Katholische Kirche und Europäische Union im Dialog für die Menschen: Eine Annäherung aus Kirchenrecht und Europarecht [1 ed.] 9783428524877, 9783428124879

In vielen Bereichen wirkt sich das EU-Recht bereits heute auf das religiöse Leben aus: Sonn- und Feiertage, Fernsehwerbu

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Katholische Kirche und Europäische Union im Dialog für die Menschen: Eine Annäherung aus Kirchenrecht und Europarecht [1 ed.]
 9783428524877, 9783428124879

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Kanonistische Studien und Texte Band 54

Katholische Kirche und Europäische Union im Dialog für die Menschen Eine Annäherung aus Kirchenrecht und Europarecht

Von

Burkhard Josef Berkmann

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

BURKHARD JOSEF BERKMANN

Katholische Kirche und Europäische Union im Dialog für die Menschen

Kanonistische Studien und Texte begründet von Dr. A l b e r t M . Ko e n i g e r˙ o.ö. Professor des Kirchenrechts und der Kirchenrechtsgeschichte an der Universität Bonn fortgeführt von Dr. Dr. H e i n r i c h F l a t t e n˙ o.ö. Professor des Kirchenrechts und der Kirchenrechtsgeschichte an der Universität Bonn und Dr. G e o r g M ay Professor für Kirchenrecht, Kirchenrechtsgeschichte und Staatskirchenrecht an der Universität Mainz herausgegeben von Dr. A n n a E g l e r Akademische Direktorin i. R. am FB 01 Katholisch-Theologische Fakultät der Universität Mainz und Dr. Wi l h e l m R e e s Professor für Kirchenrecht an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck

Band 54 BURKHARD JOSEF BERKMANN

Katholische Kirche und Europäische Union im Dialog für die Menschen

Katholische Kirche und Europäische Union im Dialog für die Menschen Eine Annäherung aus Kirchenrecht und Europarecht

Von Burkhard Josef Berkmann

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten # 2008 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0929-0680 ISBN 978-3-428-12487-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Das Thema „Kirche und Europäische Union“ gewinnt weiterhin an Bedeutung. Die Diskussionen um den EU-Verfassungsvertrag ließen nach den eigentlichen, ideellen Grundlagen und Zielen der europäischen Einigung fragen. Was kann die Kirche für das künftige Europa beitragen und was hat die Europäische Union der Kirche zu sagen? Wie können beide zusammenwirken, dass letztlich dem Wohl des einzelnen Menschen gedient wird? Mit diesen und ähnlichen Fragen beschäftige ich mich schon seit längerer Zeit. Ein Praktikum bei der COMECE in Brüssel und ein Besuch beim CCEE in St. Gallen boten mir wertvolle Einblicke in das tägliche Engagement der Kirche für Europa. Während eines Forschungssemesters in Rom konnte ich das Thema aus dem Blickwinkel einer anderen europäischen Kultur und einer anderen Rechtstradition neu beleuchten. Bereits vor zwei Jahren habe ich die mehr philosophische Arbeit „Das Verhältnis Kirche – Europäische Union. Zugänge aus rechtlich-philosophischer Sicht“ publiziert. Nun konnte ich an der Leopold-Franzens-Universität in Innsbruck zwei Doktorarbeiten fertig stellen, die ich im vorliegenden Band zusammenfüge. Aus der juristischen Dissertation stammen die Kapitel A.I.1., A.II.2., A.II.6., B.I., B.III., C.I., D.I., E.I., E.II., F.I., F.IV., H.I., H.II. und H.IV.2.; aus der theologischen hingegen die Kapitel A.I.2., A.II.1., A.II.3., A.II.4., A.II.5., B.II., B.IV., C.II., D.II., E.III., E.IV., E.V., F.II., F.III., G.I., G.II., H.III. und H.IV.3. Das Werk wurde Ende des Jahres 2006 abgeschlossen, doch berücksichtigt es die Entwicklung der Europäischen Union, die inzwischen stattgefunden hat, bereits mit. So werden die Länder Bulgarien und Rumänien, die am 1.1.2007 als Mitglieder aufgenommen wurden, bereits als Beitrittskandidaten mit behandelt. Gemäß dem Beschluss des Europäischen Rates vom 21./22.6.2007 soll an die Stelle des geplanten Verfassungsvertrags ein bloßer „Reformvertrag“ treten, der inzwischen als „Vertrag von Lissabon“ am 13.12.2007 von den Staats- und Regierungschefs aller Mitgliedstaaten unterzeichnet wurde und am 1.1.2009 in Kraft treten soll. Damit verliert die vorliegende Arbeit nicht ihre Aktualität – im Gegenteil: sämtliche religionsrechtlich relevanten Neuerungen, die der Verfassungsvertrag vorgesehen hätte und die in diesem Band analysiert werden, sollen nun gemäß dem Vertrag von Lissabon in den Unionsvertrag aufgenommen werden. Konkret handelt es sich dabei um jenen Absatz der Präambel,

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Vorwort

der auf das religiöse Erbe Europas Bezug nimmt, um den Artikel über die Werte der Union und vor allem um den so genannten „Kirchenartikel“ I-52 VVE. Ferner wird die Grundrechtecharta, in der die Religionsfreiheit, das Diskriminierungsverbot und das religiöse Erziehungsrecht ausdrücklich verankert sind, durch einen Verweis verbindlich gemacht. Insgesamt bekennt sich der genannte Beschluss des Europäischen Rates deutlich zum Dialog, welcher das Grundanliegen meiner Monographie darstellt. Danken möchte ich Herrn Prof. DDDr. Waldemar Hummer, Professor für Völker- und Europarecht an der juridischen Fakultät der Universität Innsbruck, für sein Interesse an diesem Thema. In seinen Lehrveranstaltungen konnte ich viel an juristischem Denken und Problemverständnis lernen. In gleicher Weise danke ich Herrn Prof. Dr. Wilhelm Rees, Professor für Kirchenrecht an der theologischen Fakultät in Innsbruck, für seine Ermutigung zu diesem Werk. Er stand mir immer mit Rat und Tat zur Seite, wenn es Probleme inhaltlicher oder organisatorischer Art zu lösen galt. Weitere Professoren haben in dankenswerter Weise mitgewirkt: Prof. Dr. Hans Richard Klecatsky und Prof. Dr. Johann Bair als Vertreter des juristischen Wahlfachs „Verfassungsrecht“, Prof. Dr. Wolfgang Palaver als Ordinarius meines theologischen Wahlfachs „Christliche Gesellschaftslehre“ und Prof. DDr. Ludger Müller M.A. als Verfasser des theologischen Zweitgutachtens. Prof. Dr. Wilhelm Rees, zusammen mit Frau Dr. Anna Egler Herausgeber der Reihe „Kanonistische Studien und Texte“, hat auch die Drucklegung begleitet und bei der Suche von Zuschüssen mitgeholfen. Für die Aufnahme in die Reihe danke ich ebenso wie für die entgegenkommende Abwicklung durch den Verlag Duncker & Humblot, besonders durch Frau Birgit Müller. Folgende Institutionen haben die Publikation mit einer finanziellen Förderung unterstützt: Amt der Vorarlberger Landesregierung, der Bischof von Innsbruck, Dr. Manfred Scheuer, das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur, die Deutsche Bischofskonferenz und die Leopold-FranzensUniversität Innsbruck. Allen sei an dieser Stelle ganz herzlich gedankt. Dank gebührt außerdem Frau Marianne Fesl und Herrn Oliver Thommel für die verlässliche Korrektur des nicht gerade kurzen Manuskripts. Herr Dr. Marcus Nelles wusste immer die passende Lösung bei Computerproblemen. Meine Anerkennung möchte ich schließlich allen aussprechen, die mich in diesen Jahren, meist ohne es zu wissen, auf irgendeine Weise unterstützt haben. Die Arbeit soll meiner lieben Mutter gewidmet sein.

St. Pölten, im Dezember 2007 Burkhard Josef Berkmann

Inhaltsverzeichnis A. Grundlegende Fragen........................................................................................... 21 I. Wie Kirche und EU aufeinander bezogen sind ................................................. 21 1. Was die Europäische Union mit Religion zu tun hat .................................... 21 2. Die Bedeutung der Europäischen Union für die Kirche................................ 23 II. Inwiefern die Beziehung rechtlich zu erfassen ist............................................. 1. Warum eine rechtliche Verhältnisbestimmung? ........................................... 2. Staatskirchenrecht oder Religionsrecht? ....................................................... 3. Das „Ius publicum ecclesiasticum externum“ rehabilitieren?....................... 4. Entwicklungsphasen des europäischen Religionsrechts................................ 5. Komplementärtheorie ................................................................................... 6. Mehrebenentheorie .......................................................................................

27 27 29 31 33 35 38

B. Christ und Bürger zugleich – der einzelne Mensch in Kirche und EU............ 42 I. Die individuelle religiöse Freiheit in der EU .................................................... 1. Der Mensch in der Rechtsordnung der EU ................................................... a) Person – Unionsbürger – Staatsbürger...................................................... b) Bürgerliche Freiheit in der EU.................................................................. 2. Entwicklung des Grundrechtsschutzes in der Europäischen Union .............. 3. Schutz der individuellen Religionsfreiheit nach dem EUV........................... 4. Die individuelle Religionsfreiheit in der Grundrechtecharta......................... 5. Die individuelle Religionsfreiheit im Verfassungsvertrag ............................ 6. Inhalte der individuellen Religionsfreiheit.................................................... a) Schutz religiöser Feiertage........................................................................ b) Das Schächten .......................................................................................... c) Weitere Themen mit EU-Relevanz ...........................................................

42 42 42 44 46 47 54 60 62 63 70 72

II. Die individuelle bürgerliche Freiheit in der Kirche .......................................... 1. Der Mensch in der Rechtsordnung der Kirche .............................................. a) Person – Christ – Katholik........................................................................ b) Religionsfreiheit in der Kirche ................................................................. 2. Entwicklung des Grundrechtsschutzes in der Kirche .................................... 3. Schutz der bürgerlichen Freiheit im II. Vatikanischen Konzil ...................... 4. Die individuelle bürgerliche Freiheit im Kodex von 1983............................ a) Die Berechtigten der bürgerlichen Freiheit ............................................... b) Die Verpflichteten der bürgerlichen Freiheit ............................................ c) Schranken der bürgerlichen Freiheit ......................................................... 5. Inhalte der individuellen bürgerlichen Freiheit ............................................. a) Familie ...................................................................................................... b) Beruf.........................................................................................................

74 74 74 77 80 82 83 84 88 89 92 93 99

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Inhaltsverzeichnis c) Politik ..................................................................................................... III. Irrelevanz der Religionszugehörigkeit in der EU............................................ 1. Entwicklung des Diskriminierungsschutzes in der Europäischen Union .... 2. Schutz vor religiöser Diskriminierung nach EUV und EGV....................... 3. Religiöse Diskriminierung in der Charta der Grundrechte .......................... 4. Religiöse Diskriminierung im Verfassungsvertrag ..................................... 5. Probleme der Antidiskriminierungspolitik .................................................. a) Diskriminierungsverbot im Urteil Prais zurechtgerückt .......................... b) Einschränkungen des Diskriminierungsverbots ...................................... c) Religion ist anders als die übrigen Diskriminierungsgründe...................

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IV. Irrelevanz der Staatsbürgerschaft in der Kirche .............................................. 1. Verbot religiöser Diskriminierung in der Kirche ........................................ 2. Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit ............. 3. Vergleich: Kirche – Europäische Union .....................................................

121 121 123 127

C. Kirche und EU – voneinander unabhängig und autonom .............................. 129 I. Korporative Religionsfreiheit: Die EU ist religiös inkompetent ..................... 1. Ableitung der korporativen aus der individuellen Religionsfreiheit ........... a) Entwicklung der Rechtsprechung zu Art. 9 EMRK ................................ b) Gründe der Rechtsträgerschaft von Religionsgemeinschaften ................ c) Grundrechtsträger ................................................................................... d) Übertragung der korporativen Freiheit in das EU-Recht ........................ 2. Kirchenfreiheit in internationalen Dokumenten außer der EMRK .............. 3. Kirchenfreiheit in den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen ............. 4. Ansätze zu kirchlicher Autonomie im EU-Recht selbst .............................. a) Charta der Grundrechte ........................................................................... b) Sekundärrecht ......................................................................................... 5. Inhalte der korporativen Religionsfreiheit .................................................. a) Schutzbereich.......................................................................................... b) Schranken ............................................................................................... 6. Gleichheit unter den Religionsgemeinschaften ........................................... 7. Fazit: Die religiöse Inkompetenz der Europäischen Union ......................... 8. Dennoch religionsrelevante Kompetenzen der EU .....................................

129 130 130 133 136 137 139 141 143 143 145 150 150 156 157 160 164

II. Autonomie des weltlichen Gemeinwesens: Kirche politisch inkompetent .... 1. Die Kirche beansprucht religiöse Autonomie und Unabhängigkeit ............ 2. Die Kirche erkennt die Autonomie des weltlichen Bereichs an .................. a) Vorbemerkungen .................................................................................... b) Rechtsgrundlagen für die weltliche Autonomie ...................................... c) Schranken der Autonomie des weltlichen Gemeinwesens ...................... 3. Dennoch weltbezogene Kompetenzen der Kirche ...................................... a) Arbeitsrecht ............................................................................................ b) Weitere Berührungspunkte ..................................................................... c) Vergleich Kirche – Europäische Union ..................................................

174 174 180 180 183 186 188 188 191 194

Inhaltsverzeichnis

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D. Kirche und EU im Dialog ................................................................................... 196 I. Dialog und europäische Demokratie ............................................................... 1. Der Dialog mit den Religionsgemeinschaften............................................. a) Verschiedene Sektoren des Dialogs ........................................................ b) Wie die Kirchen ins „demokratische Leben der Union“ kamen ............. 2. Rechtsgrundlagen vor Inkrafttreten des Verfassungsvertrags ..................... a) Grundlagen im Primärrecht ..................................................................... b) Grundlagen im Sekundärrecht ................................................................ c) Weitere Grundlagen ................................................................................

196 198 198 201 205 205 207 208

II. Dialog und kirchliche „communio“ ................................................................ 1. Dialog und Demokratie in der Kirche? ....................................................... 2. Dialog und kirchliche „communio“ ............................................................ 3. Die Grundlagen für den Dialog mit der Welt .............................................. a) Theologische Grundlagen ....................................................................... b) Kirchenrechtliche Grundlagen ................................................................ 4. Ziele und Inhalte des Dialogs......................................................................

211 211 212 214 214 216 218

E. Die Partner des religiösen Dialogs ..................................................................... 224 I. Wer führt den Dialog auf Seiten der Europäischen Union? ............................ 1. Die „Union“ als Dialogpartnerin................................................................. 2. Die Organe und Einrichtungen als Dialogpartner ....................................... a) Die Europäische Kommission ................................................................. b) Das Europäische Parlament .................................................................... c) Der Rat der Europäischen Union ............................................................ d) Der Gerichtshof und das Gericht erster Instanz ...................................... e) Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss ................................ f) Die Konvente .......................................................................................... 3. Würdigung und Anregungen .......................................................................

224 224 226 226 230 233 234 237 238 239

II. Mit wem führt die Europäische Union den religiösen Dialog? ....................... 1. Die Terminologie im Unionsrecht .............................................................. a) Bezeichnungen für religiöse Organisationen im Unionsrecht ................. b) Bezeichnungen für die Partner des religiösen Dialogs ............................ 2. Schaffung eines Dialogstatus ...................................................................... a) Warum ein unionsweit einheitlicher Status wünschenswert ist ............... b) Warum Statusfragen dennoch Sache der Mitgliedstaaten bleiben .......... c) Einheitlicher Status in nur einem Bereich: Dem religiösen Dialog ......... d) Der grundrechtliche Rahmen für die Auswahlkriterien .......................... e) Kriterien zur Verleihung des Dialogstatus .............................................. 3. Einheitliche Rechtsformen für Religionsgemeinschaften ........................... a) „Weiche“ Instrumente zur Harmonisierung der Rechtsformen............... b) Internationale Rechtsformen für Religionsgemeinschaften ....................

241 241 241 249 253 253 259 263 267 270 279 279 284

III. Wer führt den Dialog auf Seiten der Universalkirche? ................................... 1. Der Papst..................................................................................................... 2. Die Sonderversammlungen der Bischofssynode für Europa ....................... 3. Das Staatssekretariat ...................................................................................

291 292 297 302

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Inhaltsverzeichnis 4. Der Apostolische Nuntius ........................................................................... 307 IV. Wer führt den Dialog auf Seiten der Teilkirchen? .......................................... 1. Kontinentale Verbände von Bischofskonferenzen ...................................... a) Die Rechtsgrundlage der Verbände von Bischofskonferenzen ............... b) Die rechtliche Gestalt der Verbände von Bischofskonferenzen .............. c) Beziehungen zum weltlichen Gemeinwesen ........................................... 2. Die beiden europäischen Verbände ............................................................. a) CCEE ...................................................................................................... b) COMECE ...............................................................................................

314 314 314 324 338 343 343 345

V. Weitere kirchliche Dialogpartner und Perspektiven ....................................... 1. Vertretung der katholischen Ostkirchen ...................................................... 2. Kirchliche Dialogpartner außerhalb der Hierarchie .................................... a) Konsoziative Strukturen.......................................................................... b) Orden ...................................................................................................... 3. Mögliche Entwicklungen bei den kirchlichen Dialogpartnern .................... a) Ein Patriarch für Europa ......................................................................... b) Europäische Bischofskonferenz und Europakonzil................................. c) Stärkung der COMECE .......................................................................... d) Welche Kompetenzen auf die europäische Ebene?.................................

353 353 356 356 362 364 365 367 368 370

F. Form, Grundlagen und Ergebnisse des religiösen Dialogs ............................. 375 I. Das Dialogverfahren ....................................................................................... 1. Die vorhandenen Einzelelemente und Stufen des Dialogrechts .................. 2. Bisherige Ansätze zu einem Dialogverfahren ............................................. 3. Die drei Prinzipien des Dialogverfahrens nach dem VVE .......................... 4. Kirchliche Vorstellungen von einem Dialogverfahren ................................

375 375 381 383 386

II. Gemeinsame rechtliche Ausgangsbasis für den Dialog .................................. 1. Völkerrecht als Dialoggrundlage ................................................................ 2. Allgemeine Rechtsgrundsätze als Dialoggrundlage .................................... a) Allgemeine Rechtsgrundsätze in Kirche und EU .................................... b) Beispiele für allgemeine Rechtsgrundsätze ............................................ 3. Menschenrechte als Dialoggrundlage ......................................................... a) Die Entwicklung der Grundrechte in EU und Kirche ............................. b) Grundrechtsschutz durch einen eigenen Grundrechtskatalog ................. c) Übernahme von Grundrechten aus anderen Rechtskreisen ..................... d) Grundpflichten des Menschen ................................................................ e) Parallelen zwischen Kirche und EU bei den Menschenrechten .............. 4. Christliche Werte als Dialoggrundlage .......................................................

387 388 391 391 394 397 398 399 401 405 407 409

III. Ergebnisse des Dialogs ................................................................................... 1. Ergebnisse des Dialogs aus der Geschichte ................................................ 2. Dialogergebnisse in der Sozialethik ............................................................ 3. Dialogergebnisse in rechtlichen Formen ..................................................... a) Abgestimmte Rechtsetzung .................................................................... b) Der Vertrag als Ergebnis des Dialogs ..................................................... c) Kooperation ............................................................................................

413 413 415 423 423 424 427

Inhaltsverzeichnis

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4. Rechtliche Instrumente bei Nicht-Einigung ................................................ 428 a) Kanonistische Instrumente zur Lösung von Normkonflikten .................. 429 b) Europarechtliche Instrumente zur Bereinigung von Normkonflikten ..... 433 IV. Ein Europa-Konkordat? .................................................................................. 1. Kirchliche Grundlagen ................................................................................ 2. Völkerrechtliche Vertragsfähigkeit der Europäischen Gemeinschaft.......... 3. Explizite Außenkompetenzen der Europäischen Gemeinschaft .................. 4. Implizite Außenkompetenzen der Europäischen Gemeinschaft .................. 5. Modalitäten des Vertragsabschlusses .......................................................... 6. Wie könnte ein „Europa-Konkordat“ konkret verwirklicht werden? .......... 7. Religionsgemeinschaften ohne Völkerrechtssubjektivität........................... 8. Nicht-völkerrechtliche Verträge auch für die katholische Kirche ...............

435 436 438 440 445 448 450 453 457

G. Gegenseitige Offenheit der beiden Rechtsordnungen ...................................... 459 I. Das Kirchenrecht ist offen für Europarecht .................................................... 1. Warum Rechtsordnungen füreinander offen sein sollten ............................ 2. Verweisungsnormen als „Einfallstore“ für nichtkirchliches Recht ............. 3. Auf welches Recht verwiesen wird ............................................................. 4. Kanonisierende und andere Verweisungen auf weltliches Recht ................ 5. Schranken für die Kanonisation .................................................................. 6. Kanonisation aus der Sicht des weltlichen Rechts ...................................... 7. Was die Kirche aus dem EU-Recht kanonisiert ..........................................

459 459 460 463 464 468 471 472

II. Das Europarecht ist offen für Kirchenrecht .................................................... 1. Zivilisation religiösen Rechts...................................................................... a) Arten der Verweisung auf religiöses Recht............................................. b) Allgemeine Fragen zur Zivilisation religiösen Rechts ............................ 2. Beteiligung der Kirchen an der EU-Normsetzung ...................................... 3. Vergleich der beiden Rechtsordnungen ......................................................

475 475 476 481 483 487

H. Auswirkungen auf die Beziehungen unter den einzelnen Staaten und unter den einzelnen Religionsgemeinschaften ............................................................ 496 I. Die EU und das Religionsrecht der Mitgliedstaaten ....................................... 1. Die nationale Identität der Mitgliedstaaten ................................................. 2. Das Subsidiaritätsprinzip ............................................................................ 3. Die „Kirchenerklärung“ von Amsterdam.................................................... a) Der Weg zur Kirchenerklärung ............................................................... b) Die Rechtsnatur der Erklärung Nr. 11 zum Amsterdamer Vertrag ......... c) Die Bedeutung der Kirchenerklärung ..................................................... 4. Der „Kirchenartikel“ Art. I-52 Abs. 1 VVE................................................ a) Von der Kirchenerklärung zum Kirchenartikel ....................................... b) Der „Status“............................................................................................ c) Staatskirchenrecht im engeren Sinne ...................................................... d) Staatskirchenrecht im weiteren Sinne ..................................................... e) Auswirkungen des Kirchenartikels ......................................................... f) Status quo oder Konvergenz? ..................................................................

496 496 498 500 500 501 504 505 505 507 508 511 515 516

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Inhaltsverzeichnis g) Das Verhältnis von Art. I-52 Abs. 1 und Abs. 3 VVE ............................ 517 5. EU-Religionsrecht und die Beziehungen unter den Staaten ........................ 519 II. Die Konkordate der Mitgliedstaaten und das EU-Recht ................................. 1. Die Verbreitung konkordatärer Systeme in der EU .................................... 2. Konkordate als Altverträge ......................................................................... 3. Der Schutz von Altverträgen ....................................................................... 4. Behebung von Unvereinbarkeiten in Altverträgen ...................................... 5. Sind Konkordate auch als „Neuverträge“ geschützt?..................................

522 522 524 528 531 537

III. Der interreligiöse / ökumenische Dialog und die EU ..................................... 1. Nicht-katholische Konfessionen und Religionen vor der EU...................... 2. Gleichheit versus Vielfalt im Europarecht .................................................. a) Gleichheit und Wettbewerb .................................................................... b) Vielfalt und Protektion ........................................................................... c) Die EU – Raum für ein multijuridisches System? .................................. 3. Die katholische Kirche angesichts von Gleichheit und Vielfalt .................. 4. Religiöse Einheit kraft Europäischer Union? .............................................. 5. Kirchenrecht und ökumenischer / interreligiöser Dialog ............................ a) Katholische Einrichtungen für den ökumenischen Dialog ...................... b) Interkonfessionelle und interreligiöse Rechtsbeziehungen ..................... c) Rechtliche Instrumente für das interekklesiale Verhältnis ...................... 6. Proselytismus: Divergierende Prinzipien und Vorschriften ........................

540 541 547 548 549 550 553 556 558 558 562 565 569

IV. Abschließende Betrachtungen ........................................................................ 1. Rückschau auf den Fortgang der angestellten Überlegungen...................... 2. Grundprinzipien des europäischen Religionsrechts .................................... 3. Die Verantwortung jedes Einzelnen ............................................................

573 573 574 576

Quellenverzeichnis ................................................................................................... 579 Literaturverzeichnis................................................................................................. 606 Canonesregister........................................................................................................ 668 Register der Sekundärrechtsakte............................................................................ 672 Register der Judikatur............................................................................................. 674 Personen- und Sachregister..................................................................................... 675

Abkürzungsverzeichnis AA AAS ABGB ABl. Abs. Abschn. AD AECAWA AEM AfkKR AG AIC Anh. Anm. AnnéeC Apg ApSoll ARG Art. AS ASS AU AVR Bd. BGBl. BRD BullEG BVerfG B-VG BzMK bzw. c. CA

Apostolicam Actuositatem (Vat II: Dekret über das Laienapostolat) Acta Apostolicae Sedis Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch (Österreich) Amtsblatt [ohne nähere Angabe: der Europäischen Gemeinschaften] Absatz Abschnitt Acta et documenta concilio oecumenico Vaticano II apparando, Typ.Pol.Vat., 1960-1995. Association of the Episcopal Conferences of Anglophone West Africa Allgemeine Erklärung der Menschenrechte Archiv für katholisches Kirchenrecht Ad Gentes (Vat II: Dekret über die Missionstätigkeit der Kirche) Adnotationes in ius canonicum Anhang Anmerkung Année canonique Apostelgeschichte Apostolicam Sollicitudo Allgemeine Rechtsgrundsätze Artikel Acta Synodalia sacrosancti concilii oecumenici Vaticani II, Typ.Pol.Vat., 1970-1980. Attività della Santa Sede African Union Archiv für Völkerrecht Band Bundesgesetzblatt Bundesrepublik Deutschland Bulletin der EG Bundesverfassungsgericht Bundesverfassungsgesetz Beihefte zum Münsterischen Kommentar beziehungsweise Canon Centesimus annus, Constitutio Apostolica

14 CCEE CCEO CD CEDEAO CELAM CERAO CIC CICM CIDSE CMLRev COMECE ComEx Comm Congr. Cult Congr. DocFid CONV DBK Denz. ders. d.h. DH dies. DignCon DirEccl DirOec DPM DR dt. DVBl. ebd. EECCS

EG EGBGB EGMR EKD EKMR ELRev EMRK

Abkürzungsverzeichnis Consilium Conferentiarum Episcopalium Europae (Rat der Europäischen Bischofskonferenzen) Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium Christus Dominus (Vat II: Dekret über die Hirtenaufgabe der Bischöfe in der Kirche) Communauté économique des États de l’Afrique occidentale Consejo Episcopal Latinoamericano Conférence Episcopale Régionale de l’Afrique de l’Ouest Francophone Codex Iuris Canonici (ohne nähere Angabe: CIC/1983) Commission internationale catholique pour les migrations Coopération Internationale pour le Développement et la Solidarité Common Market Law Review Commissio Episcopatuum Communitatis Europensis (Kommission der Europäischen Bischofskonferenzen) Comentario exegético Communicationes Congregatio de Cultu Divino et Disciplina Sacramentorum Congregatio pro Doctrina Fidei Dokumente des Verfassungskonvents Deutsche Bischofskonferenz Denzinger / Hünermann derselbe das heißt Dignitatis Humanae (Vat II: Erklärung über die Religionsfreiheit) dieselbe(n) Dignitas Conubii Il Diritto Ecclesiastico Directorium Oecumenicum De processibus matrimonialibus Décisions et rapports / Decisions and Reports (Amtliche Sammlung der Entscheidungen der EMRK) deutsch Deutsches Verwaltungsblatt ebenda European Ecumenical Commission for Church and Society (Europäische Ökumenische Kommission für Kirche und Gesellschaft) Europäische Gemeinschaft(en) Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Evangelische Kirche in Deutschland Europäische Kommission für Menschenrechte European Law Review Europäische Menschenrechtskonvention

Abkürzungsverzeichnis endg. Enc. EPZ ErgLfg. ES ESC EssGespr ET-Bulletin ETS EU EuG EuGH EuGRZ EuR EUV EuZW EVP EWG EWIV EWSA FABC Fn. FS FzK GASP GATT GE GG GO GOEP GOEWSA GRCH GS HdbKathKR HdbStKirchR Hg. HK hL hl. IAEA IAO i.d.F. i.e.S. IGH

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endgültig Encyclica Europäische Politische Zusammenarbeit Ergänzungslieferung Ecclesiae Sanctae Europäische Sozialcharta Essener Gespräche Bulletin der Europäischen Gesellschaft für katholische Theologie European Treaty Series Europäische Union Europäisches Gericht erster Instanz Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften Europäische Grundrechte Zeitschrift Europarecht (Zeitschrift) Vertrag über die Europäische Union Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Europäische Volkspartei Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Europäische wirtschaftliche Interessenvereinigung Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss Federation of Asian Bishop’s Conferences Fußnote Festschrift Forschungen zur Kirchenrechtswissenschaft Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik General Agreement on Tariffs and Trade Gravissimum Educationis (Vat II: Erklärung über die christliche Erziehung) Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland Geschäftsordnung Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments Geschäftsordnung des EWSA Charta der Grundrechte Gaudium et Spes (Vat II: Pastorale Konstitution über die Kirche in der Welt von heute) Handbuch des katholischen Kirchenrechts Handbuch des Staatskirchenrechts der BRD Herausgeber Herder Korrespondenz herrschende Lehre heilig International Atomic Energy Agency Internationale Atomenergie Organisation in der Fassung im engeren Sinn Internationaler Gerichtshof

16 IGMR IKO IKZ INGO IntOec IO IPbpR IPrax IPwskR i.S.d. i.S.v. IusCan IusEccl i.V.m. i.w.S. JBl. JECI JGS Joh JRP JZ Kap. KEK KSZE KuR LE LEF LexKR LexKStKR LG lit. Lk LM LThK m.w.N. MD MKCIC MM MonEccl MP Mt MthStKan NA

Abkürzungsverzeichnis Institutio Generalis Missalis Romani Internationale Katholische Organisation Internationale katholische Zeitschrift International non governmental Organisation Inter Oecumenici Internationale Organisation Internationaler Pakt für bürgerliche und politische Rechte Praxis des Internationalen Privatrechts Internationaler Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte im Sinne des / der im Sinne von Ius Canonicum Ius Ecclesiae in Verbindung mit im weiteren Sinn Juristische Blätter Jeunesse Étudiante Catholique Internationale Justizgesetzsammlung Evangelium nach Johannes Journal für Rechtspolitik Juristenzeitung Kapitel Konferenz europäischer Kirchen Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Kirche und Recht (Zeitschrift) Laborem exercens Lex Ecclesiae Fundamentalis Lexikon des Kirchenrechts Lexikon des Kirchen- und Staatskirchenrechts Lumen Gentium (Vat II: dogmatische Konstitution über die Kirche) litera Evangelium nach Lukas Lutherische Monatshefte Lexikon für Theologie und Kirche mit weiteren Nachweisen Materialdienst der Ökumenischen Zentrale Münsterischer Kommentar zum CIC Mater et Magistra Monitor Ecclesiasticus Motu Proprio Evangelium nach Matthäus Münchener theologische Studien, kanonistische Abteilung Nostra Aetate (Vat II: Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen)

Abkürzungsverzeichnis NGO Nr. NVwZ NZA ö OA ÖAKR ÖARR OAU ÖBK OE OECD Offb OR ORD OrdSyn ÖRK OSZE PastBon PCI PCLT PerCan PerRMCL PLO PO PontConsLaic PontConsMigr PontConsUnit PP PT RDC Rec. REDC RelUG Res. REU RGBl. RGG RIDU RL RN Rn. Röm

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Non governmental Organisation Nummer Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht österreichisch Octogesima Adveniens Österreichisches Archiv für Kirchenrecht Österreichisches Archiv für Recht und Religion Organization of African Unity Österreichische Bischofskonferenz Orientalium Ecclesiarum (Vat II: Dekret über die katholischen Ostkirchen) Organization for Economic Cooperation and Development Offenbarung Osservatore Romano Osservatore Romano deutsch Ordo Synodi Episcoporum celebrandae Ökumenischer Rat der Kirchen Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Pastor Bonus Pontificium Consilium de Legum Textibus Interpretandis Pontificium Consilium de Legum Textibus Periodica de re canonica Periodica de re morali canonica liturgica Palestine Liberation Organization Presbyterorum Ordinis (Vat II: Dekret über Dienst und Leben der Priester) Pontificium Consilium pro Laicis Pontificium Consilium de Spirituali Migrantium atque Itinerantium Cura Pontificium Consilium ad Unitatem Christianorum fovendam Populorum Progressio Pacem in Terris Revue de droit canonique Recommendation Revista Española de derecho canonico Religionsunterrichtsgesetz Resolution Regimini Ecclesiae Universae Reichsgesetzblatt Religion in Geschichte und Gegenwart Rivista internazionale dei diritti dell’uomo Richtlinie Rerum Novarum Randnummer Römerbrief

18

Abkürzungsverzeichnis

RRDec Decisiones Rotae Romanae Tribunalis Rs. Rechtssache RSpr. Rechtsprechung S. Seite SC Sacra Congregatio Schema EcclMunDoc Schema de Ecclesiae munere docendi Schema NormGen Schema de normis generalibus Schema PopDei Schema de Populo Dei SEDAC Secretariado Episcopal de América Central y Panama SIPECA Service d’Information Pastorale Européenne Catholique SJ Societas Jesu SL Sacram Liturgiam Slg. Rechtsprechungssammlung des EuGH SOE Sollicitudo omnium Ecclesiarum SPE Sozialdemokratische Partei Europas SpStr. Spiegelstrich SRS Sollicitudo rei socialis StdZ Stimmen der Zeit StGB Strafgesetzbuch StGG Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger StPO Strafprozessordnung (Deutschland und Österreich) StudCan Studia canonica SVN Satzung der Vereinten Nationen ThPQ Theologisch-praktische Quartalsschrift ThQ Theologische Quartalsschrift TRE Theologische Realenzyklopädie Typ.Pol.Vat. Typis Polyglottis Vaticanis UA Unterabsatz übers. übersetzt UK Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland UN United Nations UNIAPAC Union Internationale Chrétienne des Dirigeants d'Entreprise UNICE Union of Industrial and Employers' Confederations of Europe UNO United Nations Organization UR Unitatis Redintegratio (Vat II: Dekret über den Ökumenismus) v. von VApSt Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Vat II Zweites Vatikanisches Konzil VerfO Verfahrensordnung VfGH Verfassungsgerichtshof vgl. vergleiche VO Verordnung VVE Vertrag über eine Verfassung für Europa WDK Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen WRV Weimarer Reichsverfassung WUCWO World Union of Catholic Women’s Organizations

Abkürzungsverzeichnis WVK I WVK II Yb Z. ZaöRV ZAS z.B. ZBJI ZBR ZEE ZEuS ZevKR ZHR ZKTh ZMV ZProt ZRG KanAbt ZTR

19

Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge zwischen Staaten und IO oder zwischen IO Yearbook on the Convention of Human Rights Ziffer Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Zeitschrift für Arbeits- und Sozialrecht zum Beispiel Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres Zeitschrift für Beamtenrecht Zeitschrift für evangelische Ethik Zeitschrift für europäische Studien Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht Zeitschrift für katholische Theologie Zeitschrift für Mitarbeitervertretung Zusatzprotokoll zur EMRK Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abteilung Zeitschrift für Tarifrecht

A. Grundlegende Fragen I. Wie Kirche und EU aufeinander bezogen sind 1. Was die Europäische Union mit Religion zu tun hat Was haben die Religion und die Europäische Union miteinander zu tun? So könnte jemand fragen, für den Religion bloß Privatsache und die Europäische Union nichts anderes als ein Tummelplatz für Wirtschaftskonzerne ist. In Wirklichkeit stellen sich diesbezüglich aber viele brisante Fragen, wie die folgenden Beispiele zeigen: (1) Eine Frau möchte sich um eine Arbeitsstelle beim Rat der Europäischen Gemeinschaft bewerben. Da sie aber Jüdin ist, kann sie an der dazu erforderlichen schriftlichen Prüfung nicht teilnehmen, weil diese auf einen jüdischen Feiertag fällt, an dem das Reisen und das Schreiben untersagt sind. Muss die Prüfung verschoben werden? (EuGH, Rs. 130/75, Prais) (2) Ein Ehepaar, das in Italien eine katholische Ehe mit zivilen Wirkungen geschlossen hat, zieht nach Deutschland. Auf Antrag der Gatten fällt ein kirchliches Gericht in Deutschland ein Ehenichtigkeitsurteil, das von Italien für vollstreckbar erklärt wird. Ist auch Deutschland zur Anerkennung dieses Urteils verpflichtet, oder muss das Paar hier noch zusätzlich ein Scheidungsverfahren anstrengen? [Abschnitt H.I.5.] (3) Eine ehrenamtliche Mitarbeiterin der lutherischen Kirche in Schweden hilft in ihrer Kirchengemeinde bei der Vorbereitung zur Konfirmation. Wenn sie auf einer Internetseite für die Konfirmanden Informationen über andere Mitarbeiter in der Gemeinde zur Verfügung stellt, ist sie dann vom EG-Datenschutzrecht betroffen? (EuGH. Rs. C-101/01, Lindqvist) (4) Eine muslimische Familie will kein Fleisch verzehren, das nicht nach ihrer traditionellen religiösen Schlachtmethode erzeugt worden ist. Darf diese Methode im Gebiet der Europäischen Union angewandt werden, auch wenn sie den Tierschutz- und Hygienevorschriften widerspricht? [Abschnitt B.I.6.b)] (5) Die Scientology-Vereinigung in England beabsichtigt, eine Direktinvestition für ihre Schwesterorganisation in Frankreich zu tätigen. Darf Frankreich diesen Kapitalfluss aus Gründen der öffentlichen Ordnung unterbinden? (EuGH, Rs. C-54/99, Église de scientologie)

22

A. Grundlegende Fragen

Keines dieser Beispiele ist aus der Luft gegriffen. Alle waren bereits Gegenstand eines Verfahrens vor dem EuGH oder werden in Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft geregelt. Sie stellen nur eine kleine Auswahl jener Fragen dar, die in dieser Arbeit behandelt werden. Dahinter stehen Schicksale einzelner Menschen, Familien oder Gemeinschaften, die sich bemühen, ihr Leben nach den eigenen religiösen Vorstellungen auszurichten, weil sie darin seinen letzten Sinn erblicken. Die Europäische Union legt mit ihrer Rechtsordnung auch für das religiöse Leben Grenzen fest, in denen es sich entfalten kann oder auch behindert wird. Sie hat sich seit der Gründung der Europäischen Gemeinschaften 1951 bzw. 1957 in mehreren Stufen fortentwickelt: Von einer Wirtschaftsgemeinschaft über eine politische Union zu einer Werte- und Grundrechtsgemeinschaft.1 So versteht es sich von selbst, dass sie immer öfter den Religionen begegnet. Da ihr Recht Anwendungsvorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten genießt und für die einzelnen Rechtssubjekte in vielen Fällen unmittelbar wirksam wird, kann sich ihm auch der religiöse Bereich nicht entziehen. Die Ereignisse des 11. Septembers 2001 haben aufgezeigt, dass Religion heute nicht mehr als Privatsache verstanden werden kann und auch nicht als Sache lokalen Brauchtums oder regionaler Kultur.2 Die Pluralisierung der religiösen Landschaft durch Migration und das Aufkommen neuer religiöser Bewegungen stellt mehr als nur einen Staat vor völlig neue Probleme.3 Religion ist damit zu einem globalen Phänomen geworden, dem angemessen gerecht zu werden erst noch gelernt werden muss. Diese Aufgabe übersteigt die Möglichkeiten der einzelnen Staaten und muss auf universaler oder wenigstens kontinentaler Ebene gemeinsam angepackt werden. Der Europäische Rat von Laeken nahm in seiner Erklärung zur Zukunft Europas vom 15.12.2001 die globale Bedeutung der Religion zur Kenntnis, doch unter dem Eindruck des 11. Septembers leider nur in negativer Hinsicht, nämlich als religiöser Fanatismus. Der die Völker verbindende, die Moral sichernde und den Frieden fördernde Charakter der Religion blieb dabei völlig außer Acht. Der Europäische Rat von Laeken stieß aber einen Reflexionsprozess an, der zur Ausarbeitung einer Verfassung für Europa führte, die am 29.10.2004 von den Vertretern der EU-Mitgliedstaaten in Rom unterzeichnet worden ist. In der Zwischenzeit hat

______________ 1

Vgl. Hummer, Konstitutionalisierung, 147; Müller-Graff / Schneider, Kirchen, 8. Es war aber von Anfang an schon mehr intendiert als bloß ein wirtschaftlicher Raum (Delors, Rolle, 390). 2

Vgl. Niewiadomski, Katholisch, 144.

3

Vgl. Robbers, Community Law on Religion, 275.

I. Wie Kirche und EU aufeinander bezogen sind

23

sich das Bild gewandelt, denn dieser Verfassungsvertrag lässt eine durchweg positive Einstellung zur Religion erkennen: Das religiöse Erbe Europas wird als Grundlage seiner Werte anerkannt (Präambel), die Religionsgemeinschaften werden nicht nur in ihrer Rechtsstellung geschützt, sondern auch zu einem Dialog eingeladen (Art. I-52), und die Religionszugehörigkeit sowie ihre Ausübung erfahren einen grundrechtlichen Schutz (Art. II-70, II-74, II-81 und II-82).4 Ob und in welcher Form dieser Verfassungsvertrag in Kraft gesetzt wird, ist noch offen.5 Die vorliegende Arbeit berücksichtigt ihn – ausgehend von der bisherigen Rechtslage – bereits mit.

2. Die Bedeutung der Europäischen Union für die Kirche Welche Bedeutung hat die Europäische Union für die katholische Kirche? Begegnen sie sich rein zufällig, weil die Europäische Union sich in jenem Erdteil entwickelt, in dem die Kirche seit langem verwurzelt ist? Ist ihre Beziehung daher oberflächlich, oder gibt es etwas Tiefgründigeres, was die Beiden verbindet? Aufschluss darüber mag die Ekklesiologie geben, wie sie vor allem im Zweiten Vatikanischen Konzil ausgearbeitet wurde und das Selbstverständnis der Kirche wiedergibt. Art. 1 LG definiert die Kirche als Sakrament des Heils und schließt damit an die patristische und moderne Ekklesiologie an. Der Begriff des Sakramentes lehrt, dass „in einer irdischen Wirklichkeit göttliche Wirklichkeit ‚ansichtig‘ werden und ‚dasein‘, d.h. ‚widerständig‘ sein kann“6. Wenn die Kirche das universale Sakrament des Heiles ist, dann bedeutet dies, dass sie den in Jesus Christus endgültig erschienenen Heilswillen Gottes in ausdrücklicher und unbedingt verlässlicher Weise vergegenwärtigt. 7 Dass die irdische und die göttliche Wirklichkeit im Hinblick auf die Kirche nicht zwei verschiedene Größen darstellen, sondern eine einzige komplexe Wirklichkeit bilden, hebt Art. 8 Abs. 1 LG hervor. Es lassen sich also nicht zwei Kirchen, eine sichtbare und eine unsichtbare, voneinander trennen, sondern die eine Kirche ist sowohl himmlisch als auch gleichzeitig irdisch, und insofern sie irdisch ist, berührt sie sich auch mit allen anderen Erscheinungsformen des Irdischen wie etwa dem politischen Gemeinwesen. Da auch die Europäische Union ein solches Gemeinwesen darstellt, gibt es selbstverständlich Berührungen mit ihr. ______________ 4

Turowski wünschte schon früher eine Verankerung der Kirchen in der Verfassung einer zur politischen Union gewordenen EU (Europarecht, 643). 5

Vgl. Wägenbaur, Ratifizierungsdilemma, 129.

6

Lies, Europa, 136.

7

Kehl, Universalitätsanspruch, 260.

24

A. Grundlegende Fragen

Außer dieser allgemeinen Verbindung, die zwischen der Kirche und jedem politischen Gemeinwesen besteht, zeigt sich aber gerade in Bezug auf die Europäische Union noch ein spezieller Zusammenhang. Art. 1 LG beschreibt die Kirche näherhin als Sakrament, d.h. als Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit. Darin, dass die Kirche das universelle Heilssakrament der Einheit der ganzen Welt ist, sieht Lies den Ansatz für eine theologische Einheit im Europa von heute.8 Die Einheit Europas herzustellen, ist aber gerade das Ziel der Europäischen Union. Gewiss versteht das Konzil in Art. 1 LG die Kirche als Heilszeichen für eine tiefere Einheit der Menschheit, als sie auf dem Weg der gewöhnlichen zwischenmenschlichen Beziehungen zustande kommt, nämlich eine Einheit kraft der einenden Selbstmitteilung Gottes in Christus und dem Geist, doch ist es sich gleichzeitig dessen bewusst, dass auch die Zeichen der Zeit in Richtung der Einheit der Gesamtmenschheit weisen.9 So weist der letzte Satz in Art. 1 LG eigens darauf hin, dass die Aufgabe der Kirche, die Menschen zur vollen Einheit in Christus zu führen, gerade heute von besonderer Dringlichkeit ist, wo die Menschen durch vielfältige soziale, technische und kulturelle Bande enger miteinander verbunden sind. In Art. 42 Abs. 3 GS begrüßt das Konzil die Entwicklung zur Einheit im bürgerlichen und wirtschaftlichen Bereich und sieht darin eine Parallele zur Sendung der Kirche, die aber im Unterschied dazu auf eine Einheit der Gesinnungen und Herzen abstellt. Sind die Einheit, die die Kirche wirkt, und die politische Einigung auch nicht in eins zu setzen, so stehen sie doch in einem tieferen Zusammenhang miteinander, der die spezielle Grundlage für die Begegnung der katholischen Kirche mit der Europäischen Union bildet. In diesem Sinne hob Papst Johannes Paul II. hervor, dass die Kirche durch ihre eigene Natur und ihre wesensmäßige Sendung gerufen sei, die Zusammenarbeit, Geschwisterlichkeit und den Frieden zwischen den Völkern in Europa zu fördern.10 Ganz ähnlich klingt das Kommuniqué einer orthodox-evangelischen Begegnung, wonach die Kirchen umso mehr zu einem Beitrag für den europäischen Integrationsprozess gerufen sind, als sie im Leibe Christi alle Völker, Gesellschaften und Menschen in ihrer jeweiligen kulturellen und religiösen Identität in Eintracht verbinden sollen. 11 Für Christen kann die Verwirklichung des europäischen Projekts daher kein neutrales Thema sein.12 Büchele weist ______________ 8

Lies, Identität, 313.

9

Grillmeier, LThK2-Konzilskommentar Bd. I, 158.

10

Johannes Paul II., Rede vom 11.10.1985, Rn. 332-348.

11

Rumänisch orthodoxe Kirche / Evangelische Kirche in Deutschland, Goslar VIII, 129-136. 12

Vgl. van Gerwen, European Union, 280.

I. Wie Kirche und EU aufeinander bezogen sind

25

darauf hin, dass die Kirche Jesu Christi, deren Auftrag zur Sammlung der Völker im Pfingstereignis gründet, das einzige „Wir-Subjekt“ in der Welt ist, das in Menschen aller Völker dieser Erde verankert ist, und deswegen eine besondere Rolle bei der Entwicklung einer einheitlichen Weltordnung spielt.13 Für Brieskorn lässt sich die Verpflichtung für die Einheit – wenn auch nicht sonderlich klar – aus dem Evangelium ableiten, in dem die Friedensstifter selig gepriesen werden.14 Wenn sich die Beziehungen der Kirche zur Europäischen Union auch theologisch begründen lassen und die Unionsziele von Einheit und Frieden in Europa christlichen Wertvorstellungen entsprechen, so muss man sich anderseits doch davor hüten, die Europäische Einigung theologisch zu überhöhen. Europa ist an und für sich keine theologische Größe, sondern Adressat des Evangeliums wie jede andere Weltgegend auch.15 Als biblischer Beleg für die erste Begegnung Europas mit dem Christentum wird oft die Vision des Paulus angeführt, in der ihn ein Mazedonier bittet, in seiner Heimat das Evangelium zu verkünden (Apg 16,9f.). Aber daraus lässt sich keine privilegierte Stellung Europas ableiten, denn das Christentum ist in Amerika nicht weniger beheimatet, nur weil es nicht in der Bibel vorkommt.16 Die Einigung Europas ließe sich auch mit der kommunistischen oder einer anderen Ideologie begründen. Gefährlich wäre es außerdem, die theologische Begründung eines politischen Gemeinwesens mit einem Sendungsbewusstsein zu verknüpfen. Gewiss ist es richtig und aus christlicher Sicht sogar gefordert, dass die Europäische Union sich nicht in egoistischer Weise in sich selbst verschließt, sondern über ihre eigenen Grenzen hinausblickt, Entwicklungshilfe fördert, humanitäre Aktionen durchführt und sich weltweit für Menschenrechte einsetzt.17 Problematisch wäre es jedoch, wenn das europäische Modell anderen Kontinenten als einzig richtiger Weg für die Integration von Staaten übergestülpt würde. Wird ein weltliches Phänomen theologisch begründet, so besteht immer die Gefahr, es damit zu verabsolutieren und zu immunisieren. Da ist die nüchterne Feststellung Ratzingers, des heutigen Papstes Benedikt XVI., heilsam, derzufolge die europäische Kultur auch wieder untergehen kann, weil es niemals eine ______________ 13

Büchele, Eine Welt, 41f.

14

Brieskorn, Citizenship, 243.

15

Vgl. Ionita, Überlegungen aus orthodoxer Sicht, 235; Vögele, Weltgegend, 59.

16

Für Brieskorn (Citizenship, 243) ist es zwar ein ehrenwertes menschliches Ziel, die Identität einer Nation zu stärken, aber keine vorrangige christliche Aufgabe, denn die Christen sind zu allen Völkern gesandt. 17 Vgl. Brieskorn, Citizenship, 243; Rumänisch orthodoxe Kirche / Evangelische Kirche in Deutschland, Goslar VIII, 134.

26

A. Grundlegende Fragen

endgültige Gestalt des Menschseins gibt.18 Nach Schirrmacher gibt es Hoffnung für Europa, nicht weil die Europäer Gott näher stünden, sondern weil Gott alle Nationen liebt, sogar die Europäer, trotz alles dessen, was sie in der Vergangenheit angerichtet haben.19 Im Übrigen entspricht für ihn gerade die Vielfalt der Völker und Kulturen dem Willen Gottes, während die universelle Einheit das Ziel des Antichristen in Offb 13,1-10 sei.20 Ist die Europäische Union also eine Art Turmbau zu Babel, ein gigantisches Projekt, das der Mensch in seiner Überheblichkeit in Angriff nimmt und dabei Gott vergisst? Oder ist es vielmehr ein neues Pfingsten, das die verschiedensten Völker und Sprachen vereinigt?21 Es fehlt nicht an religiös besetzten Symbolen, die einerseits zu einer Verherrlichung, anderseits zu einer Verdammung der Europäischen Union Anlass geben könnten. Ihre Fahne, ein Kranz von zwölf Sternen auf blauem Grund, geht im letzten auf den Kranz zurück, der die Frau von Offb 12,1, ein Sinnbild für Maria oder die Kirche, bekrönt.22 Der Kranz auf der Europafahne ist aber leer und erlaubt somit keine Interpretation im Sinne einer einzelnen Religion.23 Die Europäische Union kennt aber auch negativ besetzte Symbole. So wurde an die Europäische Kommission die schriftliche Anfrage (Nr. 739/92) gerichtet, ob das EG-Symbol, das unter anderem nach der RL 87/404/EWG auf allen Erzeugnissen angebracht werden muss, um klarzustellen, dass sie den Rechtsvorschriften der Gemeinschaft entsprechen, nicht das Zeichen des Antichristen nach Offb 13,17 sei, ohne das niemand kaufen und verkaufen kann. Aus Rücksichtnahme auf Christen, die die Verwendung des Symbols aus Gewissensgründen ablehnten, wurde es von EG-Symbol auf EGKennzeichen umbenannt, ohne dass aber seine obligatorische Verwendung aufgehoben worden wäre. Ähnliche Probleme bereitete der Zahlencode, der für polizeiliche Zwecke zur Registrierung der Bürger jedem Mitgliedstaat zugeteilt wurde, wobei Griechenland die Zahl erhielt, die nach Offb 13,18 die Zahl des Drachen ist.24 Ist die Europäische Union also eher ein Drache, der die Menschen vernichtet, als die Frau, die den Retter gebiert? Sie ist natürlich keines von beidem. Sie ist einfach ein Gemeinwesen, das wie jedes andere gute und ______________ 18

Ratzinger, Wendezeit, 98.

19

Schirrmacher, Espoir, 62.

20

Ebd. 62.

21 Bei den Kirchenvätern findet sich eine Tradition, derzufolge die nationale Zersplitterung Folge der Sünde (Turmbau zu Babel), die Wiedervereinigung der Menschheit aber Werk des Heiligen Geistes (Pfingsten) ist. Vgl. dazu Ratzinger, Einheit, 32. 22

Vgl. Erdö, Jugendtreffen, 18; Friedrich, Wertediskussion, 147; Maier, Lungen,

209. 23

Bauer, USA, 182; Kiderlen, Ziele, 8.

24

Vgl. Potz, Orthodoxie, 47.

II. Inwiefern die Beziehung rechtlich zu erfassen ist

27

schlechte Seiten hat, aber deswegen weder verherrlicht noch verdammt zu werden braucht. Die Kirche kann zu ihr eine Beziehung aufbauen, wie zu anderen Gemeinwesen auch. Dabei kommt das parallele Ziel zugute, die Menschen zu einen.

II. Inwiefern die Beziehung rechtlich zu erfassen ist 1. Warum eine rechtliche Verhältnisbestimmung? Das Verhältnis zwischen Kirche und Europäischer Union ließe sich unter vielerlei Rücksichten bestimmen. Man könnte zum Beispiel einen historischen, einen soziologischen oder einen politikwissenschaftlichen Ansatz wählen. Besondere Vorzüge weist der philosophische Zugang auf, denn dadurch, dass die Philosophie kein eingeschränktes Formalobjekt besitzt und sich nicht auf Teilausschnitte der Wirklichkeit beschränkt, ermöglicht sie gerade beim Zusammentreffen zweier so verschiedener Größen wie einer weltlichen supranationalen Organisation und einer auf das ewige Seelenheil ausgerichteten Religionsgemeinschaft eine Vorgangsweise, die beide Seiten in gleicher Weise einbezieht und nach einem gemeinsamen Grund sucht. 25 So kann die philosophische Verhältnisbestimmung als Grundlage dienen für alle einzelwissenschaftlichen Untersuchungen, auch für eine rechtliche, wie sie die vorliegende Arbeit intendiert. Worin liegen nun die Vorteile eines rechtlichen Ansatzes? Das Recht ist ein Instrument, das beiden Seiten gemeinsam ist, denn sowohl die Europäische Union als auch die katholische Kirchen verfügen jeweils über eine eigene Rechtsordnung. So verschieden die beiden Größen sonst auch sein mögen, das Recht verbindet sie, weil gerade es die Fähigkeit besitzt, verschiedenartige Subjekte miteinander in Beziehung zu setzen.26 Eine der Funktionen des Rechts ist es, Einheit zu stiften. Mit gutem Grund ist die europäische Integration als eine Bewegung konzipiert worden, die Einheit durch Recht schafft. Es baut Brücken auch in einer religiös pluralistischen Gesellschaft. 27 Eine weitere Funktion des Rechts für die europäische Identität besteht darin, Sicherheit zu ______________ 25

Zur philosophischen Bestimmung des Verhältnisses, vgl. Berkmann, Verhältnis, 16 und passim. 26

Vgl. Dalla Torre, Città, 117. Auch andere Formen der Beziehung zwischen Welt und Kirche, wie etwa das Apostolat, nehmen rechtliche Formen (z.B. c. 225 CIC) an (ebd. 114). 27

Vgl. Dalla Torre, L’Europa del diritto, 458.

28

A. Grundlegende Fragen

geben in einer Phase der spirituellen, sozialen und politischen Unsicherheit. 28 Das Recht hat schließlich auch eine friedenssichernde Funktion gerade in Europa, das in seiner Geschichte durch politische und religiöse Konflikte mehrfach zerrissen wurde. 29 Lassen sich kirchliches und weltliches Recht einander aber wirklich gegenüberstellen, oder ist das Kirchenrecht nicht von anderer Qualität? Obwohl im Anschluss an das Zweite Vatikanische Konzil sich die Stimmen derer mehrten, die das Kirchenrecht bloß durch pastorale Weisungen, Ermahnungen oder Ordnungsregeln ersetzen wollten, halten die Prinzipien 1 und 3,30 die der Kodexreform zugrunde gelegt wurden, unverändert am Rechtscharakter fest, den der 1983 fertig gestellte CIC dann auch wirklich auszeichnet. Wäre Kirchenrecht kein eigentliches Recht, so ließe sich das Instrument der Kanonisation weltlichen Rechts in der kirchlichen Rechtsordnung, von dem der CIC mehrfach Gebrauch macht (vgl. c. 22; c. 1504 CCEO), ebenso wenig erklären wie der Abschluss von Konkordaten, die in der Kirche ohne Transformierung per se interne Wirkung31 entfalten. Gerade an diesen Beispielen, wo das Kirchenrecht sich für weltliches Recht öffnet, zeigt sich, dass es auch im vollen Sinne Recht sein muss.32 Gewiss mögen seine Begründung, seine Funktion und sein Inhalt teilweise vom weltlichen Recht abweichen, doch ändert das nichts an seinem formalen Rechtscharakter.33 Zutreffend weist Nelles jene Tendenzen zurück, die einen eigenen theologischen Rechtsbegriff entwickeln wollen, denn damit würde die Verbindung zur weltlichen Rechtswissenschaft aufgegeben.34 Wie Pree hervorhebt, ist der Rechtscharakter des kanonischen Rechts „Voraussetzung dafür, dass das Kirchenrecht mit sonstigen Rechtsordnungen und ______________ 28

Varnier, Identità, 593.

29

Rauch weist im Kontext der Beziehungen des Heiligen Stuhls zum Europarat darauf hin, dass nach Thomas von Aquin das Recht wesentlich zum Frieden gehört (Der Heilige Stuhl, 25f.). 30

Comm 1 (1968) 78-80; ebenso in der praefatio zum CIC.

31

Martín de Agar, Raccolta, 31.

32

Für Kirchenrecht als Recht im wahren Sinn des Wortes: Erdö, Theologie, 186; Pree, Rechtscharakter, 56. Auch Müller lehnt die Rede vom Kirchenrecht als analogem Recht ab. Für ihn fällt das Kirchenrecht sehr wohl unter den allgemeinen Rechtsbegriff und stellt einfach nur ein besonderes bzw. „eigengeartetes Recht“ dar (Müller, Rechtscharakter, 17f.). 33 Nach Erdö (Theologie, 188f.) hängt der Unterschied zwischen der kirchlichen und der weltlichen Rechtsordnung nur von ihren voneinander verschiedenen Mitteln und Zwecken ab, doch selbst die Zwecke sind nicht völlig unvergleichbar, sondern unterliegen nur unterschiedlichen Akzentuierungen. 34

Nelles, Summum ius, 181, 203 und 333.

II. Inwiefern die Beziehung rechtlich zu erfassen ist

29

Rechtssubjekten wie Staaten in rechtlichen Kontakt treten und z.B. Verträge schließen kann“35. Das Recht dient aber als Bindeglied nicht nur für die Beziehung der Europäischen Union zur katholischen Kirche, sondern auch zu den anderen Religionsgemeinschaften, die ebenfalls Rechtsvorschriften und eine rechtliche Ordnung kennen.36 Zu den religiösen Rechtssystemen gehören nach Huxley auf jeden Fall das jüdische und das islamische Recht und eventuell auch das hinduistische und buddhistische, denen gegenüber die christlichen Religionen eine eigene Kategorie bilden.37 Was für das katholische Kirchenrecht gesagt wurde, gilt auch hier: Insgesamt sind die Unterschiede zwischen religiösen und säkularen Rechten geringer, als man erwarten würde, 38 so dass das Recht seine Brückenfunktion auch hier voll erfüllen kann.

2. Staatskirchenrecht oder Religionsrecht? Die Rechtsmaterie, welche die staatlichen Regelungen über die Rechtsverhältnisse zu den Religionsgemeinschaften umfasst, wird herkömmlich „Staatskirchenrecht“ genannt.39 Staatskirchenrecht im engeren Sinn behandelt die Beziehungen von Staat und Religionsgemeinschaften als Institutionen, Staatskirchenrecht im weiteren Sinne hingegen auch die Rechtsstellung des Einzelnen unter dem Aspekt der Religion sowie alle Materien, in denen Religion für die staatliche Rechtsordnung relevant ist. Der Begriff „Staatskirchenrecht“ ist aber in mehrfacher Hinsicht missverständlich. Erstens handelt es sich nicht um Kirchenrecht, sondern um staatliches Recht; zweitens enthält der Begriff einen Anklang an ein System des Staatskirchentums, das er aber gerade nicht voraussetzt; und drittens scheint er sich auf Kirchen zu beschränken, umfasst jedoch auch die Beziehungen zu anderen Religionsgemeinschaften.40 Aus diesen Gründen verbreitet sich anstelle von „Staatskirchenrecht“ in jüngster Zeit immer mehr der Begriff „Religionsrecht“. Er vermeidet eine Engführung auf die institutionelle Seite und bezieht von vornherein auch das Staatskirchenrecht ______________ 35

Pree, Rechtscharakter, 65.

36

Pizzorusso, Comparazione, 218.

37

Huxley, Sistemi giuridici religiosi, 193.

38

Ferrari, Spirito, 265.

39

Vgl. Campenhausen, Staatskirchenrecht, 73.

40

Vgl. Czermak, Religions(verfassungs)recht, 744; Hense, Staatskirchenrecht, 39. Die letztgenannte Schwierigkeit brachte schon Ende des 19. Jahrhunderts den Begriff „Religionsrecht“ auf, aber nur für die nicht-christlichen Religionen (vgl. Hollerbach, Religionsrecht, 872).

30

A. Grundlegende Fragen

im weiteren Sinne ein.41 Geschichtlich vorbelastet sind beide Begriffe, so dass sich daraus für die Argumentation nichts gewinnen lässt, denn der Begriff „Staatskirchenrecht“ wurde im 19. Jahrhundert in der Zeit der Staatskirchenhoheit in Deutschland geprägt, und der Begriff „Religionsrecht“ im kirchenfeindlichen Dritten Reich.42 Beide Phasen sind heute längst überwunden und die Ursprünge der Begriffe weitgehend vergessen, so dass mit ihrer Verwendung keine restauratorischen Absichten verbunden werden können. 43 Für den Begriff „Staatskirchenrecht“ könnte man vorbringen, dass er zu einem Markenzeichen für die Regelung des Staat-Kirche-Verhältnisses in Deutschland und Österreich geworden und deshalb zu bewahren sei.44 Eben dieses Argument spricht jedoch gegen seine Verwendung auf europäischer Ebene, um die es gerade in der vorliegenden Arbeit geht. Daneben weisen noch weitere Argumente in diese Richtung: Auf europäischer Ebene von „Staatskirchenrecht“ zu sprechen, wäre schon deswegen verfehlt, weil die Europäische Union kein Staat ist.45 Außerdem sind hier auch immer die anderen Amtssprachen ebenso mit zu bedenken. So hat „Staatskirchenrecht“ im Englischen keine Entsprechung,46 und in den romanischen Sprachen verschwinden die Äquivalente „diritto ecclesiastico“, „droit ecclésiastique“, „derecho eclesiástico“ usw. immer mehr.47 Daher erweist sich der Begriff „Religionsrecht“ bzw. „droit des religions“, „law on religion“ usw. gerade auf der inter- und supranationalen Ebene als geeigneter.48 Er darf allerdings nicht mit jenem nicht-staatlichen Recht verwechselt werden, das die Religionsgemeinschaften sich selbst geben, um ihren internen Bereich zu regeln. Dafür stehen Begriffe wie „kanonisches Recht“, „evangelisches Kirchenrecht“, „jüdisches Recht“ etc. und als Oberbegriff „Recht der Religionsgemeinschaften“ zur Verfügung. In dieser Arbeit wird aus den genannten Gründen von „Staatskirchenrecht“ nur auf der mit______________ 41

Vgl. Czermak, Religions(verfassungs)recht, 744.

42

Vgl. ebd. 743; Hollerbach, Religionsrecht, 875.

43

So hat Hollerbach nichts gegen „Religionsrecht“ einzuwenden, wenn der Begriff nicht im Sinne einer Trennungsideologie verstanden wird (Staatskirchenrecht, 901). 44

Vgl. Hollerbach, Religionsrecht, 887.

45

Manche Autoren schaffen deswegen Begriffe wie „EG-Kirchenrecht“ oder „Unions-Kirchen-Recht“, z.B. Turowski, Staatskirchenrecht, 7; Lecheler, Ansätze, 41. 46

Hollerbach, Staatskirchenrecht, 902.

47

Hense, Staatskirchenrecht, 41. In Frankreich ist ohnedies „droit des cultes“ gebräuchlicher (Messner, Droit ecclésiastique, 151). Dalla Torre (Costituzione, 407) hingegen spricht von einem „diritto ecclesiastico europeo“. 48

Vgl. Hense, Staatskirchenrecht, 40; Söbbeke-Krajewski, Acquis Communautaire, 75; Vachek, Religionsrecht, 16; Walter, Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht, 237.

II. Inwiefern die Beziehung rechtlich zu erfassen ist

31

gliedstaatlichen Ebene gesprochen, auf der europäischen hingegen von „Religionsrecht“.

3. Das „Ius publicum ecclesiasticum externum“ rehabilitieren? Mit dem Verhältnis von Staat und Kirche beschäftigt sich, wie im vorigen Abschnitt dargelegt wurde, das Staatskirchenrecht bzw. das Religionsrecht. Das ist jedoch nicht das einzige Rechtsgebiet, das sich diesem Themenkreis widmet. Staatskirchenrecht und Religionsrecht umfassen nämlich nur die Normen des Staates bzw. eines anderen politischen Gemeinwesens, die das Verhältnis zu den Religionsgemeinschaften regeln. Ebenso muss man aber auch die Normen der Kirche in den Blick nehmen, die dieses Verhältnis von ihrer Seite aus zum Gegenstand haben.49 Nur wenn man beide Seiten zusammen sieht, ergänzen sich die zwei Hälften zu einem vollständigen Normenkomplex. Wie soll nun jener Bereich des kircheneigenen Rechts bezeichnet werden, der das Verhältnis zum politischen Gemeinwesen behandelt? Da es sich um das Spiegelbild zum Staatskirchenrecht handelt, könnte man an „Kirchenstaatsrecht“ denken. Dieser Begriff war bereits im 19. Jahrhundert in Verwendung, jedoch in derselben Bedeutung wie „Staatskirchenrecht“, nicht als Komplementärbegriff dazu.50 Göbel verwendet ihn hingegen in einem aktuellen Werk in der hier interessierenden Bedeutung. 51 Weite Verbreitung erfuhr er allerdings nicht, und er würde wohl noch mehr zu Missverständnissen Anlass geben als ohnehin schon der Begriff „Staatskirchenrecht“. Der Bereich des Kirchenrechts, um den es hier geht, wurde vor allem in der Zeit vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil auf Latein „ius publicum ecclesiasticum externum“ genannt. Er war ein Teil des „ius publicum ecclesiasticum“, also des öffentlichen Rechts der Kirche, das in Gegenüberstellung zum öffentlichen Recht des Staates konzipiert wurde. Im Unterschied zum „ius publicum ecclesiasticum internum“, womit die innere Verfassungsordnung der Kirche gemeint war, erfasste er die Außenbeziehungen der Kirche, vor allem jene zu den Staaten.52 In apologetischer Absicht versuchte das klassische ius publicum ecclesiasticum, die Kirche gegenüber staatlichen Machtansprüchen zu verteidigen und sie als ihm ebenbürtige rechtlich verfasste Gesellschaft darzustellen, ______________ 49

Puza (Weg, 415) zeigt auf, dass es diese beiden Herangehensweisen gibt und dass sich ihre Methoden nicht unbedingt unterscheiden müssen. 50

Vgl. Hollerbach, Religionsrecht, 870.

51

Göbel, Verhältnis, 104: „kirchenstaatsrechtlich“.

52

Vgl. Musselli, Rapporti, 1.

32

A. Grundlegende Fragen

die wie er ein internes und ein externes öffentliches Recht besitzt.53 Nachdem das Zweite Vatikanische Konzil andere Maßstäbe für die Beziehungen zum weltlichen Gemeinwesen gesetzt hatte, hielten manche das ius publicum ecclesiasticum für überholt, und die Disziplin geriet in Vergessenheit.54 Das geschah aber zu Unrecht, denn das Konzil wollte nicht die Disziplin als solche aufheben, sondern nur die bis dahin übliche Art, sie zu betreiben. Es machte sogar zahlreiche Aussagen über die Beziehungen der Kirche nach außen, 55 die es als Rechtsbereich immer geben wird, sofern die Kirche sich von der Außenwelt nicht völlig abkapseln will. So finden sich immer mehr Autoren, die das ius publicum ecclesiasticum als Wissenschaft wieder beleben wollen,56 natürlich ohne die apologetische Konnotation von früher,57 sondern auf der Grundlage der Konzilskonstitution Lumen Gentium58 und im Sinne des Dialogs59 mit der Welt. Da der Begriff des ius publicum ecclesiasticum externum sich nicht auf die Beziehungen zum politischen Gemeinwesen beschränkt, sondern alle Außenbeziehungen der Kirche erfasst, lässt er sich auch auf die ökumenischen und interreligiösen Beziehungen anwenden, die in Zukunft gewiss an Bedeutung gewinnen werden.60 Im deutschen könnte man ihn mit „kirchliches Außenrecht“ wiedergeben. Jenen Teil, der die Beziehungen zum weltlichen Gemeinwesen betrifft, könnte man „kirchliches Weltrecht“ nennen, jenen, der sich auf die anderen Kirchen, kirchlichen und religiösen Gemeinschaften bezieht, „ökumenisches“ bzw. „interreligiöses Kirchenrecht“. Der CIC/1983 enthält sogar mehr und bedeutendere Normen über die Außenbeziehungen der Kirche – sowohl gegenüber der politischen Gemeinschaft als auch gegenüber den konfessionellen Rechtsordnungen – als der CIC/1917.61 Auch das interne Verfassungsrecht der Kirche hat Auswirkungen auf das äußere Recht. Die vorliegende Arbeit wird sich mit diesen Normen beschäftigen, soweit sie für das Verhältnis der Kirche zur Europäischen Union von Belang sind.

______________ 53

Vgl. Astorri, Accordi, 34; Musselli, Rapporti, 3f; Prieto, Iniziative, 507.

54

Vgl. Huizing, Kirche und Staat, 586.

55

Vgl. Spinelli, Diritto pubblico ecclesiastico, 53f.

56

Saraceni, Chiesa, 294.

57

Musselli, Rapporti, 5.

58

Lombardía, Dualismo, 30.

59

Durand, Renouvellement, 137.

60

Vgl. Durand, Relations, 116; Musselli, Rapporti, 8.

61

Spinelli, Diritto pubblico ecclesiastico, 57.

II. Inwiefern die Beziehung rechtlich zu erfassen ist

33

4. Entwicklungsphasen des europäischen Religionsrechts Das europäische Religionsrecht durchlief – mitbedingt durch die geänderte Haltung der Kirche – bis heute im Großen und Ganzen drei Phasen. In der ersten Zeit nach der Gründung der Europäischen Gemeinschaften begleitete die Kirche den europäischen Einigungsprozess mit großer Zustimmung und großen Erwartungen.62 Von einem europäischen Religionsrecht konnte man in dieser Zeit noch kaum sprechen, weil die Entwicklung des Gemeinschaftsrechts noch zu wenig weit vorangeschritten war, als dass sich spürbare Berührungspunkte mit religiösen Angelegenheiten hätten zeigen können. Eine Ausnahme in dieser Phase stellen das Urteil Prais des EuGH vom 27.10.1976 (Rs. 130/75), in dem die Religionsfreiheit thematisiert wurde, sowie ein Aufsatz Pernices63 dar, der darauf Bezug nimmt und in erstaunlich weitsichtiger Weise schon einige Fragen des zu entwickelnden europäischen Religionsrechts vorwegnahm. Mitte der achtziger Jahre häuften sich aber die EuGH-Urteile, die Angelegenheiten von Religionsgemeinschaften betrafen, insbesondere im Arbeits- und Sozialrecht.64 So spürten die Kirchen immer deutlicher, dass sie nicht bloß wohlwollende Zuschauer einer unter friedensethischen Gesichtspunkten zu begrüßenden europäischen Einigung sind, sondern selbst unmittelbar Betroffene des immer umfangreicher werdenden Gemeinschaftsrechts. Besonders die beiden Großkirchen in Deutschland sahen ihre nach deutschem Staatskirchenrecht begünstigte Rechtsposition bedroht. Der Gipfel der Besorgnis war erreicht, als Mitte der neunziger Jahre die EG-Datenschutz-RL 95/46/EG, wenn auch unbeabsichtigt, beinahe eine wesentliche Voraussetzung des deutschen Kirchensteuersystems zu Fall gebracht hätte, was aber gerade noch rechtzeitig abgewendet werden konnte.65 Aus diesem Anlass verabschiedeten die DBK und die EKD im Juli 1995 eine gemeinsame Stellungnahme, in der sie ihrer Sorge Ausdruck verliehen, dass das nationale Staatskirchenrecht durch EG-Recht nivelliert werden könnte.66 Diese defensive Haltung wurde von der Europäischen Union insofern gebilligt, als in die Schlussakte des Vertrags von Amsterdam vom 2.10.1997 eine Erklärung Nr. 11 („Kirchenerklärung“) aufgenommen wurde, derzufolge die Union den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, achtet und nicht beeinträchtigt. ______________ 62

Vgl. Jeand’Heur / Korioth, Grundzüge, 255.

63

Pernice, Aspekte, 777-781.

64

Vgl. EuGH, Rs. 300/84, Van Roosmalen und Rs. 196/87, Steymann.

65

Vgl. Mösenthin, Kirchenfinanzierung, 83; Vachek, Religionsrecht, 358f.

66

Kirchenamt der Evangelischen Kirche / Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), Verhältnis. Vgl. Jeand’Heur / Korioth, Grundzüge, 255.

34

A. Grundlegende Fragen

Unterdessen mehrten sich aber bereits die Stimmen derer, die eine rein defensive Haltung in Frage stellten. Schon die Titel verschiedener Aufsätze markieren diese Wende. Während von Campenhausen 1990 zum Thema „Rechtzeitig das Bewährte sichern“67 schrieb, erhob Voigt 1996 die Forderung „Fortschreiben statt Festschreiben“68. In seinem Beitrag „Amsterdam war nur der Anfang“ von 1999 wehrte sich Robbers gegen Vorwürfe, dass die Kirchenerklärung von Amsterdam ein statisches Modell intendiere, und sprach sich selbst für einen dynamischen Prozess aus, in dem aber jeweils nur der nächste Schritt ins Auge gefasst werden solle.69 Im Jahr 2003 rief Torfs dazu auf, die defensive Haltung aufzugeben und statt nur zu reagieren auch zu antizipieren und die Konstruktion Europas aktiv zu beeinflussen.70 Der Verfassungsvertrag vom 29.10.2004 nimmt die Kirchenerklärung von Amsterdam in Art. I-52 zwar auf, ergänzt sie aber um eine Dialogklausel, derzufolge die Union mit den Kirchen und Religionsgemeinschaften einen regelmäßigen, offenen und transparenten Dialog führt. Damit ist ein Rahmen für die aktive Beteiligung am europäischen Integrationsprozess geschaffen worden.71 Die vorliegende Arbeit reiht sich bewusst in diese dritte Phase ein und will weniger aufzeigen, wie die Kirchen ihren angestammten Status im nationalen Staatskirchenrecht sichern können, als vielmehr, wie sie sich aktiv in die Rechtsgestaltung der Europäischen Union einzubringen vermögen. In Wirklichkeit kommt es den Kirchen ohnehin nicht so sehr darauf an, ob eine sie betreffende Regelung vom staatlichen oder vom gemeinschaftlichen Rechtsetzer erlassen wurde, sondern darauf, ob sie ihren Bedürfnissen und ihrem Selbstverständnis entspricht oder nicht. In der zweiten Phase wurde das nationale Recht zu schnell und zu pauschal als für die Kirchen günstig dargestellt, das EG-Recht aber als gefährlich. Das mag für Deutschland und Österreich großteils zutreffen,72 aber gewiss nicht für alle Mitgliedstaaten und selbst in diesen beiden Ländern lassen sich Punkte finden, in denen EG-Recht vorteil______________ 67

von Campenhausen, Rechtzeitig das Bewährte sichern, 536-538.

68

Voigt, Religionsartikel, 109.

69

Robbers, Amsterdam, 396.

70

Torfs, Kirchenjuristen, 32 und 35.

71

Triebel (Religionsrecht 124=174) begrüßt diese Wende.

72

Eckert bestätigt, dass die Bewahrung der staatskirchenrechtlichen Ordnung nur dort von Vorteil ist, wo sie kirchenfreundlich gestaltet ist wie etwa in Deutschland und Österreich (Eckert, EU-Verfassung, 29). Man muss sich aber davor hüten, das eigene staatskirchenrechtliche System nur deswegen für das beste anzusehen, weil es das bekannte und gewohnte ist. Wer aus anderen Ländern kommt, mag das dortige System bevorzugen, und in der Tat hat jedes System positive Elemente, die es in ein gesamteuropäisches System einbringen kann (vgl. Puza / Kustermann, Religionsrecht, 15).

II. Inwiefern die Beziehung rechtlich zu erfassen ist

35

hafter wäre. Beispielsweise enthalten zahlreiche Konkordate so genannte Staatsbürgerschaftsklauseln, mit denen die Kirche sich verpflichtet, nur Bürger des jeweiligen Staates in Dienst zu nehmen, während die Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Art. 39 Abs. 2 EGV eine Öffnung für Angehörige aller Mitgliedstaaten ermöglichen würde.73 Ein anschauliches Beispiel dafür, dass es nicht auf den Urheber einer Rechtsvorschrift, sondern auf ihren Inhalt ankommt, stellt der Sonntagsschutz dar. Wiederholt wurden Fälle vor den EuGH getragen, in denen Handelsunternehmen sich beschwerten, dass Verkaufsverbote an Sonntagen gegen EG-Recht verstießen.74 Der EuGH wies sie zum Wohlgefallen der Kirchen allesamt ab, weil die Europäische Gemeinschaft in dieser Sache (noch) keine Zuständigkeit besitze. Aus demselben Grund, eben weil eine entsprechende EG-Zuständigkeit fehlt, brachte er aber auch – und diesmal zum Missfallen der Kirchen – eine Bestimmung in der EG-Arbeitszeit-RL zu Fall, die den Sonntag grundsätzlich in die wöchentliche Ruhezeit einbezogen hatte.75 Wenn die Europäische Gemeinschaft aber die nötige Kompetenz erhielte und den arbeitsfreien Sonntag vorschriebe, so wäre eine derartige europaweite Regelung aus der Sicht der Kirchen einer bloß nationalen auf jeden Fall vorzuziehen.

5. Komplementärtheorie Aus den eben erwähnten Gründen ist es nicht Ziel dieser Arbeit – wie es zahlreiche andere Autoren getan haben –, das Staatskirchenrecht irgendeines Mitgliedstaats mit dem EU-Recht zu vergleichen, um herauszufinden, wo jenes von diesem möglicherweise verdrängt wird. Der Vergleich ist vielmehr zwischen dem EU-Recht und dem kircheneigenen Recht anzustellen, denn nur so kann beurteilt werden, ob eine Vorschrift der Europäischen Union dem kirchlichen Selbstverständnis gerecht wird oder womöglich einen Normkonflikt verursacht und ob das EU-Recht und das Kirchenrecht insgesamt mehr oder weniger miteinander harmonieren oder sich widerstreiten. Bisherige Abhandlungen zum Verhältnis Kirche - Europäische Union beschränkten sich weitgehend auf eine Untersuchung des Rechts der Europäischen Union, soweit es für die Kirche von Relevanz ist. Das ist aber nur die eine Seite der Medaille. Ebenso müsste das Recht der Kirche untersucht werden, soweit es für die Europäische Union von Bedeutung ist. In Wirklichkeit wird aber oft nicht ______________ 73 Z.B. in Österreich bezüglich Religionslehrer § 5 Abs. 1 RelUG, der auf Art. 1 § 3 Abs. 3 des „Schulvertrags“ BGBl. 1962/273 beruht. 74

EuGH, Rss. C- 145/88; C-306/88; C-312/89; C-332/89; C-304/90; C-169/91.

75

EuGH, Rs. C-84/94, Vereinigtes Königreich / Rat.

36

A. Grundlegende Fragen

einmal gesehen, dass es solche kirchlichen Normen gibt. Schließlich müssten beide Rechtsordnungen miteinander verglichen werden, um festzustellen, ob sie zueinander passen oder ob es hier und dort Anpassungsbedarf gibt. Dieser Aufgabe nimmt sich die vorliegende Arbeit an. Dabei wird die Vereinbarkeit der beiden Rechtsordnungen nach dem Komplementärprinzip geprüft. Dieses wird bereits vereinzelt zur Beurteilung von Fragen des Verhältnisses von weltlichem und kirchlichem Recht herangezogen. So stellt Pree eine Komplementarietät zwischen der Religionsfreiheit im weltlichen Recht und der bürgerlichen Freiheit im kanonischen Recht fest. 76 Hervada spricht in Bezug auf das Leben des Christen in Kirche und Welt von zwei komplementären Wirklichkeiten, die zwar voneinander verschieden, aber auch miteinander verflochten sind, so dass der Dualismus nur partiell ist.77 Das Komplementärprinzip erweist sich aber darüber hinaus als geeignet zur Beurteilung des gesamten Verhältnisses zwischen weltlichem und kirchlichem Recht. Eine weltliche und eine kirchliche Rechtsnorm sind dann komplementär, wenn sie sich gegenseitig ergänzen. Sie sind nicht komplementär, wenn sie nicht gleichzeitig erfüllbar sind, also wenn einem weltlichen Gebot ein kirchliches Verbot desselben Inhalts gegenübersteht oder umgekehrt. Komplementarietät erschöpft sich aber nicht in der Widerspruchsfreiheit, sondern erfordert auch, dass die Normen aus beiden Bereichen so miteinander zusammenhängen, dass sie eine sinnvolle Regelungseinheit ergeben. Komplementarietät verlangt jedoch nicht, dass die Normen beider Rechtsordnungen völlig miteinander übereinstimmen müssten, denn dann bedürfte es nicht zweier verschiedener Rechtsordnungen. Da die weltliche und die kirchliche Rechtsordnung zu einem großen Teil unterschiedliche Sachverhalte regeln, berühren sich ihre Normen inhaltlich oft gar nicht. Aber auch dort, wo sie sich berühren, müssen sie nicht identisch sein. Was im Kirchenrecht verboten ist, muss im weltlichen Recht nicht unbedingt auch verboten sein. Vielmehr genügt es schon, dass das entsprechende Verhalten hier nur nicht geboten ist.78 Diese Überlegung lässt sich am unterschiedlichen Schutz des Beichtgeheimnisses in Deutschland und Österreich verdeutlichen. Das staatliche Recht muss das kirchliche Beichtgeheimnis (c. 983 CIC) berücksichtigen, um Pflichtenkollisionen zu vermeiden, wenn Priester vor Gericht als Zeugen über Dinge ______________ 76

Pree, Libertad, 249: „complementariedad“.

77

Hervada, Elementi, 47: „realtà complementari“.

78

Janssen vertritt keine Komplementärtheorie wohl aber die Auffassung vom Staatskirchenrecht als Kollisionsrecht. Im Grunde verfolgt er damit das gleiche Ziel, nämlich die Herstellung eines Ausgleichs zwischen den verschiedenen Rechtsordnungen, so dass Konflikte vermieden werden (Kollisionsrecht, 736).

II. Inwiefern die Beziehung rechtlich zu erfassen ist

37

aussagen müssen, die sie in der Beichte erfahren haben. Der deutsche Gesetzgeber gibt dem Geistlichen in § 53 Abs. 1 StPO das Recht, die Aussage über Inhalte, die er im Rahmen der Seelsorge erfahren hat, zu verweigern. Er muss von diesem Recht aber keinen Gebrauch machen. Denn es wird ihm kein Schweigegebot auferlegt,79 obwohl das deutsche Recht in § 203 StGB auch Schweigepflichten für bestimmte Berufsgruppen kennt, unter denen aber Geistliche gerade nicht genannt werden. 80 Die österreichische Parallelnorm in § 151 StPO hingegen verbietet es, Geistliche über das, was ihnen in der Beichte anvertraut wurde, zu vernehmen. Hier wird also dem Geistlichen nicht ein Recht eingeräumt, sondern dem Gericht wir das Verbot auferlegt, eine Vernehmung durchzuführen. Der Unterschied besteht folglich darin, dass das österreichische Recht das kirchliche Aussageverbot ebenfalls durch ein Verbot sanktioniert, während die deutsche Strafprozessordnung es nur durch ein Recht zur Aussageverweigerung flankiert. Die österreichische Regelung scheint auf den ersten Blick das kirchliche Anliegen stärker zu schützen, doch muss man sich fragen, ob nicht in Wirklichkeit die deutsche Regelung, die nur ein Aussageverweigerungsrecht kennt, die kirchliche Autonomie stärker achtet, als jene, die zum kirchlichen Beichtgeheimnis eine eigene, parallele Regelung schafft. Die deutsche Regelung überlässt die Angelegenheit, was Verbot und Bestrafung betrifft, nämlich weitgehend der Kirche und schafft selbst nur die Voraussetzungen dafür, dass Pflichtenkollisionen vermieden werden. Dem Komplementärprinzip genügen beide, weil beide reibungslos mit dem kirchlichen Beichtgeheimnis zusammenpassen. Nicht komplementär wäre hingegen eine staatliche Aussagepflicht auch für Beichtväter. Im Bereich der Rechte Einzelner besteht die typische Konstellation, die dem Komplementärprinzip entspricht, darin, dass einem Recht auf der einen Seite eine Pflicht auf der anderen gegenübersteht. So wird das weltliche Recht der Eltern, die Kinder nach ihren religiösen Überzeugungen zu erziehen, durch die kirchliche Pflicht ausgefüllt, sie tatsächlich im katholischen Glauben zu erziehen. Sehr anschaulich lässt sich das Komplementärprinzip an c. 289 § 1 CIC verdeutlichen. Danach ist Klerikern der Militärdienst – außer mit Erlaubnis ihres Ordinarius – verboten. Dieses Verbot gilt aber nur, wenn die Meldung zum Militärdienst freiwillig erfolgen würde, das heißt, wenn sie von staatlicher Seite nicht verpflichtend ist. Besteht jedoch eine staatliche Pflicht, so darf der Kleriker den Militärdienst leisten. Die Kirche passt somit ihre Rechtsordnung im Sinne des Komplementärprinzips an die staatliche an: Wo keine staatliche Verpflichtung besteht, beharrt sie auf dem Verbot; wo aber eine staatliche ______________ 79

Dallinger, Gerichtsverfassung, 436. Ob der Geistliche kirchenrechtlich einer Verschwiegenheitspflicht unterliegt, ist unerheblich (Neubeck, § 53 StPO, Rn. 11). 80

Kühne, Zeugnisverweigerungsrecht, Rn. 3.

38

A. Grundlegende Fragen

Verpflichtung besteht, gewährt sie die Erlaubnis. Sonst käme der betroffene Kleriker in das Dilemma, nicht beide Anordnungen gleichzeitig erfüllen zu können. Auch im Bereich der Institutionen ist das Komplementärprinzip anwendbar, doch nicht im Sinne eines Gegenübers von Rechten und Pflichten. Hier geht es vielmehr um die Frage, ob den Einrichtungen der weltlichen Seite, die sich mit religiösen Angelegenheiten beschäftigen, auf Seiten der Kirche Einrichtungen symmetrisch gegenüberstehen, die ihnen als Ansprechpartner dienen können, und umgekehrt. Wenn zum Beispiel ein Staat einen Botschafter an den Heiligen Stuhl entsendet, muss es dort eine Stelle geben, die für seine Aufnahme zuständig ist, und in gleicher Weise muss der Apostolische Nuntius vom jeweiligen Empfangsstaat akkreditiert werden. Wenn ein Staat zu bestimmten Fragen die Stellungnahme der Kirche einholen möchte, so wäre es im Sinne des Komplementärprinzips angebracht, dass die jeweilige Bischofskonferenz für solche Zwecke eine entsprechende Stelle einrichtet. Diese muss natürlich mit den dafür nötigen Mitteln und Kompetenzen ausgestattet werden. Das Komplementärprinzip lässt sich plastisch mit dem Bild des Puzzles veranschaulichen. Ihm ist dann vollends entsprochen, wenn sich die beiden Rechtsordnungen wie zwei Puzzle-Teile ineinander fügen. Die beiden Teile sollen nicht gleich sein, denn dann würden sie nicht zusammenhalten. Sie dürfen aber auch nicht beliebig verschieden sein, weil sie dann ebenso wenig zusammenpassen würden. Die Verschiedenheit muss vielmehr so sein, dass dort, wo der eine Teil nach außen gebuchtet ist, der andere in der entsprechenden Weise nach innen gebuchtet ist. Nur so können sie sich gegenseitig ergänzen. Je besser sie aufeinander abgestimmt sind, desto stärker haften sie aneinander, ohne dass es irgendeiner Klammer oder eines Kleisters bedürfte. So ist auch im Verhältnis der weltlichen zur kirchlichen Rechtsordnung keine übergeordnete Autorität notwendig, die beide zusammenhält, sofern die beiden nur möglichst genau aufeinander abgestimmt sind. Das Gegenbild wäre das des „Fleckerlteppichs“, das gerne für die postmoderne Vielfalt verwendet wird. Hier aber müssen die Teile, die ursprünglich nichts miteinander zu tun hatten, durch eine Naht verbunden werden. Die weltliche und die religiöse Sphäre sind aber von vornherein aufeinander hingeordnet, weil sie im Grunde nur zwei Seiten ein und desselben menschlichen Lebens sichtbar machen.

6. Mehrebenentheorie Das herkömmliche Staatskirchenrecht beschäftigt sich mit einer bipolaren Beziehung, die rechtlich zu regeln ist: Staat und Kirche stehen sich gegenüber. Wenn sich nun mit der Europäischen Union eine neue Größe über den Staat

II. Inwiefern die Beziehung rechtlich zu erfassen ist

39

stellt, so kommt ein dritter Pol hinzu, der aus der Zweierbeziehung ein Dreiecksverhältnis macht.81 Die bisherigen Studien zum europäischen Religionsrecht beschäftigten sich hauptsächlich mit dem Verhältnis Staat – Kirche, insofern es durch das Verhältnis Staat – Europäische Union beeinflusst wird. Die dritte Seite des Dreiecks, nämlich die direkte Beziehung zwischen Kirche und Europäischer Union, wurde hingegen kaum beachtet, im Gegenteil es wurden sogar Bedenken dagegen erhoben, sie überhaupt rechtlich auszugestalten, da die Beziehung zu den Religionsgemeinschaften eben Sache der Mitgliedstaaten sei. Dagegen hält Turowski treffend fest, dass die Europäische Gemeinschaft ein staatsähnliches Gebilde sei und es überall dort, wo es „Staat“ gebe, automatisch eben auch ein Staat-Kirche-Verhältnis gebe.82 Auch wenn sie eigentlich kein Staat ist, setzte sich in der Lehre doch immer mehr die Erkenntnis durch, dass sich die Schaffung eines gemeinsamen Religionsrechts für die Europäische Union nicht vermeiden lässt.83 Gleichzeitig wurde jedoch betont, dass wegen der Eigenart der Union nicht einfach ein bestimmtes staatskirchenrechtliches System eines Mitgliedstaates auf die europäische Ebene übertragen werden kann, sondern ein eigenes Modell entwickelt werden muss. 84 So sieht Rees die Aufgabe, im Respekt vor der Vielfalt der staatskirchenrechtlichen Systeme „ein gemeinsames Religionsrecht zu schaffen, wobei den Kirchen und Religionsgemeinschaften eine besondere Aufgabe zukommt“85. Das Dreiecksverhältnis erfasst die Komplexität der Rechtsbeziehungen aber bei weitem nicht vollständig. Unterhalb der nationalen Ebene liegt die regionale, die in manchen Mitgliedstaaten religionsrechtlich von großer Bedeutung ist. So besitzen die deutschen Bundesländer auf diesem Gebiet weitreichende Zuständigkeiten, erlassen vielfältige Regelungen und stehen natürlich auch in Beziehung mit den Religionsgemeinschaften. Über der europäischen Ebene ist die internationale angesiedelt, auf der religionsrechtliche Regelungen vor allem im Bereich der Menschenrechte zustande gekommen sind. Die UNO steht in Kontakt mit zahlreichen Religionsgemeinschaften. Diese komplexe Situation wird häufig als „Mehrebenensystem“ beschrieben.86 Heinig kommt das Verdienst zu, dieses Mehrebenenmodell für das Verhältnis zu den Religionsge______________ 81

Vgl. Kirchhof, Kern, 154: „Dreieck von Staat, Europäischer Union und Kirche“.

82

Vgl. Turowski, Staatskirchenrecht, 2.

83

Z.B. Barberini, Intérêt national, 63; Robbers, Verhältnis der Europäischen Union, 11; Torfs, Kirchenjuristen, 31. 84 Treanor, Ausbau, 187. Dabei wird sehr wohl zu überlegen sein, welche Elemente der nationalen Systeme Zukunft haben (Durand, Caractéristiques, 36). 85

Rees, Schulkreuze, 269.

86

Vgl. Altmeier, Unterwegs, 119; Hummer, Konstitutionalisierung, 202.

40

A. Grundlegende Fragen

meinschaften fruchtbar gemacht zu haben.87 Jede dieser Ebenen hat ein gewisses Verhältnis zu den Religionsgemeinschaften, je nach dem, welche allgemeinen Zuständigkeiten ihr zufallen. Werden Zuständigkeiten verschoben – oft werden sie gar nicht exakt zugeteilt –, so ändert sich ebenso dieses Verhältnis. Komplex ist die Lage aber nicht nur auf der weltlichen Seite, sondern auch auf jener der Religionsgemeinschaften, denn ihre Zahl ist groß und wächst weiter an, weil immer neue religiösen Bewegungen entstehen oder sich von größeren Glaubensgemeinschaften abspalten. Religionsrecht kann sich daher nicht in der Regelung des Verhältnisses zu einer einzigen Kirche oder Religionsgemeinschaft erschöpfen. Darüber hinaus ist zu beachten, dass die Religionsgemeinschaften selbst in mehrere Ebenen untergliedert sind. Manche bauen sich von unten auf und bilden auf europäischer und internationaler Ebene nur eher lockere Verbände aus. Andere, wie die katholische Kirche, besitzen nicht nur leistungsfähige Zwischenebenen, sondern auch zentrale Leitungsorgane mit weltweiter Zuständigkeit. Damit vervielfachen sich die rechtlichen Beziehungen noch einmal, da sie von der weltlichen Seite aus zu allen Ebenen einer Religionsgemeinschaft oder religiösen Organisation hergestellt werden können.88 Letztlich zeigt sich also ein kaum überschaubares Geflecht von rechtlichen Beziehungen, die zwischen der weltlichen und der religiösen Seite sowie zwischen ihren hierarchischen Ebenen bestehen und die alle in den Bereich des Religionsrechts fallen.89 Die vorliegende Arbeit kann selbstverständlich nicht auf alle diese Beziehungen eingehen. Sie beschränkt sich auf der weltlichen Seite im Wesentlichen auf die Europäische Union, wohingegen die religionsrechtlichen Verhältnisse der Mitgliedstaaten weitgehend ausgeklammert bleiben. 90 Nur in den Kapiteln H.I. und H.II. werden sie im Hinblick auf den Aspekt behandelt, ob und wie sehr das EU-Recht auf sie Einfluss nehmen kann. Da die Europäische Union grundsätzlich alle Religionen gleich behandelt, muss bei der Darstellung ihres Religionsrechts meist nicht zwischen den verschiedenen Religionsgemeinschaften differenziert werden. Wo sich dies dennoch als nötig erweist, wird vornehmlich das Verhältnis zur katholischen Kirche dargestellt, weil sie mit einem Anteil von etwa 55 % der Unionsbürger die mit Abstand größte ______________ 87

Heinig, Religionsgesellschaften, 406.

88

So steht sich heute sowohl auf kirchlicher als auch auf staatlicher Seite eine Mehrzahl an Gesprächspartnern gegenüber (Dalla Torre, Città, 115). 89 Heinig erwägt daher auch das Modell des polyzentrischen „net- and patchworks“, zieht aber doch das Mehrebenenmodell vor (Religionsgesellschaften, 406). 90

In der ersten Phase des europöischen Religionsrechts wurden, wie Puza (Weg, 428) aufgezeigt hat, vor allem die Auswirkugen des Gemeinschaftsrechts auf das nationale Staatskirchenrecht aufgezeigt.

II. Inwiefern die Beziehung rechtlich zu erfassen ist

41

Religionsgemeinschaft in der Europäischen Union ist. 91 Da sie außerdem die am stärksten ausgebildete rechtliche Struktur besitzt, wird sie auch dann herangezogen, wenn es darum geht, die Beziehung zur Europäischen Union aus der Sicht einer Religionsgemeinschaft darzustellen. So wechseln sich europarechtliche und kirchenrechtliche Abschnitte ab, um die gegenseitige Beziehung aus beiden Blickwinkeln zu beleuchten. Daneben werden die anderen christlichen Kirchen und die religionsrechtlichen Fragen, die Islam und Judentum aufwerfen, sowie die Probleme mit den neuen religiösen Gruppierungen Berücksichtigung finden. In dieser Arbeit geht es jedoch weniger um die Lösung von Einzelfragen, wie etwa dem Einfluss des EU-Rechts auf das kirchliche Arbeitsrecht, als vielmehr um eine Darstellung der allgemeinen rechtlichen Struktur der Beziehung von Kirche und Europäischer Union, wie sie bereits jetzt ausgebildet ist und wie sie sich in Zukunft entwickeln könnte. Den Ausgangs- und Mittelpunkt der Arbeit bildet der einzelne Mensch, der Angehöriger einer Religionsgemeinschaft und zugleich Bürger der Europäischen Union ist.

______________ 91

Vgl. Robbers, State and Church in the European Union, 578.

B. Christ und Bürger zugleich – der einzelne Mensch in Kirche und EU I. Die individuelle religiöse Freiheit in der EU 1. Der Mensch in der Rechtsordnung der EU a) Person – Unionsbürger – Staatsbürger Der Mensch wird in Beziehung zu anderen erst das, was er ist. Indem das Recht nicht nach innen, sondern nach außen gerichtet ist, setzt es den Menschen in eine geordnete Beziehung zum anderen. Die Rechtsbeziehungen innerhalb einer Rechtsgemeinschaft konstituieren ihn als Rechtssubjekt, als Träger von Rechten und Pflichten. Er ist keine rechtlose Sache, nicht nur Objekt des Rechts. Über die verschiedenen rechtlichen Instrumente kommuniziert er mit anderen Rechtssubjekten. Er kann Ansprüche geltend machen und sich gegen illegitime Ansprüche anderer zur Wehr setzen. Indem er seine Rechte wahrnimmt und seine Pflichten erfüllt, entfaltet er sich selbst und ermöglicht die Entfaltung anderer. Die Rechtsordnung der Europäischen Union bezog die Rechtsstellung des einzelnen Menschen von Anfang an mit ein und baute sie im Laufe der Zeit aus.1 Sie basiert auf dem Verbot von Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit und ermöglicht damit eine Sicht des Menschen als Menschen unabhängig von seiner Herkunft.2 Die Grundfreiheiten – auch wenn ihnen wirtschaftspolitische Erwägungen zugrunde liegen – verleihen doch dem einzelnen Menschen Rechte und Pflichten, zu deren Schutz er sich selbst an den EuGH wenden kann. Im Laufe der Entwicklung wurde die Rechtsstellung weiter ausgebaut: Der Grundrechtsschutz wurde verstärkt, die Direktwahl des Europäischen Parlaments durch die Bürger selbst eingeführt und das Diskriminierungsverbot auf weitere Tatbestände ausgedehnt. Der Vertrag von Amster______________ 1

Das Prinzip der Freiheit nach Art. 6 Abs. 1 EUV zeugt nach von Bogdandy von einem Verständnis des Menschen als freiem Rechtssubjekt, demgemäß alle Menschen sich in dieser Rechtsordnung als rechtlich Gleiche begegnen (von Bogdandy, Prinzipienlehre, 163). 2 Der Mensch hat Rechte nicht mehr nur als Staatsbürger eines bestimmten Staates (König, Staatsbürgerschaft, 122).

I. Die individuelle religiöse Freiheit in der EU

43

dam führte die Unionsbürgerschaft ein (Art. 17 EGV). Die Charta der Grundrechte von Nizza erkennt die meisten Rechte allen Menschen, also nicht nur EU-Bürgern zu und berücksichtigt dabei auch Personenkreise mit physischpsychischen Besonderheiten. So erreicht das Europarecht eine neue Etappe von der Sicht des Menschen als homo oeconomicus über den citoyen européen3 hin zu einem lebendigen Wesen, das nicht mehr statisch, sondern in seinem konkreten Personwerden und Personsein gesehen wird. 4 Der Verfassungsvertrag führt die Tendenz, den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, weiter, wenn er etwa festlegt, dass das Europäische Parlament direkt die Bürgerinnen und Bürger repräsentiert (Art. I-46 Abs. 2) und nicht mehr die europäischen Völker (Art. 189 EGV). Das Gesamtbild der Rechtsstellung des einzelnen Menschen in der Europäischen Union weist drei Ebenen auf: Die grundlegende Ebene besteht darin, dass alle Menschen natürliche Personen, d.h. Rechtssubjekte sind. Ein großer Teil der Rechte in der Rechtsordnung der Europäischen Union wird allen Menschen zuerkannt. Die zweite Ebene ist die der Unionsbürgerschaft. Wer Angehöriger eines Mitgliedstaats ist, besitzt die Unionsbürgerschaft und erhält damit ein Bündel zusätzlicher Rechte und Pflichten (Art. 17 EGV).5 Damit kann eine transnationale Identität geschaffen werden. 6 Die dritte Ebene schließlich stellt die Staatsbürgerschaft im jeweiligen Mitgliedstaat dar, die wiederum eine eigene Rechtsstellung mit sich bringt.7 Die drei Ebenen verhalten sich so zueinander, dass die Rechtsposition, die die höhere Ebene gewährt, die Rechtsposition der darunter liegenden jeweils einschließt und ausbaut. Während daher die Zahl der Rechte und Pflichten von unten nach oben zunimmt, nimmt die Zahl der davon betroffenen Rechtssubjekte ab. Am schwächsten ist die zusätzliche Rechtsposition auf der Ebene der Europabürgerschaft ausgebildet. 8 Der EGV zählt nur wenige Unionsbürgerrechte ______________ 3 Der EuGH hat eine von der Ausübung wirtschaftlicher Tätigkeiten unabhängige subjektivrechtliche Dimension der Unionsbürgerschaft entwickelt (Kubicki, Unionsbürgerschaft, 510). 4

Stanzione, Diritti, 41f.; vgl. auch Müller-Graff / Schneider, Kirchen, 9.

5

Brieskorn hingegen möchte, dass jeder die EU-Bürgerschaft erhält, der von den drei Gewalten betroffen ist, auch wenn er nicht Bürger eines Mitgliedstaats ist (Brieskorn, Citizenship, 234). 6

Botta, Cittadini, 81.

7

In diesem mehrstufigen System ist somit ein Bürgerstatus auf der Unions- und auf der staatlichen Ebene zugleich möglich (Kadelbach, Unionsbürgerschaft, 575). 8

Wer die Unionsbürgerrechte mit den Staatsbürgerrechten vergleicht, wird enttäuscht sein. Man kann sie aber auch als Anfang einer europäischen Aktivbürgerschaft mit schrittweiser Aufwertung ansehen (ebd. 540).

B. Christ und Bürger zugleich – der einzelne Mensch in Kirche und EU

44

auf: Das Recht auf freien Aufenthalt im Hoheitsgebiet jeden Mitgliedstaats (Art. 18), das Wahlrecht bei Kommunalwahlen (Art. 19 Abs. 1) und bei den Wahlen zum Europäischen Parlament (Art. 19 Abs. 2), das Recht auf diplomatischen und konsularischen Schutz (Art. 20) und schließlich das Petitionsrecht und das Recht, sich an den Bürgerbeauftragten sowie die Organe und Einrichtungen der Gemeinschaft zu wenden (Art. 21). Kapitel V der GRCH nennt außerdem das Recht auf eine gute Verwaltung (Art. 41) und das Recht auf Zugang zu Dokumenten (Art. 42, vgl. Art. 255 EGV).9 Die stärksten Auswirkungen hat wohl, worauf Kadelbach aufmerksam macht, das Diskriminierungsverbot nach Art. 12 EGV, weil es die Mitgliedstaaten verpflichtet, Rechte, die ihren Staatsangehörigen zustehen, auch anderen Unionsbürgern zu gewähren, so dass ein komplementärer Bürgerstatus über die Grenzen hinweg entsteht.10 Die Europäische Union erfüllt eine Vorreiterrolle im Blick auf die Entwicklung dahin, dass der Einzelmensch im Völkerrecht nicht nur als Rechtsobjekt sondern auch als Rechtssubjekt in Erscheinung tritt und dass seine Mediatisierung durch den jeweiligen Staat durchbrochen wird. 11 So wird über die Ebene des Staates hinaus eine zusätzliche Legitimationsgemeinschaft möglich, deren Mitgliederkreis sich nach bestimmten anderen Kriterien zusammensetzt. 12 Die Rechtsordnung der Europäischen Union betrachtet den Menschen als freies Rechtssubjekt und geht von einem individualistischen Rechts- und Gesellschaftsverständnis aus; in dieser Rechtsordnung begegnen sich alle Menschen als rechtlich Gleiche.13

b) Bürgerliche Freiheit in der EU Auch wenn die Unionsbürgerschaft bislang nur aus wenigen Rechten besteht, so eröffnet sie dem Einzelnen doch einen neuen Rechtsraum, den man als Raum der bürgerlichen Freiheit in der Europäischen Union bezeichnen könnte – Art. 2 EUV spricht von einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Obwohl nach Art. 17 Abs. 2 EGV mit der Unionsbürgerschaft auch Pflichten verknüpft sein sollen, lassen sich solche nur schwer ausmachen. ______________ 9

Vgl. Rack, Unionsbürgerschaft, 215.

10

Kadelbach, Unionsbürgerrechte, Rn. 100.

11

Karl, Gestaltwandel, 275f. Vgl. auch Kadelbach, Unionsbürgerschaft, 539. Rechte werden zunehmend von der Staatsangehörigkeit differenziert (König, Staatsbürgerschaft, 122). 12 13

Kadelbach, Unionsbürgerschaft, 579.

von Bogdandy, Prinzipienlehre, 163. von Bogdandy bezeichnet dieses Verständnis des Menschen als „das vielleicht bedeutendste Artefakt der europäischen Geschichte“.

I. Die individuelle religiöse Freiheit in der EU

45

Abgesehen von der jeder Rechtsordnung immanenten Vereinbarung, rechtliche Normen einzuhalten, lässt sich diesbezüglich nichts finden.14 Das Fehlen entsprechender Bürgerpflichten beugt der Gefahr vor, dass die bürgerliche Freiheit, die mit der Unionsbürgerschaft neu geschaffen wurde und ohnehin nur aus wenigen Rechten besteht, im selben Atemzug wieder eingeschränkt oder gar ausgehöhlt würde. Auch wenn die Europäische Union den Menschen heute nicht mehr nur als Arbeitnehmer, Konsument oder Unternehmer sieht, so erfasst sie doch längst nicht alle Lebensbereiche, und das soll sie auch nicht, wenn sie kein unumschränktes Regime werden will. So bleibt neben der politischen Dimension des Menschen die religiöse bestehen. Über 80 % der Menschen in der Europäischen Union gehören einer Religion an und unter den übrigen vertreten zahlreiche eine Weltanschauung, die eine ähnliche Funktion erfüllt.15 Die Religion bietet dem Menschen Entfaltungsmöglichkeiten über den weltlichen Bereich hinaus im Hinblick auf seine letzten und höchsten Ziele. Auch in der religiösen Sphäre ist der Mensch Träger spezifischer Rechte und Pflichten, die ihn in Beziehung mit anderen Gläubigen setzen und den Rahmen für seine religiöse Entfaltung bieten. Das säkulare Gemeinwesen kann diese nicht besorgen, es kann sie aber behindern, zulassen oder auch fördern, je nach dem, ob es die religiösen Rechte und Pflichten mit entgegengesetzten weltlichen Normen durchkreuzt oder wohlwollend auf sie Rücksicht nimmt. Wenn der Mensch auch in zwei verschiedenen Ordnungen Rechtssubjekt ist, so handelt es sich doch immer um ein und denselben Menschen.16 Je schwerer die beiden Rechtspositionen miteinander vereinbar sind, desto leichter gerät der Mensch in innere und äußere Konflikte. Es geht hier also um die Frage, ob der Mensch, der zugleich Bürger eines weltlichen Gemeinwesens und Angehöriger einer bestimmten Religion ist, wirklich nach seiner innersten Grundüberzeugung ein harmonisches Leben führen kann oder zwischen zwei Welten hin und her gerissen wird.17 Das Menschenbild einer Rechtsordnung zeigt sich gerade darin, wie es mit diesem ______________ 14 Die Loyaliätspflicht, die dem diplomatischen Auslandsschutz korrespondiert, genügt nicht, und die Bundestreue nach Art. 10 EGV ist eine Pflicht der Mitgliedstaaten, nicht der Bürger (vgl. Kadelbach, Unionsbürgerschaft, 565f.). 15

Robbers, State and Church in the European Union, 578.

16

Berkmann, Verhältnis, 98.

17

Benedict, Bedeutung, 361: Religiöse Gebote knüpfen an die persönliche Glaubensüberzeugung des Einzelnen an und beanspruchen Geltung für das ganze Leben, unabhängig von Zeit und Raum. Staatliche Rechtsnormen hingegen gelten unabhängig von einer persönlichen Überzeugung für jedes Verhalten, das sich innerhalb eines bestimmten Territoriums und innerhalb eines bestimmten Geltungszeitraumes abspielt. Diese Dichotomien sind konfliktträchtig.

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innersten Kern des Menschen umgeht. Der Gesetzesrahmen, unter dem eine säkulare Rechtsordnung den Menschen für den religiösen Bereich frei lässt, ist das Grundrecht der Religionsfreiheit.18 Wie weit die Rechtsordnung der Europäischen Union dem Menschen die individuelle religiöse Freiheit belässt, soll in den folgenden Abschnitten untersucht werden.

2. Entwicklung des Grundrechtsschutzes in der Europäischen Union Da EGKS, EWG und EAG als rein völkerrechtliche Zweckverbände funktioneller Integration konzipiert waren, trat am Anfang gar nicht ins Bewusstsein, dass ihre Verbandsgewalt in Grundrechtspositionen Einzelner eingreifen könnte und damit deren Schutz notwendig wäre. 19 Sobald sich aber zeigte, dass sich die Gründungsverträge auch an Privatpersonen wenden und die Gemeinschaften in zunehmendem Maß für jedermann verbindliches Sekundärrecht erlassen, nahmen ebenso die Grundrechtsverletzungen in Hoheitsakten zu, so dass einzelne nationale Verfassungsgerichte das Sekundärrecht im Inland für unanwendbar erklärten, wenn und soweit es nationalen Grundrechten entgegenstand.20 Da diese Vorgehensweise aber dem Vorrang des Gemeinschaftsrechts widersprach und der EuGH diesen keinesfalls aufgeben wollte, sah er sich gezwungen, selbst einen Grundrechtsschutz zu entwickeln, indem er, gestützt auf seine Kompetenz zur Wahrung des Rechts (Art. 220 EGV), Grundrechte als ungeschriebene Rechtsgrundsätze berücksichtigte. Dieser rein prätorische Grundrechtsschutz wurde schließlich durch Art. 6 Abs. 2 EUV bestätigt, demnach die Union die Grundrechte in der Art achtet, wie sie sich als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts aus der EMRK und den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben. Nach der Ansicht des EGMR trat die Europäische Union nicht im Wege der Funktionennachfolge in die Rechte und Pflichten der EMRK ein, kann sich der Verantwortlichkeit für EMRK-Rechte aber auch nicht einfach entziehen.21 Vielmehr können seinem Urteil Matthews zufolge die Konventionsstaaten Kompetenzen ______________ 18 Selbst nach dem Urteil des EGMR sind die wesentlichsten Elemente der Religionsfreiheit die Identität der Gläubigen und die Konzeption des Lebens (Nr. 41340ff./98, Wohlfahrtspartei, Rn. 90). Für Dalla Torre (zitiert bei Cavana, Libertà religiosa, 500) ist die Religionsfreiheit in einer demokratischen Rechtsordnung die erste aller Freiheiten. Sie ergreift die menschliche Existenz bis in die Tiefe (Kimminich, Religionsfreiheit, 78). 19

Hummer, Grundrechtscharta, 169.

20

Ehlers, Allgemeine Lehren, Rn. 4f.

21

Vgl. zu diesen Fragen: Ress, Grundrechtscharta, 197-199.

I. Die individuelle religiöse Freiheit in der EU

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auf eine supranationale Organisation verlagern, sofern die Rechte weiter gewahrt sind.22 Im Jahr 1999 nahm ein extra dazu einberufener Grundrechte-Konvent das Projekt eines eigenen EU-Grundrechtekatalogs in Angriff. Dabei verband er die vom EuGH entwickelten Rechte, die Grundrechte der nationalen Verfassungen, die Rechte der EMRK samt Zusatzprotokollen und weiterer internationaler Dokumente miteinander und reicherte sie mit neuen Grundrechten an. Die so entstandene „Charta der Grundrechte“ wurde beim Europäischen Rat von Nizza 2000 als feierliche Erklärung proklamiert, aber nicht in Rechtskraft gesetzt. Die im europäischen Rat von Brüssel 2003 versammelten Vertreter der Mitgliedstaaten beschlossen, die bisherige europäische Stelle für die Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit auszudehnen und in eine Agentur für Grundrechte umzuwandeln.23 Über die rechtliche Verbindlichkeit der Charta wurden seither mehrere Theorien entwickelt. Der Verfassungsvertrag der Europäischen Union nimmt die Charta nahezu unverändert in seinen Teil II auf und verleiht ihr damit Verfassungsrang. Darüber hinaus bleibt die Übernahme von Grundrechten aus den nationalen Verfassungsüberlieferungen und der EMRK weiterhin möglich, da Art. 6 Abs. 2 EUV in Art. I-9 Abs. 3 VVE Eingang findet. Bedeutsamer wird hingegen sein, dass Art. I-9 Abs. 2 VVE der Union den Beitritt zur EMRK aufträgt.24

3. Schutz der individuellen Religionsfreiheit nach dem EUV Religionsfreiheit als prätorisches Grundrecht: Schon sehr früh, nämlich im Urteil Prais von 1976 (Rs. 130/75, Rn. 12-19), hat der EuGH die Religionsfreiheit zumindest indirekt als Gemeinschaftsgrundrecht anerkannt, auch wenn dort eine nähere dogmatische Herleitung sowie Aussagen über Schutzbereich und Schranken fehlen.25 Da die Rechtsgrundlage dieses Urteils in Wirklichkeit ein ______________ 22 EGMR, Nr. 24833/94, Matthews, Rn. 32: Akte der EG können vom EGMR nicht geprüft werden, weil die EG kein Konventionspartner ist. Die EMRK schließt nicht aus, dass die Konventionsstaaten Kompetenzen auf internationale Organisationen übertragen, doch bleiben sie auch nach einem solchen Transfer dafür verantwortlich, dass die Rechte der EMRK gewahrt bleiben. 23

KOM (2004) 693 endg.; vgl. Calliess, Grundrechts-Charta, Rn. 39.

24

Das würde nicht nur eine stärkere Kongruenz mit der EMRK bewirken, sondern gäbe dem EGMR auch das letzte Wort über die Grundrechtsjudikatur des EuGH (vgl. Grabenwarter, Grundrechtsgemeinschaft, 569). 25 Bausback, Religions- und Weltanschauungsfreiheit, 270; vgl. auch Lindemann, Allgemeine Rechtsgrundsätze, 74; Söbbeke-Krajewski, Acquis Communautaire, 85.

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Verbot religiöser Diskriminierung ist, wird es in Abschnitt B.III.5.a) näher behandelt. Inzwischen kann sich der EuGH bei der Entwicklung der Grundrechtsjudikatur auf die primärrechtliche Grundlage des Art. 6 Abs. 2 EUV stützen, die im Folgenden im Hinblick auf die individuelle Religionsfreiheit zu untersuchen ist. Gemeinsame Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten: Art. 6 Abs. 2 EUV nennt zwei Rechtserkenntnisquellen für die Grundrechtsfindung: Die Europäische Menschenrechtskonvention und die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten. Was letztere betrifft, so sind die Verfassungsbestimmungen der Mitgliedstaaten, die ein bestimmtes Grundrecht verbürgen, nicht aber einfachgesetzliche Normen miteinander zu vergleichen. Dabei folgt der EuGH weder dem Maximal- noch dem Minimalstandard, sondern nimmt eine wertende Rechtsvergleichung vor, um die „beste“ Lösung zu ermitteln. Die Autoren, die eine solche Rechtsvergleichung hinsichtlich der individuellen Religionsfreiheit angestellt haben, kommen durchweg zu dem Schluss, dass diese überall verfassungsrechtlich geschützt wird, aber mit unterschiedlichen Schwerpunkten und Beschränkungen. 26 Diese Methode erfordert einen großen juristischen Aufwand und bringt letztlich nur ein sehr vages, lenkbares Ergebnis. Aus praktischen Gründen, vor allem seitdem die Europäische Union 25 Mitglieder zählt, wird sich die andere Rechtserkenntnisquelle, nämlich die EMRK, immer stärker durchsetzen.27 Europäische Menschenrechtskonvention: Die Grundrechte der EMRK binden die Europäische Union zwar nicht direkt. Solange nämlich eine formale Verbindung zwischen dem EuGH und dem EGMR fehlt – Art. 303 EGV reicht hierfür nicht aus –, ist der EuGH nicht gezwungen, sich an die Rechtsprechung des EGMR zu halten.28 Dennoch hat die EMRK in der Europäschen Union ______________ 26

Vgl. Ventura, Laicità, 105. Nach Vachek (Religionsrecht, 189) ist in allen Mitgliedstaaten die positive individuelle Religionsfreiheit verfassungsrechtlich verankert, ohne aber überall klar von der negativen Religionsfreiheit unterschieden zu werden. Margiotta Broglio (Fenomeno, 171) nimmt Griechenland wegen des Proselytismusverbots von der gemeinsamen Tradition hinsichtlich der Religionsfreiheit aus. Robbers, der auch die zehn 2004 beigetretenen Mitgliedstaaten berücksichtigt, stellt fest, dass die Religionsfreiheit als individuelles Recht allgemein und vollständig anerkannt wird und dass nirgends dem Individuum rechtlich vorgeschrieben wird, was es zu glauben oder nicht zu glauben hat (Robbers, State and Church in the European Union, 580). 27 28

Grabenwarter, Menschenrechtskonvention, § 4, Rn. 3.

Das Verhältnis zwischen beiden Gerichtshöfen wird in der Lehre unterschiedlich bewertet. Während Hummer (Status, 94) eine Zunahme der Divergenzen erwartet, sieht Philippi nur dort Abweichungen, wo in ähnlich gelagerten Fällen der EuGH vor dem EGMR zu entscheiden hatte und dessen Rechtsprechung somit gar nicht zum Vorbild nehmen konnte (Philippi, Divergenzen, 122).

I. Die individuelle religiöse Freiheit in der EU

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faktisch eine große Wirkung erzielt. Deshalb ist hier vor allen Dingen zu prüfen, wie die individuelle Religionsfreiheit in der EMRK geschützt ist. Die hierfür einschlägige Bestimmung, nämlich Art. 9 EMRK, regelt neben der Religions- auch die Gedanken- und die Gewissensfreiheit. Träger des Rechts auf Religionsfreiheit ist nach Abs. 1 zunächst einmal die natürliche Person („everyone“ bzw. „toute personne“), die es jedoch nicht nur allein, sondern auch in Gemeinschaft ausüben kann. Es lassen sich drei Elemente unterscheiden:29 Die Glaubensfreiheit, die Bekenntnisfreiheit und die Ausübungsfreiheit, also die Freiheit, eine Religion zu haben, diese kundzutun und sich entsprechend zu betätigen. Mit eingeschlossen ist zudem jeweils die negative Seite, also die Freiheit keiner Religion anzugehören, das Religionsbekenntnis nicht bekannt zu geben und keine religiösen Akte zu setzen. Ausdrücklich erwähnt ist die Freiheit, seine Religion zu wechseln. Es handelt sich nicht nur um ein Abwehrrecht, das der Hoheitsträger nicht verletzen darf, sondern ebenso um ein positives Leistungsrecht, dessen Wahrnehmung er aktiv ermöglichen muss. Breiten Raum widmet Art. 9 Abs. 1 EMRK der Ausübung der Religionsfreiheit. Diese kann privat oder öffentlich erfolgen. Vier Ausübungsformen werden exemplarisch30 genannt: Gottesdienst, Lehre, Praktiken und die Erfüllung von Gebräuchen („worship, teaching, practice and observance” bzw. „le culte, l'enseignement, les pratiques et l'accomplissement des rites”). Die Beachtung religiösen Rechts findet keine ausdrückliche Erwähnung, doch werden die genannten Ausübungsformen, insbesondere die Beachtung religiöser Gebräuche, nicht selten auf religiöses Recht zurückgehen, so dass auch dieses von der ohnehin nicht abschließenden Aufzählung miterfasst ist. 31 Allerdings sind die Grundrechtsschranken des Art. 9 Abs. 2 EMRK zu beachten. Diese beziehen sich nur auf die Ausübungsfreiheit, so dass die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit uneingeschränkt zu gewähren sind.32 Die Schran______________ 29

Vgl. Vachek, Religionsrecht, 205f. Eine andere Einteilung empfiehlt D’Avack (Libertà religiosa, 592f.), der zwischen Gewissens- und Kultfreiheit bzw. individueller und kollektiver Religionsfreiheit unterscheidet. 30

Vgl. Grabenwarter, Menschenrechtskonvention, § 22, Rn. 89.

31

Geschützt ist jedoch nicht jede religiös motivierte Handlung, sondern nur, was in der betreffenden Religion die übliche Praxis ist (ebd. Rn. 90). 32

So jedenfalls der Wortlaut und einige Autoren, z.B. Margiotta Broglio, Fenomeno, 168. Demgegenüber erstreckt Grabenwarter (Menschenrechtskonvention, § 22, Rn. 99) die Schranken auf alle Elemente der Religionsfreiheit. Die Religionsfreiheit stellt aber ein so fundamentales Grundrecht dar und die beiden ersten Elemente – Glaubens- und Bekenntnisfreiheit – reichen sehr nahe an das forum internum heran, das einer äußeren

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ken müssen gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft für die öffentliche Ordnung und Sicherheit, Gesundheit oder Moral, bzw. für die Wahrung der Rechte und Freiheiten anderer notwendig sein. Diese erschöpfende Aufzählung enthält weniger Rechtfertigungsgründe, als es bei den Grundrechten nach Art. 8, 10 und 11 EMRK der Fall ist, doch können sie so weit ausgelegt werden, dass die Unterschiede in der Sache gering sind. 33 Entgegen der Entscheidungspraxis der EKMR wird in der Lehre vertreten, dass auch allgemeine, neutrale staatliche Gesetze in die Religionsfreiheit eingreifen können.34 Eben diese Kategorie von Rechtsakten ist in Bezug auf die Europäische Gemeinschaft besonders bedeutsam, da die religionsrelevanten Rechtsakte, die sie erlässt, meist nicht direkt und ausdrücklich auf den religiösen Bereich bezogen sind. Neben der EMRK selbst enthält außerdem das erste Zusatzprotokoll in Art. 2 Satz 2 ein Grundrecht, das den religiösen Bereich berührt. Es schützt die Freiheit der Eltern, ihre Kinder nach den eigenen religiösen Überzeugungen zu erziehen. Zählt nun auch dieses Zusatzprotokoll zu den Grundrechtserkenntnisquellen der Europäischen Union, obwohl Art. 6 Abs. 2 EUV nur die EMRK erwähnt und durch die Hinzufügung ihres Unterzeichnungsdatums den Eindruck bestärkt, dass wirklich nur dieses erste Dokument gemeint ist? Nach der in der Lehre vertretenen überzeugenden Ansicht sind ebenso jene Zusatzprotokolle mit einzubeziehen, die von allen EU-Mitgliedstaaten ratifiziert worden sind, also genauso das erste. 35 Weitere internationale Rechtserkenntnisquellen: Erstmals im Urteil Nold (Rs. 4/73) hat der EuGH anerkannt, dass auch die internationalen Verträge über den Schutz der Menschenrechte, an deren Abschluss die Mitgliedstaaten beteiligt waren oder denen sie beigetreten sind, Hinweise geben können, die im Rahmen des Gemeinschaftsrechts zu berücksichtigen sind. Was kommt diesbezüglich für die individuelle Religionsfreiheit in Betracht? Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 stellt als Resolution der UN-Generalversammlung nur eine programmatische Absichtserklärung ohne völkerrechtliche Bindungswirkung dar, es sei denn sie wäre inzwischen zu Völkergewohnheitsrecht erstarkt. Da sie aber ein Akt einer anderen Internationalen Organisation und nicht der EU-Mitgliedstaaten ist, erfüllt sie die Voraus______________

Beschränkung ohnehin nicht zugänglich ist. Deshalb hat der Wortlaut, wonach nur die Ausübungsfreiheit den Schranken unterliegt, durchaus seine Berechtigung. 33

Vgl. Grabenwarter, Menschenrechtskonvention, § 22, Rn. 102.

34

Vgl. Frowein (Bedeutung, 53f.), der darin Blum folgt.

35

Hummer, Schutz, 82; ihm folgend Grabenwarter, Menschenrechtskonvention, § 4, Rn. 3; Vachek, Religionsrecht, 191.

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setzungen des EuGH nach dem Urteil Nold nicht. Nun hat sich der EuGH bei der Entwicklung der Gemeinschaftsgrundrechte zwar auch auf soft law wie Resolutionen und Empfehlungen gestützt,36 doch stimmt die Formulierung der Religionsfreiheit in Art. 18 AEM ohnehin mit Art. 9 Abs. 1 EMRK überein und brächte daher keinen weiter reichenden Schutz. Ein sehr wohl völkerrechtlich verbindlicher Vertrag, dem alle EUMitgliedstaaten angehören und der damit als Rechtserkenntnisquelle für die Grundrechtsfindung durch den EuGH in Frage kommt, liegt hingegen mit dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 1966 vor.37 Das in der AEM und in der EMRK noch ausdrücklich erwähnte Recht, die Religion zu wechseln, ist hier in Art. 18 Abs. 1 zu dem Recht, eine Religion zu haben oder anzunehmen, abgeschwächt worden. 38 Eine Erweiterung – zumindest der Formulierung nach – brachte hingegen Art. 18 Abs. 2 IPbpR mit dem Verbot des Zwangs. Implizit ist dies jedoch schon in Art. 9 EMRK enthalten. Die Schrankenregelung in Art. 18 Abs. 3 IPbpR stimmt mit Art. 9 Abs. 2 EMRK weitgehend überein, ist aber im Blick darauf enger, dass sie das Kriterium der Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft nicht kennt. Die Freiheit der Eltern, ihre Kinder nach den eigenen religiösen Überzeugungen zu erziehen, die in Art. 18 Abs. 4 IPbpR und daneben auch in Art. 13 Abs. 3 IPwskR geschützt ist, bringt gegenüber Art. 2 1.ZProt nichts wesentlich Neues. Eine inhaltliche Ausdifferenzierung leistet hingegen die Erklärung der UNGeneralversammlung vom 25.11.1981 über die Beseitigung von Intoleranz und Diskriminierung aufgrund von Religion oder Weltanschauung.39 Gemäß dem darin enthaltenen Art. 6 umfasst die Religionsfreiheit den Gottesdienst, die Errichtung karitativer Organisationen, den Gebrauch zur Religionsausübung notwendiger Materialien, die Freiheit zu veröffentlichen, zu lehren und zu kommunizieren, das Recht, finanzielle Unterstützungen entgegenzunehmen, den Schutz der Feiertage und das Recht, die religiösen Führer selbst zu be______________ 36

De Wall, Entwicklungen, 212.

37

Tatsächlich hat der EuGH auf diesen bereits verwiesen, wenn auch nur vereinzelt und pauschal (Kingreen, Art. 6 EUV, Rn. 35). 38

Der Grund für diese Abschwächung war der Widerstand der inzwischen selbständig und selbstbewusst gewordenen islamischen Staaten, die ein Recht auf Religionswechsel nicht akzeptieren konnten, weil im Islam der Abfall von dieser Religion strengstens verboten ist (vgl. Carobene, Protezione, 370). 39

Obwohl der Titel dieser Erklärung nur die Nichtdiskriminierung anspricht, enthält sie doch auch wesentliche Aussagen zur materiellen Religionsfreiheit. Sozialistische Staaten verlangten das Recht, atheistisch zu sein; islamische Länder bestanden auf der Streichung des Religionswechsels (vgl. ebd. 373).

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stimmen. Art. 5 gestaltet das Erziehungsrecht der Eltern näher aus. Da es sich jedoch um eine bloße Erklärung handelt, die nicht rechtsverbindlich ist und kein Übereinkommen darstellt, dem alle EG-Mitgliedstaaten angehören, kann sie nicht direkt als Rechtserkenntnisquelle für prätorische Grundrechte dienen, sondern nur als Auslegungs- und Konkretisierungshilfe für das anderweitig normierte Grundrecht der Religionsfreiheit. Einen im Rahmen des Europarats abgeschlossenen völkerrechtlichen Vertrag stellt das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten von 1995 dar (ETS 157). Dieses konstatiert ausdrücklich die Bedeutung der Religion für die persönliche Identität (Art. 5) und das Recht, religiöse Einrichtungen, Organisationen und Vereinigungen zu gründen (Art. 8). Selbst dieses ist implizit schon in der EMRK enthalten. Außerdem wurde dieses Rahmenübereinkommen noch nicht von allen gegenwärtigen EU-Mitgliedstaaten ratifiziert. Neben den Menschenrechtskatalogen des Europarats sind jene der KSZE/OSZE zu beachten, der alle derzeitigen EU-Mitgliedstaaten angehören. Schon nach Prinzip VII der Schlussakte von Helsinki aus dem Jahr 1975 wollen die Teilnehmerstaaten die Religionsfreiheit achten. 40 Die detailliertesten Ausführungen zu diesem Grundrecht enthält aber so weit ersichtlich Nr. 16 der Prinzipien im KSZE-Abschlussdokument von Wien aus dem Jahr 1989. 41 Danach wird die Religionsfreiheit in einer Reihe von einzelnen Teilrechten aufgefächert.42 Diese bringen nun tatsächlich einen Mehrwert gegenüber der EMRK, weil sie nicht aus deren Wortlaut und ebenso wenig vollständig aus der Rechtsprechung von EKMR und EGMR hervorgehen. 43 Das KSZE-Abschlussdokument von Wien wurde von allen EU-Mitgliedstaaten unterzeichnet, doch stellt es keinen völkerrechtlich verbindlichen Vertrag im eigentlichen

______________ 40

Beachtung verdient, dass die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit das einzige Menschenrecht ist, das darin ausdrücklich genannt wurde. 41

Vgl. Kowalskij, Grundlagen, 69.

42

Die Schrankenregelung wurde auf Wunsch des Ostens aus Art. 18 Abs. 3 IPbpR übernommen, obwohl der Westen die Rechtsschutzidee im rechtlich nicht verbindlichen KSZE-Dokument weiter fassen wollte (Tretter, Menschenrechte, 82). 43 Man würde ihre Rolle daher unterschätzen, wenn man ihnen wie Weber nur geringe Bedeutung zuspräche, weil sie nur bereits geltendes Gewohnheits- und Vertragsrecht wiederholen würden (Verständnis, 138) oder weil heute fast alle OSZE-Staaten der EMRK beigetreten sind (Religionsfreiheit, 266). Sie bleiben bestehen, auch wenn die OSZE heute auf die Ausarbeitung weiterer Grundrechtsstandards verzichtet hat (Karl, Gestaltwandel, 279).

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Sinn, sondern nur völkerrechtliches soft law dar.44 Kann es dennoch für die Grundrechtsfindung durch den EuGH von Nutzen sein? 45 Zunächst ist klarzustellen, dass der EuGH die internationalen Dokumente ohnehin nicht als Rechtsquellen, sondern nur als Rechtserkenntnisquellen heranzieht. Auch die EMRK und die Verfassungen der Mitgliedstaaten sind für die Europäische Gemeinschaft keine verbindlichen Normen, sondern entfalten nur Indizcharakter für das Bestehen eines bestimmten Grundrechts als allgemeinem Rechtsgrundsatz. Bloßer Indizcharakter, der dem Erkennen eines konkreten Grundrechts dient, kann aber auch völkerrechtlichem soft law zukommen.46 Nimmt man außerdem die Mitgliedstaaten in den Blick, 47 so könnte man eine Grundrechtsrelevanz der KSZE-Schlussakten für die Europäische Gemeinschaft auch daraus ableiten, dass sie in den einzelnen Verfassungen mehr oder weniger ihren Niederschlag gefunden haben, 48 die wiederum eine anerkannte Rechtserkenntnisquelle für die Grundrechtsfindung durch den EuGH darstellen. Eine Brücke ist aber nicht nur über die Mitgliedstaaten, sondern ebenso über die EMRK denkbar, da die KSZE-Texte in besonderer Weise in die Interpretation der EMRK einwirken können.49 Abgesehen von diesen Brücken besteht aber eine weitere direkte Verbindung zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der KSZE/OSZE, 50 denn die Europäische Kommission war sowohl in den Verhandlungen für die Schlussakte von Helsinki sowie in allen Folgetreffen bis 1989, also einschließlich desjenigen von Wien, in der Delegation jenes Mitgliedstaats vertreten, der gerade die Ratspräsidentschaft innehatte. Gerade beim Wiener Folgetreffen trat die Zwölferge______________ 44

Vachek, Religionsrecht, 399.

45

Der EuGH hat sich bei der Entwicklung der Gemeinschaftsgrundrechte auch auf soft law wie Resolutionen und Empfehlungen gestützt (De Wall, Entwicklungen, 212). 46 Nach Tretter kann das Wiener Abschlussdokument in die Auslegung verbindlichen Völkerrechts einfließen oder sogar ähnlich der AEM zu Völkergewohnheitsrecht erstarken (Menschenrechte, 80). 47 Zwar sind weder die Europäische Gemeinschaft noch die Union Mitglieder der KSZE bzw. nunmehr der OSZE, doch ist eine Koordinierung über die Mitgliedstaaten möglich (Bieber / Epiney / Haag, Europäische Union, §36, Rn. 17). 48 Nach Tretter kann das Abschlussdokument von Wien „als ‚völkerrechtliches soft law‘, das die (regionale) Staatenpraxis wiedergibt“, angesehen werden (Menschenrechte, 80). Für Vachek (Religionsrecht, 399) erschiene es „in der Tat widersprüchlich, wenn die Mitgliedstaaten einerseits auf KSZE-Ebene ein weitgehendes Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften anerkennen würden, dieser gehobene Grundrechtsstandard anderseits aber nicht gemeinschaftsrechtliches Gemeingut sein sollte“. 49

So Hollerbach, KSZE-Prozess, 133.

50

Vgl. Berthelot, Union Européenne, 235; Decaux, Union Européenne, 243.

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meinschaft deutlich in Erscheinung, und die Vertreter der Kommission wirkten im Rahmen der jeweiligen Präsidentschaftsdelegationen aktiv mit. 51 Der italienische Premierminister unterzeichnete die Schlussakte von Helsinki nicht nur für Italien sondern auch für die Europäische Gemeinschaft. 52 Die Rechtgrundlage dafür bildet heute Art. 18 Abs. 2 EUV, wonach der Vorsitz den Standpunkt der Union in internationalen Organisationen und auf internationalen Konferenzen darlegt.53 Rechtsgrundlage zum damaligen Zeitpunkt war die Vorgängerbestimmung in der EPZ. Damit bleiben die KSZE-Dokumente zwar soft law, aber ein solches, dem sich die Gemeinschaft über den Ratsvorsitz selbst angeschlossen hat. Sie sind daher für die Grundrechtsfindung nicht eine beliebige Rechtserkenntnisquelle neben anderen, sondern eine mit besonderem Erkenntniswert für die der Gemeinschaft eigenen allgemeinen Rechtsgrundsätze. Jedenfalls kann mit Hollerbach festgehalten werden, dass „die KSZE-Texte […] auch für die Entwicklung des Rechts der Europäischen Union, soweit dieses es mit Religion und Kirche zu tun hat, Markierungen bedeuten“54.

4. Die individuelle Religionsfreiheit in der Grundrechtecharta Der Text der Grundrechtecharta von Nizza ging aus einem Konventsprozess hervor, in den sich auch Kirchen und Religionsgemeinschaften einbringen konnten.55 Selbst wenn nicht alle ihre Wünsche erfüllt wurden, so ist doch anzuerkennen, dass der religiösen Dimension in diesem Dokument an mehreren Stellen Raum gewährt wurde.56 Ehe diese jedoch im Folgenden vorgestellt werden, ist die Rechtsnatur der Charta zu klären. Rechtsnatur der Grundrechtecharta: Die Charta wurde auf dem Gipfel von Nizza vom Europäischen Rat begrüßt, doch unterblieb bislang eine förmliche Aufnahme in die Verträge, durch die sie rechtliche Verbindlichkeit hätte erlangen können. Nicht einmal der Vorschlag, in Art. 6 Abs. 2 EUV einen ______________ 51

Schneider, Helsinki, 147.

52

Vgl. http://europa.eu.int/comm/external_relations/osce/index.htm [9.5.2006].

53

Da die Union selbst keine Rechtspersönlichkeit besitzt, kann sie durch den Vorsitz freilich nicht in einem juristischen, sondern nur in einem politischen Sinn vertreten werden (Cremer, Art. 18 EUV, Rn. 1). 54

Hollerbach, KSZE-Prozess, 133.

55

Vgl. Alber / Widmaier, EU-Charta, 498; Bender, EU-Grundrechtecharta, passim; Heinig, Grundrechtscharta, 447f; Wieshaider, Stellungnahmen, 80. 56 Im Text begegnet neunmal das Wort „Religion“ bzw. „religiös“, was Frankreich bereits um die Zukunft der Laizität bangen ließ (Friedrich, Wertediskussion, 145).

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55

Verweis auf die Charta einzufügen, konnte sich durchsetzen.57 Nun wird in der Literatur vertreten, dass die Charta nach Art. 6 Abs. 2 EUV auch ohne expliziten Verweis maßgeblich werde, da sie einen Konsens über die Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten darstelle.58 Die Charta fasst aber nur zu einem Teil Grundrechte der Mitgliedstaaten zusammen, während sie im Übrigen – und gerade das betonen ihre Befürworter – sogar darüber hinausgehende Rechte bringt. Kann die Rechtsprechung sie auch unabhängig von der Frage, ob sie die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen widerspiegelt, als Rechtserkenntnisquelle heranziehen? Manche Schlussanträge von Generalanwälten und einige Entscheidungen des EuG führen die Charta bereits an – jedoch nicht als die tragende Rechtsgrundlage sondern nur als zusätzliche Bekräftigung. In der Literatur wird die Charta häufig als „Inspirationsquelle“ für den EuGH angepriesen,59 doch dieser verschließt sich bislang einer Bezugnahme auf die Charta – Hummer zufolge mit Recht.60 Selbst wenn er es täte, so würde die Charta dadurch nicht rechtsverbindlich. Welchen Status hat die Grundrechtecharta nun wirklich? Es handelt sich um eine einseitige Willenserklärung von Parlament, Rat und Kommission, mit der diese Organe die in der Charta angeführten Rechte anerkennen. Da die einzelnen Willenserklärungen sich auf denselben Gegenstand beziehen und in der Öffentlichkeit von allen drei Organen proklamiert wurden, kann sie mit Hummer61 als interinstitutionelle Erklärung, aber nicht als interinstitutionelle Vereinbarung angesehen werden. Darüber hinaus haben die Präsidenten von Parlament und Kommission sich im Sinne einer Selbstbindung an die Charta geäußert, doch darf eine solche Selbstbindung jedenfalls nicht gegen höherran______________ 57

Vgl. Hummer, Status, 70. Ein solcher Verweis hätte einen Kompromiss zwischen den Befürwortern einer Einfügung der Charta in die Verträge und den Gegnern jedweder Verbindlichkeit ermöglichen sollen (Di Majo, Carta, 51). 58

Das gelte jedenfalls für die Religionsfreiheit, vgl. z.B. Hobe, Verbürgung, 324; Robbers, Gehalte, 425; Weber, Religionsfreiheit, 284. 59

Vgl. Celotto, Carta, 45; Ferrari Bravo, tutela, 37; Grabenwarter, Charta, 11; Lugato, Carta, 492f; Weber, Zukunft, 292. Dass auch nationale Gerichte in ihren Urteilen bereits auf die Charta verweisen (Deutschland: Heinig, Grundrechtscharta, 446; Italien und Spanien: Celotto, Carta, 35f; Allgemein: Grabenwarter, Charta, 11), erscheint hingegen eher bedenklich, da sie nicht einmal dann, wenn sie Rechtskraft erlangt hätte, die Mitgliedstaaten binden wollte außer bei der Durchführung von Unionsrecht (Art. 51 Abs. 1 GRCH). Eine allgemeine Rechtspflicht der Mitgliedstaaten auf der Grundlage von Art. 10 EGV ist abzulehnen (Hummer, Status, 77). 60

Ebd. 60.

61

Ebd. 56.

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56

giges Recht verstoßen.62 Schließlich beschloss die Kommission, alle Rechtsetzungsvorhaben auf ihre Vereinbarkeit mit der Charta zu prüfen und bei besonderer Grundrechtsrelevanz einen entsprechenden Hinweis in die Erwägungsgründe aufzunehmen.63 Da die Grundrechtecharta demnach schon in ihrer bisherigen Form vielfältige Beachtung findet und in Zukunft vielleicht sogar Rechtsverbindlichkeit erlangt,64 kann eine Untersuchung über die Religionsfreiheit in der Europäischen Union nicht auf sie verzichten. Religionsfreiheit nach Art. 10 Abs. 1 GRCH: Die Grundrechtecharta übernimmt in Art. 10 Abs. 1 im Wesentlichen Art. 9 Abs. 1 EMRK. So war es schon im ersten Entwurf des Grundrechtekonvents vom 24.2.2000 der Fall, während die zweite Version vom 8.3.2000 sich wegen des Gebots der Kürze mit der Formel begnügte, dass jedes Individuum Gedanken-, Gewissens-, und Religionsfreiheit besitze.65 Da der Konvent dann aber doch eine engere Anlehnung an die EMRK wünschte und zudem einige Mitglieder auf dem ausdrücklichen Schutz der kollektiven Religionsfreiheit beharrten, entschied man sich in der Schlussversion wieder für den vollständigen Wortlaut von Art. 9 Abs. 1 EMRK.66 In Art. 10 Abs. 2 GRCH wurde ein Recht auf Wehrdienstverweigerung angefügt, das aber der Regelung durch einzelstaatliche Gesetze überlassen wird. Vergleicht man die GRCH und die EMRK im Französischen und im Englischen, welche die einzigen authentischen Sprachen der EMRK sind, so erkennt man, dass der Wortlaut abgesehen von zwei kleinen, bedeutungsneutralen Änderungen völlig identisch ist.67 Die deutsche Fassung der GRCH folgt nicht ______________ 62

Ebd. 58.

63

SEK (2001) 380/3; vgl. Karl, Gestaltwandel, 299. Inzwischen legte sie dazu auch eine spezielle Methode vor: KOM (2005) 172 endg. 64

Keine Fortentwicklung bringt die Charta hingegen beim Grundrechtsschutz. Da sie kein Beschwerderecht für Individuen vorsieht, können diese gegen Grundrechtsverletzungen der Europäischen Gemeinschaft sich nur auf der Grundlage von Art. 230 oder Art. 234 EGV zur Wehr setzen oder gegebenenfalls eine Schadensersatzklage nach Art. 235 EGV anstrengen. Gegen Grundrechtsverletzungen der Mitgliedstaaten bei der Durchführung von Gemeinschaftsrecht können Individuen sich nur im Wege eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 234 EGV an den EuGH wenden, doch steht ihnen in diesem Fall auch eine Beschwerde an den EGMR offen (vgl. Di Majo, Carta, 54f.). 65

Vgl. Panebianco, Repertorio, 143f.

66

Vgl. Barriga, Entstehung, 87; Berndorff / Borowsky, Charta, 158 und 187.

67

In beiden Sprachen wurde ein Strichpunkt in einen Punkt umgewandelt. Im Englischen verschwand das Demonstrativpronomen in „his religion“, während es im Französischen („sa religion“) erhalten blieb.

I. Die individuelle religiöse Freiheit in der EU

57

jener des ö BGBl,68 die „pratiques“ bzw. „practice“ mit dem zu engen Begriff „Andachten“ wiedergibt, sondern lehnt sich – wenn auch mit einigen bemerkenswerten Unterschieden69 – an die in Deutschland gebräuchliche Version an. Diese wählt den Begriff „Bräuche“, der zwar weiter ist, aber mit „Brauchtum“ verwechselt werden könnte.70 Da der Wortlaut von Art. 10 Abs. 1 GRCH fast exakt mit den authentischen Fassungen von Art. 9 Abs. 1 EMRK übereinstimmt und diese Entsprechung vom Grundrechtekonvent ausdrücklich angestrebt wurde, ist auch von einer Gleichheit des normativen Inhalts der beiden Bestimmungen auszugehen.71 Hinsichtlich der Schranken darf hingegen nicht voreilig eine Übereinstimmung angenommen werden. Art. 10 GRCH enthält nämlich im Unterschied zu Art. 9 Abs. 2 EMRK keine speziell auf die Religionsfreiheit zugeschnittene Schrankenregelung, da die Verfasser der GRCH sich für die gesetzestechnische Methode einer generellen Schrankenklausel entschieden haben, die in den Schlussbestimmungen der Charta enthalten ist und sich auf alle darin verbürgten Rechte in gleicher Weise beziehen soll (Art. 52 Abs. 1 GRCH).72 Die Übereinstimmung zwischen den beiden Klauseln besteht darin, dass Eingriffe gesetzlich vorgesehen sein müssen und dass einer der Rechtfertigungsgründe im Schutz der Rechte und Freiheiten anderer besteht. Die übrigen Rechtfertigungsgründe von Art. 9 Abs. 2 EMRK (öffentliche Sicherheit und Ordnung, Gesundheit und Moral) finden sich in Art. 52 Abs. 1 GRCH nicht, der stattdessen die „von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen“ anführt. Da dieser Begriff sehr weit gefasst und vage ist, scheint die GRCH Eingriffe in die Religionsfreiheit in der Regel leichter zu rechtfertigen als die EMRK und damit einen geringeren Schutz zu gewähren. 73 Um genau das zu vermeiden, legt Art. 52 Abs. 3 GRCH fest, dass jene Chartarechte, die EMRK-Rechten entsprechen, dieselbe Bedeutung und Tragweite haben, wie ihnen in der Konvention verliehen wird.74 Da nun Art. 10 Abs. 1 GRCH ein ______________ 68

Ö BGBl. 1958/210.

69

„jede Person“ statt „jedermann“, „Recht“ statt „Anspruch“, „Freiheit“ statt „Freiheit des Einzelnen“: Vgl. Wieshaider, Stellungnahmen, 81. 70

Vgl. Barriga, Entstehung, 87.

71

Vgl. Grabenwarter, Charta, 4; Wieshaider, Stellungnahmen, 82.

72

Das wird in der Lehre vor allem deswegen kritisiert, weil es auch Grundrechte, wie etwa das Folterverbot, gibt, die überhaupt nicht eingeschränkt werden können. Entsprechende Einwände wurden schon im Grundrechtekonvent vorgebracht, vgl. Berndorff / Borowsky, Charta, 187. 73 74

Vgl. Lugato, Carta, 490.

Vgl. Di Majo, Carta, 48; Gimelli, Osservazioni, 248; Grabenwarter, Charta, 2; Hummer, Status, 94.

B. Christ und Bürger zugleich – der einzelne Mensch in Kirche und EU

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derartiges Grundrecht enthält, das in Art. 9 Abs. 1 EMRK eine genaue Entsprechung besitzt, ist die Schrankenregelung des Art. 9 Abs. 2 EMRK auch für den Bereich der Grundrechtecharta maßgeblich.75 Falls jedoch in einer bestimmten Fallkonstellation die der Charta eigene Schrankenregelung zu einem höheren Schutz der Religionsfreiheit führen sollte – etwa wegen der Wesensgehaltsgarantie in Art. 52 Abs. 1 GRCH, die in Art. 9 Abs. 2 EMRK fehlt –, so setzt sich wegen der salvatorischen Klausel in Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCH das Schutzniveau der Charta durch.76 Im Ergebnis lässt sich damit sagen, dass immer die günstigere Regelung zum Tragen kommt.77 Offen bleibt jedoch, welcher Gerichtshof – EuGH, EGMR oder beide – darüber entscheidet, ob eine Einschränkung in der Charta weiter geht, als die EMRK dies zulässt. 78 Art. 52 Abs. 3 GRCH stellt keine reine Regelung der Schranken dar, wie sie etwa aus der deutschen Grundrechtstradition bekannt ist, sondern regelt dem Wortlaut nach die „Bedeutung und Tragweite“ der Grundrechte. 79 Wenn nun Art. 52 Abs. 3 GRCH bestimmten Chartagrundrechten dieselbe Bedeutung und Tragweite beimisst wie den entsprechenden EMRK-Grundrechten, so heißt das nicht nur, dass dieselbe Schrankenregelung greift, sondern auch dass die betroffenen Rechte so zu verstehen sind wie in der EMRK und dass dabei ______________ 75

Ausdrücklich geht das aus dem erläuternden Bericht des Konventspräsidiums hervor: Panebianco, Repertorio, 143; Robbers, Gehalte, 427; Weber, Religionsfreiheit, 285 bzw. 300. Vgl. Riedel, Verfassung, 682. Söbbeke-Krajewski (Acquis Communautiare, 142) bedenkt auch die zukünftige Entwicklung mit: Fortentwicklungen der EMRKReligionsfreiheit werden auch in die GRCH übernommen, Rückschritte wirken sich hingegen nicht automatisch aus. 76

Eingriffe müssen also sowohl Art. 52 Abs. 1 GRCH als auch Art. 9 Abs. 2 EMRK entsprechen (Heinig, Grundrechtscharta, 449). Aufgrund dieser doppelten Prüfung ist es daher nicht ganz berechtigt, wenn Hobe befürchtet, dass das Schutzniveau der Religionsfreiheit in der GRCH künftig sinken könnte, weil es automatisch mit dem der EMRK verknüpft ist. Diese hat einen viel weiteren und inhomogeneren Mitgliederkreis, der zum Teil eine andere Sicht religiöser Werte teilt und aufgrund des religiös motivierten Terrors zu größeren Einschränkungen der Religionsfreiheit tendieren könnte (Hobe, Verbürgung, 325). 77

Das gilt jedoch nur im zweipoligen Staat-Bürger-Verhältnis und nicht in mehrpoligen Verhältnissen, in denen verschiedene Grundrechtspositionen mehrerer Bürger aufeinander treffen. In solchen Fällen genießt nach Art. 53 GRCH die EMRK bzw. andere internationale Verträge den Vorrang (Grabenwarter, Grundrechtscharta, 10). Gegen die Interpretation im Sinne eines Günstigkeitsprinzips bzw. einer Meistbegünstigungsklausel hingegen Weber, Zukunft, 290. 78 79

Hummer, Status, 74.

Die deutsche Grundrechtsdogmatik mit Schranken und Schrankenschranken geht bei der Formulierung „Bedeutung und Tragweite“ völlig unter (ebd. 95).

I. Die individuelle religiöse Freiheit in der EU

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außerdem die Rechtsprechung zur EMRK zu berücksichtigen ist. Dies wird durch eine Aussage in der Präambel der Charta gestützt, wonach diese die Rechte bekräftigt, wie sie sich unter anderem aus der Rechtsprechung des EGMR ergeben.80 Damit ist die EMRK-Judikatur zur Religionsfreiheit in gleicher Weise für die Auslegung von Art. 10 Abs. 1 GRCH heranzuziehen.81 Die Freiheit zur religiösen Erziehung nach Art. 14 Abs. 3 GRCH: Weniger deutlich ist die Übereinstimmung mit der EMRK beim Grundrecht auf Bildung nach Art. 14 GRCH, denn dieses geht nur zum Teil auf Art. 2 1. ZProt zurück. Diesem gegenüber erstreckt es sich auch auf die berufliche Aus- und Weiterbildung (Abs. 1) und bringt ein Recht auf unentgeltlichen Pflichtschulunterricht (Abs. 2) sowie ein Recht zur Gründung von Privatschulen (Abs. 3). Es stellt sich daher die Frage, ob hier überhaupt ein Grundrecht vorliegt, das i.S.v. Art. 52 GRCH eine Entsprechung in der EMRK hat und ob man ihm somit dieselbe Bedeutung und Tragweite zusprechen kann oder nicht. 82 Hier ist nach den einzelnen in Art. 14 GRCH verankerten Rechten zu differenzieren. So hat Art. 14 Abs. 1 GRCH gemäß dem erläuternden Bericht des Konventspräsidiums zwar dieselbe Bedeutung aber eine umfassendere Tragweite, während Art. 14 Abs. 3 GRCH bezüglich des Rechts der Eltern als dem Art. 2 1.ZProt entsprechendes Recht zu qualifizieren ist.83 Ganz exakt stimmt es damit jedoch nicht überein, da es zu den religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen der Eltern noch die pädagogischen hinzufügt, was dem Schutz der ersteren freilich keinen Abbruch tut. 84 Die nur in der englischen Fassung des 1. ZProt vorhandene Präzisierung, dass es sich um die eigene („own“) Überzeugung der Eltern handeln muss, wurde fallengelassen. Dafür wurde in allen Sprachen die nähere Bestimmung eingefügt, dass es sich um die Erziehung ihrer Kinder handeln muss, womit aber wohl nicht nur die leiblichen Kinder der Eltern gemeint sein können. Keine dieser sprachlichen Abweichungen ändert aber die ______________ 80

Vgl. Hobe, Verbürgung, 319 und 321; Weber, Religionsfreiheit, 302. In einem beigefügten Protokoll zu erklären, dass der EGMR-Rechtsprechung gefolgt wird, wie es Alber/Widmaier (EU-Charta, 507) vorgeschlagen haben, ist also nicht mehr nötig. 81

Vgl. Lugato, Carta, 488.

82

Dass die Parallelnorm nicht in der EMRK selbst, sondern ihrem 1. ZProt verankert ist, spricht nicht gegen die Anwendung des Art. 52 Abs. 3 GRCH. Es gibt keinen Grund, warum die von allen Mitgliedstaaten unterzeichneten Zusatzprotokolle ausgeschlossen sein sollten. Diese sind vielmehr ähnlich wie in Art. 6 Abs. 2 EUV als miterfasst anzusehen. 83 84

Weber, Religionsfreiheit, 302.

Im Grundrechtekonvent wurde vorgeschlagen, auf jede nähere Bestimmung der elterlichen Überzeugung, also auf die Adjektive „religiös“ und „weltanschaulich“, ganz zu verzichten, was sich aber nicht durchsetzen konnte (Panebianco, Repertorio, 200).

B. Christ und Bürger zugleich – der einzelne Mensch in Kirche und EU

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Bedeutung oder Tragweite hinsichtlich des Rechts auf religiöse Erziehung. Problematischer erscheinen hingegen zwei andere Klauseln: Erstens wählt die GRCH für das Elternrecht nicht die Formulierung „jede Person hat das Recht…“, sondern sagt nur, dass das Recht geachtet wird. Zweitens fügt sie einen Vorbehalt zugunsten der einzelstaatlichen Gesetze ein. 85 Diese beiden Formulierungen scheinen eine Minderung des Schutzes zu bewirken. In Wirklichkeit wollen sie aber keine inhaltliche Abweichung vom 1. ZProt andeuten. Vielmehr erklären sie sich aus der Sorge, dass die Europäische Union durch die GRCH keine neuen Kompetenzen erhalten soll und sie bisher auf dem Gebiet der Bildung nur eine parallele Kompetenz neben jener der Mitgliedstaaten besitzt (Art. 149f. EGV).86

5. Die individuelle Religionsfreiheit im Verfassungsvertrag Die Charta der Grundrechte bildet als Ganze den Teil II des Vertrags über eine Verfassung für Europa, womit sie selbst Verfassungsrang erhält und sich die Frage nach ihrer Rechtsverbindlichkeit erübrigt.87 Wenn damit Art. 10 GRCH zu Art. II-70 VVE und Art. 14 GRCH zu Art. II-74 VVE wird, so ändert sich am Wortlaut nichts,88 was aber nicht heißt, dass sich aus dem neuen Kontext keine Bedeutungsverschiebungen ergäben. Schon Abs. 1 der Präambel des Verfassungsvertrags hält fest, dass sich die Menschenrechte unter anderem aus dem religiösen Erbe Europas entwickelt haben, womit grundlegend ein Religionsbezug aller Menschenrechte sichtbar wird. Von rechtlich größerer Relevanz ist hingegen, dass die allgemeine Bestimmung über Bedeutung und Tragweite der Grundrechte um vier Absätze erweitert wurde. Diese verleihen zum einen den Mitgliedstaaten mehr Gewicht, denn dort, wo sich die Grundrechte aus den gemeinsamen Verfassungsüberlie______________ 85

Diese Einschränkung dürfte Barriga (Entstehung, 95) zufolge auf ein redaktionelles Versehen zurückgehen, da sie eigentlich zur Schulgründungsfreiheit gehören würde. 86

Vgl. ebd.

87

Die Normativität der Charta wird zusätzlich in Art. I-9 VVE bekräftigt (Schmitz, Grundrechtecharta, 697). Die Aufnahme der GRCH in den VVE hat also entgegen der Annahme Hobes (Verbürgung, 325) weit mehr als nur deklaratorischen Charakter. 88 Bei anderen Grundrechten wurden auch die Wortwahl modifiziert. So werden die Rechte auf Leben und auf Unversehrtheit (Art. II-61f. VVE) nun jedem Menschen und nicht mehr jeder Person zugesprochen, womit auf die Befürchtungen reagiert wurde, dass Menschen, die nicht die volle personale Reife erlangt haben, ausgeschlossen würden (Schmitz, Grundrechtecharta, 702). Inkonsequenterweise blieb bei der Religionsfreiheit und beim Recht auf Bildung jedoch „Person“ erhalten.

I. Die individuelle religiöse Freiheit in der EU

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ferungen ergeben, sind sie im Einklang mit diesen auszulegen (Art. II-112 Abs. 4 VVE), und dort, wo die Charta einzelstaatliche Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten erwähnt, ist diesen in vollem Umfang Rechnung zu tragen (Art. II-112 Abs. 6 VVE). Davon betroffen ist weniger die Religionsfreiheit nach Art. II-70 VVE als vielmehr das Elternrecht nach Art. II-74 Abs. 3 VVE, das ausdrücklich – wenn auch aus einem redaktionellen Versehen – einen Vorbehalt zugunsten einzelstaatlicher Gesetze enthält. Zum anderen wird einigen Bestimmungen der Charta lediglich der Rang von Grundsätzen zugesprochen, die keine subjektiven Grundrechte darstellen, sondern nur bei Erlass und Auslegung von Rechtsakten zu berücksichtigen sind (Art. II-112 Abs. 5 VVE). Um welche Bestimmungen es sich hierbei handelt, wird nicht gesagt. Doch nach den Erläuterungen, die nun ausdrücklich zur Auslegung der Charta heranzuziehen sind (Art. II-112 Abs. 7 VVE), werden Bestimmungen der Charta dann als bloße Grundsätze angesehen, wenn der Wortlaut keinen Bezug auf subjektive Rechte enthält oder die Formulierung „die Union anerkennt und achtet“ gewählt wurde.89 Diese Voraussetzungen liegen bei der Religionsfreiheit nach Art. II-70 VVE nicht vor, so dass diese ohne jeden Zweifel als Grundrecht im vollen Sinn zu qualifizieren ist. Das Elternrecht nach Art. II-74 Abs. 3 hingegen wird nur „geachtet“, so dass sich die Frage erhebt, ob es vielleicht lediglich einen Grundsatz darstellt. Dem steht jedoch entgegen, dass es zu jenen Rechten gehört, die eine Entsprechung in der EMRK bzw. im 1. ZProt haben, und demnach dieselbe Bedeutung und Tragweite entfalten wie dort (Art. II-112 Abs. 3 VVE). Da keine Bestimmung der Charta als Einschränkung eines Rechts ausgelegt werden darf, das in der EMRK oder anderen internationalen Übereinkünften geschützt ist (Art. II-113 VVE), muss auch das Elternrecht als Grundrecht im vollen Sinn angesehen werden. Nun übernimmt der Verfassungsvertrag nicht nur die Grundrechtecharta sondern in Art. I-9 Abs. 3 VVE auch die Regelung des Art. 6 Abs. 2 EUV zur Grundrechtsfindung aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen. Diese zusätzliche Quelle wird in der Lehre kritisiert, weil sie neben der Grundrechtecharta unnötig sei,90 weil Divergenzen zwischen beiden Quellen möglich wären91 und weil der EuGH sich damit über die Chartagrundrechte hinwegsetzen könnte.92 Wenn man in dieser Bestimmung nicht nur ein rein deklaratorisches Bekenntnis zu den historischen Wurzeln der Gemeinschaftsgrundrechte sehen will, sondern ______________ 89

Vgl. Grabenwarter, Weg, 565. Scharf kritisiert wird dieser Versuch, echte Grundrechte zu bloßen Grundsätzen abzuwerten, von Schmitz, Grundrechtecharta, 704. 90

Grabenwarter, Menschenrechtskonvention, § 4, Rn. 4.

91

Kingreen, Theorie, 571.

92

Grabenwarter, Weg, 569; Schmitz, Grundrechtecharta, 697.

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die Ermöglichung weiterer Grundrechte durch den EuGH, 93 so muss man sie doch restriktiv auf solche Rechte einschränken, die nicht in ein Spannungsverhältnis zu den Chartagrundrechten treten können.94 Schließlich trägt der Verfassungsvertrag der Europäischen Union auch den Beitritt zur EMRK auf (Art. I-9 Abs. 2 VVE). Dieser bleibt trotz der Aufnahme der Grundrechtecharta in die Verfassung sinnvoll,95 weil der EuGH damit direkt an die Judikatur des EGMR gebunden wird und für Grundrechtseingriffe bei der nationalen Durchführung von Unionsrecht unmittelbar die Union und nicht mehr die Mitgliedstaaten zur Verantwortung gezogen werden. 96 Was den Grundrechtsschutz betrifft, so bringt der Verfassungsvertrag weiterhin keine individuelle Grundrechtsbeschwerde. Die individuelle Nichtigkeitsklage wird zwar auf generell-abstrakte Rechtsakte ohne Gesetzescharakter, die keine Durchführungsmaßnahmen erfordern, ausgedehnt, doch bleibt sie an die engen Voraussetzungen der individuellen und unmittelbaren Betroffenheit gebunden. Die Aufgabe, die erforderlichen Rechtsbehelfe zu schaffen, um einen wirksamen Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen zu gewährleisten, fällt nach Art. I-29 Abs. 1 UA 2 VVE den Mitgliedstaaten zu.

6. Inhalte der individuellen Religionsfreiheit Während die vorangegangenen Abschnitte hauptsächlich die Rechtsgrundlagen für das Unionsgrundrecht der individuellen Religionsfreiheit dargestellt haben, sollen nun ihre Inhalte in den Blick genommen werden. Gemäß dem Erkenntnisziel dieses Kapitels müssen diese nicht umfassend dargestellt werden, sondern nur unter zweierlei Hinsicht: Erstens tritt die Religionsfreiheit nur soweit in den Blick, als sie für die Europäische Union gemäß ihren Zuständigkeiten und Tätigkeiten relevant werden kann und auch tatsächlich schon relevant wurde. Zweitens interessiert vor allem der einzelne Mensch, der zugleich Unionsbürger und Angehöriger einer bestimmten Religionsgemeinschaft ist. ______________ 93

Kingreen nennt die allgemeine Handlungsfreiheit als ein Grundrecht, das vom EuGH entwickelt wurde, aber nicht in der Grundrechtecharta enthalten ist (Theorie, 571). 94

Schmitz, Grundrechtecharta, 698.

95

Vgl. ebd. 699. Gegen einen Beitritt spricht sich hingegen Paciotti (Carta, 24) aus, weil er nur Widersprüche brächte. Dass die Charta mehr Rechte enthält als die EMRK bedeutet aber noch keinen Widerspruch. Das Verhältnis der Charta zur EMRK wird vielmehr so sein wie bereits jetzt das Verhältnis der Grundrechtskataloge der Konventionsstaaten zur EMRK. 96

Grabenwarter, Weg, 569.

I. Die individuelle religiöse Freiheit in der EU

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Wie weit ist der Freiraum, den ihm das Unionsgrundrecht der Religionsfreiheit gewährt, um seine Religion unbehindert ausüben zu können und folglich, um sein Menschsein nach seiner eigenen religiösen Überzeugung zu verwirklichen? Es ist also überwiegend die positive Religionsausübungsfreiheit darzustellen und zwar anhand von Beispielen, die sich im Recht der Europäischen Union finden.

a) Schutz religiöser Feiertage Viele Religionen kennen besondere, herausgehobene Tage, an denen bestimmte religiöse Übungen zu verrichten sind oder an denen zu arbeiten verboten ist. Ein besonders strenges Arbeitsverbot herrscht für Juden am Sabbat, aber grundsätzlich auch für Christen am Sonntag. Katholiken sind am Sonntag zur Teilnahme an der Messfeier verpflichtet und haben sich darüber hinaus jener Werke und Tätigkeiten zu enthalten, die den Gottesdienst, die dem Sonntag eigene Freude oder die Geist und Körper geschuldete Erholung hindern (c. 1247 CIC). Der Islam kennt die Pflicht zum Gebet am Freitagnachmittag in der Moschee, jedoch kein Arbeitsverbot. Über die wöchentlich wiederkehrenden Feiertage hinaus gibt es in den genannten Religionen noch zusätzliche Feiertage im Jahreslauf, die mit ähnlichen Geboten bzw. Verboten verbunden sind. Die weltliche Rechtsordnung kann diese Art von Religionsausübung gemäß dem Grundrecht auf Religionsfreiheit ermöglichen und damit den einzelnen Menschen bei der Entfaltung seines religiösen Lebens unterstützen. Sie kann ihn dabei aber auch behindern. Im Recht der Europäischen Union wurde der Schutz der religiösen Feiertage schon in mehrerlei Hinsicht aktuell. Schutz des Individuums im Umfeld der Arbeitstätigkeit: Bereits 1976 fällte der EuGH ein Urteil im Fall der Jüdin Prais (Rs. 130/75), die sich um eine Stelle als Übersetzerin beim Rat bewerben wollte, jedoch an der Prüfung für das Auswahlverfahren nicht teilnehmen konnte, weil diese auf einen jüdischen Feiertag festgesetzt worden war. An diesem ist das Reisen und Schreiben untersagt. Sie befand sich also im Konflikt zwischen der Verletzung eines religiösen Gebots und dem Verzicht auf die Bewerbung. Für diesen Konflikt fand der EuGH folgende Lösung: Wenn ein Bewerber der Anstellungsbehörde mitteilt, dass ihn religiöse Gebote daran hindern, sich an bestimmten Tagen zu den Prüfungen einzufinden, dann muss die Behörde dem Rechnung tragen und sich bei der Bestimmung der Prüfungstermine bemühen, diese Datenüberschneidung zu vermeiden (Rn. 15). Im konkreten Fall war die Klage nur deswegen abzuweisen, weil die Bewerberin es versäumt hatte, die Behörde rechtzeitig zu informieren, nicht aber, weil es keine Pflicht zur Berücksichtigung religiöser Feiertagsgebote gäbe. Während die Klägerin sich auf die Religionsfreiheit nach Art. 9 und Art. 14 EMRK berief (S. 1594), behauptete der Rat, die

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EMRK finde überhaupt keine Anwendung (S. 1595), und der Generalanwalt wandte die EMRK in seinen Schlussanträgen zwar an, kam aber zu dem Schluss, dass sie nicht die von der Klägerin behauptete Wirkung entfalte (S. 1608). Der EuGH zählt die einschlägigen Artikel der EMRK in seiner Urteilsbegründung zwar nicht im Einzelnen auf, stützt sich aber auf „die erwähnten Grundrechte“97, womit nichts anderes gemeint sein kann.98 Damit hat der EuGH nicht nur klargestellt, dass die Religionsfreiheit zu den Gemeinschaftsgrundrechten gehört, sondern auch, dass sie grundsätzlich den Schutz religiöser Feiertage umfasst. Folgt der EuGH damit der Linie der Rechtsprechung der EMRK-Instanzen? An die EKMR (Nr 8160/78, X) wandte sich ein muslimischer Lehrer, der Freitagnachmittag am Gebet in der Moschee teilnehmen wollte. Gemäß dem Tenor der Entscheidung ist hier die Religionsausübungsfreiheit nach Art. 9 Abs. 1 EMRK in der Form „Gottesdienst in Gemeinschaft mit anderen“ tatsächlich betroffen (Rn. 4). Die Erfolglosigkeit der Beschwerde lag ähnlich wie im Fall Prais daran, dass der Beschwerdeführer einen Beitrag für eine einträchtige Lösung vermissen ließ. Er hat nämlich seinen Arbeitgeber jahrelang nicht im Voraus über seine Abwesenheiten informiert (Rn. 14) und will nun die Gehaltseinbußen nicht hinnehmen, die mit der 4,5-Tage-Anstellung verbunden sind, die er inzwischen erhalten hat, um seinen religiösen Verpflichtungen nachkommen zu können (Rn. 16). Die Entscheidungen „Prais“ und „muslimischer Lehrer“ stimmen also darin überein, dass religiöse Gebote über heilige Zeiten sehr wohl unter die Religionsfreiheit fallen und grundsätzlich zu berücksichtigen sind, dass vom Betroffenen aber auch selbst erwartet werden kann, etwas zu tun, um diese Berücksichtigung zu erleichtern. In einem Aspekt gewährte der EuGH jedoch stärkeren Schutz. Während die EKMR sich nämlich ebenso darauf berief, dass der Lehrer dem Arbeitsvertrag und damit den Arbeitszeiten freiwillig zugestimmt habe (Rn. 12 und 15), hält der EuGH Frau Prais nicht entgegen, dass sie zur Bewerbung ja nicht gezwungen gewesen wäre, obwohl das vom Rat eingewandt worden war (S. 1595). Diese Abweichung mag auch darauf zurückzuführen sein, dass die EMRK nur einen Rahmen von Grundrechten für eine Mehrzahl von Staaten vorgeben möchte, innerhalb dessen sie einen gewissen Spielraum behalten. 99 Im Fall Prais hinge______________ 97

Rn. 17. Diese Passage findet sich zwar in der negativen Formulierung, wonach die Behörde aufgrund der erwähnten Grundrechte nicht zur Rücksichtnahme verpflichtet sei, wenn sie nicht informiert worden ist, doch ändert dies nichts daran, dass der EuGH diese Grundrechte als entscheidungsrelevant ausgewiesen hat. 98 99

Vgl. Ventura, Laicità, 31.

So wies die EKMR ausdrücklich die Aufgabe von sich, zu beurteilen, was die beste nationale Politik angesichts der Zuwanderung von muslimischen Arbeitnehmern sei (Rn. 19).

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gen ging es um eine Anstellung beim Rat, also eine rein gemeinschaftsinterne Angelegenheit, in der die Gemeinschaft ohne Weiteres höheren Schutz gewähren kann, was auch sehr zu begrüßen ist. Einige Jahre später wandte sich ein finnischer Bahnangestellter an die EKMR, der entlassen worden war, weil er sich geweigert hatte, freitags nach Sonnenuntergang zu arbeiten, seitdem er zu den Siebenten-Tags-Adventisten übergetreten war und dort zu einer bestimmten Zeit Aufgaben als Religionsdiener wahrzunehmen hatte (Nr. 24949/94, Konttinen / Finnland). Unverständlicherweise weicht die EKMR hier davon ab, dass Arbeitsenthaltungen aufgrund religiöser Ruhezeiten unter die Religionsausübungsfreiheit fallen. Der Grund für die Entlassung sei nicht die religiöse Überzeugung, sondern die Arbeitsverweigerung gewesen, die als solche nicht von Art. 9 Abs. 1 EMRK geschützt werde (S. 75). Diese Unterscheidung erscheint aber künstlich und vor dem Wortlaut des Art. 9 Abs. 1 EMRK nicht zu rechtfertigen, der ja nicht nur die religiöse Überzeugung, sondern auch die Ausübung der Religion schützt. In Wirklichkeit ist hier die Religionsfreiheit, wie die EKMR im Fall des muslimischen Lehrers bereits selbst erkannt hat, sehr wohl berührt. Ob sie zudem verletzt ist, wäre dann nach Abs. 2 zu prüfen. Während die EKMR im Fall des muslimischen Lehrers eine Verletzung der Religionsfreiheit unter anderem deswegen verneint hat, weil sein Arbeitgeber bereit war, die Arbeitszeit vertraglich an die religiösen Verpflichtungen anzupassen, geht sie im Fall des finnischen Bahnangestellten in keiner Weise darauf ein, dass die Staatsbahn im Gegensatz dazu nicht die geringste Flexibilität bei der Gestaltung der Arbeitszeit gezeigt hat (S. 74f.). Stattdessen stützt sie sich nun ganz darauf, dass der Bahnangestellte ja frei gewesen wäre, durch Verzicht auf die Arbeitsstelle dem Konflikt mit der religiösen Norm zu entgehen (S. 75). Nun ist es zwar zu begrüßen, dass die EKMR die Wirkung der Grundrechte nicht direkt auf privatrechtliche Verhältnisse wie Verträge erstreckt. Ein Arbeitsverhältnis bildet aber für die meisten Menschen die Existenzgrundlage, kann daher nicht so leicht aufgegeben werden und ist typischerweise und erst recht im Falle einer Staatsbahn mit einer Übermacht auf Seiten des Arbeitgebers, verbunden, der über ein Direktionsrecht verfügt. Deshalb wäre in einem solchen Fall zu erwägen, ob dem Staat nicht die positive Pflicht obläge, in der Arbeitszeitgesetzgebung auf religiöse Vorschriften Rücksicht zu nehmen. Der EuGH jedenfalls übernahm im Urteil Prais das Argument der Freiwilligkeit aus dem Vorbringen des Rates nicht – und das, obwohl in diesem Fall noch gar kein Arbeitsverhältnis bestand, sondern erst die Prüfung für das Auswahlverfahren abzulegen war. Während im Fall Prais die religiöse Vorschrift auf Arbeitsenthaltung gerichtet war, hatte sie in den Fällen des muslimischen Lehrers und des finnischen Bahnangestellten (auch) ein aktives gottesdienstliches Tun zum Inhalt. Das

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Sonn- und Feiertagsgebot für römische Katholiken nach c. 1247 CIC enthält sowohl die Pflicht zur Teilnahme an einer Messfeier als auch die Pflicht zur Enthaltung von gewissen Tätigkeiten. Während ersteres eindeutig unter das erste der vier Elemente der Religionsausübung nach Art. 9 Abs. 1 EMRK fällt, nämlich den Gottesdienst, ist die Arbeitsenthaltung als bloße Unterlassungspflicht schwieriger zuzuordnen, wird aber letztlich unter das vierte Element fallen, die Beachtung religiöser Gebräuche. Eine Verletzung der Religionsfreiheit ist eher anzunehmen, wenn der Besuch des Gottesdienstes verunmöglicht wird, als wenn die Arbeitsenthaltung vereitelt wird.100 Der EuGH schützt aber sogar letzteres, wenn er im Fall Prais aus der Religionsfreiheit die Pflicht ableitet, auch auf ein religiöses Reise- und Schreibverbot Rücksicht zu nehmen. Schutz der Sonn- und Feiertagsruhe im Sekundärrecht: Die ursprüngliche Fassung der Arbeitszeit-RL 93/104/EG sah in Art. 5 Abs. 2 vor, dass die wöchentliche Mindestruhezeit grundsätzlich den Sonntag einschließt. Nach dem Erwägungsgrund Nr. 10 waren dabei die kulturellen, ethnischen, religiösen und anderen Faktoren in den Mitgliedstaaten zu berücksichtigen und letztlich hatten diese zu entscheiden, ob und in welchem Maße der Sonntag in die wöchentliche Ruhezeit einzubeziehen sei. Nun begehrte das Vereinigte Königreich mit einer Klage nach Art. 230 EGV, die gesamte Richtlinie für nichtig zu erklären (Rs. C-84/94, Vereinigtes Königreich). Der EuGH ließ die Richtlinie aber im Großen und Ganzen bestehen und erklärte nur eine einzige Bestimmung für nichtig: Ausgerechnet Art. 5 Abs. 2 (Rn. 49). Die Rechtsgrundlage der Richtlinie war nämlich Art. 137 Abs. 1 SpStr. 1 EGV, wonach der Rat Richtlinien zur Verbesserung der Arbeitsumwelt, zum Schutz der Gesundheit und der Sicherheit der Arbeitnehmer erlassen kann. Nun lässt sich mit der Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmer zwar das Erfordernis einer wöchentlichen Mindestruhezeit begründen, nicht jedoch, dass diese ausgerechnet auf den Sonntag fallen muss, so dass der Rat in diesem Punkt seine Kompetenz überschritten hat (Rn. 37). Dem EuGH wurde vorgeworfen, dass er gerade in diesem Punkt die Kompetenzen der Gemeinschaft zu streng auslege, wo er doch sonst sehr großzügig damit umgehe. Unter Berücksichtigung des Erwägungsgrundes Nr. 10, der die Entscheidung über den Sonntag ohnehin in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten belässt, hätte sich auch eine restriktive Auslegung des Art. 5 Abs. 2 gestützt auf das Wort „grundsätzlich“ angeboten, ohne diese Bestimmung gleich aufheben zu müssen. Protest gegen dieses EuGH-Urteil erhob sogar das Europäische Parlament in seiner Entschließung zur Sonntagsarbeit. Darin fordert es die Mitgliedstaaten und die Sozialpartner auf, bei der Umsetzung der Richtlinie den Sonntag trotz des Urteils als Ruhetag anzuerkennen (Nr. 1). Besonders hebt es hervor, dass der Sonntagsschutz ______________ 100

Vgl. Berkmann, Gewerbeausübung, 69-72.

I. Die individuelle religiöse Freiheit in der EU

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letztlich dem einzelnen Bürger dient, näherhin seinen kulturellen, sozialen, religiösen und familiären Bedürfnissen (Nr. 1), und dass der Situation von Personen, die Sonntagsarbeit verweigern, Rechnung zu tragen ist (Nr. 2). In diesen Aussagen wird deutlich, wie sehr die Gewährung von Religionsfreiheit die Entfaltung des einzelnen Menschen fördert. Nun darf das EuGH-Urteil aber nicht als Angriff auf die Sonntagsruhe verstanden werden, denn dem EuGH ging es nur darum, klarzustellen, welche Ebene für deren Schutz zuständig sei, nämlich die Ebene der Mitgliedstaaten und nicht diejenige der Gemeinschaft. Der Sonntagsschutz wird also europarechtlich nicht verboten, ja nicht einmal missbilligt, er ist nur Sache der Mitgliedstaaten, die aufgrund ihrer Traditionen zu unterschiedlichen Schutzniveaus kommen können. In diesem Sinne entschied der EuGH in einem anderen Fall, dass Mitgliedstaaten durchaus ein Verbot für Fernsehwerbung an Sonntagen verhängen können, solange sie das Gleiche nicht auch für Programme aus anderen Mitgliedstaaten verlangen (Rs. C-288/89, Rn. 27f.). Man darf die Vielfalt der nationalen Traditionen jedoch gerade in der Sonntagsfrage nicht überbewerten, denn in Wirklichkeit ist in keinem EG-Mitgliedstaat ein anderer Wochentag geschützt als der Sonntag. Gerade in diesem Punkt liegt also eine gemeinsame europäische Tradition vor, über die sich ein Konsens erzielen lassen müsste. Selbst nach der Aufhebung von Art. 5 Abs. 2 war der Sonntagsschutz nicht vollständig aus der Arbeitszeit-RL verbannt, da der Erwägungsgrund Nr. 10 bestehen blieb, der nach wie vor an die Berücksichtigung der religiösen Faktoren bei der wöchentlichen Ruhezeit erinnerte. Erst als die RL 93/104/EG zur Gänze durch die RL 2003/88/EG ersetzt wurde, verschwand auch dieser letzte Hinweis auf den Sonntagsschutz. Gehalten hat sich der Sonntagsschutz hingegen in einer anderen arbeitsrechtlichen Richtlinie, nämlich in jener über den Jugendarbeitsschutz (RL 94/33/EG). Deren Art. 10 Abs. 2 verlangt, dass die wöchentliche Ruhezeit im Prinzip den Sonntag umfassen soll, und die dazugehörigen Erwägungsgründe entsprechen jenen der Arbeitszeit-RL. Da die Jugendarbeitsschutz-RL auf derselben Rechtsgrundlage beruht, hätte der EuGH, wenn eine Klage erhoben worden wäre, diese Bestimmung wohl ebenso zu Fall gebracht. Zwar ist für jugendliche Arbeitnehmer ein höherer Schutz gerechtfertigt, doch kann auch dieser nur im Rahmen der entsprechenden Kompetenzgrundlage verwirklicht werden, zu der nach Meinung des EuGH der Sonntagsschutz nicht gehört. Der EuGH unterließ es, bei der Aufhebung von Art. 5 Abs. 2 ArbeitszeitRL das Grundrecht der Religionsfreiheit zu berücksichtigen. Mag zur Zeit des Urteils der Grundrechtsschutz noch schwach gewesen sein, so wurde inzwischen die Grundrechtecharta geschaffen, die das Recht auf Religionsfreiheit ausdrücklich garantiert. Wenn die Charta in Rechtskraft erwächst, muss sie von

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den Organen der Union unter anderem bei der Rechtsetzung beachtet werden (Art. 51 Abs. 1). Das heißt konkret, dass der EG-Rechtsetzer die Kompetenz für eine Arbeitszeit-RL so wahrnehmen muss, dass sie auch den Anforderungen der Religionsfreiheit entspricht, zu denen der Schutz religiöser Ruhezeiten gehört. Da es sich dabei um eine Berücksichtigung von Grundrechten bei der Ausübung bestehender Kompetenzen handelt und nicht um eine unzulässige Kompetenzausweitung mit Hilfe von Grundrechten (Art. 51 Abs. 2 GRCH), kann der EuGH nicht mehr ein Überschreiten der Rechtsgrundlage beanstanden. Die COMECE setzte sich für einen ausdrücklichen Sonntagsschutz in der Grundrechtecharta ein.101 Das wäre im europäischen Grundrechtssystem keine Neuheit gewesen, denn bereits Art. 2 der Europäischen Sozialcharta verlangt in Z. 2 bezahlte öffentliche Feiertage und in Z. 5 eine wöchentliche Ruhezeit, die möglichst mit dem Tag zusammenfällt, der im betreffenden Land durch Herkommen oder Brauch als Ruhetag anerkannt ist. Obwohl die Sozialcharta als Vorlage für die Grundrechtecharta gedient hat, wurde diese Bestimmung nicht übernommen. Sie als Rechtserkenntnisquelle für prätorische Grundrechte heranzuziehen, stößt auf Probleme, weil sich die Unterzeichnerstaaten einzelne Verpflichtungen aussuchen können, so dass nicht geschlossen werden kann, dass jeder Chartabestimmung eine gesamteuropäische Verfassungstradition zugrunde liegt. Immerhin verpflichtet Art. 136 EGV die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten, die Grundrechte der Sozialcharta bei ihrer Sozialpolitik zu bedenken. Wirksamer dürfte hingegen sein, den Schutz religiöser Feiertage aus dem Grundrecht auf Religionsfreiheit abzuleiten. Schutz der Sonn- und Feiertagsruhe durch Beschränkung von Öffnungszeiten: Zur Frage, ob der Ladenschluss an Sonntagen den Grundfreiheiten widerspricht, gibt es eine ganze Serie von EuGH-Urteilen. Im frühesten Fall (Rs. 145/88, Torfaen Borough Council) wurde dem EuGH die Frage vorgelegt, ob eine Maßnahme mit gleicher Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen (Art. 28 EGV) vorliegt, so dass die Warenverkehrsfreiheit verletzt wird, wenn das Verbot, Einzelhandelsgeschäfte an Sonntagen zu öffnen, dazu führt, dass der Verkauf von Waren aus anderen Mitgliedstaaten zurückgeht. Der EuGH verneinte eine Verletzung, weil das Verkaufsverbot an Sonntagen in- und ausländische Waren in gleicher Weise betrifft (Rn. 11) und es ein vom Gemeinschaftsrecht gerechtfertigtes Ziel verfolgt (Rn. 13). Es soll nämlich eine Verteilung der Arbeitszeiten und der arbeitsfreien Zeiten sicherstellen, die den landesweiten oder regionalen, sozialen und kulturellen Besonderheiten angepasst ist, deren Beurteilung beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts Sache der Mitgliedstaaten ist (Rn. 14). Damit bejaht der EuGH das Vorliegen ______________ 101

Wieshaider, Stellungnahmen, 87.

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von Rechtfertigungsgründen eindeutiger als der Generalanwalt, der den Schutz religiösen Empfindens nicht unter den Begriff der „öffentlichen Sittlichkeit“ (Art. 30 EGV) einordnen wollte und nur mit Zögern eine zwingende Erforderlichkeit annahm, den Bürgern an ein und demselben Tag die Möglichkeit zu gewähren, sich Zeit für die verschiedensten (nichtberuflichen, unter anderem religiösen) Betätigungen und menschlichen Kontakte zu nehmen (Rn. 30). Immerhin erwähnt der Generalanwalt hier im Unterschied zum EuGH-Urteil auch religiöse Gründe und erkennt damit an, dass der Sonntagsschutz letztlich dem einzelnen Bürger zugute kommt, der einen Freiraum für die religiöse Betätigung braucht. Weder in den Schlussanträgen noch im Urteil kommt aber in den Blick, dass die Religionsfreiheit als Grundrecht über den Begriff der öffentlichen Sittlichkeit und Ordnung nach Art. 30 EGV in die Gemeinschaftsordnung einwirkt. Dennoch ist dem EuGH im Ergebnis zuzustimmen. In der Folge wurde der EuGH mit Fällen zum Sonntagsschutz geradezu überhäuft,102 doch blieb er seiner Linie treu, wonach Verbote der Ladenöffnung bzw. der Beschäftigung von Arbeitnehmern an Sonntagen durch soziale und kulturelle Besonderheiten gerechtfertigt sind, deren Beurteilung beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts Sache der Mitgliedstaaten ist. Auf diese Begründung, unter Erwähnung des religiösen Aspekts, berief sich auch die Kommission in der Antwort auf eine schriftliche Anfrage (Nr. 895/92), warum sie keine Harmonisierung der Rechtsvorschriften über die Öffnungszeiten am Sonntag plane. Unterdessen ergänzte der EuGH mit dem Urteil Keck und Mithouard (Rss. C-267, 268/91) seine Judikatur zur Warenverkehrsfreiheit damit, dass nationale Bestimmungen, die gewisse Verkaufsmodalitäten beschränken, nicht unter das Verbot des Art. 28 EGV fallen, wenn sie für alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer gelten, die ihre Tätigkeit im Inland ausüben, und wenn sie den Absatz der in- und ausländischen Erzeugnisse rechtlich wie tatsächlich in der gleichen Weise berühren. Weil Ladenöffnungszeiten solche Verkaufsmodalitäten darstellen, musste der EuGH in den späteren Sonntags-Urteilen nicht mehr bis zur Rechtfertigungsprüfung vordringen, sondern konnte sogleich feststellen, dass sie überhaupt nicht in den Anwendungsbereich von Art. 28 EGV fallen.103 Da die ständige Rechtsprechung des EuGH zur Sonntagsöffnung somit nicht mehr ______________ 102

C-306/88; C-312/89; C-332/89 [In diesem Fall stellte der EuGH fest, dass nur der freie Warenverkehr berührt ist, aber nicht der Dienstleistungsverkehr (Rn. 19) und auch nicht das Kartellrecht (Rn. 23)]; C-304/90; C-169/91. 103

So in Rs. C-69/93 Rn. 12 und Rs. C-418/93 Rn. 13. Im letztgenannten Fall schickte der EuGH dennoch den aus den früheren Urteilen bekannten Rechtfertigungsgrund nach (Rn. 25). Außerdem verneinte er hier eine Verletzung der Niederlassungsfreiheit (Rn. 29).

B. Christ und Bürger zugleich – der einzelne Mensch in Kirche und EU

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zu erschüttern ist, wurden seither, so weit ersichtlich, keine entsprechenden Vorlagefragen an den EuGH herangetragen. In den meisten Urteilen zur Sonntagsöffnung machte der EuGH die Einschränkung, dass die Beurteilung der sozialen und kulturellen Besonderheiten nur beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts Sache der Mitgliedstaaten sei. Dies legt den Schluss nahe, dass diese Zuständigkeit in Zukunft auf die Gemeinschaft übergehen könnte. Das heißt aber nicht, dass sie diese Zuständigkeit automatisch im Sinne einer Freigabe der Sonntagsöffnung ausüben müsste oder auch nur dürfte. Vielmehr hat sie die religiösen, familiären, gesundheitlichen und sonstigen Bedürfnisse der Bürger zu respektieren, die allesamt grundrechtlich abgesichert sind. Eine eventuelle Harmonisierung müsste dem Umstand Rechnung tragen, dass der Sonntagsschutz in den meisten Mitgliedstaaten relativ groß ist. Eine Harmonisierung auf hohem Niveau hätte den Vorteil, dass von Staaten mit niedrigem Schutzniveau kein Druck zur Angleichung nach unten ausgeübt werden könnte. Schwieriger gestaltet sich hingegen eine Harmonisierung der Feiertage, da diese im Unterschied zum Sonntag regional sehr unterschiedlich sind. Aber auch hier könnte die Gemeinschaft einem Abbau vorbeugen, indem sie z.B. eine Mindestzahl von Feiertagen vorgibt, die von den Mitgliedstaaten je nach nationalen Besonderheiten verteilt werden kann.104 Aus der oben erwähnten Anfragebeantwortung der Kommission und der Entschließung des Parlaments geht jedenfalls hervor, dass diese beiden europäischen Organe keine Schwächung des Sonntagsschutzes anstreben, falls sie dafür einmal zuständig werden sollten.

b) Das Schächten Das Schächten ist eine rituelle Schlachtmethode nach jüdischem Recht und ähnliche Regelungen bestehen auch im Islam. Einzelne Schritte, wie etwa das betäubungslose Töten, geraten leicht in Konflikt mit Tierschutz- und Hygienevorschriften. Ist in solchen Konflikten der religiösen Vorschrift aufgrund der Religionsfreiheit der Vorrang einzuräumen? Das Gemeinschaftsrecht zeigt sich in dieser Frage bemerkenswert religionsfreundlich. Gemäß dem Protokoll Nr. 33, das durch den Vertrag von Amsterdam an den EGV angefügt wurde, berücksichtigt die Gemeinschaft beim Tierschutz die Gepflogenheiten der Mitgliedstaaten insbesondere in Bezug auf

______________ 104

Vgl. Berkmann, Gewerbeausübung, 79.

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religiöse Riten, kulturelle Traditionen und das regionale Erbe.105 Das ist neben Art. 13 EGV die einzige Stelle im Primärrecht, die ausdrücklich die religiöse Dimension des menschlichen Lebens in den Blick nimmt. Es verwundert, dass gerade dem rituellen Schlachten und nicht etwa anderen religiösen Themen ein solcher Platz gewährt wurde. In Sekundärrechtsakten über die Fleischerzeugung fanden sich schon lange vor dem Vertrag von Amsterdam Sonderbestimmungen für religiöse Riten. So kann eine Betäubung entfallen, wenn ihr religiöse Vorschriften entgegenstehen (RL 74/577/EWG, RL 75/431/EWG, RL 92/116/EWG, RL 93/119/EG), und bestimmte Organe können aufgeblasen werden, wenn dies zu einem religiösen Ritus gehört (RL 69/349/EWG, RL 72/462/EWG, RL 83/90/EWG). Die jüngste diesbezügliche Vorschrift ermöglicht eine abweichende Entblutungsmethode bei der Schlachtung nach religiösen Gebräuchen [VO (EG) Nr. 853/2004]. Ferner wird eine Erhöhung der Schlachtzahlen vor religiösen Festen ermöglicht (RL 95/23/EG). Zur Begründung dieser Ausnahmebestimmungen wird die Religionsfreiheit nicht eigens angeführt, obwohl sie nach Art. 9 Abs. 1 EMRK die Befolgung religiöser Riten einschließt. Nach dem EGMR wird die Freiheit der Religionsausübung verletzt, wenn orthodoxe Juden aufgrund eines Schächtverbots kein Fleisch erhalten können, das ihren Vorschriften entspricht (Nr. 27417/95, Cha’are Shalom ve Tsedek, Rn. 80). Im konkreten Fall konnten Juden, denen das Schächten in Frankreich verboten war, aber ohne Weiteres Fleisch, das vorschriftsmäßig behandelt wurde, aus Belgien beziehen (Rn. 81) und damit einem Konflikt entgehen. Dass sich der ungehinderte Fleischimport vorwiegend der EG-Warenverkehrsfreiheit verdankt, sagte der EGMR nicht. Doch es stimmt nachdenklich, dass ein Eingriff in die Religionsfreiheit deswegen gerechtfertigt sein soll, weil er durch eine EG-Grundfreiheit, die in Wirklichkeit ganz andere Ziele verfolgt, kompensiert wird. Der EGMR erwähnt als Rechtsgrundlage zwar auch die entsprechenden EG-Rechtsakte zur Fleischerzeugung (Rn. 51f.), trotzdem geht er dann nicht näher darauf ein, da es die genuine Aufgabe des EuGH ist, über diese zu urteilen. Ob wo hl sie den Mit gliedstaaten einen gewissen Spielraum belassen, wäre der EuGH auf der Grundlage der EG-Fleischrichtlinien möglicherweise zu einem für die Beschwerdeführer günstigeren Urteil gekommen, als der EGMR auf der Grundlage von

______________ 105

Zuvor nahmen schon die Beitrittsakten von Dänemark, Irland und dem Vereinigten Königreich darauf Bezug. Der Verfassungsvertrag nimmt dieses Protokoll in Art. III-121 auf.

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Art. 9 EMRK.106 Es ist jedenfalls nicht auszuschließen, dass Gemeinschaftsrecht mitunter einen höheren Schutz gewährt als die EMRK, die ihren recht inhomogenen Mitgliedern nur einen gewissen Rahmen von gemeinsamen Grundrechten vorgeben will.

c) Weitere Themen mit EU-Relevanz Dass die Europäische Union die Religionsfreiheit achtet, zeigt sich ferner in ihren Rechtsakten zur Flüchtlingspolitik, obwohl diese die Religionsfreiheit nicht ausdrücklich als Grundrecht anführen. Sowohl der frühere Gemeinsame Standpunkt (96/196/JI), als auch die nunmehrige Richtlinie zur Flüchtlingspolitik (RL 2004/83/EG) erkennen die Verfolgung aus religiösen Gründen nämlich als Fluchtgrund an. In seiner Entschließung zu den „Grundprinzipien einer Europäischen Flüchtlingspolitik“ hebt das Europäische Parlament die religiös begründete Verfolgung neben den massiven Menschenrechtsverletzungen eigens hervor (Nr. A). Die Gemeinsame Maßnahme zur Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit bezeichnet die öffentliche Aufstachelung zu Diskriminierung oder Gewalt gegen eine durch die Religion definierte Gruppe oder eines ihrer Mitglieder als Vergehen, das Gegenstand der justiziellen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten ist (Titel I Nr. A). Spannungen zwischen EU-Recht und dem religiösen Leben der einzelnen Bürger können selbstverständlich noch in vielen weiteren Punkten auftreten. Die Kompetenzbereiche der Europäischen Union sind davon nur mit unterschiedlicher Intensität betroffen. So beschäftigen sich viele europäische Staaten mit der Frage, ob muslimischen Frauen das Tragen eines Schleiers verboten werden kann und soll, während auf der Ebene der Europäischen Union hierzu nur die Aussage des Europäischen Parlaments in seiner Entschließung zu Frauen und Fundamentalismus vorliegt. Danach sollen Frauen die religiösen Symbole selbst wählen können, wenn sie damit ihre Identität hervorheben wollen (Nr. S), und die Art der Kleidung ist ihrer freien persönlichen Entscheidung überlassen (Nr. T). Damit achtet das Parlament die religiöse Freiheit von Frauen stärker als der EGMR, der rechtliche Beschränkungen beim Tragen des Schleiers als vereinbar mit der Religionsfreiheit nach Art. 9 EMRK ansieht.107 ______________ 106

Das deutsche BVerfG hat diesen restriktiven Eingriffsbegriff in Bezug auf das Schächten jedenfalls relativiert, wie Uerpmann-Wietzack (Diskriminierungsverbot, Rn. 32) hervorhebt. 107

EGMR Nr. 41340ff/98, Wohlfahrtspartei, Rn. 92; Nr. 44774/98, Şahin, Rn. 121. Auch in Deutschland wäre die religiöse Freiheit, einen Schleier zu tragen, nach der Ansicht Uerpmann-Wietzacks (Diskriminierungsverbot, Rn. 37) stärker zu achten als in der EGMR-Judikatur. In gerade umgekehrter Weise zum Urteil Şahin, entschied der

I. Die individuelle religiöse Freiheit in der EU

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In der Entscheidung Şahin nahm nur die Richterin Tulkens – wohl nicht ohne Grund eine Frau – einen abweichenden Standpunkt ein, demzufolge dem freiwilligen Tragen des Schleiers keine zwingenden Erfordernisse einer demokratischen Gesellschaft entgegenstehen und ein von oben verordnetes Verbot nur Ausdruck von Paternalismus ist (Rn. 12). Dieser Standpunkt liegt auf der Linie der Entschließung des Europäischen Parlaments. Ein weiteres Thema der Religionsfreiheit, mit dem sich gegenwärtig mehrere europäische Staaten beschäftigen, ist das Anbringen religiöser Symbole in öffentlichen Gebäuden, insbesondere in Schulen. Die Europäische Union betrifft diese Problematik im Grunde nur hinsichtlich der Amtsgebäude ihrer eigenen Institutionen. Dort Kruzifixe anzubringen, lehnte die Kommission in einer Anfragebeantwortung (E-1586/02) ab, weil die Werte, auf die sich die europäische Integration stützt, ohnehin offenkundig seien und weil ein selektiver Ansatz bei der Symbolwahl mit dem in der Grundrechtecharta verankerten Grundsatz der Religionsfreiheit unvereinbar wäre. Dieser Abschnitt hat mit zahlreichen Beispielen gezeigt, wie die Europäische Union mit dem religiösen Leben ihrer Bürger in Berührung kommen kann. Dabei wurde auch deutlich, in welche Konflikte Menschen geraten können, wenn sie Adressaten weltlicher Rechtsnormen sind, die ihrer religiösen Überzeugung nicht entsprechen: Frau Prais, die auf eine Stellenbewerbung verzichten muss, weil sie an einem jüdischen Feiertag keine Prüfung ablegen kann; der finnische Bahnangestellte, der seinen Arbeitsplatz verliert, da er Freitagabend an einem Gottesdienst teilnimmt; muslimische Frauen, die keinen Schleier tragen dürfen, usw. Ebenso wurde deutlich, dass das Grundrecht der Religionsfreiheit in solchen Konfliktfällen zwar nicht uneingeschränkt von der Beachtung weltlichen Rechts entbindet, dass es aber doch zur gegenseitigen Rücksichtnahme verpflichtet, um Lösungen zu finden, die für alle Beteiligten annehmbar sind. So wird die Arbeitswoche des muslimischen Lehrers angepasst und französische Juden auf koscheres Fleisch aus Belgien verwiesen. Dabei ist es ohne Weiteres möglich, dass die Europäische Union religiöse Anliegen stärker schützt, als dies von der EMRK unbedingt geboten wäre. Es wäre aber zu einfach, sich der auftretenden Probleme durch den Hinweis zu entledigen, dass jeder in seiner Privatsphäre nach den Forderungen seiner Religion leben könne.108 Die geschilderten Beispiele zeigen deutlich, dass sich die Konflikte dadurch nicht lösen lassen, denn zum Wesen der Religion gehört auch eine ______________

UNO-Menschenrechtsausschuss, dass eine Studentin nicht von der Universität verwiesen werden darf, weil sie sich weigert, den Schleier abzunehmen (vgl. Bair, Menschenrechtsausschuss, 50 und 52). 108 So aber EGMR, Nr. 41340ff./98, Wohlfahrtspartei, Rn. 128 und das Europäische Parlament in der Entschließung zu Frauen und Fundamentalismus, Nr. L.

B. Christ und Bürger zugleich – der einzelne Mensch in Kirche und EU

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öffentliche Dimension, wie sie in Art. 9 Abs. 1 EMRK eigens genannt und geschützt wird („en public ou en privé“ bzw. „in public or private“).

II. Die individuelle bürgerliche Freiheit in der Kirche 1. Der Mensch in der Rechtsordnung der Kirche a) Person – Christ – Katholik Die politische Gemeinschaft und die Kirche dienen, wenn auch auf unterschiedliche Weise, dem gleichen Menschen (vgl. Art. 76 Abs. 3 GS). Dieser eine Mensch steht in zwei Ordnungen zugleich, der zeitlichen und der geistlichen und soll sich in beiden möglichst ungestört gemäß seiner Berufung entfalten können. Insofern beide Ordnungen Rechtsordnungen sind, tritt der Mensch als Rechtssubjekt, als Träger von Rechten und Pflichten, in Erscheinung. Diese Rechtspersönlichkeit des Menschen ist das grundlegende verbindende Element zwischen der säkularen und der religiösen Rechtsordnung, weil ein und derselbe Mensch als Rechtssubjekt die Fähigkeit besitzt, Adressat von Rechten und Pflichten beider Rechtsordnungen zu sein. Je besser diese Rechte und Pflichten der beiden Rechtsordnungen aufeinander abgestimmt sind, desto leichter kann der Mensch sich in beiden Bereichen entfalten. Dass jeder Mensch Rechtsperson ist, steht in der katholischen Soziallehre außer Zweifel. Schon Leo XIII. leitete aus der Natur des Menschen den Besitz von Rechten ab (Art. 6 RN). Besonderes Gewicht erlangten solche Überlegungen in der Enzyklika „Pacem in Terris“ Johannes’ XXIII., derzufolge jeder Mensch seinem Wesen nach Person ist und folglich aus seiner Natur unmittelbar und gleichzeitig Rechte und Pflichten hervorgehen (Art. 9 PT), deren Wahrnehmung für das Zusammenleben der Menschen in der Gemeinschaft unerlässlich ist (Art. 34 PT). Das Recht gehört also wesentlich zur menschlichen Person wie auch zur Beziehung der Menschen untereinander. Das Zweite Vatikanische Konzil begrüßt das wachsende Bewusstsein, dass die menschliche Person Träger allgemeingültiger und unverletzlicher Rechte und Pflichten ist, was mit der Würde des Menschen und seiner Erhabenheit über die gesamte Welt der Dinge zusammenhängt (Art. 26 Abs. 2 GS). Noch am Ende seines Pontifikats betonte Johannes Paul II., dass die Zugehörigkeit zur Menschheitsfamilie jedem Menschen eine Art Weltbürgerschaft verleiht, die ihn zum Träger von Rechten und Pflichten macht.109 ______________ 109

Botschaft zum Weltfriedenstag 1.1.2005, Nr. 5.

II. Die individuelle bürgerliche Freiheit in der Kirche

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Umso mehr überrascht es, dass eine Aussage über die Rechtspersönlichkeit aller Menschen gerade dort fehlt, wo sie am meisten zu erwarten und am dringendsten nötig wäre, nämlich im Gesetzbuch der katholischen Kirche, zumal sie der Grundbaustein jeder Rechtsordnung und damit auch das verbindende Glied der verschiedenen Rechtsordnungen wie der kirchlichen und der europäischen untereinander ist. Dabei war in der LEF vom Schema prior bis zum Schema 1980 durchgängig ein Canon vorgesehen, mit dem die Kirche allen und jedem Menschen die Rechte und Pflichten zuerkannte, die aus seiner Personwürde entspringen. 110 Diese Bestimmung ging mit der LEF unter, ohne in den CIC Eingang zu finden. In diesen ging als c. 96 vielmehr nur c. 5 aus dem Schema LEF 1980 ein, der aber nicht die Rechtspersönlichkeit aller Menschen, sondern nur die besondere Rechtsstellung der Getauften behandelt.111 Da nun aber, wie die Lehre112 aufzeigt, die Rechtsstellung des Getauften in der Kirche die natürliche Rechtspersönlichkeit zwingend voraussetzt, muss diese in c. 96 CIC, insbesondere im Ausdruck „homo“, als implizit miterfasst angesehen werden.113 Außerdem stellt der CIC selbst auch Ungetaufte unter strafrechtlichen Schutz (c. 1397f.), bezeichnet sie als „persona“ (c. 1086 § 1) und verleiht ihnen auch in der Kirche eine gewisse Handlungsfähigkeit, etwa als dem ius divinum Unterstehende, als Adressaten kirchlichen Heilswirkens (c. 383 § 4, c. 528 § 1 CIC), als Taufspender (c. 861 § 2 CIC), bei Rechtsgeschäften (Ehe, Dienstvertrag), in kirchlichen Prozessen und als Katechumenen.114 Daraus, dass nach c. 11 CIC rein kirchliche Gesetze nur Katholiken verpflichten, kann e contrario geschlossen werden, dass es andere Gesetze gibt – göttliches, fremdes religiöses oder weltliches Recht –, die auch Nichtkatholiken binden, so dass selbstverständlich auch diese als Rechtspersonen anzusehen sind. Somit ist Protagonist auch in der kirchlichen Rechtsordnung nicht irgendeine Institution, sondern der einzelne Mensch. 115 ______________ 110

Jeweils c. 3. Die Formulierung „omnibus et singulis hominibus“ betont, dass wirklich jeder einzelne Mensch Träger von Rechten und Pflichten ist. Dass die Klausel „in ordine morali“ aus c. 6 § 1 Schema LEF II in den späteren Schemata gestrichen wurde, zeigt, dass nicht der Bereich der Moral, sondern tatsächlich der des Rechts gemeint war. 111

Der CCEO verzichtete sogar auf diese Norm.

112

Vgl. Aymans / Mörsdorf, Lehrbuch I, 290; Pree, in: MKCIC, vor c. 96, Rn. 1; ders., in: MKCIC, c. 96, Rn. 2. 113

Vgl. Comm 2 (1970) 91.

114

Pree, in: MKCIC, c. 96, Rn. 9.

115

Vgl. Pree, Rechtscharakter, 64. Dagegen liegt für Corecco der primäre Zweck der kirchlichen Rechtsordnung nicht darin, die rechtliche Stellung des einzelnen Gläubigen, sondern die Organisationsstruktur der Kirche zu sichern (Corecco, Erwägungen, 438).

B. Christ und Bürger zugleich – der einzelne Mensch in Kirche und EU

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Die natürliche Person wird nun, indem sie durch die Taufe der Kirche eingegliedert wird, zu einer „persona in Ecclesia“, was den eigentlichen Regelungsgegenstand von c. 96 CIC darstellt. Dabei wird weder das natürliche Personsein zerstört, noch entsteht ein zweites Rechtssubjekt, sondern es tritt einfach eine akzidentelle Eigenschaft hinzu.116 Der Getaufte erhält aus seiner Stellung in der Kirche ein Mehr an Rechten und Pflichten, die über das ganze Kirchenrecht verstreut, aber insbesondere in den cc. 208-223 CIC gebündelt sind. Das zweite Buch des CIC über die Verfassung der Kirche beginnt in c. 204 § 1 bewusst mit einer Definition des „christifidelis“, der sich mit der „persona in Ecclesia“ des c. 96 CIC deckt.117 Die beiden Begriffe beschränken sich nicht auf Katholiken, sondern erfassen alle Getauften und bilden somit eine Grundlage für ökumenische Beziehungen. Indessen können nicht alle Christen ihre Rechte in der katholischen Kirche voll ausüben, sondern nur jene, die in der vollen Gemeinschaft mit ihr stehen (c. 96 und c. 205 CIC), während die anderen dabei nach Maßgabe des Rechts (z.B. c. 844 CIC) mehr oder weniger beschränkt sind.118 Insgesamt sind also drei Ebenen zu unterscheiden:119 Das natürliche Personsein, das allen Menschen („homines“) in gleicher Weise zukommt und sie zu Rechtssubjekten macht; das Personsein in der Kirche, das allen Christen („christifideles“) einen besonderen Rechtsstatuts verleiht, die aufgrund der Taufe einer der Kirchen oder kirchlichen Gemeinschaften angehören; schließlich der Status in der vollen Gemeinschaft mit der katholischen Kirche, der ein zusätzliches Bündel an Rechten und Pflichten einschließt. In ähnlicher Weise lassen sich auch im europäischen weltlichen Bereich drei Ebenen unterscheiden: Erstens das natürliche Personsein jedes Menschen; zweitens die EU-Bürgerschaft, die jenen Menschen einen besonderen Rechtsstatus verleiht, die einem der EU-Mitgliedstaaten angehören; und drittens die Staatsbürgerschaft in ______________ 116

Ebd. Rn. 3.

117

Der Unterschied besteht darin, dass „christifidelis“ theologisch geprägt ist, „persona“ hingegen juristisch und damit eine Verbindung zum weltlichen Recht ermöglicht (vgl. Pree, vor c. 96, Rn. 2). Die Mehrheit der Kanonisten aufgrund des Wortlauts davon aus, dass c. 204 § 1 CIC auch nichtkatholische Christen umfasst, z.B: Breitsching, Eucharistiegemeinschaft, 135; Hallermann, Rechtsstellung, 35; Rees, Kirchenbegriff, 695; Riedel-Spangenberger, Implikationen, 240; Selge, Christifidelis, 273; für eine Beschränkung auf Katholiken hingegen: Aymans / Mörsdorf, Lehrbuch II, 50f; Weber, Anmerkungen, 667. Eine Mittelposition nimmt Ghirlanda ein, demzufolge theologisch alle gültig Getauften, technisch aber nur jene, die in voller Gemeinschaft mit der katholischen Kirche stehen, als christifideles bezeichnet werden können (Ghirlanda, Diritti fondamentali, 8). 118

Vgl. Gänswein, Kirchengliedschaft, 215.

119

Vgl. Pree, in: MKCIC, c. 96, Rn. 2.

II. Die individuelle bürgerliche Freiheit in der Kirche

77

einem dieser Mitgliedstaaten, die noch ein zusätzliches Bündel an Rechten und Pflichten mit sich bringt. Auf der untersten Ebene treffen sich die weltliche und die kirchliche Rechtsordnung, sodass hier mit dem Menschen als natürlicher Person eine gemeinsame Basis vorliegt, auf der die Beziehungen zwischen beiden Rechtsordnungen zum Wohle eben dieses Menschen aufbauen können.120

b) Religionsfreiheit in der Kirche Damit der Mensch möglichst ungehindert nach seiner religiösen Überzeugung leben kann, achten weltliche Rechtsordnungen, darunter auch jene der Europäischen Union, das Grundrecht der Religionsfreiheit. Was ist nun das Komplementäre dazu auf der Seite der kirchlichen Rechtsordnung? Die katholische Kirche hat ihre frühere Haltung zur Religionsfreiheit auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil überdacht und verlangt nun von der weltlichen Gewalt geradezu, dass sie die Religionsfreiheit wirksam schützt, ohne zu unterscheiden, ob die Mehrheit der Bevölkerung katholisch ist oder nicht (Art. 6 Abs. 2 DH).121 Wenn demnach die Europäische Union die Religionsfreiheit anerkennt, so erfüllt sie damit ein wichtiges Anliegen der Kirche.122 ______________ 120

Auf diese Weise bewirkt der Begriff der Rechtspersönlichkeit des Menschen die notwendige „Kommunikabilität bzw. Kompatibilität mit nichtkirchlichen Rechtsordnungen“ (Pree, in: MKCIC, vor c. 96, Rn. 2). Aymans / Mörsdorf hingegen wollen den Begriff der physischen Person nach kanonischem Recht nicht auf jedweden Menschen anwenden, sondern nur zur Abgrenzung von der juristischen Person verwenden (Lehrbuch I, 290). Damit wird aber keine Verbindung zum weltlichen Recht ermöglicht. 121

Johannes Paul II. begrüßte die zunehmende Beachtung der Religionsfreiheit unter anderem in seinem Schreiben Veritatis splendor, Nr. 31. Vgl. Feliciani, Libertà religiosa, passim. 122

Selbstverständlich wird sich nicht immer decken, was die weltliche und was die kirchliche Seite als von der Religionsfreiheit geschuldet ansehen. Das Konzil war sich aber sehr wohl dessen bewusst, dass die Religionsfreiheit gewisser Schranken bedarf, und verwandte zu deren Umschreibung in Art. 7 DH nach mehreren anderen Vorschlägen den Begriff der öffentlichen Ordnung, wie er in den meisten weltlichen Grundrechtskatalogen gebräuchlich ist (vgl. Lobkowicz, Religionsfreiheit, 626; Pavan, LThK2Konzilskommentar Bd. II, 729). Damit bezeugte das Konzil seine Offenheit für diese, doch gleichzeitig füllte es den Begriff mit einem bestimmten Inhalt: Öffentlicher Friede, Sittlichkeit, Gemeinwohl, soziale Verantwortung, Gerechtigkeit und die Rechte anderer. Außerdem bedeutet die Religionsfreiheit in den Augen der Kirche nicht Beliebigkeit, sondern schließt immer die moralische Pflicht mit ein, aufrichtig die Wahrheit zu suchen (Art. 2 Abs. 2 DH). Die Glaubenskongregation hat diese Lehre des Konzils über die Religionsfreiheit bekräftigt (Katholiken im politischen Leben, Nr. 6).

B. Christ und Bürger zugleich – der einzelne Mensch in Kirche und EU

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Inwiefern ist aber auch die Kirche selbst zur Anerkennung der Religionsfreiheit verpflichtet?123 In Anlehnung an Art. 2 Abs. 2 DH sind nach c. 748 § 1 CIC alle Menschen gehalten, in Fragen, die Gott und die Kirche betreffen, die Wahrheit zu suchen, und haben das Recht und die Pflicht, die erkannte Wahrheit anzunehmen und zu bewahren, während nach § 2 desselben Canons niemand das Recht hat, Menschen zur Annahme des katholischen Glaubens gegen ihr Gewissen durch Zwang zu bewegen.124 Der Schutz der Religionsfreiheit begegnet im kirchlichen Gesetzbuch also in anderer Form als in staatlichen und internationalen Menschenrechtserklärungen.125 Er beschränkt sich im Grunde auf ein Recht zur Wahrheitssuche und ein Verbot der Zwangsausübung bei der Annahme des katholischen Glaubens.126 Der Abfall von der katholischen Kirche (Schisma) oder vom katholischen Glauben (Apostasie) und die Abweichung von diesem (Häresie) sind hingegen nicht freigestellt, sondern stehen sogar unter der Strafe der Exkommunikation (c. 1364 CIC). Dies verletzt aber nach verbreiteter Auffassung die Gewissensfreiheit nicht,127 denn der Häretiker stellt sich mit seiner Lehre selbst außerhalb der Glaubensgemeinschaft, so dass das kirchliche Strafurteil nur noch seinen Selbstausschluss feststellt. 128 Im Übrigen hindert die katholische Kirche niemanden mit Gewalt am Austritt, ja das PCLT schuf in zwei neuen Dokumenten129 zu c. 1117 CIC sogar erstmals ______________ 123

Vgl. dazu Breitsching, Menschenrechte, 207; Dalla Torre, città, 76; Hervada, Elementi, 48; Sebott, Religionsfreiheit, 218. 124

Die LEF enthielt ein Verbot der Ausübung von Zwang durch einzelne, soziale Gruppen und die menschliche Gewalt in Zusammenhang mit dem Recht eines jeden Menschen der Kirche beizutreten (vgl. c. 6 § 3 Schema LEF III und die Parallelstellen in den weiteren Schemata). C. 586 CCEO spricht ausdrücklich von einem Recht auf Religionsfreiheit. 125

Vgl. Martín de Agar, Ambito temporale, 156.

126

Die ebenfalls erwähnte Pflicht zur Wahrheitssuche ist nur sittlich, nicht rechtlich verbindlich. Hinsichtlich des Bewahrens und Bekennens der gefundenen Wahrheit fehlt ein ausdrückliches Zwangsverbot (Krämer, Religionsfreiheit, 28; Luf, Glaubensfreiheit, 704). Mussinghoff stellt aber auch die „nicht mehr ganz glaubenden Katholiken“ unter den Schutz von c. 748 (Mussinghoff, c. 748, Rn. 4). Zu weit geht aber Bleckmann, wenn er behauptet, der Gläubige habe beim Eintritt in die Kirche darauf verzichtet, die individuelle Religionsfreiheit gegen sie geltend zu machen (Religionsfreiheit, 63). 127

Z.B: Rees, Strafgewalt, 428.

128

Vgl. Lüdicke, vor c. 1311, Rn. 4; Reinhardt, Häresiebegriff, 424.

129

PCLT, Schreiben an den Bischof von Rottenburg-Stuttgart vom 3.5.2005 und Rundschreiben an die Vorsitzenden der Bischofskonferenzen vom 13.3.2006. Die drei erforderlichen Elemente sind: Die innere Entscheidung, die äußere Manifestation dieser Entscheidung und ihre direkte Entgegennahme durch die zuständige kirchliche Autorität.

II. Die individuelle bürgerliche Freiheit in der Kirche

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Elemente eines förmlichen kirchlichen „Austrittsverfahrens“, wenn man davon absieht, dass der character indelebilis der Taufe natürlich nicht rückgängig gemacht werden kann. Auch bei der Ausübung seiner Religion kann der Katholik nicht immer nach Belieben vorgehen, sondern ist in manchen Fällen zu bestimmten Handlungen verpflichtet, wie etwa zum Messbesuch an Sonn- und Feiertagen (c. 1247 CIC) oder zur katholischen Erziehung der Kinder (c. 793 § 1 CIC). Verletzt die katholische Kirche damit selbst die Religionsfreiheit? Keineswegs, denn als Religionsgemeinschaft ist es ja gerade ihre Aufgabe, eine ganz bestimmte religiöse Lehre zu vertreten (vgl. c. 747 § 1 CIC) und die Glaubenseinheit zu schützen (vgl. c. 386 § 2 CIC).130 Für Glaubensgemeinschaften ist der gemeinsame Glaube konstitutiv, so dass niemand ihr Mitglied sein kann, der diesen Glauben nicht teilt. Dementsprechend setzt die volle Gliedschaft in der katholischen Kirche die Verbindung mit ihr durch das Glaubensbekenntnis, die Sakramente und die kirchliche Leitung voraus (c. 205 CIC). Es ist wichtig zu sehen, dass die katholische Kirche mit solchen Forderungen die Religionsfreiheit nicht verletzt, sondern sie gerade dadurch verwirklicht, denn die Religionsfreiheit nimmt eine andere Bedeutung an, je nachdem ob sie sich an ein religiös neutrales weltliches Gemeinwesen richtet oder an eine Religionsgemeinschaft.131 Damit nämlich ein Mensch sein religiöses Leben voll entfalten kann, ist vom Staat vor allem verlangt, dass dieser es schützt und fördert, sich im Übrigen aber nicht darin einmischt und auf keinen Fall selbst Gottesdienste, Glaubensverkündigung und religiöse Übungen organisiert. Deren Angebot und Durchführung ist hingegen von den Religionsgemeinschaften verlangt, die damit die Wahrnehmung der Religionsfreiheit durch den einzelnen Menschen genau genommen erst wirklich ermöglichen und zu diesem Zweck von ihm auch ein entsprechendes Verhalten einfordern können.132 Die weltliche Autorität entspricht dem Gebot der Religionsfreiheit, ______________ 130

Vgl. Mussinghoff, c. 748, Rn. 5. Böckenförde hält der Forderung nach Religionsfreiheit gegenüber der eigenen Kirche entgegen: „Eine Glaubensgemeinschaft, sei sie als Kirche verfasst oder nicht, beruht ja gerade darauf, dass bestimmte Glaubensinhalte als wahr angenommen und in Lehre und Praxis festgehalten werden.“ (Bedeutung, 310) 131

Auch nach Krämer kann die Religionsfreiheit von der Kirche nicht in derselben Art und Weise garantiert werden, wie von einem Staat oder einer internationalen Organisation, denn im Staat müssen sich verschiedene und entgegengesetzte Überzeugungen darstellen können, während es der Kirche als Glaubensgemeinschaft nicht gleichgültig sein kann, ob und was ihre Glieder glauben (Krämer, Menschenrechte, 171). 132

Auch Aymans (Grundrechte, 397f.) spricht davon, dass die Religionsfreiheit als Forderung an die Kirche einen eigengeprägten Inhalt annimmt. Darunter versteht er allerdings nicht wie hier vertreten, dass die Kirche die positiven Voraussetzungen für die Ausübung der Religionsfreiheit schaffen muss, sondern einfach, dass sie sich strikt an die Mittel des geistlichen Rechts hält und folglich auf Zwang bei Eintritt und Austritt

B. Christ und Bürger zugleich – der einzelne Mensch in Kirche und EU

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wenn sie zum Beispiel die Arbeitszeitvorschriften so gestaltet, dass der Besuch des Sonntagsgottesdienstes ermöglicht wird; die Kirche hingegen entspricht dem Gebot der Religionsfreiheit, wenn sie solche Gottesdienste tatsächlich anbietet. Nur wenn beide Seiten in dieser Weise zusammenwirken, kann der einzelne Mensch seine Religionsfreiheit effektiv durch einen Gottesdienstbesuch ausüben. Die Religionsfreiheit des Individuums verpflichtet also tatsächlich sowohl die weltliche Autorität als auch die Religionsgemeinschaften, aber auf zwei verschiedene Weisen, die sich gegenseitig ergänzen.133 In dieser Hinsicht ist das Tun der Kirche also in gewisser Weise komplementär zur Religionsfreiheit, wie sie von der weltlichen Seite garantiert wird. Das eigentlich Komplementäre auf Seiten der Kirche ist aber in Wirklichkeit gar nicht so sehr eine wie auch immer geartete Anerkennung der religiösen Freiheit des Menschen, die ja immer nur begrenzt sein kann, sondern vielmehr die Anerkennung seiner Freiheit im weltlichen Bereich. So wie nämlich die bürgerliche Autorität die religiöse Freiheit des Individuums anzuerkennen hat, so hat in spiegelbildlicher Weise die religiöse Autorität dessen bürgerliche Freiheit anzuerkennen.134 Inwiefern die katholische Kirche dies tut, ist im folgenden Abschnitt zu untersuchen.

2. Entwicklung des Grundrechtsschutzes in der Kirche Lange bevor die Theorie der Grundrechte überhaupt entwickelt wurde, anerkannte die kirchliche Rechtsordnung beispielsweise ein Recht auf Nahrung und eine Pflicht zur Hilfeleistung oder den in den Orden praktizierten Grundsatz „Quod omnes tangit debet ab omnibus approbari“ – und das zu einer Zeit, wo das Volk sonst zunehmend aus der Mitbestimmung gedrängt wurde. 135 Durch die Lehre vom Naturrecht förderte die Kirche die Anerkennung von angeborenen Rechten, über die keine Macht verfügen kann. Als man in der Neuzeit begann Menschenrechtssammlungen zu proklamieren, differenzierte sich jedoch die Haltung der Kirche. Während das amerikanische Christentum den ______________

verzichtet. Dies ist aber gerade nicht der eigengeprägte Inhalt, sondern jener, der sich mit der Religionsfreiheit als Forderung an den Staat deckt, weil auch er den Religionswechsel nicht erzwingen noch behindern darf. 133

Das dürfte wohl auch Art. 6 Abs. 1 DH meinen, wenn er bestimmt, dass die Sorge für das Recht auf religiöse Freiheit sowohl der weltlichen Gewalt als auch der Kirche und den anderen Religionsgemeinschaften obliegt, aber je nach ihrer eigenen Weise und nach der Pflicht, die sie dem Gemeinwohl gegenüber haben. 134

Vgl. Lo Castro, Laici, 256.

135

Vgl. Brieskorn, Menschenrechte, 8.

II. Die individuelle bürgerliche Freiheit in der Kirche

81

Menschenrechten der religionsfreundlichen amerikanischen Unabhängigkeitserklärung (4.7.1776) positiv gegenüberstand, lehnte die Kirche in Europa die Menschenrechtserklärung der Französischen Revolution (26.8.1789) ab, in deren Namen zahllose Gräuel verübt und Christen verfolgt wurden. 136 Nur langsam entwickelte die Kirche ein positives Verhältnis zu den Menschenrechten. Die Päpste Leo XIII. (Nr. 21 RN) und Pius XII. (Weihnachtsbotschaft 1944) legten dar, dass die christliche Sicht der Menschenrechte alle anderen überragt. Weit mutiger legte Papst Johannes XXIII. 1963 einen ganzen Katalog von Menschenrechten samt Erläuterungen vor (Nr. 11-27 PT). Das Zweite Vatikanische Konzil betont in der Pastoralkonstitution Gaudium et Spes die fundamentale Gleichheit aller Menschen (Art. 29), beschreibt den Menschen als Träger allgemeiner und unverletzlicher Rechte, von denen es einige aufzählt (Art. 26), und stellt die Kirche selbst als Verkünderin der Menschenrechte vor (Art. 41), die einen Freiheitsraum gegenüber der politischen Autorität sichern (Art. 73). Der Religionsfreiheit widmet das Konzil die gesamte Erklärung Dignitatis humanae. Seit dem Konzil ließ die Kirche in ihrem Engagement für die Menschenrechte nicht nach. Beispielsweise richtete Papst Paul VI. im Anschluss an die Bischofssynode von 1974 einen Appell an die Welt, in dem er einzelne Menschenrechte erörtert und theologisch begründet. 137 Aus dem reichen Wirken Papst Johannes Pauls II. seien hier nur die Einschärfung der sozialen Grundrechte (Nr. 16 LE) und die Verbindung von Demokratie und Menschenrechten genannt (Nr. 47 CA). Er lobte das Engagement der UNO auf dem Gebiet der Menschenrechte und bot ihr die Zusammenarbeit an (Nr. 17 Redemptor Hominis).

______________ 136 Honecker, Menschenrechte, 104. Während die Religionsfreiheit in den USA konstitutiv war für die Herausbildung einer Grundrechtssystematik, verhielt es sich in Europa Herz / Jetzlsperger zufolge gerade umgekehrt, da hier aus einer existierenden Grundrechtssystematik ein Recht auf Religionsfreiheit abgeleitet wurde (Herz / Jetzlsperger, Verhältnis, 86f.). In Wirklichkeit waren aber auch in Europa Vorformen der Religionsfreiheit, wie sie sich im Augsburger Religionsfrieden (1555) und im Westfälischen Frieden (1648) finden, ausschlaggebend für die Grundrechtsentwicklung (vgl. Nowak, Menschenrechtssystem, 31).

In den USA war das Recht auf freie Religionsausübung konstitutiv für die Herausbildung einer Grundrechtssystematik. In Europa genau umgekehrt: Aus einer existierenden Grundrechtssystematik wurde ein Recht auf Religionsfreiheit abgeleitet (87). 137

Deutsche Fassung in: HK 28 (1974) 624f.

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3. Schutz der bürgerlichen Freiheit im II. Vatikanischen Konzil Schon in der dogmatischen Konstitution über die Kirche „Lumen Gentium“ vom 21.11.1964 ging das Zweite Vatikanische Konzil davon aus, dass die Gläubigen („fideles“) Rechte und Pflichten einerseits als Glieder der Kirche und anderseits als Glieder der menschlichen Gesellschaft besitzen und dass sie beides harmonisch miteinander verbinden sollen (Art. 36 Abs. 4 LG). Bereits hier begegnet also der Gedanke, dass die Menschen, die zugleich Christen und Bürger sind, als Rechtssubjekte in zwei verschiedenen Rechtsordnungen stehen. Dass die kirchliche Autorität ihnen, um beides einigermaßen in Einklang bringen zu können, eine gerechte Freiheit („iustam […] libertatem“) im bürgerlichen Bereich gewähren muss, folgt aus Art. 37 Abs. 3 LG. Diese Formulierung greift das Dekret über Dienst und Leben der Priester vom 7.12.1965, „Presbyterorum Ordinis“, in Art. 9 Abs. 2 noch einmal auf. Im Dekret über das Laienapostolat „Apostolicam Actuositatem“ vom 18.11.1965 hebt das Konzil den Dualismus der beiden Ordnungen, in denen der Mensch als Christ bzw. Bürger steht, noch deutlicher hervor (Art. 5 AA).138 „Autonomia“ spricht dieses Dekret dann zwar dem Wortlaut nach der zeitlichen Ordnung als solcher zu (Art. 7 Abs. 2 AA), doch lässt der gesamte Text erkennen, dass Träger der Autonomie die Laien bei ihrem Wirken in der zeitlichen Ordnung sind.139 Die Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute „Gaudium et spes“ vom 7.12.1965 spinnt diese Gedanken noch weiter, wenn sie in Art. 36 und Art. 41 die richtige Autonomie von der falschen abhebt und sie sowohl den irdischen Wirklichkeiten bzw. der Schöpfung zuspricht als auch dem Menschen, der diese gebraucht. Ferner nimmt die Kirche zur Kenntnis, dass die geänderten politischen Strukturen auch Veränderungen bei der Ausübung der bürgerlichen Freiheit („libertatis civilis“) mit sich bringen (Art. 73 Abs. 1 GS) und sie achtet und fördert selbst die politische Freiheit der Bürger („politicam civium libertatem“) und ihre Verantwortlichkeit (Art. 76 Abs. 3 GS). Das Menschenbild der Pastoralkonstitution kennt eine vertikale und eine horizontale Dimension: Der Mensch im Verhältnis zu Gott, von dem er seine unveräußerliche Würde empfängt und der Mensch als Person in der Gesellschaft.140 Manchmal verwendet das Konzil die Begriffe „libertas civilis“ bzw. „libertas civium“ auch einfach, um staatliche Grundrechte der Bürger zu bezeichnen, ______________ 138

Vgl. Klostermann, LThK2-Konzilskommentar Bd. II, 621.

139

Auch nach Martín de Agar ergibt sich aus Art. 7 AA das Recht Laien auf Freiheit in den zeitlichen Dingen (Ambito temporale, 128). 140

Losinger, Iusta Autonomia, 192.

II. Die individuelle bürgerliche Freiheit in der Kirche

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wie etwa in Art. 6 Abs. 1 GE und in der Überschrift von DH. Das ist jedoch nicht gemeint, wenn in der vorliegenden Arbeit von der bürgerlichen Freiheit der Gläubigen die Rede ist. Hier geht es vielmehr um eine von der Kirche anerkannte Freiheit der Gläubigen, den Rechtsraum in Anspruch zu nehmen, der ihnen als Bürger nach weltlichem Recht zusteht. In nachkonziliaren Verlautbarungen kehrt mehrmals der Gedanke wieder, dass es die Aufgabe der Laien sei, die irdischen Wirklichkeiten nach christlichen Grundsätzen zu gestalten, doch tritt der Aspekt, dass sie sich dabei ihrer Freiheit bzw. „iusta autonomia“ im Bereich des Zeitlichen erfreuen, in den Hintergrund.141 Allein die kirchlichen Gesetzbücher von 1983 und 1990 greifen ihn wieder voll auf und formulieren ihn sogar als Grundrecht.

4. Die individuelle bürgerliche Freiheit im Kodex von 1983 C. 227 CIC normiert das Recht auf individuelle bürgerliche Freiheit, dem die Pflicht zur Gestaltung der zeitlichen Dinge im Geist des Evangeliums nach c. 225 § 2 CIC korrespondiert, und fasst damit die Grundaussagen des Konzils zusammen.142 Es handelt sich dabei eindeutig um ein subjektives Grundrecht, das von der kirchlichen Autorität anerkannt, nicht zuerkannt wird. 143 Schwieriger ist die Frage zu beantworten, ob es allen Christgläubigen, oder nur den Laien zusteht. Auch Kleriker und Ordensleute werden vom weltlichen Gemeinwesen uneingeschränkt als dessen Bürger betrachtet, so dass es konsequent wäre, wenn die kirchliche Rechtsordnung auch ihnen die bürgerliche Freiheit garantieren würde. Sollte c. 227 CIC dies nicht tun, so wäre zunächst nach einer anderen Rechtsgrundlage zu suchen. Sonst bliebe nur die Feststellung, dass die individuelle bürgerliche Freiheit in der kirchlichen Rechtsordnung auf einen bestimmten Teil der Rechtsunterworfenen beschränkt ist und ______________ 141 Vgl. Nr. 81 PP (hier nur: „liberis consiliis“ [„freie Initiative“]), Nr. 48 OA (auch hier: „freie Initiative“), Nr. 39 de iustitia in mundo („Recht und Pflicht“), Nr. 80 Libertatis conscientiae (hier nur noch „eigene Initiative“), Nr. 47 SRS, Nr. 15 Christifideles Laici. Von der berechtigten Autonomie ist zwar in Nr. 11 CA die Rede, doch wird sie hier von den Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, nicht direkt von den Christen ausgesagt. 142

Vgl. Boekholt, Laie, 70; Martín de Agar, Ambito temporale, 136; Tondi della Mura, Testimonianza, 183. 143

Vgl. Martín de Agar, Ambito temporale, 137. Pree (Libertad, 251f.) qualifiziert es als subjektives öffentliches Recht, als kanonisches Grundrecht und als Freiheitsrecht. Im Sinne Aymans’ könnte man es als geistliches Freiheitsrecht bezeichnen (Braunbeck, Weltcharakter, 367).

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B. Christ und Bürger zugleich – der einzelne Mensch in Kirche und EU

daher nur eine teilweise Komplementarität zur Religionsfreiheit in der weltlichen Rechtsordnung besteht, die ja allen garantiert wird.

a) Die Berechtigten der bürgerlichen Freiheit In den Dokumenten des II. Vatikanischen Konzils: Die erwähnten Stellen des Zweiten Vatikanischen Konzils [Abschnitt B.II.3.] sind hinsichtlich der Rechtsträgerschaft noch nicht ganz klar. Die beiden Passagen von Lumen Gentium befinden sich zwar im Kapitel über die Laien, doch hat die Aussage über die Rechte und Pflichten in den beiden Rechtsordnungen (Art. 36 Abs. 4) die Gläubigen („fideles“) als Subjekt und die „iusta libertas“ in zeitlichen Dingen steht schlechthin allen („omnibus“) zu (Art. 37 Abs. 3 LG und Art. 9 Abs. 2 PO). Während der Begriff „Gläubige“ ohne Zweifel alle Stände umfasst, fällt die Auslegung von „alle“ etwas schwerer. Im voranstehenden Satz kommen sowohl die Laien als auch die Hirten (LG) bzw. die Priester (PO) vor, so dass „alle“ ohne weiteres als einschließend verstanden werden kann. Außerdem ist „alle“ in den unmittelbar vorausgegangenen Abs. 1 und 2 des Art. 37 LG jeweils in der Verbindung „alle Christgläubigen“ vorgekommen, um zu sagen, dass ein Recht bzw. eine Pflicht den Laien wie allen Gläubigen zusteht. Es liegt daher nahe, Abs. 3 im selben Sinn zu verstehen. Die beiden Passagen in Apostolicam Actuositatem (Art. 5 und 7) stellen natürlich den Laien in den Mittelpunkt, was aber durch das Thema dieses Dekrets bedingt ist. An den erwähnten Stellen von Gaudium et spes (Art. 36 und 41) ist allgemein von den Menschen die Rede, womit der Kreis der Betroffenen gegenüber den Christgläubgien von LG sogar noch ausgedehnt wird. Veränderungen bei der Ausübung der bürgerlichen Freiheit nach Art. 73 Abs. 1 GS berühren die Rechte und Pflichten aller („omnium“). Die Achtung und Förderung der politischen Freiheit der Bürger nach Art. 76 Abs. 3 GS vollbringt die Kirche unter anderem dadurch, dass sie alle Bereiche des menschlichen Handelns durch das Zeugnis der Christen („a christifidelibus“) erhellt. Insgesamt lässt sich bei aller Vielfalt der Konzilsstellen doch die Grundlinie erkennen, dass die bürgerliche Freiheit prinzipiell allen Christgläubigen zusteht, wenn auch die Laien besonders erwähnt werden. Die Grundrechtsträger in c. 227 CIC: Ein anderes Bild zeigt sich, wenn man auf c. 227 CIC blickt. Sowohl der Wortlaut „christifidelibus laicis“ als auch die systematische Stellung im Katalog der Rechte und Pflichten der Laien (cc. 224231 CIC) sprechen eindeutig für eine Beschränkung auf die Laien. Während der Kodexreform trat dies indessen noch nicht so klar zutage. In der Wendung „quae omnibus civibus competit“ fehlte ursprünglich das Wort „civibus“. Nun wurde befürchtet, dass „omnibus“ im Sinne von „omnibus christifidelibus“ verstanden werden könnte, weshalb fünf Konsultoren vorschlugen, „laicis“ an

II. Die individuelle bürgerliche Freiheit in der Kirche

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die Stelle von „omnibus“ zu setzen.144 Dieser Vorschlag wurde aber nicht umgesetzt. Stattdessen wurde dem „omnibus“ ein „civibus“ hinzugefügt, was sinnvoll ist, um klarzustellen, dass es sich um eine Freiheit handelt, die dem Menschen zukommt, insofern er Bürger ist. Später schlug ein Konsultor vor, den Canon überhaupt in den Katalog der Rechte und Pflichten aller Gläubigen zu verpflanzen, was aber abgelehnt wurde. 145 Was die Träger des Rechts betrifft, so nannte sie c. 525 des Schemas De Populo Dei schlicht „laicis“, doch wurde in c. 272 des Schemas 1980 ein „christifidelibus“ hinzugefügt mit der Begründung, dass die Norm sich nicht nur an die Laien, sondern an alle wende.146 Um dieser Intention aber wirklich Rechnung zu tragen, hätte „christifidelibus“ nicht neben, sondern an die Stelle von „laicis“ treten müssen. Die Formulierung „christifidelibus laicis“, wie sie schließlich in den CIC/1983 eingegangen ist, hebt sich zwar sprachlich von den meisten anderen Laienrechten in den cc. 224-231 CIC ab, die nur von „laici“ sprechen, doch ändert dies nichts daran, dass der Kreis der Grundrechtsträger auf die Laien beschränkt bleibt. Daher konnte in c. 402 CCEO, der sonst mit c. 227 CIC wörtlich übereinstimmt, der Ausdruck „christifidelibus“ ohne weiteres wieder wegfallen. In diesen zwei Canones findet die bürgerliche Freiheit aller Christgläubigen also keine Grundlage, doch möglicherweise ergibt sie sich aus anderen Quellen. Anderweitige Begründungen für die Rechtsträgerschaft aller Gläubigen: Ein erster Hinweis darauf, dass die bürgerliche Freiheit allen Gläubigen zusteht, liefert doch schon c. 227 CIC selbst. Zwar kann nicht bestritten werden, dass das „ius“, das dieser Canon verankert, nur im Hinblick auf die „christifidelisbus laicis“, also auf die Laien, anerkannt wird, doch daneben spricht derselbe Canon auch von einer „libertas, quae omnibus civibus competit“, also einer Freiheit, die allen Bürgern zukommt. Die Tatsache, dass der Vorschlag von fünf Konsultoren,147 hier „laicis“ einzufügen, bei der Kodexreform fallengelassen und stattdessen „civibus“ eingesetzt wurde, zeigt deutlich, dass gerade nicht eine Freiheit der Laien, sondern der Bürger, und zwar aller Bürger gemeint ist. Wer Bürger ist, bestimmt aber das weltliche Gemeinwesen selbst, und ohne Frage gehören auch Kleriker und Religiosen dazu. C. 227 CIC impliziert also, dass die bürgerliche Freiheit nicht nur den Laien zukommt; allein das Recht auf deren Anerkennung erhalten nur die Laien.

______________ 144

Comm 17 (1985) 175f.

145

Comm 17 (1985) 202.

146

Comm 13 (1981) 317.

147

Comm 17 (1985) 175f.

B. Christ und Bürger zugleich – der einzelne Mensch in Kirche und EU

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Ein zweiter Hinweis darauf, dass die bürgerliche Freiheit allen Gläubigen zusteht, ergibt sich, wenn man die mit ihr korrespondierende Pflicht in die Erwägung mit einbezieht. Diese ist in c. 225 § 2 CIC festgelegt,148 der jedoch die Träger dieser Pflicht nicht eigens benennt, so dass davon auszugehen ist, dass es sich um dieselben handelt, die auch Träger des Rechts und der Pflicht nach § 1 sind, nämlich die Laien wie alle Gläubigen („uti omnes christifideles“). Es bleibt aber eine gewisse Unsicherheit in dieser Interpretation, da der zweite Halbsatz von § 1 eine Beschränkung auf die Laien nahe legt. Die Lehre tendiert zu der Aussage, dass § 2 sich zwar nur auf die Laien bezieht, die umschriebene Pflicht aber im Grunde allen Gläubigen obliegt. 149 Dies ergibt sich aus Art. 31 Abs. 2 LG, der die Grundlage für c. 225 § 2 CIC bildet und ausdrücklich auch den Klerikern und Religiosen eine entsprechende Aufgabe zugesteht, sowie aus c. 222 § 2 CIC, der die Sorge um die soziale Gerechtigkeit allen Christgläubigen zur Aufgabe macht. Mit der Klausel „jeder gemäß seiner eigenen Stellung“ („secundum propriam condicionem“) liefert c. 225 § 2 CIC auch selbst einen Ansatzpunkt dafür, dass er als Gemeinpflicht zu verstehen ist. Den Ausschlag zugunsten dieser Interpretation gibt schließlich die Parallelstelle des c. 401 CCEO, der die entsprechende Pflicht insbesondere („imprimis“) den Laien zuweist, und damit klarstellt, dass nicht nur diese erfasst sind. Da aber eine Pflicht immer auch ein entsprechendes Recht voraussetzt, ist zu schließen, dass auch dieses im vorliegenden Fall nicht den Laien vorbehalten sein kann. Ein drittes Argument für die Rechtsträgerschaft aller Gläubigen lässt sich schließlich aus dem Katalog der Rechte und Pflichten der Kleriker 150 (cc. 273289 CIC) gewinnen. Dieser enthält freilich keine ausdrückliche Verankerung der bürgerlichen Freiheit, sondern listet im Gegenteil eine Reihe von Tätigkeiten des weltlichen Bereichs auf, die Klerikern verboten sind, wie etwa die Übernahme öffentlicher Ämter mit Hoheitsgewalt (c. 285 § 3), die Verwaltung fremden Vermögens und die Übernahme von Bürgschaften (c. 285 § 4), Gewerbe und Handel (c. 286), Aktivitäten in politischen Parteien und Gewerkschaften (c. 287 § 2) sowie der Militärdienst (c. 289). Eine solche Auflistung von Verboten kann aber nur auf den ersten Blick den Eindruck erwecken, es bestehe keine Freiheit. Denn in Wirklichkeit setzt eine solche Regelungstechnik implizit voraus, dass das, was nicht aufgezählt wird – und das ist weitaus das meiste –, erlaubt ist. So paradox es auch klingen mag, gerade diese Verbote implizieren, dass es außerhalb von ihnen grundsätzlich auch für Kleriker eine bürgerliche Freiheit gibt, etwa die Freiheit, öffentliche Ämter ohne Hoheitsge______________ 148

Vgl. Braunbeck, Weltcharakter, 168.

149

Vgl. Aymans / Mörsdorf, Lehrbuch II, 117; Reinhardt, c. 225, Rn. 4.

150

Ständige Diakone sind davon ausgenommen, sofern das Partikularrecht nichts anderes bestimmt (c. 288 CIC).

II. Die individuelle bürgerliche Freiheit in der Kirche

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walt anzunehmen, eigenes Vermögen zu verwalten oder bloßes Mitglied in Parteien und Gewerkschaften zu sein. In ähnlicher Weise ist das bei der Kodexreform151 immer wieder gegen die Ausweitung auf ein Gemeinrecht vorgebrachte Argument, dass Kleriker und Ordensleute in ihrer bürgerlichen Freiheit Beschränkungen unterliegen, im Grunde ein Eingeständnis, dass ihnen eine solche sehr wohl zukommt. Denn Beschränkungen bedeuten nicht, dass eine bestimmte Freiheit nicht besteht, sondern setzen gerade voraus, dass es etwas gibt, das beschränkt werden kann. 152 Aber auch bei den verbotenen Tätigkeiten ist – ausdrücklich oder nicht153 – die Möglichkeit einer Dispens gegeben. Darüber hinaus gibt es Rechte im weltlichen Bereich, die allen Bürgern und damit auch Klerikern so selbstverständlich zukommen, dass sie im CIC gar nicht erst erwähnt werden, wie etwa das aktive Wahlrecht, das Recht, sich im eigenen Staat aufzuhalten und von ihm geschützt zu werden, die Teilnahme am rechtsgeschäftlichen Verkehr usw. Als Ergebnis dieser drei Argumentationen, das sich auch mit der Grundlinie des Konzils deckt, kann also festgehalten werden, dass die bürgerliche Freiheit grundsätzlich allen Christgläubigen zukommt und damit der religiösen Freiheit des weltlichen Bereichs hinsichtlich des personalen Geltungsbereiches tatsächlich komplementär ist. Allerdings unterliegt sie bei Klerikern stärkeren Einschränkungen, die sich aus ihrem Lebensstand ergeben. Bei den Laien erhält sie hingegen deswegen eine hervorragende Bedeutung, weil diesem Stand der Weltcharakter („indoles saecularis“) eigen ist, der es ihnen zur besonderen Aufgabe macht, die zeitlichen Dinge nach den Grundsätzen des Evangeliums zu gestalten. Was den Stand des geweihten Lebens betrifft, so ist zwischen den einzelnen Instituten zu differenzieren, die teils eine größere Weltnähe aufweisen wie die Säkularinstitute, teils eine geringere wie die Orden.154 ______________ 151

Vgl. Comm 17 (1985) 176 und 202.

152

Außerdem unterliegt jedes Grundrecht gewissen Beschränkungen. Auch für die Laien legen der zweite und dritte Teilsatz von c. 227 CIC Schranken fest. Ebenso wenig überzeugt das andere bei der Kodexreform vorgebrachte [Comm 17 (1985) 175f.] Argument, wonach das in Frage stehende Recht vor übermäßigen Eingriffen durch die Hierarchie schützen soll und deshalb nur den Laien zustehen könne. Denn in Wirklichkeit sollen sämtliche Grundrechte, auch jene aller Gläubigen, vor solchen Eingriffen schützen, was ja gerade ihr Zweck ist. Auch ein Kleriker ist der Hierarchie unterworfen und hat bürgerliche Rechte, wie etwa das aktive Wahlrecht, die von der kirchlichen Autorität nicht verletzt werden dürfen. 153

Pree hält auch bei c. 285 § 3 CIC, der als einzige dieser Normen keine Dispensbefugnis der kirchlichen Autorität erwähnt, eine solche aufgrund von c. 87 § 1 CIC für gegeben (Sendung, 377). 154

Vgl. Pree, Libertad, 241.

B. Christ und Bürger zugleich – der einzelne Mensch in Kirche und EU

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Die hier vertretene vermittelnde Position fügt sich in das in der Lehre vertretene Meinungsspektrum ein, das kaum Extrempositionen kennt. Reinhardt erinnert daran, dass der Weltcharakter den Laien nach Art. 31 Abs. 2 LG nur vorzugsweise, aber nicht ausschließlich zukommt, und kritisiert, dass das Recht des c. 227 CIC nicht auf alle Christgläubigen ausgedehnt ist. 155 Nach Braunbeck muss auch Klerikern jene Freiheit gewährleistet sein, die allen Bürgern zukommt, obwohl für sie besondere Beschränkungen gelten.156 Barr zufolge besitzen auch Klerus und Religiosen die bürgerlichen Rechte, aber ihre Ausübung ist durch ihren besonderen Dienst eingegrenzt.157 Für Martín de Agar gehört die Freiheit nach c. 227 zwar nicht zum Status der Kleriker und Ordensleute, doch kommt sie ihnen sehr wohl zu, wenn sie mit Erlaubnis ihrer Oberen Verantwortung für zeitliche Dinge übernehmen. 158 Pree weist darauf hin, dass c. 227 ein ausschließliches Laienrecht beinhaltet und dass Priester die Weltlichkeit auf ihre Weise verwirklichen.159

b) Die Verpflichteten der bürgerlichen Freiheit C. 227 CIC sagt nichts darüber, wer verpflichtet ist, das Recht auf bürgerliche Freiheit anzuerkennen.160 Wie bei allen kirchlichen Grundrechten liegt die Verpflichtung in erster Linie bei der Hierarchie. Die Konzilsdokumente nennen an denselben Stellen, wo sie die bürgerliche Freiheit bekräftigen, meist auch gleich die Verpflichteten: Art. 37 Abs. 3 LG erlegt die entsprechende Pflicht den geweihten Hirten der Kirche auf, Art. 24 AA der Hierarchie und Art. 9 Abs. 2 PO den Priestern. Im CIC ging dieser unmittelbare Zusammenhang leider verloren, weil die entsprechende Norm, c. 275 § 2 CIC, in den Katalog ______________ 155

Reinhardt, in: MKCIC, c. 225, Rn. 4; ders., in: MKCIC, c. 227, Rn. 1 und 3; ders., in: MKCIC, vor c. 224, Rn. 5. 156

Braunbeck, Weltcharakter, 192. Außerdem gibt sie zu bedenken, dass die Einschränkungen auch für jene Laien gelten, die für kirchliche Ämter und Aufgaben herangezogen werden (ebd. 326). 157

Barr, c. 227, 295.

158

Martín de Agar, Ambito temporale, 139.

159

Pree, Libertad, 240; Fn. 45; 253. Auch nach der hier vertretenen Auffassung ist das Recht nach c. 227 CIC den Laien vorbehalten. Die bürgerliche Freiheit der übrigen Stände ist beschränkt und ergibt sich aus anderen Überlegungen. 160

Allein aus den Diskussionen bei der Kodexreform geht hervor, dass ein Recht intendiert war, das sich an die kirchliche Autorität bzw. an die Hierarchie richtet [Comm 17 (1985) 175]. Als ein Konsultor vorschlug, zu spezifizieren, dass der Anspruch gegen die geweihten Hirten bestehe, hielt ihm der Sekretär entgegen, dass er nicht nur gegen diese, sondern gegen alle in der Kirche bestehe [Comm 17 (1985) 201].

II. Die individuelle bürgerliche Freiheit in der Kirche

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der Rechte und Pflichten der Kleriker eingefügt wurde. Aus ihr ergibt sich für die Kleriker sowohl eine Unterlassungspflicht („agnoscant“) als auch eine positive Förderungspflicht („promoveant“).161 Sie dürfen die Wahrnehmung der bürgerlichen Freiheit demnach nicht nur nicht behindern, sondern sie müssen auch einen aktiven Beitrag dazu leisten.162 Ähnliche Pflichten erlegt c. 529 § 2 CIC speziell dem Pfarrer auf, doch ist der Bezug dieser Norm zu c. 227 CIC schwächer, weil sie nicht ausdrücklich von der Sendung in der Welt spricht. Der Pfarrer ist aber ohnehin schon in c. 275 § 2 CIC miterfasst.163 Eine entsprechende Verpflichtung der Kirche als solcher, die bürgerliche Freiheit zu achten, ergibt sich auch aus c. 747 § 2 CIC, der ihre Verkündigungskompetenz in zeitlichen Dingen auf den Bereich der Grundrechte und des Seelenheils beschränkt.164 Nur in zweiter Linie sind alle Gläubigen Verpflichtete von c. 227 CIC, nämlich insofern als die Ausübung dieses Rechts durch die einen die Ausübung durch andere nicht behindern darf (c. 223 § 1 CIC). Außerdem dürfen sie die eigene Meinung nicht für die Lehre der Kirche ausgeben (c. 227 CIC). Die Pflicht aller Gläubigen ist aber auf eine reine Unterlassungspflicht beschränkt.165

c) Schranken der bürgerlichen Freiheit Wie die anderen Grundrechte so kann auch die bürgerliche Freiheit nicht unbegrenzt ausgeübt werden, sondern unterliegt bestimmten im Gesetz festgelegten Schranken. Einige von diesen finden sich bereits in c. 227 CIC, dessen zweiter Teilsatz den Geist des Evangeliums und die Lehre der Kirche nennt. Der „spiritus evangelicus“ ist jedoch rechtlich schwer fassbar.166 Es kann nicht gemeint sein, dass bei jeder Tätigkeit im weltlichen Bereich die hohen Ideale ______________ 161

Die Bestimmung ist weit auszulegen (Reinhardt, in: MKCIC, c. 275, Rn. 6).

162

Das darf aber zu keinem Klerikalismus führen, der die Freiheit erst recht wieder einschränken würde (Caparros, in: ComEx, c. 227, 181f.). 163

Vgl. Paarhammer, in: MKCIC, c. 529, Rn. 4.

164

Vgl. Pree, Libertad, 271.

165

Pree, Libertad, 254. Nach Martín de Agar sind die aktiven Handlungspflichten unterschiedlich für die Hierarchie und für die anderen Gläubigen (Ambito temporale, 140). 166

C. 525 des Schema De Populo Dei erwähnte an dessen Stelle die „lex divina“ als Schranke. Diese ist zwar auch schwer fassbar, aber in der Kanonistik immerhin schon näher ausgeführt worden. Als Schranke braucht sie nicht eigens erwähnt werden, weil sie ohnehin immer und überall einzuhalten ist.

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des Evangeliums erreicht werden müssen, weil diese damit zu Rechtsvorschriften gemacht würden, deren Einhaltung nie vollkommen geschehen kann. Vielmehr wird nur eine Bemühen („curent“) geschuldet, und der Ausdruck „Geist“ zeigt an, dass es nicht um konkrete Gebote der Evangelien geht. Präziser fassbar ist die Ausrichtung auf die Lehre der Kirche, 167 die in c. 212 § 1 CIC schon als Gemeinpflicht formuliert ist, wobei die unterschiedlichen Verpflichtungsgrade lehramtlicher Aussagen nach c. 750 und c. 752 CIC zu berücksichtigen sind. Bei den Tätigkeiten im weltlichen Bereich ist außerdem zu beachten, dass die Kompetenz des Lehramtes nach c. 747 § 2 CIC eingeschränkt ist. Die Hirten sollen in diesem Bereich nur Grundsätze und Hilfestellungen anbieten, während es die Sache der Laien ist, unmittelbar und entschieden aus ihrer spezifischen Sachkenntnis und in eigener Verantwortung zu handeln (Art. 7 Abs. 4f. AA).168 Der dritte Teilsatz von c. 227 CIC warnt die Laien davor, in Fragen, die der freien Meinungsbildung unterliegen, die eigene Ansicht als Lehre der Kirche auszugeben. Diese Formulierung ist klarer als jene von c. 525 Schema De Populo Dei, die aus Art. 43 Abs. 3 GS stammt und dort in einem anderen Satzzusammenhang passend ist. Danach dürfte man die kirchliche Autorität nicht ausschließlich für sich und seine eigene Meinung in Anspruch nehmen. Das eigentliche Problem liegt aber weder in der Ausschließlichkeit noch darin, dass Laien sich auf die kirchliche Autorität stützen – das dürfen sie sehr wohl –, sondern darin, dass sie vorspiegeln, etwas sei Lehre der Kirche, was in Wirklichkeit nur eigene Meinung ist. Art. 43 Abs. 3 GS kann aber zur Klärung des Begriffs der „quaestiones opinabiles“ herangezogen werden. Es handelt sich dabei um Fragen, bei denen verschiedene Christen trotz gewissenhafter Orientierung an den christlichen Grundsätzen legitimerweise zu abweichenden Urteilen kommen können. Über die Schranken des c. 227 CIC hinaus ist auch die generelle Schrankenklausel des c. 223 CIC zu beachten.169 Systematisch ans Ende des Katalogs der ______________ 167

Diese Schranke stand in der Diskussion zur Kodexreform schon früh außer Zweifel [vgl. Comm 17 (1985) 175]. Sie machte auch den Zusatz „iusta“ bei „libertas“ unnötig [vgl. Comm 17 (1985) 201]. 168

Bausenhart (LthK3-Konzilskommentar, Bd. IV, 66) spricht hier von einer „innerkirchlichen Arbeitsteilung“ zwischen Lehramt und Laien. 169 Reinhardt betrachtet diese Bestimmung hingegen eher nicht als Schrankenregelung, weil es nicht um die Rechte selbst, sondern nur um deren Ausübung geht und weil die Formel „restringere“, die noch in der LEF vorgesehen war, nicht in den Codex übernommen wurde (MKCIC, c. 223, Rn. 1 und 4). Martín de Agar liest c. 223 § 2 CIC sogar als Pflicht der Kirche, das Recht nach c. 227 CIC zu schützen (Ambito temporale, 138).

II. Die individuelle bürgerliche Freiheit in der Kirche

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Rechte und Pflichten aller Gläubigen (cc. 208-223 CIC) gestellt, scheint sie sich zwar nur auf diesen zu beziehen, doch spricht der Wortlaut allgemein von Rechten der Christgläubigen.170 C. 223 CIC enthält zwei Schranken. Jene des Gemeinwohls („bonum commune“) der Kirche bleibt ziemlich unbestimmt und lässt einen weiten Ermessensspielraum.171 Zwar wird auch in Art. 7 DH das Gemeinwohl als Schranke eines Grundrechts angeführt, doch handelt es sich dabei um die Religionsfreiheit gegenüber dem Staat und somit um das Gemeinwohl des Staates, so dass daraus nichts für die Interpretation des c. 223 CIC zu gewinnen ist. Das Gemeinwohl der Kirche ist vielmehr von ihrem Zweck als Heilsgemeinschaft her zu verstehen. Es umfasst auf jeden Fall die Wahrung der Gemeinschaft mit der Kirche (vgl. c. 209 § 1 CIC), geht aber darüber hinaus und kann in bestimmten Fällen auch bedeuten, auf die Ausübung eines Rechts ganz zu verzichten.172 Die zweite Schranke des c. 223 CIC bilden die Rechte anderer bzw. die eigenen Pflichten gegenüber anderen. Solche Klauseln, die auch bei weltlichen Grundrechten üblich sind, sollen in Kollisionsfällen einen Ausgleich zwischen verschiedenen Grundrechten ermöglichen und das rechtsmissbräuchliche Ausspielen eigener Rechte gegen jene anderer unterbinden.173 C. 223 § 2 CIC ermöglicht es der kirchlichen Autorität, die Ausübung der Rechte im Hinblick auf das Gemeinwohl zu regeln, ohne jedoch für solche Regelungen die Gesetzesform vorzuschreiben. Großteils enthält der CIC selbst schon solche Regelungen. Im Hinblick auf die bürgerliche Freiheit sind besonders der Gehorsam gegenüber der kirchlichen Lehre (cc. 750-752 CIC) sowie die Verbote bestimmter Tätigkeiten für Kleriker (cc. 285-289 CIC) zu nennen. Für die Regelungskompetenz der kirchlichen Autorität enthält c. 223 § 2 CIC bedauerlicherweise keine Begrenzung, doch ist auf jeden Fall das ius divinum zu respektieren, in dem einzelne Grundrechte wurzeln.174 Außerdem findet die Regelungskompetenz ihre Grenze in den Rechten selbst, so dass sie nicht zu ihrer Aushöhlung führen darf,175 sie hat das Verhältnismäßigkeitsprinzip zu ______________ 170

Auch nach Aymans / Mörsdorf (Lehrbuch II, 114) bezieht sie sich nicht nur auf die Gemeinrechte, sondern betrifft die subjektiven Rechte schlechthin. Pree (Libertad, 268) führt c. 223 CIC unter den Schranken von c. 227 CIC an. 171

Barwig, Geltung, 290f.

172

Reinhardt, in: MKCIC, c. 223, Rn. 3.

173

Vgl. Aymans / Mörsdorf, Lehrbuch II, 114: „Kampfmittel des persönlichen Egoismus“. 174 175

Vgl. Barwig, Geltung, 292.

Aymans / Mörsdorf (Lehrbuch II, 115) scheinen hier die deutsche Wesensgehaltstheorie im Blick zu haben. Eine ausdrückliche Wesensgehaltsklausel fehlt allerdings (Puza, Menschenrechte, 167).

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achten, wie es sich aus dem Rechtsprinzip der aequitas canonica (cc. 19 und 1752 CIC) ergibt,176 und die Begrenzungen der Freiheit müssen notwendig sein177. Gewiss sind noch weitere Schranken der bürgerlichen Freiheit denkbar. Die Glaubenskongregation erwähnt die ethischen Forderungen des natürlichen Sittengesetzes.178 Martín de Agar nennt die öffentliche Ordnung und meint damit die communio in Sachen des Glaubens, der Gebräuche, der Sakramente und der Disziplin.179 Es darf jedoch nicht zu einer beliebigen Vervielfachung der Schranken kommen.

5. Inhalte der individuellen bürgerlichen Freiheit Den Bereich der bürgerlichen Freiheit beschreibt c. 227 CIC mit „Angelegenheiten des irdischen Gemeinwesens“ („in rebus civitatis terrenae“). Obwohl „civitas“ an anderen Stellen im CIC (z.B. c. 362 und c. 364 ° 7) „Staat“ bedeutet, können hier nicht nur das Staatswesen und die Politik gemeint sein, sondern alles, was unter die weltliche und nicht die kirchliche Rechtsordnung fällt. Die Bezugsstellen im Zweiten Vatikanischen Konzil sprechen entweder von der civitas terrestris (Art. 37 Abs. 3 LG) oder von den res terrenae (Art. 36 Abs. 2 GS).180 Die letztgenannte Stelle beschreibt das Gemeinte noch näher als die geschaffenen Dingen und Gesellschaften, die ihre eigenen Gesetze und Werte haben und vom Menschen erkannt, gebraucht und gestaltet werden. Im Folgenden sollen einige Aspekte der „irdischen Angelegenheiten“ aus den Lebensbereichen Familie, Beruf und Politik dargestellt werden, die speziell im Hinblick auf die Europäische Union relevant werden. Das Hauptaugenmerk wird dabei auf die Komplementarietät der beiden Rechtsordnungen gelegt, also auf die Frage, wie weit das, was die Kirche als bürgerliche Freiheit anerkennt, mit dem zusammenpasst, was im weltlichen Bereich von der Europäischen Union geregelt wird. ______________ 176

Vgl. Pree, Generalia iuris principia, 40.

177

Martín de Agar, ambito temporale, 154.

178

Kongregation für die Glaubenslehre, Katholiken im politischen Leben, Nr. 5. Die moralische Dimension erwähnen auch Chiappetta, Codice, Rn. 1413 und Martín de Agar, Ambito temporale, 152. 179 180

Martín de Agar, Ambito temporale, 154.

Der CIC scheint beide Wendungen miteinander verknüpft zu haben. Art. 7 AA spricht hingegen von den res temporales.

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a) Familie Im Bereich der Familie tritt besonders die religiöse Erziehung der Kinder als Schnittpunkt zwischen kirchlichem und weltlichem Recht hervor. Im CIC sind das Recht und die Pflicht der Eltern zur Erziehung in c. 226 § 2 CIC festgelegt,181 also genau zwischen c. 225 § 2 und c. 227 CIC, was wohl den Zusammenhang mit der bürgerlichen Freiheit betonen soll.182 Erziehungsrecht und -pflicht der Eltern sind außerdem noch in c. 793 § 1 und c. 1136 CIC normiert.183 Auch wenn nicht mehr ausschließlich die Pflicht genannt wird wie in c. 1113 CIC/1917, so liegt das Schwergewicht doch auf ihr, zumal sie an allen drei Stellen vor dem entsprechenden Recht angeführt und teils noch durch den Zusatz „gravissimum“ hervorgehoben wird. Mit der Pflicht zur katholischen Erziehung ist die Pflicht zur katholischen Taufe verbunden (vgl. c. 867 § 1 CIC), deren Unterlassung nach cc. 1364-1369 CIC sogar strafbar ist.184 Auch dem Grundrecht aller Gläubigen, christlich erzogen zu werden (c. 217, vgl. auch c. 229 § 1 CIC) korrespondiert implizit die Pflicht der Eltern, sonstiger Gläubiger sowie der Kirche, diese Erziehung zu gewährleisten.185 Die Kirche selbst verpflichtet sich dazu ausdrücklich in c. 794 CIC.186 Das Recht der Eltern steht hingegen in jenen kirchlichen Aussagen im Vordergrund, die sich an die

______________ 181

Vgl. Weber, Sehnsucht, 35.

182

Davon abgesehen ist aber zu beklagen, dass c. 226 CIC die in c. 225 § 2 CIC normierte Pflicht und das damit korrespondierende Recht des c. 227 CIC auseinanderreißt. Im Schema De Populo Dei folgten c. 524 § 2 und c. 525 noch unmittelbar aufeinander. Überhaupt ist die Stellung des Elternrechts im Katalog der Laienrechte wegen der verheirateten Diakone kritisierbar (Reinhardt, in: MKCIC, c. 226, Rn. 1). Hier zeigt sich wie schon bei c. 227 CIC, dass „Laienrechte“ in gewissem Umfang durchaus auch Klerikern zustehen können. 183

Während c. 226 von christlichen Eltern die christliche Erziehung verlangt, fordert c. 793 § 1 von katholischen Eltern die katholische Erziehung und c. 1136 von den Eltern allgemein die religiöse Erziehung. 184

Vgl. Rees, Religionsunterricht, 183. Rees betont aber, dass die Strafe anders als im CIC/1917 nicht mehr von selbst eintritt und bei konfessionsverschiedenen Eltern nur dann verhängt werden kann, wenn der katholische Teil nicht das ihm mögliche tut. 185

Reinhardt spricht von einer Pflicht der Eltern sowie der ganzen Kirche (MKCIC, c. 217, Rn. 5). 186

Diese drei Aspekte, das Recht der Gläubigen, christlich erzogen zu werden, das Recht der Eltern, ihre Kinder religiös zu erziehen, und schließlich das entsprechende Recht der Kirche, hat Rees herausgearbeitet und zueinander in Beziehung gesetzt: Rees, Religionsunterricht, 182 und Katholische Schule, 371.

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weltliche Autorität wenden und es von dieser einfordern, wie Art. 5 DH, c. 793 § 2 CIC187 oder die Nr. 1 und 2 der Charta der Familienrechte188 von 1983. In spiegelbildlicher Weise stellen die weltlichen Rechtsordnungen das Recht der Eltern auf religiöse Erziehung der Kinder in den Vordergrund.189 Die europarechtlichen Normierungen des Art. 2 1.ZProt und Art. 14 Abs. 3 GRCH nennen sogar ausschließlich das Recht. Ein Recht des Kindes, religiös erzogen zu werden, das dann auch eine entsprechende Pflicht der Eltern einschlösse, ließe sich höchstens aus dem allgemeinen Recht auf Bildung ableiten.190 In der EMRK-Rechtsprechung dominiert ebenfalls das Recht der Eltern auf religiöse Erziehung der Kinder in Freiheit vor staatlicher Einflussnahme, 191 doch hat der EGMR auch schon eine entsprechende Pflicht192 der Eltern bejaht. Wenn demnach auch in beiden Rechtsordnungen sowohl das Recht als auch die Pflicht der Eltern verankert ist, so doch mit einer unterschiedlichen Schwerpunktsetzung, die im Sinne der gegenseitigen Ergänzung beider Rechtsordnungen durchaus angebracht ist. Das religiös neutrale weltliche Gemeinwesen kann die religiöse Erziehung nicht vorschreiben, sondern nur billigen. Es ist in erster Linie gehalten, die Eltern in ihrem Recht nicht zu beeinträchtigen und sie selbst es ausfüllen zu lassen. Umgekehrt fällt es der Kirche zu, als Glaubensgemeinschaft die religiöse Erziehung für ihre Gläubigen zur Pflicht zu erheben und das diesbezügliche Recht von der weltlichen Seite einzufordern. Ein besonderes Feld der religiösen Kindererziehung stellt die Schule dar. So haben katholische Eltern auch die Pflicht und das Recht, die für die katholische Erziehung geeigneten Mittel und Einrichtungen zu wählen (c. 793 § 1 CIC), unter denen die Schulen hervorragen (c. 796 § 1 CIC). Einerseits sollen die Eltern in der Wahl der Schule wirklich frei sein (c. 797 CIC), anderseits müssen ______________ 187

Diese Norm erweckt auf den ersten Blick den Eindruck, der kirchliche Gesetzgeber wolle den Staat zur Bereitstellung von Erziehungshilfen verpflichten, womit er das Trennungs- und Gleichordnungsprinzip verletzen würde. In Wirklichkeit spricht er den Eltern aber nur das Recht zu, solche zu nutzen. 188

Vgl. Filibeck, Universalità, 33.

189

Z.B. Art. 6 Abs. 2 GG (vgl. Weber, Sehnsucht, 22) und Art. 30 der italienischen Verfassung führen auch die Pflicht an. 190

Zudem schützt Art. 30 GRCH die Erziehung von Jugendlichen vor Beeinträchtigungen durch Arbeitstätigkeit. 191 EGMR, Nr. 5095/71, 5920/72, 5926/72, Kjeldsen, Rn. 53; Freiheit zu nichtreligiöser Erziehung in Bezug auf Art. 9 EMRK in EKMR, Nr. 10491/83, Angeleni, S. 48. Die Religion der Elternteile spielt keine Rolle bei der Zuweisung der Kinder: EGMR, Nr. 12875/87, Hoffmann (auf der Grundlage von Art. 8 i.V.m. Art. 14 EMRK). 192

EGMR, Nr. 5095/71, 5920/72, 5926/72, Kjeldsen, Rn. 52.

II. Die individuelle bürgerliche Freiheit in der Kirche

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sie ihre Kinder jenen Schulen anvertrauen, in denen eine katholische Erziehung erfolgt, oder wenigstens außerhalb der Schule für eine katholische Erziehung sorgen (c. 798 CIC). Im Zusammenspiel dieser beiden Normen zeigt sich erneut, dass das Recht der Wahlfreiheit hauptsächlich von der weltlichen Gesellschaft eingefordert wird (c. 797 CIC: „societas civilis“), während katholischerseits die Pflicht im Vordergrund steht (c. 798 CIC). Die Pflicht der Eltern, akatholische, neutrale oder gemischte Schulen zu meiden, die nach CIC/1917 bestand und sich noch im Schema EcclMunDoc fand, wurde in den CIC/1983 hingegen nicht aufgenommen. 193 Um den Eltern zu helfen, ihren Auftrag zur katholischen Erziehung zu erfüllen, nimmt die Kirche selbst das Recht in Anspruch, Schulen jeder Art zu führen (c. 800 § 1 CIC), und macht es dem Diözesanbischof zur Aufgabe, Schulen mit christlichem Geist zu gründen, wo es noch keine gibt (c. 802 § 1 CIC). Auf Seiten des Europarechts verankert Art. 14 Abs. 3 GRCH ausdrücklich die Freiheit zur Gründung von Lehranstalten,194 während in der zugrunde liegenden Norm des Art. 2 1.ZProt nur das Elternrecht garantiert wurde und EKMR sowie EGMR zögerten, daraus eine volle Privatschulfreiheit abzuleiten.195 Umso bemerkenswerter ist es da, dass die Europäische Union in ihrer GRCH sehr wohl die Privatschulfreiheit verankert und damit der katholischen Kirche im Sinne der Komplementarietät gerade jenes Recht zuerkennt, das diese braucht, um die Pflicht, die ihre eigene Rechtsordnung ihr und den katholischen Eltern auferlegt, unbehindert erfüllen zu können.196 Bemerkens______________ 193

Vgl. Rees, Religionsunterricht, 187.

194

Sie wird als Teil der unternehmerischen Freiheit gesehen (vgl. Fischer, Verfassungsvertrag, 234). 195

Im Fall Nr. 3798/68, Kirche X entschied die EKMR, dass eine bestimmte im Vereinigten Königreich registrierte Kirche nicht das Recht habe, als Bildungseinrichtung anerkannt zu werden, weil Art. 2 1.ZProt zwar das Recht gewährt, sich der vorhandenen Unterrichtsmittel zu bedienen, nicht aber diese auszuweiten oder anders zu organisieren. Im Urteil Kjeldsen erinnerte der EGMR zunächst daran, dass die Privatschulfreiheit, obwohl sie in der vorbereitenden Kommission erwogen wurde, nicht in Art. 2 1.ZProt aufgenommen wurde und dass der Pluralismus in der Erziehung vor allem durch staatlichen Unterricht herzustellen ist (Rn. 50), räumt dann aber ein, dass Privatschulen doch ein wichtiges Mittel sind, um Eltern die Freiheit der Erziehung zu ermöglichen (Rn. 54). 196

Art. 14 Abs. 3 GRCH behält es ausdrücklich den einzelstaatlichen Gesetzen vor, die Ausübung der Privatschulfreiheit zu regeln. Die Grundrechte der GRCH verleihen der EU keine neuen Zuständigkeiten und sind nur bei der Durchführung von EU-Recht beachtlich (Art. 51 GRCH). Da die EG im Bildungsbereich nur eine parallele Kompetenz besitzt (Art. 149f. EGV), zu der die Organisation des Bildungssystems gerade nicht gehört, werden sich die rechtlichen Wirkungen der Privatschulfreiheit eher in Grenzen

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wert ist außerdem, dass die Privatschulfreiheit sowohl im Europarecht als auch im Kirchenrecht aus dem Erziehungsrecht der Eltern abgeleitet wird.197 Die Privatschulfreiheit nach Art. 14 Abs. 3 GRCH steht unter dem Vorbehalt der Achtung der demokratischen Grundsätze. Das kann heißen, dass diese Grundsätze von der politischen Autorität bei der Anerkennung von Privatschulen zu achten sind oder von den Privatschulen selbst als Voraussetzung für ihre Anerkennung. Im ersten Fall bedeutet Demokratie vor allem ein pluralistisches Bildungssystem, in dem der Staat kein Schulmonopol besitzt, sondern ohne Diskriminierung möglichst viele nichtstaatliche Schulträger anerkennen soll. Dies kommt dem Bildungsauftrag der katholischen Kirche sehr entgegen, die von der weltlichen Gewalt selbst ein plurales Schulwesen ohne staatliche Einheitsschule fordert.198 Im zweiten Fall sind demokratische Grundsätze in der Schule selbst zu verwirklichen. Sofern damit die Mitwirkung von Eltern und Schülern gemeint ist, handelt es sich um Grundsätze, die von katholischen Schulen schon allein aufgrund des Kirchenrechts zu berücksichtigen sind. Die Zusammenarbeit zwischen Eltern und Lehrern wird nämlich von c. 796 § 2 CIC eingemahnt, und die Berücksichtigung der Schüler ergibt sich aus dem Grundrecht jedes Gläubigen auf eine christliche Erziehung, die ihm angemessen ist (c. 217 CIC). Die Achtung demokratischer Grundsätze darf hingegen nicht dazu führen, dass katholische Schulen ihre konfessionelle Bindung und damit letztlich sich selbst aufgeben müssten, denn ein plurales Bildungssystem lebt gerade davon, dass es verschiedene weltanschaulich geprägte und nicht lauter weltanschaulich neutrale Schulen gibt. Die Aufnahme nichtkatholischer Schüler, wird von den katholischen Schulen unterschiedlich gehandhabt 199 und

______________

halten. Es wird sie aber doch geben wie etwa bei der Förderung und grenzüberschreitenden Zusammenarbeit von Bildungseinrichtungen, die sehr wohl in die Kompetenz der EG fällt. Darüber hinaus darf auch die nicht-rechtliche Signalwirkung der GRCH für die Mitgliedstaaten nicht unterschätzt werden. 197

Daneben kann sie in einzelnen Staaten ohne weiteres aus staatskirchenrechtlichen Verbürgungen wie dem Art. 137 Abs. 3 WRV abgeleitet werden, doch erscheint auf europäischer Ebene eine Begründung durch die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als eher schwierig (Baldus, Schulen, 54-56). 198 199

Art. 5 DH; vgl. Rees, Religionsunterricht, 185.

Nach Nr. 62 Erga Migrantes können katholische Schulen durchaus andersgläubige Kinder aufnehmen. Dabei müssen die Schulen deren Ernährungsvorschriften beachten und dürfen sie nicht zu katholischen liturgischen Veranstaltungen verpflichten. Anderseits darf dadurch die besondere Eigenheit der katholischen Schulen und ihr christlich orientiertes Erziehungskonzept nicht verleugnet werden.

II. Die individuelle bürgerliche Freiheit in der Kirche

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unterliegt auch unterschiedlichen Regelungen der Mitgliedstaaten.200 Das EGRecht jedenfalls verpflichtet sie grundsätzlich nicht dazu, denn die Antidiskriminierungs-RL 2000/78/EG betrifft nur die berufliche Bildung (Art. 3 Abs. 1 lit. b), und selbst dort, wo katholische Schulen berufsbildend sind, wäre das Kriterium der Religionszugehörigkeit sachlich rechtfertigbar.201 Was die finanzielle Seite der katholischen Schulen betrifft, so bedeutet das Grundrecht auf unentgeltlichen Pflichtschulunterricht nach Art. 14 Abs. 2 GRCH nicht, dass auch die Privatschulen nach Abs. 3 unentgeltlich sein müssen. Denn es genügt, wenn wenigstens eine kostenfreie Schulart zur Verfügung steht. In seiner Entschließung „Zur Freiheit der Erziehung“ bekräftigt das Europäische Parlament das Recht aller Kinder und Jugendlichen auf Erziehung ohne Diskriminierung ihrer religiösen Überzeugungen (Nr. I-2) und das Recht der Eltern, für ihre Kinder eine Schule zu wählen, wobei der Staat die dafür nötigen Einrichtungen öffentlicher oder freier Schulen ermöglichen muss (Nr. I-7)202 – auch durch finanzielle Zuschüsse (Nr. I-9). Der EGMR bejahte in Bezug auf Art. 2 1.ZProt, dass es in einem pluralen Bildungssystem Aufgabe des Staates ist, Privatschulen materiell zu unterstützen.203 Auch die Europäische Gemeinschaft kann nach Art. 149 Abs. 4 EGV finanzielle Fördermaßnahmen beschließen. Um Diskriminierungen zu vermeiden, kann sie die Zuwendungen davon abhängig machen, dass die mitgliedstaatliche Schulbehörde auch Privatschulen einbezieht, doch darf sie die Zuwendungen nicht von Zugeständnissen inhaltlicher Art ab hängig machen, weil sonst der Bildungspluralismus beein-

______________ 200

In Frankreich z.B. müssen Privatschulen, wenn sie einen Vertrag mit dem Staat eingehen wollen, sich verpflichten, die Schüler ohne religiöse Differenzierung aufzunehmen (Basdevant-Gaudemet, France, 171). 201

So Brenner, Kirchen, 59. Die Ausnahmebestimmung des Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie kann dazu allerdings nicht herangezogen werden, da diese nicht die Ausbildung, sondern nur die Berufstätigkeit betrifft. Sie gestattet das Kriterium der Religionszugehörigkeit also für die Auswahl der Lehrer, aber nicht der Schüler. Bei diesen wäre aber an eine Berufung auf die korporative Religionsfreiheit zu denken (vgl. Baldus, Schulen, 62). Nach Kehlen hingegen müssen in kirchlichen Berufsausbildungsstätten auch Konfessionsfremde studieren können, selbst wenn die Ausübung des zu erlernenden Berufs dann nach Art. 4 Abs. 2 dem Kriterium der Religionszugehörigkeit unterstellt werden kann (Antidiskriminierung, 176). 202 Nr. I-7: „Aufgabe des Staates kann es nicht sein, weder für konfessionsgebundene Schulen allgemein noch für Schulen einer bestimmten Konfession Empfehlungen zu geben oder sie zu bevorzugen, noch kann der Staat solche Empfehlungen oder Bevorzugungen zugunsten nicht konfessionsgebundener Erziehung vornehmen.“ 203

EGMR, Nr. 5095/71, 5920/72, 5926/72, Kjeldsen, Rn. 50.

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trächtigt würde. 204 Dass Privatschulen im Unterschied zu staatlichen meist nicht gratis sind, mag aus wettbewerbsrechtlicher Sicht zu bedauern sein, verletzt aber laut EGMR nicht das Erziehungsrecht, da von Eltern, die für ihre Kinder eine Schule mit einer ganz bestimmten Ausrichtung wünschen, ein gewisses Opfer verlangt werden kann.205 Die EGMR-Rechtsprechung, wonach der Staat Privatschulen zwar unterstützen soll, aber auch von den Eltern ein Beitrag abverlangt werden kann, stimmt insofern mit der kirchlichen Position überein, als diese eine Belastung der Eltern nur ablehnt, wenn sie ungerecht ist (Art. 5 DH), sehr wohl aber von der weltlichen Gesellschaft die Mittel erwartet, die für eine wirklich freie Schulwahl nötig sind (c. 797 CIC). Den konfessionellen Religionsunterricht an staatlichen Schulen berührt die Europäische Gemeinschaft mangels einschlägiger Kompetenz kaum. Eine Ausnahme bilden allerdings die Europäischen Schulen („scolae europeae“), die an zwölf Orten mit größeren Einrichtungen der EG gegründet wurden, um den Kindern der EG-Bediensteten unabhängig vom jeweiligen Sitzstaat eine mehrsprachige und multikulturelle Bildung nach einem einheitlichen Unterrichtsprogramm zu bieten.206 In diesen Schulen wird nach dem belgischen Modell ein konfessioneller Religionsunterricht als Pflichtfach gehalten, das jedoch nicht aufstiegsrelevant ist und in den ersten acht Schuljahren zwei Wochenstunden, in den letzen vier aber nur noch eine Wochenstunde einnimmt.207 Die Eltern haben die Wahl zwischen katholischer, protestantischer, orthodoxer, israelitischer und islamischer Religion oder nichtkonfessionellem Ethikunterricht. Im Rahmen einer Reform der Grundschule wird nun aber

______________ 204 Baldus, Schulen, 63f. Ein Überblick über die Mitgliedstaaten zeigt, dass eine stärkere staatliche Finanzierung oft, aber nicht immer auch eine stärkere Einmischung in das kirchliche Privatschulwesen impliziert (Ferrari / Ibán, Diritto e religione,116). 205

EGMR, Nr. 5095/71, 5920/72, 5926/72, Kjeldsen, Rn. 50.

206

Zurzeit über 16.000 Schüler an 12 Europäischen Schulen (Uccle, Woluwé, Ixelles, Mol, Bergen, Karlsruhe, München, Frankfurt, Varese, Alicante, Culham, Luxemburg) in 7 Ländern (Belgien, Niederlande, Deutschland, Italien, Spanien, Vereinigtes Königreich und Luxemburg); vgl. http://www.eursc.org [18.7.2005]. Wegen der komplizierten Kompetenzlage ist die Rechtsgrundlage kein Rechtsakt der EG, sondern ein internationaler Vertrag zwischen den Mitgliedstaaten und der EG: Vereinbarung über die Satzung der Europäischen Schulen vom 21.6.1994, in: ABl. Nr. L 212 vom 17.8.1994, S. 3. Die Europäische Kommission erhält danach Sitz und Stimme im „Obersten Rat“, dem zentralen Lenkungsgremium der Europäischen Schulen, und für Streitfragen ist ausschließlich der EuGH zuständig (vgl. Gruber, „Europäische Schulen“, 124f.). 207

Vgl. Berkmann, Europa-Recht, 2.e.

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erwogen, den Religionsunterricht zu einem unverbindlichen Freifach herabzustufen.208 Auf weiten Strecken sind das europäische und das kirchliche Erziehungsrecht tatsächlich komplementär.209 Die katholische Kirche ist in vielen EUStaaten die bedeutendste nicht-staatliche Schulträgerin. Dadurch dass die katholischen Schulen ungeachtet nationaler Grenzen überall dieselben Standards berücksichtigen müssen, die das universale Kirchenrecht vorgibt (z.B. c. 795; c. 803 § 2 CIC), gleichzeitig aber auch das jeweilige regionale Schulniveau als Mindestanforderung zu beachten haben (c. 806 § 2 CIC), leisten sie bereits jetzt eine Verknüpfung von Ortsverbundenheit und grenzüberschreitender Perspektive, wie sie auch die Bildungspolitik der Europäischen Gemeinschaft zum Ziel hat.210

b) Beruf Die Ausübung eines weltlichen Berufs ist in erster Linie mit dem Weltcharakter der Laien verbunden, aber auch bei den anderen Ständen nicht ausgeschlossen (Art. 31 Abs. 2 LG) und bei ständigen Diakonen (c. 281 § 3 CIC) und Mitgliedern von Säkularinstituten (c. 713 CIC) sogar üblich. Der Christ sieht in der Ausübung seines Berufs nicht nur eine Möglichkeit zum Erwerb des Lebensunterhalts, sondern auch eine Form der Nachfolge Jesu, die vom religiösen Leben nicht zu trennen ist (Art. 4 AA). Gerade in diesem Bereich macht er also von der bürgerlichen Freiheit nach c. 227 CIC Gebrauch,211 wobei er an den Geist des Evangeliums gebunden bleibt. Dass der Christ seine Arbeit tatsächlich gemäß seiner Spiritualität verrichten kann, wird auf Seiten der weltlichen Rechtsordnung der Europäischen Gemeinschaft durch das Verbot religiöser Diskriminierung bei Beschäftigung und Beruf geschützt (Art. 13 EGV und die RL 2000/78/EG), weil danach kein Arbeitnehmer aufgrund seiner religiösen ______________ 208

Vgl. Kuhn, Religionsunterricht, 8.

209

Eine grundsätzlich weite Übereinstimmung zwischen kirchlicher Lehre und Völkerrecht in Bezug auf die Kindererziehung attestiert auch Filibeck, Genitori, 32. 210

Daher müsste die katholische Kirche im Bildungssektor eine nicht zu vernachlässigende Partnerin für die Europäische Gemeinschaft sein. Ein Beispiel für die grenzüberschreitende Wirkung katholischer Erziehungstätigkeit ist das „projet éducatif“, ein pädagogisches Konzept, das im katholischen Privatschulwesen Frankreichs entwickelt und in anderen europäischen Ländern aufgegriffen worden ist (dazu: Baldus, Schulen, 55). 211

Vgl. Pree, Libertad, 257.

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Überzeugung abgelehnt werden darf. 212 Hier zeigt sich, dass die religiöse Nichtdiskriminierung im weltlichen Bereich eine Voraussetzung dafür ist, dass Christen die ihnen von der Kirche garantierte bürgerliche Freiheit tatsächlich voll wahrnehmen können. Damit wird dem Komplementärprinzip Genüge getan, auch wenn dies nicht das primäre Ziel des Diskriminierungsverbots sein mag. Dass Christen einem Beruf nachgehen können, wird auf Seiten der weltlichen Rechtsordnung durch das Grundrecht der Berufsfreiheit garantiert, im Europarecht namentlich durch Art. 1 Abs. 2 ESC und Nr. 4 der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte bzw. Art. 15 Abs. 1 GRCH. Damit entspricht das weltliche Recht dem in der katholischen Soziallehre naturrechtlich begründeten Prinzip des Rechts und der Pflicht jedes Menschen zu arbeiten (vgl. z.B. Art. 18 PT, Art. 67 Abs. 2 GS). Die in den Gründungsverträgen verankerten Ziele eines hohen Beschäftigungsniveaus und eines hohen Maßes an sozialem Schutz sowie des sozialen Fortschritts und des sozialen Zusammenhalts bzw. der Solidarität und der sozialen Gerechtigkeit (Art. 2 EGV, Art. 2 EUV, Art. I-3 Abs. 3 VVE) sowie die sozialen Grundrechte in Kapitel IV der GRCH wirken der Gefahr entgegen, dass die Europäische Union zu einem neoliberalen Wirtschaftsraum verkommt, in dem nicht mehr der Mensch, sondern der Profit im Mittelpunkt steht. Auch damit werden Forderungen der katholischen Soziallehre erfüllt, obwohl heute noch ziemlich offen ist, in welchem Verhältnis das liberale und das soziale Prinzip in der künftigen Union gemischt sein werden. Im Bereich von Beschäftigung und Beruf war von Anfang an die Arbeitnehmerfreizügigkeit das Haupttätigkeitsfeld der Europäischen Gemeinschaft. So haben nach Art. 39 EGV die Staatsangehörigen eines jeden Mitgliedstaats das Recht, eine Beschäftigung in jedem anderen Mitgliedstaat anzunehmen und sich dort aufzuhalten. Sogar in diesem Punkt konkretisieren sich Aussagen der kirchlichen Lehre. Denn Johannes Paul II. erinnerte schon früh an die wichtige Rolle der Internationalen Organisationen bei der dringend gebotenen Zusammenarbeit der Staaten auf dem Gebiet des Arbeitsrechts (Art. 18 Abs. 3 LE) und sprach speziell im Hinblick auf das Europa, das gerade die Spaltung durch den eisernen Vorhang überwunden hatte, von der völkerverbindenden Natur der Arbeit (Art. 27 CA). Einen häufigen Spannungsbereich zwischen kirchlicher und weltlicher Rechtsordnung im Bereich von Beschäftigung und Beruf stellt die Frage der Arbeitsruhe an Sonn- und Feiertagen dar. Die europarechtliche Seite dieses Themenkreises wurde bereits in Abschnitt B.I.6.a) behandelt. Was nun die ______________ 212

Nach Haering hat c. 227 CIC auch eine nach außen an die politische Autorität gerichtete Dimension, insofern diese den Christen keine geringere Freiheit zumessen darf als allen Bürgern (Haering, Rezeption, 70).

II. Die individuelle bürgerliche Freiheit in der Kirche

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kirchenrechtliche Seite betrifft, so sind die Gläubigen nach c. 1247 CIC verpflichtet, am Sonntag und an den gebotenen Feiertagen an der Messe teilzunehmen und sich der Arbeiten und Geschäfte zu enthalten, die den Gottesdienst, die dem Herrentag eigene Freude oder die notwendige Erholung des Geistes und des Leibes behindern.213 Falls nun die weltliche Rechtsordnung die Arbeitsruhe nicht garantieren sollte, gerieten die Gläubigen in den Konflikt, nicht beiden Anforderungen zugleich gerecht werden zu können. Hier lässt sich das Wechselspiel von bürgerlicher und religiöser Freiheit besonders schön demonstrieren. Die bürgerliche Freiheit, die die Kirche ihren Gläubigen garantiert, soll es ihnen ermöglichen, ihr Leben im weltlichen Bereich nach dem weltlichen Recht möglichst ohne Konflikte mit dem kirchlichen zu gestalten, wozu auch die freie Berufsausübung gehört. Nun schränkt c. 1247 CIC die bürgerliche Freiheit hinsichtlich der Arbeitstätigkeit an Sonn- und Feiertagen aber ein, so dass sie ihre Funktion, Konflikte mit der weltlichen Rechtsordnung zu vermeiden, nicht mehr ganz erfüllen kann. Deshalb ist nun die weltliche Rechtsordnung gerufen, von sich aus ein Instrument zur Konfliktvermeidung bereitzustellen, und sie tut dies mit der religiösen Freiheit, die zur bürgerlichen Freiheit in der Kirche komplementär ist. Der Gläubige, dem das kirchliche Recht die bürgerliche Freiheit insofern beschneidet, als es ihm die Arbeit an Sonn- und Feiertagen verbietet, kann sich, um der Pflichtenkollision zu entgehen, vor dem weltlichen Recht auf seine religiöse Freiheit berufen, die den Besuch des Gottesdienstes und die Beachtung religiöser Gebräuche mit einschließt.214 Die weltliche Rechtsordnung kann aber die Religionsfreiheit ebenso beschränken wie die Kirche die bürgerliche Freiheit und die Arbeitsruhe nur hinsichtlich bestimmter Tätigkeiten, Orte oder Tage garantieren. Möglicherweise lässt sich die Pflichtenkollision des Gläubigen also doch nicht mit der Religionsfreiheit lösen, so dass der Ball wieder an die kirchliche Rechtsordnung zurückgespielt wird. Diese hat nun die Möglichkeit, das Sonn- und Feiertagsgebot zur Vermeidung des Normkonflikts abzumildern, indem sie es z.B. hinsichtlich bestimmter notwendiger und ununterbrechbarer Tätigkeiten zurücknimmt oder einzelne Feiertage aufhebt bzw. auf einen Sonntag verlegt (vgl. c. 1246 § 2 CIC). Das Beispiel der Sonntagsruhe zeigt also, dass sowohl die bürgerliche als auch die religiöse Freiheit dazu dienen, dem einzelnen Menschen, der Christ und Bürger zugleich ist, einen möglichst konfliktfreien Handlungsspielraum zu lassen. Wenn aber beide in einem bestimmten Punkt eingeschränkt werden, so kann dieser Spielraum sich rasch verflüchtigen und einer unlösbaren Pflichtenkollision Platz machen. Da sich diese zu Lasten des ______________ 213

Dass die Pflicht zum Messbesuch schwerer wiegt als die Arbeitsenthaltung wird durch den Ausdruck „obligatione tenentur“ im Unterschied zum Konjunktiv bei „abstineant“ ausgedrückt. 214

Vgl. Berkmann, Gewerbeausübung, 69-72.

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B. Christ und Bürger zugleich – der einzelne Mensch in Kirche und EU

einzelnen betroffenen Menschen auswirkt, ist zwischen den beiden Rechtsordnungen dringend ein Ausgleich zu suchen. Zurzeit sind kaum Einflüsse des EG-Rechts auf die Sonntagsruhe zu erwarten, da die EG nach mehreren EuGH-Urteilen keine diesbezügliche Kompetenz besitzt. Die bereits vorhandenen Ansätze in Art. 10 Abs. 2 der RL 94/33/EG und der Entschließung des Europäischen Paralaments zur Sonntagsarbeit deuten darauf hin, dass auch die Europäische Gemeinschaft die Sonntagsruhe, die ohnehin in allen Mitgliedstaaten mehr oder weniger stark geschützt ist, sehr wohl achten würde [vgl. oben Abschnitt B.I.6.a)].215 Schwieriger nimmt sich hingegen der Schutz der Feiertage aus, weil deren Anzahl und Termine von Land zu Land sehr unterschiedlich sind. Gerade bei den Feiertagen zeigt sich das Kirchenrecht aber ohnehin flexibler, zumal c. 1246 § 2 CIC die Möglichkeit der Verlegung oder Aufhebung vorsieht. 216 Wenn die Kirche damit dem einzelnen Menschen entgegenkommt, dem es schwer fiele, den Feiertag zu halten, so darf doch nicht übersehen werden, dass die Abnahme der Pflicht ihm auch die Möglichkeit nimmt, sich vor der weltlichen Autorität auf seine Religionsausübungsfreiheit zu berufen, denn nun gibt es ja kein religiöses Gebot mehr, das zu erfüllen wäre.

c) Politik Zu der Freiheit, die jedem Bürger zusteht (c. 227 CIC), gehört insbesondere die Freiheit politischer Betätigung und die Wahrnehmung der aus der Staatsbürgerschaft fließenden Rechte. Da die Europäische Union eine eigene Unionsbürgerschaft kennt, die jedem zukommt, der die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt (Art. 17 Abs. 1 EGV), fällt auch die Wahrnehmung der speziellen Unionsbürgerrechte unter die von der Kirche garantierte bürgerliche Freiheit. Eines der bedeutenderen dieser Rechte ist das Wahlrecht bei Kommu______________ 215

Als Gründe dafür werden die kulturellen, sozialen, religiösen und familiären Bedürfnisse genannt (Nr. 1 der Entschließung). Die kirchliche Lehre ist von einer ausschließlich religiösen Begründung der Sonntagsruhe (vgl. Art. 32 RN) zur Anerkennung auch familiärer, gesundheitlicher, kultureller und zwischenmenschlicher Gründe übergegangen (Art. 250 MM, Nr. 66 Dies Domini). Somit decken sich die europarechtlichen und kirchlichen Begründungen nun weitgehend, wenn auch das religiöse Motiv hier besonders hervorragt, dort aber nur eines neben anderen ist. 216

Umgekehrt kann die Kirche auch staatlich anerkannte Feiertage zu kirchlich gebotenen erheben, wie es in den deutschen Diözesen für die zweiten Feiertage zu Weihnachten, Ostern und Pfingsten geschah (Reinhardt, in: MKCIC, c. 1246, Rn. 3). Falls der Europafeiertag am 9. Mai also einmal zu einem arbeitsfreien Tag würde, könnte auch die Kirche ihn partikularrechtlich anerkennen.

II. Die individuelle bürgerliche Freiheit in der Kirche

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nalwahlen und bei den Wahlen zum Europäischen Parlament (Art. 19 EGV). Im Unterschied zu anderen Religionsgemeinschaften hält die katholische Kirche ihre Gläubigen nicht vom Wählen ab, sondern ermutigt im Gegenteil alle Staatsbürger, daran zu denken, zur Förderung des Gemeinwohls von Recht und Pflicht der freien Wahl Gebrauch zu machen (Art. 75 Abs. 1 GS). Mit dem Ausdruck „alle Staatsbürger“ sind ohne Frage auch Kleriker und Ordensleute erfasst. Die Kirche achtet die Freiheit der Wahl, indem sie keine anderen Empfehlungen abgibt, als die Förderung des Gemeinwohls zu beachten. Ihre Wertschätzung für die Europawahlen brachten die europäischen Bischofskonferenzen durch eine gemeinsame Erklärung anlässlich der Direktwahl des Europäischen Parlaments zum Ausdruck.217 Neben dem Wahlrecht umfasst die Unionsbürgerschaft noch weitere politische Rechte wie das Petitionsrecht oder das Recht, sich an den Bürgerbeauftragten zu wenden (Art. 21 EGV). Der Verfassungsvertrag bringt darüber hinaus die Möglichkeit einer europäischen Bürgerinitiative (Art. I-47 Abs. 4 VVE). Ganz allgemein ist auch auf die Grundrechte der Meinungsfreiheit (Art. 11 GRCH) und der Vereinigungsfreiheit (Art. 12 GRCH) zu verweisen.218 Alle diese Instrumente dienen der politischen Mitwirkung der einzelnen Bürger, wie sie von der Kirche gutgeheißen wird. Auch politische Ämter zu übernehmen und auszuüben, fällt unter die bürgerliche Freiheit, ist aber vornehmlich Sache der Laien. Priestern (c. 285 § 3 CIC) und Ordensleuten (c. 672 CIC) – nicht aber ständigen Diakonen219 und Mitgliedern der Säkularinstitute – sind öffentliche Ämter verboten, die eine Teilhabe an der weltlichen Gewalt mit sich bringen. Dabei muss es sich um Hoheitsgewalt handeln, wobei auch die bloße Teilhabe daran – wie etwa bei Abgeordneten – oder die Teilhabe an der Ausübung genügen.220 Anders als die cc. 285 § 4, 286 und 287 § 2 CIC enthält c. 285 § 3 CIC keine Ausnahmeregelung, doch bleibt die allgemeine Möglichkeit einer Dispens durch den Diözesanbischof nach c. 87 § 1 CIC erhalten.221 Weniger streng fällt das Verbot parteipolitischer und gewerkschaftlicher Funktionen nach c. 287 § 2 CIC aus. Verboten ist nämlich nicht schon die Mitgliedschaft – außer es handelt sich um verbotene ______________ 217

Thiede, Bischöfe, 107.

218

All das gehört auch zum Inhalt der bürgerlichen Freiheit nach c. 227 CIC (vgl. Martín de Agar, Ambito temporale, 146). 219

C. 288 CIC. Das Partikularrecht kann etwas anderes vorsehen. Die ÖBK erstreckt das Verbot sinnvollerweise auch auf hauptamtliche ständige Diakone [ABl. ÖBK 1 (1984) 7]. 220

Hingegen sind private Tätigkeiten als Arbeitgeber oder Vorstand eines privaten Vereins und beratende Tätigkeiten nicht verboten (Pree, Sendung, 374f.). 221

Ebd. 377.

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B. Christ und Bürger zugleich – der einzelne Mensch in Kirche und EU

Vereinigungen nach c. 278 § 3 CIC – sondern nur die aktive Tätigkeit in Parteien und die leitende Tätigkeit in Gewerkschaften. Außerdem sind hier Ausnahmen zu Gunsten der Rechte der Kirche und des allgemeinen Wohls möglich. Auch Laien können im politischen Leben nicht einfach nach Belieben handeln, sondern bleiben zumindest an die ethischen Forderungen des natürlichen Sittengesetzes gebunden.222 Die weltliche Rechtsordnung kann auf die kirchenrechtlichen Beschränkungen politischer Tätigkeiten in unterschiedlicher Weise antworten. Erstens kann sie selbst parallele Beschränkungen erlassen. Wenn eine weltliche Rechtsordnung Priestern die Übernahme öffentlicher Ämter ebenfalls verbietet, so ist dies nach einer Entscheidung der EKMR zulässig, weil die Religionsfreiheit davon gar nicht betroffen ist und die EMRK kein Recht auf öffentliche Ämter verleiht.223 Ein solches weltliches Verbot bestärkt zwar das kirchliche, doch beeinträchtigt es auch die Freiheit der Kirche, die Beschränkungen für Kleriker generell oder im Einzelfall wieder abzuschwächen. Zweitens kann die weltliche Rechtsordnung von einer Regelung überhaupt Abstand nehmen, wie es im EGRecht der Fall ist. Das passive Wahlrecht zum Europäischen Parlament steht z.B. nach Art. 19 Abs. 2 EGV ohne Ausnahme allen EU-Bürgern zu. Die politische Betätigung ist bei dieser Regelungstechnik für Kleriker verboten, aber eben nur nach kirchlichem Recht, was im Grunde ausreichen müsste. Drittens kann die weltliche Rechtsordnung Bürger in einigen Fällen zur Übernahme von bestimmten Funktionen verpflichten, wie etwa zum Amt der Schöffen und Geschworenen oder zum Militärdienst. Wenn dabei für Kleriker und Ordensleute keine Ausnahme vorgesehen ist, geraten diese in einen Konflikt mit den kirchlichen Verboten.224 Da die europäische Union aber keine solchen ______________ 222

Kongregation für die Glaubenslehre, Katholiken im politischen Leben, Nr. 5. Christen dürfen in demokratischen Gesellschaften aber nicht deswegen von der Politik ausgeschlossen werden, weil sie im Gewissen gebunden sind (ebd. Nr.6. Ebenso Johannes Paul II., Redemptor hominis, Nr. 17). Aufseiten der EU-Rechtsordnung wird dies grundsätzlich durch das Verbot religiöser Diskriminierung verbürgt, aber nicht immer eingehalten, wie der Fall Rocco Buttiglione gezeigt hat, der wegen seiner katholischen Überzeugungen vom Europäischen Parlament als Mitglied der Kommission Barroso abgelehnt wurde (vgl. Vorarlberger Kirchenblatt vom 24.10.2004, 7). 223

EKMR, Nr. 8493/79, Demeester, S. 213. In dieser Entscheidung ging es um einen Priester, der nach belgischem Recht daran gehindert war, Richter zu werden. Wenn schon der Staat mit einem solchen Verbot nicht gegen die Religionsfreiheit verstößt, dann erst recht nicht die Kirche. 224

Hier zeigt sich wieder dasselbe Wechselspiel zwischen der bürgerlichen und der religiösen Freiheit wie schon bei der Sonntagsruhe [Abschnitt B.II.5.b)]: Da die bürgerliche Freiheit eingeschränkt wird, geraten Gläubige in einen Konflikt mit weltlichen Verpflichtungen und müssten sich unter Berufung auf die Religionsfreiheit gegen diese

III. Irrelevanz der Religionszugehörigkeit in der EU

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verpflichtenden Ämter kennt – an den europäischen Gerichten gibt es keine Laienrichter und die Organisation des Militärs ist noch Sache der Mitgliedstaaten – entstehen hier keine diesbezüglichen Probleme. 225

III. Irrelevanz der Religionszugehörigkeit in der EU 1. Entwicklung des Diskriminierungsschutzes in der Europäischen Union Die Rechtsordnung erhebt den Menschen nicht nur zum Rechtssubjekt und setzt ihn in rechtliche Beziehungen zu anderen Menschen, sondern sie legt auch fest, ob zwischen den einzelnen Rechtssubjekten prinzipielle Gleichheit besteht. Diskriminierung hindert die Menschen, ihr Potential voll auszuschöpfen und sich persönlich zu entfalten. Für eine Rechtsordnung, die auf Demokratie und Menschenrechten aufbaut, stellt die rechtliche Gleichheit aller Menschen ein fundamentales Prinzip dar. Bei der Europäischen Union kommt noch hinzu, dass sie sich wesentlich als ein Integrationsprojekt versteht, dem nichts abträglicher sein könnte als die unterschiedliche Behandlung seiner Glieder, die es eigentlich zusammenführen will.226 Außerdem erkannte die Union, dass die Nichtdiskriminierung ein Politikbereich ist, in dem sie für den Einzelmenschen auf positive Weise wahrnehmbar wirken und damit das europäische Projekt vertrauenswürdiger machen kann, während andere Politikbereiche in der breiten Bevölkerung eher Misstrauen hervorrufen. Schließlich hat die Antidiskriminierungspolitik der Union aber auch handfeste wirtschaftliche und demographi______________

zur Wehr setzen. In den genannten Fällen macht die Kirche aber selbst Zugeständnisse, um Klerikern Normkonflikte zu ersparen. So verbietet es c. 289 § 1 den Klerikern nicht absolut, Militärdienst zu leisten, sondern nur, sich freiwillig dazu zu melden. Sie müssen also nur dann davon Abstand nehmen, wenn sie dadurch nicht in einen Konflikt mit der staatlichen Ordnung kommen, weil diese den Dienst ohnehin freistellt. Ähnliches gilt nach c. 289 § 2 CIC für öffentliche Ämter und Aufgaben: Nur wenn das weltliche Recht eine Befreiung von Klerikern vorsieht, müssen sie eine solche auch tatsächlich in Anspruch nehmen. Handelt es sich aber um öffentliche Ämter, die mit der Ausübung von Hoheitsgewalt verbunden sind, so kommt es nach c. 285 § 3 CIC auf eine Befreiungsmöglichkeit nicht an, so dass Kleriker durchaus in einen Konflikt zwischen dem kirchlichen Verbot und dem weltlichen Gebot kommen können. 225

Was die Zeugenaussage vor den europäischen Gerichten betrifft, so kennt das EGRecht zwar keine speziell auf das Beichtgeheimnis zugeschnittene Befreiung, wohl aber das Recht jedes Zeugen, die Aussage aus berechtigten Gründen zu verweigern (Art. 48 § 2 VerfO EuGH bzw. Art. 69 § 2 VerfO EuG). Bei entsprechender Handhabung dieser Klauseln dürften keine Konflikte mit dem Beichtgeheimnis auftreten (vgl. Berkmann, Verhältnis, 96). 226

Vgl. Dalla Torre, Primato, 287.

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B. Christ und Bürger zugleich – der einzelne Mensch in Kirche und EU

sche Gründe: Angesichts des Bevölkerungsrückgangs sollen möglichst alle vorhandenen Arbeitskräfte mobilisiert werden, um die Produktion zu steigern.227 Art. 12 EGV, der jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verbietet, gehört seit der Gründung der Gemeinschaft zu ihrem normativen Kernbestand, der für die Integration der verschiedenen Nationalitäten unabdingbar ist. Eine lange Tradition im EG-Recht hat auch das Verbot der Diskriminierung von Frauen und Männern (Art. 141 EGV). Was den Diskriminierungsgrund der Religion betrifft, so kam er schon früh und lange Zeit ausschließlich in Sekundärrechtsakten – wie etwa dem Beamtenstatut228 – vor, bis er mit dem Vertrag von Amsterdam 1997 über den neu geschaffenen Art. 13 EGV Eingang ins Primärrecht fand. Zu den Begründungen für Diskriminierungsverbote im Allgemeinen kommt im Falle der Religion noch eine spezielle hinzu, nämlich dass sich jedes säkulare Gemeinwesen eines inhaltlichen Urteils über Religionen strikt enthalten und folglich alle gleich behandeln muss.

2. Schutz vor religiöser Diskriminierung nach EUV und EGV Der EuGH hat einen allgemeinen Gleichheitssatz entwickelt, der aber nicht speziell auf den religiösen Bereich abzielt. Wie jedes Grundrecht lässt sich auch die religiöse Gleichbehandlung auf dem Wege des Art. 6 Abs. 2 EUV als allgemeiner Rechtsgrundsatz herleiten. Die dafür nötige Ausgangsbasis in den Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten bzw. in der EMRK ist aber schwächer als bei der Religionsfreiheit. Gewiss kennen alle Mitgliedstaaten das Gleichheitsprinzip, aber gerade in religiöser Hinsicht bevorzugen manche aus historischen Gründen eine bestimmte Religion.229 Das Diskriminierungsverbot nach Art. 14 EMRK ist wegen seiner Akzessorietät kein selbstständiges Grund______________ 227

Vgl. KOM (2005) 224 endg., 1. Einführung. Urlesberger stellt allerdings in Frage, ob mit Hilfe von Diskriminierungsverboten wirklich ein hohes Beschäftigungsniveau erzielt werden kann, denn aus dem Begriff der Diskriminierung geht bereits hervor, dass der Arbeitsplatz besetzt wurde, wenn auch nicht mit demjenigen, den die EG haben möchte (Von Gleichen, 74). 228 Dessen Verbot religiöser Diskriminierung in Art. 27 war eine der Rechtsgrundlagen im schon erwähnten (oben 2.2) EuGH-Urteil Prais (Rs. 130/75). Die Diskriminierungsverbote gehören zu jenen Rechtsvorschriften, in denen im EU-Recht sehr häufig von Religion die Rede ist, z.B. VO (EWG) Nr. 31/72 (EAG) Nr. 11/72, Art. 27 Abs. 2; VO (EWG, EGKS, EAG) Nr. 1860/76, Art. 23 Abs. 1; VO (EWG, EGKS, EAG) Nr. 1859/76, Art. 23, Abs. 1; VO (EG, EGKS, EAG) Nr. 781/98, Art. 1 Nr. 1f., Art. 2 Nr. 2; RL 97/67/EG Art. 5 Abs. 1; RL 2000/78/EG Art. 1; VO (EG, EAG) Nr. 723/2004, Anhang I 1.3 lit. a, 30 lit. b, Anhang II 45; VO (EG) Nr. 1698/2005 Art. 8. 229

Das will die EMRK nicht verbieten (Martínez-Torrón, Giurisprudenza, 357).

III. Irrelevanz der Religionszugehörigkeit in der EU

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recht. Nur wenn in einem konkreten Fall ein Konventionsgrundrecht betroffen ist, und nur in Verbindung mit diesem ist es anwendbar. Erst das 12. ZProt. brachte ein selbstständiges, nicht-akzessorisches Diskriminierungsverbot230 verknüpft mit der Förderung231 benachteiligter Gruppen. Es ist zwar am 1.4.2005 in Kraft getreten, wurde aber noch nicht von allen EU-Mitgliedstaaten unterzeichnet und ratifiziert und scheidet damit als Rechtserkenntnisquelle für prätorische Grundrechte aus. Im Bereich der UNO finden sich mehrere Verbote religiöser Diskriminierung: Art. 2 Abs. 1 AEM, Art. 2 Abs. 2 IPwskR und Art. 2 Abs. 1 IPbpR legen fest, dass die im jeweiligen Dokument verkündeten Rechte ohne Diskriminierung hinsichtlich der Religion gewährt werden. Diese Bestimmungen sind also akzessorisch. Ein selbstständiges Verbot religiöser Diskriminierung bringt hingegen Art. 26 IPbpR. Am 25.11.1981 verabschiedete die UN-Generalversammlung eine eigene Erklärung über die Beseitigung von Intoleranz und Diskriminierung aufgrund der Religion oder der Weltanschauung (Res. 36/55), die ebenfalls ein selbstständiges Verbot religiöser Diskriminierungen (Art. 2) sowie die staatliche Pflicht enthält, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen (Art. 4). Am 18.12.1992 folgte eine Erklärung über die Rechte der Minderheiten (Res. 47/135), die die religiöse Identität (Art. 1) und die Teilnahme am religiösen Leben schützt (Art. 2 Abs. 2). In Anlehnung daran sichert auch das Europäische Rahmenübereinkommen zum Schutz der Minderheiten vom 1.2.1995 (ETS 157) die religiöse Identität (Art. 5, 6 und 17), die Religionsfreiheit (Art. 7) und die Freiheit, religiöse Einrichtungen, Organisationen und Vereinigungen zu gründen (Art. 8). Unter all diesen Dokumenten sind nur die beiden UN-Menschenrechtspakte völkerrechtliche Verträge mit normativer Rechtskraft, die als Rechtserkenntnisquelle zur Findung prätorischer Grundrechte in der Europäischen Union in Frage kommen. 232 Das Europäische Rahmenübereinkommen konstatiert nur Grundsätze, die die Vertragsstaaten mit Mitteln ihrer Wahl umzusetzen haben. Im Primärrecht der EG selbst legt die Zielbestimmung des Art. 3 Abs. 2 EGV fest, dass die Gemeinschaft bei ihren Tätigkeiten darauf hinwirkt, Ungleichheiten zu beseitigen. Speziell religiöse Diskriminierungen spricht aber – ______________ 230

Vgl. Grabenwarter, Menschenrechtskonvention, § 26, Rn. 23.

231

Was Urlesberger kritisiert (Von Gleichen, 72).

232

Nach Margiotta Broglio erhalten die UN-Pakte und die Erklärung von 1981 für die Europäische Gemeinschaft Bedeutung über Art. 307 EGV (Margiotta Broglio, Fenomeno, 192). Dabei übersieht er aber, dass all diese Dokumente jünger sind als der EGV und mehrere EG-Mitgliedstaaten schon vor ihrer Anfertigung der EG beigetreten sind. Außerdem ist die Erklärung der UN-Generalversammlung kein Vertrag.

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B. Christ und Bürger zugleich – der einzelne Mensch in Kirche und EU

neben sieben weiteren Diskriminierungsgründen233 – nur Art. 13 EGV an. Dieser wurde 1997 durch den Vertrag von Amsterdam geschaffen und blieb bislang – abgesehen von Protokoll Nr. 33 – die einzige Stelle im EGV, an der das Wort „Religion“ vorkommt. Er enthält eine Ermächtigung an den Rat, AntiDiskriminierungsmaßnahmen zu ergreifen. Die Wendung „unbeschadet der sonstigen Bestimmungen dieses Vertrags“ deutet die Nachrangigkeit dieser Norm an.234 Dass der Rat nur „im Rahmen der durch den Vertrag auf die Gemeinschaft übertragenen Zuständigkeiten“ tätig werden darf, bedeutet, dass Art. 13 EGV der Gemeinschaft keine generelle Antidiskriminierungskompetenz verleiht, sondern nur in jenen Gebieten, wo der Vertrag hoheitliche Maßnahmen der EG zulässt (Akzessorietät).235 Nur wo sie schon anderweitige Rechtsetzungsbefugnisse besitzt, kann sie nun auch Antidiskriminierungsmaßnahmen setzen, nicht jedoch darüber hinaus. Als bloße Ermächtigungsgrundlage ist Art. 13 EGV aber kein Grundrecht und enthält kein unmittelbares Diskriminierungsverbot, er verleiht weder subjektive Rechte noch ist er direkt anwendbar.236 Vielmehr bleibt es dem Rat überlassen, ob er überhaupt Unternehmungen nach Art. 13 EGV verfolgt, ob er rechtliche Maßnahmen ergreift und welche Art von Rechtsakt er wählt.237 Als Mittel kommen alle geeigneten Vorkehrungen in Frage: Anregungen, Programme und rechtliche Diskriminierungsverbote. Für die Jahre 2001-2006 beschloss der Rat auf der Grundlage von Art. 13 EGV ein Aktionsprogramm (2000/750/EG) mit den Zielen, ein besseres Ver______________ 233

Die Aufzählung ist nach Flynn (Implications, 1150) nicht demonstrativ.

234

Flynn, Implications, 1133f; Reichegger, Auswirkungen, 32; Urlesberger, Von Gleichen, 73. 235 So Zuleeg, Art. 13 EGV, Rn. 12. Ähnlich eng interpretiert Streinz (Art. 13 EGV, Rn. 12) die Akzessorietät von Art. 13, was für ihn in der Formulierung begründet liegt, die von Art. 12 („im Anwendungsbereich“) abweicht. Margiotta Broglio deutet diesen Unterschied in der Formulierung hingegen gerade in umgekehrter Weise so, dass Art. 13 EGV weniger stark eingeschränkt sei. In Wirklichkeit aber spielt in der Europäischen Gemeinschaft als Integrationsprojekt die Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit immer eine größere Rolle als Diskriminierungen in anderen Bereichen. So liegt es nahe, dass der Anwendungsbereich von Art. 12 EGV weiter ist als jener von Art. 13 EGV. 236

Vgl. Flynn, Implications, 1132; Robbers, Verbot, 55; Streinz, Art. 13 EGV, Rn. 17; Vachek, Religionsrecht, 244; Weber, Religionsfreiheit, 279; Zuleeg, Art. 13 EGV, Rn. 2 und 5. Reichegger (Auswirkungen, 32) schließt eine unmittelbare Anwendung hingegen nicht aus. 237

Vgl. Zuleeg, Art. 13 EGV, Rn. 2. Nach Streinz (Art. 13 EGV, Rn. 18) sind hauptsächlich solche Maßnahmen zu ergreifen, die den Mitgliedstaaten einen möglichst großen Gestaltungsspielraum belassen, also Richtlinien.

III. Irrelevanz der Religionszugehörigkeit in der EU

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ständnis der Diskriminierungsproblematik zu fördern, die Fähigkeit zu entwickeln, gegen Diskriminierungen vorzugehen, und die grundlegenden Werte und Verfahren zu verbreiten (Art. 2). Unter den Richtlinien, die bislang auf der Grundlage von Art. 13 EGV erlassen wurden, bezieht sich die RL 2000/78/EG auch auf den Diskriminierungsgrund der Religion und zwar im Bereich von Beschäftigung und Beruf. Aber selbst aus dieser Richtlinie kann noch niemand subjektive Rechte ableiten, sondern erst aus den Rechtsvorschriften, welche die Mitgliedstaaten zu ihrer Umsetzung erlassen. Dabei können sie einen gewissen Gestaltungsspielraum ausnützen. Die Richtlinie legt jedoch auf jeden Fall fest, dass sie auch für Drittstaatsangehörige (12. Erwägungsgrund) und im öffentlichen wie im privaten Bereich gilt (Art. 3 Abs. 1).238 Sie sieht außerdem die Möglichkeit positiver Maßnahmen vor, um volle Gleichheit zu verwirklichen. Von weiteren Legislativvorschlägen sieht die Kommission vorerst ab, weil die ordnungsgemäße Anwendung des bestehenden rechtlichen Rahmens noch weitere Anstrengungen erfordert und weil wirtschaftliche sowie politische Vorbehalte geäußert wurden.239 Der Vertrag von Nizza hat dem Art. 13 EGV noch einen zweiten Absatz beigefügt, wonach der Rat auch gemeinschaftliche Fördermaßnahmen zur Bekämpfung von Diskriminierungen beschließen kann. Das erfordert im Unterschied zu Abs. 1 keine Einstimmigkeit, muss dafür aber jede Harmonisierungswirkung auf die Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten ausschließen. Von dieser Bestimmung sind auch positive Maßnahmen wie Quotenregelungen gedeckt, die, um einen Ausgleich zu schaffen, gezielt Menschen bevorzugen, die sonst benachteiligt werden.240

3. Religiöse Diskriminierung in der Charta der Grundrechte Einen weiteren Schritt zum Schutz vor Diskriminierungen bringt die Charta der Grundrechte von Nizza. Schon nach ihrer Präambel gründet sich die Union unter anderem auf den Wert der Gleichheit jedes Menschen, der mit ihrem ______________ 238 Dass sie auch im Verhältnis der Bürger untereinander gilt, wurde von der Lehre im Hinblick auf die Privatautonomie heftig kritisiert (vgl. Streinz, Art. 13 EGV, Rn. 23). Drittwirkung entfaltet allerdings nur die Richtlinie und nicht, wie Robbers meint, bereits Art. 13 EGV (Verbot, 57). 239 240

Mitteilung KOM (2005) 224 endg., Nr. 3.2.

Dies wird in der Lehre kritisch gesehen, da derartige positive Diskriminierungen zu noch größeren Problemen führen, indem sie die Mehrheit benachteiligen (Flynn, Implications, 1137).

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B. Christ und Bürger zugleich – der einzelne Mensch in Kirche und EU

geistig-religiösen und sittlichen Erbe in Verbindung gebracht wird. Art. 20 normiert dann einen allgemeinen Gleichheitssatz, dem in Art. 21 Abs. 1 ein differenziertes Diskriminierungsverbot folgt. Dieses enthält 16 Diskriminierungsgründe – darunter die Religion –, die größtenteils aus Art. 13 EGV, Art. 14 EMRK und dem 12. ZProt zusammengeführt oder wie im Fall der genetischen Merkmale neu geschaffen wurden. Die Aufzählung war ursprünglich taxativ konzipiert, doch entschied sich der Konvent schließlich für eine demonstrative.241 In Art. 21 Abs. 1 GRCH folgt das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit und in Art. 23 GRCH das Prinzip der Gleichheit von Mann und Frau. Daraus, dass nach Art. 23 GRCH die Gleichheit „sicherzustellen“ ist, während Art. 21 Abs. 1 GRCH lediglich Diskriminierungen „verbietet“, schließt Favilli, dass der Schutz, den Art. 21 Abs. 1 GRCH bietet, nicht so stark ist wie jener des Art. 23 GRCH, aber immer noch stärker als jener des allgemeinen Gleichheitssatzes in Art. 20 GRCH.242 Im Unterschied zu Art. 13 EGV verbürgt Art. 21 Abs. 1 GRCH – seine Rechtskraft vorausgesetzt – ein echtes subjektives Grundrecht, enthält dafür aber keine Handlungsermächtigung, da die Charta nach Art. 51 Abs. 2 keine neuen Zuständigkeiten begründen will – abgesehen von positiven Schutzpflichten, die jedem Grundrecht innewohnen können. 243 Während Art. 13 EGV sich außerdem auf den Bereich der Europäischen Gemeinschaft beschränkt, erstreckt sich Art. 21 Abs. 1 GRCH auf alle drei Säulen der Europäischen Union. Die Grundrechtsschranken von Art. 21 Abs. 1 GRCH sind schwer zu bestimmen. Nach der Auffassung des Konventspräsidiums sollte das Diskriminierungsverbot, soweit es sich auf Art. 14 EMRK stützt, gemäß Art. 52 Abs. 3 EMRK dieselbe Bedeutung und Tragweite wie dort haben einschließlich der Akzessorietät gegenüber den Rechten der Charta; soweit es sich hingegen auf Art. 13 EGV stützt, folge es gemäß Art. 52 Abs. 2 GRCH den Bedingungen und Grenzen des EGV. 244 Im Falle der Religion, die sowohl in Art. 14 EMRK als auch in Art. 13 EGV vorkommt, führt diese Unterscheidung zu keinem ______________ 241

Barriga, Entstehung, 108.

242

Favilli, Uguaglianza, 241f. Insgesamt will sie das Gleichheitsprinzip in der Charta restriktiver interpretieren als im bisherigen Gemeinschaftsrecht. 243

Anwendungsbereich und Zweck der beiden Normen sind also verschieden, doch sind sie nicht unvereinbar. Das Chartagrundrecht schützt nur vor Diskriminierungen Seitens der Einrichtungen und Organe der EU bzw. Seitens der Mitgliedstaaten im Rahmen der Umsetzung von Unionsrecht, kann aber nicht wie Art. 13 EGV durch den Erlass von Richtlinien auch auf Private ausgedehnt werden (Fischer, Verfassungsvertrag, 238). 244 Barriga, Entstehung, 107. Barriga hält es aber für mehr als fraglich, ob sich diese Interpretation durchsetzen wird.

III. Irrelevanz der Religionszugehörigkeit in der EU

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klaren Ergebnis, sie ist aber auch aus anderen Gründen abzulehnen. Da nämlich Art. 13 EGV keine Grundrechtsnorm ist, enthält er sowieso keine Grundrechtsschranken sondern nur Kompetenzbeschränkungen für die Maßnahmen des Rates. Was die Akzessorietät betrifft, so ist diese im Wortlaut des Art. 14 EMRK begründet, nicht aber im Wortlaut des Art. 21 Abs. 1 GRCH, so dass in dieser Hinsicht keine Entsprechung zwischen den beiden Normen vorliegt, wie sie für die Anwendung des Art. 52 Abs. 3 GRCH notwendig wäre. Es ist daher zu schließen, dass Art. 21 Abs. 1 GRCH ein neues nicht-akzessorisches Grundrecht darstellt, dessen Schranken sich nach Art. 52 Abs. 1 GRCH richten. Eine nicht zu unterschätzende Beschränkung gerade im Hinblick auf die Religion erfährt das Diskriminierungsverbot des Art. 21 Abs. 1 GRCH jedoch durch das in Art. 22 folgende geradezu entgegen gesetzte Gebot der Achtung der religiösen Vielfalt, das keine unmittelbaren Vorbilder in anderen Rechtstexten hat. Wurde eben noch die unterschiedliche Behandlung aus religiösen Gründen verboten, so wird nun die Achtung der religiösen Verschiedenheit eingemahnt.245 Nun handelt es sich bei Art. 22 GRCH aber nicht um ein Grundrecht, sondern nur um eines der Grundprinzipien, wie sie sich in der Charta ebenfalls finden. Dafür sprechen die Wendung „die Union achtet …“ sowie das Fehlen der Nennung eines konkreten Grundrechtsträgers (etwa: „jede Person hat das Recht …“).246 Das tut aber keinen Abbruch, dass Art. 22 GRCH überzogenen Auswirkungen des Art. 21 Abs. 1 gegensteuert und damit auch im Sinne des Verbots, Grundrechte zu missbrauchen (Art. 54 GRCH), ebenfalls wie eine Schranke des Diskriminierungsverbotes wirkt. Das genauere Verhältnis zwischen beiden Normen wird in Abschnitt B.III.3. noch näher untersucht.

4. Religiöse Diskriminierung im Verfassungsvertrag Im Vertrag über eine Verfassung für Europa ist der Schutz vor (religiösen) Diskriminierungen eine jener Materien, die über mehrere Teile verstreut in verschiedenen Bestimmungen begegnen. Allein die Tatsache, dass nach heftigen Auseinandersetzungen in Abs. 1 der Präambel nur allgemein das religiöse Erbe, aber nicht das Erbe einer bestimmten Religionsgemeinschaft genannt wird, weil man niemanden ausschließen wollte, zeigt schon an, wie sehr der Verfassungsvertrag darum bemüht ist, keine Religion zu diskriminieren. ______________ 245 Heinig spricht in diesem Zusammenhang sogar von einem „Verbot religiöser Gleichbehandlung“ (Grundrechtscharta, 453). 246

Vgl. Grabenwarter, Weg, 565; ders., Charta, 4. Barriga hingegen meint, die Formulierung „die Union achtet“ bedeute nur, dass einzelstaatlich garantierte Minderheitenrechte vor Eingriffen der Union geschützt seien (Entstehung, 109).

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Gleichzeitig erkennt die Präambel an, dass sich der Grundsatz der Gleichheit unter anderem aus dem religiösen Erbe Europas entwickelt hat. Art. II-81 Abs. 1 VVE übernimmt wortgleich den Art. 21 Abs. 1 GRCH und Art. II-82 VVE den Art. 22 GRCH. Art. 13 EGV ging mit einigen Veränderungen in Art. III-124 VVE ein. Maßnahmen nach Abs. 1 dürften nun schwerer zustande zu bringen sein, weil die Zustimmung des Parlaments erforderlich wird, ohne dass die Einstimmigkeit im Rat entfällt. Als Rechtsformen der Maßnahmen sowohl nach Abs. 1, als auch nach Abs. 2 werden nun ausdrücklich und ausschließlich das Europäische Gesetz und das Rahmengesetz genannt. Außerdem wird die Zuständigkeit nach Abs. 2 auf die Festlegung von Grundprinzipien für Fördermaßnahmen beschränkt. Während Art. 13 EGV sich nur auf den Bereich der EG-Kompetenzen erstreckt, lässt Art. II-81 VVE Antidiskriminierungsmaßnahmen in allen drei Säulen zu, die in der neuen Union vereinigt werden. Der Verfassungsvertrag enthält aber auch einige neue Antidiskriminierungsbestimmungen. Schon in Art. I-2 VVE und Art. I-3 Abs. 3 VVE erscheint die Nichtdiskriminierung unter den Werten bzw. Zielen der Union, was eine Verstärkung gegenüber Art. 3 Abs. 2 EGV bedeutet. Neu ist der Grundsatz der demokratischen Gleichheit der Unionsbürger nach Art. I-45 VVE. Art. III-118 VVE macht es der Union allgemein zur Aufgabe, in den in Teil III genannten Bereichen Diskriminierungen unter anderem wegen der Religion zu bekämpfen, und geht damit über die speziellen Antidiskriminierungsmaßnahmen nach Art. III-124 VVE hinaus.247 Ebenso neu ist schließlich Art. III-292 VVE, wonach sich die Union auch bei ihrem Handeln auf internationaler Ebene vom Prinzip der Gleichheit leiten lässt.

5. Probleme der Antidiskriminierungspolitik So unverzichtbar das Prinzip der Gleichheit für eine Rechtsordnung ist, die keinen Menschen diskriminieren möchte, so anfällig ist es doch für Verzerrungen und Missbrauch. Zu welchen Problemen Diskriminierungsverbote im Allgemeinen und Verbote religiöser Diskriminierung im Besonderen führen können, soll in diesem Abschnitt aufgezeigt werden.

______________ 247

Nettesheim befürchtet darin eine Moralisierung der Kompetenzordnung der Union, falls diese Überbetonung des Diskriminierungsverbots mehr als nur Vertragskosmetik zur Werbung bei den Bürgern sein sollte (Kompetenzordnung, 539).

III. Irrelevanz der Religionszugehörigkeit in der EU

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a) Diskriminierungsverbot im Urteil Prais zurechtgerückt Einem dieser Probleme begegnete der EuGH bereits in dem schon vorgestellten Fall Prais (Rs. 130/75), in dem nicht nur die Religionsfreiheit selbst [oben Abschnitt B.I.3.)], sondern auch das Verbot religiöser Diskriminierung strittig war. Ein solches war nämlich schon damals im Beamtenstatut verankert, das unter anderem die Auswahl der EG-Beamten regelt und damit auf die Jüdin Prais anwendbar war, die sich um eine Stelle beim Rat bewarb. Der Rat verteidigte das Nicht-Beachten des jüdischen Feiertags gerade mit dem Verbot religiöser Diskriminierung, das ihm verwehre, die Religionszugehörigkeit der Bewerber festzustellen und damit auf besondere Erfordernisse einer bestimmten Religion einzugehen (S. 1592). Demgegenüber wandte Frau Prais ebenfalls unter Berufung auf das Diskriminierungsverbot ein, dass eine Diskriminierung nicht nur in der unterschiedlichen Behandlung zweier gleicher Sachverhalte liegen kann, sondern auch darin, dass zwei verschiedene Sachverhalte gleich behandelt werden. So sei sie in der gleichen Weise behandelt worden wie andere Bewerber, die durch ihre religiöse Überzeugung nicht daran gehindert waren, an der Prüfung teilzunehmen (S. 1593). Angesichts dieser völlig gegensätzlichen Deutungen ein und derselben Rechtsnorm schloss sich der EuGH grundsätzlich der zweiten an. Aus dem Urteil lassen sich vier Prinzipien zum Umgang mit Diskriminierungsverboten gewinnen: (1) Materielle statt formelle Gleichheit: Der Rat deutete das Diskriminierungsverbot rein formal. Danach hat die Prüfung für alle Bewerber am gleichen Tag unter gleichen Bedingungen stattzufinden. Aber gerade im Fall Prais wird deutlich, wie diese formalistische Anwendung des Gleichheitssatzes zu materiellem Unrecht führen kann.248 Der Generalanwalt verwehrte sich dagegen, das Diskriminierungsverbot des Beamtenstatuts so auszulegen, dass es sich in ein „Diskriminierungswerkzeug“ umwandelt (S. 1607). Mehrheitsreligionen wollen Giegerich zufolge eher die formale Gleichbehandlung mit dem allgemeinen Gesetz als Vergleichspunkt, das ihre Bedürfnisse ohnehin stärker berücksichtigt. Religiöse Minderheiten bestehen dagegen mehr auf der materiellen Gleichbehandlung mit dem religiösen Gebot als tertium comparationis, was auch Giegerich selbst als die bessere Lösung ansieht.249 Die EKMR hingegen hat, wie Martínez-Torrón bedauert, den Art. 14 EMRK oft zu formalistisch ausgelegt, so dass sie eine Vorschrift nicht als diskriminierend erkannte, wenn sie unterschiedslos auf alle Individuen anzuwenden ist, die sich ungeachtet ______________ 248

Pernice, Grundrechtsgehalte, 205. Schon sehr früh erkannte der EuGH an, dass in manchen Fällen, die formell den Anschein einer Diskriminierung erwecken, materiell doch keine solche vorliegt (Rs. 13/63, Italien / Kommission, Rn. 4A). 249

Giegerich, Gleichheitsanspruch, 302f.

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ihrer Überzeugungen in derselben Situation befinden.250 Obwohl der EuGH im Urteil Prais erfreulicherweise die materielle Gleichheit vorgezogen hat, besteht heute die Gefahr, dass insbesondere über die Antidiskriminierungsmaßnahmen nach Art. 13 EGV ein formelles Gleichheitsverständnis in die Europäische Gemeinschaft Einzug hält. (2) Irrelevanz heißt nicht Ignoranz: Der Rat berief sich im Fall Prais darauf, dass er jede religiöse Diskriminierung schon von vornherein ausgeschlossen habe, indem er die Religionszugehörigkeit der Bewerber nicht ermittelt hat. Demgegenüber entschied der EuGH, dass es wünschenswert wäre, wenn sich die Anstellungsbehörde allgemein über Daten informieren würde, die aus religiösen Gründen nicht genehm sind, dass sie im konkreten Fall aber deshalb entschuldigt ist, weil sie nicht rechtzeitig über die Verhinderung unterrichtet worden war (Rn. 17f.). Die Irrelevanz der Religionszugehörigkeit für die Auswahl von EG-Beamten wird, wie das Urteil zeigt, gerade nicht dadurch gewährleistet, dass man sie einfach ignoriert.251 Vielmehr hat ausgerechnet die Nichtbeachtung der Religion zu einem Ausschluss von Bewerbern mit einer bestimmten Religionszugehörgkeit geführt. Dass es gerade zur Vermeidung religiöser Diskriminierungen erforderlich sein kann, eine bestimmte Religionszugehörigkeit zu berücksichtigen, erkannte auch die EKMR im Fall des muslimischen Lehrers an (Nr. 8160/78, X / Vereinigtes Königreich), wo sie sogar einräumte, dass der Bewerber zu diesem Zweck möglicherweise seinen Glauben offen legen muss (Rn. 14). In der Beantwortung zweier Anfragen lehnt es die Kommission der EG aber ab, bei der Einstellung von Bediensteten deren religiöse Überzeugung zu erfragen.252 ______________ 250 So Martínez-Torrón, Giurisprudenza, 374. In der Entscheidung Nr. 8160/78 (X / Vereinigtes Königreich) über den muslimischen Lehrer, die er als Beispiel anführt, gelangte die EKMR aber doch noch zu einem Ergebnis, das auch der besonderen religiösen Vorschrift Rechnung trägt. Stärker zu kritisieren ist hingegen die spätere Entscheidung Nr. 24949/94 (Konttinen) im Falle des finnischen Bahnangestellten, der Freitagabend aus religiösen Gründen nicht arbeiten konnte. Der EKMR zufolge liegt hier keine Ungleichbehandlung vor, weil nach der finnischen Rechtsordnung der Sonntag gewöhnlich als Ruhetag für alle Menschen unabhängig von ihrer Religion gilt (Rn. 2). 251

Der Generalanwalt drückte es so aus, dass das Diskriminierungsverbot des Beamtenstatuts nicht so ausgelegt werden darf, dass die Gemeinschaftsorgane „wohl oder übel gezwungen seien, ihre Augen vor allen religiösen Schwierigkeiten der Bewerber für den Dienst der Gemeinschaften zu verschließen“ (S. 1609). 252

Mündliche Anfrage H-607/86; schriftliche Anfrage E-3443/96. In diesen Anfragen ging es um Bedienstete, die als gefährlich eingestuften religiösen Gruppen angehören. Ohne entsprechende Erkundigungen hat die Kommission keine Möglichkeit, solche Bewerber auszuschließen. Der Unterschied zu den Fällen „Prais“ und „muslimischer

III. Irrelevanz der Religionszugehörigkeit in der EU

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(3) Ungleiches ungleich behandeln: Zum Gleichheitssatz gehört nicht nur, dass Gleiches gleich, sondern auch dass Ungleiches ungleich zu behandeln ist.253 Prais beklagte sich, dass der Rat verschiedene Sachverhalte – nämlich jüdische und nicht-jüdische Bewerber – gleich behandelt hat (S. 1593), obwohl der EuGH ebendies schon früher als Diskriminierung qualifiziert hatte. 254 Die Richtlinien gemäß Art. 13 EGV laufen aber Gefahr, genau das zu übersehen und die Gleichbehandlung von Ungleichem zu verlangen,255 indem sie trotz der Unterschiede in bestimmten Merkmalen eine Ungleichbehandlung verbieten. Man darf sie daher nicht allzu formalistisch, sondern immer nur mit Blick auf ihren eigentlichen Zweck interpretieren. 256 Beispielsweise definiert Art. 2 Abs. 2 lit. a der RL 2000/78/EG die mittelbare Diskriminierung in dem Sinn, dass scheinbar neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen mit einer bestimmten Religion gegenüber anderen Personen in besonderer Weise benachteiligen. Diese Definition kann man nun ohne Weiteres so interpretieren, dass sie im Fall Prais zur Feststellung einer Diskriminierung geführt hätte. Die Festlegung eines für alle Bewerber gleichen Prüfungstermins ist nämlich eine solche in der obigen Bestimmung genannte dem Anschein nach neutrale Anordnung, die in Wirklichkeit jedoch Personen mit einer bestimmten Religion benachteiligt. Wie man sieht, hängt Vieles von der Interpretation der Antidiskriminierungsrichtlinien ab. (4) Keine Aushöhlung der Religionsfreiheit: Die Deutung des Diskriminierungsverbots, die im Fall Prais vom Rat vorgebracht wurde, würde dazu führen, dass die Freiheit, die Gebräuche der eigenen Religion auszuüben (Art. 9 EMRK), zu denen auch Feiertagsgebote gehören, missachtet werden würde. An diesem Beispiel wird deutlich, dass sich die materielle Religionsfreiheit und das Verbot religiöser Diskriminierung unter Umständen widerstreiten. Folglich kann eine rigoristische Anwendung des Diskriminierungsverbots die materielle

______________

Lehrer“ liegt aber darin, dass diese beiden gerade entsprechend ihrer religiösen Überzeugung behandelt werden wollten und deswegen von sich aus ihre Religionszugehörigkeit hätten kundtun sollen. 253

Vgl. Zuleeg, Art.13 Rn. 3.

254

EuGH Rs. 13/63, Italien / Kommission, Rn. 4A. In einem jüngeren Urteil hat auch der EGMR bestätigt, dass das Gleichheitsprinzip verbietet, gleich zu behandeln, was ungleich ist (Nr. 34369/97, Thlimmenos). 255 256

Urlesberger, Von Gleichen, 72.

Eine rigorose Anwendung des Gleichheitsprinzips, welche die unvermeidlichen Unterschiede nicht berücksichtigt, führt zu einer faktischen Ungleichheit (Carobene, Nondiscriminazione, 517).

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Religionsfreiheit sogar aushöhlen.257 Die EMRK beugt dem durch die Akzessorietät des Diskriminierungsverbots nach Art. 14 vor. Im EG-Recht ist hingegen die Seite der Nichtdiskriminierung aus Ursachen, die bereits genannt wurden [oben Abschnitt B.III.1.], stärker ausgeprägt als die Seite der materiellen Grundrechte. Das hat sich im Fall Prais darin gezeigt, dass nur das Diskriminierungsverbot eine Rechtsgrundlage im EG-Recht selbst – nämlich im Beamtenstatut – hatte, während die materielle Religionsfreiheit erst aus der EMRK als allgemeiner Rechtsgrundsatz ins Gemeinschaftsrecht transformiert werden musste. Es ist dem EuGH zu verdanken, diese Transformation tatsächlich vorgenommen zu haben. So konnte er die Religionsfreiheit und das Diskriminierungsverbot zu einem solchen Ausgleich bringen, dass jene von diesem nicht untergraben wird.258

b) Einschränkungen des Diskriminierungsverbots (1) Rechtfertigungsgründe: Nicht jede Differenzierung stellt eine ungerechtfertigte Diskriminierung dar.259 Eine Ungleichbehandlung ist nämlich gerechtfertigt, wenn ihr Motiv in Bezug auf das in Frage stehende Recht einen sachlichen Unterschied darstellt. Da Art. 13 EGV hinsichtlich derartiger Rechtfertigungsgründe schweigt, fällt umso mehr den zugehörigen Richtlinien die Aufgabe zu, solche vorzusehen. Bei Art. 21 GRCH greift die allgemeine Schrankenregelung der Grundrechtecharta. Auch Art. 14 EMRK nennt keine Rechtfertigungsmöglichkeit, doch hat die Rechtsprechung eine solche entwickelt. So verneinte die EKMR im Fall des muslimischen Lehrers eine Verletzung von Art. 14 i.V.m. Art. 9 EMRK, da in den meisten Ländern nur die religiösen Feiertage der Bevölkerungsmehrheit als öffentliche Feiertage gelten. 260 Es kann ______________ 257

Ferrari / Ibán führen diese Problematik auf die allgemeine Dialektik von Freiheit und Gleichheit zurück (Diritto e religione, 33). 258

Dieser Ausgleich wird in der Lehre allgemein begrüßt: Heinig, Grundrechtscharta, 453; Pernice, Grundrechtsgehalte, 204; Ventura, Religionsrecht, 31; Weber, Grundrechte, 332; Wetter, Grundrechtscharta, 169. 259 260

Zuleeg, Art. 13, Rn. 3.

EKMR, Nr. 8160/78, Rn. 28. Wohlgemerkt, dem muslimischen Lehrer wird nicht das Recht beschnitten, am Freitagsgebet in der Moschee teilzunehmen. Insofern besitzt er dasselbe Recht auf Kultausübung wie alle anderen. Nur die öffentlichen Feiertage bleiben der Mehrheitsreligion vorbehalten. Dabei spielt unausgesprochen auch der Umstand eine Rolle, dass es aus wirtschaftlichen Gründen unmöglich wäre, die Feiertage aller Religionen in gleicher Weise arbeitsfrei zu stellen (vgl. Berkmann, Gewerbeausübung, 67). Da man sich also auf bestimmte Tage beschränken muss, ist es legitim, hierfür das Kriterium der Verbreitung einer Religion in der Bevölkerung heranzuziehen.

III. Irrelevanz der Religionszugehörigkeit in der EU

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also gerechtfertigt sein, den Anhängern einer Mehrheitsreligion mehr Rechte zu gewähren als anderen.261 Was nun die RL 2000/78/EG betrifft, die unter anderem den Diskriminierungsgrund der Religion in Beschäftigung und Beruf konkretisiert, so enthält sie in Art. 4 zwei verschiedene Bestimmungen zur Rechtfertigung von Diskriminierungen. Die allgemeine Klausel von Abs. 1 umfasst alle Diskriminierungsgründe der Richtlinie. Die spezielle Klausel des Abs. 2 bezieht sich auf die Kirchen und anderen Organisationen mit religiösem Ethos und erlaubt diesen, die Arbeitnehmer nach ihrer Religionszugehörigkeit auszuwählen. Das ist notwendig, da das Wirken dieser Organisationen von einem ganz bestimmten Glauben geprägt ist und daher nur von Personen getragen werden kann, die diesen teilen und nach ihm leben. Die Ausnahme vom Grundsatz der Nichtdiskriminierung ist hier also ganz klar von der Sache her gerechtfertigt. (2) Privatautonomie: Während aus Art. 13 EGV selbst keine subjektiven Rechte und Pflichten ableitbar sind und sich die Frage nach der Drittwirkung damit überhaupt nicht stellt, gilt die RL 2000/78/EG, die auch den Diskriminierungsgrund der Religion umfasst, nach Art. 3 Abs. 1 für alle Personen in öffentlichen und privaten Bereichen, so dass auch Private etwa beim Abschluss von Arbeitsverträgen nicht nach den erfassten Tatbeständen diskriminieren dürfen. Dieser äußerst weitgehenden Drittwirkung steht, wie von der Lehre immer wieder eingewendet wird, die Privatautonomie entgegen, die es jedem Rechtssubjekt freistellt, ob, mit wem, worüber und unter welchen Bedingungen es Verträge schließt. Sie bildet ein Grundelement jeder freien Wirtschafts- und Rechtsordnung. Demgegenüber bewirkt das Diskriminierungsverbot der RL 2000/78/EG eine Beschränkung der freien Auswahl des Vertragspartners insofern, als bestimmte Kriterien dabei keine Rolle spielen dürfen. Nun ist die Privatautonomie vom EuGH nur prätorisch anerkannt worden und weder im EGV noch in der GRCH – abgesehen von der unternehmerischen Freiheit nach Art. 16 – festgeschrieben, wohingegen das Diskriminierungsverbot konkret in Primär- und Sekundärrecht verankert ist. Dennoch kann auch die Privatautonomie eine wenngleich nur schwache korrigierende Wirkung auf das Diskriminierungsverbot entfalten.262 Was nun Kirchen und Religionsgemeinschaften be______________

Ganz allgemein darf nach der EMRK-Rechtsprechung eine Religion privilegiert werden, solange die Freiheit der anderen keinen Schaden leidet. Eine Ungleichbehandlung ist dann erlaubt, wenn sie objektiv und rational gerechtfertigt ist, ein legitimes Ziel verfolgt und verhältnismäßig ist (Martínez-Torrón, Giurisprudenza, 357 und 371). 261

Zustimmend Ferrari / Ibán, Diritto e religione, 37. Nach Alber impliziert das Diskriminierungsverbot zwar Toleranz, darf aber nicht zu einer Diktatur der Minderheit über die Mehrheit führen (Charta der Grundrechte, 305). 262

Mahlmann gibt allerdings zu bedenken, dass die Gemeinschaft bereits mehrere Antidiskriminierungsmaßnahmen ergriffen hat, die in die Privatautonomie eingriffen,

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trifft, so erübrigt sich die Frage, ob sie dem öffentlichen, privaten oder einem Zwischenbereich zuzuordnen sind, weil Öffentlich und Privat von der RL 2000/78/EG in gleicher Weise erfasst sind. Da die Privatautonomie nur ein schwaches Korrektiv darstellt, wird eine Berufung auf sie nur dort zu erwägen sein, wo die normierten Ausnahmeregelungen des Art. 4 der Richtlinie nicht greifen. (3) Schutz der Vielfalt: Der Leitspruch der Europäischen Union, wie er sich in der Präambel des Verfassungsvertrags findet, lautet: „In Vielfalt geeint“. So sehr die Union auch die Einigung des Kontinents anstrebt und dafür die Antidiskriminierungspolitik als wichtiges Instrument einsetzt, so darf diese Einigung nicht die Vielfalt zerstören. Neben dem Gleichheitsprinzip und auf gleicher Ebene wie dieses führt der Verfassungsvertrag auch den Pluralismus als Wert (Art. I-2 VVE) und die kulturelle und sprachliche Vielfalt als Ziel der Union (Art. I-3 Abs. 3 VVE) an. Schon die Charta der Grundrechte nennt in der Präambel die Vielfalt der Kulturen und Traditionen. Von höherer rechtlicher Verbindlichkeit und von größerem Interesse für die Religion, weil sie ausdrücklich erwähnt wird, ist aber Art. 22 GRCH, der unmittelbar auf das Diskriminierungsverbot des Art. 21 GRCH folgt und die Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen schützt. Da die zwei letztgenannten Elemente sich auch in der Aufzählung der verbotenen Diskriminierungsmotive des Art. 21 GRCH finden, setzt Art. 22 GRCH einen Kontrapunkt zu Art. 21 GRCH, indem er der Gleichheit die Vielfalt entgegenhält.263 Voller Minderheitenschutz spielt sich immer im Spannungsfeld zwischen den beiden Prinzipien des Pluralismus und der Gleichheit ab.264 Da Art. 21 GRCH ein Grundrecht, Art. 22 GRCH hingegen nur einen Grundsatz verankert, begegnen sich hier zwar nicht zwei gleich starke Normen, doch ist die korrigierende Wirkung des Art. 22 GRCH auf jeden Fall höher einzuschätzen als die der nicht einmal positivierten Privatautonomie. Damit ist eine überzogene Interpretation des Diskriminierungsverbots ausgeschlossen, die zu einer völligen Nivellierung und Homogenisierung führen würde. Umgekehrt kann die Vielfalt nicht unbegrenzt geschützt werden ______________

ohne dass der EuGH eine Verletzung der Vertragsfreiheit angenommen hätte (Gleichheitsschutz, 419). Wie Stork einwendet, regelt der Markt Vieles ohnehin mit seiner nivellierenden und rationalisierenden Funktion von selbst, ohne dass man jedes unerwünschte Tun gleich gesetzlich sanktionieren müsste, nur weil ein vernünftiger Mensch es für borniert halten würde (Gesetz, 60). 263

Während das Recht auf Gleichheit ein typisch modernes Recht darstellt, tritt in der Postmoderne immer mehr das Recht, anders zu sein, in den Blick. In der Lehre wird die Bedeutung des Art. 22 GRCH bisweilen unterschätzt (so von Weber, Zukunft, 286). 264

Carobene, Nondiscriminazione, 516.

III. Irrelevanz der Religionszugehörigkeit in der EU

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und bedarf der Korrektur durch das Diskriminierungsverbot.265 Wo genau das rechte Maß zwischen Gleichheit und Verschiedenheit anzusetzen ist, bleibt freilich offen, was der Rechtsetzung und der Rechtsprechung einen weiten Ermessensspielraum eröffnet. Heinig unterscheidet Bereiche strenger Gleichheit, wie etwa die Besetzung öffentlicher Ämter, von Bereichen, in denen Varianzen zu berücksichtigen sind, wie etwa bei der Förderung von Religion und der Ausgestaltung des einfachen Rechts.266

c) Religion ist anders als die übrigen Diskriminierungsgründe Die Religion unterscheidet sich von den anderen Diskriminierungsgründen in mehreren Aspekten, die es erforderlich machen, für die Beurteilung religiöser Diskriminierungen teilweise andere Maßstäbe anzulegen. Leider scheinen die Dokumente der Europäischen Gemeinschaft zur Antidiskriminierungspolitik davon auszugehen, dass alle Diskriminierungsmotive gleichartig sind, und so lassen sie eine gesonderte Darstellung der einzelnen Motive vermissen.267 (1) Veränderbarkeit der Religionszugehörigkeit: Religion und Weltanschauung sind die einzigen in Art. 13 EGV und Art. 21 GRCH genannten Merkmale, die durch einen Willensentschluss des Betroffenen angenommen, gewechselt und aufgegeben werden können.268 Hierbei handelt es sich sogar um ein in Art. 9 Abs. 1 EMRK ausdrücklich enthaltenes Element der Religionsfreiheit. Ein solcher Willensentschluss ist von der Rechtsordnung zu respektieren und nicht durch falsch verstandene Gleichbehandlungsgebote zu ignorieren oder gar zu nivellieren. Wenn der EG-Rechtsetzer diesen Unterschied auch nicht in gebührender Weise berücksichtigt, so ist ihm doch zugute zu halten, dass er die Diskriminierungsgründe des Art. 13 EGV auf zwei verschiedene Richtlinien aufteilte und die Religion dabei der zurückhaltenderen Richtlinie ______________ 265

Die Grenzen des Rechts auf Verschiedenheit sieht Dalla Torre bei der Polygamie oder der Beschneidung von Frauen erreicht (Primato, 295). 266

Heinig, Grundrechtscharta, 453.

267

Die Kommission unternimmt es weder in ihrem Grünbuch [KOM (2004) 379 endg.] noch ihrer Mitteilung [KOM (2005) 224 endg.], die einzelnen Motive gesondert aufzuschlüsseln. Nach Heinig (Grundrechtscharta, 453) sollen nicht alle Diskriminierungstatbestände dogmatisch gleich verarbeitet werden. 268

Vgl. Jenkins, EECCS - KEK, 160. Gleiches gilt selbstverständlich für die politische und anderweitige Anschauungen, die der religiös geprägten Weltanschauung ohnehin sehr nahe stehen. Sprache und Vermögen hingegen sind zwar nicht unveränderlich, aber ihre Veränderung hängt nicht allein vom Willen des Betroffenen ab. Das Alter ändert sich zwar ständig, aber ohne jede menschliche Einflussmöglichkeit.

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zuwies, die sich auf Beschäftigung und Beruf beschränkt (RL 2000/78/EG). Hingegen erstreckt sich die Richtlinie über Rasse und ethnische Herkunft (RL 2000/43/EG) auf ein weiteres Anwendungsgebiet.269 Von der grundlegenden Unterscheidung zwischen Rasse und Religion ist nur dann abzuweichen, wenn bloß scheinbar auf die Religion abgezielt wird, obwohl in Wirklichkeit die Rasse gemeint ist.270 In einem solchen Fall ist die RL 2000/43/EG einschlägig und das Diskriminierungsverbot strenger zu handhaben. (2) Jede Religion hat andere Bedürfnisse: Da die einzelnen Religionen von sich aus verschieden sind, lässt es sich nicht vermeiden, dass die Vorschriften des weltlichen Rechts manche Religionen stärker betreffen als andere, auch wenn sie nicht auf eine bestimmte Religion abzielen. So nützt die Erlaubnis zum Schächten dem Islam, aber nicht den christlichen Kirchen, während umgekehrt der Schutz der Sonntagsruhe einem Anliegen dieser Kirchen aber nicht des Islam entspricht. Ein Verbot für Frauen, sich den Kopf zu bedecken, erstreckt sich zwar auf alle Frauen, aber nur Musliminnen sind dabei in ihrer Religionsfreiheit betroffen. Im Sinne einer materiellen Interpretation des Gleichheitsgebotes ist die Gleichheit dadurch anzustreben, dass die spezifischen Bedürfnisse jeder einzelnen Religion in gleicher Weise berücksichtigt werden, nicht aber dadurch, dass anscheinend neutrale Gesetze allen übergestülpt werden. Mit Bedacht spricht Art. 8 der italienischen Verfassung nicht von Gleichheit aller Religionen, sondern von gleicher Freiheit („egualmente libere“), um eine differenzierte Behandlung innerhalb des gleichen Freiheitsraumes zu ermöglichen.271 (3) Die rechtliche Verfasstheit von Religionen: Religionen sind im Unterschied zu den anderen Diskriminierungstatbeständen im Großen und Ganzen rechtlich verfasst.272 Die Religionszugehörigkeit wird durch Mitgliedschaft in einer bestimmten Religionsgemeinschaft erworben und ist mit einer bestimmten Rechtsstellung verbunden, die dem einzelnen Mitglied vom Recht der jeweiligen Religionsgemeinschaft verliehen wird. Die Unterschiede bezüglich ______________ 269 Nicht zu teilen ist daher das Bedauern Fioritas, dass die Diskriminierungsmotive der Rasse und der Religion entgegen der italienischen Gesetzgebungstradition auf zwei verschiedene Antidiskriminierungsrichtlinien (RL 2000/43/EG bzw. RL 2000/78/EG) aufgeteilt wurden (Direttive, 363). 270

Die Testfrage dafür lautet nach Stork, ob eine eventuelle Konvertierung Auswirkungen auf die Sachlage hätte (Gesetz, 14). Auch er wendet also das oben dargestellte Unterscheidungsmerkmal an, dass die Religion grundsätzlich wechselbar ist, die Rasse jedoch nicht. 271 272

Dalla Torre, Primato, 291.

Etwas wenn auch nur beschränkt Vergleichbares wären allenfalls die politischen Anschauungen hinsichtlich der politischen Parteien.

IV. Irrelevanz der Staatsbürgerschaft in der Kirche

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der Religion liegen daher hauptsächlich auf der Ebene des Rechts und ergeben sich aus der jeweiligen rechtlichen Beziehung zu einer Religionsgemeinschaft, die zugleich eine Rechtsgemeinschaft ist. Die meisten anderen Diskriminierungsmotive hingegen liegen auf der Ebene des Faktischen, seien es biologische, psychologische, soziale, kulturelle oder was auch immer für Fakten. Dadurch dass die Religionszugehörigkeit ganz wesentlich in einer rechtlichen Beziehung zu einer Religionsgemeinschaft besteht, kommt ebenso diese selbst als Rechtsgemeinschaft in den Blick, die diese rechtliche Beziehung erst ermöglicht und inhaltlich ausgestaltet. Wenn man nun das Verbot religiöser Diskriminierung im materiellen Sinn als Verbot versteht, Unterschiede im Religiösen zu homogenisieren, dann impliziert das, dass jede Religionsgemeinschaft diese Rechtsstellung nach ihrer eigenen Überzeugung von den anderen abweichend ausgestalten kann. Das Verbot religiöser Diskriminierung verlangt also in gewisser Weise sogar, dass die Religionsgemeinschaften als Garanten der religiösen Vielfalt nach der Religionszugehörigkeit differenzieren. Dem trägt die RL 2000/78/EG in der Sonderbestimmung des Art. 4 Abs. 2 Rechnung, wonach die Mitgliedstaaten Regelungen vorsehen können, die es den Religionsgemeinschaften ermöglichen, von ihren Arbeitnehmern die entsprechende Religionszugehörigkeit und ein entsprechendes Verhalten zu verlangen.273

IV. Irrelevanz der Staatsbürgerschaft in der Kirche 1. Verbot religiöser Diskriminierung in der Kirche In der weltlichen Rechtsordnung der Europäischen Union wird das Grundrecht auf Religionsfreiheit durch das Verbot religiöser Diskriminierung ergänzt. Wie verhält es sich damit aber auf der Seite der kirchlichen Rechtsordnung? Auch die Kirche verwirft jede Diskriminierung eines Menschen aus Gründen der Religion (Art. 5 Abs. 2 NA, Art. 29 Abs. 2 GS, Art. 60 Abs. 1 GS, Art. 6 Abs. 4 DH), doch richten sich die entsprechenden Konzilsaussagen in erster Linie nach außen an die Gesellschaft bzw. an die weltliche Gewalt. Die Europäische Union erfüllt mit ihrem Diskriminierungsschutz also auch eine Forderung der Kirche, doch wie verhält es sich im Innenbereich der Kirche selbst? Im Unterschied zu c. 12 CIC/1917 schränkt c. 11 CIC/1983 den Geltungsbereich rein kirchlicher Gesetze auf Katholiken ein. 274 Diese oft gelobte Ände______________ 273

Vgl. Margiotta Broglio, Fenomeno, 156; Reichegger, Auswirkungen, 201-212; Robbers, Verbot, 57; Schüller, Europa, 619; Urlesberger, Von Gleichen, 77. 274

Vgl. Aymans / Mörsdorf, Lehrbuch I, 482.

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B. Christ und Bürger zugleich – der einzelne Mensch in Kirche und EU

rung275 hat zunächst die negative Konsequenz, dass die anderen Christen aus dem Geltungsbereich des rein kirchlichen Rechts prinzipiell hinausfallen und damit die Verbindung aufgegeben wird, die über die gemeinsame Rechtsordnung mit ihnen noch bestand. In Wirklichkeit implizierte diese Verbindung aber vor allem, dass die anderen Christen als Häretiker oder Schismatiker galten,276 und wurde von ihnen verständlicherweise nicht akzeptiert. Die Entlassung nichtkatholischer Christen aus der kanonischen Rechtsordnung kann daher als erster Schritt hin zum Aufbau einer neuen Verbindung gesehen werden, die sie als eigene Gemeinschaften wahrnimmt. Dieser erste Schritt der Freigabe führt für sich allein aber nur zu einem verbindungslosen Nebeneinander, so dass es weiterer Schritte bedarf, die tatsächlich eine neue rechtliche Verbindung aufbauen. Als solche kann die gestufte Kirchenzugehörigkeit angesehen werden, wie sie in c. 96 und c. 204 CIC sichtbar wird. Danach können auch Gläubige, die nicht in voller Gemeinschaft277 mit der katholischen Kirche stehen, Rechte in dieser geltend machen – aber eben nur bestimmte Rechte und nur in bestimmten Situationen.278 Auch Angehörige nichtchristlicher Religionen und Menschen, die sich zu keiner Religion bekennen, haben als natürliche Personen eine gewisse Rechtsstellung in der Kirche. In Abschnitt B.II.1.a) wurde bereits das dreigliedrige Schema Person - Christ - Katholik entwickelt. Wendet man dieses nun auf die Frage der religiösen Nichtdiskriminierung in der Kirche an, so zeigt sich, dass auf der ersten Ebene, die alle Menschen als Rechtspersonen umfasst, tatsächlich rechtliche Gleichheit besteht. Steigt man aber zur zweiten und dritten Ebene auf, so wird sehr wohl nach der Religions- und Kirchenzugehörigkeit unterschieden.279 Eine Religionsgemeinschaft wie die Kirche kann gar nicht anders als ihren Mitgliederkreis nach religiösen Kriterien umschreiben und daran eine besondere Rechtsstellung knüpfen, die anderen nicht gewährt wird. Da sie sonst ihre Eigenart als Religionsgemeinschaft aufgäbe, ist die Differen______________ 275

Vgl. Güthoff, Gliedschaftslehre, 155; Socha, in: MKCIC, c. 11, Rn. 2.

276

Vgl. Heinemann, Implikationen, 7; Rees. Communicatio in sacris, 76.

277

Zu unterscheiden ist zwischen voller Gemeinschaft (communio plena) und nicht voller Gemeinschaft (communio non plena), vgl. Aymans, Kirchengliedschaft, 408. Von Graden der Zugehörigkeit spricht Heinemann, Implikationen, 6. 278 279

Hinsichtlich der Eucharistiegemeinschaft vgl. Rees, Communicatio in sacris, 70.

Als hilfreich erweist sich hier die Unterscheidung Navarro Marfas (Laico, 108) zwischen der Gleichheit im Recht und der Gleichheit der Rechte. Ersteres bedeutet, dass alle in gleicher Weise Rechtssubjekte sind. Das ist bei allen Christgläubigen, ja bei allen natürlichen Personen der Fall. Das letztere bedeutet hingegen, dass jeder Träger der gleichen Summe von Rechten ist wie alle anderen. Es lassen sich aber kaum zwei Personen finden, die in ihren aktuellen Rechten völlig übereinstimmen.

IV. Irrelevanz der Staatsbürgerschaft in der Kirche

123

zierung nach religiösen Kriterien selbstverständlich gerechtfertigt und sogar geboten. Die Religionszugehörigkeit erfüllt in der Kirche eine ähnliche Funktion wie im weltlichen Recht die Staats- bzw. Unionsbürgerschaft. Hier gibt es ein eigenes Bündel von Bürgerrechten und -pflichten, das einen bestimmten Personenkreis auszeichnet und von anderen abhebt. Die Bürgerschaft ist für das weltliche Gemeinwesen ebenso konstitutiv wie die Kirchengliedschaft für die Kirche und daher nicht diskriminierend. Das kirchliche Pendant zum Verbot religiöser Diskriminierung in der Europäischen Union besteht also nicht so sehr in einem gleichartigen Verbot religiöser Diskriminierung in der Kirche. In ähnlicher Weise hat sich in Abschnitt B.II.1.b) bereits gezeigt, dass das Pendant zur weltlichen Religionsfreiheit im Bereich der Kirche nicht ebenfalls die Religionsfreiheit, sondern vielmehr die bürgerliche Freiheit ist. Dem Verbot religiöser Diskriminierung in der Europäischen Union müsste daher auf der Seite der kirchlichen Rechtsordnung im Sinne des Komplementärprinzips ein Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsbürgerschaft entsprechen. Das was nämlich die Staatsbürgerschaft im zivilen Bereich bedeutet, stellt in der Kirche die Religionszugehörigkeit dar, und in derselben Weise, wie die zivile Autorität aufgrund der Trennung von weltlicher und religiöser Sphäre gegenüber der Religionszugehörigkeit ihrer Bürger indifferent sein muss, so muss auch die kirchliche Autorität gegenüber der Staatsbürgerschaft ihrer Gläubigen indifferent sein. Inwieweit die Kirche ein Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsbürgerschaft oder – wovon kirchliche Dokumente meist sprechen – der Nationalität in ihrer Rechtsordnung verwirklicht, ist im Folgenden zu prüfen.

2. Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit II. Vatikanisches Konzil: Die Lehre der katholischen Kirche geht von der grundlegenden Gleichheit aller Menschen aus, da sie alle von Gott als sein Ebenbild geschaffen wurden und da die Erlösung durch Christus allen zuteil werden soll (vgl. Art. 29 GS).280 Demgegenüber ist die Herausbildung verschiedener Völker und Nationen ein geschichtlich bedingtes und daher nachrangiges Phänomen.281 Sehr wohl sollen Katholiken in Liebe zu ihrer Nation und treuer Erfüllung ihrer bürgerlichen Aufgaben das Gemeinwohl fördern ______________ 280 „Grundlegend“ heißt: Vor allen Differenzierungen, diese aber auch nicht ausschließend (Semmelroth, LthK2-Konzilskommentar Bd. III, 369). Die Unterschiede dürfen nicht zu einem Beschneiden der Lebenschancen führen (Sander, LthK3Konzilskommentar, Bd. IV, 748). 281

Vgl. Grenholm, Nationalismus, 33.

124

B. Christ und Bürger zugleich – der einzelne Mensch in Kirche und EU

(Art. 14 Abs. 3 AA) und Missionare müssen sich mit den jeweiligen nationalen Traditionen vertraut machen (Art. 11 Abs. 2 AG).282 Auch ist es verständlich, dass Völker auf ihre Geschichte stolz und auf ihre Einheit bedacht sind, doch muss dies durch eine Liebe überhöht werden, die alle Glieder der Menschheitsfamilie umfasst (Art. 62 PP). Keinesfalls ist es moralisch vertretbar, wenn die Überhöhung der Nation zu einer Minderung der Freiheit des einzelnen Menschen führt, dem Wert und Würde dann nicht mehr an sich, sondern nur aufgrund seiner Volkszugehörigkeit zugestanden werden. 283 Das Subsidiaritätsprinzip der katholischen Soziallehre bekräftigt einerseits die nationale Selbstbestimmung, verlangt aber anderseits, dass Probleme, die von den einzelnen Nationen nicht mehr bewältigt werden können, auf der internationalen Ebene gelöst werden.284 Art. 60 Abs. 1 GS formuliert ein Verbot der Diskriminierung unter anderem aus Gründen der Nation, bezieht dieses jedoch nur auf den Bereich kultureller Rechte. Das Diskriminierungsverbot des Art. 29 Abs. 2 GS hingegen beschränkt sich zwar auf keinen bestimmten Sachbereich, führt das Diskriminierungsmotiv der Nationalität aber nicht an. Da die Aufzählung hier jedoch nicht erschöpfend ist und die verwandten Diskriminierungsmotive der Rasse und der Sprache ausdrücklich vorkommen, lässt sich auch die Nationalität hinzurechnen. Innenbereich der Kirche: Was nun die Kirche betrifft, so versteht sie sich selbst als Zeichen und Werkzeug für die Einheit der ganzen Menschheit (Art. 1 LG).285 Sie weiß sich zu allen Völkern gesandt, ohne an eine bestimmte Nation gebunden zu sein (Art. 58 Abs. 3 GS), ja sie will die Menschen aller Nationen im Geist des Evangeliums vereinigen (Art. 92 Abs. 1 GS). Dieses universalistische Bewusstsein der katholischen Kirche muss selbstverständlich jede Diskriminierung nach Nationalitäten ausschließen. Gemäß der zentralen Aussage von Art. 32 Abs. 2 LG gibt es in der Kirche aufgrund der Wiedergeburt in Christus keine Ungleichheit wegen der Rasse und der Volkszugehörigkeit, der sozialen Stellung oder des Geschlechts. Dementsprechend gilt auch die Sorge der Bischöfe (Art. 16 Abs. 4 CD) sowie der Priester (Art. 10 Abs. 1 PO) allen Menschen unabhängig von ihrer Rasse oder Nation. Kirchenrecht: Das kirchliche Gesetzbuch von 1983 nahm die einschlägigen Aussagen des Konzils nur begrenzt auf und lässt ein Verbot der Diskriminie______________ 282 Unter dem Pontifikat Johannes Pauls II. erlangte die Nation wieder eine höhere Bedeutung auch als Trägerin der Rechte und Privilegien in Bezug auf die politische Gewalt (Barberini, Saint-Siège, 206). 283

Kluxen-Pyta, Nationalismus, 650.

284

Grenholm, Nationalismus, 31.

285

Daraus folgt, dass die Kirche zwar eine Kirche für die Nationen, aber keine Nationalkirche sein soll (CCEE, Religione, 36).

IV. Irrelevanz der Staatsbürgerschaft in der Kirche

125

rung aus Gründen der Nationalität gänzlich vermissen. Dabei war in c. 10 LEF 1971 noch geplant, die Aussage von Art. 32 Abs. 2 LG zu übernehmen, wonach die Volkszugehörigkeit der Kirchenglieder irrelevant ist. Stattdessen fand nur Art. 32 Abs. 3 LG Eingang in c. 208 CIC, demzufolge unter allen Gläubigen eine wahre Gleichheit in Würde und Tätigkeit besteht. Das Schweigen des CIC nimmt der Aussage von Art. 32 Abs. 2 LG aber nicht ihren Geltungsanspruch,286 vielmehr setzt das Gleichheitsprinzip des c. 208 CIC in gewisser Hinsicht die Irrelevanz der Nationalität sogar voraus.287 Nun schließt dieses Gleichheitsprinzip nicht von vornherein jede Diskriminierung aus sondern nur ungerechtfertigte. Ungerechtfertigt wäre sie dann, wenn beispielsweise für die Verleihung eines Amtes eine Eigenschaft gefordert würde, die mit der Ausübung des Amtes sachlich nicht zusammenhängt. So kann nach Navarro Marfa die Weihe durchaus ein gerechtfertigtes Kriterium sein, nicht aber die Nationalität.288 Das Schweigen des CIC kann aber auch so gedeutet werden, dass die Irrelevanz der Staatsangehörigkeit für die Kirche so selbstverständlich ist, dass sie gar keiner eigenen Erwähnung bedarf. An mehreren Stellen wird ein derartiges „beredtes Schweigen“ deutlich. So werden die Adressaten kirchlicher Gesetze in den cc. 12f. CIC in vielerlei Hinsicht umschrieben, jedoch ohne jeden Rückgriff auf die Staatsangehörigkeit. Das immer wieder genannte „territorium“ meint hier kirchliche Sprengel,289 nicht das Staatsgebiet. Ebenso definiert c. 96 CIC die persona in Ecclesia ohne Rückgriff auf staatliche Kategorien. Die Personen in der Kirche werden in den cc. 100-107 CIC gerade nicht nach ihrer Staatsangehörigkeit differenziert, sondern nach ihrem Wohnsitz, der sich ausschließlich nach der kirchlichen Gebietseinteilung richtet.290 Wenn demzufolge die Umschreibung der Normadressaten kirchlicher Gesetze und die Zuordnung der Personen in der Kirche gänzlich ohne Erwähnung der Staatsangehörigkeit auskommen, so ist zu schließen, dass diese für die kirchliche Rechtsordnung tatsächlich prinzipiell keine Rolle spielen. Aus dem universalen und supranationalen Charakter der Kirche ergibt sich, dass auch der Migrant immer ein Recht darauf hat, von der Teilkirche, in die er zieht, als ihr zugehöriges, wirkliches Mitglied mit allen Rechten und Pflichten aufgenommen zu ______________ 286

Reinhardt, in: MKCIC, c. 208, Rn. 2.

287

Holkenbrink (Migrantenpastoral, 70), sieht in c. 208 CIC unter Zugrundelegung von Art. 32 LG ohne weiteres auch Diskriminierungen nach Rasse und Volkszugehörigkeit erfasst. 288 Navarro Marfa, Laico, 108. Diese wird innerhalb der Kirche kaum jemals ein zulässiges Kriterium darstellen. 289

Vgl. Socha, in: MKCIC, c. 12, Rn. 6f.

290

Vgl. Pree, in: MKCIC, c. 100, Rn. 2.

126

B. Christ und Bürger zugleich – der einzelne Mensch in Kirche und EU

werden.291 Bestätigt wird dies in c. 383 § 1 CIC, der in Anlehnung an Art. 16 Abs. 4 CD dem Bischof ausdrücklich die Sorge für alle Gläubigen gleich welcher Nation anvertraut.292 Ausnahmen: Indessen ist die Nationalität nicht in jeder Beziehung kirchenrechtlich irrelevant.293 Weil sie ein in pastoraler Hinsicht wichtiger Faktor sein kann, soll sich das Gebiet eines Provinzialkonzils (c. 439 § 2 CIC) und einer Bischofskonferenz (c. 447 CIC) in der Regel mit dem einer Nation decken. Wo es – etwa aufgrund von Migration – nationale Minderheiten gibt, kann nach c. 518 CIC für die Christen der betreffenden Nationalität eine eigene Personalpfarrei errichtet werden. Wo keine regelrechte Pfarrei errichtet wird, kann für Auswanderer, Vertriebene und Flüchtlinge – also für Menschen mit anderer Nationalität – ein eigener Kaplan ernannt werden (c. 568 CIC). Außerdem besteht weiterhin die Möglichkeit einer missio cum cura animarum (Art. 7 Erga migrantes). In mehreren Konkordaten nimmt die Kirche entgegen c. 208 und c. 377 § 5 CIC als Zugeständnis an den weltlichen Vertragspartner die Pflicht auf sich, bestimmte Ämter nur mit Angehörigen des jeweiligen Staates zu besetzen. Für die fruchtbare Ausübung eines Amtes kann die Kenntnis einer bestimmten Sprache oder die Vertrautheit mit einer bestimmten Kultur durchaus zu wünschen sein. Diese Eigenschaften hängen zwar oft, aber nicht notwendig mit einer bestimmten Nationalität zusammen, so dass diese nur mittelbar als Kriterium in Frage kommen kann. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass die Nationalität eines Menschen in der kirchlichen Rechtsordnung grundsätzlich irrelevant ist. Für ungerechte Ungleichbehandlungen aufgrund der Staatsangehörigkeit liefert der CIC nicht nur keine Ansatzpunkte, sondern sie sind nach c. 208 CIC und Art. 32 Abs. 2 LG sogar verboten. Dennoch verfällt die Kirche nicht der Illusion, die

______________ 291

Holkenbrink, Migrantenpastoral, 66f.

292

C. 528 CIC, die entsprechende Norm für die Pfarrer, übernimmt die Klausel „sanguinis, nationis vel aetatis“ aus Art. 10 Abs. 1 PO hingegen leider nicht, sondern spricht einfach von denen, die sich in der Pfarrei aufhalten („in paroecia digentes“). Dass es allein auf den Aufenthalt ankommt, deutet aber auch schon auf die Irrelevanz der Staatsangehörigkeit hin. Katzinger macht auf die Möglichkeit der Ernennung eines eigenen Bischofsvikars für die Migrantenseelsorge aufmerksam (Migrantenseelsorge, 811). 293

Holkenbrink (Migrantenpastoral, 55-58) leitet aus mehreren Bestimmungen des CIC ein Recht auf eigene Kultur, eigene Sprache und eigenen Ritus ab. Der Kirche ist es also keineswegs um Gleichmacherei zu tun.

IV. Irrelevanz der Staatsbürgerschaft in der Kirche

127

unterschiedlichen Zugehörigkeiten einfach ignorieren zu können. 294 Vielmehr sieht sie Sonderbestimmungen für Fälle vor, in denen pastorale Gründe verlangen, gerade die Vielfalt295 der Nationalitäten zu beachten.

3. Vergleich: Kirche – Europäische Union Auch die Europäische Union kennt ein Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsbürgerschaft (Art. 12 EGV). Dieses kehrt an mehreren Stellen in speziellen Kontexten wie etwa der Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 39 Abs. 2 EGV), der Niederlassungsfreiheit (Art. 43 EGV) und der Dienstleistungsfreiheit (Art. 49 EGV) wieder. Gleich zu behandeln sind danach aber nur die Staatsbürger der Mitgliedstaaten, nicht Drittstaatsangehörige, 296 denn die Europäische Union will als Integrationsprojekt eben die Bürger ihrer eigenen Mitgliedstaaten zusammenführen, was nur gelingen kann, wenn es zwischen ihnen keine Diskriminierungen gibt. Gleichzeitig wurde eine Unionsbürgerschaft eingeführt, die genau jenen zukommt, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen (Art. 17 Abs. 1 EGV). Sie soll die nationale Staatsbürgerschaft zwar nicht ersetzen, doch zeigt sich deutlich, dass sie typische Staatsbürgerrechte wie das Aufenthaltsrecht (Art. 18 EGV), das Wahlrecht ______________ 294

Gleichheit ist weder Uniformität noch Egalitarismus, denn es gibt auch eine legitime Verschiedenheit und somit „gerechte Diskriminierungen“ (vgl. Navarro Marfa, Laico, 107). 295

Auch die Vielfalt ist ein Prinzip, das im CIC/1983 verwirklicht und gegenüber dem CIC/1917 bewusst verstärkt worden ist (vgl. Heimerl, Vielfalt, 202). Art. 32 LG beginnt in Abs. 1 sogar mit der Vielfalt und kommt erst in Abs. 2 auf die Gleichheit zu sprechen. Aus mehreren kirchlichen Verlautbarungen geht hervor, dass die anzustrebende Einheit in Europa die Vielfalt nicht zerstören darf: Benedikt XV., Pacem Dei, 216f; Pius XII., 11.11.1948; ders. vom 4.11.1957; Johannes Paul II. vom 5.10.1982; ders. vom 30.11.1993; ders. vom 31.10.2003; COMECE, Das Herz weit machen, Nr. 3 und Nr. 19. 296

Selbst von Art. 12 EGV, der dem Wortlaut nach eigentlich keine Einschränkung auf Angehörige der Mitgliedstaaten enthält, kann keine allgemeine Gleichstellung mit Drittstaatern intendiert sein, da sonst eine differenzierende Politik unmöglich würde und da die Bestimmungen über die Unionsbürgerschaft, die nur den Angehörigen der Mitgliedstaaten zukommt, gerade dieser Gruppe ja eine besondere Rechtsstellung verleihen möchten (vgl. von Bogdandy, in: Grabitz / Hilf, Art. 12 EGV, Rn. 31). Das schließt freilich nicht aus, dass in besonderen Fällen auch Drittstaatern gleiche Rechte gewährt werden, wie etwa Familienangehörigen von Unionsbürgern (vgl. Zuleeg, in: Groeben / Schwarze, Art. 12 EGV, Rn. 15). In einigen Punkten sieht bereits der EGV die Möglichkeit einer Gleichstellung von Drittstaatsangehörigen vor (vgl. Art. 49 und Art. 63 Z. 4).

128

B. Christ und Bürger zugleich – der einzelne Mensch in Kirche und EU

(Art. 19 EGV) oder den diplomatischen und konsularischen Schutz (Art. 20 EGV) von der nationalen auf die europäische Ebene der Bürgerschaft emporzieht. Wenn die Europäische Union daher die Staatsangehörigkeit relativiert, tut sie nur auf den ersten Blick das gleiche wie die Kirche, die die Staatsangehörigkeit für irrelevant erachtet. In Wirklichkeit aber stellt sie grundsätzlich die Zugehörigkeit der Menschen zu einem politischen Gemeinwesen nicht in Frage, sondern sie ergänzt nur die Zugehörigkeit zu einem Staat allmählich durch die Zugehörigkeit zur Union. Sie hat keine andere Möglichkeit, da für jedes politische Gemeinwesen die Zugehörigkeit eines bestimmten Personenkreises konstitutiv ist.297 Für die Kirche hingegen ist die Irrelevanz der Staatsbürgerschaft eine grundlegende, weil sie als Religionsgemeinschaft vom politischen Gemeinwesen getrennt ist und die Menschen nicht nach dessen Zuordnungskriterien einteilt. Echte Komplementarietät besteht also nicht so sehr zwischen dem kirchlichen und dem europäischen Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit, sondern wie schon in Abschnitt B.IV.1. herausgestellt wurde, zwischen dem Verbot religiöser Diskriminierung auf Seiten der Europäischen Union und dem Verbot staatsbürgerschaftlicher Diskriminierung auf Seiten der Kirche. Soweit dennoch eine gewisse Parallelität zwischen den beiden staatsbürgerschaftlichen Diskriminierungsverboten besteht, legt sich ein Zusammenwirken zwischen der Europäischen Union und der katholischen Kirche durchaus nahe.298 Wenn die Kirche dazu mahnt, auf nationalen Egoismus und Ehrgeiz zu verzichten, um über die Grenzen der eigenen Nation hinauszuschauen und zu einer echten weltumfassenden Wirtschaftsordnung zu kommen (Art. 82 Abs. 2 und Art. 85 Abs. 3 GS), trifft sie damit geradewegs ein Grundanliegen der europäischen Integration.299 ______________ 297

Eine Theorie, wonach überhaupt keine rechtlich festgelegte Zugehörigkeit, sondern nur noch der Aufenthaltsort das maßgebliche Anknüpfungskriterium für die Zuteilung von Rechten sein soll, wird von Kadelbach (Unionsbürgerschaft, 578) zu Recht abgelehnt, weil sie in Art. 17 Abs. 1 EGV, der die nationale Staatsbürgerschaft ja voraussetzt, keinen Rückhalt findet. 298

Die Relativierung der Staatsbürgerschaft in der Europäischen Union führte beispielsweise dazu, dass nicht mehr diese der hauptsächliche Anknüpfungspunkt für die internationale Zuständigkeit in Eheverfahren ist, sondern gemäß Art. 3 Abs. 1 Ehe-VO (EG) Nr. 2201/2003 der gewöhnliche Aufenthaltsort der Ehegatten. Das bedeutet eine Annäherung an den in kirchlichen Eheprozessen üblichen Gerichtsstand, der sich naturgemäß nicht nach der Staatsbürgerschaft, sondern nach dem Wohnsitz richtet (c. 1673 ° 2f. CIC; Art. 10 DignCon), vgl. Berkmann, Ehe, 156f. 299

Indem die Kirche die communio lebt, wird sie zu einem verbindenden Element der Völker Europas, die immer noch von zahlreichen Spaltungen geprägt sind (Dagens, Chiesa, 162).

C. Kirche und EU – voneinander unabhängig und autonom I. Korporative Religionsfreiheit: Die EU ist religiös inkompetent Kapitel B.I. hat gezeigt, dass sich die Europäische Union als weltliches Gemeinwesen unter dem Titel der individuellen Religionsfreiheit von der religiösen Dimension des Menschen weitgehend fernhält. Es hat sich außerdem erwiesen, dass der einzelne Mensch zur Wahrnehmung der positiven Religionsfreiheit in der Regel einer Religionsgemeinschaft bedarf. Schon das Bekenntnis zu einer bestimmten Religion manifestiert sich in der Mitgliedschaft bei einer Religionsgemeinschaft. Wer am Sonntag einen Gottesdienst besuchen möchte, bedarf einer Kirche, die einen solchen anbietet; wer koscheres Fleisch essen will, braucht eine Gemeinschaft, die solches erzeugt; wer seine Kinder gemäß der eigenen Religion erziehen möchte, nimmt die Dienste einer Religionsgemeinschaft in Anspruch, die entsprechende Schulen unterhält oder für den Religionsunterricht an staatlichen Schulen sorgt. Es stellt sich daher die Frage, ob die Europäische Union, um den Individuen volle Religionsfreiheit zu garantieren, diese nicht auch den Religionsgemeinschaften selbst gewähren müsste. Wenn die Säkularität des weltlichen Gemeinwesens bedeutet, dass es die religiöse Dimension im einzelnen Menschen nicht antasten darf, müsste sie dann nicht ebenso bewirken, dass die Religionsgemeinschaften selbst vom weltlichen Gemeinwesen unabhängig und autonom sind? Begrifflich wird der individuellen Religionsfreiheit, die dem einzelnen Menschen zusteht, die korporative gegenübergestellt, die der Religionsgemeinschaft zukommt. Eine Zwischenstellung nimmt die kollektive Religionsfreiheit ein, von der gesprochen wird, wenn mehrere Individuen gemeinsam ihre Religion ausüben, deren Träger jedoch nicht die Religionsgemeinschaft als solche ist. 1 Bisweilen wird außerdem eine institutionelle Religionsfreiheit unterschieden, die sich inhaltlich aber kaum von der korporativen abhebt. 2 Wenn man nicht den grundrechtlichen Ansatz von der individuellen Religionsfreiheit her wählt, sondern direkt die Trennung zwischen dem säkularen Gemeinwesen und den religiösen Gemeinschaften in den Blick nimmt, spricht man auch einfach von ______________ 1

Manche Autoren unterscheiden nicht zwischen kollektiver und korporativer Religionsfreiheit. 2

Vgl. Mückl, Weltanschauungsfreiheit, 196.

130

C. Kirche und EU – voneinander unabhängig und autonom

der Autonomie der Religionsgemeinschaften oder von der Kirchenfreiheit. Inwieweit das im Recht der Europäischen Union verwirklicht ist, wird im Folgenden untersucht.

1. Ableitung der korporativen aus der individuellen Religionsfreiheit a) Entwicklung der Rechtsprechung zu Art. 9 EMRK Da die EMRK nicht ausdrücklich ein korporatives Recht auf Religionsfreiheit anführt, verwundert es nicht, dass die EKMR in einer ersten Phase ein solches auch nicht anerkannt hat. Dafür sind zwei Entscheidungen 3 zu erwähnen, in denen die EKMR Beschwerden von Kirchen und Religionsgemeinschaften zurückgewiesen hat, weil Körperschaften die entsprechenden Rechte nicht ausüben könnten. In einer späteren Entscheidung der EKMR4 erkennt Blum einen Wandel zu einer zunächst „mittelbaren“ Zuerkennung eines korporativen Rechts auf Religionsfreiheit. „Mittelbar“ nennt er sie deshalb, weil damit den Kirchen „über die Rechte ihrer Mitglieder ein eigenes Recht auf Religionsfreiheit zuerkannt wurde und es danach zumindest einzelnen Kirchenmitgliedern möglich gewesen wäre, für ihre Kirche eine Beschwerde zu erheben“5. In Bezug auf diesen Fall ist von „Mittelbarkeit“ aber noch in einem anderen Sinn zu sprechen: Die Beschwerde wurde hier nämlich weder von einer Kirche noch von einem Mitglied für seine Kirche, sondern gegen diese eingebracht. Ein Pfarrer berief sich vor der EKMR wegen eines gegen ihn gerichteten Disziplinarverfahrens der dänischen Staatskirche auf Art. 9 EMRK. Diese berücksichtigte nun, obwohl die Beschwerde nicht zugunsten der Kirche erhoben worden war – also mittelbar –, dass aus Art. 9 EMRK auch der Kirche Rechte erwachsen und wies die Beschwerde ab. Dass Kirchen und Religionsgemeinschaften ein eigenes Beschwerderecht besitzen, zeigt sich erst in einer Entscheidung6 von 1979, wo die EKMR die Church of Scientology als Be-

______________ 3 EKMR, Nr. 3798/68, S. 314; Nr. 4733/71, S. 674. Im ersten Fall ging es um die Religionsfreiheit nach Art. 9 EMRK und um das religiöse Erziehungsrecht nach Art. 2 1.ZProt., im zweiten Fall hingegen nur um Letzteres. 4

EKMR, Nr. 7374/76, X / Dänemark, 160.

5

Blum, Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, 171.

6

EKMR, Nr. 7805/77. In Rn. 2 revidiert die EKMR ausdrücklich die frühere Judikaturlinie.

I. Korporative Religionsfreiheit: Die EU ist religiös inkompetent

131

schwerdeführerin zugelassen hat. Diese Rechtsprechung wurde seither in mehreren Fällen von der EKMR7 bekräftigt und vom EGMR8 übernommen. Interessant ist dabei außerdem die Entwicklung der Formeln, welche die EKMR zur Begründung des korporativen Elements von Art. 9 EMRK verwendet hat. Conring stellt fest, dass die ursprüngliche Formel „as a representative of its members“ 1986 ergänzt wurde durch die Wendung „in its own capacity“, 1987 aber wieder verkürzt vorkommt und dass die EKMR seit 1990 überhaupt keine Formel mehr verwendet.9 Das kann man als Reaktion auf die Kritik der Lehre, vor allem Blums, interpretieren oder einfach als Festigung der Rechtsprechung, die nun keiner Rechtfertigung mehr bedarf. In der Tat haben die verwendeten Formeln große Auslegungsschwierigkeiten bereitet.10 Anstelle von: „In its own capacity as a representative of its members“ wäre es nach Frowein korrekter zu sagen: “As a medium through which freedom of religion is exercised”.11 Er betont, dass eine Kirche oder Religionsgemeinschaft ihre Existenz unabhängig von der Rolle als Vertreterin ihrer Mitglieder verteidigen kann.12 Conring zufolge kann „in its own capacity“ bzw. „à titre personnel“ entweder bedeuten „im eigenen Namen“, womit eine Art Prozessstandschaft gemeint wäre, oder „in eigener Kompetenz“, was auf eine eigene Rechtsinhaberschaft hinweist, wobei das Zweite näher liegt. 13 Den Zusatz „as a representative of its members“ deutet er dann auf das besonders enge Verhältnis zwischen Kirche und Mitgliedern hin,14 versteht ihn aber so, dass sich das kollekti______________ 7

Religionsgemeinschaften als Träger der Religionsfreiheit nach Art. 9 EMRK: EKMR Nr. 12587/86, 246; Nr. 8118/77, Rn. 1; Nr. 11921/86, 88 (Eine Vereinigung kann nur die Religionsfreiheit, nicht aber die Gewissensfreiheit nach Art. 9 EMRK geltend machen.); Nr. 17522/90, Rn. 1. 8

Religionsgemeinschaften als Beschwerdeführer wegen Art. 9 EMRK: EGMR Nr. 27417/95, Cha’are Shalom ve Tsedek, Rn. 72; Nr. 45701/99, Metropolitankirche von Bessarabien, Rn. 101, Nr. 39023/97, Muslim Community, Rn. 74. 9

Conring, Korporative Religionsfreiheit in Europa, 353.

10

Die Entinstitutionalisierungstendenz in der Gesellschaft macht es zunehmend schwieriger, die Religionsgemeinschaften tatsächlich als Repräsentantinnen ihrer Gläubigen anzusehen. (Dalla Torre, Lezioni, 90; Torfs, Kirchenjuristen, 28 und 33). Außerdem vertreten Religionsgemeinschaften ihre Mitglieder nicht im selben Sinn wie etwa Gewerkschaften oder Konsumentenschutzvereine, denn diese werden direkt zum Zweck der Interessenvertretung gegründet, jene aber nicht. 11

Frowein, Freedom of Religion, 256.

12

Frowein, Bedeutung, 49.

13

Conring, Korporative Religionsfreiheit in Europa, 353f.

14

Ebd. 354.

C. Kirche und EU – voneinander unabhängig und autonom

132

ve nicht gegen das individuelle Recht wenden darf. 15 Jedenfalls wendet er sich gegen die Interpretation Kaufmanns, wonach der Zusatz bedeute, die Kirche oder Religionsgemeinschaft könne eigene Rechte nur geltend machen, wenn ihre eigene Existenz betroffen sei, ansonsten jedoch nur Rechte ihrer Mitglieder.16 Der EGMR verwendet eine Mischformel, wonach die Religionsgemeinschaft die Rechte gemäß Art. 9 EMRK „als solche“ und „im Namen ihrer Mitglieder“ ausübt.17 Der scheinbare Widerspruch zwischen diesen beiden Elementen löst sich auf, wenn man die Formel so versteht, dass der EGMR einerseits einfach an das Herkommen der korporativen Religionsfreiheit aus der individuellen erinnert, anderseits aber die inzwischen anerkannte Eigenberechtigung der Religionsgemeinschaften hervorhebt.18 In zwei Fällen deutete der EGMR eine individuelle Beschwerde sogar in eine solche der betreffenden Religionsgemeinschaft um.19 Verfehlt wäre es jedenfalls, die Formulierungen so zu interpretieren, als ob Art. 9 EMRK kein korporatives Recht beinhalte.20 In der jüngsten Rechtsprechung stützt sich der EGMR nicht mehr auf die Repräsenta-

______________ 15

Ebd. 356.

16

Ebd.

17

„As such – on behalf of its adherents“ bzw. „comme telle – au nom de ses fidèles“, vgl. EGMR Nr. 45701/99, Metropolitankirche von Bessarabien, Rn. 101; Nr. 39023/97, Muslim Community, Rn. 74. 18

Nach Heinig (Religionsgesellschaften, 431) hingegen bleibt es unklar, ob der EGMR von einer Vermittlung oder einer Eigenberechtigung ausgeht. Für Reichegger (Auswirkungen, 105) steht bei der Formel die enge Verknüpfung mit der individuellen Religionsfreiheit im Vordergrund. Eindeutig zu Gunsten der Eigenberechtigung interpretieren Grabenwarter (Menschenrechtskonvention, § 22, Rn. 84) und Schnabel (Stellung, 91=159) die Aussagen des EGMR. Betrachtet man die Urteile als Ganze, so steht das Eigenrecht klar im Vordergrund. 19

EGMR, Nr. 59/1995/565/651, Rn. 38; Nr. 143/1996/762/963, Rn. 30. Im letzten Fall war allerdings das Grundrecht nach Art. 6 EMRK zu prüfen. 20

So aber Hillgruber, Staat, 1177 und Vachek, Religionsrecht, 410. Letzterer entkräftet von Walter, Säkularisierung, 55. Nach Oellers-Frahm bedeutet der Eigenbereich, den die Kirchen und Religionsgemeinschaften genießen, nicht, dass sie von der Gerichtsbarkeit ausgenommen wären, sondern dass der Gerichtshof sie im Rahmen der Sachentscheidung berücksichtigt (Gerichtsbarkeit, 502). Die herrschende Lehre geht heute ohne Weiteres davon aus, dass Art. 9 EMRK die korporative Religionsfreiheit mit umfasst, vgl. Grabenwarter, Menschenrechtskonvention, § 22 Rn. 84; Heintzen, Kirchen, 37; Mückl, Weltanschauungsfreiheit, 200; Weber, Neuralgische Punkte, 487.

I. Korporative Religionsfreiheit: Die EU ist religiös inkompetent

133

tionsformel, sondern geht eindeutig davon aus, dass es sich um echte korporative Rechte der Religionsgemeinschaft handelt.21

b) Gründe der Rechtsträgerschaft von Religionsgemeinschaften Conring arbeitet die allgemeinen dogmatischen Grundlagen heraus, nach denen auch juristische Personen Grundrechtsträger sein können. Danach setzt die Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen zunächst deren Rechtsfähigkeit voraus, was heute unbestritten ist.22 Außerdem dürfen Grundrechte nicht rein negatorisch und individuell verstanden werden, eine Auffassung, die Conring bei Schmitt vorgefunden hat, die er heute aber für nicht mehr gültig hält. 23 Nur im Völkerrecht findet Kimminich noch das Problem, dass Menschenrechte rein individuell verstanden werden, aber auch hier – und zwar besonders bei der Religionsfreiheit – sieht er Gruppenrechte sich entwickeln.24 Der Wortlaut von Art. 9 EMRK erwähnt zwar nicht ausdrücklich eine korporative Grundrechtsträgerschaft, doch weist der Ausdruck „in Gemeinschaft mit anderen“ bereits darauf hin.25 Diese Wendung meint zwar in erster Linie die kollektive Religionsfreiheit,26 enthält aber schon eine indirekte Garantie, religiöse Organisationen zu gründen.27 Aus den Vorbereitungsarbeiten zur EMRK geht jedoch hervor, dass man darüber hinaus die religiösen Organisationen schützen wollte.28 Ein weiteres Argument dafür ergibt sich aus der Verbindung mit Art. 25 EMRK. Bleckmann zufolge lässt sich aus dieser prozessualen Vorschrift materiellrechtlich die Grundrechtsträgerschaft auch juristischer Personen

______________ 21

Söbbeke-Krajewski, Acquis Communautaire, 166.

22

Conring, Korporative Religionsfreiheit in Europa, 70.

23

Ebd. 73.

24

Kimminich, Religionsfreiheit, 76f.

25

Vgl. Frowein, Bedeutung, 49; Blum, Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit,

170. 26

Die kollektive Ausübung der Religionsfreiheit bedeutet noch nicht Autonomie der Kirchen (Marano, Unione europea, 890). 27

Frowein, Jochen, Freedom of Religion, in: ZaöRV 1986 (46) 255. Vgl. Marauhn, Bedürfnis- und Bedeutungsadäquanz, 433. 28

Carobene, Corte europea, 128.

134

C. Kirche und EU – voneinander unabhängig und autonom

ableiten.29 Conring zieht als Maßstab sowohl die Natur der Organisation als auch das Wesen der Rechte heran30 und trennt bei Art. 25 strikt zwischen den Rechten der Verbände und denen ihrer Mitglieder.31 Art. 11 verdeutlicht, dass die EMRK ebenfalls Vereinigungen schützt und kann damit als Argument dafür dienen, dass dieselbe Konvention die Religionsfreiheit nach Art. 9 genauso religiösen Gemeinschaften gewähren will. Ob die korporative Religionsfreiheit auf Art. 9 oder 11 EMRK gestützt wird, ist keineswegs gleichgültig, da die Schrankenregelung des Art. 11 Abs. 2 EMRK mehr Rechtfertigungsgründe zulässt und das Grundrecht daher stärker beschränkt als jene von Art. 9 Abs. 2 EMRK. Wie stehen die beiden Grundrechte nun zueinander? Es wäre verfehlt, die korporative Religionsfreiheit nur in dem einen oder dem anderen dieser beiden Artikel verankert zu sehen. Verletzungen verstoßen nicht immer gegen ein einziges Grundrecht; manche Grundrechte wie Art. 8 und 12 oder Art. 9 und 10 EMRK werden sogar häufig kumulativ anzuwenden sein. Gerade bei der Abwägung im Falle von Grundrechtskollisionen kann es den Ausschlag geben, dass ein und dasselbe Rechtsgut von zwei Grundrechten zugleich geschützt wird. In der Lehre vertreten manche Autoren, dass die Autonomie der Religionsgemeinschaften vorrangig auf Art. 11 EMRK zu stützen sei,32 andere halten dem entgegen, dass die volle Autonomie nur aus Art. 9 EMRK abgeleitet werden könne,33 und wieder andere versuchen eine vermittelnde Position,34 nach der beide Grundrechte in dieser Frage zusammen______________ 29

Bleckmann, Religionsfreiheit, 28. Vgl. auch Duffar, liberté religieuse, 334 und van Dijk / van Hoof, European Convention, 405. Art. 25 EMKR besagt freilich nicht, dass jedes EMRK-Recht unbegrenzt allen Personengesamtheiten zukommt. 30

Conring, Korporative Religionsfreiheit in Europa, 335.

31

Ebd. 355.

32

Marauhn zufolge legt es die Rechtsprechung der Straßburger Instanzen nahe, dass Verletzungen der religiösen Vereinigungsfreiheit zuerst unter Art. 11 und nur im Ausnahmefall unter Art. 9 zu prüfen sind, auch wenn religiöse Überzeugungen im entsprechenden Fall nicht unerheblich sind (Bedürfnis- und Bedeutungsadäquanz, 439). Ähnlich argumentieren van Dijk / van Hoof, dass das Recht nach Art. 11 eng mit Art. 9 und 10 verbunden, diesen gegenüber aber lex specialis sei, und dass die Art. 9 und 10 ein zusätzliches Argument für eine Verletzung des Art. 11 EMRK liefern könnten (European Convention, 429). 33

Und zwar aufgrund der unterschiedlichen Schrankenregelungen (Bleckmann, Selbstbestimmungsrecht der Kirchen, 60). Für Bleckmann dient Art. 11 EMRK nur zur Bestätigung des Selbstbestimmungsrechts der Kirchen und Religionsgemeinschaften (ebd. 59). 34 Conring betrachtet die religiöse Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit als „Bindeglied zwischen kollektiver und korporativer Religionsfreiheit“ (Conring, Korporative Religionsfreiheit in Europa, 359). Er stellt auch eine Tendenz der EKMR fest, die

I. Korporative Religionsfreiheit: Die EU ist religiös inkompetent

135

zunehmen sind. Die EKMR prüfte in den Entscheidungen, die beide Grundrechte betrafen, bald das eine und bald das andere zuerst.35 Klarheit in dieser Frage brachte nun ein Urteil des EGMR, der zuerst eine Verletzung von Art. 9 EMRK geprüft und bejaht hatte und dann auf eine Prüfung von Art. 11 verzichten konnte, weil sie keinen neuen Aspekt mehr gebracht hätte. 36 Diese Vorgangsweise zeigt deutlich, dass das korporative Recht in erster Linie und vollständig in Art. 9 EMRK enthalten ist, Art. 11 EMRK jedoch zur Unterstützung herangezogen werden kann. Ein weiteres Argument für den korporativen Schutz in Art. 9 EMRK lässt sich aus den in Abs. 1 genannten Ausübungsformen gewinnen, wenn man bedenkt, dass diese das Bestehen von Kirchen und Religionsgemeinschaften größtenteils voraussetzen.37 Bleckmann argumentiert dementsprechend: „Eine individuelle Betätigung des Glaubens als Element der Religionsfreiheit kann ohne die Möglichkeit des Zusammenschlusses und die dann notwendige Gewährung der Religionsfreiheit als Verbandsrecht vielfach gar nicht gedacht werden.“38 Und Conring bringt es auf den Punkt: „Die religiöse Körperschaft ist in Grenzen religionsnotwendig.“39 Kimminich sieht in der Vergangenheit zwei Probleme religiöser Diskriminierung – auf der einen Ebene einen Konflikt zwischen Staat und Einzelnem, auf der anderen einen Konflikt zwischen Staat und Kirche – und bedauert, dass Staaten bisweilen zwar zugegeben hätten, dass die religiösen Überzeugungen des Einzelnen in bestimmten Bereichen Vorrang genössen, dann aber diese Lebensbereiche in unangemessener Weise immer weiter eingeengt hätten. Daher folgert er: „Wenn die Religionsfreiheit beide Ebenen umfasst, so bedeutet das, dass sie es nicht nur mit der Beseitigung von Hindernissen zu tun hat, die dem Recht des einzelnen auf Bekenntnis und Praktizierung seines Glaubens entgegengestellt werden, sondern dass es bei ihr auch um die Schaffung von Regeln für das reibungslose Funktionieren der ______________

Zusammenschlussfreiheit in Art. 9 EMRK zu sehen, und schließt, dass die religiöse Vereinigungsfreiheit im Schnittbereich der beiden Bestimmungen liege, die sich nicht verdrängen, sondern gemeinsam anwendbar seien (ebd. 360). Blum bemerkt zuerst, dass sich eine religiöse Vereinigungsfreiheit nicht aus Art. 9, sondern nur aus Art. 11 EMRK ableiten lasse (Blum, Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, 75), erkennt dann aber den Zusammenschluss zu religiösen Gemeinschaften und die gemeinsame Religionsausübung als wesentliche Bestandteile der Religionsfreiheit an (ebd. 170). 35

Vgl. EKMR Nr. 8652/79 und Nr. 12587/86.

36

EGMR Nr. 30985/96, Hasan und Caush, Rn. 91.

37

So ist die „Ausübung von Gebräuchen“ ein Recht der Religionsgemeinschaft selbst (vgl. Grabenwarter, Korporative Religionsfreiheit, 154). 38

Bleckmann, Religionsfreiheit, 30.

39

Conring, Korporative Religionsfreiheit in Europa, 65.

136

C. Kirche und EU – voneinander unabhängig und autonom

Beziehungen zwischen Kirche und Staat geht.“40 Dass die korporative Religionsfreiheit die Voraussetzung für die volle Wahrnehmung der individuellen ist,41 stellt das stärkste Argument für ihre Begründung in Art. 9 EMRK dar, das von den Argumenten aus dem Wortlaut („in Gemeinschaft mit anderen“) bzw. aus der Verbindung mit Art. 11 oder 25 EMRK nur unterstützt wird. Ein weiteres Argument für einen korporativen Schutz nach Art. 9 EMRK leitet Bleckmann aus der engen Verbindung ab, welche die Katholische Kirche zwischen Glaube und Organisationsrecht bzw. zwischen Verkündigungs- und Heiligungsdienst und dem Kirchenrecht herstellt. Wenn nun die EMRK den Glauben sowie Lehre und Sakramentenspendung schützt, dann muss sie in gleicher Weise die Freiheit der Kirche schützen, die Organisationsform selbst zu wählen42 und das Kirchenrecht selbst festzulegen und zu vollziehen.43 Das scheint jedoch nur eine Konkretisierung des Arguments der gegenseitigen Bedingtheit von individueller und korporativer Religionsfreiheit für die spezielle Situation der katholischen Kirche zu sein. Immerhin wird dabei aber deutlich, dass es auch an der internen Kirchenorganisation liegt, wie weit das Selbstbestimmungsrecht gehen kann.

c) Grundrechtsträger Wer kann nun konkret in den Genuss der korporativen Religionsfreiheit nach Art. 9 EMRK kommen? Gemäß Art. 25 EMRK können auch nichtstaatliche Organisationen und Personenvereinigungen eine Individualbeschwerde erheben. Blum unterscheidet nach der Organisationsform der Kirche oder Religionsgemeinschaft:44 Wenn keine eigenständige Organisation vorliegt, handle es sich nur um eine Personenvereinigung, bei der jedes einzelne Gruppenmitglied die Verletzung geltend machen müsse. Von einer nichtstaatlichen Organisation spricht er auch dann noch, wenn die Religionsgemeinschaft eine Körperschaft ______________ 40

Kimminich, Religionsfreiheit, 76.

41

Vgl. Heinig, Religionsgesellschaften, 497. Der Einzelne ist auf die Gemeinschaft bezogen und auf sie angewiesen (Marauhn, Grundrechtlicher Schutz, 57). Zwischen den einzelnen Angehörigen einer Religionsgemeinschaft besteht eine Solidarität der Interessen und eine Beziehung reziproker Instrumentalität, weshalb man notwendig auf die soziale Dimension Bezug nehmen muss (Dalla Torre, Lezioni, 98). Behinderungen der Freiheit der Gruppe sind auch Behinderungen der Freiheit des Einzelnen (Vitale, Regolamentazione, 585f.). Jede Idee braucht einen Träger (Torfs, Relationships, 88). 42

Bleckmann, Religionsfreiheit, 40f.

43

Bleckmann, Religionsfreiheit, 42.

44

Blum, Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, 172.

I. Korporative Religionsfreiheit: Die EU ist religiös inkompetent

137

öffentlichen Rechts ist, solange sie keine Hoheitsbefugnisse ausüben kann; Staatskirchen hingegen hätten kein Beschwerderecht. Ebenso wenig können sich juristische Personen mit wirtschaftlicher Zielsetzung auf Art. 9 EMRK berufen, wie die EKMR entschieden hat.45 Offen bleibt somit, ob Vereinigungen mit religiösen oder kirchlichen Aufgaben, die aber selbst nicht Kirchen oder Religionsgemeinschaften sind, in den Genuss der Religionsfreiheit nach Art. 9 EMRK gelangen können. Vachek meint dazu, dass solche Organisationen ihre Tätigkeit zwar selbst als Religionsausübung ansähen, ihre Mitglieder hingegen als Berufsausübung und dass sie deshalb eher unter die Berufsfreiheit als unter die Religionsfreiheit fielen, weil das korporative Recht sich von den individuellen Rechten der Mitglieder ableite. 46 Dem ist aber entgegenzuhalten, dass – wie bereits erwähnt – einzelne Grundrechte einander nicht ausschließen müssen, sondern auch kumulativ anwendbar sein können, und dass ferner der Schutzbereich des korporativen Rechts über den des individuellen hinausgehen kann, wie unten in Abschnitt C.I.5.a) zu zeigen ist. Sinnvoller wäre daher das Kriterium, ob die betreffende Organisation vorwiegend religiöse oder wirtschaftliche Ziele verfolgt.

d) Übertragung der korporativen Freiheit in das EU-Recht In den vorigen Abschnitten wurde die Stellung der korporativen Religionsfreiheit im Rechtskreis der EMRK dargestellt. Für den Rechtskreis der EU ist sie in derselben Weise relevant, wie bereits hinsichtlich der individuellen Religionsfreiheit dargelegt wurde [oben Abschnitt B.I.3.]. Gemäß Art. 6 Abs. 2 EUV achtet die Union die Grundrechte, wie sie in der EMRK verankert sind. Wenn nun die Religionsfreiheit nach Art. 9 EMRK eine korporative Komponente besitzt, dann ist das auch von der Europäischen Union zu beachten. 47 Außerdem übernimmt Art. 10 Abs. 1 GRCH den Art. 9 Abs. 1 EMRK in den Bereich der Europäischen Union. Da diejenigen Chartarechte, die Konventionsrechten entsprechen, in der Charta dieselbe Bedeutung und Tragweite besitzen ______________ 45

EKMR, Nr. 7865/77, Gesellschaft X / Schweiz, 58.

46

Vachek, Religionsrecht, 211.

47

So auch Haedrich, Verhältnis, 75. Kopp erinnert daran, dass die Europäische Kommission die Berücksichtigung des Selbstbestimmungsrechtes der Kirchen in der Datenschutzrichtlinie nicht vorgesehen hatte, sondern stattdessen auf Art. 6 EUV verwies (zitiert in: Meyer, Datenschutzrecht, 324). Das heißt, dass auch die Kommission davon ausgeht, dass das Selbstbestimmungsrecht bereits durch Art. 6 EUV geschützt ist. Skeptisch, ob der EuGH sich dem korporativen Verständnis des EGMR anschließen wird, zeigt sich hingegen Kalb, Staatskirchenrecht, 91.

138

C. Kirche und EU – voneinander unabhängig und autonom

(Art. 52 Abs. 3 GRCH) und überdies die Rechtsprechung des EGMR zu berücksichtigen ist (Präambel), kann nur geschlossen werden, dass Art. 10 Abs. 1 GRCH ebenfalls die korporative Dimension der Religionsfreiheit verbürgt. 48 Zudem können all die Begründungen, die für die korporative Religionsfreiheit in Art. 9 EMRK ins Treffen geführt wurden, ebenso auf die GRCH angewandt werden: Auch hier spricht der Wortlaut von der gemeinsamen Ausübung (Art. 10 GRCH), auch hier gibt es eine Verbindung zur Vereinigungsfreiheit (Art. 12 GRCH)49 und auch hier setzt die volle Wahrnehmung der individuellen Freiheit selbstverständlich das Bestehen der korporativen voraus. Da die GRCH aber die prozessuale Durchsetzung der Rechte völlig ausklammert, enthält sie keine dem Art. 25 EMRK entsprechende Bestimmung, aus der allgemein die Grundrechtsträgerschaft nichtstaatlicher Organisationen hervorginge. Dennoch bejaht die Lehre dies weitgehend.50 Wenn somit Art. 10 GRCH ohne Zweifel implizit das korporative Element umfasst, so ist doch zu bedauern, dass der Grundrechtekonvent die Chance vertan hat, dieses durch die EMRK-Judikatur ohnehin längst gefestigte Element auch ausdrücklich festzuschreiben.51 Der Konvent war aber insgesamt auf Kürze bedacht, zeigte sich gegenüber kollektiven Grundrechten generell sehr vorsichtig und wollte den Status von Kirchen und Religionsgemeinschaften nicht in den Grundrechten regeln.52 Ein neuerlicher Vorstoß der Kirchen, bei der Übernahme der GRCH in den VVE die korporative Religionsfreiheit einzufügen, blieb ebenfalls ohne Wirkung, weil die GRCH dabei nach allge-

______________ 48 Das entspricht der allgemein verbreiteten Lehre: Gimelli, Osservazioni, 247; Hobe, Verbürgung, 319; Marano, Unione europea, 901; Reichegger, Auswirkungen, 150; Weber, Religionsfreiheit, 286. Heinig weist darauf hin, dass dem Grundrechtekonvent die korporative Deutung durch den EGMR vor Augen stand und daher auch in der GRCH vorauszusetzen ist (Religionsgesellschaften, 249; Grundrechtscharta, 450). 49

Dieser Artikel zählt die politischen, gewerkschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Vereinigungen nur beispielsweise auf und schließt daher religiöse nicht aus. 50

Hummer (Status, 76) verweist auf die Judikatur des EuGH, wonach zumindest die juristischen Personen des Privatrechts Gemeinschaftsgrundrechtsträger sind. 51 Das wäre ein Anliegen der Kirchen gewesen: COMECE, Entwurf der Charta; dies., Bemerkungen; dies., Beitrag. Vgl. auch Dalla Torre, Laicità, 17 und 27; Haedrich, Verhältnis, 83; Marano, Unione europea, 897; Reichegger, Auswirkungen, 150. 52 Alber, Charta der Grundrechte, 302; Alber/Widmaier, EU-Charta, 500; Berlingò, Condizione, 1361; Berndorf, Charta, 188.

I. Korporative Religionsfreiheit: Die EU ist religiös inkompetent

139

meinem Dafürhalten nicht mehr verändert werden sollte.53 Dafür findet sich die korporative Dimension nun in Art. I-52 VVE.54

2. Kirchenfreiheit in internationalen Dokumenten außer der EMRK Neben der EMRK hat der EuGH schon andere internationale Verträge als Rechtserkenntnisquellen zur Entwicklung von Gemeinschaftsgrundrechten herangezogen. Wie bereits dargelegt, ist in vielen völkerrechtlichen Verträgen und Erklärungen die individuelle Religionsfreiheit verankert, so dass sich die korporative daraus ähnlich wie aus Art. 9 EMRK ableiten lässt.55 So enthält Art. 18 IPbpR wie schon Art. 18 AEM und Art. 9 EMRK eine Klausel, nach der die öffentliche Religionsausübung in Gemeinschaft mit anderen ebenso geschützt wird, was einen der Ansatzpunkte für die korporative Religionsfreiheit darstellt.56 Außerdem ist Art. 18 in Verbindung mit der Vereinigungsfreiheit nach Art. 22 IPbpR zu lesen, die auch Religionsgemeinschaften genießen.57 Der Capotorti-Bericht der UNO aus dem Jahr 1979 bejaht ohne Weiteres, dass die Ausübung der Religionsfreiheit aufgrund der Natur von Religion und Religionsgemeinschaften viele Auswirkungen hat, die nicht nur die individuelle, sondern auch die kollektive Ebene sowie die Beziehungen zwischen Staaten und Religionen betreffen. 58 ______________ 53

Als beschlossen war, dass die GRCH als Ganze und mit ihr die Religionsfreiheit in den Verfassungsvertrag übernommen würde, spielte die Forderung nach kirchlicher Selbstverwaltung keine Rolle mehr (Heinig, Religionsverfassungsrecht, 176). 54

Fornés (libertà religiosa, 53) sieht darin sogar das Prinzip verwirklicht, dass jede Religionsgemeinschaft eine originäre Unabhängigkeit und nicht nur eine zugestandene Autonomie innerhalb der weltlichen Rechtsordnung besitzt. Auch nach der Erklärung COMECE vom 19.6.2003 liegt Abs. 3 der Gedanke der Verschiedenheit der Kirchen und Religionsgemeinschaften von staatlicher Macht zugrunde. 55 Siehe oben Abschnitt B.I.3. Dort wurde auch bereits die unterschiedliche rechtliche Qualität der einschlägigen internationalen Dokumente und ihre unterschiedliche Relevanz für die Europäische Union untersucht, so dass diese Fragen hier nicht mehr behandelt werden müssen. 56

Vgl. Marauhn, Bedürfnis- und Bedeutungsadäquanz, 433. Zudem setzt Art. 18 IPbpR wie Art. 9 EMRK die religiöse Vereinigungsfreiheit voraus (ebd. 438). 57 58

Margiotta Broglio, Fenomeno, 198; Nowak, UNO-Pakt, 338.

Capotorti, Study on the rights of Persons, Nr. 386. Der Bericht untersucht anschließend zahlreiche Aspekte der korporativen Religionsfreiheit: Rechtsstatus von Religionsgemeinschaften, Finanzierung, Gültigkeit religiösen Rechts und religiöser Bräuche, Recht auf Selbstverwaltung, Gründung von Erziehungseinrichtungen usw. Auch der jüngste UN-Bericht über die Lage der Religionsfreiheit weltweit von Asma

140

C. Kirche und EU – voneinander unabhängig und autonom

Hier interessieren aber vor allem solche Stellen in internationalen Dokumenten, aus denen die korporative Religionsfreiheit nicht nur indirekt, sondern explizit hervorgeht und die in diesem Punkt die EMRK somit an Deutlichkeit übertreffen. Dazu sind zunächst die Rechte religiöser Minderheiten zu nennen, die gerade die gemeinschaftliche Dimension der Religion schützen. Art. 27 IPbpR gewährt ein derartiges Recht jedoch nicht der Minderheit selbst, sondern nur ihren einzelnen Angehörigen.59 Ebenso schließen die Erklärung der UNGeneralversammlung über die Rechte der Minderheiten (Res. 47/135) und das Europäische Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten (vom 1.2.1995) zwar auch die religiöse Identität der Minderheiten ein, garantieren die entsprechenden Rechte aber nur den einzelnen Angehörigen. Aber selbst ein Recht der Minderheit als solcher wäre noch keine korporative Religionsfreiheit, denn deren Träger sind nicht Minderheiten, sondern Religionsgemeinschaften. Echte korporative Rechte von Religionsgemeinschaften bringt hingegen Art. 6 der Erklärung über die Beseitigung aller Formen von Intoleranz und Diskriminierung aufgrund von Religion oder Glaube (Res. 36/55):60 Das Recht, Orte für die gemeinsame Gottesverehrung zu errichten und zu erhalten; das Recht karitative und humanitäre Institutionen zu gründen; das Recht, das für die Religionsausübung nötige Material zu erwerben; das Recht auf Herausgabe und Verbreitung religiöser Publikationen; das Recht, die Religion zu lehren; das Recht, finanzielle Beiträge zu erbitten und entgegenzunehmen; das Recht, die religiösen Führer selbst zu bestimmen, und das Recht auf Kommunikation mit anderen Gemeinschaften auf nationaler und internationaler Ebene. Noch deutlicher und detaillierter bringt das Prinzip Nr. 16 im Abschlussdokument des KSZE-Folgetreffens von Wien (1989) die Rechtsposition von

______________

Jahangir (20.12.2004) berücksichtigt Rechte wie die Registrierung von Religionsgemeinschaften. 59

Vgl. Grote, Religionsfreiheit, 30. Art. 27 verdoppelt nicht, was schon in Art. 18 IPbpR enthalten ist, sondern konzentriert sich auf spezielle Minderheitenprobleme, wie z.B. die Errichtung und Erhaltung religiöser Institutionen und Schulen, den Status von Religionsdienern, den Schutz heiliger Plätze usw. (Capotorti, Study on the rigths of persons, Nr. 227). 60

Auch wenn die Religionsgemeinschaften dabei nicht als Rechtsträger genannt werden, so handelt es sich doch um Rechte, die von der Natur der Sache her nur ihnen zustehen können (vgl. Grote, Religionsfreiheit, 32). Das ursprünglich geplante Verbot, nur bestimmte Kirchen zu finanzieren, wurde auf den Widerstand der Länder mit Staatskirchen fallen gelassen (Carobene, Protezione, 373).

I. Korporative Religionsfreiheit: Die EU ist religiös inkompetent

141

Religionsgemeinschaften zum Ausdruck:61 Recht auf staatliche Anerkennung, Andachts- und Versammlungsorte, freie Organisation nach der eigenen Struktur, Auswahl des Personals nach eigenen Regelungen, Finanzierung der Religionsgemeinschaften, Kommunikation zwischen Staat und religiösen Führern, Religionsunterricht, Ausbildung des Personals von Religionsgemeinschaften, religiöse Schriften und Materialien sowie die Teilnahme am öffentlichen Dialog einschließlich Massenmedien. Dieser Text versagt sich einerseits dem Modell des Glaubensstaates und vermeidet anderseits den Begriff der Trennung von Kirche und Staat sowie wie die Verdrängung der Religion aus dem öffentlichen Bereich, sondern legt vielmehr ein System der Kooperation nahe.62 Die nunmehrige OSZE empfiehlt den Staaten in Punkt II.D ihrer Richtlinien,63 sich möglichst wenig in Fragen des Glaubens und der internen Organisation von Religionsgemeinschaften einzumischen. Auch wenn die rechtliche Relevanz der meisten internationalen Dokumente außerhalb der EMRK für die Europäische Union begrenzt ist, so liefern manche von ihnen doch wertvolle Hinweise für die inhaltliche Ausgestaltung des korporativen Rechts der Religionsgemeinschaften.

3. Kirchenfreiheit in den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen Neben der EMRK sind als Grundrechtsquelle nach Art. 6 Abs. 2 EUV auch die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten heranzuziehen. Während sich diese bei der individuellen Religionsfreiheit relativ weit decken, weichen sie bei der korporativen ziemlich stark voneinander ab, stellt sich die Autonomie der Kirchen doch ganz anders dar je nach dem, ob es sich um das laizistische System Frankreichs, das Staatskirchentum Dänemarks oder das Kooperationssystem Italiens handelt. Da beim Vergleich der Verfassungsüberlieferungen weder der Minimal- noch der Maximalstandard maßgeblich sind, können weder die Systeme mit geringster noch die Systeme mit höchster Autonomie den Ausschlag geben. So stellt die französische Laizität unter den Mitgliedstaaten eher den Ausnahmefall als eine gemeinsame Verfassungsüberlieferung dar,64 aber auch der sehr hohe Grad an Selbstbestimmung der Kirchen in Deutschland kann nicht als gemeinsamer europäischer Standard angesehen ______________ 61

Vgl. Grote, Religionsfreiheit, 32; Schnabel, Stellung, 90=158; Sucker, Staatskirchenrecht, 31; Vachek, Religionsrecht, 399. 62

Hollerbach, KSZE-Prozess, 129.

63

Guidelines for Review of Legislation pertaining to Religion or Belief, Venezia 18.19.6.2004, http://www.osce.org/odihr/item_11_13600.html [9.5.2006]. 64

Vgl. Heintzen, Kirchen, 40.

142

C. Kirche und EU – voneinander unabhängig und autonom

werden.65 Vielmehr ist eine wertende Rechtsvergleichung66 anzustellen, für die es sich als hilfreich erweist, dass sich die verschiedenen Systeme in Europa, wie zahlreiche Autoren festgestellt haben, ohnehin auf eine gemeinsame Mitte hin entwickeln, die in einem System der Kooperation von Staat und Kirchen besteht.67 Die meisten mittel- und osteuropäischen Staaten, die nach dem Zusammenbruch des Kommunismus ihr Verhältnis zu den Religionsgemeinschaften neu ordnen mussten, entschieden sich ebenfalls gegen die Extremmodelle für ein System der europäischen Mitte. 68 Durch ihren Beitritt zur Europäischen Union wird dieses daher als gemeinsame Verfassungsüberlieferung noch gestärkt. Einigkeit besteht darin, dass sich alle Mitgliedstaaten gegenüber der religiösen Ordnung selbst begrenzen69 und den Kirchen und Religionsgemeinschaften eine gewisse Autonomie gewähren, 70 sei es dass dies in der Verfassung ausdrücklich erwähnt oder implizit eingeschlossen71 ist. Bleckmann kommt zu dem Ergebnis, dass auch jene Staaten, welche nur die individuelle Religionsfreiheit kodifizieren, daraus immer ein kollektives Selbstbestimmungsrecht der Kirchen ableiten.72 Mehr als das Bestehen einer solchen Auto______________ 65

Vgl. Müller-Volbehr, Jahrtausendwende, 408; Nach Bleckmann (Religionsfreiheit, 9), der auf den Maximalstandard abstellt, ist aber gerade das deutsche Selbstbestimmungsrecht maßgeblich, weil es das großzügigste unter den Mitgliedstaaten sei. Nach Sucker (Staatskirchenrecht, 14) hingegen, die die wertende Rechtsvergleichung zugrunde legt, ist das deutsche Staatskirchenrecht gar nicht exzeptionell, so dass es nicht ausgeklammert werden muss. 66

Vgl. Mückl, Weltanschauungsfreiheit, 203; Vachek, Religionsrecht, 183.

67

Vgl. Robbers, Verhältnis der Europäischen Union, 17; ders., Verhältnis von Staat und Kirche, 127; Potz sieht ein gemeinsames europäisches Modell der Rechtsstellung von Kirchen und Religionsgemeinschaften sich entwickeln, das sich vom USamerikanischen abhebt (Partner, 12). 68

Vgl. Torfs, Kirchenjuristen, 30. Geholfen hat dabei die KSZE, deren Teilnehmer diese Staaten ja schon zur Zeit des Kommunismus waren, und die gemeinsame Standards gesetzt hatte (Barberini, Stato giuridico, 93). 69

Dalla Torre, Laicità, 20.

70

Sucker, Staatskirchenrecht, 13.

71

Mückl, Weltanschauungsfreiheit, 206.

72

Bleckmann, Religionsfreiheit, 40. Er stellte diese Untersuchung aber nicht im Hinblick auf ein Gemeinschaftsgrundrecht an, das aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen zu gewinnen wäre, sondern im Hinblick auf die Frage, ob Art. 9 EMRK eine korporative Komponente beinhaltet. Da eine solche nämlich nur zum Randbereich der Religionsfreiheit gehört, die EMRK aber keine revolutionären Neuerungen für die Konventionsstaaten bringen wollte, könne sie aus Art. 9 EMRK nur abgeleitet werden, wenn sie auch mit den staats- und volkskirchlichen Systemen in Europa vereinbar sei (ebd. 14). Dieser Methode hält Vachek aber entgegen, dass die Rechtsvergleichung

I. Korporative Religionsfreiheit: Die EU ist religiös inkompetent

143

nomie kann aber wohl kaum als gemeinsame Verfassungstradition angesehen werden, da bei der Frage ihres Umfangs und ihrer Ausgestaltung bereits die Divergenzen beginnen.73

4. Ansätze zu kirchlicher Autonomie im EU-Recht selbst a) Charta der Grundrechte Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Garantie der Religionsfreiheit in Art. 10 GRCH in Entsprechung zu Art. 9 EMRK die korporative Dimension mit umfasst. Die GRCH enthält mit Art. 22 aber noch eine weitere Bestimmung, die möglicherweise die korporative Freiheit von Religionsgemeinschaften schützt.74 Wenn die Union danach nämlich die Vielfalt der Religionen achtet, dann muss diese Achtung auch die Träger der Religionen, also die Religionsgemeinschaften, einschließen. Es legt sich hier somit eine Auslegung des Ausdrucks „Religion“ als organisierter Religion, d.h. als Religionsgemeinschaft nahe, denn die Religion im Sinne von Kult oder innerer Überzeugung kann nicht Träger eines Grundrechts sein. Gegen diese Auslegung spricht aber, dass andere Sprachfassungen nicht das Substantiv „Religion“, sondern nur das Adjektiv „religiös“ verwenden, was viel weniger auf eine Deutung im Sinne von „Religionsgemeinschaft“ hinweist.75 Außerdem sind die beiden anderen Elemente von Art. 22 GRCH, nämlich die Kulturen und Sprachen, nicht wie die Religionen organisiert, weshalb sich hier schwer ein korporativer Grundrechtsträger ausmachen ließe. Wie schon in Abschnitt B.III.3. dargelegt, gibt die

______________

weniger zur Methode der Straßburger Instanzen als des EuGH gehört (Religionsrecht, 408). In der Tat ist die korporative Dimension von Art. 9 EMRK durch die Straßburger Instanzen auf andere Weise begründet worden, während die Rechtsvergleichung in Art. 6 Abs. 2 EUV ihren Platz hat. 73

Vgl. Messner, Approche comparative, 46f; Mückl, Weltanschauungsfreiheit, 206; Sucker, Staatskirchenrecht, 13. 74

Reichegger (Auswirkungen, 151) lehnt es hingegen ab, in Art. 22 eine korporative Dimension zu erblicken, weil der Grundrechtekonvent eine solche schon nicht in Art. 10 aufnehmen wollte und sie deswegen erst recht nicht in Art. 22 enthalten sein könne. In Wirklichkeit enthält Art. 10 aber sehr wohl die korporative Dimension, er nennt sie nur nicht ausdrücklich. In gleicher Weise kann sie auch in Art. 22 implizit enthalten sein. 75

Im Italienischen z.B. „Diversità religiosa“. Der italienische Staatskirchenrechtler Dalla Torre entdeckt in Art. 22 GRCH keine korporative Dimension (Lezioni, 100; Laicità, 23).

144

C. Kirche und EU – voneinander unabhängig und autonom

Formulierung des Art. 22 GRCH ferner zu erkennen, dass kein echtes Grundrecht, sondern nur ein Grundprinzip intendiert war.76 Aber selbst wenn kein Grundrecht mit einem korporativen Rechtsträger vorliegt, so kann doch auch ein reines Grundprinzip eine korporative Dimension enthalten. Die mitgliedstaatlichen Verbürgungen der Autonomie von Religionsgemeinschaften haben oft nur den Charakter eines Verfassungsprinzips ohne Grundrechtscharakter. Die kollektive oder sogar korporative Deutung des Grundprinzips von Art. 22 GRCH lässt sich durch zwei Argumente aus seiner Entstehungsgeschichte untermauern. Ursprünglich war an dieser Stelle nämlich ein Minderheitenrecht geplant, das naturgemäß eine kollektive Dimension aufweist.77 Auf den Widerstand von Frankreich und Spanien78 hin wurde es aber so zurechtgestutzt, dass das Element der Minderheiten entfiel, was den Artikel auch für die größeren Religionen öffnet, während das kollektive Element erhalten blieb. Zweitens war eine der Quellen für Art. 22 GRCH die Erklärung Nr. 11 in den Schlussakten des Vertrags von Amsterdam. Diese Erklärung ist nun eindeutig korporativ zu verstehen, schützt sie doch den Status, den Kirchen, religiöse Gemeinschaften und Vereinigungen in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen. Hier werden jedoch nicht die Religionsgemeinschaften direkt geschützt, sondern nur der Status, der ihnen von den einzelnen Staaten gewährt wird und recht verschiedene Grade an Autonomie beinhalten kann. In Art. 22 GRCH wurde eine solche Mediatisierung durch die Mitgliedstaaten nicht übernommen, so dass der Schutz sich jetzt direkt auf die Religionsgemeinschaften selbst bezieht und ihnen die Autonomie unabhängig von einzelstaatlichen Garantien gewährt wird.79 Der Schutz der Autonomie der Religionsgemeinschaften nach Art. 22 GRCH ergänzt die korporative Religionsfreiheit nach Art. 10 GRCH um einen wichtigen Aspekt: Die Vielfalt. Wenn die Union nämlich die Vielfalt der Religionen achtet, so heißt das nicht nur, dass sie in den Bereich der Religionsgemeinschaften nicht eingreift, sondern auch, dass sie diese in ihrer Verschiedenartigkeit bestehen lässt, ohne ihre rechtlichen Ausformungen zu homogenisieren. ______________ 76

Nach Grabenwarter (Charta, 4) lassen sich daraus keine subjektiven Rechte ableiten. Barriga (Entstehung, 109) hingegen sieht darin immerhin ein reines Abwehrrecht. 77

Vgl. Grabenwarter, Charta, 4.

78

Vgl. Barriga, Entstehung, 109.

79

Dass Art. 22 GRCH einen institutionellen Schutz von Religionsgemeinschaften enthält, wird inzwischen von mehreren Autoren bejaht, doch übersehen sie den Wegfall der einzelstaatlichen Mediatisierung gegenüber der Erklärung Nr. 11 und interpretieren ihn als Schutz des nationalen staatskirchenrechtlichen Status vor Eingriffen durch die EU: Grabenwarter, Charta, 4; Mückl, Weltanschauungsfreiheit, 188; Robbers, Gehalte, 53. Unklar bei Schnabel, Stellung, 91=159.

I. Korporative Religionsfreiheit: Die EU ist religiös inkompetent

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b) Sekundärrecht Institutionelle Rechte der Religionsgemeinschaften müssen im Sekundärrecht konkretisiert werden. 80 Tatsächlich finden sich hier einige Stellen, die mehr oder weniger deutlich die korporative Religionsfreiheit oder die kirchliche Autonomie ansprechen.81 Ob sich darin ein allgemeiner Grundsatz der gesamten EU-Rechtsordnung zeigt, ist im Folgenden zu prüfen. Dazu werden die einschlägigen Stellen nach bestimmten Einzelaspekten aufgegliedert. Kollektive / Korporative Religionsfreiheit: Die Flüchtlings-RL 2004/83/EG weist in Art. 10 Abs. 1 lit. b zweimal darauf hin, dass nicht nur die Behinderung der individuellen, sondern auch der gemeinschaftlichen Religionsausübung einen anerkannten Fluchtgrund darstellt. Damit wird nicht nur in der noch nicht rechtskräftigen GRCH oder über die Brücke von Art. 6 Abs. 2 EUV i.V.m. Art. 9 EMRK, sondern direkt in einem Rechtsakt der Union, auch wenn er nur die Flüchtlingspolitik betrifft, ausdrücklich die kollektive Religionsfreiheit anerkannt, die einen Ansatzpunkt für die korporative liefert. Noch deutlicher war die Vorgängerbestimmung dieser Richtlinie, der Gemeinsame Standpunkt 96/196/JI, der Maßnahmen gegen bestimmte religiöse Gruppen als Verfolgungsgrund anerkannte. Hier kommt nämlich die Gruppe selbst als Subjekt in den Blick, dessen Rechte verletzt werden können. Durch Religion definierte Gruppen schützt auch die gemeinsame Maßnahme 96/443/JI zur Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, indem sie bei Vergehen gegen entsprechende Gruppen die Mitgliedstaaten zur justiziellen Zusammenarbeit verpflichtet (Titel I.A.a und c).82 Am deutlichsten nicht nur zugunsten der kollektiven, sondern eindeutig der korporativen Religionsfreiheit tritt der Beschluss des Rates 2006/35/EG über die Beitrittspartnerschaft mit der Türkei für die Religionsfreiheit der Religionsgemeinschaften selbst ein.83 Zwar richtet sich dieser Beschluss an einen Beitrittswerber, ohne dass er die Union selbst ______________ 80

Robbers, European Community Law, 52.

81

Vgl. Heinig, Religionsgesellschaften, 243.

82

In ähnlicher Weise wandte sich schon die gemeinsame Erklärung gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, die allerdings keine Rechtsnorm darstellt, gegen die Anwendung von Gewalt bei einer Personengruppe wegen religiöser Unterschiede (Nr. 1). 83

Vgl. unter Nr. 3.1 (kurzfristige Prioritäten): Sicherung des Eigentums aller nichtmuslimischer Religionsgemeinschaften [!], Unterricht, Ernennung und Ausbildung von Geistlichen. Schon ein früherer Beschluss über die Beitrittspartnerschaft mit der Türkei (2003/398/EG) forderte das Recht auf Religionsfreiheit für alle Menschen und Religionsgemeinschaften [!] ein (Anhang Nr. 4). Dabei erwähnte er ausdrücklich Art. 9 EMRK als Grundlage, doch erinnern die Beispiele, die er daraufhin nennt, auch stark an das Schlussdokument der KSZE-Folgekonferenz von Wien.

146

C. Kirche und EU – voneinander unabhängig und autonom

verpflichten würde, er drückt aber auf jeden Fall sehr klar die Erkenntnis aus, dass auch die Religionsfreiheit der Religionsgemeinschaften selbst zu achten ist. Außerdem gibt er zu verstehen, dass dies dem europäischen Standard entspricht, der nötig ist, um EU-Mitglied zu werden. Religiöse Inkompetenz der EU: Einen weiteren Aspekt der Autonomie von Religionsgemeinschaften stellt die Inkompetenz des weltlichen Gemeinwesens in religiösen Dingen dar, denn Religionsgemeinschaften sind nur dann wirklich unabhängig, wenn das weltliche Gemeinwesen keine Kompetenzansprüche und damit Einflussmöglichkeiten auf ihren genuinen Bereich geltend macht. Ein Zeichen dafür, dass sich die Europäische Union als inkompetent in religiösen Dingen betrachtet, ist das Fehlen entsprechender kompetenzbegründender Normen in ihrer Rechtsordnung. Dieses Fehlen ist keineswegs unbeabsichtigt und daher auch nicht bedeutungslos, wie die Diskussionen um einen Gottesbezug in Grundrechtecharta und Verfassungsvertrag gezeigt haben. Dass ein solcher bewusst abgelehnt wurde,84 ist zwar von vielen kirchennahen Stimmen bedauert worden, kann aber auch positiv in dem Sinn gedeutet werden, dass sich die Europäische Union aus dem religiösen Bereich absichtlich zurückhält. Gewiss bedeutet ein Gottesbezug nicht automatisch Theokratie,85 doch sein Fehlen heißt jedenfalls, dass die Europäische Union weltanschaulich neutral sein und sich von religiösen Angelegenheiten fernhalten möchte. Die religiöse Inkompetenz der Europäischen Union zeigt sich aber nicht nur im Fehlen entsprechender Kompetenznormen, sondern auch positiv in den mehrfachen Bestimmungen zum Berg Athos, mit denen die Autonomie dieser griechisch-orthodoxen Mönchsrepublik, die von den dortigen Klöstern selbstständig verwaltet wird, vor Eingriffen des EU-Rechts geschützt werden soll.86 Kompetenz der Religionsgemeinschaften: Wenn die Kompetenz in religiösen Dingen nicht beim weltlichen Gemeinwesen liegt, dann bei den Religionsge______________ 84

Vgl. Berndorff /Borowsky, Charta, 246.

85

Mit einem Gottesbezug kann zwar grundsätzlich eine religiöse Legitimation politischen Handelns angestrebt sein, doch ist dieser Aspekt in einer säkular-rechtsstaatlichen Ordnung ausgeschlossen (vgl. Potz / Schinkele, Überblick, 20; Konrath, Präambeldiskussionen, 194). Nach Schröder würde der Gottesbezug einem demokratischen Gemeinwesen nicht nur nicht schaden, sondern wäre sogar erforderlich (Schröder, Gott, 370). Ein Bezug auf das christliche Erbe könnte an die christliche Unterscheidung dessen, was Gottes, und dessen, was des Kaisers ist, und damit gerade an die gegenseitige Unabhängigkeit der beiden Sphären erinnern (Dalla Torre, Laicità, 53). 86

Art. 115 VO (EWG) Nr. 918/83, Art. 2 Abs. 5 RL 92/12/EWG; Beitrittsakte Griechenland, gemeinsame Erklärung betreffend den Berg Athos; gemeinsame Erklärung Nr. 5 in der Schlusskate des Übereinkommens Schengenbeitritt Griechenlands; Erklärung Nr. 8 Griechenlands zum Vertrag von Amsterdam.

I. Korporative Religionsfreiheit: Die EU ist religiös inkompetent

147

meinschaften selbst. Deren Zuständigkeit erkennt das Sekundärrecht an mehreren Stellen an. So bestätigt Art. 2 Abs. 2 RL 93/119/EG die Zuständigkeit der betreffenden Religionsgemeinschaft für die Anwendung und Überwachung der religiösen Riten bei der Schlachtung von Tieren.87 Nach Art. 10 VO (EWG) Nr. 3201/9088 obliegt die schriftliche Zulassung von Wein für religiöse Zwecke der jeweiligen Religionsgemeinschaft und nach den Erwägungsgründen zur Kulturgüter-RL 93/7/EWG sind kirchliche Einrichtungen für die Erstellung von Bestandsverzeichnissen ihrer Kulturgüter zuständig. Einer Anfragebeantwortung der Europäischen Kommission zufolge fällt die Durchführung und Finanzierung von religiösen Veranstaltungen unter die Zuständigkeit der kirchlichen Behörden.89 Die Entschließung des Europäischen Parlaments zu Frauen und Fundamentalismus begrüßt in Nr. 29 eine Trennung der Zuständigkeiten von Kirche und Staat und gibt damit zu erkennen, dass beide je ihre eigenen Zuständigkeitsbereiche haben. Selbstbestimmungsrecht: Eng verbunden mit der Eigenkompetenz der Religionsgemeinschaften ist ihr Recht, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln und zu verwalten. Auch dazu bietet das Sekundärrecht Anhaltspunkte. So können religiöse Organisationen sowohl nach Art. 8 Abs. 2 lit. d RL 95/46/EG als auch nach Art. 10 Abs. 2 lit. e VO (EG) Nr. 45/2001 religionsbezogene Daten verarbeiten, die sich auf ihre Mitglieder oder auf Personen beziehen, die mit ihr in regelmäßigem Kontakt stehen. Nach Art. 17 Abs. 1 lit. c der RL 2003/88/EG können die Mitgliedstaaten Arbeitnehmer, die im liturgischen Bereich beschäftigt sind, von den Arbeitszeitvorschriften ausnehmen. Art. 4 Abs. 2 der RL 2000/78/EG lässt Sonderbestimmungen zu, wonach Religionsgemeinschaften bei der Beschäftigung von Personal religiöse Kriterien anwenden, wenn diese eine berufliche Anforderung darstellen. Es ist jedoch fraglich, ob in diesen Sekundärrechtsakten wirklich ein Selbstbestimmungsrecht zum Ausdruck kommt. Die beiden datenschutzrechtlichen Bestimmungen erfassen nämlich nicht nur religiöse, sondern in gleicher Weise politisch, philosophisch und gewerkschaftlich ausgerichtete Organisationen, die zwar ebenfalls eine gewisse Eigenständigkeit gegenüber der weltlichen Autorität besitzen, aber doch auch selbst zur weltlichen Sphäre gehören, so dass diese Regelung nicht eindeutig eine gegenseitige Unabhängigkeit von weltlicher und religiöser Sphäre zum Ausdruck bringt. Kopp, ein Mitarbeiter der Kommission, der am Entwurf der Datenschutzrichtlinie beteiligt war, räumte aber selbst ein, dass bei der Umsetzung der Richtlinie die allgemeinen Rechtsgrundsätze, die Verfas______________ 87 Ähnlich, aber ohne Verwendung des Wortes „zuständig“: Anhang I Kapitel VII Nr. 33 der RL 92/116/EWG. 88

Ähnlich schon die Vorgängernorm Art. 9 VO (EWG) Nr. 1608/76.

89

Schriftliche Anfrage E-0008/97, Glaubenszentrum „Gute Nachricht“.

148

C. Kirche und EU – voneinander unabhängig und autonom

sungsüberlieferungen und die Grundrechte beachtet werden müssen, zu denen selbstverständlich die Religionsfreiheit gehört, die auch das Recht der Religionsgemeinschaften umfasst, ihre Angelegenheiten selbstständig zu ordnen und zu verwalten.90 In den beiden arbeitsrechtlichen Richtlinien wiederum ist nicht klar, ob die Ausnahmemöglichkeit nur ein Zugeständnis sein will oder wirklich die Konkretisierung eines Grundprinzips der Rechtsordnung. Die RL 2003/88/EG überlässt die Ausnahmeregelung nämlich den Mitgliedstaaten und nennt außerdem nur den liturgischen Bereich, der längst nicht das gesamte Spektrum kirchlicher Tätigkeiten abdeckt. Die Sonderbestimmung der RL 2000/78/EG gilt überhaupt nur für die Mitgliedstaaten, die bisher schon solche Ausnahmen für Religionsgemeinschaften kannten. Für ein echtes Selbstbestimmungsrecht spricht aber, dass sie für alle Organisationen mit religiösem Ethos ohne Differenzierung nach einem kirchlichen Kernbereich in gleicher Weise gilt, und dass die beruflichen Anforderungen sich nicht nach dem Ermessen der weltlichen Autorität, sondern nach dem Ethos der jeweiligen Organisation richten.91 Jedenfalls beinhaltet die Letztfassung des deutschen Umsetzungsgesetzes zu dieser Richtlinie ein echtes Selbstbestimmungsrecht, wie es der deutschen Tradition entspricht. 92 Kirchhof sieht in den Ausnahmeregelungen der Richtlinien Bestätigungen kirchlicher Autonomie, auch wenn die Summe der Ausnahmeregelungen noch nicht zu einer grundsätzlichen Autonomieregelung verdichtet werden konnte. 93 Prinzip der Trennung: Einem System der Unabhängigkeit und Autonomie von Religionsgemeinschaften liegt letztlich das Prinzip der Trennung von religiöser und weltlicher Sphäre zugrunde. Dieses findet sich in den Rechtsakten der Union zwar nicht ausdrücklich, sehr wohl aber in zwei Entschließungen des Europäischen Parlaments. Auch wenn diese keine Rechtskraft besitzen, zeigen sie doch deutlich die Prinzipien, nach denen ein für die EURechtsetzung zuständiges Organ handelt und mit deren Einfluss folglich auch in den eigentlichen Rechtsakten zu rechnen ist. Nach Nr. 8 der Entschließung ______________ 90

Kopp, Datenschutzrichtlinie, 11f.

91

Die ersten Entwürfe hingegen enthielten nur einen allgemeinen Tendenzschutz, vgl. Heinig, Religionsgesellschaften, 238. Reichegger (Auswirkungen, 205) und Schliemann (Arbeitsrecht, 124) hingegen sehen auch in der endgültigen Fassung kein Selbstbestimmungsrecht, sondern eher nur einen Tendenzschutz. Art. 8 Abs. 3 der RL 94/95/EG enthält eindeutig nur einen Tendenzschutz. 92 93

Schüller, Europa, 619.

Kirchhof, Kern, 156. Er bedauert, dass die kirchliche Autonomie im Europarecht in Ausnahmeregelungen verdrängt anstatt als Grundprinzip anerkannt wird. Man könnte aber erwägen, aus den vielen Ausnahmeregelungen im Wege der Rechtsanalogie einen allgemeinen Rechtsgrundsatz zu gewinnen.

I. Korporative Religionsfreiheit: Die EU ist religiös inkompetent

149

zum Islam ist im Bildungswesen das Prinzip der Trennung von Staat und Kirche anzuwenden und nach Nr. 29 der Entschließung über Frauen und Fundamentalismus ist die Trennung von Kirche und Staat die am ehesten akzeptable Regierungsform in einer demokratischen Gesellschaft. Unter Trennung verstehen manche eine Verdrängung des Religiösen aus dem politischen in den privaten Bereich, andere aber die Anerkennung eines eigenen religiösen Bereichs, der dem weltlichen gleichberechtigt gegenüber und mit ihm in Beziehung steht. Das Erste entspräche einer laizistischen Trennung, das Zweite hingegen einer freundlichen, kooperativen. Da die letztgenannte Entschließung als Kompromissdokument die Spuren verschiedenster Strömungen zeigt, enthält sie Anhaltspunkte für beide Auffassungen. Die Erste zeigt sich in Punkt L, der religiöse Überzeugungen in die Privatsphäre des Individuums abdrängt, die Zweite hingegen unmittelbar zuvor in Punkt K, der die Praxis des Dialogs anpreist. Wirkliche Autonomie und Unabhängigkeit der Religionsgemeinschaften lassen sich freilich nur im zweiten Modell verwirklichen, denn bei der Abdrängung der Religion ins Private werden die Religionsgemeinschaften als solche gar nicht wahrgenommen und unterstehen erst recht dem Einfluss der weltlichen Macht, die auch das Private regelt. 94 Außerdem ist nach Art. 9 EMRK und Art. 10 GRCH nicht nur die private, sondern zudem ausdrücklich die öffentliche Religionsausübung geschützt.95 Die Durchsicht des EU-Rechts nach den Aspekten der korporativen Religionsfreiheit, der Inkompetenz der EU, der Kompetenz der Religionsgemeinschaften, des Selbstbestimmungsrechts und des Trennungsprinzips hat gezeigt, ______________ 94

Dalla Torre macht auf die Ambivalenz der Laizität aufmerksam: Wenn man unter Berufung auf die Laizität der Kirche verbietet, öffentliche Stellungnahmen zu ethischen Fragen abzugeben, so bedeutet das in Wirklichkeit, die Laizität zu leugnen, weil dies zu einem verabsolutierten Staat führt, der selbst ethische Urteile abgibt und damit gerade nicht mehr laikal ist; der Staat ist vielmehr dann wirklich laikal, wenn er einräumt, dass es Bereiche gibt, die seiner Kompetenz entzogen sind (Dalla Torre, Laicità, 70-72). Gegen einen Laizismus auf europäischer Ebene wenden sich zahlreiche Autoren, z.B. Heinig, Religionsgesellschaften, 253; Fauth / Satter, Staat und Kirche, 207. 95 Da Trennung, wenn sie vollkommen sein soll, wechselseitig sein muss, dürfte das Europäische Parlament nicht nur fordern, dass die Religionsgemeinschaften sich nicht in die Politik einmischen (Punkt L), sondern müsste ebenso umgekehrt die Zurückhaltung der politischen Autorität aus religiösen Dingen bekräftigen. Gerade dagegen verstößt das Parlament aber durch die Verabschiedung der genannten Entschließung. Wie Dalla Torre zu Recht einwendet, übersieht die Entschließung, dass gerade die vom Christentum gebrachte Trennung von Gott und Kaiser hilft, die Fundamentalismen zu überwinden, die anderen Kulturen vorgeworfen werden. Auch erkennt sie nicht, dass die Kirche immer noch eine Institution mit der Aufgabe ist, darauf Acht zu geben, dass die beiden Bereiche getrennt bleiben (Dalla Torre, Laicità, 62).

150

C. Kirche und EU – voneinander unabhängig und autonom

dass die Sonderstellung der Religionsgemeinschaften im EU-Recht tatsächlich anerkannt wird. Ihr Recht auf Autonomie kann daher ohne Zweifel als Grundsatz angesehen werden, der die gesamte Rechtsordnung durchzieht. Dies wird bestätigt durch die Antwort der Europäischen Kommission auf eine schriftliche Anfrage, wonach sie keine Kompetenzen hat, um im Bereich der Religion tätig zu werden.96 Die Reichweite der Autonomie lässt sich mit dieser induktiven Methode jedoch nicht exakt bestimmen, da die zugrunde gelegten Stellen im Sekundärrecht selbst eine unterschiedliche Weite erkennen lassen.97

5. Inhalte der korporativen Religionsfreiheit a) Schutzbereich Es ist bereits die Frage aufgetaucht, ob der Schutzbereich der korporativen Religionsfreiheit nach Art. 9 EMRK sich mit demjenigen der individuellen deckt und nicht vielmehr kleiner oder größer ist als dieser. „Unter Zugrundelegung der ratio der primär das Individuum schützenden Vorschrift des Art. 9 EMRK“ folgert Vachek, „dass der Umfang der Rechte der Religionsgemeinschaft allenfalls geringer, keinesfalls aber größer als die Summe der Rechte der Mitglieder dieser Religionsgemeinschaft sein darf.“98 Nun ist es zwar richtig, dass die korporative Religionsfreiheit aus der individuellen abgeleitet wurde, jedoch nicht in dem Sinn, dass die Erste aus der Zweiten als deren Teilbereich hervorgeht, sondern so, dass sie deren Voraussetzung bildet. Als Voraussetzung aber muss sie alles umfassen, was notwendig ist, damit die individuelle Religionsfreiheit gewährleistet werden kann – gleichgültig, ob das mehr oder weniger ist, als was von der individuellen Religionsfreiheit abgedeckt wird. Da der Rechtsträger der korporativen Religionsfreiheit seinem Wesen nach ein anderer ist, liegt es nahe, dass auch der Schutzbereich teilweise ein anderer sein muss. Treffend sagt Bleckmann, dass die Religionsfreiheit ihren Inhalt verwandelt, wenn sie von den Individuen auf die Kirche übertragen wird – z.B. von einer bloßen Anwesenheit bei Gottesdiensten zu deren Durchführung.99 Blum legt ______________ 96

Schriftliche Anfrage E-2680/97: Aula Dei Karthause. Gegenstand der Anfrage war, dass Frauen und Mädchen der Zugang zu Kunstwerken, die in der Aula Dei-Karthause in Saragossa ausgestellt sind, verwehrt wurde (vgl. Kalb / Potz / Schinkele, Religionsrecht, 30; Robbers, Community Law an Religion, 277; Vachek, Religionsrecht, 84). Auch ohne EG-Kompetenz wurde das Problem inzwischen gelöst und der Zugang für Frauen ermöglicht. 97

Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Reichegger, Auswirkungen, 145.

98

Vachek, Religionsrecht, 210.

99

Bleckmann, Religionsfreiheit, 41.

I. Korporative Religionsfreiheit: Die EU ist religiös inkompetent

151

noch genauer dar, dass es Fälle gibt, in denen zwar kirchliche, aber keine individuellen Rechte verletzt sind – z.B. im organisatorischen Bereich und bei der Ernennung von Geistlichen – oder wo institutionelle und individuelle Rechte sich sogar widersprechen – z.B. in den Disziplinarfällen, in denen die EKMR immer für die Kirche entschieden hat. 100 Conring führt Blums Ansicht weiter, wenn er sagt, dass für eine Vereinigung ein organisatorisches Selbstbestimmungsrecht unerlässlich, für eine natürliche Person jedoch nicht denkbar sei, dass aber umgekehrt die korporative Religionsfreiheit nicht die Gedanken-, und Gewissens-, sondern nur die Religionsfreiheit, also nur das forum externum umfasse.101 Was fällt nun konkret in den Schutzbereich der korporativen Religionsfreiheit? Die Rechtsprechung von EKMR und EGMR hat mehrere Elemente entwickelt. Zunächst besteht ein Recht auf Gründung und Anerkennung von Religionsgemeinschaften bzw. auf Erwerb der Rechtspersönlichkeit. 102 Des Weiteren haben Religionsgemeinschaften das Recht, ihre interne Organisation frei zu bestimmen.103 Dazu gehört auf jeden Fall das Recht, die religiösen Leitungspersonen selbst zu bestimmen, ohne dass die weltliche Autorität unliebsame Personen absetzen könnte,104 aber auch das Recht Kultstätten zu besitzen und zu erhalten.105 Das Recht auf Kultstätten kann aber beschränkt werden, wenn archäologische Werte geschützt werden müssen, 106 wenn wegen ______________ 100 Blum, Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, 174. Waldhoff (Art. I-52 VVE, Rn. 2) betont, dass die individual-grundrechtliche und die institutionelle Seite nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen, sondern dass sie sich gegenseitig bedingen und ergänzen. 101

Conring, Korporative Religionsfreiheit in Europa, 361.

102

Vgl. Grabenwarter, korporative Religionsfreiheit, 149. Entscheidungen hierzu: EGMR, Nr. 143/1996/762/963, Canea , Rn. 8, 12, 30, 36, 40 und 47; Nr. 45701/99, Metropolitankirche von Bessarabien, Rn. 105 und 129. Kein solches Recht haben jedoch Organisationen mit wirtschaftlichen (EKMR, Nr. 7865/77, Gesellschaft X, S.86; Nr. 7805/77, Scientology, Rn. 4.) oder gar gesetzwidrigen Tätigkeiten (EKMR, Nr. 8652/79, X / Österreich, Rn. 4b). 103

Vgl. Grabenwarter, Korporative Religionsfreiheit, 154, Conring, Korporative Religionsfreiheit in Europa, 362. 104

EGMR, Nr. 30985/96, Hasan und Chaush, Rn. 78; EGMR, Nr. 39023/97, Muslim Community, Rn. 76. 105 EKMR, Nr. 17522/90, Iglesia Bautista, Rn. 1; EGMR, Nr. 59/95, Manoussakis, Rn. 43. Hier spielen außerdem Art. 6 EMRK und Art. 1 1.ZProt eine Rolle, denn das Eigentum an Kultgebäuden muss auch gerichtlich zu verteidigen sein EGMR, Nr. 143/1996/762/963, Canea, Rn. 41. 106

EKMR, Nr. 12587/86, S. 247.

C. Kirche und EU – voneinander unabhängig und autonom

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der geringen Anzahl an Gläubigen kein Bedarf besteht oder wenn Erfordernisse der Raumplanung entgegenstehen.107 Auf jeden Fall hat die weltliche Autorität gegenüber Religionsgemeinschaften strikte Neutralität zu wahren.108 Das schließt mit ein, dass sie die Einheit einer Religionsgemeinschaft nicht erzwingen109 und nicht über die Legitimität eines bestimmten Glaubens urteilen darf.110 Insgesamt ist die Eigenart von Religion zu achten.111 Die Lehre hat zum Inhalt der korporativen Religionsfreiheit verschiedene Formulierungen entwickelt, die sich aber im Wesentlichen meist decken: Blum fasst zusammen: „[Sie] beinhaltet zumindest ein Recht auf unbeeinträchtigte Wahrnehmung der kirchlichen Aufgaben. Die Eigenständigkeit des kirchlichen Wirkens ist von staatlicher Seite zu respektieren. Die Verfolgung der religiösen Zielsetzungen und Aufgabenstellungen darf nicht durch besondere Anforderungen an Organisation und Verwaltung behindert oder gar unmöglich gemacht werden.“112 Nach Conring „ist die Kirche jedenfalls berechtigt, ihre Religion auszuüben, Riten und Gebräuche und Lehre zu pflegen, Gottesdienste zu organisieren und schließlich auch eine gewisse Einheitlichkeit zu fördern.“ 113 Bleckmann fordert außerdem, dass „die Gründungsfreiheit auch das Recht umfassen muss, die Strukturen, d.h. die Organe, die Zuständigkeiten und das Verfahren autonom festzulegen.“114 Aus der Rechtsprechung ergibt sich darüber hinaus auch ein Recht auf Glaubenswerbung. Für Korinek gehört Glaubenswerbung nicht nur zur religiösen Lebensweise, sondern wird von manchen

______________ 107

EGMR, Nr. 65501/01, Vergos, Rn. 36.

108

EGMR, Nr. 39023/97, Muslim Community, Rn. 80; Nr. 41340ff/98, Wohlfahrtspartei, Rn. 91; Nr. 30985/96, Hasan und Chaush, Rn. 78; Nr. 45701/99, Metropolitankirche von Bessarabien, Rn. 116 und 123; Nr. 65501/01, Vergos, Rn. 34. Zustimmend in der Lehre: Barberini, Lezioni, 311; Dalla Torre, Lezioni, 96, der die weltanschauliche von der ethischen Neutralität unterscheidet; Grabenwarter, korporative Religionsfreiheit, 156; Robbers, Verhältnis der Europäischen Union, 19; ders., Amsterdam, 401. 109

EGMR, Nr. 30985/96, Hasan und Chaush, Rn. 78; Nr. 45701/99, Metropolitankirche von Bessarabien, Rn. 117; Nr. 50776/99 und 52912/99, Agga, Rn. 59. 110

EGMR, Nr. 41340ff/98, Wohlfahrtspartei Rn. 91; Nr. 59/95, Manoussakis,

Rn. 47. 111

EGMR, Nr. 41340ff/98, Wohlfahrtspartei Rn. 90; Nr. 30985/96, Hasan und Chaush, Rn. 62. 112

Blum, Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, 175.

113

Conring, Korporative Religionsfreiheit in Europa, 363.

114

Bleckmann, Religionsfreiheit, 29.

I. Korporative Religionsfreiheit: Die EU ist religiös inkompetent

153

Religionen sogar gefordert und ist Voraussetzung für den von Art. 9 EMRK geschützten Religionswechsel.115 Weitere Aspekte gehen aus einem schon recht frühen Fall hervor, in dem die EKMR es für zulässig erachtet hat, dass eine Kirche einen Geistlichen entlässt, weil er sich geweigert hat, die Taufe nach den Vorschriften dieser Kirche zu spenden.116 Zwar wird auch hier die korporative Freiheit der Kirche aus der individuellen ihrer Mitglieder abgeleitet (S. 160), dann aber der individuellen Freiheit eines bestimmten Mitglieds, nämlich des entlassenen Geistlichen, entgegengehalten und schließlich wird ihr dieser gegenüber der Vorrang eingeräumt. Hier wird deutlich, dass die korporative Religionsfreiheit, selbst wenn sie ihren Grund in der individuellen hat, nicht einfach die Summe mehrerer individueller Rechte, sondern ein selbstständiges Recht mit einem eigenen Inhalt ist,117 das mit dem individuellen kollidieren und sich in einer solchen Kollision auch durchsetzen kann.118 Gewiss ist in einer freiheitlichdemokratischen Gesellschaft das Individuum grundsätzlich stärker zu schützen als das Kollektiv.119 Die vorliegende Entscheidung ist jedoch deswegen berechtigt, weil das einzelne Mitglied, wie die EKMR ausführt, sein individuelles Recht in dem Moment bereits ausgeübt hat, als es die kirchliche Funktion übernahm, und es auch später bei Nichtübereinstimmung mit den Lehren der Kirche dadurch ausüben kann, dass es sie verlässt.120 Das heißt, dass die Kirche selbst nicht verpflichtet ist, ihren Mitgliedern und Bediensteten wie ein Staat Religionsfreiheit zu gewähren, ihnen vielmehr ein bestimmtes Verhalten vorschreiben kann, solange ihre individuelle Religionsfreiheit wenigstens

______________ 115

Korinek, Strafbarkeit von Glaubenswerbung, 576.

116

EKMR, Nr.7374/76 X / Dänemark. Bestätigt wurde diese Judikatur in EKMR, Nr. 10901/84, Prüssner, Rn. 2. 117 Die Religionsfreiheit verwandelt ihren Inhalt, wenn sie von den Individuen auf die Kirche übertragen wird (Bleckmann, Religionsfreiheit, 41). 118

Diese EKMR-Entscheidung steht somit jenen Theorien entgegen, wonach das kollektive Recht das individuelle nur begünstigen, sich aber nicht dagegen wenden darf. So Conring, Korporative Religionsfreiheit in Europa, 33, 80 und 356; Parisi, Dichiarazione, 356. 119 120

Vgl. Klecatsky, Menschenrechtsstaat, 1.

EKMR, Nr.7374/76 X / Dänemark, S. 160. Der Einzelne ist auf die Gemeinschaft bezogen und angewiesen, verzichtet aber gegenüber der Religionsgemeinschaft, der er angehört auf die uneingeschränkte Selbstverwirklichung (Marauhn, Grundrechtlicher Schutz, 57).

154

C. Kirche und EU – voneinander unabhängig und autonom

dadurch gewahrt bleibt, dass sie austreten können. 121 Außerdem zeigt dieser Fall, wie Blum feststellt, dass die EKMR den Kirchen und Religionsgemeinschaften auch ein eigenes Disziplinarrecht zuerkennt.122 Indessen werden in der Lehre auch Bereiche genannt, die nicht in den Schutzbereich der Religionsfreiheit fallen: Nach Marauhn ergibt sich weder aus Art. 9 noch aus Art. 11 EMRK eine Verpflichtung der Konventionsstaaten zur Anerkennung jedweder Organisationsform religiöser Gemeinschaften noch eine Verpflichtung zur Steuerbegünstigung.123 Für Vachek folgt aus Art. 9 EMRK kein Recht auf offizielle staatliche Anerkennung einer Kirche oder Religionsgemeinschaft, weil das keine Voraussetzung für die individuelle Religionsfreiheit sei, außer wenn die Nichtanerkennung eine religiöse Ungleichbehandlung gemäß Art. 14 EMRK bedeuten würde.124 Wenn aus Art. 9 EMRK auch eine korporative Religionsfreiheit abgeleitet werden kann, ist damit noch nicht geklärt, ob damit ebenso ein Selbstbestimmungsrecht der Kirchen und Religionsgemeinschaften oder nur ein Tendenzschutz verbunden sind. Nach verbreiteter Auffassung besteht ein Selbstbestimmungsrecht nur im kirchlichen Kernbereich, darüber hinaus hingegen nur ein Tendenzschutz.125 Als Beleg dafür wird meist der Fall Rommelfanger126 angeführt, in dem die EKMR entschieden hat, dass ein Arzt eines kirchlichen Krankenhauses sich nicht auf die Meinungsfreiheit berufen kann, wenn ihm gekündigt wurde, weil er in Fragen der Abtreibung öffentlich der Lehre der Kirche widersprochen hat. Nun werden die Tätigkeiten der Caritas – darunter ______________ 121

EKMR, Nr.7374/76 X / Dänemark, S. 160. Umgekehrt wird man dann aber Religionsgemeinschaften, die Austritte durch Zwang und gefährliche Drohungen zu verhindern versuchen, keine so weit gehende korporative Religionsfreiheit zugestehen können. 122

Blum, Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, 177.

123

Marauhn, Bedürfnis- und Bedeutungsadäquanz, 439.

124

Vachek, Religionsrecht der Europäischen Union, 211.

125

Vgl. Frowein, Bedeutung, 58; Reichegger, Auswirkungen, 119 und 123. Eben weil die EKMR ihre Entscheidung nur auf die Meinungsfreiheit (Art. 10 EMRK) gestützt hat, meint Vachek, dass es ein Selbstbestimmungsrecht nur im innerkirchlichen Bereich gebe und dass kaum anzunehmen sei, dass der EuGH einen auf die freien Wohlfahrtsverbände ausgedehnten „erweiterten Tendenzschutz“ anerkennt (Religionsrecht, 212.). Mückl (Weltanschauungsfreiheit, 200) tritt auch im äußeren Bereich für ein Selbstbestimmungsrecht auf der Grundlage des korporativen Rechts nach Art. 9 EMRK ein. Nach Hillgruber (Staat, 1177) schmälert die EU das Selbstbestimmungsrecht, weil sie die Religionsfreiheit nicht umfassend gewährleistet. Inzwischen müsste der zunehmende Grundrechtsschutz aber Rechtsakte abwehren, die in das Selbstbestimmungsrecht eingreifen. 126

EKMR, Nr. 12242/86, Rommelfanger, S. 57.

I. Korporative Religionsfreiheit: Die EU ist religiös inkompetent

155

die Krankenpflege – tatsächlich meist nicht zum kirchlichen Kernbereich gezählt, zu dem etwa Liturgie und Glaubensverkündigung gehören, und die EKMR entschied den Fall allein auf der Grundlage der Meinungsfreiheit nach Art. 10, nicht nach der Religionsfreiheit nach Art. 9 EMRK. Hier ist aber zu bedenken, dass der Beschwerdeführer der gekündigte Arzt war, der sich in der Tat nur auf seine Meinungsfreiheit berufen kann und nicht die korporative Religionsfreiheit ins Treffen führen wird. Hätte hingegen die kirchliche Stiftung als Arbeitgeberin eine Beschwerde eingebracht, so wäre wohl eher deren korporative Religionsfreiheit zu prüfen gewesen und nicht nur ihre Meinungsfreiheit als mit der Meinungsfreiheit des Arztes kollidierendes Grundrecht. Aber selbst wenn die EMRK außerhalb des Kernbereichs nur einen Tendenzschutz gewähren sollte, so bleibt es den einzelnen Rechtsordnungen unbenommen, einen höheren Schutz im Sinne eines Selbstbestimmungsrechtes vorzusehen. Auch im EG-Recht geht Art. 4 Abs. 2 RL 2000/78/EG über einen bloßen Tendenzschutz hinaus, denn erstens gilt er für alle Organisationen mit religiösem Ethos unabhängig von einem allfälligen kirchlichen Kernbereich und zweitens bestimmen sich die beruflichen Anforderungen, die eine Ausnahme rechtfertigen, nach dem Ethos der Organisation selbst. Die Kirche kann daher selbst bestimmen, was eine kirchliche Tätigkeit ist, und sie wird nach dem Gebot der Nächstenliebe auch karitative Tätigkeiten als ihre genuine Aufgabe ansehen. Gegen ein Selbstbestimmungsrecht könnte auch sprechen, dass einige Konventionsstaaten ein staatskirchliches System haben und dass mit dem Abschluss der Konvention keine Änderung der einzelnen staatskirchenrechtlichen Systeme intendiert war.127 Bleckmann legt jedoch mehrere Argumente zur Auflösung des scheinbaren Widerspruchs „Staatskirchen – Selbstbestimmungsrecht“ vor128 ______________ 127 128

Bleckmann, Religionsfreiheit, 43.

Ebd. 44f. Die fünf Argumente lauten: (1) Aus dem Staatskirchenrecht aller Mitgliedstaaten der EMRK ist ein gemeinsames Minimum zu entwickeln. Auch in Staatskirchen greift der Staat kaum in das rein innerkirchliche Leben (Glaubensinhalte) ein. (2) Nicht in den kirchlichen Bereich greift der Staat insbesondere dann ein, wenn die Staatsorgane bei ihren kirchenrechtlichen Maßnahmen nicht als Staatsorgane, sondern als Organe der Kirche handeln. (3) Kein Eingriff besteht ferner, wenn die Befugnisse zur Regelung kirchlicher Fragen zwar formell bei den Staatsorganen, diese aber bei ihrer Entscheidung an die Vorschläge der Kirchenorgane i.e.S. gebunden sind (so in Großbritannien). (4) Es gibt eine Theorie, dass in unvordenklichen Zeiten die Kirchenorgane auf ihre Selbstbestimmungsrechte partiell verzichtet und sie stillschweigend auf die Staatsorgane übertragen haben. Dagegen spricht aber zumindest die Geschichte in England, wo die Abgabe von Kompetenzen ausdrücklich vom Parlament angeordnet wurde. (5) In Griechenland gibt es keine Staatskirche mehr, so dass die Staatsaufsicht über alle

C. Kirche und EU – voneinander unabhängig und autonom

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und schließt daraus, dass Art. 9 EMRK tatsächlich auch ein Selbstbestimmungsrecht für Kirchen umfasst. Bleckmann dehnt dann den Umfang des Selbstbestimmungsrechtes vom kirchlichen Innenbereich auch auf einen äußeren Bereich – insbesondere das Arbeitsrecht – aus, weil das aufgrund des Glaubens erforderlich sei.129 Er räumt ein, dass Kirchen zwar nicht als „Körperschaften öffentlichen Rechts“ aus Art. 9 EMRK ableitbar seien, sehr wohl aber dass sie die Fähigkeit hätten, Gesetze, Verwaltungsakte und gerichtliche Entscheidungen bindend zu erlassen.130 Wenn die EMRK auch nur einen gewissen Rahmen an Grundrechtsschutz vorgibt, der Besonderheiten mancher Konventionsstaaten wie das Staatskirchentum nicht ausschließen will, so heißt das nicht,131 dass andere Staaten nicht ein weitergehendes Selbstbestimmungsrecht gewähren könnten, was sie auch tatsächlich tun. 132 Ebenso wird die Europäische Union gewiss kein Staatskirchentum anstreben, wie aus den einschlägigen Entschließungen des Europäischen Parlaments zu schließen ist [Abschnitt C.I.4.b)].

b) Schranken Wie jedes Grundrecht, so hat auch die korporative Religionsfreiheit ihre Schranken. Conring weist darauf hin, dass die Grundrechtsschranken bei korporativen Grundrechten z.T. andere sind, weil dadurch die Freiheit der Mitglieder eingeengt werden könnte.133 Grundsätzlich gelten die sechs Eingriffszwecke des Art. 9 Abs. 2 EMRK, die Begriffe „öffentliche Sicherheit und ______________

Kirchen gleich ist. Diese muss so verstanden werden wie Art. 9 Abs 2 EMRK. In allen EG-Mitgliedstaaten wird den Kirchen de facto eine große Autonomie eingeräumt. 129

Ebd. 48.

130

Ebd. 49.

131

Vgl. Gonzalez, Convention, 57. Allerdings laufen Staatskirchensysteme am ehesten Gefahr, die Religionsfreiheit zu verletzen (ebd. 61). 132

Während die EMRK sich hier am Minimalstandard der Konventionsstaaten ausrichtet, orientiert sich der EuGH im Rahmen der wertenden Rechtsvergleichung an der Mehrheit der europäischen Verfassungen (ebd. 50). Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Mückl (Weltanschauungsfreiheit, 203): Der von den Konventionsorganen den Konventionsstaaten gewährte Beurteilungsspielraum ist auf das gemeinschaftliche Grundrecht nicht übertragbar, dessen Adressaten ja nicht die Konventionsstaaten mit einer Vielzahl unterschiedlicher Systeme, sondern die Gemeinschaftsorgane bzw. die Mitgliedstaaten in Anwendung des Gemeinschaftsrechts sind. Ein Beurteilungsspielraum würde hier das Grundrecht gegenüber den Rechtsträgern unangemessen einschränken und die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts behindern. 133

Conring, Korporative Religionsfreiheit in Europa, 79.

I. Korporative Religionsfreiheit: Die EU ist religiös inkompetent

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Ordnung“ sind aber restriktiv zu interpretieren, weil die Formulierung enger ist als in Art. 8, 10 und 11 Abs. 2 EMRK.134 Für Conring „überzeugt das Argument, dass die Rücksicht auf Andersgläubige eine Einschränkung der Religionsfreiheit im konkreten Fall verlangen könne, zunehmend weniger, vielmehr wird umgekehrt eine erhöhte Toleranz für erwartbar gehalten.“135 Ihm zufolge erlauben Schranken regional und historisch unterschiedliche Ausprägungen des Verhältnisses Staat – Kirche.136 Auch Bleckmann erkennt die Schranken der Religionsfreiheit an, unterscheidet aber zwischen einem innerkirchlichen Kernbereich, den „res sacrae“, und einem äußeren Bereich, den „res mixtae“. Im ersten Fall hätten die Gläubigen beim Eintritt in die Kirche darauf verzichtet, ihre individuelle Religionsfreiheit gegenüber der Kirche geltend zu machen, so dass staatliche Maßnahmen gegen die Kirchen zum Schutz der individuellen Religionsfreiheit nicht zulässig seien.137 Im zweiten Fall sei die Erforderlichkeit eines Eingriffs nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip zu prüfen. Wenn z.B. das kirchliche Arbeitsrecht die Interessen der Arbeitnehmer ebenso effektiv oder effektiver schützt als eine EG-Richtlinie, dürfe das nationale Recht die Richtlinie wegen des Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsprinzips nicht auch auf den kirchlichen Bereich transformieren.138 Diese Auslegung geht aber wohl zu weit. Nach Grabenwarter darf die weltliche Autorität, selbst wenn die Religionsgemeinschaft den religiösen Frieden oder den staatlichen Zusammenhalt stört, nur mit angemessenen Mitteln vorgehen.139 Ein entscheidender Gesichtspunkt für die Verhältnismäßigkeit bei der Versagung der Anerkennung als Religionsgemeinschaft ist es, ob die Religionsgemeinschaft damit gehindert wird, Rechtspersönlichkeit zu erlangen.140

6. Gleichheit unter den Religionsgemeinschaften Wie schon bei der individuellen Religionsfreiheit [Kapitel B.III.], so stellt sich auch bei der korporativen die Frage nach der Gleichbehandlung der ______________ 134

Vgl. ebd. 371.

135

Conring, Korporative Religionsfreiheit in Europa, 374.

136

Ebd.

137

Bleckmann, Religionsfreiheit, 63.

138

Ebd.

139

Grabenwarter, korporative Religionsfreiheit, 150.

140

Ebd. 151. Es ist mit der korporativen Religionsfreiheit aber vereinbar, wenn für die Religionsgemeinschaften verschiedene Rechtsformen vorgesehen werden.

158

C. Kirche und EU – voneinander unabhängig und autonom

Rechtssubjekte. Schon die weltanschauliche Neutralität schließt im Grunde die Gleichbehandlung aller Religionsgemeinschaften ein, indem sie es der weltlichen Autorität verbietet, eine bestimmte Religion vor den anderen auszuzeichnen und zu privilegieren. Außerdem dient die Gleichbehandlung dem religiösen Frieden, den zu wahren eine Aufgabe des weltlichen Gemeinwesens ist. In der Rechtsprechung zur EMRK wurde Art. 9 als korporatives Grundrecht schon wiederholt in der Verbindung mit dem Diskriminierungsverbot von Art. 14 geprüft141 und in Zukunft wird das 12. ZProt als Rechtsgrundlage hinzukommen. Im Bereich der Europäischen Gemeinschaft ist zu untersuchen, ob Art. 13 EGV und die zugehörigen Richtlinien ebenso auf der korporativen Ebene religiöse Diskriminierungen verbieten. Nach Zuleeg sind auch juristische Personen durch Art. 13 EGV geschützt, wenn sie wegen ihrer Mitglieder oder Bediensteten Diskriminierungen erleiden.142 Das ist jedoch nicht die Frage, um die es hier geht, nämlich ob Art. 13 EGV ein System der Parität zwischen den Religionsgemeinschaften verlangt. Torfs und Vachek bejahen eine Anwendung von Art. 13 EGV auch in diesem Bereich.143 Das ist jedoch nicht selbstverständlich, denn Art. 13 EGV verbürgt anders als Art. 9 EMRK kein Grundrecht und es ist fraglich, ob die Gleichbehandlung aller Religionsgemeinschaften in derselben Weise eine Voraussetzung für die Gleichbehandlung der Individuen ist, wie es die korporative für die individuelle Religionsfreiheit ist. Die individuelle Freiheit kann vielmehr auch dort voll gewährleistet sein, wo der Staat eine bestimmte Religionsgemeinschaft gegenüber anderen privilegiert. Bei den meisten anderen in Art. 13 EGV aufgelisteten Diskriminierungsgründen lässt sich eine korporative Dimension, die eine den Religionsgemeinschaften vergleichbare Form annimmt, kaum vorstellen. Die RL 2000/78/EG, die sich auf Art. 13 EGV stützt, kann schon von der Natur ihres Inhalts her keine korporative Dimension des Diskriminierungsverbotes enthalten, da sie sich nur auf Beschäftigung und Beruf bezieht und naturgemäß nur natürliche Personen

______________ 141

EKMR, Nr. 17522/90, Iglesia Bautista; Nr. 7805/77, Scientology; EGMR, Nr. 27417/95, Cha’are Shalom ve Tsedek. 142 143

Zuleeg, Art. 13 EGV, Rn. 13.

Torfs, Kirchenjuristen, 26; Vachek, Religionsrecht, 245. Bei Vachek ist dies umso bemerkenswerter, als er bei Art. 9 EMRK ein korporatives Element ja weitgehend ablehnt, bei Art. 13 EGV dies aber wie selbstverständlich voraussetzt, sofern freilich der Anwendungsbereich des EGV eröffnet ist. Sein Beispiel, nämlich die Fernsehübertragung von Gottesdiensten, ist aber schlecht gewählt, denn Sendezeiten sind begrenzt. Deshalb kann die Fernsehanstalt niemals die Gottesdienste aller vorhandenen Religionsgemeinschaften übertragen, sondern muss Einzelne aussuchen, wobei sie sich legitimerweise nach der Größe richten wird.

I. Korporative Religionsfreiheit: Die EU ist religiös inkompetent

159

Arbeitnehmer sein können.144 Ein Gebot der Gleichbehandlung aller Religionsgemeinschaften lässt sich also nur indirekt auf Art. 13 EGV stützen, insofern es Voraussetzung für die Gleichbehandlung von Individuen gemäß einem Rechtsakt ist, der sich auf Art. 13 EGV stützt. Das Prinzip strikter Gleichheit wird nur dann wirklich eingehalten, wenn entweder keiner einzigen Religionsgemeinschaft Sonderrechte eingeräumt werden oder allen die gleichen. Einem Staat, der Religionsgemeinschaften auch positiv unterstützt, fällt die strikte Gleichbehandlung schwerer als einem Staat, der sich völlig distanziert, denn wer niemandem Hilfe gewährt, behandelt sicher niemanden ungleich.145 Einem durch das Gleichheitsgebot drohenden Abbau von Sonderrechten kann nur begegnet werden, wenn diese auch auf andere Religionsgemeinschaften ausgedehnt und nach möglichst objektiven und präzisen Kriterien vergeben werden. 146 Sachlich gerechtfertigte Differenzierungen werden von der Lehre147 zugelassen und können nach der EMRKRechtsprechung beispielsweise in der Größe der jeweiligen Religionsgemeinschaft148 oder in ihrem Beitrag für das künstlerische und historische Erbe 149 bestehen. In der UN-Resolution 36/55 über die Beseitigung von Intoleranz und Diskriminierung aufgrund der Religion oder Weltanschauung war ursprünglich ein Verbot geplant, nur bestimmte Kirchen finanziell zu unterstützen, das aber wegen des Widerstands der Länder mit Staatskirchen fallen gelassen wurde. 150 Wie schon bei der individuellen Religionsfreiheit, so ist noch mehr bei der korporativen der Schutz der Vielfalt als Gegenprinzip zur Gleichheit zu berücksichtigen.151 Gerade die verschiedenartigen Religionsgemeinschaften sind die ______________ 144

Hingegen können die Arbeitgeber, die in Art. 4 Ausnahmerechte erhalten, selbstverständlich auch juristische Personen sein, aber es ist nicht Ziel der Richtlinie, Diskriminierungen unter diesen zu verbieten. Ebenso wenig trifft dieses Ziel auf die Nichtregierungsorganisationen zu, die in Art. 14 genannt werden. 145 So Torfs (Kirchenjuristen, 26f.), der hier auf einen Unterschied zwischen den USA (striktes Gleichheitsprinzip, keine Unterstützung) und der europäischen Tradition (geschichtlich bedingte Vorrechte, staatliche Förderung) aufmerksam macht. 146

Vgl. ebd und Weber, Neuralgische Punkte, 491.

147

Vgl. Klecatsky, Menschenrechtsstaat, 3; Robbers, Verhältnis der Europäischen Union, 17. 148

EKMR, Nr: 8160/78, X / Vereinigtes Königreich, Rn. 28; EGMR, Nr. 13470/87, Otto-Preminger-Institut, Rn. 52 und 56; Nr. 65501/01, Vergos, Rn. 36 und 40f; Nr. 42571/98 İ.A./Türkei, Rn. 30. Dagegen jedoch Griesacker, Beschwerde, 51. 149

EKMR, Nr. 17522/90, Iglesia Bautista, Rn. 3.

150

Carobene, protezione, 373.

151

Die vollständige Identität der jeweiligen Rechtsstellungen wäre nach Robbers letztlich wieder eine Ungleichbehandlung, weil sie von sozialen und sonstigen fakti-

160

C. Kirche und EU – voneinander unabhängig und autonom

Trägerinnen des religiösen Pluralismus, der für eine demokratische Gesellschaft wichtig ist, wie der EGMR immer wieder betont. Dementsprechend schützt Art. 22 GRCH die Vielfalt der Religionen, und der EU-Verfassungsvertrag beugt zusätzlich einer Assimilierung der einzelnen Religionsgemeinschaften vor, wenn er beim Dialog mit den Kirchen und anderen Gemeinschaften in Art. I-52 Abs. 3 die Achtung ihrer Identität verlangt. Das Gleichheitsgebot spielt bei der korporativen Religionsfreiheit somit eine geringere Rolle als bei der individuellen152 und weicht stärker dem Prinzip der Vielfalt. Dalla Torre hat beobachtet, dass Minderheiten zuerst gleich behandelt werden wollen wie die traditionelle Religion, dann aber, sobald sie ausreichend Garantien erhalten haben, je nach ihren Besonderheiten anders behandelt werden wollen.153

7. Fazit: Die religiöse Inkompetenz der Europäischen Union Aus der Analyse der korporativen Religionsfreiheit ergibt sich vor allem Folgendes: So wie die Europäische Union mit der individuellen Religionsfreiheit eine Dimension in jedem Menschen achtet, die der Verfügung weltlicher Gewalt entzogen und auf einen geistliches, übernatürliches Ziel hingeordnet ist, so achtet sie mit der korporativen Religionsfreiheit, dass es rechtlich verfasste Organisationen gibt, die eben dieser Dimension angehören und ihrer Verfügungsmacht deswegen in gleicher Weise entzogen sind. Ob korporative Religionsfreiheit, Selbstbestimmungsrecht, Autonomie oder Trennungsprinzip, alle diese Konzeptionen, auch wenn sie teils unterschiedlichen Ansätzen entstammen und andere Schwerpunkte setzen, münden doch in die eine Erkenntnis, dass die Europäische Union als weltliches Gemeinwesen keine Kompetenz auf religiösem Gebiet besitzt, sondern diese vielmehr den Religionsgemeinschaften selbst zukommt.154 Die religiöse Inkompetenz der Europäischen Union ergibt sich also in erster Linie aus dem Prinzip der Trennung von weltlicher und religiöser Sphäre, wie ______________

schen Ungleichheiten abstrahieren müsste. Deshalb schlägt er die Kriterien der Bedürfnisadäquanz (Wonach besteht wirklich Bedarf?) und der Bedeutungsadäquanz (Größe der Religionsgemeinschaft) vor (Bedeutung, 90f.). 152

Vgl. Ferrari / Ibàn, Diritto e religione, 36; Martínez-Torrón, Giurisprudenza, 373; Vachek, Religionsrecht, 215; Vitale, Regolamentazione, 587. 153 154

Dalla Torre, Lezioni, 90.

Die religiöse Körperschaft beansprucht vorstaatliche Existenz, verdrängt den Staat aber nicht, weil beide unterschiedlichen Kategorien angehören: Der Staat verkündet kein Heil und gibt keine umfassende Weltdeutung, sondern ordnet das äußere Zusammenleben der Menschen (Conring, Korporative Religionsfreiheit in Europa, 65).

I. Korporative Religionsfreiheit: Die EU ist religiös inkompetent

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sie gerade für die europäische Denkweise typisch ist. In der Literatur wird die Inkompetenz der Europäischen Union hingegen oft mit dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 1 EGV, Art. 5 EUV, Art. I-11 Abs. 1 VVE) begründet, wonach die Union nur jene Kompetenzen besitzt, die ihr die Mitgliedstaaten tatsächlich übertragen haben. Da nun eine Religionskompetenz nun nie übertragen wurde, kann die Union eine solche gar nicht besitzen. 155 Diese Argumentation ist richtig, greift aber zu kurz, denn die Mitgliedstaaten könnten der Union überhaupt keine Religionskompetenz übertragen, da ihnen eine solche selber fehlt, weil sie ebenfalls – abgesehen von den wenigen Fällen von Staatskirchen – das Prinzip der Trennung von weltlicher und religiöser Sphäre verwirklicht haben.156 Letztlich gibt also auch hier wieder das Prinzip der Trennung, nicht jenes der begrenzten Ermächtigung den Ausschlag. Mit der Berufung auf das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung könnte aber noch etwas anderes gemeint sein. Zwar besitzen die Mitgliedstaaten im Allgemeinen wegen der Trennung der beiden Sphären keine Religionskompetenz, doch lassen sich die beiden Sphären nicht immer exakt voneinander scheiden, so dass es zudem einen Schnittbereich zwischen den Zuständigkeiten gibt und sich die weltliche Kompetenz in manchen Punkten mit religiösen Angelegenheiten berührt. In diesem Sinne haben die Mitgliedstaaten sehr wohl religionsrelevante Kompetenzen, die sie auf die Union übertragen können, jedoch nicht müssen, so dass eine Anwendung des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung möglich scheint. In Wirklichkeit trifft dieses Prinzip aber auch hier genau genommen nicht zu. Nimmt man die genannten Berührungspunkte nämlich zusammen, so ergibt sich keine geschlossene Materie „Religionsrecht“ oder „Staatskirchenrecht“, sondern es handelt sich dabei vielmehr um eine typische Querschnittsmaterie.157 Beispielsweise können sich Berührungspunkte mit kirchlichen Belangen im Vermögensrecht, Arbeitsrecht, Datenschutzrecht, Prozessrecht, Strafrecht und vielen weiteren Bereichen ergeben. Wenn die Mitgliedstaaten solche Kompetenzbereiche nun auf die Union übertragen, so werden die darin enthaltenen religionsbezogenen Punkte selbstverständlich mit übertragen, ohne dass es dazu einer gesonderten Ermächtigung an die Union bedürfte.158 Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung geht hier ______________ 155

Z.B. Heinig, Religionsgesellschaften, 381; Robbers, Amsterdam, 395; Sucker, Staatskirchenrecht, 18. 156

Vgl. Bleckmann, Religionsfreiheit, 7.

157

Gerade deswegen gibt es Berührungspunkte mit dem EG-Recht, vgl. Kalb, Staatskirchenrecht, 88; Vachek, Religionsrecht, 77. 158

Mückl (Weltanschauungsfreiheit, 191) meint, die Europäische Union dürfe in diesen Punkten nur mittelbar, aber nicht zielgerichtet tätig werden. Ein zielloses, nicht direkt wahrnehmbares Tätigwerden kann aber wohl nicht wünschenswert sein.

162

C. Kirche und EU – voneinander unabhängig und autonom

also ins Leere, weil nicht erwartet werden darf, dass für jeden religionsrelevanten Punkt in irgendeiner Kompetenzmaterie eine spezielle Ermächtigung für die Union ausgesprochen wird.159 Zu meinen, die entsprechende Befugnis verbliebe mangels spezieller Ermächtigung bei den Mitgliedstaaten, würde bedeuten, dass in vielen Rechtsbereichen, die an die Union übergehen, einzelne Relikte auf der nationalen Ebene zurückblieben. Das würde zu einer immer größeren Unübersichtlichkeit führen und der Integrationsdynamik widersprechen. 160 Legt man mit Heinig161 ein Mehrebenenmodell mit einer Kompetenzaufteilung zwischen der regionalen, der nationalen und der europäischen Ebene zugrunde, so finden sich religionsrelevante Befugnisse auf allen drei Ebenen, weil sie eben Teil der schon anderweitig bestehenden Kompetenzen sind.162 Da diese Befugnisse die weltliche Autorität auf der jeweiligen Ebene unweigerlich mit der religiösen Autorität in Berührung bringen, müssen sie auch die Befugnis mit einschließen, das Verhältnis zu dieser in irgendeiner Form zu gestalten.163 Die Art dieses Verhältnisses kann sehr unterschiedlich sein. So können die drei Departements in Elsass-Lothringen ein völlig anderes Verhältnis zur katholischen Kirche pflegen als die Republik Frankreich, deren Teil sie sind. England und Wales können ein anderes Verhältnis aufbauen als Schottland, obwohl beide demselben Staat angehören, und Deutschland kann das Verhältnis anders gestalten als Polen, obwohl beide Mitglieder der Europäischen Union sind. Auch die Europäische Union hat einzelne religionsrelevante ______________ 159

Die grundsätzliche Unzuständigkeit der Europäischen Union in religiösen Dingen bei gleichzeitiger Zuständigkeit in einzelnen Punkten geht auch aus der Feststellung des EuGH hervor, wonach die Teilnahme an einer auf Religion oder einer anderen Form der Weltanschauung beruhenden Vereinigung angesichts der Ziele der Gemeinschaft nur insoweit in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fällt, als sie als Teil des Wirtschaftslebens im Sinne von Art. 2 EGV angesehen werden kann (EuGH, Rs. 196/87, Steymann, Rn. 9). 160

Völlig richtig erkennt Ventura (Laicità, 182), dass das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung nur auf den ersten Blick eine religiöse Kompetenz der Union auszuschließen scheint, dass es aber in Wirklichkeit gar keine eigentliche religiöse Materie gibt, die klar von anderen getrennt wäre, und dass in religiösen Angelegenheiten keine strenge Kompetenzaufteilung zwischen den Staaten und der Union möglich ist. 161

Heinig, Art. 13 EGV und korporative Religionsfreiheit, 244f.

162

Reformen der Kompetenzverteilung zwischen Staat und Regionen, wie etwa in Italien (Botta, Riforma, 110) oder Spanien (Pérez, Modello, 149), wirken sich auch auf die Regelung der Beziehungen zu den Religionen und auf die Bedeutung der Quellen des Völkerrechts und des EG-Rechts aus. 163

Da die Religionsfreiheit auch das Verhältnis Staat-Kirche erfasst, geht es bei ihr auch um die Schaffung von Regeln für das reibungslose Funktionieren der beiderseitigen Beziehungen (Kimminich, Religionsfreiheit, 76).

I. Korporative Religionsfreiheit: Die EU ist religiös inkompetent

163

Befugnisse, die sie irgendwie wahrnehmen muss. Je nach dem, wie sie diese wahrnimmt – ob in Absprache mit den betroffenen Religionsgemeinschaften oder im Alleingang, ob in wohlwollender oder distanzierter Gesinnung –, gestaltet sie das Verhältnis zu den Religionsgemeinschaften unterschiedlich. Die Kompetenz, ein gewisses Verhältnis zu den Religionsgemeinschaften aufzubauen, ist also in den einzelnen religionsrelevanten Befugnissen bereits eingeschlossen. Auch sie bedarf daher keiner besonderen Übertragung im Sinne des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung, sondern ist auf allen Ebenen des Mehrebenenmodells mit den schon bestehenden Kompetenzen bereits mitgegeben. Es wäre absurd, der Europäischen Union religionsrelevante Befugnisse zu übertragen, ihr aber vorzuenthalten, mit den Religionsgemeinschaften darüber in Beziehung zu treten, weil solche Beziehungen scheinbar ausschließlich Sache der Mitgliedstaaten seien.164 Welche religionsbezogenen Kompetenzen die Europäische Union besitzt, wird in Abschnitt C.I.8. dargestellt, wie ihr Verhältnis zu den Religionsgemeinschaften definiert ist, in Kapitel D.I. In den soeben gemachten Überlegungen kommt „religiöse Kompetenz“ in einem dreifachen Sinn vor: (1) Die eigentliche Religionskompetenz, die sich voll und direkt auf den Bereich der religiösen Angelegenheiten bezieht, steht in einem Trennungssystem allein den Religionsgemeinschaften zu. (2) Religionsrelevante Kompetenzen jedoch besitzt das weltliche Gemeinwesen auf allen Ebenen in den Punkten, wo sich weltliche und religiöse Kompetenz berühren oder überschneiden. (3) Daraus folgend besitzt das weltliche Gemeinwesen ebenso die Kompetenz, das Verhältnis zu den Religionsgemeinschaften auszugestalten. Das Recht, das die religiöse Autorität aufgrund ihrer Kompetenz nach Punkt (1) erlässt, heißt religiöses Recht. Beispiele sind das jüdische, das kanonische und das islamische Recht. Das Recht, das die weltliche Autorität aufgrund ihrer Kompetenz nach Punkt (2) und (3) erlässt, nennt man „Staatskirchenrecht“ oder auf der europäischen Ebene besser „Religionsrecht“. Religionsrecht im engeren Sinn ist das aufgrund Punkt (3) erlassene Recht, das direkt die Art des Verhältnisses zwischen dem weltlichen Gemeinwesen und den ______________ 164

Dalla Torre unterscheidet völlig zutreffend die Frage des Verhältnisses der EU zu den staatskirchenrechtlichen Systemen der Mitgliedstaaten von der Frage des Verhältnisses der EU zu den Religionsgemeinschaften selbst (Laicità, 74) und schlägt für Letzteres eine dualistische Konzeption vor, wie sie auch in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen mehr oder weniger stark ausgeprägt ist (ebd. 21). Triebel (Religionsrecht, 123=173) hingegen meint, die Europäische Union solle sich auf den grundrechtlichen Schutz der Religionsfreiheit beschränken und die institutionelle Verankerung der Stellung der Religionsgemeinschaften allein den Mitgliedstaaten überlassen.

164

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Religionsgemeinschaften regelt, also beispielsweise, ob es sich um ein laizistisches, staatskirchliches System oder um ein Kooperationssystem handelt. Religionsrecht im weiteren Sinn hingegen umfasst alle aufgrund der Kompetenz nach Punkt (2) erlassenen Vorschriften, die auch Religionsgemeinschaften betreffen, sei es im Arbeitsrecht, im Datenschutzrecht oder in anderen Bereichen. Das Religionsrecht kann einseitig allein durch die weltliche Autorität oder – da es sich um Berührungspunkte handelt – zweiseitig durch einen Vertrag mit den einzelnen Religionsgemeinschaften geschaffen werden.

8. Dennoch religionsrelevante Kompetenzen der EU Trotz der Trennung von weltlichem und religiösem Kompetenzbereich lassen sich Schnittbereiche und Berührungspunkte nicht vermeiden, in denen auch die Europäische Union als weltliche Organisation Kompetenzen besitzt, die für den religiösen Bereich relevant sind. Solche Kompetenzen kamen umso mehr zum Vorschein, je weiter sie sich von einer bloßen Wirtschaftsgemeinschaft zu einer politischen Union entwickelt hat. Da viele Rechtsakte der Union auch die Kirchen und Religionsgemeinschaften betreffen, ohne auf diese eigens einzugehen, besteht die Gefahr, dass der Eigenart des Religiösen nicht genügend Rechnung getragen wird.165 Inzwischen verbreitet sich aber die Überzeugung, dass die Besonderheit von Kirchen und Religionsgemeinschaften in den Rechtsakten durch eigene Bestimmungen stärker berücksichtigt werden muss. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie sehr das Unionsrecht kirchliche Belange berührt, liefert das EuGH-Urteil Lindqvist (Rs. C-101/01). Die Katechetin Lindqvist beteiligte sich in einer evangelischen Kirchengemeinde in Schweden ehrenamtlich an der Vorbereitung der Konfirmanden und richtete für diese eine Internetseite mit persönlichen Informationen über Mitarbeiter in der Gemeinde ein. Nun wurde dem EuGH die Frage vorgelegt, ob es sich dabei um eine automatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 95/46/EG handelt. Obwohl diese Richtlinie Tätigkeiten, die nicht in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fallen, ausdrücklich ausnimmt (Art. 3 Abs. 2 SpStr. 1), wendet der EuGH sie global an. Ansonsten hinge der Anwendungsbereich von Zufälligkeiten ab, der Zweck der Rechtsangleichung würde verfehlt und in jedem Einzelfall müsste geprüft ______________ 165 Vgl. Bleckmann, Religionsfreiheit, 3; Dalla Torre, Laicità, 23f. Link stellt klar, dass die Gefahr nicht darin besteht, dass die Union eine Vereinheitlichung der staatskirchenrechtlichen Systeme anstreben würde, sondern darin, dass sie in scheinbar religionsneutralen Bereichen Staatskirchenrecht mit beeinflusst, wenn sie Kirchen nicht in ihrer eigentlichen Funktion, sondern nur als Erbringer von Dienstleistungen, Arbeitgeber, Datenempfänger usw. ansieht (Staat und Kirche, 131).

I. Korporative Religionsfreiheit: Die EU ist religiös inkompetent

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werden, ob die betreffende Tätigkeit den freien Verkehr zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtigt (Rn. 41f.). Das heißt, dass einem EG-Rechtsakt sogar eine solche Tätigkeit unterliegen kann, die ehrenamtlich geschieht und damit keinen wirtschafts- oder arbeitsrechtlichen Bezug hat und zu einem kirchlichen Kernbereich wie der Begleitung von Konfirmanden gehört, der dem weltlichen Gemeinwesen eigentlich entzogen ist.166 Hier zeigt sich, dass die Bedeutung des Gemeinschaftsrechts auch im nichtwirtschaftlichen Bereich zunimmt,167 und dass der EuGH auch für religionsrelevante Materien keine Bereichsausnahme anerkennt.168 Im Folgenden werden einzelne Bereiche vorgestellt, in denen das Unionsrecht den kirchlichen Bereich berührt. Für eine genauere Analyse dieser Bereiche muss aber auf die weiterführende Literatur verwiesen werden. Individuelles Arbeitsrecht: Wie schon mehrmals angeklungen ist, stellt das Arbeitsrecht einen solchen Bereich dar.169 Arbeitnehmer im Sinne von Art. 39 EGV ist dem EuGH zufolge, wer eine bestimmte Zeit hindurch für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält.170 Diese weite Definition erlaubt es dem EuGH, den Arbeitnehmerbegriff auch auf Angehörige von Religionsgemeinschaften anzuwenden, die für diese ohne Anstellungsverhältnis allein aufgrund ihrer Mitgliedschaft Dienste erbringen und einen Unterhalt bekommen, der von den genannten Leistungen unabhängig ist.171 Ein katholischer Ordenspriester, der ______________ 166

Im selben Urteil trägt der EuGH den schwedischen Gerichten aber auch auf, bei der Beurteilung des Falls, Grundrechte abzuwägen (Rn. 86). Eine entsprechende Berücksichtigung der Religionsfreiheit neben der Meinungsfreiheit könnte das Ergebnis also noch in eine andere Richtung lenken. 167

Siemen, Grundrechtsschutz, 320.

168

Er erkennt auch in anderen Bereichen wie dem Sport keine solchen Ausnahmen an (Schroeder, Sport, 38). Während der Sport zwar eine nicht-staatliche Tätigkeit ist, aber doch zur weltlichen Sphäre gehört, ist die Religion von dieser verschieden, so dass hier eine Bereichsausnahme viel eher zu rechtfertigen wäre. Das EuGH-Urteil zeigt aber, dass das EG-Recht auch davor nicht Halt macht. 169

Vgl. Ferrari / Ibán, Diritto e religione, 164f; Hanau / Thüsing, Arbeitsrecht, 2238; Onida, Problema, 905-917; Reichhold, Arbeitsrecht, 1055-1060; Schäfer, Arbeitsrecht, 79-101; Schinkele, Arbeitgeber, 57-66; Vachek, Religionsrecht, 302-318; Weber, Geltungsbereiche, 235-241. 170 EuGH, Rs. 66/85, Blum. Allerdings zieht sich dieser weite Arbeitnehmer-Begriff nicht durch das gesamte EG-Recht. Die Änderungs-RL 98/50/EG zur Betriebsübergangs-RL 77/187/EWG knüpft den Arbeitnehmer-Begriff in Art. 2 Abs. 1 lit. d an den mitgliedstaatlichen an (Reichhold, Rahmenrecht, 62). 171

EuGH, Rs. 196/87, Steymann, Rn. 8.

166

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seinen Unterhalt von der Missionsgemeinde erhielt, in der er wirkte, ist dem EuGH zufolge als „Selbstständiger“ i.S.d. Sozialversicherungs-VO (EWG) Nr. 1408/71 zu qualifizieren.172 Diese Auffassungen des EuGH stehen dem Selbstverständnis der Religionsgemeinschaften entgegen, die in solchen Konstellationen kein Arbeitsverhältnis erblicken und den Unterhalt nicht als Entgelt gewähren.173 Unter den Sekundärrechtsakten ist die schon erwähnte RL 2000/78/EG hervorzuheben, die Diskriminierungen in Beschäftigung und Beruf unter anderem aus religiösen Gründen verbietet, aber für Organisationen mit religiösem Ethos eine Ausnahmemöglichkeit gewährt (Art. 4 Abs. 2).174 Ferner ist die RL 2003/88/EG zu erwähnen, die bei der Regelung der Arbeitszeiten Ausnahmen für Arbeitnehmer im liturgischen Bereich von Kirchen und Religionsgemeinschaften vorsieht (Art. 17 Abs. 1 lit. c). Kollektives Arbeitsrecht: Berührungen gibt es auch im kollektiven Arbeitsrecht. Problematisch ist hier die Frage, wie weit sich die Kirchen in ein sozialpartnerschaftliches Modell einbringen können oder ein Sondermodell benötigen, weil das Konfrontationselement mit der kirchlichen Dienstgemeinschaft nicht vereinbar ist.175 Bezüglich Koalitionsrecht und Arbeitskampf besitzt die ______________ 172

EuGH, Rs. 300/84, Van Roosmalen, Rn. 22f. Diese Verordnung ist inzwischen durch die VO (EG) Nr. 883/2004 ersetzt worden. 173

Die beiden Urteile dürfen aber auch nicht überbewertet werden. Im ersten Fall (Rs. 196/87) erbrachte die betreffende Person ihre Dienste im Rahmen der wirtschaftlichen Tätigkeit der Gemeinschaft, mit der diese ihre finanzielle Unabhängigkeit sichert (Rn. 3). Außerdem formulierte der EuGH hier sehr zurückhaltend: „Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die verrichteten Arbeiten einen Teil des Wirtschaftslebens ausmachen“ (Rn. 12). Das heißt, dass es durchaus andere Tätigkeiten in Religionsgemeinschaften gibt, die nicht zum Wirtschaftsleben gehören. Im zweiten Fall (Rs. 300/84) ging es einfach darum, dass der Ordenspriester tatsächlich freiwillig sozialversichert war und nun eben einer der Kategorien der Verordnung zugeordnet werden musste, um die Versicherungsleistungen in Anspruch nehmen zu können. Der Generalanwalt war sich sehr wohl im Klaren darüber, dass der Ordenspriester nicht Selbstständiger im Sinne eines freien Berufes oder als Inhaber eines eigenen Unternehmens gewesen war (S. 3115). 174 Auch der Diskriminierungsgrund der sexuellen Ausrichtung könnte für die Kirche als Arbeitgeberin relevant werden (vgl. Berkmann, Ehe, 143f; Hanau / Thüsing, Arbeitsrecht, 34). Auswirkungen des Diskriminierungsverbots aufgrund des Geschlechts (Art. 141 EGV und RL 2002/73/EG) auf den Priesterberuf, der in der katholischen Kirche Männern vorbehalten ist, werden in der Lehre jedoch unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht der Kirche meist ausgeschlossen (Flores-Lonjou , Femmes, 134; Rüfner, Überlegungen, 488; Vachek, Religionsrecht, 314; Weber, Geltungsbereiche, 236). 175

Vgl. Schinkele, Arbeitgeber, 68.

I. Korporative Religionsfreiheit: Die EU ist religiös inkompetent

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Europäische Gemeinschaft aber ohnehin keine Kompetenz. 176 Gefahren könnten sich hingegen aus Vereinbarungen der umfassenden europäischen Sozialpartner ergeben, die keine Rücksicht auf ein kirchliches Selbstbestimmungsrecht nehmen.177 Die RL 94/45/EG über den Europäischen Betriebsrat sieht in Art. 8 Abs. 3 eine Ausnahme für Tendenzbetriebe vor, die auch kirchlichen Einrichtungen zugute kommt.178 Die RL 2002/14/EG über die Anhörung der Arbeitnehmer ermöglicht in Art. 3 Abs. 2 den Mitgliedstaaten, Sonderbestimmungen für Unternehmen oder Betriebe mit konfessioneller oder karitativer Bestimmung beizubehalten.179 Die Betriebsübergangs-RL 77/187/EWG i.d.F. RL 98/50/EG sieht keine Ausnahmen für Betriebe ohne erwerbwirtschaftliche Ausrichtung vor, wird aber die Kirche ohnehin kaum berühren, weil ihre Voraussetzungen auf kirchliche Betriebe selten zutreffen werden.180 In Deutschland haben alle katholischen Diözesen und die meisten evangelischen Kirchen den so genannten „Dritten Weg“ gewählt, der für die Arbeitsverhältnisse weder einen kirchlichen Hoheitsakt noch einen Tarifvertrag, sondern ein dem kirchlichen Selbstverständnis entsprechendes Beteiligungsmodell vorsieht. Dieses setzt an die Stelle des Arbeitskampfes die verbindliche Streitschlichtung. Ob dieses Modell durch das EG-Recht gefährdet ist, wird in der Literatur unterschiedlich beurteilt.181 Datenschutzrecht: Der ursprüngliche Entwurf zur Datenschutz-RL 95/46/EG hatte keine Ausnahmebestimmung für Kirchen und Religionsgemeinschaften vorgesehen. Das hätte dazu geführt, dass diese selbst keine Daten mit religionsbezogener Information über ihre Mitglieder hätten verarbeiten dürfen, wo doch gerade diese Information für das kirchliche Meldewesen unerlässlich ist.182 Außerdem hätte die staatliche Datenschutzbehörde den Zugriff auf innerkirchliche Aktenbestände erhalten, was das Seelsorgsgeheimnis untergraben hätte.183 Schließlich wären auch das deutsche Kirchensteuer- und das österreichische Kirchenbeitragssystem in Frage gestellt worden, weil die dazu nötige Daten______________ 176

Hanau / Thüsing, Arbeitsrecht, 25.

177

Schäfer, Arbeitsrecht, 25; Schinkele, Arbeitgeber, 69.

178

Schäfer, Arbeitsrecht, 119; Schinkele, Arbeitgeber, 71; Vachek, Religionsrecht,

317. 179

Schinkele, Arbeitgeber, 72; De Wall, Entwicklungen, 210.

180

Müller-Volbehr, Arbeitsrecht, 105.

181

Vgl. Reichhold, Arbeitsrecht, 1058; Schliemann, Arbeitsrecht, 131; Vachek, Religionsrecht, 318. 182

Meyer, Datenschutzrecht, 324.

183

Vachek, Religionsrecht, 357.

168

C. Kirche und EU – voneinander unabhängig und autonom

übermittlung verboten worden wäre. 184 In Deutschland werden nämlich die bürgerlichen Steuerlisten durch den Staat der Kirche zur Verfügung gestellt und in Österreich werden immerhin die Meldedaten übermittelt. Um all die genannten Gefahren zu vermeiden, wurden schließlich in Erwägungsgrund Nr. 35 und Art. 8 der Richtlinie Ausnahmebestimmungen für religiöse Organisationen aufgenommen.185 Auch die Datenschutz-VO (EG) Nr. 45/2001 enthält nun eine Ausnahmebestimmung für religiös ausgerichtete Organisationen ohne Erwerbszweck (29. Erwägungsgrund und Art. 10 Abs. 2 lit. e). Soziale Dienste: Christliche Kirchen zählen soziale Dienste wie Krankenhäuser, Kindergärten, Altenheime usw. zu ihrem Sendungsauftrag, den sie nach den Grundsätzen der christlichen Nächstenliebe als Religionsausübung erfüllen.186 Es bestehen aber Unterschiede sowohl im diesbezüglichen Selbstverständnis der einzelnen Konfessionen als auch in dem Ausmaß, in dem die Sozialsysteme der einzelnen Mitgliedstaaten solche kirchlichen Dienste ermöglichen oder sogar fördern.187 Während die romanischen Länder weitgehend dem Prinzip der économie sociale folgen, das auch die Kommission zu bevorzugen scheint, besteht in Deutschland ein System der freien Trägerschaft in der Wohlfahrtspflege. Dieses unterscheidet klar zwischen gemeinnützigen und gewinnorientierten Trägern, achtet das kirchliche Selbstbestimmungsrecht und sieht finanzielle Förderungen durch den Staat vor, da die freien Träger ihn von Aufgaben entlasten, die er sonst selbst erfüllen müsste. 188 Im Bereich der sozialen Dienste kommt es zu zahlreichen Berührungspunkten mit dem EGRecht, obwohl die Gemeinschaft im Gesundheitswesen nur eine parallele Kompetenz besitzt (Art. 152 EGV). Die Niederlassungsfreiheit und die Dienstleistungsfreiheit beseitigen die nationalen Grenzen auch für die Anbieter sozialer Leistungen.189 Dass diese Grundfreiheiten in der Regel einen Erwerbszweck (Art. 48 EGV) bzw. Entgeltlichkeit (Art. 50 EGV) voraussetzen, schützt uneigennützige karitative Organisationen nicht, wie man auf den ersten Blick meinen möchte, sondern bringt sie vielmehr in die Lage, dass sie durch gewinnorientierte Sozialleister aus dem Ausland Konkurrenz bekommen, während sie sich selbst mangels Erwerbszeck nicht auf die Grundfreiheiten berufen können, um ebenfalls ins Ausland zu expandieren. Nun legt der EuGH die ______________ 184

Weber, Geltungsbereiche, 231.

185

Vgl. Lorenz, Novellierung, 434.

186

Schwarz, karitative Tätigkeit, 214; Sucker, Staatskirchenrecht, 21.

187

Strohm / Schubert, cadre social, 56.

188

Evangelisch-katholische Arbeitsgruppe, Der Dritte Sektor, 66; Vachek, Religionsrecht, 323; Weber, Geltungsbereiche, 244. 189

Vgl. Schwarz, karitative Tätigkeit, 208f; Weber, karitative Tätigkeit, 93.

I. Korporative Religionsfreiheit: Die EU ist religiös inkompetent

169

genannten Klauseln zwar ohnehin sehr weit aus, doch fällt gerade damit die klare Unterscheidung zwischen gewinnorientierten und uneigennützigen Anbietern weg, so dass die kirchlichen Organisationen in ihrer religiös motivierten Uneigennützigkeit nicht wahrgenommen werden. Im europäischen Wettbewerbsrecht kommt es hingegen auf eine Gewinnorientierung von vornherein nicht an, so dass ihm auch die kirchlichen Sozialträger grundsätzlich unterliegen.190 So ist es durchaus möglich, dass bestimmte staatliche Zuschüsse an Kirchen oder kirchliche Einrichtungen die Kriterien für verbotene Beihilfen191 nach Art. 87 Abs. 1 EGV erfüllen.192 Die Ausnahmen des Art. 86 Abs. 2 EGV und des Art. 87 Abs. 2 EGV treffen auf sie nicht zu.193 Möglicherweise greift aber die Ausnahmeklausel des Art. 87 Abs. 3 lit. d EGV bezüglich des kulturellen Bereichs. Zwar ist die Religion kein Teilbereich der Kultur, aber in gewissen Fällen überschneiden sich die beiden doch. Außerdem erklärt die Daseinsvorsorgemitteilung 2001/C 17/4194 der Europäischen Kommission, dass Einrichtungen, die weitgehend soziale Aufgaben erfüllen – Kirchen und Wohlfahrtsverbände sind ausdrücklich genannt – generell nicht vom gemeinschaftlichen Wettbewerbsrecht erfasst werden. Einen Schutz der sozialen Dienste, wie sie in den nationalen Rechtsordnungen vorgesehen sind, kennen nunmehr auch die Charta der Grundrechte von Nizza (Art. 36) und der Verfassungsvertrag (Art. II-96).195 Da es sich dabei aber um mehrdeutige Formulierungen handelt und die Judikatur des EuGH196 ebenso wenig eine klare Abgrenzung erkennen lässt, welche sozialen Dienste dem Wettbewerbsrecht unterliegen und welche nicht, bleibt eine große Rechtsunsicherheit bestehen, die der kirchlichen Sozial______________ 190

Nach Däggelmann schließen sich Wettbewerb und sozialer Dienst aber aus. Während sich andere Anbieter auf einzelne profitable Segmente zurückziehen können, muss die Caritas aufgrund ihres Leitbildes auch Randbereiche dauerhaft abdecken (Europäische Union, 74). 191

Zu diesem Fragenkomplex ausführlich Patt, Zuwendungen, passim.

192

Koenig / Kühling / Ritter, EG-Beihilfenrecht, 33-87; Rauch, Sozialbereich, 145; Weber, Geltungsbereiche, 244. 193

Vgl. Montag / Leibenath, Daseinsvorsorge, 587; Schwarz, karitative Tätigkeit, 210 und 213; Weber, karitative Tätigkeit, 96. 194 Nicht mehr eigens erwähnt werden die Kirchen und Religionsgemeinschaften hingegen im Non-Paper „Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse und staatliche Beihilfen“ der Kommission vom 12. 11. 2002 und im Grünbuch der Kommission zu Dienstleistungen von allgemeinem Interesse KOM (2003) 270 endg. 195 196

Einem, Verfassung, 205.

Vgl. Däggelmann, Europäische Union, 72; Di Majo, Nozione, 935; Evangelischkatholsiche Arbeitsgruppe, Der Dritte Sektor, 65.) Uneins sind sich auch Parlament und Kommission (Knauff, Grünbuch, 454).

170

C. Kirche und EU – voneinander unabhängig und autonom

tätigkeit schaden kann. Hier wäre eine Verständigung zwischen den EUOrganen und den kirchlichen Sozialträgern wünschenswert, denn letztlich kennt die soziale Arbeit gerade im christlichen Verständnis keine staatlichen Grenzen.197 Finanzen: Die Gefährdung des Kirchensteuer- bzw. Kirchenbeitragssystems durch die Datenschutzrichtlinie198 sowie die Gefährdung staatlicher Beihilfen für kirchliche Wohlfahrtsträger durch das europäische Wettbewerbsrecht wurden soeben bereits angesprochen. Daneben gibt es aber auch Regelungen der EG, die kirchliche Einrichtungen finanziell begünstigen. 199 Steuer- und zollbefreit sind Gegenstände zur religiösen Betätigung von Seeleuten, 200 Werbematerial für Veranstaltungen mit religiösem Charakter 201 und Güter, die vorübergehend für Ausstellungen oder Veranstaltungen der Religion 202 eingeführt werden. Von größerer Bedeutung sind aber die Steuerbefreiungen der 6. Umsatzsteuerrichtlinie203 für bestimmte dem Gemeinwohl dienende Tätigkeiten, für die Gestellung von Personal in religiösen Einrichtungen und für Dienstleistungen sowie die Lieferung von Gegenständen durch Einrichtungen mit religiösen Zielen. In einigen Bereichen gewährt auch die EG selbst Subventionen. Für die Kirchen ist hier vor allem die Förderung religiöser Kulturgüter interessant. Innerhalb des EU-Programms „Erhaltung des europäischen architektonischen Erbes“ wurden 1989, als das Jahresthema „Baudenkmäler oder Stätten religiösen Charakters von besonderem Wert“ lautete, 24 Projekte mit insgesamt 2,4 Millionen ECU unterstützt.204 Auch für Projekte der Entwicklungszusammenarbeit und der humanitären Hilfe können kirchliche Organisationen Gelder der Europäischen Gemeinschaft erhalten. Als Partner der Entwicklungszusammenarbeit, für die eine finanzielle Unterstützung in Betracht ______________ 197 Vgl. Däggelmann, Europäische Union, 73; Rauch, Sozialbereich, 146; Strohm / Schubert, Cadre social, 63. 198

Vgl. Kiderlen, Systeme, 37; Körner, Finanzierung, 128; Mösenthin, Kirchenfinanzierung, 82; Petersen, Finanzierung, 35; Puza, Modalitäten, 182; Rüfner, Überlegungen, 490; Starck, Kirchensteuerrecht, passim. 199

Berkmann, Europarecht, 3.e-h.

200

17. Umsatzsteuer-RL 85/362/EWG, Art. 21 (Steuer); VO (EG) Nr. 993/2001, Art. 564 (Zoll). 201

RL 83/181/EWG, Art. 78 (Steuer); VO (EG) Nr. 3665/93, Art. 684a Abs. 2 (Zoll).

202

VO (EG) Nr. 2454/93, Art. 673 Abs. 2 lit. c; Art 9 und Art. 21 VO (EWG) Nr. 3599/82. 203 204

RL 77/388/EWG, Art. 13.

Zur Frage, wie die EU die Erhaltung religiöser Bauten finanzieren kann, vgl. auch: Erwägungsgrund X und Nr. 16 der Entschließung zur Erhaltung des architektonischen Erbes; schriftliche Anfragen Nr. 447/93 und Nr. 1161/93.

I. Korporative Religionsfreiheit: Die EU ist religiös inkompetent

171

kommt, werden in einer längeren Aufzählung ausdrücklich auch Kirchen genannt,205 während die Empfänger der humanitären Hilfe206 nach einer Reihe von Kriterien bestimmt werden, bei der Religion keine Rolle spielt. Vom EGRecht207 wird außerdem anerkannt, dass Kirchen und Religionsgemeinschaften in der Rechtsform der Körperschaft des öffentlichen Rechts, die aufgrund eines ihnen durch Gesetz verliehenen Steuererhebungsrechts Steuern einziehen, einem Kreditrisiko unterliegen, das mit dem der Regionalregierungen und örtlichen Gebietskörperschaften vergleichbar ist. Zur Bewertung des Kreditrisikos ist daher derselbe Solvabilitätskoeffizient heranzuziehen, wie bei solchen Gebietskörperschaften. Kultur: Berührungspunkte finden sich auch im Bereich der Kultur, in dem die Europäische Gemeinschaft eine parallele Kompetenz besitzt (Art. 151 EGV).208 Die Kulturgüter-RL 93/7/EG (Art. 7) und die Kulturgüter-VO (EG) Nr. 3911/92 (Anhang A.2) sehen jeweils Sonderbestimmungen für religiöse Gegenstände vor.209 Die Fernseh-RL 89/552/EWG verbietet es, die Übertragung von Gottesdiensten einerseits und von religiösen Sendungen mit weniger als 30 Minuten Sendezeit anderseits durch Werbung zu unterbrechen (Art. 11). Ferner darf keine Sendung religiöse Überzeugungen verletzen (Art. 12 lit. c) oder zu religiösem Hass aufstacheln (Art. 22 und 22a).210 Hier wird der Schutz des religiösen Gefühls greifbar, den man auch als eine Art Blasphemieverbot bezeichnen könnte.211 In ähnlicher Weise ermöglicht Art. 3 Abs. 4 lit. a der ______________ 205

Art. 3 VO (EG) Nr. 1659/98.

206

Art. 7 VO (EG) Nr. 1257/96. Verlangt wird aber, dass die humanitäre Hilfe allen Opfern unabhängig von ihrer Religion gewährt wird (Erwägungsgrund 7), was ohnehin der Praxis kirchlicher Hilfsorganisationen entspricht. 207

RL 2000/12/EG, Art. 46. Für die Kirchen in Deutschland brachte diese Regelung allerdings – ohne dass sie es rechtzeitig bemerkt haben – eine Verschlechterung, weil sie vorher zusammen mit den mitgliedstaatlichen Regierungen in der niedrigsten Rangklasse waren (vgl. Vachek, Religionsrecht, 181f.). 208 Vgl. Behrens, Kultur, 56; Müller-Volbehr, Arbeitsrecht, 90f; Schmahl, Kulturkompetenz, 205; Vachek, Religionsrecht, 252. 209

Denaro, Attività culturale, 1137f; Heinig, Religionsgesellschaften, 403.

210

Vgl. Sucker, Staatskirchenrecht, 23; Vachek, Religionsrecht, 386; Weber, Geltungsbereiche, 228. 211 Wie wichtig solche Bestimmungen sind, zeigte die Veröffentlichung einer Mohammed-Karikatur in einer dänischen Zeitung am 30.9.2005, die in muslimischen Kreisen weltweit Empörung auslöste und zum Boykott dänischer Waren in SaudiArabien bis hin zum Niederbrennen christlicher Kirchen in Pakistan führte. Dänemark musste sich eingestehen, keinen rechtlichen Schutz gegen derartige Verletzungen religiöser Gefühle anbieten zu können (zur Abfolge der Ereignisse: Reuter, Karikaturenstreit, 239f.). Die Meinungs- und Pressefreiheit muss sich, wie Reuter (ebd. 251)

172

C. Kirche und EU – voneinander unabhängig und autonom

RL 2000/31/EG Einschränkungen des elektronischen Geschäftsverkehrs zum Schutz vor der Hetze aus Gründen der Religion. Eine Kulturpolitik zugunsten des nichtkommerziellen Fernsehens, das die Meinungsfreiheit (Art. 10 EMRK) unter anderem der verschiedenen religiösen Strömungen schützen soll, verstößt mehreren EuGH-Urteilen212 zufolge nicht gegen die Dienstleistungsfreiheit, außer wenn ein Mitgliedstaat auch Fernsehanstalten, die aus dem Ausland senden, zu beschränken versucht. Selbst über das Urheberrecht erließ die EG eine Richtlinie (RL 2001/29/EG), die vom Recht auf Vervielfältigung und auf öffentliche Wiedergabe Ausnahmen für Artikel zu religiösen Themen ermöglicht (Art. 5 Abs. 3 lit. c). Bildung: Im Bereich der allgemeinen und der beruflichen Bildung besitzt die Europäische Gemeinschaft eine parallele Kompetenz (Art. 149 bzw. 150 EGV). Auf Art. 149 EGV stützt sich die RL 2005/36/EG, wonach die Mitgliedstaaten alle in der EG verliehenen Hochschuldiplome anerkennen müssen, die ein mindestens dreijähriges Studium abschließen.213 Das gilt auch für Diplome, die von einer kirchlichen Lehranstalt ausgestellt worden sind, sofern sie von einem Mitgliedstaat anerkannt werden, denn „zuständige Behörde“ ist jede von den Mitgliedstaaten mit der besonderen Befugnis ausgestattete Behörde oder Stelle, Ausbildungsnachweise und andere Dokumente oder Informationen auszustellen (Art. 3 Abs. 1 lit. d RL 2005/36/EG).214 Zu den europarechtlichen Regelungen über kirchliche Privatschulen und Religionsunterricht215 wurden bereits Ausführungen gemacht [Abschnitt B.I.4.].

______________

feststellt, in der globalen Gesellschaft weitaus häufiger hinsichtlich ihrer Grenzen rechtfertigen. Da die Medien heute grenzüberschreitend wirken und auch die Reaktionen auf sie nicht an Staatsgrenzen Halt machen, kann es nicht einem einzelnen Staat überlassen bleiben, ob er Sanktionen für entsprechende Handlungen vorsieht oder nicht. Vielmehr bedürfte es eines internationalen Instruments. Die Richtlinien der EG hinsichtlich Fernsehens und elektronischen Geschäftsverkehrs sind ein Schritt in diese Richtung, doch der Zeitungssektor liegt weiterhin in den Händen der Mitgliedstaaten. 212

EuGH, Rss. C-23/93, C-288/89, C-353/89 und C-148/91.

213

Vgl. Kalb, Staatskirchenrecht, 95; Schinkele, Arbeitgeber, 74.

214

So beanstandete der EuGH im Fall Beuttenmüller (Rs. C-102/02) nicht, dass das Diplom einer österreichischen Volksschullehrerin, die ihren Beruf in BadenWürttemberg ausüben wollte, von der Pädagogischen Akademie der Erzdiözese Wien, also von einer kirchlichen Einrichtung stammte. Voraussetzung ist aber, dass das Abschlusszeugnis der kirchlichen Ausbildungsstätte vom jeweiligen Mitgliedstaat anerkannt wird, vgl. EuGH, Rs. 108/88, Cendoya, Rn. 18. 215 Vgl. Heinig, Religionsgesellschaften, 401; Vachek, Religionsrecht, 78; Weber, Geltungsbereiche, 226.

I. Korporative Religionsfreiheit: Die EU ist religiös inkompetent

173

Weitere Berührungspunkte: Es ist unmöglich, an dieser Stelle alle Berührungspunkte des EG-Rechts mit kirchlichen Belangen aufzuzählen. Der Sonnund Feiertagsschutz und das rituelle Schlachten von Tieren wurden bereits an anderer Stelle behandelt [Abschnitte B.I.6.a) und B.I.6.b)]. Zu erwähnen sind noch das Eherecht216 sowie das Markenrecht217 und strafrechtliche218 Implikationen. In Zukunft können durchaus weitere Berührungspunkte hinzukommen, wie etwa die Militärseelsorge bei einem weiteren Ausbau der Verteidigungspolitik oder im Vereinsrecht, falls das Statut des Europäischen Vereins doch noch in Kraft gesetzt werden sollte. Der Überblick hat gezeigt, dass die Europäische Union nicht wenig religionsrelevante Kompetenzen quer durch ihre Tätigkeitsbereiche besitzt. Darunter finden sich ausschließliche Kompetenzen (Zoll- und Wettbewerbsrecht) ebenso wie parallele Kompetenzen (Bildung, Kultur, Gesundheit), doch den Großteil machen – wie auch sonst – die konkurrierenden Kompetenzen aus. Der Verfassungsvertrag schafft kaum neue Kompetenzen,219 sondern schickt sich vielmehr an, die bestehenden zu systematisieren. So unterscheidet er in Art. I-12 ausschließliche Zuständigkeiten (Abs. 2), geteilte – bisher konkurrierende – Zuständigkeiten (Abs. 3) und Zuständigkeiten für Unterstützungs-, Koordinierungs- und Ergänzungsmaßnahmen – die bisherigen parallelen Kompetenzen (Abs. 5).220 Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe werden unter den geteilten Zuständigkeiten genannt, obwohl sie eigentlich zu den parallelen zu rechnen wären.221 Neue Rechtsgrundlagen wurden im Strafrecht geschaffen.222 Sie können auch religiöse getarnte grenzüberschreitende Kriminalität und Terrorismus betreffen. Weitere Kompetenzübertragungen an die Union erfordern eine Vertragsänderung, die nach Art. IV-443 Abs. 3 Satz 2 VVE einer Ratifikation durch die Mitgliedstaaten bedarf. 223 Was die sozialen Dienste betrifft, so wurde nach heftigen Debatten in den letzten Konventssitzungen ______________ 216

Z.B. Art. 63 Ehe-VO (EG) Nr. 2201/2003, vgl. Berkmann, Ehe, 147.

217

Art. 3 Abs. 2 lit. b RL 89/104/EWG; EuG Rs. T-247/02; vgl. Heinig, Religionsgesellschaften, 401. 218 Gemeinsame Maßnahme 96/443/JI zur Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, Titel I.A.a und c; vgl. Leman, Asile, 72. 219

Dennoch umfasst er praktisch alle Lebensbereiche der Bürger, wenn auch mit unterschiedlicher Eingriffsintensität (Hector, Zukunftsperspektiven, 205). 220

Nach Wuermeling will die vorsichtige Formulierung von Abs. 5 unterstreichen, dass die eigentliche Zuständigkeit bei den Mitgliedstaaten bleibt (Kompetenz, 223). 221

Streinz, Kompetenzabgrenzung, 93.

222

Vgl. Zypries, Raum, 112-114.

223

Wuermeling, Kompetenz, 224.

174

C. Kirche und EU – voneinander unabhängig und autonom

Art. III-122 VVE als Schutzklausel eingefügt, die aber ambivalent formuliert ist.224 Der Streit darüber, ob die Union im Bereich des Wirtschaftlich-Sozialen ihre Rolle als liberaler Kontrapunkt zu den mitgliedstaatlichen Ordnungen bewahren oder ob sie die Verantwortlichkeit für das soziale Europa übernehmen soll, wird im Verfassungsvertrag zugunsten der letzteren Option entschieden.225 Im Bereich der öffentlichen Gesundheit übernimmt die Union zusätzliche Aufgaben (Art. III-278).

II. Autonomie des weltlichen Gemeinwesens: Kirche politisch inkompetent 1. Die Kirche beansprucht religiöse Autonomie und Unabhängigkeit Die Europäische Union erkennt eine mehr oder weniger weit gehende Autonomie für Kirchen und Religionsgemeinschaften an. Inwiefern ist diese Autonomie komplementär zum Selbstverständnis der katholischen Kirche? Die Kirche selbst beansprucht ja gegenüber dem weltlichen Gemeinwesen tatsächlich volle Autonomie in ihrem Bereich, um ihre Sendung für das Heil der Menschen erfüllen zu können.226 Wie weit decken sich die kirchliche und die europäische Konzeption? Korporative Religionsfreiheit: Die korporative Religionsfreiheit, die aus der individuellen abgeleitet wird, ist ein Weg, wie die weltliche Seite die kirchliche Autonomie und Unabhängigkeit begründen kann, und sie ist auf der europäischen Ebene der am besten gefestigte und am meisten beschrittene Weg. In der Tat findet sich dieser Weg auch in kirchlichen Lehraussagen, besonders in der Konzilserklärung Dignitatis humanae, deren Art. 4 eben diese Ableitung der Freiheit der religiösen Gemeinschaften aus der religiösen Freiheit der Einzelnen vornimmt.227 Nach Art. 13 Abs. 3 DH ist die Verwirklichung der Religionsfrei______________ 224

Ebd. Vgl. auch Brusis, Soziale Dimension, 188.

225

Nettesheim, Kompetenzordnung, 518. Als Problem sieht Nettesheim aber, dass die Union im Sozialbereich weitreichende Handlungsbefugnisse hat, die Verantwortlichkeit für die soziale Sicherheit aber den Mitgliedstaaten obliegt (ebd. 545). 226

Rees fasst die Neuformulierung des Verhältnisses Kirche – Welt durch das Zweite Vatikanische Konzil in den folgenden Punkten zusammen: Wesensverschiedenheit von Kirche und Staat, Eigenständigkeit der Kirche gegenüber dem Staat und gegenseitige Unabhängigkeit, Verpflichtung des Staates zur Gewährung religiöser Freiheit und enge Kooperation. Der Weltdienst der Kirche in der Gesellschaft ist Bestandteil ihres Heilsdienstes (Rees, Kirchenbegriff, 687; ähnlich Listl, Selbstverständnis, 955). 227

Indem die Kirche in DH sich von der jahrtausendelangen Ansicht entbindet, dass der Staat Schutzmacht der religiösen Wahrheit sein sollte, bekennt sie sich Hilpert

II. Autonomie des weltlichen Gemeinwesens: Kirche politisch inkompetent

175

heit die Bedingung für die Unabhängigkeit der Kirche und steht die Freiheit der Kirche („libertas Ecclesiae“) in Einklang mit der religiösen Freiheit, die allen Menschen und Gemeinschaften zuzuerkennen ist.228 Dementsprechend wurde die Religionsfreiheit vielfach als die gemeinsame Basis der weltlichen und der kirchlichen Gemeinschaft angesehen, auf die allein die gegenseitige Beziehung aufzubauen ist. Libertas Ecclesiae: Indessen lässt sich damit aber nicht der gesamte Anspruch der Kirche begründen. Schon Art. 13 Abs. 1 DH führt als vorrangigen Grund für die Freiheit der Kirche die Stiftung durch Jesus Christus an und damit verbunden die Notwendigkeit dieser Freiheit für die Sorge um das Heil der Menschen und die Verkündigung des Evangeliums. 229 Da die Kirche sich demnach weniger als Zusammenschluss ihrer Gläubigen, sondern vielmehr als göttliche Stiftung ansieht, betrachtet sie ihre Freiheit in erster Linie als originäres Recht, das sich nicht vollständig aus der individuellen Religionsfreiheit ableiten lässt.230 Eine rein religionsfreiheitliche Begründung könnte die Freiheit der Kirche als bloße Konzession durch die weltliche Autorität erscheinen lassen.231 Die Freiheit der kirchlichen Gewalt ist in c. 1375 CIC sogar strafrechtlich geschützt. Wie Listl hervorgehoben hat, lassen sich die Konkordatshoheit der Kirche, ihr Gesandtschaftsrecht und die Kooperationspflicht der weltlichen Autorität nicht mit der korporativen Religionsfreiheit, sondern nur mit der vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil üblichen Lehre von der societas perfecta begründen.232

______________

zufolge endgültig zur Unterscheidung von Staat und Kirche als zweier Sphären (Hilpert, Religionsfreiheit, 815). 228 Vgl. Leisching, Strukturen, 19; Listl, Staat und Kirche, 972; Puza, Weltkirche, 657; Siebenrock, LthK3-Konzilskommentar, Bd. IV, 193. 229

Das führt Dalla Torre sogar dazu, in Art. 13 DH bei aller Zusammengehörigkeit doch die Verschiedenheit von libertas Ecclesiae und Religionsfreiheit zu betonen (Città, 103-108). 230

Vgl. Bleckmann, Religionsfreiheit, 33; Listl, Staat und Kirche, 974.

231

Durand, Relations, 123.

232

Listl, Lehre, 1251; ders., Kirchenrechtswissenschaft, 227. Alle drei genannten Elemente sind aber gerade für das Verhältnis zur Europäischen Union von großer Bedeutung. Die Apostolische Nuntiatur, die seit 1970 bei den Europäischen Gemeinschaften besteht, ist nämlich nicht nur eine sehr frühe, sondern bislang auch die einzige rechtlich formalisierte Art der Kontaktaufnahme [Abschnitt E.III.4.]. Wenn nun in Zukunft der religiöse Dialog stärker formalisiert wird, werden auch Kooperation und vertragliche Beziehungen an Bedeutung gewinnen.

176

C. Kirche und EU – voneinander unabhängig und autonom

Societas perfecta: In Anlehnung an die Staatsdefinition von Aristoteles233 können mehrere menschliche Gesellschaften unterschieden werden, der Staat aber ist die vollkommene Gesellschaft, weil er über alle notwendigen Mittel verfügt, um seine Ziele zu erreichen und es keine ihm übergeordnete Gesellschaft gibt. Als sich im Laufe der Neuzeit Nationalstaaten herausbildeten, die auf ihre Souveränität pochten und sich die Kirche unterordnen wollten, entwickelten Kanonisten die Theorie, dass nicht nur der Staat, sondern ebenso die Kirche solche „vollkommenen Gesellschaften“ („societates perfectae“) darstellen, die voneinander unabhängig und autonom sind und in ihrem jeweiligen Bereich – weltliches Gemeinwohl bzw. geistliches Heil – die höchste Autorität besitzen.234 Diese societas-perfecta-Lehre ermöglichte, die Kirche dem Staat auf gleicher Ebene gegenüberzustellen und eine rechtliche Beziehung zwischen beiden herzustellen.235 Ist sie nun durch das Zweite Vatikanische Konzil obsolet geworden? Da die Konzilsdokumente an keiner Stelle den Begriff „societas perfecta“ verwenden, sondern das Verhältnis Kirche - Staat im Licht der Religionsfreiheit deuten, meinen einige Autoren, das eine Konzept sei durch das andere ersetzt worden.236 Andere Autoren, insbesondere Listl, haben hingegen aufgezeigt, dass die societas-perfecta-Lehre weiterhin Gültigkeit besitzt und vom Konzept der Religionsfreiheit nicht widerrufen, sondern nur ergänzt wird.237 Das Konzil nennt die Kirche immerhin eine „societas hierarchice ordinata“ (Art. 20 Abs. 1 LG, ähnlich: Art. 8 Abs. 1 LG und Art. 40 Abs. 2 GS) und hält der Sache nach unzweideutig an den Grundelementen der societas-perfecta-Lehre fest, nämlich an der Eigenständigkeit und an der gegenseitigen Unabhängigkeit.238 Papst Paul VI. spricht in der Einleitung des nachkonziliaren MP SOE ausdrücklich von den beiden „societates perfectae“ und Karol Wojtyla, der spätere Papst Johannes Paul II., war auf dem Konzil ein ______________ 233

Aristoteles, Politik I, 1 (1252 a 1-7).

234

Vgl. Granfield, Societas perfecta, 462; Listl, Lehre, 1244.

235

Dalla Torre, Città, 62.

236

Huizing, Kirche und Staat, 589; Königsmann, Vollkommene Gesellschaft, 238 und 245; Lombardía, Droit Public, 72f; Walf, Katholische Kirche, 118. 237

Cárcel Ortí, Chiesa, 21; Granfield, Societas perfecta, 463f; Köck, Aspekte, 40-43; Listl, Aufgabe und Bedeutung, 463; ders., Kirchenrechtswissenschaft, 222; ders., Lehre, 1245; ders., Staat und Kirche, 982; Rees, Strafgewalt, 52; Saraceni, Chiesa, 200; Sebott, Ecclesia, 113; Spinelli, Diritto pubblico ecclesiastico, 79. Eine vermittelnde Position versucht Puza, der das Anliegen der Befürworter anerkennt, dass die Kirche eine eigenständige societas sei, aber Begriff und Konsequenzen der societas perfecta-Lehre vermeiden möchte (Weltkirche, 654). 238

Vgl. Listl, Kirchenrechtswissenschaft, 222.

II. Autonomie des weltlichen Gemeinwesens: Kirche politisch inkompetent

177

Befürworter der societas-perfecta-Lehre.239 Art. 83 § 1 Schema LEF 1969 nennt die Kirche in Anlehnung an Art. 8 LG eine „societas ordinata“. Der CIC/1983 bekräftigt die societas-perfecta-Lehre insbesondere dadurch, dass er weiterhin verschiedene iura nativa bzw. iura propria et exclusiva erwähnt, die der Kirche originär ohne jede Ableitung oder Verleihung durch eine menschliche Macht zukommen.240 Damit erfüllt er die Vorgabe des ersten KodexReformprinzips,241 das an der societas-perfecta-Lehre zwar nicht dem Wortlaut, sehr wohl aber der Sache nach festhält, wenn es der Kirche eine Sozialnatur zuspricht, die in der Jurisdiktionsgewalt gründet, die Christus selbst der Hierarchie verliehen hat. Dass theologische Konzeptionen das Wesen der Kirche besser zum Ausdruck brächten, hindert nicht, dass es für die Bestimmung des Verhältnisses zum Staat, der ebenfalls rechtlich verfasst ist, einer juristischen Kategorie bedarf.242 Nach Dalla Torre sind die heutigen Staaten selbst keine societates perfectae mehr, so dass auch die Kirche sich nicht mehr als solche darstellen müsste und ihre Rechtsordnung stattdessen besser als „ordinamento giuridico primario“ (primäre Rechtsordnung) bezeichnen sollte, was zum Ausdruck brächte, dass sie sich von keiner anderen Rechtsordnung ableitet.243 Wenn man diese Überlegung auf die Europäische Union anwendet – was Dalla Torre nicht eigens tut –, gewinnt sie sogar noch an Brisanz. Gerade die Union ist nämlich gewiss keine societas perfecta, fehlen ihr doch Souveränität, Kompetenz-Kompetenz und umfassende Zuständigkeiten. Umgekehrt können aber auch die Mitgliedstaaten nicht mehr wirklich als societates perfectae bezeichnet werden, nachdem sie mehrere Kompetenzen auf die Union übertragen haben und in bestimmten Bereichen nicht mehr selbstständig handeln können. Sollte also die Kirche nicht gerade in ihrer Beziehung zur Europäischen Union auf die societas-perfecta______________ 239

Vgl. Granfield, Societas perfecta, 460.

240

Nämlich in den cc. 232, 362, 747 § 1, 1254 § 1, 1260, 1311 und 1401. Zum letztgenannten Canon vgl. das Rota-Urteil coram Stankiewicz (27.3.1998), Nr. 4. In den cc. 362, 747 § 1 und 1254 § 1 wird die Unabhängigkeit der Kirche von jeder menschlichen Macht noch zusätzlich durch den Ausdruck „independens“ hervorgehoben (vgl. Durand, relations, 117; Göbel, Verhältnis, 111; Lüdecke, Grundnormen, 134). Nach evangelischer Ansicht hingegen besitzen die Kirchen keine originären Hoheitsrechte, und die wenigen Hoheitsbefugnisse, die sie überhaupt noch ausüben, sind vom Staat delegiert (Link, Aufgaben, 707). 241

Comm 1 (1968) 78.

242

Köck, Aspekte, 43.

243

Dalla Torre, Città, 64; ders., Primato, 91f. Ähnlich argumentiert Türk, Staat, 898. Spinelli verwendet sowohl den Begriff „societas perfecta“ als auch „ordinamento giuridico primario“ für die Kirche (Diritto pubblico ecclesiastico, 59).

178

C. Kirche und EU – voneinander unabhängig und autonom

Lehre verzichten? Zunächst ist aber festzuhalten, dass die Natur der Kirche sich nicht automatisch mitändert, wenn die Strukturen im weltlichen Gemeinwesen sich wandeln. Mögen Union und Mitgliedstaaten sich im weltlichen Bereich die Herrschaft auch teilen, so bleibt die Kirche für ihre Gläubigen im geistlichen Bereich doch allein zuständig und höchste Autorität. Außerdem sind Union und Mitgliedstaaten nur dann keine societates perfectae, wenn man sie einzeln betrachtet, nimmt man hingegen beide Ebenen zusammen, so ergänzen sie sich sehr wohl zu einer „vollkommenen Gesellschaft“. Trotzdem ist der Begriff des „ordinamento giuridico primario“ von Dalla Torre äußerst nützlich, da er sowohl auf die Rechtsordnungen von weltlichen als auch von religiösen Gemeinschaften anwendbar ist, selbst wenn sie keine societates perfectae sind. Die Rechtsbeziehungen zwischen ihnen können damit als Beziehungen zwischen einer Vielzahl von Rechtsordnungen gleich welcher Art verstanden werden, ohne dass es darauf ankäme, ob sie societates perfectae sind.244 Völkerrechtssubjektivität: Auch im weltlichen Bereich wird das Verhältnis zur Kirche keineswegs nur unter dem Konzept der Religionsfreiheit gesehen. Vielmehr wird dem Heiligen Stuhl unter dem Titel der Souveränität und der Völkerrechtspersönlichkeit zuerkannt, was die kirchliche Lehre mit dem Prinzip der societas perfecta verbindet, nämlich völkerrechtliche Gleichordnung mit den Staaten und Internationalen Organisationen sowie höchste Autorität in ihrem eigenen – dem geistlichen – Bereich.245 Nach verbreiteter kanonistischer Lehre sind sowohl die Kirche als auch der Heilige Stuhl Völkerrechtssubjekte.246 Gestützt wird dies teilweise auf c. 113 § 1 CIC, der dem Apostolischen Stuhl und der katholischen Kirche den Charakter einer „persona moralis“ zuerkennt.247 Nun spricht der CIC nur an dieser Stelle von einer „persona moralis“, während er für die verfassungsrechtlichen Untergliederungen der Kirche wie Orden, Vereine usw. nur den Ausdruck „persona iuridica“ verwendet (vgl. c. 113 § 2). Die unterschiedliche Bezeichnung dieser Rechtspersonen erklärt sich daraus, dass sie in der Kirche („in Ecclesia“ c. 113 § 2 CIC) stehen, nicht aber die Kirche selbst sind. Die Rechtsordnung der Kirche verleiht ihnen ihre Rechtspersönlichkeit, erhält ihrerseits die Rechtspersönlichkeit aber von ______________ 244

Nach Échappe (État, 136) entspricht die kirchliche Rechtsordnung nicht der Definition des Rechtsstaates, was aber nicht gegen die Kirche, sondern nur für die Grenzen der Vergleichbarkeit mit dem weltlichen Staat spricht. 245

C. 94 § 1 LEF 1969 bediente sich übrigens selbst der völkerrechtlichen Terminologie, indem er der Kirche Rechtspersönlichkeit und die Ausübung höchster Gewalt („suprema potestas“) zusprach, womit nach den Angaben des Relators Onclin die Souveränität gemeint war (Anmerkungen zur LEF 1969 vom 20.9.1969). 246

Vgl. Spinelli, Diritto pubblico ecclesiastico, 156.

247

Vgl. Dalla Torre, Città, 206.

II. Autonomie des weltlichen Gemeinwesens: Kirche politisch inkompetent

179

niemandem verliehen, wenn man von ihrem transzendenten Grund in der göttlichen Anordnung („ex ipsa ordinatione divina“ c. 113 § 1 CIC) einmal absieht.248 Eine Rechtsordnung aber, die sich nicht einer anderen verdankt, sondern den Grund ihrer Existenz in sich selbst trägt, wird gemeinhin „souverän“ genannt und kann am völkerrechtlichen Verkehr teilnehmen. 249 Nach der im Völkerrecht verbreiteten Lehre besitzt hingegen nur der Heilige Stuhl Völkerrechtssubjektivität und zwar einmal als höchstes Leitungsorgan des Staats der Vatikanstadt, einmal als höchstes Leitungsorgan der katholischen Kirche.250 Selbst diese Theorie anerkennt aber im Grunde die Rechtsstellung der Kirche als societas perfecta, wenn auch nur über Vermittlung durch den Heiligen Stuhl. Indem die Europäische Gemeinschaft seit 1970 einen Apostolischen Nuntius angenommen hat, gibt sie selbst unzweideutig zu erkennen, dass sie die Völkerrechtspersönlichkeit des Heiligen Stuhls anerkennt und dass sie folglich ihr Verhältnis zur katholischen Kirche nicht allein auf die individuelle und korporative Religionsfreiheit gründet, womit sie dem kirchlichen Selbstverständnis sehr entgegenkommt.251 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sowohl die katholische Kirche als auch die Europäische Union beide Begründungen der kirchlichen Autonomie kennen, nämlich die originäre und die religionsfreiheitliche, doch setzen sie die Schwerpunkte gerade umgekehrt. Nun müssen unterschiedliche Begründungen noch keinen Dissens bedeuten, solange nur die daraus gezogenen Konsequenzen im Rechtsstatus übereinstimmen. Diese stimmen weitgehend, doch nicht bis ins letzte Detail überein, so dass die Europäische Union zwar meist, aber ______________ 248

Vgl. Göbel, Verhältnis, 107f. Da im CIC/1917 persona iuridica und moralis noch synonym verwendet wurden, muss man der im CIC/1983 gemachten terminologischen Unterscheidung eine spezielle Bedeutung beimessen. 249

C. 113 §1 CIC hat sowohl eine kirchenintern strukturierende als auch eine kirchenextern defensiv-vindikative Funktion (Göbel, Verhältnis, 112; Lüdecke, Grundnormen, 135f.). 250 251

Vgl. Buonomo, Holy See, 16; Dalla Torre, Città, 203-206.

Zu den beiden Wegen – Gesandtschaftsrecht bzw. Religionsfreiheit –, um die Beziehungen zwischen Kirche und EU zu gestalten, vgl. Durand, Relations, 116 und 124. Da die Staaten und Internationalen Organisationen die völkerrechtliche Gleichordnung der Kirche also sehr wohl anerkennen, sind jene Theorien abzulehnen, die heute nur noch ein Verhältnis der Unterordnung der Kirche unter den Staat für möglich halten. Gegen Gleichordnung: Heinig, Art. 13 EGV und die korporative Religionsfreiheit, 253; Walter, Säkularisierung, 46. Gegen einseitige Über-/Unterordnung: Leziroli, Relazioni, 178; Listl, Kirchenrechtswissenschaft, 233. Gewiss haben sich kirchliche Einrichtungen in verschiedenen Wirkungsbereichen an die weltlichen Gesetze zu halten, doch hindert das nicht, dass die Kirche als solche dem weltlichen Gemeinwesen gleichberechtigt gegenübersteht.

180

C. Kirche und EU – voneinander unabhängig und autonom

nicht immer gewährt, was die katholische Kirche beansprucht. Bei den meisten Staaten verhält es sich nicht anders, ohne dass gute Beziehungen dadurch ernsthaft gefährdet würden. Wo Divergenzen bestehen, ist eben Anlass für den Dialog zwischen Kirche und EU gegeben.

2. Die Kirche erkennt die Autonomie des weltlichen Bereichs an a) Vorbemerkungen Ob die kirchliche Autonomie, wie sie die Europäische Union gewährt, tatsächlich mit der Autonomie übereinstimmt, wie sie die Kirche selbst beansprucht, ist nur eine der Fragen, die das Komplementärprinzip aufwirft. Die andere lautet, ob die Kirche auch dem weltlichen Gemeinwesen Autonomie in seinem Bereich zugesteht, so wie sie von diesem für sich selbst Autonomie verlangt. Diese Frage, um die es im vorliegenden Abschnitt geht, stellt gleichsam die korporative Komponente zu der in Kapitel B.II. behandelten Frage dar, ob die Kirche ihren Gläubigen bürgerliche Freiheit gewährt, so wie die zivile Autorität den Bürgern religiöse Freiheit gewährt. Terminologie: Das Zweite Vatikanische Konzil vermeidet es, vom „Staat“ („status“) zu sprechen und verwendet stattdessen vor allem Ausdrücke wie „communitas politica“ (politische Gemeinschaft), „Societas civilis“ („zivile Gesellschaft“) oder „potestas civilis“ („zivile Gewalt“).252 Die Einleitung zu SOE spricht ohne erkennbare Systematik bald von „Civitates“, bald von „Nationes“ oder „Res publicae“. Art. 83 Schema LEF 1969 bedient sich der Begriffe „hominum consortium“, „terrestra civitas“ und „societas politica“. Der CIC/1983253 verwendet „Societas civilis“254, sonstige Verbindungen mit „civilis“255, „civitas“256, das am besten mit „bürgerliches“ oder „weltliches Gemeinwesen“ wiederzugeben ist, oder „natio“257. Diese Begriffswahl hat Dalla Torre ______________ 252

Vgl. Listl, Staat und Kirche, 970.

253

Vgl. Göbel, Verhältnis, 100; Haering, Rezeption, 25.

254

CC. 353 § 4, 793 § 2, 797, 799.

255

„Auctoritas“: cc. 377 § 5, 1152 § 2, 1344 ° 2, 1479, „potestas“: cc. 1059, 1254 § 1, „regio“: c. 877 § 3. 256 CC. 227, 354, 362, 363 § 1, 364 ° 7, 365 § 1, 365 § 1 ° 2, 1316, 1405 § 1 ° 1, 1548 § 2 ° 1, 1558 § 2. Beim Staat der Vatikanstadt und im Gesandtschaftsrecht wird „Civitas“ groß geschrieben. Nur in c. 1215 § 3 CIC meint „civitas“ nicht das weltliche Gemeinwesen, sondern die Stadt. 257

CC. 3, 197, 242 § 1, 312 § 1 ° 2, 362, 433 § 1, 439 § 2, 447, 448 § 1, 448 § 2. „Natio“ ist nicht so weit wie „civitas“, sondern beschränkt sich auf den Nationalstaat,

II. Autonomie des weltlichen Gemeinwesens: Kirche politisch inkompetent

181

zufolge eine programmatische Bedeutung, denn der Staat ist nur eine der möglichen Organisationsformen der politischen Gemeinschaft, die in der Renaissance aufkam, an die sich die Kirche aber nicht binden will, da sie in Zukunft vielleicht wieder verschwindet. 258 Gerade im Hinblick auf eine supranationale Organisation wie die Europäische Gemeinschaft erweist sich die erwähnte Terminologie als äußerst weit blickend, da sie ja kein Staat ist, die Staatlichkeit ihrer Mitglieder vielmehr einschränkt, aber dennoch als Gegenüber der Kirche keinesfalls außer Acht gelassen werden darf. Die konziliaren und kodikarischen Aussagen können somit, weil sie durchgängig weite Begriffe verwenden, ohne weiteres auch auf das Verhältnis zur Europäischen Union angewandt werden. Gerade die weltumspannende Kirche hat über Jahrhunderte hinweg die Wertegemeinschaft unter den Staaten gesichert und kann sich heute den Problemen, die die Leistungsfähigkeit des einzelnen Staates übersteigen und internationale Zusammenschlüsse erfordern, nicht verschließen. 259 Theologische Grundsätze: Das Königtum wird im Alten Testament nicht als in der Schöpfung gründende, sondern als vom Menschen aufgestellte Ordnung gesehen, die durchaus auch kritisch bewertet wird. 260 Im Neuen Testament stellt sich das Verhältnis zur politischen Macht ambivalent dar. Jesus beansprucht für sich selbst weder politische Macht (Mt 4,8; Joh 18,36), noch lässt er sich davon in Anspruch nehmen (Joh 6,14; Lk 19,11).261 Während Paulus die staatliche Autorität in Gott begründet sieht und die Christen zum Gehorsam ermahnt (Röm 13), spiegeln sich in Offb 13 schon erste Erfahrungen von Christenverfolgungen wider, wenn im römischen Imperium die Macht Satans am Werk gesehen wird. Mit dem Wort Jesu zur kaiserlichen Steuer (Mt 22,21) wurde im Laufe der Kirchengeschichte die Verschiedenheit von religiöser und politischer Autorität begründet.262 Dieser Dualismus ist typisch für das Christentum und lebt im säkularen Europa fort.263 Auch wenn es in der katholischen Staatslehre ______________

was gerade bei den Bestimmungen über die Bischofskonferenz deutlich wird. Diese Beschränkung wird aber an manchen Stellen durch Zusätze wie „vel regionibus“ (c. 362) oder „vel certi territorii“ wieder relativiert. In den cc. 383 § 1 und 518 meint „natio“ nicht den Staat, sondern die Nationalität als Eigenschaft eines Menschen. 258

Dalla Torre, Città, 20.

259

Vgl. Kirchhof, Staat, 896.

260

Rüterswörden, Staat, 892.

261

Giesen, Staat, 894.

262

Einen wichtigen Eckpunkt in der Entwicklung bildet Papst Bonifaz VIII. (12941303). Vgl. dazu Pree, Bonifaz VIII., 455-458. 263 Vgl. Corral, Religionsfreiheit, 591; Dalla Torre, città, 28; Hervada, Elementi, 46; Leziroli, Relazioni, 4; Lombardía, Dualismo, 23; Mikat, Kirche, 469; Ratzinger, Europa. Die Dichotomie muss nicht wie bei Fikentscher (Wertebenen, 121) als gnostische

182

C. Kirche und EU – voneinander unabhängig und autonom

keine Einsichten gibt, die nur auf der Grundlage des katholischen Glaubens erkennbar wären, so dass darüber nicht auch mit Nichtchristen volle Übereinstimmung erzielt werden könnte,264 so lässt sich aus dem Alten und dem Neuen Testament aber sehr wohl ableiten, dass der Staat einen von Gott mit dem Menschen geschaffenen Herrschaftsverband darstellt, dessen Aufgabe darin besteht, eine Rechts- und Friedensordnung zu errichten, und dass der Einzelne auch Gott gegenüber im Gewissen verpflichtet ist, den gerechten Gesetzen des Staates zu gehorchen.265 Kirchliche Lehre: Die Lehre der Kirche über das politische Gemeinwesen und das Verhältnis zu ihm zeigt vor allem in drei Aspekten, dass die Kirche seine Autonomie anerkennt. Erstens grenzt sie die Zuständigkeitsbereiche der beiden Sphären ab, in denen die jeweilige Autorität unabhängig und autonom ist, und gibt damit zuerkennen, dass sie keine Zuständigkeit für den rein politischen Bereich besitzt.266 Diese Lehre findet sich in großer Kontinuität schon bei Papst Leo XIII. (Immortale Dei, Denz. 3168), im Zweiten Vatikanischen Konzil (Art. 36 Abs. 4 LG, Art. 76 Abs. 3 GS, Art. 12 Abs. 4 AG) und darüber hinaus267. Zweitens propagiert die kirchliche Lehre keine bestimmte Regierungsform als die beste, sondern überlässt deren Wahl dem Willen der Bürger. Auch dieser Gedanke findet sich schon bei Leo XIII. (Diuturnum illud, Denz. 31503152), er hat aber über Pius XII.268 und das Konzil (Art. 74 Abs. 3 und Art. 75 Abs. 1 GS) bis hin zu Johannes Paul II. (Nr. 46 CA) insofern eine Wandlung erfahren, als die Demokratie nicht mehr nur toleriert, sondern begrüßt wird. 269 Drittens verlangt die Kirche vom weltlichen Gemeinwesen nicht, dass es konfessionell-katholisch geprägt sein muss. Gegenüber der früheren Lehre, wonach Staaten mit mehrheitlich katholischer Bevölkerung die Kirche zu ______________

Trennung zwischen der bösen Welt und dem guten Himmel abgetan werden. Nach Lienemann (Kirche und Staat, 387) ist die „Dyarchie“ in Europa aus einem anderen Grund nicht mehr brauchbar, nämlich wegen des heutigen religiösen Pluralismus. In der Tat stehen heute sowohl auf der religiösen als auch auf der weltlichen Seite mehrere Machtzentren, doch ändert dies nichts an der grundlegenden Dualität der beiden Sphären. 264

Listl, Der Staat, 958.

265

Ebd. 962.

266

Listl, Kirche und Staat, 1502; ders., Lehre, 1243.

267

Z.B. Kongregation für die Glaubenslehre, Katholiken im politischen Leben, Nr. 6: Das Lehramt will keine politische Macht ausüben. 268

Weihnachtsansprache 1944; Rede vom 2.6.1947, 261.

269

Vgl. Mikat, Kirche, 469. Vgl. auch COMECE, Das Herz weit machen, Nr. 4.

II. Autonomie des weltlichen Gemeinwesens: Kirche politisch inkompetent

183

privilegieren hatten, brachte in diesem Punkt erst das Zweite Vatikanische Konzil die entscheidende Wende. (Art. 76 Abs. 5 GS, Art. 4 und Art. 6 Abs. 3 DH).270 Die Autonomie des weltlichen Gemeinwesens ist in der Lehre der Kirche somit fest begründet.271 Nun ist zu prüfen, ob sie sich auch in ihrer Rechtsordnung widerspiegelt.

b) Rechtsgrundlagen für die weltliche Autonomie Lex Ecclesiae Fundamentalis: Nach c. 51 § 1 LEF 1980 hätte die Kirche die Autonomie der zeitlichen Dinge und Gesellschaften anerkannt, die sich ihrer eigenen Gesetze und Werte erfreuen, gemäß denen die Menschen unbeschadet der unveräußerlichen Rechte der menschlichen Person die zeitliche Ordnung frei aufbauen. Ferner hätte c. 54 § 2 bestimmt, dass Kirche und politische Gesellschaft auf ihrem eigenen Gebiet wechselseitig unabhängig und autonom sind und dass jede von beiden auf ihre Art gegenüber den ihr untergebenen Menschen die höchste ist, wenn sie auch gewisse Grenzen hat, von denen sie umschlossen wird und die durch ihre je eigene Natur und Sendung definiert sind. Diese beiden Normen hätten also ein klares Bekenntnis zur Autonomie des weltlichen Gemeinwesens gebracht, doch wurde die LEF bekanntlich nie in Kraft gesetzt, und die beiden Canones wurden nicht in den CIC übernommen. Man könnte sich nun damit trösten, dass sich entsprechende Aussagen ohnehin in der kirchlichen Lehre, besonders in den Dokumenten des Zweiten Vatikanischen Konzils finden, doch darf der Unterschied zwischen einer lehramtlichen Aussage und einer Rechtsnorm gerade hier nicht übersehen werden, wo es um die Rechtsbeziehungen zum weltlichen Gemeinwesen geht, das selbst rechtlich verfasst ist.272 Man könnte dagegen einwenden, dass die erwähnten Normen ohnehin nicht in ein kirchliches Gesetz gehört hätten, weil in einem solchen ______________ 270

Vgl. Listl, Kirche und Staat, 1502; ders., Kirchenrechtswissenschaft, 209; ders., Staat und Kirche, 974. In Art. 76 Abs. 5 GS verzichtet die Kirche aber nicht generell auf alle Privilegien, sondern nur sofern sie ihrer Sendung entgegenstehen oder nicht mehr zeitgemäß sind (Feliciani, Droit canonique, 105). „Privileg“ hat heute eine negative Konnotation, ist aber im Grunde ein Recht, das den Freiheitsraum der Kirche vergrößern soll (Dalla Torre, Città, 92). 271

Lies erwartet sich von den zukünftigen europäischen Theologien und ihren Kirchen, dass sie „uns schützen vor einer Verweltlichung der Kirche, vor einer Vergöttlichung des Staates, vor einer Verstaatlichung der Kirche und einer Verkirchlichung des Staates. Sie sollten uns aber auch bewahren vor einer Verteufelung des Staates und vor einer Spiritualisierung der Kirche“ (Europa, 103). 272 Feliciani warf diesem Teil der LEF jedoch vor, zu lehrmäßig und nicht juristisch zu sein (Droit canonique, 110).

184

C. Kirche und EU – voneinander unabhängig und autonom

keine Bestimmungen über das weltliche Gemeinwesen getroffen werden können.273 In Wirklichkeit aber treffen die beiden Normen gar keine Verfügungen über die politischen Gesellschaften, sondern erkennen deren Autonomie gerade an. Als Selbstbegrenzung der Kompetenz der Kirche gegenüber der weltlichen Kompetenz würden sie sehr wohl einen wichtigen Zweck im kirchlichen Gesetzbuch erfüllen. Sonst müsste man umgekehrt auch den staatlichen Gesetzen, die der Kirche Autonomie einräumen (z.B. Art. 137 WRV, Art. 15 StGG), vorwerfen, dass sie sich in den kirchlichen Bereich einmischen, obwohl sie diese Einmischung doch gerade abwehren. Nach der Aufgabe der LEF fehlt ein System von Normen über das Verhältnis zum weltlichen Gemeinwesen, 274 so dass nur die Möglichkeit bleibt, das Autonomieprinzip aus einzelnen Bestimmungen des CIC abzuleiten. Korporative Dimension der bürgerlichen Freiheit: Im weltlichen Recht wird aus der korporativen Dimension der religiösen Freiheit die Autonomie der Religionsgemeinschaften abgeleitet. Kann nun in komplementärer Weise in der bürgerlichen Freiheit (c. 227 CIC) ebenfalls eine korporative Dimension erblickt werden, in der sich die Autonomie des weltlichen Gemeinwesens zeigt? Zwar erwähnt c. 227 CIC eine Freiheit des irdischen Gemeinwesens nicht, nimmt dieses aber sehr wohl in den Blick, wenn er von der Freiheit spricht, die den Laien in den Dingen des irdischen Gemeinwesens zuerkannt wird. Nun ließe sich ähnlich wie bei der Religionsfreiheit argumentieren, dass die Autonomie des bürgerlichen Gemeinwesens die Voraussetzung für die bürgerliche Freiheit des Einzelnen sei. Während manche Autoren in c. 227 CIC die iusta autonomia rerum terrarum von Art. 36 GS wiedererkennen, stützen andere diesen Canon allein auf Art. 37 LG.275 Mit Martín de Agar und Pree lässt sich auf jeden Fall festhalten, dass c. 227 CIC eine Schranke für die rechtliche Kompetenz der Hierarchie darstellt.276 Dann aber ist in c. 227 CIC auch eine Erklärung der Kirche über ihre Inkompetenz in irdischen Dingen zu sehen.277 Dagegen könnte man einwenden, dass c. 227 CIC ein Recht nur für ______________ 273

Dem Relator Onclin war sehr wohl bewusst, dass ein Kirchengesetz der bürgerlichen Gesellschaft keine Verpflichtungen auferlegen kann, weshalb dieser Teil der LEF die Beziehungen zu ihr nur aus der Warte der Kirche selbst betrachtet (Anmerkungen zur LEF 1969 vom 20.9.1969). 274

Musselli, Rapporti, 7.

275

Erste Variante: Boekholt, Laie, 70f; Reinhardt, in: MKCIC, c. 227, Rn. 2; Schwendenwein, Kirchenrecht, 135f. Zweite Variante: Göbel, Verhältnis, 170. 276

Pree, Libertad, 247; Martín de Agar, Ambito temporale, 140 unter Berufung auf Art. 43 Abs. 2 GS, wonach die Hierarchie keine Kompetenz besitzt in weltlichen Fragen, die von den Laien zu lösen sind. 277

Caparros, in: ComEx, c. 227, 181.

II. Autonomie des weltlichen Gemeinwesens: Kirche politisch inkompetent

185

die Laien verankert, eine korporative Dimension aber nur auf der Grundlage eines Gemeinrechts entwickelt werden könne. Was die Kleriker betrifft, so ist deren bürgerliche Freiheit, wie bereits in Abschnitt B.II.4.a) behandelt, durch zahlreiche Verbote eingeschränkt. Aber gerade diese Verbote verfolgen ja das Ziel, die Autonomie des weltlichen Gemeinwesens nicht zu gefährden. Würden Kleriker nämlich öffentliche Ämter übernehmen (c. 285 § 3 CIC), in politischen Parteien aktiv teilnehmen (c. 287 § 2 CIC) oder im Militär dienen (c. 289 § 1 CIC), so könnte die Kirche auf diesem Weg Einfluss auf die Politik nehmen. Das Laienrecht des c. 227 CIC und die verschiedenen Klerikerverbote stehen sich also nicht entgegen, was die Autonomie des weltlichen Bereichs betrifft, sondern zielen gemeinsam darauf ab, diese zu sichern. Weitere Bestimmungen im CIC: Schon nach c. 1 CIC betreffen die Canones des CIC nur die lateinische Kirche, nach c. 1 CCEO betreffen die Bestimmungen des CCEO nur die katholischen Ostkirchen und ausnahmsweise auch die lateinische Kirche. Indem diese Einleitungscanones den Geltungsbereich der jeweiligen Gesetzbücher auf eine oder mehrere Kirchen beschränken, grenzen sie ihn zwar in erster Linie gegenüber dem Recht anderer Kirchen und kirchlicher Gemeinschaften ab, in zweiter Linie aber auch gegenüber dem weltlichen Recht, womit dessen Eigenständigkeit zum Ausdruck kommt. Eine kirchliche Unzuständigkeit geht ferner aus c. 747 § 2 CIC hervor. Zwar liest sich diese Bestimmung zunächst wie eine Grundlage kirchlicher Kompetenz auch für die soziale Ordnung und die menschlichen Dingen jedweder Art, aber weil diese auf die sittlichen Grundsätze, die Grundrechte der menschlichen Person und das Seelenheil beschränkt wird, lässt sie erkennen, dass darüber hinaus der weltliche Bereich sehr wohl autonom ist.278 Schließlich finden sich über den gesamten CIC verstreut Bestimmungen, die auf weltliches Recht in einer solchen Weise verweisen, dass sie zu erkennen geben, dass im jeweiligen Bereich eben die weltliche Autorität zuständig ist und die Kirche deren Verfügungen akzeptiert. So ist das aktive Gesandtschaftsrecht zwar ein angeborenes und unabhängiges Recht des Papstes, doch wird seine rechtliche Ausgestaltung dem Völkerrecht („ius internationale“) überlassen (c. 362 CIC). Die cc. 660 § 1 (zivile Abschlüsse), 797f. (freie Schulwahl) und 804 § 1 CIC („in quibuslibet scholis“) lassen durchblicken, dass nicht nur die Kirche, sondern ebenso das weltliche Gemeinwesen für den Bildungsbereich zuständig ist. Das kirchliche Gesetzbuch erkennt in c. 1059 CIC ausdrücklich die Zuständigkeit der weltlichen Gewalt hinsichtlich der rein bürgerlichen Wirkungen der Ehe und in c. 1672 CIC die entsprechende prozessuale Zuständigkeit der weltlichen Behörde an ______________ 278

So enthält c. 747 § 2 CIC Feliciani zufolge einen impliziten Verzicht auf jeden Anspruch auf potestas in zeitlichen Dingen (Droit canonique, 117). Ähnlich Göbel, Verhältnis, 136.

186

C. Kirche und EU – voneinander unabhängig und autonom

(vgl. Art. 3 § 3 DignCon). C. 1344 ° 2 CIC setzt voraus, dass auch die weltliche Autorität im Bereich des Strafrechts zuständig ist. Somit kommt in verschiedenen Bestimmungen des CIC durchaus das Grundprinzip der Autonomie und Unabhängigkeit des weltlichen Gemeinwesens zum Ausdruck.279

c) Schranken der Autonomie des weltlichen Gemeinwesens Die Kirche belässt dem weltlichen Gemeinwesen aber keine absolute Autonomie, sondern behält sich vor, sich in bestimmten Fällen auch in weltliche Fragen einzumischen. Nach der potestas-directa-Lehre, die im Mittelalter teilweise vertreten wurde, besitzt der Papst eigentlich auch die Kompetenz für den weltlichen Bereich, hat diese nur an den Kaiser delegiert und kann sie jederzeit wieder an sich ziehen. Nach der potestas-indirecta-Lehre hingegen, die vor allem von Kardinal Bellarmin entwickelt wurde, kann der Papst im weltlichen Bereich nur im Interesse des übernatürlichen Zwecks der Kirche Hoheitsakte vornehmen. Im heute geltenden CIC findet sich weder die eine noch die andere dieser potestas-Lehren.280 Dennoch erhebt die Kirche mit c. 747 § 2 CIC Anspruch auf eine gewisse Kompetenz auch im weltlichen Bereich, nämlich im Bereich der sozialen Ordnung und sogar in den menschlichen Dingen jedweder Art, womit im Grunde der gesamte weltliche Bereich erfasst ist. Die Kirche beansprucht in diesem Bereich aber nur eine begrenzte Kompetenz, nämlich nur hinsichtlich der sittlichen Grundsätze, der Grundrechte der menschlichen Person und des Seelenheils. Das heißt, dass sie sich nur für die Fälle ein Einmischungsrecht vorbehält, in denen solche grundlegenden Punkte berührt sind, ansonsten aber die Autonomie des weltlichen Gemeinwesens voll respektiert. Die genannten Punkte wirken dabei wie Schranken für diese Autonomie. Wann diese Schranken greifen, beurteilt die Kirche selbst, so dass sie etwa hinsichtlich der Menschenrechte nicht an einen bestimmten weltlichen Menschenrechtskatalog gebunden ist.281 In weiten Teilen werden sich die kirchliche und die weltliche Menschenrechtsauffassung ohnehin decken, so dass das weltliche Gemeinwesen, indem es sich an seinen eigenen ______________ 279

Zu einem ähnlichen Schluss kommt Listl, wenn auch teilweise unter Zugrundelegung anderer Canones: Listl, Aussagen, 30. 280

Vgl. Pree, Sendung, 371; ders., Libertad, 243; Saraceni, Chiesa, 276; Göbel, Verhältnis, 136. Dagegen erblickt Lüdecke in c. 747 § 2 CIC weiterhin die potestasindirecta-Lehre (Lüdecke, Grundnormen, 178). Nach Puza ließ schon die Enzyklika Immortale Dei von Leo XIII. die Frage unbeantwortet, ob und inwieweit die Kirche eine Gewalt über Staat und Gesellschaft hat und mit welchen Mitteln sie sich in der Welt durchsetzen darf (Puza, Weltkirche, 653). 281

Vgl. Lüdecke, Grundnormen, 180.

II. Autonomie des weltlichen Gemeinwesens: Kirche politisch inkompetent

187

Katalog hält, auch gleichzeitig die Schranken seiner Autonomie respektiert und der Kirche keinen Anlass zur Intervention gibt. Wo dies nicht der Fall ist – etwa beim Schutz des menschlichen Lebens von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod –, muss die Kirche jedoch ihre Stimme erheben. Bei der Schranke des „Seelenheils“ ist noch klarer, dass die Definition der Kirche selbst obliegt, denn das Seelenheil stellt ja ihre ureigenste Zuständigkeit dar, die sie zugleich von der weltlichen Zuständigkeit abgrenzt.282 Was die Schranke der sittlichen Grundsätze bezüglich der sozialen Ordnung betrifft, so ist damit vor allem die kirchliche Soziallehre gemeint. Diese wird von der Kirche nicht als Einmischung in die Regierung verstanden, sondern als moralische Verpflichtung für die gläubigen Laien.283 Alles in allem sind die Schranken des c. 747 § 2 CIC keine jurisdiktionellen, sondern lehramtliche, die bloß moralisch verpflichten.284 Schranken enthält ferner auch c. 227 CIC [Abschnitt B.II.4.c)]. Zwar wendet sich diese Bestimmung in erster Linie an die gläubigen Laien, und die angeführten Schranken – Geist des Evangeliums und Lehramt der Kirche – können nicht einfach auf die weltliche Autorität als solche übertragen werden, doch indem sie von den Laien beachtet werden, die in der Welt in verschiedensten Funktionen als Sauerteig wirken, haben sie auch Auswirkungen auf das weltliche Gemeinwesen als solches. Gerade in demokratischen Gemeinwesen, in denen die Bürger mitentscheiden können, haben die Schranken der bürgerlichen Autonomie des einzelnen Gläubigen auch Einfluss darauf, in welchen Grenzen das Gemeinwesen selbst seine Autonomie wahrnimmt. So macht die Kirche ihren Einfluss im weltlichen Bereich heute nicht mehr nur direkt gegenüber den weltlichen Autoritäten sondern auch indirekt durch die katholischen Bürger geltend.285 Insofern c. 227 CIC das Lehramt als Schranke nennt, steht er ______________ 282

Da sie den Begriff selbst auslegt, liegt Lüdecke zufolge die KompetenzKompetenz bei ihr (Grundnormen, 183). Das ist aber eine gewagte Aussage, die von der weltlichen Seite wohl nicht akzeptiert würde. Die weltliche und die religiöse Gesellschaft verhalten sich zueinander nicht wie Bund und Länder, von denen einer eben die Kompetenz-Kompetenz übernehmen muss, sondern sie sind voneinander getrennt und können die gemeinsame Grenze nur in gegenseitiger Verständigung abstecken, ohne dass eine Seite letztlich hoheitlich darüber verfügen könnte. 283

Kongregation für die Glaubenslehre, Katholiken im politischen Leben, Nr. 6.

284

Das räumt auch Lüdecke, Grundnormen, 183 ein.

285

Vgl. Huizing, Kirche und Staat, 589; Leziroli, Relazioni, 179. Man darf jedoch nicht meinen, der erste Weg sie durch den zweiten zu ersetzen, denn beide unterstützen sich gegenseitig. Hervada (Elementi, 57) unterscheidet drei prinzipielle Möglichkeiten, wie die Kirche auf die Welt Einfluss nehmen kann: Über die Hierarchie, über kirchliche Einrichtungen und Organisationen und über die einzelnen Gläubigen.

188

C. Kirche und EU – voneinander unabhängig und autonom

in enger Verbindung mit c. 747 § 2 CIC, der näher ausführt, in welchen Punkten das Lehramt die weltliche Autonomie tatsächlich beschränken darf. 286 Eine rechtliche Schranke für die Autonomie des weltlichen Gemeinwesens stellen schließlich die Kompetenzen der Kirche selbst dar, wie sie insbesondere in den iura nativa zum Ausdruck kommen. Insgesamt lässt sich sagen, dass die Kompetenzen der Kirche gleichzeitig die Schranken für die Kompetenzen des weltlichen Gemeinwesens bilden und umgekehrt. Die Kirche ist für den weltlichen Bereich rechtlich grundsätzlich inkompetent. Dennoch besitzt sie in einigen Punkten auch weltbezogene Kompetenzen. Diese werden im folgenden Abschnitt vorgestellt, sofern sie sich insbesondere mit den Zuständigkeiten der Europäischen Union berühren.

3. Dennoch weltbezogene Kompetenzen der Kirche a) Arbeitsrecht Das Arbeitsrecht fällt in den Schnittbereich von kanonischem und weltlichem Recht und stellt wahrscheinlich sogar den geläufigsten und bestuntersuchten Teil dieses Schnittbereichs dar. Das Kirchenrecht spricht eher von Dienstrecht, das weltliche hingegen mehr von Arbeitsrecht, ohne dass sich die beiden Begriffe genau decken. Die Unterschiede rühren daher, dass die beiden Rechtsordnungen die Sache von verschiedenen Blickwinkeln aus betrachten. Im Folgenden werden zunächst die persönlichen Voraussetzungen behandelt, die von der Kirche für die Ausübung einer bestimmten Tätigkeit verlangt werden. Danach wird die arbeitsvertragsrechtliche Seite beleuchtet. Beide Aspekte sind schließlich dem EG-Recht gegenüberzustellen, um mögliche Konfliktpunkte aufzuzeigen. Eignung und Befähigung: Schon im universalen Kirchenrecht werden – wenn auch z.T. recht allgemein – Voraussetzungen für die Ausübung einer bestimmten Tätigkeit erwähnt. C. 149 CIC nennt die Voraussetzungen für die Übertragung von Kirchenämtern i.S.d. c. 145 CIC, nämlich die volle Kirchengemeinschaft (communio plena) und die Amtseignung (idoneitas ad officium). Dass die volle Gemeinschaft mit der Kirche an die Stelle des Klerikerseins in c. 153 § 1 des CIC 1917 getreten ist, hat die Amtsübertragung an Laien, wie Socha hervorhebt, überhaupt erst ermöglicht.287 Nichtkatholiken sind somit von Kirchenämtern ausgeschlossen. Sie können zwar andere Dienste in der katholischen Kirche ausüben, sind dabei aber ebenfalls zur Loyalität verpflichtet. Das ______________ 286

Lüdecke, Grundnormen, 193.

287

Socha, in: MKCIC, c. 149, Rn. 1.

II. Autonomie des weltlichen Gemeinwesens: Kirche politisch inkompetent

189

zweite Kriterium, die Amtseignung, betrifft das Vorliegen aller persönlichen Eigenschaften, welche die Rechtsordnung für die Verleihung des jeweiligen Amtes vorschreibt.288 „Die Festlegung der Eignungsvoraussetzungen in positiver und negativer Hinsicht kann durch das allgemeine, das besondere oder das bei der Stiftung vereinbarte Recht erfolgen.“289 Beispielsweise stellt c. 1421 CIC eine allgemeinrechtliche Konkretisierung der Eignungsvoraussetzungen für Diözesanrichter dar, welche demnach gut beleumdet, Doktoren oder wenigstens Lizentiaten des kanonischen Rechts und außer im Falle des § 2 Kleriker sein müssen. Partikularrechtliche Vorschriften finden sich in Anordnungen des Apostolischen Stuhls, der Bischofskonferenzen, der Institute des geweihten Lebens und anderer öffentlicher Vereinigungen.290 Das Urteil über das Vorliegen der Amtseignung steht der verleihungsberechtigten Autorität zu.291 Die Eignungsbestimmungen sind laut c. 149 § 2 CIC nur dann Gültigkeitsvoraussetzungen, wenn dies ausdrücklich angeordnet ist, im Zweifel jedoch nur Erlaubtheitserfordernisse. C. 228 § 1, systematisch in den Katalog der Grundrechte und -pflichten der Laien im zweiten Buch des CIC gestellt, erklärt ausdrücklich Laien unter bestimmten Voraussetzungen für befähigt, für verschiedene Ämter und Aufgaben herangezogen zu werden. Zur Geeignetheit (idoneitas) tritt hier gegenüber c. 149 CIC noch die Befähigung (habilitas) hinzu. Reinhardt kommt zu dem Schluss, dass an dieser Stelle „’habiles sunt’ nicht im Sinne einer persönlichen Befähigung, sondern nur im Sinne einer rechtlichen Zulassung verstanden werden kann“292, weil es sonst der zusätzlichen Erwähnung der Eignung nicht mehr bedürfte. In dem Begriff der Befähigung sind also die beiden Kriterien der Geeignetheit des Kandidaten und der Offenheit des Amtes oder der Aufgabe für Laien zusammengefasst. In Wirklichkeit ist das zweite Kriterium aber bei näherem Hinsehen schon im ersten enthalten, weil es im Grunde dasselbe ist, zu sagen, ein bestimmtes Amt stehe Laien nicht offen, oder zu sagen ein Laie habe nicht die Eignung dafür. Nun öffnet aber schon c. 149 CIC, wie bereits erwähnt, bestimmte Ämter für alle Katholiken, also auch Laien, und verlangt auch dieser Canon die Eignung, so dass zu fragen wäre, was denn c. 228 § 1 darüber hinaus an Neuem bringt. Zum einen liegt seine Bedeutung sicher darin, dass er das, was c. 149 CIC schon implizit enthält, nämlich die Befähigung des Laien, noch einmal ausdrücklich betont und zwar einmal durch den Wortlaut – er verwendet explizit den Ausdruck „Laie“ – und zweitens ______________ 288

Ebd. Rn. 2.

289

Ebd.

290

Vgl. ebd. Rn. 3.

291

Ebd.

292

Reinhardt, in: MKCIC, c. 228, Rn. 1.

C. Kirche und EU – voneinander unabhängig und autonom

190

durch die Stellung im Kontext, nämlich im Katalog der Grundrechte und Grundpflichten der Laien. Zum anderen bringt er aber auch tatsächlich etwas Neues, weil er nicht nur Ämter, sondern auch Aufgaben (munera) erwähnt. Damit werden jede Aufgabe und jeder Dienst in der Kirche bezeichnet, auch wenn sie die Kriterien für ein Kirchenamt nicht erfüllen. 293 C. 228 § 2 CIC erwähnt noch eigens die Laien als Ratgeber und Sachverständige, für die er Wissen, Klugheit und Ansehen im erforderlichen Ausmaß verlangt. Eine weitere Sonderbestimmung enthält c. 229 § 3 CIC und zwar für Lehraufträge in theologischen Wissenschaften. „Habilitas“ bedeutet hier wieder die rechtliche Befähigung, „idoneitas“ hingegen die Eignung, in diesem Falle die „persönliche und wissenschaftliche Qualifikation“294. Die folgenden Canones bringen Eignungsvoraussetzungen für weitere spezielle Dienste. Die Pflicht des Dienstnehmers zur Loyalität kann auf die Pflicht zur Wahrung der Gemeinschaft mit der Kirche nach c. 209 CIC gestützt werden; aus der Formulierung des c. 210 CIC „je nach ihrer eigenen Stellung“ kann eine Abstufung ebendieser Loyalitätspflicht abgeleitet werden. 295 Stellt man die kirchenrechtlichen Regelungen dem EG-Recht gegenüber, so können sich Konfliktpunkte besonders dort ergeben, wo die Kirche Bedingungen aufstellt, die nach bestimmten EG-Richtlinien als diskriminierend verboten sind. Solange es sich um notwendige fachliche Qualifikationen handelt, ergibt sich kein Konflikt, weil diese selbstverständlich auch vom EG-Recht akzeptiert werden. Die Voraussetzung der Zugehörigkeit zur katholischen Kirche würde jedoch gegen die RL 2000/78/EG verstoßen, wenn diese nicht in Art. 4 Abs. 2 eine Ausnahme für Arbeitnehmer von Organisationen mit religiösem Ethos ermöglichte. Problematisch sind außerdem die verschiedenen Loyalitätsobliegenheiten, besonders wenn sie sich auf das außerberufliche Verhalten beziehen, doch ist in der erwähnten Ausnahmebestimmung das Erfordernis der Loyalität ebenfalls verankert. Auch im Kirchenrecht selbst ist eine diskriminierende, willkürliche Auswahl von Mitarbeitern nach dem Gleichheitsgebot des c. 208 CIC verboten.296 Arbeitsvertragsrecht: Die Kirche beansprucht zwar grundsätzlich auch die Kompetenz für ein eigenes Vertragsrecht, soweit Vermögensangelegenheiten betroffen sind, die ihr unterworfen sind, doch verzichtet sie auf die Wahrnehmung dieser Kompetenz und übernimmt stattdessen das weltliche Vertragsrecht (c. 1290 CIC). Davon ist auch das Arbeitsvertragsrecht erfasst. Bezüglich der ______________ 293

Ebd. Rn. 2.

294

Reinhardt, in: MKCIC, c. 229, Rn. 2.

295

Koizar, Erbringung „abhängiger Arbeit“, 46f.

296

Ebd.

II. Autonomie des weltlichen Gemeinwesens: Kirche politisch inkompetent

191

Entlohnung verweisen außerdem auch die cc. 231 § 2 und 1286 ° 1 CIC auf das zu beachtende weltliche Recht,297 so dass hier Kollisionen größtenteils ausgeschlossen sind.298 Die erwähnten Normen gelten jedoch weitgehend nur für Laienmitarbeiter. C. 231 § 2 CIC sagt dies ausdrücklich, und bei c. 1290 CIC ergibt es sich indirekt aus dem Umstand, dass meist nur Laien aufgrund eines Vertrags angestellt werden, während bei Klerikern meist das Inkardinationsverhältnis bzw. bei Ordensleuten das Professverhältnis299 die Grundlage für die Erbringung entsprechender Dienste darstellen.300 In diesem Bereich kann es sehr wohl zu Kollisionen kommen, weil einerseits das EG-Recht diese besonderen religiös begründeten Verhältnisse nicht kennt und wie gewöhnliche Arbeitsverhältnisse behandelt301 und weil anderseits das Kirchenrecht gerade hier das weltliche Recht nicht übernimmt. Solange die EG die Eigenart solcher Dienste nicht anerkennt, bleibt der Kirche nur, sich auf ihr Selbstbestimmungsrecht zu berufen. Im Grunde sind sich Mayer-Maly zufolge Arbeitsrecht und kirchliche Ordnung aber nicht so fremd, wie dies scheinen mag, weil nicht nur die Sozialenzykliken, sondern schon in vorindustrieller Zeit die Judikate der Römischen Rota das Arbeitsrecht maßgeblich mitbeeinflusst haben. 302

b) Weitere Berührungspunkte Datenschutzrecht: Eine funktionierende kirchliche Verwaltung erfordert, dass zahlreiche persönliche Daten über die Gläubigen registriert werden. Dazu dienen insbesondere die für jede Pfarrei vorgeschriebenen Matrikenbücher (c. 535 CIC). Das Grundrecht eines jeden Gläubigen auf guten Ruf und Schutz ______________ 297

Hierbei sind auch die Grundsätze der katholischen Soziallehre zu beachten (Schinkele, Das Arbeitsrecht in der Kirche, 26). 298 Kompliziert wird die Rechtslage, wenn jemand durch hoheitlichen Akt zu einem kirchlichen Amt berufen wird und gleichzeitig ein privatrechtlicher Arbeitsvertrag geschlossen wird, mit dem womöglich erst die kirchliche Besoldungsordnung wirksam wird (vgl. Koizar, Erbringung „abhängiger Arbeit“, 59). Bei der Beendigung müssen dann auch gleichzeitig eine Amtsenthebung und eine Kündigung durchgeführt werden. 299

Vgl. Martinek, Arbeitslohn, 600f.

300

Vgl. Brauberger, Dienstgeber, 433. Inkardination und Profess sind keine Arbeitsverträge aber nach nationalem Zivilrecht z.T. relevant (vgl. Schinkele, Das Arbeitsrecht in der Kirche, 39). 301 Vgl. EuGH, Rs. 300/84, Van Roosmalen; Rs. 196/87, Steymann. Nach zwei Anfragebeantwortungen der Kommission fallen Geistliche teils unter das EGArbeitsrecht, teils aber auch nicht, wobei die Abgrenzung nicht leicht vorzunehmen ist (E-1341/01; P-1303/01). 302

Mayer-Maly, Arbeitsrecht, 127f.

192

C. Kirche und EU – voneinander unabhängig und autonom

der eigenen Intimsphäre (c. 220 CIC) schließt auch den Datenschutz mit ein. Dieser wird universalrechtlich durch die cc. 486-491 CIC, in denen die kirchlichen Archive geregelt sind, und durch verschiedene partikularrechtliche Regelungen303 konkretisiert. Berührungen mit dem EG-Recht ergeben sich insofern, als die Datenschutz-RL 95/46/EG und die Datenschutz-VO (EG) Nr. 45/2001 die Verarbeitung religionsbezogener persönlicher Daten grundsätzlich untersagen, für religiöse Organisationen aber unter der Voraussetzung „angemessener Garantien“ Ausnahmen ermöglichen (Art. 8 Abs. 2 lit. d bzw. Art. 10 Abs. 2 lit. e).304 Dadurch dass diese Garantien auch durch ein entsprechendes kircheneigenes Datenschutzrecht erbracht werden können, nimmt das EG-Recht die kirchliche Zuständigkeit für den internen Datenschutz ernst, übt aber gleichzeitig auch Druck auf die inhaltliche Gestaltung aus, da die kirchliche Regelung nur akzeptiert wird, wenn sie eben eine „angemessene Garantie“ bietet. Soziale Dienste: Mit Regelungen zur karitativen Diakonie hält sich der CIC eher zurück. Ein kirchlicher Auftrag, ein regelrechtes Wohlfahrtswesen mit einem dichten Netz an Kindergärten, Krankenhäusern usw. aufzubauen, lässt sich dem Codex nicht entnehmen. Nach c. 394 § 1 CIC hat der Diözesanbischof die verschiedenen Formen des Apostolats, worunter wohl auch die Caritas zu zählen ist, in seiner Diözese zu fördern, der Pfarrer soll karitative Werke unterstützen (c. 282 § 2 CIC) und sich den Armen zuwenden (c. 529 § 1 CIC), und schließlich sind nach c. 222 CIC alle Gläubigen gehalten, für Werke der Caritas Beiträge zu leisten. Deutlicher tritt der kirchliche Auftrag zur Caritas in c. 1254 CIC zutage, wonach die Kirche ein ius nativum auf Vermögen für die ihr eigenen Zwecke besitzt, zu denen auch Werke der Caritas gehören. Wenn die Caritas demnach als kirchlicher Zweck in Verbindung mit einem ius nativum gesehen wird, ist klar, dass sie unter die Zuständigkeit der Kirche fällt. 305 Solange das weltliche Recht diese Zuständigkeit im Rahmen des Selbstbestimmungsrechts prinzipiell achtet, werden kaum Normkollisionen auftreten, da die kirchliche Rechtsordnung – vielleicht gerade, um sich an unterschiedliche regionale Gegebenheiten anzupassen – wenig konkrete Vorgaben macht. Wenn die Europäische Gemeinschaft also die Bedingungen für die Erbringung sozialer Dienste verändert, gerät sie mit dem Kirchenrecht nicht in Konflikt, solange es der Kirche nur möglich bleibt, sich ihrem Selbstverständnis gemäß zu ______________ 303

Vgl. Kalde, Datenschutz, 175.

304

Ferner verbietet auch Art. 25 VO (EG) Nr. 515/97 die Erhebung von Daten verboten wird, aus denen die religiöse Überzeugung hervorgeht. 305

Dalla Torre (Città, 108) begründet die unveräußerliche Rechtspflicht der Kirche, soziale Einrichtungen zu betreiben, und deren Herausnahme aus dem allgemeinen Staatsrecht mit Art. 8 AA und Art. 42 GS.

II. Autonomie des weltlichen Gemeinwesens: Kirche politisch inkompetent

193

betätigen.306 Allenfalls kollidiert sie aber mit einzelnen nationalen Sozialsystemen und mit partikularem Kirchenrecht, das darauf abgestimmt wurde. Finanzen: Die Kirche beansprucht gegenüber dem weltlichen Gemeinwesen ein ius nativum auf Erwerb, Besitz, Verwaltung und Veräußerung von Vermögen (c. 1254 § 1 CIC). Ferner trifft alle Gläubigen die Grundpflicht, für die Erfordernisse der Kirche Beiträge zu leisten (c. 222 § 1 CIC). Wie die Beiträge zu leisten sind, wird jedoch nicht vom CIC festgelegt, sondern ist vom Diözesanbischof (cc. 1261 § 2 und 1263 CIC) bzw. von der Bischofskonferenz (c. 1262 CIC) zu konkretisieren.307 Daneben kennt der kirchliche Gesetzgeber Gebühren (c. 1264 CIC), Sammlungen (c. 1265 CIC) und fromme Verfügungen (cc. 1299-1310 CIC). Auch im Bereich der Kirchenfinanzierung enthält das universale Kirchenrecht also kaum konkrete Vorschriften, so dass die Kirche dem weltlichen Gemeinwesen kein bestimmtes System vorgibt, sondern auf unterschiedliche regionale Besonderheiten eingehen kann, die partikularrechtlich zu regeln sind. EG-rechtliche Regelungen werden mit universalem Kirchenrecht also kaum in Konflikt geraten, möglicherweise aber mit einzelnen staatskirchenrechtlichen Regelungen der Kirchenfinanzierung.308 Da die Kirche Beiträge nur von eigenen Mitgliedern verlangt, handelt sie auch nicht gegen die EMRK.309 Bildung: Klarer und konkreter sind die Bestimmungen des CIC im Bereich der Bildung. Hier verteidigt die Kirche gegenüber dem weltlichen Gemeinwesen das Recht der Eltern auf freie Schulwahl (c. 797 CIC) und beansprucht für sich selbst das Recht, Schulen jeder Art (c. 800 CIC) sowie Universitäten ______________ 306

Das Kirchenrecht zeigt hier also eine große Offenheit und Flexibilität. Das CCEE stellt sich die Frage, ob die Kirche überhaupt eigene Einrichtungen betreiben, oder lieber für gut ausgebildete, kirchentreue Laien in den öffentlichen Einrichtungen sorgen soll (CCEE, Religione, 43). 307

Vgl. Rees, Verhältnis, 3.b.

308

Vgl. Berkmann, Europa-Recht, 3.h. Ob auf Spenden Steuern erhoben werden und ob dabei Unterschiede zwischen einzelnen Religionsgemeinschaften gemacht werden, ist nach Auskunft der Europäischen Kommission Sache der Mitgliedstaaten (Schriftliche Anfrage E-2283/98). Zu bedenken ist aber, dass Einnahmen aus dem Inland gleich zu besteuern sind wie Einnahmen aus einem anderen EU-Mitgliedstaat. So ist es einem EuGH-Urteil zufolge mit Art. 48 EGV unvereinbar, wenn auf einen Gewinn in einer schwedischen Lotterie Steuer für eine Kirchengemeinde in Finnland erhoben wird, während finnische Lotteriegewinne nicht kirchensteuerpflichtig sind (EuGH, Rs. C42/02, Lindman, Rn. 8 und 27). 309

Die Verpflichtung eines Nicht-Mitglieds der damaligen schwedischen Staatskirche, Steuer an sie zu zahlen, wurde vom EGMR als Verstoß gegen Art. 1 1.ZProt i.V.m. Art. 14 EMRK gewertet (EGMR, Nr. 11581/85, Darby, Rn. 34).

194

C. Kirche und EU – voneinander unabhängig und autonom

(c. 807 CIC) zu gründen und zu leiten. Anders als bei den karitativen Diensten und der Kirchenfinanzierung meldet die Kirche hier gegenüber dem weltlichen Gemeinwesen konkretere Ansprüche an und begrenzt dessen Spielraum damit stärker. Umgekehrt ist der Einfluss der Europäischen Union bei der Bildung schwächer als bei den Finanzen und den sozialen Diensten, weil sie hier nur eine parallele Kompetenz besitzt (Art. 149f. EGV). Indem sie die Privatschulfreiheit verankert (Art. 14 Abs. 3 GRCH), kommt sie den kirchlichen Bedürfnissen sogar entgegen. Sonstiges: Nach c. 747 § 1 CIC besitzt die Kirche das ius nativum, allen Völkern das Evangelium zu verkünden und sich dabei der sozialen Kommunikationsmittel zu bedienen.310 Auf dieses Recht stützt sich das Projekt der Neuevangelisierung Europas, das von Papst Johannes Paul II. angestoßen und von Kritikern oft als Feldzug zur Wiederherstellung des christlichen Abendlandes missdeutet wurde.311 Das weltliche Gemeinwesen lässt die Verkündigungstätigkeit der Kirche zu, indem es das Recht auf freie Meinungsäußerung – im Bereich der Europäischen Union etwa durch Art. 10 EMRK i.V.m. Art. 6 Abs. 2 EUV und Art. 11 GRCH – gewährt. Weitere Berührungspunkte mit EURecht sind bei der Sonntagspflicht (c. 1247 CIC), bei der kirchlichen Zuständigkeit für Eheschließung (c. 1059 CIC) und Eheprozesse (c. 1671 CIC), bei den kirchlichen Kulturgütern (c. 1254 CIC), im Markenrecht hinsichtlich der Bezeichnung „katholisch“ (vgl. cc. 300, 803 § 3 und 808 CIC) und in weiteren Bereichen möglich.

c) Vergleich Kirche – Europäische Union Kapitel C.II. hat gezeigt, dass die Freiheit des einzelnen Menschen – die religiöse wie die bürgerliche – radikale Auswirkungen auf der korporativen Ebene für das Verhältnis der Kirche zum weltlichen Gemeinwesen hat. Um der Freiheit willen müssen beide Größen einerseits voneinander getrennt sein, damit die individuelle Freiheit nicht durch eine Konzentrierung der Macht über beide Bereiche erstickt wird, anderseits müssen sie auch zusammenwirken, damit die rechtlichen Rahmenbedingungen, die sie dem Menschen vorgeben, sich nicht widersprechen, sondern seine Entfaltung im weltlichen wie im religiösen fördern. So hat sich gezeigt, dass das Verhältnis der Europäischen Union zur Kirche einerseits ganz grundlegend vom Prinzip der wechselseitigen ______________ 310

Inwieweit die Kirche diesen Auftrag erfüllen kann, hängt auch von der staatlichen Mediengesetzgebung ab (Rees, Kommunikation, 268). Auch in diesem Bereich wird das staatliche Recht durch das europäische überlagert (ebd. 280). 311

Eine solche Deutung ist aber lächerlich, wie Minnerath aufzeigt (Kirche, 126).

II. Autonomie des weltlichen Gemeinwesens: Kirche politisch inkompetent

195

Inkompetenz312 geprägt ist, es anderseits aber auch eine Fülle von Berührungspunkten gibt, die nur durch gegenseitige Verständigung zufrieden stellend geregelt werden können. Durch eine solche Verständigung konnten das Datenschutzrecht und das Diskriminierungsverbot für Arbeitnehmer so gestaltet werden, dass Normkollisionen weitgehend ausgeschlossen sind. In anderen Bereichen wie etwa jenem der sozialen Dienste steht eine Klärung hingegen noch aus, und auch in vielen weiteren Punkten ist die konkrete rechtliche Gestalt des Verhältnisses von Kirche und Europäischer Union noch offen und deswegen auch noch formbar.313 Eine angemessene Lösung der offenen Fragen ist nur durch die gegenseitige Verständigung, den Dialog zwischen der Union und den Religionsgemeinschaften zu erreichen.314 Mit diesem Dialog, der letztlich der Freiheit des einzelnen Menschen dient, beschäftigen sich die folgenden Kapitel.

______________ 312

Vgl. Prieto, Iniziative, 509. Der Begriff der Inkompetenz kennzeichnet Hervada (Elementi, 48) und Lombardía (Dualismo, 29) zufolge jedes vom Christentum geprägte Staat-Kirche-Verhältnis. 313

Die Kirche kann die Beziehung also noch mitgestalten, muss sich aber selbst bewusst werden, welche Art von Verhältnis sie wünscht, ob eher kooperative Annäherung oder kritische Distanz (vgl. Torfs, Kirchenjuristen, 37 und 42). 314

Auch nach Söbbeke-Krajewski (Acquis Communautaire, 213) muss die genaue Grenzziehung des Selbstbestimmungsrechts zwischen der Religionsgemeinschaft und der Europäischen Union ausgehandelt werden.

D. Kirche und EU im Dialog I. Dialog und europäische Demokratie Der Europäischen Union wird häufig mangelnde Bürgernähe und damit verbunden ein Defizit an demokratischer Legitimation vorgeworfen und sie ist sich dieses Problems auch selbst bewusst. 1 In der Tat bildeten bloße Deklarationen und die Rechtsprechung des EuGH lange Zeit die einzigen Quellen für das Demokratieprinzip.2 Der EUV verankerte in Abs. 3 seiner Präambel und in Art. 6 Abs. 1 ein Bekenntnis zum Grundsatz der Demokratie. Einen stärkeren Vorstoß bringt nun der VVE, weil er die Demokratie nicht nur als Wert festschreibt (Art. I-2 VVE), sondern sie in Titel VI von Teil I auch näher konkretisiert. Dass Europa kein einheitliches Volk im ethnischen Sinn kennt, auf das sich eine europäische Demokratie gründen könnte, dürfte eigentlich kein Hindernis sein,3 denn es bedarf lediglich einer rechtlich zusammengefügten Gesamtheit von Bürgern. Dementsprechend beruft sich der VVE auf den gemeinsamen Willen der Bürgerinnen und Bürger (Art. I-1 Abs. 1) sowie die Gesellschaft, die gemeinsame Werte teilt (Art. I-2 VVE).4 Instrumente direkter Demokratie fehlen bislang völlig, und auch der VVE sieht mit der Bürgerinitiative des Art. I-47 Abs. 4 nur einen Ansatz dazu vor. Was die repräsentative Demokratie betrifft, so erhielt das Europäische Parlament zwar seit der Einführung der Direktwahl ständig mehr Einflussmöglichkeiten, bleibt aber immer noch weit hinter den Kompetenzen der mitgliedstaatlichen Parlamente zurück. Das Hauptrechtsetzungsorgan ist vielmehr der Rat, dessen demokratische Legitimation nur schwach ist, weil er sich aus den nationalen Ministern zusammensetzt. Diese üben in ihren Mitgliedstaaten eigentlich keine Gesetzgebungs-, sondern eine Regierungsfunktion aus und

______________ 1

Vgl. EWSA, Stellungnahme vom 22.9.1999, Nr. 2.4.

2

Vgl. Bieber / Epiney / Haag, Europäische Union, § 3, Rn. 16f. Auf der Gemeinschaftsebene, so wird argumentiert, müssen dieselben demokratischen Grundanschauungen sichtbar werden, wie innerhalb der Mitgliedstaaten (Oppermann, Europarecht, § 5, Rn. 7). 3

von Bogdandy, Prinzipienlehre, 173.

4

Vgl. Robbers, Volk, 743f.

I. Dialog und europäische Demokratie

197

werden außerdem nicht direkt gewählt. 5 Nun bedürfte sowohl die Stärkung der direkten als auch der repräsentativen Demokratie einer Änderung der Gründungsverträge, die nur schwer zu erreichen ist, und die mitgliedstaatlichen Modelle von Demokratie lassen sich nicht einfach auf die Union übertragen, 6 die ein Konstrukt eigener Art ist. Anderseits ist die Europäische Union aber bestrebt, das Demokratiedefizit auszugleichen, um beim Bürger größere Akzeptanz zu gewinnen. Deshalb schickte sie sich an, einen anderen Aspekt der Demokratie auszubauen: Die partizipative Demokratie.7 Partizipation bedeutet die Möglichkeit, in einen nach demokratischen Grundsätzen ablaufenden Meinungs- und Entscheidungsfindungsprozess gestaltend eingreifen zu können.8 Dazu gehören vor allem die Information und Konsultation der Bürger sowie deren Verbände bei Legislativvorhaben. So entwickelten sich mit der Zeit mehrere Formen des „Dialogs“, die inzwischen nicht mehr nur Lückenfüllung, sondern ein fester Bestandteil der europäischen Demokratie geworden sind. Dieser nimmt auch nicht ab, wenn die anderen Formen der Demokratie ausgebaut werden, sondern wird mit diesen zusammen sogar noch verstärkt, wie Titel VI von Teil I des VVE beweist. Nach einer Stellungnahme des EWSA wird das europäische Demokratiemodell zahlreiche, aber nicht nur Merkmale der partizipativen Demokratie enthalten; es ist als Kooperationsmodell angelegt und lässt Gestaltungen für neue Formen der Partizipation zu.9 Auf der europäischen Ebene können sich ohne Weiteres auch andere demokratische Elemente ausbilden als auf der mitgliedstaatlichen – wie eben die Partizipation.10 ______________ 5 Dennoch spricht man im Hinblick auf Parlament und Rat von einer „doppelten demokratischen Legitimation“ der Europäischen Union, weil natürlich auch die Mitglieder des Rats in ihren Heimatländern demokratisch legitimiert sein müssen (vgl. von Bogdandy, Prinzipienlehre, 175; Oppermann, Europarecht, § 5, Rn. 9). 6

Vgl. Beutler, Art. 6 EUV, Rn. 29; Bieber / Epiney / Haag, Europäische Union, § 3, Rn. 18. 7 Kommission, Weißbuch KOM (2001) 428 endg., „Europäisches Regieren“, SS. 13 und 15; Beratender EWR-Ausschuss, Entschließung (2003/C 67/05) „Governance und soziale Verantwortung“, Nr. 2.2-2.4; EWSA, Stellungnahme vom 22.9.1999, Nr. 7.1. EWSA, Stellungnahme vom 25.4.2001, Nr. 3.3.1; EWSA, Stellungnahme vom 14.2.2006, Nr. 1.2.1. EuG Rs. T-135/96, UEAPME, Rn. 89. Vgl. von Bogdandy, Prinzipienlehre, 178f; Briesch, Brücke, 3 und 8; Ferrante, sviluppi, 217-219; Hummer, Greening, 184; ders., Konstitutionalisierung, 163; Margot, Vorwort, VIIf; Oppermann, Europarecht, § 5, Rn. 9; Pitschas / Peters, Rolle, 1. 8

EWSA, Stellungnahme vom 25.4.2001, Nr. 3.4.

9

Ebd. 3.3.1.

10

Vgl. Hummer, Konstitutionalisierung, 170.

198

D. Kirche und EU im Dialog

1. Der Dialog mit den Religionsgemeinschaften a) Verschiedene Sektoren des Dialogs Zu den verschiedenen Formen des Dialogs gehört ebenso der religiöse Dialog mit den Kirchen und Religionsgemeinschaften, denn auch sie sind Betroffene verschiedener Akte der Europäischen Union und können eine Verbindung zu den Bürgern herstellen, die ihnen als Gläubige angehören. Vor dem religiösen Dialog hat sich eine Dialogpraxis schon längst in anderen Sektoren 11 entwickelt, die dem religiösen Dialog teils als Modell dienen kann, teils aber wegen ihrer Eigenart nicht übertragbar ist. Der soziale Dialog: Der am frühesten ins Rollen gebrachte und bis heute am weitesten entwickelte Dialogsektor ist die Sozialpartnerschaft. Zunächst hatte die Europäische Kommission die Sozialpartner immer wieder freiwillig konsultiert.12 Erstmals erwähnte die Einheitliche Europäische Akte den sozialen Dialog,13 doch eine verbindliche Ausformung erhielt er erst mit dem Protokoll und Abkommen über die Sozialpolitik (1992),14 das durch den Amsterdamer Vertrag in den EGV (Art. 138f.) aufgenommen wurde. So erhielten die Sozialpartner „paralegislative Kompetenzen“15. Der soziale Dialog ist für den religiösen aber nicht unmittelbar relevant. Schon von der Konstellation der Dialogpartner her spielt sich der soziale Dialog hauptsächlich in bipartiter Form zwischen den Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern ab, aber selbst wenn in der tripartiten Form die Kommission miteingebunden ist, so wird diese nicht zum eigentlichen Verhandlungsgegner.16 Beim religiösen Dialog hingegen stehen sich hauptsächlich auf der einen Seite die Organe der Union und auf der anderen Seite die Religionsgemeinschaften gegenüber. Der Interessengegensatz, der durch Verhandlungen ausgeglichen werden soll, besteht hier eigentlich nicht zwischen den Religionsgemeinschaften, wie er zwischen den Sozialpartnern besteht, sondern im Verhältnis der Religionsgemeinschaften zur Europäischen Union. Die Kirchen könnten sich am sozialen Dialog höchstens als ______________ 11

Hummer (Greening, 180) nennt den politischen, den sozialen und den zivilen Dia-

log. 12

Steinmeyer, Entwicklung, Rn. 23; ders., Rolle, Rn. 117.

13

Stahlberg, Sozialrecht, Rn. 127.

14

Vgl. Guarriello, ruolo, 244.

15

Beratender EWR-Ausschuss, Entschließung (2003/C 67/05) „Governance und soziale Verantwortung“, Nr. 3.2.5.1. 16

Zur Unterscheidung von bipartitem und tripartitem sozialem Dialog: KOM (2004) 557 endg., 13. Heller, Der soziale Dialog, 8f. Zum Unterschied gegenüber dem religiösen Dialog: Robbers, Dialog, 755.

I. Dialog und europäische Demokratie

199

Arbeitgeberinnen beteiligen, doch würde der soziale Dialog dadurch nicht zu einem religiösen, da sich die Materie ja nicht ändert. Außerdem widerspräche der Trennungs- und Konfrontationsgedanke ihrem Selbstverständnis.17 Möglicherweise könnten sich die Kirchen aber insofern am sozialen Dialog beteiligen, als dieser auch die soziale Integration zum Ziel hat, die ebenso ein Anliegen der Kirchen ist und die Religionsgemeinschaften direkt berührt, soweit sie die Integration verschiedener religiöser Gruppen betrifft.18 Der zivile Dialog: Zu den Sozialpartnern traten allmählich weitere Akteure der Zivilgesellschaft hinzu, die in den Augen der EU-Organe für diverse Politiken wichtig sind. So erwähnt beispielsweise der auf Art. 175 Abs. 3 EGV gestützte Beschluss19 über ein Umweltaktionsprogramm mehrfach die Aufforderung zu einem Dialog mit NGO und Verbrauchergruppen. Der zivile Dialog ist aber nicht einfach eine Ausdehnung des sozialen, sondern unterscheidet sich dadurch, dass seine rechtliche Ausgestaltung noch wenig konkret ist und keine engere Beteiligung an der Rechtsetzung vorsieht. Außerdem unterscheidet er sich von ihm dadurch, dass die Verbände der Zivilgesellschaft nicht so sehr untereinander, als vielmehr direkt mit den Organen der Europäischen Union in Kontakt treten. Organisatorisch sind die beiden Formen des Dialogs im EWSA insofern getrennt, als die Gruppen I und II sich den Arbeitnehmer- bzw. Arbeitgeberverbänden und damit dem sozialen Dialog widmen, während sich die Gruppe III mit dem breiten Spektrum der sonstigen Akteure der Zivilgesellschaft beschäftigt. Sowohl hinsichtlich der behandelten Themen als auch hinsichtlich der beteiligten Organisationen ist der zivile Dialog weiter und auch diffuser. Der religiöse Dialog: In welcher Dialogform finden religiöse Fragen und Religionsgemeinschaften ihren Platz? Kommissionspräsident Delors richtete mit der „Cellule de Prospective“ schon 1990 einen Dialog mit Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften ein. Das Weißbuch zum „Europäischen Regieren“, mit dem die Kommission das erste große Programm zum Dialog mit der Zivilgesellschaft aufstellte, sowie eine Initiativstellungnahme des EWSA rechnen auch die Kirchen und Religionsgemeinschaften ausdrücklich der ______________ 17

Heinig (Religionsgesellschaften, 47) bedauert, dass die Kirchen aus diesem Grund nicht am sozialen Dialog teilnehmen, weil sie damit nicht an der Vorbereitung der Rechtsakte nach Art. 137 EGV partizipieren können. 18

Der Rat setzt sich in seiner Entschließung über sozialen Integration (2003/C 39/01) das Ziel einer umfassenden sozialen Integration aller Menschen unabhängig von der Religion und anderen Eigenschaften (Nr. 4), zu dessen Erreichung eine Reihe unterschiedlicher Akteure einbezogen werden soll (Nr. 5). 19 Europäisches Parlament und Rat, Beschluss 1600/2002/EG über das 6. Umweltaktionsprogramm.

200

D. Kirche und EU im Dialog

Zivilgesellschaft zu,20 und tatsächlich nehmen diese die Dialoginstrumente, die ihnen die Organe der Union zur Verfügung stellen, rege in Anspruch. 21 Dies versteht sich indessen wegen der Eigenart von Religion und des Selbstverständnisses insbesondere der katholischen Kirche nicht von selbst. Die organisierte Zivilgesellschaft bildet eine vermittelnde Ebene zwischen den politischen Entscheidungsträgern und den einzelnen Bürgern. Ihr gehören verschiedene Interessenvertretungen, Jugendorganisationen, Familienverbände sowie NGO in Bereichen wie Umweltschutz, Verbraucherschutz, Wohlfahrt, Bildung und ähnliche Organisationen an. Sie genießen zwar eine gewisse Eigenständigkeit, gehören aber der weltlichen Sphäre an und unterstehen damit letztlich doch der weltlichen Gewalt. Die Religionsgemeinschaften hingegen mögen zwar auch im weltlichen Bereich wirksam sein, werden aber im Kern der spirituellen, transzendenten Sphäre zugeordnet, die dem Zugriff der weltlichen Gewalt entzogen ist. Sie stehen nicht zwischen dieser und dem Bürger, sondern als eigene Größe nebenan. Sie besitzen nicht nur gesellschaftsanaloge, sondern brauchen genauso staatsanaloge Elemente.22 Während etwa ein Sportverband oder eine Bürgerinitiative ihre ganz speziellen Interessen vertreten, setzen sich Kirchen und Religionsgemeinschaften aufgrund ihrer ethischen Kompetenz auch in vielen Fragen – wie etwa dem sozialen Schutz oder der Gentechnik – ein, die nicht unmittelbar ihre eigenen Interessen berühren, für die sie sich aber aufgrund ihrer Sendung mitverantwortlich fühlen. Zögen sich die Kirchen jedoch aus dem zivilen Dialog zurück, weil sie sich nicht als eine der NGO sehen, so verzichteten sie auf einen wichtigen Kanal der Mitsprache, der ihnen von den politischen Entscheidungsträgern angeboten wird. Die Entscheidung bezüglich ihrer Beteiligung fällt daher differenziert aus: Die mit den Kirchen verbundenen Organisationen wie Caritas oder Diakonie können ohne Weiteres als „glaubensbegründeter Teil der Zivilgesellschaft“23 gesehen werden, die Kirchen als solche jedoch nur bedingt. Eckert prägte für die katholische Kirche eine Formel, die Kooperationsbereitschaft und Eigenständigkeit miteinander verbindet: „Die Kirche nimmt zwar Teil an der Zivilgesellschaft, sie ist aber nicht Teil der Zivilgesellschaft. Sie geht darüber hinaus.“24 Darin spiegelt sich die alte kirchliche Tradition wider, die auch vom Zweiten Vatikanischen Konzil wieder aufgegriffen wurde, wonach die Kirche zwar in der Welt wirkt, aber ______________ 20

Kommission, Weißbuch KOM (2001) 428 endg., „Europäisches Regieren“, S. 19; EWSA, Stellungnahme vom 22.9.1999, Nr. 8.1. 21

Vgl. De Charentenay, Laïcité, 27.

22

Anhelm, Rolle, 21. Für Noll (Bedeutung, 33) hingegen sind die Kirchen zunächst einmal Teil der Zivilgesellschaft. 23

Anhelm, Rolle, 21.

24

Zitiert in: Achleitner, Gott, 7.

I. Dialog und europäische Demokratie

201

nicht von der Welt ist. Als die Europäische Kommission im Jahr 2002 Vorschläge für die Gestaltung des zivilen Dialogs sammelte, forderten die Kirchen die stärkere Heraushebung und rechtliche Absicherung des speziell religiösen Dialogs, doch konnte die Kommission vorerst nicht darauf eingehen. 25 Im Europäischen Verfassungskonvent wurde die Frage kontrovers diskutiert, ob eine Bestimmung über den Dialog mit den Organisationen der Zivilgesellschaft genüge oder ob es zusätzlich noch einer Bestimmung über den Dialog mit den Kirchen und Religionsgemeinschaften bedürfe. 26 Als Dehaene in der 18. Konventssitzung am 3./4.4.2003 den Titel über das demokratische Leben der Union vorstellte, begründete er die Entscheidung für eine eigene Bestimmung zum religiösen Dialog damit, dass dieser vom Dialog mit den übrigen zivilgesellschaftlichen Gruppierungen zu unterscheiden ist. Mit Art. I-52 Abs. 3 VVE erhält der religiöse Dialog also erstmals eine stabile Rechtsgrundlage, die ihn vom Dialog mit der Zivilgesellschaft (Art. I-47 Abs. 2 VVE) abhebt.27

b) Wie die Kirchen ins „demokratische Leben der Union“ kamen Dass der Kirchenartikel des Verfassungsvertrags (Art. I-52) ausgerechnet in den Titel VI über das „demokratische Leben der Union“ aufgenommen wurde, mag verwundern, wo doch Religion normalerweise nicht gerade mit Demokratie in Verbindung gebracht wird. In der Tat war diese Stellung nicht von Anfang an klar, sie erweist sich bei näherem Hinsehen jedoch als klug. Der Vorentwurf des Verfassungsvertrags vom 28.10.200228 hielt keinen eigenen Platz für eine Bestimmung über Kirchen und Religionsgemeinschaften frei. Auch die einzelnen Arbeitsgruppen, welche den Textentwurf vorbereiten sollten, sahen keinen angemessenen Platz für Kirchen und Religionsgemeinschaften vor, so dass nicht klar war, in welcher Arbeitsgruppe dieses Thema zu behandeln sei. In der dritten Sitzung des Europäischen Konvents (15.16.4.2002) forderte Christophersen als Vertreter der dänischen Regierung, dass das Verhältnis Staat-Kirche in der Kompetenz der Mitgliedstaaten bleiben ______________ 25

KOM (2002) 704, 13.

26

Eingaben im Zukunftsforum gegen eine zusätzliche Bestimmung: Ligue des Droits de l’Homme (2.4.2003), Quaker Council for European Affairs (undatiert), at: http://europa.eu.int/futurum/forum_convention/doc_de.htm [9.5.2006]. 27 Dies wird von den meisten Religionsrechtlern begrüßt, z.B. Weninger, Aspekte, 99; Riedel, Verfassung, 683; Robbers, Dialog, 754. Heinig hingegen hält die Sonderstellung des religiösen Dialogs für unnötig (Religionsverfassungsrecht, 183). 28 CONV369/02. http://european-convention.eu.int/doc_register.ASP?MAX=161& LANG=DE&Content=DOC [9.5.2006].

202

D. Kirche und EU im Dialog

müsse. Auf ihn geht auch ein Textvorschlag, die so genannte „ChristophersenClause“, zurück, welcher die Anerkennung des nationalen Status der Kirchen und Religionsgemeinschaften durch die EU in den Art. 9 Abs. 6 des Vorentwurfs, also im Zusammenhang mit der nationalen Identität der Mitgliedstaaten, einbauen wollte. Für die Kirchen und Religionsgemeinschaften hätte das bedeutet, dass ihre Rechtsstellung auf den Bereich der nationalen Identität der Mitgliedstaaten eingeschränkt worden wäre; doch das wäre für sie immer noch vorteilhafter gewesen, als wenn ihre Rechtsstellung nirgends berücksichtigt worden wäre. Am 25.6.2002 veranstaltete der Konvent eine öffentliche Anhörung „Zivilgesellschaft“, in der Jenkins, der Direktor der Kommission „Kirche und Gesellschaft“ der KEK, im Namen der Kirchen, der Religions- und sogar der Weltanschauungsgemeinschaften unter anderem dafür eingetreten ist, dass die Erklärung Nr. 11 der Schlussakte das Vertrags von Amsterdam in den Entwurf des Verfassungsvertrags aufgenommen wird. Die Einrichtung des „Forums“ erhielt von einer großen Anzahl verschiedenster Organisationen der Zivilgesellschaft auch Beiträge zu religiösen Themen. Einige davon verlangten ausdrücklich die Aufnahme der Kirchenerklärung von Amsterdam in den Entwurf, während andere ihre Erwartungen hauptsächlich in die Verankerung eines strukturierten Dialogs der EU mit den Kirchen und Religionsgemeinschaften setzten. 29 Die Hoffnungen, dass die Kirchenerklärung im Rahmen eines Kompetenzartikels oder eines Artikels über die Achtung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten berücksichtigt werden könnte, zerschlugen sich, als das Konventspräsidium am 6.2.2003 den Entwurf für die ersten sechzehn Artikel des Verfassungsvertrags vorlegte, denn Art. 9 erwähnte die Kirchen und Religionsgemeinschaften nicht. In der folgenden Zeit forderten noch immer zahlreiche Konventsmitglieder eine Einfügung der Kirchenerklärung in einen Verfassungsartikel über den Schutz der nationalen Identität,30 während Brok und Peterle bereits eine Aufnahme in den Titel VI „Das demokratische Leben der ______________ 29

Innerhalb des „Forums“ kamen Einwände gegen die Kirchenerklärung von der Fédération Humaniste Européenne. Gegen Art. 37 bzw I-51 Abs. 1 aber für dessen Abs. 3 und für eine Vereinheitlichung der staatskirchenrechtlichen Systeme sprach sich die Organisation „European Network Church on the Move“ aus; Unterstützung kam hingegen abgesehen von kirchlichen Organisationen vom Europäischen Kartellverband christlicher Studentenverbände, vom Quaker Council for European Affairs und vom Vaishnava Communications Institute, wobei die beiden letzten die Bezeichnung „Kirchen“ streichen wollten, at: http://europa.eu.int/futurum/forum_convention/doc_de.htm [9.5.2006]. 30 Vgl. die Stellungnahmen auf der 1. informellen Sitzung des Europäischen Verfassungskonvents vom 5. März 2003.

I. Dialog und europäische Demokratie

203

Union“ erwogen31. Der Präsident des Konvents Giscard d’Estaing und Vizepräsident Dehaene kündigten in dieser Phase die Inkorporation der Kirchenerklärung wie auch weiterer religionsrelevanter Bestimmungen an, ohne jedoch die genauen Stellen anzugeben.32 Am 4.4.2003 wurden schließlich die Titel VI, IX und X des Entwurfs für den Verfassungsvertrag präsentiert, wobei Art. 37 in Titel VI den Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften gewidmet war.33 Seine ersten beiden Absätze entsprachen genau der Kirchenerklärung von Amsterdam; neu war der Abs. 3 über den regelmäßigen Dialog zwischen der EU und den in Abs. 1-2 genannten Gemeinschaften. Es wurde gesetzestechnisch also der Weg beschritten, einen einzigen „religionsrechtlichen“ Artikel zu schaffen, der sowohl die Kirchenerklärung von Amsterdam als auch den regelmäßigen Dialog umfasst, wobei für die Stellung dieses Artikels im Gesamtaufbau des Verfassungsvertrags die Bestimmung über den regelmäßigen Dialog den Ausschlag gab, weil sich dieser gut in den Titel VI „Das demokratische Leben der Union“ fügt, wo auch der Dialog mit den verschiedenen Gruppen der Zivilgesellschaft geregelt ist.34 In ihrer Presseerklärung vom 4.4.2003 begrüßten COMECE und KEK erwartungsgemäß den Entwurf von Art. 37. Der Konvent debattierte in seiner 19. Sitzung vom 24.-25.4.2003 darüber, wobei sich achtzehn, das sind rund zwei Drittel der Konventsmitglieder, die sich zu Art. 37 äußerten, dafür aussprachen. Von den später eingereichten schriftlichen Änderungsanträgen begehrten hingegen fünfzehn die gänzliche Streichung von Art. 37 und zwei nur die Streichung von Abs. 3. Durch spätere Einfügungen, die den Kirchenartikel selbst und seine Stellung in Titel VI über das „demokratische Leben der Union“ aber unberührt ließen, rückte er in der Fassung des Verfassungsvertrags vom 16.12.2004 schließlich auf die Position von Art. I-52 VVE. Was hat der religiöse Dialog nun mit dem demokratischen Leben zu tun? Es wurde bereits dargelegt, dass in der europäischen Demokratie der partizipative Aspekt eine besondere Rolle spielt. Nun erkannte die Europäische Union die Kirchen und Religionsgemeinschaften als wichtige transnationale gesellschaft______________ 31

Brok bereits in der 15. Sitzung des Europäischen Verfassungskonvents vom 6.-7. Februar 2003, Peterle auf der 1. informellen Sitzung des Europäischen Verfassungskonvents vom 5. März 2003. 32

Giscard d’Estaing bei der 16. Sitzung des Europäischen Konvents am 27.-28. Februar 2003; Dehaene auf der 2. informellen Sitzung am 26. März 2003. 33 34

Vgl. Heinig, Religionsverfassungsrecht, 175f.

Fallengelassen wurde hingegen die andere Möglichkeit, die Kirchenerklärung an einer eigenen Stelle den Kompetenzbestimmungen beizufügen, wo sie systematisch besser passen würde. Die ursprünglich für Art. 37 vorgesehenen Abstimmungsregeln der Organe der Union fanden schließlich in Titel IV ihren Platz.

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D. Kirche und EU im Dialog

liche Akteure an, die an der europäischen Politik zu beteiligen sind, weil sie über weitreichende Erfahrungen und Nähe zu den gläubigen Bürgern verfügen. So helfen sie, eine europäische Öffentlichkeit aufzubauen, wie sie für das demokratische Leben notwendig ist.35 Zur Demokratie gehört außerdem ganz wesentlich die Überlegung, dass die von einer Entscheidung Betroffenen die Möglichkeit erhalten sollen, selbst mitzubestimmen. So unterstützt der EWSA im Rahmen der Konsultationsverfahren der Kommission alle Initiativen, die es den von einer Maßnahme Betroffenen ermöglichen, sich zu einem möglichst frühen Zeitpunkt dazu zu äußern.36 Wenn daher eine Maßnahme der Europäischen Union religiöse Belange berührt, müsste es im Grunde eine demokratische Selbstverständlichkeit sein, die Betroffenen – und das sind in diesem Falle die Religionsgemeinschaften und ihre Gläubigen – vorher wenigstens anzuhören. Da der einzelne Gläubige allein aber kaum Einfluss auf die europäischen Entscheidungsträger nehmen kann, ist er darauf angewiesen, dass sich seine Glaubensgemeinschaft beispielsweise für den Schutz der Sonntagsruhe einsetzt.37 Umgekehrt können die Organe der Union gar nicht jeden Einzelnen befragen, sondern sind darauf angewiesen, dass sich die in der Bevölkerung vorhandenen Anliegen in repräsentativen Organisationen bündeln. Art. I-52 Abs. 3 VVE verleiht den Kirchen und Religionsgemeinschaften nun einen Rechtsanspruch darauf, von der EU gehört zu werden, wenn sie zu einer bestimmten Politik einen Beitrag leisten können. 38 Eine weitere Verbindung zwischen Religion und Demokratie geht schließlich auch aus Art. 9 EMRK hervor. Der EGMR wird nicht müde, in diesbezüglichen Entscheidungen zu betonen, dass religiöser Pluralismus für eine demo-

______________ 35

Nach Robbers (Volk, 746) sind es besonders die Religionsgemeinschaften und Kirchen, die einen wesentlichen Faktor im Geflecht der sektoralen Öffentlichkeiten in der EU bilden. 36

EWSA, Stellungnahme 25.4.2001, Nr. 3.5.

37

Das heißt freilich nicht, dass es nicht gleichzeitig sinnvoll und zweckmäßig ist, dass auch die einzelnen Gläubigen ihre Partizipationsrechte wahrnehmen, da die Kirche auch als Gesellschaft der Gläubigen wirkt und nicht nur über die verfassungsmäßigen Autoritäten (Tondi della Mura, Testimonianza, 189). Demgegenüber will die Kommission nach ihrem jüngsten Weißbuch das Schwergewicht mehr auf die Kommunikation mit den Bürgern als mit den Organisationen der Zivilgesellschaft legen [KOM (2006) 35 endg.]. Wie dies praktisch durchführbar sein soll, bleibt aber offen. 38 Brok, Politik, 11. Die Bestimmung hat nicht einen rein deklaratorischen Charakter, wie Fischer meint (Verfassungsvertrag, 206).

I. Dialog und europäische Demokratie

205

kratische Gesellschaft notwendig ist,39 und er verlangt in diesem Zusammenhang, dass die politische Autorität Schwierigkeiten mit Religionsgemeinschaften nicht mit Gewalt, sondern auf dem Weg des Dialogs löst.40 Somit hält die Europäische Union den Kirchen und Religionsgemeinschaften zu Recht einen Platz im demokratischen Leben bereit und reichert damit ihr Demokratieverständnis, das sich von dem der Mitgliedstaaten41 abhebt, um eine besondere Facette an.42

2. Rechtsgrundlagen vor Inkrafttreten des Verfassungsvertrags Der religiöse Dialog erhält im Verfassungsvertrag erstmals eine ausdrückliche Rechtsgrundlage von höchstem Rang. Gepflegt wird er aber spätestens schon seit der Cellule de Prospective des Kommissionspräsidenten Delors (1990). Erfolgt dies nun ohne jede Rechtsbasis und daher aus reiner Gefälligkeit von Seiten der Gemeinschaftsorgane oder bietet das Unionsrecht schon vor dem Verfassungsvertrag Ansätze dazu?43

a) Grundlagen im Primärrecht Schon Art. 1 Abs. 2 EUV verlangt, dass die Entscheidungen in der Europäischen Union möglichst offen und möglichst bürgernah getroffen werden. Das ______________ 39

EGMR, Nr. 30985/96, Hasan und Chaush, Rn. 60; Nr. 45701/99, Metropolitankirche von Bessarabien, Rn. 114; Nr. 50776/99 und 52912/99, Agga, Rn. 56; Nr. 59/95, Manoussakis, Rn. 41; Nr. 65501/01, Vergos, Rn. 35, Nr. 14307/88, Kokkinakis, Rn. 31. 40

EGMR, Nr. 45701/99, Metropolitankirche von Bessarabien, Rn. 116: „résoudre par le dialogue et sans recours à la violence“. 41 Aber auch die Mitgliedstaaten pflegen in größerem oder geringerem Umfang einen Dialog mit den Religionsgemeinschaften. Selbst die französische Regierung richtete, ohne die Laizität dem Buchstaben nach in Frage zu stellen, einen formellen Gesprächskontakt zur französischen Bischofskonferenz ein und französische Politiker suchen auch einen kompetenten islamischen Gesprächspartner (Nientiedt, Frankreich, 408f.). 42

Weninger, Dialog, 142: Wenn die neue Verfassung ein Mehr an Demokratie bringen soll, so ist in diesem Rahmen auch eine stärkere Berücksichtigung der Religionen von Nöten. Für Teufel (Subsidiarität, 157) bieten die christlichen Gemeinschaften öffentliche Räume, die ein multinationales Gemeinwesen wie die EU braucht, um als Demokratie bestehen zu können. 43

200.

Vgl. Leinemann, Religionsrecht, 189; Parisi, Dichiariazione, 351; Ventura, Laicità,

206

D. Kirche und EU im Dialog

ist ein Teil des europäischen Demokratieprinzips, 44 zu dem wie bereits dargelegt [Abschnitt D.I.1.a)] die partizipative Demokratie und die Dialogkultur gehören. Gemäß dem Prinzip der Offenheit müssen Entscheidungen so gefällt werden, dass sie für Außenstehende nachvollziehbar sind. Das geschieht vornehmlich durch Information der Interessierten, was schon ein erster Schritt hin zum Dialog ist. Ein weiterer Schritt wird durch das Prinzip der Bürgernähe gesetzt, wonach die Betroffenen so eng wie möglich in die Entscheidungsfindung einzubeziehen sind. Da die Betroffenen bei religionsrelevanten Maßnahmen eben die Religionsgemeinschaften sind, ist der Dialog mit ihnen auf jeden Fall von Art. 1 Abs. 2 EUV gedeckt und muss den darin verankerten Prinzipien entsprechen; unbedingt gefordert ist er danach aber nicht.45 Eine substantiellere Basis für den Dialog bietet Art. 284 EGV, mit dem die Kommission das Recht erhält, alle für ihre Aufgaben erforderlichen Informationen einzuholen.46 Das bedeutet, dass sie etwa bei religionsrelevanten Legislativvorhaben die dafür fachkundigen Religionsgemeinschaften konsultieren kann. Ein solches Konsultationsrecht bedeutet aber noch keine Konsultationspflicht. Diese ergibt sich erst durch das ebenfalls primärrechtliche Protokoll Nr. 30 zum EGV über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit (Amsterdam, 1997). Nach dessen Nr. 9 SpStr. 1 soll die Kommission vor der Unterbreitung von Vorschlägen für Rechtsvorschriften umfassende Anhörungen durchführen und Konsultationsunterlagen veröffentlichen. Ist hier auch die Konsultation von Religionsgemeinschaften eingeschlossen? Der Wortlaut „umfassende Konsultationen“ spricht jedenfalls für eine weite Auslegung. Weil das Protokoll aber nicht genau sagt, wer angehört oder konsultiert werden soll, sind zur Klärung dieser Frage jene drei Dokumente heranzuziehen, aus denen es hervorgegangen ist und die es auch selbst als Quelle anführt.47 Die Erklärung des Europäischen Rates von Birmingham (Nr. I.8) und das Gesamtkonzept des Europäischen Rates von Edinburgh (Nr. I.21), legen entsprechend ihrem Ziel, das Subsidiaritätsprinzip zu konkretisieren, fest, dass die Konsultationen alle Mitgliedstaaten einschließen sollen, lassen aber offen, wer sonst noch für die Konsultationen in Frage kommt. ______________ 44

Calliess, Art. 1 EUV, Rn. 35.

45

Vgl. Parisi, Dichiarazione, 353; Ventura, Laicità, 221.

46

Zu Art. 284 EGV als Rechtsgrundlage für den zivilen Dialog, vgl. Hummer, Greening. 195. Die Kommission kann auf der Grundlage von Art. 282 EGV Verträge mit öffentlich-rechtlichen Institutionen, Unternehmen, Verbänden und Privaten abschließen, um von ihnen Informationen und Auskünfte einzuholen (Ladenburger, Art. 284 EGV, in: Groeben / Schwarze, Rn. 25). 47 Diese Dokumente sind präziser und detaillierter und bleiben maßgeblich, während das Protokoll nur wie ein Auszug aus ihnen erscheint (Stein, Amsterdam, 147).

I. Dialog und europäische Demokratie

207

Aufschlussreicher ist die Interinstitutionelle Erklärung über Demokratie, Transparenz und Subsidiarität (Nr. 3), die ein Notifikationsverfahren für „die interessierten Parteien“ und einen Verhaltenskodex für „die Interessengruppen“ vorsieht. Hier zeigt sich also ein sehr weiter Kreis von Dialogpartnern, von dem auch Religionsgemeinschaften nicht ausgeschlossen sein dürften. Bestätigt wird diese Interpretation durch eine Mitteilung48 der Kommission zu einer verstärkten Kultur der Konsultation und des Dialogs. Darin bestätigt die Kommission selbst, dass ihr nach dem Subsidiaritätsprotokoll die Aufgabe zukommt, Konsultationen durchzuführen, wobei sie als Partner die Organisationen der Zivilgesellschaft und darunter ausdrücklich die Religionsgemeinschaften nennt. Damit hat das mit Konsultationen am meisten befasste Gemeinschaftsorgan klar gestellt, dass das Protokoll Nr. 30 zum EGV die primärrechtliche Grundlage auch für den Dialog mit den Religionsgemeinschaften darstellt.49 Diese Rechtsbasis hat aber ihre Grenzen: Sie verankert keinen spezifisch religiösen Dialog, sondern vermischt diesen mit dem Dialog mit den Mitgliedstaaten und dem Dialog mit beliebigen „Interessengruppen“. Die Wendung „umfassende Anhörungen“ legt zwar eine weite Auslegung nahe, doch andererseits ermöglichen die nicht klar definierten Klauseln der „Dringlichkeit“ und der „Vertraulichkeit“ Beschränkungen der Anhörungspflicht. Schließlich findet sich die genannte Bestimmung im Subsidiaritätsprotokoll und ist deswegen nur dort anwendbar, wo das Subsidiaritätsprinzip anwendbar ist, also nicht im Bereich der ausschließlichen Kompetenzen, obwohl auch diese für Kirchen und Religionsgemeinschaften relevant werden können.

b) Grundlagen im Sekundärrecht An einer Stelle, wo man es wohl nicht vermuten würde, wird der Gemeinschaft ausdrücklich der Dialog mit den Religionsgemeinschaften zur Aufgabe gemacht und zwar gehört dieser zu den Aktionen, die von der Gemeinschaft zur Eindämmung von Aids und ähnlichen Krankheiten in Entwicklungsländern zu setzen sind.50 Es handelt sich hier selbstverständlich nur um einen schmalen Teilbereich, der weder für die Religionsgemeinschaften noch für die Europäische Gemeinschaft im Zentrum des Interesses steht, doch immerhin zeigt diese ______________ 48

KOM (2002) 277 endg.

49

Potz kommt zum selben Ergebnis, indem er eine Verbindung zwischen diesem Protokoll und der Erklärung Nr. 11 in der Schlussakte des Vertrags von Amsterdam herstellt und daraus eine Verpflichtung auf Einbeziehung der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften bei sie betreffenden Gesetzesvorhaben ableitet (Europas Seele, 10). 50

Art. 2 Abs. 1 lit. a VO (EG) Nr. 550/97.

208

D. Kirche und EU im Dialog

Stelle, dass der Begriff des Dialogs mit den Religionsgemeinschaften im Gemeinschaftsrecht kein Fremdwort ist. Die VO (EG) Nr. 550/97 wurde inzwischen allerdings durch die VO (EG) Nr. 1568/2003 ersetzt, die keine entsprechende Bestimmung mehr enthält. Nur indirekt lässt sich ein religiöser Dialog auch aus der Antidiskriminierungs-RL 2000/78/EG erschließen. Deren Art. 14 verpflichtet die Mitgliedstaaten zum Dialog mit den Nichtregierungsorganisationen, die ein rechtmäßiges Interesse an der Beseitigung der in der Richtlinie genannten Arten von Diskriminierungen haben.51 Da hierzu auch die Religion zählt (Art. 1), ist zu fragen, welche Organisationen denn ein Interesse an der Bekämpfung religiöser Diskriminierungen haben könnten. In erster Linie ist hier natürlich an die Religionsgemeinschaften selbst zu denken. Dass sie sich in ihrem Selbstverständnis nicht als NGO betrachten, hindert den Dialog mit ihnen nicht, da dieser Begriff weit zu verstehen ist [siehe Abschnitt D.I.1.a)]. Aber selbst wenn sie die Rolle eines Verteidigers der Rechte ihrer Mitglieder übernehmen wollen, so darf nicht übersehen werden, dass Art. 14 nur einen Dialog zwischen ihnen und den Mitgliedstaaten, nicht aber mit den EG-Organen vorsieht. Im Unterschied dazu betraut das Aktionsprogramm des Rates 2000/750 direkt die Kommission damit, auf europäischer Ebene mit Nichtregierungsorganisationen einen Dialog über das Antidiskriminierungsprogramm zu führen (Art. 4 Abs. 1 lit. b). Als weitere Rechtsgrundlagen könnten auch die verschiedenen Konsultationsmechanismen angeführt werden, die in den Geschäftsordnungen der einzelnen Gemeinschaftsorgane verankert sind und teilweise sogar eine primärrechtliche Basis haben. Sie werden in Abschnitt F.I.2. ausführlicher behandelt. Hinweise auf einen spezifisch religiösen Dialog enthalten sie nicht.

c) Weitere Grundlagen Gemeinsame Erklärungen aller Mitgliedstaaten zum primären Gemeinschaftsrecht, das durch völkerrechtliche Verträge geschaffen wird, stellen zwar keine Rechtsnormen im eigentlichen Sinn dar, sind aber gemäß Art. 31 Abs. 2 WVK zur Auslegung der Verträge heranzuziehen. Einige davon haben Bedeutung für den religiösen Dialog. Die Schlusserklärung Nr. 23 zum Unionsvertrag von Maastricht betont die Bedeutung der Zusammenarbeit zwischen der Euro______________ 51

Man wollte bewusst nicht nur einen Dialog mit den Sozialpartnern, obwohl die Richtlinie sich auf Beschäftigung und Beruf bezieht, sondern auch z.B. mit Verbraucher-, Branchen-, oder Einwandererorganisationen (vgl. König, EG-Antidiskriminierungsrichtlinien, 132). Zur Beteiligung von Organisationen die Diskriminierungsopfer vertreten, vgl. Opromolla, Diskriminierungen, 4; dies., Kampf, 9.

I. Dialog und europäische Demokratie

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päischen Gemeinschaft und den Verbänden der Wohlfahrtspflege sowie anderen Trägern sozialer Einrichtungen, um die Ziele der Sozialpolitik nach Art. 136 EGV zu erreichen.52 Zusammenarbeit ist bereits mehr als Dialog, weil sie über bloße Kommunikation hinaus auch gemeinsame Tätigkeiten umfasst. Da in vielen Mitgliedstaaten kirchliche Organisationen einen hohen Anteil der Träger sozialer Dienste ausmachen, ist die genannte Erklärung auch für den religiösen Dialog relevant, umfasst diesen aber nicht zur Gänze, sondern eben nur in Bezug auf soziale Dienste.53 Im Bereich der sozialen Solidarität ist auch die Erklärung Nr. 38 zum Vertrag von Amsterdam zu erwähnen, die den Beitrag der freiwilligen Dienste anerkennt. Danach fördert die Gemeinschaft die europäische Dimension freiwilliger Vereinigungen – von denen wiederum nicht wenige einen kirchlichen Hintergrund haben – und legt Wert auf den Austausch von Informationen und Erfahrungen. Damit ist auch eine dialogische Komponente angesprochen.54 Hingegen enthält die Erklärung Nr. 11 zum Vertrag von Amsterdam, die unmittelbar die Kirchen und Religionsgemeinschaften zum Gegenstand hat, keine Dialogbestimmung, da es den Kirchen damals hauptsächlich um den Schutz ihres nationalen Status ging. Das ist umso bedauerlicher, als die Erklärung Nr. 29 desselben Vertrags in einem anderen Bereich, nämlich dem Sport, sehr wohl eine Dialoggrundlage enthält, wenn sie bei wichtigen den Sport betreffenden Fragen eine Anhörung von Sportverbänden vorsieht. Auch Empfehlungen bzw. Entschließungen der Gemeinschaftsorgane stellten keine Rechtsnormen dar. Sie haben bloß politische Wirkung und zielen darauf ab, den Mitgliedstaaten oder anderen Gemeinschaftsorganen ein bestimmtes Verhalten nahe zu legen, ohne sie rechtlich binden zu können. Das Europäische Parlament begrüßt in seiner Entschließung 2000/2174 INI zu Frauen und Fundamentalismus die Praxis des Dialogs als Gegenmittel zum religiösen Fundamentalismus (Erwägungsgrund K). In seiner Entschließung A4-0167/98 zum Islam in Europa befürwortet es den interkulturellen Dialog mit den Repräsentanten der islamischen Kultur (Nr. 2). Besonders die Europäische Kommission hat verschiedene Dokumente zu Dialog und Konsultation erstellt. Im Weißbuch über Europäisches Regieren [KOM (2001) 428 endg.] behandelt sie erstmals eingehend den Dialog mit der ______________ 52

Sie wird von der Kommission als Rechtsgrundlage für die Kooperation angesehen, vgl. KOM (2000) 11 endg., Nr. 2.5. 53 Nach Parisi würde diese Erklärung auch den Weg zu einer dialogischen Zusammenarbeit zwischen den Institutionen der Gemeinschaft und den religiösen Organisationen eröffnen (Dichiariazione, 340). 54 Die Bedeutung dieser Erklärung für den kirchlichen Bereich heben Kalb / Potz / Schinkele (Religionsrecht, 27) und Pierucci (Amsterdam, 18) hervor.

210

D. Kirche und EU im Dialog

Zivilgesellschaft, bei dem sie den Kirchen und Religionsgemeinschaften eine besondere Rolle zumisst (S. 19). Darauf folgten mehrere Mitteilungen zur näheren Ausgestaltung dieses Dialogs, unter denen die Mitteilungen KOM (2002) 277 endg. und KOM (2002) 704 endg. eigens die Religionsgemeinschaften als Dialogpartner erwähnen. Die Bedeutung dieser Dokumente liegt vor allem darin, dass sich die Kommission als wichtigster Ansprechpartner unter den Gemeinschaftsorganen darin selbst auf bestimmte Prinzipien und Verfahrensweisen hinsichtlich der Dialogkultur festlegt, die sie gegenüber ihren Dialogpartnern anwendet. Auch völkerrechtliches soft law außerhalb des Bereichs der Europäischen Union legt einen Dialog mit Religionsgemeinschaften nahe. Nach der Schlussakte des KSZE-Folgetreffens von Wien (1989) werden die Teilnehmerstaaten mit den Glaubensgemeinschaften in Konsultationen treten, um ein besseres Verständnis der Erfordernisse der Religionsfreiheit zu erreichen (Nr. 16 lit. e), und sie werden das Interesse der Religionsgemeinschaften, am öffentlichen Dialog teilzunehmen, wohlwollend erwägen (Nr. 16 lit. k).55 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der religiöse Dialog schon vor Inkrafttreten des Verfassungsvertrags eine rechtliche Basis hat und nicht frei ins Belieben der Gemeinschaftsorgane gestellt ist. Die vorhandenen Rechtsgrundlagen, insbesondere das Protokoll Nr. 30 zum EGV, beziehen sich aber fast durchgehend nur auf Konsultationen von Organisationen der Zivilgesellschaft im Allgemeinen ohne besondere Berücksichtigung der Religionsgemeinschaften. Angesichts dieser schwachen Rechtsgrundlagen bringt Art. I-52 Abs. 3 VVE tatsächlich einen nicht zu unterschätzenden Fortschritt. Die vorläufige Stockung des Verfassungsvertrags muss indessen nicht zu einer Schwächung des Dialogs führen. Der Plan D [KOM (2005) 494 endg.], den die Kommission für die Phase der Reflexion über den Verfassungsvertrag entworfen hat, sieht an mehreren Stellen sogar eine Verstärkung des Dialogs zwischen den Gemeinschaftsorganen und den Organisationen der Zivilgesellschaft vor, auch wenn die Kirchen nicht eigens genannt werden. Der EWSA fordert die EUInstitutionen in seiner jüngsten Stellungnahme dazu auf, sich trotz der Unwägbarkeiten, die der Ratifikationsprozess des Verfassungsvertrags birgt, um die Schaffung einer echten partizipativen Demokratie zu bemühen (Stellungnahme vom 14.2.2006, Nr. 1.7).

______________ 55

Vgl. Triebel, Religionsrecht, 124=174.

II. Dialog und kirchliche „communio“

211

II. Dialog und kirchliche „communio“ 1. Dialog und Demokratie in der Kirche? Auf Seiten der Europäischen Union wird der Dialog aus dem Demokratieprinzip abgeleitet. Wie verhält es sich damit aber auf der Seite der Kirche? Die katholische Lehre zeigt sich grundsätzlich neutral gegenüber den verschiedenen Staats- und Regierungsformen, entwickelte aber im Laufe der Zeit ein positives Verhältnis zur Demokratie.56 Das bedeutet indessen nicht, dass die Kirche sich anschickt, auch ihre eigene Verfassung nach demokratischen Grundsätzen zu gestalten. Gewiss kennt das Verfassungsrecht des CIC demokratieähnliche Elemente wie das Gleichheitsgebot (c. 208), ein Petitionsrecht (c. 212 § 2), Vereinigungen (c. 215), Wahlen (cc. 164-179), verschiedene Ratsgremien (cc. 492-494, 512-514, 536f.), synodale Strukturen (cc. 342, 439, 443, 460), freier Zugang zu bestimmten Ämtern (cc. 228f.) und Ansätze zur Vielfalt57 in der Kirche.58 Das macht die kirchliche Struktur aber nicht zu einer Demokratie. Gegen ein solches Ansinnen sprechen nämlich schon theologische Gründe, da die Kirche eine heilsvermittelnde Funktion hat und ihre Vollmacht von Jesus Christus, nicht jedoch vom Willen der Gläubigen ableitet.59 Das strukturierende Prinzip der Kirche ist vielmehr das der „communio“.60 Der folgende Abschnitt wird dieses erläutern und untersuchen, inwiefern sich auch daraus ein Konzept des Dialogs ableiten lässt. Auch wenn die Kirche selbst nicht demokratisch verfasst ist, so hindert sie das nicht, sich in den demokratischen Prozess des politischen Gemeinwesens ______________ 56

Siehe Abschnitt C.II.2.a). Während nach der Designationstheorie Leos XIII. durch Wahlen nur die Person des jeweiligen Amtsträgers bestimmt aber keine Vollmacht übertragen werden kann, akzeptiert das Lehramt seit Pius XII. die Volkssouveränität (Gnägi, Kirchenverfassung, 473). 57

Vgl. Heimerl, Vielfalt, 210.

58

Nach Daiber wachsen die Demokratiebedürfnisse innerhalb der Kirchen in dem Maß, wie die Demokratieansprüche im gesellschaftlichen Kontext ausgeprägt sind, in dem die Kirchen sich befinden. Ihm zufolge verfügen aber auch die hierarchisch verfassten Kirchen über genügend Flexibilität, um sich anzupassen (Daiber, Demokratie, 455). 59

Böckenförde, Demokratie, 86. Mit einigen Akzentverschiebungen findet sich dieses Prinzip auch in den anderen christlichen Konfessionen (Daiber, Demokratie, 453). 60 Wer eine demokratische Kirche verlangt und ihr vorwirft, sie sei monarchisch, weil sie sich früher dem Staat angepasst habe, widerspricht sich Thomas zufolge selbst, da er wieder eine Anpassung an den Staat verlangt, nur diesmal eben an die Demokratie. In Wirklichkeit ist die Kirche aber eine vom Staat nach Herkunft, Ziel und Funktion verschiedene Institution, in der nicht methodisches Misstrauen, sondern das Prinzip der Kollegialität herrschen soll (Thomas, Pluralismus, 70f.).

212

D. Kirche und EU im Dialog

einzubringen. Das Komplementärprinzip verlangt von der Kirche nämlich nicht, dass sie in gleicher Weise demokratisch ist wie das politische Gemeinwesen, sondern nur, dass sie fähig ist, mit dessen demokratischen Strukturen in Beziehung zu treten. Wenn der EGMR immer wieder betont, dass religiöser Pluralismus für eine demokratische Gesellschaft wesentlich ist, so meint er nicht, dass die Religionsgemeinschaften selbst demokratisch sind, sondern dass die Anwesenheit ganz verschiedener und auch verschieden verfasster Religionsgemeinschaften eine Bereicherung für die gesellschaftliche Vielfalt darstellt.61 Das EU-Parlament hingegen ließ in einer Entschließung die Meinung durchblicken, dass nur mit demokratischen Repräsentanten ein Dialog angestrebt werden soll.62 Demgegenüber hält aber Art. I-52 Abs. 3 VVE fest, dass der Dialog mit den Religionsgemeinschaften „in Anerkennung ihrer Identität“ zu erfolgen hat. Sie dürfen demnach weder wegen einer mit ihrem Selbstverständnis verbundenen Struktur vom Dialog ausgeschlossen werden, noch darf ihnen eine ihrer Identität zuwiderlaufende Struktur aufgezwungen werden.

2. Dialog und kirchliche „communio“ Das Zweite Vatikanische Konzil entdeckte die Kirche wieder verstärkt als communio (Gemeinschaft) und die Bischofssynode von 1985 entwickelte eine ganze Ekklesiologie aus dem communio-Konzept. Communio bezeichnet „die in der Gemeinschaft des dreieinigen Gottes vorgebildete und in der Teilgabe an seinem Leben gründende personale Gemeinschaft der Menschen mit ihm und den Mitmenschen, wie sie in Jesus Christus in einmaliger Weise vollendet, ermöglicht und in seiner Kirche kraft des Heiligen Geistes anfanghaft verwirklicht ist“63. Sie kennt also zwei Dimensionen: Die vertikale, d.h. die Gemeinschaft mit Gott, aus der die horizontale, nämlich die Gemeinschaft der Menschen untereinander, hervorgeht. Communio ist eng mit communicatio (Kommunikation) verbunden. Die Gemeinschaft der Menschen mit Gott entsteht dadurch, dass dieser ihnen sein Heil mitteilt („kommuniziert“) und sie darauf positiv antworten. Die Gemeinschaft der Menschen untereinander entspringt ______________ 61

Nach Donati kann Religion nur dann als Hindernis für die Demokratie gesehen werden, wenn man unter Demokratie ein politisches System ohne kulturelle Identität versteht. Sie ist hingegen sogar eine Voraussetzung für Demokratie, wenn man darunter ein politisches System versteht, das subsidiär die kulturellen Identitäten respektiert (Donati, Ruolo, 540). Die Kirche anerkennt heute die Gesetzmäßigkeit der pluralistischen Ordnung der Gesellschaft, sie kann aber nicht ohne weiteres als Teil der pluralistischen Gesellschaft angesehen werden (Mikat, Dialog, 709). 62

Europäisches Parlament, Entschließung zum Islam in Europa, Nr. 3.

63

Drumm, Communio, 1280.

II. Dialog und kirchliche „communio“

213

der Vermittlung des göttlichen Heils durch die Kirche. Das Konzept der Kirche als communio darf aber keineswegs so verstanden werden, als ob es nur eine kircheninterne Dimension beschriebe und die Kirche zwar als nach innen eng geeinte, aber nach außen abgekapselte Gemeinschaft erscheinen ließe. Denn wie die Kongregation für die Glaubenslehre klargestellt hat, ist die Kirche in die Welt gesandt, um das Geheimnis der Gemeinschaft (communio), das sie konstituiert, zu verkünden, zu bezeugen, zu vergegenwärtigen und zu verbreiten.64 Diese Sendung in die Welt, die zum communio-Charakter der Kirche gehört, ist der Ansatz für die Kommunikation – für den Dialog – auch mit der Welt. Gerade heute, wo die Beziehungen Staat-Kirche sich mehr als Abstimmung und Kommunikation gestalten, verbreitet sich in der katholischen Kirche die Theorie der Kommunikation in der Ekklesiologie. 65 Die communio-Ekklesiologie schließt den Rechtscharakter der Kirche keineswegs aus, denn die Nota explicativa praevia zur Kirchenkonstitution Lumen Gentium erklärt ausdrücklich den Rechtscharakter des Begriffs communio.66 Insofern die kirchenrechtlichen Regelungen in Verkündigung und Heilsvermittlung der Kirche gründen, sind die Grundlagen des Kirchenrechts eng mit dem kommunikativen Charakter der Kirche verbunden.67 Daraus ergibt sich nun, dass auch der Dialog der Kirche mit der Welt einen rechtlichen Charakter aufweist. Sowohl die Kirche als auch der Staat sind logischerweise Gemeinschaften von Menschen. Da der Staat aber Menschen gleich welcher Weltanschauung vereinigt, um das Ziel des zeitlichen Gemeinwohls zu verwirklichen, ist es angebracht, dass der so konstituierte dēmos, über die verschiedenen Instrumente der Demokratie an der Entscheidungsfindung teilnimmt. Die Kirche hingegen vereinigt Menschen desselben Glaubens, um sie zum ewigen Heil zu führen, das ihr von Gott geschenkt ist. Die Vermittlung (communicatio) dieses Heils konstituiert die communio und unterliegt nicht deren Entscheidungen. Trotz der unterschiedlichen Konzepte von dēmos und communio ist es aber wichtig zu sehen, dass sich sowohl aus dem einen als auch aus dem anderen eine gegenseitige Offenheit zum Dialog ableiten lässt und genau das ist der entscheidende Punkt bei der Bestimmung des Verhältnisses von Kirche und Europäischer Union.

______________ 64

Congr. DocFid, Communionis notio, Nr. 4.

65

Torfs, Stati e Chiese, 20.

66

Vgl. Aymans, Communio, 162.

67

Vgl. Müller, Kommunikative Ordnung, 371.

214

D. Kirche und EU im Dialog

3. Die Grundlagen für den Dialog mit der Welt a) Theologische Grundlagen Obwohl die Sprache der Bibel noch keinen ausdrücklichen Dialogbegriff kennt, weist die biblische Geschichte eine vielgestaltige Dialogpraxis auf – man denke etwa an den Dialog zwischen Gott und seinem Volk, die Streitgespräche Jesu oder die dialogischen Darlegungsstrukturen der paulinischen Briefe. 68 Die Verwiesenheit auf den Dialog hat ihren letzten Grund im Wesen des christlichen Glaubens selbst und kann trinitäts- oder offenbarungstheologisch, heilsökonomisch und ekklesiologisch begründet werden. 69 Koch weist die Vorwürfe zurück, dass im Dialog das Evangelium verraten werde, denn in Wirklichkeit ist der Dialog das innerste Moment des Evangeliums selbst.70 In seiner Antrittsenzyklika Ecclesiam Suam, deren dritten Teil man als Programm für den kirchlichen Dialog betrachten kann, sieht Papst Paul VI. den Dialog der Kirche mit der Welt im Heilsdialog zwischen Gott und Mensch begründet und zieht daraus praktische Konsequenzen für dessen Durchführung (Nr. 64f.).71 Den Dialog mit dem weltlichen Gemeinwesen oder mit weltlichen Autoritäten führt er jedoch nicht eigens an. Vielmehr scheint er an den Dialog mit verschiedenen Gruppen von Menschen zu denken (vgl. Nr. 73), doch nennt er auch Völkerversammlungen (Nr. 90) und atheistische Ideologien (Nr. 94) als Gesprächspartner der Kirche. So werden auch Staaten und Staatenverbände nicht auszuschließen sein. Beim kämpferischen Atheismus und kirchenfeindlichen Strömungen stößt der Dialog aber an seine Grenzen und kann nur leidendem Schweigen weichen.72 Die Enzyklika lässt jedoch bewusst vieles offen, weil sie einigen Dokumenten des Zweiten Vatikanischen Konzils, die damals noch ausstanden, nicht vorgreifen wollte. Über die Konzilsdokumente verstreut begegnet 28-mal der Begriff „dialogus“ (Dialog) und 32-mal der bedeutungsähnliche Begriff „colloquium“ (Gespräch). Es handelt sich um Leitbegriffe des Konzils, die sich besonders in den folgenden Themenfeldern finden: Der innerkirchliche Dialog (z.B. Art. 25 Abs. 3 AA), der ökumenische Dialog (vor allem UR), der interreligiöse Dialog ______________ 68

Kruttschnitt, Dialog, 192f.

69

Ebd. 193. Für Koch gründet die Dialogizität der Kirche letztlich in der Dialogizität der drei göttlichen Personen (Koch, Christsein, 99). 70

Ebd. 97.

71

Vgl. Benelli, Dialog, XVII.

72

So unterhält die Kirche keine diplomatischen Beziehungen zu Staaten, die nicht ein Mindestmaß an Religionsfreiheit achten.

II. Dialog und kirchliche „communio“

215

(vor allem NA und AG) und schließlich der Dialog mit der Welt (vor allem GS). Der Letztgenannte ist im Hinblick auf den Dialog mit der Europäischen Union natürlich von vorrangigem Interesse. Die „Welt“ ist in den Konzilsdokumenten allerdings ein recht vager und weiter Begriff. „Die Welt, um die es sich hier handelt, ist die Gesamtheit der irdischen Aktivität der Menschen, die man ebensogut Zivilisation oder Geschichte nennen könnte, wobei die irdischen Werte und Realitäten darin einzubeziehen sind.“73 Der Dialog mit der Welt im Allgemeinen (z.B. Art. 12 Abs. 4 PO, Art. 40 Abs. 1 GS, Art. 43 Abs. 5 GS) kann sich je nach Gesprächspartner spezifizieren in einen Dialog mit der menschlichen Gesellschaft (Art. 13 Abs. 2 CD), mit der Wissenschaft (Art. 19 Abs. 2 PO), mit den Nichtglaubenden (Art. 21 Abs. 6 GS), mit Andersdenkenden (Art. 28 Abs. 1 GS) oder schlechthin mit allen Menschen (Art. 92 Abs. 1 GS). Bei dieser Vielfalt an Dialogpartnern fällt es umso mehr auf, dass nirgends ein Dialog mit dem weltlichen Gemeinwesen oder den weltlichen Autoritäten erwähnt wird.74 Das vierte Kapitel des zweiten Hauptteils von Gaudium et Spes (Art. 73-76), das sich dem Leben der politischen Gemeinschaft widmet, lässt Begriffe wie „dialogus“ oder „colloquium“ vermissen. Art. 56 Abs. 2 und Art. 92 Abs. 1 GS nennen zwar die Nationen als Dialogpartner, doch sollen diese hier untereinander, nicht mit der Kirche einen Dialog führen. An der letztgenannten Stelle scheint die Kirche mehr als Förderin des Dialogs denn als dessen Teilnehmerin auf. Lediglich Art. 90 Abs. 1 GS scheint einen Aspekt des Dialogs zwischen Kirche und politischer Autorität zu beschreiben, wenn er den Dialog zwischen katholischen Vereinigungen und den Internationalen Organisationen begrüßt. Aber auch wenn ausdrückliche Erwähnungen weitgehend fehlen, so müssen die Konzilsdokumente ihrem Geist entsprechend doch so interpretiert werden, dass der Dialog mit der Welt, der ein Grundgedanke des Konzils war, auch den Dialog mit dem weltlichen Gemeinwesen umfasst.75 Das rechte Zusammenwirken mit der politischen Gemeinschaft, das die Kirche in Art. 76 Abs. 3 GS wünscht, setzt den Dialog voraus und übersteigt diesen. Losinger macht zu Recht auf das erkenntnistheoretische Problem aufmerksam, wie denn die Kirche einen Dialog mit der Welt führen könne, wo sie doch selbst auch ein Teil dieser Welt sei.76 Dieses Problem entsteht aber nur aus der ______________ 73

Congar, LthK2-Konzilskommentar, Bd. I, 402.

74

Der ursprünglich vorgesehene Text über die Beziehungen zwischen Kirche und Staat wurde nur sehr begrenzt aufgenommen, da es dem Konzil weniger um die Beziehungen zu einer Institution ging als vielmehr zur „Welt“ als solcher, der sie in gewisser Hinsicht auch selbst angehört (vgl. ebd. 400). 75

Für Koch ist der universale Dialog mit der Welt der äußerste Radius der kirchlichen Dialogizität, wo am deutlichsten zu Tage tritt, wie die Kirche sich selbst versteht (Koch, Christsein, 113). 76

Losinger, Iusta autonomia, 111.

216

D. Kirche und EU im Dialog

undifferenzierten Redeweise des Konzils von der „Welt“ als solcher. Nimmt man hingegen konkret das politische Gemeinwesen bzw. dessen Leitungsorgane als Gesprächspartner in den Blick, so löst sich das Problem von selbst auf, weil die Kirche dessen Teil nicht ist. Die Hervorhebung des Dialogs durch das Konzil ist eines der markantesten Signale für die Bereitschaft der Kirche zur Begegnung mit der Welt.77 Damit werden zwei falsche Extreme ausgeschlossen, nämlich einerseits der Rückzug aus der Gesellschaft und anderseits der Versuch, theokratische Gewalt über sie auszuüben.78 Dialogizität bedeutet, dass die Welt in die ihr zustehende Autonomie freigegeben wird, aber Dialog heißt zugleich auch, dass es sich nicht um eine isolierte Autonomie, sondern um ein wechselseitiges Bezogensein handelt.79 Koch betont, dass ein wahrhaftiger Dialog sich „zwischen Über-Zeugung und Über-Zeugung“ vollzieht und beide Seiten willens sein müssen, gemeinsam die Wahrheit zu suchen und zu finden, denn bei Indifferenz gibt es nur „unverbindliches Gerede“.80 Für Rahner ist der Dialog in der heutigen pluralistischen Gesellschaft die einzige mögliche und bleibende Weise der Koexistenz.81 Auch der Protestantismus setzt, wie Honecker darlegt, auf Dialog und will einen Beitrag zu einer partizipatorischen und demokratischen Gestaltung der Gesellschaft leisten.82

b) Kirchenrechtliche Grundlagen Nicht nur vom Dialog mit der Welt, sondern ausdrücklich auch mit den politischen Gemeinschaften spricht das nachkonziliare, bis heute geltende MP Sollicitudo omnium Ecclesiarum von Papst Paul VI., mit dem er das päpstliche Gesandtschaftswesen neu geregelt hat.83 Gemäß der Einleitung ist es nötig, dass Kirche und Staat („Civitas“) ein offenes Gespräch („sermo“) pflegen und einen ______________ 77

Ebd. 103.

78

Benelli, Dialog, XVII. Saraceni erblickt in der dialogischen Methode einen Ansporn zur Rechtfertigung und Verteidigung der Rechte der Kirche (Chiesa, 292). 79

Losinger, Iusta autonomia, 106.

80

Koch, Christsein, 128f. Das schließt mit ein, dass auch die Kirche bisweilen Hörende ist. Ein Beispiel, in dem die Europäische Union die katholische Kirche ermahnt hat, ist der Vorfall sexueller Gewalt von katholischen Priestern gegen Nonnen in Afrika (Entschließung „Gewalt gegen katholische Nonnen“; schriftliche Anfrage E-2628/03). 81

Rahner, Dialog, 51.

82

Honecker, Globalisierung, 23.

83

Vgl. Oliveri, Diplomazia, 258. Man kann und muss hier von einem Dialog spre-

chen.

II. Dialog und kirchliche „communio“

217

aufrichtigen Konsens suchen, da beide, wenn auch auf unterschiedliche Art, für das Wohl des einzelnen Menschen als auch der Völkergemeinschaften sorgen und daher unvermeidlich zusammentreffen. Ferner schützt das Gespräch („colloquium“) die freie Ausübung der kirchlichen Tätigkeiten und informiert die Leiter der Staaten („Civitates“) über die friedlichen und fruchtbaren Vorschläge der Kirche und deren geistliche Hilfe zur Erreichung des Gemeinwohls. Ein solches Gespräch („colloquium“), das sich auf gegenseitiges Vertrauen stützt, soll schließlich durch öffentliche Beziehungen zwischen den beiden Gesellschaften nach der völkerrechtlichen Übung eingerichtet werden. Hier zeigt sich, dass die Lehre von den beiden societates perfectae, die im selben Gesetz erneuert wird, dem Dialog keineswegs abträglich ist, sondern ihn geradezu impliziert. Zwar ist ein Dialog auch mit rechtlich nicht Gleichgestellten möglich, aber im vollen Sinn lässt er sich doch dort am Besten verwirklichen, wo beide Partner sich auf der gleichen Ebene begegnen. Eben dies bezweckt die societas-perfecta-Lehre, die durch die Einrichtung eines Dialogs zwischen der politischen und der kirchlichen Autorität sogar gestärkt wird. Dass gerade SOE von einem solchen Dialog spricht, ist keineswegs verwunderlich, wo dieses Gesetz doch die diplomatischen Beziehungen zwischen dem Heiligen Stuhl und den weltlichen Autoritäten regelt. Das kirchliche Gesetzbuch von 1983 hingegen schenkt dem Dialog keine große Aufmerksamkeit. Das Wort „dialogus“ kommt nur einmal, nämlich in c. 787 § 1 CIC vor, wo den Missionaren ein ehrlicher Dialog mit den nicht an Christus Glaubenden aufgetragen wird. Die Grundlage hierfür bilden die Enzyklika Ecclesiam Suam und diverse Konzilsaussagen,84 doch bleibt es unverständlich, warum der CIC nur dieses und nicht auch die anderen Dialogfelder des Konzils wie etwa den Dialog mit der Welt aufgreift. Einzelne dialogische Elemente im Hinblick auf das Verhältnis zum weltlichen Gemeinwesen lassen sich indessen schon herausschälen. Wenn etwa der päpstliche Gesandte das Verhältnis zwischen dem Apostolischen Stuhl und den Staatsautoritäten pflegen und völkerrechtliche Verträge vorbereiten soll (c. 365 § 1 CIC), so setzt dies natürlich einen intensiven Dialog voraus. Auch dem Dienst der Verkündigung (c. 747 CIC) ist ein dialogisches Element eigen, das unter anderem die weltlichen Autoritäten als Adressaten haben kann. Schließlich sind auch die zahlreichen Verbindungen, die der CIC zum weltlichen Recht herstellt, Zeichen von Dialogbereitschaft und Anlass, tatsächlich einen Dialog zu führen. Das Direktorium für den pastoralen Dienst der Bischöfe Apostolorum Successores erwähnt wieder ausdrücklich den Dialog mit der politischen Autorität und macht diesen zur Aufgabe der Bischofskonferenzen (Art. 28 SpStr. 4). ______________ 84

Vgl. Mussinghoff, in: MKCIC, c. 787, Rn. 1.

218

D. Kirche und EU im Dialog

Damit fand er also auch Eingang in eines der jüngeren universalkirchlichen Dokumente.85 Auch wenn der Dialog zwischen der Kirche und dem weltlichen Gemeinwesen bzw. dessen Leitungsorganen im Vergleich etwa zum ökumenischen und interreligiösen Dialog nicht besonders häufig in kirchlichen Dokumenten genannt wird, so lässt er sich doch theologisch begründen und findet zumindest in einigen Rechtstexten auch eine rechtliche Grundlage. Wenn die Europäische Union daher einen Dialog mit den Religionsgemeinschaften anstrebt, dann findet dieses Projekt auf Seiten der katholischen Kirche durchaus die notwendigen Anknüpfungspunkte. Die Komplementarietät ist in diesem Punkt also gegeben. Kirchliche Stellungnahmen zur Europäischen Union begrüßen und fordern immer wieder den gemeinsamen Dialog. 86 Schon im Rahmen der KSZE setzte sich der Heilige Stuhl für „religiöse Kommunikation“ ein. 87 Welches Ausmaß und welche Formen dieser Dialog annehmen wird, hängt nicht zuletzt auch von der Bereitschaft der Kirchen und Religionsgemeinschaften ab, auf das Angebot der Europäischen Union einzugehen. 88

4. Ziele und Inhalte des Dialogs Wenn nun auch beide Seiten – Kirche und Europäische Union – bereit sind, miteinander einen Dialog zu führen, so heißt das noch nicht, dass sich auch ihre Erwartungen daran automatisch decken. Die Kirche wird in den Dialog die Hoffnung setzen, ihre eigene Position zu verteidigen, auf die Rechtsetzung der Union Einfluss zu nehmen und im Integrationsprozess auf sittliche Werte zu pochen. Ein Dialoganliegen der Kirche umfasst alles, was sie selbst direkt rechtlich betrifft, wo ihr Kompetenzbereich jenen der Europäischen Union berührt. Hier geht es darum, ein angemessenes rechtliches Verhältnis zwischen ______________ 85 Allerdings handelt es sich dabei nicht um eine Rechtsnorm. Gemäß dem letzten Absatz seiner Einführung besitzt es grundlegend pastorale und praktische Natur, und seine Aussagen haben denselben Wert wie die Quellen, aus denen sie genommen sind. 86 So beispielsweise die Stellungnahmen der COMECE vom 21.5.2002, 28.6.2002, 27.9.2002, 15.10.2002, 18.12.2002, 25.3.2003 und jüngst die Erklärung zum Plan D der Kommission vom 18.11.2005 (alle unter www.comece.org [9.5.2006]). 87 88

Wuthe, KSZE/OSZE, 229.

Vgl. Anhelm, Rolle, 23; Benelli, Dialog, XVII; Robbers, Dialog, 755; Weninger, Schnittfelder, 120. Die COMECE jedenfalls begrüßt den Dialog und die partizipative Demokratie im VVE: Stellungnahmen vom 27.9.2002, vom 18.12.2002 und vom 19.6.2003.

II. Dialog und kirchliche „communio“

219

Kirche und Union zu entwickeln89 und die Rechtsnormen der Union so mitzugestalten, dass sie das kirchliche Wirken nicht behindern, sondern fördern. 90 Das andere Dialoganliegen der Kirche betrifft alle Angelegenheiten, die sie zwar nicht selbst berühren, aber ethische Fragen aufwerfen, für die sie eine Kompetenz beansprucht.91 Sie macht das Recht geltend, immer und überall die sittlichen Grundsätze zu verkündigen (c. 747 § 2 CIC), und verpflichtet ihre Gläubigen, zur Verbreitung der Heilsbotschaft beizutragen (c. 211 CIC), wozu sie auch deren Recht zu apostolischen Tätigkeiten (c. 216 CIC) schützt. So kann sie die Werte, für die sie einsteht, in die europäische Integration einbringen. Die Europäische Union hingegen wird aus dem Dialog mit Religionsgemeinschaften einen Imagegewinn erwarten sowie neue, von der Bevölkerung mitgetragene Anregungen für das angezweifelte Projekt Europa. So erhoffte sich der ehemalige Kommissionspräsident Prodi von den Religionsgemeinschaften einen konstruktiven Beitrag zur europäischen Einigung.92 Das Programm „Eine Seele für Europa“ seines Vorvorgängers Delors setzte sich kein höheres Ziel als die Reflexion über den Aufbau Europas und den Dialog zwischen den Glaubensüberzeugungen.93 Ein weiteres Anliegen, das die Union mit dem religiösen Dialog verfolgt, ist die Förderung von Toleranz, Solidarität und Pluralismus.94 Insgesamt verspricht sich die Europäische Union vom Dialog mit den Religionsgemeinschaften also hauptsächlich einen Gewinn für das Projekt der Integration.95 ______________ 89

Vgl. Schnabel, Stellung, 102 = 170.

90

Vgl. Parisi, Dichiarazione, 343.

91

Z.B. bei der Bioethik: COMECE, Biomedicine; jüngst: Stellungnahme der COMECE vom 15.6.2006 zur Finanzierung der Forschung an embryonalen Stammzellen. Zu Recht weist Kuhn die Vorwürfe zurück, der Kirche gehe es um eine Verteidigung ihrer Machtansprüche. Vielmehr können Themen wie individuelle Freiheit, Flüchtlingspolitik, Sozialpolitik usw. der Kirche nicht egal sein (Kuhn, Europa, 36). 92

Prodi, Unione europea, 317.

93

Vgl. Berten, Engagement, 149. Jüngst griff das Europäische Parlament wieder den Gedanken auf, dass das Europäische Projekt einer Seele bedürfe, um beim Bürger auf mehr Akzeptanz zu stoßen [2004/2238(INI), Begründung Nr. 3]. 94 95

Vgl. Parisi, Dichiarazione, 343; Ventura, Laicità, 203.

Treanor zufolge erwartet die Union von den Kirchen eine proaktive und zugleich positive kritische Unterstützung und eine Mitwirkung bei der Gestaltung der Gesellschaft auch in den Ortskirchen, um geeignete Instrumente und Wege finden, die dazu beitragen können, dass die Menschen in die Gestaltung Europas einbezogen werden (Treanor, Verhältnis, 133).

220

D. Kirche und EU im Dialog

Kann es angesichts so unterschiedlicher Erwartungen auf beiden Seiten überhaupt einen fruchtbaren gemeinsamen Dialog geben? Zunächst ist festzuhalten, dass die Interessen zwar unterschiedlich, aber nicht entgegengesetzt sind.96 Sie sind durchaus miteinander vereinbar. Zum Beispiel kann die integrationsstärkende Wirkung, die sich die Union erwartet, gerade dadurch erzielt werden, dass die Kirchen die christlichen Werte als Fundament der europäischen Kultur einbringen, was ihr eigenstes Interesse ist. Auch muss es durchaus im Interesse der Union liegen, beim Erlass von Rechtsakten die betroffenen Religionsgemeinschaften zu hören, um möglichst solides Recht zu schaffen. Die unterschiedlichen Interessen werden sich vor allem dann aufeinander abstimmen lassen, wenn das letzte Interesse beider Seiten dem einzelnen Menschen gilt. Das grundlegende Ziel des Dialogs ist es, wie Abschnitt C.II.3.c) gezeigt hat, dem konkreten Menschen die Entfaltung sowohl im weltlichen als auch im religiösen Bereich zu ermöglichen. Wenn über dieses Grundziel Einigkeit besteht, werden sich auch die unterschiedlichen Teilziele des Dialogs miteinander in Einklang bringen lassen. Zu jedem Dialog gehört aber auch ein gewisses Maß an Spannungen und produktiver Kritik, 97 ohne die er seinen Sinn und seinen Reiz verlöre. Heute den Dialog suchen heißt nicht, den eigenen Standpunkt verraten und auch nicht, sich aus der Gesellschaft zurückzuziehen.98 Eine offene Auseinandersetzung ist allemal besser als eine unreflektierte und verschleierte oder gar ein Pragmatismus, der den ernsthaften Streit um die Sache als metaphysische Spekulation bzw. als Privatangelegenheit aus dem öffentlichen Diskurs verbannen möchte. 99 Dass die Kirchen und Religionsgemeinschaften mit gutem Recht eigene Ziele und Inhalte in den Dialog mit der Union einbringen und von dieser nicht verzweckt werden dürfen, bringt die Wendung „in Anerkennung […] ihres besonderen Beitrags“ in Art. I-52 Abs. 3 VVE zum Ausdruck. „Besonderer Beitrag“ bedeutet, dass die Kirchen und Religionsgemeinschaften einen wichtigen und gleichzeitig einen anderen Beitrag zu leisten haben als die übrigen Gruppen und Gemeinschaften und dass die Eigenart dieses Beitrags von der Union anzuerkennen ist.100 ______________ 96

Während für Parisi (Dichiarazione, 343) die Erwartungen der religiösen Dialogpartner völlig anders sind, gibt sich Schnabel (Stellung, 108=176) damit zufrieden, dass ihre Ziele jedenfalls nicht gegenläufig sind. 97

Gerade dies gehört auch zur kulturellen Identität Europas; vgl. Homeyer, Erfahrungen, 7. 98

Eckert, Vorhaben, 197.

99

Körner, Gegenwart, 926.

100

Nach der Rede Papst Johannes Pauls II. vor den Innenministern der Europäischen Union am 31.10.2003 besteht der Beitrag der Religionen, besonders der monotheisti-

II. Dialog und kirchliche „communio“

221

Es besteht weitgehend Übereinstimmung darüber, dass das Christentum für die europäische Identität prägend war. So hat nach Schmidinger das Christentum mit die wichtigsten Geschichten geliefert, aus denen Europa hervorgegangen ist.101 Manche bezweifeln aber, dass sich damit begründen lässt, dass es auch in Zukunft die Identität Europas bestimmen soll. 102 Papst Johannes Paul II. hingegen betonte in der Phase der Endredaktion des Verfassungsvertrages im Oktober 2004 immer wieder, dass die christlichen Wurzeln des Kontinents auch weiterhin grundlegend bleiben, selbst wenn sie im Verfassungstext nicht ausdrücklich erwähnt werden. 103 Nach König hat das Christentum im Europa der Zukunft eine unfassbar hohe Aufgabe, nämlich den Fundamenten Europas neuen Halt zu geben. 104 Pannenberg105 betont, dass der Prozess der europäischen Einigung nicht so weit vorangeschritten wäre, wenn in den Nationen Europas nicht von vornherein ein latentes Bewusstsein lebendig wäre, der gleichen Kulturwelt anzugehören, die vor allem auf der klassischen Antike und dem Christentum beruht. Europa wird also auch in Zukunft nicht ohne dessen Beitrag auskommen.106 Worin besteht der Beitrag nun konkret? Brague macht darauf aufmerksam, dass das Christentum nicht beansprucht, der Kultur neue Inhalte zu liefern, ______________

schen, vor allem darin, den sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft zu stärken, was die Europäische Union dringend braucht (Nr. 2). Die COMECE erinnert daran, dass die Kirchen und Religionsgemeinschaften grundlegende Aspekte der geistigen und religiösen Grundlagen Europas vertreten und bewahren (COMECE, Vertrauen, Nr. 10) und dass sie in der Lage sind, Brücken zwischen den Völkern in Europa, insbesondere zwischen Ost und West zu bauen (COMECE, Brücken, Nr. IV). Wenn ein Hauptziel der Europäischen Integration der Friede ist, dann besteht der Beitrag des Christentums in der durch Christus gewirkten Versöhnung (COMECE, Das Herz weit machen, 11). Zu dieser Versöhnung kann die Kirche, wie Johannes Paul II. in einer Rede am 30.11.1993 vor den europäischen Außenministern sagte, vor allem durch Gewissensbildung bei den jungen Menschen beitragen (Johannes Paul II., Ansprache vom 30.11.1993, Nr. 7). In einer Ansprache am 3.12.1990 vor dem europäischen Industriellen- und Arbeitgeberverband UNICE wies derselbe Papst darauf hin, dass die Kirche überhaupt der wichtigste Faktor für die Bildung Europas war (Nr. 4). 101

Schmidinger, Vorwort, 12.

102

Z.B. Menéndez, Pious Europe, 144.

103

Johannes Paul II., Rede vom 28.10.2004, 5; ders., Rede vom 30.10.2004, 4; ders., Angelus vom 1.11.2004, 5. 104

König, Appelle, 186.

105

Pannenberg, Einheit, 124f.

106

Autoren aus Polen, wo der Katholizismus traditionell eine herausragende Rolle für die nationale Identität spielt, heben den Beitrag der Religion für Europa erwartungsgemäß besonders hervor, vgl. Balicki, Identity, 34; Bokwa, Dialog, 67

222

D. Kirche und EU im Dialog

sondern eine neue Perspektive, indem es weniger eine neue Moral bringt als vielmehr den Blick dafür schärft, was überhaupt der Mensch ist.107 Ein häufig genannter Beitrag, der speziell das Staatskirchenrecht betrifft, ist die Trennung von Staat und Kirche, die sich in dieser Weise weder im Islam, noch im Judentum noch im Buddhismus oder in anderen Religionen findet.108 Gerade wegen dieser Trennung kann der Beitrag der christlichen Kirchen nicht in einer Einmischung in die Tagespolitik bestehen, sondern darin, was von Vietinghoff „Ethik der Einigungspolitik“109 nennt, also die leitenden Grundlagen und Prinzipien. Dabei wird immer wieder hervorgehoben, dass die Kirchen ein Gegengewicht zu der allzu wirtschaftlich ausgerichteten Schlagseite der Europäischen Union darstellen.110 Der kirchliche Beitrag kann heute freilich nicht unter der Illusion eines christlichen Abendlandes erbracht werden, 111 sondern muss den Rahmenbedingungen der Religionsfreiheit und des Pluralismus Rechnung tragen.112 Für Siebenrock macht gerade nicht die „Einzelspur“ Europa aus, sondern die „Vielfalt der Mixtur unterschiedlicher Aspekte und die Radikalität seiner Entwicklung in einer permanenten, sich immer wieder zuspitzenden Ambivalenz“113. Dadurch dass die Kirchen auf der Ebene der Pfarreien und der religiösen Gruppen einen engen Kontakt zum einzelnen Menschen pflegen, wie die Europäische Union ihn nicht erreicht, können sie die europäische Idee leichter verbreiten.114 Selg denkt hier an Informationen im Rahmen der Erwachsenenbildung, an Wallfahrten und Bildungsreisen in andere Mitgliedstaaten, Partnerschaften zwischen Pfarreien und an Projekte wie das „Colloquium Europäischer Pfarrgemeinden (CEP)“, das alle zwei Jahre Priester und Laien aus verschiedenen Ländern Europas zu einem seelsorglichen Kongress zusammenführt.115 Oft

______________ 107

Brague, Europa, 3.

108

Vgl. ebd. 2; Kopp, Identität, 156.

109

von Vietinghoff, Europa, 68.

110

Vgl. König, Appelle, 153; Ratzinger, Wendezeit, 84.

111

Schon Rahner hat den Traum vom einheitlichen christlichen Abendland sabotiert (Batlogg, Abschied, 80). 112

Vgl. Lehmann, Wurzeln, 51.

113

Siebenrock, Europa, 123.

114

Mette (Gemeinde-werden, 126) bedauert, dass die kirchliche Europadiskussion nur von der Kircheleitung oder von kritischen Basisgruppen ausgeht und die Pfarrgemeinden allenfalls als Objekte ins Auge gefasst werden. 115

Selg, Europa, 36-39.

II. Dialog und kirchliche „communio“

223

erweist sich aber gerade die unterste Kirchenebene als sehr europakritisch.116 Anderseits dürfen sich die Kirchen auch nicht als Werbeagenturen für die Europäische Integration missbrauchen lassen. Ihr Beitrag kann gerade auch in ihrer Kritik bestehen.117 Sie sind allein dem Evangelium verpflichtet. Soweit die Europäische Einigung diesem entspricht, werden sie sie fördern, wo sie ihm aber widerspricht, werden sie auch ihre kritische Stimme erheben müssen.118

______________ 116 So besonders in Polen, vgl. Lang, Polens Katholizismus, 3; Sobański, Veränderungen, 101. 117 118

Vgl. Lehmann, Wurzeln, 53; Martini, Presentazione, 8.

Eine ähnliche Ambivalenz sieht Martini (Padri, 61) in der Bedeutung der Kirchenväter für das heutige Europa: Einerseits liegen die christlichen Wurzeln Europas in ihrem Boden (Kontinuität), anderseits mahnen sie den heutigen Katholizismus auch, nicht zu nachgiebig hinsichtlich der Kultur der gemeinsamen Werte und der Menschenrechte zu sein (Kontrast).

E. Die Partner des religiösen Dialogs I. Wer führt den Dialog auf Seiten der Europäischen Union? 1. Die „Union“ als Dialogpartnerin Nach Art. I-52 Abs. 3 VVE sind die Partner des religiösen Dialogs auf der einen Seite „die Union“ und auf der anderen Seite „diese Kirchen und Gemeinschaften“. Mit dem einen beschäftigt sich dieses Kapitel, mit dem anderen das nächste. Dass gerade „die Union“ als Partnerin des religiösen Dialogs angeführt wird, ist keineswegs so banal, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Robbers weist anerkennend auf den Unterschied zur Regelung des zivilen Dialogs in Art. I-47 Abs. 2 VVE hin, der die „Organe“ als Dialogpartner anführt, zieht jedoch keine Schlüsse aus diesem Befund.1 Indessen deutet die abweichende Formulierung auf einen Unterschied in der Sache hin. Wer von „Union“ spricht, sieht sie nämlich als Ganzes, als Einheit, die er von außen betrachtet; wer hingegen von ihren „Organen“ spricht, betrachtet sie von innen und sieht sie als komplexes Gebilde. Diese Unterscheidung gewinnt im Verhältnis von religiösem und zivilem Dialog einen besonderen Sinn. Die religiösen Dialogpartner werden damit nämlich als eine Größe verdeutlicht, die außerhalb der Union steht, während die Zivilgesellschaft gleichsam als gesellschaftliches Substrat erscheint, auf dem das verfasste Gemeinwesen der Union mit all seinen zwischen den Organen ablaufenden politischen Prozessen aufbaut. 2 Gewiss sind in einer freiheitlichen Demokratie auch Staat und Gesellschaft voneinander getrennt – sonst wäre ein Dialog überhaupt nicht möglich –, jedoch in einer anderen Weise als Staat und Kirche. Diese textuelle und kontextuelle Interpretation wird durch die historische noch gefestigt. Schon in der ursprünglichen Fassung des Kirchenartikels (damals Art. 37 des Konventsentwurfs vom 4.4.2003 CONV 650/03) sprach ______________ 1 2

Robbers, Dialog, 756; ders., Religion in Europa, 13.

Dass auch beim sozialen Dialog in Art. I-48 Abs. 1 VVE von der „Union“ die Rede ist, lässt sich nicht als Einwand vorbringen, weil die dortige Nennung der Union keine Nennung als Dialogpartnerin ist (es heißt nicht etwa „die Union pflegt einen […] Dialog“) sondern nur als Förderin des Dialogs („sie fördert den sozialen Dialog […]“), dessen Partner in Wirklichkeit die Sozialpartner sind.

I. Wer führt den Dialog auf Seiten der Europäischen Union?

225

Abs. 3 von der „Union“, während die ersten beiden Absätze entsprechend der Kirchenerklärung von Amsterdam, aus der sie stammen, die „Europäische Union“ als Subjekt beibehalten haben. Auf den schriftlichen Änderungsvorschlag des Konventsmitglieds Queirò hin wurden die Absätze 1 und 2 bereits im Entwurf des damaligen Art. I-51 vom 26.5.2003 (CONV 724/03) sprachlich angeglichen, indem die nähere Bestimmung „Europäische“ gestrichen wurde. Daraus geht hervor, dass die Wahl des Subjektbegriffs im Kirchenartikel durchaus überlegt war und man sich bewusst für „Union“ entschieden hat. Was das Verhältnis zur Regelung des zivilen Dialogs betrifft, schlugen mehrere Konventsmitglieder3 ebenso wie einige Beiträge im Forum „Zivilgesellschaft“4 vor, auch für den religiösen Dialog die Modi „offen und transparent“ zu übernehmen – der Entwurf vom 4.4.2003 führte nur „regelmäßig“ an –, um keinen Unterschied zum zivilen Dialog zu machen. Dies geschah im Entwurf vom 26.5.2003 tatsächlich. Man sieht also: Obwohl eine Angleichung des religiösen Dialogs an den zivilen bewusst angestrebt war, wurde sie nur bezüglich der drei Modi verwirklicht, nicht jedoch hinsichtlich der unterschiedlichen Bezeichnungen des Dialogsubjekts, die eben beibehalten wurden. Selbstverständlich kann die Union, auch wenn sie als solche Teilnehmerin am religiösen Dialog ist, diesen Dialog nur über ihre Organe und sonstigen Einrichtungen führen, über die sie ihn bereits vor dem VVE geführt hat und mit einigen Änderungen auch nach dessen Inkrafttreten führen wird. Dennoch bleibt der Blickwinkel ein anderer, insofern die Einrichtungen den Dialog für die Union mit einer Größe führen, die außerhalb der Union steht und über die sie nicht verfügen kann. Welche Organe und sonstigen Einrichtungen sich dem Dialog bereits widmen und welche Änderungen in Zukunft anstehen, wird im Folgenden zu untersuchen sein. Grundsätzlich – und auch das zeigt der umfassende Begriff „Union“ – kann der religiöse Dialog nicht auf einige wenige Kontaktstellen und auch nicht auf die eigentlichen Organe im Unterschied zu den sonstigen Einrichtungen und Stellen beschränkt werden. 5 Vielmehr müssen die Kirchen und Religionsgemeinschaften zu allen relevanten Institutionen, ______________ 3

Schriftlicher Änderungsvorschlag von Kiljunen, Korhonen, Peltomäki, Tiilikainen und Vanhanen. 4 Z.B: Beitrag des Quaker Council for European Affairs (undatiert), at: http:// europa.eu.int/futurum/forum_convention/doc_de.htm [9.5.2006]. 5

Dagegen legt es die ausschließliche Nennung der Organe als Partner des zivilen Dialogs streng genommen nahe, dass nur diese daran teilnehmen können. Man wird den Begriff „Organe“ in Art. I-47 Abs. 2 VVE aber weit verstehen müssen im Sinne der sonst in Titel VI gebräuchlichen Formulierung „Organe, Einrichtungen und sonstige Stellen“. Denn sonst wäre beispielsweise der EWSA nicht erfasst, der aber schon nach Art. 257 EGV und nun erneut nach Art. I-32 Abs. 3 VVE das zivilgesellschaftliche Dialoginstrument par excellence ist.

226

E. Die Partner des religiösen Dialogs

Behörden und Ebenen der Europäischen Union Zugang haben, was Robbers auch aus der in Art. I-52 Abs. 3 VVE gebotenen Offenheit des Dialogs ableitet.6 Dass manche (z.B. die Kommission) mehr und andere (z.B. der Rechnungshof) weniger in Frage kommen, ergibt sich allein aus praktischen Gründen. Ohne Weiteres können die einzelnen Organe der Union eigene Stellen einrichten, um den Religionsdialog zu bündeln, aber der offene Dialog schließt aus, dass eine einzige oder wenige solcher Stellen den Dialog beherrschen.7 Mit der Schaffung von Art. I-52 Abs. 3 VVE war an eigene Dialogforen für die Religionsgemeinschaften gedacht,8 doch diese müssen Vermittler im positiven Sinne sein, d.h. die Union und die Religionsgemeinschaften einander wirklich näher bringen und den Informationsfluss erleichtern, nicht jedoch als zwischengeschaltete Instanzen einen echten Kontakt verhindern, Informationen manipulieren oder ihre eigenen Vorstellungen einfließen lassen. Da am religiösen Dialog mehrere Organe beteiligt sind, ist nicht auszuschließen, dass sie darüber eine interinstitutionelle Vereinbarung treffen, wofür Art. III-397 VVE eine neue Rechtsgrundlage bietet. Das muss aber unter Wahrung der Verfassung geschehen und darf daher weder den verfassungsrechtlich gesicherten religiösen Dialog beeinträchtigen noch das institutionelle Gleichgewicht stören, das durch die Verteilung der Macht auf mehrere auch konkurrierende Organe die Freiheit der Bürger und damit die Religionsfreiheit schützen will.9 Die Schaffung eines „interinstitutionellen Amtes“, das als einzige Stelle den religiösen Dialog für die gesamte Union besorgen sollte, wäre aus den bereits oben genannten Gründen abzulehnen.

2. Die Organe und Einrichtungen als Dialogpartner a) Die Europäische Kommission Im europäischen Institutionengefüge ist die Kommission das genuin europäische Organ, das die Gemeinschaftsinteressen wahrnimmt und somit als „Motor ______________ 6

Robbers, Dialog, 756.

7

Ebd. 759.

8

Auf der 19. Sitzung des Verfassungskonvents am 24.-25.4.2003 brachten die Gegner der Dialogklausel vor, dass den Kirchen und Religionsgemeinschaften damit bei den Europäischen Institutionen besondere Dialogforen zur Verfügung gestellt würden (CONV 696/03). Aus diesem Einwand der Gegner geht hervor, dass dem Konvent tatsächlich solche Dialogstellen bei den einzelnen Einrichtungen vorschwebten. 9 Zur gesamten Problematik der interinstitutionellen Vereinbarungen vgl. Hummer, Interinstitutionelle Vereinbarungen, 111-180.

I. Wer führt den Dialog auf Seiten der Europäischen Union?

227

der Integration“ fungiert. In den Rechtssetzungsverfahren besitzt sie das so genannte Initiativmonopol, was bedeutet, dass der Rat meist erst dann beschließen kann, wenn sie einen entsprechenden Vorschlag unterbreitet hat (vgl. Art. 250 Abs. 2 EGV). Gerade deswegen ist sie für die Kirchen und Religionsgemeinschaften als Dialogpartnerin besonders interessant, weil diese hier auf legislative Vorhaben bereits zum frühest möglichen Zeitpunkt – etwa schon in der Reflexionsphase der Grün- und Weißbücher – einwirken oder überhaupt Anstöße zur Rechtsetzung geben können. Auf einzelnen Gebieten obliegt der Kommission sogar die alleinige Rechtsetzung wie etwa bei den Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse (Art. 86 Abs. 3 EGV). Davon sind auch Kirchen und Religionsgemeinschaften betroffen, die sich in der Daseinsvorsorge betätigen. Ferner verwaltet sie Mittel zur Erhaltung von Kulturgütern sowie für die humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit, wodurch kirchliche Einrichtungen, die auf diesen Gebieten wirken, über den bloßen Dialog hinaus in ein echtes Kooperationsverhältnis mit der Kommission treten können. Was die Kommission an den religiösen Partnern schätzt, ist aber nicht nur, dass sie als Akteure der Zivilgesellschaft tätig sind, sondern auch, dass sie helfen, im Einigungsprozess eine ethische Dimension, eine Identität und einen Sinngehalt zu finden.10 Die Kommission besteht gemäß Art. 213 Abs. 1 EGV seit 1.1.2005 aus fünfundzwanzig Mitgliedern, von denen eines, nämlich der Präsident der Kommission, die politische Leitung ausübt und die Zuständigkeiten verteilt (Art. 217 EGV). Ressortmäßig gliedert sich die Kommission in Generaldirektionen und diesen gleichgestellte Dienste, welche wiederum in Direktionen und Referate unterteilt sind. Anders als in den Regierungen mancher Mitgliedstaaten gibt es sinnvollerweise kein für Religionsangelegenheiten zuständiges Ressort, da für dieses Gebiet die Religionsgemeinschaften eben selbst zuständig sind. Religionsrecht als Querschnittsmaterie kann indessen von mehreren Ressorts berührt werden. Als ethische und moralische Instanzen verfolgen die Religionsgemeinschaften ohnehin kein Partikularinteresse, sondern richten ihre Aufmerksamkeit auf die gesamte Politik, so dass letztlich jedes Ressort von Interesse ist. 11 Dass sie sich darin von wirtschaftlichen, sozialen oder kulturellen Lobbies unterscheiden, welche ihre Gesprächspartner jeweils in einer ganz bestimmten Generaldirektion finden,12 bedeutet in der Praxis, dass der Kommissionspräsi______________ 10

Jansen, Commission, 4.

11

Vgl. Turowski, Verbindungsstellen, 198. Die Generaldirektion „Kommunikation“ hat die Aufgabe, die EU-Politiken den Bürgern besser zu vermitteln [SEK (2005) 985 endg., Nr. 3]. Als Anlaufstelle für den religiösen Dialog kommt sie nicht in Frage. 12

Da diese Nichtregierungsorganisationen sich eben auf ganz bestimmte Ressorts beziehen, begegnet der EWSA dem Vorschlag der Kommission, eine einzige horizontale

228

E. Die Partner des religiösen Dialogs

dent selbst für den Dialog mit ihnen zuständig ist, ihn auf der höchsten Ebene persönlich führt und dass Kontakte mit den Dialogpartnern auf der Arbeitsebene unter seiner Autorität, Aufsicht und Anleitung stattfinden.13 Als erster vertrat Kommissionspräsident Jacques Delors offen die Ansicht, dass die religiös-spirituelle Dimension der Europäischen Gemeinschaften konkret sichtbar werden müsse, und startete dazu die Initiative „Une âme pour l’Europe“ (Europa eine Seele geben), an welcher sich Christen mehrerer Konfessionen, Muslime, Juden und Atheisten beteiligten.14 Namentlich die „Cellule de Prospective“, die er 1990 als Denkfabrik für verschiedenste Zukunftsfragen einrichtete, leistete nützliche Dienste als Dialogforum für die Vertreter von Religionsgemeinschaften – für den EECCS von Anfang an und später auch für die COMECE.15 Sie hatte die Aufgaben, den Präsidenten zu beraten, die Vertreter der Religionsgemeinschaften in Brüssel zu informieren, Ideen über die von den Kirchen angesprochenen Themen auszutauschen, den interreligiösen und ökumenischen Dialog zu fördern, die Initiative „Une âme pour l’Europe“ zu begleiten und die Generaldirektionen der Kommission zur Zusammenarbeit mit den Religionsgemeinschaften anzuregen.16 Schließlich hat sie sich aber mit ihren zu weit gestreuten Sachgebieten selbst behindert und fand mit dem Rücktritt der Kommission Santer ihr Ende.17 Die darauf folgende Kommission Prodi errichtete stattdessen durch Beschluss vom 3.5.2001 einen politischen Beraterstab, die „group of policy advisers“, mit nur noch wenigen aber maßgeblichen Bereichen, von denen einer dem Dialog mit den Religionen, Kirchen und Weltanschauungen vorbehalten blieb. Das war, wie Michael Weninger, der Leiter dieses Bereichs, hervorhebt, sensationell, weil der religiöse Dialog trotz der Verschlankung des Beraterstabs nicht nur beibehalten wurde, sondern sogar die gleichrangige Bedeutung erhielt wie die drei anderen Hauptbereiche, nämlich Außenpolitik, Wirtschafts- und Finanzpolitik sowie die ______________

Dienststelle für den Kontakt mit ihnen einzurichten, mit Skepsis, vgl. Stellungnahme des EWSA vom 13.7.2000, Nr. 4.1. Gerade umgekehrt verhält es sich bei den Religionsgemeinschaften. 13 Jansen, Verhältnis, 201f; ders., Commission, 5. Selbstverständlich bleiben die entsprechenden Generaldirektionen legitime Ansprechpartner für die Kirchen und Religionsgemeinschaften (Weninger, Schnittfelder, 121). 14

Weninger, Dialog, 133.

15

Göckenjan, Europäische Ökumenische Kommission, 30.

16

Jansen, Commission, 5.

17

Weninger, Schnittfelder, 117. Berten zufolge wäre das Projekt eigentlich gut gelaufen (Engagement, 149). Bei seinem Scheitern spielten auch die Finanzwirren um die Kommission Santer eine Rolle, weil das Projekt keine Rechtsgrundlage, insbesondere keine Haushaltslinie hatte (Kuhn, Bürgergesellschaft, 6).

I. Wer führt den Dialog auf Seiten der Europäischen Union?

229

Institutionenreform.18 Der Beraterstab stand in Kontakt mit 140 Kirchen, religiösen und humanistischen Gemeinschaften und Einrichtungen, 19 doch auch diese Dialogeinrichtung endete mit der Kommission, die sie geschaffen hatte. Durch den Vertrag von Nizza erhielt der Kommissionspräsident selbst die Entscheidungsmacht über die interne Organisation der Kommission (Art. 217 EGV). Manuel Barroso gliederte das nunmehrige „Bureau of European Policy Advisers“ nur noch in drei Bereiche: Den wirtschaftlichen, den gesellschaftlichen und den politischen. In Letzteren fand – erneut unter der Leitung von Michael Weninger – auch der fortlaufende Dialog mit den Religionen Eingang, der damit weiterhin besteht, jedoch nicht mehr als eigener Bereich.20 Im Unterschied zu der soeben beschriebenen Kontaktstelle sind die Diskussionsforen, welche die Kommission vor allem seit ihrem Weißbuch über Europäisches Regieren für den Dialog mit der Zivilgesellschaft eingerichtet hat, nicht religionsspezifisch. Dennoch werden auch sie von den Kirchen und Religionsgemeinschaften ergänzend in Anspruch genommen. So ist die Kommission unter allen Organen der Europäischen Union die wichtigste Dialogpartnerin der Kirchen und Religionsgemeinschaften geblieben. Dennoch bleibt für die Zukunft Einiges zu wünschen übrig. Die Kommission verfügt über kein Mandat seitens des Rates oder des Parlaments, einen religiösen Dialog zu führen. Das Ob und vor allem das Wie eines solchen Dialogs hängt vom guten Willen der jeweils im Amt befindlichen Kommission bzw. ihres Präsidenten ab, so dass sich die Kirchen und Religionsgemeinschaften nicht auf die Beständigkeit verlassen und den Dialog auf eine längere Dauer hin anlegen können.21 Hier schafft nun der Verfassungsvertrag Abhilfe, der in Art. I-52 Abs. 3 eine Rechtsgrundlage und eine Verpflichtung zum religiösen Dialog bringt. Es bleibt aber zu fragen, ob der Dialog mit Kirchen und Religionsgemeinschaften wirklich die Aufgabe von Stellen sein kann, die eigentlich zur internen Beratung des Kommissionspräsidenten eingerichtet worden sind oder ob dafür nicht eigene Büros zu schaffen wären. Dass der religiöse Dialog nun schon seit längerem von Beratungsstellen wahrgenommen wird, weist sowohl auf den großen Bedarf nach Kontaktstellen hin als auch auf das Fehlen regelrechter Dialogeinrichtungen.22 Schon 1998 unterbreitete der Vorsitzende ______________ 18

Weninger, Schnittfelder, 117.

19

Weninger, Dialog, 143.

20

Vgl. http://europa.eu.int/comm/dgs/policy_advisers/team/curriculum_vitae/index_ weninger_en.htm [9.5.2006]. 21

Vgl. Fornerod, protestants, 26; Göckenjan, Europäische Ökumenische Kommission, 31. 22

Vgl. Weninger, Dialog, 143; ders. Schnittfelder, 121.

230

E. Die Partner des religiösen Dialogs

der COMECE, Bischof Homeyer, dem damaligen Kommissionspräsidenten Santer Vorschläge23 für einen formelleren Rahmen des Dialogs, auf die 1999 ein ökumenisch getragenes Dokument an Präsident Prodi folgte. Treanor erwägt ein eigenes „Referat für religiöse Fragen“ bei der Kommission, das als Ansprechpartner für die Kirchen und Religionsgemeinschaften deren Beiträge zu einschlägigen Aspekten der EU-Politik sammelt und an die jeweiligen Politikbereiche weiterleitet.24

b) Das Europäische Parlament Hat die Kommission von ihrem Initiativrecht Gebrauch gemacht und einen legislativen Vorschlag eingebracht, so ist nun das Europäische Parlament in den meisten Fällen zur Mitwirkung an der Rechtsetzung gerufen, sei es in der Form der Anhörung, der Zusammenarbeit, der Mitentscheidung oder der Zustimmung. Kirchen und Religionsgemeinschaften, die den Rechtsetzungsprozess aufmerksam begleiten, werden daher auch hier versuchen, ihre Anliegen einzubringen. Das Parlament ist jedoch das für die repräsentative Demokratie typische Organ und nicht für die partizipative. Es setzt sich nach Art. 189 EGV aus den Vertretern der Völker der in der Gemeinschaft zusammengeschlossenen Staaten zusammen und nach Art. I-20 Abs. 2 VVE sogar unmittelbar aus den Vertretern der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger. Als von diesen direkt gewählte Repräsentanten bringen die Parlamentarier auch ihre religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen, welche im Idealfall die in der Bevölkerung vorhandenen widerspiegeln, in die politische Willensbildung ein. 25 Dennoch kann selbst das Parlament in bestimmten Fragen besonderer Sachkenntnisse auf religiösem Gebiet bedürfen oder sich für die Position der Kirchen und Religi______________ 23

Diese beinhalteten Treffen mit den jeweils zuständigen Dienststellen der Kommission zu spezifischen politischen Themen und mehrere ökumenische Treffen auf Präsidialebene während der Amtszeit der Kommission sowie die Einrichtung einer Gruppe aus EU-Beamten und Mitarbeitern der Brüsseler Kirchenbüros, die diese Treffen gemeinsam vorbereiten soll (Treanor, Verhältnis, 132; ders., Ausbau, 190). 24

Treanor, Verhältnis, 132; ders., Ausbau, 191. Man müsste aber eine bessere Bezeichnung finden als „Referat“, denn damit werden gewöhnlich Untergliederungen einer Generaldirektion bezeichnet, doch das ist hier gerade nicht gemeint, sondern vielmehr etwas Ähnliches wie eine Stabstelle, die sich auf alle Generaldirektionen bezieht. 25

So offenbarten bei der Parlamentsdebatte zu den Sekten in Europa am 28.2.1996 Parlamentarier verschiedener Parteien ihre persönlichen Glaubensüberzeugungen (Europäisches Parlament, Verhandlung zum Thema „Sekten in Europa“, 34-43; siehe insbesondere: Ullmann, 36; Ford, 37; Hallam, 42).

I. Wer führt den Dialog auf Seiten der Europäischen Union?

231

onsgemeinschaften interessieren. Jedenfalls verschließt sich das Europäische Parlament einem religiösen Dialog nicht. 26 Es fehlt hier aber etwas, das mit der Stelle für den Religionsdialog der Kommission vergleichbar wäre, also eine Stelle, die sich speziell dem Dialog mit den Kirchen und Religionsgemeinschaften widmet. Möglich sind jedoch auf jeden Fall der Kontakt zu einzelnen Parlamentariern, der Dialog mit den politischen Parteien und die Konsultation durch verschiedene Ausschüsse des Parlaments. Die kirchlichen Vertretungsbüros suchen sich selbstverständlich jene Parlamentarier als Kontaktpersonen aus, die ihren Anliegen gegenüber am weitesten aufgeschlossen sind.27 Für Personen, die zu Zwecken der Interessensvertretung häufigen Zugang zu den Parlamentsgebäuden wünschen, um die Parlamentarier im Rahmen ihres Mandats mit Informationen zu versehen, sind eigene Ausweise vorgesehen (Art. 9 Abs. 2 GOEP).28 Der Dialog der einzelnen Parteien mit den Religionsgemeinschaften ist unterschiedlich intensiv, obwohl die katholische Kirche Wert darauf legt, mit keiner bestimmten politischen Strömung verknüpft zu werden. 29 Das Europä______________ 26

Weninger, Schnittfelder, 121.

27

Das EECCS traf sich etwa alle drei Monate mit Europaparlamentariern, besonders solchen, die sich in ihrer eigenen Kirche engagieren, um gegenseitig Informationen auszutauschen (Fornerod, Protestants, 27). Einer von denen, die für kirchliche Anliegen aufgeschlossen sind, nämlich Elmar Brok, verhehlt auch nicht seine Wünsche an die kirchlichen Dialogpartner: Sie sollen nicht zu jeder Tagesfrage erscheinen, um nicht am Ende nicht mehr gehört zu werden; sie sollen eine Diskussion im Einzelfall zulassen und nicht wie die Ideologien schon im Voraus festlegen, was richtig ist; sie müssen anerkennen, dass Politik dem Mehrheitsprinzip unterliegt und Kompromisse nötig sind; Kirchenvertreter dürfen die Politik nicht pauschal verurteilen, um nicht auch jene Politiker zu vergrämen, die sich aufrichtig an den christlichen Werten auszurichten versuchen (Brok, Politik, 11). 28

Solche „Lobbyisten“ müssen sich an den Verhaltenskodex des Art. 3 der Anlage IX zur GOEP halten. Dieser umfasst insbesondere die Offenlegung des vertretenen Interesses, Achtsamkeit bei der Informationsbeschaffung und -verwertung sowie ein Bestechungsverbot. 29

So betonte der COMECE-Präsident in seinem Grußwort an den 15. EVP-Kongress zuerst, dass sich die COMECE-Bischöfe mit allen jenen politischen Kräften aufs Engste verbunden fühlen, für die die europäische Einigung eine bleibende Aufgabe und Verpflichtung ist, und rechnet dann zu diesen „ohne jeden Zweifel“ die EVP dazu (Homeyer, Josef, Grußwort an den XV. EVP-Kongress vom 17. bis 18. Oktober 2002 in Estoril, Portugal). Vertreter der COMECE beteiligen sich immer wieder an Kongressen und Studientagungen der EVP, während Kontakte zur SPE nicht so häufig vorkommen. Rauch hält den Einfluss der katholischen Kirche auf die EVP aber für gering (Der Heilige Stuhl, 49). Einen Überblick zu einigen parlamentarischen Auseinandersetzun-

232

E. Die Partner des religiösen Dialogs

ische Parlament bildet eine Vielzahl von Ausschüssen, die sich bestimmten Aufgaben widmen, von denen – ähnlich wie bei den Generaldirektionen der Kommission – keine für Kirchen und Religionsgemeinschaften grundsätzlich uninteressant wäre. Zugang für kirchliche Vertreter ermöglicht Art. 183 Abs. 2 GOEP, wonach auf Beschluss des Ausschusses jede Person eingeladen werden kann, an der Sitzung teilzunehmen und das Wort zu ergreifen. Darüber hinaus kann ein federführender Ausschuss vorbehaltlich der Zustimmung des Präsidiums ein Sachverständigen-Hearing veranstalten.30 Im Bereich des Europäischen Parlaments sind noch zwei weitere Möglichkeiten angesiedelt, wie unter anderem religiösen Interessen Gehör verschafft werden kann: Das Petitionsrecht und der Bürgerbeauftragte. Das Petitionsrecht steht jedem Unionsbürger sowie jeder natürlichen oder juristischen Person mit Wohnort bzw. satzungsmäßigem Sitz in einem Mitgliedstaat zu (Art. 194 EGV), so dass einzelne oder miteinander verbundene Mitglieder einer Religionsgemeinschaft wie auch diese selbst eine Petition an das Europäische Parlament richten können. Deren Gegenstand muss sie unmittelbar betreffen und in die Tätigkeitsbereiche der Gemeinschaft fallen. Es ist daher vor allem an Gemeinschaftsmaßnahmen zu denken, die irgendwie die Ausübung einer Religion durchkreuzen. Petitionen gelangen an den zuständigen Parlamentsausschuss, der dazu Berichte ausarbeiten, Nachforschungen anstellen und dem Parlament Entschließungsanträge unterbreiten kann mit dem Ziel, dass Rat und Kommission entsprechende Maßnahmen ergreifen (Art. 191 GOEP). Derselbe Kreis von Berechtigten kann sich auch mit einer Beschwerde an den Bürgerbeauftragten wenden, wenn bei der Tätigkeit der Organe oder Institutionen der Gemeinschaft mit Ausnahme der Rechtsprechung Missstände aufgetreten sind (Art. 195 EGV). Im Laufe der Entwicklung zur Europäischen Union erhielt das Parlament immer mehr und stärkere Mitwirkungsrechte bei der Rechtsetzung. Ganz auf dieser Entwicklungslinie liegt nun Art. III-396 VVE, der das Verfahren, in dem das Parlament mitentscheiden kann, zum ordentlichen Gesetzgebungsverfahren erhebt, so dass es für die Kirchen und Religionsgemeinschaften bei der Entstehung religionsrelevanter Vorschriften noch mehr an Gewicht gewinnt. In Entsprechung zu diesem Bedeutungszuwachs wird der Verfassungsvertrag, indem er den religiösen Dialog (Art. I-52 Abs. 3) vom zivilen (Art. I-47 Abs. 2) abhebt und institutionalisiert, auch das Parlament dazu anhalten, über den ______________

gen, die in kirchenkritischen Erklärungen des Parlaments mündeten, und zu den diesbezüglichen Stellungnahmen einzelner Parteien bringt Nassauer, Kirchen, 86-89. 30

So könnte etwa der Innenausschuss die Sachkenntnis kirchlicher Einrichtungen zu Asylfragen in Erfahrung bringen, auch wenn es für Nassauer schwer vorstellbar ist, dass er dazu alle Kirchen zur Stellungnahme auffordert (ebd. 89).

I. Wer führt den Dialog auf Seiten der Europäischen Union?

233

allgemeinen Lobbyismus hinaus spezifische Dialogformen für Kirchen und Religionsgemeinschaften zur Verfügung zu stellen.

c) Der Rat der Europäischen Union In den meisten Rechtsetzungsverfahren liegt das letzte Wort beim Rat, der den Rechtsakt nicht nur beschließt, sondern oft auch inhaltlich erst seine endgültige Fassung festlegt. Trotz der gestärkten Befugnisse des Parlaments ist er immer noch das Hauptrechtsetzungsorgan der Gemeinschaft und Träger wichtiger Regierungs- und Verwaltungsbefugnisse. So müsste er für die Kirchen und Religionsgemeinschaften als Dialogpartner von besonderem Interesse sein, gerade auch deswegen, weil hier die letzte Chance besteht, Änderungen an einem Legislativvorhaben anzubringen. In Wirklichkeit sind die Kontakte zum Rat aber eher schwach ausgeprägt,31 was wohl daher rührt, dass er ein wenig homogenes Organ ist, das sich aus je einem Vertreter jedes Mitgliedstaats auf Regierungsebene (Art. 203 Abs. 1 EGV), d.h. aus den je nach Sachfrage wechselnden Fachministern der Mitgliedstaaten, zusammensetzt und die divergierenden nationalen Interessen zu einem Ausgleich bringen sollte. Dazu kommt noch, dass die Tagungen meist nicht öffentlich und die Beratungen geheim zu halten sind, was ein Engagement der Kirchen und Religionsgemeinschaften erschwert. Dennoch besteht ein Dialog. Er läuft vor allem über drei Kanäle: Die Ratspräsidentschaft, den Ausschuss der Ständigen Vertreter und die nationalen Regierungen. Der Vorsitz im Rat wird nach einer im Voraus beschlossenen Reihenfolge abwechselnd von je einem Mitgliedstaat für sechs Monate wahrgenommen. Der auf diese Weise bestimmte Ratspräsident leitet nicht nur die Sitzungen des Rates, sondern kommt oft auch in die Funktion eines Repräsentanten der EG/EU nach außen, womit dieses Amt gerade für das Verhältnis der EG/EU zu den Kirchen und Religionsgemeinschaften Bedeutung erhält. Treanor kann festhalten, dass das regelmäßige Treffen mit der turnusmäßigen Ratspräsidentschaft inzwischen schon eine „feste Einrichtung“32 geworden ist. Dennoch ist nicht zu übersehen, dass die jeweilige Ratspräsidentschaft immer auch von der politischen Kultur des Mitgliedstaates gefärbt ist, der sie gerade innehat, so dass sich die national recht unterschiedliche Intensität der Bezie-

______________ 31

Treanor zufolge bestehen Beziehungen der COMECE zum Rat allenfalls zu ganz bestimmten Themen (Ausbau, 189). 32

Treanor, Verhältnis, 131.

234

E. Die Partner des religiösen Dialogs

hungen zu den Kirchen und Religionsgemeinschaften auf die europäische Ebene auswirkt.33 Für die Beständigkeit der Arbeit des Rates sorgt der Ausschuss der Ständigen Vertreter der Mitgliedstaaten (Art. 207 Abs. 1 EGV), der von den EGBotschaften der Mitgliedstaaten geleitet wird und versucht, über möglichst viele der für den Rat anstehenden Entscheidungen bereits intern Konsens zu erzielen oder sie wenigstens so weit wie möglich für den Rat aufzubereiten. 34 Somit ist das der vorzügliche Dialogpartner für Kirchen und Religionsgemeinschaften beim Rat.35 Da sich der Rat aus Ministern der Mitgliedstaaten zusammensetzt, die nach nationalem Verfassungsrecht an die Weisungen der einzelnen Regierungen gebunden sind, liegt es schließlich nahe, sich auch an sie zu wenden, wobei sich die kirchlichen Vertretungen in Brüssel auf ihre Mitgliedsorganisationen auf nationaler Ebene stützen können, die teilweise sehr gute Kontakte zu den jeweiligen Regierungen pflegen.36 Um beispielsweise Rechtvorschriften, die kirchliche Rechtspositionen verletzen würden oder nach religiösen Vorstellungen ethisch untragbar wären, abzuwehren, genügt es, so viele Ratsmitglieder für sich zu gewinnen, wie nötig sind, um – je nach Rechtsmaterie – die Einstimmigkeit, eine qualifizierte Mehrheit oder eine einfache Mehrheit zu verhindern.

d) Der Gerichtshof und das Gericht erster Instanz Im Verhältnis zu den Gerichten von „Dialog“ zu sprechen, mag befremden, weil sie unparteiisch allein auf der Grundlage des Rechts entschieden zu haben, doch sind auch sie Organe, über welche die Europäische Gemeinschaft mit Kirchen und Religionsgemeinschaften in Kontakt treten kann. Ist ein von den Kirchen und Religionsgemeinschaften abgelehnter Rechtsakt dennoch beschlossen worden und in Rechtskraft getreten, so bleibt ihnen immer noch die Möglichkeit, ihn gerichtlich anzufechten. Als nicht privilegiert klagebefugte juristische Personen steht ihnen nach Art. 230 Abs. 4 EGV grundsätzlich die ______________ 33

Fornerod beklagt, dass das Treffen des EECCS mit der Unionspräsidentschaft einiger Länder gescheitert ist und oft auch zu ungünstigen Zeitpunkten stattfand (Protestants, 27). 34

Oppermann, Europarecht, § 5, Rn. 58.

35

Der Ausschuss der Ständigen Vertreter der Mitgliedstaaten als Ansprechpartner in Bezug auf den Ministerrat und den Europäischen Rat: Fornerod, Protestants, 27. 36 Vgl. Leinemann, Religionsrecht, 194. Kirchliche Vertretungen auf der nationalen Ebene treten erneut in Funktion bei der Umsetzung der Richtlinien.

I. Wer führt den Dialog auf Seiten der Europäischen Union?

235

Nichtigkeitsklage offen, mit der sie nicht nur direkt an sie selbst adressierte Entscheidungen, sondern auch Verordnungen und an andere Personen ergangene Entscheidungen bekämpfen können. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass sie davon unmittelbar und individuell betroffen sind. Das ist jedenfalls dann nicht gegeben, wenn sie eine Gemeinschaftsmaßnahme wie etwa die Förderung der Forschung an Stammzellen allein aus ethischen Gründen ablehnen, ohne dass ihre eigenen Rechte davon berührt sind. Die Voraussetzungen liegen aber auch dann nicht vor, wenn sie nur als Sprachrohr für Interessen ihrer Gläubigen auftreten.37 Hingegen kann ein Rechtsschutzbedürfnis sehr wohl bestehen, wenn der Sekundärrechtsakt in die bestehende Rechtsposition einer Kirche oder Religionsgemeinschaft selbst eingreift. Als Klagegründe werden vor allem die Unzuständigkeit in Frage kommen, weil die Gemeinschaft für viele Fragen des Religionsrechts keine Kompetenz besitzt, oder die Vertragsverletzung, weil ein Rechtsakt beispielsweise gegen die korporative Religionsfreiheit nach Art. 6 Abs. 2 EUV i.V.m. Art. 9 EMRK verstößt.38 Sollte eine Nichtigkeitsklage jedoch unzulässig sein, ist immer noch die Möglichkeit zu erwägen, in einem Verfahren vor einem mitgliedstaatlichen Gericht eine Vorlagefrage zur Vorabentscheidung an den EuGH zu stellen (Art. 234 EGV). Eine weitere Möglichkeit wäre ein Streitbeitritt als Nebenintervenient nach Art. 40 EuGH-Satzung. Auf diesem Weg kann eine Religionsgemeinschaft einem Direktklageverfahren – nicht jedoch einem Vorabentscheidungsverfahren –, an dem eine andere Religionsgemeinschaft oder ein einzelner Gläubiger als Hauptpartei beteiligt ist, auf deren bzw. dessen Seite als Streithelferin beitreten. Streithelferin kann auch eine Religionsgemeinschaft sein, die nach nationalem Recht keine volle Rechtsfähigkeit genießt,39 und vor allem muss sie nicht individuell und unmittelbar in ihren Rechten betroffen sein, da schon ein „berechtigtes Interesse“ am Ausgang des Rechtsstreits genügt, das auch ein politisches oder ideelles Interesse sein kann. 40 In der Regel lassen sowohl der EuGH als auch das EuG großzügig solche Verbände als Streithelfer zu, die Interessen ihrer Mitglieder oder sonst schutzwürdige Interessen vertreten,41 so dass dieses prozessuale Mittel auch für Kirchen und ______________ 37

Vgl. EuGH, Rs. C-321/95, Greenpeace, Rn. 28. Als unmittelbar und individuell betroffene natürliche Personen können die Gläubigen aber möglicherweise selbst Nichtigkeitsklage erheben. 38

Vgl. Vachek, Religionsrecht, 413f.

39

Art. 40 Abs. 2 EuGH-Satzung: „alle anderen Personen“ (vgl. Hackspiel, Art. 40 Satzung des Gerichtshofs, Rn. 5). 40 41

Ebd. Rn. 8.

Z.B. Gewerkschaften in kollektivrechtlichen oder Verbrauchervereinigungen in wettbewerbsrechtlichen Streitigkeiten (vgl. ebd. Rn. 7).

236

E. Die Partner des religiösen Dialogs

Religionsgemeinschaften als geeignet erscheint, sobald religiöse Interessen im Spiel sind.42 Der Streithelfer darf zwar den Streitgegenstand nicht erweitern oder modifizieren, kann aber Fragen an Zeugen und Sachverständige richten, plädieren und vom Spruchkörper vernommen werden. 43 Wenn eine Religionsgemeinschaft an einem Rechtsstreit nicht teilgenommen hat, das Urteil ihre Rechte aber beeinträchtigt, kann sie unter bestimmten Voraussetzungen gemäß Art. 39 EuGH-Satzung immer noch Drittwiderspruch erheben. Schließlich kann der EuGH Kirchen und Religionsgemeinschaften auch dadurch einbeziehen, dass er sie als Sachverständige über Fragen religiöser Gebräuche und Verhaltensweisen zu Rate zieht.44 Was beim EuGH fehlt, ist ein Instrument zur Beteiligung Dritter, wie es Art. 36 Abs. 2 EMRK und Rule 44 Abs. 2 lit. a der Rules of Court dem EGMR zur Verfügung stellen. Danach kann der Präsident des Gerichtshofs jede betroffene Person, die nicht Beschwerdeführer ist, einladen oder auf deren Wunsch zulassen, um schriftlich Stellung zu nehmen oder ausnahmsweise an den mündlichen Verhandlungen teilzunehmen. Dieser amicus curiae hat eine schwächere, aber auch weniger riskante Rechtsstellung als ein Streithelfer, da er keine Anträge stellt, sondern nur seine Stellungnahme abgibt. Im Unterschied zum Gutachter ist er jedoch als mittelbar Betroffener an einem bestimmten Verfahrensausgang interessiert.45 ______________ 42

Im Fall Prais (Bewerbungsprüfung an einem jüdischen Feiertag) ist der Mitbewerber der Klägerin, welcher die Stelle tatsächlich erhalten hatte, auf Seiten des Rates dem Streit beigetreten und es wäre gewiss auch die Streithilfe der jüdischen Gemeinde auf Seiten der Klägerin möglich gewesen (EuGH, Rs. 130/75, Rn. 4f). 43 Er trägt allerdings auch ein gewisses Kostenrisiko am Ausgang des Verfahrens (Hackspiel, Art. 40 Satzung des Gerichtshofs, Rn26f). Der EuGH berücksichtigt aber, welche Interessen ein Streithelfer vertritt, und hat im Fall Suiker Unie (Rs. 40/73, Rn. 630) der unterlegenen Konsumentenschutzvereinigung keine Kosten auferlegt. 44

Nach Art. 22 EuGH-Satzung kann er auch Personengemeinschaften mit der Abgabe von Gutachten betrauen. Im Fall Prais (Rs. 130/75) hätte er beispielsweise Auskünfte über das jüdische Sabbatgebot einholen können und im Fall van Roosmalen (Rs. 300/84) wären Informationen über das katholische Priesterbild hilfreich gewesen. 45

Dieses Instrument trüge zur Findung eines gerechten Urteils bei, da Kirchen und Religionsgemeinschaften in vielen Gerichtsverfahren nicht Partei, aber vom Urteil doch massiv betroffen sind und sonst keine Möglichkeit hätten, eine sachdienliche Erklärung einzubringen. Im Fall Metropolitankirche von Bessarabien (Nr. 45701/99) gewährte der EGMR der Metropolitankirche von Moldawien, von der sich erstere abgespalten hatte, die Möglichkeit als amicus curiae schriftlich Stellung zu nehmen (Rn. 9). Wenn er schließlich auch nicht in ihrem Sinne entschieden hat, so konnte er sich damit doch aus erster Hand Kenntnis über das orthodoxe Kirchenverständnis verschaffen (Rn. 99f), und jede zusätzliche einschlägige Information dient letztlich der Rechtsfindung. Im Urteil

I. Wer führt den Dialog auf Seiten der Europäischen Union?

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e) Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss Der Wirtschafts- und Sozialausschuss ist die ganz speziell für die partizipative Demokratie und den Dialog mit der organisierten Zivilgesellschaft geschaffene Institution der Europäischen Gemeinschaft. Aus Vertretern der verschiedenen wirtschaftlichen und sozialen Bereiche wie Arbeitgebern, Arbeitnehmern, Familien, Konsumenten, Forschung und Umweltschutz zusammengesetzt, soll er diesen Gruppen Einflussmöglichkeiten in der gemeinschaftlichen Gesetzgebung eröffnen und ihren Sachverstand für die europäische Integration nützen.46 Er lässt sich auf zwei Arten untergliedern: Erstens in sechs Fachgruppen gemäß den Hauptsachgebieten des EGV und zweitens in drei Gruppen, nämlich die Gruppe der Arbeitgeber, diejenige der Arbeitnehmer und schließlich die Gruppe III „Verschiedene Interessen“. Der EWSA ist selbst kein Organ der Gemeinschaft im Sinne von Art. 7 Abs. 1 EGV, sondern erfüllt nur beratende Funktion für die Organe, von denen er in bestimmten Fällen gehört werden muss, jedenfalls aber gehört werden kann und denen er auch aus eigener Initiative Stellungnahmen unterbreitet. Trotz allem ist die Bedeutung des EWSA beschränkt, weil immer mehr spezialisierte Beratungsgremien entstehen und die demokratische Legitimierung der Gemeinschaft immer mehr durch das Europäische Parlament erbracht wird, das den EWSA auch schon seit längerem von seiner Position als nach der Kommission zweitwichtigstem Ansprechpartner für die Interessenvertretungen verdrängt hat. Da der EWSA stets auf einen Konsens zwischen den verschiedenen Gruppen bedacht ist, wozu er die einzelnen Positionen immer wieder nivelliert, und da er ohnehin nur beratende Funktion hat, wenden sich die größeren Verbände lieber gleich direkt an die Organe der EG, die tatsächlich Entscheidungsmacht besitzen.47 Bei den Kirchen und Religionsgemeinschaften kommt noch hinzu, dass es weder eine Gruppe noch eine Fachgruppe gibt, die sich ausdrücklich religiösen Angelegenheiten widmet, und so nur die Gruppe III „Verschiedene Interessen“ in Frage kommt, wo ihre Anliegen neben denen von Landwirtschaft, Konsumentenschutz, Umweltschutz, Selbsthilfeeinrichtungen, Forschung, Lehre usw. unterzugehen drohen. 48 Es wäre aus der Sicht der ______________

Pellegrini (Nr. 30882/96) hingegen, wo die katholische Kirche nicht beigezogen wurde, leistete sich der EGMR nicht nur peinliche Verwechslungen zwischen ihr und dem Vatikanstaat (Rn. 31 und 40), sondern verriet auch seine Unkenntnis vom Wesen des kirchlichen Ehenichtigkeitsverfahrens. 46

Vgl. Siebeke, Vorbemerkung zu Art. 257-262 EGV, Rn. 17.

47

Siebeke, Interessenvertretungen, 57.

48

Die Aufzählung der wirtschaftlichen und sozialen Bereiche, die im EWSA vertreten sein können (Art. 257 EGV), ist nur demonstrativ, entwicklungsoffen und im

238

E. Die Partner des religiösen Dialogs

Kirchen und Religionsgemeinschaften aber auch gar nicht wünschenswert, dass einzelne Mitglieder des EWSA ihre Interessen verträten, weil dabei notgedrungen nur wenige Religionsgemeinschaften zum Zuge kämen und sie die Auswahl der Vertreter nicht selbst vornehmen könnten, da diese von den Mitgliedstaaten vorgeschlagen und vom Rat ernannt werden. Würden diese Vertreter auch noch einen Ausgleich der religiösen Interessen versuchen, so entstünde gleichsam ein „Religionsparlament“49, womit die Gemeinschaft die religiöse Vielfalt (Art. 22 GRCH) nivellieren würde. Es ist jedoch möglich, dass einzelne Fachgruppen zu bestimmten Themen Vertreter von Kirchen und Religionsgemeinschaften als Sachverständige (Art. 23 GOEWSA) oder „außenstehende Persönlichkeiten“ (Art. 22 GOEWSA) konsultieren. Tatsächlich lädt der EWSA immer wieder kirchliche Vertreter ein,50 und im Umfeld des Verfassungskonvents plante er eine Reflexionsgruppe mit den Kirchen und Religionsgemeinschaften.

f) Die Konvente Zur Erarbeitung sowohl der Grundrechtecharta als auch des Verfassungsvertrags wurden so genannte „Konvente“ eingesetzt, die sich aus europäischen und nationalen Politikern zusammensetzten und jeweils von einem Präsidenten – im ersten Fall von Roman Herzog, im zweiten von Valéry Giscard d’Estaing – geleitet wurden. Die in keinem der Gründungsverträge vorgesehene Konventsmethode erwies sich im Verhältnis zu den Regierungskonferenzen als besser geeignet, um einen ausgewogenen Text zu erstellen, der vom Konvent aber selbstverständlich nicht in Kraft gesetzt werden kann. Da es sich in beiden Fällen um ganz grundlegende und zukunftsweisende Rechtsdokumente handelte, versäumten die Kirchen und Religionsgemeinschaften es nicht, ihre Wünsche und Vorstellungen einzubringen. Sie wandten sich an einzelne Konventsmitglieder und an das Präsidium, beteiligten sich an den Anhörungen der Zivilgesellschaft51 und brachten schriftliche Stellungnahmen in das Forum Zivilgesellschaft52 ein, das begleitend zum Verfassungskonvent geschaffen ______________

weitesten Sinne zu verstehen (Suhr, Art. 257 EGV, Rn. 12). Auch Vertreter der Religionen in den EWSA aufzunehmen, verstieße daher nicht grundsätzlich gegen Art. 257 EGV. 49

Davor warnt Robbers (Dialog, 759).

50

Berten, Engagement, 150.

51

Für den Grundrechtekonvent vgl. Bender, EU-Grundrechtecharta, 106.

52 Unter http://europa.eu.int/futurum/forum_convention/doc_de.htm [9.5.2006] sind über 80 Beiträge von religiös oder weltanschaulich geprägten Organisationen abrufbar.

I. Wer führt den Dialog auf Seiten der Europäischen Union?

239

wurde. Obgleich nicht alle ihre Erwartungen erfüllt wurden, hatte ihr Engagement doch auch Erfolg.53 Heuser kritisiert hingegen, dass der Verfassungskonvent und das für den Dialog mit der Zivilgesellschaft zuständige Präsidiumsmitglied Dehaene es nicht verstanden hätten, einen kontinuierlichen und strukturierten Dialog mit der Zivilgesellschaft und der jungen Generation zu gewährleisten, sondern sich mit einmaligen Veranstaltungen und der Einrichtung von Internetseiten begnügt hätten.54

3. Würdigung und Anregungen Nach diesem Durchgang lässt sich festhalten, dass zahlreiche Einrichtungen der Europäischen Union tatsächlich Kontakte zu Kirchen und Religionsgemeinschaften pflegen. Bei manchen fallen diese aber eher sporadisch aus und bis auf die Kommission besitzen sie keine eigens für Kirchen und Religionsgemeinschaften geschaffene Kontaktstellen, sondern begnügen sich mit den Instrumenten des allgemeinen zivilen Dialogs. Dass alle Institutionen den religiösen Dialog mit größerer Regelmäßigkeit pflegen und dafür Strukturen schaffen, die der Eigenart von Kirchen und Religionsgemeinschaften gerecht werden, wäre daher wünschenswert und wird mit dem Inkrafttreten des Verfassungsvertrags ohnehin erforderlich. Eine bereits bestehende Einrichtung, die durch den Verfassungsvertrag stark ausgebaut und sogar zum Organ erhoben wird und die deswegen auch für den religiösen Dialog an Bedeutung gewinnen kann, ist der Europäische Rat. Er wird zwar nicht gesetzgeberisch tätig, gibt der Union aber die für ihre Entwicklung erforderlichen Impulse und legt die allgemeinen politischen Zielvorstellungen und Prioritäten hierfür fest (Art. I-21 VVE). Für ihn wird der Dialog mit den Kirchen und Religionsgemeinschaften demnach weniger in Bezug auf konkrete Gesetzesvorhaben als vielmehr zur Entwicklung der großen Leitbilder der Union wichtig. Seine Zusammensetzung aus den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten, dem Präsidenten des Europäischen Rates und dem Präsidenten der Kommission erschwert es aber, einen konkreten Ansprechpart______________ 53 Ingo Friedrich, seinerzeit Vizepräsident des Europäischen Parlaments und Wortführer der konservativen Parteien im Grundrechtekonvent, wundert sich, von der französischen Zeitung „Le Monde“ für die häufige Erwähnung von Religion in der Grundrechtecharta verantwortlich gemacht und als Agent des Papstes bezeichnet worden zu sein, wo er doch in Wirklichkeit Protestant ist (Friedrich, Wertediskussion, 145). 54

Heuser, Verfassungsprozess, 30. Weil die Zivilgesellschaft unzureichend in den Konventsprozess einbezogen worden sei, drohe das ganze Projekt nun an der mangelnden Vermittlung des Vertragswerks an die Bürger und deren Abstimmung darüber zu scheitern.

240

E. Die Partner des religiösen Dialogs

ner für die Kirchen und Religionsgemeinschaften auszumachen, es sei denn, man findet diesen im Präsidenten des Europäischen Rates selbst. Einen ganz speziellen Weg des Dialogs mit der katholischen Kirche ließ die Europäische Gemeinschaft bisher unverständlicherweise ungenützt, nämlich jenen des diplomatischen Verkehrs mit dem Heiligen Stuhl. Während dieser sich schon seit 1970 durch einen Apostolischen Nuntius bei der EG vertreten lässt, kann sie bisher nichts Entsprechendes vorweisen, obwohl für diplomatische Beziehungen der Grundsatz strenger Reziprozität gilt55 und obwohl die Kommission inzwischen bei 123 Drittstaaten und 4 Internationalen Organisationen Delegationen unterhält.56 Die EG besitzt das aktive und das passive Gesandtschaftsrecht, sie nimmt das aktive jedoch nicht durch Entsendung von Botschaftern, sondern nur durch so genannte „Delegationen“ mit diplomatischem Status wahr, die organisatorisch von der Kommission abhängen, aber für die Gemeinschaft als ganze tätig sind.57 Es sind keine rechtlichen Hindernisse für eine Delegation der EG beim Heiligen Stuhl erkennbar. Solange eine solche aber fehlt, kann die EG-Repräsentanz beim Heiligen Stuhl über die Botschafter der Mitgliedstaaten stattfinden, insbesondere über denjenigen des Staates, der gerade die Ratspräsidentschaft innehat.58 ______________ 55

Die Schweiz, in der die Situation ab 1920 ähnlich war, hat seit 1992 eine Vertretung beim Heiligen Stuhl errichtet (vgl. Köck, Organe, Rn. 1707). Sogar die Arabische Liga hat, obwohl sie keinen so hohen Integrationsgrad erreicht wie die Europäische Union und obwohl sie keine mehrheitlich christlichen Staaten zusammenschließt, eine diplomatische Vertretung beim Heiligen Stuhl eingerichtet (vgl. Köck, Gesandtschaften, 141). 56 http: // europa.eu.int / comm /external_relations / delegations / intro / index.htm [9.5. 2006]. 57

Der Verfassungsvertrag nimmt für die Union als solche und nicht für die Kommission das aktive Gesandtschaftsrecht in Anspruch (vgl. Fassbender, Völkerrechtssubjektivität, 40). Art. III-328 VVE unterstellt die Delegationen der Leitung des Außenministers, eines erst durch den Verfassungsvertrag geschaffenen Amtes, das für den Dialog mit der katholischen Kirche auf völkerrechtlicher Ebene ebenfalls bedeutsam werden könnte. 58

Günstigerweise haben alle Mitgliedstaaten eine diplomatische Vertretung beim Heiligen Stuhl [vgl. AP 94 (2006) 1362-1389]. Die „conventio monetalis“, der völkerrechtliche Vertrag, mit dem der Staat der Vatikanstadt sich an der Währungsunion beteiligt, wurde von der Italienischen Republik im Namen der Europäischen Gemeinschaft mit dem Heiligen Stuhl – allerdings nicht als oberster Leitung der katholischen Kirche, sondern des Staates der Vatikanstadt – abgeschlossen. Italien bot sich hier deshalb an, weil es bisher schon in einer Währungsunion mit dem Staat der Vatikanstadt stand.

II. Mit wem führt die Europäische Union den religiösen Dialog?

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II. Mit wem führt die Europäische Union den religiösen Dialog? 1. Die Terminologie im Unionsrecht a) Bezeichnungen für religiöse Organisationen im Unionsrecht Nachdem im vorangegangenen Kapitel die möglichen Dialogsubjekte auf Seiten der Europäischen Union vorgestellt wurden, ist nun nach den Dialogpartnern auf der anderen Seite zu fragen. Das sind die religiösen Organisationen. Bevor hier untersucht wird, was darunter zu verstehen ist, sollen die Bezeichnungen vorgestellt werden, unter denen sie im EU-Recht vorkommen.59 Während sie im Primärrecht noch nicht ausdrücklich erwähnt werden, findet sich im Sekundärrecht bereits eine bunte Vielfalt an Bezeichnungen, die aber doch einige Schwerpunkte erkennen lässt. Häufig kommt der Doppelausdruck „Kirchen und Religionsgemeinschaften“60 vor. Gemäß der im europäischen Religionsrecht verbreiteten Lehre61 ist „Religionsgemeinschaft“ der Oberbegriff zu „Kirche“, denn als Kirchen werden jene Religionsgemeinschaften bezeichnet, die auf Jesus Christus zurückgehen. 62 Wenn neben den Religionsgemeinschaften auch ausdrücklich von Kirchen die Rede ist, so erweitert sich ______________ 59

Wenn die Europäische Union ein eigenes Religionsrecht schafft, kommt sie nicht umhin, auch eine entsprechende Begrifflichkeit auszubilden (Ibán, Pertinence, 69). 60 Z.B. Anh. A Kap. II Nr. 2.88 lit. a VO (EG) Nr. 2223/96; Art. 17 Abs. 1 lit. c RL 2003/88/EG; Art. 46 Abs. 2 RL 2000/12/EG; Art. 2 RL 98/33/EG. 61 62

Vgl. z.B. Robbers, Dialog, 754; Vachek, Religionsrecht, 142f.

Während in den romanischen Sprachen die Wörter „Chiesa“, „Église“, „Iglesia“ oder „Igreja“ dem lateinischen „Ecclesia“ entsprangen, das selbst nur dem griechischen HNNOKVLD (Versammlung) entlehnt ist, wurzeln in den germanischen Sprachen die Wörter „Kirche“, „Kirke“, „Kerk“ usw. im griechischen NXULDNR9, was „dem Herrn gehörig“ bedeutet (vgl. De Wall, Kirche, 998). Da mit „Herr“ Jesus Christus gemeint ist und „Kirche“ somit klar auf einen bestimmten Religionsgründer hinweist, sollte dieser Begriff den christlichen Religionsgemeinschaften vorbehalten bleiben, was ohnehin dem bis heute üblichen Sprachgebrauch entspricht. Auch bei nichtchristlichen Religionsgemeinschaften von „Kirchen“ zu sprechen – in den Niederlanden kann sich z.B. der Islam als „Kirche“ im Sinne des Zivilrechts organisieren (Bair, Islamgesetz, 148) –, missachtet nicht nur den christlichen Anspruch sondern auch die anderen Religionen, die mit diesem Religionsgründer ja nicht in Verbindung gebracht werden wollen. Wenn das Europarecht bei der Bestimmung des Begriffs „Kirche“ die Selbstsicht der Religionsgemeinschaften also nicht außer Acht lassen darf, so kann es wegen der weltanschaulichen Neutralität doch nicht so weit gehen, eine Kirchendefinition einfach zu übernehmen, die in einer einzelnen Kirche Gültigkeit hat, wie etwa jene der katholischen Kirche in Dominus Iesus Nr. 17. So auch Robbers, Dialog, 754.

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E. Die Partner des religiösen Dialogs

damit nicht der Adressatenkreis, es werden aber in angemessener Weise die für den europäischen Kulturkreis besonders bedeutsamen christlichen Kirchen hervorgehoben,63 die auch die treibenden Kräfte für den religiösen Dialog mit der Europäischen Union sind. Oft findet sich auch der Begriff „Kirche“ 64 allein, wird dann aber jeweils nur demonstrativ angeführt, was Klauseln wie „und andere Organisationen“ andeuten. Somit wird der Adressatenkreis nicht in diskriminierender Weise auf christliche Kirchen eingeschränkt. Auch das Adjektiv „kirchlich“65 kommt vereinzelt zur Qualifizierung entsprechender Organisationen vor. Nur von „Religionsgemeinschaften“66 ist eher selten die Rede. Sachgerecht ist das vor allem bei den Ausnahmen vom Schächtungsverbot, weil die christlichen Kirchen das Schächten ohnehin nicht kennen. Dass der Ausdruck „Kirche“ gerade an diesen Stellen weggelassen wurde, weist somit darauf hin, dass auch der EG-Rechtsetzer diesen Ausdruck den christlichen Religionsgemeinschaften vorbehält. Schließlich ist vereinzelt auch von „religiösen Einrichtungen“67 die Rede. Wie sind nun all diese Begriffe auszulegen? Aus der Selbstständigkeit und dem Gebot einheitlicher Auslegung des Gemeinschaftsrechts ergibt sich, dass Methode und Maßstäbe der Interpretation dem Gemeinschaftsrecht selbst und nicht den unterschiedlichen nationalen Rechtsordnungen zu entnehmen sind.68 ______________ 63

Vgl. Robbers, Dialog, 754. Somit setzt das Europarecht einen Akzent, den das deutsche Verfassungsrecht bewusst vermeidet, indem es nur von „Religionsgemeinschaften“ und „Religionsgesellschaften“ aber nicht von „Kirchen“ spricht (vgl. Czermak, Religionsverfassungsrecht, 743). Das österreichische StGG hingegen erwähnt in Art. 15 vor den Religionsgesellschaften ausdrücklich die Kirchen. Im deutschen wie auch im österreichischen Staatskirchenrecht herrschte früher der Begriff „Religionsgesellschaft“ vor, der nun aber allmählich von „Religionsgemeinschaft“ abgelöst wird. Inhaltlich decken sich beide, doch entspricht der jüngere Begriff besser dem Selbstverständnis der Kirchen, keine weltliche Vereinigung, sondern göttliche Stiftung zu sein (Reinhardt, Religionsgemeinschaft, 1054ff). Deshalb ist es zu begrüßen, dass auch die europarechtlichen Texte in der deutschen Version von „Religionsgemeinschaften“ sprechen (zur einzigen Ausnahme siehe Anm.# 15). 64 Z.B. Anh. I Nr. B/1c) II VO (EG) Nr. 1444/2002; Anh. II Nr. 12 VO (EG) Nr. 1749/1999; Anh. Ib Kap. A Nr. 19 lit. a VO (EG) Nr. 1687/98; Art. 3 VO (EG) Nr. 1659/98; Art. 4 Abs. 2 RL 2000/78/EG. 65 Z.B. Anh. I Nr. B/1c) II VO (EG) Nr. 1444/2002; Art. 686 Abs. 4 lit. b VO (EWG) Nr. 2454/93; Art. 21 Abs. 3 lit. b RL 85/362/EWG. 66

Z.B. Art. 2 Abs. 1 lit. a VO (EG) Nr. 550/97; Art. 2 Abs. 2 RL 93/119/EG; Anh. I Kap. VII Nr. 33 und Anh. II Kap. II Nr. 11 RL 92/116/EWG. 67

Z.B. Anhang Nr. 1 lit. l VO (EG) Nr. 1982/2003; Art. 10 Abs. 2 VO (EWG) Nr. 3201/90. 68

Vgl. z.B. Nicolaysen, Europarecht I, 101.

II. Mit wem führt die Europäische Union den religiösen Dialog?

243

Dieser Grundsatz der gemeinschaftsautonomen Auslegung gilt auch für die Bezeichnungen religiöser Organisationen, denn auch und gerade hier weichen die Begriffe und deren Definitionen in den Mitgliedstaaten viel zu sehr voneinander ab.69 Es liegt hier ein ähnlicher Fall vor, wie beim Begriff des Unternehmens, den der EuGH aus Gründen der einheitlichen Rechtsanwendung für das EG-Recht eigens bestimmen musste, obwohl er im Recht der Mitgliedstaaten schon festgelegt war – aber eben in unterschiedlicher Weise. Würde die Begriffsbestimmung den Mitgliedstaaten überlassen, so hätten sie es in der Hand, den Adressatenkreis der entsprechenden Normen nach Belieben zu erweitern oder einzuengen.70 Es sind zwei verschiedene Dinge, ob ein bestimmtes Rechtsgebiet inhaltlich geregelt wird oder ob in Rechtstexten einfach bestimmte Begriffe verwendet werden.71 Das Erfordernis einer eigenen gemeinschaftsrechtlichen Begriffsbestimmung zeigt sich besonders dort, wo eine uneinheitli______________ 69

Man denke nur an die neuen religiösen Bewegungen und so genannten „Sekten“, die in den verschiedenen Staaten ganz unterschiedlich gesehen werden. Schon das Europäische Parlament beklagte, dass es wegen der unterschiedlichen Bezeichnungen dieser Organisationen in den Mitgliedstaaten schwierig ist, einen neutralen Begriff zu finden, der von allen in gleicher Weise verstanden wird (Entschließung vom 2.7.1984, F). Torfs unterscheidet dazu drei Modelle: Das Vertrauensmodell, in dem der demokratische Rechtsstaat sich durch Sekten nicht gefährdet sieht, das Wachsamkeitsmodell und das Modell struktureller Skepsis (Sonderstellung, 41f). Nach Robbers (Dialog, 775) muss die Europäische Union sich im Hinblick auf Art. I-52 VVE einen eigenen Verfassungsbegriff von Kirchen und Religionsgemeinschaften bilden, der aber von den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten geprägt sein wird. Schwarz hält gemeineuropäische Standards für möglich, weil manche Staaten, wie etwa Ungarn, die Registrierung von neuen religiösen Bewegungen sehr großzügig gehandhabt haben (Religionsfreiheit, 54). Einen Überblick über die Verleihung des Rechtsstatus an Religionsgemeinschaften in den neuen Mitgliedstaaten bringt Erdö, Typen des Verhältnisses, 4-8. 70

Gegen die gemeinschaftsautonome Interpretation lässt sich nicht einwenden, dass der Union die Kompetenz in religiösen Angelegenheiten fehle. Was der Union fehlt, ist die Kompetenz, dieses Rechtsgebiet inhaltlich zu regeln, nicht jedoch gewisse Begriffe zu verwenden und einheitlich zu bestimmen. Auch aus der Kirchenerklärung des Vertrags von Amsterdam (Gemeinsame Erklärung Nr. 11 der Schlussakte) lässt sich kein Einwand gegen die gemeinschaftsautonome Interpretation konstruieren, da sie die Status der Kirchen und Religionsgemeinschaften in den Mitgliedstaaten schützt, nicht jedoch die nationalen Terminologien auf die Union überträgt. In diesem Fall wäre der Adressatenkreis der entsprechenden Gemeinschaftsnormen in jedem Mitgliedstaat anders. 71

Auch Robbers erkennt die Notwendigkeit, dass die EU sich einen eigenen Verfassungsbegriff von Kirchen und religiösen Gemeinschaften schaffen muss, auch wenn dieser von den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten geprägt sein wird (Dialog, 755).

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E. Die Partner des religiösen Dialogs

che Terminologie zu statistischen Verfälschungen oder finanzieller Diskriminierung führen würde,72 besteht aber grundsätzlich überall. Wo das Gemeinschaftsrecht nur den Kirchenbegriff eines bestimmten Mitgliedstaats im Auge hat, muss das eigens angegeben werden.73 Manchmal wird der Begriff der Kirche oder Religionsgemeinschaft im Gemeinschaftsrecht auch so eng umschrieben, dass er nur auf wenige oder gar nur einen Mitgliedstaat zutrifft. 74 Dass die entsprechenden Begriffe gemeinschaftsautonom auszulegen sind, bedeutet indes nicht, dass sie an jeder Stelle im Gemeinschaftsrecht dieselbe Bedeutung hätten.75 Da auch Rechtstexte der EG zunächst einmal in ihrem Wortlaut aus sich selbst heraus auszulegen sind, ist der normale und natürliche Sinn der Worte in ihrem unmittelbaren Zusammenhang festzustellen, wobei aber als gemeinschaftsrechtliche Besonderheit alle authentischen Sprachfassungen zu berück______________ 72

Nämlich im europäischen System volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen [Anh. A Kap. II Nr. 2.88 lit. a VO (EG) Nr. 2223/96], bei Zoll [Art. 686 Abs. 4 lit. b VO (EWG) Nr. 2454/93; Anhang I Teil II Abschnitt XIV Kapitel 71 Anmerkungen 9f. der VO (EG) Nr. 1719/2005] und Umsatzsteuer (Art. 21 Abs. 3 lit. b RL 85/362/EWG. 73 Das ist der Fall in Anh. III Abschn. II der Vergabe-RL 2004/18/EG, wo die lokalen Kirchenverwaltungen in Dänemark ausdrücklich zu den öffentlichen Einrichtungen gezählt werden. 74 So sind die Formulierungen „staatlich anerkannte Religionsgesellschaft“ (Erwägungsgrund Nr. 35 Datenschutz-RL 95/46/EG) oder „Kirchen und Religionsgemeinschaften in der Rechtsform der Körperschaft des öffentlichen Rechts, sofern sie Steuern erheben“ (Art. 46 Abs. 2 RL 2000/12/EG) klar auf das deutsche Staatskirchenrecht zugeschnitten. Im ersten Beispiel wurde sogar der sonst im Europarecht nicht gebräuchliche Terminus der Religionsgesellschaft aus dem deutschen Staatskirchenrecht entlehnt, was verständlich ist, wenn man bedenkt, dass die Sonderbestimmungen der Datenschutzrichtlinie zugunsten der Religionsgesellschaften das deutsche Kirchensteuersystem schützen sollten. Aber selbst wenn die Terminologie identisch ist und sich die nationale Herkunft einer Rechtsfigur des Gemeinschaftsrechts nachweisen lässt, wäre es verfehlt, gemeinschaftsrechtliche Begriffe nach mitgliedstaatlichen Rechtsvorschriften zu interpretieren (Nicolaysen, Europarecht I, 102). Die entsprechenden Begriffe sind selbstverständlich auch auf Kirchen und Religionsgemeinschaften in anderen Mitgliedstaaten anwendbar, wenn sie dieselben Kriterien erfüllen. 75

Wie der EGV bei der Niederlassungsfreiheit nur Unternehmen mit Erwerbszweck berücksichtigt, aber im Wettbewerbsrecht einen weiteren Unternehmensbegriff kennt, so können auch „Kirche“, „Religionsgemeinschaft“ usw. sich je nach Zusammenhang auf einen weiteren oder engeren Adressatenkreis beziehen. So schließt beispielsweise die Formulierung „Kirchen und Religionsgemeinschaften einschließlich derjenigen, die vom Staat finanziert, jedoch nicht kontrolliert werden“ [Anh. A Kap. II Nr. 2.88 lit. a VO (EG) Nr. 2223/96] Staatskirchen aus.

II. Mit wem führt die Europäische Union den religiösen Dialog?

245

sichtigen sind.76 Auf diese Weise wurde oben bei der Abgrenzung der Begriffe „Kirche“ und „Religionsgemeinschaft“ bereits vorgegangen. Nur untergeordnete Bedeutung hat im Gemeinschaftsrecht hingegen die historische Auslegung, weil die Dynamik des Integrationsprozesses einer Versteinerung des ursprünglichen Willens des Rechtsetzers entgegensteht und dieser oft auch gar nicht zugänglich wäre. So ist es müßig, danach zu fragen, aus welchen Motiven der historische Rechtsetzer in einer bestimmten Norm gerade diesen und nicht einen anderen Ausdruck für die religiösen Organisationen gewählt und ob er überhaupt eine bewusste Wahl getroffen hat. 77 Von besonders großer Bedeutung ist im Gemeinschaftsrecht hingegen die funktionale Betrachtungsweise des EuGH, deren er sich beispielsweise bei der Bestimmung der öffentlichen Verwaltung nach Art. 39 Abs. 4 EGV oder des Unternehmensbegriffs nach Art. 81 Abs. 1 EGV bedient. Danach ist öffentliche Verwaltung nur das, was hoheitliche Tätigkeiten ausführt, und ein Unternehmen, was wirtschaftliche Tätigkeiten ausführt. Der funktionale Ansatz ist damit das Gegenstück zu einer Betrachtungsweise, die auf die jeweilige Organisationsstruktur abstellt, so dass hoheitliche Tätigkeit all das wäre, was von einem staatlichen Organ ausgeübt wird, und Unternehmen das, was in einer entsprechenden Rechtsform organisiert ist. Angesichts der Tatsache, dass Kirchen und Religionsgemeinschaften in den Mitgliedstaaten in den unterschiedlichsten Rechtsformen organisiert sind, kommt der EuGH auch hier nicht um eine funktionale Interpretation umhin. 78 Das bedeutet kurz gesagt: Religionsgemeinschaft im europarechtlichen Sinn ist nicht, was als solche nach nationalem Recht organisiert ist, sondern ist eine Organisation mit der Funktion der Religionsausübung.79 Der funktionale ______________ 76

Vgl. Oppermann, Europarecht, § 8 Rn. 21.

77

Nur in manchen Fällen ist klar, dass er sich von der Terminologie in einem bestimmten Mitgliedstaat leiten ließ (vgl. Anh. III Abschn. II der VergabeRL 2004/18/EG). 78 Ansätze zu einer solchen Judikatur zeigen sich bereits: So hat der EuGH die Anwendbarkeit einer EG-Richtlinie auf den Fall Lindqvist danach geprüft, ob die Katechetin eine religiöse Tätigkeit ausübt, nicht etwa danach, wie sie organisatorisch in die Struktur der Kirchengemeinde eingegliedert ist (Rs. C-101/01, Rn. 39). Im Fall Dominikanerinnenkloster Altenhohenau war für den EuGH allein relevant, dass die ausgeübte Tätigkeit eine landwirtschaftliche – und damit keine religiöse – war, obwohl das Kloster, das die Tätigkeit ausübte, eindeutig eine religiöse Einrichtung ist (C-285/93). Insofern auch die katholische Kirche, wie Mikat feststellt, seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil das Verhältnis Kirche - Staat weniger institutionell als vielmehr funktional betrachtet, liegt eine bemerkenswerte Parallele zwischen der Sicht der Kirche und der Europäischen Gemeinschaft vor (Kirche und Staat, 480). 79 Dass nach der Schaffung religionsrechtlicher Begriffe auf Gemeinschaftsebene – besonders durch die Kirchenerklärung von Amsterdam – die funktionale Strukturierung durch eine institutionelle abgelöst würde, wie Vachek (Religionsrecht, 144) meint, ist

246

E. Die Partner des religiösen Dialogs

Ansatz erlaubt es auch, Religionsgemeinschaften relativ leicht von staatlichen Einrichtungen,80 Wirtschaftsunternehmen usw. abzugrenzen.81 Organisationen, die eine für Religionen vorgesehene nationale Rechtsform nur annehmen, um in den Genuss diverser rechtlicher und finanzieller Vorteile zu kommen, aber in Wirklichkeit wirtschaftliche Tätigkeiten ausüben, scheiden vom europarechtlichen Begriff der Religionsgemeinschaften von vornherein aus. Der funktionale Ansatz bringt es aber auch mit sich, dass ein und dieselbe Religionsgemeinschaft je nach Tätigkeit, die sie gerade ausübt, manchmal als hoheitlich und manchmal als Unternehmen anzusehen ist – etwa wenn sie eine staatlich anerkannte Trauung vornimmt oder wenn sie einen Verlag für spirituelle Literatur betreibt. Geringfügige wirtschaftliche Tätigkeiten können dem Charakter als Religionsgemeinschaft aber nicht schaden, da es auf den Schwerpunkt der Tätigkeiten ankommt. Wenn nun als Religionsgemeinschaft jede Gemeinschaft gilt, die die Ausübung einer Religion zum Ziel hat, so bleibt noch zu klären, wie „Religion“ zu definieren ist. Eine europarechtliche Legaldefinition von Religion findet sich in Art. 10 Abs. 1 lit. b der Flüchtlings-RL 2004/83/EG: „Der Begriff der Religion umfasst insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme bzw. Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder der Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind.“ Diese Formulierung ist sprachlich besser gelungen als die Vorgängerdefinition in Nr. 7.2 des Gemeinsamen Standpunkts 96/196/JI und bezieht auch die Religionsausübung einer Gemeinschaft mit ein. Da sie jedoch merklich die Definition eines anerkannten Flucht______________

eher nicht anzunehmen, da eben diese Begriffe, wie oben dargelegt, wegen der nationalen Vielfalt nicht institutionell gedeutet werden können. 80 Dazu bedienten sich auch schon die EMRK-Organe einer Betrachtungsweise, die man als funktional bezeichnen kann. Die EKMR akzeptierte die Dänische Volkskirche als durch Art. 9 EMRK Berechtigte und nicht als Grundrechtsverpflichtete, was nach dem organisationalen Ansatz nahe liegend gewesen wäre, da es sich um eine Staatskirche handelt (Nr. 7374/76, X / Dänemark, 158). Die Kündigung durch eine katholische Stiftung, betrachtete die EKMR nicht als staatlichen Akt, obwohl sie nach deutschem Recht als Körperschaft des öffentlichen Rechts errichtet ist (Nr. 12242/86, Rommelfanger, 63). Insofern besteht also Übereinstimmung zwischen der EMRK-Rechtsprechung und dem EuGH. 81

Manche Rechtsakte schließen von den Kirchen und Religionsgemeinschaften Organisationen unter staatlicher Kontrolle [Anh. A Kap. II Nr. 2.88 lit. a VO (EG) Nr. 2223/96] oder mit Gewinnerzielungsabsicht [Art. 686 Abs. 4 lit. b VO (EWG) Nr. 2454/93; Art. 21 Abs. 3 lit. b RL 85/362/EWG] ausdrücklich aus.

II. Mit wem führt die Europäische Union den religiösen Dialog?

247

grundes darstellt und daher eng an das Menschenrecht auf Religionsfreiheit angelehnt ist, kann sie nicht einfach auf Religionsgemeinschaften übertragen und zu deren Definition herangezogen werden. Insbesondere nimmt diese weite Religionsdefinition auch nichttheistische und atheistische Überzeugungen hinzu, was für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft korrekt ist, nicht jedoch für die Bestimmung des Begriffs der Religionsgemeinschaften. Dort nämlich, wo das Gemeinschaftsrecht auch Organisationen, die besagte Überzeugungen vertreten, einbeziehen will, nennt es sie ausdrücklich als „weltanschauliche Gemeinschaften“82 oder in ähnlicher Weise und stellt damit klar, dass der Begriff „Religionsgemeinschaft“ den theistischen Glaubensgemeinschaften vorbehalten ist.83 Nach einem Vorschlag Margiotta Broglios müsste man von einer Minimaldefinition aller europäischen Systeme ausgehen, indem man die Gleichförmigkeiten der Strukturen und Aktivitäten herausgreift und indem man die den verschiedenen religiösen Phänomenen gemeinsamen Dimensionen herausarbeitet.84 Ferner müsse eine solche Definition alle jene umfassen, die bereits in den einzelnen Ländern anerkannt und tätig sind. 85 Gewiss kann auch eine autonome Interpretation unionsrechtlicher Begriffe nicht völlig von den „mitgliedstaatlichen Vorstellungsbildern“86 absehen, denen sie entstammen, und gewiss bedient sich auch der EuGH zu Recht der Methode der wertenden Rechtsvergleichung, aber schließlich muss man doch alle jene Definitionen außer Acht lassen, die in den einzelnen Ländern gebräuchlich sind und nur die Heterogeni______________ 82

Z.B. in Art. 4 Abs. 2 RL 2000/78/EG und in der Kirchenerklärung von Amsterdam (Gemeinsame Erklärung Nr. 11 der Schlussakte). Ähnlich auch der EuGH im Urteil Steymann (Rs. 196/87, Rn. 1, 8f., 14). 83

Auch außerhalb des Rechtskreises der Europäischen Union gibt es auf europäischer Ebene Begriffsbestimmungen von Religion. In der Empfehlung 1202 (1993) des Europarates liest man: “Religion provides an enriching relationship for the individual with himself and his god, as well as with the outside world and the society in which he lives.” Die EKMR bestimmte in ihrer Entscheidung Nr. 7374/76 sogar den Begriff “Kirche”: „A church is an organised community based on identical or at least substiantially similar views.“ Danach bedarf es also zweier Elemente: Einer organisierten Gemeinschaft und einer gemeinsamen Glaubensüberzeugung. Für die Europäische Union ist diese Entscheidung freilich nicht verbindlich. 84

Margiotta Broglio, Fenomeno, 100.

85

Ebd. Auch Robbers möchte zum unionsrechtlichen Begriff der Religionsgemeinschaften alle diejenigen zählen, die in einem Mitgliedstaat bereits als solche anerkannt oder respektiert sind (Dialog, 755). Dem wird man aber auf jeden Fall dort Grenzen setzen müssen, wo ein Mitgliedstaat leichtfertig auch fragwürdige Organisationen einbezieht. 86

Oppermann, Europarecht², Rn. 682.

248

E. Die Partner des religiösen Dialogs

tät der einzelnen Regelungen widerspiegeln, wie auch Margiotta Broglio87 einräumen muss. Auch ist fraglich, ob das Phänomen der Religion sich so präzise in eine Definition fassen lässt, dass alles erfasst ist, was dazu gehört, und alles ausgeschlossen ist, was auszuscheiden ist. 88 Angesichts dieses Problems wird in der Lehre auch erwogen, gar keine fertigen juristischen Definitionen festzulegen, sondern die Entscheidung im Einzelfall der Verwaltung und Rechtsprechung zu überlassen,89 oder aber anstelle einer Definition nur mit einem „Paradigma von Religion“90 zu arbeiten. Das Grundproblem einer rechtlichen Definition von Religion liegt aber noch viel tiefer. Es fragt sich nämlich, ob es der Europäischen Union – wie auch den einzelnen Staaten – wegen ihrer religiösen Neutralität nicht von vornherein verwehrt ist, darüber zu urteilen, was unter Religion fällt und was nicht. Dagegen lässt sich natürlich einwenden, dass auch die weltlichen Institutionen mit Religionen zwangsläufig in Berührung geraten und daher nicht umhin kommen, sich einen Begriff von Religion zu bilden. Sie werden dem Gebot der religiösen Neutralität jedoch dann am besten gerecht, wenn sie zunächst vom Selbstverständnis der Religionsgemeinschaften ausgehen.91 Danach ist Religion zunächst einmal das, was sich selbst als solche bezeichnet. Wo das zu Missbräuchen führen würde, 92 müssen Beschränkungen und Eingriffe selbstverständlich möglich bleiben, doch entscheidend ist, dass die Religionen nicht von vornherein in eine Definition gezwängt werden, sondern zunächst einmal selbst zu Wort kommen. 93 Diese Lösung achtet die Eigenständigkeit der Sphäre des Religiösen so weit wie möglich und wird gleichzeitig dem Erfordernis nach Ordnung gerecht. Der ______________ 87

Margiotta Broglio, Fenomeno, 100.

88

Nach Einschätzung Ferraris waren bisherige Legaldefinitionen nicht erfolgreich (Church and State, 42). 89

Bijsterveld / Witteveen, Neue Religionsgemeinschaften, 181.

90

Vgl. Margiotta Broglio, der diesen Vorschlag aber ablehnt (Fenomeno, 102).

91

So ist gemäß Art. I-52 Abs. 3 VVE im Dialog mit den Religionsgemeinschaften deren Identität zu achten. 92

Es kann selbstverständlich nicht alles akzeptiert werden, was sich Religion nennt (vgl. ebd. 100). 93

Robbers drückt sich so aus: „Dem europäischen Verfassungsrecht gilt als Kirche, was sich als Kirche versteht und was nach dem allgemein bestehenden Verständnishorizont des Rechts als Kirche angesehen werden kann.“ (Dialog, 154). Auch nach Schnabel kann der Staat wegen seiner weltanschaulichen Neutralität die Religion nicht positiv definieren, sondern muss im Konsens mit den Religionsgemeinschaften Kriterien entwickeln (Stellung, 108=176). Nach Söbbeke-Krajewski (Acquis Communautaire, 192f.) obliegt es der Religionsgemeinschaft selbst, darzulegen, dass sie eine Religionsgemeinschaft ist, und die Europäische Union darf nur eine Plausibilitätskontrolle durchführen, wofür der private-inverstor-Test des EuGH hilfreich sein könnte.

II. Mit wem führt die Europäische Union den religiösen Dialog?

249

Ausgangspunkt für die Begriffsbestimmung ist also weniger in den nationalen Regelungen als vielmehr im Selbstverständnis der Religionen zu suchen. Dazu ist aber ein Dialog zwischen Recht und Religion notwendig. 94

b) Bezeichnungen für die Partner des religiösen Dialogs Während im vorhergehenden Abschnitt die europarechtliche Begrifflichkeit im Allgemeinen beleuchtet wurde, sollen nun im Speziellen die Bezeichnungen für die Partner des religiösen Dialogs untersucht werden. Dafür wird an manchen Stellen der Begriff „Religionsgemeinschaften“ verwendet: In Art. 2 Abs. 1 lit. a VO (EG) Nr. 550/97, Nr. 8.1 EWSA Stellungnahme vom 22.9.1999 und in Abschnitt II KOM (2002) 704 endg. Das letztgenannte Dokument bietet darüber hinaus noch weitere Begriffe, ohne jedoch eine systematische Verwendung erkennen zu lassen: „Religions- und Kirchengemeinschaften“ (Anm.# 13), „Kirchen“ (Nr. IV/2), Glaubens- und Religionsgemeinschaften“ (ebd.), „Kirchen und Religionsgemeinschaften“ (Nr. V/B). Diesen letzten Ausdruck „Kirchen und Religionsgemeinschaften“ verwandte die Europäische Kommission schon in ihrem Weißbuch über europäisches Regieren (S. 19). Er ist zur Bezeichnung der Gesprächspartner im religiösen Dialog sicherlich gut geeignet. Der „Kirchenartikel“ I-52 im Verfassungsvertrag führt eine etwas andere Begrifflichkeit ein. Sein erster Absatz, der die Kirchenerklärung von Amsterdam übernimmt, nennt „Kirchen, religiöse Vereinigungen und Gemeinschaften“, Abs. 2 fügt die „weltanschaulichen Gemeinschaften“ hinzu und Abs. 3, in dem erst wirklich der religiösen Dialog behandelt wird, bezieht sich dann einfach auf „diese Kirchen und Gemeinschaften“ zurück. Zum Begriff „Kirche“, der hier wieder begegnet, wurden eben schon in Abschnitt E.II.1.a) Ausführungen gemacht, so dass hier eine genauere Betrachtung unterbleiben kann. In der Wendung „religiöse Vereinigungen und Gemeinschaften“ muss sich das Adjektiv „religiös“ auch auf „Gemeinschaften“ beziehen, da dieser Ausdruck sonst zu weit gefasst und im vorliegenden Kontext ohne Sinn bliebe.95 „Religiöse Gemeinschaft“ ist nur eine stilistische Variante ______________ 94 95

Wie er von Messner gewünscht wird (Peut-on définir, 342).

Zu diesem Ergebnis führt auch ein Vergleich der Sprachen, die das Adjektiv voranstellen (z.B. „religieuze verenigingen en gemeenschappen“, „religious associations and communities“), mit denen, die es nachstellen (z.B. „associations et communautés religieuses“, „asociaciones o comunidades religiosas“), denn wenn „religiös“ nur zum unmittelbar benachbarten Substantiv gehörte, dann bezöge es sich im ersten Fall nur auf die Entsprechungen zu „Vereinigungen“ und im zweiten Fall nur auf die Entsprechun-

250

E. Die Partner des religiösen Dialogs

zu dem inhaltsgleichen Begriff „Religionsgemeinschaft“, die sich daraus erklärt, dass an dieser Stelle auch die Vereinigungen erwähnt werden und es mit der Adjektivkonstruktion möglich wird, sich auf beides zugleich zu beziehen. In den Sprachen, die keine zusammengesetzten Substantiva kennen, kommt es erst gar nicht zu einer sprachlichen Abweichung, weil die Entsprechungen zu „Religionsgemeinschaft“96 ohnehin immer mit einem Adjektiv gebildet werden. Lassen sich die Begriffe „religiöse Vereinigung“ und „religiöse Gemeinschaft“ unterscheiden?97 Wo das Gesetz verschiedene Begriffe verwendet, ist anzunehmen, dass es damit Unterschiedliches meint. Vachek vermutet, dass die religiöse Vereinigung im Unterschied zu einer religiösen Gemeinschaft wie etwa der jüdischen Kultusgemeinde nur begrenzte religiöse Ziele verfolgt wie zum Beispiel ein Orden oder karitative Verbände,98 doch bleibt er eine Begründung dafür schuldig. So wichtig die Unterscheidung zwischen einer Religionsgemeinschaft selbst und Organisationen, die nur im Umfeld einer solchen wirken und ihr zugehören oder zuordenbar sind, auch ist, 99 so muss doch bezweifelt werden, ob sie der Kirchenerklärung von Amsterdam bzw. dem Kirchenartikel des Verfassungsvertrags wirklich zugrunde gelegt wurde. Aus der Entstehungsgeschichte des Kirchenartikels im Verfassungsvertrag lässt sich, so weit ersichtlich, nichts über die Abgrenzung dieser beiden Begriffe

______________

gen zu „Gemeinschaften“, was aber mit einer Interpretation, die alle Sprachversionen gleichermaßen berücksichtigt, unvereinbar wäre. 96

Z.B. communautés religieuses, comunità religiose, religious communities, religiøse samfund usw. 97

Unbrauchbar für die Auslegung des Begriffs der „religiösen Vereinigung“ ist jene Stelle im Sekundärrecht, die einen ähnlichen Ausdruck verwendet, nämlich Art. 8 Abs. 2 lit. d der Datenschutz-RL 95/46/EG, der von einer „religiös … ausgerichteten Stiftung, Vereinigung oder sonstigen Organisation“ spricht. In der Gegenüberstellung zu den Stiftungen, die Sachgesamtheiten sind, wird „Vereinigung“ hier offensichtlich zur Bezeichnung der Personengesamtheiten verwendet. Der Ausdruck „sonstige Organisation“ lässt jedoch erkennen, dass der Adressatenkreis nicht auf bestimmte Rechtsformen eingeschränkt werden soll. Der zugehörige Erwägungsgrund Nr. 35 spricht von „staatlich anerkannten Religionsgesellschaften“, so dass sich in dieser Richtlinie wohl nicht auf eine systematische Verwendung der Begriffe schließen lässt. Die Datenschutz-VO (EG) Nr. 47/2001 spricht hingegen nur noch von religiös ausgerichteten Organisationen (Art. 10 Abs. 2 lit. e). 98 99

Vachek, Religionsrecht, 142.

Auch Margiotta Broglio sieht die Notwendigkeit, die Religionsgemeinschaften von den bloßen Vereinigungen mit religiösen Motiven abzugrenzen (Fenomeno, 100).

II. Mit wem führt die Europäische Union den religiösen Dialog?

251

gewinnen.100 Die unmittelbare Wortfolge spricht eher gegen Vacheks Vermutung, denn wenn mit religiösen Vereinigungen tatsächlich nur Organisationen mit religiösen Teilzwecken gemeint wären, so wären diese von allen drei genannten Organisationstypen die am schwächsten religiös geprägten, und es wäre dann nicht erklärbar, warum sie ausgerechnet in der Mitte zwischen den Kirchen und den religiösen Gemeinschaften genannt werden. Man gewinnt eher den Eindruck, dass die Vertragsparteien ohne Differenzierung in der Sache drei bereits vorhandene Bezeichnungen aneinandergereiht haben, um möglichst das ganze Spektrum an sprachlichen Varianten abzudecken.101 Im Grunde erübrigt sich eine begriffliche Differenzierung schon deshalb, weil an alle drei Tatbestandselemente dieselben Rechtsfolgen geknüpft werden. Die hier aufgestellte These wird durch die Beifügung des Abs. 3 im Verfassungsvertrag noch bekräftigt. Dieser nennt als Partner des religiösen Dialogs in der deutschen Version „diese Kirchen und Gemeinschaften“. Dabei bezieht sich „Kirchen“ eindeutig auf Abs. 1, während man beim Ausdruck „Gemeinschaften“ den Eindruck erhalten könnte, er beziehe sich sowohl auf die religiösen Gemeinschaften des Abs. 1 als auch auf die weltanschaulichen Gemeinschaften des Abs. 2. Dann wären die religiösen Vereinigungen des Abs. 1 als Teilnehmer am religiösen Dialog nicht erfasst. Die deutsche Version ist jedoch irreführend. Soweit ersichtlich verwenden die sonstigen Sprachfassungen in Abs. 2 einen anderen Ausdruck als in Abs. 1, also nicht wieder „Gemeinschaften“ ______________ 100 Der erste Textvorschlag, der von Robbers schon im Vorfeld des Vertrags von Amsterdam entworfen wurde und auf dessen Grundlage dann die Kirchenerklärung von Amsterdam und später der Kirchenartikel des Verfassungsvertrags entstanden, sprach allein von „religious communities“ und somit weder von Kirchen noch von religiösen Vereinigungen (Marcus-Helmons, Églises, 217). Der Vorschlag des Heiligen Stuhls sprach dann von „les Églises et les autres communautés religieuses“ (ebd. 218), womit die Kirchen besonders hervorgehoben werden sollten, aber gleichzeitig klargestellt wird, dass sie unter den Oberbegriff der religiösen Gemeinschaften fallen. 101

Interessant ist hier auch die Terminologie des EuGH im Urteil Steymann, wo er die Bhagwan-Bewegung öfters als „auf Religion oder Weltanschauung beruhende Vereinigung“ bezeichnet und diese Bewegung sich tatsächlich als Verein nach niederländischem Recht organisiert und sich auch selbst als Vereinigung bezeichnet hat. Vor diesem Hintergrund könnte man also die These vertreten, dass mit „religiöser Vereinigung“ die nationale Organisationsform des Vereins gemeint ist, während „religiöse Gemeinschaft“ bzw. „Religionsgemeinschaft“ den speziell für Religionen vorgesehenen Rechtsformen eines Mitgliedstaats vorbehalten ist. Aber abgesehen davon, dass diese begriffliche Unterscheidung sich zu sehr an der Terminologie der Mitgliedstaaten orientieren würde, lässt auch das erwähnte Urteil bei näherem Hinsehen erkennen, dass der EuGH die Bhagwan-Bewegung ebenso als Religionsgemeinschaft bezeichnet. Das bekräftigt wiederum die These, dass die beiden Begriffe im Gemeinschaftsrecht nicht Verschiedenes bezeichnen.

252

E. Die Partner des religiösen Dialogs

sondern etwa „Organisationen“, und Abs. 3 greift dann den Ausdruck von Abs. 2, nicht jenen von Abs. 1 auf. So spricht beispielsweise die englische Version in Abs. 1 von „religious communities“, in Abs. 2 von „philosophical and non-confessional organisations“ und in Abs. 3 von „these churches and organisations“, so dass der letztgenannte Ausdruck offensichtlich nur auf Abs. 2 zurückverweist. Die divergierenden Sprachfassungen können in diesem Fall leicht miteinander vereinbart werden, indem man auch das deutsche „Gemeinschaften“ in Abs. 3 nur auf die weltanschaulichen Gemeinschaften des Abs. 2 bezieht, was ohne sprachliche Überdehnung möglich ist. Dann verweist in Abs. 3 aber nur der Ausdruck „Kirchen“ auf Abs. 1. Nun kann die Teilnahme am religiösen Dialog aber nicht auf Kirchen beschränkt sein, weil es dem Ziel der Vorschrift widerspräche und völlig absurd wäre, wenn sogar die weltanschaulichen Gemeinschaften am Dialog teilnehmen könnten, die religiösen Gemeinschaften, die keine Kirchen sind, aber nicht.102 Das Stichwort „Kirchen“ muss demnach – wohl um der Kürze willen – als Stellvertreter für alle in Abs. 1 genannten Subjekte verstanden werden, was die hier vertretene These bestätigt, dass die drei Ausdrücke des Abs. 1 nicht drei verschiedene Gegenstände bezeichnen, sondern alle zusammen ein und denselben Adressatenkreis umschreiben – wenn auch mit unterschiedlichen Konnotationen, wie für den Begriff „Kirche“ bereits aufgezeigt wurde. Entgegen einzelnen Stimmen in der Lehre, welche die Unterscheidung von Religion und Weltanschauung als überholt betrachten,103 hält der Verfassungsvertrag zu Recht daran fest. Als Unterscheidungskriterium wird meist angegeben, dass die Weltanschauung jeden Bezug auf Transzendenz, also auf eine Gottheit, das Heilige oder eine übernatürliche Kraft ausklammert. 104 Manchmal wird aber auch danach unterschieden, dass die Religion einen offenbarten, die Weltanschauung hingegen einen menschlichen Inhalt hat105. Eine bloße Meinung stellt jedoch noch keine Weltanschauung dar, denn dazu bedarf es einer umfassenden Lehre, die auf die letzten Fragen nach Ursprung und Ziel der Welt oder den Sinn des menschlichen Lebens eine Antwort gibt. 106 Costamagna erblickt in Abs. 2 die Gefahr einer unglücklichen Gleichstellung von religiösen

______________ 102 Brok (Verfassung, 330) hingegen meint, die Kirchen würden als einzige religiöse Vereinigungen durch den Dialog angehört werden. 103

Einen Überblick zum Meinungsstand bringt Messner, Peut-on définir, 334.

104

Z.B. Vachek, Religionsrecht, 142; Messner, Peut-on définir, 333.

105

Z.B. Costamagna, Unione Europea, 171.

106

Vgl. Vachek, Religionsrecht, 142; Messner, Peut-on définir, 333.

II. Mit wem führt die Europäische Union den religiösen Dialog?

253

und weltanschaulichen Gemeinschaften, welche die Eigenart der Religion und auch der Religionsfreiheit gegenüber der bloßen Gedankenfreiheit verkennt.107

2. Schaffung eines Dialogstatus a) Warum ein unionsweit einheitlicher Status wünschenswert ist Die beiden vorangegangenen Abschnitte haben sich mit der Bestimmung von Begriffen wie „Kirche“, „Religionsgemeinschaften“ usw. beschäftigt. In Systemen der Kooperation zwischen der weltlichen Autorität und den Religionen geht die Definitionsfrage jedoch automatisch in die Anerkennungsfrage über.108 Welcher Rechtsstatus wird dem gewährt, was als Kirche oder Religionsgemeinschaft definiert worden ist? Auch das System des religiösen Dialogs, das sich in der Europäischen Union etabliert, tendiert zu einem Kooperationsmodell und wirft die Frage auf, welcher Status den als Partner des religiösen Dialogs identifizierten Kirchen und Religionsgemeinschaften zugestanden wird.109 Wie sich oben eine gemeinschaftsautonome Bestimmung der Begriffe als unumgänglich erwiesen hat, so zeigt sich hier, dass auch ein unionsweit einheitlicher Rechtsstatus wünschenswert wäre. 110 Die COMECE, welche die katholische Kirche im Gebiet der Europäischen Union vor den Organen der Europäischen Union vertritt, ist ein Zusammenschluss der Bischofskonferenzen der Mitgliedstaaten, der auf kirchlicher Rechtsgrundlage (c. 459 CIC) mit einem vom Apostolischen Stuhl gebilligten Statut errichtet wurde. Um jedoch auch nach weltlichem Recht handlungsfähig zu sein, musste die COMECE sich über den kanonischen Rechtsstatus hinaus gemäß dem belgischen Vereinsgesetz vom 25.10.1919 als „Association des Épiscopats de la Communauté Européenne – association internationale“ mit ______________ 107

Costamagna, Unione Europea, 171.

108

Bijsterveld / Witteveen, Neue Religionsgemeinschaften, 181.

109

Turowski betrachtet den fehlenden Körperschaftsstatus der Religionsgemeinschaften in den meisten Mitgliedstaaten als Hauptschwierigkeit für die Entwicklung eines Kooperationsverhältnisses mit der EG (Turowski, Verbindungsstellen, 213). 110

Angesichts der sehr unterschiedlichen Einstellungen der Mitgliedstaaten zu religiösen Gruppen hält auch Costamagna eine Art „supranationaler Anerkennung“ der Religionen für notwendig, jedoch nicht, damit diese eine aktive Rolle in der Europäischen Union übernehmen könnten, sondern im Gegenteil, damit klar gestellt wird, welche Gruppen für rein religiöse Tätigkeiten vom Europarecht ausgenommen werden, während für alle anderen Zwecke die nationalen Anerkennungsregimes aufrecht blieben (Unione Europea, 224).

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E. Die Partner des religiösen Dialogs

Sitz in Brüssel organisieren.111 Da dieses belgische Gesetz verlangt, dass mindestens eines der drei Mitglieder des Verwaltungsrates die belgische Staatsbürgerschaft besitzt, muss immer auch ein belgischer Bischof Mitglied sein, und im Falle der Auflösung geht das Vermögen an den Bischof von Mechelen.112 Eine solche Rechtslage beschränkt nicht nur das Recht der Kirche auf freie Organisation, sondern widerspricht auch dem Geist der europäischen Integration, indem sie die Bildung wirklich grenzüberschreitender gesamteuropäischer Organisationen durch bestimmte Staatsangehörigkeitserfordernisse behindert. Da hier eine nach kirchlichem Recht wirksam geschaffene Einrichtung von der weltlichen Rechtsordnung nicht direkt anerkannt wird, muss sie auf nationales Vereinsrecht zurückgreifen, weil geeignete supranationale Rechtsformen bislang fehlen. Bedenken gegen das belgische Vereinsrecht hegte jedoch auch die Kommission der Europäischen Gemeinschaften und führte ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Belgien wegen des Gesetzes vom 25.10.1919 und des Gesetzes vom 27.6.1921.113 Der Generalanwalt bejahte in seinen Schlussanträgen eine Verletzung der Niederlassungsfreiheit nach Art. 43 EGV. Dabei begegnete ihm jedoch das Problem, dass Gesellschaften ohne Erwerbszweck – und die beiden belgischen Gesetze betreffen gerade solche – durch Art. 48 Abs. 2 von der Niederlassungsfreiheit ausgenommen sind. Er behalf sich aber damit, dass der Begriff des Erwerbszwecks im Gemeinschaftsrecht weit auszulegen sei und daher nicht ausgeschlossen werden könne, dass zumindest einige der betroffenen Vereine so weit am Wirtschaftsleben teilnehmen, dass sie sich auf die Niederlassungsfreiheit berufen können (Nr. 12-14). Der EuGH hingegen überging dieses Problem in seinem Urteil und stützte sich stattdessen einfach auf das allgemeine Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit nach Art. 12 EGV, das er schon deshalb für verletzt ansah, weil die beiden belgischen Gesetze eine bestimmte Staatsangehörigkeit verlangten (Nr. 13). Dieser Fall zeigt, dass auch das Vereinigungsrecht von Organisationen ohne Erwerbszweck, ja sogar von ausdrücklich religiösen Organisationen unter gewisser Rücksicht dem Gemeinschaftsrecht unterfällt ______________ 111

Costamagna, Unione Europea, 185.

112

Ebd. 186.

113

EuGH Rs. C-172/98, Kommission / Belgien. Nach dem belgischen Gesetz vom 25.10.1919 „zur Verleihung der Rechtspersönlichkeit an internationale Vereinigungen, die einen philanthropischen, religiösen, wissenschaftlichen, künstlerischen oder pädagogischen Zweck verfolgen“ kann diesen Vereinigungen Rechtspersönlichkeit verliehen werden, wenn dem ausführenden Organ mindestens ein Mitglied belgischer Staatsbürgerschaft angehört. Nach Art. 26 des Gesetzes vom 27.6.1921 „zur Verleihung der Rechtspersönlichkeit an Vereinigungen ohne Erwerbszweck“ kann sich eine Vereinigung Dritten gegenüber nicht auf ihre Rechtspersönlichkeit berufen, wenn nicht drei Fünftel ihrer Mitglieder die belgische Staatsangehörigkeit besitzen.

II. Mit wem führt die Europäische Union den religiösen Dialog?

255

und dass diese Organisationen dadurch eine größere Freiheit erlangen können, ihre innere Struktur nach eigenen Vorstellungen auszugestalten. Ein weiteres Problem, das aus der Vielfalt der Rechtsformen von Kirchen und Religionsgemeinschaften in den Mitgliedstaaten entstand, wurde in Form einer schriftlichen Anfrage (E-1583/01) an die Kommission herangetragen. Während die Dänische Volkskirche nämlich beim Kauf von Orgeln eine EUAusschreibung durchführen muss, ist dies von den Kirchen in Schweden und Deutschland nicht verlangt, so dass dänische Orgelbauer häufig daran gehindert sind, sich für Aufträge in Schweden und Deutschland zu bewerben, aber auf ihrem Inlandsmarkt der Konkurrenz durch ausländische Produzenten ausgesetzt sind. Die Wurzel der Ungleichheit liegt darin, dass die Dänische Volkskirche eine Staatskirche ist, während es in Deutschland und Schweden keine Staatskirchen (mehr) gibt. Deshalb sind im Falle der Dänischen Volkskirche, wie die Kommission in ihrer Antwort ausführt, die Kriterien der RL 93/36/EWG für einen öffentlichen Auftraggeber, der zu einer EU-Ausschreibung verpflichtet ist, erfüllt. Die Untersuchung, ob nicht etwa auch die Kirchen in Deutschland, die als Körperschaften des öffentlichen Rechts organisiert sind und das Recht besitzen, Steuern zu erheben, nach dieser Richtlinie zur unionsweiten Ausschreibung verpflichtet wären, fehlt in der Antwort der Kommission, wurde aber inzwischen von der Lehre angestellt. So kommen Heinig und Koman weitgehend übereinstimmend zu dem Schluss, dass die Kirchen in Deutschland – von Sonderfällen abgesehen – grundsätzlich nicht als öffentliche Auftraggeber im Sinne der Richtlinie anzusehen sind, dass aber jede Kirche in Europa wegen des unterschiedlichen Status’ eigens geprüft werden müsste. 114 Auch wenn die in der schriftlichen Anfrage beanstandete Lage somit EGrechtskonform ist, befriedigt dieses Ergebnis in Hinblick auf den freien Wettbewerb im Binnenmarkt doch nicht ganz, aber daran wird sich nichts ändern, solange die Kirchen und Religionsgemeinschaften in der Europäischen Union so stark divergierende Rechtsstellungen haben. 115

______________ 114

Heinig, Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften, 455; Koman, Auswirkungen, 95. Die neue Vergabe-RL 2004/18/EG zählt in Anh. III Abschn. II die lokalen Kirchenverwaltungen in Dänemark ausdrücklich zu den öffentlichen Einrichtungen, während die Abschnitte zu Deutschland und Schweden nichts Vergleichbares enthalten. 115 Während die Kommission in der Antwort auf die erwähnte Anfrage davon ausging, dass Orgelkäufe sehr wohl gemeinschaftsrechtlich relevant sind, verneinte sie in einer anderen Anfragebeantwortung jede Kompetenz der Gemeinschaft in Bezug auf entschädigungslose Enteignungen kirchlicher Einrichtungen in Griechenland, weil die Eigentumsordnung in den Mitgliedstaaten nach Art. 295 EGV unberührt bleibe (Schriftliche Anfragen 296/87 und 1412/87).

256

E. Die Partner des religiösen Dialogs

Unterschiedlichen Status in den nationalen Rechtsordnungen haben aber nicht nur die traditionellen Kirchen, sondern auch – und vielleicht sogar in noch stärkerem Maße – die so genannten Sekten, die von manchen Mitgliedstaaten großzügig toleriert, von anderen aber als gefährlich bekämpft werden. 116 Uneinheitlich wird auch die Frage beantwortet, inwieweit sie überhaupt als Religionsgemeinschaften gelten können, oder ob es sich um reine Wirtschaftsunternehmen oder gar um kriminelle Organisationen handelt. Dass solche Probleme auch Kernbereiche des Gemeinschaftsrechts wie etwa die Grundfreiheiten berühren können, zeigt das Urteil Van Duyn (Rs. 41/74), in dem der EuGH entschied, dass das Vereinigte Königreich nicht gegen die Arbeitnehmerfreizügigkeit gemäß Art. 39 EGV verstieß, als es einer Niederländerin die Einreise verweigerte, um eine Stelle bei Scientology anzutreten. Um sich auf den Rechtfertigungsgrund der öffentlichen Ordnung berufen zu können, müsse der Mitgliedstaat die betreffende Organisation nicht gesetzlich verbieten, sondern es genüge, wenn die Behörden sie als eine Gefahr für die Gesellschaft bezeichnen und Verwaltungsmaßnahmen ergriffen haben, um die genannte Betätigung zu bekämpfen (Nr. 18/19). Obwohl das Vereinigte Königreich eigenen Bürgern, die eine Arbeit bei Scientology ausüben, keine Beschränkungen auferlegt, stellte der EuGH dennoch keine ungerechtfertigte Diskriminierung fest, weil ein Staat nach einem völkerrechtlichen Grundsatz eigenen Staatsangehörigen die Einreise oder den Aufenthalt auf seinem Hoheitsgebiet niemals versagen darf (Nr. 23).117 Da der EuGH im vorliegenden Fall die Implikationen mit der Religionsfreiheit der Einreisewilligen nicht geprüft hat, lässt sich auch nicht sagen, ob er Scientology als Religionsgemeinschaft betrachtet oder nicht.118 ______________ 116

Vgl. Weninger, Aspekte, 99.

117

Diese Entscheidung kann kritisiert werden, weil das Vereinigte Königreich gegen diesen völkerrechtlichen Grundsatz ja nicht verstoßen hätte, wenn es auch die Niederländerin hätte einreisen lassen. Schinkele (Kirchen als Arbeitgeber, 60) und Vachek (Religionsrecht, 92) meinen, der EuGH entschiede heute, nachdem er seine Judikatur geändert hat, wohl anders. Aber selbst wenn er heute Beschränkungen bei der Beschäftigung auch gegen eigene Staatsbürger verlangen würde, so änderte das nichts am grundsätzlichen Problem, dass die Aktivitäten entsprechender Vereinigungen von den Mitgliedstaaten ganz unterschiedlich bewertet werden. 118 Diese Frage umging er auch im Urteil Rs. C-54/99, Église de scientologie: Der Scientology International Reserves Trust konnte eine Auslandsinvestition für die Association Église de scientologie de Paris nicht durchführen, weil sie von den französischen Behörden aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit nicht genehmigt wurde. Der EuGH befand, dass die Mitgliedstaaten die Kapitalverkehrsfreiheit gemäß Art. 58 Abs. 1 lit. b EGV zwar bei schweren Gefährdungen für Grundinteressen der Gesellschaft beschränken können, jedoch nicht mit einer Regelung wie der französi-

II. Mit wem führt die Europäische Union den religiösen Dialog?

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Der unterschiedliche Status der verschiedenen Religionen in den Mitgliedstaaten verursacht aber nicht nur Binnenmarktprobleme, er widerspricht auch dem Wesen der meisten Kirchen und Religionsgemeinschaften, da diese ihrer Eigenart nach nämlich keine nationalen Grenzen kennen. 119 Das gilt jedenfalls für die katholische Kirche, die Freikirchen, den Islam, die neuen religiösen Bewegungen und einige fernöstliche Religionen, die sich allesamt als weltumspannende Gemeinschaften verstehen.120 Was die katholische Kirche betrifft, so stand sie der Zersplitterung Europas in eine Vielzahl von Nationalstaaten immer eher skeptisch gegenüber. Sie versteht sich in allen Ländern als ein und dieselbe – nicht das eine Mal als öffentlich rechtliche Körperschaft und das andere Mal als Kultverein oder anerkannte Religionsgesellschaft. Heute bietet die Europäische Union die Chance, diese Zersplitterung wieder zu überwinden, und dabei ist der Völker verbindende Charakter der Religionen von Vorteil. Wenn die Union nun ein Raum ohne Binnengrenzen und ein Raum des Rechts (Art. 2 EUV) sein will, dann sollte es auch möglich werden, sich als Religionsgemeinschaft grenzüberschreitend rechtlich zu organisieren. Welchen Schwierigkeiten ein solches Unterfangen heute noch begegnet, wurde oben im Beispiel der COMECE gezeigt, die, obwohl sie die katholische Kirche in der gesamten EU repräsentiert, nur als belgischer Verein Rechtspersönlichkeit im weltlichen Bereich erlangen konnte. Wenn eine Religionsgemeinschaft gegenüber der EG rechtlich handeln möchte, kann sie dies bisher nur in ihren nationalen Rechtsformen, soweit sie darin überhaupt als Rechtssubjekt anerkannt ist.121 Das nützt ______________

schen. Danach musste der Investor nämlich eine vorherige Genehmigung einholen, wenn er Investitionen durchführen wollte, die geeignet waren, die „öffentliche Ordnung und Sicherheit“ zu gefährden. Dieser unbestimmte Begriff wurde jedoch nicht näher konkretisiert, so dass ein Investor letztlich nie genau wissen konnte, wann nun eine Genehmigung erforderlich ist und wann nicht. Da dies gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit verstößt, entschied der EuGH für das Vorbringen von Scientology. Entscheidungsrelevant war also allein die Frage der Vorhersehbarkeit einer Genehmigungspflicht, nicht jedoch Fragen der Religionsfreiheit. 119

Nach Dalla Torre tendiert das religiöse Phänomen von Natur aus dazu, die Grenzen der staatlichen politischen Gemeinschaft zu überwinden (Organizzazioni internazionali religiose, 427). 120

Hingegen sind die orthodoxen und die aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen normalerweise nach Nationalstaaten gegliedert, doch lässt sich hier gegenwärtig die Tendenz beobachten, sich von der Anbindung an den eigenen Staat zu lösen und sich transnational mit den Schwesterkirchen zu verbünden. Wenn eine solche Kirche sich aber aus Gründen der Tradition oder ihres Selbstverständnisses gegen diese Option entschieden will, so muss ihr das natürlich ungeachtet der hier vertretenen Auffassung zugunsten eines transnationalen Status möglich bleiben. 121

Das beklagt auch Lecheler, Ansätze, 48.

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E. Die Partner des religiösen Dialogs

ihr aber wenig, wenn sie als ganze – d.h. unionsweit als Einheit – handeln möchte und nicht als eine ihrer nationalen Ausprägungen oder in 25 Rechtsformen zugleich.122 Die Existenz eines rechtlichen Instruments auf europäischer Ebene, mit dem die Kirchen und Religionsgemeinschaften anerkannt würden, hälfe ihnen schließlich auch, sich vor der Europäischen Union besser zu positionieren.123 Als letztes Argument für einen unionsweit einheitlichen Status von Kirchen und Religionsgemeinschaften soll hier noch das Vorgehen gegen Organisationen genannt werden, die unter dem Deckmantel der Religion kriminellen oder ähnlichen Aktivitäten nachgehen. Solche können nämlich leicht in Mitgliedstaaten Unterschlupf finden, die den Religionsstatus „großzügig“ handhaben, und von dort aus die Erleichterungen des Binnenmarktes nützen, um ihr Unwesen auf die gesamte Union auszudehnen. 124 Während die Staaten im 19. Jahrhundert die institutionalisierten Religionen fürchteten, weil sie eine Konkurrenz zur noch nicht ganz gefestigten Institution des Staates bildeten, stellen heute gerade die nicht-institutionalisierten Religionen eine Gefahr dar. Sie sind nämlich nicht greifbar und undurchsichtig, während die als solche organisierten Religionsgemeinschaften als vertrauenswürdige Partner des Staates in Erscheinung treten können.125 Denen, welche die Schaffung eines einheitlichen Status für Kirchen und Religionsgemeinschaften auf EU-Ebene für unmöglich halten, weil die nationalen Systeme so unterschiedlich sind, hält Vachek entgegen, dass die gesamte Geschichte der europäischen Integration zeige, dass es kein zu kompliziertes Gebiet, sondern nur einen Mangel an politischem Willen gebe.126

______________ 122

Abzulehnen ist daher die Ansicht Söbbeke-Krajewskis (Acquis Communautaire, 282), wonach der Zugang einer Organisation zum Dialog davon abhängen soll, ob sie nach ihrem nationalen Recht den Status einer religiösen oder weltanschaulichen Organisation innehat. 123

Vgl. Torfs, Which relationships, 86.

124

Vgl. Europäisches Parlament, Entschließung „Zu den Sekten in Europa“ (29.2.1996), Erwägungsgrund E. 125 Vgl. Nientiedt, Frankreich, 409f: Das französische Laizitäts-Gesetz von 1905 hat eine Privatisierung der Religion angestrebt. Das wurde heute erreicht und genau das ist die Gefahr. Die institutionalisierten Religionen hingegen stehen heute an der Seite des Staates. 126

Vachek, Religionsrecht, 431.

II. Mit wem führt die Europäische Union den religiösen Dialog?

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b) Warum Statusfragen dennoch Sache der Mitgliedstaaten bleiben Auch wenn aus verschiedenen Gründen ein unionsweit einheitlicher Status von Kirchen und Religionsgemeinschaften wünschenswert wäre, so gibt es doch auch ernst zu nehmende Gegenargumente und vor allem müsste zuerst die rechtliche Möglichkeit eines solchen Status geklärt werden. Nach dem Prinzip der begrenzten Ermächtigung (Art. 5 Abs. 1 i.V.m. Art. 7 Abs. 1 EGV) kann die Europäische Gemeinschaft nur im Bereich der Kompetenzen tätig werden, die ihr von den Mitgliedstaaten in den Gründungsverträgen ausdrücklich übertragen worden sind. Da ihr abgesehen von Art. 13 EGV genuin religionsrechtliche Kompetenzen nie übertragen wurden, kann sie im Bereich der Religion nur so weit tätig werden, als andere Kompetenzen sich mit diesem überschneiden. Was den Status von Kirchen und Religionsgemeinschaften betrifft, wäre an Befugnisse im Korporationsrecht bezüglich juristischer Personen und Gesellschaften zu denken, die sich auf Art. 44 Abs. 2 lit. g und Art. 293 SpStr. 3 EGV stützen können. Da diese Rechtsgrundlagen mit der Niederlassungsfreiheit zusammenhängen, ist zu beachten, dass sie gemäß Art. 48 Abs. 2 EGV nur auf Gesellschaften mit Erwerbszweck anwendbar sind. Nun ist „Erwerbszweck“ gewiss weit auszulegen, doch fallen rein religiöse, karitative, kulturelle oder soziale Zielsetzungen jedenfalls nicht darunter. 127 Der Generalanwalt ging im oben bereits besprochenen Fall Kommission / Belgien (Rs.C-172/98) zwar so weit, unter Umständen sogar Vereinigungen, die einen philanthropischen, religiösen oder ähnlichen Zweck verfolgen, miteinzubeziehen, doch räumte er selbst ein, dass das nur in einigen Fällen geschehen kann, wo entsprechende Vereinigungen auch einen Erwerbszeck verfolgen, und hielt ausdrücklich fest, dass selbstverständlich nicht alle der in Frage stehenden Vereinigungen, die am Wirtschaftsleben teilnehmen können, unter das Gemeinschaftsrecht fallen und sich auf die Niederlassungsfreiheit berufen können (Rn. 14).128 Somit können nur einzelne religiöse Vereinigungen erfasst sein, die

______________ 127 Müller-Graff, Art. 48 EGV, Rn. 3. Weisbrod zweifelt sogar an der Einschlägigkeit des Art. 44 Abs. 2 lit. g EGV als Rechtsgrundlage zur Schaffung des Europäischen Vereins, obwohl dieser laut Statut auch Erwerbszwecke verfolgen kann (Europäisches Vereinsrecht, 261). 128

Der EuGH äußerte sich in seinem Urteil leider nicht zum Anwendungsbereich des Art. 48 Abs. 2 EGV, sondern stützte sich lediglich auf Art. 12 EGV und setzte den Anwendungsbereich des Vertrags stillschweigend voraus, woraus nicht geschlossen werden kann, dass religiöse Vereinigungen generell von der Niederlassungsfreiheit erfasst sind.

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E. Die Partner des religiösen Dialogs

sich wirtschaftlich betätigen, wie etwa Klöster mit eigenen Wirtschaftsbetrieben, aber auf keinen Fall die Kirchen und Religionsgemeinschaften selbst. 129 Eine gewisse Rechtsetzungsbefugnis auf dem Gebiet der Religion beinhaltet hingegen Art. 13 EGV, der religiöse Ungleichbehandlungen beseitigen will und damit auf den ersten Blick wie geschaffen scheint, um auch den ungleichen Status der Religionsgemeinschaften in den Mitgliedstaaten zu vereinheitlichen. Zwar lässt diese Bestimmung in erster Linie an Diskriminierungen von Einzelmenschen denken, doch wird in der Lehre durchwegs bejaht, dass auch juristische Personen Berechtigte sein können, sofern aufgrund ihrer Eigenart ein Diskriminierungsmotiv auf sie anwendbar ist,130 was bei Religionsgemeinschaften und dem Motiv der Religion ja eindeutig der Fall ist. Außerdem können Rechtsakte auf der Grundlage von Art. 13 Abs. 1 EGV ohne weiteres rechtsangleichend wirken, was aus Abs. 2 hervorgeht, welcher die nicht harmonisierenden Maßnahmen mit einem erleichterten Verfahren regelt. Einschränkend wirkt sich jedoch aus, dass Art. 13 nur im Rahmen der durch den EGV schon übertragenen Zuständigkeiten angewandt werden kann. Er schafft also keine neue Kompetenzgrundlage, sondern setzt eine solche voraus. 131 Da nun die Europäische Gemeinschaft, wie bereits dargelegt, keine Kompetenz über den Status juristischer Personen ohne Erwerbszeck besitzt, verleiht ihr Art. 13 auch keine Befugnis, diesen Status diskriminierungsfrei zu gestalten. Wenn eine gemeinschaftsrechtliche Kompetenzgrundlage zu schwach ist, muss geprüft werden, ob dieser Mangel nicht mit den Harmonisierungsinstrumenten der Art. 94f. EGV oder mit der „Lückenschließungsklausel“ des Art. 308 EGV kompensiert werden kann, doch dürfen all diese Instrumente nicht zu einer Aushöhlung des Prinzips der begrenzten Ermächtigung führen. Maßnahmen zur Rechtsangleichung nach Art. 94 und 95 EGV setzen voraus, dass der Gemeinsame Markt bzw. der Binnenmarkt betroffen sind. Nun berühren die in Abschnitt E.II.2.a) genannten Beispiele tatsächlich die Grundfreiheiten und den Wettbewerb. Dass die kirchliche Praxis bei Orgelkäufen oder die Einreisebeschränkung für Angehörige gefährlicher Organisationen nicht gegen Gemeinschaftsrecht verstieß, spricht nicht gegen, sondern sogar für Maßnah______________ 129

Zur Brauchbarkeit des europäischen Gesellschaftsrechts für religiöse Vereinigungen siehe Abschnitt E.II.2.b). 130

Vgl. Zuleeg, Art. 13 EGV, Rn. 13. Die Anwendbarkeit auch auf Kirchen setzt Vachek selbstverständlich voraus (Religionsrecht, 245 und 433). 131

„Die Rechtsangleichung ist in diesem Zusammenhang kein eigenständiges Sachgebiet, sonst wären alle erdenklichen Gegenstände der Rechtsetzung erfasst.“ (Zuleeg, Art. 13 EGV, Rn. 12). Vgl. auch Streinz, Art. 13 EGV, Rn. 12. Heinig versteht den Ausdruck „im Rahmen der Zuständigkeiten“ zu Recht restriktiv im Sinne von echten Kompetenzen, nicht im Sinne der Aufgaben nach Art. 2f EGV (Art. 13 EGV, 219).

II. Mit wem führt die Europäische Union den religiösen Dialog?

261

men zur Rechtsangleichung. Denn wo Freiverkehrshindernisse sich bereits mit Hilfe des bestehenden Gemeinschaftsrechts beseitigen ließen, weil die mitgliedstaatlichen Restriktionen nicht rechtfertigungsfähig sind, bedürfte es ohnehin keiner gemeinschaftlicher Harmonisierungsmaßnahmen.132 Nun sind für eine Rechtsangleichung aber unmittelbare (Art. 94) bzw. spürbare (Art. 95) Auswirkungen verlangt, und gerade diesen erforderlichen Schweregrad erreichen die genannten Beispiele nicht, handelt es sich doch nur um Einzelfälle in bloßen Randbereichen des Marktes. Außerdem ist in beiden Bestimmungen zur Rechtsangeleichung das Verhältnismäßigkeitsprinzip zu beachten, so dass bei einer geringen Marktrelevanz, wie im vorliegenden Fall, keinesfalls eingriffsintensive Mittel angewandt werden dürften. Die Schaffung eines unionsweit einheitlichen Rechtsstatus für Kirchen und Religionsgemeinschaften ließe sich aber aus der Natur der Sache heraus nur durch eine Maßnahme bewerkstelligen, die den Mitgliedstaaten überhaupt keinen Spielraum zu eigenständiger Ausgestaltung mehr gewährte und die somit in keinem Verhältnis zu den abzubauenden Beeinträchtigungen stünde. Die Anwendbarkeit der Lückenschließungsklausel des Art. 308 EGV, die gegenüber den Art. 94 und 95 lex generalis ist, setzt voraus, dass damit eines der Ziele der Gemeinschaft, die vor allem in den Art. 2-4 EGV aufgelistet sind, erreicht werden soll. Dass ein einheitlicher Status dem Wesen der Kirchen und Religionsgemeinschaften besser entspräche, die sich von vornherein als grenzüberschreitende Gemeinschaften verstehen, lässt sich keinem dieser Ziele zuordnen. In Frage kommen vielmehr wieder nur die Grundfreiheiten und der unverfälschte Wettbewerb, so dass Art. 308 EGV als Kompetenzgrundlage für die Schaffung eines einheitlichen Rechtsstatus aus denselben Gründen ausscheiden muss, wie oben schon die Art. 94 und 95 EGV.133 Allen drei Rechtsgrundlagen ist gemeinsam, dass sie nur bestehende Befugnisse und Tätigkeiten der Gemeinschaft ergänzen und abrunden, nicht jedoch eine selbstständige und allumfassende Rechtsetzungskompetenz schaffen wollen. Wenn nun aber sogar Kirchen und Religionsgemeinschaften einer Gemeinschaftskompetenz zur Schaffung europäischer Gesellschaftsformen unterlägen, so wäre wohl überhaupt kein Gebiet mehr zu finden, das aus einer solchen Kompetenz noch herausfiele. Das würde die drei genannten Rechtsgrundlagen jedoch überdehnen. Es müssen folglich alle drei ausscheiden. Aber selbst wenn jemand aus ______________ 132 133

Leible, Art. 95 EGV, Rn. 15.

Während die Art. 94 und 95 EGV auf eine Vereinheitlichung der nationalen Vorschriften abzielen, dient Art. 308 EGV dazu, einen eigenen Gemeinschaftstitel zu schaffen, der neben den nationalen besteht und diese überlagert (Streinz, Art. 308 EGV, Rn. 29). Die Schaffung eines eigenen Gemeinschaftsstatus, der die nationalen unberührt lässt, wird – jedoch in einem anderen Sinne – im folgenden Abschnitt behandelt.

262

E. Die Partner des religiösen Dialogs

irgendeinem Grund eine entsprechende Kompetenz der Gemeinschaft annehmen wollte, so wäre sie dennoch wetigehend rechtlich daran gehindert, diese auszuüben. Denn nicht wenige Mitgliedstaaten haben der katholischen Kirche in Konkordaten, die als Altverträge den Schutz des Art. 307 Abs. 1 EGV genießen, einen bestimmten Rechtsstatus zugesichert, was einer gemeinschaftlichen Vereinheitlichung entgegensteht. Da eine Kompetenz nach all dem bisher Gesagten ohnehin fehlt, erübrigt sich eine Prüfung nach dem Subsidiaritätsprinzip (Art. 5 Abs. 2 EGV), das ja eine Kompetenzausübungsschranke darstellt. Käme es doch zur Anwendung, so spräche es für eine Regelung auf europäischer Ebene, weil ein einheitlicher Status nur von der EG und nicht von den Mitgliedstaaten geschaffen werden kann. Mangels Kompetenz muss auch nicht geprüft werden, ob die Europäische Union durch die Schaffung eines einheitlichen Status die nationale Identität der Mitgliedstaaten verletzen würde, die sie nach Art. 6 Abs. 3 EUV zu achten hat. Im Unterschied zum Subsidiaritätsprinzip spräche die Achtung der nationalen Identität aber zumindest bei einigen Mitgliedstaaten gegen eine Regelung auf europäischer Ebene.134 Nach der Kirchenerklärung von Amsterdam (11. Erklärung der Schlussakte) achtet die Europäische Union den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, und beeinträchtigt ihn nicht. Da es sich bei dieser Kirchenerklärung um europäisches soft law handelt, kann zwar nicht aus ihr gefolgert werden, dass die Union keine Kompetenz zur Vereinheitlichung des Status hat, doch bewirkt sie als Auslegungshilfe zu den Verträgen, dass die zu prüfenden Kompetenzgrundlagen eng zu interpretieren sind.135 Im Europäischen Verfassungsvertrag erhält sie in Art. I-52 Abs. 1 Verfassungsrang, womit die Inkompetenz der EU auf höchster normativer Ebene festgeschrieben wird. Dafür, dass Statusfragen Sache der Mitgliedstaaten bleiben, lassen sich durchaus auch gute Argumente anführen. So werden in einem besonders emotional geladenen Bereich historisch gewachsene Strukturen geschützt, die in den einzelnen Ländern nicht selten nach längeren Religionskämpfen den gesellschaftlichen Frieden gesichert haben. Da somit der Status der Kirchen ______________ 134

So vor allem bei denjenigen Ländern die eine Art Staatskirche haben wie Dänemark, Griechenland oder das Vereinigte Königreich. Aber auch der Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts, den die Kirchen in Deutschland und Österreich besitzen, gehört nach der Meinung zahlreicher Autoren zur nationalen Identität, vgl. Bijsterveld, Institutional relationship, 28; Robbers, European Community Law 54; Winter, Verhältnis, 901. 135 Das Ziel der Kirchenerklärung, den nationalen Status zu sichern, ist in der Lehre unumstritten, vgl.: Potz, Europas Seele, 8; Marcus-Helmons, Églises, 215.

II. Mit wem führt die Europäische Union den religiösen Dialog?

263

und Religionsgemeinschaften in mehreren Mitgliedstaaten tatsächlich Teil der nationalen Identität ist, fehlt es weitgehend schon am politischen Willen zu einer Vereinheitlichung. Vor allem aber darf nicht übersehen werden, dass die einzelnen Mitgliedstaaten sehr unterschiedliche Rechte und Pflichten an die Verleihung eines Status als Religionsgemeinschaft knüpfen und es, wie die Europäische Kommission für Menschenrechte136 bekräftigt hat, legitim ist, für ein Mehr an Rechten auch höhere Anforderungen zu stellen. Verständlicherweise verlangt Deutschland für die Verleihung des Status einer Körperschaft öffentlichen Rechts, mit dem das Recht verbunden ist, Steuern zu erheben, mehr als England, wo Religionsgemeinschaften mit Ausnahme der Anglikanischen Kirche keine Stellung erhalten, die wesentlich über die eines freiwilligen Vereins hinausgeht,137 und wo die einzige finanzielle Erleichterung in einer Steuerermäßigung für Spenden besteht. Schließlich scheinen die großen Kirchen auch selbst kein übermäßiges Interesse an einem unionsweit einheitlichen Status zu haben, denn sonst hätten sie ja nicht den Vorschlag für die Kirchenerklärung von Amsterdam eingebracht. Erst wenn bereits ein konkretes Konzept für einen solchen Status ausgearbeitet wäre, ließe sich beurteilen, ob er über den Vorteil, unionsweit einheitlich agieren zu können, hinaus auch inhaltlich besser wäre als der Durchschnitt der gegenwärtigen Rechtsstellungen in den Mitgliedstaaten, von denen manche für die Kirchen sehr günstig und andere eher nachteilig sind. Angesichts dieses Risikos scheinen diese sich lieber mit dem status quo zufrieden zu geben.138

c) Einheitlicher Status in nur einem Bereich: Dem religiösen Dialog Bisher wurde festgestellt, dass die Schaffung eines unionsweit einheitlichen Status’ für Kirchen und Religionsgemeinschaften einerseits aus verschiedenen Gründen zwar wünschenswert wäre [Abschnitt E.II.2.a)], aber anderseits mangels Kompetenz der Europäischen Union nicht möglich ist [Abschnitt E.II.2.b)]. Ein Ausweg aus diesem Dilemma ist aber bereits in der Existenz des religiösen Dialogs vorgezeichnet. Wenn die Europäische Union nämlich mit den Kirchen und Religionsgemeinschaften einen Dialog führt, kommt sie nicht umhin, ihnen zu diesem Zweck eine Art „Dialogstatus“ zuzu______________ 136

EKMR, Nr. 17522/90, Iglesia Bautista, Rn. 2.

137

Vgl. McClean, United Kingdom, 562.

138

So befürchtet auch Robbers, dass ein europaweites staatskirchenrechtliches System die Vielfalt missachten, eine allgemeine Diskussion über Staat und Kirche heraufbeschwören und unter den Staaten zu Gewinnern und Verlierern führen würde. (An article, 70). Skeptisch zu einer rechtlichen Position der Kirchen in der EU auch Torfs, Which relationship, 85.

264

E. Die Partner des religiösen Dialogs

gestehen.139 In seiner Stellungnahme vom 14.2.2006 hält der EWSA die Schaffung eines regelrechten Systems zur Akkreditierung zivilgesellschaftlicher Organisationen (Nr. 3.9) und die Verleihung des Status einer zugelassenen Organisation (Nr. 4.2.1) für unumgänglich.140 Das gilt auch für die religiösen Organisationen. Dazu bedarf die Europäische Union keiner gesonderten Ermächtigung, weil diese bereits mit der Befugnis zum Dialog notwendig mitgegeben ist. Sie greift damit auch nicht unzulässigerweise in die Kompetenz der Mitgliedstaaten ein, weil der europäische Dialogstatus nur neben die nationalen Rechtsstellungen hinzutritt und diese rechtlich nicht verletzt oder gar ersetzt.141 Somit wird die Zuerkennung eines Dialogstatus der vertikalen Kompetenzverteilung gerecht und erfüllt gleichzeitig auch das Anliegen eines unionsweit einheitlichen Status, indem sie einen solchen wenigstens für den begrenzten Bereich des Dialogs schafft, so dass die jeweilige Kirche oder Religionsgemeinschaft zumindest, insofern sie Dialogpartnerin ist, vor der Europäischen Union als Einheit auftreten kann. Dabei ist der Dialogstatus wirklich ein Rechtsstatus, da er für seinen Träger ein Bündel an Rechten und Pflichten mit sich bringt – z.B. das Recht auf Information oder die Pflicht zu Loyalität –, so dass dieser als Rechtssubjekt angesehen werden muss.142 Dieser Rechtsstatus ist jedoch eng auf den Zweck des Dialogs mit der Europäischen Union begrenzt und ermächtigt daher nicht zum rechtsgeschäftlichen Handeln gegenüber Dritten. So wie die meisten Mitgliedstaaten bereits vorgehen, so muss auch die ______________ 139

Schon durch die Kirchenerklärung von Amsterdam werden Kirchen und Religionsgemeinschaften von der EG als Institutionen wahrgenommen, erhalten jedoch noch keine gemeinschaftsrechtliche korporative Dimension, die über die von den Mitgliedstaaten gewährte Rechtsstellung hinausginge (Glockentin, Einfluss, 96). Dazu kommt es aber sehr wohl ansatzweise durch den Dialogstatus. Die Europäische Union entspricht damit der in Europa anders als in den USA prinzipiell vorhandenen Bereitschaft, den Religionsgemeinschaften einen spezifischen Status einzuräumen (Potz, Status, 35). 140

Die Kommission hat eine Akkreditierung hingegen stets abgelehnt, weil sie das Spektrum an Dialogpartnern möglichst breit halten möchte, vgl. KOM (2000) 11 endg., Nr. 2.4. 141

Ventura ist darin zuzustimmen, dass der Dialog keine spezielle Kompetenz der Gemeinschaft impliziert, den Status der Kirchen und Religionsgemeinschaften in ihrem Verhältnis zu den Staaten zu regeln (Laicità, 202), doch ihr Verhältnis zur Gemeinschaft liegt auf einer anderen Ebene. Schwarz hält es durchaus für denkbar, dass es zur Ausbildung gesamteuropäischer Standards kommt, ohne dass deshalb die nationalstaatlichen Regelungen obsolet würden (Religionsfreiheit, 54). 142

Dass beispielsweise die COMECE von den EU-Institutionen nicht rechtlich und auch faktisch erst nach langem Bemühen anerkannt wurde (Treanor, L’Église et l’Europe, 207), dürfte in einem rechtlich verbindlichen Dialogsystem eigentlich nicht vorkommen.

II. Mit wem führt die Europäische Union den religiösen Dialog?

265

Europäische Union zunächst den Begriff der anzuerkennenden Gemeinschaften klären, dann das Zutrittsverfahren regeln143 und schließlich entscheiden, wer auf die Liste kommt.144 Wem ist der Dialogstatus nun zu verleihen und wem nicht? Ohne Frage hebt sich der religiöse Dialog vom allgemeinen Dialog ab, den die Europäische Union mit allen ihren Bürgern zu pflegen bemüht ist und an dem schlichtweg jeder schon aufgrund der Meinungsfreiheit und des Demokratieprinzips teilnehmen kann. Ferner ist der religiöse Dialog vom zivilen und sozialen Dialog abzugrenzen, so dass sich für ihn ein ganz spezifischer Kreis von Dialogteilnehmern ergibt. Weder das derzeit in Kraft stehende Unionsrecht noch der Verfassungsvertrag bieten Kriterien zur Auswahl der Teilnehmer am religiösen Dialog, sondern stecken nur den Rahmen ab, innerhalb dessen solche sich halten müssen. Die Europäische Kommission und der Wirtschafts- und Sozialausschuss haben in einigen Dokumenten der letzten Jahre, denen jedoch allenfalls Selbstverpflichtungscharakter zukommt, die Auswahlkriterien für den zivilen Dialog zu präzisieren versucht. Obwohl sie dabei ausdrücklich auch die Religionsgemeinschaften miterfassen,145 sind die Kriterien doch spürbar auf die eigentlichen Akteure der Zivilgesellschaft zugeschnitten, so dass im Folgenden zu prüfen ist, wie weit sie für die Partner des spezifisch religiösen Dialogs angepasst werden müssen.146 Dazu sind auch die Auffassungen in der Lehre zu ______________ 143

Der EWSA sieht in seiner Stellungnahme vom 14.2.2004 bereits ein dreidimensionales Verfahren zur Beurteilung der Repräsentativität vor (Nr. 5.5): Die Beurteilung der Statuten der Organisation und deren Anwendung; die Verankerung der Organisation in den Mitgliedstaaten; Qualitative Kriterien. 144

So Ibán (Pertinence, 73), der aufzeigt, dass im Grunde alle Mitgliedstaaten einschließlich Frankreich solche Listen anerkannter Religionsgemeinschaften führen, und der wie selbstverständlich davon ausgeht, dass auch die Europäische Union solche entwickeln wird. Die online-Datenbank CONECCS der Kommission, listet zwar unter den zivilgesellschaftlichen Organisationen auch viele religiöse auf, doch dient dies allein der Information über das Spektrum entsprechender Organisationen in Europa, ohne dass damit eine Form von Anerkennung seitens der EU verbunden wäre: http://ec. europa.eu/civil_society/coneccs/index_de.htm [9.5.2006]. Die Kommission erwägt jedoch, CONECCS in ein verbindliches Registriersystem umzuwandeln [SEK (2005) 1300/5, Nr. 4]. Auch nach Gonzalez kennen alle Mitgliedstaaten, selbst die laizistischen, eine Form der Anerkennung (Convention, 59). 145

EWSA, Stellungnahme vom 22.9.1999, Nr. 8.1: „Religionsgemeinschaften“. EK, Weißbuch „Zivilgesellschaft“, 19: „Kirchen und Religionsgemeinschaften“. 146

Kirchen und Religionsgemeinschaften dürfen gegenüber Organisationen der Zivilgesellschaft nicht diskriminiert werden (Tempel, position institutionnelle, 20). Die Verschiedenheit der Religionen von anderen Gesprächspartnern darf nicht übersehen werden (Ventura, Laicità, 229).

266

E. Die Partner des religiösen Dialogs

berücksichtigen, auch wenn sie nur langsam in diesen Prozess der Ausarbeitung von Kriterien einsteigt und dieser wohl erst in einiger Zeit zu einem rechtlich verbindlichen Ergebnis führen wird. Wenn das Dialogprinzip bereits bei der Festlegung der Kriterien ernst genommen werden soll, kann diese nicht einfach einseitig von der Europäischen Union vorgenommen werden, weil sie damit Verlauf, Ergebnisse und Erfolg des Dialogs von vornherein nach eigenen Absichten beeinflussen könnte. Anderseits müssen die Kriterien nun einmal von irgendeiner Autorität festgelegt werden, und es ist schon rein logisch nicht möglich, ein Dialogverfahren zur Erarbeitung der Kriterien durchzuführen, das die Kriterien bereits berücksichtigen soll.147 Hat sich einmal eine Liste von Kriterien herauskristallisiert, so ist sie nicht nur zu veröffentlichen, sondern auch rechtlich verbindlich und nachprüfbar zu machen, wie dies im sozialen Dialog148 bereits geschehen ist. Um eine einseitige Beeinflussung des Dialogs durch die Europäische Union zu vermeiden, sollte die Initiative zur Verleihung des Dialogstatus nicht von dieser sondern von der jeweiligen Religionsgemeinschaft ausgehen, so dass die Union sich nicht einfach die willkommenen Partner heraussuchen kann, sondern die Kirchen und Religionsgemeinschaften selbst den Dialogstatus beantragen, der ihnen dann gemäß den fixierten Kriterien zuerkannt wird. Auf jeden Fall ist zu vermeiden, dass die Organe und sonstigen Einrichtungen der Europäischen Union sich ihre Dialogpartner willkürlich aussuchen, denn die Auswahl muss nachvollziehbar sein und nach objektiven Kriterien erfolgen, um dem allgemeinen Gebot der Offenheit und Bürgernähe (Art. 1 Abs. 2 EUV)149 bzw. dem speziell für den religiösen Dialog statuierten Gebot der Offenheit und Transparenz (Art. I-52 Abs. 3 VVE) gerecht zu werden.150 ______________ 147

Dennoch hat die Europäische Kommission die betroffenen Organisationen in vorbildlicher Weise bereits in den Prozess der Suche nach allgemeinen Standards für ein Dialogverfahren eingebunden, auch wenn sie deren Anliegen am Ende nur in geringem Umfang berücksichtigt hat [KOM (2002) 704]. 148

Vgl. Abkommen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft über die Sozialpolitik, in: ABl. Nr. C 191 vom 29.7.1992 S. 91. 149 150

So auch Ventura, Laicità, 222.

Fragwürdig erscheint deshalb die Absicht der Kommission, die Standards nicht rechtsverbindlich festzulegen und nicht vom EuGH überprüfen zu lassen [KOM (2002) 704 endg., 10]. Die Mitgliedstaaten kennen unterschiedliche Vorgehensweisen: Während in Deutschland die Kirchen ihre Repräsentanten für die verschiedenen Beratungsgremien ernennen, wählt sie in Frankreich der Staat aus, ohne die Kirchenleitung zu fragen (Messner, Le droit appliqué, 48). Letzteres birgt aber die Gefahr, sich die Partner, die dann womöglich gar nicht repräsentativ sind, bereits im Hinblick auf ein bestimmtes erwünschtes Ergebnis auszusuchen, womit der Dialog missbraucht würde, um nur den Anschein von Demokratie zu erwecken.

II. Mit wem führt die Europäische Union den religiösen Dialog?

267

Abzulehnen ist auch die automatische Übernahme von Kriterien aus anderen Rechtsordnungen, sei es die der EMRK oder die der Mitgliedstaaten. Die EMRK enthält selbst keine solchen Kriterien, sondern kann nur den grundrechtlichen Rahmen abstecken, an den die Kriterien sich halten müssen. Auch ist es aus den bereits bekannten Gründen nicht sinnvoll, zum religiösen Dialog einfach alle jene Organisationen zuzulassen, die in mindestens einem Mitgliedstaat als Kirche oder Religionsgemeinschaft anerkannt sind, denn die nationalen Anerkennungsregelungen divergieren nicht nur sehr stark – sind teils lax und teils streng – sondern widersprechen sich auch – was in einem Staat anerkannt ist, kann in einem anderen verboten sein.151 Außerdem sind die nationalen Kriterien von vornherein auf Umfang und Art der jeweiligen nationalen Rechtsstellung zugeschnitten, aber nicht darauf, was zur Führung eines Dialogs mit der Europäischen Union erforderlich ist. Schließlich würde ein solcher nationaler Ansatz auch die Chance verspielen, mit Hilfe eines gesamteuropäischen Dialogstatus’ dem Wesen der Religion als eines transnationalen Phänomens besser gerecht zu werden.

d) Der grundrechtliche Rahmen für die Auswahlkriterien Der grundrechtliche Rahmen, den die Kriterien zur Verleihung des Dialogstatus nicht verletzen dürfen, wird vor allem durch die korporative Religionsfreiheit in Verbindung mit der Vereinigungsfreiheit und dem Verbot religiöser Diskriminierung abgesteckt, die in Art. 9, 11 und 14 EMRK geschützt und über Art. 6 Abs. 2 EUV auch von der Union zu achten sind. In der Charta der Grundrechte entsprechen dem die Art. 10, 12 und 21, wobei hier noch die Achtung der Vielfalt der Religionen nach Art. 22 hinzukommt. Im Verfassungsvertrag der Europäischen Union stimmen damit überein die Art. II-70, II-72, II-81 und II-82. Die korporative Religionsfreiheit und das Verbot religiöser Diskriminierung verlangen grundsätzlich ein inklusives Konzept zur Verleihung des Dialogstatus, das keine Religionsgemeinschaft von vornherein ausschließt. 152 Ein Dialogsystem bringt aber unvermeidlich die Notwendigkeit mit sich, die Dialog______________ 151

Auch innerhalb der EU kann der Charakter einer Religionsgemeinschaft in einem Staat gewährt und in einem anderen derselben Gruppe verwehrt werden (Ferrari, Church and State, 42). 152

Insofern ist der Kommission zuzustimmen, dass sie an einem einschließenden Konzept festhält: KOM (2002) 704, 11. Lieber keiner Religionsgemeinschaft einen Sonderstatus zu verleihen, weil man sonst nicht wüsste, wo aufhören, kann aber nicht die Lösung sein (vgl. De Charentenay, Laïcité, 27).

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E. Die Partner des religiösen Dialogs

partner genau zu bestimmen. Während das Grundrecht der Religionsfreiheit einer grundsätzlich offenen und nicht von vornherein identifizierten Menge an Religionsgemeinschaften gewährt werden muss, können die positiven Mitwirkungsrechte und -pflichten, die mit dem Dialogstatus verbunden sind, nur einem klar umrissenen, abzählbaren und im Einzelnen bekannten Kreis von Religionsgemeinschaften verliehen werden. Wenn zum Dialogstatus beispielsweise das Recht auf Information gehört, muss die Kommission von vornherein über eine Liste von Religionsgemeinschaften verfügen, denen sie die Information über ein bevorstehendes Rechtsetzungsvorhaben zuleiten muss. Die anonyme Menge derer, die potentiell Träger des korporativen Grundrechts nach Art. 9 EMRK sind, hilft hier nicht weiter. 153 Außerdem setzt der Dialogstatus ein gewisses Loyalitätsverhältnis voraus, und nicht jede Religionsgemeinschaft ist ohne weiteres fähig, die damit verbundenen Rechte und Pflichten zu übernehmen, so dass aus dem Kreis der Grundrechtsträger ein engerer Kreis der Dialogteilnehmer auszuwählen ist.154 Weder verlangt Art. 9 EMRK als korporatives Grundrecht, dass jeder Religionsgemeinschaft genau dieselbe Rechtsform zur Verfügung gestellt werden muss,155 noch impliziert er von sich aus ein Recht auf Dialog mit der Europäischen Union. Damit die unvermeidliche Auswahl aber nicht in unzulässiger Weise diskriminierend wirkt, bedarf es bestimmter und sachlicher Kriterien, die öffentlich bekannt gemacht und verfahrensmäßig geprüft werden, so dass alle grundsätzlich gleiche Chancen auf Zugang zum Dialog haben.156 Die Lehre einer Religionsgemeinschaft scheidet als Kriterium jedenfalls aus, weil die zu religiöser Neutralität verpflichtete weltliche Autorität keine Kompetenz hat, über die Wahrheit von Religionen zu urteilen.157 Auch darf die Verleihung des Dialogstatus’ nicht das ______________ 153

So ist auch nach Ventura die Kooperation immer eine selektive, weil sie nicht mit allen potentiellen Religionsgemeinschaften erfolgen kann (Laicità, 114). 154

Die besondere Stellung einiger Religionsgemeinschaften auf europäischer Ebene ist somit aus sachlichen Gründen unvermeidbar und folgt nicht einfach daraus, dass die Union den privilegierenden Systemen der Mitgliedstaaten nachgeben müsste und deswegen keine radikal anderen Standards setzen könnte als diese. So aber Ferrari, Church and State, 39. Dass die Einrichtungen der EU angesichts einer ausufernden Menge an Dialogteilnehmern die Übersicht verlören (Treanor, L’Église et l’Europe, 213; Ventura, Laicità, 212), mag zwar etwas für sich haben, rechtfertigt aber natürlich keine Diskriminierung. 155

Glockentin, Einfluss, 83; Marauhn, Bedürfnis- und Bedeutungsadäquanz, 439; vgl. auch EKMR, Nr. 8652/79, X / Österreich, Rn. 4c; Nr. 17522/90, Iglesia Bautista, Rn. 2. 156 157

Vgl. Ventura, Laicità, 223.

Glockentin, Einfluss, 88; vgl. EGMR, Nr. 59/95, Manoussakis, Rn. 47; Nr. 30985/96, Hasan und Caush, Rn. 78; Nr. 41340ff/98, Wohlfahrtspartei, Rn. 91.

II. Mit wem führt die Europäische Union den religiösen Dialog?

269

Recht einer Religionsgemeinschaft verletzen, sich frei und nach eigenen Vorstellungen zu organisieren und zu verwalten, das sich auf Art. 9 und 11 EMRK stützt und weiter reicht als etwa bei Vereinen.158 Das hebt auch Art. I-52 Abs. 3 VVE als Rechtsgrundlage des religiösen Dialogs mit der Formulierung „in Anerkennung ihrer [der Kirchen und Gemeinschaften] Identität“ eigens hervor. Die EMRK-Judikatur zeigt einige Grenzmarken auf, welche die Staaten bei der Zuerkennung bestimmter Rechtspositionen an Religionsgemeinschaften nicht überschreiten dürfen, was sich mutatis mutandis auch auf die Europäische Union und den Dialogstatus übertragen lässt. Dass der Staat beispielsweise nicht eine bestimmte Person als Führer einer Religionsgemeinschaft bevorzugen und damit auf ihre Einheit hinwirken darf,159 würde hier bedeuten, dass es den Teilnehmern am religiösen Dialog selbst überlassen bleibt, durch wen sie sich vor der Europäischen Union vertreten lassen und ob mehrere Glaubensrichtungen ein gemeinsames oder getrennte Vertretungsorgane haben wollen. Der Dialogstatus sollte keinen Wirtschaftsunternehmen verliehen werden, da diese im Unterschied zu Religionsgemeinschaften nicht Grundrechtsträger nach Art. 9 EMRK sein können und daher keine entsprechenden Rechte genießen,160 wobei die EKMR zu dieser Unterscheidung eine funktionale Betrachtungsweise161 anstellt. Erst recht ist eine besondere für Religionsgemeinschaften vorgesehene Rechtsstellung keiner Organisation zu verleihen, die illegale Ziele verfolgt, auch wenn diese in den Statuten verschwiegen werden.162 Damit ist auch klar gestellt, dass vor der Verleihung nicht nur die Statuten einer Organisation geprüft, sondern auch andere Informationen, die diesen möglicherweise widersprechen, herangezogen werden können. Mit dem Status einer Religion verbundene Rechte können schließlich auch verweigert werden, wenn die

______________ 158

Vgl. Erdö, Typen, 10; Glockentin, Einfluss, 79; Parisi, Dalla dichiarazione, 356; Ventura, Laicità, 235; Weninger, Aspekte, 100. 159

EGMR, Nr. 30985/96, Hasan und Caush, Rn. 78.

160

Eine Gesellschaft mit Gewinnerzielungsabsicht kann nicht in den Genuss der Rechte nach Art. 9 EMRK kommen: EKMR, Nr. 7865/77, Gesellschaft X. 161

In Gewinnabsicht Bedarf für Marktgüter zu wecken, fällt nicht unter Art. 9 EMRK, auch wenn eine religiöse Gruppe für religiöse Gegenstände wirbt (EKMR, Nr. 7805/77, Scientology, Rn. 4). 162

EKMR, Nr. 8652/79, X / Österreich, Rn. 4b; EGMR, Nr. 45701/99, Metropolitankirche von Bessarabien, Rn. 125; ähnlich bei politischen Parteien: EGMR, Nr. 41340ff/98, Wohlfahrtspartei, Rn. 101.

270

E. Die Partner des religiösen Dialogs

Religion gar nicht sicher existiert bzw. nur erfunden wurde, um in den Genuss dieser Rechte zu gelangen.163 Ausgangspunkt für die Verleihung des europäischen Dialogstatus wird also das Vorliegen einer Kirche oder Religionsgemeinschaft im Sinne des in den vorhergehenden Abschnitten autonom ausgelegten Begriffs sein. Zusätzlich wären dann folgende Kriterien heranzuziehen.

e) Kriterien zur Verleihung des Dialogstatus (1) Hinreichende Organisationsstruktur: Dialog bedeutet, mit anderen in Beziehung zu treten, sich selbst auszudrücken und zu empfangen, was andere mitteilen. Um das zu erreichen, muss eine Religionsgemeinschaft Organe haben, die für sie verbindlich sprechen und handeln können, denn dazu genügt nicht das Vorhandensein einer religiösen Lehre und eines Kreises von Anhängern.164 Das ist insbesondere dann der Fall, wenn im Rahmen des Dialogs Vereinbarungen geschlossen oder Pflichten übernommen werden. Nun scheint es aber für manche Religionsgemeinschaften aufgrund der eigenen Organisationsstruktur eine Schwierigkeit darzustellen, jemanden zu delegieren, der sie mit Autorität vertritt.165 Dazu ist zu bedenken, dass jede Religionsgemeinschaft gemäß Art. 9 und 11 EMRK das Grundrecht hat, sich frei und nach ihrem eigenen Selbstverständnis zu organisieren, was auch bedeutet, dass sie nicht gezwungen werden darf, eine bestimmte oder überhaupt eine rechtliche Organisationsform anzunehmen. Das schließt aber nicht aus, dass einzelne Rechte doch an eine bestimmte Organisationsform geknüpft werden, also konkret dass der Dialogstatus ein autorisiertes Vertretungsorgan voraussetzt. Erfüllt eine Religionsgemeinschaft diese Anforderung nicht, weil ihr der Wille oder die Kraft dazu fehlen, so muss sie auch selbst die Konsequenzen davon tragen. Da es ohne hinreichende Organisationsstruktur schlicht nicht möglich ist, einen Dialog zu führen, stellt dieses Erfordernis keine unzulässige Diskriminierung gegenüber Religionen dar, die über eine solche nicht verfügen. Anderseits ______________ 163

EKMR, Nr. 7291/75, X / Vereinigtes Königreich. In diesem Fall handelte es sich freilich nicht um die mit dem Dialogstatus verbundenen Rechte, sondern um Religionsausübung im Gefängnis. 164

Der EWSA verlangt in seinem Kriterienkatalog eine „entsprechende Organisationsstruktur“ und ein „Mandat zur Vertretung und Handlung auf europäischer Ebene“ (Stellungnahme vom 25.4.2001, Nr. 3.4). Von der Lehre wird dieses Kriterium einhellig bejaht: Parisi, Dalla dichiarazione, 342; Torfs, Sonderstellung, 33; Ventura, Laicità, 203 und 223. 165

Berten, Zivilgesellschaftliches Engagement, 148.

II. Mit wem führt die Europäische Union den religiösen Dialog?

271

gewährt gerade das Grundrecht auf Organisationsfreiheit die Grundlage dafür, sich ungehindert die Organe zu geben, die für einen Dialog mit der Union nötig sind. Für manche mag es eine ungewohnte Herausforderung darstellen, sich nun europaweit zu organisieren, aber auch wenn echt europäische Rechtsformen bislang weitgehend fehlen, so ermöglicht das bereits vorhandene rechtliche Instrumentarium es doch, sich eine für den Dialog mit der Union ausreichende Struktur zu geben. (2) Verbreitung im Unionsgebiet: Den Gegenstand des Dialogs bilden religionsrechtliche, ethische und ähnliche Fragen, welche die gesamte Europäische Union betreffen, so dass auch die Dialogteilnehmer möglichst für das gesamte Unionsgebiet relevant und repräsentativ sein sollten. Da die Union sich aus Fragen, die nur national oder regional von Bedeutung sind, wegen des Subsidiaritätsprinzips heraushalten muss, sollte sie den religiösen Dialog auch nicht mit Partnern führen, die nur für einen solchen kleinen Teil sprechen können. Dieses Kriterium der Repräsentativität auf europäischer Ebene ist dem Wirtschafts- und Sozialausschuss so wichtig, dass es in mehreren Punkten seines Kriterienkatalogs her vorsticht, 166 doch die Kommissio n bevorzugt demgegenüber ein „einschließendes Konzept“, da auch nationale und regionale Standpunkte wichtig und gut sein könnten.167 Das mag zwar immer wieder zutreffen, doch äußert sich der Wirtschafts- und Sozialausschuss zu Recht skeptisch über die Praktikabilität des Plans der Kommission, Konsultationen auch auf der lokalen Ebene durchzuführen.168 Darüber hinaus entspräche das nun einmal nicht dem Wesen eines auf europäischer Ebene zu führenden religiösen Dialogs. Eine Religionsgemeinschaft, die nur in einem einzigen Mitgliedstaat beheimatet ist, kann somit für die Teilnahme am religiösen Dialog auf europäischer Ebene nicht in Frage kommen. Anderseits wird es angesichts der fortschreitenden Erweiterung der Europäischen Union immer schwieriger, in der großen Mehrheit der Mitgliedstaaten vertreten zu sein.169 Als absolutes Mindesterfordernis wird aber wohl daran festzuhalten sein, dass die Partner des religiösen Dialogs in wenigstens zwei Mitgliedstaaten wirklich verwurzelt sind, denn damit ist bereits ein grenzüberschreitender Bezug gegeben, der die Sphäre eines einzelnen Staats übersteigt, so dass etwa binnenmarktrelevante Probleme entstehen ______________ 166 Vgl. insbesondere: auf Gemeinschaftsebene organisiert, Anliegen der europäischen Gesellschaft vertreten, Mitgliedsorganisationen in der großen Mehrheit der Mitgliedstaaten, Mandat zur Vertretung und Handlung auf europäischer Ebene (Initiativstellungnahme 2001, Nr. 3.4). 167

KOM (2002) 704, 11.

168

Initiativstellungnahme 2001, Nr. 3.5.3.

169

Das verlangt aber der EWSA: Stellungnahme vom 25.4.2001, Nr 3.4 SpStr. 5.

272

E. Die Partner des religiösen Dialogs

können, die auf europäischer Ebene zu lösen sind. 170 Einer Kirche oder Religionsgemeinschaft, die sich auf einen einzigen Mitgliedstaat beschränkt, was vor allem bei Staatskirchen der Fall sein wird, verbleibt die Möglichkeit, sich mit ähnlichen Gemeinschaften in anderen Staaten zu verbünden, um so am religiösen Dialog teilzunehmen. Weniger problematisch als die zu geringe territoriale Verbreitung ist der umgekehrte Fall, dass eine Religionsgemeinschaft sich über das Unionsgebiet hinaus erstreckt, denn das wird vom Kriterium der Verbreitung im Unionsgebiet ja nicht ausgeschlossen. Die Kommission erwägt sogar, auch Organisationen aus Nichtmitgliedstaaten zum Dialog zuzulassen. 171 Dem ist in Bezug auf Religionsgemeinschaften insofern zuzustimmen, als der Großteil ihrer Gläubigen oder ihr Zentrum sich ohne weiteres in Drittländern befinden können, solange sie auch im Unionsgebiet hinreichend präsent sind. 172 Das ist bei den großen Weltreligionen sogar der Regelfall, die ja allesamt außerhalb Europas entstanden sind und deren Mitglieder auch überwiegend außerhalb Europas wohnen. Unverzichtbar ist jedoch im Hinblick auf das erstgenannte Kriterium, dass eine solche Religionsgemeinschaft eine Organisationsstruktur und vor allem ein Vertretungsorgan für genau jenen Teil ihrer selbst schafft, der innerhalb der Unionsgrenzen liegt. Religionsgemeinschaften hingegen, die ausschließlich außerhalb des Unionsgebiets verbreitet sind, kommen für den religiösen Dialog mit der Union von der Natur der Sache her nicht in Frage, können aber beispielsweise bei der Entwicklungszusammenarbeit einen Beitrag leisten. (3) Mindestgröße: Nun kann eine Religionsgemeinschaft durchaus in mehreren Mitgliedstaaten Anhänger haben jedoch für die Verleihung des Dialogstatus in zu geringer Zahl, so dass zum Kriterium der Verbreitung im Unionsgebiet noch jenes der Mindestgröße hinzutreten muss. Ziel des Dialogs ist es nämlich, Fragen von gesamteuropäischer religionspolitischer oder ethischer Bedeutung zu klären. Deshalb sind von den Dialogpartnern das nötige Gewicht und eine entsprechende Verankerung in der Gesellschaft vorauszusetzen. Der Dialog mit gesellschaftlich relevanten Gruppen ist eine Weise, wie die Europä______________ 170

So setzen die Grundfreiheiten in der Regel einen grenzüberschreitenden Bezug voraus, und auch die von der Gemeinschaft bisher entwickelten Gesellschaftsformen verlangen die Existenz in mindestens zwei Mitgliedstaaten [Art. 4 Abs. 2 EWIV-VO (EWG) Nr. 2137/85; Art. 2 SE-VO (EG) Nr. 2201/2003; Art. 2 SCE-VO (EG) 1435/2003]. Der EWSA hält hingegen in seiner Stellungnahme vom 14.2.2006 trotz der Osterweiterung daran fest, dass Organisationen der Zivilgesellschaft, die sich am Dialog beteiligen wollen, in mehr als der Hälfte der Mitgliedstaaten vertreten sein müssen (Nr. 7.2). 171 172

KOM (2002) 277 endg., 15.

Auch Ventura verlangt, dass die Partner des religiösen Dialogs trotz allfälliger weltweiter Verbreitung im Territorium der EG eingeschrieben sind (Laicità, 202).

II. Mit wem führt die Europäische Union den religiösen Dialog?

273

ische Union das Gebot der Demokratie zu erfüllen sucht. Um aber überhaupt zu Entscheidungen zu gelangen, entspricht es in demokratischen Systemen nun einmal der Regel, die Anliegen des größeren Bevölkerungsteils stärker zu berücksichtigen. Ist es aus Gründen der Praktikabilität schon schwierig, mit sämtlichen in der Union vorhandenen Religionsgemeinschaften bis hin zu den kleinsten einen substantiellen Dialog zu führen, so ist noch weniger zu erwarten, dass daraus auch brauchbare Ergebnisse hervorkommen könnten. Eine Differenzierung nach der Größe einer Religionsgemeinschaft verstößt nicht von vornherein gegen die Art. 9 i.V.m. 14 EMRK, die über Art. 6 Abs. 2 EUV auch von der Europäischen Union zu achten sind, sondern wurde von der EMRKRechtsprechung wiederholt als sachlich gerechtfertigt anerkannt. 173 So wird die Mitgliederzahl auch von der Lehre generell als Kriterium anerkannt, das sachgerecht und objektiv ist.174 Der Wirtschafts- und Sozialausschuss, der auch Organisationen der Zivilgesellschaft mitbedenken muss, deren Größe nicht durch die Mitgliederzahl bestimmbar ist, spricht vorzugsweise von „quantitativer Repräsentativität“, womit aber im Grunde dasselbe Erfordernis gemeint ist.175 Wie schwierig es ist, eine bestimmte Mindestanzahl festzulegen, zeigt ein Blick in die einzelnen Mitgliedstaaten, die teils sehr niedrige und teils recht hohe Schwellen vorgeben. Auf europäischer Ebene könnte als Anhaltspunkt die Marke von einer Million Unionsbürgern dienen, die der Verfassungsvertrag für die europäische Bürgerinitiative verlangt (Art. I-47 Abs. 4 VVE) Denn hier handelt es sich ähnlich wie beim religiösen Dialog um eine Form der partizipativen Demokratie und näherhin um die Frage, ab welcher Größenordnung ein ______________ 173

Einerseits ist es zulässig, eine Religionsgemeinschaft, die in der Gesellschaft tief verwurzelt ist und der der größte Teil der Bevölkerung angehört, wie es bei der katholischen Kirche in Tirol der Fall ist, stärker zu berücksichtigen (EGMR, Nr. 13470/87, Otto-Preminger-Institut, Rn. 52 und 56. Anderseits muss der Staat Religionsgemeinschaften mit wenigen Mitgliedern positive Leistungen nicht im selben Ausmaß gewähren (EKMR, Nr. 8160/78, X / Vereinigtes Königreich, Rn. 28; EGMR, Nr. 65501/01, Vergos, Rn. 36 und 40f). 174

Z.B. Glockentin, Einfluss, 88; Torfs, Sonderstellung, 31; Vachek, Religionsrecht, 433, der die Mitgliederzahl jedoch nicht zu hoch ansetzen will. Ferrari zufolge kann die EU keine radikal anderen Standards setzen als die Mitgliedstaaten, die weitgehend die größeren Religionsgemeinschaften bevorzugen (Church and State, 39). Nach Eckert (EU-Verfassung, 30) bildet die Erwähnung des besonderen Beitrags in Art. I-52 Abs. 3 VVE einen Filter für Kleinstreligionen und Splittergemeinschaften, weil von ihnen kein besonderer Beitrag zu erwarten ist und sie deswegen das Dialogrecht auch nicht unter Berufung auf das Gleichheitsprinzip in Anspruch nehmen können. 175

Stellungnahme vom 25.4.2001, Nr. 3.4. Die Europäische Kommission selbst rechtfertigt den Umstand, dass sie mehr katholische Jugendorganisationen als nichtreligiöse und linke fördert, damit, dass diese einfach mehr Anträge stellen und bei der Auswahl das Kriterium der Repräsentativität angewandt wird (Schriftliche Anfrage E-3537/98).

274

E. Die Partner des religiösen Dialogs

bestimmter Beitrag im demokratischen Entscheidungsfindungsprozess der Union in institutionalisierter Form Berücksichtigung finden muss. Eine Million mag zwar als absolute Zahl hoch erscheinen, entspricht aber angesichts der Größe der Union nur etwas mehr als 0,2 % ihrer Bevölkerung und stimmt somit ungefähr mit der Voraussetzung von 2 ‰ für eine gesetzliche Anerkennung als Religionsgesellschaft in Österreich176 überein. Letztlich obliegt es freilich der Europäischen Union selbst, eine sinnvolle Schwelle festzulegen, sei es durch absolute oder relative Zahlen oder auch durch eine bloße Umschreibung. (4) Dauerhaftigkeit: Für die Zuerkennung des Status als Religionsgemeinschaft verlangen manche Mitgliedstaaten die Anwesenheit auf ihrem Territorium über einen längeren Zeitraum. Das soll die Verbundenheit mit Geschichte und Tradition eines Landes gewährleisten, diskriminiert aber gerade dadurch die neuen religiösen Bewegungen, weshalb Torfs historische Kriterien generell ablehnt.177 Um die Kandidaten für die gesetzliche Anerkennung als Religionsgesellschaft prüfen zu können, sieht § 11 Abs. 1 Z. 1 des österreichischen Bekenntnisgemeinschaften-Gesetzes das Bestehen durch zwanzig Jahre hindurch vor, was in der Lehre als problematisch in Hinblick auf die korporative Religionsfreiheit angesehen wird.178 Selbst wenn solche Kriterien in den Mitgliedstaaten wegen nationaler Besonderheiten noch hinnehmbar sind, erweisen sie sich auf europäischer Ebene als unangemessen, 179 da die selbst noch sehr junge Europäische Union weniger auf Traditionen setzt, als vielmehr auf die Zukunft hin gerichtet ist und sich dabei so rasch entwickelt, dass sie selbst am Ende eines längeren Beobachtungszeitraums nicht mehr dieselbe wäre wie zu Beginn. Dementsprechend sollte das Kriterium der Dauerhaftigkeit hier nicht im Sinne eines längeren Bestehens in der Vergangenheit angewandt werden, sondern im Sinne eines voraussichtlichen Fortbestehens in der Zukunft, da der religiöse Dialog ja selbst auf Dauer angelegt ist und deswegen auch beständige Teilnehmer braucht.180 In Anbetracht dessen verlangt der Wirtschafts- und Sozialausschuss eine dauerhafte Organisation.181 ______________ 176

§ 11 Abs. 1 Z. 2 Bekenntnisgemeinschaften-Gesetz.

177

Torfs, Sonderstellung, 31.

178

Glockentin, Einfluss, 86; Grabenwarter, Kirchen, 273.

179

Gegen eine Begünstigung von in Europa eingewurzelten Religionen: Parisi, Dalla dichiarazione, 353. 180 So kann sich auch Glockentin, der historische Kriterien ablehnt, sehr wohl das Erfordernis einer Mindestdauer der Existenz im Sinne einer zu erwartenden Kontinuität vorstellen, um „Eintagsfliegen“ zu vermeiden (Einfluss, 88). 181 Initiativstellungnahme 2001, Nr. 3.4, SpStr. 1. Die Kommission hingegen betrachtet den Dialog nicht als permanenten Prozess und stellt auch kein entsprechendes Kriterium auf [KOM (2002) 704, 10]. Spätestens durch den Verfassungsvertrag wird der

II. Mit wem führt die Europäische Union den religiösen Dialog?

275

(5) Keine Doppelungen: Manche Teilgemeinschaften könnten versucht sein, sich neben der Religionsgemeinschaft, der sie angehören, zusätzlich einen eigenen Dialogstatus zu verschaffen, um die Vertretung ihrer Interessen zu stärken. Als Teilgemeinschaften kämen entweder territorial oder sachlich begrenzte Untergruppen einer europaweiten Organisation in Frage, also im Verhältnis zur COMECE beispielsweise die Deutsche Bischofskonferenz oder ein Orden der katholischen Kirche.182 Eine solche Vorgehensweise wäre aber nicht nur ungerecht, weil sie gegenüber anderen Religionsgemeinschaften eine stärkere Gesprächsposition verschaffte, sondern sie wäre auf lange Sicht auch kontraproduktiv, weil sie andere Religionsgemeinschaften verleitete, eine ähnliche Strategie zu beschreiten, so dass die Zahl der Dialogpartner sich vervielfachte und damit die einzelnen Positionen geschwächt und der Dialog insgesamt verwässert würden.183 Es wird daher darauf zu achten sein, dass jede Religion bzw. Konfession – und damit letztlich die Bürger, die ihr angehören –, nur durch eine einzige Organisation vertreten ist,184 was freilich nicht heißt, dass ein und dieselbe Organisation nur eine einzige Glaubensrichtung vertreten dürfte. Es ist aber eine interne Aufgabe der Religionsgemeinschaften selbst, sich so zu organisieren, dass auch ihre Untergliederungen sich in Brüssel ausreichend vertreten fühlen. Wenn im religiösen Dialog Fragen auf der Tages ordnung stehen, die speziell eine Teilgemeinschaft berühren – etwa Deutschland oder die Caritas –, können selbstverständlich Vertreter dieser Bereiche entsandt werden. Die so genannten Single-Issue-Organisationen können leich______________

religiöse Dialog aber als dauerhafte Institution eingerichtet (Art. I-52 Abs. 3: „regelmäßig“), so dass die Kontinuität der Dialogpartner unverzichtbar wird. Aber auch sonst erfordern im Rahmen des Dialogs eventuell gemachte Zusagen oder Vereinbarungen die Stabilität der Partner. 182

Im Bereich der katholischen Kirche ist dieses Problem aber zurzeit nicht virulent, weil sie ohnehin ausschließlich über die COMECE vertreten ist (Leinemann, Kirchenlobby, 3). 183

Ventura meint zwar, eine Aufgliederung in mehrere Institutionen begünstige eine starke Vertretung, gesteht dann aber ein, dass damit Koordinations- und Kompetenzprobleme zwischen den kirchlichen Einrichtungen verbunden wären (Laicità, 211). Wirkungsvolle Ergebnisse erreichen die Kirchen am besten bei intensiver Zusammenarbeit, sowohl ökumenisch als auch zwischen den nationalen Kirchen (Leinemann, Religionsrecht, 194). 184 Dass Doppelvertretungen zu vermeiden sind, geht auch aus dem Urteil Rs. T135/96 des EuG zum sozialen Dialog hervor, wo es die Klage einer Dachorganisation von Klein- und Mittelbetrieben, nicht in Verhandlungen über eine Rahmenvereinbarung einbezogen worden zu sein, unter anderem deshalb abgewiesen hat, weil der Großteil dieser Betriebe schon durch einen umfassenderen Verband mitrepräsentiert war (Rn. 98).

276

E. Die Partner des religiösen Dialogs

ter Lobby-Arbeit betreiben, weil sie ein eindeutigeres Profil haben.185 Außerhalb des religiösen Dialogs bleibt es den Teilorganisationen von Religionsgemeinschaften ohnehin unbenommen, in formal vorgesehenen Bahnen oder auf informelle Weise, in Beziehung zur Europäischen Union zu treten. Für karitative oder Familienverbände wäre zum Beispiel der allgemeine zivile Dialog relevant, für kirchliche Einrichtungen in ihrer Eigenschaft als Arbeitgeberinnen auch der soziale. (6) Anerkennung der anderen Dialogteilnehmer: Der religiöse Dialog wäre zum Scheitern verurteilt, wenn er von den Religionsgemeinschaften dazu missbraucht würde, Konflikte untereinander auszutragen und sich gegenseitig Rechtspositionen streitig zu machen. Der Dialogstatus ist daher nur solchen Religionsgemeinschaften zu verleihen, welche dieselben mit ihm verbundenen Rechte und Pflichten auch den anderen Teilnehmern zugestehen. Das heißt freilich nicht, dass alle Religionsgemeinschaften auch faktisch gleich wären oder ihre Ziele im religiösen Dialog mit gleichem Erfolg erreichen würden. Es heißt auch nicht, dass die verschiedenen Glaubenslehren einander gegenseitig anerkennen müssten, denn darin besteht ja gerade die religiöse Vielfalt, dass jede Religionsgemeinschaft eine eigene Lehre vertritt, die sie für die wahre hält und die sie so sehr kennzeichnet, dass sie ihre Identität verlöre, wenn sie eine andere Lehre annähme.186 (7) Zu den „anderen Dialogteilnehmern“, die anzuerkennen sind, gehören aber nicht nur jene, die auf der Seite der Religionen stehen, sondern auch die Europäische Union selbst, die auf der weltlichen Seite des Dialogs steht. Die Anerkennung dieses säkularen Dialogpartners durch die Religionsgemeinschaften setzt die Akzeptanz eines Systems voraus, in dem die weltlichen und die religiösen Autoritäten unterschieden sind und ihre je eigenen Aufgaben wahrnehmen. Vom Dialog auszuschließen sind somit Religionsgemeinschaften, die danach trachten, selbst auch die weltliche Gewalt zu übernehmen, oder dieser nicht zugestehen, ihre grundlegenden Aufgaben und Ziele zu erfüllen, wie sie im Falle der Europäischen Union in Art. 2 EUV und im Falle der Europäischen Gemeinschaft in Art. 2-4 EGV niedergelegt sind.187 Da der Dialog bereits der ______________ 185

Christoph, Interessenvertretung, 261.

186

Ventura ist somit zuzustimmen, dass die religiösen Gesprächspartner akzeptieren müssen, formal auf gleicher Ebene zu stehen und das gleiche Gewicht zu haben, doch geht er zu weit, wenn er auch die Bereitschaft zur gegenseitigen Zusammenarbeit verlangt (Laicità, 203). 187

In der Lehre wird auch verlangt, dass die Religionsgemeinschaften diese Ziele teilen (Ventura, Laicità, 203) oder den Willen haben, dazu einen positiven Beitrag zu leisten (Parisi, Dalla dichiarazione, 342). Dabei muss aber klar bleiben, dass die Ziele einer weltlichen supranationalen Organisation von Religionsgemeinschaften zwar bejaht

II. Mit wem führt die Europäische Union den religiösen Dialog?

277

erste Schritt zu einer möglichen Kooperation ist, können auch Loyalität mit der Union und Treue zu deren Recht erwartetet werden. 188 Schließlich müssen beide am Dialogverfahren beteiligte Seiten sich auf dessen Grundsätze verpflichten und sie wirksam anwenden.189 Nicht verlangt ist jedoch, dass die Religionsgemeinschaften der Europäischen Union kritiklos gegenüberstehen, denn der Dialog lebt ja gerade davon, dass entgegen gesetzte Positionen aufeinander treffen, und viele Religionsgemeinschaften betrachten es als ihre genuine Aufgabe, den politischen Prozess aus ethischer Warte kritisch zu verfolgen. Die Europäische Union darf nicht der Versuchung erliegen, nur solche Religionsgemeinschaften einzubeziehen, die ihre Politik ohnehin unterstützen, um sie von ihnen absegnen zu lassen. (8) Weitere Kriterien: Der Wirtschafts- und Sozialausschuss sowie die Kommission stellen für den allgemeinen Dialog mit der europäischen Zivilgesellschaft noch weitere Kriterien auf, die für den speziell religiösen Dialog als eigener Einrichtung von geringerer Bedeutung sind. Der „direkte Zugriff auf die Expertise ihrer Mitglieder“190 ist nur auf jene Teilnehmer am religiösen Dialog anwendbar, die Dachorganisationen mehrerer Religionsgemeinschaften sind. Die anderen haben keine Mitglieder im hier gemeinten Sinn, aber über Sachwissen auf religiösem Gebiet verfügen sie ebenso. In ähnlicher Weise erübrigt sich das Kriterium der Kommission, dass diejenigen Parteien am Dialog zu beteiligen sind, die von einer bestimmten Politik direkt betroffen sind,191 denn die im religiösen Dialog zu behandelnden Fragen sind für die Religionsgemeinschaften selbstverständlich relevant. Das Kriterium der Unabhängigkeit und Weisungsungebundenheit192 ist auf Religionsgemeinschaften nur mit Vorsicht anzuwenden, da es deren besonders weitgehendes Grundrecht auf Selbstverwaltung und -organisation nicht verletzen darf. Sofern die Unabhängigkeit von außereuropäischen Größen gemeint ist, darf diese nicht überzogen werden, da viele Religionen von ihrem Wesen her weltweit verflochten und tätig sind. Sofern aber die Unabhängigkeit von den Einzelstaaten gemeint ist, muss darauf geachtet werden, dass Staatskirchen nicht aus diesem Grund vom ______________

aber nicht übernommen werden können, da diese ja ihre eigenen Ziele haben, die religiöser und gerade nicht weltlicher Art sind. 188

„Rechtstreue“: Glockentin, Einfluss, 88; Weninger erwartet sich auch, dass sie über bloße Stellungnahmen zu einzelnen Sachfragen hinaus auch ein gesamteuropäisches Konzept einbringen (Aspekte, 123). 189

Unter diesen Grundsätzen versteht die Kommission: Partizipation, Offenheit, Verantwortlichkeit, Effektivität und Kohärenz; vgl. KOM (2002) 277 endg., IV. 190

EWSA, Stellungnahme vom 25.4.2001, Nr. 3.4, SpStr. 2.

191

KOM (2002) endg., 15.

192

EWSA, Stellungnahme vom 25.4.2001, Nr. 3.4 SpStr. 8.

278

E. Die Partner des religiösen Dialogs

religiösen Dialog ausgeschlossen werden, da sonst ein wichtiges Element in der europäischen religiösen Landschaft fehlen würde. Hier hilft wohl wieder die funktionale Betrachtungsweise weiter. Außerdem haben Mitgliedstaaten viel wirkungsvollere Möglichkeiten, die europäische Politik zu gestalten, als über den Umweg von Staatskirchen im religiösen Dialog. Auch das Kriterium der Transparenz in finanzieller Hinsicht und in den Entscheidungsstrukturen193 darf nicht das Grundrecht auf Selbstverwaltung und -organisation verletzen. Zwar können Aufbringung und Verwendung finanzieller Mittel darüber Aufschluss geben, ob man es wirklich mit einer Religionsgemeinschaft zu tun hat und nicht vielmehr mit einer wirtschaftlichen oder gar kriminellen Organisation, doch dürfen die verschiedenen Kirchenfinanzierungssysteme in Europa nicht den Ausschlag darüber geben, ob der Dialogstatus zuerkannt wird oder nicht. Die eigenen Entscheidungsstrukturen werden von Religionsgemeinschaften häufig als göttlichen Ursprungs und als unverfügbar angesehen, so dass auch hier die Grenzen zu achten sind, welche die Religionsfreiheit vorgibt. 194 SöbbekeKrajewski möchte bei der Auswahl der Dialogpartner nur rein formale Kriterien wie z.B. den Zeitpunkt der Anmeldung zu einer bestimmten Konsultationsveranstaltung gelten lassen.195 Das garantiert jedoch keine repräsentative Auswahl und ein Wettlauf um die besten Plätze dürfte der Sache nicht besonders dienlich sein. Ist der Dialogstatus einmal verliehen worden, so dürfen die damit verbundenen Rechte nicht willkürlich vorenthalten werden. 196 Der Dialogstatus kann aber wieder aberkannt werden, wenn eine der Voraussetzungen verloren geht, und er erlischt, wenn sein Träger untergeht.

______________ 193

EWSA, Stellungnahme vom 20.3.2002, Nr. 4.2.3.

194

So erinnert Ventura völlig zu Recht daran, dass die Forderung nach einem Teilen gemeinsamer Werte nicht zu einer Verleugnung der Identität der einzelnen Religionen führen darf, so dass beispielsweise die katholische Kirche demokratisiert werden müsste oder der Buddhismus das Meister-Schüler-Verhältnis aufzugeben hätte (Laicità, 235). Die Europäische Kommission versprach jedenfalls, die Unabhängigkeit der externen Organisationen voll und ganz zu respektieren (KOM 2002) 704, 12). 195 196

Söbbeke-Krajewski, Acquis Communautaire, 281.

Nach einem Urteil des EGMR (Nr. 19233f./91, Tsirlis, Rn. 59) müssen den Mitgliedern einer einmal anerkannten Religionsgemeinschaft dieselben Rechte gewährt werden, wie denen der anderen Religionsgemeinschaften.

II. Mit wem führt die Europäische Union den religiösen Dialog?

279

3. Einheitliche Rechtsformen für Religionsgemeinschaften a) „Weiche“ Instrumente zur Harmonisierung der Rechtsformen Das Dilemma, dass ein unionsweit einheitlicher Status für Kirchen und Religionsgemeinschaften zwar wünschenswert aber nicht möglich ist, wurde oben bisher so gelöst, dass mit dem Dialogstatus tatsächlich ein einheitlicher Status geschaffen wird, jedoch nur für den begrenzten Bereich des religiösen Dialogs, so dass nicht in mitgliedstaatliche Kompetenzen eingegriffen wird. Nun bleibt noch zu fragen, ob es etwa nicht auch „weiche“, rechtlich nicht zwingende Instrumente gäbe, mit denen die divergierenden Rechtsformen allmählich aneinander angeglichen werden könnten, indem von europäischer Seite ein „Integrationsziel“ vorgegeben wird, auf das hin die Mitgliedstaaten ihre Regelungen ohne rechtlichen Zwang weiterentwickeln können. In der Tat ist schon heute eine Konvergenz der staatskirchenrechtlichen Systeme der Mitgliedstaaten auf ein gemeinsames Modell der Mitte hin zu beobachten. 197 Dieser bisher unkoordiniert ablaufende Prozess könnte durch ein einheitliches europäisches Leitbild gefördert und auf ein gemeinsames Ziel hin ausgerichtet werden. Weil eine solche Annäherung freiwillig geschähe, verletzte sie die vertikale Kompetenzverteilung nicht. Solche gemeinsame europäische Leitlinien gibt es außerhalb des Rechtskreises der Europäischen Union schon im Bereich der KSZE/OSZE und des Europarates. Das KSZE-Abschlussdokument des Wiener Folgetreffens ändert in Nr. 16.3 zwar nichts an dem Status, der für religiöse Gemeinschaften im jeweiligen Land vorgesehen ist, benennt aber zwei Umstände, unter denen dieser Status effektiv zuzuerkennen ist: das Wirken im Rahmen der Verfassung und der Antrag der Gemeinschaft. Das Zustandekommen dieser Erklärung wurde auch vom Europarat in der Empfehlung 1086 (1988) unterstützt. Darüber hinaus förderte dieser in der Empfehlung 1556 (2002) die osteuropäischen Staaten nach der Wende bei der Suche nach einem neuen Verhältnis zu den Religionen, indem er sie unter anderem aufforderte, sich nicht in Dogma, Kirchenorganisation und kanonisches Recht einzumischen (Nr. 5) und allen religiösen Vereinigungen den Status rechtlicher Entitäten zu gewähren, sofern sie nicht Menschenrechte oder Völkerrecht verletzen (Nr. 8.ii). Bulgarien, das davon abwich, wurde in der Resolution 1390 (2004) ermahnt, Glaubensgemeinschaften die Registrierung nicht zu versagen, wenn sie die gesetzlich vorgesehenen Informationen beibringen (Nr. 9.iii.a), und im Registrierungsverfahren ______________ 197

Konvergenzthese von Robbers, Das Verhältnis der Europäischen Union zu Religion und Religionsgemeinschaften, 17; ders., Europa und die Kirchen, 148; ders., Das Verhältnis von Staat und Kirche in Europa, 127. Zustimmend Rees, Ärgernis, 269.

280

E. Die Partner des religiösen Dialogs

die Anhörung des Antragstellers, freien Zugang zu Informationen und eine begründete Entscheidung sicher zu stellen. Was die so genannten Sekten betrifft, empfahl der Europarat, keine Sondervorschriften zu erlassen, die über die sonst für Religionsgemeinschaften geltenden Vorschriften hinausgehen [Empfehlung 1178 (1992) und 1412 (1999)]. Aber auch im Bereich der Europäischen Union sind gemeinsame Standards möglich. Schon allein der Dialogstatus kann über den Bereich des religiösen Dialogs hinaus auch auf die Mitgliedstaaten eine politische Wirkung von der Art entfalten, dass sie sich bei der Zuerkennung des nationalen Religionsstatus auch daran orientieren, welche Religionsgemeinschaften die Europäische Union zum Dialog zulässt und welche nicht. Konkrete Empfehlungen, unter welchen Umständen die Mitgliedstaaten den neuen religiösen Bewegungen den Status einer Religionsgemeinschaft zuerkennen sollen, hat das Europäische Parlament bereits verabschiedet. Danach sollen die Mitgliedstaaten zwar nicht den Wert eines religiösen Bekenntnisses beurteilen, sehr wohl aber prüfen, ob die religiösen Praktiken zulässig sind (Entschließung 27.5.1984, B und C). In der Entschließung vom 29.2.1996 unterscheidet das Europäische Parlament zwischen legalen Sekten, die Anspruch auf Anerkennung haben (D), und anderen, die sich innerhalb eines grenzüberschreitenden Netzes in der EU illegalen und kriminellen Aktivitäten hingeben (E). Die Mitgliedstaaten werden darin aufgefordert, den Status einer religiösen Gemeinschaft nicht automatisch zu verleihen und im Fall von illegalen Sekten eine Aufhebung ihres Status’ zu erwägen (Nr. 4). Das Europäische Parlament scheut sich also nicht, auch ganz konkret in Fragen des Status’ von Religionsgemeinschaften die Mitgliedstaaten zu einem einheitlichen Vorgehen zu bewegen. Dass dies im Hinblick auf den Grundrechtsschutz nicht ganz unproblematisch ist, zeigt eine Beschwerde der Moon-Vereinigung bei der EKMR, mit der sie gegen die Entschließung des Europäischen Parlaments vom 27.5.1984 vorgehen wollte, weil die Mitgliedstaaten darin aufgefordert wurden, ihr die Anerkennung zu verweigern, doch die EKMR wies die Beschwerde als unzulässig zurück, da die Europäische Gemeinschaft nicht Mitglied der EMRK ist.198 Ein weiteres „weiches“ Mittel zur Angleichung der unterschiedlichen Rechtsstellungen von Religionsgemeinschaften in den Mitgliedstaaten liegt in ______________ 198

EKMR, Nr. 11574/85, Entscheidung vom 5.10.1987; unveröffentlicht, zitiert nach: Ventura, Laicità, 86. Das zugrunde liegende Problem des gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutzes und des Verhältnisses zur EMRK sowie deren Gerichtsbarkeit ist freilich nicht auf die Frage des Status von Religionsgemeinschaften beschränkt und harrt immer noch einer befriedigenden Lösung. Zur Frage, wie weit die EU „Sekten“ duldet oder anerkennt, gab es auch schon verschiedene Anfragen: Mündliche Anfrage H-607/86; Schriftliche Anfragen: E-0114/96; P-2496/97; E-2178/98; E-3269/98.

II. Mit wem führt die Europäische Union den religiösen Dialog?

281

der schon in Abschnitt E.II.1.a) erwähnten funktionalen Betrachtungsweise der Europäischen Gemeinschaft, insbesondere des EuGH. Dessen Rechsprechung kann nämlich auch eine faktische Wirkung von der Art entfalten, dass die Unterschiede zwischen den einzelnen nationalen Rechtsformen für Religionsgemeinschaften zwar nicht durch rechtlichen Zwang eingeebnet werden, aber faktisch an Bedeutung verlieren. Wenn beispielsweise der Angehörige eines Ordens der katholischen Kirche in Belgien (EuGH, Rs. 300/84, Van Roosmalen) in gleicher Weise dem Arbeits- und Sozialrecht der Europäischen Gemeinschaft unterfällt wie ein Angehöriger der in den Niederlanden als privater Verein organisierten Bhagwan-Bewegung (EuGH, Rs. 196/87, Steymann), dann relativiert sich die Frage, in welcher Rechtsform eine Religionsgemeinschaft sich konstituiert. Wenn der EuGH entsprechend dem Gemeinschaftsrecht andere Kriterien anwendet als das der Organisationsform, dann bleibt es den Mitgliedstaaten zwar weiterhin rechtlich unbenommen, den Religionsgemeinschaften unterschiedliche Rechtsformen bereitzustellen, doch wird dies auf europäischer Ebene faktisch keine entscheidende Wirkung zeitigen. Damit schwinden dann aber wiederum auf der nationalen Ebene die Beweggründe zur Differenzierung der Rechtsformen. Hauptsächlich interessiert hier die Unterscheidung von Rechtsformen des öffentlichen Rechts, des allgemeinen Zivilrechts und des religiösen Sonderprivatrechts,199 die sich in den nationalen Rechtsordnungen finden. So haben die Kirchen in Irland den Status freiwilliger Vereinigungen, denen nicht automatisch Rechtsfähigkeit zukommt,200 die dänische Volkskirche ist eine zentrale staatliche Verwaltungseinrichtung ohne Autonomie,201 und in Deutschland ist die stärkste einer Religionsgemeinschaft zur Verfügung stehende Rechtsform die der öffentlich rechtlichen Körperschaft. Auch in Österreich trägt die höchstmögliche Rechtsform diese Bezeichnung, ist jedoch in der Sache etwas anderes, da sie hier nicht mit der Dienstherrenfähigkeit und dem Steuererhebungsrecht verbunden ist. Aber auch innerhalb Deutschlands bedeutet „öffentlich rechtliche Körperschaft“ in Bezug auf Religionsgemeinschaften etwas anderes als in Bezug auf Untergliederungen des Staates. 202 Das Gemeinschaftsrecht unterscheidet zwar auch zwischen öffentlich und privat, doch zieht es die Grenze anders als die Mitgliedstaaten. Dazu kommt noch, dass diese Grenze sich auch innerhalb des Gemeinschaftsrechts je nach Rechtsmaterie verschieben kann. So ist es leicht möglich, dass eine Einrichtung zwar als öffentlicher Auftraggeber im Sinne von Art. 1 Abs. 9 der Vergaberichtlinie gilt, aber nicht ______________ 199

Diese drei Kategorien unterscheidet Margiotta Broglio, Fenomeno, 101.

200

Casey, Ireland, 193.

201

Dübeck, Denmark, 60.

202

Vgl. Heinig, Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften, 441.

282

E. Die Partner des religiösen Dialogs

zur öffentlichen Verwaltung im Sinne des Art. 39 Abs. 4 EGV gehört und erst recht nicht zu den privilegiert Klagebefugten nach Art. 230 Abs. 2 EGV. Ob Kirchen und Religionsgemeinschaften als öffentlich oder privat einzustufen sind, wird außerdem relevant bei der Frage, ob sie Berechtigte oder Verpflichtete der Gemeinschaftsgrundrechte und der Grundfreiheiten sind und ob sie zur Richtlinienumsetzung befugt oder sogar von der unmittelbaren Wirkung nicht fristgerecht umgesetzter Richtlinien betroffen sind.203 Alle diese Fragen müssen für jede Religionsgemeinschaft und jeden der genannten Problembereiche separat geprüft und beantwortet werden. Vachek beklagte, dass das Gemeinschaftsrecht keine Zwischenstufe zwischen öffentlich und privat kenne, die für die Kirchen und Religionsgemeinschaften in Frage käme.204 Mit der zunehmenden Anerkennung der Zivilgesellschaft durch die Europäische Union und vor allem mit der Zuerkennung eines Dialogstatus an die Kirchen und Religionsgemeinschaften entwickelt sich nun eine solche Zwischenstufe immer mehr. Es ist aber zu fragen, ob die Zwischenstufe der organisierten Zivilgesellschaft den Kirchen und Religionsgemeinschaften wirklich einen nach ihrem Selbstverständnis angemessenen Platz bietet oder ob dieser Platz anstatt zwischen öffentlich und privat nicht vielmehr jenseits dieser von vornherein schematisierenden Unterscheidung liegen müsste.205 Wie dem auch sei, Potz ist auf jeden Fall beizupflichten, dass dem Umstand, ob Religionsgemeinschaften eine öffentlich-rechtliche oder eine wie auch immer konstruierte privatrechtliche Stellung haben, immer weniger Bedeutung zukommen wird.206 Ein Instrument, das in der Europäischen Gemeinschaft anstelle der Rechtsangleichung und der Schaffung supranationalen Rechts zur Herstellung des Binnenmarkts angewandt wird, ist das der gegenseitigen Anerkennung, derzufolge jeder Mitgliedstaat seine nationalen Standards beibehalten kann, aber dafür auch die aller anderen anerkennen muss. Damit bleibt die Vielfalt gewahrt, es wird kein rechtlicher sondern höchstens ein wirtschaftlicher Druck zur Angleichung ausgeübt und der Rechtsadressat kann die für ihn günstigste nationale Regelung mehr oder weniger aussuchen. Gemäß der EuGHRechtsprechung in den Fällen Centros (Rs. C-212/97, Rn. 30) und Überseering (Rs. C-208/00, Rn. 60) kann eine Handelsgesellschaft in einem Mitgliedstaat ______________ 203

Zu diesem Fragenkomplex vgl. ebd. 440-445 und Vachek, Religionsrecht, 290-

296. 204

Ebd. 294.

205

Vgl. das Diktum Eckerts: „Die Kirche nimmt zwar Teil an der Zivilgesellschaft, sie ist aber nicht Teil der Zivilgesellschaft. Sie geht darüber hinaus.“ (Achleitner, Gott, 7). 206

Potz, Kirchen als Partner, 12.

II. Mit wem führt die Europäische Union den religiösen Dialog?

283

mit einer für sie günstigen Rechtsordnung gegründet werden, auch wenn sie dann ihre Geschäftstätigkeit nur über eine Zweigniederlassung in einem anderen Mitgliedstaat entfaltet. Wäre es nicht auch für Religionsgemeinschaften verlockend, sich in einem Mitgliedstaat mit einer besonders religionsfreundlichen Rechtsordnung niederzulassen und von dort aus unionsweit zu wirken? Das ist jedoch nicht möglich, weil die besagten EuGH-Urteile auf der Niederlassungsfreiheit beruhen, die gemäß Art. 48 Abs. 2 EGV Gesellschaften ohne Erwerbszeck verwehrt ist.207 Ein rechtliches Instrument zur gegenseitigen Anerkennung von Vereinigungen ohne Erwerbszweck steht hingegen im Bereich des Europarats zur Verfügung: die Konvention Nr. 124 über die Anerkennung der Rechtspersönlichkeit von INGOs. Diese ist aber längst noch nicht von allen EG-Mitgliedstaaten ratifiziert worden, und auch dann wäre sie noch nicht für die Europäische Gemeinschaft selbst verbindlich. Vor allem aber ist sie nur auf INGOs anwendbar und somit nicht auf Kirchen und Religionsgemeinschaften als solche, sondern höchstens auf internationale religiöse Vereinigungen, die gemäß Art. 1 nach dem internen Recht eines Konventionsstaates errichtet und in mindestens zwei Konventionsstaaten tätig sind. Die gegenseitige Anerkennung von Religionsgemeinschaften als solchen scheitert aber nicht erst am Fehlen entsprechender rechtlicher Instrumente sondern schon viel grundsätzlicher am Wesen der Religionsgemeinschaften selbst. Während Handelsgesellschaften oder INGOs nämlich an einem bestimmten Ort gegründet werden, von dort aus ihre Tätigkeit entfalten und möglicherweise Zweigniederlassungen in anderen Ländern gründen, existieren Religionsgemeinschaften bereits in allen Mitgliedstaaten, wo sie Mitglieder haben, und ihre nationalen Untergliederungen verhalten sich nicht wie Gründungs-, Haupt- oder Zweigniederlassung zueinander. Es wäre absurd, etwa von Frankreich zu verlangen, die katholische Kirche als öffentlich rechtliche Körperschaft anzuerkennen, weil sie in Deutschland diesen Status hat, denn dann müsste im Gegenzug Deutschland die katholische Kirche in der Form von associations diocésaines anerkennen und darüber hinaus auch in allen anderen in der Union vorhandenen Rechtsformen. Denkbar wäre das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung höchstens bei neuen religiösen Bewegungen, die sich zunächst in einem Mitgliedstaat niederlassen, wo sie einen ______________ 207

Nach Vachek hingegen müssen einer Religionsgemeinschaft mit Sitz in einem Mitgliedstaat, wenn sie sich einem anderen entfalten will, die gleichen körperschaftlichen Rechte gewährt werden wie einer inländischen, sofern sie gemeinschaftsrechtlich relevante Ziele verfolgt (Religionsrecht, 216). Aber gerade diese letztgenannte Bedingung steht in Frage: Eine Religionsgemeinschaft, die sich im religiösen Kernbereich betätigt, wird eher keine solchen Ziele verfolgen. Anders verhält es sich bei freilich bei Organisationen, die einer Religionsgemeinschaft zuzurechnen sind, aber sich einer Tätigkeit von wirtschaftlicher Bedeutung widmen.

284

E. Die Partner des religiösen Dialogs

bestimmten Status erhalten, und die ihr Wirken dann auf andere Mitgliedstaaten ausdehnen, die diesen Status anerkennen müssten.

b) Internationale Rechtsformen für Religionsgemeinschaften Der vorhergehende Abschnitt befasste sich mit der Frage, durch welche rechtlich nicht zwingenden Instrumente die divergierenden nationalen Rechtsstellungen eventuell doch aneinander angeglichen werden könnten. Aber selbst wenn der Status von Kirchen und Religionsgemeinschaften in allen Mitgliedstaaten identisch ausgestaltet würde, so wären doch immer noch so viele Rechtssubjekte wie Mitgliedstaaten vorhanden und nicht ein einziges Rechtssubjekt, das europaweit einheitlich agieren könnte, denn ein solches kann nur durch eine inter- oder supranationale Rechtsform geschaffen werden. 208 Es ist daher in diesem Abschnitt zu fragen, ob es nicht unbeschadet der Kompetenz der Mitgliedstaaten bereits derartige Rechtsformen gibt, die auch für Religionsgemeinschaften von Interesse sein könnten. Zunächst sind supranationale Rechtsformen im Bereich des Gemeinschaftsrechts in Betracht zu ziehen. Die Societas Europaea ist eine Aktiengesellschaft mit Rechtspersönlichkeit [Art. 1 SE-VO (EG) Nr. 2157/2001], die für Großunternehmen eine Alternative zu den bisherigen Möglichkeiten der Konzerngliederung und der Kooperation mit anderen Unternehmen bieten soll.209 Für Kirchen und Religionsgemeinschaften kommt sie offensichtlich nicht in Frage. Die EWIV hat zwar nicht den Zweck, Gewinn für sich selbst zu erzielen, soll aber die wirtschaftliche Tätigkeit ihrer Mitglieder erleichtern und fördern, die in verschiedenen Mitgliedstaaten niedergelassen sind [Art. 3 Abs. 1 EWIV-VO (EG) Nr. 2137/85]. Somit kommen letztlich wieder nur Mitglieder in Betracht, die sich wirtschaftlich betätigen, so dass genuin religiöse Gemeinschaften ausscheiden und die EWIV bestenfalls für deren wirtschaftliche Randbereiche von Interesse ist – beispielsweise als Kooperationsform belgischer und bayrischer Klosterbrauereien. Gerade weil die EWIV den im Sozialbereich tätigen Organisationen nicht entspricht, plante die Kommission die Schaffung eines Europäischen Vereins, um auch auf dem Gebiet der économie sociale ein Tätigwerden auf europä-

______________ 208

Für Handelsgesellschaften ermöglicht die Niederlassungsfreiheit nach Art. 43 EGV die grenzüberschreitende Verschmelzung (zur neuesten EuGH-Judikatur vgl. Behrens, Lektion, 65). 209

Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht, 400.

II. Mit wem führt die Europäische Union den religiösen Dialog?

285

ischer Ebene zu erleichtern.210 Der Europäische Verein sollte nach dem Entwurf der Kommission [KOM (1991) 273 endg.] hauptsächlich Vereinigungen ohne Gewinnerzielungsabsicht ansprechen, wobei die „Gemeinnützigkeit“ nach den jeweiligen nationalen Vorschriften definiert wird. Mitglieder des Europäischen Vereins, der selbst beschränkte Rechtspersönlichkeit besitzt, können natürliche und juristische Personen aus verschiedenen Mitgliedstaaten sein. In der Lehre wird heftig kritisiert, dass bereits die Präambel des Statuts in widersprüchlicher Weise einerseits primär keinen Gewinnzweck (Erwägungsgrund 6), anderseits aber eine planmäßige wirtschaftliche Haupt- oder Nebentätigkeit gegen Entgelt (Erwägungsgrund 7) vorsieht, was zwar dem Konzept der économie sociale in romanischen Ländern, nicht jedoch dem Verständnis von Gemeinnützigkeit etwa in Deutschland entspricht.211 Ferner schränken die strukturellen Vorgaben des Vereinsstatuts die Satzungsautonomie sehr stark ein und die Publizitäts-, Prüfungs- und Mitbestimmungspflichten wirken innerhalb einer klassischen vereinsrechtlichen Struktur prohibitiv.212 Für Kirchen und Religionsgemeinschaften als solche stellt der Europäische Verein selbstverständlich keine geeignete Rechtsform dar, für karitative oder erzieherische Vereinigungen, die den Religionsgemeinschaften zugeordnet sind, dürfte er aber sehr wohl von Interesse sein – zumindest in jenen Ländern, die ein System der économie sociale kennen. In Deutschland machen sich hingegen Widerstände breit, weil er mit der Vermischung von gemeinnützigen und wirtschaftlichen Zielen dem System des Wohlfahrtswesens und der Freien Trägerschaft wie auch dem kirchlichen Selbstverständnis widerspricht.213 Das sind gewiss berechtigte Einwände, doch deswegen eine Bereichsausnahme für Kirchen und Religionsgemeinschaften zu fordern,214 wäre unnötig, da der Europäische Verein als supranationale Rechtsform die bisherigen nationalen ja nicht abschafft sondern nur ergänzt, so dass die Betroffenen dann zwischen beidem wählen und damit auch zum Ausdruck bringen können, ob das Statut des Europäischen Vereins ihren Ansprüchen gerecht wird oder nicht. 215 Die Dis______________ 210 Weisbrod, Europäisches Vereinsrecht, 256. Ebenfalls in Hinblick auf die économie sociale legte die Kommission gleichzeitig Verordnungsvorschläge für eine Europäische Genossenschaft und eine Europäische Gegenseitigkeitsgesellschaft vor. Da erstere auf Gewinn ausgerichtet und letztere versicherungspolitische Zielsetzungen verfolgt, interessiert in diesem Zusammenhang lediglich der Europäische Verein (vgl. Hummer, Internationale nichtstaatliche Organisationen, 73f.). 211

Weisbrod, Europäisches Vereinsrecht, 274.

212

Ebd. 275 und 279.

213

Weber, Geltungsbereiche, 244.

214

Wie es Weber tut (ebd.).

286

E. Die Partner des religiösen Dialogs

kussion über das europäische Vereinsstatut und mögliche Verbesserungen daran, hat sich aber inzwischen ohnehin erledigt, da die Kommission am 17.3.2006 ihren Entwurf zurückgezogen hat.216 Damit müssen die Religionsgemeinschaften eventuelle Erwartungen in eine europäische Rechtsform für nicht erwerbstätige Organisationen aufgeben.217 Die supranationalen Rechtsformen der Europäischen Gemeinschaft, die bisher erwogen wurden, litten allesamt bis hin zum Europäischen Verein unter dem Mangel, dass sie ganz oder zumindest teilweise für Organisationen mit Erwerbstätigkeit vorgesehen sind und damit nur für Randbereiche von Kirchen und Religionsgemeinschaften in Frage kommen. Nun bleibt zu fragen, ob es möglicherweise im Völkerrecht internationale Rechtsformen gäbe, die für Kirchen und Religionsgemeinschaften besser geeignet wären, wobei in erster Linie an INGOs zu denken ist.218 Bei diesen entsteht das Problem des Erwerbszwecks jedenfalls nicht, da sie einen solchen nicht voraussetzen, so dass als INGO gerade nicht-profitorientierte Organisationen in Betracht kommen.219 Dennoch ist es umstritten, ob auch spirituelle und religiöse Vereinigungen als INGO bezeichnet werden können, was nach der Einschätzung Hummers von der Lehre mehrheitlich abgelehnt wird.220 Die Begriffsbeschreibung von Nicht______________ 215

Ein echtes Problem kann man aber mit Vachek darin erblicken, dass die Europäischen Vereine steuerlich gleich wie die günstigste nationale Rechtsform – in Deutschland der Idealverein – behandelt werden müssen, was die Position des Idealvereins schwächt (Religionsrecht, 326). 216

ABl. Nr. C 64 vom 17.3.2006 S. 3. Ebenso wurde der Entwurf für das Statut einer europäischen Gegenseitigkeitsgesellschaft zurückgezogen. 217

Der EWSA bedauert in seiner Stellungnahme vom 14.2.2006 (Nr. 6.4.1), dass den Organisationen der Zivilgesellschaft, die am Dialog mit der Europäischen Union teilnehmen, nur nationale Rechtsformen zur Verfügung stehen, nachdem die Schaffung des europäischen Vereinsstatuts am Widerstand einiger Mitgliedstaaten gescheitert ist. Deshalb plädiert er dafür, ein europäisches Statut für transnationale Vereinigungen nach dem Vorbild des im November 2003 in Kraft getretenen Statuts für europäische politische Parteien zu schaffen (Nr. 6.4.3). 218

So erwägt Berten, bei der Europäischen Union etwas Ähnliches einzuführen wie den Konsultativstatus der INGOs bei der UNO, der ihnen ein Rederecht gibt (Espaces, 168). 219

Hummer lehnt die Nicht-Profitorientierung als Kriterium für INGOs ab, weil dazu auch internationale wirtschaftliche Interessenverbände und Sportverbände zu rechnen sind, welche die Grenze des „non-profit“-Charakters längst überschritten haben (Internationale nichtstaatliche Organisationen, 57). Dass es auch einige gewinnorientierte INGOs gibt, widerspricht aber nicht der Überlegung, auf die es im vorliegenden Zusammenhang ankommt, nämlich dass der INGO-Status keinen Erwerbszeck verlangt. 220

Ebd.

II. Mit wem führt die Europäische Union den religiösen Dialog?

287

regierungsorganisationen durch die Kommission in KOM (2000) 11 endg. Nr. 1.2 passt nicht genau auf Religionsgemeinschaften, doch gesteht die Kommission selbst ein, dass es keine exakte juristische Definition geben kann. Hempel zählt auch INGOs im Bereich der Religion auf,221 und Costamagna geht selbstverständlich davon aus, dass die EECCS – die inzwischen in die KEK eingegliedert worden ist – den Status einer NGO hatte.222 Hier ist aber wohl zu differenzieren, dass nicht die Kirchen oder Religionsgemeinschaften selbst INGOs sind, sehr wohl aber ihre internationalen Zusammenschlüsse oder eigens geschaffene Organisationen, die den Zweck haben, ihre Interessen zu vertreten.223 Wenn solche INGOs wie etwa die KEK auch nicht selbst Religionsgemeinschaften sind, so verfolgen sie doch unmittelbar religiöse Ziele im engeren Sinn und sind damit religionsspezifischer als ein allfälliger Europäischer Verein, der nur gemeinnützige Ziele im weiteren Sinne verfolgt, wenn auch möglicherweise aus religiösen Motiven. Im dispositiven Völkerrecht kommt es immer häufiger zur Mitwirkung von INGOs an internationalen Organisationen.224 Bei supranationalen Organisationen gestaltet sich dies aufgrund ihrer höheren Organisationsdichte etwas schwieriger, doch kommen auch sie gerade wegen der Eingriffstiefe ihrer Hoheitsakte nicht ohne Mitwirkung von INGOs aus.225 Es erhebt sich aber die Frage, ob der INGO-Status überhaupt die gesuchte staatenübergreifende Rechtspersönlichkeit mit sich bringt. INGOs sind je nach ______________ 221

Nämlich: Der internationale Rat Christlicher Kirchen, der Ökumenische Rat der Kirchen, der Reformierte Weltbund, der jüdische Weltkongress, die Muslim World League usw. (Hempel, Völkerrechtssubjektivität, 37f). 222

Ebenso wie die meisten nichtkatholischen kirchlichen Organisationen (Costamagna, Unione Europea, 192). 223

Dalla Torre befasste sich eingehend mit der Frage, ob einige oder alle religiösen internationalen Organisationen NGOs sind. Er schließt die religiösen Vereinigungen, die nicht selbst Religionsgemeinschaft sind, sondern innerhalb der Rechtsordnung einer Religionsgemeinschaft entstanden sind, und die Institutionen, die zur hierarchischen Struktur einer Religionsgemeinschaft gehören, aus. Schließlich beschränkt er sich auf Organisationen mit religiöser Motivation, die auf nationaler oder internationaler Ebene tätig sind und auf die Gesellschaft einwirken, um den eigenen Zielsetzungen in sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen, wohltätigen, erzieherischen oder ähnlichen Bereichen Geltung zu verschaffen (Organizzazioni internazionali religiose, 430f). 224

Hummer (Greening, 181) nennt folgende Weisen der Mitwirkung: Verleihung eines Konsultativstatus, Einräumung der Einflussnahme auf die Arbeitsweise und die Verhandlungen innerhalb der IO, Mitwirkung an Programmen. INGOs sind dazu besonders gut geeignet, weil sie eine hohe Sachkompetenz und im Gegensatz zu den Staaten keine konkurrierende Interessenstruktur aufweisen. 225

Ebd. 183.

288

E. Die Partner des religiösen Dialogs

ihrer Organsiationsform nur beschränkt nationalen Rechtsordnungen zuordenbar. Zwar gibt es die Möglichkeit, dass eine nationale NGO organisatorisch als übergeordneter „unechter“ Dachverband fungiert, doch die sonst üblichen Rechtsformen sind so gestaltet, dass nur die Zweigvereine und nicht der Dachverband selbst nationalen Rechtsordnungen angehören oder dass die INGO als ganze in keiner nationalen Rechtsordnung verwurzelt ist.226 Sind sie aber stattdessen dem Völkerrecht zuordenbar? Die Lehre hat ihre Völkerrechtsfähigkeit lange Zeit verneint, rückt heute aber zunehmend davon ab.227 Hummer setzt bei der Tatsache an, dass INGOs von Internationalen Organisationen faktisch völkerrechtliche Handlungsbefugnisse verliehen werden – etwa in Form eines Konsultativ- oder Beobachterstatus oder in Form der Mitwirkung an der internationalen Rechtsetzung und Rechtsprechung –, und schließt dann, dass solche Beleihungen eine völkerrechtliche Handlungs- und Geschäftsfähigkeit voraussetzen, die wiederum im Sinne einer unwiderlegbaren praesumptio iuris et de iure eine zumindest partielle Völkerrechtssubjektivität impliziert.228 Ähnlich schließt auch Hempel von den tatsächlich gewährten Rechts- und Pflichtenpositionen auf die Völkerrechtssubjektivität der INGOs. 229 Diese kommt INGOs im Unterschied zu Staaten und Internationalen Organisationen aber nicht in vollem Umfang zu, sondern als Teilrechtsfähigkeit nur in dem Ausmaß, wie ihnen Handlungsbefugnisse verliehen worden sind. Der Dialogstatus, den Kirchen und Religionsgemeinschaften bei der Internationalen Organisation „Europäische Gemeinschaft“ besitzen und der in Konsultations-, Kooperations- und eventuell legislativen Mitwirkungsrechten besteht, erweist sich somit als Pendant zum eben beschriebenen allgemeinen völkerrechtlichen Status von INGOs, der auch nur eine Teilrechtsfähigkeit im Ausmaß der entsprechenden Handlungsbefugnisse bringt. Das Völkerrecht bietet den Kirchen und Religionsgemeinschaften somit keine stärkere Rechtsposition, als ihnen das Gemeinschaftsrecht mit dem Dialogstatus ohnehin schon gewährt. Dazu kommt noch, dass der europäische Dialogstatus im Rahmen des spezifisch religiösen Dialogs konkret auf das besondere Wesen von Kirchen und Religionsgemeinschaften zugeschnitten ist, während der allgemeine völkerrechtliche INGO -Status ein Sammelbecken für die verschiedensten Organisat ionen ist und alle auf die gleiche Ebene stellt. Es gibt also keinen Grund, vom Euro______________ 226

Hummer, Internationale nichtstaatliche Organisationen, 57.

227

Gegen Völkerrechtspersönlichkeit Doehring, Völkerrecht, Rn. 197. Nur als Hilfsorgane des Wirtschafts- und Sozialrates der Vereinten Nationen könnten sie eine sehr begrenzte Rechtsposition im Völkerrecht erlangen (Ebd. Rn. 200). 228

Ebd. 195.

229

Hempel, Völkerrechtssubjektivität, 191.

II. Mit wem führt die Europäische Union den religiösen Dialog?

289

parecht auf das Völkerrecht auszuweichen, um eine bessere Rechtsposition zu erhalten. Die große Ausnahme stellt jedoch die katholische Kirche dar. Der Heilige Stuhl, in dem sie verkörpert ist, genießt volle Völkerrechtssubjektivität und damit eine vollkommenere Rechtsstellung, als der Dialogstatus bei der Europäischen Union je verschaffen könnte. Über den Apostolischen Nuntius, der seit 1970 bei den Europäischen Gemeinschaften akkreditiert ist, wird bereits ein institutionalisierter Dialog auf höchster diplomatischer Ebene geführt. Ferner eignet der katholischen Kirche eine originäre, in sich geschlossene und von anderen unabhängige Rechtsordnung, die aus sich selbst Vereine, Stiftungen und andere juristische Personen hervorbringt. Sie bedarf also im Grunde gar keiner weltlichen Rechtsordnung, die ihr Rechtsformen zur Verfügung stellt, um am rechtlichen Verkehr teilnehmen zu können. Wenn daher nach einem Rechtsstatus für die Kirche auf europäischer Ebene gesucht wird und alle Rechtsformen, welche die Europäischen Union bieten kann, sich letztlich als unbefriedigend erweisen, so drängt sich als Lösung des Problems auf, dass die Union gar keine eigenen Rechtsformen schaffen müsste, sondern sich damit begnügen könnte, die ohnehin schon vorhandenen kirchenverfassungsrechtlichen Strukturen, soweit sie für Europa relevant sind, einfach als solche anzuerkennen. Einen derartigen Weg haben mehrere Mitgliedstaaten beschritten, darunter Polen und die Slowakei, die alle nach kanonischem Recht als juristische Personen eingerichtete Einheiten auch staatlicherseits als solche anerkennen.230 Auch die Europäische Union selbst hat bereits einen Schritt in diese Richtung getan, indem sie den Apostolischen Nuntius als Gesandten des Heiligen Stuhls und diesen damit als oberstes Leitungsorgan der katholischen Kirche anerkannt hat. Andere Mitgliedstaaten erkennen in ihrer Rechtsordnung die Ebenen der kirchlichen Verfassung hingegen nicht direkt an, so dass es, um sie auch im staatlichen Bereich rechtlich handlungsfähig zu machen, notwendig wird, zu jeder von ihnen ein Pendant auf der staatlichen Seite zu schaffen, wodurch praktisch eine Parallelstruktur entsteht. So ist in Deutschland die staatsrechtliche Entsprechung zur Deutschen Bischofskonferenz der „Verband der Diöze-

______________ 230

Art. 4 polnisches Konkordat vom 25.3.1998; Art. 1 Abs. 2 slowakisches Konkordat vom 24.11.2000. Erdö hebt lobend hervor, dass gerade mittel- und osteuropäische Länder sich nach der Wende für ein solches System entschieden haben, so dass die Kirche nicht etwa Kultvereine gründen muss, um rechtlich handlungsfähig zu werden (Typen, 10).

290

E. Die Partner des religiösen Dialogs

sen Deutschlands“231. Am treffendsten lässt sich ein solches System wohl als „dualistisch“ bezeichnen, weil es jeweils zwei Rechtspersonen gibt, eine auf der kirchenrechtlichen und eine auf der staatsrechtlichen Seite. Das erstgenannte System wäre hingegen als „monistisch“ zu bezeichnen, weil es dort nur eine Rechtsperson gibt, die von der anderen Rechtsordnung einfach anerkannt wird.232 Beide Systeme haben Vor- und Nachteile. Das monistische System achtet das Selbstverständnis der Kirche und ihr Recht auf Selbstorganisation stärker, während im dualistischen System immer die Gefahr besteht, dass der Kirche Rechtsformen aufgezwängt werden, die ihr überhaupt nicht entsprechen. 233 Außerdem können schwierige Zuordnungsprobleme zwischen der kirchlichen und der parallelen staatlichen Rechtsperson entstehen, weil beide eigentlich einheitlich handeln sollten, aber verschiedenen Rechtsordnungen angehören, zwischen denen keine Verbindung besteht. Das monistische System hingegen bedarf einer guten Verständigung zwischen Kirche und Staat, der die kirchliche Verfassung genau kennen und ihr vertrauen muss, wenn er daran Rechtswirkungen im staatlichen Bereich anknüpfen soll. Deshalb werden solche Systeme meist in Konkordaten näher ausgestaltet. Während das monistische System den Vorteil hat, dass konkret auf das Selbstverständnis der einzelnen Religionsgemeinschaft eingegangen werden kann, hat das dualistische System den Vorteil, dass es alle gleich behandelt und auch jenen Religionsgemeinschaften zu Rechtsfähigkeit verhilft, denen diese nicht schon aus der eigenen Rechtsordnung zukommt. ______________ 231

Die Deutsche Bischofskonferenz ist als solche im staatlichen Recht nicht rechtsfähig. Vgl. Pree, Grundfragen, 1063. Auf anderen Ebenen erkennt Deutschland bestimmte kirchliche Rechtspersonen aber sehr wohl an. 232

Diese Begriffsunterscheidung hat mit dem völkerrechtlichen Monismus bzw. Dualismus nur am Rande zu tun. Im einen Fall geht es um das Verhältnis des Völkerrechts zum staatlichen Recht, im anderen um die Einordnung kirchlicher juristischer Personen in die weltliche Rechtsordnung. Im ersten Fall besteht der Dualismus darin, dass es neben der völkerrechtlichen Norm einer eigenen innerstaatlichen bedarf, im zweiten Fall darin, dass es zu jeder kirchlichen Rechtsform einer weltlichen bedarf, um im weltlichen Bereich rechtsfähig zu sein. Wie die Europäische Union im Völkerrecht einem monistischen Ansatz folgt (vgl. Kokott, Art. 281 EGV, Rn. 14), so könnte sie es auch im Religionsrecht, doch ist hier noch nichts entschieden. 233 So wäre es beinahe in Frankreich geschehen, das die kirchlichen Rechtspersonen nicht anerkennt und stattdessen als Träger des kirchlichen Vermögens „associations cultuelles“ auf Pfarrebene errichten wollte. Erst nachdem die katholische Kirche heftig dagegen protestiert hatte, weil nach ihrem Selbstverständnis nicht die Pfarr- sondern die Diözesanebene der richtige Ort dafür wäre, willigte Frankreich der Schaffung von „associations diocésaines“ ein (Basdevant-Gaudmet, France, 163f.).

III. Wer führt den Dialog auf Seiten der Universalkirche?

291

Welches System wählt nun die Europäische Union, oder schafft sie eine Mischform? Dass sie selbst nur sehr beschränkt einen Rechtsstatus für Religionsgemeinschaften schaffen kann, spräche für das monistische System, dass sie es aber mit einer Vielzahl von Religionsgemeinschaften zu tun hat, die von sich aus der Rechtsfähigkeit entbehren, und dass sie sich die religiöse Gleichbehandlung zum Ziel gesetzt hat, legt eher ein dualistisches System nahe. Dann dürfen aber keinesfalls die Eigenart und das Selbstverständnis jeder einzelnen Religionsgemeinschaft vernachlässigt werden. Da der Dialogstatus ohnehin nur aus einem begrenzten Bündel von Rechten und Pflichten besteht, sinkt freilich die Gefahr, dass damit die einer Religionsgemeinschaft eigene Struktur missachtet würde, auch wenn der Dialogstatus ohne Rücksicht auf Besonderheiten für alle einheitlich ausgestaltet ist. Doch ganz ausgeschlossen ist diese Gefahr nicht. So muss vermieden werden, dass beispielsweise der Dialogstatus der COMECE, die ja zur Verfassung der katholischen Kirche gehört, den Eindruck erweckt, es handle sich um eine bloße Vereinigung ähnlich den INGOs mit Konsultativstatuts bei Internationalen Organisationen. 234 Ferner muss der Vorstellung gewehrt werden, der religiöse Dialog mit der COMECE mache die diplomatischen Beziehungen entbehrlich, die der Heilige Stuhl aufgrund seiner besonderen Stellung im Völkerrecht mit der Europäischen Gemeinschaft pflegt. Art. I-52 Abs. 3, die Rechtsgrundlage für den religiösen Dialog im Verfassungsvertrag, sagt selbst, dass die je eigene Identität der einzelnen Kirchen und Religionsgemeinschaften zu achten ist.

III. Wer führt den Dialog auf Seiten der Universalkirche? Das vorige Kapitel beschäftigte sich aus europarechtlicher Sicht mit den Religionsgemeinschaften als Partnern des religiösen Dialogs. Nun soll eine Religionsgemeinschaft, nämlich die katholische Kirche, herausgegrifffen werden, um aus kirchenrechtlicher Sicht aufzuzeigen, wie ihre Verfassungsstruktur es ihr ermöglicht, als Dialogpartnerin der Europäischen Union aufzu______________ 234 Costamagna zufolge können Organe der Kirche selbst, die ihrer hierarchischen Verfassung angehören, keinen NGO-Status annehmen. Die Tendenz, das religiöse Phänomen ins private Vereinsrecht abzuschieben, stamme aus der Aufklärung und sei vor allem im protestantischen Bereich aufgenommen worden (Unione Europea, 193). Dalla Torre sagt ausdrücklich, dass die „Konferenz der europäischen Bischöfe“ nicht als religiöse internationale Organisation eingestuft werden kann (Organizzazioni internazionali religiose, 430). Schnizer zufolge hängt die Angemessenheit der Lösung über das Vereinsrecht vor allem davon ab, wie weit sich das Selbstverständnis der Kirchen oder Religionsbekenntnisse in den Formen des Vereinsrechts verwirklichen lässt (Verein oder Glaubensgemeinschaft, 559).

292

E. Die Partner des religiösen Dialogs

treten. Um den Dialog wirksam führen zu können, braucht sie entsprechende Organe. In diesem Kapitel wird untersucht, welche Einrichtungen auf universalkirchlicher Ebene dafür in Frage kommen, im darauf folgenden wird der Blick auf die teilkirchliche Ebene gelenkt und im übernächsten werden noch andere kirchliche Dialogpartner vorgestellt und neue Perspektiven skizziert. 1. Der Papst Der Papst und das Bischofskollegium sind die Träger der höchsten Gewalt im Hinblick auf die Gesamtkirche (c. 330 CIC), für deren Vertretung nach außen – was auch den Dialog mit der Europäischen Union angeht – allein sie legitimiert sind.235 Da die beiden Formen, wie das Bischofskollegium seine Gewalt ausüben kann, nämlich auf einem Ökumenischen Konzil oder außerhalb eines solchen (c. 337 CIC), kollegial und nicht-ständig sind, kommt es als Partner für den regelmäßigen Dialog mit der Europäischen Union weniger in Betracht. Sehr wohl kann es der Kirche aber Leitlinien und Orientierungen für einen solchen geben. So trat das Zweite Vatikanische Konzil nach eigener Aussage sogar selbst in einen Dialog mit der Welt ein (Art. 3 GS) und hat für die Beziehungen mit den weltlichen Autoritäten in der Tat völlig neue Perspektiven eröffnet. Dennoch ist auf gesamtkirchlicher Ebene vornehmlich der Apostolische Stuhl – der Papst entweder selbst oder über die römischen Kurialbehörden (c. 361 CIC)236 – zum Dialog mit der Europäischen Union berufen, zumal er Völkerrechtssubjektivität genießt und damit der supranationalen Organisation in rechtlicher Gleichordnung begegnen kann, was der Ausgeglichenheit zwischen den Dialogpartnern dient. Der Papst beansprucht zwar keine rechtliche Kompetenz über den weltlichen Bereich, 237 seine Jurisdiktionsgewalt über die Kirche umfasst aber auch Kompetenzen, die für die Beziehung zur Europäischen Union von Bedeutung sind:238 So entsendet er den Apostolischen Nuntius zur Europäischen Kommission (c. 362 CIC), approbiert die Statuten der Zusammenschlüsse von Bischofskonferenzen auf europäischer Ebene, teilt die kirchlichen Territorien ein (vgl. cc. 373 und 431 § 3 CIC) und wäre für den Abschluss eines eventuellen europäischen Konkordats zuständig. Ferner ist der ______________ 235

Vgl. cc. 331 und 336 CIC; Listl, Aussagen, 19.

236

Vgl. Buonomo, Holy See, 15; Schwendenwein, Papst, 344.

237

Seine höchste, volle, unmittelbare und universale Gewalt bezieht sich gemäß c. 331 CIC auf die Kirche („in Ecclesia“) und unterscheidet sich danach von der staatlichen Rechtshoheit (vgl. Stoffel, in: MKCIC, c. 331, Rn. 4). 238

Sie werden weiter unten an entsprechender Stelle genauer behandelt.

III. Wer führt den Dialog auf Seiten der Universalkirche?

293

Apostolische Stuhl Vollmitglied in der OSZE und besitzt einen Beobachterstatus beim Europarat.239 Mehr als ihre rechtliche Hoheit über die Kirche setzten die Päpste im Dialog mit der Europäischen Union und ihren Vorläufern von Anfang an ihre moralische und geistliche Autorität ein, die sich im Unterschied zur rechtlichen durchaus auch auf den weltlichen Bereich erstreckt. Die Katholische Kirche hat die Europäische Integration von Anfang an befürwortet und die Maßstäbe dafür klar gemacht, aber nie politisch-organisatorische Ratschläge gegeben oder sich zu den Plänen für einen Bundesstaat, Staatenbund oder die Aufgabe der Nationalstaatlichkeit usw. geäußert.240 Schon vor der Gründung des Europarats und der EGKS beschäftigten sich Päpste mit der Zukunft Europas. Namentlich Benedikt XV. versuchte im Ersten Weltkrieg, wenn auch ohne Erfolg, zu vermitteln und missbilligte die nach Kriegsende geschaffene Pariser Friedensordnung. 241 Er mahnte die europäischen Nationen, echten Frieden zu suchen, und erinnerte daran, dass bei aller nationalen Vielfalt das Christentum der Einheit stiftende Faktor ist.242 Im Zweiten Weltkrieg distanzierte sich die Kirche von den nationalen Kriegszielen der einzelnen Regierungen und versuchte, klare Richtlinien für eine Weltfriedensordnung aus dem Glauben zu entwickeln.243 Der Pontifikat Pius’ XII., der sich von diesem Zeitabschnitt bis in die Gründungsphase der europäischen Internationalen Organisationen erstreckte, wird bezüglich seiner Europapolitik sehr unterschiedlich bewertet. Während Rauch diesen Papst als „Initiator des katholischen Beitrags zur Integration Europas“244 bezeichnet und Kapellari ihn sogar als einen der „Gründerväter des neuen Europa“245 in eine Reihe mit Schuman, Monnet und Adenauer stellt, bemängelt Hörner,246 dass er anfangs zu sehr auf die Wiederherstellung eines katholischen Europas bedacht gewesen sei und dieses unrealistische Ansinnen dann auf ein allgemein christliches Europa und zuletzt auf ein „Europa der geistigkulturellen Werte“ reduzieren habe müssen, womit er sich aber bereits in die Defensive begeben hätte. Tatsache ist, dass die Aussagen dieses Papstes zu ______________ 239

Wuthe, KSZE/OSZE, 226; bzw. Kühn, Europarat, 154.

240

Schwarz, Katholische Kirche, XXVII.

241

Rauch, Der Heilige Stuhl, 28.

242

Benedikt XV., Ad Sacrum Consistorium, 522; ders., Pacem Dei, 216.

243

Lipgens, Zukunftsplanungen, 13.

244

Rauch, Der Heilige Stuhl, 28.

245

Kapellari, Hoffnungen, 25.

246

Hörner, Vatikan, 343, 348 und 351.

294

E. Die Partner des religiösen Dialogs

Europa äußerst vielfältig sind. In der Radiobotschaft vom 9.5.1945 sah er beispielsweise – nicht ohne Pathos – aus den Gräbern der Gefallenen wie Samenkörner die Erbauer eines neuen und besseren Europa hervorgehen. 247 1948 erinnert er daran, dass die europäische Einheit einer unerschütterlichen moralischen Grundlage bedarf, die keine andere sein kann als die von der Geschichte vorgegebene, nämlich der christliche Glaube, der die gesamte europäische Gesellschaft von Grund auf durchdrungen hatte.248 1957 hört man ihn schließlich vor der EGKS die Waren- und die Personenverkehrsfreiheit, also ausgerechnet die harten wirtschaftsrechtlichen Kernelemente der europäischen Integration, mit vielen Worten loben, während die spirituelle und religiöse Dimension nur kurz im Schlusswort angesprochen wird. 249 Seine beiden Nachfolger, Johannes XXIII. und Paul VI., äußerten sich nicht mehr so intensiv zu Europa, doch umso wichtiger ist die neue Sicht des weltlichen Gemeinwesens und der Beziehung zu ihm, die das unter ihren Pontifikaten abgehaltene Zweite Vatikanische Konzil erschlossen hat. In seiner Enzyklika Pacem in Terris erkannte Johannes XXIII. deutlich, dass der Einzelstaat allein nicht mehr imstande ist, das Gemeinwohl zu gewährleisten, und es dazu vielmehr Internationaler Organisationen bedarf, die über die Instrumente des bisherigen Völkerrechts hinausgehen (Nr. 132f.). Für Paul VI., der im Unterschied zu Pius XII. meist direkt vor den mit der Europaproblematik betrauten Personen und Institutionen redete, war nicht mehr die Friedensfrage vorrangig, sondern die Grundlagen eines geeinten Europas.250 Mit Johannes Paul II. erhielt die päpstliche Europapolitik eine neue Richtung, die in ihrer geschichtlichen Wirkmächtigkeit nicht zu unterschätzen ist. Dass ein Pole zum Papst gewählt worden war, stärkte die antikommunistischen Kräfte in seinem Land (z.B. die Gewerkschaft Solidarność) und in anderen osteuropäischen Ländern, wo außer der Kirche kaum noch jemand in der Lage war, staatsunabhängige Formen der Zivilgesellschaft zu erhalten, die dann den Boden für einen Regimewechsel bereiten konnten. Ebenso trug seine Ostpolitik, insbesondere über die Vollmitgliedschaft des Heiligen Stuhls in der damaligen KSZE, die zwischen den beiden Blöcken vermitteln sollte, zum Fall des Eisernen Vorhangs bei, womit der Weg für ein geeintes Europa erst wirklich frei wurde.251 Auch dass dieser Weg mit der Osterweiterung der EU am ______________ 247

Pius XII., Nuntius Radiophonicus, vom 24.12.1944, 129.

248

Pius XII., Ansprache vom 11.11.1948, 509.

249

Pius XII., Ansprache vom 4.11.1957, 966-969.

250

Rauch, Der Heilige Stuhl, 31 und 33.

251

Vgl. Puza, Rolle, 2. Johannes Paul II. gab die Westeuropazentriertheit seiner Vorgänger auf und maß Mittel- und Osteuropa mehr Bedeutung bei (Caponnetto, Europa, 53). Chelini / Chelini bezeichnen es als das große Verdienst Johannes Pauls II.,

III. Wer führt den Dialog auf Seiten der Universalkirche?

295

1.5.2004 tatsächlich eingeschlagen wurde, ist ein Stück weit sein Verdienst, weil er die EU-Skepsis unter den polnischen Katholiken so weit zerstreuen konnte, dass die Volksabstimmung für den Beitritt ausgefallen ist.252 Das Bild von Europa, das Johannes Paul II. vorschwebte, war entgegen manchen Kritikern nicht das der Wiederherstellung des „christlichen Abendlandes“, sondern das einer Vielfalt nationaler Kulturen, deren Gemeinsamkeit jedoch die christliche Grundlage ist.253 Während der politisch-juristisch denkende Pius XII. eine überstaatliche „auctoritas publica“ für unerlässlich hielt, hegte der sozialphilosophisch geprägte Johannes Paul II. größeres Zutrauen zu einer interpersonalen Gemeinschaft.254 Johannes Paul II. pflegte den direkten Dialog mit den herausragenden Vertretern der Europäischen Union: So empfing er am 30.11.2001 den Kommissionspräsidenten Romano Prodi, am 31.10.2002 den Konventspräsidenten Valéry Giscard d’Estaing und am 31.3.2003 den Präsidenten des Europäischen Parlaments Patrick Cox.255 Als Mittel des Dialogs kamen bei diesem Papst zu den Reden und Ansprachen noch die Reisen hinzu, von denen zwei ganz besonders auf Europa als solches256 ausgerichtet waren: Jene nach Santiago de Compostela, dem alten und neu entdeckten Wallfahrtsziel für Pilger aus ganz Europa,257 und jene in die Benelux-Staaten (11.-21.5.1985), wo er direkt vor dem EuGH, ______________

die beiden Teile Europas, die in Jalta getrennt wurden, wieder vereint zu haben (JeanPaul II, 185). 252

Vgl. Lang, Polens Katholizismus, 3.

253

Vgl. Chelini / Chelini, Jean-Paul II, 183; D’Onorio, Projet, 23.

254

Schneider, Einigung 100.

255

ASS 62 (2001) 621; 63 (2002) 553; 64 (2003) 5.

256

Aber auch Reisen zu den Einzelstaaten gaben immer wieder dem Europagedanken Raum, wie z.B. jene nach Österreich (10.-13.9.1983), das er als Beispiel für das Zusammenleben einer Vielzahl von Völkern hervorhob und dem er aufgrund seiner Geschichte und geographischen Lage eine wichtige Rolle für die Schaffung eines stabileren und humaneren Europas und für den Abbau internationaler Spannungen zuerkannte (Johannes Paul II., Ansprache vom 10.9.1983, 37 und 41). 257

Wo er eine Ansprache bei der Europafeier am 9.11.1982 hielt: „Ich, Johannes Paul … rufe dir, altes Europa, von Santiago aus voller Liebe zu: Finde wieder zu dir selbst! Sei wieder du Selbst! Besinne dich auf deinen Ursprung! Belebe deine Wurzeln wieder! Beginne wieder jene echten Werte zu leben, die deine Geschichte ruhmreich gemacht haben, und mach deine Gegenwart in den anderen Kontinenten segensreich! Bau deine geistige Einheit wieder auf in einer Atmosphäre voller Achtung gegenüber den anderen Religionen und den echten Freiheiten! Gib Cäsar, was des Cäsars ist, und Gott, was Gottes ist!“ (Johannes Paul II., Ansprache vom 9.11.1982, 156).

296

E. Die Partner des religiösen Dialogs

dem Europäischen Parlament und weiteren Repräsentanten der EG redete.258 Bei den großen jüngeren Gesetzesvorhaben der EU, nämlich der GRCH259 und dem VVE260 intervenierte er mehrmals persönlich. Bei allem politischen Einsatz fügte Johannes Paul II. dem Engagement für Europa aber auch ein ebenso wichtiges pastorales und damit kircheninternes Element hinzu, nämlich das Programm der Neuevangelisierung des Kontinents. Die Erklärungen verschiedener EU-Politiker zu seinem Tod würdigen seine Verdienste um die Wiederherstellung der Einheit Europas und um den Dialog zwischen den Zivilisationen und Religionen.261 Papst Benedikt XVI., der mit Bedacht den Namen eines der Patrone Europas angenommen hat,262 wird, auch wenn er auf der politischen Bühne nicht so häufig auftritt, den Einsatz für die Bewahrung der christlichen Werte Europas gewiss fortsetzen, wie er es schon als Kardinal Ratzinger getan hat.263 Er sieht jedoch ganz nüchtern, dass die europäische Kultur auch untergehen kann und dass die europäische Säkularisierung im Vergleich mit den anderen Kulturen ______________ 258

Vgl. Johannes Paul II., in: VApSt 64.

259

Vgl. Gimelli, Osservazioni, 229.

260

Vor der Unterzeichnung des EVV durch die Staats- und Regierungschefs am 29.10.2004 in Rom, empfing er Romano Prodi, um ihm für seine Führung als Kommissionspräsident zu danken, aber auch um festzuhalten, dass der Beitrag des Christentums zur europäischen Einheit ein unleugbares historisches Faktum ist, auch wenn es in den offiziellen Dokumenten nicht anerkannt wird (Rede vom 28.10.2004). Am Tag danach gewährte er dem polnischen Ministerpräsidenten eine Audienz und dankte ihm für den Einsatz Polens um die Aufnahme der christlichen Werte in den Vertragstext (Rede vom 30.10.2004, 4). Am 31.10. schließlich äußerte er beim Angelus den Wunsch, dass die Christen weiterhin in alle europäischen Institutionen jene Gärstoffe des Evangeliums hineintragen, die Garanten des Friedens und der Zusammenarbeit aller Bürger bei den gemeinsamen Bemühungen um das Gemeinwohl sind. 261

Z.B: Kommissionspräsident Barroso, at: http://www.europa.eu.int/rapid/press ReleasesAction.do?reference=IP/05/387&format=HTML&aged=0&language=FR&gui Language=fr [9.5.2006]; Präsident des Europäischen Parlaments Borrell Fontelles, at: http://www.europarl.eu.int/president/defaultfr.htm?press_releases [9.5.2006]. 262 263

Fischer, Benedikt XVI., 162.

Z.B: Ratzinger, L’Europe, 15, 19 und 24; Ratzinger, Wendezeit, 101: „Das Gute hinter und über den Gütern ist in der europäischen Tradition auf einer Grundlage formuliert worden, die Europa sich nicht selbst gegeben, sondern aus höherer Überlieferung empfangen hat: In den Zehn Geboten, in denen im übrigen Israel und die Christenheit mit den ältesten und reinsten Traditionen der ganzen Menschheit kommunizieren. In ihnen ist auch der wesentliche Kern dessen grundgelegt, was die frühe Neuzeit unter dem Begriff der Menschenrechte formuliert hat; sie sind ihrerseits die Grundlage der Unterscheidung des sich selbst begrenzenden vom totalitären Staat geworden.“

III. Wer führt den Dialog auf Seiten der Universalkirche?

297

der Welt eher ein Sonderweg war.264 Den neuen Botschafter der Republik Malta beim Heiligen Stuhl erinnerte er an die Mitverantwortung dieses neuen Mitgliedsstaats dafür, dass die Europäische Gemeinschaft des dritten Jahrtausends nicht das Erbe der kulturellen und religiösen Werte ihrer Vergangenheit verliert, und er vertrat die Konzeption eines vereinten und solidarischen Europas, das die legitimen Interessen jeder Nation mit den Bedürfnissen des Gemeinwohls des ganzen Kontinents verbindet265. Gegenüber dem neuen Botschafter von Mazedonien deutete der Papst an, eine weitergehende Osterweiterung der EG zu befürworten, die jedoch auch die Werte-Dimension und nicht nur die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage im Auge haben muss.266

2. Die Sonderversammlungen der Bischofssynode für Europa Wenn das Ökumenische Konzil höchste Leitungsgewalt über die Gesamtkirche besitzt und, wie oben gezeigt, für den Dialog mit der Europäischen Union weniger geeignet erscheint, so bleibt doch zu untersuchen, ob die kirchliche Verfassung für diesen Zweck etwa nicht eine Form von Bischofsversammlung allein auf kontinentaler Ebene bereithielte. Unterhalb des Ökumenischen Konzils folgt als nächste verfassungsrechtlich vorgesehene Konzilsform aber erst das Plenarkonzil, das die Teilkirchen ein und derselben Bischofskonferenz umfasst (c. 439 CIC) und sich somit auf ein für gesamteuropäische Strukturen zu kleines Territorium erstreckt. Scheint das „Kontinentalkonzil“ im CIC auch nicht auf, so wäre seine Einführung ekklesiologisch doch möglich. In Lateinamerika wurden tatsächlich schon solche Generalkonzilien durchgeführt, wie etwa in Medellín und Puebla. Die Bischofsversammlung in Santo Domingo hingegen wurde dann, wie Puza bedauert, an die Form einer Bischofssynode angeglichen.267 Das Fehlen eines regelrechten „Kontinentalkonzils“ wird immerhin ein Stück weit durch die Sonderversammlung der Bischofssynode ausgeglichen. Diese ist eine Versammlung von Bischöfen, die aus den verschiedenen Regionen des Erdkreises ausgewählt werden, um die enge Verbundenheit zwischen dem Episkopat und dem Papst zu fördern und ihm mit ihrem ______________ 264

Ratzinger, Wendezeit, 98; ders., Grundlagen, V.

265

Ansprache an den neuen Botschafter der Republik Malta beim Heiligen Stuhl vom 16.6.2005. 266 Ansprache an den neuen Botschafter der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien beim Heiligen Stuhl vom 19.5.2005. 267

Puza, Bischofssynode, 61. „Kontinentalkonzile“ werden demnach eher zum Erliegen kommen als sich weiter ausbreiten. Johannes Paul II. schien die Sonderversammlung der Bischofssynode den Konzilien vorzuziehen (Heimerl, Vielfalt, 209).

298

E. Die Partner des religiösen Dialogs

Rat hilfreich beizustehen (c. 342 CIC). Während in der ordentlichen und in der außerordentlichen Versammlung Bischöfe aus der ganzen Welt zusammen kommen, behandelt die Sonderversammlung Angelegenheiten, die nur eine oder mehrere Regionen betreffen, und setzt sich folglich vorwiegend aus deren Episkopat zusammen.268 „Region“ ist dabei nicht im Sinne der Kirchenregion des c. 433 CIC, sondern viel weiter zu verstehen.269 Seit der Einführung von Bischofssynoden durch das MP Apostolica Sollicitudo vom 15.9.1965 wurden Sonderversammlungen für einzelne Staaten, vor allem aber für ganze Kontinente abgehalten,270 darunter bereits zwei Mal für Europa: Die Erste Sonderversammlung für Europa fand vom 28.11. bis 14.12.1991, die Zweite vom 1. bis 23.10.1999 statt. Mitglieder der Sonderversammlung sind die Patriarchen, Großerzbischöfe, die von den Bischofskonferenzen einer oder mehrerer Nationen ausgewählten Vertreter, die vom Papst zu bestätigen sind (c. 344 ° 2 CIC), und höchstens zwei Vertreter der klerikalen Ordensinstitute, die aber allesamt zu den entsprechenden Regionen gehören müssen (Art. VII ApSoll, Art. 5 § 3; 6 § 2 °4 OrdSyn 1969). Jede Bischofskonferenz ist unabhängig von ihrer Größe gleich stark vertreten. Ferner gehören zu den Mitgliedern die Kardinäle, die denjenigen Dikasterien der Römischen Kurie vorstehen, die für die anstehenden Fragen zuständig sind. Der Papst kann die Anzahl der Mitglieder nach seinem Ermessen um bis zu 15% erweitern (Art. X ApSoll). An der Sonderversammlung für Europa nahmen auch die beiden Präsidenten von CCEE und COMECE teil.271 Im Unterschied zu einem Konzil nimmt an der Bischofssynode nicht der gesamte Episkopat teil, sondern nur ausgewählte Vertreter desselben. Welche Art von Vertretung üben nun die von den Bischofskonferenzen ausgewählten Bischöfe aus? Stoffel hat anhand der Aussagen der Päpste Pauls VI. und Johannes Pauls II. herausgearbeitet, dass sie eine Repräsentationsfunktion sowohl gegenüber ihrer Ortskirche wahrnehmen, deren Einheit sie sichtbar machen, als auch gegenüber der Bischofskonferenz, die sie ausgewählt hat, nicht aber eine Vertretung des Bischofskollegiums darstellen.272 Obgleich die teilnehmenden ______________ 268

Das MP Apostolica Sollicitudo kannte keine strukturelle Verbindung zwischen diesen drei Arten, was sich nach Arrieta nun in c. 345 CIC leicht gebessert hat (Diritto dell’organizazione, 271). Aber auch als Sonderversammlung für eine bestimmte Region betrifft die Bischofssynode die universale Leitung der Kirche (999). 269

Stoffel, in: MKCIC, c. 345, Rn. 2.

270

Vgl. Fürst, Bischofssynode, 358.

271

Caprile, Assemblea speciale per l’Europa, 36.

272

Stoffel, in: MKCIC, c. 342, Rn. 3. So auch Ghirlanda, Sinodo, 999. Puza bedauert, dass der Halbsatz „den ganzen katholischen Episkopat repräsentierend“ aus ApSoll nicht in c. 342 CIC übernommen wurde und dass das PCI dies im Sinne einer

III. Wer führt den Dialog auf Seiten der Universalkirche?

299

Bischöfe von ihrer Bischofskonferenz kein Mandat erhalten und ihre Stimme im eigenen Namen abgeben, müssen die Themen der Synode schon vorher in der Bischofskonferenz behandelt worden sein, damit die Vertreter in der Synode die gemeinsame Meinung ausdrücken können. 273 Wenn nun die Bischofskonferenzen in der Synode tatsächlich repräsentiert sind, müssten sie konsequenterweise auch Vorschläge für die zu behandelnden Themen einbringen können, doch werden diese allein vom Papst festgelegt (c. 344 ° 3 CIC).274 Ein weiterer wesentlicher Unterschied zum Konzil liegt darin, dass die Bischofssynode grundsätzlich ein rein beratendes Gremium für den Papst ohne Entscheidungsvollmacht ist. Die Sonderversammlung kann also insbesondere keine Rechtsnormen erlassen, die den Dialog mit der Europäischen Union näher ausgestalten oder dessen Ergebnisse umsetzen. Sie kann aber sehr wohl den Anstoß zu einer Änderung der Rechtsvorschriften geben, wie die erste Sonderversammlung für Europa es im Hinblick auf die Statuten des CCEE getan hat.275 Sie kann darüber hinaus gemäß Art. II ApSoll bzw. c. 343 CIC vom Papst in bestimmten Fällen auch mit Entscheidungsvollmacht ausgestattet werden. Dabei handelt es sich nach herrschender Lehre nicht um eine eigene, sondern um eine delegierte Gewalt des Papstes,276 dem es auch zukommt die Entscheidungen der Synode in Kraft zu setzen.277 Wie weit ist die europäische Sonderversammlung der Bischofssynode nun überhaupt als Dialogpartnerin für die Europäische Union geeignet? Da der Dialog regelmäßig stattfinden soll, erweist sich eine nur dann und wann zusammentretende Versammlung von vornherein als ungenügend, auch wenn dies bei der Bischofssynode dadurch ein wenig abgemildert ist, dass sie dem Wesen ______________

Trennung zwischen der theologischen Aussage des Zweiten Vatikanischen Konzils über die bischöfliche Kollegialität und der juristischen Realität interpretiert (Puza, Bischofssynode, 38). Dadurch, dass die Bischofssynode ein Repräsentativorgan des Episkopats ist, unterscheidet sie sich von allen sonstigen synodalen Einrichtungen (Aymans, Bischofssynode, 127). 273

Ghirlanda, Sinodo, 999.

274

Die Berücksichtigung bischöflicher Vorschläge in c. 159 ° 3 Schema PopDei wurde gestrichen (Stoffel, in: MKCIC, c. 344, Rn. 4). 275

Vgl. González-Ayesta, Riforma, 395.

276

Vgl. Stoffel, in: MKCIC, c. 343, Rn. 3.

277

Gelegentlich wird der Unterschied zwischen der Beratungs- und der Entscheidungsvollmacht der Bischofssynode nivelliert. Aber auch wenn beide aus derselben Teilhabe der Bischöfe an der Leitung der Kirche fließen (Ghirlanda, Sinodo, 1000) und wenn in beiden Fällen der Papst die Letztentscheidung behält (Mörsdorf, Synodus, 132f.), so hat eine Entscheidung doch mehr Gewicht als ein bloßer Ratschlag. Puza wünscht eine Stärkung der beschließenden Funktion (Bischofssynode, 46).

300

E. Die Partner des religiösen Dialogs

nach ständig und nur der Struktur nach zeitlich befristet ist 278 und dass bis zum Beginn einer neuen Generalversammlung das ständige Synodensekretariat die Funktionen fortführt (Art. XII ApSoll bzw. c. 348 CIC).279 Neben der zeitlichen Unregelmäßigkeit erweist sich auch der territoriale Bezugsbereich der Sonderversammlung als ungünstig für den Dialog mit der Europäischen Union, weil er sich in den bisherigen beiden Fällen weit über das Territorium der Mitgliedstaaten hinaus erstreckt hat. Der weite Wortlaut des c. 345 CIC („regiones“) ließe indessen ohne weiteres eine exakt auf das Unionsgebiet zugeschnittene Sonderversammlung zu. Schwerer wiegt das Problem, dass die Regelung der Bischofssynode keine Kontakte nach außen vorsieht, was eine Einbeziehung von Vertretern der politischen Gemeinschaft unmöglich macht.280 Die Bischofssynode ist zwar ein vorzügliches Instrument des Dialogs, aber eben des Dialogs der Bischöfe untereinander und gegenüber dem Papst, nicht jedoch des Dialogs mit der Welt.281 Im Unterschied zum Ökumenischen Konzil (c. 339 § 2 CIC) ist die Teilnahme von Laienexperten, die zu den entsprechenden Themen zum Beispiel Sachkenntnisse über die Europäische Union oder gar deren Stellungnahmen einbringen könnten, nicht vorgesehen. Unbenommen bleibt jedoch, dass die Bischofskonferenzen, Diözesen und Bischöfe Experten zur Beratung heranziehen.282 Trotz allem spielen auch die europäischen Sonderversammlungen der Bischofssynode eine wichtige Rolle für den Dialog mit der Europäischen Union. Denn zum einen kommt es ihnen zu, der Kirche in Europa eine

______________ 278

Fürst, Bischofssynode, 353.

279

Das Sekretariat ist jedoch zur Fortführung der Generalversammlung gedacht, weshalb es mit Beginn einer neuen Generalsversammlung erlischt (c. 348 § 2 CIC). Eine Aufgabe des Sekretariats bezüglich der dazwischen stattfindenden Sonderversammlungen, die allein für den europäischen Dialog von Interesse sind, lässt das Gesetz somit nicht erkennen. Damit nützt dann aber auch die Dauerhaftigkeit des Sekretariats für die Regelmäßigkeit dieses Dialogs eher wenig. 280

Ratzinger maß der Bischofssynode auf dem II. Vatikanischen Konzil aber auch eine Aufgabe im Bereich des weltbezogenen Handelns der Kirche bei (vgl. Weiler, Ekklesiologie, 338). 281

Mangelnde Kommunikation konstatiert Montclos: Die erste Bischofssynode für Europa fand zur gleichen Zeit statt wie die Verhandlungen für den Vertrag von Maastricht, doch die beiden Ereignisse treffen sich nicht (Montclos, Saint-Siège, 96). 282

Stoffel, in: MKCIC, c. 346, Rn. 5. An Konzilien früherer Epochen nahmen auch Kaiser und Fürsten teil. Dass die weltlichen Herrscher von heute dies nicht mehr tun, ist im Sinne der Kirchenfreiheit zu begrüßen. Für den Dialog bleiben noch genügend andere Möglichkeiten.

III. Wer führt den Dialog auf Seiten der Universalkirche?

301

grundlegende Orientierung für den Dialog zu geben, und zum anderen können sie mit kirchlicher Autorität Appelle an das politische Europa richten. 283 Die Syndoe bringt im Laufe ihrer Tätigkeit mehrere Dokumente hervor. Als Grundlage der Erörterungen wird vor Beginn der Synode ein „instrumentum laboris“ erarbeitet. Die Synode selbst verabschiedet aufgrund ihrer Beratungen einen Text (die „propositiones“), der an den Papst gerichtet ist. Bei der zweiten Sonderversammlung für Europa verkündete dieser etwa zwei Jahre später schließlich ein „nachsynodales Schreiben“.284 Die erste europäische Sonderbischofssynode fiel in eine Zeit einerseits der Hoffnung wegen des Zusammenbruchs des Kommunismus, anderseits aber auch einer neuen Ungewissheit wegen des Kriegs in Jugoslawien. 285 Der damalige Präsident des CCEE, Carlo Maria Martini, plädierte in der Synode dafür, vor den europäischen politischen Instanzen mit einer einzigen Stimme und wie ein einziges Subjekt zu sprechen sowie die Arbeit von CCEE und COMECE besser zu koordinieren.286 Die Synodenväter äußerten sich auch zu den Strukturen der Kirche und zu der Frage, ob diese an die politischen Institutionen in Europa angepasst werden müssten. 287 Auf der zweiten Sonderversammlung verlangte der Vizepräsident der COMECE, Adrianus van Luyn, die Einmischung der Kirche in die öffentliche Diskussion zugunsten der Unterprivilegierten.288 Die beiden Bischofssynoden haben sich aber nicht nur an die Kirche selbst gerichtet, um vorzuschlagen, wie sie sich angesichts der politischen Integration verhalten solle, sondern sie wandten sich teils auch direkt an ______________ 283

Für Ratzinger gehört zur Bischofssynode neben dem Verhältnis von Bischofskollegium und Papst und dem Verhältnis von Papst und Universalkirche als drittes Element auch das Verhältnis der Kirche nach außen zur Welt, auch wenn dieses Element kirchenrechtlich nicht so gut gefasst werden kann wie theologisch (Demokratie, 338). 284 Über diese Vorgangsweise ist die Lehre geteilter Meinung. Während Puza beklagt, dass Eingaben der Bischöfe geglättet würden und das nachsynodale Schreiben von den Propositionen noch einmal abweiche (Bischofssynode, 45 und 47), hält Homeyer das nachsynodale Schreiben zur zweiten europäischen Sonderversammlung für ein revolutionäres Dokument und das Vermächtnis Johannes Pauls II. für Europa (Erfahrungen, 8). In Bezug auf die erste Bischofssynode unter dem Pontifikat von Benedikt XVI. wurde allgemein begrüßt, dass ein offeneres Gesprächsklima geherrscht habe. 285

Figura, Kirche über Europa, 226.

286

Caprile, Assemblea speziale per l’Europa, 163. Da die erste Sonderversammlung kurz nach der Wende im Osten stattfand, zeigte sich das Problem, dass die Kirche sich in Ost und West ganz unterschiedlich entwickelt hatte und gegenseitige Ressentiments die Verständigung erschwerten (vgl. Löser, Engagement, 10). 287

Hamant, Synode spécial, 270.

288

Ruh, Krisenphänomene, 624.

302

E. Die Partner des religiösen Dialogs

die politisch Verantwortlichen. Die erste Sonderversammlung richtete an alle Regierungen des Kontinents eine Botschaft über die Religionsfreiheit und den Beitrag der Christen für Europa.289 Die zweite Sonderversammlung beschäftigte sich in den Propositionen 37-39 eigens mit dem Verhältnis der Kirche zu den staatlichen Institutionen und jenen der Europäischen Union.290 Im darauf folgenden nachsynodalen Schreiben rief Papst Johannes Paul II. die europäischen Institutionen und die einzelnen Staaten auf, die sittlichen und bürgerlichen Werte als Grundlage der Gesellschaft anzuerkennen, und er wandte sich mit einigen inhaltlichen Anliegen ausdrücklich an die Begründer der künftigen europäischen Verfassung.291

3. Das Staatssekretariat Der Papst wird bei der Ausübung seines höchsten Hirtenamtes von der Römischen Kurie unterstützt, in der die vielfältigen Aufgaben ressortmäßig auf mehrere Dikasterien und sonstige Einrichtungen verteilt sind. Unter diesen fällt die Pflege der Beziehungen zu den Staaten und anderen weltlichen Gemeinwesen dem Staatssekretariat zu, das darüber hinaus die Funktion einer „zentralen Oberbehörde“292 der Kurie innehat. Schon Papst Innozenz IX. schuf 1591, also in der Zeit, als sich die Nationalstaaten entwickelten, ein „Apostolisches Sekretariat“ für die Beziehungen mit Frankreich, Polen, dem Heiligen Römischen Reich, Spanien und den italienischen Staaten.293 Während der französischen Revolution errichtete Papst Pius VI. 1793 eine eigene „Congregatio super negotiis ecclesiasticis Regni Galliarum“. Nach mehreren Umgestaltungen im Laufe der Geschichte ordnete Papst Paul VI. die Kurie 1967 mit der CA Regimini Ecclesiae universae neu, wobei er das Staatssekretariat auf ein eigentliches Sekretariat des Papstes reduzierte und für die Beziehungen zu den Staaten eigens den „Rat für die öffentlichen Angelegenheiten der Kirche“ (Consilium pro publicis Ecclesiae negotiis) errichtete.294 Die Trennung war ______________ 289 Bischofssynode, Sonderversammlung für Europa, Damit wir Zeugen Christi sind, Nr. 11. 290

Vgl. Ruh, Krisenphänomene, 621.

291

Johannes Paul II., Ecclesia in Europa, Nr. 114.

292

Schmitz, Staatssekretariat, 912.

293

Buonomo, Segreteria di Stato, 179.

294

Buonomo, Segreteria di Stato, 183. Diese Terminologie ging auch in c. 360 des CIC/1983 ein. Die Qualifizierung als Rat war jedoch unpassend, weil damit hauptsächlich Dikasterien bezeichnet werden, die sich der Erforschung und Förderung einzelner Gebiete der Pastoral widmen, aber auch die Einstufung als Kongregation hätte nicht der

III. Wer führt den Dialog auf Seiten der Universalkirche?

303

jedoch nicht sauber, da mehrere einschlägige Zuständigkeiten beim Staatssekretariat verblieben und der Kardinalstaatssekretär gleichzeitig Leiter des Rates war.295 Die historisch gewachsene Verbundenheit ließ sich nicht ablegen, so dass Johannes Paul II. in seiner Kurienreform von 1988 mit der CA Pastor Bonus den Rat wieder dem Staatssekretariat eingegliedert hat, jedoch als eigene Sektion, um neben der Einheit auch die Andersartigkeit zu betonen. Das Staatssekretariat besteht heute gemäß Art. 40 PastBon aus zwei Sektionen, die erste für die allgemeinen Angelegenheiten (sectio prior de generalibus negotiis), unter der unmittelbaren Leitung des Substituten, dem ein Assessor zur Seite steht, und die zweite für die Beziehungen mit den Staaten (sectio altera de rationibus cum Civitatibus)296 unter der Führung eines eigenen Sekretärs, dem ein Subsekretär zur Seite steht. Dem Staatssekretariat als ganzem steht der Kardinalstaatssekretär vor. Obwohl Pastor Bonus den Anspruch erhob, die Zuständigkeiten klarer zu aufzuteilen, dauern die Kompetenzüberschneidungen, die schon in Regimini Ecclesiae universae zwischen dem Staatssekretariat und dem Rat für die öffentlichen Angelegenheiten bestanden, weiter fort, auch wenn sie nun dadurch abgemildert sind, dass sich nicht mehr zwei verschiedene Dikasterien, sondern nur noch zwei Sektionen ein und desselben Dikasteriums überkreuzen. Die erste Sektion behandelt zwar dem Grundsatz nach die Angelegenheiten, die den täglichen Dienst des Papstes betreffen und die außerhalb der ordentlichen Zuständigkeit der anderen Einrichtungen der Kurie liegen, während die zweite Sektion sich den Beziehungen mit den Staaten widmet, doch wird die erste, wie sich unten noch zeigen wird, auch auf diesem Gebiet tätig. Die Gliederung der zweiten Sektion wurde nach den verschiedenen geografischen Zonen bzw. nach besonderen Themen vorgenommen.297 Sie wird unterstützt durch einen Kreis von Kardinälen und einigen Bischöfen (Art. 40 PastBon). Aus der ursprünglich der zweiten Sektion angegliederten Kommission für Russland machte Johannes Paul II. die ständige interdikasterielle Kommission für die Kirche in Osteuropa, um die Religionsfreiheit in den ehemals kommunistischen Ländern sowie den ökumenischen Dialog mit den orthodoxen Kirchen zu fördern.298

______________

Besonderheit entsprochen, in der Beziehung mit den Staaten rasch und unmittelbar auf neue Situationen reagieren zu müssen (Bertagna, Segreteria di Stato, 168). 295

Buonomo, Segreteria di Stato, 183.

296

Diese Bezeichnung bringt das Aufgabenfeld besser zum Ausdruck als die vorausgehende, die eher an kircheninterne öffentlichrechtliche Angelegenheiten denken ließ. 297

Bertagna, Segreteria di Stato, 173.

298

Johannes Paul II., MP Europae orientalis.

304

E. Die Partner des religiösen Dialogs

Da die Europäische Gemeinschaft den völkerrechtlichen Status einer – wenn auch besonderen – Internationalen Organisation besitzt, ist hier vor allem zu untersuchen, welchen Platz die Struktur des Staatssekretariats für diese Kategorie von Völkerrechtssubjekten bereit hält. Positiv ist zu bemerken, dass Pastor Bonus sie im Unterschied zu Regimini Ecclesiae universae eigens erwähnt, was wohl auf ihre gewachsene Bedeutung in der internationalen Gemeinschaft und die geschärfte Wahrnehmung durch den Heiligen Stuhl zurückzuführen ist.299 Leider verwendet Pastor Bonus nicht den völkerrechtlichen terminus technicus „Organisationes Internationales“, sondern die untechnischen Bezeichnungen „Internationalia Instituta“300 (Art. 41 § 2 und Art. 46 ° 2) und „aliae publici iuris societates“301 (Art. 46 ° 1). Die Internationalen Organisationen fallen in die Zuständigkeit beider Sektionen, 302 während die andere Kategorie von Völkerrechtssubjekten, nämlich den Staaten, abgesehen vom passiven Gesandtschaftswesen (Art. 41 § 1 PastBon) allein bei der zweiten Sektion angesiedelt ist (Art. 46 ° 1 PastBon). Das stellt nicht nur eine unverständliche ______________ 299

Vgl. Buonomo, Segreteria di Stato, 186.

300

Ob hiermit wirklich Internationale Organisationen gemeint sind, ist umstritten. Schmitz (Kurie, 370) übersetzt wörtlich mit „Internationale Institute“ und lässt die Frage damit offen. Corral (Segreteria di Stato, 979) versteht unter „Internationalia Instituta“ in Art. 41 § 2 PastBon einfach die nicht-katholischen internationalen Organisationen, während der folgende Satz dann von den katholischen spricht („Institutiones Internationales Catholicae“). Damit wären also nicht näher bestimmte internationale Vereinigungen unabhängig von der völkerrechtlichen Kategorie „Internationale Organisation“ gemeint. Das Prädikat „nicht-katholisch“ findet sich jedoch nicht im Gesetzestext, und es mutet bei dieser Deutung seltsam an, dass die katholischen Organisationen nicht zuerst genannt werden, sondern in einem anders gebauten Satz gleichsam nur nachgereicht werden. Dies ist nur verständlich, wenn man annimmt, dass zuerst die Völkerrechtssubjekte genannt werden und dann die geringeren Rechtssubjekte. Außerdem deutet die Großschreibung auf die Verwendung des Begriffs in einer spezifischen Bedeutung hin. Vor allem aber bliebe bei Corrals Deutung der Verweis auf Art. 46 unerklärlich. Dieser Artikel spricht eindeutig von den völkerrechtlichen Beziehungen zu den verschiedenen Subjekten des Völkerrechts, so dass hier zweifelsfrei die Internationalen Organisationen gemeint sind. Nun ist anzunehmen, dass der Gesetzgeber denselben Ausdruck („Internationalia Instituta“) in so kurzem Abstand nicht mit unterschiedlichen Bedeutungen verwenden wollte. Dass sowohl in Art. 41 § 2 als auch in Art. 46 ° 2 PastBon die Internationalen Organisationen gemeint sind, vertritt auch Buonomo (Segreteria di Stato, 187). 301 Dieser weite Begriff umfasst nicht nur Internationale Organisationen, sondern auch andere politische Gemeinschaften, wie etwa Provinzen, sofern sie keine „Civitates“ (Staaten) sind, denn „ius publicum“ meint nicht nur das „ius publicum internationale“, also nicht nur das Völkerrecht. 302

Buonomo, Segreteria die Stato, 186.

III. Wer führt den Dialog auf Seiten der Universalkirche?

305

Differenzierung der beiden Kategorien dar,303 sondern kann auch leicht zu Kompetenzkonflikten zwischen den beiden Sektionen führen, zumal kein Kriterium angegeben wird, wann die erste und wann die zweite sich mit den Internationalen Organisationen zu beschäftigen hat. Die Regelungstechnik mit Hilfe des Verweises von Art. 41 § 2 auf Art. 46 PastBon lässt darauf schließen, dass die erste Sektion nur das übernimmt, was nicht schon von der zweiten besorgt wird.304 Was nun die Europäische Gemeinschaft betrifft, halten sich die beschriebenen Zuständigkeitsprobleme in Grenzen. Da der Heilige Stuhl ihre besondere Eigenart berücksichtigt, die sie mehr als andere Internationale Organisationen in die Nähe der Staaten rückt, hat er die Beziehungen mit ihr analog zu denen mit den Staaten ausgestaltet305 und diese unterstehen, wie schon erwähnt, allein der zweiten Sektion. Für die Beziehung zur Europäischen Gemeinschaft ist auch die Stellung des Gesandtschaftswesens im Staatssekretariat von Bedeutung. Das passive Gesandtschaftswesen, also die zum Heiligen Stuhl gesandten Botschafter, fällt der ersten Sektion zu (Art. 40 § 1 PastBon), das aktive, also die vom Heiligen Stuhl entsandten Legaten, jedoch der zweiten Sektion, aber auch hier ist noch einmal zu differenzieren: Die päpstlichen Legaten unterstehen der zweiten Sektion nur innerhalb deren spezifischen Zuständigkeitsbereichs (Art. 46 ° 3 PastBon), d.h. in ihrer Funktion als Botschafter bei den Staaten, doch bezüglich ihrer Sendung zu den Teilkirchen fallen sie wieder der ersten zu (Art. 41 § 1 PastBon). Noch dazu wird diese Abgrenzung aber – was das Ganze noch komplizierter macht – nicht streng durchgehalten. Denn die Teilkirchen sind in Art. 41 § 1 PastBon nur als Beispiel genannt („praesertim“), so dass die Zuständigkeit der ersten Sektion sich über diesen Bereich hinaus auch auf die päpstlichen Legaten als Gesandte bei den Staaten und damit auf den Bereich der zweiten Sektion ______________ 303

Eine weitere ebenso unverständliche Ungleichbehandlung der beiden Kategorien ist darin zu sehen, dass das Staatssekretariat in den Beziehungen mit den Internationalen Organisationen die übrigen Dikasterien konsultieren muss (Art. 41 § 2 und Art. 46 ° 2 PastBon), in den Beziehungen mit den Staaten hingegen nicht (Art. 46 ° 1 PastBon). Dikasterien, die von ihrem Aufgabenfeld her auch die Beziehungen zu den weltlichen Gemeinwesen berühren, sind beispielsweise die Kongregation für die Bischöfe, die Kongregation für die Evangelisierung der Völker, der Päpstliche Rat Iustitia et Pax, der Päpstliche Rat für die Kultur usw. 304 So hemmend konkurrierende Zuständigkeiten sich auch auswirken können, sie zwingen die einzelnen Abteilungen immerhin zu enger Zusammenarbeit, zu einer vertieften Reflexion ihres Handelns und verhindern Alleingänge (Buonomo, Segreteria di Stato, 184 und 186.). 305

Buonomo, Segreteria di Stato, 187.

306

E. Die Partner des religiösen Dialogs

erstrecken kann. Das ist der Fall bei der Ernennung, Versetzung und Abberufung der Legaten.306 Im Ergebnis bedeutet dies in Bezug auf den Apostolischen Nuntius bei der Europäischen Gemeinschaft, dass für seine Ernennung die erste Sektion für seine Tätigkeit als Gesandter bei einer supranationalen Organisation jedoch die zweite Sektion zuständig ist, doch werden beide in der Regel das Einvernehmen suchen.307 Für die Botschafter der Mitgliedstaaten beim Heiligen Stuhl ist allein die erste Sektion zuständig. Dasselbe gilt für den Fall, dass die Europäische Gemeinschaft selbst einmal eine Delegation beim Heiligen Stuhl unterhalten sollte. Eine Kompetenz, die der zweiten Sektion allein zukommt, ist die Sorge um Konkordate und andere völkerrechtliche Verträge. Wo es möglich ist, soll sie mit diesem Mittel das Wohl der Kirche und der bürgerlichen Gesellschaft fördern (Art. 46 ° 1 PastBon), und wo bereits ein Konkordat besteht, ist sie für alles zuständig, was mit den Regierungen verhandelt werden muss (Art. 47 § 2 PastBon). Zwar ist zur Zeit noch kein Konkordat zwischen dem Heiligen Stuhl und der Europäischen Gemeinschaft greifbar, doch aus der Formulierung von Art. 46 ° 1 PastBon erhellt jedenfalls, dass Konkordate nicht auf die Beziehungen mit Staaten beschränkt sind, sondern auch für die „aliae publici iuris societates“ in Frage kommen. In der Praxis des Dialogs mit der Europäischen Union wird das Staatssekretariat tatsächlich immer wieder aktiv. So äußerte sich Kardinalstaatssekretär Angelo Sodano am 19.2.2003 zu den damals vom Verfassungskonvent vorgelegten ersten 16 Artikel des VVE und legte gleichzeitig die kirchlichen Vorstellungen von einem strukturierten Religionsdialog dar. 308 Der Sekretär der zweiten Sektion, Jean-Louis Tauran, empfing am 28.3.2003 die Botschafter der EU-Mitgliedstaaten, um Themen wie den Irakkrieg und den VVE zu behandeln.309

______________ 306

Ebd. 171.

307

Die Legaten sind der ersten Sektion als Einrichtung und der zweiten im Rahmen der Sachzuständigkeit zugeordnet (Aymans /Mörsdorf, Lehrbuch II, 268). 308 309

ASS 64 (2003) 86.

Ebd. 146. Darin zeigt sich, dass die Kompetenz der ersten Sektion, alles zu erledigen, was die Gesandten der Staaten beim Heiligen Stuhl angeht (Art. 41 § 2 PastBon), flexibel zugunsten der zweiten Sektion gehandhabt wird, die sich dafür allenfalls auf die Zuständigkeit für die diplomatischen Beziehungen zu den Staaten nach Art. 46 ° 1 PastBon stützen könnte.

III. Wer führt den Dialog auf Seiten der Universalkirche?

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4. Der Apostolische Nuntius Bei der Behandlung des Staatssekretariates im vorigen Abschnitt ist bereits ein weiterer Weg angeklungen, wie die Kirche den Dialog mit der Europäischen Gemeinschaft pflegen kann: Das Gesandtschaftswesen. Das Legationsrecht des Papstes fließt direkt aus seinem Jurisdiktionsprimat und ist sein „angeborenes und unabhängiges Recht“310 („ius nativum et indipendens“ c. 362 CIC). Dieser Canon geht auf Art. III Abs. 1 des MP Sollicitudo omnium Ecclesiarum vom 24.6.1969 zurück, welches das päpstliche Gesandtschaftswesen umfassend regelt und wegen c. 20 i.V.m. c. 6 § 1 ° 4 CIC auch nach der Promulgation des kirchlichen Gesetzbuches von 1983 als Sondergesetz weiter in Kraft bleibt.311 Im Hinblick auf die Europäische Gemeinschaft interessiert besonders die Frage, auf welcher kirchenrechtlichen Grundlage die Entsendung diplomatischer Vertreter des Heiligen Stuhls nicht nur zu den Staaten, sondern auch zu den Internationalen Organisationen beruht. Wegen ihrer zunehmenden Bedeutung nimmt SOE im Unterschied zum CIC/1917 auch die „internationalen Räte, Konferenzen und Kongresse“ („apud Consilia Internationalia aut apud Conferentias et Congressus“) als Adressaten päpstlicher Legaten in den Blick. Diese drei Begriffe finden sich in Art. II Abs. 1, der erste allein kommt auch in Art. XI vor. C. 363 § 2 CIC ersetzte „Congressus“ durch „Conventus“ (Zusammenkünfte). Während der zweite und dritte Begriff jeweils internationale Einrichtungen unterhalb der Schwelle der Völkerrechtssubjektivität meinen, wird mit „internationaler Rat“ das Völkerrechtssubjekt der Internationalen Organisation bezeichnet.312 Daneben verwenden die kirchlichen Gesetze noch eine andere Terminologie für die Adressaten der päpstlichen Legaten: Nach Art. I Abs. 2 SOE werden sie zu den „Res Publicas atque civilia Gubernia“ gesandt. Aus dieser Formulierung wurde in cc. 362 und 363 § 1 „Civitates et publicas Auctoritates“. Dabei bezeichnet „Civitates“ die Staaten und ist ohne Zweifel besser als „Res Publicae“, das nach heutigem Verständnis an eine ______________ 310

Wie Rees ausführt, bedeutet „angeboren“ mit dem Papstamt verbunden und „unabhängig“ von keiner menschlichen Autorität zugestanden (Rees, Päpstliche Legaten, 157). C. 265 CIC/1917 sprach nur von einem unabhängigen Recht, gab aber auch an, wovon es unabhängig ist, nämlich von der zivilen Macht („a civili potestate“). Bei der Kodexreform wurde bewusst daran festgehalten und die Meinung, dieses Recht sei nur historisch erworben, ausdrücklich zurückgewiesen [Comm 14 (1982) 185]. 311 312

Mikat, Die päpstlichen Gesandten, 390; Rees, Päpstliche Legaten, 155.

Rees (Päpstliche Legaten, 158) und Stoffel (in: MKCIC, c. 364, Rn. 4) deuten „Consilium internationale“ ganz selbstverständlich als „Internationale Organisation“. Freilich hätte SOE besser gleich den völkerrechtlichen Fachbegriff verwenden sollen. Art. 41 § 2 PastBon spricht von „Internationalia Instituta“.

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E. Die Partner des religiösen Dialogs

bestimmte Staatsform, nämlich die der Republik, denken lässt. „Publicae Auctoritates“ ist der weitere Begriff und bezieht die Internationalen Regierungsorganisationen und Konferenzen ein.313 Es besteht also eine klare Rechtsgrundlage für die Entsendung päpstlicher Legaten zu Internationalen Organisationen, und tatsächlich gibt es gegenwärtig 16 dieser Art. 314 Während die zu den Staaten gesandten Legaten „Nuntius“ bzw. „Pronuntius“ genannt werden, tragen die Legaten bei den Internationalen Organisationen, wenn der Heilige Stuhl selbst deren Mitglied ist, die Bezeichnung „Delegaten“ (Delegati), andernfalls „Beobachter“ (Observatores).315 Wo es einen Delegaten oder Beobachter gibt, muss er sein Amt nach Beratschlagung mit dem Päpstlichen Legaten der Nation ausüben, in der er sich aufhält (Art. XI Abs. 2 SOE). Wo hingegen keiner bestellt ist, obliegt es letzterem, die Geschäfte und Vorhaben der Internationalen Organisation sorgfältig zu verfolgen (Art. XI Abs. 1 SOE). Während die Nuntien und Pronuntien den Heiligen Stuhl immer sowohl hinsichtlich der katholischen Kirche als auch hinsichtlich des Staats der Vatikanstadt vertreten, kann sich die Mission von Delegaten und Beobachtern auf eines der Beiden beschränken.316 Übrigens können letztere auch männliche Laien sein (Art. II Abs. 1 SOE). Als Papst Paul VI. kaum eineinhalb Jahre nach der Promulgation von SOE, nämlich am 10.11.1970, die diplomatischen Beziehungen zu den damals drei Europäischen Gemeinschaften und zum Europarat neu einrichtete, wich er bereits von den Prinzipien seines Motu Proprio ab. Er setzte nämlich nur beim

______________ 313

So Buonomo, Holy See, 37. Der Grund, warum „civilia Gubernia“ gestrichen wurde, war allerdings, dass die Legaten streng genommen zu den politischen Gemeinwesen als solchen, nicht zu den Regierungen als deren Organe gesandt werden [Comm 12 (1980) 238]. 314

AP 94 (2006) 1358-1360.

315

Art. II Abs. 1 SOE. Wegen des Prinzips „prima sedes a nemine iudicatur“ (vgl. c. 333 § 3 CIC) übt der Heilige Stuhl Zurückhaltung gegenüber Vollmitgliedschaften und zieht den Beobachterstatus vor, der seiner überparteilichen Position und moralischspirituellen Mission wie auch seinen eingeschränkten technisch-finanziellen Möglichkeiten besser entspricht und ihm dennoch die Gelegenheit gibt, die Aktivitäten der Internationalen Organisationen zu verfolgen und die Haltung der Kirche einzubringen (Kühn, Europarat, 152). 316

Schulz, Gesandtschaftswesen, 345. Der Grund dafür ist wohl, dass Internationale Organisationen nur begrenzte Aufgaben verfolgen, die in einigen Fällen mehr den Staat der Vatikanstadt betreffen (z.B. die Internationale Postunion) und in anderen mehr die Kirche (z.B. Europarat).

III. Wer führt den Dialog auf Seiten der Universalkirche?

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Europarat einen Ständigen Beobachter317 ein, bei den Gemeinschaften hingegen einen Nuntius, wie er eigentlich für die Staaten und nicht für die Internationalen Organisationen vorgesehen ist.318 Die Gründe dafür sind wohl, dass der Papst den besonderen, sich den Staaten allmählich annähernden Charakter der Europäischen Gemeinschaften erkannt hatte und sich der damals bereits herausgebildeten Nomenklatur des diplomatischen Korps bei den Gemeinschaften anschloss, die Botschafter kennt.319 Zunächst übernahm der Nuntius von Belgien und Luxemburg in Personalunion sowohl die Vertretung bei den Gemeinschaften als auch beim Europarat. Seit Juni 1996 hingegen vertraut der Papst diese beiden Vertretungen einem eigenen Legaten an, was wiederum die gewachsene Bedeutung dieser Internationalen Organisationen und deren Beachtung durch den Heiligen Stuhl bestätigt.320 Die Nuntien gehören nach Art. 14 Abs.1 lit. a WDK ausdrücklich zur ersten Rangklasse der Missionschefs. 321 Zur Zeit der Errichtung der Nuntiatur bei den Europäischen Gemeinschaften sandte der Heilige Stuhl Nuntien nur dorthin, wo ihnen innerhalb des diplomatischen Korps der Ehrenvorrang und die Rolle des Doyens gewährt wurden (Art. 16 Abs. WDK);322 ansonsten entsandte er nur „Pronuntien“, die aber ebenfalls ______________ 317

Dabei sah die Satzung des Europarats damals noch gar keinen Beobachterstatus vor (näheres bei Kühn, Europarat, 154). 318

Diplomatische Vertretungen werden meist durch litterae apostolicae errichtet, doch wurde das entsprechende Dokument für die Nuntiatur bei den Europäischen Gemeinschaften bedauerlicherweise nicht in den AAS veröffentlicht, so dass nichts Genaueres über die Zielsetzungen und Umstände gesagt werden kann (vgl. Filipazzi, Rappresentanze, 742). 319 Köck favorisiert den zweiten Grund, ohne den ersten auszuschließen. Die These, dass man den betreffenden Kanditaten, nämlich Msgr. Cardinale, der schon Nuntius in Belgien war, keinen niedrigeren Rang geben wollte, verwirft er hingegen, denn beim Europarat wurde er sehr wohl nur als Ständiger Beobachter akkreditiert (Köck, Völkerrechtliche Stellung, 749). 320

COMECE, Herz, Nr. 1. Im AP 2006 wird die diplomatische Vertretung beim Europarat unter der Rubrik der Vertretungen des Heiligen Stuhls bei den internationalen Regierungsorganisationen geführt (1359), während die Nuntiatur bei den Europäischen Gemeinschaften im Anschluss an die Nuntiaturen bei den einzelnen Staaten aufscheint (1357). Auch darin kommt zum Ausdruck, dass die Europäische Gemeinschaft mehr ist als eine gewöhnliche internationale Organisation. Zur gegenwärtigen Vertretung des Heiligen Stuhls beim Europarat siehe http://www.coe.int/T/D/Com/Europarat_ kurz/Mitgliedslaender/d_hlg_stuhl.asp#TopOfPage [9.5.2006]. 321

Die WDK zählt zu den Normen des Völkerrechts, die gemäß Art. 362 und 365 § 1 CIC auch im kirchlichen Gesandtschaftswesen zu beachten sind. 322

Gerade weil der Nuntius eine geistliche Macht repräsentiert, ist er sehr willkommen, um als Doyen unparteiisch Probleme von gemeinsamem Interesse zu behandeln (Corral, Nunzio, 724).

310

E. Die Partner des religiösen Dialogs

Botschafterrang besaßen.323 Die Entsendung eines Nuntius bedeutet also, dass die Gemeinschaften diese Privilegien von Anfang an gewährt hatten, obwohl die Praxis der Mitgliedstaaten unterschiedlich war.324 Der Heilige Stuhl sieht die Entsendung eines Legaten zu den Europäischen Organisationen als Zeichen für sein Interesse an der Zusammenarbeit zwischen den Staaten im Hinblick auf das höchste Gut des Friedens und zum Zwecke des moralischen und wirtschaftlichen Fortschritts der Völker. 325 Der Apostolische Nuntius pflegt den Dialog, indem er die Arbeit der Europäischen Gemeinschaft mitverfolgt und der Haltung des Heiligen Stuhls Gehör verschafft, sei es bei der Ausarbeitung wichtiger Dokumente, sei es in internationalen Angelegenheiten, die Europa betreffen. 326 Er fördert den Informationsaustausch, ist beim Rat, der Kommission und dem Europäischen Parlament zugelassen und erhält Zugang zu einschlägigen Unterlagen.327 Als diplomatischer Vertreter i.e.S. nimmt er aber nicht unmittelbar, auch nicht als Beobachter, an der Arbeit der Europäischen Gemeinschaft teil.328 Die Bemühungen um Frieden, Fortschritt und das gemeinsame Handeln der Völker zu fördern, ist nach Art. IV Abs. 2 SOE und c. 364 ° 5 CIC die Aufgabe aller päpstlichen Legaten, auch jener, die nicht zu Staaten oder Internationalen Organisationen gesandt sind. Zweifellos trifft diese Aufgabe ganz besonders den Nuntius bei der Europäischen Gemeinschaft, die auch selbst eben diese Ziele verfolgt.329 Weder SOE noch der CIC enthalten eine Aufgabenliste speziell für die zu Internationalen Organisationen gesandten Legaten. Art. XI Abs. 1 SOE erinnert aber jene päpstlichen Legaten, die ersatzweise auch da tätig sind, wo eigene Delegaten oder Beobachter fehlen, an ihre Pflicht, die Geschäfte und Vorhaben der jeweiligen Internationalen Organisation zu verfolgen, den Apostolischen Stuhl darüber zu informieren sowie Hilfs- und Erziehungseinrichtungen der Kirche und die Internationalen Katholischen Organisationen zu unterstützen. Damit lässt diese Bestimmung erkennen, dass dies ______________ 323

Da diese Praxis hätte Irritationen hervorrufen können, werden seit Anfang der 90er Jahre nur noch Nuntien entsandt (Köck, Organe, Rn. 1701). 324 Alle nach der Wende in Osteuropa selbständig gewordenen Staaten haben eine diplomatische Vertretung des Heiligen Stuhls erbeten (Barberini, Saint-Siège, 206). 325

OR 11.11.1970.

326

Cardia, Soggettività, 318.

327

Rauch, Der Heilige Stuhl, 44.

328

Köck, Völkerrechtliche Stellung, 748.

329

Die Sorge um solche gemeinsame Werte überwiegt in der Apostolischen Nuntiatur nach der Einschätzung Bertens sogar die Sicherung der unmittelbaren Interesse der Kirche (Berten, Engagement, 147).

III. Wer führt den Dialog auf Seiten der Universalkirche?

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eigentlich Aufgaben der Delegaten bzw. Beobachter sind. In Bezug auf den Apostolischen Nuntius bei der Europäischen Gemeinschaft erscheint es darüber hinaus gerechtfertigt, ihm auch die speziellen Aufgaben zuzuschreiben, die c. 365 § 1 CIC den Päpstlichen Legaten bei den „Civitates“ vorbehält. Denn zum einen kann „Civitas“ weit ausgelegt werden [siehe Abschnitt C.II.2.a)] und zum anderen hat die Entsendung eines Legaten in der Position eines Nuntius gezeigt, dass der Heilige Stuhl die Europäische Gemeinschaft im Gesandtschaftsrecht ähnlich einem Staat behandelt. Der entsprechende Art. X Abs. 1 SOE enthält die Einschränkung „qui simul legationem apud Civitates … exercet“ ohnehin nicht und kann daher nur von seinem Inhalt her auf eine bestimmte Gruppe von Legaten beschränkt werden. Inhaltlich ist er aber sehr wohl auch auf die Europäische Gemeinschaft anwendbar, weil es auch hier notwendig ist, die gegenseitigen Beziehungen zu fördern und Fragen zu behandeln, die das Verhältnis zu ihr betreffen. Selbst die Aufgabe, sich mit Konkordaten und anderen Konventionen zu befassen, ergibt auch hier einen Sinn. Denn der Nuntius bei der Europäischen Gemeinschaft ist nicht nur berufen, zu gegebener Zeit ein Europakonkordat vorzubereiten, sondern schon jetzt, sich bei der Gemeinschaft für die Wahrung der mitgliedstaatlichen Konkordate einzusetzen. Außerdem obliegt es ihm, auf die Einhaltung der individuellen und korporativen Religionsfreiheit zu achten.330 Nun sind die päpstlichen Gesandten auch Träger einer Mission zu den Teilkirchen, der das Zweite Vatikanische Konzil und in seiner Folge SOE und der CIC sogar den Vorrang vor der Mission zu den weltlichen Machthabern eingeräumt haben.331 Nach c. 364 CIC ist die kircheninterne Sendung die Hauptaufgabe des päpstlichen Legaten („praecipuum munus Legati pontificii“), wobei nicht zwischen den verschiedenen Arten von Legaten differenziert wird. Die externe Sendung hingegen kommt nach c. 365 § 1 CIC nur einem kleineren Kreis von Legaten zu, nämlich jenen die zugleich („simul“), also neben ihrer internen Sendung, auch eine Vertretung bei den Civitates ausüben. Dem CIC liegt demnach die Konzeption zugrunde, dass alle Legaten eine interne und einige von ihnen zusätzlich auch eine externe Sendung erfüllen. Es erhebt sich aber die Frage, ob dies auch für die Legaten bei den Internationalen Organisationen gilt, da es keineswegs evident ist, zu welcher Teilkirche etwa der Ständige Beobachter bei der Internationalen Atomenergie-Behörde [AP 94 (2006) ______________ 330 331

Arrieta, Diritto dell’organizzazione, 342; Rees, Päpstliche Legaten, 167.

Das ist für Corral eine Folge davon, dass das Konzil jede Tätigkeit der Kirche spirituell gesehen hat (Corral, Legato Pontificio, 619). In der Kodexreformkommission fand sich zwar anfangs noch keine Mehrheit, um die Regelung über die kircheninterne Sendung der externen voranzustellen [Comm 14 (1982) 186], aber am Ende kam c. 364 doch vor c. 365 zu stehen.

312

E. Die Partner des religiösen Dialogs

1358] oder der Ständige Beobachter bei der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (ebd. 1359) gesandt sein sollen. 332 Ganz von der Hand zu weisen sind solche Überlegungen aber nicht, denn Art. XI Abs. 1 lit. b SOE verpflichtet die päpstlichen Legaten, die bei Internationalen Organisationen die Aufgabe von Delegaten oder Beobachtern erfüllen, wo solche fehlen, nach Beratschlagung mit den Bischöfen Hilfs-, Erziehungs- und ähnliche Einrichtungen der Kirche zu unterstützen. Der Gesetzgeber denkt also auch hier an Kontakte zu den Leitern der Teilkirchen, doch umfassen diese nicht das gesamte Spektrum der Art. IV - VIII SOE bzw. des c. 364 CIC. Es wird daher davon auszugehen sein, dass auch die Legaten bei den Internationalen Organisationen grundsätzlich den Auftrag haben, die „Bande der Einheit zwischen dem Apostolischen Stuhl und den Teilkirchen“ zu stärken, dass sich dieser Auftrag aber je nach Charakter der Internationalen Organisation nur in einem mehr oder weniger begrenzten Rahmen konkretisiert. Diese abgestufte Sendung zu den Teilkirchen fällt umso intensiver aus, je staatsähnlicher die betreffende Internationale Organisation ausgestaltet ist. Das ist zweifellos bei der Europäischen Gemeinschaft der Fall, wo noch hinzukommt, dass der päpstliche Legat die Position eines Nuntius innehat, wie er normalerweise zu den Staaten gesandt wird und ganz bestimmte Aufgaben innerhalb des nationalen Episkopats zu erfüllen hat. Gewiss fällt in Bezug auf den Nuntius bei der Europäischen Gemeinschaft alles weg, was mit der Ernennung von Bischöfen zu tun hat (Art. VI SOE, c. 364 ° 4 CIC), weil das bereits vollständig die Nuntien bei den Mitgliedstaaten erledigen. Hingegen lässt sich die Pflicht, den Apostolischen Stuhl über die Lage der Teilkirchen zu informieren (Art. V Abs. 1 SOE, c. 364 ° 1 CIC), sehr wohl auch auf ihn übertragen, wenn auch mit der Einschränkung, dass es sich um Informationen über die gesamteuropäische Lage handelt und nicht über Teilkirchen einer einzelnen Nation, weil er damit in die Zuständigkeit des Nuntius beim jeweiligen Mitgliedstaat eindränge. In ähnlicher Weise lässt sich auf ihn auch die Pflicht übertragen, den Bischöfen mit Rat und Tat beizustehen (Art. VIII Abs. 1 SOE, c. 364 ° 2 CIC), die jedoch wieder auf teilkirchliche Probleme von unionsweitem, die einzelne Nation übersteigendem Ausmaß beschränkt ist. Mit den nötigen Anpassungen lässt sich auch die Verpflichtung, mit den Bischöfen auf den Gebieten der Ökumene und des interreligiösen Dialogs zusammenzuarbeiten (Art. IV Abs. 4 SOE, c. 364 ° 6 CIC), leicht auf den europäischen Kontext anwenden. Die Pflicht, enge Beziehungen mit der Bischofskonferenz zu pflegen (Art. VIII Abs. 2 SOE, c. 364 ° 3 CIC), ist weit auszulegen und auf die ______________ 332 Allerdings ist auch die diplomatische Funktion für sich genommen bereits eine religiös-spirituelle Aufgabe (Arrieta, Diritto dell’organizzazione, 343).

III. Wer führt den Dialog auf Seiten der Universalkirche?

313

COMECE, den Zusammenschluss der Episkopate in der Europäischen Gemeinschaft, zu beziehen. Deren Statut legt nämlich die Zusammenarbeit unter den Episkopaten in Verbindung mit dem Apostolischen Nuntius bei der Europäischen Gemeinschaft (Nr. 2) fest, verpflichtet den Vorsitzenden zur Zusammenarbeit mit diesem (Nr. 11) und gewährt ihm das Recht, an den Versammlungen der Kommission und des Exekutivausschusses teilzunehmen (Nr. 14). Mit dem letztgenannten Recht erhält er sogar eine stärkere Position, als den Nuntien in Bezug auf die Bischofskonferenzen von Art. VIII Abs. 2 SOE grundsätzlich zugestanden wird. Nach dieser Bestimung wäre er nämlich nur zur Teilnahme an der Eröffnungssitzung berechtigt, während die Teilnahme an den übrigen Sitzungen nur auf Einladung der Bischöfe oder mit ausdrücklichem Auftrag des Apostolischen Stuhls erfolgen könnte. 333 Wie Rees betont, ist der Kontakt der Nuntiatur zu CCEE und COMECE unerlässlich, nicht zuletzt aufgrund der in jüngster Zeit erfolgten Anerkennung der Rolle der Kirchen und Religionsgemeinschaften im europäischen Einigungsprozess. 334 Treanor bestätigt, dass die Nuntiatur in der Praxis tatsächlich enge Beziehungen zur COMECE unterhält, zumal sie auch an ihrer Gründung beteiligt war. 335 Gerade für das Verhältnis der Kirche zum weltlichen Gemeinwesen ist das Zusammenwirken zwischen dem päpstlichen Legat und den Bischöfen von großer Bedeutung, weshalb dies vom Kirchenrecht auch gleich doppelt, sowohl bei den internen als auch bei den externen Aufgaben der Nuntien, eingemahnt wird.336 So können die beiden sich gegenseitig ergänzenden Wege, nämlich der diplomatische über den Nuntius und der weniger formelle Weg über die Bischöfe, für den Dialog mit der Europäischen Gemeinschaft genützt werden. Die Bischöfe haben den Vorteil, die Ortskirche und die jeweiligen historischen, gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse besser zu kennen,337 indessen hat der Nuntius den Vorteil, als nicht direkt betroffener Bürger gegenüber den weltlichen Autoritäten weniger befangen agieren zu können und die Sicht der Gesamtkirche einzubringen.338 ______________ 333

Diese Regelung geht auf das Anliegen des Zweiten Vatikanischen Konzils zurück, die Bischöfe zu stärken und die Kompetenzen der päpstlichen Legaten abzugrenzen (Art. 9 CD). 334

Rees, Päpstliche Legaten, 173; ders., Nuntiatur, 49.

335

Treanor, L’Église, 207.

336

Zum einen Art. IV Abs. 3 SOE bzw. c. 364 ° 7 CIC, zum anderen Art. X Abs. 2 SOE bzw. c. 365 § 2 CIC. 337 338

Rees, Päpstliche Legaten, 165.

Jedenfalls ist eine Koordinierung der beiden Wege von Nöten (Arrieta, Diritto dell’organizzazione, 343).

314

E. Die Partner des religiösen Dialogs

IV. Wer führt den Dialog auf Seiten der Teilkirchen? 1. Kontinentale Verbände von Bischofskonferenzen Alle bisher in Betracht gezogenen Gesprächspartner für den Dialog mit der Europäischen Union gehören der universalkirchlichen Ebene an, die den gesamten Erdkreis im Blick haben muss und daher nur einen Teil ihres pastoralen Interesses auf Europa lenken kann. Nun erhebt sich aber die Frage, ob es daneben auch Strukturen gibt, die direkt aus den Ortskirchen, die in Europa unmittelbar beheimatet sind, gleichsam von unten erwachsen und speziell die europäische „portio Ecclesiae“ vor der Union vertreten können. Tatsächlich existiert zwar keine europäische Bischofskonferenz, da die Bischofskonferenzen sich in der Regel auf das Territorium eines einzelnen Nationalstaates beschränken (c. 448 § 1 CIC), doch können die Bischofskonferenzen eines Kontinents sich auch einfach zusammenschließen.339 Auf diese Weise entstanden in Europa der Rat der Europäischen Bischofskonferenzen (CCEE) und die Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Gemeinschaft (COMECE). Bevor diese beiden in den folgenden Abschnitten näher vorgestellt werden, soll in diesem Abschnitt noch Allgemeines und Grundsätzliches zu solchen Verbänden gesagt werden.

a) Die Rechtsgrundlage der Verbände von Bischofskonferenzen Zweites Vatikanisches Konzil: Zunächst ist nach der Rechtsgrundlage zu fragen. So wie Bischofskonferenzen bereits entstanden waren, bevor sie Eingang in gesetzliche Regelungen fanden, so existierte zumindest ein kontinentaler Verband von Bischofskonferenzen bereits, als das Zweite Vatikanische Konzil sich erst damit zu beschäftigen begann, nämlich der lateinamerikanische Bischofsrat CELAM mit Approbation vom 2.11.1955 durch Papst Pius XII.340 Das Konzil spricht dieses Thema in drei Dokumenten an. Das früheste ist die Liturgiekonstitution Sacrosanctum Concilium vom 4.12.1963, deren Art. 22 Abs. 2 den für bestimmte Gebiete zuständigen Bischofsvereinigungen verschiedener Art („vari generis territoriales Episcoporum coetus“) die Vollmacht gewährt, innerhalb festgelegter Grenzen die Liturgie zu ordnen. Diese sehr ______________ 339

Da verschiedene Fragen, die das Verhältnis der Kirche zur nationalen Gesellschaft bzw. zum Staat betrafen, zunehmend auf die Ebene einer Staatengemeinschaft verlagert wurden, müssen auch die Beziehungen unter den einzelnen Bischofskonferenzen verstärkt werden (vgl. Rees, Bischofskonferenzen, 337). 340 AP 94 (2006) 1855. Die Päpste begrüßten schon früh auch internationale episkopale Zusammenschlüsse (vgl. Leisching, Rechtscharakter, 170).

IV. Wer führt den Dialog auf Seiten der Teilkirchen?

315

offen gehaltene Formulierung scheint sich nicht auf die eigentlichen Bischofskonferenzen zu beschränken, die zum damaligen Zeitpunkt rechtlich noch gar nicht so genau ausgestaltet waren wie heute. Das darauf bezogene MP Sacram Liturgiam vom 25.1.1964 bedient sich in Art. X derselben Formulierung, wenn auch mit dem Zusatz „nationales“, der jedoch als Beispiel, nicht als Einschränkung gemeint ist.341 Konkreter wird die Instruktion Inter Oecumenici vom 26.9.1964, die in Nr. 23 drei Arten von Trägern der Vollmacht zur Liturgiereform benennt: a) die Versammlungen von Bischöfen einer Nation; b) jene aus mehreren Nationen, die bereits bestehen; c) jene aus mehreren Nationen, die mit Erlaubnis des Apostolischen Stuhl erst zu errichten sind, wobei sie derselben Sprache und derselben bürgerlichen Kultur angehören sollen. Demzufolge ist offensichtlich auch die Nationen übergreifende Zusammenarbeit von Bischöfen möglich und erwünscht.342 Der Bedarf dafür entstand, weil die Liturgie an die einzelnen Sprachen und Kulturen angepasst werden sollte, diese aber – gerade in Europa – häufig über die nationalen Grenzen hinaus reichen. Als Rechtsgrundlage für die kontinentalen Verbände von Bischofskonferenzen genügen die untersuchten Bestimmungen jedoch nicht, da sie sich auf den Bereich der Liturgie beschränken und die Terminologie noch zu vage ist. Das zweite Konzilsdokument, das Verbindungen zwischen Bischofskonferenzen erwähnt, ist selbstverständlich das Dekret über die Hirtenaufgabe der Bischöfe „Christus Dominus“343 vom 28.10.1965, dessen Art. 38 Nr. 5 in systematisch unbefriedigender Weise344 zwei verschiedene Dinge, nämlich die internationalen Bischofskonferenzen und die Beziehungen zwischen Bischofs______________ 341

Die Beifügung „interim“ deutet darauf hin, dass die Beschränkung auf die nationale Ebene nur vorläufig ist (Kalumbu, Conférences, 125). 342 Ob dabei an eine internationale Bischofskonferenz oder an die Zusammenarbeit zwischen mehreren nationalen Bischofskonferenzen oder an beide Formen gedacht war, lässt sich schwer sagen, da diese Unterscheidungen damals noch nicht so klar vorlagen (vgl. Mörsdorf, Hirtenaufgabe, 239). Im deutschen Sprachraum wurde jedenfalls die zweite Form gewählt. Man kann aber nicht wie Petroncelli Hübler (Relazioni, 104) sagen, Nr. 23 IntOec favorisiere offen die internationalen Konferenzen, da man aus dem Aufbau dieser Bestimmung und den diversen Einschränkungen der lit. c eher den Eindruck gewinnt, dass lit. a, also die nationalen Konferenzen, den Regelfall darstellen sollen. 343

Es handelt sich dabei um eines jener Konzilsdokumente, die den Charakter eines Gesetzes und sogar eines Verfassungsgesetzes haben (Mörsdorf, Hirtenaufgabe, 148). Das gilt insbesondere für die Anordnungen des Art. 38, die eindeutig als Rechtsnormen verfasst sind. Würde es am Rechtscharakter fehlen, so käme das Dokument von vornherein nicht als Rechtsgrundlage für die internationalen Verbände von Bischofskonferenzen in Frage. 344

Vgl. Mörsdorf, Hirtenaufgabe, 239.

316

E. Die Partner des religiösen Dialogs

konferenzen mehrerer Nationen („relationes inter Conferentias Episcopales diversarum nationum“) grundlegt.345 Sind mit diesen „Beziehungen“ auch institutionalisierte Verbände von Bischofskonferenzen gemeint, wie sie für den Dialog mit der Europäischen Union gebraucht werden? Das Wort „Beziehungen“ lässt zunächst einmal an die Pflege regelmäßiger Kontakte, aber nicht an eine übergreifende Struktur denken, die nur bei einer sehr weiten Auslegung darunter subsumierbar ist. Dass eine solche zulässig ist, zeigt ein Blick in die Genese des Konzilsdokuments. Kardinal Marella, der Vorsitzende der Bischofskommission, bezog in seiner relatio den entsprechenden Artikel des Vorbereitungsschemas von 1962 nämlich ausdrücklich auf die Beziehungen zwischen Bischofskonferenzen, wie sie in Lateinamerika bereits bestanden haben.346 Da er damit nur CELAM gemeint haben kann, ist klar, dass die entsprechende Bestimmung nach der Intention ihrer Schöpfer nicht nur auf schlichte Beziehungen, sondern auch auf institutionaliserte, übergreifende Strukturen wie die hier in Frage stehenden anzuwenden ist. Diese finden ihre Rechtsgrundlage also tatsächlich in Art. 38 Nr. 5 Satz 2 CD.347 Das Verhalten von Roger Etchegaray, der gleich am Tag nach der Abstimmung über Christus Dominus die Entstehung des CCEE initiierte,348 stützt diesen Befund. Art. 38 Nr. 5 Satz 2 CD bleibt als Rechtsgrundlage aber doch recht vage und offen. Im ______________ 345

Dabei war die Systematik im Schema von 1963 noch völlig richtig: Die Beziehungen zwischen Bischofskonferenzen waren dort in Art. 25 geregelt, die internationalen Bischofskonferenzen hingegen schon in Art. 18 Nr. 3 als Sonderbestimmung gegenüber dem Grundsatz der nationalen Bischofskonferenzen in Nr. 1 (AS II/4, 372 und 374). Die Verknüpfung beider Materien in den späteren Schemata lässt sich sachlich nicht begründen und leistet Missverständnissen Vorschub. Wie Kalumbu feststellt, hat es während der gesamten Konzilsdebatte Verwechslungen der Zusammenarbeit zwischen nationalen Bischofskonferenzen mit den internationalen Bischofskonferenzen gegeben (Kalumbu, Conférences, 91). 346

AD II/II 2, 526. Als Gründe, warum solche Beziehungen notwendig werden, nannte er die heutigen Probleme, welche die Kirche in einer einzelnen Nation übersteigen, sowie die zunehmende Verbündung der Nationen auf politischem und sozialem Gebiet. Der letztgenannte Grund zeigt, dass die internationalen Verbände von Bischofskonferenzen schon damals als Reaktion auf die Zusammenschlüsse von Staaten auf internationaler Ebene gedacht waren, wie es später dann mit der COMECE im Hinblick auf die EG Wirklichkeit wurde. 347

Nicora erwägt auch Art. 37 CD als Rechtsgrundlage für die COMECE, doch darin sind eindeutig nur die echten nationalen Bischofskonferenzen erfasst (Nicora, Comissione, 409). Unverständlich ist, warum Papst Paul VI. einen Tag nach der Gründung des CCEE Art. 37 und nicht etwa Art. 38 CD als dessen Grundlage angeführt hat [AAS 63 (1971) 293]. 348

Vgl. Wijlens, Zusammenarbeit, 232. Nach dem Urteil Wijlens’ erkannte das Konzil, was CELAM betrifft, etwas an, was es bereits vorfand (ebd. 233).

IV. Wer führt den Dialog auf Seiten der Teilkirchen?

317

Folgenden ist daher zu prüfen, inwiefern es in der nachkonziliaren Gesetzgebung bis hin zum CIC/1983 Konkretisierungen gab. Als Ausführungsgesetz zum Dekret Christus Dominus erging am 6.8.1966 das MP Ecclesiae Sanctae, dessen Art. I 41 den Art. 38 CD rechtlich näher ausgestaltet. Art. I 41 § 4 Satz 2 verfügt, dass bei Aktionen („actiones“) und Vorhaben („rationes“) von internationalem Charakter, welche die Bischofskonferenzen planen, der Heilige Stuhl zu benachrichtigen ist. Mit Aktionen und Vorhaben können aber nur gemeinsame Aktivitäten nicht jedoch eine gemeinsame übergreifende Verfassungsstruktur gemeint sein. Eine solche könnte man höchstens dann unterstellen, wenn man „rationes“ im Sinne von „Beziehungen“ deutet.349 Aber selbst dann kann an dieser Stelle offensichtlich keine die Bischofskonferenzen übergreifende gemeinsame Struktur gemeint sein. Für die „rationes“ ist nämlich nur die vorhergehende Benachrichtigung („praemonere opportet“) des Apostolischen Stuhls verlangt, während Art. I 41 § 1 ES für die Statuten der Bischofskonferenzen die Rekognoszierung vorschreibt. Nun wäre es aber nicht verständlich, wenn der Apostolische Stuhl auf Strukturen, die geografisch ausgedehnter sind und hierarchisch höher stehen als die Bischofskonferenzen, einen viel geringeren Einfluss hätte. 350 § 4 kann folglich keine solchen Strukturen meinen. Dasselbe gilt für die Beziehungen zwischen Bischofskonferenzen, von denen § 5 spricht. Zwar wird die Form dieser Beziehungen hier weitgehend offen gelassen („opportunis et congruentibus modis“), doch sollen sie jedenfalls durch die Sekretariate der Konferenzen gepflegt werden („per earumdem Conferentiarum Secretariatus“), womit also offenbar keine eigene Struktur, sondern nur Kontakte von Sekretariat zu Sekretariat angedacht sind. Die Auflistung von fünf Punkten über die inhaltliche Gestaltung der Beziehungen (Art. I 41 § 5 lit. a-e ES) stammt aus den Schemata für CD351 und lässt sich mit Mörsdorf unter dem Stichwort „umfassende gegenseitige Information“352 zusammenfassen. Dass sie nicht erschöpfend ist („praesertim“), bedeutet nicht, dass sie beliebig erweitert werden könnte. Denn die ______________ 349 In § 5 meint „rationes“ zweifellos „Beziehungen“, weshalb es auch hier diesen Sinn annehmen könnte, aber die Verbindung mit „actiones“ spricht mehr für die Bedeutung von „Vorhaben“. Mörsdorf kritisiert zu Recht, dass der klare Begriff „relationes“ des Konzilsdekrets in § 5 durch „rationes“ ersetzt wurde. Eine Verbesserung ist ihm zufolge aber darin zu sehen, dass der Zusatz „diversarum nationum“ des Konzilsdekrets hier weggefallen ist, da internationale Beziehungen ja nicht nur zwischen nationalen Bischofskonferenzen bestehen können (Mörsdorf, Hirtenaufgabe 239f). 350 In Wirklichkeit werden die Statuten von Verbänden wie CCEE und COMECE vom Apostolischen Stuhl approbiert, nicht bloß rekognosziert. 351

Arrieta, Organismi, 553.

352

Mörsdorf, Hirtenaufgabe 240.

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E. Die Partner des religiösen Dialogs

ausdrücklich genannten Beispiele skizzieren einen bestimmen Kreis von Tätigkeiten, innerhalb dessen selbstverständlich noch viele andere möglich sind, über den hinaus die Gesetzesbestimmung jedoch nicht erstreckt werden kann. Wenn nun alle erwähnten Beispiele nur eine Form von Informationsaustausch darstellen, dann können gewiss keine institutionalisierten, die einzelnen Bischofskonferenzen übergreifenden Strukturen erfasst sein. Es liegt hier also eine minuziöse Regelung für den bloßen Informationsaustausch vor, der im Grunde gar keiner Rechtsgrundlage bedurfte hätte, doch fehlt eine solche, wo sie unbedingt erforderlich wäre, nämlich für die internationalen Verbände von Bischofskonferenzen.353 Dieses Fehlen bedeutet freilich nicht, dass die Konferenzverbände nun ihre Rechtsgrundlage verlören. Diese bleibt weiterhin in Art. 38 Nr. 5 Satz 2 CD erhalten, da ES als bloßes Ausführungsgesetz das Konzilsdekret ja nicht außer Kraft setzt, sondern sogar voraussetzt. 354 Dass ein Ausführungsgesetz den Art. 38 Nr. 5 Satz 2 CD nicht konkretisiert, ist zwar bedauerlich, tut der Funktion dieser Bestimmung als Rechtsgrundlage aber keinen Abbruch. Das dritte und späteste Dokument des Zweiten Vatikanischen Konzils, das auf die Beziehungen zwischen den Bischofskonferenzen eingeht, ist schließlich das Missionsdekret „Ad Gentes“ vom 7.12.1965. Nach dessen Art. 22 Abs. 3 ist es wünschenswert und angebracht, dass die Bischofskonferenzen sich innerhalb der soziokulturellen Großräume untereinander verbinden („inter se coadunentur“), um in gemeinsamer Überlegung einmütig das Ziel der Inkulturation zu verfolgen. Ebenso empfiehlt Art. 31 Abs. 2 eine Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Bischofskonferenzen („cooperatio […] inter diversas Conferentias Episcopales“) für Unternehmungen, die die Kräfte der einzelnen Konferenzen übersteigen wie etwa gemeinsame Hochschulen. Das Neue an diesen Passagen des Missionsdekrets ist, dass eine regelrechte Zusammenarbeit, nicht ______________ 353

Petroncelli Hübler stellt zu Recht fest, dass Art. I 41 ES vieles unklar lässt und die Möglichkeit von Beziehungen zwischen Bischofskonferenzen gegenüber Art. 38 CD eher einschränkt. Das Gesetz will eine Vervielfachung der Zwischenstrukturen vermeiden, die alleinige Aufzählung von Tätigkeiten des Informationsaustausches scheint weiterreichende gemeinsame Aktivitäten auszuschließen, und überhaupt sagt Art. I 41 § 5 ES nur noch, dass die Bischofskonferenzen Beziehungen haben können, nicht mehr wie Art. 38 Nr. 5 CD, dass sie solche fördern sollen. Insgesamt strebt ES eher nach Beziehungsformen für die Episkopate zur Unterstützung der Bischöfe und Bischofskonferenzen, aber nicht so sehr nach neuen Organismen, die über den Episkopaten als Zwischenstruktur zwischen dem Heiligen Stuhl und den Bischöfen stehen (Petroncelli Hübler, Relazioni, 106f. und 110). 354

In Wirklichkeit sind beide aufeinander bezogen und haben deshalb auch mit Absicht am selben Tag, dem 11.10.1966, Rechtskraft erlangt (Mörsdorf, Hirtenaufgabe, 146).

IV. Wer führt den Dialog auf Seiten der Teilkirchen?

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nur ein Informationsaustausch empfohlen wird und dass die Ausdehnung dieser Verbindungen von Bischofskonferenzen konkretisiert wird und zwar nicht etwa mit einem geografischen Kriterium wie dem des Kontinents, sondern mit dem des soziokulturellen Großraums. Noch weiter geht die rechtliche Ausgestaltung des Missionsdekrets im MP Ecclesiae Sanctae. Während Art. III 9 ES die Pflege der Beziehungen zwischen den Bischofskonferenzen noch den Missionskommissionen anvertraut, die in jeder Konferenz einzurichten sind und damit eine ähnliche Aufgabe erhalten wie die Konferenzsekretariate in Art. I 41 § 5 ES, wünscht Art. III 18 ES, dass die Bischofskonferenzen in den Missionen sich in organisierten Verbänden entsprechend den soziokulturellen Räumen verbinden („ut Episcopales Conferentias in Missionibus coadunentur in organicos coetus secundum socio-culturalia spatia“), was von der Missionskongregation gefördert wird.355 Mit diesen „organicos coetus“ findet sich nun tatsächlich eine gesetzliche Ermächtigung, um eine gemeinsame, mehrere Bischofskonferenzen verbindende Struktur zu schaffen. Das Problem daran ist aber, dass Teil III von Ecclesiae Sanctae nur für die Missionsgebiete gilt. Obwohl dasselbe Gesetz in Teil I, wie oben bereits ausgeführt, das Bischofsdekret Christus Dominus rechtlich umsetzt, wurde dort versäumt, eine entsprechende Regelung für die gesamte Kirche einzufügen. Die Phase nach dem Konzil: Mit dem Ende des Konzils und der das Konzil begleitenden und seine Dekrete umsetzenden Gesetzgebung hört die Rechtsentwicklung keineswegs auf. Die erste außerordentliche Versammlung der Bischofssynode verabschiedete am 27.10.1969 die Erklärung „Nunc Nobis“ über die engere Verbindung zwischen den Bischofskonferenzen, die in Abschnitt III C genau zwischen Konferenzen mehrerer Nationen und internationalen Bischofsräten unterscheidet. Ersteres sind echte Bischofskonferenzen, deren Bischöfe aber nicht aus einer, sondern aus mehreren Nationen stammen. Letzteres ist genau das, was CELAM, der auch ausdrücklich genannt wird, und später CCEE und COMECE darstellen. Ein solches „Consilium Episcopale internationale“ setzt sich nach Nunc Nobis nur aus einem oder zwei Bischöfen als Vertreter jeder Mitgliedskonferenz zusammen. Es handelt sich um ein Organ des Dienstes und der Koordinierung ohne jede Jurisdiktionsgewalt über die Mitgliedskonferenzen oder deren Diözesen. Die Räte können mit Zustimmung ihrer Mitglieder, welche die Voten der entsendenden Konferenzen ausdrücken, Kommissionen oder Institute zum Dienst für alle diese Konferenzen bilden. ______________ 355 In Verbindung mit dieser erhalten sie vier Aufgabengebiete: 1° neue Formen zu suchen, wie die Gläubigen und die Missionsinstitute sich in den Völkern einpflanzen können; 2° Studiengruppen über die Weltanschauungen der Völker einzurichten, als Grundlage für Theologie, Liturgie und Ordensleben; 3° die Ausbildung in den Seminaren zu fördern; 4° für eine gerechte Verteilung der Kräfte in jedem Territorium zu sorgen.

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E. Die Partner des religiösen Dialogs

Erstmals wird hier in einem Dokument von kirchlicher Autorität eine detailliertere Darstellung solcher Räte geboten. Es handelt sich jedoch um keine Rechtsnorm, sondern um eine bloße Erklärung, da Bischofssynoden keine Entscheidungsgewalt besitzen.356 Nunc Nobis kann somit nicht als Rechtsgrundlage, sondern nur zur Auslegung und Konkretisierung der in Art. 38 Nr. 5 Satz 2 CD bereits vorhandenen aber zu unbestimmten Rechtsgrundlage herangezogen werden. Das Direktorium über den pastoralen Dienst der Bischöfe „Ecclesiae imago“, das die Bischofskongregation am 22.2.1973 erlassen hat, erklärt selbst, dass es keine Normen setzen will,357 trifft aber ohnehin keine näheren Aussagen zu den internationalen Verbänden von Bischofskonferenzen. Nr. 53 empfiehlt Beziehungen zwischen den einzelnen Bischöfen auf nationalem und internationalem Gebiet – also nicht zwischen den Bischofskonferenzen. Von diesen wird lediglich in Nr. 210 gesagt, dass sie den Geist der communio mit der Universalkirche und den verschiedenen Teilkirchen untereinander fördern. Insgesamt betrachtet, liefert die nachkonziliare Gesetzgebung also keine tragfähige rechtliche Grundlage für die internationalen Verbände von Bischofskonferenzen. Die einzige Stelle, wo sie angesprochen werden, nämlich Art. III 18 ES, gilt nur für die Missionsgebiete, und die Erklärung Nunc nobis, wo sie ausführlicher behandelt würden, entbehrt der normativen Kraft. CIC/1983: Inzwischen begann die Reform des Codex Iuris Canonici. Das Schema de Populo Dei von 1977 behandelt die Beziehungen zwischen den Bischofskonferenzen in c. 210, dessen § 1 die Bestimmung von Art. 38 Nr. 5 Satz 2 CD aufgreift und dessen § 2 den Art. I 41 § 4 Satz 2 fortführt. So ging der Canon dann auch im Wesentlichen als c. 459 in die endgültige Fassung des CIC/1983 ein. Es wurden jedoch noch einige Änderungen im Detail vorgenommen. Bereits mit dem Schema von 1980 (c. 334) wurde „Conferentias Episcopales“ um der einheitlichen Terminologie willen durch „Episcoporum Conferentias“ ersetzt, und an die Stelle von „moneatur“ trat „audiatur“, weil die besagten Vereinigungen tatsächlich durch vorherige Information und gemäß ______________ 356 Nur der Papst könnte ihr eine solche übertragen, müsste die Norm dann aber auch selbst in Kraft setzen (Art. II ApSoll, heute auch c. 343 CIC). Darüber ist im vorliegenden Fall jedoch nichts bekannt. Vielmehr fand am 27.10.1969 nur eine Abstimmung unter den Synodalen statt, die die Erklärung mit 122 von 139 Stimmen angenommen haben (Haubtmann, Synode, 359). Unverständlich ist daher, weshalb Stoffel diese Erklärung als Rechtsquelle betrachtet (Stoffel, in: MKCIC, c. 459, Rn. 1). Zutreffend weist Arrieta auf den anderen normativen Wert von Nunc Nobis hin (Arrieta, Organismi, 553). 357

Vgl. May / Egler, Methode, 151.

IV. Wer führt den Dialog auf Seiten der Teilkirchen?

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den eventuellen Vorgaben des Heiligen Stuhl zustande kämen. 358 Noch in der Phase zwischen dem Schema von 1982 (c. 459) und der Promulgation des CIC/1983 wurde „Episcoporum conferentias diversarum, praesertim finitimarum, regionum“ ersetzt durch „Episcoporum conferentias, praesertim viciniores“, womit man nicht nur die Ausdrucksweise gestrafft, sondern auch das Problem vermieden hat, eine Bezeichnung für die Gebiete finden zu müssen, auf die sich die einzelnen Bischofskonferenzen erstrecken. 359 Mit dem CIC/1983 ist es also gelungen, die Beziehungen zwischen den Bischofskonferenzen in einem eigenen Canon kompakt zu regeln, und zwar getrennt von den internationalen Bischofskonferenzen (c. 448 § 2), was in Art. 38 Nr. 5 CD und Art. I 41 § 4 ES noch nicht der Fall war. Ferner ist zu begrüßen, dass c. 459 § 1 das klare „relationes“, nicht das mehrdeutige „rationes“ verwendet. Da in § 2 hingegen „rationes“ erhalten blieb, ist aus dem Zusammenhang mit § 1 zu schließen, dass es in der Bedeutung von „Vorhaben“ verwendet ist, womit sich die Auslegungsschwierigkeiten von Art. I 41 § 4 ES (siehe oben) geklärt haben. Es stellt sich jedoch nach wie vor die Frage, ob denn nun c. 459 CIC als Rechtsgrundlage für die internationalen Verbände von Bischofskonferenzen herangezogen werden kann, zumal diese hier offensichtlich nicht ausdrücklich genannt werden.360 Die Formulierung von Nunc nobis zu übernehmen oder eine ähnliche Bestimmung wie Art. III 18 ES einzufügen, wurde versäumt. Das lässt sich nicht damit rechtfertigen, dass der Kodex von 1983 vorwiegend ein Rahmengesetzbuch sein möchte, denn gerade Verbände, die einen so großen Teil des Volkes Gottes, nämlich oft einen ganzen Kontinent, umfassen, sollten auch in einem universalkirchlichen Gesetzbuch den gebührenden Platz finden.361 ______________ 358

Comm 12 (1980) 271.

359

In Art. 38 Nr. 5 CD stand dafür das zu enge „natio“, das internationale Bischofskonferenzen von den gemeinsamen Beziehungen auszuschließen schien, und die Schemata zum CIC wählten eben das weitere, aber unnötige weil nichts sagende „regio“. 360

Zu Recht bedauert Petroncelli Hübler (Relazioni, 137), dass der CIC zwei Probleme weitgehend ungelöst ließ: Die bischöfliche Kooperation, die über die nationalen Bischofskonferenzen hinausgeht und die angemessenen rechtlichen Instrumente dafür. Auch nach dem Urteil Wijlens’ (Zusammenarbeit, 231) erwähnt der CIC die Einrichtungen, die mehrere Bischofskonferenzen umfassen nur am Rande, und Puza (Bischofssynode, 59) meint sogar, der CIC kenne die Art von internationaler Bischofsorganisation, wie sie mit CELAM ursprünglich vorgelegen hatte, nicht mehr. 361

Bei der Kodexreform wurde vorgeschlagen, auch die Zusammenkünfte der Bischöfe einer Kirchenprovinz in c. 459 aufzunehmen. In diesem Fall unterblieb eine entsprechende Regelung aber zu Recht, nicht nur weil c. 459 nicht im Kapitel über die Kirchenprovinzen steht, sondern vor allem weil es nicht notwendig ist, dass der Kodex Partikularnormen über so kleine Zusammenkünfte statuiert, die in der Freiheit derer bleiben, die sie organisieren [Comm 14 (1982) 200].

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E. Die Partner des religiösen Dialogs

C. 458 ° 2 CIC liefert nicht die gesuchte Rechtsgrundlage, da er in Anlehnung an Art. I 41 § 5 ES nur den Austausch von Informationen zwischen benachbarten Bischofskonferenzen über deren Sekretariate regelt. Ebenso scheidet c. 459 § 2 als Rechtsgrundlage aus denselben Gründen aus, wie schon Art. I 41 § 4 Satz 2 ES (siehe oben), auf den er zurückgeht.362 Zwar wurde die Einflussmöglichkeit des Apostolischen Stuhls inzwischen mit der Einfügung von „audiatur“ an Stelle von „praemoneatur“ verstärkt, doch ist sie im Vergleich zur Einflussmöglichkeit bei den Bischofskonferenzen immer noch so gering, dass hier nicht die Errichtung von internationalen Verbänden von Bischofskonferenzen gemeint sein kann. Der Grund für die Wahl von „audiatur“ bei der Kodexreform war, dass die besagten Zusammenkünfte („riunioni“) in der Praxis durch vorhergehende Information und gemäß den eventuellen Vorgaben des Heiligen Stuhls durchgeführt werden. 363 Obwohl in c. 459 § 2 CIC nicht von Zusammenkünften die Rede ist, sind demzufolge unter „actiones aut rationes“ wohl auch solche zu verstehen. Gemeint sind damit aber nur gelegentliche Kongresse, Studiengruppen usw., die von mehreren Bischofskonferenzen oder auch von einem Konferenzverband zusammengerufen werden, denn bei diesen wird der Heilige Stuhl in der Praxis tatsächlich nur in der Form eines „audire“ einbezogen.364 Für die Statuierung der Konferenzverbände ______________ 362

Zu beachten ist, dass diese Bestimmung in ES an eine Norm über die internationalen Bischofskonferenzen anschloss, im CIC nun aber an eine Norm über die Beziehungen zwischen Bischofskonferenzen. Nach Kalumbu (Conférences, 289f.) hat sich mit dem neuen Kontext auch die Bedeutung dieser Bestimmung gewandelt. In Wirklichkeit aber konnte sich schon in Art. I 41 § 4 Satz 2 ES der Ausdruck „Conferentias“ nicht allein auf die in Satz 1 genannten internationalen Bischofskonferenzen beschränken. Dann wären nämlich die „actiones aut rationes“ von denen in Satz 2 die Rede ist auch auf die gewöhnlichen internen Tätigkeiten internationaler Konferenzen beschränkt und der internationale Charakter dieser Tätigkeiten („forma internationalis“) würde nichts weiter bedeuten als dass es sich eben um Tätigkeiten internationaler Konferenzen handelt, was aber ohnehin selbstverständlich ist und keiner zusätzliche Normierung bedürfte geschweige denn einer Unterwerfung solcher Tätigkeiten unter eine Berichtspflicht beim Apostolischen Stuhl. Das systematische Argument darf nicht überbewertet werden, wenn ein Rechtstext aus einer Zeit stammt, in der, wie bereits dargelegt, die verschiedenen Konzeptionen noch nicht streng auseinandergehalten wurden. In Wirklichkeit ist Art. I 41 § 4 Satz 2 ES ebenso wie c. 459 § 2 CIC eine eigenständige, kontextunabhängige Bestimmung, deren Gegenstand hier wie dort die gemeinsamen Tätigkeiten darstellen, die über den Bereich einer einzelnen Konferenz, sei sie national oder international, hinausgehen. 363 364

Comm 12 (1980) 271.

Bestätigt wird diese Interpretation durch Art. 6 § 1 CCEE-Statut, der sich wie eine Konkretisierung zu c. 459 § 2 CIC liest und das Anhörungsrecht des Heiligen Stuhls für

IV. Wer führt den Dialog auf Seiten der Teilkirchen?

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selbst wird in der Praxis jedoch dessen Zustimmung (approbatio) eingeholt, was nach all dem bisher Gesagten von c. 459 § 2 CIC offensichtlich nicht abgedeckt wird. Als Rechtsgrundlage kann somit nur c. 459 § 1 CIC in Frage kommen.365 Dazu muss der Begriff „Beziehungen“ so weit ausgelegt werden, dass er auch die institutionalisierten Beziehungen in Form von dauerhaft eingerichteten, die einzelnen Mitgliedskonferenzen übergreifenden Verbänden umfasst. Eine solche Auslegung ist hier ebenso möglich wie schon bei Art. 38 Nr. 5 Satz 2 CD, auf den c. 459 § 1 CIC zurückgeht. Da es sich bei c. 459 § 1 CIC weder um eine Strafbestimmung, noch um die Einschränkung eines Rechts noch um eine Ausnahme vom Gesetz handelt, ist eine weite Auslegung grundsätzlich nicht ausgeschlossen (c. 18 CIC). In der Lehre scheinen CCEE, COMECE und die anderen Konferenzverbände – meist unhinterfragt – auf diese Norm gestützt zu werden. Eine letzte Bestätigung dieser Auslegung brachte schließlich das nachkodikarische MP Apostolos Suos vom 21.5.1998, das in Nr. 5 Fn. 32 CELAM, CCEE und die übrigen Konferenzverbände namentlich als internationale Vereinigungen von Bischofskonferenzen anführt, welche die von c. 459 § 1 gewünschte Zusammenarbeit fördern. Damit brachte der universalkirchliche Gesetzgeber selbst zum Ausdruck, dass er diese Norm als die einschlägige Rechtsgrundlage ansieht. Vor der Promulgation des CIC/1983 erfüllte Art. 38 Nr. 5 Satz 2 CD, den Nr. 5 Fn. 31 Apostolos Suos ebenfalls anführt, diese Funktion.366 Das Direktorium für den pastoralen Dienst der Bischöfe „Apostolorum Successores“ vom 22.2.2004 beschreibt die internationalen Verbände von Bischofskonferenzen in Nr. 23 lit. e. Danach sind sie die natürliche Folge der enger werdenden Beziehungen zwischen den Ländern ein und derselben geografischen Zone. Sie werden errichtet, um eine stabile Beziehung zwischen den Bischofskonferenzen, die über ihre Vertreter daran teilnehmen, sicherzustellen, indem sie die Zusammenarbeit zwischen den Konferenzen und den Dienst an den Bischöfen erleichtern. Dieses Direktorium besitzt aber ebenso wenig Rechtscharakter wie sein Vorgängerdokument von 1973.367 Die entspre______________

die Einberufung von Kongressen, Symposien, kategorialen Versammlungen und ökumenischen Versammlungen festlegt. 365

In AP 94 (2006) 1855 ist c. 459 CIC als Grundlage für das CCEE angeführt.

366

Das wird bestätigt vom CCEE-Statut/1971, dessen erster Satz auf Art. 38 CD verwies und eine Formulierung aus dessen Nr. 5 Satz 2 wörtlich aufgriff. In den heute geltenden Statuten entfiel zwar der Hinweis auf CD, doch findet sich immer noch die entsprechende Formulierung. 367

Gemäß dem letzten Absatz seiner Einführung besitzt es grundlegend pastorale und praktische Natur, und seine Aussagen haben denselben Wert wie die Quellen, aus denen sie genommen sind.

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E. Die Partner des religiösen Dialogs

chende Passage kann daher nicht als Rechtsgrundlage, sondern nur zur Erläuterung herangezogen werden. Als Ergebnis bezüglich der Rechtsgrundlage für die internationalen Verbände von Bischofskonferenzen lässt sich also festhalten: C. 459 § 1 CIC bzw. Art. 38 Nr. 5 CD sind so weit gefasst, dass sie die Rechtsgrundlage für mehrere Arten von Verbindungen zwischen Bischofskonferenzen darstellen,368 von denen eine, nämlich der internationale Verband von Bischofskonferenzen, in Nunc nobis konkretisiert wird. Da Nunc nobis als bloße Erklärung nie Rechtskraft erlangt hat, kann es auch nicht außer Kraft treten und ist nunmehr in der gleichen Weise zur Auslegung von c. 459 § 1 CIC heranzuziehen, wie es vorher der Auslegung des damit fast wörtlich übereinstimmenden Art. 38 Nr. 5 Satz 2 CD gedient hat. Ebenso ist Nr. 23 lit. e Apostolorum Successores zur Auslegung zu verwenden. Das MP Ecclesiae Sanctae hingegen, das ohnehin keine Rechtsgrundlage und keine Konkretisierung bot, trat mit der Promulgation des CIC/1983 außer Kraft.369

b) Die rechtliche Gestalt der Verbände von Bischofskonferenzen Das Annuario Pontificio 2006 weist 14 Verbände von Bischofskonferenzen und ähnliche Organisationen aus (1116-1119). Da jede anders strukturiert ist, fällt es schwer, eine allen gemeinsame rechtliche Gestalt auszumachen. 370 Zudem fehlt eine detaillierte Regelung durch allgemeines Gesetz, so dass nur die einzelnen Statuten, die allgemeinen Normen des Kirchenrechts 371 und die Vorschriften über die Bischofskonferenzen herangezogen werden können.372 Letztere sind jedoch nur mit Einschränkungen brauchbar, da die Verbände zwar aus Bischofskonferenzen bestehen, aber selbst keine solchen sind und auch nicht unter einen noch so weit ausgelegten Begriff von Bischofskonferenz ______________ 368

Vgl. Feliciani, Weiteres, 481; Fürer, Conférences, 209-212.

369

Es wurde nämlich von vornherein nur ad experimentum bis zur Promulgation des neuen CIC erlassen, vgl. Mörsdorf, Hirtenaufgabe, 146. 370

Oft wurde die Institutionalisierung bewusst hintangestellt, um die konkrete Realisierung einer brauchbaren Pastoral nicht zu behindern (Petroncelli Hübler, Relazioni, 120). 371

Art. 4 § 1 CCEE-Statut/1995 verweist für das Zustandekommen kollegialer Akte auf die allgemeine Norm des c. 119 CIC, nicht etwa auf die speziellen Normen für die Bischofskonferenzen. 372

Nunc Nobis ließ die rechtliche Struktur weitgehend offen, da zum damaligen Zeitpunkt noch nicht einmal die Struktur der Bischofskonferenzen selbst ausreichend bestimmt war (Petroncelli Hübler, Relazioni, 113).

IV. Wer führt den Dialog auf Seiten der Teilkirchen?

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subsumiert werden können. Höchstens eine analoge Anwendung ist in einzelnen Punkten möglich, wo beide Institutionen einander gleichen und die Regelungslücke sich als nicht beabsichtigt erweist. 373 Nur in diesem Fall sind auch die anderen Lückenfüllungsinstrumente des c. 19 CIC anwendbar, von denen vor allem die Rechtspraxis der Römischen Kurie gegenüber den Verbänden von Bischofskonferenzen weiterhelfen kann. Angesichts der Art, wie sich Bischofskonferenzen und deren Verbände zueinander verhalten, wird sich aber hauptsächlich der Größenschluss von dem einen auf das andere als brauchbar erweisen. In den Punkten, in denen trotz allem eine gemeinsame rechtliche Gestalt nicht zu finden ist, konzentrieren sich die folgenden Überlegungen auf die beiden europäischen Verbände CCEE und COMECE. Bezeichnungen: So vielfältig wie die rechtlichen Strukturen sind auch die Bezeichnungen, ohne dass jedoch ein und dieselbe Bezeichnung immer einer bestimmten rechtlichen Struktur zugeordnet wäre. 374 Nunc Nobis sprach von einem „Consilium Episcopale internationale“ (internationaler Bischofsrat), was wohl dem Namen des damals schon bestehenden „Consejo Episcopal latinoamericano“ nachgebildet war. „Rat“ deutet zutreffend auf eine gegenüber den Bischofskonferenzen schwächere Position hin,375 kann aber Verwirrung stiften, weil es im Kirchenrecht schon in vielfacher Bedeutung verwendet wird, etwa für die Päpstlichen Räte der Kurie wie auch für den pfarrlichen Vermögensverwaltungsrat. Außerdem erschöpft sich die Tätigkeit nicht in der gegenseitigen Beratung der Bischofskonferenzen, sondern umfasst bisweilen beispielsweise auch den nach außen gerichteten Dialog mit anderen Religionen oder den politischen Autoritäten. Vor allem aber bringt „Consilium Episcopale“ nicht zum Ausdruck, dass es sich um eine Verbindung von Bischofskonferenzen, nicht von einzelnen Bischöfen handelt, obwohl gerade diese Klarstellung ein Anliegen von Nunc Nobis war. Das Annuario Pontificio verwandte bis 1974 die Bezeichnung „Riunioni plenarie di Conferenze episcopali nazionali“, seither „Riunioni internazionali di Conferenze episcopali”376, doch ist der Ausdruck ______________ 373 Mit der Aussage, dass Organisationen wie das CCEE in den Grenzen eines Kontinents das tun, was die Bischofskonferenzen in den Grenzen einer Nation leisten, legte Papst Paul VI. selbst einen Analogieschluss nahe [Rede vor den Bischöfen des CCEE vom 27.3.1971, 296]. Vgl. Thiede, Bischöfe, 58. 374

Die Frage von Wijlens (Cooperation, 39), inwieweit hinter den unterschiedlichen Bezeichnungen rechtliche Strukturen stehen, ist also in der Weise zu beantworten, dass von der Bezeichnung nicht auf die Struktur geschlossen werden kann. 375 376

Puza, Bischofssynode, 63.

Dieser Wechsel zeigt für Arrieta (Organismi, 532) einen Prozess der Reifung der Beziehungen zwischen den einzelnen Versammlungen von Bischöfen und die Überzeugung, dass die Funktionen der übernationalen Vereinigungen rein koordinativ sind.

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E. Die Partner des religiösen Dialogs

„riunione“ schwer in andere Sprachen wie das Deutsche übertragbar, da er sowohl Versammlung als auch Vereinigung bedeuten kann. Die Namen, die sich die einzelnen Verbände gegeben haben, sind oft missverständlich. „Sekretariat“ (SEDAC) oder „Kommission“ (COMECE) lassen eher an bestimmte Dienststellen oder Organe innerhalb einer Bischofskonferenz denken. „Association“ bzw. „Vereinigung“ (ACEAC, ACERAC, AECAWA) kann leicht mit der juristischen Person des Vereins verwechselt werden, auch wenn diese im Lateinischen „consociatio“ genannt wird (c. 298 CIC). „Symposium“ (SECAM) verdeckt den dauerhaften Charakter der Einrichtung und „Föderation“ (FABC und FCBCO) könnte schließlich föderalistische Konnotationen in der kirchlichen Verfassung wecken. C. 459 CIC befindet sich im Titel „De Ecclesiarum Particularium coetibus“ (cc. 431-459 CIC). „Coetus“ ist gewiss ein Ausdruck, der auf alles anwendbar ist, was mehrere Personen oder Körperschaften umfasst, doch gerade wegen seiner Weite ist er zu unbestimmt und hat kaum Entsprechungen in lebenden Sprachen. Auch der Begriff „relationes“, den c. 459 CIC selbst verwendet, ist zu weit, will er doch nicht nur die hier interessierenden Strukturen, sondern alle Formen von Beziehungen zwischen Bischofskonferenzen erfassen. Die bisher beste Bezeichnung – noch dazu mit der Autorität eines universalkirchlichen Gesetzes – scheint Apostolos Suos mit „Conferentiarum Episcoporum internationales coniunctiones“ (Nr. 5 Fn. 32) gefunden zu haben. „Coniunctio“ bedeutet im Deutschen „Verbindung“, kann aber in diesem Fall noch besser mit „Internationaler Verband von Bischofskonferenzen“ wiedergegeben werden. Als „Verbände“ werden nämlich Strukturen bezeichnet, die für mehrere Mitgliedsorganisationen, die rechtlich selbstständig bleiben und eine stärkere Rechtsstellung als der Verband selbst besitzen, Funktionen der Beratung, Unterstützung, Kooperation und auch der Vertretung nach außen wahrnehmen. Auch in der kirchlichen Verfassung hat sich der Begriff „Verband“ bereits eingebürgert, etwa für „Pfarrverbände“, aber besonders für die „Teilkirchenverbände“. Damit wird die hier gewählte Bezeichnung dem Titel vor c. 431 CIC zumindest in der deutschen Fassung gerecht, auch wenn es sich bei den internationalen Verbänden von Bischofskonferenzen nicht um Teilkirchenverbände im eigentlichen Sinn handelt, da sie sich nicht unmittelbar aus Teilkirchen im Sinne des c. 368 CIC, sondern eben aus Bischofskonferenzen zusammensetzen.377 ______________ 377

Auch Arrieta lehnt den Begriff „Teilkirchenverband“ für die internationalen Verbände von Bischofskonferenzen ab, er wendet ihn aber nicht einmal auf die Bischofskonferenzen selbst an, da sie wie erstere keine territorialen Umschreibungen, sondern „coetus personarum“ seien (Organismi, 532). Qualifiziert man die Bischofskonferenzen hingegen mit dem CIC und der herrschenden Lehre als Teilkirchenverbände, dann kann man ihre internationalen Verbände zumindest – auch wenn es unschön klingt – als „Verbände von Teilkirchenverbänden“ verstehen.

IV. Wer führt den Dialog auf Seiten der Teilkirchen?

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Rechtliche Entstehung: Als erstes Element der rechtlichen Gestalt internationaler Verbände von Bischofskonferenzen ist deren Entstehung zu untersuchen. Da eine explizite Regelung dazu fehlt, sind zunächst die Vorschriften für die Bischofskonferenzen und dann die Rechtspraxis in Betracht zu ziehen. Die Bestimmung des c. 449 § 1 CIC, dass es ausschließlich der höchsten Autorität der Kirche zusteht, Bischofskonferenzen zu errichten („erigere“), fehlt in den Anordnungen des Zweiten Vatikanischen Konzils und der nachkonziliaren Gesetzgebung.378 Diese gingen vielmehr davon aus, dass die Konferenzen von den betroffenen Bischöfen gegründet werden („constituere“: Art. 37 CD und Art. I 41 § 1 ES) und dass nur die Statuten im Falle einer nationalen Bischofskonferenz der Rekognoszierung (Art. 38 Nr. 3 CD, Art. I 41 § 1 ES) durch den Apostolischen Stuhl bedürfen, während bei einer internationalen Konferenz die Approbierung erforderlich ist (Art. 38 Nr. 5 CD, Art. I 41 § 4 ES).379 Wenn nun sowohl nationale als auch internationale Konferenzen von den betroffenen Bischöfen zu gründen waren, so ist auch für die internationalen Verbände von Bischofskonferenzen Entsprechendes anzunehmen. Wenn die internationalen Konferenzen der Approbation bedurften, während für die nationalen die Rekognoszierung genügte, so ist für die Verbände von Bischofskonferenzen wegen ihrer ebenfalls internationalen Reichweite die stärkere Einflussmöglichkeit des Apostolischen Stuhls, also die Approbation, vorauszusetzen.380 Genau so entsprach es der Praxis bei den zwei europäischen Verbänden. Das CCEE wurde am 23./24.3.1971 auf einer Versammlung der Delegierten von 17 Bischofskonferenzen gegründet, und das von diesen angenommene Statut wurde ______________ 378

CELAM bestand bereits vor dem Konzil, so dass die konziliare Gesetzgebung bei seiner Entstehung nicht anwendbar war. Es wurde von der Generalkonferenz der Episkopate Lateinamerikas in Rio de Janeiro (25.7.-4.8.1955) nur gewünscht und dann am 2.11.1955 von Papst Pius XII. durch Approbation geschaffen [AP 94 (2006) 1855. Vgl. Fürer, Conférences, 288.]. Der CIC/1983 scheint nach der Zwischenphase des konziliaren Rechts wieder zu dieser Vorgangsweise zurückzukehren. 379

Art. I 41 § 4 ES hat dazu Spezialnormen durch den Apostolischen Stuhl in Aussicht gestellt hat, die aber nie erlassen wurden. Stoffel bestätigt, dass in der konziliaren Sichtweise die Errichtung nationaler Bischofskonferenzen eine Kompetenz der betreffenden Bischöfe blieb, hält aber daran fest, dass die internationalen Bischofskonferenzen vom Heiligen Stuhl zu errichten waren (Stoffel, in MKCIC, c. 449, Rn. 1). Nun ist das in Art. 38 Nr. 5 Satz 1 CD genannte zu „poterunt Conferentiam constituere“ gehörige Subjekt aber eindeutig „Episcopi plurium nationum“, während „Apostolica Sede approbante“ nur im Ablativus absolutus steht. Die internationalen Bischofskonferenzen konnten also nicht ohne Approbation des Apostolischen Stuhls gegründet werden, sie wurden aber nicht von ihm errichtet. 380 Wijlens nennt als Rechtsgrundlage für die Approbierung der Statuten von CCEE usw. ohne nähere Begründung Art. I 41 § 4 ES (Cooperation, 39).

328

E. Die Partner des religiösen Dialogs

dem Heiligen Stuhl zur Approbation übermittelt.381 Am folgenden Tag, dem 25.3.1971, hielt Papst Paul VI. eine Ansprache vor eben diesen Delegierten, in der er ihr Werk als ein bereits vorhandenes lobte und keine päpstliche Errichtung voraussetzte.382 Die Dekrete der dafür zuständigen Bischofskongregation besagen, dass die „Vorsteher der Heiligen Europas“ das CCEE gegründet haben („Europae sacrorum Antistites […] constituerunt“) und dass der Papst die Statuten approbiert („approbavit“), bestätigt („rata habuit“) und für eine bestimmte Dauer rekognosziert hat („recognovit“).383 Auch die COMECE ist eine bischöfliche Gründung (1980) – wenn auch gewiss in voller Übereinstimmung mit dem Heiligen Stuhl und mit von diesem approbierten Statuten. 384 Da c. 449 § 1 CIC/1983 die Errichtung aller Arten von Bischofskonferenzen nunmehr der höchsten Autorität der Kirche vorbehält, muss dies a fortiori für die internationalen Verbände von Bischofskonferenzen angenommen werden.385 Für die vor Inkrafttreten des CIC/1983 gegründeten Verbände, also für die beiden europäischen und die Mehrzahl der anderen, ist die neue Bestimmung insofern relevant, als sie auch die Veränderung und Auflösung betrifft. Rechtspersönlichkeit: Ist ein Verband von Bischofskonferenzen – auf welche Weise auch immer – bereits entstanden, so erhebt sich die Frage nach seiner Rechtspersönlichkeit, die nicht nur natürlichen, sondern auch juristischen Personen zukommt. Diese entstehen entweder aufgrund einer Rechtsvorschrift selbst oder aufgrund einer durch Dekret gegebenen besonderen Verleihung seitens der zuständigen Autorität. Darin stimmt c. 114 § 1 bzw. c. 116 § 2 ______________ 381 Thiede, Bischöfe, 53 und 55. Konkret zuständig ist die Kongregation für die Bischöfe, die sich zuvor mit dem Staatssekretariat in Verbindung setzt (Art. 82 PastBon analog). So geschah es bei der Approbation der CCEE-Statuten vom 10.1.1977 (Feliciani, Weiteres, 476). 382

AAS 63 (1971) 292-294.

383

Decreta Recognitionis vom 10.1.1977 und vom 19.12.1981, in: Thiede, Bischöfe, 236 bzw. 239. 384 385

Vgl. Treanor, L’Église, 210; Wijlens, Zusammenarbeit, 247.

Dabei kann sich der Akt der Errichtung formell im Dekret zur Approbation der Statuten seitens des Heiligen Stuhls manifestieren (Kalumbu, Conférences, 258). Verfehlt wäre es jedoch, wie Astorri (Statuti, 49) die Errichtung/Approbierung auf c. 459 § 2 CIC zu stützen, denn diese Bestimmung bezieht sich erstens nicht auf die internationalen Verbände von Bischofskonferenzen und zweitens ist darin überhaupt nicht von einem „approbare“ sondern nur von einem „audire“ die Rede. Während für die Tätigkeiten nach c. 459 § 2 CIC die Bischofskonferenzen den Apostolischen Stuhl hören müssen, ist nach c. 449 § 1 CIC die höchste kirchliche Autorität bei der Errichtung von Bischofskonferenzen gerade in umgekehrter Weise verpflichtet, die Bischöfe zu hören. Die beiden Bestimmungen beziehen sich auf zwei völlig verschiedene Dinge.

IV. Wer führt den Dialog auf Seiten der Teilkirchen?

329

CIC/1983 im Wesentlichen mit c. 100 § 1 CIC/1917 überein, so dass es nicht auf den Entstehungszeitpunkt ankommt. Für die Bischofskonferenzen hat sich die Rechtslage aber insofern geändert, als diese nach altem Recht unter die zweite Alternative fielen (Verleihung durch Dekret), jetzt aber unter die erste (aufgrund einer Rechtsvorschrift), da der neue c. 449 § 2 CIC/1983 verfügt, dass die rechtmäßig errichtete Bischofskonferenz von Rechts wegen Rechtspersönlichkeit besitzt. Vor dem CIC/1983 wurde den Bischofskonferenzen Rechtspersönlichkeit hingegen nur von Fall zu Fall gewährt.386 Es handelt sich dann um kollegiale juristische Personen des öffentlichen Rechts. Die Rechtslage bei den Bischofskonferenzen lässt sich nicht ohne weiteres auf deren Verbände übertragen. Gewiss ist es prinzipiell nicht von vornherein ausgeschlossen, dass diese Rechtspersönlichkeit erwerben, doch ist zunächst zu klären, ob sie dies auch tatsächlich getan haben. Auch sie unterliegen den allgemeinen Normen, wonach öffentliche juristische Personen die Rechtspersönlichkeit entweder von Rechts wegen erhalten oder durch ein besonderes Dekret der zuständigen Autorität, das diese ausdrücklich gewährt (c. 116 § 2 CIC). Die erste Möglichkeit scheidet aus, da eine entsprechende Rechtsvorschrift fehlt, aber auch für die zweite finden sich keine Anhaltspunkte. Die Statuten der Konferenzverbände sprechen, soweit ersichtlich, nicht von Rechtspersönlichkeit, und auch die Approbationsdekrete etwa des CCEE schweigen dazu. Nun könnte man auch einen impliziten Erwerb der Rechtspersönlichkeit für möglich halten, der damit begründet wird, dass die Statuten einzelne Rechte und Pflichten, insbesondere die Vermögensfähigkeit, enthalten. Daraus könnte man dann auf die Rechtspersönlichkeit schließen, da nur eine Rechtsperson Träger von Rechten und Pflichten sein könne. Mit dieser Sichtweise ließe sich die Rechtspersönlichkeit der internationalen Verbände von Bischofskonferenzen relativ leicht begründen, da die Statuten ihnen tatsächlich diverse Kompetenzen zusprechen (z.B. Art. 2 CCEE-Statut, Nr. 6 lit. d und 17 COMECEStatut) und auch den Erwerb finanzieller Mittel regeln (z.B. Art. 7 CCEEStatut, Nr. 19 COMECE-Statut). Auch die Voraussetzung, dass die Verbände im Namen der Kirche eine eigene Aufgabe im Hinblick auf das öffentliche Wohl erfüllen (c. 116 § 1 CIC), steht außer Zweifel. Es bleibt aber trotz alledem dabei, dass c. 116 § 2 CIC die ausdrückliche Gewährung der Rechtspersönlichkeit verlangt und sich nicht mit einer impliziten begnügt, was für die Rechtssicherheit bei der Teilnahme am Rechtsverkehr von großer Wichtigkeit ist. C. 1255 CIC, wonach jede juristische Person vermögensfähig ist, lässt nicht den Umkehrschluss von der Vermögensfähigkeit auf die Rechtspersönlichkeit zu, sondern setzt diese als Tatbestandsmerkmal gerade voraus. Gelegentlich wird erwogen, im Wege der Analogie von Einrichtungen mit unzweifelhafter ______________ 386

Stoffel, in: MKCIC, c. 449, Rn. 3.

330

E. Die Partner des religiösen Dialogs

Rechtspersönlichkeit auf jene ähnlicher Einrichtungen zu schließen,387 doch auch dies wird der gesetzlichen Forderung nach einer ausdrücklichen Gewährung nicht gerecht. Aus denselben Gründen scheidet auch ein Erwerb durch Gewohnheitsrecht oder Ersitzung aus.388 Es sprechen aber noch weitere Argumente gegen die Rechtspersönlichkeit der internationalen Verbände von Bischofskonferenzen. Wenn nämlich vor Inkrafttreten des CIC/1983 nicht einmal die Bischofskonferenzen selbst automatisch über Rechtspersönlichkeit verfügten, kann dies noch viel weniger für die in jener Zeit gegründeten Verbände angenommen werden, die eine viel lockerere Struktur ohne Jurisdiktionsgewalt besitzen. Erst durch den Kodex von 1983 erhalten die Bischofskonferenzen ipso iure Rechtspersönlichkeit und ist es nicht mehr den physischen Personen vorbehalten, kollegiale juristische Personen zu bilden (c. 115 § 2 CIC/1983 gegenüber c. 100 § 2 CIC/1917).389 Davor hätten mehrere Bischofskonferenzen also gar keine kollegiale juristische Person konstituieren können, selbst wenn sie selbst allesamt juristische Personen gewesen wären, was damals aber gar nicht vorausgesetzt werden konnte. Wie Aymans / Mörsdorf bemerken, ist die Rechtspersönlichkeit der Bischofskonferenz eine Besonderheit in der kirchlichen Verfassung, weil im Allgemeinen die betreffenden Gebietskörperschaften, also Diözese, Kirchenprovinz usw. juristische Personen sind, nicht aber ihre Organe.390 Nun wäre es nicht zulässig eine solche systemfremde Besonderheit im Wege der Auslegung noch auf weitere Organismen auszudehnen. Nicht einmal alle echten Teilkirchenverbände besitzen notwendig Rechtspersönlichkeit, wie das Beispiel der Kirchenregion zeigt (c. 433 § 2 CIC), in der keine Jurisdiktionsgewalt kraft allgemeinen Rechts besteht und die somit auch kein einheitliches Rechtsgebiet darstellt.391 Umso weniger müssen dann die internationalen Verbände von Bischofskonferenzen mit Rechtspersönlichkeit ausgestattet sein, die keine Teilkirchenverbände im eigentlichen Sinn darstellen und mangels Jurisdiktionsgewalt auch kein einheitliches Rechtsgebiet umfassen. Wie lässt sich nun die Tatsache, dass die internationalen Verbände von Bischofskonferenzen bestimmte Rechte und Pflichten haben, damit vereinbaren, dass sie keine juristischen Personen sind? Die herrschende Kirchenrechtsleh______________ 387

Pree nennt als Beispiele, wo eine solche Analogie in Frage käme, Einrichtungen, denen zwar Aufgaben und Kompetenzen, nicht jedoch explizite Rechtspersönlichkeit zugewiesen sind, und führt namentlich auch c. 459 CIC an. Er lehnt dann eine Analogie, welche die Kriterien des c. 114 CIC umginge, aber ab (Pree, in: MKCIC, c. 114, Rn. 3). 388

Pree, in: MKCIC, c. 116, Rn. 5.

389

Vgl. Stoffel, in: MKCIC, c. 449, Rn. 3.

390

Aymans / Mörsdorf, Lehrbuch II, 281.

391

Vgl. ebd. 275.

IV. Wer führt den Dialog auf Seiten der Teilkirchen?

331

re392 nimmt unterhalb der Stufe der juristischen Personen noch eine weitere Kategorie von Rechtssubjekten an, die sich zwar keiner vollen Rechtsfähigkeit erfreuen, aber doch Träger einzelner Rechte und Pflichten sind, wie beispielsweise Kathedralkapitel, kirchliche Universitäten, Partikularkonzilien usw.393 So es sich nun auch bei den internationalen Verbänden von Bischofskonferenzen. Das wird außerdem von den Autoren bestätigt, die sich mit den Internationalen Verbänden von Bischofskonferenzen beschäftigt haben. Zwar fehlen bislang eingehende Untersuchungen speziell zur Frage ihrer Rechtspersönlichkeit, doch schon die Wortwahl zeigt, dass fast niemand394 wirklich von einer juristischen Person spricht, sondern Begriffe wählt, die auf eine niedrigere Stufe von Rechtssubjekten hinweisen.395 Wenn die Teilrechtsfähigkeit auch zur Erfüllung ______________ 392

Als „Einfache Kollegien“ bezeichnen Aymans / Mörsdorf Körperschaften (d.h. die im Gesetz selbst vorgesehenen Kollegien, Kollegialorgane oder Gremien), die zwar nicht im gleichen Sinn und Umfang wie die juristischen Personen rechtsfähig sind, die aber gleichwohl von Rechts wegen als solche Träger von Rechten und Pflichten, mithin also kanonische Rechtssubjekte sind. Hinsichtlich ihrer inneren Strukturen sind sie wie kollegiale juristische Personen angelegt, d.h. der Handlungswille der Körperschaft als solcher wird gemäß allgemeinem Recht und/oder einer satzungsähnlichen inneren Ordnung durch kollegiale Beschlussfassung ihrer Mitglieder ermittelt (Aymans / Mörsdorf, Lehrbuch I, 312). Nach Pree sind Gebilde, die zwar mit mehr oder weniger Kompetenzen aber nicht eindeutig mit Rechtspersönlichkeit im Sinne von voller Rechtsfähigkeit versehen sind, als Rechtssubjekte nur in dem vom Gesetz bestimmten Umfang, d.h. als teilrechtsfähig, nicht aber als juristische Personen zu qualifizieren (Pree, in: MKCIC, c. 114, Rn. 3). 393

Wer eine solche Kategorie nicht annimmt, müsste zwingend von der Rechtsträgerschaft auf die juristische Person schließen, doch würde das in einen Konflikt mit dem Gesetz führen, sofern die Rechtspersönlichkeit weder von Rechts wegen noch ausdrücklich durch Dekret erworben wurde. 394

Wijlens (Cooperation, 51) erwägt hingegen ernsthaft die Qualifizierung als Sachgesamtheiten im Sinne des c. 115 § 3 CIC, da sie aus Bischofskonferenzen bestünden, die juristische Personen und damit Sachen seien. Entgegen dieser Auffassung sind aber juristische Personen, insbesondere kollegiale, keine Sachen, sondern eben, wie der Name schon sagt, Personen und können daher keine Sach-, sondern nur eine Personengesamtheit bilden. Außderdem muss gar nicht alles, wozu sie sich verbinden, zwangsläufig wieder eine juristische Person sein. Übrigens hat Wijlens früher (Zusammenarbeit, 240) die Meinung vertreten, das CCEE besitze keinen juridischen Status. Die Wahrheit liegt aber in der Mitte der beiden Extreme: Keine juristische Person, aber auch nicht Fehlen jedes rechtlichen Status’, sondern teilrechtsfähiges Rechtssubjekt. Nach Feliciani (Weiteres, 483) schwanken die Statuten des CCEE zwischen den beiden Vorstellungen einer universitas juristischer Personen und einem Kollegium natürlicher Personen hin und her. 395 Z.B. „kanonischer Rechtsstatus“ (Costamagna, Unione, 185) oder „juristische Errichtung“ (Stoffel, in: MKCIC, c. 459, Rn. 4).

332

E. Die Partner des religiösen Dialogs

der übertragenen Aufgaben genügen mag, so stellt sie im rechtsgeschäftlichen Verkehr doch einen Unsicherheitsfaktor dar, weil für jeden Einzelfall geprüft werden muss, ob die Handlungsfähigkeit ausreicht. Es wäre daher zu wünschen, die internationalen Verbände von Bischofskonferenzen zu echten juristischen Personen zu erheben. Diejenigen, die Dialogpartner eines politischen Gegenübers sind, erhielten dadurch in dessen Augen außerdem eine stärkere Position, weil die innerkirchliche Rechtspersönlichkeit auch auf eine bessere Repräsentativität für die Kirche hindeutet, und der Abschluss von Vereinbarungen mit der politischen Autorität würde erleichtert. Jurisdiktionsgewalt: Leichter als die Frage nach der Rechtspersönlichkeit ist jene nach der Jurisdiktionsgewalt der internationalen Verbände von Bischofskonferenzen zu beantworten, denn eine solche besteht schlechterdings nicht.396 Was es selbstverständlich gibt, ist die Vollmacht, über die eigene Organisation zu bestimmen, also z.B. den eigenen Präsidenten zu wählen, und die Vollmacht, für die betroffenen Konferenzen und Diözesen Empfehlungen ohne normative Rechtskraft zu beschließen, doch besteht über diese keine Leitungsgewalt mit rechtlicher Bindungswirkung.397 Das Zweite Vatikanische Konzil wollte die Position der einzelnen Diözesanbischöfe stärken und diese Stärkung nicht im gleichen Atemzug durch übergeordnete Organismen mit enormen Kompetenzen wieder zurücknehmen.398 Aus diesem Grund erhielten die Bischofskonferenzen selbst nur bestimmte, eng umgrenzte Leitungskompetenzen und ihre internationalen Verbände gingen völlig leer aus.399 Dass diese jedoch ______________ 396

Schon Nunc nobis sprach den „Consilia Episcopalia internationalia“ jede „potestas iuridica“ über die Mitgliedskonferenzen und deren Diözesen ab. In diesem Punkt sind sich auch alle Autoren einig, z.B: Feliciani, in: ComEx, c. 459, 985; Walser, Bischofskonferenz, 124; Wijlens, Intermediate level, 120. 397

Wie Navarro klarstellt, haben nur einige der rechtlichen Formen der bischöflichen communio Hoheitsgewalt, aber in allen gibt es ein Gesamt von Rechten und Pflichten jedes Bischofs gegenüber den anderen wie z.B. Stimmrecht, Recht auf Meinungsäußerung und der Behandlung von Eingaben usw. (Navarro, Manifestazioni, 578). 398 Papst Johannes Paul II. warnte ausdrücklich davor, den Bischofskonferenzen Kompetenzen wegzunehmen, und schloss aus, übergeordneten Organismen Gesetzgebungsgewalt zu verleihen (Ansprache an das CCEE, vom 19.12.1978, 110). Stattdessen setzt er auf die Offenheit und Bereitschaft der Beteiligten Bischofskonferenzen (Rede an das CCEE vom 2.1.1986, 457). 399

Die Kompetenz der für bestimmte Gebiete gegründeten Bischofsvereinigungen, die Liturgie zu ordnen (Art. 22 § 2 SC), erstreckt sich nicht auf Verbände von Bischofskonferenzen. Die damals noch unbestimmte Begrifflichkeit ist im Hinblick auf Art. X SL und Art. 23 IntOec nur im Sinne von nationalen und internationalen Bischofskonferenzen zu verstehen. Das gilt auch für die Aussage Klostermanns, dass es im Hinblick

IV. Wer führt den Dialog auf Seiten der Teilkirchen?

333

von ihrer Natur her prinzipiell keine Jurisdiktionsgewalt haben könnten,400 ist zu bezweifeln, da auch die Bischofskonferenzen ursprünglich keine solche besaßen und dann doch damit ausgestattet wurden. Nicht die prinzipielle Unmöglichkeit, sondern die Überlegung, was dem Wohl der Kirche unter den gegebenen Umständen am besten dient, ist dafür ausschlaggebend. 401 Die Verbände von Bischofskonferenzen sind eben als Diensteinrichtungen für die gegenseitige Beratung, Unterstützung und Koordinierung konzipiert und nicht als Herrschaftsinstrumente mit rechtlichem Zwang.402 Solange SEDAC und CERAO regelrechte supranationale Organisationen mit allen Kompetenzen einer Bischofskonferenz werden wollten, verweigerte der Apostolische Stuhl ihnen aus ersichtlichen Gründen die Approbation der Statuten. 403 Echte Jurisdiktionsgewalt besitzt entgegen manchen Annahmen auch CELAM nicht,404 sondern allenfalls die Generalkonferenzen der lateinamerikanischen Bischöfe, die aber in jüngster Zeit auch beschränkt wurden. 405 In seiner Botschaft an den Präsidenten des CELAM vom 14.5.2005 sieht Papst Benedikt XVI. das Ziel des CELAM im „affectus collegialis“, in einem Geist der communio und in der Einheit in Liebe, ohne eine mögliche Jurisdiktionsgewalt in den Blick zu ______________

auf die Liturgieinstruktion überstaatliche Konferenzen mit rechtsverbindlicher Beschlusskraft gebe (Klostermann, Bischofskonferenzen, 610). 400

So Astorri, Statuti, 50.

401

Eine Leitungsgewalt über die nationalen Episkopate wäre für Arrieta (Organismi, 555) nicht wünschenswert, weil sie der Methode der Leitung in der communio paradoxerweise entgegengesetzt wäre. Feliciani (Consiglio, 35) lehnt die Verleihung von Jurisdiktionsgewalt ab, damit sich die hierarchischen Zwischeninstanzen nicht vervielfachen und die Einheit der Universalkirche ebenso bedrohen wie die Autorität der einzelnen Bischöfe und Episkopate. 402

Das MP Apostolos suos betrachtet sogar die Bischofskonferenzen selbst mehr als Mittel der gegenseitigen Hilfe denn als hierarchische Leitungsinstanzen (Arrieta, Apostolos Suos, 172). Das hat dann aber mit noch größerem Recht für deren Verbände zu gelten. 403

Vgl. Arrieta, Organismi, 556; Kalumbu, Conférences, 289.

404

Puza denkt bei den Beschlüssen der Generalversammlung von CELAM, die nach Art. 50 der damals geltenden Statuten auch vom Heiligen Stuhl approbiert wurden, an eine Bindungswirkung für alle Mitglieder. (Bischofssynode, 64). Diese Statuten sagten aber nichts darüber, ob diese Beschlüsse rechtliche Anordnungen zum Inhalt haben könnten. 405

Vgl. Feliciani, in: ComEx, c. 459, 985. Diese Generalkonferenzen – am bekanntesten sind jene von Medellín und Puebla – stellen eine Art „Kontinentalkonzil“ dar, das von CELAM zwar vorbereitet wird, aber organisatorisch von ihm verschieden ist und vom Apostolischen Stuhl einberufen wird (vgl. Hortal, Conférences, 238).

334

E. Die Partner des religiösen Dialogs

nehmen.406 Dass die neuen CCEE-Statuten von 1995 das Fehlen von Jurisdiktionsgewalt im Unterschied zu den vorhergegangenen Satzungen nicht mehr ausdrücklich festhalten, wird meist damit begründet, dass sich das ohnehin von selbst verstehe.407 Wenn man aber bedenkt, dass dieselben Statuten den Aufgabenbereich des CCEE z.B. auf dem Gebiet der Lehrautorität erweitert und auch die Möglichkeit zum Erlass von Resolutionen eingeführt haben, 408 so kann man darin auch einen Ansatzpunkt für eine Entwicklung in Richtung Leitungsgewalt erblicken. Das Fehlen von Jurisdiktionskompetenz kann mit den bereits bestehenden Instrumenten des Kirchenrechts bis zu einem gewissen Grad ausgeglichen werden. Möglich wäre ein Kontinentalkonzil, wie es in Lateinamerika schon mehrmals abgehalten wurde und das auch Rechtsetzungskompetenz besäße.409 Ein solches müsste aber vom Apostolischen Stuhl einberufen werden und dieser zeigt darin auch in Lateinamerika zunehmend Zurückhaltung. Es wäre aber ohnehin kein geeignetes Instrument für die Herausforderungen, die die Europäische Union an die kirchliche Rechtsetzung stellt, da es hierzu eines dauerhaften, nicht eines periodischen Trägers von Leitungsgewalt bedarf, der dafür jedoch keine umfassende Kompetenz wie ein Konzil benötigt, sondern nur punktuelle Kompetenzen vor allem im Bereich der Verwaltung. Puza erwägt die Zusammenarbeit der internationalen Verbände von Bischofskonferenzen mit einem Gesetzgebungsorgan wie etwa der Römischen Kurie,410 doch ist es fraglich, ob diese einfach dazu bereit sein wird, alles zu Gesetzen zu erheben, was der Verband vorschlägt. Eher scheint es wahrscheinlich, dass die einzelnen Bischofskonferenzen sich freiwillig zu einer harmonisierten Rechtsetzungspraxis entschließen. Allein schon der Austausch von Informationen, also das gelindeste Mittel der Zusammenarbeit überhaupt, bewirkt, dass die einzelnen Bischofskonferenzen sich bei der Rechtsetzung aneinander orientieren und aufeinander Rücksicht nehmen. Noch mehr wird das Aufstellen gemeinsamer pastoraler Leitkriterien, zu dem die internationalen Verbände von Bischofskonferenzen befugt sind, auf Dauer dazu führen, dass die jurisdiktionellen Tätigkeiten der einzelnen Mitgliedskonferenzen allmählich auf dieses ______________ 406

Benedikt XVI., Botschaft vom 14.5.2005, 792.

407

Oder dass es schon im Begriff der communio enthalten sei: So Gonzáles-Ayesta (Riforma, 396), der aber einräumt, dass man auch von „Leitung in der communio“ spricht. 408

Vgl. Wijlens, Cooperation, 41; dies., Zusammenarbeit, 240. Wijlens sieht, dass die Fragen bezüglich der Lehrvollmacht der Bischofskonferenzen, die das MP Apostolos suos gelöst hat, sich bald auch auf der übergeordneten Ebene stellen werden. 409

Vgl. Arrieta, Organismi, 556; Feliciani, in: ComEx, c. 459, 985.

410

Puza, Bischofssynode, 63.

IV. Wer führt den Dialog auf Seiten der Teilkirchen?

335

gemeinsame Leitbild hin konvergieren.411 Es bleibt den Konferenzen unbenommen, sich bei der Rechtsetzung so weit abzusprechen, dass sie gleich lautende Gesetze erlassen, und sich zur Koordinierung dieser Aktion des internationalen Verbandes bedienen. Die im Rahmen des bisher Möglichen stärkste Harmonisierungswirkung würde schließlich dann erzielt, wenn der Verband seinen Mitgliedern einen fertigen Gesetzesentwurf zur Inkraftsetzung vorlegen würde. Da es sich nur um einen Entwurf handelt, bedarf der Verband dazu keiner Jurisdiktionsgewalt, er erweist den Mitgliedskonferenzen aber eine große Hilfe, indem er ihnen die Mühe der Abfassung und Redaktion eines Rechtstextes abnimmt. Die Leitungsgewalt bleibt dabei ausnahmslos bei den Bischofskonferenzen, die jede für sich dem Entwurf Rechtskraft verleihen und dabei auch Anpassungen an nationale Besonderheiten vornehmen können. Allerdings setzt diese Vorgehensweise eine starke Einmütigkeit unter den Konferenzen voraus, die notwendig ist, um die fehlende Kompetenz des Verbandes zu kompensieren. Territoriale Umschreibung: Da die internationalen Verbände von Bischofskonferenzen über keine Hoheitsgewalt verfügen, entspricht ihnen auch kein Hoheitsgebiet.412 Dennoch muss ihr räumlicher Erstreckungsbereich irgendwie umschrieben und abgegrenzt werden, weil auch sie eine – oft sogar relativ große – „portio Populi Dei“ umfassen. Nr. 23 lit. c IntOec nennt als Kriterium für die bischöfliche Zusammenarbeit mehrerer Nationen gemäß dem Ziel der Liturgiereform die einheitliche Sprache und Kultur. Die Rolle der gemeinsamen Sprache bei der Bildung internationaler Verbände von Bischofskonferenzen zeigt sich sehr deutlich in Westafrika, wo sogar auf Kosten der territorialen Geschlossenheit zwei Verbände bestehen: CERAO für den französischsprachigen und AECAWA für den englischsprachigen Raum.413 Art. 22 Abs. 3 AG und in seiner Folge Art. III 18 ES nennen den soziokulturellen Großraum als territoriales Maß für die Verbindungen zwischen Bischofskonferenzen. CELAM ist ein Beispiel für einen sowohl sprachlich als auch kulturell relativ homogenen Raum. Gäben aber die einheitliche Sprache und Kultur wirklich den Ausschlag, so hätten keine europäischen Verbände entstehen können. Da die Verbände sich hauptsächlich pastoralen Aufgaben widmen, sind vor allem solche Bischofskonferenzen zusammenzuschließen, die ähnlichen pastoralen Herausforderungen gegenüberstehen. Ein wichtiges territoriales Abgrenzungs______________ 411

Vgl. Arrieta, Diritto dell’organizzazione, 512.

412

Da sie nämlich kein einheitliches Recht erlassen können, entsteht auch kein einheitliches Rechtsgebiet. Es handelt sich nicht um Gebietskörperschaften (vgl. Aymans / Mörsdorf, Lehrbuch II, 271 und 275). 413

431).

Seit 2000 kommt es zu einer Annäherung zwischen beiden (Ndongala, CERAO,

336

E. Die Partner des religiösen Dialogs

kriterium stellen aber auch – wie schon seit den Anfängen der Kirchengeschichte – die politischen Grenzen dar.414 Das zeigt sich heute besonders in c. 448 § 1 CIC, demzufolge der Bereich einer Bischofskonferenz sich in der Regel mit einer Nation decken soll, was zur Folge hat, dass auch die Grenzen der Verbände, die aus solchen Konferenzen bestehen, normalerweise mit nationalen Grenzen zusammenfallen.415 Als besonders wichtig erweisen sich die politischen Grenzlinien für solche Konferenzverbände, die als Gegenüber zu einer überstaatlichen Organisation konzipiert sind, da diese von ihren kirchlichen Dialogpartnern Repräsentativität für ihr eigenes Gebiet fordern. So gehören der COMECE selbstverständlich die Bischofskonferenzen jener Staaten an, die Mitglieder der Europäischen Union sind, und sie assoziiert solche Konferenzen, deren Staaten besondere Beziehungen zur Union pflegen, wie etwa die Schweiz oder die jeweiligen Beitrittsländer. Probleme ergeben sich konsequenterweise dort, wo die kirchlichen Zirkumskriptionen sich nicht mit den weltlichen decken. Für die fünf skandinavischen Staaten besteht nämlich eine einzige internationale Bischofskonferenz, die Mitglied der COMECE ist, obwohl nur drei dieser Staaten der Europäischen Union angehören. Die Kirche muss aber politische Grenzen nicht unbedingt beachten, sondern kann sich sogar bewusst darüber hinwegsetzen, wie das Beispiel des CCEE zeigt, zu dem sich Bischofskonferenzen westlich und östlich des Eisernen Vorhangs zusammenschlossen, um die Einheit der Kirche und die Einheit Europas trotz politischer Spaltungen zu betonen und diesen entgegenzuarbeiten.416 Was die Anzahl der Mitgliedskonferenzen betrifft, so werden mindestens drei zu fordern sein. Zwar ist c. 115 § 2 CIC hier nicht anwendbar, weil es sich um keine juristische Person handelt, doch das zugrunde liegende allgemeine Rechtsprinzip „tres faciunt collegium“ ist auch hier maßgeblich, da bei weniger Mitgliedern keine Beschlussfassung durch Mehrheitsentscheidung möglich wäre.417 Zwei Konferenzen können enge bilaterale Kontakte pflegen, ohne dass es einer übergeordneten Struktur zur Koordinierung bedürfte. Zeitlicher Erstreckungsbereich: Eine der wichtigsten Leistungen des Zweiten Vatikanischen Konzils bestand im Ausbau bischöflicher Organismen, die ______________ 414

Vgl. Wijlens, Local Curches, 113. Anpassung der kirchlichen Strukturen auch an politische Einheiten unterhalb der Staatsebene: Arrieta, Organismi, 537. 415

Obwohl c. 448 § 2 CIC auch Ausnahmen von dieser Regel zuließe, scheinen weder der Heilige Stuhl noch die Episkopate selbst regen Gebrauch davon machen zu wollen (Feliciani, in: ComEx, c. 448, 952). 416 417

Feliciani, Consiglio, 32.

Bei den bisher entstandenen Verbänden stellte die Mindestzahl an Mitgliedern kein Problem dar. Vielleicht liegt darin aber ein Grund, warum gerade in Nordamerika, wo es nur zwei Bischofskonferenzen gibt, kein Verband entstanden ist.

IV. Wer führt den Dialog auf Seiten der Teilkirchen?

337

stabil und dauerhaft eingerichtet sind und nicht nur vorübergehend wie die Konzilien und Synoden, die es seit den Anfängen der Kirche gibt.418 Das ist besonders für jene Organismen eine unerlässliche Voraussetzung, die irgendeiner politischen Autorität gegenüberstehen, mit der sie einen regelmäßigen Dialog pflegen wollen. Nur eine ständige Einrichtung kann den politischen Prozess lückenlos verfolgen, schnell auf neue Entwicklungen reagieren, den Anliegen der Kirche wirksam Gehör verschaffen und gegebenenfalls vertragliche Bindungen eingehen. Am Besten wäre dazu eine juristische Person geeignet, aber auch viele der teilrechtsfähigen Kollegien sind auf Dauer eingerichtet. Während manche Formen von Beziehungen zwischen Bischofskonferenzen nur vorübergehender Art sind, stellen die internationalen Verbände zweifellos ständige Einrichtungen dar. Dafür sorgen die Statuten und die Organe, insbesondere die ständigen Sekretariate. Auch wenn die Bischofskongregation die Statuten nur auf eine bestimmte Dauer zu approbieren pflegt und eine Verlängerung bisweilen (vgl. unten COMECE) versäumt, so ändert das doch nichts am Dauercharakter der Verbände. Mitgliedschaft: Wenngleich auf die Einrichtung von Bischofskonferenzen mit Nachdruck gedrängt wurde, bleibt die Schaffung internationaler Verbände von Bischofskonferenzen fakultativ, und auch die Mitgliedschaft einer einzelnen Konferenz erfolgt freiwillig. 419 Während das FABC-Statut dies eigens betont,420 könnten das CCEE- und das COMECE-Statut den Eindruck einer automatischen Mitgliedschaft erwecken, indem sie einfach festlegen, dass ihnen alle Bischofskonferenzen in Europa bzw. in der Europäischen Gemeinschaft angehören, doch in Wirklichkeit ist auch hier die Zustimmung der aufzunehmenden Konferenz und des Verbandes nötig. Von der Frage, welche Bischofskonferenzen Mitglied eines bestimmten Konferenzverbandes werden, ist die andere Frage zu unterscheiden, wer für die jeweiligen Mitgliedskonferenzen an den Versammlungen des Verbandes teilnimmt. Die einen Verbände sind so organisiert, dass an ihren Versammlungen alle Ordinarien teilnehmen, die Mitglied der zugehörigen Bischofskonferenzen sind, ohne dass sie deswegen zu internationalen Bischofskonferenzen würden. An den Versammlungen der anderen Verbände hingegen nehmen nur einzelne Vertreter jeder Mitgliedskonferenz teil, seien es deren Vorsitzende selbst (z.B. CCEE, CELAM) oder delegierte Bischöfe (z.B. COMECE).421 ______________ 418

Arrieta, Organismi, 532.

419

Klostermann (Bischofskonferenzen, 610) verweist auf die Kann-Bestimmung von Art. 38 Nr. 5 CD. Vgl. auch Petroncelli Hübler, Relazioni, 113. 420 421

Fürer, Conférences, 227.

Die Präsidenten haben zwar einen größeren Einfluss, doch ist ihre zeitliche Verfügbarkeit begrenzt (Fürer, Episcopal Conferences, 173). Feliciani unterscheidet

338

E. Die Partner des religiösen Dialogs

Welche Variante gewählt wird, hängt nicht nur von praktischen Erwägungen ab,422 sondern hat auch enorme Auswirkungen auf die Mehrheitsverteilungen bei Wahlen und Abstimmungen. Die erste Variante begünstigt die großen Bischofskonferenzen, die zweite hingegen die kleinen. 423

c) Beziehungen zum weltlichen Gemeinwesen Nachdem die rechtliche Gestalt der internationalen Verbände von Bischofskonferenzen nun eingehend dargelegt ist, bleibt noch die vor allem in Hinblick auf den Dialog mit der Europäischen Union interessierende Frage, ob sie auch geeignet sind, um Beziehungen mit dem weltlichen Gemeinwesen zu pflegen. Das ist keineswegs selbstverständlich, da dies eine genuine Aufgabe des Heiligen Stuhls darstellt. Insofern sich bei diesen Beziehungen zwei Völkerrechtssubjekte begegnen, ist das allgemeine Völkerrecht anzuwenden, das die Pflege von Beziehungen der jeweils höchsten Ebene und nicht allfälligen Untereinhei-

______________

zutreffend zwischen der Frage, wer Mitglied des Verbandes als solchem ist und wer an den Generalversammlungen teilnimmt. Er bedauert, dass die CCEE-Statuten diese Unterscheidung verkennen, so dass sie bald die Bischofskonferenzen und bald die einzelnen delegierten Bischöfe als Mitglieder bezeichnen (Feliciani, Weiteres, 483). 422

Nach der Einschätzung Klostermanns (Bischofskonferenzen, 610) wird sich die zweite Variante wegen der größeren Beweglichkeit und Wirtschaftlichkeit durchsetzen. 423 Vgl. Astorri, Statuti, 52. Hortal gibt zu bedenken, dass in der Generalkonferenz der lateinamerikanischen Bischöfe die Episkopate im Verhältnis der Zahl ihrer Bischöfe vertreten sind, wenn auch mit abnehmender Proportionalität. In CELAM hingegen hat jede Mitgliedskonferenz genau zwei Vertreter, so dass Brasilien, das ein Drittel des lateinamerikanischen Episkopats stellt, stark unterbewertet ist (Hortal, Conférences, 238). Hätte die COMECE die erste Variante gewählt, so würde Italien etwa ein Drittel, Italien und Frankreich zusammen etwa die Hälfte aller Stimmen auf sich vereinigen. Das wäre nicht einmal dann zu begrüßen, wenn man aus „demokratischen“ Überlegungen anstreben würde, dass die Stimmgewichtung nach der Katholikenzahl im jeweiligen Land zu erfolgen habe, denn in Italien wohnt nur etwas mehr als ein Fünftel der Katholiken der Europäischen Union. Gewiss wäre es möglich, die Stimmen der einzelnen Delegierten zu gewichten, doch wünschenswert wäre dies nicht, da sonst Regionen mit wenigen Katholiken bzw. mit wenigen Bischöfen und ihre besonderen Anliegen kaum noch Berücksichtigung fänden. Die COMECE steht hier vor einem ähnlichen Problem wie die Europäische Union und deren Organe (Sitzverteilung im Parlament, Stimmgewichtung im Rat). Während aber die Europaparlamentarier Vertreter der Bürger sind, handelt es sich bei den delegierten Bischöfen der COMECE um Repräsentanten der Episkopate.

IV. Wer führt den Dialog auf Seiten der Teilkirchen?

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ten zuordnet.424 Da in der Kirche keine Größe unterhalb des Heiligen Stuhls Völkerrechtssubjektivität genießt und ihr völkerrechtliche Regeln nicht zur Disposition stehen, kann sie sich auch nur im Einverständnis mit der jeweils betroffenen politischen Autorität durch Bischofskonferenzen und andere Einrichtungen vertreten lassen.425 Allerdings scheint der genannte völkerrechtliche Grundsatz sich gegenwärtig auch im weltlichen Bereich aufzuweichen.426 Neben dem völkerrechtlichen besteht aber auch noch ein kirchenrechtliches Problem. Die Bischofskonferenzen besitzen nämlich nur jene Kompetenzen, die ihnen vom Kirchenrecht eigens zugewiesen sind (vgl. c. 455 § 1 CIC), doch findet sich im Kodex von 1983 keine einzige Bestimmung, die ihnen ausdrücklich die Pflege von Beziehungen mit den weltlichen Autoritäten übertrüge, und das gilt natürlich erst recht für die Internationalen Verbände von Bischofskonferenzen. Im Folgenden ist zu untersuchen, auf welcher Rechtsgrundlage den Bischofskonferenzen doch entsprechende Kompetenzen zustehen könnten und inwieweit dies auch auf die internationalen Verbände übertragbar ist. Schon für die Entstehung der ersten Bischofskonferenzen vor dem Kodex von 1917 spielte das Motiv eine Rolle, Beziehungen mit dem Staat zu pflegen.427 Das Zweite Vatikanische Konzil hob in Art. 19 CD hervor, dass die Bischöfe in ihrem Amt von jeder weltlichen Macht frei sind und dass sie ______________ 424

C. 225 CIC/1917, der den Abschluss internationaler Verträge dem Heiligen Stuhl vorbehielt, findet zwar nicht mehr im Kodex von 1983 gilt aber als völkerrechtliche Notwendigkeit unvermindert weiter. Das geltende Kirchenrecht erhebt die wesentlichen Elemente der Beziehungen zu den Staaten zwar nicht zu den ausschließlichen, aber doch zu den eigenen und besonderen Aufgaben („munus proprium ac peculiare“) der päpstlichen Legaten, die im Namen und mit der Autorität des Heiligen Stuhls handeln (Art. X Abs. 1 SOE), vgl. Krämer, Episcopal Conferences, 142. Die ausschließliche Kompetenz des Heiligen Stuhls im Bereich des Völkerrechts besteht auch gegenüber der Europäischen Gemeinschaft, die ja Völkerrechtssubjekt ist. Entgegen einem Vorschlag MarcusHelmons’ (Églises, 218) ändert daran auch nichts, dass sie eine innere Rechtsordnung eigener Art besitzt, denn auch die anderen Völkerrechtssubjekte, Staaten wie Internationale Organisationen, besitzen intern eigene und mitunter auch eigenartige Rechtsordnungen. Hier geht es jedoch um die externe Beziehung zwischen zwei Völkerrechtssubjekten und nicht um eine interne Beziehung im Innern der Rechtsordnung eines von beiden. 425

Das kommt deshalb vor allem dort in Frage, wo ein freundliches Staat-KircheVerhältnis herrscht (Palaña, Episcopal Conference, 279). Auf keinen Fall erhalten die Bischofskonferenzen aber diplomatischen Status. 426

Da tatsächlich auch lokale und eben supranationale Größen verstärkt in internationalen Beziehungen auftreten, empfände es Dalla Torre (Chiesa locale, 97) als eigenartig, wenn in der Kirche der Heilige Stuhl einziger Gesprächspartner bliebe. 427

Vgl. Bettetini, Collegialità, 494; Erdö, Conferenze episcopali, 256.

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E. Die Partner des religiösen Dialogs

gleichwohl einen Beitrag für das staatsbürgerliche Wohl und den sozialen Fortschritt leisten, indem sie die staatlichen Autoritäten tatkräftig unterstützen und zu Gehorsam gegenüber den gerechten Gesetzen und zur Ehrfurcht gegenüber den rechtmäßig bestellten Gewalten anleiten. Demnach wird der Beitrag der Bischöfe zum weltlichen Gemeinwesen nur als ein indirekter gesehen, der sich in erster Linie an die Christen selbst wendet und dem Staat nur insofern zugute kommt, als diese gleichzeitig Bürger sind. Direkte Beziehungen der Bischöfe oder gar der Bischofskonferenzen zu den weltlichen Autoritäten kommen hier hingegen nicht in den Blick. Auch der Kodex von 1983 trifft dazu keine Aussage, wenn man von der Bestimmung des c. 448 § 1 CIC absieht, derzufolge die Bischofskonferenz in der Regel die Vorsteher der Teilkirchen einer Nation umfassen soll, womit doch ein gewisser Bezug zwischen der Konferenz und der jeweiligen Nation angedeutet wird.428 Die einzigen Stellen des Kodex, welche die Bischöfe im Kontext der internationalen Beziehungen erwähnen, finden sich nicht im Kapitel über die Bischöfe sondern ausgerechnet im Gesandtschaftsrecht. So sollen die päpstlichen Legaten das, was zur Sendung der Kirche gehört, bei den Staatsregierungen durch vereintes Handeln mit den Bischöfen schützen (c. 364 ° 7 CIC, Art. IV Abs. 3 SOE) und speziell jene Gesandten, die auch eine völkerrechtliche Vertretung bei den Staaten ausüben, sollen den Rat der Bischöfe des jeweiligen kirchlichen Wirkungsbereiches einholen (c. 365 § 2 CIC, Art. X Abs 2 SOE). Die Formulierung „Bischöfe des kirchlichen Wirkungsbereiches“ („dicionis ecclesiasticae“) ist so weit, dass sowohl das Gebiet einer Bischofskonferenz als auch das eines Konferenzverbandes darunter subsumiert werden können. Voraussetzung ist jedoch, dass zum entsprechenden politischen Gemeinwesen ein päpstlicher Legat gesandt ist, und von allen derzeitigen Konferenzverbänden befindet sich wohl nur die COMECE in einer solchen Lage (vgl. Nr. 11 und 14 ihres Statuts). Nach den genannten Normen treten aber nicht die Bischöfe selbst in direkte Beziehung mit der politischen Autorität, sondern unterstützen nur den päpstlichen Legaten bei dieser Aufgabe, so dass darin die gesuchte Rechtsgrundlage nicht zu erblicken ist. 429 In ähnlicher Weise betrachten die Art. 45f. PastBon die bischöflichen Organismen nur als zu berücksichtigende Größen, aber nicht als eigentliche Träger der Beziehungen zu den Staaten, was vielmehr der zweiten Sektion des Staatssekretariats zukommt. Nun betreffen einige der über das gesamte kirchliche Gesetzbuch verstreuten Normen, die den Bischofskonferenzen Kompetenzen einräumen, Rechtsgebiete, die das Verhältnis zum weltlichen Gemeinwesen berühren, ohne dass den ______________ 428

Vgl. Ibán, Statuti, 44.

429

Vgl. Krämer, Episcopal Conferences, 143; Palaña, Episcopal Conference, 267.

IV. Wer führt den Dialog auf Seiten der Teilkirchen?

341

Konferenzen dabei ausdrücklich die Aufnahme von Beziehungen aufgetragen wird.430 Ist das möglicherweise implizit in den Kompetenzen enthalten? Wenn beispielsweise c. 804 § 1 CIC der Bischofskonferenz den Erlass allgemeiner Normen über den schulischen Religionsunterricht überträgt, kann sie dann auch mit dem Staat als Schulträger darüber verhandeln? Oder wenn sie nach c. 1246 § 2 CIC gebotene Feiertage aufheben oder verlegen kann, sind dann auch Verhandlungen mit dem Staat über die zivile Feiertagsregelung davon erfasst? Grundsätzlich darf man nicht ohne weiteres von der Innenkompetenz auf die Außenkompetenz schließen,431 wenn man das oben genannte ausschließliche Recht des Heiligen Stuhls, die Kirche auf internationaler Ebene nach außen zu vertreten, nicht missachten will.432 Für ein Tätigwerden der Bischofskonferenzen gegenüber dem Staat wird also zumindest das Einverständnis des Heiligen Stuhls zu verlangen sein.433 Was nun die internationalen Verbände betrifft, so besitzen diese natürlich nicht die Zuständigkeiten, die der CIC den Bischofskonferenzen zuweist, aber ihre Statuten übertragen ihnen doch auch Verantwortung in Bereichen, die das politische Gemeinwesen berühren wie etwa der Migration,434 so dass sich auch hier die Frage nach einer entsprechenden ______________ 430

Nur bei zweien dieser Normen klingt im Wortlaut die weltliche Rechtssphäre an: c. 1062 § 1 und c. 1714 CIC (vgl. Ibán, Statuti, 44). 431

Für die Europäische Gemeinschaft bejahte der EuGH in einer bestimmten Phase seiner Rechtsprechung die Parallelität von Innen- und Außenkompetenz. Dabei ging es aber um die Frage, welche Außenkompetenzen die Europäische Gemeinschaft als Völkerrechtssubjekt besitzt. Hier jedoch sind nicht die Außenkompetenzen des Völkerrechtssubjekts Heiliger Stuhl strittig, sondern es geht um die Frage, ob die Bischofskonferenz, die ja kein Völkerrechtssubjekt ist, überhaupt Außenkompetenzen haben kann. 432

Erdö zufolge können die Bischofskonferenzen hingegen dort, wo sie eigene Kompetenzen besitzen, auch Entscheidungen auf Gebieten des Staat-Kirche-Verhaltnisses treffen (z.B. Sozialversicherung des Klerus nach c. 1274 § 2 CIC), und als öffentliche juristische Personen des Kirchenrechts (c. 449 § 2 CIC) seien sie sogar fähig, mit dem Staat Verträge des öffentlichen äußeren Rechts abzuschließen (Erdö, Conferenze episcopali, 258). 433 Wenn die Vollversammlung der Bischofskonferenz Themen von politischer Relevanz bespricht, so ist dies, wie alle anderen Verhandlungsinhalte auch, dem Apostolischen Stuhl zu berichten (c. 456 CIC). Allgemeine Dekrete der Bischofskonferenz bedürfen darüber hinaus der Rekognition (c. 455 § 2 CIC). Diese beiden Arten der Verbindung mit dem Apostolischen Stuhl genügen aber für die Aufnahme von Beziehungen mit der politischen Autorität nicht. Dazu bedarf es vielmehr eines Spezialmandates nach c. 455 § 1 CIC (vgl. Palaña, Episcopal Conference, 274 und 276). 434 Die Koordinierung der Bischofskonferenzen hinsichtlich des Problems der Migration ist nach Art. 22 § 2 ° 3 Erga migrantes die Aufgabe des Päpstlichen Rates der Seelsorge für die Migranten und Menschen unterwegs. Dass dasselbe auch eine Aufgabe

342

E. Die Partner des religiösen Dialogs

Außenkompetenz stellt. Eine solche ist hier aber mit noch größerem Recht zu verneinen als bei den Bischofskonferenzen. Wo sich bisher enge Beziehungen zwischen Bischofskonferenzen und den staatlichen Autoritäten entwickelt haben, dort ist dies meist in einem Konkordat geregelt.435 Das ist gewiss die sauberste Lösung, weil damit einerseits der Heilige Stuhl ausdrücklich seine Zustimmung gibt und der Konferenz die nötige Kompetenz zuspricht und anderseits auch der weltliche Konkordatspartner sich mit dieser Regelung einverstanden erklärt und die Bischofskonferenz als Partnerin akzeptiert. Da mit der Europäischen Gemeinschaft bisher kein Konkordat geschlossen wurde, entfällt diese Möglichkeit, die COMECE als kompetente kirchliche Partnerin für die Gemeinschaftsorgane zu installieren. Wo ein Konkordat fehlt,436 bleibt immer noch die Möglichkeit, der Bischofskonferenz in ihren Statuten entsprechende Zuständigkeiten zuzuweisen,437 und dasselbe ist selbstverständlich auch in den Statuten der internationalen Konferenzverbände möglich. Auch Verbänden ohne konkretes politisches Gegenüber stehen mitunter Aufgaben im Schnittbereich mit der weltlichen Sphäre zu. So hat SEDAC die Bande der Einheit zwischen den mittelamerikanischen Völkern zu stärken (Art. 2 lit. g SEDAC-Statut), und CCEE soll das Zeugnis der Kirche in der europäischen Gesellschaft fördern (Art. 1 CCEEStatut).438 Regelrechte Beziehungen zur weltlichen Autorität, nämlich zur Europäischen Gemeinschaft, werden hingegen erwartungsgemäß der COMECE insbesondere in Nr. 17 ihres Statuts zur Aufgabe gemacht. Weitere internationale Verbände von Bischofskonferenzen, die Beziehungen zu einem politischen

______________

der internationalen Verbände von Bischofskonferenzen darstellt, erwähnt diese Instruktion bedauerlicherweise nicht. 435

Vgl. Arrieta, Organismi, 552; Erdö, Conferenze episcopali, 261; Krämer, Episcopal Conferences, 142. 436

In den USA kam es auch ohne Konkordat zu formellen Verhandlungen der Bischofskonferenz mit hohen Beamten der Regierung (Palaña, Episcopal Conference, 271f.). 437

Die Statuten mancher Bischofskonferenzen sehen dafür sogar ein eigenes Organ

vor. 438

Der Dienst am Wohl der Gesellschaft findet sich auch in den Statuten vieler Bischofskonferenzen. Da die Gesellschaft nicht nur die Glieder der Kirche umfasst und auch die Staatsleitung ihrem Wohl verpflichtet ist, kommt es hier indirekt zu Berührungen, auch wenn keine echten, direkten Beziehungen zwischen Bischofskonferenz und Staat angesprochen sind (Palaña, Episcopal Conference, 269).

IV. Wer führt den Dialog auf Seiten der Teilkirchen?

343

Gegenüber pflegen, sind SECAM bezüglich der OAU (neuerdings: AU)439 und CERAO bezüglich der CEDEAO440. Manche Autoren erwägen auch die Möglichkeit, c. 459 § 2 CIC als Rechtsgrundlage für die Beziehungen der Bischofskonferenzen zu den weltlichen Autoritäten heranzuziehen. In der Tat lässt die Formulierung „internationalen Charakters“ („formam internationalem“) zweierlei Deutungen zu: Zum einen können Aktionen und Vorhaben zwischen den Konferenzen gemeint sein, die schon dadurch internationalen Charakter annehmen, dass sie eben den nationalen Rahmen der einzelnen beteiligten Konferenzen übersteigen; zum anderen kann „internationaler Charakter“ aber auch bedeuten, dass eine Konferenz Aktionen und Vorhaben auf der internationalen Rechtsebene im Verhältnis zu einem Staat oder einem ähnlichen Gebilde ins Auge fasst. 441 Wenn aber wirklich das Zweite gemeint wäre, so müsste das im Wortlaut deutlicher zum Ausdruck kommen. Weder der Kontext der Norm in c. 459 CIC noch jener der Vorgängernorm in Art. I 41 § 4 ES enthalten Hinweise auf das Staat-KircheVerhältnis, sondern betreffen eindeutig innerkirchliche Beziehungen zwischen Bischofskonferenzen bzw. internationale Bischofskonferenzen. Auch bei der Kodexreform wurde hinsichtlich dieser Norm nur an interepiskopale, nicht jedoch an extraekklesiale Beziehungen gedacht.442 Es bleibt bezüglich c. 459 § 2 CIC somit bei der oben [Abschnitt E.IV.1.a)] bereits vertretenen Interpretation.

2. Die beiden europäischen Verbände a) CCEE Das CCEE wurde am 23./24.3.1971 in Rom gegründet. Im Laufe seiner Geschichte erfuhren die Statuten mehrere Revisionen, deren letzte aus dem Jahr

______________ 439

Fürer, Conférences, 224.

440

Ndongala, CERAO, 428.

441

Petroncelli Hübler (Relazioni, 108) legt sich auf keine der beiden Varianten fest. Kalumbu Ngindu (Conférences, 282) scheint eher der ersten Möglichkeit zuzuneigen. Del Giudice (Riflessione, 196) interpretiert die Norm hingegen im zweiten Sinn und betrachtet sie als Rechtsgrundlage für die Regionalisierung des Staat-KircheVerhältnisses insbesondere in Italien. 442

Vgl. Comm 12 (1980) 271 und 14 (1982) 200.

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E. Die Partner des religiösen Dialogs

1995 tief greifende Änderungen brachte, die durch die neue politische Lage in Europa nach der Wende im Osten möglich, aber auch erforderlich wurden.443 Nach Art. 3 § 1 des Statuts gehören dem CCEE alle in Europa existierenden Bischofskonferenzen an, vertreten durch ihre Präsidenten.444 Diesen können Bischöfe gleichgestellt werden, die den Episkopat einer Region vertreten, in der keine Bischofskonferenz besteht (Art. 3 § 3 Satzung).445 Schließlich sollen Bischöfe, die zu keiner Bischofskonferenz gehören, in geeigneter Weise an den Tätigkeiten des CCEE beteiligt werden (Art. 3 § 4 Satzung). Die gegenwärtig 34 Mitglieder des CCEE sind mit Ausnahme des Erzbischofs von Luxemburg und dem Sonderfall der ukrainisch-katholischen Kirchensynode allesamt Bischofskonferenzen.446 An der Vollversammlung, die wenigstens einmal im Jahr abgehalten wird, nehmen die Präsidenten der Mitgliedskonferenzen mit beschließendem Stimmrecht teil, denen ein weiterer Bischof mit rein beratendem Stimmrecht zur Seite gestellt werden kann (Art. 3 § 1 und Art. 4 § 1 Statut). Das Präsidium, das die Tätigkeiten des CCEE leitet, besteht aus dem Präsidenten und zwei Vizepräsidenten, die von der Vollversammlung für jeweils fünf Jahre gewählt werden (Art. 4 § 2 Statut). Ebenfalls von der Vollversammlung wird der Generalsekretär gewählt, der das Sekretariat nach den Weisungen des Präsidenten leitet (Art. 4 § 5 Statut). Es besteht auch die Möglichkeit, ständige Beauftragte oder Kommissionen für bestimmte Sachfragen oder Personenkreise einzurichten. ______________ 443

Zur Reform der Statuten wurden die Bischöfe vom Papst am 1.12.1992 in den Vatikan zusammengerufen. Die neuen Statuten wurden am 2.12.1995 von der Bischofskongregation approbiert, wobei auch der Name von „Consilium Conferentiarum Episcopalium Europae“ gemäß der einheitlichen Terminologie, die der CIC für „Bischofskonferenz“ eingeführt hat, auf „Consilium Conferentiarum Episcoporum Europae“ geändert wurde (Feliciani, CCEE, 69f.). 444

Was jedoch unter „Europa“ zu verstehen ist, wird nicht definiert, so dass das CCEE heute vor einem ähnlichen Problem wie die Europäische Union selbst steht, nämlich der Festlegung der Grenzen im Osten. Die russische Bischofskonferenz ist Mitglied des CCEE, obwohl sie sich auch auf den asiatischen Teil Russlands erstreckt und es somit vorkommt, dass ihr Präsident, der sie als solcher dann auch im CCEE vertritt, Bischof einer asiatischen Diözese ist. Auch die Bischofskonferenz der Türkei ist Mitglied des CCEE, ein Antrag der kasachischen wurde hingegen abgewiesen. Das CCEE-Statut enthält keine Aufnahmekriterien. Über die Aufnahme wird von Fall zu Fall im Einvernehmen mit dem Staatssekretariat entschieden (vgl. Giordano, Europa, 237 und 241). 445

Früher konnten diese nur einen Delegaten entsenden (Gonzáles-Ayesta, Riforma,

398). 446 Vgl. www.ccee.ch [9.5.2006]. Ein Antrag des Erzbischofs von Monaco auf Mitgliedschaft wurde abgewiesen.

IV. Wer führt den Dialog auf Seiten der Teilkirchen?

345

Durch die Statuten von 1995 (Art. 4 § 1) erhielt die Vollversammlung auch die Möglichkeit, Resolutionen zu verabschieden, die zwar keine Rechtsnormen sind, aber doch eine nicht unbedeutende Wirkung entfalten können. 447 Die größte Neuerung der Statuten war aber wohl die Erweiterung des Aufgabenbereichs von bloßem Informationsaustausch zwischen den Mitgliedskonferenzen hin zu Zusammenarbeit und Kommunikation. 448 Die Tätigkeit des CCEE richtet sich nun nicht mehr nur nach innen auf die eigenen Mitglieder, sondern auch nach außen auf die Konferenzverbände der übrigen Kontinente, auf das ökumenische Zusammenwirken, die europäische Gesellschaft (Art. 2 Statut) und schließlich auch auf die Zusammenarbeit mit der COMECE (Art. 5 Statut). Nur diese ist für Angelegenheiten zuständig, welche die Europäische Union selbst betreffen, doch berühren nicht wenige Tätigkeitsfelder des CCEE ebenfalls die europäische Integration, wie z.B. das Zeugnis der Kirche in der europäischen Gesellschaft, Migration, Ökumene, Islam und Umweltschutz. In diesen Bereichen finden zumindest informell Kontakte auch mit Einrichtungen der Europäischen Union, etwa Europaparlamentarien, statt. In seiner Ansprache an den Präsidenten des CCEE vom 1.10.2005 erwähnt Papst Benedikt XVI. ausdrücklich den Dialog als Aufgabe des CCEE, ohne jedoch den Dialog mit weltlichen Einrichtungen zu nennen.449

b) COMECE Entstehung: Angesichts der zunehmenden Integration (West-)Europas durch die Europäischen Gemeinschaften schlugen schon in den 70er Jahren einige Mitglieder des CCEE die Schaffung einer eigenen bischöflichen Einrichtung allein für diese Region vor. Das CCEE hätte diese Aufgabe bei der damaligen geopolitischen Lage nicht übernehmen können, weil es auch Bischofskonferenzen der Ostblockstaaten umfasste und diese Länder die Arbeit des CCEE noch stärker behindert hätten, wenn es den Eindruck erweckt hätte, mit dem westli______________ 447

Der Text muss vor der Publikation dem Apostolischen Stuhl mitgeteilt werden, bedarf aber keiner Rekognition (Gonzáles-Ayesta, Riforma, 400). Feliciani weist darauf hin, dass der Erlass derartiger Resolutionen in den CCEE-Statuten viel detaillierter geregelt ist als die übrigen Beschlüsse. Im Grunde handelt es sich um das gleiche Verfahren, wie es nach c. 455 § 2 CIC für die rechtsverbindlichen Dekrete der Bischofskonferenzen vorgesehen ist. Das zeigt, welches Gewicht diesen Resolutionen beigemessen wird, auch wenn ihnen Rechtsverbindlichkeit fehlt (Feliciani, Weiteres, 486). 448

Vgl. ebd. 397. Mit dem Anwachsen des Aufgabenbereichs ist auch eine engere Bindung an den Heiligen Stuhl verbunden (Feliciani, CCEE, 72). 449

Benedikt XVI., Ansprache vom 1.10.2005, 945.

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E. Die Partner des religiösen Dialogs

chen Kapitalismus verbündet zu sein.450 Gegen eine separate Einrichtung als Gegenüber zu den Europäischen Gemeinschaften wandte sich jedoch der Apostolische Stuhl, da er allein zur Vertretung der Kirche vor den politischen Autoritäten, besonders von solchen mit einer so überregionalen Reichweite befugt ist und er zu den Gemeinschaften schon seit mehreren Jahren einen Apostolischen Nuntius entsandt hatte.451 Daher begnügte man sich vorläufig mit einem reinen Informationsbüro, „SIPECA“ („Service d’Information Pastorale Européenne Catholique“) genannt, das 1976 gegründet wurde und ein Informationsblatt über politische Entwicklungen in EWG und Europarat herausgab.452 Auf der 7. CCEE-Vollversammlung im Juni 1977 wies Roger Etchegaray, der schon bei der Gründung des CCEE eine entscheidende Rolle gespielt hatte, auf die zunehmende auch rechtliche und ethische Bedeutung der EG-Beschlüsse sowie auf die Unzulänglichkeiten von SIPECA hin. Bei einem Treffen am 19.12.1978 im Anschluss an die 8. CCEE-Vollversammlung wurde klar, dass der neue Papst Johannes Paul II. keine grundlegenden Bedenken mehr gegen eine Präsenz der Bischöfe bei den EG würde gelten machen. So konnten sich die Delegierten der damals neun EG-Bischofskonferenzen mit dem Apostolischen Nuntius und dem CCEE-Sekretär schon am 5.2.1979 treffen, um Vorschläge zur Errichtung der gewünschten Kommission zu erarbeiten, und am 23.4.1979 setzten sie bereits ein provisorisches Exekutivkomitee ein. Schließlich errichteten die Bischofskonferenzen der EG-Staaten durch ihre Delegierten am 3.3.1980 in Brüssel die COMECE.453 Obwohl die Idee zu ihrer Gründung im Schoß des CCEE geboren wurde und der erste Generalssekretär der COMECE seine Arbeit im Sekretariat des CCEE fortsetzte, um den Kontakt zu halten, war sie von Anfang an eine eigenständige Einrichtung vom selben kirchenverfassungsrechtlichen Typ wie das CCEE selbst.454 Rechtsgrundlage: Rechtsgrundlage der COMECE ist das Statut samt der zugehörigen Geschäftsordnung, beide am 3.3.1980 adoptiert. Sie sind aber mit einem Makel behaftet, denn sie wurden nach Nr. 20 Statut bzw. Nr. 16 GO vom Heiligen Stuhl für nur drei Jahre ad experimentum approbiert, doch eine Verlängerung ist bisher ausgeblieben. Da bei internationalen Verbänden von Bischofskonferenzen im Unterschied zu den nationalen Bischofskonferenzen die Approbation notwendig ist [oben Abschnitt E.IV.1.b)], erhebt sich die ______________ 450

Vgl. Homeyer, Erfahrungen, 6.

451

Van Luyn, Zusammenarbeit, 408; Wijlens, Zusammenarbeit, 240f.

452

Treanor, Verhältnis, 125.

453

Näheres zur Entstehung bei Thiede, Bischöfe, 107.

454

Daher ist es unverständlich, warum Stoffel (in: MKCIC, c. 459, Rn. 3f.) sie nicht zu den von ihm so genannten „internationalen Räten“ zählt, wie es das Annuario Pontificio zutreffend tut.

IV. Wer führt den Dialog auf Seiten der Teilkirchen?

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Frage, ob die COMECE seit 1983 nicht etwa ohne jede rechtliche Grundlage arbeitet und ob sie rechtlich überhaupt noch existiert. 455 Hier ist wohl eine stillschweigende Verlängerung der Approbation ins Auge zu fassen. Darauf deutet nämlich nicht nur hin, dass der Apostolische Stuhl die rechtliche Existenz der COMECE nach 1983 nie in Frage gestellt hat, sondern auch, dass das Annuario Pontificio als amtliches Organ die COMECE ohne Unterbrechung Jahr für Jahr angeführt hat und zwar ausdrücklich mit den Statuten von 1980. Darüber hinaus hat die höchste kirchliche Autorität selbst 1995 die neuen Statuten des CCEE approbiert, die auf die COMECE verweisen (Art. 5), und im MP Apostolos Suos von 1998 die COMECE als eine der bestehenden internationalen Verbindungen von Bischofskonferenzen angeführt (Nr. 5 Fn. 32). Würde der Apostolische Stuhl ihr nun plötzlich ihre rechtliche Nicht-Existenz entgegenhalten, so verstieße er gegen den Grundsatz des venire contra factum proprium. Dass das COMECE-Statut in Nr. 20 eine vorläufige Geltungsdauer von drei Jahren vorsah, an deren Ende die COMECE im Einvernehmen mit den betroffenen Bischofskonferenzen und dem Heiligen Stuhl Modifikationen vornehmen kann, könnte außerdem auch so verstanden werden, dass die neuerliche Zustimmung des Heiligen Stuhls nur bei derartigen Modifikationen notwendig wird, zu denen es aber nicht gekommen ist. Jedenfalls kann von einer Fortgeltung des COMECE-Statuts ausgegangen werden. Mitglieder: Nach Nr. 3 des Statuts steht die Abkürzung „COMECE“ für „Commissio Episcopatuum Communitatis Europensis“, nach dem Annuario Pontificio hingegen für „Commissio Episcopatuum Communitatis Europaeae“ [AP 94 (2006) 1119]. Maßgeblich ist selbstverständlich der satzungsgemäße Name, doch bleibt die Falschbezeichnung ohne rechtliche Relevanz. Mitglieder der COMECE sind nach Nr. 3 i.V.m. Nr. 1 ihres Statuts die Episkopate der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft. Dabei handelt es sich um eine indirekt auf weltliches Recht verweisende Norm, da der Kreis der Mitgliedstaaten sich aus den Gründungs- und Beitrittsverträgen der Gemeinschaft ergibt, die ihn auch erweitern kann, so dass sich in der Folge auch die Mitglieder der COMECE vermehren. Welche Bewandtnis hat es nun, dass als Mitglieder die Episkopate und nicht die Bischofskonferenzen genannt werden? Der Ausdruck „Episkopat“ wird in der Fachsprache keineswegs einheitlich gebraucht. Das Zweite Vatikanische Konzil verwendet ihn nur in Art. 5 CD für die Gesamtheit der Bischöfe und zwar der Bischöfe des ganzen Erdkreises, sonst jedoch nur im Sinne von Bischofsamt. Allein in dieser Weise verwendet ihn auch der CIC von ______________ 455

Nicora behilft sich damit, die Rechtskraft durch eine einzigartige Form von „Prorogation“ zu begründen (Nicora, COMECE, 51). Außerdem führt er unter Berufung auf das Prinzip „ex facto oritur ius“ ins Treffen, dass die COMECE faktisch immer weiter bestanden und gearbeitet hat (ebd. 52).

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E. Die Partner des religiösen Dialogs

1983. Im COMECE-Statut hingegen bezieht er sich offensichtlich auf die Bischöfe eines bestimmten Gebiets, wobei noch zu klären ist, ob er bloß die Summe mehrerer Bischöfe bezeichnet oder gleichbedeutend mit „Bischofskonferenz“ verwendet wird. Die Statuten bedienen sich auch des Ausdrucks „Bischofskonferenz“, ohne eine systematische Differenzierung beider Begriffe erkennen zu lassen. So spricht Nr. 7 von „anderen Bischofskonferenzen“, doch war zuvor noch nirgends von Bischofskonferenzen, sondern nur von Episkopaten die Rede, auf die das Wort „andere“ hinweisen könnte. Nr. 19 Statut spricht bedenkenlos von den Mitglieds-Bischofskonferenzen, und nach Nr. 5 GO können sich die delegierten Bischöfe durch einen anderen Bischof ihrer Bischofskonferenz vertreten lassen. Für die Bedeutungsidentität spricht außerdem, dass die deutsche Bezeichnung der COMECE „Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Gemeinschaft“ lautet und maßgebliche Autoren wie der Präsident und der Generalsekretär die Mitglieder als „Bischofskonferenzen“ bezeichnen.456 Ferner ist zu bedenken, dass die bloße Summe der Bischöfe eines bestimmten Gebiets keine rechtliche Größe darstellt und daher schwerlich Mitglied in einem Kollegium sein und sich dort durch einen Delegierten vertreten lassen kann (Nr. 5).457 Dennoch wurde der Ausdruck „Episkopat“ in den Statuten mit Bedacht gewählt, weil in Luxemburg nur ein Erzbistum, doch keine Bischofskonferenz besteht und die skandinavische Bischofskonferenz über das EG-Gebiet hinausreicht.458 „Episkopat“ ist demnach grundsätzlich im Sinne von „Bischofskonferenz“ zu verstehen und nur dort, wo es keine solche gibt, ist der einzelne Erzbischof oder ein bestimmter Ausschnitt aus einer Bischofskonferenz gemeint.459 Der Ausdruck „Episkopate der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft“ ist hingegen nicht so zu verstehen, dass die Gesamtheit der Bischöfe, die innerhalb des Territoriums eines Mitgliedstaats ihren Sitz haben, jeweils ein Mitglied der COMECE darstellt und je einen ______________ 456

Homeyer, Erfahrungen, 6; Treanor, L’Église, 210, vgl. www.comece.org [9.5.2006]. 457 Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht auch die Textgenese der Rechtsgrundlage in Art. 38 Nr. 5 Satz 2 CD. Im Vorbereitungsschema von 1962 war nämlich nur von Beziehungen zwischen den Bischöfen verschiedener Nationen die Rede (AD II/II 2, 521). Kardinal Marella hingegen sprach in der relatio zu dieser Bestimmung ganz selbstverständlich und ausschließlich von Beziehungen zwischen Bischofskonferenzen (ebd. 526). In den späteren Schemata begegnet dann nur noch die Wendung „relationes inter Conferentias Episcopales“. Diese Umformulierung weist darauf hin, dass Mitglieder der konferenzübergreifenden Verbände tatsächlich die Bischofskonferenzen und nicht die Bischöfe selbst sein sollen. 458 459

Astorri, Statuti, 51; Nicora, COMECE, 50.

Wijlens (intermediate level, 121) fand keinen Grund, warum die delegierten Bischöfe von den Episkopaten und nicht von den Bischofskonferenzen gewählt werden.

IV. Wer führt den Dialog auf Seiten der Teilkirchen?

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Delegierten entsendet.460 Sonst müsste die Anzahl der Mitglieder der COMECE exakt mit jener der EG-Mitgliedstaaten übereinstimmen; aus dem Vereinigten Königreich, wo zwei eigenständige Bischofskonferenzen bestehen, dürfte dann nur ein Bischof entsandt werden, während Dänemark, Finnland und Schweden drei Delegierte haben müssten und nicht nur einen für die gesamte skandinavische Bischofskonferenz, was aber nicht der Realität entspricht.461 Trotz der Zielsetzung der COMECE deckt sich ihr Mitgliederkreis nicht exakt mit dem Territorium der Europäischen Gemeinschaft, weil die kirchlichen Zirkumskriptionen sich nicht durchgehend an die nationalen Grenzen halten, wie es c. 448 § 1 als Regelfall vorsähe.462 Ungeachtet dieser kleinen Abweichungen ist die territoriale Repräsentativität der COMECE im Vergleich zu anderen Dialogpartnern der Europäischen Gemeinschaft sehr gut, was für ihre Akzeptanz überaus nützlich ist. Organisationsstruktur: Die Vollversammlung, „Kommission“ genannt, tritt nach Nr. 1 GO mindestens einmal, tatsächlich aber zweimal jährlich zusammen. Sie wird von den Bischöfen gebildet, die jeder Episkopat der EG-Länder zur Vertretung für drei Jahre delegiert (Nr. 4f. Statut). Dabei handelt es sich im Unterschied zum CCEE nicht automatisch um die Vorsitzenden der Bischofs______________ 460

Wenn Nicora (Commissione, 414) die fehlende Gesetzgebungskompetenz der COMECE damit begründet, dass ihre Mitglieder die Episkopate und nicht die Bischofskonferenzen sind, so ist das in doppelter Hinsicht unrichtig. Erstens versteht er damit „Episkopat“ nicht im selben Sinn wie die Statuten, und zweitens hat das Fehlen von Jurisdiktionsgewalt andere Ursachen [siehe oben Abschnitt E.IV.1.b)]. Das CCEE, das sich sowohl seinem Namen als auch seinen Statuten nach ganz explizit aus Bischofskonferenzen zusammensetzt, verfügt ebenso wenig über Jurisdiktionsgewalt. 461

Gegenwärtig sind Mitglieder: Die Bischofskonferenzen von Belgien, Deutschland, England und Wales, Frankreich, Irland, Italien, Griechenland, Litauen, Malta, den Niederlanden, Österreich, Polen, Portugal, Schottland, Skandinavien, der Slowakei, Slowenien, Spanien, Tschechien und Ungarn, ferner der Erzbischof von Luxemburg. Die Bischofskonferenz der Schweiz ist assoziiertes Mitglied. Von den neuen Mitgliedstaaten Estland, Lettland und Zypern scheinen hingegen bislang keine delegierten Bischöfe auf, vgl. www.comece.org [9.5.2006]. Lettland besäße sehr wohl eine Bischofskonferenz [AP 94 (2006) 1104 und 1151], in Estland besteht hingegen nur eine Apostolische Administratur [AP 94 (2006) 1146] und in Zypern, das vom Annuario Pontificio immer noch unter Asien geführt wird, gehören zur kirchlichen Struktur ein maronitischer Erzbischof und ein lateinsiches Patriarchalvikariat, das dem lateinischen Patriarchat von Jerusalem untersteht [AP 94 (2006) 1139]. 462

Neben dem Fall Skandinavien sind die ungarische und die slowakische Bischofskonferenz zu erwähnen, denen auch Bischöfe angehören, die zur Seelsorge an den außerhalb der Staatsgrenzen lebenden nationalen Minderheiten bestellt sind (vgl. Arrieta, Organismi, 552).

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E. Die Partner des religiösen Dialogs

konferenzen – was auch nur selten vorkommt –, ja es gibt nicht einmal eine Einschränkung auf Diözesanbischöfe. 463 Bei Verhinderung kann sich ein delegierter Bischof durch jemanden aus seiner Bischofskonferenz vertreten lassen, der, sofern er ebenfalls Bischof ist, dasselbe Stimm- und Antragsrecht besitzt (Nr. 5 GO). Das Präsenzquorum beträgt zwei Drittel der Mitglieder der Kommission (Nr. 4 GO); grundlegende Fragen bedürfen der Zweidrittelmehrheit der anwesenden Mitglieder, Verfahrensfragen nur der einfachen Mehrheit (Nr. 6 GO). Der Präsident, der gleichzeitig „moderator et promotor“ ist, wird von den Mitgliedern der Kommission aus ihren Reihen für eine verlängerbare Dauer von drei Jahren gewählt (Nr. 9f. Statut). Der Exekutivausschuss, der sich zweimal jährlich, bzw. sooft es der Präsident für angebracht hält, versammelt (Nr. 9 GO), setzt sich aus dem Präsidenten, zwei weiteren gewählten Mitgliedern der Kommission – die so genannten Vizepräsidenten – und dem Generalsekretär zusammen (Nr. 12 Statut), wobei die Mitglieder möglichst die verschiedenen Regionen der Europäischen Gemeinschaft widerspiegeln sollten (Nr. 7 GO).464 Der Generalsekretär wird von der Kommission mit vorhergehender Zustimmung des Heiligen Stuhls für drei Jahre ernannt (Nr. 15 Statut) und wirkt in Abhängigkeit von Kommission und Exekutivausschuss sowie unter der Verantwortlichkeit des Präsidenten (Nr. 16 Statut). Er leitet das ständige Sekretariat, das die Kontinuität der Arbeit sicherstellt. Inzwischen traten gegenüber der Regelung von 1980 auch einige Änderungen ein: Finanziert wird die COMECE nicht mehr durch einen Beitrag des Heiligen Stuhls (Nr. 19 Statut), sondern nur noch von den Mitgliedskonferenzen, wobei die reicheren nach einem bestimmten Gleichgewichtsmodus eine größere Summe zuschießen.465 Der Sitz der COMECE wurde inzwischen entgegen Nr. 14 GO in die Rue Stévin 42, ebenfalls in Brüssel verlegt. Zuständigkeiten: Wie zu erwarten, sind die Aufgabenfelder der COMECE allesamt auf die Europäische Gemeinschaft und auch auf den Europarat (Nr. 17 ______________ 463

Im Unterschied zum CCEE kann es sich auch um Weihbischöfe handeln (Wijlens, Cooperation, 46). 464 Nicora hält es für ungewöhnlich und unangebracht, dass der Generalsekretär, obwohl er nicht Bischof ist, mit vollem Recht am Exekutivausschuss teilnimmt und die COMECE nach außen vertritt (Nicora, COMECE, 52). Es ist aber z.B. auf Diözesanebene nichts Besonderes, dass Nicht-Bischöfe mit Verwaltungstätigkeiten betraut sind, und die Eigenart der COMECE als Dialogpartnerin der Europäischen Gemeinschaft erfordert eine rasche Reaktionsfähigkeit dieser gegenüber, die besser von jemandem gewährleistet werden kann, der nicht zuallererst durch Aufgaben in der eigenen Diözese gebunden ist. 465

Nicora, COMECE, 54f.

IV. Wer führt den Dialog auf Seiten der Teilkirchen?

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lit. d Statut) bezogen.466 Dabei ist der Begriff „Europäische Gemeinschaft“ in den Statuten dynamisch im Sinne der jeweils erreichten Integrationsstufe zu verstehen, so dass auch die Europäische Union und deren Tätigkeiten in der zweiten und dritten Säule, die bei der Gründung der COMECE noch nicht vorhersehbar waren, erfasst sind.467 Die Statuten enthalten nur einen Aufgabenkatalog des Generalsekretärs (Nr. 17), aus dem sich aber die Aufgaben der COMECE selbst ableiten lassen. So beobachtet sie zunächst die Entwicklungen auf europäischer Ebene (Nr. 17 lit. b Statut), um dann in den kirchlich relevanten Angelegenheiten mit den europäischen Institutionen in Kontakt zu treten und autorisierte Erklärungen dazu abzugeben (Nr. 17 lit. a und c Statut). Fundierte Stellungnahmen bedürfen natürlich einer eingehenden internen Reflexion, wofür die Arbeitsgruppen Medien, Bioethik, Soziales, Islam und juristische Angelegenheiten geschaffen wurden.468 Unerlässlich ist schließlich der Kontakt zu den Ortskirchen in den Mitgliedstaaten, um an der Basis das Bewusstsein für europäische Probleme zu schärfen und Unterstützung zu erhalten (Nr. 17 lit. d Statut).469 Gemäß dem Auftrag, mit anderen Bischofskonferenzen und Organismen sowie kompetenten Personen Informationen auszutauschen (Nr. 7 Statut), arbeitet die COMECE in jüngster Zeit verstärkt mit bischöflichen Verbindungen in Afrika und Nordamerika zusammen, also jenen Erdteilen, die auch in der Politik der Europäischen Gemeinschaft an Bedeutung zunehmen. Über die Zusammenarbeit mit anderen katholischen Einrichtungen in Brüssel und über die ökumenischen Beziehungen mit den Interessenvertretungen anderer Kirchen und kirchlicher Gemeinschaften, die zum täglichen Geschäft der COMECE gehören, 470 lassen Statut und Geschäftsordnung eine konkrete Aussage vermissen. Das Aufgabengebiet der COMECE ist zwischen jenem des Apostolischen Nuntius und jenem des CCEE eingefügt, so dass die Zuständigkeiten leicht miteinander in Konflikt geraten können. Was die Abgrenzung zum Nuntius betrifft, so gewährleistet die COMECE nur die Beziehungen, die von pastoraler Bedeutung sind, während ______________ 466

Vgl. Homeyer, Erfahrungen, 7f; Treanor, L’Église, 210.

467

Das zeigt auch Art. 5 CCEE-Statut von 1995 an, der die Zuständigkeit der COMECE bereits unter Hinweis auf die Europäische Union definiert. Wenn aber der VVE in Kraft tritt und die Europäische Gemeinschaft vollständig in der Europäischen Union aufgeht, sollte die COMECE in ihrem Namen „Gemeinschaft“ durch „Union“ ersetzen, auch wenn „COMEUE“ noch gewöhnungsbedürftig sein wird (vgl. Nicora, COMECE, 51). 468

Treanor, L’Église, 211.

469

Konkrete Beispiele für Tätigkeiten der COMECE bringen: Leinemann, Kirchenlobby, 4f; Marcus-Helmons, Églises, 217f; Treanor, Verhältnis, 127f. 470

Treanor, L’Église, 211.

352

E. Die Partner des religiösen Dialogs

ersterer auch jene von völkerrechtlicher Bedeutung sicherstellt (Nr. 3 Statut), wobei das Wort „auch“ eine kumulative Zuständigkeit auf pastoralem Gebiet andeutet. Dass die völkerrechtliche Form von Beziehungen dem Heiligen Stuhl, namentlich dem Apostolischen Nuntius, vorbehalten bleibt, versteht sich nach der oben [Abschnitt E.III.4.] vertretenen Auffassung von selbst und bestätigt sie. „Völkerrechtlich“ ist aber nicht mit „juristisch“ gleichzusetzen und hindert die COMECE nicht daran, mit der Europäischen Gemeinschaft einen Dialog über juristische Fragen etwa bei der Schaffung von Gemeinschaftsrecht zu führen. Auf dem Gebiet der Pastoral hingegen wird als dritter Akteur auch noch das CCEE tätig. Über die Beziehungen zu diesem hält das COMECE-Statut nur in Nr. 8 lakonisch fest, dass die COMECE mit dem CCEE kooperiert. Eine genauere Abgrenzung nimmt in diesem Punkt Art. 5 CCEE-Statut vor, wonach die Angelegenheiten, die die Europäische Union selbst betreffen, der COMECE übertragen sind.471 Insgesamt steht der COMECE also all das zu, was die Union betrifft, ausgenommen die völkerrechtlichen Beziehungen. Gröbere Konflikte wegen der unvermeidlichen Berührungspunkte sind jedoch nur durch gegenseitige Information und Zusammenarbeit zu vermeiden. So entsenden COMECE und CCEE wechselseitig Vertreter zu ihren Versammlungen, und der Präsident der COMECE handelt im Einvernehmen und in Kooperation mit dem Apostolischen Nuntius (Nr. 11 Statut), der auch an den Versammlungen teilnehmen kann (Nr. 14 Statut).472 Perspektiven: In dem Maße wie die Europäische Union immer mehr Kompetenzen wahr- und neue Mitglieder aufnimmt, wächst auch der Aufgabenbereich der COMECE inhaltlich und territorial. Nicora schlägt einen Subsekretär und eine engere Zusammenarbeit mit Expertengruppen vor. 473 Nachdem die politische Spaltung Europas aufgehoben ist und der Mitgliederkreis der COMECE sich dem des CCEE immer weiter annähert, stellt sich auch die Frage nach einer Fusion der beiden.474 Aber selbst wenn eine auf den politischen Dialog ______________ 471

Dennoch kommt auch das CCEE auf seinen eigenen Aufgabenfeldern mitunter in Berührung mit der Europäischen Union [oben Abschnitt E.IV.1.c)]. 472

Auch der Ständige Beobachter des Heiligen Stuhls beim Europarat wird eingeladen (Treanor, L’Église, 208). Das COMECE-Statut nimmt darauf nicht gesondert Bezug, da diese Funktion 1980 noch vom Nuntius bei der EG wahrgenommen wurde. Der Exekutivausschuss hält, was im Statut ebenso wenig erwähnt wird, auch regelmäßig Kontakt zum Staatssekretariat (ebd. 210). 473 474

Nicora, COMECE, 52.

Bei der Europasynode von 1991 schlug Papst Johannes Paul II. eine neue Struktur vor, die die Arbeit von CCEE und COMECE koordinieren sollte (vgl. Puza, Europa, 11; Feliciani, Weiteres, 478f.). Das wurde bislang nicht umgesetzt, aber auch nicht endgültig aufgegeben. Mit der EU-Erweiterung gewinnt die COMECE an Gewicht, was nicht ohne Folgen für die Beziehungen zum CCEE sein wird (Feliciani, Weiteres, 491).

V. Weitere kirchliche Dialogpartner und Perspektiven

353

ausgerichtete und eine für die innerkirchliche Pastoral geschaffene Struktur sich möglicherweise miteinander vereinbaren ließen, so wäre es doch – auch im Hinblick auf die territoriale Repräsentativität als Dialogpartner – kaum zu vertreten, dass in Angelegenheiten, die die Europäische Union betreffen, auch Bischofskonferenzen mitstimmen, die nicht im Unionsgebiet liegen.

V. Weitere kirchliche Dialogpartner und Perspektiven 1. Vertretung der katholischen Ostkirchen Je weiter sich die Europäische Union nach Osten ausdehnt, desto mehr stellt sich die Frage, wie die katholischen Ostkirchen vor den europäischen Institutionen vertreten sind. In mehreren Mitgliedstaaten sind Eparchien, Apostolische Exarchien oder Ordinariate für die Gläubigen eines orientalischen Ritus’ eingerichtet; in Zypern hat ein maronitischer Erzbischof seinen Sitz. Mit Rumänien tritt erstmals ein Staat mit einer byzantinisch-katholischen Metropolitankirche der Union bei. In Bezug auf die Europäische Union ist zu beachten, dass die katholischen Ostkirchen ein eigenes Verständnis des Staat-KircheVerhältnisses mitbringen, dem Territorialitätsprinzip eine höhere Bedeutung einräumen und in der Regel nicht über die Grenzen eines Staates hinausgehen. Diejenigen Vertretungseinrichtungen, die dem Papst selbst zugeordnet sind, bestehen nicht nur für die lateinische Kirche, sondern ebenso für die katholischen Ostkirchen, da der Papst für alle gemeinsam die höchste Autorität darstellt. Die Römische Kurie und die Päpstlichen Gesandten, die als Dialogpartner bereits erörtert wurden [oben Abschnitte E.III.3. und E.III.4.], üben das ihnen anvertraute Amt gemäß c. 46 § 1 CCEO zum Wohle aller Kirchen aus.475 An den beiden Bischofssynoden für Europa nahmen auch Vertreter der Ostkirchen teil.476 Daneben besitzen die Patriarchen der katholischen Ostkirchen aber ebenso eine eigene Kompetenz für die Beziehungen zur weltlichen Autorität. Sie können einschlägige Angelegenheiten, die mehrere Eparchien betreffen, an sich ziehen (c. 100 CCEO) und mit Zustimmung der Synode und des Papstes Verträge mit der weltlichen Autorität abschließen (c. 98 CCEO). Da unterhalb des Papstes jedoch eine gemeinsame Hierarchie fehlt, ist zu fragen, ob sich Vertreter der Ostkirchen an den verschiedenen bischöflichen Organismen der lateinischen Kirche beteiligen können. Nach Art. 38 Nr. 2 CD ______________ 475

Manche apostolische Schreiben, mit denen Nuntiaturen errichtet werden, erwähnen eine Konsultation der Kongregation für die Ostkirchen (vgl. Filipazzi, Rappresentanze, 744). 476

Caprile, Assemblea speciale per l’Europa, 36.

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E. Die Partner des religiösen Dialogs

gehörten der Bischofskonferenz schlechthin alle Ortsoberhirten eines jeden Ritus’ an, was die rechtliche Eigenständigkeit der einzelnen Kirchen bedrohte, da die Oberhirten einer rituellen Minderheit regelmäßig überstimmt werden konnten.477 Nach der verbesserten Regelung des c. 450 § 1 CIC können die Ordinarien eines anderen Ritus zwar immer noch eingeladen werden, besitzen jedoch nur beratendes Stimmrecht, sofern die Statuten nicht etwas anderes bestimmen.478 Falls es in einem Gebiet verschiedene Kirchen sui iuris gibt, kann eine einheitliche Pastoral auch durch rein beratende interrituelle Zusammenkünfte gemäß Art. 38 Nr. 6 CD angestrebt werden.479 Zur Patriarchalsynode, dem ostkirchlichen Pendant zur Bischofskonferenz, sind mit gutem Grund nur die Bischöfe ein und derselben Kirche einzuladen (c. 102 § 1 CCEO). Zwar können ebenso andere Personen eingeladen werden, doch werden als Beispiele dafür keine Vertreter anderer Kirchen sui iuris genannt (c. 102 § 3 CCEO). Wie schon Art. 38 Nr. 6 CD sieht auch der CCEO (vgl. c. 84 § 1 und c. 202) die gemeinsame Beratung zwischen Oberhirten verschiedener Kirchen sui iuris im selben Gebiet vor, doch ist dies jeweils auf Hirten der Ostkirchen beschränkt. Anders verhält es sich beim Hierarchenkonvent (c. 322 § 1 CCEO). Dieser ist eine regelmäßige, aber nicht ständige Versammlung der obersten Leiter mehrerer Kirchen sui iuris, unter denen die lateinische ausdrücklich erwähnt wird. Er kann für eine Nation, genauso wie für eine andere Region einberufen werden, womit eigentlich auch ein übernationaler Hierarchenkonvent möglich wird. Die Entscheidungen können sogar verpflichtende Rechtskraft erlangen, wenn sie durch Zweidrittelmehrheit gefällt, vom Apostolischen Stuhl approbiert wurden und sie nicht eine Sache betreffen, die zu einem Nachteil für den Ritus einer Kirche sui iuris oder für die potestas eines Leitungsorgans führen könnte (c. 322 § 2 CCEO).480 Entscheidungen, die in Zusammenhang mit der ______________ 477

Mörsdorf, Hirtenaufgabe, 235f. Bischofskonferenzen mit Jurisdiktionsgewalt sollten nur für jeweils eine Kirche sui iuris eingesetzt werden (vgl. Aymans, Ritusgebundenheit, 552). 478

Die Lösung des Problems im CIC bleibt aber ambivalent (vgl. Petroncelli Hübler, Relazioni, 109). 479

So Stoffel, in: MKCIC, c. 450, Rn. 4. Zu diesen „plures Ecclesiae diversorum rituum“ wird die lateinische Kirche aber nicht zu zählen sein, denn die Bestimmung richtet sich an die „Praesules Orientalium Ecclesiarum“. Mörsdorf bedauert, dass gerade die lateinische Kirche von solchen interrituellen Zusammenkünften ausgeklammert blieb, wo es doch gerade im Verhältnis zu ihr wichtig wäre, Spannungen abzubauen (Mörsdorf, Hirtenaufgabe, 238). 480

Die Gefahr des Hineinregierens in andere Kirchen sui iuris, wegen der gemeinsame Bischofskonferenzen abgelehnt werden, verringert sich durch diese Einschränkun-

V. Weitere kirchliche Dialogpartner und Perspektiven

355

europäischen politischen Integration stehen, werden kaum die Riten betreffen und nur so begrenzte Gegenstände betreffen, dass sie die potestas nicht bedrohen. Damit scheint der Hierarchenkonvent ein gut geeignetes Instrument zur Behandlung europäischer Fragen auf der Ebene unterhalb des Apostolischen Stuhls zu sein, an dem Vertreter aller katholischen Kirchen teilnehmen können. Er wird jedoch kaum jemals für ganz Europa einberufen werden und ist kein ständiges Gremium, so dass er als Dialogpartner für die Europäische Union nicht in Frage kommt. Das CCEE beschritt einen anderen Weg: Es nahm neben der lateinischen Bischofskonferenz der Ukraine auch die Synode der ukrainisch-katholischen Kirche als Mitglied auf.481 Wenn dies demnach möglich ist und zudem vom Apostolischen Stuhl gebilligt wird, wäre es gleichermaßen vorstellbar, dass ostkirchliche Synoden Mitglied der COMECE werden und damit direkt in der kirchlichen Dialogeinrichtung für Europa mitwirken. Das Problem der Überfremdung mit lateinischem Recht wird dabei solange vermieden, als der COMECE keine Jurisdiktionsgewalt zukommt. Neben der Beteiligung an schon bestehenden europäischen Zusammenschlüssen der lateinischen Kirche wäre aber auch die Schaffung eines rein ostkirchlichen Verbandes zu erwägen. Für den Nahen Osten wurde 1991 der Conseil des Patriarches Catholiques d’Orient (CPCO) mit Sitz im Libanon gegründet, der sich nicht nur pastoralen Fragen widmet, sondern sich auch für Friede, Gerechtigkeit und Menschenrechte einsetzt und damit ein kirchliches Gegenüber zu den politischen Autoritäten darstellt. 482 Die Schaffung eines ähnlichen Rates in Europa ist bisher nicht gelungen.483

______________

gen. Während die Bischofskonferenz eine lateinische Einrichtung ist, zu der einzelne Vertreter der Ostkirchen beigezogen werden können, sind bei der Hierarchenkonferenz die Vertreter aller Kirchen gleichberechtigt. 481 Giordano, Europa, 237. Außerdem ist zu beachten, dass Ordinarien der orientalischen Kirchen gemäß c. 450 § 1 CIC Mitglieder in lateinischen Bischofskonferenzen sein können. So sind beispielsweise über die interrituelle Bischofskonferenz Bulgariens auch die dortigen orientalischen Katholiken im CCEE vertreten (Feliciani, Weiteres, 485). 482 483

AP 94 (2006) 1854.

Sie wird aber vom orientalisch-katholischen Episkopat in Europa für notwendig erachtet (vgl. Arrieta, Organismi, 554).

356

E. Die Partner des religiösen Dialogs

2. Kirchliche Dialogpartner außerhalb der Hierarchie a) Konsoziative Strukturen In den vorangegangenen Abschnitten dieses Kapitels wurde untersucht, welche Strukturen der hierarchischen Kirchenverfassung dafür geeignet sind, mit der Europäischen Union einen Religionsdialog zu pflegen. Nun nehmen in der Kirche aber zudem nicht-hierarchische Strukturen einen wichtigen Platz ein, die auf der freiwilligen Initiative von Gläubigen beruhen und teilweise auch auf der europäischen Ebene organisiert sind, so dass sie als Dialogpartner der Europäischen Union in Betracht kommen. Zur Gründung solcher Vereinigungen stehen grundsätzlich zwei Rechtsordnungen zur Verfügung: Die kirchliche und die weltliche. Die nach kirchlichem Recht gegründeten Vereine werden auch „kanonische Vereine“ genannt; die nach weltlichem Recht gegründeten Vereine sind nur dann als kirchlich zu qualifizieren, wenn sie kirchliche Ziele verfolgen und kraft Satzung eine institutionelle Verbindung zur kirchlichen Hierarchie haben. 484 Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union kennen verschiedene Vereinsformen, die in unterschiedlichem Maße auch Vereinigungen mit kirchlicher Zielsetzung offen stehen. Auf der völkerrechtlichen Ebene wird INGOs, die bei Internationalen Organisationen Konsultativstatus besitzen, eine beschränkte Rechtspersönlichkeit zugesprochen. In der Europäischen Gemeinschaft jedoch, also zwischen der nationalen und der internationalen Ebene, fehlt eine entsprechende Rechtsform, solange das Europäische Vereinsstatut nicht in Kraft gesetzt wird. Wie weit dieser Mangel dadurch ausgeglichen werden kann, dass die betroffenen Vereinigungen eine Rechtsform nach Kirchenrecht wählen, das weltweit gilt und daher auch Vereinigungen von kontinentaler Ausdehnung eine rechtliche Basis geben könnte, wird in diesem Abschnitt zu untersuchen sein. Die kirchliche Rechtsordnung kennt mehrere Arten von Vereinen. Die nichtrechtsfähigen privaten Vereine sind freie Zusammenschlüsse, die von der zuständigen kirchlichen Autorität rekognosziert werden (c. 299 § 3 CIC); die rechtsfähigen privaten Vereine werden aus privater Initiative von Gläubigen gegründet und ihre Statuten bedürfen der Approbation (c. 322 CIC); die öffentlichen Vereine, die stets rechtsfähig sind, werden von der kirchlichen Autorität ______________ 484 Vgl. Aymans / Mörsdorf, Lehrbuch II, 463f. Wo die weltliche Rechtsordnung kanonische Vereine nicht anerkennt, wird es vor allem wegen vermögensrechtlicher Probleme sinnvoll sein, parallel dazu die weltliche Rechtsfähigkeit zu erwerben, so dass eine Doppelstruktur entsteht. Umgekehrt sollten aber auch kirchliche Vereine, die nach weltlichem Recht gegründet worden sind, die kanonische Rechtsfähigkeit anstreben (vgl. ebd. 495.)

V. Weitere kirchliche Dialogpartner und Perspektiven

357

selbst errichtet (c. 301 CIC). Nach der territorialen Ausdehnung unterscheidet c. 312 § 1 CIC universale/internationale, nationale und diözesane Vereine.485 Die für die Approbation bzw. Errichtung zuständige Autorität ist im ersten Fall der Heilige Stuhl, im zweiten die Bischofskonferenz und im dritten der Diözesanbischof. Augenscheinlich fehlt hier die kontinentale Ebene, auf der es keine mit Jurisdiktionsgewalt ausgestattete kirchliche Autorität gibt, welche den erforderlichen Hoheitsakt vornehmen könnte. Nur wenn man dem Begriff „international“ eine gegenüber „universal“ eigenständige Bedeutung zuerkennt, kann man ihn als Zwischenstufe zwischen „universalkirchlich“ und „national“ verstehen, so dass er auch die kontinentale Ebene umfasst. Damit fallen kontinentale kanonische Vereine in die Zuständigkeit des Heiligen Stuhls. Es gibt zwei Wege zur Bildung kontinentaler Vereine: „Von unten“ entstehen sie, wenn mehrere nationale Vereine sich über einen gemeinsamen Dachverband zusammenschließen, wobei die zuständige kirchliche Autorität wechselt. Zusammenschlüsse von Vereinen („confoederationes“) sind nach c. 313 CIC kirchenrechtlich vorgesehen, aber nicht näher geregelt, da sie wie eine einzige Vereinigung zu behandeln sind.486 Es handelt sich um eine Personengesamtheit, die sich selbst aus juristischen Personen und zwar aus mindestens dreien zusammensetzt (c. 115 § 2). Dieser Weg kann jedoch große rechtliche Probleme mit sich bringen, da Vereinigungen, die in derselben Sparte tätig sind, in den einzelnen Staaten oft in sehr unterschiedlichen Rechtsformen organisiert sind. Wenn sich einerseits private und anderseits öffentliche Vereine zusammenschließen wollen, muss geklärt werden, welcher Art der Dachverband sein soll. Noch schwieriger ist die Lage, wenn sich Vereine kirchlichen Rechts und Vereine weltlichen Rechts verbinden wollen. Die Schaffung eines Dachverbands kirchlichen Rechts setzt voraus, dass die weltlich-rechtlichen Vereine in der kirchlichen Rechtsordnung als juristische Personen anerkannt sind; die Schaffung eines Dachverbands weltlichen Rechts hingegen setzt genau das Umgekehrte voraus, wobei noch hinzukommt, dass es keine europaweite weltliche Rechtsordnung gibt, die eine Rechtsgrundlage für Vereine böte, so dass nur die Möglichkeit bleibt, einen Dachverein nach dem Recht eines einzelnen Staates – des Sitzstaates oder des Gründungsstaates – zu schaffen. Nahezu unlösbar werden die Probleme, wenn die Aufgaben, die hier von einem Verein erfüllt werden, woanders einer Einrichtung der kirchlichen Hierarchie ______________ 485

Obwohl dieser Canon zum Kapitel über die öffentlichen Vereine gehört, gilt er, wie aus den Verweisungen von c. 300 und c. 322 § 2 CIC zu schließen ist, auch für die privaten (vgl. Schulz, in: MKCIC, c. 312, Rn. 2). 486

Vgl. Schulz, in: MKCIC, c. 313, Rn. 4. Auch c. 313 CIC gilt entgegen seiner systematischen Einordnung in gleicher Weise für private Vereine (vgl. Aymans / Mörsdorf, Lehrbuch II, 491).

358

E. Die Partner des religiösen Dialogs

zugeteilt sind, denn die Dachorganisation kann nicht gleichzeitig hierarchisch und nicht-hierarchisch sein. Der deutsche Caritasverband beispielsweise ist ein eingetragener Verein nach staatlichem Recht und zugleich ein privater Verein von Gläubigen nach cc. 299 und 321-326 CIC, der jedoch keine kirchliche Rechtspersönlichkeit besitzt.487 In Österreich ist die Caritas je nach Diözese in unterschiedlichen Rechtsformen organisiert, beispielsweise als Verein oder Stiftung kirchlichen Rechts, die direkt dem jeweiligen Diözesanbischof unterstehen und aufgrund des Konkordats von 1933 auch weltliche Rechtspersönlichkeit erhalten.488 Wenn nun schon auf diesem relativ kleinen Raum so verschiedenartige Strukturen vorliegen, welche Rechtsform soll dann erst eine „Caritas Europa“ annehmen?489 Es bleibt nun noch die zweite Alternative, der „Weg von oben“. Das Kirchenrecht bietet nämlich die Möglichkeit, einen universalkirchlichen Verein zu gründen, aus dem dann ein Teilverein herausgeschnitten werden kann, der sich auf einen Kontinent bezieht.490 Wie das Zweite Vatikanische Konzil erkannt hat, erfordert die universale Sendung angesichts der fortschreitenden Institutionalisierung der Gesellschaft, dass auch die apostolischen Initiativen der Katholiken immer vollkommenere Formen auf internationaler Ebene entwickeln, was durch die Internationalen Katholischen Organisationen491 erreicht werden kann. Diese tragen durch Aktion und Dialog zum Aufbau einer friedlichen und brüderlichen Völkergemeinschaft bei (Art. 90 Abs. 1 GS).492 Für deren Errichtung, Approbation bzw. Rekognition ist nach Art. 134 PastBon der Päpstliche Laienrat zuständig.493 Ansonsten sorgt die erste Sektion des Staatssekretariats ______________ 487

Seine Satzung vom 16.12.2003 wurde sowohl im Vereinsregister des Amtsgerichts Freiburg (Breisgau) verzeichnet als auch von der Deutschen Bischofskonferenz approbiert (http://www.caritas.de/8833.html [9.5.2006]). 488

Gantner, Caritas, 31f.

489

Ähnliche Probleme stellen sich bei der Fusion verschiedener Träger der Daseinsvorsorge (vgl. Rüfner, Fusion, passim). 490 Von einer solchen „sectio consociationis“ spricht c. 312 § 2 CIC, wenn auch nur im Hinblick auf eine Diözese (vgl. Aymans / Mörsdorf, Lehrbuch II, 491). 491

„Organizationes Internationales Catholicae“: Art. 19 Abs. 3 AA. Es handelt sich um einen, wenn auch nicht durchgängig verwendeten, terminus technicus für eine ganz bestimmte Rechtsform, weshalb auch in der deutschen Übersetzung die Großbuchstaben beizubehalten sind. 492 Da „Dialog“ hier nicht näher spezifiziert wird, kann auch der Dialog mit politischen Autoritäten darunter subsumiert werden. 493

Die Berücksichtigung dieser drei Varianten in der Formulierung lässt erkennen, dass es sich nicht unbedingt um öffentliche kanonische Vereine handeln muss. Nach Lecour können sie private oder öffentliche Vereine sein (Statuti, XXXV).

V. Weitere kirchliche Dialogpartner und Perspektiven

359

für die Verbindung des Heiligen Stuhls mit diesen Organisationen (Art. 41 § 2 Satz 2 PastBon).494 Um den Status einer IKO zu erlangen, müssen die drei Elemente „Organisation“, „international“ und „katholisch“ vorliegen, die der Laienrat definiert hat, die Organisation muss in ein dafür vorgesehenes vom Laienrat geführtes permanentes Register eingetragen werden und die Statuten sind vom Heiligen Stuhl zu approbieren.495 Die Internationalen Katholischen Organisationen sind Mitglied der IKO-Konferenz, die zu ihrer Koordinierung geschaffen wurde und die ihnen in ihrer Charta Verhaltensregeln aufgibt.496 Können Internationale Katholische Organisationen ihren Wirkungsbereich auf einen einzigen Kontinent beschränken? Der Begriff „international“ umfasst nach der Definition im Direktorium des Laienrates folgende Elemente: Mitglieder aus verschiedenen Ländern, Austausch und Dialog zwischen ihnen, internationaler Geist und universale Sicht. Auf einen Kontinent beschränkte Organisationen werden nur unter besonderen Umständen als international qualifiziert.497 Es bleibt jedoch die Möglichkeit, eine internationale Organisation in kontinen tale Sektionen zu untergliedern. Nach dem Direktorium bedürfen sie der Zu______________ 494

Nach Lecour hingegen soll für die Anerkennung das Staatssekretariat zuständig sein, während der Laienrat nur die Zusammenarbeit zwischen den IKO zur Aufgabe hat (Statuti XXXf.). Das entspricht aber nicht Art. 41 § 2 PastBon, demzufolge das Staatssekretariat hinsichtlich der internationalen katholischen Organisationen nur den Auftrag hat, die Präsenz des Heiligen Stuhls bei ihnen zu sichern. Art. 134 PastBon enthält nur bezüglich der Dritten Orden einen Vorbehalt zugunsten des Staatssekretariats. Als weitere betroffene Dikasterien sind der Päpstliche Rat Iustitia et Pax (Art. 143 § 2 PastBon), sowie der Päpstliche Rat für die Pastoral im Krankendienst (Art. 153 § 3 PastBon) zu nennen, doch können auch ohne ausdrückliche Nennung je nach Tätigkeitsfeld der jeweiligen Organisation noch andere Räte berührt sein. Hinsichtlich der Terminologie schwankt PastBon zwischen „Institutiones Internationales Catholicae“ und „Catholicae Internationales Consociationes“. 495

Direktorium des Laienrates vom 3.12.1971. In dieses Register sind aber auch andere internationale Vereinigungen einzutragen, die diesen Status nicht anstreben. Papst Johannes Paul II. regte in seiner Ansprache an die IKO-Konferenz am 28.11.2003 die Revision der Statuten im Lichte des CIC an (http//:www.vatican.va [9.5.2006]). 496 Gegenwärtig scheinen 36 Mitglieds-, 5 assoziierte und 2 Gast-Organisationen auf (http://www.oic-ico.org/eng/c9.htm#7 [9.5.2006]). Daneben gibt es aber noch andere katholische Organisationen, die auf internationaler Eben arbeiten, aber eben keine „Internationalen Katholischen Organisationen“ sind (Spinelli, Diritto pubblico ecclesiastico, 176). 497

Nach Lecour sollen die Mitglieder der IKO nicht nur über die lokalen und nationalen, sondern auch über die regionalen Grenzen hinausgehen (Statuti, XV). Gleichzeitig bejaht er aber die regionale Dimension, wenn er den Konsultativstatus behandelt, den manche IKO auch bei regionalen IO haben (ebd. XX).

360

E. Die Partner des religiösen Dialogs

stimmung der jeweiligen Bischofskonferenz, um auf deren Territorium ein Sekretariat einzurichten oder einen Kongress abzuhalten, und nach c. 312 § 2 CIC wird zur gültigen Errichtung der Untergliederung eines Vereins in einer Diözese sogar die schriftliche Zustimmung des Diözesanbischofs gefordert. Hingegen wird nirgends die Einbeziehung des jeweiligen kontinentalen Verbands von Bischofskonferenzen verlangt, der sich bei kontinentalen Untergliederungen von weltweiten Vereinigungen vorrangig als Ansprechpartner anböte. In der Praxis pflegen die europäischen Sektionen Internationaler Katholischer Organisationen dennoch mehr oder weniger enge Kontakte zu CCEE und COMECE. Schließlich bleibt noch zu untersuchen, ob die Internationalen Katholischen Organisationen auch zum Dialog mit politischen Organisationen berufen sind.498 Nach Art. III der Charta der IKO-Konferenz sollen sie die Präsenz der Kirche in der Welt sichern, indem sie die Entwicklung aller Völker fördern, den ökumenischen und interreligiösen Dialog suchen, sich für Friede, Gerechtigkeit, Menschenrechte sowie die Bewahrung der Schöpfung einsetzen und mit anderen Organisationen zusammenarbeiten. Klingt in dieser Auflistung implizit schon der Dialog mit weltlichen Institutionen an, so weist Art. IV noch ausdrücklich darauf hin, dass einige der IKO einen Konsultativstatus bei IO besitzen.499 Damit wird nicht nur ihr spezifischer Beitrag für die Zivilgesellschaft anerkannt, sondern sie erhalten auch einen beschränkten völkerrechtlichen Status. Etwa fünfzehn der Internationalen Katholischen Organisationen, die in Europa Sektionen ausgebildet haben, verfügen über einen Konsultativstatus beim Europarat, während in Brüssel eine Plattform für den Dialog und die Zusammenarbeit mit der Europäischen Gemeinschaft geschaffen wurde.500 Da die IKO aber nicht Teil der Hierarchie sind, vertreten sie dabei nicht die Kirche als solche, sondern verfolgen je nach Tätigkeitsbereich partikulare Ziele, auch wenn diese mit der kirchlichen Sendung vereinbar sein müssen.501 ______________ 498

Nach dem Direktorium dürfen sich die Verantwortlichen der IKO weder politisch noch gewerkschaftlich betätigen. Das bedeutet nun nicht, dass sich die Organisation als solche nicht auf politischer Ebene engagieren dürfte, sondern soll gerade die dafür notwendige Unabhängigkeit und Unbefangenheit sichern. 499

Vor diesem Hintergrund überträgt Art. XI Abs. 1 lit. c SOE den zu IO gesandten Päpstlichen Legaten die Aufgabe, die Internationalen Katholischen Organisationen zu unterstützen. 500 501

Vgl. at: http://www.oic-ico.org/eng/c9.htm#7 [9.5.2006].

Da die IKO den Dialog mit den politischen Autoritäten nicht im Namen der Kirche führen, verfolgen sie in dieser Hinsicht kein Ziel, das seiner Natur nach der kirchli-

V. Weitere kirchliche Dialogpartner und Perspektiven

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Caritas Europa ist eine von weltweit sieben Regionen der Caritas Internationalis, die den Status einer Internationalen Katholischen Organisation besitzt und Mitglied der IKO-Konferenz ist. Diese Organisationsform hindert sie selbstverständlich nicht, mit 48 Caritas-Verbänden aus 44 europäischen Ländern zusammenzuarbeiten. Eine ihrer Aufgaben sieht sie in politischer Anwaltschaft und Lobbying auf europäischer Ebene, wozu sie mit den Institutionen der Europäischen Union, deren Mitgliedstaaten und verschiedenen öffentlichen Autoritäten zusammenarbeitet.502 Im Folgenden sollen weitere Mitglieder der IKO-Konferenz mit Präsenz bei Europäischen Institutionen kurz vorgestellt werden: CICM 503 setzt sich ein für Flüchtlinge, Migranten und Personen, die im eigenen Land entwurzelt wurden. Sie hat 172 Mitglieder sowie assoziierte Mitglieder in 65 Staaten und unterhält ein Büro in Brüssel. Die katholische Studentenbewegung JECI 504 ist in allen Kontinenten präsent. SIGNIS505 beschäftigt sich mit Massenmedien wie Radio, Fernsehen, Kino, Internet und mit Medienerziehung. Sein Generalsekretariat befindet sich in Brüssel, es besitzt Konsultativstatus beim Europarat. WUCWO506 fördert die Präsenz, Beteiligung und Mitverantwortung katholischer Frauen in Gesellschaft und Kirche. Sie vereinigt über 90 Mitgliedsorganisationen aus allen Kontinenten. Ihr europäischer Zweig hat Konsultativstatus beim Europarat und ist Mitglied der Europäischen Frauenlobby. Zwei Organisationen haben lediglich Gaststatus bei der IKO-Konferenz: CIDSE507 koordiniert 15 fast durchweg in europäischen Ländern ansässige katholische Hilfsorganisationen. UNIAPAC508 versammelt über 26 Vereinigungen christlicher Arbeitgeber weltweit mit Schwerpunkten in Europa und Lateinamerika. Sie wurde vom Europarat und der Europäischen Gemeinschaft anerkannt. ______________

chen Autorität vorbehalten wäre, und müssen daher nicht als öffentliche kanonische Vereine errichtet sein (vgl. c. 301 § 1 CIC). 502

Vgl. http://www.caritas.org [9.5.2006].

503

Commission internationale catholique pour les migrations (www.icmc.net [9.5.2006]). 504

Jeunesse Étudiante Catholique Internationale (http://www.iycs-jeci.org/index.htm [9.5.2006]). 505

www.signis.net [9.5.2006].

506

World Union of Catholic Women’s Organizations (http://home.wxs.nl/~wucwo/ europe/indexE.htm [9.5.2006]). 507

Coopération Internationale pour le Développement et la Solidarité (http://www. cidse.org [9.5.2006]). 508 Union Internationale Chrétienne des Dirigeants d'Entreprise (www.uniapac.org [9.5.2006]).

362

E. Die Partner des religiösen Dialogs

Das Europäische Forum der nationalen Laienkomitees ist eine Einrichtung mit dem Ziel, regelmäßige Kontakte zwischen den nationalen Laienkomitees und -räten oder ähnlichen Gremien zu fördern.509 Es steht in Beziehung zum CCEE und zum Päpstlichen Laienrat sowie zu europäischen IKO, beansprucht aber nicht, die Laien in Europa zu repräsentieren, auch nicht vor den Organen der Europäischen Union. Für die Priester wurde vor 30 Jahren der „Rat der Arbeitsgemeinschaften der Priesterräte Europas“ (CCPE) gegründet, der zurzeit 33 Mitglieder zählt und mit dem CCEE sowie der Kleruskongregation zusammenarbeitet. Ihm wurde jedoch aus der unbegründeten Furcht, es könnte eine nach c. 278 § 3 CIC missbilligte Vereinigung entstehen, keine Rechtspersönlichkeit zuerkannt. Eine stärkere europäische Rechtsstruktur hat sich im Bereich der Orden entwickelt, mit denen sich der folgende Abschnitt beschäftigt.

b) Orden Auch die Orden – hier im weiten Sinne510 verstanden – sind freiwillige Zusammenschlüsse von Gläubigen, die nicht der hierarchischen Verfassung der Kirche angehören, doch sollen sie hier gesondert behandelt werden, weil sie sich im Hinblick auf die Europäische Integration in zwei Punkten von den bereits behandelten Vereinen unterscheiden. Erstens ist diese Art von Vereinigung dem EG-Recht völlig fremd, so dass sie Gefahr läuft, nicht ihrer Eigenart gemäß beachtet, sondern in andere Kategorien gepresst zu werden, wie der Fall des Prämonstratensers van Roosmalen zeigte, den der EuGH als selbstständig Erwerbstätigen qualifiziert hat.511 Zweitens ist die internationale Dimension der Orden viel älter als die politische Integration nach dem Zweiten Weltkrieg oder die Internationalisierung des konsoziativen Elements durch das Zweite Vatikanische Konzil und hat deshalb auch eigene davon abweichende Formen angenommen.512 Nach ihrer Verfassungsform lassen sich föderalistische und zentralistische Orden unterscheiden. Im ersten Fall schließen sich rechtlich selbstständig ______________ 509

http://www.europ-forum.org/de/index_de.htm [9.5.2006].

510

Gemeint sind die Orden i.e.S., die Säkularinstitute und die Gesellschaften des Apostolischen Lebens. 511 512

EuGH Rs. 300/84, Van Roosmalen.

Für Berten tragen Ordensleute eine besondere Verantwortung für Europa, da sie einen von der kirchlichen Hierarchie verschiedenen, eigenen Freiheitsraum besitzen, eine besondere Sensibilität für die Armen haben und über ihre Orden und Kongregationen in einem internationalen Netzwerk stehen, was sie sowohl innerhalb von Europa als auch im Nord-Süd-Verhältnis zur Geltung bringen sollten (Berten, Charta, 20).

V. Weitere kirchliche Dialogpartner und Perspektiven

363

bleibende Klöster zu Föderationen zusammen, die sich wiederum zur so genannten Konföderation verbinden, die den gesamten Orden abdeckt. Im zweiten Fall hingegen gliedert sich ein Gesamtorden in Provinzen und diese wieder in Häuser bzw. Konvente. Bei der Umgrenzung der Zwischenebene spielen in beiden Fällen die Geschichte des Ordens, die Dichte und Verbreitung der Niederlassungen sowie praktische Erwägungen eine größere Rolle als politische und geografische Einheiten. Da diese Zwischenstrukturen hauptsächlich eine ordensinterne Funktion erfüllen und territorial kaum mit den europäischen politischen Organisationen konvergieren, schufen die Orden eigene Einrichtungen über die sie einen Dialog mit der Europäischen Union führen können. Nach c. 708 CIC können sich die höheren Oberen verschiedener Orden zu Konferenzen oder Räten zusammenschließen, um gemeinsame Angelegenheiten zu behandeln und mit der Bischofskonferenz wie auch mit den einzelnen Bischöfen zusammenzuarbeiten. Obwohl die gemeinsame Interessenvertretung vor weltlichen Autoritäten hier nicht ausdrücklich genannt wird, erweisen sich solche Superiorenkonferenzen in der Praxis auch auf diesem Gebiet als hilfreich.513 Als territorialer Bereich einer solchen Konferenz empfiehlt sich nach c. 708 CIC der einer Bischofskonferenz, mit der sie zusammenarbeiten soll, was in der Regel der Bereich einer Nation ist. Um jedoch darüber hinaus auch auf der europäischen Ebene präsent zu sein, schlossen sich 42 nationale Superiorenkonferenzen zu UCESM,514 einer gemeinsamen Einrichtung mit Sitz in Brüssel, zusammen. Sie stellt eine kirchliche Vereinigung kanonischen Rechts dar, deren Satzung von der Ordenskongregation approbiert wurde, und besitzt zugleich die zivile Rechtspersönlichkeit als eine Internationale Vereinigung ohne Erwerbszeck nach belgischem Recht. Neben vielen anderen Aufgaben pflegt sie Beziehungen zum CCEE sowie zur COMECE und gewährleistet bei den europäischen politischen Institutionen eine dialogbereite Präsenz für das Ordensleben. Während UCESM eine gemeinsame Einrichtung mehrerer Orden darstellt, sind die im Folgenden zu besprechenden Einrichtungen jeweils einem bestimmten einzelnen Orden zuzurechnen. OCIPE515 wurde bereits 1956 in Straßburg als Verein französischen Rechts gegründet und ist damit die älteste Form kirchlicher Präsenz auf europäischer Ebene.516 Es wird von Jesuiten geleitet und ist bestrebt, den europäischen ______________ 513

Vgl. Leugers, Interessenpolitik, 389-406; Primetshofer, Ordensrecht, 256.

514

Unio Conferentiarum Europae Superiorum Maiorum (at: http://www.ucesm.net [9.5.2006]). 515

Office Catholique d’Information et d’Initiative pour l’Europe (http://www.ocipe. org [9.5.2006]). 516

Turowski, Verbindungsstellen, 216.

364

E. Die Partner des religiösen Dialogs

Integrationsprozess zu analysieren sowie die Kirche darüber zu informieren. Neben dem Hauptsitz in Brüssel gibt es Büros auch in Straßburg, Warschau und Budapest. ESPACES – Spiritualität, Kulturen und Gesellschaft in Europa – ist eine Vereinigung von Dominikanerinnen und Dominikanern. 517 Sie widmet sich weniger der Vertretung bei der Europäischen Union als vielmehr der Reflexion des europäischen Projekts in sozialer, politischer, ethischer, spiritueller, philosophischer und theologischer Hinsicht. In diesem Rahmen beteiligt sie sich auch an den Debatten der europäischen Institutionen und der Akteure der Zivilgesellschaft, veranstaltet Seminare und Kongresse und publiziert die Forschungsinhalte. ESPACES unterhält Niederlassungen in Berlin, Brüssel, Madrid, Krakau, Pistoia und Straßburg. UFME518 sorgt für die Präsenz der franziskanischen Familie auf der europäischen Ebene und beteiligt sich außerdem am Dialog mit der Europäischen Union. Völlig anders verhält es sich beim souveränen Malteserritterorden, der Völkerrechtssubjektivität genießt und auf dieser Grundlage eine völkerrechtliche Beziehung mit der Europäischen Union anstrebt.519

3. Mögliche Entwicklungen bei den kirchlichen Dialogpartnern Die vorigen Abschnitte behandelten die verschiedenen Einrichtungen der katholischen Kirche, über die sie mit der Europäischen Union in Dialog treten kann. Dabei wurde deutlich, dass die Kirche über zahlreiche derartige Einrichtungen verfügt, dass sie aber auch einige Schwächen aufweisen, und die kontinentale Ebene in der kirchlichen Hierarchie insgesamt nur unzureichend ausgebildet ist. Im Folgenden sollen einige Möglichkeiten diskutiert werden, wie die kontinentale Struktur verstärkt und damit ein effektiveres Gesprächsorgan für die Europäische Union gefunden werden könnte.

______________ 517 http://www.espaces.info [9.5.2006]. Vgl. Berten / Eggensperger / Engel, Menschenwürde, 43f. 518

Unione Frati Minori d'Europa (www.ofm.org/4/prov/UFM03fra.rtf [9.5.2006]).

519

Rauch, Sozialbereich, 153.

V. Weitere kirchliche Dialogpartner und Perspektiven

365

a) Ein Patriarch für Europa Fürer brachte den Vorschlag ein, auf lange Sicht eine neue kontinentale Struktur zu schaffen ähnlich den Patriarchaten in der Antike.520 Ermöglicht es die kirchliche Verfassung wirklich, für jeden Kontinent einen Patriarchen einzusetzen? Im Recht der katholischen Ostkirchen ist das Patriarchat eine reguläre Einrichtung und stellt die ortskirchliche Einheit höchster Ordnung dar. Was das Verhältnis zur weltlichen Autorität betrifft, ist besonders interessant, dass der Patriarch mit dieser Verträge abschließen kann (c. 98 CCEO) und dass er administrative Gewalt besitzt, um eventuelle Ergebnisse des Dialogs wirksam umsetzen zu können (cc. 78-101 CCEO). Ließe sich diese Einrichtung, die es in einem Teil der katholischen Kirche ganz selbstverständlich gibt, nicht auch auf ihren größeren, nämlich den lateinischen Teil übertragen? Der lateinische Kodex erwähnt den Patriarchen lediglich in c. 438 und kennt ihn hier nur als reinen Ehrentitel, wie ihn etwa der Patriarch von Jerusalem und der Patriarch von Venedig tragen. Der eigentliche Patriarch der lateinischen Kirche ist jedoch der Papst selbst. Er vereinigt in sich sowohl das Papstamt als auch das Patriarchenamt des Abendlandes, wobei Letzteres meist nicht eigens beachtet wird.521 Wijlens schlägt vor, die beiden Funktionen danach zu unterscheiden, was gemäß Ostkirchenrecht dem Patriarchen zusteht und was dem Papst als solchem zukommt.522 Das Zweite Vatikanische Konzil erwähnt die Patriarchate außerhalb des Ostkirchendekrets an zwei Stellen, die sich nicht allein auf die orientalischen Kirchen beziehen und daher eine gewisse Relevanz auch für die lateinische Kirche haben. Nach Art. 11 Abs. 2 CD sollen die Bischöfe – ohne Einschränkung auf die Ostkirchen – die Rechte der Patriarchen anerkennen. Wichtiger ist aber Art. 23 Abs. 4 LG, wonach sich die Patriarchatskirchen der göttlichen Vorsehung verdanken. Diese Kompromissformel wurde gewählt, um nicht entscheiden zu müssen, ob sie göttlichen Rechts sind, doch bringt auch sie ihre große Bedeutung in der kirchlichen Verfassung zum Ausdruck.523 Wäre das für die lateinische und die orientalischen Kirchen gemeinsame Grundgesetz der Lex Ecclesiae fundamentalis zustande gekommen, so wäre damit die Vorstel______________ 520

Fürer, Episcopal conferences, 174.

521

Stoffel betrachtet den Titel des Patriarchen, selbst wenn er dem Papst zugesprochen wird, wegen c. 438 CIC als reinen Ehrentitel (Stoffel, in: MKCIC, c. 331, Rn. 3). Nach der vorwiegenden Meinung, die sich auch auf die Kodex-Reformarbeiten berufen kann, fällt jedoch der Titel „Patriarch des Abendlandes“ nicht unter die Ehrentitel gemäß c. 438 CIC (vgl. Schwendenwein, Papst, 339). 522

Wijlens, Intermediate level, 123.

523

Vgl. Wijlens, Local Churches, 116.

366

E. Die Partner des religiösen Dialogs

lung einer Patriarchatsstruktur gleichzeitig für das lateinische Verfassungsrecht verstärkt in den Blick gekommen. 524 Die Patriarchatsstruktur ist der Kirche also grundsätzlich nicht fremd. Wenn man sie aber in der Weise ausbauen wollte, dass jeder Kontinent einen eigenen Patriarchen erhielte, über denen der Papst stünde, dem nur die mit dem Petrusamt verbundenen Aufgaben verblieben, so bedürfte dies einer tief greifenden Umgestaltung der kirchlichen Verfassung, die gut zu überlegen wäre. Ein monokratisches Organ bietet für die Gläubigen eines Kontinents gewiss eine stärkere Identifikationsmöglichkeit als ein Kollegium von Bischöfen und besitzt auch als Dialogpartner für ein weltliches Gegenüber ein stärkeres Gewicht.525 Dem Vatikan fiele der Verkehr mit einer einzigen, vertrauten Person wahrscheinlich leichter als mit einer inhomogenen und unberechenbaren Konferenz. Allerdings können Patriarchate eine größere Machtansammlung auf hoher Ebene und damit Rivalitäten und eine Gefahr für die Einheit der Kirche mit sich bringen. Patriarch Europas bliebe aber wohl automatisch der Papst, so wie er auch Bischof von Rom ist. Eine spürbare Änderung brächte diese Umstrukturierung daher nur für die anderen Kontinente. Das Annuario Pontificio 2006 führt den Titel „Patriarch des Abendlandes“ erstmals nicht mehr an, was in der diesbezüglichen Mitteilung des Päpstlichen Rates für die Einheit der Christen526 mit einem Nutzen für den ökumenischen Dialog begründet wird. In Wirklichkeit bildete aber gerade dieser Titel immer eine Brücke zu den orthodoxen Kirchen, weil man sich damit auf gleicher Ebene begegnen konnte. Mag die Ablegung dieses Titels daher auch nur schwer verständlich sein, so steht doch fest, dass sich damit inhaltlich nichts an der patriarchalen Struktur der Kirche ändert, die, wie die genannte Mitteilung selbst zugibt, gemäß Art. 23 Abs. 4 LG in der göttlichen Vorsehung gründet. Was die Ablegung des Titels für die oben gemachten Überlegungen bedeutet, geht aus der Mitteilung nicht deutlich hervor. Einerseits gibt sie zu bedenken, dass sich das „Abendland“ heute nicht mehr auf Westeuropa beschränkt, sondern auch andere Kontinente umfasst und mehr ein kultureller Begriff ist als ein geographischer. Dies könnte man so deuten, dass der Verzicht auf den Titel „Patriarch des Abendlandes“ einen ersten Schritt zur Schaffung geographisch bestimmter kontinentaler Patriarchate darstellt. Anderseits stellt dieselbe ______________ 524

Vgl. Wijlens, Intermediate level, 124.

525

Stellungnahmen einer Person bekommen im Bereich des kirchlichen Zeugnisses eine andere Qualität als Stellungnahmen von Konferenzen (Puza, Bischofssynode, 33). 526

Pontificio Consiglio per l’Unità dei Cristiani, Comunicato circa la soppressione del titolo „Patriarca d’Occidente“ nell’Annuario Pontificio (22.3.2006), at: http://www. vatican.va/roman_curia/pontifical_councils/chrstuni/general-docs/rc_pc_chrstuni_doc_ 20060322_patriarca-occidente_it.html [9.5.2006].

V. Weitere kirchliche Dialogpartner und Perspektiven

367

Erklärung fest, dass die katholische Kirche mit dem II. Vatikanischen Konzil für die lateinische Kirche in der Form der Bischofskonferenzen und deren internationalen Versammlungen eine den modernen Notwendigkeiten angemessene kanonische Ordnung gefunden hat. Wenn diese Strukturen also nach vatikanischer Auffassung ausreichend sind, wird eher nicht mit einer baldigen Einrichtung von Kontinentalpatriarchaten zu rechnen sein, die Fürer gerade deswegen in Erwägung gezogen hat, weil die internationalen Versammlungen nicht genügen.

b) Europäische Bischofskonferenz und Europakonzil Wenn folglich an die Schaffung eines monokratischen Organs in naher Zukunft nicht zu denken ist, wäre dann nicht doch zu überlegen, zunächst eine echte europäische Bischofskonferenz anstelle der bisherigen Verbände zu errichten? Das wäre ohne Änderung des kirchlichen Verfassungsrechts möglich, denn c. 448 § 2 CIC sieht bereits die Möglichkeit vor, unter Mitwirkung des Apostolischen Stuhls Bischofskonferenzen zu schaffen, die sich über mehrere Nationen erstrecken.527 Falls die europäische Einigung in Zukunft starke Fortschritte macht und sich die Europäische Union zu einer Art Bundesstaat entwickelt, wäre sie sogar selbst als natio zu werten, so dass man die europäische Bischofskonferenz schon auf c. 448 § 1 CIC stützen könnte, wie bereits heute in den USA eine einzige nationale Konferenz für alle Gliedstaaten besteht.528 Beide Varianten würden zu einer Bischofskonferenz im eigentlichen Sinn führen, die Rechtspersönlichkeit und alle Kompetenzen besäße, die das kirchliche Recht vorsieht. Sie wäre aber ein kaum zu steuerndes Monster, wenn man sich vor Augen hält, dass im EU-Gebiet über 600 Diözesen liegen. Außerdem ist es nicht möglich, dass mehrere echte Bischofskonferenzen auf verschiedenen Ebenen übereinander liegen, weil ihre Kompetenzen sonst miteinander konkurrieren würden.529 Die Errichtung einer europäischen Bischofskonferenz hätte also zur Folge, dass die bisherigen Konferenzen auf nationaler Ebene zu bloßen Kirchenregionen oder eben „Konferenzen“ ohne Jurisdikti-

______________ 527

Vgl. Heimerl, Vielfalt, 208; Puza, Bischofssynode, 64.

528

AP 94 (2006) 1110f. Vgl. Feliciani, CCEE, 82; ders., Weiteres, 491.

529

Dies war unmittelbar nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil noch nicht so klar, als Klostermann die Errichtung von überstaatlichen Bischofskonferenzen vorschlug, weil nicht wenige Aufgaben der Konferenzen am besten von solchen wahrgenommen werden könnten (Klostermann, Bischofskonferenzen, 610).

368

E. Die Partner des religiösen Dialogs

onsgewalt herabgestuft werden müssten.530 Damit wären sie aber rechtlich zu schwach ausgestattet, um die Aufgaben zu erfüllen, die weiterhin auf der nationalen Ebene verbleiben. Die Bischöfe aus kleinen Ländern würden in einer europäischen Bischofskonferenz regelmäßig überstimmt, und die einzelnen Regionen wären ungleichmäßig vertreten. Leichter zu verwirklichen wäre ein Kontinentalkonzil, wie es in Lateinamerika die berühmten Versammlungen von Medellín und Puebla waren. Wie diese von CELAM vorbereitet und durchgeführt wurden, könnte das europäische Pendant von CCEE und / oder COMECE organisiert werden.531 Ein solches Konzil könnte bindende Beschlüsse fassen und so den künftigen Weg der Kirche in Europa vorzeichnen. Da es zeitlich begrenzt wäre, könnte es die nationalen Bischofskonferenzen und Diözesen bei ihren Aufgaben nicht ungebührlich einschränken, käme aber aus demselben Grund als ständiger Dialogpartner der Europäischen Union nicht in Betracht. Die Entwicklung in Lateinamerika zeigt, dass der Apostolische Stuhl für die Kontinente bloße Bischofssynoden den Kontinentalkonzilien vorzieht. Deswegen ist nicht zu erwarten, dass sich Letztere in Europa etablieren werden.

c) Stärkung der COMECE Die einfachste, wahrscheinlichste und für die nächste Zukunft auch ausreichende Lösung ist in einem allmählichen Ausbau der COMECE zu suchen. Dazu gehört vor allem die Ausstattung mit Rechtspersönlichkeit und mit begrenzter Leitungsgewalt.532 Auch wenn die heutigen kontinentalen Verbände von Bischofskonferenzen keine Jurisdiktionsgewalt besitzen, so ist doch nicht prinzipiell ausgeschlossen, dass ihnen eine solche verliehen werden kann. 533 Sie sind also grundsätzlich jurisdiktionsfähig. Obwohl eine gewisse Zurückhaltung beobachtbar ist, die Bischofskonferenzen oder gar deren Verbände weiter auf ______________ 530 Sie wären dann reine pastorale Beratungsgremien wie heute die so genannte Bayerische oder die Westdeutsche Bischofskonferenz unterhalb der Deutschen Bischofskonferenz. 531

Vgl. Puza, Bischofssynode, 65f.

532

Puza schlägt hingegen vor, rechtlich nicht bindende Beschlüsse zu fassen, denen der Apostolische Stuhl nachträglich Rechtskraft verleiht (ebd. 63f.). 533

Wenn Arrieta sagt, dass sie keine rechtliche Gewalt besitzen, wenn sie ihnen nicht ausdrücklich von der höchsten Autorität gewährt wurde (Diritto dell’Organizzazione, 512), so heißt dies umgekehrt, dass sie durch Verleihung doch in ihren Besitz kommen können. Auch Wijlens überlegt die Verleihung mit gesetzgebenden und lehramtlichen Vollmachten (Zusammenarbeit, 248).

V. Weitere kirchliche Dialogpartner und Perspektiven

369

Kosten der Diözesanbischöfe zu stärken,534 so heißt das nicht, dass gerade die COMECE, die sich in der besonderen Lage befindet, auf ein stark entwickeltes politisches Gegenüber eingehen zu müssen, nicht doch in einigen sinnvollen Bereichen mit rechtlichen Befugnissen ausgestattet werden sollte. Das Mittel, das im Kirchenrecht dafür zur Verfügung steht, ist die Delegation von Leitungsgewalt. Wer aber kann der COMECE solche übertragen? Eine Delegation von unten nach oben in der Weise, dass die Bischöfe oder Bischofskonferenzen ihr Kompetenzen übertrügen, ist nicht möglich. Nach Apostolos Suos kann der Diözesanbischof seine persönliche Leitungsgewalt nicht auf irgendeine Bischofsversammlung übertragen und auf Zuständigkeiten verzichten (Nr. 20), weil jede Art von stabiler Überordnung ihm gegenüber notwendig auf eine Initiative der höchsten Autorität zurückgehen muss (Nr. 12).535 Wenn c. 455 § 1 CIC schon für die Bischofskonferenzen anordnet, dass die Verleihung zusätzlicher Kompetenzen nur durch den Apostolischen Stuhl erfolgen kann, dann gilt dies erst recht für die Verbände von Bischofskonferenzen. Ist die COMECE aber überhaupt ein geeignetes Subjekt für den Empfang einer Delegation? Dazu muss sie grundsätzlich Trägerin von Leitungsgewalt sein können. C. 129 § 1 CIC spricht diese Fähigkeit jedenfalls den Klerikern zu. Nach Aymans / Mörsdorf können juristische Personen und einfache Kollegien nur dann delegiert werden, wenn dies auf eine kollegiale Delegation physischer Personen hinausläuft, die Weihegewalt besitzen.536 Sie erklären aber nicht, wie eng die Verbindung zwischen Kollegium und geweihten Personen sein muss. Bei der Bischofskonferenz wird dem c. 129 § 1 CIC jedenfalls dadurch Genüge getan, dass sie als Trägerin von Leitungsgewalt zwar nicht selbst Kleriker ist, sehr wohl aber ihre beratenden und beschließenden Mitglieder, die in der Regel Bischöfe sind. Die Mitglieder der COMECE hingegen, nämlich die nationalen Bischofskonferenzen, sind zwar selbst juristische Personen und damit nicht Kleriker, doch setzen sie sich aus solchen zusammen und die Personen, die in der Versammlung der COMECE tatsächlich die Beschlüsse fassen, sind ja die von den Mitgliedskonferenzen entsandten Bischöfe. So besteht jedenfalls eine hinreichende Verbindung zur Weihegewalt. Bischofskonferenzen und Domkapitel sind unbestreitbar taugliche Träger von Leitungsgewalt. Die Ersten sind juristische Personen (c. 449 § 2 CIC) und ______________ 534

Arrieta erkennt in Apostolos Suos die Tendenz, die Bischofskonferenzen weniger als hierarchische Instanzen mit Leitungsgewalt, sondern vielmehr als Mittel der gegenseitigen Hilfe zu sehen (Arrieta, Apostolos Suos, 172). Johannes Paul II. lehnte Jurisdiktionsgewalt für die kontinentalen Zusammenschlüsse jedoch ab (vgl. Feliciani, CCEE, 71). 535

Vgl. Arrieta, Apostolos Suos, 174f.

536

Aymans / Mörsdorf, Lehrbuch I, 428.

370

E. Die Partner des religiösen Dialogs

können nach c. 455 § 1 CIC ausdrücklich vom Apostolischen Stuhl mit Rechtsetzungskompetenz delegiert werden;537 die Zweiten sind kollegiale Rechtssubjekte mit beschränkter Rechtsfähigkeit, die ebenfalls Jurisdiktionsfähigkeit besitzen.538 Wenn das in diesen Fällen möglich ist, dann muss die COMECE ebenfalls fähig sein, Leitungsgewalt zu erhalten und zwar unabhängig davon, ob ihr auch der Status einer juristischen Person verliehen wird oder sie ein beschränkt rechtsfähiges kollegiales Subjekt bleibt. Die Delegation an ein Kollegium ist in c. 140 § 2 CIC sogar ausdrücklich vorgesehen. Die Delegation durch den Apostolischen Stuhl hat den Vorteil, dass jede gesetzgebende und administrative Gewalt delegiert werden kann, da er selbst im Vollbesitz aller Leitungsgewalt steht (vgl. c. 135 § 2 CIC e contrario). Durch die Delegation wird die COMECE nicht Stellvertreterin des Apostolischen Stuhls, sondern übt die übertragene Gewalt im eigenen Namen aus, so dass die darauf gründenden Rechtsakte wirklich ihre eigenen sind. Das Instrument der Delegation erlaubt es, genau jene Befugnisse zu delegieren, deren die COMECE tatsächlich bedarf. Es empfiehlt sich, durch Verwaltungsakt eine allgemeine Delegation auf Dauer vorzunehmen, damit die COMECE einmal erlassene Rechtsakte wieder an neue Situationen anpassen kann. 539 Wenn sich wegen der zunehmenden Rechtsetzungstätigkeit der Europäischen Union im Laufe der Zeit herausstellt, dass die COMECE mehr Befugnisse braucht, um angemessen darauf reagieren zu können, besteht die Möglichkeit, nach und nach weitere Delegationen hinzuzufügen. Damit liegt ein flexibles Instrument vor, mit dem auf Änderungen beim politischen Gegenüber rasch und unkompliziert eingegangen werden kann, und gleichzeitig ein eingriffsschwaches Instrument, weil immer nur soviel delegiert wird, wie gerade sinnvoll ist. 540

d) Welche Kompetenzen auf die europäische Ebene? Wenn in der kirchlichen Hierarchie kontinentale Strukturen ausgebaut werden sollen, welche Befugnisse sollen sie dann erhalten? Für die COMECE ______________ 537

Vgl. Viana, c. 131 in ComEx, 856.

538

Vgl. Aymans / Mörsdorf, Lehrbuch I, 431; Fahrnberger, Delegation, 183.

539

Würde ein Europakonkordat geschlossen, so wäre auch das ein geeigneter Ort, um der COMECE entsprechende Befugnisse zu übertragen, ähnlich wie in den nationalen Konkordaten den Bischofskonferenzen immer wieder Kompetenzen über gemischte Angelegenheiten übertragen werden (vgl. Del Giudice, Riflessione, 210). 540

Die Funktionen der Delegation sind nach Juen (Management, 105): Entlastung des Delegierenden, Erleichterung für die Gläubigen, Flexibilität bei der Gewaltausübung, Lockerung der starren Amtsordnung, Dezentralisierung.

V. Weitere kirchliche Dialogpartner und Perspektiven

371

bietet die Kompetenzordnung ihres politischen Gegenübers, der Europäischen Union gewisse Anhaltspunkte, denn auf dieses muss sie angemessen eingehen können. Im Lichte des Komplementärprinzips erscheint es daher sinnvoll, ihr jene Befugnisse zu verleihen, die kirchlicherseits den Kompetenzen entsprechen, welche die Europäische Union besitzt. 541 Das heißt selbstverständlich nicht, dass in der kirchlichen Hierarchie die in Frage stehenden Kompetenzen immer jener Ebene zugewiesen werden müssten, auf der sich auch im weltlichen Bereich Entsprechungen befinden. Dies würde nicht nur die Freiheit der Kirche beschränken, ihre Verfassung selbst zu bestimmen, sondern wäre schier unmöglich.542 In Deutschland fällt zum Beispiel die Festlegung der Feiertage weitgehend in die Kompetenz der Länder,543 in Österreich hingegen als Annexkompetenz des Arbeitsrechts (Art. 10 Z. 11 B-VG) in die Kompetenz des Bundes. Auf welcher Ebene ihrer eigenen Hierarchie sollte nun die weltumspannende katholische Kirche die Kompetenz zur Anpassung der Feiertage an regionale Gegebenheiten (vgl. c. 1244 § 2 und 1246 § 2 CIC) ansiedeln, wenn schon diese beiden sonst recht ähnlichen Staaten darin nicht übereinstimmen? Nicht jede hierarchische Ebene auf der einen Seite hat eine Entsprechung auf der anderen. Der Papst, der die umfassendsten Kompetenzen zur Leitung der Universalkirche besitzt, hat auf der weltlichen Seite kein vergleichbares Gegenüber. Bei der innerkirchlichen Zuweisung von Befugnissen ist also nicht nur auf die Kompetenzordnung der weltlichen Seite, sondern in noch stärkerem Maß auf die ekklesiologischen Erfordernisse und das Selbstverständnis der Kirche Rücksicht zu nehmen. Im Folgenden sollen einige Beispiele untersucht werden, die als Kompetenzen der COMECE in Frage kämen. Beispiel „Religionsunterricht an den Europäischen Schulen“: Die Europäischen Schulen wurden an Orten mit größeren Einrichtungen der EG, wo sich ______________ 541

Weder in der Europäischen Union noch in der katholischen Kirche folgt die vertikale Kompetenzverteilung dem Modell eines Bundesstaates, weil es fast keine in sich geschlossenen Kompetenzkreise gibt, die ausschließlich einer bestimmten Ebene zugewiesen wären (für die Europäische Union: vgl. Hummer, Konstitutionalisierung, 87; ders., Ursprünge, 397). Vielmehr wird auf eine Zusammenarbeit zwischen den Ebenen Wert gelegt. In der Europäischen Union zeigt sich dies im Überwiegen der konkurrierenden und parallelen Kompetenzen. In der katholischen Kirche hat das Zweite Vatikanische Konzil zwar die Kompetenzen der Diözesanbischöfe gestärkt (Reservationssystem: Art. 8 lit. a CD, c. 381 § 1 CIC), doch gleichzeitig bleibt der Papst für alle Angelegenheiten ebenfalls zuständig und kann sie jederzeit an sich ziehen (cc. 331 und 333 CIC). Hier zeigt sich eine Parallele zu den konkurrierenden Kompetenzen der EU. 542

Die Kirche kann nicht so organisiert werden, als wäre sie wie ein Weltkonzern der rein menschlichen Gestaltungskompetenz unterworfen (Johannes Paul II., Rede vom 20.11.1999, 251). 543

Vgl. Berkmann, Gewerbeausübung, 47.

372

E. Die Partner des religiösen Dialogs

eine beträchtliche Zahl von EG-Bediensteten niedergelassen hat, hauptsächlich für deren Kinder errichtet, damit sie eine einheitliche Schulbildung erhalten, wo immer in Europa sie sich aufhalten [siehe oben Abschnitt B.II.5.a) „Familie“]. An diesen Europäischen Schulen ist ein konfessioneller Religionsunterricht Pflichtfach, der ebenso wie die übrigen Fächer an allen Standorten nach dem gleichen Lehrplan gehalten werden soll. Wer soll nun kirchlicherseits die Lehrpläne approbieren, die für alle Europäischen Schulen einheitlich sein müssen, wo doch auf europäischer Ebene eine dafür zuständige kirchliche Instanz fehlt? Solange der COMECE entsprechende Jurisdiktionsbefugnisse fehlen, muss sie sich darauf beschränken, die Bischöfe, in deren Diözesen sich solche Schulen befinden, untereinander zu koordinieren und bei der Entwicklung eines Lehrplanes zu unterstützen, der dann aber von jedem einzeln approbiert werden muss.544 Hier zeigt sich, wie sinnvoll es wäre, die entsprechende Befugnis direkt der COMECE zu verleihen, weil sie im Sinne des Subsidiaritätsprinzips die dafür angemessene Ebene ist. 545 Selbstverständlich könnte auch der Apostolische Stuhl, der alle Leitungskompetenzen in der Kirche besitzt, über die Bildungskongregation einen Lehrplan schaffen. Angesichts der Tatsache, dass insgesamt nur 12 Schulen davon betroffen sind,546 scheint es aber doch unangebracht, die Bildungskongregation neben all ihren übrigen Aufgaben im Dienst der Weltkirche (Art. 112-116 PastBon) mit einer solchen Kleinigkeit zu belasten. Gewiss könnte jede Angelegenheit auch vom Apostolischen Stuhl an sich gezogen und erledigt werden, so dass sich die Frage nach den Zuständigkeiten der unteren Ebenen vollends erübrigte, doch widerspräche dies dem Selbstverständnis der katholischen Kirche, die wesentlich aus Teilkirchen, nicht aus bloßen Verwaltungsprovinzen besteht. Anderseits scheint auch die Ebene der Diözesanbischöfe für die Erstellung der Lehrpläne nicht angemessen zu sein. Die betroffenen Bischöfe stammen aus unterschiedlichen Sprachgemeinschaften und Kulturen, sind räumlich weit voneinander entfernt und jenem Konzept von Religionsunterricht verhaftet, das in ihrem eigenen ______________ 544

Vgl. Roba, Religionsunterricht, 87-92.

545

Subsidiaritätsprinzip und Dezentralisierung sind in der Verfassung der Kirche wegen größerer Effizienz und Einheitlichkeit der pastoralen Bedürfnisse zu beachten (vgl. Rees, Bischofskonferenzen, 338). Noti bedauert, dass sich der Apostolische Stuhl zwar von Anfang an intensiv für die europäische Integration eingesetzt hat, aber der Alleinvertretungsanspruch der Kurie Zusammenschlüsse auf mittlerem Niveau verhindert habe (Eroberungsmentalität, 36). 546

Zurzeit etwa 16.000 Schüler an 12 Europäischen Schulen (Uccle, Woluwé, Ixelles, Mol, Bergen, Karlsruhe, München, Frankfurt, Varese, Alicante, Culham, Luxemburg) in 7 Ländern (Belgien, Niederlande, Deutschland, Italien, Spanien, Vereinigtes Königreich und Luxemburg); vgl. http://www.eursc.org [9.5.2006].

V. Weitere kirchliche Dialogpartner und Perspektiven

373

Land vorherrscht, so dass sich eine Verständigung schwierig gestaltet. Die COMECE hätte hingegen die besten Voraussetzungen dafür, diese Aufgabe zu übernehmen, und der Eingriff, den die einzelnen Bischöfe dabei hinnehmen müssten, hielte sich sehr in Grenzen, weil in den meisten der betroffenen Diözesen nur eine einzige Europäische Schule liegt. Weitere Beispiele: Wie in Abschnitt E.V.2.a) dargelegt entstehen immer mehr kirchliche Vereine auf europäischer Ebene. Nach c. 312 § 1 CIC ist für nationale Vereine die Bischofskonferenz zuständig, für gesamtkirchliche und internationale Vereine hingegen der Heilige Stuhl. Welche Autorität aber ist zuständig für die Vereine, die sich auf der europäischen Ebene organisieren? Der zweckmäßigste Ort für diese Aufgabe, die bisher vom Heiligen Stuhl wahrgenommen wird, wäre die COMECE. Sie könnte dann zudem die Zustimmung dafür erteilen, ob sich ein solcher Verein „katholisch“ nennen darf (c. 300 CIC). Angesichts der bestehenden EG-Fernseh-RL 89/552/EWG, mit der auch die Übertragung von Gottesdiensten und religiösen Sendungen (Art. 11) geregelt wird, würde es sich empfehlen, der COMECE eine ähnliche Befugnis einzuräumen, wie sie c. 772 § 2 CIC den Bischofskonferenzen verleiht.547 Die Datenschutz-RL 95/46/EG und die Datenschutz-VO (EG) Nr. 45/2001 streben gemeinschaftsweit gleiche Standards im Datenschutz an und verlangen von religiösen Organisationen angemessene Garantien. Das Ziel, dass die kirchliche Datenverarbeitung diesen tatsächlich europaweit entspricht, würde am besten erreicht, wenn die COMECE diesbezüglich Grundsatzbestimmungen erlassen könnte. Noch in einigen weiteren Bereichen, die bisher in die Zuständigkeit der nationalen Bischofskonferenzen fallen, aber von der Europäischen Union allmählich europaweit einheitlich geregelt werden, wäre immerhin eine Rahmenkompetenz der COMECE zu erwägen, so etwa bei der sozialen Sicherheit des Klerus (vgl. c. 1274 § 2 CIC), bei der Wertgrenze für Vermögensveräußerungen (c. 1292 § 1 CIC – wegen der gemeinsamen Währung und des freien Warenverkehrs) oder auch zur Anerkennung eines Heiligtums als Europaheiligtum (vgl. c. 1231 CIC).548 Da die COMECE eng mit anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften zusammenarbeitet, wäre auch an eine Befugnis zu denken, Normen auf dem Gebiet der Ökumene zu erlassen ______________ 547

Zur diesbezüglichen Kompetenz der Bischofskonferenzen vgl. Rees, Kommunikation, 280. 548

Hier wäre vor allem an Santiago de Compostela zu denken, wohin schon seit dem Mittelalter Pilgerwege aus ganz Europa führen. Nicht umsonst war der Jakobsweg bereits Gegenstand mehrerer schriftlicher Anfragen an die Europäische Kommission: E1776/93; Nr. 1233/94; E-1890/95; E-0120/98; E-2069/98. Mündliche Anfrage: H1015/88.

374

E. Die Partner des religiösen Dialogs

(vgl. c. 755 § 2 CIC). Falls die Kompetenzen der Europäischen Union in Zukunft weiter zunehmen, kann es als angebracht erscheinen, die Zuständigkeiten der COMECE langsam zu erweitern, wie etwa für die Regelung von Feiertagen (vgl. cc. 1244 § 2 und 1246 § 2 CIC).

F. Form, Grundlagen und Ergebnisse des religiösen Dialogs I. Das Dialogverfahren 1. Die vorhandenen Einzelelemente und Stufen des Dialogrechts Nachdem in den vorangegangenen Kapiteln geklärt wurde, welche Subjekte auf beiden Seiten am religiösen Dialog teilnehmen, ist nun das Dialogverfahren zu untersuchen. Zu jedem, auch ganz alltäglichen Dialog tragen die Gesprächspartner verschiedene Elemente bei: Zuhören, informieren, überzeugen, sich einigen usw. Auch in juristischer Hinsicht lässt sich das Dialogrecht in mehrere Einzelrechte und -pflichten aufgliedern, wie etwa das Recht, seine Meinung zu äußern oder gehört zu werden. Manche dieser Dialogelemente finden sich – wenn auch unsystematisch verstreut und ohne konkreten Bezug auf Religionsgemeinschaften – schon vor dem Verfassungsvertrag im Unionsrecht. Bereits aus ihnen lässt sich in mehreren Stufen eine gewisse rechtliche Form des Dialogs ableiten. (1) Grundrecht auf Information: Wie die Basis eines jeden Dialogs in der entsprechenden Information besteht, so ist die Information über religionsrelevante Angelegenheiten die Basis für den Dialog mit den Religionsgemeinschaften. Könnten diese nicht in Erfahrung bringen, was die Europäische Union in den sie betreffenden Fragen unternimmt, so könnten sie mit ihr auch nicht in einen Dialog darüber treten. Es versteht sich von selbst, dass sie an einer möglichst frühen und vollständigen Information interessiert sind. Art. 10 Abs. 1 EMRK schließt mit der Wendung „Freiheit zum Empfang und zur Mitteilung von Nachrichten und Ideen“ auch die Informationsfreiheit ein. Der EuGH hat den Inhalt dieses Artikels im Sinne von Art. 6 Abs. 2 EUV auch als allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts anerkannt. Die Informationsfreiheit umfasst den gesamten Prozess von der schlichten Entgegennahme einer Information bis zu ihrer Aufbereitung und Speicherung sowie die aktive Informationsfreiheit, doch verneint der EGMR eine korrespondierende Informationspflicht von staatlichen Behörden gegenüber dem Einzelnen.1 In Über______________ 1

Streinz, Art. 11 GRCH, Rn. 11. Nach EGMR, Nr. 116/96, Guerra, Rn. 53 bedeutet das Grundrecht auf Erhalt von Informationen (Art. 10 EMKR) nur, dass der Staat

376

F. Form, Grundlagen und Ergebnisse des religiösen Dialogs

einstimmung mit der EMRK verankert nun auch Art. 11 Abs. 1 GRCH die Informationsfreiheit. Einen „Sonderfall der Informationsfreiheit“2 stellt das Recht auf Zugang zu Dokumenten von Gemeinschaftsorganen dar, das nach Art. 255 Abs. 1 EGV auch juristischen Personen mit Sitz in einem Mitgliedstaat und nach Art. 2 Abs. 2 der zugehörigen Informationszugangs-VO (EG) Nr. 1049/2001 sogar allen juristischen Personen unabhängig von ihrem Sitz zusteht.3 Damit kommen auch alle Religionsgemeinschaften, die den Status einer juristischen Person besitzen, in den Genuss dieses Rechts, das gerne von Lobbygruppen, der allgemeinen Bürgerschaft und europäischen Interessenvertretungen4 in Anspruch genommen wird. Sie können sich damit bereits im Vorbereitungsstadium Kenntnis über Dokumente des Parlaments, der Kommission und des Rats verschaffen (Art. 1 lit. a Informationszugangs-VO), um frühzeitig ihre Stellungnahme dazu abgeben zu können. Da der Beratungsprozess innerhalb des jeweiligen Organs aber zu schützen ist, besteht insoweit kein Anspruch auf rein interne Arbeitspapiere und Dokumente aus jedem beliebigen Vorentwurfsstadium (Art. 4 Abs. 3 Informationszugangs-VO).5 Außerdem besteht Anspruch nur auf schon vorhandene, nicht jedoch auf erst zu beschaffende Informationen.6 Grundsätzlich kann auch um Dokumente Dritter angesucht werden, also etwa um Dokumente, die eine Religionsgemeinschaft einem Gemeinschaftsorgan zukommen ließ. Hier ist jedoch besonders auf den Schutz der Privatsphäre und den Datenschutz zu achten, so dass der Informationssender im Zweifel zuvor zu konsultieren ist.7 Der Informationssuchende muss selbst einen schriftlichen Antrag stellen, der so genau zu formulieren ist, dass das gewünschte Dokument identifiziert werden kann (Art. 6 Abs. 1 Informationszugangs-VO). Die Gemeinschaftsorgane müssen die Religionsgemeinschaften also grundsätzlich nicht von sich aus mit entsprechenden Informationen versorgen und diese können auch nicht einfach pauschal um alle für sie relevanten Informationen ______________

Personen, die Informationen mitteilen möchten, nicht daran hindern darf, aber nicht, dass er selbst die positive Pflicht hat, Informationen zu sammeln und weiterzugeben. 2

Kingreen, Art. 6 EUV, Rn. 115.

3

Vgl. Rack, Unionsbürgerschaft, 217 und 221. Art. 225 EGV findet gemäß Art. 18 Abs. 1 EUV auch für die GASP und gemäß Art. 41 Abs. 1 EUV auch für die ZBJI Anwendung. 4

Vgl. Wegener, Art. 255 EGV, Rn. 31.

5

Vgl. ebd. Rn. 16; Wölker, Art. 255, Rn. 12.

6

Wegener, Art. 255 EGV, Rn. 11.

7

Ebd. Rn. 12. Eine Gefahr für das Seelsorgegeheimnis wird nicht bestehen, da die Religionsgemeinschaften den EU-Organen im religiösen Dialog keine persönlichen Informationen zukommen lassen.

I. Das Dialogverfahren

377

ansuchen. Da das Interesse der Religionsgemeinschaften sich nicht auf einen begrenzten Themenbereich beschränkt, sondern grundsätzlich jeder Politikbereich unter ethischen Gesichtspunkten für sie bedeutsam werden kann, wäre es für die Kommission schwierig zu entscheiden, welche Information für sie relevant ist. Wo jedoch eine Konsultationspflicht besteht (unten Punkt 5), ist als ihr Bestandteil auch eine Informationspflicht anzunehmen. Wenn eindeutig religionsrechtliche Angelegenheiten auf der Tagesordnung stehen, kann es für die Kommission keinen Zweifel geben, dass die Religionsgemeinschaften ein Interesse an den entsprechenden Informationen haben. In der Mitteilung KOM (2002) 277 endg. spricht sie selbst davon, Informationen von sich aus zur Verfügung zu stellen (Punkt V.II).8 Im sozialen Dialog, wo die Kommission verpflichtet ist, die Sozialpartner anzuhören (Art. 138 Abs. 2 EGV), hat sie selbstverständlich auch eine Informationspflicht.9 (2) Freie Meinungsäußerung: Art. 10 Abs. 1 EMRK und Art. 11 Abs. 1 GRCH verankern gemeinsam mit der Informationsfreiheit auch das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung, das vom EuGH in ständiger Rechtsprechung als allgemeiner Grundssatz des Gemeinschaftsrechts anerkannt wurde. Beide Rechte gehören eng zusammen, denn wer eine bestimmte Information erhalten hat, wird sich darüber in der Regel eine Meinung bilden, die er wiederum anderen mitteilen möchte. „Meinung“ ist dabei weit zu verstehen als jede Ansicht, Überzeugung, Einschätzung, Stellungnahme und jedes Werturteil ohne Rücksicht auf Qualität, Thematik und Kommunikationsform. 10 Für den religiösen Dialog bedeutet dies, dass die Religionsgemeinschaften gleichsam als Antwort auf die erhaltenen Informationen in der ihnen genehmen Art und Weise Stellung beziehen und ihre Wertungen kundtun können. So fundamental die beiden Grundrechte der Informations- und der Meinungsäußerungsfreiheit für den religiösen Dialog aber auch sein mögen, einen echten Dialog zwischen der Europäischen Union und den Kirchen und Religionsgemeinschaften begründen sie noch nicht. Die freie Meinungsäußerung ist nämlich in der Regel an die Allgemeinheit gerichtet, kennt keinen konkreten Adressaten und verpflichtet erst recht nicht die Organe der Union, eine bestimmte Stellungnahme entgegenzunehmen oder gar darauf zu reagieren. (3) Recht auf Gehör: Für einen echten Dialog bedarf es also auf der Gegenseite noch der Pflicht, Meinungsäußerungen auch tatsächlich anzuhören. Dabei handelt es sich nicht so sehr um das Recht auf rechtliches Gehör (Art. 6 ______________ 8

Nach Turowski müsste eine planmäßige und gezielte Information vor allem aus der Europäischen Kommission erfolgen, weil der Rechtsetzungsprozess in den Vorphasen nur schwer zu überblicken ist (Staatskirchenrecht, 25). 9

Hensseler, Arbeitsrecht, Rn. 5.

10

Streinz, Art. 11 GRCH, Rn. 11.

378

F. Form, Grundlagen und Ergebnisse des religiösen Dialogs

EMRK, Art. 47 GRCH), das ein justizielles Recht darstellt, obwohl der religiöse Dialog im Extremfall auch die Form annehmen kann, dass eine Religionsgemeinschaft sich vor den europäischen Gerichten verteidigen muss. Als echtes Element des Dialogs ist vielmehr das Recht anzusehen, sich an die Organe und Einrichtungen der Gemeinschaft wenden zu können. Art. 21 Abs. 3 EGV verleiht dieses Recht nur den Unionsbürgern. Das ist sachlich problematisch, weil auch andere Personen von den Tätigkeiten der Union betroffen sein können, und es ist systemwidrig, da die anderen in Art. 21 genannten Rechte bezüglich Petition und Bürgerbeauftragtem allen natürlichen und juristischen Personen mit Wohnsitz bzw. Sitz in einem Mitgliedstaat zugestanden werden (Art. 194f. EGV). 11 Die Religionsgemeinschaften als juristische Personen sind keine „Unionsbürger“ und kommen daher nicht in den Genuss des Rechts nach Art. 21 Abs. 3 EGV. Es besteht jedoch die Möglichkeit, dass ihre Leitungsautoritäten als natürliche Personen, die Unionsbürger sind, im Interesse der jeweiligen Religionsgemeinschaft tätig werden, da die Anliegen, die nach Art. 21 Abs. 3 EGV vorgebracht werden können, kein individuelles Interesse voraussetzen und auch nicht auf bestimmte Bereiche beschränkt sind. 12 Art. 41 Abs. 4 GRCH verleiht dasselbe Recht nun aber jeder Person, so dass sich die Frage nach den Anspruchsberechtigten erübrigt. Sonderformen des Rechts, sich an die Organe und Einrichtungen der Gemeinschaft zu wenden, bilden das Recht, eine Petition an das Europäische Parlament (Art. 194 EGV) oder Beschwerden an den Bürgerbeauftragten (Art. 195 EGV) zu richten. Beides steht auch juristischen Personen zu, ohne dass es wie in Art. 48 EGV auf einen Erwerbszweck ankäme. Wo Religionsgemeinschaften keine Rechtspersönlichkeit besitzen, wäre eine Sammelpetition zu erwägen, sofern die Mitglieder petitionsberechtigt sind. 13 Im Unterschied zum uneingeschränkten Gegenstand einer Anfrage nach Art. 21 Abs. 3 EGV, kann Gegenstand einer Petition zwar nur sein, was in die Tätigkeitsbereiche der Gemeinschaft fällt und den Petenten unmittelbar betrifft, doch bleibt hier genügend Raum für religionsrelevante Fragen. Die unmittelbare Betroffenheit (Art. 194 EGV) bedeutet weniger als ein rechtliches Interesse oder eine Betroffenheit in eigenen Rechten14 und wird in Art. 44 GRCH als Voraussetzung ______________ 11

Haag, Art. 21 EGV, Rn. 8. In ihrem neuesten Weißbuch zum Thema Kommunikation erkennt die Kommission, dass der Bürger nicht nur informiert, sondern auch gehört werden muss [KOM (2006) 35 endg., Nr. I.1 und II.1]. Coffey begrüßt daran, dass die Kommission die Bürger mehr zu Wort kommen lassen will, bezweifelt aber, ob sie auch wirklich auf sie hören wird (Coffey, Europa, 6). 12

Ebd. Rn. 6.

13

Vgl. Haag, Art. 194 EGV, Rn. 10.

14

Kluth, Art. 194 EGV, Rn. 3.

I. Das Dialogverfahren

379

gänzlich aufgegeben. Stärker eingeschränkt ist der Gegenstand einer Beschwerde an den Bürgerbeauftragten nach Art. 195 EGV, da es sich hier um Missstände bei der Tätigkeit der Organe und Institutionen der Gemeinschaft handeln muss, doch sind auch hier religionsrelevante Angelegenheiten denkbar wie Grundrechtsverstöße, Diskriminierungen oder – gerade im Hinblick auf den Dialog – die unzureichende Bereitstellung von Information.15 Die Dialogwege über die Petition bzw. über den Bürgerbeauftragten werden weniger die Großkirchen als vielmehr kleinere Religionsgemeinschaften und einzelne Gläubige beschreiten. (4) Recht auf Antwort: Das Anfragerecht nach Art. 21 Abs. 3 EGV sowie die speziellen Rechte bezüglich Petition und Bürgerbeauftragtem schließen das Recht auf Entgegennahme des Vorbringens durch die jeweilige Einrichtung der Union ein. Es gibt auf Seiten der Union also einen konkreten Adressaten, der dem vorgebrachten Anliegen Gehör schenken muss. 16 Darüber hinaus ist aber auch ein Recht auf Antwort inkludiert, was einen weiteren Schritt im wechselseitigen Dialog darstellt. Dieses Recht wird in Art. 21 Abs. 3 EGV ausdrücklich genannt. Bei der Petition besteht ein subjektiver Anspruch auf Prüfung, der die Kenntnisnahme und Befassung durch das Europäische Parlament einschließt.17 Die Petenten werden vom Präsidenten des Parlaments über die Beschlüsse unterrichtet, die eine Begründung enthalten müssen.18 Was den Bürgerbeauftragten betrifft, so ist dieser zur Entgegennahme, Prüfung und Verbescheidung der Beschwerde verpflichtet, kann jedoch selbst entscheiden, ob er eine Untersuchung durchführt, über die der Beschwerdeführer dann aber sehr wohl zu unterrichten ist.19 Wenn also auch in allen genannten Fällen auf Seiten der Union eine Pflicht besteht, auf eine Anfrage zu reagieren, so gibt es doch in keinem Fall einen Anspruch darauf, dass tatsächlich Abhilfe geschaffen wird. Das ginge über einen bloßen Dialog hinaus, zu dessen Wesen es ja gehört, dass keiner der Partner zu einem bestimmten Tun gezwungen, sondern allenfalls überzeugt werden kann. (5) Konsultationspflicht: Die vier soeben besprochenen rechtlichen Elemente des Dialogs setzen jeweils voraus, dass die Initiative nicht von der Union, sondern von ihrem Gesprächspartner ausgeht. Der Dialog kann aber auch von der Union selbst in Gang gesetzt werden, wenn sie es für angebracht hält, ______________ 15

Vgl. Haag, Art, 195 EGV, Rn. 34.

16

Auch die gemäß Art. I-47 Abs. 4 VVE neu zu schaffende Bürgerinitiative hat einen konkreten Adressaten: Die Europäische Kommission. 17

Kluth, Art. 194 EGV, Rn. 5.

18

Huber, Art. 194 EGV, Rn. 18.

19

Ebd. Rn. 25 und 29.

380

F. Form, Grundlagen und Ergebnisse des religiösen Dialogs

bestimmte Organisationen – darunter auch Religionsgemeinschaften – zu anstehenden Fragen zu konsultieren. So hebt die Europäische Kommission selbst Konsultationen, die auf ihre eigene Initiative zurückgehen, von anderen Kontakten ab.20 Sie setzt sich für eine verstärkte Konsultations- und Dialogkultur ein, die von allen europäischen Institutionen angenommen wird,21 und sieht sich selbst in gewissen Fällen insbesondere aufgrund des Protokolls Nr. 30 zum EGV zu Konsultationen verpflichtet. 22 Die Konsultationspflicht soll der Kommission zufolge aber nicht so weit führen, dass Organisationen sich später an den EuGH wenden, weil sie nicht konsultiert wurden.23 Ein Verstoß gegen eine allfällige Konsultationspflicht soll also keineswegs die Nichtigkeit des daraufhin erlassenen Rechtsaktes bewirken.24 (6) Zustimmungsrecht: Die Konsultationspflicht bedeutet nur, dass das Votum der konsultationsberechtigten Organisation gehört, jedoch nicht, dass es in der Entscheidungsfindung auch berücksichtigt werden muss. Um einen verbindlichen Einfluss auf das Ergebnis nehmen zu können, wäre ein Zustimmungsrecht erforderlich, das somit das stärkste Recht in einem Dialogverfahren darstellt. Soweit ersichtlich gewährt die Europäische Union im zivilen oder religiösen Dialog keiner Organisation ein solches Recht. In Bereichen, die eindeutig der Kompetenz der Union unterstehen, käme das einem unvertretbaren teilweisen Abtreten von Entscheidungsbefugnissen gleich, 25 doch in Bereichen, die eigentlich der religiösen Kompetenz angehören und in welche die Union nicht eingreifen kann, ohne die originären Rechte von Religionsgemeinschaften zu verletzen, wäre ein Zustimmungserfordernis durchaus angebracht. Inwieweit sich aus dem Zusammenspiel von Art. I-52 Abs. 1 und Abs. 3 VVE ein Zustimmungsrecht ergeben könnte, wird in Abschnitt H.I.4.g) geprüft. ______________ 20

KOM (2002) 704 endg., 9.

21

Weißbuch KOM (2001) 428 endg. „Europäisches Regieren“, 22.

22

Weißbuch KOM (2001) 428 endg. „Europäisches Regieren“, 22; Mitteilung KOM (2002) 277 endg., 5. 23

KOM (2002) 704 endg., 10.

24

In diesem Sinne auch die Entscheidung EuG Rs. T-135/96, UEAPME.

25

Weil das Europäische Parlament davor gewarnt hat, dass die Konsultationen zu einem Ersatz für die Verfahren und Entscheidungen der gesetzgebenden und demokratisch legitimierten Institutionen ausarten könnten, hält sich die Kommission an den Grundsatz, die betroffenen Parteien zwar anzuhören, ihnen jedoch kein Stimmrecht zu verleihen [KOM (2002) 277 endg., 5]. Hier stößt man an die Grenzen der partizipativen Demokratie gegenüber der repräsentativen. Die Organisationen der Zivilgesellschaft vermitteln zwar zwischen dem Bürger und der Verbandsgewalt, sind aber selbst nicht demokratisch legitimiert, weswegen sie nur konsultiert werden, aber nicht zum KoGesetzgeber mutieren können (vgl. Hummer, Greening, 187f.).

I. Das Dialogverfahren

381

(7) Kooperation: Die Kooperation übersteigt den bloßen Dialog, indem sie vom „gemeinsamen Reden“ zum „gemeinsamen Handeln“ übergeht. Sie setzt den Dialog aber voraus, weil gemeinsames Handeln nicht ohne Absprachen und Verständigung möglich ist. Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften werden ausdrücklich in Art. 3 der VO (EG) Nr. 1659/98 i.d.F. VO (EG) Nr. 625/2004 über die dezentralisierte Zusammenarbeit als Partner für Entwicklungshilfeprojekte der Europäischen Union genannt. Selbstverständlich sind auch andere Kooperationsfelder denkbar wie etwa das europäische kulturelle Erbe.

2. Bisherige Ansätze zu einem Dialogverfahren Von einem formalisierten Verfahren für den religiösen Dialog kann bisher nicht die Rede sein. Nur soweit dieser Dialog über den Apostolischen Nuntius bei den Europäischen Gemeinschaften läuft, liegt mit den völkerrechtlichen Regeln über den diplomatischen Verkehr bereits ein ausgearbeitetes rechtliches System vor. Insofern sich die Religionsgemeinschaften eines der im vorigen Abschnitt besprochenen bereits anderweitig eingerichteten Kommunikationsverfahrens bedienen, sind natürlich die dafür erlassenen Regeln einzuhalten. Wenn sie zum Beispiel eine Petition einreichen, wird nach den Verfahrensregeln der GOEP (Art. 191-193) vorgegangen; wenn sie sich an den Bürgerbeauftragten wenden, so ist nach dem Beschluss 94/262/EGKS/EG/Euratom vorzugehen. Geregelt sind hier die Voraussetzungen für die entsprechende Anfrage, bestimmte Fristen, die Beteiligung betroffener Organe, die Durchführung einer Untersuchung und die Form des Ergebnisses. Für die Anfragen nach Art. 21 Abs. 3 EGV gibt es hingegen nur rudimentäre Verfahrensregeln. Nach der Erklärung der Regierungskonferenz von Nizza zu Art. 21 Abs. 3 EGV muss die Antwort innerhalb einer „vertretbaren Frist“ gegeben werden, während die nähere Ausgestaltung des Verfahrens der internen Organisation der jeweiligen Gemeinschaftsinstitution überlassen bleibt.26 Der Europäische Bürgerbeauftragte entwarf einen Katalog von Verhaltensregeln, der dem Rat und der Kommission als Grundlage diente, um eigene Verhaltenscodices zu erlassen, die das Verfahren der Anfragebeantwortung regeln.27 ______________ 26 27

Haag, Art. 21 EGV, Rn. 10.

Der Erlass von Verhaltenscodices beruht auf dem Selbstorganisationsrecht der jeweiligen Organe und Einrichtungen. Z.B: Europäischerer Bürgerbeauftragter, Kodex für eine gute Verwaltungspraxis vom 28.7.1999. Rat, Kodex für ein einwandfreies Verhalten des Generalsekretariats des Rates der Europäischen Union und seines Personals in der Verwaltungspraxis bei ihren beruflichen Beziehungen zur Öffentlichkeit vom

382

F. Form, Grundlagen und Ergebnisse des religiösen Dialogs

Der bisherige Dialog mit den Religionsgemeinschaften vollzieht sich jedoch weniger über die drei in Art. 21 EGV genannten Wege als vielmehr im Rahmen des Dialogs mit der Zivilgesellschaft, für den es keine rechtlich bindenden Regeln gibt. Die Europäische Kommission versuchte in verschiedenen Verlautbarungen, ihm dennoch eine konkretere Struktur zu verleihen. So stellt sie in ihrem Weißbuch über „Europäisches Regieren“ [KOM (2001) 428 endg.] fünf Grundsätze für gutes Regieren vor, die sie im Anschluss daran auch auf die Konsultationen mit den Organisationen der Zivilgesellschaft, darunter den Kirchen und Religionsgemeinschaften, bezieht: Offenheit (Handeln der EU bei den Bürgern verständlich machen), Partizipation (Einbindung verschiedener Akteure in den Politikprozess), Verantwortlichkeit (klare Zurechenbarkeit des Handelns an die Einrichtungen der EU bzw. die Mitgliedstaaten), Effektivität (richtiger Zeitpunkt, Zielangemessenheit, Folgenabschätzung) und Kohärenz (Nachvollziehbarkeit, Abgleichung zwischen den einzelnen Politikbereichen).28 In ihrer Mitteilung zu einer verstärkten Kultur der Konsultation und des Dialogs setzt sich die Kommission das Ziel, die Konsultationsverfahren transparenter, systematischer, kohärenter und flexibler zu gestalten.29 Ferner unterscheidet sie zwei Arten von Verfahren: Nach dem offenen Konsultationsverfahren erstellt sie ein Dokument, zu dem jede beliebige Person auf einer Internetplattform ihre Meinung abgeben kann. Zum zielgerichteten Konsultationsverfahren werden hingegen die Vertreter der betreffenden sektoralen Interessen und der Allgemeinheit herangezogen, sei es über offizielle Konsultationsforen oder in Ad-hoc-Konsultationsverfahren.30 Der Dialog mit den Religionsgemeinschaften folgt selbstverständlich dem zielgerichteten Konsultationsverfahren. Als Mindeststandards sind festzulegen: Eine eindeutige Zielsetzung der Konsultation, Veröffentlichung, Fristen für die Partizipation sowie eine Eingangsbestätigung und Feedback.31 Der EWSA führt eine weitere Unterscheidung von Dialogtypen ein (Stellungnahme vom 14.2.2006, Nr. 3.2): Während die bloße „Konsultation“ im Prinzip allen Organisationen offen steht, die über Sachverstand in einem bestimmten Bereich verfügen, meint „Partizipation“ die einer Organisation eingeräumte Möglichkeit, im allgemeinen Interesse der Union und der Unionsbürger formell und aktiv an kollektiven Willensbildungsprozessen mitzuwirken und an der Politikgestaltung teilzuhaben. ______________

5.7.2001. Kommission, Kodex für gute Verwaltungspraxis in den Beziehungen der Bediensteten der europäischen Kommission zur Öffentlichkeit, vom 17.10.2000. 28

KOM (2001) 428 endg., 13.

29

KOM (2002) 277 endg., 4.

30

Ebd. 7f. Diese Mitteilung ruft auch noch einmal die fünf Grundsätze des Weißbuchs in Erinnerung, ebd. 10-12. 31

Ebd. 13f.

I. Das Dialogverfahren

383

3. Die drei Prinzipien des Dialogverfahrens nach dem VVE In den letzten beiden Abschnitten wurden einige Grundsätze und Regeln herausgearbeitet, die das Dialogverfahren im Allgemeinen und daher nur mittelbar auch den religiösen Dialog betreffen. Den spezifisch religiösen Dialog verankert erst Art. I-52 Abs. 3 VVE. Diese Bestimmung enthält zwar keine genauen Verfahrensregeln, aber doch drei Prinzipien, die das Dialogverfahren bestimmen sollen: Offenheit, Transparenz und Regelmäßigkeit. Zu ihrer Auslegung kann auf die bereits entwickelten Grundsätze für den Dialog im Allgemeinen zurückgegriffen werden. Die Wendung „offen, transparent und regelmäßig“ fand sich nicht von Anfang an im „Kirchenartikel“. Von Seiten der Kirchen, insbesondere von COMECE und KEK, wurde wiederholt der Wunsch an den Verfassungskonvent herangetragen, den zu verankernden Dialog mit den Religionsgemeinschaften als „strukturiert“ zu qualifizieren.32 Dahinter stand die Sorge, dass der bisher gepflegte religiöse Dialog einer festen Form entbehrte und durch eine konkrete Struktur ein höheres Maß an Verlässlichkeit erhalten sollte. Die erste Fassung des Kirchenartikels vom 4.4.2003 (Art. 37 CONV 650/03) enttäuschte diese Erwartung aber, weil sie nur von einem „regelmäßigen Dialog“ sprach, womit allenfalls eine zeitliche Strukturiertheit angesprochen war. Die folgende Fassung vom 26.5.2003 (Art. I-51 CONV 724/03) war bereits an die Formulierung des Dialogs mit der Zivilgesellschaft (damals Art. I-46, heute Art. I-47) angeglichen und lautete „einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog“, woran sich später nichts mehr geändert hat. Wenn nun auch nicht das Adjektiv „strukturiert“ verwendet wurde, so ist klar, dass der Dialog, um „offen, transparent und regelmäßig zu sein“, auch einer konkreten Struktur bedarf.33 Die Begriffe „Offenheit“ und „Transparenz“ werden im Europarecht meist synonym verwendet.34 Der Grundsatz der Offenheit, der bei allen Entscheidungen in der Union zu berücksichtigen ist, wurde in Art. 1 Abs. 2 EUV eingeführt und von dort identisch in Art. I-46 Abs. 3 VVE übernommen (vgl. auch Art. III-398f. VVE). Art. I-50 VVE schlüsselt die beiden Aspekte dieses Prinzips auf: Öffentliche Entscheidungsfindung (Abs. 2) und Zugang zu den Dokumenten (Abs. 3). Damit soll erreicht werden, dass die Politik der Union bei den Bürgern verständlicher und nachvollziehbar wird. Auf den religiösen ______________ 32

Einen „strukturierten Dialog“ fordern die folgenden von der COMECE und z.T. auch von der KEK an den Konvent gerichteten Beiträge: vom 21.5.2002, vom 27.9.2002, vom 18.2.2002 und vom 25.3.2003 (alle unter: www.comece.org [9.5.2006]). 33

Vgl. Robbers, Dialog, 755.

34

Vgl. Calliess, Art. 1 EUV, Rn. 34.

384

F. Form, Grundlagen und Ergebnisse des religiösen Dialogs

Dialog übertragen bedeutet das Transparenzprinzip, dass erkennbar sein muss, wer welchen Beitrag eingebracht hat und wie sich dies auf die Entscheidungsfindung ausgewirkt hat. Dazu sind „nachweisbare und praktisch handhabbare Regeln und Strukturen erforderlich“35. In Art. I-52 Abs. 3 VVE jedoch, wo die beiden Begriffe „offen“ und „transparent“ zugleich vorkommen, empfiehlt es sich, sie wie Robbers36 mit unterschiedlichen Bedeutungen zu belegen, denn der Verfassungsvertrag verwendet wohl nicht ohne Grund zwei verschiedene Ausdrücke. Dann behält „transparent“ die soeben dargelegte Bedeutung mit der nach außen an die Allgemeinheit gerichteten Dimension, während „offen“ sich nach innen an die Dialogteilnehmer richtet und bedeutet, dass das Verfahren selbst offen und flexibel ist, dass zwischen den Dialogpartner eine offene Atmosphäre herrscht, dass das Ergebnis des Dialogs offen ist und schließlich dass der Dialog für möglichst viele Teilnehmer offen bleibt.37 In diesem Verständnis können die Prinzipien der Offenheit und der Transparenz durchaus miteinander in Konflikt geraten, denn das Wissen um die Öffentlichkeit der Gespräche und Dokumente (Transparenz) muss nicht unbedingt ein offenes Gespräch fördern. 38 Die katholische Kirche hat den Vorteil, neben dem Dialog nach Art. I-52 Abs. 3 VVE, der dem Prinzip der Transparenz folgt, über den Apostolischen Nuntius auch einen Dialog führen zu können, der sich nach dem Prinzip der diplomatischen Diskretion richtet. Je nach Materie und Umstände kann der eine oder der andere Weg leichter zum Ziel, insbesondere zu einer Einigung führen. Weninger spricht hinsichtlich dieser beiden Wege von einem „perfekten Doppelpassspiel“39. Die Regelmäßigkeit als drittes Prinzip des religiösen Dialogs betrifft die zeitliche Aufeinanderfolge der Kontakte. Wie häufig diese sein sollen, sagt der Verfassungsvertrag nicht,40 wird sich aber vor allem aus zwei Faktoren ergeben, die schon vor dem Verfassungsvertrag den Takt angegeben haben. Der erste Faktor ist der Rhythmus der Unionsorgane selbst. So hat sich bereits ein regelmäßiges Treffen mit der Ratspräsidentschaft eingespielt, die halbjährlich wechselt und damit auch Anhaltspunkte für die Regelmäßigkeit des religiösen ______________ 35

Robbers, Dialog, 756.

36

Ebd. 755f.

37

Ebd, 755.

38

Zu der ähnlichen Frage, ob stille Diplomatie oder Publizität beim internationalen Menschenrechtsschutz effektiver ist, vgl. Karl, Stille Diplomatie, passim. 39 40

Weninger, Aspekte, 101.

Eine dauernde Dialogverweigerung wäre aber auf jeden Fall ein Verstoß gegen Unionsrecht (Waldhoff, Art. I-52 VVE, Rn. 19).

I. Das Dialogverfahren

385

Dialogs liefert.41 In ähnlicher Weise sind die Sitzungsperioden des Europäischen Parlaments zu beachten, wenn die Religionsgemeinschaften ihre Anliegen rechtzeitig einbringen wollen. Den zweiten Faktor bilden die jeweils anfallenden Materien. Wenn nämlich Fragen auf der Tagesordnung stehen, die Kirchen und Religionsgemeinschaften besonders betreffen, ist der Dialog selbstverständlich zu intensivieren. Dies war zu den Zeiten des Grundrechteund des Verfassungskonvents der Fall, oder wenn beispielsweise eine neue Antidiskriminierungsrichtlinie geplant wird. Während der erste Faktor also fix vorgegeben ist und damit Sicherheit dagegen bietet, dass der Dialog dem Zufall oder der Beliebigkeit überlassen wird, ermöglicht der zweite Faktor die nötige Flexibilität, so dass im Zusammenspiel beider das rechte Maß an Regelmäßigkeit zu finden sein wird. Unter dem Stichwort der „Effektivität“ erkennt die Kommission selbst an, dass die Konsultationen in einer Phase stattfinden müssen, in der auf die Entscheidungsfindung noch Einfluss genommen werden kann, und möglicherweise auch in mehr als nur einer Phase.42 Auch räumt sie ein, dass die für Konsultationen verwandte Zeit nicht verloren ist, wenn dadurch bessere Rechtsvorschriften erzielt werden, die rascher verabschiedet und leichter angewandt und durchgesetzt werden können. 43 Anderseits gibt sie aber zu bedenken, dass die Konsultation niemals ein unbegrenzter oder permanenter Prozess sein kann, und behält sich vor, den Konsultationsbedarf selbst von Fall zu Fall zu beurteilen.44 Diese Regel wird angesichts des Art. I-52 Abs. 3 VVE aber nicht mehr haltbar sein, da die Regelmäßigkeit des damit verfassungsmäßig eingerichteten religiösen Dialogs durchaus Dauerhaftigkeit bedeutet und der Zeitpunkt der Kontaktaufnahme nicht von einer Seite allein festgelegt werden kann.45 Mit der ständigen Einrichtung eines Beraters für religiöse Fragen [Abschnitt E.I.2.a)] gibt die Kommission ohnedies schon bisher zu erkennen, dass sie den religiösen Dialog nicht nur sporadisch pflegen will. Wie das Verfahren des religiösen Dialogs nach den drei Grundsätzen des Art. I-52 Abs. 3 VVE tatsächlich eingerichtet wird, lässt sich noch nicht vor______________ 41

Vgl. Treanor, Verhältnis, 131.

42

KOM (2002) 277 endg., 12. Nach Eckert (EU-Verfassung, 30) muss der Dialog sicherstellen, dass die Kirche in der Lage ist, rechtzeitig ihre Stellungnahme abzugeben, wenn die Union Gesetzesvorhaben plant, die kirchlich bedeutsame Bereiche betreffen. 43

Weißbuch, KOM (2001) 428 endg., 26. Vgl. auch Eckert, Riflessioni, 919.

44

KOM(2002)277 endg., 10.

45

Kalinna (Verbindungsstellen, 194) fordert ein kontinuierliches Gespräch mit den Kirchen. Mit Art. I-52 Abs. 3 VVE erhalten die Kirchen, wie Brok betont, einen Rechtsanspruch darauf, von der Politik der EU gehört zu werden, wenn sie meinen, dass sie dazu einen Beitrag zu leisten haben (Politik, 11). Das heißt aber auch, dass sie selbst den Zeitpunkt der Kontaktaufnahme bestimmten können.

386

F. Form, Grundlagen und Ergebnisse des religiösen Dialogs

aussagen. Fest steht aber, dass es konkreter Verfahrensregeln bedarf. Die Kommission erkannte schon in ihrem Weißbuch über „Europäisches Regieren“ die Notwendigkeit, der Konsultationspraxis eine klare und einheitliche Form zu geben, doch zog sie es vor, dies nicht mit allzu starren Gesetzesregeln, sondern durch einen schlichten Verhaltenskodex zu tun, der Mindeststandards festlegt.46 Insbesondere lehnte sie den Vorschlag der Kirchen vorläufig ab, den religiösen Dialog auf eine stabilere Rechtsgrundlage als bloße „Konsultationsstandards“ zu stellen.47 Der zivile Dialog im Umweltbereich hat mit der AarhusKonvention und den sie begleitenden Sekundärrechtsakten bereits eine feste Form erhalten.48 Dann müsste dies auch für den religiösen Dialog möglich sein. Spätestens wenn er verfassungsmäßig verankert wird, läge es nahe, seine konkrete Durchführung doch in einem rechtsverbindlichen Instrument festzulegen, auch wenn Art. I-52 Abs. 3 nicht wie Art. I-50 Abs. 3 VVE die Konkretisierung durch ein Europäisches Gesetz vorsieht. Das Dialogprinzip ist schon bei der Ausarbeitung der Dialogregeln zu beachten, d.h. die Kirchen und Religionsgemeinschaften sind bereits daran zu beteiligen.49 Unter dieser Rücksicht ist es von Vorteil, dass der Verfassungsvertrag das Verfahren nicht näher determiniert, weil so auch die Vorstellungen der Religionsgemeinschaften selbst einfließen können.

4. Kirchliche Vorstellungen von einem Dialogverfahren Welche Vorstellungen hat nun die katholische Kirche in Bezug auf das Dialogverfahren? Soweit der Dialog mit der Europäischen Gemeinschaft vom Apostolischen Nuntius wahrgenommen wird, folgt er den völkerrechtlichen Regeln über den diplomatischen Verkehr deren Beachtung vom Kirchenrecht ausdrücklich eingeschärft wird (c. 362 CIC). Darüber hinaus gibt es kein einheitliches kirchenrechtlich festgelegtes Verfahren für den Dialog mit weltlichen Autoritäten, so dass der Spielraum gewahrt bleibt, ein solches je nach konkreten Gegebenheiten im Einzelfall auszuhandeln. Papst Paul VI. stellte in seiner Enzyklika „Ecclesiam Suam“ Grundsätze für den Dialog mit der Welt auf, die zwar nicht direkt den Dialog mit dem weltlichen Gemeinwesen betreffen, aber mit einigen Anpassungen auch für diesen ______________ 46

Weißbuch, KOM (2001) 428 endg., 5 und 20.

47

KOM (2002) 704 endg., 9 und 22.

48

Vgl. dazu Hummer, Greening, 216: Die Aarhus-Konvention umfasst drei Säulen, nämlich den Zugang zu umweltrelevanten Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung am Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten. 49

Vgl. Martínez de Codes, Religión, 46.

II. Gemeinsame rechtliche Ausgangsbasis für den Dialog

387

fruchtbar gemacht werden können. Mehrere Punkte finden sich in ähnlicher Weise ohnehin auch schon in den Dialogprinzipien der Europäischen Union. So entspricht der Grundsatz der Anpassung an die Eigenart des Partners (Nr. 73 Ecclesiam Suam) der Klausel „in Anerkennung ihrer Identität“ in Art. I-52 Abs. 3 VVE, wenn auch die Zielrichtung gerade umgekehrt ist. Im kirchlichen Dokument ist nämlich die Eigenart des weltlichen Gesprächspartners gemeint, im Verfassungsvertrag hingegen die Identität der verschiedenen Religionsgemeinschaften. Auf jeden Fall ist zu begrüßen, dass sich somit beide Seiten spiegelbildlich bemühen, auf die Besonderheit ihrer jeweiligen Dialogpartner einzugehen. In ähnlicher Weise kann der Grundsatz der Wahrung der Freiheit des Partners (Nr. 69 Ecclesiam Suam) auf Seiten der Europäischen Union im Prinzip der Ergebnisoffenheit des religiösen Dialogs wieder gefunden werden und das Prinzip, dass die Kirche den Dialog grundsätzlich allen ohne Unterschied anbietet (Nr. 70 ebd.) findet sein Pendant im europarechtlichen Diskriminierungsverbot. Als weitere Charakterzüge des Dialogs mit der Welt nennt der Papst Klarheit, Sanftmut, Vertrauen und Klugheit (Nr. 76 ebd.). Keinen Dialog will die Kirche hingegen führen, wo der Partner diesen zurückweist oder nur vortäuscht, ihn führen zu wollen (Nr. 70 ebd.), und dort, wo eine kirchenfeindliche Ideologie die Worte missbraucht und freies Reden unterbindet (Nr. 94f. ebd.). Es versteht sich von selbst, dass es für die Kirche Grenzen der Verhandelbarkeit gibt, denn die sittlichen Grundsätze, mit denen sie sich selbst identifiziert, sowie das göttliche und das Naturrecht stehen ihr nicht zur Disposition. Umgekehrt vertritt auch die Europäische Union verbindliche Werte und Ziele (Art. I-2f. VVE), über die sie nicht einfach hinwegsehen kann. Kirchliche Stellungnahmen liegen auch direkt zum Dialog mit der Europäischen Union vor. So erklärte Kardinalstaatssekretär Sodano, dass unter „strukturiertem Dialog“ ein dauerhafter und formell vorgesehener Dialog zu verstehen ist, der nicht vom Wohlwollen der Gemeinschaftsinstitutionen gegenüber der Kirche abhängig ist und inhaltlich das Leben der Kirchen und Religionsgemeinschaften betrifft.50

II. Gemeinsame rechtliche Ausgangsbasis für den Dialog Jeder Dialog bedarf einer gemeinsamen Ausgangsbasis. Kommunikation scheitert, wenn die Partner unterschiedliche Medien verwenden oder eine Sprache, die der andere nicht versteht. Es müssen bereits Übereinstimmungen vorliegen, damit davon ausgehend argumentiert, überzeugt und schließlich eine weitere Übereinstimmung erzielt werden kann. Auch der Dialog zwischen der ______________ 50

Sodano, Rede vom 19.2.2003, 87.

388

F. Form, Grundlagen und Ergebnisse des religiösen Dialogs

Europäischen Union und den Kirchen und Religionsgemeinschaften bedarf einer gemeinsamen Ausgangsbasis. Insofern die Subjekte dieses Dialogs rechtlich verfasste Institutionen sind und Thema des Dialogs hauptsächlich rechtliche Regelungen sind, ist für diesen Dialog nach einer rechtlichen Basis zu suchen. Als solche werden im Folgenden das Völkerrecht, die allgemeinen Rechtsgrundsätze und die Menschenrechte untersucht. Zum Schluss wird der Blick auf gemeinsame Werte gelenkt, die zwar selbst nicht rechtlich sind, aber im Recht ihren Ausdruck finden können.

1. Völkerrecht als Dialoggrundlage Das klassische Völkerrecht ist jener Rechtsraum, in dem vor allem Staaten miteinander in Beziehung treten und zwar nach ganz bestimmten Prinzipien: 51 Sie treten einander gleichberechtigt in souveräner Gleichheit gegenüber, dürfen sich nicht in die inneren Angelegenheiten der anderen einmischen, sind zur Zusammenarbeit verpflichtet, müssen auf Gewalt verzichten, Streitigkeiten friedlich beilegen, ihre Pflichten nach Treu und Glauben erfüllen usw. Eine solche Völkerrechtsordnung bietet dem Heiligen Stuhl als Völkerrechtssubjekt ideale Voraussetzungen, um gemäß dem eigenen Selbstverständnis seine Beziehungen zu den Staaten zu gestalten. Gewaltverzicht, friedliche Streitbeilegung und bona-fides-Prinzip finden sich auch in der christlichen Botschaft. In einem völkerrechtlichen System, das versucht, Konflikte in erster Linie auf friedliche Art zu lösen, erhält auch eine Institution wie der Heilige Stuhl größeres Gewicht, der ohnehin keine militärische Macht besitzt, sondern auf diplomatische Mittel angewiesen ist und hierbei der Staatengemeinschaft gute Dienste erweisen kann. Vor allem aber schützen die souveräne Gleichheit aller Völkerrechtssubjekte und das Interventionsverbot im Hinblick auf den Heiligen Stuhl auch die Autonomie der geistlichen Macht vor Übergriffen der weltlichen Macht und umgekehrt. Ein völkerrechtliches System, in dem das Prinzip der Gleichberechtigung vorherrscht und eine übergeordnete Weltregierung fehlt, sichert also auch die gegenseitige Unabhängigkeit und Autonomie von Staat und Kirche, was die Voraussetzung für einen herrschaftsfreien Dialog auf gleicher Ebene ist. Sofern sowohl die weltlichen Autoritäten als auch der Heilige Stuhl von der Einhaltung des Völkerrechts ausgehen, stellt es tatsächlich eine gemeinsame Dialoggrundlage dar.52 Sie wird vor allem für den diplo______________ 51

Vgl. „Friendly-Relations-Deklaration“ der UNO und Prinzipienerklärung der KSZE-Schlussakte von Helsinki. 52

Das Völkerrecht erhebt einen universellen Geltungsanspruch. Da die einzelnen Staaten aber ganz unterschiedlichen (Rechts-)Kulturen angehören, stellt Hillgruber die

II. Gemeinsame rechtliche Ausgangsbasis für den Dialog

389

matischen Verkehr und die Verhandlung sowie den Abschluss von Konkordaten genützt – zwei besondere Ausprägungen des kirchlichen Dialogs. Nun ist das klassische Völkerrecht aber bekanntlich im Wandel begriffen, was auch Auswirkungen hat, wenn man es als Grundlage für den religiösen Dialog heranziehen will. Dies soll anhand der folgenden Punkte erläutert werden: Zunahme der Völkerrechtssubjekte: Die Staaten und die Internationalen Organisationen bleiben nicht die einzigen Typen von Völkerrechtssubjekten. Immer mehr kommt das Individuum als Träger vor allem von Grundrechten in den Blick, die es vor internationalen Gerichtshöfen geltend machen kann. Damit tritt es wenigstens als partielles Völkerrechtssubjekt auf und wird nicht mehr in allen Fällen von seinem Heimatstaat mediatisiert.53 Aus christlicher Sicht, derzufolge der Staat nie nur Selbstzweck sein darf, sondern dem Wohl des Einzelnen zu dienen hat, ist diese Entwicklung zu begrüßen. Für den Heiligen Stuhl bedeutet dies, dass sich die einzelnen Gläubigen auf völkerrechtlicher Ebene nun vermehrt selbst gegen Verletzungen der Religionsfreiheit zur Wehr setzen können. Trotzdem wird er seine Rolle als internationaler Wächter über die Einhaltung der Religionsfreiheit nicht verlieren. Er bleibt auf jeden Fall kompetenter Dialogpartner in diesen Fragen. Schließlich erlangen auch internationale Nichtregierungsorganisationen eine immer stärkere Position im internationalen Verkehr und allmählich wird ihnen zumindest partielle Völkerrechtssubjektivität zuerkannt.54 Da sich unter diesen auch religiöse Organisationen befinden, wird der Heilige Stuhl auf lange Sicht nicht das einzige religiöse Völkerrechtssubjekt neben dem souveränen Malteserritterorden bleiben. Das bedeutet, dass das Völkerrecht ebenso für andere Religionen immer mehr die Ausgangsbasis für den religiösen Dialog bilden wird, etwa dadurch, dass ihnen als Nichtregierungsorganisationen ein Konsultativstatus bei Internationalen Organisationen eingeräumt wird. Lockerung des Interventionsverbotes: Nach dem klassischen Völkerrecht darf sich kein Staat in die inneren Angelegenheiten eines anderen einmischen. Aufgrund der wachsenden Interdependenz im internationalen System erscheint eine gegenseitige Einflussnahme zur Verwirklichung von Gemeinschaftsanliegen wie etwa bei den Menschenrechten oder im Umweltschutz aber durchaus

______________

Frage, ob ein universelles Völkerrecht überhaupt möglich ist (Hillgruber, Völkerrecht, 1). 53

Vgl. Neuhold / Hummer / Schreuer, Völkerrechtssubjekte, 665f.

54

Vgl. Hummer, Internationale nichtstaatliche Organisationen, 57.

390

F. Form, Grundlagen und Ergebnisse des religiösen Dialogs

wünschenswert.55 Bedeutet dies, dass sich die Staaten auch stärker in die inneren Angelegenheiten der katholischen Kirche einmischen können? Solange sich Staaten in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten einmischen, beeinträchtigt das zwar die Souveränität, bewegt sich aber immer noch innerhalb des weltlichen Bereichs. Wird jedoch der Heilige Stuhl davon erfasst, so wird die Trennung von Staat und Kirche gefährdet, weil es sich um eine Intervention des weltlichen in den religiösen Bereich handelt. Interventionen, die Druck auf einen Dialogpartner ausüben, auch wenn sie auf Gewalt verzichten, würden den herrschaftsfreien Dialog behindern. 56 Übergeordnete Strukturen: Während das klassische Völkerrecht von der Gleichordnung aller Subjekte ohne übergeordnete Instanz geprägt war, entwickeln sich heute immer stärkere staatenübergreifende Organisationen wie die UNO oder die EG, die in unterschiedlichem Ausmaß ihre Mitgliedstaaten rechtlich binden können.57 Zwar ist eine gemeinsame „Weltregierung“ noch nicht in Sicht, doch gerade in Europa ist die beschriebene Entwicklung auf kontinentaler Ebene schon weit fortgeschritten. Der Heilige Stuhl gerät dadurch in das Dilemma, dass er die internationale Zusammenarbeit einerseits begrüßt und fördern möchte, anderseits sich selbst aber nur begrenzt daran beteiligen kann, um die Eigenständigkeit des geistlichen Bereichs nicht zu gefährden. Unterwürfe er sich nämlich einer supranationalen Organisation, so erhielte die weltliche Gewalt Einfluss über den religiösen Bereich. Zwar ist er, soweit ihm dies aufgrund seiner Eigenart möglich ist, in einigen Internationalen Organisationen wie der IAEA oder der OSZE Vollmitglied, lässt sich bei anderen hingegen nur durch einen Beobachter vertreten. Kann er aber weiterhin von einer UN-Mitgliedschaft Abstand nehmen, nachdem ihr sogar die Schweiz beigetreten ist und die UN-Mitgliedschaft immer mehr als Kriterium für die Völkerrechtssubjektivität neuer Staaten58 angesehen wird? Kann er sich auf Dauer dem neuen Völkerrecht entziehen, das stärker eine Subordinationsstruktur aufweist, und als einziges internationales Rechtssubjekt für sich weiterhin das klassische Völkerrecht mit dem strikten Gleichordnungsprinzip in Anspruch nehmen? Das Völkerrecht bot ihm lange Zeit die Möglichkeit, den Staaten der Welt auf gleicher Ebene zu begegnen und seine im göttlichen Recht begründete Eigenständigkeit zu wahren. Wenn sich das Völkerrecht der Zukunft mehr zu einem „Weltinnenrecht“ entwickelt, wird man möglicherweise ______________ 55

Die Forderung nach Einhaltung der Menschenrechtsverträge stellt keinen Verstoß gegen das Interventionsverbot dar (Hummer, Menschenrechtsschutz, Rn. 1367). 56 Das Interventionsverbot hat eine friedensstiftende Wirkung. Dass diese allmählich wieder stärker ins Bewusstsein tritt, hofft Hillgruber, Völkerrecht, 16. 57

Vgl. Neuhold, Völkerrechtsordnung, Rn. 40f.

58

Vgl. Hillgruber, Völkerrecht, 6.

II. Gemeinsame rechtliche Ausgangsbasis für den Dialog

391

nach einem anderen Instrument suchen müssen, um dasselbe Ziel möglichst gut zu erreichen. Es müsste auf jeden Fall eine Beziehung des Dialogs sein, auch wenn das Völkerrecht nicht mehr als dessen gemeinsame Ausgangsbasis dienen könnte. Jedenfalls sollte die Kirche, wie sie jetzt von den einzelnen Staaten getrennt ist, auch von einem allfälligen „Weltstaat“ getrennt sein, damit eine Verschmelzung von geistlicher und weltlicher Macht um der Freiheit des einzelnen Menschen willen vermieden wird. Gerade wenn die ganze Erde eines Tages einer einzigen weltlichen Autorität unterstehen sollte, wäre es umso dringlicher, dass ihr der Mensch nicht auch noch im spirituellen Leben unterworfen wird. Auch im Mittelalter unterstand fast die ganze damals zugängliche „Welt“ einem einzigen Herrscher, dem Kaiser, doch wurde die Gefahr von Totalitarismen gerade durch den Kontrast mit dem Papst eingedämmt.

2. Allgemeine Rechtsgrundsätze als Dialoggrundlage a) Allgemeine Rechtsgrundsätze in Kirche und EU Sucht man nach einem Rechtssubstrat, das beiden Dialogpartnern, der Europäischen Union und der katholischen Kirche, gleichermaßen eigen ist, so wird man es kaum in konkreten Rechtsvorschriften finden können, die beiden gemeinsam wären, weil es keinen für beide gleichermaßen gültigen Normkomplex gibt. Man kann aber über die Rechtsvorschriften hinaus zur höheren Abstraktionsebene der allgemeinen Rechtsgrundsätze aufsteigen. Solche finden sich in jeder Rechtsordnung: In der kirchlichen (c. 19 CIC, c. 1501 CCEO), in den staatlichen (in Österreich: Art. 9 Abs. 1 B-VG, § 7 ABGB), im Völkerrecht (Art. 38 Abs. 1 lit. c IGH-Statut) und sogar im EU-Recht (Art. 6 Abs. 2 EUV, Art. 288 EGV).59 Diese Rechtsgrundsätze können aber verschiedene Allgemeinheitsgrade aufweisen, je nach dem, ob sie nur in einem bestimmten Rechtsgebiet wie etwa dem Strafrecht oder in einer ganzen Rechtsordnung wie etwa dem Völkerrecht vorhanden sind. Nun erhebt sich die Frage, ob es auch Rechtsgrundsätze gibt, die so allgemein sind, dass sie wirklich „allen gemein“ sind und in allen oder wenigstens in mehreren Rechtsordnungen vorkommen, so dass sie eine Brücke zwischen ihnen bilden können, wie etwa zwischen dem Kirchenrecht und dem Unionsrecht. Was das Kirchenrecht betrifft, so findet sich in der Lückenfüllungsregel des c. 19, der einzigen Stelle im CIC, die von allgemeinen Rechtsgrundsätzen spricht, einfach der Ausdruck „generalibus iuris principiis“, ohne dass ein ______________ 59 Allgemeine Rechtsgrundsätze als Quellen für das EU-Recht: Vgl. Gaitanides, Art. 220 EGV, Rn. 11; Huber, Art. 220 EGV, Rn. 13; Sitta, Interpretationsmethoden, 343.

392

F. Form, Grundlagen und Ergebnisse des religiösen Dialogs

Bezug zu einer bestimmten Rechtsordnung hergestellt würde, der sie angehören.60 Im Schema NormGen hingegen lautete die entsprechende Passage in c. 20 „generalibus iuris canonici [!] principiis“ und hätte also nur die allgemeinen Rechtsgrundsätze des kanonischen Rechts umfasst. Nachdem sich die Konsultoren aber darauf geeinigt hatten, das Adjektiv „canonicus“ mit „aequitas“ zu verbinden,61 war in den folgenden Schemata bis hin zum CIC/1983 wie schon in c. 20 CIC/1917 schlichtweg von den allgemeinen Rechtsgrundsätzen die Rede. Das bedeutet, dass Lücken im kirchlichen Recht mit Hilfe von Rechtsgrundsätzen nicht nur des kanonischen Rechts, sondern auch des weltlichen Rechts oder anderer religiöser Rechte geschlossen werden können. 62 Die Offenheit des kanonischen Rechts für allgemeine Rechtsgrundsätze des weltlichen Rechts zeigt sich abgesehen von c. 19 CIC auch darin, dass der Heilige Stuhl als Völkerrechtssubjekt internationale Kodifikationen solcher Prinzipien unterzeichnet hat – etwa die 10 Prinzipien der KSZE-Schlussakte von Helsinki 1975 – und auch selbst zur Entwicklung vieler von ihnen beigetragen hat. 63 Diese „Öffnung des kanonischen Rechts auf das gemeinsame Rechtserbe der Menschheit“ ist, wie Pree treffend hervorhebt, von eminenter Bedeutung „für seine Kommunikabilität mit den übrigen Rechtsordnungen“64. Der Dialog mit der Europäischen Union bedarf gerade dieser „Kommunikabilität“ der Rechtsordnungen. Nach lateinischem Kirchenrecht liefern die allgemeinen Rechtsgrundsätze tatsächlich eine kommunikative Dialoggrundlage. Unverständlich ist, warum c. 1501 CCEO gegen den CIC/1917 und den CIC/1983 wieder in die Formulierung des Schemas NormGen zurückfällt und nur die allgemeinen Grundsätze des kanonischen Rechts zur Lückenschließung zulässt, da sich doch gerade das Ostkirchenrecht sonst besonders offen für andere Rechtsordnungen zeigt. Aber selbst wenn es nur die Grundsätze des kanonischen Rechts anerkennt, so ist nicht ausgeschlossen, dass diese trotzdem mit dem einen oder anderen Grundsatz auch des weltlichen Rechts de facto übereinstimmen. C. 1501 CCEO bestimmt nur, was zur Lückenschließung heranzuziehen ist, ______________ 60 Allgemeine Rechtsgrundsätze erfüllen neben der Lückenschließung noch andere wichtige Funktionen, vgl. Pree, Generalia iuris principia, 49-52. 61

Comm 23 (1991) 158. Bei der Diskussion war allerdings nur die Rede davon, dem Ausdruck „aequitas“ ein „canonicus“ beizufügen, nicht jedoch dieses Adjektiv gleichzeitig von „ius“ wegzunehmen. Vgl. dazu Otaduy, c. 19, in: ComEx, 389. 62

Nach der heute gängigen Lehre können auch nichtkanonische allgemeine Rechtsgrundsätze herangezogen werden, solange sie nur kanonischem Recht nicht widersprechen, vgl. Aymans / Mörsdorf, Lehrbuch I, 186; Pree, Generalia iuris principia, 42. 63

Vgl. Buonomo, Considerazioni, 21f. und ders., Holy See, 28.

64

Pree, Generalia iuris principia, 42.

II. Gemeinsame rechtliche Ausgangsbasis für den Dialog

393

lässt aber die Frage der Bedeutung weiterer allgemeiner Rechtsgrundsätze für die gesamte Rechtsordnung unberührt. Wie lassen sich allgemeine Rechtsgrundsätze finden? Sie können im Kirchenrecht explizit erwähnt oder darin implizit vorhanden sein, sich aus der bisherigen kanonischen Tradition ergeben, wobei den Regulae iuris im Liber Sextus von Papst Bonifaz V. besondere Bedeutung zukommt, oder aus dem römischen Recht bzw. den zeitgenössischen weltlichen Rechtsordnungen entnommen werden.65 Was das EU-Recht betrifft, so werden allgemeine Rechtsgrundsätze in Art. 288 EGV, in Art. 188 EAGV und in Art. 6 Abs. 2 EUV erwähnt.66 Die Stellen in EGV und EAGV verweisen hinsichtlich der Haftung der Gemeinschaften übereinstimmend auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind. Der EuGH wendet die allgemeinen Rechtsgrundsätze aber über die Amtshaftung hinaus zur Lückenschließung an, besonders im allgemeinen Verwaltungsrecht und bei den Grundrechten.67 Die Stelle im EUV spricht von den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts, die sich aus der EMRK und den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben.68 Die nach EU-Recht anerkannten Rechtsgrundsätze sind also in dem Sinn allgemein, dass sie entweder die Gemeinschaftsrechtsordnung selbst durchziehen oder aus den ihr nahe stehenden Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten bzw. der EMRK abstrahiert werden.69 Ein höherer Allgemeinheitsgrad in dem Sinn, dass die Grundsätze auch noch weiteren Rechtsordnungen gemeinsam sein sollten, ist nicht gefordert, aber auch nicht ausgeschlossen. 70 Es ist also durchaus möglich, dass ______________ 65

Vgl. Socha, in: MKCIC, c. 19, Rn. 9.

66

Dem Rang nach bilden sie echtes gemeinschaftsrechtliches ius cogens (Rodríguez Iglesias, Verfassung, 128) und sind jedenfalls Gültigkeitsmaßstab des Sekundärrechts (Wegener, Art. 220 EGV, Rn. 32). 67

Vgl. Schweitzer / Hummer, Europarecht, Rn. 15.

68

Hilf / Schorkopf (Art. 6 EUV, Rn. 46) unterscheiden die hier genannten „allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts“ von dem, was gemeinhin mit allgemeinen Rechtsgrundsätzen gemeint ist. Das kann aber wohl nicht bedeuten, dass die beiden Begriffe distinkt wären, sondern nur, dass der Erste der speziellere ist. 69

Nach Schweitzer / Hummer (Europarecht, Rn. 15) bezeichnet der Begriff der allgemeinen Rechtsgrundsätze sowohl die der Gemeinschaftsrechtsordnung selbst inhärenten als auch die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsamen allgemeinen Rechtsgrundsätze. 70 Nach Gilsdorf / Niejahr (Art. 288, Rn. 14) reicht die rechtsschöpferische Aufgabe, die Art. 288 EGV dem EuGH anvertraut, an jene des IGH heran, der nach Art. 38 Abs. 1 lit. c seines Statuts die von den „zivilisierten“ Staaten anerkannten allgemeinen Rechts-

394

F. Form, Grundlagen und Ergebnisse des religiösen Dialogs

allgemeine Rechtsgrundsätze, die im EU-Recht anerkannt sind, mit solchen übereinstimmen, die im Kirchenrecht anerkannt sind. Im Folgenden werden einige dieser Beispiele vorgestellt, die als Basis für den religiösen Dialog relevant werden könnten.

b) Beispiele für allgemeine Rechtsgrundsätze Quod omnes tangit, debet ab omnibus approbari: Die Nr. 29 der Regulae Iuris in VI° betont die Notwendigkeit, dass eine Sache von den durch sie Betroffenen gebilligt wird. Im aktuellen Gesetzbuch der lateinischen Kirche findet sich dieser Grundsatz in c. 119 ° 3.71 Im EU-Recht ist er ein Element des Demokratieprinzips (vgl. Art. 6 Abs. 1 EUV). Er bringt einen Grundgedanken des europäischen religiösen Dialogs zum Ausdruck, insofern die Religionsgemeinschaften, die von Maßnahmen der Union betroffen sind, im Voraus dazu befragt werden sollen. Außer dort, wo konkordatär zugesicherte (Art. 301 Abs. 1 EGV) oder zu ihrem nationalen Status gehörende (Schlusserklärung Nr. 11 zum Vertrag von Amsterdam) Rechte betroffen sind, wird ihnen aber wohl kein Zustimmungs-, sondern nur ein Anhörungsrecht zugestanden. Nach der Definition der Europäischen Kommission72 ist unter Konsultation der Prozess zu verstehen, in dessen Rahmen sie die betroffenen externen Parteien – darunter auch Kirchen und Religionsgemeinschaften – vor einem Beschluss des Kollegiums in die Politikgestaltung einbeziehen möchte. Bona fides: Das bona-fides-Prinzip (Treu und Glauben) ist einer der wichtigsten allgemeinen Rechtsgrundsätze im Völkerrecht.73 So ging es in mehrere Kodifikationen ein, nach denen Verpflichtungen gemäß Treu und Glauben einzuhalten sind.74 Im Bereich der EU hat der EuGH den Vertrauensschutz als ______________

grundsätze des Völkerrechts anzuwenden hat. In die völkerrechtfreundliche EGRechtsordnung wirken natürlich auch die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Völkerrechts herein. 71

Allerdings ist er hier doppelt eingeschränkt: Erstens geht es in diesem Zusammenhang nur um Akte eines Kollegiums, und zweitens müssen die Einzelnen wegen des Zusatzes „uti singulos“, der sich in der Formulierung des Liber Sextus nicht findet, in ihren subjektiven Rechten oder rechtlich geschützten Interessen betroffen sein. Vgl. Pree, in: MKCIC, c. 119, Rn. 8. 72

KOM (2002) 277 endg., 10.

73

Vgl. Schweitzer / Weber, Völkerrechtspraxis, Rn. 292.

74 Vgl. Art. 2 Abs. 2 SVN; Art. 26 und 31 Abs. 1 WVK; Friendly-RelationsDeklaration (UN Res. 2625); Prinzip X der KSZE-Schlussakte von Helsinki.

II. Gemeinsame rechtliche Ausgangsbasis für den Dialog

395

Grundsatz der Verwaltung herausgearbeitet.75 Der Schutz der bona fides durchzieht auch das Kirchenrecht, etwa bei der Suppletion (c. 144 CIC), bei Ersitzung und Verjährung (c. 198 CIC) oder bei der Putativehe (c. 1061 § 3 CIC). Für den Dialog ist dieses Prinzip grundlegend, weil er zum Scheitern verurteilt wäre, wenn die Äußerungen der Partner nicht nach Treu und Glaube interpretiert und auf das gegebene Wort nicht vertraut werden könnte. Auf Seiten der Europäischen Union drückt sich dies im Prinzip der Offenheit des Dialogs aus (Art. I-52 Abs. 3 VVE), auf Seiten der Kirche in der Forderung nach einem offenen bzw. aufrichtigen Dialog (dialogus / colloquium apertus bzw. sincerus in Art. 21 Abs. 6, Art. 86 Abs. 3, Art. 92 Abs. 1 und 4 GS). Verhältnismäßigkeitsgrundsatz: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz kommt in vielen Fragen des Unionsrechts zum Tragen. Ausdrücklich vorgegeben wird er in Art. 5 Abs. 3 EGV, in Protokoll Nr. 30 zum EGV und in der Erklärung Nr. 43 der Schlussakte des Vertrags von Amsterdam. Im Kirchenrecht wird weniger vom Verhältnismäßigkeitsprinzip gesprochen, doch findet es sich der Sache nach auch hier, ist es doch ein Aspekt der aequitas canonica (c. 19 und c. 1752 CIC) und ein formales Handlungsprinzip, das zwar selbst nicht Recht, aber der unverfügbare Handlungsmaßstab der kirchlichen Rechtsordnung ist. 76 Die Europäische Kommission betont in ihrem Weißbuch über „Europäisches Regieren“ an mehreren Stellen, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz die Entscheidungsfindung in der Europäischen Union kennzeichnen muss, zu der ebenso der Dialog mit den Organisationen der Zivilgesellschaft und den Kirchen und Religionsgemeinschaften gehört. Qui tacet, consentire videtur: Die Nr. 43 der Regulae iuris in VI°, auf Deutsch „Wer schweigt, scheint zuzustimmen“77, ist gerade im Kontext von Dialogrechten von Bedeutung, nach denen eine Partei ein Zustimmungs-, Anhörungs- oder Informationsrecht besitzt. Im internationalen Umweltrecht muss der potentielle Schädiger den potentiell beeinträchtigten Staat über sein Vorhaben informieren. Nimmt, dieser die Information widerspruchslos hin, ist späterer Widerspruch nicht mehr möglich.78 Nun kann aber längst nicht jedes Schweigen als Zustimmung gewertet werden. Wenn sich eine Religionsge______________ 75

Vgl. EuGH, Rs. 205-215/82, Milchkontor; Rs. 170/86, von Deetzen. Dazu dienen auch die Prinzipien der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und das Öffentlichkeitsprinzip (vgl. Wegener, Art. 220 EGV, Rn. 34f.). 76

Vgl. Heimerl / Pree, Kirchenrecht, 15.

77

Ein Beispiel dafür ist c. 1524 § 3 CIC bzw. Art. 150 § 2 DignCon: Verzichtet eine Partei auf die Rechtshängigkeit, so muss die Gegenpartei, um die Beendigung des Verfahrens zu verhindern, dem widersprechen. Schweigt sie, so gilt dies als Zustimmung. 78

Zehetner, Umweltschutzrecht, Rn. 2247.

396

F. Form, Grundlagen und Ergebnisse des religiösen Dialogs

meinschaft im religiösen Dialog mit der Europäischen Union zu irgendeinem Legislativentwurf nicht äußert, heißt das selbstverständlich nicht, dass sie damit einverstanden wäre. Dafür wäre auf jeden Fall zu verlangen, dass sie davon Kenntnis erlangt hätte und zur Stellungnahme aufgefordert worden wäre, diese aber innerhalb der gesetzten Frist unterlassen hätte. Solange ihre Teilnahme am religiösen Dialog aber freiwillig ist und sie keine Pflicht zur Stellungnahme hat, kann ihr Schweigen keine für sie nachteiligen Rechtsfolgen nach sich ziehen. Insbesondere verliert sie nicht das Recht, den Rechtsakt, wenn er schließlich zustande gekommen sein sollte, gerichtlich zu bekämpfen. Nullus ex consilio, dummodo fraudulentum non fuerit, obligatur: Die Nr. 62 der Regulae iuris in VI° hat die Unverbindlichkeit eines Ratschlags zum Gegenstand: Niemand verpflichtet sich durch einen Rat, solange er nicht arglistig gegeben wurde. Diese Regel ist wichtig für den religiösen Dialog, in dem es hauptsächlich um Konsultation und Beratung geht. Die konsultierten Kirchen und Religionsgemeinschaften müssen ihre Stellungnahmen aufrichtig abgegeben, haften aber nicht dafür. Zwar erinnert die Europäische Kommission an die Verantwortlichkeit79 der Konsultationspartner, doch muss sie es letztlich selbst verantworten, ob sie ihrem Rat folgt oder nicht. Pacta sunt servanda: Dieser oft als Beispiel angeführte allgemeine Rechtsgrundsatz mahnt die Einhaltung von Verträgen ein.80 Er zeigt sich sowohl im EU-Recht, insbesondere in Art. 10 und 307 EGV, als auch im Kirchenrecht, etwa in c. 3 CIC und c. 4 CCEO.81 Für den religiösen Dialog ist er einerseits bedeutsam, weil der Dialog mit einer bestimmten Religionsgemeinschaft auf der Grundlage einer Vereinbarung mit der Europäischen Kommission geführt werden kann, und anderseits, weil die Möglichkeit besteht, das Ergebnis des Dialogs in der Form eines Vertrags zu fixieren. Nemo potest ad impossibile obligari: Die Nr. 6 der Regulae Iuris in VI°, wonach niemand zu Unmöglichem verpflichtet werden kann, gehört auch im weltlichen Recht zu den weithin anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen. Der gleichbedeutende Grundsatz ultra posse nemo obligatur / tenetur wird in mehreren EuG-Urteilen zitiert.82 Im religiösen Dialog ist er insofern zu beachten, als die Möglichkeiten beider Partner begrenzt sind. Die Europäische Union besitzt nur diejenigen Kompetenzen, die ihr zugewiesen wurden (Art. 5 EUV, ______________ 79

Vgl. Verantwortlichkeit auf beiden Seiten als ein Grundsatz der Konsultationsverfahren, in Punkt IV KOM (2002) 277 endg. 80

Z.B. Schweitzer / Weber, Völkerrechtspraxis, Rn. 301.

81

Vgl. Buonomo, Holy See, Rn. 29.

82

EuG, Rs. T-80/97, Stairway, Nr. 112; Rs. T-247/01, eCopy, Rn. 47; Rs. T-402/02, Storck, Rn. 96.

II. Gemeinsame rechtliche Ausgangsbasis für den Dialog

397

Art. 5 Abs. 1 EGV), und kann sich darüber hinaus zu nichts verpflichten. Der katholischen Kirche ist mit dem göttlichen Recht eine Grenze gesetzt und sie darf ihren Sendungsauftrag nicht überschreiten. Diese Grenzen sind im religiösen Dialog zu beachten, um vom Dialogpartner nichts zu verlangen, was er nicht erfüllen kann.

3. Menschenrechte als Dialoggrundlage Auch die Menschenrechte können als gemeinsame Ausgangsbasis für den Dialog dienen. Da dieser Dialog zwischen der religiösen und der weltlichen Autorität letztlich dem Menschen dienen will, der gleichzeitig in einer religiösen und in einer weltlichen Rechtsordnung Rechtssubjekt ist, muss er selbstverständlich von dessen grundlegenden und unveräußerlichen Rechten ausgehen. Darauf gestützt können die Dialogpartner ihre Argumente vorbringen und sich einer gemeinsamen Lösung annähern. Die Menschenrechte stellen einen Gegenstand dar, der – etwa im Unterschied zu den geoffenbarten Heilswahrheiten – dem politischen und dem religiösen Bereich gemeinsam ist und über den deshalb auch eine Verständigung über die Grenzen von Gläubigen und Nichtgläubigen hinweg möglich ist.83 Dabei muss die Natur keineswegs von der Gnade abgekoppelt werden, da für den gläubigen Menschen die grundlegenden Rechte auf jeden Fall auf Gottes Handeln zurückgehen. 84 Es ist jedoch zwischen Menschenrechten und Grundrechten zu unterscheiden. Erstere kommen dem Menschen kraft seiner personalen Würde von sich aus zu, während Letztere die in einer konkreten Rechtsordnung positivierten Freiheitsrechte sind.85 Als solide Grundlage für den Dialog können die Rechte nun nicht herangezogen werden, solange sie viel zu vage und unbestimmt im nicht fassbaren Wesen des Menschen verbleiben, sondern erst wenn sie eine konkrete, ausformulierte und unmittelbar bindende Form annehmen. Da diese aber von einer Rechtsordnung zur anderen divergieren kann, ist zu untersuchen, wie weit die Rechtsordnungen der Kirche und der Europäischen Union einen ______________ 83 Für den Dialog mit den zivilen Autoritäten, die den christlichen Glauben nicht teilen, soll man Tettamanzi (Chiesa, 559) zufolge wenigstens dem Naturrecht und den darin gründenden Menschenrechten folgen. 84 Die Menschenrechte widersprechen der Gnade nicht, da gerade sie vom Menschen nicht durch irgendein Verdienst oder eine Vorleistung erworben werden, sondern ihm einfach deshalb zukommen, weil er Mensch ist. 85 Breitsching, Menschenrechte, 191. Vgl. auch die Unterscheidung Albers (Charta der Grundrechte, 300) in Menschenrechte, Grundrechte und Bürgerrechte.

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F. Form, Grundlagen und Ergebnisse des religiösen Dialogs

übereinstimmenden Bestand an Grundrechten aufweisen, der tatsächlich eine brauchbare Dialoggrundlage darstellt.86

a) Die Entwicklung der Grundrechte in EU und Kirche Der Schutz der Grundrechte in der Europäischen Union wurde bereits in Abschnitt B.I.2. behandelt. Dabei hat sich gezeigt, dass die Europäische Union ihren Grundrechtsschutz nur zögernd und lückenhaft entwickelte. Somit hat sie der katholischen Kirche in diesem Punkt nichts voraus. Was diese betrifft, so wurde bereits in Abschnitt B.II.2. dargelegt, dass sie ihre offizielle Haltung zu den Menschenrechten in der Mitte des 20. Jahrhunderts gewandelt hatte. Seither mehrten sich auch die Stimmen derer, die sich nicht damit begnügen wollten, dass die Kirche die Einhaltung der Menschenrechte von den politischen Gewalten einfordert. Stattdessen verlangten sie von der Kirche selbst eine Bindung an die Menschenrechte. Andernfalls mache sie sich unglaubwürdig.87 Außerdem übt auch die Kirche Hoheitsgewalt aus und gerade sie muss dabei Willkür und Missbrauch ausschließen. 88 Die Glieder der Kirche sind deren Hoheitsgewalt allerdings nicht in demselben Maße ausgeliefert wie der staatlichen, weil ihre Mitgliedschaft auf Freiwilligkeit beruht. 89 Vor allem aber entspricht der Inhalt der Menschenrechte ohnehin der Botschaft des Evange______________ 86

Grundrechte haben gegenüber einem „Weltethos“ als gemeinsamer Dialogrundlage den Vorzug, dass sie bereits ausformuliert und mehrfach rechtlich fixiert worden sind, so dass man sich auf sie berufen kann (Honecker, Menschenrechte, 108). 87

Barwig, Geltung, 307; Huber, Grundrechte, 531.

88

Barwig, Geltung, 304; Breitsching, Menschenrechte, 197; Brieskorn, Menschenrechte, 12. 89 Barwig, Geltung, 303. Aymans warnt zwar vor einer verführerischen Analogie zwischen weltlichen Menschenrechten und kirchlichen Grundrechten, weist jedoch eine Beeinflussung der kirchlichen Rechtsordnung durch weltliche Menschenrechtskataloge nicht von der Hand und gesteht auch die Notwendigkeit ein, willkürliche Machtausübung in der Kirche zu vermeiden. Ihm zufolge ist das Verhältnis der Gläubigen zur sacra potestas aber nicht einfach mit dem Verhältnis des Bürgers zur potestas civilis gleichzusetzen, weil der Gläubige seine Rechtsstellung in der Kirche erst durch seine Eingliederung von ihr erhält (Aymans, Grundrechte, 396 und 400f.). Ähnlich hat bereits Hinder argumentiert, wenn er bemängelt, dass die Fragestellung nach innerkirchlichen Grundrechten zu sehr von der Faszination durch die Menschenrechte und Modelle staatlicher Grundrechtsordnung bestimmt gewesen sei (Grundrechte, 255), er aber gleichzeitig zugesteht, dass innerkirchliche Grundrechte und Menschenrechte sind nicht inkommensurabel sein dürfen, weil die Heilsordnung die Naturordnung nicht zerstört, sondern sie integriert und vollendet (Grundrechte, 259).

II. Gemeinsame rechtliche Ausgangsbasis für den Dialog

399

liums, nach der zu leben sie bestrebt ist.90 Da die Kirche die Menschenrechte sowohl theologisch als auch naturrechtlich begründet und damit ihre Allgemeingültigkeit bekräftigt, kann sie sich nicht selbst von ihrer Geltung ausnehmen. Ist die innerkirchliche Geltung der Menschenrechte einmal zugestanden, so kann sie auf zweierlei Weise konkretisiert werden: Durch Schaffung eines kircheneigenen Grundrechtskatalogs oder durch Bindung an einen schon vorhandenen weltlichen. Die erste Möglichkeit wird im nächsten Abschnitt, die zweite im übernächsten erörtert. Dabei wird jeweils ein Vergleich zur Europäischen Union gezogen, denn auch diese stand und steht vor der Wahl, sich einem bereits vorhandenen Grundrechtsregime anzuschließen, oder selbst einen Grundrechtskatalog auszubilden.

b) Grundrechtsschutz durch einen eigenen Grundrechtskatalog Europäische Union: Wegen des mangelhaften Grundrechtsschutzes in den Europäischen Gemeinschaften kamen bald Versuche auf, sie an einen geschriebenen Grundrechtskatalog zu binden. Die verschiedenen GrundrechtsErklärungen von Parlament, Rat und Kommission blieben jedoch wirkungslos, weil sie rein deklaratorischen Charakter hatten. 91 Für einen Beitritt zur EMRK fehlt nach einem Gutachten des EuGH die Zuständigkeit. Die Grundrechtecharta von Nizza hat den Status einer interinstitutionellen Erklärung, nicht jedoch einer interinstitutionellen Vereinbarung,92 würde aber als Teil II des VVE Verfassungsrang erhalten. Bis dahin entbehrt die Union aber eines geschriebenen und rechtsverbindlichen Grundrechtskatalogs. Kirche: Die katholische Kirche hingegen gab sich mit dem CIC von 1983 tatsächlich einen eigenen Grundrechtskatalog. Nach den Prinzipien für die Kodexreform93 sollte das neue kirchliche Gesetzbuch die Rechte der Person gegenüber missbräuchlicher Ausübung der Gewalt sicherstellen (Prinzip 6) und auch die Verfahrensweise zum Schutz subjektiver Rechte festlegen (Prinzip 7). Schon das Schema LEF 1969 bekräftigte in c. 3, dass die Kirche allen Menschen die Rechte zuerkennt, die aus ihrer Würde fließen. Der LEF-Entwurf von 1971 nahm in c. 10 das Prinzip von Art. 32 Abs. 2 LG auf, wonach es in der Kirche keine Ungleichheit aufgrund von Rasse, Volkszugehörigkeit, sozialer Stellung oder Geschlecht gebe, doch wurde dieser Satz in c. 9 des Entwurfs von ______________ 90

Barwig, Geltung, 365; Breitsching, Menschenrechte, 197; Huber, Grundrechte,

525. 91

Vgl. Klecatsky, Menschenrechte, 10.

92

Hummer, Status, 56.

93

Comm 1 (1968) 77-85.

400

F. Form, Grundlagen und Ergebnisse des religiösen Dialogs

1976 bereits gestrichen.94 Als das Vorhaben einer LEF schließlich überhaupt aufgegeben wurde, ging der Grundrechtekatalog in das zweite Buch des CIC „De Populo Dei“ ein, womit er seine Stellung als höherrangiges Recht verlor. Die Lehre spricht ihm dennoch mit guten Gründen eine höhere Rechtsstufe zu.95 Die kirchlichen Grundrechte werden den „christifideles“, also den Getauften (c. 204 CIC), zugesprochen, was aber nichts daran ändert, dass es sich qualitativ um Menschenrechte handelt. Da die Rechtsordnung der Kirche in erster Linie für ihre eigenen Mitglieder gilt (c. 1 und c. 11 CIC), konkretisiert sie die Menschenrechte eben besonders im Hinblick auf diese. So wie auch staatliche Grundrechte dem Wortlaut nach bisweilen auf eigene Staatsbürger beschränkt, aber der Sache nach allen Menschen gewährt werden (z.B. Art. 12 StGG), so kann auch der Gegenstand mancher Christenrechte von Nichtchristen verwirklicht werden. Beispielsweise kann gemäß c. 1674 ° 1 CIC auch ein nichtgetaufter Ehegatte eine Nichtigkeitsklage erheben und damit das Recht auf Rechtsschutz nach 221 § 1 CIC geltend machen; soweit sich das Recht auf Sakramentenempfang (c. 213 CIC) auf die Taufe bezieht, kann es sogar ausschließlich von Nichtgetauften in Anspruch genommen werden (c. 864 CIC). Die Christenrechte der kirchlichen Gesetzbücher sind daher als besondere Konkretisierungen von Menschenrechten anzusehen, nicht als ein aliud.96 Da auch das Projekt einer eigenen Verwaltungsgerichtsbarkeit fallen gelassen wurde, sind die kirchlichen Grundrechte nur im Wege eines ordentlichen Gerichtsverfahrens (c. 1491 CIC), eines hierarchischen Rekurses gegen Verwaltungsakte (cc. 1732ff. CIC) oder durch eine direkte Anrufung der Apostolischen Signatur (c. 1445 CIC) durchsetzbar.97 Eine weitere Schwäche des kirchlichen Grundrechtekatalogs liegt in den zahlreichen und unpräzisen Gesetzesvorbehalten, zu denen die generelle Einschränkung der Grundrechte durch c. 223 CIC hinzukommt.98 Dennoch kann es nicht hoch genug geschätzt werden, dass die kirchliche Rechtsordnung 1983 erstmals einen geschriebenen, ______________ 94

Puza, Menschenrechte, 160.

95

Vgl. Breitsching, Menschenrechte, 199; Puza, Menschenrechte, 167.

96

Die gegenteilige Ansicht, die den Christenrechten den Menschenrechtscharakter absprechen möchte, wird von Krämer mit den Argumenten entkräftet, dass die Anknüpfung der Christenrechte an die Menschenrechtsidee unverkennbar ist, dass sie wie die Menschenrechte einen subjektiven Freiheitsraum gegen willkürliches Amtshandeln gewähren wollen und dass sie insofern fundamental sind, als sie die Grundstellung der Gläubigen in der Kirche rechtlich näher umschreiben (Krämer, Idee, 238.). 97 98

Vgl. Barwig, Geltung, 298.

Puza, Menschenrechte, 166. Gerade diese horizontale Schrankenklausel findet aber eine bemerkenswerte Parallele im Bereich der Europäischen Union, denn auch der Grundrechtecharta stellte man eine derartige Klausel nach (Art. 52 Abs. 1).

II. Gemeinsame rechtliche Ausgangsbasis für den Dialog

401

rechtsverbindlichen Grundrechtekatalog erhielt, was der Europäischen Union immer noch fehlt.

c) Übernahme von Grundrechten aus anderen Rechtskreisen Europäische Union: Statt einen eigenen Grundrechtskatalog zu schaffen, beschritt die Europäische Union den Weg, ihre Grundrechte aus anderen Rechtskreisen zu gewinnen, nämlich aus den Rechtsordnungen ihrer Mitgliedstaaten und aus der EMRK. Der EuGH verwendet diese jedoch nicht als Rechtsquellen, sondern nur als Rechtserkenntnisquellen, aus denen er im Wege der Rechtsvergleichung die Gemeinschaftsgrundrechte autonom herleitet. Dabei unterliegen sie Einschränkungen, die sich aus dem öffentlichen Interesse, d.h. aus den dem allgemeinen Wohl dienenden Zielen der Gemeinschaft ergeben. Folglich müssen sie sich in die Gemeinschaftsrechtsordnung einfügen, solange sie nicht in ihrem Wesen angetastet werden. 99 Eine ähnlich weitgehende Grundrechtsbeschränkung zugunsten des Gemeinwohls einer Gemeinschaft begegnet auch in c. 223 CIC. Sie lässt sich jedoch bei einer Glaubensgemeinschaft mit freiwilliger Mitgliedschaft leichter rechtfertigen als bei einem weltanschaulich neutralen Gemeinwesen mit obligatorischer Zugehörigkeit. Bedenklich ist außerdem der Rechtsschutz, zumal das Unionsrecht keinen Individualrechtsschutz gegen Normen und keine individuellen Leistungs- und Feststellungsklagen kennt.100 So weit ersichtlich, sind Maßnahmen des Gemeinschaftsgesetzgebers bislang noch nie wegen eines Verstoßes gegen Unionsgrundrechte für ungültig erklärt worden.101 Diese rein prätorische Grundrechtsfindung hat außerdem den Nachteil, dass die einzelnen Personen im Voraus noch gar nicht wissen, welche Grundrechte ihnen zustehen, weil der EuGH noch nicht über alle zu urteilen hatte.102 Kirche: Die Übernahme von Grundrechten aus fremden Rechtskreisen, könnte die Kirche dadurch verwirklichen, dass der Heilige Stuhl einer internationalen Menschenrechtskonvention, eventuell samt internationaler Rechtsprechung, beitritt. Kontinentale Konventionen kommen dafür nicht in Betracht, da die Kirche die gesamte Welt umspannt, so dass im Grunde nur die beiden UNMenschenrechtspakte von 1966 übrig bleiben. Dieser Weg ist aber aus mehreren Gründen abzulehnen:103 Erstens würde sich die Kirche damit einem weltli______________ 99

Streinz, Europarecht, Rn. 360.

100

Ehlers, Allgemeine Lehren, Rn. 54.

101

Ebd. Rn. 5.

102

Klecatsky, Menschenrechte, 7.

103

Vgl. Cardia, Soggettività, 319f., 328 und 331.

402

F. Form, Grundlagen und Ergebnisse des religiösen Dialogs

chen Menschenrechtsregime unterwerfen, womit die Trennung von Kirche und weltlicher Autorität aufgehoben und die Eigenständigkeit der Kirche beseitigt würde.104 Zweitens können nicht alle Grundrechte in Staat und Kirche inhaltlich identisch sein, weil beide zwar Hoheitsgewalt ausüben, aber jener im weltlichen und diese im geistlichen Bereich. Vom Staat die Erfüllung des Grundrechts auf Sakramentenempfang (c. 213 CIC) zu fordern, wäre daher ebenso absurd wie die Geltendmachung des Rechts auf Wehrdienstverweigerung gegen die Kirche. Da sie eine Glaubensgemeinschaft ist, die sich gerade durch einen allen Angehörigen gemeinsamen Glauben konstituiert (c. 205 CIC: vinculum professionis fidei), muss sie die Meinungsfreiheit stärker beschränken können als der Staat.105 Drittens würde sich die Kirche mit der Unterwerfung unter ein weltliches Grundrechtsregime auch dessen unvorhersehbarer Fortentwicklung ausliefern, die etwa Grundrechte auf Ehescheidung, Abtreibung oder Euthanasie mit sich bringen könnte, welche die Kirche aufgrund ihrer Bindung an das Evangelium entschieden ablehnen muss. 106 Die Kirche sieht sich berufen, ihre Stimme kritisch gegen Fehlentwicklungen beim Schutz der Menschenrechte zu erheben, was sie aber nicht mehr könnte, wenn sie selbst an ein bestimmtes Menschenrechtsregime gebunden wäre. Die Freiheit der Kirche von jeglichem Menschenrechtsregime dient also gerade der Wahrung der Menschenrechte und damit der Freiheit der Menschen. Die genannten Einwände treffen jedoch nicht zu, wenn der Heilige Stuhl nur eine rechtlich nicht bindende Menschenrechtserklärung unterzeichnet. Dadurch verleiht er der Erklärung dank seiner moralischen Autorität größeres Gewicht und kann möglicherweise schon bei der Anfertigung des Textes seine Vorstellungen einbringen. In dieser Weise verabschiedete die KSZE mit dem Heiligen Stuhl als Vollmitglied mehrmals Dokumente, die Sammlungen von Menschenrechten enthalten, aber eben nur völkerrechtliches soft law darstellen.107 ______________ 104

Der Grundsatz „Prima Sedes a nemine iudicatur“ (vgl. c. 333 § 3 CIC) beugt also der Vermischung von weltlicher und geistlicher Gewalt vor und ist kein überholtes Instrument zur päpstlichen Machterhaltung. 105

Auch Krämer warnt davor, Grundrechte in den innerkirchlichen Bereich einfach in der Weise zu übernehmen, wie sie in staatlichen Verfassungen formuliert sind, denn die Kirche hat nicht die Aufgabe und nicht die Mittel eines Staates und die Grundrechte müssen hier im Hinblick auf den Heilsauftrag der Kirche konkretisiert werden (Krämer, Menschenrechte, 170f; ders., Idee, 236f.). 106 107

Filibeck, L’universalità, 34.

Die Kirche beteiligte sich am Helsinki-Prozess der KSZE nicht wie ein Staat mit materiellen Interessen, sondern gemäß ihrer eigenen Art an der Befriedung der zwischenstaatlichen kontinentalen Beziehung (D’Onorio, L’Église, 296).

II. Gemeinsame rechtliche Ausgangsbasis für den Dialog

403

Außer dem Beitritt zu internationalen Grundrechtsregimen kann die Kirche Grundrechten aus dem weltlichen Bereich auch dadurch intern Geltung verschaffen, dass sie diese in ihre eigene Rechtsordnung übernimmt. Sie muss dafür aber „Einfallsnormen“ bereitstellen. Die einzige Bestimmung des CIC, die ausdrücklich von „Grundrechten der menschlichen Person“ („personae humanae iura fundamentalia“) spricht, nämlich c. 747 § 2, fügt keine Grundrechte aus dem weltlichen Rechtsbereich in die kirchliche Rechtsordnung ein,108 sondern konstatiert die Kompetenz der Kirche, ad extra über grundrechtsrelevante Angelegenheiten zu urteilen. Breitsching macht jedoch scharfsichtig auf zwei weitere mögliche Wege aufmerksam: C. 227 CIC und die rechtsgestaltenden Prinzipien.109 Zwar ist die Freiheit, die allen Bürgern zukommt (c. 227 CIC: „libertas, quae omnibus civibus competit“), nicht mit den bürgerlichen Freiheitsrechten gleichzusetzen, doch gehört zu dem Freiheitsraum, den die Kirche den Laien hiermit zuerkennt, gewiss auch der Gebrauch der weltlichen Grundrechte. Die Begrenzung dieses Laienrechts durch das Evangelium und das Lehramt vermeidet die oben genannten Gefahren, die ein Beitritt zu einer internationalen Grundrechtskonvention mit sich brächte. Denn die Kirche behält sich damit das eigene Recht vor, weltliche Grundrechte abzuweisen, die ihrer Überzeugung widersprechen. Allerdings gewährt c. 227 CIC die entsprechende Freiheit nur Laien und bindet die Kirche nicht direkt an weltliche Grundrechte. Der andere Vorschlag Breitschings, dass die kirchliche Rechtsordnung auf die Menschenrechte als rechtsgestaltende Prinzipien ihrer eigenen Rechtsverhältnisse zurückgreifen könnte, erinnert sehr stark an die nunmehr in Art. 6 Abs. 2 EUV fixierte Praxis des EuGH, Grundrechte, die in anderen Rechtsordnungen verbürgt sind, als allgemeine Rechtsprinzipien in der eigenen Rechtsordnung zu achten. Zeigt sich hier eine unerwartete Parallele zwischen den Rechtsordnungen der Kirche und der Europäischen Union? Beide könnten ihre Grundrechtsdefizite nämlich ausgleichen, indem sie Grundrechte aus anderen Rechtsordnungen über die Brücke der allgemeinen Rechtsgrundsätze übernehmen. Rechtsprinzipien sind jedoch keine Grundrechte, da sie keine subjektiven Rechte gegenüber der Hoheitsgewalt verbürgen, und die kirchlichen Autoritäten werden nicht so weit gehen wie der EuGH, dass sie sukzessive immer mehr Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze anerkennen. Dennoch sind einige allgemeine Rechtsgrundsätze der kirchlichen Rechtsordnung grundrechtlich relevant, wie etwa das Gleichheitsprinzip für das Diskriminierungsverbot oder das bona-fides-Prinzip für den Vertrauensschutz. Die allgemeinen Rechtsgrundsätze bleiben aber sehr unbestimmt und ermöglichen nicht, einen kompletten Grundrechtskatalog zu inkorporieren. ______________ 108

Huber (Grundrechte, 530) erblickt darin aber eine Inkorporation allgemeiner Menschenrechte in das kanonische Recht. 109

Breitsching, Menschenrechte, 198.

404

F. Form, Grundlagen und Ergebnisse des religiösen Dialogs

Neben den erwähnten speziell für Grundrechte in Betracht zu ziehenden „Einfallstoren“ bleibt noch zu prüfen, ob nicht auch die gewöhnlichen „Einfallsnormen“, indem sie einzelne weltliche Rechtsmaterien in die kirchliche Rechtsordnung inkorporieren, damit gleichzeitig den zugehörigen Grundrechtsgehalt mitinkorporieren.110 Wenn die kirchliche Rechtsordnung beispielsweise durch c. 197 CIC die weltlichen Rechtsinstitute der Ersitzung und Verjährung rezipiert, übernimmt sie dann nicht neben den einschlägigen Bestimmungen des jeweiligen bürgerlichen Gesetzbuches auch deren Bezug zu den entsprechenden Grundrechten, in diesem Fall besonders jenem auf Eigentum? Das gilt auf jeden Fall für die grundrechtskonforme Interpretation einfachen Gesetzesrechts. Da nämlich rezipiertes weltliches Recht in der kirchlichen Rechtsordnung mit denselben Wirkungen (c. 22 CIC: „iisdem cum effectibus“) einzuhalten ist, muss es auch in Übereinstimmung mit den Grundrechten der jeweiligen weltlichen Rechtsordnung interpretiert und angewandt werden. Wenn das zu rezipierende einfache Gesetzesrecht hingegen den weltlichen Grundrechten so massiv widerspricht, dass die Grundrechtskonformität nicht allein durch Auslegung hergestellt werden kann, müsste es nach der jeweiligen nationalen Rechtsordnung zuerst vom Verfassungsgericht kassiert werden. Die Kirche jedoch müsste in einem solchen Fall die betroffenen Bestimmungen von Anfang an nicht übernehmen. Keinesfalls aber darf sie weltliches Recht, das mit den Grundrechten durchaus vereinbar ist, so auslegen und anwenden, dass es diese verletzt. Die auf solche Weise entstehende Bindung der Kirche an Grundrechte des weltlichen Gemeinwesens ist freilich in zweifacher Hinsicht begrenzt: Erstens greift sie nur dort, wo das Kirchenrecht einzelne weltliche Rechtsmaterien von sich aus übernimmt, und zweitens reicht sie nur so weit, als göttliches oder kanonisches Recht nicht entgegensteht (c. 22 CIC). Die Gefahr, die sich aus einem Beitritt der Kirche zu internationalen Menschenrechtskonventionen ergäbe, entsteht hier also nicht.

______________ 110

Von dem Problem, dass die Kirche weltliche Vorschriften in ihren Bereich hereinnimmt, ist die umgekehrte Frage zu unterscheiden, was zu gelten hat, wenn sie über ihren Bereich hinausgreift und als gesellschaftliche Größe Teilfunktionen des Staates übernimmt. Nach Hinder ist sie dann an die weltlichen Menschenrechte gebunden (Hinder, Grundrechte, 260).

II. Gemeinsame rechtliche Ausgangsbasis für den Dialog

405

d) Grundpflichten des Menschen Sooft die Kirche von den Menschenrechten spricht, ruft sie in Erinnerung, dass jeder Mensch ebenso grundlegende Pflichten hat.111 Ihr eigener Grundrechtskatalog ist gleichzeitig ein Grundpflichtenkatalog.112 Die Rechte sind dem Menschen nämlich nicht gegeben, dass er sie nach Belieben ausnütze, sondern damit er seine Aufgaben erfüllen könne. Er darf von der Gesellschaft nicht nur fordern, sondern muss ebenso seinen Beitrag zum Zusammenleben leisten.113 So richtig diese Ausführungen auch sein mögen, so erscheint es doch als problematisch, parallel zu einem Grundrechtekatalog einen Katalog von Grundpflichten gegenüber der politischen Autorität aufzustellen, denn zwischen jener und dem Individuum besteht ein deutliches Machtgefälle, das gerade dadurch abgemildert werden soll, dass Räume der Freiheit von einer uneingeschränkten Machtausübung geschaffen werden. Umgekehrt könnte ein Pflichtenkatalog hingegen als Instrument der Überwachung und Unterdrückung eingesetzt werden.114 Aus diesem Grund enthalten weltliche Grundrechtskataloge keine oder nur wenige Grundpflichten. 115 In Bezug auf die Grundrechtecharta der Europäischen Union sprechen manche Autoren auch von Grundpflichten, insofern die Einschränkungen der Grundrechte sehr weit gehen, 116 bzw. insofern den darin enthaltenen Diskriminierungsverboten beim Bürger ein Toleranzgebot117 gegenübersteht. Dies kommt jedoch bei weitem nicht an die Verankerung von Grundpflichten in den kirchlichen Grundrechtskatalogen heran. Grundrechte können aber auch dann zu Grundpflichten werden, wenn ihnen unmittelbare Drittwrikung zugestanden wird. Damit ist nämlich gemeint, dass die einzelne Person Grundrechte nicht nur gegenüber der öffentlichen Autorität, sondern direkt auch gegenüber privaten Dritten geltend machen könnte, die ______________ 111

Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 1.1.2003 (http: // www.vatican.va / holy_father / john_paul_ii / messages / peace / documents / hf_jp-ii_ mes_20021217_xxxvi-world-day-for-peace_ge.html [9.5.2006]). 112

Barwig, Geltung, 295.

113

Ratzinger, Grundlagen, IV.

114

Vgl. Honecker, Menschenrechte, 108.

115

Teil I der italienischen Verfassung ist zwar mit dem Titel „Rechte und Pflichten der Bürger“ überschrieben, doch werden dann kaum Pflichten genannt: Art. 30 erwähnt z.B. die Pflicht der Eltern zur Erziehung ihrer Kinder. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 erwähnt Grundpflichten nur sehr vage in einem einzigen Artikel (29). 116

Vgl. Panebianco, Costituzione, 734.

117

Vgl. Alber, Charta der Grundrechte, 305.

406

F. Form, Grundlagen und Ergebnisse des religiösen Dialogs

damit zu Grundrechtsverpflichteten werden. Eine derartige unmittelbare Drittwirkung wird jedoch meist abgelehnt. Stattdessen wird in den meisten europäischen Staaten und in der EMRK-Judikatur grundsätzlich eine bloß mittelbare Drittwirkung vertreten:118 Die politische Autorität muss als unmittelbar Verpflichtete für eine Rechtsordnung sorgen, die es allen ermöglicht, ihre Rechte wahrzunehmen, ohne von anderen daran gehindert zu werden. Die Grundrechtecharta der Europäischen Union hingegen enthält eine Reihe von Rechten, die von direkter Bedeutung für die Verhältnisse zwischen Privaten sind und spricht außerdem in der Präambel von „Verantwortlichkeiten und Pflichten gegenüber den Mitmenschen“.119 Der EuGH jedoch hat in ständiger Rechsprechung eine unmittelbare horizontale Anwendbarkeit wegen der damit verbundenen Belastung für den Bürger verneint.120 In einem bestimmten Bereich bejaht die Europäische Union sehr wohl die unmittelbare Drittwirkung, nämlich beim Gleichheitsgrundrecht (Art. 141 EGV und die RL aufgrund von Art. 13 EGV). Dass hiermit auch Dritten die Grundpflicht auferlegt wird, das Gleichheitsgrundrecht zu achten, wird von der Kirche aber keineswegs begrüßt, wie man im Hinblick auf ihre Lehre von den Grundpflichten vielleicht meinen möchte. Vielmehr wehrt sie sich massiv dagegen, weil sie selbst als „Dritte“ davon in die Pflicht genommen wird und etwa bei der Anstellung von Dienstnehmern nicht nach Geschlecht, sexueller Orientierung oder Religionszugehörigkeit unterscheiden dürfte. Diese unmittelbare Drittwirkung macht die Kirche in letzter Konsequenz selbst zu einer Grundrechtsverpflichteten und zwar in Bezug auf Grundrechte, die nicht von ihr selbst, sondern von der weltlichen Autorität ausformuliert wurden. Auch im Hinblick auf die Freiheit der Kirche sind Grundpflichtenkataloge daher abzulehnen.121 ______________ 118

Vgl. Alpa, Applicabilità, 876; Hesselink, Horizontal effect, 6.

119

Vgl. ebd. 8.

120

Vgl. Siemen, Grundrechtsschutz, 320. Auch Kühling (Grundrechte, 603) vertritt, dass in der EU-Rechtsordnung mit der Schutzpflichtenkonstruktion in Anlehnung an die EGMR-Judikatur das Auslangen zu finden ist und es keiner direkten Bindung Privater bedarf. 121

Weber unterscheidet im Hinblick auf die Grundrechtsbindung der Kirche drei Stufen: Im innersten, rein spirituellen Bereich ist die Kirche überhaupt nicht an staatliche Grundrechte gebunden. In dem Bereich, wo die Kirche nach außen tätig wird und sich in der weltlichen Rechtsordnung bewegt, ist sie in gleicher Weise wie jede Privatperson an die Grundrechte gebunden, also nur insoweit, als sie dieselben Rechte Dritter nicht verletzen darf. In dem Bereich schließlich, wo sie selbst staatliche Hoheitsgewalt ausübt, muss sie die Grundrechte achten wie der Staat selbst (Weber, Grundrechtsbindung, 402-412).

II. Gemeinsame rechtliche Ausgangsbasis für den Dialog

407

e) Parallelen zwischen Kirche und EU bei den Menschenrechten Nachdem nun ein Überblick über den Grundrechtsschutz sowohl in der Kirche als auch in der Europäischen Union gegeben worden ist, bleibt noch zu untersuchen, wie weit beide Grundrechtsregime miteinander übereinstimmen, denn gerade diese Übereinstimmungen sind die Voraussetzung dafür, dass die Grundrechte eine gemeinsame Dialoggrundlage bieten können. Menschenrechte als Grundlage des Dialogs: Zunächst ist festzuhalten, dass es keinen rechtsverbindlichen, geschriebenen Grundrechtskatalog gibt, an den sich sowohl die Kirche als auch die Europäische Union gebunden hätten und der sich damit von Anfang an als gemeinsame Quelle und Leitlinie anböte. In Wirklichkeit haben sich die Beiden nicht nur nicht an dasselbe, sondern an gar kein äußeres Grundrechtsregime gebunden, was bei der Kirche zwingende prinzipielle Gründe hat, bei der Union aber nur vorübergehende und diskutierbare. Gemeinsamkeiten können sich daher nur insofern geben, als die je eigenen Grundrechtsverbürgungen miteinander übereinstimmen, was nicht notwendig und auch nicht durchgängig der Fall ist. Dennoch begegnen Übereinstimmungen nicht selten.122 Schon in der alles begründenden Menschenwürde treffen sich die beiden Rechtskreise, und auch viele einzelne Grundrechte sind in beiden verbürgt. Die Unterschiede liegen dann mehr in der Begründung und in der konkreten Ausgestaltung der einzelnen Rechte, was aufgrund der Spezifika des weltlichen und des religiösen Bereichs durchaus legitim ist. 123 Gerade weil es sich wirklich um Rechte des Menschen handelt, sind sie begründungsoffen gegenüber unterschiedlichen philosophischen, weltanschaulichen und religiösen Interpretationen.124 Ein weltliches Gemeinwesen, das Bürger verschiedenster Weltanschauungen umfängt, kann sich nicht auf die Begründung einer einzelnen Glaubensrichtung beschränken. Probleme ergeben sich aber, wenn abweichende Begründungen zu unterschiedlichen Schutzstandards führen, wie es heute etwa beim Schutz des menschlichen Lebens an seinem ______________ 122

Taylor arbeitet mit dem Begriff des „overlapping consensus“ (Taylor, Modes of Secularism, 38). Danach besteht für ihn die neue säkulare Ordnung darin, dass Prinzipien gesucht werden, die dem Staat und den Religionen gemeinsam sind, aber nicht auch gemeinsamer Begründungen bedürfen. Lies stellt sich hier die Frage, ob diese Art von Säkularismus nicht einfach doch auf das pragmatische Überleben-Wollen des Menschen zurückweist, das sozusagen automatisch nach einem Lebenskonsens ruft. Dieser Ruf ist elementar auch noch in einem Grundkonsens zwischen Kirche und Staat zu hören, dessen Gegenstand der Mensch selbst ist (Lies, Identität, 308). 123

Puza, Menschenrechte, 161.

124

Honecker, Menschenrechte, 109.

408

F. Form, Grundlagen und Ergebnisse des religiösen Dialogs

Anfang und seinem Ende der Fall ist.125 Hier bleibt nur die Möglichkeit der Überzeugungsarbeit durch Dialog. Soweit also hinsichtlich der Grundrechte Übereinstimmung besteht, können sie als gemeinsame Dialoggrundlage dienen; soweit die Auffassungen über sie jedoch voneinander abweichen, bilden sie eher einen Gegenstand des Dialogs, über den erst gemeinsam eine Annäherung gesucht werden muss. Menschenrechte als Gegenstand des Dialogs: Für einen derartigen Dialog über Menschenrechte weisen sowohl die Kirche als auch die Europäische Union günstige Voraussetzungen auf. Gerade weil beide Mängel im eigenen Grundrechtsschutz aufweisen, zeigen sie sich offen für Grundrechtsverbürgungen aus anderen Rechtskreisen: die Kirche z.B. über cc. 19 und 227 CIC, die Union über Art. 6 Abs. 2 EUV. Warum sollte sie da der religiöse Dialog nicht auch gegenseitig zu einer Öffnung für die Grundrechtskonzeptionen der jeweils anderen führen? Außerdem fühlen sich beide berufen, sich außerhalb ihres eigenen Bereichs für den Grundrechtsschutz einzusetzen. Bei der Kirche zeigt sich dies z.B. in c. 747 § 2 CIC,126 während die Union es sich zur Aufgabe gemacht hat, über die Einhaltung der Menschenrechte in ihren Mitgliedstaaten zu wachen (Art. 7 EUV) und in ihrer Außenpolitik die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten zu fördern (Art. 11 Abs. 1 SpStr. 5 EUV). So versteht es sich von selbst, dass sich Kirche und EU auch gegenseitig zur Einhaltung der Menschenrechte gemäß ihrer je eigenen Auffassung mahnen.127 Dies kann den Dialog zwischen beiden auf jeden Fall anspornen. Der Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und der OAU (inzwischen: AU) vom 19.10.2000, der als Vorbild für ein eventuelles „Europakonkordat“ dienen könnte, sieht in Art. I eine Kooperation auf dem Gebiet der Menschenrechte vor. ______________ 125

Krämer gesteht zwar zu, dass Menschenrechtserklärungen oft auf Begründungen verzichten müssen, um den Konsens unter den Menschen mit ganz unterschiedlichen weltanschaulichen Hintergründen nicht zu vereiteln, doch weist er auch auf die Probleme einer derartigen pragmatischen Einstellung hin, weil dann etwa auch Abtreibung und Euthanasie als Menschenrechte begründbar würden (Krämer, Idee, 233f.). Die EUGrundrechtecharta spricht ihre Rechte meist den „Personen“, nicht den „Menschen“ zu. Wie Beckmann darlegt, werden hier beide Begriffe zwar synonym verwendet, doch für zukünftige Interpretationen wird damit unnötigerweise ein Einfallstor geöffnet, im Sinne der Ethik Peter Singers bestimmte Menschen vom Personsein ausklammern (Beckmann, Grundrechte, 68). 126 127

Vgl. Kimminich, Kirche, 192.

Vgl. z.B. die Entschließung des EP „Frauen und Fundamentalismus“ bzw. Beiträge der COMECE an den europäischen Verfassungskonvent. Die Kirche ist für Filibeck vielleicht die einzige Kraft geblieben, die die wirtschaftlichen und sozialen Rechte gegen die Anführer eines Neo-Liberalismus verteidigt (L’universalità, 32).

II. Gemeinsame rechtliche Ausgangsbasis für den Dialog

409

4. Christliche Werte als Dialoggrundlage Werte sind keine Rechtsnormen, sondern deren Grundlage. So liegt es nahe, dass sie auch die Grundlage des Dialogs bilden, der die Gestaltung von Rechtsnormen zum Gegenstand hat. Das ist aber nur möglich, wenn die Werte, denen sich die Dialogpartner verpflichtet fühlen, wenigstens teilweise miteinander übereinstimmen. Nach Art. 40 Abs. 1 GS bildet alles, was das Konzil über die Würde der menschlichen Person, die menschliche Gemeinschaft und über den letzten Sinn des menschlichen Schaffens gesagt hat, das Fundament zwischen Kirche und Welt wie auch die Grundlage ihres gemeinsamen Dialogs. 128 EUV und EGV enthalten keine ausgesprochenen Wertekataloge, sondern nur Zielkataloge (jeweils Art. 2), in denen die grundlegenden Werte aber sehr wohl sichtbar werden. Von gemeinsamen Werten ist lediglich in Art. 11 Abs. 1 und Art. 27a Abs. 1 EUV sowie in Art. 16 EGV die Rede, doch jeweils nur in Bezug auf eine begrenzte Angelegenheit und ohne nähere Spezifizierung. Deutlicher ist die Präambel der Grundrechtecharta, die nicht nur an zwei Stellen die „gemeinsamen Werte“ beschwört, sondern auch eigens die universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität benennt. In diesem Zusammenhang spricht sie außerdem vom spirituellen und sittlichen Erbe, in der deutschen und polnischen Fassung sogar vom geistig-religiösen Erbe. In dieser Formulierung zeigt sich, dass die europäischen Werte religiöse Wurzeln haben. Noch deutlicher wird der Verfassungsvertrag, der in Art. I-2 einen ausführlichen Wertekatalog enthält und an zahlreichen anderen Stellen wie etwa in Art. I-3, I-19 und I-57 – I-59 auf diese „gemeinsamen Werte der Union“ zurückkommt. Abs. 1 der Präambel stellt an erster Stelle klar, dass sich die universellen Werte neben dem kulturellen und humanistischen auch aus dem – nun in allen Sprachfassungen gleich formuliert – religiösen Erbe Europas entwickelt haben und dass die Urheber des Verfassungsvertrags daraus schöpften. 129 Kaum eine Stelle des Verfassungsvertrags wurde in der breiten Öffentlichkeit so intensiv diskutiert wie dieser Absatz der Präambel.130 Die drei Elemente ______________ 128

Losinger bezweifelt jedoch die Tragfähigkeit der humanitas als gemeinsamem Anknüpfungspunkt des Dialogs, weil sie für viele Interpretationen und Anthropologien offen ist (Losinger, Iusta autonomia, 109). 129

Nach Robbers (Wertegemeinschaft, 60) ist die Verfassung sowohl Voraussetzung als auch Folge der Werte und die Werte sind sowohl Voraussetzung als auch Folge der Verfassung. Wie weit sich im Verfassungsvertrag christliche Werte finden lassen, obwohl das Christentum nicht eigens erwähnt wird, untersucht Belafi, Werte, 5. 130 Vgl. dazu Coughlan, Verfassung, 2; ders., Präambeln, 7; ders., Verfassungsentwurf, 3.

410

F. Form, Grundlagen und Ergebnisse des religiösen Dialogs

„kulturell“, „religiös“ und „humanistisch“ waren schon in der ersten Fassung vom 28.5.2003 (CONV 722/03) enthalten. In eigenen Formulierungen wurden außerdem die griechische und die römische Zivilisation sowie die Philosophie der Aufklärung erwähnt. Mit gutem Recht wandten zahlreiche Konventsmitglieder, die Kirchen und verschiedene Gruppen der Zivilgesellschaft dagegen ein, dass man den Tatsachen nicht gerecht wird, wenn man nur diese Quellen und nicht auch das spezifisch christliche bzw. jüdisch-christliche Erbe erwähnt, das Europa mindestens ebenso stark geprägt hat. 131 Muslimische Organisationen wollten auch das islamische Erbe verankern. 132 Einige andere Stimmen hingegen wollten den Ausdruck „religiös“ ganz streichen oder wenigstens wie in der Grundrechtecharta auf „spirituell“ reduzieren. 133 Frankreich und in seinem Gefolge Belgien sowie einige nordeuropäische Staaten lehnten aus Gründen der Laizität134 jeden Christentumsbezug ab, während Polen sich ______________ 131

Vgl. insbesondere die 21. Sitzung (30.-31.5.2003, CONV 783/03), die 22. Sitzung (4.-6.6.2003, CONV 798/03) und die 23. Sitzung (11.-13.6.2003, CONV 814/03) des Europäischen Verfassungskonvents. Für einen Christentumsbezug sprachen sich die folgenden Konventsmitglieder aus: Brok, Cisneros Laborda, Figel, Fini, Fogler, Frendo, Giannakou, Hübner, Inglott, Inguanez, Martikonis, Muscardini, Speroni, Szajer, Roche, Tajiani, Teufel, Wittbrodt, Wuermeling, Zusek. Im Forum Zivilgesellschaft sprachen sich folgende Organisationen dafür aus: die orthodoxe Kirche von Griechenland (30.5.2002), die französische Bischofskonferenz, die evangelisch-lutherische Diözese von Kopenhagen (27.5.2002), das Moskauer Patriarchat, die Diakonie der EKD (16.5.2002), der europäische Kartellverband christlicher Studentenverbände (10.3.2003), die European Evangelical Alliance, WUCWO-Europe (23.3.2003), Landeskomitee der Katholiken in Bayern (16.11.2002), Movimento Europeo per la difesa della Vita e della Dignità Umana (10.7.2002), Réseau des Chrétiens sociaux européens (9.3.2003), UNIAPAC (13.1.2003) und selbstverständlich mehrmals COMECE und KEK (21.5.2002; 28.6.2002; 14.8.2002; 27.9.2002; 15.10.2002; 18.12.2002; 4.4.2003). Siehe: http://europa.eu.int/futurum/forum_convention/doc_de.htm [9.5.2006]. Schon Papst Pius XII. mahnte in mehreren Reden über die Neuorganisation des europäischen Kontinents die Wahrung der christlichen Werte ein, z.B: AAS 37 (1945) 129; AAS 40 (1948) 509. 132

Vgl. folgende Beiträge im Forum Zivilgesellschaft: Étudiants musulmans de France, Forum of european muslim youth and student organisations. Siehe: http://europa.eu.int/futurum/forum_convention/doc_de.htm [9.5.2006]. 133

Vgl. die Konventsmitglieder Badinter, Berès, Duhamel, Paciotti; Im Forum Zivilgesellschaft: National Secular Society (31.1.2003), Unione degli Atei e degli Agnostici Razionalisti. Siehe: http://europa.eu.int/futurum/forum_convention/doc_de.htm [9.5. 2006]. 134

Dalla Torre (Costituzione, 402) wirft Frankreich vor, der einzige laizistische Staat in der EU zu sein, aber diese Laizität in missionarischem Eifer auf die ganze Union ausbreiten zu wollen.

II. Gemeinsame rechtliche Ausgangsbasis für den Dialog

411

massiv dafür einsetzte und diese Frage sogar zur roten Linie erklärte.135 Das Konventspräsidium versuchte im Entwurf vom 10.6.2003 (CONV 797/03) den Ausgleich136 von der Art, dass überhaupt keine speziellen Wurzeln erwähnt werden, um nichts zu übersehen und niemanden zu benachteiligen. Es trat also nicht nur das Christentum nicht hinzu, sondern es wurden auch Griechenland, Rom und die Aufklärung gestrichen. Damit wurde gleichzeitig das Ziel erreicht, den allzu umständlich formulierten Text zu glätten und zu kürzen. In der endgültigen Fassung ist somit nur der Ausdruck „religiöses Erbe“ geblieben. Dabei vermeidet das Adjektiv „religiös“ jede Diskriminierung irgendeiner Religion, während das Substantiv „Erbe“ das Hauptaugenmerk doch auf jene Religionen lenkt, die das Erbe Europas tatsächlich geprägt haben, darunter an erster Stelle das Christentum, das damit doch in gewisser Weise hervorgehoben wird. Wenn sich der Verfassungsvertrag demnach zu den universellen Werten als Früchten des religiösen Erbes Europas bekennt und dieses hauptsächlich ein christliches Erbe ist, dann werden die christlichen Werte zweifellos eine Grundlage des Dialogs zwischen der Europäischen Union und den Kirchen bilden. Der Ausdruck „Erbe“ mag zwar vergangenheitsorientiert137 klingen, darf aber nicht so verstanden werden. Auch wenn der Passus „in seinem Erbe weiter lebendig“ entfallen ist, so wird der Gegenwartsbezug doch mit der Aussage hergestellt, dass sich aus diesem Erbe die aktuellen Werte entwickelt haben. „Erbe“ meint hier selbstverständlich nicht den Nachlass eines Verstorbenen, sondern die im Laufe der Geschichte gewonnenen ideellen Güter, aus denen die ______________ 135

Vgl. Metz, Stier, 51f. Allerdings diente diese Frage Polen auch als strategisches Tauschgeschäft für die Akzeptanz der doppelten Mehrheit. 136

Auf der einen Seite darf die religiös neutrale Europäische Union ihren Bürgern keine bestimmte Religion suggerieren, anderseits ist der Einfluss des Christentums ein unleugbares historisches Faktum (vgl. Wägenbaur, Werte, 609). Kardinalstaatssekretär Sodano räumte am 19.2.2003 ein, dass die Erwähnung des christlichen Erbes nicht die wichtigste Forderung der katholischen Kirche an den Verfassungskonvent darstellt, dass es aber einfach ein unleugbares historisches Faktum ist, dessen Verschweigen den Beitrag des Christentums zur europäischen Kultur im Vergleich zu anderen Wurzeln minimalisieren würde [ASS 64 (2003) 88]. Eckert macht deutlich, dass die Verankerung der grundlegenden Werte der Union im rechtsverbindlichen Art. 3 VVE von größerer Bedeutung ist, als es ein eventueller Gottesbezug in der ohnehin nicht rechtsverbindlichen Präambel gewesen wäre (Eckert, EU-Verfassung 25 und 27). 137

Wägenbaur kritisiert, dass die generalklauselartige Kurzformel „religiöses Erbe“ zu vergangenheitsorientiert ist und dem heutigen Menschen keine klare Botschaft vermittelt, wo es doch nötig wäre beim heutigen Individualismus und Egoismus, sittliche Werte für den Mitmenschen nicht zu verlieren (Wägenbaur, Werte, 609).

412

F. Form, Grundlagen und Ergebnisse des religiösen Dialogs

heutige Gesellschaft lebt.138 Anderseits braucht die Gegenwart sehr wohl einen Vergangenheitsbezug, denn, wie Brague festgestellt hat, läuft die Moderne Gefahr, ein Schmarotzer der Geschichte zu sein, weil sie von Werten lebt, die sie ständig untergräbt.139 Nun können die in Abs. 1 der Präambel genannten Werte – Menschenrechte, Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit – auf verschiedene Weise begründet werden. Die Präambel nennt selbst neben der Religion auch den Humanismus als Wurzel dieser Werte. Je nach Begründung erhalten diese Werte aber, selbst wenn sie inhaltlich übereinstimmen, eine andere Tragweite und eine andere Bestandfestigkeit. Aufgabe der Kirchen und Religionsgemeinschaften ist es nun, im Dialog mit der Europäischen Union die spezifisch religiöse Begründung einzubringen, um die entsprechenden Werte zusätzlich zu untermauern.140 Da das weltliche und das religiöse Gemeinwesen unterschiedlichen Zielen dienen – dem Gemeinwohl bzw. dem Seelenheil – decken sich auch die Werte, die sie verwirklichen sollen nicht vollständig. Der Dialog über Werte kann daher nicht bedeuten, dass die Kirche aus ihrem reichen Schatz Werte auf die Europäische Union überträgt, die diesbezüglich unter einem Mangel leidet, denn die kirchlichen Werte sind eben Werte einer Religionsgemeinschaft, die Europäische Union soll aber ein weltliches Gemeinwesen mit einer legitimen Eigengesetzlichkeit bleiben.141 Dialog über Werte kann nur heißen, dass die Kirche versucht, ihrem Gesprächspartner Werte zu vermitteln, die sie im Hinblick auf das weltliche Gemeinwesen – aber sehr wohl aus christlicher Perspektive im Rahmen ihrer Soziallehre – entwickelt hat.

______________ 138 Bender (EU-Grundrechtecharta, 112) findet es positiv, dass das „christliche Erbe“ nicht erwähnt wird, weil es sich dabei nicht um den Nachlass eines Verstorbenen, sondern um eine lebendige Botschaft handelt. Weninger (Aspekte, 99) fragt ironisch, ob der Erblasser denn schon verblichen sei. 139

Brague, Herkunft und Zukunft, 221.

140

Damit beugen sie der Gefahr vor, dass Werte den Mehrheitsentscheidungen unterworfen werden (Migliore, Relazioni, 406). 141

Der Beitrag, den die Kirche für die Identitätsfindung der EU leisten kann, ist nicht zuvörderst der einer Fundgrube für fehlende Werte, sondern der eines Gegenübers, mit dem sich auseinanderzusetzen, die eigene Identität formen kann (Berkmann, Verhältnis, 163).

III. Ergebnisse des Dialogs

413

III. Ergebnisse des Dialogs Im Brüsseler Alltag zählt, wie Kuhn142 bemerkt, nicht so sehr das Ergebnis, sondern das Gespräch, das Vertrauen und die guten Argumente, nicht Rechthaben-wollen, sondern Gesprächsbereitschaft und sachliche Kompetenz. Der religiöse Dialog hat also ein Ziel schon erreicht, wenn sich die Partner kennen lernen, Vertrauen gewinnen und zweckentsprechende Argumente austauschen. Der Dialog muss seinen Niederschlag also nicht unbedingt in konkreten Rechtsnormen finden, auch wenn dies durchaus wünschenswert ist. In diesem Kapitel soll dargestellt werden, welche heute noch wirksamen Ergebnisse der Dialog im Laufe der Rechtsgeschichte hervorgebracht hat, welche Ergebnisse im Bereich der Sozialethik verbucht werden können und schließlich welche rechtlichen Formen zur Fixierung der Dialogergebnisse verwendet werden können. Zuletzt ist auch zu überlegen, welche rechtlichen Instrumente zur Verfügung stehen, falls der Dialog zu keinem konkreten Ergebnis führt.

1. Ergebnisse des Dialogs aus der Geschichte Schon die alte Kirche stand im Austausch mit der Rechtskultur, die sie umgab. Beispielsweise richteten sich die territorialen Einteilungen der Kirche nach den Untergliederungen des Römischen Imperiums und das römischrechtliche Konsensprinzip bei der Eheschließung fand Eingang ins kirchliche Recht, wobei jedoch aus dem Kontinuativkonsens ein Initialkonsens wurde.143 Die rechtlichen Strukturen wurden also nicht einfach unbesehen übernommen, sondern gemäß der kirchlichen Lehre und den kirchlichen Erfordernissen modifiziert. Wo eine römische Norm nicht vollständig in die kirchliche Rechtsordnung aufgenommen werden konnte, wurde sie von der Kirche vermittelst des Geistes der aequitas an die besonderen kanonischen Anforderungen angepasst.144 Nachdem das Römische Reich christlich geworden war, kam es ebenso zu einer Beeinflussung in der umgekehrten Richtung. So erließ Kaiser Konstantin der Große schon im Jahr 321 ein Gesetz zur Einhaltung der Sonntagsruhe.145 Die Epoche des großen Dialogs zwischen den Rechtsordnungen kam dann im Mittelalter, als das römische, das germanische und das kanonische Recht aufeinander stießen. Hier vollbrachte die Rechtswissenschaft die große Leis______________ 142

Kuhn, Brüssel, 389.

143

Vgl. Heimerl / Pree, Kirchenrecht, 153.

144

Nach diesem Grundsatz wurde nach Papst Gregor I. im 7. Jahrhundert vorgegangen, vgl. Capuzza, Aequitas, 468. 145

Vgl. Berkmann, Gewerbeausübung, 10.

414

F. Form, Grundlagen und Ergebnisse des religiösen Dialogs

tung, das Recht weiterzuentwickeln, indem sie die einzelnen Rechtstraditionen aufeinander abgestimmt, das Beste davon herausgeschält und doch gleichzeitig die Eigenständigkeit gewahrt hat. Das ius commune, das zwischen 1200 und 1600 aus den verschiedenen Rechtstraditionen entstand, wollte ein universales, also grundsätzlich überall anwendbares Recht, aber zugleich ein gegenüber territorialen Rechten und Gewohnheiten nur subsidiäres Recht sein. 146 So ergab sich eine mehrschichtige Rechtsordnung. Obwohl Inhalte des kanonischen Rechts ins ius commune geflossen sind, waren beide, wie Göbel herausgearbeitet hat, nicht identisch, sondern ihr Verhältnis war parallel, insofern die beiden Bereiche grundsätzlich voneinander zu scheiden waren; es war außerdem osmotisch, soweit sich beide gegenseitig durchdrangen, und es war schließlich polar aufgrund des spannungsgeladenen Mit- und Gegeneinanders.147 Es ist als Besonderheit der europäischen Rechtskultur zu betrachten, dass es im abendländischen Europa seit dem 12. Jahrhundert zwei Rechtssysteme gab, die sich ergänzten, die aber von unterschiedlichen rechtserzeugenden Instanzen Ursprung und Geltung ableiteten: Das weltliche Recht und das kanonische. 148 Unter dem ius utrumque verstand man die positiv gedachte Einheit von geistlichem und weltlichem Recht im Orbis christianus. Während das katholische Kirchenrecht eine die Kulturen und Räume überspannende Ordnung blieb, zerfiel das ius commune des weltlichen Bereichs in der Neuzeit in eine Vielzahl nationaler Rechtsordnungen, die nicht mehr auf das Gemeinsame, sondern die je eigene Besonderheit bedacht waren. Die gegenwärtige nationalistische Vereinzelung der Rechtswissenschaft ist erst das Produkt des 18. und 19. Jahrhunderts. 149 So steht das europäische Integrationsprojekt nun seit der Mitte des 20. Jahrhunderts wieder vor einem ähnlichen Problem wie die mittelalterliche Rechtswissenschaft, nämlich unterschiedliche Rechtsordnungen zu harmonisieren und gleichzeitig regionale Besonderheiten zu berücksichtigen.150 Die Tatsache, dass es in Europa bereits einmal ein ius commune gegeben hat, aus dem die gegenwärtigen nationalen Rechtsordnungen in unterschiedlichem Umfang schöpfen, kann bei der heute dringenden Rechts______________ 146 Göbel, Beitrag, 20. Für die Herausbildung des ius commune war das studium generale, das für Studenten jeglicher nationaler Herkunft zugänglich war, bedeutsam (Leisching, Rezeptionsbegriff, 532). 147

Göbel, Beitrag, 21.

148

Landau, Einfluss, 39.

149

Vgl. Zimmermann, Ius commune, 10.

150

Die heutige Mehrstufigkeit der Rechtsordnung nähert sich der Situation des ius commune wieder mehr an: Der europäische Jurist muss Verfassungsnormen, einfache Gesetze, Tarifverträge, Allgemeine Geschäftsbedingungen, EG-Recht und internationale Verträge berücksichtigen (Göbel, Beitrag, 34).

III. Ergebnisse des Dialogs

415

angleichung eine wertvolle Hilfe leisten.151 Außerdem lässt die Tatsache, dass das ius commune in einem intensiven Austausch mit dem kanonischen Recht entstanden ist und dieses bis heute seine Universalität bewahrt hat, erwarten, dass der Dialog mit dem kanonischen Recht auch für die heute zu leistende Entwicklung eines einheitlichen europäischen Rechts fruchtbar werden kann. In dieser Hinsicht sind also ebenfalls Ergebnisse aus dem Dialog, den die Europäische Union nach Art. I-52 Abs. 3 VVE mit den Kirchen führen muss, zu erhoffen.

2. Dialogergebnisse in der Sozialethik Der religiöse Dialog hat nicht nur die Rechtsposition der Kirchen und Religionsgemeinschaften zum Inhalt, sondern auch ethische Fragen, die bei der europäischen Rechtsetzung relevant werden. Hier ist besonders an die Sozialethik zu denken, die Fragen der Gesellschaftsordnung behandelt, wie sie gerade beim Aufbau eines Gemeinwesens wie der Europäischen Union gelöst werden müssen. Die katholische Kirche hat seit dem Ende des 19. Jahrhunderts verstärkt eine Soziallehre entwickelt, deren Prinzipien für jede Gesellschaftsordnung wegweisend sind. Inwieweit sie auch in die Rechtsordnung der Europäischen Union Eingang gefunden haben und inwieweit es somit zu einer Kommunikation zwischen Religion und Politik – wenn auch nicht unbedingt in der Art eines formalisierten Dialogs, sondern eher eines Transfers von Ideen – gekommen ist, soll in diesem Abschnitt untersucht werden. Die Prinzipien der katholischen Soziallehre sind im Allgemeinen flexibel und an verschiedene Situationen anpassungsfähig,152 so dass sie nicht nur auf stationäre, sondern auch auf dynamische, entwicklungsoffene Gesellschaften anwendbar sind153 und damit grundsätzlich auch auf die Europäische Union.154 Sie helfen Europa, die Beziehungen zwischen Staat, Markt und Zivilgesell-

______________ 151

Für Landau (Einfluss, 39) stellt die Entwicklung Europas zu einer politischen Einheit mit einem gemeinsamen „Europarecht“ die Frage, ob aus der Geschichte Besonderheiten einer europäischen Rechtskultur erkennbar sind. Nach Zimmermann (Ius commune, 20) kann die Vitalität des ius commune trotz vieler oberflächlicher Verschiedenheiten unserer modernen kodifizierten und nichtkodifizierten Privatrechtsordnungen auch den heutigen Bemühungen um ein neues europäisches Privatrecht zugute kommen. 152

Vgl. Hense, Subsidiaritätsprinzip, 416.

153

Baumgartner / Korff, Sozialprinzipien, 226.

154

Vgl. Kapellari, Osterweiterung, 94.

416

F. Form, Grundlagen und Ergebnisse des religiösen Dialogs

schaft neu zu überdenken155 und bedürfen nach der Einschätzung Eckerts „zu ihrer Verankerung im Herzen des Durchschnittseuropäers der Religion“ 156. Personalitätsprinzip:157 Die katholische Soziallehre geht wider Erwarten nicht von der Gemeinschaft aus, sondern vom Menschen. 158 Die gesellschaftlichen Gestaltungsformen haben ihm zu dienen, nicht umgekehrt, und sind an ihm als Maßstab zu beurteilen.159 Wenn der Mensch Träger, Schöpfer und Ziel aller gesellschaftlichen Einrichtungen ist, dann erweisen sich diese selbst als wandelbar und nach Bedarf anpassungsfähig. Ein solcher Wandel vollzieht sich in Europa mit dem Wachsen der supranationalen Union anstelle einer Vielzahl unverbundener Nationalstaaten. Die katholische Soziallehre ist für derartige neue Regierungsformen grundsätzlich offen, sofern sie dem Menschen besser dienen. Dem Personalitätsprinzip verleiht die Kirche insbesondere durch ihr Eintreten für die Menschenrechte Ausdruck.160 Bei der Entwicklung der Europäischen Gemeinschaften und der Europäischen Union trat das Personalitätsprinzip erst im Laufe der Zeit verstärkt in den Blick. Dadurch, dass ihre Rechtsordnung dem Einzelnen direkt Rechte und Pflichten verleiht, war die im Völkerrecht übliche Mediatisierung des Individuums durch den Staat durchbrochen. Die Grundfreiheiten bringen dem einzelnen Menschen Rechte und Pflichten, zu deren Schutz er sich selbst an den EuGH wenden kann. Die Kataloge in Art. 2 EUV und Art. 2 EGV enthalten Ziele zugunsten des Individuums wie etwa den Schutz der Rechte und Interessen der Angehörigen der Mitgliedstaaten oder die Hebung des Beschäftigungsniveaus und des sozialen Schutzes. Der Schutz der Menschenrechte erreicht allerdings erst mit Inkrafttreten der Grundrechtecharta als Teil des Verfassungsvertrags einen befriedigenden Stand. Zu begrüßen ist das wachsende Bewusstsein, dass die europäische Integration letztlich dem einzelnen Menschen zugute kommen muss. Solidaritätsprinzip:161 Die Kirche lehrt freilich keinen einseitigen Individualismus, sondern erkennt, dass die Menschen aufeinander und auf die Gemein______________ 155

Vgl. Tettamanzi, Magistero, 69.

156

Eckert, Vorhaben, 195.

157

Vgl. Nr. 219 MM, Nr. 9 PT, Art. 25 Abs. 1 und Art. 26 Abs. 3 GS. Unter Papst Johannes Paul II. erhielt der Begriff der Person und ihrer Würde eine größere Bedeutung als die Naturrechtslehre (Kerber, Katholische Soziallehre, 1363). 158

Freiling, Subsidiaritätsprinzip, 28.

159

Baumgartner / Korff, Sozialprinzipien, 227.

160

Vgl. Feliciani, Libertà religiosa, 158; Filibeck, Universalità, 30.

161

Vgl. Nr. 84 QA, Art. 12 Abs. 4 GS.

III. Ergebnisse des Dialogs

417

schaft angewiesen sind.162 In den wechselseitigen Beziehungen zwischen Individuum und Gemeinschaft baut sich die Gesellschaft auf, doch die vielfältigen Gemeinschaften bilden zunächst nur eine begrenzte Form von Solidarität aus, die mit der Gefahr von Gruppenegoismen verbunden ist, denen mit einer gruppenüberschreitenden Solidarisierung begegnet werden muss. 163 Es sind zwei Dimensionen der Solidarität zu unterscheiden: Die Solidarität innerhalb eines Staates zeigt sich beispielsweise im Sozialsystem: Jeder trägt gestuft nach seinen Möglichkeiten dazu bei und erhält Leistungen gemäß seiner Bedürftigkeit. Daneben mahnt die katholische Soziallehre immer stärker zur Solidarität zwischen den Staaten, die im Allgemeinen erst schwach ausgeprägt ist.164 Die Europäische Union verwirklicht die erste Dimension der Solidarität nur teilweise, denn die Regelung der Sozialsysteme soll bewusst Sache der Mitgliedstaaten bleiben. Soweit ihr dennoch entsprechende Befugnisse zukommen, soll damit hauptsächlich verhindert werden, dass der Wettbewerb zwischen den Mitgliedstaaten durch das Motiv beeinflusst wird, bestimmten sozialpolitischen Lasten zu entgehen.165 So streichen die Ziele des Art. 2 EUV den Rang der Sozialpolitik für die Europäische Union und die Wechselbeziehungen zwischen wirtschaftlichem und sozialem Fortschritt hervor und nach Art. 2 EGV dient der Binnenmarkt nicht nur wirtschaftlichen, sondern auch sozialpolitischen Anliegen. Konkrete Befugnisse hat die Europäische Gemeinschaft im Bereich der Diskriminierungsverbote (Art. 12, 13 und 141 EGV) und der Beschäftigungspolitik (Art. 125-130 EGV). Die GRCH widmet das gesamte Kapitel IV den sozialen Grundrechten und erfüllt damit ein Anliegen, das die Kirchen immer wieder vorgebracht haben.166 In dieser Hinsicht kann die Verankerung des Solidaritätsprinzips also tatsächlich als eine unmittelbare Frucht des religiösen Dialogs angesehen werden. Weit mehr verwirklicht die Europäische Union aber die zweite Dimension des Solidaritätsprinzips, denn ihr Daseinszweck besteht gerade darin, der Solidarität zwischen den europäischen Staaten eine feste Struktur zu verleihen. So hat die Union nach Art. 1 EUV die Aufgabe, die Beziehungen zwischen den ______________ 162

Vgl. Freiling, Subsidiaritätsprinzip, 31.

163

Vgl. Baumgartner, Solidarität, 709. Für Koch (Christsein, 67) sind die Kirchen in besonderer Weise berufen, am Aufbau Europas mitzuwirken, weil sie jenseits von Individualismus und Kollektivismus mit dem Solidaritätsprinzip ein Drittes einbringen. 164

Vgl. Baumgartner / Korff, Sozialprinzipien, 234; Kerber, Katholische Soziallehre,

1364. 165 166

Vgl. Eichenhofer, Art. 136 EGV, Rn. 10.

Nach Filibeck (Universalità, 32) ist die Kirche vielleicht die einzige Kraft geblieben, die die wirtschaftlichen und sozialen Rechte gegen die Anführer eines NeoLiberalismus verteidigt.

418

F. Form, Grundlagen und Ergebnisse des religiösen Dialogs

Mitgliedstaaten sowie zwischen ihren Völkern kohärent und solidarisch zu gestalten und nach Art. 2 EGV ist es die Aufgabe der Gemeinschaft, die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten zu fördern, wozu unter anderem das Loyalitätsgebot nach Art. 10 EGV dient. Konkrete Gestalt nimmt das Solidaritätsprinzip beispielsweise in den europäischen Strukturfonds an (Art. 159 EGV) oder in der finanziellen Hilfe für Mitgliedstaaten, die von Katastrophen heimgesucht werden (Art. 100 Abs. 2 EGV). Die Solidarität mit Drittstaaten zeigt sich etwa in der Entwicklungszusammenarbeit (Art. 177 EGV).167 Der Verfassungsvertrag setzt der Union sowohl die Solidarität in der Bevölkerung (Art. I-3 Abs. 3) als auch zwischen den Mitgliedstaaten (ebd.) und mit der übrigen Welt (Art. I-3 Abs. 4) zum Ziel. Er enthält eine eigene Solidaritätsklausel zugunsten von Mitgliedstaaten, die sich in einer Notlage befinden (Art. I-43), und erhebt das Solidaritätsprinzip zu einem Grundsatz, der das internationale Handeln der Union leitet (Art. III-292 Abs. 1). Der EuGH versteht Solidarität als die „Einhaltung jener Selbstbindung, die der Einzelne oder die Gruppe auf sich nehmen, um umfassendere Verbände zu errichten und funktionsfähig zu halten, deren Wertordnung die Sicherung der eigenen Werte mit umfasst“168. Damit ist er vom Verständnis der katholischen Soziallehre nicht weit entfernt. Subsidiaritätsprinzip: Das Subsidiaritätsprinzip gehört untrennbar zum Personalitäts- und zum Solidaritätsprinzip, die es um den Aspekt der Eigenverantwortung ergänzt. Wo immer eine Einzelperson oder eine kleine Gemeinschaft eine Aufgabe selbstständig erfüllen kann, soll sie nicht von einer übergeordneten Gemeinschaft übernommen werden. Nur wo die untere Einheit überfordert wäre, soll ihr die höhere zunächst helfend zur Seite stehen oder, wenn das nicht genügt, die Zuständigkeit ganz an sich ziehen. Das Subsidiaritätsprinzip ist trotz mancher Vorformen eine Schöpfung der katholischen Soziallehre und wurde erstmals in Nr. 79f. QA begrifflich eingeführt und ausführlich entfaltet.169 In der Folge hat die Kirche seine Anwendung vom innerstaatlichen ______________ 167

Die Solidarität nach außen ist von besonderer Wichtigkeit. Während heidnische Konzepte Solidarität nach innen schaffen, indem sie Dritte an den Rand drängen und zu Feinden machen, ermöglichte gerade das Christentum eine Art von Solidarität, die nicht darauf angewiesen ist, jemanden auszuschließen (Palaver, Political Economy, Rn. 27). Der Vertrag von Maastricht, der für die Europäische Union eine stärkere interne Einigung brachte, erklärte gleichzeitig das Ziel, ihre Identität auf internationaler Ebene durch eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik samt einer gemeinsamen Verteidigungspolitik zu behaupten (Art. 3 EUV). Um jedoch eine Identitätsfindung durch Abgrenzung zu vermeiden, leisten Politikfelder wie die Entwicklungszusammenarbeit einen wichtigen Beitrag. Die Kirche kann dabei ihr Verständnis von Solidarität einbringen. 168

Vgl. Bieber / Epiney / Haag, Europäische Union, § 3, Rn. 51.

169

Vgl. Hense, Subsidiaritätsprinzip, 405; Walther, Subsidiarität, 118.

III. Ergebnisse des Dialogs

419

Bereich auch auf die internationale Ebene ausgeweitet170 (Nr. 140 PT, Art. 86 lit. c GS) und damit für Organisationen wie die Europäischen Gemeinschaften nützlich gemacht.171 In der Tat hat kaum eine andere Rechtsordnung das Subsidiaritätsprinzip so stark rezipiert wie jene der Europäischen Union. 172 Es ist verankert in Art. 2 Abs. 2 EUV sowie in Art. 5 Abs. 2 EGV und wird näher ausgeführt in Protokoll Nr. 30 zum EGV. Es kommt beispielsweise in der Bevorzugung der Richtlinie als eingriffsschwächerem Sekundärrechtsakt gegenüber der Verordnung, in der Hervorhebung der organisierten Zivilgesellschaft173 oder in den parallelen Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaft zum Ausdruck, die sie nur zur Förderung und Unterstützung der Mitgliedstaaten auf den jeweiligen Gebieten ausüben darf. In der Lehre wird es meist nur als (programmatisches) Prinzip gesehen, nicht als unmittelbar exekutierbare Norm. 174 Mit dem Verfassungsvertrag erfährt es aber eine Stärkung sowohl durch ein „Frühwarnsystem“ bei der Gesetzgebung als auch durch zusätzliche Klagerechte beim EuGH. Gewiss hat die Europäische Union dem Subsidiaritätsprinzip eine etwas andere Bedeutung beigegeben, als von der katholischen Soziallehre ursprünglich intendiert war.175 Während nach QA die nächsthöhere Ebene eine Aufgabe nämlich erst dann übernehmen soll, wenn dies notwendig ist, soll sie es nach ______________ 170

Vgl. Feliciani, Sussidiarietà, 23.

171

Wie Schneider (Einigung, 84) hervorhebt, konnte im Horizont der katholischen Soziallehre der Gedanke eines die bestehenden Staaten überwölbenden Föderalismus in einer sie einbegreifenden Civitas Civitatum konzipiert werden. 172

Vgl. Hebblethwaite, Sozialethik, 502; Hense, Subsidiaritätsprinzip, 427f; Hummer, Subsidiarität, 82. In Deutschland hingegen bestanden lange Zeit Vorbehalte wegen einer essentialistischen Missdeutung des Prinzips (Baumgartner / Korff, Sozialprinzipien, 235f.). 173

Vgl. Hense, Subsidiaritätsprinzip, 425.

174

Vgl. Baumgartner / Korff, Sozialprinzipien, 235; Hense, Subsidiaritätsprinzip, 420; Hummer, Subsidiarität, 91. 175

Eine andere Frage lautet, ob das Subsidiaritätsprinzip ebenso innerkirchlich anwendbar ist. Die katholische Soziallehre hat es für die politische Gemeinschaft entwickelt, doch ist es zweifellos auch für die kirchliche Verfassung von Bedeutung. So war es eines der Prinzipien, die bei der Kodexreform anzuwenden waren, wurde dann aber unverständlicherweise von der Bischofssynode 1985 als innerkirchliches Prinzip zurückgewiesen (vgl. Freiling, Subsidiaritätsprinzip, 208; Valdrini, Contribution, 161). Während es Corecco in der Kirche nur sehr begrenzt anwenden will, weil es ihrer Eigenart nicht gerecht würde (Ius et communio I, 546), wird es von der Canon Law Society of America vehement eingefordert (Unity and subsidiarity, 89).

420

F. Form, Grundlagen und Ergebnisse des religiösen Dialogs

EU-Recht schon dann, wenn sie ihr effektiver nachkommen kann. 176 Dennoch liefert das Subsidiaritätsprinzip ein glänzendes Beispiel dafür, wie kirchliches Gedankengut in der Europäischen Union kommuniziert wird und die Kirche damit einen wesentlichen Beitrag zur Europäischen Integration leistet.177 Gemeinwohl: Die katholische Soziallehre beschränkt sich natürlich nicht auf die drei genannten Prinzipien. Auch das Gemeinwohl stellt einen ihrer Leitbegriffe dar (z.B. Nr. 27 RN). Es ist das zentrale Ziel jeder politischen Gemeinschaft und beinhaltet mehr als die Addition der Einzelwohle, darf diese jedoch nicht verdrängen. Da dieser Begriff aber sehr unbestimmt bleibt, wird er in Rechtstexten vermieden, wenngleich sich nicht bestreiten lässt, dass die Ziele in Art. 2 EUV und Art. 2 EGV Teilziele des Gemeinwohls bilden. Im Übrigen erwähnt der EGV bei den Tätigkeiten verschiedener Gemeinschaftsorgane nur, dass sie diese „zum allgemeinen Wohl der Gemeinschaft“ ausüben müssen (vgl. Art. 213 Abs. 2, Art. 247 Abs. 4, Art. 258, Art. 263 EGV). Erst Art. 52 Abs. 1 GRCH spricht eindeutig davon, dass die Zielsetzungen der Union dem Gemeinwohl dienen. Je größer das Bündnis der Staaten wird, desto brisanter wird es nach der Einschätzung Eggenspergers, das bonum commune innerhalb der Union zu überprüfen. Sollte sie zu einem Träger von Gemeinwohlfunktionen mutieren, so wird sie dies ihm zufolge nicht als gigantische Organisation, sondern als ein Dachverband, der sehr unterschiedliche Interessen und Gruppen subsumiert, die aber keineswegs nur national oder regional ausgerichtet sein werden.178 Wettbewerb: Was das Prinzips des Wettbewerbs betrifft, so übte sich die katholische Soziallehre lange Zeit in großer Zurückhaltung, erkennt es aber seit CA grundsätzlich an.179 Zu unterscheiden ist allerdings zwischen einem notwendigen Wettbewerb, der das Wirtschaftsleben antreibt, und einem zerstörerischen, der ganze Bevölkerungsschichten an den Rand drängt. Die Europäischen Gemeinschaften wurden mit dem Ziel gegründet, die Konkurrenz zwischen den europäischen Staaten, die in der Vergangenheit zu unzähligen mörderischen Kriegen geführt hat, unter dem Dach einer gemeinsamen internationalen Organisation zu bändigen. Gleichzeitig wurde aber eine neue Art von Wettbewerb zwischen den Mitgliedstaaten geschaffen, nämlich ein Wettbewerb der ______________ 176

Diesen Unterschied zeigt Hummer (Subsidiarität, 82) auf. Zu weit geht aber die Ansicht Vincis (Considerazione, 40), nach der es überhaupt falsch wäre, eine Vergleichslinie zwischen der Subsidiarität in der kirchlichen Lehre und in der Europäischen Union herzustellen. 177 Für Brunner (Subsidiaritätsprinzip, 12) hat das Subsidiaritätsprinzip den Vorteil, dass sich darin „Christen und Aufklärer“ ebenso wieder finden. 178

Eggensperger, Gemeinwohl, 178f.

179

Vgl. Kerber, Katholische Soziallehre, 1364.

III. Ergebnisse des Dialogs

421

Rechtsordnungen, aus denen der Bürger die für ihn günstigste aussuchen kann, wie das EuGH-Urteil Centros (Rs. C-212/97) zeigt. Gerade der Binnenmarkt verstärkt die Konkurrenz zwischen den Mitgliedsländern. Gerken hat sich ausführlicher mit der Konkurrenz zwischen verschiedenen Staaten beschäftigt. Er unterscheidet den Wettbewerb vom Wettstreit. Beide sind gezeichnet von einem Streben von Individuen oder Gruppen, ihre Lage im Vergleich zu anderen Individuen oder Gruppen durch bewusste zielgerichtete Handlungen zu verbessern. Während aber der negative Wettstreit – wie z.B. Krieg – Dritten nicht zu einem Vorteil gereicht, sondern nur in einem gegenseitigen Übertrumpfen besteht, sind die Kontrahenten beim positiven Wettbewerb bestrebt, eine Leistung für Dritte zu erbringen, die zwischen verschiedenen Staaten wählen und daraus einen Vorteil ziehen können.180 Der oben erwähnte Fall Centros wäre also ein Beispiel für einen solchen positiven Wettbewerb unter Staaten. In der Neuzeit wurde die Abgrenzung zwischen dem positiven Wettbewerb und dem negativen Neid in dem Maße schwieriger, als die politische Gleichheit aller Menschen und die Dynamik des Wirtschaftslebens zunahmen.181 Mit dem Kriterium des Nutzens für Dritte versucht Gerken, für die heutige Zeit wieder eine solche Abgrenzung vorzunehmen. Ferner erwägt Gerken, um welche „Wirtschaftseinheiten“ die Staaten eigentlich konkurrieren: Um mobile Bürger als Einwohner und Steuerzahler, um die Präsenz auf den Exportmärkten, um mobile Produktionsfaktoren, um Finanzkapital und um strategische Unternehmensfunktionen. 182 Auf die Diskussion dieser Punkte, in der Gerken auch kritische Einwände vorbringt, muss hier nicht näher eingegangen werden. Man wird aber fragen müssen, ob eine Trennung von positiver und negativer Konkurrenz so leicht möglich ist, dass die eine vollständig verwirklicht und die andere gleichzeitig ganz ausgeschlossen werden kann. Was die EU betrifft, so bildet das Wettbewerbsrecht einen bedeutenden Teil ihrer Rechtsordnung und Kommission und Gerichtshof betrachten es als ihre zentrale Aufgabe, über den freien Wettbewerb zwischen den Staaten zu wachen. Hier geht es natürlich um die positive Seite der Konkurrenz und die negative wird insofern ausgeschaltet, als es in der EU supranationale Instanzen gibt, die in Konfliktsituationen entscheiden, bevor sich zerstörerische Kräfte entwickeln. Solange die Gemeinschaftsorgane aber einen Wirtschaftsliberalismus anstreben, der mit einer ungebremsten Konkurrenz einhergeht, wird die Kirche diesem im religiösen Dialog die Aussagen ihrer Soziallehre entgegen______________ 180

Gerken, Der Wettbewerb der Staaten, 6.

181

Palaver, Konkurrenz, Rn. 12f.

182

Gerken, Der Wettbewerb der Staaten, 9-19.

422

F. Form, Grundlagen und Ergebnisse des religiösen Dialogs

halten, wie sie etwa in Nr. 2 RN oder Nr. 10 QA zum Ausdruck kommen.183 Metz bedauert, dass der Verfassungsvertrag sich inkohärenterweise das eine Mal zur sozialen Markwirtschaft (Art. I-3 Abs. 3), das andere Mal aber zur offenen Marktwirtschaft (Art. III-177) bekennt.184 Eigentum: Bezüglich des Privateigentums nimmt die katholische Soziallehre eine vermittelnde Position zwischen Marxismus und Kapitalismus ein. Sie verteidigt einerseits die Rechtmäßigkeit des Privateigentums, beharrt aber anderseits auf seiner Sozialbindung (vgl. Nr. 30 CA). Wenngleich die Gründung der Europäischen Gemeinschaften auch eine Reaktion auf die wirtschaftsund gesellschaftspolitische Spaltung Europas war, sollte die Eigentumsordnung doch den Mitgliedstaaten überlassen bleiben, unter denen besonders Frankreich und Italien einen großen Anteil an verstaatlichter Industrie besaßen.185 So enthält Art. 295 EGV heute noch eine Bereichsausnahme zugunsten der Eigentumsordnungen der Mitgliedstaaten, obwohl gerade das EG-Wettbewerbsrecht und die Privatisierungspolitik der Kommission für eine Wirtschaftsordnung auf der Basis von Privateigentum sprechen. Wenn die Untersuchungen in diesem Abschnitt auch allzu flüchtig ausfallen mussten, so wurde doch deutlich, dass die katholische Soziallehre tatsächlich Ergebnisse in der Rechtsordnung der Europäischen Union hervorgebracht hat. Zum Teil verdanken sich diese Ergebnisse wie im Fall des Sozialrechtekapitels in der Grundrechtecharta einem regelrechten Dialog mit der Union; zum Teil ist kirchliches Gedankengut wie im Fall des Subsidiaritätsprinzips auf diffuseren Kommunikationswegen in die Ordnung der Union eingegangen, ohne dabei aber seinen Ursprung zu verlieren.186 Dass die Kirche das Subsidiaritätsprinzip zur EU-Rechtsordnung beigesteuert hat, kommt ihr selbst wieder zugute, wenn sie sich zur Wahrung ihrer Eigenständigkeit gegenüber der EU darauf berufen kann. Dass manche Prinzipien der Soziallehre – z.B. die innerstaatliche Solidarität oder das Privateigentum – in der Europäischen Union kaum verankert sind, liegt nicht daran, dass sie verworfen würden, sondern daran, dass die entsprechenden Kompetenzen – Sozialsystem bzw. Eigentumsordnung – auf der nationalen Ebene verblieben sind. Dafür sind andere Prinzipien besonders ______________ 183

Vgl. Cuocilo, Costituzione, 475.

184

Metz, Stier, 55.

185

Kingreen, Art. 295 EGV, Rn. 1.

186

Steiner (Sozialstaat, 307=145) begrüßt zwar die Einrichtung eines institutionalisierten Dialogs durch Art. I-52 Abs. 3 VVE, auch um christliche Sozialvorstellungen in die Unionspolitik einbringen zu können, fragt sich aber anderseits, ob dies in Zukunft nicht vielmehr auf anderen Wegen geschehen wird müssen, zumal christlich-sozial gesinnte Politiker immer weniger werden.

III. Ergebnisse des Dialogs

423

ausgeprägt, die gerade für eine supranationale Organisation bedeutsam sind wie die internationale Solidarität und die Subsidiarität.

3. Dialogergebnisse in rechtlichen Formen Soweit sich der Dialog mit rechtlichen Regelungen für Religion und Kirche beschäftigt, ist zu fragen, in welchen rechtlichen Formen die entsprechenden Dialogergebnisse fixiert werden können. Einige werden im Folgenden vorgestellt.

a) Abgestimmte Rechtsetzung Die schlichteste Form, um die Ergebnisse des Dialogs zu fixieren, liegt darin, dass die Organe der Europäischen Union die Anliegen der Religionsgemeinschaften bei der Rechtsetzung berücksichtigen. Die Europäische Kommission will die Ergebnisse der Konsultationen in Dokumenten zusammenfassen und veröffentlichen.187 Damit erfahren nicht nur die im Rechtsetzungsverfahren nachgeschalteten Organe, sondern auch die breite Öffentlichkeit, wie sich die Beiträge der konsultierten Organisationen in den Legislativvorschlägen niedergeschlagen haben. Ob sie tatsächlich Niederschlag finden, steht freilich im Ermessen der Kommission. Außerdem gibt es keine Garantie dafür, dass die Ergebnisse im definitiven Rechtsakt Berücksichtigung finden oder dass dieser später nicht wieder abgeändert werden könnte. Ein Beispiel für einen Sekundärrechtsakt, in dem die Beiträge aus dem religiösen Dialog einbezogen wurden, ist die Gleichbehandlungs-RL 2000/78/EG. Diese Art der Berücksichtigung des Dialogergebnisses kann insofern als einseitig bezeichnet werden, als sie sich nur auf das Recht der Europäischen Union auswirkt. Es ist aber auch denkbar, dass das Dialogergebnis in einem Kompromiss besteht, zu dessen Umsetzung beide Rechtsordnungen, die europäische und die kirchliche, aufeinander abgestimmt werden müssen. Vorausgesetzt, es gibt eine entsprechende gemeinschaftsrechtliche Kompetenz, könnte auf diese Art z.B. eine Feiertagsregelung geschaffen werden, bei der beide Seiten dadurch einander entgegenkommen, dass die Europäische Gemeinschaft entsprechende Schutzvorschriften erlässt und dass die Kirche von der Anpassungsmöglichkeit nach c. 1246 § 2 CIC Gebrauch macht. Es wäre auch denkbar, dass Religionsgemeinschaften Ausnahmeklauseln in bestimmten Richtlinien erhalten, wenn sie in ihrer eigenen Rechtsordnung Vorsorge dafür treffen, dass die Ziele der ______________ 187

Vgl. KOM (2002) 277 endg. und KOM (2002) 704 endg.

424

F. Form, Grundlagen und Ergebnisse des religiösen Dialogs

Richtlinie anderweitig erreicht werden. Eine solche Vorgehensweise zeigt sich in Art. 8 Abs. 2 lit. d der Datenschutz-RL 95/46/EG. Die Verständigung, die dabei von den beiden Dialogpartnern erzielt wird, bedeutet keine wechselseitige rechtliche Verpflichtung. Wenn sie ihr eigenes Recht nicht entsprechend anpassen oder die Anpassung später wieder zurücknehmen, geht die Abstimmung zwischen den Rechtsordnungen verloren, ohne dass ihre Wiederherstellung erzwungen werden könnte. Dass die Dialogergebnisse direkt in Rechtsakte umgegossen werden, wie dies beim sozialen Dialog möglich ist, 188 kam im religiösen Dialog noch nicht vor. Die abgestimmte Rechtsetzung hat Vorbilder in mehreren europäischen Staaten. Das österreichische Gesetzgebungsverfahren kennt ein Prüfungsverfahren, das Eckert auch auf EU-Ebene für erwägenswert hält, damit die EUOrgane die für die Kirchen wichtigen Punkte in Erfahrung bringen können.189 Die Gesetzgebung in Deutschland beruht heute weithin auf vorangehender Absprache, so dass kirchliche Belange Berücksichtigung finden können, selbst wenn das Staatskirchenrecht schließlich durch einseitiges Gesetz gestaltet wird.190 Da die Gesetzgebung in dieser Weise zunehmend kontraktähnliche Elemente erhält, wird auch von einem „paktierten Gesetz“ gesprochen, wie es sich ebenso in anderen Ländern findet. 191 In Italien wird diesbezüglich von der „legislazione negoziale con i culti“ gesprochen.192

b) Der Vertrag als Ergebnis des Dialogs Hat der religiöse Dialog zu einer Einigung in einer bestimmten Frage geführt, so bietet sich der Vertrag als adäquates Mittel an, diesen Konsens rechtlich zu fixieren.193 Im Unterschied zur „abgestimmten Rechtsetzung“ stellt er ______________ 188

Vgl. Stahlberg, Sozialrecht, Rn. 126; Steinmeyer, Rolle, Rn. 132; Wank, Dialog,

Rn. 1. 189

Eckert, Riflessioni, 918.

190

Vgl. von Campenhausen, Staatskirchenverträge, 86.

191

Vgl. Minnerath, Kirche, 179. Als „paktiert“ wird ein Gesetz bezeichnet, wenn über den Inhalt zuvor mit den betroffenen Religionsgemeinschaften ein Einvernehmen hergestellt wurde bzw. das Gesetz die von ihrer Seite artikulierten Interessen entsprechend beachtet. Es besteht aber keine Pflicht des Staates, den Vorstellungen der Religionsgemeinschaften in seinen Gesetzen Rechnung zu tragen (Müller-Volbehr, Staatskirchenrecht, 293). 192 193

Parisi, Dichiarazione, 341.

Zum Vertrag als natürlicher Folge eines partnerschaftlichen Staat-KircheVerhältnisses: Klecatsky, Menschenrechtsstaat, 5. Vgl. auch Pérez, Modello, 152.

III. Ergebnisse des Dialogs

425

die zweiseitige Lösung für Konflikte im Schnittbereich von Religion und Politik dar. Diese hat den Vorteil, dass sich auch komplexere Beziehungen regeln lassen und Rechte und Pflichten gleichmäßig auf die Vertragspartner verteilt werden können. Außerdem ist sie in ihrem Bestand fester, weil sie nicht einfach einseitig wieder abgeändert werden kann. 194 Ferner wird die Regelung durch Vertrag der Pluralität der religiösen Standpunkte besser gerecht, weil mit jeder einzelnenen Religionsgemeinschaft eine auf sie zugeschnittene Vereinbarung getroffen werden kann. Die einseitige Regelung auf der weltlichen Seite hingegen kann nie auf alle unterschiedlichen Religionsgemeinschaften mit ihren Geboten und Forderungen in gleicher Weise angemessen eingehen. 195 Die Europäische Kommission sieht selbst im Bereich des Dialogs mit der Zivilgesellschaft die Möglichkeit vor, partnerschaftliche Vereinbarungen zu schließen, und da sie im selben Dokument auch Kirchen und Religionsgemeinschaften als Partner dieses Dialogs anerkennt, müssen die genannten Vereinbarungen diesen ebenfalls offen stehen.196 Inhalt dieser Vereinbarungen soll zwar die nähere Ausgestaltung des Dialogs mit bestimmten Organisationen sein, doch wären solche Vereinbarungen außerdem gut geeignet, um die Ergebnisse des Dialogs festzuhalten. Art. I-52 Abs. 3 VVE spricht zwar nicht ausdrücklich von Verträgen, doch ist darin, wie Robbers sagt, den Kirchen und Religionsgemeinschaften sehr wohl die Möglichkeit zu einem Vertrag eröffnet. 197 Weil das Zweite Vatikanische Konzil Konkordate nicht eigens erwähnt hat, meinten einige Autoren, es hätte mit den staatlicherseits gewährten Privilegien (Art. 76 Abs. 6 GS) auch auf dieses Instrument verzichten und es durch die von den Staaten garantierte Religionsfreiheit (DH) ersetzen wollen. 198 Diese Theo______________ 194

Vgl. Corral, Concordati vigenti, 236.

195

Dieses Argument von Campenhausens (Staatskirchenverträge, 86) bezüglich des deutschen Staatskirchenrechts gilt noch mehr für die Europäische Gemeinschaft, die sich ganz besonders der Wahrung der Pluralität verschrieben hat (vgl. Art. 22 GRCH). Gewiss ist der Inhalt der Regelung wichtiger als ihre Form (Torfs, Kirchenjuristen, 41; Dalla Torre, Chiesa locale, 160). Doch diese kann sich auch auf den Inhalt auswirken. So ist bei einer zweiseitig ausgehandelten Lösung die Wahrscheinlichkeit größer, dass sie den Bedürfnissen beider Partner entspricht, als bei einer noch so wohlwollenden einseitigen Regelung, die immer Gefahr läuft, das Einmischungsgebot zu verletzen (Vgl. Campenhausen, Staatskirchenverträge, 86). 196

Weißbuch „Europäisches Regieren“, KOM (2001) 428, 14 bzw. 19.

197

Robbers, Dialog, 758.

198

Nach Huizing wären Konkordate nur noch dort sinnvoll, wo der Staat oder die Kirche Garantien gegenüber dem jeweils anderen wünschten (Kirche und Staat, 590). Nach Cardia wird es mit der Zeit keiner Konkordate mehr bedürfen, weil die Rechte der

426

F. Form, Grundlagen und Ergebnisse des religiösen Dialogs

rien haben sich jedoch nicht bewahrheitet,199 denn in Wirklichkeit ebnete gerade dieses Konzil erst recht den Weg für Konkordate. Nach der früheren offiziellen Lehre des ius publicum ecclesiasticum externum hätten sich die Staaten nämlich von selbst der potestas indirecta der Kirche unterwerfen müssen, so dass Konkordate nur dort als notwendiges Übel geduldet wurden, wo Staaten dies verweigerten. Das Konzil hingegen erkannte die Staaten als gleichberechtigte Partner der Kirche an, so dass der völkerrechtliche Vertrag sich nun als das normale Instrument einer „gesunden Kooperation“ (Art. 76 Abs. 3 GS) entfalten konnte.200 Den besten Weg zur Regelung gemeinsamer Anliegen und zur Lösung umstrittener Fragen bildet aus Sicht der Kirche die friedliche Verständigung, die eben auch in zweiseitigen Verträgen zum Ausdruck kommt.201 Tatsächlich wurden unter Johannes Paul II. mehr Konkordate geschlossen als unter jedem anderen Papst zuvor.202 Grundsätzlich sind der Europäischen Gemeinschaft konkordatäre Vereinbarungen mit der katholischen Kirche und nicht-völkerrechtliche Verträge mit anderen Religionsgemeinschaften rechtlich möglich.203 Als nach dem Ersten Weltkrieg viele neue Staaten entstanden waren, schlug Papst Benedikt XV. das Konkordat als Instrument vor, das Verhältnis zu ihnen zu regeln. 204 Nachdem sich heute die Staatenlandschaft durch die Integration in die Europäische Gemeinschaft erneut ändert, ist wieder an eine Regelung durch Konkordat zu denken. Diese Möglichkeit wird in Kapitel F.IV. ausführlich behandelt.

______________

Religionsgemeinschaften schon im Verfassungs- und EG-Recht verankert sind (Concordati, 150). 199

Vgl. Astorri, Accordi, 24; Corral, Concordati vigenti, 225). Nicht alle Privilegien sind ungerechtfertigt und nicht alles, was Konkordate enthalten, sind Privilegien. Außerdem schließt der innerstaatliche Schutz der Religionsfreiheit deren Konkretisierung durch ein Konkordat nicht aus. Menschenrechte wie die Religionsfreiheit erhalten gerade durch völkerrechtliche Verträge einen besseren Schutz (ausführliche Argumentation bei Köck, Aspekte, 50-58). 200

Feliciani, Droit canonique, 107.

201

Socha, MKCIC c. 3, Rn. 1.

202

Listl, Konkordat, 593.

203

Vgl. Rees, Konkordate, 138.

204

Benedikt XV., Ansprache vom 21.11.1921, 521.

III. Ergebnisse des Dialogs

427

c) Kooperation Der religiöse Dialog kann schließlich auch die Kooperation zwischen der Europäischen Union und den Religionsgemeinschaften zum Ergebnis haben. 205 Hier wird nicht nur sprachlich eine Einigung erzielt, die in verschiedenen Rechtstexten fixiert ist, sondern es vollzieht sich der Schritt vom Reden zum Handeln. Die Kooperation bildet neben einer grundrechtlichen Norm und einem Konkordat das dritte mögliche Element im europäischen Staat-KircheVerhältnis206 und wird meist für wahrscheinlicher angesehen als ein EuropaKonkordat.207 Die Kooperation entspricht voll und ganz den Vorstellungen der katholischen Kirche über das Verhältnis zur politischen Gemeinschaft. Nach Art. 76 Abs. 3 GS können die beiden Gemeinwesen den Dienst zum Wohle aller umso wirksamer leisten, je mehr und besser sie eine rechte Zusammenarbeit („sana cooperatio“) miteinander pflegen. Diese ist notwendig, weil beide zur selben Zeit und am selben Ort denselben Menschen im Blick haben.208 Das Konzil nennt zwar keine bestimmte Form der Kooperation, meint aber jedenfalls eine solche, welche die demokratischen Freiheiten achtet.209 Direkt in Bezug auf die Europäische Union wünschen die DBK und die EKD ausdrücklich die Verankerung der Zusammenarbeit im primären Gemeinschaftsrecht.210 Schon Papst Paul VI. legte in seiner Rede an das Europäische Parlament vom 16.4.1970 eine Kooperation in der Migrantenproblematik nahe. 211 Als Beispiele, wo die Kooperation in Teilbereichen kirchlicher Tätigkeiten bereits gepflegt wird, sind die sozialen Dienste und die Entwicklungshilfe zu nennen.212 Die Europäische Kommission stellt in ihrem Dokument KOM (2000) 11 endg., Nr. 1.6 Bedingungen für die erfolgreiche Zusammenarbeit mit Organisationen auf, die unter anderem in den Bereichen der humanitären Hilfe, dem Sozialwesen und dem Bildungssektor tätig sind und die von der Europäischen Union auch finanziell unterstützt werden. Die Zusammenarbeit der Europäischen Gemeinschaft mit den Verbänden der Wohlfahrtspflege und den Trägern sozialer Einrichtungen und Dienste, die sich nicht selten in kirchlicher ______________ 205

„Dialog heißt Kooperation.“ (so Eckert, in: Achleitner, Gott, 607).

206

So Torfs, Relationships, 82.

207

So Kudraceva, Situation, 48.

208

Vgl. Dalla Torre, Città, 112; Feliciani, Droit canonique, 106; Listl, Lehre, 1252.

209

Spinelli, Diritto pubblico ecclesiastico, 97.

210

EKD / DBK, Verhältnis, Nr. IV.

211

Paul VI., Ansprache vom 16.4.1970, 286.

212

Vgl. Turowski, Staatskirchenrecht, 25.

428

F. Form, Grundlagen und Ergebnisse des religiösen Dialogs

Hand befinden, ist in der Erklärung Nr. 23 der Schlussakte zum EUV verankert.213 Darüber hinaus erweist sich der kooperative Ansatz auf all jenen Gebieten als angemessen, wo sich Kirchen und Religionsgemeinschaften im öffentlichen Bereich engagieren.214 Selbstverständlich müssen aber die Eigenständigkeit und die Freiwilligkeit der Zusammenarbeit gewahrt bleiben, weil jeglicher Zwang die Religionsfreiheit verletzen würde.215 Art. 1 des Vertrags vom 19.10.2000 zwischen dem Heiligen Stuhl und der OAU nennt Erziehung, Gesundheit, Menschenrechte und soziale Angelegenheiten als Felder der Zusammenarbeit.

4. Rechtliche Instrumente bei Nicht-Einigung Dass der religiöse Dialog wirklich immer zu einem Ergebnis führt, kann auch bei den besten Verfahrensregeln und der größten Bereitschaft auf Seiten der Gesprächspartner nicht garantiert werden. Es gehört nämlich wesentlich zum Prinzip der Trennung von religiöser und weltlicher Sphäre, dass keine Seite der anderen eine Lösung aufzwingen kann. Da der Dialog in erster Linie dem einzelnen Menschen zugute kommen soll, der nach der Möglichkeit verlangt, beide Dimensionen des Lebens harmonisch zu verwirklichen, wirkt sich eine Nicht-Einigung letzten Endes erheblich zu seinen Lasten aus. Wenn es dem weltlichen und dem religiösen Gemeinwesen nicht gelingt, ihre Forderungen an den Menschen aufeinander abzustimmen, kann dieser in schwere Konflikte geraten, in denen er nicht beiden gleichzeitig gerecht werden kann. Problematisch sind nicht so sehr kontradiktorische Normkollisionen, in denen ein Gebot einer Erlaubnis oder eine Erlaubnis einem Verbot gegenübersteht, weil der Normadressat hier durch Einhaltung des Gebots bzw. des Verbots beiden Rechtsordnungen gerecht werden kann.216 Heikel sind vielmehr die ______________ 213

Vgl. Tempel, Position, 19; Vachek, Religionsrecht, 325; Als Partner der Entwicklungszusammenarbeit nennt Art. 3 Abs. 1 VO (EG) Nr. 1659/98 auch die Kirchen, religiösen Vereinigungen und Gemeinschaften (vgl. Heinig, Religionsgesellschaften, 401). 214

Tempel, Position, 19.

215

Vgl. Costamagna, Unione, 270f.

216

Erst recht gilt dies, wenn einer weltlich-rechtlichen Erlaubnis ein bloß moralisches Verbot der Kirche gegenübersteht. Dies ist etwa der Fall bei von Kondomen, wie er mehrfach Gegenstand von Anfragen bei der Europäischen Kommission und beim Parlament war (Mündliche Anfrage H-504/89; schriftliche Anfragen Nr. 993/91; E0498/96; E-0558/96). Die EG hat sich auf diesem Gebiet durch den Erlass der RL 93/42/EG über Qualitätsstandards von Kondomen sowie durch Programme zur AIDS-Bekämpfung in Entwicklungsländern betätigt. Da sie damit die künstliche

III. Ergebnisse des Dialogs

429

konträren Normkollisionen, bei denen ein Verbot in der einen Rechtsordnung einem Gebot desselben Inhalts in der anderen gegenübersteht, denn hier kann der Normadressat unmöglich beides zugleich erfüllen und verstößt damit zwangsläufig gegen eine der beiden Normen. Es ist daher zu untersuchen, ob die beiden Rechtsordnungen nicht auch Instrumente kennen, die den Einzelnen aus solchen Dilemmata befreien, wenn der Normkonflikt nicht durch eine Einigung im Dialog bereinigt werden konnte.

a) Kanonistische Instrumente zur Lösung von Normkonflikten Die Kanonistik kennt mehrere „Flexibilisierungsinstrumente“, die unter anderem dazu dienen, Normadressaten unter bestimmten Umständen von der Pflicht zu befreien, eine Vorschrift zu befolgen. Sie haben jeweils unterschiedliche Anwendungsfelder und Auswirkungen.217 Epikie: Unter Epikie versteht die heutige Kanonistik die aufgrund außerordentlicher Umstände des Einzelfalls vom Einzelnen zu treffende Gewissensentscheidung, derzufolge das Gesetz für ihn hier und jetzt nicht verbindlich ist.218 Stellt die ausweglose Lage, in der sich der Rechtsunterworfene bei einem konträren Konflikt zwischen einer kirchlichen und einer weltlichen Norm befindet, einen solchen außerordentlichen Umstand dar? Tatsächlich werden Normkollisionen häufig als Anwendungsfall der Epikie genannt, doch richtet sich der Blick dabei nur auf verschiedene kirchliche Normen, die miteinander kollidieren.219 Um Konflikte zwischen Normen ein und derselben Rechtsordnung zu vermeiden, stehen aber gewöhnlich rechtliche Instrumente wie Derogationsregeln zur Verfügung, die zu einem eindeutigen Ergebnis führen, so dass ein Rückgriff auf die Epikie normalerweise nicht nötig sein wird. Für Konflikte zwischen Normen verschiedener voneinander unabhängiger Rechts______________

Empfängnisverhütung aber nicht anordnet, hält sie Katholiken nicht davon ab, sich an die für sie geltenden Moralvorschriften zu halten. Indem sie ferner nicht auf die in den Anfragen vorgebrachte Aufforderung einging, im Vatikan für eine Aufhebung des Verhütungsverbots einzutreten, wahrte sie zugleich die weltanschauliche Distanz und das Verbot der Einmischung in religiöse Angelegenheiten. 217

Nach Ferrari / Ibán (Diritto e religione, 15) lösen die meisten Religionen Konflikte zwischen religiösen und weltlichen Gesetzen so, dass sie verlangen, Gott mehr zu gehorchen als den Menschen. Was hingegen die katholische Kirche betrifft, kann gerade wegen der zahlreichen „Flexibilisierungsinstrumente“ nicht davon die Rede sein, dass sie immer auf der Einhaltung der eigenen Normen gegenüber den weltlichen beharrt. 218

Vgl. Heimerl / Pree, Kirchenrecht, 12; Puza, Katholisches Kirchenrecht, 82.

219

Z.B. Mörsdorf, Lehrbuch I, 104.

430

F. Form, Grundlagen und Ergebnisse des religiösen Dialogs

ordnungen hingegen fehlen solche Regeln, weil es keinen beiden übergeordneten Rechtskomplex gibt. Deshalb ist hier ein noch größeres Anwendungsfeld für die Epikie gegeben als bei bloß internen Normkollisionen. Die Entscheidung, die der Einzelne dabei treffen muss, ist eine Gewissensentscheidung, weshalb die meisten Autoren die Epikie eher zum Bereich der Moral zählen als zum Recht.220 Das trifft besonders auf die externen Normkonflikte zu, weil hier eine rechtliche Lösung mangels entsprechender Rechtsnormen, auf die sich die beiden Seiten im religiösen Dialog eben nicht einigen konnten, gar nicht möglich ist. Neben den Normkollisionen wird auch die moralische Unmöglichkeit der Gesetzeserfüllung als Anwendungsfall der Epikie genannt.221 Diese liegt vor, wenn mit der Beobachtung eines Gesetzes, ohne dass dies vom Gesetz intendiert wäre, eine besondere Schwierigkeit verbunden ist, zu deren Überwindung eine so hohe Anstrengung erforderlich wäre, dass sie dem Einzelnen nicht zugemutet werden kann. 222 Das oben genannte Dilemma kann durchaus als eine solche Lage verstanden werden, wenn sich der Normadressat bei Nichtbeachtung des weltlichen Gesetzes eine schwere Sanktion zuzöge. Falls man die Ausübung der Epikie nicht unter den Titel „Normkollision“, soweit diese extern ist, subsumieren möchte, bliebe also immer noch ihre Ausübung unter dem Titel „moralische Unmöglichkeit“ zu erwägen. Die Eigenständigkeit und wechselseitige Unverletzlichkeit der beiden Rechtsordnungen bleibt bei der Epikie gewahrt, weil die Norm der einen die kollidierende Norm der anderen nicht aufhebt. Das Gesetz tritt nicht außer Kraft und behält seine objektive Verpflichtungskraft. 223 Allein die Verpflichtung im Einzelfall wird durch die subjektive Entscheidung ausgesetzt. Dadurch, dass es sich um eine Entscheidung des einzelnen Normadressaten und nicht der kirchlichen Autorität handelt, wird die Kirche nur am Rande in den Konflikt involviert. So wird dem Eindruck vorgebeugt, sie gewähre nun nachträglich doch eine Ausnahme, obwohl sie im Dialog nicht dazu bereit gewesen ist. Epikie bedeutet indessen nicht, dass der Normadressat, der sich im Dilemma befindet, nach Belieben aussuchen könnte, welche Norm er erfüllen möchte. ______________ 220

Vgl. Demel, Schutzmantel, 370; Nelles, Summum ius, 312; Prieto, Interpretación,

582. 221

Vgl. Nelles, Summum ius, 312; Leisching, Epikeia, 215.

222

Mörsdorf, Lehrbuch I, 104.

223

Vgl. Aymans / Mörsdorf, Lehrbuch I, 176. Die subjektive Meinung eines Privaten ändert nichts an der objektiven Verpflichtung des Gesetzes (Hilling, Spezialitäten, 6). Epikie ist ein ad-hoc-Korrektiv (Orsy, Interpretation, 102). Die Epikie kann immer nur gegenüber einem Gesetz angewandt werden; niemals kann dadurch ein nicht erreichbarer Gnadenakt usurpiert werden (Geringer, Hörmann, 294).

III. Ergebnisse des Dialogs

431

Vielmehr ist eine ernsthafte Abwägung im Gewissen 224 erforderlich, die auch zulasten der weltlichen Norm ausfallen kann. Da das weltliche Recht das Instrument der Epikie aber nicht kennt, müsste der Normadressat sich dann auf andere Befreiungsgründe berufen. 225 Aequitas canonica: Auch die aequitas canonica verfolgt das Ziel der Einzelfallgerechtigkeit, beruht jedoch im Unterschied zur Epikie nicht auf der subjektiven Gewissensentscheidung des einzelnen Normadressaten, sondern wird von der kirchlichen Autorität ausgeübt. Der CIC schärft selbst an mehreren Stellen ein, die kanonische Billigkeit zu berücksichtigen (cc. 19, 122, 221 § 2, 271 § 3, 686 § 3, 702 § 3, 1148 § 3, 1752), doch ist sie auch darüber hinaus bei der Gesetzesabfassung, -auslegung und vor allem -anwendung als Prinzip zu beachten, das aus Gründen des Seelenheils (salus animarum) zur Gerechtigkeit im Einzelfall verpflichtet.226 Nach Nelles kommt die aequitas auch bei Normkollisionen zum Zug und kann eine Entscheidung praeter oder contra legem für angebracht erscheinen lassen.227 Kollisionen mit Normen einer weltlichen Rechtsordnung erwähnt er zwar nicht eigens, doch dürfte auch das ein Fall für die aequitas sein, sofern die Voraussetzungen, insbesondere das Erfordernis der salus animarum, erfüllt sind. Sollte man dies verneinen, so könnte die aequitas wie schon die Epikie immer noch aus dem Grund der moralischen Unmöglichkeit angewandt werden. Dispens: Die Dispens ist die von der zuständigen kirchlichen Autorität ausgesprochene Befreiung von einem rein kirchlichen Gesetz in einem Einzelfall (c. 85 CIC). Ist sie ein geeignetes Mittel, um jemanden von der Einhaltung einer kirchlichen Vorschrift zu befreien, die ihn sonst in Konflikt mit einer weltlichen brächte? Jede Dispens bedarf eines gerechten und vernünftigen Grundes (c. 90 CIC). Gerecht ist ein Grund, wenn die Anwendung der allgemeinen Gesetzesnorm für den um die Dispens Bittenden in dessen konkreter Situation zu Unrecht, Schaden oder beträchtlichem Nachteil führen würde; vernünftig ist der Grund, wenn die Befreiung im Lichte des kirchlichen Heilsauftrags für das geistliche Wohl des zu Dispensierenden notwendig oder zumindest förderlich ist. 228 Es ist also durchaus denkbar, dass der unausweich______________ 224

Kriterien dazu bringen Aymans / Mörsdorf, Lehrbuch I, 177. Spezielle psychische Voraussetzungen sind hingegen nicht verlangt (so aber Virt, Epikie, 130). 225 Siehe unten im nächsten Abschnitt. Nikolaus von Kues plädierte übrigens dafür, dass auch der Kaiser Epikie anwenden solle so wie der Papst (vgl. Schott, Per epikeiam virtutem, 60). 226 Zur geschichtliche Entwicklung siehe Leisching, Epikeia, 215; zu den Grundlagen im Zweiten Vatikanischen Konzil siehe Hettinger, Life, 739. 227

Nelles, Summum ius, 300.

228

Socha, in: MKCIC, c. 90, Rn. 5f.

432

F. Form, Grundlagen und Ergebnisse des religiösen Dialogs

liche Konflikt mit einer Rechtsnorm des weltlichen Rechts einen ausreichenden Dispensgrund darstellt, zumal dieser Grund nicht so gewichtig und dringend sein muss wie bei der Epikie. Wenn aber generelle weltliche und kirchliche Normen tatsächlich in einem konträren Konflikt stehen, werden sich Kollisionen nicht auf Einzelfälle beschränken, wie sie aber ein Element der Definition von „Dispens“ darstellen. „Einzelfall“ bedeutet zwar nicht, dass die Dispens nicht auch eine Mehrheit von Personen oder für eine bestimmte Zeit sogar alle Adressaten des betreffenden Gesetzes von der Verpflichtung befreien könnte,229 doch sollte die Einhaltung des Gesetzes die Regel bleiben und die Dispens nur die Ausnahme bilden. Will man eine Befreiung auf Dauer aussprechen, so wäre zudem ein Privileg nach c. 76 CIC zu erwägen. Dieses wird aber nur individuell bestimmten Adressaten und nicht schlechthin allen gewährt, die sich in derselben Situation befinden. Außerdem greift das Privileg stärker in die kirchliche Rechtsordnung ein, weil es nicht nur von der Einhaltung einer objektiv weiter bestehenden Vorschrift befreit, sondern das objektive Recht selbst ändert. Das kanonische Recht kennt noch zahlreiche weitere Instrumente, die in den hier interessierenden Situationen Anwendung finden könnten. 230 Hat sich der Rechtsunterworfene im Normkonflikt bereits gegen die kirchliche Norm entschieden und wird er nun von der kirchlichen Autorität strafrechtlich zur Verantwortung gezogen, so ist zu prüfen, ob aufgrund seiner besonderen Lage nicht ein Strafausschluss- oder Strafminderungsgrund nach cc. 1323-1325 CIC zum Tragen kommt.231 Tolerantia und dissimulatio: Die Kirche kennt schließlich zwei Instrumente, die sie unter dem Druck rein tatsächlicher, oft staatspolitischer Machtverhältnisse und zur Vermeidung größerer Übel speziell in den hier interessierenden Fällen einsetzt, in denen ein weltliches Gesetz dem kirchlichen Recht widerspricht.232 Mit der tolerantia duldet die kirchliche Autorität ein Verhalten, ohne es jedoch zu billigen. Die dissimulatio hingegen ist kein aktiver Akt der Autorität, sondern ein bloßes Hinwegsehen über die Missachtung kirchlichen Rechts, ohne dass damit von der Verpflichtung befreit oder das Verhalten legitimiert würde. Die Kirche dissimuliert beispielsweise dann, wenn sie darüber hinwegsieht, dass sich auch katholische Ehepaare scheiden lassen, katholische Anwälte ______________ 229

Socha, in: MKCIC, c. 85, Rn. 16f.

230

Schwendenwein (Grundüberlegungen, 209-211) stellt mehrere Methoden dar, wie der CIC Kollisionen mit dem staatlichen Recht im Voraus zu vermeiden sucht. Leisching (Epikeia, 214) zählt neben aequitas und Epikie noch 43 weitere Institutionen des kanonischen Rechts auf, die eine fallgerechte Lösung ermöglichen sollen. 231

Zu den Strafausschluss- und Strafminderungsgründen siehe Rees, Strafgewalt,

381f. 232

Vgl. Aymans / Mörsdorf, Lehrbuch I, 272.

III. Ergebnisse des Dialogs

433

dabei mitwirken und katholische Richter das Urteil aussprechen.233 Dieses Beispiel betrifft auch EG-Recht, insofern die Ehe-VO (EG) Nr. 2201/2003 die Scheidungsmöglichkeiten erleichtert.234 Die erwähnten Instrumente, die unter anderem bei Normkollisionen angewandt werden können, besitzen aber auch ihre je eigenen Schranken, denn die Kirche kann nicht in jedem Fall Nachsicht zeigen. Die weltliche Seite könnte eine zu große Nachgiebigkeit dazu missbrauchen, um im religiösen Dialog auf Anliegen der Kirche nicht mehr einzugehen, weil erwartet wird, dass sie sich nachträglich ohnehin anpasst. Pree nennt als Schranken unter anderem die Glaubens- und Sittenwahrheiten, das positive und natürliche göttliche Recht, ein (geistlicher) Schaden oder ein Ärgernis für die Gläubigen, zwingende Erfordernisse der öffentlichen Ordnung, des Gemeinwohls oder des Wohls der Kirche, die Rechte der anderen usw.235 Die Schranken liegen aber bei jedem Flexibilisierungsinstrument anders. So kann sich die aequitas nicht auf irritierende oder inhabilitierende Gesetze beziehen, die Epikie jedoch schon.236 Dissimulation ist sogar bei Verstößen gegen göttliches Recht denkbar, Toleranz hingegen nicht.237 In bestimmten Fällen, wie bei einer Verletzung des Beichtgeheimnisses durch den Beichtvater, ist keinerlei Nachsicht möglich.238 Falls das im Verfahren vor dem EuGH (Art. 48 § 2 VerfO) und dem EuG (Art. 69 § 2 VerfO) geltende Aussageverweigerungsrecht für Zeugen also nicht zur Wahrung des Beichtgeheimnisses ausreichen sollte, kann die Kirche unter keinen Umständen beigeben.

b) Europarechtliche Instrumente zur Bereinigung von Normkonflikten Es muss auch von der weltlichen Autorität ein Entgegenkommen erwartet werden können, wenn sich ein Normadressat in dem Dilemma befindet, nicht gleichzeitig eine weltliche und eine damit kollidierende religiöse Vorschrift erfüllen zu können. Wenn er sich für die Einhaltung der religiösen Norm entscheidet und damit die andere verletzt, so dass er von der weltlichen Autorität zur Verantwortung gezogen wird, so bietet sich vor allem das Grundrecht ______________ 233

Ebd. 273.

234

Vgl. Berkmann, Ehe, 158f.

235

Pree, Tecniche, 392f.

236

Vgl. Nelles, Summum ius, 310; Prieto, Interpretación, 582.

237

Vgl. Pree, Tecniche, 415.

238

Unverletzlichkeit des Beichtsiegels nach c. 983 § 1 CIC; dem Apostolischen Stuhl vorbehaltene Tatstrafe der Exkommunikation (c. 1388 § 1 CIC).

434

F. Form, Grundlagen und Ergebnisse des religiösen Dialogs

auf Religionsfreiheit an, um sein Verhalten zu rechtfertigen.239 Nach Art. 9 Abs. 1 EMRK bzw. Art. 10 Abs. 1 GRCH ist auch die Beachtung religiöser Gebräuche grundrechtlich geschützt.240 Eine weltliche Vorschrift, die solche Gebräuche vereitelt, greift in die Religionsfreiheit ein. 241 Die EMRK-Judikatur zeigt sich jedoch vorsichtig, in solchen Fällen eine Verletzung der Religionsfreiheit anzunehmen. Sie verlangt, dass der Betroffene absolut keine andere Möglichkeit hatte und lehnt eine Verletzung ab, wenn er sich z.B. freiwillig in einem Arbeitsvertrag zur Einhaltung bestimmter Arbeitszeiten verpflichtet hat, obwohl sie sich mit obligatorischen Gebetszeiten überschneiden.242 Daran wird kritisiert, dass nicht zu streng und zu formalistisch geprüft werden darf, ob der Betroffene wirklich keine Alternative hatte und somit ein echter konträrer Widerspruch zwischen der weltlichen und der religiösen Norm vorlag. 243 Der EuGH zeigte sich im Urteil Prais (Rs. 130/75) großzügiger, indem er befand, dass schriftliche Bewerbungsprüfungen an Tagen stattfinden müssen, an denen Angehörige bestimmter Religionen nicht wegen religiöser Ruhegebote an der Teilnahme gehindert sind. Strenggenommen lag hier kein konträrer Widerspruch vor, weil die Interessentin nicht gezwungen war, sich um die Stelle zu bewerben. Dennoch ist zu Recht ein Rücksichtnahmegebot aufgrund der Religionsfreiheit anzunehmen, weil der Arbeitsplatz für die Sicherung der persönlichen Existenz wesentlich ist.244 ______________ 239

Der Einfluss religiöser Gebote auf die Anwendung weltlicher Normen ist nach Benedict beachtlich: Sie bleiben unangewendet, werden grundrechtskonform interpretiert oder gar umformuliert, erfahren eine Ausweitung ihres Anwendungsbereichs oder fallen der (Teil-)Nichtigkeit anheim (Benedict, Bedeutung, 381). Nach Bausback hat das Grundrecht auf Religionsfreiheit klar die Funktion einer „europäischen Verfassungskollisionsnorm“ zur Abgrenzung der religiösen Normenordnungen von der weltlichen (Bausback, Religions- und Weltanschauungsfreiheit, 273). 240

Nach Söbbeke-Krajewski (Acquis Communautaire, 127) ist damit durchaus die Befolgung von Regeln gemeint, die von einer religiösen Autorität festgelegt oder durch längere, mit wiederkehrender Regelmäßigkeit befolgte Übung begründet werden. 241

Gimelli (Osservazioni, 242) unterscheidet zwischen der Religionsausübungsfreiheit und dem darüber hinausgehenden Recht, gemäß den religiösen Geboten zu leben. 242

EKMR, Nr. 24949/94, Konttinen S.75. Es wird also ein klarer konträrer Normkonflikt verlangt. So kann auch nach Berka (Grundrechte, 299) ein Rechtfertigungsgrund nur dann angenommen werden, wenn der einzelne durch die Beachtung weltlicher Gesetze in einen unausweichlichen religiösen Konflikt gestürzt würde. 243 244

Vgl. Martínez-Torrón, Giurisprudenza, 374.

Der Rat wandte in seinem Vorbringen ein, dass er, falls religiöse Gebräuche wirklich zu beachten wären, zwischen Religionen unterscheiden müsste, deren Gebräuche für die Gläubigen verbindlich sind, und solchen, die ihren Anhängern Freiheit ließen (S.

IV. Ein Europa-Konkordat?

435

Nachdem gerade heute viele neue und bislang unbekannte religiöse Gruppen auftauchen, könnte die Gefahr entstehen, dass die Religionsfreiheit missbraucht wird, indem gezielt kollidierende religiöse Vorschriften aufgestellt werden, um bestimmte weltliche Vorschriften zu konterkarieren. 245 Es ist aber nach einer EKMR-Entscheidung nicht anzunehmen, dass jemand einer Religionsgemeinschaft, die viele Entbehrungen verlangt, beitritt, nur um einer missliebigen bürgerlichen Pflicht zu entkommen. Bei Individuen hingegen, die nicht Mitglied einer Religionsgemeinschaft sind, existiert kein vergleichbarer Beweis dafür, dass ihre Meinung auf echter religiöser Überzeugung beruht, aufgrund derer sie von den Verpflichtungen eines Bürgers zu befreien wären. 246 Die Religionsfreiheit ist in dieser Hinsicht also stärker als die Meinungsfreiheit. Die weltliche Rechtsordnung muss jedoch nicht alle beliebigen religiösen Normen akzeptieren und ihnen aufgrund der Religionsfreiheit Vorrang vor den eigenen Gesetzen einräumen. Zu deren Schutz sind selbstverständlich die Schranken des Grundrechts zu beachten (vgl. Art. 9 Abs. 2 EMRK). Anderseits übt die Religionsfreiheit aber auch einen gewissen Druck auf den weltlichen Teilnehmer am religiösen Dialog aus. Wenn er nämlich im Dialog die Anpassung seiner Rechtsordnung an die religiösen Erfordernisse ablehnt, droht ihm eine Beschwerde wegen Verletzung der Religionsfreiheit, bei deren erfolgreichem Ausgang er letztlich doch eine Anpassung vornehmen muss. Falls der Dialog also zu keiner Einigung führen sollte, stehen sowohl in der weltlichen als auch in der religiösen Rechtsordnung Instrumente zur Verfügung, die dem Einzelnen helfen, widersprechenden Forderungen zu entgehen. Manchmal wird eher ein Instrument der einen Rechtsordnung, manchmal eher eines der anderen in Frage kommen. Ob sich so aber immer ein gangbarer Weg finden lässt, kann freilich nicht garantiert werden. Deswegen ist auf jeden Fall eine einvernehmliche Lösung durch den religiösen Dialog anzustreben.

IV. Ein Europa-Konkordat? Der religiöse Dialog kann Ergebnisse in verschiedensten Formen hervorbringen. So können ethische Prinzipien, die von den Religionsgemeinschaften vertreten werden, in die EU-Rechtsordnung einfließen; die EU-Organe können ______________

1592). In dieser Beobachtung zeigt sich gerade der Unterschied von konträren und anderen Widersprüchen. 245

Giegerich warnt davor, alles, was religiöse Minderheiten begehren, zu gewähren, und fragt, wer denn überhaupt den Inhalt religiöser Gebote festlege (Gleichheitsanspruch, 299 und 303). 246

EKMR, Nr. 10410/83, N / Schweden, 207f.

436

F. Form, Grundlagen und Ergebnisse des religiösen Dialogs

bei der Rechtsetzung die Anliegen der Religionsgemeinschaften von sich aus oder in Abstimmung mit ihnen berücksichtigen; die Europäische Union kann mit ihnen auf verschiedenen Gebieten zusammenarbeiten und sie kann schließlich auch einen Vertrag mit ihnen abschließen. Tatsächlich hat der Großteil der Mitgliedstaaten seine Beziehungen zur katholischen Kirche vertraglich durch Konkordat geregelt [unten Kapitel H.II.]. Wäre diese Möglichkeit auch für die Europäische Union zu erwägen? Da diese Frage mehrere Probleme aufwirft, die in der Literatur noch kaum gründlich behandelt worden sind, soll sich dieses Kapitel eigens mit dieser speziellen Form der Fixierung von Dialogergebnissen beschäftigen. Die rechtliche Fähigkeit für den Abschluss von Verträgen ist in den folgenden Abschnitten für beide Partner gesondert zu prüfen. Zunächst soll der Abschluss eines völkerrechtlichen Vertrags mit der katholischen Kirche – in Bezug auf die Einzelstaaten meist Konkordat genannt – geprüft werden; danach wird gerade im Hinblick auf andere Religionsgemeinschaften auch die Möglichkeit nicht-völkerrechtlicher Verträge anzusprechen sein.

1. Kirchliche Grundlagen Um einen völkerrechtlichen Vertrag abschließen zu können, müssen beide Partner Völkerrechtssubjekte sein. Was nun die kirchliche Seite betrifft, so ist in der Kanonistik die Lehre verbreitet, dass sowohl die katholische Kirche selbst als auch der Heilige Stuhl Völkerrechtssubjektivität besitzen. Ekklesiologisch gründet die Völkerrechtssubjektivität der Kirche in ihrer universalen Sendung und in ihrer rechtlichen Eigenständigkeit. 247 Vertragspartner eines Konkordats ist dann die katholische Kirche selbst. 248 In der Völkerrechtslehre wird hingegen zumeist nur dem Heiligen Stuhl Völkerrechtssubjektivität zugesprochen. Nach der vermittelnden Position Köcks besitzt der Heilige Stuhl eine heute einzigartige Form von Organsouveränität, so dass er die Kirche nicht nur repräsentiert, sondern personifiziert.249 In der Praxis relativieren sich die Divergenzen insofern, als die Verträge ohnehin vom Heiligen Stuhl als oberstem Leitungsorgan der katholischen Kirche abgeschlossen werden. Da er gleichzeitig aber auch das oberste Leitungsorgan des Staats der Vatikanstadt ist, muss stets unterschieden werden, in welcher Eigenschaft er einen bestimmten Vertrag abschließt.250 Von „Konkordaten“ spricht man nur, wenn er für die Kirche kontrahiert. ______________ 247

Rees, Päpstliche Legaten, 146.

248

Vgl. Corral, Concordato, 240.

249

Köck, Aspekte, 25.

250

Buonomo, Holy See, 24.

IV. Ein Europa-Konkordat?

437

Konkordate sind als völkerrechtliche Verträge zu qualifizieren, weil sie zwischen Völkerrechtssubjekten geschlossen werden und das völkerrechtliche Vertragsregime auf sie angewandt wird.251 Indessen bezeichnen nicht alle völkerrechtlichen Verträge, die der Heilige Stuhl mit weltlichen Autoritäten für die Kirche abschließt, sich selbst als „Konkordate“, und auch die kirchlichen Gesetzbücher sprechen hauptsächlich von Konventionen („conventiones“ z.B. cc. 3 und 365 § 1 ° 2 CIC, c. 4 CCEO). Wo zwischen Konkordaten und anderen Verträgen unterschieden wird (wie z.B. in c. 365 § 1 ° 2 CIC oder Art. 46 ° 1 PastBon), soll „Konkordat“ nur die in feierlicher Form geschlossenen völkerrechtlichen Verträge erfassen, die das Staat-Kirche-Verhältnis umfassend und dauerhaft regeln.252 Eine bloß provisorische Regelung wird hingegen als „modus vivendi“ bezeichnet.253 Im Folgenden wird „Konkordat“ jedoch im weiten Sinn verstanden, um einen kurzen und prägnanten Begriff für alle völkerrechtlichen Verträge, die der Heilige Stuhl über kirchliche Belange abschließt, zur Verfügung zu haben. Kann der Heilige Stuhl Konkordate auch mit Internationalen Organisationen wie der Europäischen Gemeinschaft abschließen, wo die Kontrahenten doch normalerweise einzelne Staaten sind? Auf Seiten des Heiligen Stuhls liegen hier gewiss keine Beschränkungen vor. Während c. 3 CIC/1917 dem Wortlaut nach nur Übereinkünfte mit verschiedenen Staaten („cum variis Nationibus“) ______________ 251

Vgl. ebd. 23. Manche Autoren wollen wegen der Ausnahmestellung des Heiligen Stuhls und des besonderen Vertragsinhalts nur von „quasi-völkerrechtlichen“ Verträgen sprechen. Eine Übersicht dazu bringt Socha (MKCIC c. 3, Rn. 6), der sich dieser Meinung jedoch nicht anschließt. Andere sehen die völkerrechtliche Qualität von Konkordaten aufgrund der heutigen Zeitumstände immer mehr in Frage gestellt (vgl. Tempel, Position, 18; Torfs, Relationships, 83). Nun ist der Heilige Stuhl zwar ein besonderes, aber eben doch ein echtes Völkerrechtssubjekt, und der Inhalt eines Vertrags ist unerheblich für seine Qualifizierung als völkerrechtlich. In der Tat werden völkerrechtliche Verträge mit völlig unterschiedlichen Inhalten geschlossen, darunter auch die Religionsfreiheit (z.B. in Menschenrechtskonventionen oder Friedensverträgen). Außerdem gibt es kein „Quasi-Völkerrecht“, dem die fraglichen Konkordate unterstehen könnten, sondern nur das Vertragsregime des einen Völkerrechts. Dass die Zahl von Konkordatsschlüssen in den letzten drei Jahrzehnten zugenommen hat und dass dafür durchweg unwidersprochen eine völkerrechtliche Vertragsschlussform gewählt wurde, bestätigt hinreichend, dass sie auch in der heutigen Zeit ihre völkerrechtliche Qualität keineswegs eingebüßt haben. Auch Listl (Konkordat, 594) zählt Konkordate zu den völkerrechtlichen Verträgen im strengen Sinn. 252 253

Vgl. Erdö, Concordato, 47; Listl, Konkordat, 589; Socha, MKCIC c. 3, Rn. 4.

Corral, Concordato, 238. Dieser Begriff findet sich in Art. 10 Abs. 1 lit. c SOE und in c. 303 § 1 ° 2 CIC-Schema/1980. In den CIC/1983 ging er jedoch nicht ein, weil er als überflüssig erachtet wurde [Comm 14 (1982) 186].

438

F. Form, Grundlagen und Ergebnisse des religiösen Dialogs

im Blick hatte, sprechen c. 3 CIC/1983 und c. 4 CCEO auch von Übereinkünften mit anderen politischen Gemeinschaften („cum … aliisve societatibus politicis“). In der Lehre werden darunter durchweg auch internationale und supranationale Organisationen verstanden.254 Grundsätzlich ist also auch ein völkerrechtlicher Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und einer Internationalen Organisation möglich, und tatsächlich gibt es solche bereits. So schloss der Heilige Stuhl als höchste Autorität der Kirche am 19.10.2000 eine Kooperationsvereinbarung mit der OAU (inzwischen: AU), derzufolge die gegenseitigen Beziehungen durch Konsultationen, Konferenzen, Zusammenarbeit und gemeinsame Aktionen ausgebaut werden sollen.255 In diesem Punkt hat Afrika die auf ihren hohen Integrationsgrad so stolze Europäische Gemeinschaft also bereits überholt.

2. Völkerrechtliche Vertragsfähigkeit der Europäischen Gemeinschaft Nachdem nun die kirchliche Konkordatsfähigkeit auch in Bezug auf Internationale Organisationen geklärt ist, muss das Entsprechende noch für die Seite der Europäischen Gemeinschaft geprüft werden. Diese hat mit der Währungsvereinbarung256 vom 29.12.2000 bereits einen völkerrechtlichen Vertrag mit dem Heiligen Stuhl geschlossen, doch wurde dieser dabei als höchste Autorität des Staats der Vatikanstadt, nicht der katholischen Kirche tätig. Immerhin zeigt dies aber, dass ein solcher Vertrag grundsätzlich möglich ist. Ein völkerrechtlicher Vertrag mit dem Heiligen Stuhl als höchster Autorität der Kirche fehlt ______________ 254

Heimerl / Pree, Kirchenrecht, 27; Socha, MKCIC c. 3, Rn. 3; Spinelli, Diritto pubblico ecclesiastico, 69. Corral / Elmisi Ilari denken sogar ausdrücklich an die Europäische Union (Universalità, 99). 255

Pactio cooperationis inter Sanctam Sedem et Unitatis Africanae Institutionem (19. 10. 2000), in: AAS 93 (2001) 15-18. 256

Conventio monetalis pactio inter Statum Civitatis Vaticanae et eius opera inter Sanctam Sedem et Italicam Rempublicam communitatis Europae nomine (29.12.2000), in: AAS 93 (2001) 750-756. = Währungsvereinbarung zwischen der Italienischen Republik - im Namen der Europäischen Gemeinschaft - und dem Staat Vatikanstadt, vertreten durch den Heiligen Stuhl, in: ABl. Nr. C 299 vom 25.10.2001 S. 1-4. Nach der Erklärung Nr. 6 im Anhang zur Schlussakte des EUV hat sich die Gemeinschaft verpflichtet, die Neuaushandlung der bestehenden Währungsübereinkünfte Italiens mit dem Staat der Vatikanstadt zu fördern. Auf der Grundlage von Art. 111 Abs. 3 EGV beschloss der Rat, dass Italien aus historischen Gründen die Vereinbarung im Namen der Gemeinschaft aushandeln und abschließen soll, und legte zugleich deren Inhalt fest. (Entscheidung 1999/98/EG des Rates vom 31. Dezember 1998 über den von der Gemeinschaft zu vertretenden Standpunkt bezüglich einer Vereinbarung über die Währungsbeziehungen zur Vatikanstadt, in: ABl. Nr. L 030 vom 4.2.1999 S. 35-36).

IV. Ein Europa-Konkordat?

439

zwar bislang, doch bestehen Rauch zufolge bereits Überlegungen, dass der Heilige Stuhl wie auch der souveräne Malteserritterorden eine völkerrechtliche Vereinbarung mit der Europäischen Gemeinschaft schließen sollte, um Rechtssicherheit herbeizuführen über die wettbewerbsrechtliche Beurteilung sozialer Dienste, die von kirchlichen Trägern ausgeführt werden. 257 Von kirchlicher Seite wurde bei der Jubiläumsfeier der Lateranverträge am 11.2.2003 das Instrument der Konkordate zur Regelung des Staat-Kirche-Verhältnisses gelobt und im Zusammenhang mit dem strukturierten Dialog auch als Vorbild für Europa dargestellt.258 Im Folgenden ist nun zu prüfen, inwiefern ein „EuropaKonkordat“ rechtlich überhaupt möglich ist. In den zwei Jahrhunderten Konkordatsgeschichte seit dem Napoleonischen Konkordat von 1801 hat der Heilige Stuhl Konkordate mit ganz verschiedenen Staatstypen abgeschlossen:259 Monarchien, Republiken, demokratischen und totalitären Staaten, vorwiegend katholischen, religiös neutralen und sogar islamischen Ländern. Damit hat sich das Konkordatsinstrument, was die Vertragspartner betrifft, als äußerst vielseitig und offen erwiesen. Es muss daher auch dann nicht verschwinden, wenn heute die Staaten in Europa Teile ihrer Hoheitsgewalt an eine supranationale Organisation abtreten und damit eine neue politische Organisationsform schaffen. Die Europäische Gemeinschaft besitzt nach Art. 281 EGV Völkerrechtssubjektivität, 260 doch ist diese wie bei allen Internationalen Organisationen auf jenes Ausmaß beschränkt, das die Gründungsstaaten ihr zur Erfüllung ihrer Aufgaben zugewiesen haben. Die Europäische Union hingegen entbehrt der Völkerrechtsubjektivität, auch wenn ihr manche Stimmen in der Lehre eine solche zusprechen wollen. Erst wenn die Europäische Gemeinschaft durch den Verfassungsvertrag in der neuen Europäischen Union aufgegangen ist, wird letztere Völkerrechtssubjekt (Art. I-7 VVE). Vorher kann der Heilige Stuhl nur mit der Europäischen Gemeinschaft einen völkerrechtlichen Vertrag schließen, der dann aufgrund der Sukzession261 auf die Europäische Union übergeht. ______________ 257 Rauch, Sozialbereich, 153. Zöge man nun auch noch das Rote Kreuz bei, so wären genau jene drei besonderen Völkerrechtssubjekte beteiligt, die im sozialen Bereich wirken. 258

ASS 64 (2003) 76.

259

Vgl. Astorri, Accordi, 23; Margiotta Broglio, Concordats, 47.

260

Vgl. EuGH, Rss. 3,4,6/76, Kramer, Rn. 18.

261

Angesichts der Unklarheiten über die völkerrechtliche Sukzession von Internationalen Organisationen zweifelt Fassbender jedoch, ob die neue Union Drittstaaten ihre automatische Rechtsnachfolge einseitig entgegenhalten kann (Völkerrechtssubjektivität, 28).

440

F. Form, Grundlagen und Ergebnisse des religiösen Dialogs

Grundsätzlich besitzt die Europäische Gemeinschaft auch die Fähigkeit, völkerrechtliche Verträge zu schließen. Dazu regelt Art. 300 EGV das Verfahren, während andere Bestimmungen wie z.B. die Art. 133, 149-152 und 181f. EGV der Gemeinschaft die erforderliche Kompetenz verleihen. 262 Nun erwähnen diese Normen aber nur Staaten und Internationale Organisationen als Vertragspartner, nicht jedoch andere Völkerrechtssubjekte wie den Heiligen Stuhl. Ist dieser damit ausgeschlossen? Keineswegs, denn diese Erwähnung hat nur beispielhaften Charakter, wie aus Art. 181 Abs. 1 Satz 2 hervorgeht, der mit dem alles umfassenden Begriff „dritte Parteien“ fortfährt.263 Außerdem hat die Europäische Gemeinschaft in der Tat schon völkerrechtliche Verträge mit (partiellen) Völkerrechtssubjekten geschlossen, die weder Staaten noch Internationale Organisationen waren, nämlich mit der PLO und mit Namibia vor der Erlangung der Unabhängigkeit.264 Der EuGH versteht den Begriff „Abkommen“ in Art. 300 Abs. 1 EGV in einem allgemeinen Sinn, so dass er jede von Völkerrechtssubjekten eingegangene bindende Verpflichtung ungeachtet ihrer Form umfasst.265 Da sonach alle Völkerrechtssubjekte erfasst sind, ist auch der Heilige Stuhl einbezogen, und da die Form der völkerrechtlichen Verpflichtung unerheblich ist, kommen klassische Konkordate ebenso in Betracht wie bloße Vereinbarungen oder Notenwechsel. Auch die herrschende Lehre dehnt den Wortlaut auf andere Völkerrechtssubjekte aus, nicht jedoch auf NGO. 266 Mehrere Autoren führen sogar ausdrücklich an, dass auch der Heilige Stuhl miterfasst ist.267 3. Explizite Außenkompetenzen der Europäischen Gemeinschaft Einige Bestimmungen des EGV verleihen der Gemeinschaft ausdrücklich Kompetenzen für das Außenverhältnis. Wenn auf dem betreffenden Gebiet nur ______________ 262 Turowski will EG-Kirchenverträge auf Art. 300 und 302 EGV stützen (Turowski, Staatskirchenrecht, 21). Aber Art. 300 EGV regelt eben nur das Verfahren, und Art. 302 EGV betrifft nur die Beziehungen zu den internationalen Organisationen. 263

Pitschas, Art. 300 EGV, Rn. 6.

264

Tomuschat, in Art. 300 EGV, Rn. 22.

265

EuGH, Gutachten 1/75, lokale Kosten, Rn. 2; Gutachten 2/92, OECD, Rn. 8.

266

Benedek, Art. 181 Rn. 2; Zimmermann, Art. 181 EGV, Rn. 5. Nach manchen Autoren sind in Art. 152 Abs. 3 EGV aber auch Verträge mit privaten NGOs erfasst: Lurger, Art. 152 EGV, Rn. 34; Schmidt am Busch, Art. 152 EGV, Rn. 24. 267

Barberini, Saint-Siège, 214; Costamagna, Unione, 118 und 221; Heinig, Religionsgesellschaften, 493; Margiotta Broglio, Fenomeno, 215; Rees, Konkordate, 138; ders., Päpstliche Legaten, 174; Robbers, Amsterdam, 400; Tomuschat, Art. 300 EGV, Rn. 22; de Wall, Entwicklungen, 218.

IV. Ein Europa-Konkordat?

441

die Gemeinschaft völkerrechtliche Verträge schließen kann, handelt es sich um eine ausschließliche Außenkompetenz, wenn daneben jedoch weiterhin auch die Mitgliedstaaten in gleicher Weise tätig werden können, liegt eine parallele Außenkompetenz vor. Eine explizite ausschließliche Außenkompetenz besitzt die Gemeinschaft für den Abschluss von Zoll- und Handelsabkommen (Art. 133 EGV), Assoziierungsabkommen (Art. 310 EGV) und heute wohl auch – zumindest hinsichtlich des „Eurolandes“ – für Währungsabkommen (Art. 111 Abs. 3 EGV).268 Aufgrund der letztgenannten Kompetenz wurde, wie oben dargelegt, bereits ein Abkommen mit dem Heiligen Stuhl geschlossen, das jedoch nicht die katholische Kirche, sondern den Staat der Vatikanstadt betrifft. Ein Assoziierungsabkommen mit dem Heiligen Stuhl scheidet aus, so dass nur noch die Kompetenz nach Art. 133 EGV zu untersuchen bleibt. Zolltarife können durchaus einen kirchlichen Bezug haben, wenn sie religiöse Gegenstände betreffen, werden aber nicht mit dem Heiligen Stuhl, sondern mit den jeweiligen Ein- bzw. Ausfuhrstaaten vereinbart. In ähnlicher Weise können kirchliche Belange auch von Handelsabkommen betroffen sein, doch wird der Heilige Stuhl dabei nicht Vertragspartner sein, da der Handel ja nicht mit ihm getrieben wird, sondern ihn nur deshalb berührt, weil Gegenstand des Handels auch kirchliche Güter, geistiges Eigentum oder kirchlich erbrachte Dienstleistungen sein können. Soweit diese jedoch in die Bereiche Kultur, Bildung, Soziales und Gesundheitswesen fallen, was bei der Kirche häufig der Fall sein wird, besitzt die Gemeinschaft seit dem Vertrag von Nizza keine ausschließliche sondern eine gemischte Zuständigkeit zusammen mit den Mitgliedstaaten (Art. 133 Abs. 6 EGV). Als inhaltlich ergiebiger für einen Vertrag mit dem Heiligen Stuhl erweisen sich die expliziten parallelen Außenkompetenzen der Gemeinschaft, z.B. jene auf dem Gebiet der Entwicklungszusammenarbeit, wo die Gemeinschaft Abkommen mit dritten Parteien schließen kann (Art. 181 Abs. 1 EGV).269 Als solche kommen nicht nur Geber- bzw. Empfängerstaaten in Betracht, sondern auch Internationale Organisationen, die sich mit der Entwicklungszusammenarbeit befassen. Da nun ein beträchtlicher Teil der Entwicklungshilfe weltweit ______________ 268 269

Vgl. Nettesheim, Kompetenzen, 453; Tomuschat, Art. 300 EGV, Rn. 5.

„Parallel“ ist diese Kompetenz deshalb, weil auch die Mitgliedstaaten weiterhin völkerrechtliche Verträge auf diesem Gebiet schließen können (Art. 181 Abs. 2 EGV). Die Natur der Entwicklungszusammenarbeit schließt es nicht aus, dass beide Ebenen gleichzeitig tätig werden, solange nur ihre Aktivitäten aufeinander abgestimmt sind und sich nicht gegenseitig behindern (vgl. Art. 10 und 180 EGV). Qualifizierung von Art. 181 als parallele Außenkompetenz: Pitschas, Art. 181, Rn. 1; Zimmermann, Art. 181 EGV, Rn. 12.

442

F. Form, Grundlagen und Ergebnisse des religiösen Dialogs

von Trägern geleistet wird, die zur katholischen Kirche zu zählen sind, bietet sich eine Vereinbarung mit dem Heiligen Stuhl als vorzügliches Instrument zur Koordinierung und Förderung dieser Tätigkeit an. Nach Art. 181 EGV kann mit allen Arten von Völkerrechtssubjekten270 – also auch mit dem Heiligen Stuhl – eine solche Vereinbarung geschlossen werden. Entwicklungshilfeorganisationen ohne diese Qualität können nicht-völkerrechtliche Verträge mit der Gemeinschaft auf der Grundlage von Art. 274 EGV und den jeweiligen Haushaltsansätzen schließen.271 Falls es sich um eine wirtschaftliche, technische oder finanzielle Zusammenarbeit handelt, ist auch Art. 181a Abs. 3 EGV als Kompetenzgrundlage in Betracht zu ziehen. Die Entwicklungszusammenarbeit stellt jedoch keine so typische Konkordatsmaterie dar wie etwa Bildung, Kultur und Gesundheitswesen, die in den Art. 149, 151 bzw. 152 EGV geregelt sind. Diese Artikel weisen der Gemeinschaft auf den drei genannten Gebieten jeweils in Abs. 3 tatsächlich eine explizite parallele Außenkompetenz zu, doch im Unterschied zu Art. 181 Abs. 1 EGV erwähnen sie Vertragsschlüsse nicht ausdrücklich, sondern nur die Förderung der internationalen Zusammenarbeit. Kann man nun aus der expliziten Erwähnung in Art. 181 EGV e contrario schließen, dass der EGV Vertragsschlüsse dort, wo er sie nicht erwähnt, ausschließen wollte? Falls die explizite Außenkompetenz im jeweils dritten Absatz der genannten Bestimmungen keine Vertragsschlusskompetenz enthalten sollten, wäre eine solche gemäß der AETR-Judikatur des EuGH immer noch aus den Innenkompetenzen ableitbar, die jeweils in den Abs. 2 festgelegt sind.272 Die AETR-Rechtsprechung kann aber auch direkt als Argument dafür dienen, dass die bloße Nicht-Erwähnung keinen vollständigen Ausschluss jeder Vertragsschlusskompetenz bedeuten kann. Sie gehört nämlich zum gemeinschaftlichen Besitzstand, der gemäß Art. 2 Abs. 1 SpStr. 5 und Art. 3 Abs. 1 EUV gewahrt werden soll und den gleichen Rang wie die drei genannten Bestimmungen hat, so dass eine Normkollision entsteht, die im Wege der praktischen Konkordanz dadurch gelöst werden kann, dass der Gemeinschaft sehr wohl eine Vertragsschlusskompetenz zugesprochen wird, die jedoch auf Fördermaßnahmen und Empfehlungen beschränkt ______________ 270 Vgl. Benedek, Art. 181 Rn. 2; Schmalenbach, Art. 181 EGV, Rn. 3. Die dritten Vertragspartner können auch partielle Völkerrechtssubjekte sein, aber keine Nichtregierungsorganisationen. 271 So Benedek, Art. 181 Rn. 2; Zimmermann, Art. 181 EGV, Rn. 6. Das Beispiel von Zimmermann, nämlich das Rote Kreuz, ist aber schlecht gewählt, weil gerade dieses in seinem Leitungsorgan, dem Internationalen Komitee, sehr wohl Völkerrechtssubjektivität besitzt. 272

So Blanke zu Art. 151 EGV, Rn. 13.

IV. Ein Europa-Konkordat?

443

ist.273 Außerdem ermächtigen die drei Bestimmungen in Abs. 3 ausdrücklich zur Förderung der internationalen Zusammenarbeit. Da diese ohne das Instrument der internationalen Verträge kaum möglich wäre, müssen diese von der Ermächtigung schon von vornherein miterfasst sein. 274 Die Europarechtslehre tendiert jedenfalls dazu, eine Vertragsschlusskompetenz zu bejahen.275 Beispielsweise hat die Gemeinschaft auf der Grundlage von Art. 149 Abs. 3 EGV bereits ein Kooperationsabkommen mit Kanada und den USA geschlossen. Sie besitzt somit tatsächlich eine, wenn auch beschränkte und nicht ausschließliche Kompetenz, völkerrechtliche Verträge auf den Gebieten Bildung, Kultur und Gesundheit abzuschließen, also Gebieten, die traditionell Konkordatsmaterien sind. Was die allgemeine Bildung nach Art. 149 EGV betrifft – die berufliche nach Art. 150 EGV ist ähnlich konzipiert, berührt den kirchlichen Bereich aber eher weniger –, so ist die Außenkompetenz der Gemeinschaft ebenso wie die Innenkompetenz auf die Ziele des Abs. 2 beschränkt, die eine selbstständige EG-Bildungspolitik nicht ermöglichen.276 Für einen Vertrag über den Religionsunterricht, wie er Gegenstand vieler Konkordate ist, wäre die Gemeinschaft daher nicht zuständig, auch nicht bezüglich der Europäischen Schulen, da diese auf einem völkerrechtlichen Vertrag zwischen den Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft, aber nicht auf eine Sekundärrechtsakt nach Art. 149 EGV beruhen.277 Dennoch wäre ein Vertrag mit dem Heiligen Stuhl auf der Grundlage von Art. 149 EGV sinnvoll, da die Ziele des Abs. 2 hauptsächlich die Förderung der Zusammenarbeit zwischen den Bildungseinrichtungen der verschiedenen Staaten vorsehen und gerade in diesem Punkt die katholische Kirche nicht übergangen werden kann, weil sie vielerorts die größte nicht-staatliche Schulträgerin darstellt. Dadurch, dass sie ihr Schulnetz schon lange vor der europäischen Integration über die verschiedensten Länder ausgebreitet hat, erscheint sie als ideale Partnerin für die internationale Bildungszusammenarbeit. Ähnli______________ 273

Diese Interpretation, die Ress / Ukrow zu Art. 151 EGV entwickelt haben, ist ohne weiteres auch auf die gleich konzipierten Art. 140 und 152 EGV übertragbar (Ress / Ukrow, Art. 151 EGV, Rn. 59). 274

Ebd.

275

Fechner lehnt sie zwar grundsätzlich ab, bejaht sie aber für Fördermaßnahmen und Empfehlungen, womit er dem Ergebnis von Ress / Ukrow nahe kommt (Fechner, Art. 151 EGV, Rn. 29). Wichard (Art. 152 EGV, Rn. 21) und Lurger (Art. 152, Rn. 34) anerkennen die Vertragsschlusskompetenz auch für das Gesundheitswesen nach Art. 152 Abs. 3 EGV. 276 277

Krebber, Art. 149 EGV, Rn. 17.

Vereinbarung über die Satzung der Europäischen Schulen vom 21.6.1994, in: ABl. Nr. L 212 vom 17.8.1994 S. 3.

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F. Form, Grundlagen und Ergebnisse des religiösen Dialogs

ches gilt auch für die katholischen und kirchlichen Universitäten. Für diese sind beispielsweise die europäischen Austauschprogramme sowie die gegenseitige Anerkennung von Diplomen in Erwägung zu ziehen. Der Heilige Stuhl beteiligt sich außerdem durch die Bildungskongregation am Bologna-Prozess, der die universitären Ausbildungsgänge und Abschlüsse in Europa harmonisieren möchte und von der EG-Kommission tatkräftig unterstützt wird, auch wenn er kein reines EG-Projekt darstellt.278 Im kulturellen Bereich sind mehrere Materien vorstellbar, die Gegenstand einer Vereinbarung zwischen der Europäischen Gemeinschaft und dem Heiligen Stuhl sein können. Schon bisher förderte die Gemeinschaft im Rahmen verschiedener Programme z.B. die Erhaltung von Kirchengebäuden, die zum europäischen architektonischen Erbe gehören. Das könnte durch einen Vertrag einen festeren Rahmen erhalten. Der Austausch von Kulturgütern innerhalb und außerhalb des Gemeinschaftsgebiets ist durch Sekundärrechtsakte geregelt.279 Da dies auch die kirchliche Vermögensfreiheit berührt, wäre dazu eine Vereinbarung mit dem Heiligen Stuhl denkbar.280 Was das Gesundheitswesen betrifft, so wird in Konkordaten häufig die Krankenhausseelsorge oder auch die kirchliche Trägerschaft von Krankenhäusern geregelt. Dies kann nicht Gegenstand eines Vertrags der Gemeinschaft werden, da die Kompetenz für die Organisation des Gesundheitswesens allein bei den Mitgliedstaaten verbleibt (Art. 152 Abs. 5 EGV). Dringender Regelungsbedarf besteht dagegen hinsichtlich der wettbewerbsrechtlichen Beurteilung sozialer Dienste, insbesondere der Frage, ob staatliche Zuschüsse an kirchliche Träger der Daseinsvorsorge verbotene Beihilfen darstellen. Falls diesbezüglich ein Vertrag geschlossen werden sollte, wäre er allerdings nicht ______________ 278 http://www.bologna-bergen2005.no/Bergen/050519-20_Participants.pdf [9.5. 2006]. Vgl. Schinkele, Arbeitgeber, 74. Schon seit 1978 Hochschulkooperation im Rahmen des Europarats (Puza, Europa, 17). 279 VO (EWG) Nr. 3911/92 und RL 93/7/EWG. Rechtsgrundlage ist allerdings nicht Art. 151, sondern Art. 133 bzw. 95 EGV. 280

Bedenken gegen ein Europakonkordat zu hegen, weil die Kulturhoheit bei den Mitgliedstaaten liegt (vgl. Rauch, Der Heilige Stuhl, 45), ist somit unberechtigt, denn die Gemeinschaft hat tatsächlich eine, wenn auch beschränkte, Kulturkompetenz und sogar eine kulturelle Außenkompetenz. Aber selbst ohne eine solche, lägen genügend andere Kompetenzgrundlagen vor, auf die ein völkerrechtlicher Vertrag über kirchliche Angelegenheiten gestützt werden kann. Die erwähnten Bedenken entspringen wohl dem Verfassungsdenken in Deutschland, wo die Kulturhoheit, der auch die religiösen Dinge zugerechnet werden, den Ländern zufällt. Aber selbst wenn dieses deutsche Verständnis direkt auf die Europäische Gemeinschaft übertragen werden könnte, so wäre doch einzuwenden, dass selbst in Deutschland mit dem Reichskonkordat auch ein gesamtdeutsches Konkordat mit der Bundesrepublik als Vertragspartnerin möglich ist.

IV. Ein Europa-Konkordat?

445

auf Art. 152 Abs. 3 EGV, sondern auf die wettbewerbsrechtliche Kompetenz der EG zu stützen.

4. Implizite Außenkompetenzen der Europäischen Gemeinschaft Neben den explizit im EGV niedergeschriebenen Außenkompetenzen sprach der EuGH der Gemeinschaft schon früh implizite, d.h. ungeschriebene Außenkompetenzen zu. Die Rechtsprechung dazu entwickelte sich in drei Phasen. Nach der AETR-Judikatur (1. Phase) geht die völkerrechtliche Vertragsschlusskompetenz in den Bereichen, wo die Gemeinschaft im Innenbereich bereits Vorschriften erlassen hat, die durch das Eingehen völkerrechtlicher Verpflichtungen der Mitgliedstaaten beeinträchtigt würden, an die Gemeinschaft über.281 In der zweiten Phase vertrat der EuGH die Lehre von der Parallelität von Innen- und Außenkompetenz, wonach die Gemeinschaft überall dort eine Außenkompetenz besitzt, wo ihr der EGV im Innenverhältnis eine Zuständigkeit verleiht.282 In der dritten, gegenwärtigen Phase kehrte der EuGH sich von dieser extrem integrationsfreundlichen Lehre ab und wandte sich wieder der AETR-Judikatur zu.283 Sonach lässt er das Vorhandensein einer Innenkompetenz für die Annahme einer Außenkompetenz nicht mehr genügen, sondern verlangt zusätzlich, dass die Gemeinschaft von ihrer Kompetenz im Innenbereich bereits durch einen Rechtsakt Gebrauch gemacht hat. 284 Dies ist nur dann nicht notwendig, wenn der Abschluss eines völkerrechtlichen Vertrags für die Verwirklichung der Innenkompetenz unabdingbar ist. Die so entstandene Außenkompetenz ist zunächst konkurrierend, wird aber ausschließlich, wenn die Gemeinschaft aufgrund einer Binnenkompetenz ein bestimmtes Gebiet bereits weitgehend harmonisiert hat. Ist ein Gebiet hingegen erst vereinzelt durch Sekundärrecht geregelt, so besteht die ausschließliche

______________ 281

EuGH, Rs. 20/70, AETR, Rn. 16.

282

EuGH, Gutachten 1/76, Stilllegungsfonds, Rn. 3; EuGH, Rss. 3,4,6/76, Kramer, Rn. 33. 283

EuGH, Gutachten, 2/92, OECD, Rn. 31; Gutachten, 1/94, Geistiges Eigentum, Rn. 77; Gutachten, 2/00, Cartagena, Rn. 88; EuGH, Rs. C-266/03, Binnenschifffahrt, Rn. 40. 284

Nettesheim interpretiert die neue EuGH-Judikatur sogar so, dass nicht einmal das Vorliegen von Sekundärrecht eine Außenkompetenz begründet. Eine solche entstehe vielmehr nur, wenn die Außenkompetenz Bedingung für die praktische Wirksamkeit der Binnenkompetenzen sei (Nettesheim, Kompetenzen, 438).

446

F. Form, Grundlagen und Ergebnisse des religiösen Dialogs

Außenkompetenz nur bezüglich der bereits geregelten Punkte, während im Übrigen die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten vorläufig weiter besteht.285 Der europäische Verfassungsvertrag bringt gegenüber der bisherigen EuGHRechtsprechung inhaltlich kaum Neuerungen, hat aber den Vorteil, dass er die ausgebildeten Grundsätze verfassungsrechtlich festschreibt. So kann die Union nach Art. III-323 Abs. 1 internationale Übereinkünfte schließen, wenn dies in der Verfassung vorgesehen ist oder wenn der Abschluss einer Übereinkunft im Rahmen der Politik der Union entweder zur Verwirklichung eines der in der Verfassung festgesetzten Ziele erforderlich oder in einem verbindlichen Rechtsakt der Union vorgesehen ist oder aber gemeinsame Vorschriften beeinträchtigen oder deren Anwendungsbereich ändern könnte. Diese Bestimmung nennt als Vertragspartner der Union zwar wie schon der EGV nur Staaten und Internationale Organisationen, doch wird in der Lehre bereits jetzt vertreten, dass internationale Übereinkommen mangels einer einschränkenden Qualifizierung auch mit allen anderen Völkerrechtssubjekten geschlossen werden können.286 Für eine eventuelle Vereinbarung zwischen dem Heiligen Stuhl und der Europäischen Gemeinschaft kommt den impliziten Außenkompetenzen noch größere Bedeutung zu als den expliziten. Genau in jenen Bereichen nämlich, wo die Gemeinschaft bereits Sekundärrecht erlassen hat, das in kirchliche Rechtspositionen eingreift, so dass eine neue Regelung wünschenswert erscheint, genau in jenen Bereichen besitzt die Gemeinschaft, eben weil sie Sekundärrecht erlassen hat, grundsätzlich auch eine implizite Außenkompetenz, aufgrund derer die gewünschte Neuregelung durch eine völkerrechtliche Vereinbarung getroffen werden kann. Umgekehrt ist in jenen Bereichen, wo die Gemeinschaft keine implizite Außenkompetenz besitzt, weil sie (noch) kein Sekundärrecht erlassen hat, eine solche auch gar nicht erforderlich, eben weil es gar kein Sekundärrecht gibt, das kirchliche Belange berühren könnte. Damit erweist sich die völkerrechtliche Vereinbarung auf der Grundlage einer impliziten Außenkompetenz als bestens geeignetes Instrument, um gerade jene konfliktträchtigen Punkte zu bereinigen, die immer wieder im Zusammenhang des Staat-Kirche-Verhältnisses in Europa genannt werden: Arbeits- und Sozialrecht für Priester und Bedienstete von Religionsgemeinschaften,287 Kirchenfinanzierung, Datenschutzrecht, Beihilfen für die Daseinsvorsorge usw. Bisher wurden Konflikte in diesen Punkten zum Teil dadurch vermieden, dass Ausnahmebestimmungen in den entsprechenden Sekundärrechtsakten die Weitergeltung der ______________ 285

Pitschas, Open-Skies-Abkommen, 93.

286

Fassbender, Völkerrechtssubjektivität, 37.

287

Vgl. Schäfer, Arbeitsrecht, 12.

IV. Ein Europa-Konkordat?

447

bisherigen nationalen Regelungen zuließen. Diese Konfliktvermeidungstechnik schützt in erster Linie die nationale Regelung, die jedoch nicht unbedingt die für die Kirche günstigste sein muss und die erst recht nicht dem Integrationsgedanken entspricht. Mit dem völkerrechtlichen Vertragsinstrument könnte hingegen eine Regelung geschaffen werden, die sowohl den Anliegen der Kirche entspricht, da sie nicht ohne deren Mitwirkung und Zustimmung zustande kommt, als auch den Anliegen der europäischen Integration, weil eine für das gesamte Gemeinschaftsgebiet einheitliche Regelung geschaffen wird, die nicht wie eine Ausnahmeklausel nationales Recht punktuell weiter bestehen lässt. Für die Gemeinschaft brächte ein Vertragsschluss mit dem Heiligen Stuhl noch weitere, ideelle Vorteile: Er würde ihre zunehmend staatsähnliche Qualität unterstreichen und den oft erhobenen Vorwurf entkräften, sie kenne nur materielle Werte. Es zeigt sich, dass die Gemeinschaft auf Dauer keine sinnvolle Alternative zu einem völkerrechtlichen Vertrag haben wird, um die gemischten Angelegenheiten des weltlichen und kirchlichen Bereichs zu regeln. Theoretisch kämen noch zwei weitere Möglichkeiten in Betracht: Die zweiseitige konkordatäre Regelung durch die Mitgliedstaaten oder die einseitige Regelung mit Sekundärrecht durch die Gemeinschaft selbst. Die erste Möglichkeit scheidet aber aus, soweit die Mitgliedstaaten ihre Außenkompetenz bereits an die Gemeinschaft verloren haben. Die zweite Möglichkeit scheitert an jenen nationalen Regelungen, die auf einem mitgliedstaatlichen Konkordat beruhen, das vor Gründung der Gemeinschaft bzw. vor dem Beitritt des jeweiligen Staates geschlossen wurde und daher nach Art. 307 Abs. 1 EGV gegen Gemeinschaftsrecht resistent ist [siehe Abschnitt H.II.2.]. Die Kirche kann auf deren Einhaltung beharren und damit die Gemeinschaft in Schach halten, solange diese nicht bereit ist, selbst einen völkerrechtlichen Vertrag zur Neuregelung der betreffenden Punkte abzuschließen. Außerdem böte eine solche Vereinbarung die Chance, auch solche religionsrelevanten Angelegenheiten zu regeln, die – wie z.B. das Datenschutzrecht – so neu sind, dass sie in all den älteren Konkordaten ohnehin fehlen. Wo bestehende explizite oder implizite Außenkompetenzen als zu wenig tragfähig erscheinen, kann zur Ergänzung immer noch auf die „Abrundungskompetenz“ nach Art. 308 EGV zurückgegriffen werden. 288 Nach dieser Darstellung der expliziten und impliziten Außenkompetenzen der Gemeinschaft kann jedenfalls kein Zweifel mehr darüber bestehen, dass sie ______________ 288 Nettesheim, Kompetenzen, 438; Schweitzer / Hummer, Rn. 665; Tomuschat, Art. 300 EGV, Rn. 12.

448

F. Form, Grundlagen und Ergebnisse des religiösen Dialogs

auch die Kompetenz für einen völkerrechtlichen Vertrag mit dem Heiligen Stuhl über kirchliche Angelegenheiten besäße. 289

5. Modalitäten des Vertragsabschlusses Der völkerrechtliche Vertragsschluss durch die Europäische Gemeinschaft erfolgt grundsätzlich gemäß dem Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge zwischen Staaten und IO oder zwischen IO von 1986.290 Insofern die diesbezüglichen Verhandlungen zwischen dem Heiligen Stuhl und der Europäischen Gemeinschaft Teil des religiösen Dialogs sind, liegt hiermit bereits ein förmlich geregeltes Dialogverfahren vor. Die gemeinschaftsinterne Zuständigkeit variiert je nach der Art des Vertrags. Die Verhandlungsführung obliegt in der Regel der Kommission, der Abschluss des Vertrags hingegen dem Rat (Art. 300 Abs. 1 EGV). Der Rat beschließt grundsätzlich mit qualifizierter Mehrheit, einstimmig aber dann, wenn auch für den Erlass interner Vorschriften über dieselbe Angelegenheit Einstimmigkeit verlangt wäre (Art. 300 Abs. 2 EGV). Der so genannte „verdoppelte Ratsbeschluss“ erteilt zum einen die Zustimmung zum Abschluss des Abkommens und ermächtigt zum anderen den Ratspräsidenten, das Abkommen für den Rat im Namen der Gemeinschaft abzuschließen.291 Das Parlament hat auch in den Fällen nur ein Anhörungsrecht, in denen es beim Erlass interner Vorschriften weitergehende Mitwirkungsrechte besäße. Seine Zustimmung ist nur in bestimmten Fällen verlangt, etwa bei Abkommen mit erheblichen finanziellen Folgen für die Gemeinschaft oder Abkommen, die durch Einführung von Zusammenarbeitsverfahren einen besonderen institutionellen Rahmen schaffen, ______________ 289

Das angebliche Fehlen einer entsprechenden materiellen Kompetenz wird häufig als Einwand gegen ein „Europakonkordat“ angeführt (z.B. Margiotta Broglio, Fenomeno, 162; Tempel, Positions, 18). Dem liegt jedoch das Missverständnis zugrunde, es bedürfe dazu einer ausdrücklich übertragenen Kompetenz für religiöse Angelegenheiten. In Wirklichkeit genügen aber die bereits vorhandenen Kompetenzen, soweit sie auch religionsrelevant sind. In ähnlicher Weise erweitert auch die in Art. 10 GRCH verankerte Religionsfreiheit die Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaft nicht um den gesamten religiösen Bereich (Art. 51 Abs. 2 GRCH), sondern gewährt grundrechtlichen Schutz in denjenigen Punkten, wo dieser durch bereits vorhandene Kompetenzen berührt ist. Die Aufnahme der Religionsfreiheit in die GRCH macht also deutlich, dass die Gemeinschaft bei der Ausübung bereits bestehender Kompetenzen auch den religiösen Aspekt zu beachten hat. Dazu muss dann aber auch ein völkerrechtlicher Vertrag mit dem Heiligen Stuhl möglich sein. 290

Schmalenbach, Art. 300 EGV, Rn. 27.

291

Schweitzer / Hummer, Rn. 665.

IV. Ein Europa-Konkordat?

449

oder schließlich bei Abkommen, die Sekundärrechtsakte ändern, an denen das Parlament unter Mitentscheidung mitgewirkt hat (Art. 300 Abs. 3 EGV). Für reine Verwaltungsabkommen hat die Kommission eine eigene Vertragsschließungskompetenz. Völkerrechtliche Verträge bedürfen in der Rechtsordnung der Gemeinschaft ebenso wenig wie in jener der Kirche einer Transformation in eine interne Rechtsform, weil sie per se interne Rechtswirkungen entfalten.292 Die Europäische Gemeinschaft kann einen völkerrechtlichen Vertrag aber nicht nur allein abschließen. Vielmehr können die Mitgliedstaaten sich der Gemeinschaft auf derselben Vertragsseite anschließen. Diese so genannten „gemischten Verträge“ werden seit langem praktiziert und werden seit dem Vertrag von Nizza auch im EGV (Art. 133 Abs. 6 UA 2) erwähnt. Notwendig sind sie dann, wenn der Vertragsinhalt über die Kompetenzsphäre der Gemeinschaft hinausreicht oder wenn die Durchführung des Abkommens nicht von ihr allein geleistet werden kann.293 In der Praxis wird diese Form aber häufig auch ohne rechtlich zwingenden Grund aus rein politischen Gründen gewählt, um Kompetenzstreitigkeiten zu vermeiden und den Mitgliedstaaten weiterhin Bedeutung für die Außenbeziehungen zuzugestehen. Ob eine konkrete Vertragsbestimmung die Gemeinschaft oder die Mitgliedstaaten berechtigt bzw. verpflichtet, wird entweder bei jeder einzelnen Bestimmung separat oder mit Hilfe einer allgemeinen Kompetenzverteilungsklausel für den gesamten Vertrag klargestellt.294 Für das Verfahren bei gemischten Abkommen gibt es mehrere Möglichkeiten. Bei bilateralen Verträgen – wie es auch ein allfälliger Vertrag mit dem Heiligen Stuhl wäre – wird meist so vorgegangen, dass eine gemeinsame Delegation gebildet wird, deren Sprecherin die Europäische Kommission ist.295 Der Rat schließt gemischte Abkommen erst ab, wenn bereits alle Mitgliedstaaten ratifiziert haben.296 Gemischte Abkommen bringen eine Reihe von Schwierigkeiten mit sich. Sie lösen Fragen der Kompetenzverteilung nicht, sondern lassen sie in der Schwebe oder verschleiern sie sogar, was zu Unklarheiten bei der Haftung gegenüber dem dritten Vertragspartner führen kann. ______________ 292

Für die EG: Fischer, Rechtsgemeinschaft, 19; Schweitzer / Hummer, Rn. 667; für die Kirche: Martín de Agar, Raccolta, 31. Unklar Aymans / Mörsdorf, Lehrbuch I, 113. Nach Socha hingegen wären beide Seiten gehalten, den Vertragsinhalt in das Recht ihrer jeweiligen Gemeinschaft zu transformieren (MKCIC c. 3, Rn. 5). Das trifft zwar auf die Bundesrepublik Deutschland zu, aber nicht auf die katholische Kirche und nicht auf andere weltliche Völkerrechtssubjekte wie die Europäische Gemeinschaft, die einem völkerrechtlichen Monismus anhangen. 293

Nettesheim, Kompetenzen, 456.

294

Wormuth, Bedeutung, 226.

295

„Rom-Formel“: Tomuschat, Art. 300 EGV, Rn. 35.

296

Schweitzer / Hummer, Rn. 670.

450

F. Form, Grundlagen und Ergebnisse des religiösen Dialogs

Außerdem kann jeder einzelne Mitgliedstaat den Abschluss des Vertrags insgesamt blockieren.297

6. Wie könnte ein „Europa-Konkordat“ konkret verwirklicht werden? Dass ein völkerrechtlicher Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und der Europäischen Gemeinschaft über kirchliche Belange rechtlich möglich ist, ist nun hinreichend klar geworden. Ebenso wurde deutlich, dass ein solcher Vertrag zur Klärung bestimmter Angelegenheiten auch wünschenswert wäre. Es bleibt aber zu fragen, ob es auch politisch wahrscheinlich ist, dass er tatsächlich zustande kommt, zumal einzelne Mitgliedstaaten dagegen Bedenken hegen könnten und auch die Europäische Gemeinschaft sich über ihre Haltung noch nicht konkret geäußert hat. Eher auszuschließen ist ein regelrechtes Europakonkordat im Sinne eines klassischen Konkordats, das alle Angelegenheiten des Verhältnisses zur Kirche umfassend regelt.298 Ein solches wäre nämlich wegen der vertikalen Kompetenzverteilung in der Gemeinschaft nur als gemischter Vertrag abzuschließen, für den die Beteiligung sämtlicher Mitgliedstaaten erforderlich wäre. 299 Nun hat sich die Mehrheit unter diesen zwar selbst für ein konkordatäres System entschieden und daher wohl auch nichts gegen ein Europakonkordat einzuwenden, doch wird es immer einzelne geben, die ein solches Projekt aus historischen, ideologischen oder anderen Gründen blockieren würden. Ein Europakonkordat wäre aber ohnehin nicht erstrebenswert, da keine Notwendigkeit besteht, auch jene Angelegenheiten neu und europaweit einheitlich zu regeln, die in den nationalen Konkordaten bereits zufrieden stellend festgelegt und europarechtlich unbedenklich sind, wie etwa die Krankenhaus- und Militärseelsorge. Sehr wohl eine Chance hätten hingegen bloße Vereinbarungen zwischen dem Heiligen Stuhl und der Europäischen Gemeinschaft, die sich jeweils auf diejenigen Punkte beschränken, in denen die Gemeinschaft selbst zuständig ist und die tatsächlich einer Neuregelung bedürfen.300 Eine solche Aufteilung der Konkordatsmaterie auf begrenzte Einzelfragen entspricht am besten der zer______________ 297

Vgl. Geiger, Vertragsabschlusskompetenzen, 978.

298

Ibán, Concordatos, 77.

299

Zur Erforderlichkeit gemischter Verträge: EuGH, Gutachten 2/91, IAO, Rn. 39; Gutachten 1/94, Geistiges Eigentum, Rn. 98; Gutachten 2/00, Cartagena, Rn. 46f. 300

Vgl. Ibán, Concordatos, 77. Die Möglichkeit bloß punktueller Vereinbarungen, die keine staatskirchenrechtliche Vollordnung durch Konkordat bedeuten würden, räumen auch Heinig (Religionsgesellschaften, 494) und De Wall (Entwicklungen, 218) ein.

IV. Ein Europa-Konkordat?

451

splitterten gemeinschaftsrechtlichen Kompetenzlage. Wo die Gemeinschaft eine parallele Außenkompetenz besitzt, könnte darauf eine Einzelvereinbarung gestützt werden, z.B. über die Erhaltung jenes europäischen kulturellen Erbes, das im Eigentum der Kirche steht. In dem Maß, wie sich die Gemeinschaft durch den Erlass von Sekundärrecht implizite Außenkompetenzen erwirbt, die kirchlich relevant sind, können auch auf dieser Grundlage nach und nach Einzelvereinbarungen getroffen werden. Diese Vorgehensweise trägt gleichzeitig der Dynamik des Integrationsprozesses Rechnung, weil jeder Kompetenzzuwachs eigens berücksichtigt werden kann, und sie ermöglicht ein Maximum an Flexibilität, weil Einzelvereinbarungen leichter an eine geänderte Rechtslage angepasst werden können. Außerdem ist über Einzelfragen leichter ein Konsens zu erzielen. Die Beschränkung auf gemeinschaftseigene Außenkompetenzen vermeidet gemischte Verträge. Wenn jede Einzelvereinbarung nur eine einzige Materie betrifft, wird nicht in allen Fällen die Einstimmigkeit im Rat bzw. die Zustimmung des Parlaments erforderlich sein, ja sofern es sich nur um Verwaltungsangelegenheiten handelt, kann die Kommission sogar allein abschließen. Die Aufteilung auf mehrere Einzelvereinbarungen vermeidet damit bestimmte Hürden im gemeinschaftsinternen Abschlussverfahren, die bei einem umfassenden Vertrag im Wege stünden. Die Methode, mehrere inhaltlich begrenzte Verträge mit dem Heiligen Stuhl abzuschließen, ist nichts Ungewöhnliches, sondern wird heute von immer mehr Staaten gewählt, 301 z.B. von Ungarn,302 das sein Staatskirchenrecht ursprünglich eher auf einseitige Gesetzgebung gründen wollte. In formaler Hinsicht erscheint es angeraten, auf Förmlichkeiten und Feierlichkeiten zu verzichten. Selbst ein Notenwechsel, wie er im Falle von Estland und Schweden durchgeführt wurde,303 reicht für die völkerrechtliche Verbindlichkeit aus. Was inhaltlich zu regeln wäre, wurde bereits oben [Abschnitte F.IV.3. und F.IV.4.] besprochen. Darüber hinaus wäre eine Bestimmung denkbar, in der beide Seiten die Unabhängigkeit und Autonomie der weltlichen und der religiösen Sphäre anerkennen, was die Europäische Gemeinschaft im Grundsatz ohnedies bejaht. Unproblematisch erscheint auch die Garantie des Grundrechts auf Religionsfreiheit, das vom EuGH und der GRCH ohnehin bestätigt wur______________ 301

Vgl. Astorri, Accordi, 26; Dalla Torre, Chiesa locale, 106; Margiotta Broglio, Concordats, 49. 302 303

Vgl. Erdö, Ungarn, 136 und 164.

Schanda, Staatskirchenrecht, 799; bzw. Corral / Elmisi Ilari, Universalità, 114. C. 3 CIC erwähnt ohnehin keine bestimmte Abschlussform für Konkordate. C. 4 CCEO erwähnt zwar mit der „approbatio“ die feierliche Form nach Art. 14 Abs. 2 WVK, ohne diese freilich zur einzig möglichen zu erheben (vgl. Buonomo, Considerazioni, 25).

452

F. Form, Grundlagen und Ergebnisse des religiösen Dialogs

de.304 Bei dieser Gelegenheit könnte aber auch die korporative Dimension stärker hervorgehoben werden.305 Schließlich wäre auch eine allgemeine Klausel über den gemeinsamen Dialog und die Zusammenarbeit anzustreben, was im Vertrag der OAU mit dem Heiligen Stuhl breiten Raum einnimmt. Dabei könnte die COMECE offiziell als Dialogpartnerin für die Europäische Gemeinschaft etabliert werden. Klärungsbedürftig ist allerdings das Verhältnis dieser Vereinbarungen zu den Konkordaten der Mitgliedstaaten. Das Nebeneinander von Konkordaten auf mehreren Ebenen ist grundsätzlich möglich, wie das deutsche Beispiel zeigt, wo das Reichskonkordat neben den Länderkonkordaten besteht. Während jenes jedoch im Verhältnis zu diesen nur subsidiär angewandt wird, würden die Vereinbarungen mit der EG den nationalen Konkordaten im Konfliktfall vorgehen. Im EG-Binnenverhältnis ergibt sich das aus dem Anwendungsvorrang des EG-Rechts, der sich auch auf völkerrechtliche Verträge der EG erstreckt.306 Im Verhältnis zum Heiligen Stuhl ist anzunehmen, dass dieser durch die Neuregelung mit der Gemeinschaft entgegenstehende Bestimmungen in den nationalen Konkordaten aufgeben wollte. Um dem Subsidiaritätsprinzip besser Rechnung zu tragen, könnten die Vereinbarungen zwischen dem Heiligen Stuhl und der Gemeinschaft aber auch als bloße „Rahmenvereinbarungen“ geschlossen werden, die dann – ähnlich wie die Richtlinien – der nationalen Umsetzung bedürfen, wobei diese einseitig durch Gesetz oder zweiseitig durch ein eventuell schon bestehendes nationales Konkordat erfolgen kann.307 ______________ 304

Die GRCH will der Union zwar keine neuen Kompetenzen verleihen, sehr wohl aber eine klare Grundrechtsbindung bei der Ausübung der bereits bestehenden Kompetenzen festlegen. Die Garantie der Religionsfreiheit in der GRCH verleiht der Gemeinschaft entsprechend dem Ziel, das die GRCH bei allen Grundrechten verfolgt (Art. 51 Abs. 2), keine umfassende Kompetenz auf dem Gebiet der Religion, verlangt aber, dass dieses Grundrecht bei der Ausübung der vorhandenen Kompetenzen zu beachten ist. Das ist Grund genug, um mit der Kirche vertraglich zu klären, wie der Religionsfreiheit bei der Kompetenzausübung durch die Gemeinschaft am besten gedient werden kann. 305

So wünscht De Wall in einem entsprechenden Vertrag neben den punktuellen Regelungen auch eine Bekräftigung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts (Entwicklungen, 218). 306 307

Geiger, Vertragsschlusskompetenzen, 977.

Vgl. Christoph, 3. Tagung, 417. Die Technik des Rahmenkonkordats wird bisweilen auch bei den Konkordaten mit einzelnen Staaten gewählt. Die nähere Ausgestaltung wird dabei nichtvölkerrechtlichen Verträgen mit der nationalen Bischofskonferenz überlassen (Spinelli, Diritto pubblico ecclesiastico, 133). Jedenfalls kann gegen eine konkordatäre Regelung nicht eingewandt werden, sie stärke den katholischen Zentralismus oder widerspreche dem Subsidiaritätsprinzip (So aber Fürst, Pastoral, 92; Lecheler, Ansätze, 43. Margiotta Broglio, Fenomeno 188 und 218). In Wirklichkeit würde ein

IV. Ein Europa-Konkordat?

453

7. Religionsgemeinschaften ohne Völkerrechtssubjektivität In den vorigen Abschnitten wurde die Möglichkeit völkerrechtlicher Verträge zwischen dem Heiligen Stuhl und der Europäischen Gemeinschaft untersucht, mit denen die Ergebnisse des religiösen Dialogs mit der katholischen Kirche rechtlich fixiert werden könnten. Da jedoch alle anderen Religionsgemeinschaften keine Völkerrechtssubjektivität besitzen, bleibt nun noch zu fragen, ob nicht auch sie Verträge schließen könnten, wenn auch ohne völkerrechtlichen Charakter. Es ist zwar eine praktische Konsequenz des religiösen Dialogs, dass er in Verträgen mündet, wenn eine Einigung erzielt wird, doch sind dazu nicht unbedingt völkerrechtliche Verträge verlangt. Mehrere Mitgliedstaaten, die mit der katholischen Kirche Konkordate abgeschlossen haben, stellen anderen Religionsgemeinschaften eine Vertragsform eigener Art zur Verfügung. Italien und Spanien gewähren „accordi“, über deren Rechtsnatur es allerdings zahllose Theorien gibt. 308 In Deutschland werden mit den evangelischen Kirchen so genannte Kirchenverträge abgeschlossen, die öffentlich-rechtliche Verträge sind, die mit parlamentarischer Zustimmung geschlossen werden und damit jedenfalls Gesetzesrang haben. 309 Wie ist nun die Rechtslage auf der europäischen Ebene? Im EG-Recht ist das Gebot der religiösen Nichtdiskriminierung stark ausgeprägt.310 Wenn die Europäische Gemeinschaft nur mit der katholischen Kirche Verträge schlösse und die anderen Religionsgemeinschaften überginge, verstieße sie gegen das Gleichbehandlungsgebot.311 Dieses allein bildet aber noch keine ausreichende Rechtsgrundlage für Verträge mit anderen Religionsgemeinschaften.312 Es könnte die Gemeinschaft höchstens verpflichten, auch diesen durch einseitige Regelung die Rechte zu gewähren, die sie der katholischen Kirche durch zweiseitigen Vertrag zugesichert hat. Nun ist nicht zu leugnen, dass die Regelungen bezüglich der katholischen Kirche eine gewisse Leitbildbildfunktion für andere Religionsgemeinschaften entfalten und der ______________

„Europakonkordat“ keine stärkere Rechtsvereinheitlichung bewirken, als das europäische Sekundärrecht es ohnehin schon tut, und es entspränge daher weniger einem vermeintlichen kirchlichen Zentralismusstreben als vielmehr der kirchlichen Sorge, auf den bereits vorhandenen europäischen Zentralismus adäquat reagieren zu müssen. 308

Ferrari / Ibán, Diritte e religione, 61.

309

Germann, Kirchenverträge, 1362.

310

EuGH, Rs. 130/75, Prais; Art. 13 EGV und Art. 21 GRCH.

311

Vgl. Margiotta Broglio, Fenomeno, 218.

312

Vgl. Vachek, Religionsrecht, 285.

454

F. Form, Grundlagen und Ergebnisse des religiösen Dialogs

Heilige Stuhl damit auch für diese eine gewisse Verantwortung trägt. 313 Würde man diesen Mechanismus aber generell anwenden, so würde nicht mehr auf die spezifischen Bedürfnisse jeder einzelnen Religionsgemeinschaft eingegangen, sondern ihnen einfach das katholische Modell übergestülpt. Als besser erweist sich daher auf jeden Fall der Weg, auch mit diesen Verträge zu schließen.314 Aber auf welche Rechtsgrundlage können diese gestützt werden? Manche Religionsgemeinschaften oder deren Zusammenschlüsse, die einen Beobachterstatus bei IO besitzen, könnten als völkerrechtlich teilrechtsfähige Nichtregierungsorganisationen qualifiziert werden. Diese Teilrechtsfähigkeit beschränkt sich jedoch auf den Status, der ihnen von der jeweiligen IO zuerkannt wird und umfasst daher nicht die Fähigkeit, mit der Europäischen Gemeinschaft völkerrechtliche Verträge zu schließen.315 Da diese aber selbst eine IO ist, könnte man bereits in dem Dialogstatus, den verschiedene Religionsgemeinschaften bei ihr haben, eine solche Teilrechtsfähigkeit begründet sehen, die dann konsequenterweise auch die Möglichkeit einschlösse, Verträge über die Dialogergebnisse zu schließen. Dazu müsste der bisherige informelle Dialogstatus aber in einen offiziellen umgewandelt werden, und auch dann läge nur eine völkerrechtliche Teilrechtsfähigkeit vor, deren Grenzen die angestrebten Verträge nicht überschreiten dürften. Eine Rechtsgrundlage für die gewünschten Verträge findet sich jedoch im EG-Recht selbst. Dieses kennt nämlich eine ähnliche Form wie die öffentlichrechtlichen Verträge in Deutschland. Jedenfalls setzt der EGV in Art. 238 eine solche voraus, wenn er sie auch nicht eigens regelt.316 Die EG schließt solche öffentlich-rechtlichen Verträge mit einer Behörde oder einer unterstaatlichen juristischen Person des öffentlichen Rechts der

______________ 313

Wenn die Gemeinschaft beispielsweise das Selbstbestimmungsrecht der katholischen Kirche anerkennt, so kann sie dies anderen Religionsgemeinschaften wegen des Gleichbehandlungsgebotes nicht verweigern. Damit kommt die katholische Regelung auch den anderen zugute, ohne dass diese die Verhandlungen führen und im Vertrag auch die entsprechenden Pflichten übernehmen mussten. 314 Dass gerade die Regelung durch Vertrag die Pluralität schützt, vgl. Campenhausen, Staatskirchenverträge, 86. 315

Art. 302 EGV als Rechtsgrundlage heranzuziehen, wie es De Wall (Entwicklungen, 218) vorschlägt, erscheint daher als schwierig. Man müsste die Bestimmung sehr weit auslegen, da der Wortlaut weder NGO noch Verträge erfasst, sondern nur Beziehungen zu IOs. 316 Heinig (Religionsgesellschaften, 494) schlägt diesen Artikel als Grundlage für entsprechende Verträge vor. Ebenso Schäfer, Arbeitsrecht, 15.

IV. Ein Europa-Konkordat?

455

Mitgliedstaaten oder mit Verbänden oder Individuen. 317 Nun sind Religionsgemeinschaften abgesehen von einzelnen Funktionen gewiss keine Behörden. Den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts besitzen zwar einige in bestimmten Mitgliedstaaten tatsächlich, aber dieser national begrenzte Status genügt eben nicht, um einen Vertrag für das gesamte Gemeinschaftsgebiet zu schließen, was aber gerade das Ziel wäre. Die bestehenden europaweiten Strukturen von Religionsgemeinschaften sind hingegen eher als Verbände zu qualifizieren, die ebenfalls als Partner für die öffentlich-rechtlichen Verträge in Frage kommen. Die öffentlich-rechtliche Natur dieser Verträge ergibt sich weniger aus dem Vertragspartner – dieser kann auch ein Privater, z.B. ein Unternehmen sein – als vielmehr aus dem Inhalt, der in das Gebiet des öffentlichen Rechts fallen muss.318 Mögliche Inhalte, die auch für Religionsgemeinschaften von Interesse sein könnten, wären Kooperation, Subventionen und Sonderregelungen gegenüber dem Sekundärrecht. 319 Da es sich um dieselben Materien wie bei Konkordaten handeln wird, insbesondere um Bereiche, wo bereits Sekundärrecht erlassen wurde, das in Rechtspositionen der Religionsgemeinschaften eingreift, liegen solche Verträge im Bereich, wo die EG bereits hoheitlich gehandelt hat, und damit jedenfalls auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts. Solche öffentlich-rechtlichen Verträge unterliegen dem EG-Recht und der Rechtsprechung des EuGH. Sollten die Voraussetzungen für einen öffentlich-rechtlichen Vertrag in einem bestimmten Fall doch nicht vorliegen, bliebe noch die Möglichkeit privatrechtlicher Verträge, die in Art. 238 EGV ebenfalls genannt werden und nach der Rechtsordnung eines bestimmten Mitgliedstaates zustande kommen. 320 Diese könnten in letzter Konsequenz auf die allgemeine Vertragsautonomie gestützt werden. Die Gemeinschaft besitzt nach Art. 282 EGV321 in jedem ______________ 317

Vgl. Bleckmann, Verwaltungsvertrag, 889; zustimmend Karpenstein, Art. 238 EGV, Rn. 17. 318

Nach Bleckmann sind alle Verträge, welche die Materien der Gemeinschaftsverträge regeln, unabhängig von der Rechtsnatur des Vertragspartners Verträge des öffentlichen Rechts (Verwaltungsvertrag, 894). Damit erübrigt sich die schwierige Frage, ob Religionsgemeinschaften europarechtlich privat oder öffentlich sind. 319

Vgl. ebd. 890.

320

Weder die Europäische Union selbst noch die jeweilige Religionsgemeinschaft besitzen eine Privatrechtsordnung, nach der sich ein derartiger Vertrag richten könnte. Als Privatrecht, das dem Vertrag zugrunde gelegt werden kann, kommt daher nur dasjenige des Mitgliedstaats in Frage, dem die betreffende Religionsgemeinschaft angehört. Abgesehen davon könnte aber auch ausdrücklich vereinbart werden, dass ein anderes Privatrecht Anwendung finden soll. 321

Lecheler schlägt auf der Grundlage von Art. 282 EGV Verträge zwischen der EG und den Kirchen in ihren nationalen Organisationsformen vor (Ansätze, 48).

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F. Form, Grundlagen und Ergebnisse des religiösen Dialogs

Mitgliedstaat die weitestgehende Rechts- und Geschäftsfähigkeit, doch sagt diese Bestimmung noch nichts darüber aus, in welchen Fällen sie tatsächlich zu einem Vertragsschluss ermächtigt ist. Der EGV enthält dazu keine ausdrücklichen Regelungen, doch bedarf es einer solchen auch gar nicht, da Kompetenz dazu bereits aus der Sachkompetenz zur Behandlung des jeweiligen Vertragsgegenstandes folgt.322 Damit sind privatrechtliche Verträge wenigstens über all jene Materien möglich, über die auch völkerrechtliche Verträge geschlossen werden können. Bereiche, in denen die Gemeinschaft schon seit langem privatrechtliche Verträge schließt und die auch für Religionsgemeinschaften von Interesse sind, stellen die verschiedenen Subventionen und die Entwicklungshilfe dar, wofür jeweils eigene Abschlussverfahren entwickelt wurden.323 Mangels eines gemeinschaftlichen oder gar europäischen Vertragsrechts unterliegen die Rechtsgeschäfte der Gemeinschaften dem nationalen Recht, das in den Verträgen meist ausdrücklich bezeichnet.324 Dadurch dass die Europäische Gemeinschaft mit den Religionsgemeinschaften außer der katholischen Kirche lediglich nicht-völkerrechtliche Verträge schließt, verletzt sie das Gleichheitsgebot ebenso wenig wie jene Mitgliedstaaten, die sich derselben Vorgangsweise bedienen. Wie könnte sie denn völkerrechtliche Verträge mit Partnern abschließen, die keine Völkerrechtssubjekte sind? Dass sie es nicht sind, stellt einen sachlichen Unterschied in der Qualität des Vertragspartners dar, der die Ungleichbehandlung hinreichend rechtfertigt.325 Es wäre jedenfalls unfair, einer bestimmten Religionsgemeinschaft den Gebrauch eines Rechtsinstruments, für das sie die nötige rechtliche Fähigkeit besitzt, nur aus dem Grund zu versagen, weil anderen Religionsgemeinschaften diese Fähigkeit fehlt.

______________ 322

Grundwald, Die nicht-völkerrechtlichen Verträge, 232 und 234.

323

Vgl. ebd. 248 und 251.

324

Ebd. 239.

325

Vachek, Religionsrecht, 283 und 285. Das Diskriminierungsverbot lässt sich daher nicht als Argument gegen ein Konkordat mit der katholischen Kirche anführen (So aber: Kudraceva, Situation, 48; Margiotta Broglio, Fenomeno, 188 und 215; Torfs, Relationships, 83). Darüber hinaus wird auch das Argument vorgebracht, dass Staatskirchen nicht einmal einen nicht-völkerrechtlichen Vertrag schließen könnten, weil sie selbst Teil des Staates seien, ein Vertrag aber zwei voneinander verschiedene Partner voraussetze (Kudraceva, Situation, 48; Torfs, Relationships, 83). Das gilt aber in Bezug auf die Europäische Gemeinschaft gerade nicht, da es ja keine EG-Staatskirche gibt und die in einzelnen Mitgliedsländern noch vorhandenen Staatskirchen allenfalls Teil des jeweiligen Staates, aber nicht der Gemeinschaft sind, die auf jeden Fall ein davon verschiedenes Subjekt darstellt.

IV. Ein Europa-Konkordat?

457

8. Nicht-völkerrechtliche Verträge auch für die katholische Kirche Völkerrechtliche Verträge haben mehrere Vorteile: Über ihre Rechtsnatur besteht größere Klarheit, zu ihrer Anwendung hält das Völkerrecht einen eigenes System von Regeln bereit. Da sie auf dem Prinzip der Gleichordnung der Vertragspartner beruhen, tragen sie dem Aspekt besser Rechnung, dass die weltliche Macht über das Religiöse nicht verfügen kann. Bei den öffentlichrechtlichen Verträgen hingegen liegt die Übermacht beim weltlichen Hoheitsträger, der sich hier viel leichter einseitig seiner Verpflichtungen entledigen kann, indem er etwa neue Rechtsakte erlässt. Aus diesen Gründen ist die völkerrechtliche Lösung dort vorzuziehen, wo sie möglich ist, also bei der katholischen Kirche. Das heißt aber nicht, dass diese sich nicht doch in bestimmten Fällen auch der nicht-völkerrechtlichen Verträge bedienen könnte. So schließen in Deutschland die Bischöfe, die selbstverständlich keine Völkerrechtssubjekte sind, so genannte Bistumsverträge 326 ab, und in Italien327 überlässt das Konkordat einige Materien zum konkreten Aushandeln der Bischofskonferenz.328 Solchen Verträgen stand im CIC/1917 eigentlich c. 255 entgegen, der die Verträge mit den Staaten dem Papst vorbehielt. Bei der Kodexreform wurde der Vorschlag für einen diesbezüglichen Kanon hingegen ausdrücklich abgelehnt mit dem Hinweis, dass in Wirklichkeit auch Partikularverträge vorkommen. 329 Aus dem Schweigen des CIC/1983 zu dieser Frage und dem Reservationssystem, wonach alles in die Leitungsgewalt des Diözesanbischofs fällt, was nicht ausdrücklich dem Papst vorbehalten ist (c. 381 § 1 CIC), ist zu schließen, dass der Diözesanbischof auch mit der zuständigen lokalen weltlichen Autorität vertragliche Bindungen eingehen kann.330 Das gilt jedoch nicht für die Bischofskonferenz, da diese nur jene Kompetenzen besitzt, die ihr ausdrücklich übertragen worden sind (c. 455 CIC). Da ihr das allgemeine Recht aber keine Kompetenz zum Abschluss von Verträgen verliehen hat, muss ihr diese eigens vom Apostolischen Stuhl delegiert werden. 331 Die internationalen Verbände von Bischofskonferenzen wie z.B. die COMECE besitzen überhaupt keine ______________ 326

Aymans / Mörsdorf, Lehrbuch I, 115; Rees, Konkordate, 130.

327

Vgl. Göbel, Verhältnis, 166.

328

Wenn die Verträge mit einer nationalen Bischofskonferenz einen weiten Bereich regeln, werden sie am Ende den mit dem Heiligen Stuhl geschlossenen Konkordaten sehr ähnlich (Spinelli, Diritto pubblico ecclesiastico, 127). 329

Comm 14 (1982) 135.

330

So Aymans / Mörsdorf, Lehrbuch I, 115; Dalla Torre, Chiesa locale, 98; Spinelli, Diritto pubblico ecclesiastico, 121. 331

Spinelli, Diritto pubblico ecclesiastico, 127.

458

F. Form, Grundlagen und Ergebnisse des religiösen Dialogs

eigene Leitungsgewalt und bedürfen zum Abschluss von Verträgen mit der weltlichen Autorität daher erst recht einer Delegation. Es wäre also möglich, dass der Apostolische Stuhl der COMECE die Vollmacht delegiert, mit der Europäischen Gemeinschaft nicht-völkerrechtliche Verträge über kirchlichen Angelegenheiten zu schließen. Eine solche Delegation könnte insbesondere in einem völkerrechtlichen Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und der EG vorgenommen werden, in dem die EG die COMECE bereits als künftige Vertragspartnerin akzeptiert. Der völkerrechtliche Vertrag könnte dann ähnlich dem italienischen Konkordat bestimmte Punkte umreißen, die von der COMECE näher auszuhandeln wären. Damit ließe sich die Stabilität des völkerrechtlichen Instruments mit der Flexibilität einfacher Vereinbarungen verbinden.

G. Gegenseitige Offenheit der beiden Rechtsordnungen I. Das Kirchenrecht ist offen für Europarecht 1. Warum Rechtsordnungen füreinander offen sein sollten Je mehr die weltweite auch rechtliche Verflechtung zunimmt, desto weniger können sich einzelne Rechtsordnungen von anderen völlig abkapseln. Keine Rechtsordnung kommt ohne Verweise auf andere Rechtsordnungen – seien es gleichrangige, übergeordnete oder die völkerrechtliche Ordnung – aus. Das Ausmaß solcher Verweise kann jedoch unterschiedlich ausfallen und zeigt an, wie offen eine bestimmte Rechtsordnung für andere ist.1 Die kirchliche Rechtsordnung muss schon deswegen einen hohen Grad an Offenheit aufweisen, weil sich ihr territorialer und persönlicher Geltungsbereich mit dem der staatlichen Rechtsordnungen unvermeidlich überschneidet.2 Dadurch, dass die Kirche für bestimmte Bereiche keine eigene Regelung vorsieht, sondern auf das weltliche Recht verweist, vermeidet sie Normkollisionen von vornherein.3 Außerdem erreicht sie dadurch weitere Vorteile: Sie verwirklicht das für die Kodexreform eingemahnte Subsidiaritätsprinzip, indem sie das örtliche weltliche Recht4 und damit die jeweiligen sozio-kulturellen Verhältnisse5 berücksichtigt. Durch die Beachtung des weltlichen Rechts wird der betreffende Rechtsakt automatisch auch aus der Sicht der weltlichen Rechtsordnung gültig gesetzt, so dass kirchli______________ 1 In den staatlichen Rechtsordnungen wird diese Funktion großteils vom internationalen Privatrecht wahrgenommen. 2

Vgl. Socha, in: MKCIC, c. 22, Rn. 2.

3

Vgl. Haering, Rezeption, 7; Janssen, Kollisionsrecht, 736.

4

Vgl. Haering, Rezeption, 314f. Außer dem Völkerrecht hat jedes weltliche Recht einen territorial begrenzten Geltungsbereich, so dass es in der kirchlichen Rechtsordnung nur als Partikularrecht Berücksichtigung finden kann. Mit dem Ausdruck „in territorio“ stellt c. 1290 CIC klar, dass das weltliche Recht durch die Übernahme in die kirchliche Rechtsordnung in seinem territorialen Geltungsbereich unverändert bleibt und somit kirchlicherseits nur Partikularrecht bilden kann. Insofern ist tatsächlich das vertikale Subsidiaritätsprinzip einschlägig. Im Übrigen ist auf das Verhältnis Kirche – Staat aber nur das horizontale Subsidiaritätsprinzip anzuwenden, da hier kein Über- und Unterordnungsverhältnis vorliegt. 5

Vgl. Chiappetta, Codice, Rn. 346; Socha, in: MKCIC, c. 22, Rn. 2.

460

G. Gegenseitige Offenheit der beiden Rechtsordnungen

che Ansprüche und Einrichtungen ebenso in dieser gesichert sind.6 Schließlich entlastet der kirchliche Gesetzgeber sich zudem selbst, wenn er die Regelung einer bestimmten Frage dem weltlichen Rechtsetzer überlässt.7 Auch das Konkordat ist eine Möglichkeit, wie die kirchliche und die weltliche Rechtsordnung koordiniert und Normkollisionen vermieden werden können. Es ist eine zweiseitige Form, die durch vertragliche Bindung zustande kommt, während die Verweisung eine einseitige Form darstellt, durch die die Kirche freiwillig auf eine eigene Regelung verzichtet.8 Dieser Weg ist auch dort praktikabel, wo die weltliche Autorität der Kirche distanziert gegenübersteht, weil er nicht deren Zustimmung bedarf.9 Das gilt ebenso für die Europäische Gemeinschaft, die noch kein Konkordat abgeschlossen hat. Der Nachteil der einseitigen Form liegt aber darin, dass sie sich immer zu Lasten des verzichtenden Teils auswirkt und dass komplexere Beziehungen dadurch nicht geregelt werden können. Außerdem müssen die Regeln, die eine bestimmte Rechtsordnung zur Vermeidung von Kollisionen einseitig aufstellt, nicht automatisch mit den entsprechenden Regeln einer anderen Rechtsordnung zusammenpassen, so dass erst recht wieder Konflikte auftreten können. 10

2. Verweisungsnormen als „Einfallstore“ für nichtkirchliches Recht Vor der Kodifikation von 1917 war das weltliche Recht, auf das die kirchliche Rechtsordnung verwiesen hat, immer das römische; seither verweist es hingegen auf dasjenige der einzelnen Staaten.11 Im Vergleich zum CIC von ______________ 6

Haering, Rezeption, 316f.

7

Ebd. 7.

8

Vgl. Socha, in: MKCIC, c. 22, Rn. 2. Die optimale Lösung besteht nach Schmitz in einer Verbindung des einseitigen mit dem zweiseitigen Weg (Schmitz, Das kirchliche Vermögensrecht, 13). 9

Auch dort, wo kein Konkordat oder nicht einmal ein entsprechendes Gesetz besteht, hat die Kirche Durand zufolge aus Rücksicht auf ihre Glieder, die zugleich Bürger sind, sogar die Pflicht, weltliches Recht zu kanonisieren (Durand, Renouvellement, 137). 10

Beispielsweise besitzt die lateinische Kirche ein eigenes Eheschließungsrecht, überlässt das Ehegüterrecht aber der staatlichen Regelung (c. 1059 CIC). Das passt aber nur mit einer derartigen staatlichen Rechtsordnung reibungslos zusammen, die das Ehegüterrecht regelt und das Eheschließungsrecht den Religionsgemeinschaften überlässt. Probleme entstehen sowohl dort, wo der Staat auch die Eheschließung für Katholiken regelt (z.B. Deutschland), als auch dort, wo er sogar das Ehegüterrecht den Religionsgemeinschaften zur Regelung überlässt (z.B. Israel). 11

Chiappetta, Codice, Rn. 345.

I. Das Kirchenrecht ist offen für Europarecht

461

1917 hat die Zahl der Verweisungsnormen im kirchlichen Gesetzbuch von 1983 deutlich zugenommen, was die größere Offenheit der Kirche gegenüber der Welt seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil widerspiegelt.12 Wegen dieser Zunahme wurde es auch sinnvoll, mit c. 22 eine Bestimmung unter die allgemeinen Normen des CIC aufzunehmen, die Grundsätzliches festlegt, das für alle einzelnen Verweisungsnormen gilt und nicht überall wiederholt werden muss.13 Indessen war die Aufnahme einer solchen Generalnorm in das kirchliche Gesetzbuch keineswegs von Anfang an geplant. Ihr Ursprung liegt nämlich in c. 117 des Schemas De Processibus von 1976, der die kirchlichen Gerichte bei Schadensersatzklagen verpflichtete, das zivile Recht zu beachten, wenn bestimmte Voraussetzungen vorliegen. Die Kodexreformkommission entschloss sich dann zwar, den gesamten Titel über Schadensersatzklagen zu streichen, wollte jedoch die Klausel des c. 117, die sich auf die Beachtlichkeit weltlichen Rechts bezog, als eigene Bestimmung in das Buch über die allgemeinen Normen einfügen und damit beibehalten.14 Wie Haering aufzeigt, war aber möglicherweise schon vorher beim Entwurf der Canones der Allgemeinen Normen an eine solche Bestimmung gedacht worden, da in einem Überblick von 1973 genau an der fraglichen Stelle eine Lücke offen gelassen wurde. 15 Als Vorbild für die Formulierung diente zweifellos auch c. 1529 CIC/1917. In den Schemata von 1980 und 1982 findet sich bereits ein c. 22, der mit c. 22 CIC/1983 wörtlich übereinstimmt. Den Vorgang der Verweisung nach außen beschreibt c. 22 CIC mit den Worten „ius Ecclesiae remittit“. Verweisendes Recht kann somit alles sein, was ius Ecclesiae ist, nicht nur – wie ursprünglich vorgesehen16 – die lex canonica. Über den CIC hinaus können sich Verweisungsnormen auch in anderen universalen sowie in partikularen Rechtsquellen finden, in Gesetzen ebenso wie in Statuten, Ordnungen usw., selbst im Gewohnheitsrecht.17 Außerdem ist auch an ______________ 12

Spinelli, Diritto pubblico ecclesiastico, 75. Beispielsweise in c. 98 § 2 (Vormundschaft) und in c. 231 § 2 CIC/1983 (Entlohnung von Laienmitarbeitern) ist heute auch die weltliche Regelung zu beachten, wo der CIC/1917 noch allein die kirchliche für maßgeblich ansah (Feliciani, Droit canonique, 113). Neu sind außerdem die Verweisungen in den cc. 1105 § 2, 1286 ° 1 und 1500 CIC. 13

Vgl. Feliciani, Droit canonique, 113.

14

Comm 11 (1979) 76.

15

Haering, Rezeption, 31.

16

Comm 11 (1979) 76.

17

Haering, Rezeption, 35.

462

G. Gegenseitige Offenheit der beiden Rechtsordnungen

Konkordate, generelle Verwaltungsdekrete oder gar Instruktionen18 zu denken. Sprachliche Indikatoren für Verweisungsnormen sind das Verb „servare“ (beachten, einhalten) und das Adjektiv „civilis“ (bürgerlich, weltlich) etwa in Verbindungen wie „ius civile“ oder „lex civilis“19, doch müssen diese Begriffe nicht unbedingt vorkommen.20 Darüber hinaus kann weltliches Recht für die kirchliche Rechtsordnung auch ohne konkrete Verweisungsnorm relevant werden. So wurden die allgemeinen Rechtsgrundsätze in c. 19 CIC, die zur Schließung von Lücken heranzuziehen sind, bewusst nicht auf Rechtsgrundsätze des kanonischen Rechts beschränkt,21 so dass auch die der übrigen Rechtsordnungen einzubeziehen sind.22 Der kirchliche Gesetzgeber hat aber nicht überall auf weltliches Recht Bezug genommen, wo dies sinnvoll und zu erwarten wäre. 23 Da die allgemeine subsidiäre Geltung weltlichen Rechts in der kirchlichen Rechtsordnung bewusst abgelehnt wurde,24 darf eine solche nicht angenommen werden, wo das ius Ecclesiae keinen Hinweis darauf enthält, auch wenn diese selektive Beachtung weltlichen Rechts in der Kirche mit der Pflicht des Christen gegenüber den staatlichen Autoritäten und Gesetzen möglicherweise in Konflikt geraten könnte.25

______________ 18

Nach Art. 4 DignCon hat der kirchliche Richter auf Ehen getaufter Nichtkatholiken sowie auf Ehen zwischen Nichtgetauften das für diese zur Zeit der Eheschließung geltende Recht anzuwenden, das je nach Konstellation auch das jeweilige staatliche Eherecht sein kann. 19

Vgl. Haering, Rezeption, 25 und 308.

20

Art. 4 § 2 ° 2 DignCon verwendet keinen von beiden, ist aber unzweifelhaft eine Verweisungsnorm. 21

Während c. 20 Schema de Normis generalibus 1977 noch von „generalibus iuris canonici principiis“ sprach, war das Adjektiv „canonici“ bereits in c. 19 Schema CIC von 1980 gestrichen. C. 1501 CCEO vollzog diese Öffnung unverständlicherweise nicht mit. 22 Pree spricht hierbei sogar von einer Öffnung des kanonischen Rechts auf das gemeinsame Rechtserbe der Menschheit (Pree, Generalia iuris principia, 42). 23

Haering (Rezeption, 318) vermisst dies beispielsweise in den cc. 1305 und 1306 § 1 CIC. 24 25

Vgl. Chiappetta, Codice, Rn. 344; Göbel, Verhältnis, 185; Haering, Rezeption, 31.

Aus diesem Grund kritisiert Durand eine solche Selektion (Durand, Renouvellement, 133).

I. Das Kirchenrecht ist offen für Europarecht

463

3. Auf welches Recht verwiesen wird Zielpunkt der Verweisungen sind nach c. 22 CIC die „leges civiles“ (weltliche Gesetze). Anstelle dieses Ausdrucks war ursprünglich die Formulierung „ius civile“ (weltliches Recht) geplant, doch findet sich in den Protokollen der Kodexreformkommission keine Begründung für diese Änderung, und es lässt sich in der Tat nicht sinnvoll begründen, warum im kirchlichen Recht nur weltliche Gesetze und nicht auch andere Rechtsformen beachtet werden sollen. Was in einem Staat durch Gesetz geregelt wird, kann in einem anderen durch Verordnung oder Gewohnheitsrecht begründet sein, bleibt aber nichtsdestoweniger für die Kirche relevant. Ähnliches gilt für die Rechtsnormen bestimmter weltlicher Rechtordnungen, welche die Rechtsform „Gesetz“ nicht kennen, wie etwa jene der Europäischen Gemeinschaft 26 oder das Völkerrecht. Nach Sinn und Zweck von c. 22 CIC kann der Ausdruck „leges“ also nicht nur Gesetze im formalen Sinn meinen.27 Er kann nicht einmal auf die generellen Rechtsnormen beschränkt werden, sondern muss ebenso die individuellen umfassen, die in den generellen gründen und nicht von ihnen losgelöst werden können. 28 Diese Interpretation wird bestätigt durch c. 1504 CCEO, die Parallelstelle zu c. 22 CIC, wo nicht „leges civiles“, sondern das allumfassende „ius civile“ verwendet wird.29 Erklärungsbedürftig ist aber auch das Adjektiv „civilis“. Es ist nämlich nicht gleichbedeutend mit dem deutschen „bürgerlich“ im Sinne von bürgerlichem Recht als Gegenbegriff zum Sonderprivatrecht oder zum öffentlichen Recht, sondern meint das weltliche Recht als Gegenstück zum kirchlichen. 30 Es beschränkt sich nicht auf das jeweilige staatliche Recht, sondern umfasst ebenso inkorporiertes ausländisches Recht, supranationales Recht sowie das ______________ 26

Erst Art. I-33 EVV würde das Europäische Gesetz und das Europäische Rahmengesetz als Rechtsakte der Europäischen Union einführen, was im Grunde aber nur eine Umbenennung der bisherigen Verordnungen bzw. Richtlinien darstellt. 27

Darin herrscht Übereinstimmung in der Lehre, z.B. Boni, Il canone 22, 439; Haering, Rezeption, 34f; Falls der Ausdruck „leges“ nur aus stilistischen Gründen gewählt wurde, um eine Wiederholung von „ius“ zu vermeiden, darf man ihm ohnehin keine streng technische Bedeutung beimessen. 28

So erwähnt Otaduy ausdrücklich auch Verwaltungsakte – ohne zwischen generellen und individuellen zu unterscheiden – sowie Gerichtsurteile (Otaduy, c. 22, in: ComEx, 414). 29

Um die Wortbedeutung zu klären, können nach c. 17 CIC auch Parallelstellen herangezogen werden, wobei solche im CCEO nicht ausgeschlossen sind. 30

Vgl. Spinelli, diritto pubblico ecclesiastico, 72.

464

G. Gegenseitige Offenheit der beiden Rechtsordnungen

Völkerrecht und in den Bundesstaaten sowohl Bundes- als auch Landesrecht.31 Ohne jeden Zweifel ist also EG- und EU-Recht miterfasst. Hingegen scheint der Wortlaut „civiles“ fremdes religiöses Recht auszuklammern, wenn man ihn nicht so weit ausdehnt, dass alles Recht erfasst ist, das außerhalb der Kirche erzeugt wurde.32 Manche Verweisungsnormen, wie etwa jene des Art. 4 DignCon, beziehen sich unzweifelhaft auch auf das Recht anderer Konfessionen und Religionen. Wenigstens dort, wo zwischen staatlichem und religiösem Recht nicht streng unterschieden wird, was in manchen islamischen Ländern vorkommt, ist auch Letzteres als verwiesenes Recht anzusehen.

4. Kanonisierende und andere Verweisungen auf weltliches Recht Den Vorgang des Verweisens beschreibt c. 22 CIC als „remittere“ und verwendet damit einen recht allgemeinen Begriff, der Verschiedenes bedeuten kann. Zunächst ist die statische Verweisung, die sich auf eine feststehende Norm bezieht, von der dynamischen zu unterschieden, die auf die jeweils geltende Fassung einer Norm verweist.33 Die Verweisungen des CIC auf weltliches Recht sind immer dynamisch,34 was deswegen sinnvoll ist, weil sie eine Abgleichung mit dem weltlichen Recht anstreben. Diese würde aber verfehlt, wenn die Kirche nicht die jeweils aktuelle Fassung beachten würde, sondern eine, die im weltlichen Rechtskreis bereits außer Kraft getreten ist. Die Verweisungen des CIC unterscheiden sich aber in einem anderen Punkt ganz grundlegend voneinander, nämlich darin, ob sie die weltlichen Rechtsnormen zu kirchlichen machen oder nur ihre Beachtung einschärfen. Im ersten Fall wird meist von Kanonisation gesprochen.35 Eine Kanonisation nimmt ______________ 31 Ciprotti, leggi civili, 281; Spinelli, diritto pubblico ecclesiastico, 72. Ein klarer Verweis auf das Völkerrecht findet sich in c. 362 CIC. 32

So Buonomo, Considerazioni, 20.

33

Vgl. Socha, in: MKCIC, c. 22, Rn. 9. Heimerl / Pree sprechen im ersten Fall auch von Rezeption und im zweiten von Verweis (Heimerl / Pree, Kirchenrecht, 49). Schmitz führt außerdem die Bezeichnungen Spezial- und Generalrezeption an (Schmitz, Das kirchliche Vermögensrecht, 20). Eindeutiger und leichter verständlich ist aber die oben genannte Terminologie. 34 35

Haering, Rezeption, 6; vgl. auch Ciprotti, Leggi civili, 287.

Haering bevorzugt hingegen die Bezeichnung „Rezeption“ und lehnt „Kanonisation“ ebenso ab wie „Adoption“, „Anerkennung“, „Approbation“, „Inkorporation“, „Konfirmation“, „materialer Verweis“, „rezipierender Verweis“ usw., da diese dem Sachverhalt nicht ganz gerecht werden und zudem auch in anderen Bedeutungen vorkommen. (Haering, Rezeption, 285) Da sich aber in der Kanonistik – auch international – „Kanonisation“ durchgesetzt zu haben scheint, soll auch hier dieser Begriff

I. Das Kirchenrecht ist offen für Europarecht

465

beispielsweise c. 1290 CIC vor, indem er das weltliche Vertragsrecht in die kirchliche Rechtsordnung übernimmt. Hingegen haben die Apostolischen Nuntien ihre Aufgaben gemäß den Normen des Völkerrechts auszuführen (c. 365 § 1 CIC), ohne dass diese deswegen zu kirchlichem Recht würden. Worin unterscheiden sich nun die beiden Formen? Kompetenzlage: Die Kirche kann weltliches Recht nur in jenen Bereichen kanonisieren, in denen sie selbst eine Kompetenz besitzt.36 Durch die Kanonisation verzichtet sie zwar auf eine eigenständige Regelung, nicht aber auf die Kompetenz an sich, sondern sie übt diese gerade dadurch aus, dass sie eine entsprechende Regelung aus dem weltlichen Recht übernimmt. 37 So wird aus c. 1290 CIC deutlich, dass es Angelegenheiten des Vertragsrechts gibt, die der kirchlichen Leitungsgewalt unterworfen sind („res potestati regiminis Ecclesiae subiectas“), und dass gerade für diese Angelegenheiten das weltliche Vertragsrecht in die kirchliche Rechtsordnung übernommen wird. In den übrigen Angelegenheiten, die außerhalb der kirchlichen Leitungsgewalt stehen, wäre eine Kanonisation unmöglich, weil die Kirche diesbezüglich keine Kompetenz besitzt, aber auch unnötig, weil die betreffenden Angelegenheiten bereits geregelt sind und zwar in jenem Rechtsbereich, dem sie angehören, nämlich dem weltlichen. Letzteres ist der Fall bei den Apostolischen Nuntien nach c. 365 § 1 CIC. Die Kirche hat keine Alleinverfügungsmacht über das Völkerrecht, sondern kann dieses nur anerkennen, wie sie es vorfindet, und ihren Amtsträgern seine Einhaltung einschärfen. Durch solche Verweisungsnormen übt die Kirche keine Kompetenz aus, sondern räumt vielmehr ein, dass die Kompetenz einer anderen Größe zusteht, deren Regelung sie akzeptiert. So erkennt c. 1059 CIC die Kompetenz der weltlichen Gewalt zur Regelung der rein bürgerlichen Wirkungen der Ehe an. Geltungsgrund und Verbindlichkeit: Entsprechend dieser kompetenzrechtlichen Lage haben kanonisierte Normen denselben Geltungsgrund und dieselbe Verbindlichkeit wie gewöhnliche kirchliche Normen. 38 Aus dem weltlichen ______________

weiter verwendet werden. Selbstverständlich ist er nicht mit „Verweisung“ gleichzusetzen, das den Oberbegriff darstellt (vgl. Boni, Il canone 22, 432). 36

Vgl. Ciprotti, Leggi civili, 287.

37

Verfehlt ist daher die Ansicht Bonis, dass die Kirche zugunsten des Staates auf Kompetenzen verzichte, die dieser dann nicht originär, sondern delegiert ausübe (Boni, La rilevanza, 55). Allein schon die Annahme der Delegierung des Staates durch die Kirche erscheint bedenklich, weil damit die Trennung zwischen beiden Größen gefährdet würde und weil die Kirche ihre Sendung selbst und nicht durch andere zu erfüllen hat. Kanonisation ist nicht die Delegation von Rechtsetzungskompetenz sondern die Übernahme von Rechtsvorschriften. 38

Schmitz, Das kirchliche Vermögensrecht, 19; Socha, in: MKCIC, c. 22, Rn. 6.

466

G. Gegenseitige Offenheit der beiden Rechtsordnungen

Bereich stammt nur der Inhalt, der vom weltlichen Rechtsetzer festgelegt und vom kirchlichen einfach akzeptiert worden ist. 39 Jene Vorschriften hingegen, auf die das kirchliche Recht nur schlicht Bezug nimmt, ohne sie zu kanonisieren, bleiben nicht nur bezüglich ihres Inhalts, sondern auch hinsichtlich Geltungsgrund und Verbindlichkeit voll und ganz weltliche Normen. 40 Keine Transformation: Die Übernahme weltlicher Rechtsvorschriften durch Kanonisation erfolgt ohne spezielle Transformation. Der kirchliche Rechtsetzer muss sie nicht erst in kirchliche Normen umformen, indem er gleichlautendes kirchliches Recht erlässt. Das wäre zu schwerfällig, zu unsicher und immer mit einer zeitlichen Verzögerung zwischen dem Inkrafttreten im weltlichen und im kirchlichen Bereich verbunden. Vielmehr beweist das kirchliche Recht seine Offenheit gegenüber anderen Rechtsordnungen gerade dadurch, dass die Kanonisation automatisch allein aufgrund einer entsprechenden kanonisierenden Verweisungsnorm zeitgleich mit jeder Neuschöpfung oder Änderung des weltlichen Rechts erfolgt.41 Wirkung: Welche Wirkung entfalten nun die kanonisierten Normen? C. 22 CIC ordnet zwar an, dass sie mit denselben Wirkungen („iisdem cum effectibus“) einzuhalten sind, lässt aber im Unklaren, worauf sich „iisdem“ bezieht: dieselben Wirkungen wie gewöhnliche kirchliche Normen oder dieselben Wirkungen wie im weltlichen Rechtsbereich. Da Sinn und Zweck der Kanonisation in einer Abgleichung des kirchlichen mit dem weltlichen Recht bestehen, ist die zweite Variante vorzuziehen, da diese Abgleichung nur dann vollständig erreicht wird, wenn die betreffenden Normen im kirchlichen Bereich dieselben Wirkungen entfalten wie im weltlichen. Darüber herrscht in der Lehre, wenn auch meist ohne nähere Begründung, weitgehend Einigkeit.42 Damit die Wir-

______________ 39

Vgl. Ciprotti, Leggi civili, 287; Haering, Rezeption, 28.

40

Aymans / Mörsdorf charakterisieren die lex canonizata dadurch, dass eine auf sie gründende Rechtshandlung nicht nur ihre weltlichen Rechtsfolgen, sondern ohne Weiteres auch entsprechende kanonische Rechtswirkungen hervorbringt (Aymans / Mörsdorf, Lehrbuch I, 171). 41

Das setzt einen univoken Rechtsbegriff voraus. Wäre Kirchenrecht nur Recht im analogen Sinn, so könnte es das weltliche Recht nicht ohne vorherige Umformung übernehmen. Kanonisierte und originär kirchliche Rechtsvorschriften könnten dann nicht in ein und derselben Argumentationskette miteinander verbunden werden. Somit liefert das Instrument der Kanonisation einen Hinweis dafür, dass sich das Kirchenrecht nicht als analoges Recht versteht. 42 Vgl. z.B. Ciprotti, Leggi civili, 287; Haering, Rezeption, 37; Otaduy, c. 22, in: ComEx, 415; Socha, in: MKCIC, c. 22, Rn. 6.

I. Das Kirchenrecht ist offen für Europarecht

467

kungen tatsächlich identisch sind, müssen die kanonisierten Normen in derselben Weise interpretiert und angewandt werden wie im weltlichen Recht. 43 Derogation: Da kanonisierte Normen kirchliche Normen sind, wird ihnen durch spätere kirchliche Rechtsvorschriften derogiert, wenn sie nicht miteinander in Einklang zu bringen sind (c. 21 CIC).44 Das Umgekehrte gilt jedoch nicht, denn weltliches Recht, das bestehendem kirchlichem Recht widerspräche, wird von vornherein nicht kanonisiert.45 Da die kanonisierenden Normen dynamische Verweisungen enthalten, wird den kanonisierten Vorschriften aber auch durch neue weltliche Rechtsvorschriften derogiert gemäß den Derogationsregeln im weltlichen Bereich.46 Die Kanonisation im Verhältnis von kirchlichem und weltlichem Recht entspricht nach manchen Autoren47 dem internationalen Privatrecht im Verhältnis zwischen verschiedenen staatlichen Rechtsordnungen. Gewiss verfolgen beide Instrumente das Ziel, Kollisionen zwischen verschiedenen Rechtsordnungen zu vermeiden bzw. zu lösen, aber davon abgesehen unterscheiden sich die beiden grundlegend voneinander. Das internationale Privatrecht führt nämlich nicht dazu, dass eine ausländische Norm zu einer inländischen wird, so wie die kanonisierte Norm zu einer kirchlichen wird. Die ausländische Norm wird nicht in die eigene Rechtsordnung inkorporiert, sondern von einem inländischen Organ nur in bestimmten Fällen angewandt, die einen Auslandsbezug aufweisen. Dabei verzichtet der Staat nicht auf eine eigene Regelung, sondern lässt diese weiter bestehen.48

______________ 43

Vgl. Otaduy, c. 22, in: ComEx, 415.

44

In diesem Fall übt die Kirche ihre Kompetenz dann nicht mehr dadurch aus, dass sie weltliche Regelungen übernimmt, sondern dadurch, dass sie von nun an eigene schafft. 45

C. 22 CIC: „nisi aliud iure canonico caveatur“.

46

Insofern sich c. 22 CIC also auch eine Aussage über Interpretation und Derogation entnehmen lässt, fügt er sich ohne Weiteres in den Titel I des Buches über die Allgemeinen Normen ein. Sonst würde er jedoch, wie Haering vorschlägt, zu den canones praeliminares gehören (Rezeption, 40). 47 48

Z.B. Spinelli, Diritto pubblico ecclesiastico, 73.

Wenn z.B. ein deutsches Gericht auf eine Ehe zwischen Türken türkisches Eherecht anwendet, dann wird dieses dadurch nicht zu deutschem und Deutschland verzichtet auch nicht darauf, ein eigenes Eherecht zu haben. Das heißt aber nicht, dass es in der kirchlichen Rechtsordnung an anderen Stellen nicht doch etwas Ähnliches wie internationales Privatrecht gäbe (vgl. Art. 4 DignCon).

468

G. Gegenseitige Offenheit der beiden Rechtsordnungen

Strittig ist, ob c. 22 CIC eine allgemeine Norm nur für die kanonisierenden oder für alle Verweisungsnormen darstellt.49 Der Ausdruck „canonizatio“ kommt in c. 22 CIC nicht vor, und das Verb „remittit“ umfasst unterschiedslos alle Verweisungen.50 Die Wendung „in iure canonico“ deutet jedoch auf eine Inkorporation in die kirchliche Rechtsordnung hin. Wären auch nicht kanonisierende Verweisungen gemeint, so würde man stattdessen eher eine Formulierung wie „ab auctoritate ecclesiastica“ erwarten. Bei nicht kanonisierenden Verweisungen wäre die Klausel „iisdem cum effectibus“ unnötig, weil weltliche Rechtsvorschriften, die in der weltlichen Rechtsordnung bleiben, ganz selbstverständlich mit denselben Wirkungen wie im weltlichen Bereich zu beachten sind. So sehr sich kanonisierende und andere Verweisungen auf weltliches Recht auch voneinander unterscheiden mögen, sie verfolgen doch dasselbe Ziel der Abgleichung beider Rechtsordnungen und zeugen von einer großen Offenheit und Kommunikabilität der kirchlichen Rechtsordnung.

5. Schranken für die Kanonisation Selbst wenn die kirchliche Rechtsordnung sich durch eine große Offenheit gegenüber weltlichem Recht auszeichnet, so kann diese doch nicht unbeschränkt sein. Manche weltlichen Rechtsordnungen enthalten nämlich Vorschriften, welche die Kirche wegen ihrer Bindung an die Glaubens- und Sittenlehre unter keinen Umständen akzeptieren kann. Bei der Vielzahl von Rechtsordnungen weltweit kann der kirchliche Gesetzgeber nicht alle Rechtsvorschriften kennen, auf die sich seine Verweisung bezieht. Vor allem aber kann er die künftige Rechtsentwicklung nicht vorhersehen, die jedoch deswegen relevant ist, weil die Verweisungen dynamisch sind. Um nicht auch unerwünschtes Recht unbesehen in die kirchliche Rechtsordnung einzulassen, müssen die entsprechenden „Einfallstore“ mit „Sicherheitsventilen“ versehen werden. Genau das ist der Zweck des Vorbehalts zugunsten des göttlichen und des kanonischen Rechts in c. 22 CIC. Einen ähnlichen Zweck erfüllen im internationalen Privatrecht die so genannten ordre-public-Vorbehalte.51 Diese schließen aber meist nur dasjenige ausländische Recht aus, das den Grundprinzipien der eigenen Verfassung ______________ 49

Für die weite Auslegung: Göbel, Verhältnis, 185; Socha, in: MKCIC, c. 22, Rn. 5.

50

Die ursprünglich vorgeschlagene Formulierung mit „quoties“ [Comm 11 (1979) 76], die noch stärker für die weite Auslegung gesprochen hätte, wurde allerdings fallengelassen. 51

Vgl. Buonomo, Considerazioni, 20; ders., The Holy See, 26.

I. Das Kirchenrecht ist offen für Europarecht

469

widerspricht, nicht jedoch dasjenige, das bloß vom einfachen Gesetzesrecht abweicht. Demgegenüber reicht der Vorbehalt des c. 22 CIC viel weiter, weil er nicht nur das göttliche Recht als den absolut unaufgebbaren Kern der kirchlichen Rechtsordnung, sondern auch das einfache kanonische Recht vor Einflüssen von außen schützt.52 Die Formulierung des c. 22 CIC ist allerdings zu kritisieren. Der Vorbehalt zugunsten des göttlichen Rechts gilt nämlich nur soweit („quatenus“) ihm die weltlichen Normen nicht zuwiderlaufen, der Vorbehalt des kanonischen Rechts greift hingegen, wenn nicht („nisi“) etwas anderes vorgesehen ist. Ein Widerspruch mit kanonischem Recht führt demnach dazu, dass die weltliche Norm überhaupt nicht zu beachten ist, während ein Widerspruch mit göttlichem Recht bewirkt, dass nur die unvereinbaren Teile der weltlichen Norm nicht zu beachten sind. Damit wäre das göttliche Recht weniger geschützt als das kanonische, wo doch gerade das Umgekehrte zu erwarten wäre. Diese Ungereimtheit lässt sich nicht durch den Hinweis beheben, dass auch das göttliche Recht kirchliches sei, weil damit die separate Klausel bezüglich des göttlichen Rechts keine Daseinsberechtigung mehr hätte, Gesetze aber so zu interpretieren sind, dass kein Wort überflüssig wird.53 Haering interpretiert den zweiten Vorbehalt ähnlich wie den ersten in der Weise, dass auch dieser nur soweit reicht, als das originäre kanonische Recht materiell eigene Regelungen enthält. 54 Trotz der sprachlichen Variation kann es von der Sache her keinen Unterschied geben. Bisweilen strebt der kirchliche Gesetzgeber nur nach Abwechslungen im Stil, ohne damit rechtsrelevante Unterschiede zu beabsichtigen. Hinsichtlich des göttlichen Rechts unterscheidet Boni formale und materielle Widersprüche. Formell ist der Widerspruch dann, wenn der weltliche Rechtsetzer in Überschreitung seiner Kompetenz eine Sache regelt, die in den Bereich ______________ 52

Ursprünglich war auch noch ein Vorbehalt zugunsten der aequitas canonica geplant [Comm 11 (1979) 76]. Da diese sich aber nur schwer bestimmen lässt und somit eine erhebliche Unsicherheit darüber entstanden wäre, welche weltlichen Rechtsvorschriften ihr entgegenstehen und daher nicht zu beachten sind, wurde dieser Vorbehalt zu Recht gestrichen. 53 Für Boni beschränkt sich der Sinn der besonderen Erwähnung des göttlichen Rechts aber darauf, dass dieses als Beispiel noch einmal in Erinnerung gerufen wird (Boni, Il canone 22, 520). 54 Haering, Rezeption, 38. Dass die Schranken des göttlichen und des rein kirchlichen Rechts unterschiedlich zu bewerten sind wird im Rota-Urteil coram Palestro vom 23.10.1991 deutlich: Was dem göttlichen Recht widerspricht, kann sie deshalb nicht kanonisieren, weil sie selbst nicht einmal solches Recht erlassen könnte; was hingegen dem rein kirchlichen Recht widerspricht, kanonisiert sie einfach deshalb nicht, weil sie nicht ihrem eigenen Recht derogieren möchte (Nr. 6).

470

G. Gegenseitige Offenheit der beiden Rechtsordnungen

der Kirche fiele.55 Bedeutsamer ist der materielle Widerspruch, bei dem der Inhalt der weltlichen Norm dem göttlichen oder bloß kirchlichen Recht widerspricht. Zum Widerspruch mit göttlichem Recht hält Boni fest, dass es nicht genügt, wenn der weltliche Rechtsetzer die Lehre der Kirche nicht anerkennt oder wenn die weltliche Norm dem göttlichen Recht nur abstrakt und prinzipiell widerspricht; vielmehr muss der Widerspruch bei der konkreten Anwendung der Norm in einem bestimmten Fall auftreten. 56 Bei Widersprüchen mit einer kanonischen Norm ist zu fragen, ob diese die kanonisierte gänzlich ersetzt, ob beide kumulativ anzuwenden sind oder ob die kirchliche nur dort durchgreift, wo die weltliche Lücken aufweist.57 Wichtiger als diese Unterscheidungen Bonis ist jedoch die Frage, welche normenlogische Art von Widerspruch vorliegen muss, damit die Schranken greifen, also wie die Begriffe „contrarius“ bzw. „aliud“ in c. 22 CIC zu verstehen sind. Grundsätzlich sind zwei Arten von Widersprüchen zu unterscheiden. Beim konträren Widerspruch wird ein und dasselbe Verhalten von der einen Norm geboten und von der anderen verboten. Für einen kontradiktorischen Widerspruch genügt es hingegen schon, wenn das betreffende Verhalten gleichzeitig geobten und nicht geboten bzw. verboten und nicht verboten ist. Nur im ersten Fall kommt derjenige, der gleichzeitig Adressat beider Normen ist, in ein Dilemma, in dem er nicht beide Normen zugleich erfüllen kann. Im zweiten Fall hingegen sind beide gleichzeitig erfüllbar. Ein Gebot und ein Verbot desselben Inhalts können nicht gleichzeitig erfüllt werden, ein Verbot und eine Erlaubnis bzw. ein Gebot und eine Freistellung hingegen schon. Was nun die Schranken des c. 22 CIC betrifft, so greifen sie nur bei konträren Widersprüchen. Das heißt, dass die weltliche Norm nicht kanonisiert wird, wenn sie nicht gleichzeitig mit einer kirchlichen bzw. göttlich-rechtlichen Norm erfüllt werden kann. Sind jedoch beide gleichzeitig erfüllbar, so wird die weltliche Norm sehr wohl kanonisiert. Nicht konsequent ist Huels, wenn er zuerst sagt, dass das kanonische Recht immer Vorrang hat, sooft es mit weltlichem Recht in Konflikt steht, und er gleich darauf einräumt, dass viele Kirchengerichte keine Nichtigkeitsklage zulassen, wenn die Ehe nicht schon zivil geschieden wurde.58 ______________ 55

Boni, Il canone 22, 451. Dabei beachtet Boni aber nicht, dass dies kaum jemals problematisch sein wird, da Kanonisierungen nur dort erfolgen, wo das Recht der Kirche sie ausdrücklich anordnet. 56

Ebd. 452.

57

Ebd. 462.

58

Huels, in: New Commentary, c. 22, 85.

I. Das Kirchenrecht ist offen für Europarecht

471

Da c. 22 CIC eine allgemeine Norm ist, können die konkreten Kanonisationsnormen davon abweichende spezielle Schrankenregelungen vorsehen, soweit es sich um Widersprüche mit rein kirchlichem Recht handelt. Widersprüche mit dem göttlichen Recht sind hingegen immer zugunsten des göttlichen Rechts zu entscheiden, da dieses auf jeden Fall höherrangig ist. Beispielsweise kanonisiert c. 197 CIC das weltliche Recht bezüglich Ersitzung und Verjährung. Als Schranke wird hier nicht wie in c. 22 CIC das gesamte kanonische Recht genannt, sondern nur das, was in den Canones dieses Codex festgesetzt ist. Da c. 197 CIC gegenüber c. 22 CIC die speziellere Regelung ist, genießt er den Vorrang. Das heißt, dass bei Widersprüchen des weltlichen Ersitzungs- und Verjährungsrechts mit Bestimmungen des CIC eine Kanonisation verhindert wird, nicht aber bei Widersprüchen mit kirchlichem Recht, das aus anderen Quellen stammt. Es bleibt der Kirche unbenommen, dem weltlichen Recht in bestimmten Fällen Vorrang vor ihrem eigenen Recht einzuräumen. Der Gesetzgeber des CIC wollte anscheinend bei Ersitzung und Verjährung die rein kirchlichen Normen, die eine Kanonisation verhindern können, von vornherein auf jene des CIC beschränken, um größere Rechtsklarheit zu schaffen und um zu vermeiden, dass beliebige kirchliche Rechtsetzer etwa über Dekrete kirchliche Rechtsnormen schaffen können, die eine Kanonisation ausschließen. Andere Kanonisationsnormen wie c. 110 CIC enthalten gar keine Schrankenregelung, so dass hier die allgemeine Norm des c. 22 CIC greift. Wieder andere Kanonisationsnormen (z.B. c. 1290 CIC) enthalten dieselbe Schrankenregelung wie c. 22 CIC, so dass sich die Frage erübrigt, welche Schrankenregelung anzuwenden ist.

6. Kanonisation aus der Sicht des weltlichen Rechts Wie wird nun der Staat reagieren, wenn die Kirche Teile seines Rechts in ihre eigene Rechtsordnung überführt? Er hat kein Urheberrecht an seinen Gesetzen, und es kommt auch unter Staaten nicht selten vor, dass bestimmte Gesetze nach dem Vorbild anderer gestaltet werden (z.B. das Schweizer Zivilgesetzbuch in der Türkei). Die Kanonisation ist jedoch ein andersartiger Vorgang. Grundsätzlich wird der weltliche Rechtsetzer nichts dagegen einzuwenden haben, wenn seine Vorschriften auch in der Kirche beachtet werden. Er wird sogar in vielen Fällen den Anspruch der Kirche auf eine eigenständige Regelungskompetenz nicht kennen oder ignorieren und wie selbstverständlich davon ausgehen, dass seine Normen auch für die Kirche gelten. Dass aus der Sicht der Kirche die kanonisierten Normen ihren Geltungsgrund in der kirchlichen und nicht in der weltlichen Rechtsordnung haben, wird kaum zu Konflikten führen, solange die Normen tatsächlich eingehalten werden.

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G. Gegenseitige Offenheit der beiden Rechtsordnungen

Probleme können allerdings entstehen, sobald die Schranken des c. 22 CIC eingreifen und eine bestimmte weltliche Norm nicht kanonisiert wird. In einem solchen Fall wird sich die Kirche gegenüber der weltlichen Autorität nicht auf c. 22 ihres eigenen Gesetzbuchs berufen können. Möglicherweise wird aber eine Rechtfertigung mit Hilfe der kirchlichen Autonomie oder der Religionsfreiheit Erfolg haben.

7. Was die Kirche aus dem EU-Recht kanonisiert Welche Teile des EU-Rechts überführt die Kirche nun konkret durch Kanonisation in ihre Rechtsordnung? Die kanonisierenden Bestimmungen des CIC lassen sich drei Rechtsgebieten grob zuordnen: dem Personen(stands)recht (z.B. c. 98 § 2, c. 110, c. 1105 § 2 CIC),59 dem Verfahrensrecht (z.B. c. 1500 und c. 1714 CIC) und dem Vermögensrecht. Während sich kaum europarechtliche Normen finden lassen, die unter einen Canon der ersten und zweiten Gruppe fallen, ist dies bei der dritten, die ohnehin die größte ist, leicht vorstellbar, wenn man etwa an das Feld des europäischen Privatrechts denkt. Da die Europäische Union aber kein geschlossenes Privatrechtssystem, 60 sondern nur privatrechtsrelevante Regelungen in einzelnen Bereichen61 – insbesondere als Auswirkungen der Grundfreiheiten – kennt, ist noch genauer zu prüfen, inwieweit sich diese mit den kanonisierenden Bestimmungen des CIC treffen. Mit Blick auf das Privatrecht wurde der EG-Rechtsetzer vor allem auf dem Gebiet des Verbraucherschutzes62 tätig sowie bei der Festlegung zulässiger Vertrags______________ 59

In der Lehre herrscht keine Einigkeit darüber, ob es sich dabei wirklich um kanonisierende Normen handelt. Für eine kanonisierende Wirkung von c. 110 CIC: Heimerl / Pree, Kirchenrecht, 85. Dagegen: Haering, Rezeption, 297. Für eine kanonisierende Wirkung von c. 1105 § 2 CIC: Ciprotti, Leggi civili, 289; Socha, in: MKCIC, c. 22, Rn. 6. 60 Ein regelrechter EG-Zivilrechtskodex bleibt ein Projekt der Zukunft. Wie für alle transnationalen Akteure brächte er auch für die Kirche den Vorteil einer europaweit einheitlichen Regelung. Aber auch ohne diesen kann die Kirche aufgrund des weitgehend dispositiven Charakters des Schuldrechts Verträge überall nach einheitlichen Grundsätzen gestalten. Dazu enthält ihre eigene Rechtsordnung bereits Vorgaben, so dass sie im Unterschied etwa zu Unternehmen nicht auf die Prinzipien des europäischen Vertragsrechts, die von Privaten erarbeitet wurden (vgl. Ranieri, Obligationenrecht, 31), zurückgreifen muss. 61

Primärrechtliche Grundlagen für die Vereinheitlichung des europäischen Privatrechts sind Art. 2, 3 und 4 EGV, der Binnenmarkt (Art 14 EGV), der Verbraucherschutz (Art. 153 EGV) sowie die Grundfreiheiten (Lurger, Vereinheitlichung, 61). 62

Vgl. Ranieri, Obligationenrecht, 30.

I. Das Kirchenrecht ist offen für Europarecht

473

klauseln in diversen Gruppenfreistellungsverordnungen, die sich an Unternehmer richten. Wenn auch keines der beiden Gebiete für die Kirche sonderlich relevant ist, könnte doch etwa die Verjährungsregelung des Art. 5 RL 1999/44/EG über c. 197 und c. 1268 CIC unter Umständen kanonisiert werden. Für das kirchliche Vermögensrecht wichtiger sind ohne Zweifel die Sekundärrechtsakte über Kulturgüter. Art. 7 Abs. 1 Satz 2 der RL 93/7/EWG sieht für die Verjährung des Anspruchs auf Rückgabe von Kulturgütern, die unrechtmäßig in einen anderen Mitgliedstaat verbracht worden sind, generell eine Verjährungsfrist von 30 Jahren vor, ermöglicht es jedoch in Satz 2, speziell für kirchliche Güter eine längere Frist von 75 Jahren vorzusehen. Das kircheneigene Recht hingegen legt für wertvolle bewegliche Sachen, die dem Apostolischen Stuhl gehören, 100 Jahre und bei anderen öffentlichen juristischen Personen der Kirche 30 Jahre als Verjährungsfrist fest (c. 1270 CIC). Sofern nun ein bestimmtes kirchliches Gut i.S.d. Kulturgüterrichtlinie gleichzeitig die Kriterien für eine wertvolle bewegliche Sache nach c. 1270 CIC erfüllt, ist im kirchlichen Bereich die letztere Bestimmung maßgeblich, da weltliche Verjährungsvorschriften nur dann kanonisiert werden, wenn im kanonischen Recht nicht etwas anderes vorgesehen ist (c. 197 und c. 1268 CIC). So wird hier bedauerlicherweise trotz der kirchlichen Kanonisationsnormen keine Abgleichung der beiden Rechtssphären herbeigeführt. Während die RL 93/7/EWG Vorschriften über die unrechtmäßige Verbringung von Kulturgütern von einem EU-Mitgliedstaat in einen anderen enthält, regelt die VO (EWG) Nr. 3911/92 die Ausfuhr von Kulturgütern aus dem Zollgebiet der Gemeinschaft, die ohne Ausfuhrgenehmigung unzulässig ist. Eine der Kategorien von Gütern, die von dieser VO erfasst sind, stellen Bestandteile religiöser Denkmäler dar, die älter als 100 Jahre sind (Art. 1 i.V.m. Anhang A.2). Bei den anderen Kategorien wird zwar ein Religionsbezug nicht ausdrücklich genannt, jedoch auch sie umfassen nicht selten kirchliche Güter. Das Erfordernis einer Ausfuhrgenehmigung beschränkt die Vertragsfreiheit bezüglich der Veräußerung entsprechender Güter an Empfänger in Nicht-EUStaaten. Daher könnte man diese Regelung als zum Vertragsrecht gehörig und somit von c. 1290 CIC kanonisiert ansehen. Falls man unter diese Norm aber nur Zivilrecht im eigentlichen Sinn subsumieren möchte, so wäre die genannte Verordnung jedenfalls eine nach c. 1284 § 2 ° 3 CIC vom kirchlichen Vermögensverwalter zu beachtende Vorschrift des weltlichen Rechts. Noch mehr als das Kulturgüterrecht kommt das Arbeitsrecht der Europäischen Gemeinschaft für eine Kanonisation in Betracht. Zwar wird die Auffassung, dass die beiden arbeitsrechtlichen Bestimmungen des CIC, die auf das weltliche Recht verweisen, nämlich c. 231 § 2 und c. 1286 ° 1, kanonisierende Normen seien, nicht von allen63 geteilt, aber auf jeden Fall kanonisiert c. 1290

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G. Gegenseitige Offenheit der beiden Rechtsordnungen

CIC das weltliche Arbeitsrecht, soweit es sich um Vertragsrecht handelt.64 Die kanonisierten Normen des EG-Rechts können aus dem Primärrecht oder aus dem Sekundärrecht stammen. Aufgrund der Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 39 Abs. 2 EGV) ist es auch Dritten verwehrt, Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit unterschiedlich zu behandeln. An dieses Diskriminierungsverbot ist die Kirche als Arbeitgeberin nicht nur extern gebunden, weil es nach der Rechtsprechung des EuGH 65 auch Dritte verpflichtet, sondern ebenso intern, weil es ihre eigene Rechtsordnung über c. 1290 CIC kanonisiert, insofern es die Fragen betrifft, mit wem, unter welchen Bedingungen und mit welcher Entlohnung sie Arbeitsverträge schließt. Ebenso ist Art. 141 Abs. 1 EGV, der für Frauen und Männer bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit die gleiche Entlohnung vorschreibt, eine über c. 1290 CIC kanonisierte Norm, die den Inhalt von Arbeitsverträgen der Kirche insoweit determiniert, als sie die Höhe des zu vereinbarenden Arbeitsentgelts betrifft. 66 Im Sekundärrecht finden sich zahlreiche Normen, welche auf die Ausgestaltung von Arbeitsverträgen einwirken. Einige von ihnen enthalten Ausnahmeklauseln, um Kollisionen mit religiösem Recht zu vermeiden. 67 Wo es dennoch zu Kollisionen kommt, weil derartige Klauseln fehlen, 68 wird die entsprechende Vorschrift aufgrund der Vorbehalte des c. 1290 CIC zugunsten des göttlichen ______________ 63

Für diese Auffassung: Ciprotti, Leggi civili, 289.

64

Vgl. Kalb, Dienst- und Arbeitsrecht, 257. Heimerl / Pree (Vermögensrecht, Rn. 4/16) unterscheiden bei den Dienst- und Arbeitsverträgen, ob ein privatrechtlicher Vertrag geschlossen wird, ob neben diesem auch eine kirchliche Sendung vorkommt oder ob statt diesem die Anstellung durch Hoheitsakt erfolgt. Nur bezüglich des privatrechtlichen Vertrags greift c. 1290 CIC ein. Althaus (in: MKCIC, c. 1290, Rn. 4c) folgt der weiten Auslegung von Heimerl / Pree, wonach auch alle Bestimmungen, die in irgendeiner Weise mit den vermögensrechtlich relevanten Vertragstypen zusammenhängen, kanonisiert werden. 65

Nach dem Urteil Bosman (Rs. C-415/93, Rn. 79f.) betrifft es ebenso Verbände, nach dem Urteil Angonese (Rs. C- 281/98, Rn. 29f.) sogar Privatpersonen. Wenn nun selbst diese davon erfasst sind, dann erst recht die Kirche, die viel klarer dem öffentlichen Bereich zuzuordnen ist. Da die kanonisierten Normen in der Kirche mit denselben Wirkungen (c. 22 CIC: „iisdem cum effectibus“) wie im weltlichen Bereich einzuhalten sind, ist auch deren Auslegung durch das zuständige weltliche Gericht zu beachten. 66

Die Drittwirkung gegenüber allen Arten von Arbeitgebern ist bei dieser Norm noch eindeutiger als bei Art. 39 EGV, vgl: EuGH Rs. 143/83. 67

So z.B. Art. 4 Abs. 2 RL 2000/78/EG hinsichtlich der Religionszugehörigkeit der Arbeitnehmer und Art. 17 Abs. 1 lit. c RL 2003/88/EG. 68 Z.B. bei der RL 2000/78/EG hinsichtlich Arbeitnehmern, die eine gleichgeschlechtliche Partnerschaft praktizieren.

II. Das Europarecht ist offen für Kirchenrecht

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und des kanonischen Rechts nicht kanonisiert. Der weitaus größte Teil des arbeitsvertraglichen Sekundärrechts ist aber aus kirchenrechtlicher Sicht unproblematisch, so dass diese Vorbehalte eine Kanonisation nicht verhindern. Soweit es sich allerdings um Richtlinien handelt, werden diese nur in den Fällen kanonisiert, in denen sie unmittelbare Wirkung entfalten. Ansonsten wird nicht die Richtlinie selbst, sondern der zu ihrer Umsetzung ergangene Rechtsakt des jeweiligen Mitgliedstaates kanonisiert. Kanonisierende Normen können sich nicht nur im CIC, sondern beispielsweise auch in Konkordaten finden. Solange ein Europakonkordat fehlt, kommen dafür nur die Konkordate der Mitgliedstaaten in Frage. Barberini zufolge müsste die Zusammenarbeitspflicht in den Verträgen zwischen einem Staat und dem Heiligen Stuhl bzw. den anderen Konfessionen dazu bestimmt sein, die volle Verwirklichung der Gemeinschaftsvorschriften zu ermöglichen. 69 Jedenfalls ist nicht auszuschließen, dass Bestimmungen eines Konkordats, die ursprünglich Normen des staatlichen Vertragspartners kanonisierten, aufgrund der dynamischen Verweisung jetzt EG-Normen kanonisieren, die an die Stelle der staatlichen getreten sind. Nach all dem hier Ausgeführten gibt es also sehr wohl Normen des EGRechts, die von der Kirche kanonisiert werden. Damit schafft die EG nicht nur Rechtsnormen, die kirchlich relevant sind, sondern sogar solche, die regelrecht zu Kirchenrecht werden. Oder plakativ gesagt: Ein Teil des Kirchenrechts wird in Brüssel geschaffen.

II. Das Europarecht ist offen für Kirchenrecht 1. Zivilisation religiösen Rechts Gibt es auch den umgekehrten Vorgang zur Kanonisation, nämlich dass weltliche Rechtsordnungen kirchliches Recht übernehmen? In der Tat erwähnen weltliche Rechtsordnungen in unterschiedlichem Maß auch religiöses und insbesondere kirchliches Recht, aber nicht jeder Verweis ist schon eine Inkorporation. Liegt diese vor, so spricht Socha von der „Zivilisation“ kirchlichen Rechts.70 Als Beispiele für Deutschland können die Kirchensteuerordnungen und die Lehrpläne für den Religionsunterricht angeführt werden. Dass kirchlichen Rechtssätzen Wirkung in der staatlichen Rechtsordnung zuerkannt wird, ist für Pirson nur vorübergehend zu rechtfertigen, solange noch kein eigenständiges, d.h. säkulares staatliches Recht in kirchlichen Angelegenheiten parallel ______________ 69

Barberini, Lezioni, 307.

70

Socha, in: MKCIC, c. 22, Rn. 6.

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G. Gegenseitige Offenheit der beiden Rechtsordnungen

entwickelt ist.71 Damit verkennt er jedoch den Sinn von Zivilisationen: Sie sollen gerade Parallelregelungen und damit Doppelgleisigkeiten und Unvereinbarkeiten zwischen den beiden Rechtsordnungen auf Dauer vermeiden, indem sich der Staat die Schaffung eigenen Rechts in kirchlichen Angelegenheiten erspart und dafür den Kirchen die Setzung der Normen überlässt, die er dann übernimmt. Ebenso wenig ist der Ausgleich zwischen staatlichem Rechtsetzungsmonopol und säkularer Begrenzung der staatlichen Gewalt nur dadurch herzustellen, dass das staatliche Recht auf die Erfassung und Beurteilung des kirchlichen Rechts verzichtet und damit den Rechtscharakter der kirchlichen Ordnung dahingestellt sein lässt.72 Spätestens seitdem ein beträchtlicher Anteil der heutigen Rechtsnormen von der Europäischen Union stammt, ist das staatliche Rechtsetzungsmonopol ohnehin gefallen. Dann ist jedoch nicht einzusehen, warum daneben nicht noch weitere, etwa kirchliche Rechtsetzer anerkannt werden könnten. Die säkulare Selbstbeschränkung des Staates erfolgt gerade dadurch, dass er den Kirchen selbst die Regelung ihrer Angelegenheiten überlässt. Der Rechtsbegriff darf in einer Welt zunehmender Verflechtung von Rechtskreisen natürlich nicht zu eng gefasst werden. Für Margiotta Broglio ist die Bedeutung des Christentums für Europa so groß, dass es unvermeidlich ist, religiöses Recht heute zu berücksichtigen. Dies geschieht einerseits durch Verweis auf bzw. Inkorporation von religiösen Normen, anderseits durch Regelung bestimmter Fragen durch Verweis auf schon bestehende Normen, die einer anderen Rechtsordnung angehören, in der die betreffende Materie durch religiöses Recht geregelt ist. 73 Im Folgenden soll untersucht werden, an welchen Stellen die Rechtsordnung der Europäischen Union selbst Zivilisationen oder andere Verweise auf religiöses Recht enthält.

a) Arten der Verweisung auf religiöses Recht Zivilisation: Nach Art. 10 Abs. 2 SpStr. 2 der Wein-VO (EWG) Nr. 3201/90 dürfen Empfehlungen über die Zulassung des Weines zu religiösen Zwecken nur angegeben werden, wenn der Wein nach den von der betreffenden religiö______________ 71

Pirson, Kirchliches Recht, 310.

72

So aber Pirson (ebd. 309). Dahinter steht wohl die in den evangelischen kirchlichen Gemeinschaften immer noch ungeklärte Frage nach dem Rechtscharakter ihrer eigenen Ordnungen und der damit verbundenen Neigung, die Rechtsetzung der weltlichen Autorität zu überlassen. 73

Margiotta Broglio, Fenomeno, 92f. Anschließend listet Margiotta Broglio eine Fülle von einschlägigen Beispielen aus europäischen Staaten und verschiedenen Religionsgemeinschaften auf.

II. Das Europarecht ist offen für Kirchenrecht

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sen Einrichtung vorgesehenen Sondervorschriften gewonnen wurde und diese ihr schriftliches Einverständnis zur Verwendung dieser Angabe erteilt hat.74 Damit finden die „von der betreffenden religiösen Einrichtung vorgesehenen Sondervorschriften“ Eingang ins EG-Recht. Die Europäische Gemeinschaft verzichtet darauf, selbst festzulegen, wann ein Wein für religiöse Zwecke zugelassen werden kann, um Divergenzen mit religiösem Recht zu vermeiden. Stattdessen bindet sie Erzeuger, Händler und Behörden auch im weltlichen Bereich an die religiösen Vorschriften, sofern der Wein eine Angabe über die Eignung zu religiösen Zwecken tragen soll. Mehrere Religionsgemeinschaften verwenden Wein für ihren Kult, die Wein-VO erwähnt eigens aber nur den koscheren (Passah-)Wein (Art. 10 Abs. 2 UA. 2) der jüdischen Religion, weil sie für diesen die Ausnahme vorsieht, dass er nicht nur an religiöse Einrichtungen abgegeben werden darf. Was die katholische Kirche betrifft, so ist selbstverständlich an den Messwein zu denken, und die „von der betreffenden religiösen Einrichtung vorgesehenen Sondervorschriften“ beziehen sich in diesem Fall auf die kirchenrechtlichen Bestimmungen über die Materie der Eucharistie. Diesbezüglich verlangt c. 924 § 3 CIC einen natürlichen, aus Weintrauben gewonnenen, nicht verdorbenen Wein, während die IGMR (2002) zusätzlich anordnet, dass er rein, d.h. ohne Beifügung fremder Substanzen (Nr. 322), und nicht sauer ist (Nr. 323). Die Instruktion Redemptionis Sacramentum schärft außerdem das Verbot ein, Wein zu verwenden, über dessen Echtheit und Herkunft Zweifel bestehen (Nr. 50). Der Ständige Rat der Deutschen Bischofskonferenz arbeitete eine eigene Verordnung aus, die ausdrücklich auf weltliche Rechtsvorschriften, darunter auch die damals gültige Wein-VO der EG, Bezug nimmt und bewusst eine Harmonisierung der kirchlichen und weltlichen Rechtsnormen anstrebt, indem sie vor allem angibt, welche der staatlichen Qualitätskategorien den kirchlichen Reinheitsvorschriften entsprechen.75 Wenn somit das weltliche Recht auf die kirchlichen Vorschriften und diese wieder zurück auf das weltliche Recht verweisen, heißt das dann, dass keine der beiden Seiten eine Regelung vornehmen und diese vielmehr der jeweils anderen zuschieben möchte? Keineswegs, denn die Kirche legt die Kriterien sehr wohl selbst fest und gibt nur an, mit welchen ______________ 74 Anders verhält es sich bei genetisch veränderten Lebensmitteln. Hier muss derjenige, der den Antrag auf Zulassung solcher Lebensmittel stellt, selbst eine Erklärung abgeben, dass keine religiösen Bedenken dagegen bestehen [Art. 5 Abs. 3 VO (EG) Nr. 1829/2003]. Das mutet sonderbar an, denn der Antragsteller ist nicht nur nicht kompetent, um die religiösen Aspekte zu beurteilen, sondern er ist natürlich auch parteiisch. 75

Dass darin eine nicht mehr geltende Wein-VO der EG angeführt wird, schadet nicht, da sie nicht rezipiert wird. Der Hinweis will nur erklären, dass aufgrund dieser Verordnung auch der Wein aus anderen EG-Mitgliedstaaten Gewähr für entsprechende Qualität bietet – ein Beispiel, wie EG-Recht kirchlichen Belangen entgegenkommt!

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G. Gegenseitige Offenheit der beiden Rechtsordnungen

weltlichen Kategorien diese übereinstimmen. Dieses System gegenseitiger Verweisungen ermöglicht also eine perfekte Abstimmung der Rechtsordnungen. Neben dieser Funktion erfüllt Art. 10 Abs. 2 UA 2 der Wein-VO auch eine Schutzfunktion für die Bezeichnung „Messwein“. Diese darf nämlich nur im geschäftlichen Verkehr mit religiösen Einrichtungen verwendet werden. Ein Missbrauch dieses religiösen Kennzeichens, um gegenüber profanen Verbrauchern eine besondere Qualität zu suggerieren, ist somit ausgeschlossen. In ähnlicher Weise wie die Wein-VO, jedoch ohne Relevanz für die katholische Kirche, führen verschiedene Richtlinien und Verordnungen zur Fleischerzeugung religiöse Vorschriften in die EG-Rechtsordnung ein.76 Dabei handelt es sich um rituelle Schlachtungen, wie sie im Judentum und im Islam vorkommen. Damit wird die Schlachtung nach religiösen Vorschriften zu einer der nach EG-Recht möglichen Schlachtungsarten erhoben. Zivilisation über die Mitgliedstaaten: In einigen Fällen zivilisiert nicht das EU-Recht selbst religiöse Rechtsnormen, sondern es erkennt die Zivilisationen der Mitgliedstaaten an und verschafft ihnen mitunter unionsweite Geltung. Hier ist erneut die rituelle Schlachtung zu erwähnen, weil das Tierschutzprotokoll Nr. 33 zum EGV rituelle Riten eigentlich nur nach Maßgabe der Rechts- und Verwaltungsvorschriften sowie der Gepflogenheiten der Mitgliedstaaten zulässt. Die soeben erwähnten Sekundärrechtsakte hingegen ordnen die Zulässigkeit religiöser Normen direkt ohne Rücksichtnahme auf mitgliedstaatliche Vorschriften an. Eine effektive Zivilisation über Vermittlung der Mitgliedstaaten sieht Art. 63 Ehe-VO (EG) Nr. 2201/2003 vor. Danach erhalten kirchliche Ehenichtigkeitsurteile, die von Italien, Malta, Portugal oder Spanien anerkannt werden, im gesamten Unionsgebiet Geltung außer in Dänemark.77 Hier wird also eine kirchliche individuelle Rechtsnorm von einem Mitgliedstaat in den zivilen Bereich überführt und diese Übernahme wird durch die gemeinschaftsrechtliche Vorschrift bekräftigt sowie auf fast alle anderen Mitgliedstaaten ausgedehnt.78 Ähnliche Zusammenhänge sind bei Hochschuldiplomen zu erkennen. Aufgrund der einschlägigen, nach Art. 49 EGV erlassenen RL 2005/36/EG müssen die Mitgliedstaaten alle in der EG verliehenen Hochschuldiplome anerkennen, ______________ 76

Z.B.: Art. 2 Abs. 2 RL 93/119/EG; Anhang I Kapitel VII Nr. 33 der RL 92/ 116/EWG; Art. 16 Anhang I Kapitel V Nr. 20 der RL 75/431/EWG. 77 78

Berkmann, Ehe, 148.

Auch für Söbbeke-Krajewski (Acquis Communautaire, 178) zeigt die Ehe-VO, dass die Europäische Union die Existenz einer internen kirchlichen Gerichtsbarkeit und die Existenz religiösen Rechts anerkennt.

II. Das Europarecht ist offen für Kirchenrecht

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die ein mindestens dreijähriges Studium abschließen. Wenn der Angehörige eines Mitgliedstaates ein solches erworben hat, darf ihm der Aufnahmestaat den Zugang zum betreffenden Beruf und dessen Ausübung nicht mangels Qualifikation verweigern. Das gilt auch, wenn das Diplom von einer kirchlichen oder katholischen Hochschule ausgestellt ist, denn „zuständige Behörde“ ist jede von den Mitgliedstaaten mit der besonderen Befugnis ausgestattete Behörde oder Stelle, Ausbildungsnachweise und andere Dokumente oder Informationen auszustellen (Art. 3 Abs. 1 lit. d RL 2005/36/EG).79 Das kirchliche Diplom als individueller Rechtsakt erhält also von einem Mitgliedstaat zivile Wirkungen und diese werden durch die gemeinschaftsrechtliche Vorschrift auf das gesamte Gemeinschaftsgebiet ausgedehnt. Weltliche Rechtsfolgen an religiöse Akte geknüpft: Nicht immer inkorporiert sich die weltliche Rechtsordnung einen religiösen Rechtsakt, sondern sie belässt ihn bisweilen ganz in seinem Bereich, knüpft jedoch bestimmte Rechtsfolgen daran. Wenn der Staat an beliebige Umstände Rechtsfolgen knüpfen kann, warum dann nicht auch an kirchliche? Pirson80 stellt dies als Selbstverständlichkeit heraus, bedenkt aber auch, dass damit die Eigenständigkeit des kirchlichen Rechts gefährdet werden könnte und staatliche Behörden, die zum Rechtsschutz berufen sind, dann kirchliches Recht interpretieren müssten. Eine Anknüpfung an kirchliche Rechtsverhältnisse erscheint ihm daher nur zulässig, wenn ein sicheres Urteil möglich ist. Technisch ist eine Anknüpfung dadurch möglich, dass der weltliche Gesetzgeber auf Rechtsakte der Kirche Bezug nimmt oder einfach kirchenrechtlich geprägte Begriffe verwendet. Ein Beispiel im EG-Recht stellt die Kulturgüter-RL 93/7/EWG dar, die auch Kulturgüter umfasst, die im Bestandsverzeichnis kirchlicher Einrichtungen aufgeführt sind, gleichgültig ob sie unter eine der (anderen) Kategorien von Kulturgütern der Richtlinie fallen (Art. 1 Nr. 1 SpStr. 4). Derartige Bestandsverzeichnisse („inventaria“) schreibt das katholische Kirchenrecht in c. 1283 ° 2 f. CIC tatsächlich vor. Sie sind anzulegen, bevor ein Vermögensverwalter sein Amt antritt, und sind von ihm auch zu unterschreiben. Darin besteht der eigentliche Rechtsakt.81 Nach c. 1025 ° 2 CCEO ist das Verzeichnis sogar vom zuständigen Hierarchen zu rekognoszieren. Die Bestandsverzeichnisse sollen ______________ 79 So beanstandete der EuGH im Fall Beuttenmüller (Rs. C-102/02) nicht, dass das Diplom einer österreichischen Volksschullehrerin, die ihren Beruf in BadenWürttemberg ausüben wollte, von der Pädagogischen Akademie der Erzdiözese Wien, also von einer kirchlichen Einrichtung stammte. Voraussetzung ist aber, dass das Abschlusszeugnis der kirchlichen Ausbildungsstätte vom jeweiligen Mitgliedstaat anerkannt wird, vgl. EuGH, Rs. 108/88, Cendoya, Rn. 18. 80

Pirson, Kirchliches Recht, 278f.

81

Vgl. Althaus, in: MKCIC, c. 1283, Rn. 9.

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G. Gegenseitige Offenheit der beiden Rechtsordnungen

selbstverständlich nicht nur den Vermögensstand bei Amtsantritt wiedergeben, sondern müssen auch während der Amtszeit bei jeder Veränderung aktualisiert werden. Nur so erfüllt das Verzeichnis auch den Zweck, den ihm die Kulturgüter-RL zuweist, nämlich darüber Auskunft zu geben, welche Güter in ihren Anwendungsbereich fallen. Bezüglich des Inhalts schreibt der CIC vor, dass die Immobilien und alle beweglichen Sachen, die zu den wertvollen oder kulturellen Gütern zählen, zu verzeichnen sind, dass aber auch andere Sachen („rerum […] aliarumve“) aufgenommen werden können. Damit wird Raum für Konkretisierungen und Modifizierungen durch das Partikularrecht geschaffen.82 Die Kirche bestimmt also selbst durch den Erlass universaler Normen wie c. 1283 CIC, durch partikulares Recht und letztlich durch den Führer des Registers, welche Gegenstände aufgenommen werden, und definiert damit selbst den Kreis der Güter, der unter die Kulturgüter-RL fällt und folglich bestimmten Vorschriften insbesondere den Rückgabeverpflichtungen untersteht. Die legistische Technik, an kirchliche Akte weltliche Rechtsfolgen zu knüpfen, ist aus Sicht der Kirche einerseits positiv zu beurteilen, weil sie damit ernst genommen wird und selbst Einfluss nehmen kann. Anderseits ist zu bedenken, dass die Kirche mit ihren Akten eigene Ziele verfolgt, die mit den Rechtsfolgen, die die weltliche Rechtsordnung daran knüpft, nicht unbedingt übereinstimmen müssen. So muss es der Kirche auch möglich sein, Verzeichnisse zu führen, ohne dass diese von der weltlichen Seite als Anknüpfungspunkt für bestimmte Rechtsfolgen, die sie womöglich gar nicht will, vereinnahmt werden. Schwer einzuordnen sind die im EG-Datenschutzrecht geforderten „angemessenen Garantien“, die religiöse Organisationen abgeben müssen, um in den Genuss der Ausnahmebestimmungen zu gelangen (Art. 8 Abs. 2 lit. d Datenschutz-RL und Art. 10 Abs. 2 lit. e Datenschutz-VO). Ist damit gemeint, dass sie ein eigenes Datenschutzrecht schaffen, das den innerkirchlichen Datenschutz garantiert und ins EG-Recht inkorporiert wird? Oder ist damit nur ein kirchlicher Rechtsakt gemeint, an den das EG-Recht eben die Rechtsfolge knüpft, dass die Kirche vom EG-Datenschutzrecht ausgenommen ist? Oder meint Garantie nur, dass die Kirche ein Versprechen abgibt, in ihrem Bereich den Verkehr mit persönlichen Daten zu schützen? Da die Ausnahmen im EGDatenschutzrecht sehr restriktiv zu interpretieren sind, ist wohl ein regelrechtes kircheneigenes Datenschutzrecht verlangt, das aber selbstständig bleibt und nicht der EG-Rechtsordnung inkorporiert wird [vgl. Abschnitt C.II.3.b)]. Beachtung religiösen Rechts: Es gibt Verweise des EU-Rechts auf religiöses Recht, die es weder inkorporieren noch bestimmte Rechtsfolgen daran knüpfen, sondern einfach zur Beachtung seiner Eigenständigkeit mahnen. So dienen die häufigen Sonderklauseln zum Berg Athos dazu, die Eigenständigkeit der ______________ 82

Vgl. Heimerl / Pree, Vermögensrecht, Rn. 3/84.

II. Das Europarecht ist offen für Kirchenrecht

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religiösen Rechtsstellung jenes Gebietes zu beachten.83 Ebenso ermöglicht der Schutz religiöser Symbole in Art. 3 Abs. 2 lit. b der Marken-RL 89/104/EWG die Beachtung kirchlicher Normen wie der cc. 300, 803 § 3 und 808 CIC, welche die Bezeichnung „katholisch“ absichern. Mit dem Einbezug des Sonntags in die wöchentliche Ruhezeit nach Art. 10 Abs. 2 JugendarbeitsschutzRL 94/33/EG, wird die Beachtung der kirchlichen Vorschrift des c. 1247 CIC ermöglicht. Aufgrund von Art. 17 Abs. 2 lit. c Arbeitszeit-RL 2003/88/EG können bei der kircheninternen Beschäftigung von Arbeitnehmern liturgische Vorschriften berücksichtigt werden. Schlichte Erwähnung religiösen Rechts: Bisweilen wird die Existenz religiösen Rechts durch eine einfache Erwähnung zur Kenntnis genommen, ohne dass dies unmittelbar rechtlich relevant würde. So gehören nach Art. 10 Abs. 1 lit. b der Flüchtlings-RL 2004/83/EG Verhaltensweisen, die nach einer religiösen Überzeugung vorgeschrieben sind, zum Begriff der Religion. Werden solche Verhaltensweisen verboten oder verfolgt, so liegt ein anerkannter Fluchtgrund vor. An dieser Stelle werden religiöse Vorschriften zwar erwähnt, doch nicht unmittelbar sie, sondern ihre Unterbindung durch einen Drittstaat wird für die Europäische Union rechtlich relevant, indem sie über den Flüchtlingsstatus entscheidet. Im Urteil Steymann (Rs. 196/87) zitiert der EuGH mehrere Artikel aus der Satzung der Bhagwan-Vereinigung wörtlich, ohne dann jedoch bei der Entscheidungsfindung näher darauf einzugehen. In ähnlicher Weise ist übrigens der EGMR in mehreren Entscheidungen vorgegangen, wenn er religiöses Recht zitiert und damit zur Kenntnis nimmt, aber seine Entscheidung aus Gründen der Trennung nicht darauf stützt.84

b) Allgemeine Fragen zur Zivilisation religiösen Rechts Wenn religiöses Recht in eine weltliche Rechtsordnung übernommen wird, Rechtswirkung entfaltet oder einfach nur beachtet werden soll, so stellt sich die Frage, ob es sich dabei überhaupt um Recht im selben Sinn handelt wie beim weltlichen Recht oder ob dabei unterschiedliche Kategorien miteinander ______________ 83 Art. 115 VO (EWG) Nr. 918/83; Art. 2 Abs. 5 RL 92/12/EWG; Beitrittsakte Griechenland, gemeinsame Erklärung betreffend den Berg Athos; gemeinsame Erklärung Nr. 5 in der Schlusskate des Übereinkommens Schengenbeitritt Griechenlands; Erklärung Nr. 8 Griechenlands zum Vertrag von Amsterdam. 84

Z.B. EGMR, Nr. 143/1996/762/963, Canea, Rn. 12: Das kanonische Recht der römisch-katholischen Kirche; EGMR, Nr. 45701/99, Metropolitankirche von Bessarabien, Rn. 99: Das kanonische Recht der betreffenden orthodoxen Kirchen; EGMR, Nr. 14307/88, Kokkinakis, Rn. 48: Die Proselytismusregeln des ÖRK, die als Beschluss des ÖRK jedoch keine zwingenden Rechtsnormen sind.

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G. Gegenseitige Offenheit der beiden Rechtsordnungen

vermischt werden. In der Tat kennen Religionsgemeinschaften Normen, die keine Rechtsnormen sind, wie etwa moralische Normen – z.B. das Gebot der Nächstenliebe. Das heißt indessen nicht, dass sie nicht auch Rechtsnormen im eigentlichen Sinn besäßen. Selbst Kelsen, der Verfasser der „reinen Rechtslehre“, gesteht dem Kirchenrecht echten Rechtscharakter zu und unterscheidet es von religiösen Geboten dadurch, dass diese mit transzendenten Sanktionen versehen sind, jenes aber mit Sanktionen einer diesseitigen Instanz. 85 Wenn Religionsgemeinschaften das Recht mitunter anders begründen als weltliche Gemeinwesen, so darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich doch beide Mal um Recht handelt. Auch die verschiedenen Staaten begründen ihre Rechtsordnungen oft ganz unterschiedlich und stehen doch in Rechtsverkehr miteinander. Allein schon die Tatsache, dass weltliche Rechtsordnungen religiöses Recht in verschiedenen Fällen anerkennen, zeigt, dass sie ihm tatsächlich Rechtscharakter zusprechen. Allerdings differenzieren sie zwischen religiösem Recht und anderen Normkategorien. So sprechen die Sekundärrechtsakte der Europäischen Gemeinschaft bezüglich der Erzeugung von Fleisch nicht immer von religiösen Vorschriften, sondern manchmal auch bloß von religiösen Riten.86 Der EuGH unterschied im Urteil Gaki-Kakouri (Rs. C243/04) zwischen der das Gewissen bindenden religiösen Überzeugung und rechtlich zwingenden Pflichten (Rn. 118). Das Europäische Parlament schließlich fordert in seiner Entschließung zum Islam eine Trennung zwischen staatlichen Gesetzen und religiösen Geboten (Nr. 5). Ferner ist zu prüfen, ob nicht das Grundrecht auf Religionsfreiheit ein generelles Einfallstor für religiöses Recht in den Bereich des weltlichen Rechts darstellt. Nach Art. 9 Abs. 1 EMRK bzw. Art. 10 Abs. 1 GRCH gehört die Beachtung religiöser Gebräuche zur Religionsausübungsfreiheit. Nun muss man zwar, wie soeben dargelegt wurde, zwischen religiösem Recht und religiösen Gebräuchen zu unterscheiden, doch können die Gebräuche auch auf rechtlichen Vorschriften beruhen bzw. in solche gefasst sein, so dass indirekt in manchen Fällen dennoch religiöse Rechtsnormen erfasst sein können. Aber auch in diesen Fällen bewirkt die Religionsfreiheit keine Inkorporation religiösen Rechts in eine weltliche Rechtsordnung, sondern besagt nur, dass es im weltlichen Bereich zu beachten ist. So erklärte der EuGH im Urteil Prais (Rs. 130/75, Rn. 12-19) nur, dass die betreffende Anstellungsbehörde der EG die jüdische Feiertagsregelung zu beachten habe. Die EMRK-Rechtsprechung bejaht die Frage, ob religiöse Vorschriften aufgrund der Religionsfreiheit für den weltlichen Bereich zu beachten sind, nicht generell, sondern nur wenn ______________ 85 86

Kelsen, Reine Rechtslehre, 28f.

Z.B: Art. 5 Abs. 2 RL 93/119/EG; Anhang I Kapitel VI Nr. 32f. RL 83/90/EWG; Art. 4 RL 74/577/EWG; und auch das Tierschutzprotokoll Nr. 33 zum EGV.

II. Das Europarecht ist offen für Kirchenrecht

483

besondere Umstände vorliegen.87 Das Grundrecht auf Religionsfreiheit stellt also kein generelles Einfallstor für religiöses Recht dar, erfordert aber doch in einigen Fällen seine Beachtung. Schließlich ist die Frage nach den Schranken bei den Verweisungen auf religiöses Recht zu stellen. Die Europäische Union kann nicht jedes religiöse Recht kennen, wenn sie Verweise darauf in ihre Rechtsordnung einfügt, und sie kann nicht jede beliebige Vorschrift akzeptieren, wenn sie möglicherweise mit ihren eigenen Grundsätzen in Widerstreit steht. Es finden sich diesbezüglich aber kaum Schrankenklauseln im Unionsrecht. Soweit religiöses Recht für die Rechtsordnung der Union wie eben beschrieben über das Grundrecht auf Religionsfreiheit relevant wird, so greifen die Schranken dieses Grundrechts nach Art. 9 Abs. 2 EMRK: Gesetzlich vorgesehene Beschränkungen, die in einer demokratischen Gesellschaft notwendige Maßnahmen im Interesse der öffentlichen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, Gesundheit und Moral oder für den Schutz der Rechte und Freiheiten anderer darstellen. Sofern es sich um eine Zivilisation nach Art. 63 Ehe-VO (EG) Nr. 2201/2003 handelt, so gibt diese Verordnung selbst die Schranken bei der Anerkennung kirchlicher Ehenichtigkeitsurteile an, indem sie in Art. 63 Abs. 2 Ehe-VO auf die Bedingungen in Kapitel III Abschnitt 1 der Verordnung verweist. Die Gründe, aus denen demnach eine Anerkennung verweigert werden kann, sind die öffentliche Ordnung (ordre public) des Anerkennungsstaates, Mängel bei den prozessualen Verteidigungsrechten des Antragsgegners und das Vorliegen einer früheren Entscheidung in derselben Sache (Art. 22 Ehe-VO). Bei den vielen Verweisnormen ohne eigene Schrankenregelung kann jedenfalls der ordre-publicVorbehalt als allgemeines Prinzip herangezogen werden.88 Die inhaltliche Konkretisierung eines europarechtlichen ordre-public könnte in Zukunft mit Hilfe der Werte der Union nach Art. I-2 VVE geschehen.

2. Beteiligung der Kirchen an der EU-Normsetzung In den vorhergehenden Abschnitten wurde der rechtstechnische Vorgang besprochen, wonach die weltliche Rechtsordnung auf bestehendes religiöses Recht verweist und diesem damit in ihrem eigenen Bereich in irgendeiner Weise Bedeutung zuerkennt. Die Offenheit der weltlichen Rechtsordnung für die religiöse kann sich aber auch darin zeigen, dass sie Religionsgemeinschaf______________ 87

Z.B: EKMR, Nr. 10678/83, V / Niederlande, S. 268; EGMR, Nr. 41340ff./98, Wohlfahrtspartei, Rn. 92 und 127. 88 So Germann (Gerichtsbarkeit, 651) hinsichtlich kirchlicher Entscheidungen, die von Deutschland anerkannt werden.

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G. Gegenseitige Offenheit der beiden Rechtsordnungen

ten an der Schaffung eigener Normen mitwirken lässt. Welche Beispiele es dafür im EU-Recht gibt, soll im Folgenden untersucht werden. Normsetzung im religiösen Dialog: Im sozialen Dialog, der in gewisser Hinsicht als Vorgänger des allgemeinen zivilen und damit auch des religiösen Dialogs gelten kann, wurde mit Art. 138 Abs. 4 und Art. 139 EGV die Möglichkeit geschaffen, dass die Sozialpartner, nachdem sie von der Kommission zu einem bestimmten Gesetzesvorhaben angehört worden sind, das Verfahren an sich ziehen und in der betreffenden Angelegenheit eine Vereinbarung schließen. Im Bereich der normativen EG-Zuständigkeiten (Art. 137 EGV) bedarf es zur Durchführung der Vereinbarung eines Ratsbeschlusses auf Vorschlag der Kommission. Die Sozialpartner erhalten damit die Möglichkeit, unter Ausschaltung des gewöhnlichen Legislativverfahrens einen EG-Rechtsakt inhaltlich zu determinieren. Im religiösen Dialog, der sich erst entwickelt, gibt es noch nichts Entsprechendes, was auch damit zusammenhängt, dass die Religionsgemeinschaften im Unterschied zu den Sozialpartnern nicht untereinander verhandeln und Vereinbarungen schließen, sondern direkt mit den Gemeinschaftsorganen. Über den religiösen Dialog kann daher nur insofern auf den Legislativprozess Einfluss genommen werden, als bei den Rechtsetzungsorganen der EU Vorschläge und Wünsche eingebracht werden. Richtlinienumsetzung durch die Kirchen: In Deutschland ist das kirchliche Arbeitsrecht ohne staatliche Einflussnahme weitgehend den Kirchen selbst überlassen. Wenn die Europäische Gemeinschaft nun eine arbeitsrechtliche Richtlinie erlässt, gerät die Bundesrepublik in das Dilemma, EG-rechtlich zur umfassenden Umsetzung verpflichtet zu sein, nach nationalem Recht aber in Bezug auf den kirchlichen Bereich keine Vorschriften erlassen zu dürfen. 89 Setzt sie die Richtlinie in Bezug auf die Kirchen nicht um, so werden diese nach Ablauf der Frist von der Direktwirkung getroffen. Reichhold schlägt in diesem Fall vor, dass die Kirchen ihre eigenen vorhandenen Regelungen einfach richtlinienkonform auslegen.90 Bleckmann hingegen kommt unter Berufung auf das Subsidiaritäts- und das Verhältnismäßigkeitsprinzip zu dem Schluss, dass das nationale Recht die Richtlinie nicht auf den kirchlichen Bereich transformieren darf, wenn das kircheneigene Arbeitsrecht die Interessen der Arbeitnehmer ebenso effektiv oder sogar effektiver schützt als die Richtlinie. Das setzt aber voraus, dass die Kirchen eigene Gesetze erlassen müssen, um die Anwendung der Richtlinie auszuschließen.91 Heinig prüft schließlich, ob nicht die Kirchen selbst die Richtlinie umsetzen könnten. Er ______________ 89

Vgl. Reichhold, Rahmenrecht, 60.

90

Ebd. 61.

91

Bleckmann, Religionsfreiheit, 63.

II. Das Europarecht ist offen für Kirchenrecht

485

schlägt vor, ihnen durch Beleihung den Status einer staatlichen Stelle im Sinne des Art. 249 Abs. 3 EGV zu geben. Eine solche Beleihung schließt nicht die Pflicht ein, von ihr Gebrauch zu machen, so dass die Autonomie der Kirchen gewahrt bleibt. Wenn sie aber davon Gebrauch machen, so genügt das von ihnen erlassene kirchliche Recht den Anforderungen für die Richtlinienumsetzung, weil es in den kirchlichen Amtsblättern publiziert und der Rechtsschutz durch die kirchliche bzw. staatliche Gerichtsbarkeit gegeben ist. 92 Das EGRecht kennt die Möglichkeit, dass Richtlinien nicht durch die Mitgliedstaaten umgesetzt werden, sondern durch eine Vereinbarung der nationalen Sozialpartner (Art. 137 Abs. 4 EGV).93 Da sich die Kirchen aber nicht als Sozialpartner verstehen wollen, schlägt Heinig94 vor, diese Bestimmung funktional zu interpretieren, und da die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung durchaus branchenspezifisch vorgehen können, ist nicht ausgeschlossen, dass die Richtlinie im religiösen Sektor anders umgesetzt wird als in anderen Bereichen. 95 So verführerisch der Gedanke an eine Richtlinienumsetzung durch die Kirchen auch sein mag – sie erhielten damit die Möglichkeit, an der Konkretisierung von EGRecht mitzuwirken – so gefährlich ist er auch, weil sie dabei nicht autonom Recht setzen können, sondern an die engen Vorgaben der Richtlinie gebunden sind, ohne an deren Zustandekommen durch Beschlussfassung im Rat beteiligt gewesen zu sein. Die Kirchen geraten damit in ein Unterordnungsverhältnis gegenüber der Europäischen Gemeinschaft, was dem Prinzip der Trennung und Gleichberechtigung von religiöser und weltlicher Sphäre widerspricht. Ebenso beschränken der freiwillige, effektive Nachvollzug der Richtlinie nach Bleckmann und die richtlinienkonforme Auslegung nach Reichhold die kirchliche Autonomie. Hier trifft die Kirchen zwar keine Pflicht zur Umsetzung, doch droht die unmittelbare Anwendbarkeit der Richtlinie, wenn sie sich nicht rechtzeitig „freiwillig“ anpassen. Nur eine Anerkennung der kirchlichen Auto______________ 92

Heinig, Religionsgesellschaften, 449-451.

93

Die Kommission wünscht, dass die Mitgliedstaaten die Sozialpartner an der Umsetzung einer gemeinschaftlichen Rechtsvorschrift, die Gegenstand einer Vereinbarung ist, beteiligen: KOM (2002) 341 endg., 21. 94 Heinig, Religionsgesellschaften, 479f. Ähnlich regt Schäfer (Arbeitsrecht, 63) an, dass die Kirchen sich des Verfahrens nach Art. 137 Abs. 4 EGV wie Sozialpartner bedienen. 95 Zu erwägen wäre auch eine Art Koregulierungsverfahren. Die Kirchen erhielten dabei die Möglichkeit selbst Vorschriften zu erlassen, die den Zielvorgaben der Europäischen Union entsprechen müssen. Machen sie davon keinen Gebrauch, so ergeht ein Sekundärrechtsakt, der sie bindet. Durch die Zielvorgaben sind die Kirchen weniger stark determiniert als, wenn sie eine Richtlinie umzusetzen hätten, aber dennoch besteht keine volle Autonomie.

486

G. Gegenseitige Offenheit der beiden Rechtsordnungen

nomie durch die Europäische Gemeinschaft selbst – etwa durch eine Ausnahmeklausel in der Richtlinie – lässt sie in vollem Umfang bestehen. Gerichtliche Entscheidungen: Nicht nur die Schaffung von Arbeitsrecht, sondern auch die Gerichtsbarkeit darüber obliegt in Deutschland weitgehend den Kirchen selbst. So stellt sich auch die Frage der kirchlichen Mitwirkung beim Erlass individuell-konkreter Rechtsnormen. Die „bürgerliche Wirkung“ nichtstaatlicher Entscheidungen ist für Germann keine Besonderheit der kirchlichen Freiheitsausübung, sondern besteht auch für Maßnahmen von Vereinen und Verbänden.96 Ein solcher Vergleich übersieht aber, dass der Grund für das kirchliche Selbstbestimmungsrecht ein anderer ist als jener der Vereinsautonomie, weil er auf der Verschiedenheit der religiösen Sphäre beruht und die kirchliche Freiheit deswegen grundsätzlicher und weiter ist als diejenige von Vereinen. Im Hinblick auf die Europäische Gemeinschaft wird in der Lehre vor allem kontrovers diskutiert, ob kirchliche Gerichte nach Art. 234 EGV zur Vorlage an den EuGH berechtigt oder gar verpflichtet sind. Reichegger vertritt gegen Schliermann die Auffassung, dass sie dazu berechtigt sind, weil sie alle Anforderungen an ein „Gericht eines Mitgliedstaates“ (Art. 234 Abs. 2 EGV) erfüllen, und dass sie auch dazu verpflichtet sind, wenn sie die letzte Instanz sind (Art. 234 Abs. 3 EGV), weil es danach keinen Rechtszug zu einem staatlichen Gericht gibt.97 Nach Schäfer98 sind die Kirchengerichte zwar vorlageberechtigt aber nicht -verpflichtet. Dem hält Vachek entgegen, dass sie entweder beides oder beides nicht sind. Selbst scheint er die Vorlageberechtigung eher zu verneinen, legt sich aber nicht endgültig fest.99 Hierzu ist Ähnliches zu sagen wie zur Richtlinienumsetzung durch die Kirchen. Einerseits wäre es verlockend, die kirchlichen Gerichte für vorlageberechtigt anzusehen, weil sie damit in der EG-Gerichtsbarkeit ernst genommen und mit einer wichtigen Rolle versehen würden, anderseits binden sie sich dadurch an die Vorabentscheidung des EuGH und verlieren damit ihre Autonomie, die man ihnen gerade dadurch geben wollte, dass man ihnen die Zuständigkeit für kirchliche Arbeitsrechtsverfahren zuerkannte. Delegation der Rechtsetzungsbefugnis: Kann die Europäische Gemeinschaft Rechtsetzungsbefugnisse an nicht-staatliche Organisationen delegieren? In der Tat sah Art. 53 lit. a EGKSV eine Beleihung von Unternehmen bei der Schaffung finanzieller Einrichtungen vor, die Aufgaben der EGKS durchführen ______________ 96

Germann, Gerichtsbarkeit, 651.

97

Reichegger, Auswirkungen, 235-237.

98

Schäfer, Arbeitsrecht, 129.

99

Vachek, Religionsrecht, 419.

II. Das Europarecht ist offen für Kirchenrecht

487

sollten.100 Der EuGH hat diese Möglichkeit jedoch an strenge Voraussetzungen geknüpft.101 Das heutige Recht kennt eine solche Möglichkeit nicht mehr – erst recht nicht für Kirchen und Religionsgemeinschaften. Pirson meint im Hinblick auf Deutschland, die Freiheit der Kirchen zur Gestaltung ihrer inneren Ordnung schließe nicht aus, dass ihr diesbezügliches Handeln zugleich in Ausfüllung einer staatlichen Ermächtigung geschieht.102 Eine Befugnis kann aber nicht zugleich originär und delegiert sein. Es wäre höchstens denkbar, dass die weltliche Autorität eine Befugnis für delegiert ansieht, die von der Kirche nach ihrem Selbstverständnis für originär erachtet wird. Schaffung völkerrechtlicher Normen: Dank der Völkerrechtssubjektivität des Heiligen Stuhls kann sich die katholische Kirche mit der Europäischen Gemeinschaft auch an der Schaffung völkerrechtlicher Normen beteiligen. Würden die beiden etwa ein Europakonkordat abschließen, was rechtlich möglich ist,103 so wäre dies eine Rechtsform, an der beide in gleicher Weise mitwirken. Der Heilige Stuhl schließt auf internationaler Ebene aber nicht nur Konkordate, sondern beteiligt sich heute auch an multilateralen Abkommen.104 Insgesamt betrachtet, gibt es kaum effektive Ansätze zu einer kirchlichen Beteilung an der EU-Normsetzung, wenn man von der letztgenannten völkerrechtlichen Möglichkeit absieht. Die gegenseitige Offenheit der weltlichen und der religiösen Rechtsordnungen kann nie absolut sein, sondern ist immer mit dem noch wichtigeren Prinzip der Unterscheidung beider Sphären und ihrer wechselseitigen Eigenständigkeit in einen Ausgleich zu bringen.

3. Vergleich der beiden Rechtsordnungen Das Standardwerk zum Vergleich der verschiedenen Rechtssysteme der Welt stammt von David. Das kanonische Recht und das Europarecht kommen darin aber nur am Rande vor. Das Erste wird fast nur in der rechtshistorischen Bedeutung für die römisch-germanische Rechtsfamilie gesehen.105 Das Zweite wird hauptsächlich dieser Rechtsfamilie zugerechnet, wenn auch mit einem starken Einfluss des common law wegen der Mitgliedstaaten Irland und Verei______________ 100

Oppermann, Europarecht², Rn. 660.

101

EuGH Rss. 9 und 10/56, Meroni, 53.

102

Pirson, Kirchliches Recht, 291.

103

Vgl. Rees, Konkordate, 138.

104

Vgl. Dalla Torre, Città, 200.

105

David / Jauffret-Spinosi, Les grands systèmes, Rn. 28.

488

G. Gegenseitige Offenheit der beiden Rechtsordnungen

nigtes Königreich.106 Im Folgenden sollen nun die Rechtsordnungen der katholischen Kirche und der Europäischen Union miteinander verglichen werden, wobei die Vergleichspunkte Davids hilfreich sein werden. Struktur und Gliederungsbegriffe des Rechts: Darunter versteht David die Einteilung des Rechtsstoffs in öffentliches und privates Recht, und weiter in Verfassungs-, Verwaltungs-, Straf- und Prozessrecht einerseits und in Schuldrecht, Sachenrecht, Handelsrecht usw. anderseits. Im Unionsrecht fehlt der privatrechtliche Teil weitgehend. Die meisten Normen sind dem öffentlichen Recht zuzuordnen und üben nur indirekt einen Einfluss auf das Privatrecht aus. Gesamteuropäische Privatrechtskodifikationen existieren bislang nur als Entwürfe oder Vorschläge. Hier zeigt sich eine Parallele zum Kirchenrecht, da auch dieses hauptsächlich aus öffentlichem Recht besteht. Der CIC/1983 brachte jedoch eine Stärkung privatrechtlicher Elemente. 107 Dass in beiden Rechtsordnungen ein Privatrechtsteil weitgehend fehlt, mag darauf zurückzuführen sein, dass beide das menschliche Leben nicht umfassend regeln wollen, sondern jeweils nur einen Ausschnitt davon. So konzentriert sich das EG-Recht – wenn auch mit abnehmender Tendenz – auf das Wirtschaftsleben und das Kirchenrecht regelt das religiöse Leben. Bedeutung des Rechts insgesamt: In der Europäischen Union wird dem Recht insgesamt ein hoher Stellenwert beigemessen. Die europäische Integration sollte von Anfang an eine Integration durch das Recht sein und Art. 61 EGV hat immer noch den Aufbau eines Raumes des Rechts zum Ziel. Die Harmonisierungsinstrumente (Art. 3 Abs. 1 lit. h und Art. 95 EGV) sind durchweg rechtlicher Art. In der katholischen Kirche hingegen scheint dem Recht nur eine untergeordnete Bedeutung zugestanden zu werden. Spiritualistische Tendenzen halten das Wesen der Kirche schlechthin für unvereinbar mit dem Recht, aber auch andere Strömungen erheben den Vorwurf der Verrechtlichung der Kirche.108 Dabei erfüllt das Recht in der Kirche mehrere unverzichtbare Funktionen.109 Aufzuzeigen, dass die rechtliche Struktur der Kirche in ihren Wesensvollzügen von Wort und Sakrament grundgelegt ist, war das Hauptanliegen von Mörsdorf.110 Papst Johannes Paul II. sagt in der Promulgationskonstitution zum CIC/1983 Sacrae disciplinae leges, dass der neue Kodex deutlich dem Wesen der Kirche entspreche (Nr. 18) und unbedingt für sie ______________ 106

Ebd. Rn. 54.

107

Vgl. Heimerl / Pree, Kirchenrecht, 19.

108

Darstellung bei Nelles, Summum ius, 147f.

109

Ebd. 160-171.

110

Vgl. Mörsdorf, Grundlegung, 21-45; ders., Wort und Sakrament, 46-53.

II. Das Europarecht ist offen für Kirchenrecht

489

notwendig sei, weil sie auch nach Art eines sozialen und sichtbaren Gefüges gestaltet sei (Nr. 25). Naturrecht: Die Rechtsordnung der Europäischen Union enthält keinen expliziten Verweis auf Naturrecht, sie verschreibt sich aber auch nicht eindeutig einer positivistischen Rechtsauffassung. Der Wertekatalog in Art. I-2 VVE weist darauf hin, dass gewisse dem positiven Recht vorausliegende Prinzipien anerkannt werden. Der EuGH ist nach Art. 220 EGV zur „Wahrung des Rechts“ berufen. Diese Formulierung wird von manchen Autoren so verstanden, dass sie über das positive Vertragsrecht hinausweist 111 und den „Inbegriff der Gerechtigkeitsidee des Abendlandes“112 zum Ausdruck bringt. Nach der mehrheitlichen Lehre ist der Umstand, dass von der Wahrung des Rechts und nicht etwa nur von der Wahrung des gesetzten Rechts die Rede ist, aber lediglich so zu verstehen, dass neben den Verträgen und den von den zuständigen Organen erlassenen Rechtsakten auch die allgemeinen Rechtsgrundsätze und das Gemeinschaftsgewohnheitsrecht, nicht aber naturrechtliche Sätze oder irgendeine Gerechtigkeitsidee zu wahren sind.113 In der kirchlichen Rechtsordnung nimmt das Naturrecht als jener Teil des göttlichen Rechts, der mit der bloßen Vernunft erkennbar ist, erwartungsgemäß eine wichtige, dem rein kirchlichen Recht übergeordnete Position ein. 114 Aber die Festlegung des Inhalts von göttlichem Recht bedarf der Positivierung durch den zuständigen Gesetzgeber.115 Dass nach c. 7 CIC ein Gesetz ins Dasein tritt, indem es promulgiert wird, legt sogar die Theorie nahe, nach der Gesetze ihre Verbindlichkeit allein aus dem vorgesehenen Legislativverfahren erlangen. 116 Obwohl sich also im Kirchenrecht auch positivistische und im EU-Recht auch naturrechtliche Ansätze finden lassen, sind die Schwergewichte doch anders gelagert. ______________ 111

Z.B. Pernice, Aspekte, 779.

112

Pernice / Mayer, in: Grabitz / Hilf, Art. 220 EGV, Rn. 17.

113

Z.B. Gaitanides, in: Groeben / Schwarze, Art. 220 EGV, Rn. 11; Wegener, in: Calliess / Ruffert, Art. 220 EGV, Rn. 8. Hummer / Obwexer (Gesetzesstaat, 296) sehen mit Ukrow in Art. 220 EGV eine klare Absage an einen Gesetzespositivismus und schließen, dass der EuGH auch Rechtsprinzipien, allgemeine Rechtsgrundsätze und das Gemeinschaftsgewohnheitsrecht zu wahren hat. 114

Z.B. cc. 22, 24 § 1, 1059, 1075 § 1, 1163 § 2, 1290, 1692 § 2 CIC. Vgl. Aymans, Ius divinum – Ius humanum, 436f. 115 Vgl. Pree, Rechtscharakter, 63. Nelles (Summum ius, 197) sieht insofern keine Verschiedenheit zwischen kanonischem und weltlichem Recht. 116

Müller (Kommunikative Ordnung, 371) macht darauf aufmerksam, dass diese Norm aus dem Decretum Gratiani stammt, dort aber noch den Zusatz enthält, dass Gesetze durch ihre Anwendung in der Rechtsgemeinschaft bestätigt werden.

490

G. Gegenseitige Offenheit der beiden Rechtsordnungen

Recht und Moral: Ähnliches wie über das Naturrecht lässt sich auch über die Moral sagen. Die Rechtsordnung der Europäischen Union nimmt darauf keinen Bezug und gibt damit zu erkennen, dass sie von einer klaren Trennung von Recht und Moral ausgeht. Allein die Präambel der Grundrechtecharta, die auch in den Verfassungsvertrag aufgenommen wird, spricht vom „sittlichen Erbe“, das mit den Werten in Zusammenhang steht, auf denen die Menschenrechte basieren. Da der Verfassungsvertrag in den Art. III-116 – III-122 die Union bei der Ausübung ihrer Kompetenzen inhaltlich ziemlich stark etwa durch Verbraucherschutz-, Umweltschutz- und Gleichbehandlungsgebote determiniert, befürchtet Nettesheim eine „Moralisierung der Kompetenzordnung“. 117 In der kirchlichen Rechtsordnung hingegen geht die Bedeutung der Moral über derartige Andeutungen hinaus. Obwohl auch hier beide Bereiche unterschieden werden, fehlen doch nicht die wechselseitigen Beziehungen zwischen ihnen. Nach verbreiteter Auffassung gründet die Verpflichtungskraft des Rechts letztlich in der Moral und moralwidriges Recht ist nicht zu befolgen.118 Richterrecht: Für die Rechtsentwicklung in der Europäischen Union spielt der EuGH eine kaum zu unterschätzende Rolle. Darin zeigt sich nicht nur der Einfluss des common law durch die Mitgliedstaaten Irland und Vereinigtes Königreich,119 sondern vor allem die Notwendigkeit, das oft lückenhafte und undeutlich formulierte geschriebene Recht im Hinblick auf das Ziel der Integration fortzuentwickeln. Ob er damit seine Aufgabe überschreitet, mag in der Lehre120 umstritten sein, fest steht jedoch, dass die Entscheidungen des EuGH für das Unionsrecht eine nicht wegzudenkende, essentielle Bedeutung haben, wenn man nur an den Grundsatz des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts

______________ 117

Nettesheim, Kompetenzordnung, 539.

118

Vgl. Heimerl / Pree, Kirchenrecht, 8f; Müller, Rechtsbegriff, 294; Nelles, Summum ius, 57. 119

Ausgerechnet das Vereinigte Königreich plante aber ein Instrument, um die als unrichtig oder unpassend empfundenen EuGH-Urteile nachträglich korrigieren zu können (vgl. Sitta, Interpretationsmethoden, 359). 120

Hummer / Obwexer (Gesetzesstaat, 299) weisen darauf hin, dass integrationsfreundliche Autoren eine Rechtsfortbildungskompetenz des EuGH nach Art. 220 EGV bejahen, wenn die politischen Organe ihre Rechtsetzungsaufgabe nur unzureichend erfüllen, während integrationsskeptische Autoren, die subsidiäre Rechtsfortbildungskompetenz des EuGH ablehnen, weil die Mitgliedstaaten in Art. 308 EGV mit der Einstimmigkeit des Ratsbeschlusses bewusst die restriktivste Form der Rechtsfortbildung gewählt haben, so dass nicht angenommen werden kann, sie hätten eine über Art. 308 EGV hinausgehende Rechsetzungskompetenz schaffen wollen.

II. Das Europarecht ist offen für Kirchenrecht

491

denkt.121 In der katholischen Kirche hingegen spielt das Richterrecht eine viel geringere Rolle. Nach c. 19 CIC ist die Rechtspraxis der Römischen Kurie zur Schließung von Gesetzeslücken heranzuziehen. Das setzt voraus, dass die Rechtsprechung keine über den jeweiligen Einzelfall hinausgehende Verbindlichkeit besitzt, da sonst keine Lücke vorläge.122 Nach c. 1642 § 2 CIC schafft ein Gerichtsurteil Recht nur zwischen den betroffenen Parteien (vgl. auch c. 16 § 3 CIC). Nur in wenigen Fällen, wie etwa bei c. 1095 CIC, hat die Rechtsprechung die Rechtsentwicklung vorangetrieben. Gewohnheitsrecht: Das Gewohnheitsrecht ist eine sowohl im EU-Recht als auch im Kirchenrecht anerkannte Rechtsquelle, spielt jedoch in beiden Bereichen eine untergeordnete Rolle. Für das Unionsrecht wird meist nur das Beispiel angeführt, dass entgegen dem Wortlaut des Art. 203 Abs. 1 EGV auch Staatssekretäre als Regierungsmitglieder im Rat angesehen werden. 123 In den Verträgen wird das Gewohnheitsrecht nicht als Rechtsquelle genannt. Die kirchlichen Gesetzbücher widmen dem Gewohnheitsrecht zwar breiteren Raum (cc. 23-28 CIC und cc. 1506-1509 CCEO), doch ist sein faktischer Stellenwert geringer als der des Gesetzesrechts. 124 Es hat hauptsächlich die frühkirchliche Rechtsentwicklung bestimmt.125 Rechtlich nicht verbindliche Akte: Rechtlich nicht verbindliche Dokumente spielen sowohl in der Europäischen Union als auch in der katholischen Kirche eine wichtige Rolle. Art. 249 EGV nennt diesbezüglich die Empfehlungen und Stellungnahmen, doch kommen darüber hinaus auch Entschließungen, Programme, Bekanntmachungen, Leitlinien, Mitteilungen usw. vor.126 Ihr genauer Charakter ist oft schwer auszumachen. Teils implizieren sie zumindest eine Selbstbindung des erlassenden Organs, teils entfalten sie in bestimmten Konstellationen sogar eine äußere Bindungswirkung. Dass von solchen Akten häufig Gebrauch gemacht wird, mag einerseits an der Nähe der Gemeinschaftsrechts______________ 121

EuGH, Rs. 6/64, Costa / ENEL. Bisweilen schafft der EuGH sogar ein neues Rechtsinstitut wie z.B. die Staatshaftung für gemeinschaftsrechtswidriges Handeln (vgl. Sitta, Interpretationsmethoden, 342). 122

Vgl. May / Egler, Methode, 247. May / Egler schließen aber nicht aus, dass sich im kanonischen Recht wie bereits im staatlichen Recht immer mehr die Erkenntnis durchsetzt, dass auch das Richterrecht eine Rechtsquelle darstellt (ebd. 236). 123

Z.B. Streinz, Europarecht, Rn. 5. Grundsätzlich für die Möglichkeit von EUGewohnheitsrecht aber gegen die Einschlägigkeit dieses Beispiels: Bieber / Epiney / Haag, Europäische Union, § 6, Rn. 22. 124

Vgl. Heimerl / Pree, Kirchenrecht, 50.

125

Vgl. Aymans, Gewohnheitsrecht, 361.

126

Vgl. Bieber / Epiney / Haag, Europäische Union, § 6, Rn. 41f.

492

G. Gegenseitige Offenheit der beiden Rechtsordnungen

ordnung zum Völkerrecht liegen, in dem das so genannte soft law eine große Rolle spielt.127 Anderseits kommt der Aspekt hinzu, dass den Gemeinschaftsorganen aufgrund des Prinzips der begrenzten Ermächtigung in vielen Fällen die Kompetenz zum Erlass verbindlicher Rechtsnormen fehlt und sie sich deshalb mit Akten unterhalb der Schwelle normativer Rechtskraft behelfen. Was die Kirche betrifft, so gibt es zahllose Dokumente hierarchischer Instanzen, die keinen rechtlichen Charakter besitzen, wobei oft nicht klar zutage tritt, welche Texte oder welche Teile dieser darunter fallen.128 Die Selbstbezeichnungen dieser Dokumente geben nicht immer Aufschluss über diese Frage. 129 Es ist in diesem Punkt also im Europarecht und im Kirchenrecht ein ähnliches Phänomen zu beobachten, doch ist der Grund dafür jeweils ein anderer. Den kirchlichen Autoritäten fehlt nicht die Kompetenz zum Erlass von Rechtsvorschriften, vielmehr sind sie nicht nur als Rechtsetzer, sondern gleichzeitig auch als Glaubenslehrer und Seelsorger tätig, wofür pastorale Mahnreden, sittliche Gebote, theologische Erklärungen usw. die angemessene Form darstellen. Auch die Zurückhaltung hinsichtlich des Erlasses von Rechtsnormen aufgrund des geistlichen Charakters der Kirche und die Verkennung der Eigenart von Rechtsnormen gegenüber anderen präskriptiven Sprachformen mögen eine Rolle spielen. Zwang oder Einsicht: Dass die Einhaltung von Rechtsnormen mit Zwang durchgesetzt werden kann, ist ein Merkmal, das sie von anderen Verhaltensregeln unterscheidet. Dies gilt sowohl für das EU-Recht130 als auch für das Kirchenrecht, doch in beiden Rechtsordnungen ist die zwangsweise Durchsetzbarkeit im Vergleich zu den staatlichen Rechtsordnungen begrenzt. Für die Vollstreckung von EuGH-Urteilen liegt die eigentliche Zwangsgewalt bei den Mitgliedstaaten (Art. 256 EGV) und in der Verwaltung überwiegt die mitgliedstaatliche Vollziehung die gemeinschaftsunmittelbare. Auch die Möglichkeit von Sanktionen bei Vertragsverletzungen von Mitgliedstaaten ist begrenzt (Art. 7 EUV). Um beim Normadressaten dennoch die Bereitschaft zur Befolgung der oft in Frage gestellten Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaft zu steigern, verlangt Art. 253 EGV, dass sie mit Gründen versehen werden. Diese nehmen in der Praxis oft einen großen Teil des Rechtsaktes ein. Was die Kirche ______________ 127

Man sollte jedoch in der Europäischen Union, die im Unterschied zum Völkerrecht eine normativ dicht durchstrukturierte Rechtsordnung besitzt, nicht von soft law sprechen (Hummer, interinstitutionelle Vereinbarungen, 168). 128

Vgl. May / Egler, Methode, 149.

129

Vgl. Aymans / Mörsdorf, Lehrbuch I, 47f.

130

Auch in der weltlichen Rechtswissenschaft wird nicht mehr nur mit einer Theorie argumentiert, die Recht als erzwingbaren Komplex von Normen ansieht (Müller, Kommunikative Ordnung, 353).

II. Das Europarecht ist offen für Kirchenrecht

493

betrifft, so kann sie sich als geistliche Gemeinschaft nicht mit einem nur äußeren, erzwingbaren Rechtsverhalten begnügen, sondern muss in gewissem Umfang auch die innere Zustimmung der Adressaten erwarten.131 Da der Papst über keine Polizeigewalt verfügt, muss das kirchliche Recht noch mehr als jede andere Rechtsordnung ihre Gesetze und Entscheidungen einsichtig machen.132 Das kommt darin zum Ausdruck, dass Verwaltungsakte (c. 51 CIC) und Gerichtsurteile (c. 1611 ° 3 CIC) mit Begründungen versehen werden müssen. Für Gesetze fehlt zwar eine entsprechende Begründungspflicht, doch werden ihnen de facto oft sehr umfangreiche theologische und pastorale Erläuterungen vorangestellt. In diesem Punkt gleichen sich Europarecht und Kirchenrecht also nicht nur in der Erscheinung, sondern auch in der Ursache. Gesetzesinterpretation: Sowohl das EG-Recht als auch das Kirchenrecht kennen die üblichen Auslegungsmethoden: Die wörtliche, die systematische, die historische und die teleologische Auslegung. In beiden Rechtsordnungen kommt der letztgenannten Methode eine besondere Bedeutung zu. Der wörtlichen Auslegung sind im EG-Recht wegen der vielen verschiedenen sprachlichen Fassungen Grenzen gesetzt und die historische Auslegung spielt im Primärrecht eine untergeordnete Rolle, weil die Verhandlungen großteils nicht öffentlich und die Absichten der Unterhändler sehr unterschiedlich sind; vielmehr kommt der teleologischen Auslegung im Primärrecht die hervorragende Bedeutung zu, weil sie die Rechtsfortbildung im Sinne der Dynamik des Integrationsprojekts ermöglicht.133 C. 17 CIC scheint im Bereich des Kirchenrechts zunächst das Umgekehrte nahe zu legen, weil demnach Zweck und Umstände des Gesetzes nur dann zur Interpretation heranzuziehen sind, wenn die eigene Wortbedeutung zweifelhaft und dunkel bleibt. Tatsächlich ist bei der Auslegung aber immer auch die Schlusspassage des gesamten CIC, wonach das Seelenheil oberstes Gesetz der Kirche ist (c. 1752), mitzubedenken. Damit ist das Ziel der ganzen kirchlichen Rechtsordnung angegeben 134 – ähnlich dem Integrationsziel der Europäischen Union –, auf das jede Rechtsnorm hingeordnet ist und das Vorrang genießt, falls die wörtliche Auslegung sein Erreichen verhindern würde. ______________ 131

Aymans / Mörsdorf, Lehrbuch I, 164. Dennoch fehlt dem Kirchenrecht der Zwangscharakter nicht. Zwar sind nicht alle Normen sanktionsbewehrt – auch nicht alle staatlichen Normen sind dies –, doch die leges irritantes bzw. inhabilitantes stehen unter Nichtigkeitssanktion und die Strafgesetze sind mit einer gerechten Strafe versehen. 132

Müller, Kommunikative Ordnung, 375.

133

Vgl. Bieber / Epiney / Haag, Europäische Union, § 9, Rn. 20-23. Die Förderung der Integration durch den EuGH geht nach Sitta sogar weit über die objektivteleologische Interpretation hinaus (Interpretationsmethoden, 343). 134

Vgl. Heimerl/Pree, Kirchenrecht, 12; May, Kirchenrechtswissenschaft, 92.

494

G. Gegenseitige Offenheit der beiden Rechtsordnungen

Flexibilität: Mit der starken Ausrichtung der Rechtsordnungen auf ein bestimmtes Ziel hängt auch deren hoher Flexibilitätsgrad zusammen. Die Integrationsdynamik der Europäischen Union passt nicht zusammen mit einem statischen oder absolut vorgegebenen Recht.135 Um die Integration durch zögernde Mitgliedstaaten nicht zu unterbinden, wurde unter der Bezeichnung „Flexibilisierung“ die Möglichkeit zu einer verstärkten Zusammenarbeit für eine Gruppe integrationswilliger Staaten geschaffen (Art. 43-45 EUV und Art. 11 EGV). Selbstverständlich erkennt auch der EuGH den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung an (vgl. Art. 230 Abs. 1 EGV), doch wendet er ihn nicht so streng an, wie etwa in Österreich das Legalitätsgebot gehandhabt wird (Art. 18 B-VG). Auch die kirchliche Rechtsordnung kennt kein strenges Legalitätsprinzip, sondern begnügt sich damit, dass sich die Verwaltung im Rahmen der Gesetze halten soll, also nicht gegen sie verstoßen darf.136 Außerdem stellt sie eine Reihe von Flexibilisierungsinstrumenten zur Verfügung, die eine gerechte Einzelfallentscheidung im Sinne der salus animarum ermöglichen sollen.137 Rahmengesetze: Die notwendige Flexibilität hat in beiden Rechtsordnungen eine weitere Auswirkung. Beide enthalten nämlich einen beträchtlichen Anteil an Rahmenrecht. Der Grund dafür liegt darin, dass der räumliche Geltungsbereich beider Rechtsordnungen sehr weit gefasst ist – hier kontinental dort sogar weltweit –, so dass viele verschiedene Länder und Kulturen berücksichtigt werden müssen. Das kann am besten durch die Form des Rahmenrechts erreicht werden, das die notwendige Einheit in der Vielfalt dadurch herstellt, dass es überall gleich gilt, aber anders konkretisiert werden kann. Im EG-Recht ist hier besonders an die Rechtsaktform der Richtlinie zu denken, die nach Art. I-33 Abs. 1 VVE sogar die sprechende Bezeichnung „Rahmengesetz“ erhält und für jeden Mitgliedstaat hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich ist, jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel überlässt. Das Subsidiaritätsprinzip verlangt, dass Rahmenrichtlinien den Richtlinien und diese den Verordnungen vorzuziehen sind (Nr. 6 Protokoll Nr. 30 EGV). Was die Kirche betrifft, so begnügt sich der universale Gesetzgeber oft mit einem Rahmengesetz, dessen Ausfüllung er den Bischöfen und Bischofskonferenzen überlässt.138 Nachdem nun mehrere Vergleichspunkte zwischen EU-Recht und Kirchenrecht untersucht wurden, zeigt sich folgendes Bild: In einigen Punkten unter______________ 135

Vgl. Pernice / Mayer, in: Grabitz / Hilf, Art. 220 EGV, Rn. 21.

136

Vgl. Heimerl / Pree, Kirchenrecht, 54. Nach Art. 15 PastBon sind die Angelegenheiten auf der Grundlage des Rechts („ad tramitem iuris“) zu behandeln. 137

Vgl. Pree, Tecniche, 376; Puza, Katholisches Kirchenrecht, 77.

138

Vgl. May / Egler, Methode, 169.

II. Das Europarecht ist offen für Kirchenrecht

495

scheiden sich die beiden Rechtsordnungen so, wie sich auch sonst modernes weltliches Recht und Kirchrecht voneinander abheben: Naturrecht, Gewohnheitsrecht und Verbindung zur Moral. Aber die Unterschiede beschränken sich hier im Grunde auf unterschiedliche Schwerpunktsetzungen, ohne dass sich echte Gegensätze ergäben.139 Erstaunlich ist aber, dass es nicht so wenige Punkte gibt, in denen EU-Recht und Kirchenrecht miteinander übereinstimmen und sich gleichzeitig vom Recht europäischer Staaten unterscheiden. Das heißt, dass das EU-Recht in diesen Punkten dem Kirchenrecht näher steht als den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten. Außerdem bedeutet es, dass einige Unterschiede, zu denen der so oft gemachte Vergleich zwischen kirchlichem und staatlichem Recht führt, verblassen, sobald man das Kirchenrecht mit einer anderen weltlichen Rechtsordnung, nämlich jener der Europäischen Union, vergleicht. Manche Kennzeichen des Kirchenrechts, wie die geringere Bestimmtheit, die es vom staatlichen Recht unterscheiden und manchmal zum Anlass genommen werden, seinen Rechtscharakter zu bezweifeln,140 erweisen sich demnach als geradezu verbindend gegenüber dem Unionsrecht. In einigen dieser Fälle haben verschiedene Ursachen auf Seiten von Kirche und EU dennoch dieselben Auswirkungen: So bei der Bedeutung rechtlich nicht verbindlicher Akte und beim Vorrang der Einsicht vor dem Zwang. In den anderen Fällen sind es sogar ähnliche Ursachen: Bei der teleologischen Gesetzesinterpretation, bei der Flexibilität und bei der Bedeutung von Rahmenrecht. Die Gemeinsamkeit dieser Ursachen liegt darin, dass beide Rechtsordnungen von einem bestimmten Ziel her geprägt sind, auf wechselnde Situationen angemessen eingehen müssen und einen weiten und inhomogenen räumlichen Geltungsbereich besitzen.

______________ 139

Nach Nelles (Summum ius, 205) gibt es zwischen dem kirchlichen und dem weltlichen Recht mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede. 140 Dazu Nelles, Summum ius, 183. Nelles weist aber nach, dass die Unterschiede zum staatlichen Recht nicht so groß sind, dass sie den Rechtscharakter verhinderten. Der eigentliche Unterschied besteht im Gerechtigkeitsbegriff, der nach staatlichem Verständnis die Rechtssicherheit und damit die Gleichbehandlung aller Fälle einschließt, während er nach kirchlichem Verständnis Barmherzigkeit und damit das Eingehen auf den Einzelfall verlangt (ebd. 334).

H. Auswirkungen auf die Beziehungen unter den einzelnen Staaten und unter den einzelnen Religionsgemeinschaften I. Die EU und das Religionsrecht der Mitgliedstaaten Das Hauptthema dieser Arbeit ist das direkte Verhältnis zwischen der Europäischen Union und den Kirchen und Religionsgemeinschaften, wie es sich besonders in der Form einer Dialogbeziehung manifestiert, nicht so sehr das Verhältnis der Union zu den Mitgliedstaaten unter dem Aspekt der Religion. Da das erstere aber auch Auswirkungen auf das letztere haben kann, sollen derartige Implikationen des EU-Rechts in diesem Kapitel kurz beleuchtet werden. Die spezielle Frage, wie sich das EU-Recht auf die Konkordate der Mitgliedstaaten auswirkt, die staatskirchenrechtliche Angelegenheiten regeln, wird im folgenden Kapitel H.II. behandelt.

1. Die nationale Identität der Mitgliedstaaten Gemäß Art. 6 Abs. 3 EUV achtet die Union die nationale Identität der Mitgliedstaaten. Dieser Begriff ist wenig konkret und rechtlich schwer fassbar, politisch aber von erheblicher Bedeutung. 1 Bleckmann sieht darin die Garantie für einen den Mitgliedstaaten verbleibenden Kern an Kompetenzen und eine Abgrenzung gegenüber einer zu weit gehenden Rechtsangleichung.2 Gehört auch das Staatskirchenrecht der Mitgliedstaaten zur nationalen Identität, die von der Union geachtet wird? Zahlreiche Autoren bejahen dies,3 doch besteht hinsichtlich der Rechtsfolgen keine Einigkeit. Daraus, dass zum Beispiel das deutsche kirchliche Arbeitsrecht zur nationalen Identität gehört, schließt etwa Bleckmann4, dass entsprechende harmonisierende Richtlinien auf die Kirchen ______________ 1

Streinz, Der Amsterdamer Vertrag, 8.

2

Bleckmann, Wahrung, 266 und 269.

3

Z.B: ebd. 269; Ferrari, Church and State, 38; Grzeszick, Kirchenerklärung, 292; Heintzen, Kirchen, 35; Reichegger, Auswirkungen, 61; Winter, Staatskirchenrecht, 210. Nach Rees spiegelt die Vielfalt staatskirchenrechtlicher Systeme die Vielfalt nationaler Kulturen und Identitäten wieder, die vom Recht der EU respektiert wird (Rees, Schulkreuze, 268). 4

Bleckmann, Wahrung, 269.

I. Die EU und das Religionsrecht der Mitgliedstaaten

497

nicht anwendbar sind, während Reichegger5 unter Berufung auf den Wortlaut von Art. 6 Abs. 3 EUV nur eine Rücksichtnahmepflicht, aber keinen absoluten Vorrang der nationalen Besonderheiten annimmt. Indessen gehört nicht jedes staatskirchenrechtliche Element in jedem Mitgliedstaat zur nationalen Identität. So bezweifelt Heinig, dass aufgrund von Art. 6 Abs. 3 EUV das gesamte Arbeitsrecht der Europäischen Gemeinschaft nicht auf die Kirchen anzuwenden wäre.6 Vachek bestreitet überhaupt, dass die einzelnen Staat-Kirche-Modelle identitätsstiftend sind, weil keines dieser Modelle nur auf einen einzigen Mitgliedstaat zutrifft und einige Staaten ihr System in letzter Zeit geändert haben, ohne dabei ihre Identität zu wechseln.7 Auch wenn man diese Extremposition nicht teilt, wird man zur nationalen Identität jeweils nur bestimmte Elemente eines staatskirchenrechtlichen Systems rechnen können, die es tatsächlich von den anderen unterscheiden. Aber auch hinsichtlich dieser wirklich identitätsstiftenden Elemente lässt Art. 6 Abs. 3 EUV keine klaren Rechtsfolgen erkennen. Möglicherweise lässt sich mit dieser Bestimmung argumentieren, um gegenüber Art. 13 EGV und Art. 21 GRCH die Sonderstellung einer bestimmten Religion in einem Mitgliedstaat zu rechtfertigen. Das Christentum im Ganzen gehört aber, wie die Kirchen selbst immer wieder betonen, zur gesamteuropäischen Identität. Nationale Identität meint nicht nur den staatsbildenden Willen, sondern auch die kulturelle Identität. Daher wird Art. 6 Abs. 3 EUV häufig in Zusammenhang mit Art. 151 EGV gestellt.8 Gehört auch die Religion zur Kultur? Die beiden Begriffe sind zwar nicht deckungsgleich, überschneiden sich aber zum Teil.9 Die Berufung auf Art. 151 EGV ist jedoch ambivalent, da diese Bestimmung die Gemeinschaft nicht nur zur Wahrung der nationalen Kulturen verpflichtet (Abs. 1 und 4), sondern ihr selbst eine wenn auch nur parallele Kompetenz im Bereich der Kulturpolitik verleiht (Abs. 2 und 5). Es lässt sich daraus also keine klare Aussage gewinnen, ob und wann Religion, soweit sie unter „Kultur“ fällt, den Mitgliedstaaten bzw. der Gemeinschaft zuzuweisen ist. 10

______________ 5

Reichegger, Auswirkungen, 61.

6

Heinig, Tradition, 305.

7

Vachek, Religionsrecht, 274f.

8

Vgl. Bleckmann, Wahrung, 269; Triebel, Europa, 62.

9

Heinig (Religionsgesellschaften, 425) hingegen trennt klar zwischen Religion und Kultur. 10

Vgl. Reichegger, Auswirkungen, 63.

498

H. Beziehungen unter den einzelnen Staaten und Religionsgemeinschaften

2. Das Subsidiaritätsprinzip Das Subsidiaritätsprinzip ist in der Präambel und in Art. 2 des EUV sowie in Art. 5 Abs. 2 EGV verankert und in Protokoll Nr. 30 zum EGV konkretisiert. Es besagt, dass die Europäische Gemeinschaft in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur tätig wird, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können. Kommission, Parlament und Rat haben anstehende Rechtsakte daraufhin zu testen, ob sie im Sinne des Subsidiaritätsprinzips wirklich auf der Gemeinschaftsebene geschaffen werden sollen.11 Der EuGH kann sie gerichtlich überprüfen, wird aber wegen der Unschärfe der Kriterien nur bei einem offenkundigen Ermessensmissbrauch auf einen Verstoß erkennen. 12 Das Subsidiaritätsprinzip stellt lediglich eine Kompetenzausübungsregel aber keine Kompetenzschranke dar. In engem Zusammenhang damit steht das Verhältnismäßigkeitsprinzip, demzufolge die EG-Organe nur solche Maßnahmen treffen dürfen, die den Kriterien der Geeignetheit und Erforderlichkeit entsprechen und die nicht über das Maß hinausgehen, das für die Erreichung der Ziele des Vertrags erforderlich ist. In religionsrechtlichen Abhandlungen wird häufig geprüft, ob für Materien, die in Sekundärrechtsrechtsakten geregelt sind, gemäß dem Subsidiaritätsprinzip, soweit sie auch Kirchen und Religionsgemeinschaften betreffen, nicht eine Regelung auf der mitgliedstaatlichen Ebene vorzuziehen wäre. 13 Meist wird dem Subsidiaritätsprinzip aber nicht die Wirkung zugesprochen, dass es ein Tätigwerden der Gemeinschaft in religionsrelevanten Bereichen generell verhindern würde.14 Nach Heinig kann es nur bewirken, dass ein Gemein-

______________ 11 Nach Pieper (Subsidiaritätsprinzip, 450) zeitigte das Subsidiaritätsprinzip vor allem zwei Wirkungen: Der Streit um die Kompetenzen wurde verschärft und gleichzeitig auch rationalisiert. 12

Der VVE stärkt die Subsidiarität durch ein „Frühwarnsystem“ während der G

I. Die EU und das Religionsrecht der Mitgliedstaaten

499

schaftsrechtsakt insgesamt unterbleibt, aber nicht dass er nur die Kirchen und Religionsgemeinschaften ausklammern müsste.15 Oft wird übersehen, dass das Subsidiaritätsprinzip zwei Stoßrichtungen hat: Wenn die entsprechenden Kriterien angewandt werden, kann sich nicht nur herausstellen, dass eine bestimmte Zuständigkeit besser auf einer unteren Ebene wahrgenommen werden kann, sondern gerade im Gegenteil, dass sie der oberen Ebene zuzuweisen wäre. Nach einer Denktradition, die auf das cuiusregio-Prinzip des Augsburger Religionsfriedens zurückgeht, sind religionsrechtliche Fragen möglichst auf einer niedrigen Ebene zu lösen. 16 Die heute brisanten Fragen haben aber allesamt einen grenzüberschreitenden Charakter, weshalb die supranationale Ebene vorzuziehen wäre. Der Islam und die neuen religiösen Gruppen, die zahlreiche Probleme aufwerfen, sind in ganz Europa präsent. Die Entwicklungstendenzen in der Religiosität der Menschen gleichen sich in allen europäischen Staaten. Die von der Arbeitnehmerfreizügigkeit angestoßene Migration durchmischt die europäische Bevölkerung und löst religiös homogene Territorien immer stärker auf. Die konfessionelle Prägung einzelner Staaten verschwindet immer mehr, und die meisten Religionsgemeinschaften sind ohnehin grenzüberschreitend organisiert. Mag es daher auch religionsrechtliche Angelegenheiten geben, die tatsächlich besser den Mitgliedstaaten überlassen bleiben, so kann dies doch nicht generell für das gesamte Religionsrecht gelten. Für Vachek wäre eine Regelung des Religionsrechts ausschließlich auf der Ebene der Mitgliedstaaten nur dann sinnvoll, wenn die Gemeinschaft überhaupt keine religionsrechtlich relevanten Angelegenheiten regeln könnte.17 In den Verfassungen der einzelnen Mitgliedstaaten finden sich Bestimmungen zur Übertragung von Hoheitsrechten auf internationale Einrichtungen, wie z.B. in Art. 23 und 24 des deutschen GG, in Art. 117 der italienischen Verfassung und in Art. 9 Abs. 2 des österreichischen B-VG. Besonders in Deutschland wird erwogen, ob diese verfassungsrechtliche Anordnung über das Verhältnis zwischen nationalem und supranationalem Recht nicht für ein Verbleiben des Religionsrechts auf der nationalen Ebene und folglich seine Unantastbarkeit durch EG-Recht spräche.18 Stotz hält dem entgegen, dass die Kirchen in ______________ 15

Heinig, Tradition, 305.

16

Vgl. dazu: Barberini, Intérêt national, 49.

17

Vachek, Religionsrecht, 154.

18

Nach der radikalen Ansicht Bleckmanns (Wahrung, 267) können die Mitgliedstaaten die innerstaatliche Wirkung des EG-Rechts unterbinden. Nach Hollerbach (Europa, 273) hingegen gibt es in einem Konflikt zwischen dem EuGH und dem Bundesverfassungsgericht über beispielsweise staatskirchenrechtliche Kompetenzen keine rechtliche, sondern nur eine politische Lösung.

500

H. Beziehungen unter den einzelnen Staaten und Religionsgemeinschaften

Deutschland und Österreich abgesehen von ihren inneren Angelegenheiten den allgemeinen Staatsgesetzen unterworfen sind, und da zu diesen auch das jeweilige Zustimmungsgesetz zu den EG/EU-Verträgen gehört, findet das Gemeinschaftsrecht bereits aus diesem Grund auf den religiösen Bereich Anwendung.19 Der EuGH hält jedenfalls unabhängig von verschiedenen Argumentationen aus der Sicht der einzelnen nationalen Verfassungen am Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts fest.

3. Die „Kirchenerklärung“ von Amsterdam a) Der Weg zur Kirchenerklärung Unter dem Eindruck verschiedener EuGH-Urteile und Rechtsetzungsprojekte der Europäischen Gemeinschaft, die Rechtspositionen bedrohten, die einzelne Mitgliedstaaten den Kirchen und Religionsgemeinschaften einräumen, begannen kirchliche und staatliche Einrichtungen, sich für eine ausdrückliche rechtliche Regelung dieser Materie auf europäischer Ebene einzusetzen. Nach mehreren Vorüberlegungen20 organisierte die COMECE im Oktober 1995 ein Treffen in Brüssel, um die divergierenden Vorschläge des deutschen Bundesrates, des Heiligen Stuhls und der Regierungen von Österreich, Portugal und Italien zu vereinheitlichen.21 Auch Spanien brachte einen Textvorschlag ein.22 Im Vorfeld des Vertrags von Amsterdam sind vielfältige Bemühungen für einen Kirchenartikel sowohl von Seiten der katholischen und der evangelischen Kirche als auch von Seiten mehrerer Mitgliedstaaten zu beobachten. Inhaltlich gleichen sich die Textvorschläge sehr stark: Sie erinnern an die Bedeutung der Religion für das kulturelle Erbe Europas und verlangen, dass die Europäische ______________ 19

Stotz, Bedeutung, 65. Für Italien vgl. Botta, Riforma, 110.

20

Als Stationen auf dem Weg zur Kirchenerklärung nennt Vachek: (1) Antrag des Bayerischen Senats zur Wahrung der Stellung der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften im Rahmen des Europäischen Gemeinschaftsrechts vom 12. Oktober 1989. (2) Die vierzehn Thesen der EKD über „Das deutsche Staatskirchenrecht und die Entwicklung des Europäischen Gemeinschaftsrechts“ von 1991. (3) Die „Gemeinsame Stellungnahme zum Verhältnis von Staat und Kirche im Blick auf die Europäische Union“ des EKD-Kirchenamtes und der DBK von 1995. (4) Das „Memorandum zur Rechtsstellung der Kirchen und Religionsgemeinschaften im Vertragswerk der Europäischen Union“ ebenfalls vom EKD-Kirchenamt im selben Jahr. (5) Einen Verhandlungsvorschlag des deutschen Bundesrates ebenfalls aus 1995. Der gemeinsame Vorschlag von EECCS und COMECE ebenfalls 1995 (Vachek, Religionsrecht, 127-130). 21

Bijsterveld, Kirchenerklärung, 49.

22

Cantó Rubio, Tratado Amsterdam, 723.

I. Die EU und das Religionsrecht der Mitgliedstaaten

501

Union den Status der Kirchen und Religionsgemeinschaften in den Mitgliedstaaten achte und nicht beeinträchtige. Der Erfolg der Bemühungen war, dass der Vertrag von Amsterdam vom 2.10.1997 tatsächlich eine Bestimmung über Kirchen und Religionsgemeinschaften aufgenommen hat, jedoch nur als Erklärung Nr. 11 in den Schlussakten und ohne Bezugnahme auf die kulturelle Bedeutung der Kirchen und Religionsgemeinschaften.

b) Die Rechtsnatur der Erklärung Nr. 11 zum Amsterdamer Vertrag Grundsätzlich sind die 51 von der Konferenz „angenommenen“ Erklärungen – und damit auch die Erklärung Nr. 11 – Auslegungsübereinkünfte im Sinne des Art. 31 Abs. 2 lit. a WVK und geben, ohne selbst Primärrecht zu sein, dessen authentische Interpretation wieder.23 Sie heben sich damit von den acht Erklärungen ab, die nur von einzelnen oder mehreren Mitgliedstaaten abgegeben und von der Konferenz bloß „zur Kenntnis genommen“ wurden, welche lediglich „Urkunden“ im Sinne des Art. 31 Abs. 2 lit. b WVK sind. 24 Diese Deutung der Kirchenerklärung wird vom Großteil der Lehre geteilt. 25 Was bedeutet es nun, dass die Kirchenerklärung eine Auslegungsregel für das Primärrecht darstellt? Während viele andere Erklärungen in der Schlussakte sich auf konkrete Bestimmungen in den Verträgen beziehen, fehlt bei der Kirchenerklärung ein solcher Bezug. Aus ihrer Entstehungsgeschichte ergibt sich aber ein Zusammenhang mit Art. 6 EUV.26 Der Schutz des Status‟, den die Kirchen und Religionsgemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, passt zum Schutz der nationalen Identität nach Art. 6 Abs. 3 EUV,27 kann den EuGH aber auch bei der Auslegung der korporativen Religionsfreiheit nach Art. 6 Abs. 2 EUV i.V.m. Art. 9 EMRK zu einem ______________ 23

Schweitzer / Hummer, Europarecht. Nachtrag 1999, 22.

24

Ebd.

25

Z.B: Ehnes, Verhältnis 51 = 223; Grzeszick, Kirchenerklärung, 287; Hillgruber, Staat, 1178; Stotz, Bedeutung, 65; Sucker, Europäisches Staatskirchenrecht, 10; Vachek, Religionsrecht, 138. Heinig (Tradition, 303) will Art. 31 WVK nur analog anwenden, weil die Gründungsverträge nicht ohne weiteres nach völkerrechtlichen Grundsätzen zu bewerten seien. 26

Vgl. Heintzen (Kirchen, 33), der hingegen kaum eine Beziehung zum Subsidiaritätsprinzip erkennt. Für einen Zusammenhang mit dem Subsidiaritätsprinzip: Robbers, An article, 67. 27

Grzeszick (Kirchenerklärung, 291f.) lässt nur einen Bezug zu Art. 6 Abs. 3 EUV gelten, nicht jedoch zu Art. 6 Abs. 1 und 2.

502

H. Beziehungen unter den einzelnen Staaten und Religionsgemeinschaften

höheren Schutzniveau anleiten.28 Das Fehlen eines Bezugs auf eine bestimmte Norm kann aber auch so verstanden werden, dass die Kirchenerklärung eine generelle Auslegungsregel für das gesamte EU-Recht sein will.29 Ist die Kirchenerklärung als Auslegungsregel verbindlich? Dagegen spricht, dass solche Erklärungen nicht mehr Bestandteil der Norm selbst sind und die Normauslegung weder den Mitgliedstaaten noch den Rechtsetzungsorganen der EG, sondern dem EuGH obliegt, der bekanntlich die objektiv-teleologische Interpretation der subjektiv-historischen, die auf den Willen des Normgebers abstellt, vorzieht.30 Diese Bevorzugung beschränkt sich aber auf jene Fälle, in denen ein solcher Wille gar nicht feststellbar ist, weil die entsprechenden Materialien nicht veröffentlicht wurden. Wo aber ein solcher Wille sogar in einer gemeinsamen Erklärung der vertragsschließenden Parteien festgehalten ist, wird er sehr wohl verbindlich zur Auslegung herangezogen, und der EuGH hat ähnlichen Willensbekundungen sogar schon eine gewisse normative Wirkung im Gemeinschaftsrecht zuerkannt.31 Aber auch eine verbindliche Auslegungsregel kommt nur dann zur Anwendung, wenn der Wortlaut einer Norm so dunkel bleibt, dass er einer Auslegung bedarf. Sie kann entgegenstehendes Recht nicht brechen.32 Manche Autoren überlegen, ob die Kirchenerklärung nicht doch eine stärkere rechtliche Qualität besitze. Dabei wird diese Frage meist unter dem Begriff „rechtliche Verbindlichkeit“ diskutiert, womit aber – in unklarer und leicht misszuverstehender Weise – nicht gemeint wird, ob der Kirchenerklärung überhaupt irgendeine rechtliche Bedeutung zukomme oder sie gar nur ein rechtliches Nullum darstelle, sondern ob ihr normative Rechtskraft zukomme.

______________ 28

Stotz, Bedeutung, 67.

29

Vgl. Triebel, Europa, 64.

30

Vgl. Herdegen, Erklärungen, 56f. Nach Heinig (Religionsgesellschaften, 419) liefert die Kirchenerklärung nur ein Interpretationskriterium unter anderen. 31 Herdegen, Erklärungen, 59f.; vgl. auch Grzeszick, Kirchenerklärung, 290. So weit ersichtlich hat der EuGH die Kirchenerklärung bisher nie in seine Urteilsbegründungen einbezogen, insbesondere nicht im Fall Lindqvist (Rs. C-101/01), wo dies zu erwarten gewesen wäre, weil es hier um die Auswirkungen der Datenschutz-RL 95/46/EG auf nationales religionsrelevantes Recht ging und gerade diese Richtlinie mit der Entstehung der Kirchenerklärung in engem Zusammenhang steht. 32

Man wird daher nicht wie Hillgruber behaupten können, dass mit der Kirchenerklärung der nationale Status der Kirchen dem gemeinschaftsrechtlichen Regelungszugriff entzogen sei (Staat, 1178), sondern nur mit Winter eine Verbesserung der Absicherung feststellen können (Winter, Verhältnis, 901).

I. Die EU und das Religionsrecht der Mitgliedstaaten

503

Besonders Robbers hat versucht, für eine stärkere rechtliche Qualität der Kirchenerklärung zu argumentieren.33 Dazu stützt er sich auf Wortlaut und Struktur der Formulierung, die wie eine rechtlich verbindliche Vorschrift gefasst sei. Außerdem hätten Mitgliedstaaten sich bereits auf die rechtliche Verbindlichkeit von Erklärungen berufen und das EuG habe Erklärungen ausdrücklich zum rechtlichen Rahmen der Entscheidungen gezählt.34 Auf jeden Fall hält Robbers daran fest, dass Vertragsparteien, die sich – z.B. bei der Umsetzung von Richtlinien – an die Kirchenerklärung halten, nicht gegen den Vertrag verstoßen.35 Vachek hingegen versucht, alle Argumente Robbers‟ zu widerlegen. Zunächst weist er darauf hin, dass der Kirchenartikel absichtlich nicht in den Vertragstext selbst aufgenommen worden ist, so dass es nicht ausschlaggebend sein kann, dass der Wortlaut verbindlich klingt.36 Auch bei der Richtlinienumsetzung durch den nationalen Gesetzgeber sei die Kirchenerklärung grundsätzlich nicht beachtlich und zwar sowohl wegen des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts vor nationalem und Völkerrecht als auch wegen des Vorrangs des umzusetzenden Sekundärrechts vor bloßen Erklärungen.37 Ferner verwirft Vachek die Ansichten, es könnte sich bei der Kirchenerklärung um einen völkerrechtlichen Vertrag oder eine politische Selbstbindung38 der im Rat vereinigten Vertreter der Mitgliedstaaten handeln. 39 Dafür, dass sich schließlich aus der Kirchenerklärung Gemeinschaftsgewohnheitsrecht entwickeln könnte, sind die Voraussetzungen sehr hoch.40 Keine normative Kraft spricht Stotz der Kirchenerklärung zu. Sie könnte ihm zufolge eine Statussicherung nur unter Rückgriff auf andere primärrechtliche Rechtsinstitute wie das Subsidiaritätsprinzip oder die Religionsfreiheit in Art. 9 EMRK i.V.m. Art. 6 Abs. 2 EUV garantieren.41 Die hauptsächliche Bedeutung der Kirchenerklärung sieht er aber in einer Einbindung von Kirchen ______________ 33

Für normative Kraft auch Heintzen, Kirchen, 33 und Leinemann, COMECE, 154. Noch nicht abschließend geklärt ist der Status der Kirchenerklärung für Winter, Stellung, 167. 34

Robbers, Partner für die Einigung, 624.

35

Robbers, Europa und die Kirchen, 154.

36

Vachek, Religionsrecht, 131.

37

Ebd, 139f.

38

Für eine Selbstbindung der EU: Triebel, Europa, 60. Dagegen: Heintzen, Kirchen,

39

Vachek, Religionsrecht, 134ff.

40

Ebd 137.

41

Stotz, Europa, 737; ders., Bedeutung, 65; ähnlich Reichegger, Auswirkungen, 70.

32.

504

H. Beziehungen unter den einzelnen Staaten und Religionsgemeinschaften

und Religionsgemeinschaften in den Legislativprozess. 42 Ähnliche Auslegungsmöglichkeiten entfaltet Mückl. Trotz fehlender normativer Rechtskraft stärkt die Kirchenerklärung ihm zufolge die korporative Dimension der Religionsfreiheit nach Art. 6 Abs. 2 EUV i.V.m. Art. 9 EMRK und außerdem ist sie auf verfahrensrechtlicher Ebene für die Kirchen und Religionsgemeinschaften entscheidend, denn „die Zusage, ihren rechtlichen Status in den Mitgliedstaaten nicht zu beeinträchtigen, lässt sich nur realisieren, wenn ihre Belange auf europäischer Ebene erkundet, gehört und zumindest zur Kenntnis genommen werden“43. Müller-Volbehr hält die Kirchenerklärung von Amsterdam für „rechtlich nicht verbindlich“, aber auch nicht für ein „rechtliches Nullum“ 44.

c) Die Bedeutung der Kirchenerklärung Da die normative Rechtskraft der Kirchenerklärung von der herrschenden Lehre also verneint wird, stellt sich die Frage, welche Bedeutung ihr sonst zukommen könnte. Wiederholt wurde betont, dass mit der Kirchenerklärung erstmals Kirchen und Religionsgemeinschaften auf EU-Ebene als Institutionen überhaupt erwähnt und zur Kenntnis genommen worden sind. 45 Außerdem sei sie eine „politische Absichtserklärung“46, Ausdruck einer bereits vorhandenen religiösen und weltanschaulichen Neutralität, 47 und sie markiere den Übergang von einer passiven zu einer aktiven Enthaltung der Europäischen Union vom religiösen Bereich bzw. den Übergang vom Prinzip der Indifferenz zum Prinzip der Nicht-Einmischung48. Bijsterveld spricht sogar von einer meta-juristischen Bedeutung, welche die „Rolle der Kirchen in der Öffentlichkeit und die Interaktion zwischen Kirche, Staat und Gesellschaft betrifft“49. Potz sieht eine Bedeutung der Kirchenerklärung auch „als Grundlage für das Engagement von Kirchen und Religionsgesellschaften sowie von nichtreligiös-weltanschaulichen Organisationen im Rahmen des europäischen Einigungsprozesses“50. Heinig begrüßt sogar, dass die Kirchenerklärung „nicht unmittelbar geltendes Recht“ ______________ 42

Stotz, Europa, 737.

43

Mückl, Weltanschauungsfreiheit, 187.

44

Müller-Volbehr, Arbeitsrecht, 85.

45

Z.B: Ehnes, Verhältnis, 51 = 223; Robbers, Europa und die Kirchen, 151.

46

Hanau / Thüsing, Arbeitsrecht, 20.

47

Robbers, Europa und die Kirchen, 151.

48

Christians, Droit et religion dans le traité d‟Amsterdam, 215.

49

Bijsterveld, Kirchenerklärung, 50.

50

Potz, Europas Seele, 9.

I. Die EU und das Religionsrecht der Mitgliedstaaten

505

sei, weil sie „somit nicht andere Rechtsnormen überspielt, sondern im Konzert des gesamten Europarechts vielmehr markiert, dass Religion gerade auch in seiner mitgliedstaatlich geprägten Vielfältigkeit einen beachtlichen Faktor darstellt“51. Auch Kirchhof gewinnt dem Umstand, dass die Kirchenerklärung nicht in den Vertrag selbst einging, einen positiven Sinn ab, weil damit die kirchliche Autonomie nicht als im EG-Recht begründetes Zugeständnis erscheint. Die bloße Erklärung zeigt vielmehr an, dass diese Autonomie europarechtlich vorgefunden und bestätigt wird, womit die partnerschaftliche Rechtsbeziehung zwischen Kirchen und Europäischer Union hinreichend zum Ausdruck kommt.52 Mit dem Verfassungsvertrag wird aus der Erklärung Nr. 11 aber sehr wohl eine echte Rechtsnorm und das im höchsten Rang. So kann man heute sagen, dass eine Bedeutung der Kirchenerklärung auch darin liegt, dass sie die Vorstufe zu Art. I-52 Abs. 1 VVE bildet. Weil dann die Diskussion um die normative Rechtskraft und die eventuelle außerrechtliche Bedeutung der Kirchenerklärung nicht mehr näher entfaltet und verfolgt werden muss, soll sie im Folgenden bereits entsprechend ihrer Stellung im Verfassungsvertrag ausgelegt werden.

4. Der „Kirchenartikel“ Art. I-52 Abs. 1 VVE a) Von der Kirchenerklärung zum Kirchenartikel Dass die Kirchenerklärung in den Kirchenartikel des Verfassungsvertrages (Art. I-52) aufgenommen wurde, ist dem intensiven Engagement der Kirchen und Religionsgemeinschaften, anderer gesellschaftlicher Kräfte sowie verschiedenen Konventsmitgliedern zu verdanken. Abgesehen davon, dass die Bezeichnung „Europäische Union“ durch „Union“ ersetzt wurde, wie es im Verfassungsvertrag auch sonst üblich ist, entsprechen die Abs. 1 und 2 des Art. I-52 VVE wörtlich der Kirchenerklärung von Amsterdam. Die Entstehung dieses Kirchenartikels im Konventsprozess wurde bereits oben in Abschnitt D.I.1.b) behandelt. Daher genügt es an dieser Stelle, einige Textvorschläge und Argumentationsweisen vorzustellen, die im Konventsprozess hinsichtlich der Kirchenerklärung vorgebracht wurden. Aus der Zeit von Sommer und Herbst 2002, in der hauptsächlich Vorschläge gesammelt und reflektiert wurden, stammen zahlreiche offizielle Stellungnahmen von COMECE und KEK, die allesamt u.a. auch eine Aufnahme der Kirchenerklärung von Amsterdam in den Verfassungsvertrag forderten. Der ______________ 51

Heinig, Art. 13 EGV und die korporative Religionsfreiheit, 246.

52

Kirchhof, Kern, 157.

506

H. Beziehungen unter den einzelnen Staaten und Religionsgemeinschaften

gemeinsame legislative Vorschlag von COMECE und KEK vom 18.12.200353 verlangte die Aufnahme einer an die Kirchenerklärung von Amsterdam angelehnten, aber präziseren Bestimmung in Titel III (Zuständigkeitsbereiche und Tätigkeiten der Union) im Zusammenhang von Art. 8 (Wahrung der Grundprinzipien). In der Diskussion für und wider die Aufnahme der Kirchenerklärung in den Entwurf des EU-Verfassungsvertrags wurden vor allem folgende Argumente vorgebracht: COMECE, KEK und andere kirchliche Organisationen, die in mehreren Erklärungen immer wieder die Aufnahme der Erklärung Nr. 11 der Schlussakte zum Vertrag von Amsterdam in den zu schaffenden Verfassungsvertrag verlangt haben,54 begründeten die Wichtigkeit dieser Bestimmung vor allem damit, dass die nationalen staatskirchenrechtlichen Systeme historisch gewachsen sind und soziale, demographische und verfassungsrechtliche Besonderheiten ausdrücken.55 ______________ 53

http://www.comece.org/comece.taf?_function=pub_sec&id=1&language=de [9.5. 2006]. Der Textvorschlag lautete: „When exercising its competencies,] the Union shall respect the national identities of its Member States, including, among others, their fundamental structures and essential functions notably their political and constitutional structure, […] legal status of churches, religious communities and non-confessional organisations.“ 54

Beitrag des Sekretariats der COMECE zur Debatte über die Zukunft der Europäischen Union im Europäischen Konvent vom 21. Mai 2002; Brief der CCEES, COMECE, Caritas Europa ua an den Präsidenten des Europäischen Konvents Valéry Giscard d‟Estaing vom 28. Juni 2002; Gemeinsame Stellungnahme von KEK und COMECE vom 27. September 2002; eine weitere Stellungnahme dieser beiden Organisationen mit legislativen Vorschlägen vom 18. Dezember 2002; sowie die Pressemitteilung des Sekretariats der COMECE vom 7. Februar 2003; für alle: http://www.comece.org/comece.taf?_function=pub_sec&id=1&language=de [9.5.2006]. 55

„Jeder EU-Mitgliedstaat hat das Verhältnis von religiöser und politischer Ordnung, von Staat und Kirche, verfassungsmäßig geregelt. Diese Regelungen spiegeln Grundweichenstellungen und soziale, demographische und historische Gegebenheiten wider. Sie entwickeln sich mit der Zeit und sind Teil der nationalen Identität der Mitgliedstaaten. Der Respekt gegenüber dem fundamentalen Charakter dieser Beziehungen wird anerkannt in der Erklärung Nr. 11 des Anhangs zur Schlussakte des Vertrags von Amsterdam. Hierin drückt sich zugleich der Respekt aus, den die Europäische Union der inneren Organisation der Kirchen und religiösen Gemeinschaften entgegenbringt“ (Beitrag des Sekretariats der COMECE zur Debatte über die Zukunft der Europäischen Union im Europäischen Konvent vom 21. Mai 2002). „Die religionsrechtlichen Strukturen in den Mitgliedstaaten sind über lange Zeit gewachsen, sie spiegeln die Vielfalt und nationale Identität wider. Erklärung Nr. 11 drückt den Respekt vor der Vielfalt dieser Systeme aus und kann insofern als Ausfluss der horizontalen und der vertikalen Dimen-

I. Die EU und das Religionsrecht der Mitgliedstaaten

507

Die Konventsmitglieder, welche die Aufnahme der Kirchenerklärung in den Verfassungsvertrag kritisierten, brachten folgende Argumente vor:56 Eine solche Regelung sei neben der Verankerung der Religionsfreiheit in der Charta der Grundrechte nicht mehr notwendig; erst müssten die genauen rechtlichen Konsequenzen geprüft werden, bevor eine unverbindliche Erklärung in einen Verfassungsartikel übernommen wird; es bestehe die Gefahr, dass auch zweifelhafte Organisationen von den Gewährleistungen des Kirchenartikels profitieren könnten; die Bestimmung sei unklar formuliert und gehöre daher in den Anhang; Kirchen würden ungerechtfertigt privilegiert, wo sie doch selbst die Grundrechte nicht respektieren würden; es bestehe ohnehin keine diesbezügliche EU-Kompetenz auf diesem Gebiet.

b) Der „Status“ Der Kirchenartikel enthält in den meisten Vertragssprachen einen Ausdruck, der sich vom lateinischen „status“ herleitet. „Status“ bedeutet im Allgemeinen „Zustand“, „Lage“ „Stellung“, „Rang“ oder „Verfassung“ und ist hier natürlich nicht soziologisch im Sinne von sozialem Ansehen oder Wertschätzung, sondern als juristische Kategorie zu verstehen, so dass „Status“ sich auf die staatskirchenrechtliche Stellung der Kirchen und Religionsgemeinschaften im nationalen Recht bezieht. „Status“ hängt also mit „Staatskirchenrecht“ zusammen, erstreckt sich aber nur auf jenen Bereich des Staatskirchenrechts, der sich auf die Rechtsstellung der Kirchen und Religionsgemeinschaften als solcher bezieht, aber nicht auf jenen, der die „rechtliche Stellung einzelner Personen unter dem Gesichtspunkt von Glaube, Gewissen und Weltanschauung“57 betrifft. Aber auch in jenem Bereich ist der Begriff „Staatskirchenrecht“ noch weiter zu differenzieren: Gewöhnlich werden zwei Teile des Staatskirchenrechts unterschieden: So von Gampl58 jene Normen, die sich ausdrücklich und jene die sich nur einschlussweise auf Kirchen und Religionsgemeinschaften beziehen, oder bei Schwendenwein59 der engere Bereich mit jenen Normen, die speziell Kirchen und Religionsgemeinschaften betreffen und der weitere ______________

sion des Subsidiaritätsprinzips betrachtet werden.“ (http://european-convention.eu.int/ amendments.asp?content=37&lang=DE [9.5.2006]). 56

http://european-convention.eu.int/amendments.asp?content=37&lang=DE

2006]. 57

Schwendenwein, Österreichisches Staatskirchenrecht, 1.

58

Gampl, Österreichisches Staatskirchenrecht, 1.

59

Schwendenwein, Österreichisches Staatskirchenrecht, 1.

[9.5.

508

H. Beziehungen unter den einzelnen Staaten und Religionsgemeinschaften

Bereich mit Vorschriften, die nicht speziell für den Bereich der Kirchen und Religionsgemeinschaften gegeben sind. Der erste und engere Bereich des Staatskirchenrechts ist ein eigenes „von den übrigen Teilen der Rechtsordnung abgegrenztes Gebiet“60 und umfasst nur jene Normen, welche das staatskirchenrechtliche System eines Staates fundieren, die also festlegen, ob es sich z.B. um ein System der Trennung, der Kooperation oder eine Staatskirche handelt, und weiters, was Kirchen und Religionsgemeinschaften sind, welche Stellung sie haben und wie ihr Verhältnis zum Staat und untereinander gestaltet ist. Der zweite Bereich des Staatskirchenrechts ist eine „Querschnittsmaterie“61 und umfasst alle jene Normen, die sich in bestimmten Einzelbereichen wie Arbeitsrecht, Schulrecht, Steuerrecht usw. auf Kirchen und Religionsgemeinschaften beziehen. Hier kann man noch eine weitere Unterscheidung einführen: Erstens Normen, welche sich ausdrücklich auf Kirchen und Religionsgemeinschaften beziehen und für sie z.T. Sonderregelungen vorsehen, wobei es von Einzelstaat zu Einzelstaat verschieden ist, in welchen Regelungsmaterien solche Bestimmungen vorkommen; zweitens alle jene Normen, die sich ein schlussweise auch auf Kirchen und Religionsgemeinschaften beziehen, aber keine speziellen Bestimmungen für sie vorsehen. So können grundsätzlich und potenziell alle staatlichen Rechtsnormen auch Kirchen und Religionsgemeinschaften betreffen, wie etwa im Beispiel Prees62 die staatlichen Forstgesetze auch für Forste gelten, die im Eigentum einer kirchlichen juristischen Person stehen. Aus dem EG-Recht kann man für diesen letzten Bereich den Fall Dominikanerinnen-Kloster Altenhohenau (Rs. C-285/93) als Beispiel anführen, wo der EuGH ganz selbstverständlich EG-Vorschriften der Gemeinsamen Marktorganisation für Milch ohne Unterschied auch auf einen landwirtschaftlichen Klosterbetrieb anwendet.

c) Staatskirchenrecht im engeren Sinne Bezieht sich nun der Begriff „Status“ und damit der von Art. I-52 Abs. 1 VVE geschützte Bereich auf das Staatskirchenrecht im engeren oder im weiteren Sinn? Die Lehre hat diese Frage bisher kaum behandelt. Bei der Interpretation der Kirchenerklärung stand eben das Problem der normativen Rechtskraft im Vordergrund, und weil diese meist ohnehin abgelehnt oder zumindest stark ______________ 60

Pirson, Geschichtliche Wurzeln, 3.

61

Vgl. Link, Staat und Kirche, 134; Robbers, Amsterdam, 395; ders, Verhältnis, 122. Potz, Europas Seele, 10. 62

Vgl. Pree, Staatskirchenrecht, 1.

I. Die EU und das Religionsrecht der Mitgliedstaaten

509

bezweifelt wurde, stellte sich das Problem der exakten juristischen Auslegung nicht so sehr. Wenn aus der Kirchenerklärung im Verfassungsvertrag nun ein Kirchenartikel wird, ist die Lage genau umgekehrt: Die normative Rechtskraft steht dann außer Zweifel, so dass die Frage, welche Wirkungen Art. I-52 Abs. 1 genau entfaltet, nun unumgänglich wird. Der Wortlaut „Status“ spricht dafür, dass nur die Rechtsstellung der Kirchen und Religionsgemeinschaften durch ein bestimmtes staatskirchenrechtliches System, also nur der erste Bereich des Staatskirchenrechts gemeint ist.63 Nur hier handelt es sich um den Status von Kirchen und Religionsgemeinschaften im eigentlichen Sinn, während der zweite Bereich nur einzelne spezielle Rechte und Pflichten enthält. Einige Andeutungen für eine weitere Auslegung finden sich aber, wenn auch leider nicht klar ausgeführt, in einem Text 64 bei Robbers. Grundsätzlich scheint auch ______________ 63

Der ursprüngliche Textvorschlag der deutschen Kirchen sprach nicht von „Status“, sondern von „verfassungsrechtlichem Staatskirchenrecht“. Der Ausdruck “Status“ scheint aber besser, weil er nicht auf das rein formale Kriterium abstellt, ob eine mitgliedstaatliche Regelung Verfassungsrang hat. Nach Söbbeke-Krajewski (Acquis Communautaire, 279) umfasst „Status“ nur institutionelle Rechtspositionen und strukturprägende Regelungen des nationalen Religionsrechts. Zu weit interpretiert hingegen Waldhoff (Art. I-52 VVE, Rn. 12) den Begriff „Status“, wenn damit das gesamte Rechtsverhältnis zwischen den Mitgliedstaaten und den Religionsgemeinschaften gemeint sein soll, soweit es über die rein individuelle Beziehung zu Religion und Weltanschauung hinausreicht. 64 „In der Tat schützt die Erklärung [die Kirchenerklärung von Amsterdam] das jeweilige mitgliedstaatliche Verhältnis von Staat und Kirchen gegenüber dem Zugriff durch das Gemeinschaftsrecht. Das trägt zunächst dem bereits bisher geltenden Grundsatz Rechnung, dass sie Europäischen Gemeinschaften auf dem Gebiet der Religion keine Kompetenzen besitzen. Religiöse Fragen entziehen sich ihrer Zuständigkeit. Auf vielen Gebieten religiös begründeter Aktivitäten kommen den Europäischen Gemeinschaften allerdings sehr wohl Kompetenzen zu. Das ist jedenfalls dann der Fall, wenn die Kirchen als Arbeitgeber handeln, was sie in weitem Umfang tun, indem sie Krankenhäuser, Kindergärten oder Banken betreiben, und wenn Ordensgemeinschaften ihren Unterhalt aus der Landwirtschaft oder Gärtnereibetrieben beziehen. Soweit für diese Bereiche besondere staatskirchenrechtliche Bestimmungen in den Mitgliedstaaten bestehen, muss die Europäische Union nach der Kirchenerklärung von Amsterdam diese Bestimmungen achten und darf die daraus resultierende Stellung der Religionsgemeinschaften nicht beeinträchtigen. Die Kirchenerklärung enthält deshalb keineswegs eine negative Kompetenzbestimmung, die dazu führen könnte, von ihr nicht abgedeckte Bereiche indirekt in die Kompetenz der Gemeinschaften hineinzuziehen. Vielmehr enthält die Erklärung bereits nach ihrem ausdrücklichen Wortlaut lediglich eine Bestimmung darüber, wie bestehende Kompetenzen innerhalb der Union ausgeübt werden müssen. Besonders auch die unbedachten, die indirekten, überschießenden Auswirkungen von Kompetenzausübungen auf die mitgliedstaatlichen Verhältnisse von Staat und

510

H. Beziehungen unter den einzelnen Staaten und Religionsgemeinschaften

er eine ähnliche Unterscheidung in den Begriff „Staatskirchenrecht“ einzuführen, wie sie oben bereits skizziert wurde. Seine Formulierung „das jeweilige mitgliedstaatliche Verhältnis von Staat und Kirche“ entspricht dem Staatskirchenrecht im ersten und engeren Sinne, während die Wendung „die vielen Gebiete religiös begründeter Aktivitäten“ sich auf das Staatskirchenrecht im weiteren Sinne erstreckt. Auf beide Bereiche nun hat der Kirchenartikel unterschiedliche Auswirkungen. Für den ersten Bereich enthält er eine Kompetenzvorschrift, die besagt, dass die Europäische Union auf dem Gebiet der Religion keine Kompetenz habe. 65 Die Begründung dafür, die sich bei Robbers nicht findet, lässt sich leicht aus dem Wortlaut gewinnen: „Status“ bezieht sich dem Wortsinn nach jedenfalls auf das Staatskirchenrecht i.e.S., was oben bereits ausführlich entfaltet wurde. Die Begriffe „achten“ und „nicht beeinträchtigen“ deuten auf eine Kompetenz abgrenzungsbestimmung hin. Art. I-52 Abs. 1 VVE besagt daher zunächst einmal, dass die EU keine Kompetenz hat, in die staatskirchenrechtlichen Systeme der Mitgliedstaaten einzugreifen. Dass die Vorschrift schließlich nicht in Titel III („Zuständigkeiten“) sondern in Titel VI des Verfassungsvertrags eingefügt wurde, schadet der Deutung als Kompetenznorm nicht, da für die Einfügung in Titel VI der Abs. 3 des Art. I-52 den Ausschlag gegeben hat. Wenn Art. I-52 Abs. 1 VVE anordnet, die EU dürfe in den Status der Kirchen und Religionsgemeinschaften, den diese in den Mitgliedstaaten genießen, nicht eingreifen, so könnte man unter Umständen daraus e contrario schließen, dass der EU sehr wohl eine Kompetenz in religiösen Angelegenheiten zukomme und die Kirchenerklärung eben nur deren Schranken festlege. Das würde aber dem Ziel der Vorschrift direkt widersprechen. Für Link ist daher die „Gefahr einer neuen Zuständigkeitsbegründung unberechtigt“ 66 und nach Robbers trägt die Kirchenerklärung dem schon bisher geltenden Grundsatz Rechnung, dass die „Europäischen Gemeinschaften auf dem Gebiet der Religion keine Kompetenzen besitzen“67 und enthält „keine negative Kompetenzbestimmung“68. Auch Vachek sieht darin keine Verleihung neuer, originärer Rechte auf Gemeinschaftsebene.69 Ein Schluss e contrario ist hier also unzulässig. Art. I-52 Abs. 1 VVE will gerade keine neue EU-Kompetenz begründen, ______________

Kirche werden nunmehr weniger gefährlich sein.“ (Robbers, Europa und die Kirchen, 152). 65

Vgl. Barberini, Lezioni, 299; Hintze, Politik, 205.

66

Link, Staat und Kirche, 153.

67

Robbers, Europa und die Kirchen, 152.

68

Ebd.

69

Vachek, Religionsrecht, 145.

I. Die EU und das Religionsrecht der Mitgliedstaaten

511

sondern eine solche auch weiterhin ausschließen. Der Kirchenartikel hindert die EU hingegen nicht, für sich selbst ihr eigenes Verhältnis zu Kirchen und Religionsgemeinschaften zu entwickeln [oben Abschnitt C.I.7.].70 Wenn nun Art. I-53 Abs. 1 VVE den Status von Kirchen und Religionsgemeinschaften nach nationalem Recht vor Zugriffen durch die EU schützt, wird damit im Grunde nur das ausdrücklich festgehalten, was sich ohnehin schon aus dem Prinzip der begrenzten Ermächtigung (Art. 5 Abs. 1 EGV; Art. 5 EUV) ergibt. Danach kann die Gemeinschaft nämlich nur innerhalb der Grenzen der ihr im EGV zugewiesenen Befugnisse und gesetzten Ziele tätig werden. Da der Gemeinschaft aber nie religionsrechtliche Zuständigkeiten eingeräumt wurden, kommen ihr auch von vornherein keine solchen zu. In dieser Weise argumentierten übereinstimmend Vertreter der Lehre.71

d) Staatskirchenrecht im weiteren Sinne Es befriedigt nun nicht, die einzige Relevanz des Kirchenartikels darin zu sehen, dass er nur festschreibt, was ohnehin schon Rechtsbestand ist, nämlich dass die EU keine Kompetenz für das nationale Staatskirchenrecht i.e.S. hat. Er wäre damit redundant, und es hätte seiner gar nicht bedurft. Seine oben skizzierte Entstehungsgeschichte und vor allem der vehemente Einsatz für seine Aufnahme in den Vertrag von Amsterdam wie auch in den Verfassungsvertrag weisen noch auf eine weitere Funktion hin. 72 Die Gefahr, die zu dem Bewusstsein führte, dass eine Kirchenklausel notwendig sei, bestand nicht darin, dass die EU eine Vereinheitlichung der staatskirchenrechtlichen Systeme angestrebt hätte, sondern dass sie in scheinbar religionsneutralen Bereichen Staatskirchenrecht mit beeinflusst hat.73 Ziel und Zweck der Vorschrift wird man daher nur dann gerecht, wenn man Auswirkungen auch auf das Staatskirchenrecht i.w.S. annimmt. Aber welcher Art sind diese Auswirkungen? Auch in diesem Bereich den Ausschluss einer EU-Kompetenz anzunehmen wäre absurd. Es würde dazu führen, dass die EU zwar grundsätzlich Kompetenzen z.B. auf dem arbeitsrechtlichen Gebiet besäße, aber nur insoweit, als ______________ 70 Grzeszick (Kirchenerklärung, 292) ist also insofern beizupflichten, als die Entwicklung eines europäischen Religionsrechts nicht die Harmonisierung der staatskirchenrechtlichen Verhältnisse zum Ziel haben darf, nicht aber wenn er meint, es dürfe auch kein eigenständiges europäisches Staatskirchenrecht geschaffen werden. 71

Z.B: Hanau / Thüsing, Arbeitsrecht, 24; Link, Staat und Kirche, 133; Robbers, Amsterdam, 395. 72

Vgl. Grzeszick, Kirchenerklärung, 145.

73

Vgl. Link, Staat und Kirche, 131.

512

H. Beziehungen unter den einzelnen Staaten und Religionsgemeinschaften

keine Kirchen oder religiösen Gemeinschaften und Vereinigungen davon betroffen sind. Für sie verbliebe die Kompetenz bei den Mitgliedstaaten, was dem gesamten europäischen Integrationsgedanken geradewegs widerspräche und auf Dauer dazu führte, dass in einem bestimmten Bereich, nämlich eben dem der Kirchen und Religionsgemeinschaften, nationales Eigenrecht bestehen bliebe, während die nationalen Rechtsordnungen sonst immer mehr aneinander angeglichen würden. Vachek zieht einen Vergleich zu Art. 295 EGV, nach welchem der EGV die Eigentumsordnung der Mitgliedstaaten unberührt lassen soll, und weist darauf hin, dass der EuGH diese Bestimmung sehr einschränkend auslegt, was bei Art. I-52 Abs. 1 VVE wohl nicht anders wäre, wenn man ihn als Bereichsausnahme interpretieren würde.74 Auch Bair zufolge schließt die Achtung der Amsterdamer Kirchenerklärung nicht aus, dass die „Kompetenzen der Union in Fragen der Bildung und Kultur, im Wirtschafts- und Arbeitsrecht oder im Steuer- und Sozialrecht auch die in einer Religionsgemeinschaft verfassten Anhänger des Islam [Bair untersucht nur diese Religion] mittel- oder unmittelbar erfassen“75. Auch Robbers scheint diese Auffassung nicht zu vertreten. Denn, wenn er in dem oben bereits zitierten Text schreibt, dass „die unbedachten, indirekten, überschießenden Auswirkungen von Kompetenzausübungen auf die mitgliedstaatlichen Verhältnisse von Staat und Kirche nunmehr weniger gefährlich sein werden“76, setzt er voraus, dass die EU weiterhin Kompetenzen in diesem Bereich besitzt. Sie werden für ihn nur „weniger gefährlich“. Leider bedient er sich hier dieser unjuristischen Ausdrucksweise, so dass nicht klar wird, was er damit genau meint. Zu erwägen wäre jedenfalls eine Rücksichtnahmepflicht der EU-Organe bei der Ausübung ihrer Kompetenzen. Die EU muss damit ihre Kompetenzen so ausüben, dass der Status der Kirchen sowie religiösen Gemeinschaften und Vereinigungen nach mitgliedstaatlichem Recht geachtet und nicht beeinträchtigt wird.77 Ein solches Rücksichtnahmegebot bedeutet nicht, ______________ 74 Vachek, Religionsrecht, 148. Zwar mag eine Bereichausnahme ursprünglich angestrebt gewesen sein, erreicht wurde sie jedoch nicht (Heinig, Religionsgesellschaften, 417). Gegen die Interpretation als Bereichsausnahme auch: Stotz, Europa, 737; ders., Bedeutung, 65; Walter, Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht, 238. Nach Streinz bringt auch das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung keine Bereichsausnahme für die Kirchen (Der Amsterdamer Vertrag, 10). Die Autoren des Verfassungsvertrags wollten bewusst keine unionsfesten Kompetenzbereiche der Mitgliedstaaten festlegen (Streinz, Kompetenzabgrenzung, 91). Daher kann man auch in Art. I-52 Abs. 1 keinen solchen erblicken. 75

Bair, Das Islamgesetz, 127.

76

Robbers, Europa und die Kirchen, 152. Vgl. auch Graulich, Bedeutung, 980.

77

Auf ein Rücksichtnahmegebot in dem weiteren Bereich des Gemeinschaftsrechts, der über den „Status“ i.e.S. hinausgeht, scheint auch Grzseszick (Kirchenerklärung, 294)

I. Die EU und das Religionsrecht der Mitgliedstaaten

513

dass Unionsrecht unanwendbar wird, sobald nationale Sondervorschriften für Religionsgemeinschaften entgegenstehen, sondern verpflichtet zu deren Berücksichtigung bei der EU-Rechtsetzung.78 An diese Interpretationsmöglichkeit kommt auch Torfs nahe heran, wenn er vorschlägt: „Obwohl die Europäische Union keine direkte Kompetenz auf dem Gebiet des Staatskirchenrechts hat, so kann sie im Rahmen ihrer Zuständigkeiten damit doch in Berührung kommen. […] Die [Kirchen-] Erklärung kann in diesem Kontext auch bedeuten, dass, wenn sich solche Fragen stellen, die Beziehungen zwischen Kirche und Staat zumindest in die Abwägung mit einbezogen werden.“79 Wenn die Kirchenerklärung aber Bestandteil des Verfassungsvertrags geworden ist, kann und muss man weiter gehen als Torfs und nicht nur an einer Pflicht zum Einbezug in die Abwägung, sondern auch an einer Pflicht zur Berücksichtigung im Ergebnis festhalten.80 Die hier vorgeschlagene Interpretation entspricht im Wesentlichen auch jener des EG-Rechtsetzers, wie sie sich in der Rechtsetzungspraxis seit dem Vertrag von Amsterdam zeigt. Im Hinblick auf die Kirchenerklärung wurden nämlich in einige Rechtsakte auf Gebieten, die auch Kirchen und Religionsgemeinschaften betreffen können, Bestimmungen eingefügt, die auf besondere mitgliedstaatliche Regelungen Rücksicht nehmen. 81 Dies war beispielsweise der Fall in Art. 4 Abs. 2 der Gleichbehandlungs-RL 2000/78/EG (vgl. Erwägungsgrund 24) und in Art. 10 Abs. 2 lit. e der Datenschutz-VO (EG) Nr. 45/2001. In welchen Fällen und in welcher Weise muss nun die EU bei ihrer Kompetenzausübung Rücksicht auf nationales Staatskirchenrecht i.w.S. nehmen? Auch dazu enthält der oben erwähnte Text von Robbers einige Hinweise: Zum einen muss die EU in den Bereichen des Staatskirchenrechts i.w.S., „soweit für diese Bereiche besondere staatskirchenrechtliche Bestimmungen bestehen“82, diese achten. Das heißt, dass die Rücksichtnahmepflicht jedenfalls dann wahrzunehmen ist, wenn ein Mitgliedstaat auf dem jeweiligen Gebiet ______________

zu schließen. Vgl. ferner Reichegger, Auswirkungen, 72; Winter, Staatskirchenrecht, 212. Sobański (Veränderungen, 103) interpretiert den Ausdruck „achten“ nicht nur negativ als Abwehrrecht gegen Eingriffe, sondern als positive Pflicht zur aktiven Rücksichtnahme. 78

Vgl. Triebel, Europa, 60.

79

Torfs, Die rechtliche Sonderstellung, 38.

80

Waldhoff (Art. I-52 VVE, Rn. 12) spricht von einer Güterabwägung im Sinne einer praktischen Konkordanz. 81

Das sind die bislang spürbarsten Auswirkungen der Kirchenerklärung (vgl. Grzeszick, Kirchenerklärung, 295; Ventura, Laicità, 244). 82

Robbers, Europa und die Kirchen, 152.

514

H. Beziehungen unter den einzelnen Staaten und Religionsgemeinschaften

Sonderregelungen für Kirchen und Religionsgemeinschaften vorsieht. Ein Vorteil dieser Interpretation liegt darin, dass die Grenze, bis zu der EU-Normen eingreifen dürfen und ab der nationale Vorschriften zu berücksichtigen sind, eindeutig bestimmt werden kann, weil relativ einfach und genau feststellbar ist, wo ein einzelner Mitgliedstaat bisher Sonderregelungen für Kirchen und Religionsgemeinschaften erlassen hat, und wo nicht. Es ist hier aber noch eine Einschränkung vorzunehmen: Es könnte nämlich auch solche Sonderbestimmungen geben, die selbst unter einen weit ausgelegten Begriff von „Status“ nicht mehr subsumierbar sind. So gehört z.B. § 5 Abs. 1 des österreichischen RelUG, der für Religionslehrer die österreichische Staatsbürgerschaft verlangt, klar zum zweiten Bereich des Staatskirchenrechts, schützt aber nicht den Status der Kirchen und Religionsgemeinschaften, die auf die Staatsbürgerschaft ohnehin wenig Wert legen, sondern vielmehr Interessen des Staates, der nur eigene Bürger als Lehrer einsetzen will. Da die genannte Bestimmung nichts mit dem Status von Kirchen und Religionsgemeinschaften zu tun hat, ist sie vom Kirchenartikel nicht geschützt und daher wegen des Verstoßes gegen die Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Art. 39 EGV EU-rechtswidrig. Es ist also eine Einschränkung zu machen, wo staatskirchenrechtliche Bestimmungen den Status von Kirchen und Religionsgemeinschaften nicht einmal indirekt betreffen, d.h. wo sie auch aufgegeben werden könnten, ohne dass sich am Status der Kirchen und Religionsgemeinschaften etwas ändern würde. Vermutlich meint auch Robbers etwas Ähnliches, wenn er noch einmal auf die aus den Sonderbestimmungen „resultierende Stellung der Religionsgemeinschaften“ 83 abstellt. Zum anderen muss eine Rücksichtnahmepflicht aber auch dann angenommen werden, wenn es zwar keine nationalen Sonderregelungen für Kirchen und Religionsgemeinschaften gibt, der Eingriff von Seiten der EU aber von solcher Art wäre, dass er auch Auswirkungen auf das nationale Staatskirchenrecht i.e.S. hätte. Dann nämlich würde der Ausschluss der staatskirchenrechtlichen Kompetenz i.e.S. unterlaufen und der Kirchenartikel könnte seine Schutzfunktion nicht mehr erfüllen. Formen, wie der EU-Rechtsetzer die Rücksichtnahmepflicht erfüllen kann, sind viele denkbar. Die oben erwähnte Gleichbehandlungs-RL belässt in Art. 4 Abs. 2 denjenigen Mitgliedstaaten, die bisher Sonderregelungen vorsahen, unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit, diese bei der Umsetzung der Richtlinie beizubehalten. Dabei bleibt es Sache des einzelnen Mit gliedstaates, zu entschieden, ob seine Sonderregelung weiter bestehen soll, oder er sich an das EU-Recht anpasst. Die ebenfalls erwähnte Datenschutz-VO enthält in Art. 10 Abs. 2 lit. e selbst eine Ausnahmebestimmung unmittelbar zugunsten von religiös ausgerichteten Organisationen ohne Erwerbszweck. Das ______________ 83

Ebd.

I. Die EU und das Religionsrecht der Mitgliedstaaten

515

ist hier vor allem deshalb von Interesse, weil es zeigt, dass der EU-Rechtsetzer der Kirchenerklärung bzw. dem Kirchenartikel auch dann gerecht werden kann, wenn er eine eigene einheitliche Sonderregelung trifft, und nicht nur dann, wenn er die Sonderregelung den Mitgliedstaaten überlässt.

e) Auswirkungen des Kirchenartikels Wenn der Kirchenartikel in den Verfassungsvertrag aufgenommen ist, wird bei einer Verletzung durch EU-Organe auch die Nichtigkeitsklage an den EuGH gemäß Art. III-365 VVE zulässig sein. Für den Fall, dass die EU sich Zuständigkeiten über das nationale Staatskirchenrecht i.e.S. anmaßt, wird als Klagegrund die äußere Unzuständigkeit mangels Verbandskompetenz in Frage kommen. Für die Fälle, dass ein EU-Organ eine vorhandene Kompetenz nicht gemäß der Rücksichtnahmepflicht ausübt, ist der Klagegrund der Vertragsverletzung zu erwägen, weil dann der angegriffene Akt gegen den höherrangigen, weil im VVE enthaltenen Art. I-52 Abs. 1 verstößt. Als privilegiert Klagebefugte kommen hauptsächlich die Mitgliedstaaten in Frage, sofern sie ihr eigenes Staatskirchenrecht erhalten wollen. Aktiv, jedoch nicht privilegiert klagebefugt sind auch Kirchen, religiöse Gemeinschaften und Vereinigungen als vom EURecht selbst erwähnte juristische Personen. 84 Dass sie dabei die Wahrung eigener Rechte geltend machen, versteht sich von selbst. Häufig werden sie bereits durch einen generellen Rechtsakt unmittelbar und individuell betroffen sein, so dass sie nicht erst eine Entscheidung abwarten müssen (vgl. Art. III-365 Abs. 4 VVE). Schließlich wäre auch ein Vorabentscheidungsverfahren nach Art. III-369 VVE denkbar, wenn die Auslegung von Art. I-52 Abs. 1 VVE oder ein unter Berücksichtigung dieser Bestimmung erlassener Rechtsakt unklar ist oder die Gültigkeit eines Organakts in Frage steht, weil er möglicherweise dem Kirchenartikel nicht gerecht wird. Das Vorabentscheidungsverfahren kann für Kirchen, religiöse Vereinigungen und Gemeinschaften vor allem dann Bedeutung erlangen, wenn ihnen mangels individueller und unmittelbarer Betroffenheit eine Nichtigkeitsklage gegen einen generellen Rechtsakt verwehrt ist. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass Art. I-52 Abs. 1 VVE für den Bereich des nationalen Staatskirchenrechts i.e.S. jede Kompetenz der EU ausschließt, für den Bereich des Staatskirchenrechts i.w.S. aber nur eine Kompetenzausübungsregel im Sinne einer Rücksichtnahmepflicht enthält. Damit sind zwei andere Interpretationsvarianten ausgeschlossen: Zum einen kann es sich beim Kirchenartikel nicht um eine Verweisungsnorm handeln. Zwar ______________ 84

Vgl. Vachek, Religionsrecht, 414.

516

H. Beziehungen unter den einzelnen Staaten und Religionsgemeinschaften

verweist er auf den Status, den Kirchen und Religionsgemeinschaften in den Mitgliedstaaten genießen, doch kann das nicht so verstanden werden, dass er nationales Staatskirchenrecht in die EU-Rechtsordnung aufnimmt, weil das aufgrund der Vielfalt der nationalen Regelungen unmöglich wäre. Es kann sich also um keine gesetzestechnische Verweisung handeln. Zum anderen ist der Kirchenartikel auch nicht bloß eine Kollisionsregel, die für die Fälle von Kollisionen zwischen EU-Recht und nationalem Staatskirchenrecht angibt, welche der beiden Rechtsordnungen wann den Vorrang genießt. Auch wenn der EU-Rechtssetzer Rechtsakte erlässt, die nationalem Staatskirchenrecht widersprechen, hätte der Rechtsanwender dann aufgrund der Kollisionsregel von sich aus den nationalen Bestimmungen den Vorrang zu geben, ohne dass ein eigenes Nichtigkeitsverfahren angestrengt werden müsste. Das würde die Rechtssicherheit aber sehr beeinträchtigen und kann auch nicht den Absichten der Schöpfer des Kirchenartikels entnommen werden. Art. I-52 Abs. 1 VVE gehört in die Reihe jener Bestimmungen, welche das nationale Recht vor Eingriffen der EU schützen. Potz sah bereits die Amsterdamer Kirchenerklärung als „eine zusammenfassende Abrundung von zwei Elementen des EU-Rechts“85, nämlich dem Subsidiaritätsprinzip und dem Achtungsanspruch der nationalen Identität. Der Kirchenartikel ist aber wesentlich präziser gefasst als etwa Art. 6 Abs. 3 EUV oder Art. 5 Abs. 2 EGV bzw. Art. 2 Abs. 2 EUV und daher ohne weiteres justiziabel und in seinen konkreten Auswirkungen leichter vorhersehbar. Gegenüber dem Subsidiaritätsprinzip hat er außerdem den Vorteil, dass das Notwendigkeits- und Effektivitätskriterium wegfällt, die Verhältnismäßigkeit nicht zu prüfen ist und die Anwendung insgesamt nicht auf nicht-ausschließliche Zuständigkeiten beschränkt ist.

f) Status quo oder Konvergenz? Der Kirchenartikel schützt zweifellos den Status quo des nationalen Staatskirchenrechts, auch wenn er ihn nicht unbedingt festschreibt. Innerhalb des Unionsrechts sind solche Bestimmungen selten, da sie dem Gedanken der europäischen Integration und der Rechtsangleichung widersprechen. Vachek stellt zurecht die Frage, ob die Beibehaltung des Status quo auch aus der Sicht der Kirchen und Religionsgemeinschaften die „Ideallösung“ sein kann, und verneint dies mit den folgenden Argumenten:86 Erstens könnte sich die Kirchenerklärung kontraproduktiv auswirken, wenn Rechtsetzungsorgane der Gemeinschaft im Sekundärrecht auf Sonderregelungen für Kirchen und Religi______________ 85

Potz, Europas Seele, 9.

86

Vachek, Religionsrecht, 150.

I. Die EU und das Religionsrecht der Mitgliedstaaten

517

onsgemeinschaften mangels Kompetenz verzichten, und der später angerufene EuGH die Unverbindlichkeit der Kirchenerklärung feststellt. Zweitens werde auch Staatskirchenrecht, das für die Kirchen und Religionsgemeinschaften selbst ungünstig und diskriminierend ist, festgeschrieben, ohne dass solche Systeme unionsrechtlich korrigiert werden könnten. Drittens verlange die fortschreitende europäische Einigung einfach auch eine Angleichung des Religionsrechts, weil sich sonst auf Unionsebene allmählich eine Laïcité herausentwickeln würde. Das erste Argument entfällt natürlich, wenn der Verfassungsvertrag in Kraft tritt, weil es die Unverbindlichkeit der Kirchenerklärung voraussetzt. Die anderen beiden Argumente sind aber weiterhin berechtigt. Hauptsächlich Robbers wendet dagegen ein, es sei trotz allem besser, die Konvergenz der staatskirchenrechtlichen Systeme in Europa, die es ohnehin gibt, den Mitgliedstaaten zu überlassen,87 auch wenn diese Konvergenz „durch die integrative Kraft der EU und der EMRK“ 88 unterstützt wird. Schließlich räumt er auch ein, dass dieser „dynamische Prozess ein statisches Modell verbietet“.89

g) Das Verhältnis von Art. I-52 Abs. 1 und Abs. 3 VVE Die Frage, ob die Kirchenerklärung „konservierend“ zu interpretieren sei, stellt sich anders, nachdem sie in Art. I-52 Abs. 1 VVE in einen völlig neuen Kontext gestellt ist. Sie steht damit nämlich in Zusammenhang mit der Dialogklausel des Art. I-52 Abs. 3. Während Abs. 1 eine defensiv-konservative Wirkung hat, besitzt Abs. 3 einen offensiven und veränderungsfreudigen Charakter.90 Brok macht darauf aufmerksam, dass im Kirchenartikel zwei sich widersprechende Wünsche der Kirchen erfüllt wurden, was selten vorkomme, weil man normalerweise verlange, sich für eines zu entscheiden. 91 Würde Abs. 1 wirklich bedeuten, dass die Europäische Union sich in religionsrechtli______________ 87

Vgl. Robbers, Verhältnis der Europäischen Union, 17; ders., Verhältnis von Staat und Kirche, 124; ders., Partner 624; ders., Europa und die Kirchen, 148. 88

Robbers, Verhältnis der Europäischen Union, 17.

89

Robbers, Amsterdam, 395. Gegen eine „zementierende“ bzw. für eine dynamische Interpretation auch: Brenner, Willensbekundung, 9; Stotz, Bedeutung, 70; Winter, Staatskirchenrecht, 212. Christians spricht erst lieber gar nicht vom Schutz eines Status quo, sondern einer „qualitate qua“ (Droit et religion dans le traité d‟Amsterdam, 215). 90

Nach Dalla Torre (Costituzione, 408) hätte man Art. I-52 Abs. 1 VVE für sich allein genommen auch im Sinne einer Laizität nach französischer Art verstehen können, nämlich so, dass die Religionsgemeinschaften vom öffentlichen Bereich der Union ferngehalten werden, was nun aber wegen Abs. 3 nicht möglich ist. 91

Brok, Politik, 11.

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H. Beziehungen unter den einzelnen Staaten und Religionsgemeinschaften

che Fragen nicht einmischen dürfte, so wäre schwer verständlich zu machen, worüber sie dann gemäß Abs. 3 einen Dialog mit den Kirchen und Religionsgemeinschaften führen sollte.92 Das Präsidium des Verfassungskonvents hat beide Aspekte bewusst in einem einzigen Kirchenartikel verbunden und diesen nicht in den Kontext mit dem Schutz der nationalen Identität (Art. I-5 Abs. 1 VVE), sondern in den Titel über das demokratische Leben der Union gestellt. 93 Damit lieferte es einen Hinweis darauf, dass Abs. 3 die ausschlaggebende Bestimmung sein soll und Abs. 1 im Lichte des neuen Kontextes zu interpretieren wäre. Der Gegensatz lässt sich aber relativ leicht auflösen, wenn man Abs. 1 für den Bereich des Staatskirchenrechts i.w.S. wie oben [Abschnitt H.I.4.d)] im Sinne einer Rücksichtnahmepflicht interpretiert. Am besten kann die Europäische Union nämlich dann auf kirchliche Belange Rücksicht nehmen, wenn sie mit den Kirchen einen Dialog führt, um ihre Bedürfnisse kennen zu lernen und gemeinsam angemessene Lösungen zu suchen. Abs. 3 wirkt sich also in der Weise auf Abs. 1 aus, dass das nationale Staatskirchenrecht nicht versteinert wird, sondern im Dialog sehr wohl angepasst werden kann, aber eben im Dialog!94 Umgekehrt wirkt sich Abs. 1 auf Abs. 3 so aus, dass er die Position der Kirchen und Religionsgemeinschaften bei der Dialogführung stärkt. 95 Wenn die Europäische Union sich nämlich im Dialog nicht zu einer Lösung bereit ______________ 92

Auch Heinig (Religionsverfassungsrecht, 182) bemerkt den Gegensatz: „Die Verpflichtung der EU zu einem strukturierten Dialog mit den religiösen Gruppierungen rechtfertigt sich nur, wenn diese von den politischen und rechtlichen Entscheidungen der Europäischen Union berührt werden können.“ Söbbeke-Krajewski (Acquis Communautaire, 287) stellt hingegen keinen Widerspruch zwischen den beiden Absätzen fest. 93

Sobald es sich nicht mehr um eine Erklärung in den Schlussakten handelt, bedarf sie keines Bezugspunktes in den Verträgen mehr, wie es Art. 6 Abs. 3 EUV war, sondern ist eine selbständige Bestimmung. Der Schutz des nationalen Status der Kirchen und Religionsgemeinschaften ist daher nicht mehr auf solche Fälle beschränkt, wo es gleichzeitig um die nationale Identität geht. Heinig (ebd.) nimmt die Platzierung der Norm durch das Konventspräsidium zu wenig ernst, wenn er meint, sie stehe weiterhin im Kontext der Achtung der nationalen Identität. 94

So sah Robbers (Europa und die Kirchen, 152) bereits den Zweck der Kirchenerklärung nicht darin, einzelne Verhältnisse zu perpetuieren. Wenn aber Änderungen gewollt sind, so sollen sie nicht auf Umwegen, sondern offen und bewusst vorgenommen werden im Gespräch mit allen Betroffenen. 95

Nach Stotz (Bedeutung, 69) kann die Europäische Union die Verpflichtung, den Status der Kirchen nicht zu beeinträchtigen, nur dann einlösen, wenn sie die Kirchen in den relevanten Bereichen umfassend am gemeinschaftlichen Legislativverfahren beteiligt und ihnen Gelegenheit gibt, zu den aus ihrer Sicht konfliktträchtigen Sachverhalten Stellung zu beziehen.

I. Die EU und das Religionsrecht der Mitgliedstaaten

519

findet, die von den Kirchen und Religionsgemeinschaften akzeptiert wird, so können diese unter Berufung auf Abs. 1 darauf beharren, dass ihre bisherige nationale Rechtsstellung erhalten bleibt, und damit eine Neuregelung blockieren. Auf diese Weise können sie im religiösen Dialog in manchen Fällen de facto sogar eine Art Zustimmungsrecht erhalten [vgl. oben Abschnitt F.I.1.]. Gewiss verlangt die Dialogbestimmung des Abs. 3 grundsätzlich nicht mehr, als die Rechtsetzungsprojekte, die Kirchen und Religionsgemeinschaften betreffen, mit diesen abzustimmen. Sie müssen gehört werden, können darüber hinaus aber keinen Einfluss nehmen. Zustimmen müssen eigentlich die Fachminister der Mitgliedstaaten nach den jeweiligen Mehrheitserfordernissen im Rat. Ebenso schützt auch Abs. 1 in erster Linie zwar die Mitgliedstaaten – genauer gesagt: ihre religionsrechtlichen Regelungen – und damit nur indirekt auch die Kirchen und Religionsgemeinschaften selbst. Dennoch sind auch diese Schutzobjekt. Eine Lösung anstehender Probleme wird im direkten Dialog mit den Kirchen und Religionsgemeinschaften mitunter leichter zu finden sein, als bei den Verhandlungen zwischen Vertretern der immer zahlreicher und inhomogener werdenden Mitgliedstaaten.96 Überdies wird eine solche Lösung meist sachgerechter sein, weil sie die fachkundigen und unmittelbar betroffenen Akteure einbezieht, während die Mitgliedstaaten oft ganz andere Interessen verfolgen oder sie für ihre eigenen Strategien verzwecken. Es nützt der Europäischen Union wenig, mit der Begründung, dass der Dialog kein Zustimmungsrecht verleihe, einen Rechtsakt zu setzen, der das Vorbringen der Kirchen und Religionsgemeinschaften nicht einbezieht und damit deren nach Abs. 1 geschützte nationale Rechtspositionen verletzt, denn ein solcher Rechtsakt kann von ihnen hernach mit einer Klage beim EuGH bekämpft werden [oben Abschnitt H.I.4.e)]. Um dies zu vermeiden, erscheint es auf jeden Fall klüger, von vornherein eine Lösung zu wählen, der die Kirchen und Religionsgemeinschaften zustimmen. Damit ist Abs. 1 mehr als nur eine Argumentationshilfe für die Kirchen im religiösen Dialog mit den europäischen Instanzen. 97

5. EU-Religionsrecht und die Beziehungen unter den Staaten Die vorangegangenen Abschnitte befassten sich mit dem Verhältnis zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten unter dem Aspekt der Religion. Das religionsrelevante Recht der EU beeinflusst aber auch die Bezie______________ 96

Das ist jedenfalls die Erfahrung im sozialen Dialog: Ferrante, Sviluppi, 218; Pitschas / Peters, Rolle, 69. 97

Heinig sieht die Hauptbedeutung der Kirchenerklärung von Amsterdam in einer solchen „Argumentationshilfe“ (Tradition, 304).

520

H. Beziehungen unter den einzelnen Staaten und Religionsgemeinschaften

hungen unter den Mitgliedstaaten, soweit sie mit religiösen Angelegenheiten zu tun haben. Dies soll im Folgenden vor allem anhand der Auswirkungen der Ehe-VO (EG) Nr. 2201/2003 dargestellt werden. Ein Hauptzweck der Ehe-VO besteht darin, dass alle Entscheidungen in Ehesachen, die in einem Mitgliedstaat ergangen sind und die Ungültigkeit, Scheidung oder Trennung einer Ehe aussprechen, ohne weiteres auch von allen anderen Mitgliedstaaten außer Dänemark anerkannt werden müssen. Nun sprechen die EU-Mitgliedstaaten Italien, Malta, Portugal und Spanien aufgrund ihrer Konkordate nicht nur der kirchlichen Eheschließung Wirkung im zivilen Bereich zu, sondern sie erkennen auch die Nichtigkeitsurteile an, die von kirchlichen Gerichten über derartige Konkordatsehen gefällt wurden. Art. 63 Ehe-VO bekräftigt die automatische unionsweite Anerkennung auch für solche Nichtigkeitsurteile, sofern sie die allgemeinen Voraussetzungen erfüllen, die auch für staatliche Urteile gelten. Das heißt, dass auch ein Staat wie das laizistische Frankreich, der nach seinen eigenen Prinzipien kirchliche Urteile nicht anerkennt, solche Urteile ohne Nachprüfungsverfahren anerkennen muss, wenn sie bereits von einem der genannten vier Mitgliedstaaten aufgrund des jeweiligen Konkordats anerkannt worden sind. 98 Es steht also außer Zweifel, dass die gemeinschaftsrechtliche Ehe-VO in dieser religionsrechtlichen Frage tatsächlich Auswirkungen auch auf die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten hat. Damit aber nicht genug! Ein Staat, der nach seiner eigenen Rechtsordnung keine kirchlichen Ehenichtigkeitsurteile anerkennt, ist nicht nur verpflichtet, solche anzuerkennen, wenn sie aus einem der vier genannten Staaten stammen, sondern in bestimmen Konstellationen sogar dann, wenn sie von einem Kirchengericht auf seinem eigenen Territorium gefällt worden sind. In den achtziger Jahren spielte in Deutschland der Fall eines italienischen Ehepaares, das in Italien eine staatlich anerkannte „Konkordatsehe“ geschlossen hatte, dann nach Mannheim gezogen war und sich nun trennen wollte. 99 Es erlangte ein letztinstanzliches Nichtigkeitsurteil vom erzbischöflichen Gericht Köln, das aufgrund einer Bestätigung durch die Apostolische Signatur von der Corte d’Appello di Bari auch für den zivilen Bereich in Italien für wirksam erklärt wurde. Ein Partner beantragte nun bei einem deutschen Gericht die Scheidung der Ehe; der andere hielt dem entgegen, die Sache sei bereits entschieden. Das Justizministerium von Baden-Württemberg entschied aufgrund von Art. 17 Abs. 2 EGBGB, dass im Gebiet der BRD eine Ehe nur durch Urteil eines deutschen Gerichts geschieden oder für nichtig erklärt werden könne und dass Entscheidungen von Kirchengerichten in Deutschland selbst dann nicht anerkannt werden könnten, wenn sie Ausländer beträfen; die italienische Vollstreckbarerklärung sei ein ______________ 98

Vgl. Berkmann, Ehe, 150.

99

Quelle: IPRax 10 (1990) 50f.

I. Die EU und das Religionsrecht der Mitgliedstaaten

521

reiner Formalakt, der das kirchliche Urteil nicht zu einer anerkennungsfähigen ausländischen Entscheidung mache.100 Inzwischen hat sich die Rechtslage insofern geändert, als Deutschland aufgrund von Art. 63 Ehe-VO heute die Anerkennung des von Italien bestätigten kirchlichen Ehenichtigkeitsurteils auf keinen Fall mehr verweigern dürfte.101 Dabei ist unerheblich, ob das erkennende kirchliche Gericht seinen Sitz im Konkordatsstaat oder im anerkennenden Staat hat, solange die betroffene Ehe eine so genannte „Konkordatsehe“ ist, die gemäß einem der in Art. 63 Ehe-VO genannten Konkordate geschlossen und deren kirchliche Nichtigerklärung vom entsprechenden Konkordatsstaat anerkannt wurde. Es gibt also Konstellationen, in denen ein Mitgliedstaat entgegen seiner üblichen Rechtspraxis kirchliche Rechtsakte, die auf seinem eigenen Territorium erlassen wurden, aufgrund einer gemeinschaftsrechtlichen Regelung anerkennen muss, wenn bereits ein anderer Mitgliedstaat sie anerkannt hat. Ein weiteres Beispiel kann in den theologischen Abschlüssen kirchlicher Hochschulen gefunden werden. Die RL 2005/36/EG verpflichtet die Mitgliedstaaten, entsprechende Abschlüsse gegenseitig anzuerkennen. Nun erkennt aber beispielsweise Frankreich – mit Ausnahme der Fakultät für katholische Theologie in Straßburg – theologische Abschlüsse der kirchlichen Hochschulen auf dem eigenen Territorium nicht an. Dennoch darf Frankreich theologischen Abschlüssen aus Mitgliedstaaten, wo diese staatliche Wirkung entfalten, die Anerkennung nicht versagen. Ja mehr noch: Es genügt, wie Willaime102 erwägt, dass eine konfessionelle Hochschule in Frankreich sich mit einer ausländischen, deren Abschlüsse staatlich anerkannt werden – wie z.B. die katholische Universität von Leuven in Belgien –, gut versteht, so dass die eigenen Grade auch in Frankreich staatlich anerkannt werden müssen. Voraussetzung dafür ist aber, dass der kirchliche Abschluss aus Frankreich über Vermittlung der belgischen Universität in Belgien staatlich anerkannt wird und als solcher dann wieder nach Frankreich zurückwirkt. ______________ 100

Ministerium für Justiz, Bundes- und Europaangelegenheiten Baden-Württemberg, Entscheidung vom 22.4.1987, Nr. 346 E 392/86, in: IPrax 10 (1990) 50f. 101

Vgl. Berkmann, Ehe, 156; Helms, Anerkennung, 259; Spellenberg, Anwendungsbereich, 436. 102

Vgl. Willaime, Églises, 156. Nach Loretan lassen sich theologische Fakultäten an den staatlichen Universitäten Europas auch in Zukunft im Rahmen des Verhältnisses von Staat, Gesellschaft und Religion rational begründen (Fakultäten, 1030), während ihr Ausschluss, wie er im Großteil Frankreichs praktiziert wird, weder der institutionellen Religionsfreiheit noch dem sozialstaatlichen Diskriminierungsverbot entspricht (ebd. 1023).

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H. Beziehungen unter den einzelnen Staaten und Religionsgemeinschaften

Gewiss sind noch weitere Beispiele denkbar bzw. werden weitere Beispiele bei fortschreitender Rechtsetzungstätigkeit der Europäischen Union hinzukommen. Zu erwägen wäre etwa auch der Fall, dass ein Staat einer religiösen Gruppe die Anerkennung in einer bestimmten Rechtsform verweigert, ein anderer sie aber gewährt und sie nun im Wege der Niederlassungsfreiheit bzw. des europäischen Gesellschaftsrechts doch auch vom ersten Staat akzeptiert werden muss.103 Diesen Anerkennungs-Rückwirkungs-Konstellationen ist gemeinsam, dass ein kirchlicher Rechtsakt von dem Staat, in dem er erlassen wurde, normalerweise nicht anerkannt wird, sehr wohl aber von einem anderen, dessen Anerkennung nun aufgrund einer EG-Vorschrift auf den Ursprungsstaat zurückwirkt, so dass auch er zur Anerkennung verpflichtet ist. Für die Kirchen und Religionsgemeinschaften sind solche Konstellationen günstig, weil damit gewisse Sonderstellungen, die nur von wenigen Mitgliedstaaten gewährt werden, unter bestimmten Umständen auf das ganze Unionsgebiet ausgedehnt werden können. Das Unionsrecht hilft dabei, eine Bresche in staatliche Rechtsordnungen zu schlagen, die sich gegenüber religiösem Recht abzuschotten versuchen.

II. Die Konkordate der Mitgliedstaaten und das EU-Recht 1. Die Verbreitung konkordatärer Systeme in der EU Da viele Mitgliedstaaten der Europäischen Union ihr Verhältnis zur katholischen Kirche mittels Konkordat geregelt haben, ist in diesem Kapitel eigens zu prüfen, wie das EU-Recht sich darauf auswirkt, ob es die Konkordate bestehen lässt und ob weiterhin Konkordatsschlüsse möglich sind. In der Tat wählte die Mehrzahl, nämlich 16 der 25 EU-Mitgliedstaaten, zur Regelung ihres Verhältnisses mit der katholischen Kirche das Instrument des Konkordats, wobei in Deutschland noch die Konkordate der einzelnen Bundesländer hinzukommen. Einige Staaten beschritten den Weg des klassischen Konkordats, mit dem in einem einzigen Rechtsakt das gesamte gegenseitige Verhältnis geregelt wird (z.B: Österreich, Polen); andere entschieden sich für ein Bündel von nacheinander abgeschlossenen Verträgen über einzelne Aspekte, die zusammen aber doch fast den gesamten Bereich abdecken (z.B: Malta, Ungarn); wieder andere regelten nur einzelne Fragen in Form eines völkerrechtlichen Vertrags (z.B: Estland, Schweden, Slowenien).104 Die Zahl der konkordatären Systeme in ______________ 103

Für Robbers ist es schon faktisch schwer möglich, einer Gemeinschaft den religiösen Charakter abzusprechen, die in einem anderen Mitgliedstaat als Religionsgemeinschaft anerkannt ist (Verhältnis der Europäischen Union, 13). 104

Vgl. Corral / Elmisi Ilari, Universalità, 114f.

II. Die Konkordate der Mitgliedstaaten und das EU-Recht

523

Europa hat in den letzten zehn Jahren stark zugenommen. Die mittel- und osteuropäischen Staaten sowie die neuen deutschen Bundesländer, die nach der Wende die Chance erhielten, ihr Verhältnis zur Kirche neu zu ordnen, entschieden sich fast durchgehend für ein konkordatäres System. 105 Von den am 1.5.2004 beigetretenen Staaten, die ehemals kommunistisch waren, fehlt nur noch Tschechien.106 Im Westen erfuhr dieses System dadurch eine Bestätigung, dass Konkordate dort, wo sie schon eine lange Tradition hatten, erneuert und den Herausforderungen der Zeit angepasst wurden (z.B. Spanien 1979, Italien 1984, Portugal 2004); es kamen aber auch neue hinzu, wo es bisher keine gab (z.B. Bundesland Bremen 2003). Im Vergleich zu anderen Kontinenten weist Europa eine hohe Dichte an Konkordatsstaaten auf, so dass man dieses System als zur Eigenart des europäischen Religionsrechts gehörig betrachten könnte. 107 Die folgende Zusammenstellung kann nur einen groben Überblick bieten 108: Deutschland (Reichskonkordat 1933)*, Estland (1998)*, Frankreich109 (1801)*, Italien (1984), Lettland (2002)*, Litauen (2000)*, Luxemburg (1801)*, Malta (1985-1993)*, Österreich (1933)*, Polen (1993)*, Portugal (2004), Schweden (2001), Slowakei (2000)*, Slowenien (2001)*, Spanien (1979), Ungarn (19941998)*; deutsche Länderkonkordate: Baden (1932)*, Bayern (1924)*, Berlin (1970-1990), Brandenburg (2003), Bremen (2003), Mecklenburg-Vorpommern (1997), Niedersachsen (1965), Nordrhein-Westfalen (1956)*, Preußen (1929)*, Rheinland-Pfalz (1969), Saarland (1985), Sachsen (1996), Sachsen-Anhalt (1998), Thüringen (1997).

______________ 105

Vgl. Erdö, Concordato, 47f; Schanda, Staatskirchenrecht, 800.

106

Hier ist ein Konkordat bereits ausgearbeitet und unterzeichnet, aber vom Parlament abgelehnt worden. Möglicherweise wird zu einem günstigeren Zeitpunkt noch einmal darüber abgestimmt (vgl. Tretera, Czech Republic, 42). 107

Vgl. Astorri, Accordi, 26; Migliore, Relazioni, 376.

108

Die Jahreszahl bezieht sich auf die Unterzeichnung. Wo ein Bündel von Einzelverträgen abgeschlossen wurde, ist der gesamte Zeitraum angegeben. Novellierungen blieben unberücksichtigt. Mit Asteriskus (*) sind jene Konkordate bezeichnet, die vor der Gründung der Europäischen Gemeinschaft bzw. vor dem Beitritt des jeweiligen Staates abgeschlossen wurden. Quellen: Listl, Konkordat, 596-598; Martín de Agar, Raccolta; Rees, Konkordate, 130. 109 Das Konkordat gilt nur für die départements Bas-Rhin, Haut-Rhin und Moselle. Verhandlungen über ein Konkordat für ganz Frankreich scheiterten 1957 (vgl. Vecchi, L‟evoluzione, 341).

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H. Beziehungen unter den einzelnen Staaten und Religionsgemeinschaften

2. Konkordate als Altverträge Wo es zu Kollisionen zwischen Konkordatsrecht und EG-Recht kommt, erhebt sich die Frage, welche der beiden Rechtsmaterien den Vorrang genießt. Es handelt sich um das Problem zweier von ein und demselben Staat nacheinander mit verschiedenen Völkerrechtsubjekten abgeschlossener Verträge, nämlich des Konkordats und des EGV, deren sachlicher Geltungsbereich sich teilweise deckt, deren Regelungsinhalte aber nicht immer miteinander vereinbar sind. Da zwei völkerrechtliche Verträge betroffen sind, ist der Konflikt mit den Mitteln des Völkervertragsrechts zu lösen. 110 Der allgemeine Rechtsgrundsatz „pacta sunt servanda“ (Art. 26 WVK I) schützt die Einhaltung einmal eingegangener Verpflichtungen, und nach dem Grundsatz „pacta tertiis nec nocent nec prosunt“ (Art. 34 WVK I) können durch einen Vertragsschluss für einen Dritten ohne dessen Zustimmung weder Rechte noch Pflichten begründet werden. Demzufolge kann die Rechtsstellung der Kirche nicht dadurch berührt werden, dass der Konkordatsstaat durch den EGV Verpflichtungen gegenüber den anderen Mitgliedstaaten bzw. der Gemeinschaft übernommen hat. In gleicher Weise können aber auch diese gegenüber dem Konkordatsstaat unter Berufung auf die pacta-tertiis-Regel einwenden, dass das Konkordat sie als Dritte nicht berühre. Da sich der Konflikt mit dieser Regel nicht lösen lässt, 111 träte gegenüber dem Staat, der beide Verträge nicht gleichzeitig erfüllen kann, Staatenverantwortlichkeit ein (Art. 30 Abs. 5 WVK). Hier trifft aber der EGV selbst Vorsorge, indem er in Art. 307 Abs. 1 auch für das Innenverhältnis112 zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten anordnet, dass Rechte und Pflichten aus jenen Übereinkünften unberührt bleiben, die ein Gründungsmitglied vor dem 1.1.1958 oder ein später beigetretenes Mitglied vor dem Zeitpunkt seines Beitritts mit einem oder mehreren dritten Ländern geschlossen hat.113 Solche Übereinkünfte werden „Altverträge“ genannt. Damit die Mitgliedstaaten ihre ______________ 110

Die Wiener Vertragsrechtskonvention vom 23.5.1969 betrifft zwar nur Verträge zwischen Staaten (Art. 1), kann jedoch analog auch auf Verträge von Staaten mit dem Heiligen Stuhl angewandt werden, zumal dieser der Konvention beigetreten ist. Voraussetzung dafür ist aber, dass das jeweilige Konkordat erst abgeschlossen wurde, nachdem die Konvention für beide Vertragspartner in Kraft getreten ist (Art. 4). In den anderen Fällen sind ihre Bestimmungen nur insoweit maßgeblich, als es sich um Konkretisierungen des Völkergewohnheitsrechts handelt. 111

Letztlich bieten weder das Völkergewohnheitsrecht noch die WVK taugliche Instrumente, um Normkonflikten zwischen völkerrechtlichen Verträgen Herr zu werden (vgl. Matz, Koordinierung, 392). 112 113

Schmalenbach, Art. 307 EGV, Rn. 1.

Außerdem verweisen die jeweiligen Beitrittsakten auf Art. 307 EGV. Vgl. Petersmann / Spennemann, Art. 307 EGV, Rn. 1.

II. Die Konkordate der Mitgliedstaaten und das EU-Recht

525

Pflichten aus Altverträgen tatsächlich weiterhin erfüllen können, muss Art. 307 Abs. 1 EGV dem EuGH zufolge stillschweigend auch eine Verpflichtung der Gemeinschaft enthalten, sie daran nicht zu hindern, doch darüber hinaus besteht keine Bindung der Gemeinschaft gegenüber dem dritten Vertragspartner.114 Es ist demnach bei jedem Konkordat zu prüfen, ob der jeweilige Konkordatsstaat es vor der Gründung der EG bzw. vor seinem Beitritt geschlossen hat. Aber ist Art. 307 Abs. 1 EGV auf Konkordate überhaupt anwendbar? Buonomo bestreitet dies, da die Konkordate inhaltlich einen Bereich betreffen, der nach der Erklärung Nr. 11 der Schlussakte zum Vertrag von Amsterdam den Mitgliedstaaten vorbehalten ist.115 Nach der hier vertretenen Auffassung [oben Abschnitt H.I.4.e)] begründet diese Erklärung aber, selbst wenn sie normative Rechtskraft besäße, keine Bereichsausnahme und lässt nicht wenige Berührungspunkte von Kirche und Europäischer Gemeinschaft bestehen. Auch Heinig bestreitet die Anwendbarkeit von Art. 307 Abs. 1 EGV auf Konkordate, jedoch aus einem anderen Grund und mit anderen Konsequenzen. Er stützt sich nämlich darauf, dass nach dem Wortlaut nur Verträge mit dritten Ländern erfasst sind, der Heilige Stuhl aber nicht für ein Land kontrahiert, wenn er für die Kirche und nicht etwa für den Staat der Vatikanstadt tätig wird. Er führt dazu vier Argumente ins Treffen:116 Erstens ordnet Art. 63 Ehe-VO (EG) Nr. 2201/2003 an, dass Ehenichtigkeitsurteile kirchlicher Gerichte, die von Italien, Malta, Portugal oder Spanien aufgrund der jeweiligen Konkordate staatlich anerkannt werden, wie andere mitgliedstaatliche Entscheidungen in Ehesachen unionsweit anzuerkennen sind. Dieser Anordnung bedürfte es aber nicht, wenn die Konkordate ohnehin unter Art. 307 Abs. 1 EGV fielen. Dagegen ist aber einzuwenden, dass der Rechtsetzer oft einfach noch einmal etwas ausdrücklich klar stellen möchte, was man auch sonst bereits indirekt erschließen könnte. Vor allem aber besteht die ratio legis von Art. 63 Ehe-VO gar nicht darin, einzelne konkordatäre Bestimmungen für die Konkordatsstaaten weiter gelten zu lassen, als ob sie das sonst nicht ohnehin schon täten. Vielmehr bezweckt diese Bestimmung, dass nun auch die anderen Mitgliedstaaten kirchliche Urteile die diesen Konkordaten entsprechend ergangen sind, anerkennen müssen, so dass der Wirkungsbereich der Konkordate in gewisser Weise sogar ausgedehnt wird.117 Zweitens wäre Art. 307 Abs. 1 EGV nach der Meinung Heinigs als Ausnahme von der Geltung des Europarechts restriktiv zu interpretieren und der Wortlaut „Land“ daher nicht auf alle Völkerrechtssubjekte auszudehnen. Abgesehen davon, dass Art. 307 Abs. 1 EGV die Geltung des ______________ 114

EuGH, Rs. 812/79, Burgoa, Rn. 9.

115

Buonomo, L‟Unione Europea, 363.

116

Heinig, Religionsgesellschaften, 491-493.

117

Berkmann, Ehe, 154.

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H. Beziehungen unter den einzelnen Staaten und Religionsgemeinschaften

Europarechts aber überhaupt nicht einschränkt, sondern den betroffenen Mitgliedstaat nur von der Pflicht entbindet, es einzuhalten, 118 würde es eine ungerechtfertigte Diskriminierung bedeuten, nur einer bestimmten Kategorie von Völkerrechtssubjekten Schutz zu gewähren. Die Auslegung des Ausdrucks „Länder“ wird unten noch genauer zu entfalten sein. Drittens bejaht Heinig zwar, dass der völkerrechtliche Grundsatz „pacta tertiis nec nocent nec prosunt“ auch Konkordate schütze, doch sei das Europarecht als supranationales Recht dem Völkerrecht entwachsen, wenngleich es ihn ihm gründe, und könne den genannten Grundsatz daher auch bloß in begrenzter Weise, also nur im Hinblick auf „Länder“, spezifizieren. Hier unterscheidet Heinig jedoch nicht zwischen dem Binnenverhältnis von Gemeinschaft und Mitgliedstaaten und ihrem Außenverhältnis. Denn nur für die internen Beziehungen hat das EGRecht das Völkerrecht weitgehend verdrängt, doch bleibt dieses für die externen Beziehungen – und um solche handelt es sich in Bezug auf den Heiligen Stuhl – in vollem Umfang in Geltung. 119 Die EG und ihre Mitgliedstaaten verlören sehr schnell das internationale Vertrauen, wenn sie sich über völkerrechtliche Regeln einfach hinwegsetzen würden. 120 Viertens meint Heinig, Art. 307 Abs. 1 EGV schütze nur völkerrechtlich souveräne Staaten, die in einem Gleichordnungsverhältnis zum betreffenden Mitgliedstaat stünden, nicht aber den Heiligen Stuhl, da kirchliche Einrichtungen der Hoheit und dem Gesetz des jeweiligen Staates unterstellt seien. Dieses Argument scheitert jedoch an der Gleichsetzung von Einrichtungen der katholischen Kirche mit dem Heiligen Stuhl. Zweifellos unterstehen die Caritas und kirchliche Schulen auch der Hoheit des jeweiligen Staates, aber sie sind eben nicht der Heilige Stuhl. Dieser hingegen ist nun einmal Völkerrechtssubjekt und beteiligt sich am internationalen Verkehr mit anderen Akteuren, die – was eine strukturelle Voraussetzung der gegenwärtigen Völkerrechtsordnung darstellt – wenigstens formell alle gleichberechtigt sind. Schließlich muss Heinig aber selbst einräumen, dass man unter Berücksichtigung des allgemeinen Völkerrechts auch zu einem anderen Interpretationsergebnis kommen kann.121 Eine angemessene Interpretation wird selbstverständlich beim Ausdruck „Land“ ansetzen, nach Sinn und Zweck der Norm fragen und die Rechtspre______________ 118 EG-Recht kann wirksam im Widerspruch zu Altverträgen gesetzt, nur nicht durchgesetzt werden (Petersmann / Spennemann, Art. 307 EGV, Rn. 12). 119

Oppermann, Europarecht, § 7 Rn. 16f. Die EG nimmt am völkerrechtlichen Verkehr teil und ist somit auch der Völkerrechtsordnung unterworfen (Fischer, Rechtsgemeinschaft, 19). 120

Dass Art. 307 Abs. 1 EGV völkerrechtlichen Grundsätzen entspricht, wurde vom EuGH mehrfach bekräftigt: Rs. C-324/93, Evans, Rn. 27, C-124/95, Centro, Rn. 56. 121

Heinig, Religionsgesellschaften, 493.

II. Die Konkordate der Mitgliedstaaten und das EU-Recht

527

chung des EuGH berücksichtigen. Zunächst ist festzustellen, dass es streng genommen überhaupt keine Kategorie von Völkerrechtssubjekten gibt, die als „Länder“ bezeichnet wird. Auch andere Sprachfassungen verwenden nicht „Staat“, sondern „third countries“ (englisch), „tredjelande“ (dänisch) usw. „Länder“ muss hier also von vornherein weit verstanden werden, um überhaupt eine völkerrechtliche Bedeutung zu erhalten, die es nach dem Zusammenhang haben muss. Eine Reihe anderer Sprachen hingegen verwendet „États“ (französisch), „estados“ (spanisch) usw., also den völkerrechtlichen terminus technicus. Das deutet darauf hin, dass auch in den erstgenannten Sprachen eigentlich „Staaten“ gemeint sind, doch darf nicht eine Sprachversion allein verabsolutiert werden. Selbst wenn der Wortlaut aber einheitlich wäre, so hieße das noch nicht, dass er eng auszulegen wäre. Der EuGH zieht die teleologische Interpretation der Wortinterpretation vor, insbesondere wenn die Sprachfassungen divergieren. Sinn und Zweck der Norm ist es aber offensichtlich, den Mitgliedstaaten die Einhaltung völkervertraglicher Verpflichtungen zu ermöglichen und damit die dritten Vertragspartner zu schützen. Es wäre nicht zu rechtfertigen, diesen Schutz auf eine bestimmte Kategorie von Vertragspartnern zu beschränken.122 Die Norm basiert auf völkerrechtlichen Regeln, die sich unbestritten auf alle Arten von Völkerrechtssubjekten beziehen und deren persönlicher Geltungsbereich nicht einseitig durch EG-Recht begrenzt werden kann. Art. 307 Abs. 1 erwähnt nicht einmal die IO, die niemand ernsthaft ausklammern wird. Der EuGH bestätigte, dass es sich um eine „Vorschrift von allgemeiner Tragweite“ handelt, die unabhängig von dem in ihr geregelten Gegenstand „für alle internationalen Übereinkünfte, die sich auf die Anwendung des Vertrags auswirken können“, gilt.123 Nun sind Konkordate zweifellos internationale Übereinkünfte,124 und sie können in einigen Punkten auch den Anwendungsbereich des Vertrags berühren,125 so dass auch sie von Art. 307 Abs. 1 EGV geschützt sind.126 In jenen Punkten hingegen, wo es nicht zu Kollisionen ______________ 122

Nach Schäfer ist das Vertrauen des Heiligen Stuhls genauso durch Art. 307 EGV zu schützen wie das von Drittstaaten Schäfer, Arbeitsrecht, 67. 123

EuGH, Rs. 812/79, Burgoa, Rn. 6. Zustimmend Petersmann / Spennemann, Art. 307 EGV, Rn. 1. Den Begriff „dritte Länder“, der auch in den Art. 60 und 301 EGV vorkommt, legte das EuG jüngst sogar so weit aus, dass selbst Privatpersonen und Organisationen, die einem Mitgliedstaat angehören, darunter fallen: Rs. T-306/01, Yusuf und Barakaat, Rn. 166. 124

Der EG-Rechtsetzer selbst hat sie in Art. 63 Ehe-VO als solche deklariert.

125

Dieses letzte Element in der Definition des EuGH wäre gar nicht nötig, denn wo es keine Auswirkungen auf die Anwendung des Vertrags gibt, entstehen auch keine Vertragskollisionen, die Art. 307 EGV ja lösen will. 126

Zu diesem Ergebnis kommt unter Hinweis auf die ratio legis auch Vachek, Religionsrecht, 280. Weitere Autoren: Barberini, Saint-Siège, 214; Bleckmann, Religionsfrei-

528

H. Beziehungen unter den einzelnen Staaten und Religionsgemeinschaften

kommt, weil die Konkordate etwas regeln, was gar nicht in den Anwendungsbereich des EGV fällt, ist die Weitergeltung unproblematisch und auch von der Gemeinschaft selbst zu beachten.127

3. Der Schutz von Altverträgen Nun schützt Art. 307 Abs. 1 EGV aber nicht schlechthin alle Konkordate, sondern nur jene, die so genannte „Altverträge“ sind. Konkordate mit Gründungsmitgliedern müssen daher vor Inkrafttreten des EGV am 1.1.1958 geschlossen worden sein, Konkordate mit später beigetretenen Mitgliedstaaten hingegen vor dem jeweiligen Beitritt. Nur etwa die Hälfte der Konkordate auf dem Gebiet der EG sind „Altverträge“ [Zusammenstellung Abschnitt H.II.1.]. Die Konkordate mit den neuen deutschen Bundesländern sind allesamt „Neuverträge“, da sie nach der deutschen Wiedervereinigung geschlossen wurden, mit der auch das Recht der EG für sie gilt. 128 Kokott zufolge müssen Altverträge vor der jeweiligen Zeitgrenze nicht nur unterzeichnet, sondern auch ratifiziert und in Kraft getreten sein.129 Bleiben Altkonkordate von Art. 307 Abs. 1 EGV auch gedeckt, wenn sie novelliert werden, oder verlieren sie dadurch ihren Schutz? Der EG-Rechtsetzer selbst betrachtet den Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und Italien vom 18.2.1984 lediglich als Änderung des Laterankonkordats vom 11.2.1929, das weiter fortbesteht (vgl. Art. 63 Abs. 3 lit. a Ehe-VO). In Wirklichkeit brachte der genannte Vertrag aber weitreichende Umgestaltungen und erklärt selbst alle Bestimmungen des Laterankonkordats, die er nicht in sich aufgenommen hat, für aufgehoben (Art. 13 Abs. 1). Wenn man von einem Altvertrag nur die ______________

heit, 46; Costamagna, Unione, 118; Haedrich, Verhältnis, 77; Hollerbach, Europa, 275; Oppermann, Europarecht², Rn. 208; Robbers, Kirchen, 185; Turowski, Staatskirchenrecht, 8. 127

So erkannte der EuGH im Urteil Cendoya die Geltung des spanischen Konkordats ohne weiteres an. Er stellte allein fest, dass die in Frage kommende konkordatäre Regelung nicht deckt, was der Beschwerdeführer im konkreten Fall vorgebracht hat (Rs. C-108/88, Rn. 18). 128

Art. 10 Deutscher Einigungsvertrag vom 31.8.1990, in: DtBGBl II 1990, 889; vgl. Vachek, Religionsrecht, 280. 129

Kokott, Art. 307 EGV, Rn. 1. Dafür spricht, dass der in Art. 307 Abs. 1 EGV genannte Termin, nämlich der 1.1.1958, das Inkrafttretedatum des EGV bezeichnet, und dann wohl auch für die geschützten Verträge das Inkrafttreten zu fordern ist. Dagegen spricht jedoch, dass der Text eines Vertrags bereits bei der Unterzeichnung endgültig fixiert ist, dass bis zur Ratifikation das Frustrationsverbot besteht und danach ohnehin keine Änderungen mehr vorgenommen werden können.

II. Die Konkordate der Mitgliedstaaten und das EU-Recht

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„formale Hülle“ beibehält, um in den Genuss von Art. 307 Abs. 1 EGV zu kommen, den Inhalt jedoch tief greifend verändert, so kann man sich nicht mehr auf diese Bestimmung berufen, deren Schutzzweck damit klar überschritten würde. Zur Beurteilung, ob eine Novellierung einen Altvertrag umwandelt oder ersetzt, legt der EuGH keine formale, sondern eine materielle Betrachtungsweise an, die darauf abstellt, ob die Änderung inhaltlich eine neue Rechtslage, insbesondere neue Verpflichtungen zwischen den Vertragsparteien entstehen ließ.130 Wenn nun aus diesen Gründen das italienische Konkordat nicht mehr als Altvertrag zu werten ist, so bedeutet dies noch nicht, dass es in jeder Hinsicht wie ein Neuvertrag zu behandeln wäre. Seit 1984 erfuhr die Europäische Gemeinschaft nämlich beträchtliche Kompetenzzuwächse, so dass sie heute auf völlig neuen Gebieten Recht setzend tätig wird, auf die bei Vertragschluss noch keine Rücksicht genommen werden musste. In solchen Fällen wendet die herrschende Lehre131 Art. 307 Abs. 1 EGV analog an, da die Mitgliedstaaten ähnlich wie bei Gründung bzw. Beitritt auch durch eine Vertragsänderung Kompetenzen auf die Gemeinschaft übertragen können und damit zuvor geschlossene Drittverträge in gleicher Weise schutzwürdig werden, sofern die Kompetenzzuwächse bei Vertragsschluss noch nicht objektiv vorhersehbar waren.132 Kokott meint, wegen der Integrationsdynamik werde Unvorhersehbarkeit selten vorliegen.133 Nun ist die Integrationsdynamik des EG-Rechts zwar allgemein bekannt, doch unvorhersehbar bleibt oft, welche Richtung sie einschlagen, d.h. welche Kompetenzen sie konkret betreffen wird. Nach Pitschas soll Art. 307 EGV nicht nur bis zum Kompetenzzuwachs, sondern sogar bis zum Erlass entsprechenden Gemeinschaftsrechts analog auf völkerrechtliche Drittverträge angewandt werden.134 Nun war es 1984 – auch wenn man eine allfällige prophetische Begabung des Papstes in Rechnung stellt – gewiss nicht vorherzusagen, dass der Vertrag von Amsterdam 1997 der Europäischen Gemeinschaft eine Zuständigkeit über die Anerkennung und Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivilsachen verleiht (Art. 67 und 65 lit. b EGV), auf deren Grundlage sie eine Verordnung über Entscheidungen in Ehesachen erlässt [Ehe-VO (EG) Nr. 2201/2003], die wiederum die Anerken______________ 130

EuGH, Rs. C-476/98, Open Skies, Rn. 69.

131

Z.B: Der EuGH äußerte sich zu dieser Frage, so weit ersichtlich, noch nicht.

132

Nach Petersmann / Spennemann liegt Unvorhersehbarkeit z.B. dann vor, wenn die EG keine Einwände gegen den Vertragsschluss geäußert hat, wenn die spätere Kompetenzausübung auf Art. 308 EGV gestützt wurde oder im Ermessen der Gemeinschaftsorgane stand (Petersmann / Spennemann, Art. 307 EGV, Rn. 6). 133

Kokott, Art. 307 EGV, Rn. 7.

134

Pitschas, Open-Skies-Abkommen, 93.

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H. Beziehungen unter den einzelnen Staaten und Religionsgemeinschaften

nung kirchlicher Ehenichtigkeitsurteile gemäß dem italienischen Konkordat berühren kann. In solchen und ähnlichen Fällen sind also auch „Neukonkordate“ wie „Altverträge“ zu behandeln. Der Schutz eines Konkordats vor widersprechendem EG-Recht muss keineswegs immer im Interesse der Kirche liegen, besonders dort nicht, wo das Konkordat ihr Pflichten auferlegt, die eigentlich nicht ihrem Selbstverständnis entsprechen und die auch nach EG-Recht unhaltbar sind. Zum Beispiel enthalten fast alle Konkordate so genannte „Staatsbürgerschaftsklauseln“135, mit denen die Kirche dem jeweiligen Staat zusichert, für bestimmte kirchliche Ämter und Dienste nur Personen mit der entsprechenden Staatsangehörigkeit einzusetzen, obwohl dies im Grunde der Internationalität der Kirche und ihrem Anspruch auf Selbstverwaltung zuwiderläuft. So weit derartige Klauseln auch Bürger anderer EG-Staaten ausschließen und Berufe betreffen, die dem EGArbeitsrecht unterliegen, was etwa bei Religionslehrern zweifellos der Fall ist,136 widersprechen sie eindeutig Art. 39 Abs. 2 bzw. generell Art. 12 EGV. Da nun Art. 307 Abs. 1 EGV die Rechte Dritter, nicht jedoch die Rechte der Mitgliedstaaten schützen will und nach einem allgemeinen völkerrechtlichen Grundsatz ein Staat auf die Ausübung von Rechten aus früheren Verträgen ipso facto verzichtet, wenn er später diesen Rechten entgegenstehende Verpflichtungen eingeht, befindet der EuGH, dass ein Mitgliedstaat sich gegenüber der Gemeinschaft nicht auf seine Rechte aus einem Altvertrag berufen kann, um die Beschränkung innergemeinschaftlicher Normen zu rechtfertigen. 137 Für die Kirche ergibt sich daraus nur auf den ersten Blick eine günstige Situation, in der sie auf der Erfüllung ihrer Rechte beharren kann, ohne allen ihren Pflichten nachkommen zu müssen.138 Auf lange Sicht kann ein so entstandenes Un-

______________ 135

Vgl. Di Pier, Cittadinanza, 886-889; Hollerbach, Europa, 278; Schinkele, Arbeitgeber, 60; Vachek, Religionsrecht, 304; Weber, Geltungsbereiche, 235. 136

Vgl. § 3 Abs. 3 des „Schulvertrags“ vom 9. Juli 1962 zwischen dem Heiligen Stuhl und der Republik Österreich zur Regelung von mit dem Schulwesen zusammenhängenden Fragen samt Schlussprotokoll (BGBl. Nr. 273, i.d.F. BGBl. Nr. 289/1972). 137

EuGH, Rs. 10/61, Kommission / Italien, Rn. 22f; Rs. C-324/93, Evans, Rn. 32; C124/95, Centro, Rn. 60. So auch die Lehre: Kokott, Art. 307 EGV, Rn. 9; Petersmann / Spennemann, Art. 307 EGV, Rn. 4; Schmalenbach, Art. 307 EGV, Rn. 6; Schweitzer / Hummer, Europarecht, Rn. 676. 138

Was den erwähnten österreichischen Schulvertrag betrifft, so werden in der Praxis Konfliktfälle weitgehend dadurch vermieden, dass die Verwaltungsbehörden großzügig Ausnahmen gewähren. Auf die Zulassung von Nicht-EG-Bürgern hat das EG-Recht ohnehin keinen direkten Einfluss.

II. Die Konkordate der Mitgliedstaaten und das EU-Recht

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gleichgewicht von Rechten und Pflichten den Unwillen auf Seiten der Konkordatsstaaten heraufbeschwören.139

4. Behebung von Unvereinbarkeiten in Altverträgen Nun wird den Mitgliedstaaten nicht nur zugestanden, ihre Verpflichtungen aus Drittverträgen weiterhin zu erfüllen (Art. 307 Abs. 1 EGV), sondern sie werden auch verpflichtet, alle geeigneten Mittel anzuwenden, um die festgestellten Unvereinbarkeiten dieser Drittverträge mit dem EGV zu beheben (Art. 307 Abs. 2 EGV). Das letzte Ziel ist also nicht, die Altverträge unberührt zu lassen, sondern die Vertragskollisionen auszuräumen. Der Schutz von Konkordaten, die Altverträge sind, ist somit nicht absolut. 140 Da die EG keinesfalls Völkerrecht brechen möchte, um sich und ihre Mitgliedstaaten nicht für den völkerrechtlichen Verkehr zu disqualifizieren, sind unter den „geeigneten Mitteln“ nur völkerrechtskonforme Mittel zu verstehen. 141 Die Mitgliedstaaten ______________ 139 Wenn aufgrund des EG-Rechts die Staatsbürgerschaftsklauseln und aufgrund der Lehre des Zweiten Vatikanums (vgl. Art. 20 CD) die politischen Klauseln, die dem Staat ein Mitwirkungsrecht bei der Besetzung kirchlicher Ämter eingeräumt hatten, aus den Konkordaten wegfallen, so befürchten manche, dass ein Ungleichgewicht der gegenseitigen Zugeständnisse zugunsten der Kirche entstehe (Margiotta-Broglio, Concordats, 49). In Wirklichkeit sind diese beiden Punkte den heutigen Staaten aber ohnehin nicht mehr so wichtig wie früher und auf Seiten der Kirche bleiben genügend andere Verpflichtungen, auf deren Erfüllung der Staat angewiesen ist. So muss dieser z.B. die Seelsorge in Gefängnissen ermöglichen, um die Religionsausübungsfreiheit der Häftlinge nicht zu verletzen, kann dies aber aus Gründen seiner religiösen Neutralität nicht selbst besorgen, sondern ist auf die Mitarbeit der Kirche angewiesen. Die Gefängnisseelsorge ist für die Kirche nicht nur ein Recht, sondern sie übernimmt durch ein Konkordat auch die Pflicht dazu, die zu erfüllen mit großen Schwierigkeiten verbunden sein kann. Ähnliches gilt auch für die Militärseelsorge, den Religionsunterricht und andere Bereiche. Aber selbst ein Konkordat, dessen Bestimmungen – was völlig unrealistisch ist – der Kirche nur Rechte und dem Staat nur Pflichten übertrügen, brächte diesem allein durch seine Existenz schon den nicht zu unterschätzenden Gewinn, dass durch die gegenseitige Bindung der religiöse Friede im Land gesichert ist. 140

Vor allem bewirkt Art. 307 EGV keine Bereichsausnahme. Vgl. EuGH, Rs. C324/93, Evans, Rn. 23. 141

Vgl. Schmalenbach, Art. 307 EGV, Rn. 10. Wenn Art. 307 Abs. 2 alle Mitgliedstaaten zur gegenseitigen Hilfe und zur Einnahme einer gemeinsamen Haltung gegenüber dem dritten Vertragspartner aufruft, dann kann darin wirtschaftlicher, politischer und rechtlicher Druck nur so weit einbegriffen sein, als dieser nicht das Ausmaß von Repressalien annimmt, da dies einer völkerrechtlichen Sanktion gleichkäme, der dritte Vertragspartner aber gerade nicht für die Unvereinbarkeiten verantwortlich ist, sondern vielmehr der betroffene Mitgliedstaat.

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H. Beziehungen unter den einzelnen Staaten und Religionsgemeinschaften

schulden aber nur die Anwendung dieser Mittel, doch besteht keine Garantie, dass die Mittel auch zum gewünschten Ergebnis führen. Daher ist es nicht sinnvoll, das Recht der Mitgliedstaaten nach Art. 307 Abs. 1 EGV als durch Abs. 2 befristetes Recht anzusehen.142 Denn zum einen geht aus Abs. 2 ohnehin keine klare Frist hervor und zum anderen will Abs. 1 ja gar nicht die Mitgliedstaaten, sondern die internationale Vertragstreue und die dritten Vertragspartner schützen, die sich durchaus in einer so starken Rechtsposition befinden können, dass sie einseitig nicht brechen ist. Welches wären nun völkerrechtskonforme Mittel, mit denen ein Mitgliedstaat Unvereinbarkeiten in seinem Konkordat beheben könnten? Als gelindestes Mittel wird meist die EGV-konforme Auslegung von Konkordatsbestimmungen angeführt. Das setzt aber voraus, dass die fraglichen Bestimmungen überhaupt einer solchen Auslegung zugänglich sind. Außerdem kann ein Vertragspartner der vom anderen vorgenommenen Auslegung widersprechen. Das schärfste Mittel hingegen wäre die Kündigung, 143 doch Konkordate enthalten meist keine Kündigungsklauseln.144 Sofern die WVK auf sie (analog) anwendbar ist, wäre eine Kündigung trotzdem möglich, jedoch nur, wenn feststeht, dass die Vertragsparteien sie zulassen wollten oder wenn sich das Recht dazu aus der Natur der Sache herleiten lässt (Art. 56 Abs. 1 WVK). Nun wird sich ein auf Kündbarkeit gerichteter Wille beider Parteien, insbesondere des Heiligen Stuhls, aber kaum jemals feststellen lassen, und da Konkordate das Staat-Kirche-Verhältnis stabil und dauerhaft regeln wollen, wird auch aus ihrer Natur keine Kündbarkeit ableitbar sein. 145 Selbst wenn bei einem bestimmten Konkordat die Voraussetzungen für eine Kündigung vorliegen sollten, so wäre sie doch wegen Unverhältnismäßigkeit abzulehnen. Da die Unvereinbarkeiten mit EG-Recht sich nämlich in aller Regel auf wenige Einzelbestimmungen beschränken werden, würde es einen ungerechtfertigt großen Eingriff darstellen, deswegen das ganze Konkordat aufzukündigen. Es wäre

______________ 142 So aber Petersmann / Spennemann, Art. 307 EGV, Rn. 12; wohl auch Vachek, Religionsrecht, 277; dagegen Schmalenbach, Art. 307 EGV, Rn. 8. 143

Empfohlen von Vachek, Religionsrecht, 283.

144

Corral, Concordato, 243; Listl, Konkordat, 595.

145

Dagegen scheinen Aymans / Mörsdorf die Kündbarkeit jedes Konkordats zu bejahen, doch in Wirklichkeit dürften sie dabei die Vertragsauflösung aufgrund der clausula rebus sic stantibus meinen. Jedenfalls halten auch sie daran fest, dass Konkordate in der Regel eine dauernde Ordnung anstreben (Aymans / Mörsdorf, Lehrbuch I, 113).

II. Die Konkordate der Mitgliedstaaten und das EU-Recht

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daher unbedingt darauf zu achten, in Entsprechung zu Art. 44 Abs. 3 WVK nur einen möglichst kleinen, abtrennbaren Teil des Konkordats zu kündigen.146 Abgesehen von einer Kündigung kann ein völkerrechtlicher Vertrag auch aufgelöst werden, wenn seine Erfüllung nachträglich unmöglich wurde oder Umstände, die für den Bindungswillen der Parteien wesentlich waren, sich grundlegend geändert haben (clausula rebus sic stantibus).147 Eine Vertragspartei kann einen solchen Auflösungsgrund jedoch nicht geltend machen, wenn sie die Unmöglichkeit der Erfüllung bzw. die Änderung der Umstände selbst durch Verletzung einer Vertragsverpflichtung herbeigeführt hat (Art. 61 Abs. 2 bzw. Art. 62 Abs. 2 lit. b WVK). Das ist aber gerade dann der Fall, wenn ein Konkordatsstaat sich durch den Beitritt zum EGV selbst in die Lage bringt, nicht mehr alle Verpflichtungen erfüllen zu können.148 Eine Partei kann den Vertrag schließlich auch dann auflösen, wenn die andere Partei ihn erheblich verletzt (Art. 60 WVK). Wenn also ein Staat Konkordatsverpflichtungen nicht mehr erfüllt, weil der EGV dem entgegensteht, so gäbe er dem Heiligen Stuhl damit ein Auflösungsrecht an die Hand. Es ist jedoch nicht zu erwarten, dass dieser davon Gebrauch macht, da er in solchen Fällen bisher noch nie ein Konkordat für beendet erklärt hat, sondern lediglich seinen Protest öffentlich kundgetan oder Bestimmungen nicht mehr angewandt hat. 149 Ob völkerrechtliche Verträge erlöschen, wenn ein Vertragspartner untergeht, oder ob sie dann auf den Nachfolger übergehen, wird unterschiedlich beantwortet. Bei der Übertragung von Kompetenzen auf die Europäische Gemeinschaft kann jedenfalls nicht davon die Rede sein, dass die Mitgliedstaaten untergegangen wären oder ihre Souveränität eingebüßt hätten, so dass ein Erlöschen der Konkordate aus diesem Grund ausscheidet. Sogar im Dritten Reich, das die völkerrechtliche Teilsouveränität der deutschen Bundesländer aufhob und deren Kompetenzen vollständig an sich zog, blieben die Länderkonkordate aufrecht.150 Auch als Elsass-Lothringen nach dem Ersten Weltkrieg durch den Vertrag von Versailles an Frankreich fiel, übernahm die Republik das Konkor______________ 146 In der Regel lassen sich gerade bei Konkordaten die einzelnen Teile sehr leicht voneinander scheiden, weil sie ganz unterschiedliche Bereiche betreffen. So kann an der Militärseelsorge auch dann festgehalten werden, wenn der Schutz der Feiertage fällt. 147 Die Anwendbarkeit der clausula rebus sic stantibus wurde von einigen Päpsten ausdrücklich bestätigt (Corral, Concordato, 244). 148

Konkordate müssen also nicht, wie Vachek (Religionsrecht, 284) meint, mittels der clausula rebus sic stantibus auflösbar sein, wenn sie mit Gemeinschaftsrecht unvereinbar sind. Diese Unvereinbarkeit allein stellt gerade keinen Auflösungsgrund dar. 149

Corral, Concordato, 243.

150

Vgl. Hollerbach, Die vertragsrechtlichen Grundlagen, 255f.

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H. Beziehungen unter den einzelnen Staaten und Religionsgemeinschaften

dat, obwohl sie selbst sich 1905 einseitig vom konkordatären System losgesagt hatte.151 Hier erhebt sich jedoch die Frage, ob nicht die Europäische Gemeinschaft selbst in jene konkordatären Verpflichtungen ihrer Mitgliedstaaten eintritt, für deren Bereich sie die Zuständigkeit erhalten hat. Da die Europäische Gemeinschaft kein Staat, sondern eine Internationale Organisation ist, können die Regeln der Staatensukzession auf sie nicht angewandt werden, aber selbst bei analoger Anwendung würde sie nicht automatisch in die Verträge der Mitgliedstaaten einrücken.152 Ein Eintritt der EG in die Konkordate bedürfte aber auf jeden Fall auch der Zustimmung des Heiligen Stuhls. Jede Regelung des Gemeinschaftsrechts bezüglich der Bindung der Gemeinschaft an die Verträge ihrer Mitgliedstaaten, kann nur gemeinschaftsinterne Rechtswirkungen entfalten.153 Nach Art. 106 Abs. 1 EAGV müssen die Mitgliedstaaten und die Kommission mit den Drittstaaten Verhandlungen führen mit dem Ziel, dass die Gemeinschaft die Rechte und Pflichten aus deren Abkommen übernimmt. Diese Regelung des EAGV ist für Konkordate aber völlig irrelevant, da diese in keinem Fall das Gebiet der Kernenergie betreffen. Der für Konkordate sehr wohl relevante EGV trifft hingegen, wie bereits dargelegt, in Art. 307 eine andere Regelung, die der Gemeinschaft weder eine Erfüllungspflicht noch eine Pflicht zur Übernahme von Altverträgen auferlegt, sondern die Behebung von Unvereinbarkeiten in diesen Verträgen verlangt. Folgerichtig verwarf der EuGH eine allgemeine Rechtsnachfolge154 und erkannte, wie etwa beim GATT, nur eine spezielle Sukzession der EG in ursprünglich mitgliedstaatliche Verpflichtungen kraft Funktionsnachfolge bzw. Kompetenzeintritt an. Dazu müssen aber bestimmte Voraussetzungen vorliegen, insbesondere muss es sich um einen multilateralen Vertrag handeln, dem sämtliche Mitgliedstaaten angehören.155 Da Konkordate aber bilaterale Verträge sind, die bei jedem Staat anders ausgestaltet sind und auch gar nicht von allen Mitgliedstaaten abgeschlossen wurden, scheidet diese Möglichkeit hier aus. Wenn die Behebung von gemeinschaftsrechtswidrigen Verpflichtungen in Altverträgen auf Schwierigkeiten stößt, kann die Gemeinschaft natürlich auch zu dem Schluss kommen, dass es besser ist, das Sekundärrecht an die Altverträge anzupassen, obwohl Art. 307 EGV die entgegen gesetzte Lösung favori______________ 151

Corral, Concordato, 244.

152

Wormuth, Bedeutung, 177.

153

Ebd. 178.

154

Vgl. EuGH, Rs. 812/79, Burgoa, Rn. 9.

155

Vgl. Kokott, Art. 307 EGV, Rn. 26; Schmalenbach, Art. 307 EGV, Rn. 17.

II. Die Konkordate der Mitgliedstaaten und das EU-Recht

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siert.156 Auch wenn der EuGH eine Anpassungspflicht nur unter bestimmten Voraussetzungen anerkennt, die auf Konkordate nicht zutreffen,157 so bleibt der EG-Rechtsetzer doch frei, das Sekundärrecht von sich aus so zu gestalten, dass es diesen nicht entgegensteht. Ausdrücklich geschah dies bisher in zwei Fällen: Die Datenschutz-RL 95/46/EG verbietet es staatlichen Stellen, Daten über die Religionszugehörigkeit von Personen an Religionsgemeinschaften zu übermitteln, was aber eine Voraussetzung für das Funktionieren des deutschen Kirchensteuersystems ist. Um dieses nun nicht zu gefährden, lässt die Richtlinie in Art. 8 Abs. 4 Ausnahmen im öffentlichen Interesse zu und erklärt in Erwägungsgrund 35, dass die Verarbeitung personenbezogener Daten durch staatliche Stellen „für […] im Völkerrecht niedergelegte Zwecke von staatlich anerkannten Religionsgemeinschaften“ im Hinblick auf ein öffentliches Interesse erfolgt.158 Diese vorsichtige Formulierung lässt nicht gleich erkennen, dass eigentlich Konkordate gemeint sind. Ihre Offenheit hat aber den Vorteil, dass zweifelsfrei nicht nur Konkordate im engen Sinn, sondern alle einschlägigen Vereinbarungen mit dem Heiligen Stuhl erfasst sind und dass beim Beitritt neuer Mitgliedstaaten auch deren Konkordate automatisch einbezogen werden. So wurde die Bestimmung zwar im Hinblick auf deutsche Konkordate eingefügt, die Vorschriften zur Kirchensteuer enthalten, doch kam sie gleich auch schon dem den Kirchenbeitrag betreffenden Vermögensvertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und der Republik Österreich159 zugute, die in dem Jahr, in dem die Richtlinie erging, erst der Europäischen Gemeinschaft beigetreten war. Den zweiten Fall stellt die Ehe-VO (EG) Nr. 2201/2003 dar, welche unter den Mitgliedstaaten die gegenseitige Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Ehesachen anordnet und somit Art. 25 des damals geltenden portugiesischen Konkordats vom 7.5.1940 widersprach, das die Nichtigerklärung von Konkordatsehen den kirchlichen Gerichten vorbehielt. Um Konkordatsbrüche zu vermeiden,160 bestimmt Art. 63 Ehe-VO, dass das portugiesische Konkordat unberührt bleibt und dass Italien und Spanien für kirchliche Ehenichtigkeitsurteile aus Portugal dieselben Nachprüfungen anstellen können, wie sie ihnen nach ihren eigenen Konkordaten gewährt sind. Da alle drei betroffenen Konkordate individuell bezeichnet sind, muss die Vorschrift jedes Mal ergänzt ______________ 156 Vgl. Kokott, Art. 307 EGV, Rn. 24; Petersmann / Spennemann, Art. 307 EGV, Rn. 10 (mit Beispielen). 157

Vgl. Vachek, Religionsrecht, 284.

158

Vgl. Mösenthin, Kirchenfinanzierung, 83; Vachek, Religionsrecht, 358f.

159

Vermögensvertrag vom 23.6.1960, in: ÖBGBl. 1960/195.

160

Dieser Grund wird ausdrücklich dargelegt in Nr. 120 des erläuternden Berichts von Borrás, in: ABl. Nr. C 221 vom 16.7.1998 S. 27.

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werden, wenn ein weiterer Staat mit einem Konkordat beitritt, das die staatliche Anerkennung kirchlicher Ehenichtigkeitsurteile vorsieht.161 Eine solche Anpassung des Sekundärrechts an Altverträge wird aber von Art. 307 EGV eigentlich nicht in den Blick genommen und umgekehrt wird sich eine einseitige Anpassung der Altverträge an EG-Recht meist als unzulässig oder zumindest als unzweckmäßig erweisen, so dass als bestgeeignetes Mittel zur Behebung der Unvereinbarkeiten noch die Vertragsänderung im Einvernehmen zwischen dem betroffenen Mitgliedstaat und dem dritten Vertragspartner bleibt. Von der kirchlichen Seite darf eine grundsätzliche Bereitschaft zur regelmäßigen Aktualisierung der Konkordate erwartet werden, sieht sie die konkordatäre Ordnung doch selbst als ein System, das keineswegs starr und unbeweglich, sondern vorzüglich dazu geeignet ist, frühere Regelungen dem ständigen Wandel der kirchlichen, politischen und kulturellen Verhältnisse anzupassen.162 Sofern solche Änderungen keine nach dem Selbstverständnis der Kirche unaufgebbaren Prinzipien gefährden und die ihr gewährte Rechtsposition nicht schmälern, sondern ein neues ausgewogenes Verhältnis von Rechten und Pflichten ermöglichen, muss eine Anpassung an EG-Recht ihren Interessen nicht zuwiderlaufen, sondern kann ihr sogar gelegen kommen. Die meisten Konkordate enthalten so genannte Freundschaftsklauseln, die jüngeren teils auch Revisionsklauseln. Während erstere die Parteien nur bei Meinungsverschiedenheiten über Auslegung oder Anwendung von Konkordatsbestimmungen verpflichten, eine freundschaftliche Lösung herbeizuführen, sehen letztere bei wesentlichen Änderungen in einem konkret geregelten Sachbereich auch einvernehmliche Anpassungen vor.163 Damit geben der Heilige Stuhl und der Vertragsstaat eindeutig zu erkennen, dass sie mit der Notwendigkeit von Anpassungen rechnen, dass diese aber einvernehmlich, nicht einseitig vorzunehmen sind. Die oben erwähnte Ausnahmeregelung der Ehe-VO zugunsten des portugiesischen Konkordats war nur wenige Jahre nötig. Am 18.5.2004 wurde nämlich ein neues Konkordat unterzeichnet, das den kirchlichen Gerichten keine ausschließliche Zuständigkeit für Nichtigkeitsprozesse über Konkordatsehen mehr zugesteht. Damit konnte die Unvereinbarkeit einvernehmlich behoben werden, und Portugal hat seine Pflicht nach Art. 307 Abs. 2 EGV erfüllt. Falls die Europäische Gemeinschaft inzwischen selbst eine ausschließli______________ 161

Bei Malta wurde die entsprechende Novellierung vorgenommen (ABl. Nr. L 236 vom 23.9.2003 S. 712 und ABl. Nr. L 367 vom 14.12.2004 S. 1), bei Litauen hingegen versäumt (vgl. Berkmann, Ehe, 152f.). 162

Listl, Konkordat, 597. So hat der Heilige Stuhl die internationale Gerichtsbarkeit immer gemieden und stattdessen die freundschaftliche Verständigung gesucht (vgl. Buonomo, Considerazioni, 29; Corral, concordato, 242). 163

Hollerbach, Die vertragsrechtlichen Grundlagen, 281f.

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che Vertragsschlusskompetenz für die fragliche Materie erworben hat, ist dessen ungeachtet aus Art. 307 Abs. 2 EGV eine Ermächtigung an den Mitgliedstaat zum korrigierenden Vertragsschluss zu entnehmen.164 Noch besser wäre es freilich, wenn die Europäische Gemeinschaft gleich selbst mit dem Heiligen Stuhl einen Vertrag über den entsprechenden Inhalt schlösse [siehe oben Abschnitt G.IV.4.].

5. Sind Konkordate auch als „Neuverträge“ geschützt? Art. 307 EGV bietet nur „Altverträgen“ einen gewissen Schutz und in analoger Anwendung auch „Neuverträgen“, die vor einem entsprechenden Kompetenzzuwachs der Gemeinschaft geschlossen wurden. Wie steht es aber mit den übrigen „Neuverträgen“ und den materiellen Änderungen von Altverträgen, die nach Gründung bzw. Beitritt vorgenommen wurden? In dieser Frage kommt es darauf an, ob die Kompetenz zum Abschluss von Konkordaten noch bei den Mitgliedstaaten liegt oder bereits an die Gemeinschaft übergegangen ist und welcher Art diese Kompetenz ist. In Bereichen, wo die Gemeinschaft eine explizite ausschließliche Vertragsschlusskompetenz besitzt, können die Mitgliedstaaten keine Konkordate mehr schließen. Das betrifft aber nur wenige Bereiche wie etwa Zoll-, und Handelsabkommen (Art. 133 Abs. 1 EGV), die sich natürlich auch auf die Ein- und Ausfuhr religiöser Gegenstände beziehen können, doch stellt dies gewöhnlich ohnehin keine Konkordatsmaterie dar. Wo die Gemeinschaft eine explizite parallele Außenkompetenz besitzt, können neben ihr weiterhin auch die Mitgliedstaaten Konkordate abschließen, wobei im Sinne des Loyalitätsgebots (Art. 10 EGV) nur darauf zu achten ist, dass die Gemeinschaftspolitik durch nationale Maßnahmen nicht behindert und der Vorrang des Gemeinschaftsrechts beachtet wird. Hierzu zählt eine Reihe von Bereichen, die häufig auch in Konkordaten geregelt werden: Bildung (Art. 149 Abs. 3 EGV), Kultur (Art. 151 Abs. 3 EGV), Gesundheit (Art. 152 Abs. 3 EGV), Entwicklungszusammenarbeit (Art. 181 Abs. 1 EGV) usw. Am heikelsten nimmt sich hingegen das Feld der impliziten Vertragsschlusskompetenzen der Gemeinschaft aus, denn diese entstehen in der Regel erst dann, wenn der EG-Rechtsetzer von einer bestimmten Zuständigkeit im Innenbereich bereits Gebrauch gemacht hat, mitunter aber auch schon dann, wenn eine Innenzuständigkeit sinnvoll nur durch den Abschluss eines völkerrechtlichen Vertrags wahrgenommen werden kann. Ausschließlich ist eine implizite Vertragsschlusskompetenz dann, wenn das betreffende Gebiet intern bereits weitgehend harmonisiert worden ist; andernfalls haben die Mitgliedstaa______________ 164

Schmalenbach, Art. 307 EGV, Rn. 10.

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H. Beziehungen unter den einzelnen Staaten und Religionsgemeinschaften

ten ihre Außenkompetenz nur hinsichtlich der bereits sekundärrechtlich geregelten Einzelfragen verloren. 165 In Bezug auf diese sind sie aber nicht einmal mehr dazu befugt, mit dem EG-Recht konforme Verträge abzuschließen. 166 Bevor ein Mitgliedstaat ein Konkordat abschließt, müsste er sich also fragen, ob die Gemeinschaft in einer der zu regelnden Materien eine interne Zuständigkeit besitzt, ob sie davon bereits Gebrauch gemacht hat und ob das jeweilige Gebiet bereits abschließend harmonisiert ist. Das Feld der impliziten Außenkompetenzen ist so weit wie das des Sekundärrechts selbst und umfasst damit auch zahlreiche typische Konkordatsmaterien, wie z.B. Arbeitsrecht kirchlicher Dienstnehmer, kirchliches Vermögen, Kirchenfinanzierung, Schutz religionsbezogener persönlicher Daten, Anerkennung kirchlicher Eheurteile usw. Nun wäre es denkbar, dass die Gemeinschaft in einigen Fällen die ausschließliche Zuständigkeit zum Abschluss völkerrechtlicher Verträge zwar erworben hat, an ihrer Ausübung jedoch gehindert ist, weil der Rat sich als handlungsunfähig erweist. Gerade für Verträge mit dem Heiligen Stuhl ist es leicht vorstellbar, dass einzelne Mitgliedstaaten aus ideologischen Gründen die nötigen Beschlüsse blockieren. Wenn jedoch ein dringender Regelungsbedarf gegeben ist, wäre es möglich, den Mitgliedstaaten eine Notstandskompetenz zuzusprechen. In einer ähnlichen Situation, die zwar eine Innenkompetenz betraf, gestattete der EuGH den Mitgliedstaaten als „Sachwalter des gemeinsamen Interesses“ nach Konsultation und Zustimmung der Kommission nationale Maßnahmen zu setzen (EuGH, Rs. 804/79, Kommission / Vereinigtes Königreich). Wenn nun ein Mitgliedstaat trotz Fehlens eigener Kompetenz tätig wird, setzt er den entsprechenden Akt ungültig. Dabei ist jedoch zwischen dem Binnenverhältnis und dem Außenverhältnis zu unterscheiden. Nach Art. 27 WVK, der von der Lehre hier analog angewandt wird, kann ein Verstoß gegen interne Vorschriften einer internationalen Organisation dem Vertragspartner nicht entgegengehalten werden.167 Ein entsprechendes Konkordat wäre zwar innergemeinschaftlich unwirksam,168 aber im Interesse der internationalen ______________ 165

Vgl. EuGH, Rs. 20/70, AETR, Rn. 17; Rss. 3,4,6/76, Kramer, Rn. 40; Rs. C266/03, Binnenschifffahrt, Rn. 40; Gutachten 1/76, Stilllegungsfonds, Rn. 3f; Gutachten 2/91, IAO, Rn. 9-11. 166

EuGH, Rs. C-476/98, Open Skies, Rn. 108.

167

Oppermann, Europarecht, § 7 Rn. 26; Wormuth, Bedeutung, 215.

168

Pache / Bielitz, (Verhältnis, 336f.) leiten jedoch aus dem Loyalitätsgebot des Art. 10 EGV sogar eine interne Verpflichtung der Gemeinschaft zur Rücksichtnahme auf kompetenzwidrig abgeschlossene Verträge der Mitgliedstaaten ab. Das Loyalitätsgebot fordert nämlich nicht nur von den Mitgliedstaaten Loyalität gegenüber der Gemeinschaft, sondern auch von dieser Loyalität gegenüber den Mitgliedstaaten.

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Verkehrssicherheit völkerrechtlich bindend. 169 Auf die Ungültigkeit des Vertrags könnte die Europäische Gemeinschaft sich nur unter den Bedingungen des Art. 47 WVK berufen, nämlich dann, wenn die Verletzung der internen Kompetenzverteilung für den dritten Vertragspartner offenkundig war. Das wird bei der komplexen und unübersichtlichen Gemengelage zwischen den Zuständigkeiten der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten, besonders bei den impliziten EG-Außenkompetenzen, die aus dem Primärrecht gar nicht und aus dem Sekundärrecht nur auf dem Weg der Interpretation hervorgehen, aber kaum je der Fall sein.170 Insofern dem Heiligen Stuhl die Unkenntnis der vertikalen Kompetenzverteilung in der Europäischen Gemeinschaft nicht zuzurechnen ist, genießen also auch „Neukonkordate“ einen gewissen Schutz. Die betroffenen Staaten können sich diesbezüglich gegenüber der Gemeinschaft aber nicht auf Art. 307 Abs. 1 EGV berufen. Zusammenfassend und vereinfachend lassen sich für die rechtliche Bewertung von Konkordaten der Mitgliedstaaten, je nach dem zu welchem Zeitpunkt sie abgeschlossen wurden oder werden, folgende Stufen unterschieden: (1) Vor der Gründung der EG bzw. dem Beitritt des jeweiligen Staates geschlossene Konkordate bleiben vom EG-Recht unberührt. (2) Dasselbe gilt für Konkordatsbestimmungen, die später, jedoch vor dem entsprechenden Kompetenzübergang an die Gemeinschaft entstanden sind. (3) Sobald die Gemeinschaft eine explizite ausschließliche Vertragsschlusskompetenz erworben hat, sind die Mitgliedstaaten zum Vertragsschluss nicht mehr befugt. (4) Erwirbt die Gemeinschaft jedoch nur eine Binnenkompetenz, so behalten die Mitgliedstaaten ihre Außenzuständigkeit, bis die Gemeinschaft davon Gebrauch gemacht hat. Falls die Mitgliedstaaten in der Zwischenzeit noch Verträge schließen, müssen sie, etwa durch den Einbau von Befristungen oder Kündigungsklauseln, dafür Sorge tragen, dass die Verträge einer späteren Kompetenzausübung durch die EG nicht entgegenstehen (Art. 10 EGV). (5) Hat die Gemeinschaft eine ausschließliche Vertragsschlusskompetenz, sei sie explizit oder implizit, bereits erworben, so können die Mitgliedstaaten nur noch ausnahmsweise tätig werden, z.B. aufgrund der „Notstandskompetenz“ oder zur Behebung von Unvereinbarkeiten in Altverträgen.

______________ 169 170

Kokott, Art. 307 EGV, Rn. 3.

Kokott, Art. 307 EGV, Rn. 3; Oppermann, Europarecht, § 7 Rn. 26; Wormuth, Bedeutung, 215.

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H. Beziehungen unter den einzelnen Staaten und Religionsgemeinschaften

III. Der interreligiöse / ökumenische Dialog und die EU Europa ist der Kontinent, auf dem sich das Christentum in mehrere Konfessionen gespalten hat, und es ist ein Kontinent, auf dem auch andere Religionen, vor allem das Judentum und der Islam, heimisch geworden sind. Nicht einmal im Mittelalter war die religiöse Landschaft Europas von Anfang an einheitlich, da sich die religiöse und kulturelle Homogenität erst allmählich entwickelte. 171 Die Territorialeinteilung nach der Reformation brachte zwar religiös weitgehend einheitliche Landschaften, doch löste sich diese Struktur nach der Zeit Napoleons immer mehr auf.172 Heute wird die religiöse Landschaft auf dem Gebiet der Europäischen Union immer vielfältiger. Zum einen wenden sich die Europäer selbst bisweilen neuen Religionsformen, insbesondere fernöstlichen zu; zum anderen bringen die zahlreichen Zuwanderer ihre eigene Religion mit. Der wichtigste Grund aber, warum sich gerade die Europäische Union einer stärkeren religiösen Vielfalt gegenübersieht, liegt schlichtweg im veränderten Blickwinkel. Aus der Sicht eines Einzelstaates hat man es meist mit einer einzigen stark dominierenden Kirche und einer Vielzahl recht kleiner Kirchen und Religionsgemeinschaften zu tun, wohingegen von der EU-Ebene aus betrachtet die in Einzelstaaten dominierenden Kirchen plötzlich zu mittleren oder kleinen Gemeinschaften werden.173 Der katholischen Kirche gehören zwar mit ca. 55 % mehr als die Hälfte der EU-Bevölkerung an,174 womit sie die mit Abstand größte Religionsgemeinschaft darstellt, doch dieser Prozentsatz impliziert keine wirklich dominierende Stellung. Zudem führt die durch die Arbeitnehmerfreizügigkeit geförderte Migration innerhalb der EU immer stärker zu einer religiösen Durchmischung der Bevölkerung. Das Verhältnis der Religionsgemeinschaften untereinander war immer auch von der Einstellung der politischen Macht zu ihnen mitgeprägt und bei der Europäischen Union verhält es sich nicht anders. Der Dialog zwischen ihr und den Religionsgemeinschaften ist kein interreligiöser oder ökumenischer Dialog, denn dieser wird von den Kirchen und Religionsgemeinschaften untereinander geführt, aber er kann auch ihn sehr wohl beeinflussen. In diesem Kapitel soll untersucht werden, wie sich die Europäische Union auf das Verhältnis zwischen den Kirchen und Religionsgemeinschaften in Europa auswirkt. ______________ 171

Vgl. Schieffer, Rom, 18.

172

Vgl. Kehrer, Wandel, 86f.

173

Berkmann, Verhältnis, 12.

174

Robbers, State and Church in the European Union, 578.

III. Der interreligiöse / ökumenische Dialog und die EU

541

1. Nicht-katholische Konfessionen und Religionen vor der EU Die vorliegende Arbeit beschäftigte sich bisher speziell mit dem Verhältnis der katholischen Kirche zur Europäischen Union. Wenn dieses Kapitel nun das Verhältnis zu anderen Kirchen und Religionsgemeinschaften beleuchten soll, scheint es zweckmäßig, zunächst aufzuzeigen, wie diese zur Europäischen Union stehen. Dabei kann es sich natürlich nur um eine begrenzte Auswahl und nur um einige wenige inhaltliche Aspekte handeln. Orthodoxie: Etwa 3,1 % der EU-Bevölkerung sind Orthodoxe.175 Unter den gegenwärtigen EU-Mitgliedstaaten haben nur Griechenland und Zypern eine mehrheitlich orthodoxe Bevölkerung. Mit dem Beitritt Bulgariens und Rumäniens wird sich der Anteil der Orthodoxen in der Union vervielfachen.176 Die räumliche Verteilung der orthodoxen Kirchen folgt dem Prinzip des kanonischen Territoriums, wonach jeder Kirche ein bestimmtes Gebiet exklusiv zusteht.177 Das Verhältnis zum Staat wird mit den Begriffen „Symphonia“ oder „Synallelia“ beschrieben, womit keine Dichotomie wie im Westen, sondern eine Beziehung des gegenseitigen Einvernehmens, der Solidarität und der besonderen Nähe zum Staat gemeint ist. 178 So können sich Konfliktpunkte mit dem Europarecht ergeben, das nicht gerade staatskirchenfreundlich ist. 179 Dass die Orthodoxie keine umfangreiche Sozialethik ausgebildet hat,180 könnte ihr im Dialog mit der Europäischen Union einen Nachteil einbringen. Es darf ihr aber nicht pauschal vorgeworfen werden, sie hätte Probleme mit Demokratie, Pluralismus oder der Stellung des Individuums. 181 Wenn sie auch eine zwiespältige Haltung zur EU einnimmt, so dürfen doch die integrationsfreundlichen Äußerungen des Ökumenischen und des Moskauer Patriarchats nicht übersehen werden.182 Ihr eigenes kollegiales Strukturprinzip kann Anregungen für ein Modell der Vielfalt von Nationen in Europa geben.183 Die griechisch orthodoxe Kirche, das Ökumenische Patriarchat und das Moskauer Patriarchat haben ______________ 175

Ebd.

176

Nähere Angaben zur Verbreitung orthodoxer Kirchen in der EU: Oancea, Einzelidentität, 96; Potz, Orthodoxie, 49f. 177

Vgl. Périsset, Implicazioni, 80.

178

Vgl. Papandreou, Orthodoxie, 71; Weiler, Entwicklung, 328.

179

Vgl. Potz, Orthodoxie, 45-47.

180

Papandreou, Orthodoxie, 69; Weiler, Entwicklung, 328.

181

So aber Wielowieyski, Seele, 157; Willaime, Églises, 162.

182

Vgl. Potz, Orthodoxie, 44.

183

Brun, Europa, 78.

542

H. Beziehungen unter den einzelnen Staaten und Religionsgemeinschaften

eigene Vertretungen in Brüssel eingerichtet. 184 Darüber hinaus sind die orthodoxen Kirchen Mitglieder der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK). Dieser 1956 gegründeten Organisation gehören insgesamt 126 orthodoxe, protestantische und altkatholische Kirchen aus allen Ländern Europas an. 185 Sie führt Büros in Genf, Brüssel und Straßburg. Protestantismus: Etwa 13,4 % der EU-Bevölkerung sind Protestanten,186 die sich wiederum in lutherische, reformierte, unierte und andere Gemeinschaften aufgliedern. Mehrheitlich protestantisch sind die EU-Mitgliedstaaten Dänemark, Finnland und Schweden. Große protestantische Bevölkerungsanteile gibt es außerdem in Deutschland, Estland, Lettland, den Niederlanden, Tschechien und Ungarn. Das Territorialprinzip und das Landeskirchentum sind in Deutschland seit dem Augsburger Religionsfrieden bis heute prägende Strukturmerkmale des Kirchenmitgliedschaftsrechts.187 Außerhalb Deutschlands herrscht hingegen nicht die territoriale, sondern die konfessionelle Struktur vor, was einem geeinten Europa ohne Grenzen besser entspricht. 188 Die eigene protestantische Ekklesiologie schafft auch ein eigenes Verständnis vom Kirchenrecht189 sowie vom Verhältnis zum Staat.190 Der Großteil der heute noch bestehenden Staatskirchentümer in europäischen Ländern ist vom Protestantismus geprägt, selbst wenn sie tendenziell abgebaut werden.191 Protestanten haben nach der Einschätzung Fornerods den Ruf, Euroskeptiker zu sein, weil die Gründung der Europäischen Gemeinschaft eher als eine Sache von Katholiken und katholischer Länder erschien und der Brüsseler Zentralismus zu sehr an den des Vatikans erinnert; dazu kommt, dass sich der Protestantismus in Europa in der Minderheit sieht und die protestantischen Länder zu den reicheren gehören, die naturgemäß geringere Erwartungen an die EU haben. Dennoch unterstützen heute fast alle protestantischen kirchlichen Gemeinschaften die europäische Integration. 192 In der Europadiskussion legt der ______________ 184

Potz, Orthodoxie, 52.

185

www.cec-kek.org [9.5.2006].

186

Robbers, State and Church in the European Union, 578.

187

Vgl. Rees, Kirchenbegriff, 694.

188

Hoburg, Protestantismus, 103-105.

189

Schwarz, Kirchenrecht, 22.

190

Kiderlen (Ziele, 5) zufolge hat der Protestantismus keine eigene Staatslehre entwickelt, weshalb er in dieser Hinsicht wenig zur politischen Einigung Europas beitragen kann. 191 192

Wyduckel, Zukunft, 172f.

Fornderod, Protestants, 4 und 10. Eine neue Studie fünf europäischer Universitäten zum Thema „Churches and European Integration“, an der sich auch die Europäische

III. Der interreligiöse / ökumenische Dialog und die EU

543

Protestantismus das Schwergewicht auf Föderalismus sowie einen behutsamen Umgang mit der Vielfalt193 und wird für seine Ideen, die interessanter sein sollen als die katholischen,194 durchaus geschätzt. Aus seiner besonderen Akzentuierung der biblischen Botschaft gewinnt er Kriterien, um den Prozess der europäischen Einigung kritisch zu begleiten. 195 Das Auseinanderfallen in viele nationale und regionale kirchliche Gemeinschaften ohne starke, verbindende Struktur 196 erschwert es jedoch, sich in Europa mit einer einzigen Stimme vernehmbar zu machen, 197 und führt zu Überlegungen, sich bei fortschreitender europäischer Einigung neu zu organisieren.198 So wird die Bildung einer europäischen evangelischen Synode erwogen.199 Als Vertretungseinrichtung bei den Europäischen Gemeinschaften wurde 1985 die „Europäische Kommission für Kirche und Gesellschaft“ (EECCS) gegründet.200 Sie ging 1999 in der „Kommission Kirche und Gesellschaft“ als Teil der KEK auf, von der jetzt der Dialog mit der Europäischen Union gepflegt wird.201 Zusätzlich unterhält die EKD ein eigenes Vertretungsbüro in Brüssel, weil sie die spezifisch deutschen Anliegen von der KEKKommission zu wenig vertreten glaubt. 202 Außerdem gibt es sektorspezifische protestantische Organisationen auf europäischer Ebene wie z.B. Eurodiakonia (Wohlfahrtspflege), CCME (Migranten), APRODEV (Entwicklungshilfe) usw.203 ______________

Kommission beteiligt hat, kommt zu dem Ergebnis, dass auch die protestantischen und orthodoxen Kirchen in Nordeuropa viel zur Überwindung des eisernen Vorhangs beigetragen haben, dass das globale Denken aber doch mehr in der katholischen Kirche beheimatet ist (Universitiy of Helsinki, Churches, 115). 193

Vgl. Kruttschnitt, Europa, 105.

194

So Göckenjan, Europäische, Ökumenische Kommission, 31.

195

Vgl. Nederlandse Hervormde Kerk, Verlorene Jahre? 121.

196

Vgl. Blei, Seele, 24; Kiderlen, Protestantismus, 20.

197

Vgl. Christoph, Interessenvertretung, 252.

198

Vgl. Vögele, Weltgegend, 63.

199

Dafür Frieling, Verantwortung, 14; skeptisch Christoph, Interessenvertretung,

256. 200

Zu ihren Vorgängerformen: von Zanthier, Erfahrungen, 8; vgl. auch: Greschat, Protestantismus, 59; Reuter, EECCS, 103. 201 Vgl. Brenner, KEK-Kommission, 111; Christoph, Interessenvertretung, 255; Noll, Integration, 68. 202 203

Vgl. Christoph, Interessenvertretung, 258; Kalinna, Verbindungsstellen, 193.

Vgl. Christoph, Interessenvertretung, 261; Fornerod, Protestants, 15; Reuter, EECCS, 115-117.

544

H. Beziehungen unter den einzelnen Staaten und Religionsgemeinschaften

Anglikanische Kirche: Etwa 6,7 % der EU-Bevölkerung sind anglikanisch. Obwohl es sich um eine Staatskirche handelt,204 bleibt sie nicht auf einen Staat beschränkt.205 Heute befindet sie sich in einem Prozess der Loslösung vom Vereinigten Königreich und der verstärkten Orientierung auf Europa, was sich in ihrer Integration in die KEK zeigt, von der sie sich in Brüssel vertreten lässt.206 Altkatholische Kirche: Altkatholiken leben in Europa vor allem in Deutschland, den Niederlanden, Österreich, Polen und Tschechien. Da die Mitgliederzahl eher gering ist und die rechtliche Kompetenz hauptsächlich bei den Einzelkirchen liegt, fällt es der Utrechter Union, zu der sich altkatholische und ähnliche Gruppierungen zusammengeschlossen haben, schwer, sich in Europa zu Wort zu melden, doch zeigen die einzelnen Gemeinschaften durchaus Interesse an Europa und arbeiten in der KEK mit.207 Judentum: Schon die Reflexionsgruppe „Une âme pour l’Europe“ von Kommissionspräsident Delors umfasste nicht nur christliche Konfessionen, sondern auch Judentum und Islam.208 Der „European Jewish Congress“ (EJC)209 wurde 1986 gegründet und vereinigt etwa 40 nationale jüdische Gemeinschaft in ganz Europa mit etwa 2,5 Millionen Mitglieder, um sie vor der Europäischen Union und dem Europarat zu vertreten. Religiöse Anliegen werden auch von der „Europäischen Konferenz der Großrabbiner“ (Conference of European Rabbis, CER) vorgebracht, politische hingegen von der Europadelegation des „Jüdischen Weltkongresses“. 210 Die Rabbinerkonferenz war bis zu Beginn der 90er Jahre hauptsächlich westeuropäisch, wurde dann aber nach Osten hin erweitert.211 Islam: Die Angaben über den Anteil der Muslime in der Europäischen Union schwanken zwischen 3 und 5 %.212 Bei einem Beitritt der bevölkerungsreichen Türkei würde er sich auf etwa 20 % erhöhen. „Die wachsende muslimische Präsenz in Europa hat Auswirkungen für Kirche, Staat und Gesellschaft und ______________ 204

Wyduckel, Zukunft, 171.

205

Vgl. Hoburg, Protestantismus, 102.

206

Vgl. Ventura, Laicità, 215.

207

Vgl. Esser, Utrecher Union, 233f.

208

Vgl. Weninger, Dialog, 133.

209

at: http://www.eurojewcong.org/ejc/index.php [9.5.2006].

210

Weninger, Dialog, 145.

211

Eisenberg, Osten und Westen, 101f.

212

Robbers, State and Church in the European Union, 578.

III. Der interreligiöse / ökumenische Dialog und die EU

545

erfordert einen verstärkten interreligiösen Dialog.“213 Da die meisten muslimischen Minderheiten in Europa relativ jung und heterogen sind, fehlt es ihnen an repräsentativen Strukturen auf nationaler und erst recht auf internationaler Ebene.214 Obwohl der Islam im Grunde universalistisch orientiert ist,215 bilden sich in Europa gesonderte Gruppen je nach der kulturellen und ethnischen Herkunft ihrer Mitglieder aus.216 Eine gesamteuropäische Organisation wird zudem dadurch behindert, dass die Einzelstaaten sehr unterschiedliche Organisationsformen zur Verfügung stellen, 217 wie ein Vergleich zwischen den sonst recht ähnlichen Staaten Deutschland und Österreich zeigt. Während der Letztere den Islam nämlich schon seit 1912 als öffentlich-rechtliche Körperschaft anerkennt,218 zögert der Erstere bis heute, ihm einen klaren Status zu verleihen. Dies wird zusätzlich noch dadurch erschwert, dass die Religionskompetenz hier auf der Ebene der Länder liegt, 219 die nicht einheitlich vorgehen. Während in den meisten muslimischen Staaten die religiöse Hierarchie vom Staat sanktioniert oder gar abhängig ist und es keine Trennung der beiden Sphären gibt, 220 muss die Organisation des Islam im säkularen Europa von ihm selbst ausgehen,221 doch sollten die Staaten dafür den entsprechenden rechtlichen Rahmen zur Verfügung stellen.222 Auf europäischer Ebene wurde 1996 in Straßburg der „Islamische Kooperationsrat in Europa“ gegründet, dem verschiedene muslimische Organisationen aus mehreren EU-Ländern angehören. Auch die islamische Sondergemeinschaft der Alewiten hat einen europäischen Dachverband gebildet.223 Zu bedenken ist aber, dass die meisten Muslime weder einem Verband angehören noch sich durch einen repräsentiert fühlen und dass Personen, die von der Politik als Vertreter der Muslime angesehen werden nach außen oft liberal und tolerant scheinen, in Wirklichkeit aber im Gegensatz zur großen ______________ 213

Rees, Islam, 431.

214

Kandil, Union, 39.

215

Zu dieser Frage gibt es im Islam aber verschiedene Ansichten (Vöcking, Migration, 22f.). 216

Motika, Islam, 52.

217

Für einen Überblick: Bair, Islamgesetz, 128-158; Vöcking, Migration, Anhang.

218

Vgl. Bair, Islamgesetz, 125. Österreichische Muslime hofften, dass sich das österreichische Modell nach dem EU-Beitritt auch auf andere Mitgliedstaaten übertrüge (Schakfeh, Sicht der islamischen Glaubensgemeinschaft, 103). 219

Vgl. Negrini, Musulmani, 97.

220

Motika, Islam, 50.

221

Vöcking, Migration, 30.

222

Bair, Islamgesetz, 158.

223

Motika, Islam, 54.

546

H. Beziehungen unter den einzelnen Staaten und Religionsgemeinschaften

Mehrheit der Muslime fundamentalistisch orientiert sind. 224 Es besteht aber jedenfalls Dialogbereitschaft.225 Nach islamischer Lehre ist die Welt in drei Zonen aufgeteilt: Länder des Islam, des Krieges und des Vertrags. 226 Die erste Zone besteht aus den islamisierten Ländern, wo Muslime nach ihren Vorschriften leben können und müssen. Obwohl die EU-Mitgliedstaaten keine „Länder des Islam“ sind, versuchen Muslime, die hier ansässig geworden sind, sie immer mehr in dieser Weise zu betrachten. Die zweite Zone umfasst jene Länder, in die der Islam aktiv ausgebreitet wird. Dazu zählen verschiedene militante Gruppierungen auch Europa. Die dritte Zone, „Land des Vertrags“, umfasst jene Länder, in denen Muslime in der Minderheit sind und sich deshalb nicht an alle Vorschriften der Scharia halten müssen, in denen sie sich aber dennoch aufhalten dürfen, weil es eine Verständigung mit diesen Ländern gibt. Wird die Europäische Union zu dieser Zone gezählt, so eröffnet sich ein Weg für Dialog, Verständigung und sogar den Vertragsschluss, wie er in Spanien bereits verwirklicht und in Italien geplant ist.227 Ansätze zu Dialog und Vertrag finden sich schon im Islam selbst, der ursprünglich eine Religion von Händlern war und dessen erste noch unter Mohammed erlassene politische Verfassung, nämlich die Verfassung von Medina, einen Vertrag der muslimischen Mehrheit mit der jüdisch oder heidnisch gebliebenen Minderheit der Stadt vorsah, in dem die Bedingungen für deren Weiterbestehen festgelegt wurden. In umgekehrter Weise könnten heute in derselben Form die Bedingungen für die friedliche Koexistenz mit der muslimischen Minderheit in Europa festgelegt werden.228 Die EU selbst versucht, die Entstehung eines modernen, europäischen Islam zu fördern, indem sie die Gründung einer europäisch-islamischen Universität im EU-Raum und die Ausbildung islamischer Führer in der EU vorschlägt sowie die Schulpflicht als Mittel der Integration in den Mitgliedstaaten bekräftigt. 229 Außerdem nimmt sie selbst den Dialog mit den islamischen Ländern des Mittelmeerraumes auf, um dort die demokratischen und pluralistischen Tendenzen, die Menschenrech-

______________ 224

Ebd. 55.

225

Kandil, Union, 39.

226

Vgl. Motika, Islam, 56; Vöcking, Migration, 21f.

227

Vgl. Vöcking, Migration, Anhang.

228

Motika (Islam, 51) hält es für notwendig, mit den muslimischen Neubürgern Europas eine Art Gesellschaftsvertrag auszuhandeln. 229

Entschließung des Europäischen Parlaments zum Islam in Europa, Nr. 10 und 11b. In dieselbe Richtung weisen die Thesen Vöckings, Migration, 32f.

III. Der interreligiöse / ökumenische Dialog und die EU

547

te, die Rechtstaatlichkeit sowie die Trennung von weltlicher und geistlicher Sphäre zu fördern.230 Neben den genannten Religionsgemeinschaften steht die Europäische Union außerdem mit einigen anderen im Dialog, wie etwa mit dem Buddhismus über die „Europäische Föderation des Buddhismus“. 231

2. Gleichheit versus Vielfalt im Europarecht Das Europarecht kennt beide Prinzipien: Die Gleichheit tritt besonders in Art. 13 EGV und Art. 21 GRCH zutage; die Vielfalt vor allem in Art. 6 Abs. 3 EUV und Art. 22 GRCH. Während die moderne Staatslehre hauptsächlich auf die Einheit bedacht war, erhält nach postmoderner Auffassung die Vielfalt mehr Gewicht, was sich ebenso in der Europäischen Union zeigt. 232 Auf die Religionsgemeinschaften angewandt kann das Gleichheitsprinzip zu einer Missachtung ihrer jeweiligen Eigenart führen, das Prinzip der Vielfalt hingegen zu Diskriminierungen. Je nach dem, wie die beiden Prinzipien gemischt werden, ändert sich auch das Verhältnis der Religionsgemeinschaften zueinander. Verbietet man zum Beispiel muslimischen Schülerinnen im Namen der Gleichheit, einen Schleier zu tragen, so verbannt man damit gleichzeitig die religiöse Vielfalt aus dem öffentlichen Raum. 233 An beiden Prinzipien gleichzeitig festzuhalten, kann zu logischer Inkonsistenz führen 234 und der Willkür Vorschub leisten, weil bei der Vollziehung nach Belieben bald das eine und bald das andere Prinzip hervorgehoben werden kann. Damit die Dualität beider Prinzipien ihr eigentliches Ziel wirklich erreicht, nämlich Einseitigkeiten zu vermeiden und sich gegenseitig zu korrigieren, müsste es ein Kriterium für das rechte Mischungsverhältnis geben. Dafür könnte man den Grundsatz der praktischen Konkordanz anwenden235 oder von einem „Basiskonsens der normativen Gleichheit“ ausgehen, demgegenüber die Vielfalt nur in zweiter Linie zu schützen ist.236 Ventura unterscheidet zwei von der Europäischen Union teilweise verwirklichte Systeme hinsichtlich des Verhältnisses zwischen den Religionsgemeinschaften: Das auf dem Gleichheitsprinzip beruhende ______________ 230

Entschließung des Europäischen Parlaments zum Islam in Europa, Nr. 3 und 5.

231

Vgl. Weninger, Dialog, 146.

232

Vgl. Valadier, Europe, 40f.

233

Vgl. Gianni, Multiculturalismo, 26.

234

Ventura (Laicità, 162) entdeckt dies im Vergleich von EGMR-Urteilen.

235

Vgl. Kruttschnitt, Europa, 94.

236

Vgl. Mahlmann, Gleichheitsschutz, 408.

548

H. Beziehungen unter den einzelnen Staaten und Religionsgemeinschaften

Wettbewerbssystem und das auf dem Prinzip der Vielfalt beruhende Protektionssystem.237

a) Gleichheit und Wettbewerb Zum Wirtschaftssystem der Europäischen Union gehört wesentlich der freie Wettbewerb. Nun gibt es eine Tendenz, dieses Prinzip auch auf den religiösen Bereich zu übertragen. Soweit Kirchen und Religionsgemeinschaften auf dem Markt Waren und Dienstleistungen anbieten, unterliegen sie ohnehin dem europäischen Wettbewerbsrecht, auch wenn sie keine Absicht zur Gewinnerzielung haben.238 Dadurch, dass der freie Verkehr von Personen, Waren und Dienstleistungen ohne religiöse Diskriminierung abzulaufen hat, darf grundsätzlich nicht nach der Religionszugehörigkeit einer Person, nach religiösen Gegenständen oder nach religiös motivierten Dienstleistungen differenziert werden.239 Es besteht strikte Gleichheit zwischen Wirtschaftsunternehmen und am Wirtschaftsleben teilnehmenden religiösen Organisationen sowie unter diesen. Überträgt man dieses Modell nun auf die Religionsgemeinschaften selbst, so gelangt man zu einem System, in dem sie miteinander in Konkurrenz stehen und mit ihren Heilsangeboten um die Gunst der Bürger werben, die in ihrer Wahl frei sein müssen. Aufgabe der weltlichen Autorität ist es dabei, wie eine Wettbewerbsbehörde in strikter Gleichbehandlung darauf zu achten, dass die einzelnen Religionsgemeinschaften den Wettbewerb nicht durch Übereinkünfte oder Zusammenschlüsse vereiteln und dass sie anderseits nicht mit unlauteren Mitteln wie Täuschung oder Gewalt gegeneinander kämpfen. In diesem Sinne wird oft vom „Markt der Religionen“240 gesprochen, was aber rein metaphorisch zu verstehen ist, denn abgesehen von diversen Waren und Dienstleistungen mit Religionsbezug gibt es keinen religiösen Markt, weil die Heils- und Sinnangebote, die zum religiösen Kernbereich gehören, nicht wechselseitig substituierbar sind.241 Ein System der Gleichbehandlung aller Religionsgemeinschaften durch die weltliche Autorität führt indirekt zu Querwirkungen zwischen den Religions______________ 237

Ventura, Laicità, 149.

238

Vgl. Heinig, Religionsgesellschaften, 462.

239

Vgl. Ventura, Laicità, 151.

240

Vgl. Long, Carta Ecumenica, 286.

241

Vgl. Heinig, Religionsgesellschaften, 464. Die Schaffung eines religiösen Marktes wäre für Christians eine Entfremdung des Religiösen wegen seiner uneigennützigen Dimension, seinem Hingabecharakter und dem Fehlen eines Vertragsschlusswillens (Christians, Droit et religion dans le Traité d‟Amsterdam, 218f.).

III. Der interreligiöse / ökumenische Dialog und die EU

549

gemeinschaften selbst. Erlangt eine Kirche für sich beispielsweise ein Sonderrecht, so muss dieses auch allen anderen gewährt werden, selbst wenn sie es nicht eingefordert haben oder es nicht einmal brauchen können. In Italien zum Beispiel orientieren sich die Verträge mit den verschiedenen Religionsgemeinschaften aus Gründen der Gleichheit sehr stark am Konkordat mit der katholischen Kirche, die damit zur Wegbereiterin für die anderen wird. Querwirkungen gibt es aber auch im Negativen. So müssen eventuelle Beschränkungen, die einer Religionsgemeinschaft auferlegt werden, auch für alle anderen gelten. Beispielsweise führt das verstärkte Auftreten extremistischer Religionsgemeinschaften oder gefährlicher Sekten mitunter zu beschränkenden Maßnahmen, die dann um der Gleichheit willen auch auf wohlbekannte und unbedenkliche Religionsgemeinschaften angewandt werden.

b) Vielfalt und Protektion Das zweite von Ventura ausgearbeitete Modell beruht auf dem Recht auf Verschiedenheit. Die weltliche Autorität versucht hier der besonderen Eigenart der Religionsgemeinschaften gerecht zu werden, 242 indem sie diese von anderen Organisationen wie auch untereinander unterscheidet und nicht jeder das Gleiche, sondern jeder das Ihre gibt. Ansatzpunkte hierzu bietet das EU-Recht im Schutz der nationalen Identität (Art. 6 Abs. 3 EUV), in der Achtung der jeder Religionsgemeinschaft eigenen Identität (Art. I-52 Abs. 3 VVE), im Schutz der nationalen staatskirchenrechtlichen Systeme (Schlusserklärung Nr. 11 zum Vertrag von Amsterdam) und in der Achtung der religiösen Vielfalt (Art. 22 GRCH). Schwierigkeiten bereiten bei diesem Modell aber die Auswahl der zu schützenden Religionssubjekte und Situationen, die Abgrenzung zu nichtreligiösen Vereinigungen und die Vereinbarkeit der unterschiedlichen nationalen Protektionsmodelle auf der europäischen Ebene. 243 Wenn in postmoderner Manier die Vielfalt zum Wert erhoben wird, dann kommt der weltlichen Autorität die Aufgabe zu, diese Vielfalt zu schützen. Ein Mittel könnte die Bevorteilung der vielen kleineren Gemeinschaften sein, deren Existenz notwendig ist, damit Vielfalt überhaupt entsteht, die aber im Wettbewerbsmodell Gefahr liefen, neben den großen unterzugehen. 244 Offensichtlich ist eine solche ______________ 242

Ventura, Laicità, 156.

243

Ebd. 159.

244

Einem ähnlichen Gedanken folgend wurde in Art. 141 EGV bezüglich des Verbots der Diskriminierung von Männern und Frauen ein Abs. 4 eingefügt, wonach das unterrepräsentierte Geschlecht begünstigt werden darf. Der durch den Vertrag von Nizza eingefügte Art. 13 Abs. 2 EGV ermöglicht positive „Fördermaßnahmen“ nun auch hinsichtlich der religiösen Diskriminierung. Abgelehnt wird diese Politik in der Lehre,

550

H. Beziehungen unter den einzelnen Staaten und Religionsgemeinschaften

Bevorteilung aber in gleichheitsrechtlicher Hinsicht bedenklich, woran sich deutlich zeigt, wie wichtig es ist, keines der beiden Prinzipien – Gleichheit oder Vielfalt – zu verabsolutieren, sondern sie zu einem angemessenen Ausgleich zu bringen. Deswegen wird häufig ein System der Äquidistanz 245 vorgeschlagen, in dem der Staat keine religiösen Kriterien anwendet, um zwischen den Religionsgemeinschaften zu differenzieren, oder ein System der Konfessionsneutralität,246 gemäß der auch die französische Laizität neu interpretiert werden könnte.

c) Die EU – Raum für ein multijuridisches System? Neben dem Wettbewerbs- und dem Protektionsmodell ist ein weiteres System denkbar, wie die Europäische Union die Prinzipien von Gleichheit und Vielfalt im Verhältnis der Religionsgemeinschaften untereinander zu einem Ausgleich bringen kann: Ein multijuridisches System, das heißt ein Gefüge mehrerer Rechtsordnungen. Gerade für die Europäische Union liegt dies eigentlich auf der Hand, gehört es doch zu ihrem Grundkonzept, verschiedene Rechtsordnungen, nämlich die der Mitgliedstaaten, einander zuzuführen. Warum sollten nicht auch die religiösen Rechtsordnungen in ein derartiges System eingefügt werden? Der EuGH hatte im Falle einer nach englischem Recht gegründeten Handelsgesellschaft, die in Großbritannien aber keine Geschäftstätigkeit entfaltete und dann eine Zweigniederlassung in Dänemark errichten wollte, entschieden, dass keine Umgehung des dänischen Gesellschaftsrechts vorliege. 247 Das bedeutet in letzter Konsequenz, dass sich eine Gesellschaft nach dem für sie günstigsten Recht eines beliebigen Mitgliedstaates einrichten kann, unabhängig davon wo sie ihre Tätigkeit tatsächlich aufnimmt. Damit ist ein System des Wettbewerbs verschiedener Rechtsordnungen geschaffen, von denen der Rechtsunterworfene die für ihn günstigste auswählen kann. Ähnliche Phänomene zeigen sich im EG-Recht über den wirtschaftlichen Bereich hinaus auch in religionsrelevanten Angelegenheiten wie etwa im Eheprozessrecht. So kann ______________

weil damit die Mehrheit benachteiligt und somit nur noch größere Probleme geschaffen werden (vgl. Flynn, Implications, 1137). Nach White unterscheidet sich der postmoderne Staat vom liberalen darin, dass er nicht alle Gruppen gleichermaßen z.B. finanziell unterstützt, sondern die schwachen um der Vielfalt willen zu stärken versucht. Er zweifelt aber, ob die Unterscheidung in unterstützte und nicht-unterstützte Gruppen nicht am Ende schlimmer wäre, als die liberale Alternative (Postmodernism, 592). 245

Vgl. Kehrer, Wandel, 90.

246

Vgl. Willaime, Grundrechtscharta, 24.

247

EuGH, Rs. C-212/97, Centros, Rn. 27.

III. Der interreligiöse / ökumenische Dialog und die EU

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der Partner, der eine Scheidung, Trennung oder Nichtigerklärung seiner Ehe beantragen möchte, nach Art. 3 Abs. 1 Ehe-VO (EG) Nr. 2201/2003 aus einer Mehrzahl internationaler Gerichtsstände denjenigen aussuchen, der für ihn am günstigsten ist bzw. das für ihn günstigste Sachrecht beruft. In denjenigen Mitgliedstaaten, die aufgrund eines Konkordats auch Ehenichtigkeitsurteile kirchlicher Gerichte anerkennen, kann er sich überdies an das Kirchengericht wenden, dessen stattgebendes Urteil dann unionsweit anerkannt werden muss (Art. 63 Ehe-VO). Also eröffnet das EU-Recht in diesem Punkt bereits in gewisser Hinsicht ein multijuridisches System, in das neben staatlichem auch religiöses Recht einbezogen ist. Noch stärker in die Richtung eines multijuridischen Systems weisen die Überlegungen der Kommission, in zukünftigen Regelungen über eheprozessrechtliche Zuständigkeiten die Ehepartner direkt das anzuwendende Sachrecht aussuchen zu lassen.248 Der EGMR hingegen hat in einem Urteil ein multijuridisches System als nicht vereinbar mit der EMRK angesehen, doch prüfte er dabei nicht die Vorund Nachteile eines solchen Systems im Allgemeinen, sondern verwarf die spezielle Ausformung, die von der türkischen Wohlfahrtspartei propagiert wurde.249 Diese wollte nämlich jeden Türken dem Privatrecht seiner eigenen Religion unterstellen, was für beinahe die gesamte Bevölkerung eine Unter werfung unter die islamische Scharia bedeutet hätte. Anderseits hegte der EGMR im selben Urteil keine Bedenken gegen ein eherechtliches System, in dem die Wahlfreiheit besteht, die Ehe nach zivilem Recht oder nach dem Recht einer der verschiedenen Religionsgemeinschaften zu schließen, wobei der religiösen Eheschließung zivile Wirkung zuerkannt wird. 250 Es gibt offensichtlich zwei verschiedene Typen multijuridischer Systeme, die ganz unterschiedlich zu beurteilen sind. Nach dem abzulehnenden intransigenten Typ sollte das religiöse Recht das weltliche ersetzen. Jeder Mensch wäre einer bestimmten Religionsgemeinschaft zuzuteilen. Zwischen den einzelnen religiösen Rechtsordnungen besteht keine Durchlässigkeit. Dem liegt ein Konzept starrer Vielfalt ohne Gleichheit zugrunde, das letztlich zur Bildung von Ghettos führt. Der liberale Typ hingegen geht zunächst von der Gleichheit aus, da das weltliche Recht für alle Bürger gilt. Das religiöse Recht tritt als zusätzliche Option für die Angehörigen der jeweiligen Religionsgemeinschaft hinzu, wodurch auch das Prinzip der Vielfalt zur Geltung kommt. 251 Ob es ______________ 248

Grünbuch KOM (2005) 82 endg., Nr. 2.2.

249

EGMR, Nr. 41340ff./98, Wohlfahrtspartei, Rn. 127.

250

Ebd.

251

Die Verbindung von Gleichheit und Vielfalt in diesem System wird dem wachsenden Multikulturalismus in Europa besser gerecht, als wenn nur das Prinzip individualistischer Gleichheit und Freiheit für sich allein berücksichtigt würde; gleichzeitig

552

H. Beziehungen unter den einzelnen Staaten und Religionsgemeinschaften

beispielsweise die Ehe nach weltlichem oder dem jeweiligen religiösen Recht schließen will, obliegt der freien Entscheidung des einzelnen Paares. Wer einer Religionsgemeinschaft angehört, die kein Eheschließungsrecht besitzt, wer keiner Religionsgemeinschaft angehört, wer seine Religionszugehörigkeit nicht offenbaren will oder wer aus anderen Gründen keine religiöse Ehe eingehen will, hat auf jeden Fall die Möglichkeit der Ziviltrauung.252 Wer hingegen einer Religionsgemeinschaft mit Eheschließungsritus angehört und gemäß seiner religiösen Überzeugung heiraten will, dem steht auch diese Möglichkeit offen und wird von staatlicher Seite anerkannt. Für ein derartiges System der Wahlzivilehe haben sich – mit steigender Tendenz – 16 der 25 EU-Mitgliedstaaten entschieden.253 Der grundlegende Unterschied zwischen dem intransigenten und dem liberalen Typ besteht darin, ob der einzelne Mensch selbst frei entscheiden kann, nach welcher Rechtsordnung er seine Rechtsbeziehungen gestalten möchte, und ob er diese Entscheidung später revidieren kann. Weil das weltliche Gemeinwesen weitgehend auf Zwangsmitgliedschaft, das religiöse hingegen im Wesentlichen auf freiwilliger Mitgliedschaft beruht, muss das Erstere seinen Mitgliedern intern mehr Freiheit einräumen als das Letztere. Da der Mensch nämlich das Erste in der Regel nicht frei wählen kann, muss es ihm wenigstens im Nachhinein weitgehende Freiheiten und Mitbestimmungsrechte einräumen; das Zweite hingegen kann er relativ frei wählen und er nimmt dabei aus eigenem Antrieb eine gewisse Einschränkung seiner Freiheit in Kauf, was er, wenn er sich anders besinnt, durch einen Religionswechsel wieder ändern kann.254 Auf das multijuridische System übertragen, bedeutet dieser Gedankengang, ______________

vermeidet man damit das andere Extrem eines mittelorientalischen Systems mit unterschiedlichen Personalstatuten und unterschiedlichen politischen und bürgerlichen Rechten je nach dem, welcher Religion jemand angehört (vgl. Ferrari / Ibán, Diritto e religione, 11). Gianni spricht von einer differenzierten Bürgerschaft („cittadinanza differenziata“, Gianni, Multiculturalismo, 28-30). Danach soll jedes Individuum neben den Rechten, die allen zukommen, auch Rechte haben, die es als Mitglied in einer bestimmten kulturellen Gruppe besitzt. Damit versucht Gianni den Liberalismus mit seiner individualistischen und universalistischen Sicht der Rechte und den Kommunitarismus miteinander zu versöhnen, der mit den Gruppenrechten nicht das Individuum, sondern das Überleben einer bestimmten kulturellen Gruppe schützen will. 252

Beim intransigenten Typ hingegen muss jeder seine Religionszugehörigkeit offenbaren und untersteht dann zwangsläufig allein dem religiösen Recht ohne Ausweichmöglichkeit auf ein für alle gleiches weltliches Recht. Das war im genannten Urteil (Rn. 119) einer der Hauptkritikpunkte des EGMR. 253 254

Näheres bei Berkmann, Ehe, 161.

So die verbreitete Auffassung in der heutigen politischen Philosophie, insbesondere bei Rawls. Vgl. Berkmann, Verhältnis, 134 m.w.N.

III. Der interreligiöse / ökumenische Dialog und die EU

553

dass religiöse Rechtsordnungen nur in dem Maß in ein derartiges System einbezogen werden sollten, als sie selbst den Religionswechsel nicht ungebührlich behindern. Eine religiöse Rechtsordnung, die den Austritt unterbindet oder unter schwere Sanktionen stellt, ist für ein multijuridisches System des liberalen Typs nicht tauglich. Gegen multijuridische Systeme beider Art könnte vorgebracht werden, dass sie die nationale Einheit gefährden, weil sie mehrere Rechtsordnungen nebeneinander bestehen lassen.255 Dieser Einwand entspringt aber dem klassischen nationalstaatlichen Souveränitätsdenken, das zumindest im Bereich der Europäischen Union ohnehin überholt ist. Wenn die Europäische Union dem Rechtsunterworfenen nämlich freistellt, nach welchem nationalen Recht eine Gesellschaft gegründet oder eine Ehe geschieden wird, dann lässt sich nicht mehr plausibel begründen, warum nicht auch religiöses Recht eine der möglichen Alternativen darstellen soll. Kirchhof stellt treffend fest: „Die europäische Realität von zwei sich überschneidenden und wechselseitig ergänzenden Rechtskreisen bietet den Religionen und Kirchen heute die Chance, in dem Zurückdrängen einer ausschließlich staatlichen Rechtsquelle einen eigenen Standort zu schaffen.“256 Ein Stück weit ist dies ohnehin schon in Art. 63 EheVO verwirklicht.

3. Die katholische Kirche angesichts von Gleichheit und Vielfalt Wie findet sich nun die katholische Kirche mit ihrem Selbstverständnis und ihrer eigenen Rechtsordnung in einem politischen System wieder, das auf den Prinzipien religiöser Gleichheit und Vielfalt beruht? Ist das Verhältnis komplementär oder gibt es Konflikte? Aus c. 227 CIC geht unter anderem der Grundsatz hervor, dass die gläubigen Laien dieselbe Freiheit haben wie alle Bürger,257 womit die Kirche Gleichheit, nicht Privilegierung ihrer Mitglieder anstrebt. Dass die Kirche die Gleichbehandlung auch ihrer selbst akzeptiert, kommt in ihrem Verzicht auf nicht mehr zeitgemäße oder dem Evangelium hinderliche Privilegien (Art. 76 Abs. 6 GS) sowie in der Forderung gleicher Freiheit für andere Religionsgemeinschaften

______________ 255 Darauf hat sich der türkische Verfassungsgerichtshof berufen, doch lehnte der EGMR das Projekt der Wohlfahrtspartei im erwähnten Urteil nicht aus diesem Grunde ab (Rn. 30). 256

Kirchhof, Kern, 149.

257

Vgl. Haering, Rezeption, 70.

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H. Beziehungen unter den einzelnen Staaten und Religionsgemeinschaften

(Art. 4 Abs. 2 DH)258 zum Ausdruck. Dadurch, dass sie im Zweiten Vatikanischen Konzil die Forderung nach einem konfessionell geprägten Staatswesen, wenn die Mehrheit der Bevölkerung katholisch ist, aufgegeben hat, fügt sie sich ohne größere Schwierigkeiten in ein System ein, das auf dem Prinzip religiöser Gleichheit beruht. Der Verzicht auf nicht mehr gerechtfertigte Privilegien bedeutet jedoch nicht, dass sie das Recht auf Verschiedenheit für sich nicht in Anspruch nähme, denn damit verlangt sie von der weltlichen Autorität keine ungebührlichen Vorteile, sondern will lediglich gemäß ihrer Eigenart, die sie von anderen Religionsgemeinschaften unterscheidet, behandelt werden. Sie wird sich in einer pluralistischen Gesellschaft nie nur als eine gesellschaftliche Kraft neben anderen verstehen und sich nicht in ein allgemeines Geflecht aller möglichen Wertsysteme einordnen lassen, sondern ihrer Sendung gemäß auf ihrem Wahrheits- und Öffentlichkeitsauftrag bestehen. Sie braucht also ein System, das Vielfalt und Verschiedenheit zulässt. Wenn die Europäische Union religiöse Vielfalt anstrebt, dann benötigt sie für diese Vielfalt verschiedene Träger, weil sie sie nicht selbst herstellen kann, und diese Träger sind eben die einzelnen Religionsgemeinschaften. Welche Eigenschaften müssen diese nun im Sinne des Komplementärprinzips mitbringen, damit wirklich religiöse Vielfalt zustande kommt? Sie müssen keineswegs selbst intern religiöse Vielfalt zulassen, sondern im Gegenteil eine eindeutige Richtung vertreten. Wären sie alle gleich, entstünde keine Vielfalt. Für die pluralistische Gesellschaft wird gern das Bild des Mosaiks verwendet, in dem die einzelnen Steinchen gerade wegen ihrer Verschiedenfarbigkeit ein ästhetisches Gesamtkunstwerk ergeben. Dazu ist es aber nötig, dass das einzelne Steinchen nicht selbst schon bunt ist, sondern eine eindeutige Farbe besitzt, weil sonst nur eine verschwommene, graue Fläche entstünde. Ebenso ist es nötig, dass die einzelnen Träger der religiösen Vielfalt klar Farbe bekennen und ihrer Identität, die sie in die Gesellschaft einbringen, treu bleiben. 259 Dafür sorgt in der katholischen Kirche vornehmlich das Lehramt, das dem Papst und den Bischöfen anvertraut ist (c. 756 CIC). Papst und die Bischöfe haben in ______________ 258

Vgl. Barberini, Ordinamento, 27f. Die Akzeptanz der Religionsfreiheit aus theologischen Gründen hat auch Auswirkungen auf das Verhältnis der Kirche zu den anderen Religionen (vgl. Luf, Menschenrecht, 51). 259

Palaver / Guggenberger u.a. (Pluralismus, 109) halten gerade angesichts des heutigen Pluralismus eine Rückbesinnung der christlichen Ethik auf ihre eigenen Fundamente für notwendig, um von diesem soliden Ausgangspunkt aus, einen Beitrag für die heutigen Moralkonzeptionen leisten zu können. In ähnlicher Weise erblickt Sievernich (Multikulturalismus, 2) den besten Beitrag zur interkulturellen und interreligiösen Integration darin, dass die Europäer sich nicht auf eine indifferente Haltung zurückziehen, sindern mit dem christlichen Kern ihrer eigenen Kultur wieder ernst machen, denn nur wer Position bezieht, kann tolerant sein.

III. Der interreligiöse / ökumenische Dialog und die EU

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besonderer Weise für die Einheit der Kirche Sorge zu tragen (vgl. c. 364 und c. 392 § 1 CIC). Alle Gläubigen sind verpflichtet, die Gemeinschaft mit der Kirche zu wahren (c. 209 CIC) und ihre Lehre und Vorschriften zu befolgen (c. 212 § 1 CIC). Damit besitzt die katholische Kirche ohne Zweifel das Rüstzeug für eine Religionsgemeinschaft, die sich in einen pluralistischen Kontext einbringen will. Das heißt freilich nicht, dass sie nicht auch intern Vielfalt zuließe, jedoch in einem anderen Sinn. Das Zweite Vatikanische Konzil spricht nur selten und nur in Bezug auf die zivile Gesellschaft von Pluralismus, während es für die Kirche den Begriff „multiplex“ verwendet.260 In ähnlicher Weise unterschied die Bischofssynode von 1985 zwischen dem Pluralismus in der Gesellschaft, der vom Nebeneinander und Gegeneinander lebt, und der Pluriformität in der Kirche, die Ausdruck der verschiedenen Charismen ist, aber stets von einer noch größeren Einheit überformt wird.261 Der CIC/1983 bringt sowohl hinsichtlich der Glieder der Kirche als auch hinsichtlich ihrer Verfassungsstruktur eine deutliche Verschiebung hin zu mehr Vielfalt. 262 Die christliche Theologie verfügt über eine Vielzahl von Modellen, Vielfalt und Einheit gedanklich zu verbinden. Zwar ist die Idee eines Gottes als unbestrittenem Garanten für die soziale, politische und kulturelle Kohäsion zu einer Chimäre geworden,263 doch kennt das christliche Gottesbild die Einheit in der Dreiheit der Personen, die sich auch in der Schöpfung und damit im Zusammenleben der Menschen widerspiegelt.264 Im Modell der Perichorese sieht Witte trotz aller Grenzen eine Hilfe, um zu vermeiden, dass der Pluralismus jeden Bezug zur Einheit aufgibt.265 Das käme einem polytheistischen Weltbild gleich. Der christliche Glaube an Gott, den Schöpfer vielfältiger Begabungen, und die Nächstenliebe können im gemeinsamen Haus Europa eine wertvolle geistige Grundhaltung für gegenseitigen Respekt, Annahme und Bereicherung bilden.266

______________ 260

Barberini, Ordinamento, 53. Barberini analysiert eine Vielzahl von Stellen in Konzilsdokumenten, die von der Vielfalt der Kirche sprechen (ebd. 58-177). 261

Vgl. Heimerl, Vielfalt, 201.

262

Vgl. die Darstellung bei Heimerl, Vielfalt, 202-210.

263

Vgl. Loose, Desenchantement, 47.

264

Vgl. Theobald, Unité, 91.

265

Vgl. Witte, Modèles d‟unité, 33.

266

Vgl. Frieling, Verantwortung, 11.

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H. Beziehungen unter den einzelnen Staaten und Religionsgemeinschaften

4. Religiöse Einheit kraft Europäischer Union? Impliziert die europäische Integration auch eine religiöse Integration? 267 Die Zersplitterung in mehrere christliche Konfessionen zu Beginn der Neuzeit hing stark mit dem Entstehen der Nationalstaaten zusammen.268 Wenn sich diese nun in der Europäischen Union wieder vereinigen, werden sich dann auch die Religionsgemeinschaften verbinden? Es ist interessant zu sehen, dass die ökumenischen und interreligiösen Bewegungen zur selben Zeit ins Rollen kamen, in der auch die politische Integration des Kontinents konkrete Formen annahm. Gibt es eine Wechselwirkung zwischen den beiden Phänomenen? Zweifellos bringt die Europäische Union die Staaten und die Menschen in Europa näher zusammen – man denke nur an die Arbeitnehmerfreizügigkeit oder diverse Austauschprogramme – und mit den Menschen berühren sich auch deren Religionen immer mehr. Das religiös homogene Territorium, das sich wie eine Insel von der Außenwelt abschließt, gibt es heute nicht mehr. Daher kommen die verschiedenen Konfessionen und Religionen nicht umhin, miteinander in Dialog zu treten.269 Dieser Dialog der Religionsgemeinschaften unter sich wird indirekt auch durch ihren Dialog mit der Europäischen Union gefördert. Um sich bei ihr nämlich wirksam Gehör zu verschaffen, ist es notwendig, möglichst mit einer Stimme zu sprechen, was die Kirchen anspornt, sich zunächst untereinander zu verständigen oder sich überhaupt zu gesamteuropäischen Verbänden wie der KEK zusammenzuschließen.270 In den ethischen und rechtlichen Themen, die im Dialog mit der Europäischen Union dominieren, ist zwischen den einzelnen Kirchen leichter eine Einigung zu erzielen als in dogmatischen Fragen, weshalb sich dieser Bereich für die ökumenische Zu______________ 267

In der Lehre besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass die europäische Einigung auch verlangt, dass die Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften näher aufeinander zugehen: Conzemius, Nationalismus, 98; Duquoc, Mittelpunkt, 107; Fürst, Pastoral, 99; Kasper, Beitrag, 445; Koch, Christsein, 83f; Lies, Europa, 7 und 29; Milligan, Nomaden, 135; Moltmann, Aufbruch, 38; Robbers, Bedeutung, 89. Pannenberg (Einheit, 128 und 135) erkennt in diesem Prozess dem Bischof von Rom sogar eine führende Rolle zu. 268 Die Kirchen haben selbst zu den Spaltungen in Europa beigetragen. Deswegen bedeutet die europäische Einigung eine große ökumenische Herausforderung (Willaime, Églises, 158). 269 Auch für das Verhältnis der Religionsgemeinschaften untereinander ist der Dialog ein geeignetes Instrument, um gegenseitigen Respekt und Verständigung zu schaffen, ohne die Eigenständigkeit aufzugeben (Vannicelli, Federalismo, 931). 270 Die Glaubwürdigkeit und Wirksamkeit des Beitrags der Kirchen wird von ihrer eigenen Fähigkeit zu Versöhnung und Ökumene abhängen (Jansen, Integrationsprozess, 76).

III. Der interreligiöse / ökumenische Dialog und die EU

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sammenarbeit besonders gut eignet.271 Auch die Europäische Union bevorzugt den Dialog mit wenigen für das Unionsgebiet wirklich repräsentativen Gemeinschaften als mit vielen kleinen. Schließlich darf nicht übersehen werden, dass die europäische Integration ein Friedensprojekt ist zu dem auch der religiöse Friede gehört, so dass die Europäische Union sehr an harmonischen Beziehungen unter den Religionsgemeinschaften interessiert ist. 272 Wenn die Europäische Union damit auch auf mehrerlei Arten die Religionsgemeinschaften indirekt zum Dialog untereinander anspornt, so ist es ihr doch verwehrt, sie mit rechtlichen Mitteln direkt dazu zu zwingen. Der interreligiöse Dialog darf nur von den Religionen selbst geführt werden. 273 Es darf keinen unionsinstitutionell verordneten Ökumenismus und kein ökumenisches Eingreifen geben, das über das allgemeine Friedensinteresse der weltlichen Herrschaft hinausgeht,274 weil die Union sonst die religiöse Vielfalt nicht gebührend achten würde (Art. 22 GRCH). Der EGMR hat wiederholt betont, dass die politische Autorität die Einheit einer bestimmten Religionsgemeinschaft nicht erzwingen darf, sondern Spaltungen zulassen muss und allenfalls für Toleranz unter den verschiedenen Gruppierungen sorgen darf. 275 Der EGMR erkennt den religiösen Frieden im Land zwar als Rechtfertigungsgrund für Eingriffe in die Religionsfreiheit an, legt aber einen strengen Maßstab bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit an.276 Einer der letzten unter anderem religiös motivierten Konfliktherde auf EU-Gebiet liegt in Nordirland. Um hier den Frieden zu fördern, ergriff die Europäische Union rechtliche Maßnahmen. Mit ihrer Beteiligung am Fonds für Irland will sie vorrangig grenz- und konfessionsübergreifende Vorhaben fördern und damit den Dialog und die Versöhnung zwischen ______________ 271

Dennoch gibt es auch hier nicht zu übersehende Differenzen im immer noch vorhandenen Territorialitätsdenken, in den sozialethischen Grundkonzepten und in der Ekklesiologie, die sich auf die Vorstellungen vom Verhältnis zwischen Staat und Kirche auswirkt (Ullrich, Europa, 305-308). 272

Wenn die Kirchen heute einen Beitrag zum Frieden und zur Versöhnung leisten wollen, müssen sie vorrangig am Frieden und an der Versöhnung zwischen den Konfessionen arbeiten (Frieling, Verantwortung, 10). 273

Vgl. von Zanthier, Erfahrungen, 9.

274

Robbers, Gehalte, 429.

275

EGMR, Nr. 39023/97, Muslim Community, Rn. 96; Nr. 30985/96, Hasan, Rn. 78; Nr. 45701/99, Metropolitankirche von Bessarabien, Rn. 117; Nr. 50776/99 und 52912/99, Agga, Rn. 59. 276

EGMR, Nr. 13470/87, Otto-Preminger-Institut, 56; Nr. 41340ff./98, Wohlfahrtspartei, Rn. 70; Nr. 14307/88, Kokkinakis, Rn. 3 und 44; Nr. 59/95, Manoussakis, Rn. 40; Nr. 27417/95, Cha’are Shalom ve Tsedek, Rn. 84; Nr. 45701/99, Metropolitankirche von Bessarabien, Rn. 115 und 127; Nr. 50776/99 und 52912/99, Agga, Rn. 59.

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H. Beziehungen unter den einzelnen Staaten und Religionsgemeinschaften

Nationalisten und Unionisten unterstützen.277 Die RL 2000/78/EG sieht in Art. 15 für Nordirland eine Ausnahme vom Verbot der religiösen Diskriminierung vor, derzufolge es erlaubt wird, im Polizeidienst und bei der Beschäftigung von Lehrkräften die bislang unterrepräsentierte Religionsgemeinschaft zu bevorzugen. Das ist ein Beispiel dafür, wie zugunsten des religiösen Friedens und der religiösen Vielfalt von einem zu starren Gleichheitsgebot abgewichen werden kann. Mit solchen Maßnahmen verletzt die Union ihre Neutralitätspflicht gegenüber den Beziehungen zwischen den Religionsgemeinschaften gewiss nicht.

5. Kirchenrecht und ökumenischer / interreligiöser Dialog Wenn die Europäische Union wie gesagt zum ökumenischen und interreligiösen Dialog anspornt, dann stellt sich die Frage ob die katholische Kirche im Sinne des Komplementärprinzips die dafür nötigen Instrumente besitzt. In der Tat wurden im Kirchenrecht seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil diesbezüglich zahlreiche Formen entwickelt.278 Zuerst sollen die dafür geschaffenen verfassungsmäßigen Einrichtungen der katholischen Kirche, dann die interkonfessionellen und interreligiösen Rechtsbeziehungen selbst dargestellt werden.

a) Katholische Einrichtungen für den ökumenischen Dialog Am 5.6.1960 errichtete Papst Johannes XXIII. mit dem MP Superno Dei nutu ein Sekretariat zur Förderung der Einheit der Christen. Dies war das erste Mal, dass der Heilige Stuhl ein Amt errichtete, das ausschließlich ökumenische Fragen behandeln sollte. Es wurde mit zwei Aufgaben betraut: Der vorübergehenden Aufgabe, den getrennten Christen zu ermöglichen, die Arbeiten des Zweiten Vatikanischen Konzils selbst zu verfolgen, und der ständigen, auf die Einheit hin zu arbeiten. Zunächst aber war es die Hauptaufgabe des Einheitssekretariates, auf die anderen Kirchen und Christlichen Weltgemeinschaften zuzugehen. Noch vor Beginn des Zweiten Vatikanums wurde es in den Rang einer Konzilskommission erhoben279 und während des Konzils in zwei Sektio______________ 277

Art. 2 VO (EG) Nr. 214/2000; Art. 2 VO (EG) Nr. 2236/2002; Art. 2 VO (EG) Nr. 177/2005. 278

Eine Übersicht zu diesbezüglichen Aussagen des Konzils bringt Barberini, Ordinamento, 27f. Der gesamte CIC ist einer ökumenischen Zielrichtung unterworfen, auch wenn er im Unterschied zum CCEO (cc. 902-908) noch keinen eigenen Abschnitt zur Ökumene enthält (Riedel-Spangenberger, Implikationen, 234). 279

Durch das MP Johannes’ XXIII., Appropinquante Concilio vom 6.8.1962.

III. Der interreligiöse / ökumenische Dialog und die EU

559

nen aufgeteilt:280 Eine für die östlichen Kirchen und eine für die westlichen aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften. Papst Paul VI. gesellte dem Einheitssekretariat 1964 ein Sekretariat für die Nicht-Christen und 1965 ein Sekretariat für die Nicht-Glaubenden bei, was seinem Programm der dreifachen Dialogrichtung – mit den getrennten Christen, den anderen Religionen und den Atheisten – entsprach, um wie in drei konzentrischen Kreisen alle Menschen zu erreichen. Mit dem MP Finis Concilio vom 3.1.1966 bestätigte Paul VI. das Einheitssekretariat und kam den Wünschen nach einer Erweiterung des Mitarbeiterstabes nach.281 Mit der CA Regimini Ecclesiae universae vom 15.8.1967 fügte Papst Paul VI. die drei oben genannten Sekretariate in die Kurie ein282 und legte ihre Zuständigkeiten fest. Die neuerliche Kurienreform erfolgte dann 1988 mit der CA Papst Johannes Pauls II. Pastor Bonus vom 28.6.1988. Das Einheitssekretariat wurde dabei wie die anderen Sekretariate und einige Kommissionen zu einem Päpstlichen Rat erhoben und damit den anderen Dikasterien gleichgestellt. Es heißt seither „Päpstlicher Rat zur Förderung der Einheit der Christen“. Dieser gliedert sich weiterhin in zwei Sektionen: Die östliche Sektion befaßt sich mit den Orthodoxen Kirchen der byzantinischen Tradition und den Orientalisch Orthodoxen Kirchen (Kopten, Syrern, Armeniern, Äthiopiern und Malankaren) sowie mit der Assyrischen Kirche des Ostens, während die westliche Sektion für die Kontakte zu den verschiedenen Konfessionen des Westens verantwortlich ist.283 Das Einheitssekretariat leistete seit seiner Gründung wertvolle Arbeit im Dienst der Ökumene. Schon während des Zweiten Vatikanischen Konzils legte es ein Schema über den Ökumenismus vor, das am 21.11.1964 angenommen und feierlich verkündet wurde (Unitatis Redintegratio), und es beteiligte sich auch an weiteren Konzilsdokumenten wie der dogmatischen Konstitution über die göttliche Offenbarung, den Dekreten über die katholischen Ostkirchen und das Laienapostolat oder den Erklärungen über das Verhältnis zu den nichtchristlichen Religionen und über die Religionsfreiheit.284 Das wichtigste Dokument, welches das Einheitssekretariat in der Zeit unmittelbar nach dem Konzil erarbeitet hat, war das Ökumenische Direktorium, dessen erster Teil von ______________ 280 Durch Brief des Kardinal Staatssekretärs vom 14.6.1963, vgl. Del Re, Curia Romana, 249. 281

Del Re, Rat zur Förderung der Einheit der Christen, 649.

282

Vgl. Weinzierl, Geschichtliche Entwicklung, 293.

283

At: http://www.vatican.va/roman_curia/pontifical_councils/chrstuni/documents/ rc_pc_ chrstuni_pro_ 20051996_chrstuni_pro_ge.html [9.5.2006]. 284

Vgl. Del Re, Curia Romana, 249.

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H. Beziehungen unter den einzelnen Staaten und Religionsgemeinschaften

1967 und dessen zweiter von 1970 ist. Es konkretisiert die Vorgaben des Konzils zur Ökumene und bestimmt sie rechtlich. Es folgten 1972 eine Instruktion über die ausnahmsweise Zulassung anderer Christen zur eucharistischen Kommunion in der katholischen Kirche und 1975 Richtlinien zur ökumenischen Zusammenarbeit auf nationaler, regionaler und örtlicher Ebene. 285 1993 erließ die inzwischen zum Päpstlichen Rat erhobene Behörde ein neues Ökumenisches Direktorium. 1998 folgte ein Dokument über die ökumenische Dimension in der Bildung und Ausbildung derer, die in der Pastoral tätig sind. Bislang am meisten Aufsehen erregt und auch Kritik286 geerntet hat aber die vom Einheitsrat mit vorbereitete „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ (Augsburg 1999). Ökumene kann nicht einfach von Rom angeordnet werden, sondern ist auf viele öffentliche und private Initiativen angewiesen. Diese soll der Päpstliche Rat fördern (Art. 136 § 2 PastBon). Damit aber ein einheitliches Vorgehen gewährleistet ist, soll er zwischen ihnen zudem Verbindungen herstellen, sie koordinieren und über ihre Initiativen wachen. Was die Koordinierung der einzelnen Initiativen betrifft, so ermahnt Nr. 54 DirOec wohl nicht ohne konkreten Anlass dazu, den Päpstlichen Rat von bedeutsamen Initiativen zu unterrichten, weil sonst kein kohärentes ökumenisches Engagement möglich ist und dem ökumenischen Prozess nicht gedient ist, wenn man die innerkirchliche Gemeinschaft vernachlässigt. Ein weiterer Aufgabenbereich ist der Dialog sowie die Entsendung und Einladung von Beobachtern (Art. 136 § 3 Satz 2 PastBon). Während Art. 93 REU ausschließlich von colloquia sprach, führt PastBon sowohl colloquia als auch dialogus an und Nr. 53 lit. b DirOec verwendet nur noch den mehr technischen Begriff dialogus. Die letztgenannte Bestimmung hebt auch eigens hervor, dass die offiziellen Dialoge auf internationaler Ebene vom Päpstlichen Rat selbst zu organisieren sind. In den Normen von PastBon über den Einheitsrat fehlt jedoch jeder Bezug auf die Teilkirchen, welche damit gegenüber den „nationalen und internationalen katholischen Kreisen“ zurückgesetzt werden, die in Art 136 § 2 PastBon sehr wohl genannt werden, obschon sie nicht zur Hierarchie der Kirche, sondern zum konsoziativen Element gehören. Innerhalb von PastBon bleiben hinsichtlich der teilkirchlichen Ebene somit nur die allgemeinen Normen der Art. 26 und 27. Blickt man jedoch über dieses Gesetz hinaus, so findet man schon im kirchlichen Gesetzbuch von 1983 eine Bestimmung, welche es den ______________ 285 286

Vgl. Riedel-Spangenberger, Der ökumenische Auftrag, 687.

Kalinna vermisste unter anderem eine stärkere Berücksichtigung des Kirchenrechts (Kalinna, Plädoyer für eine nüchterne Ökumene, 92).

III. Der interreligiöse / ökumenische Dialog und die EU

561

Bischöfen und Bischofskonferenzen zur Aufgabe macht, die Einheit zu fördern (c. 755 § 2 CIC). Der CCEO spricht in c. 902 sogar nur von „Hirten“ und schließt damit beispielsweise auch die Pfarrer mit ein.287 Eine förmliche Verteilung der Kompetenzen in ökumenischen Belangen auf die verschiedenen Ebenen der kirchlichen Hierarchie unternimmt das DirOec in Nr. 37-54 und gleicht damit das Schweigen von PastBon in dieser Frage aus. Nach Nr. 38 befinden sich gerade die Teilkirchen oft in der günstigen Lage, in fruchtbare ökumenische Beziehungen zu treten. Unerwähnt bleibt dabei der Umstand, dass sich sowohl die orthodoxen als auch die protestantischen und reformierten Kirchen sowie kirchlichen Gemeinschaften nach dem Territorialprinzip meist auf ein mehr oder weniger kleines Gebiet beschränken und auf Weltebene nur in relativ losen Bünden organisiert sind, so dass für die katholischen Ortskirchen des entsprechenden Gebietes eine Kontaktaufnahme oft leichter möglich ist.288 Der Diözesanbischof soll eine kompetente Person als Diözesanbeauftragten für ökumenische Fragen ernennen (Nr. 41) und darüber hinaus einen Rat, eine Kommission oder ein Sekretariat einrichten, das die Aufgabe hat, die Weisungen und Orientierungen, die er gibt, in die Praxis umzusetzen und allgemein die ökumenische Arbeit in seiner Diözese zu fördern (Nr. 42). Aber auch die Bischofskonferenzen sollen Ökumene-Kommissionen einsetzen (Nr. 46). Schließlich sollen die Pfarrgemeinden ermutigt werden, auf ihrer eigenen Ebene an ökumenischen Initiativen teilzunehmen und solche durchzuführen (Nr. 45). In nur einem eigenen Absatz (Nr. 48) empfiehlt das DirOec auch, der Arbeit der supranationalen Strukturen, die zur Kooperation zwischen den Bischofskonferenzen bestehen, eine ökumenische Dimension zu verleihen. Damit schenkt das DirOec dieser Ebene der kirchlichen Hierarchie nicht viel mehr Beachtung als der CIC selbst, der sie nur in c. 459 vage andeutet, obwohl sie heute eine immer größere Rolle spielt – gerade auch auf dem Feld der Ökumene. Die auf dem europäischen Kontinent bestehenden institutionalisierten Formen der Zusammenarbeit von Bischofskonferenzen sind CCEE und COMECE. Die Statuten des CCEE erklären die Förderung der ökumenischen Zusammenarbeit ausdrücklich zu einem seiner Ziele (Art. 1) und machen es ihm zur Aufgabe, in diesem Bereich vor allem mit der KEK zusammenzuarbeiten (Art. 2). So haben beide gemeinsam die großen Europäischen Ökumeni______________ 287 288

Vgl. Riedel-Spangenberger, Der ökumenische Auftrag, 691.

Noch unter einem zweiten Aspekt haben die Teilkirchen eine wichtige Bedeutung für die Ökumene: Indem die katholische Kirche sich selbst als eine communio von Teilkirchen sieht, schlägt sie auch eine Brücke zur noch nicht vollen communio mit den anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften. Diese Sicht stößt bei den anderen Konfessionen aber nicht nur auf Gegenliebe (vgl. Périsset, Implicazioni, 61).

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H. Beziehungen unter den einzelnen Staaten und Religionsgemeinschaften

schen Versammlungen (Basel 1991, Graz 1997) abgehalten und als eines ihrer Ergebnisse im Jahr 2001 die Charta Oecumenica verabschiedet, die der wachsenden Zusammenarbeit unter den Kirchen in Europa Leitlinien gibt. Der Aufgabenbereich der COMECE hingegen ist ganz auf die Europäische Union und den Europarat hingeordnet, also auf die politischen Integrationsstrukturen des europäischen Kontinents. Obwohl sie demnach in erster Linie keine ökumenischen Ziele verfolgt, leistet sie doch in praktischer Hinsicht einen wirkungsvollen Beitrag zur Ökumene in Europa, indem sie ihr Verhalten gegenüber den europäischen politischen Organen in der Regel mit der KEK abstimmt. Beim Rat zur Förderung der Einheit der Christen besteht außerdem eine Kommission zum Studium und zur Behandlung der Fragen, die sich aus religiöser Sicht auf Juden beziehen (Art. 138 PastBon). Art. 94 REU legte nur fest, dass das Einheitssekretariat auch die Kompetenz für die Belange der Juden unter religiöser Rücksicht hat, denn als ein eigenes Amt wurde die Kommission für die Juden erst am 22.10.1974 von Papst Paul VI. gegründet, doch blieb sie mit dem Einheitsrat eng verbunden. 289 Diese überraschende Zuordnung hebt die Stellung des Judentums als die dem Christentum am nächsten verwandte Religion hervor und kommt damit einem Wunsch der jüdischen Dialogpartner nach.290 Mit den übrigen nichtchristlichen Religionen befasst sich der Päpstliche Rat für den interreligiösen Dialog (Art. 166-168 PastBon). Ihm gehört eine eigene Kommission für die interreligiösen Beziehungen zum Islam an.

b) Interkonfessionelle und interreligiöse Rechtsbeziehungen Die Beziehungen zwischen Religionsgemeinschaften können unter vielerlei Aspekten betrachtet werden: Ob sie einen gemeinsamen Ursprung haben und miteinander verwandt sind, ob sie einander in Lehre oder Riten gleichen, ob sie zusammenarbeiten und gemeinsame Ziele verfolgen usw. Auch das Recht ist einer der möglichen Aspekte und zwar ein ganz besonderer, denn eine Funktion des Rechts besteht gerade darin, der Gewaltausübung zwischen verschiedenen Subjekten ein Ende zu setzen und Frieden zu schaffen. Deswegen eignet sich das Recht hervorragend zur friedlichen Gestaltung der interreligiösen und interkonfessionellen Beziehungen.291 Dabei kommt es nicht so sehr auf den ______________ 289

Vgl. Del Re, Curia Romana, 252; Schmitz, Römische Kurie, 377.

290

Aymans / Mörsdorf bezeichnen es als eine „pragmatische Lösung“ (Aymans / Mörsdorf, Lehrbuch II, 259). 291

Die blutigen Konflikte, die in Europa durch die Reformation entstanden sind, konnten im Augsburger Religionsfrieden (1555) und im Westfälischen Frieden (1648) jeweils durch eine rechtliche Regelung beigelegt werden. Man mag darüber streiten, ob

III. Der interreligiöse / ökumenische Dialog und die EU

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Inhalt der rechtlichen Regelung an, denn allein schon die Tatsache, dass es eine solche gibt, ist für das friedliche Neben- und Miteinander förderlich.292 Das Fehlen einer Regelung hingegen würde zu Unsicherheit, Missverständnissen und Konflikten führen. Gewiss kann zu Religionen, die einer rechtlichen Dimension entbehren, keine rechtliche Beziehung aufgebaut werden. Wo aber eine greifbare Religionsgemeinschaft vorhanden ist, kann nach dem Grundsatz „ubi societas, ibi ius“ auch ein Minimum an rechtlicher Struktur vorausgesetzt werden. Die Frage nach dem Stellenwert und der Qualität des Rechts kann natürlich in jeder Religionsgemeinschaft anders beantwortet werden, doch völlig ausschließen kann es keine. 293 Um die rechtlichen Beziehungen zwischen Religionsgemeinschaften wirksam zu gestalten, wären ihre wissenschaftliche Erforschung und ein Vergleich hilfreich, was aber noch kaum praktiziert wird.294 Eine rechtliche Beziehung ist freilich eine formale Verbindung und bedeutet keine Übereinstimmung in Glaubensinhalten, doch gerade hierin liegt ihre Stärke, denn um das Verhältnis zwischen verschiedenen Religionen und Konfessionen rechtlich festzulegen, muss nicht erst eine Übereinstimmung in Glaubensfragen erzielt werden. Gewiss kann das Kirchenrecht nicht einfach über dogmatische Uneinigkeiten hinwegsehen,295 doch ermöglicht es in Wirklichkeit schon jetzt Beziehungen in dogmatisch noch ungeklärten Streitfragen.296 So können ein Katholik und eine evangelische Frau unter den Voraussetzungen des c. 1127 § 2 CIC nach den evangelischen Vorschriften eine aus ______________

dabei inhaltlich die bestmögliche Lösung erzielt wurde, doch steht fest, dass gerade diese Rechtsvorschriften ein friedliches Zusammenleben zwischen den Konfessionen ermöglichten. 292 So kann nach Schwarz (Kirchenrecht, 43) im Kirchenrecht der Rahmen für die ökumenische Begegnung und communio festgeschrieben werden. 293

Leider spielt das Kirchenrecht im ökumenischen Dialog bisher eine geringe Rolle, weil seine theologische Grundlegung seit Luther umstritten ist, doch gibt es beispielsweise eine gemeinsame Aussage des Reformierten Weltbundes und des Päpstlichen Einheitssekretariates über die Bedeutung des kirchlichen Rechts (Riedel-Spangenberger, Implikationen, 237f.). 294

Vgl. Ferrari, Spirito, 34; Hollerbach, KSZE-Prozess, 88; Pizzorusso, Comparazione, 214; Viollet, Efficience, 169. 295 Nach verbreiteter Ansicht vermag das Kirchenrecht nicht mehr, als die Dogmatik vorgibt, z.B. Fortino, Droit canonique, 17; Riedel-Spangenberger, Implikationen, 231f. 296

So zeigt sich auch hier die Fähigkeit des Rechts, über die Grenzen einzelner Gruppen hinauszugehen und Subjekte miteinander in Beziehung zu bringen, die sonst – in diesem Fall wegen theologischer Divergenzen – nicht in Beziehung zu bringen wären (Spinelli, Diritto pubblico ecclesiasitico, 205).

564

H. Beziehungen unter den einzelnen Staaten und Religionsgemeinschaften

katholischer Sicht voll gültige und sakramentale Ehe schließen, obwohl das katholische und das evangelische Eheverständnis keineswegs übereinstimmen. Ein evangelischer Christ kann unter den Voraussetzungen des c. 844 § 4 CIC von einem katholischen Spender die Sakramente der Buße, Eucharistie und Krankensalbung empfangen, obwohl das katholische und das evangelische Sakramentenverständnis wie auch das Amtsverständnis deutlich voneinander abweichen. Wenn nun die europäische Integration, die bewusst eine Integration durch das Recht sein will (vgl. Art. 61 EGV „Raum des Rechts“),297 wie bereits dargelegt eine anspornende Wirkung auf die Annäherung der Religionsgemeinschaften hat, dann können auch die rechtlichen Instrumente der Ersteren als Vorbild für die Letztere dienen. Einzelne Autoren haben sich überlegt, ob eine Art KSZE-Prozess für die Kirchen und Religionen hilfreich sein könnte. Während Schneider298 vor einer unkritischen Übertragung warnt, weil der KSZEProzess für eine geschichtlich ganz konkrete politische Kräftekonstellation entwickelt wurde, entdeckt Hollerbach299 eine Ähnlichkeit in den Zielen der Vertrauensbildung, der Konfliktvermeidung sowie der Zusammenarbeit und stellt fest, dass auch der interreligiöse Dialog gewisser institutioneller Formen bedarf. Auch eine interekklesiale Gemeinschaft ähnlich der UNO wird erwogen.300 Gewiss sind die Unterschiede der beiden Phänomene nicht zu übersehen, doch lassen sich auch verblüffende Parallelen finden und zwar nicht nur mit dem KSZE-Prozess sondern auch mit der Europäischen Union. Im folgenden Abschnitt soll dargestellt werden, welche europarechtlichen Harmonisierungsinstrumente ein entsprechendes Gegenstück im ökumenischen Prozess haben. UNO, KSZE und EU sind Organisationen des Völkerrechts. Dieses regelt die Beziehungen zwischen den Staaten. Gibt es aber ein ähnliches Rechtscorpus, welches die Beziehungen zwischen den Kirchen regelt? 301 Bedarf es dieses ______________ 297

Die COMECE begrüßt die Rechtsharmonisierung im „Raum des Rechts“ besonders bei der Asyl- und Migrationspolitik (COMECE, Zum Aktionsplan). 298

Schneider, Kirchen und Religionen, 11.

299

Hollerbach, KSZE-Prozess, 84.

300

Vannicelli, Federalismo, 935.

301

Nach Spinelli (Diritto pubblico ecclesiastico, 203) gehören die interekklesialen Akte weder der Rechtsordnung der einen noch der Rechtsordnung der anderen Kirche, sondern einer dritten an, in der sie entstanden sind. Außerdem werden sie in den Rechtsordnungen der Kirchen nur wirksam über Vorschriften der zuständigen kirchlichen Organe. Diese dritte Ordnung kann ihm zufolge nicht das Völkerrecht sein, obwohl man daraus Begriffe und Kategorien, ausgehend vom Prinzip „pacta sunt servanda“, über-

III. Der interreligiöse / ökumenische Dialog und die EU

565

überhaupt, damit sie in rechtliche Beziehungen treten können? Es wäre zu prüfen, ob man völkerrechtliche Regeln bis zu einem gewissen Grad analog anwenden könnte. Außerdem könnten allgemeine Rechtsgrundsätze, wie zum Beispiel pacta sunt servanda, herausgearbeitet werden, die sich in möglichst vielen religiösen Rechtsordnungen finden und damit ein gemeinsames Reservoir an Regeln ergeben, nach denen sich die gemeinsamen Beziehungen richten. Auch die Taufe könnte dadurch, dass sie von den meisten Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften gegenseitig anerkannt wird, eine gemeinsame Rechtsbasis liefern. Jedenfalls ist in dieser Frage noch ein großer Entwicklungsbedarf gegeben. Trotz der rechtsdogmatischen Unsicherheit, was die Grundlage der interekklesialen Rechtsbeziehungen betrifft, sind bereits mehrere rechtliche Instrumente für solche Beziehungen entstanden.

c) Rechtliche Instrumente für das interekklesiale Verhältnis Kollisionsrecht: Wo ein Sachverhalt Anknüpfungspunkte zu mehreren Rechtsordnungen aufweist, muss geklärt werden, welche von ihnen zur Anwendung kommt. Diese Aufgabe erfüllen die Kollisionsnormen, die jeder einzelnen Rechtsordnung eigen sind. Konflikte zwischen den einzelnen Rechtsordnungen können aber nur dann wirklich gelöst werden, wenn die Kollisionsnormen aller dieser Rechtsordnungen zum selben Ergebnis führen. Es ist also eine Vereinheitlichung der Kollisionsnormen nötig, wie sie in Art. 65 lit. b EGV der Europäischen Gemeinschaft zur Aufgabe gemacht wird. Kollisionsnormen finden sich aber nicht nur im weltlichen, sondern auch im religiösen Recht, weil hier etwa bei Mischehen geklärt werden muss, welche Religionsgemeinschaft zuständig und welches religiöse Recht anzuwenden ist, wie es in cc. 780f. CCEO bzw. Art. 2-4 DignCon geschieht.302 Hinsichtlich der anderen Sakramente erfüllen c. 844 CIC bzw. c. 671 CCEO diese Funktion.303 Es nützt aber wenig, wenn beispielsweise c. 844 § 3 CIC einem katholischen Spender erlaubt, einem orthodoxen Christen die Eucharistie zu spenden, wenn diesem die eigene Rechtsordnung verbietet, sie zu empfangen. Deswegen wäre auch im religiösen Bereich eine Vereinheitlichung der Kollisionsnormen anzustreben, denn nicht schon das Bestehen von Kollisionsnormen in jeder Rechtsordnung, ______________

nehmen kann. Davon abgesehen wird diese interekklesiale Ordnung auf dem Begriff der institutionellen Autonomie aufbauen (ebd. 208f.). 302 303

Vgl. Fürst, Ökumenismus, 419.

Konkretisiert wird c. 844 CIC im DirOec/1993 (vgl. Fortino, Droit canonique, 6; Hallermann, Rechtsstellung, 43).

566

H. Beziehungen unter den einzelnen Staaten und Religionsgemeinschaften

sondern erst deren wechselseitige Abstimmung vermeidet Konflikte vollständig. Gegenseitige Anerkennung: Wenn die Europäische Gemeinschaft ihre Mitgliedstaaten verpflichtet, bestimmte Rechtsakte wie Ehescheidungen304 oder Hochschuldiplome305 gegenseitig anzuerkennen, dann wählt sie ein sehr schonendes Mittel der Annäherung, weil es jedem Staat überlassen bleibt, solche Akte nach den eigenen Vorschriften zu erlassen; allein er muss auch jene Akte anerkennen, die aus den übrigen Mitgliedstaaten stammen, selbst wenn sie dort nach anderen Regeln erlassen werden. Ein ähnliches Prinzip findet sich im interekklesialen Recht. So wird die Taufe unter den christlichen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften in der Regel wechselseitig anerkannt.306 Wer konvertiert, muss und kann nicht noch einmal getauft werden. Ebenso erkennt die katholische Kirche die Ehe, die beispielsweise zwei Reformierte nach ihren – in der Regel staatlichen – Vorschriften geschlossen haben, wie eine katholische Ehe als vollgültig und sakramental an, obwohl sie nicht den katholischen Lehren und Formvorschriften entspricht. Für die Anerkennung ist keine theologische Übereinstimmung notwendig. Ein Beispiel für gegenseitige Anerkennung ist auch die Leuenberger Konkordie, mit der sich lutherische, reformierte, unierte und andere kirchliche Gemeinschaften in Europa zur Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft bekannt haben. Über die Anerkennung einzelner Akte hinaus geht die wechselseitige Anerkennung der kirchlichen Rechtsordnungen selbst, die aber keine Anerkennung der verschiedenen kirchlichen Lehren einschließt. Auf Seiten der katholischen Kirche legte das Zweite Vatikanische Konzil dazu in Art. 3 und 16 UR sowie in Art. 5 OE den Grundstein. Übergeordnete Strukturen: Zur institutionellen Seite der europäischen Rechtsangleichung gehört ganz wesentlich die Europäische Gemeinschaft, die aufgrund ihrer Supranationalität Rechtsvorschriften erlassen kann, die für alle Mitglieder verbindlich sind, ohne dass alle ihre Zustimmung dazu erteilt haben müssen. Damit ist die Schaffung einheitlichen Rechts nicht vom guten Willen und der Eintracht der Mitglieder abhängig, sondern durch die supranationale Organisation selbst zu vollbringen. Ähnliche Strukturen gibt es ebenso im religiösen Bereich. Im Laufe der Neuzeit haben sich immer mehr Teile der orientalischen Kirchen dem Primat des Papstes unterstellt, so dass dieser seine Hoheitsgewalt nicht nur über die lateinische, sondern auch über jene katholisch gewordenen Ostkirchen ausübt. Er kann für alle diese Kirchen einheitliche Rechtsvorschriften erlassen, was er mit dem CCEO tatsächlich getan hat, doch ______________ 304

Ehe-VO (EG) Nr. 2201/2003.

305

RL 2005/36/EG.

306

C. 869 § 2 CIC; cc. 896 und 901 CCEO; Nr. 93 DirOec; vgl. Hallermann, Rechtsstellung, 40 und 44; ders., Vereinbarungen, 127.

III. Der interreligiöse / ökumenische Dialog und die EU

567

wie in der Europäischen Gemeinschaft der Rechtsvereinheitlichung Grenzen gesetzt sind, weil weitreichende Kompetenzen bei den Mitgliedstaaten verbleiben, so wahren in ähnlicher Weise auch die katholischen Ostkirchen eine beträchtliche Selbstständigkeit, weil der Papst zwar primatiale, aber keine patriarchale Gewalt über sie besitzt. Sie erfüllen mit ihrer „Zwischenstellung“ eine wichtige Aufgabe in den ökumenischen Beziehungen zwischen der lateinischen Kirche und den getrennten Ostkirchen. Davon abgesehen finden sich im ökumenischen Prozess kaum übergeordnete Strukturen mit einer von den Mitgliedern unabhängigen Jurisdiktionsgewalt. Wegen diverser Vorbehalte gegen eine „transkonfessionelle Superkirche“307 werden oft losere Verbindungen bevorzugt, die verglichen mit dem weltlichen Bereich eher der KSZE als der EG gleichen. Die katholische Kirche bevorzugt Beziehungen auf rein theologischer, nicht-institutioneller Ebene, die freilich auch gewisser Verfahrensregeln bedürfen, während die Beziehungen zwischen den anderen christlichen Konfessionen des Öfteren zu gemeinsamen Strukturen und Institutionen geführt haben.308 Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD), ein Zusammenschluss der meisten lutherischen, reformierten und unierten Kirchen in Deutschland, hat relativ geringe Kompetenzen. Noch geringere Einflussmöglichkeiten auf ihre Mitglieder hat auf europäischer Ebene die KEK. Auch der weltweite Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) kann keine die Mitgliederkirchen bindende Entscheidungen treffen. Die katholische Kirche tritt derartigen Zusammenschlüssen nicht bei, obwohl ihnen ohnehin Entscheidungsgewalt fehlt, sondern arbeitet auf andere Weise mit ihnen zusammen, wie etwa über eine gemeinsame Kommission mit dem ÖRK. 309 Verordnungen, Richtlinien, unverbindliche Empfehlungen: Die Europäische Gemeinschaft verfügt über eine Bandbreite verschiedener Maßnahmen (Art. 249 EGV), mit denen ein unterschiedliches Maß an Rechtsangleichung erreicht und folglich den Mitgliedstaaten die eigene Gestaltungsmöglichkeit in unterschiedlichem Maß beschnitten wird. Die Verordnungen gelten in den Mitgliedstaaten unmittelbar und können von ihnen nicht modifiziert werden. Die Richtlinie gilt in der Regel nicht unmittelbar, sondern muss von jedem Staat eigens in nationales Recht umgesetzt werden, wobei ihm die Wahl von Form und Mittel überlassen bleibt. Bloße Empfehlungen sind nicht verbindlich, sondern richten an die Mitgliedstaaten nur den Appell, bei der Rechtsetzung in einer bestimmten einheitlichen, aufeinander abgestimmten Weise vorzugehen. Ähnliche Formen kommen auch im religiösen Bereich vor, aber die beiden erstgenannten naturgemäß nur dort, wo es einen gemeinsamen Gesetzgeber ______________ 307

Synek, Direktorium, 459.

308

Vgl. Spinelli, Diritto pubblico ecclesiastico, 195.

309

Vgl. Synek, Direktorium, 460.

568

H. Beziehungen unter den einzelnen Staaten und Religionsgemeinschaften

gibt. So erlässt der Papst für die katholischen Ostkirchen sowohl Rechtsakte, die unmittelbar gelten, als auch Rahmenrecht, das von ihnen selbst konkretisiert werden muss. Da die ökumenischen Zusammenschlüsse aber großteils keine Hoheitsgewalt besitzen, dominiert hier das Instrument der Empfehlung, die von den Mitgliedern nach eigenem Gutdünken umgesetzt werden kann, aber nicht muss. Die Charta Oecumenica zum Beispiel, die am 22.4.2001 von den Prä sidenten des CCEE und der KEK unterzeichnet wurde, will bewusst keinen kirchenrechtlich-gesetzlichen Charakter annehmen, sondern setzt auf die Selbstverpflichtung der einzelnen Gemeinschaften (Präambel Abs. 5) und wurde von den beiden Präsidenten den Kirchen und Bischofskonferenzen von Europa ausdrücklich „empfohlen“ (Schlussformel). Vereinbarungen: Wo eine übergeordnete Organisation mit entsprechenden rechtlichen Kompetenzen fehlt, aber trotzdem ein rechtlich bindendes Dokument angestrebt wird, besteht die Möglichkeit eines Übereinkommens zwischen den einzelnen Partnern. So bleibt es den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft in Fragen, die nicht zur Gemeinschaftskompetenz gehören, unbenommen, einen völkerrechtlichen Vertrag zu schließen. Dies geschieht beispielsweise durch die im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten. Rechtlich verbindliche Vereinbarungen gibt es auch zwischen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften, insbesondere auf den unteren Ebenen. Ein Beispiel dafür ist die Vereinbarung zwischen der evangelischlutherischen Kirche Oldenburgs und dem Bistum Münster über die Taufe „sub conditione“ vom 15.10.1966. Ihr Rechtscharakter zeigt sich darin, dass sie mit der für Gesetzestexte üblichen Promulgationsformel im Amtsblatt der Diözese Münster veröffentlicht wurde.310 In Italien gibt es zum Beispiel Vereinbarungen zwischen der Bischofskonferenz und der Tavola Valdese.311 Inwieweit zwischenkirchliche Verträge geschlossen werden, gehört zu den wichtigsten Diskussionspunkten der Zukunft.312 C. 844 § 5 CIC bietet zwar keine Rechtsgrundlage für derartige Verträge, wohl aber für eine abgestimmte Rechtsetzung. Demnach dürfen der Diözesanbischof und die Bischofskonferenz nur nach Beratung mit den zuständigen Autoritäten der betreffenden nichtkatholischen Kirche oder Gemeinschaft eine Bestimmung nach c. 844 §§ 2-4 CIC erlassen. Zum „ökumenischen Kirchenrecht“ gehören unilaterale Normen, die jede

______________ 310 ABl. Münster 50 (1966) 150. Dieses und weitere Beispiele bei Hallermann, Vereinbarungen, 130. Auch auf Pfarrebene gibt es Vereinbarungen, vgl. Hallermann, Vereinbarungen auf unterster Ebene, 218. 311

Vgl. Errazuriz, Matrimoni misti, 223.

312

Schwarz, Religionsfreiheit, 54.

III. Der interreligiöse / ökumenische Dialog und die EU

569

Kirche selbst erlassen hat, und solche, die in Wirklichkeit Ausführung bilateraler Akte sind.313 Es gibt also tatsächlich eine ganze Bandbreite rechtlicher Instrumente von unterschiedlicher Intensität, die für den ökumenischen Prozess genützt werden können. Je nach dem, welhes davon die betroffenen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften verwenden, legen sie eine größere oder geringere gegenseitige Nähe an den Tag. Die Antwort auf die Frage, ob das Kirchenrecht die ökumenische Einheit hindert oder unterstützt, hängt Schwarz zufolge davon ab, welche Form von Einheit gemeint ist.314 Gewiss ist zu unterscheiden, ob etwa eine verfassungsmäßige Einheit oder bloß gegenseitige Anerkennung und Zusammenarbeit angestrebt sind. Die Frage ist aber im Grunde falsch gestellt, denn weder hindert noch unterstützt das Kirchenrecht die Einheit, sondern es bietet einfach verschiedene rechtliche Instrumente für unterschiedliche Grade der Einheit an. In diesem Sinne fördert es sie tatsächlich.

6. Proselytismus: Divergierende Prinzipien und Vorschriften Wie die Prinzipien von Gleichheit und Vielfalt, wie weltliche und religiöse Rechtsvorschriften und wie die Vereinbarungen zwischen Religionsgemeinschaften teils zusammenwirken und sich teils widersprechen, soll abschließend am Beispiel des Proselytismus dargestellt werden. Dabei ist der Begriff „Proselytismus“ ohne negative Konnotation einfach neutral als „Glaubenswerbung“ zu verstehen. Im Augsburger Religionsfrieden wurde versucht, die Konflikte zwischen den Konfessionen beizulegen, indem sie territorial voneinander abgegrenzt wurden (Prinzip „cuius regio – eius religio“). Nach seiner Bestätigung und Erweiterung im Westfälischen Frieden endete er 1806 mit dem alten Reich, blieb aber in der Denkweise der Menschen zum Teil bis heute erhalten. 315 Für die orthodoxen Kirchen ist das „kanonische Territorium“ ein wichtiges Strukturprinzip, auch wenn die Lehre, dass es in jedem Nationalstaat eine eigene Kirche geben müsse (Phyletismus), abgelehnt wird.316 Solche territorialen Einteilungen wehren den Proselytismus im Gebiet einer fremden Kirche oder kirchlichen Gemeinschaft ______________ 313

Spinelli, Diritto pubblico ecclesiastico, 204.

314

Vgl. Schwarz, Kirchenrecht, 33.

315

Vgl. Ullrich, Europa, 305. Auch im katholischen Bereich gab es eine Tendenz zu Nationalkirchen, z.B. unter dem Gallikanismus in Frankreich (vgl. BasdevantGaudemet, Églises nationales, 24). 316

Vgl. Potz, Orthodoxie, 51.

570

H. Beziehungen unter den einzelnen Staaten und Religionsgemeinschaften

ab und betrachten ihn als Gefahr für den religiösen Frieden im Land. Die heutigen Entwicklungen, die vom Europarecht angestoßen werden, entziehen dem Territorialismus jedoch den Boden: Nationale Grenzen verlieren an Bedeutung, die Bevölkerung und damit die Religionen vermischen sich durch die gezielt geförderte Mobilität der Arbeitnehmer sowie durch Immigration, und die Privilegien für einzelne Religionsgemeinschaften werden abgebaut. 317 Wollte man das auf dem Gleichheitsprinzip beruhende Wettbewerbssystem [vgl. Abschnitt H.III.2.a)] auf die Religionen übertragen, so wäre jedes Proselytismusverbot als wettbewerbsfeindlich zu bekämpfen, denn die Territorialeinteilung käme einer Marktaufteilung zum Schutz vor Konkurrenz gleich.318 Proselytismusverbote verletzen außerdem nach der ständigen Rechtsprechung des EGMR das Recht auf Religionsfreiheit gemäß Art. 9 EMRK.319 Die Glaubenswerbung ist nämlich eine gängige Form der in Art. 9 Abs. 1 EMRK geschützten Religionsausübung („practice“), die von manchen Religionsgemeinschaften sogar gefordert wird, und ist außerdem eine Voraussetzung für den in derselben Norm ebenfalls geschützten Religionswechsel.320 Zulässig ist nur ein Verbot des ungebührlichen Proselytismus, der beispielsweise mit materiellen oder sozialen Vorteilen wirbt, ungerechten Druck ausübt oder ein Abhängigkeitsverhältnis missbraucht.321 Bausback zufolge könnten staatliche Proselytismusverbote auch vom EuGH verurteilt werden, wenn eine Glaubensgemeinschaft etwa in Verbindung mit dem entgeltlichen Angebot von Waren – z.B. religiösen Schriften – werbend auf ihre Überzeugung aufmerksam macht.322 Betrachtet man nun im Sinne des Komplementärprinzips die Haltung der katholischen Kirche zum Proselytismus, so muss man differenzieren. Die Glaubensverbreitung stellt einen zentralen Aspekt am Verkündigungsdienst ______________ 317 Durch den Wandel vom Prinzip der Staatsreligion bzw. des „cuius regio“ zum Liberalismus schwindet das Verständnis für Proselytismusverbote (Long, Carta Ecumenica, 285). 318 Im Protektionsmodell, das auf dem Prinzip der Vielfalt beruht, wäre hingegen die Einrichtung religiöser „Naturschutzgebiete“ zum Zwecke des religiösen „Artenschutzes“ möglich. Gegen „Artenschutz“, aber für den Schutz von identitätsbildenden Lebensformen zum Zweck der Anerkennung ihrer Mitglieder: Habermas, Einbeziehung, 259. 319

Die entsprechenden Fälle betrafen nicht zufällig Griechenland, das gemäß der orthodoxen Tradition das kanonische Territorium von der Glaubenswerbung durch fremde Religionsgemeinschaften abschotten wollte (vgl. EGMR, Nr. 14307/88, Kokkinakis, Rn. 31; Nr. 23372/94, 26377f./94, Larissis, Rn. 45). 320

Vgl. Korinek, Strafbarkeit von Glaubenswerbung, 576.

321

Vgl. EGMR, Nr. 23372/94, 26377f./94, Larissis, Rn. 45 und 59.

322

Bausback, Religions- und Weltanschauungsfreiheit, 261.

III. Der interreligiöse / ökumenische Dialog und die EU

571

dar, der zu den Grundvollzügen der Kirche selbst gehört. Nach c. 211 CIC haben alle Gläubigen das Recht und die Pflicht, dazu beizutragen, dass die göttliche Heilsbotschaft immer mehr zu allen Menschen aller Zeiten auf der ganzen Welt gelangt. Die Verkündigung des Evangeliums ist in jeweils differenzierter Weise Aufgabe des Papstes, der Bischöfe, der Priester und Diakone (cc. 756f. CIC) und auch der Laien (c. 759 CIC). Die Kirche könnte ihrem Verkündigungsauftrag nicht ungehindert nachkommen, wenn Proselytismusverbote des weltlichen Rechts sie daran hinderten. Insofern sind die europarechtliche Zulässigkeit des Proselytismus und die kirchliche Pflicht zur Glaubensverbreitung durchaus komplementär. Außerdem gibt es keinen Konflikt, wenn von der weltlichen Autorität gewisse ungebührliche Werbepraktiken verboten werden, da die Kirche diese auch selbst ablehnt. So müssen etwa die Missionare einen ehrlichen Dialog mit den nicht an Christus Glaubenden führen, die Eigenart ihrer Kultur achten und dürfen nur taufen, wer frei darum bittet (c. 787 CIC). In gewissen Fällen erlegt sich die Kirche in ihrer Rechtsordnung sogar selbst ein Verbot auf, wenn sie z.B. bei der communicatio in sacris jeden Verdacht auf Proselytismus vermeiden will – der Empfänger des Sakraments muss von sich aus darum bitten323 – und allen Amtsträgern, die jemanden zum Übertritt in eine andere eigenberechtigte Kirche veranlassen, eine angemessene Strafe androht (c. 1465 CCEO). Diese rechtlichen Verbote gründen in Art. 4 Abs. 4 DH, wonach bei der Glaubensverbreitung Zwang und Überredung besonders bei Ungebildeten und Armen zu unterlassen sind.324 Zu den einseitigen Erklärungen treten aber auch Vereinbarungen zwischen mehreren Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften mit dem Inhalt, sich gegenseitig keine Gläubigen abzuwerben oder dabei wenigstens keine unlauteren Methoden zu verwenden.325 In der Charta Oecumenica zum Beispiel, verpflichteten sich die Mitglieder von CCEE und KEK, sich über Evangelisierungsvorhaben im Voraus zu verständigen und auf jeden moralischen Druck oder materiellen Anreiz für Konversionen zu verzichten, um deren Freiwilligkeit nicht zu gefährden (Nr. 2). Die einzelnen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften verstehen unter „Proselytismus“ aber Verschiedenes, weshalb einige trotz der gemeinsamen Vereinbarungen ungehalten waren, als Papst Johannes ______________ 323

Vgl. c. 844 § 3 CIC und c. 671 § 3 CCEO i.V.m. Nr. 125 DirOec/1993.

324

Dieses Proselytismusverbot stieß in der Konzilsdebatte auf Widerstand. Es untersagt manipulative Propaganda, will aber ein Ringen zwischen den einzelnen religiösen Gruppen nicht ausschließen (vgl. Siebenrock, LthK3-Konzilskommentar, Bd. IV, 177). Vgl. auch die Ansprache Johannes Pauls II. vom 31.5.1991, in der er den ungerechten Proselytismus gegenüber den orthodoxen Kirchen in Osteuropa verurteilte (Nr. 5). 325

Eine Reihe solcher Dokumente stellt vor: Long, Carta Ecumenica, 286-291. Vgl. auch Synek, Direktorium, 460.

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H. Beziehungen unter den einzelnen Staaten und Religionsgemeinschaften

Paul II. das Projekt der Neuevangelisierung Europas verkündete. 326 Es wird erwogen, Missionsprojekte in Zukunft nicht gegeneinander, sondern miteinander anzupacken.327 Im Spannungsfeld des Proselytismus treffen also die verschiedensten Regelungen zusammen: Europarechtlich ist er zu erlauben, kirchenrechtlich ist die Glaubensverbreitung geboten – wenn auch nicht mit beliebigen Mitteln – und nach interekklesialen Vereinbarungen ist er in gewissem Umfang verboten. Gibt es in dieser Frage, die für das Verhältnis der Religionsgemeinschaften untereinander und gegenüber dem weltlichen Gemeinwesen so wichtig ist, eine Lösung, die alle unterschiedlichen Regelungen in Einklang bringt? Wenn der EGMR staatliche Proselytismusverbote für unzulässig betrachtet, so heißt das natürlich nicht, dass die Religionsgemeinschaften von der Erlaubnis zur Glaubenswerbung auch tatsächlich Gebrauch machen müssten und sich darin nicht selbst Schranken auferlegen dürften. Insofern sind die EMRK und die (zwischen-)kirchlichen Verbote nicht miteinander unvereinbar. Wenn man als Träger des Rechts nach Art. 9 EMRK aber das Individuum in den Blick nimmt, könnte die Lage anders zu beurteilen sein. Wenn beispielsweise ein Katholik massiv versucht, einen Angehörigen einer anderen Konfession zu bekehren und die Kirche ihn aufgrund entsprechender Vereinbarungen davon abhält, verletzt sie dann sein Recht nach Art. 9 EMRK? Hier ist zu beachten, dass die Kirche nicht in derselben Weise an Art. 9 EMRK gebunden ist wie der Staat, sondern dieses Grundrecht ihr vielmehr direkt das Recht auf Selbstverwaltung einräumt, das auch die Möglichkeit miteinschließt, von den eigenen Mitgliedern ein bestimmtes Verhalten zu verlangen. Außerdem unterscheiden sowohl der EGMR als auch die Kirche eine zulässige bzw. gebotene Form von Glaubenswerbung und eine ungehörige, wobei die Abgrenzungskriterien im Wesentlichen übereinstimmen, so dass keine Unvereinbarkeit, sondern sogar eine erstaunliche Konvergenz von weltlichem und kirchlichem Recht vorliegt. Ein wirklich konträrer Widerspruch entstünde nur in einem vollendeten „Wettbewerbssystem“, weil hier die Vereinbarungen zwischen den Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften als wettbewerbsschädigende Absprachen und Verhaltensweisen gewertet werden müssten (vgl. Art. 81 EGV). Da aber selbst die Europäische Gemeinschaft im religiösen Bereich kein reines Wettbewerbssystem anstrebt, sondern es mit dem Protektionsmodell kombiniert, sind solche Überlegungen rein theoretischer Art. 328 Das Beispiel Proselytismus zeigt also, ______________ 326 Vgl. Willaime, Églises, 160. Zur Problematik in den Gebieten orthodoxer Kirchen: Bremer, Kirche, 11. 327 328

Vgl. Ullrich, Europa, 303; auch Ioniţǎ, Mission, 34.

Nicht auszuschließen ist das EG-Wettbewerbsrecht hingegen bei Wirtschaftsunternehmen von Religionsgemeinschaften und religiösen Einrichtungen.

IV. Abschließende Betrachtungen

573

dass Europarecht, Kirchenrecht und die Rechtsverhältnisse zwischen den Glaubensgemeinschaften im Sinne des Komplementärprinzips durchaus miteinander in Einklang gebracht werden können.

IV. Abschließende Betrachtungen 1. Rückschau auf den Fortgang der angestellten Überlegungen In der vorliegenden Arbeit wurden viele verschiedene Problembereiche behandelt, die sich aus der Begegnung der Europäischen Union mit der katholischen Kirche ergeben. Um einen geordneten Überblick zu bieten, soll nun zum Schluss der Fortgang der Arbeit und der Zusammenhang, in dem alle Kapitel stehen, noch einmal nachgezeichnet werden. Die Arbeit nahm ihren Ausgangspunkt beim einzelnen Menschen, dessen Leben mehrere Dimensionen umfasst: Profane und religiöse. Er ist zugleich Bürger eines weltlichen Gemeinwesens wie der Europäischen Union und Angehöriger einer Religionsgemeinschaft wie der katholischen Kirche. Beide Größen verfügen über eine Rechtsordnung, die für die Entfaltung des menschlichen Lebens notwendig ist, sie aber auch stören kann. Damit der Mensch beide Dimensionen möglichst ungehindert verwirklichen kann, muss ihm die nötige Freiheit eingeräumt werden. So gewährt ihm die Europäische Union weitgehend Freiheit in religiösen Dingen [Kapitel B.I.] und die katholische Kirche erkennt die bürgerliche Freiheit an [Kapitel B.II.]. Seine Religionszugehörigkeit ist für die Europäische Union ebenso irrelevant [Kapitel B.III.] wie seine Staatsbürgerschaft für die Kirche [Kapitel B.IV.]. Diese Unterscheidung der beiden Bereiche auf der individuellen Ebene zieht auch eine Trennung auf der institutionellen Ebene nach sich. So ist die Europäische Union nur im weltlichen Bereich kompetent [Kapitel C.I.], die Kirche nur im religiösen [Kapitel C.II.]. Die Grenze lässt sich jedoch nicht immer scharf ziehen. So zeigten sich zahlreiche Rechtsmaterien, in denen sich beide berühren und überlappen [Abschnitte C.I.8. bzw. C.II.3.]. Wenn die Europäische Union und die katholische Kirche in diesen Materien Regelungen träfen, die nicht miteinander kompatibel wären, so würde dies die harmonische Entfaltung des Menschen in den beiden Bereichen behindern und ihn sogar in schwere Konflikte bringen, in denen er den Anforderungen der beiden Seiten nicht zugleich gerecht werden könnte. Deswegen ist es notwendig, dass die Europäische Union und die katholische Kirche ihre Rechtsordnungen nach dem Komplementärprinzip [Abschnitt A.II.5.] aufeinander abstimmen, was nur in einen wechselseitigen Dialog möglich ist. Damit sich beschäftigt der größte Teil der Arbeit.

574

H. Beziehungen unter den einzelnen Staaten und Religionsgemeinschaften

Der Auftrag zum Dialog ergibt sich für die Europäische Union aus dem Demokratieprinzip [Kapitel D.I.] und für die Kirche aus der CommunioEkklesiologie [Kapitel D.II.]. Auf beiden Seiten muss es Organe geben, die geeignet sind, um den Dialog zu pflegen [Teil E.]. Ferner bedarf der Dialog eines strukturierten Verfahrens [Kapitel F.I.] und einer gemeinsamen rechtlichen Ausgangsbasis [Kapitel F.II.]. Wenn er sein Ziel erreicht und konkrete Ergebnisse hervorbringt, müssen diese in rechtlichen Formen fixiert werden [Kapitel F.III.]. Dabei erweist sich der Abschluss eines Vertrages als besonders zweckmäßig [Kapitel F.IV.]. Insgesamt kommt es der gegenseitigen Verständigung zugute, dass beide Rechtsordnungen füreinander möglichst offen sind und Normen der jeweils anderen beachten [Teil G.]. Der europäische religiöse Dialog wird sich schließlich auch auf die Mitglieder der Europäischen Union, nämlich die einzelnen Staaten [Kapitel H.I. und H.II.], sowie auf das Verhältnis der einzelnen Religionsgemeinschaften untereinander auswirken [Kapitel H.III.]. Damit im Dialog aber wirklich eine geeignete Rechtsgrundlage für das Leben des einzelnen Menschen geschaffen werden kann, muss dieser auch selbst seine Verantwortung in Politik und Religion wahrnehmen [Abschnitt H.IV.3.].

2. Grundprinzipien des europäischen Religionsrechts Am Ende dieser Arbeit dürfte kein Zweifel mehr daran bestehen, dass die Europäische Union tatsächlich auch mit religiös relevanten Angelegenheiten zu tun hat und dass ihre Rechtsordnung gar nicht so wenige Normen dazu enthält. Diese finden sich freilich über viele Bereiche verstreut und sind nicht systematisiert, ja divergieren mitunter sogar. Um die Erkenntnisse zusammenzufassen, soll im Folgenden versucht werden, Grundprinzipien des europäischen Religionsrechts herauszuarbeiten.329 Wegen der starken Kontraste innerhalb dieses ______________ 329

Selbstverständlich kann der Katalog der Prinzipien erweitert oder anders geordnet werden. Robbers nennt als Grundstrukturen des zukünftige gemeineuropäischen Religionsrechts die Religionsfreiheit, Neutralität, Toleranz, Gleichbehandlung und Respekt vor kulturellen und historischen Erfahrungen (Verhältnis der Europäischen Union, 642). Corral Salvador / García Picazo nennen die wechselseitige Unabhängigkeit und Autonomie, die gegenseitige Zusammenarbeit, den Primat der menschlichen Person und den Primat der Souveränität Gottes (Iglesia, 114-116). Dalla Torre (Costituzione, 407) als religionsrechtliche Prinzipien, die sich aus dem Verfassungsvertrag ergeben: Der Schutz des religiösen Phänomens, die Anerkennung der Inkompetenz der EU und der Kompetenz der Religionsgemeinschaften in religiösen Angelegenheiten, die Kompetenz der EU, die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass die Religionsgemeinschaften ihre Aufgaben erfüllen können. Als gemeinsame Prinzipien in den staatskirchenrechtlichen Systemen Europas nennt Ferrari die Religionsfreiheit des Einzelnen, die Unzu-

IV. Abschließende Betrachtungen

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Rechtsbereichs erweist es sich als sinnvoll, diese Prinzipien jeweils als Paare einander entgegen gesetzter Begriffe darzustellen. (1) Individuell – institutionell: Einen Grundpfeiler des europäischen Religionsrechts bildet das Grundrecht auf Religionsfreiheit (Art. 9 EMRK, Art. 10 und Art. 14 GRCH, Art. II-70 und Art. II-74 VVE), das zunächst individuell verstanden wird [Kapitel B.I.]. Im Mittelpunkt steht der einzelne Mensch mit seinem religiösen oder auch nicht-religiösen Leben.330 Eine Möglichkeitsbedingung für die individuelle Religionsfreiheit ist die institutionelle bzw. korporative, die den einzelnen Religionsgemeinschaften zukommt [Kapitel C.I.]. Institutionelle Rechte ergeben sich auch aus der Schlusserklärung Nr. 11 des Vertrags von Amsterdam bzw. aus Art. I-52 Abs. 1 VVE. Es ist aber noch nicht abschließend geklärt, in welchem Ausmaß die Europäische Union das Selbstbestimmungsrecht achtet. (2) Gleichheit – Vielfalt: Sowohl bei den individuellen als auch bei den institutionellen Religionssubjekten ist die Europäische Union auf Gleichbehandlung bedacht (Art. 13 EGV, Art. 21 GRCH, Art. II-81 und Art. III-118 VVE).331 Da ein allzu formalistisch verstandenes Gleichheitsgebot aber zu Ungerechtigkeiten führen kann, wird ihm das Prinzip der religiösen Vielfalt gegenübergestellt (Art. 22 GRCH, Art. II-82 VVE), das in Zukunft wohl noch mehr Gewicht erhalten wird [Kapitel B.III.]. Dieses Prinzipienpaar trägt der gegenwärtigen religiös pluralistischen Gesellschaft in Europa Rechnung. (3) Unabhängigkeit – Zusammenarbeit: Kirche und Europäische Union sind voneinander unabhängig und autonom, sie stehen aber nicht beziehungslos nebeneinander, sondern sind auf vielfältige Weise miteinander verbunden und führen einen wechselseitigen Dialog, ja arbeiten auf dem einen oder anderen Gebiet sogar zusammen [Kapitel C.I. und D.I.]. Art. I-52 Abs. 3 spricht diesbezüglich von Dialog unter Achtung der jeweiligen Identität. Dabei ist die Kooperation kein der Unabhängigkeit widersprechendes Prinzip, sondern setzt sie voraus, da nur eigenständige Größen einen echten Dialog miteinander führen und zusammenarbeiten können. ______________

ständigkeit des Staates in Fragen der Religion und die Beziehung durch Zusammenarbeit (Toleranz, 154f.). Messner erkennt ein europäisches Paradigma der Beziehungen Staat / Religion mit den folgenden Prinzipien: Staatliche Neutralität, Selbstverwaltung der Religionsgemeinschaften, Zusammenarbeit mit dem Staat, Gleichbehandlung der Mehrund Minderheitsreligionen (Reconnaissance, 47). 330 331

Vgl. Corral Salvador / García Picazo, Iglesia, 115f; Ferrari, Toleranz, 154.

Gleichbehandlung als Prinzip des europäischen Religionsrechts: Robbers, Verhältnis der Europäischen Union, 642.

576

H. Beziehungen unter den einzelnen Staaten und Religionsgemeinschaften

(4) Nationale – europäische Ebene: Das Religionsrecht in Europa spielt sich auf mehreren Ebenen ab. Heikel ist vor allem die Frage, welche Kompetenzen diesbezüglich die Europäische Union erhalten und welche auf der Ebene der Mitgliedstaaten verbleiben sollen. Feststeht, dass beide Ebenen unvermeidlich Zuständigkeiten besitzen, die auch für religiöse Angelegenheiten relevant sind und dass diese miteinander koordiniert werden müssen [Kapitel C.I. und H.II.]. Die Schlusserklärung Nr. 11 zum Vertrag von Amsterdam bzw. Art. I-52 Abs. 1 VVE schützen das nationale Staatskirchenrecht vor übermäßigen Eingriffen durch die Union. (5) Bewahren – Verändern: Eng damit ist die Frage verknüpft, ob das vorhandene Religionsrecht in Europa möglichst erhalten bleiben soll, wie es ist, bzw. in welchem Ausmaß es verändert werden kann [Kapitel H.I.]. Über die ohnehin immer notwendigen Anpassungen hinaus, stellt die Europäische Union gewiss eine Herausforderung für weitere Veränderungen dar. Während Art. I-52 Abs. 1 VVE eine mehr konservative Zielrichtung besitzt, zeigt sich Art. I-52 Abs. 3 VVE eher offensiv und veränderungsfreudig. Diese fünf Prinzipienpaare stecken das Spannungsfeld ab, in dem sich das europäische Religionsrecht bewegt. Da zwischen den einzelnen Polen jeweils ein breites Spektrum an Möglichkeiten liegt, steht einer dynamischen Entwicklung und einer flexiblen Handhabung nichts im Wege, was sich freilich zu Lasten der Vorhersehbarkeit und Rechtssicherheit auswirkt. Da also noch vieles offen ist, zeigt sich umso mehr die Unerlässlichkeit des religiösen Dialogs, um innerhalb des zur Verfügung stehenden Spektrums wirklich die Lösung zu finden, die für beide Seiten angemessen ist.

3. Die Verantwortung jedes Einzelnen Vom einzelnen Menschen hat der Gang der vorliegenden Arbeit seinen Ausgangspunkt genommen (Teil B.), er stand – wenigstens implizit – immer in ihrem Mittelpunkt und mit ihm soll sie auch enden. Der einzelne Mensch ist derjenige, dem sowohl die Europäische Union als auch die Kirche jeweils auf ihre eigene Art letztlich dienen sollen, und auf ihn fällt es zurück, wenn sie keine Koordination zustande bringen. Aber er ist nicht nur passives Subjekt, sondern hat ebenso die Aufgabe, selbst aktiv an der Gestaltung seiner Lebensbedingungen mitzuwirken. Ob das europäische Projekt gelingen wird und ob es der Religion sowie der Entfaltung des religiösen Lebens den gebührenden Raum geben wird, liegt auch in seiner Verantwortung. Eine Möglichkeit, wie jeder mitwirken kann, bieten die Instrumente demokratischer Beteiligung in den Mitgliedstaaten und in der Europäischen Union. Christen sind gerufen, davon in verantwortlicher Weise gemäß der Botschaft

IV. Abschließende Betrachtungen

577

des Evangeliums Gebrauch zu machen. 332 So wirken sie als Sauerteig (vgl. Mt 13,33) in der Bevölkerung. Jeder Unionsbürger hat das aktive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament. Schon 1979 riefen die Bischofskonferenzen der EG-Länder dazu auf, vom Direktwahlrecht pflichtbewusst Gebrauch zu machen.333 Der Verfassungsvertrag bringt die Möglichkeit eines Bürgerbegehrens, das selbstverständlich auch von Christen für ihre Anliegen genützt werden kann. Da sie über ihre Kirchen europaweit organisiert sind, haben sie Aussicht darauf, die dafür notwendige Anzahl von einer Million Stimmen zu erhalten. Auch von Einzelnen und bereits jetzt durchführbar ist die Petition an das Europäische Parlament, die Inanspruchnahme des Fragerechts nach Art. 23 EGV oder einfach die Beteiligung an offenen Konsultationsverfahren der Europäischen Kommission via Internet. Auf diesen Wegen kann jeder Christ seine Überzeugung in den europäischen politischen Prozess einbringen, so dass der religiöse Dialog nicht nur mit den organisierten Religionsgemeinschaften, sondern mit jedem Gläubigen stattfindet und eine Basis ganz unten bei den einzelnen Menschen erhält. Neben der breiten Masse, die sich in Europa zum Christentum bekennt – etwa 80 % der Unionsbürger334 – bedarf es immer wieder einzelner herausragender Persönlichkeiten, die sich auf dem Hintergrund ihrer christlichen Weltanschauung ganz besonders dem europäischen Projekt verschreiben.335 Eine solche Gestalt war der französische Außenminister Robert Schuman, der in seiner berühmten Rede vom 9.5.1950 trotz der schrecklichen Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg Deutschland die Hand zur Versöhnung gereicht und damit den Grundstein für das Zustandekommen der Europäischen Gemeinschaften gelegt hat.336 Schuman hatte „eine klare Vorstellung über den Unterschied der ‚zwei Welten‟ im Sinne des hl. Augustinus“ und erkannte „die hohe und schwierige Aufgabe, den geistig-ethischen und den profan-weltlichen Standpunkt in einer oft delikaten, aber notwendigen Synthese miteinander zu ______________ 332 In dem Recht des Christen, eine kritische Funktion gegenüber der politischen und juridischen Organisation auszuüben, erblickt Huizing sogar einen Ersatz für die potestas indirecta in temporalibus (Kirche und Staat, 589). Für Ratzinger (Grundlagen) ist die Förderung des demokratischen Ideals die zeitgemäße Fortführung des Zwei-SchwerterModells von Papst Gelasius. 333

Bischofskonferenzen der EG-Länder, Erklärung zu den Wahlen für das Europäische Parlament. Wahl für Europa. 334

Vgl. Robbers, State and Church in the European Union, 578.

335

Vgl. Kasper (Beitrag, 446), für den heilige Männer und Frauen von heute die Zukunft Europas darstellen. 336

Vgl. Berkmann, Verhältnis, 73f.

578

H. Beziehungen unter den einzelnen Staaten und Religionsgemeinschaften

versöhnen“337. Aber schon lange bevor der europäische Einigungsprozess konkrete Gestalt anzunehmen begann, fehlte es nicht an Persönlichkeiten – darunter viele Heilige –, die Europa mit christlichem Geist geprägt haben. Der Ordensvater Benedikt von Nursia sowie die beiden Glaubensboten Kyrill und Methodius wurden wegen ihrer Bedeutung für Europa zu dessen Patronen erhoben. An ihre Seite wurden drei heilige Frauen als Mitpatroninnen Europas gestellt: Brigitta von Schweden, Katharina von Siena und Teresia vom Kreuz.338 Manche haben auch, wie etwa Thomas Morus, im Widerstand gegen eine ungerechte politische Autorität, die keine Religionsfreiheit gewährt hat, ihr Leben gelassen.339 Ohne Märtyrer werden zu müssen, kann auch heute jeder dazu beitragen, dass religiöse Rechte in Europa geschützt bleiben und zwar einfach dadurch, dass er sie tatsächlich in Anspruch nimmt. So bleibt etwa der Schutz des Sonntags dann am wirksamsten gesichert, wenn die Menschen die Sonntagsruhe auch tatsächlich einhalten,340 und das Recht der Eltern, ihre Kinder religiös zu erziehen, ist dann am besten geschützt, wenn sie ihren Kindern den Glauben wirklich weitergeben. Nur wenn von solchen Rechten tatsächlich Gebrauch gemacht wird, können sie plausibel verteidigt werden. Das weltliche Gemeinwesen kann die individuellen Freiheitsrechte nur gewähren, aber ihre Wahrnehmung nicht anordnen; die Kirche hingegen wirkt auf ihre verantwortliche Wahrnehmung kraft innerer Bindung hin. 341 Wenn der einzelne Mensch als Christ gemäß seiner religiösen Überzeugung lebt, leistet er als Unionsbürger gleichzeitig den besten Beitrag für ein geeintes Europa des Friedens und der Gerechtigkeit.

______________ 337

Lücker / Seitlinger, Schuman, 140 und 184.

338

Johannes Paul II., Spes aedificandi (1.10.1999). Speziell zu Katharina von Siena als Patronin Europas siehe Engelhard, Katharina von Siena, 183f. 339

Zum Vorbildcharakter von Thomas Morus für die europäische Politik: Palaver, Moral und Politik, passim. 340

Vgl. Eckert, EU-Verfassung, 23.

341

Kirchhof, Beitrag, 786.

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Gemeinsame Erklärungen Europäisches Parlament, Rat, die im Rat vereinigten Vertreter der Mitgliedstaaten, Kommission, Gemeinsame Erklärung gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, in: ABl. Nr. C 158 vom 25.6.1986, S. 1. Kommission, Parlament, Rat, Interinstitutionelle Erklärung über Demokratie, Transparenz und Subsidiarität, vom 25.10.1993, in: BullEG 10-1993, 124.

Rechtsakte ZBJI Gemeinsamer Standpunkt 96/196/JI betreffend die harmonisierte Anwendung der Definition des Begriffs „Flüchtling“ in Artikel 1 des Genfer Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, in: ABl. Nr. L 63 vom 13.3.1996, S. 2. Gemeinsame Maßnahme 96/443/JI, Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, in: ABl. Nr. L 185 vom 24.7.1996, S. 5.

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594

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Verwendung

von

Schriftliche Anfrage E-3443/96, Vorgehen der Kommission zu Scientology, in: ABl. Nr. C 186 vom 18.6.1997, S. 90. Schriftliche Anfrage E-0008/97, Förderung des Glaubenszentrums „Gute Nachricht“, in: ABl. Nr. C 186 vom 4.6.1997, S. 201. Schriftliche Anfrage P-2496/97, Sekten, in: ABl. Nr. C 21 vom 22.1.1998, S. 149. Schriftliche Anfrage E-2680/97, Aula Dei Karthause, in: ABl. Nr. C 82 vom 17.3.1998, S. 127. Schriftliche Anfrage E-0120/98, Beitrag zum Jahr des Heiligen Jakobus, in: ABl. Nr. C 223 vom 17.7.1998, S. 117. Schriftliche Anfrage E-2069/98, Möglichkeit der Anwendung des Programms "PHILOXENIA" auf den Jakobsweg, in: ABl. Nr. C 13 vom 18.1.1999, S. 143.

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Schriftliche Anfrage E-2178/98, Sekten in der EU, in: ABl. Nr. C 142 vom 21.5.1999, S. 8. Schriftliche Anfrage E-2283/98, Besteuerung von Kirchenkollekten, ABl. Nr. C 118 vom 29.4.1999, S. 51. Schriftliche Anfrage E-3269/98, ECHO-Skandal: Werden gefährliche Sekten mit EUGeldern finanziert? in: ABl. Nr. C 207 vom 21.7.1999, S. 44. Schriftliche Anfrage E-3537/98, Haushaltslinie 3029, in: ABl. Nr. C 135 vom 14.5.1999, S. 188. Schriftliche Anfrage P-1303/01, Arbeitnehmerrechte für Geistliche, ABl. Nr. C 340 E vom 4.12.2001, S. 215. Schriftliche Anfrage E-1341/01, Ansprüche auf Beschäftigung für Geistliche, in: ABl. Nr. C 81 E vom 4.4.2002, S. 21. Schriftliche Anfrage E-1583/01, EU-Ausschreibung für Orgeln, in: ABl. Nr. 340 E vom 4.12.2001, S. 240. Schriftliche Anfrage E-1586/02, Anbringung von Kruzifixen in allen öffentlichen Räumen der europäischen Institutionen, in: ABl. Nr. C 28 E vom 6.2.2003, S. 123. Schriftliche Anfrage E-2628/03, Weiterbehandlung der Entschließung des Europäischen Parlaments vom 5. April 2001 zu sexueller Gewalt gegen Frauen und insbesondere gegen Nonnen, in: ABl. Nr. C 70 vom 20.3.2004, S. 121.

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Canonesregister CIC/1983 c. 1 c. 3 c. 6 c. 7 c. 11 c. 16 c. 17 c. 18 c. 19 c. 20 c. 21 c. 22 c. 23 c. 28 c. 51 c. 76 c. 85 c. 87 c. 90 c. 96 c. 98 c. 100 c. 107 c. 110 c. 113 c. 114 c. 115 c. 116 c. 119 c. 122 c. 129 c. 135 c. 140 c. 144 c. 145 c. 149

185, 400 396, 437f. 307 489 75, 121, 400 491 493 323 92, 325, 391f., 395, 408, 462, 491 307 467 28, 404, 461-465, 467, 469-472 491 491 493 432 431 88, 103 431 75f., 122, 125 472 125 125 471f. 178f. 328f. 330, 336, 357 328f. 394 431 369 370 370 395 188 189f.

c. 164 c. 179 c. 197 c. 198 c. 204 c. 205 c. 208 c. 209 c. 210 c. 211 c. 212 c. 213 c. 215 c. 216 c. 217 c. 220 c. 221 c. 222 c. 223 c. 224 c. 225 c. 226 c. 227 c. 228 c. 229 c. 231 c. 242 c. 255 c. 271 c. 275 c. 278 c. 281 c. 282 c. 285 c. 286 c. 287

211 211 180, 404, 471, 473 395 76, 122, 400 76, 79, 402 76, 91, 125, 126, 190, 211 91, 190, 555 190, 320 219, 571 90, 211, 555 400, 402 211 219 93, 96 192 400, 431 86, 192f. 76, 89-91, 400 84f. 27, 83, 86, 93 93 83-93, 99f., 102f., 184f., 187, 403, 408, 553 189f., 211 93, 190 84f., 191f., 461, 473 180 457 431 88 104, 362 99 192 86f., 91, 103, 105, 185 86, 103 86, 103, 185

Canonesregister c. 288 c. 289 c. 298 c. 299 c. 300 c. 301 c. 312 c. 313 c. 321 c. 322 c. 326 c. 330 c. 331 c. 333 c. 336 c. 337 c. 339 c. 342 c. 343 c. 344 c. 345 c. 348 c. 360 c. 361 c. 362 c. 363 c. 364 c. 365 c. 368 c. 373 c. 377 c. 381 c. 383 c. 386 c. 392 c. 431 c. 433 c. 438 c. 439 c. 443 c. 447 c. 448 c. 449

86, 103 37, 86, 91, 105, 185 326 356, 358 194, 357, 373, 481 357, 361 180, 357, 360f., 373 357 358 356 358 292 292, 371 308, 371, 402 292 292 300 211, 298f. 299, 320 298f. 300, 298 300 302 292 93, 177, 180f., 185, 292, 307, 309, 386, 464 307 92, 310-314, 340, 555 180, 217, 309, 311-313, 318, 340, 437, 465 326 292 126 371, 457 75, 126 79 555 292, 326 180, 298, 330 365 126, 180, 211, 297 211 126, 180 180, 314, 321, 336, 340, 349, 367 327-329, 328, 369f.

c. 450 c. 455 c. 456 c. 458 c. 459 c. 460 c. 486 c. 491 c. 492 c. 494 c. 514 c. 518 c. 528 c. 529 c. 535 c. 536 c. 568 c. 660 c. 672 c. 686 c. 702 c. 708 c. 713 c. 747 c. 748 c. 750 c. 752 c. 755 c. 756 c. 759 c. 772 c. 787 c. 793 c. 794 c. 795 c. 796 c. 797 c. 798 c. 800 c. 802 c. 803 c. 804 c. 806 c. 807 c. 808

669 354f. 341, 345, 350, 369f., 457 341 322 253, 320-326, 330, 343, 561 211 192 192 211 211 211 126 75, 126 89, 192 191 211 126 185 103 431 431 363 99 79, 89f., 185-188, 194, 217, 219, 403, 408 78 90f. 90f. 374, 561 554, 571 571 373 217, 571 79, 93f. 94 99 94, 96 94f., 98, 185, 193 95, 185 95, 193 95 99, 194, 481 185, 341 99 194 194, 481

670 c. 844 c. 861 c. 864 c. 867 c. 869 c. 924 c. 983 c. 1059 c. 1061 c. 1062 c. 1075 c. 1095 c. 1105 c. 1117 c. 1127 c. 1136 c. 1148 c. 1163 c. 1215 c. 1244 c. 1246 c. 1247 c. 1254 c. 1255 c. 1261 c. 1262 c. 1263 c. 1265 c. 1268 c. 1270 c. 1274

Canonesregister 76, 564f., 568 51 400 93 566 477 36, 433 180, 185, 194, 460, 465, 489 395 341 489 491 461, 472 78 563 489 431 494 180 371, 373 101f., 341, 371, 374, 423 63, 66, 79, 101, 194 177, 180, 192-194 329 193 193 193 193 473 473 373, 376

c. 1283 c. 1284 c. 1286 c. 1290 c. 1292 c. 1299 c. 1305 c. 1306 c. 1310 c. 1323 c. 1325 c. 1344 c. 1364 c. 1369 c. 1375 c. 1388 c. 1397 c. 1421 c. 1445 c. 1491 c. 1500 c. 1524 c. 1611 c. 1642 c. 1672 c. 1673 c. 1674 c. 1692 c. 1714 c. 1732 c. 1752

479 473 191f., 461, 473 190f., 459, 465, 471, 473f., 489 373 193 462 462 193 432 432 186 78, 93 93 175 433 75 189 400 400 461, 472 395 493 491 185 128 400 489 341, 472 400 92, 395, 431, 493

CCEO c. 1 c. 4 c. 46 c. 78 c. 87 c. 84 c. 98 c. 100 c. 101 c. 102 c. 202

185 396, 437f., 451 353 365 371 354 353, 365 353 365 354 354

c. 322 c. 401 c. 402 c. 586 c. 671 c. 780 c. 781 c. 896 c. 901 c. 902 c. 908

354 86 85 78 565, 571 565 565 566 566 561, 558 561, 558

Canonesregister c. 1025 479 c. 1465 571 c. 1501 391-385, 462

c. 1504 28, 463 c. 1506 491 c. 1509 491

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Register der Sekundärrechtsakte Verordnungen VO (EWG) Nr. 1408/71 166 VO (EWG) Nr. 31/72 106 VO (EWG) Nr. 1608/76 147 VO (EWG, EGKS, EAG) Nr. 1859/76 106 VO (EWG, EGKS, EAG) Nr. 1860/76 106 VO (EWG) Nr. 3599/82 170 VO (EWG) Nr. 918/83 146, 481 VO (EWG) Nr. 2137/85 272 VO (EWG) Nr. 3201/90 147, 242, 476 VO (EWG) Nr. 3911/92 444, 473 VO (EG) Nr. 2454/93 170 VO (EG) Nr. 3665/93 170 VO (EG) Nr. 1257/96 171 VO (EG) Nr. 2223/96 241 VO (EG) Nr. 515/97 192 VO (EG) Nr. 550/97 207f., 242, 249 VO (EG, EGKS, EAG) Nr. 781/98 106 VO (EG) Nr. 1659/98 171, 242, 381, 428 VO (EG) Nr. 1687/98 242 VO (EG) Nr. 1749/1999 242

VO (EG) Nr. 214/2000 558 VO (EG) Nr. 45/2001 147, 168, 192, 373, 513 VO (EG) Nr. 993/2001 170 VO (EG) Nr. 1049/2001 376 VO (EG) Nr. 2157/2001 284 VO (EG) Nr. 1444/2002 242 VO (EG) Nr. 2236/2002 558 VO (EG) 1435/2003 272 VO (EG) Nr. 1568/2003 208 VO (EG) Nr. 1829/2003 477 VO (EG) Nr. 2201/2003 128, 173, 272, 433, 478, 483, 520, 525, 529, 535, 551, 566 VO (EG) Nr. 625/2004 381 VO (EG, EAG) Nr. 723/2004 106 VO (EG) Nr. 853/2004 71 VO (EG) Nr. 883/2004 166 VO (EG) Nr. 177/2005 558 VO (EG) Nr. 1698/2005 106 VO (EG) Nr. 1719/2005 244

Richtlinien RL 69/349/EWG 71 RL 72/462/EWG 71 RL 74/577/EWG 71 RL 75/431/EWG 71 RL 77/187/EWG 165, 167 RL 77/388/EWG 170 RL 83/90/EWG 71 RL 83/181/EWG 170 RL 85/362/EWG 170, 242, 244, 246 RL 87/404/EWG 26 RL 89/104/EWG 173, 481

RL 89/552/EWG 171, 373 RL 92/12/EWG 146, 481 RL 92/116/EWG 71, 147, 242, 478 RL 93/7/EWG 147, 171, 444, 473, 479 RL 93/42/EG 428 RL 93/104/EG 66, 67 RL 93/119/EG 71, 147, 242, 478, 482 RL 94/33/EG 67, 102, 481 RL 94/45/EG 167 RL 94/95/EG 148

Register der Sekundärrechtsakte RL 95/23/EG 71 RL 95/46/EG 33, 147, 167, 192, 244, 250, 373, 424, 502, 535 RL 97/67/EG 106 RL 98/33/EG 241 RL 98/50/EG 165, 167 RL 1999/44/EG 473 RL 2000/12/EG 171, 241, 244 RL 2000/31/EG 172 RL 2000/43/EG 120 RL 2000/78/EG 97, 99, 106, 109, 115, 117f., 120f., 147f., 155, 158, 166,

673

190, 208, 242, 247, 423, 474, 513, 558 RL 2001/29/EG 172 RL 2002/14/EG 167 RL 2002/73/EG 166 RL 2003/88/EG 67, 147f., 166, 241, 474, 481 RL 2004/18/EG 244f., 255 RL 2004/83/EG 72, 145, 246, 481 RL 2005/36/EG 172, 478, 521, 566

Register der Judikatur EGMR- und EKMR-Entscheidungen Agga 152, 205, 557 Angeleni 94 Canea 151, 481 Cha‟are Shalom ve Tsedek 71, 131, 158, 557 Darby 193 Demeester 104 Hasan und Caush 135, 151f., 205, 268f. Hoffmann 94 İ.A./Türkei 159 Iglesia Bautista 151, 158f., 263, 268 Kjeldsen 94f., 97f. Kokkinakis 205, 481, 557, 570 Konttinen 65, 114, 434

Larissis 570 Manoussakis 151f., 205, 268, 557 Matthews 46f. Metropolitankirche von Bessarabien 131f., 151f., 205, 236, 269, 481, 557 Muslim Community 131f., 151f., 557 Otto-Preminger-Institut 159, 273, 557 Pellegrini 237 Prüssner 153 Rommelfanger 154, 246 Şahin 72f. Thlimmenos 115 Tsirlis 278 Vergos 152, 159, 205, 273

EuGH- und EuG-Entscheidungen Angonese 474 Beuttenmüller 172, 479 Bosman 474 Burgoa 525, 527, 534 Cendoya 172, 479, 528 Centro 526, 530 Centros 282, 421, 550 Costa / ENEL 491 Dominikanerinnen-Kloster 508 Église de scientologie 22, 256 Evans 526, 530f. Gaki-Kakouri 482 Greenpeace 235 Guerra 375 Keck und Mithouard 69 Kramer 439, 445, 538

Lindman 193 Lindqvist 21, 164, 245, 502 lokale Kosten 440 Meroni 487 Nold 50f. Open Skies 529, 538 Prais 21, 33, 47, 63-65, 73, 106, 113-115, 236, 434, 453, 482 Steymann 33, 162, 165, 191, 247, 251, 281, 481 Stilllegungsfonds 445, 538 Suiker Unie 236 Überseering 282 Van Duyn 256 Van Roosmalen 33, 166, 191, 281, 362 Yusuf und Barakaat 527

Personen- und Sachregister Abgestimmte Rechtsetzung 423 Abkommen 198, 266, 440f., 446, 448f., 487, 529, 534 Abtreibung 154, 402, 408 ACEAC 326 ACERAC 326 Ad Gentes 318 Adenauer 293 AECAWA 326, 335 AEM 51, 53, 107, 139 aequitas 92, 392, 395, 413, 431-433, 469 AETR 442, 445, 538 Afrika 216, 351, 438 Aids 207 Alewiten 545 Altenheime 168 Altkatholische Kirche 544 Altverträge 262, 524, 528, 530- 536 amicus curiae 236 Anerkennungs-RückwirkungsKonstellationen 522 Anglikanische Kirche 544 Anhörungspflicht 207 Antidiskriminierungspolitik 105, 112, 118f. Apostasie 78 Apostolica Sollicitudo 298 Apostolicam Actuositatem 82, 84 Apostolische Exarchien 353 Apostolorum Successores 217, 323f. Apostolos Suos 323, 326, 333, 347, 369 APRODEV 543 Äquidistanz 550 Arbeitnehmerfreizügigkeit 35, 100, 127, 256, 474, 499, 514, 540, 556 Arbeitsrecht 41, 148, 156f., 161, 164167, 171, 188, 191, 377, 446, 454,

473f., 484-486, 496, 504, 508, 511f., 527, 530, 538 Arbeitsverbot 63 Archive 192 Aristoteles 176 Arzt 154 Assoziierungsabkommen 441 Atheismus 214 Athos 146, 480, 481 AU 343, 408, 438 Aufklärung 291, 410 Augsburger Religionsfrieden 81, 542, 562, 569 Ausbildung 97, 141, 145, 264, 319, 546, 560 Ausländer 520 Ausschüsse 231 Ausschuss der Ständigen Vertreter 233f. Außenbeziehungen 31, 32, 449 Außenkompetenz 341, 441-447, 451, 537 Austritt 78, 79, 553

Baden 172, 479, 520f., 523 Baden-Württemberg 172, 479, 520f. Barroso 104, 229, 296 Bayern 410, 523 Beamtenstatut 106, 113, 116 Begründungspflicht 493 Beichtgeheimnis 36, 105 Beihilfen 169f., 444, 446 Beitritt 47, 62, 142, 295, 399, 403f., 447, 523, 525, 528f., 533, 535, 537, 539, 541, 544f. Bekenntnisfreiheit 49 Belgien 71, 73, 98, 254, 259, 281, 309, 349, 372, 410, 521

676

Personen- und Sachregister

Bellarmin 186 Benedikt von Nursia 578 Benedikt XV. 127, 293, 426 Benedikt XVI. 25, 296, 333 Beobachter 308-311, 352, 390 Berlin 364, 523 Beruf 92, 99f., 109, 117, 120, 158, 166, 172, 208, 479 Berufsfreiheit 100, 137 Beschäftigung 69, 99f., 109, 117, 120, 147, 158, 166, 208, 256, 481, 558 Bildung 59, 60, 94, 97f., 172f., 193, 200, 221, 254, 335, 357, 363, 441443, 512, 537, 543, 551, 560 Bildungskongregation 372, 444 Binnenmarkt 255, 260, 417, 421, 472 Binnenschifffahrt 445, 538 Bioethik 219, 351 Bischofskollegium 292, 301 Bischofskonferenzen 78, 103, 189, 217, 253, 292, 298, 300, 313-329, 331-351, 353-355, 360, 367-370, 372f., 494, 561, 568, 577 Bischofssynode 81, 212, 297-299, 300-302, 319, 321, 325, 333f., 366368, 419, 555 Blasphemieverbot 171 Bologna-Prozess 444 bona-fides 388, 394, 403 Bonifaz V. 393 Brandenburg 523 Bremen 523 Brigitta 578 Brok 202-204, 231, 252, 385, 410, 517 Buddhismus 222, 278, 547 Bulgarien 279 Bundesländer 39, 522, 533 Bureau of European Policy Advisers 229 Bürgerbeauftragte 232, 381 Bürgerinitiative 103, 196, 200, 273, 379 bürgerliche Freiheit 45, 74, 80-89, 91f., 100-104, 123, 180, 184 Bürgernähe 196, 206, 266

Bürgschaften 86

Caritas 154, 169, 192, 200, 275, 358, 361, 506, 526 CCEE 124, 193, 298f., 301, 313f., 316f., 319, 322-325, 327-329, 331f., 334, 336-338, 342-345, 347, 349-352, 355, 360-363, 367-369, 561, 568, 571 CCME 543 CCPE 362 CELAM 314, 316, 319, 321, 323, 333, 335, 337f., 368 Cellule de Prospective 199, 205, 228 CER 544 CERAO 333, 335, 343 Charta Oecumenica 562, 568, 571 Christenrechte 400 Christentum 25, 80, 149, 181, 195, 221, 293, 409, 411, 418, 497, 540, 562, 577 christifidelis 76 Christophersen 201 Christophersen-Clause 202 Christus Dominus 315, 317, 319 CICM 361 CIDSE 361 clausula rebus sic stantibus 532, 533 Colloquium Europäischer Pfarrgemeinden 222 COMECE 68, 127, 138, 139, 182, 203, 218f., 221, 228, 230f., 233, 253, 257, 264, 275, 291, 298, 301, 309, 313f., 316f., 319, 323, 325, 326, 328, 329, 336-338, 340, 342, 345-352, 355, 360, 363, 368-370, 372f., 383, 408, 410, 452, 457f., 500, 503, 505, 506, 561, 564 common law 487, 490 communio 92, 122, 128, 188, 211213, 320, 332-334, 419, 561, 563 Cox 295 cuius-regio-Prinzip 499

Personen- und Sachregister Dänemark 71, 130, 153f., 171, 244, 246, 255, 262, 349, 478, 520, 542, 550 Daseinsvorsorge 169, 227, 358, 444, 446 Daseinsvorsorgemitteilung 169 Datenschutzrecht 21, 137, 161, 164, 167, 191, 195, 446f., 480 Datenschutzrichtlinie 137, 148 DBK 33, 427, 500 Dehaene 201, 203, 239 Delegation 53, 240, 306, 369, 370, 449, 458, 465, 486 Delegationen 240 Delors 22, 199, 205, 219, 228, 544 Demokratie 81, 96, 105, 182, 196, 201, 203-207, 210-213, 218, 224, 230, 237, 266, 273, 301, 380, 412, 541 Denkmäler 473 Derogation 467 Deutschland 21, 24f., 30, 33f., 36, 55, 57, 72, 98, 141, 162, 167f., 171, 255, 262f., 266, 275, 281, 283, 285f., 289f., 349, 371f., 419, 424, 444, 449, 453f., 457, 460, 467, 475, 483f., 486f., 499, 520, 522f., 542, 544f., 567, 577 Dialogergebnisse 413, 415, 423f., 454 Dialoggrundlage 209, 388, 391f., 397f., 407-409 Dialogkultur 206, 210, 380 Dialogpartner 198, 210, 215, 220, 224, 226, 231, 233f., 266, 268, 275, 292, 332, 353, 355, 356, 366, 368, 384, 387, 389, 390, 397, 409, 562 Dialogrecht 273, 375 Dialogstatus 253, 263-267, 269f., 272, 275-280, 282, 288f., 291, 454 Dialogverfahren 266, 277, 375, 380f., 383, 386, 448 Dienstherrenfähigkeit 281 Dienstleistungen von allgemeinem Interesse 169 Dienstleistungsfreiheit 127, 168, 172 Dienstrecht 188

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Dignitatis humanae 81, 174 Diözesanbischof 95, 103, 192f., 357f., 369, 457, 561, 568 Diözese 192, 330, 344, 350, 358, 360, 410, 561, 568 diplomatische Vertretung 240, 309, 310 Diskriminierungsgründe 110, 117, 119 Diskriminierungsverbot 42, 44, 72, 106, 108, 110f., 113f., 116-118, 120, 124, 158, 195, 387, 403, 456, 474, 521 Dispens 87, 103, 431 dissimulatio 432 Disziplinarrecht 154 Drittwirkung 109, 117, 406, 474 Dualismus 36, 82, 181, 290

Ecclesiae Sanctae 317, 319, 324 Ecclesiam Suam 214, 217, 386 économie sociale 168, 284f. EECCS 119, 228, 231, 234, 287, 500, 543 Effektivität 277, 382, 385 EGKS 46, 293f., 381, 486 EG-Symbol 26 Ehenichtigkeitsurteil 21 Eherecht 173, 462, 467 Ehescheidung 402 Eigentum 151, 404, 422, 441, 445, 450f., 508 Einheit 24-27, 124, 127, 152, 221, 224, 258, 264, 269, 293-296, 298, 303, 312, 333, 336, 342, 365f., 414f., 418, 494, 547, 553, 555-559, 561f., 569 Einzelermächtigung 161-163, 512 EJC 544 EKD 33, 410, 427, 500, 543, 567 Ekklesiologie 23, 212, 213, 300, 542, 557 Elsass-Lothringen 162, 533 Eltern 37, 50-52, 59, 93-98, 193, 405, 578 England 21, 155, 162, 263, 349

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Personen- und Sachregister

Enteignungen 255 Entwicklungshilfe 25, 427, 441, 456, 543 Entwicklungszusammenarbeit 170, 173, 227, 272, 418, 428, 441f., 537 Eparchien 353 Epikie 429-433 Erbe 23, 60, 71, 110f., 146, 159, 297, 381, 409-412, 444, 490, 500 Erwerbszweck 168, 244, 254, 259, 283, 514 Erziehung 59, 79, 93-97, 405, 428 Erziehungsrecht 52, 93, 96, 98f., 130 ESPACES 364 Estland 349, 451, 522f., 542 Etchegaray 316, 346 Ethikunterricht 98 Ethos 117, 148, 155, 166, 190 Eucharistie 477, 564f. Eurodiakonia 543 Europaheiligtum 373 Europäische Kommission 26, 53, 98, 137, 198, 201, 209, 226, 249, 263, 265f., 273, 278, 373, 379f., 382, 395f., 423, 425, 427, 449, 543 Europäische Schule 373 Europäisches Regieren 197, 200, 209, 229, 380, 382, 386, 395, 425 Europakonkordat 311, 370, 408, 444, 448, 450, 453, 475, 487 Europarat 28, 279, 293, 308f., 346, 350, 352, 360f., 544, 562 Euthanasie 402, 408 EWIV 272, 284 EWSA 196f., 199, 200, 204, 210, 225, 227, 237f., 249, 264f., 270, 271f., 277f., 286, 382 Exkommunikation 78, 433

FABC 326, 337 Fahne 26 Familie 21, 92f., 364, 372 Fanatismus 22 FCBCO 326

Feiertage 51, 63f., 68, 70, 101f., 116, 341, 371, 533 Finnland 65, 193, 349, 542 Fleisch 21, 71, 73, 129, 482 Flexibilität 65, 193, 211, 370, 385, 451, 458, 494f. Flüchtlingspolitik 72, 145, 219 Föderalismus 419, 543 Forschung 219, 235, 237 Frankreich 21, 30, 54, 71, 97, 144, 162, 205, 258, 265f., 283, 290, 302, 338, 349, 410, 422, 520f., 523, 533, 569 Frauen 72f., 106, 119f., 147, 149f., 209, 361, 408, 474, 549, 578 Freikirchen 257 Fremdenfeindlichkeit 47, 72, 145, 173 Freundschaftsklauseln 536 Frieden 22, 24f., 28, 81, 157f., 262, 293, 310, 557, 562, 569 Fürer 324, 327, 337, 343, 365, 367 Fundamentalismus 72f., 147, 149, 209, 408

GATT 534 Gaudium et Spes 81, 215 Gedankenfreiheit 253 gegenseitige Anerkennung 283, 444, 535, 566, 569 Geltungsgrund 465, 471 Gemeinwesen 23f., 26, 31f,, 45, 79, 83, 85, 94, 106, 123, 128f., 146, 160, 163, 165, 174, 178-180, 182187, 193f., 212, 214-218, 224, 302, 305, 308, 313, 338, 340, 386, 401, 407, 412, 427f., 482, 552, 572, 578 Gemeinwohl 57, 77, 80, 91, 123, 170, 176, 294, 296, 412, 420 gemischte Abkommen 449 gemischte Verträge 451 Generaldirektionen 227f., 230, 232 Gerechtigkeit 77, 86, 100, 355, 360, 431, 578 Gericht erster Instanz 234 Gerichtshof 58, 132, 234, 421

Personen- und Sachregister Gesandtschaftsrecht 175, 179f., 185, 240, 311, 340 Gesetzesinterpretation 493, 495 Gesundheitswesen 168, 441-444 Gewaltverzicht 388 Gewerkschaften 86, 104, 131, 235 Gewissensfreiheit 78, 131 Gewohnheitsrecht 330, 461, 463, 491, 495 Giscard d‟Estaing 203, 238, 295, 506 Glaubensfreiheit 49, 78 Glaubensverkündigung 79, 155 Glaubenswerbung 152f., 569f., 572 Gleichbehandlung 106, 111, 113, 115, 157, 159, 291, 495, 513f., 548, 553, 574, 575 Gleichheitsprinzip 106, 110, 115, 118, 125, 159, 273, 403, 547, 570 Gleichheitssatz 106, 110, 115 Gottesbezug 146, 411 Gottesdienst 49, 51, 63f., 66, 73, 101, 129 Griechenland 26, 48, 146, 155, 255, 262, 349, 410f., 481, 541, 570 Großbritannien 155, 550 group of policy advisers 228 Grundfreiheiten 42, 68, 168, 256, 260f., 272, 282, 408, 416, 472 Grundpflichtenkatalog 405 Grundrechtskatalog 399, 401, 403, 405, 407 Grundrechtskollisionen 134 grundrechtskonforme Interpretation 404 Grundrechtsschutz 42, 46, 56, 62, 67, 154, 156, 165, 280, 398f., 406-408 Gründungsfreiheit 152

Handelsabkommen 441, 537 Häresie 78 Herzog 238 Hierarchenkonvent 354 Hochschuldiplome 172, 478, 566 Homeyer 220, 230f., 301, 346, 348, 351

679

Humanismus 412 humanitäre Hilfe 171, 173, 227

IAEA 390 IKO 359-362 individuelle Religionsfreiheit 48-50, 54, 60, 78, 139, 142, 150, 153f., 157f., 575 Informationsfreiheit 375-377 Informationspflicht 375 INGOs 283, 286f., 291, 356 Initiativmonopol 227 Inkompetenz 146, 149, 160, 184, 195, 262, 574 Innenkompetenz 341, 443, 445, 538 Innozenz IX. 302 Instruktionen 462 Integrationsprozess 24, 34, 218, 364, 556 Inter Oecumenici 315 interreligiöser Dialog 214, 557, 564 Interventionsverbot 388, 390 Intimsphäre 192 Intoleranz 51, 107, 140, 159 IPbpR 51f., 107, 139, 140 IPwskR 51, 107 Irland 71, 281, 349, 487, 490, 557 Islam 41, 51, 63, 70, 120, 149, 209, 212, 222, 241, 257, 345, 351, 478, 482, 499, 512, 540, 544-547, 562 Islamischer Kooperationsrat 545 Israel 296, 460 Italien 21, 54, 55, 98, 113, 115, 162, 240, 338, 343, 349, 372, 422, 424, 438, 453, 457, 478, 500, 520, 523, 525, 528, 530, 535, 546, 549, 568 ius commune 414, 415 ius nativum 192-194, 307 ius publicum ecclesiasticum 31, 426 ius utrumque 414

JECI 361 Jenkins 119, 202

680

Personen- und Sachregister

Johannes Paul II. 24, 74, 77, 100, 176, 182, 194, 221, 294f., 297, 302f., 332, 346, 352, 359, 369, 416, 426, 488, 572, 578 Johannes XXIII. 81, 294, 558 Juden 63, 71, 73, 228, 562 Judentum 41, 222, 478, 540, 544 Jugendarbeitsschutz 67, 481 Jurisdiktionsgewalt 177, 292, 319, 330, 332, 333, 335, 349, 354f., 357, 368, 369, 567

Kanonisation 28, 464-468, 471-473, 475 Kapitalverkehrsfreiheit 256 Kartellrecht 69 Katharina von Siena 578 Kathedralkapitel 331 KEK 119, 202, 203, 287, 383, 410, 505f., 542-544, 556, 561, 567f., 571 Kindererziehung 94, 99 Kindergärten 168, 192, 509 Kirchenartikel 201, 203, 225, 249251, 383, 500, 503, 505, 507, 509, 511, 514-518 Kirchenerklärung 33f., 202f., 225, 243, 245, 247, 249-251, 262-264, 496, 500-513, 515-519 Kirchenfinanzierung 33, 170, 193, 194, 446, 535, 538 Kirchenfreiheit 130, 139, 141, 300 Kirchenprovinz 321, 330 Kirchenregion 298, 330 Kirchensteuer 167, 170, 535 Kirchenverträge 440, 453 Kleriker 37, 83, 85-89, 91, 103-105, 185, 189 Kodexreform 28, 84f., 87f., 90, 307, 321f., 343, 399, 419, 457, 459 Kohärenz 277, 382 kollektive Religionsfreiheit 129, 133, 145 Kollisionsrecht 36, 459, 565 Kommunikabilität 77, 392, 468

Kommunismus 142, 301 Kompetenzverteilung 162, 264, 279, 371, 449, 450, 539 Komplementarietät 36, 95, 128, 218 Komplementärprinzip 36-38, 100, 180, 212 Konkordate 35, 306, 311, 425f., 437, 439, 440, 443, 451, 453, 457, 462, 475, 487, 496, 520, 522-528, 530, 532-537, 539 Konstantin der Große 413 Konsultationspflicht 206, 379, 380 Konsultationsverfahren 204, 382, 396, 577 Konsultativstatus 286f., 356, 359, 360f., 389 Kontinentalkonzil 297, 333f., 368 Konventsmethode 238 Konzil 23, 24, 28, 31, 74, 77, 81f., 92, 123, 174-176, 180, 182f., 200, 212, 215f., 245, 292, 294, 297-300, 311, 314, 316, 319, 327, 332, 334, 339, 347, 358, 362, 365, 367f., 371, 409, 425, 427, 431, 461, 554f., 558f., 566 Kooperation 141f., 174f., 209, 253, 268, 277, 284, 321, 326, 352, 381, 408, 426f., 455, 508, 561, 575 Kooperationssystem 141, 164 Koordinierung 53, 313, 319, 333, 335f., 341, 359, 442, 524, 560 korporative Religionsfreiheit 97, 132, 134, 136, 138-140, 144f., 150-154, 156f., 160, 162, 174, 179, 235, 267, 274, 505 Krankenhäuser 168, 509 Krankenhausseelsorge 444 Krankenpflege 155 Kriminalität 173 Kruzifixe 73 KSZE 52-54, 140-142, 145, 210, 218, 279, 293f., 388, 392, 394, 402, 563f., 567 Kultstätten 151 Kultur 22, 25, 126, 169, 171, 173, 207, 209, 220f., 223, 233, 296, 305,

Personen- und Sachregister 315, 335, 382, 411, 441f., 497, 512, 537, 571 Kulturgüter 147, 170f., 473, 479 Kündbarkeit 532 Kurie 298, 302-304, 325, 334, 353, 372, 491, 559, 562 Kyrill 578

Ladenschluss 68 Laeken 22 Laien 82-88, 90, 99, 103, 184, 187189, 191, 193, 222, 308, 362, 403, 553, 571 Laienapostolat 82, 559 Laienrat 358f., 362 Laizität 54, 141, 149, 205, 410, 517, 550 Länderkonkordate 523, 533 Landeskirchentum 542 Lateinamerika 297, 316, 334, 361, 368 Lateranverträge 439 LEF 75, 78, 90, 125, 177f., 183f., 399 Legalitätsprinzip 494 Leo XIII. 74, 81, 182, 186 Lettland 349, 523, 542 Leuenberger Konkordie 566 Libanon 355 Litauen 349, 523, 536 Liturgie 155, 314, 319, 332 Lobbyismus 233 Loyalität 188, 190, 264, 277 Lückenschließung 392f. Lumen Gentium 32, 82, 84, 213 Luxemburg 98, 309, 344, 348f., 372, 523

Malta 297, 349, 478, 520, 522f., 525, 536 Malteserritterorden 364, 389, 439 Marella 316, 348 Markenrecht 173, 194 Markt der Religionen 548 Marktwirtschaft 422 Martini 223, 301

681

Matrikenbücher 191 Mecklenburg-Vorpommern 523 Medellín 297, 333, 368 Mediatisierung 44, 144, 416 Medina 546 Mehrebenenmodell 39f., 162 Meinungsäußerungsfreiheit 377 Meinungsfreiheit 103, 154, 165, 172, 265, 402, 435 Meldewesen 167 Menschenrechte 25, 39, 50, 52f., 60, 78-81, 91, 133, 186, 223, 263, 279, 296, 355, 360, 388, 397-403, 405, 407f., 412, 416, 426, 428, 490, 547 Menschenwürde 364, 407 Messfeier 63, 66 Methodius 578 Migration 22, 126, 341, 345, 499, 540, 545, 546 Militärdienst 37, 86, 104f. Militärseelsorge 173, 450, 531, 533 Minderheiten 52, 107, 113, 126, 140, 144, 160, 349, 435, 545 Mindestgröße 272 Mitentscheidung 230, 449 Mohammed 171, 546 Monnet 293 Moral 22, 50, 57, 75, 222, 430, 483, 490, 495, 578 Moschee 63f., 116 multijuridisches System 550f., 553

Nächstenliebe 155, 168, 482, 555 Namibia 440 nationale Identität 221, 262, 496f., 506, 518 Nationalität 123-126, 181 Nationalstaaten 176, 257, 302, 416, 556 Naturrecht 80, 387, 397, 489f., 495 Nebenintervenient 235 Neutralität 152, 158, 241, 248, 268, 504, 531, 574 Neuverträge 528, 537

682

Personen- und Sachregister

Nichtigkeitsklage 62, 235, 400, 515 Nichtregierungsorganisationen 208, 227, 287, 389, 442, 454 Niederlande 98, 372, 483 Niederlassungsfreiheit 69, 127, 244, 254, 259, 283f., 522 Niedersachsen 523 Nordamerika 336, 351 Nordirland 557 Nordrhein-Westfalen 523 Normkonflikt 35, 429, 432, 434 Notenwechsel 440, 451 Notstandskompetenz 538, 539 Nunc Nobis 319f., 324f. Nuntiatur 175, 309f., 313 Nuntius 38, 179, 240, 289, 292, 306-310, 312f., 346, 351f., 384, 386

470, 159,

168,

294, 381,

OAU 343, 408, 428, 438, 452 ÖBK 103 OCIPE 363 Offenheit 77, 189, 193, 206, 213, 226, 266, 277, 332, 382-384, 392, 395, 459, 461, 466f., 483, 487, 521, 535 Ökumene 312, 345, 373, 556, 558-561 Ökumenismus 557, 559, 565 Orden 80, 87, 178, 250, 275, 359, 362f. Ordensleute 83, 87f., 103f., 362 ordre-public 468, 483 Organisationsform 136, 154, 251, 270, 281, 361, 439 Organisationsstruktur 245, 270, 272, 349 Orgelbauer 255 ÖRK 481, 567 Orthodoxie 26, 541, 542, 569 Österreich 30, 34-36, 151, 168, 262, 268f., 274, 295, 349, 358, 371, 391, 494, 500, 522f., 530, 535, 544f. Ostkirchen 185, 353-355, 365, 559, 566, 568 OSZE 52, 53, 141, 218, 279, 293, 390

Pacem in Terris 74, 294 pacta sunt servanda 396, 524, 564, 565 paktierten Gesetz 424 Parität 158 Parlament 43f., 55, 66, 72f., 97, 103f., 149, 155, 169, 196f., 199, 209, 212, 219, 230, 232, 237, 243, 258, 280, 296, 310, 338, 378f., 399, 427f., 448, 482, 498, 523, 577 Parteien 86, 104, 120, 185, 207, 230232, 239, 269, 277, 286, 380, 394, 440f., 491, 502, 532f., 536 Partikularkonzilien 331 Partizipation 197, 277, 382 Pastor Bonus 303f., 559 Patriarchalsynode 354 Patriarchat 349, 365, 410, 541 Patriarchen 298, 353, 365f. Paul VI. 81, 176, 214, 216, 294, 302, 308, 316, 325, 328, 386, 559 Paulus 25, 181 PCI 298 Personalitätsprinzip 416 Personalpfarrei 126 Personenverkehrsfreiheit 294 Peterle 202f. Petitionsrecht 44, 103, 211, 232 Pfarrgemeinden 222, 561 Pius VI. 302 Pius XII. 81, 127, 182, 211, 294f., 314, 327 PLO 440 Pluralismus 95, 118, 160, 182, 204, 211f., 219, 222, 541, 554f. Polen 162, 221, 223, 289, 302, 349, 410f., 522f., 544, 576 Portugal 231, 349, 478, 500, 520, 523, 525, 535f. potestas-directa-Lehre 186 potestas-indirecta-Lehre 186 Präambel 23, 59, 60, 109, 111, 118, 138, 196, 285, 406, 409, 411f., 490, 498, 568 Preußen 523

Personen- und Sachregister Priester 36, 82, 84, 88, 104, 124, 222, 362, 446, 571 Prinzip der begrenzten Ermächtigung 259, 511 Prinzip der Trennung 148, 160, 428, 485 Privatautonomie 109, 117f. Privatrecht 415, 459, 467f., 472, 488, 551 Privatschulen 59, 95-97, 172 Privatsphäre 73, 149, 376 Prodi 219, 228, 230, 295f. Professverhältnis 191 Proselytismus 569-572 Protektionssystem 548 Protestantismus 216, 542-544 Puebla 297, 333, 368 Putativehe 395

Rahmenrecht 165, 484, 494f., 568 Rahmenvereinbarungen 452 Rasse 120, 124f., 399 Rassismus 47, 72, 145, 173 Ratsbeschluss 448 Ratspräsidentschaft 53, 233, 240, 384 Rechnungshof 226 Recht auf Gehör 377 Rechtsangleichung 164, 260, 282, 415, 496, 516, 566f. Rechtscharakter 28f., 75, 213, 314, 315, 323, 476, 482, 489, 495, 568 Rechtsgrundsätze 46f., 54, 147, 388, 391-394, 403, 462, 489, 565 Rechtsschutz 62, 400f., 479, 485 Rechtssicherheit 257, 329, 439, 495, 516, 576 Rechtsstaatlichkeit 412 Rechtssubjekt 42, 44, 45, 74, 76, 105, 117, 257, 264, 284, 331, 390, 397 Rechtsvereinheitlichung 453, 567 Rechtsvergleichung 48, 142, 156, 247, 401 Redemptionis Sacramentum 477 Reformation 257, 540, 559, 562 Regelmäßigkeit 239, 300, 383f.

683

Regimini Ecclesiae universae 302304, 559 Reichskonkordat 444, 452, 523 Religionskompetenz 161, 163, 545 Religionsrecht 29f., 31, 33f., 39f., 4850, 53, 108, 116, 132, 137, 141143, 150, 154, 158, 160f., 163, 165168, 171f., 205, 209f., 227, 234f., 241, 245, 250, 252, 256, 258, 260, 273, 275, 282f., 286, 290, 428, 453, 456, 486, 496-501, 503, 510, 512, 515f., 519, 527f., 530, 532f., 535, 576 Religionsunterricht 93, 95f., 98f., 129, 141, 172, 341, 371f., 443, 475, 531 Religionswechsel 51, 80, 153, 552, 570 Religionszugehörigkeit 23, 97, 105, 113-115, 117, 119f., 123, 406, 474, 535, 548, 552 religiöse Vielfalt 238, 276, 547, 554, 557 Repräsentativität 265, 271, 273, 332, 336, 349, 353 res mixtae 157 Reziprozität 240 Rheinland-Pfalz 523 Richterrecht 490f. Richtlinienumsetzung 282, 485f., 503 Rücksichtnahmepflicht 497, 512, 513, 514, 515, 518 Rumänien 353

Saarland 523 Sachsen 523 Sachsen-Anhalt 523 Sachverständigen-Hearing 232 Sacrae disciplinae leges 488 Sacram Liturgiam 315 Sakrament 23f., 488 Sakramentenempfang 400, 402 Säkularinstitute 87, 103 Säkularisierung 132, 179, 296 salus animarum 431, 494 Santer 228, 230

684

Personen- und Sachregister

Schächten 70-72, 120, 242 Scharia 546, 551 Schisma 78 Schlussakte von Helsinki 52f., 388, 392, 394 Schöffen 104 Schöpfung 82, 181, 360, 418, 555 Schottland 162, 349 Schuman 293, 577, 578 Schweden 21, 164, 255, 349, 435, 451, 522f., 542, 578 Scientology 21, 130, 151, 158, 256, 269 scolae europeae 98 SECAM 326, 343 SEDAC 326, 333, 342 Seelenheil 27, 185, 187, 412, 493 Sekten 230, 243, 256, 258, 280, 549 Selbstbestimmungsrecht 53, 134, 136f., 142, 147f., 151, 154f., 160, 166-168, 191, 454, 486, 575 Selbstverständnis 23, 34f., 166-168, 174, 179, 192, 199, 208, 212, 242, 248, 270, 282, 285, 290f., 371f., 388, 487, 530, 536, 553 Selbstverwaltung 139, 277, 530, 572, 575 SIGNIS 361 Single-Issue-Organisationen 275 SIPECA 346 Slowakei 289, 349, 523 Slowenien 349, 522f. Societas Europaea 284 societas perfecta 175-178 Sodano 306, 387, 411 soft law 51, 53, 210, 262, 402, 492 Solidarität 100, 136, 209, 219, 409, 417f., 422, 541 Sollicitudo omnium Ecclesiarum 216, 307 Sonntag 35, 63, 66f., 69f., 101, 114, 129 Sonntagsruhe 67, 101f., 104, 120, 204, 413, 578 Sonntagsschutz 35, 66-70 Souveränität 176-178, 390, 533, 574

Sozialcharta 68 Sozialethik 413, 415, 419, 541 Soziallehre 74, 100, 124, 187, 191, 412, 415-422 Sozialpartner 66, 167, 198, 224, 377, 484f. Sozialsysteme 168, 417 Spanien 55, 98, 144, 162, 302, 349, 372, 453, 478, 500, 520, 523, 525, 535, 546 Spenden 193, 263 Sport 165, 209 Staatensukzession 534 Staat-Kirche-Verhältnis 39, 195, 339, 343, 427, 437, 532 Staatsangehörigkeit 42, 44, 102, 106, 108, 110, 123, 125-128, 254, 474, 530 Staatsbürgerschaft 42-44, 76, 102, 121, 123, 127f., 254, 514 Staatsbürgerschaftsklauseln 35, 530f. Staatskirche 130, 155, 193, 246, 255, 262, 456, 508, 544 Staatskirchenrecht 29-31, 33-36, 38f., 137, 141-143, 155, 161, 163f., 168, 171f., 222, 242, 244, 377, 424, 427, 440, 451, 496, 498, 500f., 507-518, 523, 528, 576 Staatskirchentum 141, 156 Staatssekretariat 302f., 305f., 328, 344, 352, 359 Stammzellen 219, 235 Steuer 170, 181, 193, 512 Steuererhebungsrecht 281 Stiftungen 250, 289 Strafrecht 161, 173, 391 Subordinationsstruktur 390 Subsidiaritätsprinzip 124, 206, 262, 372, 415-420, 422, 452, 459, 494, 498f., 501, 503, 516 Superiorenkonferenzen 363 Superno Dei nutu 558 Suppletion 395 Supranationalität 566

Personen- und Sachregister Taufe 76, 79, 93, 153, 400, 565f., 568 Tauran 306 Teilkirchenverbände 326, 330 Teilrechtsfähigkeit 288, 331, 454 Tendenzschutz 148, 154 Teresia vom Kreuz. 578 Territorialitätsprinzip 353 Terrorismus 173 Thomas Morus 578 Thüringen 523 Tierschutz 21, 70 tolerantia 432 Toleranz 117, 157, 219, 433, 557, 574f. Torfaen Borough Council 68 Transparenz 207, 266, 278, 383f. Transzendenz 252 Treanor 39, 219, 230, 233, 264, 268, 313, 328, 346, 348, 351f., 385 Tschechien 349, 523, 542, 544 Türkei 145, 344, 471, 544

UCESM 363 UFME 364 Ukraine 355 Umsatzsteuer 170, 244 Umweltschutz 200, 237, 345, 389, 490 Une âme pour l‟Europe 228, 544 Ungarn 243, 349, 451, 522f., 542 UNIAPAC 361, 410 Unionsbürger 40, 42, 62, 112, 230, 232, 378, 382, 577f. Unionsbürgerschaft 43-45, 102, 123, 127f., 376 Unitatis Redintegratio 559 UNO 39, 73, 81, 107, 139, 286, 388, 390, 564 Urheberrecht 172, 471 USA 26, 81, 159, 264, 342, 367, 443 Utrechter Union 544

van Luyn 301 Verantwortlichkeit 46, 82, 174, 277, 350, 382, 396

685

Verbände von Bischofskonferenzen 314-316, 318, 320f., 323f., 326330, 332, 334f., 337-339, 342, 368f., 457 Verbindlichkeit 47, 54f., 118, 451, 465, 489, 491, 502f. Verbindungsstellen 227, 253, 363, 385, 543 Verbraucherschutz 200, 472, 490 Vereine 178, 254, 286, 289, 356-358, 361, 373 Vereinigte Königreich 66, 256, 262, 490 Vereinigungsfreiheit 103, 134f., 138f., 267 Vereinsrecht 173, 254, 259, 285, 291 Verfahrensrecht 472 Verfassung 22f., 34, 58, 60, 62, 76, 94, 111, 120, 142, 169, 201, 205, 211, 226, 252, 273, 279, 289-291, 297, 302, 326, 330, 362, 365f., 371f., 385, 393, 405, 409, 411, 419, 446, 468, 499, 507, 546, 578 Verfassungskonvent 201, 238, 306, 383, 408, 411 Verfassungsüberlieferungen 46-48, 55, 61, 96, 106, 141f., 148, 243, 393 Verfassungsvertrag 23, 34, 43, 47, 6062, 71, 95, 103, 110-112, 118, 139, 146, 160, 169, 173, 203-205, 210, 229, 232, 239f., 249-252, 262, 265, 267, 273f., 291, 375, 384, 386, 387, 409, 411, 418f., 422, 439, 446, 490, 505-507, 511, 515, 517, 574, 577 Verhaltenscodices 381 Verhältnismäßigkeitsprinzip 91, 157, 261, 395, 484, 498 Verjährung 395, 404, 471, 473 Verkaufsmodalitäten 69 Vermögensfreiheit 444 Vermögensrecht 161, 460, 464f., 472474, 480 Vermögensverwalter 473, 479 Verrechtlichung 488 Vertragsänderung 173, 529, 536

686

Personen- und Sachregister

Vertragsautonomie 455 Vertragsfreiheit 118, 473 Vertragsschlusskompetenz 442-445, 537, 539 Verwaltungsdekrete 462 Verweisungsnormen 460f., 464f., 468 völkerrechtliche Verträge 107, 208, 217, 306, 426, 437, 440-443, 452454, 456-458, 524, 533 Völkerrechtssubjekt 307, 339, 341, 388f., 392, 437, 439, 526 Völkerrechtssubjektivität 178, 240, 287-289, 292, 307, 339, 364, 389f., 436, 439, 442, 446, 453, 487 Volkskirche 246, 255, 281 von Deetzen 395 Vorabentscheidung 235, 486

Wahlrecht 44, 87, 102, 104, 127, 577 Währungsabkommen 441 Währungsunion 240 Wales 162, 349 Warenverkehr 69 Wehrdienstverweigerung 56, 402 Wein 147, 476-478 Weltanschauung 45, 51, 107, 119, 159, 162, 213, 251f., 507, 577 Weltcharakter 83, 86-88, 99 Weltinnenrecht 390 Weltkrieg 293, 362, 426, 533, 577 Weltregierung 388, 390

Weninger 201, 205, 218, 228f., 231, 256, 269, 277, 384, 412, 544, 547 wertende Rechtsvergleichung 48, 142 Wettbewerb 169, 255, 260f., 417, 420f., 548 Wettbewerbsrecht 169f., 173, 244, 421f., 548, 572 Wettbewerbssystem 548, 570, 572 Wirtschaftsunternehmen 246, 256, 269, 548, 572 Wohlfahrtspartei 46, 72f., 152, 268, 269, 483, 551, 553, 557 Wohlfahrtspflege 168, 209, 427, 543 Wohnsitz 125, 128, 378 WUCWO 361, 410

Zentralismus 452, 542 Zivilgesellschaft 199f., 202-204, 207, 210, 224f., 227, 229, 237-239, 265, 272f., 277, 282, 286, 294, 360, 364, 380, 382f., 395, 410, 416, 419, 425 Zivilisation 215, 410, 475f., 478, 481, 483 Ziviltrauung 552 Zolltarife 441 Zugang zu Dokumenten 44, 376 Zustimmungsrecht 380, 519 Zwang 78f., 154, 279, 281, 333, 428, 492, 495, 571 Zypern 349, 353, 541