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German Pages 112 Year 1990
KARL HEINRICH FRIAUF / RUPERT SCHOLZ
Europarecht und Grundgesetz
Schriften zum Europäischen Recht Herausgegeben von Siegfried M a g i e r a und D e t l e f M e r t e n
Band 1
Europarecht und Grundgesetz Betrachtungen zu materiell- und formalrechtlichen Problemen bei Schaffung und Umsetzung sekundären Gemeinschaftsrechts
Von
Karl Heinrich Friauf und
Rupert Scholz
Duncker & Humblot * Berlin
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Friauf, Karl Heinrich: Europarecht und Grundgesetz: Betrachtungen zu materiell- und formalrechtlichen Problemen bei Schaffung und Umsetzung sekundären Gemeinschaftsrechts / von Karl Heinrich Friauf u. Rupert Scholz. — Berlin: Duncker u. Humblot, 1990 (Schriften zum Europäischen Recht; Bd. 1) ISBN 3-428-06847-5 NE: Scholz, Rupert:; GT
Alle Rechte vorbehalten © 1990 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Satz: Klaus-Dieter Voigt, Berlin 61 Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISSN 0937-6305 ISBN 3-428-06847-5
Geleitwort der Herausgeber Das Interesse an Europa hat in den vergangenen Jahren neuen Aufschwung erhalten. Dies gilt zunächst für die Europäische Gemeinschaft als die intensivste Form der europäischen Integration. Sie hat mit der Ergänzung ihrer Gründungsverträge durch die Einheitliche Europäische Akte von 1986 und das ehrgeizige „Ziel 1992" an Attraktivität nicht nur für ihre Mitgliedstaaten und deren Bürger gewonnen, sondern auch für Drittstaaten, die sich um einen Beitritt oder doch engere Beziehungen zu ihr bemühen. Dies gilt weiter für die anderen europäischen Organisationen, insbesondere den Europarat und seine Institutionen zum Schutz der Menschenrechte, deren bewährte Einrichtungen für die neue und bessere Verständigung bei der Überwindung der europäischen Teilung zur Verfügung stehen. Dies gilt schließlich allgemein für die gegenseitigen Beziehungen der europäischen Staaten, die an Umfang und Intensität ständig zunehmen. Mit dieser immer engeren Verflechtung der europäischen Staaten und Völker auf wirtschaftlichem, kulturellem, sozialem und politischem Gebiet wächst der Bedarf an einer rechtlichen Ordnung des Annäherungs- und Einigungsprozesses. Auch das Recht befindet sich in der Entwicklung. Es muß auf neuartige Organisationsformen und Verfahren eingestellt werden, ohne daß dabei sein im nationalen Bereich bewährter und in langer Tradition erreichter Qualitätsstandard leidet. Die Bewahrung des Rechts ist ebenso wie diejenige der Demokratie oder der Menschenrechte keine Selbstverständlichkeit. Damit das Recht mit dem tatsächlichen Wandel Schritt hält, bedarf es ständiger Wachsamkeit und sorgsamer Überprüfung seiner Grundlagen unter veränderten Umständen. Die Reihe „Schriften zum Europäischen Recht" soll wissenschaftlichen Abhandlungen, die sich mit den angesprochenen Fragen der europäischen Rechtsentwicklung auseinandersetzen, ein Forum für eine weitere Öffentlichkeit bieten. Um die verschiedenen Aspekte der miteinander verbundenen Probleme zu erfassen, w i r d der Begriff des europäischen Rechts in einem weiteren Sinn verstanden, so daß er neben Fragen der inter- und supranationalen Ebene auch solche des nationalen Rechts einbezieht, die für die europäische Entwicklung von Bedeutung sind. Die Reihe möchte sich als Forum auch für kontroverse Rechtsansichten verstehen, die - auf wissenschaftlicher Grundlage und mit wissenschaftlicher Methode - Neuland betreten und Widerspruch hervorrufen. Herausgeber und Verlag erhoffen sich damit einen Beitrag zur Rechtsentwicklung in Europa, die der freien
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Geleitwort der Herausgeber
Entfaltung und sogleich der Verantwortung der Menschen im politischen, kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Bereich einen verläßlichen Rahmen verleiht. Siegfried Magiera
Detlef Merten
Vorwort Das europäische Gemeinschaftsrecht bestimmt mehr und mehr auch die nationalen Rechtsordnungen, überlagert mehr und mehr auch das Verfassungsrecht der einzelnen Mitgliedstaaten der EG. Im Zeichen der wachsenden Dynamik der europäischen Einigung, namentlich im Lichte des europäischen Binnenmarkts ab Ende 1992, nimmt dieser Entwicklungsprozeß immer stringentere Konturen an. Damit wächst aber auch das rechtliche wie rechtspolitische Konfliktpotential. Dies gilt vor allem für das Verhältnis von europäischem Gemeinschaftsrecht und nationalem Verfassungsrecht, im hiesigen Falle dem GG. Das besonders ausgebaute und stabile Grundrechtssystem des GG und sein in Europa wohl einzigartiges Rechtsschutzsystem formulieren immer neue Bewährungsproben sowohl für das europäische Gemeinschaftsrecht als auch für das nationale Verfassungsrecht und seine Bewahrung ebenso durch das BVerfG wie durch jene Organe der Bundesrepublik Deutschland, die an der Setzung und Weiterentwicklung des europäischen Gemeinschaftsrechts bei der EG mitwirken. Die grundsätzlichen Ziele und Entwicklungsrichtlinien sind hierbei klar: Es geht zum einen um die Entwicklung einer adäquaten und mit dem GG vergleichbaren europäischen Rechtsstaatlichkeit als auch um die Wahrung der Grundsubstanz der Grundstrukturen des nationalen Verfassungsrechts und seiner grundsätzlichen Identität. Die bisherige Rechtsprechung des BVerfG und des Europäischen Gerichtshofs hat hierzu bereits eine ganze Reihe sehr wichtiger Fortschritte bewirkt. Andererseits bestehen unverändert auch gewichtige Defizite in der europäischen Rechtsentwicklung, vor allem i m Bereich der Grundrechte und des grundrechtswahrenden Rechtsschutzes. Ein zentrales Beispiel für diese Problematik findet sich i m Entwurf einer Richtlinie des Rates zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Etikettierung von Tabakerzeugnissen i. d. F. vom 12. 5. 1989 (Dok. 6477/89). Diese EG-Richtlinie enthält essentielle Grundrechtsverletzungen, die aus der Sicht des GG nicht hinzunehmen sind. Dennoch soll diese Richtlinie geltendes Gemeinschaftsrecht werden bzw. den Mitgliedstaaten der EG zur Umsetzung in nationales Recht aufgegeben werden. Die hier vorgelegten Untersuchungen, denen zwei im Auftrag der Forschungsgesellschaft Rauchen und Gesundheit m.b.H. erstattete Rechtsgutachten zugrundeliegen, diskutieren.anhand dieser exemplarischen Problemstellung das Verhältnis von europäischem Gemeinschaftsrecht und denjenigen natio-
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Vorwort
nalen Verfassungsprinzipien, die aus der Sicht des GG und seines Gebots auch effektiven Verfassungsrechtsschutzes unabdingbar erscheinen. Im Ergebnis wird deutlich, daß in Fällen dieser oder ähnlicher Art das BVerf G ebenso wie die Bundesregierung als zuständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei der EG zur positiven Bewahrung und Sicherstellung der grundlegenden Wertentscheidungen aus dem Bereich der grundgesetzlichen Grundrechtsgarantien und eines effektiven Verfassungsrechtsschutzes gefordert bleiben. November 1989
Prof. Dr. Rupert Scholz Prof. Dr. Karl Heinrich Friauf
Inhaltsverzeichnis Karl Heinrich Friauf: Die Bindung deutscher Verfassungsorgane an das Grundgesetz bei Mitwirkung an europäischen Organakten I. Problemstellung
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II. Verfassungsrechtliches Umfeld und Eingrenzung der Problematik
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1. Grundgesetz und „,offene' Staatlichkeit"
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2. „Grenzüberschreitende" Tatbestände als Thema der Grundrechtsdogmatik
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3. Problemeingrenzung und Problemdifferenzierung
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4. Methodische und dogmatische Stringenz als unabdingbare Voraussetzungen einer problemadäquaten Thematisierung
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III. Die Maßstabsfunktion der nationalen Verfassung und die europäische Gemeinschaftsgewalt - bisherige Problemperspektiven
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1. Die verfassungsrechtlichen Grenzen der sog. Übertragung von Hoheitsrechten nach Art. 24 I GG
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a) Grundsätzliches
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b) Verfassungsrechtliche, insbesondere grundrechtliche Bindungen des „Übertragungs"-Gesetzes
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2. Sekundäres Gemeinschaftsrecht und nationale Grundrechte
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IV. Die Grundrechtsbindung der deutschen Vertreter im Rat der Europäischen Gemeinschaft
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1. Vorbemerkung: Zur spezifisch deutschen Grundrechtssensibilität
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....
2. Art. 1 I I I GG als Maßstabsnorm
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a) Zur umfassenden Grundrechtsbindung aller Äußerungen der Staatsgewalt
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b) Grundrechtsbindung nur der deutschen Staatsgewalt
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c) Grundrechtsbindung der deutschen Staatsgewalt auch beim Tätigwerden in grenzüberschreitenden Beziehungen
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3. Zur präventiv wirkenden Maßstäblichkeit der nationalen Grundrechtsordnung für die Mitwirkung der Bundesorgane an der Rechtsetzung des Rates der Europäischen Gemeinschaft a) Die grundrechtsgebundenen Mitwirkungsakte aa) Die zu beurteilenden Handlungen bb) Die Mitwirkungsakte als grundrechtsgebundene Ausübungsformen deutscher öffentlicher Gewalt
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Inhaltsverzeichnis b) Zur präventiv wirkenden Maßstäblichkeit der nationalen Grundrechtsordnung aa) Die Untauglichkeit nachträglicher Einflußnahme zum Schutz der nationalen Grundrechte bb) Die Dynamik des Integrationsprozesses als Erosionselement der normativen Direktionskraft des Gesetzesvorbehalts i n Art. 241 GG 4. Schranken der Grundrechtsbindung?
V. Ergebnis
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Rupert Scholz: Europäisches Gemeinschaftsrecht und innerstaatlicher Verfassungsrechtsschutz
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1. Ausgangspunkte
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2. Zur Systematik von Gemeinschaftsrecht und innerstaatlicher Rechtssetzung
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3. Aktuelle Konfliktfälle
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4. Beispielhaft: Grundrechtswidrigkeit der EG-Tabakregelung
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5. Ausblick auf die EG-Rundfunkregelung
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6. Zum Grundrechtsstandard des Gemeinschaftsrechts
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7. Konflikte mit nationalen Grundrechtsstandards - Lösungsansätze des BVerf G
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8. Rechtsschutzgarantie zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalem Verfassungsrecht
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9. Nationale Mitwirkung an Gemeinschaftsakten und Prinzip der grundrechtseffektuierenden Verfahrensgestaltung
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10. Folgerungen am Beispiel der EG-Tabakregelung
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11. Ergebnisse
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Die Bindung deutscher Verfassungsorgane an das Grundgesetz bei Mitwirkung an europäischen Organakten Von Karl Heinrich Friauf I. Problemstellung
Mit dem Fortschreiten des Integrationsprozesses in der Europäischen Gemeinschaft, der zur Vollendung des Gemeinsamen Binnenmarktes bis zum 31. Dezember 1992 führen soll 1 , werden weite Bereiche des Wirtschaftsrechts, die bisher von den einzelnen Mitgliedstaaten in nationaler Zuständigkeit gestaltet worden sind, durch gemeinschaftsrechtliche Regelungen insbesondere durch die unmittelbar innerstaatlich geltenden Verordnungen und durch die Richtlinien, die von den Mitgliedstaaten unter Bindung an die im einzelnen vorgegebenen Ziele in nationales Recht umgesetzt werden müssen - erfaßt werden. Nach dem durch die Einheitliche Europäische Akte eingeführten Art. 100 a I 2 EWG-Vertrag erläßt der Rat auf Vorschlag der Kommission und unter Beteiligung des Europäischen Parlaments sowie des Wirtschafts- und Sozialausschusses mit qualifizierter Mehrheit die Maßnahmen zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten, die die Schaffung und das Funktionieren des Binnenmarktes zum Gegenstand haben. In dem Maße, in dem das sich ausweitende Gemeinschaftsrecht Regelungen der Mitgliedstaaten verdrängt oder überlagert, gewinnt das seit jeher virulente Problem der Aufrechterhaltung nationaler Grundrechtssubstanz auch in den in die Zuständigkeit der Gemeinschaft fallenden Bereichen 2 zunehmend an Bedeutung. Rechtsetzungsakte, die die Organe der EG im Rahmen der ihnen übertragenen Zuständigkeiten erlassen haben (sog. sekundäres Gemeinschaftsrecht), beruhen auf Gemeinschaftsgewalt. Sie sind, einmal wirksam gewor1 Art. 8 a des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, in der Fassung gem. Art. 13 der Einheitlichen Europäischen Akte, vom 17./28. Februar 1986, BGB1. 1986 II, S.1102. 2 Siehe dazu aus deutscher Sicht jüngst R. Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz und Europäisches Gemeinschaftsrecht. Die Überprüfung grundrechtsbeschränkender deutscher Begründungs- und Vollzugsakte von Europäischem Gemeinschaftsrecht durch das BVerfG, Baden-Baden 1989; M. Herdegen, Europäisches Gemeinschaftsrecht und die Bindung deutscher Verfassungsorgane an das Grundgesetz, EuGRZ 1989, S. 309ff.
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Karl Heinrich Friauf
den, grundsätzlich nur an die Rechtsordnung der Gemeinschaft selbst, nicht an das Verfassungsrecht der einzelnen Mitgliedstaaten gebunden. Von der mitgliedstaatlichen Verfassung her könnten sie allenfalls insofern mittelbar in Frage gestellt werden, als geltend gemacht würde, daß eine bestimmte Zuständigkeitsübertragung auf die Gemeinschaft nach Art oder Umfang mit den geltenden verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht vereinbar sei. Demgegenüber gehört die Umsetzung und Durchführung des Gemeinschaf tsrechts - von der Ausführungsgesetzgebung zu EG-Richtlinien über den exekutiven Vollzug bis zur Anwendung durch die Gerichte - zur nationalen Sphäre 3 . Die entsprechenden Maßnahmen der mitgliedstaatlichen Organe sind prinzipiell verfassungsgebunden 4. Allerdings lehnt das Bundesverfassungsgericht seit dem sog. Solange II-Beschluß vom 22. Oktober 19865 eine Überprüfung am Maßstab des Grundgesetzes insoweit ab, als die Vollzugsakte den sie bindenden gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben Rechnung tragen 6 und die verfassungsgerichtliche Kontrolle des Vollzugsakts deshalb zwangsläufig mittelbar zur Kontrolle der Vorschriften des sekundären Gemeinschaftsrechts würde. Die Betroffenen sind insoweit allein auf die auf Gemeinschaftsebene geltenden Kontrollmaßstäbe verwiesen. Die Vertragswerke, auf denen die Europäische Gemeinschaft beruht, enthalten selbst keine Grundrechtsgewährleistungen. Allerdings hat der Europäische Gerichtshof in einer längeren Entwicklung seiner Rechtsprechung unter Berufung auf die gemeinsamen Rechtsüberzeugungen der Mitgliedstaaten eine Reihe von ungeschriebenen Rechts- und Freiheitsverbürgungen - die sog. EG-Freiheiten - anerkannt 7 . Auf sie kann sich der einzelne gegenüber Gemeinschaftsakten berufen. Die Realisierung dieser Rechtspositionen setzt freilich voraus, daß demjenigen, der geltend macht, in einer seiner vom EuGH anerkannten EG-Freiheiten verletzt zu sein, auf Gemeinschaftsebene ein geeigneter Rechtsweg zur Verfügung steht. 3 Überblick bei A. Weber, Rechtsfragen der Durchführung des Gemeinschaftsrechts i n der Bundesrepublik, Köln 1987. 4 Zu den Rechtsschutzmöglichkeiten im einzelnen vgl. Weber (Fn. 3), S. 95 - 117. s BVerfGE 73, 339. 6 Zum Solange II-Beschluß siehe H. P. Ipsen, Das BVerfG löst die GrundrechtsProblematik, EuR 1987, S. Iff.; Hilf, Solange II: Wie lange noch Solange?, EuGRZ 1987, S. Iff.; Scherer, Solange II: Ein grundrechtspolitischer Kompromiß, JA 1987, S. 483ff.; Kloepfer, EG-Recht und Verfassungsrecht in der Rechtsprechung des BVerfG, JZ 1988, S. 1089 ff. 7 Dazu siehe etwa Bleckmann, Die Entwicklung Europäischer Grundrechte, DVB1. 1978, S. 457ff.; Pernice, Grundrechtsgehalte im Europäischen Gemeinschaftsrecht, Baden-Baden 1979; Bahlmann, Der Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, EuR 1982, S. Iff.; ders., Europäische Grundrechtsperspektiven, in: Festschrift für Karl Carstens, 1984, Bd. I, S. 17 ff.; D. Feger, Die Grundrechte im Recht der Europäischen Gemeinschaften, Frankfurt 1984; Schwarze, Schutz der Grundrechte in der Europäischen Gemeinschaft. Grundlagen und heutiger Entwicklungsstand, EuGRZ 1986, S. 293 ff.
Grundrechtsbindung deutscher Mitwirkungsakte
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Gerade bei den Richtlinien als der praktisch häufigsten und bedeutsamsten Rechtsetzungsform der Gemeinschaft fehlt aber ein solcher Rechtsweg, weil das Gemeinschaftsrecht eine Direktklage gegen Richtlinien beim EuGH nicht kennt. Für die von einer Richtlinie und deren Ausführungsgesetzen Betroffenen bedeutet das, daß sie weder primären Rechtsschutz beim EuGH (im Hinblick auf die Beachtung der EG-Freiheiten) noch sekundären Rechtsschutz beim BVerfG (im Hinblick auf die Beachtung der Grundrechte des Grundgesetzes) erlangen können. Soweit die EG-Freiheiten inhaltlich reichen und zugleich auch Wege zu ihrer prozessualen Durchsetzung zur Verfügung stehen, vermitteln sie den Gemeinschaftsbürgern eine zusätzliche grundrechtliche Schutzebene. Insofern trifft die Feststellung zu, „die Freiheiten der EG v e r s t ä r k t e n in ihrem Bereich den freiheitsverbürgenden Charakter der (nationalen) Grundrechte" 8 . Indessen darf nicht übersehen werden, daß die Einführung einer zusätzlichen Schutzebene nur dann zu einem Mehr an Grundrechtsschutz führen kann, wenn sie nicht durch eine Einbuße an Grundrechtsschutz auf nationaler Ebene überkompensiert wird. Materiell wird die Grundrechtsposition des einzelnen von der europarechtlichen Seite her nur dort verstärkt, wo die vom Europäischen Gerichtshof anerkannten EG-Freiheiten in ihrem Schutzumfang und ihrer Schutzintensität weiter reichen als die entsprechenden Verbürgungen der jeweiligen nationalen Verfassungsordnung. Wenn und soweit dagegen umgekehrt die EG-Freiheiten schwächer wirken als die thematisch einschlägigen Grundrechte eines Mitgliedstaats, wird für dessen Angehörige die Einbuße an nationalem Grundrechtsschutz, die mit der Kompetenzverlagerung auf die Gemeinschaftsorgane einhergegangen ist, nicht bzw. nicht vollständig durch die Möglichkeit der Berufung auf die EG-Freiheiten ausgeglichen. Obwohl sie formal eine neue „Grundrechtsebene" hinzugewinnen, büßen sie materiell an dem ihnen insgesamt zur Verfügung stehenden „Grundrechtsvolumen" ein. Gerade in dieser Situation befinden sich Bürger und Unternehmen im Geltungsbereich des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland. Das Grundgesetz hat einen besonders umfassenden Grundrechtsschutz eingeführt, der noch dadurch akzentuiert wird, daß nach Art. 1 I I I GG auch die gesetzgebende Gewalt in vollem Umfang an die Grundrechte gebunden ist. Demgegenüber ist der Grundrechtsschutz in der Mehrzahl der übrigen Mitgliedstaaten dezidiert schwächer. Insbesondere fehlt weithin eine ausdrückliche Unterwerfung des Gesetzgebers unter die Grundrechte. Großbritannien kennt überhaupt keine mit Verfassungsrang oberhalb der Ebene des einfachen Gesetzes ausgestatteten Grundrechte. 8 So Schmidt-Leithoff, Interdependenzen zwischen europäischem und deutschem Wirtschaftsrecht, JZ 1988, S. 430 ff. (440).
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Da der Europäische Gerichtshof die von ihm als Bestandteil des Gemeinschaftsrechts anerkannten Grundrechtsverbürgungen 9 aus den gemeinsamen Rechtsüberzeugungen der Mitgliedstaaten ableitet, liegt auf der Hand, daß sich dabei ein durchschnittlicher Standard herausbilden muß, bei dem keine Gewähr dafür besteht, daß die besonders strengen grundrechtlichen Anforderungen einzelner Mitgliedstaaten in vollem Umfang respektiert werden. Ungeachtet der im Grundsatz beifallswürdigen Bestrebungen des Gerichtshofs, die Gemeinschafts Verträge durch ein System von ungeschriebenen Gemeinschaftsgrundrechten zu implementieren, muß deshalb von der Möglichkeit eines Grundrechtsgefälles zwischen dem einzelnen Mitgliedstaat - speziell der Bundesrepublik Deutschland - und der Gemeinschaft ausgegangen werden. Die Übernahme eines bestimmten Regelungsbereichs durch die Organe der EG führt dann für die Angehörigen der betroffenen Mitgliedstaaten, die nunmehr unmittelbar mit den Rechtsakten der Gemeinschaft konfrontiert sind, materiell zu einer Einbuße an Grundrechtsschutz. Beim Zustandekommen wesentlicher Organakte der EG, namentlich bei den Beschlüssen des Rats, sind nun aber deutsche Staatsorgane beteiligt. Abgesehen von den Fällen, in denen die Gemeinschaftsverträge eine (qualifizierte) Mehrheitsentscheidung des Rates vorsehen und der Vertreter der Bundesrepublik Deutschland im Rat überstimmt worden ist, beruht das Zustandekommen der betreffenden Akte mit auf der zustimmenden Willensbildung der - durch den in den Rat entsandten Bundesminister repräsentierten - Bundesregierung. Damit entsteht die ausschlaggebende Frage nach der grundrechtlichen Einbindung der deutschen Mitwirkungsakte auf EG-Ebene: Unterliegt der deutsche Mitwirkungsakt - insbesondere die Zustimmung des Vertreters der Bundesrepublik im Rat zu einem Ratsbeschluß - dergestalt einer Bindung an das Grundgesetz, daß einem Beschluß nur dann zugestimmt werden darf, wenn er die materiellen Anforderungen der Grundrechte des Grundgesetzes wahrt? Oder darf der deutsche Vertreter auch an EG-Maßnahmen mitwirken, die auf deutsche Staatsangehörige und Unternehmen anwendbar sind und dabei stärker in ihren Freiheitsbereich eingreifen, als das bei voller Respektierung der Grundrechte des Grundgesetzes zulässig wäre? Anders gewendet: Befreit der Schritt auf die Ebene der Gemeinschaft ein Organ bzw. einen Funktionsträger, der sein Mandat auf die deutsche Verfassungsordnung zurückführt, von den materiell-rechtlichen Bindungen, denen er nach eben dieser Verfassungsordnung unterliegen würde? Die hier aufgeworfene Problematik ist bisher nicht Gegenstand von verfassungsgerichtlichen Entscheidungen gewesen. Daß sie nicht lediglich 9 Zu den einschlägigen Entscheidungen aus jüngster Zeit siehe die Rechtsprechungsberichte von Hilf / Willms, EuGRZ 1987, S.176ff.; 1987, S. 377ff.; 1988, S. 53 ff. 1988, S. 396ff.
Grundrechtsbindung deutscher Mitwirkungsakte
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theoretische Bedeutung besitzt, belegt jüngst das Verfahren, in dem eine Kammer des II. Senats des Bundesverfassungsgerichts den Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung gegen die Bundesregierung wegen Unzulässigkeit der zugrunde liegenden Verfassungsbeschwerde zurückgewiesen hat 1 0 . Wegen der von ihm angenommenen Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde 11 brauchte das Gericht auf die Frage der verfassungsrechtlichen Einbindung der Bundesregierung bei ihrer Mitwirkung im Rat nicht einzugehen. In einer Anmerkung zu dem Beschluß 12 , die erst nach Abschluß der vorliegenden Abhandlung erschienen ist, lehnt Nicolay sen eine Bindung der Bundesregierung mit dem pauschalen Argument ab, ihre Zustimmung zu einer EG-Richtlinie sei „ein Akt der Mitwirkung an gemeinschaftsrechtlicher, also nichtdeutscher Rechtsetzung, und ... insoweit nur unselbständiger Teil der Handlung eines Gemeinschaftsorgans" 13 . Dabei bleibt indessen offen, woher - wenn nicht aus dem Grundgesetz - die Bundesregierung ihre Kompetenz ableitet. Kann aber, so wird zu fragen sein, eine aus dem Grundgesetz abgeleitete Kompetenz, in welchem Zusammenhang sie auch ausgeübt werden mag, Immunität gegenüber den inhaltlichen Anforderungen des Grundgesetzes (Art. 1 III, 20 I I I GG) in Anspruch nehmen?
I I . Verfassungsrechtliches Umfeld und Eingrenzung der Problematik 1. Grundgesetz und »„offene' Staatlichkeit"
Das Verfassungsrecht des modernen Staates im ausgehenden 20. Jahrhundert ist nicht mehr mit der gleichen Ausschließlichkeit einzelstaatsbezogen, wie das früher charakteristisch war. Es hat die tradierten nationalstaatlichen Strukturen zwar nicht aufgegeben, hat sie aber doch in wesentlichen Punkten „durchlässiger" gemacht. Dabei läßt es sich von der Einsicht leiten, daß die elementaren Staatsauf gaben: Frieden, Sicherheit und materielles Wohlergehen der Bürger zu ermöglichen und zu gewährleisten, heute nur noch bedingt in nationalstaatlicher Isolation erfüllt werden können. Unter den historischen Bedingungen internationaler Verflechtungen, die auf zahlreichen Gebieten gewachsen sind, läßt sich eine effektive Daseins Vorsorge 10 BVerfG Beschl. v. 12. 5.1989 - 2 BvQ 3/89 - , EuGRZ 1989, S. 339f. = EuR 1989, S.270ff. 11 Zutreffende K r i t i k an der Begründung des Beschlusses bei Herdegen, EuGRZ 1989, S. 309ff. (313, mit Fn. 49). 12 Nicolaysen, Tabakrauch, Gemeinschaftsrecht und Grundgesetz. Zum BVerfGBeschluß vom 12.5.1989, EuR 1989, S. 215ff. 13 EuR 1989, S. 215ff. (218).
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im Inneren und zugleich eine ausreichende Existenzsicherung nach außen hin nur noch in zwischenstaatlicher Kooperation gewährleisten 14 . Dabei ist gerade die Bundesrepublik Deutschland in besonderem Maße in internationale Interdependenzen eingebunden. Ihre Auslandsbeziehungen sind an der Schnittlinie von Ost und West besonders intensiv. Sie ist als einer der großen Industriestaaten der Erde in einen weltweiten Personenund Wirtschaftsverkehr eingebunden, der die nationalen Grenzen längst gesprengt hat. Vor diesen Entwicklungen konnte auch die Rechtsordnung die Augen nicht verschließen. Sie hat ihnen durch eine Reihe von Vorkehrungen auf verschiedenen rechtlichen Ebenen - vom Verfassungsrecht bis hin zu den einzelnen fachbezogenen Rechtsgebieten - Rechnung getragen. Dem komplexen politischen und sozio-ökonomischen Beziehungsgeflecht, in dem sich die deutsche Staatsgewalt befindet, entspricht auf der normativen Ebene eine Verflechtung der Rechtsordnungen. Sie schafft die Brücke vom nationalen (Verfassungs-)Recht zum Völkerrecht, dem europäischen Gemeinschaftsrecht sowie dem internationalen Privat-, Prozeß-, Straf- und Verwaltungsrecht 15 und über die in diesen Gebieten enthaltenen Anwendungsvorschriften zu den einzelnen ausländischen Rechtsordnungen 16 . Vor allem im Rahmen des europäischen Gemeinschaftsrechts können zwischenstaatliche (supranationale) Organe 17 Hoheitsakte mit unmittelbarer Rechtswirkung gegenüber der Bundesrepublik Deutschland und ihren Bürgern erlassen. Dieser Durchgriff außerstaatlicher Instanzen auf den Bürger und seine (grundrechtlich geschützte) Stellung wird dadurch ermöglicht, daß das Grundgesetz aufgrund seiner prinzipiell völkerrechtsfreundlichen Tendenz in Art. 24 GG die Ermächtigung zur „Übertragung von Hoheitsgewalt" auf zwischenstaatliche Einrichtungen erteilt hat 1 8 . Parallel dazu hat 14 Vgl. dazu etwa U. Scheuner, Die internationalen Probleme der Gegenwart und die nationale Entscheidungsstruktur, in: Regierbarkeit. Studien zu ihrer Problematisierung, hrsg. von W. Hennis u.a., 1977, S. 255ff.; M. Zuleeg, Zum Standort des Verfassungsstaats im Geflecht der internationalen Beziehungen, DÖV 1977, S. 462 (467); Ch. Tomuschat, Der Verfassungsstaat im Geflecht der internationalen Beziehungen, W D S t R L 36 (1978), S. 7 (16 - 18); K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, § 14 I u. § 15 I (S. 474ff. u. 516ff.). 15 Zum letzteren vgl. jüngst J. Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, Bd. 1, 1988. 16 Siehe auch K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I I I / l : Allgemeine Lehren der Grundrechte, 1988, § 72 V 1 (S. 1224f.). 17 „Supranationalität" kennzeichnet eine spezifische Kooperationsform souveräner Staaten, wie sie prototypisch in der Europäischen Gemeinschaft realisiert worden ist. Sie geht nach Art und Intensität weit über die traditionellen Formen zwischenstaatlicher Zusammenarbeit auf völkerrechtlicher Ebene hinaus. Eine eindeutige begriffliche Abgrenzung konnte allerdings bis heute nicht erreicht werden. Vgl. dazu etwa R. Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, 1985, § 34 I I 1 (S. 161 f.); jüngst T. Buergenthal / K. Ooehringl H. G. Maier / J. Kokott, Grundzüge des Völkerrechts, 1988, S. 47f.; ausführlicher H. P. Ipsen, Über Supranationalität, in: Festschrift für Ulrich Scheuner, 1973, S. 211ff. " Siehe auch Stern, Staatsrecht ΠΙ/1, § 72 V 1 (S. 1226).
Grundrechtsbindung deutscher Mitwirkungsakte
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es in Art. 25 GG die allgemeinen Regeln des Völkerrechts zum Bestandteil des Bundesrechts erklärt und ihnen sogar den Vorrang vor dem nationalen Gesetzesrecht beigelegt. Aufgrund einer Gesamtschau der Art. 24 bis 26 GG und vor dem Hintergrund der Präambel des Grundgesetzes 19 konnte Klaus Vogel mit Recht eine „Verfassungsentscheidung für eine ,offene' Staatlichkeit" konstatieren 20 . Seine These ist auf einhelligen Beifall gestoßen21. 2. „Grenzüberschreitende" Tatbestände als Thema der Grundrechtsdogmatik
Die vom Grundgesetz zugelassene und angestrebte Öffnung der Staatlichkeit nach außen hin stellt die Verfassungsrechtsdogmatik im allgemeinen und die Grundrechtsdogmatik im besonderen vor überaus schwierige und komplexe Probleme. Die Frage nach der „Wirkkraft der Grundrechte bei Sachverhalten mit grenzüberschreitenden Elementen" 22 ergab sich ansatzweise zwar auch schon in früheren Verfassungsordnungen, etwa soweit es um die Gewährleistung von Grundrechtsschutz im Zusammenhang mit diplomatischen oder konsularischen Aktivitäten ging. Sie hat aber unter dem Grundgesetz eine völlig neue Dimension gewonnen und ist durch die Errichtung der „supranationalen" Europäischen Gemeinschaften nochmals akzentuiert worden. Trotz der weittragenden Bedeutung des Grundrechtsschutzes bei den immer zahlreicher werdenden Sachverhalten mit Auslands- oder Gemeinschaftsbezug hat man dieses Thema lange Zeit kaum problematisiert. Auch heute sind seine vielfältigen Problemvarianten noch nicht vollständig durchdacht und zufriedenstellend gelöst worden 23 . Insbesondere fehlt nach wie vor eine umfassende dogmatische Untersuchung der Tragweite, die Art. 1 I I I GG, nach dem alle drei Staatsfunktionen an die Grundrechte 19 „... von dem Willen beseelt, ... als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen .. 20 K. Vogel, Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit (Recht und Staat, H. 292/293), 1964, S. 42 u. öfter. 21 Vgl. beispielsweise H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 52; P. Häberle, Der kooperative Verfassungsstaat, in: Recht und Gesellschaft. Festschrift für Helmut Schelsky zum 65. Geburtstag, 1978, S. 141 (148); M. Zuleeg, Der Verfassungsgrundsatz der Demokratie und die Europäischen Gemeinschaften, Der Staat 17 (1978), S. 27 (30); Ch. Tomuschat, in: Bonner Kommentar zum GG (Zweitbearbeitung), Art. 24 Rn. 3; O. Rojahn, in: I. v. Münch (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd. 2, 2. Aufl. 1983, Art. 24 Rn. 2. 22 So der Titel eines Aufsatzes von M. Schröder, in: Staatsrecht - Völkerrecht Europarecht. Festschrift für Hans-Jürgen Schlochauer zum 75. Geburtstag, 1981, S. 137 ff.; siehe jüngst auch die gründliche Darstellung von M. Heintzen, Auswärtige Beziehungen privater Verbände, 1988, S. 96ff. 2 3 So zu Recht Stern, Staatsrecht I I I / l , § 72 V 2 (S. 1226).
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gebunden sind, bei grenzüberschreitenden Sachverhalten - namentlich auch bei der hier interessierenden Mitwirkung deutscher Staatsorgane an Entscheidungen zwischenstaatlicher Einrichtungen - erlangt. Wir stehen deshalb vor der Aufgabe, die Strukturen eines spezifischen grundrechtlichen Kollisionsrechts zu entwickeln 24 . Ein bedeutsames Teilergebnis des Bemühens um die Bewältigung dieser Aufgabe bedeutet für den Bereich des Internationalen Privatrechts jüngst die Einführung des Art. 6 EGBGB 2 5 . Satz 2 dieser Vorschrift bestimmt, daß Rechtsnormen eines anderen Staates „insbesondere nicht anzuwenden (sind), wenn die Anwendung mit den Grundrechten unvereinbar ist". Diese Novellierung ist nicht zuletzt durch den sog. Spanier-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 1971 26 , die „wohl wichtigste deutsche Entscheidung im IPR des 20. Jahrhunderts" 27 , angestoßen worden 28 . Das Bundesverfassungsgericht hebt in dieser Entscheidung die zentrale Bedeutung der Grundrechte auch bei „grenzüberschreitenden" Sachverhalten hervor. Es stellt dazu nachdrücklich fest: „Auch im IPR ist von der Leitnorm des Art. 1 Abs. 3 GG auszugehen, die im Geltungsbereich des Grundgesetzes alle staatliche Gewalt mit unmittelbarer Wirkung an die Grundrechte bindet" 2 9 . Der grenzüberschreitende Bezug eines Hoheitsakts eximiert ihn nicht vom unbedingten Geltungsanspruch der Grundrechte 30 . 3. Problemeingrenzung und Problemdifferenzierung
Die vorliegende Untersuchung hat sich nicht die Aufgabe gestellt, die aufgezeigte Problematik in voller Breite auszuloten. Es geht ihr nicht um die umfassende Entwicklung eines grundrechtlichen Kollisionsrechts für alle Tatbestände mit grenzüberschreitenden Elementen. Gegenstand der nachfolgenden Erörterungen ist vielmehr allein die Problemdimension, die aus 24 Vgl. in diesem Zusammenhang schon H. Bernstein, „Ein Kollisionsrecht für die Verfassung", NJW 1965, S. 2273ff. 25 Durch das Gesetz zur Neuregelung des Internationalen Privatrechts (IPR) vom 25.7.1986, BGBl. I, S. 1142; vgl. dazu etwa den Überblick bei J. Basedow, Die Neuregelung des Internationalen Privat- und Prozeßrechts, NJW 1986, S. 2971 ff. (dort, S. 2975, auch zu A r t . 6). 26 BVErfGE 31, 58. 27 So die Bewertung durch Ch. v. Bar, Internationales Privatrecht, 1. Bd., Allgemeine Lehren, 1987, Rnn. 234ff. 28 Siehe auch BT-Drucks. 10/504, S. 20 u. 44; vgl. ferner die Beschlußempfehlung und den Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drucks. 10/5632, S. 35. 29 BVerfGE 31, 58 (72f.) - Hervorhebung hinzugefügt. 30 Auf den Gleichklang zwischen dem Spanier-Beschluß und dem sog. Solange I-Beschluß (BVerfGE 37, 271), die beide den hohen „Stellenwert des innerstaatlichen Grundrechtsschutzes im internationalen Bereich" hervorheben, weist Η. A. Stöcker, Grund- und Menschenrechte bleiben im Zweifel unberührt. Völkerrechtliche Implikationen des innerstaatlichen Grundrechtsschutzes, JZ 1976, S. 45 (46), mit Recht hin.
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dem Postulat einer grundrechtsadäquaten Einbindung der Bundesrepublik Deutschland in das Recht und die Institutionen der Europäischen Gemeinschaften resultiert. Eine solche Einbindung ist nicht ausdrücklich im Gemeinschaftsrecht verankert worden. Die Gründungsverträge der Europäischen Gemeinschaften 3 1 enthalten, im Gegensatz zu dem nicht in Kraft getretenen Vertrag über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft 32 , keinen ausdrücklichen Vorbehalt zugunsten der nationalen Grundrechte 33 . Die bei den Vertragsverhandlungen u. a. von der deutschen Delegation geforderte Einführung einer Bestimmung über den Vorrang der nationalen Verfassung ist seinerzeit ausdrücklich abgelehnt worden 34 . Das Grundrechtsthema kann im Zusammenhang mit der Europäischen Gemeinschaft auf drei Problemebenen Bedeutung erlangen. Auf jeder von ihnen kommen jeweils unterschiedliche verfassungsrechtliche Maßstäbe in Betracht: (1) Zunächst muß unmittelbar bei der Errichtung der Gemeinschaften und dem Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zu ihnen angesetzt werden. Insoweit handelt es sich um die Frage nach Tragweite und Grenzen der auf Art. 24 GG beruhenden Ermächtigung an den Bundesgesetzgeber zur „Übertragung" von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen. In diesem Zusammenhang ist zu fragen, welchen grundrechtlichen Schranken das gemäß Art. 24 I GG zu erlassende Gesetz unterliegt. Es geht also um die grundgesetzlichen Grenzen der Integrationsgewalt. (2) Die zweite Problemebene betrifft die Frage einer Maßstabsfunktion des nationalen Verfassungsrechts für das unterhalb der Ebene der Gemeinschaftsverträge stehende Recht der Europäischen Gemeinschaften. Dabei geht es vor allem darum, ob - bei unterstellter Gültigkeit des „Übertragungs"-Gesetzes - eine von der zwischenstaatlichen Einrichtung aufgrund übertragener Kompetenzen geschaffene Norm (sog. sekundäres Gemein31 Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) vom 18.4.1951, BGBL 1952 II, S. 447. - Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) vom 25. 3.1957, BGBL II, S. 766. - Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom) vom 25.3.1957, BGBL II, S. 1014; heute geltend in der Fassung der Einheitlichen Europäischen Akte vom 17./28.2.1986, BGBL II, S. 1102. Einen Überblick über die Gründungsverträge gibt z.B. L.-J. Constantinesco, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften, Bd. I: Das institutionelle Recht, 1977, S. 149 ff. 32 BGBL 1954 II, S. 343. 33 Art. 3 § 1 des EVG-Vertrages lautete: „Die Gemeinschaft... greift nur ein, soweit dies zur Erfüllung ihrer Aufgabe erforderlich ist; sie wahrt dabei die staatsbürgerlichen Rechte und die Grundrechte des einzelnen." 34 Vgl. dazu etwa J. Kropholler, Die Europäischen Gemeinschaften und der Grundrechtsschutz, EuR 1969, S. 128 (131 f.); C. F. Ophüls, Urteilsanm., NJW 1963, S. 1751 f. (1751).
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schaftsrecht), die die gemeinschaftsrechtlichen Bindungen einhält, aufgrund der durch Art. 24 I GG bewirkten Öffnung des innerstaatlichen Bereichs 35 in jedem Fall innerstaatlich verbindlich ist oder ob ihre innerstaatliche Geltung von einer Konkordanz mit Anforderungen des nationalen Verfassungsrechts, namentlich der Grundrechte, abhängt. (3) Die beiden eben umrissenen Fragestellungen beschreiben die traditionellen Problemperspektiven, die die bisherige Diskussion beherrscht haben 36 . Dabei hat man das Augenmerk allein auf die beiden Pole des europäischen Rechtsetzungsprozesses gerichtet: auf die Schaffung der (primären) vertraglichen Grundlagen für die Tätigkeit der Gemeinschaft einerseits und auf das fertig in Gestalt von (sekundären) Rechtsnormen vorliegende Ergebnis dieser Tätigkeit andererseits. Dagegen blieb der Entscheidungsprozeß selbst, der diesem Ergebnis vorgelagert ist und zu ihm hinführt, vollständig ausgeblendet. Auf dieser zwischengeschalteten dritten Ebene wirken deutsche Staatsorgane, namentlich die im Rat der Gemeinschaft repräsentierte Bundesregierung, am Zustandekommen des sekundären Gemeinschaftsrechts mit. Es muß deshalb gefragt werden, ob sie bei dieser Mitwirkung an die Grundrechte des Grundgesetzes gebunden sind. Die letzte dieser drei Problemdimensionen besitzt zentrale Bedeutung. Sie bildet den Gegenstand der im folgenden anzustellenden Überlegungen. Die Untersuchung greift damit ein Problem auf, dessen Thematisierung sowohl in der deutschen Staatsrechtslehre als auch in der europarechtlichen Fachdiskussion bisher 37 nahezu vollständig vernachlässigt worden ist 3 8 . Bevor dieses zentrale Thema der Untersuchung angegangen werden kann, besteht vorab Anlaß zu einer kurzen Betrachtung der beiden anderen Problemebenen. Sie scheint erforderlich, um das Problem des Rückgriffs auf nationale Grundrechte im Zusammenhang mit der Tätigkeit der Europäischen Gemeinschaft in voller Breite ausloten zu können.
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Zu dieser Funktion des Art. 24 I GG siehe unten Abschnitt III. 1. Charakteristisch etwa Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, 1985, §40 I I 2 c (S. 205); vgl. auch M. Kloepfer, EG-Recht und Verfassungsrecht in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, JZ 1988, S. 1089 ff. 37 Es finden sich allenfalls wenige knappe Andeutungen. Siehe insbes. G. Meier, Die Mitwirkung der Bundesregierung bei der Gesetzgebung des Rates der Europäischen Gemeinschaften, NJW 1971, S. 961 (965); vgl. auch die Formulierungen bei H. v. Meibom, Der EWG-Vertrag und die Grundrechte des Grundgesetzes, DVB1. 1969, S. 437 (441 f.): Bei grundrechtswidrigen, aber nicht den Wesensgehalt antastenden Verordnungs- bzw. Richtlinienvorschlägen dürfe das deutsche Ratsmitglied „nur zustimmen, wenn kein verfassungskonformer Weg zur Erreichung des Gemeinschaftsziels gegeben ist." 38 Einige weitere knappe Bemerkungen zu dem Thema sind, veranlaßt durch den BVerfG-Beschluß vom 12.5.1989 (oben Fn. 10), nach Abschluß des Manuskripts erschienen; siehe Nicolaysen, EuR 1989, S. 215ff. (218); Herdegen, EuGRZ 1989, S. 309 ff. (313). 36
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4. Methodische und dogmatische Stringenz als unabdingbare Voraussetzungen einer problemadäquaten Thematisierung
Wer die Frage nach der Direktionskraft der mitgliedstaatlichen Grundrechte im Kontext gemeinschaftsrechtlicher Normsetzung stellt, betritt ein Problemfeld, das wie wenige andere im Bereich der heutigen verfassungsrechtlichen Erörterungen mit tiefgreifenden Emotionen belastet ist. Wie die bisherige Erfahrung bei der Diskussion über parallele Fragestellungen gezeigt hat, scheint es in der Grenzzone von nationalem Verfassungsrecht und Europäischem Gemeinschaftsrecht kaum möglich zu sein, emotionsfrei Argumente zu wägen. Nicht selten vermitteln einschlägige Stellungnahmen den Eindruck, es gehe hier weniger um das Abwägen rechtlicher Argumente als vielmehr um eine Auseinandersetzung zwischen „guten" und „schlechten" Europäern, die sich unversöhnlich gegenüberstünden. Aufschlußreich erscheinen insoweit insbesondere die Kontroversen, die im Zusammenhang mit der Meinungsverschiedenheit zwischen dem Bundesfinanzhof und dem Europäischen Gerichtshof über die Frage der unmittelbaren innerstaatlichen Anwendung von EG-Richtlinien 3 9 und mit der sog. Solange I-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 40 geführt worden sind. Sie sind durch ein außergewöhnliches Maß an Emotionalität geprägt, die sich teilweise schon in den Überschriften einschlägiger Stellungnahmen niederschlägt 41 . Statt rechtlicher Abwägungen w i r d vielfach eine Auseinandersetzung über die Scheinalternative „Sein oder Nichtsein der Europäischen Gemeinschaften" geführt 42 . Die Berufung auf das übergreifende „Erfordernis der gleichmäßigen Geltung des Gemeinschaftsrechts" 43 blockt die verfassungsrechtliche Erörterung ab, ehe sie noch recht begonnen hat. Vor diesem Hintergrund erscheint es angebracht, daran zu erinnern, daß auch der gemeinschaftsrechtliche Bezug eines Problems nicht von der Notwendigkeit einer stringenten verfassungsrechtlichen Analyse befreit. Man mag zwar im Ansatz verstehen können, daß sich vor allem ein Teil der Europarechtswissenschaft - im selbstbewußten Selbstverständnis einer neuen Rechtsdisziplin, die es weder mit klassischem Völkerrecht noch mit nationalen Normen zu tun hat 4 4 - in methodischer und dogmatischer Hinsicht gele39 Zuletzt insb. BFH-Urteil v. 25.4.1985, BFHE 143, 383. 40 BVerfG 37, 271. 41 Vgl. Ch. Tomuschat, „Nein, und abermals nein!", EuR 1985, S. 346ff.; M. Hilf, Solange II: Wielange noch solange?, EuGRZ 1987, S. I f f . 42 Siehe dazu auch H. H. Rupp, Nationaler Grundrechtsschutz in den Europäischen Gemeinschaften, in: Die Grundrechte in der Europäischen Gemeinschaft, 1978, S. 9
(18). 43
So erst jüngst wieder Nicolaysen, EuR 1989, S. 215 ff. (224). Vgl. dazu schon Κ. H. Friauf, Die Notwendigkeit einer verfassungskonformen Auslegung im Recht der westeuropäischen Gemeinschaften, AöR 85 (1960), S. 224 (225); ferner etwa BVerfGE 37, 271 (277). 44
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gentlich nicht gern an disziplinierende Vorgaben des einzelstaatlichen Verfassungsrechts gebunden fühlt 4 5 . Zu billigen ist eine derartige Betrachtungsweise aus verfassungsrechtlicher Sicht indessen nicht. Sie relativiert vorschnell die Geltungskraft der einzelstaatlichen Verfassung, ohne vorab die notwendige Vorfrage zu stellen (geschweige denn zu beantworten), ob bzw. unter welchen Voraussetzungen das nationale Verfassungsrecht solche Abstriche überhaupt hinnimmt. Eine intensivere dogmatische Auseinandersetzung mit dem Problemfeld erscheint deshalb vor allem im Blick auf die Grundrechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland und ihre normative Bindungswirkung als unabweisbares verfassungsrechtliches Postulat. Der bloße - scheinlegitimierende - Rekurs auf den „Grundsatz der Integrationsbereitschaft" der Bundesrepublik, wie er sich in diesem Zusammenhang im Schrifttum findet, erlaubt es jedenfalls nicht schon, „Abstriche am Schutzumfang der Grundrechte zu machen" 46 . Auch der Hinweis auf die Notwendigkeit einer einheitlichen Geltung des Gemeinschaftsrechts als „tragender Grund der Vorrang-Dogm a t i k " 4 7 postuliert eher zirkelschlüssig ein als notwendig vorausgesetztes Ergebnis, als daß er eine aus verfassungsrechtlicher Sicht tragfähige Begründung bieten würde 4 8 . I I I . Die Maßstabsfunktion der nationalen Verfassung und die europäische Gemeinschaftsgewalt bisherige Problemperspektiven
Um die volle Tragweite der Fragestellung nach der Grundrechtsbindung der deutschen Ratsmitglieder beim Zustandekommen von europäischen Organakten zu erschließen, erscheint zunächst ein Blick auf die Problemfelder angezeigt, auf denen die Frage nach einer Maßstabsfunktion des nationalen Verfassungsrechts im Kontext der Europäischen Gemeinschaften bisher aufgeworfen worden ist. Dabei geht es im wesentlichen um zwei Problembereiche 49 : (1) Zum einen um die Frage, welche verfassungsrechtlichen 45 Dazu bereits H. H. Rupp, in: Die Grundrechte in der Europäischen Gemeinschaft, S. 9 (11). 46 So aber Zuleeg, DÖV 1977, S. 461 (466) unter Berufung auf H. P. Ipsen, Bundesverfassungsgericht versus EuGH re „Grundrechte". Zum Beschluß des 2. Senats des BVerfG vom 29. Mai 1974 (BVerfGE 37, 271), EuR 1975, S. 1 (7). 47 Vgl. Nicolaysen, EuR 1989, S. 215 ff. (224). 48 Nicht ganz so weitgehend, aber ebenfalls ohne nähere methodische und dogmatische Ableitung die Empfehlung an das BVerfG von J. Abr. Frowein, Europäisches Gemeinschaftsrecht und Bundesverfassungsgericht, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz. Festgabe aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des BVerfG, 2. Bd., 1976, S. 187 (213), das Gericht solle bald Gelegenheit nehmen, „die Bedürfnisse der Integration und vor allem ihrer vollen rechtlichen Gleichheit im Gemeinschaftsgebiet mit dem wichtigen Anliegen eines Schutzes der Grundrechte in Einklang zu bringen". 49 Siehe bereits oben Abschnitt II. 3.
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Grenzen bei der „Übertragung von Hoheitsrechten" auf die Europäischen Gemeinschaften gemäß Art. 241 GG einzuhalten waren, (2) zum anderen um die Maßstabsfunktion des nationalen Verfassungsrechts für das sekundäre Gemeinschaftsrecht, insbesondere i m Zusammenhang mit seiner Anwendung in den einzelnen Mitgliedstaaten. 1. Die verfassungsrechtlichen Grenzen der sog. Übertragung von Hoheitsrechten nach Art. 24 I GG
a) Grundsätzliches Art. 24 I GG ermächtigt den Bund, durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen zu übertragen. Der vom Grundgesetz verwendete bildhafte Terminus „Übertragung" vermag dabei allerdings den komplexen Vorgang und die Funktion des Verfassungsartikels als „Integrationshebel" 50 nicht richtig wiederzugeben 51 . Nach der Formulierung des Bundesverfassungsgerichts ermächtigt Art. 24 I GG „nicht eigentlich zur Übertragung von Hoheitsrechten, sondern öffnet die nationale Rechtsordnung ... derart, daß der ausschließliche Herrschaftsanspruch der Bundesrepublik Deutschland im Geltungsbereich des Grundgesetzes zurückgenommen und der unmittelbaren Geltung und Anwendbarkeit eines Rechtes aus anderer Quelle innerhalb des staatlichen Herrschaftsbereichs Raum gelassen w i r d " 5 2 . Dieser „Gesamtakt staatlicher Integrationsgewalt" 53 hat weder etwas mit Übertragung noch mit Delegation im herkömmlichen Sinne zu tun 5 4 . Er bildet vielmehr einen Vorgang eigener Art, der durch die Neuschöpfung einer autonomen, supranationalen Hoheitsgewalt gekennzeichnet ist. Diese neue Hoheitsgewalt steht nunmehr eigenständig neben der Gewalt der Staaten 55 . 50 Vgl. H. P. Ipsen, Das Verhältnis des Rechts der Europäischen Gemeinschaften zum nationalen Recht, in: Aktuelle Fragen des europäischen Gemeinschaftsrechts, 1965, S. 26. 51 Siehe auch Tomuschat, in: BK, Art. 24 Rn. 15; Stern, Staatsrecht I, §15 113 (S. 523). 52 So BVerfGE 37, 271 (280); vgl. in diesem Zusammenhang auch A. Bleckmann, Zur Funktion des Art. 24 Abs. 1 GG, ZaöRV 35 (1975), S. 79ff. 53 H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 61. 54 Abzulehnen ist daher die sog. Hypothekentheorie (dazu D. Küchenhoff, Grundrechte und europäisches Staatengemeinschaftsrecht, DÖV 1963, S. 161,166; siehe ferner auch A. Ruppert, Die Integrationsgewalt, 1969, S. 84ff., m.w.N.). Nach ihr sollen die „übertragenen" Hoheitsbefugnisse mit sämtlichen ihnen aufgrund nationaler Bindungen anhaftenden Beschränkungen auf die zwischenstaatliche Einrichtung übergehen. Die Gemeinschaft sei aus diesem Grunde nach dem Grundsatz „nemo plus iuris transferre potest quam ipse habet" an die Grundrechte des Grundgesetzes - mit denen die fraglichen Kompetenzen von vornherein belastet waren - gebunden. 55 Ausführlicher hierzu Th. Maunz, in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Grundgesetz. Kommentar, Art. 24 Rnn. 7ff.; M. Zuleeg, in: (Alternativ-)Kommentar zum
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Die so verstandene Übertragung der Hoheitsrechte erfolgt gemäß Art. 24 I GG „durch Gesetz". Als Gesetz gilt in diesem Zusammenhang nur das förmliche Bundesgesetz. Ein bloßes Gesetz i m materiellen Sinne, namentlich eine Rechtsverordnung, genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht 5 6 . Die herrschende Ansicht legt dem Erlaß des Übertragungsgesetzes materiell den Charakter einer Verfassungsänderung bei, da die Übertragung von Hoheitsrechten „einen Eingriff in und eine Veränderung der verfassungsrechtlich festgelegten Zuständigkeitsordnung und damit materiell eine Verfassungsänderung" bewirke 57 . Diese inhaltliche Qualifizierung führt allerdings nicht dazu, daß das Übertragungs-Gesetz den für Verfassungsänderungen geltenden formellen Anforderungen unterworfen wird. Insbesondere greifen die in Art. 79 I I GG geregelten qualifizierten Mehrheitserfordernisse nicht ein. Den Anforderungen des Art. 24 I GG genügt vielmehr ein im gewöhnlichen Gesetzgebungsverfahren entstandenes (einfaches) Bundesgesetz58. insbesondere grundrechtliche b) Verfassungsrechtliche, Bindungen des „Übertragungs"-Gesetzes Wenn Art. 24 I GG eine Veränderung der verfassungsrechtlich festgelegten bzw. vorausgesetzten Zuständigkeitsordnung und insofern (! ) eine materielle Verfassungsänderung zuläßt, so folgt daraus noch keine Antwort auf die Frage, welche sachlichen Anforderungen an die Struktur der Institutionen, auf die die „übertragenen" Kompetenzbereiche übergegangen sind, gestellt werden müssen, insbesondere ob sie einer den Gewährleistungen des GG korrespondierenden Grundrechtsbindung zu unterliegen haben. Insoweit besteht Einigkeit darüber, daß die Institutionen ein gewisses Maß an rechtsstaatlichen Strukturen und Gewährleistungen aufweisen müssen, um aus der Sicht des Grundgesetzes tauglich als Träger „übertragener" Hoheitsgewalt zu sein. Art. 24 I GG bildet nicht die „offene Flanke des Grundgesetzes" 59 , von der aus die grundlegenden Wertentscheidungen der Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1,1984, Art. 24 Rn. 30; Rojahn, in: v. Münch, Art. 24 Rnn. 14ff.; u.a. 56 Siehe nur Maunz, in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Art. 24 Rn. 14; Tomuschat, in: BK, Art. 24 Rn. 32. 57 BVerfGE 58, 1 (36); siehe auch Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 57f.; Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, 1985, § 34 I I 3 (S. 163); Tomuschat, in: BK, Art. 24 Rn. 34, m.w.N. 58 Allgemeine Auffassung; siehe nur Tomuschat, in: BK, Art. 24 Rn. 33; dort auch zur Entstehungsgeschichte des Art. 24 GG. 59 Siehe auch M. Zuleeg, Der Verfassungsgrundsatz der Demokratie und die Europäischen Gemeinschaften, Der Staat 17 (1978), S. 27 (29f.); allg. zur insoweit „ k r i t i schen" Handlungskompetenz der auswärtigen Gewalt siehe K. H. Friauf, Zur Problematik rechtsstaatlicher und demokratischer Strukturelemente in zwischenstaatlichen Gemeinschaften, DVB1. 1964, S. 781 (782).
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Verfassung für die auf die zwischenstaatlichen Einrichtungen „übertragenen" Bereiche hoheitlicher Tätigkeit beliebig ausgehöhlt werden könnten. Andererseits erwartet das Grundgesetz allerdings nicht, daß seine eigenen Strukturformen in der zwischenstaatlichen Einrichtung uneingeschränkt reproduziert werden 60 . In diesem Sinne verstandene Forderungen nach vollständiger „struktureller Kongruenz" der zwischenstaatlichen Einrichtung mit der Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland 61 lassen sich aus dem Grundgesetz nicht herleiten. Wenn demnach Art. 24 I GG für die „übertragenen" Hoheitsbereiche gewisse Abweichungen vom verfassungsrechtlichen „Normalzustand" zuläßt, so bleibt aber doch problematisch, wie weit sie konkret reichen dürfen. Vom sachlichen Aussagegehalt her weitestgehend unbestritten dürfte insoweit die Auffassung sein, daß das „Übertragungs"-Gesetz eine äußerste verfassungsrechtliche Schranke jedenfalls an den sog. Ewigkeitsgarantien des Art. 79 I I I GG findet 6 2 . Positionen und Strukturen, in die nicht einmal der verfassungsändernde Gesetzgeber eingreifen darf, dürfen - erst recht - nicht durch den auf der Grundlage des Art. 241 GG tätigen einfachen Gesetzgeber berührt werden. Die Grenzen des Art. 79 I I I GG, die für formale Verfassungsänderungen im Sinne von Art. 79 I GG gelten, markieren indessen nicht die einzige Schranke der - durch einfaches Bundesgesetz erfolgenden - „Übertragung" von Hoheitsgewalt gemäß Art. 24 I GG 6 3 . Das Bundesverfassungsgericht, dessen Standpunkt in der Eurocontrol-Entscheidung vom 23. Juni 1981 64 zusammenfassend dargestellt worden ist, greift in diesem Zusammenhang nicht auf Art. 79 I I I GG zurück, sondern stellt auf immanente Grenzen des Art. 24 I GG ab 6 5 . Art. 24 I GG müsse wie jede andere Verfassungsbestimmung von ähnlich zentraler Bedeutung im Zusammenhang der Gesamtverfassung verstanden und ausgelegt werden 66 .
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Siehe auch Friauf, DVB1. 1964, S. 781 (787). Siehe dazu m.w.Nachw. Tomuschat, in: BK, Art. 24 Rnn. 55f. Das Postulat nach struktureller Kongruenz ist vor allem im Zusammenhang mit der gescheiterten Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) erhoben worden; siehe dazu m. Nachw. etwa Zuleeg, in: AKGG, Art. 24 Rn. 62. 62 Vgl. etwa Th. Maunz, Bundesverfassungsgericht zu Grundrechten und Europarecht, BayVBl. 1976, S. 360ff. (360); Stern, Staatsrecht I, § 15 I I 9 (S. 535f.); G. Ress, Die Europäischen Gemeinschaften und der deutsche Föderalismus, EuGRZ 1986, S. 549 (554f.); U. Maidowski, Identität der Verfassung und Europäische Integration BVerfGE 73, 339, JuS 1988, S. 114 (118). 63 Zutreffend dazu jüngst D. Dörr, Die Europäischen Gemeinschaften und die Deutschen Bundesländer, NWVB1. 1988, S. 289 (292), m.w.N. 64 BVerfGE 58, 1 (40). 65 So schon W. Thieme, Das Grundgesetz und die öffentliche Gewalt internationaler Staatengemeinschaften, VVDStRL 18 (1960), S. 50 (58). 66 So bereits Friauf, DVB1. 1964, S. 781 (786). 61
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Dazu führt das Gericht aus: Art. 24 I GG eröffne „nicht den Weg, das Grundgefüge der Verfassung anzutasten. Ein unaufgebbarer Bestandteil des Verfassungsgefüges sind die fundamentalen Rechtsgrundsätze, die in den Grundrechten des Grundgesetzes anerkannt und verbürgt sind. Deshalb gestattet Art. 24 I GG nicht, den Grundrechtsteil des Grundgesetzes vorbehaltlos zu relativieren" 67 . Im sog. Solange II-Beschluß hat das Bundesverfassungsgericht diesen Standpunkt bekräftigt. Art. 24 I GG ermächtige nicht dazu, „die Identität der geltenden Verfassung durch Einbruch in ihr Grundgefüge, in die sie konstituierenden Strukturen, aufzugeben" 68 . Die Entscheidung fährt fort, das Verbot eines Einbruchs in das Grundgefüge der Verfassung gelte „namentlich für Rechtsetzungsakte der zwischenstaatlichen Einrichtung, die, gegebenenfalls infolge entsprechender Auslegung oder Fortbildung des zugrunde liegenden Vertragsrechts, wesentliche Strukturen des Grundgesetzes aushöhlten. Ein unverzichtbares, zum Grundgefüge der geltenden Verfassung gehörendes Essentiale sind jedenfalls die Rechtsprinzipien, die dem Grundrechtsteil des Grundgesetzes zugrunde liegen ... Art. 24 Abs. 1 GG gestattet nicht vorbehaltlos, diese Rechtsprinzipien zu relativieren. Sofern und soweit mithin einer zwischenstaatlichen Einrichtung im Sinne des Art. 24 Abs. 1 GG Hoheitsgewalt eingeräumt wird, die im Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland den Wesensgehalt der vom Grundgesetz anerkannten Grundrechte zu beeinträchtigen in der Lage ist, muß, wenn damit der nach Maßgabe des Grundgesetzes bestehende Rechtsschutz entfallen soll, statt dessen eine Grundrechtsgeltung gewährleistet sein, die nach Inhalt und Wirkamkeit dem Grundrechtsschutz, wie er nach dem Grundgesetz unabdingbar ist, im wesentlichen (!) gleichkommt" 69. Nach dieser Auffassung des Bundesverfassungsgerichts, die als maßgebliche Interpretation des Art. 24 I GG anzusehen ist, muß auf der Ebene der Gemeinschaft als „Übertragungsempfänger" eine gewisse Relativierung des Grundrechtsschutzes in Kauf genommen werden. Bei der „Übertragung" 67 BVerfGE 58, 1 (40) unter Bezugnahme auf BVerfGE 37, 271 (279f., 291, 296) und m.w.N. 68 BVerfGE 73, 339 (375f.). - Diese Feststellung kann heute als ständige Rspr. bezeichnet werden; so zu Recht T. Stein, Umgekehrt! Bemerkungen zum „Solange II"-Beschluß des BVerfG, in: Festschrift für Wolfgang Zeidler, Bd. 2, 1987, S.1711 (1721). Zu den vergleichbaren Grenzen der italienischen Verfassung und der entsprechenden Judikatur des italienischen Verfassungsgerichtshofs vgl. A. La Pergola / H. P. Del Duca, Community Law, International Law and the Italian Constitution, The American Journal of International Law, vol. 79 (1985), S. 598 (609ff.); hierauf nimmt BVerfGE 73, 339 (376) ausdrücklich Bezug. - Siehe jüngst auch A. La Pergola, Das Verhältnis von nationalem Recht und Gemeinschaftsrecht in der Rechtsprechung des italienischen Verfassungsgerichtshofes, in: Festschrift für Wolf gang Zeidler, Bd. 2, 1987, S.1695ff. 69 BVerfGE 73, 339 (376)- Hervorhebungen hinzugefügt.
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von Hoheitsrechten auf die Europäischen Gemeinschaften kann der Grundsatz strikter und umfassender Bindung an die Grundrechte des Grundgesetzes, der nach Art. 1 I I I GG auch das legislative Staatshandeln umgreift, also keinen absoluten Geltungsanspruch erheben. Die Zulässigkeit der Übertragung hängt aber davon ab, daß der Empfänger der „Übertragung" einen Grundrechtsstandard gewährleistet, der bei materieller Betrachtung im wesentlichen nicht hinter dem Standard zurückbleibt, der nach dem Grundgesetz gilt. Ob diese Voraussetzung im Verhältnis zwischen dem Grundgesetz und dem Regime der Europäischen Gemeinschaft - so wie der EuGH ihre Vertragsgrundlagen authentisch interpretiert - tatsächlich in jeder Hinsicht erfüllt ist oder ob nicht doch in „wesentlichen" Punkten ein Grundrechtsdefizit besteht, kann auch nach dem Solange II-Beschluß bezweifelt werden. Diese Frage ist indessen nicht Gegenstand der vorliegenden Untersuchung. 2. Sekundäres Gemeinschaftsrecht und nationale Grundrechte
Die Hoheitsakte der auf dem Weg über Art. 24 I GG begründeten Gemeinschaftsgewalt ergehen nicht in Ausübung von deutscher öffentlicher Gewalt im Sinne von Art. 1 I I I GG. Sie unterliegen damit nicht unmittelbar der verfassungsrechtlichen Grundrechtsbindung nach Maßgabe dieser Vorschrift. An dieser Feststellung ändert auch der Umstand nichts, daß „die öffentliche Gewalt der zwischenstaatlichen Einrichtung unter Mitwirkung der deutschen Staatsgewalt entstanden ist" 7 0 . Andererseits bildet der Vollzug einer unmittelbar anwendbaren Norm des Gemeinschaftsrechts durch deutsche Behörden und Gerichte unzweifelhaft einen Akt inländischer Staatsgewalt 71 . Als solcher unterliegt er der Bindung an das Grundgesetz und ist vor deutschen Gerichten justiziabel. Die damit prinzipiell zulässige Überprüfung des Vollzugsakts durch deutsche Gerichte bietet aber nach der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ebenfalls keine Handhabe, um die dem Akt zugrunde liegende, durch ihn für den innerstaatlichen Bereich umgesetzte gemeinschaftsrechtliche Norm selbst einer uneingeschränkten Prüfung am Maßstab des Grundgesetzes zu unterziehen 72 . Damit wird zugleich der Vollzugsakt selbst, soweit er auf bindenden Vorgaben der gemeinschaftsrechtlichen Norm beruht, der Kontrolle durch das deutsche Gericht entzogen. Diese Beschränkung der einzelstaatlichen Kontrollkompetenz bildet das Ergebnis einer längeren, hier nicht näher nachzuzeichnenden Entwicklung, ™ Siehe nur BVerfGE 58, 1 (29); vgl. auch Stern, Staatsrecht I I I / l , § 72 V 5b (S. 1236). 71 Siehe auch T. Stein, in: Festschrift für Wolfgang Zeidler, Bd. II, S. 1711 (1726). 72 Grundlegend insoweit BVerfGE 73, 339 (387).
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die die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts „ a u f dem Weg i n die europäische I n t e g r a t i o n " 7 3 genommen hat. Sie reicht v o n dem d u r c h starke n a t i o n a l e Grundrechtsvorbehalte geprägten „Solange I " - B e s c h l u ß 7 4 über den als „Friedensschluß m i t E u r o p a " a p o s t r o p h i e r t e n 7 5
„Vielleicht"-Be-
s c h l u ß 7 6 u n d die b e i d e n „ E u r o c o n t r o l " - E n t s c h e i d u n g e n 7 7 bis h i n z u m i n t e grationsfreundlichen „Solange II"-Beschluß78. D i e „Solange I I " - E n t s c h e i d u n g h a t die frühere F o r m e l des „Solange I " Beschlusses 7 9 gerade u m g e k e h r t 8 0 . N u n m e h r g i l t : „Solange die E u r o p ä i schen Gemeinschaften, insbesondere die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Gemeinschaften einen w i r k s a m e n Schutz der G r u n d r e c h t e gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell gewährleisten, der d e m v o m Grundgesetz als u n a b d i n g b a r gebotenen Grundrechtsschutz i m w e s e n t l i chen gleichzuachten ist, z u m a l den Wesensgehalt der G r u n d r e c h t e generell verbürgt, w i r d das Bundesverfassungsgericht seine G e r i c h t s b a r k e i t über die A n w e n d b a r k e i t v o n abgeleitetem Gemeinschaftsrecht, das als Rechtsgrundlage f ü r e i n V e r h a l t e n deutscher Gerichte u n d Behörden i m Hoheitsbereich der B u n d e s r e p u b l i k D e u t s c h l a n d i n A n s p r u c h genommen w i r d , n i c h t m e h r ausüben u n d dieses Recht m i t h i n n i c h t m e h r a m Maßstab der G r u n d r e c h t e des Grundgesetzes ü b e r p r ü f e n . . . " 8 1 . 73
So Kloepfer, JZ 1988, S. 1089 (1090). BVerfGE 37, 271. 75 Siehe Ch. Tomuschat, Bundesverfassungsgericht contra EuGH - Friedensschluß in Sicht, NJW 1980, S. 2611 ff. 76 BVerfGE 52, 187; W. Zeidler, Wandel durch Annäherung - Das Bundesverfassungsgericht und das Europarecht, in: Ein Richter, ein Bürger, ein Christ. Festschrift für Helmut Simon, 1987, S. 727 (735), spricht von „freundlichere(n) Rauchzeichen". 77 BVerfGE 58, 1 = EuGRZ 1982, S.172ff. m. Anm. Frowein, S.179ff., einerseits und BVerfGE 59, 63 andererseits. 78 Überblicke zu dieser Entwicklung finden sich etwa bei H. P. Ipsen, Das Bundesverfassungsgericht löst die Grundrechts-Problematik. Zum „Mittlerweile "-Beschluß des 2. Senats vom 22. Oktober 1986, EuR 1987, S. Iff.; J. Scherer, Solange II. Ein grundrechtspolitischer Kompromiß. Zum Verhältnis von Gemeinschaftsrecht und nationalem Verfassungsrecht nach dem Solange II-Beschluß des BVerfG, JA 1987, S. 483ff.; M. Hilf, Solange II: Wielange noch Solange?, Der Beschluß des BVerfG v. 22. Oktober 1986, EuGRZ 1987, S. Iff.; T. Stein, in: Festschrift für Wolfgang Zeidler, Bd. II, S. 1711ff.; Zeidler, in: Festschrift für Helmut Simon, S. 727ff.; Kloepfer, JZ 1988, S. 1089ff. 79 BVerfGE 37, 271 (285): „Solange der Integrationsprozeß der Gemeinschaft nicht so weit fortgeschritten ist, daß das Gemeinschaftsrecht auch einen von einem Parlament beschlossenen und in Geltung stehenden formulierten Katalog von Grundrechten enthält, der dem Grundrechtskatalog des Grundgesetzes adäquat ist, ist nach Einholung der in Art. 177 des Vertrages geforderten Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs die Vorlage eines Gerichts der Bundesrepublik Deutschland an das Bundesverfassungsgericht im Normenkontrollverfahren zulässig und geboten, wenn das Gericht die für es entscheidungserhebliche Vorschrift des Gemeinschaftsrechts in der vom Europäischen Gerichtshof gegebenen Auslegung für unanwendbar hält, weil und soweit sie mit einem der Grundrechte des Grundgesetzes kollidiert." 80 Vgl. den bezeichnenden Titel des Aufsatzes von T. Stein, in: Festschrift für Wolfgang Zeidler, Bd. II, S. 1711 ff. ei BVerfGE 73, 339 (387). 74
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Auch wenn das Bundesverfassungsgericht in dieser Entscheidung - insoweit in Übereinstimmung mit „Solange I " - materiell an der grundsätzlichen Überprüfbarkeit von Akten der Gemeinschaftsorgane, insbesondere von sekundärem Gemeinschaftsrecht 82 , festhält, so bedeutet die prozeßrechtliche Einschränkung, daß es diese prinzipiell bestehende Kontrollkompetenz nicht mehr ausüben werde, in der Sache jedoch eine nahezu völlige Aufgabe seiner Gerichtsbarkeit 83 . Damit verlieren die Grundrechte des Grundgesetzes im Hinblick auf das durch innerstaatliche Hoheitsakte umgesetzte Gemeinschaftsrecht zwangsläufig ihre Effektivität. Eine Instanz, die das durch die Selbstbeschränkung des Bundesverfassungsgerichts entstandene Kontrollvakuum ausfüllen könnte, steht nicht zur Verfügung. Ganz unbestreitbar ist jedenfalls, daß das Gericht mit Rücksicht auf den europäischen Integrationsprozeß „die Schwelle für ein künftiges Einschreiten in einer Weise angehoben hat, die im nationalen Kontext undenkbar wäre" 8 4 . Eine strikte Grundrechtskonformität, wie sie Art. 1 I I I GG für jedes inländische Staatshandeln umfassend fordert, kann danach für die im Bereich der Bundesrepublik Deutschland umgesetzten Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaften nicht gewährleistet werden.
I V . Die Grundrechtsbindung der deutschen Vertreter i m Rat der Europäischen Gemeinschaft 1. Vorbemerkung: Zur spezifisch deutschen Grundrechtssensibilität
Bei der Diskussion der Frage nach der prinzipiellen Notwendigkeit der Gewährung von Grundrechtsschutz im Bereich der Europäischen Gemeinschaften sowie nach ihrer Art und ihrem Ausmaß sind Grundpositionen des mitgliedschaftlichen Verfassungsrechts angesprochen, die sich nicht über einen gemeinschaftsrechtlichen Leisten schlagen lassen. Zwar kennen alle Verfassungen der Mitgliedstaaten mit Ausnahme von Großbritannien 85 82 Zum primären Gemeinschaftsrecht vgl. insoweit M. Sachs, Normenkontrollverfahren bei primärem Gemeinschaftsrecht?, NJW 1982, S. 465ff. 83 Vgl. auch die K r i t i k von H. H. Rupp, Urteilsanmerkung, JZ 1987, S. 241 (242): Solange das BVerfG „nicht wieder zu juristisch-argumentativer Disziplin und judizieller Präzision zurückfindet ... (bedeutet) es auch keinen allzu großen Verlust für die Grundrechte ..., wenn das BVerfG seinen Platz partiell räumt und ihn dem Europäischen Gerichtshof, den Organen der Europäischen Kommission für Menschenrechte und den deutschen Instanzgerichten überläßt." 84 So zu Recht T. Stein, in: Festschrift für Wolfgang Zeidler, Bd. II, S. 1711 (1724). 85 Zum Grundrechtsschutz in Großbritannien vgl. etwa R. Bernhardt, Probleme eines Grundrechtskatalogs für die Europäischen Gemeinschaften, Bulletin der Europäischen Gemeinschaften, Beilage 5/76, S. 19 (44f.). Großbritannien wird zwar gerne als Beleg dafür angeführt, daß ein wirksamer Grundrechtsschutz auch ohne geschriebene Verfassung möglich sei. Indessen sollte in
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geschriebene G r u n d r e c h t e 8 6 . G e w i c h t u n d B e d e u t u n g der G r u n d r e c h t e sind jedoch i n den einzelnen n a t i o n a l e n Rechtssystemen höchst u n t e r s c h i e d l i c h ausgeprägt. E i n e n r e l a t i v umfassenden g r u n d r e c h t l i c h e n N o r m e n b e s t a n d g i b t es i m m e r h i n i n den Verfassungen v o n Dänemark* 1, burg
90
u n d den Niederlanden
91
.
Irland™,
Belgien 89,
Luxem-
D i e n o r m a t i v e E f f e k t i v i t ä t der G r u n d r e c h t e
w i r d indessen i n diesen L ä n d e r n d u r c h eine i m Vergleich z u r Bundesrepub l i k D e u t s c h l a n d w e s e n t l i c h engere r i c h t e r l i c h e K o n t r o l l k o m p e t e n z n i c h t u n e r h e b l i c h r e l a t i v i e r t . E i n erhebliches D e f i z i t ergibt sich aus deutscher S i c h t v o r a l l e m i m H i n b l i c k auf die G r u n d r e c h t s b i n d u n g des Gesetzgebers 9 2 . A u c h i n Frankreich
k o m m t den G r u n d r e c h t e n n a m e n t l i c h i m Ver-
h ä l t n i s z u r i n n e r s t a a t l i c h e n Gesetzgebung eine n u r eingeschränkte D i r e k t i o n s k r a f t zu. D a r ü b e r hinaus leidet ihre W i r k k r a f t darunter, daß i h r e i n t e r pretatorische Erschließung d u r c h den französischen Verfassungsrat b i s l a n g n o c h erhebliche L ü c k e n a u f w e i s t 9 3 .
diesem Zusammenhang nicht übersehen werden, daß Großbritannien im Vergleich mit den übrigen Mitgliedstaaten der EG mit der weitaus größten Zahl von Verfahren vor den Straßburger EMRK-Organen konfrontiert ist, worauf T. Stein, in: Festschrift für Wolfgang Zeidler, Bd. II, S. 1711 (1720 Fn. 50) zutreffend hinweist. Diese auffallende Tatsache erlaubt zumindest Zweifel an der Effektivität des nationalen Grundrechtsschutzes. 86 Vgl. in diesem Zusammenhang A. Bleckmann, Zur Entwicklung europäischer Grundrechte, DVB1. 1978, S. 457ff., dessen Darstellung sich auf die „NeunerGemeinschaft" (ohne Griechenland, Portugal und Spanien) bezieht; zu Griechenland vgl. J. Iliopoulos-Strangas, Grundrechtsschutz in Griechenland, JöR n.F. 32 (1983), S. 395 ff.; zu Portugal M. A. Dauses, Der Schutz der Grundrechte in der Europäischen Gemeinschaft, JöR n. F. 31 (1982), S. 1 (2); zu Spanien A. Weber, Die spanische Verfassung von 1978, JöR 29 (1980), S. 209 (215ff.). - Noch zur ursprünglichen „SechserGemeinschaft" vgl. schließlich G. Zieger, Das Grundrechtsproblem in den Europäischen Gemeinschaften (Recht und Staat, H. 384/385), 1970, S. 8 m. Fn. 4. 87 Siehe etwa F. Thygesen, Bestand und Bedeutung der Grundrechte in Dänemark, EuGRZ 1978, S. 438ff.; vgl. ferner Bernhardt, Bulletin der Europäischen Gemeinschaften, Beilage 5/76, S. 19 (3Iff.). 88 Vgl. B. Walsh, Bestand und Bedeutung der Grundrechte in Irland, EuGRZ 1978, S. 446 ff.; siehe auch Bernhardt, Bulletin der Europäischen Gemeinschaften, Beilage 5/76, S. 19 (39). 89 Vgl. Bernhardt, Bulletin der EG, Beilage 5/76, S. 19 (29ff.). 90 Ebd., S. 40ff. 91 Die Niederlande haben durch die grundlegende Revision der Verfassung von 1983 einen erheblich erweiterten Grundrechtsteil erhalten; siehe dazu C. A. J. M. Kortmann, Das niederländische Grundgesetz vom 17.Februar 1983, JöR n.F. 83 (1984), S. 175 (180ff.); zum alten Rechtszustand siehe D. Simons, Bestand und Bedeutung der Grundrechte in den Niederlanden, EuGRZ 1978, S. 450ff. 92 Siehe etwa im Blick auf die Niederlande die Wertung von Kortmann, JöR n.F. 33 (1984), S. 175 (181). Für die Niederlande gilt darüber hinaus, daß im nationalen Verfassungsrecht ein Geltungsvorrang zugunsten zwischenstaatlich geltender Regelungen begründet ist. Dadurch wird die hier erörterte Problematik aus niederländischer Sicht entschärft. Siehe dazu etwa D. Ehle, Zum Verhältnis von Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht, MDR 1964, S. 9 (12); ferner Constantinesco, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften, Bd. I, S. 749 ff.
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Allein in Italien sind neben der Bundesrepublik Deutschland die Grundrechte durch eine eindrucksvolle Judikatur der Corte Costituzionale weitgehend konkretisiert und in ihrer Geltung effektuiert worden 94 . Unter diesen Umständen kann es kaum verwundern, daß die in der Bundesrepublik geführte Diskussion über das Verhältnis von nationalem Verfassungsrecht und Europäischem Gemeinschaftsrecht, zumal im Hinblick auf die Frage der Unterwerfung der Gemeinschaftsgewalt unter die Grundrechte, von allen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft ihre deutlichste Parallele gerade in Italien findet 95 . Allerdings entspricht die rechtswissenschaftliche Aufarbeitung der Grundrechte selbst in Italien bei weitem (noch) nicht dem Stand, der in der Bundesrepublik Deutschland inzwischen erreicht worden ist. Allein in der Bundesrepublik existiert eine von der Staatsrechtslehre seit fast 40 Jahren intensiv entwickelte Grundrechtsdogmatik, die ihre Dynamik durch subtil entwickelte allgemeine Grundrechtslehren 96 und durch eine ausgefeilte Bereichsdogmatik zu den einzelnen Grundrechten 97 unter Beweis stellt. Dem hohen Stellenwert, den die Grundrechte in der Verfassungsrechtswissenschaft beanspruchen, entspricht der Grad ihrer tatsächlichen Durchsetzung in der Verfassungspraxis. Letztlich ausschlaggebend für das Maß an extensiver und zugleich intensiver Grundrechtsgeltung, das wir in der Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland erreicht haben, ist der dem Bundesverfassungsgericht übertragene judikative Grundrechtsschutz, der in keinem der übrigen Mitgliedstaaten der EG auch nur eine annähernde Parallele findet 98 . Das dabei in der Praxis erreichte Maß an Grundrechtseffektuierung beruht nicht etwa auf richterlicher Usurpation. Es ist vielmehr ausdrücklich im Grundgesetz angelegt, namentlich in der umfassenden Geltungsanordnung des Art. 1 I I I GG und der ihr korrespondierenden umfassenden Gewährleistung der Verfassungsbeschwerde, die dem Bürger das Recht gibt, jeden ihn treffenden Akt der öffentlichen
93
Vgl. auch Bleckmann, DVB1. 1978, S. 457 ff. (457); siehe ferner Rupp, in: Die Grundrechte in der Europäischen Gemeinschaft, S. 9 (9 u. 18). 94 Siehe Bleckmann, DVB1. 1978, S. 457 ff. (457). 95 Dazu siehe etwa La Pergola, in: Festschrift für W. Zeidler, Bd. II, S. 1695ff.; M. Panebianco, Europäische Integration und italienische Verfassungsordnung, ZaöRV 41 (1981), S. 76ff. - Zu den weitgehend parallelen Fragestellungen in Italien und der Bundesrepublik Deutschland vgl. auch Constantinesco, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften, Bd. I, S. 717. 96 Vgl. als jüngsten eindrucksvollen Beleg die zusammenfassende Darstellung bei Stern, Staatsrecht, Bd. I I I / l , 1988. 97 Insofern sei hingewiesen auf die Beiträge in Bd. V I des von J. Isensee / P. Kirchhof herausgegebenen Handbuchs des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1989. 98 Zu diesem Ergebnis gelangt bereits die rechtsvergleichende Studie von Bernhardt über die Grundrechte in den Europäischen Gemeinschaften, Bulletin der EG, Beilage 5/76, S. 19 (33).
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Gewalt mit der Rüge einer Grundrechtsverletzung dem Bundesverfassungsgericht zur Kontrolle vorzulegen (Art. 93 I Nr. 4 a GG). Nicht zuletzt durch die damit hervorgerufene Tendenz zu einer weit ausgreifenden Grundrechtsrealisierung 99 ist in der Bundesrepublik Deutschland eine die gesamte Rechtsordnung prägende Grundrechtsdominanz entstanden. Sie bildet in dieser Intensität ein spezifisch deutsches Phänomen, wie wir es vergleichbar in keinem der übrigen Mitgliedstaaten finden. Die hohe Grundrechtssensibilität, von der die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland durchzogen w i r d 1 0 0 und die sie deutlich von den Rechtsordnungen der übrigen Mitgliedstaaten unterscheidet, entspringt keineswegs einer mehr oder weniger emotional geprägten „Haltung grundgesetzlicher Introvertiertheit" 1 0 1 . Es geht auch nicht um die Errichtung „nationale(r) Heiligtümer im Verfassungsrecht" 102 oder gar um einen unangebrachten nationalen „Grundrechtsimperialismus" 103 . Die besondere deutsche Grundrechtssensibilität bedeutet vielmehr im Grunde nur die - eigentlich selbstverständliche - Respektierung eines an prominenter Stelle in der Verfassung verankerten und sogar dem Schutz der sog. Ewigkeitsgarantie des Art. 79 I I I GG unterstellten Gebots: daß die gesamte Tätigkeit der öffentlichen Gewalt in all ihren Erscheinungsformen an die Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht gebunden sein soll (Art. 1 I I I GG). Die stringente Bindung jedweder staatlichen Hoheitsgewalt an die Grundrechte beruht auf einer bewußten und gewollten Reaktion des Verfassungsgebers auf die tiefen Erschütterungen des religiösen, moralischen, kulturellen und rechtlichen Bewußtseins angesichts der Perversion der Staatsgewalt während der dem Grundgesetz voraufgegangenen Epoche 104 . In ihr manifestiert sich eine verfassunggestaltende Grundentscheidung, die die Identität unseres Grundgesetzes prägt. Die besonders intensive und zugleich extensive Grundrechtsorientierung der deutschen Rechtspra99 Vgl. dazu generell M. Kloepfer, Verfassungsausweitung und Verfassungsrechtswissenschaft, in: Freiheit und Verantwortung im Verfassungsstaat. Festgabe zum 10jährigen Jubiläum der Gesellschaft für Rechtspolitik, 1984, S. 199ff.; zur Intensität der deutschen Grundrechtsdiskussion siehe auch W. Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, 1987, S. 47 ff. 100 v g l auch E. Benda / E. Klein, Das Spannungsverhältnis von Grundrechten und übernationalem Recht, DVB1. 1974, S. 389ff. 101 So aber H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 260; ähnlich ders., Diskussionsbeitrag, W D S t R L 23 (1966), S. 128. 102 E.-W. Fuß, Souveränitätsdenken als Fessel des Integrationsfortschritts, DVB1. 1980, S. 98 (106). 103 Zur „Peinlichkeit von Grundrechtsimperialismus" siehe Ch. Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, 3. Aufl. 1985, Art. 1 Abs. 3 Rn. 150 m. Fn. 178; von „Grundrechtsoktroi" spricht - allerdings nicht im hier interessierenden konkreten Kontext - Stern, Staatsrecht I I I / l , § 72 V 4 (S. 1228). 104 Siehe etwa E. Denninger, in: (Alternativ-)Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 1984, Art. 1 Abs. 2, 3 Rnn. I f f .
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xis und Rechtslehre muß als ein Essentiale des Verfassungsverständnisses der Bundesrepublik Deutschland respektiert werden, auch wenn man in anderen Rechtsordnungen weniger stringente Standpunkte vertreten mag 1 0 5 . Die Grundrechte bilden den „eigentlichen Kern der freiheitlich-demokratischen Ordnung des staatlichen Lebens im Grundgesetz" 106 . Wollte man von ihrer Geltung auch nur partielle oder sektorale Ausnahmen zulassen, dann würde die verfassungsrechtliche Identität der Bundesrepublik Deutschland in einem zentralen Punkt in Frage gestellt. 2. Art. 1 ED GG als Maßstabsnorm
Nach Art. 1 I I I GG binden „die nachfolgenden Grundrechte ... Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht". Mit dieser Bindungsanordnung, die nach Art. 79 I I I GG nicht einmal im Wege einer Verfassungsänderung beseitigt werden darf, geht das Grundgesetz nicht nur weit über die deutsche Verfassungstradition, sondern auch über das Vorbild anderer westlicher Demokratien hinaus. Es ist dabei geleitet von dem Bestreben, die rechtliche und tatsächliche Geltung der Grundrechte umfassend und wirksam zu sichern 107 . Der Verfassungsgeber hat es für erforderlich gehalten, über die ohnehin selbstverständliche Teilhabe der Grundrechte an der allgemeinen Geltungskraft der Verfassung (Art. 20 I I I GG) hinaus ausdrücklich eine umfassende Bindung aller Staatsgewalt an die Grundrechte „als unmittelbar geltendes Recht" anzuordnen 108 . Dabei ging es ihm ausschlaggebend darum, die Grundrechte vom deklamatorischen Podest bloßer Programmsätze herunterzunehmen und ihre Effektivität in der laufenden Staatspraxis sicherzustellen.
105 Es ist wohl kein Zufall, daß der ehemalige niederländische Präsident des EuGH, Donner, bereits vor einem Viertel]ahrhundert bemerkt hat, die Frage des Verhältnisses des Gemeinschaftsrechts zum nationalen Verfassungsrecht, vor allem zu den Grundrechten, sei ein typisch deutsches Problem; siehe dazu den Bericht von H. J. Rabe, Europäisches Gemeinschaftsrecht. Berichte aus der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Europarecht, NJW 1964, S. 1608 (1610). 106 So BVerfGE 31, 58 (73). 107 Vgl. etwa K. Hesse, Bestand und Bedeutung (der Grundrechte), in: Handbuch des Verfassungsrechts, hrsg. v. E. Benda / W. Maihofer / H.-J. Vogel, 1983, S. 79 (89); G. Düng, in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Art. 1 I I I Rn. 104; ausführl. Stern, Staatsrecht I I I / l , § 72 I I (S. 1191 ff.). 108 Siehe nur Stern, Staatsrecht I I I / l , § 72 I I I 1 (S. 1201).
3 Friauf/Scholz
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a) Zur umfassenden Grundrechtsbindung aller Äußerungen der Staatsgewalt Den universellen Geltungsanspruch der Grundrechte formuliert Art. 1 I I I GG in der Weise, daß er Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung generell und umfassend als Bindungsadressaten der Grundrechte benennt. Bei dieser umfassenden Bindungsanordnung verbleiben keine Grundrechts„nischen" 109 , in denen sich staatliche Aktivität grundrechtsfrei entfalten könnte. Die „Unbedingtheit der Formulierung" des Art. 1 I I I G G 1 1 0 läßt keinen Zweifel daran, daß jedes Organ der öffentlichen Gewalt bei allen von ihm ausgehenden hoheitlichen Handlungen 1 1 1 der strikten Grundrechtsbindung unterliegt. Art. 1 I I I GG unterscheidet sich im Hinblick auf den personalen Geltungsumfang nicht von Art. 112 GG, der „alle staatliche Gewalt" zur Wahrung der Menschenwürde verpflichtet. Die Bindungsklausel erfaßt jedwede Tätigkeit eines Trägers öffentlicher Gewalt, ohne Rücksicht auf die jeweils angewandte Handlungsform - Verwaltungsakt, Vertrag, schlichtes Staatshandeln, Rechtsetzung usw. - , das Handlungsinstrumentarium - Eingriff, Leistung, Organisation, Plan usw. und die im einzelnen benutzten Rechtsformen 112 . Damit ist auch die Möglichkeit verschlossen, den Grundrechtsschutz durch einen Wechsel der jeweils eingesetzten Rechts- und Handlungsformen zu unterlaufen. In institutioneller Hinsicht ist die Grundrechtsbindung im weitesten Sinne zu verstehen. Sie erfaßt neben dem Bund auch die Länder, Gemeinden und Gemeinde verbände sowie alle sonstigen Rechtssubjekte, die an der Ausübung öffentlicher Gewalt teilhaben 113 . b) Grundrechtsbindung
nur der deutschen Staatsgewalt
Die Bindungsklausel des Art. 1 I I I GG erfaßt allerdings nach wohl unbestrittener Auffassung nur die deutsche Staatsgewalt 114 . 109 Siehe auch I. v. Münch, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 3. Aufl. 1985, Art. 1 Rn. 47. 110 B. Pieroth / B. Schlink, Grundrechte. StaatsR II, 4. Aufl. 1988, Rn. 199. 111 Die Frage, ob dies auch für die privatrechtlichen Hilfsgeschäfte der Verwaltung und die erwerbswirtschaftliche Betätigung der öffentlichen Hand gilt, ist für den vorliegenden Zusammenhang ohne Interesse. 112 Vgl. nur Starch, in: v. Mangoldt / Klein / Starck (Fn. 103), Art. 1 I I I Rn. 142; v. Münch (Fn. 109), Art. 1 Rn. 47; Pieroth / Schlink, Grundrechte (Fn. 110), Rn. 199; Stern, StaatsR I I I / l , § 72 I I I 2 a) und b), (S. 1202f.). 113 Vgl. nur Stern, StaatsR I I I / l , § 72 I I 2 a) (S. 1203). 114 Vgl. etwa D. Emrich, Das Verhältnis des Rechts der Europäischen Gemeinschaften zum Recht der Bundesrepublik Deutschland, 1969, S. 93; Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck (Fn. 103), Art. 1 I I I Rn. 140; υ. Münch (Fn. 109), Art. 1 Rn. 49. - Aus der Rechtsprechung des BVerfG siehe BVerfGE 6, 290 (295); 22, 293 (297, 299); 31, 58 (74); 58, 1 (26); 66, 39 (56ff.).
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Ihr unterliegen demnach sämtliche Staatsorgane und Staatsfunktionen, die vom Grundgesetz oder von den Verfassungen der im Rahmen des Grundgesetzes bestehenden Länder konstituiert worden sind 1 1 5 . Sachlich übereinstimmend, wenn auch in negativer Formulierung, bestimmt das Bundesverfassungsgericht die deutsche öffentliche Gewalt im Sinne der Grundrechtsbindung als die Gesamtheit der Organe, die nicht „außerhalb des Gefüges der deutschen Staatsorganisation steh(en)" 116 . c) Grundrechtsbindung der deutschen Staatsgewalt auch beim Tätigwerden in grenzüberschreitenden Beziehungen Gelegentlich hat man allerdings, ohne die umfassende institutionelle Bindung in Frage zu stellen, die These vertreten, die Grundrechte seien in ihrer Geltung territorial beschränkt in dem Sinne, daß sie nur bei inlandsbezogenen Regelungen oder Maßnahmen deutscher Staatsorgane respektiert zu werden brauchten. Diese Auffassung, die vor allem im Bereich des internationalen Privatrechts virulent geworden ist, beruft sich vor allem auf die völkerrechtlichen Grenzen der Gebietshoheit des einzelnen Staates 117 . Ihre Vertreter übersehen indessen, daß es sich bei der Frage der Grundrechtsbindung deutscher Staatsorgane nicht darum handelt, ihre Kompetenzen nach außen hin zu erweitern. Vielmehr geht es allein darum, den Entscheidungsspielraum, den sie bei der Ausübung der ihnen obliegenden Kompetenzen mit grenzüberschreitendem Bezug genießen, anhand der grundrechtlichen Vorgaben des geltenden Verfassungsrechts einzugrenzen und zu strukturieren. Die Grundrechtsbindung setzt m. a. W. kompetenzgemäßes Handeln - auch im Verhältnis zu dritten Staaten - voraus. Sie kann in keinem Fall dazu führen, daß fremde Gebietshoheit tangiert wird. Die einschränkende Auffassung findet im Grundgesetz keine Stütze. Art. 1 I I I GG bindet deutsche Staatsgewalt vielmehr stets an die Grundrechte. Er stellt nicht darauf ab, ob die Wirkungen des jeweiligen staatlichen Handelns i m Binnenbereich der Bundesrepublik oder aber i n der Außenbeziehung zu Drittländern eintreten 1 1 8 . Das BVerfG hat bereits in "5 Vgl. Stern, StaatsR I I I / l , § 72 V 5 (1229). 116 BVerfGE 22, 293 (297); siehe auch BVerfGE 58, 1 (26). 117 Siehe H. v. Olshausen, Grundrechte und Anwendung ausländischen Rechts (Zur Eheschließung spanischer Priester in Deutschland), DVB1. 1974, S. 652 (654ff.); OVG NW, DVB1. 1983, S. 37f. (m. abl. Anm. von Ph. Kunig, ebd., S. 38f.); vgl. auch A. Lüderitz, Grundrechte kontra IPR? Vorschläge zur Bestimmung des Geltungsbereichs der Grundrechte, RabelsZ 36 (1972), S. 35 (36). 118 Siehe statt vieler Schröder, in: Festschrift für Hans-Jürgen Schlochauer, S. 137 (138); v. Münch (Fn. 109) Art. 1 Rn. 49; Kunig, DVB1. 1983, S. 37 (38); R. Bernhardt, Bundesverfassungsgericht und völkerrechtliche Verträge, in: Bundesverfassungsge3
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einer 1957 ergangenen Entscheidung die auch territorial umfassende Grundrechtsverpflichtung der deutschen Staatsgewalt hervorgehoben und betont, daß die Grundrechte „die deutsche öffentliche Gewalt auch (binden), soweit Wirkungen ihrer Betätigung im Ausland eintreten" 1 1 9 . Diese Auffassung hat das Gericht im sog. Spanier-Beschluß vom 4. Mai 1971 120 noch einmal bekräftigt. Nach alledem kann es keinem begründeten Zweifel unterliegen, daß die Grundrechtsbindung der deutschen öffentlichen Gewalt absolut und umfassend ist. Grundrechtliche Freiräume darf es nach dem eindeutigen Willen des Grundgesetzes nicht geben. Die Bindungsklausel des Art. 1 I I I GG beansprucht auch in der Außenbeziehung der Bundesrepublik, speziell in ihrem Verhältnis zur Europäischen Gemeinschaft, uneingeschränkte Beachtung. Nicht nur ist jede Form inländischer Staatsgewalt den Grundrechten unterworfen, „sondern auch die gesamte deutsche Staatsgewalt grundsätzlich überall dort, wo sie tätig wird oder sich auswirkt" 1 2 1 . Wenn an dieser verfassungsrechtlichen Grundtatsache festgehalten wird, dann bedeutet das keineswegs die Befürwortung eines deutschen „Grundrechtsimperialismus" gegenüber Drittstaaten. Es geht vielmehr allein um den Respekt vor einer weichenstellenden Entscheidung, die das Grundgesetz bewußt und aus wohlerwogenen Gründen getroffen hat. 3. Zur präventiv wirkenden Maßstäblichkeit der nationalen Grundrechtsordnung für die Mitwirkung der Bundesorgane an der Rechtsetzung des Rates der Europäischen Gemeinschaft
a) Die grundrechtsgebundenen Mitwirkungsakte aa) Die zu beurteilenden Handlungen Zur Ausübung deutscher öffentlicher Gewalt, die nach Art. 1 I I I GG strikt an die Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht gebunden ist, gehört rieht und Grundgesetz. Festgabe aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des BVerfG, 2. Bd., 1976, S. 154 (178); A. Bleckmann / B. Busse, Die Ausreisefreiheit der Deutschen, DVB1. 1977, S. 794 (796): „Die deutsche Hoheitsgewalt ist an sie (sc. die Grundrechte) gebunden, soweit sie im Ausland Tätigkeiten entfaltet"; zum Problem ferner jüngst die eingehende Darstellung von M. Heintzen, Auswärtige Beziehungen privater Verbände, 1988, S. 96 - 158, mit zahlreichen Nachweisen. us BVerfGE 6, 290 (295); ebenso BVerfGE 57, 1 (23): „Die Grundrechte binden in ihrem sachlichen Geltungsumfang die deutsche öffentliche Gewalt auch, soweit Wirkungen ihrer Betätigung außerhalb des Hoheitsbereichs der Bundesrepublik Deutschland eintreten." !2o BVerfGE 31, 58 (72ff.). 121 So zu Recht Stern, StaatsR I I I / l , § 72 V 5a) (S. 1230) - Hervorhebung z.T. hinzugefügt.
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auch die Mitwirkung 1 2 2 der Bundesregierung bzw. der von ihr jeweils entsandten Minister im Rat der Europäischen Gemeinschaft 123 . Die ursprünglich für die drei Gemeinschaften EGKS, EWG und Euratom gesondert errichteten Ministerräte 1 2 4 sind durch den „Vertrag zur Einsetzung eines gemeinsamen Rates und einer gemeinsamen Kommission der Europäischen Gemeinschaften (Fusionsvertrag)" vom 8.4.1965 125 zu einem einheitlichen Exekutivorgan der Gemeinschaften - dem „Rat" - verschmolzen worden 1 2 6 . Trotz dieser institutionellen Zusammenlegung unterscheiden sich die Aufgaben des Rates in den drei Gemeinschaften sowohl der Sache als auch der Funktion nach. Sie reichen am weitesten im Bereich der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (Art. 145 EWG-Vertrag). Diese Vorschrift bestimmt: „Zur Verwirklichung der Ziele und nach Maßgabe dieses Vertrages - sorgt der Rat für die Abstimmung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten; - besitzt der Rat eine Entscheidungsbefugnis." Die Zuweisung der hier zunächst nicht näher konkretisierten Entscheidungsbefugnis verweist vor allem auf die zentrale Rolle des Rates als Rechtsetzungsorgan 127 . Bei ihm ist die Kompetenz zum Erlaß von Verordnungen, Richtlinien und Entscheidungen - jedenfalls im Bereich der E W G 1 2 8 - weitestgehend konzentriert 129 .
122 Es geht - das sei noch einmal klargestellt - um die ratsinterne Mitwirkung der deutschen Vertreter, nicht dagegen um die externen staatlichen Mitwirkungsakte bei der Verwirklichung, der Gemeinschaftsordnung, wie sie beispielsweise die Studien von G. Gorny, Verbindlichkeit der Bundesgrundrechte bei der Anwendung von Gemeinschaftsrecht durch deutsche Staatsorgane, 1969, und W. Bunten, Staatsgewalt und Gemeinschaftshoheit bei der innerstaatlichen Durchführung des Rechts der Europäischen Gemeinschaften durch die Mitgliedstaaten, 1977, zum Gegenstand haben. 123 Zutreffend jüngst Herdegen, EuGRZ 1989, S. 309ff. (313): „Die Mitwirkung der Bundesregierung an Beschlüssen des Rates bildet zweifelsfrei einen Akt deutscher auswärtiger Gewalt, die nach Art. 20 I I I GG an die Verfassung gebunden ist." 124 Vgl z u deren Rechtsstellung Κ. H. Friauf, Die Staatenvertretung in supranationalen Gemeinchaften, 1960, passim; siehe auch S. Buerstedde, Der Ministerrat im Aufbau und Wirken der Europäischen Gemeinschaften, JöR n.F. 14 (1965), S. 87ff. i 2 * BGBl. II, S. 1454; in Kraft getreten am 1. Juli 1967 (BGBl. II, S. 2156). 126 v g l in diesem Zusammenhang auch H. P. Ipsen, Fusions Verfassung Europäische Gemeinschaften, 1969; ferner auch A. Bleckmann, Die Einheit der Europäischen Gemeinschaftsrechtsordnung. Einheit oder Mehrheit der Europäischen Gemeinschaften, EuR 1978, S. 95ff. 127
Siehe auch BVerfGE 22, 293 (295); 51, 225 (239). Insoweit in deutlichem Gegensatz zur EGKS; siehe auch M. Schweitzer, in: E. Grabitz (Hrsg.), Kommentar zum EWG-Vertrag, 1987 ff., Art. 145 Rn. 1. 129 Siehe etwa A. Bleckmann, Europarecht. Das Recht der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, 4. Aufl. 1985, S. 23; B. Beutler / R. Bieber / J. Pipkom / J. Streil, Die Europäische Gemeinschaft - Rechtsordnung und Politik - , 3. Aufl. 1987, S. 119; Constantinesco, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften, Bd. I S. 411. - Zur 128
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Nach Art. 189 I I E WG-Vertrag hat die Verordnung allgemeine Geltung. Sie ist in allen ihren Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat. Der unmittelbare Geltungsanspruch der Verordnung bedeutet, daß es für ihre innerstaatliche Verbindlichkeit eines Transformationsgesetzes oder sonstigen Aktes des nationalen Gesetzgebers nicht bedarf 130 . Sie erzeugt, in der Wirkung dem nationalen Gesetz vergleichbar, normative Bindung erga omnes. Demgegenüber ist die Richtlinie nach Art. 189 I I I EWG-Vertrag für jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet wird, hinsichtlich des zu erreichenden Zieles verbindlich. Sie überläßt dabei den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel. Angesichts der in der neueren Praxis üblich gewordenen teilweise extremen Detaillierung zahlreicher Richtlinien schrumpft allerdings der Umsetzungsspielraum des nationalen Gesetzgebers vielfach auf ein Minimum 1 3 1 . Damit nähern sich die Richtlinien in ihrer Bindungsintensität, wenn auch nicht in der immittelbar normativen Wirkung, den Verordnungen an. Grundsätzlich bedarf nach der Vorstellung des EWG-Vertrages die Richtlinie noch der einzelstaatlichen Umsetzung, ehe sie in den Mitgliedstaaten unmittelbar normative Wirkung entfalten kann 1 3 2 . Da der Umsetzungsakt selbst der nationalen Sphäre angehört, unterliegt er allen dort geltenden verfassungsrechtlichen Bindungen. Er wirkt damit, soweit der Gestaltungsspielraum des umsetzenden mitgliedstaatlichen Gesetzgebers reicht, zugunsten der betroffenen Bürger und Unternehmen praktisch als grundrechtssicherndes Filter. Diese in Art. 189 I I I E WG-Vertrag angelegte Filterfunktion wird aber in dem Maße obsolet, in dem die Mitgliedstaaten durch eine immer weiter vorangetriebene Detaillierung der Richtlinien ihren Umset-
„Gesetzgebung in der EG" vgl. den gleichlautenden Sammelband, hrsg. v. J. Schwarze, 1985. Insgesamt haben die gesetzgebenden Gemeinschaftsinstitutionen der Europäischen Gemeinschaft 1987 ca. 4200 Verordnungen und etwa 600 allgemeine Entscheidungen und Richtlinien verabschiedet; siehe dazu R. Wägenbaur, Die Umsetzung von EGRecht in deutsches Recht und ihre gesetzgeberische Problematik, ZG 1988, S. 303 (304). 130 Siehe nur Bleckmann, Europarecht, S. 65 f. 131 Vgl. dazu etwa Wägenbaur, ZG 1988, S. 303 (318). 132 Die i n den letzten Jahren stark umstrittene, vom EuGH bejahte Frage, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen der Richtlinieninhalt auch ohne Umsetzung durch den nationalen Gesetzgeber unmittelbar innerstaatliche Wirkungen erzeugen kann, ist im vorliegenden Kontext nicht näher zu erörtern; siehe dazu etwa EuGH, NJW 1982, S. 499; zust. z.B. U. Everling, Zur direkten innerstaatlichen Wirkung der EG-Richtlinien. Ein Beispiel richterlicher Rechtsfortbildung auf der Basis gemeinsamer Rechtsgrundsätze, in: Festschrift für Karl Carstens, 1984, Bd. I, S. 95ff.; ablehnend B. Börner, Der rechtliche Nutzen logischer Fehler, oder: Die Richtlinien des EWGV, oder: Rechtsanwendung v. Rechtsetzung, in: Festschrift für Gerhard Kegel, 1987, S. 57 ff. - Für den Bereich der Bundesrepublik Deutschland hat BVerfGE 75, 223 die Auffassung des EuGH als vertragskonform anerkannt.
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zungsspielraum weitgehend einbüßen. Der prinzipielle Unterschied gegenüber der Verordnung wird damit zwangsläufig verwischt. Nach Art. 187 IV E WG-Vertrag ist eine Entscheidung in allen ihren Teilen für diejenigen verbindlich, die sie bezeichnet. Bei den Entscheidungen des Rates handelt es sich um individuelle Akte, die sich sowohl an die Staaten als auch an die „Marktbürger" richten können 1 3 3 . Die Gesamtheit dieser Entscheidungsbefugnisse der Gemeinschaft resultiert in einer weitgehenden politischen Gestaltungskompetenz, die tief in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten eingreift und damit zugleich auch die individuelle Rechtssphäre der einzelnen Bürger tangiert. Die Möglichkeit einer Grundrechtsberührung ist dabei prinzipiell stets gegeben 134 . Die Konzentration der Entscheidungsbefugnisse beim Rat als dem maßgeblichen Entscheidungsorgan der Gemeinschaft, wie sie die 1958 ins Leben getretene EWG im bewußten Gegensatz zu der älteren, stärker supranational geprägten Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl kennzeichnet 1 3 5 , hat ihren Grund darin, daß die beteiligten Staaten die Fülle der w i r t schaftspolitischen Entscheidungskompetenzen letztlich nicht aus der Hand geben wollten 1 3 6 . Demzufolge hat der Rat eine Organisations- und Entscheidungsstruktur erhalten, die die nationale Vorbehaltskompetenz weitgehend sicherstellt. Nach Art. 2 1 1 des Fusionsvertrages besteht „der Rat ... aus Vertretern der Mitgliedstaaten"; Satz 2 bestimmt, daß jede Regierung eines ihrer Mitglieder entsendet 137 . Der Rat kennt keine persönliche Mitgliedschaft, nicht einmal in der unselbständig-weisungsgebundenen Form, wie sie Art. 51 GG für den Bundesrat vorsieht. Kein Einzelminister hat Anspruch auf den Sitz im Ministerialrat. Vielmehr entsenden die Regierungen wechselnd - je nach Beratungsgegenstand - das eine oder andere ihrer Mitglieder in den Rat. Der jeweils entsandte Minister ist stets weisungsgebunden 138 bzw. kann zumin133 Die in Art. 189 V E WG-Vertrag vorgesehenen Empfehlungen und Stellungnahmen sind unverbindlich und bleiben deshalb außer Betracht. 134 Die eher verharmlosende Bemerkung von H. P. Ipsen, Der deutsche Jurist und das europäische Gemeinschaftsrecht, Schlußvortrag zum 45. DJT 1964, Verhandlungen des 45. DJT, Bd. II, S. L 15, das Recht der Europäischen Gemeinschaften sei nicht grundrechtsintensiv, muß te schon aus damaliger Sicht problematisch erscheinen; kritisch dagegen z.B. H. H. Rupp, Die Grundrechte und das Europäische Gemeinschaftsrecht, NJW 1970, S. 353 (354). 135 Siehe nur BVerfGE 51, 222 (239); ferner O. Harnier, in: H. v. d. Groeben / H. v. Boeckh/J. Thiesing / C.-D. Ehlermann, Kommentar zum EWG-Vertrag, 3. Aufl. 1983, Bd. 2, Art. 145 Rn. 11; Schweitzer, in: Grabitz, Art. 145 Rn. 1. 136 Siehe auch Bleckmann, Europarecht, S. 23. 137 Siehe auch BVerfGE 22, 293 (295); 51, 222 (239). - Dabei bestimmt sich nach nationalem Verfassungsrecht, wer als Mitglied der Regierung anzusehen ist; siehe nur Bleckmann, Europarecht, S. 20 f. 138 Siehe auch BVerfGE 51, 222 (239).
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dest in jedem von seiner Regierung gewünschten Umfang Weisungen unterworfen werden. Hieran zeigt sich besonders deutlich, daß materiell die Regierungen der Mitgliedstaaten selbst den Rat bilden 139. Aufgrund seiner Struktur kann der Rat eine bedeutsame Vermittlungsfunktion zwischen den Europäischen Gemeinschaften und den einzelnen mitgliedstaatlichen Exekutiven sowie den diese tragenden politischen Mehrheiten erfüllen. Er vermag so auch die politische Durchsetzbarkeit des Gemeinschaftsrechts zu sichern 140 . Unabdingbare Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit dieses Rückkoppelungsprozesses ist dabei aber die nationale Weisungsgebundenheit der Vertreter der Mitgliedstaaten im Rat 1 4 1 . Wegen der grundsätzlichen Weisungsgebundenheit der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten kommt im Ergebnis der Wille der maßgebenden politischen Weisungsinstanzen der beteiligten Staaten unmittelbar im Rat zur Geltung 1 4 2 . Obwohl der Ministerrat als solcher ein europäisches Organ auf Gemeinschaftsebene bildet und seine Akte somit als gemeinschaftsrechtlich zu beurteilende Akte eines europäischen Organs qualifiziert werden müssen, wird sein Wille von den Repräsentanten der einzelnen mitgliedstaatlichen Regierungen gebildet. Diese treten dabei in ihrer jeweiligen nationalen Kapazität, nicht etwa als Träger eines europäischen Mandats, auf 1 4 3 . Gerade durch diese Doppelfunktion - Vertreter der Mitgliedstaaten und zugleich Organmitglieder - wird auch die spezifische Struktur des Rates charakterisiert und von derjenigen der Kommission als eines echten Gemeinschaftsorgans unterschieden 144 . Die nationale Weisungsgebundenheit der jeweils in den Rat entsandten Regierungsmitglieder der Mitgliedstaaten, die sie prinzipiell von den Mitgliedern der Kommission und den Abgeordneten des Europäischen Parla139 Diesen Zusammenhang (und zugleich den entscheidenden Unterschied des Rates zur Kommission) negiert Nicolaysen, wenn er zur Begründung seines gegenteiligen Standpunktes geltend macht, „wenn die Türen sich hinter den Ministern zur Ratssitzung geschlossen haben, (seien) diese nichts anderes als Mitglieder des Organs Rat und aktiv und passiv nur noch in die Rechtsordnung der Gemeinschaft eingebunden" tNicolaysen, EuR 1989, S. 215ff., 218 - 219). 140 Siehe Beutler / Bieber / Pipkorn / Streil, Die EG, S. 121; vgl. auch ebd., S. 118. 141 Siehe bereits Friauf, Die Staatenvertretung in supranationalen Gemeinschaften, S. 7f., m.w.N.; Bleckmann, Europarecht, S. 22. 142 Dazu bereits Friauf, Die Staatenvertretung in supranationalen Gemeinschaften, S. 8 und passim. Letztlich sind es - wie bereits früher dargelegt worden ist - die Mitgliedstaaten selbst, repräsentiert durch ihre Regierungen, die als Ratsmitglieder handeln; siehe Friauf, ebd., S. 8. 143 Vgl. auch J. H. Kaiser, in: Festschrift für Ophüls, 1965, S.107ff. (107); Bleckmann, Europarecht, S. 23. 144 z u r Doppelfunktion der Ratsmitglieder siehe auch Harnier, in: v. d. Groeben / v. Boeckh / Thiesing / Ehlermann, Art. 146 Rn. 1.
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ments unterscheidet, zeigt - in Verbindung mit der Tatsache, daß der einzelne nationale Minister kein Recht auf Auftreten im Rat hat, sondern ad hoc von seiner Regierung entsandt wird - , daß bei der Tätigkeit des Rates die „Nabelschnur" zum nationalen politischen Entscheidungsprozeß der einzelnen Mitgliedstaaten noch nicht durchschnitten ist. Die Beschlüsse, die formal am Ratstisch in Brüssel gefaßt werden, werden materiell zuvor an den Kabinettstischen der einzelnen Mitgliedstaaten vorprogrammiert. Daß die Regierungen der Mitgliedstaaten dabei in ihrer jeweiligen nationalen Kompetenz handeln, also Staatsgewalt des einzelnen Staats ausüben, unterliegt keinem vernünftigen Zweifel. Die so charakterisierte Struktur des Entscheidungsprozesses im Rat hat sich nicht lediglich aufgrund einer (möglicherweise kritikwürdigen) politischen Praxis herausgebildet. Sie ist vielmehr der von den Verträgen selbst geschaffenen institutionellen Ordnung immanent. Sie gehört geradezu zu den Grundprämissen der vom EWG-Vertrag geschaffenen Organisation, die die Kompetenz der unabhängig handelnden Kommission umfassend eingeschränkt hat, um die Fülle der Entscheidungsgewalt den im Rat auftretenden Regierungen selbst vorzubehalten. Der auf diese Weise strukturierte Tatbestand kann bei der hier erörterten Frage nach der Grundrechtsbindung der Mitwirkungsakte im Rat nicht unberücksichtigt bleiben. bb) Die Mitwirkungsakte als grundrechtsgebundene Ausübungsformen deutscher öffentlicher Gewalt Die (Rück-)Bindung der Mitwirkungsakte der Vertreter der Bundesregierung an die Grundrechte des Grundgesetzes setzt nach Art. 1 I I I GG voraus, daß ihre Handlungen der inländischen öffentlichen Gewalt zuzurechnen sind 1 4 5 . Diese Voraussetzung muß nach den eben getroffenen Feststellungen eindeutig bejaht 1 4 6 werden: Die einmal wirksam zustande gekommenen Verordnungen, Richtlinien und Entscheidungen des Rates sind als solche zuvor Akte eines europäischen Gemeinschaftsorgans. Als gemeinschaftsrechtlich legitimierte Gewalt unterliegen sie selbst nicht der Bindungsklausel des Art. 1 I I I GG. Andererseits aber wird mit der unmittelbaren Mitwirkung der weisungsgebundenen Vertreter der Bundesregierung am Zustandekommen dieser Akte deutsche Staatsgewalt i.S. von Art. 1 I I I GG ausgeübt 147 . 145
Siehe dazu oben unter Abschnitt IV. 2. b). Übereinstimmend, im Hinblick auf Art. 20 I I I GG, Herdegen, EuGRZ 1989, S. 309ff. (313); a. A. Nicolaysen, EuR 1989, S. 215ff. (218). 147 Zutreffend dazu gerade im Hinblick auf die Anwendbarkeit des Art. 1 I I I GG Stern, StaatsR I I I / l , § 72 V 5b) (S. 1236): „In vielen Fällen ist jedoch deutsche öffentliche Gewalt insoweit involviert, als deutsche Organe unmittelbar oder mittelbar an fremden Akten mitwirken oder hierzu Hilfestellung leisten" (Hervorhebung im Origi146
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Sowohl die Entscheidung der Bundesregierung über die Entsendung eines bestimmten Ministers zu einer Ratssitzung als auch ihre Entscheidung über die ihm zu erteilenden Weisungen im Hinblick auf sein Abstimmungsverhalten manifestieren deutsche Staatsgewalt. Die jeweiligen Vertreter der Bundesregierung treten im Rat als „verlängerter Arm" dieser Staatsgewalt auf. Ihr Recht zum Auftreten für die Bundesrepublik im Rat und zur entscheidungserheblichen Teilnahme an der Beschlußfassung beruht auf ihrer, dem Grundgesetz unterworfenen nationalen Kompetenz, nicht auf einer vom Gemeinschaftsrecht verliehenen Stellung 1 4 8 . Sie stehen demnach nicht „außerhalb des Gefüges der deutschen Staatsorganisation" 149 . Als Vertreter eines Mitgliedstaats handeln die Minister „entsprechend internem Verfassungsrecht" im Interesse und nach Weisung der zuständigen Organe ihres jeweiligen Staates 150 . Auf das Handeln der im Rat auftretenden Minister müssen deshalb die Grundsätze angewandt werden, die für die Ausübung staatlicher Rechte gelten 151 . Es ist deshalb „an die nationale Rechtsordnung und insbesondere an die Verfassung(en) gebunden" 152 . Wenn ein Ratsbeschluß einmal formell korrekt gefaßt worden ist, dann hängt seine Gültigkeit freilich nicht davon ab, ob der deutsche Vertreter die aus Art. 1 I I I GG folgenden Bindungen eingehalten hat oder nicht. Auch in diesem Zusammenhang greift die anerkannte völkerrechtliche Maxime entsprechend ein, nach der jeder Staat grundsätzlich allein für die Einhaltung seines Verfassungsrechts verantwortlich ist und sich anderen Staaten gegenüber nicht auf einen seinen eigenen Organen zuzurechnenden Verfassungsverstoß berufen kann. Die Wirksamkeit der Beschlüsse des Rates richtet sich allein nach Gemeinschaftsrecht 153 . Das gemeinschaftsrechtliche
nal); vgl. ferner Bleckmann / Busse, DVB1. 1977, S. 794 (796): „Deutsche Hoheitsgewalt wird ... ausgeübt, wenn die Bundesrepublik innerhalb oder außerhalb eines Vertrages an Akten einer ausländischen Staatsgewalt mitwirkt. " 148 Das übersieht Nicolaysen, EuR 1989, S. 215 ff. (218 - 19). 149 So die (negative) Umschreibung des Begriffs der deutschen Staatsgewalt durch das BVerfG; siehe BVerfGE 22, 293 (297); vgl. ferner BVerfGE 58, 1 (26). 150 Siehe Harnier, in: v. d. Groeben / Boeckh / Thiesing / Ehlermann, Art. 146 Rn. 1. 151 So schon - im Grundsatz - Friauf, Die Staatenvertretung in supranationalen Gemeinschaften, S. 9. Vgl. ferner G. Meier, Die Mitwirkung der Bundesregierung bei der Gesetzgebung des Rates der Europäischen Gemeinschaften, NJW 1971, S. 961 (965): „Soweit die Mitwirkung an der Bildung des Gesetzgebungswillens der Gemeinschaft im Rat einen Akt der Bundesregierung darstellt, ergibt sich seine Bindung zumindest an die verfassungsmäßige Ordnung der Bundesrepublik Deutschland aus Art. 20 I I u. I I I GG." (Auf die hier interessierenden Grundrechtsbindung nach Art. 1 I I I GG geht Meier allerdings nicht ein.) 152 So auch Bleckmann, Europarecht, S. 23, der daraus die Konsequenz zieht: „Damit ist es auch denkbar, das Verhalten der Regierungsvertreter im Rat der nationalen Gerichtskontrolle (BVerfG) zu unterwerfen." 153 Siehe nur Harnier, in: v. d. Groeben / v. Boeckh / Thiesing / Ehlermann, Art. 145 Rn. 12.
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„Können" der deutschen Ratsmitglieder reicht infolgedessen weiter als i h r von den Bindungen an das Grundgesetz abhängiges - „Dürfen". Durch diese Duplizität der Beurteilungsebenen wird die verfassungsrechtliche Einbindung des deutschen Ratsvertreters in die grundgesetzliche Ordnung aber nicht gelockert. Er darf nicht deshalb von seiner durch Art. 1 I I I GG statuierten Bindung an die Grundrechte abweichen, weil ein etwaiger Verstoß gegen diese Bindungen auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts sanktionslos bliebe 1 5 4 . Nur diese Problemperspektive w i r d dem strikten, umfassenden und absoluten Bindungsanspruch des Art. 1 I I I GG gerecht. Da die Bindungsklausel des Art. 1 I I I GG allein auf das Tätigwerden deutscher Staatsgewalt abstellt und keine Exklaven in sachlicher oder in territorialer Hinsicht kennt, wird ihre Maßgeblichkeit weder dadurch in Frage gestellt, daß die deutsche öffentliche Gewalt im hier interessierenden Zusammenhang nicht im Inland (sondern am Sitz des Rates der Europäischen Gemeinschaften) ausgeübt wird, noch dadurch, daß ihre Ausübung sich nicht auf ausschließlich deutsche Angelegenheiten bezieht, sondern sich in der Mitwirkung an Akten eines Gemeinschaftsorgans manifestiert. Art. 1 I I I GG bindet nicht nur alle inländische Staatsgewalt, sondern auch die gesamte deutsche Staatsgewalt überall dort, wo sie tätig wird oder sich auswirkt 1 5 5 . b) Zur präventiv wirkenden Maßstäblichkeit der nationalen Grundrechtsordnung Die spezifische Direktionskraft der Bindungsklausel des Art. 1 I I I GG für die deutschen Mitglieder im Rat der Europäischen Gemeinschaften entfaltet sich auf einer präventiven Wirkebene. Sie verpflichtet das jeweils handelnde deutsche Ratsmitglied, von vornherein einem Beschluß nicht zuzustimmen, dessen Durchführung im Geltungsbereich des Grundgesetzes zu einem verfassungsrechtlich unzulässigen Grundrechtseingriff führen würde. Praktisch bedeutet das, daß das deutsche Ratsmitglied verpflichtet ist, gegen eine vom Rat beabsichtigte Regelung zu stimmen, die - stünde sie in einem deutschen Gesetz - wegen Grundrechtsverstoßes als verfassungswidrig angesehen werden müßte. Die strikte und umfassende Verpflichtung der deutschen Ratsvertreter zur Achtung der nationalen Grundrechte kann so bereits im Ansatz weitgehend 1 5 6 die Entstehung von Gemeinschaftsakten verhindern, die aus deut154 Grundsätzlich übereinstimmend auch Η. v. Meibom, Der EWG-Vertrag und die Grundrechte des Grundgesetzes, DVB1. 1969, S. 437 (441). 155
Dazu siehe bereits oben Abschnitt III. 2. c) a.E. unter Bezugnahme auf Stern, StaatsR I I I / l , § 72 V 5a) (S. 1230). 156 Daß trotz Grundrechtsbindung der Staatsgewalt faktisch Grundrechtsverstöße möglich sind, ist eine - durch die Staatspraxis vielfach belegte - simple Erkenntnis;
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scher Sicht grundrechtswidrig wären. Entsprechendes gilt für die jeweils gegebene Verfassungsbindung der Vertreter der übrigen Mitgliedstaaten, die indessen nicht Gegenstand der vorliegenden Untersuchung ist. Die Grundrechtsbindung der Ratsvertreter leistet damit einen wesentlichen Beitrag dazu, daß trotz der formalen Unabhängigkeit des kommunitären Entscheidungsprozesses von den Verfassungen der Mitgliedstaaten das Gleichgewicht zwischen dem sich fortentwickelnden Gemeinschaftsrecht und den mitgliedstaatlichen Verfassungsordnungen auf Dauer gewahrt bleiben kann. Der Grundsatz der präventiv wirkenden Maßstäblichkeit der mitgliedstaatlichen Grundrechtsordnung erfährt darüber hinaus eine doppelte Legitimation aus der besonderen Sachgesetzlichkeit des Verhältnisses von mitgliedschaftlichem Verfassungsrecht und Gemeinschaftsrechtsordnung: - Zum einen kompensiert er in gewissem Maße die nur höchst eingeschränkt vorhandene Möglichkeit mitgliedstaatlicher Organe zur nachträglichen Korrektur grundrechtswidriger Rechtsakte der Gemeinschaft 157 . - Zum anderen trägt er der Dynamik des einmal in Gang gesetzten Integrationsprozesses Rechnung, die zu einer Abschwächung der normativen Direktionskraft des - jedenfalls von seiner Funktion her - ebenfalls präventiv wirkenden Gesetzesvorbehalts des Art. 24 I GG geführt hat 1 5 8 . aa) Die Untauglichkeit nachträglicher Einflußnahme zum Schutz der nationalen Grundrechte Auf einer früheren Stufe dieser Untersuchung ist bereits dargelegt worden, daß jedenfalls seit der „Solange II"-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts eine Überprüfung des (sekundären) Gemeinschaftsrechts am Maßstab der deutschen Grundrechtsordnung praktisch nicht mehr stattfindet. Wenn das jeweils zuständige Organ der Gemeinschaft im Rahmen seiner Kompetenzen eine Maßnahme getroffen hat, die aus der Sicht des deutschen Verfassungsrechts als Grundrechtsverletzung angesehen werden muß, dann konkretisiert (und reduziert) sich die Bindungswirkung des Art. 1 I I I GG nunmehr lediglich zu einer Pflicht der zuständigen Bundesorgane, auf das Gemeinschaftsorgan mit dem Ziel einer Korrektur des Hoheitsaktes einzuwirken 1 5 9 . Dagegen besteht keine Möglichkeit, die Maßnahme wegen des ihr daß andererseits ein Staatshandeln ohne strikte Grundrechtsbindung eine weit geringere Beachtung der Grundrechte zur Folge hätte, liegt indes ebenso auf der Hand. 157 Dazu im folgenden aa). 158 Dazu unten bb). 159 Siehe allgemein Stern, StaatsR I I I / l , § 72 V 5b) (S. 1237).
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anhaftenden Grundrechtsverstoßes als nichtig zu behandeln, ihre innerstaatliche Durchführung zu verweigern oder eine einseitige Aufhebung zu erklären. Durch jede dieser Verhaltensweisen würde die Bundesrepublik Deutschland gegen die von ihr übernommenen gemeinschaftsrechtlichen Pflichten verstoßen. Zu einer solchen (externen) Pflichtverletzung berechtigt die Grundrechtsgebundenheit der deutschen öffentlichen Gewalt nicht. Sie würde nicht zuletzt zu einer Kollision mit dem ebenfalls verfassungsrechtlich fundierten Sinn und Zweck der prinzipiell zugelassenen Übertragung von Hoheitsgewalt nach Art. 24 I GG führen 1 6 0 . Andererseits kann die Unvereinbarkeit eines Gemeinschaftsakts mit den Grundrechten des Grundgesetzes auch nicht mit einem Rechtsbehelf beim Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften geltend gemacht werden, weil der Gerichtshof nach Art. 164 des EWG-Vertrags nur für die Wahrung des Gemeinschaftsrechts zuständig ist. Deshalb bleibt, w i l l man die Unterwerfung der deutschen Staatsorgane (insbesondere der Bundesregierung) unter das Grundgesetz einerseits und ihre Verpflichtung, das Gemeinschaftsrecht zu respektieren und anzuwenden, andererseits, also ihre „doppelte Verfassungspflicht", in praktischer Konkordanz harmonisieren, nur die Möglichkeit zu nachträglicher Einwirkung auf die Gemeinschaftsinstitutionen mit dem Ziel einer Korrektur. Mit der Verweisung auf diesen Weg wird nun aber die strikte Positivität der Grundrechte gemäß Art. 1 I I I GG entscheidend abgeschwächt. Die Bundesregierung braucht gegenüber der Gemeinschaft und den übrigen Mitgliedstaaten nur insoweit mit dem Ziel einer Korrektur einmal getroffener, aber aus deutscher Sicht grundrechtswidriger Maßnahmen tätig zu werden, als ihr das im Rahmen der eingegangenen gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen unter Abwägung von grundrechtsgeschützten Interessen einerseits und politischem Gesamtinteresse gegenüber den Vertragsparteien andererseits erreichbar erscheint. Dabei steht ihr eine relativ weitgehende politische Einschätzungsprärogative zu 1 6 1 . In jedem Fall ist die Bundesregierung, auch wenn sie sich im Einzelfall zu einem derartigen nachträglichen Schritt entschließen sollte, auf den guten Willen der übrigen Beteilig160 Vgl. auch Stern, StaatsR I I I / l , § 72 V 5b) (S. 1237). - Im Extremfall kann die verfassungsrechtliche Bemühungspflicht der Bundesregierung allerdings „bis zur Suspendierung der Mitgliedschaft oder zum Austritt und damit zur Auflösung der Gemeinschaften führen"; so Hilf, EuGRZ 1987, S. 1 (6), für den Fall, daß „es nicht gelingen sollte, die Grundrechtsfrage gesondert zu lösen". 161 Statt vieler vgl. dazu Stern, StaatsR I I I / l , § 72 V 5b) (S. 1237) und § 72 V 5a) (S. 1231) unter Bezugnahme auf BVerfGE 6, 290 (296ff.); 40, 141 (178); 41, 126 (182); 45, 83 (96f.); 55, 349 (365), zum politischen Ermessen der auswärtigen Gewalt. Dieses politische Ermessen dürfte allerdings in den - für die Agenden der Europäischen Gemeinschaften charakteristischen - Bereichen des Wirtschafts-, Handels- und Steuerrechts tendenziell weniger weit reichen als in „hochpolitischen" Angelegenheiten.
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ten angewiesen. E i n A n s p r u c h auf K o r r e k t u r v o n g e m e i n s c h a f t s r e c h t l i c h e i n w a n d f r e i getroffenen Maßnahmen wegen Verstoßes gegen deutsches Verfassungsrecht, insbesondere gegen die Grundrechte, besteht n i c h t . E r läßt sich weder aus dem Gemeinschaftsrecht noch aus v ö l k e r r e c h t l i c h e n G r u n d sätzen herleiten. D a nach alledem n a c h t r ä g l i c h greifende I n s t r u m e n t e z u r H a r m o n i s i e r u n g des sekundären Gemeinschaftsrechts m i t der deutschen G r u n d r e c h t s o r d n u n g entweder ganz fehlen oder aber weitgehend i n e f f e k t i v sind, k a n n u m so weniger angenommen werden, daß es i m Sinne des Grundgesetzes liege, auf die p r ä v e n t i v w i r k e n d e M a ß s t ä b l i c h k e i t zu verzichten, die sich aus der B i n d u n g der b e i m Z u s t a n d e k o m m e n v o n gemeinschaftsrechtlichen A k t e n m i t w i r k e n d e n deutschen Vertreter bzw. Organe an die G r u n d r e c h t e des Grundgesetzes gemäß A r t . 1 I I I G G ergibt. bb) D i e D y n a m i k des Integrationsprozesses als Erosionselement der n o r m a t i v e n D i r e k t i o n s k r a f t des Gesetzesvorbehalts i n A r t . 24 I G G Übereinstimmende Folgerungen ergeben sich, w e n n m a n die E n t w i c k l u n g i m Bereich des A r t . 24 I G G verfolgt, der seiner F u n k t i o n nach ein w e s e n t l i ches Element präventiver K o n t r o l l e i m Interesse der A b s t i m m u n g zwischen dem n a t i o n a l e n Verfassungsbereich der B u n d e s r e p u b l i k u n d der O r d n u n g der v o n i h r m i t getragenen zwischenstaatlichen E i n r i c h t u n g e n enthält. N a c h A r t . 24 I G G k a n n der B u n d Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche E i n r i c h t u n g e n n u r d u r c h Gesetz „ ü b e r t r a g e n " . I m B l i c k darauf, daß diese „ Ü b e r t r a g u n g " v o n Hoheitsrechten nach A r t . 24 I G G i n das grundgesetzliche F u n k t i o n s - u n d Machtverteilungsgefüge eingreift u n d somit m a t e r i e l l eine Verfassungsänderung b e w i r k t 1 6 2 , erweist sich der Gesetzesvorbehalt „als Akt der verfassungsorganisatorischen Kompensation, als gesetzgeberischer Ausgleich f ü r die Verselbständigung überstaatlicher Regelungsgew a l t " 1 6 3 . U m so wesentlicher erscheint, daß dieser V o r b e h a l t n i c h t n u r f o r m a l k o r r e k t beachtet w i r d , sondern daß die m i t i h m i n t e n d i e r t e Maßstäbl i c h k e i t auch i n h a l t l i c h i n dem Sinne nachvollzogen w i r d , daß eine ausreichende R ü c k b i n d u n g der zwischenstaatlichen E i n r i c h t u n g e n , denen die B u n d e s r e p u b l i k Hoheitsrechte übertragen hat, an die nationale Verfassungsordnung gewahrt b l e i b t . 162
Vgl. bereits oben Abschnitt III. 1. a). So zutreffend O. Rojahn, Der Gesetzesvorbehalt für die Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen. Zur Auslegung des Art. 24 I GG, JZ 1979, S. 118 (123) - Hervorhebung im Original; zur Sicherungsfunktion des Gesetzesvorbehalts in Art. 24 I GG vgl. weiter z.B. auch Zuleeg, Der Staat 17 (1978), S. 27 (30). 163
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Gleichwohl hat es das Bundesverfassungsgericht als notwendig angesehen, die materielle Prüfungs- und Maßstabsfunktion des in Art. 24 I GG statuierten Gesetzesvorbehaltes und damit seine sachliche Reichweite unter ausdrücklicher Berufung auf die spezifisch prozeßhaft-dynamischen Funktionsbedingungen zwischenstaatlicher Einrichtungen 1 6 4 mehrfach zu relativieren 165 . Bereits im ersten „Eurocontrol"-Beschluß stellt es darauf ab, daß die Rechtsnormen, in denen sich ein zwischenstaatlicher Integrationsprozeß vollziehe, vielfältig sein könnten. „Sie reichen von zusätzlichen vertraglichen Instrumenten über Beschlußformen der zwischenstaatlichen Einrichtung und doppelfunktionellen Regelungsakten bis hin zur tatsächlichen Inanspruchnahme einer Kompetenz bei konkurrierenden Kompetenzlagen als dem maßgeblichen Zeitpunkt für den aktuellen Kompetenzzuwachs der zwischenstaatlichen Einrichtung. Auch dort, wo nicht schon der Gründungsvertrag selbst jeden dieser Abläufe nach Inhalt, Form und Zeitpunkt festgelegt hat, bedarf es für derartige Vollzugsschritte nicht von vornherein jeweils eines gesonderten Gesetzes im Sinne des Art. 24 Abs. 1 GG. Ein solches Gesetz ist dort entbehrlich, wo bereits der Gründungsvertrag, dem durch Gesetz zugestimmt worden ist, diesen künftigen Vollzugsverlauf hinreichend bestimmbar normiert h a t " 1 6 6 . Noch weitergehend wird die präventiv wirkende normative Kraft des in Art. 24 I GG statuierten Gesetzesvorbehalts durch die Konzeption abgeschwächt, zu der sich das Urteil des II. Senats des BVerfG vom 18. Dezember 1984 über den sog. Nachrüstungsstreit bekannt hat: Da dem deutschen Gesetzgeber bei der Verabschiedung des Gesetzes über den Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zum Brüsseler Vertrag und zum Nordatlantikvertrag das „Programm der militärischen Integration ... hinreichend deutlich vor Augen" gestanden habe, seien die im weiteren Verlauf des Integrationsprozesses realisierten bündnispolitischen Maßnahmen durch diesen Legislativakt von vornherein in einer den Anforderungen des Art. 24 I GG genügenden Weise legitimiert worden. Die „Dynamik" des Sachbereichs erfor164 Zur spezifischen Dynamik, die gerade den Europäischen Gemeinschaften wie keinen anderen vergleichbaren Organisationen zugeschrieben wird, siehe etwa E. Grabitz, Methoden der Verfassungspolitik in der Gemeinschaft, in: Bieber / Bleckmann / Capotati u.a. (Hrsg.), Das Europa der zweiten Generation. Gedächtnisschrift für Christoph Sasse, Bd. I, 1981, S. 105ff. m.w.N. - Kritisch gegenüber einer „,dynamischen' (allein politischen) Handhabung der Gemeinschaftsnormen", die „die westdeutsche Rechtsstaatlichkeit in Frage" stellen könne, z.B. H. Schwaiger, Mitgliedstaatliche Verfassungsmäßigkeit und sekundäres Gemeinschaftsrecht, AWD/RIW 1972, S. 265 (273). 165 Eine ähnliche Bewertung der verfassungsgerichtlichen Judikatur findet sich bei J. Schwarze, Das Verhältnis von deutschem Verfassungsrecht und Europäischer Gemeinschaft auf dem Gebiet des Grundrechtsschutzes im Spiegel der jüngsten Rechtsprechung, in: J. Schwarze / W. Graf Vitzthum (Hrsg.), Grundrechtsschutz im nationalen und internationalen Recht. W. von Simson zum 75. Geburtstag, 1983, S. 343 (349). le6 So BVerfGE 58, 1 (36f.).
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dere „offene Bestimmungen", die rasche und anpassungsfähige Entscheidungen im Interesse des Bündniszweckes ermöglichten 167 . Es geht hier nicht um die Frage, ob die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Beifall verdienen oder nicht 1 6 8 . Der Rekurs des BVerfG auf die Eigengesetzlichkeiten und Notwendigkeiten eines dynamischen Integrationsprozesses besitzt zweifellos Gewicht. Das Verlangen nach permanenter Novellierung des der jeweiligen zwischenstaatlichen Einrichtung zugrunde liegenden „Übertragungs-"Gesetzes im Sinne von Art. 24 I GG, wie es die Gegenauffassung konsequenterweise stellen müßte, würde alsbald auf unüberwindbare faktische Schwierigkeiten stoßen. Damit erweist sich die verfassungsorganisatorische Kompensationsregelung des Art. 24 I GG 1 6 9 , die an sich berufen wäre, die Belange des nationalen Grundrechtsschutzes im Bereich der zwischenstaatlichen Einrichtung zu wahren, allenfalls mit erheblichen Einschränkungen als zu diesem Zwecke tauglich. Wenn es aber aus sachgesetzlichen Gründen nicht möglich ist, den dynamischen Entwicklungsprozeß der Gemeinschaften durch entsprechend detaillierte Regelungen im „Übertragungs-"Gesetz selbst in dem erforderlichen Maße antizipierend an die Belange des nationalen Grundrechtsschutzes zu binden, dann besteht um so mehr Anlaß, an der aus Art. 1 I I I GG folgenden Grundrechtsbindung der an Gemeinschaftsakten mitwirkenden deutschen Organträger festzuhalten, die sich laufend-aktuell manifestiert und deshalb auch den Gegebenheiten des jeweiligen Entwicklungsstandes der Gemeinschaften Rechnung tragen kann. Die Grundrechtsbindung insbesondere der Vertreter im Rat gemäß Art. 1 I I I GG steht somit in einem Korrespondenzverhältnis zu Art. 24 I GG. Sie bewirkt im dynamischen Entwicklungsprozeß der Gemeinschaften das, was das „Übertragungs-"Gesetz nach Art. 24 I GG wegen seines auf den Errichtungszeitpunkt der Gemeinschaften bezogenen statischen Ansatzes nicht selbst leisten kann. 4. Schranken der Grundrechtsbindung?
Abschließend bleibt zu fragen, ob die auf Art. 1 I I I GG beruhende strikte Bindung der deutschen Ratsmitglieder an die nationale Grundrechtsordnung nicht unter Umständen aus gemeinschaftsrechtlichen Gründen, die rückkoppelnd zum Tragen kommen könnten, begrenzt oder relativiert werden muß.
167 So BVerfGE 68, 1 (98ff., insbes. 100). Kritisch zu der vom BVerfG bewirkten Abschwächung des Gesetzesvorbehalts nach Art. 241 GG z.B. Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, §34 113 (S. 163f.); jüngst auch Dörr, NWVB1. 1988, S. 289 (291). 169 Siehe Rojahn, JZ 1979, S. 118 (123). 168
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Ein derartiger Gedanke klingt in den Ausführungen Bleckmanns an, der zwar die Bindung der Vertreter der nationalen Regierungen im Rat an die mitgliedstaatlichen Verfassungen und „folglich" deren Weisungsabhängigkeit hervorhebt 170 , an anderer Stelle aber ausführt: „Die Vertreter der Mitgliedstaaten im Rat unterliegen dem Weisungsrecht ihrer Regierungen ... nach nationalem Verfassungsrecht. Allerdings wird man annehmen müssen, daß die Mitgliedstaaten nach Art. 5 EWGV verpflichtet sind, die Funktionsfähigkeit des Rates zu sichern" 1 7 1 . Im Ausgangspunkt besteht kein Zweifel daran, daß Art. 5 EWG-Vertrag den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft echte Rechtspflichten auferlegt, die auch durch die gemäß Art. 24 I GG erfolgte Zustimmung des Bundesgesetzgebers zu dem Vertrag gedeckt sind und die Organe der Bundesrepublik Deutschland binden. Indessen erscheint zumindest äußerst zweifelhaft, ob Art. 5 EWG-Vertrag von seinem sachlichen Regelungsgehalt her überhaupt die hier interessierende Problemkonstellation erfaßt: - Nach Art. 5 I E WG-Vertrag treffen die Mitgliedstaaten „alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung der Verpflichtungen, die sich aus diesem Vertrag oder aus Handlungen der Organe der Gemeinschaft ergeben. Sie erleichtern dieser die Erfüllung ihrer Aufgabe." - Nach Art. 5 I I E WG-Vertrag unterlassen sie „alle Maßnahmen, welche die Verwirklichung der Ziele dieses Vertrages gefährden könnten. " Einschlägig im hier interessierenden Zusammenhang dürften allenfalls die Mitwirkungspflichten des Art. 5 I EWG-Vertrag sein. Die Unterlassungspflicht nach Art. 5 I I EWG-Vertrag bezieht sich, abgesehen von ihrem zweifelhaften unmittelbaren Geltungsanspruch 172 lediglich auf eigenständiges Verhalten der Staaten als solcher. Als Schrankennorm für die Grundrechtsbindung der deutschen Ratsmitglieder gemäß Art. 1 I I I GG kommt sie nicht in Betracht. Die Art und Weise der Stimmabgabe im Rat ist keine staatliche Maßnahme im Sinne von Art. 5 I I EWG-Vertrag, deren Unterlassung gefordert werden könnte. Das gilt unabhängig davon, ob der deutsche Ratsvertreter im Einzelfall deshalb gegen einen Beschluß gestimmt hat, weil er gemäß Art. 1 I I I GG an die Wahrung der Grundrechte des Grundgesetzes gebunden war, oder ob die Bundesregierung diesen Beschluß aus politischen Erwägungen abgelehnt hat. 170
Siehe Bleckmann, Europarecht, S. 23. Bleckmann, Europarecht, S. 22 - Hervorhebungen hinzugefügt; vgl. auch die Erwägungen von Herdegen, EuGRZ 1989, S. 309ff. (313). 172 Nach Bleckmann „ w i r d man aufgrund der Rechtsprechung des EuGH in der Tat annehmen müssen, daß diese Bestimmung die Ziele des Vertrages nicht hinreichend präzise formuliert, so daß Art. 5 I I nicht unmittelbar anwendbar ist"; so A. Bleckmann, in: v. d. Goeben / Boeckh / Thiesing / Ehlermann, Art. 5 Rn. 21. 171
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Aber auch die in Art. 5 11 u. 2 EWG-Vertrag statuierten Kooperationspflichten betreffen andere Sachverhaltsgestaltungen. Im wesentlichen geht es dabei um die Umsetzung, den Vollzug und die konkrete Ausführung des primären und sekundären - Gemeinschaftsrechts im innerstaatlichen Raum 1 7 3 , nicht dagegen um die Mitwirkung der Mitgliedstaaten in den Organen der Gemeinschaft. Die aus Art. 5 I EWG-Vertrag folgenden Kooperationspflichten bzw. allgemeiner formuliert: Wohlverhaltenspflichten 174 könnten im Blick auf das Verhalten der Vertreter der nationalen Regierungen im Rat - die ja auch und gerade die Interessen der Mitgliedstaaten zur Geltung bringen sollen 175 allenfalls dann verletzt sein, wenn ein Mitgliedstaat im Rat eine ausgesprochene Obstruktionspolitik triebe, die die Gemeinschaft weitgehend lähmen würde, oder aber wenn er sich unter Berufung auf die Erfordernisse seines nationalen Verfassungsrechts gegen einen Ratsbeschluß stellen würde, der nicht nur dem Grunde, sondern auch dem konkreten Inhalt nach (!) vom EWG-Vertrag selbst bindend vorgegeben ist 1 7 6 . Hierbei dürfte es sich aber praktisch um äußerst seltene Ausnahmefälle handeln, die keinen Rückschluß auf die in der Normalsituation geltende Rechtslage zulassen. Soweit der Vertrag dem Rat und den übrigen Organen der Gemeinschaft Entscheidungsspielräume beläßt, ist jeder bei der Beschlußfassung über eine Maßnahme beteiligte Mitgliedstaat befugt, ihr zu widersprechen. Der Entscheidungsfreiheit des Organs korrespondiert eine prinzipiell ebenso große Entscheidungsfreiheit der einzelnen Mitglieder. Ist aber ein Mitgliedstaat bzw. dessen Vertreter im Entscheidungsorgan, insbesondere im Rat, gemeinschaftsrechtlich befugt, aus politischen Gründen seine Zustimmung zu einem Beschluß zu versagen, dann kann - und muß - er diesem Beschluß ist, um den Bindungen an die auch widersprechen, wenn das erforderlich eigene nationale Verfassung Rechnung zu tragen. Auch Art. 5 EWG-Vertrag stellt demnach die Vertreter der Bundesregierung im Rat nicht von den verfassungsrechtlichen Direktiven des Grundgesetzes, insbesondere von der Bindung an die Grundrechte gemäß Art. 1 I I I GG, frei. Dies gilt auch für den Fall, daß damit ein von der Ratsmehrheit
173 Vgl. z.B. Bleckmann, in: v. d. Groeben / Boeckh / Thiesing / Ehlermann, Art. 5 Rnn. 3 - 2 0 ; vgl. auch den Uberblick bei dems., Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Gemeinschaftstreue, RIW/AWD 1981, S. 653ff. 174 Zur Frage, ob im Recht der Europäischen Gemeinschaften ein Grundsatz der Gemeinschaftstreue gilt und in welchem Verhältnis er gegebenenfalls zu Art. 5 EWGVertrag steht, ist vorliegend nicht Stellung zu nehmen; siehe dazu etwa A. Bleckmann, Art. 5 EWG-Vertrag und die Gemeinschaftstreue, DVB1. 1976, S. 483ff.; dens., Europarecht, S. 135ff., m.w.N. 175 Siehe bereits oben Abschnitt IV. 3 a) aa). 176 Vgl. Art. 5 I EWG-Vertrag: „... zur Erfüllung der Verpflichtungen, die sich aus diesem Vertrag ... ergeben. "
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konkret ins Auge gefaßtes Ziel nicht realisiert werden kann. Etwas anderes könnte nur dann gelten, wenn es sich um ein Gemeinschaftsziel handeln würde, das nicht nur dem Grunde, sondern auch seiner konkreten Ausgestaltung nach im E WG-Vertrag selbst bindend vorgegeben wäre 1 7 7 . Erst recht verpflichtet Art. 5 EWG-Vertrag die Mitgliedstaaten nicht dazu, nach Erlaß eines von mitgliedstaatlichen Verfassungen abweichenden Gemeinschaftsaktes diese Verfassungen entsprechend „anzupassen" 178 . Die Bundesrepublik Deutschland kann ihre Kooperationspflichten im Sinne von Art. 5 EWG-Vertrag nur nach Maßgabe der grundrechtlichen Bindungen gemäß Art. 1 I I I GG erfüllen. Nicht dagegen stehen umgekehrt die Grundrechtsbindungen zur Disposition der politischen Zielvorgaben, die die Entwicklung der Gemeinschaft bestimmen mögen. Wenn die auf Art. 1 I I I GG beruhende Grundrechtsbindung so ernst genommen wird, wie das dem hohen Rang der unter dem Schutz der Unabänderlichkeitsgarantie des Art. 79 I I I GG stehenden Vorschrift im Rahmen der Verfassungsordnung entspricht, dann verbietet sich auch die Vorstellung, Grundrechte seien auf europäischer Ebene zu Lasten ihrer Träger „verhandelbar". Die Bundesregierung mag zwar bisweilen in Versuchung geraten, im Rahmen eines zur Beschlußfassung des Rates anstehenden Gesamtpakets grundrechtliche Bedenken zu einem Punkt zurückzustellen, um einen ihr wichtig erscheinenden anderen Punkt durchsetzen und einen ihr insgesamt günstig erscheinenden Kompromiß erreichen zu können 179 . Indessen kann ein solches Bestreben, so plausibel es aus integrationspolitischer Sicht auch erscheinen mag, die Aufopferung von grundrechtlich geschützten Positionen nicht rechtfertigen. Auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, nach der beim Abschluß von völkerrechtlichen Verträgen auch solche Vereinbarungen verfassungsrechtlich hinzunehmen sind, die dem Grundgesetz zwar nicht voll entsprechen, aber im Vergleich zum bisherigen Zustand „näher beim Grundgesetz" liegen 180 , könnte sich eine solche Kompromißpolitik auf Kosten der Grundrechte nicht stützen 181 . Es ginge bei ihr nicht um die Herbeiführung eines verfassungsnäheren Zustandes, sondern schlicht um die Aufopferung von grundrechtlich geschützten Positionen zugunsten von 177
Zu weitgehend deshalb v. Meibom, DVB1. 1969, S. 437 (441): „Man wird ... davon ausgehen können, daß der Vertreter eines Mitgliedstaates im Rat von den Bestimmungen seiner Verfassung dann abweichen darf, wenn die Ziele, die mit der internationalen Organisation verfolgt werden, nicht auf verfassungskonformem Weg erreicht werden können." 178 Wie ν . Meibom (Fn. 177), meint. 17 9 Vgl. Herdegen, EuGRZ 1989, S. 309ff. (313). 180 BVerfGE 4, 157 (168ff.) - Saar-Vertrag; BVerfGE 15, 337 (348ff.) - Ablösung von Besatzungsrecht; u.a. 181 Insofern abweichend Herdegen, EuGRZ 1989, S. 309ff. (313 - 314). '
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aus momentaner Sicht - wichtig erscheinenden politischen Interessen. Nur wenn dieses Kompromißverbot ernst genommen wird, läßt sich auch der Gefahr begegnen, daß die deutsche Politik unbequemen grundrechtlichen Bindungen auf dem Weg „über Brüssel" auszuweichen sucht 1 8 2 . V. Ergebnis
Die Bindung an die Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht, der jede Äußerungsform deutscher Staatsgewalt nach Art. 1 I I I GG unterliegt, gilt in vollem Umfang auch für die deutsche Teilnahme am Zustandekommen von Akten der Europäischen Gemeinschaften. Insbesondere die Mitwirkung der durch eines ihrer Mitglieder vertretenen Bundesregierung am Entscheidungsprozeß des Rates ist strikt grundrechtsgebunden. Etwas anderes würde nur in dem hypothetischen Fall gelten, in dem ein der Grundrechtsbindung entsprechendes Abstimmungsverhalten in eine Verletzung von gemeinschaftsrechtlichen Pflichten einmünden würde, die der Bundesrepublik Deutschland nach dem EWG-Vertrag obliegen. Dieser Fall könnte indessen nur dann eintreten, wenn die Bundesrepublik vertraglich verpflichtet wäre, dem im Widerspruch zu Grundrechten stehenden Beschluß nicht nur dem Grunde, sondern auch seinem konkreten Inhalt nach zuzustimmen. Solange und soweit der Bundesregierung gemeinschaftsrechtlich Abstimmungsalternativen offenstehen, muß sie ihre Stimme stets in einer Weise abgeben, bei der eine Grundrechtsverletzung durch den zu beschließenden Organakt vermieden wird.
182 Zu dieser Problematik siehe jüngst Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz und Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1989,S.465-469.
Europäisches Gemeinschaftsrecht und innerstaatlicher Verfassungsrechtsschutz Von Rupert Scholz 1. Ausgangspunkte
Obwohl mancherorts erwartet wurde, daß mit der grundlegenden Entscheidung des BVerfG vom 22.10.1986 (sog. Solange Ii-Entscheidung) 1 das Verhältnis von europäischem Gemeinschaftsrecht und nationalem Verfassungsrecht zumindest verfahrensrechtlich seine abschließende Regelung gefunden habe, erweist sich im Zuge der wachsenden Dynamik in der europäischen Einigung, vor allem im Hinblick auf den europäischen Binnenmarkt ab 1992, daß die hiesigen Konfliktfelder keineswegs abschließend bereinigt oder geklärt sind. Im Gegenteil, die wahren Konflikte bzw. deren definitive Bereinigung werden in Existenz wie Regelungsbedarf eher noch offenkundiger. Dies offenbaren jüngste Rechtsentwicklungen im europäischen Gemeinschaftsrecht in besonderer Weise - Rechtsentwicklungen nämlich, die deutlich Konfliktlagen mit bestimmten Normen des nationalen Verfassungsrechts indizieren und für die befriedigende Regelungen bisher noch nicht in Sicht sind. Dabei geht es, wie noch im einzelnen zu zeigen sein wird, ebenso um Probleme der grundgesetzlichen Kompetenzverteilungen zwischen Bund und Ländern wie um grundrechtliche Gewährleistungen. Dabei geht es des weiteren auch und insbesondere um die Frage, in welcher Weise solche Verfassungsrechte aus dem Bund-Länder-Verhältnis sowie aus dem bürgerlichen Grundrechtsverhältnis auch mit der nötigen Wirksamkeit gerichtlich durchgesetzt werden können. Die Feststellung des BVerfG in seinem Solange II-Beschluß, derzufolge der EuGH als gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 10112 GG zu verstehen sei, und die darauf gestützte Feststellung des BVerfG, daß es die eigene Jurisdiktion entsprechend zurückzunehmen habe oder hierzu doch immerhin bereit sei2, genügt, wie die im einzelnen darzustellenden neuen Problemlagen offenbaren, keineswegs, um dem Prinzip eines ebenso wirksamen wie auch effektiven Verfassungsgerichtsschutzes bzw. Rechtsschutzes insgesamt zu genügen. Mit anderen Worten: Die Prophezeiung fällt nicht schwer, daß es bei jener Solange I i Entscheidung des BVerfG kaum w i r d bleiben können; es w i r d ebenso weite1 2
BVerfGE 73, 339ff. Vgl. BVerfGE 73, 366ff., 387f.; siehe auch BVerfGE 75, 223 (233ff.).
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rer materiell-rechtlicher Differenzierungen wie verfahrensrechtlicher Konkretisierungen durch die Rechtsprechung vor allem des BVerfG bedürfen 3 . Die ersten Ansätze hierzu liegen, wie i m einzelnen zu zeigen sein wird, bereits vor. 2. Z u r Systematik von Gemeinschaftsrecht und innerstaatlicher Rechtssetzung
Das europäische Gemeinschaftsrecht gründet sich auf die Gemeinschaftsverträge, die aus der Sicht des nationalen Verfassungsrechts wiederum ihre Grundlage in Art. 24 I GG finden. Hiernach kann der Bund durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen. Dies ist durch die Gemeinschaftsverträge geschehen und hat im Verhältnis zum nationalen Verfassungsrecht auch unmittelbar - gewährleistungsmodifizierende Wirkungen. Obwohl die Einzelheiten des Verhältnisses von Art. 24 I GG und dem entsprechenden (primären) Gemeinschaftsrecht noch nicht in allen Facetten ausgeleuchtet erscheinen, ist der grundsätzliche Befund doch klar 4 . Mit dem BVerfG gesprochen: Der „Art. 24 Abs. 1 GG ermöglicht es, die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland derart zu öffnen, daß der auschließliche Herrschaftsanspruch der Bundesrepublik Deutschland für ihren Hoheitsbereich zurückgenommen und der unmittelbaren Geltung und Anwendbarkeit eines Rechts aus anderer Quelle innerhalb dieses Hoheitsbereichs Raum gelassen w i r d " 5 . Der maßgebende innerstaatliche Verfassungsrechtsschutz wird über die Kontrolle des Zustimmungsgesetzes gemäß Art. 24 I GG durch das BVerfG gewährleistet 6 . Die supranationale 3 Vgl. hierzu im einzelnen sowie auch zum Folgenden H. P. Ipsen, EuR 1987, S. 1 ff.; ders., EuR 1975, S. 2ff.; P. Kirchhof, JZ 1989, S. 453 (454); T. Stein, in: W. ZeidlerFestschrift, Bd. 2, 1987, S. 1711ff.; Scherer, JA 1987, S. 483ff.; Steinberger, in: K. Doehring-Festschrift, 1989, S. 951ff.; Kloepfer, JZ 1988, S.1089ff.; ders., in: Die Bedeutung der Europäischen Gemeinschaften für das deutsche Recht und die deutsche Gerichtsbarkeit, 1989, S. 11 ff.; Zimmermann, in: K. Doehring-Festschrift, 1989, S. 1033ff.; Hilf, EuGRZ 1987, S. Iff.; Frowein, Common Market Law Review 1988, S. 201 ff.; Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz und Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1989, S. 35ff., 43ff., 83ff., 292f., 469f.; R. Scholz, Der europäische Rechtsstaat, demnächst in: E. Steindorff-Festschrift. 4 Siehe näher sowie auch zum Folgenden u.a. BVerfGE 22, 293 (296ff.); 37, 271 (277ff.); 52, 187 (200ff.); 58, 1 (26ff.); 59, 63 (85ff.); 68, 1 (98ff.); 73, 374ff.; 75, 242ff.; H. P. Ipsen, in: Aktuelle Fragen des Europäischen Gemeinschaftsrechts - Europarechtliches Kolloquium 1964, S. Iff.; Bleckmann, in: K. Doehring-Festschrift, 1989, S. 63ff.; K. Vogel, Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit, 1964, S. 35ff., 44ff.; Friauf, DVB1. 1964, S. 781ff.; J. H. Kaiser, W D S t R L Bd. 23, 1966, S. 1 (16ff.); Badura, W D S t R L Bd. 23, 1966, S. 34 (54ff.); Lecheler, Die Verwaltung Bd. 22,1989, S. 137ff.; Steinberger, in: K. DoehringFestschrift, S. 951 ff.; Frowein, in: BVerfG - Festgabe, Bd. II, 1976, S. 187 (201ff.); Grabitz, AöR Bd. 111, 1986, S. 1 (4ff.); Tomuschat, GG-BK, Art. 24 Rdnr. 8ff., 26ff., 39ff., 49ff., 72ff., 92ff.; Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz, S. 92ff., 215ff.; Kössinger, Die Durchführung des Europäischen Gemeinschaftsrechts im Bundesstaat 1989, S. 70ff. 5 BVerfGE 73, 374; siehe auch BVerfGE 37, 271 (280); 58, 1 (28); 59, 63 (90).
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Hoheitsmacht der EG und ihrer Organe erweist sich damit als ebenso originärer wie abgeleiteter Qualität. Deren Rechtssetzung und Hoheitsmacht im einzelnen gründet sich auf Art. 189 EWGV, demzufolge der Rat und die Kommission (vor allem) berechtigt sind, Verordnungen, Richtlinien und Entscheidungen zu treffen. Die Verordnung ist von allgemeiner und generell verbindlicher Wirkung (Art. 189 I I EWGV). Die Richtlinie ist für die einzelnen Mitgliedstaaten verbindlich, „überläßt jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel" zur jeweiligen normativen Umsetzung und Aktualisierung (Art. 189 I I I EWGV). Die „Entscheidung" versteht sich schließlich als entsprechende verwaltungsrechtliche Einzelfallregelung (Art. 189 IV EWGV). Die unmittelbare Verbindlichkeit dieser Rechtssetzungsakte und Entscheidungen der EG-Organe gründet sich wiederum auf den Rechtsanwendungsbefehl des Zustimmungsgesetzes zum EWGV, der sich auch auf Art. 189 EWGV, wie vom BVerfG festgestellt 7 , unmittelbar erstreckt. Im Verhältnis von solchem, von den EG-Organen selbst gesetztem (sekundärem) Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht gilt der prinzipielle Vorrang des Gemeinschaftsrechts, demzufolge nationales Recht, das solchem Gemeinschaftsrecht widerspricht, nicht anwendbar ist 8 - 9 . Dieser Vorrang gilt prinzipiell auch gegenüber verfassungsrechtlichen Gewährleistungen, obwohl Art. 24 I GG nicht dazu ermächtigt, „ i m Wege der Einräumung von Hoheitsrechten für zwischenstaatliche Einrichtungen die Identität der geltenden Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland durch Einbruch in ihr Grundgefüge, in die sie konstituierenden Strukturen, aufzugeben" 10 . Ein hiernach vor allem „unverzichtbares, zum Grundgefüge der geltenden Verfassung gehörendes Essentiale sind", wie das BVerfG ausdrücklich betont 11 , „jedenfalls die Rechtsprinzipien, die dem Grundrechtsteil des Grundgesetzes zugrundeliegen. Art. 24 Abs. 1 GG gestattet nicht vorbehaltlos, diese Rechtsprinzipien zu relativieren. Sofern und soweit mithin einer zwischenstaatlichen Einrichtung im Sinne des Art. 24 Abs. 1 GG Hoheitsgewalt eingeräumt wird, die im Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland den 6
Vgl. BVerfGE 37, 280ff.; 73, 375ff. Vgl. BVerfGE 73, 375. 8 Vgl. näher u.a. BVerfGE 37, 278f.; 73, 374ff.; H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 259f.; Frowein, in: BVerfG - Festgabe, Bd. II, S. 194ff.; Tomuschat, GG-BK, Art. 24 Rdnr. 75ff.; Maunz, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 24 Rdnr. 11; EuGH, Rs. 6/64, Slg. 1964, S.1251ff.; Grabitz, in: Grabitz, EWGV-Komm., 1983ff., Art. 189 Rdnr. 12, 27ff. 9 Wichtig ist hierbei allerdings, daß es sich dabei eher um eine kollisionsrechtliche Frage als um eine (echte) Rangfrage handelt (vgl. H. P. Ipsen, Europ. Gemeinschaftsrecht, S. 259f.; Tomuschat, GG-BK, Art. 24 Rdnr. 75ff.; Bernstein, NJW 1965, S. 2273ff.). Deshalb bleibt das BVerfG auch vorsichtig und verweist auf die Grenzen unantastbarer nationaler Verfassungsprinzipien (vgl. BVerfGE 73, 374ff.). 10 BVerfGE 73, 375f. 11 BVerfGE 73, 376. 7
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Wesensgehalt der vom Grundgesetz anerkannten Grundrechte zu beeinträchtigen in der Lage ist, muß, wenn damit der nach Maßgabe des Grundgesetzes bestehende Rechtsschutz entfallen soll, stattdessen eine Grundrechtsgeltung gewährleistet sein, die nach Inhalt und Wirksamkeit dem Grundrechtsschutz, wie er nach dem Grundgesetz unabdingbar ist, im wesentlichen gleichkommt" 1 2 . In kompetenzrechtlicher Hinsicht stellen sich zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht weitere Probleme, da zwischen beiden Rechtskreisen nicht das Prinzip alternativer oder alternativ-konkurrierender Zuständigkeiten besteht 13 . Hier gilt vielmehr das Prinzip kumulativer Konkurrenz, demzufolge die Mitgliedstaaten der EG auch dort grundsätzlich zuständig bleiben, wo die EG rechtliche Regelungen ihrerseits getroffen hat 1 4 . Zur Konfliktlösung kommt es erst durch die konkrete Anwendbarkeitskontrolle nach Maßgabe des prinzipiellen Vorrangs von Gemeinschaftsrecht gegenüber nationalem Recht. Eine weitere Überschneidung ergibt sich jedoch im Rahmen der kombinierten Rechtssetzung, wie sie die Systematik der Richtlinie gemäß Art. 189 IV EWGV kennzeichnet. Hier verkörpert die Richtlinie (sekundäres) Gemeinschaftsrecht; das zu deren Konkretisierung und Aktualisierung erlassene innerstaatliche Recht ist jedoch nach Qualität wie Rang nationales Recht 15 . Überlagert bzw. noch weiter kompliziert wird diese Mischlage zwischen supranationalem und nationalem Recht schließlich durch die Feststellung des EuGH, derzufolge auch Richtlinien im Einzelfall unmittelbare Verbindlichkeit in den Mitgliedstaaten der EG erlangen können 16 - eine Feststellung, die auch das BVerfG sanktioniert hat 1 7 . Im allgemeinen Kompetenzverhältnis zwischen EG und Mitgliedstaaten gilt nicht das Prinzip einer Kompetenz-Kompetenz der EG, sondern das Prinzip der strikten Kompetenzabgrenzung nach Maßgabe der Gemeinschafts Verträge. Die Organe der EG haben Rechtssetzungsbefugnisse nur soweit, wie ihnen in den Gemeinschaftsverträgen ausdrücklich entsprechende Zuständigkeiten eröffnet sind 18 . Auch aus der „Dynamik der europäischen Integration" folgt keine weitergehende Kompetenz oder gar Kompetenz-Kompetenz; eine entsprechend normative Kraft des Faktischen o.ä. gibt es nicht, selbst wenn politisch mancher Gegenteiliges anstreben mag 19 . ι 2 Vgl. weiterhin BVerfGE 37, 279f.; 58, 1 (30f.). Vgl. Grabitz, NJW 1989, S. 1776. 14 Vgl. Grabitz, NJW 1989, S.1776f.; BVerfG, Beschluß vom 12.5.1989 - 2 BvQ 3/89 15 Vgl. Grabitz, in: Grabitz, EWGV-Komm., Art. 189 Rdnr. 57-ff. 16 Vgl. bes. Rs. 8/81, Slg. 1982, S. 53ff. 17 Vgl. BVerfGE 75, 237 ff. (m.w.Nachw.). 18 Vgl. BVerfGE 37, 279f.; 58, 30f.; 73, 375f.; 75, 242ff.; Grabitz, in: Grabitz, EWGV-Komm., Art. 189 Rdnr. 4; ders., NJW 1989, S. 1776f. 19 Vgl. Lecheler, Die Verwaltung Bd. 22, S. 139ff. 13
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3. Aktuelle Konfliktfälle
Die Zahl der aktuellen Konfliktfälle zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalem Verfassungsrecht häufen sich. Dies beruht vor allem in der immer ausholender werdenden Kompetenzpolitik der EG, die die ihr durch die Gemeinschaftsverträge zugewiesenen Kompetenzen zunehmend mehr extensiv deutet und praktiziert. Die kompetenzrechtlich wichtigsten Konfliktfelder finden sich im Bereich der Kultur- und Bildungspolitik sowie im Bereich des Gesundheitsrechts, des Umweltschutzrechts und des öffentlichen Dienstrechts 20 . a) Im Bereich der Kulturpolitik wirft vor allem die Richtlinie des Rates zur Koordinierung bestimmter Rechts- und VerwaltungsVorschriften der Mitgliedstaaten über die Ausübung der Fernsehtätigkeit (EG-Rundfunkrichtlinie i.d.F. vom 9.6.1989 - Dok. 7225/89) verfassungsrechtliche Probleme auf 21 . Die Bundesregierung beschloß am 8.3.1989, dem Vorschlag für diese Richtlinie zuzustimmen, falls eine befriedigende Lösung bei der Regelung der Programmquoten (Kap. I I der Richtlinie) erreicht werde. Mit dieser Maßgabe wurde der Richtlinienvorschlag gemäß Art. 2 EEAG dem Bundesrat zugeleitet. Dieser lehnte den Richtlinienvorschlag mit Beschluß vom 20.2.1987 ab 2 2 , weil die Richtlinie im Gemeinschaftsrecht keine ausreichende Rechtsgrundlage finde. Der Rundfunk verkörpere eine vor allem kulturelle und gesellschaftspolitische Funktion, die auch eine einseitige oder auch nur überwiegende Zuordnung des Rundfunks zu wirtschaftlichen Funktionsbereichen ausschließe. Inhaltlich baut die Richtlinie auf dem Grünbuch der EG-Kommission „Fernsehen ohne Grenzen" vom 14. 6.1984 auf 23 . Ihr wichtigstes Ziel beruht in der „spezifischen gemeinschaftsrechtlichen Ausprägung eines allgemeineren Prinzips", wie sie ausdrücklich aus20 Vgl. hierzu die Nachw. im Folgenden Fn. 21 sowie bes. Lecheler, Die Verwaltung Bd. 22, S. 137ff.; H. P. Ipsen, in: Geck-Gedächtnisschrift, 1989, S. 339ff.; Conrad, WissR 1989, S. 97ff.; Seidel, DVB1. 1989, S. 441 ff.; Schütz, Der Staat 1989, S. 201ff.; Grabitz, AöR Bd. I l l , S. Iff.; Hochbaum, BayVBl. 1987, S. 481ff.; Henninger, GewArch 1989, S. 259ff.; Schmidt-Aßmann, in: K. Doehring-Festschrift, 1989, S. 889ff. 21 Zur hiesigen Problematik sowie zum Folgenden siehe bes. BVerfG, Beschluß vom 11.4.1989 - 2 BvG 1/89 - , Z U M 1989, S. 235f.; Delbrück, Die Rundfunkhoheit der deutschen Bundesländer im Spannungsfeld zwischen Regelungsanspruch der Europäischen Gemeinschaft und nationalem Verfassungsrecht, 1986; Schwarze, in: Schwarze, Rundfunk und Fernsehen im Lichte der Entwicklung des nationalen und internationalen Rechts, 1986, S. 119 (121 ff.); ders., in: Schwarze, Fernsehen ohne Grenzen, 1985, S. 11 ff.; Seidel, ebenda, S. 121ff.; Kühn, ebenda, S. 153ff.; Berg, ebenda, S. 197ff.; H. P. Ipsen, in: Geck-Gedächtnisschrift, S. 341ff.; Bueckling, EuGRZ 1987, S. 97ff.; Schwartz, AfP 1987, S. 375ff.; Ossenbühl, Rundfunk zwischen nationalem Verfassungsrecht und europäischem Gemeinschaftsrecht, 1986; Rudolph, AfP 1986, S. 106ff.; Borchmann, DÖV 1988, S. 623ff.; ders., AöR Bd. 112, 1987, S. 586ff.; Haas, DÖV 1988, S. 613ff.; Jarass, in: Verhandlungen des 56. DJT, Gutachten G, Bd. I, 1986; ders., EuR 1986, S. 75ff.; Bullinger, AfP 1985, S. 257ff.; HoffmannRiem, RuF 1988, S. 5ff.; Memminger, DÖV 1989, S. 846ff. 22 BR-Drucks. 259/86 (Beschluß). 2 3 KOM (84) 300 Bull./EG 5 - 1984, S. 13.
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führt, „nämlich der Freiheit der Meinungsäußerung, wie sie in Art. 10 Abs. 1 der von allen Mitgliedstaaten ratifizierten Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten verankert ist". In diesem Sinne verfolgt die Rundfunkrichtlinie vor allem den Zweck, „daß die Mitgliedstaaten dafür Sorge tragen, daß Handlungen unterbleiben, die den freien Fluß von Fernsehsendungen beeinträchtigen bzw. die Entstehung beherrschender Stellungen begünstigen könnten, welche zu Beschränkungen des Pluralismus und der Freiheit der Fernsehinformation sowie der Information in ihrer Gesamtheit führen würden". Gegen den Beschluß der Bundesregierung vom 8.3.1989, dieser Richtlinie grundsätzlich zuzustimmen, wurde vom Freistaat Bayern vor dem BVerfG mit dem Antrag auf Feststellung der Verfassungswidrigkeit gemäß Art. 30 GG sowie mit dem Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung dahingehend geklagt, daß der Bundesregierung aufgegeben wird, den genannten Kabinettsbeschluß einstweilen nicht zu vollziehen. M i t Urteil vom 11.4.1989 24 hat das BVerfG diesen Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung zurückgewiesen. Zur Begründung hat das BVerfG vor allem im Rahmen der Folgenabschätzung darauf abgestellt, daß die Bundesregierung „ihren integrationspolitischen Handlungsspielraum (nur) ohne die einstweilige Anordnung situationsgerecht in den Beratungen (der EG) nutzen" könne. Prozessual hat das BVerfG dem antragstellenden Land damit die Möglichkeit des präventiven Rechtsschutzes abgeschnitten und die Möglichkeiten einer verfassungsrechtlichen Kontrolle der EG-Richtlinie bzw. ihrer Umsetzung in das nationale Recht auf den repressiven Rechtsschutz, hier den genannten Feststellungsantrag, beschränkt. Der Bundesregierung steht es nach diesem Urteil frei, bei der EG der Rundfunkrichtlinie zuzustimmen und damit deren Verbindlichkeit auch für die Bundesrepublik mit anzuerkennen. Andererseits hat das BVerfG in diesem Urteil - zumindest implizit - doch und immerhin die eigene materiell-rechtliche Prüfungskompetenz nicht ausgeschlossen - ; ein im Lichte der Solange Ii-Entscheidung zumindest sehr bemerkenswerte Aussage, auf die im folgenden noch zurückzukommen sein wird. b) Von beispielhafter Grundrechtsbedeutung sind die Vorschläge des Ministerrates der EG zur Werbung für Tabakerzeugnisse. Hier geht es zum einen um den Entwurf einer Richtlinie des Rates zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Etikettierung von Tabakerzeugnissen i.d.F. vom 12.5.1989 (Dok. 6477/89) und zum anderen um den Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über die Werbung für Tabakerzeugnisse durch Presse und Plakate i.d.F. vom 18.4.1989 (Dok. 5684/89 bzw. 7833/89). Nach diesen, vor allem auf Art. 100a EWGV gestützten Richtlinien-Vorschlägen sollen Handelshemmnisse beseitigt wer24 2 BvG 1/89, Z U M 1989, S. 235f.
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den, die in den unterschiedlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften (vor allem) für die Tabakwerbung in den Mitgliedsstaaten bestehen, und sollen Maßnahmen zum „Schutz der Gesundheit" der Bürger realisiert werden, wobei sich die EG-Kommission ausdrücklich auf den Beschluß des Ministerrates vom 28./29.6.1985 über die Bedeutung eines europäischen Aktionsprogramms zur Krebsbekämpfung und auf die Entschließung vom 7. 7.1986 beruft, derzufolge es ein gesundheitspolitisch „vorrangiges Ziel" sei, „den Kampf gegen den Tabakkonsum" aufzunehmen. Der wichtigste und zugleich problematischste Regelungsvorschlag dieser Richtlinien besteht darin, die Werbung für Tabakerzeugnisse durch Etikettierung sowie Presse- und Plakatwerbung an bestimmte, vom Hersteller oder Vertreiber jener Erzeugnisse selbst zu publizierende Warnungen zu binden. Nach einem entsprechend beigefügten Textkatalog müssen in jeweiligen nationalen Listen die folgenden Warnungen definitiv enthalten sein: (1) „Rauchen verursacht Krebs" und (2) „Rauchen verursacht Herzgefäßkrankheiten". Des weiteren können in jenen Listen u. a. die folgenden Warnungen mit aufgenommen werden, d. h. die Mitgliedstaaten können auch diese Warnungen verbindlich vorschreiben: (1) „Rauchen führt zu tödlichen Krankheiten"; (2) „Rauchen ist tödlich". Die tatsächliche wie rechtliche Problematik solcher „Warnungen" liegt auf der Hand. Schon die apodiktische und definitiv verbindliche Feststellung, daß Rauchen Krebs und Herzgefäßkrankheiten verursacht, ist vom Tatsächlichen her äußerst angreifbar. Daß das Rauchen zwar entsprechende Gefahren auslöst, ist unbestreitbar; die definitive Kausalität ist jedoch nicht bewiesen. Noch problematischer ist die Aussage, daß Rauchen „tödlich ist" bzw. „zu tödlichen Krankheiten führt". Beides ist in dieser apodiktischen Form tatsächlich nicht beweisbar und wirft damit (auch) erhebliche, noch im einzelnen zu verdeutlichende Rechtsprobleme auf. Der Bundesrat hat am 30.6.1989 beschlossen, die Behandlung dieses EGVorhabens zu vertagen und dies wegen der „Frage nach der Regelungskompetenz der Europäischen Gemeinschaften" als auch wegen der Frage nach „der Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz" an den Rechtsausschuß des Bundesrats zu verweisen 25 . Dieser hat in seiner (610.) Sitzung vom 5. 9.1989 beschlossen, der Bundesregierung die Ablehnung zu empfehlen. Dieser Empfehlung ist der Bundesrat in seiner (605.) Sitzung am 20.10.1989 gefolgt 25a . Einige betroffene Unternehmen haben beim BVerfG den Erlaß einer einstweiligen Anordnung dahingehend beantragt, daß der Bundesregierung aufgegeben werde, im EG-Ministerrat gegen den RichtlinienVorschlag zur Etikettierung von Tabakerzeugnissen zu stimmen bzw. sich für deren Ablehnung einzusetzen. Das BVerfG hat durch Kammerbeschluß vom 25
Antrag des Freistaats Bayern vom 28.6.1989 (BR-Drucks. 243/2/89). *a Vgl. BR-Drucks. 243/89 (Beschluß).
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12.5.1989 diesem Antrag nicht stattgegeben, weil die beabsichtigte Verfassungsbeschwerde unzulässig wäre 26 . Die Zustimmung der Bundesregierung zum gemeinsamen Standpunkt des Rates gemäß Art. 149 I I Buchst, a EWGV stelle keinen „unmittelbar beschwerenden Hoheitsakt" dar. Die Mitwirkung der Bundesregierung verkörpere keinen „Akt öffentlicher Gewalt" gegenüber den Antragsstellern. Eine Beschwer durch die Richtlinie könne erst nach deren Inkrafttreten und nach deren Umsetzung in nationales Recht eintreten. Die Richtlinie verpflichte zwar die Mitgliedstaaten, deren Inhalt in nationales Recht umzusetzen, eröffne dabei aber einen erheblichen Gestaltungsspielraum. Bei der Umsetzung sei der nationale Gesetzgeber „an die Vorgaben des Grundgesetzes gebunden". Dies entspricht der Tatsache, daß die eine EG-Richtlinie umsetzende innerstaatliche Rechtssetzung nationales Recht darstellt und als solches unmittelbar an die jeweilige nationale Verfassungsordnung gebunden ist. Hier offenbart sich der entscheidende Unterschied zur EG-Verordnung, die als in Rechtssetzung wie Vollzug supranationales Recht prinzipiell nur an das (primäre) Gemeinschaftsrecht, nicht aber an die jeweiligen nationalen Verfassungsordnungen gebunden ist, also auch insoweit keiner Kontrolle durch das BVerfG unterliegt. Bei der EG-Richtlinie gilt dagegen anderes. Sie begründet ein Verfahren gemischter Rechtssetzung und in Verfolg dessen spaltet sich auch der gerichtliche Rechtsschutz entsprechend auf: Gegenüber der Richtlinie selbst gilt, ihrem supranationalen Rechtscharakter gemäß, das Prinzip des supranationalen Rechtsschutzes; gegenüber der national-umsetzenden Rechtssetzung gilt, dem nationalen Rechtscharakter dieser Umsetzungsnorm gemäß, der nationale Rechtsschutz. In diesem Sinne formuliert das BVerfG folgerichtig: „Die Frage, ob er (sc. der nationale Gesetzgeber) bei der Umsetzung im Rahmen des ihm von der Richtlinie eingeräumten Gestaltungsspielraum Grundrechte oder grundrechtsgleiche Rechte ... verletzt, unterliegt in vollem Umfang verfassungsgerichtlicher Prüfung. " Näheres Zusehen offenbart indessen, daß hiermit noch keine abschließende Problemlösung erreicht werden kann. Denn der nationale Gesetzgeber, der eine EG-Richtlinie innerstaatlich umsetzt, ist wiederum an diese Richtlinie gebunden, kann sich also gezwungen sehen, eine bereits in der betreffenden Richtlinie angelegte Grundrechtswidrigkeit beizubehalten bzw. dieser (erst) innerstaatliche Wirksamkeit zu verleihen 27 . Das Dilemma des nationalen Gesetzgebers ist damit offenkundig: Er kann durch eine entsprechende EG-Richtlinie gezwungen werden, innerstaatlich verfassungswidriges Recht zu setzen. Spielraum, solcher Verfassungswidrigkeit auszuweichen, besitzt der nationale Gesetzgeber nur insoweit, wie ihm die entsprechende Richtlinie ihrerseits Gestaltungsspielraum eröffnet. Mit anderen 26 27
2 BvQ 3/89. Vgl. Grabitz, in: Grabitz, EWGV-Komm., Art. 189 Rdnr. 57.
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Worten: Je strikter eine EG-Richtlinie den nationalen Gesetzgeber bindet, desto größer ist die Gefahr, daß der nationale Gesetzgeber in die Gefahr gerät, supranational begründete, aber supranational ggf. nicht reparierbare Verfassungsverstoße innerstaatlich zu realisieren. Dieses Dilemma spürt das BVerfG in seinem Beschluß vom 12.5.1989 sehr deutlich. Dies ergibt sich aus der weiteren Entscheidungsbegründung, in der das BVerfG zunächst und durchaus folgerichtig auf das Verhältnis von Grundrechtsgewährleistung und EG-Richtlinie selbst bezug nimmt, indem es ausführt: „Soweit die Richtlinie den Grundrechtsstandard des Gemeinschaftsrechts verletzen sollte, gewährt der Europäische Gerichtshof Rechtsschutz." Dies ist unzweifelhaft richtig, setzt materiell-rechtlich aber voraus, daß die jeweilige Verfassungswidrigkeit nicht nur im nationalen Recht, sondern auch im supranationalen Recht (Grundrechtsstandard des Gemeinschaftsrechts) angelegt ist. In diesem Fall ist es durchaus konsequent, den materiell-verfassungsrechtlichen Rechtsschutz bereits gegenüber der EGRichtlinie selbst, also auf supranationaler Ebene, d.h. beim EuGH zu suchen. Das grundrechtliche Problem bricht dagegen dort wieder bzw. endgültig auf, wo sich die betreffende EG-Richtlinie durchaus im Rahmen des Gemeinschaftsrechts hält, also auch dem dortigen Grundrechtsstandard standhält, dem nationalen Verfassungsrecht bzw. dem nationalen Grundrechtsstandard jedoch nicht genügt. Hier könnte eine Klage beim EuGH deshalb nichts bewirken, weil dieser die EG-Richtlinie nicht am nationalen Verfassungsrecht, sondern nur am supranationalen Gemeinschaftsrecht messen kann. Das BVerfG bzw. die Instanzen des nationalen Rechtsschutzes könnten wiederum deshalb, zumindest nach bisheriger Rechtsprechung, nicht helfen, weil sie die EG-Richtlinie als solche nicht überprüfen können und gegenüber der nationalen Umsetzungsnorm deren Bindung und Vorgaben durch die EG-Richtlinie berücksichtigen müßten, also den nationalen Gesetzgeber nicht etwa von den - aus nationaler Rechtssicht verfassungswidrigen - Vorgaben der EG-Richtlinie freizeichnen und damit bzw. wiederum der vollen Bindung an das nationale Verfassungsrecht unterstellen könnten. Diesen, nach der bisherigen Rechtsentwicklung und Rechtsprechung sowohl des BVerfG wie EuGH nicht auflösbaren Konflikt scheint das BVerfG in seinem genannten Beschluß bereits und deutlich zu spüren. Dies ergibt sich aus der folgenden und abschließenden Aussage in der Entscheidungsbegründung: „Wenn auf diesem Wege (d.h. auf dem Wege des Rechtsschutzes beim EuGH gegenüber der EG-Richtlinie) der vom Grundgesetz als unabdingbar gebotene Grundrechtsstandard nicht verwirklicht werden sollte, kann das BVerfG angerufen werden." Dieser ebenso allgemein gehaltene wie sehr apodiktische Satz ist außerordentlich bemerkenswert und deutet bereits die Richtung an, in die eine Konfliktlösung - zumindest prin-
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zipiell - gehen muß; eine Feststellung, die die genannte Tabak-Richtlinie der EG unmittelbar betrifft, selbst wenn das BVerfG im Verfahren der einstweiligen Anordnung noch keine entsprechenden Konsequenzen gezogen hat.
4. Beispielhaft: Grundrechtswidrigkeit der EG-Tabakregelung
a) Die von der EG angestrebte Tabakregelung verfolgt, wie gezeigt, bestimmte Beschränkungen der Werbung für Tabakerzeugnisse aus Gründen des Gesundheitsschutzes. Dies ist - innerstaatlich gesehen - ein prinzipiell legitimes Regelungsziel, das aus der Sicht des Gemeinschaftsrechts lediglich mit der mangelnden Kompetenz der EG im Zuständigkeitsbereich der Gesundheitspolitik kollidieren kann. Die Zuständigkeiten der EG sind prinzipiell wirtschaftspolitisch definiert, können andererseits aber - soweit es wirtschaftspolitisch notwendig ist - auch andere Kompetenzbereiche berühren, was wiederum zu einer akzessorischen Regelungskompetenz führen kann 2 8 . Die Kompetenzsystematik des EG-Rechts anerkennt entsprechende Annexkompetenzen oder Kompetenzen kraft Sachzusammenhangs zwar nicht unmittelbar. Andererseits stellt Art. 100 a I I I EWGV doch immerhin fest, daß bei Maßnahmen „zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten, die die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes zum Gegenstand haben" (Art. 100 a I EWGV), die Kommission „ i n den Bereichen Gesundheit, Sicherheit, Umweltschutz und Verbraucherschutz von einem hohen Schutzniveau ausgeht". Dieser Satz bezweckt vor allem Vorkehrungen gegenüber bestimmten Absenkungen nationaler Schutzstandards im Zuge der Rechtsangleichung, hat also prinzipiell nur feststellende oder rechtswahrende und nicht kompetenzrechtlich konstitutive oder gar kompetenzrechtliche erweiternde Bedeutung 2 9 , impliziert aber doch ein Maß grundsätzlicher Zielkonformität, soweit sich entsprechende „Maßnahmen" i m Sinne des Art. 100 a I EWGV in ihrem Regelungsschwerpunkt auf den genuinen wirtschaftspolitischen Regelungs- sowie Harmonisierungsbereich der EG beschränken. Die TabakRegelung der EG zielt auf die Harmonisierung der Tabakwerbung, verfügt insoweit also über einen entsprechend wirtschaftsrechtlichen Kompetenzschwerpunkt. Zu fragen bleibt aus der Sicht des Gemeinschaftsrechts lediglich, ob die Grenzen legitimer Regelungsakzessorietät durch die TabakRichtlinie nicht überschritten worden ist; und dies ist, wie näheres Zusehen zeigt, aktuell der Fall. Zunächst: Das Ziel der Harmonisierung von Beschränkungen der Tabakwerbung liegt für sich genommen unbestreitbar im Rahmen des EWGV. Daß 28 Vgl. Jansen, in: Grabitz, EWGV-Komm., Vor Art. 117 Rdnr. 4; Art. 118 Rdnr. 30f. Vgl. auch Langeheine, in: Grabitz, EWGV-Komm., Art. 100 a Rdnr. 51 ff.
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dieses Ziel auch und namentlich aus Gründen des Gesundheitsschutzes mit verfolgt wird, ist aus den genannten Gründen des Art. 100 a I I I EWGV und seiner zielpolitischen Akzessorietät noch gerechtfertigt. Andererseits hat es mit dieser Feststellung jedoch deshalb noch nicht sein Bewenden, weil die gesundheitspolitische Zielsetzung der Tabakrichtlinien der EG in ihrer inhaltlichen Durchführung weit über das Maß dessen hinausgeht, was aus Gründen der Harmonisierung einerseits und einer gesundheitspolitisch noch legitimen Regelungsakzessorietät andererseits statthaft erscheint. Dies ergibt sich aus der konkreten Ausführung jener Warnungshinweise, die künftig von den einzelnen Mitgliedstaaten vorgeschrieben werden sollen. Wenn verbindlich ausgesagt werden soll, daß „Rauchen Krebs bzw. Herzgefäßkrankheiten verursacht", wenn im Rahmen der innerstaatlichen Konkretisierungsermächtigung Warnungshinweise von der Art liegen sollen, daß „Rauchen tödlich ist" oder „Rauchen zu tödlichen Krankheiten führt", so sind dies gesundheitspolitisch bzw. gesundheitswissenschaftlich derart ungesicherte bzw. nicht belegte Aussagen 30 , daß von einer Form legitimer gesundheitspolitischer Akzessorietät nicht mehr die Rede sein kann. Hier wird bereits reine Gesundheitspolitik, und dies mit den Mitteln einer außerordentlich rigiden Präventivität, praktiziert, wie dies für die gesundheitspolitischakzessorische Regelungsharmonie in den Mitgliedsstaaten nicht erforderlich ist. Zwischen kompetentiellem Regelungsschwerpunkt und der nach Art. 100 a I I I EWGV noch statthaften akzessorischen Gesundheitsregelung besteht ein derartiges Ungleichgewicht, daß das Verhältnis von Kompetenzschwerpunkt und Kompetenzannex nicht mehr gewahrt erscheint. Daß es sich hier in Wahrheit um präventive Gesundheitspolitik, und dies auch mit kompetentiellem Schwerpunkt, handelt, ergibt sich in tatsächlicher Hinsicht daraus, daß derart apodiktische und rein monokausal argumentierende Zielvorstellungen aus Gründen einer harmonisierten Tabakwerbung absolut unnötig sind. Daß Rauchen gesundheitsschädlich sein kann, ist unbestritten. Deshalb sind entsprechende Warnhinweise im Zusammenhang mit der Werbung für Tabakerzeugnisse legitim und statthaft. Wenn aber amtlicherseits Aussagen vorgeschrieben werden, die fachwissenschaftlich in dieser Form nicht haltbar sind, dann läßt sich rechtlich nur der Aspekt reiner Gesundheitspolitik, und dies in Gestalt eines außerordentlich gesteigerten (rigiden) Maßes an Präventivität, kompetenzrechtlich anführen. Gerade einen solchen Aspekt trägt die gemeinschaftsrechtliche Zuständigkeit jedoch nicht mehr. Aus diesem Grunde sind die Tabakrichtlinien der EG aus der Sicht des Gemeinschaftsrechts kompetenzrechtlich nicht mehr gedeckt. Es handelt sich nicht um eine Regelung allein zur Harmonisierung der Tabakwerbung in den Mitgliedstaaten, sondern darüber hinaus - und dies 30 Vgl. auch die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage des Abg. Müller (Remscheid) u.a. betr. gesundheitsschädliche Auswirkungen des Zigarettenrauchens vom 5. 5.1975 (BT-Drucks. 7/3597).
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kompetentiell in gleicher Schwergewichtigkeit - um eine Regelung auf dem Gebiet der - der EG als selbständiger Kompetenz nicht zustehenden Gesundheitspolitik. Dieser Zuständigkeitsmangel ist wiederum nicht nur von gemeinschaftsrechtlicher, sondern auch von innerstaatlicher Bedeutung; und zwar ebenso im Rahmen der nationalen Mitwirkung an der EGRechtssetzung im EG-Ministerrat wie auch materiell-rechtlich für die Umsetzung der Richtlinien in das nationale Recht. Denn die Vertreter der Bundesregierung im EG-Ministerrat dürfen einem solchen Kompetenz verstoß, der zu Lasten der nationalen Kompetenzverantwortung geht, nicht zustimmen; und das Gleiche gilt für die Umsetzung in das nationale Recht: Hier fehlt es an der gültigen gemeinschaftsrechtlichen Ermächtigung. Ggf. müßte die Bundesregierung dies vor dem EuGH gerichtlich geltend machen. b) Laut Grundgesetz sieht sich das Recht zur Wirtschaftswerbung in den Grundrechten aus Art. 5 1, 12 I und 14 I GG gewährleistungsmäßig angesprochen. Die Wirtschaftswerbung verkörpert zunächst einen definitiven Bestandteil der unternehmerischen Wirtschaftsbetätigung 31 , die sowohl im Recht auf Gewerbefreiheit gemäß Art. 12 I GG als auch im Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb gemäß Art. 14 I GG mit angelegt ist 3 2 . Teilweise wird die Freiheit zur unternehmerischen Betätigung zwar nicht in Art. 12 I / A r t . 14 I GG, sondern im sog. Hauptfreiheitsrecht aus Art. 2 I GG, d.h. innerhalb der allgemeinen Handlungsfreiheit 33 , angesiedelt 3 4 . Dies erscheint angesichts des Verhältnisses der Spezialität, in dem die Art. 12 I, 14 I GG gegenüber Art. 2 I GG stehen, nicht schlüssig 35 . Unter dem Aspekt der freiheitsrechtlichen Gewährleistung spielt dieses Spezialitätsverhältnis aber keine zentrale Rolle. Eher im Gegenteil: Die Freiheit zur wirtschaftlichen Werbung ist zumindest auch im Rahmen des Art. 2 I GG mit gewährleistet, sofern man nicht - wie hier befürwortet - auf die (spezielleren) Grundrechte aus Art. 12 I, 14 I GG für den Schutz der wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit rekurrieren will. Soweit werbliche Aussagen darüber hinaus den Gehalt von Meinungsäußerungen haben, untersteht die Wirtschaftswerbung auch dem Schutz des Grundrechts aus Art. 5 I GG 3 6 . Vor allem dort, wo werbliche Aussagen in 31 Vgl. grundlegend Lerche, Werbung und Verfassung, 1967, S. 72ff., 92ff.; siehe weiterhin R. Scholz, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 12 Rdnr. 124, 327; Forstmann, WRP 1977, S. 461 ff.; Weides, WRP 1976, S. 585ff.; Selmer, in: H. P. Ipsen-Festschrift, 1977, S. 515ff.; Kraßer, GRUR 1980, S. 191ff.; BVerfGE 17, 232 (251); 17, 269 (276f.); 32, 311 (317ff.); 40, 371 (382ff.); 53, 96 (97ff.). 32 Vgl. R. Scholz, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 12 Rdnr. 79, 122ff., 130, 136ff. 33 Zu dieser Auslegung des Art. 2 I GG siehe grundlegend BVerfGE 6, 32 (35ff.). 34 Vgl. z.B. BVerfGE 4, 7 (16); 9, 3 (11); 14, 263 (282f.); 32, 311 (316). 35 Vgl. R. Scholz, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 12 Rdnr. 114ff.; siehe auch z.B. BVerfGE 25, 1 (22f.); 50, 290 (363). 36 Vgl. bes. Lerche, Werbung und Verfassung, S. 76 ff. (auch mit Nachw. zum Streitstand); siehe weiterhin auch und z.B. Beschlußempfehlung und Bericht des BT-
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bestimmter Weise sinnstiftenden oder sinnvermittelnden Charakter haben, wo sie etwa für die Güte eines Produkts mit bestimmten inhaltlichen Darlegungen werben, dort genießt die Wirtschaftswerbung auch den Schutz der Meinungsfreiheit. Daß das Ziel der Wirtschaftswerbung kommerziellen Motiven folgt, ist dabei ohne Belang. Denn für die Qualität einer Äußerung als (verfassungsrechtlich geschützter) Meinungsäußerung kommt es auf deren Motivation oder Zielrichtung nicht an. Auch das Element des „Geistigen" innerhalb der Meinungsfreiheit steht dem nicht entgegen; zwischen einer Werbung für bestimmte „Ideen" oder bestimmte „Waren" besteht rechtlich kein Unterschied 37 . Folglich fällt auch jede Wirtschaftswerbung unter den Schutz des Art. 5 I GG, sofern sie sinnbildend oder informationsvermittelnd ist. Dies alles gilt prinzipiell für jede Form der wirtschaftlichen Werbung, unabhängig vom jeweiligen Produkt, für das geworben wird. Dies bedeutet, daß auch die Tabakwerbung prinzipiell den grundrechtlichen Schutz sowohl aus Art. 12 1/14 I GG bzw. Art. 2 I GG einerseits sowie den Schutz aus Art. 5 I GG andererseits genießt 38 . Soweit werbliche Maßnahmen schließlich auf einem bestimmten sächlichen Substrat aufbauen, wie dem eines Warenzeichens, verstärkt sich der grundrechtliche Schutz solcher Werbung gemäß Art. 14 I GG noch insofern, als derartige Warenzeichen auch unmittelbar dem Schutz der verfassungsrechtlichen Eigentumsgarantie unterfallen; denn entsprechende Warenzeichen stellen ihrerseits Vermögenswerte Rechte im Sinne des verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriffs dar 3 9 . c) Obwohl die Tabakregelung der EG als supranationale Rechtssetzung an diesen grundrechtlichen Gewährleistungen nicht unmittelbar zu messen ist, ist doch die Frage ihrer tatbestandlichen Vereinbarkeit mit jenen Grundrechtsgewährleistungen zu prüfen. Denn nur auf der Grundlage einer solchen Prüfung läßt sich feststellen, welchen Gestaltungsspielraum bzw. welchen Rahmen innerstaatlicher Grundrechtsbindung der nationale Gesetzgeber bei der innerstaatlichen Umsetzung dieser Richtlinie zu wahren hat. d) Dieser grundrechtliche Schutz der Wirtschaftswerbung besteht jedoch nicht schrankenlos. Einschränkungen der Wirtschaft s Werbung sind nach Maßgabe der allgemeinen grundrechtlichen Schrankenvorbehalte grundsätzlich zulässig 40 . Ausschusses für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit betr. Verbot der Werbung für Tabak und Tabakerzeugnisse vom 21.6.1989/25.7.1989 (BT-Drucks. 11/4997, S. 4). 37 Vgl. Lerche, Werbung und Verfassung, S. 77 ff. 38 Vgl. Lerche, Werbung und Verfassung, S. 95. 39 Vgl. z.B. BVerfG, GRUR 1988, S. 610 (611ff.) m.Anm. Mergel; BVerfGE 51, 193 (216ff.); BVerwG, GRUR 1984, S. 350f. m.Anm. Ossenbühl. 40 Zur entsprechenden Schrankensystematik sowie zum Folgenden vgl. bereits und bes. Lerche, Werbung und Verfassung, S. 98ff. 5 Friauf/Scholz
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Im Gewährleistungsbereich des Art. 12 I GG bewegt sich die Wirtschaftswerbung grundsätzlich nur auf der gewährleistungsmäßig niederen Stufe der freien Berufsausübung und nicht auf der gewährleistungsmäßig besonders gesicherten Stufe der freien Berufswahl 41 . Dies bedeutet nach der Rechtsprechung des BVerfG, daß Einschränkungen der Wirtschaftswerbung grundsätzlich zugunsten eines jeden legitimen Gemeinwohlgrundes statthaft sind, sofern das Maß des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit eingehalten wird 4 2 . Das gleiche gilt aus der Sicht des Art. 14 I GG, sofern sich die konkrete Beschränkungsmaßnahme als bloße Regelung des Eigentumsinhalts, wiederum mit entsprechender Gemeinwohlqualität und entsprechender Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, darstellt. Sofern die Wirtschaftswerbung nicht im Gewährleistungsbereich der Art. 12 I, 14 I GG, sondern im Gewährleistungsbereich des Art. 2 I GG gesehen wird, gilt nichts anderes. Denn die dann maßgebende „allgemeine Handlungsfreiheit" unterliegt nach der Rechtsprechung des BVerfG grundsätzlich allen solchen Einschränkungen, die sich im Rahmen entsprechender gesetzlicher Regelungen, entsprechender Gemeinwohlgründe und entsprechender Verhältnismäßigkeit halten 43 . Der Schutz der Volksgesundheit repräsentiert unbestreitbar ein Gemeinwohlgut, das den vorstehenden Voraussetzungen entspricht 44 . Dies ergibt sich auch aus den Grundrechten unmittelbar. Denn Art. 2 I I 1 GG. schützt ausdrücklich das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Insofern sind staatliche Maßnahmen zum Schutze der Gesundheit auch grundrechtlich qualifiziert 45 , was im innergrundrechtlichen Verhältnis wiederum zum Tatbestand der Grundrechtskollision führen kann. Solche Grundrechtskollisionen sind nach der Rechtsprechung des BVerfG nach Maßgabe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit aufzulösen: Jeder betroffene Gewährleistungsbereich muß zum Schutze des anderen, kollidierenden Gewährleistungsbereichs verhältnismäßige Einschränkungen hinnehmen, wobei wiederum jeder Gewährleistungsbereich ein Höchstmaß an (durch den Grund41 Vgl. BVerfGE 7, 377 (413ff.); 9, 213 (221ff.); 53, 96 (97ff.); 53, 135 (143ff.); R. Scholz, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 12 Rdnr. 326f.; Lerche, Werbung und Verfassung, S. 72, 92ff., 115ff. 42 Vgl. grundlegend BVerfGE 7, 377 (378f. - LS -). 43 Vgl. grundlegend BVerfGE 6, 32 (37 ff.). 44 Vgl. unmittelbar zur Werbung bereits die Nachw. oben Fn. 41. 45 Vgl. näher z.B. BVerfGE 56, 54 (78ff.); Jung, Das Recht auf Gesundheit, 1982, S. 201, 249ff.; D. Lorenz, in: Isensee / Kirchhof, HdB des Staatsrechts, Bd. VI, 1989, S. 3 (30ff.); vgl. allgemeiner noch zu grundrechtlichen Schutzpflichten E. Klein, NJW 1989, S.1633ff. Zur entsprechenden Kontroverse vor allem im Verhältnis von - grundrechtlich gemäß Art. 2 I GG geschützter - Freiheit zum Rauchen und dem - grundrechtlich in Art. 2 I I 1 GG positionierten (oder reklamierten) - Schutz des Nicht-Rauchens vgl. bes. BVerwG, NJW 1988, S. 2813f.; BVerwG, NJW 1985, S. 876f.; BayVerfGH, BayVBl. 1988, S. 188ff.; R. Scholz, DB-Beilage Nr. 16/1979, S. Iff.; Suhr, JZ 1980, S.160ff.; Jahn, DÖV 1989, S. 850ff. m. jeweils w. Nachw.
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satz der Verhältnismäßigkeit k o n k r e t ausgesteuerter u n d a k t u e l l dosierter) Schonung erfahren m u ß 4 6 . Legt m a n diese Maßstäbe an die E G - T a b a k r e g e l u n g oder an eine diese vollziehende innerstaatliche Rechtsnorm an, so w i r d die G r u n d r e c h t s w i d r i g k e i t der gegebenen Regelung unabweisbar. D e n n die v o n den E G - R i c h t l i n i e n vorgeschriebenen oder empfohlenen W a r n h i n w e i s e w a h r e n den Grundsatz der V e r h ä l t n i s m ä ß i g k e i t n i c h t . Sie sind z w a r o b j e k t i v geeignet, dem Z i e l des Gesundheitsschutzes zu dienen u n d d a m i t auch den G e w ä h r leistungsbereich des A r t . 2 I I 1 G G zu aktualisieren. Andererseits w i r d m i t der fachwissenschaftlich unbewiesenen Behauptung, daß Rauchen d e f i n i t i v „ t ö t e t " (Richtlinienempfehlung) oder daß Rauchen d e f i n i t i v Krebs u n d Herzgefäßkrankheiten „ v e r u r s a c h t " (verbindliche R i c h t l i n i e n w e i s u n g ) das Maß der Verhältnismäßigkeit e i n d e u t i g verletzt. D e n n solche Aussagen sind i n tatsächlicher H i n s i c h t n i c h t begründet u n d schränken d a m i t i n o b j e k t i v bzw. schlechthin unvertretbarer u n d d a m i t auch s u b j e k t i v u n z u m u t b a r e r Weise die Freiheit der W e r b u n g f ü r Tabakerzeugnisses ein. V e r h ä l t n i s m ä ß i g k a n n allein eine Werbungsbeschränkung sein, die - etwa n a c h dem M u s t e r der heute i n der B u n d e s r e p u b l i k gegebenen Rechtslage - sich auf einen a l l gemeinen (i.ü. n i c h t v o m Produzenten oder Vertreiber, sondern v o m B u n desgesundheitsministerium abgegeben u n d d a m i t auch v o n diesem zu verantwortenden) W a r n u n g s h i n w e i s des I n h a l t s beschränkt, daß Rauchen die Gesundheit gefährden kann. Daß Rauchen die Gesundheit aber d e f i n i t i v beeinträchtigt, ja daß Rauchen d e f i n i t i v tötet, ist n i c h t belegbar u n d w e n d e t das Recht der freien W e r b u n g f ü r ein T a b a k p r o d u k t p r a k t i s c h i n deren Gegenteil u m : n ä m l i c h i n die (faktische) P f l i c h t z u r A n t i - W e r b u n g . Aus diesem Grunde verstößt eine Regelung, w i e sie die E G - R i c h t l i n i e n s o w o h l i n i h r e m v e r b i n d l i c h e n als auch i n i h r e m empfehlenden T e i l vorschreiben, sowohl gegen die Grundrechte aus A r t . 12 1/14 I G G als auch gegen das Grundrecht aus A r t . 2 I GG. e) Das gleiche g i l t aus der Sicht des A r t . 5 I GG. D e n n w e n n j e m a n d gezwungen w i r d , eine Aussage v o n der A r t ö f f e n t l i c h zu machen, w i e sie die E G - R i c h t l i n i e n vorschreiben, d a n n w i r d dieser z u r Abgabe einer b e s t i m m ten M e i n u n g s e r k l ä r u n g gezwungen, die m i t der Meinungsfreiheit n i c h t zu vereinbaren ist. W i e jedes Freiheitsrecht, so schützt auch A r t . 5 I G G n i c h t n u r die Freiheit der positiven Meinungsäußerung, sondern auch die der negativen N i c h t - Ä u ß e r u n g bzw. der entsprechenden M e i n u n g s e n t h a l t u n g . Diese Garantie der auch „negativen Meinungsäußerungsfreiheit" h a t auch das B V e r f G a u s d r ü c k l i c h a n e r k a n n t 4 7 . N i e m a n d k a n n v e r p f l i c h t e t werden, öffentlich eine M e i n u n g zu äußern oder sich zu einer M e i n u n g zu bekennen, 46 Vgl. bes. BVerfGE 30, 173 (191 ff.); grundlegend hierzu Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, 1961, S. 125ff., 153. Vgl. BVerfGE 65, 1 (40 f.).
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die er nicht äußern w i l l bzw. zu der er sich nicht bekennen mag. Diese negative Freiheit ist das logische Korrelat der positiven Meinungsäußerungsfreiheit und sieht sich nicht nur durch die Rechtsprechung des BVerfG längst und ausdrücklich anerkannt 48 . Wenn die Produzenten oder Vertreiber von Tabakerzeugnissen hoheitlich verpflichtet werden, in ihrer Wirtschaftswerbung Äußerungen der hier in Frage stehenden Art abzugeben, so ist dies mit der freiheitlichen Struktur dieses Meinungsrechts nicht mehr zu vereinbaren. Denn mit Äußerungen der hier in Frage stehenden Art wird der Zwang ausgeübt, Tatsachen öffentlich bzw. werblich zu verbreiten, die in dieser Form tatsächlich nicht begründet oder nicht begründbar sind. Dies gilt ebenso für die definitive Behauptung, daß Rauchen Krebs oder Herzgefäßkrankheiten „verursacht", wie - erst recht - für die Behauptung, daß Rauchen „zu tödlichen Krankheiten führt" bzw. „tödlich ist". Hieran ändert auch der Umstand nichts, daß Rauchen in der Tat Gesundheitsgefahren auslösen kann. Die Pflicht, vor solchen Gefahren in einer Form zu warnen, die sich auf die Wiedergabe tatsächlicher Erkenntnisse beschränkt, mag zwar mit dem Meinungsäußerungswillen des verpflichteten Erzeugers oder Vertreibers auch nicht ohne weiteres übereinstimmen. Indessen, eine Verpflichtung zu entsprechend wahrheitsgemäßen Aussagen oder fachwissenschaftlich gesicherten Erkenntnissen verstößt nicht automatisch gegen die (negative) Meinungsäußerungsfreiheit 49 . Eine solche Verpflichtung kann sich vielmehr durchaus auf der Grundlage „allgemeiner Gesetze" ergeben, die gemäß Art. 5 I I GG legitime Schranken der freien Meinungsäußerung begründen. Als entsprechend „allgemeine Gesetze" sind jedoch nur solche Gesetze anerkannt, die sich nicht gezielt gegen eine bestimmte Meinungsäußerung richten (Eingriff in die positive Meinungsäußerungsfreiheit) oder die nicht zu einer bestimmten Meinungsäußerung zwingen, die ihrerseits von der freiheitlichen Überzeugung des Meinungsträgers nicht gedeckt ist (Eingriff in die negative Meinungsäußerungsfreiheit) 50 . Gesetze, die die Wirtschaftswerbung generell regeln bzw. Aussagen und Meinungsäußerungen, die im Rahmen der Wirtschaftswerbung getroffen werden, bestimmten Restriktionen unterwerfen, können sich durchaus im Rahmen des „allgemeinen Gesetzes" halten (z.B. Regelungen unlauterer Werbung im UWG) 5 1 . Der Rahmen des „allgemeinen Gesetzes" wird jedoch dann überschritten, wenn mit entspre48 Vgl. z.B. Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 5 I, I I Rdnr. 40; Schnur, W D S t R L Bd. 22, 1965, S. 101 (111); Starck, in: v. Mangoldt / Klein, GG, B d . l , 3. Aufl. 1985, Art. 5 Abs. 1, 2 Rdnr. 12; BGH, NJW 1965, S. 294 (295); 1978, S. 751. 49 Zur (allgemeinen) Legitimation wie auch Notwendigkeit einer den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft entsprechenden Gebrauchsinformation (bei Arzneimitteln bzw. der Werbung für diese) siehe BGH, NJW 1989, S. 1542 (1543ff.). 50 Siehe hierzu m.w.Nachw. u.a. Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 5 I, I I Rdnr. 249 ff. 51 Vgl. z.B. Lerche, Werbung und Verfassung, S. 99f.
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chend gezielter Eingriffsqualität bestimmte Meinungsäußerungen entweder untersagt oder aufgegeben werden. Die Pflicht, tatsächlich bzw. fachwissenschaftlich nicht begründbare Aussagen zu treffen und sich im eigenen freiheitlichen Werturteil so mit einer Auffassung zu identifizieren bzw. diese sogar zu publizieren, die nach nicht nur subjektiv-eigenem, sondern auch nach objektiv-allgemeinem Erkenntnisstand unwahr ist, überschreitet die Grenzen entsprechend allgemein-gesetzlicher Regelungen, begründet bereits den gezielten Eingriff in die (negative) Meinungsäußerungsfreiheit. Auch ein Warnhinweis der in der Bundesrepublik bekannten und geübten Art, demzufolge allgemein vor den Gesundheitsgefahren des Rauchens gewarnt wird (werden muß), mag in der Sicht mancher bereits den Grenzbereich einer zulässigen allgemein-gesetzlichen Regelung der Wirtschaftswerbung streifen. Indessen, ein solcher Warnhinweis läßt sich schrankenrechtlich zumindest unter dem Aspekt der aufzulösenden Grundrechtskollision zwischen dem Schutz der Meinungsfreiheit gemäß Art. 5 I GG einerseits und dem Schutz der Gesundheit gemäß Art. 2 I I 1 GG andererseits rechtfertigen. Insofern untersteht auch das Recht der Meinungsfreiheit aus Art. 5 I GG dem allgemeinen grundrechtlichen Schrankenvorbehalt der verhältnismäßig aufzulösenden Grundrechtskollision. Wie bereits im Zusammenhang mit den Grundrechten aus Art. 12 1/14 I und 2 I GG dargelegt wurde, rechtfertigen Warnhinweise der hiesigen Art sich jedoch auch nicht aus der Sicht der Grundrechtskollision bzw. des zu schützenden Grundrechts aus Art. 2 I I 1 GG. Nichts anderes gilt für das Verhältnis von Art. 5 I GG und Art. 2 I I 1 GG. Auch hier wäre eine kollisionslösende Entscheidung in der von der EGTabakrichtlinie vorgeschriebenen Art unverhältnismäßig und damit wegen Verstoßes gegen Art. 5 I GG verfassungswidrig. Insgesamt ergibt sich damit, daß eine Regelung nach Art der EG-Regelung zur Tabakwerbung sowohl gegen Art. 12 1/14 I GG bzw. Art. 2 I GG als auch gegen Art. 5 I GG verstößt. Die Feststellung dieser Grundrechtswidrigkeit verstärkt sich schließlich noch um einen weiteren Aspekt, der in der oben 52 festgestellten Kompetenzwidrigkeit der EG-Tabakrichtlinien wurzelt. Wie das BVerfG bereits in seiner grundlegenden Entscheidung zur allgemeinen Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 I GG, im sog. Elfes-Urteil, ausgeführt hat, kann das Recht der allgemeinen Handlungsfreiheit wirksam nur durch ein solches Gesetz eingeschränkt werden, das sowohl materiell als auch formell der Verfassung gemäß ist. Dies ergibt sich aus dem Schrankenvorbehalt der „verfassungsmäßigen Ordnung" im Sinn des Art. 2 I GG, die als die Summe aller formell und materiell verfassungsgemäßen Rechtsnormen vom BVerfG definiert wird 5 3 . Dies bedeutet, daß die allgemeine Handlungsfreiheit und mit ihr 52
Vgl. unter 4. c) d). 53 Vgl. BVerfGE 6, 37 ff.
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auch die wirtschaftliche Betätigungsfreiheit nicht etwa durch ein Gesetz eingeschränkt werden darf, das seinerseits an einem materiellen oder formellen Verfassungsmangel leidet. Als formeller Verfassungsmangel in diesem Sinne kommt auch die Verletzung von Zuständigkeitsregelungen in Betracht. Wenn die EG-Tabakrichtlinien also von der EG mangels entsprechender Regelungskompetenz im Gesundheitswesen nicht erlassen werden dürfen, so ist dieser Zuständigkeitsmangel geeignet, auch auf die materielle Verfassungsmäßigkeit dieser Richtlinien im Lichte des Art. 2 I GG durchzuschlagen. Das gleiche gilt mittelbar für eine nationale Vollzugsgesetzgebung, die die entsprechenden EG-Richtlinien vollzöge; denn diese würde angesichts der unzuständigen EG-Regelung an einer wirksamen Ermächtigung ermangeln. Das gleiche würde für die übrigen Grundrechte aus Art. 12 1/14 I und 5 I GG gelten. Denn diese Grundrechte stellen sämtlich Spezialregelungen im Verhältnis zu Art. 2 I GG (General- oder Hauptfreiheitsrecht) dar und können in ihren grundrechtlichen Schutzwirkungen also nicht weniger weit als das generelle Recht aus Art. 2 I GG reichen. Mit anderen Worten: Wenn die Gesetzesvorbehalte gemäß Art. 12, 14 und 5 I I GG an einem entsprechenden formellen Verfassungsmangel leiden, dann gilt für ihre (materielle) Verfassungsmäßigkeit nichts anderes, als dies im Falle des Art. 2 I GG der Fall gewesen wäre 54 . Auch dies sieht sich durch die Rechtsprechung des BVerfG anerkannt 55 . Ungeklärt ist allerdings die Frage, ob diese allgemeinen Grundsätze zur Notwendigkeit einer nicht nur materiell, sondern auch formell verfassungsmäßigen Grundrechtseinschränkung auch auf das Verhältnis von supranationalem und nationalem Recht Anwendung finden können. Denn insoweit steht wiederum und auch der integrationspolitische Aspekt der supranationalen Regelung im Raum, dem die Bundesrepublik Deutschland als Mitgliedstaat der EG prinzipiell zu genügen hat. Da die EG andererseits aber nach den Gemeinschaftsverträgen über keine Kompetenz-Kompetenz verfügt, ihre Kompetenzen sich also ausschließlich auf denjenigen Zuständigkeitsbereich beschränken, der den Organen der EG in den Gemeinschaftsverträgen eröffnet ist, kann die Bundesrepublik Deutschland als Mitgliedstaat der EG nicht verpflichtet sein, kompetenzwidrige Gemeinschaftsregelungen innerstaatlich zu vollziehen. Im Gegenteil, wenn die EG ihrerseits über keine Regelungszuständigkeit verfügt, dann gilt die unveränderte, also gemeinschaftsrechtlich nicht gebundene Regelungshoheit des nationalen Gesetzgebers. Selbst wenn dieser erst gehalten sein sollte, entsprechende Kompetenzverstöße der EG vor dem EuGH geltend zu machen, kann sich 54
Vgl. R. Scholz, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 12 Rdnr. 229, 317. Vgl. z.B. BVerfGE 9, 83 (87f.); 13, 181 (190); 14, 105 (116); 15, 226 (231); 29, 327 (333); 38, 61 (79). 55
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gerade im Verhältnis zum Gemeinschaftsbürger - an der materiellen Rechtslage nichts ändern. Dies bedeutet wiederum, daß Grundrechtsverletzungen, die sich auf supranationale Kompetenzverstöße gründen, aus der nationalen Grundrechtskontrolle nicht eliminiert werden können. Offen bleibt folglich nur die Frage, in welcher Weise zwischen EG und Mitgliedsstaat dieses Erfordernis einer wirksamen nationalen Grundrechtskontrolle durchgesetzt werden kann. f) Als Zwischenergebnis bleibt zunächst festzuhalten, daß die EG-Tabakregelung in ihrem Inhalt mit den nationalen Grundrechten aus Art. 12 1/ 14 I GG, 2 I und 5 I GG nicht zu vereinbaren ist. Das gleiche würde für eine nationale Vollzugsregelung gelten, wobei zwischen den verbindlichen und den bloß empfehlenden Regelungsvarianten kein rechtlicher Unterschied besteht. Wenn die Bundesrepublik Deutschland eine Vollzugsregelung des Inhalts erließe, daß Tabakerzeugnisse mit dem Warnhinweis „Rauchen führt zu tödlichen Krankheiten" oder „Rauchen ist tödlich" zu verbinden wäre, so wäre dies ebenso grundrechtswidrig, wie eine Regelung, die sich auf den (von der EG verbindlich vorgeschriebenen) Warnhinweis beschränkte, demzufolge „daß Rauchen Krebs verursacht" oder „Rauchen Herzgefäßkrankheiten verursacht". 5. Ausblick auf die EG-Rundfunkregelung
Die Problematik der EG-Rundfunkrichtlinie konzentriert sich auf die gemeinschaftsrechtliche sowie die bundesstaatliche Kompetenzfrage 56 . Von Seiten der EG w i r d der Rundfunk, wiederum in Anknüpfung an die wirtschaftsrechtlichen Zuständigkeiten der EG, vorrangig als ökonomisches Dienstleistungsunternehmen verstanden und deshalb entsprechenden Regelungen unterworfen 57 . Dies ist mit dem Wesen des Rundfunks und der Rund56 Zur bundesstaatlichen Grundproblematik des europäischen Integrationsprozesses innerhalb der EG, vor allem nach der Einheitlichen Europäischen Akte, siehe außer den Nachw. oben Fn. 4, 21 - u.a. Borchmann, AöR Bd. 112, S. 586ff.; ders., DÖV 1988, S. 623ff.; Grabitz, AöR Bd. I l l , S. Iff.; ders., EuR 1987, S. 310ff.; H. P. Ipsen, in: W. Hallstein-Festschrift, 1966, S. 248ff.; M. Schröder, JöR n.F. Bd. 35, 1986, S. 83ff.; Hrbek, in: Hrbek / Thaysen, Die Deutschen Länder und die Europäischen Gemeinschaften, 1986, S. 17ff.; Ehlermann, ebenda, S. 149ff.; Grabitz, ebenda, S. 169ff.; Wessels, ebenda, S. 181 ff.; Magiera, in: Magiera / Merten, Bundesländer und Europäische Gemeinschaft, 1988, S. 11 ff.; Tomuschat, ebenda, S. 21 ff.; M. Schneider, ebenda, S. 233ff.; Ress, EuGRZ 1986, S. 549ff.; Schütz, Der Staat Bd. 28, 1989, S. 210ff.; ders., NJW 1989, S. 2160ff.; A. Weber, DVB1. 1986, S. 800ff.; Haas, DÖV 1988, S. 613ff.; G. Meyer, ZRP 1987, S. 228ff.; Stoiber, EA 1987, S. 543ff.; Oschatz / Risse, EA 1988, S. 9ff.; dies., DÖV 1989, S. 509ff.; Rudolf, in: K. J. Partsch-Festschrift, 1989, 357ff.; Merten, in: Die Bedeutung der Europäischen Gemeinschaften für das deutsche Recht und die deutsche Gerichtsbarkeit, 1989, S. 31 ff.; Kössinger, Durchführung des Europäischen Gemeinschaftsrechts, S. 28ff., 39ff., 60ff., 101 ff., 143 ff. 57 Zur entsprechenden Rechtsprechung des EuGH siehe Schwarze, in: Schwarze, Rundfunk und Fernsehen im Lichte der Entwicklung des nationalen und internationalen Rechts, 1986, S. 119 (121ff.).
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funkfreiheit im Sinne des Art. 5 12 GG jedoch nicht vereinbar. Der grundgesetzliche Rundfunkbegriff ist zunächst ein kultureller - mit der weiteren kompetenzrechtlichen Folge, daß die Bundesländer und nicht der Bund innerstaatlich für die Regelung des Rundfunkrechts zuständig sind 58 . Hieraus folgt wiederum für den Bund, daß dieser im Rahmen seiner Zuständigkeiten bei der EG die Belange der Länder wahrnehmen muß, d.h. die Zuständigkeiten der Länder in Brüssel verteidigen muß. Um diese Frage bewegt sich der beim BVerfG anhängige Rechtsstreit. Nach hiesiger Auffassung ist der klagenden Länderseite recht zu geben, da sie die mangelnde Kompetenz der EG zur Regelung des Rundfunkrechts in begründeter Weise rügt 5 9 . Problematisch bleibt nur die Frage, wie die Länderseite dieses bundesstaatliche Anliegen im Verhältnis zur Bundesregierung prozessual erfolgreich durchsetzen kann. Daß das BVerfG der Länderseite die beantragte einstweilige Anordnung versagt hat, erscheint nach hiesiger Auffassung wenig überzeugend und vor allem nicht weiterhelfend 60 . Im Vordergrund der verfassungsrechtlichen Problematik der EG-Rundfunkrichtlinie steht die bundesstaatliche Problematik, die sich noch verstärken wird, wenn die Richtlinie erlassen sein sollte und den Mitgliedsstaaten der EG deren innerstaatlicher Vollzug aufgegeben wird. Der Bund wird kraft seiner Bindung an das innerstaatliche Verfassungsrecht bei der Umsetzung von EG-Richtlinien den Ländern jene Umsetzung zu überlassen haben. Dies ändert indessen nichts daran, daß mit der EG-Richtlinie bereits ein erheblicher struktureller Einbruch in einen Kernbereich bundesstaatlicher Länderzuständigkeiten erfolgt wäre. Denn der Kompetenzbereich des Rundfunkrechts gehört zur Kulturhoheit der Länder gemäß Art. 30 GG und dürfte hier wiederum zum „Kern eigener staatlicher Aufgaben" in dem Sinne gehören, wie ihn das BVerfG im Verhältnis Bund-Länder kompetenzrechtlich als unantastbar angesehen hat 6 1 . Darüber hinaus stellt sich jedoch auch, zumindest mittelbar, ein grundrechtliches Problem. Denn mit der wirtschaftsrechtlichen „Umstrukturierung" des Rundfunks in Richtung auf ein vorrangig ökonomisch zu begreifendes Dienstleistungsunternehmen sieht sich das Wesen des Rundfunks und damit auch das des Rundfunkrechts im Sinne des Art. 512 GG tangiert. Ein solcher Wesenswandel berührt mit anderen Worten auch die innerstaatliche Grundrechtsgarantie der Rundfunkfreiheit. Selbst wenn bei der EG58
Vgl. grundlegend BVerfGE 12, 205 (225ff.). Vgl. u.a. H. P. Ipsen, in: Geck-Gedächtnisschrift, S. 341 ff.; Delbrück, Rundfunkhoheit, S. 22ff.; Hoffmann-Riem, RuF 1988, S. 7ff.; Jarass, EuR 1986, S. 75 (79ff.); Ossenbühl, Rundfunk zwischen nationalem Verfassungsrecht und europäischem Gemeinschaftsrecht, S. 13ff., 34ff., 50ff.; a.A. etwa Schwartz, AfP 1987, S. 375 (378); siehe im übrigen zum Gesamtproblem und Gesamtstreitstand schon die Nachw. oben Fn. 21. 60 Vgl. Urteil vom 11.4.1989, Z U M 1989, S. 235f. ei Vgl. BVerfGE 39, 9 (19f.). 59
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Rundfunkrichtlinie kein mit der EG-Tabakrichtlinie vergleichbarer Grundrechtsverstoß tatbestandlich festzustellen ist, so bestehen doch grundsätzliche Analogien zwischen beiden Fällen auch aus grundrechtlicher Verfassungssicht: nämlich im Hinblick auf Eingriffe oder doch strukturelle Veränderungen bestimmter grundrechtlicher Gewährleistungssubstanzen im nationalen Verfassungsrecht. 6. Z u m Grundrechtsstandard des Gemeinschaftsrechts
Die EG verfügt bekanntlich über keine eigene Grundrechtskodifikation bzw. über keine eigene Verfassung. Dies alles bleibt der politischen Einigung Europas vorbehalten oder überlassen. Dennoch ist die Diskussion wie die Entwicklung um einen europäischen Rechtsstaat und die Gewährleistung europäischer Grundrechte schon heute in vollem Gange 62 . Vor allem über das vom EuGH gesetzte Richterrecht ist inzwischen ein beträchtliches Maß an rechtsstaatlicher und grundrechtlicher Gewährleistungssubstanz erreicht worden. Der EuGH hat inzwischen eine recht gefestigte Rechtsprechung entwickelt, derzufolge auch materielle Grundrechtsgewährleistungen zum definitiven, rechtsschutzmäßig gesicherten Bestand der Europäischen Gemeinschaft gehören 63 . In diesem Sinne formuliert der EuGH, „daß die Grundrechte zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehören, die der Gerichtshof zu wahren hat. Bei der Gewährleistung dieser Rechte hat der 6 2 Vgl. näher hierzu u.a. H. P. Ipsen, EuR 1975, S. 3ff.; ders., EuR 1987, S. Iff.; Hilf, EuGRZ 1988, S. Iff.; Lenz, Die Bundesrepublik Deutschland als Glied der Europäischen Gemeinschaft, 1986, S. 31ff.; v. Meibom, DVB1. 1969, S. 437ff.; Dausen, JZ 1980, S. 293ff.; Hummer, in: Schwind, Aktuelle Fragen zum Europarecht aus der Sicht in- und ausländischer Gelehrter, 1986, S. 60ff.; Bahlmann, in: K. CarstensFestschrift, Bd. 1, 1984, S. 17ff.; Sasse, in: Mosler / Bernhardt / Hilf, Grundrechtsschutz in Europa, 1976, S. 51 ff.; Fuß, Die Europäischen Gemeinschaften und der Rechtsstaatsgedanke, 1967; Dicke, Menschenrechte und europäische Integration, 1986; Schiffauer, EuGRZ 1981, S.193ff.; Rupp, NJW 1970, S. 353ff.; Frowein, in: C. Sasse-Gedächtnisschrift, Bd. II, 1981, S. 727ff.; Kutscher, in: Kutscher / Rogge / Matscher, Der Grundrechtsschutz im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1982, S. 35ff.; Schwarze, EuGRZ 1986, S. 293ff.; ders., Europäisches Verwaltungsrecht, Bd. I, 1988, S. 529ff.; Bd. II, 1988, S. 661ff.; Riedel, NJW 1974, S. 1585ff.; Benda / E. Klein, DVB1. 1974, S. 389ff.; Bleckmann, in: C. Sasse-Gedächtnisschrift, Bd. 2, 1981, S. 665ff.; Feger, DÖV 1987, S. 328ff.; Zuleeg, in: Schlochauer-Festschrift, 1981, S. 983ff.; Pernice, Grundrechtsgehalte im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1979; ders., in: Grabitz, EWGV-Komm., Art. 164 Rdnr. 42ff.; Pescatore, EuR 1979, S. Iff.; Scheuner, AöR Bd. 100, 1975, S. 30ff.; Starck, EuGRZ 1981, S. 545ff.; Zieger, Das Grundrechtsproblem in den Europäischen Gemeinschaften, 1970; Scherer, JA 1987, S. 483ff.; Henrichs, EuGRZ 1989, S. 237ff.; Beutler, EuGRZ 1989, S.185; Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz, S. 43ff., 74ff., 373ff., 378ff.; Skouris, in: Die Bedeutung der Europäischen Gemeinschaften für das deutsche Recht und die deutsche Gerichtsbarkeit, 1989, S. 67ff.; siehe demnächst auch R. Scholz, Der europäische Rechtsstaat, in: E. Steindorff-Festschrift. 63 Vgl. bes. die Urteile Rs. 4/73, Slg. 1974, S. 491ff.; Rs. 149/77, Slg. 1978, S. 1365ff.; Rs. 10/78, Slg. 1978, S. 1915ff.; Rs. 44/79, Slg. 1979, S. 3727ff.; Rs. 796/79, Slg. 1980, S. 1996f.; Rs. 136/79, Slg. 1980, S. 2033ff.; vgl. im übrigen hierzu schon die Nachw. vorstehend Fn. 62.
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Gerichtshof von den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedsstaaten auszugehen, so daß in der Gemeinschaft keine Maßnahmen als Rechtens anerkannt werden können, die unvereinbar sind mit den von den Verfassungen dieser Staaten geschützten Grundrechten. Auch die internationalen Verträge über den Schutz der Menschenrechte, an deren Abschluß die Mitgliedsstaaten beteiligt waren oder denen sie beigetreten sind, können Hinweise geben, die im Rahmen des Gemeinschaftsrechts zu berücksichtigen sind" 6 4 . In diesem Sinne hat der EuGH grundrechtliche oder doch grundrechtsgleiche Gewährleistungen vor allem in den folgenden Bereichen anerkannt: Berufsfreiheit, Eigentumsgewährleistung, wirtschaftliche Betätigungsfreiheit 6 5 , Vereinigungsfreiheit 66 , Gleichheitssatz und Willkürverbot 6 7 , Schutz der Familie, Schutz des Privat- und Persönlichkeitsrechts einschließlich des Rechts der Wohnung und des freien Brief Verkehrs 68 , Meinungs- und Medienfreiheit 69 , Verbot der Doppelbestrafung 70 , Rückwirkungsverbot 71 , Gewährleistung des rechtlichen Gehörs 72 , Recht auf effektiven Gerichtsschutz 73 sowie Gewährleistung der allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätze des Übermaßverbots bzw. der Verhältnismäßigkeit 74 und des Schutzes grundrechtlicher Wesensgehalte75. Bei alledem hat der EuGH wesentlich auf die Europäische Menschenrechtskonvention und deren Zusatzprotokolle zurückgegriffen, um eine allgemeinere Grundlage für die Identifizierung gemeinschaftlicher grundrechtlicher und rechtsstaatlicher Wertvorstellungen innerhalb der Gemeinschaft zu erhalten 76 . Diese Rechtsprechung ist vielfältig diskutiert, begrüßt wie kritisiert worden 77 . Vor allem für die weitere Entwicklung werden nach wie vor sehr unterschiedliche Prognosen gestellt, was indessen nichts daran ändert, daß hier mit den Mitteln des Richterrechts doch ganz entscheidende Fortschritte auf dem Wege zu einem 64
Vgl. Urteil Rs. 44/79, Slg. 1979, S. 3727 (3744). Vgl. bes. die Urteile Rs. 4/73, Slg. 1974, S. 491 ff.; Rs. 44/79, Slg. 1979, S. 3727ff.; Rs. 232/81 u. 264/81, Slg. 1984, S. 3881ff., 3915ff. 66 Vgl. Urteil Rs. 175/73, Slg. 1974, S. 917 ff. 67 Urteil Rs. 117/76 und 16/77, Slg. 1977, S. 1753ff. 68 Vgl. Urteil Rs. 136/79, Slg. 1980, S. 2033 ff. 69 Urteile Rs. 43/82 u. Rs. 63/82, Slg. 1984, S. 19ff.; Rs. 52/79, Slg. 1980, S. 833ff.; Rs. 27/80, Slg. 1980, S. 3839ff.; Rs. 60/84 u. Rs. 61/84 (Tätigkeitsbericht des EuGH vom 11.7.1985). 70 Vgl. z.B. Urteil Rs. 14/68, Slg. 1968, S. Iff. 7 1 Vgl. z.B. Urteil Rs. 98/78, Slg. 1979, S. 69ff. 72 Vgl. z.B. Urteil Rs. 74/74, Slg. 1975, S. 1080ff. 73 Vgl. zusammenfassend Pernice, in: Grabitz, EWGV-Komm., Art. 164 Rdnr. 80. 74 Vgl. z.B. Urteil Rs. 41/79 u.a., Slg. 1980, S. 1979ff. 7 5 Vgl. Urteil Rs. 44/79, Slg. 1979, S. 3727 ff. 76 Vgl. u.a. Urteile Rs. 4/73, Slg. 1974, S. 491 (507); Rs. 36/75, Slg. 1975, S. 1219 (1232); Rs. 44/79, Slg. 1979, S. 3727 (3745ff.); Urteil vom 15.5.1986 - Rs. 222/84 Rdnr. 17 ff. 77 Vgl. näher die Nachw. Fn. 62. 65
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europäischen Rechtsstaat erreicht worden sind. Nicht übersehen werden darf dabei andererseits aber, daß auch dieses europäische Richterrecht, wie jedes Richterrecht, einzelfallbezogen bleibt, daß ihm also der qualitativ letztlich notwendige Sprung in die abstrakt-generelle Verbindlichkeit versagt bleiben muß 78 . Richterliche Entscheidungen des EuGH besitzen zwar auch rechtsfortbildende und rechtsgrundsätzliche Kraft 7 9 ; dennoch unterliegen sie stets dem Vorbehalt der bloßen Einzelfallentscheidung und auch ihrer ebenso justitiell begründeten Revision oder Abänderbarkeit. Aus allen diesen Gründen bleibt die auch kodifikatorische Entwicklung eines gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtskatalogs definitiv aufgegeben bzw. notwendige Voraussetzung für weitere Fortschritte im europäischen Integrationsprozeß. Im einzelnen werden hierzu unterschiedliche Wege vorgeschlagen und diskutiert - angefangen von der Forderung, die EG solle als solche der EMRK beitreten, über den Gedanken, im EWGV einen allgemeinen Artikel zur Geltung der Menschenrechte aufzunehmen, bis hin zur supranationalen Kodifikation eines allgemein-verbindlichen europäischen Grundrechtskatalogs 80 . Alle Vorschläge und Vorstöße dieser Art sind unzweifelhaft geeignet, das Maß an grundrechtlichen Gewährleistungen innerhalb der EG deutlich zu verstärken. Andererseits handelt es sich bei allen diesen Vorschlägen und Vorstößen noch um bloße Zielvorstellungen oder rechtspolitische Optionen, also noch nicht um materielles Recht 81 . Materiell-rechtlich verfügt das Gemeinschaftsrecht heute lediglich über denjenigen Grundrechtsstandard, der sich in der bisherigen Entwicklung der Rechtsprechung des EuGH herausgebildet hat. So fortgeschritten und vielfältig konsistent dieser bereits ist, seine Defizite sind ebenso unübersehbar. Hier ist zum einen auf den Aspekt der Grenzen des Richterrechts, also die prinzipiell bloß einzelfallbezogene Grundrechtsgewährleistung aufmerksam zu machen; hier ist zum anderen auf die prinzipiell bloß akzessorische Begründung und Anerkennung grundrechtlicher Gewährleistungen hinzuweisen. Denn jede grundrechtliche Gewährleistung, die der EuGH in seiner Rechtsprechung anerkannt hat, steht im inhaltlichen Kontext mit bestimmten, vor allem wirtschaftsrechtlich definierten Fallkonstellationen des Gemeinschaftsrechts. Ein wirklicher und umfassender Grundrechtsschutz ist jedoch nicht nur ein solcher von entsprechend wirtschaftsrechtlicher Akzessorietät. Er ist vielmehr umfassend und verfügt vor allem seinerseits über die maßgebende Prä78 Zu dieser Qualität des Richterrechts vgl. - m.w.Nachw. - R. Scholz, DB 1972, S. 1771 ff.; ders., in: BAG-Festschrift, 1979, S. 511 (517ff.). 79 Vgl. dazu auch BVerfGE 75, 242ff. 80 Vgl. näher u. m. Nachw. dazu demnächst R. Scholz, Der europäische Rechtsstaat, in: E. Steindorff-Festschrift. 81 Vgl. demnächst R. Scholz, Der europäische Rechtsstaat, in: E. Steindorff-Festschrift.
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ponderanz gegenüber dem Feld des „einfachen Rechts", in diesem Falle dem Feld des (primären wie sekundären) Gemeinschaftsrechts. Daß grundrechtliche Gewährleistungen, soweit sie vom EuGH anerkannt wurden, den geltungsmäßigen Vorrang vor den (geschriebenen) Rechtssätzen des (primären wie sekundären) Gemeinschaftsrechts besitzen, ist freilich unbestritten. Rechtsstrukturell wie thematisch bleibt es aber bei dem eben genannten Vorbehalt bzw. der beschriebenen Geltungseinschränkung. Solange grundrechtliche Gewährleistungen nicht in genereller Form kodifiziert oder in Kraft gesetzt worden sind, so lange haftet ihre Verbindlichkeit am Einzelfall und seiner rechtlichen Thematik. Die rechtliche Thematik aller Fallkonstellationen des Gemeinschaftsrechts ist jedoch die der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft bzw. des sich entwickelnden europäischen Binnenmarktes. Folgerichtig sieht sich die Thematik wie geltungsmäßige Reichweite aller vom EuGH anerkannten Grundrechte von vornherein auf dieses Feld des gemeinschaftlichen Wirtschaftsrechts bzw. der gemeinschaftlichen Wirtschaftsordnung beschränkt 82 . Demgemäß kann insoweit nur von einer akzessorischen Grundrechtsgeltung bzw. Grundrechtsanerkennung im Bereich des (vor allem wirtschaftlichen oder wirtschaftspolitisch definierten) Gemeinschaftsrechts ausgegangen werden. Grundrechte als allgemeine Rechtsprinzipien sind mit anderen Worten im Bereich des europäischen Gemeinschaftsrechts vorerst noch nicht als verbindlicher Rechtsstandard auszumachen. Trotz des außerordentlich hohen grundrechtspolitischen Engagements des EuGH bleibt es dabei, daß Einzelfallgerechtigkeit und die Entwicklung allgemeiner Rechtsprinzipien wesensgemäß in einem zumindest spannungsgeladenen Verhältnis verharren müssen 83 . Die Auslegungsmethodik des EuGH bleibt am „telos" der Gemeinschaft ausgerichtet, also an den jeweiligen, vor allem wirtschaftsrechtlich definierten Gemeinschaftszielen. Daß diese wiederum mit vielfältigen politischen wie rechtlichen Kontroversen belastet sind, ist weiterhin von wenig förderlicher Wirkung. Denn dies alles kann der Kontinuität einer Rechtsprechung und damit einer sich auf Dauer verstetigenden, kompakten (Grund-)Rechtsentwicklung nicht hilfreich sein 84 . Nicht nur dogmatische Probleme wirft weiterhin die Differenzierung zwischen Grundrechten und Grundfreiheiten auf 85 . Hinter ihr verbirgt sich die Frage, ob sich der einzelne gegenüber der Gemeinschaft oder gegenüber einem Mitgliedstaat auf eine entsprechende Rechtsposition berufen kann 8 6 . 82 Vgl. ähnlich auch BVerfGE 75, 242ff. 83 Vgl. auch Fiedler, JZ 1986, S. 63 Fn. 19. 84 Vgl. näher hierzu demnächst R. Scholz, Der europäische Rechtsstaat, in: E. Steindorff-Festschrift; vgl. auch z.B. Fuß, Die Europäischen Gemeinschaften und der Rechtsstaatsgedanke, S. 47. 85 Vgl. Hummer, in: Schwind, Aktuelle Fragen zum Europarecht..., S. 74; Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz, S. 409 ff.
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Dieser Unterschied ist, wenn es sich um das Ausmaß wirtschaftsordnender Maßnahmen handelt, sogar geeignet, den künftigen Binnenmarkt zu gefährden 87 . Eine weitere Schwachstelle der Rechtsprechung des EuGH liegt in der Durchsetzung seiner Urteile, wobei hier vor allem an solche im Vorlageverfahren gemäß Art. 177 EWGV gedacht ist, die nach der Rechtsprechung des EuGH Bindungswirkung für vergleichbare Fälle entfalten sollen, so daß dann die Vorlageberechtigung und entsprechend auch die Vorlagepflicht entfallen 88 . Eine solche Vorlage ist von den Beteiligten jedoch nicht erzwingbar, sieht man einmal von der Möglichkeit der Verfassungsbeschwerde nach deutschem Recht wegen Entzugs des gesetzlichen Richters gemäß Art. 1011 2 GG ab. Folglich bleibt die Entwicklung des Gemeinschaftsrechts letztlich in den Händen der nationalen Richter, auch soweit es um entsprechende gemeinschaftsrechtliche Grundrechtsstandards geht. Die Unterschiede in der Zahl der Vorlagen aus den einzelnen Mitgliedsstaaten liefern ein recht aussagekräftiges Bild davon, daß die Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts auch in den hiesigen Problembereichen keineswegs homogen verläuft. Gerade dies wäre aber im Hinblick auf eine konzentriertem Fundierung allgemeinerer rechtsstaatlicher Prinzipien und entsprechend allgemeinerer Anerkennungen von Grundrechten wesentlich für die Gemeinschaft insgesamt. Schließlich muß auch auf die geringe Publizität grundrechtsbezogener Entscheidungen des EuGH aufmerksam gemacht werden, die schon von der Zahl her einen recht schmalen Anteil an der Gesamtheit der vom Gerichtshof erledigten Rechtssachen ausmachen. Auch dies beeinflußt die Einheitlichkeit der Rechtsanwendung negativ 89 . Für den Laien sind die Auswirkungen eines Urteils schließlich, das seinen Ausgang in einer fremden Rechtsordnung nahm, noch weniger greifbar als dies für nationale Entscheidungen der Fall sein mag. Ohne die integrationsfördernden Leistungen des EuGH gerade im Bereich materieller Rechtsstaatlichkeit und grundrechtlicher Entwicklungsfortschritte schmälern zu wollen, muß bei einer vorausschauenden Betrachtungsweise unbestreitbar und massiv einer zusätzlichen Stärkung des Grundrechtsschutzes im Gemeinschaftsrecht das Wort geredet werden 90 . Die letztere Feststellung führt indessen materiell-rechtlich heute nicht weiter; sie verweist wiederum auf die rechtspolitische Weiterentwicklung der europäischen Integration insgesamt. Selbst wenn der EuGH im grundrechtlichen Bereich weiter so erfolgreich und fortschrittlich judizieren wird und kann, wie er dies bisher geleistet hat, wird von einem entsprechend all86
Vgl. Bleckmann, in: C. Sasse-Gedächtnisschrift, Bd. 2, S. 665ff. Vgl. Seidel, EA 1987, S. 553 (557 f.). 88 Vgl. z.B. EuGH, Urteil Rs. 283/81, Slg. 1981, S. 3415 (3431f.). 89 Vgl. dazu etwa Feger, DÖV 1987, S. 328 (334). 90 Vgl. ausführlicher noch demnächst R. Scholz, Der europäische Rechtsstaat, in: E. Steindorff-Festschrift. 87
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gemeingültigen Grundrechtsstandard des Gemeinschaftsrechts noch lange nicht gesprochen werden können. Im übrigen bleibt zu beachten, däß auch der EuGH kompetenzrechtlich an die Grenzen der Gemeinschaftsverträge gebunden ist. Wie auch vom BVerfG bestätigt, steht auch dem EuGH keine Kompetenz-Kompetenz zu, die ihn etwa befähigte, zu einer gleichsam ersatz-verfassungsgebenden Instanz zu werden. Weder ihm, dem EuGH, noch der Gemeinschaft insgesamt ist durch die Gemeinschaftsverträge „eine Rechtsprechungsgewalt zur unbegrenzten Kompetenzerweiterung übertragen worden" 9 1 . 7. Konflikte mit nationalen Grundrechtsstandards Lösungsansätze des BVerfG
a) Vergleicht man den nationalen Grundrechtsstandard mit dem des Gemeinschaftsrechts, so wird offenkundig, daß hier nach wie vor erhebliche Defizite bestehen. Die Rechtsprechung des EuGH hat zwar eine Fülle von Lücken geschlossen, wie die vom EuGH anerkannten Grundrechtsgewährleistungen beweisen. Andererseits stehen diese sämtlich im thematischen Kontext mit dem Wirtschaftsrecht der EG, sind diese also in ihrer Geltung wie thematischen Wirkkraft vor allem ökonomisch definiert bzw. auf ökonomische Freiheitsfelder bezogen. Dennoch ist unübersehbar, daß der Prozeß der Annäherung des supranationalen Grundrechtsstandards an den des nationalen Verfassungsrechts bereits einige sehr wesentliche Fortschritte aufweist. Auch von der weiteren Entwicklung ist sicherlich noch der eine oder andere Fortschritt zu erwarten, der aber - der Struktur des Richterrechts gemäß - ebenfalls nur punktuell oder einzelfallbezogen erfolgen wird. Das Fehlen eines generellen Grundrechtskataloges wird gerade im Lichte des europäischen Binnenmarkts ab Ende 1992 noch nachdrücklicher empfunden werden als dies bisher der Fall war. b) Materiell-rechtlich bleibt damit das Problem bestehen, in welchem Umfange Art. 24 I GG bzw. das Zustimmungsgesetz zu den Gemeinschaftsverträgen entsprechende Grundrechtsdefizite bzw. Durchbrechungen der nationalen Verfassungsordnung erlaubt. Insofern bestehen zwischen dem Grundrechtsbereich und anderen Verfassungsentscheidungen, namentlich den kompetenzrechtlichen Grundentscheidungen im bundesstaatlichen Verhältnis, keine substantiellen Unterschiede. Das BVerfG hat sich mit diesen Fragen bekanntlich mehrfach befaßt und seine Rechtsprechung versucht, an die vor allem im grundrechtlichen Bereich voranschreitende Entwicklung im Gemeinschaftsrecht anzupassen92. In seinem Solange I Beschluß vom 29.5.1974 93 hat das BVerfG zunächst festgehalten, daß das 91 92
Vgl. BVerfGE 75, 242. Vgl. die Nachw. oben Fn. 4.
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nationale Recht und das supranationale Recht Rechtskreise darstellen, die „unabhängig voneinander und nebeneinander in Geltung stehen und daß insbesondere die zuständigen Gemeinschaftsorgane einschließlich des Europäischen Gerichtshofs über die Verbindlichkeit, Auslegung und Beachtung des Gemeinschaftsrechts und die zuständigen nationalen Organe über die Verbindlichkeit, Auslegung und Beachtung des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland zu befinden haben" 9 4 . Obwohl der EuGH davon ausgeht, daß das Gemeinschaftsrecht in jedem Falle den Vorrang vor dem nationalen Recht, das Verfassungsrecht eingeschlossen, besitze, hat das BVerfG auch die Ermächtigung des Art. 24 I GG schon seinerzeit dahingehend konkretisiert, daß diese „ i m Kontext der Gesamtverfassung verstanden und ausgelegt werden" müsse, was im Ergebnis wiederum bedeutet, daß auch über Art. 24 I GG nicht der Weg eröffnet wird, „die Grundstruktur der Verfassung, auf der ihre Identität beruht, ohne Verfassungsänderung, nämlich durch die Gesetzgebung der zwischenstaatlichen Einrichtung (sc. der EG) zu ändern" 95 . „Die Identität der geltenden Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland" darf nicht „durch Einbruch in die sie konstituierenden Strukturen" aufgehoben werden 96 . Weder primäres noch sekundäres Gemeinschaftsrecht darf dies tun. „Ein unaufgebbares, zur Verfassungsstruktur des Grundgesetzes gehörendes Essentiale der geltenden Verfassung der Bundesrepublik Deutschland ist der Grundrechtsteil des Grundgesetzes. Ihn zu relativieren, gestattet Art. 24 GG nicht vorbehaltlos. Dabei ist der gegenwärtige Stand der Integration der Gemeinschaft von entscheidender Bedeutung" 97 . Die EG „entbehrt insbesondere noch eines kodifizierten Grundrechtskatalogs, dessen Inhalt ebenso zuverlässig und für die Zukunft unzweideutig feststeht wie der des Grundgesetzes und deshalb einen Vergleich und eine Entscheidung gestattet, ob der derzeit in der Gemeinschaft allgemein verbindliche Grundrechtsstandard des Gemeinschaftsrechts auf die Dauer dem Grundrechtsstandard des Grundgesetzes, unbeschadet möglicher Modifikationen, derart adäquat ist, daß die angegebene Grenze, die Art. 24 GG zieht, nicht überschritten wird. Solange diese Rechtsgewißheit, die allein durch die anerkanntermaßen bisher grundrechtsfreundliche Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nicht gewährleistet ist, im Zuge der weiteren Integration der Gemeinschaft nicht erreicht ist, gilt der aus Art. 24 GG hergeleitete Vorbehalt" 9 8 . Dies bedeutete in der Konsequenz, daß das BVerfG weiterhin über die Entscheidungskompetenz dahingehend verfügte, daß eine Vorschrift des 93 94 95 96 97 98
BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE
37, 271 ff. 37, 278. 37, 279. 37, 279. 37, 280. 37, 280.
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Gemeinschaftsrechts „von den Behörden oder Gerichten der Bundesrepublik Deutschland nicht angewandt werden darf, soweit sie mit einer Grundrechtsvorschrift des Grundgesetzes kollidiert" 9 9 . Mit dieser Entscheidung sah sich der materiell-rechtliche Rang des nationalen Verfassungsrechts, namentlich der der nationalen Grundrechte, auch gegenüber dem Gemeinschaftsrecht behauptet. Andererseits waren damit die integrationspolitischen Hemmnisse nicht überwunden. Der supranationale Geltungsanspruch des Gemeinschaftsrechts und seine Eigenständigkeit fordern vor allem unter dem Aspekt eines harmonisierten und identischen Gemeinschaftsrechts ein möglichst hohes Maß an Geltungsidentität in allen Mitgliedsstaaten der EG. Daß dies wiederum bedeutet, daß auch einzelne Sonderregelungen der jeweiligen nationalen Verfassungsordnungen gemeinschaftsrechtliche Relativierungen hinnehmen müssen, lag und liegt auf der Hand. In seinem Beschluß vom 22.10.1986, dem sog. Solange II-Beschluß 100 , hat das BVerfG diesem Umstand und der inzwischen eingetretenen weiteren Integrationsentwicklung versucht, Rechnung zu tragen. Zu Art. 24 I GG hat das BVerfG zu Recht ausgeführt, daß diese Bestimmung es ermöglicht, „die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland derart zu öffnen, daß der ausschließliche Herrschaftsanspruch der Bundesrepublik Deutschland für ihren Hoheitsbereich zurückgenommen und der unmittelbaren Geltung und Anwendbarkeit eines Rechts aus anderer Quelle innerhalb dieses Hoheitsbereichs Raum gelassen w i r d " 1 0 1 . Andererseits hat das BVerfG erneut bekräftigt, daß „die Ermächtigung aufgrund des Art. 24 Abs. 1 GG ... nicht ohne verfassungsrechtliche Grenzen ist. Die Vorschrift ermächtigt nicht dazu, im Wege der Einräumung von Hoheitsrechten für zwischenstaatliche Einrichtungen die Identität der geltenden Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland durch Einbruch in ihr Grundgefüge, in die sie konstituierenden Strukturen, aufzugeben" 102 . Dies gelte „namentlich für Rechtssetzungsakte der zwischenstaatlichen Einrichtung, die, gegebenenfalls zufolge entsprechender Auslegung oder Fortbildung des zugrundeliegenden Vertragsrechts, wesentliche Strukturen des Grundgesetzes aushöhlten. Ein unverzichtbares, zum Grundgefüge der geltenden Verfassung gehörendes Essentiale sind jedenfalls die Rechtsprinzipien, die dem Grundrechtsteil des Grundgesetzes zugrundeliegen" 103 . „Art. 24 Abs. 1 GG gestattet nicht vorbehaltlos, diese Rechtsprinzipien zu relativieren. Sofern und soweit mithin einer zwischenstaatlichen Einrichtung im Sinne des Art. 24 Abs. 1 GG Hoheitsgewalt eingeräumt wird, die im Hoheitsbereich der Bundesrepublik 99 BVerfGE 37, 282f. 100 BVerfGE 73, 339ff. ιοί BVerfGE 73, 374. 102 BVerfGE 73, 375 f. loa BVerfGE 73, 376; vgl. auch BVerfGE 31, 58 (73): „Die Grundrechte bilden einen untrennbaren Teil der Verfassung, sie sind der eigentliche Kern der freiheitlichdemokratischen Ordnung des staatlichen Lebens im Grundgesetz".
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Deutschland den Wesensgehalt der vom Grundgesetz anerkannten Grundrechte zu beeinträchtigen in der Lage ist, muß, wenn damit der nach Maßgabe des Grundgesetzes bestehende Rechtsschutz entfallen soll, statt dessen eine Grundrechtsgeltung gewährleistet sein, die nach Inhalt und Wirksamkeit dem Grundrechtsschutz, wie er nach dem Grundgesetz unabdingbar ist, im wesentlichen gleichkommt" 1 0 4 . c) Im Unterschied zum Solange I-Beschluß hat das BVerfG die seit diesem Beschluß erfolgte Entwicklung gerade im Bereich der Grundrechte im einzelnen gewürdigt und vor allem im Hinblick auf die Rechtsprechung des EuGH festgestellt, daß „mittlerweile im Hoheitsbereich der Europäischen Gemeinschaften ein Maß an Grundrechtsschutz erwachsen ist, das nach Konzeption, Inhalt und Wirkungsweise dem Grundrechtsstandard des Grundgesetzes im wesentlichen gleichzuachten i s t " 1 0 5 . Das BVerfG räumt zwar ein, daß „ i m Vergleich zum Grundrechtsstandard des Grundgesetzes die auf der Gemeinschaftsebene mittlerweile durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs erreichte Gewährleistung des Grundrechtsschutzes, da sie sich naturgemäß fallweise entwickelt, noch Lücken insofern aufzuweisen hat, als bestimmte, vom Grundgesetz anerkannte Grundrechtsprinzipien sowie Art, Inhalt oder Reichweite eines Grundrechts im einzelnen noch nicht Gegenstand der Entscheidungsfindung des Gerichtshofs waren" 1 0 6 . Andererseits sucht das BVerfG jedoch dem Integrationsziel der EG mit der folgenden, vom Solange I-Beschluß abweichenden Schlußfolgerung Rechnung zu tragen: „Solange die Europäischen Gemeinschaften, insbesondere die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Gemeinschaften einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell gewährleisten, der dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im wesentlichen gleichzuachten ist, zumal den Wesensgehalt der Grundrechte generell verbürgt, wird das Bundesverfassungsgericht seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht, das als Rechtsgrundlage für ein Verhalten deutscher Gerichte und Behörden im Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland in Anspruch genommen wird, nicht mehr ausüben und dieses Recht mithin nicht mehr am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes überprüfen" 1 0 7 . Das BVerfG sucht damit einen verfahrensrechtlichen Weg zur Lösung des Konflikts zwischen nationalem und supranationalem Grundrechtsstandard. Es anerkennt den EuGH als gesetzlichen Richter im Sinne des Art. 10112 GG und nimmt damit die eigene Jurisdiktionskompetenz zugunsten des EuGH zurück 1 0 8 . Methodisch erscheint dieser Weg rich104 BVerfGE 73, 376. los BVerfGE 73, 378. 106 BVerfGE 73, 383. 107 BVerfGE 73, 387. los BVerfGE 73, 366ff., 387f.
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tig, weil er die materiell-rechtliche Selbständigkeit der beiden (potentiell) kollidierenden Rechtskreise nicht in Frage stellt, sondern lediglich auf der Ebene des Rechtsschutzes die konkrete und fallbezogene Konfliktlösung sucht. Andererseits bleibt der materiell-rechtliche Gegensatz damit als solcher stehen. Eine geltungsmäßige oder rangmäßige Abgrenzung zwischen nationalem Grundrechtsstandard und supranationalem Grundrechtsstandard findet nicht statt. Das BVerfG gibt stattdessen dem supranationalen Grundrechtsstandard gerade hinsichtlich seiner weiteren Entwicklung gleichsam rechtspolitischen Kredit, unterstellt aber die weitere Entwicklung und damit auch die eigene prozedurale Problemlösung erneut einem „Solange"-Vorbehalt. Dies mußte das BVerfG um so mehr deshalb tun, als es selbst sich der bestehenden Lücken im supranationalen Grundrechtsstandard bewußt war. Eine materiell-rechtliche Lösung ist auch nicht unter jenen Aspekten zu erwarten, die mit dem unantastbaren Wesensgehalt der (nationalen) Grundrechte operieren. Denn die unantastbare und auch nicht über die Ermächtigungsbrücke des Art. 24 I GG zu relativierende Grundsubstanz und Grundidentität des nationalen Grundrechtsstandards beschränkt sich nicht auf den Wesensgehalt der Grundrechtsgewährleistungen des GG 1 0 9 . Das gleiche gilt im übrigen hinsichtlich jenes Kernbereichs an Menschenrechten, wie er gemäß Art. 79 I I I in Verbindung mit Art. 11, I I GG als unantastbar vorgegeben ist 1 1 0 . d) Der prozedurale Lösungsansatz des BVerfG ist auch insoweit überzeugend, als er beim Rechtsschutz ansetzt. Denn das Bestehen eines effektiven Individualrechtsschutzes, wie ihn Art. 19 IV GG für die Grundrechte des GG definitiv voraussetzt 111 , bestimmt in der Tat darüber, wie effektiv die tatsächliche Geltung eines Grundrechts zugunsten des Bürgers ist. Deshalb hat das BVerfG auch mit Recht bei seiner Bewertung des supranationalen Grundrechtsstandards vor allem und auch auf rechtsschutzmäßige Gewährleistungsaspekte abgestellt. Andererseits führt dieser Lösungsansatz nicht über das Problem hinweg, daß es nach wie vor an einem generellen Grundrechtskatalog und an entsprechend allgemeingültigen Grundrechtsgewährleistungen im EG-Bereich fehlt. Diesen Gegensatz zwischen individueller und genereller Grundrechtsgewährleistung sucht das BVerfG im Solange IIBeschluß dahingehend aufzulösen, daß für eine - offenkundig nach wie vor offengehaltene - Ersatzzuständigkeit des BVerfG der Umstand maßgebend 109
Deutlich in diesem Sinne BVerfGE 73, 387. no Vgl. näher noch Dörr, NWVB1. 1988, S. 289 (292). m Zur Notwendigkeit und zum Prinzip eines effektiven oder wirksamen Rechtsschutzes gemäß Art. 19 IV GG vgl. - zugleich m.w.Nachw. - z.B. BVerfGE 35, 263 (274); 35, 382 (401); 49, 220 (225ff.); 65, 1 (70); Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 19 IV Rdnr. 5, 262ff.; Papier, in: Isensee / Kirchhof, HdB des Staatsrechts Bd. VI, 1989, S. 1233 (1266ff.); D. Lorenz, AöR Bd. 105, 1980, S. 623 (630ff.).
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sein soll, ob der EuGH „bei seiner Auslegung" „geltend gemachte Grundrechte schlechthin und generell nicht anzuerkennen oder zu schützen bereit und in der Lage sei" bzw. „daß damit das vom Grundgesetz geforderte Ausmaß an Grundrechtsschutz auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts generell und offenkundig unterschritten sei" 1 1 2 . Für den einzelnen, der sich durch eine Entscheidung des EuGH oder einen Rechtssetzungsakt der EG grundrechtlich beschwert fühlt, bedeutet dies, daß er nicht nur zunächst die Rechtsschutzmöglichkeiten beim EuGH ausschöpfen muß, sondern daß er darüber hinaus bei seiner individuellen Grundrechtsbeschwer auch den Nachweis führen muß, daß diese „generell und offenkundig" gegeben sei. Hinsichtlich des Kriteriums der „Offenkundigkeit" erscheint die Auslegung des BVerfG durchaus überzeugend. Denn wenn nicht ein solches K r i terium vorgeschaltet wäre, könnte im Grunde jedermann, der mit der von ihm behaupteten Grundrechtsbeschwer beim EuGH erfolglos bleibt, anschließend das BVerfG anrufen und dort sein individuelles Beschwerdebegehren geltend machen. Dies würde in der Konsequenz bedeuten, daß der vom BVerfG angestrebte Effekt in sein Gegenteil verkehrt würde; nämlich die Kontrolle durch den nationalen Grundrechtsstandard auch in jedem Einzelfall dem supranationalen Grundrechtsstandard zwar verfahrensmäßig nachgeschaltet, materiell-rechtlich aber übergeordnet würde. Da schließlich nicht jede Grundrechtsbeschwer an die gewährleistungsmäßige Grundsubstanz und Identität der grundgesetzlichen Grundrechtsordnung rührt, konnte das BVerfG durchaus mit Recht das Kriterium der offenkundigen Grundrechtsbeschwer im vorgenannten Sinne einführen. Problematisch ist dagegen das zweite Kriterium, das das BVerfG einführt, nämlich das der Generalität. Grundrechte sind subjektive Individualrechte, der Tatbestand der Grundrechtsverletzung hängt mit anderen Worten nicht davon ab, ob über die Person eines einzelnen hinaus auch andere bzw. eine ganze Generalität von Adressaten grundrechtlich beschwert ist. Der Nachweis einer solchen Beschwer ließe sich nur dann führen, wenn auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts generell und abstrakt entschieden würde, daß eine bestimmte, auf nationaler Ebene gegebene Grundrechtsgewährleistung für den Bereich des Gemeinschaftsrechts nicht anerkannt würde oder nicht anerkannt werden könnte. Auch solche Fälle sind freilich sehr wohl denkbar 1 1 3 . Gerade wegen des an ökonomische Sachverhalte gebundenen und damit akzessorischen Grundrechtsschutzes im Gemeinschaftsrecht werden bestimmte Grundrechte, die nicht entsprechend ökonomisch definiert sind, für den Bereich des Gemeinschaftsrechts von vornherein, d. h. in abstrakter 112 BVerfGE 73, 387. 113 Anders aber etwa Steinberger, in: K. Doehring-Festschrift, S. 962. 6*
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Generalität, ausfallen. Andererseits wird dies in der Praxis zumeist keine Probleme auslösen, da insofern schon kompetentiell keine Aktionsbereiche für die Organe der EG eröffnet sind, der jeweilige Grundrechtsverstoß also von vornherein mit einem gemeinschaftsrechtlichen Kompetenzverstoß zusammenfiele; und dieser Kompetenzverstoß ließe sich wiederum im Wege des gemeinschaftsrechtlichen Rechtsschutzes rügen bzw. ausräumen. Zum grundrechtlichen Konflikt braucht es in der Praxis folglich und in der Regel nicht zu kommen. Anderes würde freilich dann gelten, wenn die EG bei der Wahrnehmimg ihrer eigenen Zuständigkeiten allzu extensiv vorginge und damit auch grundrechtliche Sphären berührte, die unter den Aspekten des genannten akzessorischen Grundrechtsschutzes oder Grundrechtsstandards im Gemeinschaftsrecht nicht grundrechtlich kontrollierbar wären. Auch diese Konstellation muß im Blickfeld gehalten werden. Der Haupteinwand gegen das Kriterium der „Generalität" einer Grundrechtsbeschwer liegt jedoch im vorgenannten Tatbestand der zumindest potentiellen Betroffenheit einer (mehr oder weniger unbestimmten) Allgemeinheit von Grundrechtsträgern als Adressaten einer gemeinschaftsrechtlichen Regelung mit grundrechtsverletzendem Charakter. Da die Verletzung eines Grundrechts weder tatbestandlich noch in ihrer Gewichtigkeit davon abhängt, ob neben einem einzelnen Rechtssubjekt auch andere bzw. gar die Summe aller Gemeinschaftsbürger in jenem Recht beeinträchtigt wird, läßt sich die Einführung eines Kriteriums der „Generalität" nicht rechtfertigen 1 1 4 . Andererseits hat das BVerfG mit der Benennung dieses Kriteriums nichts anderes versucht, als einen Maßstab zu entwickeln, der die Schwere eines konkreten Grundrechtsverstoßes und damit auch eine ggf. relevante Divergenz zwischen nationalem und supranationalem Grundrechtsstandard aufzuzeigen in der Lage ist. Eine solche Divergenz wird um so leichter feststellbar und nachweisbar sein, wenn in der Tat nicht nur eine einzelne, ggf. sogar sehr zufällige Fallkonstellation zum grundrechtlichen Konflikt führt, sondern wenn diese Fallkonstellation durchaus von allgemeinerer Bedeutung und grundrechtlich generellerer Wirkungskraft ist. In diesem Sinne kann ein anderes Kriterium helfen, nämlich das der Typizität: Wenn ein bestimmter Grundrechtsver stoß, der konkret von einem bestimmten Gemeinschaf tsbürger gerügt wird, sich als nicht nur sehr singuläre oder gar nur akzidentielle Rechtsfolge eines bestimmten Hoheitsakts von Gemeinschaftsorganen erweist, sondern darüber hinaus zugleich typische Bedeutung für auch nur potentielle Fälle gleicher Qualität besitzt, dann haftet ihm in der Tat das klare Indiz einer definitiven Divergenz zwischen nationalem und supranationalem Grundrechtsstandard an. Auf die Person des einzelnen Grundrechtsklägers zugeschnitten bedeutet dies, daß eine Grundrechts114 Auch nicht unter dem von T. Stein, in: W. Zeidler-Festschrift, Bd. 2, S. 1725, angeführten Aspekt des (bloßen ?) „Betriebsunfalls".
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rüge, die nach nationalem Verfassungsrecht begründet, nach supranationalem Recht aber unbegründet wäre, dann für die Wahrung des unantastbaren nationalen Grundrechtsstandards relevant wird, wenn sie - über die singulare Rechtsverletzung des einzelnen Klägers hinaus - zugleich von typischer Wirkung und Bedeutung ist. Wenn die individuelle Fallkonstellation gleichsam eine ganze Reihe entsprechender und auch tatsächlich gleich bedeutsamer Fallkonstellationen mit zu repräsentieren vermag, dann sind die Voraussetzungen solcher Typizität gegeben und dann müssen auch die vom BVerfG angekündigten Rechtsschutzfolgen aktuell werden. e) Zusammengefaßt ist hiernach festzustellen, daß die vom BVerfG in seinem Solange II-Beschluß für den Fall des Konflikts oder der Divergenz zwischen nationalem und supranationalem Grundrechtsstandard gesuchte Lösung wie folgt zu begreifen bzw. zu praktizieren ist: Prinzipiell ist im Bereich des Gemeinschaftsrechts der supranationale Grundrechtsstandard maßgebend, soweit er das nötige Maß an Identität mit dem nationalen Grundrechtsstandard wahrt. Für den Fall von Lücken oder gar Gegensätzen zum nationalen Grundrechtsstandard kommt dieser auch verfahrensrechtlich erst und wieder zum Zuge, sofern es sich um entsprechend gravierende, d.h. die Identität der nationalen Grundrechtsordnung beeinträchtigende, offenkundige und typische Grundrechtsverstöße handelt. Für diesen Fall muß die im Solange II-Beschluß verfügte Zurücknahme des nationalen Rechtsschutzes wieder aufgehoben werden, müssen mit anderen Worten wieder die Grundsätze des Solange I-Beschlusses - zumindest verfahrensrechtlich Geltung erlangen. Denn dann sind die Voraussetzungen des Kriteriums „solange ..." nicht mehr gegeben. Daß auch das BVerfG inzwischen beginnt, sich hierüber klar zu werden, belegt sein Beschluß vom 12.5.1989 zum einstweiligen Anordnungsverfahren zur EG-Etikettierungsrichtlinie 115 . Wenn das BVerfG hier nämlich resümiert, daß das BVerfG angerufen werden kann, „wenn auf diesem Wege (sc. dem Wege des Rechtsschutzes beim EuGH und damit auf dem Wege des supranationalen Grundrechtsstandards) der vom Grundgesetz als unabdingbar gebotene Grundrechtsstandard nicht verwirklicht werden sollte", dann bedeutet dies nichts anderes, als daß das BVerfG erkennt, daß sein apodiktischer Verweis auf die Zuständigkeiten des EuGH im Solange II-Beschluß noch nicht das letzte Wort sein kann, daß die eigene Rechtsschutzzuständigkeit vielmehr und weiter gefordert bleibt oder doch bleiben kann 1 1 6 . In diesem Sinne verkörpert dieser neue Beschluß des BVerfG eine wichtige und weitere Präzisierung und Modifizierung der Grundsätze des Solange II-Beschlusses. Praktisch bedeutet dies, daß das BVerfG in solchen Fällen nach wie vor berufen ist, die Unanwendbarkeit entsprechend sekundären Gemein11 5 2 BvQ 3/89. ne Siehe auch P. Kirchhof,
JZ 1989, S. 454.
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schaftsrechts im nationalen Bereich der Bundesrepublik Deutschland festzustellen. Insoweit bleibt es mit anderen Worten beim Befund des Solange I Beschlusses. Der Solange II-Beschluß hat - genau besehen - nur die Bedeutung, die generelle Zuständigkeit des BVerfG hinsichtlich der Kontrolle und des Rechtsschutzes entsprechenden Gemeinschaftsrechts einzuschränken bzw. an die Stelle einer derart generellen Kontrollkompetenz eine eingeschränkte Kontrollkompetenz lediglich für die Fälle anzuerkennen, in denen entsprechend relevante Konflikte oder Divergenzen zwischen nationalem und supranationalem Grundrechtsstandard nachweisbar sind.
8. Rechtsschutzgarantie zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalem Verfassungsrecht
a) Der gerichtliche Rechtsschutz gegenüber sekundärem Gemeinschaftsrecht soll oder sollte grundsätzlich nur über die Rechtsprechung des EuGH realisierbar sein. Dies ist oder war die prinzipielle Konsequenz der Solange Ii-Entscheidung des BVerfG, mit der dieses die eigene Jurisdiktionskompetenz zugunsten des Gemeinschaftsrechts und des EuGH zurückgenommen hat. Die Rechtsprechung des EuGH ist indessen nicht imstande, einen wirksamen Grundrechtsschutz, vergleichbar dem des nationalen Rechts, zu gewähren. Denn nach Art. 164 EWGV besteht die Aufgabe des EuGH darin, „die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung" des Gemeinschaftsrechts zu sichern, und nach Art. 173 I I EWGV gilt auch für den bürgerlichen Rechtsschutz allein der Prüfungsmaßstab des Gemeinschaftsrechts. Wenn ein Gemeinschaftsbürger also gegen Entscheidungen der Gemeinschaft Klage erhebt, weil diese ihn „unmittelbar und individuell betreffen", bleibt Prüfungsmaßstab allein die Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts. Das gleiche gilt für die Klagemöglichkeiten der Mitgliedsstaaten gemäß Art. 170, 175 EWGV sowie für die Vorabentscheidung gemäß Art. 177 EWGV, namentlich nach entsprechendem Vorlagebeschluß eines nationalen Gerichts. Es ist zwar nicht zu übersehen, daß im Rahmen dieser Zuständigkeiten des EuGH sich auch ein - impliziter Grundrechtsschutz dadurch entwickelt hat, daß der EuGH sich selbst um die Entwicklung und Stabilisierung bestimmter grundrechtlicher Wertentscheidungen im Gemeinschaftsrecht, wie gezeigt, bemüht hat. Dies ändert indessen nichts daran, daß im europäischen Gemeinschaftsrecht noch kein dem nationalen Verfassungsrecht entsprechender verfassungsrechtlicher Gerichtsschutz besteht 117 . Das Gemeinschaftsrecht verfügt namentlich über keine Rechtsschutzgarantie nach dem Vorbild des Art. 19 IV GG 1 1 8 .
117 Vgl. näher hierzu demnächst R. Scholz, Der europäische Rechtsstaat, in: E. Steindorff-Festschrift.
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Im einzelnen bleibt dennoch zu unterscheiden: Das entsprechende Rechtsschutzdefizit im Gemeinschaftsrecht gründet sich zum einen auf die entsprechend begrenzten prozessualen Zuständigkeiten des EuGH und gründet sich zum anderen auf die materielle Struktur des Gemeinschaftsrechts, das über keinen selbständigen Grundrechtskatalog verfügt, das an das nationale Verfassungsrecht nicht gebunden ist und das schließlich auch im grundrechtlichen Bereich darauf beschränkt ist, einen lediglich akzessorischen Grundrechtsschutz zu entfalten, wie er im einzelnen dargestellt wurde. Insgesamt bedeutet dies, daß entsprechende Schranken und entsprechende Defizite im Rechtsschutz sich sowohl auf das Verfahrensrecht als auch auf das materielle Recht (Prüfungsmaßstab) gründen. b) Der nationale Gerichtsschutz leidet in seiner Effektivität vor allem daran, daß das BVerfG prinzipiell nur gegenüber primärem Gemeinschaftsrecht, also über die Brücke des Art. 24 I GG und das zu diesem erlassene Zustimmungsgesetz, erreicht werden kann. Hinsichtlich sekundärem Gemeinschaftsrecht ergeben sich nationale Rechtsschutzmöglichkeiten prinzipiell nur insoweit, wie es um die nationale Umsetzung von EG-Richtlinien geht. Hier öffnet sich die materiell-rechtliche Schere zum nationalen Verfassungsrecht, jedoch und zumindest mittelbar, da Konflikte zwischen diesem und dem jeweiligen gemeinschaftsrechtlichen Regelungsprogramm der umzusetzenden EG-Richtlinie nicht ausgeschlossen werden können. Die hiesigen Beispiele der EG-Rundfunkrichtlinie und der EG-Tabakrichtlinien offenbaren diese Konfliktlage in besonderer und im einzelnen bereits dargelegter Weise. Diese Konfliktlage verschärft sich noch dadurch, daß der Rechtsschutz prinzipiell repressiv angelegt ist, präventive Rechtsschutzmöglichkeiten also in aller Regel nicht eröffnet sind. Deutlich wird dies am Beschluß des BVerfG im Falle der Etikettierungsrichtlinie, wo das BVerfG eine einstweilige Anordnung bereits während des gemeinschaftsrechtlichen Rechtssetzungsverfahrens als unzulässig qualifiziert hat, weil die Mitwirkung der Bundesregierung im gemeinschaftsrechtlichen Rechtssetzungsverfahren keinen Hoheitsakt darstelle, der der nationalen Verfassungsbeschwerde offenstünde 119 . Dies ist formal-rechtlich richtig, weil ein entsprechend interner Akt der Mitwirkung an einem Rechtssetzungsverfahren noch nicht zur unmittelbaren (Grundrechts-)Beschwer führt; letztere wird erst durch den vollendeten Rechtssetzungsakt, hier also durch die EGRichtlinie, bewirkt. Materiell-rechtlich bedeutet dies jedoch und wiederum, daß gegen den vollendeten Grundrechtsverstoß der nationale Verfassungsrechtsschutz, also die Anrufung des BVerfG, aus Gründen des prozeduralen 118
Wobei Art. 19 IV GG auch nicht die („subsidiäre") Rolle einer „Auffangzuständigkeit" übernehmen kann; vgl. BVerfGE 59, 63 (88); siehe im übrigen auch BVerfGE 22, 293 (295ff.); 58, 1 (26ff.). 119 Beschluß vom 12. 5.1989 - 2 BvQ 3/89 - .
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Vorrangs der gemeinschaftsrechtlichen Jurisdiktion in Gestalt des EuGH verschlossen sein soll. Daß hier eine ebenso materiell- wie verfahrensrechtliche Lücke klafft, hat das BVerfG allerdings in diesem Beschluß, wie bereits oben gezeigt, auch schon selbst gespürt. c) Das Rechtssetzungsverfahren der EG kennt zwei Mechanismen: zum einen das direkte Rechtssetzungsverfahren der Europäischen Kommission, zum anderen das Verfahren der Rechtssetzung durch den Ministerrat, der sich aus den Regierungen der Mitgliedstaaten zusammensetzt. Im Falle der unmittelbaren Rechtssetzung durch die Kommission entsteht sekundäres Gemeinschaftsrecht ohne verfahrensmäßige Beteiligung nationaler Instanzen, im Falle der Rechtssetzung durch den Ministerrat gilt das Gegenteil. Dieser Unterschied hat in der bisherigen Beurteilung des Rechtsschutzes und der Bindung an nationales Verfassungsrecht jedoch keine Rolle gespielt. Da der Rechtsschutz jeweils am „Endpunkt" des Erlasses einer Verordnung oder Richtlinie festgemacht wird, bleiben die Unterschiede im Rechtssetzungsverfahren unbeachtet. Dies ist formal-rechtlich gesehen wiederum gerechtfertigt, da es sich insoweit lediglich um Interna des Rechtssetzungsverfahrens innerhalb der EG und nicht um nationale Rechtssetzungs verfahren handelt. Dennoch kann es mit dieser Betrachtung nicht sein Bewenden haben. Es handelt sich in der Tat nur um eine formal-rechtliche Sicht, die im Falle ihrer Perpetuierung eher konfliktverstärkend und nicht etwa konfliktmindernd wirkt. Am Rechtssetzungsverfahren durch den Ministerrat nimmt die Bundesregierung, wie alle anderen nationalen Regierungen auch, in ihrer mitgliedschaftlichen Rolle teil. Der jeweils tätige Bundesminister handelt als Mitglied der Bundesregierung und auf deren Weisung. Er ist insoweit ausschließlich nationaler Repräsentant in einem (freilich) supranationalen Organ. Seine eigene Stellung wird damit durch eine Doppelrolle bestimmt, die zum einen national-rechtlich und zum anderen supranational-rechtlich definiert ist 1 2 0 : Als Mitglied des Ministerrats ist die jeweilige Regierung bzw. ihr Repräsentant Teilorgan der Gemeinschaft; als Mitglied der jeweiligen nationalen Regierung bleibt der betreffende Minister nationales Organ - mit der Folge, daß auch für das Handeln und die Zuständigkeiten der jeweiligen Regierung bzw. des jeweiligen Ministers sowohl Gemeinschaftsrecht als auch nationales Verfassungsrecht verbindlich ist 1 2 1 . Der (potentielle) Kon120 Vgl. näher u.a. Schweitzer, in: Grabitz, EWGV-Komm., Art. 146 Rdnr. 2ff.; Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz, S. 206ff.; Meier, NJW 1971, S. 961 (962ff.); Friauf, Die Staatenvertretung in supranationalen Gemeinschaften, 1960, S. 7ff.; J. H. Kaiser, in: Ophüls-Festschrift, 1965, S. 107ff.; BVerfGE 22, 293 (295); 51, 222 (239). 121 Vgl. Bleckmann, Europarecht, 4. Aufl. 1985, S. 23; Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz, S. 206ff.; Bleckmann / Busse, DVB1. 1977, S. 794 (796); Meier, NJW 1971, S. 964ff.; v. Meibom, DVB1. 1969, S. 441; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I I I / l , 1988, S. 1236ff.
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flikt zwischen nationalem Verfassungsrecht und Gemeinschaftsrecht verdichtet sich damit in der Person des einzelnen Ministers oder in der Institution der einzelnen Regierung auch zum Rollenkonflikt 1 2 2 . d) Gemäß Art. 1 I I I GG ist die Bundesregierung generell an die Grundrechte bzw. an das GG gebunden. Die „Leitnorm" des Art. 1 I I I G G 1 2 3 verpflichtet die Bundesregierung als deutsche Staatsgewalt auch im Bereich der auswärtigen und der supranationalen Gewalt 1 2 4 . Oder - mit dem BVerfG gesprochen - die Bundesregierung bzw. ihre Repräsentanten stehen auch im Rahmen ihrer gemeinschaftsrechtlichen Zuständigkeiten nicht „außerhalb des Gefüges der deutschen Staatsorganisation" 125 . Diese begründet erst ihre Zuständigkeiten und folgerichtig sind sie auch im supranationalen Zuständigkeitsfeld dem nationalen Verfassungsrecht, also dem GG, verantwortlich 1 2 6 . Praktisch bedeutet dies, daß die Bundesregierung oder ihre Repräsentanten im Rahmen gemeinschaftsrechtlicher Rechtssetzungsverfahren prinzipiell keiner EG-Verordnung oder EG-Richtlinie zustimmen dürfen, die gegen nationales Verfassungsrecht verstößt. Denn andernfalls würde diese das GG verletzen, in grundrechtlicher Sicht gesprochen wäre die Grundrechtsbindung gemäß Art. 1 I I I GG unterlaufen oder gar ausgehöhlt. Das gleiche gilt in kompetenzrechtlicher Hinsicht. Wenn die Bundesregierung oder ihre Repräsentanten Rechtssetzungen im EG-Bereich initiierten, unterstützten oder an diesen in anderer Weise positiv mitwirkten, obwohl diese den Zuständigkeitsbereich der EG überschritten, so können auch nationale Kompetenzgrenzen, namentlich im Bund-Länder-Verhältnis, tangiert werden. Geschieht dies, so wäre erneut das nationale Verfassungsrecht verletzt. Andererseits ändert dies nichts daran, daß die Bundesregierung oder ihre Repräsentanten in entsprechenden gemeinschaftsrechtlichen Rechtssetzungsverfahren solche Rechtssetzungen nicht definitiv oder gar generell verhindern können, die mit nationalem Verfassungsrecht bzw. der eigenen Bindung an dieses Verfassungsrecht unvereinbar sind. Insoweit greift der Vorbehalt vom Vorrang des Gemeinschaftsrechts - vermittelt namentlich durch Entscheidungsmechanismen wie dem des Mehrheitsprinzips innerhalb der EG. Die Bundesregierung bzw. ihre Repräsentanten können mit anderen Worten auch im Rahmen von Rechtssetzungsverfahren, an denen die Bundesregierung in ihrer organschaftlichen EG-Rolle teilzunehmen hat, 122 Anders steht es mit der EG-Kommission. Ihr Status ist ausschließlich supranational bestimmt, ihre Mitglieder sind folglich auch aus nationaler Sicht weisungsfrei; vgl. auch BVerfGE 51, 222 (240). 123 BVerfGE 6, 386 (387). 124 Vgl. BVerfGE 6, 290 (295); 31, 58 (72ff.); 57, 1 (23); 58, 1 (26). 1 25 BVerfGE 22, 293 (297). 126 vgl. im einzelnen, wenngleich mit Abstufungen im Detail schon die Nachw. oben Fn. 120, 121.
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übernimmt und damit auch zur faktischen Hinnahme von Verletzungen des nationalen Verfassungsrechts veranlaßt oder gar gezwungen werden. Daß es zu solchen Kollisionen möglichst nicht kommt, daran besteht nicht nur ein legitimes Interesse des rechtsschutzsuchenden Bürgers, sondern auch ein objektives Interesse der Bundesregierung bzw. der bundesdeutschen Staatsgewalt insgesamt. Denn insoweit entfaltet die verfassungsrechtliche und vor allem grundrechtliche Ordnung nicht nur ein System bürgerlicher Schutzrechte gegenüber der öffentlichen Gewalt, sondern auch eine objektiv-verpflichtende Werteordnung, die für die Legitimation aller Staatsgewalt insgesamt gilt, deren Einhaltung also oberster Staatszweck ist und der Wahrung damit auch im Interesse vor allem der Bundesregierung als der Repräsentanten der Bundesrepublik Deutschland in der EG liegt. Oder anders ausgedrückt: Da die Grundrechte auch Schutzpflichten für die öffentliche Gewalt zugunsten der Bürger entfalten, muß die Bundesregierung sich auch und vor allem in internationalen und supranationalen Kompetenzfeldern um eine möglichst wirkungsvolle (effektive) Wahrung der nationalen Grundrechte - im Interesse der Bürger wie im Interesse der eigenen Verfassungsverantwortung - bemühen. Praktisch bedeutet dies wiederum, daß auch die Bundesregierung daran interessiert ist oder doch sein muß, daß ihr im Rahmen ihrer Mitwirkung an den Gemeinschaftsakten verfahrensrechtliche Mittel offenstehen, die nach Möglichkeit entsprechende Kollisionslagen verhindern. Um verfahrensrechtliche Lösungen muß es um so mehr deshalb gehen, als der materiell-rechtliche Gegensatz zwischen dem nationalen Verfassungsrecht und dem Gemeinschaftsrecht unausweichlich werden kann, ohne daß materiell-rechtliche Lösungsmöglichkeiten von der Art zur Verfügung stehen, wie dies bei Rechtsnormen oder Hoheitsakten der Fall ist, die einem identischen Rechtskreis entspringen. e) Verfahrensrechtliche Lösungen können sowohl auf der Ebene des Verwaltungsverfahrens als auch auf der Ebene des Rechtsschutzverfahrens angelegt sein oder werden. Das Verfahrensrecht insgesamt steht insoweit neben dem materiellen Recht, erfüllt diesem und seinen Zielsetzungen gegenüber vor allem eine dienende oder instrumentale Funktion. Dies gilt auch für die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 IV GG; sie hat vor allem den (materiellen) Zweck, einen wirksamen Grundrechtsschutz zum Ziele einer möglichst intakten und umfassenden Grundrechtsgeltung zu gewährleisten. Über die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 IV GG und ihren zentralen Verfassungsrang hinaus hat das BVerfG aber auch in weiterem Zusammenhang den materiell-rechtlichen Grundrechtsgewährleistungen auch andere verfahrensrechtliche Bedeutungsinhalte abgewonnen. Dies gilt vor allem für jene Rechtsprechung des BVerfG, die die Grundrechte nahezu generell auch als verfahrensleitende Normen begreift, aus den Grundrechten also auch das Prinzip einer möglichst grundrechtsfreundlichen oder grundrechtseffektuierenden Verfahrensgestaltung ableitet 1 2 7 . Dieses Prinzip wird ebenso im
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Bereich des vor allem repressiv angelegten gerichtlichen Rechtsschutzes als auch im Bereich des Verwaltungsverfahrens wirksam, wobei das Verwaltungsverfahren insoweit auch und vor allem rechtsschützende Funktionen für den Bürger übernimmt 1 2 8 . Folgerichtig kann insoweit und umfassender betrachtet davon gesprochen werden, daß das Prinzip der grundrechtsfreundlichen und grundrechtseffektuierenden Verfahrensgestaltung zum einen zwischen Rechtsschutz und Verwaltungsverfahren nur bedingt unterscheidet und daß dieses Prinzip zum anderen damit stufenförmig wirksam wird oder doch gestufte Wirkungen erlangen kann. In der gleichsam ersten Stufe ist das Verwaltungsverfahren betroffen, in der gleichsam zweiten Stufe ist der gerichtliche Rechtsschutz betroffen. Anders gewendet kann auch davon gesprochen werden, daß das Prinzip der grundrechtsfreundlichen und grundrechtseffektuierenden Verfahrensgestaltung schon im Verwaltungsverfahren präventive Schutzwirkungen entfaltet und daß es im Bereich des gerichtlichen Rechtsschutzes verstärkende repressive Schutzwirkungen entwickelt. Dieses Gebäude ebenso präventiver wie repressiver Schutzwirkungen zugunsten der Grundrechte ist allerdings nicht formal im Sinne einer bestimmten Rangfolge zu begreifen. Wie Verwaltung und Rechtsprechung funktionell voneinander geschieden sind, so sind dies auch verwaltungsförmiger und gerichtsförmiger Rechtsschutz. Beide bestehen unabhängig nebeneinander, können also auch unabhängig nebeneinander wirksam werden. Verbunden sehen sich beide Prinzipien nur und erst im Sinne der übergreifend-identischen und legitimatorisch gemeinsamen Zwecksetzung: nämlich der eines möglichst effektiven Grundrechtsschutzes; und bei der Verwirklichung dessen können beide Prinzipien bzw. beide - sonst gewaltenteilig voneinander geschiedenen - Funktionsbereiche auch gegenseitigkompensatorische Aufgaben übernehmen 129 .
127 Vgl. z.B. BVerfGE 37, 132 (141ff.); 39, 276 (294); 44, 105 (119ff.); 45, 422 (430ff.); 46, 325 (334); 49, 220 (225); 52, 214 (219); 53, 30 (65ff.); 65, 76 (93f.); Goerlich, Grundrechte als Verfahrensgarantien, 1981, bes. S. 287ff.; Laubinger, VerwArch Bd. 73, 1982, S. 60ff.; Dolde, NVwZ 1982, S. 65ff.; Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 373 ff.; Schmidt-Aßmann, in: Isensee / Kirchhof, HdB des Staatsrechts, Bd. III, 1988, S. 623 (635ff.); grundlegend siehe zum Ganzen demnächst Pitschas, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsverfahren, 1990, bes. Kap. 9 - 10, 14. 128 Gerade zum Verwaltungsverfahren und der hiesigen (verfahrensleitenden) Wirkung der Grundrechte vgl. Held, Der Grundrechtsbezug des Verwaltungs verfahr ens, 1984, S. 69ff.; Wahl, W D S t R L Bd. 41, 1983, S. 151 (159ff., 166f.); Pitschas, Verwaltungsverantwortung (siehe Fn. 127). 129 Vgl. bereits R. Scholz, W D S t R L Bd. 34, 1976, S. 145 (160ff.); siehe auch und bes. Schwarze, Der funktionale Zusammenhang von Verwaltungsverfahrensrecht und verwaltungsgerichtlichem Rechtsschutz, 1974, S. 17ff., 32ff., 35ff., 44ff., 58ff.
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Rupert Scholz 9. Nationale M i t w i r k u n g an Gemeinschaftsakten und Prinzip der grundrechtseffektuierenden Verfahrensgestaltung
a) Das entsprechend materiell-rechtlich begründete Prinzip der grundrechtsfreundlichen und grundrechtseffektuierenden Verfahrensgestaltung vermittelt den maßgebenden Lösungsansatz auch für den Konflikt zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalem Verfassungsrecht dort, wo sich beide Rechtskreise verfahrensrechtlich miteinander schneiden. Wo eine EG-Verordnung beispielsweise durch die Europäische Kommission (direkt) erlassen wird, dort gibt es für das vorgenannte Prinzip deshalb wenig Aktualisierungsmöglichkeiten, weil keine nationale Verfahrensbeteiligung vorgesehen ist, die dem vorgenannten Verfassungsprinzip unterstellt werden könnte. Wo eine Rechtssetzung der EG aber unter nationaler Beteiligung, also im Ministerrat, erfolgt, kann das Prinzip entsprechender Grundrechtseffektuierung aktuelle Geltung erlangen. Wie gezeigt, ist die Bundesregierung bzw. sind die Repräsentanten der Bundesregierung innerhalb der EG im Rahmen ihrer dortigen Mitwirkung nicht nur an das Gemeinschaftsrecht, sondern auch an das nationale Verfassungsrecht gebunden. Dies bedeutet, daß sie die Pflicht haben, das nationale Verfassungsrecht, d.h. vor allem die Grundrechte, nach Möglichkeit zu wahren, also vor Verletzungen oder Relativierungen durch das Gemeinschaftsrecht nach Möglichkeit zu schützen. Dies ist eine ebenso materiell-rechtliche wie verfahrensrechtliche Pflicht. Materiell-rechtlich ist insoweit Art. 1 I I I GG maßgebend, soweit es um die Wahrung der Grundrechte geht. Verfahrensrechtlich geht es dagegen um die Umsetzung eben dieser materiell-rechtlichen Grundrechtspflichtigkeit. Lösungsmäßig ist also dort anzusetzen, wo die Bundesregierung bzw. ihre Repräsentanten am rechtserzeugenden Verwaltungsverfahren der EG beteiligt sind, sprich bei den jeweiligen Mitwirkungsakten. Wie bereits oben gezeigt wurde 1 3 0 , ist die Bundesregierung und sind ihre Repräsentanten über Art. 1 I I I GG bei ihren Mitwirkungsakten im EG-Bereich ebenso wie im nationalen Bereich an die Grundrechte und an das GG insgesamt gebunden. Verfahrensrechtlich bedeutet dies, daß die Bundesregierung und ihre Repräsentanten sich abstimmungsmäßig im EG-Bereich nicht an der Setzung solchen Gemeinschaftsrechts - durch entsprechend positive Stimmabgabe beteiligen dürfen, das gegen die Grundrechte oder sonstiges nationales Verfassungsrecht verstößt. Insoweit besteht eine verfahrensrechtliche Schranke, die sich in ihrer materiellen Rechtsqualität unmittelbar auf die Grundrechte bzw. das sonst betroffene nationale Verfassungsrecht gründet. Die verfahrensrechtliche Bindung der Bundesregierung bzw. ihrer Repräsentanten innerhalb des EG-Rechtssetzungsverfahrens aktualisiert mit anderen Worten die Verbindlichkeit und Geltung der Grundrechte und des GG insgesamt 130
Vgl. oben unter 7.e).
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innerhalb des supranationalen Rechtskreises und der supranationalen Rechtserzeugung. Diese Bindung der Bundesregierung und ihrer Repräsentanten bereits im E G-Verwaltungs verfahr en besitzt unter den Aspekten des Rechtsschutzes präventive Bedeutung. Diese präventive Bedeutung ist jedoch deshalb nicht nur gerechtfertigt, sondern auch geboten, weil die Möglichkeiten des repressiven Rechtsschutzes gegenüber dem „vollendeten" Gemeinschaftsrecht dem nationalen Kontrollzugriff im wesentlichen entzogen sind und angesichts der nur sehr begrenzten Schutzmöglichkeiten beim EuGH - zumindest aus nationaler Sicht bzw. aus der Sicht des Art. 19 IV GG - ungenügend sind. Hier greift der verfassungsrechtlich ebenfalls begründete Gedanke der Kompensation, demzufolge ungenügende Möglichkeiten im Bereich des repressiven Rechtsschutzes nach Möglichkeit durch Formen des präventiven Rechtsschutzes auszugleichen sind. Dies ist die Grundratio des präventiven Rechtsschutzes überhaupt: Immer dann, wenn der repressive Rechtsschutz nicht mehr hinlängliche Möglichkeiten zur Korrektur einer Rechtsverletzung bietet, dann ist bereits im Vorfeld einer noch nicht vollzogenen, sondern nur unmittelbar drohenden Rechtsverletzung mit den Mitteln des vorbeugenden Rechtsschutzes, also präventiv, vorzugehen 131 . Dies ist freilich zunächst die Konstellation im Bereich des gerichtlichen Rechtsschutzes, bei dem heute in gefestigter Form zwischen präventivem und repressivem Rechtsschutz unterschieden wird. Das gleiche gilt jedoch auch für das Verhältnis von Verwaltungsverfahren und gerichtlichem Verfahren bzw. denjenigen Rechtsschutzmöglichkeiten, die bereits im Verwaltungsverfahren möglich sind. Jedes rechtsstaatliche Verwaltungsverfahren hat auch dem Rechtsschutz des Bürgers zu dienen, wie sich vor allem im Rahmen des Gebots des rechtlichen Gehörs gemäß Art. 103 I GG offenbart 132 . Obwohl Art. 103 I GG den Grundsatz des rechtlichen Gehörs an sich nur für den Bereich der Gerichtsbarkeit vorschreibt, ist inzwischen längst anerkannt, daß die Gewähr rechtlichen Gehörs - wenn nicht kraft Art. 103 I GG (analog), so doch kraft des (allgemeinen) Rechtsstaatsprinzips - auch bereits im Verwaltungsverfahren maßgebend sein muß; dies zumindest dort, wo es um den Schutz entsprechender rechtlicher Positionen des Bürgers geht 1 3 3 . Ver131 Vgl. näher z.B. BVerfGE 35, 263 (274f.); 35, 382 (402); 37,150 (153); 38, 52 (57f.); 46, 166 (178f.); 65, 1 (70f.); 69, 315 (372); BVerwGE 14, 323 (328); Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 19 IV Rdnr. 273ff., 278f.; Papier, in: Isensee / Kirchhof, HdB des Staatsrechts, Bd. VI, 1989, S. 1221 (1266). 132 Zum systematischen Zusammenhang der Garantie aus Art. 103 I GG mit der (allgemeinen) Rechtsschutzgarantie des Art. 19 IV GG vgl. u.a. Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 103 I Rdnr. 7; Goerlich, Grundrechte als Verfahrensgarantien, S. 324 ff. 133 Vgl. z.B. Laubinger, VerwArch Bd. 73, S. 83f.; Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 103 I Rdnr. 62f.; Kopp, Verfassungsrecht und Verwaltungsverfahrensrecht, 1971, S. 30ff.; Hufen, Fehler im Verwaltungsverfahren, 1986, 127f.; Kunig, Rechtsstaatsprinzip, S. 373 ff.
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allgemeinert ausgedrückt bedeutet diese extensive Auslegung des Art. 103 I GG nichts anderes, als daß die Prinzipien des gerichtlichen Rechtsschutzes bereits auf die Ebene auch des Verwaltungsverfahrens vorverlagert werden, um bereits über das Mittel der Prävention schon dort Rechtsverletzungen auszuschließen bzw. einen wirksamen Rechtsschutz zu gewährleisten. Das gleiche gilt z.B. für den Verwaltungsprozeß, wenn dieser vor die verwaltungsgerichtliche Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage das verwaltungsmäßige Widerspruchsverfahren gemäß §§ 68ff. VwGO spannt. Das Widerspruchsverfahren dient zwar auch der Selbstkontrolle und Selbstreinigung der Verwaltung; es hat darüber hinaus aber auch und insbesondere die Bedeutung, dem Bürger nach Möglichkeit bereits im Verwaltungsverfahren zu seinem Recht bzw. zu einem möglichst wirksamen Rechtsschutz zu verhelfen. Der Zusammenklang von verwaltungsförmigem und gerichtsförmigem Rechtsschutz ist also durchaus bekannt, gehört inzwischen längst zum gesicherten Instrumentarium des modernen Rechtsstaates und verträgt im Lichte des Prinzips der grundrechtsfreundlichen und grundrechtseffektuierenden Verfahrensgestaltung insgesamt auch weitere Ausformungen. b) Eine solche Ausformung liegt vor allem im hiesigen Bereich nicht nur nahe, sondern erweist sich bei näherem Zusehen sogar als geboten. Denn ein anderer Weg ist nicht ersichtlich, um dem Bürger innerhalb der EG nach Möglichkeit ein Maximum seiner nationalen Grundrechte auch gegenüber dem und in dem Gemeinschaftsrecht zu erhalten. Dort, wo eine Norm des Gemeinschaftsrechts, sei es mit oder ohne Zustimmung der Bundesregierung, trotz Verstoßes gegen das nationale Verfassungsrecht in Kraft getreten ist, dort gilt das Prinzip der grundrechtsfreundlichen und grundrechtseffektuierenden Verfahrensgestaltung ebenfalls. Hier wendet es sich in eine Form des repressiven Rechtsschutzes im Verwaltungsverfahren um, wenn sich auf der Ebene des Rechtsschutzes im Gemeinschaftsrecht, d.h. vor dem EuGH, kein wirksamer Rechtsschutz erlangen läßt. Auch hier übernimmt das Verwaltungsverfahren wiederum eine kompensierende Rolle, indem es von der Bundesregierung verlangt, alles verfahrensrechtlich Mögliche zu unternehmen, um eine Reparatur jener Normsetzung im Gemeinschaftsrecht zu erlangen, die nationales Verfassungsrecht verletzt 1 3 4 . Andererseits ist rasch einsichtig, daß eine solche nachträgliche Reparaturpflicht in aller Regel nur wenig Aussicht auf Erfolg haben wird. Wenn innerhalb der EG, sei es durch die Kommission oder sei es durch den Ministerrat bei deutscher Minderheitsposition, Normen des Gemeinschaftsrechts in Kraft gesetzt worden sind, die mit der deutschen oder auch einer anderen nationalen Verfassungsordnung nicht vereinbar sind, dann wird es in aller Regel jenen verfassungsrechtlich betroffenen Mitgliedsstaaten trotzdem nicht gelingen, nachträgliche Abänderungen oder 134
Vgl. Stern, Staatsrecht, Bd. I I I / l , S. 1237.
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Revisionen durchzusetzen. Dennoch, zumindest aus der Sicht des GG und der aus ihm folgenden verfahrensrechtlichen Pflichten bleibt die Bundesregierung in solchen Fällen auch nachträglich verpflichtet, alles in ihren Kräften Stehende zu tun, um solche Reparaturen oder Revisionen zu erreichen. Andererseits bleibt zu beachten, daß ein solches Verfahren nachträglicher oder repressiver Reparatur- oder Revisionsversuche dem Prinzip eines wirklich grundrechtseffektuierenden Verfahrens bzw. eines wirklich effektiven Grundrechtsschutzes noch nicht genügt. Ungleich wirksamer und damit eher gefordert sind die Formen des präventiven Rechtsschutzes, die wiederum und schon auf der Ebene der Bundesregierung bzw. ihrer Repräsentanten selbst, d.h. auf der Ebene des rechtserzeugenden Verwaltungsverfahrens innerhalb der jeweiligen EG-Organe, ansetzen oder beginnen. c) Ist die Bundesregierung oder sind ihre Repräsentanten im EG-Verwaltungsverfahren nicht bereit, entsprechende nationale Verfassungsbelange zu vertreten, so stellt sich - gleichsam auf der zweiten Stufe im vorstehenden Sinne - wieder die Frage des gerichtlichen Rechtsschutzes. Dieser kann nur nationaler Art sein, da die Bundesregierung oder ihre Repräsentanten als allein national Verfassungspflichtige der Jurisdiktion des EuGH nicht unterstehen. Insoweit ist ausschließlich Art. 1 I I I GG für den Grundrechtsschutz maßgebend - mit der weiteren Konsequenz, daß die Anrufung nationaler Gerichte, vor allem des BVerfG, möglich sein muß 1 3 5 . Demgegenüber vertritt das BVerfG allerdings die geschilderte restriktive Tendenz, indem es zumindest im grundrechtlichen Bereich einen (präventiven) Rechtsschutz gegenüber den Mitwirkungsakten der Bundesregierung im Rechtssetzungsprozeß der EG - zumindest prinzipiell - nicht zulassen will. Dies offenbart zuletzt der Beschluß im einstweiligen Anordnungsverfahren zur Etikettierungsrichtlinie 136 . Im Falle des einstweiligen Anordnungsbegehrens im Bund-Länder-Streit vertritt das BVerfG dagegen keine derart restriktive Linie, indem es das Begehren einer einstweiligen Anordnung gegenüber der Mitwirkung der Bundesregierung am Erlaß dieser Richtlinie zumindest nicht als unzulässig, sondern nur (oder eher?) als materiell unbegründet verworfen hat 1 3 7 . Die Konstellation im Falle der EG-Tabakregelung ist für das hiesige Rechtsschutzdilemma symptomatisch. Wenn man dem BVerfG folgen und allein auf den Rechtssetzungsakt bzw. den entsprechenden Abschluß des Rechtssetzungsverfahrens insgesamt abstellen will, dann schmelzen die Rechtsschutzmöglichkeiten für den in seinen nationalen Grundrechten betroffenen Bürger fast auf Null zusammen. Wenn der Bürger dagegen die 135 Ygi sehr klar jetzt auch Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz, S. 206ff. (mit der Feststellung, daß auch die Verfassungsbeschwerde gegen das Abstimmungsverhalten deutscher Vertreter im EG-Ministerrat zulässig ist). 136 Beschluß vom 12.5.1989 - 2 BvQ 3/89 - . 1 37 Urteil vom 1.4.1989, Z U M 1989, S. 235f.
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Möglichkeit hat, schon im Vorfeld, d.h. schon während des Rechtssetzungsprozesses, auf das Zustandekommen der grundrechtswidrigen Norm einzuwirken, indem die Mitwirkung der Bundesregierung mittels nationalen Rechtsschutzes den Grundrechten verpflichtet wird, dann ist eher ein Maß an grundrechtseffektivem Rechtsschutz gewährleistet. Deshalb ist der Entscheidung des BVerfG im Falle der EG-Tabakregelung zumindest insoweit zu widersprechen, wie die einstweilige Anordnung deshalb als unzulässig qualifiziert wird, weil die Gewähr von Rechtsschutz angeblich erst gegen die erlassene Richtlinie selbst in Betracht zu ziehen sei. Dies bedeutet den Verweis des Bürgers auf die Mittel des repressiven Rechtsschutzes, die aus den gezeigten Gründen aber nicht in geboten effektiver Form zur Verfügung stehen. Aus diesem Grunde muß im Lichte des Prinzips der grundrechtsfreundlichen und grundrechtseffektuierenden Verfahrensgestaltung der präventive Rechtsschutz zum Zuge kommen. Dies bedeutet, einstweilige Anordnungen müssen auch bereits im laufenden Rechtssetzungsverfahren der EG gegenüber der Mitwirkung der Bundesregierung oder ihrer Repräsentanten innerhalb jenes Rechtssetzungsverfahrens zulässig sein. d) Diese Konstellation ähnelt im übrigen einer anderen, in der das BVerfG längst eine entsprechend grundrechtsfreundliche Position bezogen hat. Im Falle völkerrechtlicher Verträge oder Staatsverträge hat das BVerfG nämlich in ständiger Rechtsprechung die Kontrolle der Zustimmungsgesetze zu solchen Staatsverträgen oder völkerrechtlichen Verträgen schon vor deren Ausfertigung und Verkündung zugelassen, weil nur so ein rechtzeitiger Rechtsschutz zu gewährleisten ist 1 3 8 . Ein nachträglicher (repressiver) Rechtsschutz gegen den bereits gesetzlich transformierten bzw. ratifizierten Staatsvertrag oder völkerrechtlichen Vertrag käme immer zu spät, da im Verhältnis zum (auswärtigen) Vertragspartner die rechtliche Bindung immer und irreparabel eingetreten wäre. Folgerichtig hat das BVerfG hier nicht den Abschluß des Rechtssetzungsverfahrens mit entsprechend externen (rechtserheblichen) Wirkungen dem Bürger gegenüber abgewartet, dem Bürger vielmehr umgekehrt schon im Vorfeld Rechtsschutz gewährt, um ggf. den vertragsschließenden Staat von der Ratifizierung bzw. der innerstaatlich - gesetzlichen Transformation verfassungswidrigen Vertragsrechts abzuhalten. Nicht wesentlich anders ist die Konstellation im Falle supranationaler Rechtssetzung. Der Rechtskreis und die Rechtssetzung der EG ist zwar gegenüber dem nationalen Rechtskreis autonom. Andererseits ist die Bundesrepublik Deutschland aber an Teilen der EG-Rechtssetzung kraft Mitwirkung nationaler Organe unmittelbar beteiligt. Da diese Organe, wie gezeigt, auch im Rahmen ihrer Mitwirkung an der Setzung supranationalen Rechts dem nationalen Verfassungsrecht verpflichtet bleiben, muß auch iss vgl, BVerfGE 1, 396 (413); 2, 143 (169); 11, 339 (342); 12. 281 (288); 18, 1 (10f.); 24, 33 (53f.); 35, 193 (195); 36, 1 (15).
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insoweit die Möglichkeit entsprechend präventiver Verfassungskontrollen mittels entsprechender Klagemöglichkeiten beim BVerfG eröffnet werden. Diese Parallele hat das BVerfG bisher allerdings nicht gezogen. Bei einer Überprüfung seiner Rechtsprechung zum Verhältnis von Gemeinschaftsrecht und nationalem Verfassungsrecht wird es dessen jedoch dringend bedürfen. e) Das Prinzip der grundrechtsfreundlichen und grundrechtseffektuierenden Verfahrensgestaltung muß ein Maximum an Beachtung des nationalen Verfassungsrechts, namentlich der Grundrechte, gewährleisten. Mehr als ein solches Maximum ist jedoch weder möglich noch gefordert. Eine absolute Geltung oder Beachtung der nationalen Grundrechte oder anderer Verfassungsprinzipien des GG läßt sich im Gemeinschaftsrecht nicht fordern, da die deutsche Rechtsordnung und ihre Durchsetzung insoweit dem Vorbehalt des Gemeinschaftsrechts unterliegen. Wenn die Bundesregierung z.B. im Rahmen ihrer Mitwirkung an einer aus nationaler Sicht verfassungswidrigen Norm des Gemeinschaftsrechts unterlegen ist, wenn die Position des GG gleichsam im Zuge und zum Zwecke der supranational integrierten Rechtsgestaltung unterlegen ist, dann vermag auch das Prinzip der grundrechtsfreundlichen und grundrechtseffektuierenden Verfahrensgestaltung keine automatische Negation des Geltungsanspruchs solchen Gemeinschaftsrechts zu begründen. Seine Rechtfertigung findet dies in Art. 24 I GG bzw. in der entsprechenden Zustimmungsgesetzgebung der Bundesrepublik Deutschland zu den Gemeinschaftsverträgen. Andererseits hat das BVerfG bereits deutlich gemacht, wo aus seiner Sicht die Grenzen entsprechend supranationaler Relativierungen nationalen Verfassungsrechts liegen: Wenn namentlich ein „Einbruch" in das „Grundgefüge" bzw. in die dies „konstituierenden Strukturen" droht, wenn namentlich eine entsprechende Relativierung des Grundrechtsteils des GG droht, dann bleibt es bei der - verfahrensrechtlich entsprechend umzusetzenden - Feststellung der Unanwendbarkeit solchen Gemeinschaftsrechts in der Bundesrepublik 139 . Andererseits wurde ebenso bereits deutlich, daß diese Abgrenzung bzw. diese Konzentration auf jenen Grundbestand an schlechthin konstituierenden Wertprinzipien des GG noch nicht ausreicht. Es geht vielmehr und bereits um den Schutz vor evischon bei denten und typischen Grundrechts- bzw. Verfassungsverstößen: deren tatbestandlicher Gegebenheit oder bei deren tatbestandlichem Drohen muß bereits ein wirksamer Rechtsschutz gegeben sein. Dies bedeutet, daß bereits dann repressive wie präventive Rechtsschutzmittel zu eröffnen sind. Materiell-rechtlich ist indessen erneut auf den integrierten Geltungsanspruch des supranationalen Rechts hinzuweisen. Er schließt eine statische Abgrenzung der beiden Rechtskreise sehr häufig aus; dies zumindest dann, 139
Vgl. BVerfGE 73, 375ff. und oben 7.b) c).
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wenn thematisch identische Zuständigkeits- oder Regelungsbereiche vorliegen. Erneut bedarf es also eines vermittelnden Maßstabes, der (zumindest) jenem Maximum an nationalen Grundrechts- oder sonstigen Verfassungswerten zur Wahrung oder Geltung verhilft. Da es sich im Verhältnis von nationalem und supranationalem Grundrechtsstandard im Falle des inhaltlichen Widerspruchs um einen Tatbestand der Grundrechtskollision, wie er innerstaatlich durchaus bekannt ist, handelt, liegt auch das Lösungsmittel durchaus parat. Dies findet sich im Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, demzufolge - wie vom BVerfG betont - ein beiden Rechtsbereichen gegenüber höchstmögliches Maß an Schonung und Geltungskraft zuzuwenden oder zu erhalten ist 1 4 0 . Dies bedeutet auf die vorliegende Konstellation gewendet, daß im Falle eines solchen Widerspruchs zwischen nationalem und supranationalem Grundrechtsstandard ein entsprechendes (verhältnismäßiges) Höchstmaß
an Schonung
des nationalen
Grundrechtsstandards
gewährleistet bleiben muß. Daß es hierbei vor allem um den nationalen Grundrechtsstandard und seine Wahrung geht, erhellt daraus, daß entsprechende Kollisionslagen oder Widersprüche zwischen nationalem und supranationalem Grundrechtsstandard nur darin bestehen können, daß der supranationale Grundrechtsstandard ein gewährleistungsmäßiges Minus gegenüber dem nationalen Grundrechtsstandard präsentiert. Wenn der supranationale Grundrechtsstandard nämlich ein Mehr an grundrechtlichen Verbürgungen zugunsten des Bürgers bereit hält, stellt sich von vornherein kein Konfliktfall. Denn dann dominiert ohnehin das Gemeinschaftsrecht gegenüber dem nationalen Recht und damit auch der gewährleistungsmäßig stärkere Grundrechtsstandard des Gemeinschaftsrechts gegenüber dem minderen nationalen Grundrechtsstandard. Abgesehen davon, daß dieser Fall nach den bisherigen Erkenntnissen bzw. den bisher eingetretenen Entwicklungen mehr oder weniger theoretischer Natur ist, bleibt als Problemfall allein die umgekehrte Situation, in der der supranationale Grundrechtsstandard gewährleistungsmäßig hinter dem nationalen Grundrechtsstandard zurückbleibt. Das hier gerade unter den Aspekten des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes geforderte Maximum an Erhaltung des nationalen Grundrechtsstandards mündet in die Forderung ein, daß das entsprechende Gemeinschaftsrecht dem Grundgesetz und seinen Wertvorstellungen nach Möglichkeit
(maximal)
angenähert
wird.
Auch in diesem Sinne findet sich bereits eine Rechtsprechung des BVerfG, die sich mit guten Gründen auf die hiesige Konstellation des Konflikts zwischen nationalem und supranationalem Recht übertragen läßt: Vor allem in jenen Fällen, in denen nationales und internationales Recht (Völkerrecht) nicht automatisch miteinander harmonieren, hat das BVerfG dem Gesetzgeber sowie auch anderen Staatsorganen Regelungen konzediert, die sich dem 140
Vgl. m.Nachw. bereits oben 4. c).
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Grundgesetz lediglich „annähern", ohne dessen Vorgaben gleich komplett oder perfekt zu erfüllen 141 . Wenn eine derart komplette oder verfassungsrechtlich perfekte Lösung (noch) nicht möglich ist, dann genüge ein Prozeß der Annäherung an das GG, um dessen Vorgaben und Wertvorstellungen wenigstens nach Möglichkeit gerecht zu werden. Diese Rechtsprechung hat das BVerfG vor allem in jenen Zeiten entwickelt, in denen es um den stufenweisen Abbau von Besatzungsrecht (Völkerrecht) zugunsten möglichst grundrechtskonformer nationaler Rechtsgestaltungen ging 1 4 2 . Dieses Prinzip des „Näherkommens zum GG" ist wiederum ebenso praktisch und verhältnismäßig wie im richtigen Sinne verfahrensförmig ausgelegt. Mit dieser Maßgabe verträgt dieses Prinzip durchaus die Übertragung oder analoge Anwendung auf die hiesige Konstellation, in der eine durchaus vergleichbare Problematik nachgewiesen ist 1 4 3 . Auch hier ist aus Gründen internationaler oder (genauer) supranationaler Rechtsgegebenheiten im Einzelfall keine volle Geltung des GG bzw. seiner Prinzipien durchsetzbar; folgerichtig müssen die dem GG verantwortlichen nationalen Instanzen innerhalb der EG ein Maß an Grundrechts- oder Verfassungsstandard durchsetzen oder sich doch um ein solches wirksam bemühen, das dem GG möglichst („maximal") nahekommt. Verfahrensrechtlich und - in der weiteren Konsequenz - auch rechtsschutzmäßig gliedert sich diese (materielle) Verfassungspflicht der Bundesregierung bzw. ihrer Repräsentanten wiederum in die Formen ebenso präventiver wie repressiver Verfahrensweisen ein. Praktisch bedeutet dies, daß die Bundesregierung sich bereits im EGRechtssetzungsverfahren über ihre Mitwirkungsrechte um Regelungen bemühen muß, die dem GG „möglichst nahe kommen". Sofern dies nicht gelingt, muß sich die Bundesregierung und müssen sich ihre Repräsentanten ggf. nachträglich (repressiv) um entsprechende Reparaturen gegenteiliger Normen des Gemeinschaftsrechts bemühen 144 . Wenn die Bundesregierung hierzu nicht bereit ist, muß mit der gleichen Maßgabe entweder präventiv oder repressiv Rechtsschutz namentlich durch das BVerfG gewährt werden. Dem BVerfG steht dann die (ausschließliche) Zuständigkeit zu, Feststellungen dahingehend zu treffen, ob den vorgenannten materiell-rechtlichen Voraussetzungen genügt worden ist oder ob wegen der (potentiellen) Verletzung nationalen Verfassungsrechts bestimmte Normen des Gemeinschaftsrechts in der Bundesrepublik Deutschland nicht anzuwenden sind.
141 Vgl. z.B. BVerfGE 4, 157 (169f.); 9, 63 (71f.); 12, 281 (290ff.); 14, 1 (7f.); 15, 337 (348ff.); 18, 353 (365f.); 26, 116 (139); 27, 253 (281f.); 37, 104 (114ff.). 1 42 Vgl. deutlich etwa hier BVerfGE 9, 71 f.; 12, 290ff. 143 So jetzt auch Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz, S. 168 f., 174 ff., 179 ff., 188ff. ι 4 4 Vgl. Stern, Staatsrecht, Bd. I I I / l , S. 1237. 7*
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Rupert Scholz 10. Folgerungen am Beispiel der EG-Tabakregelung
a) Die vorstehenden Grundsätze sollen nunmehr am Beispiel der aus nationaler Grundrechtssicht verfassungswidrigen EG-Tabakrichtlinien angewandt und erprobt werden. Daß diese Richtlinien in ihrem materiellen Regelungsgehalt gegen die Grundrechte aus Art. 12/14 bzw. Art. 2 I GG sowie gegen Art. 5 I GG verstoßen, wurde im einzelnen dargelegt 145 . Wenn ein vergleichbarer Grundrechtsschutz auf der Grundlage des Gemeinschaftsrechts gegeben wäre, wenn mit anderen Worten diese Richtlinien auch gegen den supranationalen Grundrechtsstandard verstießen, stellten sich zumindest materiell-rechtlich keine Probleme. Näheres Zusehen zeigt indessen, daß ein vergleichbarer grundrechtlicher Schutz durch das Gemeinschaftsrecht nicht gewährleistet ist. b) Hinsichtlich der Vereinbarkeit mit der Freiheit wirtschaftlicher Betätigung ergeben sich freilich keine substantiellen Unterschiede, da die entsprechenden Grundrechtsgewährleistungen im supranationalen Grundrechtsstandard mit denen des GG durchaus vergleichbar sind 1 4 6 . Die Rechtsprechung des EuGH hat sich bisher zwar mit vergleichbaren Konstellationen noch nicht zu befassen gehabt. Indessen läßt sich durchaus die Prognose wagen, daß die EG-Tabakrichtlinien in ihren inkriminierten Teilen auch vor dem EuGH nur schwer werden Bestand halten können. Immerhin, der EuGH hat Werbungsbeschränkungen aus Gründen des Gesundheitsschutzes durchaus und prinzipiell für zulässig erklärt 1 4 7 . Andererseits betont der EuGH in seiner Rechtsprechung den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bekanntlich mit durchaus ähnlicher Stringenz wie das nationale Verfassungsrecht 148 bzw. die dies konkretisierende Rechtsprechung des BVerfG 1 4 9 . Aus diesem Grunde ist auch für das Gemeinschaftsrecht davon auszugehen, daß die hiesigen Schutzmaßnahmen zum Schutz der Gesundheit zumindest unverhältnismäßig - gemessen an der supranationalen Gewährleistung der wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit und damit auch der Freiheit der Wirtschaftswerbung - sind bzw. vom EuGH in diesem Sinne qualifiziert werden dürften. Der zentrale grundrechtliche Einwand gegen die EG-Tabakrichtlinien liegt jedoch, wie gezeigt 150 , vor allem im Feld der Meinungsfreiheit gemäß 145
Vgl. oben sub 4. Vgl. im einzelnen die Nachw. oben Fn. 65. 147 Vgl. Urteil Rs. 152/78 Slg. 1980, S. 2999ff.; siehe auch die Nachw. bei Jansen, in: Grabitz, EWGV-Komm., Vor Art. 117 Rdnr. 4, Art. 118 Rdnr. 30f. 148 Vgl. z.B. die Nachw. Fn. 74; siehe noch weiter hierzu Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, Bd. II, S. 661 ff. 149 Hierauf weist auch das BVerfG ausdrücklich hin; vgl. BVerfGE 73, 380f. m.w. Nachw. zur Rechtsprechung des EuGH. 150 Vgl. oben 4.e). 146
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Art. 5 I GG. Hier ist der Grundrechtsverstoß eklatant und hier müßte das Gemeinschaftsrecht eine ebenso stringente Regelung bereit halten, wollte aus der Sicht des supranationalen Grundrechtsstandards eine ähnliche Beurteilung und ein Maß gleichen grundrechtlichen Schutzes wie im nationalen Verfassungsrecht erreichbar erscheinen. Diese Voraussetzungen sind indessen nicht gegeben. Der EuGH hat in seiner bisherigen Rechtsprechung freilich auch den prinzipiellen Schutz der Meinungsfreiheit betont, wobei er sich auch zur Garantie der Meinungsfreiheit gemäß Art. 10 EMRK bekannt hat 1 5 1 . Nach Art. 101 EMRK wird der „Anspruch auf freie Meinungsäußerung" bzw. das Recht auf „die Freiheit der Meinung" ausdrücklich geschützt. In diesem Sinne verkörpert Art. 10 EMRK ebenso wie Art. 5 I GG ein vor allem staatsbürgerliches Grundrecht 152, das mit dieser Maßgabe vom EuGH allerdings nur sehr bedingt aufgenommen werden kann. Denn angesichts der kompetentiellen Grenzen der Jurisdiktionskompetenz des EuGH kann dieses staatsbürgerliche Recht der Meinungsfreiheit prinzipiell nur in der dargelegten grundrechtsakzessorischen Weise schutzrelevant werden. Dies bedeutet immerhin, daß Inhalte der Meinungsfreiheit im Rahmen der Wirtschaftswerbung auch vom EuGH anzuerkennen wären. In diese Richtung weist namentlich die Entscheidung des EuGH vom 17.1.1984, in der das Gericht sich mit besonderen Fragen der vertikalen Preisbindung auf dem Büchermarkt zu befassen hatte. Hier wurde ausdrücklich die Verletzung des Art. 10 EMRK gerügt, und der EuGH hat in Auseinandersetzung mit dieser Rüge anerkannt, daß „bestimmte wirtschaftliche Regelungen die Meinungsfreiheit beeinflussen können" 1 5 3 . Selbst wenn die tatbestandlichen Voraussetzungen einer solchen Verletzung des Art. 10 EMRK bzw. der Meinungsfreiheit im Ergebnis verneint wurden, ist doch bedeutsam, daß der EuGH im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit auch die Meinungsfreiheit zum Prüfungsmaßstab mit heranzuziehen bereit ist. Alles dies kann aber nur in entsprechend akzessorischer Betrachtungsweise geschehen. Eine Anerkennung des staatsbürgerlichen Rechts der Meinungsfreiheit in der Hauptsache und eine entsprechende verfassungsrechtliche Beurteilung von Maßnahmen, wie sie die EG-Tabakrichtlinien vorschreiben, den Verstoß gegen die negative Meinungsfreiheit vor allem eingeschlossen, erscheint durch die Rechtsprechung des EuGH nicht ohne weiteres vorstellbar. Denn dies setzte voraus, daß die Meinungsfreiheit nicht nur in ihrer gegebenen akzessorischen Form grundrechtlich im Gemeinschaftsrecht als schützenswert anerkannt würde, sondern dies setzte darüber hinaus voraus, daß die Meinungsfreiheit definitiv - auch und gerade in ihrer staatsbürgerli151
Vgl. die Nachw. Fn. 69. Vgl. Bullinger, Human Rights Law Journal Vol. 6, 1985, S. 339 (343ff.); siehe hierzu auch Schwarze, EuGRZ 1986, S. 298. 153 Vgl. Rs. 43 u. 63/82, Slg. 1983, S. 19 (62). 152
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chen Rechtsqualität - zum supranationalen Grundrechtsstandard gerechnet wird. Zu einer solchen Aussage ist der EuGH angesichts seiner kompetentiellen Grenzen jedoch und prinzipiell nicht imstande. Das gleiche gilt aus der Sicht des mit der Meinungsfreiheit hier in Kollision stehenden Gesundheitsschutzes. Art. 10 I I EMRK sieht zwar ausdrücklich vor, daß auch der „Schutz der Gesundheit" der Ausübung des Rechts der Meinungsfreiheit gemäß Art. 10 I EMRK Grenzen setzen kann. Die hiesige Kollisionsproblematik sieht sich also in Art. 10 EMRK bzw. in dessen Schrankensystematik ausdrücklich mitangesprochen. Auch der Gesundheitsschutz gehört aber, wie gezeigt 154 , nicht zu den Grundzuständigkeiten der EG (nur akzessorische Zuständigkeit) und damit auch nicht zu den Entscheidungskompetenzen des EuGH - zumindest nicht in der Hauptsache. Daß der EuGH andererseits gerade Grenzen der Werbung aus gesundheitlicher Sicht anzuerkennen bereit ist, ändert hieran nichts. Insgesamt bleibt deshalb festzuhalten, daß gerade hinsichtlich des Schutzes der Meinungsfreiheit eine deutliche Differenz zwischen dem nationalen und dem supranationalen Grundrechtsstandard besteht - eine Differenz, die in der Verletzung der Meinungsfreiheit durch die EG-Tabakrichtlinien ihren ebenso unmittelbaren wie evidenten Ausdruck findet. Ungeachtet jener schutzrechtlichen Ansätze in der Rechtsprechung des EuGH ist zumindest dem deutschen Grundrechtsträger nicht zuzumuten, auf ggf. künftige Entwicklungen im Gemeinschaftsrecht zu warten oder zu hoffen, die vielleicht in der Zukunft einen vergleichbaren Schutz der Meinungsfreiheit gewährleisten könnten 1 5 5 . Dazu ist der hier gegebene Grundrechtsverstoß zu schwer und zu offenkundig. c) Hieraus folgt, daß sowohl gegenüber dem definitiven Zustandekommen der EG-Tabakrichtlinie als auch, für den Fall deren unveränderten Erlasses, Möglichkeiten des Rechtsschutzes auch aus nationaler Sicht bereit zu stellen sind. Wie gezeigt 156 , können sich solche Formen des Rechtsschutzes sowohl auf der Ebene des Verwaltungsverfahrens als auch auf der Ebene des gerichtsförmigen Rechtsschutzes ergeben. In ersterer Hinsicht ist festzuhalten, daß die Bundesregierung kraft ihrer Bindung an die nationalen Grundrechte, vor allem wegen des eklatanten Verstoßes gegen Art. 5 I GG, nicht berechtigt ist, auf Gemeinschaftsebene dem Erlaß dieser Richtlinien zuzustimmen. Täte die Bundesregierung dies doch, so würde sie die Grundrechte aus Art. 5 I GG sowie auch die aus Art. 12 1/14 I bzw. Art. 2 I GG definitiv verletzen. 154
Vgl. unter 4. a). Daß ein effektiver Rechtsschutz im Sinne des Art. 19 IV GG auch einen Rechtsschutz in angemessener Zeit bedingt, betont das BVerfG ausdrücklich; vgl. BVerfGE 55, 349 (369); 60, 253 (269ff.). 156 Vgl. unter 8.e), 9. 155
Gemeinschaftsrecht und nationaler Verfassungsrechtsschutz
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Andererseits kann die Bundesregierung auch bei eigener Ablehnung der Richtlinien deren Erlaß nicht mit Sicherheit verhindern. Insoweit gilt das gemeinschaftsrechtliche Mehrheitsprinzip, kann die Bundesregierung im Ministerrat der EG also überstimmt werden. Politisch wie rechtlich bedeutet dies, daß sich die Bundesregierung ggf. um einen Kompromiß in Brüssel bemühen muß, der dem Prinzip des (maximalen) „Näherkommens zum Grundgesetz" gerecht wird. Eine Lösung könnte sich in der Richtung ergeben, daß die EG auf die von ihr vorgesehenen Warnhinweise in der projektierten Form verzichtet und sich mit entsprechenden Abschwächungen, etwa wie sie heute im Recht der Bundesrepublik Deutschland gegeben sind, begnügt. Wenn auf den Verpackungen von Tabakerzeugnissen nämlich lediglich allgemeine Warnhinweise des Inhalts enthalten sind, daß Rauchen gesundheitsschädlich ist, und wenn diese Warnhinweise sogar vom jeweils zuständigen Gesundheitsminister als Erklärendem abgegeben werden, dann wird vor allem Art. 5 I GG nicht verletzt. Anderes gilt jedoch dann, wenn die Produzenten und Vertreiber von Tabakprodukten nicht nur selbst zur entsprechenden Erklärung verpflichtet werden, sondern wenn sie darüber hinaus im Tatsächlichen nicht beweisbare Aussagen der hier vorgesehenen Art warnungshalber machen müssen. Eine andere Lösungsmöglichkeit bestünde darin, daß die EG sich von vornherein auf bloße Empfehlungen für die jeweiligen „nationalen Listen" beschränkte. Denn dies würde der Bundesrepublik die Möglichkeit geben, im Rahmen ihrer Vollzugsgesetzgebung auf solche Hinweise zu verzichten, soweit diese grundrechtswidrig sind. Auf die verbindlichen Warnhinweise, wie derzeit projektiert, müßte also generell verzichtet werden. Der Revision bedürfen darüber hinaus aber auch die bisher vorgesehenen Empfehlungen, da diese nicht nur in der dargestellten Form eklatant grundrechtswidrig sind, sondern auch deshalb, weil sie in ihrer gegebenen stringenten Form den Mitgliedsstaaten nur relativ wenig Spielraum zur (verfassungskonformen) Abweichung eröffnen. Lediglich die Empfehlungshinweise Nr. 4 („Wer das Rauchen aufgibt, verringert das Risiko schwerer Erkrankungen"), Nr. 6 („Jedes Jahr sterben in der Bundesrepublik Deutschland mehr als (...) Menschen an Lungenkrebs"), Nr. 11 („Nichtraucher leben gesünder") und Nr. 12 („Bereichern Sie sich: geben Sie das Rauchen auf".) sind inhaltlich so gestaltet, daß sie das Ziel des Gesundheitsschutzes in verhältnismäßiger Form wahren und zugleich nicht gegen die Grundrechte aus Art. 5 1,12/141 bzw. 2 I GG verstoßen. Dies bedeutet, daß nur diese Warnhinweise im nationalen Recht umsetzbar wären; die Bundesregierung müßte sich folgerichtig bemühen, die Formulierungsvorschläge der EG auf diese oder mit diesen vergleichbare Vorschläge zu beschränken. Dies entspräche dem Prinzip des „Näherkommens zum GG". d) Wenn die Bundesregierung im Verwaltungsverfahren nicht bereit ist, in der vorstehenden Weise zu verfahren, stellt sich die Frage des gerichtli-
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chen Rechtsschutzes. In seinem Beschluß vom 12.5.1989 hat das BVerfG den Erlaß einer einstweiligen Anordnung gegenüber der Bundesregierung zwecks entsprechenden Verhaltens im Ministerrat als unzulässig beurteilt und stattdessen dem repressiven Rechtsschutz den Vorzug gegeben. Diese Entscheidung überzeugt aus den dargelegten Gründen nicht. Auch der Mitwirkungsakt der Bundesregierung im supranationalen Rechtssetzungsverfahren muß unter den Gesichtspunkten der effektiven Rechtsschutzgewähr der entsprechend präventiven verfassungsgerichtlichen Kontrolle unterstellt werden. Hier wird das BVerfG seine Position zu überprüfen haben. e) Wenn die EG-Regelung in der gegebenen verfassungswidrigen Form in Kraft treten sollte, stellt sich die Frage des repressiven Rechtsschutzes. Wie bereits gezeigt, kann es insoweit nicht bei der Solange Ii-Entscheidung des BVerfG bleiben, da diese geeignet ist, den nationalen Rechtsschutz im Übermaß einzuschränken oder gar vollends zu verdrängen. Da ein ausreichender gerichtlicher Rechtsschutz durch den EuGH nicht erwartet werden kann, muß das BVerfG insoweit die Tür zum eigenen Rechtsschutz (wieder) öffnen. Daß das BVerfG diese Notwendigkeit bereits zu erkennen im Begriff ist, ergibt sich gleichfalls aus seinem Beschluß vom 12.5.1989 157 . Denn wenn das BVerfG hier erklärt, daß es selbst angerufen werden könne, sofern vor dem EuGH „der vom Grundgesetz als unabdingbar gebotene Grundrechtsstandard nicht verwirklicht werden sollte", so bedeutet dies nichts anderes, als daß das BVerfG die Grenzen bzw. die Revisionsnotwendigkeit seiner Solange Ii-Entscheidung einzuräumen bereit ist. Offen ist lediglich die Frage, was das BVerfG mit der Formel vom „unabdingbar gebotenen Grundrechtsstandard" meint. Es spricht viel dafür, daß das BVerfG hiermit auf seine Abgrenzungen vor allem im Solange II-Beschluß hinweisen will. Dies bedeutete aber wiederum, daß das BVerfG nur dann bereit wäre, einer Grundrechtsklage stattzugeben, wenn „das vom Grundgesetz geforderte Ausmaß an Grundrechtsschutz/ auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts generell und offenkundig unterschritten" würde. Daß dies im Falle der EGTabakrichtlinien der Fall ist, wurde gezeigt. Die Frage bleibt jedoch, ob dieser Fall der EG-Tabakregelung nicht als bloßer Einzelfall klassifiziert würde, der dem Kriterium der „Generalität" nicht genügte. Indessen, eine solche Betrachtungsweise genügt, wie ebenfalls bereits gezeigt wurde, nicht. Die Offenkundigkeit des Grundrechtsverstoßes durch die EG-Tabakregelung ist unbestreitbar gegeben, die „Generalität" dieses Grundrechtsverstoßes beschränkt sich jedoch auf die Summe der Adressaten dieser Richtlinien, also auf die Erzeuger und Vertreiber von Tabakprodukten. Eine solche, rein adressatenmäßig angelegte bzw. rein quantitativ bemessene Betrachtungsweise reicht jedoch nicht aus. Abgesehen davon, daß kaum zu erwarten ist, daß auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts oder durch die is? 2 BvQ 3/89.
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Rechtsprechung des EuGH ein bestimmtes Grundrecht „generell" geleugnet oder abgelehnt würde, kann bis zu einer solchen, mehr oder weniger theoretischen Konstellation nicht abgewartet werden. Denn damit sähe sich der reale und effektive Grundrechtsschutz in sein buchstäbliches Gegenteil verkehrt bzw. könnten entsprechende Grundrechtsverstöße „ i m Einzelfall" jeweils ohne das Risiko der gerichtlichen Sanktion ausgelöst und vertreten werden. An die Stelle des Kriteriums der quantitativ bemessenen „Generalität" (der Adressaten) ist deshalb das Kriterium der Typizität der Grundrechtsverletzung zu setzen, wie im einzelnen bereits ausgeführt wurde 1 5 8 . Unter dem Aspekt einer entsprechend typischen und offenkundigen Grundrechtsverletzung erweist sich die EG-Tabakregelung als ebenso evident grundrechtswidrig wie definitiv rechtsschutzbedürftig. Denn wenn die Wirtschaftswerbung in der EG allgemein, sei es auch aus Gründen der Gesundheitspolitik, Restriktionen der hier vorgesehenen Art untersteht und unterworfen werden dürfte, so sähe sich die Wirtschaftswerbung im Ergebnis von jeder Form geschützter Meinungsfreiheit entblößt. Wenn den Produzenten oder Vertreibern bestimmter Wirtschaftsprodukte verbindlich aufgegeben werden dürfte, ihrer Werbung Aussagen beizufügen, die entweder nicht wahr oder im Tatsächlichen nicht beweisbar sind, so gäbe es in der Konsequenz eine werbliche oder werbende Meinungsfreiheit innerhalb der EG nicht mehr. Die EG-Tabakregelung repräsentiert damit, vor allem aus der Sicht des Grundrechts der Meinungsfreiheit, einen derart evidenten und typischen Fall der Grundrechtsverletzung, daß auch in ihrem (repräsentativ bedeutsamen oder akuten) „Einzelfall" der Rechtsschutz durch das BVerfG gewährt werden muß. Nachdem das BVerfG die Möglichkeit des präventiven Rechtsschutzes mit seinem Beschluß vom 12.5.1989 159 - zumindest für diesen „Einzelfall" ausgeschlossen hat, wird es für den Fall, daß die EG-Tabakrichtlinien in der derzeit projektierten Form in Kraft treten sollten, mit Sicherheit zu einer Entscheidung des BVerfG über die Vereinbarkeit dieser Richtlinien mit den nationalen Grundrechten des GG, vor allem mit Art. 5 I GG, kommen müssen. In diesem Sinne erweist sich die eingangs gestellte Prognose, daß auf die Solange Ii-Entscheidung mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Solange I i i Entscheidung des BVerfG folgen wird, als aller Voraussicht nach sehr begründet. 11. Ergebnisse
1. Obwohl teilweise erwartet wurde, daß mit der grundlegenden Entscheidung des BVerfG vom 22.10.1986 (sog. Solange-II-Entscheidung) das 158 159
Vgl. unter 7.b) c). 2 BvQ 3/89.
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Verhältnis von europäischem Gemeinschaftsrecht und nationalem Verfassungsrecht zumindest verfahrungsrechtlich eine abschließende Regelung gefunden habe, erweist sich, daß die hiesigen Konfliktfelder keineswegs abschließend bereinigt oder geklärt sind. Dies offenbaren jüngste Rechtsentwicklungen im europäischen Gemeinschaftsrecht in augenfälliger Weise, wobei vor allem auf die Vorhaben einer EG-Rundfunkrichtlinie und der EG-Richtlinien zur Beschränkung der Werbung für Tabakerzeugnisse hinzuweisen ist. Während die EG-Rundfunkrichtlinie vor allem bundesstaatliche Kompetenzprobleme aufwirft (Verletzung der Kulturhoheit der Länder), sind die EG-Tabakrichtlinien von außerordentlicher Grundrechtsproblematik. Diese Problematik ist für den Konflikt zwischen supranationalem und nationalem Grundrechtsstandard von symptomatischer Bedeutung. Die bisherigen Lösungsansätze für die Bewältigung solcher Grundrechtskonflikte reichen noch nicht aus. 2. Die EG-Tabakrichtlinien verfolgen das Ziel, zum Schutze der Gesundheit von Tabakkonsumenten die Presse- und Plakatwerbung für Tabakerzeugnisse an bestimmte, vom Hersteller oder Vertreiber jener Erzeugnisse selbst zu publizierende Warnungen zu binden. Nach dem der Richtlinie angefügten Textkatalog müssen in den jeweiligen nationalen Listen die folgenden Warnungen definitiv enthalten sein: (1) „Rauchen verursacht Krebs" und (2) „Rauchen verursacht Herzgefäßkrankheiten". Im Wege der Empfehlung können in jenen Listen u.a. die folgenden Warnungen mit aufgenommen werden: (1) „Rauchen führt zu tödlichen Krankheiten" und (2) "Rauchen ist tödlich". Obwohl auch das nationale Recht entsprechende Hinweispflichten kennt, wird mit diesen Regelungsvorschlägen des Gemeinschaftsrechts weit über das Maß des bisher Bekannten hinausgegriffen. Die den Mitgliedsstaaten der EG im Wege der Empfehlung überantworteten Hinweise zur (angeblichen) Tödlichkeit des Rauchens bauen im Tatsächlichen auf bisher nicht bewiesenen bzw. nicht beweisbaren Tatbeständen auf und verpflichten die Hersteller und Vertreiber von Tabakprodukten damit zu unwahren Aussagen. Das gleiche gilt für die verbindlich vorgeschriebenen Warnhinweise. Denn selbst wenn Rauchen die Gefahr von Krebs und Herzgefäßkrankheiten auslöst oder steigert, ist die Behauptung der definitiven (Mono-)Kausalität doch in dieser Form tatsächlich nicht beweisbar. Auch insoweit wird also eine wahrheitswidrige Aussage vorgeschrieben. 3. Das Recht der Wirtschaftswerbung untersteht aus nationaler Verfassungssicht dem Schutze der Grundrechte aus Art. 12 I (Gewerbefreiheit), 14 I (Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb) sowie dem Schutz der wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit, die entwe-
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der i n A r t . 12 1/14 I I G G oder i m Rahmen der allgemeinen H a n d l u n g s freiheit gemäß A r t . 2 I G G schutzmäßig v e r a n k e r t ist. Soweit Aussagen der W i r t s c h a f t s w e r b u n g auch M e i n u n g s i n h a l t e aufweisen, untersteht die W i r t s c h a f t s w e r b u n g auch dem G r u n d r e c h t der Meinungsfreiheit gemäß A r t . 5 I GG. D i e P f l i c h t zur Abgabe w a r n e n d e r Hinweise, w i e sie die E G - T a b a k r e g e l u n g vorschreibt oder empfiehlt, ist m i t diesen Grundrechten n i c h t vereinbar. D i e Grundrechte aus A r t . 12 I, 14 I, 2 1 G G w e r d e n d u r c h solche P f l i c h t e n i n u n v e r h ä l t n i s m ä ß i g e r F o r m beschränkt, o b w o h l auf gesetzgeberischer Seite entsprechende S c h r a n kenvorbehalte zur E i n s c h r ä n k u n g der W i r t s c h a f t s w e r b u n g offenstehen. Beschränkungen auch der Freiheit z u r W i r t s c h a f t s w e r b u n g müssen jedoch den Grundsatz der V e r h ä l t n i s m ä ß i g k e i t wahren, was hier n i c h t geschehen ist. Das gleiche g i l t u n t e r dem A s p e k t der G r u n d r e c h t s k o l l i sion. D e n n o b w o h l A r t . 2 I I 1 G G den Schutz der Gesundheit g e w ä h r l e i stet, k a n n sich ein Hoheitsträger doch zur Rechtfertigung der genannten Einschränkungen auf A r t . 2 I I 1 G G deshalb n i c h t berufen, w e i l d u r c h die V e r p f l i c h t u n g zu sogar u n w a h r e n Aussagen der - das Verfahren z u r Lösung v o n G r u n d r e c h t s k o l l i s i o n e n regulierende - Grundsatz der V e r hältnismäßigkeit verletzt w i r d . D a es sich bei den vorgeschriebenen oder empfohlenen W a r n h i n w e i s e n auch u m bestimmte Tatsachenbehauptungen handelt, w i r d des w e i t e r e n das G r u n d r e c h t der Meinungsfreiheit gemäß A r t . 5 I G G verletzt. D e n n dieses G r u n d r e c h t schützt n i c h t n u r die positive, sondern auch die negative Meinungsfreiheit. 4. K o m p e t e n z r e c h t l i c h ist die E G zu Regelungen auf dem Gebiet der Gesundheitspolitik p r i n z i p i e l l n i c h t befugt. Gesundheitspolitische Regelungsziele k ö n n e n n u r i m A n n e x zu Regelungen auf dem Gebiet der allgemeinen w i r t s c h a f t s r e c h t l i c h e n u n d w i r t s c h a f t s p o l i t i s c h e n Z u s t ä n digkeiten der E G m i t v e r f o l g t werden. D i e hiesigen Regelungen k n ü p f e n zwar an das (legitime) K o m p e t e n z t h e m a der W i r t s c h a f t s w e r b u n g an, überschreiten den Rahmen der A n n e x r e g e l u n g jedoch erheblich. Aus diesem G r u n d e sieht sich die E G - T a b a k r e g e l u n g k o m p e t e n z r e c h t l i c h d u r c h das Gemeinschaftsrecht n i c h t gedeckt. Dieser Kompetenzverstoß ist auch v o n g r u n d r e c h t l i c h e r Bedeutung, da n a c h der Rechtsprechung des B V e r f G auch Grundrechtseinschränkungen einer n i c h t n u r m a t e r i e l l - , sondern auch formell-verfassungsgemäßen Regelung bedürfen. Eine v o n n i c h t zuständigen Hoheitsträgern erlassene Regelung ist i n diesem Sinne f o r m e l l verfassungswidrig, was i n weiterer Konsequenz erneut zur Feststellung der materiellen Verfassungswidrigkeit der k o n kreten Einschränkungsregelung ( E G - T a b a k r i c h t l i n i e n ) f ü h r t . 5. Das Recht der Europäischen Gemeinschaft ist p r i n z i p i e l l n i c h t a m nationalen Verfassungsrecht, also auch n i c h t an den G r u n d r e c h t e n des
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GG, zu messen. Insoweit gilt der prinzipielle Vorbehalt des Art. 24 I GG in Verbindung mit der Zustimmungsgesetzgebung des Bundes zu den Gemeinschaftsverträgen. Art. 24 I GG ist andererseits „im Kontext der Gesamtverfassung" auszulegen und ermächtigt nicht zu Regelungen, die „die Grundstruktur der Verfassung, auf der ihre Identität beruht, ohne Verfassungsänderung, nämlich durch die Gesetzgebung der zwischenstaatlichen Einrichtung (sc. der EG) zu ändern" (BVerfG). Diese Identität der geltenden Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland darf vor allem nicht „durch Einbruch in die sie konstituierenden Strukturen" aufgehoben werden. „Ein unaufgebbares, zur Verfassungsstruktur des Grundgesetzes gehörendes Essentiale der geltenden Verfassung der Bundesrepublik Deutschland ist der Grundrechtsteil des Grundgesetzes. Ihn zu relativieren, gestattet Art. 24 GG nicht vorbehaltlos" (BVerfG). 6. Da das europäische Gemeinschaftsrecht als selbständiger Rechtskreis neben der nationalen Rechtsordnung steht und dieser gegenüber den prinzipiellen Geltungsvorrang besitzt, sind Regelungen des (sekundären) Gemeinschaftsrechts nur sehr bedingt an Vorbehalten des nationalen Verfassungsrechts zu messen. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Grundrechtsstandard des europäischen Gemeinschaftsrechts im wesentlichen mit dem des nationalen Verfassungsrechts übereinstimmt. Selbst wenn im Einzelfall zwischen nationalem und supranationalem Grundrechtsstandard gewisse Lücken bestehen, tritt nach der Rechtsprechung des BVerfG das nationale Verfassungsrecht und ebenso der nationale verfassungsgerichtliche Rechtsschutz zurück; letzteres jedenfalls insoweit, wie prinzipielle Rechtsschutzmöglichkeiten durch den EuGH eröffnet sind. Die Grenze dieses Vorrangs von supranationalem Grundrechtsstandard gegenüber nationalem Grundrechtsstandard sieht das BVerfG bei den vorstehend genannten Grundprinzipien sowie bei der Kontrolle der Frage, ob „das vom Grundgesetz geforderte Ausmaß an Grundrechtsschutz auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts generell und offenkundig unterschritten" wird. 7. Diese Kriterien der „Generalität" und der „Offenkundigkeit" einer Grundrechtsverletzung fordern die zumindest hypothetische Prüfung, ob eine bestimmte Regelung des europäischen Gemeinschaftsrechts dem nationalen Grundrechtsstandard entspricht. Dies gilt um so mehr dort, wo nationale Organe an der Rechtssetzung der EG mitwirken. Solche Mitwirkungsakte, vor allem im Ministerrat der EG, sind Ausübung nationaler Hoheitsgewalt und unterstehen damit ohne Vorbehalt der Bindung an das GG. Andererseits ist bei der Bewertung entsprechender Mitwirkungsakte die integrationspolitische Aufgabe, Rolle und Verantwortung der nationalen Hoheitsorgane zu berücksichtigen: Die natio-
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naie u n d supranationale Z u s t ä n d i g k e i t ist i m Falle des Rollen- u n d Rechtskonflikts k o m p r o m i ß m ä ß i g zusammenzuführen. 8. Der E u G H hat inzwischen eine recht gefestigte Rechtsprechung entfaltet, derzufolge auch materielle Grundrechtsgewährleistungen z u m defin i t i v e n , rechtsschutzmäßig gesicherten Bestand der E G gehören. I n diesem Sinne f o r m u l i e r t der E u G H , „daß die Grundrechte zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehören, die der Gerichtshof zu w a h r e n h a t " . Die Substanz dieser n i c h t k o d i f i z i e r t e n , sondern a l l e i n d u r c h Richterrecht u n d d a m i t n u r i n p r i n z i p i e l l e r Einzelfallregelung entfalteten Grundrechtsgewährleistungen entspricht i n v i e l f ä l t i g e r Weise dem nationalen Grundrechtsstandard des GG. Dies g i l t v o r a l l e m auch f ü r die g r u n d r e c h t l i c h e n Gewährleistungen der freien w i r t s c h a f t l i c h e n Betätigung, der Gewerbefreiheit u n d des Schutzes des Privateigentums. A u c h der Schutz der Meinungsfreiheit f ä l l t p r i n z i p i e l l i n den Rahmen der gewährleistenden G r u n d r e c h t s ] u d i k a t u r des E u G H . Andererseits ist dieser richterrechtliche Grundrechtsschutz n i c h t n u r auf seine p r i n z i pielle E i n z e l f a l l w i r k u n g begrenzt, sondern steht er auch u n t e r dem V o r behalt der begrenzten Z u s t ä n d i g k e i t e n der EG. Diese s i n d p r i n z i p i e l l w i r t s c h a f t s r e c h t l i c h u n d w i r t s c h a f t s p o l i t i s c h definiert; dies bedeutet, daß g r u n d r e c h t l i c h e G e w ä h r l e i s t u n g e n ü b e r diesen ö k o n o m i s c h e n Regelungsbereich hinaus p r i n z i p i e l l n u r akzessorischen Gewährleistungscharakter erlangen können. 9. Vergleicht m a n den n a t i o n a l e n G r u n d r e c h t s s t a n d a r d m i t dem supranationalen Grundrechtsstandard i m Falle der E G - T a b a k r i c h t l i n i e n , so offenbart sich insgesamt - v o r a l l e m aus der Sicht des Grundrechts der Meinungsfreiheit - ein wesentliches G r u n d r e c h t s d e f i z i t zu Lasten der Produzenten u n d Vertreiber v o n Tabakproduzenten. Dieses Schutzdefizit ist n i c h t n u r m a t e r i e l l - r e c h t l i c h , sondern auch verfahrensrechtlich i m Sinne eines effektiven Rechtsschutzes gegeben. Das D e f i z i t i n der Rechtsschutzgewähr sieht sich u m so m e h r b e k r ä f t i g t , als das B V e r f G i n seinem Beschluß v o m 12. 5.1989 den Erlaß einer einstweiligen A n o r d n u n g gegen die Bundesregierung h i n s i c h t l i c h deren M i t w i r k u n g s v e r h a l tens i m M i n i s t e r r a t als unzulässig b e u r t e i l t hat. Andererseits h a t das B V e r f G i n diesem Beschluß die L ü c k e n h a f t i g k e i t seiner bisherigen Rechtsprechung z u m gerichtlichen Rechtsschutz gespürt u n d die eigene Z u s t ä n d i g k e i t bzw. die eigene A n r u f b a r k e i t zumindest f ü r den F a l l anerkannt, daß eine A n r u f u n g des E u G H „ d e n v o m Grundgesetz als u n a b d i n g b a r gebotenen G r u n d r e c h t s s t a n d a r d n i c h t v e r w i r k l i c h e n " sollte. Dieser Lösungsansatz i n der Rechtsprechung des B V e r f G muß weiter ausgeführt u n d ausgefüllt werden. 10. N i c h t n u r aus der Rechtsschutzgarantie des A r t . 19 I V GG, sondern aus den G r u n d r e c h t e n auch insgesamt folgt das allgemeine P r i n z i p einer
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möglichst grundrechtsfreundlichen oder grundrechtseffektuierenden Verfahrensgestaltung. Des weiteren folgt aus dem GG die Pflicht aller grundrechts- bzw. Verfassungspflichtigen Hoheitsorgane, dem GG und seinen Wertentscheidungen überall dort „nach Möglichkeit nahe zu kommen", wo aus anderen Rechtsgründen die uneingeschränkte Einhaltung oder Erfüllung verfassungsrechtlicher Pflichten nicht realisierbar ist. Eine solche Konstellation kennzeichnet auch das Verhältnis von nationaler und supranationaler Rechtsordnung. Dies bedeutet, daß Hoheitsträger der Bundesrepublik Deutschland überall dort, wo sie an Rechtssetzungsverfahren der EG organschaftlich beteiligt sind, ungeachtet aller integrationspolitischen Bindungen verpflichtet bleiben, Wertentscheidungen des nationalen Grundrechtsstandards nach Möglichkeit zu wahren oder durchzusetzen. Diese Pflicht gilt nicht nur bei der nationalen Umsetzung von EG-Richtlinien, sondern auch für die Beteiligung am Rechtssetzungsverfahren innerhalb der EG (Mitwirkung der Bundesregierung an EG-Ver Ordnungen und EG-Richtlinien im Ministerrat). 11. Aus grundrechtlicher Sicht ist das Prinzip der grundrechtsfreundlichen und grundrechtseffektuierenden Verfahrensgestaltung und das Gebot des „Näherkommens zum GG" vor allem dahingehend zu konkretisieren, daß zumindest solche Grundrechtsverstöße im Geltungsbereich des GG keine Wirksamkeit erlangen dürfen, die - nach der Rechtsprechung des BVerfG - von „genereller" und „offenkundiger" Bedeutung sind. Das Kriterium der Offenkundigkeit entspricht dem der Evidenz eines Rechts Verstoßes. Das Kriterium der „Generalität" ist dagegen zu modifizieren. Es kommt nicht auf die quantitative Betrachtungsweise einer mehr oder weniger großen „Generalität" von betroffenen Grundrechtsadressaten, sondern auf die qualitative „Typizität" des jeweiligen Grundrechtsverstoßes an. Wenn ein Grundrechtsverstoß nicht nur evident, sondern in der Person eines einzelnen Grundrechtsträgers oder auch nur eines kleineren Kreises von Grundrechtsträgern „typisch" ist, dann sind die Voraussetzungen für die geltungsmäßige Maßgeblichkeit des nationalen Grundrechtsstandards erfüllt. 12. Der Fall der EG-Tabakrichtlinien repräsentiert einen solchen Fall ebenso evidenter wie typischer Grundrechtsverletzung. Aus diesem Grunde ist ein effektiver Rechtsschutz auch aus nationaler Sicht gefordert. Dieser Rechtsschutz kann ebenso auf der Verwaltungsebene wie auf der gerichtlichen Ebene realisierbar sein. Maßgebend ist das Prinzip des effektiven Rechtsschutzes. Ein entsprechend effektiver Rechtsschutz bedingt zunächst die auch gerichtlich überprüfbare Bindung der Bundesregierung bzw. ihrer Repräsentanten im Verfahren der Mitwirkung
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an der entsprechenden EG-Rechtssetzung (präventiver Rechtsschutz). Daneben sind Möglichkeiten des repressiven Rechtsschutzes zu eröffnen, die kompetentiell zwar zunächst vor dem EuGH zu verfolgen sind. Da dieser mit seiner Rechtsprechung aber keinen voll vergleichbaren Grundrechtsstandard gewährleisten kann (vor allem hinsichtlich des Grundrechts der Meinungsfreiheit), muß in einem Fall der vorliegenden Art auch das BVerfG mit dem Ziel angerufen werden können, die nationale Unanwendbarkeit einer Richtlinie von der Art der EG-Tabakrichtlinien festzustellen. Unter dem Aspekt einer entsprechend typischen und offenkundigen Grundrechtsverletzung erweist sich die EG-Tabakregelung als ebenso evident grundrechtswidrig wie definitiv rechtsschutzbedürftig. Denn wenn die Wirtschaftswerbung in der EG allgemein, sei es auch aus Gründen der Gesundheitspolitik, Restriktionen der hier vorgesehenen Art unterworfen werden dürfte, so sähe sich die Wirtschaftswerbung im Ergebnis von jeder Form geschützter Meinungsfreiheit entblößt. Wenn den Produzenten oder Vertreibern bestimmter Wirtschaftsprodukte verbindlich aufgegeben werden dürfte, ihrer Werbung Aussagen beizufügen, die entweder nicht wahr oder im Tatsächlichen nicht beweisbar sind, so existierte in der Konsequenz eine werbliche oder werbende Meinungsfreiheit innerhalb der EG nicht mehr.