass die Vertragsparteien alle Streitigkeiten über die Anwendung und Auslegung des jeweiligen Abkommens dem für die Überwachung der Anwendung und Durchführung des jeweils in Rede stehenden Abkommens eingesetzten „Kooperationsrat“ vorlegen können, der diese Streitigkeiten dann jeweils durch „Empfehlung“ beilegen kann.142 Die vorgenannten Abkommen über Partnerschaft und Zusammenarbeit werden schließlich von einer Reihe weiterer Verträge zwischen der EU und einzelnen östlichen ENP-Partnern begleitet,143 mit denen die herausragende Bedeutung der bilateralen Kooperation im Rahmen der östlichen ENP-Dimension in zusätzlicher Weise unterstrichen wird. b) Die multilaterale Östliche Partnerschaft Ein weiteres Kernstück und Alleinstellungsmerkmal der östlichen ENPDimension stellt neben den vorab erörterten (bilateralen) Abkommen über Partnerschaft und Zusammenarbeit die auf dem Bekenntnis zu den Grundsätzen des 141

Vgl. Art. 85–109 APZ-Ukraine (Anm. 133); Art. 82–106 APZ-Moldawien (Anm. 134); Art. 81–105 APZ-Georgien (Anm. 135); Art. 78–102 APZ-Armenien (Anm. 136); Art. 81– 105 APZ-Aserbaidschan (Anm. 137). 142 Vgl. Art. 96 Abs. 1 u. 2 APZ-Ukraine (Anm. 133); Art. 93 Abs. 1 u. 2 APZ-Moldawien (Anm. 134); Art. 92 Abs. 1 u. 2 APZ-Georgien (Anm. 135); Art. 89 Abs. 1 u. 2 APZArmenien (Anm. 136); Art. 92 Abs. 1 u. 2 APZ-Aserbaidschan (Anm. 137). 143 Exemplarisch dazu das Abkommen zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten und der Republik Moldau über den gemeinsamen Luftverkehrsraum, ABl. 2012 L 292/1; das Abkommen über den gemeinsamen Luftverkehrsraum zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten einerseits und Georgien andererseits, ABl. 2012 L 321/1; das Abkommen zwischen der EU und der Republik Moldau über die Schaffung eines Rahmens für die Beteiligung der Republik Moldau an Krisenbewältigungsoperationen der Europäischen Union, ABl. 2013 L 8/1; das am 26.6.2012 unterzeichnete und am 1.4.2013 in Kraft getretene Abkommen zwischen der EU und der Republik Moldau zum Schutz geografischer Angaben für landwirtschaftliche Erzeugnisse und Lebensmittel, ABl. 2013 L 10/3 i.V.m. ABl. 2013 L 61/1; das Abkommen zwischen der EU und der Republik Armenien über die Rücknahme von Personen mit unbefugtem Aufenthalt im Namen der Europäischen Union, ABl. 2013 L 87/1; sowie die beiden Abkommen zwischen der EU und der Republik Moldau bzw. der Ukraine zur Änderung der zwischen ihnen und der EG geschlossenen Abkommen über Erleichterungen bei der Erteilung von Visa, ABl. 2013 L 168/3 u. 11.

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Völkerrechts sowie zu den Grundwerten und/oder Grundprinzipien der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, der Marktwirtschaft, der nachhaltigen Entwicklung und der verantwortungsvollen Regierungsführung beruhende Östliche Partnerschaft dar. Diese im einschlägigen Schrifttum mit wachsender Aufmerksamkeit bedachte Partnerschaft,144 die auf entsprechende Initiativen Polens und Schwedens zurückgeht, ist nach einigen Vorüberlegungen im Europäischen Rat145 und anschließenden Vorarbeiten der Kommission während der tschechischen Ratspräsidentschaft durch eine „Gemeinsame Erklärung“ des Prager Gipfeltreffens vom 7. Mai 2009146 ins Leben gerufen worden. Nach dieser Erklärung, die im Beisein der Präsidenten des Europäischen Rates und der Kommission sowie des Generalsekretärs des Rates der EU sowohl von den Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten als auch von den zuständigen Vertretern Armeniens, Aserbaidschans, Belarus, Georgiens, Moldawiens und der Ukraine angenommen wurde, soll die Östliche Partnerschaft v.a. neue Impulse für die Verfestigung und den Ausbau bestehender politischer und wirtschaftlicher Beziehungen zwischen den daran teilnehmenden Akteuren geben.147 In diesem Kontext intendiert diese multilateral ausgerichtete Partnerschaft ausweislich der vorgenannten Erklärung v.a. auch eine – demnächst aller Voraussicht nach zuerst 144

Aus der zunehmenden Zahl einschlägiger Veröffentlichungen zur Östlichen Partnerschaft vgl. etwa Katrin Böttger, Im Osten nichts Neues? – Ziele, Inhalte und erste Ergebnisse der Östlichen Partnerschaft, Integration 4/2009, 372 ff.; Christophe Hillion/Alan Mayhew, The Eastern Partnership – Something New or Window-Dressing, PLJ 17 (2012), 175 ff.; Kotzur (Anm. 22), Rn. 37 ff.; Lippert (Anm. 81), 236 ff.; Nowak (Anm. 36), 759 ff.; David Rinnert, Georgia and the Eastern Partnership: Progress, Problems and Prospects, in: Edmund Ratka/Olga Spaiser (Hrsg.), Understanding European Neighbourhood Policies – Concepts, Actors, Perceptions, 2012, 213 ff.; Sebastian Schäffer (Anm. 25), 244 f.; Eckart Stratenschulte/Weronika Priesmeyer-Tkocz, Weniger ist mehr – Lehren aus dem Stillstand der Östlichen Partnerschaft, Osteuropa 11/2011, 7 ff.; Wolfgang Tiede/Jakob Schirmer, Die Östliche Partnerschaft der Europäischen Union im Rahmen des Gemeinschaftsrechts, OER 55 (2009), 184 ff.; zur Entstehung und zu den Motiven dieser Partnerschaft vgl. auch Valentina Pop, Balkan’s model to underpin EU’s Eastern Partnership, abrufbar unter http://eu observer.com/15/26766?print=1 (letzter Zugriff am 17.10.2014); Sebastian Schäffer/ Dominik Tolksdorf, The Eastern Partnership – “ENP Plus” for Europe’s Eastern neighbors, C A Perspectives 4/2009, 1 ff.; zu den russischen Vorbehalten gegenüber dieser Partnerschaft vgl. im Übrigen Susan Stewart, Russland und die Östliche Partnerschaft – Harsche Kritik, punktuelles Kooperationsinteresse, SWP-Aktuell 21, 4/2009, 1 ff. 145 Vgl. insb. Ziffern 68–70 der Schlussfolgerungen des Ratsvorsitzes vom 19./ 20.6.2008 (Dok. 11018/1/08 REV1). 146 Gemeinsame Erklärung des Prager Gipfeltreffens zur Östlichen Partnerschaft vom 7.5.2009, abrufbar unter http://www.consilium.europa.eu/uedocs/cms_data/docs/pressdata/ de/er/107638.pdf (letzter Zugriff am 17.10.2014). 147 Ebd., 6.

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im Verhältnis zwischen der EU und der Ukraine stattfindende – Ersetzung der oben angesprochenen Abkommen über Partnerschaft und Zusammenarbeit durch neue Assoziierungsverträge, soweit die jeweiligen Partnerländer willens und in der Lage sind, die daraus resultierenden Verpflichtungen zu erfüllen.148 Partielle Gemeinsamkeiten bestehen zwischen der Östlichen Partnerschaft und der an anderer Stelle bereits thematisierten Union für das Mittelmeer149 zunächst einmal insoweit, als auch die Östliche Partnerschaft darauf ausgerichtet ist, unter Einschluss einer durch Visumserleichterungs- und Rücknahmeübereinkommen zu bewerkstelligenden Förderung der Mobilität der Bürger der Partnerländer die Voraussetzungen für eine Beschleunigung der politischen Assoziierung und der weiteren wirtschaftlichen Integration zwischen der EU und interessierten Partnerländern zu schaffen und dazu beizutragen, unter den jeweiligen Partnerländern selbst engere Beziehungen zu entwickeln.150 Zum anderen ist auch mit der Östlichen Partnerschaft ein multilateraler Rahmen für vertiefte Kooperationen und zielführende Dialoge geschaffen worden, der die bestehenden bilateralen Vertragsverhältnisse nicht ersetzt, sondern komplementär ergänzt. Weitere Gemeinsamkeiten zwischen der Östlichen Partnerschaft und der Union für das Mittelmeer bestehen schließlich insoweit, als in Ziffer 10 der oben genannten Gemeinsamen Erklärung angekündigt wird, dass sich die Staats- und Regierungschefs der Östlichen Partnerschaft ebenfalls alle zwei Jahre zu einem offiziellen Treffen zusammenfinden und dass unterhalb dieser Ebene weitere Treffen der jeweiligen Außenminister stattfinden, die es jedes Jahr geben soll.151 Zur Schaffung eines dem Sekretariat der Union für das Mittelmeer entsprechenden oder vergleichbaren Sekretariats ist es im Rahmen der Östlichen Partnerschaft bislang noch nicht gekommen. Allerdings haben die Unterzeichner der o.g. Gemeinsamen Erklärung die verschiedenen Parlamente der EU-Mitgliedstaaten und der Partnerländer um Anregungen hinsichtlich eines entsprechenden Vorschlags des Europäischen Parlaments ersucht, eine „Parlamentarische Versammlung EU-Nachbarschaft Ost“ ins Leben zu rufen,152 die dann im Jahre 2011 tatsächlich als „Parlamentarische Versammlung Euronest“ gegründet worden ist153 und seitdem gewissermaßen ein 148

Ebd., 7. Näher zu dieser Union siehe bereits oben unter C. II. 1. b). 150 Gemeinsame Erklärung des Prager Gipfeltreffens zur Östlichen Partnerschaft (Anm. 146), 6. 151 Ebd., 8. 152 Ebd., 10. 153 Die Gründungsakte dieser Parlamentarischen Versammlung findet sich im ABl. 2011 C 198/4; zu ihrer Geschäftsordnung vgl. ABl. 2011 C 198/7; zur ihrer Verfahrensordnung vgl. ABl. 2013 C 221/1.; und zur Verfahrensordnung ihrer ständigen Ausschüsse vgl. ABl. 2013 C 221/11. 149

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östliches Pendant zu der im Rahmen der südlichen ENP-Dimension existierenden „Euro-Mediterranean Parliamentary Assembly“154 darstellt.

D. Neuausrichtung der Europäischen Nachbarschaftspolitik Die anfängliche Euphorie, die mit der in den Jahren 2003 und 2004 initiierten ENP im Allgemeinen und mit der durch die Gründung der Union für das Mittelmeer und der Östlichen Partnerschaft bewirkten Multilateralisierung der ansonsten stark bilateral geprägten Nachbarschaftsbeziehungen zwischen der EU sowie ihren südlichen und östlichen ENP-Partnern bestehenden Nachbarschaftsbeziehungen im Besonderen ausgelöst wurde, ist spätestens im Jahre 2011 einer weitverbreiteten Ernüchterung gewichen. Dies offenbaren zunächst einmal verschiedene Veröffentlichungen aus dieser Zeit, die im Hinblick auf die in jüngeren Stellungnahmen sogar für gescheitert, geschwächt oder weitgehend bedeutungslos erklärte Union für das Mittelmeer155 eine „ernüchternde Zwischenbilanz“ ziehen156 und sich beinahe zeitgleich in einer nicht minder eindrucksvollen Weise mit dem (angeblichen) „Stillstand der Östlichen Partnerschaft“ befassen.157 Darüber hinaus stellten die Europäische Kommission und die Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik in einer „Gemeinsamen Mitteilung“ vom 25. Mai 2011, der eine weitere Gemeinsame Mitteilung dieser beiden Akteure vom 8. März 2011 über eine neuartige „Partnerschaft mit dem südlichen Mittelmeerraum für Demokratie und gemeinsamen Wohlstand“,158 sowie zwei instruktive Entschließungen des Europäischen Parlaments jeweils vom 7. April 2011 zur Überprüfung der Europäischen 154

Zu dieser EMPA siehe bereits oben unter C. II. 1. b). Vgl. Isabel Hoffmann, Auseinandergedriftet, The European vom 24.3.2013, abrufbar unter http://www.theeuropean.de/isabel-hoffmann/6594-eine-mittelmeerunion-bleibt-vorerstvision (letzter Zugriff am 17.10.2014); Christoph Sebald, Mittelmeerunion: Wunschgebilde oder tragfähige Perspektive? – Teil 2: Mit Projekten aus der Krise?, Treffpunkt Europa vom 20.3.2013, abrufbar unter http://www.treffpunkteuropa.de/Mittelmeerunion-Wunschgebildeoder-tragfahige-Perspektive,05638 (letzter Zugriff am 17.10.2014); differenzierter Demesmay/Främke/Sold (Anm. 126), 62 f. 156 Demmelhuber/Marchetti (Anm. 120), 132 ff. 157 Stratenschulte/Priesmeyer-Tkocz (Anm. 144). 158 Europäische Kommission/Hohe Vertreterin der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik, Gemeinsame Mitteilung an den Europäischen Rat, das Europäische Parlament, den Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen vom 8.3.2011, „Eine Partnerschaft mit dem südlichen Mittelmeerraum für Demokratie und gemeinsamen Wohlstand“ Brüssel, KOM(2011) 200 endg. i.V.m. ihrem dazugehörigen Joint Staff Working Document vom 15.5.2012 „Partnership for Democracy and Shared Prosperity: Report on activities in 2011 and Roadmap for future action“, SWD (2012), 121 final. 155

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Nachbarschaftspolitik in Bezug auf die östliche ENP-Dimension und die südliche ENP-Dimension vorausgegangen sind,159 etwas resigniert fest, dass „die Unterstützung der EU für politische Reformen in benachbarten Ländern nur in beschränktem Maße Früchte getragen [hat]“.160 Die vorgenannte Gemeinsame Mitteilung markiert den eigentlichen „Startschuss“ einer tiefgreifenden – gleichwohl aber an der herkömmlichen Differenzierung zwischen der südlichen und östlichen ENP-Dimension formal festhaltenden – Neuausrichtung der ENP. Hierzu haben sich die Europäische Kommission und die Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik im Jahre 2011 insbesondere auf Grund überaus heterogener Entwicklungsfortschritte der sechs jeweils mit unterschiedlichsten innerstaatlichen und regionalen Problemen kämpfenden und zum Teil konkurrierenden Integrationsbemühungen der EU und Russlands ausgesetzten Partnerländer im Rahmen der östlichen ENP-Dimension,161 der gewaltsamen Niederschlagung von Protesten in Syrien162 sowie den gewaltigen politischen – vielfach unter dem Schlagwort „Arabellion“ behandelten163 oder als ein die Mittelmeerpolitik der EU stark herausfordernder „Arabischer Frühling“ eingestuften164 – Umbrüchen in Tunesien, Libyen und Ägypten veranlasst gesehen.165 159

ABl. 2012 C 396 E/105 und 114. Europäische Kommission/Hohe Vertreterin der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik, Gemeinsame Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen „Eine neue Antwort auf eine Nachbarschaft im Wandel“ vom 25.5.2011, Brüssel, KOM(2011) 303 endg., 1. 161 Ausführlicher zu den hier angesprochenen Aspekten vgl. etwa die Kommissionsmitteilungen KOM(2007) 774 endg. (Anm. 49); KOM(2009) 188 endg. (Anm. 82) und KOM(2010) 207 endg. (Anm. 52); sowie Hannes Adomeit, Integrationskonkurrenz EURussland – Belarus und Ukraine als Konfliktfelder, Osteuropa 6–8/2012, 383 ff.; Ondrej Ditrych/Vit Střítecký, Konfliktregulierung in Georgien – Chance und Verpflichtung für die EU, Osteuropa 2/2012, 135 ff.; Mykola Rjabčuk, Weckruf – Die Ukraine, die EU und der Fall Tymošenko, Osteuropa 11/2011, 3 ff.; Stratenschulte/Priesmeyer-Tkocz (Anm. 144). 162 Instruktiv zur Entstehung und Entwicklung dieser Proteste sowie zu den unterschiedlichen Akteuren des hiermit zusammenhängenden Syrien-Konflikts vgl. etwa Muriel Asseburg, Syrien: ziviler Protest, Aufstand, Bürgerkrieg und Zukunftsaussichten, APuZ 8/ 2013, 11 ff.; Markus Bickel, Syrien, Iran, Hisbollah, Hamas: Bröckelt die Achse?, APuZ 8/2013, 30 ff.; Kinan Jaeger/Rolf Tophoven, Der Syrien-Konflikt: Internationale Akteure, Interessen, Konfliktlinien, APuZ 8/2013, 23 ff.; Huda Zein, Identitäten und Interessen der syrischen Oppositionellen, APuZ 8/2013, 17 ff. 163 Vgl. etwa Christian Tomuschat, The Arabellion – Legal Features, ZaöRV 72 (2012), 447 ff. 164 In diesem Sinne etwa Parmentier (Anm. 99); Rachid Rhattat, L’action extérieure de l’Union européenne en méditerranée à l’épreuve du ‘printemps arabe’, RUE 2012, 435 ff.; 160

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Diese Neuausrichtung, die wenige Wochen später auch noch mit einem neuen Konzept für die Zusammenarbeit zwischen der EU und den ENP-Partnerländern im Verkehrsbereich verbunden wurde,166 basiert zunächst einmal auf der programmatischen Losung „mehr für mehr“.167 Dies bedeutet im Kern, dass die EU fortan solchen ENP-Ländern mehr finanzielle Unterstützung gewährt, die sich als besonders reformwillig erweisen und den Erwartungen der EU insbesondere im Hinblick auf die Erreichung demokratischer Verbesserungen (freie Wahlen, Meinungs- und Versammlungsfreiheit etc.) gerecht werden. Umgekehrt sollen die finanziellen Mittel bei den ENP-Ländern gekürzt werden, die hinter den nachbarschaftspolitischen Erwartungen der EU zurückbleiben oder diese sogar gänzlich ignorieren. Dieser neuartige „mehr für mehr“-Ansatz bzw. „more for more approach“ soll ausweislich der vorgenannten Gemeinsamen Mitteilung in besonderer Weise zunächst einmal der „Unterstützung vertiefter Demokratie“ sowie dem verstärkten Aufbau länderspezifischer Partnerschaften mit der Zivilgesellschaft dienen, die zahlreiche Gruppen – wie etwa Nichtregierungsorganisationen, Gewerkschaften, Medien und Umweltverbände – einschließen können. Darüber hinaus geht es der EU bei dieser Neuausrichtung der ENP um den Versuch der Erreichung zahlreicher weiterer Ziele, zu denen unter anderem die Intensivierung der politischen und sicherheitspolitischen Zusammenarbeit, die Unterstützung einer nachhaltigen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung, ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen, die Stärkung der Handelsbeziehungen, die Stärkung der Zusammenarbeit, insbesondere in den Bereichen Wissen und Innovation, Klimawandel, Umwelt, Energie, Verkehr und Technologie, die Bekämpfung irregulärer Migration bei gleichzeitiger Schaffung so genannter Mobilitätspartnerschaften, insbesondere zu Gunsten von Studierenden, Forschern und Geschäftsleuten, sowie schließlich klarere Prioritätensetzungen gehören, die sich vor allem in der Aushandlung präziserer bilateraler Aktionspläne manifestieren sollen.168 Mathieu Routier, Le printemps arabe, opportunité manquée de l’Union européenne de placer les droits de l’homme au cœur de sa politique en méditerranée?, RUE 2012, 440 ff. 165 Vgl. nur KOM(2011) 303 endg. (Anm. 160), 1. 166 Vgl. dazu die an den Rat und das Europäische Parlament adressierte Mitteilung der Kommission vom 7.7.2011 „Die EU und ihre Nachbarregionen: Ein neues Konzept für die Zusammenarbeit im Verkehrsbereich“, KOM(2011) 415 endg. 167 Vgl. KOM(2011) 303 endg. (Anm. 160), 3 i.V.m. der Gemeinsamen Mitteilung der Europäischen Kommission und der Hohen Vertreterin der Europäischen Union für Außenund Sicherheitspolitik an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschaftsund Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen vom 20.3.2013 „Europäische Nachbarschaftspolitik: auf dem Weg zu einer verstärkten Partnerschaft“, Brüssel, JOIN (2013) 4 final, 24. 168 Ausführlich dazu KOM(2011) 303 endg. (Anm. 160), 2 ff.

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Die durch zwei weitere Gemeinsame Mitteilungen der Europäischen Kommission und der Hohen Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik jeweils vom 15. Mai 2012 im Hinblick auf ihre Umsetzung169 und im Hinblick auf die Östliche Partnerschaft noch etwas stärker präzisierte170 Neuausrichtung der ENP ist zuletzt durch eine weitere Gemeinsame Mitteilung der Europäischen Kommission und der Hohen Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik vom 20. März 2013 noch einmal bestätigt und im Hinblick auf die hiermit bislang erzielten Fortschritte ansatzweise evaluiert worden,171 während sich das einschlägige Schrifttum mit entsprechenden Bewertungen nach wie vor stark zurückhält. Letzteres ist verständlich, da es für eine seriöse Auseinandersetzung mit der Frage, ob die oben skizzierte Neuausrichtung der ENP tatsächlich zur Erreichung der mit ihr verfolgten Ziele beiträgt und insoweit vernünftig ist, momentan wohl noch etwas zu früh ist. Gleichwohl dürfte schon heute hinreichend klar sein, dass diese Neuausrichtung – insbesondere der neue „mehr für mehr“-Ansatz – aller Wahrscheinlichkeit nach dazu führen wird, dass sich unter den beiden Dächern der östlichen und südlichen ENP-Dimensionen unterschiedlich gute und intensive Nachbarschaftsbeziehungen fortentwickeln werden und dass sich das ohnehin schon hohe Maß an externer Differenzierung, das die Gesamtschau aller EU-Nachbarschaftsbeziehungen innerhalb und außerhalb des ENP-Kontextes zu erkennen gibt, noch weiter verstärkt.

E. Fazit und Ausblick Da es neben der in den beiden vorangegangenen Abschnitten (C. und D.) behandelten ENP einige weitere Nachbarschaftsbeziehungen zwischen der EU und

169 Europäische Kommission/Hohe Vertreterin der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik, Gemeinsame Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen vom 15.5.2012 „Umsetzung einer neuen Europäischen Nachbarschaftspolitik“, JOIN(2012) 14 final. 170 Europäische Kommission/Hohe Vertreterin der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik, Gemeinsame Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen vom 15.5.2012 „Östliche Partnerschaft: Fahrplan bis zum Gipfeltreffen im Herbst 2013“, JOIN (2012) 13 final. 171 Europäische Kommission/Hohe Vertreterin der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik, Gemeinsame Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen vom 20.3.2013 „Europäische Nachbarschaftspolitik: auf dem Weg zu einer verstärkten Partnerschaft“, JOIN(2013) 4 final.

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verschiedenen Drittstaaten gibt,172 kann entweder von der Existenz mehrerer verschiedener Nachbarschaftspolitiken der EU oder von einer zwischen verschiedenen Drittstaaten bzw. Nachbarschaften oder Ländergruppen differenzierenden EU-Nachbarschaftspolitik gesprochen werden, die sich teilweise mit der Assoziations-, Partnerschafts- und Erweiterungspolitik der EU überschneidet. Dem trägt der in mancherlei Hinsicht stark auslegungsbedürftige Art. 8 EUV insoweit Rechnung, als dessen erster Absatz in einer nicht allein auf die ENP-Staaten, sondern auf alle Länder in der nicht grenznachbarschaftlich zu verstehenden Nachbarschaft der EU bezogenen Weise anordnet, dass die Union besondere Beziehungen zu diesen Ländern entwickelt, um einen Raum des Wohlstands und der guten Nachbarschaft zu schaffen, der auf den in Art. 2 EUV angesprochenen Werten der Union aufbaut und sich durch enge, friedliche Beziehungen auf der Grundlage der Zusammenarbeit auszeichnet. Bei der Schaffung des in Art. 8 Abs. 1 EUV angesprochenen Raums des Wohlstands und der guten Nachbarschaft dürfte es sich aller Voraussicht nach um ein unerreichbares Fernziel handeln, sofern es sich hierbei um einen möglichst einheitlichen bzw. kohärenten Nachbarschaftsraum handeln soll. Die Erreichung dieses Ziels scheint aus heutiger Perspektive utopisch zu sein, da gegenwärtig eher von der Existenz mehrerer verschiedener Nachbarschaftsräume oder Nachbarschaften etwa zwischen der EU und den Staaten des westlichen Balkan (mit Ausnahme Kroatiens), zwischen der EU und den südlichen ENP-Partnern, sowie zwischen der EU und ihren östlichen ENP-Partnern gesprochen werden muss.173 Die Möglichkeit einer Verbindung oder Zusammenfügung dieser unterschiedlichen Nachbarschaftsräume zu einem einheitlichen bzw. kohärenten Raum der guten Nachbarschaft liegt bis auf Weiteres in weiter Ferne, zumal die im Jahre 2011 auf den Weg gebrachte Neuausrichtung der ENP im Sinne des „mehr für mehr“-Ansatzes erwarten lässt, dass sich die unter den beiden Dächern der östlichen und südlichen ENP-Dimensionen bestehenden Nachbarschaftsbeziehungen insgesamt noch heterogener fortentwickeln werden und dass sich das beachtliche Maß an externer Differenzierung, das die Gesamtschau aller bestehenden EUNachbarschaftsbeziehungen sowohl innerhalb als auch außerhalb des ENP-Kontextes zu erkennen gibt, noch weiter verstärkt.

172

Siehe dazu im Einzelnen oben unter B. Zu der in diesem Kontext gegebenen Existenz differenzierter „Nachbarräume“ vgl. auch Kotzur (Anm. 22), Rn. 16. 173

Wirtschaftsräume: Freihandelszonen, Zollunionen und Gemeinsame Märkte Von Wolfgang Weiß

A. Einleitung Die Erörterung der Bedeutung von Räumen im Völkerrecht kann an den Wirtschaftsräumen nicht vorübergehen, zumal in den letzten ca. 20 Jahren immer mehr neue Wirtschaftsräume entstanden sind.1 Dieser Prozess hat sich in jüngerer Vergangenheit klar beschleunigt. Die WTO berichtet in ihrem World Trade Report 2011, dass – mit Ausnahme der Mongolei – alle damals ca. 153 WTO-Mitglieder je zumindest ein Präferenzabkommen abgeschlossen haben.2 Mittlerweile spielen sich über 50 % des Welthandels innerhalb von Präferenzzonen ab. Dabei verbreiten sich solche Abkommen nicht nur über die ganze Welt, sondern verdichten sich auch inhaltlich. Die EU etwa unterhält mit mittlerweile fast allen WTO-Mitgliedern Präferenzabkommen oder zumindest einseitige Präferenzregeln, so dass die allgemeinen WTO-Regeln derzeit nur noch für 9 WTO-Mitglieder und ca. 25 % der EU-Einfuhren gelten, nämlich für Australien, Neuseeland, Kanada, Taiwan, China, Hong Kong, Japan, Singapur und die USA. Auch das wird nicht lange so bleiben, denn Freihandelsabkommen mit Kanada und Singapur stehen kurz vor dem Abschluss, und solche mit Japan und USA befinden sich im Entstehungsprozess.3 1

Einen Überblick über die bei der WTO notifizierten Abkommen gibt die Website http://rtais.wto.org/UI/PublicAllRTAList.aspx (letzter Zugriff am 18.10.2014); quantitative Analysen finden sich bei Roberto V. Fiorentino/Jo-Jo-Ann Crawford/Christelle Toqueboeuf, The landscape of regional trade agreements and WTO surveillence, in: Richard Baldwin/ Patrick Low (Hrsg.), Multilateralizing Regionalism. Challenges for the Global Trading System, 2009, 28, 30 ff. 2 WTO, World Trade Report 2011, 42, abrufbar unter http://www.wto.org/english/ res_e/publications_e/wtr11_e.htm (letzter Zugriff am 18.10.2014). 3 Vgl. EU-Trade Policy Review, WT/TPR/S/284, 32 ff. Dort findet sich auch ein Überblick über die Abkommen. Dazu jüngst auch Wolfgang Weiß, § 10: Vertragliche Handelspolitik der EU, in: Andreas von Arnauld (Hrsg.), Europäische Außenbeziehungen, 2014, Rn. 65 ff.

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Das Nachdenken über Wirtschaftsräume, die vorläufig verstanden werden sollen als internationale Räume, in denen der grenzüberschreitende Wirtschaftsverkehr sich infolge eines Abbaus von Handelshemmnissen intensiviert hat, steht zunächst vor der Schwierigkeit einer geglückten Begriffsbildung und der allein schon phänomenologischen Erfassung. Denn Wirtschaftsräume können ganz unterschiedlich aussehen, nicht nur territorial: Es gibt nicht nur eine mittlerweile unüberschaubare Fülle von Wirtschaftsräumen, zu denen sich Staaten dieser Erde zusammenfinden. Auf Jagdish Bhagwati geht das berühmte, oft bemühte Bild der „spaghetti bowl“ zurück,4 das dieser Unzählbarkeit, Unabgestimmtheit und Verworrenheit der der Bildung von Wirtschaftsräumen zugrunde liegenden internationalen Abkommen einen trefflichen Ausdruck verleiht. Zu der schieren Vielzahl kommt eine Unterschiedlichkeit im konkreten Zuschnitt, insbesondere in der wirtschaftlichen Integrationstiefe, auch wenn Typisierungen möglich sind. Es ist bei weitem nicht so, dass man regionale Wirtschaftsräume immer als mehr oder minder intensives Abbild oder Imitation eines Gemeinsamen Marktes im Sinne dessen der EU verstehen könnte. Die Verflechtung der Volkswirtschaften und das ihr zugrunde liegende Maß an Beseitigung von Handelshemmnissen ist sehr unterschiedlich ausgeprägt. Von daher wird in der einschlägigen Literatur von einer neuen Regionalisierung der Welt gesprochen.5 Das Auseinanderfallen der Welt in Regionale Handelsblöcke ist aber alles andere als ein homogener Vorgang, denn viele Handelsräume sind regionenübergreifend, und sie unterscheiden sich durchaus deutlich.6 Gemeinsam ist diesen Wirtschaftsräumen aber das Ziel, Handelshemmnisse abzubauen und damit die Teilnehmerstaaten des Wirtschaftsraums in ihren wechselseitigen Handelsbeziehungen im Vergleich zu den allgemein geltenden Handelsbedingungen im Handel mit Dritten besser zu stellen. Wirtschaftsräume werden damit – im Gegensatz zu einer globalen Weltwirtschaftordnung, die für alle oder fast alle gilt (Stichwort WTO/Multilateralismus) – als Präferenzzonen gesehen, in denen Vorteile gegenüber der allgemeinen Ordnung und ihren Regeln gewährt werden. Wirtschaftsräume sind damit Räume besonderer wirtschaftlicher Integration: Die im grenzüberschreitenden Handel bestehenden Hemmnisse sind in einer 4

Jagdish Bhagwati, Free Trade Today, 2003, 112. Vgl. nur Richard Baldwin/Patrick Low (Hrsg.), Multilateralizing Regionalism. Challenges for the Global Trading System, 2009. 6 Francesco Duina, The Social Construction of Free Trade, 2006, interpretiert daher nicht zu Unrecht den neuen Regionalismus als eine sehr heterogene Erscheinung aus äußerst unterschiedlich angelegten Abkommen. Zu kritisieren an seiner Einschätzung ist nur die Fixierung auf eine Regionalisierung des Welthandels. Dazu noch unten. 5

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Weise abgebaut, die über die allgemein für alle Staaten geltenden Regeln hinausgehen. Das allgemein geltende Handelsregime der WTO, das zwar noch keine globale Geltung hat, aber doch 95 % des Welthandels abdeckt, dient zwar auch der Erleichterung des Welthandels und dem Abbau von Handelshemmnissen. Die WTO-Regeln stellen jedoch den Zollabbau und die Beseitigung quantitativer Hemmnisse in den Vordergrund und legen allgemein gültige Prinzipien insbesondere der Nichtdiskriminierung in Form der Inländergleichbehandlung und der Meistbegünstigung fest.7 Damit gibt das WTO-Recht einen allgemeinen Rahmen vor, in dem sich die Handelsbeziehungen ihrer Mitglieder normalerweise vollziehen, entsprechend dem schon früh im Wirtschaftsvölkerrecht anzutreffenden zentralen Gedanken der Meistbegünstigung, wonach jedes WTO-Mitglied in seinen Handelsbeziehungen nicht schlechter behandelt wird als alle anderen Staaten. Die Gleichheit der Handelsbedingungen mit allen Nationen ist die Grundidee normaler Handelsbeziehungen. Wirtschaftsräume weichen von dieser Gleichheit der Handelsbedingungen ab. Die Teilnehmer an einem Wirtschaftsraum senken Handelsschranken noch weiter ab als unter dem allgemeinen Regime des WTO-Rechts und gewähren einander dadurch Vorteile. Das widerspricht zwar der Idee der Gleichheit der Handelsbedingungen für alle, wird aber akzeptiert, weil solche engeren Handelsbeziehungen zum einen schon seit jeher üblich sind, und zum anderen positive Wirkungen auch für Dritte entfalten können. Vorteile für Außenstehende können sich dadurch einstellen, dass die engeren Beziehungen zu einem intensiveren Handel innerhalb des Wirtschaftsraums führen, der mit Wohlfahrtsgewinnen einhergeht und damit generell die wirtschaftliche Aktivität und damit die Nachfrage nach Gütern in dem Wirtschaftsraum anhebt, so dass am Ende auch die Nachfrage nach Waren aus dritten Staaten steigt. Eine Präzisierung, und damit zugleich ein Caveat sei hier hinzugefügt. Vorliegende Befassung mit den Wirtschaftsräumen legt eine rechtswissenschaftliche Sicht zugrunde, keine ökonomische. Beide Betrachtungsweisen unterscheiden sich, weil der Ökonom einen Wirtschaftsraum dann als gegeben ansehen wird, wenn die nationalen Volkswirtschaften in einer Region oder auch regionenübergreifend eng verflochten sind, im Sinne einer Feststellbarkeit intensiven Handels, etwa zwischen EU und USA, so dass von einem transatlantischen Wirtschaftsraum gesprochen 7 Siehe Art. I, III Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen (GATT), 15.4.1994, ABl. 1994 Nr. L 336/11; Art. II, XVII Allgemeines Übereinkommen über den Handel mit Dienstleistungen (GATS), 15.4.1994, ABl. 1994 Nr. L 336/190. Der Rechtsgedanke der Nichtdiskriminierung findet sich indes noch in zahlreichen Bestimmungen des WTORechts, vgl. etwa Wolfgang Weiß, Regelungen über Einfuhr, Ausfuhr und Durchfuhr, in: Christoph Herrmann/Wolfgang Weiß/Christoph Ohler (Hrsg.), Welthandelsrecht, 2. Aufl. 2007, Rn. 386 f.

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werden kann. Der Rechtswissenschaftler blickt nicht auf die Intensität der Wirtschaftsbeziehungen, des Handels und Kapitaltransfers, sondern auf die rechtlichen Regelungen zur Gestaltung eines Wirtschaftsraums. Deshalb kann die Bestimmung von Wirtschaftsräumen in beiden Disziplinen auseinanderfallen: So kann es intensiven Handel und enge wirtschaftliche Beziehungen geben, wie etwa zwischen EU und USA, mit der Folge, dass man von einem transatlantischen Handels-/Wirtschaftsraum sprechen kann, ohne dass dem aber rechtliche Regelungen zur Bildung eines Wirtschaftsraums, wie etwa ein umfassendes Handelsabkommen, zugrunde liegen (mit den USA gibt es – noch – kein umfassendes Präferenzabkommen, sondern nur vereinzelte sektorale Regeln). Anders formuliert: Vorliegend geht es um die rechtlichen Grundlagen für die Bildung von Wirtschaftsräumen, und Wirtschaftsräume werden daher als rechtlich besonders verfasste Handels- und Wirtschaftsbeziehungen verstanden. Gefragt wird nicht nach der aktuellen Intensität des Wirtschaftsverkehrs. Damit ergibt sich die vorliegende Arbeitsdefinition des Begriffs „Wirtschaftsraum“: Ein Wirtschaftsraum ist ein rechtlich eigens verfasstes völkervertragliches Gebilde, in dem der grenzüberschreitende Handels- und (allgemeine) Wirtschaftsverkehr durch im Vergleich zur allgemein geltenden Ordnung für grenzüberschreitenden Handel weitere Absenkung der Handelshemmnisse erleichtert wird. Wirtschaftsräume sind damit vor allem Präferenzzonen.

B. Zu Begriff und Erscheinungsformen der „Wirtschaftsräume“ I. Zur Entregionalisierung von Wirtschaftsräumen Der Begriff des Wirtschaftraums bringt eine territoriale Homogenität oder zumindest einen territorialen Zusammenhang und eine geographisch dichte Verortung von Wirtschaftsräumen zum Ausdruck, die irreführend ist. Zwar gibt es regionale Wirtschaftsverbünde wie die EU, die nordamerikanische Freihandelszone NAFTA oder den Mercosur als der Verbindung süd- und mittelamerikanischer Staaten. Es ist aber nicht so, dass sich nur Staaten in einer etwa kulturell vergleichbaren, kohärenten Region oder zumindest benachbarte Staaten miteinander verbinden, um einen gemeinsamen Wirtschaftsraum zu bilden, der etwa dann als europäischer, asiatischer, afrikanischer oder (nord)amerikanischer Wirtschaftsraum zu verstehen wäre. Wirtschaftsräume überschreiten jedenfalls heutzutage die regionalen Horizonte. Grund dafür sind die modernen technischen Möglichkeiten, die Transportkosten auch über lange Wege stark reduziert haben, und die enorme Verbilligung der

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Informations- und Kommunikationskosten infolge des technischen Fortschritts. Präferenzabkommen werden auch zwischen Staaten und Regionen geschlossen, die gerade keine gemeinsame Grenze haben oder gar in vollkommen verschiedenen Erdteilen liegen. So gibt es etwa eine Zollunion zwischen der EU und der Türkei8 (insoweit liegt zwar mit Griechenland eine gemeinsame Grenze vor, aber die Anfänge der Errichtung der Zollunion mit der Türkei geht auf eine Zeit zurück, zu der Griechenland noch lange nicht Mitglied der – damaligen – EWG war), oder Freihandelsabkommen zwischen Korea und Chile,9 den USA und Australien,10 oder Singapur und Panama.11 2005 wurde eine Transpazifische Wirtschaftspartnerschaft (TPP) vom Sultanat Brunei zusammen mit Chile, Neuseeland und Singapur gegründet, die bald auch Malaysia, Vietnam, Australien, Kanada, die USA und Mexiko sowie Peru umfassen soll.12 Dieser Wirtschaftsraum erstreckt sich über mehrere Kontinente und schließt Industrie-, Schwellen- und Entwicklungsländer ein. Er ist auf vertiefte Integration angelegt, die weit über bloßen Zollabbau hinausgeht, und soll auf eine Pazifische Freihandelszone ausgeweitet werden.13 Bezieht man die Handelsvolumina ein, dann stellt sich die Erkenntnis einer beträchtlichen Regionalisierung ein, d.h. bezogen auf die Verteilung des grenzüberschreitenden Handels zeigt sich nach wie vor, dass Handel in großem Umfang innerhalb von mehr oder minder benachbarten Staaten abgewickelt wird, da die räumliche und kulturelle Nähe weiter über die praktische Herausbildung von Handelsbeziehungen (mit) entscheidet.14 Dennoch gibt es Präferenzzonen auch zwischen weit entfernten Staaten. Manche dieser Abkommen, wie etwa die der USA mit einigen Staaten aus dem arabischen Raum,15 in denen oft nur verhältnis8

Abkommen von Ankara vom 12.9.1963, ABl. 1964 Nr. L 217, und Zusatzprotokoll vom 23.11.1970, ABl. 1972 Nr. L 293. 9 Vgl. http://www.customs.go.kr/kcshome/main/content/ContentView.do?contentId= CONTENT_ID_000002349&layoutMenuNo=23266 (letzter Zugriff am 18.10.2014). 10 Vgl. http://www.ustr.gov/trade-agreements/free-trade-agreements/australian-fta/finaltext (letzter Zugriff am 18.10.2014). 11 Vgl. http://www.fta.gov.sg/fta_psfta.asp?hl=10 (letzter Zugriff am 18.10.2014). 12 Vgl. http://www.ustr.gov/tpp (letzter Zugriff am 18.10.2014). 13 Georg Koopmann, Pazifische Freihandelszone: Neues Gravitationszentrum, WD 92 (2012), 794. 14 Georg Koopmann/Lars Vogel, Asymmetrie und Divergenz internationaler Handelsabkommen, WD 89 (2009), 53, 56. 15 Vgl. Freihandelsabkommen mit Bahrain, http://www.ustr.gov/trade-agreements/freetrade-agreements/bahrain-fta/final-text (letzter Zugriff: am 18.10.2014); Jordanien, http:// www.ustr.gov/trade-agreements/free-trade-agreements/jordan-fta/final-text (letzter Zugriff am 18.10.2014); Oman, http://www.ustr.gov/trade-agreements/free-trade-agreements/omanfta/final-text (letzter Zugriff am 18.10.2014); sowie Handels- und Investitionsrahmenabkommen mit Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten, http://www.

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mäßig geringe Handelsvolumina bewegt werden, belegen, dass Wirtschaftsräume nicht allein genuin ökonomischen Überlegungen folgen, sondern auch aus anderen Gründen errichtet werden. Will man damit von „Wirtschaftsräumen“ sprechen, ist die territoriale Konnotation eines zusammenhängenden Teils der Erdoberfläche, der dadurch wirtschaftlich integriert würde, irreführend, weil er die Realität nicht vollständig erfasst. Dass sich Staaten verbinden, die sich nicht in einer gemeinsamen Erdregion befinden, ist mittlerweile die Regel. Zuzugeben ist aber, dass regionale Verbünde, die sich eher auf kulturell und wirtschaftlich recht homogene Staaten konzentrieren, häufig eine dichtere Integrationstiefe anstreben und es nicht mit reinen Zollpräferenzen bewenden lassen. Dort finden sich dann eher Zollunionen statt bloße Freihandelszonen,16 etwa die EU in Europa, die südafrikanische Zollunion SACU, die noch unvollkommene (es gibt noch Ausnahmeregelungen im gemeinsamen Außenzolltarif17) Zollunion des MERCOSUR in Südamerika, die Zollunion Russlands mit Kasachstan und Weißrussland, oder die West African Economic and Monetary Union in Westafrika; die Zollunion der South African Development Community steht noch aus. Trotz der damit feststellbaren gewissen Regionalisierung, besteht eine Fülle weltweiter Freihandelsabkommen zwischen Partnern aus verschiedenen Weltregionen.18 Neu ist damit einhergehend die Öffnung von Regionalabkommen für Teilnehmer aus anderen Regionen. Damit scheint im internationalen Wirtschaftsrecht das Raumparadigma weit weniger bedeutsam als in anderen völkerrechtlichen Teildisziplinen wie dem Weltraumrecht, dem Kulturgüterrecht, der Nachbarschaftspolitik oder der Erörterung politischer Räume. Territoriale Zuordnung ist in Wirtschaftsräumen aber nicht unerheblich, weil die Präferenzen nur den Teilnehmerstaaten gewährt werden. Das bedingt die Existenz von Ursprungsregeln zur Klärung der Herkunft von Waren und ggf. Dienstleistungen und Dienstleistungsempfängern. Der Begriff der Präferenzzone vermeidet die territoriale Konnexitätsvorstellung, die mit einem Raum einhergeht, erscheint aber auch nicht besser, weil er die engere wirtschaftliche Integration, die in einem Wirtschaftsraum verfolgt wird, auf Präferenzen reduziert, was bei Gemeinsamen Märkten unzutreffend wäre (dazu ustr.gov/trade-agreements/trade-investment-framework-agreements (letzter Zugriff am 18.10.2014). 16 Karsten Nowrot, Steuerungssubjekte und -mechanismen im Internationalen Wirtschaftsrecht, in: Christian Tietje (Hrsg.), Internationales Wirtschaftsrecht, 2009, 61, § 2, Rn. 103. 17 Burkhard Schöbener/Jochen Herbst/Markus Perkams, Internationales Wirtschaftsrecht, 2010, § 3, Rn. 136. 18 Koopmann/Vogel (Anm. 14), 56–57.

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sogleich). Will man hingegen noch allgemeiner von wirtschaftlichen Integrationszonen sprechen, erweist sich auch das nicht als völlig zutreffend, weil damit Gebilde einseitiger Präferenzbehandlung, die eigentlich nicht auf eine stärkere wechselseitige Integration zielen, ausgeschlossen würden. II. Zu den Erscheinungsformen der wirtschaftlichen Integration „Freihandelszonen, Zollunionen, Gemeinsame Märkte“ sind konkrete Erscheinungsformen von integrierten Wirtschaftsräumen. Die Liste der Begriffe ist dabei inhaltlich nicht überschneidungsfrei und ließe sich auch um weitere Begriffe ausbauen, etwa um die der Präferenzzone, der Regionalen Wirtschaftsintegration oder des Regionalen Handelsraums. Die Terminologie bringt dabei jeweils spezielle Besonderheiten zum Ausdruck. Eine „Freihandelszone“ bildet einen Handelsraum, in dem die dazu verbundenen Staaten untereinander die Zölle und mengenmäßigen Beschränkungen für nahezu alle Wirtschaftszweige und nicht nur für einige wenige Sektoren beseitigen.19 Ein einheitliches Zollregime fehlt aber. Die Staaten behalten ihre Zollautonomie und auferlegen daher auf Drittlandsimporte weiterhin ihre jeweilig national festgelegten Zölle und Kontingente. Anders bei einer „Zollunion“: Wie der Terminus bereits verdeutlicht, ist zentral hier zunächst die Vereinheitlichung der Außenzollsätze.20 Es werden nicht nur, wie in einer Freihandelszone, alle Zollsätze und quantitativen Schranken der teilnehmenden Staaten untereinander beseitigt, sondern auch die Zollsätze nach außen und gegebenenfalls weitere außenwirtschaftliche Regelungen vereinheitlicht. Die Teilnehmerstaaten können gar auf ihre Zoll- und Außenhandelshoheit verzichten und diese supranationalisieren, wie es in der EU der Fall ist. „Gemeinsame Märkte“ sind demgegenüber nicht nur von einer Beseitigung der Binnenzölle und einem gemeinsamen Zollregime geprägt. Sie zielen vielmehr auf eine weitere Vereinheitlichung von für den Waren- und ggf. auch den Dienstleistungshandel oder für andere ökonomische Vorgänge (Arbeitsmigration) relevanten Bedingungen.21 Sie sollen die nationalen Märkte der Teilnehmerstaaten miteinander stärker verflechten und – vergleichbar der großen Einheitlichkeit der 19

Schöbener/Herbst/Perkams (Anm. 17), § 3, Rn. 113; Markus Krajewski, Wirtschaftsvölkerrecht, 3. Aufl. 2012, § 7, Rn. 973. 20 Schöbener/Herbst/Perkams (Anm. 17), § 3, Rn. 114; Krajewski (Anm. 19), § 7, Rn. 978. 21 Schöbener/Herbst/Perkams (Anm. 17), § 3, Rn. 115; Krajewski (Anm. 19), § 7, Rn. 982.

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Wettbewerbs- und Handelsbedingungen eines nationalen Binnenmarktes – einen Raum bilden, in dem die Waren und Dienstleistungen und die diesen zugrunde liegenden Produktionsfaktoren idealerweise so intensiv und zu einheitlichen Bedingungen zirkulieren wie in einem Nationalstaat. Ein gemeinsamer Markt geht über die Gewährung von Präferenzbehandlung bezüglich Zollfreiheit und Freiheit von Kontingenten hinaus und führt durch weitere Instrumente, die sich nichttarifären Handelshemmnissen zuwenden, wie etwa eine gegenseitige Anerkennung technischer Regelwerke oder gemeinsame Rechtsvereinheitlichung und Angleichung, eine weitaus stärkere wirtschaftliche Liberalisierung und Homogenität als Zollunionen herbei. Das ist vor allem dort bedeutsam, wo der Wirtschaftsraum nicht nur den Warenverkehr fördert, sondern sich auch auf den Dienstleistungsverkehr bezieht. Denn Handelshemmnisse für Dienstleistungen ergeben sich aufgrund ihres i.d.R. unverkörperten Charakters kaum aus Kontingenten und Zöllen,22 sondern vor allem aus den national unterschiedlichen Regeln über Dienstleistungen und Dienstleistungserbringer. Ein Abbau von Handelshemmnissen im Dienstleistungssektor muss sich daher viel mehr als im Warenbereich mit Fragen der gegenseitigen Anerkennung, der Angleichung und einheitlichen Standards für nationale Regeln befassen.23 Die Begriffe Freihandelszone, Zollunion und Gemeinsamer Markt können daher einander zugeordnet werden im Sinne zunehmender wirtschaftlicher Verflechtung. Die wirtschaftliche Integration beginnt bei dem Verzicht auf die Zollerhebung untereinander und der Beseitigung bestimmter vor allem quantitativer Hemmnisse in einer Freihandelszone, geht über die gemeinsame Bildung eines Zollblocks mit einheitlichem Zoll- oder gar Außenhandelsregime und schreitet voran bis zur Herstellung eines einem Binnenmarkt mehr oder minder vergleichbaren gemeinsamen Wirtschaftsraums, in dem weit mehr als die Außenzölle vereinheitlicht ist. Die Begriffe Freihandelszone, Zollunion und Gemeinsamer Markt kennzeichnen daher eine stetige Zunahme an wirtschaftlicher Integrationsdichte, zumindest idealtypisch. In der Realität gibt es aber Zwischenformen, die sich in diese Systematisierung als steigende Integrationsformen nicht einfügen:24 So haben die Europaabkommen, die die EU mit den mittel- und osteuropäischen Beitrittskandidaten in den 1990er Jahren vor deren Beitritt abgeschlossen hatte, zwar eine grundsätzliche Teilhabe dieser Staaten an den Binnenmarktfreiheiten des Warenund Personenverkehrs vorgesehen und insoweit einen teilweise gemeinsamen 22

Christoph Herrmann, Regionale Integration, in: Christoph Herrmann/Wolfgang Weiß/Christoph Ohler, Welthandelsrecht, 2. Aufl. 2007, Rn. 624. 23 Vgl. WTO, World Trade Report 2011 (Anm. 2), 103; Margareta Djordjevic, Domestic Regulation and Free Trade in Services – A Balancing Act, LIEI (29) 2002, 305; Markus Krajewski, National Regulation and Trade Liberalization in Services, 2003, 130 ff. 24 Siehe auch Nowrot (Anm. 16), § 2, Rn. 119 f.

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Markt errichtet, ohne aber mit diesen eine Zollunion zu etablieren.25 Und viele der neueren Freihandelszonen – sie bilden die zahlenmäßig häufigste Art von Präferenzzonen – beinhalten erhebliche, in Richtung auf einen punktuellen Gemeinsamen Markt weisende Verpflichtungen zur Dienstleistungsliberalisierung.26 Theoretisch lässt sich die Intensivierung der wirtschaftlichen Integrationsdichte auch über die Bildung eines gemeinsamen Marktes hinausführen, indem Staaten über einen Gemeinsamen Markt hinausgehen und weitere Bereiche ihrer Wirtschafts-, Finanz- und Fiskalpolitik integrieren und supranationalisieren. In der EU ist das durch die „Währungsunion“, d.h. mit der Einführung einer gemeinsamen Währung für derzeit 18 der 28 Mitgliedstaaten, erfolgt, und die Integrationsvertiefung in Richtung auf eine stärkere „Wirtschaftsunion“ und gar „Fiskalunion“ wird derzeit diskutiert. Außerhalb der EU ist ein solches Maß an wirtschaftlicher Integration aber nirgends realisiert. Die EU ist insoweit weltweit einzigartig. Innerhalb der Economic Community of West African States (ECOWAS) gibt es zwei vertiefte Integrationsräume: Die West African Economic and Monetary Union hat neben der gemeinsamen Zollunion den CFA Franc gemeinsam, während die West African Monetary Zone die Einführung des gemeinsamen Eco bis 2015 plant.27 Diese Kennzeichnung einer gewissen Zunahme an Wirtschaftsintegration und an Abbau von Handelshemmnissen erfolgt bei anderen Begriffen wie der „Präferenzzone“ und der „Regionalen Handelszone“ oder „Integrationszone“ nicht. Denn diese Termini sind sehr allgemeiner Natur und haben keinen in gleichem Umfang einigermaßen festgefügten Inhalt: Präferenzzone bedeutet nur, dass sich Staaten in einer Weise verbinden, dass zumindest einem eine Präferenzbehandlung, also eine Vorzugsbehandlung beim Marktzugang zu den nationalen Märkten der anderen Teilnehmer gewährt wird;28 diese muss nicht notwendigerweise gegenseitig und auch nicht umfassend, also alle Sektoren umgreifend sein, ist es aber typischerweise. Es gibt auch einseitige Präferenzbehandlungen; so gewähren Industrieländer Entwicklungsländern Zollvorteile im Rahmen einer Allgemeinen Präferenzregel (dazu D. I. 2. c)). Das kann auch durch völkerrechtliche Verträge geschehen, wie etwa bei der EU in ihren Lomé- und zuletzt Cotonou Abkommen mit den sog. AKP-Staaten.29 Von daher kann man den Begriff der Präferenzzone entweder wie 25

Herrmann (Anm. 22), Rn. 602, Fußnote 3. Vgl. EU-Trade Policy Review, WT/TPR/S/284, 32 f.; Weiß (Anm. 3), § 10, Rn. 2, 57. 27 Dazu Sigrid Boysen, Regionale Handelsabkommen, in: Meinhard Hilf/Stefan Oeter (Hrsg.), WTO-Recht. Rechtsordnung des Welthandels, 2. Aufl. 2010, § 31, Rn. 25. 28 Krajewski (Anm. 19), § 7, Rn. 972. 29 Dazu Philipp Dann/Martin Wortmann, § 8: Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe, in: Andreas von Arnauld (Hrsg.), Europäische Außenbeziehungen, 2014, Rn. 8 ff, 21. 26

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hier als Oberbegriff für jede denkbare Form der wirtschaftlichen Integration, unabhängig von ihrer Integrationsdichte ansehen, oder aber als niedrigste Stufe wirtschaftlicher Integration, die nur für bestimmte Sektoren und weitgehend beschränkt auf Zollsätze Präferenzen einräumt.30 Der Begriff des regionalen Handels- oder Integrationsabkommens gar bezeichnet nur in allgemeiner Weise ein Instrument, das zur Regelung des Handels in einer Region dient, ohne dass damit eine Aussage über dessen Inhalt, etwa über die Bildung einer Freihandelszone oder Zollunion und den dadurch erreichten Umfang des Abbaus von Handelshemmnissen gemacht würde. Ausgehend von der oben unter A. vorgenommenen Definition des Wirtschaftsraums als eines völkervertraglichen Gebildes zur Erleichterung des grenzüberschreitenden Handels- und (allgemeinen) Wirtschaftsverkehrs kann man als einigendes Element die ein- oder wechselseitige Gewährung von Handelsvorteilen sehen. Daher ist der Begriff des Präferenzabkommens, oder auch Präferentiellen Handelsabkommens, der Oberbegriff für die dabei verwendeten völkerrechtlichen Instrumente. Typischerweise spricht man von Freihandelsabkommen, doch engt dieser Begriff die Art der Präferenzzone auf die einer Freihandelszone ein und schließt in ihrer Integrationswirkung weitergehende Abkommensinhalte (wie die Bildung einer Zollunion) begrifflich aus. Daher soll hier allgemein in Analogie zum Verständnis der Wirtschaftsräume als Integrationsräumen oder Präferenzzonen von Integrations-/Präferenzabkommen gesprochen werden.

C. Zur Genealogie von Präferenzabkommen Blickt man auf die Entwicklung der Wirtschaftsräume in den letzten Jahrzehnten, lässt sich neben der zahlenmäßigen Zunahme und der globalen, regionsübergreifenden Verbreitung in inhaltlicher Hinsicht eine zunehmende Verdichtung feststellen. Das heißt, dass die den Wirtschaftsräumen zugrundeliegenden Integrations-/Präferenzabkommen sachlich immer weiter reichender angelegt wurden. Die dadurch beabsichtigte wirtschaftliche Integration wurde immer stärker ausgebaut und zunehmend vertieft oder zumindest in Richtung einer voranschreitenden Vertiefung dynamisch angelegt, wie etwa die Westafrikanische Währungsunion, die – wie erwähnt – bis 2015 den Eco als gemeinsame Währung einführen will.31 Zuletzt erfolgte auch immer häufiger eine Einbeziehung auch von

30 In diesem Sinne häufig verwendet, vgl. Boysen (Anm. 27), § 31, Rn. 3; Nowrot (Anm. 16), § 2, Rn. 107. 31 Boysen (Anm. 27), § 31, Rn. 17.

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Investitionsschutzfragen, die früher Gegenstand eigener, vor allem bilateraler Investitionsschutzabkommen waren.32 Die Präferenzabkommen können daher in unterschiedliche Phasen oder Generationen eingeteilt werden.33 Während Präferenzabkommen sich in der ersten, frühen Generation vor allem um die Fragen des Warenhandels drehten und daher zunächst schwerpunktmäßig dem weiteren Zollabbau bzw. der Beseitigung der Zölle und mengenmäßigen Einfuhrschranken zwischen den Teilnehmerstaaten dienten, haben die nachfolgenden Generationen zuerst thematisch immer weitere Bereiche des Handels und der für Handel erforderlichen Regelungen einbezogen. Sie gingen über den reinen Warenhandel hinaus und trafen erste Regelungen über den Handel mit Dienstleistungen oder über Sonderformen des Handels wie etwa die Beteiligung an öffentlichen Ausschreibungen und damit den Zugang zu den Beschaffungsmärkten. Sodann öffneten Präferenzabkommen sich für neue Regelungsinstrumente und adressierten spezifische Rechtsfragen der von der innerstaatlichen Regulierung der Waren- und Dienstleistungsproduktion ausgehenden Handelshemmnisse. Nachdem die Marktzugangshindernisse wie Zölle und Kontingente beseitigt oder zumindest erheblich reduziert waren, fokussierten sich die Handelsnationen auf die Beseitigung von durch Regulierungsdivergenzen entstandenen Handelshemmnissen: Unterschiedliche nationale Regelwerke sind Ausdruck der nationalen Regelungsautonomie und damit der nationalen Souveränität der Staaten. Diese Regelwerke dienen der Abhilfe gesellschaftspolitischer Problemlagen und sind regelmäßig überhaupt nicht, zumindest nicht in erster Linie, im Hinblick auf ihre Außenhandelswirkung konzipiert. Sie führen dennoch zu Handelsbeschränkungen, weil auch Importe den nationalen Regeln des Zielmarktes, etwa technischen Vorschriften oder gesetzlichen Vorgaben der Produktsicherheit, des Verbraucherschutzes und dergleichen, entsprechen müssen. Das verursacht Handelsbeeinträchtigungen, die ebenfalls abgebaut und auf das für die Problembearbeitung nötige Maß zurückgeführt werden sollen, zumal die handelsbeschränkende Wirkung dieser Art von Hemmnissen infolge des mittlerweile erreichten Zollabbaus immer deutlicher erkannt wurde. Die Präferenzabkommen neueren Datums beziehen den Abbau 32

Dazu UNCTAD, World Investment Report 2008, 17; UNCTAD, World Investment Report 2012, 84 ff.; die Berichte sind abrufbar unter http://unctad.org/en/Pages/DIAE/ World%20Investment%20Report/World_Investment_Report.aspx (letzter Zugriff am 18.10.2014). Vor diesem Hintergrund erklärt sich der zunehmende Ausbau der Reichweite der allein der EU zustehenden Kompetenz zur Gemeinsamen Handelspolitik, die nunmehr seit dem Vertrag von Lissabon auch den Investitionsschutz, die Handelsaspekte des Geistigen Eigentums und nahezu alle Aspekte des Dienstleistungsverkehrs umfasst, dazu Wolfgang Weiß, Art. 207 AEUV, in: Eberhard Grabitz/Meinhard Hilf/Martin Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 53. Ergänzungslieferung, Rn. 4, 27, 32 ff. 33 Zum Nachfolgenden am Beispiel der EU Weiß (Anm. 3), Rn. 2.

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solcher nichttarifären Hemmnisse nicht nur ein, sondern geben ihm einen immer größeren Stellenwert. Mittlerweile enthalten 60 % der Präferenzabkommen Regeln über solche technischen Handelshemmnisse.34 Ihnen geht es um die Rückführung der Regelungsdivergenz, etwa durch gewisse Rechtsangleichungen und Harmonisierungen, oder durch wechselseitige Anerkennungen der verschiedenen technischen Regelwerke der Teilnehmerstaaten. Diese Neuorientierung der Präferenzabkommen wurde durch die global verteilten Wertschöpfungsketten der international vernetzten Wirtschaft ausgelöst. International arbeitsteilige Produktion ist auf die Vereinheitlichung solcher Regulierungsfragen angewiesen. Das prägt den Inhalt neuer Integrationsabkommen sehr viel mehr als das Bemühen um weiteren Zollabbau, was zu vertieften Abkommen führt.35 Der Welthandel mit Produktteilen und Komponenten wächst sehr viel schneller als der mit fertigen Erzeugnissen. Die neueren Präferenzabkommen, die zu allermeist Freihandelszonen errichten, enthalten Regelungen zu Dienstleistungen, die eine stärkere Dienstleistungsliberalisierung als im GATS festlegen. Damit gehen die Inhalte und die typische Integrationstiefe über die klassischen Freihandelsabkommen hinaus.36 Am Beispiel der EU lässt sich die Genealogie der vertraglichen Regelungen des Außenwirtschaftsverkehrs gut veranschaulichen. Sie bezeugen eine Zunahme und stetige Verdichtung von Regelungen im Interesse der stärkeren Verflechtung des EU-Binnenmarktes mit dem von Drittstaaten, im Sinne voranschreitender wirtschaftlicher Integration mit den Drittstaaten: Am Anfang vertraglicher Außenhandelsbeziehungen standen in etwa seit den 1980er Jahren Kooperations- und Partnerschaftsabkommen, die allgemeiner angelegt waren und auch ein Kapitel über den Handel enthielten. Zugleich, teilweise auch vorweg, wurde die Handelsintegration in eine sog. „strategische Partnerschaft“ eingebettet, die insgesamt die bilateralen Beziehungen zwischen dem Vertragspartner und der EU verstetigen sollte. Daran haben sich weitere Stufen der Regelung der Handelsbeziehungen angeschlossen, regelmäßig in Form von Rahmenabkommen, Assoziierungsabkommen oder reinen Freihandelsabkommen. Die Handelsabkommen der EU können demgemäß entsprechend ihrer inhaltlichen Dichte und thematischen Breite und Regelungsmustern unterschiedlichen „Generationen“ zugeordnet werden. Handelsabkommen der ersten Generation bis etwa 1970 gewährten keine Präferenzen und waren auf wenige Themen be34

WTO, World Trade Report 2012, 151, abrufbar unter http://www.wto.org/english/ res_e/publications_e/wtr12_e.htm (letzter Zugriff am 18.10.2014). 35 Siehe WTO, World Trade Report 2011 (Anm. 2), 93, 111. 36 Koopmann/Vogel (Anm. 14), 57; Martin Roy/Juan Marchetti/Hoe Lim, Services liberalization in the new generation of preferential trade agreements (PTAs): how much further than the GATS?, WTR 6 (2007), 155.

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schränkt. Die Abkommen der zweiten Generation gewährten den Vertragspartnern regelmäßig Handelspräferenzen. Die dritte Generation von Handelsabkommen ab den 1990er Jahren bezog auch die Einhaltung demokratischer Grundsätze und der Menschenrechte in die Handelsbeziehungen mit ein.37 Damals war die Politik der Kommission aber noch, die Probleme nicht-tarifärer Handelshemmnisse, also die oben angedeuteten Fragen der unterschiedlichen nationalen Regulierung oder auch den Schutz der Auslandsinvestitionen, multilateral zu regeln, also nicht durch bilaterale Abkommen der EU, sondern etwa im Rahmen des GATT und der WTO oder durch spezielle multilaterale Abkommen.38 Die neueren Freihandelsabkommen der vierten Generation gibt es ungefähr seit der Jahrtausendwende, verstärkt seit der Wettbewerbsorientierung im Gefolge des Global Europe Programms ab 2006.39 Dieses Programm stellt einen Paradigmenwechsel in der EU-Handelspolitik dar: Das bis dahin geltende Moratorium für neue Präferenzabkommen, das die Kommission mit Rücksicht auf die multilateralen Bestrebungen im Rahmen der WTO-Doharunde verkündet hatte, wurde beendet und die EU-Handelspolitik stärker interessengeleitet statt prinzipienorientiert neu formuliert: Ziel ist nunmehr der bessere Marktzugang für EU-Produkte auf Drittlandsmärkten.40 Die Ablehnung des Protektionismus wurde ergänzt um aktive Bemühungen um offene Märkte und faire Handelsbedingungen auf Drittlandsmärkten.41 Diese Abkommen der neuen Generation greifen dementsprechend eine Fülle neuer Themen auf (wie den Schutz des geistigen Eigentums, Investitionsschutz, den fairen Wettbewerb, Arbeits- und Umweltschutz und auch andere, entwicklungspolitische Themen) und 37

Beispiel für ein solches Abkommen ist das Rahmenabkommen über die Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Republik Östlich des Uruguay, 4.11.1991, ABl. 1992 Nr. L 94/2. Das Rahmenabkommen ist seit dem 1.1.1994 in Kraft. Menschenrechtsklauseln finden sich auch in den Euro-Med Abkommen, vgl. Art. 90 des Europa-Mittelmeer-Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Tunesischen Republik andererseits vom 17.7.1995, ABl. 1998 Nr. L 97/2, und Art. 101 des EuropaMittelmeer-Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und dem Haschemitischen Königreich Jordanien andererseits vom 24.11.1997, ABl. 2002 Nr. L 129/2. 38 Dazu Alasdair Young/John Peterson, The European Union and the New Trade Politics, JEPP 13 (2006), 795, 798 ff. 39 Dazu Wolfgang Weiß, Außenwirtschaftsbeziehungen, in: Werner Weidenfeld/Wolfgang Wessels (Hrsg.), Jahrbuch der Europäischen Integration , 2012, 261, 263 ff. 40 Sophie Meunier, Managing Globalization? The EU in International Trade Negotiations, JCMS 45 (2007), 905, 906, 910. 41 Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Wirtschaftsund Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen „Ein wettbewerbsfähiges Europa in einer globalen Welt“, 4.10.2006, KOM(2006) 567 endg., 5.

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verfolgen im Interesse der Erweiterung des EU-Marktzugangs auf Drittmärkten eine weitreichende Liberalisierung auch bei Dienstleistungen und im öffentlichen Beschaffungswesen und errichten gemeinsame Institutionen und politische Dialoge. Die Abkommen der neuen Generation regeln damit alle für moderne und vorhersehbare Handelsregime nötigen Aspekte. Das herausragendste erste Beispiel ist das ehrgeizige Freihandelsabkommen mit Korea, das seit dem 1.7.2011 vorläufig angewendet wird42 und das zugleich das erste Freihandelsabkommen der EU mit einem asiatischen Staat darstellt. Diese „neue Generation sorgfältig ausgewählter, prioritätsgerechter Freihandelsabkommen (wird) mit Partnern von vorrangigem Interesse“43 abgeschlossen und um Abkommen über die gegenseitige Anerkennung von Produktstandards ergänzt.44 Zu diesen Abkommen der neuen Generation zählen auch neue Freihandelsabkommen über eine sog. erweiterte und umfassende Freihandelszone (die sog. Deep and Comprehensive Free Trade Agreements, DCFTA). Neben dem breiten Themenspektrum sollen diese Abkommen die Rechtsvorschriften der EU-Handelspartner enger an die EURechtsvorschriften heranbringen und daher eine weitreichende Rechtsangleichung mit dem handelsbezogenen EU-Besitzstand bewirken.45 Die DCFTA werden somit von außergewöhnlicher Weite sein; sie stellen daher im Hinblick auf die wirtschaftliche Integration die ehrgeizigsten Vereinbarungen ihrer Art dar.46 Die jüngsten neuen Abkommen der EU belegen, dass die Politik der EU zum Abbau von Handelshemmnissen über die bislang multilateral im Kontext der WTO abgedeckten Themenfelder hinausgeht. Das ist nicht nur auf die weitgehende Blockade der WTO-Doha-Verhandlungen oder auf die sachliche Beschränkung 42 Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Korea andererseits vom 6.10.2010, ABl. 2011 Nr. L 127/6; Beschluss des Rates vom 16. September 2010 über die Unterzeichnung – im Namen der Europäischen Union – und vorläufige Anwendung des Freihandelsabkommens zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaten einerseits und der Republik Korea andererseits, ABl. 2011 Nr. L 127/1; siehe dazu die Website der Kommission, abrufbar unter http://ec.europa.eu/trade/creating-opportunities/bilateral-relations/countries/korea/ (letzter Zugriff am 18.10.2014), und den Pressebericht der Kommission, abrufbar unter http://trade. ec.europa.eu/doclib/press/index.cfm?id=626 (letzter Zugriff am 18.10.2014). 43 Vgl. KOM(2006) 567 endg. (Anm. 25), 15. 44 Dazu http://ec.europa.eu/enterprise/policies/single-market-goods/internationalaspects/mutual-recognition-agreement/index_en.htm (letzter Zugriff am 18.10.014). 45 Weiß (Anm. 3), Rn. 95. 46 So EU-Handelskommissar Karel de Gucht in seiner Rede „EU-Ukraine trade negotiations: a pathway to prosperity“, INTA Committee Workshop Brussels, 20.10.2011, abrufbar unter http://trade.ec.europa.eu/doclib/docs/2011/october/tradoc_148296.pdf (letzter Zugriff am 18.10.2014).

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der im Rahmen der WTO behandelten Fragen zurückzuführen, was zu einem Ausweichen (nicht nur der EU, sondern auch der anderen großen Handelsnationen) auf völkerrechtliche multi- und bilaterale Verträge in den Bereichen geführt hat, wo in der Doharunde kein Vorwärtskommen gelingt (etwa Dienstleistungen oder qualitative Handelsschranken). Die EU musste hier zusehen, nicht ins Hintertreffen zu geraten, nachdem andere große Handelsnationen den bilateralen Weg schneller gegangen waren (vgl. oben B.I.). Die neuen Abkommen dienen darüber hinaus auch der neu erkannten Notwendigkeit, die Präsenz von EU-Waren auf den Weltmärkten zu verstärken und die für ihre Marktchancen nötigen Fragen umfassend zu regeln. Die EU will ihre wirtschaftliche Außenintegrationspolitik dazu nutzen, eine regulative Homogenität zu erreichen, d.h. ihre Regelungen zu exportieren und die durch die Globalisierung bewirkte gewisse Angleichung des Rechts zu ihren Gunsten voranzubringen. Neueste Abkommen sehen auch die Zusammenarbeit der Vertragspartner in der Regelsetzung vor, um dadurch einen weiteren Beitrag zum Abbau qualitativer Handelshemmnisse durch Regelungsdivergenz zu leisten.47 Der Abschluss zahlreicher bilateraler Freihandelsabkommen brachte auch das Bedürfnis nach Änderung der Handelshemmnisverordnung, die den EU-Unternehmen ein Recht gewährt, Maßnahmen entsprechend vertraglicher Streitbeilegungsregeln bei der Kommission zu beantragen, wenn der andere Vertragspartner die Abkommen nicht vollständig umsetzt. Die Unternehmen können dann mittelbar gegen fortbestehende Hemmnisse vorgehen. Die Verordnung wurde auch bei Verletzung von bilateralen Abkommen um eine Beschwerdemöglichkeit erweitert.48 47

Stanko Krstic, Regulatory Cooperation to Remove Non-tariff Barriers to Trade in Products: Key Challenges and Opportunities for the Canada-EU Comprehensive Trade Agreement, LIEI 39 (2012), 3; Debra Steger, Institutions for Regulatory Cooperation in “New Generation” Economic and Trade Agreements, LIEI 39 (2012), 109. 48 Dies erfolgte durch die Verordnung des Rates (EG) Nr. 125/2008 vom 12. Februar 2008 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 3286/94 zur Festlegung der Verfahren der Gemeinschaft im Bereich der gemeinsamen Handelspolitik zur Ausübung der Rechte Gemeinschaft nach internationalen Handelsregeln, insbesondere den im Rahmen der Welthandelsorganisation vereinbarten Regeln, ABl. EU 2008 Nr. L 40/1. Nach dem Art. 4 a.F. der Verordnung konnten Unternehmen nur dann Maßnahmen beantragen, wenn „nach den internationalen Handelsregeln, die in multilateralen oder plurilateralen Handelsübereinkünften festgelegt sind, ein Recht zum Vorgehen gegen das angebliche Handelshemmnis besteht. Voraussetzung für die Zulässigkeit dieser Anträge ist demnach, dass neben den angeblichen Verletzungen bilateraler Verpflichtungen durch ein Drittland auch Verletzungen multilateraler oder plurilateraler Regeln angegeben werden“ (Erwägungsgrund 2 VO 125/2008). Nachdem auch bilaterale Abkommen wirksame und bindende Streitbeilegungsverfahren enthalten, um Streitigkeiten über die WTO-Regeln hinausgehende Verpflichtungen beizulegen, wurde die Möglichkeit geschaffen, auch Verstöße gegen nur bilaterale Regelungen zu rügen.

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Aus dieser Ausweitung und Vertiefung der Handelsfragen ergibt sich der Zwang, die Handelsregelungen in breitere vertragliche Kooperationen einzufügen. Dazu werden dann etwa Rahmenabkommen oder Assoziationen abgeschlossen oder allgemeine politische Partnerschaften und Dialoge initiiert, die auch Aussagen zu grundsätzlichen politischen Feldern wie der Friedens-, Antiterrorismusund Abrüstungspolitik enthalten. Ein anderer Weg ist, die Handelsabkommen mit Sozial-, Menschenrechts- oder anderen Querschnittsklauseln anzureichern, oder aber sie in einen Entwicklungs- und Nachhaltigkeitskontext zu stellen.49

D. Wirtschaftsvölkerrechtliche Ordnung und Rahmenbedingungen für Wirtschaftsräume I. Der WTO-rechtliche Rahmen 1. Vorbemerkung Die Bildung von Wirtschaftsräumen untersteht keinen einheitlichen völkerrechtlichen Bedingungen und Anforderungen. Zwar gibt es mit dem Recht der WTO einen nahezu global geltenden Rechtsrahmen für die Gestaltung von Wirtschaftsräumen, doch sind auch diese Regeln nicht einheitlich und allumfassend, weder im Hinblick auf alle Staaten, noch in sachlicher Hinsicht. Zunächst ist festzuhalten, dass die WTO-Regeln nicht für alle Staaten gelten. Derzeit verzeichnet die WTO 160 Mitgliedstaaten, so dass noch etliche Staaten der UN außerhalb der WTO stehen. Für den vom WTO-Recht umfassten Welthandelsanteil ist das zwar nicht sonderlich erheblich, da ca. 95 % des Welthandels zwischen den WTO-Mitgliedern abgewickelt werden. Dennoch ist das WTO-Recht kein globales Regime, auch wenn es mit der Nichtdiskriminierung zentrale, global gültige Prinzipien der Gestaltung von internationalen Wirtschaftsbeziehungen verankert. Zum anderen ist das Regelwerk der WTO für die Bildung von Wirtschaftsräumen nicht einheitlich geregelt, sondern aufgesplittet in verschiedene Teilregelungen: Die Bildung von Zollunionen und Freihandelszonen im Bereich des Warenhandels unterliegt Artikel XXIV GATT, die wirtschaftliche Integration bezüglich des Dienstleistungshandels Artikel V GATS und die Integration der Arbeitsmärkte Artikel Vbis GATS. Diese Regeln umfassen aber noch nicht alle welthandelsrechtlichen Regeln zu Präferenzzonen. Daneben gibt es die praktisch bedeutsame sog. Ermächtigungsklausel für die Bildung von generellen Präferenz49 Zu diesem „widening“ der vertraglichen Handelspolitik Marise Cremona, The European Union and Regional Trade Agreements, EYIEL 2010, 245, 247.

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zonen mit Entwicklungsländern (dazu unten 2. c)), und schließlich existieren auch noch spezielle Ausnahmegenehmigungen für partikulare Präferenzzonen, etwa zwischen Industrie- und Entwicklungsstaaten, wie z.B. jüngst ein sog. Waiver für Textilhandelsvorteile, den die EU Pakistan und Bangladesh gewährt, um die Wiedererrichtung der dortigen Textilindustrie nach der Flutkatastrophe vor einigen Jahren zu unterstützen,50 nicht zuletzt, um diese Wettbewerber als Anbieter auf dem Welttextilmarkt als Gegengewicht zur Marktdominanz anderer, insbesondere Chinas, zu erhalten. 2. WTO rechtliche Anforderungen an die Bildung von Wirtschaftsräumen Die wirtschaftliche Integration einiger Staaten ist mit der Idee einer weltweit einheitlichen Handelsordnung mit gleichen Wettbewerbsbedingungen für alle nicht vereinbar. Trotz des Spannungsverhältnisses zwischen Multilateralismus (in der WTO) und Regionalismus (als summarische Bezeichnung für die Entstehung von Wirtschaftsräumen)51 steht das WTO-Recht durch Art. XXIV:4 ff. GATT/Art. V, Vbis GATS der Bildung von Zollunionen, Freihandelszonen und der Integration der Dienstleistungs- und Arbeitsmärkte grundsätzlich positiv gegenüber,52 sofern bestimmte Bedingungen beachtet werden, die negative Konsequenzen von Präferenzzonen für den Rest der WTO-Mitglieder vermeiden sollen. Denn nach Art. XXIV:4 GATT/Art. V:4 GATS sollen Zollunionen, Freihandelszonen und gemeinsame Dienstleistungsmärkte den Handel mit den Außenstehenden nicht einschränken. a) Vorgaben des Art. XXIV GATT Art. XXIV GATT – in Verbindung mit den Präzisierungsversuchen in der Uruguay-Runde53 – formuliert materielle und verfahrensrechtliche Anforderungen an die Bildung von Zollunionen oder Freihandelszonen, die sicherstellen sollen, dass regionale Integration nicht zu Lasten Dritter erfolgt und sich der erhoffte Effekt einer engeren Integration, nämlich größere Handelsfreiheit (Art. XXIV:4 GATT) zum Nutzen aller einstellt: Zum ersten muss die Zollunion/Freihandelszone nach innen 50

Dazu Weiß (Anm. 39), 262. Dazu nur John Ravenhill, Global Political Economy, 2. Aufl. 2008, 172 ff., 200 ff. 52 Berechtigte Kritik daran übt etwa Supachai Panitchpakdi, The Future of the WTO (sog. Sutherland Report), 2004, § 85, abrufbar unter http://www.wto.org/english/thewto_e/ 10anniv_e/future_wto_e.htm (letzter Zugriff am 18.10.2014). 53 Siehe das zugehörige Understanding on the Interpretation of Article XXIV GATT, nachfolgend: Understanding on Art. XXIV GATT, abrufbar unter http://www.wto.org/ english/docs_e/legal_e/10-24_e.htm (letzter Zugriff am 18.10.2014). 51

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für „annähernd den gesamten Handel“ die Zölle und beschränkenden Handelsvorschriften der Parteien – zumindest schrittweise binnen angemessener Frist, regelmäßig zehn Jahre – abbauen (Art. XXIV:8GATT; Ausnahmen siehe dort).54 Ob der komplette Ausschluss bedeutsamer Sektoren wie der Landwirtschaft, wie ihn die EU in etlichen Freihandelsabkommen vornimmt, damit vereinbar ist, ist umstritten.55 Zum zweiten dürfen die Zölle und Handelsbeschränkungen gegenüber Dritten (bei Zollunionen: „in ihrer Gesamtheit“) nicht handelsbeschränkender sein als vor der Bildung der Zollunion/Freihandelszone, Art. XXIV:5 GATT (sog. „no trade fortress rule“). Das läuft auf einen Vorher-Nachher-Vergleich der gemäß den Handelsvolumina gewichteten Durchschnittszollsätze hinaus. Dabei kommt es auf die real angewendeten Handelsbedingungen an, d.h. bei Zöllen sind die real verlangten Zölle maßgeblich, nicht die Maximalsätze der Zollverpflichtungen nach Art. II GATT.56 Aus diesem Verbot weiterer Beschränkungen könnte ein Einfrieren der bestehenden Handelshemmnisse für alle Zeit auf den Stand, wie er bei Gründung der Integrationsgemeinschaft vorlag, folgen.57 Zum dritten müssen Zollunionen ein im Wesentlichen vereinheitlichtes Außenhandelsregime haben (vgl. Art. XXIV:8a) ii) GATT), so dass ein einheitlicher Zolltarif und im Wesentlichen dieselben, aber nicht notwendigerweise völlig identische Handelsvorschriften gegenüber Dritten angewendet werden.58 Führt die Anwendung des einheitlichen Außenzolls dazu, dass für ein Mitglied (an sich im Widerspruch zu seinen Verpflichtungen nach Art. II GATT) die Zölle angehoben werden müssen, sind Kompensationsverhandlungen nötig (Art. XXIV:6 i.V.m Art. XXVIII GATT) (sog. „no free lunch rule“), wobei allerdings bei den Kompensationen gemäß Art. XXIV:6 GATT die Herabsetzung der Zollsätze für die gleiche Tariflinie59 durch andere berücksichtigt werden muss. Solche Kompensa54

Die Beurteilung, ob die Integration annähernd den gesamten Handel erfasst, fordert sowohl eine qualitative als auch quantitative Betrachtung, siehe WTO, Appellate Body Report, Turkey – Restrictions on Imports of Textile and Clothing Products, WT/DS34/AB/R, adopted 19 November 1999, Rn. 49; deren genaue Ausgestaltung ist aber nicht geklärt. 55 Thomas Cottier/Erik Evtimov, Präferenzielle Abkommen der EG: Möglichkeiten und Grenzen im Rahmen der WTO, ZEuS 2000, 477, 500 f.; daher wird bis heute bezweifelt, ob die EU selbst die Anforderungen aus Art. XXIV GATT erfüllt, vgl. Jörg Dunker, Regionale Integration im System des liberalisierten Welthandels, 2002, 330 ff.; Andrea Ott, GATT und WTO im Gemeinschaftsrecht, 1997, 37 ff. 56 Siehe Ziffer 2 des in der Uruguay-Runde abgeschlossenen Understanding on Art. XXIV GATT; siehe auch WTO, Appellate Body Report (Anm. 54), Rn. 53. 57 Cottier/Evtimov (Anm. 55), 491. 58 WTO, Appellate Body Report (Anm. 54), Rn. 50. 59 So der im Vergleich zu Art. XXIV:6 GATT präzisere Wortlaut des Understanding on Art. XXIV GATT (Anm. 53), Ziff. 5.

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tionsverpflichtungen sind einseitig, d.h. falls sich für Dritte Netto-Verbesserungen ergeben, berechtigen diese nicht zu Kompensationen.60 Aus dem Sinn regionaler Integration folgt die Beseitigung von Zöllen und beschränkenden Handelsbestimmungen für alle Teilnehmer der Abkommen (siehe Art. XXIV:8 a) i) und b) GATT). Gleiche Waren der teilnehmenden Staaten müssen vergleichbar behandelt werden. Kommt die Präferenz dagegen nur einem Teil der Teilnehmer an dem Präferenzabkommen zugute, fällt die Integration nicht unter Art. XXIV GATT.61 Das gleiche gilt, wenn die Präferenzen Nichtteilnehmern gewährt werden.62 Diese materiellen Voraussetzungen, insbesondere gemäß Art. XXIV:5 und Art. XXIV:8, enthalten eine Fülle unbestimmter Rechtsbegriffe („annähernd den gesamten Handel“, „gebührend zu berücksichtigen“), was ihre Handhabung wenig vorhersehbar macht. Ihre Lückenhaftigkeit und Unbestimmtheit ist Gegenstand vielfältiger Kritik.63 Der Appellate Body hat demgemäß bei Art. XXIV:8 GATT ein erhebliches Maß an Flexibilität im Hinblick auf die Ausgestaltung der internen Liberalisierung eines regionalen Integrationsraums anerkannt.64 Im Übrigen hat die Auslegung der Regeln im Lichte der Grundaussage nach Art. XXIV:4 GATT zu erfolgen, wonach die regionale Integration nicht dem Handel Dritter Schranken aufgeben soll.65 Formelle Voraussetzung ist schließlich noch die Notifizierungspflicht gemäß Art. XXIV:7 GATT, damit die WTO-Gremien, allen voran der Ausschuss für Regionale Handelsabkommen (CRTA) die beabsichtigte Regionalintegration analysieren können. Die Doharunde brachte eine Konkretisierung der Notifizierungspflichten im neuen seit Ende 2006 vorläufig angewandten Transparenzmechanismus. Dieser neue Transparenzmechanismus führte einige Änderungen wie etwa frühe Mitteilungen ein und straffte die Prüfung im CRTA zeitlich und durch einen vorbereitenden Bericht des WTO-Sekretariats inhaltlich.66 60

Ziff. 6 Understanding on Art. XXIV GATT (Anm. 53). WTO, Panel Report, Canada – Certain Measures Affecting the Automotive Industry, WT/DS139/R, WT/DS142/R, circulated 11 February 2000, Rn. 10.56 f., 10.265 ff. 62 Zu diesem Grund für ein Nichteingreifen von Art. XXIV GATT siehe WTO, Panel Report, Canada – Certain Measures Affecting the Automotive Industry, WT/DS139/R, WT/ DS142/R, circulated 11 February 2000, Rn. 10.55. 63 WTO, World Trade Report 2011 (Anm. 2), 188 f. 64 WTO, Appellate Body Report (Anm. 54), Fn. 11, Rn. 48, 62. 65 Das wurde herausgestellt für das Verhältnis zwischen Art. XXIV:4 und 5 GATT durch den Appellate Body (Anm. 54), Rn. 57. 66 WTO, General Council, Transparency Mechanism for Regional Trade Agreements, WT/L/671, 14.12.2006; dazu und zur ersten Praxis insoweit siehe WTO Analytical Index. Guide to WTO Law and Practice, 3. Aufl. 2012, Bd. 1, 364 f.; vgl. auch http://www.wto. 61

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b) Vorgaben der Art. V und Vbis GATS Art. V GATS zur regionalen Integration im Dienstleistungssektor postuliert ähnliche Anforderungen wie Art. XXIV GATT: Die Integrationsgemeinschaft muss für erhebliche Teile des gesamten Dienstleistungshandels (Art. V:1 lit. a): „substantial sectoral coverage“) Inländergleichbehandlung herbeiführen (Art. V:1 lit. b) GATT, wobei bestehende oder neue Diskriminierungen zugelassen werden können). Auch für die Dienstleistungsintegration gilt, dass dadurch die Handelsschranken für Außenstehende insgesamt nicht angehoben werden dürfen (Art. V:4 GATS, vgl. Art. XXIV:4 GATT). Falls der Beitritt oder die Änderung des Abkommens für ein Mitglied die nachteilige Veränderung der bereits im Dienstleistungshandel gemachten Zugeständnisse gegenüber Dritten bedingt, müssen die Bedingungen mit diesen neu verhandelt und Kompensationen gewährt werden (Art. V:5 i.V.m. Art. XXI GATS). Die Kompensationen beziehen sich wiederum nicht auf die Besserstellung Dritter, Art. V:8 GATS. Schließlich besteht auch eine Notifizierungspflicht wie bei Art. XXIV GATT, siehe Art. V:7 GATS. Art. Vbis GATS erlaubt die volle Integration der Arbeitsmärkte, die die Bürger von Aufenthalts- und Arbeitserlaubnispflichten befreit. Auch hier gilt eine Notifizierungspflicht. Die Integration der Arbeitsmärkte (eines der wenigen praktischen Beispiele einer nur darauf abzielenden Integration ist der Common Nordic Labour Market67) ist Voraussetzung für eine effektive Dienstleistungsintegration, da Dienstleistungen in der Regel vor Ort erbracht werden; das impliziert die Aufenthaltsmöglichkeit natürlicher Personen. Daher gewährt Artikel Vbis GATS auch insoweit eine Erlaubnis zur engeren Integration, der es allerdings WTO-rechtlich gar nicht in diesem Umfang bedarf, da die meisten von einer Integration der Dienstleistungsmärkte erfassten Vorgänge gar nicht in den Anwendungsbereich des GATS fallen, sondern außerhalb liegen: Modus 4 der Erbringung von Dienstleistungen im Sinne des GATS (definiert in Art. I:1 lit d) als Präsenz natürlicher Personen im Hoheitsgebiet eines anderen Mitglieds) ist in seiner Bindungswirkung sehr stark eingeschränkt, da die GATS-Anlage zum grenzüberschreitenden Verkehr natürlicher Personen den Arbeitsmarktzugang und Fragen wie den Daueraufenthalt gerade ausnimmt. Das hat zur Folge, dass Modus 4 nur für den vorübergehenden Aufenthalt natürlicher Personen bei der grenzüberschreitenden Dienstleistungs-

org/english/tratop_e/region_e/trans_mecha_e.htm (letzter Zugriff am 18.10.2014); Boysen (Anm. 27),§ 31, Rn. 54; Nowrot (Anm. 16), § 2, Rn. 150, 154. 67 Beteiligt sind Dänemark, Finnland, Island, Norwegen, Schweden: Agreement concerning a common Nordic labour market of 6 March 1982, UNTS Vol. 1347, 21.

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erbringung gilt.68 Die dauerhafte Anwesenheit von Arbeitnehmern etwa fällt damit gar nicht in den Anwendungsbereich des GATS (und ist auch nicht von Modus 3 über kommerzielle Präsenz im Sinne von Art. XXVIII lit. d) GATS erfasst), sodass entsprechende Integration keiner WTO-rechtlichen Bewilligung über Art. Vbis GATS bedarf. Für den vorübergehenden Aufenthalt lässt Modus 4 allerdings nach der benannten Anlage Maßnahmen zur Lenkung der Einreise und des Aufenthalts wie Visapflichten gerade zu. Eine Integration der Arbeitsmärkte nach Art. Vbis GATS könnte daher davon Ausnahmen vorsehen, die anderen WTO Mitgliedern meistbegünstigungswidrig nicht gewährt werden.69 Einer Regelung zum Personenverkehr bedarf es im Warenhandel nicht. c) Enabling Clause Die sog. Enabling Clause (Ermächtigungsklausel), eine Vereinbarung der Vertragsparteien unter dem GATT 1947 aus dem Jahre 1979, die auch unter dem WTO-Abkommen weiter gilt, lässt Präferenzbehandlungen zugunsten von Entwicklungsländern zu.70 Sie erlaubt den Industrieländern im Rahmen eines Allgemeinen Präferenzsystems einseitig und in Abweichung von der Meistbegünstigung nach Art. I GATT nur Entwicklungsländern allgemeine Vorzugsbehandlungen zu gewähren, sei es in Form zusätzlicher Zollbefreiungen für die Waren aus Entwicklungsländern, sei es für nicht-tarifäre Handelsbeschränkungen. Da es sich dabei um nicht-reziproke Regeln handelt, konnten solche Präferenzen nicht auf Art. XXIV GATT gestützt werden und bedurften einer separaten Regelung. Ein allgemeines Präferenzsystem nach der Enabling Clause erfordert eine in sich diskriminierungsfreie Ausgestaltung,71 lässt aber Differenzierungen zwischen den Entwicklungsländern nach allgemein festgelegten Kriterien zu. Besondere Vorzugsbehandlungen müssen allerdings allen Entwicklungsländern zugute kommen, die sich in ver-

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Christian Tietje/Karsten Nowrot, Stand und Perspektiven der Liberalisierung der Regelungen zum temporären Aufenthalt natürlicher ausländischer Personen nach dem Allgemeinen Dienstleistungsabkommen (GATS) der WTO, ZAR 2007, 213, 215. 69 Vgl. auch Jürgen Bast, Article Vbis GATS, in: Rüdiger Wolfrum/Peter-Tobias Stoll/ Clemens Feinäugle (Hrsg.), WTO – Trade in Services, 2008, Rn. 6. 70 GATT, Decision of the CONTRACTING PARTIES of 28 November 1979 on Differential and More Favourable Treatment, Reciprocity and Fuller Participation of Developing Countries (L/4903). Dazu Weiß (Anm. 3), Rn. 400; Boysen (Anm. 27), § 31, Rn. 49 ff.; für die Bevorzugung von Entwicklungsländern im Dienstleistungssektor siehe Art. V:3 GATS. 71 Vgl. Ziff. 2 a) i.V.m. Fn. 3 Decision of the CONTRACTING PARTIES (Anm.70): „generalized, non-reciprocal and non discriminatory preferences beneficial to the developing countries“.

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gleichbarer Lage befinden.72 Reine Regionalpräferenzen können daher auf die Enabling-Clause nicht gestützt werden. Regionale einseitige Präferenzen bedürfen daher einer WTO-Ausnahmegenehmigung, eines sog. Waivers (dazu sogleich). Zulässig sind aber weitere Vorzugsbehandlungen nur für die am wenigsten entwickelten Staaten, die sog. least developed states. Die Enabling Clause sieht ferner das Recht von Entwicklungsstaaten vor, untereinander Präferenzbehandlungen einzuräumen, wiederum durch Zollerleichterungen oder auch, das ist allerdings nicht unbestritten,73 durch Vorzugsbehandlung bei nicht-tarifären Hemmnissen. Wechselseitige Präferenzen unter der Enabling Clause sind für die Entwicklungsländer günstiger als unter Art. XXIV GATT, weil die Enabling Clause nicht die Präferenzgewährung für annähernd den gesamten Handel fordert. Präferenzen können daher sehr selektiv gewährt werden. d) Waiver Auf bestimmte Staaten begrenzte Präferenzräume mit einem nur geringen Liberalisierungsgrad, wie sie etwa mit den Lomé-Abkommen und dem von Cotonou zwischen der EU und den AKP-Staaten gewährt wurden, fallen aufgrund ihrer Einseitigkeit nicht unter Art. XXIV GATT und sind wegen ihrer fehlenden Allgemeinheit auch nicht von der Enabling Clause erfasst.74 Daher müssen dafür spezielle Ausnahmegenehmigungen (sog. Waiver) gewährt werden.75 Grundlage dafür ist Art. IX:3 WTO-Übereinkommen. e) Zur Beachtung der Regeln in der Praxis Die im Detail wenig klaren, sehr allgemein umschriebenen Anforderungen des Art. XXIV GATT/Art. V GATS erweisen sich in der Realität als weitgehend unbeachtet.76 Das CRTA erörtert zwar die ihm angezeigten Integrationsabkommen (wenn

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WTO, Appellate Body Report, European Communities – Conditions for the Granting of Tariff Preferences to Developing Countries, WT/DS246/AB/R, adopted 20 April 2004, Rn. 173 f. 73 Boysen (Anm. 27), § 31, Rn. 50. 74 Jörg Dunker, Regionale Integration im System des liberalisierten Welthandels: EG und NAFTA im Vergleich, 2002, 334. 75 Vgl. Weiß (Anm. 32), Rn. 249 f. 76 Zu den Vollzugsdefiziten etwa William Davey, Comments on “A Model Article XXIV: Are There Realistic Possibilities to Improve It?”, in: Kyle Bagwell/Petros Mavroi-

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denn eine Mitteilung überhaupt erfolgt) und soll die Vereinbarkeit der Abkommen mit den WTO-rechtlichen Anforderungen kontrollieren und gegebenenfalls Empfehlungen zur Veränderung annehmen77 (für Präferenzabkommen der Entwicklungsländer nach der Enabling Clause ist der Ausschuss für Handel und Entwicklung zuständig), doch gibt es keine Einigkeit unter den Mitgliedstaaten über die in Art. XXIV GATT allgemein formulierten Maßstäbe. In CRTA-Sitzungen werden daher die gegensätzlichen Positionen zur Vereinbarkeit eines gegebenen Abkommens mit Art. XXIV GATT/V GATS zum Ausdruck gebracht, ohne dass es zu einer gemeinsamen Stellungnahme kommt; das in der WTO übliche Consensus-Verfahren führt auch hier zu einer Lähmung von Entscheidungen. Es fehlt daher an abschließenden Berichten und Empfehlungen des CRTA zur Vereinbarkeit von Integrationsabkommen mit dem WTO-Recht (einzige Ausnahme: das Abkommen zwischen Slowakei und Tschechien). Daran wird der neue Transparenzmechanismus nichts ändern.78 Beobachter gehen davon aus, dass eine Vielzahl, gegebenenfalls sogar die breite Mehrheit der bestehenden Integrationsabkommen nicht WTO-konform sind, so dass es streng genommen diese Wirtschaftsräume gar nicht geben dürfte. Angesichts der Verbreitung der Integrationsformen finden sich aber kaum Kläger, da insoweit alle (außer der Mongolei) im Glashaus sitzen. Ohnehin ist die Rollenverteilung zwischen der WTO-Streitbeilegung und der Bewertung von Integrationsabkommen durch das CRTA nicht gänzlich geklärt;79 der Appellate Body hat sich bereits mit der Interpretation von Art. XXIV GATT befasst80 und somit implizit eine Monopolisierung dieser Frage beim CRTA abgelehnt. Das CRTA hat trotz seiner Kontrollaufgabe jedenfalls keine formale Entscheidungs- und Klärungsbefugnis, insbesondere bedürfen die Parteien keiner Genehmigung ihres Integrationsabkommens durch die WTO, so dass die Zuständigkeit der Panels und des Appellate Body, die Vereinbarkeit von Integrationsabkommen mit den Anforderungen zu prüfen, nicht grundsätzlich bezweifelt werden kann (wobei das Mandat der Streitbeilegung aber auf die vom Beschwerdeführer gerügten Maßnahmen beschränkt ist, siehe Art. 7:1 i.V.m. 6:2 DSU81).

dis (Hrsg.), Preferential Trade Agreements, 2011, 233, 239 ff., 251 (mit einer Zusammenstellung der umstrittenen Auslegungsfragen). 77 Zum Mandat des CRTA siehe den Beschluss des Allgemeinen Rats vom 6.2.1996, WT/ L/127. 78 Christoph Herrmann, Bilateral and Regional Trade Agreement as a Challenge to the Multilateral Trading System, EUI WPLaw 2008/09, 3, 15. 79 Vgl. Herrmann (Anm. 22), Rn. 621–623. 80 WTO, Appellate Body Report (Anm. 54), Rn. 60. 81 Vgl. Boysen (Anm. 27), § 31, Rn. 58.

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Doch können sie sich nur bei anhängig gemachten Beschwerden hierzu äußern. Die wenigen Streitbeilegungsberichte sind von Zurückhaltung geprägt.82 II. Vertiefte Integrationsformen und WTO-Recht Art. XXIV GATT beschränkt sich auf wirtschaftliche Integrationsräume in Form der klassischen Zollunion und Freihandelszone, die sich dem Abbau von Zöllen und beschränkenden Handelsvorschriften widmen. Art. V und Vbis GATS gehen demgegenüber schon deutlich weiter, weil sie gemeinsame Dienstleistungsmärkte zulassen. Punktuelle Integrationen durch sektorielle Präferenzen werden von Art. XXIV GATT/Art. V GATS nicht erlaubt und sind daher – außer im Bereich der wechselseitigen Präferenzen zwischen Entwicklungsländern gemäß der Ermächtigungsklausel (siehe oben D. I. 2. c)) – verboten. Moderne Integrationsabkommen sehen jedoch über diese klassischen Formen hinaus vertiefte Wirtschaftsintegration vor. Die umfassende Gestaltung gemeinsamer Märkte ist in den WTO-Regelungen nicht in den Blick genommen. Wie dargestellt, sind in der jüngeren Zeit thematisch immer umfassendere Freihandelsabkommen abgeschlossen worden, die über die Mindestanforderungen nach Art. XXIV GATT und Art. V GATS hinausgehen.83 Die WTO-rechtliche Bewertung solcher umfangreicher Binnenliberalisierungen ist daher umstritten, weil jeder neue, vertiefende Integrationsschritt die Diskriminierung nach außen vergrößert und daher an dem Verbot der „no trade fortress rule“ rührt. So lässt sich fragen, ob der intensive Abbau technischer Handelshemmnisse durch Rechtsangleichung, Harmonisierungen und die gegenseitige Anerkennung der Gleichwertigkeit von technischen Regelwerken, Produkt-, Produktions-, oder Ausbildungsstandards in einem Wirtschaftsraum noch mit den Anforderungen des Art. XXIV GATT vereinbar ist. Der Appellate Body hat klargestellt, dass Art. XXIV:5 GATT nicht nur Abweichungen von der Meistbegünstigungsregel,84 sondern auch weitere Abweichungen (etwa vom Verbot mengenmäßiger Beschränkungen nach Art. XI GATT) zulässt,

82

Joost Pauwelyn, Legal avenues to ‘multilateralizing regionalism’, in: Richard Baldwin/Patrick Low (Hrsg.), Multilateralizing Regionalism. Challenges for the Global Trading System, 2009, 368, 369. 83 Zu den Freihandelsabkommen der EU siehe etwa Cremona (Anm. 49), 252. 84 Das Panel (WTO, Panel Report, Turkey – Restrictions on Imports of Textile and Clothing Products, WT/DS34/R, circulated 31 May 1999, Rn. 9.98, 9.208) wollte die Rechtfertigungswirkung von Art. XXIV GATT auf Abweichung von der Meistbegünstigung beschränken.

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sofern sie für die Errichtung einer Zollunion erforderlich sind.85 Was dieser Erforderlichkeitstest genau verlangt, und wie weit er gilt, insbesondere ob Art. XXIV GATT damit Abweichungen von allen GATT-Regeln zuläßt, blieb allerdings unklar.86 Daher behaupten einige, Abweichungen von der Meistbegünstigung, wie z.B. gegenseitige Anerkennungen, seien nicht notwendig für die Errichtung einer Zollunion und daher WTO-widrig.87 Diese Behauptung ist angreifbar, da selbst Zollunionen auf die Beseitigung auch anderer Handelsbeschränkungen (siehe Wortlaut Art. XXIV:5 a) und 8a) GATT) ausgerichtet sind.88 Der Appellate Body in Turkey-Textiles führte die Notwendigkeitsprüfung in einem Fall ein, in dem es um Beschränkungen gegenüber Dritten ging, nicht um Vorrechte der Zollunions-/ Freihandelsmitglieder untereinander.89 Daher dürfte Art. XXIV GATT letztlich 85

WTO, Panel Report (Anm. 84), Rn. 45, 58 f., 63; Herrmann (Anm. 22), Rn. 618. Unklarheit insoweit erkennen etwa Armin von Bogdandy/Tilman Makatsch, Kollision, Koexistenz oder Kooperation?, EuZW 2000, 261, 264. Abgelehnt wurde jedenfalls eine Abweichung von den Geboten einer einheitlichen Anwendung des Zollrechts (Art. X GATT). Art. XXIV:12 GATT kann nicht als Ausnahme oder Abweichung von Art. X:3 (a) GATT angesehen werden, siehe WTO, Panel Report, European Communities – Selected Customs Matters, WT/DS315/R, circulated 16 June 2006, Rn. 7.144 f.; offen gelassen im Appellate Body Report zu derselben Streitigkeit, WT/DS315/AB/R, adopted 11 December 2006, Rn. 308. 87 Lorand Bartels, The Legality of the EC Mutual Recognition Clause Under WTO Law, JIEL 8 (2005), 691, 719 f. 88 Handelsvorschriften i.S.v. Art. XXIV:5a GATT sind alle Regeln, die den Handel beeinflussen. Das Panel, WTO, Panel Report (Anm. 84), Rn. 9.120, versteht das dynamisch im Einklang mit der Dynamik von Regionalabkommen. 89 Siehe WTO, Panel Report, United States – Definitive Safeguard Measures on Imports of Circular Welded Carbon Quality Line Pipe from Korea, WT/DS202/R, circulated 15 February 2002, Rn. 7.147 f.; nach dem Appellate Body Report in derselben Streitigkeit, WT/DS202/AB/R, adopted 8 March 2002, Rn. 198 ff., waren diese Ausführungen indes „of no legal effect“. Diese Problematik verkennt etwa Bartels (Anm. 87), 713 f.; ebenso Stephan Bobe, Die Vereinbarkeit vertiefter (regionaler) wirtschaftlicher Integration mit dem Welthandelsrecht am Beispiel des EG-Binnenmarktes, 2006, 202 f. Bobe will dann aber (205 ff.) die Zulässigkeit von Präferenzen der EU-Mitgliedstaaten untereinander, wie etwa eine gegenseitige Anerkennung, mit Verweis auf die originäre WTO-Mitgliedschaft der EG rechtfertigen; zu letzterem Argument bereits oben. Siehe auch die differenziertere, zurückhaltendere Analyse von Joel Trachtman, The limits of PTAs: WTO legal restrictions on the use of WTO-plus standards regulation in PTAs, in: Kyle Bagwell/Petros Mavroidis (Hrsg.), Preferential Trade Agreements, 2011, 115 (134–137, 148 „the legal requirements are not clear“), zur Vereinbarkeit von auf die Mitglieder von Präfererenzzonen begrenzten gegenseitigen Anerkennungen mit WTO-Recht; a.A. Nicholas Lockhart/Andrew Mitchell, Regional Trade Agreements under GATT 1994, in: Andrew Mitchell (Hrsg.), Challenges and Prospects for the WTO, 2005, 217, 226 f. 86

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infolge seiner Unbestimmtheit auch weitgehende Präferenzen und Integrationsformen wie die Gewährung gegenseitiger Anerkennung zwischen den Mitgliedern eines Wirtschaftsraums abdecken. Wenn nicht, wären weitergehende Präferenzund Integrationsformen von vornherein WTO-widrig.90 III. Zur polit-ökonomischen Einschätzung von besonderer wirtschaftlicher Integration im Spannungsfeld zum Multilateralismus Sehr umstritten ist die ökonomische Sinnhaftigkeit der Herausbildung von Wirtschaftsräumen, insbesondere auch im Hinblick auf die von Art. XXIV GATT formulierten Anforderungen. Denn in der Ökonomie werden Präferenzzonen sehr unterschiedlich beurteilt. Insbesondere ihre Effekte für den Multilateralismus, also den global vereinheitlichten Abbau von Handelshemmnissen, sind sehr umstritten; sie werden teils als wesentliche Hemmnisse für den Multilateralismus angesehen, teils als ihr Förderer.91 Eine moderne Betrachtung der Sinnhaftigkeit von Integrationsabkommen muss aber über eine im engeren Sinne rein ökonomische Sicht hinausgehen. Zwar gibt es mit der Binnenliberalisierung verbundene Wachstumstreiber; eine überschaubare Anzahl von Staaten mit ähnlichen Interessen kann sich sehr viel schneller auf den Abbau bestimmter insbesondere nicht-tarifärer Hemmnisse einigen und dadurch Wachstumseffekte auslösen. Ferner können regionale Integrationen Vorbilder für andere (oder gar für die weltweite Handelsregelung; so wird die EU teilweise als Vorbild für die weitere Entwicklung der Welthandelsordnung gesehen) werden und auch Impulse für die weitere Liberalisierung im globalen Kontext geben, was in der Literatur als „laboratory effect“ beschrieben wird.92 Regionalisierung kann daher für die globale, mulitlaterale Handelsliberalisierung den Weg bereiten durch die Herausbildung immer stärker sich verbreitender Regelungsmuster und Standards. Theoretisch denkbar wäre sogar, dass die Teilnehmer an einem Integrationsabkommen über Meistbegünstigungsklauseln auch Vorteile einräumen, die sie in anderen Handelsabkommen gewähren; solche Meistbegünstigungsregeln finden sich aber in den Integrationsabkommen nicht, da sie dem Geist wechselseitiger Präferenz widersprächen.93 90

Vgl. Herrmann (Anm. 78), 13. Die „stumbling stone“ versus „building block“-Debatte wurde jüngst skizzenhaft zusammengefasst von Richard Baldwin, Peferential Trading Arrangements, in: Amrita Narlikar/Martin Daunton/Robert Stern (Hrsg.), The Oxford Handbook on the WTO, 2012, 632, 639 ff. 92 Sungjoon Cho, Breaking the Barrier between Regionalism and Multilateralism: A New Perspective on Trade Regionalism, HILJ 42 (2001), 419, 432–434. 93 Pauwelyn (Anm. 82), 393. 91

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Diesen Vorteilen stehen Nachteile für die Außenstehenden gegenüber, weshalb Regionalismus als Hindernis für weitere globale einheitliche Handelsliberalisierung angesehen wird. Das interne Wachstum geht oft auf Kosten der Nichtteilnehmer. Die handelsfördernde Wirkung führt zu einer Umlenkung von Waren- und Dienstleistungsströmen, weg von den Nichtteilnehmern, hin zu den Beteiligten an der Integrationsgemeinschaft, die auch bei geringerer Effizienz immer noch Vorteile infolge der Präferenzbehandlung haben, zumal bei restriktiven Ursprungsregeln.94 Die Vielzahl von Präferenzregeln steigert die Unübersichtlichkeit und damit die Transaktionskosten. Die in der WTO erreichten (nahezu) globalen Verbesserungen durch Zollabbau oder die Beseitigung technischer Handelshemmnisse werden entwertet durch nachfolgende weitergehende Präferenzgewährungen, wie umgekehrt die bilateral gewährten Präferenzen durch weitere multilaterale Verhandlungserfolge oder auch nachfolgende Präferenzabkommen zunichte gemacht werden (sog. Problem der Präferenzerosion).95 Neben den rein ökonomischen Einwänden stehen andere eher politische und institutionelle Bedenken gegen die Herausbildung von Wirtschaftsräumen: Staaten umgehen und schwächen nicht nur multilaterale Anstrengungen anderer, sie nehmen sich selbst auch die politische Motivation, sich zu einer gemeinsamen Weiterentwicklung des globalen Rechtsrahmens für den Welthandel in der WTO aufzumachen. Wer seine zentralen Ziele der Handelsvereinfachung mit seinen wichtigsten Handelspartnern bilateral durch die Herausbildung neuer Wirtschaftsräume erreicht, benötigt keinen Fortschritt in der WTO. Bemühungen zur fortschreitenden Liberalisierung auf globaler Ebene schwinden,96 außerdem kann eine Handelsmacht ihre verhandlungspolitischen Vorteile in bilateralen Abkommen mit kleineren Staaten leichter ausnutzen. Die negativen Wirkungen des sog. Regionalismus auf den Multilateralismus sind insbesondere dort hoch, wo Staaten relativ niedrige Integrationsformen eingehen. Die Erreichung ihrer begrenzten Ziele des Zollabbaus und der Beseitigung einfacher Schranken benachteiligt systematisch Außenstehende. Intensivere Integrationsformen hingegen fordern eine umfassendere Einschränkung nationaler Autonomie, zumal wenn sie über eine rein ökonomische Zusammenarbeit hinausgehen. Sie verlangen den teilnehmenden Staaten daher viel ab. Diese höheren politischen Kosten intensiver Integration, die langfristig auch für den Welthandel insgesamt förderliche Wirkungen entfalten, sind nur wenige Staaten bereit auf sich zu nehmen. Es zeigt sich, dass tiefere Integrationen Regelwerke aufnehmen, die regelmäßig nicht diskriminieren, sondern auch 94

Herrmann (Anm. 22), Rn. 607. Vgl. etwa zu den Konflikten verschiedener Freihandelsabkommen konkret Pauwelyn (Anm. 82), 392 ff. 96 Jagdish Bhagwati, Termites in the Trading System: How Preferential Agreements Undermine Free Trade, 1. Aufl. 2008, 49 ff. 95

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Außenseitern zugutekommen. Ferner enthalten sie Mechanismen, die weiterer Liberalisierung nicht entgegenstehen; diese Abkommen wirken daher gerade nicht abschließend. Daher ist die Gefährdung, die von nicht vorrangig ökonomisch ausgestalteten Integrationsformen für den Multilateralismus ausgeht, im Grundsatz – und unbeschadet machtpolitischer Argumentation – geringer als bei weniger tiefen Integrationen.97 IV. Fazit Aufgrund der in der Praxis auch infolge ihrer mangelnden Präzision und Lückenhaftigkeit nur sehr zurückhaltenden Kontrolle der Integrationsabkommen anhand der Vorgaben des WTO-Rechts befinden sich die Integrationsabkommen rechtlich gesehen eher in einer Grauzone: Die Vereinbarkeit mit WTO-Recht ist nicht frei von Zweifeln, die genauen Maßstäbe des WTO-Rechts werden in der Praxis nicht nur der Staaten, sondern auch der WTO-Streitbeilegung eher offengehalten. Das erlaubt Flexibilität und verhindert offene Konflikte zwischen der globalen Staatspraxis und den nationalen Interessen an der Schaffung und Ausweitung von Wirtschaftsräumen einerseits und den multilateralen Verpflichtungen und Bekenntnissen in der WTO andererseits. Damit können beide Strategien gleichzeitig weiterverfolgt werden.98 Das unterläuft allerdings die der Gründung der WTO und vor allem ihres Streitbeilegungsmechanismus unterlegten Idee, die Handelsbeziehungen stärker zu verrechtlichen, da die Regionalisierung eher machtpolitisch geprägt ist. Mächtige Handelsblöcke können in bilateralen Verhandlungen ihre Interessen viel leichter durchsetzen als im WTO-Kontext. Das zeigt das Beispiel der EU, die strukturell vergleichbare Verhandlungsmuster vorlegt. Dennoch dürfen verdichtete Wirtschaftsräume nicht allein in Frontstellung gegen ein multilaterales Vorgehen eingeordnet werden. Eine bloß bipolare Sichtweise eines Entweder/Oder erscheint deutlich verkürzt. Darauf wird näher einzugehen sein (siehe F.).

E. Ziele der Bildung von Wirtschaftsräumen Vorrangiges Ziel der parallelen Bildung von regionalen und globalen Wirtschaftsräumen mittels Integrationsabkommen ist die Stärkung der eigenen wirtschaftlichen und damit einhergehend auch der politischen Machtstellung. Neben 97 Siehe Dunker (Anm. 74), 343 ff.; WTO, World Trade Report 2011 (Anm. 2), 165, 168 ff. 98 Herrmann (Anm. 78), 16 f.

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ökonomischen bestehen geopolitische, entwicklungspolitische und regionalpolitische Antriebe für die Enstehung von Integrationsräumen.99 Die Politik Chinas in Südostasien veranschaulicht das deutlich: China ist mit den ASEAN-Staaten ein Freihandelsabkommen ASEAN China Free Trade Agreement (ACFTA) eingegangen, das mittlerweile die Zölle für die allermeisten Waren im Handel mit sechs ASEAN-Staaten beseitigt hat.100 Nicht Partner dieses Abkommens waren Korea und Japan, bis dahin die wirtschaftlichen Vormächte in der Region. Durch die Zollbeseitigung hat China seine Position auf dem ASEAN-Markt gegenüber Japan und Korea deutlich verbessert. Letztere, nunmehr ins Hintertreffen geraten, bemühen sich um eine gemeinsame Zone mit China und den ASEAN-Staaten.101 Auch anhand der EU lässt sich verdeutlichen, dass die Bildung von Wirtschaftsräumen dazu dient, die eigene starke Stellung im internationalen Handel angesichts neuer aufstrebender Konkurrenten auf den Weltmärkten abzusichern. Dabei geht es nicht nur um die Sicherung der Absatzmärkte für EU-Waren (und damit einhergehender ökonomischer Effekte wie Arbeitsplatz-, Wohlstandssicherung, Steigerung des Wirtschaftswachstums und der Wettbewerbsfähigkeit), sondern auch um Sicherstellung des Zugangs zu den für die EU-Industrie so wichtigen Rohstoffmärkten und um die Attraktivität des eigenen Marktes für Auslandsinvestitionen. Dementsprechend ist die Wahl der Vertragspartner für Präferenzabkommen seit der Global Europe Mitteilung102 der EU wettbewerbsorientiert,103 aber auch motiviert von anderen, insbesondere außen- und entwicklungspolitischen Zielsetzungen. Die Wettbewerbszielsetzung ist seit 2006 stärker in den Vordergrund getreten, während die entwicklungs- und außenpolitische Motivation jedenfalls infolge der primärrechtlichen Neukontextualisierung der Handelspolitik durch den Vertrag von Lissabon104 weiter aufgegeben bleibt. Mit ihrer neuen Handelsstrategie, die sich an der Erschließung von Marktpotenzial für EU-Waren in Drittstaaten ausrichtet und Entwicklungsländern Zugang zum EU-Markt gewährt im Austausch gegen Zugeständnisse im Bereich Dienstleistungen, Investitionsschutz, Schutz des Geistigen Eigentums und Achtung der Menschenrechte, ist die Handelspolitik Teil der Gesamtstrategie der EU geworden. Diese Gesamtstrategie 99

Dazu etwa Richard Baldwin, The Causes of Regionalism, WE 20 (1997), 865; Cho (Anm. 92), 423 ff. 100 Matthias Herdegen, Internationales Wirtschaftsrecht, 10. Aufl. 2014, § 12, Rn. 42. 101 Koopmann/Vogel (Anm. 14), 60. 102 Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Wirtschaftsund Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen „Ein wettbewerbsfähiges Europa in einer globalen Welt“, 4.10.2006, KOM(2006) 567 endg. 103 Vgl. auch WTO Trade Policy Review für die EU, WT/TPR/S/248/Rev.1, S. vii Para. 4, S. 17 Para. 15. 104 Dazu Weiß (Anm. 32), Rn. 9.

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fußt auf einer grundsatz- und wertorientierten Ausrichtung, die in der Tat – trotz aller Realisierungsmängel – als international einmalig und modellhaft105 angesehen werden kann und die auch Inhalt und Schicksal der Handelsabkommen beeinflusst. Die Menschenrechtsklauseln sind der deutlichste Ausdruck davon. Die Wirtschaftsintegration ist damit in allgemeine politische Ziele eingefügt. Die Bildung von Wirtschaftsräumen verfolgt weit über das rein Ökonomische hinausgehende Ziele. Geopolitischen Zielen folgt auch die Auswahl der Handelspartner, mit denen Wirtschaftsräume gebildet werden. Die EU etwa betreibt geographische Clusterbildung: Regional gruppiert werden ähnlich angelegte Abkommen vereinbart. Diese regionale Dimension der vertraglichen Handelspolitik zielt auf eine Stärkung der Handelsbeziehungen innerhalb einer Region und damit auf die Verbreitung des EU-Integrationsmodells, aber natürlich auch auf eine Verstärkung der Beziehungen der EU mit einer Region und hat daher auch politische Bedeutung.106 Die Welt der Handelspartner wird so in regionale Blöcke aufgeteilt. Trotz ihres Bekenntnisses zum Multilateralismus insbesondere im Rahmen der WTO (in ihren Abkommen bekennt sich die EU zur Einhaltung der WTO-Regeln) ist die EU ein, wenn nicht der Vorreiter des neuen Regionalismus. Die Bildung von wirtschaftlichen Integrationszonen aufgrund der Enabling Clause hat schon deutlich gemacht, dass Präferenzzonen durchaus andere als genuin ökonomische Gründe haben. Die aufgrund der Enabling Clause errichteten Präferenzzonen dienen entwicklungspolitischen Zielen. Damit wird zugleich deutlich, dass Handel kein Selbstzweck ist, sondern dass eine Ausweitung von Handel anderen Zielen wie etwa Wohlstandsmehrung und Armutsbekämpfung dient. Handel ist dafür nur ein Instrument. Daher kann und muss Handel auch im Zuge der Verfolgung anderer als ökonomischer Ziele eingesetzt werden. Wirtschaftszonen werden daher errichtet, um neue Allianzen zu begründen und bilaterale Beziehungen mit bestimmten als ökonomisch oder geopolitisch wichtig empfundenen Staaten zu stärken, um sich mit kulturell nahestehenden Staaten auch wirtschaftlich zu binden oder um Handel für Friedenssicherung zu instrumentalisieren; so haben die USA in den letzten Jahren im Kontext der Terrorismusabwehr gezielt mit arabischen Staaten Freihandelsabkommen abgeschlossen. Die EU nutzt Präferenzzonen auch als Mittel, um den Beitritt von Staaten zur EU vorzubereiten, da es im Vorfeld der Heranführung der Partnerstaaten an den acquis communautaire bedarf, was die Notwendigkeit mit sich bringt, die eigene Rechtsordnung an das gesamte EU-Recht anzugleichen. Solche Abkommen 105

Christoph Vedder, Die außenpolitische Zielbindung der gemeinsamen Handelspolitik, in: Marc Bungenberg/Christoph Herrmann (Hrsg.), Die gemeinsame Handelspolitik der EU nach Lissabon, 2011, 121, 153. 106 Cremona (Anm. 49), 268.

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verbinden dann wirtschaftliche und politische Fragen. Der Versuch der EU, den acquis communautaire (oder zumindest Teile davon, gegebenenfalls modifiziert) zu exportierten, beschränkt sich aber nicht nur auf besondere Assoziationen und Partnerschaften, sondern findet sich häufiger in den Abkommen, wobei dann regelmäßig zum Teil erhebliche inhaltliche Divergenzen in der Integrationstiefe bestehen.107 Somit vermengen sich häufig kulturelle, geopolitisch-strategische oder auch genuin politische Gründe mit ökonomischen Erwägungen, wenn es darum geht, Wirtschaftsräume zu begründen. Hinzu kommt, dass Integrationsabkommen nicht nur zum Abbau von Handelshemmnissen eingesetzt werden, sondern durchaus auch, um neue Hemmnisse besser begründen zu können: Handelsbeziehungen von der Einhaltung der Menschenrechte oder der Beachtung von Sozial- und Arbeitsstandards abhängig zu machen, dient gerade nicht der Senkung von Handelshürden, sondern lässt umgekehrt gerade die Nutzung bestimmter rechtlich-politischer Konzepte für die Durchsetzung bestimmter Leitbilder eines fairen anstelle eines rein freien Handels zu; die maßgeblichen Leitbilder werden dann von dem bestimmt, der die stärkere Verhandlungsposition hat.

F. Ausblick: Trends und Perspektiven Zu den ohnehin bestehenden Dysfunktionalitäten des Art. XXIV GATT kommt heutzutage ein weiterer Schwachpunkt hinzu. Die Regelungen in Art. XXIV GATT erfassen die heutige Komplexität von Integrationsabkommen und Handelsbeziehungen nicht. Art. XXIV GATT reflektiert das Bemühen, Zölle und vor allem quantitative Schranken abzubauen. Sie wurden nicht formuliert für immer intensivere Handelsbeziehungen mit global vernetzten Wertschöpfungsketten.108 Die Anforderungen von Art. XXIV GATT gehen an der heutigen Realität der Formulierung von umfangreichen Integrationsabkommen, die sich stark um eine Beeinflussung innerstaatlicher Regulierung bemühen, vorbei.109 107 Dazu Roman Petrov, Exporting the Acquis Communautaire through European Union External Agreements, 2011, 185 ff., 293 ff. 108 Dazu nur Baldwin (Anm. 91), 648. 109 Entsprechende mehrseitige Verträge werden punktuell angesprochen im WTO-Recht, siehe etwa zu wechselseitigen Anerkennungsvereinbarungen Art. 4.2 Übereinkommen über die Anwendung von gesundheitspolizeilichen und pflanzenschutzrechtlichen Maßnahmen (SPS Abkommen), 15.4.1994, ABl. 1994 Nr. L 336/40; Art. VII:2 GATS; siehe ferner Art. 9 Übereinkommen über technische Handelshemmnisse (TBT Abkommen), 15.4.1994, ABl. 1994 Nr. L 336/86; Art. 4 (d) Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums (TRIPS), 15.4.1994, ABl. 1994 Nr. L 336/213.

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Der Abbau komplexer qualitativer Schranken, insbesondere in Gestalt von technischen Regelwerken und Dienstleistungsanforderungen, ferner die Regelung von Fragen außerhalb des klassischen GATT/WTO-Kanons wie Investitionsschutz, Wettbewerbsrecht, Arbeitsmigration u.a., die durch die neuen Handelsstrukturen der Globalisierung gefordert werden, verlangt eine stärkere Bereitschaft der Staaten zur gemeinsamen Koordinierung ihrer heimischen Regeln, die global und multilateral kaum gelingt, sondern nur schrittweise erfolgen kann, zunächst einmal innerhalb wirtschaftlich und kulturell recht homogener Staatengruppen. Daher brechen die WTO-Mitglieder aus dem WTO-Rahmen aus. Der Verfolgung von Zielen, die sich innerhalb der WTO und mit deren Mitteln kaum erfolgreich umsetzen lassen (sei es mangels Mandats der WTO, sei es mangels institutioneller Möglichkeiten, selbst für Handelsfragen innerhalb des WTO-Mandats eine Einigung zu erzielen), strenge WTO-rechtliche Schranken aufzuzeigen, wäre nicht sinnvoll. Damit lässt sich die Flexibilität in der Praxis bei der Anwendung des Art. XXIV GATT rechtfertigen (siehe oben D. IV.). Der Umstand dass die Parteien in der Doharunde sich statt auf eine lange diskutierte materielle Präzisierung von Art. XXIV GATT auf einen neuen Transparenzmechanismus geeinigt haben, belegt, dass die Praxis die materiellen Regeln bewusst offen und flexibel halten will, um der weiteren Entwicklung der Bildung von Wirtschaftsräumen keine ungeeigneten Fesseln aufzuerlegen.110 Die zunehmende Herausbildung von Wirtschaftsräumen lässt sich unter diesem Blickwinkel nicht in ein Schema Regionalismus versus Multilateralismus hineinpressen und einfach gegen den Multilateralismus in Stellung bringen. Beides ist nicht notwendig gegenläufig.111 Der Abbau qualitativer Schranken lässt sich nicht in der Logik einer stufenweisen Reduzierung von Schranken erfassen, die im GATT lange Zeit gut funktioniert hat und auch den Regelungen des Art. XXIV GATT zugrunde liegt. Daher ist Art. V GATS sehr viel offener formuliert. Er kann allerdings auch keine positiven Maßgaben für die Gestaltung von Wirtschaftsintegration vorgeben. Um Verhandlungsungleichgewichte auszugleichen, wären wohl klare multilaterale Regelungen nötig, die einen Rahmen (im Sinne von Mindest- und Maximalstandards) vorgeben, innerhalb dessen Wirtschaftsräume sich bei ihrer Abstimmung über den Abbau qualitativer Schranken bewegen dürfen. Da sich die inhaltliche Reichweite und Dichte von Integrationsabkommen sehr flexibel und dynamisch entwickelt, dürfte es aber nicht leicht sein, solch einen allgemeinen Rahmen mit allgemeiner Geltung zu formulieren, der nicht an den gleichen Schwächen der fehlenden Präzision und zu großen Allgemeinheit und Unbestimmheit leiden würde wie bislang. 110 111

Vgl. WTO, World Trade Report 2011 (Anm. 2), 189. WTO, World Trade Report 2011 (Anm. 2), 196.

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Die Verbreitung der Integrationsabkommen führt ferner zu klassischen Folgeproblemen der Fragmentierung des Völkerrechts, nun innerhalb des internationalen Handelsrecht, die erst langsam in das Blickfeld geraten, wie etwa die Abstimmung der verschiedenen Streitbeilegungsmechanismen und -entscheidungen zueinander und zur WTO-Streitbeilegung.112

112 Für einen Konflikt zwischen WTO-Pflichten und Streitbeilegung im Rahmen der NAFTA siehe etwa WTO, Appellate Body Report, Mexico – Tax Measures on Soft Drinks and Other Beverages, WT/DS308/AB/R, adopted 24 March 2006; für Konflikte zwischen Mercosur-Regeln und dem WTO-Diskriminierungsverbot WTO, Appellate Body Report, Brazil – Measures Affecting Imports of Retreaded Tyres, WT/DS332/AB/R, adopted 17 December 2007; zu Vorschlägen zur Überwindung dieser Fragmentierung durch wechselseitige Berücksichtigung des WTO-Rechts in den Integrationsabkommen und umgekehrt Pauwelyn (Anm. 82), 371 ff.

Politische Räume im Völkerrecht Von Andreas von Arnauld*

A. Einleitung: Ein belastetes Erbe? Am Vorabend der 100-Jahr-Feier des heute nach Walther Schücking benannten Instituts für Internationales Recht Gedanken über politische Räume im Völkerrecht zu formulieren, ist keine geringe Herausforderung. Denn es war aus Anlass des 25-jährigen Jubiläums des Kieler Instituts im Jahre 1939, dass Carl Schmitt seinen Vortrag über eine „völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte“1 hielt. Diese historische Reminiszenz verdeutlicht das belastete Erbe des politischen Raumgedankens.2 Seit der Begründung der Geopolitik durch den Schweden Rudolf Kjellén am Ende des 19. Jahrhunderts3 kreisten geopolitische Theorien um expansionistische Ziele, um Vorherrschaft oder gar Weltherrschaft.4 Prägend wurden früh das Seemacht-Konzept des USAmerikaners Alfred Thayer Mahan5 und die „Herzland“-Theorie des Briten Halford Mackinder, wonach derjenige die Welt beherrsche, der den eurasischen Raum kontrolliere:

*

Für Anregungen und Hinweise danke ich Sebastian Huhnholz und Michael Staack. Carl Schmitt, Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte: Ein Beitrag zum Reichsbegriff im Völkerrecht (1939), 4. Aufl. 1941. 2 Vgl. auch Horst Dreier, Wirtschaftsraum – Großraum – Lebensraum: Facetten eines belasteten Begriffs, in: Horst Dreier/Karl Kreuzer/Hans Forkel (Hrsg.), Raum und Recht: Festschrift 600 Jahre Würzburger Juristenfakultät, 2002, 47, 47 f. 3 Rudolf Kjellén, Der Staat als Lebensform (1917), 4. Aufl. 1924, 37–44. 4 Geoffrey Parker, Geopolitics: Past, Present and Future, 1998, 10–25; siehe auch die Darstellungen von Gerry Kearns, Imperial Geopolitics: Geopolitcal Visions at the Dawn of the American Century, und Wolfgang Natter, Geopolitics in Germany, 1919–1945: Karl Haushofer, and the Zeitschrift für Geopolitik, in: John Agnew/Katheryne Mitchell/Gerard Toal (Geraóid Ó Tuathail) (Hrsg.), A Companion to Political Geography, 2003, 173–186 und 187–203. 5 Alfred Thayer Mahan, The Influence of Sea Power upon History 1660–1783, 1918. 1

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„Who rules East Europe commands the Heartland: Who rules the Heartland commands the World-Island: Who rules the World-Island commands the World.“6

Halford Mackinder: Pivot Area (1904)

Mackinders „Pivot Area“ beeinflusste (als „Drehzapfen“ eingedeutscht7) auch die deutschen Geopolitiker. Verhängnisvoll wurde hier vor allem das „Lebensraum“-Konzept von Friedrich Ratzel8 und Karl Haushofer,9 das bekanntlich die ideologische Grundlage für den ab 1939 geführten deutschen Eroberungs- und Vernichtungskrieg im Osten Europas bot.

6

Halford Mackinder, Democratic Ideals and Reality: A Study in the Politics of Reconstruction, 1919, 194; Gedanke erstmals entwickelt in: The Geographical Pivot of History, GJ 23 (1904), 421 ff. 7 Karl Haushofer, Weltpolitik von heute, 1934, 50. 8 Friedrich Ratzel, Der Lebensraum: Eine biogeographische Studie, in: Karl Bücher et al. (Hrsg.), Festgaben für Albert Schäffle, 1901, 103. 9 Haushofer (Anm. 7), 24–37.

Politische Räume im Völkerrecht

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Karl Haushofer: Deutsches Wehrgebiet – Deutsches Rechtsgebiet (1934)

Diese Verstrickungen der Geopolitik waren folgenreich für den wissenschaftlichen Umgang mit politischen Raumentwürfen. Die deutsche Geopolitik „mit ihren Propagandakarten und Großraumphantasien, ihrer organizistischen, das Individuum zum Rädchen im Volksgetriebe reduzierenden Staatsauffassung und ihren Beschwörungen eines nationalen ‚Raumschicksals‘“ war „wissenschaftlich nicht beerbbar“.10 Nach 1945 wurde die durch zwei Weltkriege diskreditierte Disziplin weitgehend in die arkanen Sphären der Militärstrategie ausgelagert.11 Die Verdrängung des Raumdenkens aus der politischen Wissenschaft dagegen erfolgte zumindest in Deutschland12 so konsequent, dass der Politökonom Dietrich Fürst

10

Jürgen Osterhammel, Raumbeziehungen, Internationale Geschichte, Geopolitik und historische Geographie, in: Wilfried Loth/Jürgen Osterhammel (Hrsg.), Internationale Geschichte: Themen – Ergebnisse – Aussichten, 2000, 287, 296. 11 Kritisch Hauke Ritz, Die Rückkehr der Geopolitik: Eine Ideologie und ihre fatalen Folgen, Blätter für deutsche und internationale Politik 2013, 71. 12 Zur kritischen Tradition vor allem in der französischen und US-amerikanischen Geopolitik vgl. die Gegenüberstellung bei Klaus Dodds, Global Geopolitics: A Critical Introduction, 2005, 28; Jan Helmig, Geopolitik – Annäherung an ein schwieriges Konzept, APuZ 20–21/2007, 31; Mathias Albert/Paul Reuber/Günter Wolkersdorfer, Kritische Geopolitik, in: Siegfried Schieder/Martina Spindler (Hrsg.), Theorien der Internationalen Beziehungen, 2. Aufl. 2006, 551; vertiefend Geraóid Ó Tuathail, Critical Geopolitics: The Politics of Writing Space, 1996; ders. et al., Geopolitik: Zur Ideologiekritik politischer Raumkonzepte, 2001.

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1993 mit einiger Berechtigung den Satz schreiben durfte: „‚Raum‘ ist an sich keine politikwissenschaftliche Kategorie.“13 Wenn nun seit einigen Jahren Raummetaphern und auch Raumdenken in politikwissenschaftliche Diskurse zurückkehren,14 so wird man dies nicht als Renaissance der „alten“ Geopolitik zu deuten haben. Eher ist hierin ein „spatial turn“ zu erkennen, der auch andere Wissenschaften erfasst hat.15 Es geht also um die Rezeption eines neuen Wissenschaftsparadigmas,16 nicht um die Rehabilitierung früherer Großraumphantasmagorien. Dennoch: Das Erbe bleibt belastet, und das macht eine Standortbestimmung notwendig.

B. Politische Räume: Vermessung eines Begriffs Will man sich dem in mehrerer Hinsicht schwierigen Begriff des „Raumes“ annähern, so tut man dies am besten in Abgrenzung zum Begriff des Territoriums: Die Idee des Raumes löst sich von der Konkretion des Territoriums ab. Während das Territorium geologisch erforschbar, „erdverbunden“ bleibt, fehlt dem Raum, sinnbildlich gesprochen, die „Bodenhaftung“. Räume können auf verschiedene Weise imaginiert werden: relational als Beziehungs-Räume zwischen trigonometrischen Punkten, als leere Container oder mit Carl Schmitt „tellurisch“,17 in Blut und Boden wurzelnd. Dabei zeigt sich auch die Verbundenheit von Sprache und Denk-Räumen. Denn der deutsche Begriff des „Raumes“ lässt sich kaum adäquat übersetzen: „Space“ oder „espace“ z.B. eignen sich weit weniger für romantische 13 Dietrich Fürst, Raum – die politikwissenschaftliche Sicht, StWP 4 (1993), 293, 293; eine tiefer gehende Verdrängung konstatiert Sebastian Huhnholz, Vom Imperium zur Souveränität und zurück: Raumpolitische Geltungsgrenzen zwischen Jean Bodins antiimperialem Souveränitätsverständnis und Carl Schmitts postsouveräner Imperiumsfurcht, in: Werner Röcke/Anna Heinze/Sebastian Möckel (Hrsg.), Grenzen der Antike: Die Produktivität von Grenzen in Transformationsprozessen, 2014, 377, 387: Die „Raumblindheit der Politikwissenschaften“ sei auch einer atopischen Bodin-Rezeption geschuldet. 14 Siehe etwa Yale H. Ferguson/R. J. Barry Jones (Hrsg.), Political Space: Frontiers of Change and Governance in a Globalizing World, 2002; Karl Schmitt (Hrsg.), Politik und Raum, 2002; Olaf Kaltmeier, Politische Räume jenseits von Staat und Nation, 2012. 15 Allgemein Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns: Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, 3. Aufl. 2009, 284–328. 16 Grundlegend Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 13. Aufl. 1996. 17 Carl Schmitt, Theorie des Partisanen: Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen, 1963, 26 f.; zum Raum als geschichtlich-schicksalhaft gestaltetem „Leistungsraum“ Schmitt (Anm. 1), 61, 64–67 (in dem in der 4. Aufl. 1941 ergänzten Kapitel über den „Raumbegriff in der Rechtswissenschaft“).

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Aufladungen; der deutsche Begriff wirkt dunkler als seine englischen und französischen Pendants.18 Die Vielgestaltigkeit möglicher Raum-Konzeptionen verdeutlicht die konstruktivistische Natur der Raumidee. Räume sind Konstrukte, sie sind Interpretationen von Landkarten,19 bei denen stets zu fragen ist, wer sie mit welcher Absicht wie konstruiert. Der besondere Reiz von Raumvorstellungen liegt in ihrer Abstraktion und Ablösung von vorfindlichen Begrenzungen, politischer oder geschichtlich-kultureller Art. Raumdenken überschreitet Grenzen, fasst Staaten in große Einheiten zusammen und nutzt diese dann als Projektionsflächen für „Große Theorien“. Raumkonzeptionen stehen daher unter Ideologieverdacht.20 Die „Sensibilität für Raumwahrnehmungen und ihre politische Funktion“ bezeichnet Jürgen Osterhammel als die „vielleicht wichtigste Errungenschaft von ‚critical geopolitics‘“ und fährt fort: Dies bedeutet einen großen Schritt über die alte Geopolitik hinaus, in welcher Staaten und Großräume als Subjekte eigenen Rechts agieren und dabei weithin ‚natürlichen‘ Imperativen von der Art des notorischen russischen ‚Drangs zu den Meerengen‘ folgen. Individuen und ihre Weltdeutungen fehlen in solchen Vorstellungen, man fällt vom Personalismus der Diplomatiegeschichtsschreibung in das entgegengesetzte Extrem kontingenzloser Naturbestimmung, die einen mythischen, also der empirischen Korrektur entzogenen Charakter annehmen kann.21

Osterhammels Forderung nach einer „Mythenkritik“22 gilt in besonderem Maße für die „politischen“ Räume, um die es hier geht. Im Mittelpunkt solcher politischer Raumkonzeptionen steht für Carl Schmitt im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum nach der „Landnahme“ durch den Territorialstaat die Einheit von „Ortung und Ordnung“,23 die sich im Gewaltmonopol des neuzeitlichen Staates manifestiert; Rüdiger Voigt verlangt sinngemäß das „Vorhandensein von Gewaltandrohung“.24 In der Terminologie „realistischer“ Disziplinenschulen innerhalb der 18

Zu den Spezifika einer deterministisch orientierten deutschen Geopolitik in Abgrenzung vor allem zu der Entwicklung in Frankreich Susanne Rau, Räume: Konzepte, Wahrnehmungen, Nutzungen, 2013, 27–52. 19 Treffend Ritz (Anm. 11), 76. 20 Am Beispiel der US-amerikanischen Imperientheorie Sebastian Huhnholz, Imperiale oder Internationale Beziehungen? Imperiumszyklische Überlegungen zum jüngeren American-Empire-Diskurs, in: Herfried Münkler/Eva Marlene Hausteiner (Hrsg.), Die Legitimation von Imperien, 2012, 194. 21 Osterhammel (Anm. 10), 306. 22 Osterhammel (Anm. 10), 307. 23 Carl Schmitt, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, 1950, 17. 24 Rüdiger Voigt, Denken in Großräumen: Imperien, Großräume und Kernstaaten in der Weltordnung, in: Rüdiger Voigt (Hrsg.), Großraum-Denken: Carl Schmitts Kategorie der Großraumordnung, 2008, 27, 34.

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Internationalen Beziehungen ließe sich auch von „Machtprojektion“ sprechen. Der Raum ist also in politischer Perspektive Bezugspunkt von Machtprojektionen.25 Nun hat dieser Beitrag nicht den Zweck, ganz allgemein über politische Räume zu sinnieren. Es soll vielmehr um die völkerrechtliche Einordnung einer Reihe von politikwissenschaftlichen Konzeptionen gehen, die ein – bisweilen latenter – Raumbezug eint. Wenn im Folgenden nun vier Dimensionen politischer Räume unterschieden werden, so geschieht dies zunächst in systematisierender Absicht, um ein allzu vordergründiges „Abklappern“ verschiedener Begriffe zu vermeiden; zugleich soll aber, ausgehend von geographischen Räumen, schrittweise das Raumverständnis erweitert werden und über normative Räume zu kommunikativen Räumen führen, um so schließlich auf die Komplexität eines übergreifenden Raumdenkens vorzubereiten, das sich mit dem Konzept der Multipolarität verbindet. Die bis hierhin angestellten Überlegungen dienen dabei vor allem als Richtschnur dafür, ein Abgleiten ins Metaphorische zu vermeiden – denn dies ist eine naheliegende Sorge, wann immer von „Räumen“ die Rede ist: Im Zentrum steht hier die Machtprojektion.

C. Dimensionen politischer Räume I. Geographische Räume 1. Reiche und Imperien In seiner „völkerrechtlichen Großraumordnung“ kombinierte Carl Schmitt die römisch-germanische Reichsidee und die Monroe-Doktrin:26 Nicht länger Staaten sollten die maßgeblichen Einheiten des Völkerrechts darstellen, sondern von einer Hegemonialmacht beherrschte Reiche. Im Unterschied zur traditionellen Reichsidee schwebte Schmitt aber kein imperium mundi, keine Weltherrschaft, vor, sondern eine Aufteilung der Welt in koexistente Reiche. Aufgabe des Völkerrechts sollte es vor allem sein, ein Interventionsverbot für raumfremde Mächte zu errichten, also die Hegemonialansprüche gegeneinander abzusichern.27 Hierfür 25 Alexander Orakhelashvili, International Law and Geopolitics: One Object, Conflicting Legitimacies?, NYIL 39 (2008), 155. 26 Zur Großraumtheorie Schmitts eingehend Mathias Schmoeckel, Die Großraumtheorie: Ein Beitrag zur Geschichte der Völkerrechtswissenschaft im Dritten Reich, insbesondere der Kriegszeit, 1994, insb. 20–151. 27 Schmitt (Anm. 1), 36 f., 48; Orakhelashvili (Anm. 25), 179 f., sieht hierin eine Abwendung von der generell bilateralen Struktur internationaler Abkommen. Solche Abwehransprüche erga omnes sind allerdings typisch für absolute Rechte, wie sie Ordnungsverträge einräumen, vgl. Andreas von Arnauld, Völkerrecht, 2. Aufl. 2014, Rn. 209 m.w.N.

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knüpfte Schmitt an die US-amerikanische Monroe-Doktrin an,28 die eine Einmischung europäischer Staaten auf dem amerikanischen Kontinent unterbinden sollte – 1823 zunächst zum Schutz der Unabhängigkeitsbestrebungen im übrigen Amerika, später dann in hegemonialer Absicht. Schmitts eigener Entwurf diente im Jahre 1939 kaum verhohlen dazu, die großdeutsche Expansion auf dem europäischen Kontinent zu rechtfertigen und zugleich eine Einmischung der USA in diesen Prozess zu delegitimieren.29 Dass Schmitts Vorhersage vom Bedeutungsverlust der Nationalstaaten sich in Teilen erfüllt hat, mag seinen Bewunderern als Ausdruck einer prophetischen Gabe gelten. Dennoch irrte der Meister aus Plettenberg im Rückblick in der Frage, wie und in welchem Umfang dieser Bedeutungsverlust eintreten würde. Es wäre auch heute immer noch zu früh, die Idee souveräner Staatlichkeit zu verabschieden30 – aus den internationalen Beziehungen, erst recht aber aus dem Völkerrecht. Die in Art. 2 Nr. 1 der UN-Charta (UNCh) verankerte souveräne Gleichheit der Staaten zählt nach wie vor31 zu den Fundamentalgrundsätzen der Vereinten Nationen. Dieser Grundsatz steht Schmitts Großraumordnung hegemonialer Reiche entgegen.32 Will man an die Reichsidee anschließen, ließe sich schon eher erwägen, die UNO selbst mit der lockeren bündischen Struktur zu vergleichen, die das Heilige Römische Reich deutscher Nation nach 1648 erhalten hat: monstro simile, nach dem geflügelten Wort Pufendorfs.33 Albrecht Randelzhofer hat dies in seiner 1967 publizierten Dissertation getan.34 28 Schmitt (Anm. 1), 13–23, auf Seite 34 f. dann die Parallele zur Erklärung Adolf Hitlers vom 20.2.1938 zu einem „Schutzrecht für die deutschen Volksgruppen fremder Staatsangehörigkeit“. 29 Kontextualisierung der Rede bei Reinhart Mehring, „Raumrevolution“ als Rechtsproblem: Zum politischen Kontext und Wandel von Carl Schmitts Großraumdenken, in: Rüdiger Voigt (Hrsg.), Großraum-Denken: Carl Schmitts Kategorie der Großraumordnung, 2008, 99, 101–112; Huhnholz (Anm. 13), 392 ff., sieht im Hintergrund einen paradigmatischen Bruch mit Schmitts bisheriger Konzeption des Politischen wirken, die sich fortan an einer „imperialen Raumlogik“ orientiert. 30 Näher Andreas von Arnauld, Staatliche Souveränität im Wandel: Neujustierung der staatlichen „Firewall“, in: Tobias Debiel et al. (Hrsg.), Globale Trends 2013: Frieden, Entwicklung, Umwelt, 2012, 69. 31 Entgegen der Voraussage auch des Geopolitikers Nicholas Spykman, Frontiers, Security, and International Organization, GR 32 (1942), 436 f. 32 Orakhelashvili (Anm. 25), 166 f., 174–176. 33 Samuel Pufendorf (unter dem Pseudonym Severinus de Monzambano Veronensis), De Statu Imperii Germanici ad Laelium Fratrem, Dominum Trezolani, liber unus, 1668, Caput VI, § 9. 34 Albrecht Randelzhofer, Völkerrechtliche Aspekte des Heiligen Römischen Reiches nach 1648, 1967.

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Die Idee des imperium mundi kam nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und der durch ihn geprägten bipolaren Weltordnung zu neuen Ehren: Mit dem (scheinbaren) „Ende der Geschichte“,35 schien das unipolare amerikanische Zeitalter angebrochen. Nicht nur neokonservative Strategen wie Robert Kagan sahen in den USA als der einzig verbliebenen Supermacht ein „wohlwollendes Imperium“36 mit unbegrenzter Fähigkeit zur weltweiten Machtprojektion. Das Auftreten neuer regionaler Führungsmächte, allen voran Chinas, aber auch die Aggressivität der USAußenpolitik unter Präsident George W. Bush dürften den Untergang des amerikanischen Imperiums37 und den Übergang in eine multipolare Welt eingeläutet haben. Doch selbst wenn man – einem zyklischen Imperienmodell folgend, bei dem Phasen äußerer Machtentfaltung sich mit Latenzphasen abwechseln, in denen innenpolitische Erosionen einen Rückzug auf globaler Ebene auslösen – dem „American Empire“ noch eine Chance gibt,38 sperrt sich das heutige Völkerrecht normativ gegen die Anerkennung eines imperialen Status: Souveräne Gleichheit der Staaten, Gewalt- und Interventionsverbot gelten auch gegenüber der einzigen Supermacht.

39

Dislozierung der US-Truppen 2014 35

Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte: Wo stehen wir?, 1992. Robert Kagan, The Benevolent Empire, Foreign Policy Summer 1998, 24; instruktiver Überblick zu den verschiedenen Strömungen der Imperientheorie bei Huhnholz (Anm. 20). 37 Sehr frei nach: Der Untergang des amerikanischen Imperiums (Le déclin de l’empire américain), Kanada 1986, Regie: Denys Arcand. 38 Herfried Münkler, Imperien: Die Logik der Weltherrschaft – vom Alten Rom zu den Vereinigten Staaten, 2005; Huhnholz (Anm. 20), 212–222. 39 Zur geopolitischen Relevanz von Truppenstationierungen Orakhelashvili (Anm. 25), 171 f. 36

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2. Hegemonie Treffender erscheint es, die USA in den Jahren nach Ende des Ost-West-Konflikts mit Michael Ignatieff ein „empire lite, a global hegemony“40 zu nennen. Hegemoniale Verhältnisse sind in den internationalen Beziehungen nichts Ungewöhnliches, und auch das Völkerrecht erkennt sie durchaus an. Paradigmatisch dafür ist die Rechtsfigur des Protektorats. Hier verpflichtet sich der protegierte Staat im Austausch gegen ein Schutzversprechen, seine Politik in bestimmten Bereichen von einem anderen Staat abhängig zu machen,41 man denke etwa an das Verhältnis Monacos zu Frankreich, San Marinos zu Italien, Liechtensteins zur Schweiz. Völkerrechtlich bewahrt der protegierte Staat seine Souveränität, er verzichtet aber auf die Ausübung bestimmter souveräner Rechte. Die freiwillige Entscheidung, sich in ein solches Protektoratsverhältnis zu begeben, sichert die Vereinbarkeit mit dem Grundsatz der souveränen Gleichheit, der eben auch Freiheit zur Selbstbindung garantiert. Damit erweist sich das Protektorat als Ausdruck dessen, was Heinrich Triepel in seiner grundlegenden Studie als eine „Hegemonie im echten Sinne“ bezeichnet hat.42 Diese unterscheidet sich Triepel zufolge gerade durch die freiwillige Gefolgschaft von der Herrschaft, die auf Zwang setzen muss. Damit setzte Triepel einen klaren Gegenpunkt zu dem Hegemonieverständnis Carl Schmitts.43 Indes bleiben blinde Flecken. Zwar ist nach Art. 2 Nr. 4 UNCh bereits die Drohung mit Gewalt rechtswidrig, und gemäß Art. 51, 52 WVK ist ein völkerrechtlicher Vertrag nichtig, der unter gewaltsamem Zwang zustande kommt; äußere Zwänge und Druck unterhalb dieser Schwelle aber hindern die Wirksamkeit völkerrechtlicher Verträge nicht. Je näher man untersucht, was eine wirklich autonome Entscheidung ist, desto mehr rückt angesichts äußerer Einflüsse auf den Entscheidungsprozess die Antwort in weite Ferne. An der regulativen Idee von Freiwilligkeit und Autonomie jedoch muss das (Völker-)Recht schon um seiner selbst willen festhalten.

40 Michael Ignatieff, The Burden, New York Times vom 5.1.2003, abrufbar unter http:// www.nytimes.com/2003/01/05/magazine/05EMPIRE.html?pagewanted=all (letzter Zugriff am 8.10.2014). 41 von Arnauld (Anm. 27), Rn. 92, auch in Abgrenzung zu anderen Formen beschränkter Souveränität. 42 Heinrich Triepel, Die Hegemonie: Ein Buch von führenden Staaten, 1938, 217 f. 43 Gegenüberstellung der Schmittschen und Triepelschen Hegemonieverständnisse bei Marcus Llanque, Der nationalsozialistische Imperialismus im Lichte der zeitgenössischen Theoriebildung, in: Richard Faber (Hrsg.), Imperialismus in Geschichte und Gegenwart, 2005, 101.

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3. Regionalmächte Vor dem Hintergrund divergierender Hegemonieverständnisse – Herrschaft bei Schmitt, Gefolgschaft bei Triepel – lässt sich auch die Figur der Regionalmacht (oder regionalen Führungsmacht) beurteilen, die in den letzten Jahren einige Aufmerksamkeit in den Internationalen Beziehungen erhalten hat. Unter den konkurrierenden, aber im Kern übereinstimmenden Definitionen möchte ich diejenige herausgreifen, die Detlef Nolte für das German Institute for Global and Area Studies (GIGA) entwickelt hat.44 Aus einem Set von Kriterien erklärt Nolte drei für notwendig: (1)

das Selbstverständnis als regionale Führungsmacht,

(2)

materielle, organisatorisch-politische und ideologische Ressourcen zur Machtprojektion,

(3)

tatsächlicher Einfluss.

Völkerrechtlich akzeptabel ist eine Führungsrolle allerdings nur, wenn ein weiteres Kriterium vorliegt, das Nolte aus politikwissenschaftlicher Sicht zu den gewöhnlichen, aber nicht-notwendigen Kriterien rechnet: die Anerkennung der Führungsrolle durch andere Staaten innerhalb der Region. Nur die Anerkennung der Führungsrolle durch die „Geführten“ selbst vermag die Regionalmacht zum „echten“ Hegemon im Sinne Triepels zu machen.

Regionalmächte 2008 44

Detlef Nolte, Regionale Führungsmächte: Analysekonzepte und Forschungsfragen, in: Daniel Flemes/Dirk Nabers/Detlef Nolte (Hrsg.), Macht, Führung und Regionale Ordnung: Theorien und Forschungsperspektiven, 2012, 17, 35.

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4. Einfluss- und Interessensphären Unschärfer noch als die bisher behandelten Figuren – Imperium, Hegemonie, regionale Führungsmacht – stellen sich Einfluss- und Interessensphären dar. Gemeinsam ist beiden Sphärenmodellen, dass ein Staat seine Interessen außerhalb des eigenen Territoriums auf dem Gebiet anderer Staaten verfolgt. Die beiden Formen unterscheidet, dass bei Interessensphären (zumindest im modernen Verständnis45) die Verfolgung der Interessen des externen Staates in aller Regel durch Vertrag abgesichert wird und damit eine konsensuale Basis hat (man denke hier etwa an die von Rohstoffinteressen geleitete chinesische Afrikapolitik); bei Einflusssphären hingegen verfolgt der Einfluss nehmende Staat seine Interessen unter Ausnutzung einer Schwäche des anderen Staates.46 Unter den Bedingungen souveräner Gleichheit kann dies nur auf informelle Weise geschehen.47 Dies erschwert es zusätzlich, Einflusssphären analytisch, geschweige denn rechtlich dingfest zu machen. Die Ursachen für einen solchen Einfluss können unterschiedlichster Natur sein; nicht selten sind sie – und darauf möchte ich mich beschränken – kolonialen Ursprungs. So sind die jüngsten Einsätze Frankreichs in Mali und in der Elfenbeinküste oder Belgiens im Kongo kaum vom kolonialen Hintergrund ablösbar – das Engagement hat einen post-postkolonialen Beigeschmack.48 Das Völkerrecht setzt hier einmal mehr an der staatlichen Souveränität an: Ohne wirksame Ermächtigung sind solche Einmischungen rechtswidrig. Im Falle der französischen Interventionen in die Bürgerkriege in der Elfenbeinküste und in Mali lagen Einladungen der international anerkannten Regierungen vor, zudem eine Autorisierung durch den UN-Sicherheitsrat.49 Ist die Ermächtigung nach Kapitel VII der UN-Charta Ausdruck dessen, dass staatliche Souveränität heute stets unter Sicherheitsratsvorbehalt steht,50 so bleibt die Intervention auf Einladung eine

45 In der Kolonialzeit diente der Begriff der Aufteilung des afrikanischen Kontinents, noch bevor das jeweilige Territorium effektiv in Besitz genommen war, vgl. Wilhelm G. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 2. Aufl. 1988, 555 f. 46 Insoweit übereinstimmend Grewe (Anm. 45), 556 f. 47 Vgl. Friedrich Kratochwil, Rules, Norms and Decisions, 1989, 86–88. 48 Vgl. zur französischen Opération Turquoise in Ruanda 1994 Orakhelashvili (Anm. 25), 193 f. 49 UN-Sicherheitsrat, Côte d’Ivoire, Resolution 1975 vom 30.3.2011 (UN Doc. S/RES/ 1975), para. 6 und UN-Sicherheitsrat, Mali, Resolution 2085 vom 20.12.2012 (UN Doc. S/ RES/2085), para. 9 lit. b. 50 von Arnauld (Anm. 30), 83. Dies gilt naturgemäß nicht für die fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates.

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problematische Rechtsfigur.51 Zwar dürfte heute weitgehend akzeptiert sein, dass eine Einladung der anerkannten Regierung eine auch gewaltsame Einmischung rechtfertigt.52 Gleichwohl sind es erneut die Motive hinter der Einladung, die im blinden Fleck des Völkerrechts liegen. Nicht selten verlängert sich der Einfluss der früheren Kolonialmacht in Gestalt „besonderer Beziehungen“ bis in unsere Tage – denkt man z.B. an den kulturellen Einfluss auf die Machteliten in den ehemaligen Kolonien.53 Zumindest aus Gründen politischer Klugheit sollte man – wie dies in jüngster Vergangenheit auch zunehmend geschieht54 – Regionalorganisationen verstärkt einbinden, um den Ungeist des Kolonialismus zu exorzieren. Diesem Ungeist verpflichtet ist auch die Raumidee des „Hinterlandes“, das im Völkerrecht der Kolonialzeit die Anforderungen an eine Okkupation von Gebieten erleichtern sollte (dort oft in Verbindung mit dem Begriff der Interessensphären). Wie auch bei der verwandten Idee der Kontiguität,55 des natürlichen geographischen Zusammenhangs (aber was heißt schon „natürlich“, wenn Landkarten interpretiert werden müssen), tut sich das Völkerrecht schwer mit einer Anerkennung. 5. Regionalorganisationen: zugleich ein Zwischenfazit Besitzen wir nun heute eine „völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte“? In gewisser Weise ja, wenn auch nicht in dem von Carl Schmitt formulierten Sinne. Die heutige völkerrechtliche „Großraumordnung“ lässt sich vor allem durch das Mehrebenen-System von UNO, Regionalorganisationen und Staaten charakterisieren.56 Das UN-System gibt den globalen Rahmen vor und monopolisiert die Legitimation zwischenstaatlicher Gewaltanwendung beim Sicherheitsrat. Was Schmitt noch als welt- und raumfremde Utopie abtat, „[d]ie Erweiterung und Ausdehnung [des Völkerrechts] […] 51

Eingehend dazu Georg Nolte, Eingreifen auf Einladung: Zur völkerrechtlichen Zulässigkeit des Einsatzes fremder Truppen im internen Konflikt auf Einladung der Regierung, 1999. 52 Zu vergeblichen Versuchen in Zeiten der Stellvertreterkriege der 1960er und 1970er, jede äußere Einmischung in Bürgerkriege zu ächten, von Arnauld (Anm. 27), Rn. 1019. 53 Vertiefend zur Rolle Frankreichs in den ehemaligen afrikanischen Kolonien François-Xavier Verschave, La Françafrique: Le plus long scandale de la République, 1998. 54 Siehe z.B. UN-Sicherheitsrat, Resolution 2085 vom 20.12.2012 (UN Doc. S/RES/ 2085), para. 9. 55 Dazu klassisch Island of Palmas Case (Netherlands/U.S.A.), Award of 4 April 1928, RIAA II, 829, 854, 869. 56 Emphatisch für die Möglichkeit eines einzigen globalen Großraums Jochen Kleinschmidt, Politische Räume, Großräume und Weltgesellschaft, in: Rüdiger Voigt (Hrsg.), Großraum-Denken: Carl Schmitts Kategorie der Großraumordnung, 2008, 71, 92.

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vom spezifisch Europäischen in die Raumlosigkeit eines allgemein Universalen“,57 ist – bei allen Schwächen des Systems – heute zumindest in Ansätzen rechtliche und auch politische Realität. Ein Interventionsverbot für „raumfremde“ Mächte gibt es zwar nicht, da der Sicherheitsrat als globale Macht agiert und auch Staaten außerhalb der Region zum Eingreifen ermächtigen kann, wie das Beispiel Libyens zeigt. Zunehmend jedoch achtet der Rat auf die Einbindung relevanter Regionalorganisationen, um auf diese Weise für eine erhöhte Akzeptanz seiner Beschlüsse zu sorgen. Hier deutet sich eine zu begrüßende Regionalisierung der Friedenssicherung an.58 In der Belebung und Flexibilisierung von Kapitel VIII der UN-Charta, das die Rolle von Regionalorganisationen im UN-System definiert, dürfte eine der zentralen Herausforderungen für die Reform der Vereinten Nationen liegen. Grundlegendes Prinzip dieser neuen „Großraumordnung“ ist nicht Vor-Macht, sondern Konsens und Anerkennung. Regionalorganisationen können somit als konsensbasierte Gegenentwürfe zu den „Reichen“ Schmitts interpretiert werden. Dies steht einer politischen Vormachtstellung naturgemäß nicht im Wege. Es ist nicht Aufgabe des Völkerrechts, jede Machtasymmetrie zwischen Staaten im Sinne einer materiell gedeuteten Gleichheit zu beseitigen, wohl aber die wechselseitigen souveränen Ansprüche so gegeneinander zu sichern, dass sich kein Recht des Stärkeren bildet. Dies schließt in gewissem Rahmen eine „Gleichstellungspolitik“ ein, darf aber – nicht zuletzt auch im Interesse der Glaubwürdigkeit von Völkerrecht – nicht ins Utopische verlängert werden. Unter Ausnutzung der rechtlichen „Leerstellen“ hinter (oder unter) dem Konsens und unter Ausnutzung informeller Einflüsse können gerade Regionalorganisationen „führenden“ Staaten eine geeignete Plattform zur Entfaltung ihrer Führungsrolle bieten. Sie stellen aber zugleich ein normatives und institutionelles Gerüst für eine rechtliche Bändigung dieses Führungsanspruchs dar.59 Es mag genügen, hier an die Rolle Deutschlands und Frankreichs innerhalb der Europäischen Union zu erinnern. Und manche verschlungenen Pfade der regionalen Integration in Südamerika wiederum sind Ausdruck des Bestrebens, die Führungsrolle Brasiliens in für alle akzeptabler Weise auszugestalten.60 Zumindest bei hinlänglich stabilen Regionalorganisatio57

Schmitt (Anm. 23), 203. Ambivalenter Orakhelashvili (Anm. 25), 196–198. 59 M.w.N. Detlef Nolte, Macht und Machthierarchien in den internationalen Beziehungen: Ein Analysekonzept für die Forschung über regionale Führungsmächte, GIGA Working Paper No. 29, Oktober 2006, abrufbar unter http://www.giga-hamburg.de/de/system/files/ publications/wp29_nolte.pdf (letzter Zugriff am 8.10.2014), 35–40. 60 Näher Daniel Flemes, Brazil’s Cooperative Leadership in Southern Latin America’s Security Policies, 2006. 58

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nen steht ein institutionelles containment der unabgestimmten Machtentfaltung einzelner ihrer Mitgliedstaaten entgegen. II. Normative Räume An der Figur des „Westens“ hat Jürgen Osterhammel vorgeführt, dass „mental maps“ auch geistig-ideologische Nachbarschaft verzeichnen können. Bekanntlich geht der Gegensatz von Okzident und Orient, Abendland und Morgenland auf antike Kosmologien und die Erfahrungen der Perserkriege zurück. Doch die Kategorie des ‚Westens‘ entstand erst aus der Idee eines übergreifenden transatlantischen Zivilisationsmodells. […] Die Idee des ‚Westens‘ war von Anfang an noch weniger territorial gebunden als die des ‚Orients‘.61

In diesem Sinne möchte ich hier von normativen Räumen sprechen, die „imagined communities“62 über geographische Grenzen hinweg verklammern. Einen Sonderfall stellt hier das Bild von der „Einen Welt“ dar. Dieses findet seine rechtliche Entsprechung in der Vorstellung einer Völkerrechtsgemeinschaft, die durch universelle Werte einander verbunden und „benachbart“63 ist.64 Diese Vorstellung trägt gewiss einen beträchtlichen idealistischen Überschuss in sich;65 allerdings wäre es kaum weniger überzeichnet, die Bedeutung v.a. der Menschenrechte (Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948, Wiener Welt-Men-

61

Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt: Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, 2009, 143 f. 62 Zu diesem Konzept in Bezug auf Nationen Benedict Anderson, Imagined Communities: Reflections on the Origins and Spread of Nationalism, 2. Aufl. 1991. 63 Zu einem erweiterten Nachbarschaftskonzept im umwelt- und menschenrechtlichen Sinne Andreas von Arnauld, Völkerrechtliche Informationspflichten bei Naturkatastrophen, AVR 43 (2005), 279, 293–303; ders. (Anm. 27), Rn. 863; speziell zu „neuem“ Nachbarschaftsdenken im Umweltvölkerrecht Martin Vogelsang, Vom Nachbarrecht zum Umweltrecht – der Wandel des Umweltvölkerrechts: am Beispiel der UNEP-Guidelines über die Nutzung gemeinsamer geteilter Ressourcen, UPR 1992, 419; Nele Matz, Wege zur Koordinierung völkerrechtlicher Verträge, 2005, 59–62. 64 Hermann Mosler, The International Society as a Legal Community, 1980; Bruno Simma, From Bilateralism to Community Interest in International Law, RdC 250 (1994), 217; Andreas Paulus, Die internationale Gemeinschaft im Völkerrecht, 2001; Mehrdad Payandeh, Internationales Gemeinschaftsrecht, 2010. 65 Auf machtpolitische Widersprüche bei „zivilisatorischen Missionen“ im Namen der „internationalen Gemeinschaft“ weist zu Recht Kleinschmidt (Anm. 56), 83–87, hin und erkennt hierin das Fortwirken einer Zentrum-Peripherie-Unterscheidung im Stile klassischer Geopolitik.

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schenrechtskonferenz von 1993) zugunsten eines „clash of civilizations“66 herunterzuspielen. Menschenrechte sind heute universell und unteilbar; nur sind damit viele Fragen noch nicht beantwortet. Nämliches gilt für das universalistische Konzept einer Schutzverantwortung (responsibility to protect), das über den Appell an eine subsidiäre Verantwortung der internationalen Gemeinschaft eine ebenso „ortlose“ wie „allgegenwärtige“ Hoheitsgewalt imaginiert.67 Einen Sonderfall stellt diese Idee eines globalen Raums deshalb dar, weil Räume – auch normative – an sich stets in Grenzen gedacht sind. Der Raum existiert in aller Regel nur in Abgrenzung von einer Umwelt anderer Räume. Der „Orient“, der „Westen“, die „Dritte Welt“ – all dies sind Konzeptionen, die als Fremd- oder als Selbstbeschreibung eine Grenzziehung implizieren. Damit sind normative Räume in besonderer Weise mit der Gefahr eines Freund-Feind-Denkens, eines „us versus them“ verbunden,68 das in Unfrieden münden kann. Man kann dies an Zuspitzungen der Theorie des demokratischen Friedens demonstrieren.69 Dieser Theorie zufolge, die sich auf die Friedensschrift Immanuel Kants beruft, sind Demokratien ihrem Wesen nach friedliebend, weil hier die Regierenden dem Volk verantwortlich sind; das Volk aber scheut die Schrecken und Lasten des Krieges. Bis hierhin ergibt sich ein harmonisches Bild – wären da nicht die Despotien als das wesensmäßig Andere, von denen eine beständige Gefahr für den Frieden ausgehen soll. Für Demokratien könne es daher notwendig werden, Despotien zu bekämpfen – wie nicht zuletzt das Beispiel des Zweiten Weltkriegs zeige. Kriege zwischen Demokratien dagegen seien äußerst unwahrscheinliche Ereignisse.

66

Kritisch zur Unterkomplexität der plakativen These von Samuel Huntington u.a. Dodds (Anm. 12), 8–10; Helmig (Anm. 12), 36 f. 67 Dazu vertiefend Anne Orford, Jurisdiction Without Territory: From the Holy Roman Empire to the Responsibility to Protect, MichJIL 30 (2008/2009), 981. 68 Vgl. Helmig (Anm. 12), 35. 69 Dazu Andreas Hasenclever, Liberale Ansätze zum „demokratischen Frieden“, in: Siegfried Schieder/Martina Spindler (Hrsg.), Theorien der Internationalen Beziehungen, 2. Aufl. 2006, 213.

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Freedom House Electoral democracies 2008

Es geht an dieser Stelle nicht darum, die Theorie als solche zu kritisieren;70 überschreitet sie jedoch den Rubikon zwischen deskriptiv-analytischer Theoriebildung und politischer Handlungsempfehlung, wird es prekär: Schon unter der Präsidentschaft Bill Clintons entstand die Figur der „Schurkenstaaten“ (rogue states),71 deren Zahl unter George W. Bush auf rund 60 potenzielle Objekte „demokratischer Interventionen“ anwuchs.72 Das Prekäre derartiger normativer Räume wird auch an der Wiederbelebung der im Kalten Krieg für die USA maßgeblichen „Dominotheorie“ deutlich. Dieser Theorie zufolge ging vom Kommunismus eine Ansteckungsgefahr aus, die es not70

Zu unterschiedlichen Richtungen der Kritik etwa Ernst-Otto Czempiel, Kants Theorem. Oder: Warum sind die Demokratien (noch immer) nicht friedlich?, ZIB 3 (1996), 79; Sebastian Rosato, The Flawed Logic of Democratic Peace Theory, APSR 97 (2003), 585; Christopher Daase, Demokratischer Frieden – Demokratischer Krieg: Drei Gründe für die Unfriedlichkeit von Demokratien, in: Christine Schweitzer/Björn Aust/Peter Schlotter (Hrsg.), Demokratien im Krieg, 2004, 53. 71 Dazu insbesondere der damalige Sicherheitsberater des US-Präsidenten Anthony Lake, Confronting Backlash States, FA 73/2 (1994), 45. 72 Ernst-Otto Czempiel, Weltpolitik im Umbruch: Die Pax Americana, der Terrorismus und die Zukunft der internationalen Beziehungen, 2003, 176, m.w.N.; zum Schmittschen Erbe der Kategorie der „rogue states“ Ulrich Thiele, Carl Schmitts Großraumtheorie in der Perspektive der Kantisch-Kelsenschen Völkerrechtslehre, in: Rüdiger Voigt (Hrsg.), Großraum-Denken: Carl Schmitts Kategorie der Großraumordnung, 2008, 119, 120–122; eingehend Petra Minnerop, Paria-Staaten im Völkerrecht?, 2004.

Politische Räume im Völkerrecht

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wendig machte, seine Ausbreitung einzudämmen. Die Wendung dieser 1954 von Präsident Eisenhower verkündeten Theorie73 ins Positive diente ein halbes Jahrhundert später seinem Amtsnachfolger – unter anderem – zur Rechtfertigung der Invasion des Irak: Ein demokratischer Irak wäre ein beacon of democracy, dessen Strahlkraft eine Demokratisierung des gesamten Mittleren Ostens bewirken würde.74 Soweit die Welt der „westlichen Demokratien“. Doch auch die „islamische Welt“ – Selbst- oder Fremdbeschreibung? – hat sich in den letzten 15 Jahren zu einem normativen Raum formiert, in bedrohlicher Weise im Sub-Raum des Dschihadismus.75 Es steht zu hoffen, dass eine pragmatische Wende, wie sie in der zunehmenden Bereitschaft „westlicher“ Regierungen zwischen Islamisten und Dschihadisten zu differenzieren zum Ausdruck kommt, auf beiden Seiten zu einer Entspannung beitragen kann. Das Völkerrecht jedenfalls gestattet keinen Oktroi der Werte, sondern schützt – im Rahmen der universellen Menschenrechte – die Gleichberechtigung der Völker und Kulturen und die freie Wahl des eigenen politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Systems.76

73

Pressekonferenz vom 7.4.1954, Public Papers of the Presidents, 1954, 382. Zur historischen Einbettung Frank Ninkovich, Modernity and Power: A History of the Domino Theory in the Twentieth Century, 2001. 74 Kritische Diskussion bei Gareth Stansfield, The transition to democracy in Iraq: Historical legacies, resurgent identities and reactionary tendencies, in: Alex Danchev/John MacMillan (Hrsg.), The Iraq War and Democratic Politics, 2005, 134 ff.; Omar G. Encarnación, Bush and the Theory of the Democratic Peace, GD 8 (2006), No. 3–4, abrufbar unter http://www.worlddialogue.org/content.php?id=384 (letzter Zugriff am 8.10.2014). 75 Dazu vertieft Sebastian Huhnholz, Dschihadistische Raumpraxis: Raumordnungspolitische Herausforderung des militanten sunnitischen Fundamentalismus, 2009. 76 Dazu UN-Generalversammlung, Declaration on Principles of International Law Concerning Friendly Relations and Cooperation among States in accordance with the Charter of the United Nations, Resolution vom 24.10.1970 (UN Doc. A/2625[XXV]).

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Al-Qaida zugeschriebene Anschläge (2008)

Wie das Beispiel des Dschihadismus zeigt, sind es nicht länger nur Staaten, die zur Machtprojektion in der Lage sind. Der international operierende militantreligiöse Terrorismus ist dabei nur ein mögliches Beispiel. Ein anderes sind weltweit operierende Wirtschaftsunternehmen, deren „Nachbarschaft“ durch eine gemeinsame Freihandels- und Marktideologie gestiftet wird.77 Bei allen Unterschieden verbindet die beiden Beispiele, dass hier von Staaten abgelöste Macht ausgeübt wird, die potenziell auf die gesamte Welt als Aktionsraum projiziert wird. Das Völkerrecht, das traditionell noch immer an den Staaten als primären Rechtssubjekten ansetzt, ringt seit längerem darum, solche private Machtentfaltung zu bändigen. Die gezielten Sanktionen der Vereinten Nationen gegen mutmaßliche Mitglieder und Unterstützer des Terrornetzwerks Al-Qaida einerseits und die Diskussion über eine Bindung transnational agierender Wirtschaftsunternehmen an Menschenrechte andererseits können als Versuche gedeutet werden, die herrschaftsbegrenzende Funktion des Völkerrechts in Zeiten privatisierter Macht zurückzuerobern.

77

Vgl. Matthew Sparke/Victoria Lawson, Entrepreneurial Geographies of Global-Local Governance, in: John Agnew/Katheryne Mitchell/Gerard Toal (Geraóid Ó Tuathail) (Hrsg.), A Companion to Political Geography, 2003, 315.

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III. Kommunikative Räume Die eingangs formulierte Einsicht, dass Räume konstruierte Wahrnehmungsschemata sind, gestattet es schließlich auch, kommunikative politische Räume in den Blick zu nehmen. Dass mittels Kommunikation Distanzen überbrückt und Räume geschaffen werden können, ist keineswegs nur metaphorisch zu verstehen. Seit jeher haben technische Revolutionen Einfluss auf das Raumgefühl der Menschen gehabt.78 Ausdruck findet der Gedanke in ironischer Brechung bei Heinrich Heine, der über die Eröffnung der Eisenbahnlinie Paris-Orléans im Mai 1843 schrieb: Die Eisenbahnen sind wieder ein solches providentielles Ereignis, das der Menschheit einen neuen Umschwung giebt, das die Farbe und Gestalt des Lebens verändert; es beginnt ein neuer Abschnitt in der Weltgeschichte, und unsere Generation darf sich rühmen, daß sie dabei gewesen. Welche Veränderungen müssen jetzt eintreten in unsrer Anschauungsweise und in unsern Vorstellungen! Sogar die Elementarbegriffe von Raum und Zeit sind schwankend geworden. Durch die Eisenbahnen wird der Raum getötet und es bleibt uns nur noch die Zeit übrig. Hätten wir Geld genug, um auch letztere anständig zu töten!79

Vor allem das Internet als eine ubiquitäre, allgegenwärtige Kommunikationsinfrastruktur bietet heute die Möglichkeit, transnationale Öffentlichkeiten zu bilden. Michel Foucaults Gedanken zu einer „Epoche des Raumes“ aus dem Jahre 1967 erhalten durch die heutigen Kommunikationstechnologien eine erneuerte Eindringlichkeit: Hingegen wäre die aktuelle Epoche eher die Epoche des Raumes. Wir sind in der Epoche des Simultanen, wir sind in der Epoche der Juxtaposition, in der Epoche des Nahen und des Fernen, des Nebeneinander, des Auseinander. Wir sind, glaube ich, in einem Moment, wo sich die Welt weniger als ein großes sich durch die Zeit entwickelndes Leben erfährt, sondern eher als ein Netz, das seine Punkte verknüpft und sein Gewirr durchkreuzt.80

78

In dem Zusammenhang von Kommunikation und Informationsverarbeitung sieht Ken Dark, The Informational Reconfiguring of Global Geopolitics, in: Yale H. Ferguson/R. J. Barry Jones (Hrsg.), Political Space: Frontiers of Change and Governance in a Globalizing World, 2002, 61, 71–74, im historischen Längsschnitt geradezu das Konstituens politischer Räume. 79 Heinrich Heine, Lutetia, in: Wilhelm Bölsche (Hrsg.), Heinrich Heines sämtliche Werke: Ausgabe in sechs Bänden, Band 5, 1910, 159, 301. 80 Michel Foucault, Andere Räume (1967), in: Karlheinz Barck et al. (Hrsg.), Aisthesis: Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, 1990, 34. Es wäre reizvoll, die Untersuchung auf Foucaults „andere“ Räume („Heterotopien“), in denen die „Normalität“ suspendiert ist bzw. wird, zu erweitern. Nach Überwindung des Kolonialismus wären hier u.a. staatsfreie Räume oder Gebiete ohne Selbstregierung zu nennen – oder die (z.T. überwundenen) Fiktionen von Extraterritorialität. Doch das ist eine andere Geschichte, die ein andermal zu erzählen ist.

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In gewisser Hinsicht entsprechen die modernen, vernetzten kommunikativen Räume dem Urbild des politischen Raums, der agorá, den Hannah Arendt zu dem zentralen (Handlungs-)Ort ihrer politischen Philosophie gemacht hat.81

Facebook „Weltkarte der Freundschaft 2010“

Als plastisches Beispiel der Wirksamkeit solcher kommunikativer Räume stehen die Bilder des „Arabischen Frühlings“ vor Augen, in dem Proteste in verschiedenen Staaten der „Arabischen Welt“ (noch ein Raumbegriff) über Dienste wie Twitter und Facebook koordiniert und verbreitet wurden.82 Doch auch die gewalttätigen Demonstrationen gegen das Hetzvideo „Die Unschuld der Muslime“ im Jahr 2012 oder die gegenwärtigen (Juni 2013) Proteste in der Türkei wären ohne die heutigen Techniken der Massenkommunikation undenkbar; hinzu tritt die massenmediale Verbreitung, die solchen zivilgesellschaftlichen Protesten ein beträchtliches Druckpotenzial gibt. Mit der Internetplattform YouTube wird auch die Verbreitung dieser Bilder zivilgesellschaftlich „privatisiert“.

81

Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, 1960, 27–75. Näher Asiem El Difraoui, Die Rolle der neuen Medien im Arabischen Frühling, 3.11.2011, abrufbar unter http://www.bpb.de/internationales/afrika/arabischer-fruehling/ 52420/die-rolle-der-neuen-medien?p=all (letzter Zugriff am 8.10.2014). 82

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Derartige substaatliche kommunikative Räume liegen erneut quer zu der noch immer primär staatenorientierten Sicht des Völkerrechts. Hinzu kommt, dass die Notwendigkeit und die Formen rechtlicher Reaktion von den Inhalten abhängen: – Weltweite Proteste gegen eine Verletzung des Völkerrechts wie jene gegen den Irak-Krieg 2003, in denen Jürgen Habermas und Jacques Derrida in seltener Einmütigkeit die Wiedergeburt eines neuen „alten Europa“ sahen,83 können ein wichtiges Mittel zur Effektuierung des Völkerrechts darstellen. – Bei Kritik an den herrschenden Verhältnissen im eigenen Land wiederum ist der Themenkreis eines internen Selbstbestimmungsrechts oder „Rechts auf Demokratie“ angeschnitten, das derzeit noch immer kontrovers diskutiert wird; allenfalls dort, wo ein durch Wahlen ausgeübtes Selbstbestimmungsrecht missachtet wird (Haiti, Elfenbeinküste), scheinen die Vereinten Nationen zum Eingreifen bereit.84 – Wo sich Proteste gegen andere Staaten richten (man denke an die Erstürmung der US-Botschaft in Libyen und den Tod des US-Botschafters, J. Christopher Stephens, 2012), verpflichtet das Völkerrecht die Empfangsstaaten zum Schutz von dessen Einrichtungen. Dass der Zugang zum Internet als kommunikativer Infrastruktur und zu den sog. sozialen Diensten ihrerseits menschenrechtlich abgesichert sind, lässt sich zwar theoretisch gut begründen; eine solche transnationale Meinungs- und Informationsfreiheit erfährt ihre praktischen Grenzen jedoch in der souveränen Politik vieler Staaten. Dass die Internet-Zensur in Tunesien und anderen Ländern des „Arabischen Frühlings“ die Proteste eher verschärft hat, mag einen Hinweis auf das Entwicklungspotential solcher kommunikativer Räume auch für das Völkerrecht geben. Einstweilen allerdings muss man einiges Wasser in den Wein geben: zum einen weil die Nutzung des Internet und internetbasierter sozialer Netzwerke zumindest im arabischen Raum ein Mittelschichtphänomen ist; zum anderen weil derartige Kommunikationsforen nicht immun gegenüber Verzerrungen und Einflussnahmen sind. Hier bieten sich erneut Einwirkungsmöglichkeiten, um politische Prozesse zu steuern. Der globale herrschaftsfreie Diskurs im Internet bleibt also – bis auf weiteres? – Utopie.

83

Jacques Derrida/Jürgen Habermas, Nach dem Krieg: Die Wiedergeburt Europas, in: FAZ vom 31.5.2003, 33. 84 von Arnauld (Anm. 27), Rn. 98; vertiefend Frithjof Ehm, Demokratie und die Anerkennung von Staaten und Regierungen, AVR 49 (2011), 64, 79–85; ders., Das völkerrechtliche Demokratiegebot: Eine Untersuchung zur schwindenden Wertneutralität des Völkerrechts gegenüber den staatlichen Binnenstrukturen, 2013, 129–143.

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IV. Meta-Raum: Multipolarität Die bisher untersuchten politischen Raum-Bilder, die sich teils überlappen, teils verblassen, lösen sich auf in einem neuen, komplexen Raummodell. Der Niedergang von Imperien, die Einhegung von Hegemonien, das Auftreten neuer Regionalmächte, die fortschreitende regionale Integration, die zunehmende Bedeutung nichtstaatlicher Akteure: all dies fügt sich zusammen im globalen Raum der Multipolarität.85 Die multipolare Ordnung ist gekennzeichnet durch Einheit in Vielfalt. Bei allen Differenzen nämlich ist eine multipolare Welt nur als Einheit vorstellbar. Dies folgt schon aus der Notwendigkeit von Koordination und Kooperation in Zeiten der Globalisierung. Neu ist nach der Überwindung der bipolaren Welt des Ost-West-Konflikts und der kurzen Phase US-amerikanischer Unipolarität die Pluralität der Zentren. Neu insofern, als das Gleichgewicht der Mächte anders als in der von Stefan Zweig nostalgisch beschworenen „Welt von gestern“86 nunmehr weit über das „alte Europa“ hinausreicht, das heute sogar der Einigung bedarf, um nicht globalpolitisch an den Rand gedrängt zu werden. Die neuen Pole indes sind ihrerseits nicht länger souveräne Nationalstaaten wie am Ende des langen 19. Jahrhunderts. Der moderne Nationalstaat ist auch dann, wenn er sich zu den „führenden Staaten“ rechnen kann, eingebunden in ein Netz völkerrechtlicher Pflichten. Insbesondere Projekte regionaler Integration weben dieses Netz dichter als in früheren Epochen. Nimmt man hinzu, dass auch nichtstaatliche Akteure zunehmend ihren Einfluss auf die Gestaltung internationaler Politik fordern und nehmen, kann die multipolare Welt in vertikaler Dimension als layers of networks, als Schichtung von Netzwerken, charakterisiert werden. Unter diesen sich wandelnden Vorzeichen muss das Völkerrecht seine Aufgaben erfüllen, ohne sich selbst aufzugeben. Gerade in der multipolaren Welt bleibt das Völkerrecht als Medium des Kontakts, der friedlichen Koordination und der Kooperation unverzichtbar. Wie verschiedentlich deutlich geworden ist, gehört der Rechtsgrundsatz der souveränen Gleichheit nach wie vor zu den zentralen Bausteinen, um dem Machtstreben globaler wie regionaler Führungsmächte entgegenzuwirken – freilich in dem Rahmen, den die UN-Charta vorgibt. Die Figur des souveränen Staates mag beschädigt sein, bleibt aber ein unerlässlicher stabilisierender Faktor. Dies ändert nichts daran, dass eine Vertiefung der zwischen- und überstaatlichen Kooperation weiterhin nötig ist. Gerade für die in den letzten Jahrzehnten wachsenden Bemühungen um regionale Integration bietet das Völkerrecht die geeigneten Mittel. Erst in Ansätzen finden sich dagegen Versuche einer 85 Näher Michael Staack, Multipolarität und Multilateralismus als Strukturen der neuen Weltordnung, in: ders., (Hrsg.), Asiens Aufstieg in der Weltpolitik, 2012, 9, 11–20. 86 Stefan Zweig, Die Welt von gestern: Erinnerungen eines Europäers, 1942.

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Einbeziehung nichtstaatlicher Akteure in das Völkerrecht. Hier scheint die Fixierung auf eine an traditionellen Leitbildern ausgerichtete Völkerrechtssubjektivität nach wie vor im Wege zu stehen.

D. Politische Räume im Völkerrecht heute: Welches Völkerrecht? Eingangs wurden politische Räume als Bezugspunkte für Machtprojektionen charakterisiert. Beim Durchspielen unterschiedlicher Modelle politischer Räume ist erkennbar geworden, dass sich die Formen der Machtprojektion in den letzten Jahrzehnten verändert haben, und zwar in dreifacher Hinsicht:87 – Eine Entwicklung weg von dem auf Beherrschung angelegten Masterplan hin zu punktuellen, „mikroinvasiven“ Aktionen: Die von Carl Schmitt beschriebene „Einheit von Ortung und Ordnung“ scheint sich zu verflüchtigen. Beispiele sind hier Terroranschläge oder – als Vergeltung mit ähnlichen Methoden – die gezielte Tötung mit Drohnen, aber auch die Ausübung supranationaler Hoheitsgewalt gegenüber Individuen durch sog. gezielte Sanktionen. – Verbunden damit geht die „souveräne Raumherrschaft“88 als „flächendeckende“ Projektion staatlicher Macht zwar nicht verloren; sie wird aber vielfältig durch eine Netzwerkarchitektur ergänzt bzw. überlagert;89 es bilden sich spannungsreiche Mehrebenensysteme. – Eine Diversifizierung von Macht in den internationalen Beziehungen: Neben militärischer Machtprojektion existieren andere Formen des Zwangs und Drucks, die das Feld auch für ökonomische oder zivilgesellschaftliche private Akteure öffnen. Diese neuen Formen sind nicht an die Stelle territorial gebundener staatlicher Macht getreten, sondern neben sie. Damit wird das traditionelle staatenorientierte Völkerrecht nicht überflüssig, sondern behält seine Bedeutung. Ein allein auf Territorialstaaten hin orientiertes Völkerrecht jedoch muss notwendig unvoll-

87

Vgl. zu den ersten beiden Punkten Huhnholz (Anm. 75), 9 f. Huhnholz (Anm. 13), 378. 89 Vgl. Andreas Fischer-Lescano/Gunther Teubner, Fragmentierung des Weltrechts: Vernetzung globaler Regimes statt etatistischer Rechtseinheit, in: Mathias Albert/Rudolf Stichweh (Hrsg.), Weltstaat und Weltstaatlichkeit: Beobachtungen globaler politischer Strukturbildung, 2007, 37. 88

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kommen bleiben, weil es keine Antworten auf die veränderten Formen der Machtprojektion geben kann. In welcher Richtung also sind Antworten zu suchen? – Nötig ist, erstens, ein „Kollisionsvölkerrecht“, in dem die miteinander konkurrierenden Machtprojektionen auf denselben Raum abgestimmt werden, auch und insbesondere in Räumen begrenzter Staatlichkeit.90 Namentlich geht es um die extraterritoriale und supranationale Ausübung von Hoheitsgewalt unter den idealtypisch unterscheidbaren Aspekten einer jurisdiction to prescribe und einer jurisdiction to enforce. Gleich, ob es um Sicherheitsfragen geht, um Umwelt- oder um humanitäre Fragen: nur durch Beachtung der um die souveräne Gleichheit aller Staaten kreisenden Grundsätze von Konsens, internationaler Kooperation und Multilateralität (namentlich bei der Ausübung von Zwang) kann das Völkerrecht auch in Zukunft seine – im Sinne Martti Koskenniemis91 – „zivilisierende“ Mission erfüllen. – Nötig ist, zweitens, eine Erweiterung der staatenorientierten Perspektive auf den Schutz und die Ermächtigung (empowerment) des Individuums. Hier ist zunächst das Konzept der Schutzverantwortung – behutsam – weiter zu entfalten, und zwar entlang der Linien, die UN-Generalsekretär Ban KiMoon skizziert hat, als er formulierte: „Our approach to the responsibility to protect should […] be both narrow and deep“.92 Die vor allem in der politikwissenschaftlichen Literatur dominante Fixierung auf die gewaltsame humanitäre Intervention verdeckt die Möglichkeiten, die das Konzept der Schutzverantwortung für die internationale Kooperation und für weichere Formen der Einmischung im Interesse von Menschen bietet. Die Aufgabe an das Völkerrecht, an einer Ermächtigung des Individuums zu arbeiten, betrifft vor allem den Zugang zur Kontestation (contestation), d.h. den Zugang zur normativen Kritik von Regeln, Institutionen und Machtstrukturen jenseits des Staates.93 Dies schließt neben der rechtlichen Absicherung von Formen des (grundsätzlich gewaltfreien) Protests auch ein Recht auf Rechtsschutz gegenüber Akten supranationaler Machtausübung ein.

90

In bewusster Anspielung auf den Titel des DFG-Sonderforschungsbereichs 700 („Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit“). Dazu im Überblick Torsten Risse/Ursula Lehmkuhl, Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit, APuZ 20–21/2007, 3. 91 Vgl. Martti Koskenniemi, The Gentle Civilizer of Nations: The Rise and Fall of International Law 1870–1960, 2001, 494–509, zu einer „culture of formalism“. 92 UN-Generalsekretär, Bericht vom 12.1.2009 (UN Doc. A/63/677), para. 10 lit. c. 93 Dazu Antje Wiener, Contested Meanings of Norms: A Research Framework, CEP 5 (2007), 1; dies., The Invisible Constitution of Politics: Contested Norms and International Encounters, 2008, 197–214; dies., A Theory of Contestation, 2014.

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– Nötig ist schließlich auch die Einhegung privater Macht. Eine unmittelbare Bindung privater Akteure an das Völkerrecht ist bereits seit längerem im Humanitären Völkerrecht und im Völkerstrafrecht etabliert; über eine Bindung an Menschenrechte, an Umwelt- und Sozialstandards wird noch immer diskutiert. Unabhängig von der Frage einer Bindung jedoch werden zur Durchsetzung solcher Standards Staaten und Internationale Organisationen – regional und global – auch in Zukunft weiterhin als wichtige Partner benötigt. Verfolgt man die hinter der politischen Raumsemantik stehenden Wandlungen von Machtprojektionen in den internationalen Beziehungen, wird somit deutlich, dass und warum das Völkerrecht gegenwärtig vor einem Anpassungsprozess steht, der Anfragen an die Grundstrukturen dieses Rechts stellt. Jene Grundstrukturen sind ihrerseits Produkt historisch-politischer Umstände und damit keineswegs axiomatisch; gleichwohl ist vor der übereilten Ausrufung eines „neuen“ Völkerrechts zu warnen. Es geht nicht um modische Adaptionen, sondern darum, unter sich verändernden Voraussetzungen weiterhin mit Mitteln des Rechts Frieden zu sichern, Macht zu begrenzen, Kooperation zu ermöglichen und auf gemeinsame Ziele zu verpflichten. Diese Aufgabe ist um einiges komplexer, wenn zwischen globalen, regionalen und lokalen Werten und Normen zu vermitteln und staatliche, überstaatliche wie nichtstaatliche Akteure einzubeziehen sind. Die für eine Einheit in der Vielfalt notwendige Universalität der Standards ist dabei als ein fortwährender diskursiver Prozess zu begreifen, der offen für Differenz sein und bleiben muss. Bei alledem gilt es stets, bewährte Normen und Institutionen des Völkerrechts durch Bewahrung, aber auch durch behutsame Fortentwicklung zu festigen. Dies mag noch recht abstrakt klingen; mehr indes als Suchrichtungen für diese Aufgabe an ein Völkerrecht für das 21. Jahrhundert anzudeuten, kann hier nicht geleistet werden. Bildquellenverzeichnis Abb. 1: Halford Mackinder, GJ 23 (1904), 421, 435 Abb. 2: Karl Haushofer, Weltpolitik von heute, 1934, 57, 121 Abb. 3: Current US military deployments, aus: Wikimedia Commons, http://commons. wikimedia.org/wiki/File:Current_US_military_deployments.png, Stand: 16.11.2014 Abb. 4: Regional powers, aus: Wikimedia Commons, http://commons.wikimedia.org/wiki/ File:Regional_powers.PNG, Stand: 27.03.2008 Abb. 5: Freedom House electoral democracies 2008, aus: Wikimedia Commons, http:// commons.wikimedia.org/wiki/File:Freedom_House_electoral_democracies_2008.gif, Stand: 19.08.2008

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Abb. 6: Recent Al Qaeda Attacks, Wikimedia Commons, http://upload.wikimedia.org/ wikipedia/commons/archive/f/fd/20080721132520%21RecentAlQaedaAttacks.svg, Stand: 10.07.2008 Abb. 7: „Weltkarte der Freundschaft 2010“, Facebook Inc.

Rechtsräume im Völkerrecht und transzivilisatorische Völkerrechtsperspektive Von Stefan Oeter

A. Einleitung Das moderne Völkerrecht, mit dem wir heute als Korpus rechtlicher Regeln im zwischenstaatlichen Verhältnis arbeiten, ist ein Produkt der europäischen Staatengemeinschaft.1 Die Staaten Europas, für die sich im Verlaufe der frühen Neuzeit ein gemeinsames Regelwerk – häufig geführt unter dem Begriff des „Jus Publicum Europaeum“ bzw. des „droit public de l’Europe“ – herausgebildet hatte, waren zugleich seit dem 16. Jahrhundert in eine Phase ungehemmter territorialer Expansion eingetreten.2 Über Jahrhunderte hatten sich die führenden Seemächte Europas mehr und mehr überseeische Territorien als Koloniegebiet angeeignet, bis zum Ende des 19. Jahrhunderts praktisch die gesamte Welt unter den europäischen Staaten aufgeteilt war – mit Ausnahme der (Neu-)Staaten der amerikanischen Hemisphäre, die sich zum Ende des 18. und Beginn des 19. Jahrhunderts ihre Unabhängigkeit von den Kolonialmächten erkämpft hatten, und einiger weniger Staaten Asiens und Afrikas, die sich erfolgreich der kolonialen Unterwerfung widersetzt hatten (wie Japan, China, Siam, Persien und Abessinien).3 In einer parallelen Bewegung verfestigte sich die Auffassung, dass nur „souveräne Staaten“ nach dem Muster des europäischen Territorialstaates dazu befähigt seien, als vollberechtigtes Völkerrechtssubjekt am zwischenstaatlichen Rechtsverkehr teilzunehmen4 – ein Prozess der Abschließung zu einem Club exklusiver Herrschaftsträger, der sich über eine Abfolge großer diplomatischer Konferenzen über 1

Vgl. nur Antony Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law, 2004, 13 ff. 2 Zu den völkerrechtlichen Rahmenbedingungen und Konsequenzen dieser Expansion vgl. Wilhelm G. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 2. Aufl. 1988, 269 ff., 332 ff. 3 Anghie (Anm. 1), 52 ff. 4 Jörg Fisch, Die europäische Expansion und das Völkerrecht. Die Auseinandersetzungen um den Status der überseeischen Gebiete vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 1984, 86 ff., 284 ff.; vgl. ferner Gerrit W. Gong, The Standard of „Civilization“ in International Society, 1987, 284 ff.

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das 19. Jahrhundert hinweg nachzeichnen lässt.5 Mit der 2. Haager Friedenskonferenz von 1907 war dann die Mitgliedschaft im Club der „souveränen Staaten“ endgültig geklärt – neben den europäischen Staaten (einschließlich des Osmanischen Reiches) nahmen nun auch die lateinamerikanischen Staaten und die wenigen unabhängig gebliebenen Staaten Asiens an dieser globalen Staatenkonferenz teil.6 Preis dieser Verengung des Kreises rechtsfähiger „Völkerrechtssubjekte“ war die Marginalisierung nicht dem Muster des europäischen Staates entsprechender Herrschaftsgebilde und Gemeinwesen außerhalb Europas7 – ein nicht unwillkommener Nebeneffekt, der es den europäischen Mächten gestattete, die Gebiete dieser verschiedenartigen Gemeinwesen entweder unter dem Deckmantel der „terra nullius“ zu annektieren oder zumindest als Protektorat unter Kontrolle zu bringen.8 Die Dekolonisierung hat seit 1945 – quasi als Gegenbewegung zu dieser herrschaftlichen Durchdringung der Welt unter europäischer Dominanz – den Bewohnern der kolonialen Gebietseinheiten formal die „Selbstbestimmung“ eingeräumt.9 Diese politische Selbstbestimmung im Gehäuse des „post-kolonialen Staates“ aber hat für die Opfer und Leidtragenden kolonialer Dominanz, die indigenen Völker und bäuerlichen Bevölkerungen Asiens, Afrikas, Amerikas, wieder einen Preis – sie findet unweigerlich im Rahmen der institutionellen Strukturen und bürokratischen Gestalt des kolonialen Staates statt.10 Zunächst wurden die kolonialen Eliten durch einheimische Eliten mit kolonialer Prägung ausgetauscht. Diese Prägung mag sich in vielen Teilen der Welt verdünnt haben, aber ein Blick auf die Amtsprachenregelungen der post-kolonialen Staaten und die Gegensätze zwischen städtischen Eliten und ländlicher Bevölkerung zeigt doch, dass koloniale Prägungen mit erheblicher Folgewirkung nachhallen.11 Die Probleme, die mit der (zwangsweisen) Erstreckung des Organisationsmodells des modernen Anstaltsstaates auf alle Teile der Welt verbunden sind, zeigen sich in der Forschung zum Phänomen des „schwachen“ bzw. „fragilen“ Staates mit be-

5

Vgl. Miloš Vec, From the Congress of Vienna to the Paris Peace Treaties of 1919, in: Bardo Fassbender/Anne Peters (Hrsg.), The Oxford Handbook of the History of International Law, 2012, 654. 6 Jost Dülffer, Regeln gegen den Krieg? Die Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907 in der internationalen Politik, 1981, 227 ff., 300 ff. 7 Anghie (Anm. 1), 100 ff. 8 Fisch (Anm. 4), 297 ff. 9 Jörg Fisch, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Die Domestizierung einer Illusion, 2010, 232 ff. 10 Anghie (Anm. 1), 196 ff. 11 Vgl. nur Basil Davidson, The Black Man’s Burden. Africa and the Curse of the Nation-State, 1992.

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sonderer Deutlichkeit.12 Ein ganzer Sonderforschungsbereich widmet sich an der FU Berlin den Problemen der „Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit“13 – und man kann nicht behaupten, dass ihm die Forschungsthemen ausgingen. „Begrenzt“ ist Staatlichkeit in weiten Teilen der Welt, weil Macht und Einfluss der staatlichen Bürokratie häufig kaum über die Hauptstadt und einige Provinzkapitalen hinausreichen, was bedeutet, dass die zentralen Staatsfunktionen in den Bereichen Sicherheit, Wohlfahrt und Bildung weitgehend ausfallen.14 Auch für das Völkerrecht bedingt das Phänomen der „fragilen“ Staatlichkeit erhebliche Probleme. Sieht man auch nur etwas genauer hin, so stellt man fest, dass die (post-)koloniale Fassade moderner Staatlichkeit in weiten Teilen der Welt die notwendige politische Gemeinschaftsbildung, bürokratische Steuerung und Verrechtlichung, die das ausdifferenzierte Völkerrecht des 21. Jahrhunderts eigentlich als zentrale Funktionsbedingung voraussetzt, gar nicht gewährleisten kann.15 Aufgrund der strukturellen Funktionsschwäche des Staates in weiten Teilen der Welt findet Herrschaftsausübung vielfach nicht – wie im modernen Anstaltsstaat vorgesehen – in der berechenbaren Rationalität bürokratischer Apparate statt, sondern in „hybriden“ Formen der Governance, also im Zusammenwirken von Staat und nicht-staatlichen Trägern gesellschaftlicher Macht – mit all den Charakteristika solchermaßen „personalisierter“ Herrschaftsverhältnisse.16 Dem Völkerrecht fehlt es damit in der Folge häufig an den institutionellen Anknüpfungspunkten, die in den funktional ausdifferenzierten Sachregimen des Völkerrechts vorausgesetzt werden – Kooperation der Gesundheitsbehörden, der Zollverwaltungen, der Veterinärkontrolle, der Kriminalpolizeien, der Exportkontrollbehörden etc. setzt eben das Vorhandensein leistungsfähiger und fachlich spezialisierter Sonderbehörden voraus, die das Kooperationsregime inhaltlich 12

Vgl. als Literaturüberblick zur Debatte um „failed states“ und „fragile Staatlichkeit“ Marie von Engelhardt, Die Völkerrechtswissenschaft und der Umgang mit Failed States – Zwischen Empirie, Dogmatik und postkolonialer Theorie, VRÜ 45 (2012), 222. 13 Siehe die Website des SFB 700 unter http://www.sfb-governance.de (letzter Zugriff am 8.10.2014); vgl. auch Thomas Risse/Ursula Lehmkuhl, Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit: Neue Formen des Regierens? Das Forschungsprogramm des Sonderforschungsbereichs 700 (SFB 700), SFB Governance Working Paper 1, abrufbar unter http://www.sfb-governance.de/publikationen/working_papers/wp1/SFB-GovernanceWorking-Paper-1.pdf (letzter Zugriff am 8.10.2014). 14 Siehe Stefan Oeter, Prekäre Staatlichkeit und die Grenzen internationaler Verrechtlichung, in: Regina Kreide/Andreas Niederberger (Hrsg.), Transnationale Verrechtlichung: Nationale Demokratien im Kontext globaler Politik, 2008, 90, 92 ff. 15 Stefan Oeter, (Fragile) Staatlichkeit und Entwicklung, in: Philipp Dann/Stefan Kadelbach/Markus Kaltenborn (Hrsg.), Entwicklung und Recht, 2014, 471. 16 Risse/Lehmkuhl (Anm. 13), 8 ff.

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tragen können.17 Das Ergebnis ist häufig dramatisch, jedenfalls für die Funktionsfähigkeit der zahlreichen technischen Sonderregime, aber letztlich auch für die grundlegenden Normen des allgemeinen Völkerrechts. Völkerrechtliche Normtexte werden in der sozialen und politischen Praxis der Mitgliedstaaten durch das Handeln der jeweils zuständigen Fachbehörden in „law in action“ umgesetzt.18 Die Transformation der Normtexte in „law in action“ – wenn sie denn überhaupt stattfindet – geschieht dabei vor dem Hintergrund der je spezifischen kulturellen Verstehenskontexte der einzelnen Gesellschaften, denn Normtexte haben keine festliegende Bedeutung „an sich“, sondern erhalten ihre Bedeutung jeweils erst im Kontext der je spezifischen sozialen Praxis.19 Dies mag bei den Normtexten der stark spezialisierten technischen Sonderregime zunächst eher wenig als Problem erscheinen, sorgt hier doch das gemeinsame Begriffsverständnis der „epistemic community“ der ähnlich sozialisierten Fachexperten noch für ein weitgehend geteiltes Begriffsverständnis – was allerdings die Existenz einer solchen Fachcommunity voraussetzt, ohne deren geteiltes Begriffsverständnis die Normen der spezialisierten Sonderregime weitgehend leerlaufen dürften.20 Je allgemeiner die Norm gefasst ist, desto anschlussfähiger scheint sie zunächst auch für nicht spezialisierte staatliche Akteure zu sein. Man denke etwa an die Menschenrechte, deren Gewährleistungen häufig sehr generalklauselartig gehalten sind. Diese bewusst weit gehaltene Textformulierung erleichtert eine Vielzahl epistemischer Anschlüsse, lässt das Begriffsverständnis jedoch zugleich sehr unterschiedlich ausfallen, je nach kultureller, religiöser und sozialer Prägung der jeweiligen Norminterpreten und der die Normtexte in „law in action“ transformierenden sozialen Gruppen.21 Der Streit um die sehr unterschiedlichen Begriffsverständnisse von Geschlechtergleichberechtigung oder „unmenschlicher und erniedrigender Strafe oder Behandlung“ über die verschiedenen Kulturkreise hinweg verdeutlicht diesen Befund, vom Verständnis grundlegender Prinzipien wie Demokratie und „rule of law“ einmal ganz abgesehen. 17

Oeter (Anm. 14), 95 ff. Vgl. zum Konzept des „law in action“ Max Travers/John F. Manzo (Hrsg.), Law in Action: Ethnomethodological and Conversation Analytic Approaches to Law, 1997. 19 Vgl. Nicholas Onuf, Rules in Practice, in: Oliver Kessler et al. (Hrsg.), On Rules, Politics and Knowledge: Friedrich Kratochwil, International Relations and Domestic Affairs, 2010, 115 ff.; vgl. aber auch Friedrich V. Kratochwil, Rules, Norms, and Decisions: on the Conditions of Practical and Legal Reasoning in International Relations and Domestic Affairs, 1989, 34 ff. 20 Vgl. zum Phänomen der „epistemic communities“ nur Peter M. Haas, Introduction: Epistemic Communities and International Policy Coordination, IO 46 (1992), 1. 21 Antje Wiener, Normative Baggage in International Encounters: Contestation all the Way, in: Oliver Kessler et al. (Hrsg.), On Rules, Politics and Knowledge: Friedrich Kratochwil, International Relations and Domestic Affairs, 2010, 202. 18

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B. Rechtsräume im Völkerrecht Ein eher kulturwissenschaftlicher bzw. anthropologischer Blick zeigt, dass es auf der Welt eine Vielzahl diverser Rechtsräume gibt, deren kulturelle wie historische Grundprägungen ganz unterschiedliche Rechtsverständnisse und rechtliche Ordnungsentwürfe tragen.22 Diese kulturelle Unterschiedlichkeit der „normative roots“ ist auch von erheblichem Belang für die Völkerrechtswissenschaft (wie die Völkerrechtspraxis).23 Die kulturelle Diversität der Gesellschaften quer über den Globus schwingt als Befund auch unweigerlich mit in den Debatten über die „Universalität“ des Völkerrechts.24 Als weltumspannendes, einheitlich alle Staaten adressierendes Regelsystem mit gemeinsamen Normtexten ist dieses Recht ja scheinbar auf die Schaffung einheitlicher Standards angelegt. Der vielfältige rechtliche Diskurs der Staaten auf zwischenstaatlichen Konferenzen, in internationalen Organisationen und transnationalen administrativen Netzwerken – unter dem Stichwort des „international legal process“ begrifflich gefasst25 – scheint auf die Schaffung gemeinsamer Standards mit einheitlichen Begriffsverständnis gerichtet zu sein. Ein solchermaßen gleichartig alle Staaten und Gesellschaften erfassendes Recht könnte – so die Universalisten – als ein wahrhaft „universales“ Recht begriffen werden, dass die „internationale Gemeinschaft“ in einer „Rechtsgemeinschaft“ zusammenfasst und organisiert, damit dann die Grundlagen einer globalen „Vergemeinschaftung“ legt.26 Doch dieses unitarische Verständnis eines „universalen Völkerrechts“ reibt sich an dem Befund der real immer noch vorfindlichen kulturellen Diversität der verschiedenen Teile der Welt.27 Diese kulturelle Diversität aber ist – wie skizziert – für das Völkerrecht nicht ohne Belang, schon im Blick auf die Bedingtheit des „law in action“ durch die kulturellen Kontexte des Verstehens und der begrifflichen Konstruktion von Recht. 22

William Twining, General Jurisprudence: Understanding Law from a Global Perspective, 2009, 76 ff. 23 Nico Krisch, Beyond Constitutionalism: The Pluralist Structure of International Law, 2010, 69 ff. 24 Vgl. zum Paradigma Heinhard Steiger, Zur Begründung der Universalität des Völkerrechts, Der Staat 5 (1966), 423. 25 Vgl. Mary Ellen O’Connell, New International Legal Process, AJIL 93 (1999), 334; vgl. aber auch schon Abram Chayes/Thomas Ehrlich/Andreas F. Lowenfeld, International Legal Process: Materials for an Introductory Course, 1968. 26 Vgl. nur Andreas L. Paulus, Die internationale Gemeinschaft im Völkerrecht, 2001, 35 ff., 285 ff.; und Christian Tomuschat, International Law: Ensuring the Survival of Mankind on the Eve of a New Century, RdC 281 (1999), 9, 72 ff. 27 Vgl. Giles Gunn, The Trans-civilizational, the Inter-civilizational, and the Human, in: Richard Falk/Mark Juergensmeyer/Vesselin Popovski (Hrsg.), Legality and Legitimacy in Global Affairs, 2012, 198.

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Das Paradigma der „Rechtsräume“ thematisiert in diesem Kontext die Einsicht, dass die (kulturell bedingte) Fragmentierung der Begriffsverständnisse und des normativen Verstehens nicht primär durch die (ja relativ neuen) Nationalstaaten geprägt ist, sondern durch weit tiefer liegende Prägungen gemeinsamer kultureller Traditionen und Orientierungen, durch eine regional gemeinsame kulturelle „Tiefengrundierung“ der Rechtsverständnisse und rechtlichen Ordnungsmodelle.28 Das Völkerrecht als „law in action“ ist insoweit – nimmt man die zugrunde liegende Einsicht ernst – durch starke Phänomene der Regionalisierung geprägt, durch Räume relativer Gemeinsamkeit in Verständnis und Herangehensweise einerseits, durch starke Unterschiede zwischen den Regionalräumen andererseits.29 Dies heißt nicht, dass man die Binnendifferenzierungen innerhalb der kulturell gemeinsam geprägten Regionen minimieren sollte – auch innerhalb scheinbar gleichartig geprägter Kulturräume können erhebliche kulturelle Differenzen bestehen, wie nicht zuletzt ein Blick in die Vielfalt der Kulturen Europas zeigt, die von außen als Ausdrucksformen einer gemeinsamen europäischen Kultur wahrgenommen werden. Relativ erweisen sich diese Differenzen aber als weniger relevant, vergleicht man sie mit den Unterschieden zwischen den Kulturräumen. Mit anderen Worten: Die gleiche Norm des Völkerrechts bzw. der gleiche Normtext kann in verschiedenen kulturellen Kontexten sehr unterschiedliche Bedeutung bekommen, während er in (durch starke Gemeinsamkeiten geprägten) Kultur- und Rechtsräumen weitgehend ähnliche Normverständnisse und darauf aufruhende soziale Praktiken bewirken kann. I. Rechtskreise und Rechtskulturen Das hier verwendete Bild der „Rechtsräume“ knüpft an traditionelle Konzepte der Rechtsvergleichung an, die mit Konzepten wie „Rechtskreisen“30 und „Rechtskulturen“ arbeitet.31 In den Blick genommen wird mit diesen Konzepten der Rechtsvergleichung die (relative) Gemeinsamkeit verschiedener Rechtsordnungen, 28 Vgl. H. Patrick Glenn, Legal Traditions of the World: Sustainable Diversity in Law, 3. Aufl. 2007, 31 ff. 29 Yasuaki Onuma, A Transcivilizational Perspective on International Law: Questioning Prevalent Cognitive Frameworks in the Emerging Multi-Polar and Multi-Civilizational World of the Twenty First Century, RdC 312 (2009), 77, 133 ff. 30 Vgl. etwa Rainer Grote, Rechtskreise im öffentlichen Recht, AöR 126 (2001), 10. 31 Vgl. Hans Jörg Sandkühler (Hrsg.), Recht und Kultur: Menschenrechte und Rechtskulturen in transkultureller Perspektive, 2011; sowie Heinz-Dieter Assmann (Hrsg.), Unterschiedliche Rechtskulturen – Konvergenz des Rechtsdenkens, 2001; und Peter Sack (Hrsg.), Monismus oder Pluralismus der Rechtskulturen? Anthropologische und ethnologische Grundlagen traditioneller und moderner Rechtssysteme, 1991.

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die im Grundsatz auf gemeinsamen historisch-kulturellen „Tiefengrundierungen“ und daraus erwachsenden Wesensähnlichkeiten der kulturellen Grundprägungen beruht. Im staatlichen Kontext kann für die Zugehörigkeit zu bestimmten Rechtskreisen aber auch schon das gemeinsame koloniale Schicksal unter der Herrschaft der gleichen Kolonialmacht ausreichen, die die Grundstrukturen ihrer Rechtsordnung an ihre post-kolonialen Nachfolgestaaten vererbt hat – dies besonders sichtbar in Afrika, wo die kolonialen Vergangenheiten zu unterschiedlichen Rechtskulturen britischer, französischer und portugiesischer Prägung geführt haben. Das Völkerrecht hat diese Konzepte der „Rechtskreise“ und „Rechtskulturen“ in ganz unterschiedlichen Kontexten rezipiert. Man denke etwa an den Regionalproporz im UN-System, der sich bei den Wahlen der IGH-Richter oder der Mitglieder der ILC in der Verkoppelung bestimmter Sitze mit Regionalgruppen niederschlägt, die in Anlehnung an verschiedene Rechtskreise gebildet sind. Art. 9 des IGH-Statuts etwa macht diesen Bezug ganz explizit, indem dort vorgesehen wird, dass die Richter „in ihrer Gesamtheit eine Vertretung der großen Kulturkreise und der hauptsächlichen Rechtssysteme der Welt gewährleisten“.32 Die Konzepte der „Rechtskreise“ und „Rechtskulturen“ dürfen dabei allerdings nicht mit ontologischen Kategorien verwechselt werden. Natürlich sind diese Konzepte soziale Konstruktionen, die kulturelle Zusammenhänge und soziale Praktiken in einem bestimmten begrifflichen Konstrukt verständlich zu machen suchen, die damit aber im Zeitverlauf wandelbar sind. Je nach Herangehensweise und Tiefenschärfe des analytischen Blicks ergeben sich ganz unterschiedliche Modelle von „Rechtskreisen“ und „Rechtskulturen“, die sich mit dem Wandel des Blicks verändern können, deren Bezugsobjekte aber natürlich auch in sich durchaus dynamisch sind und sich im Zeitverlauf verändern. II. Gibt es „Rechtsräume“? Das Paradigma der „Rechtsräume“ hat in der Folge mit dem Einwand zu kämpfen, es stelle letztlich nur eine gezielt als Kampfbegriff konstruierte begriffliche Kategorie dar, mit der das Fortschrittsprojekt der Schaffung eines „universellen Völkerrechts“ aus den Angeln gehoben werden solle. Es verabschiede die „Universalität“ des Völkerrechts und die rechtliche „Einheit“ der Staatengemeinschaft – und verrate damit das Erbe der Aufklärung, so wie die historische Rechtsschule die Fortschrittsdynamik der vernunftrechtlich geprägten Kodifikatio-

32 Vgl. hierzu Bardo Fassbender, Article 9, in: Andreas Zimmermann et al. (Hrsg.), The Statute of the International Court of Justice. A Commentary, 2. Aufl. 2012, 292.

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nen zu unterminieren versucht habe.33 Dieses Argument lässt sich noch in verschiedene Facetten aufgliedern: – Die institutionelle Form der „modernen“ Staatlichkeit wirke als Garant der Einheitlichkeit des Rechtsraums, da die Strukturähnlichkeit des vom Kolonialismus über die ganze Welt verbreiteten Modells des bürokratischen Anstaltsstaates eine strukturelle Grundhomogenität gewährleiste, die die Einheit des Völkerrechts trage.34 – Die UN-Charta als „Globalverfassung“ gewährleiste einen überwölbenden Rechtsrahmen, der die Staatengemeinschaft zu einer „Rechtsgemeinschaft“ verfasse – und die von der UN-Charta geschaffene UN als Organisation stelle ein einheitliches Organisationsgefüge als institutionelle Rahmung der Interaktionen der Staaten her.35 – Die Debatte um die „Universalität“ der Menschenrechte und der Umstand, dass sich Dissidenten überall auf der Welt auf dieses geteilte Erbe der Menschenrechte berufen, belege ohne Zweifel, dass es ein gemeinsames Erbe allseits geteilter normativer Werte und Prinzipien gebe.36 – Die neueren Entwicklungen im Blick auf das Konzept der „Responsibility to Protect“ belegten, dass die Staatengemeinschaft jedenfalls normativ von einem gemeinsamen Werteverständnis geprägt sei.37

33 Vgl. in diesem Sinne etwa Martti Koskenniemi, The Politics of International Law, 2011, 350 ff. 34 Vgl. Tomuschat (Anm. 26), 91 ff. 35 Bardo Fassbender, The United Nations Charter as the Constitution of the International Community, 2009, 86 ff. 36 Vgl. zur Debatte um die Universalität der Menschenrechte Bernd von Hoffmann (Hrsg.), Universalität der Menschenrechte – Kulturelle Pluralität, 2009; Rolf Zimmermann, Zur Begründung der Universalität von Menschenrechten, in: Eckart Klein (Hrsg.), Universalität – Schutzmechanismen – Diskriminierungsverbote. 15 Jahre Wiener Weltmenschenrechtskonferenz, 2008, 17; Eibe Riedel, Die Universalität der Menschenrechte. Philosophische Grundlagen, nationale Gewährleistungen, internationale Garantien, 2003; Heiner Bielefeldt, Ein „von allen Völkern der Erde zu erreichendes gemeinsames Ideal“, in: Heike Alefsen (Hrsg.), Menschenrechte im Umbruch. 50 Jahre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, 1998, 31; Ludger Kühnhardt, Die Universalität der Menschenrechte, 2. Aufl. 1991. 37 Vgl. als aktuellen Überblick zur Debatte um die „Responsibility to Protect“ Peter Hilpold (Hrsg.), Die Schutzverantwortung (R2P). Ein Paradigmenwechsel in der Entwicklung des internationalen Rechts?, 2013.

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Dem lassen sich jedoch gewichtige Einwände entgegen stellen: Die „Weltgesellschaft“ lässt sich nur als Gefüge kultureller Diversität begreifen – und beim „Recht der Weltgesellschaft“ stellt sich folglich die Notwendigkeit, die sehr verschiedenen kulturellen Kontexte zu beachten, aus denen heraus sich das Recht bildet, auf die es dann als anwendbare Norm trifft und in denen es als „law in action“ operative Gestalt annimmt. Die Empirie der vergleichenden Politikwissenschaft und der „global area studies“ zeigt, dass Staatlichkeit in verschiedenen Teilen der Welt ganz unterschiedliche Formen angenommen hat.38 Schon die institutionellen Strukturen, auf die das Völkerrecht als anzuwendendes Recht trifft, sind überaus heterogen und bedingen stark voneinander abweichende Anwendungskontexte. Darüber hinaus sind die kulturellen Formungen und Grundierungen der Gesellschaften zu beachten, deren extrem verschiedene „soziale Konstruktionen der Realität“ und damit verbundene sozialen Praktiken. Völkerrecht muss aber, um zu wirken, wie jedes Recht in irgendeiner Form in soziale Praxis übersetzt werden. Damit ist das „law in action“ aber abhängig von den jeweils divergierenden, kulturell geprägten Verstehenskontexten, denn „soziale Konstruktion der Realität“ ist durch und durch ein kulturelles Konstrukt.39 Vor diesem Hintergrund lässt sich das Konzept der „Rechtsräume“ als Modellierung der kulturell zutiefst unterschiedlich geprägten Modelle von Recht und der Rolle des Rechts im sozialen System verstehen. Als ein Beispiel für diese Unterschiedlichkeit sei nur die vom europäischen Verständnis radikal abweichende Konstruktion des Verhältnisses von Recht und Sittengesetz in Ostasien erwähnt, die dazu führt, das Gerichte (und formales Recht) als Instrument der Streitbeilegung eine eher untergeordnete Rolle spielen – der Gang vor Gericht kommt hier dem Eingeständnis gleich, eine soziale Beziehung sei völlig zerrüttet, was auch für den Kläger die Gefahr mit sich bringt, das Gesicht zu verlieren.40

38

Vgl. Klaus Schlichte/Alex Veit, Drei Arenen: Warum Staatsbildung von außen so schwierig ist, in: Thorsten Bonacker et al. (Hrsg.), Interventionskultur: Zur Soziologie von Interventionsgesellschaften, 2010, 261. 39 Vgl. hierzu nur Burkart Holzner, Reality Construction in Society, 1968; sowie Burkart Holzner/John Marx, Knowledge Application: The Knowledge System in Society, 1979. 40 Vgl. zur Diskrepanz zwischen ostasiatischen Gesellschaftsverständnissen und individualistischen Menschenrechten nur Gunter Schubert, Zwischen Kant und Konfuzius. Ansätze zur Operationalisierung eines interkulturellen Menschenrechtsdialogs mit Ostasien, in: Gunter Schubert (Hrsg.), Menschenrechte in Ostasien, 1999, 19; Inoue Tatsuo, Liberal Democracy and Asian Orientalism, in: Joanne R. Bauer/Daniel A. Bell (Hrsg.), The East Asian Challenge for Human Rights, 1999, 27; Daniel A. Bell, East meets West: Human Rights and Democracy in East Asia, 2000, insb. 21 ff., 106 ff.

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C. Transzivilisatorische Völkerrechtsperspektive Die Forderung nach einer „transzivilisatorischen“ Völkerrechtsperspektive ist eine der zentralen Antworten der Völkerrechtslehre auf die Herausforderungen, die die enorme kulturelle Heterogenität der „Weltgesellschaft“ für das Völkerrecht mit sich bringt.41 In seiner Begrifflichkeit wie in seinen inhaltlichen Grundprägungen geht der „transcivilizational approach“ zurück auf den japanischen Völkerrechtswissenschaftler Yasuaki Onuma, der über Jahrzehnte an der Tokyo University gelehrt hat. Onuma hat den von ihm propagierten „transzivilisatorischen“ Ansatz seit den 1980er Jahren in einer Reihe von Schriften entwickelt.42 Endgültig zusammengefasst und für eine breite Fachöffentlichkeit zugänglich gemacht wurde der Ansatz mit dem Kurs von Onuma an der Haager Académie de Droit International 2009.43 Zugrunde liegt Onumas Ansatz dabei ein weites Verständnis der „civilization“. Er definiert das Konstrukt der „civilization“, das in etwa mit dem Konzept des „Rechtsraums“ konform geht, als „predominant ways of thinking and patterns of behavior which comprise plural nations“.44 Der Begriff der „civilization“ unterstellt dabei, dass es verschiedene Kulturen innerhalb eines zivilisatorischen Raumes gibt: „The transcivilizational perspective does not mean at all that we should consider exclusively or even mainly in terms of ‘great’ civilizations, negating the raison d’être of ‘minor’ cultures.“45 Es besteht – wie Onuma betont – „no monolit41

Vgl. in diesem Sinne auch Clemens Richter, Der „Transcivilizational Approach to Human Rights“ – eine Einladung zum interkulturellen Diskurs, JöR 60 (2012), 77. 42 Siehe nur Yasuaki Onuma, The Problem of Eurocentric Education in International Law, Proceedings of the 75th Anniversary Convocation of the American Society of International Law 1981, 163; ders., In Quest of Intercivilizational Human Rights: Universal vs. Relative Human Rights Viewed from an Asian Perspective, in: Daniel Warner (Hrsg.), Human Rights and Humanitarian Law, 1997, 43; ders., Towards an Intercivilizational Approach to Human Rights, in: Joanne R. Bauer/Daniel A. Bell (Hrsg.), The East Asian Challenge for Human Rights, 1999,103; ders., When was the Law of International Society Born?, JHIL 2 (2000), 1; ders., Towards an Intercivilizational Approach to Human Rights, AsYIL 7 (1997), 21; ders., A Transcivilizational Perspective on Global Legal Order in the Twenty-first Century, ICLR 8 (2006), 29; ders., A Transcivilizational Perspective on Global Legal Order in the Twenty-first Century: A Way to Overcome West-centric and Judiciary-centric Deficits in International Legal Thoughts, in: Ronald St. John Macdonald/ Douglas M. Johnston (Hrsg.), Towards World Constitutionalism. Issues in the Legal Ordering of the World Community, 2005, 151. 43 Onuma (Anm. 29). 44 Onuma (Anm. 29), 131. 45 Onuma (Anm. 29), 132.

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hic civilization existing as a substantive entity.“46 Drei Elemente sind für dieses Konzept der „Zivilisation“ dabei wesentlich: (a) die gemeinsamen Muster des Denkens und der sozialen Praxis, (b) die geographische Erstreckung über eine Region, die über einzelne Nationalstaaten hinausreicht, was das Konzept den „Rechtsräumen“ nahe rückt, und (c) die historische Tiefendimension einer Stabilität über lange Zeitdauer (einer „longue durée“ im Sinne von Braudel).47 Dieser weite Begriff der „civilization“ soll erkennbar die verschiedenen „Rechtsräume“ der Welt in den Blick nehmen, deren jeweilige historisch-kulturelle Tiefengrundierung die Übersetzung von Völkerrecht in „law in action“ bestimmt. Wie Onuma betont, ist es den europäischen Mächten zwar in der kolonialen Expansion gelungen, ihre Herrschaft über weite Teile der Welt auszudehnen, doch hätten sie nicht die Macht gehabt, den riesigen Bevölkerungsmassen außerhalb Europas „the European way of life in terms of religions, cultures, social customs and languages“ aufzuzwingen. „Particularly in Asia and Africa, they did not possess effective means to change the ways of thinking and patterns of behaviour of the massive populations living there.“48 Was sie erreicht hätten, sei im Allgemeinen beschränkt gewesen auf eine Reorganisation der politischen und administrativen Strukturen der kolonialen Herrschaftsausübung: „Global capitalist economy did have a tremendous impact on the life of ordinary people in the vast region of the non-European world, by destroying their traditional economic and social structures. However, the basic framework of seeing the world or the fundamental psychology of these ordinary people in the non-Western world did not change in such a radical and rapid manner.“49 Der Zivilisationsbegriff ist dabei von Onuma gleichwohl bewusst dynamisch angelegt und offen für kulturellen Wandel, was die Falle einer Ontologisierung sozialer Konstrukte wie der „Zivilisation“ oder des „Rechtsraums“ vermeiden soll. „When we see and evaluate problems on international law, we must seek to make explicit religious, cultural and/or civilizational assumptions of ourselves and other actors. We then have to see and evaluate the problems on international law by taking these religious, cultural and civilizational factors into consideration, not regarding these factors as unchangeable, monolithic and substantive entities but as changeable, functional variants.“50

46 47 48 49 50

Ibid. Richter (Anm. 41), 80 f. Onuma (Anm. 29), 134. Ibid. Onuma (Anm. 29), 132 f.

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Yasuaki Onuma hat diesen Ansatz zunächst vor allem am Beispiel der Menschenrechte entwickelt und durchgespielt,51 in seinen jüngsten Publikationen aber auf das Völkerrecht insgesamt übertragen und auch auf andere Teilbereiche des Völkerrechts angewendet.52 Wichtig ist dabei, dass für Onuma der jeweilige zivilisatorische Hintergrund der kulturelle Referenzrahmen ist, aus dem heraus Kommunikation mit anderen über normative Fragen des Völkerrechts erfolgt.53 Der Ansatz nähert sich damit konstruktivistischen Verständnissen des Rechts an, bei denen der kulturelle Referenzrahmen und die von diesem bestimmten „cognitive patterns“ entscheidend werden für die konkrete „meaning in use“ rechtlicher Normen.54

D. Rechtsräume in transzivilisatorischer Perspektive Mit diesen Bemerkungen ist schon angedeutet, dass die Anerkennung von „Rechtsräumen“ nicht unbedingt auf einen „spatial turn“ im Völkerrecht hinaus läuft. Es geht bei der Kategorie der „Rechtsräume“ weniger um räumliche Aspekte im eigentlichen Sinne als um die (nicht zuletzt räumlich basierte) Unterscheidung divergenter Rechtskulturen bzw. „Zivilisationen“, deren unterschiedliche kulturelle Referenzrahmen entscheidenden Einfluss auf die konkrete Konstruktion des Rechts als „law in action“ haben. I. Rolle des Modells der „Rechtsräume“ Das Modell der „Rechtsräume“ soll letztlich also nicht die räumliche Dimension im Völkerrecht stärken, sondern einen zentralen Beitrag zur Schaffung einer für die kulturellen Kontexte des Rechts sensiblen Völkerrechtswissenschaft leisten. Es steht damit in einer deutlichen Verbindungslinie zu Ansätzen der „Third World Approaches to International Law“ (TWAIL), die sich gegen die West-Zentriertheit des modernen Völkerrechts wenden und eine auch inhaltliche Befreiung des völkerrechtlichen Normensystems vom Erbe des Kolonialismus fordern, nach der 51

Siehe etwa Yasuaki Onuma, In Quest of Intercivilizational Human Rights: “Universal” vs. “Relative”, APJHRL 1 (2000), 52 ff.; ders., Towards an Intercivilizational Approach to Human Rights, AsYIL 7 (1997), 21 ff. 52 Siehe nur Yasuaki Onuma, A Transcivilizational Perspective on Global Legal Order in the Twenty-First Century, ICLR 8 (2006), 29 ff. 53 Onuma (Anm. 29), 135 ff. 54 Zu konstruktivistischen Ansätzen im Völkerrecht vgl. Jutta Brunnée/Stephen J. Trope, Constructivism and International Law, in: Jeffrey L. Dunoff/Mark A. Pollack (Hrsg.), Interdisciplinary Perspectives on International Law and International Relations, 2013, 119.

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zunächst eher äußerlichen, man könnte auch sagen formalen Befreiung in der Gestalt der Bildung unabhängiger Staaten im Zuge der Dekolonisierung.55 Das Bröckeln der Fassaden moderner Staatlichkeit in weiten Teilen Afrikas, aber auch in Asien und Lateinamerika gemahnt uns des Umstandes, dass der „Staat“ ein Oktroy der Kolonialmächte war, das Gesellschaften ganz unterschiedlicher kultureller Prägung aufgezwungen wurde, ohne zu fragen, ob sie den territorial bezogenen, bürokratischen Anstaltsstaat wirklich als die ihnen gemäße Form der Organisation sozialer Herrschaft ansahen.56 Im Lichte dieser Grundeinsicht erweist sich 55

Siehe Bhupinder S. Chimni, International Law and World Order: A Critique of Contemporary Approaches, 1993; Sundhya Pahuja, Decolonising International Law: Development, Economic Growth and the Politics of Universality, 2011; Upendra Baxi, What May the Third World Expect from International Law?, TWQ 27 (2006), 713; Karin Mickelson, Rhetoric and Rage: Third World Voices in International Legal discourse, WILJ 16 (1998), 353; Antony Anghie, Finding the Peripheries: Sovereignty and Colonialism in Nineteenth Century International Law, HILJ 40 (1999), 1; James Gathii, Neoliberalism, Colonialism and International Governance: Decentering the International Law of Government Legitimacy, MLR 98 (2000), 1996 ff.; Makau wa Mutua, What is TWAIL?, Proceedings of the American Society of International Law 2000, 31; Ratna Kapur, The Tragedy of Victimization Rhetoric: Resurrecting the “Native” Subject in International/Post-Colonial Feminist Legal Policies, HHRJ 15 (2002), 1; Antony Anghie/Bhupinder S. Chimni, Third World Approaches to International Law and Individual Responsibility in Internal Conflict, ChJIL 2 (2003), 77; David P. Fidler, Revolt Against or From Within the West? TWAIL, the Developing World, and the Future Direction of International Law, ChJIL 2 (2003), 29; Balakrishnan Rajagopal, International Law from Below: Development, Social Movements, and Third World Resistance, 2003; Antony Anghie et al. (Hrsg.), The Third World and International Order: Law Politics and Globalization, 2003; Obiora Chinedu Okafor, Newness, Imperialism, and International Legal Reform in our Time: A TWAIL Perspective, OHLJ 43 (2005), 171; Antony Anghie, Imperialism, Sovereignty, and the Making of International Law, 2005; Bhupinder S. Chimni, Third World Approaches to International Law: A Manifesto, ICLR 8 (2006), 3; Antony Anghie, Europe and International Law’s Colonial Present, BalYIL 6 (2006), 79; Balakrishnan Rajagopal, Counter-Hegemonic International Law: Rethinking Human Rights and Development as a Third World Strategy, TWQ 27 (2006), 767; Madhav Khosla, The TWAIL Discourse: The Emergence of a New Phase, ICLR 9 (2007), 291; Bhupinder S. Chimni, The Past, Present and Future of International Law: A Critical Third World Approach, MelJIL 8 (2007), 499; Andrew F. Sunter, TWAIL as Naturalized Epistemological Inquiry, CJLJ 20 (2007), 475; Obiora Chinedu Okafor, Critical Third World Approaches to International Law (TWAIL): Theory, Methodology, or Both?, ICLR 10 (2008), 371; Anne Orford, A Jurisprudence of the Limit, in: Anne Orford (Hrsg.), International Law and its Others, 2009, 1; Luis Esclava/Sundhya Pahuja, Beyond the (Post)Colonial: TWAIL and the Everyday Life of International Law, VRÜ 45 (2012), 195. 56 Vgl. nur Makau wa Mutua, Why Redraw the Map of Africa: A Moral and Legal Inquiry, MichJIL 16 (1995), 1113; Obiora Chinedu Okafor, Redefining Legitimate Statehood: International Law and State Fragmentation in Africa, 2000.

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der alte Streit zwischen Anhängern des „Universalismus“ und des „kulturellen Relativismus“ als eine recht sterile Polarität, verkennt dieser Streit doch das Nebeneinander und die Gleichzeitigkeit von „Einheit“ des durch den Imperialismus geschaffenen Staatensystems einerseits und von extremer kultureller Diversität in den für die Staaten den Unterbau bildenden Gesellschaften andererseits. Eine stärkere globale Akzeptanz – und damit verbunden eine verbesserte Umsetzung – von Normen des Völkerrechts setzt in dieser Perspektive eine Reformulierung („reconceptualization“) der zentralen Völkerrechtskonzepte in der Sprache und den Denkmustern nicht-westlicher Traditionen voraus. Onuma plädiert in seinen Schriften immer wieder vehement für eine solche „reconceptualization“.57 Im Kern ist dem zuzustimmen, denn nur bei der Übersetzung in die Denkmuster (und die kulturellen Verstehenshintergründe) anderer Rechtsräume besteht eine Chance auf angemessene Umsetzung völkerrechtlicher Normen in eine dem Normgehalt entsprechende soziale Praxis, in ein „law in action“ im Sinne der Ziele und Intentionen der Normsetzer. Loyale Umsetzung und Befolgung spezifischer Normen setzt ein Verständnis von Ziel und Zweck der Normen voraus – dieses Verständnis wie die darauf aufbauenden sozialen Praktiken sind jedoch kulturell bedingt. Institutionelles Gehäuse der traditionell ganz unterschiedlichen zivilisatorischen Prägungen der verschiedenen Gesellschaften war lange Zeit der Nationalstaat, soweit er die traditionalen Kulturen nicht auf die Ebene der vor-staatlichen Religions- und Kulturgemeinschaften abgedrängt hatte.58 Die Hegung der kulturellen Traditionen im Gehäuse des Nationalstaates wird allerdings zunehmend brüchig. Mit der normativen Verdichtung der Regelungsansprüche des Völkerrechts und den parallel dazu immer weiter verstärkten Universalitätsansprüchen gerät der Nationalstaat als Hüter der gesellschaftlichen und kulturellen Traditionen unter Druck. Normenkomplexe wie die universellen Menschenrechtsverträge, das Weltwirtschaftsrecht mit seinen Bausteinen Welthandelsorganisation (WTO) und Investitionsschutz, aber auch die immer weiter proliferierenden „Regional Trade Agreements“ akzeptieren den Anspruch der Staaten auf Bewahrung und Förderung kultureller Divergenz zunehmend weniger.59 Besonders dramatische Formen nimmt der „decline of the non-intervention principle“ in den Debatten über Responsibility to Protect und Humanitäre Intervention an.60 Die Weltgesellschaft tut sich zunehmend schwer damit, die gewaltsame Durchsetzung tradierter Norm57

Siehe nur Onuma (Anm. 29),148 ff., 202 ff., 326 ff. Onuma (Anm. 29),137 ff. 59 Pahuja (Anm. 55), 95 ff., 172 ff. 60 Vgl. als kritische Stimme Anne Orford, Lawful Authority and the Responsibility to Protect, in: Richard Falk/Mark Juergensmeyer/Vesselin Popovski (Hrsg.), Legality and Legitimacy in Global Affairs, 2012, 248. 58

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systeme hinzunehmen, gegen den Widerstand dissidenter Kräfte, die sich auf die universellen Werte des Völkerrechts berufen. II. Ertrag der transzivilisatorischen Perspektive Was ist nun der Ertrag einer solchen transzivilisatorischen Perspektive? Ihre Funktion ist sicherlich zum einen epistemischer Natur, aber auch diskursive Funktionen wird man ihr nicht abstreiten können. Ein epistemischer Ertrag liegt zunächst in der Erkenntnis, wie stark die ganz unterschiedlichen kulturellen Hintergründe und Verstehenskontexte die sozialen Praktiken formen, auf die das Völkerrecht trifft – und in die es eingepasst werden muss.61 Die transzivilisatorische Perspektive hilft, die große Streuung der sozialen Praktiken zu erklären, die bei der Implementation von Völkerrecht in der Divergenz des „law in action“ zum Tragen kommt. Die transzivilisatorische Perspektive ermöglicht zugleich eine diskursive Bearbeitung der Probleme der Diversität kultureller Verstehenshintergründe. Nur wenn diese hinter den sozialen Praktiken aufscheinende kulturelle Diversität gezielt adressiert wird, sind diametral verschiedene Bedeutungszuschreibungen bei der Konkretisierung und Anwendung von Völkerrecht zu vermeiden. Nur dann kann es gelingen, so etwas wie „shared meaning-in-use“ herzustellen, also ein tatsächliches Überlappen der Bedeutungszuschreibungen, die die mit der Normanwendung befassten Akteure der Norm zuschreiben. Die propagierte, transzivilisatorische Perspektive schafft im Ergebnis die Möglichkeit für die argumentative Auseinandersetzung über die Vielzahl der Bedeutungszuschreibungen, aber auch der ganz unterschiedlichen Rollenzuschreibungen an das formale Recht und seine Institutionen, befähigt so also zu einem expliziten Diskurs über die – ja im Detail erheblich voneinander abweichenden – Verhältnisbestimmungen von Recht, Politik und Gesellschaft, die die soziale Praxis des Rechts in erheblichem Maße prägen.62 Vermieden werden kann somit tendenziell der elementare Fehler, den europäische Juristen in der Auseinandersetzung mit anderen Kultur- und Rechtskreisen immer wieder begehen – nämlich das unhinterfragte Voraussetzen eines bestimmten, im Kern zutiefst europäisch geprägten Vorverständnisses zum Verhältnis von Recht, Politik und Gesellschaft bei Auseinandersetzungen über die Bedeutungszuschreibung und Anwendungsmodalitäten völkerrechtlicher Normen. Wird man sich erst einmal bewusst, dass dieses europäische Vorverständnis in weiten Teilen der Welt auf ganz anders geartete kulturelle Modelle der Rolle von Recht und des Verhältnisses staatlichen Rechts zur Politik und zu den gesellschaftlichen Institutionen trifft, so gerät erst so recht 61 62

Onuma (Anm. 29), 330 ff. Onuma (Anm. 29), 213 ff.

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ins Zentrum der Aufmerksamkeit, wie stark unsere (europäischen) Vorstellungen vom „richtigen“ Recht und dessen angemessener Umsetzung an unseren „cognitive patterns“ zu Recht, Politik und sozialer Praxis hängen.63 Mit anderen Worten: Die Rolle, die den systemischen Vorverständnissen – im Sinne einer spezifischen „sozialen Konstruktion der Realität“ – und den damit verbundenen kulturellen Grundierungen des Rechtsverständnisses bei der kulturellen Übersetzung von Normtexten in soziale Praxis zukommt, in „law in action“, ist kaum zu überschätzen. Dies hat gravierende Auswirkungen auf die Umsetzung der völkerrechtlichen Regelwerke. Selbst wenn die formelle Rechtsverbindlichkeit bestimmter Normtexte des Völkerrechts außer Streit steht, sind damit die Wirkungsprobleme des Rechts bei weitem noch nicht gelöst. Das kontinentaleuropäische Denkmodell des Rechtsanwenders als „la bouche de la loi“, als eine Art Subsumtionsautomat, der nur die richtige Auslegung der Norm zu finden hat, verschleiert diese Problematik leider mehr, als sie offen zu legen. Dabei wissen wir aus der neueren Rechtstheorie und Methodenlehre, dass der konkrete Bedeutungsgehalt einer abstrakt formulierten Norm mit der Normsetzung noch längst nicht fixiert ist, dass im Gegenteil der Prozess der „Normkonkretisierung“ hohe Anteile einer Schöpfung konkreter Bedeutungszuschreibungen in sich trägt.64 Die Gewinnung kontextangemessener Bedeutungszuschreibungen im Prozess der Normkonkretisierung ist aber nicht nur von der konkreten Fallkonstellation und deren Problemen bestimmt, sondern auch von den sozialen und kulturellen Kontexten, in die die Norm hineinwirkt. Dies gerät im Kontext relativ homogener Nationalstaaten wie der Bundesrepublik immer leicht aus dem Blick; für das Völkerrecht aber ist es essentiell, sich der Abhängigkeit der Normkonkretisierung von den sozialen und kulturellen Kontexten bewusst zu werden, die Verständnis und Konkretisierung der Normgehalte prägen. Viele der Hauptstreitpunkte des Völkerrechtsdiskurses liegen in den soeben skizzierten Prozessen der (kulturell bedingten) Bedeutungszuschreibung begraben, die man sich angesichts der (unter der Oberfläche) immer noch enormen kulturellen Diversität der verschiedenen Teile der „Weltgesellschaft“ kaum als im Ansatz einheitliche Prozesse denken kann.65 Gefordert wird hier aus der Perspektive der „Third World Approaches“ immer wieder die Suche nach alternativen Epistemolo-

63

Vgl. hierzu auch Pooja Parmar, TWAIL: An Epistemological Inquiry, ICLR 10 (2008), 363. 64 Vgl. insoweit nur Friedrich Müller/Ralph Christensen, Juristische Methodik, Band 1, 11. Aufl. 2013, 263 ff. 65 Parmar (Anm. 63), 368 ff., unter Verweis auf Upendra Baxi, What May the Third World Expect from International Law?, TWQ 27 (2006), 713, 714.

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gien, nach „non-European modes of thought“.66 Produkt einer (unbedingt nötigen) kritischen Theorie sei „exhumation and recovery of subjugated knowledge“.67 Dringend erforderlich sei dies, da die Geschichte des modernen internationalen Rechts zugleich – als Geschichte kolonialer Unterdrückung – eine Geschichte der Marginalisierung und Verdrängung traditioneller normativer Wissenssysteme und Praktiken gewesen sei.68 Ohne eine kulturell sensible Bearbeitung der großen Unterschiede in Vorverständnis und kulturellem Kontext kann man sich auf Dauer einen Dialog der Norminterpreten des Völkerrechts über die Grenzen der Kulturen hinweg kaum ernsthaft denken. Der „international legal process“ würde endgültig zum Diktat der Mächtigen, die – ohne jegliche Kenntnis der kulturellen Kontexte der vielen anderen – ihre ganz spezifische Bedeutungszuschreibung voller Arroganz dem Rest der internationalen Gemeinschaft aufzwingen würden.69 Die (sowieso schon brüchige) Legitimität des Völkerrechts geriete damit endgültig in Gefahr.

E. Die Menschenrechte als Exempel Mit besonderer Anschaulichkeit lässt sich die Forderung nach einer transzivilisatorischen Perspektive am Beispiel des Menschenrechtsdiskurses exemplifizieren.70 Die Menschenrechte erweisen sich ja in transzivilisatorischer Perspektive schon deswegen immer wieder als besonders heikel, weil hier ein sehr radikaler Universalitätsanspruch des Völkerrechts auf eine Vielzahl widerstreitender sozialer Praktiken vor Ort trifft, im Alltag der nicht-westlichen Zivilisationen.71 Aus Sicht eines westlichen Menschenrechtsdenkens – mit der im Universalitätsanspruch mitgedachten Prämisse einer mehr oder weniger einheitlichen Bedeutungszuschreibung aus westlicher Perspektive – erscheinen viele dieser Praktiken als von vornherein klar menschenrechtswidrig.72 Aus der Sicht der Exponenten traditionaler Kulturen mit ihren ganz eigenen sozialen Praktiken erscheint dagegen der 66

Parmar (Anm. 63), 364. Parmar (Anm. 63), 365, im Anschluss an Upendra Baxi, The Future of Human Rights, 2. Aufl. 2006. 68 Vgl. hierzu Lauren Benton, Law and Colonial Cultures: Legal Regimes in World History, 1400–1900, 2002. 69 Onuma (Anm. 29), 218 ff. 70 Siehe nur Onuma (Anm. 29), 342 ff. 71 Vgl. nur Talal Asad, What Do Human Rights Do? An Anthropological Enquiry, Theory & Event 4 (2000), para. 34, sowie Parmar (Anm. 63), 366. 72 Insoweit wird vermeintliche „Universalität“ zum epistemischen Problem – vgl. Onuma (Anm. 29), 347 ff. 67

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Konformitätsanspruch westlicher Menschenrechtsaktivisten als kulturelle Zumutung, wenn nicht als kulturelle Arroganz, man könnte auch sagen als eine Form des „Neokolonialismus“, die die kulturelle Gewalt des Kolonialismus in Formen weiterwirkender Exklusionen „fremder“ Standpunkte perpetuiert.73 I. Menschenrechte als Streitpunkt Die hier gewählte Formulierung des Problems wird bei vielen westlichen Menschenrechtsaktivisten von vornherein auf Unverständnis stoßen. Ist nicht der Gedanke der unveräußerlichen individuellen Menschenrechte universell anerkannt – schließlich ist das Konzept ja bereits in der UN-Charta zugrunde gelegt? Und ist nicht die positive Geltung der Menschenrechte als völkerrechtliche Normen – primär des Vertragsrechts – eigentlich kaum mehr umstritten? Schließlich haben selbst China und die islamischen Staaten das Grundkonzept der Menschenrechte anerkannt und haben sich den in UN-Konventionen positivierten Menschenrechten zum großen Teil als verbindlichen Normen unterworfen.74 Um die rechtliche Verbindlichkeit der in den UN-Pakten kodifizierten Menschenrechte lässt sich mithin im Grundsatz kaum mehr streiten, allenfalls noch im Detail im Blick auf Staaten wie China, das den Pakt über bürgerliche und politische Rechte bis heute nicht ratifiziert hat. Doch enthebt uns dieser Ausgangsbefund des Problems der kulturellen Diversität und der kulturellen Bedingtheit des konkreten „meaning-in-use“ bei der kontextspezifischen Umsetzung der Menschenrechtsgewährleistungen in „law in action“? Man wird dies angesichts der stark von den spezifischen „sozialen Konstruktionen der Realität“ und der je von besonderen kulturellen Deutungsmustern geprägten Bedeutungszuschreibungen an ein System recht abstrakt formulierter Normtexte (wie der Menschenrechte) kaum ernsthaft behaupten können.75 Genau dies lehrt uns ja auch ein Blick in die Empirie der globalen Menschenrechtsdiskurse. Der Streit geht im Kern nicht um die Verbindlichkeit der einmal gesetzten und allseits akzeptierten Normtexte, sondern der Streit tobt um die Bedeutungs-

73 Siehe hierzu Makau wa Mutua, Human Rights: A Political and Cultural Critique, 2002, 10 ff., 71 ff.; Abdullah A. An-Na’im, The Legal Protection of Human Rights in Africa. How to do More with Less, in: Austin Satar/Thomas R. Kearns (Hrsg.), Human Rights: Concepts, Contests, Contingencies, 2001, 89. 74 Vgl. nur Anja Jetschke, Weltkultur versus Partikularismus. Die Universalität der Menschenrechte im Lichte der Ratifikation von Menschenrechtsverträgen, Die FriedensWarte 81 (2006), 25. 75 Parmar (Anm. 63), 369; Ratna Kapur, Human Rights in the 21st Century: Take a Walk on the Dark Side, SydLR 28 (2006), 665.

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dimension der Menschenrechte.76 Hier, im Streit um das angemessene „meaningin-use“, finden vielzählige Prozesse der Kontestation statt, in deren Verlauf die von staatlichen oder gesellschaftlichen Machtträgern postulierten Bedeutungszuschreibungen von anderen gesellschaftlichen Gruppen bestritten werden.77 Dabei ist vielfach schon der konkrete Bedeutungsgehalt einzelner Menschenrechtsgewährleistungen umstritten – etwa, um ein Beispiel zu geben, die Frage, ob der Gewährleistungsbereich der Glaubens- und Religionsfreiheit auch das Recht umfasst, seinen Glauben zu wechseln. Aus westlich-europäischer Perspektive erscheint dies als nahezu selbstverständlich,78 aus traditionell islamischer Perspektive dagegen als nicht denkbar, als Verstoß gegen elementare Glaubenssätze.79 Schon diese Streitfragen sind nur schwer letztverbindlich zu entscheiden – der mit dem Universalitätsargument erhobene Anspruch westlicher Interpreten, die eigene Bedeutungszuschreibung sei per se verbindlich, ist in einer transzivilisatorischen Perspektive schwerlich in seiner Apodiktik zu rechtfertigen.80 Als noch gravierender erweisen sich jedoch in der Praxis des Menschenrechtsschutzes die immer wieder neu auftretenden Fragen nach der angemessenen Relationierung der widerstreitenden Rechtsgüter, die den einzelnen menschenrechtlichen Gewährleistungen zugrunde liegen, im Verhältnis zu anderen menschenrechtlich geschützten Rechtsgütern, vor allem aber im Verhältnis zu (teilweise in den Schrankenklauseln explizit in Bezug genommenen) Kollektivgütern.81 Menschenrechtlich geschützte Individualrechtsgüter kollidieren regelmäßig mit ganz unterschiedlichen Kollektivgütern („Gemeinwohlbelangen“) konkreter Kollektive – und die dann notwendig werdende Verhältnisbestimmung lässt unweigerlich den Streit zwischen eher liberal oder libertär geprägten Menschenrechtsverständnissen einerseits und stärker kommunitaristisch geprägten Gemeinschaftskonzepten andererseits auf den Plan treten.82 Zu bedenken ist dabei, dass fast alle nicht76

Siehe nur Onuma (Anm. 29), 362 ff., 382 ff. Vgl. zur Rolle der „contestation“ in Prozessen der Bildung geteilter Bedeutungszuschreibungen nur Antje Wiener, A Theory of Contestation, 2014. 78 Vgl. exemplarisch Martin Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes, 2006, 114 ff., 134 ff. 79 Vgl. zu dieser Problematik Abdullah A. An-Na’im, Muslims and Global Justice, 2011, dort insb. 65 ff., 121 ff.; Abdulaziz Abdulhussein Sachedina, Islam and the Challenge of Human Rights, 2009, 185 ff.; Nisrine Abiad, Sharia, Muslim States and International Human Rights Treaty Obligations, 2008, 21 ff.; Kamran Hashemi, Religious Legal Traditions, International Human Rights Law and Muslim States, 2008, 39 ff. 80 Siehe nur Onuma (Anm. 29), 382 ff. 81 Vgl. hierzu nur Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, 1994, 75 f. 82 Vgl. zu diesem Streit nur Axel Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften, 2. Aufl. 1994; Rainer Forst, 77

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westlichen Zivilisationen traditionaler Prägung in diesem Schema auf der Seite der kommunitaristischen Konzeptionen zu verorten sind, wenn auch mit ganz unterschiedlichen Spielarten und Schattierungen.83 Versucht man diesen traditionalen Gemeinschaften ungehemmt ein radikal westlich-liberales Menschenrechtsverständnis aufzuzwingen, so wird dies von den Betroffenen häufig nur als kulturelle Arroganz interpretiert – was die Vorzeichen der Diskurse um Menschenrechte von vornherein ins Negative verschiebt und zu Diskursblockaden und wechselseitigem Aneinandervorbeireden führt.84 Will man – im Sinne der transzivilisatorischen Perspektive – einen wissenssoziologisch aufgeklärten und kulturell sensiblen Diskurs führen, so sollte man als Ausgangspunkt den Befund akzeptieren, dass die Verhältnisbestimmung von individuellen Belangen und Kollektiv zutiefst kulturell geprägt ist und äußerst stark variiert in den verschiedenen Rechtsräumen (und deren Ausprägungen in den einzelnen Kulturen und sozialen Praktiken).85 Zu beachten wären also – will man den Menschenrechtsdiskurs von allzu starken Ausprägungen einer ungehemmten Eurozentrik befreien – folgende Aspekte: – Schon in der Bewertung der Relevanz und des Gewichts individueller Freiheitsinteressen und in deren Zuweisung zu einer Menschenrechtsgewährleistung als legitimer Bestandteil von deren Schutzbereich bestehen starke Unterschiede, je nach kulturellem Referenzsystem.86 – Das Gewicht der in Rede stehenden Kollektivgüter wird von Kultur zu Kultur sehr unterschiedlich bestimmt – im Übrigen selbst innerhalb Europas, wie man am Streit um die Bedeutung des Kruzifixes in Schulräumen erkennen kann.87

Kontexte der Gerechtigkeit. Politische Philosophie jenseits von Liberalismus und Kommunitarismus, 1994. 83 Vgl. hierzu etwa Daniel A. Bell, Communitarianism and its Critics, 1995, 24 ff. 84 Makau wa Mutua, Savages, Victims and Saviors: The Metaphor of Human Rights, HILJ 42 (2001), 201. 85 Onuma (Anm. 29), 384 ff. 86 Vgl. Silvia Borelli, Of Veils, Crosses and Turbans: The European Court of Human Rights and Religious Practices as Manifestations of Cultural Diversity, in: Silvia Borelli/ Federico Lenzerini (Hrsg.), Cultural Heritage, Cultural Rights, Cultural Diversity, 2012, 55; ferner Stephen J. Toope, Cultural Diversity and Human Rights, McGillLJ 42 (1997), 169. 87 Vgl. nur Winfried Brugger/Stefan Huster (Hrsg.), Der Streit um das Kreuz in der Schule. Zur religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates, 1998; sowie zum LautsiFall des EGMR Andrea J. Rush, Lautsi v. Italy, TJICL 20 (2012), 533.

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– Die (kulturell bedingt sehr unterschiedlichen) Gewichtungen der verschiedenen, gegeneinander abzuwägenden Rechtsgüter schlagen unweigerlich auf den Prozess der Abwägung der kollidierenden Belange durch – ein Punkt, der in einer prinzipientheoretischen Reformulierung dieser Debatten leicht erkennbar wird.88 – Menschenrechtsorgane sind gut beraten, auf die beschriebenen Divergenzen in den kulturellen Referenzsystemen und deren Auswirkungen auf rechtliche Bewertungen Rücksicht zu nehmen, wie dies etwa im Ansatz der EGMR mit seiner Rechtsprechung zum „margin of appreciation“ praktiziert.89 II. Folgen der transzivilisatorischen Perspektive Der Gewinn der von Yasuaki Onuma propagierten, „transzivilisatorischen Perspektive“ besteht nun vor allem darin, uns für die vorausgehend skizzierten Unterschiede in Bedeutungszuschreibung und Gewichtung der menschenrechtlich in Bezug genommenen Individual- und Kollektivgüter zu sensibilisieren, die aus den großen Unterschieden in kultureller Tiefengrundierung und in den sozialen Referenzsystemen resultieren. Nur wenn wir die kulturelle Prägung – und die großen Unterschiede in der kulturellen Prägung – der kontextspezifischen Bedeutungszuschreibungen der Menschenrechte offensiv in den Blick nehmen, kann es gelingen, zu so etwas wie einer diskursiven Bearbeitung der Wahrnehmungsunterschiede über die Zivilisationen und Kulturen hinweg zu kommen. In der Konsequenz verlangt dieser Ansatz danach, zunächst einmal die prinzipielle Berechtigung der ganz anderen Wahrnehmung und Perspektive der Exponenten anderer Rechtsräume und Kulturen anzuerkennen.90 Erst diese prinzipielle Anerkennung der Berechtigung der Perspektive des Anderen ermöglicht in der Folge kontextübersteigende Diskursstrategien, die die Unterschiede in der Wahrnehmung und Bedeutungszuschreibung thematisieren und die Möglichkeit der Ausbildung überlappender, gemeinsamer Perspektiven eröffnen. Aber noch einmal: Die Sicherung der wechselseitigen Achtungsansprüche ist zentral für jeglichen transkulturellen Diskurs. Man sollte sich darüber im Klaren sein, dass die soeben als essentiell postulierte Anerkennung der prinzipiellen Berechtigung der Perspektive des Anderen einen im 88

Vgl. Matthias Klatt, Die praktische Konkordanz von Kompetenzen: entwickelt anhand der Jurisdiktionskonflikte im europäischen Grundrechtsschutz, 2014, 206 ff. 89 Vgl. hierzu Andrew Legg, The Margin of Appreciation in International Human Rights Law, 2012. 90 Vgl. auch Charles Taylor, Conditions of an Unforced Consensus on Human Rights, in: Joanne R. Bauer/Daniel A. Bell (Hrsg.), The East Asian Challenge for Human Rights, 1999, 124.

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Detail durchaus hohen Preis hat, der in der Relativierung der eigenen Position besteht. Der eigene „cultural bias“ der je zugrunde gelegten normativen Konstruktion und Bedeutungszuschreibung muss im menschenrechtlichen Diskurs – wird die transzivilisatorische Perspektive ernst genommen – unweigerlich mitverhandelt werden. Dies ist für viele Überzeugungstäter, deren Position sich als Ausfluss für unumstößlich erkannter moralischer Imperative versteht, mehr als schmerzlich, erscheint als Verrat an den eigenen normativen Idealen. Doch führt kein Weg an einer derartigen (selbstkritischen) Reflexion des eigenen „cultural bias“ vorbei.91 Ergebnis wäre sonst ein kruder Rückfall in Eurozentrismus – und letztlich in geradezu „koloniale“ Überlegenheitsvorstellungen, die in anderen Kulturen nur Abwehrreflexe hervorrufen werden und den Diskurs über die angemessene soziale Praxis der Menschenrechte zu blockieren drohen. In einer eher politisch-instrumentellen Perspektive sollte man sich dessen bewusst sein, dass ein derartiger Rückfall in ein eurozentrisches Beharren auf der absoluten „Richtigkeit“ der eigenen Position, man könnte auch sagen der Überlegenheit der eigenen, „naturrechtlich“ hergeleiteten Werte, die globale Durchsetzung der Menschenrechte eher gefährden als fördern würde. Die „Universalität“ der Menschenrechte ist kein festliegendes (schon erreichtes) Datum, sondern ein (noch zu verwirklichendes) Projekt.92 Das Projekt einer wirklich „universell“ zu nennenden Menschenrechtsordnung kann nicht auf – in der europäischen Kultur verankerten – Setzungen normativer Art aufbauen, sondern ist diskursiv – im Ringen um gemeinsame Bedeutungszuschreibungen – erst herzustellen. An dieser Stelle tut sich ein Ausblick auf die Frage des „Global Constitutionalism“ auf.93 Dieser kann, soll er Chancen einer fruchtbaren Transformation in ein allgemein geteiltes System normativer Erwartungshaltungen haben, nicht als Produkt machtgestützter Normsetzungen begründet werden, sondern nur in Form diskursiv hergestellter „shared meanings“.

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Vgl. auch Richter (Anm. 41), 83 f. Vgl. Onuma (Anm. 29), 354 f., 398 ff. 93 Vgl. zur neueren Debatte um die verschiedenen Lesarten des Global Constitutionalism nur den Überblick von Antje Wiener, Global Constitutionalism, Oxford Bibliographies, abrufbar unter http://www.oxfordbibliographies.com/view/document/obo-9780199743292/ obo-9780199743292-0092.xml?rskey=CnfQ7M&result=1&q=antje%20wiener#firstMatch (letzter Zugriff am 8.10.2014); vgl. ferner die jüngeren Sammelbände von Martin Loughlin/Neil Walker (Hrsg.), The Paradox of Constitutionalism. Constituent Power and Constitutional Form, 2007; Jeffrey L. Dunoff/Joel P. Trachtmann (Hrsg.), Ruling the World? Constitutionalism, International Law, and Global Governance, 2009; Jan Klabbers/Anne Peters/Geir Ulfstein (Hrsg.), The Constitutionalization of International Law, 2009; Petra Dobner/Martin Loughlin (Hrsg.), The Twilight of Constitutionalism?, 2010. 92

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F. Fazit Die hier – im Anschluss an Yasuaki Onuma – propagierte, transzivilisatorische Perspektive“ nimmt das Anliegen der „Third World Approaches to International Law“ auf und plädiert für ein kultursensibles Verständnis des Völkerrechts, das seinen „cultural bias“, seine aus der Entstehungsgeschichte begründete Eurozentrik, selbstkritisch reflektieren muss. Nur wenn dies gelingt, ist so etwas wie ein „universelles Völkerrecht“ in einem genuinen Sinn denkbar. Wichtig ist vor allem die diskursive Herstellung von geteilten Bedeutungszuschreibungen, von „shared meanings“, der zentralen Verfassungsprinzipien und Normen der internationalen Gemeinschaft. Die „transzivilisatorische Perspektive“ überlappt insofern mit aufgeklärten Verständnissen von „Global Constitutionalism“. Das Konzept der Rechtsräume fungiert dabei als Platzhalter für die ganz verschiedenen Kulturräume der Welt mit ihren jeweils (regional) gemeinsamen historisch-kulturellen Tiefengrundierungen des Rechtsverständnisses, auf denen die jeweiligen Rechtskulturen aufbauen. Diesen Kulturräumen (und den damit verbundenen Rechtsräumen) wohnt durchaus ein geographisches Element inne, wenn es auch in den vorstehenden Ausführungen nicht vorrangig um Raumbezüge (und damit implizit Fragen des „spatial turn“) ging, sondern mehr um ein Völkerrecht, das sich der immer noch enormen Diversität seines kulturellen Substrats bewusst ist und lernt, sensibel mit diesen kulturellen Grundierungen von Rechtsverständnis und „meaning-in-use“ umzugehen. Entgegen dem in Gründungsnarrativen des modernen Völkerrechts gerne beschworenen Moment der Expansion des „Ius Publicum Europaeum“ über alle Kontinente hinweg muss die Völkerrechtswissenschaft sich dessen bewusst werden, dass eine wahrhaft globale Rechtsordnung nur auf der Gleichheit der Menschen und Kulturen gegründet werden kann. Nur wenn es dem internationalen Recht gelingt, so an die (kulturell ganz unterschiedlich geprägten) Referenzsysteme der Menschen in Asien, Afrika und Lateinamerika anzuschließen, dass diese ihm einen Sinn abgewinnen können, und sich geteilte Bedeutungsgehalte der völkerrechtlichen Normen herausbilden, die nicht auf machtgestützter Überwältigung, sondern auf diskursiver Verständigung beruhen, hat dieses Recht eine Chance, jemals zu so etwas wie einem „globalen Recht“ zu werden. Doch dieser Prozess wird uns als Europäern abverlangen, noch sehr viel an Vorverständnissen und Bedeutungszuschreibungen auf den Prüfstand zu stellen, die wir bis heute als selbstverständlich angesehen haben. Unbewusst verharrt der Westen in einem zutiefst eurozentrischen Referenzsystem, das in dieser Form nicht als Basis eines künftigen Weltrechts taugt, allem Schein vom Siegeszug europäischer Staatlichkeit und wirtschaftlicher Globalisierung nach Maßgabe des Westens zum Trotz. Man sollte die Chance ergreifen, die uns die „transzivilisatori-

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sche Perspektive“ von Yasuaki Onuma bietet, um den Weg hin zu einem wahrhaft „globalen Recht“ zu beschreiten. Alles andere wäre töricht – der Westen hat längst die Macht verloren, dem Rest der Welt sein Ordnungsmodell aufzuzwingen.

Autorenverzeichnis Prof. Dr. Andreas von Arnauld ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, insbesondere Völker- und Europarecht, sowie Direktor des Walther-Schücking-Instituts. Prof. Dr. Udo Fink ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht, Internationales Wirtschaftsrecht an der Universität Mainz. Prof. Dr. Thomas Giegerich, LL.M. (Virginia) ist Inhaber des Lehrstuhls für Europarecht, Völkerrecht und Öffentliches Recht sowie Direktor des Europa-Instituts an der Universität des Saarlandes. Prof. Dr. Stephan Hobe, LL.M. (McGill) ist Inhaber des Jean-Monnet-Lehrstuhls für Völkerrecht, Europarecht, Europäisches und Internationales Wirtschaftsrecht sowie Direktor des Instituts für Luft- und Weltraumrecht an der Universität zu Köln. Sönke Lorenz ist Vortragender Legationsrat (VLR) im Auswärtigen Amt. Prof. Dr. Carsten Nowak ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, insbesondere Europarecht, an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) und Direktor des Frankfurter Instituts für das Recht der Europäischen Union. Prof. Dr. Kerstin Odendahl ist Inhaberin des Lehrstuhls für Öffentliches Recht mit Schwerpunkt Völkerrecht, Europarecht und Allgemeine Staatslehre sowie Geschäftsführende Direktorin des Walther-Schücking-Instituts. Prof. Dr. Stefan Oeter ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Völkerrecht und ausländisches öffentliches Recht sowie Direktor des Instituts für Internationale Angelegenheiten an der Universität Hamburg. Prof. Dr. Dagmar Richter ist Professorin am und Mitglied des Instituts für Rechtswissenschaften der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Warschau sowie Gastprofessorin an der Universität des Saarlandes. Prof. Dr. Wolfgang Weiß ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Europa- und Völkerrecht an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer.