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German Pages XII, 288 [293] Year 2020
Werner Vogd
Quantenphysik und Soziologie im Dialog Betrachtungen zu Zeit, Beobachtung und Verschränkung
Quantenphysik und Soziologie im Dialog
Werner Vogd
Quantenphysik und Soziologie im Dialog Betrachtungen zu Zeit, Beobachtung und Verschränkung
Werner Vogd LS für Soziologie Witten/Herdecke University Witten, Deutschland
ISBN 978-3-662-61856-1 ISBN 978-3-662-61857-8 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-61857-8 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Andreas Ruedinger Springer Spektrum ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany
Vorwort
»Das weitaus meiste von allem, was sich heute unter Menschen Gespräch nennt, wäre richtiger, in einem genauen Sinne, als Gerede zu bezeichnen. […] Die Hauptvoraussetzung zur Entstehung eines echten Gesprächs ist, daß jeder seinen Partner als diesen, als eben diesen Menschen meint. Ich werde […] dessen inne, daß er anders, wesenhaft anders ist als ich.« Martin Buber1
Der Dialog, von dem wir hier sprechen, ist eine grundlegend andere Form des Austauschs als die beiläufige Kommunikation (Small Talk), das Streitgespräch (Disput), das Unterhaltungsgespräch oder das Geschwafel. Es geht weder darum, Recht zu haben, noch wird das Ziel verfolgt, eine lockere soziale Bindung zu anderen herzustellen. Weder geht es – wie teilweise in der Poesie – um die Erbauung an gut klingenden Wortphrasen, noch um einen Diskurs, in dem die besseren Argumente siegen sollen. Der Dialog ist vielmehr eine Form des Gesprächs, das die Eigensinnigkeit der Denkweisen und Weisheit der Beteiligten zum Ausdruck bringen kann. Im Sinne von David Bohm2 ist der Dialog zunächst geprägt von einer Intensivierung der Gespräche. Hierdurch können auch die Figuren – seien es implizite Vorannahmen oder Wertungen –, welche das Denken und die Praxis der Gesprächspartner lenken, ins Bewusstsein gelangen, wodurch das Gespräch zugleich tiefer und für die Beteiligten auch auf einer emphatischen
1Buber 2Bohm
(2002, S. 282 f.). (2013).
V
VI Vorwort
Ebene nachvollziehbar wird. Haltungen werden sichtbar und damit reflexiv zugänglich. Wenn ein Dialog gelingt – was keineswegs selbstverständlich ist –, führt dies unter den Teilnehmern zu Einsichten, welche den jeweils eigenen Denk- und Handlungsspielraum erweitern. Denn Implizites kann im Dialog explizit werden. Schranken, Tabus und habitualisierte Formen des Denkens werden sichtbar und können entsprechend zur Disposition gestellt und überschritten werden. Ein Dialog erfordert aktives Zuhören. Nur so kann die notwendige Resonanz entstehen. Mit Wissenschaftlern in einen Dialog zu treten, erfordert entsprechend, sich vorzubereiten und zu versuchen, vorab in die Welten ihrer Forschung einzutreten. Im Falle der soziologischen Kommunikationstheorie ist mir dies nicht besonders schwer gefallen. Ich kannte meine Gesprächspartner schon vorher persönlich und viele ihrer Schriften sind mir vertraut. Schließlich arbeite ich selbst seit mehr als zwanzig Jahren zu Fragen der soziologischen Systemtheorie. Entsprechend fiel es mir leicht, herauszufinden, mit welchen Themen ich mit ihnen in einen Dialog treten kann – nämlich die Gebiete, welche sie am besten beherrschen, in denen sie als Wissenschaftler in besonderer Weise brillieren. Die Welt der Physiker hat sich mir nicht so leicht erschlossen. Die Naturwissenschaften sind mir zwar nicht vollkommen fremd. Ich habe vor mehr als dreißig Jahren ein Biologiestudium begonnen und meine Diplomarbeit damals im Bereich der Biophysik geschrieben, doch damit verstehe ich noch lange nicht die Quantenphysik, geschweige denn ihre vielen neueren Entwicklungen. Ich habe mich zwar immer wieder mit naturwissenschaftlichen Denkformen beschäftigt, denn die Faszination dafür, was an den Grenzen physikalischer Forschung passiert, ist bei mir stets wach geblieben. Doch dies hat zunächst noch nicht gereicht, um wirklich einen Dialog mit den Quantenphysikern zu wagen. Ich fühlte mich noch nicht vorbereitet. Deshalb habe ich mich zunächst intensiver in die Diskurse der Physik der 1920 Jahre eingearbeitet, um zu verstehen welche Fragen die Physiker damals hatten und auf welche Probleme die Quantenphysik die Antwort war. Ich habe zunächst die Originalschriften von Boltzmann, Bohr, Einstein, Heisenberg, Schrödinger und anderen Physikern jener Zeit gelesen, um mich von dort an die weiteren Entwicklungen der Quantentheorie heranzutasten. Ich verstand, warum die Quantentheorie nicht mehr als eine klassische physikalische Theorie gelten kann – nämlich weil sie einfordert, eine andere Vorstellung von dem zu entwickeln, was wir als Realität zu betrachten haben. In diesem Zusammenhang begann ich auch zu begreifen, warum gerade die großen Genies – allen voran Albert Einstein und Erwin
Vorwort VII
Schrödinger – die Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik nicht wirklich akzeptieren konnten. Ich begann zu lernen, wie Experimentalphysik, Mathematik und physikalische Theoriebildung in der Quantentheorie in einer Weise zusammenspielen, dass eine vollkommen kontraintuitive, in jedem Sinne dem Common Sense spottende Theorieanlage möglich wurde. Ebenso verstand ich, warum Physiker nicht umhin kommen, kreative, teils bizarr anmutend Wege zu versuchen, den hochabstrakten Formalismus der Quantentheorie wieder zu veranschaulichen, wohlwissend, dass Versuche, die Quantentheorie in der einen oder anderen Weise auf einer anschaulichen Ebene verstehen zu wollen, letztlich zum Scheitern verurteilt sind. Mit Carl Friedrich Weizsäcker und Anton Zeilinger sind mir zudem die informationstheoretischen Konsequenzen der Quantentheorie deutlich geworden. Wenn wir von Quanteninformation sprechen, ist Bestimmtes und Unbestimmtes immer zusammen zu denken. Insbesondere an dieser Stelle zeigten sich für mich erste Berührungspunkte zur soziologischen Systemtheorie. Denn diese beschreibt ja Kommunikation als Versuch von Systemen unter der Bedingung von Nichtwissen mit ihrer Welt zurecht zu kommen. All diese Suchbewegungen sind dann in mein Buch »Von der Physik zur Metaphysik – eine soziologische Rekonstruktion des Deutungsproblems der Quantentheorie« eingeflossen.3 Hiermit einigermaßen vorbereitet, habe ich Anton Zeilinger gefragt, ob ich für einige Zeit in seiner Arbeitsgruppe in Wien hospitieren dürfe, denn mich hat insbesondere die Verbindung von Quantentheorie und Informationstheorie interessiert, die dort in besonderem Maße gepflegt und ausgelotet wird. Ich bin Anton Zeilinger und seinen Mitarbeiter/innen außerordentlich dankbar, dass ich im Sommer 2017 an seiner Forschung teilhaben durfte. Soweit es mir als Nichtphysiker möglich war, habe ich versucht, mich in die aktuellen Veröffentlichungen einzuarbeiten, um mir dann auf dieser Basis die aktuellen Experimente und Studien erklären zu lassen. Erst als ich zumindest in Ansätzen verstanden habe, worum es dabei geht, begann ich die Interviewgespräche zu führen, die diesem Buch zugrunde liegen. Auf diese Weise – so hoffe ich zumindest – ist mir im Dialog mit den Physikern ein aktives Zuhören gelungen, sodass im Gespräch sowohl ihre Denkhaltungen zum Ausdruck kommen, als auch die Themen, welche für sie wirklich von Bedeutung sind, welche sie wirklich berühren. Die Lebendigkeit der Gespräche spricht meines Erachtens für sich. 3Vogd
(2014).
VIII Vorwort
Damit der Dialog – einschließlich der Möglichkeit des Verstehens – auch für den Leser zugänglich wird, war es notwendig, den Gesamtprozess meiner Forschung nachvollziehbar zu machen. Aus diesem Grunde konnte es nicht ausreichen, sich auf die Wiedergabe der Gespräche zu beschränken. Es musste eine für den gebildeten Laien einigermaßen nachvollziehbare Einführung in die soziologische Systemtheorie wie auch in die Quantentheorie geschrieben werden, durch die dem Leser die Sinnstruktur und zumindest in Ansätzen auch die Genese dieser Forschungsfelder nachvollziehbar wird. Ebenso war es notwendig, zunächst etwas systematischer in die Forschungsfelder der Dialogpartner einzuführen, denn nur auf dieser Basis können die Gespräche mit Gewinn gelesen werden. Mit dieser Vorbereitung fällt es beim Lesen leichter, nicht nur auf den Inhalt zu schauen, sondern auch auf die Form und die Performativität der Rede zu achten. Auf diese Weise kann sich unter der Oberfläche der Worte zugleich das implizite Wissen von Wissenschaftlern offenbaren, die sich mehr als dreißig, manchmal mehr als fünfzig Jahre mit einem Thema beschäftigt haben und dabei wie kaum ein anderer in die Tiefen (und Abgründe) des von ihnen beforschten Gegenstandes eingedrungen sind. Gerade deshalb ist es aufschlussreich zu schauen, wie sie mit kritischen Punkten umgehen. An welcher Stelle zögern sie? Wie werden unbeantwortbare Fragen umschifft? Welche Metaphern werden verwendet und welche Bilder können von ihnen nicht akzeptiert werden? Welche Dinge werden epistemisch in der Schwebe gehalten? An welcher Stelle werden Paradoxien akzeptiert? All dies gibt Aufschlüsse darüber, wie sich in langjähriger Auseinandersetzung mit dem Gegenstand, der Beteiligung an hunderten Konferenzen und tausenden von Diskussionen eine bestimmte Konfiguration des Wissens ausgebildet hat. Denn gerade dies zeigt sich nicht nur an dem, was formuliert wird, sondern gerade auch daran, wie es gesagt wird. Der Prozess, der Modus Operandi beginnt sich hier unweigerlich mit dem, was als Wirklichkeit erscheint, zu verweben. Die Grenzen zwischen Ontologie und Epistemologie gehen ineinander über und hierdurch entsteht ein Bild, das mehr darstellt als die Summe seiner Teile. Auch der Dialog erscheint damit nicht so sehr als eine Interaktion zwischen Teilnehmern mit vorgefertigten Identitäten und Auffassungen, sondern vielmehr als ein Prozess, – eine Intra-Aktion – in dem (bzw. der) etwas Neues entsteht. Karen Barads Neologismus intra-action bedeutet die gegenseitige Konstitution von verschränkten Agenten. Im Gegensatz zur üblichen ›Interaktion‹, die davon ausgeht, dass es getrennte, individuelle Agenten gibt, die der Interaktion vorausgehen, erkennt der Begriff der Intra-aktion an, dass die dem Beobachter erscheinenden Agenten der dialogischen Beziehung
Vorwort IX
nicht vorausgehen, sondern erst durch sie entstehen und entsprechend nicht in einem absoluten Sinne voneinander unterscheidbar sind. Sie sind nur in Hinblick auf den Ort ihrer gegenseitigen Verflechtung unterschiedlich; existieren dabei jedoch nicht als einzelne, isolierbare Elemente.4 Sie stehen, so Barad, in einer relationalen Beziehung zueinander. Bereits an dieser Stelle scheinen Homologien zwischen der Quantentheorie und der soziologischen Systemtheorie auf. In der Beziehung zwischen dem Ganzen und seinen Teilen stellt sich die Frage, was zuerst da war, die Henne oder das Ei, die Relation oder die Teile, welche die Relation bilden. Schon hier ließe sich jedoch auch fragen, ob nicht vorschnell die Sphäre der Physik mit der des Sozialen vermischt wird? An welcher Stelle sind Übertragungen der jeweiligen Bilder überhaupt statthaft? Kann und darf im Bereich des Sozialen sinnvollerweise von Verschränkung gesprochen werden, ohne einer falschen Metaphorik aufzusitzen? Und umgekehrt: Wie verhält es sich in der Physik mit der Bedeutung (den komplexeren Aggregaten der Konstellation von Wissen und Nicht-Wissen), die ja auch physikalisch verkörpert zu sehen sind? Auch dies sind Fragen, die mit dem hier dokumentierten Austausch umkreist werden. Ich danke den beteiligten Dialogpartnern hiermit nochmals ausdrücklich für die Bereitschaft zum Gespräch sowie für die Erlaubnis, das vorliegende Ergebnis zu publizieren. Letztendlich wird dann erst der Leser beantworten können, ob das Experiment gelungen ist, die Quantentheorie und die soziologische Kommunikationstheorie in einen Dialog zu bringen. Von mir selbst kann ich nur sagen, dass der Austausch mir sehr viel Freude bereitet hat. Darüber hinaus gebührt Dank Arianna Borrelli, die mich als Physikerin und Expertin für Wissenschaftsgeschichte beraten hat, sowie auch Dank an Raphael Moreno für die kritische Durchsicht des Manuskripts. Berlin im Januar 2020
4»The
Werner Vogd
notion of intra-action is a key element of my agential realist framework. The neologism “intraaction” signifies the mutal constitution of entangled agencies. That is, in contrast to the usual “interaction,” which assumes that there are separate individual agencies that precede their interaction, the notion of intra-action recognizes that distinct agencies do not precede, but rather emerge through, their intra-action. It is important to note that the “distinct” agencies are only distinct in a relational, not an absolute, sense, that is, agencies are only distinct in relation to their mutual entanglement; they don’t exist as individual elements« (Barad 2007, S. 33).
Inhaltsverzeichnis
Einführung 1 Die soziologische Systemtheorie 10 Die Quantenphysik 39 Der Beobachter in der soziologischen Systemtheorie 77 Unterscheiden, Bezeichnen und konditionierte Koproduktion 77 Gespräch mit Dirk Baecker 88 Der Beobachter in der Quantentheorie 105 Es gibt keine absoluten Fakten 105 Gespräch mit Časlav Brukner 117 Die Zeit in der soziologischen Systemtheorie 127 Zeit als Resultat der Operationen psychischer und sozialer Systeme 127 Gespräch mit Armin Nassehi 138 Die Zeit in der Quantentheorie 155 Die Schrödinger-Gleichung und der Zeitpfeil 155 Gespräch mit Marcus Huber 166 Die Verschränkung in der Quantentheorie 179 Korrelationen werden beobachtet – nicht mehr und nicht weniger 179 Gespräch mit Rupert Ursin 187
XI
XII Inhaltsverzeichnis
Verschränkung in der soziologischen Systemtheorie 199 Grenzen des Systems und konditionierte Koproduktion: Lassen sich Systemgrenzen überschreiten? 200 Gespräch mit Peter Fuchs 209 Supertheorien im Dialog – und jetzt? 245 Anstelle eines Nachworts 273 Literatur 279
Einführung
»Jedes Tun ist Erkennen, und jedes Erkennen ist Tun.« H. R. Maturana und F. J. Varela1
Die Quantentheorie ist faszinierend. Viele ihrer Vorhersagen über das Verhalten der von ihnen beschriebenen physikalischen Systeme spotten dem gesunden Menschenverstand. Ihr mathematischer Formalismus erschließt sich dem Laien nicht ohne weiteres. Matrizenrechnung und der Umgang mit imaginären Zahlen gehören zur höheren Mathematik und ohne ein längeres, intensives Studium sind nur wenigen hochbegabten Menschen die Implikationen der quantenmechanischen Gleichungen unmittelbar einsichtig. Auch über die Interpretation und Deutung des quantenmechanischen Formalismus sind sich die Physiker selbst nach hundert Jahren immer noch nicht so recht einig. Als in den 1970er Jahren einige der grotesken Vorhersagen der Quantentheorie ihre Bestätigung im Experiment fanden, entstand nicht nur bei einigen philosophisch geneigten Physikern die Hoffnung, zu einer ganzheitlichen Welterklärung zu gelangen, die auch das menschliche Bewusstsein einschließt und zudem spirituelle Bedürfnisse nährt – man denke etwa an Fritjof Capras »Tao der Physik« und Carl Friedrich von Weizsäckers »Einheit der Natur«.2 Doch knapp ein halbes Jahrhundert später erscheint die Lage unübersichtlicher. Die Experimente zur Quantenphysik sind elaborierter, die 1Maturana 2Capra
und Varela (1987, S. 32). (2000); v. Weizsäcker (1971).
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Vogd, Quantenphysik und Soziologie im Dialog, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61857-8_1
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2 W. Vogd
gegenstandstheoretischen Zugänge ausgefeilter geworden, doch je mehr man weiß, desto mehr scheint eine einfache, globale Welterklärung in die Ferne zu rücken. Dem Rätsel des phänomenalen Bewusstseins scheint man auch mit den Mitteln der Physik nicht näher zu kommen – auch wenn manche Autoren vorlaut anderes bekunden mögen.3 Vielmehr erscheint die physikalische Welt heute noch bizarrer und unverständlicher als man in seinen kühnsten Träumen geglaubt hat. Anfang der 1980er Jahre sind unterschiedliche kybernetische Ansätze zur Erforschung der Phänomene der Selbstorganisation prominent geworden. Auch hiermit verband sich die Hoffnung, unsere Welt in einer umfassenderen Weise zu verstehen – man denke an Frederic Vesters »Neuland des Denkens« und Erich Jantschs »Selbstorganisation des Universums«.4 In dieser Zeit wurde auch von Niklas Luhmann eine soziologische Theorie der Kommunikation ausgearbeitet, die auf dem Paradigma der Selbstorganisation beruht.5 Die Quantentheorie und die soziologische Kommunikationstheorie haben auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun. Sie haben unterschiedliche Gegenstände (physikalische gegenüber sozialen Systemen) und entstammen einer anderen Wissenschaftstradition (die harten Natur- gegenüber den weichen Sozialwissenschaften). Warum also sollten wir beide miteinander vergleichen oder in einen Dialog bringen? Es erscheint unsinnig, die Soziologie physikalisch erklären zu wollen (etwa indem bestimmte Elemente des mathematischen Formalismus der Quantentheorie übertragen werden) oder gar die physikalische Wirklichkeit als Ergebnis menschlicher Kommunikation herleiten zu wollen. Aus guten Gründen bescheidet sich eine Wissenschaftlerin auf ihren jeweils konkreten Gegenstandsbereich. Alles andere wäre heutzutage Anmaßung. Wer beansprucht, alles erklären zu können, bezeugt nur, dass er nicht wirklich etwas von den Problemen versteht, mit denen sich die jeweiligen Fachwissenschaften herumschlagen. Der Anlass, der uns zu diesem Dialog treibt, ist ein anderer. Es ist die Vermutung, dass beide Theorieanlagen aus Gründen, die noch genauer zu erörtern sind, mit ähnlichen Bezugsproblemen zu tun haben. Die
3Siehe an der Schnittstelle zur Esoterik etwa einige Bücher von Thomas Görnitz, die auch das eib-Seele-Problem behandeln, jedoch an entscheidender Stelle nur Spekulationen vorlegen können (s. L etwa Görnitz 1999). 4Vester (1984); Jantsch (1982). 5So dann die »Sozialen Systeme« als Grundlegung einer neuen, auf dem Prinzip der Autopoiesis aufbauenden soziologischen Systemtheorie (Luhmann 1984).
Einführung 3
Quantentheorie und die soziologische Kommunikationstheorie stoßen auf das Problem der Komplexität, also auf die Aufgabe Nichtwissen selbst als inhärenten Bestandteil der Theoriebildung zu begreifen. Beide begegnen hiermit einhergehend der Beobachterproblematik und damit verbunden der Frage, was eigentlich Information ist. Bereits Niklas Luhmann hat in seiner Abhandlung »Die Wissenschaft der Gesellschaft« darüber nachgedacht, ob nicht an der Spitze einer hinreichend elaborierten Forschung und Theoriebildung unabhängig von der Disziplin ähnliche epistemische Problemstellungen auftreten könnten.6 Dies würde allein schon dadurch geschehen, dass ab einem bestimmten Grad der Theorieentwicklung nicht nur der Gegenstand der Beschreibung, sondern auch der Prozess der Beschreibung – also die Beobachtung – seinerseits in der Theoriebildung thematisiert werden müsse. Luhmann bezeichnet Theorieanlagen, in denen dies geschieht, als Supertheorien. Seit Werner Heisenberg beschreibt die Quantentheorie ihren Gegenstand als beobachterabhängig, d. h. nicht unabhängig vom Messsystem. Zugleich zeigt sie mit John v. Neumann, dass der Beobachter, etwa die Messapparaturen und die Sinnesorgane des Forschers, selbst wiederum quantentheoretisch zu beschreiben ist. Der Beobachter erscheint damit zwar forschungspraktisch, jedoch nicht mehr prinzipiell als eine Entität, die außerhalb der zu untersuchenden Prozesse steht.7 Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela formulieren in ihrer Theorie der Autopoiesis, wie sich biologische Organismen als Prozessstrukturen über die strukturelle Koppelung neuronaler Systeme hinweg selbst als Handelnde und Erkennende hervorbringen, die sich ab einer gewissen Komplexitätsstufe (so wir Menschen als biologische Organismen) selbst beschreiben können. Niklas Luhmann erklärt in seiner Theorie der Gesellschaft, wie die soziologische Beschreibung eben dieser Gesellschaft als Kommunikation aus der Gesellschaft erwächst und wieder in sie eintritt. In unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen wird damit die Frage des Beobachters virulent, denn Forschungsprozess und Gegenstand beginnen sich selbstreferenziell auf sich zurückzuwenden. Sei es in der Physik, den Kognitionswissenschaften oder der Soziologie – Supertheorien sind in verschiedenen wissenschaftlichen Feldern nicht zuletzt aus empirischen Gründen entstanden, da bestimmte beobachtbare
6Luhmann 7Vgl.
(1998a, S. 389 f.). Heisenberg (1927) und Neumann (1932).
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Phänomene nur auf diese Weise aufgeschlossen werden können. Die hiermit verbundene Beobachterproblematik bringt jedoch nolens volens Aporien oder Paradoxien mit sich. Denn für den Einbau von Selbstreferenz in die Theorie ist nämlich unweigerlich der Preis eines epistemischen und ontologischen »Gerrymandering« zu zahlen.8 Das Kunstwort Gerrymandering bezeichnet in der Politikwissenschaft die Manipulation von Wahlkreisgrenzen, um die Erfolgsaussichten der eigenen Partei zu maximieren. Homolog hierzu scheinen sich in den benannten Wissenschaften jetzt auch in Hinblick auf die Fragen nach dem ›Was ist?‹ (Ontologie) und dem ›Was können wir wissen?‹ (Epistemologie) die Grenzen zu verschieben, um dann jeweils ein anderes Ergebnis zu erhalten, je nachdem wie die Frage gestellt ist. Alte wissenschaftsphilosophische Kampfbegriffe wie Realismus, Positivismus, Subjektivismus, Solipsismus, Dualismus oder Idealismus führen nicht mehr weiter, da wir bei den Phänomenen, welche Supertheorien beschreiben, unweigerlich den sicheren Boden eineindeutiger epistemischer und ontologischer Verortung verlassen müssen. Nur wenn man in der Lage ist, zwischen verschiedenen Positionen zu wechseln, kann man sich dem Gegenstand nähern, wohl wissend, dass man in der Falle ist, wenn man eine Perspektive verabsolutiert. Man kann nicht mehr – wie im Objektivismus – von einer festen Grenze zwischen Beobachter und Beobachtetem ausgehen, da beide Seiten nun in einer nicht-trivialen rekursiven Beziehung miteinander verwoben sind. Gleichzeitig wäre es jedoch unsinnig – entsprechend der Auffassung des Subjektivismus – anzunehmen, dass es allein im Beobachter liege, was er beobachte. Wenngleich im konkreten Falle immer etwas beobachtet wird und pragmatisch in der Alltagssprache unweigerlich von Gegenstand und Beobachtung gesprochen werden muss, sieht sich eine komplexere Beschreibung also gezwungen, die Orte epistemischer Eindeutigkeit (also etwa, dass die Erscheinung des Objektes sich allein in den intrinsischen Eigenschaften des Beobachteten gründe) wieder zu verlassen, um ein vollständigeres Bild zu erlangen. In der Quantentheorie, wo wir gezwungen sind, mit den klassischen Begriffen aus unserer Alltagssprache nicht-klassische Phänomene zu beschreiben, wird der Zwang zur Einbeziehung inkommensurabler Perspektiven etwa mit dem von Niels Bohr formulierten Komplementaritätsprinzip deutlich: Zwei methodologisch verschiedene Beobachtungen sowie die hiermit einhergehenden Beschreibungen eines Phänomens
8Woolgar
und Pawluch (1985).
Einführung 5
schließen einander aus – eine Welle kann kein Teilchen sein; Ort und Impuls können nicht gleichzeitig bestimmt werden, gehören aber dennoch zusammen. Bohr selbst hat die erkenntnistheoretische Bredouille mit folgenden Worten reflektiert: »Im Kopenhagener Institut, wo in jenen Jahren eine Reihe junger Physiker aus verschiedenen Ländern zu Diskussionen zusammenkamen, pflegten wir uns in unseren Nöten oft mit Scherzen zu trösten, unter denen das alte Sprichwort von den zweierlei Wahrheiten beliebt war. Zu der einen Art Wahrheit gehören so einfache und klare Feststellungen, daß die Behauptung des Gegenteils offensichtlich nicht verteidigt werden könnte. Die andere Art, die sogenannten ›tiefen Wahrheiten‹, sind dagegen Behauptungen, deren Gegenteil auch tiefe Wahrheit enthält.«9
Homolog hierzu erfährt auch in der allgemeinen Systemtheorie die Trennung von Subjekt und Objekt eine Relativierung. Wenn etwa davon ausgegangen wird, dass ein System seine Selbst- und Weltverhältnisse selbst konstruiert, werden damit Begriffe wie Objekt und Realität nämlich keineswegs obsolet. »Man kann im Gebrauch von Unterscheidungen wie Idee/ Realität, Subjekt/Objekt oder Zeichen/Bezeichnetes nicht die eine Seite der Unterscheidung aufgeben« schreibt Niklas Luhmann, um in Anlehnung an Husserls ›Phänomenologie‹ zu formulieren: »Es gibt kein objektloses Subjekt, keine Idee ohne Bezug auf Realität, keinen referenzlosen Zeichengebrauch.«10 Zugleich gilt jedoch weiterhin, dass in Hinblick auf Wahrnehmung und Realitätsbehauptungen nur auf der Ebene der Reflexion, nicht jedoch im Prozess der unmittelbaren Beobachtung zwischen »Illusion und Realität« und entsprechend auch nicht zwischen »realer Realität und imaginärer Realität« unterschieden werden kann.11 Auch in den Kognitionswissenschaften begegnen wir einer Selbstreferenz, die epistemische und ontologische Gewissheiten ins Wanken bringt. So formulieren Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela in ihrer Theorie der Autopoiesis, wie sich biologische Organismen als Prozessstrukturen über die strukturelle Koppelung neuronaler Systeme selbst als Handelnde und damit zugleich als Erkennende hervorbringen. Auf diese
9Bohr
(1964, S. 66). (1996, S. 13 f.). 11Luhmann (1996, S. 111). 10Luhmann
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Weise wird auch hier eine Sicht entwickelt, »die das Erkennen nicht als eine Repräsentation der ›Welt da draußen‹ versteht, sondern als ein andauerndes Hervorbringen einer Welt durch den Prozeß des Lebens selbst.«12 Wenn wir nämlich, »um das Instrument einer Analyse analysieren zu können, eben dasselbe Instrument benutzen müssen, so bereitet uns die dabei entstehende Zirkularität ein schwindelerregendes Gefühl. Es ist, als verlangten wir, dass das Auge sich selbst sieht.«13 Selbstreferenz: Was ist Subjekt, was ist Objekt? Sei es in der Quantentheorie, der soziologischen Systemtheorie oder dem neurobiologischen Konstruktivismus, die Begriffe „Subjekt“ und „Objekt“ beginnen aufgrund von Selbstreferenz in ihrer grundlagentheoretischen Schärfe zu verschwimmen. Nur praktisch, das heißt in einer jeweiligen Beobachtungskonstellation, scheint klar, wer Beobachter und was Beobachtetes ist, doch der hiermit einhergehende Schnitt resultiert aus einer konkreten Praxis des Beobachtens und ist nicht mehr prinzipieller Natur. Aus einem anderen Blickwinkel müssen Beobachter und Beobachtetes ihrerseits als eine Einheit erscheinen, nicht mehr als etwas Getrenntes. Es gibt keine paradoxiefreie Gesamtbeschreibung. Wir begegnen konditionierter Koproduktion. Das eine ist nicht ohne das andere zu haben, oder umgekehrt: dekontextualisiert gibt es weder Subjekte noch Objekte. Die Beobachtung selbst ist nur als Einheit der Differenz von Unterscheidung und Bezeichnung zu haben, nur als konkrete, ihrerseits situierte Operation, die Gegenstand und Beobachtetes als Differenz zur Einheit bringt. Der Vergleich zwischen unterschiedlichen wissenschaftlichen Fachdisziplinen lohnt sich allein schon im Hinblick auf die Frage, wie die jeweils anderen mit solchen erkenntnistheoretischen Problemlagen umgehen. Hierbei zeigen sich schnell markante Unterschiede. Die Physik kann sich sowohl der Mathematik als auch des Experiments bedienen. Letzteres gestattet es, ihre Gegenstände in reproduzierbarer Weise zu präparieren, sodass sich innerhalb von Experimentalsystemen recht eindeutige Antworten auf die gestellten Fragen erhalten lassen (z. B. kann man Photonen mittels eines raffinierten Versuchsaufbaus verschränken, um dann zu schauen, was mit den unterschiedlichen Detektoren geschieht). Die Mathematik ermöglicht hohe innere Konsistenz in der Modellbildung – sofern Quantenzustände einmal mathematisch formuliert sind,
12Maturana 13Maturana
und Varela (1987, S. 7). und Varela (1987, S. 29).
Einführung 7
lässt sich auch ein Modell darüber bilden, was in der Interaktion passiert. Diese Möglichkeit, auf solch unterschiedlichen Wegen zu Erkenntnissen zu gelangen, erlaubt der Physik ein flexibles Wechselspiel zwischen Experiment, mathematischer Modellierung und physikalisch-konzeptionellem Denken. Und ebendieses Wechselspiel sichert die gewonnenen Erkenntnisse ab und legt somit überhaupt erst das Fundament für weitreichendere Deutungsversuche: Gerade weil die Quantentheorie auf der Ebene des mathematischen Formalismus (die ›Theoriesyntax‹) präzise formulierbar ist und die in Experimentalsystemen produzierten Daten ein hinreichend stabiles Maß an Korrelationen generieren, kann sie sich in möglichen Anschauungen und Deutungen (die ›Theoriesemantik‹) eine metaphysische Vielfalt erlauben, die recht bizarre Weltmodelle einschließt. Man kann dabei mit David Bohm von einem holistischen, jedoch zugleich deterministischen Universum ausgehen oder mit Hugh Everett unsere Welt für eine unter einer Vielzahl anderer Paralleluniversen halten. Ebenso lässt sich aber mit John A. Wheeler (1990) annehmen, dass Information der Grundbaustein unserer Wirklichkeit ist – es gilt dann: »It from Bit«.14 Welchen ontologischen oder epistemischen Standpunkt die Physiker auch einnehmen mögen – und selbst wenn sie sich diesbezüglich nicht festlegen wollen –, sie können auf die Verbindung zwischen der mathematischen Formulierung der Quantentheorie und den Daten aus den entsprechend präparierten Experimentalversuchen zurückgreifen, so dass sie zumindest hier hinreichend Halt finden. Anders ist die Lage in der Soziologie. Bereits einfache soziale Systeme stellen eine Überlagerung vielfältiger, unkontrollierbarer Bedingungen und Kontexte dar. Anders als die Quantensysteme der Experimentalphysik lassen sich elementare soziale Konstellationen entsprechend nicht als ›reine Zustände‹ präparieren. Die Verbindung zwischen dem Datenmaterial, welches aus empirischen Erhebungen gewonnen wird, und der soziologischen Theoriebildung ist entsprechend nur in Form einer losen Kopplung möglich. In der Folge haben die Theoriediskurse der Soziologie im Vergleich zu jenen in der Physik zwar ein recht hohes erkenntnistheoretisches Reflexionsniveau erreicht, auf dem unter anderem auch diese Problematik integriert wird. Doch diese hohe Sensibilität in Hinblick auf erkenntnistheoretische Fallstricke und die Gefahren einer vorschnellen
14Wheeler (1990). Siehe zur ausführlicheren Beschreibung der unterschiedlichen konzeptionellen Deutungen der Quantentheorie Vogd (2014).
8 W. Vogd
Essenzialisierung sozialer Entitäten fließt üblicherweise noch nicht so recht in die gegenstandsbezogene Theoriebildung ein. Vielmehr werden üblicherweise im Sinne eines »halbierten Konstruktivismus«15 Akteuren, Subjekten, Gruppen, Sozialstrukturen, Systemen etc. allein schon aus forschungspraktischen Gründen intrinsische Eigenschaften zugesprochen, ohne jedoch dabei dem relationalen, systemischen und beobachterabhängigen Charakter dieser Prozesse gerecht werden zu können. Soziale und psychische Gegenstände lassen sich nicht trennscharf präparieren. Sie sind immer schon vielfältig ineinander verwickelt und zudem durch die jeweils individuellen Geschichten ihrer Interaktionen geprägt. Im Vergleich zur Physik fällt es der Soziologie daher viel schwerer, in konsistenter Weise ihren Gegenstand zu konstituieren. Entsprechend gilt mit Heinz von Foerster: »Hard sciences have soft problems and soft sciences have hard problems.«16 Supertheorien im Gespräch Ein Dialog zwischen Quantentheorie und soziologischer Theorie ist daher vielversprechend. Erstere ist nicht nur theoretisch, sondern auch im Hinblick auf das Design ihrer Experimentalsysteme17 in der Lage, den ontologischen Charakter ihrer Gegenstände einzuklammern – etwa in der produktiven forschungsleitenden Annahme, dass Teilchen nicht existieren, bevor sie gemessen werden (auf diese Weise gelang dann auch Werner Heisenberg der entscheidende Durchbruch von der klassischen Physik zur Quantenmechanik, nämlich indem er bereit war, konzeptionell auf die Vorstellung der Teilchenbahn zu verzichten). Demgegenüber sind in der Soziologie die erkenntnistheoretischen Problematiken von Selbstreferenzialität viel konsequenter durchdacht und aufgearbeitet worden.18 Die Heterogenität physikalischer und soziologischer Theoriebildung beachtend, kann und darf ein solcher Dialog jedoch nicht im abstrakten Raum geführt werden. Er bedarf der Rückbindung an eine jeweils konkrete epistemische Gemeinschaft, in der ein Forschungsparadigma mit einer gewissen Kohärenz ausgelotet sowie auch in Bezug auf epistemische Fragen reflektiert wird. Zudem bedarf es einer Form, wie diese Gemeinschaften in den Dialog treten können – gegenseitiges Interesse und Bereitschaft zu interdisziplinärem Denken vorausgesetzt. 15Hirschauer
(2003, S. 103). von Foerster (1994, S. 337). 17Siehe zur raffinierten Epistemologie von Experimentalsystemen auch Rheinberger (2006). 18Siehe insbesondere Luhmann (1998a), aber auch Latour (2014). 16Siehe
Einführung 9
Für die Soziologie bietet sich für diesen Dialog insbesondere die soziologische Systemtheorie im Anschluss an Luhmann an, da gerade hier die erkenntnistheoretischen Konsequenzen von Supertheorien explizit ausgearbeitet worden sind.19 Zudem besteht mit Blick auf entsprechende Publikationen, Diskurse in Fachzeitschriften und Vertreter dieses Paradigmas, welche den Theoriediskurs weiter vorantreiben,20 eine hinreichend große wissenschaftliche Gemeinschaft. Für die Physik wurde für den in diesem Buch angestrebten Dialog die Diskursgemeinschaft um Anton Zeilingers Gruppe ›Quantum Information and Foundations of Physics‹ ausgewählt. Anton Zeilinger hat eine informationstheoretische Deutung der Quantentheorie vorgelegt, mit der die Beobachterproblematik in besonderer Weise virulent wird21 – Information, also das was gewusst werden kann, scheint zunächst untrennbar mit einem Beobachter verbunden, für den das Wissen eine Bedeutung hat. In Zeilingers Arbeiten steht jedoch weiterhin die Rückbindung an Experimentalsysteme im Vordergrund – also die Frage, wie auf Basis des Informationsparadigmas intelligente Experimente entwickelt werden können, um dann auf diesem Wege Möglichkeiten einer empirischen Metaphysik auszuloten. Die alten philosophischen Fragen ›Was ist Realität‹, ›Was ist Zeit?‹, ›Was können wir wissen?‹, ›Was ist Beobachten?‹, ›Wie verhält es sich mit der Frage der Kausalität?‹ stellen sich dabei also nicht nur abstrakt, sondern in sehr konkreter Form. Der Autor hat im Juni 2017 für zwei Wochen in der Arbeitsgruppe Zeilinger hospitiert und Interviewgespräche geführt, die einen wesentlichen Teil dieses Buches ausmachen. Der Dialog wird anhand ausgewählter Problemfelder und Themen geführt, welche die Begegnung strukturieren: 1. Das Problem des Beobachters, nicht zuletzt die Frage, wie Quantenphysiker und Systemtheoretiker in redlicher Form von dem Beobachter sprechen können. Dies kulminiert nicht zuletzt in der Frage, ob es den Beobachter in einem ontologischen Sinne wirklich gibt. 2. Die Frage der Zeit, etwa wie der Zeitpfeil in einer Welt ins Spiel kommt, deren theoretische Beschreibung zunächst keine präferierte Zeitrichtung kennt. So lässt sich beispielsweise aus guten Gründen fragen, 19Siehe bereits die Monografie »Soziale Systeme« (Luhmann 1984), aber besonders die Monografie »Wissenschaft der Gesellschaft« (Luhmann 1998a). 20Man denke hier unter anderen an Dirk Baecker, Peter Fuchs, Elena Esposito und Armin Nassehi. 21Siehe etwa Zeilinger (1999b).
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ob die Zeit aus systemtheoretischer Perspektive nicht als ein Artefakt von Beobachtungsoperationen zu betrachten ist, oder zumindest davon ausgegangen werden muss, dass sich nur systemrelativ von Zeit sprechen lässt. 3. Das Problem der Verschränkung, also der Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit der Verbindung von Teilchen bzw. Systemen über Raum und Zeit hinweg. Gerade hier begegnen wir in besonderer Weise den Grenzen der Alltagssprache, in der wir die Modelle und Vorstellungen über unsere Welt formulieren. Der Theoriedialog beginnt zunächst mit Einführungen in die Grundzüge der soziologischen Systemtheorie und der Quantentheorie, wofür bei letzterer ausführlicher auf einige Experimente eingegangen wird, die auch im Umfeld der Arbeitsgruppe von Anton Zeilinger durchgeführt werden. In den darauffolgenden Kapiteln werden zu den benannten Problemfeldern jeweils kurze Erläuterungen aus der fachtheoretischen Perspektive der Physik und der Soziologie gegeben. Diese münden in Gespräche des Autors mit Quantenphysikern und Systemtheoretikern, in denen die zentralen Fragen ausführlich erläutert werden. Im letzten Kapitel werden wir die Chancen dieses Dialogprojektes erneut reflektieren. Verbindungen und gute Fragen werden aufgezeigt, ebenso wird auf Kurzschlüsse und auf schlechte Antworten hingewiesen.
Die soziologische Systemtheorie »Stellen Sie sich einen Baum und einen Mann mit einer Axt vor. Wir beobachten, daß die Axt durch die Luft saust und bestimmte Arten von Einschnitten in einer schon existierenden Kerbe an der Seite des Baumes hinterläßt. Wenn wir nun diese Menge von Phänomenen erklären wollen, werden wir es mit Unterschieden an der Schnittseite des Baumes, mit Unterschieden auf der Retina des Mannes, mit Unterschieden in seinen nach außen gehenden nervlichen Mitteilungen, mit Unterschieden im Verhalten seiner Muskeln, mit Unterschieden in der Flugbahn der Axt bis hin zu den Unterschieden zu tun haben, welche die Axt dann an der Seite des Baums hinterläßt. Unsere Erklärung wird (zu bestimmten Zwecken) immer wieder diesen Kreislauf durchlaufen.« Gregory Bateson22
22Bateson
(1992, S. 589).
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Die soziologische Systemtheorie beschreibt die sozialen Phänomene unserer Gesellschaft als Wechselspiel von Systemen. Sie untersucht Interaktionssysteme, gesellschaftliche Funktionssysteme wie Wirtschaft, Politik, Recht oder Wissenschaft und kann Organisationen als systemische Zusammenhänge beschreiben. Der Fokus der soziologischen Systemtheorie liegt damit auf sozialen Systemen. Anders als man zunächst vermuten könnte, bestehen diese in letzter Instanz nicht aus menschlichen Individuen, sondern aus Kommunikationssystemen und weisen als grundlegendes Merkmal eine Eigendynamik und Eigengesetzlichkeit auf, die eine unmittelbare externe Steuerung unmöglich macht; soziale Systeme operieren gemäß sozialer ›Spielregeln‹, die – wie wohl jeder aus eigener Erfahrung weiß – durchaus in einem scharfen Kontrast zu den Bedürfnissen und Wünschen der an ihnen beteiligten Personen stehen können. Dieser Tatsache wird durch die strenge Unterscheidung zwischen sozialen und psychischen Systemen Rechnung getragen, deren Kognitionen und Verhalten ebenfalls einem Eigensinn folgen, welcher seinerseits wiederum nicht in der Rationalität sozialer Systeme aufgeht. Konkret bedeutet das, dass psychische Systeme aus Sicht der soziologischen Systemtheorie nicht Bestandteile oder Elemente sozialer Systeme sind, sondern zur deren Umwelt gezählt werden müssen, woraus wiederum folgt, dass Ereignisse in sozialen Systemen nicht in unmittelbarer Weise auf Handlungen der an ihnen beteiligten Personen zurückgeführt werden können, sondern grundsätzlich als Ausdruck der spezifischen Eigengesetzlichkeit des jeweiligen Sozialsystems anzusehen sind.23 Gleichwohl erkennt die Systemtheorie an, dass externe Faktoren durchaus einen Einfluss auf die Operationen sozialer Systeme ausüben, wenn auch nicht in ursächlicher, sondern lediglich in auslösender bzw. irritierender, d.h. kontingenter Weise – wie sie sich genau auswirken, kann im Vorhinein nicht exakt bestimmt werden und ist in der Rückschau immer auch anders denkbar. Die soziologische Systemtheorie beschreibt mithin die Kopräsenz vielfältiger eigensinniger Systeme oder Systemzusammenhänge, die wechselseitig füreinander Umwelten darstellen. Sie rechnet mit biologischen, psychischen und einer Vielzahl sozialer Systeme. Insofern deren Operationen einerseits durch ihren spezifischen Eigensinn und andererseits durch externe Auslöser
23Hiermit grenzt sich die Systemtheorie von einem akteurstheoretischen Blickwinkel auf die Gesellschaft ab, der gesellschaftliche Phänomene von psychischen Phänomenen her zu begreifen sucht und dabei etwa bei menschlichen Begierden und Handlungsintentionen ansetzt.
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U S
Abb. 1 System als Funktion seiner Umwelt und seiner selbst, angelehnt an Anderson (1998)
bedingt sind, gilt für jedes dieser Systeme, dass sie eine Funktion ihrer selbst und ihrer Umwelt sind. Im Sinne von Ludwig von Bertalanffy, einem der frühen Systemtheoretiker, lassen sich Systeme also zunächst als Interaktionszusammenhänge definieren, die sich in einer bestimmten Weise von einer Umwelt abgrenzen, die wiederum aus anderen Interaktionszusammenhängen besteht.24 Systeme: Sowohl eigensinnig als auch umweltabhängig Diese Definition hat es bei genauerem Hinschauen in sich, da sich gar nicht so einfach sagen lässt, was ein System ist. Ein System hat Prozessund Strukturcharakter. Es konstituiert sich auf Basis von Selbstreferenz und Fremdreferenz. Die weiter oben getroffene Feststellung, wonach ein System (S) eine Funktion (f ) seiner selbst und seiner Umwelt (U) ist, kann formal so beschrieben werden: S = f(S, U) (Abb. 1). Damit ist aber klar, dass sich Systeme nicht trivial als ein aus Teilen zusammengesetztes Ganzes verstehen lassen, zumal viele dieser ›Teile‹ selbst erst durch das System entstehen und nicht vorher schon klar definierte Entitäten darstellen. Dies lässt sich gut am Beispiel der lebenden Zelle veranschaulichen: Dieses biologische System produziert durch den Prozess des Stoffwechsels alle Komponenten, aus denen es besteht, selbst – eingeschlossen die Zellmembran, welche ihrerseits die Voraussetzung dafür
24von
Bertalanffy (1950, S. 143).
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arstellt, dass im Zellinneren überhaupt so etwas wie Stoffwechsel stattd finden kann. Hiermit lässt sich keine lineare Kausalkette formulieren, welche die Ausgangselemente des Systems bestimmbar machen würde. Im Sinne der alten Frage, was zuerst da war – die Henne oder das Ei, die Zellmembran oder der Zellkern – ist die systemtheoretische Beschreibung also gezwungen, von einem kreisförmigen, rekursiven Zusammenhang auszugehen. Der Prozess bestimmt die Struktur, die Struktur den Prozess. Vom allgemeinen Systembegriff zu konkreten Systemen: Biologie, Kognition, Kommunikation Zunächst ist festzustellen, dass der bis hier beschriebene Systembegriff abstrakt und gegenstandsübergreifend konzipiert ist. Er lässt sich konkret auf Systeme in verschiedensten Kontexten, Ebenen und Größenordnungen anwenden, wodurch aus der Perspektive der Systemtheorie etwa biologische, neuronale, psychische oder soziale Systeme in ihren unterschiedlichen Ausprägungen beschrieben werden können. Betrachten wir einige kurze Beispiele: Für die biologischen Systeme denke man an die Zellen eines Lebewesens. Diese stellen, wie bereits angedeutet, selbst die Membranen und Moleküle her, mit denen sie sich von der Umwelt abgrenzen. Die Membran, bzw. die Moleküle, aus denen sie zusammengesetzt ist, ist daher sowohl Bestandteil als auch Produkt wie auch Produzent des Zellsystems. Soziale Systeme, wie das Wissenschaftssystem, reproduzieren sich durch die Fortsetzung von Kommunikation. Kommunikationen eines bestimmten Typus führen zum Aufbau komplexer Kommunikationszusammenhänge, welche bestimmen, was zum System gehört und was nicht. Das Wissenschaftssystem erzeugt in Referenz auf die Falsifikation von Hypothesen Erkenntnisse und Fragen, welche dann weitere Forschungsfragen generieren, die dann wiederum neue Erkenntnisse und Fragen generieren. Das System versucht ständig, sich selbst zu erhalten, indem es mit seiner Umwelt im Austausch ist (hierzu zählen dann auch die psychischen Systeme der Forscher, die technischen Apparaturen wie auch die Artefakte, welche untersucht werden), um weitere wissenschaftliche Kommunikation als Grundelement seiner systemischen Operation zu ermöglichen. Das Wirtschaftssystem operiert auf Basis der Codierung von Zahlung und Nicht-Zahlung, um Strukturen aufzubauen, welche die weitere Zahlungsfähigkeit ermöglichen. Es wählt eine andere ›Operationsweise‹ als etwa das Wissenschaftssystem, um sich als System hervorzuheben und von seiner Umwelt abzugrenzen. Die Konjunktion ›um‹ verweist jeweils auf eine funktionale Perspektive, was zu Missverständnissen führt, falls man den hiermit bezeichneten
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Zusammenhang von Problem und Lösung teleologisch versteht. Betrachtet man Systeme nämlich als Einheiten, die einen bestimmten Zweck erfüllen – etwa die Integration in eine übergreifende Ganzheit oder einfach nur ihr eigenes Wachstum zu befördern –, dann stellt sich das Problem, dass sich ja empirisch sehr wohl auch Zusammenhänge zeigen, deren Operationen in kein übergreifendes Ziel münden (man denke etwa an das Beispiel einer Krebszelle, die sich in ihrer Destruktivität ja auch als ein spezifisches System in Abgrenzung von einer Umwelt hervorbringt, wenngleich sich der Krebs mit seinem Wirt mittelfristig selber zerstört). Man könnte diesen Systemen dann zwar ebenfalls ein Telos zuschreiben (etwa einen Zerstörungswillen), aber würde damit wiederum nur demonstrieren, dass dies lediglich durch einen Beobachter geschehen kann, der im Nachhinein einen entsprechenden Sinn in den Prozess ›hineinsieht‹. Insofern wir also den Begriff der Funktion weiter anwenden möchten, dürfen wir ihn nicht teleologisch verwenden, auch nicht in Hinblick auf das Ziel des Überlebens, da der Begriff des Systems dann an die willkürlichen – und nicht notwendigerweise faktisch bestehenden – Bedingungen des Beobachters geknüpft werden würde. Der Funktionsbegriff ist hier vielmehr rein operativ zu verstehen, etwa im Sinne einer mathematischen Operation, welche eine Struktur generiert, die eine weitere Operation ermöglicht, welche wieder eine Struktur generiert usw. Diese Operationen beschreiben, wie die Bestandteile der internen Organisation des Systems auf sich selbst Bezug nehmen (Selbstreferenz). Außerdem legt die Funktion fest, in welcher Weise Umwelteinflüsse selektiv als Informationen aufgenommen werden, die für die eigenen Operationen instruktiv werden (Fremdreferenz). Operativ gesehen tut ein System also einfach nur das, was es tut. Nur ein äußerer Beobachter kann feststellen, dass der Prozess einer gewissen Teleologie zu folgen scheint. Sich reproduzierende biologische Organismen scheinen über die Zeit hinweg zu überleben und das soziale System der Wirtschaft scheint auf Wachstum ausgerichtet. Doch sobald eine Krise eintritt, wird deutlich, dass die Vorstellung einer zweckorientierten Entwicklung nur durch die Zuschreibung eines Beobachters konstruiert wird. Ohne Weiteres können sich die internen Prozesse eines Systems in einer Weise verkomplizieren, dass sein Überleben – und hiermit auch die von ihm abhängigen Strukturen – gefährdet sind oder es können Umweltbedingungen eintreten, welche das Selbst- und Weltverhältnis bedrohen. In der biologischen Sphäre sterben nicht nur einzelne Organismen, sondern auch ganze Arten können verschwinden. Ebenso können Faktoren wie Größe oder Komplexität eines konkreten Systems nichts über die Dauer seiner Existenz aussagen. Was für die Biologie gilt, zeigt sich ebenso in sozialen Systemen: Nichts in der Welt garantiert, dass die komplexen
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Operationen des Wirtschaftssystems nicht zu einer Finanzkrise führen, da jederzeit durch unvorhergesehene Dynamiken die Zahlungsfähigkeit der Akteure, von denen die Wirtschaft abhängig ist, bedroht werden kann. Der Erhalt der Zahlungsfähigkeit ist ein mögliches Ergebnis von Systemoperationen – nur ein externer Beobachter vermag hierin den Zweck des Wirtschaftssystems zu sehen, um dann aber enttäuscht zu sein, wenn dieser Zweck auf einmal für ihn nicht mehr erfüllt ist. Gleiches gilt für alle sozialen Systeme: Sinn und Bedeutung – auch die Möglichkeit, etwas als Zweck zu betrachten – entstehen erst im Prozess der Kommunikation, sind also nicht per se gegeben. Im Verständnis einer rein operativen Funktionalität tun diese und andere Systeme einfach das, was sie tun, ohne zu wissen, wohin es führt. Von innen her gesehen – in der Selbstreflexion von Systemen, die hinreichend komplex sind, um eigene Werte beobachten zu können – erscheinen die mit ihren eigenen Werten verbundenen Handlungen als ihr Ziel oder Zweck. Von außen betrachtet sind sie demgegenüber zweckfrei. Die Werte erscheinen nur als Artefakte ihrer Systemoperationen. Um es mit den Biologen Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela zu formulieren: »Die Organisation« [des Systems] »legt lediglich Relationen zwischen Bestandteilen und Regeln für deren Interaktion und Transformationen fest, und zwar so, daß die Bedingungen der unterschiedlichen Systemzustände angegeben werden, die als notwendiges Ergebnis auftreten, wenn Bedingungen der angegebenen Art tatsächlich verwirklicht werden. ›Zwecke‹ und ›Funktionen‹ haben keinerlei Erklärungswert im Bereich der Phänomene, da sie nicht als kausale Elemente an der Neuformulierung irgendeines Phänomens mitwirken. […] Wenn daher lebende Systeme physikalische autopoietische Maschinen sind, wird die Teleonomie zu einem Konstrukt der Beschreibung, das nicht die Merkmale ihrer Organisation aufdeckt, sondern die Konsistenz ihres Operierens innerhalb des Bereiches der Beschreibung zeigt. Lebende Systeme sind als physikalische autopoietische Maschinen zweckfreie Systeme.« 25
Lebewesen sind Strukturen, die bestimmte Operationen – etwa die Herstellung von Proteinen und Zellmembranen – möglich machen. In diesem Sinne kann man sie durchaus als biologische Maschinen betrachten. Das Ergebnis ihrer Operationen sind sie jedoch selbst, ihre eigene Struktur. Deshalb kann man sie als autopoietische – sich selbst machende – Maschinen
25Maturana
und Varela (1985, S. 79).
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betrachten. Sie sind gewissermaßen ihr eigener ›Zweck‹.26 Man darf sich hier von dem Begriff der Maschine nicht in die Irre führen lassen. Die Maschinenmetapher weist hier nur darauf hin, dass die ablaufenden Prozesse als strukturdeterminiert anzusehen sind, wobei Struktur und Prozess jedoch hier in einer nicht-trivialen Weise ineinander verwoben sind. Selbstreferenz und Information Wie auch immer, wir bekommen es mit Selbstreferenz zu tun, also einem Prozess, der auf sich selbst verweist, indem er Strukturen erzeugt, die Werte generieren, die den eigenen Prozess steuern, der eben diese Strukturen generiert. Der autopoietische Prozess erschafft die Bedingungen der Möglichkeit – also auch seine eigenen Elemente –, um sich als Prozess hervorbringen zu können. Erst dadurch können sich Systeme in bestimmten Aspekten von ihrer Umwelt unabhängig machen, indem sie einen Teil der Variablen kontrollieren, welche ihre Umweltbeziehungen bestimmen. So können sich Organismen beispielsweise von den Umwelteinflüssen Hitze oder Kälte in einem gewissen Rahmen unabhängig machen, indem sie ihre innere Temperatur durch eigene Operationen beeinflussen. Dies setzt Regelkreise voraus, welche Information verarbeiten. Ein einfaches Beispiel aus der Kybernetik für einen solchen Regelkreis ist der Thermostat eines Heizungssystems. Der Temperaturfühler ›erkennt‹ die Abweichung von der Soll-Temperatur und generiert so die Information ›es ist zu kalt‹/›es ist zu warm‹. Diese führt zu einer Veränderung an dem Zustand des Heizkesselschalters, der die Heizung an- oder ausschaltet. Das System bezieht sich mit der Steuerung der Steuerungen auf einen Sollwert, der in das System selbst eingeschrieben ist und einen kontinuierlichen Prozess der Ausrichtung an eben diesem Wert instruiert (wenn Heizung an, dann warm, dann Schalter aus, dann Heizung aus, dann kalt, dann Schalter an, dann Heizung an, dann warm etc.). Hierdurch wird es möglich, natürliche, nicht kontrollierbare und chaotische Dynamiken – man denke etwa an die Unzuverlässigkeit von Wettervorhersagen – zu kontrollieren beziehungsweise zu steuern, indem das System sich durch
26In diesem Sinne sprechen Andreas Weber und Francisco J. Varela auch von einer »intrinsischen Teleologie« (Weber; Varela 2002, S. 120), wobei der Begriff Teleologie in Hinblick auf die philosophische Tradition ein wenig in die Irre führt, da eben keine per se definierte Richtung des Lebens impliziert ist. »Die Evolution geht – ziemlich langsam – nirgendwohin« (Wuketits 1992). Auch »Spezialisierung« oder wachsende Komplexität stellen keinen »evolutionären Attraktor« dar (Luhmann 1998d, S. 429). Was jedoch bleibt, ist jene Selbstaffizierung, die jeder Organismus erfährt, wenn das, was sich ihm kognitiv als Welt offenbart, einen Wert bekommt, nach dem er sich im Positiven wie im Negativen ausrichtet.
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Regulation der internen Zustände situativ an die äußeren Gegebenheiten anpasst. Um es allgemeiner zu formulieren: Der wahrnehmende Teil des Systems (Sensorium) registriert einen Unterschied und leitet diesen an den aktiven Teil des Systems (Motorium) weiter. Die auf diese Weise generierte Information kann eine Zustandsveränderung im System hervorrufen. Für die Funktionsweise eines kybernetischen Systems erscheint »Information« mit Gregory Bateson damit als ein »Unterschied, der einen Unterschied ausmacht«27. Eine Veränderung in einer sensorischen Oberfläche – der erste Unterschied – bewirkt eine diskrete Veränderung in der Struktur des Systems – der zweite Unterschied (etwa ein Umkippen des Schalters, infolge dessen ein Stromkreis geschlossen wird, welcher die Heizungspumpe aktiviert). Die Information liegt damit weder auf Seite der Umwelt des Systems noch im System selber, sondern in einer zweistufigen Relation, welche System und Umwelt verbindet. Um ein anderes Beispiel aus der biologischen Sphäre zu benennen: Der Anstieg der Konzentration von Zucker in einer Lösung führt zu einer Bewegung des Einzellers in Richtung der Zuckerquelle. Zur Information wird der Zucker erst in Relation zu der Reaktion des Mikroorganismus auf ihn. Er unterscheidet zwischen den beiden Werten ›Zucker/kein Zucker‹ und reagiert daraufhin auf der motorischen Ebene, etwa indem nun eine Kette biochemischer Prozesse in Gang gesetzt wird, welche zur Aktivität einer Geisel führt, welche den Organismus in Richtung höheren Zuckerkonzentration bewegen lässt. Für das Verständnis von informationsverarbeitenden Prozessen ist entscheidend, dass die beiden Unterschiede einer qualitativ anderen Ebene angehören. Beispielsweise hat die unterschiedliche Schalterstellung ›an‹ oder ›aus‹ des Reglers eine andere Modalität als der ihn auslösende Temperaturunterschied, sie unterbricht oder setzt einen Stromkreis in Gang, der eine Pumpe aktiviert. Die Schalterstellung an sich enthält keine Temperatur. Erst im Kontext des Gesamtsystems (einschließlich der Messfühler, der Stromkreise, des Warmwasserkreislaufs etc.) bedeutet die Information etwas – hier die Instruktion, die Temperatur in Relation von System und Umwelt zu regulieren. Information setzt entsprechend Systeme voraus, für die Unterscheide etwas bedeuten. Ohne Systeme – als relationale Gebilde, in denen Unterschiede Unterschiede ausmachen – würden die vielfältigen Differenzen, die ständig in der Welt erscheinen (etwa als Temperaturschwankungen, 27Bateson
(1992, S. 582).
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Gradienten in elektromagnetischen Feldern oder Impulsänderungen von Teilchen) schlichtweg nichts bedeuten, da es keine Relation gäbe, von der aus eine Differenz konstruiert werden könnte, die auf operativer Ebene einen Unterschied macht. Die Unterschiede auf der einen Ebene würden keinen Unterschied auf einer qualitativ anderen Ebene auslösen. Streng genommen wären sie keine Unterschiede mehr. Intransparenz: Eigensinn geht mit Unberechenbarkeit einher Zuvor haben wir davon gesprochen, dass biologische Systeme strukturdeterminierte Prozesse darstellen, also gleichsam als autopoietische Maschinen angesehen werden können. Die Struktur des systemischen Zusammenhangs bestimmt, was für das System als Unterschied erscheint und wie es darauf reagiert. Aus der Perspektive eines äußeren Beobachters, der die inneren Prozesse des beobachteten Systems nicht vollständig durchschauen kann, erscheint dieses System jedoch unberechenbar, da sein Verhalten durch die jeweils systemeigene Geschichte seiner Interaktionen und der hiermit einhergehenden Informationsverarbeitung bestimmt ist. Deshalb spricht Heinz von Foerster hier von einer Nicht-trivialen-Maschine: »Eine triviale Maschine ist durch eine eindeutige Beziehung zwischen Input (Stimulus, Ursache etc.) und ihrem Output gekennzeichnet. Die ›Maschine‹ besteht in dieser unveränderten Beziehung und bildet folglicherweise ein deterministisches System, denn wir selbst haben ja diese Beziehung ein für allemal festgelegt. [….] Und da außerdem ein einmal für einen bestimmten Input beobachteter Output bei gleichem Input auch später wieder gleich auftreten wird, ist dieses System auch ein vorhersagbares System. […] Nicht-triviale Maschinen sind jedoch völlig andere Geschöpfe. Ihre Input-Output-Beziehung ist nicht invariant, sondern durch die voraus gegangenen Operationen der Maschine determiniert. Mit anderen Worten, die in der Vergangenheit durchlaufenen Schritte bestimmen das gegenwärtige Verhalten der Maschine. Obwohl auch diese Maschinen deterministische Systeme sind, sind einige davon prinzipiell und andere aus praktischen Gründen unvorhersagbar.«28 (Abb. 2)
Entsprechend der vorangegangenen Beschreibung können Lebewesen als nicht-triviale Maschinen betrachtet werden, denn auch hier führen Unterschiede (etwa Differenzen in der Konzentration von chemischen Stoffen, Licht- oder Schallwellen und vieles andere) zu einem distinkten Unterschied
28v.
Foerster (1994, S. 357 f.).
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Abb. 2 Nicht-triviale Maschine. Nicht-triviale Maschinen zeichnen sich dadurch aus, dass sie neben der Transformation F noch einen internen Zustand Z erzeugen. Die Transformation F(x,z) bestimmt das von außen sichtbare Verhalten y des Systems. Die Zustandsfunktion Z (x,z) generiert den inneren Zustand des Systems. Die Funktion Z erzeugt die Variable z’, die sowohl das zukünftige Verhalten des Systems als auch den eigenen Zustand z beeinflusst; z wiederum wirkt auf F(x,z) und beeinflusst damit das Verhalten y des Systems
im Systemverhalten (z. B. dass die Biosynthese eines Proteins aktiviert oder angehalten wird, sich der Organismus zu einer Quelle hin- oder wegbewegt, Stoffe ausgeschieden oder aufgenommen werden etc.). Lebewesen stellen freilich eine besondere Form sich selbst steuernder Systeme dar, denn sie selbst sind der Parameter, der durch ihre Operationen aufrechterhalten wird. Anders als technische Systeme, welche die Werte kontrollieren, für die ihr Baumeister sie konstruiert hat, erschaffen Lebewesen sich auf Basis komplexer Prozesse interner Informationsverarbeitung selbst. Genau dies wird durch den Begriff Autopoiesis ausgedrückt (altgriechisch: αὐτός autos ‚selbst‘ und ποιεῖν poiein ‚schaffen, bauen‘), den insbesondere Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela eingeführt haben: »Das Sein und Tun einer autopoietischen Einheit sind untrennbar, und dies bildet ihre spezifische Art der Organisation.«29 Jede einzelne Zelle kann in diesem Sinne als ein eigenständiger systemischer Zusammenhang betrachtet werden, denn »der Zellstoffwechsel« erzeugt die »Bestandteile«, welche »allesamt in das Netz von Transformationen, das sie erzeugt, integriert werden. Manche dieser Bestandteile bilden dabei eine Begrenzung für dieses Netz von Transformationen, die dieses Entstehen im Raum mög-
29Maturana
und Varela (1987, S. 56).
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lich macht, eine Membran.« Denn gäbe »es diese räumliche Architektur nicht, würde sich der zelluläre Stoffwechsel in eine molekulare Brühe auflösen, die überall diffundieren und keine getrennten Einheiten wie die Zelle mehr konstituieren würde.«30 Zellen können wiederum in übergreifende systemische Zusammenhänge integriert sein, etwa Organe bilden, welche wiederum Subsysteme eines übergeordneten Organismus sind. Vom System der Zelle aus gesehen, stellen die Organe eines Organismus das Medium dar, auf dessen Basis sie sich reproduzieren, jedoch nicht das Ziel oder den Zweck ihrer Aktivität. Organismen als Umwelt von Zellen zu betrachten mag zunächst kontraintuitiv erscheinen. Die Sinnhaftigkeit dieser Perspektive leuchtet jedoch sofort ein, wenn wir wiederum das Beispiel der Krebszelle betrachten. In diesem Falle ist es offensichtlich, dass der Organismus nur als Medium genutzt wird, auf dessen Basis sich die entartete Zelle reproduzieren kann. Umgekehrt kann jedoch die Krebszelle nicht mehr als ein Element angesehen werden, über das der Organismus sich aufbaut. Hierdurch wird aber auch deutlich, dass es vom Standpunkt des Beobachters abhängt, was als System und was als Medium bzw. als Umwelt zu betrachten ist. Wie bereits beschrieben, verstehen wir Systeme mit v. Bertalanffy als Interaktionszusammenhänge, die sich in einer bestimmten Weise von einer Umwelt abgrenzen, die wiederum aus anderen Interaktionszusammenhängen besteht. Durch diese Definition gilt aber auch: Es kann bei hinreichend komplexen Konstellationen unterschiedliche Weisen geben, wie der Schnitt gelegt werden kann, welcher das System (als eine Einheit, die jeweils einen bestimmten Zusammenhang reproduziert) und damit komplementär seine Umwelt definiert (Abb. 3). Es spricht grundsätzlich nichts dagegen, die Beschreibung eines systemischen Interaktionszusammenhangs – also die Kette von Unterschieden, die einen Unterschied machen – auf einen kybernetischen Kreislauf auszudehnen, welcher die physiologische Grenze eines Organismus überschreitet. Dadurch wird lediglich die Vorstellung des Systems als Einheit in Differenz zu seiner Umwelt komplexer. Eine solche Beschreibung ist etwa dann sinnvoll, wenn die sensorischen oder motorischen Bereiche der Steuerung Elemente benutzen, die außerhalb des Organismus zu verorten sind. Dies ist etwa der Fall, wenn Werkzeuge verwendet werden oder Hilfsmittel, welche die Fähigkeiten der Sinne erweitern (ein einfaches Beispiel wäre eine Brille oder ein Fernrohr, ebenso gelten aber auch umfassendere 30Maturana
und Varela (1987, S. 38).
Einführung 21
Medium Organismus Struktur
Funkon
Fluktuaonen Abb. 3 Funktionale Einheit von Organismus und Medium. Die autopoietische Einheit existiert in einer Umwelt, die ihr Medium zur Selbstorganisation darstellt. Sie kann sich deshalb nur in Anpassung an das Medium entwickeln. Ihre Prozesse stellen jedoch eine Fluktuation innerhalb des Mediums dar, welche das Medium verändert. Die autopoietische Einheit kann wiederum auf die Fluktuationen des Mediums mit weiterem evolutionärem Feedback reagieren. Medium und Organismen treiben sich gegenseitig an, sich aneinander in struktureller Kongruenz miteinander zu entwickeln und auszudifferenzieren
Erweiterungen der Wahrnehmung, wie sie mithilfe des Computers möglich werden). Gregory Bateson beschreibt anhand des Holzfällers bereits ein System, das als eine Verbindung von Axt, Mensch und Baum angesehen werden muss. Betrachten wir dieses Beispiel etwas ausführlicher und schauen deshalb nochmals auf das Zitat am Anfang dieses Kapitels: »Stellen sie sich einen Baum und einen Mann mit einer Axt vor. Wir beobachten, daß die Axt durch die Luft saust und bestimmte Arten von Einschnitten in einer schon existierenden Kerbe an der Seite des Baumes hinterläßt. Wenn wir nun diese Menge von Phänomen erklären wollen, werden wir es mit Unterschieden an der Schnittseite des Baumes, mit Unterschieden auf der Retina des Mannes, mit Unterschieden in seinen nach außen gehenden nervlichen Mitteilungen, mit Unterschieden im Verhalten seiner Muskeln, mit Unterschieden in der Flugbahn der Axt bis hin zu den Unterschieden zu tun haben, welche die Axt dann an der Seite des Baums hinterläßt. Unsere Erklärung wird (zu bestimmten Zwecken) immer wieder diesen Kreislauf durchlaufen.«31
31Bateson
(1992, S. 589).
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Das hier beschriebene System überschreitet die Grenze zwischen Organismus (Mensch), Teilaspekten der Umwelt des Organismus (Holzstamm und die sich manifestierende Kerbe) und den technischen Artefakten (Axt) und bleibt insofern nicht auf einen physischen Körper beschränkt. Auf diese Weise wird die übliche Trennung zwischen Subjekt und Objekt (die unserem Common Sense entspricht) zugunsten eines Kreislaufs sich selbst instruierender Unterschiede aufgegeben. Die Trennung erscheint jedoch nicht beliebig, sondern ergibt sich aus dem Kriterium, einen sich selbst reproduzierenden Zusammenhang identifizieren zu können, der dann gewissermaßen den Holzfäller als ›Eigenwert‹ ausflaggen lässt. Mit Bateson besteht die »richtige Weise, das System abzugrenzen«, allein darin, »die Grenzlinie so zu ziehen«, dass »man keinen dieser Wege« – keinen Aspekt des kybernetischen Kreislaufes – in einer Weise durchschneidet, die die Dinge unerklärbar macht.«32 Als System erscheint damit eine sich rekursiv schließende Kette von Interaktionen, in denen Unterschiede Unterschiede bewirken, die dann einen spezifischen, sich selbst informierenden systemischen Zusammenhang bilden (in diesem Falle das Selbst- und Weltverhältnis33 des Holzfällers, das sich in seiner spezifischen Praxis reproduziert). In Bezug auf das benannte Beispiel lässt sich leicht zeigen, dass der Schnitt, der die Grenze zwischen System und Umwelt bestimmt, unterschiedlich gelegt werden kann. So ließen sich etwa die Zellen des Baumes betrachten, die sich dessen Organismus bedienen, um sich zu reproduzieren (Systemreferenz: Autopoiesis der Zelle ). Die Axt und der Holzfäller wären dann (systembedrohende) Umwelt. Ebenso könnte die Perspektive des holzverarbeitenden Betriebes eingenommen werden, welcher die Arbeitskraft der Holzfäller braucht, um die Waren- und Geldflüsse aufrechtzuerhalten, die zur Sicherung seines Fortbestehens notwendig sind (Systemreferenz: Wirtschaft ). Man könnte aber auch an die Tätigkeit einer Berufssoziologin denken, welche die Arbeit der Holzfäller und andere Berufstätigkeiten beschreibt, um auf diese Weise einen soziologischen Diskurs zu reproduzieren (Systemreferenz: Wissenschaft ). Die Beispiele zeigen, dass es vielfältige Weisen geben kann, Interaktionszusammenhänge als Systeme zu rekonstruieren. Die Rekonstruktion ist beobachterabhängig, aber nicht beliebig, denn nicht jeder beobachtete Zusammenhang zeigt sich in dem
32Bateson
(1992, S. 590). Sinne der vorangehenden Ausführungen konstituiert sich der Holzfäller zugleich in einem Verhältnis zu sich selbst (als Nicht-triviale-Maschine) und im Verhältnis zu seiner Umwelt (indem bestimmte Unterschiede einen Unterschied machen). Vgl. auch Vogd (2018).
33Im
Einführung 23
Sinne als ein systemischer, der selbst dafür sorgt, die eigene Struktur und dynamische Gesetzlichkeit autopoietisch zu reprozieren. Dies führt uns zu der von Heinz von Foerster beschriebenen Kybernetik zweiter Ordnung, welche den Beobachter miteinbezieht, denn das Augenmerk richtet sich jetzt auf Beobachtungen von Beobachtungen und den Eigenwerten, welche mit den hiermit einhergehenden Rekursionen entstehen.34 An dieser Stelle ist jedoch zu betonen, dass der Begriff ›Beobachter‹ keineswegs subjektphilosophisch missverstanden werden darf, etwa im Sinne eines individuierten Subjektes, das eine objektive Realität erkennen würde. Im Gegenteil – vielmehr gilt, dass ein im kybernetischen Sinne verstandener Beobachter keine von ihm unabhängig existierende Welt erkennt, sondern selbst ebenfalls einen Interaktionszusammenhang darstellt, der bestimmte Eigenwerte als Beobachtung erscheinen lässt. So gesehen ist der Beobachter nichts anderes als ein System, das nicht als eine Entität im Sinne einer substanziellen Einheit verstanden werden darf, sondern als ein operierendes Netzwerk von Unterschieden, welches als Folge seiner Operationen in der Lage ist, sich selbst von anderem zu unterscheiden und den hiermit generierten Unterschied selbst wiederum in das Netzwerk einzuspielen, wodurch es für sich selbst gewissermaßen als distinkte Einheit erscheint – und zwar auf eine Weise, dass sich der hiermit einhergehende Eigenwert auf Basis der nachfolgenden Operationen immerfort reproduziert. Ein System ist damit, wie Dirk Baecker feststellt, sowohl Teil der Welt, etwa als »System mit Umwelt«, als auch als eine Einheit, die in Differenz zur Welt tritt, also als »System-im-Unterschied-zu-einer-Umwelt«35 erscheint. Das System erscheint dadurch sowohl selbstbestimmt (autonom) als auch fremdbestimmt (heteronom). Es hat eine Welt (der es als System gegenüber zu treten scheint) und es ist Teil der Welt (in dem Sinne, als dass es nichts anderes darstellt als einen Ausdruck der Prozesse der Welt.36 Es ist einerseits nicht zu unterscheiden von den Energie- und Materieflüssen der Weltdynamik und erscheint anderseits doch in Differenz zur Welt. Beide Perspektiven sind nicht ineinander überführbar. Der Widerspruch zwischen diesen beiden Beschreibungsweisen lässt sich nicht auflösen. Eine Beschreibung, welche allein auf der rekursiven Verkettung von Zusammenhängen beruht
34Vgl.
von Foerster (1995). (2013, S. 300 f.). 36Mit Blick auf die hier eingeführte systemtheoretische Anlage heißt dies dann aber auch, dass die Welt nicht als Einheit zu haben ist, sondern nur als Differenz. 35Baecker
24 W. Vogd
und damit Systeme als objektive Gegebenheiten betrachtet (System(e) mit Umwelt), in die sich gegebenenfalls mit Hilfe kybernetischen Steuerungswissens intervenieren lässt, ist inkompatibel mit einem System als Beobachter, für das der Prozess der Beobachtung selbst wiederum als Eigenleistung des Systems erscheint, wodurch dieses einen subjektiven Status erhält und gewissermaßen ›eigenwillig‹ bzw. ›selbstbestimmt‹ in die Welt hinein interagiert (System-im-Unterschied-zu-einer-Umwelt). Systeme sind demnach nicht nur Teil der Welt, sondern haben – wie geschildert – zugleich eine Welt.37 Eine Welt zu haben, bedeutet für jedes System, nur einen winzigen Bruchteil der Unterschiede aufzugreifen, welche die Welt als potentielle Möglichkeiten, Korrelationen zu bilden, anbietet. Nur weniges wird für das System also zur Information, um hierdurch operativ einen eigenen rekursiven Zusammenhang zu konstatieren, der als seine Differenz von System und Umwelt erscheint. Jedes System hat damit nolens volens nur einen grobkörnigen Zugang zur Welt, da es nur bestimmte Unterschiede als Information verarbeitet. Es kann sich nur dadurch aufbauen, dass es die Weltkomplexität auf das reduziert, was in seine durch die eigene Systemstruktur festgelegte Codierung passt. Was für das eine System Information ist, stellt für ein anderes System nur Rauschen dar. Freilich ist eine Vielzahl von Systemen möglich, welche die Welt jeweils anders anschneiden und andere Relevanzen für sich geltend machen. Diese Systeme sind für einander intransparent – man denke an die (wenngleich nicht immer prinzipielle, jedoch praktische) Unberechenbarkeit Nicht-trivialer-Maschinen. Konditionierte Koproduktion: Jedes System bedingt die Systeme, durch die es konditioniert ist Da Systeme andere Systeme brauchen, um sich zu reproduzieren, landen wir darüber hinaus beim Postulat der Polykontexturalität, also der Koexistenz vielfältiger und mit Blick auf ihre Genese unterschiedlicher Interaktionszusammenhänge, die ihre jeweils eigenen System-Umweltverhältnisse mit den dazugehörigen Schnitten reproduzieren – und dies jedoch nur gemeinsam in konditionierter Koproduktion tun können.38 37Siehe
zu der Differenz der beiden Beschreibungsebenen innerhalb des systemtheoretischen Diskurses und dem Angebot einer Brücke auch Jansen (2015). 38Um es mit Peter Fuchs für das Verhältnis von psychischen und sozialen Systemen auszudrücken: »Weder das psychische noch das soziale System wären unter den Auspicen konditionierter Koproduktion, wie man es in anderen philosophischen Zeiten gesagt hätte, Systeme-an-sich. Psychische und soziale Systeme sind das, was sie sind, durch das, was sie nicht sind. Oder anders ausgedrückt: Jedes dieser Systeme bedingt (konditioniert) die Systeme, durch die es konditioniert (bedingt) ist« (Fuchs 2015, S. 139 f.).
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So existiert beispielsweise ein Organismus als autopoietische Einheit in einer Umwelt, die sein Medium zur Selbstorganisation darstellt und kann sich deshalb nur in Anpassung an das Medium entwickeln. Die autopoietische Einheit verändert jedoch, wie bereits gesagt, durch ihr Verhalten das Medium, das heißt die vielfältigen hierin zum Ausdruck kommenden Systemzusammenhänge, was freilich auch – gemäß dem Paradigma der strukturellen Kopplung – so ausgedrückt werden kann, dass das Medium auf das Verhalten des Organismus mit Veränderungen in seiner eigenen Struktur antwortet. Die autopoietische Einheit wird wiederum durch die Fluktuationen des Mediums gefordert, die eigene Struktur zu verändern, um sich an die neuen Bedingungen anzupassen.39 In diesem Sinne heißt Polykontexuralität also nicht nur, dass gleichzeitig eine Vielzahl epistemischer Zentren bestehen, von denen aus jeweils ein eigenes Selbst- und Weltverhältnis erscheint. Vielmehr bedeutet es, dass jedes dieser Verhältnisse auch Teil des Kontextes für andere Selbst- und Weltverhältnisse darstellt. Denn ein Systemzusammenhang benutzt andere Systemzusammenhänge, um sich zu reproduzieren und vice versa. Da Systeme eine Funktion ihrer selbst und ihrer Umwelt sind, können sie nicht in reduktionistischer Weise aufeinander zurückgeführt werden. Jedes System hat gewissermaßen seinen Eigensinn, was jedoch im Sinne der konditionierten Koproduktion nicht im Widerspruch zu der Tatsache steht, dass sie in ihrer Reproduktion und Evolution jeweils von anderen Systemen abhängig sind. Betrachten wir aus dieser Perspektive den Menschen in seiner polykontexturalen Einbettung, so wird deutlich, dass sich mit ihm unterschiedlichste Systemzusammenhänge manifestieren – biologische, psychische und soziale. So braucht jede unserer Zellen die unterschiedlichen Organe des menschlichen Organismus als Kontext, um sich als Zelle reproduzieren zu können (etwa das Herz und die Lunge, um sie mit Sauerstoff zu versorgen), umgekehrt bestehen die Organe in ihrer jeweils typischen Funktion nur, weil es ihnen gelingt, Zellen dazu zu bringen, sich in einer Weise zu spezialisieren, dass sie hochspezifische Eigenschaften haben und auf diese Weise den Organen ihre Funktionen als Kontext zur Verfügung stellen
39»Lebende Organismen existieren stets in einem Medium, in dem sie interagieren. Weil sich aber das Leben lebender Organismen aufgrund ihrer eigenen internen Dynamik als eine Folge ständiger struktureller Veränderungen und darüber hinaus in struktureller Koppelung an ihr Medium vollzieht, können sie ihre Organisation nur dann erhalten, wenn ihre Struktur und die Struktur des Mediums kongruent sind, und wenn die strukturelle Kongruenz des Mediums erhalten bleibt« (Maturana 1991, S. 291).
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(sobald dies nicht mehr gelingt, wird der Zusammenhang von Zellen und Organismus zerstört – man denke an eine Autoimmun- oder wiederum an die Krebserkrankung, wo genau dies geschieht). Die Spezialisierung von Zellen und Organen zu Zusammenhängen, die auf die Verarbeitung von sensorischem Input und die Produktion von motorischem Output spezialisiert sind, generiert eine weitere Systemik: das Nervensystem. Nervenimpulse generieren und modulieren Muster weiterer neuronaler Aktivitäten, indem sie andere Nervenzellen in ihrer neuronalen Aktivität entweder hemmen oder aktivieren. Auch hier kommt es zu einer operativen Schließung (Nervenimpulse referieren auf Nervenimpulse), weshalb hier von einem System gesprochen werden kann. Im Sinne unserer formalen Definition von Systemen (S = f[S,U]) beruht die rekursive Schließung auf der Prozessierung von neuronalen Signalen, die weitere neuronale Signale produzieren. Die Umweltabhängigkeit beruht darauf, dass Unterschiede an den Sinnesorganen (Augen, Ohren etc.) ihrerseits zu neuronalen Signalen führen, welche den internen Prozess anregen und konditionieren. Hierdurch entstehen Muster in Form von Rhythmen von Nervenaktivitäten, die dann ihrerseits auf die Musterbildung Einfluss nehmen. Auf diese Weise werden Eigenwerte der Kognition gebildet, also Muster von Wahrnehmungen und motorischen Aktivitäten des Organismus, die eine hinreichende Kohärenz und Selbstähnlichkeit haben, sodass sie sich selbst stabilisieren. Um solch eine Systemik zu generieren, bedarf es eines so genannten Re-Entry, d. h. eines Wiedereintritts des Musters in das Muster. Nur auf diese Weise entsteht ein selbstreferenzieller Zusammenhang, der eine Differenz zwischen System und Umwelt generiert, die dann ihrerseits für das System instruktiv wird.40 Denn es sind die Unterschiede in den Frequenzen der Nervenerregungen, die die Erregungen der Nerven an andere Stelle konditionieren und so zu
40Hierzu
auch Gerald Edelman: »Neue Wahrnehmungskategorien werden reentrant mit Gedächtnissystemen verkoppelt, ehe sie selbst Teil eines nun veränderten Gedächtnissystems werden. Anhand des Gedächtnisses kategorisierte Wahrnehmungen werden also rekursiv genutzt, um das Gedächtnis selbst zu modifizieren. Diese Wechselwirkungen laufen, so nimmt man an, innerhalb von Zehntelsekunden bis Sekunden ab, also innerhalb der Zeitspanne, die William James ›Scheingegenwart‹ nennt. Ich bezeichne sie als ›erinnerte Gegenwart‹, um zu unterstreichen, dass aus der Interaktion zwischen Gedächtnis und aktueller Wahrnehmung das Bewusstsein entspringt. Was für Folgen hatte es, dass die Evolution eine dynamische Koppelung zwischen Werte-Kategorien-Gedächtnis und Wahrnehmungsgedächtnis herstellte? Es bildete sich die Fähigkeit heraus, eine komplexe Szene zu konstruieren und zwischen Bestandteilen dieser Szene Unterscheidungen zu treffen« (Edelman 2004, S. 63 f.).
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einem operativ geschlossenen Zusammenhang führen, entsprechend dem das Gehirn seine eigenen Zustände aufbaut und reproduziert. Ein äußerer Beobachter, der dies nachvollziehen möchte, wird hierfür zunächst einen Schnitt zwischen System und Umwelt legen müssen: Auf der Innenseite kann er dann die unspezifische Kodierung der Nervenzellen erkennen, nämlich ihr Feuern in Antwort auf anderes Feuern von Nervenzellen (ob der Ursprungsreiz von den Sinnessystemen, wie etwa den Augen oder dem Tastsinn kommen, ist für diese systemische Typik ebenso wenig von Belang, als wenn die Reize, wie im Traumgeschehen, einfach aus dem Gedächtnis kommen). Auf der Außenseite – in der Umwelt – erscheinen jedoch die vielfältigen notwendigen Kontexte, die ihrerseits dazu beitragen, die mit dem Nervensystem produzierten Eigenwerte der Kognition zu ermöglichen. Es bedarf eines hinreichend geordneten sensomotorischen Inputs, um stabile neuronale Systemzustände aufbauen zu können. So haben beispielsweise Experimente mit jungen Katzen, die nach ihrer Geburt nicht selbst die Welt erkunden durften, gezeigt, dass aufgrund der fehlenden Interaktion mit der Umwelt das visuelle System nicht hinreichend ausgebildet werden konnte, um angemessen mit der Umwelt in Beziehung treten zu können.41 Ebenso wäre ein vollkommen isoliertes Gehirn, wie Diego Cosmelli und Evan Thompson aufzeigen, nicht mehr in der Lage ein kohärentes Muster auszubilden, da nun all das fehlt, mit dem es in Resonanz treten könnte, um seine Eigenzustände zu stabilisieren.42 Das Gehirn braucht also die Verkörperung in einem aktiven Leib, der sich mit einer Umwelt auseinandersetzt, in der bestimmte Regelmäßigkeiten gelten; denn nur unter Voraussetzung dieser verkörperten Kontexte kann es dem Nervensystem gelingen, seinerseits stabile systemische Zusammenhänge zu generieren. Was lässt sich nun aus der hier vorgestellten Perspektive zur Frage des Bewusstseins sagen? Unter welchen Bedingungen lässt sich von einem psychischen System oder gar von einem Bewusstseinssystem sprechen? Was das Bewusstsein ist, kann und braucht die Systemtheorie selbstredend nichts zu sagen. Sie kann die Frage seiner ontologischen Bestimmung umschiffen, indem sie anstelle vom Bewusstsein von einem Bewusstseinsprozess ausgeht, also das Bewusstsein seinerseits wiederum als System beschreibt, das sich als Funktion seiner selbst und seiner Umwelt mit bestimmten Eigenwerten hervorbringt. Aus dieser Perspektive würde das Bewusstseinssystem jetzt als ein
41Siehe 42Vgl.
Held und Hein (1963). Cosmelli und Thompson (2010).
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weiterer spezifischer Interaktionszusammenhang erscheinen, der auf einer eigenen Typik von Unterschieden beruht. Im Sinne der Kybernetik zweiter Ordnung ist entsprechend wiederum zu fragen, welche System/Umwelt-Differenz ein solches System hervorbringt. Selbstredend erscheint aus dieser Perspektive das Bewusstsein nicht mehr als ein Subjekt, das Objekte als Bewusstseinsgegenstände erkennt. Bewusstsein wird jetzt vielmehr ebenfalls als ein Prozess begriffen, dessen Gegenstände – also Objekte der Erkenntnis und Beobachter als Erkennende – als Ergebnis von Rekursionsprozessen erscheinen. Damit erscheinen Wahrnehmungen und Gedanken als die typischen uns vertrauten Bewusstseinsinhalte nicht mehr als Verweise auf eine objektive Realität, sondern als Eigenwerte eben dieser selbstreferenziellen Prozesse.43 Im Sinne der operativen Definition von Systemen stellt sich jetzt die Frage, was die Elemente und die Operationen des Bewusstseinsprozesses sind, der in der konditionierten Koproduktion von System und Umwelt Bewusstseinsinhalte ausflaggen lässt. Niklas Luhmann identifiziert diese im Anschluss an die einschlägige phänomenologische Tradition als die Verkettung von Gedanken, Sinneswahrnehmungen und Handlungsintentionen, wobei der systemische Zusammenhang in der rekursiven Verbindung eben dieser Elemente besteht.44 Das Bewusstsein würde sich entsprechend erst in einem kontinuierlichen Prozess der Referenzbildung (was anderes sind Gedanken oder Wahrnehmungen?) als System in Differenz zu allem anderen hervorbringen. In der Folge entstehen dann auch die Innenwelt und die Außenwelt als Eigenwerte dieses kontinuierlich voranschreitenden Referierens. An dieser Stelle ist wiederum – wie schon beim neuronalen System – zwischen den Bedingungen der Möglichkeit der Systembildung und dem eigentlichen Systemzusammenhang zu unterscheiden. Wenngleich das Bewusstsein also von körperlichen Prozessen und den durch sie vermittelten Sinnesmodalitäten abhängt – letztere stellen den unmittelbaren Kontext des Bewusstseins –, erscheint es nicht als Körper. Seine Systemik zeigt sich vielmehr als die Folge von Referenzen, die, um zur Einheit zu finden, auch auf die Körperlichkeit Bezug nehmen kann und muss. Wie jede systemische Dynamik setzt das Bewusstsein anderer Prozesse außerhalb seiner selbst voraus, um sich selbst als Eigenwert zu reproduzieren. Ohne Körper, ohne 43Die operative Definition von Systemen umgeht die Subjekt-Objekt-Unterscheidung. Systeme sind weder das eine, noch das andere, sind weder Subjekt noch Objekt. Für Peter Fuchs stellen Systeme deshalb »Unjekte« dar (vgl. Fuchs 2001). 44Siehe Luhmann (1995).
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Sinnesobjekte, aber auch ohne die soziale Sphäre, welche die Sprache zur Verfügung stellt, würde es zusammenfallen, bestenfalls noch für kurze Momente aufflackern, aber nicht mehr so recht die Zusammenhänge stiften können, über den es sich als mit sich selbst identisch konstituieren könnte.45 Sprachliches Verhalten: Kommunikation löst Kommunikation aus Sprache überschreitet per se den einzelnen Organismus und die individuelle Psyche, da sie die Koordination mehrere Organismen betrifft. Indem Verhaltensmuster Bedeutung erhalten für die Strukturierung des weiteren Verhaltens der Organismen, ist der Grundbaustein für sprachliches Verhalten gelegt: Handlungen gewinnen Bedeutung als Zeichen, die im sozialen Bereich andere Handlungen organisieren. Das gesamte Repertoire von Handlungen zur Koordination von Handlungen innerhalb der rekursiven sozialen Interaktion bildet den sprachlichen Bereich eines Organismus. Dabei besteht die Bedeutung der Handlungen nicht im Wissen des Organismus um den semantischen Gehalt der sprachlichen Unterscheidung, sondern in der strukturellen Koppelung von Handlung mehrerer Organismen, also darin, was die Worte bewirken. Es geht also nicht um die Inhalte der Worte, sondern darum, was sie machen, also was zwischen den Organismen (und innerhalb des eigenen Selbst- und Weltverhältnisses) geschieht, wenn sie auftreten und zum Einsatz kommen. In unserem Zusammenhang ist es wichtig, auch Sprache unter einer operativen Perspektive zu betrachten, d.h. als Prozess des Bezeichnens und Unterscheidens, der weitere Prozesse der gleichen Art ermöglicht und hervorbringt. Nehmen wir diese Perspektive ein, so wird nämlich die Rekursivität und Eigensinnigkeit der Sprache sichtbar: Wir können nun beobachten, wie sich Operationen zur Koordination von Handlungen herausbilden, die sich auf sprachliches Handeln selbst beziehen. Zeichen beziehen sich jetzt auf Zeichen, Worte beziehen sich jetzt auf Worte, und scheinen hiermit nun ein Eigenleben zu führen, wenngleich sie sich eben nur den Operationen der Verhaltenskoordination verdanken. Maturana und Varela formulieren: »Wenn die Sprache entsteht, dann entstehen auch Objekte als sprachliche Unterscheidungen sprachlicher Unterscheidungen, die die Handlung verschleiern, die sie koordinieren. So koordiniert das Wort ›Tisch‹ unsere Handlungen in Hinsicht auf die Handlungen, die wir ausführen, wenn wir mit 45Um dies empirisch zu illustrieren denke man an die psychischen Zusammenbrüche, welche in Folge starker Deprivation auftreten können. Siehe etwa die Schilderung von Reemtsma (1998).
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einem »Tisch« umgehen. Der Begriff ›Tisch‹ verschleiert uns jedoch die Handlungen, die (als Handlungen des Unterscheidens) einen Tisch konstituieren, indem sie ihn hervorbringen.«46
Insofern als hinreichend komplexes semantisches und syntaktisches System ausgebildet, schließt sich der sprachliche Bereich seinerseits. Die Sprache wird nun selbst zu einem System von internen Relationen zu internen Relationen innerhalb des kognitiven Systems. Die Logik innerhalb dieses Systems ergibt sich wiederum aus den internen Strukturen. Außerhalb mag zwar alles Mögliche bestehen oder existieren, doch innerhalb der Sprache gibt es nur das, was von ihr bezeichnet und unterschieden wird. Hieraus ergibt sich eine zunächst kontraintuitive Einsicht: Sprache überträgt keine Information. Sprachliche Handlungen relationieren andere sprachliche Handlungen – nicht mehr und nicht weniger. Darüber hinaus kann es zwar zu einem gemeinsamen Interaktionsbereich zwischen verschiedenen Sprechern kommen. Doch hierbei ist zu beachten, dass jeder Sprecher ausschließlich in seinem eigenen kognitiven Bereich operieren kann. Ein psychisches System mag aus den Zeichen und Worten, die es vernimmt, Sinn zu generieren. Doch es kann dies nur auf Basis seiner eigenen internen kognitiven Operationen tun. Im Sinne einer Nicht-trivialen-Maschine agiert und versteht es entsprechend den Dynamiken seiner eigenen inneren Zustände, nicht jedoch aufgrund dessen, dass der Inhalt von Worten an sich auf eine vorbestimmte Weise instruktiv ist. Dies entspricht der Alltagserfahrung, dass zwei Menschen, denen man die gleiche Anordnung gibt, etwas vollkommen anderes tun können. Dies schließt nicht aus, dass ähnliche Worte von verschiedenen Menschen auch in ähnlicher Weise verstanden werden können. Doch damit dies geschehen kann, müssen diese Menschen in der konditionierten Koproduktion ihrer Sozialisation eine ähnliche Entwicklung durchlaufen haben, so dass sie ihr Verhalten in einer homologen Weise mit diesen Worten koordinieren. So wie es keine Informationsübertragung zwischen Systemen gibt – sondern nur das Prozessieren von Unterschieden aufgrund der jeweils eigenen Systemdynamik –, gibt es keine übergreifende Rationalität außerhalb einer spezifischen Systemrationalität. Genau dies ist die zentrale Einsicht des operativen Konstruktivismus. Um es mit Maturana auszudrücken:
46Maturana
und Varela (1987, S. 227).
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Die »funktionale Rolle« der Sprache »besteht in der Erzeugung eines kooperativen Interaktionsbereiches zwischen Sprechern durch die Entwicklung eines gemeinsamen Bezugsrahmens, auch wenn jeder Sprecher ausschließlich in seinem eigenen kognitiven Bereich operiert, in dem jede letztgültige Wahrheit durch persönliche Erfahrung bedingt ist. Da ein Bezugsrahmen durch die Klassen der Auswahlakte definiert wird, die er ermöglicht, kann das sprachliche Verhalten nur rational sein, d.h. determiniert durch Relationen der Notwendigkeit innerhalb des Bezugsrahmens, in dem es sich entwickelt. Niemand kann folglich jemals rational von einer Wahrheit überzeugt werden, die nicht bereits implizit in seinen Grundauffassungen vorhanden war.«47
Psychische Systeme, wir haben es zuvor bereits angedeutet, verdanken sich dem Sinn, welche die Sprache mit der sozialen Sphäre anliefert. Die Verweisungszusammenhänge, welche sich aus der sprachlichen Koordination von Handlungen ergeben, führen innerhalb der Psyche jetzt ein Eigenleben, nämlich als Denken – als kontinuierliche Verkettung von sprachlichen Bezeichnungen und Unterscheidungen. Sinn selbst erscheint dabei als ein selbstreferenzieller Zusammenhang, über den sich das psychische System reproduziert. Hierzu Luhmann: »Insgesamt ist Sinn also ein Prozessieren nach Maßgabe von Differenzen, und zwar von Differenzen, die als solche nicht vorgegeben sind, sondern ihre operative Verwendbarkeit (und erst recht natürlich ihre begriffliche Formulierbarkeit) allein aus der Sinnhaftigkeit selbst gewinnen. Die Selbstbeweglichkeit des Sinngeschehens ist Autopoiese par excellence. Auf dieser Grundlage kann jedes (wie immer kurze) Ereignis Sinn gewinnen und Systemelement werden. Damit ist nicht so etwas wie ›rein geistige Existenz‹ behauptet, wohl aber Geschlossenheit des Verweisungszusammenhangs der Selbstreproduktion.«48
Wie bereits mit dem Verweis auf die soziale Charakteristik der Sprache angedeutet, lässt sich auf Basis der Sinnoperation ein weiterer Systemtyp einführen: das soziale System. Soziale Systeme konstituieren sich als ein selbstreferentieller Zusammenhang, indem Kommunikation Kommunikation auslöst und auf diese Weise eine Verkettung entsteht, die immerfort einen bestimmten Typus von Kommunikation neu entstehen
47Maturana 48Luhmann
(1985, S. 80). (1984, S. 101).
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lässt. Auch dieser Zusammenhang ist nur auf Basis konditionierter Koproduktion möglich, wobei die Bewusstseinssysteme den unmittelbaren Kontext der sozialen Systeme bilden. Die Kommunikation ›reitet‹ auf den unterschiedlichen Bewusstseinssystemen mit ihrer Fähigkeit, Sinn verstehen und prozessieren zu können. Doch aus Perspektive der sozialen Systeme erscheint das Bewusstsein von Menschen jetzt seinerseits als Umwelt der Systemzusammenhänge der Kommunikation. Dass es forschungspraktisch und in Hinblick auf soziologischen Erkenntnisgewinn sinnvoll ist, den Schnitt zwischen System und Umwelt in dieser Weise zu setzen, lässt sich leicht verdeutlichen. Da – wie bereits geschildert – prinzipiell keine Kontrolle darüber möglich ist, welchen Sinn ein jeweils fremdes Bewusstsein versteht, wenn man ihm ein Sinnangebot macht, lässt sich Kommunikation nicht als Übertragung von Information von einem Bewusstsein zu einem anderen Bewusstsein zur Einheit bringen. Was in der Kommunikation geschieht, kann und darf deshalb nicht von den Intentionen einzelner Akteure abhängig sein, sondern wird erst durch die wechselseitigen Anschlüsse der Kommunikation spezifiziert, die dann weitere Anschlüsse provozieren. Welche Anschlüsse dies dann konkret sind, unterliegt dabei primär nicht innerpsychischen Eigenheiten, sondern den Eigengesetzlichkeiten der jeweiligen sozialen Systeme. Indem wir den Schnitt zwischen sozialen und psychischen Systemen so ziehen, dass beide wechselseitig als Umwelt füreinander erscheinen, bringen wir also zum Ausdruck, dass beide Systemtypen nach Gesetzmäßigkeiten operieren, die sich nicht restlos ineinander überführen oder aufeinander reduzieren lassen. In beiden Fällen haben wir es mit ›eigensinnigen‹ Systemen zu tun, die füreinander nicht vollkommen transparent sind, da sie – man denke an v. Foersters nichttriviale Maschinen – in ihrem Input-Output Verhalten in einer Weise selbstdeterminiert sind, die von außen nicht durchschaut werden kann. Auf diese Weise gelangen wir zur Systemtypik der Kommunikation, die sich dann nicht nur in Hinblick auf den gewählten Systemzusammenhang, sondern auch inhaltlich von dem in den Bewusstseinssystemen realisierten Sinn unterscheiden kann. So kann sich beispielsweise in einem Interaktionssystem immer wieder eine bestimmte Form des Streits perpetuieren, wenngleich dies von den beteiligten Akteuren nicht beabsichtigt ist. Insofern jedoch auf Ebene der Kommunikation entsprechende Muster der Zurechnung und Reaktion etabliert worden sind, entwickelt sich eine Eigendynamik, welche dann auch die beteiligten Bewusstseinssysteme versklavt. Diesen bleibt in Folge üblicherweise kaum eine andere Alternative mehr üblich, als sich betroffen und empört in den Streit hineinzubegeben. Die
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hier aufscheinende Dynamik lässt sich mit Paul Watzlawick am Beispiel von Beziehungsproblemen unter Ehepartnern illustrieren: »Ein oft zu beobachtendes Eheproblem besteht z.B. darin, daß der Mann eine im wesentlichen passiv-zurückgezogene Haltung an den Tag legt, während seine Frau zu übertriebenem Nörgeln neigt. Im gemeinsamen Interview beschreibt der Mann seine Haltung typischerweise als einzig mögliche Verteidigung gegen ihr Nörgeln, während dies für sie ein krasse und absichtliche Entstellung dessen ist, was in ihrer Ehe ›wirklich‹ vorgeht, daß nämlich der einzige Grund für ihre Kritik seine Absonderung von ihr ist. Im Wesentlichen erweisen sich ihre Streitereien als monotones Hin und Her der gegenseitigen Vorwürfe und Selbstverteidigungen: ›Ich meide dich, weil du nörgelst‹ und ›Ich nörgle, weil du mich meidest‹. […] In der gemeinsamen Psychotherapie von Ehepaaren kann man oft nur darüber staunen, welch weitgehende Unstimmigkeiten über viele Einzelheiten gemeinsamer Erlebnisse zwischen den beiden Partnern herrschen können, so daß manchmal der Eindruck entsteht, als lebten sie in zwei verschiedenen Welten.«49
Dieses Beispiel demonstriert auch wieder die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Systemreferenzen, von denen aus jeweils ein anderer Schnitt in die ›Wirklichkeit‹ gelegt wird und für jedes System jeweils etwas anderes als unmittelbarer Kontext erscheint. So stellen sich die Kausalitäten aus Perspektive der beteiligten psychischen Systeme jeweils unterschiedlich dar. Es erscheint ein jeweils anderer Eigenwert als Realität (für die Frau und den Mann erscheint jeweils eine andere Wirklichkeit), sowie die hiermit einhergehenden unterschiedlichen Zurechnungen von Kausalität. Ein (externer) Beobachter, der die Kommunikation untersucht, kann demgegenüber rekonstruieren, wie die wechselseitigen Anschlüsse im Sinne von Ronald D. Laing einen »Knoten« bilden,50 der dann als Eigenwert der Kommunikation erscheint, wobei das Bewusstsein nun nur noch als systemeigener Kontext der hiermit einhergehenden Kommunikation erscheint. Was in der Kommunikation geschieht, wird erst durch die wechselseitigen Anschlüsse der Kommunikation spezifiziert. Umgekehrt darf die Manifestation sozialer Systeme wiederum nicht in einer Weise missverstanden werden, dass damit die Relevanz und Existenz anderer Systemzusammenhänge ausgeschlossen oder negiert
49Watzlawick 50Laing
et al. (1990, S. 58 f.). (1986 [1972]).
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wird. Im Gegenteil setzt auch hier die Entstehung und Aufrechterhaltung eines sozialen Systems voraus, dass in seiner Umwelt andere Systeme existieren (psychische Systeme und Körper), welche erst die Bedingungen der Möglichkeit bereitstellen, dass Kommunikationssysteme mit einer bestimmten Typik entstehen können. Um es nochmals zu betonen: Wir landen hier also unweigerlich bei einer Beschreibung, die nur systemrelativ ein bestimmtes System-Umweltverhältnis konstatieren kann, jedoch zugleich von der Kopräsenz unterschiedlichster Systemzusammenhänge ausgehen muss. Vom Standpunkt eines Systems aus gesehen lässt sich nicht die Dynamik anderer Systeme errechnen, wenngleich ein System, insofern es über hinreichende Reflexionsmöglichkeiten verfügt, damit rechnen muss, dass es andere Systeme gibt, die füreinander nicht vollkommen transparent sind. Systeme gehen also nicht in dem Sinne ineinander über, dass sie sich zu einem größeren System aufsummieren. Die systemtheoretische Beschreibung postuliert vielmehr auf allen Ebenen eine Differenzstruktur, entsprechend der Systeme eine Umwelt haben, in der dann ihrerseits wiederum Systeme vorkommen, die eine Umwelt haben. Bewusstseinssysteme, Kommunikationssysteme, neuronale Systeme, Zellen, Organismen und andere Systemzusammenhänge, die dann quer zu den mit diesen Systemtypen formulierten Grenzen liegen können (man denke wiederum an Batesons Mann mit der Axt), schließen sich weder aus, noch sind sie in einem reduktionistischen kausalen Zusammenhang aufeinander zurückzuführen. Sie stehen jedoch in einer Ermöglichungsbeziehung zueinander, da sie in konditionierter Koproduktion wechselseitig die Bedingungen ihrer eigenen Evolution hervorbringen. Soziale Systeme: Interaktion, Organisation, gesellschaftliche Funktionssysteme Gehen wir abschließend noch etwas ausführlicher auf soziale Systeme ein. In Hinblick auf die Frage, wie Kommunikation an Kommunikation anschließt, um einen spezifischen Systemzusammenhang zu bilden, sind hier selbstredend verschiedene Formen möglich. Luhmann unterschiedet insbesondere zwischen drei Typen sozialer Systeme: der Interaktion, der Organisation und den gesellschaftlichen Funktionssystemen (beispielsweise Recht, Wirtschaft, Politik und Medizin). In der Interaktion entsteht der systemische Zusammenhang dadurch, dass die an der Interaktion Beteiligten sich wechselseitig aufeinander beziehen, so dass sich auf diese Weise ein übergreifendes Gedächtnis aus Erwartungsmustern ausbilden kann, welche
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durch die Interaktionen in einer Weise bestätigt werden, dass sich die hiermit aufscheinenden Muster beständig reproduzieren (siehe etwa Watzlawicks Beispiel der Kommunikation eines Paares).51 Organisationen werden demgegenüber mit Luhmann als ein systemischer Zusammenhang charakterisiert, der sich durch die Kommunikation von Entscheidungen reproduziert.52 Mitgliedschaften, Ziele, Programme, Hierarchien und Pfade der Arbeitsteilung erscheinen dann zugleich als Ergebnis von Entscheidungen, wie auch als Ausgangspunkt für weitere Entscheidungen. In analoger Weise gewinnen auch die gesellschaftlichen Funktionssysteme, wie etwa das Recht, die Wirtschaft, die Wissenschaft oder andere Funktionssysteme eine spezifische Eigensinnigkeit, indem sie sich jeweils an einem andern Code ausrichten (die Wirtschaft an der Unterscheidung Haben/Nichthaben, die Wissenschaft am Code wahr/falsch und das Rechtssystem anhand der normativen Differenz von rechtmäßig/nicht rechtmäßig). Auch hier gilt wiederum, dass die Systemdynamik eines Systems nicht in der eines anderen aufgeht, sondern mit komplexen, verschachtelten System-Umweltverhältnissen zu rechnen ist. So mögen sich Organisationen üblicherweise bevorzugt an ein gesellschaftliches Funktionssystem ankoppeln – etwa ein Krankenhaus an das Medizinsystem oder eine Bank an das Wirtschaftssystem. Ihr systemischer Reproduktionsbezug ist jedoch nicht als identisch mit dem jeweiligen Funktionsbezug zu sehen. Unter dem Blickwinkel eines Systems als Funktion seiner selbst und seiner Umwelt gilt nämlich auch hier, dass mit dem Eigenwert der Organisation zugleich eine Differenz zu ihren unmittelbaren Umweltbezügen konstituiert wird. Nehmen wir etwa das Beispiel des modernen Krankenhauses.53 Mit Blick auf die unterschiedlichen Systemreferenzen gilt, dass das, was aus Perspektive eines Arztes oder eines Patienten als vernünftig und angemessen erscheinen würde, nicht unbedingt der Rationalität entsprechend muss, auf deren Basis sich die Organisation Krankenhaus reproduziert.
51Siehe zu Interaktionssystemen und mit Bezug auf die soziologische Interaktionsforschung André Kieserling (1999). 52Vgl. Luhmann (2000). 53Siehe ausführlich Vogd (2011).
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Ärzte können beispielsweise untereinander Unzufriedenheit im Hinblick auf ökonomisch überdeterminierte organisationale Entscheidungen äußern und betonen, dass sie sich der Medizin verpflichtet fühlen, sich also primär am Code krank/gesund orientieren, aber dennoch ab und zu nicht medizinisch indizierte Eingriffe durchzuführen, wenn die vom Management entschiedenen Anreizsysteme dies nahelegen (Systemreferenz Wirtschaft). Ebenso brauchen Interaktionssysteme, die unter den Mitarbeitern entstanden sind, nicht unbedingt die Ausrichtung der Organisation befürworten oder können Krankenhäuser als Organisation externe rechtlich Vorgaben unterlaufen (etwa indem sie im Als-ob Modus dokumentierten). Gerade am Beispiel der empirischen Organisationsforschung zeigt sich die Fruchtbarkeit der systemtheoretischen Perspektive.54 Denn besonders hier wird deutlich, wie Divergenzen zwischen inkommensurablen Beobachterperspektiven wirksam werden und auf welche verschiedenen Weisen die unterschiedlichen Systemreferenzen in ein Arrangement gebracht werden können.55 An dieser Stelle noch ein paar kurze Bemerkungen zu den gesellschaftlichen Funktionssystemen, die in diesem Rahmen nicht ausführlicher vorgestellt werden können. Auf Basis distinkter binärer Unterscheidungen, wie recht/unrecht, haben/nicht-haben, wahr/falsch oder krank/gesund lassen sich Kommunikationssysteme in hochspezifischer Weise engführen. In der Folge entstehen eigenständige Formen der operativen Schließung, zu nennen sind hier etwa die gesellschaftlichen Funktionssysteme Recht, Wirtschaft, Wissenschaft oder das Gesundheitssystem. Auch in den hier aufscheinenden spezifischen Typiken der Kommunikation kommt ein systemischer Zusammenhang jeweils zu sich selbst, indem hochselektiv bestimmt wird, was als Information gilt, an die angeschlossen werden kann. Eine der wesentlichen Leistungen der soziologischen Systemtheorie besteht gerade darin, gesellschaftliche Wirklichkeiten beschreiben zu können, in denen parallel an unterschiedlichsten Orten Verschiedenes geschieht, also gleichzeitig unterschiedliche systemische Zusammenhänge entstehen, die jeweils füreinander als Kontext der eigenen Systemevolution erscheinen. Auch die Gesellschaft erscheint entsprechend nicht als ein Ganzes, das aus unterschiedlichen Teilen zusammengesetzt ist. Denn so wie die Zellen eines Organismus sich nicht zu einer Superzelle verbinden, welche dann der Organismus ist, und die Bewusstseinssysteme einzelner
54Siehe 55Siehe
ausführlich etwa Vogd (2004) und Vogd et al. (2017). als gute Einführung in die Luhmannsche Differenzierungstheorie Luhmann (1986).
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Psychen nicht zu einem Superbewusstsein der Gemeinschaft fusionieren, gilt auch für die unterschiedlichen Kommunikationssysteme, dass sie nicht in einer Superkommunikation aufgehen, die dann die Gesellschaft wäre. Der Organismus, die Gemeinschaft, die Gesellschaft und andere Systeme haben vielmehr jeweils als ein Zusammenhang zu gelten, der ein jeweils eigenes System-Umwelt-Verhältnis generiert und nicht additiv aus unterschiedlichen Teilen zusammengesetzt zu denken ist. Dies heißt dann selbstredend nicht, dass die anderen Systemzusammenhänge nicht gebraucht werden, um das jeweils betrachtete System aufbauen zu können. Nur sind die Konstitutionsverhältnisse eben jetzt als komplexe zu verstehen. Es sind keine Einheiten, die eine Ganzheit bilden, sondern unterschiedlichste Systeme, die sich jeweils in Differenz zu ihrer Umwelt konstituieren und miteinander fluide Arrangements bilden, die jederzeit wieder auseinanderfallen bzw. in ein neues Arrangement übergehen können. Die soziologische Systemtheorie hat die Gesellschaft in diesem Sinne als ein polykontexturales Gebilde zu beschreiben, das vielfältige und unterschiedlichste Orte hervorbringt, von denen aus jeweils ein System eine Umwelt hat (in der dann jedoch andere Systeme bestehen, die dann ihrerseits eine Umwelt haben). Jedes soziale System (jede Interaktion, jede Organisation oder jedes Funktionssystem) erscheint damit seinerseits als eine bestimmte Form der Welterzeugung, das ein Selbst- und Weltverhältnis generiert, das sich als Einheit einer Differenz darstellt (nämlich als ein System-Umwelt-Verhältnis, welches die Differenz konstituiert, die es als Einheit voraussetzt), um hiermit in Differenz zu anderen Systemen zu treten, welche ebenfalls als ein auf diese Weise konfigurierter Zusammenhang rekonstruiert werden können. Der Beobachter – System im Unterschied zu einer Umwelt vs. Organismus mit Umwelt Auch der Beobachter wird – um es nochmals zu betonen – innerhalb der soziologischen Systemtheorie nicht als Subjekt-Objekt-Verhältnis konzeptualisiert (also nicht als ein subjektives Bewusstsein, das eine objektive Welt erkennt). Auch der Beobachter ist aus dieser Perspektive nichts anderes als ein rekursives Netzwerk von Unterschieden, die in einer Weise einen Unterschied machen, dass eben der Beobachter als Eigenwert entsteht. Der in dieser Weise konzeptualisierte Beobachter existiert jedoch nicht als ein von der Weltdynamik getrenntes Subjekt, sondern verdankt sich eben dieser Weltdynamik. Hiermit stellt uns die Systemtheorie vor eine intellektuelle Herausforderung. Denn sie fordert uns auf, um nochmals Baeckers Formulierung
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aufzugreifen,56 Systeme sowohl als ›Organismus mit Umwelt‹ wie auch ›als System-im-Unterschied-zu-einer-Umwelt‹ zu verstehen, ohne dabei die ontologische und epistemische Differenz dieser beiden Systemkonzeptionen aus dem Blick zu verlieren. Im ersten Fall können wir nur Bedingungen feststellen, die Phänomene erscheinen lassen, die keine intrinsischen Eigenschaften haben, sondern sich den vielfältigen Konstellationen endloser Netzwerke verdanken, die dann jedes System, jeden Organismus nur als Teil eines größeren Zusammenhangs begreifen lässt. Wir können dann Stoffflüsse feststellen, die zu Organismen führen, die miteinander interagieren und dann ein bestimmtes Verhalten zeigen. Gleichsam vom vermeintlichen objektiven Gottesaugenstandpunkt sehen wir dann die einzelnen Organismen (einschließlich von uns Menschen) in der Einbettung in der sie umgebende Welt. Diese Wesen erscheinen dann nicht selbst als Beobachter, sondern allein durch die vielfältigen Netzwerke determiniert, die ihre jeweils spezifische Organisationsform entstehen lassen. Im zweiten Fall begegnen wir Beobachtern, die in einer Welt leben, in der vielfältige andere Beobachter existieren, die jedoch aus Perspektive der operativen Schließung des jeweiligen Beobachters nicht zugänglich sind – es erscheint hier jeweils nur die eigene Welt, die aufgrund der Unterscheidungsoperationen des Systems aufgebaut wird. Diese beiden Beschreibungsebenen sind logisch inkommensurabel, denn im einen Fall verschwindet der Beobachter innerhalb der Beschreibung, während er im anderen Fall konstitutiv für die Beschreibung wird. Die hiermit einhergehende Spannung zwischen den widersprüchlichen Beschreibungen ist für die Kybernetik zweiter Ordnung konstititutiv. Denn eine Theorie der Beobachtung der Beobachtung, welche die Vorstellung einer objektiven Realität (und des vermeintlichen Subjektes, das diese erkennt), durch den Eigenwert eines kognitiven (informationsverarbeitenden) Rekursionsprozesses ersetzt, kann und darf in diesem Punkt nicht zur Einheit finden. Die Figur der Differenz der Einheit der Differenz oder anders ausgedrückt, der logischen Mehrwertigkeit von Systemen, ist hiermit als grundlegende Paradoxie der Systemtheorie hinzunehmen. Wenn jedoch die Paradoxie akzeptiert wird als der Preis, der für eine systemtheoretische Perspektive zu bezahlen ist, die auf einer Kybernetik zweiter Ordnung beruht, dann lässt sich auf forschungspraktischer Ebene in vielen Feldern auf äußerst produktive Weise mit systemtheoretischen Zugängen arbeiten. Es entsteht ein auch in empirischer Hinsicht 56Baecker
(2013, S. 300 f.).
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außerordentlich leistungsfähiger Zugang zu einer Vielzahl beobachtbarer Entitäten, die zugleich als autonom wie auch heteronom bedingt charakterisiert werden müssen. Letzteres ist immer dann der Fall, wenn die zu untersuchenden Phänomene zugleich über Mechanismen interner Informationsverarbeitung und damit über ein Gedächtnis verfügen. Sowohl in der Beschreibung des Verhaltens von Lebewesen als auch von komplexen sozialen Systemen, wie etwa Organisationen der Wirtschaft, Wissenschaft oder Politik eröffnet die Systemtheorie eine Vielzahl fruchtbarer Perspektiven. Viele der in diesen Zusammenhängen auftretenden Dynamiken lassen sich kaum anders aufschließen und erklären als über ein Eigenverhalten, das zugleich durch eine spezifische Geschichte der Interaktion mit der Umwelt konditioniert wird. Supertheorien – Theorien, die den Beobachter, der diese Theorien formuliert, miteinbeziehen Wie in der Einleitung beschrieben, stellt Luhmanns soziologische Systemtheorie in dem Sinne eine Supertheorie dar, als dass die mit ihr entwickelte Theorie der Kommunikation bzw. Theorie der Gesellschaft selbst wieder in die Gesellschaft als Kommunikation eintritt und hiermit als ›Beobachtung‹ in allen Beschreibungen virulent wird. Ebenso wurde in den Ausführungen deutlich, dass die Kybernetik zweiter Ordnung gleichzeitig als Pate weiterer Supertheorien anzusehen ist. Allen voran ist hier die von Maturana und Varela formulierte Theorie der Autopoiesis zu nennen, die biologische Organismen als Prozessstrukturen beschreibt, die sich über die strukturelle Koppelung neuronaler Systeme hinweg selbst als Handelnde und damit zugleich auch als Beobachter hervorbringen. Kommen wir nun zu der Quantentheorie als einer weiteren Supertheorie, die jedoch von ihrer Genese her nicht dem interdisziplinären kybernetischen Paradigma entsprungen ist. Sie ist und bleibt in der Theoriegeschichte der Physik verortet. Wenngleich einem anderen Diskurszusammenhang entstammend, taucht auch mit ihr – spätestens seit der mathematischen Rekonstruktion John v. Neumann ein Beobachter auf, der seinerseits nicht außerhalb der zu untersuchenden Prozesse zu stehen scheint.
Die Quantenphysik »It is wrong to think that the task of physics is to find out how Nature is. Physics concerns what we can say about Nature.« Niels Bohr57 57Zitiert
nach French und Kennedy (1985, S. 299).
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»No question, no answer. […] In brief, the choice of question asked, and choice of when it’s asked, play a part — not the whole part, but a part — in deciding what we have the right to say.« Achibald Wheeler58
In der klassischen Physik können die Eigenschaften zusammengesetzter Systeme – so die zentrale reduktionistische Annahme – zumindest prinzipiell aus dem Verhalten und den Charakteristika der sie konstituierenden Elemente abgeleitet werden. Zum Beispiel kann ein Gas als ein Ensemble von Teilchen gedacht werden, die sich auf ihren Bahnen durch den Raum bewegen und dabei von unterschiedlichen Kräften angezogen oder abgestoßen werden und miteinander interagieren, um die makroskopischen Eigenschaften des Gases hervorzubringen. Ihr Verhalten kann durch Differenzialgleichungen exakt beschrieben werden. Kräfte wirken kontinuierlich auf einzelne Teilchen ein, beschleunigen oder bremsen sie. Mit den Feldtheorien und dann auch mit den relativistischen Beschreibungen werden die Modelle komplexer, doch es bleibt bei der Auffassung, dass die Eigenschaften eines Systems oder seiner Teile einen bestimmten Wert haben – auch wenn er nicht gemessen werden kann. Minimale Schwankungen in den Anfangsbedingungen können zwar immense Auswirkungen auf die Ausprägung eines späteren Systemzustands haben, da iterative rekursive Prozesse kleinste Abweichungen zu großen Effekten verstärken können (man denke etwa an den Schmetterlingseffekt, von dem die Chaosforschung spricht59). Doch ändert dies nichts daran, dass auch diese Systeme sich entsprechend den klassischen physikalischen Prinzipien erklären lassen, nämlich als Materie und Energieflüsse, die fern vom thermodynamischen Gleichgewicht aufgrund von Rückkopplungen spontan Strukturen hervorbringen können. Diese Prozesse können mittels nichtlinearer Differenzialgleichungen beschrieben werden. Auch hier wird in der Modellierung der physikalischen Realität von einem deterministischen Verhalten ausgegangen, sodass es bei Kenntnis aller Variablen eines gegebenen gegenwärtigen Zustandes prinzipiell möglich wäre, die Zukunft und sämtliche bereits vergangenen Zustände des Universums exakt zu berechnen.
58Wheeler 59Siehe
(1990, S. 316 f.). zur Einführung Takens und Broer (2011).
Einführung 41
Gleiches gilt für die von Albert Einstein entwickelte Relativitätstheorie, mit der eine Raumzeit eingeführt wurde, deren Geometrie durch Masse und Energie beeinflusst bzw. gekrümmt wird. Die Zeit ist demnach nicht mehr eine absolute Größe, sondern abhängig von Ort und Bewegung. Doch auch hiermit wird noch nicht das realistische und reduktionistische Prinzip aufgegeben. Von einem Gottesaugenstandpunkt gesehen, würden sich auch hier Zukunft und Vergangenheit von einem beliebigen Ausgangszustand heraus errechnen lassen. In diesem Sinne ist auch die Relativitätstheorie noch ein klassisches physikalisches Konzept. Die klassische Physik geht mit einer bestimmten Ontologie oder konkreter ausgedrückt mit einem spezifischen Set metaphysischer Vorstellungen über die Welt einher. Insbesondere zwei Annahmen sind in unserem Zusammenhang von besonderer Bedeutung, da sie mit der Quantentheorie fraglich werden: 1. Realismus: Ein Teilchen oder sonst ein Element der physikalischen Welt ist bereits vor seiner Messung vollständig definiert und charakterisiert. Seine Eigenschaften existieren also unabhängig davon, ob ein Beobachter sie misst und ob das Universum in der einen oder anderen Form von ihnen Kenntnis nimmt.60 2. Lokalität: Wechselwirkungen zwischen Teilchen und den hier vermittelnden Kräften können nur lokal stattfinden, d. h. ihre Wirkung ist auf ihre unmittelbare räumliche Umgebung beschränkt. Entsprechend der Annahme der lokalen Kausalität können auch Informationen nicht schneller als Licht ausgetauscht werden. Die Modellierung der klassischen Physik geht zudem mit einem bestimmten mathematischen Formalismus einher, wie er bereits von Isaak Newton und Gottfried Willhelm Leibniz entwickelt wurde. Gemeint ist die Differenzialrechnung. Differenzialgleichungen erlauben, Veränderungen innerhalb physikalischer Systeme mittels kontinuierlich verlaufender Trajektorien zu beschreiben, die sich daraus ergeben, dass Kräfte auf Teilchen einwirken. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts begegneten die Physiker jedoch in ihren Experimenten einer Reihe von Phänomenen, bei denen es, wie Albert
60Der Begriff Realismus bezieht sich auf den ›naturwissenschaftlichen Realismus‹, ist hier also nicht im Sinne der philosophischen Tradition mit dem Gegensatzpaar des Idealismus verbunden, sondern bezeichnet die Auffassung, das Wirklichkeit beobachterunabhängig ist.
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instein ausdrückte, irgendwie »sinnwidrig« erschien, ihre »Gesetze durch E Kombination von Differentialgesetzen und Integralbedingungen auszudrücken«.61 Während dies in der Physik des 18. Jahrhunderts noch bei allen physikalischen Phänomenen zu gelingen schien, ergaben sich insbesondere in der Atomphysik, aber auch mit Blick auf die Frage der Eigenschaften von Licht Widersprüche zwischen Experiment, mathematischer Modellierung und physikalischer Anschauung. So zeigten sich etwa beim photoelektrischen Effekt diskontinuierliche Wirkungsprozesse. Ob durch Lichtstrahlung ein Elektron aus einem Festkörper herausgelöst werden kann, hängt nämlich nicht von der ›Menge‹ des Lichts ab (etwa von der Dauer der Einstrahlung), sondern allein davon, dass eine bestimmte Frequenzschwelle überschritten wird. Man kann noch so viel niederfrequentes Licht einstrahlen, doch es passiert nichts. Demgegenüber kann eine sehr geringe Menge hochfrequenten Lichts bereits den photoelektrischen Effekt auslösen. Die Absorption und Emission von Licht innerhalb des Atoms legt also eine Wechselwirkung im Rahmen wohldefinierter ›Energiepakete‹ nahe, welche als Quanten bezeichnet wurden. Bei der mathematischen Darstellung dieses Phänomens schien nun die Newtonsche Differenzialrechnung an ihre Grenzen zu kommen, da man auf einmal mit Diskontinuitäten und Sprüngen konfrontiert war, wohingegen die bisher in der Physik verwendeten Differenzialgleichungen auf die exakte Berechnung kontinuierlicher Veränderungen angelegt waren.62 Hiermit verlangte – so Einsteins Worte – gerade die »Erfahrung nach dem Ausdruck einer höheren Stufe von Gesetzlichkeit«,63 wobei der Nobelpreisträger schon 1922 vermutete, dass bestimmte Anschauungen oder Gesetze der klassischen Physik dann möglicherweise nicht mehr universell gelten würden. Die theoretische Physik, deren Vorhersagen bislang bei nahezu allen beobachtbaren empirischen Phänomenen Erfolg hatten, kam in ihrer jungen Geschichte zum ersten Mal in eine Krise. Die Verbindung von physikalischer Anschauung und Mathematik funktionierte nicht mehr. Die führenden Köpfe der Physik suchten insbesondere in Hinblick auf die offenen Fragen der Atomphysik angestrengt nach Lösungen.
61Einstein
(1922, S. 238 f.). der Schrödinger-Gleichung wurde dann jedoch gezeigt, dass auch nichtklassische physikalische Prozesse auf Basis von Differenzialgleichungen beschrieben werden können. 63Einstein (1922, S. 238 f.). 62Mit
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Operatoren und deren Eigenwerte statt vorbestimmter Größen und Elemente Werner Heisenberg gelang 1925 mit Hilfe der geschickten Anwendung der Matrizenrechnung zum ersten Mal die mathematische Formulierung der Gesetzlichkeit, um die quantisierten Prozesse innerhalb der Atomphysik angemessen beschreiben zu können. Der methodologische Schritt, der den Durchbruch einleitete, war revolutionär. Heisenberg entschloss sich, auf das Konzept von Teilchen bzw. Elektronenbahnen vollkommen zu verzichten und stattdessen nur »Gesamtheiten« von beobachtbaren Größen aufzunehmen, wie etwa die innerhalb des Systems erhobenen Frequenzen und Amplituden. Wenngleich auf einem abstrakten mathematischen Formalismus beruhend, gelang es mit Hilfe eines Schemas selbstadjungierter Matrizen, »die stationären Zustände des Atoms« sowie die »Übergangswahrscheinlichkeiten von einem Zustand in den anderen« auszurechnen.64 Dabei musste man jedoch die empirischen Werte voraussetzen und sie als Input in die Matrizenmechanik hereingeben. Die Schrödinger-Gleichung gestattete darüber hinaus, die möglichen Erregungszustände der Verbindung von Atomkern und Elektron a priori exakt zu berechnen, wobei – entsprechend der Quantisierung – nun nur bestimmte Zustände möglich sind. Der mathematische Formalismus, der in den folgenden Jahren noch genauer ausgearbeitet wurde, zeigte sich in einer Vielzahl von Feldern als außerordentlich vorhersagekräftig, sei es bei der Berechnung des radioaktiven Zerfalls, in der Teilchenphysik, bei der Halbleiterelektronik, bei Phänomenen wie Supraleitung und Suprafluidität oder auch innerhalb der Grundlegung der Chemie. Mit der Wellenfunktion der Schrödinger-Gleichung und den Zustandsvektoren der Dirac-Notation entstanden alternative zueinander komplementäre mathematische Formulierungen der Quantenmechanik, was die Anwendungsmöglichkeiten dieses Theorieansatzes nochmals verbreiterte. Die Quantentheorie hat sich mittlerweile in nahezu allen Gebieten der Physik bewährt und gilt heutzutage neben der allgemeinen Relativitätstheorie als eine der beiden Fundamentaltheorien der Physik. Allerdings besteht bislang noch keine schlüssige und in allen Aspekten widerspruchsfreie Konzeption, welche diese beiden Großtheorien vereint.
64Aus
Heisenberg (2010, S. 74 ff.) Kap. 5 »Die Quantenmechanik und ein Gespräch mit Einstein«.
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Ebenso besteht unter den Physikern bis heute keine Einigkeit darüber, was die Quantentheorie eigentlich bedeutet, beziehungsweise welche physikalischen Anschauungen mit ihr zu verbinden sind. Seit Beginn ihrer Entstehung wirft die Quantentheorie die Frage auf, wie ihr mathematischer Formalismus eigentlich zu interpretieren ist. Heisenberg selbst bemerkte nach seiner Entdeckung: »Ich kann nicht behaupten, daß wir die Quantenmechanik schon verstanden hätten. Ich vermute, daß das mathematische Schema schon in Ordnung ist, aber der Zusammenhang mit der gewöhnlichen Sprache ist noch nicht hergestellt.«65
Wenige Jahre nach seiner Entdeckung hatten die Physiker und die Mathematiker die Eigenarten des quantenmechanischen Formalismus zwar schon ein wenig besser erkundet, doch die Probleme mit der Interpretation traten eher noch deutlicher zutage. Mit der Wellenfunktion der Schrödinger-Gleichung gab es nun eine alternative Formulierung. Auch hier wurden die Observablen der klassischen Physik durch mathematische Funktionen, sogenannte Operatoren ersetzt. Innerhalb der Mathematik wird ein Operator üblicherweise als ein mathematischer Kalkül bezeichnet, der auf Elemente eines Raumes einwirkt, um Elemente eines anderen Raumes (der jedoch auch der ursprüngliche sein kann) zu erzeugen. Wie schon die Matrizenrechnung zeichnet sich die Verrechnung von Operatoren durch eine Besonderheit aus: Bei der Multiplikation zweier Operatoren oder Matritzen macht es nämlich einen Unterschied, in welcher Reihenfolge man sie miteinander verrechnet. Ob man beispielsweise erst die Impulsmatrix p anwendet und dann mit der Ortsmatrix q multipliziert ergibt ein anderes Ergebnis, als wenn man in umgekehrter Reihenfolge vorgehen würde. Der Unterschied, der sich aus der Abfolge ergibt, wird durch folgende mathematische Beziehung ausgedrückt66: pq − qp = h/(2πi)
Auf physikalisch-konzeptioneller Seite bringt diese Beziehung die Konsequenz mit sich, dass Impuls und Ort (wie auch andere Paare von Eigenschaften) in der Quantenphysik in einer nichttrivialen Weise
65Heisenberg 66Der
(2010, S. 74 ff.). Buchstabe h steht für das Plancksche Wirkungsquantum, π für die Kreiszahl und i für imaginär.
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iteinander gekoppelt sind. Da nämlich diese Observablen jetzt durch m Operatoren ersetzt werden, verändert die Bestimmung der einen Funktion das, was in Bezug auf die andere Eigenschaft möglich ist und umgekehrt. Dies führt im Verhältnis zu der Beschreibungsweise der klassischen Physik zu einer Anomalie, die in der berühmten Heisenbergschen Unschärferelation ausgedrückt wird: �p�q ≥ h/(2π)
Sinngemäß in Worten ausgedrückt besagt die Ungleichung: Insofern die eine Variable, etwa der Ort sehr genau gemessen wird, erscheint die komplementäre Variable, hier der Impuls, unbestimmt und umgekehrt. Während also in der klassischen Physik Ortskoordinaten, Impulse und andere Eigenschaften von ›Teilchen‹ unabhängig voneinander bestehen, erscheinen diese in der Quantenphysik kontextualisiert. Unter Kontextualisierung ist hier zu verstehen, dass eine Eigenschaft nicht aus sich heraus besteht, sondern erst in einem bestimmten Kontext als Messwert feststellbar wird und eine bestimmte Qualität bekommt. In dem benannten Beispiel erscheint dann beispielsweise die Unbestimmtheit des Impulses als eine kontextabhängige Eigenschaft: Insofern der Ort eines Quantenteilchens sehr genau lokalisiert wird, kann sein Impuls nahezu beliebige Werte annehmen. Auf diese Weise lässt sich auch das Phänomen des radioaktiven Zerfalls erklären: Aufgrund der Unschärferelation können die Teilchen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit die Bindekräfte innerhalb des Atomkerns überwinden, also spontan außerhalb des Bereichs der Anziehung erscheinen, die sie wieder in den Kern zurückziehen würden. Nach den Gesetzen der klassischen Physik würden sie nicht über die hierfür notwendige Energie verfügen. Die Bestimmung auf der einen Seite führt zur Unbestimmtheit bzw. Nichtbestimmbarkeit auf der anderen Seite, so also einer der grundlegenden Befunde der Quantenphysik. Ihr Formalismus erzwingt zudem ein radikal anderes Verständnis davon, was eine Messung eigentlich ist, da er es nicht mehr zulässt, erhobene Daten als Verweise auf Eigenschaften zu verstehen, die bereits vor der Messung bestanden (wenngleich sie auch unbekannt waren). Vielmehr erscheinen manche Eigenschaften, wie zum Beispiel das Hervortreten einer Elektronenbahn, erst in Folge einer bestimmten Kontextualisierung. »Die Bahn entsteht erst dadurch, daß wir sie beobachten«, formuliert Heisenberg bereits im Jahre 1927 in ungezwungener Art.67
67Heisenberg
(1927, S. 66).
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Um zu konkreten Werten zu gelangen, welche dann als Eigenschaften erscheinen, ist jetzt zugleich immer die komplette Messvorrichtung – also der Versuchsaufbau als komplettes System – zu betrachten. Denn erst hier entscheidet sich, welche der komplementären Variablen fokussiert wird (etwa Ort oder Impuls), um damit zugleich die im Sinne der Heisenbergschen Unschärferelation konjugierte Variable als unbestimmt erscheinen zu lassen. Innerhalb der mathematischen Sprache der Quantentheorie wird jede messbare Größe (z. B. Ort, Impuls, Energie) durch einen sogenannten hermiteschen Operator beschrieben. Der Zustand eines Quantensystems ist hingegen durch eine Wellenfunktion dargestellt (üblicherweise ausgedrückt durch das Symbol ψ). Es gibt Wellenfunktionen, die mit bestimmten Operatoren eine besondere Beziehung haben und deswegen als Eigenzustände (oder Eigenfunktionen ) jenes Operators bezeichnet werden. Wenn ein Operator auf einem seiner Eigenzustände angewendet wird, ergibt sich daraus jeweils die ursprüngliche Wellenfunktion, aber multipliziert mit einer Zahl, die als entsprechender Eigenwert bezeichnet wird. Jeder Operator hat ein bestimmtes Set an Eigenwerten – und diese entsprechen allen möglichen Werten, die in einer konkreten Messung jener Größe in einem Experiment beobachtet werden können. Wenn die Wellenfunktion eines Systems von Anfang an der Eigenzustand eines Operators ist, dann ist das Ergebnis der entsprechenden Messung in der Quantenwelt genauso vorherbestimmt wie in der klassischen Physik. Jedoch befinden sich Quantensysteme meistens nicht in solch einem besonderen Quantenzustand, sondern ihre Wellenfunktion besteht dann vielmehr aus der Kombination von zwei oder mehr Eigenfunktionen. Bei der Messung wird dann die ursprüngliche Wellenfunktion auf die eine oder andere Eigenfunktion des entsprechenden Operators projiziert und als Messergebnis erscheint der relevante Eigenwert. Da aber die finale Wellenfunktion wiederum von dem Operator bestimmt ist, welcher den Versuchsaufbau repräsentiert, erscheint auch diese wiederum kontextualisiert. Auch die Eigenzustände von Quantensystemen sind damit nicht per se gegeben, sondern verdanken sich wiederum dem Arrangement des ganzen Messsystems. Dies mündet schließlich in den mit der klassischen Perspektive nicht so recht zu vereinbarenden Befund, dass ein veränderter Versuchsaufbau andere Eigenschaften des gemessenen Objekts hervorbringt. Um nochmals zusammenzufassen: Die Quantenphysik beschreibt die Eigenschaften konkreter Entitäten (z. B. Photonen, Elektronen, Atome oder Moleküle) durch Operatoren, also nicht mehr wie in der klassischen
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Physik durch die konkreten Werte unabhängiger Variablen. Dies führt dazu, dass Eigenschaften wie Ort, Energie, Impuls, Spin, Polarisation nicht mehr per se gegeben sind, sondern ihrerseits wiederum vom Kontext, etwa vom Versuchsaufbau abhängig sind. Die Operatoren, welche die (möglichen) Eigenschaften repräsentieren, haben ja noch keine konkreten Werte. Diese entstehen erst, wenn der weitere Kontext festgelegt wird. Mit Blick auf die Frage der Richtung des Spins, den ein Teilchen einnimmt, lässt sich dies mit Heisenberg etwa folgendermaßen verstehen: Wenn in einem »mehrdimensionalen Raum eine bestimmte Richtung willkürlich vorgegeben wird (nämlich durch die Art des angestellten Experimentes festgesetzt wird) und gefragt wird, welches der ›Wert‹« ist, der sich aus der »Matrix« bzw. der Wellenfunktion »in dieser vorgegebenen Richtung« errechnet,68 ergeben sich je nach gewähltem Kontext unterschiedliche Antworten. Je nachdem wie die Frage gestellt ist – also der Versuchsaufbau gewählt wird –, ergibt sich immer das gleiche Ergebnis oder (diskrete) Zufallsverteilungen, wenn sich das System nicht in einem Eigenzustand befindet. Oder um es wieder mit Heisenberg auszudrücken: »Die Resultate zweier Experimente lassen sich nur dann exakt auseinanderhalten, wenn die beiden Experimente die physikalischen Größen in gleicher Weise in ›bekannte‹ und ›unbekannte‹ einteilen«, also »in beiden Experimenten von der gleichen Richtung ›angesehen‹ werden«. Führen demgegenüber ›zwei Experimente‹ zu verschiedenen »Einteilungen in ›Bekanntes‹ und ›Unbekanntes‹, so läßt sich der Zusammenhang nur statistisch angeben.«69 Wenn ich also ausgewählte Eigenschaften von Quantenobjekten in einer bestimmten Weise bestimme, erscheinen andere Eigenschaften ebendieser Objekte unbestimmt. Aus diesem Grunde ergeben sich ihre Eigenschaften – das, was bestimmt und was unbestimmt ist – dadurch, welche Frage ich mit dem von mir gestalteten Versuchsaufbau stelle. Operativer Monismus – epistemischer Dualismus: Der Beobachter als Teil des Systems Bereits 1927 führt Heisenberg hiermit – gleichsam mit einem Augenzwinkern – den Beobachter ein, so als ob die Ergebnisse eines Versuches davon abhängen würden, wie bzw. von welcher Seite sie ›angesehen‹ würden. Heisenberg setzt dieses Wort jedoch bewusst in Anführungsstriche, um
68Heisenberg 69Heisenberg
(1927, S. 62). (1927, S. 63).
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darauf hinzuweisen, dass hier nach Bildern aus dem Bereich der Alltagssprache gesucht wird, mit denen sich die Eigenarten des in keiner Weise anschaulichen Formalismus der Quantentheorie irgendwie verständlich machen lassen. Zudem weist Heisenberg bereits in dem benannten Aufsatz darauf hin, dass »die statistischen Gesetze selbst in der Quantenmechanik und in der klassischen Theorie verschieden« sind.70 Die Unbestimmtheiten der Quantentheorie betreffen nicht nur Ensembles sondern auch individuelle Systeme.71 Zudem kann es in der statistischen Beschreibung klassischer Systeme keine Interferenzen positiver und negativer Wahrscheinlichkeiten geben, denn hier gilt die einfache Regel, dass bei einer Wahrscheinlichkeit von 1 ein Ereignis immer auftritt, bei einer Wahrscheinlichkeit von 0 niemals. Negative Werte innerhalb der Wahrscheinlichkeitsfunktion ergeben hier schlichtweg keinen Sinn. Das wohl bekannteste Beispiel für die kontraintuitiven Konsequenzen der Quantentheorie ist das sogenannte Doppelspaltexperiment, mit dem sich die Kontextabhängigkeit der Messergebnisse von Quantensystemen recht gut verdeutlichen lässt: Lassen wir Licht, Elektronen oder andere Elementarteilchen von einer punktförmigen Quelle auf eine Wand treffen, die eine kleine Spaltöffnung hat, so tritt ein wenig durch die Öffnung hindurch und wird in Form eines unscharfen Balkens auf einem hinter jener Wand befindlichen Schirm sichtbar. Man kann die Strahlung der Quelle nun so weit reduzieren, dass sich die ›Teilchen‹ beim Auftreffen jeweils einzeln nachweisen lassen. Auf dem Schirm zeigen sich dann punktförmige Ereignisse, deren Orte im Rahmen des unscharfen Balkens verteilt sind (Abb. 4 und 5). Zählt man eine Vielzahl solcher Ereignisse aus, so ergibt sich für ihre Häufigkeitsverteilung wieder das Balkenmuster. Wenn wir aber einen Doppelspalt, d.h. eine Wand mit zwei parallel angeordneten Spalten verwenden, präsentiert sich ein merkwürdiges Ergebnis. Entsprechend dem Teilchenmodell würden wir entsprechend den Gesetzen der klassischen Physik erwarten, dass ein einzelnes Lichtquant oder Elementarteilchen entweder durch den einen oder den anderen Spalt tritt. Auf dem Schirm würden wir demnach für jeden Spalt ein Balkenmuster sehen, das wiederum an seinen jeweiligen Grenzen unscharf erscheint. Für das Gesamtbild des Doppelspaltexperiments würden wir dementsprechend vermuten, dass sich
70Heisenberg
(1927, S. 67). dies ist auch von Karl Popper, der noch lange versucht hatte, die Quantentheorie in klassische Gefilde zu überführen – lange nicht verstanden worden. Vgl. Popper (1967). 71Gerade
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Abb. 4 und 5 Schirm beim Experiment mit einem Spalt. Die einzelnen Ereignisse streuen im Bereich eines Balkens mit unscharfen Grenzen. (Dieses und die folgenden Videogramme entstammen der Dokumentation »Das geheimnisvolle Reich der Quanten«, erstellt von Gerald Kargl GesmbH Filmproduktion Wien. Quelle: https:// www.youtube.com/watch?v=H8wYruB1kzA (Abruf, 30.07.2019).)
diese beiden Bilder addieren, denn dem Teilchenmodell zufolge ist davon auszugehen, dass wir es weiterhin mit streuenden Einzelereignissen zu tun haben, die unabhängig voneinander durch die beiden Spaltöffnungen treten. Das reale Experiment offenbart demgegenüber ein anderes Ergebnis: Wir finden ein Interferenzmuster vor, das seinem Erscheinungsbild nach an Wellen erinnert, die sich überlagern. Auf dem Schirm zeigt sich ein
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Streifenmuster, in dem sich helle und schwarze Streifen periodisch und in kontinuierlichen Übergängen abwechseln. Wenn man aber die Quelle wieder so weit reduziert, dass sich Einzelereignisse beobachten lassen, zeigen sich auf dem Schirm wiederum punktförmige Ereignisse. Zählt man erneut eine große Menge dieser Ereignisse aus, ergibt sich für ihre Häufigkeitsverteilung gleichermaßen das Wellenmuster. Insofern wir jetzt also weiter von dem Teilchenmodell ausgehen, würde sich die Frage stellen, woher ein Teilchen ›weiß‹, dass es auf dem Schirm nicht auf die dunklen Streifen des Interferenzmusters fallen darf. Wenn wir demgegenüber entsprechend einem Wellenmodell von Lichtwellen (bzw. bei Verwendung von anderen Elementarteilchen von Materiewellen) ausgehen, wäre ein Teil des Ergebnisses leicht zu erklären. Wie Wellen es eben tun, würden sie auch hier durch beide Öffnungen gehen, jedoch danach ein Interferenzmuster generieren, in dem sich Wellenberge und Wellentäler überlagern. Auf dem Schirm sehen wir allerdings jeweils nur punktförmige Ereignisse, aus denen das Gesamtbild – das Streifenmuster – zusammengesetzt wird. Auch das Wellenbild lässt sich also nicht konsequent durchhalten. Die Beschreibung des beobachteten Phänomens hätte entsprechend komplementär auch noch das Teilchenbild zu verwenden, wobei sich eben diese beiden Beschreibungen einander logisch ausschließen. Ein Teilchen ist punktförmig lokalisiert, eine Welle demgegenüber über den Raum hinweg ausgedehnt. Im Sinne von Niels Bohr bleibt hier also nichts anderes übrig, als zwei einander widersprechende klassische Beschreibungen zu verwenden, da sich eben in der Alltagssprache nicht auf andere Weise über diesen Sachverhalt sprechen lässt (Abb. 6 und 7).72 Man kann das oben beschriebene Experiment jetzt abwandeln, indem man hinter jeder Spaltöffnung jeweils einen Detektor anbringt, mit dem sich feststellen lässt, ob ein Teilchen hindurchgegangen ist. Hierbei zeigt sich der Befund, dass ein solches Ereignis entweder an dem einen oder dem anderen Spalt detektiert werden kann. Der Versuch der Bestimmung führt jedoch merkwürdigerweise zu der Konsequenz, dass nun kein Interferenzmuster mehr auf dem Schirm hinter der Wand erscheint. Die Auszählung der Ereignisse führt hingegen jetzt zu einer Häufigkeitsverteilung, die der Addition von zwei Einzelspaltexperimenten entspricht. Man hat weiterhin zwei Spaltöffnungen, doch der Sachverhalt der Messung des Orts, an dem das Licht hindurchtritt, bringt das Wellenmuster zum Verschwinden (Abb. 8).
72Siehe
Bohr (1928).
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Abb. 6 und 7 Schirm beim Doppelspaltexperiment. Hinsichtlich der Verteilung zeigen sich Maxima mit hoher Intensität sowie Streifen, an denen keine Ereignisse anzutreffen sind
Mit Hilfe des üblichen mathematischen Formalismus der Quantentheorie lassen sich die Befunde des Doppelspaltexperiments leicht ableiten. Die Messung des Durchgangsortes verändert den Kontext der Versuchsanordnung und entsprechend sind die Eigenzustände des Systems nun andere. Sie lassen sich jetzt nicht mehr als Superposition, d.h. Überlagerung, aus |rechter Spalt� + |linker Spalt� beschreiben, da die Messung einen zusätzlichen Positionsoperator in das Gesamtsystem einbringt, der die
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Abb. 8 Doppelspaltexperiment mit Messung. Ein Detektor ermittelt die Weginformation. Hiermit verschwindet jedoch das Interferenzbild und man erhält zwei Balkenverteilungen, die der Summe zweier getrennter Einzelspaltexperimente entsprechen würden
öglichen Eigenwerte verändert. In der Folge verschwindet die Interferenz. m Allerdings tritt eine neue Ungewissheit auf: An welchem der beiden Spalten ein Teilchen detektiert werden kann, ist nun unbestimmt, es erscheint zufällig an der einen oder der anderen Spaltöffnung – und genau dies wird ja durch den Formalismus der Quantentheorie vorhergesagt. Wie, bzw. ob diese Befunde überhaupt in eine physikalische Anschauung übersetzt werden können, ist unter Physikern, wie bereits gesagt, auch heute noch alles andere als klar, da zudem verschiedene, mit dem mathematischen Formalismus der Quantentheorie kompatible Interpretationen denkbar sind. Man könnte etwa annehmen – wie Heisenberg es anfänglich auch getan hatte –, dass zunächst die Wellenfunktion das System beherrscht (und sich hier verschiedene Pfade überlagern und entsprechend der Wellenbeziehung verstärken oder auslöschen können), dann aber durch die Messung die Wellenfunktion irreversibel zu einem Teilchen kollabiert (einem konkreten messbaren Ereignis) und damit auch die Interferenz zwischen den unterschiedlichen möglichen Wegen verschwindet. Mittlerweile ist allerdings eine Reihe von Versuchsanordnungen entwickelt worden, deren Ergebnisse dieser Auffassung widersprechen. Man denke an die Delayed Choice und die Quantum Eraser Experimente,73 die aufzeigen, dass die klassische 73Siehe
etwa Jacques et al. (2007) und Walborn et al. (2002).
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Anschauung von Teilchen, die beobachterunabhängig einen bestimmten Weg einnehmen, auch nach einer Messung nicht so recht funktioniert. Der einzige Faktor, der sich für die Vorhersage des Versuchsausgangs als relevant erweist, scheint die Frage zu sein, ob sich aufgrund der Versuchsanordnung prinzipiell eine Weginformation gewinnen lässt. Wenn wir in einem Quantensystem nach einem bestimmten Weg fragen, bekommen wir die Weginformation. Wenn wir nicht nach dem Weg fragen, erhalten wir die Interferenz – es scheinen also alle möglichen Wege gleichzeitig genommen zu werden. Wenn wir eine zuvor gestellte Frage durch eine entsprechende Versuchsanordnung wieder unbeantwortbar machen, verschwindet auch die ursprüngliche Antwort. Um Heisenberg zu paraphrasieren: Auch hier entstehen die Pfade erst dadurch, dass wir sie beobachten. Die Befunde der Quantenphysik lassen sich zumindest dann widerspruchsfrei deuten, wenn darauf verzichtet wird, dass die von ihnen untersuchten Gegenstände intrinsische Eigenschaften haben (also etwa Teilchen oder Wellen sind, die eine bestimmte Bahn verfolgen oder in eine bestimmte Richtung propagieren). Der Beobachtungsprozess ist damit inhärenter Teil des physikalischen Systems. Auf einer operativen Ebene landen wir damit bei einem Monismus, der nicht zwischen Beobachtung und Beobachtetem trennen lässt. Auf praktischer Ebene ist da jedoch jemand, der beobachtet, Experimente durchführt und dem Versuchssystem seine Fragen stellt. Epistemisch verbleiben also auch die Quantenphysiker in einer dualistischen Welt. Kontextualisierung: Es gibt keine intrinsischen Eigenschaften physikalischer Entitäten Der quantentheoretische Formalismus – so auch der Befund einer jüngeren Rekonstruktion der Quantenmechanik durch den Mathematiker Simon Kochen74 – ist gerade deshalb konsistent (und zwar selbst in Hinblick auf Phänomene, für die eine klassische Beschreibung hinreicht), weil er die Eigenschaften physikalischer Entitäten nicht als intrinsisch gegeben ansieht, sondern extrinsisch, d.h. mittels der Verwendung von Operatoren kontextabhängig definiert. Dies hat, wie bereits mehrfach angedeutet, Konsequenzen, die mit den Anschauungen der klassischen Physik und den hiermit einhergehenden logischen Verhältnissen (genauer: die logische Struktur der booleschen Algebra) nicht vereinbar sind: Andere Kontexte lassen bei den Elementen, die in diesem Kontext entstehen, andere Eigenschaften erscheinen. So ist es 74Kochen
(2017).
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möglich, dass von einem Standpunkt aus gesehen ein Wahrheitswert nicht definiert ist, während von zwei anderen Orten aus betrachtet, sehr wohl konkrete Messergebnisse als Eigenwerte beobachtet werden können.75 Eine der wohl wichtigsten und merkwürdigsten Konsequenzen der Quantentheorie ist die sogenannte Verschränkung. Diese besagt, dass zwei Elemente, die zuvor eine bestimmte Eigenschaft hatten, in einer Weise miteinander gekoppelt werden können, dass in der Folge bei den beiden Teilen diese Eigenschaft nicht mehr unabhängig vom jeweils anderen Teilchen bestimmt ist. Sobald nämlich später bei einem Element eine Eigenschaft durch eine Messung bestimmt wird, zeigt sich bei dem anderen die gekoppelte Eigenschaft. Werden beispielsweise zwei Photonen in einer bestimmten Weise verschränkt, so ist ihre Polarisation (die Drehrichtung) im Raum (also ob die Welle etwa senkrecht oder quer zur Ausbreitungsrichtung propagiert) zunächst nicht mehr bestimmt. Wenn jedoch die Polarisation des einen Photons gemessen wird, so manifestiert sich bei dem verschränkten Partnerphoton spontan die gleiche oder die komplementäre Ausrichtung (je nachdem, wie sich die Beziehung der Koppelung jeweils gestaltet). Verschränkung: Die Bestimmung generiert zugleich Unbestimmtes In der Quantenphysik kann ein zusammengesetztes physikalisches System (z. B. unser oben dargestelltes System aus zwei Photonen) als Ganzes genommen einen wohldefinierten Zustand einnehmen, ohne dass jedoch den beteiligten Teilsystemen (hier den beiden Photonen) ein eigener wohldefinierter Wert zugeordnet werden kann (etwa eine bestimmte Polarisation). Genau dies bezeichnet die Quantenphysik als Verschränkung. In der Modellierung der klassischen Physik gibt es solch ein Phänomen
75Die Verhältnisse lassen sich also nicht mehr mit Hilfe einer zweiwertigen Aussagenlogik erklären. Um es mit den Worten von Kochen zu formulieren. The »major transformation from classical to quantum physics in this approach lies not in modifying the basic classical concepts such as state, observable, symmetry, dynamics, combining systems, or the notion of probability, but rather in the shift from intrinsic to extrinsic properties. Now properties, whether considered as predicates or propositions, are the domain of logic. Boolean algebras correspond to propositional logic and σ-algebras to predicate logic. Hence the change to a σ-complex of extrinsic properties should entail a new logic of properties. At first sight however, it would appear that the logic of extrinsic properties as elements of a σ-complex Q is no different than classical propositional logic, since these elements can only be compounded when they lie in the same σ-algebra in Q. This is far from the case; in fact, the difference in logic plays an important role in resolving some of the quantum paradoxes. The underlying reason is that a compound property such as x ∨ y may be lie in an interaction algebra and so have a truth value, even though neither x nor y lie in the algebra, and have no truth value.« (Kochen 2017, S. 232)
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nicht. Hier hat jedes Teilsystem einen bestimmten Zustand. Das zusammengesetzte System ist stets separabel. Die Zustände der einzelnen Teilsysteme und deren Zusammenwirken erklären das Gesamtsystem vollständig. Mit Blick auf die empirisch mittlerweile recht gut untersuchte Tatsache der Verschränkung ist es nicht abwegig, die Unbestimmtheit von Quantensystemen selbst als ein Eigenschaftsmerkmal zu betrachten, das durch Interaktion hergestellt wird. Bereits Erwin Schrödinger hat in seinem Aufsatz von 1935 (in dem auch das als ›Schrödingers Katze‹ bekannt gewordene Gedankenexperiment zu finden ist), diese Idee ausgearbeitet. Der Ausgangspunkt seiner Argumentation besteht in dem Postulat, dass sich quantenmechanische Systeme prinzipiell durch eine konstante Anzahl von bestimmten wie auch unbestimmten Elementen auszeichnen. Da anders als in den Beschreibungen der klassischen Physik, für ein System in der Quantenphysik »höchsten« der »Hälfte eines vollständigen Satzes von Variablen bestimmte Zahlwerte zuweisen lassen«76 – das, was an einer Stelle geschieht, schränkt ein, was in Hinblick auf eine andere Observable möglich ist –, lasse sich ein zusammengesetztes System, das durch die Interaktion zweier Teilsysteme zustande komme, nicht einfach als Summe seiner Teile beschreiben. Wir können bzw. dürfen das, was wir über die Teile wissen, nicht einfach addieren und dann noch das Wissen um die Interaktion hinzunehmen. Da die Zahl der gesamten bestimmbaren Variablen – und damit das mögliche Wissen – wie gesagt beschränkt ist, lässt sich das, was bei der Interaktion von Quantensystemen geschieht, nicht einfach durch einen Zugewinn von Information beschreiben, sondern es muss zugleich immer auch Information verloren gehen. Im Sinne der klassischen Denkweise würden zu einem System mit 5 Eigenschaften, das mit einem System mit 4 Eigenschaften interagiert, noch die Beziehungen dazukommen, die mit der Interaktion entstehen, dazukommen. Das zusammengesetzte System hätte dann vielleicht 11 Eigenschaften, die es definieren (4 aus Teilsystem A, 5 aus Teilsystem B und 2 Eigenschaften, welche die Art der Verbindung von A und B beschreiben). Bei interagierenden Quantensystemen bleibt die Zahl der bestimmbaren Variablen demgegenüber konstant. Das neue System könnte dann im benannten Beispiel nur 9 Eigenschaften haben, was heißt, dass die Teilsysteme Bestimmungen verlieren würden, da durch die Interaktion neue hinzugekommen sind (beispielsweise nur 3 Eigenschaften von A, 4 von B und 2 die Verbindung charakterisierenden Eigenschaften). 76Schrödinger
(1935b, S. 808).
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Wenn sich also der Zustand eines Quantensystems verändert – etwa durch eine Messung oder durch eine andere Interaktion, welche das System in einer neuen Weise kontextualisiert – entsteht ein neuer Eigenzustand, der durch eine veränderte Wellenfunktion zu beschreiben ist, wobei »in der neuen Funktion stets auch Aussagen fehlen, die in der früheren enthalten waren.«77 Schrödinger formuliert entsprechend, dass eine Messung eine Interaktion zwischen zwei Systemen sei, die einen bestimmten Katalog von Erwartungen konstituiert, der aufgrund des begrenzten Informationsgehaltes wiederum sowohl bestimmte als auch unbestimmte Elemente enthalten müsse. »Im Katalog können nicht bloß Neueintragungen, es müssen auch Streichungen stattgefunden haben. Nun können Kenntnisse wohl erworben, aber nicht eingebüßt werden. Die Streichungen heißen also, daß die vorhin richtigen Aussagen jetzt falsch geworden sind. Eine richtige Aussage kann bloß falsch werden, wenn sich der Gegenstand verändert, auf den sie sich bezieht«.78
Beispielsweise ist im Falle des Doppelspaltexperiments vor der Erhebung der Weginformation mit Sicherheit zu erwarten, dass das Teilchen eine Spaltöffnung durchlaufen hat, wobei jedoch unbestimmt bleibt, welche Öffnung durchlaufen wurde. Erlaubt die Versuchsanordnung jedoch keine Bestimmung des Weges, erscheint auf dem Schirm das Interferenzbild. Hiermit besteht also Gewissheit darüber, dass sich an den beiden Spaltöffnungen keine Teilchen manifestiert haben, also eine Superposition beider Wegoptionen vorliegt. Unbestimmt bleibt jedoch, an welchem Streifen des Interferenzmusters sich das Teilchen auf dem Schirm manifestiert. Die ψ-Funktion der Schrödinger-Gleichung würde damit also den Zustand des Quantensystems, das sich aus der Versuchsanordnung ergibt, vollständig beschreiben: Die Eigenschaften des Systems wären durch den »Erwartungskatalog« charakterisiert, der wie gesagt sowohl bestimmte als auch unbestimmte Elemente enthalten muss, da die »maximale Kenntnissumme« des Quantensystems beschränkt sei.79 Wie bereits gesagt müssen die Variablen im Gegensatz zu den Beschreibungen der klassischen Physik durch Operatoren definiert werden, sind also nicht unabhängig voneinander, was mit sich bringt, dass komplementäre Eigenschaften nicht gleichzeitig bestimmt werden können.
77Schrödinger
(1935b, S. 825). (1935b, S. 825). 79Schrödinger (1935b, S. 827). 78Schrödinger
Einführung 57
Eine Messung stellt entsprechend eine Interaktion dar, die ein Quantensystem in der Weise kontextualisiert, dass eine gewisse Menge von Eigenschaften bestimmt werden kann – was jedoch impliziert, dass ein neues System entsteht, bei dem jetzt andere Eigenschaften unbestimmt sind. Eine neue Beobachtung – eine weitere Messung – konstituiert also einen anderen Katalog von Zukunftserwartungen, der gleichwohl an die mit der vorangegangenen Messung generierten Erwartungshorizonte anknüpft. Auf diese Weise wird ein sukzessives Voranschreiten von Messung zu Messung, von Beobachtung zu Beobachtung möglich, wobei – so Schrödinger – jeweils von einem Schritt zum anderen eine neue ψ-Funktion emergiert. Mit Blick auf das Primat der globalen Grenze der maximal möglichen Freiheitsgrade von Quantensystemen kommt Schrödinger also zu der Schlussfolgerung, dass die Verbindung der beiden Systeme nicht nur neue Beziehungsoptionen konstituiert, sondern zugleich welche vernichtet oder auslöscht. Demzufolge ist das neue System nicht einfach nur die Summe seiner Teile und seiner Interaktionsmöglichkeiten, sondern ein auf fundamentale Weise anderes System. Es wird gleichsam eine neue ›Welt‹, eine neue ›Wirklichkeit‹ konstituiert, die durch ein neues Set von Bestimmungen (was wir prinzipiell wissen können) und Unbestimmtheiten (was wir prinzipiell nicht wissen können) zu charakterisieren ist. Die Aussage, dass ein zusammengesetztes Quantensystem aufgrund der Streichungen von Bestimmungen nicht als Summe seiner Teile beschrieben werden kann, hat jedoch noch eine weitere Implikation, nämlich, dass man je nach Beobachterperspektive unterschiedlich viel von einem Teilsystem oder einem Gesamtsystem wissen kann: Die »Kenntnis von einem Gesamtsystem«, so Schrödinger, schließt also nicht »notwendig maximale Kenntnis aller seiner Teile« ein, denn es »kann nämlich sein, daß ein Teil dessen, was man weiß, sich auf Beziehungen oder Bedingtheiten zwischen den zwei Teilsystemen bezieht«. Oder anders formuliert: »Bestmögliches Wissen um ein Ganzes schließt nicht notwendig das Gleiche für seine Teile ein.«80 Dies führt dann auch zu dem Begriff der Verschränkung, den Schrödinger in seinem Aufsatz von 1935 eingeführt hat. Wenn nämlich zwei Teilsysteme intergieren, dann aber voneinander getrennt werden, dann sollte die Bestimmung der Beziehung und die hiermit einhergehenden Unbestimmtheiten der jeweils lokalen Eigenschaften auch über die Distanz hinweg bestehen. Bereits bei der Messung eines Teils sollten letztere dann aber wiederum für beide Teile bestimmt sein, da die Verschränkung zwischen beiden bereits durch die Messung an einem Teilsystem aufgehoben wurde: 80Schrödinger
(1935b, S. 827).
58 W. Vogd
»Wir kehren wieder zum allgemeinen Fall der ›Verschränkung‹ zurück, ohne gerade den besonderen Fall des Meßvorgangs im Auge zu haben, wie soeben. Der Erwartungskatalog zweier Körper A und B sollen sich durch vorübergehende Wechselwirkung verschränkt haben. Jetzt sollen die Körper wieder getrennt sein. Dann kann ich einen davon, etwa B, hernehmen und meine untermaximal gewordene Kenntnis von ihm sukzessive zu einer maximalen ergänzen. Ich behaupte: sobald mir das zum erstenmal gelingt, und nicht eher, wird erstens die Verschränkung gerade gelöst sein und werde ich zweitens durch die Messungen an B unter Ausnützung der Konditionalsätze, die bestanden, maximale Kenntnis auch von A erworben haben.«81
Damit können wir zusammenfassen: Die Verschränkung ergibt sich als eine unmittelbare Konsequenz der Quantentheorie. Interaktionen zwischen Quantensystemen führen zu einer Verbindung, die jedoch damit einhergeht, dass einige der Eigenschaften der Ausgangssysteme nun unbestimmt sind. Wird die unbestimmte Eigenschaft eines Teils des Systems durch eine Interaktion – etwa durch eine bestimmte Messprozedur – bestimmt, erscheint im anderen Teil komplementär dieselbe Eigenschaft. Wird beispielsweise bei dem einen Photon eine Polarisation in der horizontalen Richtung gemessen, so führt dies nach der Quantentheorie dazu, dass das komplementäre Photon – sei es auch noch so weit vom ersten entfernt – die gleiche Polarisation zeigt, da durch die Verschränkung ein übergreifendes System entstanden ist. Die Quantentheorie geht also davon aus, dass die Eigenschaften der Elemente vor der Messung noch nicht vollständig bestimmt sind, sondern sich erst nach der Messung manifestieren. Dies führt zu einer weiteren bizarren Konsequenz, die Albert Einstein 1935 zusammen mit Boris Podolsky und Nathan Rosen anhand eines Gedankenexperiments aufgezeigt hat: Die Quantenverschränkung führe unter Beibehaltung einer realistischen Weltanschauung zur Verletzung des Prinzips der lokalen Wirkung. Einstein sprach in diesem Zusammenhang auch polemisch von einer »spukhaften Fernwirkung«82 und vermutete entsprechend, dass die Theorie der Quantenphysik unvollständig sein müsse, da solch eine Konsequenz nicht zu akzeptieren sei. Vielmehr müsse es eine noch unbekannte, übergreifende Theorie geben, welche die Koppelung verschränkter Teilchen durch verdeckte Variablen erklären könne.
81Schrödinger 82Einstein
(1935b, S. 844). (1935, S. 778).
Einführung 59
Bell Theorem: Theorien lokaler versteckter Variablen sind nicht mit der Quantentheorie vereinbar John S. Bell entwickelte 1966 ein Theorem, das besagt, dass sich in bestimmten Experimenten im Falle der Gültigkeit der Quantentheorie eine besondere Statistik zeigt. Dies erlaubt es, zu unterscheiden, ob die Ergebnisse im Sinne der Modelle der klassischen Physik durch verdeckte, lokal wirkende Variablen erklärt werden können, oder ob nichtlokale oder andere nichtklassische Wechselwirkungen als Erklärung herangezogen werden müssen. Seit den 1980er Jahren sind eine Vielzahl diesbezüglicher Versuche durchgeführt worden, von denen bislang alle die Quantentheorie und mit ihr einhergehende Postulat der Verschränkung bestätigt haben.83 Hiermit wird die Frage ihrer Interpretation und Deutung nochmals in besonderer Weise virulent. Die Quantentheorie erscheint nicht mehr nur als ein mathematischer Algorithmus, der im Rahmen der Atomphysik und Optik in guter Näherung Vorhersagen ermöglicht. Mit der empirischen Bestätigung ihrer bizarren Vorhersagen stellen sich jetzt unweigerlich auch epistemologische und ontologische Fragen, allen voran die Frage, wovon diese Theorie eigentlich handelt. Der Common Sense in Bezug auf das, was wir für die (physikalische) Wirklichkeit halten, steht infrage. Grundsätzlich im Einklang mit dem quantentheoretischen Formalismus stehen dabei insbesondere die folgenden Interpretationen:84 • Die Kopenhagener Deutung, von Werner Heisenberg und Niels Bohr vertreten, pointiert stark die epistemische Seite des Quantenformalismus und wirft vor allem die Frage auf, was man prinzipiell über physikalische Systeme wissen kann. Sie wird damit besonders relevant für die informationstheoretische Interpretation der Quantentheorie, die dann in der Arbeitsgruppe von Zeilinger eine zentrale Rolle spielt, denn Wissen und Information stellen hier gewissermaßen zwei Seiten einer Medaille dar.85 Aus wissenschaftsgeschichtlicher Sicht ist es gar nicht so leicht, zu sagen, was die Kopenhagener Deutung alles umfasst.86 Üblicherweise wird auf die Schriften von Bohr und Heisenberg verwiesen, wobei bei
83Siehe zum Einstieg in Theorie, Konzeptualisierung und Durchführung sogenannter Bell-Experimente auch Zeilinger (2005). 84Siehe zur Verbreitung der unterschiedlichen Interpretationen etwa Schlosshauer et al. (2013). 85Siehe auch Carl Friedrich von Weizsäcker (1994), der die Frage von Information, Wissen und Zeit philosophisch aufgearbeitet hat. 86Siehe zu einem Versuch der Klärung, was die Kopenhagener Interpretation alles beinhaltet Stapp (1972).
60 W. Vogd
genauerem Hinsehen deutlich wird, dass sich ihre Positionen wandeln und an dem einen oder anderen philosophischen Aspekt durchaus unterscheiden. Im Spektrum Lexikon der Physik heißt es: Die Kopenhagener Deutung äußert sich im Unterschied zu den »Theorien der klassischen Physik« in »zwei Merkmalen: Die Quantenmechanik ist danach a) nicht beobachtungsfrei und b) nicht wahrscheinlichkeitsfrei. Dies bedeutet erstens, daß der Rolle des Beobachters in der Quantenmechanik eine herausgehobene Bedeutung zukommt. Das liegt daran, daß im Rahmen der Kopenhagener Deutung die Wechselwirkung zwischen Objekt und Apparat weder ignoriert oder zum Verschwinden gebracht, noch explizit untersucht werden kann. In diesem Sinne gibt es keine Unabhängigkeit des untersuchten Objekts vom Beobachter. Zweitens bedeutet dies, daß die Wahrscheinlichkeiten primärer Natur sind, d.h. nicht etwa nur Ausdruck einer Unkenntnis des Systemzustandes: Die Zustands-Wellenfunktion ψ beschreibt ein Objekt in der vollständigst möglichen Form und liefert nur Wahrscheinlichkeitsaussagen über den möglichen Ausgang von Messungen.«87 Der wesentliche Punkt, den auch Henry P. Stepp in seiner Rekonstruktion der Kopenhagener Deutung heraushebt,88 besteht darin, dass die Quantentheorie eine vollständige physikalische Beschreibung der Wirklichkeit ermöglicht, wenngleich Nichtwissen bzw. Unbestimmtheit für sie konstitutiv wird. In ihrer ursprünglichen Version, wie sie von Niels Bohr vertreten wird, verneint die Kopenhagener Deutung, dass es eine deterministische Beziehung zwischen den Objekten des quantentheoretischen Formalismus und der Beobachtungen in der ›realen Welt‹ gibt, die über die Berechnung von Wahrscheinlichkeiten möglicher Messergebnisse hinausgeht. Nur die Messergebnisse erscheinen real im Sinne der Begriffe der klassischen Physik. In diesem Sinne ist die Quantenmechanik eine nichtreale Theorie, da die Wellenfunktion ψ von sich wechselseitig konditionierenden Wahrscheinlichkeits- und Möglichkeitsräumen handelt. Hiermit rückt zugleich die Frage nach der Rolle des Beobachters in das Blickfeld: Sind die Unbestimmtheiten und die hiermit einhergehenden Wahrscheinlichkeiten als objektive Eigenschaften der Quantenrealität zu betrachten oder sind sie nur der subjektive Ausdruck
87Quelle: Spektrum Lexikon Physik (https://www.spektrum.de/lexikon/physik/kopenhagener-interpretation/8353, Download 07.08.2020). 88Stapp (1972).
Einführung 61
unseres eigenen Nichtwissens? Entsteht die Realität erst im Prozess des Beobachtens? • Die Viele-Welten-Theorie von Hugh Everett weist der Wellenfunktion ψ demgegenüber im Sinne eines realistischen Ansatzes einen ontologischen Status zu, der – wenn man die Spezifika der Funktion genau kennen würde – im Prinzip erlaubt, den kompletten zeitlichen Verlauf der Entwicklung des Universums und damit alle seine vergangenen und künftigen Zustände zu beschreiben.89 Für diese deterministische Deutung ist allerdings ein recht bizarres Weltmodell in Kauf zu nehmen. Denn mit jeder Weichenstellung infolge einer Interaktion mit einem Quantensystem würde sich das Universum jetzt in zusätzliche Welten aufsplitten. Entsprechend würden gleichzeitig eine Vielzahl von Paralleluniversen gleichzeitig existieren, von denen einige in bestimmten Phasen der Entwicklung von Quantensystemen noch verbunden sind (so in der Interferenz), dann aber ihren eigenen Gesetzlichkeiten folgen würden. • Die Vertreter der De-Broglie-Bohm-Theorie möchten ebenfalls nicht auf eine deterministische physikalische Weltbeschreibung verzichten und haben diesbezüglich einen alternativen Formalismus der Quantentheorie entwickelt – die Bohmsche Mechanik, die jedes Teilchen als durch eine Führungswelle gesteuert versteht. Als ontologischer Preis sind hierfür jedoch nichtlokale Wechselwirkungen in Kauf zu nehmen.90 Eine lokale Messung an einem Quantensystem würde hiermit gleichsam den Zustand des ganzen Universums verändern (was jetzt hier geschieht, könnte damit zugleich das Kausalitätsgefüge an einem Ort verändern, der Lichtjahre von uns entfernt ist). • Die Kollaps-Theorien postulieren den spontanen Zerfall von Quantensystemen in die uns vertraute ›normale‹ Welt, in der dann nur die Gesetze der klassischen Physik gelten.91 Dies würde jedoch die Existenz eines bislang noch nicht entdeckten physikalischen Mechanismus voraussetzen, der den Übergang von den probabilistischen Räumen der Quantenwelt zu einer klassisch-physikalischen Welt erklärt, in der strenge, deterministische Kausalität vorherrscht, erklärt.
89Siehe
Hugh Everett (1957). zur Einführung in die Bohmsche Mechanik Oliver Passon (2010). 91Siehe etwa Michael Esfeld und Mauro Dorato (2010). 90Siehe
62 W. Vogd
Zeilinger: Elementarsysteme der Physik werden durch den Wahrheitswert eines Satzes repräsentiert, der nur ein Bit an Information tragen kann Die epistemische Gemeinschaft der Physiker im Umfeld der Arbeitsgruppe von Anton Zeilinger, welche zugleich die Gesprächspartner der in diesem Buch dokumentierten Dialoge waren, präferieren in gewisser Nähe zu dem Denken von Niels Bohr eine informationstheoretische Deutung der Quantentheorie. Insbesondere in zwei 1999 erschienenen Aufsätzen beansprucht Zeilinger darüber hinaus, seinerseits ein Grundprinzip der Quantenmechanik formulieren zu können.92 Zeilinger schließt dabei einerseits an die Kopenhagener Interpretation an, entsprechend der sich mit einer Messung der Kenntnisstand hinsichtlich eines Quantensystems irreversibel verändert, andererseits jedoch auch an Schrödingers Konzept der Erwartungskataloge, die, wie zuvor geschildert, neben bestimmten immer auch unbestimmte Elemente enthalten müssen. Zeilinger reformuliert Letzteres aus einer informationstheoretischen Perspektive, nämlich in dem Sinne, dass jedes elementare Quantensystem aus einer Kombination von Eigenschaften bestehe, die man kennen und die man nicht kennen kann (man weiß etwa den Ort und hat dann einen unbestimmten Impuls oder umgekehrt). Ein elementares Quantensystem kann entsprechend, wenngleich es zwei Eigenschaften repräsentiert, nur ein Bit an Information tragen. Anders als bei Zufallsprozessen, die klassisch beschrieben werden können, sind bei quantenmechanisch beschreibbaren Prozessen Bestimmtheit und Unbestimmtheit über die Verschränkung miteinander gekoppelt. Die Bestimmtheit an einer Stelle bedingt die Unbestimmtheit an einer anderen Stelle. Dies eröffnet eine Informatik, deren Grundelement jetzt nicht mehr das Bit ist – also die Elementarunterscheidung zwischen zwei distinkten Werten. Vielmehr hat die Quanteninformatik das Elementarsystem der Verschränkung als Ausgangspunkt ihrer Rechenoperationen zu nehmen. Ein Quantenbit (Qubit) besteht entsprechend aus zwei durch Messung sicher unterscheidbaren Zuständen, die jedoch nur ein Bit an klassischer Information tragen können. Die für die Quantentheorie typische Konstellation aus Wissbarem und Unwissbarem stellt damit gewissermaßen eine holistische Eigenschaft des übergreifenden Quantensystems dar. Bestimmungen an einer Stelle, lassen Unbestimmtheit an anderer Stelle erscheinen: 92Zeilinger
(1999a, b).
Einführung 63
»Im Gegensatz zur Relativitätstheorie basiert die Quantenmechanik noch nicht auf einer allgemein anerkannten konzeptionellen Grundlage. Ich schlage hier vor, dass das fehlende Prinzip durch den Befund identifiziert werden kann, dass alles Wissen in der Physik in Sätzen ausgedrückt werden muss und dass daher das elementarste System den Wahrheitswert eines Satzes darstellt, d.h. es trägt nur ein Bit an Informationen. Daher kann ein elementares System nur in einer bestimmten Messung ein eindeutiges Ergebnis liefern. Die irreduzible Zufälligkeit bei anderen Messungen ist dann eine notwendige Folge. Für Verbundsysteme ergibt sich eine Verflechtung, wenn alle möglichen Informationen bei der Festlegung der gemeinsamen Eigenschaften der Komponenten ausgeschöpft sind.«93
Gerade weil sich die Verschränkung mehr und mehr als ein universell zu beachtendes empirisches Phänomen erweist, liegt es für Zeilinger nahe, die Information selbst als das grundlegende Element aller physikalisch zu beschreibenden Naturphänomene zu betrachten und hiermit im Sinne von Archibald Wheelers »It from Bit«94 das Verhältnis von Information und substanziellen Eigenschaften umzukehren: »›Naturgesetze dürfen keinen Unterschied machen zwischen Wirklichkeit und Information.‹ Oder um es noch radikaler zu formulieren: Da »es offenbar keinen Unterschied zwischen Wirklichkeit und Information geben kann, können wir auch sagen: ›Information ist der Urstoff im Universum.‹«95
Auf diese Weise verstanden, lässt sich der Formalismus der Quantentheorie auf ein Aussagensystem reduzieren, bei dem es – ganz im Sinne von Niels Bohr – sinnlos erscheint, zu fragen, was zwischen zwei Messungen an einem Quantensystem geschieht, da es prinzipiell keine Information geben kann, was hier geschieht (das System muss sozusagen undefiniert sein, da es nur ein Qubit tragen kann). Hiermit fallen Epistemologie und Ontologie gewissermaßen zusammen, denn man kann nur wissen, was man wissen kann, und dies zeigt sich als das, was möglich ist, also das, was in der Bestimmung von Wissen und Nicht-Wissen noch nicht entschieden ist, sich also durch die Beobachtung oder Messinteraktion entscheidet.
93Zeilinger
(1999b, S. 631). Sinngemäß übersetzt durch Werner Vogd. Wheeler (1990). 95Zeilinger (2005, S. 216 f.). Kursiv im Original. 94Siehe
64 W. Vogd
Experimente unter dem informationstheoretischen Paradigma Zeilingers Rückbindung der Quantentheorie an die Informationstheorie hat zweifelsohne ein hohes Maß an Eleganz. Sie etabliert ein forschungsleitendes Paradigma, das nicht nur in der Theorieentwicklung produktiv wird, sondern auch für die Experimentalphysik hochgradig anregend ist. Insofern die grundlagentheoretische Fundierung durch die Quanteninformatik gilt (»Information ist der Urstoff im Universum« und das QuBit ist die Grundeinheit), müsste sie immer gelten. Entsprechend lassen sich raffinierte Experimente ausdenken, die das von Zeilinger benannte Grundprinzip falsifizieren oder zumindest seinen Geltungsbereich einschränken würden. Allein schon seine empirische Überprüfbarkeit hat eine Vielzahl von Forschungsperspektiven eröffnet. So lässt sich anhand von Experimenten im Sinne des Bell-Theorems testen, ob die Messergebnisse, die von den Quantensystemen geliefert werden und die den Versuchsleitern zunächst als Zufallsfolgen erscheinen, nicht doch durch verdeckte Variablen erklärt werden könnten. Es könnte ja theoretisch eine in Hinblick auf ihre physikalischen Mechanismen noch unentdeckte Kausalkette bestehen, die den Ausgang der Versuche determiniert. Die Unbestimmtheiten, von der die Quantentheorie spricht, würde es dann auf einer physikalischen Ebene nicht geben. Betrachten wir beispielsweise die Messung der Polarisation zweier verschränkter Photonen. Prinzipiell könnte ja ein verdeckter deterministischer Zusammenhang bestehen, der das Verhalten beider Teilchen bei einer künftigen Messung programmiert. So könnten etwa die Messinstrumente oder der Versuchsleiter über bislang noch unbekannte Kanäle mit den Photonen kommunizieren und so den Ausgang des Experiments beeinflussen. Möglicherweise könnten aber auch nichtlokal operierende Mechanismen – wie etwa mit der Bohmschen Mechanik impliziert – die Messergebnisse determinieren. In beiden Fällen hätten wir es also nicht mit einer prinzipiellen Unbestimmbarkeit zu tun, sondern nur mit dem subjektiven Nichtwissen eines menschlichen Beobachters. Dieser würde dann einfach noch nicht alle Gesetze kennen, um den Ausgang des Versuchs vorhersagen zu können. Ebenso wäre es denkbar, dass sich Quantenphänomene nur im Bereich der Elementarteilchen manifestieren, nicht jedoch bei zusammengesetzten Materieteilchen (etwa bei größeren Molekülen). In einem ähnlichen Sinne ließe sich denken, dass Quantensysteme (aufgrund eines bislang noch unbekannten Mechanismus) unter bestimmten Bedingungen in klassische Zustände kollabieren und dann damit auch das Phänomen der Verschränkung keine Rolle mehr spielen würde.
Einführung 65
Im Sinne einer empirischen Metaphysik erscheint die Frage nach der Interpretation der Quantentheorie aufgrund der heutigen experimentalphysikalischen Möglichkeiten nicht mehr nur als Angelegenheit der persönlichen Vorliebe oder des Weltbildes eines Physikers, sondern lässt sich nun auch experimentell angehen. Innerhalb und im Umfeld der Arbeitsgruppe von Anton Zeilinger sind diesbezüglich mittlerweile eine Vielzahl unterschiedlicher Experimente durchgeführt worden. In einer Serie von Experimenten ist beispielsweise das Verhalten von verschränkten Photonen über eine Entfernung von mehr als hundert Kilometern untersucht worden, wobei die Experimente zudem vom Licht zweier Sterne gesteuert wurden, die mehr als 500 Lichtjahre von der Erde entfernt sind.96 Möglich wird dies, indem mit zwei Teleskopen aus unterschiedlichen Richtungen Lichtsignale aufgenommen werden, deren Eigenschaften ihrerseits wiederum quantenmechanisch zu beschreiben sind. Auf diese Weise lässt sich eine ganze Gruppe klassisch-lokal-deterministischer VerdeckterVariablen-Theorien ausschließen, da die entsprechenden Variablen aufgrund der Lichtjahre entfernten Steuersignale bereits mehrere Jahrhunderte zuvor hätten festgelegt sein müssen. Irgendein, bislang unbekannter Mechanismus hätte den Photonen der beiden weit voneinander entfernten Sterne vor mehr als einem halben Jahrtausend sagen müssen, wie sie sich heute im Experiment zu verhalten haben. Mit Blick auf Versuche, welche den subatomaren Bereich überschreiten, ist hier insbesondere auf das von der Gruppe um Zeilinger durchgeführte Doppelspaltexperiment mit den sogenannten Fullerenen zu verweisen. Diese sind kugelförmige Kohlenstoffmoleküle, die aus sechzig oder mehr Atomen zusammengesetzt sind. Im Experiment zeigen sich selbst bei Molekülen, die im Versuch auf 600 º C erhitzt wurden, am Beobachtungsschirm, auf dem der Materiestrahl kondensiert, die typischen Interferenzmuster. Die großen Moleküle scheinen damit gewissermaßen durch beide Spalten gleichzeitig zu gehen, insofern man der Beschreibung des klassischen Wellenmodells folgen würde. Entsprechend der informationstheoretischen Deutung können die temperaturbedingten Eigenschwingungen innerhalb der Moleküle die Interferenz nicht stören, da aufgrund der langwelligen Infrarotstrahlung keine Weginformation erhalten werden kann. Sobald jedoch der Versuchsaufbau eine Weginformation ermöglicht, würde die Interferenz verschwinden, was dann auch der Vorhersage der Quantentheorie entspräche. Letzteres lässt
96Siehe
Handsteiner et al. (2017).
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sich dann durch eine Variation des Experimentes zeigen.97 Es spielt also experimentell keine Rolle, ob man in Quantenexperimenten einzelne Teilchen – etwa ein Photon oder Elektron – nimmt oder komplexe Molekülsysteme, in denen ihrerseits viel passiert. Zudem kann wie etwa in den Delayed Choice Experimenten die Frage untersucht werden, welche Bedeutung der Zeitpunkt der Messung hat. Unter bestimmten Bedingungen lassen sich konjugierte Paare von Photonen erzeugen, von denen beide in die entgegengesetzte Richtung laufen. Auf diese Weise kann man versuchen, das eine für die Erhebung der Richtungsinformation zu nutzen, während das andere dann am Doppelspalt weiterhin das Interferenzmuster erzeugen sollte (Abb. 9). Der zweistufige Aufbau des Interferometers führte Archibald Wheeler zu einem Gedankenexperiment, mit dem die Zeitverhältnisse in Bezug auf die Generierung von potenziellem Wissen untersucht werden können. Da das Licht Zeit benötigt um den Strahlengang des Versuchsaufbaus zu durchlaufen, kann man jetzt ein Experiment ersinnen, in dem erst, nachdem ein Photon den ersten Halbspiegel durchquert hat, entschieden wird, ob man den zweiten Halbspiegel am Ausgang einsetzt. Prinzipiell lassen sich mit Wheeler gar Experimente kosmologischen Ausmaßes ersinnen.98 So könnte beispielsweise das Licht von sehr hellen lichtintensiven Sternen (Quasare) betrachtet werden, welches durch Gravitationszentren in zwei Wege gespalten wurde, so dass man am Himmel jetzt ein Doppelbild sieht. Durch Spiegelanordnungen könnte man diese beiden Strahlen wieder in Form eines Interferometers zusammenführen und schauen, in welcher Weise Weginformation und Interferenz miteinander in Beziehung stehen. Nach der klassischen Teilchenauffassung wäre die Entscheidung, welcher Weg genommen worden ist, bereits Lichtjahre vor der vom Experimentator gewählten Messentscheidung getroffen worden. Mittlerweile sind eine Reihe von Delayed-Choice-Experimenten durchgeführt worden, die der Grundidee von Wheelers Gedankenexperiment folgen. Bislang führen alle zu dem Befund, dass erst die Messentscheidung den Charakter des Experimentes determiniert. Zeilingers informationstheoretischem Theorem folgend würde dies bedeuten, dass die gesamte Bahn der Photonen vor der Messung nicht existiert (und zwar unabhängig davon, ob man die Weginformation zu Beginn, am Spalt oder erst wesentlich später, etwa erst am Projektionsschirm erhebt). Mittlerweile ist eine Reihe diesbezüglicher Experimente durchgeführt worden, wobei bei keinem die Vorhersagen der Quanten97Siehe 98Siehe
Arndt et al. (1999). Wheeler (1978).
Einführung 67
Abb. 9 Mach-Zehnder Interferometer: (Quelle: http://upload.wikimedia.org/ wikipedia/commons/thumb/c/c9/ Mach-Zehnder_interferometer.svg/350px-MachZehnder_interferome- ter.svg.png (download 15.07.2012).) Licht aus einem Laser trifft auf einen halbdurchlässigen Spiegel. Der Strahl wird gespalten. Beide Teilstrahlen werden jedoch mit Hilfe weiterer Spiegel wieder zusammengeführt und treffen abschließend auf einen zusätzlichen halbdurchlässigen Spiegel. Die Lichtstrahlen können unterschiedliche Wege nehmen, werden aber am letzten Spiegel wieder vereint werden, um hier jedoch nochmals gespalten und auf zwei Detektoren verteilt zu werden. Aufgrund von Phasenverschiebungen bei einer Spiegelung laufen die Wellen nicht unbedingt synchron. Entsprechend können bei bestimmten Konstellationen destruktive Interferenzen auftreten, d. h. die Wellen löschen sich wechselseitig aus, wenn sie phasenverkehrt zusammentreffen. Wird innerhalb der Anordnung zusätzlich noch detektiert wird, ob ein bestimmter Weg eingenommen wurde, so lässt sich die Interferenz nicht mehr feststellen. Der letzte halbdurchlässige Spiegel teilt wieder die Lichtmenge und entsprechend können wieder an beiden Detektoren Signale gemessen werden. Das Gleiche ist der Fall, wenn man einen der beiden Lichtwege verstellt. Auch hier verschwindet die Interferenz. Selbst wenn man die Lichtquelle soweit herunterfährt, dass einzelne Photonen gemessen werden können, ändert dies nichts an den zuvor beschriebenen Resultaten. Wie im Doppelspaltexperiment scheint das Licht gleichzeitig beide Wege zu nehmen, es sei denn, es wird irgendwo gemessen. Nun ergibt sich keine Interferenz mehr
theorie widerlegt wurden.99 Die Zeit wie auch der Ort der Entscheidung zur Messung zeigen sich als unerheblich. Beobachtung ohne Beobachter: es reicht, wenn etwas prinzipiell gewusst werden kann Eine weitere aufschlussreiche und mittlerweile vielfach durchgeführte Variante des Doppelspaltexperiments besteht in einer Anordnung, mittels derer die Weginformation zunächst erhoben, dann aber in einem zweiten
99Siehe
etwa Jacques et al. (2007).
68 W. Vogd
Schritt die gewonnene Information wieder ausgelöscht wird. Möglich wird dies etwa dadurch, indem das ›Signalteilchen‹, das dieses Wissen vermitteln könnte, durch ein raffiniertes Spiegelsystem so manipuliert wird, dass sich am Ende nicht mehr sagen lässt, welchen Pfad es ursprünglich durchlaufen hat.100 Das zunächst gewonnene Datum wird gleichsam ausradiert, bevor es genutzt werden kann, weshalb man diese Art von Versuchsaufbau auch als Quantum Eraser bezeichnet.101 Indem es uns mit der Tatsache konfrontiert, dass eine durch Messung herbeigeführte Bestimmtheit wieder in den Zustand der Unbestimmtheit zurückversetzt werden kann, zeigt auch dieses Experiment, dass – anders als ursprünglich noch von Heisenberg vermutet – durch die Messung kein irreversibler Kollaps der Wellenfunktion in einen klassischen Zustand stattfindet, sondern die Bestimmtheiten und Unbestimmtheiten, von denen die Quantentheorie spricht, eher als kontextabhängige Eigenschaften zu betrachten sind, die jederzeit wieder hergestellt werden können. Ändert sich der Kontext so, dass eine zuvor zugängliche Information nicht mehr zugänglich ist, verschwindet auch die zuvor mögliche Bestimmung (so scheint dann beispielsweise ein Teilchen dann wieder zwei Wege gleichzeitig zu nehmen und am Messschirm zeigt sich Interferenz). In diesem Zusammenhang sind auch die zunächst theoretisch vorhergesagten und dann später experimentell realisierten Zustände von drei verschränkten Teilchen interessant.102 Hier wird auch deutlich, dass die bei der Verschränkung auftretenden Unbestimmtheiten nicht davon abhängen, dass die beteiligten Teilchen aus der gleichen Quelle entstanden sind. Vielmehr zeigt sich, dass die Verschränkung gewissermaßen auch im Nachhinein erworben werden kann, indem zwei Quantensysteme in einer Weise interagieren, dass sie ununterscheidbar sind, also keine Information mehr besteht, die eine individuelle Zuordnung der Teilchen ermöglichen würde. Es hat sich gezeigt, dass auf diese Weise auch die ursprüngliche Verschränkung auf ein anderes System übertragen werden kann (entanglement swapping). Ein weiteres für das Team von Zeilinger wichtiges Experiment wurde von der Arbeitsgruppe um Leonard Mandel entwickelt.103 Der grundlegende
100Vgl.
Walborn et al. (2002). etwa Herzog (1995). 102Nach den beteiligten Physikern Greenberger, Horne und Zeilinger auch als GHZ-Zustand bezeichnet. Vgl. Greenberger et al. (1989) und Jian-Wei et al. (2000). 103Siehe Wang et al. (1991). 101Siehe
Einführung 69
Versuchsaufbau stellt sich folgendermaßen dar: Ein Laser schickt ultraviolettes Licht auf einen Kristall, der die Eigenschaft hat, einzelne Photonen des energiereichen Lichts in zwei verschränkte Photonen aus energieärmerem sichtbarem Licht umzuwandeln (parametric down-conversion). Diese beiden Photonen (üblicherweise als Signal- und Idler-Photon bezeichnet) werden auf zwei unterschiedlichen Pfaden weitergeleitet. Mittels einer Anordnung aus Spiegeln und Strahlteilern kann nun das Laserlicht zugleich auf einen weiteren dieser speziellen Kristalle geleitet werden. Wenn zudem das IdlerPhoton des einen Kristalls auf den zweiten Kristall geleitet wird, entsteht eine Konstellation, die prinzipiell nicht entscheiden lässt, in welchem Kristall das Photon entstanden ist. Wird der Strahlgang des Idler-Photons zwischen dem ersten und zweiten Kristall dagegen durch eine Abschirmung unterbrochen, so weist die Messung hinter dem zweiten Kristall eindeutig darauf hin, dass das Idler-Photon auch in letzterem entstanden ist. Die von den beiden Kristallen produzierten S ignal-Photonen werden zudem über ein weiteres Spiegelsystem in Form eines Parallelogramms so geführt, dass man nicht unterscheiden kann, in welchem Kristall sie entstanden sind. Bei ihrer Messung kann sich entsprechend den Vorhersagen der Quantentheorie ein Interferenzmuster zeigen. Das Interferenzmuster aus den beiden Strahlgängen des Signalphotons verschwindet allerdings, sobald der Strahlgang des ersten Idler-Photons unterbrochen ist. Dabei ist es unerheblich, ob das zweite Idler-Photon durch einen Detektor gemessen wird oder einfach in die Umwelt ausstrahlt. Dieses Ergebnis ist bemerkenswert, demonstriert es doch zum einen, dass eine indirekte Wegbestimmung durch verschränkte Partnerphotonen möglich ist, die dann die Interferenz der anderen Photonen zum Verschwinden bringt. Die Messinteraktion braucht also nicht einmal in den Strahlgängen durchgeführt werden, nach denen die Interferenz auftritt (Abb. 10). Zum anderen offenbart sich der erstaunliche Befund, dass es nicht von Bedeutung ist, ob das zweite Idler-Photon innerhalb der Versuchsanordnung gemessen oder beobachtet wird. Um das Bestehen der Interferenz oder das Auftreten distinkter Messergebnisse vorhersagen zu können, reicht als Kriterium allein der Versuchsaufbau innerhalb der Strahlgänge aus. Informationen hinsichtlich der Frage, wie und wo das Idler-Photon in der Umwelt der Versuchsanordnung gemessen wurde (etwa indem es mit einem x-beliebigen Gegenstand interagiert), sind demgegenüber nicht notwendig. Entsprechend kommen die Urheber des Experiments zu dem bemerkenswerten Schluss, dass der Quantenzustand nicht nur repräsentiert, was
70 W. Vogd
s₁
>
> i₁
T
-------
ST
NL1
>
NL2
D(s)
IF(s) ST
>
r
> Zähler
> s₂
Koinzidenz
>
>
i₂
Las e
Ver-
> stärker
>
>
>
IF(i)
>
D(i)
Verstärker
>
Zähler
Abb. 10 Der Versuchsaufbaus von Wang, Zou und Mandel (1991). Der Argon-Laser sendet hochfrequentes UV-Licht aus. Ein Strahlteiler (ST) führt zu zwei Pfaden, die jeweils auf einen nichtlinearen Kristall treffen. Ein Teil des UV-Lichts wird dort in zwei verschränkte, niederfrequente Photonen umgewandelt. Der Strahlgang wird so geführt, dass nicht unterscheidbar ist, ob diese Photonen im ersten oder zweiten Kristall entstanden sind. Im Sinne des Aufbaus eines Interferometers treffen die beiden Strahlgänge vor den Detektoren erneut auf einen Strahlteiler (ST), was dazu führt, dass ununterscheidbar wird, welchen Weg die Photonen genommen haben. Da jeweils zwei Kristalle im Spiel sind, entstehen neben Photonen, welche das Interferometer bespielen (s1 und s2) zwei weitere Photonen, die dann ebenfalls aufgefangen oder gemessen werden können. Vor den Detektoren (Ds und Di) sind Filter angebracht, welche das UV-Licht ausfiltern (IFs und IFi), das nicht in niederfrequente Photonen umgewandelt wurde. Der Strahlgang der Idler-Photonen (i1 und i2) kann unterbrochen werden. Wenn dies zwischen Kristall 1 und Kristall 2 geschieht (T), wird entscheidbar, in welchem der beiden die verschränkten Photonen entstanden sind, wodurch zugleich bestimmt wird, ob in dem Parallelogramm der Weg s1 genommen worden ist. Das Idler-Photon erlaubt damit eine Bestimmung des Weges des Geschwisterphotons (dem Signal-Photon). Die Weginformation von s kann also erhalten werden, ohne dass eine Interaktion mit dem Photon stattfindet
ein Beobachter weiß, sondern auch, was auf Grund des Versuchsaufbaus prinzipiell gewusst werden könnte (»what is knowable in principle«104). Der Befund ist insofern verstörend, als dass er einerseits einer beobachterabhängigen Interpretation der Quantentheorie zunächst zuwiderlaufen würde, denn es erscheint jetzt weder notwendig, dass jemand konkretes beobachtet (ein Mensch, ein Hund), noch wird ein Messgerät benötigt. Es scheint auszureichen, dass an irgendeiner Stelle eine Interaktion möglich wird, die zu einer Individuierung der zuvor verschränkten Teilchen führt. Zugleich stehen die Ergebnisse aber noch im Einklang mit dem informationstheoretischen Primat, wie er von Zeilinger formuliert wurde, denn ›Bestimmung der Weginformation‹ kann hier auch heißen, dass irgendwo im Universum eine Messung möglich ist, die zwischen zwei 104Wang
et al. (1991, S. 4614).
Einführung 71
Varianten unterscheiden lässt. Entsprechend der kybernetischen Einsicht, dass Information ein Unterschied ist, der an anderer Stelle einen Unterschied macht, stellt sich allerdings darüber hinaus die Frage, wo eigentlich der Unterschied auftritt, der als ›prinzipielle Wissbarkeit‹ den Unterschied macht, der dann etwa im Versuchssystem die Interferenz zum Verschwinden bringt. Unweigerlich stellt sich damit auch die Frage nach der Beziehung zwischen Medium und Form. Worin schreibt sich die Information der Quantentheorie ein, wenn nicht in einen konkreten Beobachter bzw. in einen konkreten physikalischen Prozess des Messinstruments? Reicht es aus, wenn irgendetwas im Universum beachtet wird, also etwa wenn das Idler-Phonton mit einem x-beliebigen Elementarteilchen in der Umwelt des Versuchssystems interagiert, um so an anderer Stelle über die mit ihm verschränkten Photonen einen Unterschied zu machen? Was ist aber dann das, was beobachtet? Wohl ein System (denn sonst gäbe es keine Unterschiede), aber damit landen wir nolens volens bei einer Art Holismus, wobei sich jedoch auch hier wieder die Frage nach dem Verhältnis des Ganzen und seiner Teile stellt – denn ein System ist die Einheit der Differenz von System und Umwelt, setzt also das Ganze als Bedingung der Möglichkeit seiner Differenzierung voraus. Mehrteilchenverschränkung: Das Experiment zur Quantenteleportation Betrachten wir abschließend noch ein anderes aufschlussreiches Experiment, das in der Arbeitsgruppe von Anton Zeilinger durchgeführt wurde. Im Prinzip handelt es sich dabei um eine Mehrteilchenverschränkung von vier Photonen, die mit einem Delayed Choice Experiment verbunden wurde. Durch einen raffinierten Versuchsaufbau wurde es möglich, dass die Entscheidung zur Koppelung der zwei verschränkten Ausgangsphotonen erst getroffen wurde, nachdem die Eigenschaften von zwei der jeweiligen Ausgangsphotonen bereits gemessen worden sind. Populär wurde das Experiment unter dem Namen Quantenteleportation, da mit ihm als Nebeneffekt Quantenzustände gleichsam von einem Ort zu einem anderen ›gebeamt‹ werden können. Der Versuchsaufbau beinhaltet zunächst zwei Quellen, die jeweils ein verschränktes Photonenpaar generieren. Wir bezeichnen die beiden Paare im Folgenden mit AB und XY. Die einzelnen Photonen können über ein System von Spiegeln und Glasfasern in unterschiedliche Bereiche der Versuchsanordnung gelenkt werden. Die Polarisation der Photonen B und Y wird unmittelbar nach ihrer Entstehung gemessen. Unter Polarisation verstehen wir die Richtung der Schwingung der sich ausbreitenden Welle. Linear polarisiertes Licht geht nur dann durch einen Polarisationsfilter,
72 W. Vogd
wenn dieser in etwa die gleiche Ausrichtung hat wie das Licht. Auf diese Weise lässt sich die Polarisation des Lichts durch die Veränderung der Drehrichtung bestimmen. Bei zwei verschränkten Photonen ist die Polarisation vor der Messung noch nicht bestimmt, wenn aber die Ausrichtung des einen bestimmt wird, wird das andere die entsprechend komplementäre Ausrichtung annehmen. Im geschilderten Versuch werden die Photonen A und X vor der Bestimmung ihrer Polarisation zunächst durch Glasfasern von einer Länge mit mindestens 50 m geschickt. Gegen Ende des Strangs kann der Versuchsleiter nun entscheiden, ob die Polarisation der beiden Photonen unmittelbar gemessen wird oder ob die beiden zuerst verschränkt werden. Letzteres ist durch einen Faserkoppler möglich. Wenn nämlich die Glasfasern an einer Stelle – gleich einer Kreuzung – miteinander verbunden werden, ist – insofern beide Photonen zur gleichen Zeit eintreffen – die Identität der beiden Photonen unter bestimmten Voraussetzungen nicht mehr unterscheidbar. Hiermit werden sie entsprechend den Vorhersagen der Quantentheorie verschränkt und besitzen damit keine individuellen Eigenschaften mehr. Die Verschränkung lässt sich dadurch nachweisen, dass sich bei der Messung des einen Teilchens die komplementäre Eigenschaft beim jeweils anderen manifestiert. So sind zum Beispiel bei zwei Ausgangsphotonen mit Blick auf die Polarisation (horizontal = H, vertikal = V) vier Varianten denkbar (die sogenannten Bellzustände), die im verschränkten Zustand in einer Superposition vorliegen: HH + VV, VV + HH, HV + VH, VH + HV. Erst die Messung an einem Photon führt zu einer Bestimmung (und damit auch zur Festlegung der Freiheitsgrade des anderen Teilchens). Da die Bewegung des Lichts Zeit braucht, lässt sich ein Versuchsaufbau realisieren, der wie gesagt erlaubt, die Entscheidung, ob die Photonen A und X verschränkt werden, erst nach der Messung der Geschwisterphotonen B und Y zu treffen. Möglich wird dies durch Zufallsgeneratoren, die ein ultraschnelles opto-elektrische Schaltelement ansteuern, das die Glasfasern verbindet oder getrennt lässt. Je nachdem, ob der Strahlkoppler zur Anwendung kommt oder nicht, ergibt sich anderes Muster der Verschränkung zwischen den vier Photonen. Im letzten Fall wären A und B, bzw. X und Y als verschränkt zu betrachten, im ersten Fall X und A, bzw. B und Y, da durch die Verschränkung am Strahlkoppler die Verschränkung der Ausgangspaare auf das neue Quantensystem übergegangen ist. Welche Resultate ergeben nun diese Experimente? Die Bestimmung von B und Y vor der Entscheidung zur weiteren Verschränkung ergibt bei wiederholter Messung Zufallsfolgen, in denen in nicht vorhersagbarer Weise etwa die horizontale oder die vertikale Polarisation gemessen werden kann.
Einführung 73
Mit Blick auf die Korrelationen zu den späteren Messungen stellt sich heraus, dass die Messresultate der zuerst bestimmten Photonen Y und B – im Folgenden mit den Worten Zeilingers – »eine ganz verschiedene Bedeutung haben, in Abhängigkeit von« der »Entscheidung« ob später verschränkt wird oder nicht.105 Falls etwa A und X in Folge verschränkt wurden, können »die schon früher erhaltenen Resultate« in »vier Datensätze zerlegt werden, einen für jedes der vier Bellresultate.« Und dann lässt sich feststellen »dass innerhalb jedes Datensatzes die Resultate Verschränkung anzeigen. Es ist also die Zufälligkeit des Resultats, das wir jetzt bekommen »verantwortlich dafür, dass die zufälligen Listen«, die früher bei der Messung der Photonen Y und B erhalten worden sind, »nun auf eine Weise verstanden werden können, die Verschränkung zwischen ihnen anzeigt. Die Verschränkung wird also durch den Zufall in diesen Datensätzen so verschlüsselt, dass man sie erst herauslesen kann, wenn man den Schlüssel kennt, nämlich die Abfolge der Resultate«,106 die man dann in der späteren Messung erhält. Wird demgegenüber X und A nicht verschränkt, so ändert dies nichts an der Verschränkung von X-Y und A-B. Die starken Korrelationen der ursprünglichen Zwillingsphotonen bleiben bestehen. Wie entsprechend den Vorhersagen der Quantentheorie zu erwarten, manifestiert sich, sobald das eine Photon in einer bestimmten Achse gemessen wird, beim anderen die gleiche Eigenschaft, selbst wenn auch hier eins davon erst später bestimmt wird. Zeilinger selbst stellt nun die Frage der Beziehung zwischen Interpretation und physikalischen Ereignissen: »Es ist eine Tatsache, dass die Ereignisse«, die an den »Photonen Y und B registriert« werden, »objektive Ereignisse sind. Ereignisse sind eben Ereignisse und stehen für sich. Wenn wir als Physiker diese Ereignisse verstehen möchten, müssen wir eine konsistente Interpretation präsentieren und die Interpretation dreht sich in unserem Fall um die Verschränkung. Das Interessante ist aber, dass wir für die Resultate« nun »zwei Interpretationen präsentieren können, je nachdem« wie die Entscheidung ausfällt, was an einem späteren Zeitpunkt gemessen wird. »Es ist also nicht daran zu rütteln, dass die Ereignisse Ereignisse sind, aber die Begründung, warum sie so ausfallen, wie sie ausfallen, die Erklärung ihrer Bedeutung, eben ihre Interpretation, hängt offenbar von unseren Handlungen und Entscheidungen ab.« Dies heißt aber auch, »dass der Quantenzustand, den wir verwenden und den wir als Erklärung eines
105Zeilinger 106Zeilinger
(2007, S. 305). (2007, S. 306 f.).
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Ereignisses benutzen, nichts Absolutes ist. Er hängt von den Einzelheiten der Versuchsanordnung ab. Dies kann Einzelheiten einschließen, die erst in der Zukunft entschieden werden.«“107 Um es nochmals mit einfacheren Worten zusammenzufassen: Es bestehen zwei Photonenquellen. Es wird die Polarisation jeweils eines Photons gemessen und mit einer weiteren Messung wird entschieden, ob die beiden verbleibenden verschränkt sind oder gemischt. Dies ist vorab nicht festgelegt. Wenn ich jetzt durch den Versuchsaufbau entscheide, die Photonen zu fragen: Seid ihr verschränkt? Dann bekomme ich die Antwort: Ja, wir sind gleichzeitig auch in einem verschränkten Zustand. Wenn ich mich durch den Versuchsaufbau entscheide, zu fragen: Bist du gemischt? Dann bekomme ich die Antwort: Ja, ich bin gemischt. Ich bin nicht verschränkt. Besonders spannend wird es, wenn die erste Messung zeitlich vor dem Zeitpunkt durchgeführt wird, wo entschieden wird, ob die beiden Geschwisterphotonen verschränkt werden. Man bekommt dann Datensätze, von denen zunächst nicht gesagt werden kann, ob da eine Verschränkung erscheint oder die Mischung. An den Detektoren erhält man Zufallsfolgen, die aus Einsen oder Nullen bestehen. Erst wenn ich diese zweite Messung gemacht wird, kann man eine Korrelation sehen oder eben nicht – nämlich, wenn die beiden Datenfolgen im Vergleich betrachtet werden. Erst dann lässt sich feststellen, ob die Daten zusammen genommen die Verschränkung der Photonen im Sinne einer perfekten Korrelation beweisen. In den Datensätzen der vier Photonen ist also eine Beziehung verschlüsselt, die aber, wie Zeilinger im Gespräch nochmals betont hat, nicht existiert habe, bevor die zweite Messung gemacht worden sei. Es wäre falsch zu sagen, dass sie schon vorher bestehen würde. Entsprechend müsse man hier vorsichtig sein. In manchen Fällen würde also die aus der klassischen Physik stammende Annahme, dass eine Messung eine Eigenschaft des Systems feststelle, die das System schon vorher gehabt hätte, in die Irre führen. Denn dies würde ja suggerieren, dass die zuvor postulierten Korrelationen schon vorher im Sinne der klassischen Auffassung real existiert hätten. Ein wesentlicher Erfolgsfaktor von Zeilingers Gruppe bestehe gerade darin, unnötige klassische und konventionelle Bilder systematisch zu vermeiden. Erst auf diese Weise würden die Forscher dann im Design ihrer Experimente auf Ideen kommen, auf die man nicht kommen würde, wenn man der konventionellen Auffassung folge, dass da vor der Messung schon
107Zeilinger
(2007, S. 309).
Einführung 75
etwas dagewesen sei (z. B. Photonen oder Masseteilchen, die sich auf einer Bahn bewegt haben). Für Zeilinger stehen diese Ergebnisse im Einklang mit Niels Bohrs Interpretation der Quantenphysik. »Danach ist der quantenphysikalische Zustand eines Systems nicht ein Feld oder eine sonstige Entität, die sich in Raum und Zeit, sozusagen ›da draußen‹ ausbreitet. Im Gegenteil. Sie ist lediglich unsere Darstellung des Wissens, das wir über die konkrete physikalische Situation, die wir untersuchen, besitzen. Die Darstellung des Wissens hängt natürlich davon ab, welche Situation wir vor uns haben und welche Messresultate wir erhalten. Die später durchgeführten Messungen und ihre Resultate »beeinflussen also nicht die Wirklichkeit« der »früher erhaltenen Resultate an Photon Y und B. Sie verändern aber, was wir darüber sagen können, sie ändern unserer Interpretationen der physikalischen Situation.«108 Unabhängig davon, ob man mit der informationstheoretischen Fundierung der Quantentheorie mitgehen möchte und darüber hinaus noch glauben mag, dass damit auch weitergehende Fragen der Interpretation gelöst seien, lassen die vorgehenden Ausführungen eines deutlich werden: Wir begegnen hier einem in hohem Maße produktiven Forschungsparadigma, auf dessen Basis theoriegetrieben unterschiedlichste Experimentalsysteme entwickelt werden konnten, mit denen nicht zuletzt im Sinne einer ›empirischen Metaphysik‹ die epistemischen und ontologischen Fragen der Quantentheorie systematisch ausgelotet werden können.
108Zeilinger
(2007, S. 309 f.).
Der Beobachter in der soziologischen Systemtheorie
Unterscheiden, Bezeichnen und konditionierte Koproduktion »Von außen betrachtet ist der Wille kausal determiniert, von innen betrachtet ist der Wille frei. Mit der Festlegung dieses Sachverhaltes erledigt sich das Problem der Willensfreiheit. Es ist nur dadurch entstanden, dass man nicht darauf geachtet hat, den Standpunkt der Betrachtung ausdrücklich festzulegen und einzuhalten« Max Planck1
Beschäftigen wir uns im folgenden Kapitel eingehender mit der Frage, was der Beobachter ist, von dem die soziologische Systemtheorie spricht, und welcher Natur die Schnitte sind, welche der Welt durch Beobachtungsoperationen zugefügt werden. Zunächst ist an dieser Stelle allerdings nochmals darauf hinzuweisen, dass der hier verwendete Begriff des Beobachters nicht subjektphilosophisch missverstanden werden darf. Wir sprechen hier weder von einem Subjekt, das eine objektiv vorhandene Welt erkennt (Realismus), noch von einer wie auch immer gearteten subjektiven Entität, die sich selbst ihre eigene Welt erschafft (Solipsismus). Selbstredend gehen wir auch nicht von einer dualistischen Ontologie aus, entsprechend der ein Beobachter einer anderen Sphäre angehört als der Welt materieller und energetischer Felder und Flüsse, von der die Physik spricht. 1Max
Planck 1946 (hier zitiert nach Watzlawick 1978).
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Vogd, Quantenphysik und Soziologie im Dialog, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61857-8_2
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78 W. Vogd
Keine substantielle sondern eine operative Definition des Beobachters Im Sinne der Kybernetik zweiter Ordnung bestimmen wir den Beobachter nicht substanziell sondern operativ. Der Beobachter erscheint damit weder als Subjekt noch als Objekt, sondern als ein bestimmter, noch genauer zu spezifizierender operativer systemischer Zusammenhang. Um uns nochmals mit Dirk Baecker zu erinnern: »Jedes System ist Funktion seiner selbst und seiner Umwelt« und dies geschieht in einer »Weise«, dass »es sich in dieser Umwelt von dieser Umwelt unterscheiden kann.« Um es formal zu definieren: »Das System wird als der Unterschied definiert, den es macht: S = f (S, U). Das System S ist eine Funktion f seiner selbst, S, und seiner Umwelt U.« 2 Ein System ist damit sowohl Teil der Weltdynamik (etwa als Organismus mit Umwelt), als auch als eine Einheit, die in Differenz zur Welt tritt, also eine Umwelt hat (als ein System-im-Unterschied-zu-einer-Umwelt«).3 Das System erscheint damit sowohl als selbstbestimmt (autonom) wie auch als fremddeterminiert (heteronom). Einerseits ist es nicht zu unterscheiden von den Energie und Materieflüssen der Welt und scheint doch anderseits innerhalb dieser in Differenz zu diesen zu treten. Diese beiden Beschreibungsweisen sind nicht ineinander überführbar. Eine Beschreibung, welche allein auf der rekursiven Verkettung von Zusammenhängen beruht und damit Systeme als Teil eines größeren Zusammenhangs betrachtet (in die sich dann gegebenenfalls mit Hilfe kybernetischem Steuerungswissen intervenieren lässt) ist nicht kompatibel mit der Vorstellung einer Eigensinnigkeit von Systemen. Aus letzterer Perspektive erscheinen Systeme als Beobachter, denen gleichsam eine Art subjektiver Status zugewiesen werden kann, da sie, wie gesagt, nicht nur Teil der Welt sind, sondern zugleich eine Welt haben.4 Die theoriearchitektonische Leistung der Systemtheorie im Anschluss von Heinz von Foerster und Niklas Luhmann besteht darin, das hiermit aufscheinende Problem zweier inkompatibler, jedoch empirisch notwendiger Perspektiven zu umschiffen, indem beide Beschreibungsformen in eine Funktion eingeführt werden, ohne sie in trivialer Weise aufeinander zurückzuführen: »Das kleine ›f‹«, so Dirk Baecker, welches den operativen Zusammenhang des Systems konstituiert (S = f (S, U)), verschiebt »die Frage nach der Reproduktion des Systems auf ein Drittes, das sich weder in der Identität des Systems (S = S) noch in der Differenz zwischen System 2Baecker
(2002, S. 86). Baecker (2013, S. 300 f.). 4Siehe zu der Differenz der beiden Beschreibungsebenen innerhalb des systemtheoretischen Diskurses und dem Angebot einer Brücke auch Jansen (2015). 3Vgl.
Der Beobachter in der soziologischen Systemtheorie 79
und Umwelt (S ≠ U)« erschöpft. »Dises Dritte ist der Joker, den niemand je zu Gesicht bekam, dem die Systemtheorie jedoch nicht aufhört nachzustellen.«5 Konditionierte Koproduktion – Systeme brauchen Systeme, die Systeme brauchen Da Systeme andere Systeme brauchen, um sich zu reproduzieren, landen wir darüber hinaus beim Postulat der Polykontexturalität, also der Koexistenz vielfältiger und mit Blick auf ihre Genese unterschiedlicher Reproduktionszusammenhänge, die ihre jeweils eigene System-Umweltverhältnisse mit den dazugehörigen Schnitten reproduzieren – doch dies nur gemeinsam in konditionierter Koproduktion tun können. Die Systemtheorie lässt deutlich werden, dass die Kopräsenz einer Vielzahl von Systemen in der Welt nicht nur möglich sondern auch notwendig ist, um Systembildung zu ermöglichen. Nur auf diese Weise wird eine hinreichende Weltkomplexität zur Verfügung gestellt, der ein System dann Information und Sinn abringen kann, um sich reproduzieren zu können. Systeme zeichnen sich dadurch aus, selektiv auf die Umwelt zugreifen zu können, also aufgrund interner Relationen zu bestimmen, was für sie und wie etwas für sie Information darstellt. Dies setzt jedoch voraus, wie nicht zuletzt Gotthard Günther herausstellt,6 dass die Welt nicht nur chaotisch und unordentlich ist, sondern zugleich Muster (sprich: Spuren von Operationen anderer Systeme) enthält, 5Baecker
(2002, S. 86). man mit Gotthard Günther die Entstehung von Leben mit der Bildung von Selbst- und Weltverhältnissen im Sinne des zuvor vorgestellten Systembegriffs (S = f (S, U)) gleichsetzt, entsteht Leben nicht aus einer Welt von Unordnung, wie Schrödinger in seiner berühmten Abhandlung »Was ist Leben« angenommen hatte (Schrödinger 1946). Vielmehr kann Leben entsprechend von Foersters Order-from-Noise-Prinzip erst in einem (logischen) Raum entstehen, der zugleich Ordnung und Unordnung enthält – und zwar eine Unordnung, die auf den unterschiedlichen Wertsystemen unterschiedlicher Systeme beruht: »The noise is something which is capable of instigating a process that absorbs lower forms of order and thereby converts a corresponding degree of disorder into a system of higher order. In other words: it is a synthesis of the order-from-order and the order-from-disorder ideas. Having discarded Schrödinger’s simple order-from-order concept we obtain now two basic principles: Schrödinger: order-from-disorder, von Foerster: order-from-(order-plus-disorder). In both cases the logical equivalent of disorder is a distribution of logical terms. But what is distributed is different. Schrödinger’s principle refers to the distribution of individual values; von Foerster’s concept refers to the distribution of value-systems. In the first case the internal structure of the logical system which suffers the distribution is changed: a theory of formal certainties is transformed into a theory of probabilities. In the second case nothing of the elements which constitute a given system but the system itself as an inviolate entity. This gives us two entirely different meanings of distribution and consequently of disorder. Von Foerster’s distinction of disorder and noise is a profound one and opens up much deeper perspectives than his unassuming demonstration with the magnetized cubes suggests at first sight. Of course everything depends now on the question whether we will be able to define a logical operator that would represent a distribution not of values but of closed value- systems. It will not be necessary to discuss value-distribution« (Günther 1976). Siehe auch von Foerster (2006).
6Sofern
80 W. Vogd
denen sich Information als hinreichende Redundanz für die eigene Systemreproduktion abringen lässt. Die allgemeine Systemtheorie beschreibt den grundlegenden Mechanismus übergreifend in einer abstrakten Form, so dass sich je nach Medium, in dem sich die Prozesse vollziehen, unterschiedliche Systemtypen ausmachen lassen – etwa biologische Systeme im Fluss von Materie und Energie fern vom chemischen Gleichgewicht,7 psychische Systeme im Medium der von ihr phänomenalisierten Geistesinhalte8 oder soziale Systeme im Medium Sinn.9 Operative Identitäten: Unterscheiden und Bezeichnen Wenden wir uns nun etwas ausführlicher der Frage des Beobachters zu. Wie bereits ausgeführt, stellt der Beobachter einen besonderen systemischen Zusammenhang dar. Schauen wir mit Fritz Simon, wie er in einer sinnvollen Weise operativ definiert werden kann: »Als Beobachter soll definiert sein, wer oder was (das heißt, es muss sich dabei nicht um einen Menschen oder ein Lebewesen handeln) einen spezifischen Typus von Operation vollzieht: beobachten. […] Unter Beobachten soll eine Operation verstanden werden, die durch die Koppelung zweier anderer Operationen entsteht: unterscheiden und bezeichnen.«10
Die erste Operation, das Unterscheiden, ist nichts anderes, als ein systemischer Zusammenhang, der einen Schnitt in die Welt einführt, so dass aufgrund bestimmter, jeweils konkret zu bestimmender Operationen das eine (etwa das System) von etwas anderem (etwa seiner Umwelt) getrennt erscheint. In Frage kommt hier jede »Operation, durch die ein Raum, Zustand oder Inhalt ( = eine Welt) geteilt wird.« Es ist hinreichend, wenn durch die »Operation des Unterscheidens« ein »Raum oder Inhalt« entsteht, »der innerhalb der so entstandenen Einheit verortet ist, und ein Raum, Zustand oder Inhalt, der außerhalb dieser Einheit verortet ist ( = Innen-außen-Unterscheidung)«.11 Mit dem Bezeichnen wird nun eine »zweite Operation des Unterscheidens« mit einem vorhergehenden »Unterscheiden gekoppelt und als
7Siehe
zur Theorie der dissipativen Strukturen Prigogine (1979). zu einer Phänologie, die auch die leiblichen Selbst- und Weltverhältnisse differenztheoretisch begreift Merleau-Ponty (1974). 9Siehe etwa Luhmann (1984, S. 92 ff.). 10Simon (2018, S. 13). 11Simon (2018, S. 14). 8Siehe
Der Beobachter in der soziologischen Systemtheorie 81
Verweis ( = zeigen) auf das erste Unterscheiden gebraucht« .12 In Folge entsteht eine besondere Form von Reflexivität, die gleichsam das Ergebnis der Operation als Zeichen mit dem Prozess des Bezeichnens verwechseln lässt. Die Operation des rekursiven Verweisens auf das Ergebnis des Prozesses des eigenen Unterscheidens kondensiert gleichsam eine Art Identität. So beginnt beispielsweise ein kognitives System – die Psyche – im Verlauf seines Operierens zwischen Subjekt und Objekt zu unterscheiden, um zugleich die eine Seite der Unterscheidung als ›Ich‹ zu bezeichnen. Als Konsequenz dieser Operationen erscheint für das System eine »fungierende Ontologie« ,13 entsprechend der es nun einen Beobachter im Nominativ zu geben scheint, ausgestattet mit der Fähigkeit, Objekte einer vermeintlich außerhalb seiner selbst bestehenden Realität zu erkennen. Aus operativer Sicht rekurrieren hier jedoch nur Unterscheidungen auf Unterscheidungen. Der Beobachter und die von ihm erkannte Realität existieren also nicht an sich, sondern nur als temporäres Produkt von Unterscheidungsoperationen, die flüchtige Identitäten ausflaggen lassen. In formaler Hochabstraktion und zugleich als graphische Illustration wird diese Figur der Selbstreferenz durch das Formkalkül von George Spencer Brown beschrieben.14 Der Kalkül beginnt damit, auf einem leeren Blatt einen Haken – eine Markierung (cross) – zu zeichnen.
Der Haken vollzieht zugleich eine Operation der Unterscheidung (indem die rechte Seite von der linken unterschieden wird) und der Bezeichnung (in der die linke Seite der Unterscheidung markiert wird). In einem weitergehenden Schritt – dem reentry – wird die Unterscheidung selbst markiert und in sich selber wieder eingeführt.
Der sich schließende reentry-Haken verweist auf jene selbstreferenzielle systemische Dynamik, die Identitäten in einer solchen Weise kondensiert,
12Simon
(2018, S. 15). Kursiv im Original. Fuchs hat den Begriff ›fungierende Ontologien‹ als eine besondere Art von Fiktionen eingeführt, die eine tatsächliche, konkrete und erfahrbare Wirklichkeit erzeugen. Gleichzeitig existieren sie aber nicht voraussetzungslos qua Substanz, sondern werden erst durch die Beobachtungsoperationen konstituiert (Fuchs 2004, S. 11). 14Siehe Spencer Brown (1997) sowie zur Einführung Schönwälder et al. (2004) und Baecker (1993). 13Peter
82 W. Vogd
dass sie dem betreffenden System selbst verfügbar sind, wobei jedoch eine unmarkierte Außenseite mitgeführt werden muss (unmarked space), welche die Totalität der für die Systemreproduktion notwendigen, dem System kognitiv jedoch nicht zugänglichen Weltdynamiken beinhaltet. So kann sich beispielsweise der Beobachter, der aufgrund der Unterscheidungsoperationen des psychischen Systems hervorgebracht wird, nicht zugleich der Operationen bewusst sein, die eine jeweils konkrete Selbst-und-Welt-Phänomenalisierung als Unterscheiden und Bezeichnen ermöglichen. Die hier vorgestellte Figur der Selbstreferenz mit operativer Kondensation einer Identität lässt sich wiederum mit Blick auf unterschiedliche Systemtypen formulieren. Man denke hier etwa mit Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela an biologische Systeme, die im Fluss der von ihnen organisierten Energie- und Materieströme eine Grenze zwischen Innen und Außen ziehen, um dann in weiteren Operationen diese Prozessstruktur aufrecht zu erhalten.15 Diese Reproduktion kann nur deshalb gelingen, weil Lebewesen informationsverarbeitende Systeme sind. Information erscheint mit Bateson, um es nochmals zu wiederholen, als ein »Unterschied, der einen Unterschied ausmacht« .16 Dies setzt eine gewisse Grobkörnigkeit in der Wahrnehmung von Unterschieden voraus. Nur indem Bestimmtes und nicht alles als relevant, d. h. als für weitere Operationen instruktiv genommen wird, ist Systemaufbau möglich. Nur auf diese Weise lassen sich der Umwelt Informationsmehrwerte abgewinnen (etwa indem zwischen warm und kalt, süß und sauer oder der Konzentration von Kalium innerhalb und außerhalb der Zelle unterschieden wird). Diese Unterschiede werden dann für weitere Operationen instruktiv, die für die Reproduktion genutzt werden (so mag ein Bakterium dann durch seine Eigenbewegung das süße Milieu anstreben und das saure meiden). Auch der Typus des psychischen Systems, zuvor anhand der Subjekt-Objekt-Unterscheidung bereits eingeführt, lässt sich nun weiter spezifizieren: Im Prozess des Denkens wenden sich im Medium der Sprache und der Sinneswahrnehmungen Gedanken auf sich selbst zurück, um dann den Denker als Eigenwert dieses Prozesses zu bezeichnen.17 Die philosophiegeschichtlich berühmteste Rekursion dieser Art ist René Descartes ›ego cogito, ergo sum‹ (›Ich denke, also bin ich‹). Auch hier gilt das zuvor
15Siehe
etwa Maturana und Varela (1985). (1992, S. 582). 17Siehe ausführlich zum psychischen System Luhmann (1995) und Fuchs (2005). 16Bateson
Der Beobachter in der soziologischen Systemtheorie 83
Gesagte: Es muss abstrahiert werden. Die zu verwendenden Symbole sind nur dann informativ, wenn sie von dem Detailreichtum empirischer Verhältnisse absehen, also eine hinreichende Grobkörnigkeit haben, um überhaupt etwas bezeichnen zu können. Wenn tausende von Worten und Zeichen notwendig wären, um einen Sachverhalt zu formulieren, wäre dieser nicht mehr instruktiv. Um hier an das Beispiel von Descartes anzuschließen: wenn zu genau gefragt wird, was das Ich oder das Denken, von dem gesprochen wird, eigentlich sei, beginnt die durch Rekursion aufgebaute Identität unscharf zu werden und zu verblassen. Das Ich würde, wenn man dieses Experiment nur konsequent genug durchführte, dekonstruiert, bzw. sich nur noch als leere Selbstreferenz erweisen. Um vom Ich zu sprechen, muss das, was das Ich ausmacht, opak bleiben. Selbstredend interessiert sich die soziologische Systemtheorie vor allem für soziale Systeme. Die basale Operation ist hier nicht physiologischer oder psychischer, sondern kommunikativer Art. Schauen wir mit Dirk Baecker, was vor dem Hintergrund der vorangehend geschilderten Theorieanlage unter Kommunikation zu verstehen ist. Auch im Falle sozialer Systeme setzen die Untersuchungen beim Prozess des Unterscheidens ein und nicht bei irgendwelchen distinkten Elementen oder Inhalten, da im Sinne der obigen Ausführungen davon ausgegangen wird, dass diese nicht von vornherein existieren, sondern wie auch der Beobachter erst in einem sukzessiven Prozess von Unterscheidungen, die auf Unterscheidungen referieren, generiert werden. Eine Kommunikationstheorie im Anschluss an Heinz von Foersters Kybernetik zweiter Ordnung ist also »nur dann ernst zu nehmen«, »wenn es ihr gelingt, nicht mit Kommunikablen zu starten, also mit dem, worum es dann vor allem geht (Zeichen, Symbole, Wörter, Gesten, Mitteilungen, Nachrichten aller Art), sondern mit dem rekursiven Prozess, aus dem diese Kommunikablen als so genannte Eigenwerte einer rekursiven Funktion allererst entstehen. Man findet nicht etwas vor, das dann Anlass für Kommunikation ist. Sondern man kommuniziert bereits und findet darin und deswegen Anlässe, die es erlauben, weiterzukommunizieren oder die Kommunikation abzubrechen.«18 Schauen wir auf ein kleines Beispiel aus der Welt der Kinder, um zu illustrieren, was hiermit gemeint ist. Im Kindergarten ereignet sich Folgendes:
18Baecker
(2005, S. 29). Im Original nicht kursiv.
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Während des Frühstücks zwinkert Marie mit dem linken Auge. Peter sieht dies und sagt zur Marie: ›peep‹. Marie antwortet: ›bluub‹. Ein wenig später auf dem Spielplatz begegnen sich die beiden wieder. Diesmal beginnt Marie das Gespräch und sagt: ›peep, peep‹, worauf Peter mit ›bluub, bluub‹ antwortet. Am nächsten Morgen begrüßt Peter Marie mit ›bluup‹. Marie antwortet mit ›peep‹.
Diese kleine Sequenz macht deutlich, dass es in der Kommunikation nicht um vornherein definierte Inhalte und Zeichen gehen muss, sondern dass die Kommunikation gleichsam mit beliebigen Anlässen beginnen kann, um dann auf kontingente, das heißt immer auch anders mögliche Weise fortgesetzt (oder eben abgebrochen) zu werden. Kommunikation kann allein dadurch wiedererkennbare Muster und Strukturen generieren, dass wechselseitig an die Artikulation des jeweils Anderen angeschlossen wird. Marie und Peter sagen oder tun etwas und dies ist Anreiz genug dafür, dass der jeweils andere auch etwas sagt, was dann Anlass für weitere Artikulationen ist. Mit Verlauf der Zeit wird deutlich, dass die Antworten weder deterministisch vorherbestimmt noch beliebig sind, sondern ihrerseits einer bestimmten Ordnung folgen. Diese ergibt sich allein im Hinblick auf das, was in vergangenen Sequenzen geschehen ist, und welche Erwartungen an künftige Interaktionen hiermit verbunden werden. Kommunikation: Bestimmung des Unbestimmten, aber Bestimmbaren, um Bestimmtes verstehen zu können Strukturell geschieht dasselbe in den vielfältigen Kontexten der menschlichen Alltagskommunikation. Wenngleich es uns aufgrund unserer habituellen Fixierung auf Inhalte, d. h. auf die propositionalen Gehalte des Gesagten, normalerweise nicht auffällt, offenbart sich hier bei näherer Analyse dieselbe Dynamik. Auch hier verdichten sich die Kommunikablen erst in einem Prozess des interaktiven Abtastens einer Vielzahl von Aspekten und möglicher Anschlussoptionen. Zunächst ist zu klären, welche Lautfolgen verwendet werden (wird Englisch gesprochen oder Deutsch und wenn letzteres, dann als Dialekt, als Slang oder als Hochdeutsch)? Darüber hinaus stellt sich die Frage, welche Bedeutungshorizonte sich mit den verwendeten Worten verdichten und welche Themen auftauchen (spricht man über das Wetter, die nächsten Arbeitsaufgaben oder die Beziehungsprobleme, die man hat). Zudem muss entschieden werden, wie die Gesprächssituation zu rahmen ist (als Small Talk, als sachbezogene oder beziehungsbezogene
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Interaktion, als Spiel oder Ernst, bzw. als eine wie auch immer geartete Mischung von alledem).19 Nicht zuletzt ist zu fragen, ob und wie die Interaktion in übergreifende kommunikative Systemtypiken eingebettet ist (geht es um Geld, Macht, Liebe, Wahrheit, Kunst etc. und wenn vielleicht nicht explizit, stehen diesbezügliche Erwartungshorizonte dennoch im Raum?). Dirk Baecker verbindet nun die mathematische Informationstheorie von Claude Shannon mit von Foersters Kommunikationstheorie, die Kommunikablen als Eigenwerte der Kommunikation begreifen lässt. Shannon stellt zunächst fest, dass in technischen Übertragungskanälen redundante, das heißt keine zusätzliche Information beinhaltende Daten mitgesendet werden müssen, um Störungen auszugleichen. Die Information muss sich also eindeutig von einer zufälligen Folge von Ereignissen abheben können, wie sie etwa im Signalrauschen auftritt. Mathematisch gesehen, erscheint der Informationsgehalt einer Nachricht damit zunächst als ein »Maß für die Ungewissheit des Eintretens eines Ereignisses«, ausgedrückt durch eine Zahl zwischen 0 und 1. Lässt sich der Gehalt mit maximaler Gewissheit aus den vorangehenden Ereignisfolgen erschließen, ist seine Wahrscheinlichkeit 1. Handelt es sich demgegenüber um Zufallsfolgen ohne Ordnung, ist seine Wahrscheinlichkeit 0. »Redundanz« heißt also, »dass man es bei jeder Information mit einem Verhältnisbegriff zu tun hat, der auf die zugrunde gelegte beziehungsweise als Auswahlbereich möglicher Nachrichten unterstellte Ordnung verweist.« Hiermit verbinden sich Informationstheorie und der ursprünglich aus der Thermodynamik stammende Begriff der Entropie. Denn als »Gegenbegriff zur Redundanz« erscheint jetzt der »Begriff der Entropie. Eine Ordnung ist so entropischer, je gleichwahrscheinlicher ihre Ereignisse und Zustände sind« .20 Für ein System ist etwas also genau dann Information, wenn es weder im Rauschen zufälliger Ereignisse untergeht (also bedeutungslos ist) noch durch die vorangehenden Ereignisse vorherbestimmt ist (also keinen Überraschungswert mehr hat). »Kommunikation« , so formuliert Baecker, »ist ein Vorgang, der insofern, als er etwas mit Informationsverarbeitung zu tun hat, die Orientierung in einer Welt ermöglicht, deren Ordnung weder vorausgesetzt noch in Frage gestellt werden muss, sondern in einer
19Siehe
zur Rahmenanalyse insbesondere Goffman (1996). (2005, S. 21).
20Baecker
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Sequenz endlicher Kontingenzen erschlossen wird.« 21 In der technischen Kommunikation, von der Shannon spricht, ist der Auswahlbereich vorab festgelegt. So ist etwa bei der Übertragung von Zahlenfolgen von vornherein definiert, wie die gesendeten Signale dekodiert werden können. Allerdings ergibt sich bei der Übertragung von Daten das Problem, dass ebendiese durch das Rauschen externer Störeinflüsse überlagert werden, weshalb die Daten, wie gesagt, mit einer gewissen Redundanz ausgestattet werden müssen, um das ihnen zugrunde liegende Muster erschließen zu können. In der menschlichen Kommunikation stellen sich die Verhältnisse jedoch komplexer dar. Denn der Auswahlbereich und entsprechend auch die Regeln, nach denen Daten dekodiert bzw. verstanden werden können, sind nicht von vornherein gegeben, sondern werden ihrerseits erst durch die Kommunikation herstellt. Man denke etwa an das Beispiel der beiden Kinder Marie und Peter, die in ihrem kommunikativen Spiel ihre eigenen Regeln erfinden, wie in der Interaktion an Artikulationen angeschlossen werden kann. Baecker generalisiert diesen Befund: Es ist erst die Kommunikation, welche die Information erzeugt, »die bestimmte Nachrichten in ein Verhältnis zum mitlesenden, jetzt aber unbestimmten Auswahlbereich möglicher anderer Nachrichten setzt«. Erst die Kommunikation leistet in ihrem Prozedere die Arbeit »an der Bestimmung des Unbestimmten, aber Bestimmbaren, um Bestimmtes verstehen zu können«.22 Es ist also in Erweiterung der Theorie Shannons auf »ein weiteres aktives und insofern endogenes Element der Kommunikation hinzuweisen, das darin besteht, dass die Bezeichnung eines Ereignisses, eines Gegenstandes oder eines Zustandes durch eine Nachricht nur als Selektion in einem Auswahlbereich möglicher anderer Nachrichten zustande kommt, der dadurch bezeichnet wird, dass die Bezeichnung« ihrerseits eine weitere »Unterscheidung voraussetzt« 23 – nämlich die Wahl des Auswahlbereichs, in dem das Kommunizierte verstanden wird. Die Kommunikation muss gleichsam den Rahmen mitproduzieren, in dem sie verstanden wird. »Erst die Bezeichnung im Kontext der Unterscheidung ist die Information, mit der die Kommunikation dann arbeitet. Beides« ist jedoch »in der allgemeinen Theorie der Kommunikation, die wir hier formulieren, als Variable« zu behandeln, »die Bezeichnung ebenso wie die Unterscheidung. Das schließt ein, dass andere Unterscheidungen andere
21Baecker
(2005, S. 22). (2005, S. 23). 23Baecker (2005, S. 61). 22Baecker
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Bezeichnungen nahe legen und dieselbe Bezeichnung in einem anderen Kontext eine andere Bezeichnung wird.«24 Der zuletzt benannte Punkt wird für Baecker insbesondere am Beispiel des Austauschs von Gegenbegriffen deutlich: »Es macht einen Unterschied, ob man den Menschen vom Tier (erster Gegenbegriff) unterscheidet und für vernunftbegabt hält, von den Göttern (zweiter Gegenbegriff) unterscheidet und seine Sterblichkeit einsieht oder von Maschinen (dritter Gegenbegriff) unterscheidet und nach seiner Lebendigkeit sucht.«25 Die Operation der Kommunikation hat nolens volens mit zwei Unterscheidungen zu arbeiten und diese zu einer Einheit zu verweben. Sie hat nicht nur einen Inhalt zu bestimmen, sondern auch den Auswahlbereich, in dem ersterer etwas bedeutet. Hiermit wird deutlich, dass die solchermaßen selbstreferenziell operierende Kommunikation als ein Beobachter im Sinne von Fritz Simons zuvor benannter Definition verstanden werden kann. Wir begegnen auch hier einem Beobachter, der weder Subjekt noch Objekt ist, sich also nicht im Sinne einer essentialistischen Ontologie verdinglichen lässt. Auch der Beobachter der Kommunikation erscheint entsprechend des operativen Verständnisses der Systemtheorie als ein Artefakt – ein Kunstprodukt – von Beobachtungsoperationen. Die Operationen des Unterscheidens und Bezeichnens generieren in konditionierter Koproduktion mit anderen Operationen des Unterscheidens und Bezeichnen die vielfältigen Gegenwarten – das heißt Beobachtungsverhältnisse – unserer sozialen und psychischen Welten. Eine solchermaßen verstandene Theorie des Beobachters öffnet den Blick dafür, »dass unsere Beobachtung der Welt nicht unbeeinflusst von anderen Beobachtern ist, die die Welt anders beobachten. Das gilt unter Menschen, die gelernt haben, mit kultureller Diversität zu rechnen. Und es gilt im Verhältnis zu Körpern, Gehirnen, Bewusstsein, sozialen Systemen und künstlich intelligenten Maschinen«. Denn wie »wir Menschen die Welt beobachten, ist durch dieses Verhältnis zu anderen Menschen und weiteren Beobachtern bereits vielfach konditioniert, bevor wir beginnen, darauf aufmerksam zu werden, dass wir Beobachter sind und die Wahl haben, mithilfe welcher Unterscheidungen wir die Welt und uns beobachten«.26
24Baecker
(2005, f. 61). (2005, f. 61). 26Baecker (2013, S. 9). 25Baecker
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Gespräch mit Dirk Baecker Es folgt ein Gespräch mit Dirk Baecker, der maßgeblich daran beteiligt war, eine soziologische Beobachter- und Kommunikationstheorie auf Basis des Formkalküls von George Spencer Brown auszuarbeiten. Dirk Baecker lehrt und forscht an der Fakultät für Kulturreflexion der Universität Witten/ Herdecke. Den Beobachter gibt es nicht, der Beobachter ist eine Theoriefigur WV Die erste Frage, die mich interessiert, lautet: Was ist der Beobachter? Gibt es in der Systemtheorie eigentlich den Beobachter? DB Den Beobachter gibt es nicht. Der Beobachter ist eine Theoriefigur, die man sich nicht substantialisiert, geschweige denn personalisiert vorstellen darf, sondern die man sich so vorstellen darf, dass alle Aussagen, die von der Systemtheorie getroffen werden, von einem Beobachter ausgesagt werden, dem Theoretiker, der Theoretikerin. Zugleich ist der Beobachter eine Theoriefigur, die verlangt, dass auch alle Aussagen, die im Feld getroffen werden, einer bestimmten Systemreferenz zugeordnet werden. Der Beobachter ist eine Figur, die es erzwingt und erlaubt, sowohl die Wirklichkeitserfahrung als auch die Wirklichkeitskonstruktion einerseits kontingent zu setzen und andererseits auf eine spezifische Adresse der Konstruktion bzw. der Wahrnehmung der Erfahrungen zuzurechnen. WV Du hast eben gesagt, den Beobachter gibt es nicht. So wie ich das verstanden habe, ist der Beobachter synonym mit einem System. DB Ja, aber das System gibt es auch nicht. Es ist ebenfalls eine Theoriefigur – und zwar eine Theoriefigur, die es erlaubt, Wirklichkeitskonstruktionen zu rekonstruieren. WV In Deinem Buch »Wozu Systeme?« schreibst Du: »Das System S ist eine Funktion f seiner selbst, S, und seiner Umwelt U« und beschreibst diese Figur zugleich als eine »Paradoxie« und als eine »Tautologie« und die Differenz bezeichnest Du als einen »Joker, den bislang niemand zu Gesicht bekommen hat, dem die Systemtheorie jedoch nicht aufgehört hat, nachzustellen.« 27 Das war so eine Figur von Dir, die war für mich wahnsinnig interessant und ich habe sie auch oft zitiert. Da steckt gewissermaßen ein Geheimnis drin. Wenn ein System nämlich eine Funktion seiner selbst und seiner Umwelt ist, dann kann man nicht sagen, was das System ›ist‹, in einem ontologischen Sinne, und ebenso wenig kann man dann sagen, was der Beobachter ›ist‹.
27Baecker
(2002, S. 86).
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DB Das Problem beginnt schon einen Schritt früher. Der Systemtheoretiker tritt als ein Wissenschaftler auf, der nur zwei Möglichkeiten der Konstruktion von Sachverhalten hat. Die eine Möglichkeit ist, einen Sachverhalt als Struktur innerhalb eines sich reproduzieren Systems zu betrachten und zu sagen: »die und die Aussagen, Beobachtungen und Erfahrungen sind Teil eines Sozialsystems namens Familie, Organisation, Wirtschaft oder was auch immer.« Und die andere Möglichkeit ist, einen Sachverhalt als Sachverhalt in der Umwelt eines Systems aufzufassen und dann etwa zu sagen, Arbeitslosigkeit sei ein Sachverhalt in der Umwelt des Politiksystems und wird von daher vom Politiksystem anders beobachtet, als ein Problem, das man politisch lösen muss, als vom Wirtschaftssystem, für das sie eine in Kauf zu nehmende Störungen von Arbeitsmarktsignalen oder Ähnliches ist. Von daher ist jeder Versuch, den Beobachter über die Angabe einer Systemreferenz hinaus festzulegen, mit der Systemtheorie nicht durchzuführen. WV Also es gibt sozusagen keinen Superbeobachter. Und dann ist alles, was ich beobachte und sage immer gleichzeitig eingebettet in die Systemreferenz, die ich verwende. DB Genau. WV Also gibt es theoretisch für eine Beschreibung, unendlich viele oder nahezu unendlich viele Möglichkeiten, Beobachter zu konstituieren. DB Ja. WV Also zunächst mal könnte jedes psychische System ein Beobachter sein. Aber ich könnte auch sagen, selbstorganisierte physiologische Systeme oder auch Nervensysteme können beobachten, weil sie ja irgendwie auf sich selbst referieren und dabei trotzdem von der Umwelt abhängig sind. Und dann kommt ja bei Luhmann diese Figur des Kommunikationssystems ins Spiel, also dass sich Kommunikation an einem bestimmten Punkt selbst wieder schließen kann, um weitere Systemiken zu erzeugen. Wie auch immer, es gibt viele denkbare Systeme, empirisch gesehen dann natürlich nicht beliebig viele, aus Perspektive einer empirischen Wissenschaft muss solch eine Relation natürlich rekonstruierbar sein, also ein empirisch rekonstruierbares System darstellen. Aber wo der Schnitt zwischen System und Umwelt dann gesetzt wird, ist dann praktisch nicht festgelegt, oder?
Je nach Systemreferenz erscheint etwas anderes als Realität: Das Beispiel einer Familie DB Es steht im Ermessen eines Beobachters, der sich durch die Angabe einer Systemreferenz selbst bindet und in seiner Forschung Schritt für Schritt die gewonnenen Freiheitsgrade durch Festlegungen in Erkenntnisse verwandelt, die dann auch andere Beobachter interessieren können
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oder auch nicht. Ein bestimmtes Phänomen, sagen wir einmal, das Zu-spät-nach-Hause-Kommen eines Kindes, ist ein Phänomen der Beobachtung eines Familiensystems. Das stellt ein Wissenschaftler fest, der seinerseits feststellt, dass diese Beobachtung auch im Familiensystem selbst vorgenommen wird. Das Phänomen wird doppelt kontingent gesetzt, doppelt indexikalisiert, wenn man so will. Wir haben es mit Beobachtungen zweiter Ordnung zu tun, denn der Wissenschaftler beobachtet die Beobachtungen der Familie; und nichts schließt aus, dass auch die Familie sich dafür interessiert, wie sie von der Wissenschaft beobachtet wird, etwa wenn diese sich in therapeutische Empfehlungen umsetzt. WV Genau, in dem Fall ist es so, dass der Soziologe ein Familiensystem beobachtet und damit den Schnitt setzt, »das ist innerhalb der Familie, das ist außerhalb der Familie und gehört nicht dazu«. DB Und die Familie hat selbst die Optionen, die auch die Wissenschaft in Anspruch nimmt. Sie kann das Zuspätkommen des Kindes auf Erziehungsprobleme oder auf Probleme in der Umwelt der Familie beziehen. Dann muss zum Beispiel für pünktliche Busse gesorgt werden oder ähnliches. Und entsprechend differieren die Konsequenzen für Eltern und Kind. WV Und ein Psychotherapeut kann dann sagen: ›Ok, das Zuspätkommen ist ein Ausdruck von pubertärer Rebellion gegen die rigiden Strukturen innerhalb der Familie, gegen autoritäre Haltungen des Vaters.‹ Auch dies erscheint dann im praktischen Vollzug als eine bestimmte Art von Beobachtung, die, könnte man jetzt sagen, wenn sie in die Familie eingespeist wird, die Familie als Eigensinn wahrnehmen oder aufnehmen könnte. Sie wird dann etwa sagen können: ›Kind du betreibst jetzt Rebellion und wir müssen uns jetzt darauf einstellen‹, oder sie könnte es als eine fremden Sinn markieren, etwa in dem sie sagt, ›der Psychotherapeut hat sich da was zurechtgesponnen‹ und seine Intervention rejizieren und sagen, ›nein, bei uns ist das nicht so.‹. DB Oder das Kind sagt sich, großartige Idee, jetzt weiß ich endlich, wie ich meine Rebellion zum Ausdruck bringen kann, obwohl ich tatsächlich nur meinen Bus verpasst habe. WV Und da hätte man jetzt bereits ein Spiel multipler Systemreferenzen. Wir haben hier mindestens drei, mit dem soziologischen Beobachter sogar vier Systemreferenzen, die nicht das Gleiche sehen oder als Realität identifizieren. DB Alle diese Beobachter gehen von einem Ereignis aus, der Verspätung des Busses, das mit diesen Beobachtungen nicht synchronisiert ist, aber in dem Moment, in dem alle auf es Bezug nehmen, zur Synchronisation dieser Beobachterrollen herangezogen wird und zum Element eines Systems wird. Wohlgemerkt, nicht dass der Bus zu spät kommt, sondern
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dass sich Kind, Eltern, Soziologe, Therapeut auf diesen Bus beziehen, macht den Bezug zum Element eines für den Moment funktionierenden und im nächsten Moment wieder auseinanderfallenden, nach neuen Ereignissen suchenden Systems. WV Das Synchronisieren ist jetzt gewissermaßen ein Verbund von Systemen, oder wie würdest du das jetzt sagen? Konstituiert das jetzt alles ein neues Systems, in dem Moment, wo es aufeinander trifft? DB Es ist eine Synchronisation verschiedener Systeme im System der Gesellschaft. WV Du sprichst jetzt von Beobachtung. Was genau ist eine Beobachtung? DB Eine Beobachtung ist die Feststellung eines Sachverhaltes für ein auf diesen Sachverhalt Bezug nehmendes System. Eine tautologische Definition (Lachen). WV Also der Sachverhalt, um es mit Peter Fuchs auszudrücken, ist sozusagen eine fungierende Ontologie. Da ist was … DB … fungierend für ein System, ja. WV Also für ein System ist etwas. Es stellt fest, hier ist ein Sachverhalt. DB Genau, ein Sachverhalt für ein System. Das System ›intendiert‹ im Sinne von Husserl, lässt jedoch in der Beschreibung einer Beobachtung die Referenz auf sich weg und intendiert stattdessen den Gegenstand. Es externalisiert seine Beobachtungen und vergisst den eigenen Anteil an der Konstruktion der Beobachtung. Es entstehen Busse, Kinder, Rebellionen, wo vorher allenfalls ein diffuser Alltag festzustellen war – und auch weiterhin festzustellen ist, wenn man die Systemreferenzen wieder streicht. WV Und dabei kommen dann sozusagen je nach Beobachter oder Beobachterreferenz unterschiedliche Werte heraus. Also für das Kind, das zu spät kommt, ist es vielleicht noch nicht einmal ein Zu-spät-Kommen. Sondern es ist eben gerade dann gekommen, wie es entsprechend seiner natürlichen biologischen Zeit gelaufen ist und für die Mutter, die am Essenstisch wartet, ist es ein Zuspätkommen. Für den Familientherapeuten ist es Rebellion. Also zunächst ist da nur das Ereignis, also erst mal pure Ereignishaftigkeit – hier ist etwas nur das, was es ist. Innerhalb der unterschiedlichen Beobachtungen erscheint es jetzt aber jeweils als ein anderer Sachverhalt. DB Genau so. Für den Vater ist es eine Belästigung durch einen familiären Konflikt, den man durch das generöse Hinwegschauen über die Verspätung gar nicht erst hätte zustande kommen lassen müssen. WV Und die Systemtheorie, so wie Du sie jetzt vertrittst, die würde jetzt nicht sagen, ›okay, wir haben die endgültige Definition, was es ist.‹ Andere Beobachter würden das anders machen. Beispielweise würde ein Psychoanalytiker sagen, ›da spricht das Unbewusste, das die Familie bislang verdrängt hat, aber in der Familie drin steckt.‹ Der hat dann noch eine
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tiefere, verborgene, endgültige Wahrheit, die, so sein Glaube, als verborgenes Thema vielleicht von einer Familiengeneration zur nächsten auf den Jungen übertragen wird. Aber aus Perspektive der Systemtheorie müsste das auch wieder eingeklammert werden, das wäre dann eben nur eine Aussage aus der Referenz eines psychoanalytischen Beobachters.
Wahl einer Perspektive und hierfür die Verantwortung übernehmen müssen DB Es gibt kein Zurück hinter den Zwang, eine Systemreferenz zu wählen und die Systemreferenzen untereinander austauschbar zu halten. Umso interessanter ist für den Systemtheoretiker die in allen Fällen tatsächlich vorgenommene Wahl. Darin liegt ja eine Paradoxie: Man ist gezwungen zu wählen, das heißt, wie Heinz von Foerster sagen würde, eine Verantwortung für seine Beobachtungen zu übernehmen. Es gibt, wenn man so will, weder rebellische noch pubertäre noch sonst wie verfasste Kinder, sondern nur Ereignisse, die entsprechend codiert und zugerechnet werden und so einen strukturellen Wert in der Reproduktion eines Systems bekommen. WV Ich habe jetzt eine Frage zu dieser Relation, diesem Konnex, den die Beobachtung macht. Du hast eben von der Husserlschen Intentionalität gesprochen. Ist das eigentlich jetzt so, dass jetzt dort bereits der Konnex gebildet wird, der den Beobachter ausmacht? So haben wir dann entweder eine intentionale Bewegung, die einen Konnex herstellt oder sie unterbleibt und dann landen wir bei eine Sphäre ohne Sinn. Was ich meine, lässt sich vielleicht mit dem Existenzialphilosophen Albert Camus verdeutlichen. Er beschreibt in seinem Roman »Der Fremde«, dass es Ereignisse in einem Raum der Sinnlosigkeit gibt. So kommt in diesem Roman bekanntlich das Ereignis vor, dass der Protagonist aus einem spontanen Impuls einfach jemanden umbringt. Und er weiß selbst nicht, was diese Tat für ihn bedeutet und warum er es überhaupt gemacht hat. Aber in dem Prozess, in den er im Anschluss an seine Tat hineinkommt, tauchen verschiedene Beobachterperspektiven auf. Für den Polizisten ist er ein Straftäter, für den Pfarrer ein Sünder. Seine Freunde wollen ihn überzeugen, zu sagen, dass er von dem Araber angegriffen wurde und sich nur verteidigen wollte. Und seine Freundin, die ihn eigentlich liebt, kommt wiederum mit einer anderen Geschichte. Jeder bietet einen anderen Sinn als mögliche Perspektive an. Doch nichts rastet bei ihm ein. Und genau dies macht den Roman so interessant. Es erscheinen verschiedene Konnexe, die jedoch dann immer wieder ins Leere laufen, sich nicht zu einem gemeinsam geteilten Sinn verdichten. Ist das jetzt nicht
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ein Beispiel für die systemtheoretische Perspektive? Jeder Konnex muss der Sinnlosigkeit von Ereignissen abgerungen werden! DB Dabei darf man den Autor nicht vergessen, der den Kontext der Sinnlosigkeit aufruft und damit seinerseits eine Entscheidung trifft, die der Leser teilen kann, aber nicht muss. Beim Konnex, um bei diesem Wort zu bleiben, habe ich es wieder mit derselben Entscheidung zu tun. Ist es mein Konnex, den ich herstelle, um Verbindungen zwischen Ereignissen zu knüpfen und sie derart zu erläutern und erhellen oder ist es ein Konnex, von dem ich behaupte, dass er vom Gegenstand, von den beteiligten Akteuren selbst hergestellt wird? WV Also der Beobachter sieht die Korrelation darin? DB Streng genommen beschreibt der Beobachter mit einer Korrelation sich selbst. WV Das wäre genauso, wenn ich vom psychischen System, oder vom Wahrnehmungssystem ausgehe. Es sieht jetzt irgendwelche grünen Punkte und aus dem Konnex der Punkte sieht es jetzt dort ein Blatt hinein. Das lässt sich natürlich auch auf Sprache, auf sozialen Sinn beliebiger Komplexität ausdehnen. Also man hat jetzt irgendwelche Elementarereignisse und da sieht der Beobachter einen Konnex drin. Blätter, Bäume, vielleicht Bäume einer bestimmten Sorte. DB Je reicher die Unterscheidungen sind, die ein Beobachter trifft, desto reicher ist seine Welt und desto reicher ist er selbst. Mit der Biologie und Physiologie der Wahrnehmung, wie sie Jakob von Uexküll, Fritz Heider und andere entworfen haben, wird es unentscheidbar, ob der Reichtum der Welt oder der Reichtum der Unterscheidungen der Ausgangspunkt sind. Das eine ist vom anderen nicht zu trennen. Die Welt ist die Welt von Beobachtern und für Beobachter. WV Um nochmals das Beispiel aus Camus Buch aufzugreifen: Ein postkolonialer Mensch, der gegen Rassismus kämpft, der sieht in diesem Mord den Ausdruck von Rassismus. Ein White Supremacist würde demgegenüber sagen, ›nein, es war ja richtig, den Araber abzuknallen, der einen angeekelt hat.‹ Die Geschichte bietet also ihrerseits unterschiedliche Möglichkeiten an, Korrelationen zu bilden und anzuschließen. DB Ja, damit gehst du einen Schritt weiter. Du verlässt die reine Beobachtungsebene, wenn es so etwas gibt, und bringst Bewertungen ins Spiel. Das interessiert Soziologen: Keine Beobachtung ohne eine Bewertung und vor allem keine Beobachtung, ohne sie unter Umständen im gesellschaftlichen Kontext, in dem man sich bewegt, legitimieren zu können. So lese ich Talcott Parsons AGIL-Schema: Zuerst die Anpassung (A) an eine Umwelt, dann der Bezug auf eine Zielvorstellung (G) eines Organismus und/oder einer Persönlichkeit, dann die Integration-qua-Differenzierung einer Handlung in vorherige, spätere oder gleichzeitige Handlungen desselben Akteurs oder anderer Akteure
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(I) und erst im vierten Schritt die Vorkehrung für eine im Konfliktfall erforderliche Rechtfertigung der Handlung durch Berufung auf Normen und Werte (L). Da der Beobachter auch als Theoriefigur nicht in einem sozialen Vakuum agiert, kann man jede Beobachtung als eingespannt in dieses Vier-Funktionen-Schema beschreiben – und wird damit doch wieder nur als Beobachter kenntlich. WV Wenn wir wieder zur Theoriefigur am Anfang zurückkehren: Da haben wir den Beobachter, der ja wiederum selbst eine Funktion seiner Umwelt ist. Also um das jetzt weiterzuführen. Also um eine bestimmte Korrelation überhaupt sehen zu können – es ist ja nicht so, dass ich ein Solipsist bin, der sich Beliebiges phantasieren kann –, muss ich in einen Sinnraum eingebettet sein, der über mich selbst hinaus geht, der mir über meine persönliche Interaktionsgeschichte ankonditioniert worden ist. DB Sinnraum, Lebensform, Konvention, Praxis, Habitus – wir haben viele Begriffe für diese dem Bewusstsein eines Beobachters vorgreifende Einbettung seiner Beobachtungen in seine soziale, historische und kulturelle Situation. WV Um überhaupt erst auf die Idee zu kommen, dass es irgendetwas mit Rassismus oder Kolonialismus zu tun hat, muss ich mich zunächst erst mal in einen bestimmten Sinnraum befinden, den ich nicht mir selbst verdanke, sondern einer Sozialisation, die mir diese Möglichkeiten der Korrelation von Ereignissen zu Sinn so präsent gemacht hat, dass sie mir jetzt in dem Moment wahrscheinlich und plausibel erscheinen. DB Ja, und jetzt wird es interessant, denn diese Einbettung darf ja ihrerseits nichts an der Wahlfreiheit des Beobachters ändern. Im Gegenteil, die soziologische Systemtheorie beschreibt eine Gesellschaft, die den Beobachter als Figur der Wahrnehmung und Veränderung von Einschränkungen setzt. Man startet mit dem Beobachter, entdeckt die Gesellschaft und befähigt den Beobachter, seinerseits Entscheidungen zu treffen, die dieselbe Gesellschaft laufend verändern.
Kommunikation als Bestimmung des Unbestimmten WV In späteren Veröffentlichungen, wo Du ja sehr stark auf den Formkalkül von Spencer Brown zurückgreifst, wählst Du ja eine andere, abstraktere Sprache. Ich lese Dir mal ein Zitat vor: Es ist erst die Kommunikation, welche die Information erzeugt, »die bestimmte Nachrichten in ein Verhältnis zum mitlesenden, jetzt aber unbestimmten Auswahlbereich möglicher anderer Nachrichten setzt«. Erst die Kommunikation leistet in ihrem Prozedere die Arbeit »an der Bestimmung des Unbestimmten, aber
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Bestimmbaren, um Bestimmtes verstehen zu können«.28 Also was ich jetzt an dieser Stelle interessant finde, ist die Beziehung von Bestimmtem und Unbestimmtem. Gerade diese Figur erscheint mir auch für den Dialog mit der Quantentheorie interessant. In der informationstheoretischen Fassung taucht ja hier das sogenannte Qubit auf. Dieses stellt ein Paar mit einer bestimmten Relation, aber einem unbestimmten Inhalt dar, der in der Interaktion selber wiederum in eine Bestimmung überführt wird. Nach diesem Prinzip sollen ja dann später auch die Quantencomputer operieren. Kannst Du mir diese Figur der Bestimmung des Unbestimmten noch ein bisschen mehr erläutern? DB Na ja, derselbe Gedanke abstrakter formuliert läuft darauf hinaus, dass der Beobachter spätestens in der Moderne – aber es gibt in den Weisheitslehren der tribalen Gesellschaft und Klugheitslehren der frühen Neuzeit zahlreiche Vorläufer – mit seiner Bestimmtheit durch die Gesellschaft die Unbestimmtheit seiner Unterscheidungen, seiner selbst und der Gesellschaft entdeckt. Das wird unter Titeln wie ›Individuum‹ oder auch, mit Kant, als ›Subjekt‹ notiert. Man entdeckt zusammen mit der Bestimmtheit seiner Beobachtungen, die jeweils sind, was sie sind, die Unbestimmtheit, aber Bestimmbarkeit der Welt, die jeweils ist, was sie ist, und nicht ist, was sie ist. Die Philosophie des deutschen Idealismus versucht dieser Paradoxie durch Reflexion zu entkommen: Reflexion auf die Vernunft, den Geist, die Kunst, die Nation. Aber man entdeckt, dass man den gesuchten Halt nicht findet. Und ich vermute, dass es das ist, was dich an der Quantentheorie interessiert: die Entdeckung einer unbestimmten Bestimmbarkeit, die auf keine wirkliche Wirklichkeit hin ›transzendiert‹ werden kann. Es ist ja tatsächlich paradox, wie sehr uns dieser befreiende Gedanke zugleich ängstigt. Aber Überlegungen dieser Art sind kein abstraktes Begriffsspiel. Sie sind soziologisch einschlägig. In der Erziehung, in Familien, in Investitionsverhandlungen, in Gesprächen zwischen Arzt und Patient, in politischen Sondierungen kennen wir nicht nur die engagierte Verfolgung von Zielen, sondern auch die Herstellung von Unbestimmtheit, Offenheit, Spielräumen, die es allen Beteiligten ermöglichen, ihre Ziele zuweilen überhaupt erst zu entdecken, ihre Abhängigkeit voneinander zu verstehen und nach neuen Zielen zu suchen, die allen Beteiligten entsprechen. Eric A. Leifer hat ein ganzes Buch, »Actors as Observers: A Theory of Skill in Social Relationships« geschrieben,29 um diese Herstellung von Unbestimmtheit als Ressource eines nicht nur professionellen, sondern
28Baecker 29Leifer
(2005, S. 23). (1991).
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vielfach auch alltäglichen Umgangs mit Situationen zu beschreiben, die eine Vielzahl von Systemreferenzen komplex verschränken. Und natürlich stellt sich die Frage, wie man dieser Herstellung von Unbestimmtheit mit Methoden der empirischen Sozialforschung auf die Spur kommt. Ich träume immer von einer Integration der Konversationsanalyse von Harvey Sacks in die Interaktionsforschung von Erving Goffman. Aber wem sage ich das?30 WV Ich glaube, es waren zum ersten Mal die Ethnomethodologen, die das in Gruppengesprächen, beispielsweise in Gremiensitzungen untersucht haben. Und die haben dann festgestellt, dass Sprache prinzipiell vage ist, aber nicht nur das, die beteiligten Akteure geben auch aktiv Vagheit in das Gespräch hinein, weil sie sozusagen damit rechnen, dass erst später etwas gesagt wird, was dem, was sie jetzt andeuten, Sinn gibt. Das konnten wir auch empirisch in unserem Projekt zur Aufsichtsratsforschung feststellen.31 Jetzt gibt es beispielsweise einen Fall, bei dem sich aus irgendwelchen Gründen andeutet – das hat zu dem Zeitpunkt noch niemand aufgeschrieben oder schriftlich kommuniziert – dass der Betrieb zahlungsunfähig wird. Also jetzt müsste die Geschäftsführung eigentlich, so wie es das Recht vorsieht, Konkurs anmelden, da sie eben nicht mehr zahlungsfähig sind. Jetzt kommt aber vielleicht nächsten Monat ein Auftrag herein, der aus den finanziellen Problemen heraushelfen würde. In dem Moment jedoch, wenn man die aktuelle Zahlungsunfähigkeit einmal festgestellt hat, ist man in der Falle, da man nun gezwungen ist, die die juristischen Konsequenzen des Konkurses auf sich zu nehmen. Jetzt muss im Team also in subtiler Form abgetastet, wer bereit ist, wegzuschauen und ob jetzt keiner von den entscheidenden Akteuren genauer nachfragt, wie es um die aktuelle Zahlungsfähigkeit eigentlich bestellt ist. Es wird abgewartet, ob das Schweigen über diese Fakten als ein stilles Einverständnis zu sehen, ist, dass man sich als Gruppe gemeinsam in einer »brauchbaren Illegalität« einrichten kann, wie Luhmann das so schön ausgedrückt hat.32 Diese wird aber dann so formatiert, dass kein von außen kommender Jurist, da etwas machen kann, was dann aber wiederum voraussetzt, dass alle mitspielen. Doch genau dies lässt sich jetzt nicht explizit sagen. Denn wenn jetzt jemand aufstehen und sagen würde: »Lasst uns doch jetzt alle gemeinsam illegal handeln und eine strafbare Handlung begehen«, dann wäre die rechtliche Kontextur explizit
30Vgl.
Garfinkel und Sacks (2004) sowie Goffman (1996). Jansen (2013). Vgl. auch Vogd (2018, S. 199 ff.). 32Luhmann (1964, S. 364 ff.). 31Siehe
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angerufen und dann müssten die anderen ja sagen: »Nein, das machen wir nicht, das geht nicht, das dürfen wir nicht.« DB So wie eine brauchbare Ethik muss auch der brauchbare Normbruch implizit bleiben! Und vor allem muss implizit bleiben, dass man um den Normbruch weiß und den anderen, wie auch sich selbst, im Zweifel erpressen kann, bei der Stange zu bleiben. WV Es spielen hier also diese unterschiedlichen Auswahlbereiche hinein: Recht, Kumpanei, mafiöse Strukturen, vielleicht Angst vor Sanktionen, wenn man explizit wird, vielleicht auch Freundschaften. Vielleicht wird dann gedacht: »Wenn der das durchziehen will, ich schätze ihn ja sehr, dann will ich ihn nicht daran hindern.« All dies sind Dinge, die da mitspielen, wobei dann allerdings in der Situation erst mal ausgetestet werden muss, was möglich ist. Jetzt ist natürlich die Frage, ob man das mit einer Akteurstheorie haben kann, entsprechend der dann die einzelnen vorher schon wissen oder glauben zu wissen, wie belastungsfähig und konsensfähig die Gruppe ist und man entsprechend strategisch herangehen kann, um ein Ziel zu erreichen. Oder umgekehrt, wenn ich jetzt nicht dem methodologischen Individualismus – also einer Ontologie zweckrationaler Akteure – folgen will, dann steht bei allen Beteiligten am Anfang das Nichtwissen im Vordergrund. Die einzelnen Akteure würden dann also erst mal untereinander welchselseitig abtasten, was der Fall ist oder sein könnte, ohne dabei vorher eine feste Vorstellung davon zu haben, wo der Prozess hinführen könnte. Die Akteure wären also in ihren Präferenzen und Einstellungen selber noch nicht festgelegt. So ist dann vielleicht die Idee der brauchbaren Illegalität vor zehn Minuten noch gar nicht vorhanden gewesen, weil noch keine Sicherheit in Hinblick auf die Gruppenbindung besteht, aus der heraus überhaupt ein gemeinsames Verschleiern der Unternehmenslage denkbar wird. Das Ergebnis des Prozesses – einschließlich der mit ihm einhergehenden Situationseinschätzungen – könnte damit also nur als ein emergentes Phänomen des Gesamtprozesses beschrieben werden. Also hier sind jetzt entsprechend zwei, sich einander ausschließende Beschreibungen denkbar. Einerseits ließe sich entsprechend eines klassischen Akteursmodell vermuten, dass das jetzt alles gewiefte Geschäftspartner sind, die eigentlich schon vorher wissen, worauf es hinaus läuft. Oder man geht jetzt andererseits im Sinne Deines Ansatzes davon aus, dass sie gerade deshalb gewieft sind, weil sie in den offenen Raum der Ungewissheit hineingehen, und sie, wenn die Situation dann bestimmte Eigenwerte möglich macht, mehr oder weniger bewusst da einrasten können. DB Man führt ja Gespräche, weil man weiß, dass man noch nicht weiß, welche unter Umständen verwendbaren Informationen der andere hat. Man will ja nicht nur etwas verbergen oder etwas nicht ansprechen, zum
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Beispiel den Umstand, dass man kurz vor dem Konkurs steht, sondern man will wissen, wie verlässlich der andere ist, mit dem man spricht, und ob sich die Erwartung bewährt, dass man nächste Woche den und den Auftrag haben könnte, der aus der Bredouille herausführt. Und der andere ist unter Umständen nur dann bereit, auch nur die eigene Verlässlichkeit der Information einzuschätzen, wenn er wiederum einschätzen kann, welchen Unterschied diese Informationen in dem jeweiligen Betrieb, in dem man mit miteinander spricht, machen würde. Das Ausloten von Unbestimmtheit ist ein Ausloten der Frage, welchen Eindruck, welchen Unterschied bestimmte Informationen für Gesprächspartner machen, von denen man noch nicht genau weiß, mit welchen auf welche Art belastbaren Informationen sie ihrerseits an dem Gespräch teilnehmen und die noch nicht einmal wissen, welche Informationen sie für sich behalten, weil die Reaktion des Gegenübers noch fehlt. WV Genau, man weiß noch nicht, in welche Eigenwerte die Stimmung einrasten würde. DB Man bewegt sich noch im Schwingungsfeld von Eigenwerten, ohne zu wissen, ob es einen Eigenwert gibt. WV Also im doppelten Sinne, sowohl auf der inhaltlichen Ebene als auch im Hinblick auf den gewählten Auswahlbereich. Zum Beispiel könnten Erwartungen im Raum stehen, wie: ›Was mutest Du mir zu? Du verlangst von mir, unmoralisch zu handeln.‹ Oder: ›Das haben wir es schon immer gemacht, warum nicht jetzt wieder?‹ Diese und noch andere Auswahlbereiche könnten als Codierung aufgerufen werden. Oder auch die Enttäuschung von Freundschaftsbeziehungen könnte angerufen werden. DB Dieses Ausloten des Auswahlbereiches nenne ich Kommunikation mit Wissen um den Raum des Unbestimmten, der bestimmbar ist, der in bestimmten Hinsichten bestimmbar ist. Ich kann das besser aufschreiben als aussprechen. Spricht man es aus, erwischt einen die Verletzung notwendiger Vagheitsansprüche von hinten. WV Aber das ist ja genau das Spannende, da muss man ja konkret werden. Deswegen finde ich die Figur, die Du eben nochmals beschrieben hast, so spannend. Weil sie – so könnte man sagen – beschreibt, wie im laufenden Prozess errechnet wird, was möglich ist. DB Der Schwingungsraum steht im Verhältnis zu möglichen Eigenwerten. In der Mathematik dynamischer Systeme kann man das beschreiben. Allerdings fehlt in dieser Mathematik, wenn ich das richtig sehe, eine Beschreibung des Verhältnisses von Erwartung und Möglichkeit. Der französische Systemtheoretiker Yves Barel hatte dafür den schönen Ausdruck der ›Potentialisierung‹: Systeme aktualisieren sich nicht nur, indem sie tun, was sie tun, sie potentialisieren sich auch, indem sie durch das, was sie tun, entdecken, was sie (noch) nicht tun.
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Der Prozessbegriff trifft auch etwas von dem, was hier gemeint ist. Auf einen Gerichtsprozess lässt man sich nur ein, weil man nicht weiß, wie er ausgeht. Die juristische Argumentation stellt Unbestimmtheit her, weil sie Bestimmtheit sucht. WV Und hier brauchen wir dann ja auch einen anderen Rationalitätsbegriff. Da ist kein Akteur, der vorher schon das Ergebnis hat oder den Ausgang vorwegnehmend berechnen kann. Vielmehr ist hier von vornherein aktiv mit diesen Unbestimmtheiten umzugehen. Wenn ich demgegenüber auf ein bestimmtes Ziel und ein vorweg definiertes Zweck-Mittel-Verhältnis fixiert bin, stecke ich in der Falle. DB Jon Elster versteht unter Rationalität die Fähigkeit, sich vorab festzulegen, weil man weiß, dass man andernfalls bestimmten Verführungen nicht widerstehen könnte. Das Modell dafür ist Odysseus, der sich an den Mast binden lässt, um dem Gesang der Sirenen lauschen zu können, ohne dem Impuls nachgeben zu müssen, sich in die Fluten zu stürzen, um zu ihnen zu gelangen. Dieselbe Rationalität ist typisch für jede komplexe Situation: Man legt sich darauf fest, sich nicht festzulegen, um nicht der Verführung zu erliegen, durch eindeutige Zielsetzungen die Situation zu verderben. François Jullien hat das in seiner Lektüre chinesischer Weisheitslehren auf den Begriff einer Erkundung des Situationspotentials gebracht, das nicht vorab gegeben ist, sondern nur entstehen kann, weil es nicht – oder vielleicht doch? – vorausgesetzt wird.33 WV Dann ist es nicht mehr so, dass sich zwei Leute festlegen müssen: ›Das sind meine Präferenzen, das sind Deine Präferenzen, das ist entsprechend das, was wir miteinander tun können‹. Vielmehr entstehen jetzt in der Interaktion spontan neue Muster, die dann im Nachhinein ein Beobachter als Präferenz oder als rationalen Beweggrund rekonstruieren mag Also mir fällt in diesem Zusammenhang die schöne Vorlesung von Armin Nassehi ein,34 wo er beschreibt, wie eine Kollegin einen Kollegen zum Essen einlädt. Sie möchte sich eigentlich mit ihm über Karrierechancen austauschen. Und dann, als der teure Wein aufgetischt wird, wird ihr klar, dass der Mann von einem anderen Kontext der Zusammenkunft ausgeht. Und bei ihm macht es dann auch plötzlich Klick, dass sie sich missverstanden haben. Sie versuchen beide, einigermaßen taktvoll mit der Situation zurechtzukommen, und – Story ist Story – wenige Wochen später sind sie dann doch beide ein Paar. Erneut ändert sich für beide die Situation, wobei dann gerade das Hineinfallen in die Unbestimmtheit den eigentlichen Reiz der Geschichte ausmacht.
33Jullien
(1999). (2011a).
34Nassehi
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DB Wer etwas will, hat schon verloren. Denn selbst wenn der andere es auch will, hat sich jeder Reiz der Situation verflüchtigt WV Also geht es darum, erst einmal offen in die Situation reinzugehen, aber wenn sich eine Gestalt anbietet, zuzuschnappen und dann ggf. in eine zweckrationale Figur oder Sinndeutung einzurasten. Aber das eine ist nicht ohne das andere zu haben. Das Zuschnappen ist nicht per se der Grundbestandteil oder die Erklärung sozialer Strukturen, sondern es gehört jetzt ebenso dazu, Räume aufzusuchen, die gewissermaßen erst in Zukunft unterschiedlich definierte zweckrationale oder intentionale Strukturen ausflaggen lassen. DB Es geht darum, das Einschnappen zu verhindern. Dazu gibt es viele Techniken, wie Leifer, Hacks oder Goffman gezeigt haben. Man kann durchaus auch eindeutige Interpretationen anbieten, sollte diese aber in jedem Fall mit einem kleinen Fragezeichen versehen, so dass man auch wieder aus der Interpretation herauskommt. So wie ich Kommunikation zu denken versuche, ist sie mit Negativität durchwirkt, und zwar mit jener generellen und reflexiven Negativität, die Alternativen zur jeweils im Vordergrund stehenden Interpretation im Blick behält und bei Bedarf zu ihnen wechselt.
Polykontexturalität: Kompetenzen zum Umgang mit der Kopräsenz unterschiedlicher Systemreferenzen WV Ich habe jetzt eine letzte Frage, welche die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Systeme, unterschiedlicher Systemreferenzen betrifft, die Systemtheorie spricht hier von Polykontexturalität. Also unterschiedliche Systeme, die wechselseitig jeweils füreinander eine Umwelt sind, jedoch nicht nur eine undifferenzierte Umwelt, sondern eine Umwelt, die Strukturmöglichkeiten bereitstellt. Platt gesagt, wenn ich jetzt ein psychisches System bin, dann bist Du ja nicht nur Rauschen für mich, sondern Du bist ein hochspezifiziertes Strukturangebot für mich, aus dem ich sehr viel Sinn machen kann. Ich habe noch nicht so richtig verstanden, wie Du dies mit der Formtheorie fassen kannst, also wie Du diese Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Systemreferenzen, die füreinander mehr sind, als nur Rauschen, beschreiben kannst. DB Streng genommen kann es die Gleichzeitigkeit verschiedener Systemreferenzen wiederum nur aus dem Blickwinkel einer spezifischen Systemreferenz geben. Ich arbeite zum Beispiel gerade an einem Verständnis der Intuition. Am intuitiven Urteil sind gleichzeitig organische, neuronale, mentale und soziale Aspekte, verstanden als das Ergebnis mehr oder minder automatisierten Lernens, beteiligt. Wenn ich dies in einer Form aufzuschreiben versuche, muss ich mir ein spezifisches Urteil heraus-
Der Beobachter in der soziologischen Systemtheorie 101
suchen und aus einer ebenso spezifizierten Beobachterperspektive, jener des Soziologen, Psychologen, Physiologen oder Biologen, die Form der Verschränkung dieser Aspekte modellieren. Der Formkalkül von SpencerBrown erlaubt es mir, miteinander verschränkte, ineinander geschachtelte Differenzen anzuschreiben, zwischen denen der Annahme gemäß ein unbestimmt kausales und bestimmt kommunikatives Verhältnis herrscht. Die angeschriebene Form ist dann die Antwort des Beobachters auf die Frage, wie wechselseitige Irritationen dieser Differenzen zu einer fallweisen, sich unter Umständen rekursiv reproduzierenden Synchronisation führen. Und wenn ich will, kann ich die Differenzen zusätzlich mit Gotthard Günther in einen Zusammenhang der Polykontexturalität setzen, in dem die Differenzen sich wechselseitig »akzeptieren« oder »rejizieren«, ablehnen, wie Günther sagt.35 In meiner Dissertation vor vielen Jahren habe ich das schon einmal am Beispiel von Marktarchitekturen versucht. WV Ich versuche jetzt einmal, das in ein Beispiel zu übersetzen. Wir beide können in eine soziale Situation kommen, wo ich nicht weiß, bist Du mein Vorgesetzter, bist Du mein Freund, bist Du ein wissenschaftlicher Partner für mich, der ähnlich denkt, wie ich. Das sind jetzt sozusagen unterschiedliche Räume, die, wenn ich jetzt ein Angebot mache, in eine bestimmte Richtung zu gehen, du kannst das annehmen oder zurückweisen, bzw. den logischen Raum, der damit impliziert ist. Das ist jetzt mit Rejektion gemeint, habe ich das richtig verstanden? DB Ja, genau, der logische Raum enthält alle diese Möglichkeiten und wir bewegen uns beide mit Haupt- und Nebensätzen in diesem logischen Raum, von dem wir auch feststellen können, dass wir ihn mehr oder minder teilen, also beide zwischen den Kontexturen der Freundschaft, der Fakultätsgeschäfte und der wissenschaftlichen Diskussion sowohl unterscheiden als auch wechseln können. Du kannst dann als Freund akzeptieren, dass ich dir ein bestimmtes Budget für eine geplante Konferenz angesichts unserer Einsparungspläne nicht genehmigen kann, während du dieselbe Entscheidung aus wissenschaftlichen Gründen ablehnst. So springen wir zwischen Akzeptions- und Rejektionswerten hin und her und nutzen dabei aus, dass jede Unterscheidung ein genereller Negator im Sinne von Spencer-Brown ist, also sowohl bestimmt, was bestimmt wird, und im Auge behält, was jeweils ausgeschlossen, gleich anschließend aber aufgerufen und so wieder eingeschlossen werden kann. Wir retten unsere Freundschaft, während uns das Budget entzweit. Vermutlich kann man sagen, dass zwei Kontexturen das Minimum jeder sozialen Situation sind
35Vgl.
Günther (1976).
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Nimm als Beispiel eine Ehe, in der der Verweis auf die Schwiegermutter ein Rejektionswert ist, der einen Zugang zur Kontextur Familie erschließt – und vermieden werden muss, wenn es um eher erotische Fragen geht. Die Analyse beginnt mit einer ersten Unterscheidung, einer ersten Kontextur, und fragt von dort aus nach den Werten, mit denen die Ausgangswerte in Beziehungen stehen und die ihrerseits eine Unterscheidung treffen und somit eine Kontextur definieren. Und auch hier habe ich wieder die Wahl, ob ich den Blickwinkel eines Analytikers einnehme, der Annahmen darüber trifft, in welchem logischen Raum sich ein Gespräch bewegt, oder aus der Perspektive der Beteiligten schaue, wie man es schafft, Sätze und Gesten zu finden und zu nutzen, die es erlauben, im Raum einer Unterscheidung zu bleiben oder zu einer neuen Unterscheidung zu wechseln. Das wenigste davon geschieht bewusst. Kommunikative Intelligenz ist vielfach verankert, im Bewusstsein ebenso wie im Körper einschließlich des Gehirns, in Praktiken, Gewohnheiten und in dem, was Pierre Bourdieu so schön »Habitus« genannt hat.36 WV Also das sind gewissermaßen andere Bilder, könnte man sagen. Das eine ist ein flächiges Bild, das wäre eine Vogelperspektive, welche die Gleichzeitigkeit und die Überlagerung verschiedener Kontexturen sehen lässt. Das andere Bild beschreibt sozusagen ein situiertes Verhältnis, was praktisch eine Motivation zu einer spezifischen Unterscheidung beinhaltet. DB Ich habe auf der einen Seite den soziologischen Beobachter, der um einen polykontexturalen Raum weiß, weil er ihn durch andere Erhebungen bereits festgestellt hat, auf der anderen Seite Akteure, denen diese Sprache nicht zur Verfügung steht, aber die Praxis, und zwar eine Praxis, die darauf hinausläuft, dass man merkt, dass es interessant ist, sich auf bestimmte Alternativen, in die man eingespannt wird, nicht einzulassen. Es wird nach Ablehnungsmöglichkeiten, nach Ausstiegsmöglichkeiten, nach Vermeidung gesucht. Durch die Vermeidung wird – das sagt jetzt wieder der Beobachter aus der Vogelperspektive – typischerweise eine Kontextur erreicht, die bereits vorliegt und von der man weiß, dass sie in anderen Situationen, möglicherweise auch von anderen Akteuren (keine Liebesbeziehung ohne die vorherige Lektüre von Romanen oder vorherigen Kinobesuch, man denke an Woody Allens Film »Mach’s noch einmal Sam«) schon einmal benutzt worden ist und in anderen Situationen funktioniert hat. WV Hier könnte ja auch das reinkommen, was Bourdieu mit Illusio bezeichnet. Kommen wir nochmals auf das Beispiel mit der Kostenstelle zurück. Aus Perspektive des Wissenschaftlers habe ich ja nicht die
36Vgl.
Bourdieu (1982).
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orstellung, dass es mir primär um Geld geht, sondern um WissenV schaft. Also würde ich aus meiner Perspektive Dich jetzt nicht strategisch in Form eines Verkaufsgesprächs, zur Mittelfreigabe überzeugen wollen, sondern einfach spontan tun, was ich als Wissenschaftler immer tue, mich für interessante Fragen begeistern lassen und dies dann auch anderen zu kommunizieren. Als überzeugter Wissenschaftler, der einfach tut, was er tut, sehe ich ja meine strategischen Absichten nicht. Ich tue einfach, was ich tue. Ein äußerer Beobachter kann dann allerdings – im Falle meines Erfolgs – eine erfolgreiche Strategie sehen, die mir aber selber nicht bewusst ist. DB Ja, Wissenschaft und Budget sind zwei radikal verschiedene Kontexturen, die nur von dafür ausgebildeten Wissenschaftsmanagern miteinander verknüpft werden. Der Dekan tut häufig nur so, als ginge ihm diese Wissenschaftsmanagementkontextur leicht von der Hand. Letztlich ist er ja selbst in den meisten Universitäten nach wie vor ein Wissenschaftler. WV Ja, er würde als intelligenter Mensch, die Logik der Rechnungen einer Budgetkostenstelle selbstverständlich nachvollziehen können, aber er würde gleichzeitig zeigen, dass es für ihn eigentlich uninteressant ist und das ist jetzt ja nicht nur ein strategischer Wechsel zwischen den Kontexturen, sondern … DB Ja, es wird strategisch gewechselt, es wird aber auch strategisch kombiniert, zum Beispiel die Schärfe der einen Kontextur durch das Aufrufen einer anderen abgeschwächt. Man kann den Freund bitten, für das mangelnde Budget, das einer wissenschaftlicher Absicht im Wege steht, Verständnis zu haben. Eine Form alltäglicher Korruption, wenn man es hart formulieren will, eine Form alltäglicher Kompromisse, wenn man der Wirklichkeit Rechnung tragen will. WV Wofür ist das Wissen um all diese Dinge eigentlich gut? Oder anders herum gefragt, wenn jetzt dieses soziologische Wissen über Formtheorie und Polykontexturalität auch praktisch Sinn ergibt – also für unseren Alltag von Nutzen sein soll –, was wären denn jetzt die Bedingungen der Möglichkeit für diese Kompetenz? Intuitiv würde ich sagen, da steckt doch mehr dahinter, als die Fähigkeit, die Logiken anderer, mir zunächst fremder Rationalitäten nachzuplappern und strategisch in eine Geschichte einzubauen, die beispielsweise gleichzeitig Wirtschaft und Wissenschaft bedient? Es reicht doch nicht, jetzt einfach einen Kurs für Verkaufstraining zu besuchen, wo die mir erzählen, ›Du musst mit den anderen in Rapport gehen, um zu zeigen, dass Du sie verstehst‹. ›Stimme den anderen dreimal zu und bringe erst dann dein Anliegen ein‹. Also ich muss polykontextural sein und kann das nicht nur modellhaft simulieren. Zu lernen, als poylykontexturaler Akteur unterwegs zu sein, ist doch mehr, als Perspektiven abstrakt einzunehmen und die hiermit
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einhergehenden kommunikativen Floskeln in strategischer Absicht zu simulieren? DB Ja, natürlich, hier zeigt sich auch die tiefere Funktion eines Coaches, der durch Nachfragen das Verständnis von Kontexturen schärfen kann und der durch weitere Nachfragen das Bewusstsein für die Kompetenz wecken kann, zwischen Kontexturen zu wechseln, aber auch: ihnen treu bleiben zu können. Der Coach hebt das implizite Wissen von Körper, Gehirn und Situation ins Bewusstsein, hilft dadurch, Fehler zu vermeiden, trägt aber auch dazu bei, eine gewisse funktionale Naivität zu verlieren und dadurch an ›natürlicher‹ Eleganz einschließlich der Fähigkeit, quasi unbemerkt Kontexturen zu wechseln, zu verlieren. WV Aber die Rekonstruktionsfähigkeiten wären ja in dem Sinne Verstehensmöglichkeiten, die aber in dem Sinne nicht mehr abstrakt, sondern hochgradig konkret sind. DB Ja, hochgradig konkret. WV Dann würde es also darum gehen, mit Hilfe einer Art Didaktik, Perspektiven zu situieren. DB Ja, genau, der Coach übt das Erkennen und Wechseln von Perspektiven. Und je professioneller der Coachee glaubt, vorgehen zu müssen, desto erforderlicher ist, mit ihm Polykontexturalität zu üben. Denn Professionalität kann allzu leicht dazu führen, der eigenen, so vielfach bewährten Kontextur alles andere unterzuordnen. WV Also beispielsweise sich in einer Sitzung sowohl der Ohnmacht bewusst zu sein, der Fremdbestimmung, als auch wiederum in eine Position zu wechseln, welche Handlungsoptionen sehen lässt, und wenn man sehr erfolgreich ist, darauf zu achten, sich das nicht selbst zuzurechnen, also der eigenen Hybris aufzusitzen, sondern auch die Kontingenz des eigenen Erfolgs zu sehen. Es würde also darum gehen, zu lernen, die Zurechnungen – rechne ich es mir selbst oder dem Kontext zu – wiederum disponibel zu halten. DB Ich arbeite daran, wie ich Spencer-Browns Form der Unterscheidung mit Günthers Polykontexturalität kombinieren kann. Bei Günther gibt es ja die Idee der Kenogramme, das heißt eines logischen Raums – übrigens ein Begriff von Wittgenstein, nicht von Günther –, der Leerstellen enthält, die besetzt werden können oder unbesetzt bleiben. Haben diese Leerstellen eine formale, mathematische Ähnlichkeit mit dem Unmarked State? Zunächst einmal sieht das so aus. Aber ich habe es noch nicht wirklich ausprobiert.
Der Beobachter in der Quantentheorie
Es gibt keine absoluten Fakten »Systeme sind nicht Einheiten in einem klassischen Verständnis, nichts was eine Raumstelle besetzen könnte, die irgendwie so umgürtet wäre, daß das System sich abheben ließe wie eine Figur von ihrem Grund. Sie sind nicht ein ›Innen‹, um die ein ›Außen‹ herumgelegt ist. Sie haben keine Grenzen, an denen sich entlanggehen ließe, etwa innen entlang oder außen entlang. […] System, als Differenz genommen, ist kein Behältnis, kein Hohlraum, kein Gefäß und keine Blase. Systeme sind gerade nicht ›Be-Inhalter‹.« Peter Fuchs1
Erinnern wir uns kurz an die Besonderheiten des mathematischen Formalismus der Quantentheorie. Die physikalischen Größen der klassischen Mechanik werden in der Quantenphysik durch Operatoren ersetzt. Operatoren sind – um nochmals zu erinnern – mathematische Vorschriften (Kalküle), mit den aus mathematischen Objekten andere mathematische Objekte erzeugt werden können. Das physikalische Merkmal wird in der Quantenmechanik nicht durch eine feststehende Größe (eine Variable) ausgedrückt, sondern durch einen Kalkül, in den unterschiedliche Funktionen eingehen können. Beispielsweise hat man einen Ortsoperator, welcher homolog zur klassischen Physik für die Position eines Teilchens im Raum steht, oder einen Impulsoperator, der den Impuls eines Teilchens charakterisiert. 1Fuchs
(2010, 23f.).
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Vogd, Quantenphysik und Soziologie im Dialog, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61857-8_3
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Die konkreten Werte, die eine physikalische Größe annehmen kann, sind die Eigenwerte dieses Operators. Um es formaler am Beispiel der zeitunabhängigen Schrödinger-Gleichung auszudrücken: ˆ E = EE H
Der Hamilton-Operator Hˆ stellt die Energie dar und wird hier auf die Eigenvektoren E angewandt. E sind die Eigenwerte des Energie-Operators, die als reelle Lösungen erhalten werden können. Die zeitunabhängige Schrödinger-Gleichung ist damit eine Eigenwertgleichung: Operatoren bestimmen Eigenwerte und die dazugehörigen Eigenfunktionen bzw. Eigenvektoren. Der Operator entspricht einer bestimmten Frage (Hˆ der Frage nach der Energie), die der Experimentator mit einem bestimmten Versuch stellt; ψ entspricht dem Quantenzustand (state) des Versuchssystems und die Eigenwerte dem Ergebnis eines konkreten Versuchs (etwa auf welchen Energieniveau sich ein Elektron zeigen kann).2 Der Operator entspricht in einem konkreten experimentellen Setting der Messvorrichtung, also dem Arrangement von Instrumenten und Apparaten, mit denen eine bestimmte Messgröße erhoben werden soll. Die Wellenfunktion stellt den Eigenvektor bzw. den Eigenzustand des Quantensystems dar.3 Die Wellenfunktion bestimmt also den Eigenzustand des Quantensystems und damit auch, was in einem jeweils konkreten Setting als Eigenwert möglich bzw. nicht möglich ist. Da sich die Wellenfunktion aber wiederum der Projektion des Operators verdankt, welche den Versuchsaufbau repräsentiert, erscheint auch diese kontextualisiert. Die Eigenzustände von Quantensystemen sind also nicht per se gegeben, sondern verdanken sich wiederum dem gesamten Arrangement des Messsystems. Der Formalismus der Quantenmechanik impliziert ja gerade, dass physikalische Werte nicht mehr unabhängig vom Kontext der Versuchsanordnung zu haben sind. Wenn im Doppelspaltexperiment – oder mit dem bereits geschilderten Versuchsaufbau der Arbeitsgruppe von Mandel4 – erhoben wird, welchen Weg das Photon genommen hat, – haben wir einen anderen Versuchsaufbau, als wenn dies nicht geschieht. Dies kann sich auch an anderer Stelle im Ver-
2Durch einen anderen Versuchsaufbau können dann andere Fragen gestellt werden, beispielsweise nach dem Ort, an dem sich ein Teilchen manifestiert (etwa gemessen mit dem ›Klick‹, den ein Photodetektor, das den Strahlgang bestimmt). 3Siehe zur ausführlicheren Einführung in den mathematischen Formalismus, bzw. der Projektionen in den Hilbertraum Friebe (2015, S. 16 ff.). 4Wang et al. (1991).
Der Beobachter in der Quantentheorie 107
suchssystem auf den Quantenzustand und die hiermit einhergehend möglichen Messwerte auswirken. Subjekt-Objekt-Schnitt: Keine ontologische sondern nur eine operative Grenze Bereits diese Feststellung ist für unseren Alltagsverstand mit seiner gewohnten Auffassung von Realität – auf welcher letztlich auch unser wissenschaftliches Denken fußt – nicht leicht zu akzeptieren, geschweige denn zu verstehen. Aus gutem Grunde wollte Einstein die Vorstellung nicht akzeptieren, dass die Veränderung des Quantenzustands durch eine lokale Variation des Versuchsaufbaus simultan die mögliche Manifestation von Realitäten an einem weit entfernten Ort beeinflusst. Vor welch enorme intellektuelle Herausforderung uns die Erkenntnisse der Quantenphysik tatsächlich stellen, wird jedoch erst deutlich, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass es – zumindest bislang, womöglich aber auch prinzipiell – keinerlei Anhaltspunkte dafür gibt, wo die Grenze zwischen dem Messsystem (also dem Beobachter) und dem Messobjekt (also dem Beobachteten) genau verläuft. So gilt nach der mathematischen Rekonstruktion der Quantentheorie durch v. Neumann die Schrödinger-Gleichung prinzipiell auch für makroskopische Objekte. Laut mancher Forscher ist sie sogar auf das Universum als Ganze anwendbar.5 Das Messinstrument, mit dessen Hilfe Quantenobjekte beobachtet werden, kann aus dieser Perspektive also ebenso durch einen Quantenzustand beschrieben werden wie die beobachteten Objekte. Gleiches gilt für die anderen Bestandteile des Versuchslabors. Ebenso könnten menschliche Beobachter, einschließlich der neurophysiologischen Prozesse ihrer Wahrnehmung, quantenmechanisch beschrieben werden. Ginge man nun also von der Schrödinger-Gleichung des kompletten Universums aus, so würde sich jedoch die Frage stellen, warum die empirischen Wechselwirkungen der von uns erfahrenen Welt gerade zu dieser und nicht zu einer anderen Lösung führen. Offensichtlich realisiert sich die Welt nicht als eine Überlagerung verschiedener Möglichkeitstendenzen, sondern als eine Phänomenologisierung diskreter Zustände: Wir erleben Gegenstände nicht unscharf oder in Form zweier sich überlagernder Alternativen, sondern nehmen etwas Bestimmtes und Konkretes wahr. Eine Messung oder Beobachtung lässt uns nicht eine verschwommene Wirklichkeit von Bildern sich überlagernder Welten sehen (etwa gleichzeitig lebendiger und
5So
etwa Tegmark (1997).
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toter Schrödinger-Katzen), sondern präsentiert etwas, das der Fall ist (und schließt notwendigerweise zugleich aus, was nicht der Fall ist). All dies läuft auf die Frage nach dem Subjekt-Objekt-Schnitt hinaus. Ist eine Messung nur dann eine Messung, wenn sie aufgezeichnet oder von dem Versuchsleiter beobachtet wurde? Wo ist der Schnitt anzusetzen, der dazu führt, dass der Quantenzustand eines Systems, repräsentiert durch die Wellenfunktion , in einen konkreten Messwert kollabiert? An welcher Stelle verläuft in einem Arrangement, in dem aufgrund des Formalismus, der es beschreibt, prinzipiell alles als durch alles andere kontextualisiert zu verstehen ist, eine definitive, d. h. nicht-kontingente, da ontisch zwingend vorgegebene Grenze, die eindeutig festlegt, was das Subjekt und was das Objekt ist? Theoretisch lässt sich das Problem nicht lösen, doch praktisch kann der Experimentator einfach in Referenz zu dem von ihm geplanten Experiment eine Basis wählen, die den Schnitt setzt zwischen der klassischen Beobachtung eines bestimmten Messergebnisses und der quantenmechanischen Beschreibung unterbestimmter Verhältnisse. Abhängig davon, was gemessen werden soll, legt der Experimentator also mit dem Versuchsaufbau fest, was Beobachter und was Beobachtetes ist. Der Versuch ist dann gleichsam die Basis, die den Schnitt enthält, der eine jeweils spezifische Konstellation von Bestimmtem und Unbestimmtem generiert, die dann beobachtet werden kann. Praktisch, das heißt in der alltäglichen Arbeit der Experimentalphysiker und Ingenieure, funktioniert dies gut. Man verfügt mit der Quantentheorie über einen mathematischen Formalismus, mit dem sich im technischen Sinne hervorragend rechnen und arbeiten lässt. Man ersinnt eine raffinierte Apparatur, kann über die Wellenfunktion die möglichen Eigenzustände errechnen und weiß dann, welche konkreten Phänomene als Ergebnisse möglich sind. Die Quantentheorie erweist sich dabei in unterschiedlichen Feldern als eine außerordentlich potente Theorie, die eine Vielzahl bizarrer Phänomene richtig vorhersagt, welche auch experimentell bestätigt wurden (hier z. B. noch der Verweis auf die Suprafluidität, mit der Teilchen – Atome oder Elektronen – unter bestimmten Bedingungen ihre Individualität verlieren und damit auch nicht mehr interagieren und Reibung bzw. Entropie erzeugen können). Theorieseitig bleibt jedoch offen, was all dies auf einer metaphysischen Ebene eigentlich bedeutet. Carl Friedrich von Weizsäcker hat nicht ohne Grund mit Blick auf v. Neumanns Werk von einer »Machtübernahme
Der Beobachter in der Quantentheorie 109
der Mathematik in der Quantentheorie«6 gesprochen, denn die interne Stimmigkeit der hier vorgelegten Ausarbeitungen drängen die physikalischkonzeptionellen wie auch die philosophischen Probleme der Deutung der Quantenmechanik in den Hintergrund. Es verwundert deshalb nicht, dass gerade die großen, an der Front der physikalischen Theoriebildung arbeitenden Physiker intelligente Gedankenexperimente entwickelt haben, um auszuloten, welche physikalisch-konzeptionellen Konsequenzen mit der Quantentheorie einhergehen. Wertdefiniertheit oder Kontextualität? Schrödingers Katzen und andere Gedankenexperimente Zu nennen ist hier natürlich zunächst das schon zuvor erwähnte Gedankenexperiment von Albert Einstein, Boris Podolsky und Nathan Rosen, das die bizarren Konsequenzen in Hinblick auf Lokalitäts- und Realitätsannahmen pointiert. John S. Bell hat auf Basis von Einsteins Überlegungen ein Theorem entwickelt, mit dessen Hilfe die Quantentheorie auch empirisch einer kritischen Überprüfung unterzogen werden kann. Das Bell-Theorem7 besagt, dass die Quantentheorie entweder eine Theorie lokaler Wirkungen ist, die dann aber nicht mehr der realistischen Annahme folgt, dass Messwerte unabhängig von ihrer Beobachtung bestehen, oder aber eine realistische Theorie darstellt, innerhalb derer aber mit nicht-lokalen Beziehungen zu rechnen ist, also physikalische Realität nicht allein dadurch determiniert wird, welche Interaktionen bzw. Wechselwirkungen an einem konkreten Ort geschehen. Noch genauer wurden diese Kriterien im sogenannten N o-Go-Theorem von Kochen und Specker formuliert. Dieses Theorem besagt, dass Wertdefiniertheit und Nicht-Kontextualität in der Quantentheorie nicht zusammengehen können: Entweder sind die Werte für ein Einzelsystem nicht zu allen Zeiten fest definiert oder bestimmte Eigenschaften des Gemessenen ergeben sich erst im Kontext einer Messung. Zudem zeigt Kochen auf, dass Quantensysteme nicht im Rahmen einer Boolschen Algebra beschrieben werden können und damit nicht der vertrauten Aussagenlogik folgen, die darauf beruht, dass die Attribute bzw. Eigenschaften, die dann mittels logischer Operationen verrechnet werden, vorab definiert sind. Es muss vielmehr eine Logik extrinsischer Eigenschaften entwickelt
6Weizsäcker 7Vgl.
(1994, S. 511). Bell (1964).
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werden (Eigenschaften, die nicht für sich bestehen, sondern erst durch den Kontext bestimmt werden), um quantenmechanische Prozesse verstehen zu können. Erst hierdurch würden sich einige der Paradoxien der Quantentheorie lösen lassen. Denn wenn man – wie die Quantentheorie verlangt – die Eigenschaften ›x‹ und ›y‹ (z. B. den Ort und Impuls) als eine zusammengesetzte Eigenschaft betrachtet, dann muss der logische Verbund aus ›x‹ oder ›y‹ in einer Interaktionsalgebra8 liegen. Das heißt ein Wahrheitswert besteht nicht für sich, sondern erscheint erst als Ergebnis einer Interaktion. Auf diese Weise kann etwas einen Wahrheitswert haben, obwohl weder ›x‹ noch ›y‹ alleine bzw. individuell in der Algebra liegen und dementsprechend nach der Boolschen Algebra keinen Wahrheitswert besitzen.9 Diese auf den ersten Blick bizarr erscheinenden theoretischen Überlegungen finden ihre empirische Bestätigung in den vielfältigen und gut bestätigten Untersuchungen zur Verschränkung. Beispielsweise ergibt die Messung der Polarisation eines Photons zufällige Werte (sie scheinen also unbestimmt). Wird aber ein verschränktes Photonenpaar gemessen, so korreliert der Wert des einen in bestimmter Weise mit dem Wert des anderen.10 Doch auch im Falle der Verschränkung stellt sich die Frage, wo im Experiment der Schnitt zwischen Beobachter und Beobachtetem – man könnte auch sagen: zwischen Subjekt und Objekt – angelegt wird. So scheint es hier ebenfalls an der Versuchsanordnung zu liegen, was jeweils als verschränktes Quantensystem betrachtet wird, dessen Komponenten dann im Sinne der Interaktionsalgebra individuell unbestimmt erscheinen, aber als Interaktionssystem sehr wohl wechselseitig determiniert sind. Auch Ver8So
dann der von Kochen eingeführte Begriff: »The fact that degenerate density operators do not have a unique decomposition into pure states has led some to put mixed and pure states on an equal footing, and to deny them the role as mixtures. This puts the cart before the horse, and ignores the historical development of the concept of mixed states. Mixtures of pure states were in long use in quantum mechanics (as well as in classical statistical mechanics) when von Neumann introduced the invariant formulation of a mixed state as a density operator. The use of the density operator has the advantage of allowing the introduction of the abstract notion of mixed state, without requiring the explicit mention of any basis of pure states, which could be recovered in the non-degenerate case. For us, however, in any interaction (and subsequent evolution) the interaction algebra is always given, which yields a unique decomposition of the mixed state as a mixture of pure states even in the degenerate case« (Kochen 2017, S. 222 f.). 9Siehe Kochen (2017, S. 232). 10Hier setzt dann auch die Statistik der Bell-Zustandsmessung an. Verschränkte Quantensysteme zeigen eine andere Statistik – die Verletzung der Bell-Ungleichung – als es der Statistik einer klassischen physikalischen Beschreibung auf Basis verdeckter bzw. unbekannter Variablen entsprechen würde. Das Greenberger-Horne-Zeilinger-Theorem legt zudem nahe, dass Quantenvorhersagen bei bestimmten Konstellationen der Verschränkung von drei und mehr Teilchen im strengen und nicht nur statistischen Sinne gegen klassische Vorhersagen verstoßen müssen. Auch dies konnte dann später empirisch bestätigt werden (Greenberger et al. 1989; Pan et al. 2000).
Der Beobachter in der Quantentheorie 111
schränkung kann nur durch Messungen im Rahmen eines entsprechend raffiniert gestalteten Versuchs festgestellt werden, nämlich als eine bestimmte Korrelation, die sich in einem anderen Versuchsarrangement anders darstellen kann (erinnern wir uns an das Experiment zur Quantenteleportation, in der es von der Wahl der Messung abhängt, ob, bzw. welche der vier Ausgangsphotonen miteinander verschränkt sind). Kommen wir nun zu einer Reihe weiterer Gedankenexperimente, welche die Problematik des Subjekt-Objekt-Schnitts noch stärker pointieren. Das wohl berühmteste hat Erwin Schrödinger im Jahr 1935 formuliert, um zu zeigen, dass die Annahme der Kopenhagener Interpretation, die Messbeobachtung bringe die Wellenfunktion zum Kollaps, in die Irre führe.11 Das Gedankenexperiment beschreibt eine Katze im Zustand der Superposition: In einer Kiste sitzt eine Katze. Darüber hinaus befinden sich in der Kiste ein radioaktives Präparat, eine Flasche Giftgas, ein Detektor für Radioaktivität und ein Mechanismus, der das Signal des Detektors in einen Hammerschlag umwandelt. Falls nun die radioaktive Substanz zerfällt, misst der Detektor die entstehende Strahlung. Daraufhin wird der Hammermechanismus in Gang gesetzt, welcher die Flasche mit dem Giftgas zertrümmert und die Katze muss sterben. Die Menge der radioaktiven Substanz ist so gewählt, dass im Durchschnitt in einer Stunde einmal ein Zerfallsprodukt den Detektor erreicht. Öffnet der Versuchsleiter nun nach einer halben Stunde die Kiste, so stehen die Chancen etwa fünfzig zu fünfzig, die Katze lebend anzutreffen. Da der radioaktive Zerfall jedoch einen quantenphysikalisch beschreibbaren Prozess darstellt, stellt sich der Sachverhalt entsprechend der Kopenhagener Deutung folgendermaßen dar: Bevor die Kiste geöffnet wird, ist die Katze weder tot noch lebendig, da in diesem unbeobachteten Zustand die Wellenfunktion des radioaktiven Teilchens noch nicht zu einem diskreten Ereignis – dem Zerfall bzw. Nicht-Zerfall – kollabiert ist. Dies geschieht erst nach dem Öffnen der Kiste durch den Beobachter, was als Akt der Messung eine Entscheidung erzwingt. Nun ergibt sich aber folgendes Problem: Was ist mit dem ›Bewusstsein‹ bzw. den Beobachtungen der Katze, können diese die Entscheidung herbeizwingen, bevor der Versuchsleiter die Kiste öffnet? Oder wie verhält es sich, wenn der Versuchsleiter mit der geöffneten Kiste allein im Zimmer ist und der Institutsleiter im Nebenraum noch nichts von dem Versuchsergebnis weiß? Was geschieht also, wenn es mehrere
11Schrödinger
(1935a).
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Beobachter gibt, die an unterschiedlichen Stellen positioniert sind und zu jeweils anderen Zeiten von dem Versuchsausgang erfahren? Die paradoxen Konsequenzen eines Systems, das mehrere Beobachter beinhaltet, sind 1961 in einem erweiterten Gedankenexperiment von Eugene P. Wigner weiter ausbuchstabiert worden.12 Im Zentrum befindet sich wiederum ein quantenphysikalisch zu beschreibendes System, dessen Zustand sich der Schrödinger-Gleichung entsprechend in Superposition befindet. Es kann sich dabei um ein Spin-System handeln (beispielsweise die Überlagerung eines sich gleichzeitig mit und gegen den Urzeigersinn drehenden Photons) oder um ein komplexeres System wie Schrödingers Katze. In der Versuchsanlage befindet sich jetzt aber noch ein Freund Wigners, der seinerseits Beobachtungen anstellt (etwa den Spin misst oder nachschaut, ob die Katze noch lebt). Ein wenig später berichtet dieser Freund Wigner das Ergebnis. Für Wigner stellt sich nun die Frage, wann der Kollaps der Wellenfunktion nun stattgefunden hat. Wigner als menschlicher Beobachter sieht ein distinktes Ergebnis und keine verschwommenen Bilder einer sich überlagernden Realität. Entsprechend schließt Wigner mit Blick auf diesen Befund, dass auch andere menschliche Beobachter eine feststellbare, eindeutig entschiedene Welt erleben, entsprechend würde also auch sein Freund ein eindeutiges Ergebnis erfahren haben. Der Freund – bzw. die physiologischen Prozesse seiner Wahrnehmung – kann aber seinerseits wiederum quantenmechanisch beschrieben werden. Wie löst sich jetzt das Paradoxon, dass es zwei Beobachter gibt, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten etwas über den Sachverhalt erfahren? Wigner wählt in seinem Text eine subjektivistische Interpretation der Quantentheorie, entsprechend der menschliches Bewusstsein notwendig sei, damit im Subjekt-Objekt-Schnitt ein konkreter Eigenwert erscheine. Sein Freund verfüge ja wie er selbst über ein Bewusstsein und entsprechend würde sein bewusster Akt der Wahrnehmung bereits den Kollaps der Wellenfunktion in der Messbeobachtung veranlasst haben. Damit sei das Paradoxon gelöst. Freilich eröffnet sich bei weiterem Nachdenken die Frage, ob mit der Annahme, dass der Kollaps der Wellenfunktion durch einen bewussten Akt bewirkt werde, wirklich das Problem des richtigen Schnitts zwischen Subjekt und Objekt ein für allemal gelöst ist. Was ist mit dem Bewusstsein einer Katze? Könnten einfache biologische Formen nicht auch eine Art Bewusstsein haben? Aber wo würde man die Grenze dann setzen? Bei Bakterien? Oder müsste man nicht gegebenenfalls biochemischen Molekül12Später
dann abgedruckt in Wigner (1967).
Der Beobachter in der Quantentheorie 113
komplexen oder gar einzelnen Atomen oder gar Elektronen eine Art von Subjektivität zurechnen? Wie mittlerweile in einer Vielzahl von empirischen Studien gezeigt wurde, erfüllt ja bereits die Interaktion mit Molekülen der Umgebung – etwa mit der Luft – die Funktion einer Messung.13 Vielleicht könnte man sogar mit Shimon Malin in Anlehnung an den Philosophen Alfred N. Whitehead Messungen als Elementarereignisse auffassen, die sich überall und ständig im Universum ereignen. Schon Interaktionen eines Photons mit einem Elektron wären dann »Erfahrungseinheiten, die ihr Subjekt erschaffen, während sie sich selbst erschaffen«.14 Die Frage, wo der Subjekt-Objekt-Schnitt zu setzen ist, würde hiermit eine auf den ersten Blick verstörende Antwort finden: nämlich in die nahezu unendliche Vielfalt möglicher Orte und Interaktionen, an denen spontan so etwas wie Subjektivität erscheint (und dann sofort wieder verschwindet).15 Beobachter im System: Multiversen gekoppelter, jedoch unterschiedlicher Realitäten? Das Gedankenexperiment von Wigner eröffnet nicht nur eine Vielzahl von konzeptionellen Fragen, sondern es lässt sich noch weiterentwickeln. In einer Version, die auf David Deutsch zurückgeht, gibt es eine Beobachterin im System – nämlich Wigners Freundin –, die dem außenstehenden Wigner zwar berichtet, ob sie in einem Quantenexperiment ein Ergebnis gesehen hat, aber dem Versuchsleiter nicht verrät, was genau sie gemessen oder gesehen hat. Der Versuchsaufbau ist so gestaltet, dass nur ein Bit an Information hinausgelangen kann (nur die Information, dass etwas gemessen wurde), der äußere Beobachter aber seinerseits noch eine Messung durch13Da eben statistisch gesehen viele Atome und Moleküle in der Umgebung zu erwarten sind, ist damit zu rechnen, dass reine Quantenzustände in natürlichen Umgebungen rasch gemessen werden und damit kollabieren. Nun könnte man denken – und in quantentheoretischen Diskurszusammenhängen ist diese Position durchaus zu vernehmen –, dass mit der Dekohärenztheorie auch das Messproblem und damit ebenso die Deutungsprobleme der Quantentheorie gelöst sind. Dies ist jedoch nicht der Fall. Die Dekohärenztheorie geht in pragmatischer Weise von der Hilfsannahme aus, dass die vielfältigen Verschränkungen, über die ein Messgerät mit der Welt verbunden ist, vernachlässigt werden können und man die komplexen Überlagerungen von reinen Zuständen als einen gemischten Zustand betrachten kann. Der Preis hierfür ist jedoch, dass alle weiteren Verschränkungen mit der Welt, die mit der Annahme der universellen Geltung der S chrödinger-Gleichung vorausgesetzt werden müssen, zugleich ignoriert werden müssen. Ob man will oder nicht – es muss weiterhin ein Schnitt in die Welt gelegt werden, der durch den Formalismus nicht gedeckt ist, wie bereits Zeh (2001, S. 7 ff.), einer der Begründer der Dekohärenztheorie, feststellt. Siehe ausführlicher Vogd (2014, Kap. IV.4). Vgl. auch Schlosshauer (2005, S. 8 f.). 14Malin (2006b, S. 310). 15Siehe zur konzeptionellen Diskussion der Verbindungen zwischen der Quantentheorie und Whiteheads Prozessdenken auch die Auseinandersetzung zwischen Malin und Shimony (2006). Vergleiche zu diesem Thema auch Eastman und Keeton (2009).
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führen kann. Aus dem Formalismus der Quantentheorie ergibt sich, dass das Quantensystem für die innere Beobachtung zunächst in einer Superposition zweier Möglichkeiten vorliegt und erst mit der Messung durch Wigners Freundin in einen bestimmten Eigenwert einrastet. Gleichzeitig ergibt sich aus dem Formalismus jedoch auch, dass für den äußeren Beobachter die Superposition bestehen bleibt, da er ja auch nach der Mitteilung seiner Freundin nicht weiß, was für ein Ergebnis vorliegt. Er kann jetzt selbst eine Messung durchführen und wird dann je nach gewählter Messanordnung eine Interferenz oder das Einrasten in einen bestimmten Eigenwert beobachten können. Der ›innere‹ Beobachter scheint damit gewissermaßen in einer anderen Welt zu leben als der ›äußere‹. Deutsch selbst hat dieses Gedankenexperiment ersonnen, um zu zeigen, dass man nicht die Annahme aufgeben muss, dass der bislang experimentell hervorragend bestätigte Formalismus der Quantentheorie allgemeingültig sei, aber auch nicht wie Wigner auf das Hilfskonstrukt eines messenden Bewusstseins zurückgreifen muss.16 Stattdessen ließe sich das Chiasma der nicht miteinander in Deckung zu bringenden Beobachtungsverhältnisse mit Hilfe der Viele-Welten-Theorie von Everett erklären.17 Den jeweiligen Beobachtern, bzw. dem, was sie relativ zu dem beobachtet haben, was der jeweils andere beobachtet hat, würde dann jeweils ein Zweig in einer jeweils eigenständigen Welt entsprechen. All diese Zweige würden sich dann in einem übergreifenden Multiversum, das alle möglichen Welten enthält, wiederfinden und verkörpern.18 Beobachterrelative Fakten: Der Schnitt zwischen Subjekt und Objekt ist funktioneller, nicht objektiver Natur Časlav Brukner wiederum hat das erweiterte Gedankenexperiment von Deutsch in einem anregenden Beitrag aufgegriffen, um weiteres Licht auf das Messproblem zu werfen.19 Darin wird zunächst deutlich, dass die Annahme des Bestehens bzw. der Koexistenz gleicher ›Fakten der Welt‹ für Wigner wie auch seine Freundin nicht mit der Quantentheorie vereinbar ist. Denn sie steht im Konflikt mit den No-Go-Theoremen von Bell und
16Siehe
ausführlich Deutsch (1985). (1957). 18Die Interferenzen, welche sich beispielsweise im Doppelspaltexperiment zeigen, würden sich dann dadurch erklären lassen, dass Quantenobjekte dem Einfluss unterschiedlicher Welten ausgesetzt sind, weshalb sie noch nicht in einen eindeutigen Eigenwert eingerastet sind. Siehe zur populären Darstellung auch Deutsch (1997). 19Brukner (2017). Vgl. auch Brukner (2018). 17Everett
Der Beobachter in der Quantentheorie 115
Kochen/Specker.20 Da wir aber, wenn wir etwas messen und beobachten, immer etwas Definiertes und nicht etwas Verschwommenes oder Verwaschenes sehen, liegt für Brukner eine elegante Lösung des Messproblems darin, davon auszugehen, dass ›Fakten‹ nur relativ zum Betrachter existieren können. Hiermit würde es also keine Fakten per se geben können. Brukner teilt dabei die Annahme von Niels Bohr, dass die Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt zwar aus funktionellen Gründen notwendig, der hiermit einhergehende Schnitt allerdings nicht ontologischer Natur ist. Aus diesem Grunde erscheint für Brukner auch die Auffassung, im Sinne der Schrödinger-Gleichung eine Wellenfunktion des Universums formulieren zu können, die auch den Betrachter einbezieht, problematisch. Wir leben in der Welt und sind nicht allwissend. Daher müssen wir unweigerlich im Lebensvollzug einen Subjekt-Objekt-Schnitt setzen, der dann selbst wiederum Teil der Welt ist. Die Annahme einer Wellenfunktion des Universums, die den Betrachter einbeziehen würde, würde jedoch die Notwendigkeit des Subjekt-Objekt-Schnitts negieren. Streng genommen kommt dieser Schnitt in einer solchen Vorstellung nämlich nicht einmal vor. Konsequenterweise hat dann eine Welttheorie, die von dem Primat der universalen Wellengleichung ausgeht, von einem deterministischen Multiversum auszugehen. Freilich bleibt damit die Frage, warum wir uns subjektiv in diesem und keinem anderen Weltenzweig wiederfinden. Die Diskrepanz zwischen subjektiver Erfahrung und objektivierender Welttheorie bleibt unüberbrückbar. Die Lösung des Messproblems, die Brukner anbietet, deckt sich mit Malins Auffassung, dass Quantenzustände das verfügbare Wissen über die Möglichkeiten eines Quantensystems aus der Perspektive eines bestimmten Ortes im Raum darstellen, jedoch nicht mit dem Wissen eines tatsächlichen Beobachters einhergehen müssen. Das mögliche Wissen ist damit einerseits beobachterabhängig, also davon abhängig welcher Standort eingenommen wird, andererseits aber eben auch nicht beobachterabhängig, insofern es irrelevant ist, über welche kognitiven Fähigkeiten ein konkretes beobachtendes Individuum verfügt. Etwas kann also an einem Ort zumindest prinzipiell gewusst werden (während anderes prinzipiell unwissbar bleibt), was jedoch nicht heißt, dass es aufgrund der Fähigkeiten oder einer gerichteten Aufmerksamkeit eines Menschen auch wahr-
20Dies würde wiederum verborgene Variablen voraussetzten, die lokal wirksam werden. Dies ist, wie bereits zuvor geschildert, mit dem Formalismus der Quantentheorie nicht vereinbar, da hier Wertdefiniertheit und Nicht-Kontextualität nicht zusammengehen können.
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genommen wird. Brukners Lösung ist damit nicht im Einklang mit einer subjektivistischen Interpretation der Quantentheorie, welche das Wissen mit dem bewussten Akt eines menschlichen Beobachters gleichsetzt. »Was wäre«, so fragt er mit Malin, »wenn der Wissende ein Physiker sei, der zuvor sich mit Alkohol benebelt hatte, bevor er versuche zu wissen?« Oder: »Was sei der Fall, wenn eine Person, die kaum Ahnung von Physik habe, von einem Versuchsergebnis erfahre?« Solche Fragen seien natürlich irrelevant und entsprechend wäre es hilfreicher, den Quantenzustand nicht als ein tatsächliches Wissen zu betrachten, das einen Wissenden erfordert, sondern als das prinzipiell oder potentiell verfügbare Wissen über ein System.21 Aus diesem Grund geht Brukner teilweise auf Distanz zu den Vertretern des Quantenbayesianismus, die davon ausgehen, dass der Quantenzustand nur das Ausmaß des Glaubens bzw. Wissens eines subjektiven Agenten repräsentiert. Brukner möchte nicht die objektiven bzw. objektivierbaren Elemente der Quantentheorie aufgeben.22 Die Heisenbergsche Unschärferelation ergebe sich ja als Konsequenz aus einer Theorie, die auf Operatoren beruhe, die entsprechend des Kommunikativgesetzes nicht symmetrisch verrechnet werden können (es macht hier einen Unterschied, in welcher Reihenfolge multipliziert wird!). Damit erscheine ja eine objektive Grenze des Wissbaren. Diese bestehe prinzipiell und könne auch nicht durch den Wissenserwerb eines subjektiven Agenten überschritten werden. Die sich hieraus ergebenden Aussagen der Quantentheorie würden damit nolens volens über die Annahmen eines nur subjektiven Wissensstandes hinausgehen. Da dieser Teil der Quantentheorie weiterhin im physikalischen Sinne ernst zu nehmen ist, besteht die für Brukner eleganteste konzeptionelle Lösung des Messproblems darin, Fakten nicht mehr als absolut, sondern als kontextualisiert, d. h. als beobachterrelativ zu verstehen.
21Malin
(2006a). Brukners Auffassung ist das ›potentiell verfügbare Wissen‹, von der die Quantentheorie spricht, mit der für einen hypothetischen Beobachter zur Verfügung stehenden experimentellen Genauigkeit verbunden. Der Quantenzustand erscheint damit als eine Darstellung von Wissen, die für eine hypothetische Beobachterin – unter Berücksichtigung ihrer experimentellen Fähigkeiten – notwendig ist, um die Wahrscheinlichkeiten der Ergebnisse aller möglichen zukünftigen Experimente zu berechnen. 22Nach
Der Beobachter in der Quantentheorie 117
Gespräch mit Časlav Brukner Kommen wir nun zu einem Gespräch, 2017 mit Časlav Brukner in Wien geführt hat. Časlav Brukner ist Professor an der Universität Wien und Direktor des Instituts für Quantenoptik und Quanteninformation (IQOQI) an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Seine Forschungsschwerpunkte sind unter anderem die Quanten-Nichtlokalität, die informationstheoretischen Grundlagen der Quantenmechanik sowie die Frage der Kausalität in Gravitation und Quantenphysik. Die Quantentheorie hat sich umfassend bewährt – die Frage bleibt, welche Annahmen man opfern will WV Bei dem Gedankenexperiment von Deutsch, welches Sie in Ihrem Artikel beschrieben haben, kann es eigentlich nur eine sinnvolle Lösung geben, die im Einklang mit der Quantentheorie steht. Die Annahme verdeckter Variablen würde nicht im Einklang mit der Quantentheorie stehen. Sie würde zu der Möglichkeit führen, eine verwaschene Realität zu sehen. Doch so etwas wie die zwei sich überlagernden Katzen in Schrödingers Gedankenexperiment erscheint auf der Erfahrungsebene absurd. Ebenso scheidet der spontane Kollaps aus. Also scheint es nur eine logisch sinnvolle Antwort zu geben, nämlich dass Fakten nur relativ zum Beobachter existieren. ČB Ja – ich weiß jetzt nicht, ob das die einzige Lösung ist, vielleicht wären auch die vielen Welten von Everett eine Lösung. Aber ich glaube, es wäre eine elegantere Lösung, davon auszugehen – das ist natürlich Geschmackssache –, dass die Fakten relativ zum Beobachter zu definieren sind. Demnach gibt es keine absoluten Fakten! Von mathematischer Seite ist das durch das No-Go-Theorem, ähnlich wie bei dem Theorem von Kochen/Specker bewiesen und wenn man dann empirisch so ein BellExperiment durchführen könnte… WV Also wenn die Bellschen Ungleichungen durch die empirischen Ergebnisse nicht verletzt würden – was bislang noch nie in einem Experiment geschehen ist –, dann wäre damit die Quantentheorie widerlegt. ČB Das No-Go-Theorem geht davon aus, dass wenn man von gewissen Annahmen ausgeht, die Quantenmechanik nicht im Einklang damit steht, dass diese Annahmen gleichzeitig erfüllt werden. Im Einzelnen sind die Annahmen: der Begriff der Realität – also beobachterunabhängige Fakten –, das Konzept der Lokalität – also dass Ereignisse an einem weit entfernten Ort keinen Einfluss darauf haben, was lokal beobachtet wird – und drittens die freie Wahl des Settings der Messung. Eine weitere Annahme ist, dass man die Quantenmechanik auf ganz große Systeme anwenden kann, so groß, dass sie auch weitere Beobachter beinhalten
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und hiermit einhergehend wieder die Annahme, dass die Fakten dieser Beobachter dann eben absolut sind. Auch für die großen Systeme, die mehrere Beobachter enthalten, kann man die Bellsche Ungleichung herleiten, und wenn wir dann so ein Experiment durchführen könnten (leicht lachend), dann glaube ich – also wenn man die Quantenmechanik als universell betrachtet – dann müsste man die Verletzung der Bell-Gleichung doch sehen. Und dann stellt sich die Frage, welche der Annahmen will man opfern? Mindestens eine oder mehrere. Ich aber würde jetzt mit dem Finger auf die Annahme der absoluten Fakten zeigen (leichtes Lachen). WV Und dies hieße dann praktisch, man hätte nur relative, vom Standort abhängige Fakten. Es könnte also sein, dass der eine Beobachter in dem abgeschlossenen Kasten ein konkretes Ereignis sieht und der andere außerhalb, der nur die Information bekommt, dass innen etwas gesehen worden ist, nicht aber was – kann der dann sogar eine Interferenz sehen? ČB Der könnte sogar Interferenzen sehen – und damit erscheint die Frage, wie eine theoretische Konzeption oder ein logischer Rahmen aussehen kann, entsprechend dem ich als äußerer Beobachter einerseits meine Interferenz sehe und jetzt der andere Beobachter doch auch sein Ereignis sieht, also eine konkrete Messung. Wie können also die zwei Aussagen, die sich auf die unterschiedlichen Beobachtungen zweier Beobachter beziehen, in einer einheitlichen Theorie rekonstruiert werden? Die entscheidende Frage ist dann, ob die zwei unterschiedlichen Aussagen gleichzeitig einen Wahrheitswert haben können.
Man darf nicht annehmen, dass Aussagen zweier Beobachter den gleichen Wahrheitswert haben WV Und das wäre quasi in einer klassischen Logik, also in einer zweiwertigen Logik nicht möglich, wenn es sozusagen nur eine Welt gibt und prinzipiell nur einen Beobachter und damit nur einen Subjekt-Objekt-Schnitt. ČB Um es nochmals zu sagen, aus Perspektive der Quantentheorie darf man nicht annehmen, dass die Aussagen verschiedener Beobachter gleichzeitig einen und denselben Wahrheitswert haben. Das ist die Schlussfolgerung dieses Theorems. WV Dann müsste man eigentlich eine mehrwertige Logik haben, wo mit multiplen Beobachterverhältnissen gearbeitet werden kann. ČB Es gab in der Geschichte der Quantenphysik schon Versuche mit einer sogenannten Quantenlogik, die dann nicht auf dieser aristotelischen Logik beruht. Aufgrund der Tatsache, dass wir die Dinge im Alltag mit dieser normalen Logik verstehen und dies normalerweise gut funktioniert,
Der Beobachter in der Quantentheorie 119
hat das Programm nicht wirklich viel gebracht und letztendlich hat man es nicht weiterverfolgt. Ich würde aber Folgendes sagen: Auch in der klassischen Physik kann man jeweils nur einen partiellen Aspekt eines Phänomens untersuchen. Man macht also eine grobe Beobachtung, die nur einen Teil des Phänomens beschreibt. Ein anderer beobachtet dann in einem anderen Experiment einen anderen Teil des Phänomens. Aber man nimmt dabei immer an, dass diese Wirklichkeit, die man beschreibt tatsächlich in der Welt existiert, und dass man dann mit anderen Untersuchungen die anderen Aspekte erhalten kann. Der eine schaut sich etwa die Farbe an und der andere sagt, naja, die Zusammensetzung des Objektes interessiert mich. In der klassischen Physik gehen wir davon aus, dass beide für sich unabhängige Beobachtungen sind und dass dieses Objekt genau eine Farbe und eine Zusammensetzung hat – und da sozusagen kein Widerspruch zwischen den einzelnen Beobachtungen entstehen kann. In der quantenmechanischen Welt ist im Allgemeinen jegliche Annahme, dass in zwei Beobachtungen unterschiedliche Fakten gleichzeitig existieren können, eigentlich falsch, egal welche Wahrheitswerte wir zuordnen. Es ist einfach falsch. In unserem Zusammenhang ist dabei auch zu bedenken, dass sich in Wigners-Freund-Gedankenexperiment die Aussagen auf verschiedene Objekte beziehen. Der Freund, der drinnen ist, macht eine Aussage über das System selbst, sagen wir über den Spin eines Teilchens. Der Wigner, der draußen ist, macht eine Aussage sowohl über den Freund als auch über das System. Der Schnitt, also die Grenze zwischen Subjekt – dem Beobachter – und Objekt wird verschoben. Es ist vielleicht nicht so überraschend, dass man nicht zu den gleichen Aussagen kommt, weil sie nicht einmal über das Gleiche sprechen. WV Klar, aber in dem Gedankenexperiment, wenn ich Sie jetzt richtig verstehe, ergibt sich aus der Perspektive des äußeren Beobachters als Zustand des Quantensystems die Superposition, also eine Überlagerung der beiden Möglichkeiten. Der innere Beobachter würde demgegenüber als Projektion des Hamilton-Operators einen konkreten Messwert sehen, wobei jeweils vom Zufall abhängt, welchen Messwert er sehen würde. Das Arrangement aus Messvorrichtung und Systemzustand ist jeweils ein anderes, weshalb dann nach dem quantenmechanischen Formalismus auch andere Eigenwerte als Messergebnis zu erwarten wären. ČB Ja, der eine betrachtet nur das Teilchen allein und erhält im Messprozess mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit das Ergebnis ‚x‘, wie wir es aus der Quantenmechanik kennen. Der äußere Beobachter, wenn er wirklich die Quantenmechanik sehr gut kennt und zudem in der Lage ist, große quantenmechanische Objekte zu kontrollieren, würde den Messprozess im Inneren als eine unitäre Transformation eines HamiltonOperators beschreiben. Für ihn ist es damit keine Messung, die zu einem
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WV ČB WV ČB WV ČB
WV
ČB
irreversiblen Ergebnis führt. Er weiß, dass dieser Prozess vom inneren Beobachter her gesehen eine Messung darstellt, aber nicht für ihn selbst und deswegen kann er am Ende des Prozesses natürlich eine eigene Messung durchführen. Dann gelten für die Vorhersagen der Wahrscheinlichkeiten der Ergebnisse wieder die Regeln der Quantenmechanik. Sein System ist dabei nicht nur das erste Teilchen, sondern alles, was sich im Labor befindet; der innere Beobachter, sein Messapparat, das zu beobachtende Phänomen, seine Umgebung und so weiter. In dem Sinne habe ich gemeint, dass er jetzt ein großes System beschreibt. …welches er dann für seine Untersuchung entsprechend raffiniert präpariert hat. Du musst es sehr raffinert präparieren. Es müsste so gestaltet sein, dass nicht mehr als ein Bit an Information herauskann. Ja, es darf keine Information rauskommen, die die Ereignisse beinhaltet, welche der innere Freund, also der innere Beobachter, gesehen hat. Diese Information darf nicht rausgehen. Ob er jetzt ‚Spin up‘ oder ‚Spin down‘ gemessen hat, dürfte Wigner nicht erfahren. Nur die Information, dass er etwas gesehen hat. Die Frage, die David Deutsch dann gereizt hat, war: Was geschieht für den inneren Beobachter in dem Wigner-Freund Experiment? Die theoretische Annahme ist zunächst, dass wahrscheinlich nichts anderes passiert als in einem gewöhnlichen Messprozess, in dem er ein Ergebnis sieht und nichts mehr. Aber man kann jetzt konzeptionell auch vorsichtiger rangehen und sagen: ›Okay, aber ich verlasse mich nicht auf die Erfahrung, auf die Erkenntnisse der Quantenmechanik. Warum fragen wir nicht einfach den inneren Beobachter, ob er was gesehen hat?‹ Die Idee von Deutsch war, dass der jetzt sagen könnte, „ich sehe einen Outcome“, ohne jedoch zu verraten, welchen Outcome er sieht. Dadurch ist der äußere Beobachter jetzt gezwungen, nachzudenken. Er sieht seine eigenen Ereignisse und es gibt eine gewisse Evidenz, dass der innere Beobachter auch Ereignisse sieht, weil er sagt: ›Ich sehe ein definitives Ergebnis‹. Der äußere Beobachter überlegt: ›Ok, vielleicht gibt es doch eine Beschreibung von dem Phänomen, in der unsere beiden Ereignisse gleichzeitig wahr sind.‹ Doch weil er diese Evidenzen hat – von dem inneren Beobachter und zugleich seine eigenen –, scheitert er. Er kann keine gemeinsame Beschreibung finden. Das ergibt sich aus dem No-Go-Theorem. Entsprechend der Quantentheorie hätten wir jetzt je nach Beobachtungsverhältnis bzw. Subjekt-Objekt-Schnitt eine andere Grundkonstellation, die mit jeweils anderen Eigenwerten einhergeht. Es würden sich also in dem Fall unterschiedliche Eigenwerte zeigen müssen. Entsprechend dem Bellschen Theorem müsste man entsprechend dem gesunden Menschenverstand annehmen, dass es gleichzeitig für Wigner
Der Beobachter in der Quantentheorie 121
und seinen Freund fest definierte Fakten gibt. Also wenn der Freund im Inneren sagt, ich sehe ein Outcome, und er selbst das als Anlass für einen eigenen Messversuch nimmt, dann müssten die gleichen Fakten wahr sein, oder? Er müsste jetzt annehmen, dass seine Ereignisse koexistieren mit denen des inneren Beobachters. Wenn ich jetzt versuche, eine solchermaßen gelagerte Theorie aufzubauen, dann scheitere ich. Das geht mit der Quantentheorie nicht zusammen.
Der nicht-triviale Teil der Quantentheorie beschreibt eine Weltdynamik, die auch unabhängig vom menschlichen Beobachter besteht WV Ein anderer für mich wichtiger Befund ist, dass es jetzt kein bewusstes Wesen geben muss, das sagt, ›ich habe es gesehen‹ oder ›ich habe es gemessen‹. Auch hier im Haus wird ja eine Klasse von Experimenten durchgeführt, die darauf beruhen, dass zwei verschränkte Photonen hergestellt werden, von denen eins in ein Interferometer mit den unterschiedlichen Strahlteilern gelenkt wird. Das zweite Photon kann dann genutzt werden, um Informationen über den Weg des ersten zu erhalten. Wenn dies möglich ist, verschwindet die Inferenz. Wie wohl zum ersten Mal Leonard Mandel in dem Aufsatz von 1991 formuliert hat, braucht dabei nicht einmal im technischen Sinne eine Messung durchgeführt zu werden. ČB Ja man kann, muss das aber nicht auslesen. Es reicht, dass es prinzipiell möglich ist, die Information zu lesen, es muss aber nicht faktisch geschehen. Es ist nicht unbedingt Information für einen bestimmten Beobachter, sondern in der Welt zugängliche Information. WV Es gibt ja jetzt den sogenannten Quanten-Bayesianismus, eine Interpretation der Quantentheorie, die Quantenzustände als eine Frage des subjektiv vorhandenen Wissens auffasst. ČB Für die Vertreter des Quanten-Bayesianismus hat der Quantenzustand, wie er durch die Schrödinger-Gleichung beschrieben wird, nur eine vom Agenten abhängige Bedeutung. Auch mit der Konzeption der prinzipiell nicht oder in der Welt prinzipiell zugänglichen Information können diese nichts anfangen. Sie glauben, dass der Quantenzustand sich allein über den Degree of Belief, den Grad der Überzeugung in Bezug auf einen Sachverhalt eines subjektiven Agenten erklärt. Aber ich würde bezweifeln, dass sie überhaupt so etwas wie die in der Welt zugängliche Information betrachten würden. Das heißt, wenn sie einen geschlossenen Raum haben, ein Messgerät, eine Messung aber keinen Beobachter, dann würden die nicht sagen, dass nichts passiert ist, aber sie würden sagen: „Die Quantenmechanik beschreibt das nicht und aus diesem Grund ist es auch nicht interessant, solch eine Situation zu betrachten, weil es eben keinen
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Beobachter gibt.“ Für sie kann die Quantenmechanik nur beschreiben, was ein Beobachter durch die Messung gewinnen kann, und welche Aktionen er danach aufgrund dieser Kenntnis durchführen sollte. WV Aber das Problem ist dann, dass das Subjekt viel zu stark gemacht wird und streng genommen weiß der Quantenbayesianer auch nicht so recht, was der Beobachter eigentlich ist. ČB Ich glaube, er würde sagen, „das ist so quasi Axiomatik, also ich beginne mit diesem Konzept, und dann baue ich auf, das darf ich jetzt nicht auseinandernehmen“. Das ist auch ein berechtigter Kritikpunkt, was Sie jetzt sagen, ich würde auch so kritisch sein. WV Man hat damit den Subjekt-Objekt-Schnitt gewissermaßen absolut gesetzt, man hat also ein-für-allemal definiert, hier ist das Subjekt und da ist das Objekt. ČB Genau. WV Aber dadurch hat man sozusagen das Subjekt vom Objekt fundamental getrennt. ČB Aber diese Grenze ist nicht eine physikalische Grenze. Sie ist allein eine funktionelle Grenze, die es immer geben muss, wenn ich über die Welt eine Aussage treffen will. Dann muss man wissen, was der Beobachter ist und was der Beobachtete ist. WV Darüber hinaus scheint mir noch ein anderer Punkt wichtig. Wenn ich Sie jetzt in ihrem Artikel richtig verstanden habe, plädieren Sie dafür, dass zumindest dem Qubit, der Elementareinheit der Quanteninformatik eine gewisse Realität zukommt, die unabhängig vom Degree of Belief eines subjektiven Beobachters besteht. ČB In gewissem Sinn: ja. Ich denke, dass die reinen Zustände, von denen die Quantenmechanik spricht, eine gewisse idealisierte Objektivität bzw. Realität23 an sich haben, auch wenn sie relativ zum Beobachter zu verstehen sind. Dabei muss natürlich berücksichtigt werden, dass sich diese Beobachter jetzt nicht in der Situation von Wigners Freund befinden, sondern in einer herkömmlichen Situation. Ich glaube, dass wir dann einem Objekt nach einer entsprechenden Präparation in Idealfall einen reinen Zustand zuordnen können und dass das überprüfbar ist. Wenn es auch hier wirklich nur vom Degree of Belief vom Beobachter abhängen würde, dann könnte man sagen ›ok ich weiß mehr und deshalb habe ich eine bessere Beschreibung als du‹ und umgekehrt könnte man seine Kenntnis immer wieder vergrößern, vergrößern und vergrößern.
23Sie sind laut Brukner in dem Sinne als idealisiert zu betrachten, als dass wir es faktisch in der Natur und im Experiment immer nur mit gemischten Zuständen zu tun haben. Selbst hochgradig aufwendig präpapierte Quantenzustände sind also nicht zu hundert Prozent als reine Zustände zu haben.
Der Beobachter in der Quantentheorie 123
In der Quantenmechanik jedoch – und das hat mit der nicht-trivialen Struktur der Quantenmechanik zu tun – da kommt diese Kenntnis an einem reinen Zustand an eine Grenze. Diese ist bestimmt durch die Heisenbergsche Unschärferelation, die besagt, dass wenn man eine Eigenschaft sehr gut kennt, dann gibt es diese komplementäre Eigenschaft, die man nicht kennen kann. Das heißt, ich kann meinen Kenntnisstand nicht verbessern. Dies ist nicht nur eine Frage, wie tüchtig oder geschickt der Beobachter ist, sondern (leicht lachend) es ist eine Grenze, die auch unabhängig von ihm besteht. Hierin offenbart sich der nicht-triviale Teil der Quantentheorie, der eben beobachterunabhängig ist. WV Entsprechend der von Ihnen vertretenen stärkeren Version der Quantentheorie braucht man dann auch nicht zu sagen, wer oder was der Beobachter ist. Es könnte ein biologischer Prozess sein, der meinetwegen noch kein Bewusstsein hervorbringt, ein biochemischer Hyperzyklus oder irgendeine andere physikalisch beschreibbare Interaktion. ČB Das macht keinen Unterschied. WV Innerhalb des quantentheoretischen Formalismus macht es keinen Unterschied, ob da ein intelligentes Bewusstsein ist oder der Messprozess dumm ist. ČB Oder ein Computer, all dies ist absolut unwichtig für mich.
Die Welt verfügt gleichsam nicht über genug Speicher, um alle Informationen zu repräsentieren WV Im Rahmen des Quantenbayesianismus lässt sich jetzt auch nicht so recht fassen, dass es verschiedene Systeme gibt, die verschiedene Standorte haben, trotzdem jedoch in einer nichttrivialen Beziehung zueinander stehen, die quantenmechanisch definiert ist. Dies hat Erwin Schrödinger ja bereits in seinem Aufsatz von 1935 beschrieben, wo auch das Beispiel mit der Katze auftaucht. Als wichtige Konsequenz der Quantentheorie benennt er hier, dass »bestmögliches Wissen um ein Ganzes« nicht »notwendig das Gleiche für seine Teile« einschließt.24 ČB Ja das gilt für die Verschränkung, Schrödinger spricht von der Verschränkung. WV In dem Moment, wenn zwei Systeme interagieren und sich verschränken, dann verschwindet gewissermaßen für die Einzelsysteme ein Teil des »Erwartungskataloges« – so Schrödingers Begrifflichkeit. Ein Teil der
24Schrödinger
(1935b, S. 827).
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igenschaften, die zuvor in den individuellen Teilsystemen bestimmt E waren, ist dann gewissermaßen ausgelöscht. ČB In der Verschränkung ist das Gesamtsystem dann vollständig beschrieben, also man hat jetzt maximale Kenntnis über das Gesamtsystem, ohne aber zusätzliche Erkenntnisse zu den einzelnen Systemen zu haben. Das ist in der klassischen Physik nicht der Fall. Also wenn ich hier sage, ich habe eine vollständige Beschreibung des Gesamtsystems, dann beinhaltet das auch eine vollständige Beschreibung der Einzelsysteme. In der Quantenphysik ist das nicht der Fall, also ich kann nichts sagen über individuelle Systeme, aber über zwei Systeme kann ich was sagen. WV Das würde dann auch für das Gedankenexperiment mit Wigners Freund gelten. Der innere Beobachter kann jetzt im Rahmen seiner Möglichkeiten etwas über die Eigenschaften des von ihm beobachteten Systems sagen, ebenso der äußere Beobachter, der jedoch draußen ein anderes, größeres System vorfindet und nichts über den Zustand der Einzelsysteme weiß. ČB Genau, er weiß nicht, was der innere Beobachter gesehen hat. Er beschreibt den inneren Beobachter und das System als Verschränkung und hat damit eine Gesamtkenntnis, aber keine Kenntnis über den Freund, bzw. was der sieht, oder welche Eigenschaft das System hat. WV Und das folgt dann prinzipiell aus dem Formalismus der Quantentheorie? Es kann nicht mehr Informationen geben und damit ist das Wissen grundsätzlich beschränkt? Zwischen diesen Orten, also den unterschiedlichen Beobachter-Positionen, würde in diesem Arrangement dann sozusagen eine prinzipielle Wissensgrenze bestehen und das heißt dann eben, dass verschiedene Beobachter, die an verschieden Orten stehen und miteinander kommunizieren, durch verschiedene kommunikative Kanäle miteinander verbunden sind. Sie würden dann gleichsam ein anderes Quantensystem haben bzw. sein, das jeweils andere Fakten generiert, oder wie immer man das ausdrücken mag? ČB Also kommunizieren würde ich jetzt nicht sagen, weil sobald sie beginnen, miteinander über jeweils beobachtete Ereignisse zu kommunizieren, dann entsteht wiederum ein anderes System. Ja, aber sie haben in einem gewissen Sinn komplementäre Informationen. Jeder Beobachter, sowohl Wigner als auch sein Freund haben maximale Kenntnis. Sie können jeweils einen reinen Zustand der physikalischen Situation zuordnen, die sie jeweils beschreiben. Jede Beschreibung beruht auf maximaler Kenntnis und man kann diese einzelnen Kenntnisse nicht in einen übergreifenden Rahmen stellen. Sie wissen, sie haben eine Kenntnis über die eigene Beobachtung aber keine Kenntnis über die Beobachtung der anderen Beobachter. Und die unterschiedlichen Beschreibungen sind komplementär in dem Sinne, dass man jeweils eine maximale Kenntnis hat, die aber eben nicht alle möglichen Beobachtungen beinhalten kann, sondern nur eine Facette.
Der Beobachter in der Quantentheorie 125
WV Nur eine Facette? ČB Ja, das ist eine der Eigenschaften, die sich aus der Quantenmechanik ergeben. In gewissem Sinn kann man sagen „es gibt nicht genug Speicher“, also das ist jetzt ein technischer Ausdruck aber der passt ganz gut. Es gibt nicht genug Speicher, dass man dann beide Informationen, die des einen oder die des anderen Beobachters speichern kann, sondern man muss sich entscheiden, das eine oder andere. WV Also wenn zwei Systeme in Interaktion treten, dann wird ein Teil der Informationen, welche die Teilsysteme vorher aufgezeichnet haben, gelöscht. Mit einer weiteren Interaktion bzw. einer weiteren Beobachtung wird quasi ein anderer Teil gelöscht. ČB Ja, in diesem Sinne ist das zu verstehen.
Die Zeit in der soziologischen Systemtheorie
Zeit als Resultat der Operationen psychischer und sozialer Systeme »Wir können keinen Vorgang mit dem ›Ablauf der Zeit‹ vergleichen – diesen gibt es nicht –, sondern nur mit einem anderen Vorgang (etwa mit dem Gang des Chronometers). Daher ist die Beschreibung des zeitlichen Verlaufs nur so möglich, daß wir uns auf einen anderen Vorgang stützen.« Ludwig Wittgenstein1
Erinnern wir uns: Die allgemeine Systemtheorie und auch die soziologische Systemtheorie sind Prozesstheorien. Im Prozess entsteht eine Struktur, die einen Prozess ermöglicht, der wiederum eine Struktur ermöglicht, um es salopp zu sagen. Es kann sich dabei um den Stoffwechsel einer Zelle handeln (biologische Systeme), um ein Bewusstsein, dass von Moment zu Moment neu aufgebaut wird (psychische Systeme) oder um Interaktionen, die bestimmte Kommunikationsmuster hervorbringen (soziale Systeme). Wie auch immer, das, was erscheint, ist nicht per se gegeben, sondern verdankt sich einem Prozess, der das Erscheinende immerfort erneut erschafft. Strukturen, wenngleich sie für einen externen Beobachter zunächst beständig scheinen mögen, sind damit fluide Phänomene. Sie werden von
1Wittgenstein
(1990, Proposition 6.3611).
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Vogd, Quantenphysik und Soziologie im Dialog, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61857-8_4
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Moment zu Moment aufgebaut, zerfallen wieder und werden erneut aufgebaut. So betrachtet ist eine wie auch immer geartete Identität (sei es die eines Organismus, der Psyche oder etwa einer sozialen Gemeinschaft) über die Zeit hinweg also nicht qua persistierender Substanz gegeben, sondern erscheint in dieser Perspektive als ein Produkt von Operationen, welche in einer Abfolge von Rekursionen sukzessiv eine Struktur aufbauen, die für einen Beobachter als mit sich selbst identisch erscheint. Etwas, das als mit sich selbst identisch erscheint, bedarf der ständigen Neubestätigung durch iterative autopoietische Prozesse. Aus dieser Perspektive macht es jedoch keinen Sinn mehr, unabhängig vom Standpunkt eines Systems von Zeit zu sprechen – oder genauer ausgedrückt, unabhängig von den Operationen, welche ein System konstituieren. Zeit erscheint, wenn etwas geschieht, das an etwas anderes anschließt, also als Ausdruck von spezifischen Systemoperationen. Solchermaßen betrachtet, erscheint Zeit als ein systemrelativer Begriff. Zeit ist kein abstraktes Fluidum, das über allem schwebt oder alles in gleicher Weise durchdringt, sondern manifestiert sich in der Verkettung von Systemoperationen, die ein Vorher und Nachher unterscheiden lassen. Zeit als Resultat eines Prozesses: Psychische und soziale Operationen generieren ihre jeweils eigene Zeit Insbesondere Armin Nassehi hat sich ausführlicher mit der Frage beschäftigt, was aus einer systemtheoretischen Perspektive über Zeit gesagt werden kann und formuliert zunächst im Sinne der obigen Ausführungen: »Zeit liegt niemals als Seiendes vor, sondern ist stets Resultat von Operationen; Zeit generierende Operationen sind stets Operationen eines Systems und nicht etwas, das in der Umwelt des Systems vorkommt«.2
Da aber aus systemtheoretischer Perspektive zwischen unterschiedlichen Systemreferenzen und Systemtypen unterschieden werden muss – etwa biologischen, psychischen und sozialen Systemen–, können die jeweiligen Eigenzeiten eines Systems nicht auf die eines anderen Systems zurückgeführt werden. Spezifischer formuliert, gilt für Systeme, die sich im Medium Sinn reproduzieren:
2Nassehi
(2008a, S. 346). Kursiv im Original.
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»Zeit entsteht entweder per psychischen oder per sozialen Operationen, so dass soziale Zeit nicht durch psychische Temporalisierungen erklärt werden kann.«3
Husserls Studien zur Zeit: Vor- und Zurückwenden im Bewusstseinsprozess Nassehi greift dabei wie schon Niklas Luhmann auf die Einsichten der Husserlschen Phänomenologie zurück, da hier – insofern wir die phänomenologischen Kategorien prozesshaft begreifen – schon der moderne Systembegriff vorweggenommen werde. Gehen wir deshalb an dieser Stelle kurz auf einige Ergebnisse der Husserlschen Untersuchungen zum Zeiterleben ein. Grundlegend für die phänomenologische Analyse ist die Erfahrung, dass das Bewusstsein immer Bewusstsein von etwas ist. Im Bereich der Bewusstseinsphänomene gibt es also weder ein reines Subjekt noch reine Objekte, sondern beide sind durch den Prozess des Bewusstwerdens (›noesis‹) miteinander verbunden.4 Die eigentliche Leistung der phänomenologischen Methode besteht nun darin, ›Intentionalität‹ nicht einfach entsprechend dem Common Sense als ›Gerichtetheit des Bewusstseins‹ zu verstehen. Vielmehr wird versucht, in die Prozesshaftigkeit des Bewusstseinsgeschehens einzudringen. Bewusstsein und Bewusstseinsgegenstand treten damit zurück hinter dem Vorgang des Bewusstwerdens. Doch dieser Prozess stellt sich bei genauerem Blick auf die sich hierin offenbarenden Zeitverhältnisse alles andere als trivial dar. In seinen phänomenologischen Analysen begegnete Husserl zunächst einer paradoxen Form (einem ›hölzernen Eisen‹). Es zeigt sich nämlich, dass in der Gegenwart ein Erleben der Vergangenheit stattfindet, welche dadurch in einer speziellen Weise gegenwärtig ist. Im ausdehnungslosen Punkt des Jetzt wird die Bewegung von bereits vergangenen Momenten zu einem künftigen Jetzt erlebt – entsprechend erscheint diese Bewegung aus der Innenperspektive als eine intentionale. Die Bewegung von der Vergangenheit in Richtung Zukunft scheint sich gleichsam flächig selbst zu erfahren. Husserl entdeckte in seinen Analysen zum Zeiterleben also eine merkwürdige dreifache Struktur der Gegenwart, welche sich ihm nunmehr als ein von Retentionen (Rückgriffen) und Protentionen (Vorgriffen) durchsetztes Jetzt darbot. Die Gegenwart selbst erscheint damit zeitlich
3Nassehi 4Vgl.
(2008a, S. 346). Kursiv im Original. Husserl (1913).
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ausgedehnt, in sich eine innere zeitliche Kontextur beherbergend. Insbesondere beim Musikhören wird dieses Phänomen deutlich. Denn eine Melodie verweist in jedem Moment zugleich auf die vergangene, noch in der Präsenz der Gegenwart mitschwingende melodische und rhythmische Linie, wie auch auf die nachfolgend zu erwartenden Töne.5 Der Husserlsche Begriff der Retention darf also keineswegs mit dem Prozess des Erinnerns verwechselt werden. Letzteres erscheint als Akt einer symbolischen oder sinnlichen Re-Präsentation eines längst vergangenen Erlebens in der Gegenwart. Die Retention dagegen ist die erlebte Spur des unmittelbar Vergangenen in der Präsenz des gegenwärtigen Augenblicks. Husserl selbst hat lange gebraucht, um die sich hierin ausdrückende Dynamik angemessen zu fassen. In seinen ›Logischen Untersuchungen‹ folgt er noch Franz Brentanos Modell der Intentionalität.6 Hier besteht die Vorstellung, dass ein intentionaler Akt die Zeit als Konzept ergreift und gleichsam als zusammenschauendes bzw. -gesetztes Bild die Differenz von Vorher und Nachher konstituiert. Der intentionale Akt selbst würde damit als ein zeitloser Moment erscheinen, der aber Zeit als Inhalt haben kann (bzw. konstruiert). Zeit wird hier entsprechend als ein Gegenstand des Bewusstseins betrachtet, wie es etwa im Vorgang des Erinnerns geschieht. Die Noesis bringt sozusagen Zeit hervor, indem das Gedächtnis die mit einem Zeitindex versehene Erfahrung produziert, etwa wenn wir uns beispielsweise in einem bewussten Akt vergegenwärtigen, was vor einer Woche geschehen ist. Demgegenüber kam Husserl wenige Jahre später zu dem Schluss, dass das retentionale und protentionale Bewusstsein nicht als ein synthetisches (d. h. zusammensetzendes) Ergreifen eines einzelnen zeitlosen intentionalen Aktes verstanden werden darf; es sei ja nicht so, dass wir bei einer Tonfolge die unterschiedlichen Klänge gleichzeitig hören, sondern im Hören selbst scheint nochmals eine Zeitstruktur eingewoben. Entsprechend verwarf 5»Die Sache scheint zunächst sehr einfach: wir hören die Melodie, d. h. wir nehmen sie wahr, denn Hören ist ja Wahrnehmen. Indessen, der erste Ton erklingt, dann kommt der zweite, dann der dritte usw. Müssen wir nicht sagen: wenn der zweite Ton erklingt, so höre ich ihn, aber ich höre den ersten nicht mehr usw.? Ich höre also in Wahrheit nicht die Melodie, sondern nur den einzelnen gegenwärtigen Ton. Daß das abgelaufene Stück der Melodie für mich gegenständlich ist, verdanke ich – so wird man geneigt sein zu sagen – der Erinnerung; und daß ich, bei dem jeweiligen Ton angekommen, nicht voraussetze, daß das alles sei, verdanke ich der vorblickenden Erwartung. Bei dieser Erklärung können wir uns aber nicht beruhigen, denn alles Besagte überträgt sich auch auf den einzelnen Ton. Jeder Ton hat selbst eine zeitliche Extension, beim Anschlagen höre ich ihn als jetzt, beim Forttönen hat er aber ein immer neues Jetzt, und das jeweilig vorausgehende wandelt sich in ein Vergangen. Also höre ich jeweils nur die aktuelle Phase des Tones, und die Objektivität des ganzen dauernden Tones konstituiert sich in einem Aktkontinuum, das zu einem Teil Erinnerung, zu einem kleinsten, punktuellen Teil Wahrnehmung und zu einem weiteren Teil Erwartung ist« (Husserl 1966, S. 23). 6Siehe Husserl (1990 [1900]).
Die Zeit in der soziologischen Systemtheorie 131
Husserl nun die Position, dass das Bewusstsein in einem intentionalen Akt entweder in die Zukunft (Protention), in die Vergangenheit (Retention) oder vergleichend auf beide Momente gleichzeitig verweist. Stattdessen scheinen für ihn Retention und Protention nun gleichzeitig in jeglichen Akt des Jetzt als eine inhärente zeitliche Kontextur eingewoben. Hierdurch verflüssigt sich das Bild von einem Bewusstsein, das von Moment zu Moment neuen Sinn, neue Welt ergreift. Stattdessen rückt nun ein Fluss von Wahrnehmungsakten in den Vordergrund, von denen jeder für sich in einem zeitlich ausgedehnten Raum des Jetzt mit einem Hof aus Vergangenheit und künftig zu erwartenden Erfahrungsmomenten verortet ist. Wir treffen nun auf ein Bild sich sukzessive voranschreibender Bewusstseinsmomente, in denen jeweils eine realisierte Protention in den Mittelpunkt der folgenden Gegenwart rückt, wobei die vergangene Gegenwart als Retention weiterhin für eine gewisse Dauer präsent bleibt. Doch auch mit diesem Konzept war Husserl noch nicht zufrieden, denn hier entstehe fälschlicherweise der Eindruck, dass die Protention lediglich von einem Punkt zum anderen springe – gleichsam immerfort in Sprüngen aus der Vergangenheit in die Gegenwart –, um so einen neuen Bewusstseinsakt zu konstituieren. In seinen späten Schriften probiert Husserl ein anderes Bild aus, in dem diese Prozesse als eine Fläche dargestellt werden, in der Protention und Retention miteinander verwickelt sind. Protentionen erscheinen nun gleichsam als eine Bewegung von Erwartungen, die sich aus Retentionen speisen und sobald diese erfüllt oder enttäuscht sind, als nachfolgende Retentionen ins Bewusstsein sinken, um hierdurch einen neuen Erwartungshorizont aufzubauen.7 Dieser Schritt ist bemerkenswert. Im Hinblick auf seine zeitliche Struktur ist der Bewusstseinsakt nun komplex aufgebaut. Erleben verlängert sich hier sozusagen als Erwartungshorizont aus dem zuvor vergangenen Bewusstseinseindruck in eine mögliche Zukunft hinein, die dann mit dem nächsten Bewusstseinseindruck in sich selbst einfällt, um das Erwartete entweder zu erfüllen oder einen neuen Erwartungshorizont aufzubauen. Hieraus folgt, wie auch Alexander Schnell feststellt, dass »die Pro-tention und die Re-tention nicht von der In-tention her« zu verstehen sind, »sondern im Gegenteil, dass das protentional-retentionale Feld selbst die Intentionalität strukturell konstituiert. Dieses Feld ist in zwei Richtungen orientiert, in Bezug auf welche es sinnlos ist, zu sagen, sie seien einander entgegengesetzt
7Schnell
(2002, S. 108 f.).
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(oder auch nicht)«. »Protentionalität und Retentionalität« erscheinen nun ihrerseits »durcheinander vermittelt«.8 Was bleibt ist ein Bewusstseinsprozess, der sich nur auf sich selbst bzw. auf die von ihm selbst konstituierten Zustände beziehen kann. Das Bewusstsein ›schaut‹ hier also nicht nach außen, sondern kann sich nur reflexiv auf sich selbst zurückwenden.9 Insofern wir also auf die noch beim frühen Husserl vorfindliche Vorstellung eines transzendentalen Subjektes und einer transzendentalen Zeit verzichten, können wir in seinen späteren phänomenologischen Analysen – wie Nassehi aufzeigt – die Grundfigur der Systemtheorie finden: »Bei Husserl lässt sich am Beispiel des Bewusstseins in der Tat bereits jene Figur des selbstreferentiellen Systems finden, das nicht in seiner Umwelt operieren kann und seine Selbstreferenz durch permanenten Dauerzerfall von Ereignissen – also: in der und durch die Zeit – sichert. Das System existiert demnach ontologisch je nur in seiner operativen Gegenwart und muss sich somit je neu – nichts anderes heißt: autopoietisch – erzeugen.«10 Zeit und Gedächtnis: Kondensieren, Ausblenden und Vergessen Um es nochmals in anderen Worten zusammenzufassen: Systeme generieren ihre jeweils eigene Zeit. Hinreichend komplexe Systeme sind darüber hinaus in der Lage, interne Zustände zu erzeugen, die dergestalt sind, dass für sie eine Abfolge von vorher und nachher erscheint. Die hiermit aufscheinenden Zeithorizonte werden für das System selbst instruktiv, etwa indem es sich nun in einer bestimmten Weise auf die Zukunft hin orientiert. Dies setzt die Ausbildung eines Gedächtnisses voraus, das Spuren von vergangenen
8Schnell
(2002, S. 113 f.). diese Figur schließt dann auch Luhmann in seiner Husserl-Rezeption sowie in seiner eigenen, auf Husserl zurückgehenden Konzeption von Bewusstseinssystemen an. Die Protention, die Erwartung des Zukünftigen erscheint nun in Bezug auf die Referenzen, auf die sich der Bewusstseinsprozess beziehen kann, als ein Rückwärtsschauen. Das System hat sozusagen nur sich selbst, d. h. die eigenen, von ihm selbst produzierten Zustände. Luhmann schließt in seiner Konzeption von Bewusstseinssystemen genau an dieser Figur an: »Wenn diese Unterscheidung von Gedanke und Beobachtung (die ihrerseits schon ein neuer Gedanke ist) zutrifft, prozediert das Bewußtsein voran, indem es zurückblickt. Es operiert gleichsam mit dem Rücken zur Zukunft, nicht proflexiv, sondern reflexiv. Es bewegt sich gegen die Zeit in die Vergangenheit, sieht sich dabei selbst ständig von hinten und an der Stelle, wo es schon gewesen ist; und deshalb kann nur seine Vergangenheit ihm mit gespeicherten Zielen und Erwartungen dazu verhelfen, an sich selbst vorbei die Zukunft zu erraten. Es verfolgt in sich selbst kein Ziel, sondern bemerkt, was ihm passiert ist. Es wird auf sich selbst aufmerksam. Es schlägt nicht Ziele wie Haken in die Zukunft (die ja noch gar nicht gegeben ist), sondern bemerkt seine Vorhaben in der Erinnerung. Es verfährt nicht antezipativ, sondern rekursiv, entdeckt aber dann im Rückblick gespeicherte Zukunftserwartungen« (Luhmann 1995, S. 63). 10Nassehi (2008e, S. 6). 9An
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Operationen präsent hält, um den Vergleich mit neuen Operationen zu ermöglichen. Auf einer weiteren Stufe kann dann die Abfolge erinnert werden, um Erwartungen auszubilden, was in Zukunft möglich sein könnte. Die Luhmannsche Systemtheorie beschreibt im Anschluss an Husserl genau diese Bewegung als ›Sinn‹. Sinngeschehen – das Procedere von einem Sinn zum nächsten – erscheint damit als eine Operation, die in Referenz auf das Systemgedächtnis von der Aktualität eines gegenwärtigen Ereignisses auf die Potentialität eines künftigen Ereignisses verweist.11 Die Sinnoperation stellt einen Konnex her, indem sie Bestimmtes herausgreift, das nun für sie instruktiv wird. Dies setzt jedoch voraus, dass bereits das Systemgedächtnis hochgradig selektiv operiert, also nur Bestimmtes unterscheidet und das meiste andere ausblendet oder ignoriert. Diese Grobkörnigkeit betrifft auch die Operationen des Gedächtnisses. Wenn nämlich ein System alles in beliebig hoher Auflösung, also extremen Detailreichtum erinnern würde, wäre die Erinnerung viel zu detailreich bzw. feinkörnig, als dass verbindende Muster (zum Beispiel bei Lautfolgen) wiedererkannt und somit Identitäten zugeschrieben werden könnten. Jeder Vergleich setzt per se ein hinreichendes Maß an Abstraktion und damit Grobkörnigkeit voraus. Damit ein System Vergleichsoperationen durchführen kann, die für es informativ werden, muss es also in der Lage sein, den überwiegenden Teil der Daten aus seiner Umwelt weitgehend unbeachtet zu lassen. Die Wahrnehmung einer Gestalt ist nur möglich, wenn der Hintergrund ignoriert wird. Ein Konnex erscheint nur dann als Information, wenn das begleitende Rauschen ausgeblendet wird. Genau diese Fähigkeit der Abstraktion muss damit aber bereits in die Operationsweise der Systeme eingebaut sein. Hiermit ergibt sich eine weitere interessante Perspektive auf das Gedächtnis. Wie nämlich bereits Heinz von Foerster deutlich macht,12 darf das Gedächtnis von Systemen nicht als Speichermedium missverstanden werden, das ungefiltert Daten aufzeichnet, die dann von einem Beobachter gelesen werden können. Vielmehr ist die mit der Leitunterscheidung System/Umwelt verbundene Frage der Reduktion von Komplexität – also die Generierung einer grobkörnigen Welt der Information – in den Gedächtnisprozess selbst eingebaut. Beobachtung und Gedächtnis sind derselbe Prozess. Für eine Theorie des Gedächtnisses, welche dann sowohl für das psychische wie auch das soziale Gedächtnis gilt, ergibt sich hieraus eine
11Siehe
ausführlich Luhmann (1984, S. 92 ff.). (1985).
12Foerster
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besondere Pointe. Eine der wesentlichen Funktionen des »Gedächtnisses« – so Luhmann – besteht im »Vergessen, im Verhindern der Selbstblockierung des Systems durch ein Gerinnen der Resultate früherer Beobachtungen«.13 Die eigentliche Leistung des Gedächtnisses besteht aus dieser Perspektive darin, die überwältigende Flut von Informationen (soziale Systeme) bzw. Wahrnehmungen (psychische Systeme) auf eine Form zu kondensieren, in der noch Lernen – also Strukturveränderung – möglich ist. Um dies leisten zu können, muss die Selbstblockade der Informationsverarbeitung durch ein Zuviel an Erinnern abgewendet werden. Das Gedächtnis wird nun ein notwendiger Teil der Beziehung eines Systems zu einer überkomplexen Umwelt, die es notwendig macht, zu selektieren, zu abstrahieren, um nur Bestimmtes als Erinnerung zu fixieren. »Nur ausnahmsweise werden Identitäten so kondensiert, daß sie für wiederholten Gebrauch zur Verfügung stehen«, wird »also das Vergessen inhibiert«.14 Das Gedächtnis entlastet nicht nur psychische und soziale Systeme vor der Überlast und Überfülle der täglichen Wahrnehmungen und Informationen und leistet die hierfür notwendige Komplexitätsreduktion. Es ermöglicht vielmehr erst die Vergleichsoperationen, die Sinn und damit auch die Erfahrung von Zeit möglich machen. Erst die Operationen, welche abstrahieren lassen, also unter Absehung vielfältiger anderer Details einen bestimmten Sinnzusammenhang in Datensätze hineinzulesen erlauben, ermöglichen ein Gedächtnis. Gleiches gilt damit auch für die Zeitlichkeit. Festzustellen, dass Zeit vergeht, verlangt, zwischen einem Ereignis A (vorher) und einem Ereignis B (nachher) unterscheiden zu können. Dies setzt jedoch wiederum Operationen voraus, die unterscheidbare Ereignisse identifizieren, indem sie abstrahieren und von allem anderen absehen. Zeitlichkeit erscheint nur, insofern bestimmte Aspekte als konstant und andere Aspekte als veränderlich wahrgenommen werden. Das, was dabei als Tertium Comparationis den Vergleich strukturiert, muss dabei so grobkörnig sein, dass Identitäten wie auch die Merkmale, die den Unterschied machen als solche wiedererkannt werden können. Beispielsweise ist es für einen Organismus nur möglich zwischen heiß und kalt im Sinne eines Vorher und Nachher zu unterscheiden, wenn die Temperaturdifferenz so groß ist, dass sie für seinen Wahrnehmungsapparat instruktiv wird (etwa als plötzlicher kalter Luftstoß). Findet die Erhöhung der Temperatur demgegenüber sehr langsam statt, wird die Veränderung nicht als zeitlicher Unterschied
13Luhmann 14Luhmann
(1998d, S. 579 f.). (1998d, S. 581 f.).
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bemerkbar, da sie in einem zu feinkörnigen Modus abgelaufen ist. Der Organismus wird dann zwar wohl irgendwann feststellen, dass er friert, dies dann allerdings nicht einer bestimmten Temperaturveränderung zurechnen können. Auch hier landet die systemtheoretische Analyse also wieder bei dem Befund, dass Zeit nicht als etwas Seiendes vorliegt, sondern erst als Resultat von Operationen bzw. Beobachtungen eines Systems erscheint. Die Gesellschaft der Gegenwarten: Kopräsenz unterschiedlicher Zeiten Wenn wir aber jetzt zwischen einer Vielzahl von Systemen und Systemtypen unterscheiden und davon ausgehen müssen, dass jedes seine eigene Eigenzeit hat, stellt sich die Frage nach ihrer Synchronisation. So befinden sich psychische und soziale Systeme in einer Umwelt, in der zugleich andere Systeme existieren. Insofern die Organisation dieser Systeme ein gewisses Komplexitätsniveau erreicht hat, entwickeln sie kognitive Fähigkeiten, die reflektieren lassen, dass es andere Systeme gibt. In diesem Zusammenhang wird dann unweigerlich auch bearbeitet werden müssen, dass die Operationen der anderen Systeme nicht unbedingt mit den eigenen Abläufen synchronisiert sind. Da ein System durch die Operationen bestimmt wird, welche es als Funktion seiner selbst und seiner Umwelt hervorbringen, gilt, dass die »operative Gegenwart« eines Systems »eine Praxisgegenwart« ist, »die sich vor allem dadurch auszeichnet, dass sie sich in konkreten Gegenwarten bewähren muß«.15 Das System existiert in Kopräsenz mit anderen Systemen, kann sich also nur dann reproduzieren – d. h. überleben – wenn die Umweltbedingungen, welche die anderen Systeme erschaffen, dem eigenen Strukturaufbau nicht widersprechen. Es muss damit zurechtkommen, dass Unberechenbares passiert, dass andere Systeme eine Eigensinnigkeit zeigen, die nicht vollständig in Erwartungen, d. h. Verhaltensvorhersagen aufgehen. Dies gilt insbesondere auch in Hinblick auf die Abstimmung von Systemzeiten. Andere Systeme folgen anderen Rhythmen bzw. generieren unterschiedliche Eigenzeiten. Die Erwartungen eines psychischen Systems in Hinblick auf die Handlungen eines anderen psychischen Systems müssen nicht synchron laufen: Man verabredet sich mit einem Freund um 12:00 Uhr zum Mittagessen, doch dieser erscheint unerwarteterweise erst eine Viertelstunde später. Noch stärkere Diskrepanzen treten im Verhältnis zu sozialen Systemen auf: Ein Mitarbeiter wartet brennend auf die Antwort auf seinen Brief. Eine 15Nassehi
(2011b, S. 26).
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Organisation mag Wochen zur Beantwortung brauchen. Das Rechtsystem wird möglicherweise erst Jahre später den zivilrechtlichen Prozess entschieden haben, in dem der Widerspruch des Mitarbeiters verhandelt wird. Insbesondere in der modernen Gesellschaft mit ihrer Aufgliederung in immer weitere relativ eigenständig agierende Subsysteme (›funktionale Differenzierung‹) wird das Auseinanderklaffen unterschiedlicher Zeithorizonte virulent, denn diese hat unterschiedlichste Systemtypen mit ihren jeweils eigenen Zeitrhythmen ausdifferenziert. Interaktionen, Organisationen, Wirtschaft, Recht, Politik, Wissenschaft und die Massenmedien genieren innerhalb ihrer systeminternen Operationen ihre jeweils eigenen Zyklen. Entsprechend müssen sich die gesellschaftstheoretischen Konsequenzen, wie Nassehi herausstellt, auch in Hinblick auf die zeitliche Dimension zeigen: »Wo psychische und soziale Autopoiesis nicht mehr vorgängig parallelisiert und integriert sind, kann man das Verhältnis von Bewußtsein und Gesellschaft nicht mehr durch Metaphern des Enthaltenseins oder durch die Unterscheidung von Teil und Ganzem beschreiben, sondern muß der radikalen Differenz von bewußten und sozialen Ereignisreihen auch theoretisch Rechnung tragen. Diesem nicht mehr anthropologisch bestimmbaren Charakter der modernen Gesellschaft entspricht die Annahme einer irreduziblen Differenz von psychischen und sozialen Ereignistemporalitäten, die sich in der Gleichzeitigkeit einer System/Umwelt-Relation gegeben sind.«16
Eine systemtheoretische Rekonstruktion der Gesellschaft kann und darf daher nicht von einem Supersystem ausgehen, das sich als Einheit aus den unterschiedlichen Teilsystemen ergeben würde. Vielmehr besteht gleichzeitig eine Vielzahl von System-Umwelt-Relationen, die zwar hinsichtlich ihrer Reproduktionsbedingungen wechselseitig voneinander abhängen, jedoch dabei gerade nicht kausal aufeinander zurückgeführt werden können und auch nicht in einem sinnhaften Ganzen aufgehen. Soziologisch gesprochen treffen wir vielmehr auf ein Gebilde, das Armin Nassehi als »Gesellschaft der Gegenwarten«17 bezeichnet hat – eine Welt, in der gleichzeitig an unterschiedlichen Orten eigensinnige Prozesse geschehen. Hinreichend komplexe, das heißt reflexionsfähige Systeme kommen angesichts dieser Verhältnisse nicht umhin, auch dies zur Kenntnis zu nehmen, also zu reflektieren, dass das, was woanders geschieht, weder beherrschbar noch berechenbar ist, sondern auf die hiermit einhergehenden Unsicher16Nassehi 17Nassehi
(2008a, S. 346). Kursiv im Original. (2011b).
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heiten nur mit Eigensinn, also mit eigenen Systemoperationen geantwortet werden kann. Wenn der Freund zu spät zum Essen kommt, kann man ihn tadeln, darüber hinwegsehen oder aber auch die Entscheidung treffen, sich nicht nochmals mit ihm zu Mittag zu verabreden. Während ein Mitarbeiter auf die Rechtskraft eines Verwaltungsentscheides wartet, hindert ihn keiner, andere Dinge zu tun, etwa sich woanders zu bewerben, weil ihm einfach nur abzuwarten unerträglich erscheint. Zugleich heißt dies aber auch: Es gibt keinen übergeordneten Beobachterstandpunkt und ebenso gibt es keine übergreifende Rationalität, von der aus die Welt letztgültig verstanden oder geordnet werden könnte. Was ein konkretes psychisches System für real und relevant hält, muss nicht das sein, was für ein anderes psychisches oder soziales System instruktiv ist. So operiert offensichtlich das soziale System ›Wirtschaft‹ unabhängig von Erleben und Erwartungen von Menschen. Es interessiert sich nicht dafür, ob psychische Systeme unter einer mangelnden Zahlungsfähigkeit leiden, sondern operiert auf Basis der Organisation von Geldflüssen anhand des Codes Haben/NichtHaben, ohne dabei zu fühlen bzw. geschweige denn überhaupt wahrzunehmen zu können, welche Folgen die auf dieser Basis getroffenen Entscheidungen in anderen Systemen haben. Systeme sind ja gerade dadurch definiert, sich operativ von der Umwelt abzuschließen, indem sie aufgrund der eigenen Prozesse bzw. Strukturen bestimmen, was für sie als Information gilt. Jedes System folgt gewissermaßen seinem Eigensinn. Die Beziehung zwischen unterschiedlichen Systemen wiederum ist dadurch charakterisiert, dass sie jeweils für einander Teil der Umwelt sind und in diesem Sinne für einander informativ werden können. Es gibt jedoch kein Supersystem, das die Abläufe der einzelnen Systeme synchronisieren oder in Richtung eines übergreifenden Telos integrieren würde. Der Eigensinn und die Eigenzeiten unterschiedlicher Systeme können zwar über Interaktion und Kommunikation situativ synchronisiert werden, was dann jedoch nur darauf hinweist, dass genau eine solche Synchronisation im Verhältnis zu vielen anderen Systemen nicht der Fall ist.18 18In der modernen Gesellschaft wird genau diese Tatsache zum Merkmal ihrer Selbstbeschreibung. Die Vorstellung von einem übergreifenden Sinn oder einem Gottesaugenstandpunkt, von dem aus sich alles erklärt und fügt, wird obsolet. Um hier nochmals Nassehi anzuführen: »An der systemtheoretisch-konstruktivistischen Beschreibung der Zeit der Gesellschaft kann abgelesen werden, daß die Moderne sich im wesentlichen dadurch auszeichnet, daß sie nicht über eine festliegende Struktur, über ontologische Hintergrundannahmen oder transzendentale Aprioris beschrieben werden kann, sondern nur als Geflecht von Ereignissen, die aneinander anschließen und die nicht in einer außerhalb der empirischen Anschlüsse vorgeordneten Harmonie prästabilisiert sind. Diesem operativen Charakter der Moderne entspricht ein operativer Zeitbegriff, der Zeit nicht als vorgängige Weltform, sondern als Resultat des Operierens in der Welt ansetzt. Erst unter dieser Voraussetzung kann sinnvoll zwischen der Zeit der Autopoiesis und der Beobachtungszeit unterschieden werden« (Nassehi 2008a, S. 346).
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Gespräch mit Armin Nassehi Kommen wir nach dieser kurzen Einführung zu einem Gespräch mit Armin Nassehi über seine Arbeiten zu einer soziologischen Theorie der Zeit. Armin Nassehi lehrt Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seine Forschungsschwerpunkte sind unter anderem Gesellschaftstheorie, Religionssoziologie und Kultursoziologie. Er arbeitet insbesondere an einer Konzeption der »Gesellschaft der Gegenwarten«, die darauf zielt, traditionelle soziologische Begriffe wie z. B. Gesellschaft, Gemeinschaft und Akteur von ihren substantialistischen Erbe zu befreien. Ausgangsfrage: Wie kommt das Anschlussereignis zustande, das Strukturen beobachten lässt? WV Ja, du hast ja zu der Zeit gearbeitet und soweit ich mich erinnere ist der Ausgangspunkt von Dir Husserl, den Du sozusagen, wie ich verstanden habe, prozesshaft rekonstruiert hast. Kannst Du mal ein bisschen erzählen, wie du das gemacht hast? AN Vielleicht erzähle ich mal, warum ich das gemacht habe. Was in der Soziologie bis heute ein ungelöstes Problem ist, ist das der Gegenstandskonstitution. Wenn Dein Ausgangspunkt jetzt die Physik ist, würde man auf den ersten Blick sagen ›Die Physik ist vielleicht eine Wissenschaft, die am wenigsten Probleme damit hat, ihren eigenen Gegenstand zu beschreiben‹, weil der so widerständig da ist. Doch wie wir feststellen, scheint das so einfach nicht zu sein, das heißt also selbst dort werden andere Formen von – in Anführungsstrichen – ›Stofflichkeit‹, ›Existenz‹, ›Seiendem‹ oder ›Ähnlichem‹ vorausgesetzt, was sozusagen sehr stark verzeitlich wird und ähnliches. Und in der Soziologie müsste man sagen, dass die Anschauung dessen, was wir uns angucken, sehr vermittelt ist. Noch niemand hat eine soziale Struktur gesehen. Noch niemand hat etwas Soziales gesehen. Das führt natürlich soziologische Theorien unterschiedlichster Natur dazu, ihren Gegenstand selber aufzulösen und zu sagen: ›Strukturen kann man vor allem am Verhalten von Leuten beobachten.‹ ›Das Soziale kann man an den Konsequenzen von sozialem Kontakt oder sozialen Beziehungen beobachten‹. WV Also induktiv abgeleitet aus den Folgen. Ich bilde aus meinen Erfahrungen einen Zusammenhang und sage dann: ›das ist das Soziale‹, ›das ist eine Handlung‹. AN Ja, indirekt.
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WV Das ist ja auch der Fall bei Sinn. Sinn hat auch noch niemand gesehen. AN Ja, das gilt für das Soziale wie auch für Sinn. Sinn hat auch noch niemand gesehen, aber was wir sehen können, sind Regelmäßigkeiten, Wiederholungen, Selbstbestätigungen, Iterationen. Wir sehen, dass unterschiedliche Leute, ohne dass man sie mit physischem Zwang dazu bringt, Ähnliches in bestimmten Situationen tun, und ohne dass wir so etwas wie kausale Beziehungen tatsächlich voraussetzen können. Deshalb ist sozusagen eine Theorie, welche die Dinge in Ereignisse auflöst, eine, die sehr nah dran ist an so einer Frage ›Wie kommt eigentlich das Anschlussereignis zustande, an dem man ja Strukturen nur beobachten kann?‹ Also, wenn ich Dich frage ›Wie spät ist es?‹ und Du sagst ›19 Uhr 58 ‹, dann ist das ja keine Kausalbeziehung, dass Du mir unbedingt in einer bestimmten Weise antworten musst. Sondern die Idee ist vielmehr, dass eine soziale Struktur irgendwie voraussetzt, dass auf so eine Frage eine Antwort möglich ist, oder sagen wir besser: wahrscheinlich ist. Es wird wahrscheinlicher, dass Du 19:58 sagst, wenn ich vorher gefragt habe, als dass du einfach so eine Zeit zu mir sagst. Die Systemtheorie bietet ja an, Regelmäßigkeiten oder die Wahrscheinlichkeit erwarteter Anschlüsse jenseits aller Determiniertheit zu beschreiben. Der Systembegriff suggeriert zunächst das Gegenteil dessen, was er beschreiben will, er suggeriert Systematizität im Sinne einer eindeutigen Beziehung zwischen Elementen. Aber schon die Theorie des Fließgleichgewichts von Ludwig von Bertalanffy hat als Bezugsproblem, dass eben nicht alle Elemente miteinander verknüpft werden und dass das Muster der Verknüpfung im Fluss selbst entsteht, also genau das Gegenteil dessen, was Ungeübte als ›System‹ ansehen würden. Das gilt auch für die soziologische Systemtheorie Luhmanns Provenienz. Es geht nicht um eine eindeutige Beziehung, sondern es geht um eine kontingente Beziehung von Elementen, die in je neuen Gegenwarten wieder hergestellt werden muss. Und das hat Luhmann in eine sequentielle Form von Zeitlichkeit gesetzt, in ein Nacheinander von Ereignissen als Grundlage des Systemgeschehens. Und ich meine, dass die Husserlsche Bewusstseinsphilosophie dafür als Theoriefigur noch stärker Pate steht als die frühe allgemeine Systemlehre vom Typus Bertalanffy, worauf Luhmann verschiedentlich selbst hingewiesen hat. Beim Bewusstsein haben wir das auch für soziale Systeme geltende Problem, dass es letztlich unbeobachtbar ist. Wir haben das Problem, dass es sich in Paradoxien entspannt. Das kennen wir, wenn man so will, seit Kant und Fichte: Das Bewusstsein braucht Bewusstsein, um sich als Bewusstsein aufs Bewusstsein zu beziehen, also Selbstbewusstsein zu haben. Husserl war so schlau, hier einen Rest Metaphysik einzubauen, wie Derrida sagen würde. Er geht davon aus, dass das Bewusstsein aus einem Nacheinander von Ur-Impressionen besteht, die für sich
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selber unsichtbar sind, also in einem gewissen Sinne vollständige Präsenz repräsentieren, die erst im Nachhinein beobachtet werden kann. Die konkrete Gegenwart kann nicht über sich verfügen, weil sie dem System erst im Nachhinein ansichtig werden kann. Das System bzw. das Bewusstsein überrascht sich selbst und erzeugt trotzdem eine Struktur, also einen Korridor höherer Erwartbarkeit, in der alten Systemlehre hätte man gesagt: organisierte Komplexität. WV Ist das jetzt das, was Husserl als Retention und Protention bezeichnet? AN Das liegt noch vor Retention und Protention. Also Husserl beschreibt das so, dass ich mir vorstellen muss, dass ein Operator operiert – das Bewusstsein nämlich. Es hat einen Gedanken, aber es kann von diesem Gedanken noch nichts wissen. Denn was bräuchte es dafür? Bewusstsein! Und erst dadurch, dass das Ereignis im Dauerzerfall der Gegenwarten verschwindet, entsteht ein Beobachter, der wieder eine Urimpression ist, die sich auf das vorherige Ereignis bezieht. WV Also es gibt eine Urimpression und dann eine nächste, die sozusagen im Reflex auf die vorherige zu einer Verkettung führt. AN Genau, eine Verkettung, eine Iteration von Impressionen, die jeweils Beobachter der vorherigen Urimpression sind. WV Also so ähnlich wie die Elementarereignisse bei Whitehead.19 AN Whiteheads Ereignisphilosophie beschreibt im Prinzip etwas ganz Ähnliches. WV Also ein Ereignis, das quasi eine Selbstempfindung ist? AN Noch keine Selbstempfindung, denn es kann noch nicht von sich wissen, weil Wissen voraussetzt, dass es einen Beobachter gibt. Das ist ja das Radikale an dieser Denkungsart. Sie führt nicht einfach einen Beobachter ein, der dann auf die Welt schaut. Sie führt den Beobachter sogar in den Operator selbst ein, ins Bewusstsein bzw. ins System. Selbstbeobachtung ist auch eine Relation in der Zeit. WV Also schon eine Verkettung von etwas, was sich auf etwas bezieht. AN Und das für sich selbst zunächst blind ist. Und Husserl geht dann so weit zu zeigen, dass das Bewusstsein durch seine eigenen Akte Strukturen entwirft, die selbst wieder ein Aktkorrelat sind. Eigentlich war Alfred Schütz als Husserls Assistent noch viel radikaler. Er hat dann versucht zu zeigen, dass dieses Bewusstsein so etwas wie eine Erfahrungsaufschichtung produziert. Also Erfahrungsaufschichtung heißt: ›Ich kann in dem Moment, in dem ich denke, nicht denken, dass ich denke. Ich kann das immer nur im Nachhinein.‹ Das Kantsche ›Ich denke‹, das alle meine Vorstellungen begleiten können muss, wird hier zeitlich dynamisiert. Die Idee ist, dass das Bewusstsein sich immer schon voraus ist. Der Beobachter beobachtet sich selbst im Nachhinein. Und deshalb kann man sich auch einen Gedanken nicht vornehmen, weil man ihn dann schon denken muss. Das wird in Echtzeit 19Siehe
Whitehead (1987).
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aufgelöst. Das heißt: der Operator ist letztlich – Derrida hat das Husserl ja vorgeworfen – Metaphysik. Also, dies ist etwas, das geschieht von selbst, weil das Bewusstsein selber sich dessen nicht bewusst ist. Und das finde ich eine spannende ontologische Frage, also ontologisch würde hier ja heißen: Das Einzige, wovon wir sagen können, dass es wirklich ist, das ist das, was nichts von sich weiß, also das sozusagen in dem Moment geschieht. Also die Differenz und Identität ist immer Differenz und Identität. Bei Luhmann erscheint das dann in Form der Idee, dass in autopoietischen Systemen die Autopoiesis als basale Selbstreferenz sozusagen noch keine reflexive Selbstreferenz ist, also noch keine, die von sich etwas wissen kann, aber trotzdem an sich beobachtet, dass es zu Ereignissen kommt. Im Psychischen kann man das doch gut nachverfolgen. Wir haben Assoziationen. Und spannenderweise wiederholbare, also nicht zufällige. Also jeder kann an sich selber sehen, dass er in bestimmten Situationen an bestimmte Dinge immer wieder erinnert wird. Also mir geht das durchaus auch so, ich kann das bei mir nachverfolgen, dass ich manchmal Gedanken im Kopf habe, die von selber kommen, die ich mir aber nicht vornehmen kann, weil wenn ich sie mir vornehmen wollte, müsste ich sie bereits als Bewusstsein zum Inhalt haben. Auch die Hirnforschung würde uns ja heute sagen, dass so viel an Vorbewusstem im Gehirn passiert, was noch nichts ist, was das Bewusstsein als Bewusstsein kennt. Die würden jetzt die Unterscheidung von Bewusstsein und neurologischem System noch nicht so stark machen, wie das in der Systemtheorie passiert. Aber es zeigt sich hier durchaus etwas Ähnliches. WV Mit bestimmten, zeitlich hochauflösenden Verfahren können wir dann so ein Aufflackern von verschiedenen Gestaltmöglichkeiten sehen, die dann erst mal nur Möglichkeiten sind, also noch nicht in ein sich selbst stabilisierendes Muster eingerastet sind. Auch phänomenologisch zeigt sich in diesen Untersuchungen, dass das nicht im Bewusstsein ist, sondern einen vorbewussten Prozess darstellt, der dann, um gegebenenfalls später eine konkrete Gestalt zu erlangen, sich auf sich selbst rekursiv wenden muss.20 AN Aufflackern, wie Du sagst, ist eine schöne Formulierung dafür, weil Aufflackern ist ja eine Metapher für ›Das flackert selber auf.‹ Das ist etwas, was so oder so geschieht. Und das finde ich deshalb attraktiv, weil das eigentlich Strukturen für unwahrscheinlich erklärt und gerade deshalb auf die Funktion von Strukturierung verweist. Also wenn alles geschehen könnte, dann ist es ja ein besonderes Mysterium, dass es zu Regelmäßigkeiten kommt. Wie wird Entropie vermieden? Regelmäßigkeiten sind das Unwahrscheinliche. Soziologen haben ja üblicherweise einen anderen Impetus, indem sie sagen: ›Die Veränderung ist das Unwahrscheinliche.‹ Also sie ärgern sich darüber, dass man die 20Siehe
als Beispiel für solch eine neurophänomenologische Untersuchung Varela (1999).
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Gesellschaft so schwer verändern kann, dass die Leute immer noch gleich doof oder gleich böse sind und weiterhin ihr verblendetes Bewusstsein haben, während doch das Eigentliche, was man erklären muss, die Regelmäßigkeit ist. Die wird einfach vorausgesetzt. Dafür braucht man einen Beobachter, der in der Lage ist, zu zeigen, wie unwahrscheinlich es ist, dass Erwartbares passiert. Und dafür braucht man einen Operator, der sich selber zu überraschen in der Lage ist. Ich finde, wie schon erwähnt, die Husserl-Kritik von Derrida diesbezüglich unglaublich interessant.21 Also Derrida würde ja sagen, dass Husserl der letzte Metaphysiker ist, weil er die Urimpression als Präsenz beschreibt. Und eigentlich bräuchte man etwas anderes. Es gibt ja unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten von Derrida. Zunächst würde Derrida von der Verschiebung, von der différance sprechen. Das ist genau das, was zeigt, dass das Zeichen selber mit dem Bezeichneten in einer Weise verschmilzt, die von der Differenz zwischen Zeichen und Bezeichnetem abhängt, was ja eine paradoxe Formulierung ist. WV Verstehe ich das jetzt richtig, dass das Dein Ausgangspunkt in Deinem Buch »Die Zeit der Gesellschaft« ist, dass Du Husserl in einer prozesshaften Weise gegenliest. Du nimmst jetzt nicht das Urereignis als Sein zum Ausgangspunkt, sondern die Sinnbewegung, von der Husserl als Aktualität zur Potentialität gesprochen hat. Dies setzt aber immer schon beide Bewegungen, also beide Motive bereits voraus. AN Aber jetzt kein Werden ist, wie man bei Hegel sagen würde, weil Hegel in der Geschichtsphilosophie die Bewegung des Geistes immer schon voraussetzt. Hier ist es tatsächlich prozessual, also es ist offen, was als Nächstes passiert. Das ist das Wichtigste – und was ich in dem Buch versucht habe – ist, zu zeigen, dass man, wenn man die Geschichte der Zeittheorie schreibt, sie sich als eine Geschichte von einer ontologischen zu einer operativen Theorie der Zeit entfaltet. Letztlich kann man sagen, dass es schon bei Aristoteles Formulierungen gibt, wo er sagt. ›Die Zeit ist ein Effekt des Beobachters. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gibt es eigentlich nur aus der Perspektive eines gegenwärtigen Beobachters.‹ Der analytische Philosoph McTaggart22 hat das in der Unterscheidung von A- und B-Reihe zum Ausdruck gebracht, indem er zwei unterschiedliche Beobachterpositionen konstruiert: eine, die Ereignisse in der Zeit gewissermaßen von außen als früher oder später ordnet, und eine gewissermaßen von innen her beobachtende Position, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unterscheidet. Hier bewegt sich der Beobachter auf dem Zeitstrahl. Das ist durchaus klug gedacht.
21Siehe 22Vgl.
Derrida (2013). McTaggart (1988).
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WV Was also sozusagen immer voraussetzt, dass es nur den Punkt der Gegenwart gibt, wo die Vergleichsoperation geschieht. AN Das steht schon im 4. Buch der Physik bei Aristoteles: Alles was geschieht, geschieht in einer Gegenwart. Hier wird die Zeit schon modalisiert. Vergangenheit ist immer gegenwärtige Vergangenheit, nicht vergangene Gegenwart. Und genau das macht auch die Autopoiesis-Theorie von Luhmann, und vorbereitet hat das dies eben Husserl. Husserl ist jemand, der das diesbezügliche Potential von Kant frühzeitig erkannt hat. Kant hat die logische Struktur der Bedingung der Möglichkeit für Erkenntnis beschrieben, und Husserl hat das Ganze verzeitlicht. Bei Cassirer gibt es auch ähnliche Formulierungen, aber Husserl hat es verzeitlicht. Ich kannte damals Cassirer noch nicht, als ich meine Doktorarbeit geschrieben habe. Es wäre gut gewesen, wenn ich das schon gekannt hätte, weil der Cassirer sozusagen nochmals einen interessanten Punkt einführt. Er sagt: ›Wir sehen nicht Gegenstände, sondern wir sehen gegenständlich.‹ Dann könnte man entsprechend sagen: ›Wir sehen nicht Zeit, sondern wir sehen zeitlich‹ – das sagt Cassirer so nicht wörtlich, aber das könnte man daraus erschließen. WV Bedeutet zeitlich sehen: ›Ich sehe praktisch die Potenzialität im Sinnhaften.‹ Ich sehe dann sozusagen den Möglichkeitsraum aus meiner Aktualität heraus. Ich sehe aus der Retention die Gegenwart als etwas Gewordenes und in der Protention das Mögliche. AN Man könnte sagen die Katze, die ich gleich sehe, könnte sowohl lebendig als auch tot sein. WV Genau, um das Bild von Schrödinger aufzugreifen. Und diese Vergegenständlichung einer Bewegung in der Gegenwart ist dann praktisch das Beobachten von Zeit.
Zeitigen von sozialen Strukturen: Eigensinnige Vergegenständlichung von Bewegungen AN Und umgekehrt die Dynamisierung des Gegenständlichen, da bin ich eben Soziologe, da würde ich sagen: Das Gegenständliche ist ja gewissermaßen die Rekonstruktion von eigensinnigen Verläufen. Wenn du nur an deine eigene Forschung denkst: Du siehst dir an, wie ärztliche Kommunikation im Krankenhaus funktioniert. Dann ist da der kommunikative Aspekt insofern spannend, als sich Satz auf Satz auf Satz auf Satz auf Satz reiht – und dadurch eine Struktur erzeugt und damit bestimmte Dinge wahrscheinlicher macht und bestimmte Dinge unwahrscheinlicher. Das ist doch etwas, was auch für die moderne Gesellschaft ein sehr spannendes Moment ist. Schau Dir Märkte an. Märkte sind eigentlich nichts anderes als in Echtzeit geschehende Selbststabilisierungen von Bedeutung. Also ›von Bedeutung‹ heißt hier: Von Preisen zum Beispiel
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oder von Börsenkursen. Und im politischen Raum ist es das Gleiche. Was Medien machen, ist genau das: Jemand sagt etwas, es passiert etwas in Chemnitz, und dadurch entstehen Wahrscheinlichkeiten, dass der nächste an Chemnitz anschließt. Und selbst wenn man verhindern will, dass das formuliert wird, muss man in Echtzeit genau das thematisieren. Also man muss den Leuten sagen, wir versuchen Chemnitz ›nicht‹ zu thematisieren. Man muss thematisieren, dass man Chemnitz nicht thematisieren soll – und zwar in einer Zeitreihe, weil wir aus dieser Zeitreihe nicht herauskommen. WV Das ist das Spiel, das Watzlawick mit der Unterscheidung von aktiver und passiver Negation beschreibt. Da ja der Bewusstseinsprozess nur in der Vergegenständlichung läuft, ist dann gewissermaßen die negierende Vergegenständlichung und die positive, die affirmierende strukturell dasselbe.23 AN Es ist strukturell dasselbe. WV Man kommt gewissermaßen an Chemnitz nicht vorbei, wenn man einmal indiziert ist. AN Also wenn man daran vorbeikommen will, muss man es thematisieren. ›Lass uns nicht über Chemnitz reden‹ ist doch eine interessante paradoxe Struktur. Das hört sich jetzt wahnsinnig banal an, aber das funktioniert nur aufgrund der Echtzeit der Ereignisse. Man kann nicht raus, es gibt kein Entrinnen. Und das ist das, was Whitehead immer zeigen wollte. Du hast ihn ja vorhin genannt. Seine Kosmologie löst alles in Ereignisse auf, was übrigens auch theologisch sehr interessant ist – Theologen haben auf Whitehead Bezug genommen im Hinblick auf die creatio continua, also diese mittelalterliche Figur der permanenten Neuerschaffung der Welt, die Thomas von Aquin schon benennt und damit letztlich so etwas wie die Selbststabilisierung der Schöpfung in der Zeit meint. Dies besagt, dass in der Schöpfung eben nicht alles festgelegt ist, sondern es gibt darin Operatoren mit Freiheitsgraden. Damit musste die Religion ja immer klarkommen: Gott hat die Welt erschaffen und dann tut die Welt irgendetwas. Das ist ja bereits im biblischen Mythos von Adam und Eva formuliert. Im Paradies machen die irgendwelchen Mist, und dann ändert sich etwas, und es entsteht eine Geschichte und so weiter. Aber diese Geschichte ist trotzdem Ergebnis der Schöpfung, weil die Schöpfung es eben ermöglicht, dass es weniger Unwahrscheinlichkeiten in bestimmten Situationen gibt als in anderen – und das ist eigentlich das ganze Geheimnis dieser Zeittheorie. Und ich glaube, dass das viel beitragen kann zu einem Verständnis, wie eigentlich Strukturen entstehen, aus denen man sozusagen nicht herauskommt. Was mich zurzeit sehr interessiert, ist die Brutalität von Codierungen. Wenn man über funktionale Differenzierung nachdenkt, zeigt sich: Wer ökonomisch handelt, ist brutal gebunden an den 23Siehe
zur aktiven und passiven Negation ausführlich Elster (1990).
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ahlungs-Mechanismus. Also dem bleibt nichts anderes übrig, als in Z Zahlungsform beobachtet zu werden. Wer politisch handelt, dem bleibt nichts anderes übrig als in Form von Zustimmung/nicht Zustimmung, Mehrheit/Opposition und so weiter beobachtet zu werden. Man kann das jetzt weiter mit anderen Funktionen durchspielen. Wer über Wahrheitsfragen redet, wird auf Wahrheitsfragen festgelegt. Und diese Festlegungen produzieren jeweils weniger große Unwahrscheinlichkeiten für entsprechende Anschlüsse, die sich immer in einer Kette von Anschlüssen ereignen. Das dynamisiert die Erklärung – und auch deshalb macht der Satz Sinn, dass man sich mehr über die Regelmäßigkeit wundern muss als über das Ausbleiben von Veränderungen. Und das, so meine ich, ist eine tolle Volte, weil die gesamte linke Soziologie sich eigentlich darüber wundert – die möchte gerne, dass sich wahnsinnig viel ändert und hat keinen Sensus dafür, wie dynamisch und voraussetzungsreich die Stabilität eigentlich ist. Stabilität heißt im Sinne des zuvor Gesagten: ›Geringere Unwahrscheinlichkeit in eigensinnigen politischen Systemen.‹ WV Und da wären wir wieder in dem Spiel, in dem wir mit Chemnitz gefangen sind. Also ich will Chemnitz nicht haben und sage Chemnitz ist blöd und damit rufe ich das Thema in meinem Bewusstsein auf und wenn ich es kommuniziere, affiziere ich noch andere mit dem Thema. Unweigerlich bin damit in dem Spiel gefangen und produziere immer neue Eigenwerte, die immer wieder mit Chemnitz zu tun haben. In diesem Spiel sind ja auch die linken politischen Bewegungen gefangen. Das ist ja auch das Problem mit den antifaschistischen Bewegungen: Die haben das sozusagen gleich im Namen mit drin und immer wo die politisch aktiv sind – etwa auf Demonstrationen mit den rechten Aufmärschen, zeigen sich ihnen die Nazis und Faschisten. Und wenn man dann den Knoten sieht, den diese Bewegung erzeugt, sieht man auch, dass hierdurch auf der anderen Seite die rechten Bewegungen ihre Identität nähren können. Die können diesen Selbstbeschreibungen auch etwas abgewinnen, nun jedoch unter umgekehrten Vorzeichen, nämlich in ihrem Kampf gegen die Linken, gegen die Antifaschisten. AN Das Blöde ist nur, dass es daraus keinen Ausweg gibt. Man kann nicht sagen: ›Dann lass uns doch auf den Antifaschismus verzichten, um den Faschismus zu behindern‹. Das funktioniert auch nicht. WV Genau das ist das Dilemma. Sobald eine Eigenbewegung existiert, die bestimmte Eigenwerte produziert, dann erscheinen sie sozusagen als Faktizität, wenngleich sie sich einer Prozesshaftigkeit verdanken, also kein Sein an sich haben. AN Also kein Sein an sich, aber ein Sein für sich natürlich schon. Das ist ja das Interessante an den Wiederholungen. Man muss sich ja darüber wundern, dass es Wiederholungen gibt. Schau Dir die Konfliktforschung
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an: Wenn Ehepaare sich streiten, wiederholen sich die Sätze, und spannenderweise wissen das die Beteiligten oftmals. Sie wissen eigentlich schon vorher: ›Jetzt sag ich gleich das – und dann geht es schief.‹ Das wissen die Leute und trotzdem tun sie es. Und selbst wenn man sagt, ›Schatz, Du sagst jetzt gleich Folgendes‹, ist man aus dem Streit nicht raus, denn das wird dann der Anlass für die nächste Streitkommunikationen, weil der Andere dann antworten wird ›Du nimmst mich nicht ernst‹. WV Und die eine Seite kontextualisiert die andere Seite und vice versa. Ein wechselseitiges Kontextualisieren von Anschlüssen findet statt und dann knallt es. Und irgendwann ist der Ärger vorbei, und später weiß dann keiner mehr, warum man überhaupt ärgerlich war. AN Genau, das ist eigentlich das Absurde daran. WV Aber das ist unsere alltägliche Erfahrung. Sobald man diese Prozesse analysiert, merkt man, dass der Bewusstseinsprozess ›Ärger‹ von dem Phänomen Ärger nicht zu trennen ist, denn wenn der Kreis einmal durchbrochen ist, dann ist das Phänomen Ärger auch nicht mehr. AN Also die Sache selbst stabilisiert sich darüber, dass die Operatoren auch etwas anderes könnten, es aber nicht tun. Ich habe von den physikalischen Fragen keine Ahnung, aber mein Verdacht ist, dass es dort darum geht, sich in ähnlicher Weise über die Persistenz von Strukturen zu wundern. Also der naive Beobachter wird behaupten, die Physik habe einen festen Gegenstand, den ausgedehnten Körper. Wer näher am Geschehen dran ist, sieht, dass sich in der gegenwärtigen Physik die Gegenstände auflösen und stattdessen gefragt wird: ›Warum gibt es Dinge, die einigermaßen stabil erscheinen‹. In der Soziologie geschieht etwas Ähnliches. Wir haben Normen und Werte, wir haben Strukturen, wir haben Klassen, Milieus, wir haben Handlungen … WV … wir haben ein Bewusstsein, das Intentionen hat. AN Genau, wir haben Intentionen, wir haben falsches Bewusstsein. All das sind soziologische Grundbegriffe, mit denen bislang gearbeitet wurde. Doch all diese Grundbegriffe lösen sich mehr und mehr auf.
Protention und Retention: Das erkennende Subjekt löst sich in einen Prozess des Werdens auf WV Damit würde ich gerne nochmals zurückkommen auf Husserls Begriff der Intentionalität. Jetzt löst sich diese Intentionalität auf in eine Prozesshaftigkeit, in die Rentention, als Präsenz der Vergangenheit, aus der die Bewegung herkommt, in eine Gegenwart, welche eben diese Phänomene phänomenalisiert, und in eine Protention, die als Potentialität einer möglichen Zukunft erscheint. AN Genau, wobei das Wichtige nicht die Zukunft selbst ist, sondern die Möglichkeit. Also was Husserl in dieser kleinen Schrift, die Heidegger
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herausgegeben hat, am Beispiel einer Melodie beschreibt:24. Rein physikalisch gesehen ist eine Melodie ein Nacheinander von Tönen, die nichts von sich wissen. Also wenn man nur eine Tonleiter hören würde, bamm bamm bamm bamm bamm bamm bamm (eine D ur-Tonleiter wird intoniert), entstehen die einzelnen Töne und verklingen sofort wieder und sind damit eigentlich unverbunden. Die Verbindung wird hergestellt durch ein wahrnehmendes Bewusstsein, das in der Wahrnehmung die Prozessualität des Nacheinanders der Ereignisse erst erzeugt, im Sinne meiner Cassirer-Paraphrase von oben: Wir nehmen nicht die Zeit wahr, wir nehmen aber zeitlich wahr. Natürlich kann man sagen, dass die Melodie ja nicht vom Himmel fällt, sondern wiederum von jemandem produziert wird, der am Klavier genau dies weiß, also etwa eine C-Dur Tonleiter von C bis C spielt. Aber der reine basale Wahrnehmungsprozess geht von Urimpression zu Urimpression, Ton für Ton für Ton. Husserl geht sogar noch weiter und sagt, der einzelne Ton sei in geradezu zeitlose Einheiten zu zerlegen. Aber bleiben wir mal beim integrierten Ton. Oder nehmen wir als anderes Beispiel einen gesprochenen Satz. Wenn ich sage: ›Der FC Schalke 04 hat seine ersten beiden Spiele verloren in der neuen Saison.‹ Wenn man sozusagen die einzelnen Worte nimmt, dann kann man sehen, dass die Worte letztlich unverbunden sind. Die werden erst durch das Bewusstsein verbunden. Das hat Luhmann ja aufgenommen, indem er sagt: Die Selbstreferenzialität eigensinniger autopoietischer Systeme wird erst durch die Systeme selbst zu einer Struktur gebracht. Das heißt Wissen oder Sinn ist nichts anderes als Potenzial und Faktizität bzw. Aktualität so miteinander zu verbinden, dass die unterschiedlichen Wahrscheinlichkeiten gewissermaßen aufeinander bezogen werden. WV Genau, und das geschieht auch in der musikalischen Tonfolge. Normalerweise werden hier nicht nur die Einzeltöne gehört, sondern die verbundene Linie. Eine Ausnahme stellt jetzt John Cages Stück »As Slow As Possible« dar. Hier werden die Töne soweit auseinandergezogen, dass kein Konnex mehr wahrgenommen werden kann. AN Was ja genau damit spielt. WV Aber in Deinem Beispiel ist es ja jetzt so: Ich habe etwa in der Vergangenheit eine Dur-Akkordfolge wahrgenommen und projiziere jetzt meine Erwartung auf die möglichen künftigen Töne: ›So und so könnte es weitergehen.‹ Also ich kenne es bereits in dieser Weise von einem anderen Lied und erwarte entsprechend, dass es auch hier so weiter gehen könnte. Diese zu erwartende Gegenwart trifft dann aber auf eine neue Gegenwart, in der die Erwartung erfüllt ist oder wie zum Beispiel in Mozarts bekanntem Hornkonzert, etwas anderes, etwas Unerwartetes kommt.
24Die
Rede ist von dem Buch »Phänomenologie des inneren Zeitbewusstsein« (Husserl 1928).
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AN Bei Mozart kommt sozusagen immer der Halbton vor der Auflösung. Das ist dann so ein typisches Muster, was damit spielt und wiederum irgendwann selbst zur Erwartung wird. Also das ist ja das Verrückte – wenn man es wiederholt, wird es zur Erwartung und dann kann man wieder mit dem Gegenteil spielen. WV Ja genau. Und da zeigt sich ja diese unterschiedliche Verzahnung von Zeit und Gedächtnis. Es ist sozusagen die Erwartung, die gebrochen wird an der Realität. Weil es eben eine Potentialität ist und keine faktische, determinierte Zukunft, kann eben auch immer wieder etwas anderes geschehen. In jedem Moment könnte eine andere Realität einbrechen und in dem Sinne in Form einer Überraschung zu einer neuen Gegenwart werden und damit neue Erwartungen erzeugen. Hieraus kann dann ein Spiel mit Bivalenzen und Multivalenzen werden, mit zwei oder mehreren erwartbaren Potenzialitäten. Und das macht dann Musik interessant. AN Und moderne Musik spielt genau mit diesen Geschichten. Deshalb ist die Zwölftonmusik auch gescheitert – Adorno hat da gute Sachen zu geschrieben – nämlich, weil sie einerseits das klassische System völlig aufgelöst hat, sich dann aber so stark mathematisiert hat, dass es wiederum vollkommen erwartbar war, was passierte. Heute kannst du in der zeitgenössischen Musik interessanterweise eine Rückkehr zum rationalen Tonsystem feststellen, was vor zwanzig, dreißig Jahren völlig undenkbar war. Also Arvo Pärt zum Beispiel wäre so eine Figur, bei der man das sehr schön sehen kann. WV Der diese schönen Chorstücke geschrieben hat. AN Diese schönen Stücke, ja wunderbar. Wir haben letztes Jahr die Berliner Messe gesungen, das ist ganz toll. Das Werk ist hoch umstritten in der Musikszene, weil es sehr einfach wirkt, aber gerade diese Einfachheit ist eine grandiose Provokation für eine Musik, die daran gewöhnt ist, das Unwahrscheinliche wahrscheinlicher zu machen. Und der macht dann über relativ eindeutige Harmoniefolgen seine eigenen Stücke erwartbar. Oder ein guter Vortrag lebt davon, Erwartbarkeiten und Unerwartbarkeiten so miteinander zu kombinieren, also einen Satz mal ganz anders ausgehen zu lassen, als man denkt. Oder noch interessanter: Genauso, wie es die Leute erwarten, was sehr unerwartbar ist. Gedichte arbeiten damit. Man könnte jetzt 1000 Beispiele bringen. WV Genau, aber die Struktur ist immer dieselbe. Es wird mit einer Zeit gespielt, die genau diese Grundstruktur hat, dass in die Gegenwart die Erwartungen schon mit reinspielen und dadurch eine Verlässlichkeit suggeriert wird, die sich enttäuschen lässt. AN Aber wenn man es ganz ernst nimmt mit Husserl, dann ist die Erwartung keine bewusste Erwartung, sondern eine, die in der Urimpression vorkommt. Also auch die Enttäuschung wird erst im Nachhinein registriert.
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Umgangsweisen mit den divergierenden Eigenzeiten unterschiedlicher Systeme AN Man kann sich jetzt fragen: ›Ist das jetzt nur akademisch relevant, darüber nachzudenken, oder hat es auch einen diagnostischen Wert?‹ Doch wenn man sich eine funktional differenzierte Gesellschaft anschaut oder wenn man an Organisationen mit ihren eigensinnigen Prozessen denkt, dann wird man sagen ›ja, es ist hoch relevant‹. Schon die schwierige Frage der Synchronisation von Prozessen kann nur im Hinblick auf die Eigenlogik und die Eigensinnigkeit der vielfältigen beteiligten Systeme gestellt und beantwortet werden. Es geht nicht nur um die sachliche Koordination unterschiedlicher Logiken und Funktionen, sondern vor allem um die Synchronisation zeitlicher Eigensinnigkeiten. Das sachlich Differenzierte muss in der Zeit synchronisiert werden. Also deshalb ist für mich zum Beispiel die reine Beschleunigungsdiagnose von Hartmut Rosa viel zu kurz gegriffen, weil Rosa eben nur eine der Dimensionen beschreibt. Umgekehrt gibt es aber auch das oktroyierte Warten, also wenn das Eine nicht schnell genug ist, muss das Andere warten – das ist gar keine Beschleunigung. Und so etwas erleben wir ja permanent. Teilsysteme warten darauf, dass andere reagieren. Sie wollen eine politische Entscheidung haben oder rechtliche Entscheidungen haben oder warten auf wissenschaftliche Ergebnisse oder etwas sonst, oder sie warten auf Geld. All das kennen wir gut. Doch dies lässt sich soziologisch folgenreich nur dann beschreiben, wenn man nicht mehr von einer Zentralperspektive ausgeht. Und dann muss man zugeben: ›So etwas wie ein gesellschaftlicher Gesamtsynchronisator ist schwer denkbar.‹ Eher linke Soziologien tun gerne so, als ob Politik eine solche Zentralperspektive abgeben könnte. Das eher heute neoliberal genannte Denken verlangt Ähnliches vom Markt oder wenigstens von Marktmechanismen. In manchen Regionen der Weltgesellschaft traut man das der Religion zu – und so weiter. Man stellt sich die Sache immer aus der Perspektive eines bestimmten Teilsystems vor. Aber das funktioniert natürlich nicht, weil die unterschiedlichen Systeme jeweils eigensinnig ihre temporalisierten Eigenlogiken prozessieren müssen. WV Damit wäre man bei einem Systembegriff, der davon ausgeht, dass jedes System gewissermaßen seine eigene Zeitlichkeit hat oder besser gesagt: seine eigene Zeit ist. AN Ja, seine Zeit ist. WV Jeweils eine eigene operative Tätigkeit, die Möglichkeiten als nächste Systemoperation antizipiert und dann – weil es ein umweltoffenes System ist – erwartet, dass dies eingelöst wird oder – wenn eben nicht – enttäuscht wird. Wenn wir jetzt beispielsweise ein psychisches System betrachten, dann erfährt es plötzlich Diskrepanzen, möglicherweise
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kommt es gar zu einer Art ›Lock in‹. Man kommt ins Stocken und fragt sich dann ›Was mache ich jetzt? Was ist hier eigentlich der Fall?‹ AN Das ist doch eigentlich das, was wir permanent erleben, wenn wir in Diskussionen sind, bei denen man nicht mitkommt. Besonders deutlich wird es, wenn man in Fremdsprachen agiert, in denen man nicht so schnell ist wie in der Muttersprache. Man stellt dann fest, dass die Kommunikation schneller ist als das Denken. In der Muttersprache ist das Denken meistens schneller als die Kommunikation. Es ist doch interessant, sich klar zu machen, dass bereits Kommunikation und Bewusstsein nur schwer zu synchronisieren sind. Wenn ich jetzt sage: ›Werner, rede nicht so schnell, ich verstehe dich nicht‹, dann muss das auch wieder kommuniziert werden und schon greift das in die Synchronisation von psychischen und sozialen Eigensinnigkeiten ein. Wir erleben soziale Systeme, die nebeneinander stehen – in Organisationen, in der Gesellschaft, in Familien, wo auch immer – die irgendwie nicht so richtig zusammenpassen. Die Gleichzeitigkeit von Unterschiedlichem, die Kopräsenz von Disparatem, die mutuelle Relativität von unterschiedlichen Trägheiten – das ist die Erfahrung des Gesellschaftlichen. Weniger hochgestochen findet sich das überall: Die Betriebswirtschaftslehre und die Logistik bringt uns bei, was für Voraussetzungen gegeben sein müssen, dass in einem Industrieprozess halbfertige Produkte gleichzeitig am richtigen Ort sind, damit man sie am Fließband zusammenbauen kann, ohne dass es eine Zentrale gibt, die alle Prozesse gleichzeitig beherrschen und kontrollieren kann. Selbst in Organisationen ist die volle Kontrolle über solche Prozesse nicht denkbar, in Gesellschaften erst recht nicht. WV Und das heißt, dass wir in diesem Falle ein weiteres System haben, das versucht, auf die zeitlichen Bewegungen anderer Systeme koordinierend einzugreifen: Die Organisation, welche versucht, Mitarbeiter in Skripte einzuspuren. AN Und das kann auch die Organisation wiederum nur in Echtzeit tun. Also sie kann es im Prinzip auch nicht eins zu eins umsetzen. In Organisationen ist es einfacher, weil man Entscheidungen synchronisieren kann. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Man will auch durch Entscheidungen synchronisieren, und schon geht die Disparität von vorne los. WV Also zum Beispiel die Entscheidung, dem Mitarbeiter eine entsprechende Anweisung zu geben, etwa der Art: ›Jetzt gibst Du mir bis übermorgen den fertigen Artikel.‹ AN Oder in der Industrie ist das Gegenteil wichtig: ›Liefere das große Teil erst übermorgen‹. Den Artikel darf man auch zwei Tage früher abgeben, aber die große Maschine muss genau zu dem Tag anlaufen, weil die Lagerkosten so teuer sind oder kein Platz dafür da ist. Und das sind ja Verschiebungen, die dann mit hohem Aufwand organisiert werden müssen. WV Ja, auch von der Systemreferenz ›Organisation‹ aus gesehen reproduziert sich die Husserlsche Sinnbewegung, dass nur mögliche, aber keine
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faktischen Zukünfte geplant werden können. Mit den Entscheidungen der Organisation wird eine Erwartung in die Zukunft hinein projiziert, die aber dann wieder gebrochen wird, durch das, was dann wirklich geschieht. Gerade aus diesem Grunde ist die Organisation ja ein sehr produktiver Systemtyp, weil sie auf pragmatischer Ebene von vornherein mit Brüchen rechnet und auf Probleme mit neuen Entscheidungen reagiert. Organisationen können sich auf diese Weise veränderten Situationslagen anpassen, indem sie noch nicht festgelegt sind, wie sie in Zukunft entscheiden werden. AN Genau, und das kann man ja noch weiter auffächern. So kann die Organisation jetzt zu dem Schluss kommen, dass man am besten regulieren kann indem man die Freiheitsgrade einschränkt. Forschung zum Beispiel ist ja eine recht riskante Sache, weil bei der Forschung – wenn sie gut läuft – etwas anderes herauskommen kann, als man vorher erwartet hatte. Das ist für unsereins, die Grundlagenforschung an einer Universität betreiben, etwas anderes, als für jemand, der in einem Unternehmen Forschung über die Fließgeschwindigkeit in einer Einspritzpumpe macht. Die brauchen das Ergebnis bis übermorgen, und damit entsteht eine andere Art von Synchronisation von Forschung, als wenn es – wie bei uns – eigentlich relativ unwichtig ist, ob wir jetzt zwei Monate früher oder später fertig sind. Und viele von uns forschen an ihrem Thema sogar selbst dann weiter, wenn das Projekt nicht mehr finanziert ist, insofern der Arbeitsplatz nicht berührt ist. WV Ja, insbesondere in der anwendungsorientierten Forschung werden die unterschiedlichen Eigenzeiten virulent. So passiert in der Industrie oft Folgendes: Der Forscher weiß, dass er das Ergebnis noch nicht hat, aber der Abteilungsleiter sagt, man habe es fast schon fertig, damit die Freigabe für die Produktion erteilt wird. Und dann haben wir später beim Kunden ein Auto, das etwa die Dieselabgase nicht entsprechend der Umweltverordnung verbrennen kann. Organisatorisch ist das Problem zwar gelöst, die Freigaben sind erteilt, die Unterschriften sind gegeben, die Produktion ist angelaufen, doch auf einer anderen Ebene brechen die Konsequenzen der fehlenden Synchronisation unterschiedlicher Systemreferenzen umso markanter wieder auf. AN Gleichzeitigkeit und Gleichsachlichkeit sind zwei unterschiedliche Dinge. WV Das mit der Gleichzeitigkeit lässt sich leicht regeln. Da ist jemand in München, der zählt die Sekunden genauso wie hier in Witten. Der hat jetzt die gleiche Zählmaschine wie Du. AN Ja, das kann man leicht synchronisieren, aber was der in München in der gleichen Zeit macht, nicht so leicht. Dafür gibt es kein Maß. Dafür hat die Gesellschaft kein Maß. Es gibt Uhren nur in der Zeitdimension, nicht in der Sachdimension. Die Zeit kann man messen, man kann sie zählen – übrigens auch eine Formulierung, die es schon bei Aristoteles gibt. Seine Zeittheorie ist bereits richtig gut ausgearbeitet. Da gibt es eine Stelle, wo
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Aristoteles sinngemäß sagt: ›Wir brauchen eigentlich einen Beobachter, der zählt‹, der sagt ›Tick Tick Tick Tick‹, sagt ›eine Minute sind 60 Sekunden‹. Er sagt nicht, Zeit sei ein gerichteter Strahl, sondern die Zählung von Ereignissen im Nacheinander, was sich natürlich nicht ganz widerspruchsfrei sagen lässt, weil das Nacheinander ein zeitliches Prädikat ist. Entscheidend ist aber, dass schon Aristoteles den Beobachter einführt: ›Der gerichtete Strahl ist das Ergebnis der Ereignisse, die ich zählen kann.‹ Ich weiß jetzt nicht die genaue Formulierung, aber in etwa lautet es bei Aristoteles so: ›Ohne zählendes Bewusstsein gibt es keine Zeit.‹ WV Und da braucht man ein System, das Ereignisse aufschreibt, man braucht Zahlen, eine Reihenfolge, in der man sie anordnet. Es ist schon eine relativ aufwendige Beobachtungsoperation notwendig, um Zeit haben zu können. AN Ja, all das ist ein Hinweis dafür, dass es schon eine aufwändige Operation ist. Davon sind wir ja ausgegangen. Es geht um den Operator. Zeit gibt es nur im System, nicht in der Umwelt. WV Und hier taucht wiederum die Husserlsche Grundfigur auf, nämlich die Kette von Ereignissen, die sich auf sich selbst beziehen und damit Vergleichsoperationen ermöglichen. Deshalb ist Zeit. AN Der Kant hat das, wie zuvor gesagt für die Sachdimension des Bewusstseins beschrieben. In der schönen Formulierung von Cassirer heißt es dann: ›Wir sehen nicht Sachen sondern wir sehen sachlich. Wir wissen keine Kausalitäten. Wir sehen kausal.‹ WV Die Zeit ist dabei bei Kant noch die Bedingung der Möglichkeit von Erleben. AN Die Zeit gehört bei Kant nicht zu den reinen Verstandesbegriffen, sondern zu den reinen Anschauungsformen. Also das ist bei ihm noch nicht ausgearbeitet. Bei Husserl wird das dann ausformuliert. Bei Husserl wird das Bewusstsein selbst verzeitlicht. Das Tolle finde ich – das habe ich von Ernst Pöppel gelernt, dem Hirnforscher – dass all das, was Husserl relativ freihändig bewusstseinsphilosophisch beschrieben hat, von der Hirnforschung inzwischen empirisch bestätigt wird, also das Selbsterrechnen einer Realität in Echtzeit. Also ist der Ordnungsaufbau etwas, was in Echtzeit geschieht. Das Gehirn hat sich in seiner Strukturbildung sozusagen daran gewöhnt, Hypothesen zu übernehmen und dann weiter zu prüfen. Deshalb sind zum Beispiel optische Täuschungen so eine tolle Sache, weil sie zeigen, dass wir uns in operativer Selbstbezüglichkeit an das Gewohnte halten. Das heißt, dass Strukturen tatsächlich eingebaut werden. Und genau das ist ja auch das, was Husserl beschreibt. Er würde sagen, und noch stärker hat es dann Alfred Schütz formuliert mit den Worten: ›Es entsteht ein natürliches Bewusstsein, das Erwartungen erwartet.‹ Und genau das ist die Figur, welche Luhmann dann in seinen Strukturbegriff aufnimmt. ›Es geht nicht nur um Erwartungen, sondern es geht auch um die Erwartung der Erwartung.‹ Also wenn man es auf Personen beziehen
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würde, z. B. auf uns beide jetzt runterbricht, sobald wir mit einander reden, dann kann ich erwarten, dass du etwas Ähnliches erwartet, was situationsadäquat ist und umgekehrt.
Genese stabilen Sinns – und wenn dieser Sinn problematisch wird WV Genau dieser rekursive Prozess der wechselseitigen Erwartungserwartungen schafft die Stabilität, die sowohl innerhalb des sozialen Systems als auch innerhalb des Bewusstseins für wiedererkennbare Strukturen sorgt. Im Grenzfall der psychischen Erkrankung oder der Psychose fällt das ja auseinander. Ich erwarte ja von meiner Psyche, dass sich mein Bewusstsein im nächsten Moment wieder sinnhaft aufbaut und nicht etwa ein Riss entsteht, der beispielsweise mit dem Gefühl einhergeht, dass mein Ich in tausend Scherben zerfällt. Genau dies erleben beispielsweise Psychotiker, was für sie als sehr verstörend und bedrohlich erscheint. Demgegenüber ist unser psychisches System normalerweise in der Lage, die an sich selbst und seine Umwelt gestellten Erwartungen in der Form zu bedienen, dass eine einigermaßen konsistente und kohärente Realität entsteht. AN Was dann entsprechende Selektionen voraussetzt. WV Und ein Psychiater wird dann feststellen, dass all dies gar nicht selbstverständlich ist. Er kennt aus seinem Alltag hunderte Fälle, bei denen dies nicht zutrifft. Auch bei den sogenannten normalen Menschen kann es in Grenzfällen Verstörungen geben, in dessen Folge die Kohärenz des Bewusstseins auseinanderfällt. AN Ich würde vermuten, dass psychische Krankheit wahrscheinlich etwas damit zu tun hat, dass man entweder zu früh oder zu spät mit der Selektion aufhört. Also zu früh würde heißen, ich stelle gar keinen Konnex her, zu spät heißt: ich vergesse nichts und erinnere jedes Detail. Alles hat auf einmal eine Bedeutung. Also wenn ich sage, du hast jetzt gerade eine linke Lippe hochgezogen, das muss etwas bedeuten. Du willst mir etwas damit sagen. Während die Erwartungserwartung normalerweise dazu führt, dass ich relativ souverän damit umgehe, nicht aus allem eine Bedeutung zu machen. WV Das heißt dann also, ich kann die vielfältigen Zeichen der Welt zu einem Sinn reduzieren, der es mir erlaubt, mich innerhalb meiner Erwartungshorizonte zu reproduzieren. Dadurch kann ich eine relative Stabilität aufbauen, die es mir erlaubt, in meiner Welt einigermaßen souverän zurechtzukommen. So könnte es beispielsweise sein, dass ich als Großstädter täglich an 20 Psychopathen vorbei laufe. Aber ich brauche meine Lebensvollzüge nicht davon stören zu lassen, weil sie normalerweise nichts von mir wollen. Aber wenn ich jetzt unter einer starken Paranoia leide, dann wird sozusagen jedes Zucken eines Menschen in meiner Nähe zu einem Zeichen für einen potenziellen Angriff. Dann wäre ich wohl
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kaum mehr in der Lage, die Kontinuität meines bürgerlichen Lebens zu reproduzieren. Mir würde es nicht mehr gelingen, täglich zur Arbeit zu kommen, weil ich ständig wegwegrennen müsste, da mich ja überall die Psychopathen bedrohen. AN Ja, nur weil ich paranoid bin, heißt das ja noch lange nicht, dass niemand hinter mir her ist. WV Im einen Fall wird also zu viel an Bedeutung und Sinn selegiert. Der andere Fall ist die Demenz. Ich lebe in der Präsenz, aber ich erlebe in meinem Bewusstsein den Zug der Vergangenheit nicht mehr als instruktiv für meine Gegenwart. AN Ja, die totale Gegenwartsdeterminierung. In jedem Moment, nur noch eine totale Gegenwartsorientierung. Es gibt ja Hirnforscher, die sagen, dass demente Menschen glücklich sein können, aber der Weg dahin muss die Hölle sein.
Die Zeit in der Quantentheorie
»Wenn man unter Ewigkeit nicht unendliche Zeitdauer, sondern Unzeitlichkeit versteht, dann lebt der ewig, der in der Gegenwart lebt. Unser Leben ist ebenso endlos, wie unser Gesichtsfeld grenzenlos ist.« »Die Lösung des Rätsels des Lebens in Raum und Zeit liegt außerhalb von Raum und Zeit.« Ludwig Wittgenstein1
Die Schrödinger-Gleichung und der Zeitpfeil In der Quantenmechanik wird der Zustand eines Systems durch eine Funktion ψ beschrieben, deren zeitliche Entwicklung durch die zeitabhängige Schrödinger-Gleichung folgendermaßen bestimmt wird: i
∂ ˆ |ψ(t)� = H�ψ(t)| ∂t
Diese Gleichung ähnelt den aus der klassischen Mechanik bekannten Gleichungen zur Beschreibung von Schwingungen. Die Wellenfunktion ψ beschreibt in der Quantenphysik allerdings nicht die Schwingung von einem im materiellen Sinne charakterisierbaren Medium. Sie stellt vielmehr die
1Wittgenstein
(1974, Proposition 6.4311 f.)
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Vogd, Quantenphysik und Soziologie im Dialog, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61857-8_5
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Wahrscheinlichkeit dar, Teilchen bei einer Messung in einem bestimmten Raumvolumen feststellen zu können. Sie ist gleichsam eine ›Wahrscheinlichkeitswelle‹. Die Wellenfunktion ψ entzieht sich damit einer anschaulichen Deutung bzw. Interpretation in Form klassischer physikalischer Begriffe.2 Die Zeit erscheint in diesem Formalismus jedoch weiterhin als eine klassische Variable. Sie wird nicht durch einen ›Zeit‹-Operator ersetzt. Mit klassischen Variablen lässt sich vorwärts und rückwärts rechnen, ohne dass es einen Unterschied machen würde. Die Zeit (t) ist damit einfach nur eine weitere Dimension neben etwa den drei Raumdimensionen (x, y, z), wie sie in der klassischen Physik verstanden werden. Bei der Verrechnung von Operatoren macht die Reihenfolge ihrer Anwendung demgegenüber einen Unterschied. Ob beispielsweise zuerst die Operatoren x (Ort) und dann p (Impuls) oder erst p und dann x angewendet werden, kann zu einem anderen Ergebnis führen. Da die Zeit in der Schrödinger-Gleichung als einfache Variable dargestellt wird und zudem invariant gegenüber der Zeitumkehr ist, ist die Zeitrichtung in der Wellenfunktion nicht von Bedeutung. Es ist egal, ob man von einem vergangenen Punkt aus die Zukunft kalkuliert oder von einem künftigen Wert aus die Vergangenheit berechnet. Hat man sie einmal, so kann man ψ prinzipiell für jeden Zeitpunkt aus Zukunft und Vergangenheit berechnen. Um mit Ilya Prigogine zu sprechen: »Die Schrödingergleichung bestimmt, genau wie die kanonischen Gleichungen in der klassischen Physik, eine reversible und deterministische 2Der Nobelpreisträger Robert B. Laughlin formuliert lakonisch: »Quantenmechanische Materie besteht aus Wellen von nichts«, um dann weiter auszuführen: »Diese Vorstellung ist ein harter Brocken, weshalb man Studenten traditionell damit anfreundet, indem man zunächst etwas mit dem Namen WelleTeilchen-Dualismus erklärt – der Vorstellung, Teilchen seien newtonsche Objekte, die gelegentlich miteinander wechselwirken, gebeugt werden und so fort, als wären sie Wellen. Das ist nicht richtig, aber wenn man es so lehrt, hindert man die geistigen Schaltkreise der Studenten am Durchbrennen. In Wahrheit gibt es keinen solchen Dualismus. Die ganze newtonsche Vorstellung von einem Objekt, das durch Position und Geschwindigkeit gekennzeichnet ist, ist falsch und muß durch etwas ersetzt werden, das wir Wellenfunktion nennen – eine Abstraktion, modelliert nach dem Vorbild der kleinen Druckschwankungen in der Luft, die beim Durchgang von Schall auftreten. Das wirft unweigerlich die Frage auf, was da eigentlich schwingt – ein wunderbares Beispiel für die Verwirrung, die man anrichtet, wenn man einen außergewöhnlichen Sachverhalt mit einem gewöhnlichen Wort benennt. […] Außerhalb eines die Schwingungen übertragenden Mediums ergibt eine Welle keinen Sinn. In der Physik wird jedoch eine altehrwürdige Tradition aufrechterhalten: Man unterscheidet nicht zwischen unbeobachtbaren und nichtexistenten Dingen. Obwohl also Licht sich verhält wie Wellen einer Substanz – die man in den Anfängen des Elektromagnetismus als Äther bezeichnete –, gibt es keinen direkten Nachweis für diese Substanz, weshalb wir erklären, sie existiere nicht. Aus den gleichen Gründen sehen wir das Medium, das sich bei der Ausbreitung quantenmechanischer Wellen bewegt, als nichtexistent an. Dieses Problem ist jedoch weit irritierender als das des Lichts, weil Quantenwellen Materie sind und überdies messbare Aspekte aufweisen, die mit Schwingungen einer Substanz grundlos unvereinbar sind« (Laughlin 2007, S. 93 f.).
Die Zeit in der Quantentheorie 157
Entwicklung. Die reversible Änderung einer Wellenfunktion entspricht einer reversiblen Bewegung längs einer Trajektorie. Andererseits erlaubt die Schrödingergleichung, wenn die Wellenfunktion zu einem gegebenen Zeitpunkt bekannt ist, diese für jeden früheren oder späteren Augenblick zu berechnen; in dieser Hinsicht entspricht die Situation genau derjenigen der klassischen Mechanik. Das beruht auf der Tatsache, daß die Unschärferelationen der Quantenphysik nicht die Zeit enthalten. Diese ist noch immer eine Zahl und nicht ein Operator, und nur Operatoren können in den Heisenbergschen Unschärferelationen auftreten«.3
Blockuniversum der physikalischen Raumzeit im Kontrast zur phänomenalen Erfahrung irreversibler Zeit Die klassische Physik beschreibt die Welt als ein Blockuniversum einer vierdimensionalen Raumzeit, in der sich die Bewegung von Objekten oder Teilchen darstellen lässt. Der Parameter „Zeit“ hat – um es nochmals zu betonen – in diesem Modell den gleichen Status wie die drei Raumkoordinaten. Der Verlauf der Welt erscheint hiermit vollkommen determiniert. Würde man den Zustand der Welt zu einem bestimmten Zeitpunkt exakt kennen, sowie die Gesetze, welche die Bewegung der Teilchen beschreiben, so ließe sich jeder weitere vergangene oder zukünftige Zustand berechnen, wobei der Verlauf des Universums selbstverständlich auch dann als vollkommen bestimmt anzusehen ist, wenn seine Phänomene oder Gesetze nicht beobachtet werden oder ein Ausgangszustand nicht exakt erhoben werden kann. Die Quantentheorie gibt mit der Schrödinger, ebenso mit der Kopenhagener Deutung zwar das Konzept kontextunabhängig bestehender Variablen auf – so können etwa Eigenschaften wie Ort und Impuls nicht mehr gleichzeitig scharf gemessen werden –, die Zeit erscheint hier jedoch weiterhin als ein distinkter Punkt auf der Koordinatenachse. Da die Wellenfunktion zudem nur Wahrscheinlichkeiten angibt, beschreibt die Schrödinger-Gleichung also streng genommen nur die Entwicklung der ›Wahrscheinlichkeitsdichte‹ über die Zeit hinweg. An dieser Stelle ist nochmals darauf hinzuweisen, dass manche Interpretationen der Quantentheorie nicht im Widerspruch zur Vorstellung eines vollkommen determinierten Universums stehen. Dieses quantenmechanische Blockuniversum würde dann durch die Schrödinger-Gleichung des Universums dargestellt, oder, um es noch präziser auszudrücken: Die Schrödinger-Gleichung würde entsprechend ihres probabilistischen 3Prigogine
(1990, S. 241).
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Charakters alle möglichen Weltverläufe beschreiben. Um bei einer realistischen, deterministischen Beschreibung bleiben zu können, sind dann jedoch alle im Rahmen der Wahrscheinlichkeitsdichte denkbaren Optionen – etwa dass ein Teilchen im Doppelspaltexperiment durch den linken oder durch den rechten Spalt geht – als gleichzeitig realisiert zu betrachten. Entsprechend der Viele-Welten-Theorie von Everett würden wir nun in einem Multiversum leben, deren globaler Verlauf vollkommen determiniert wäre – nämlich als die Wahrscheinlichkeitsdichten sich überlagernder Universen. Beispielsweise würden sich bei der Durchführung eines Doppelspaltexperiments gleichzeitig zwei Welten entfalten – eine, in der das Teilchen durch den rechten und eine, wo das Teilchen durch den linken Spalt durchgegangen ist. Da aber nun die Wahrscheinlichkeitsdichte keine klassische Variable der Physik darstellt – und auch empirisch lassen sich keine zugleich lebendigen und toten Schrödingerkatzen beobachten oder fotografieren –, bleibt der Übergang von einer quantentheoretischen Beschreibung und unserer Welterfahrung ein Problem. Denn sobald wir mit einer Messung oder einer Beobachtung zu einer klassischen Beschreibung wechseln, kommen unweigerlich statistische Überlegungen ins Spiel. Entsprechend der Bornschen Regel gibt das Amplitudenquadrat |ψ(q)|2 die Wahrscheinlichkeit an, bei einer Messung ein Quantenobjekt am Ort q anzutreffen. Durch die Messung manifestiert sich aber nur einer von mehreren möglichen Eigenwerten der Schrödinger-Gleichung. Prigogine schreibt hierzu: »Es gibt nur einen Fall, in dem die Schrödinger-Gleichung zu einer deterministischen Vorhersage führt, und zwar dann, wenn, statt eine Überlagerung von Eigenfunktionen zu sein, sich auf eine einzige Eigenfunktion reduziert. Unter einer idealen Messung versteht man genau eine derartige Reduktion der Wellenfunktion. Sie ist daher gleichzeitig eine Präparierung des Systems, derart, daß nunmehr das Ergebnis der Messung vorhergesagt werden kann. Wir ›wissen‹ dann, daß das System durch die entsprechende Eigenfunktion beschrieben wird«.4
Die Messung führt zu einem Symmetriebruch. Einer von zuvor noch anderen möglichen Weltverläufen wird ausgewählt, wobei es nach der Kopenhagener Deutung vom Zufall abhängt, was als konkretes Ergebnis erscheint. Indem die Messung das beobachtete System gleichsam dazu ›zwingt‹, einen bestimmten Zustand zu realisieren, werden all seine anderen
4Prigogine
(1990, S. 241).
Die Zeit in der Quantentheorie 159
Zustandsmöglichkeiten hinfällig. Das System springt förmlich in einen konkreten Zustand und kann von dort aus nicht mehr zurück, da mit den neuen Anfangsbedingungen eine neue Schrödinger-Gleichung gilt. Um es hier mit Heisenberg auszudrücken: »Die Beobachtung selbst ändert die Wahrscheinlichkeitsfunktion unstetig. Sie wählt von allen möglichen Vorgängen den aus, der tatsächlich stattgefunden hat. Da sich durch die Beobachtung unsere Kenntnis des Systems unstetig geändert hat, hat sich auch ihre mathematische Darstellung unstetig geändert, und wir sprechen daher von einem ›Quantensprung‹.«5
Aus theorieästhetischen wie auch theorieimmanenten Gründen erscheint der sogenannte Kollaps der Wellenfunktion jedoch problematisch. Auf der einen Seite lassen sich mit der Schrödinger-Gleichung und mittels der von Dirac und v. Neumann ausgearbeiteten mathematischen Weiterentwicklungen der Quantentheorie zwar alle bekannten subatomaren Prozesse im Einklang mit einer Vielzahl experimenteller Daten angemessen beschreiben, ohne dass dabei auf einen Beobachtungsprozess rekurriert werden muss. Auf der anderen Seite ist die Messung mit einem Symmetriebruch verbunden, der offensichtlich als Kollaps der Wellenfunktion gedeutet werden kann. Durch eine Beobachtung scheint sich schlagartig und in irreversibler Form alles zu verändern.6 Damit befinden wir uns im Herzen der Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem Realitätsverständnis, das uns durch die Quantenphysik
5Heisenberg
(2007, S. 80). drückt das Dilemma mit seinem polemischen Stil folgendermaßen aus: »Man käme zum Beispiel in Bedrängnis, wenn man auch nur einen einzigen Wissenschaftler nennen sollte, der behaupten würde, Schrödingers Gleichung sei unvereinbar mit der Quantenmechanik. Die meisten würden vielmehr sagen, Schrödingers Gleichung sei der Inbegriff der Quantenmechanik. Trotzdem findet man mit Leichtigkeit Fachleute, die einem Schauermärchen über den Kollaps der Wellenfunktion erzählen, also über ein Verhalten, das von Schrödingers Gleichung nicht vorhergesagt wird, obwohl es für die Messung wichtig ist. Beide Sichtweisen schließen sich natürlich gegenseitig aus. Wenn Schrödingers Gleichung den Kollaps der Wellenfunktion nicht vorhersagt und man diesen Kollaps dennoch in einem Experiment vorfindet, dann muß seine Gleichung unter bestimmten Umständen falsch sein, und das heißt, sie muß generell falsch sein. Derselbe Fachmann, der einem gerade mit dem Kollaps der Wellenfunktion die Geduld geraubt hat, ist dann aber mühelos in der Lage, zu einem Vortrag über Atomuhren anzuheben, eine höchst deterministische Technologie, die im wesentlichen auf der Quantenmechanik beruht und von Schrödingers Gleichung mit ungeheurer Präzision beschrieben wird. Signifikant ist auch das Tabu, welches die Infragestellung der Kopenhagener Deutung verbietet – denn sie ist eine einmalige und höchst sonderbare Ausnahme von der üblichen Wissenschaftsethik, der zufolge alles in Frage gestellt werden kann und soll. Wer so töricht ist, das Thema zur Sprache zu bringen, wird sofort als Spinner abgestempelt. Dabei weiß jeder, der sich beruflich mit der Quantenphysik beschäftigt, daß Wellenfunktionen nicht kollabieren.« (Laughlin 2008, S. 46 f.).
6Laughlin
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ahegelegt wird und unserer alltäglichen Erfahrung. Die Quantenphysik n mit ihren Formeln und Experimenten vermittelt uns das Bild einer Zeit, die scheinbar vorwärts und rückwärts zu laufen vermag, denn die Prozesse von Quantensystemen sind aufgrund ihrer quantenmechanischen Beschreibung wie gesagt als reversibel anzusehen. Ein Teilchen kann ein Photon abgeben und wieder aufnehmen. Der Vorgang kann in beide Richtungen laufen – entsprechend sprechen die Physiker hier von unitären Transformationen. Zudem scheinen Zeit und Raum in einer quantenmechanischen Betrachtungsweise nicht die gleiche Rolle zu spielen wie in der klassischen Welt. Die Experimente zum Bell-Theorem legen nahe, Verschränkung als eine nichtlokale Koppelung zu deuten und auch in den zuvor geschilderten Experimenten zur Quantenteleportation zeigt sich, dass es nicht von Bedeutung ist, zu welchem Zeitpunkt des Prozesses bestimmt wird, ob die verwendeten Photonenpaare verschränkt werden oder nicht. Auch bei der abstrakten Modellbildung sieht es nicht anders aus: Die mathematische Modellierung im Hilbertraum, welche den Zustand von Quantensystemen formal abbilden lässt, kann abhängig von den Eigenschaften der darzustellenden Teilsystemen beliebig viele Dimensionen annehmen. Jeder Freiheitsgrad eines Teilchens entspricht einer zusätzlichen Dimension und bei Vielteilchensystemen landet man leicht bei einer kosmischen Anzahl von Dimensionen. Doch die Verrechnung bzw. die wechselseitige Bestimmung und Konditionierung von Eigenschaften verschränkter Systeme verläuft in diesem multidimensionalen Vektorraum außerhalb der klassischen Kategorien Raum und Zeit. Und doch offenbart sich uns die Zeit als gerichtet, und zwar sowohl mit Blick auf unsere phänomenale Erfahrung als auch hinsichtlich physikalisch objektivierbarer Sachverhalte. Wir erinnern uns an die Vergangenheit und nicht an die Zukunft. Die Zeigerstellung unserer Messinstrumente springt ebensowenig spontan zurück in den ursprünglichen Zustand wie eine Photoplatte, welche am Schirm des Doppelspaltexperiments angebracht wird, willkürlich in einen unbelichteten Zustand zurückkehren würde. Entsprechend den Gesetzen der Thermodynamik wäre eine solche Umkehrung des Zeitverlaufs zwar nicht prinzipiell unmöglich, jedoch in solch einem Ausmaße unwahrscheinlich, dass wir solche Fälle praktisch nicht beobachten können. Entropie und die Entstehung des Zeitpfeils Hiermit kommt die thermodynamische Zustandsgröße der Entropie eines Systems ins Spiel. Der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik besagt, dass die Entropie eines geschlossenen Systems nur zunehmen kann. Legt man einen
Die Zeit in der Quantentheorie 161
heißen Metallkörper auf einen kalten, so sind nach einer gewissen Zeit beide lauwarm. Öffnet man die Trennwand eines Gefäßes mit zwei Kammern, von denen die eine nur mit Wasser und die andere mit Tinte gefüllt ist, so wird man einige Stunden später in beiden Kammern mit gleicher Wahrscheinlichkeit Farbpigmente vorfinden können. Dass umgekehrt ein lauwarmer Körper von alleine auf der einen Seite heiß und auf der anderen Seite kalt wird oder sich eine gefärbte Flüssigkeit entmischt, kommt praktisch nicht vor. In Hinblick auf ihre zeitliche Entwicklung offenbaren all diese Prozesse eine Richtung. Der Satz von der Zunahme der Entropie geht mit einem definierten Zeitpfeil einher. Die Thermodynamik ist damit das einzige Gebiet der Physik, das beschreiben kann, warum ein qualitativer Unterschied zwischen Zukunft und Vergangenheit besteht. Auf phänomenologischer Ebene offenbart sich dies etwa im Fluss der Wärme oder in der Durchmischung von Flüssigkeiten. Die Thermodynamik erlaubt mit der statistischen Mechanik auch eine Herleitung des zweiten Hauptsatzes aus mikroskopischen Beschreibungen. Sich schnell bewegende Moleküle sind heiß, langsame dagegen kalt. Wenn sich nun im Ausgangszustand die heißen primär an einem Ort befinden und die kalten demgegenüber an einer anderen Stelle befinden, so führen im Lauf der Zeit allein die zufälligen Bewegungen mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer Verteilung, in der heiße und kalte Moleküle in etwa gleicher Zahl an einer beliebigen Stelle anzutreffen sind. Die Beibehaltung der Entmischung oder die Entstehung einer makroskopisch sichtbaren Ordnung aus einem Gemisch scheint demgegenüber bei hinreichend großen Teilchenzahlen äußerst unwahrscheinlich. Es verwundert deshalb nicht, dass der Begriff der Entropie landläufig mit der Vorstellung verbunden wurde, dass sich geordnete Zustände natürlicherweise in Richtung ungeordneter Verhältnisse hin entwickeln würden. Dies ist jedoch ein recht ungenaues Bild, zumal erst einmal zu definieren wäre, was man unter Unordnung eigentlich zu verstehen hat. Eine zunächst zufällig anmutende Folge von Buchstaben mag für den einen als Unordnung erscheinen, während jemand, der in den Korrelationen der Buchstaben die Semantik und die Syntax einer ihm bekannten Sprache erkennt, ihnen ein Gedicht oder einen anderen sinnvollen Text entnehmen kann. Was als Unordnung bzw. Ordnung erscheint, ist demnach vom Wissen und Kenntnisstand eines Beobachters abhängig. Exakter scheint es daher, Entropie als die Kenntnis um die Mikrozustände eines makroskopischen Systems aufzufassen. So wissen wir beispielsweise nicht, wie sich die jeweils einzelnen Moleküle in einem Kubikmeter lau-
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warmer Luft bewegen. Die Entropie des Systems erscheint für uns entsprechend hoch. Theoretisch wäre jetzt aber ein Beobachter denkbar (ein Maxwellscher Dämon), der über die Fähigkeit verfügt, den Verlauf jedes einzelnen Moleküls zu verfolgen. Sein Wissen über den Systemzustand wäre entsprechend hoch und er könnte, wenn er über die technischen Mittel verfügt, die schnellen (also warmen) Moleküle durch eine Türe auf die linke Seite lassen, während die kalten auf der rechten Seite bleiben müssen. Auf diese Weise könnte er etwa einen Temperaturgradienten (einen kontinuierlichen Verlauf von heißer oder kalter Luft) wie auch andere Temperaturmuster herstellen. Für solch einen Beobachter erscheint die Entropie des Systems entsprechend als sehr niedrig, da er genauestens über die mikroskopischen Verhältnisse Bescheid weiß. Damit lässt sich die Entropie jetzt aus einer informationstheoretischen Perspektive rekonstruieren. Mit Claude E. Shannon erscheint sie als ein Maß dafür, inwieweit einem Datensatz ein Informationswert abgerungen werden kann oder ob nur das Rauschen von Zufallsfolgen zu vernehmen ist.7 Homolog zum Beispiel des scheinbaren Buchstabensalats eines fremdsprachigen Textes erscheint die Entropie auch hier vom Beobachter abhängig, nämlich von seiner Fähigkeit, den Korrelationen innerhalb der Daten Sinn abzuringen, sie also von Zufallsverteilungen unterscheiden zu können. Auch für quantenmechanisch zu beschreibende Vielteilchensysteme, in denen dann beispielsweise die Energieniveaus oder Spins von Teilchen mitzuberücksichtigen sind, lässt sich die Entropie berechnen. Dabei erscheint ein präparierter Mikrozustand mit maximal verfügbarem Wissen innerhalb der Quantenstatistik als sogenannter reiner Zustand, wohingegen ein makroskopischer Zustand ohne das Wissen über die Mikrozustände mit dem sogenannten Dichteoperator als gemischter Zustand beschrieben wird. Im ersten Fall ist die Entropie des Systems niedrig, im zweiten Fall hoch. Entsprechend der Heisenbergschen Unschärferelation ist dabei jedoch zu berücksichtigen, dass Quantensysteme immer unbestimmte Elemente enthalten – selbst wenn man über ein maximal mögliches Wissen über sie verfügt. Zudem kommt noch das Problem der Verschränkung hinzu. Es lässt sich auf den ersten Blick nicht unterscheiden, ob zwei reine Systeme verschränkt sind oder ein gemischter Zustand vorliegt. Erst durch eine bestimmte Abfolge von Messungen lässt sich herausfinden, ob die Zufallsfolgen aus unterschiedlichen Einzelmessungen zueinander in einer 7Shannon
(1948).
Die Zeit in der Quantentheorie 163
Beziehung stehen, die auf eine Verschränkung hinweist. Eine Messung an einem System würde in diesem Fall den Zustand eines anderen Systems verändern bzw. mit diesem korrelieren, was ohne Verschränkung nicht der Fall wäre. Wir können also festhalten: Wenngleich die Verhältnisse etwas komplizierter gelagert sind, gilt der zweite Hauptsatz der Thermodynamik für Quantensysteme ebenso wie für physikalische Aggregate, die gut entsprechend den Gesetzen der klassischen Physik beschrieben werden können. Damit kommt in beiden Fällen der Zeitpfeil ins Spiel. Entropie und Zeit als Artefakt eines Beobachters? Kommen wir nun nochmals zurück zu der Frage der Zeit in Quantensystemen. Wie gesagt, lassen sich die hier auftretenden Prozesse auf Basis unitärer Transformationen beschreiben und sind damit prinzipiell reversibel. Die Zeit könnte also für sie auch gleichsam wieder rückwärts laufen, etwa indem eine einmal gemachte Messung bzw. das Datum, das die Messung anzeigt, wieder verschwindet. Doch auch hier lässt sich wiederum aus den Gesetzen der Thermodynamik eine Erklärung ableiten, warum dies in den uns vertrauten Messanordnungen nicht der Fall ist. Wenn sich nämlich diese Systeme fern vom Gleichgewicht befinden (also die Energiedifferenzen von Reaktionen und Prozessen noch nicht zu einem Ausgleich gefunden haben) und der Messprozess in eine Kette von Prozessen mündet, in denen ein mikroskopischer Unterschied einen makroskopischen Unterschied auslöst – etwa einen größeren Energie- oder Materiefluss –, wird die Wirkung der Messung so verstärkt, dass sie praktisch irreversibel erscheint. Die Umkehrung dieser Wirkung wäre dann so unwahrscheinlich, dass sie zwar noch theoretisch auftreten könnte, jedoch faktisch unmöglich ist. Aus diesem Grunde sind Messinstrumente, wie beispielsweise ein Photomultiplier, der einzelne Photonen detektieren kann, mit einer ganzen Kaskade von weiteren Messprozessen gekoppelt. So löst ein Photon ein Elektron aus seinem Verbund heraus, das dann seinerseits weitere Elektronen aus dem Verbund löst, um weitere Elektronen zu aktivieren, die dann einen Stromfluss auslösen, der die Anzeige eines Messgerätes aktiviert. Diesen Prozess umzukehren würde also nicht nur verlangen, die Emission des ursprünglichen Photons zurück zu nehmen, sondern ebenso müssten die in den folgenden Messkaskaden ausgelösten Elektronen zurückgenommen werden. Entsprechend der Dekohärenztheorie gibt es also keine Reduktion des Wellenpakets, sondern eine Verschränkung des Systems mit dem Messapparat und dann mit der makroskopischen Welt. Dieser Vorgang mag dann
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wie ein Kollaps in einen irreversiblen Zustand aussehen, ist aber im Prinzip weiterhin reversibel, wenngleich ein solches Zurückschnappen in den ursprünglichen Zustand – wie gesagt – äußerst unwahrscheinlich ist. Damit erscheint der Prozess in allen praktischen Fällen irreversibel. Insbesondere den Arbeiten des Nobelpreisträgers Ilya Prigogine kommt das Verdienst zu, aufgezeigt zu haben, wie erst in Systemen, die fern vom thermodynamischen Gleichgewicht bestehen, die Zeit ins Spiel kommt. Indem nämlich die künftige Evolution des Systems durch vorherige Weichenstellungen geprägt wird und hierdurch Abweichungen in einer Weise verstärkt werden, dass der Prozessverlauf irreversibel erscheint, entsteht für das System eine Ordnung, die nur dadurch zu haben ist, dass Entropie in die Umwelt zerstreut bzw. dissipiert wird.8 Die makroskopische Welt, die fern vom Gleichgewicht erscheint, entsteht damit zugleich als eine Welt instabiler dynamischer Systeme, in der zufällige Abweichungen zu Symmetriebrüchen und Verzweigungen der Systementwicklung führen, um auf diese Weise Geschichte und damit Zeit entstehen lassen. Nach Prigogine führt also erst die Instabilität von Systemen zum Pfeil der Zeit: »Zwei Aspekte der Nichtgleichgewichtszustände möchte ich hervorheben. Zunächst einmal gibt es in der Physik der Nichtgleichgewichtszustände Ereignisse. Man hat es also nicht nur mit Gesetzen zu tun, sondern auch mit Ereignissen. Als Folge der Instabilität gelangt man an bestimmte einzelne Punkte, an denen das System verschiedene Richtungen einschlagen kann. Das sind die ›Bifurkationspunkte‹. Was dort geschieht, kann nur mit Hilfe der Wahrscheinlichkeitstheorie beschrieben werden. Auf diese Weise wird im Zusammenhang mit Nichtgleichgewichtszuständen die Idee der Kontingenz eingeführt. Ein zweiter wichtiger Aspekt besteht darin, daß Nichtgleichgewichtszustände Rhythmen mit ins Spiel bringen. Rhythmen sind aus Nichtgleichgewichtszuständen resultierende Gesamteffekte. Sie durchbrechen die Symmetrie der Zeit und schaffen Kohärenz zwischen einer ungeheuren Menge an Freiheitsgraden. Daraus wird unmittelbar ersichtlich, daß lebende Systeme Nichtgleichgewichtssysteme sind, da sie ein ganzes Spektrum an Rhythmen besitzen, insofern in ihnen eine Vielzahl von unterschiedlichen Rhythmen koexistiert […]. So ist es mittlerweile unmöglich geworden, Irreversibilität als Folge approximativer Beschreibungen zu erklären. Irreversibilität führt zu einem neuen, ›aktiven‹ Zustand der Materie, der Leben ermöglicht.
8Siehe
ausführlicher Prigogine (1979, 1991).
Die Zeit in der Quantentheorie 165
Doch führt diese Erkenntnis zu einer noch dramatischeren Fragestellung: Woher kommt der Pfeil der Zeit? Dieses Problem stand in den letzten zehn Jahren im Mittelpunkt unserer Forschung. Als Ergebnis zeigte sich, daß der Pfeil der Zeit seinen Ursprung in der Instabilität dynamischer Systeme, d.h. in ›chaotischen‹ dynamischen Systemen hat.«9
Mit Blick auf die Kopräsenz unterschiedlicher Systeme ließe sich zudem sagen: Die Zeit besitzt keinen Ursprung außerhalb jeweils konkreter Systeme, die ein Entropiegefälle aufbauen und für den Strukturaufbau nutzen. Da aber Entropie aus informationstheoretischer Perspektive von dem Kenntnisstand oder Wissen eines Beobachters abhängt, lässt sich jetzt mit Carlo Rovelli eine weiter gehende These aufstellen: Üblicherweise denken Physiker, dass das Universum in der Vergangenheit in einem unwahrscheinlicheren Zustand als in der Gegenwart war. Der phänomenologische Pfeil der Zeit würde sich entsprechend auf einen globalen vergangenen Zustand niedrigerer Entropie zurückführen lassen. Rovelli schlägt demgegenüber eine andere Möglichkeit vor. Wenn der Grad an Entropie von der Grobkörnigkeit unseres Wissens über die Welt abhängt, würde dieses Wissen auch von der Koppelung von uns bzw. eines Systems mit dem Rest der Welt abhängen. Für jede zeitliche Evolution der Wellenfunktion der Schrödinger-Gleichung ψ(t ) würde es dann Aufteilungen des Gesamtsystems in Subsysteme geben können, für die der Ausgangszustand null Entropie hat – also für diese Subsysteme maximal bestimmt erscheint. Dann wäre das Wachsen und Verringern der Entropie – wobei natürlich auch die Verschränkung mitbetrachtet werden muss – davon abhängig, wie das Universum in Teilsysteme aufgeteilt wird, nicht jedoch ein Merkmal des Gesamtzustandes der Welt oder der in ihr enthaltenen Elemente. So könnten etwa für unterschiedliche Teilsysteme ein jeweils anderer Ausgangszustand als Beginn der eigenen Evolution erscheinen. Die entropischen Besonderheiten des vergangenen Zustands des Universums – also die Körnung des Wissens, also das, was als bestimmt erscheint – können und dürfen dann nicht im gesamten Kosmos gesucht werden. Sie sollten in den verdeckten und damit für uns relevanten Prozessen unserer Beobachtungen von makroskopischen Systemen erforscht werden. Zeitasymmetrie – und der damit einhergehende ›Zeitfluss‹ – wäre damit als ein Merkmal eines Subsystems anzusehen, zu dem auch wir
9Prigogine
(1997, S. 84).
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gehören. Ihr Auftauchen wäre dann streng an die Existenz von informationsverarbeitenden Einheiten gebunden. Sie würde jedoch kein Merkmal des Universums an sich darstellen.10 Zeit wäre dann im besten Sinne ein Artefakt – ein Produkt der Beobachtungsoperationen komplexer Systeme.
Gespräch mit Marcus Huber Es folgt ein Interview mit Marcus Huber, der am Wiener Institut für Quantenoptik und Quanteninformation die Arbeitsgruppe ›Quanteninformation und Thermodynamik‹ leitet. Marcus Huber forscht unter anderem zu Fragen der Zeit und Kausalität in der Quantenmechanik. Zeitreversible Schrödinger-Gleichung und phänomenologischer Zeitpfeil WV In Ihren aktuellen Arbeiten versuchen Sie die Theorie der dissipativen Systeme11 mit der Quantentheorie zu verbinden. Damit kommt unweigerlich das Thema Zeit ins Spiel. Das finde ich ausgesprochen faszinierend. MH Ja finde ich auch. WV Wie geht das eigentlich? In der Schrödinger-Gleichung kommt die Zeit doch nur als eine klassische Variable und nicht als Operator vor. Die Wellenfunktion lässt sich in ihrem Verlauf vorwärts und rückwärts verfolgen. Der Verlauf der Vergangenheit und die Entwicklung der Zukunft sind dann prinzipiell austauschbar.
10Um es mit den Worten Rovellis auszudrücken: »Therefore for any time evolution ψ(t ) there is a split of the system into subsystem such that the initial state has zero entropy. Then, growing and decreasing of (entanglement) entropy is an issue about how the universe in split into subsystems, not a feature of the overall state of things […]. Entropic peculiarities of the past state of the universe should not be searched in the cosmos at large. They should be searched in the split, and therefore the macroscopic observables, relevant for us. Time asymmetry, and therefore ›time flow‹, might be a feature of a subsystem to which we belong, features needed for information gathering creatures like us to exist, and not features of the universe at large« (Rovelli 2014, S. 5). 11Die Theorie der dissipativen Strukturen, wie sie in den 60er und 70er Jahren unter maßgeblichem Einfluss des Nobelpreisträgers Ilya Prigogine entwickelt wurde, beschreibt, wie durch rekursive Stabilisierung von zufälligen Abweichungen Muster entstehen, die sich dann zu beständigeren Ordnungen verbinden. Physische und chemische Aggregate können sich damit fern vom thermodynamischen Gleichgewicht als dynamisches und schöpferisches System offenbaren, das zur Selbstorganisation fähig ist. Aus zufälligen Fluktuationen innerhalb eines chaotischen Flusses von Energie und Materie entstehen spontan Strukturen. Diese Strukturen stabilisieren sich durch die Rückkoppelungsmechanismen Autokatalyse und wechselseitige Katalyse (vgl. Prigogine 1979; Prigogine und Nicolis 1987).
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MH Das ist vollkommen richtig und das ist auch der Ausgangspunkt, warum wir uns das überhaupt angeschaut haben. Zeit ist eine klassische Variable, keine richtige quantenmechanische Messgröße und die Schrödinger-Gleichung ist dazu auch noch invariant in Bezug auf das Umdrehen der Zeitrichtung. Also wenn ich mir den Film eines einzelnen Quantenteilchens anschauen würde, dann könnte ich nicht sagen, ob der vorwärts oder rückwärts läuft. Der würde aus beiden Richtungen genau gleich aussehen. Die Frage ist dann allerdings, warum erinnern wir uns an eine Vergangenheit und planen eine Zukunft? Was gibt uns diesen Zeitpfeil, wenn doch die fundamentalsten Gesetze der Physik, die wir kennen und alltäglich verwenden – und die so gut funktionieren – eigentlich keinen Zeitpfeil kennen? Hier kommt der zweite Hauptsatz der Thermodynamik ins Spiel. Die Zunahme der Entropie, die hat einen ganz klaren Zeitpfeil. Wenn ich mir jedoch jetzt nicht mehr ein einfaches System, ein einzelnes Quantensystem anschaue, sondern ein komplexes System, zum Beispiel eine Kaffeetasse, die ich auf den Boden werfe und die zerbricht, da bin ich mir nun relativ sicher, in welche Richtung dieser Film abläuft, weil die statistische Wahrscheinlichkeit eben eine ganz klare Richtung vorgibt. Es gibt halt einfach eine große Reihe von Prozessen, die sozusagen dieses Zerbrechen einer Kaffeetasse plausibel machen, das spontane Zusammensetzen der Tasse hingegen ist so unwahrscheinlich, dass ich einfach davon ausgehen kann, dass das nicht vorkommt. WV Aber wie kommt jetzt der Zeitpfeil in Quantensysteme? Die Schrödinger-Gleichung beschreibt doch … MH Die Schrödinger-Gleichung beschreibt eine unitäre, das heißt eine reversible Entwicklung. Wenn ich mir sozusagen die Gesamtwellenfunktion eines Universums anschauen könnte, dann würde sich da überhaupt keine Entropie ändern. Und die Frage ist jetzt, wie kommt der zweite Hauptsatz in der Quantenphysik zur Geltung? Wie kommt der zustande und hat er etwas mit dem Zeitpfeil zu tun? Das war unser Ausgangspunkt und deshalb sind wir nochmal einen Schritt zurückgegangen und haben uns gefragt, wie würde ich jetzt Zeit messen wollen, um irgendetwas über die Zeit aussagen zu können. In den Gleichungen der Quantenphysik erscheint der Parameter Zeit irgendwie esoterisch. Da er nicht gequantelt ist, kann er unendlich genau sein. Umgekehrt kann ich Zeit nicht direkt beobachten, aber der Parameter kommt nun mal in dieser Gleichung vor. WV Zeit lässt sich nicht unmittelbar wahrnehmen, sondern nur die Veränderung von Zuständen.
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Anforderungen an eine ultimative Uhr: Systeme fern vom thermodynamischen Gleichgewicht und ein Speicher MH Doch im Alltag sind wir sehr wohl damit vertraut, Zeit zu messen. Damit stand für uns am Anfang die Frage: Was ist eigentlich eine Uhr? Was brauche ich, um Zeit zu messen? Und hier kommt man unweigerlich darauf, dass eine Uhr im Prinzip auch nichts anderes ist, als eine Maschine, die Ticks produziert und diese in irgendein Register oder irgendeinen Speicher reinschreibt. Ich brauche also einerseits irgendetwas, das regelmäßig tickt, und irgendetwas, dass diese Ticks auch aufnimmt und speichert. Wenn ich jedoch jetzt ein Universum im thermodynamischen Gleichgewicht hätte, dann könnte ich so eine Uhr nicht bauen, denn im thermodynamischen Gleichgewicht würde eine jede Uhr mit gleicher Wahrscheinlichkeit vorwärts und rückwärts ticken, die würde mit gleicher Wahrscheinlichkeit einen Tick in den Speicher schreiben oder aus dem Speicher wieder zufällig herauslöschen. Damit lässt sich überhaupt keine Uhr bauen. Um eine Uhr herzustellen, brauche ich irgendein System, das sich nicht im thermodynamischen Gleichgewicht befindet. Ich benötige zumindest eine Differenz. Es können etwa zwei Equilibriumsysteme unterschiedlicher Temperatur sein. Irgendeine Art Energie- oder Entropiedifferenz zwischen zwei Systemen ist notwendig. Und dann haben wir gefragt, was passiert, wenn wir die ultimative Uhr bauen könnten, also die beste Uhr, die mit den Gesetzen der Quantenmechanik noch kompatibel wäre. Nehmen wir, an ich könnte beliebig meinen Hilbertraum gestalten,12 mit beliebigen Energiedifferenzen – alles was nicht der Quantenmechanik widerspricht, ist erlaubt. Wenn ich diese theoretisch beste Uhr bauen würde, wie viele Ticks könnte sie produzieren und was braucht sie dazu? Und dann – wir haben das dann auch in Form eines Computermodells simuliert – zeigen sich zwei relevante Faktoren. Der eine ist die Regelmäßigkeit der Ticks. Wenn wir zwei solcher Maschine bauen, dann möchten wir, dass sich diese Ticks synchronisieren lassen, das heißt, dass diese Ticks regelmäßig kommen, weil ich natürlich eine Maschine baue, die tickt sagen wir, gemessen von einer anderen Uhr aus, einmal in der Sekunde, dann eine halbe Sekunde später, dann ein Jahr später – damit kann ich keine sinnvolle Zeitmessung machen. Der zweite Faktor ist die Auflösung. Ich möchte ja eine Uhr haben, die nicht nur einmal im Jahr tickt – wenngleich mit einer außerordentlichen
12Der Hilbertraum ist ein beliebig dimensionaler Vektorraum, in dem Quantensysteme mathematisch modelliert werden können.
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WV MH
WV
MH
Genauigkeit. Ich möchte auch möglichst kleine Zeiträume auflösen können, so klein wie möglich. Wie hängen jetzt Genauigkeit und Auflösung zusammen? Gibt es da eine Grenze und welche Rolle spielt dabei die Zunahme der Entropie? Da Uhren nur fern vom Gleichgewicht funktionieren, kann ich keinen irreversiblen Tick produzieren, ohne nicht auch gleichzeitig die Entropie des Universums zu erhöhen. Unsere Untersuchungen zeigen darüber hinaus, dass die Menge an Entropie, die ich ausgebe für den Tick, eine Art Ressource darstellt, die ich jetzt entweder in Genauigkeit oder in Auflösung investieren kann. Und beides kann nicht gleichzeitig unendlich verbessert werden. Ich kann keine unendlich tiefe Auflösung mit einer endlichen Genauigkeit haben und ich kann nicht eine unendliche Genauigkeit mit einer endlichen Auflösung haben. Wie auch immer, je genauer ich die Zeit messen will, desto mehr Entropie, desto mehr auch Energie muss ich aufwenden, um diese Uhr zu betreiben, und hiermit wird dann auch der quantitative Zusammenhang zwischen der Zeitmessung und dem zweiten Hauptsatz klar. Hiermit wird auch deutlich, warum dieses Kaffeetassen-Beispiel wirklich ein gutes ist, warum ich wirklich sagen kann, die Zunahme der Entropie ist das einzige, was ich verwenden kann, um Zeit wirklich zu messen. Das ist es, was unsere Uhren eigentlich auf der fundamentalsten Ebene wirklich messen: Die Bewegung hin vom Ungleichgewicht zum Gleichgewichtszustand. Wenn ich den Gradienten, der die Uhr antreibt, jetzt mehr in Richtung des thermodynamischen Gleichgewichts verschiebe und damit nur ein langsamer Fluss möglich wird, werden die Uhren dann ungenauer, ändern sich dann die Eigenschaften der Uhr? Ja, das ist genau der Punkt. Um möglichst viele Ticks pro Referenzzeiteinheit zu erhalten, müssen auch möglichst viele Energiequanten vom Heißen ins Kalte gehen, und natürlich: je mehr Auflösung meine Uhr hat, desto mehr an Wärmefluss und ultimativ desto mehr an Entropievergrößerung wird gebraucht. Das zweite, vielleicht interessantere Resultat ist, dass je genauer die Uhr gehen soll, umso mehr Entropie muss ich pro Tick ausgeben. Das mag jetzt erst mal kontraintuitiv klingen, aber der Punkt ist, dass ich, um eine hohe Genauigkeit zu erreichen, Fluktuationen unterdrücken muss. Eine Möglichkeit, Fluktuationen zu unterdrücken, besteht darin, einfach ganz große Energieskalen zu wählen, damit die Quanten im Wärmebad ganz klare und scharfe Energiespektren haben. Dann reißt aber jeder Tick viel mehr Wärmemenge und viel mehr Entropie mit sich als wenn ich – so ganz salopp gesagt – ganz kleine Quanten habe. In dem Targetsystem, das wir auch an diesem Computermodell simuliert haben, um auch ein quantitatives Ergebnis zu bekommen, kann man das schön zeigen. Wenn ich das Energiespektrum nach oben drücke,
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dann dauert es viel länger bis diese Maschine aufgeladen ist, aber wenn sie aufgeladen ist, ist der Tick dafür sehr viel genauer. Wenn es hingegen nur ein Zweiniveausystem wäre, dann besteht ja schon noch während es sich lädt die Chance zum Ticken. Dann geschieht der Tick also ziemlich zufällig. Die Uhr ist ungenau, doch dafür verbraucht sie nicht so viel. Doch gleichzeitig will ich den Prozess schnell laden, um eine gewisse Auflösung zu bekommen. Das ist dann am Ende eine Optimierung über die beiden Faktoren. Ich kann nahezu beliebig genau sein, wenn mich die Auflösung nicht interessiert, also wenn ich sage meine Uhr soll nur alle zehn Milliarden Jahre ticken, dann kann ich eine sehr genaue Uhr bauen, und umgekehrt kann ich ohne Probleme eine Auflösung von einem Millionenstel Pikosekunden gewinnen. Doch wenn die Uhr dann nach drei Ticks bereits falsch geht, was sagt mir das dann überhaupt noch? WV Aus dieser Perspektive ist die Zeit also nichts anderes als die Qualität der Ticks. MH Genau. WV Und wenn das Universum sich dem Gleichgewichtszustand nähern würde, dann würden sich die Uhren komisch verhalten. Sie würden mal in die eine Zeitrichtung gehen, dann wieder in die andere Richtung. Es würde keine Welt mehr geben, in der zuverlässige Uhren möglich wären. MH Ja, abgesehen davon, dass in Nähe des thermischen Gleichgewichts nicht einmal die Struktur einer Uhr an sich möglich wäre, weil um eine Struktur aufzubauen schon ein Nichtgleichgewichtszustand nötig ist. Es ist schwierig zu sagen, was dann eine Uhr wäre – aber es stimmt schon, je näher ich an einem Gleichgewichtszustand bin, desto schlechter sind die Uhren und desto wahrscheinlicher ticken sie auch mal rückwärts.
Quantenthermodynamik: Wissen und Nichtwissen in Hinblick auf Verschränkung WV Sind Entropie und thermodynamisches Gleichgewicht in Quantensystemen das Gleiche wie in Systemen, die klassisch beschrieben werden können – man denke beispielsweise an die fallende Kaffeetasse oder das Abkühlen einer warmen Flüssigkeit im Kühlschrank? MH Da gibt es das spannende Feld der Quantenthermodynamik, da müsste ich jetzt ganz weit ausholen, aber im Prinzip kann man zeigen, dass die Verschränkung von Quantensystemen zu einer emergenten Entropie führt. Also wenn mehrere Quantensysteme miteinander wechselwirken, dann verschränken sie sich. Die Verschränkung von einem reinen Quantensystem äußert sich darin, dass wenn wir nicht nur einen Teil davon anschauen, mir dennoch unweigerlich Information fehlt.
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Dieses Fehlen der Information kann durch eine Art Entropie quantifiziert werden. Im Prinzip ist dieser Prozess aus quantentheoretischer Perspektive reversibel. Wenn ich jetzt allerdings noch den Weltraum dazu nehme, sieht es aus praktischer Perspektive anders aus. Um es banal zu sagen, von der Sonne kommen Photonen. Die schlagen irgendwo auf der Erde auf, verschränken sich etwa mit einem Wolkenmolekül, das sich in der Atmosphäre befindet und werden irgendwann wieder in die Tiefe des Universums abgestrahlt. Doch allein schon dass die Verschränkung von diesem Teilchen mit diesem zurückgebliebenen Molekül auf der Erde weiter vorhanden ist, heißt, dass auch unweigerlich die Entropie lokal zunimmt. Auf diese Weise gelangt man zu einer quantenmechanischen Version des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik. WV Wenn ich die Quantentheorie richtig verstanden habe, ich beziehe mich jetzt auf den berühmten Aufsatz von Schrödinger aus dem Jahr 1935, dann wird doch in jeder Interaktion von zwei Systemen ein Teil der Information der Ausgangssysteme vernichtet. Die Verschränkung vernichtet bestimmte Eigenschaften. MH Lokal gesehen ist die Information vernichtet. Die Verschränkung macht sie nicht mehr zugänglich für uns. In einem gewissen Sinne ist das jetzt eine Interpretationsfrage und da mag ich mich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen. Manche meinen, zum Zeitpunkt der Messung kollabiert die Wellenfunktion und nimmt einen bestimmten Wert an, womit dann alle anderen Möglichkeiten vernichtet werden. Oder es gibt die Auffassung, dass auch wir Menschen nur ein verschränkter Teil des gesamten unitär entwickelten Systems sind. Als ein Teil des Ganzen sind wir dann jedoch nicht in der Lage die restliche Information zu erlangen, weil wir sozusagen nur noch ein Subsystem eines viel größeren Zusammenhangs sind, den dann die Viele-Welten-Theorie beschreibt. Aber praktisch läuft das für uns auf dasselbe hinaus. Dadurch, dass wir irgendwelche Teile von verschränkten Phänomenen messen, verschränken wir uns selber damit, oder vernichten Informationen. Wie auch immer, ein Teil der Information erscheint uns im Universum nicht mehr zugänglich. Durch dieses Nicht-mehr-zugänglich-Machen sinkt die mögliche Information über das Universum, und damit steigt von unserer Perspektive aus gesehen die Entropie. Und damit ist es eigentlich völlig egal, ob da jetzt die Entropie objektiv steigt oder ob sie nur für uns steigt. In einem praktischen und operationalen Sinne steigt für uns die Entropie bei all dem, was wir jemals tun und messen können. Für alle lokal auf der Erde befindlichen Systeme – das muss jetzt kein bewusster Beobachter sein – gilt der zweite Hauptsatz.
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Beobachterabhängige Zeit WV Ist damit die Zeit gewissermaßen beobachterabhängig oder systemabhängig, wenn man unter einem Beobachter nicht unbedingt ein bewusstes Wesen verstehen möchte? MH Die Entropie ist ja ursprünglich eigentlich eine Art phänomenologische Größe gewesen, die als eine objektive Eigenschaft von Gleichgewichtszuständen beschrieben wurde. Demgegenüber wurde sie in der Informationstheorie, die den Entropiebegriff aufnahm, als ein Maß für das Nichtwissen über einen Zustand genommen. Man denke an die klassische Theorie von Shannon, die dazu diente, Nachrichten in der Kommunikation möglichst effizient zu verpacken. Wenn man jetzt die statistische Mechanik mit der Quanteninformationstheorie zu verbinden versucht, also quantenstatistische Mechanik oder Quantenthermodynamik macht, sieht man relativ schnell, dass diese beiden Entropien natürlich dasselbe sind. In einem gewissen Sinne ist Entropie immer nur eine subjektive Aussage über mein Wissen über den Zustand eines Systems. Es ist halt so, dass für ganz große Teilchenzahlen diese subjektive Entropie einen gewissen objektiveren Charakter bekommt, einfach weil es prinzipiell nicht mehr möglich ist, soviel Information über ein System zu gewinnen. Ein markantes Beispiel, um das zu illustrieren ist der Maxwellsche Dämon. Ich weiß nicht, ob Sie das Gedankenexperiment kennen? WV Der Dämon, der ein Türchen auf und zu machen kann, wenn ein Teilchen kommt oder geht. MH Genau, dieses Gedankenexperiment zeigt, dass Information einen thermodynamischen Wert hat. Nehmen wir an, ich habe zwei Wärmebäder der gleichen Temperatur und sie sind im Gleichgewichtszustand, dann würden die einfach im Mittel gleich viele Teilchen der gleichen Geschwindigkeit behalten. Wenn aber der Dämon über bestimmte Informationen verfügt, nämlich über die Bewegung der Teilchen, dann kann er ja die Türchen gezielt aufmachen und einfach nach seinen Vorlieben sortieren. Auf diese Weise könnte dann nach einiger Zeit die Wärme plötzlich vom kälteren in ein wärmeres Bad fließen. WV So wie es ja die biologischen Systeme. Ihre Zellen können ja beispielsweise entscheiden und unterscheiden, dass sie das Kalium drinnen und das Natrium draußen haben wollen, und auf diese Weise erzeugen sie einen Gradienten zwischen den Ionen. MH Genau, und das ist dann eben der Wert von Information. Aus diesem Grunde ist die Entropie vom Dämon aus gesehen sehr klein, während die Entropie für jemanden, der sagt: ›Das System ist im thermischen Gleichgewicht‹ sehr groß. Letzteres ist gleichbedeutend mit der Aussage, dass ich
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nichts weiß, außer dass da eine bestimmte Menge an Teilchen mit einer bestimmten durchschnittlichen Energie sind, aber ich weiß nicht, wie sich die einzelnen Teilchen verhalten. Es ist die mikroskopische Information, die ich über irgendein Quantensysteme habe, das einen thermodynamischen Wert hat. Doch gilt wieder andererseits, dass diese Entropie irgendwann – ab einem bestimmten Punkt der Skalierung – gleichsam objektiv wird. Ich habe jetzt beispielsweise zehn hoch fünfundzwanzig Teilchen in einer Box, in einem komplexen Quantenzustand. Der Zustandsraum, also der HilbertRaum hat dann unter der Annahme, dass wir nur Zweiniveausysteme haben, eine Dimension von Zwei hoch Zehn hoch Fünfundzwanzig. Das bedeutet, dass mehr Bits an Information zu seiner Beschreibung gebraucht werden, als es Teilchen im Universum gibt, und zwar um einiges mehr. Damit ist es eigentlich sehr, sehr unwahrscheinlich dass irgendein Beobachter irgendeine wesentliche Information über dieses Quantensystem hat, und damit bleiben uns nur noch sehr grobe Informationen über das Quantensystem übrig, etwa die mittlere Energie, die Größe, die Anzahl der Teilchen, aber nicht die mikroskopischen Zusammenhänge der Viel-Teilchen-verschränkten-Quantenzustände. Damit werden alle Beobachter, die mit diesem System in Kontakt kommen, sich im Wesentlichen darauf einigen müssen, dass da eine Art objektive Entropie in diesem System steckt. Vielteilchen-Quantenzustände nehmen aufgrund der Verschränkung derart viele Parameter ein, dass es einfach unmöglich ist, diese zu tracken, d.h. alle aufzunehmen. Gut, unser Gehirn ist ja auch ein super komplexes System und theoretisch kann es auch eine immense Zahl an Zuständen einnehmen. Aber wenn ich das System nicht selbst präpariert habe und entsprechend nicht im kleinsten Detail darüber Bescheid weiß, kann ich diese Information nicht bekommen, ohne sie zugleich zu vernichten. Zudem hat unser Gehirn auch Besseres zu tun, als seine gesamte Informationskapazität dafür zu nutzen, um beispielsweise den genauen Verschränkungszustand einer Kaffeetasse zu beschreiben. Also egal wie man es dreht und wenden wird, obwohl Entropie im Elementaren ein informationstheoretischer und subjektiver Begriff ist, sobald ich große Teilchenanzahlen anschaue bekommt er einen gewissen objektiven Charakter. WV Jetzt gibt es ja noch einen anderen Aspekt: Der Maxwellsche Dämon, der jetzt in der Lage ist, mikroskopische Zustände zu unterscheiden und selektiv die Türchen aufzumachen, der ist ja selbst bereits ein komplexes System. Als ein Information-Gathering-System – also eine Informationen-sammelnde-Einheit – verdankt er sich ja selber einem Prozess, der nur fern vom Gleichgewicht stattfinden kann.
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MH Ganz genau, das ist der springende Punkt. Bleiben wir im Bild des Maxwellschen Dämons. Wenn sich zwei Dämonen treffen, dann ist für den, der nichts über das System weiß, die Entropie vom System groß, für dem Maxwellschen Dämon ist die Entropie demgegenüber klein. Allerdings muss er, um diese Information zu sammeln, bereits schon erhebliche Arbeit aufgewendet haben. Er muss bereits solche Messungen gemacht haben und wenn man sich die Bilanz anschaut, dann hat der Dämon im besten Fall vorher genau so viel Entropie vom Universum vergrößern müssen, um die Information zu sammeln, wie er nachher dann wieder reduzieren kann, indem er die Teilchen sortiert. Also das ist das bestmögliche Szenario, dann wäre er so was wie eine Art perfekte, hundertprozentig effiziente Maschine.
Reine Zustände sind nur zum Preis von starker Entropieerhöhung an anderer Stelle zu haben WV Das könnte man doch jetzt auch aufs Labor übertragen. Wenn man beispielsweise ein Quantensystem im Labor als einen reinen Zustand präpariert, der ein maximales Wissen in Hinblick auf ein Quantensystem repräsentiert, dann müsste doch komplementär eine Menge Entropie erzeugt werden, etwa die Wärme von den Lasern und vieles andere, was da an Arbeit reingesteckt werden muss. MH Das ist genau unsere derzeitige Frage, das ist genau das Projekt, an dem wir gerade arbeiten. Wie viel Entropie muss denn aufgewendet werden, um einen reinen Quantenzustand zu präparieren? Letzteres ist ein hochgradig nicht-trivialer Prozess, da in gewissem Sinne ein reiner Quantenzustand so etwas wie ein physikalischer Grundzustand ist. Also wenn ich einen absolut reinen Quantenzustand präparieren könnte, dann könnte ich ja auch im Prinzip den Grundzustand der Temperatur des absoluten Nullpunkts präparieren. Und was wir uns zurzeit anschauen, ist eben genau diese Frage. Dabei zeigt sich jedoch, dass reine Zustände sowieso nur eine Fiktion sind, weil egal, wie sehr ich es versuche, im Labor einen richtig reinen Zustand herzustellen, dass dies nie perfekt gelingt. Das wird ihnen der Anton Zeilinger bestätigen können (leicht lachend). Also es gibt immer zumindest ε kleine Abweichungen von diesem reinen Zustand, und es ist tatsächlich so, je kleiner ich dieses ε machen muss, desto größere thermodynamische Kosten habe ich für die Präparation von diesem Zustand zu zahlen. In der Praxis liegen natürlich viele Größenordnungen über den geringstmöglichen Kosten. Auch theoretisch lässt sich zeigen, dass der Versuch, einen reinen Quantenzustand zu präparieren selbst dann nicht zu vernachlässigende Kosten hätte, wenn ich über das beste Labor der Welt und hundertprozentig
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effiziente Maschinen verfügen und so nicht auch nur ein Laserquantum an die falsche Stelle schicken würde. WV Das ja eigentlich eine faszinierende Geschichte. Um etwas wissen oder sehen zu können, braucht es extreme Ungleichgewichte und Energieflüsse. MH Ganz genau.
Keine Zeit ohne Systeme WV Die Thermodynamik lässt sich also auch hier auf Quantensysteme übertragen. MV Ich würde es andersherum sagen, ich würde sagen man kann die Quantentheorie nun mal als gegeben hernehmen. Die klassische statistische Mechanik, ihren phänomenologischen Kanon und die anderen Gesetze können wir heute eigentlich schon zu großen Teilen aus der Quantenthermodynamik herleiten und aus der auch wieder die klassische Thermodynamik. WV Und damit kommt in beiden Fällen unweigerlich Information ins Spiel. Doch Information ist praktisch immer systemrelativ zu verstehen – man denke an das Beispiel von den beiden Dämonen. Sei es ein biologischer Organismus, sei es ein computergesteuertes Messsystem oder was auch immer, für alle müssen die thermodynamischen Kosten ständig wachsender Entropie aufgewendet werden, damit es überhaupt für einen Beobachter Information gibt. Und in der Nähe des Gleichgewichtszustandes würde es dann streng genommen keine Systeme mehr geben, wenn man Information jetzt so definiert, dass an einer Stelle ein Unterschied, an einer anderen Stelle einen Unterschied macht. MH Genau. Dann macht das Konzept eines Informationen-sammelndenSystems keinen Sinn mehr. Es gibt keine Maschinen und damit auch keine Zeit mehr. WV Und dann gäbe es keine reinen Zustände mehr, die irgendwo einen Unterschied machen könnten. Es gibt dann kein Klick mehr. Und in diesem Sinne könnte man sagen, dass Ihre Uhr im Prinzip ein Elementarsystem darstellt, in dem etwas einen Unterschied macht. MH Ganz genau, das ist der Punkt. Deshalb wollen wir diese elementarste und kleinste Quantenuhr modellieren, einfach um zu schauen, was ist das minimalste bzw. elementarste Objektsystem, das einen Nichtgleichgewichtszustand verwenden kann, um Ticks in einen Speicher reinzuschreiben. Die Ticks machen den Unterschied, weil sie sehr viel wahrscheinlicher vorwärts als rückwärts laufen. WV Zum Abschluss noch ein anderes Thema. In der Physik wissen wir mittlerweile sehr viel. Aber auf einer grundlagentheoretischen Ebene ist doch bislang noch nicht verstanden, wie im Einzelnen die Entropie, die Relativitätstheorie und die Quantentheorie zusammen hängen.
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MH Ja, wir wissen schon sehr viel. Seit den Fünfzigern gibt es die statistische Quantenmechanik, welche die klassische Thermodynamik aus quantenmechanischen Überlegungen herleitet. Das funktioniert in der Forschungspraxis gut und ist relativ gut verstanden. Das Feld, indem ich gerade sehr stark beschäftigt bin, beleuchtet die Frage, was ich brauche, um Maschinen aus einzelnen Quantensystemen zu bauen. Welche Rolle spielt dabei die Verschränkung im Zusammenhang mit Information? Da würde ich sagen, da sind noch einige Dinge nicht vollständig verstanden. Doch darüber hinausgehend, fehlt uns einfach eine vereinheitlichte Theorie, also uns fehlt eine Theorie der Quantengravitation und solange wir die nicht haben, können wir darauf auch keine konsistente Thermodynamik aufbauen. Ich würde sagen, so eine fundamentale Theorie hat ja wissenschaftstheoretisch immer den Anspruch, ein Programm zu liefern, das vergangene Beobachtungen beschreibt und zukünftige vorhersagt. Ich möchte eine möglichst kurze Beschreibung von diesem Programm, und dieses Programm nenne ich dann halt Modell, und wenn es sehr umfassend ist, dann ab einem bestimmten Zeitpunkt Theorie. Doch die meisten Theorien, die wir bislang gefunden haben oder die wir verwenden, haben immer so eine Art Dichotomie. Sie unterscheiden zwischen Observablen und Zuständen. Um es am Beispiel der Bewegungslehre zu illustrieren: Wir haben Dinge, die wir beobachten, und wir gehen davon aus dass die Dinge, die wir beobachten, vom Zustand des System, das wir beobachten abhängen, und damit haben wir also immer Zustände und Observablen. Diese Theoriestruktur haben wir in der klassischen Mechanik, in der Quantenmechanik und in der Quantenfeldtheorie. Das ist immer gleich. Es gibt dabei immer eine Größe, die erhalten wird, und die ist immer für die Zeittranslation verantwortlich. Dies wird in der klassischen Mechanik durch die Hamilton-Funktion beschrieben und in der Quantenmechanik durch den HamiltonOperator, in der Quantenfeldtheorie haben wir die Lagrange-Dichte, über die sich diese Transformation beschreiben lässt. Aber es zeigt sich das gleiche Grundprinzip. Die Zeit ist definiert und eben hierüber wird eine Dynamik induziert, durch die diese Observable erhalten wird. Bis jetzt hatten all unsere Theorien immer diese Struktur: Zustand, Observable, eine erhaltene Observable, und die induziert die Dynamik. Die grundlegende Frage ist jetzt, ob die vereinheitlichte Theorie, welche wir Physiker suchen, überhaupt diese selbe ontologische Struktur hat, also weiterhin dieser Aufteilung in diese Größen folgt. Aber entschuldige, ich komme jetzt in den Bereich der Spekulation. WV Und die Zeit ist dabei einfach das große Geheimnis. MH Ja, das würde ich schon sagen.
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WV In den ganzen Theorien, etwa im Hamilton-Operator und der HamiltonFunktion, kommt immer so etwas wie die Zeit vor, aber keiner sieht ja Zeit (leicht lachend). MB Ja, das ist ganz genau der Punkt. Vielleicht gibt es irgendwann eine zeitlose Theorie, doch wie gesagt, hier bin ich einfach nur noch Fragender. WV Auch Erwin Schrödinger hat in seinem Papier von 1935 bereits vermutet, dass in der Frage der Zeit das eigentliche Geheimnis liegt, um die konzeptionellen Dilemmata der Quantentheorie zu lösen. Möglicherweise – so Schrödinger – hänge das Grundproblem damit zusammen, die Abfolge der Zeit als kontinuierliche Abfolge von Zeitpunkten aufzufassen. Möglicherweise sei die Zeit selbst unscharf zu fassen, was jedoch durch die gegenwärtige Formulierung der Quantentheorie nicht geleistet werden könne. MH Das wäre auch meine Intuition, aber ich kann jetzt keine zwingenden Beweise vorlegen, um sie hinreichend zu unterlegen (leicht lachend). Das ist halt generell eine philosophische Frage, die mich schon lange beschäftigt. Irgendwie alles, was wir über Physik sagen können, drücken wir in Worten in Sprachen aus, speichern es auf dem Computer, und alles, was wir sagen und speichern, hat einen endlichen Informationsgehalt, und damit auch eine endliche Anzahl an Bits um es zu beschreiben. Wir sprechen über diese kontinuierlichen Parameter, aber alles was wir tun, ist eine endliche Information darüber zu generieren. Das heißt, selbst wenn die Zeit kontinuierlich wäre und jeden möglichen Wert aus dem Bereich der reellen Zahlen durchgelaufen würde, wir könnten es nicht messen. Wir könnten nichts Relevantes darüber sagen. Diese Unendlichkeiten und diese Kontinuitäten, selbst wenn sie existieren würden, sind sie uns nicht zugänglich. Also vielleicht liegt da ein Teil des Geheimnisses, also das ist, wie gesagt, eine Intuition, kein strenges Statement. WV Und das sind spekulative Fragen, die vielleicht später einmal für die Physiker in eine empirische Metaphysik übersetzt werden können. Aber heute können Sie immerhin zu uns sagen, ok, es gibt Eigenzeiten von Systemen, die sich fern vom Gleichgewicht befinden. MH Genau, dies kann ich auf alle Fälle sagen. WV Und wenn es jetzt keine Systeme gäbe, könnte man philosophisch sagen, gäbe es auch keine Zeit? MH Ja, natürlich.
Die Verschränkung in der Quantentheorie
»Rationalität bemißt sich nach diesem Begriff genau an der Erfahrung, in der sie sich enthüllt. Daß es sie gibt, besagt, daß Perspektiven sich kreuzen, Wahrnehmungen sich bestätigen und ein Sinn erscheint.« Maurice Merleau-Ponty1
Korrelationen werden beobachtet – nicht mehr und nicht weniger Die sogenannte Verschränkung ist einer der merkwürdigsten Befunde der Quantentheorie. Sie besagt, dass in zwei Quantensysteme, die irgendwann miteinander wechselwirkten, die »Teilchen so eng miteinander zusammenhängen« können, »dass die Messung an einem den Zustand des anderen sofort beeinflusst.« Dies wurde von »Einstein als spukhaft« bezeichnet.2 Quantensysteme scheinen also unabhängig von Ort und Zeit weiterhin in einer Beziehung zueinander stehen zu können, sodass ihr Verhalten im Falle einer Messung für den Beobachter jeweils aufeinander abgestimmt erscheint. Die Schrödinger-Gleichung beschreibt die Zustände von Quantensystemen als eine Überlagerung von Möglichkeiten, die in unterschiedlichem Ausmaß wahrscheinlich sind. Wann etwa ein einzelnes radioaktives
1Merleau-Ponty 2Zeilinger
(1974, S. 22) (2007).
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Vogd, Quantenphysik und Soziologie im Dialog, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61857-8_6
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Atom zerfällt, erscheint für uns zufällig. Entsprechend des quantenmechanischen Formalismus kann ein Atom vor der Messung zu 70 % zerfallen und sich zugleich zu 30 % im ursprünglichen Zustand befinden. Zudem ist, falls ein Zerfall beobachtet wird, nicht bestimmt, in welche Richtung die Zerfallsprodukte fliegen. Um es mit einem Bild aus der klassischen Physik zu verdeutlichen: Es wäre so, als wenn zwei Billardkugeln nach einem Stoß, dessen Zeitpunkt ungewiss ist, zugleich in alle Richtungen fliegen und erst wenn man sie anschauen würde, an einen bestimmten Ort erscheinen würden, wobei aufgrund der Verschränkung die zweite Kugel den geometrisch komplementären Ort annehmen würde, sobald die erste Kugel beobachtet wurde. Zufall und Korrelation – eine Frage der Betrachtung? Zufall und Korrelation bilden in der Quantenmechanik damit eine eigentümliche Beziehung. Wenn man zwei verschränkte Quanten-Würfel hätte, würde sich jeder einzelne so verhalten, wie ein normaler Würfel es tun würde: Er würde eine Zahl zwischen eins und sechs liefern, wobei nicht vorherbestimmt ist, welches Ergebnis sich zeigt. Werden aber die Ergebnisse beider betrachtet, würde sich herausstellen, dass der zweite Würfel immer diejenige Zahl anzeigen würde, die bereits beim ersten Würfel festgestellt worden ist. Bei den uns vertrauten ›klassischen‹ Würfeln sind die einzelnen Ergebnisse nicht miteinander gekoppelt, sondern ergeben sich unabhängig voneinander zufällig. Das Verblüffende an Quantenobjekten ist darüber hinaus, dass Zeit und Raum in Hinblick auf die Frage der Verschränkung (sind sie miteinander verschränkt oder nicht?) keine Rolle zu spielen scheinen. Theoretisch könnten verschränkte Teilchen Lichtjahre voneinander entfernt sein und würden sich doch so verhalten, als stünden sie in einer unmittelbaren Wechselwirkung – Einstein konnte die Quantentheorie gerade deshalb nicht akzeptieren, weil er die Vorstellung von solchen nicht-lokalen Beziehungen, die sich noch dazu in Überlichtgeschwindigkeit abzuspielen schienen, für absurd hielt.3 Er hielt die Quantenphysik deshalb für unvollständig und vermutete, dass sich später andere, bessere Erklärungen offenbaren würden. Aus Perspektive der klassischen Physik sind insbesondere zwei Lösungswege denkbar: 1. Zwischen den beiden Quantenobjekten wird Information ausgetauscht. Wenn der eine Würfel beispielsweise eine Eins zeigt, wird dem anderen 3Einstein
et al. (1935).
Die Verschränkung in der Quantentheorie 181
auf irgendeine Weise mitgeteilt, welche Zahl er jetzt anzuzeigen habe. Da aber jede Informationsübertragung Zeit braucht – die Lichtgeschwindigkeit bildet hier die natürliche Grenze – kann dies bei weit voneinander entfernten Objekten nicht unmittelbar geschehen. Es sollte entsprechend eine kleine zeitliche Verzögerung zu beobachten sein, was jedoch in allen bislang durchgeführten Experimenten nicht der Fall ist. 2. Die zweite Erklärung geht von verborgenen Variablen aus, die dem wissenschaftlichen Beobachter aus technischen oder anderen Gründen nicht bekannt sind. Damit wäre deterministisch vorprogrammiert, welche Ergebnisse sich bei der Messung zeigen. Es wäre dann kein Zufall, was bei den beiden getrennten Messungen als Ergebnis erscheint. Genauer gesagt würden sich Quantenobjekte dann wie eineiige Zwillinge verhalten, von denen man die Augenfarbe nicht kennt, aber weiß, dass sie die gleiche Farbe haben müssen, da ihr genetischer Code der gleiche ist. Die Quantenkorrelation bei der Verschränkung wäre entsprechend keine Fernwirkung, sondern würde das Ergebnis einer Festlegung darstellen, die schon vor langer Zeit getroffen worden ist. Es ist das Verdienst von John S. Bell, dass wir heute in der Lage sind, empirisch zu überprüfen, ob eine klassische Erklärung im soeben benannten Sinne möglich ist oder ob mit der Quantentheorie eine nichtklassische Physik in Kauf zu nehmen ist. Das Bell-Theorem besagt, dass keine physikalische Theorie lokaler versteckter Variablen mit den Vorhersagen der Quantenmechanik im Einklang steht und dass sich dies bei der Messung von verschränkten Teilchen in den Statistiken der beobachteten Korrelationen zeigen würde. Falls sich in den entsprechenden Experimenten zeige, dass die Bellschen Ungleichungen dauerhaft verletzt werden, müsste also das klassische Konzept des lokalen Realismus aufgegeben werden. Damit würde also entweder unsere Vorstellung von Raum und Zeit nicht stimmen – was räumlich oder zeitlich getrennt erscheint, wäre dann nicht wirklich räumlich oder zeitlich getrennt – oder unsere gewohnte Vorstellung von einer beobachtungsunabhängig feststehenden Wirklichkeit stimmt nicht; im Sinne des oben benannten Bildes müsste man dann davon ausgehen, dass (Quanten-)Würfel erst dann eine konkrete Zahl annehmen, wenn sie angeschaut werden oder in eine sonstige Interaktion mit einem anderen System treten. Aus Perspektive des sprichwörtlichen ›gesunden Menschenverstandes‹ klingt dies ziemlich verrückt, aber eines von beiden oder beides muss der Fall sein, wenn der quantentheoretische Formalismus richtig ist.
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Da die Bellschen Ungleichungen jedoch statistische Beziehungen angeben, bleibt für jemanden, der weiterhin die Grundannahmen der klassischen Physik (den Realismus und das Prinzip lokaler Kausalität) nicht aufgeben möchte, noch ein Schlupfloch übrig: Da die Überprüfung nur auf statistischer Basis möglich ist und allein schon aus forschungspraktischen Gründen nicht unendlich viele Messungen möglich sind, bleibt immer noch eine, wenn auch noch so geringe Restwahrscheinlichkeit übrig, dass der lokale Realismus doch seine Gültigkeit habe. Daniel Greenberger, Michael Horne und Anton Zeilinger haben allerdings Ende der 1980er Jahre ein experimentelles Design vorgeschlagen, bei dem bereits vier Messungen ausreichen, um die Gültigkeit der Quantentheorie zu belegen.4 Der konzeptionelle Ausgangspunkt bestand darin, nicht zwei, sondern drei oder mehr Teilchen miteinander zu verschränken. Dabei treten Konstellationen mit perfekten Korrelationen auf, von denen mit hundertprozentiger Sicherheit gesagt werden kann, dass sie mit den Annahmen der klassischen Physik nicht im Einklang stehen. Dieser nach den Initialen ihrer Entdecker benannte GHZ-Zustand konnte später im Experiment bestätigt werden.5 Hierbei offenbarte sich zudem einer weiterer, auch aus philosophischer Sicht hochinteressanter Befund: Verschränkungen entstehen nicht nur dadurch, dass zwei Teilchen einer gemeinsamen Quelle entstammen, auf eine andere Weise unmittelbar miteinander interagiert haben oder aufgrund eines physikalischen Erhaltungssatzes miteinander verbunden sind. Vielmehr reicht es aus, dass von zwei verschränkten Teilchenpaaren – nennen wir sie A und B, bzw. C und D – das eine mit dem anderen unter gewissen experimentellen Bedingungen interagiert, um dann auch die jeweils anderen beiden miteinander zu verschränken. Werden also A und C verschränkt, so sind auch B und D verschränkt, wenngleich sich diese beiden Teilchen niemals unmittelbar begegnet sind.6 Auf diese Weise lässt sich also die Verschränkung von einem Ort auf einen anderen übertragen – die Physiker sprechen hier von entanglement swapping. Wenn beispielsweise Alice ein Teilchen hat, das mit einem Teilchen von Bob verschränkt ist und er dieses Teilchen an Carol überträgt, dann sind auch Alices oder Carols Teilchen verschränkt. Dies ermöglicht die Quantenteleportation der Eigenschaften
4Greenberger
et al. (1989, 1990). et al. (1999). 6Zeilinger (2017, S. 11). 5Bouwmeester
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»eines Systems auf ein anderes, beliebig weit entferntes, mit Hilfe der Verschränkung«.7 Verschränkung bedeutet, um es nochmals anders zu formulieren, dass ein Teilchen durch die Interaktion mit einem anderen Teilchen einen Teil seiner Eigenschaften bzw. einen Teil seiner Individualität verliert, während jetzt allerdings bestimmt ist, dass es mit einem anderen Teilchen verschränkt ist. Es ist also die Beziehung der beiden Teilchen bestimmt, jedoch nicht mehr die individuellen Eigenschaften der einzelnen Teilchen, welche sich in besagter Beziehung zueinander befinden. Diese offenbaren sich für beide erst, wenn sie durch eine Messinteraktion bestimmt werden, wodurch jedoch zugleich die ursprüngliche Verschränkung aufgehoben wird. Die Kenntnis von einem Gesamtsystem schließt nicht »notwendig maximale Kenntnis aller seiner Teile ein« Erwin Schrödinger erkannte bereits 1935, dass die Verschränkung das charakteristische Merkmal der Quantenmechanik darstellt, da sie die völlige Abkehr von den klassischen Denkweisen erzwingt.8 Die Verschränkung besagt in allgemeiner Form, dass sich der Gesamtzustand eines zusammengesetzten Systems nicht durch die Zustände seiner Teilsysteme bestimmen lässt. Das Ganze ist nicht die Summe seiner Teile. Man könnte hier gleichsam von ›epistemischer Emergenz‹ sprechen, um das wechselseitig konstitutive Verhältnis von dem, was ist und dem, was gewusst werden kann, auszudrücken. Das, was ich vom Ganzen wissen kann, ist nicht identisch mit der Summe dessen, was ich von dessen Bestandteilen wissen kann. Der Grund dafür ist, dass die Quantentheorie von einem begrenzten maximalen Wissen hinsichtlich der Variablen eines Systems ausgehen muss. Hiermit gilt für die Kombination bzw. Interaktion zweier Systeme, dass nicht hinreichend Variablen zur Verfügung stehen, um zugleich sowohl die Einzelsysteme als auch die Beziehung zwischen den Systemen bestimmen zu können. Schrödinger schreibt: »Eine Messung an dem einen [Teilsystem] kann unmöglich einen Anhaltspunkt dafür geben, was von dem anderen zu erwarten steht. Besteht eine ›Verschränkung der Voraussagen‹, so kann sie offenbar nur darauf zurückgehen,
7Zeilinger
(2007, S. 342). Für die exakte Quantenteleportation eines beliebigen Quantenzustands bedarf es jedoch zweier Übertragungskanäle: einem Quantenkanal in dem das entanglement swapping stattfindet, und ein klassischer Kanal, mit dem dann übermittelt wird, welcher der Bell-Zustände denn gemessen wurde, um so die Messungen synchronisieren zu können (Zeilinger 2007, S. 281 ff.). 8Schrödinger (1935a, S. 555).
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daß die zwei Körper früher einmal im eigentlichen Sinne ein System gebildet, das heißt in Wechselwirkung gestanden, und Spuren aneinander hinterlassen haben. Wenn zwei getrennte Körper, die einzeln maximal bekannt sind, in eine Situation kommen, in der sie aufeinander einwirken, und sich wieder trennen, dann kommt regelmäßig das zustande, was ich eben Verschränkung unseres Wissens um die beiden Körper nannte. Der gemeinsame Erwartungskatalog besteht anfangs aus einer logischen Summe der Einzelkataloge; während des Vorgangs entwickelt er sich zwangsläufig nach bekanntem Gesetz (von Messung ist ja gar nicht die Rede). Das Wissen bleibt maximal, aber es hat sich zum Schluß, wenn die Körper sich wieder getrennt haben, nicht wieder aufgespalten in eine logische Summe von Wissen um die Einzelkörper. Was davon noch erhalten ist, kann, eventuell sehr stark, untermaximal, geworden sein. – Man beachte den großen Unterschied gegenüber der klassischen Modelltheorie, wo natürlich bei bekannten Anfangszuständen und bekannter Einwirkung die Endzustände einzeln genau bekannt wären.«9
Hiermit begegnen wir der merkwürdigen Konsequenz, dass die »Kenntnis von einem Gesamtsystem« nicht »notwendig maximale Kenntnis aller seiner Teile« einschließt, denn es »kann nämlich sein, daß ein Teil dessen, was man weiß, sich auf Beziehungen oder Bedingtheiten zwischen den zwei Teilsystemen bezieht«.10 Die Quantentheorie postuliert, dass die Zahl der bestimmbaren Variablen begrenzt ist (dass etwa nur der Ort oder nur der Impuls eines Teilchens bestimmt werden kann), – und damit beschränkte Möglichkeiten des Wissens. Systeme sind über ihre Zwischenbeziehungen miteinander verschränkt, wobei jedoch aufgrund der begrenzten Freiheitsgrade die Anzahl dieser Beziehungen wiederum beschränkt sind. Entweder sind die Teile definiert – und damit fehlt das Wissen über die Beziehungen der Teile zueinander – oder es ist das Gesamtsystem definiert und damit die Beziehung der Teile zueinander (etwa indem sie nun als miteinander verschränkt betrachtet werden können), wobei dann allerdings die Teile jeweils undefiniert bleiben müssen. Um es philosophisch auszudrücken: Die Kontingenz bzw. Unbestimmtheit in Hinblick auf den Zustand der Systeme ist die Bedingung der Möglichkeit, dass überhaupt Systeme in Form separierbarer Einheiten identifiziert werden können. Denn wenn ja auch alle Teile durch die Beziehungen des übergreifenden Supersystems bestimmt wären, hätte es
9Schrödinger
(1935b, S. 827). (1935b, S. 827).
10Schrödinger
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ja keinen Sinn mehr, von unabhängigen Systemen zu sprechen, die miteinander interagieren könnten. Systeme (im Plural) flaggen erst dann als distinkte Einheiten aus, wenn sie ein eigenes Binnen- und Umweltverhältnis in Bezug auf das haben, was von ihnen gewusst werden kann und was für sie unbestimmt erscheint. Ihre Existenz beruht auf selektiver Unbestimmtheit – oder um Spencer Brown zu zitieren: »Existence is a selective blindness«.11 Ohne Blindheit, bzw. Nichtwissen, kein System! Unterschiedliche Konstellationen von Blindheit und Nichtwissen müssen damit aber jeweils als ein anderes System erscheinen und zudem sind diese beiden Systeme nicht aufeinander zurückführbar – wenngleich sie voneinander abhängen bzw. miteinander in Interaktion treten können. Für Zeilinger war Schrödinger in Hinblick auf sein Verständnis der Verschränkung seiner Zeit weit voraus. Er habe bereits in den 1930 Jahren eine »hochmoderne Position« vertreten, die direkt zu den heutigen »Anwendungen der Quantenmechanik führe«: »Schrödinger […] bemerkt, dass wir bei der Verschränkung zweier Systeme nur einen gemeinsamen Erwartungskatalog haben, aber nie Erwartungskataloge für die einzelnen Systeme. Heute würde man sagen, dass, wenn sich ein maximal verschränktes System in einem reinen Zustand befindet, sich die einzelnen Partikel in Mischzuständen befinden. Für Schrödinger sind der Quantenzustand oder die Wellenfunktion nur Repräsentationen von Erwartungskatalogen zukünftiger experimenteller Ergebnisse. In der modernen Sprache kann man sagen, dass ein verschränkter Zustand gut definierte Informationen über gemeinsame Messergebnisse an den verschränkten Systemen ausdrückt, aber die Informationen für die einzelnen Systeme sind völlig undefiniert. Diese Definition führt direkt zu modernen Anwendungen der Quantentheorie, [wie etwa den] Quantencomputern.«12
Wir erinnern uns: Verschränkung heißt, dass die Beziehung zweier Teilchen (etwa Photonen) bestimmt ist, nicht jedoch, welche Eigenschaft man bei der Messung eines der Teilchen erhält (etwa ob das Photon horizontal polarisiert ist oder nicht). Die Messung eines einzelnen Teilchens ergibt Zufallsergebnisse. Die Verschränkung zeigt jedoch an, dass man bei der Messung des einen Teilchens die komplementäre Eigenschaft des anderen Teilchens erwarten kann, wenn auf ähnliche Weise gemessen wird. Die 11Spencer
Brown (1997, S. 192). (2017, S. 19), Übersetzung durch den Autor.
12Zeilinger
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Korrelation der Ergebnisse ist dann keineswegs zufällig. Aus diesem Grunde kann umgekehrt Verschränkung dadurch nachgewiesen werden, dass sich im Vergleich zu Messungen an nicht verschränkten Teilchen, die – einzeln gemessen, zufällig nur die eine oder andere Eigenschaft zeigen, jetzt ein paralleles, aufeinander abgestimmtes Muster offenbart. Erzeugt man durch einen entsprechend elaborierten Versuchsaufbau einen verschränkten Zustand (etwa von zwei Photonen), dann hat man damit bestmögliches Wissen über dieses System. Man weiß, dass die Eigenschaften beider korreliert sind – also durch eine bekannte übergreifende Beziehung bestimmt sind (die Verschränkung). Aus diesem Grunde bezeichnen die Physiker die Verschränkung eines solchermaßen präparierten Systems als reinen Zustand. Da jedoch im Falle einer Messung nicht bekannt ist, in welchem Eigenzustand sich das messende Aggregat befindet, kann es nur als gemischter Zustand beschrieben werden – als ein statistisches Ensemble verschiedener Möglichkeiten. Insofern wir jetzt also die Messinteraktion zwischen dem Messsystem und dem präparierten verschränkten Photon als eine neue Verschränkung auffassen, die sich aus Perspektive des Versuchsleiters dadurch auszeichnet, dass sich ein reiner Zustand (ein Teilchen eines verschränkten Photonenpaars) mit einem gemischten Zustand verbindet (dem Messaggregat), dann ist auch klar, dass Zufallsergebnisse in Hinblick auf das Messergebnis zu erwarten sind – denn der Quantenzustand ist ja nur von einer Seite her bekannt, während ein anderer Aspekt unbestimmt geblieben ist. Sich die Verschränkung auf diese Weise zunutze machend lassen sich Quantencomputer bauen, die darauf beruhen, reine Zustände von sogenannten Qubits zu präpapieren und miteinander zu koppeln. Solange der reine Zustand aufrechterhalten werden kann, sind die Beziehungen der Qubits bestimmt, nicht jedoch deren Werte. Während ein klassisches Bit den Wert 0 oder 1 trägt, ist beim Qubit unbestimmt, welchen Wert es im Falle einer Messung annimmt, während jedoch durch die Verschränkung bestimmt ist, dass das Ausflaggen eines Wertes mit der Bestimmung eines anderen Werts korreliert ist. Ein Set von gekoppelten Qubits kann damit prinzipiell alle möglichen Werte annehmen, um auf diese Weise eine unvorstellbar große Anzahl von Lösungen gleichzeitig repräsentieren zu können. Auf diese Weise lassen sich mit entsprechend konfigurierten Quantencomputern in wenigen Sekunden Aufgaben berechnen, für die klassische Computer zehntausende Jahre benötigen würden.13 13Siehe
zur zu den Fortschritten im Bereich der Quantencomputer beispielsweise Oliver (2019).
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Verschränkung und Quanteninformation – also das Rechnen mit Einheiten, die miteinander verbunden sind und zugleich aus einem bestimmten und einem unbestimmten Teil bestehen – sind damit gleichsam als zwei Seiten einer Medaille anzusehen. Korrelationen zwischen Zufallsfolgen werden im Experiment beobachtet und als Information nutzbar gemacht -– nicht mehr und nicht weniger.
Gespräch mit Rupert Ursin Es folgt ein Gespräch mit Rupert Ursin, der maßgeblich an der experimentellen Realisation des Experiments zur Quantenteleportation auf Basis der Mehrteilchenverschränkung beteiligt war. Rupert Ursin leitet die Arbeitsgruppe »Experimental Quantum Optics and Quantum Information Processing« am Wiener Institut für Quantenoptik und Quanteninformation (IQOQI) an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Entanglement Swapping: Realisation eines anspruchsvollen Experiments WV Ich versuche mal die Grundkonzeption des Experiments zum Entanglement Swapping zu rekapitulieren, das dann auch für die Quantenteleportation genutzt wurde. Man hat jetzt vier unterschiedliche Photonen, A und B sowie C und D sind jeweils verschränkt, weil sie aus der gleichen Quelle kommen. Wenn dann später auch B und C miteinander verschränkt werden, sind auch A und D miteinander verschränkt. RU Dann hat man eine Mehrteilchenverschränkung, das ist nichts anderes als ein GHZ-Zustand. Greenberger, Horne und Zeilinger waren die ersten, die diesen speziellen Zustand entdeckt haben, deswegen auch das Kürzel. Weil er zum ersten Mal die Bellschen Korrelationen in drei Photonen – und damit ihre Verschränkung aufweist – deshalb ist der Zustand berühmt geworden. WV Also dann hat man in diesem Fall die Verschränkung von A B C D. RU A B C D ist schwierig nachzuweisen, aber das sind jetzt technische Details, in Wahrheit ist es ein mehrteilchenverschränkter Zustand. Es ist ja auch ein Vier-Photon-Experiment. WV Und man kann jetzt im Versuch entscheiden, ob man die beiden Paare miteinander verschränkt, indem man B und C in einen gemeinsamen Pfad zusammenbringt? RU Das nennt man eine gemeinsame Messung, joint measurement. Und jetzt wird es ein wenig tricky. Die beiden Photonen in der Mitte haben nach
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der Joint Measurement keine individuelle Eigenschaft mehr, nur noch eine relative. WV Sie sind also solange unbestimmt, wie sie noch nicht gemessen wurden. RU Es ist in der Verschränkung immer so. WV Wenn ich das eine, beispielsweise seine Polarisation, von einem bestimmten Winkel aus messe, dann verhält sich das andere komplementär? RU Entweder komplementär oder gleich, je nachdem, welcher Quantenzustand das ist. Ich kann jetzt verschiedene Quantenzustände präparieren. Das kann man herstellen, deterministisch. Ich kann nichts über den Ausgang der Messung sagen, aber jede Aussage über die Verschränkung der beiden Photonen ist eine relative Aussage, was die Relation dieser beiden Photonen betrifft, das kann man durch das Experiment bestimmen. WV Wenn ich es jetzt richtig verstanden habe, hat die Mehrteilchenverschränkung gegenüber dem Zwei-Photonen-Zustand die Besonderheit einer sehr starken, fast hundertprozentigen Korrelation, während im klassischen Bell-Experiment die statistischen Abweichungen eher kleiner sind. RU Das ist ein technisches Detail, das ist keine fundamentale Eigenschaft. Ja, die Korrelationen sind stärker. Wenn ich als Physiker irgendetwas messe, dann kann das auch eine statistische Fluktuation sein, die von meinem Detektor oder von meinem Laser oder sonst wo her kommt. Ich muss mir also sicher sein, dass das, was ich messe, tatsächlich der Physikeffekt ist, den ich überprüfen möchte, und das ist tatsächlich bei drei oder vier Photonen viel, viel einfacher zu überprüfen als bei zwei Photonen. Doch dieses Experiment technisch herzustellen kostet zehn oder hundert Mal so viel. Es ist sehr viel aufwendiger, weil diese Joint-Measurement, die man bei einem normalen Bell-Experiment ja nicht machen muss, ein sehr aufwendiges Unterfangen ist. WV Was macht das so aufwendig? RU Die Ununterscheidbarkeit! Man kann verschränkte Photonen unter anderem auf zwei Arten herstellen. Eine ist über diese Kristalle. Also wir leuchten mit einem starken Laser in den Kristall und der zerfällt in zwei Photonen und diese zwei Photonen sind dann unter gewissen Umständen verschränkt. Das ist auch nicht einfach zu machen, aber das sind technische Details. Jetzt kann ich aber zwei unabhängige Photonen miteinander verschränken, Photonen, die schon existieren. Denen muss ich jetzt alle Eigenschaften geben, die ein verschränkter Zustand hat. Nämlich keines der Photonen hat einen individuellen Zustand und die gemeinsamen Photonen haben nur einen relativen Zustand. Also man kann alles über das Gesamtsystem wissen, ohne über eines der Subsysteme eine Aussage zu treffen – so hat das Erwin Schrödinger ausgedrückt – das ist eigentlich das philosophisch Interessante daran. Und genau das passiert
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in einer Joint-Measurement. Die beiden Photonen haben nach dieser Messung eine relative Eigenschaft, aber keine individuelle mehr. Man kann sie aktiv verschränken. WV Um das aktiv zu machen, muss man praktisch einen Versuchsaufbau haben, wenn ich das richtig verstanden habe, in dem sich die zwei Photonen begegnen und nach der Begegnung ununterscheidbar sind. RU Die müssen schon vorher ununterscheidbar sein. Man bringt diese beiden Photonen zur Interferenz, wie man sagt. Interferenz findet in der Quantenphysik immer dann statt, wenn man Information verliert, ich habe nach der Interferenz der beiden Photonen keine Informationen mehr, woher das Photon gekommen ist, das heißt sie sind ununterscheidbar. WV In Hinblick auf den Weg, wo sie herkommen sind? RU In Hinblick auf den Weg und in Hinblick auf die Polarisation weiß ich das auch nicht mehr. Nebenher bemerkt, sind sie noch in anderen Freiheitsgraden miteinander verschränkt. WV Und das ist sehr aufwendig? RU Man muss das Ganze ja so aufbauen, dass diese Photonen sich tatsächlich begegnen, auch zeitlich, die müssten also innerhalb ihrer Kohärenzzeit auf den Beamsplitter treffen. Das muss man ordentlich synchronisieren, ordentlich abgleichen, die müssen also auch zeitlich ununterscheidbar sein, und zeitlich auch Ein-Photonen-Zustände sein, also es dürfen nicht Mehr-Photonen-Zustände sein. WV Also, dass nicht aus Versehen zwei Photonen hintereinander kommen. Wie lang haben Sie gebraucht, um den Versuch zum Laufen zu bringen? RU Wenn man weiß wie es geht, schafft man das schon in einem halben Jahr zum Laufen zu bekommen. Nur jetzt, in dem konkreten Experiment, nach dem Sie gefragt haben, haben wir ja diese Joint-Measurement zufällig, basierend auf der Entscheidung eines Quanten-Zufallsgenerators, entweder gemacht oder nicht gemacht, also wir haben die beiden Photonen B und C sehr schnell alternativ unterscheidbar oder ununterscheidbar machen können, so dass diese Joint-Measurement, diese gemeinsame Messung also stattgefunden oder nicht stattgefunden hat. Innerhalb des millionsten Teils von Sekunden konnten wir entscheiden, ob die unterscheidbar oder ununterscheidbar sind, das heißt ob sie interferieren oder nicht interferieren. Wenn ich diese Ununterscheidbarkeit nicht herstelle, passiert der Interferenzeffekt nicht. Lustigerweise – und das ist der eigentliche physikalische Inhalt dieses Experiments – ist es jetzt egal, wann ich diese Messungen mache. Ich mache ja zwei verschiedene Messungen, einmal mache ich die Messungen in der Mitte, diese gemeinsame Messung von B und C am Beamsplitter, und einmal mache ich ja die Messungen außen. Ich messe A und D. Jetzt könnte man sagen, man muss zuerst die innere Messung machen
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und dann ist erst festgelegt ob A und B oder A und D verschränkt sind. In einer normalen Welt, ohne Quantenmechanik, wenn man jetzt einer normalen Hausfrauenlogik folgt – wie man so schön politisch unkorrekt sagen würde – wäre es so, dass man zuerst festlegen muss, wie und ob A und B bzw. A und D verschränkt sind, wenn man dann B und C messen will. Tatsächlich haben wir aber festgestellt, dass es vollkommen egal ist, in welcher Reihenfolge man die Photonen festlegt bzw. misst. WV Und wie legt man die Reihenfolge fest? Wie kann man das überhaupt unterscheiden? RU Ja, das ist der Nachteil – Vorteil oder der Nachteil, wie Sie wollen – von Licht. Licht ist mit 300.000 km in der Sekunde unterwegs. Das ist wahnsinnig schnell und wenn man jetzt möchte, dass da viel Zeit vergeht, braucht man extrem lange Distanzen. Wir haben das bis zum Extrem gedreht und haben eine halbe Millisekunde später diese Messung gemacht haben, das war zwischen La Palma und Teneriffa. Also wir haben zuerst die Messung gemacht und erst eine halbe Millisekunde später bestimmt, ob die wirklich verschränkt sind.
Zeit und Raum, die in der Relativitätstheorie so wichtig sind, spielen hier keine Rolle WV Und das hat dann trotzdem geklappt? Die zeitliche Reihenfolge ist vollkommen egal? RU Also wenn Sie es so wollen, die räumliche Anordnung ist vollkommen egal, weil die Quantenmechanik ist offenbar nicht lokal. Die zeitliche Anordnung des Experiments ist vollkommen egal. Nach allem, was wir wissen, ist sogar die Geschwindigkeit egal. Also all die Dinge, die in der Relativitätstheorie so wahnsinnig wichtig sind, also wie man das räumlich und zeitlich anordnet, wie schnell die Uhren unterwegs sind, all das scheint in der Quantenmechanik egal zu sein. WV Und das einzig Relevante scheint jetzt zu sein, welche Fragen wir der Natur mit unserem Versuchsaufbau stellen. RU Mir gefällt die Sprachweise jetzt nicht, dass ein Experimentator oder Beobachter eine Frage an die Natur stellt. Das würde ein idealisiertes Experiment voraussetzen. In der Realität stelle ich Milliarden von Fragen und interpretiere auch die eine Frage in meine Messergebnisse mit hinein. So erscheint für uns ja gerade das Experiment, worüber wir eben gesprochen haben, für uns in unserer Alltagswelt als etwas, was man ein Paradoxon nennt. Aber tatsächlich klingen am Tisch jetzt nur irgendwelche Detektoren und fertig. Erst wenn ich versuche, mir ein Bild davon zu machen, welchen Pfad das Photon gegangen sein kann, wenn ich versuche, unter Anführungszeichen ›zu verstehen‹ – was immer das jetzt auch
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bedeutet ›etwas zu verstehen‹ –, in der Quantenmechanik bekommt das noch eine etwas andere Bedeutung, denn erst wenn ich versuche, zu verstehen, erst dann entsteht das Paradoxon. Der Natur ist das vollkommen egal, was wir Menschen darüber denken. Deswegen mag ich die Sprechweise nicht, dass wir Experimentatoren der Natur Fragen stellen und die Natur antwortet. Oder noch anders ausgedrückt: Wir Experimentatoren sind dafür da, in möglichst idealisierten Experimenten Effekte zu sehen, die dem entsprechen, was ich vorhergesagt habe. Das ist allein schon unendlich kompliziert. Doch wenn uns diese möglichst idealisierten Experimente gelungen sind, dann ist eigentlich schon der Job getan. Erst erst in einem zweiten Schritt – und das ist jetzt die platonische Herangehensweise in der Quantenphysik – versuche ich jetzt, eine Theorie daraus zu machen, aber das ist nichts was für die Natur irgendwie von Relevanz wäre. Der Physiker David Bohm hat das jetzt so gesagt: Die Natur hat einfach diese Korrelationen und wir brauchen das jetzt nicht näher zu erklären, sondern die hat sie einfach. Nur wenn es uns interessiert und wir entsprechend lustig sind oder wenn wir eine Technologie daraus bauen möchten, dann ist es nützlich, eine Theorie zu entwickeln. Aber jetzt eine Theorie zu bauen, wie Bell sie vorhatte, also zu versuchen, die klassische Physik zu retten oder aus klassischen Herangehensweisen die Quantenmechanik herzuleiten, das ist nur ein Problem des Physikers, der fragt. Das ist dann eine Bonusfrage, die ich quasi an mich stelle. Ich stelle keine Fragen an die Natur. Die Natur macht das von ganz alleine. Man könnte ja ins Universum schauen mit großen Teleskopen, ob es dort irgendwo verschränkte Photonen gibt. Oder man hat jetzt geologische Funde aus der Urzeit gefunden, die darauf hindeuten, dass da von ganz alleine eine Kettenreaktion abgelaufen ist. Die Natur macht alles von ganz alleine. Die ganze Quantenmechanik ist etwas, was ohne uns abläuft. WV Diese quantenmechanischen Korrelationen generiert die Natur also von ganz alleine, ohne unser Hinzutun und unsere Fragen. RU Das tut die Natur von alleine.
Relativitätstheorie und Quantentheorie gehen nicht zusammen: Je mehr wir wissen, desto extremer tritt der Widerspruch zu Tage WV Und diese Korrelationen erscheinen unabhängig von Raum und Zeit? RU Das ist übrigens das zweite, das viel interessantere Paradoxon, dass offenbar Raum und Zeit nicht wichtig sind für die Korrelationen. In der Relativitätstheorie ist das überhaupt nicht so, da ist genau das Gegenteil der Fall. Hier sind Raum und Zeit wahnsinnig wichtig und relativ zueinander. Da hängt alles von der Geschwindigkeit, der Masse und den
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Gravitationspotenzialen ab. Wir wissen, dass das in der Quantenphysik überhaupt nicht so ist. Dies zeigt uns, dass die Natur von mindestens zwei Theorien beschrieben werden muss. Doch wir sind weit weg von der Weltformel, welche diese beiden Theorien vereint. WV Das Verrückte ist, dass die Zustände eines quantenmechanischen Systems nicht in der Raumzeit definiert werden, sondern in dem abstrakten Hilbert-Raum, der beliebig viele Dimensionen annehmen kann. RU Es geht ja so weit, dass in der Relativitätstheorie nicht einmal ordentlich ein Teilchen definiert werden kann, weil die Relativitätstheorie keine quantisierte Theorie ist. Die Quantenphysik ist mit relativistischen Theorien, dem relativistischen Rahmen und den relativistischen Feldgleichungen absolut nicht verstehbar. Wenn man das zusammenbringt, würden da Singularitäten entstehen, die dort gar nicht existieren dürfen. Also der Widerspruch könnte überhaupt nicht größer sein. In den Lehrbüchern steht dann, dass die Quantenphysik für das Kleine, für den Mikrokosmos, und die Relativitätstheorie für das Große, den Makrokosmos, entwickelt wurde. Tatsächlich hat man auch sehr lange gedacht, dass die Quantenphysik nur etwas für sehr kleine Dinge ist und wohl bei den großen Dingen gar keine Quantenphysik gilt. Das ist dramatisch widerlegt worden vom Kollegen Markus Arndt. WV Ja, mit den Fullerenen, diesen fußballförmigen Kohlenstoffmolekülen, die aus sechzig Atomen bestehen. RU Es gibt ja auch relativistische Effekte in Teilchenbeschleunigern, da sind die Teilchen ebenfalls quantenmechanisch zu beschreibende Einheiten. Also tatsächlich spielt die Quantentheorie in allen Größenordnungen eine Rolle. Aber wie das Relativistische und das Quantenmechanische miteinander zusammengehen, wissen wir nicht. Wenn die Leute sagen ›Wir stehen kurz vor der Weltformel‹, dann verkennen sie die Situation meiner persönlichen Meinung nach vollkommen. Wir haben einfach vor 30 oder 50 Jahren soviel weniger von der Physik verstanden. Wir haben soviel weniger über die Natur gewusst, welche bizarren Effekte es gibt. Je mehr wir wissen, desto extremer tritt der Widerspruch zu Tage. Da stehen wir heute. WV Und da helfen auch keine Hilfskonstrukte, etwa wie die Annahme eines spontanen Kollapses, der dann ab einer bestimmten Stärke der Gravitationskräfte ausgelöst wird. RU Also ich möchte dem Kollegen Penrose jetzt nicht zu nahetreten. Es war ja jetzt auch eine der ersten Theorien, mit der der Versuch unternommen wurde, die Quantentheorie und die Relativitätstheorie zu verheiraten. Was er gemacht hat, ist eine gewisse Größenordnung an Masse anzugeben, ab der ein quantenmechanischer Zustand nicht mehr leben könne. Das Penrose- oder das Ghirardi-Rimini-Weber-Theorem gehört zu den sogenannten Ad-Hoc-Theorien. Von denen hat man als Physiker
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am Ende des Tages auch nicht viel. Wir brauchen einen axiomatischen oder formalen Aufbau der Naturwissenschaften. Irgendwelche Postulate – da leidet ja auch die String-Theorie drunter – erfüllen noch nicht den Anspruch, den wir als Naturwissenschaftler an eine neue Theorie haben. Die neuen Theorien müssen übrigens auch falsifizierbar sein. Das ist das Allerwichtigste in der Naturwissenschaft und bisher ist noch keine dieser Theorien falsifiziert worden, weil die hierfür notwendigen Experimente sehr, sehr aufwendig sind. Sie arbeiten jetzt auch an solchen Themen, wie ich gesehen habe. Also wir versuchen diese Fragen jetzt experimentell zu attackieren, also auf diese Weise zu fragen, inwieweit man Relativitätstheorie und Quantenphysik miteinander verbinden kann. Was passiert mit Quantensystemen, wenn man sie beschleunigt, was passiert, wenn sie bei hohen Geschwindigkeiten gemessen werden und so weiter. Wir haben z. B. verschränkte Photonenquellen gebaut und die von einem Turm fallen lassen, dann sind sie schwerelos. Wir haben sie in Großzentrifugen auf 30 g beschleunigt. Die Quelle wiegt ein Kilogramm und bei 30 G wiegt sie eben 30 kg, da ist sie dann mit ungefähr 170 km in der Stunde im Kreis unterwegs. Das sind so die ersten Experimente, die wir hier jetzt machen. Also wir können wahnsinnig genaue Messungen machen mit diesen Systemen, wie wir es aus der Quantenkryptografie, meinem zweiten wissenschaftlichen Standbein gelernt haben. Diese sehr präzisen Messinstrumente für die Quantenverschränkung verwenden wir jetzt, um relativistische Effekte in den Experimenten zu finden. Und hat man da schon irgendwie Hinweise auf Anomalien? Jedweder Hinweis darauf wäre sofort ein Nobelpreis, also nichts anderes als ein Nobelpreis. Der Fakt, dass ich keinen Nobelpreis habe, zeigt Ihnen, dass wir nichts Überaschendes gefunden haben. Also auch unter diesen Bedingungen gelten die üblichen Vorhersagen der Quantenmechanik? Ja, aber wir stehen jetzt erst am Anfang. Wir haben erst kleine Experimente gemacht, die man jetzt verbessern muss. Mittlerweile gibt es Experimente im All mit quantenphysikalischen Quellen. Es gibt Theorien, die eine Dekohärenz, einen teilweisen Kollaps der Quantenphysik in relativistischen Umgebungen – zum Beispiel auf einem Satelliten – vorhersagen. Diese Theorien gibt es – und nichts anderes ist die Aufgabe eines Experimentalphysikers, solche Theorien zu falsifizieren, aber da müssen wir noch viel lernen, um diese Versuche aufzubauen. Roger Penrose vermutet dann, dass Quantenzustände unter bestimmten Gravitationsbedingungen kollabieren. Ja, Penrose hat eines dieser Theoreme aufgestellt, doch diese Theorie ist praktisch empirisch nicht beweisbar, da müsste man unglaublich hohe Energien verwenden. Aber es gibt andere Theorien, die ähnliche Dinge
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vorhersagen. Da gibt es Theorien von David Deutsch, Adrian Kent und anderen. Hier gibt es Aussagen, die prinzipiell mit den derzeitigen Mitteln überprüft werden können. Ich habe da unlängst einen Aufsatz publiziert, wo wir vorschlagen, solche Experimente von einer Satelliten-Verbindung aus zu machen. WV Ich habe noch eine letzte Frage, und zwar zu dem Aufsatz von Schrödinger aus dem Jahr 1935, wo er auch das Gedankenexperiment mit der Katze formuliert hat. Schrödinger vermutet hier ja am Ende, dass ein Problem der Quantentheorie darin liegen könnte, dass die Zeit nicht quantisiert wird. In dem Formalismus erscheint sie ja nur als eine normale klassische Variable, die einerseits reversibel ist. Andererseits haben wir jetzt die Messung, die das Gesamtsystem irreversibel verändert. RU Wir verstehen den Formalismus der Quantenphysik sehr gut und können auch hervorragend damit arbeiten. Aber wir verstehen die Messungen nicht, weil die Messung führt zu einem Kollaps – also bildlich gesprochen: Erwin Schrödinger macht die Schachtel auf und da ist die Katze tot oder lebendig. Jetzt nutzt es nichts, die Schachtel wieder zu machen, in dem Sinne ist sie nicht reversibel, die Quantenphysik. Vorher, nämlich als die Schachtel verschlossen war, ist die Entwicklung der Katze reversibel, doch der Übergang in die klassische Physik ist nicht verstanden. Wir verstehen heutzutage immer mehr, dass das offenbar Kohärenzeffekte sind, also eine Messung ist nichts anderes als eine Dekohärenz. Die Kohärenz des einen quantenmechanischen Zustandes, die Superposition von Schrödingers Katze, geht dann gleichsam in meinen Messapparat über. Aber dieser Übergang ist unendlich kompliziert und letztlich nicht verstehbar. Unterm Strich muss man zugeben, dass das keine besonders elegante oder schöne Theorie ist. WV Die Dekohärenztheorie führt auch zu Paradoxien, sie führen in einen infiniten Regress der Messoperation. RU Also das ist keine schöne Theorie. Doch was ich eigentlich sagen will: Es gibt in der Quantenphysik reversible und irreversible Prozesse. Das ist übrigens auch der Grund dafür, dass die Quantenkryptografie sicher ist. Wenn ein Abhörprozess, eine Abhörstrategie ein reversibler Prozess wäre, dann wäre die Quantenkryptografie nicht sicher. Doch genau das Gegenteil ist der Fall. Ich kann den Quantenzustand nicht kopieren. Ich kann sozusagen den Fehler, den ich beim Abhören mache, nicht wieder korrigieren. Der Quantenzustand ist irreversibel kaputt und daher von dem Kommunikationspartner feststellbar. Die würden diesen fehlerhaften Schlüssel zur Kommunikation einfach nicht mehr verwenden. Anhand dieser Experimente entstehen echte Fragen, über die wir uns auch immer den Kopf zerbrochen haben. Da ist zum Beispiel die Frage, wenn Alice eine Messung macht, wie schnell weiß Bob das? Gibt es eine Kommunikation zwischen Alice und Bob, zwischen diesen beiden
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Photonen, wenn ja wie schnell ist die? Wie schnell kann überhaupt ein Quantenzustand kollabieren, also wie schnell kann er ein klassischer Zustand werden? Alle diese Fragen sind hochinteressant aber die Experimente dazu sind unglaublich schwierig durchzuführen. Wie ›kollabiert eine Wellenfunktion‹ – das ist der technische Ausdruck – in der Gegenwart von Massen? Wie verändert die Masse den Gang der Zeit? Alle diese Fragen werden derzeit experimentell gestellt, aber wir verfügen über keine kohärente Theorie, die das beschreiben kann. WV Also wie ich die Dekohärenztheorie verstanden habe, beruht sie ja auf dem Wechselspiel von gemischten und reinen Zuständen. Die dekohärenten Zustände lassen sich ja dann als klassische Phänomene beschreiben, wenn sie statistisch als ein Gemisch aufgefasst werden, indem sich die Quantenphänomene in einer Weise ausmitteln, dass sie praktisch keine Rolle mehr spielen. Aber wenn wir über das entsprechende Wissen verfügen würden, könnten wir einen gemischten Zustand eigentlich jetzt auch wieder quantenmechanisch beschreiben. Wenn wir die Variablen kontrollieren könnten, wäre er ja im Prinzip reversibel und kein Gemisch mehr. RU Ja genau, bis auf den kleinen Umstand, dass diese Experimente nicht durchführbar sind. Da muss man jetzt die Katze ein bisschen im Sack lassen. Die quantenmechanischen Effekte, die wir hier studieren, sind hochspezialisierte Zustände, also im normalen Alltag spielen alle diese Effekte keine Rolle. Wir wissen, wie wir diese quantenmechanischen Zustände herstellen können und wir wissen, wie man sie misst und danach sind es klassische Systeme, nachdem wir die Messung durchgeführt haben. Ich sag das jetzt nur, weil ich mich ein wenig weigere, jetzt hier allgemeine Aussagen über die Physik zu dreschen. Das, was Sie sagen, klingt ein bisschen nach diesem ›alles ist miteinander verschränkt und ich kann das nur nicht feststellen‹. Dann wird es endgültig. Ich verwehre mich auch deshalb dagegen, weil es gewissermaßen eine Trivialisierung dessen bedeuten würde, was wir hier als Experimentalphysiker machen. Aus dieser Perspektive kann ich nur sagen: Das ist alles noch nicht gut genug untersucht worden.
In der Quantenmechanik versagt nicht nur unsere Vorstellung, sondern auch unsere Alltagssprache WV Also wenn man jetzt von der Wellenfunktion des Universums ausgeht, von der die Kosmologen… RU Also zu sagen, das ist jetzt das Gesamtuniversum und alle Teilchen, die im Universum existieren, sind miteinander verschränkt – jetzt werden mir viele Kollegen widersprechen – aber ich würde meinen, das ist einfach eine unwissenschaftliche Aussage, weil sie nicht falsifizierbar ist. Oder
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um es nochmals anders auszudrücken: Es wird leicht alles so kompliziert, dass die Experimente sehr schnell unmöglich werden. Das ist ja genau das, was es unglaublich schwer macht, einen Quantencomputer zu bauen. Ich muss diese Systeme für lange Zeit kohärent halten, und kohärente Prozesse abbilden und so weiter. Das macht es ja so schwierig. Sonst hätten wir ja schon lange einen Quantencomputer, wenn das einfach wäre. Meiner Meinung nach ist die Auffassung, dass ein Quantenzustand bei der Messung gleichsam in die Kohärenz des Gesamtuniversums eingeht, nichts anderes als ein esoterischer Standpunkt. WV Vielleicht hätten wir Menschen es einfach gerne, dass alles mit allem kommuniziert. RU Um es mal ganz provokant zu sagen: Viele Wünsche, die wir Quantenphysiker an die Natur gehabt hatten, sind nicht erfüllt worden. Ein Beispiel ist die Auffassung, dass unser menschliches Bewusstsein einen Quantenzustand zum Kollabieren bringt. Man hat gesagt: Was ist überhaupt eine Messung? Ist es der Messapparat? Ist es der Zeiger vom Messinstrument oder ist es der menschliche Geist, der am Schluss den Ausschlag des Messinstrumentes sieht? Wer oder was ist es, das den Quantenzustand eigentlich dekohäriert? Da bestand bei vielen lange die Wunschvorstellung, dass wir Menschen das können und dass die Natur das nicht kann. Doch heute wissen wir, dass das offensichtlich grundsätzlich falsch ist. Also wir Menschen haben keine herausragende Rolle in dem Prozess. WV Das ist ja auch der erstaunliche Befund aus den Experimenten der Arbeitsgruppe von Mandel. Der Versuchsaufbau zeigt ja, dass kein Bewusstsein, kein Hund oder sonst ein lebendiges Wesen die Messung vollziehen muss. RU Ich muss nicht einmal wirklich messen können. Also es muss immer im Prinzip Information da sein oder nicht da sein. Das ist, unter uns gesagt, die viel schönere Lösung. Die Natur hat eine wesentlich schönere Lösung gewählt, als wir Menschen mit unserem primitiven Vorstellungsvermögen uns ausgedacht haben. WV Dieses Konzept braucht nicht das menschliche Ego, es führt nicht in einen Solipsismus, in dem das Subjekt die Wirklichkeit erschafft. RU Ich persönlich brauche diese ganzen Hilfskonstrukte nicht. WV Das Faszinierende an der Quantentheorie ist, dass sie immer wieder unsere menschlichen Erwartungen enttäuscht. RU Die Quantenwelt ist meines Erachtens gerade deshalb faszinierend, weil quantenmechanische Systeme sehr, sehr viel mehr sind als die Summe ihrer Teilchen. Ein verschränkter Zustand kann sehr viel mehr, als die Summe seiner Teilchen es kann. Das ist unglaublich überwältigend für uns Menschen, weil wir sind in einem klassischen Weltbild groß geworden. Wir sind alle als Kind auf dem Spielplatz gewesen und haben
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dort geschaukelt und gerutscht und haben uns nach und nach eine Weltvorstellung aufgebaut, die nach diesen Gesetzen funktioniert, also nach Schwerkraft, Trägheit und so weiter. Ein Automotor ist etwas, was wir verstehen, beim Flugzeug bilden wir uns ein, dass wir das verstehen. Aber eigentlich ist das schon unmöglich. Doch in der Quantenmechanik versagt ja nicht nur unsere Vorstellung, es versagt auch unsere Alltagssprache. Keines dieser Phänomene ist in einer Alltagssprache überhaupt zu fassen. Die Sprache, die wir verwenden, um die Quantenmechanik zu beschreiben, ist eine hoch widersprüchliche Sprache. Also wir reden in einem Satz von Welle und vom Teilchen. Es gibt keinen größeren Gegensatz als den zwischen einem Teilchen, das diskret ist, und einer Welle, die unendlich ist. Wir sprechen aber in einem Satz davon, also die Alltagssprache versagt in der Quantenphysik schon sehr früh. Das geht noch viel weiter. Wir verstehen die Schrödinger-Gleichung sehr gut. Wir können damit arbeiten, eine Vielzahl von Technologien entwickeln und so weiter und so fort. Aber wir verstehen nicht, was die Buchstaben da drinnen bedeuten. Wir wissen nicht, was eine Wellenfunktion wirklich ist, ob sie ein Element der Realität ist oder ob sie kein Element der physikalischen Wirklichkeit ist. Da gibt es nur Privatmeinungen. Es gibt auch keine finale Interpretation der Quantenphysik. Wir können präzise Vorhersagen machen, aber wir können uns keine bildliche Vorstellung davon machen, mit was wir es tatsächlich zu tun haben. Die Idee von einem Feld, einem Kraftfeld gibt uns noch eine bildliche Vorstellung. Aber Nicht-Lokalität ist für uns Menschen in der Alltagssprache ein Konzept, das wir gar nicht begreifen können. Auch hat für uns eine Messgröße immer schon vor der Messung einen Wert gehabt. Es ist völlig undenkbar dass das unbestimmt ist. Wenn ich beispielsweise die Temperatur der Donau messen will, dann steht die Temperatur der Donau vorher schon fest. Daran zu zweifeln, wäre verrückt. Aber in der Quantenphysik ist das so. All dies muss hier mit anderen Mitteln verstanden werden, als es unser alltäglicher Verstand ermöglicht.
Verschränkung in der soziologischen Systemtheorie
Da steht es denn in Worten Genau Und wenn ihr zwischen den Zeilen lest Findet ihr dort nichts Denn das ist die Disziplin, die ich fordere Nicht mehr, nicht weniger Nicht die Welt, wie sie ist Auch nicht, wie sie sein sollte – Allein die Genauigkeit Das Skelett der Wahrheit Ich mache nicht auf Emotion Deute nicht Hintergründe an Beschwöre nicht Gespenster altvergessener Credos Das alles ist für den Prediger Den Hypnotiseur, den Therapeuten und Missionar Sie werden nach mir kommen Und das wenige von mir Gesagte benutzen Um weitere Fallen mit Ködern auszulegen Für jene, die es nicht ertragen können, Das einsame Skelett der Wahrheit Gregory Bateson1
1Bateson
und Bateson (1993, S. 17)
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Vogd, Quantenphysik und Soziologie im Dialog, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61857-8_7
199
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Grenzen des Systems und konditionierte Koproduktion: Lassen sich Systemgrenzen überschreiten? Wenn wir im Alltag von Verschränkung sprechen, meinen wir üblicherweise, dass zwei Phänomene, die einer jeweils anderen Sphäre angehören, miteinander verflochten, verstrickt oder verwickelt, also in einer besonderen, nicht zufälligen Weise ineinander eingemischt sind. In diesem Sinne ist es zunächst nicht unsinnig zu fragen, ob und wie Systeme – etwa psychische und soziale – miteinander verschränkt sind. Der Begriff Verschränkung würde hier – in loser Analogie zur Quantentheorie – heißen, dass zwei oder mehr Systeme in einem Beziehungsgeflecht verwoben sind, welches ihre jeweils eigenen Systemgrenzen überschreitet, ohne dabei jedoch die Typik oder Identität der beteiligten Systeme aufzuheben. Insbesondere Peter Fuchs hat sich mit dieser Figur und den hiermit einhergehenden Fragen und Problemen intensiv beschäftigt. In seinem Buch »Die Metapher des Systems« nähert er sich dem Phänomen der Verschränkung mit dem Bild eines Tanzes: Zwei Tänzer stehen in einem Verhältnis zueinander, haben sich und einander in ihrer Körperlichkeit im Blick bzw. spüren einander und beziehen sich wechselseitig auf die Bewegungen und Ausdrucksformen des jeweils anderen Leibes. Mit Blick auf die hiermit einhergehenden Verwicklungen entsteht unweigerlich die »Frage« – so dann auch im Untertitel des Buches – »wie sich der Tänzer vom Tanz unterscheiden lasse«.2 In einer jüngeren Veröffentlichung greift Peter Fuchs den Begriff der Verschränkung auf einer theoretischen Ebene auf: »Zum Beispiel kann man sagen, dass das Soziale und das Psychische in einem verschränkten Zustand vorkommen, dass aber diese Unauflöslichkeit durch Unterscheidung und Bezeichnung gleichsam durchschnitten wird – trotz alledem. Dafür braucht es Systeme mit Systemen in ihrer Umwelt, mithin fungierende Simplifikationen – Reduktion von Komplexität.«3
Erinnern wir uns an dieser Stelle nochmals: Die Systemtheorie handelt von Systemen, etwa von biologischen, psychischen und sozialen Systemen, wobei sich letztere wiederum in unterschiedliche Systemtypen aufspalten können: 2Fuchs 3Fuchs
(2001). (2018, S. 136).
Verschränkung in der soziologischen Systemtheorie 201
Interaktionssysteme, Organisationen oder gesellschaftliche Funktionssysteme, wie z. B. die Wirtschaft oder die Wissenschaft. Ein System – um auch dies nochmals zu wiederholen – ist dabei definiert als ein operativer Zusammenhang, der das Beobachtete – eben das System – in Abgrenzung zu einer Umwelt innerhalb eben dieser Umwelt hervorbringt. So braucht die Zelle als biologisches System ein Medium, das Nährstoffe enthält und zugleich den Abtransport von Abfällen ermöglicht, um sich als Lebewesen zu reproduzieren. Homolog hierzu bedarf das psychische System eines kontinuierlichen Flusses von Sinneswahrnehmungen und Sinnangeboten, welche ihm die Kommunikation anliefert, um sich als Bewusstsein zu reproduzieren. Soziale Systeme, also reproduktive Zusammenhänge, in denen Kommunikation weitere Kommunikation desselben Typus evoziert, können sich nur dann aufrechterhalten, wenn es physische und psychische Prozesse gibt, die Kommunikation als Austausch von Zeichen und Verarbeitung von Sinn ermöglichen. Jedes dieser Systeme erscheint damit zugleich als autonom (als ein sich selbst bestimmender, nach eigenen Gesetzlichkeiten operierender Zusammenhang) wie auch als heteronom (nämlich auf dem beruhend, was ihm die Umwelt an Material und Strukturmöglichkeiten zur Verfügung stellt). Ein System ist damit zugleich ›was es ist‹ und ›was es nicht ist‹, eine ›Funktion seiner selbst‹ und eine ›Funktion seiner Umwelt‹. Das System ist also eine Ganzheit, die nicht als Einheit sondern nur als Differenz zu haben ist. Erinnern wir uns wieder an die Definition aus dem Kapitel ›Die soziologische Systemtheorie‹: Ein System (S) ist eine Funktion (f ) seiner selbst und seiner Umwelt (U), formal ausgedrückt durch: S = f(S, U). Es ist weder mit sich selbst identisch noch mit der Welt. Um wieder Peter Fuchs zu Wort kommen lassen: »Klar ist jedenfalls, daß die Systemtheorie, die wir hier bewegen, mit einer Differenz startet, mit der von System und Umwelt: daß der Einheitsbegriff des Systems der Begriff dieser Differenz ist. Einfacher gesagt: Das System läßt sich nicht aus seiner Umwelt herausheben, es ist nicht isolierbar. Es ist jenes Co, jenes Zugleich, jene Zweiheit, die sich nicht in zwei Einsen zerlegen läßt. Und im Augenblick, in dem diese Komplikation gewahr wird, zerfällt die cartesische Sprache. Mit ihr fallen auch die zweiwertigen logischen Mittel aus«.4
4Fuchs
(2001, S. 15 f.).
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Systeme – weder Subjekt noch Objekt So betrachtet, bezeichnet der Begriff des Systems also weder ein Objekt, noch ein Subjekt. Zudem ist ein System weder (nur) Struktur noch (nur) Prozess. Das System erscheint vielmehr als eine Prozessstruktur, die sich in konditionierter Koproduktion hervorbringt, womit impliziert ist, dass es in seiner Reproduktion auch dasjenige braucht, was es nicht ist. Doch so gefasst und definiert, beginnen die Konturen des Systems umso mehr zu verschwimmen, umso exakter man sie zu greifen versucht. Alltagssprachlich ist es dennoch keinesfalls unsinnig, von Systemen zu sprechen. So reden wir von unserer Psyche in Abgrenzung von unserem Körper und den sozialen Systemen, in die wir verwickelt sind, und scheinen sehr gut zu verstehen, was damit gemeint ist. Auch im wissenschaftlichen Bereich macht es sehr wohl Sinn, von Systemen zu reden; nicht zuletzt vermag eine systemtheoretische Sichtweise ja auch die Verzweigung der Wissenschaft in die unterschiedlichen Disziplinen zu rechtfertigen. Die Psychologie behandelt dann primär psychische Systeme, während sich die Soziologie mit sozialen Systemen beschäftigt. Diejenigen Fachwissenschaften, welche sich mit dem Menschen beschäftigen, wissen allerdings dabei sehr wohl um die Bereiche des Dazwischen und haben hierfür ihrerseits wieder neue Disziplinen geschaffen – man denke an die Psychobiologie, Neurophänomenologie, Psychosomatik, Sozialpsychologie und Soziobiologie. Bereits Maurice Merleau-Ponty beschreibt die Verschränkung von phänomenologischer Erfahrung, Kommunikation und Körperlichkeit in einer Weise, welche die Grenze zwischen Psyche, Leib und Kommunikation verschwimmen lässt. Hier eines seiner Beispiele: Wenn mir jemand für einen kurzen Moment ein Wort auf einem Blatt Papier zeigt, so kurz, dass ich es noch nicht »entziffern« kann, dann werde ich es dennoch oftmals schon unbewusst wahrnehmen. »Plötzlich merke ich, wie das Wort in meinen Körper hineinschnappt.« Es löst bereits eine Reaktion in meinem Körper aus. »So führt doch das Wort ›warm‹ z. B. eine Art Wärmeerfahrung herbei«, demgegenüber erregt das »Wort ›hart‹« eine »Art Starre in Rücken und Hals«, und zwar bevor es dann sekundär im »Sehoder Hörfeld« als »Zeichen oder Vokabel Gestalt« annimmt.5 In solch einem Beispiel wird die konditionierte Koproduktion von Psyche, Körper und der Sphäre des Sozialen deutlich. Es wird schwierig,
5Merleau-Ponty
(1974, S. 275).
Verschränkung in der soziologischen Systemtheorie 203
eine eindeutige Kausalitätsbeziehung anzugeben. Gibt es erst das Bewusstsein und dann die Worte oder erst die Worte und dann das Bewusstsein? Gehen die körperlichen Reaktionen der Bedeutung voran oder suggeriert die Bedeutung eine bestimmte Art des Empfindens, die dann wieder aufgerufen werden kann? Gibt es überhaupt ein menschliches Bewusstsein, das vom sozial angelieferten Sinn in einer scharfen Weise zu trennen wäre? Die Antwort von Fuchs ist eindeutig, was dann aber auch Konsequenzen in Hinblick auf die uns vertraute Subjekt-Objekt-Unterscheidung hat: »Im Moment, in dem das Bewußtsein tut, was es tut (nennen wir es sehr vorläufig: Erleben, erlebende Beobachtung), wird seine Welt sozial formatiert. Es erlebt nicht seine Welt. Schon in seiner Entstehung ist es, wie man sagt, strukturell gekoppelt an Sozialsysteme. Es ist nie etwas anderes gewesen als eben dies: konditionierte Koproduktion, ein Bewohner der Differenz, ein differentielles Phänomen, kein Objekt oder Subjekt mit Eigenschaften, sondern eher ein Un-jekt, also jedenfalls, wenn wir paradox formulieren, nie etwas, das Subjekt oder Objekt in irgendeinem Satz sein könnte.«6
Systeme lassen sich Fuchs zufolge nicht als Objekte definieren, denn das »System als Differenz« schließt das »System als Ding« oder »Objekt‹ aus. Gleiches gilt für das System »als Subjekt«, denn dies würde ja wiederum eine Ganzheit voraussetzen, die nicht zugleich Differenz ist, im Falle der Psyche etwa ein inneres Seelenwesen, das selbstgenügsam ist und nicht operativ von etwas anderem abhängt. Vor dem Hintergrund der klassischen Logik erscheint das System unweigerlich in der paradoxen Figur eines »Weder/ Noch«, welche das Seins-Schema durchkreuzt. Der Begriff des Systems ist »Ausdruck für einen betriebenen Unterschied« und wird in diesem Sinne von Fuchs wortspielerisch als »Unjekt« bezeichnet.7 Die Metapher des Systems Wenn wir in der Alltagssprache von einem System sprechen, bleibt jedoch nichts anderes übrig, als den so bezeichneten Zusammenhang zu einem Objekt (oder Subjekt) zu ontologisieren, etwa indem im Sinne einer räumlichen Vorstellung davon ausgegangen wird, dass ein System neben anderen steht oder eine Entität darstellt, die von anderen Entitäten umgeben oder umhüllt ist.
6Fuchs 7Fuchs
(2001, S. 13 f.). (2001, S. 242 f.).
204 W. Vogd
Eine betriebene Differenz kann sich aber nirgendwo befinden, denn sie ist kein Ding, sondern eine Relation. Wenn man in den Kopf eines Menschen hineinschaut, lässt sich darin kein Bewusstsein finden. Ebenso lässt sich die Wirtschaft nicht aus der Gesellschaft herausnehmen und von den vielfältigen physischen, technischen, rechtlichen, politischen und anderen Zusammenhängen isolieren, die wirtschaftliche Kommunikation ermöglichen. Eine Relation hat keine Dimension und keinen Ort. Wenn ich beispielsweise zwei ›Äpfel‹ durch vier ›Äpfel‹ teile, bekomme ich als Ergebnis ›½‹. Die Äpfel sind als Dinge verschwunden, es bleibt allein das Verhältnis übrig, das jedoch beide Seiten voraussetzt, um einen Sinn zu ergeben. Hierin liegt die Bedeutung des Begriffs ›Relation‹. Ein System erscheint dann gewissermaßen als ein operativer Zusammenhang, der Relationen relationiert. Wenn wir jedoch von einem System als einem Gegenstand oder einer Einheit sprechen, verschiebt sich die Bedeutung von diesem unanschaulichen Konzept in Richtung einer Metapher. Wir können dann in Analogie zur räumlichen Verortung von Dingen sagen: Dort ist deine Psyche und hier ist meine Psyche, und in der Interaktion, die zwischen uns stattfindet, unterhalten wir uns über die Wirtschaft, die ja als eigenständiges soziales Funktionssystem neben der Wissenschaft und der Politik steht. Auf diese Weise werden Systeme für uns im Alltag handhabbar. Mit der Metapher des Systems findet dann »eine Übertragung (eine transgressio, translatio ) einer Differenz auf etwas schlichtweg anderes« statt – und genau diese »Verschiebung« geschieht im Denken und der Alltagskommunikation automatisch. Dies bedeutet jedoch, so Fuchs, keineswegs, dass der Systembegriff hierdurch »untauglich wird, aber sehr wohl«, dass »der Einsatz des Systems als Subjekt oder Objekt Angelegenheit eines Beobachters erster Ordnung ist, der nicht die Differenz sieht, im Rahmen derer er seine Bezeichnungsleistung vornimmt und deshalb Dinge imaginiert und nicht Unjekte.«8 Wir können kaum anders, als uns auch komplexe Zusammenhänge in anschaulicher, bildhafter Weise vorzustellen, und entsprechend erscheinen auch die Systeme, von denen die Systemtheorie spricht, für uns als Entitäten. Dies gilt selbstredend auch für den Beobachter, der uns auf diese Weise als
8Fuchs
(2001, S. 242 f.).
Verschränkung in der soziologischen Systemtheorie 205
eine Einheit aufleuchtet, wenngleich auch er eben nur eine Metapher darstellt, die auf eine betriebene Differenz, also den komplexen Prozess des Beobachtens verweist. Der Beobachter als Artefakt – Produkt von Prozessen, die Komplexität reduzieren Die besondere Pointe der Systemtheorie liegt nun darin, dass das Erscheinen des Beobachters selbst Teil jenes Prozesses ist, nämlich eine Folge der für Systeme typischen Weise der Verarbeitung von Information. Der Beobachter ist, anders gesagt, das Ergebnis einer Komplexitätsreduktion. Nur indem die Verbindungen zum kompletten Netzwerk von Relationen selektiv abgeschnitten werden, kann etwas Bestimmtes gesehen werden. Wenngleich nur als Metapher zu haben, ist der Begriff des System damit keineswegs falsch, sondern verweist gerade darauf, dass das ontologische Missverständnis in Hinblick auf den Beobachter konstitutiv für den Prozess ist, den die Systemtheorie zu beschreiben beansprucht. Wenn wir die Totalität aller Relationen, welche das System konstituieren, als Verschränkung betrachten, und die Selektion, welche das System trifft, als Beobachtung, ergibt sich eine erweiterte Perspektive. Systeme und Verschränkung erscheinen jetzt gewissermaßen als zwei Seiten einer Medaille: »Der Systembegriff ist nicht überflüssig. Er ermöglicht es, die Verschränkung für Beobachter zu ›beschränken‹. Allerdings muss Beobachtung selbst eingeschränkt werden: auf Unterscheidung und Bezeichnung.«9
Verschränkung hat per definitionem keine Grenzen. Denn wenn man auf »Verschränkung achtet, macht es keinen Sinn, über Grenzen zu reden«. Zugleich gilt jedoch: »Ohne Beobachtung keine Grenzen«. Die unbeobachtete Gesamtheit der Welt in all ihren Verschränkungen wäre entsprechend grenzenlos. Die Einheit wäre damit zugleich alles und nichts, da nun kein Beobachter mehr etwas unterscheiden könnte. Ein System, das zwischen innen und außen unterscheiden lässt, muss entsprechend »jeweils artifiziell via Beobachtung der Verschränkung entnommen werden«, wobei hier nochmals zu betonen ist, dass da kein Beobachter im Sinne einer wie
9Fuchs
(2018, S. 135).
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auch immer gearteten Entität (oder Subjektivität) vorhanden ist. Beobachter sind, wie Systeme, ›Unjekte‹. Entsprechend lassen sich auch »Beobachter« den »Verschränkungen nicht entnehmen«, denn sie haben kein eigenes, weltunabhängiges Sein. Sie sind vielmehr selbst »ins Spiel verwoben« und können deshalb nicht außerhalb des Prozesses stehen: »Dass psychische und soziale Systeme ein verschränkter (gemeinsamer, abstandsloser) Zustand sind, ist schon behauptet mit der System/UmweltDifferenz. Sie besagt ja gerade, dass ein System und seine Umwelt nicht zu trennen sind. Dagegen opponieren die ›Hüben-und-Drüben-Beobachter‹: Das System ist hier, die Umwelt dort. Solche Beobachter ›entschränken‹ das System, ohne es zu merken.«10
Erst die Beobachtung vergegenständlicht, indem sie ihre eigenen Vorbedingungen ausblendet und auf diese Weise die Komplexität des verschränkten Zustandes reduziert. Es entsteht eine fungierende Ontologie, die zugleich Subjekte und Objekte ausflaggt: »Reifikation ist ausnahmslos eine Entschränkung.«11 Innerhalb der Metaphorik des Systems bleibt nichts anders übrig, als situativ an einem konkreten Beobachtungsverhältnis festzuhalten, das jeweils bestimmte Werte ausfällt und hiermit mehr oder weniger eindeutige Kognitionen und Handlungsoptionen anbietet, obwohl von einem anderen Standpunkt aus gesehen genau dies willkürlich und kontingent erscheint. Dass dies so ist, erscheint als zwingende Konsequenz all der informationsverarbeitenden Prozesse, die die Systemtheorie mit einem Systembegriff zu fassen versucht, der selbst die Notwendigkeit mitführt, ihn missverstehen zu müssen – denn um es nochmals mit Spencer Brown in äußerster Knappheit und Prägnanz auszudrücken: »Existence is a selective blindness«.12
All die Bedingungen der konditionierten Koproduktion, die spezifische Phänomene hervorbringen – also bestimmte Werte in einem spezifischen Kontext erscheinen lassen –, müssen für uns unweigerlich unsichtbar
10Fuchs
(2018, S. 175). (2018, S. 175). 12Spencer Brown (1997, S. 192). 11Fuchs
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bleiben. Die Auflösung der Intransparenz – d. h. die Aufhebung der Blindheit gegenüber der eigenen Operationsweise – würde die Bedingungen der Möglichkeit der betriebenen Differenz, welche Systeme möglich machen, zerstören. Systeme beruhen darauf, der Welt Informationsgewinne abzuringen. Information ist per se Reduktion von Komplexität. Wenn wir jedoch den Systembegriff ernst nehmen – nämlich als ein Prozess der Verkettung von Operationen, die Weltkomplexität ausblenden, damit etwas als Information bzw. als Sinn erscheinen kann – dann gilt selbstverständlich auch, um es nochmals zu sagen: Auch der ›Beobachter‹ ist nur eine Metapher. Er verdankt sich Prozessen, die – wie auch immer – »die Verschränkung unterdrücken können.«13 Er erscheint als temporäres Ergebnis, als ein Eigenwert bestimmter Bewegungen und Operationen, welche die »Separation« erst herstellen oder aus »guten Gründen benötigen«.14 Die Dualität, die Zweiheit von Beobachter und Beobachtetem, erscheint damit nur als eine Realität für Systeme, die jedoch – man kann es gar nicht genug wiederholen – zugleich weitaus mehr sind als das Ergebnis ihrer Operationen, nämlich eine betriebene Differenz, die auf einer Weltdynamik beruht, die im Sinne einer Ganzheit beide Seiten umschließen muss, denn: Ohne Umwelt kein System. Die Ganzheit erscheint dabei jedoch als paradoxe Einheit, die nur als Differenz zu haben ist – oder um auch dies operativ zu denken: Dualität und Nicht-Dualität erscheinen jetzt selbst wiederum als Zustände, die gemacht oder getan werden, d. h. sich einer Beobachtungsoperation verdanken. Grenzen als Folge von Operationen, welche die Grenzen überschreiten müssen Grenzen sind Folge von Operationen, wobei eben diese grenzziehenden Operationen diese Grenzen immer schon überschreiten müssen, um überhaupt operieren zu können.15 Hiermit beginnen aber nolens volens auch
13Fuchs
(2018, S. 139). (2018, S. 139). 15Siehe hierzu auch Luhmann in Bezug auf die Interdependenzen sozialer Systeme: »Grenzen markieren […] keinen Abbruch von Zusammenhängen. Man kann auch nicht generell behaupten, daß die internen Interdependenzen höher sind als die System/Umwelt-Interdependenzen. Aber der Grenzbegriff besagt, daß grenzüberschreitende Prozesse (zum Beispiel des Energie- oder Informationsaustausches) beim Überschreiten der Grenze unter andere Bedingungen der Fortsetzbarkeit (zum Beispiel andere Bedingungen der Verwertbarkeit oder andere Bedingungen des Konsenses) gestellt werden. Dies bedeutet zugleich, daß die Kontingenzen des Prozeßverlaufs, die Offenheiten für andere Möglichkeiten, variieren, je nachdem, ob er für das System im System oder in seiner Umwelt abläuft. Nur soweit dies der Fall ist, bestehen Grenzen, bestehen Systeme« (Luhmann 1984, S. 35 f.). 14Fuchs
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die Trennlinien zwischen Ontologie (der Lehre vom Sein bzw. Seienden) und Epistemologie (der Lehre von dem, was wir wissen können) zu verschwimmen. »Jedes Tun ist Erkennen, und jedes Erkennen ist Tun«16 formulieren Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela, um damit auf jenen Kreisprozess zu verweisen, der Beobachter und Handelnde als ontologische Entitäten ausflaggt, und diese zugleich als Artefakte eines tiefer liegenden Prozesses zu verstehen, der sich selbst gegenüber verborgen bleibt. Das Ergebnis eines Prozesses kann nicht zugleich den Prozess beleuchten, durch den es hervorgebracht wird. Das Auge lässt ein definiertes Bild sehen, nicht jedoch die neurologischen und physikalischen Vorgänge, welche dieses Bild hervorbringen. Bedeutung und Sinn kondensieren nur unter Absehung und Abstraktion von allem anderem. Kognition und ebenso das Handeln können dann allerdings ihrerseits als Verschränkungen betrachtet werden, nämlich als Prozesse, die etablierte System-Umwelt-Differenzen (die sich als Beobachter reifizieren mögen) mit anderen System-Umwelt-Differenzen verschränken. Um es mit Niklas Luhmann zu formulieren: »Damit wird zugleich deutlich, daß und wie der Verstehensprozess Welt konstituiert. Die System/Umwelt-Differenzen werden gegeneinander verschränkt. Der Status als System bzw. als Umwelt wird aus seiner ursprünglich-sicheren Verankerung in der eigenen Systemreferenz gelöst. Er wird ambivalent. Man kann dann speziell in der Kommunikation, wenn dem Rechnung getragen werden soll, nur noch Sinnbegriffe verwenden, die eine gemeinsame Welt voraussetzen und den jeweils welthaften, systemrelativen Status von System und Umwelt neutralisieren.«17
Zumindest in dieser Weise lässt sich auch innerhalb der soziologischen Systemtheorie sinnvollerweise von Verschränkung sprechen. Mögliche Parallelen zur Quantentheorie sind hier in Hinblick auf die Figur der Entstehung neuer Unbestimmtheiten in der Interaktion von Systemen zumindest angedeutet, wohlwissend, dass wir hier von jeweils anderen Phänomenbereichen reden. Die jeweiligen Eigengesetzlichkeiten physikalischer, psychischer und sozialer Prozesse dürfen also weder aufeinander zurückgeführt noch in Hinblick auf ihre Operationsweise gleichgesetzt werden. Es wäre schlichtweg sinnwidrig, die Schrödinger-Gleichung auf soziale oder psychische Phänomene übertragen zu wollen.
16Maturana
und Varela (1987, S. 31). zitiert nach Fuchs (2018, S. 155).
17Luhmann,
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In diesem Sinne weist auch Peter Fuchs darauf hin, dass auch der Begriff der Verschränkung eine Metapher darstellt. Denn – um Fuchs nochmals zu zitieren – wenn man auf »Verschränkung achtet, macht es keinen Sinn, über Grenzen zu reden«. Doch zugleich gilt auch: »Ohne Beobachtung keine Grenzen«.18 Auch über Verschränkung lässt sich also nur systemrelativ reden, denn insofern wir wahrnehmen und bezeichnen, beobachten wir. Damit impliziert der Begriff der Verschränkung aber unweigerlich ein Bild, dass nicht genau dasjenige charakterisieren kann, was es zu bezeichnen vorgibt – nämlich ›grenzenloses Beobachten‹.
Gespräch mit Peter Fuchs Kommen wir nach dieser kurzen Einführung zu dem Gespräch mit Peter Fuchs. Er hat in den letzten Jahren unter anderem zum »System des Selbst«, zu Fragen der Psychotherapie (»Die Verwaltung der vagen Dinge«), wie auch zu den Grenzen von Sinnsystemen gearbeitet (»Der Fuß des Leuchtturms liegt im Dunkeln. Eine ernsthafte Studie zu Sinn und Sinnlosigkeit.«).19 In seinen aktuellen Arbeiten untersucht er, ob in einer gehaltvollen Weise von einer Verschränkung von Psyche, Körper und sozialen Systemen gesprochen werden kann. Beziehungen von Systemen und das Problem räumlicher Vorstellungen WV Zu den großen Themen Deiner Arbeit gehört ja die Frage, wie unterschiedliche Systeme – allen voran die Psyche und die sozialen Systeme – voneinander abhängen und miteinander in Beziehung stehen. Eines der Stichworte ist die ›konditionierte Koproduktion‹, was meint, dass unterschiedliche Systeme nur gemeinsam entstehen und existieren können. Dies ist ja bereits mit der Luhmannschen Definition des Systembegriffs angelegt: Ein System ist eine Funktion seiner selbst und seiner Umwelt, was ja eben auch die Strukturen und Dynamiken der anderen Seite der Systemgrenze voraussetzt. Wir haben es damit mit einer Einheit zu tun, die nur als Differenz zu haben ist. In Deinen Untersuchungen stellst Du ja dann immer wieder die Frage nach der Grenze von Systemen. PF Naja, für mich ist das jetzt schon seit Ewigkeiten ein Thema. Ich glaube, seit dem Buch »Reden und Schweigen«, das ich zusammen mit Luhmann
18Fuchs 19Fuchs
(2018, S. 155). (2010, 2011, 2016).
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gemacht hatte, fing es ja schon damit an, dass ich diesen Zweifel hatte. In »Die Metapher des Systems« habe ich das zum ersten Mal ausgearbeitet. Ja, Du hast es dort ja sehr stark infrage gestellt, dass man Systeme räumlich auffassen kann, etwa als ob sie im Sinne der Behältermetapher ein Innen und Außen haben würden. Um es an einem Beispiel deutlich zu machen: Wenn ich als Systemtheoretiker über Wirtschaft und Liebe spreche, kann ich mir eine Situation vorstellen, in der sich die Grenzen herausfiltern lassen. Also jemand kommt in ein Geschäft rein, und er geht nur in diesen Laden, weil ihm die Verkäuferin gut gefällt und weil er sie gerne sieht und vielleicht auch mehr von ihr will. Dann kommt er da rein und guckt dann auf diese ›anbaggernde‹ Weise auch und versucht sich so und so darzustellen und kauft dann eben deswegen Nadeln und Strümpfe für wen auch immer. Aber irgendetwas kauft er, und die Zahlung ist die Operation der Wirtschaft und gehört entsprechend zum Wirtschaftssystem. Und jetzt ist damit verknüpft, dass er eine Beziehung anbahnt. Entsprechend ist die Systemreferenz dann die Liebe. Der soziologische Systemtheoretiker würde es jetzt also mit mindestens zwei Systemreferenzen zu tun bekommen. Genau, und dann wird es schwierig, diese Referenzen durch eine scharfe Grenze zu trennen. Vom Wirtschaftssystem aus gesehen, muss man sagen: ›die Operation der Zahlung, die Operation der Zahlung, die Operation der Zahlung‹. Doch zugleich passiert was anderes! Und schon das Wort ›zugleich‹ ist hoch problematisch, das weißt du ja auch. Ja, damit wird ja ein räumliches Bild impliziert. An Punkt 1 passiert das und zur gleichen Zeit an Punkt 2 etwas anderes. Damit wird die Grenze in den Raum gelegt, aber was sagt uns das dann eigentlich? Ja, mit solchen Beispielen fing es an, dass die Grenzen von Systemen für mich immer unsicherer wurden, und daher kommt jetzt auch die Arbeit an der Verschränkung. Wir werden noch genauer darüber sprechen. Ich glaube, es gibt da bereits einen homologen Begriff aus der Antike: Synousia. Er wird übersetzt als abstandslose Zusammenheit. Und das Abstandslose hat mich sehr fasziniert. Der Zufall wollte es, dass ich zu der Zeit, als ich darüber nachgedacht habe, in Dresden war, im SkulpturenKabinett. Und da fiel mir zum ersten Mal auf, dass die Figuren gar keinen Rand haben. Aber wenn du die Skulpturen siehst, entsteht ein Rand, aus welchem Grund auch immer – aber es gibt keinen Abstand zwischen Raum und der Figur. Also beide sind im gleichen Zug da, und wir sehen sozusagen die Grenze hinein. Die Gestaltpsychologen sprechen da von Vordergrund und Hintergrund. Du brauchst den Hintergrund, um den Vordergrund zu sehen. Ungefähr, ja. Allerdings wird mit dieser Vordergrund-HintergrundMetapher das Ganze wieder räumlich aufgezogen, und das ist eine uralte
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Denkfigur, die man als Systemtheoretiker nicht so schätzen sollte. Denn dann hätte man wieder Innen-Außen oder Dahinter-Davor. Das sind problematische Raummetaphern, und in diesem Zusammenhang kam mir eben diese Metapher von der abstandslosen Zusammenheit in den Blick. Und zudem stellte sich für mich jetzt die Herausforderung, Zeit anders denken zu müssen. Ich bin immer mehr davon überzeugt, dass das in der Systemtheorie geschehen muss. Von einer unilinearen Zeit auszugehen, also von Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft und das in einer Richtung – ich glaube, das ist eigentlich schon seit Platon nicht mehr so recht zu machen. Dann aber stellt sich die Frage: Wie verfahren wir dann? Heidegger hat ja versucht, das ein bisschen aufzulösen, Wittgenstein übrigens auch. Er hielt es für eine Sünde, Zeit unilinear zu denken. Auch Derrida würde jetzt sagen: ›Weder Zukunft noch Vergangenheit‹ – und das wäre dann die Gegenwart. Luhmann spricht an dieser Stelle raffinierterweise vom Bruchpunkt. Am Bruchpunkt der Gegenwart entsteht dann Vergangenheit und Zukunft. WV Und all diese Fragen werden ja insbesondere virulent, wenn wir auf eine empirische Wirklichkeit treffen, in der unterschiedliche Systeme gleichzeitig vorhanden zu sein scheinen. Also zum Beispiel: Nehmen wir uns beide, wie wir hier jetzt sitzen: zwei psychische Systeme, zugleich ein Kommunikationssystem, dann noch unsere Nervensysteme. Die Zellen, aus denen unserer Körper zusammengesetzt ist, könnten auch wiederum als eigene Systeme beschrieben werden. Ein Systemtheoretiker würde an dieser Stelle den Begriff der Polykontexturalität einführen, um damit auszudrücken, dass die Existenz des einen Zusammenhangs nicht im logischen Widerspruch zu anderen Zusammenhängen steht, sondern unterschiedliche Zusammenhänge in einer nichttrivialen Weise miteinander verwickelt sind. PF Das sind alles Problemstellungen, innerhalb derer es für mich wichtig geworden ist, auf die herkömmlichen räumlichen Metaphern zu verzichten. Allerdings liegt die eigentliche Brisanz darin, dass der Systembegriff ohne die Annahme einer Grenze völlig umgestellt werden müsste. Doch nach eingehender Betrachtung können wir nicht wirklich sagen, dass es eine räumliche Grenze zwischen Körper und Psyche gebe. Hier handelt es sich nicht um Grenzen zwischen zwei Bereichen, sondern sie sind – so jetzt die Metapher – abstandslos zusammen, an keiner Stelle voneinander trennbar. Also wenn man das operativ denkt, sind Körper und Psyche auch nicht etwas Verschiedenes. Doch welche Metaphern findet man dafür, dass der Körper nichts anderes ist als Psyche und die Psyche nichts anderes ist als Körper? Also kein Gedanke, den du denken kannst, ist ohne Beteiligung deines Körpers möglich. Und wenn ich das sozial formuliere: kein Gedanke ist möglich ohne die Sprache.
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WV Und die Sprache verdankt sich der Interaktion, also sozialen Prozessen. Der mir zugängliche sprachliche Sinn hängt davon ab, in welcher Kultur ich sozialisiert worden bin. PF Und Sprache, ebenso Denken funktionieren nur mit dem Körper. Wenn wir innerlich sprechen, arbeitet die Muskulatur des Mundes haarfein mit den Innervationen zusammen, welche die Sprache produziert, durch die die Differenz von Laut und Sinn erst Profil gewinnt. Also wir können keine Tonleiter denken, ohne sozusagen ein minimales nervöses Steigen nach oben zu vollziehen. Wenn ich jetzt etwa das Wort ›Bein‹ sage, dann ist ein Minimum an körperlicher Beteiligung mit dabei. WV Diese Beteiligung der Körper zeigt sich ja auch in sozialen Prozessen, also z. B. in unserer Interaktion, anhand dessen, was zwischen uns passiert. Wenn ich demgegenüber jetzt die Kommunikation vollkommen von der Psyche abtrenne und dann noch davon den Körper abspalte, würde ich in einer eigenartigen Monadologie landen. Dein Bewusstsein und Dein Denken wären mir dann vollkommen fremd – und umgekehrt würde ich dann Dir vollkommen fremd erscheinen. Jeder von uns würde Zeichen von sich geben, die für den anderen dann eine Art Rauschen darstellen würden, dem er dann Sinn gleichsam zufügt. Denn – so das monadische Bild – unsere beiden Psychen würden ja jetzt vollkommen getrennte Systeme darstellen, die eine jeweils eigene, voneinander unabhängige Informationsverarbeitung hätten. Doch sobald man das in dieser radikalen Form ausbuchstabiert, merkt man sofort, dass das nicht ganz so funktionieren kann. Wir nehmen uns ja auch in unserer Körperlichkeit wahr. Unwillkürlich spiegeln wir einander. Wenn Du Dich plötzlich bewegst, zucke ich auch zusammen. Wenn ich Deine Worte höre, beginnt sich in mir auch etwas zu regen. Wenn sich Deine Stimmung ändert, merke ich unweigerlich, wie sich bei mir auch der emotionale Raum ein wenig umbildet. PF Hast du mein Hörgerät jetzt gehört? WV Hat es gepfiffen? PF Ja, das sagt mir … WV Batteriewechsel. PF Aber jetzt ist es da, weil ich es dir gesagt habe. Also in dem Moment entsteht ein gemeinsamer Zustand, den ich jetzt beschreiben könnte als ›das Hörgerät nicht hören‹. Und ich höre es, und jetzt habe ich es gesagt, jetzt könnte es wieder piepen, dann würdest du es vermutlich mithören. WV Dann verschränken sich gewissermaßen unsere gerichteten Aufmerksamkeiten, unsere beiden Intentionalitäten… PF In gewisser Weise… WV Also könnten sich verschränken… PF Ja… WV Und dann ist diese Schnittstelle von meinem Bewusstsein, meiner Sinnlichkeit, meiner Leiblichkeit in einer gewissen Weise anders mit Deinem
Verschränkung in der soziologischen Systemtheorie 213
Körper und Deinem Bewusstsein koordiniert als vorher. Ohne dass jetzt die hiermit einhergehende Subjektivität aus meinem System oder besser aus mir raus kommt… PF Und sie war auch nie darin. WV … und dann hören und erleben wir etwas als gleichzeitig. PF Also gleichzeitig kann etwas nur sein, wenn es das nicht sein könnte. Ich muss es also in den Konjunktiv setzen. Also wenn es das nicht sein könnte, dann habe ich Kontingenz. Und dann kann man sagen, dass eine solche Aussage, wie ›dies alles geschieht gleichzeitig‹, selber kontingent ist. WV Genau, wie jetzt in unserem Beispiel, mit dem Hören. Also, diese Gleichzeitigkeit in Hinblick auf das, was wir hören, entsteht ja erst durch die Verschränkung, in Folge der Synchronisation durch Deine Worte. PF Du markierst das Problem. Genau besehen, stecken wir damit in einem Dilemma, das sich aus der Differenz Gleichzeitigkeit/Ungleichzeitigkeit ergibt. Ich kann auf keine Weise bestimmen, was ›gleichzeitig‹ oder die damit anfallende Imagination des ›ungleichzeitig‹ bedeuten sollen, wenn ich nicht eine unilineare Zeit ansetze, in der vorher, nachher, vorhin, demnächst, nicht jetzt, später etc. Sinn machen. Luhmann sagte einmal sinngemäß: ›Alle Menschen altern gleichzeitig!‹ Mag sein, dass sie es tun, aber ich kann nicht feststellen, ob das wahr ist, es sei denn, ich glaube an eine kalendarische Zeit. Physiker haben nicht diese Probleme, ihr Zeitbegriff ist anders, sie können einfach sagen, dass die Geschwindigkeit und der Ort eines Teilchens nicht gleichzeitig bestimmt werden können. Luhmann sagte auch einmal, die Gegenwart sei der Bruchpunkt zwischen Vergangenheit und Zukunft, und wahrscheinlich hat er genau gewusst, dass ein Punkt keine Ausdehnung und insofern auch keine Zeit hat. Außerdem wird die Sache noch komplizierter, wenn man sich verdeutlicht, dass es weder Vergangenheit noch Zukunft gibt. Sie haben auch keine Zeit. Das mag ein Grund dafür sein, dass ich gerne von der Sinnzeit rede. Sie ist ganz anders, vor allem, wenn man Derridas Unbegriff der différance mitbedenkt.20 WV Indem du mich auf Dein Hörgerät hingewiesen hast, entsteht eine Gleichzeitigkeit zwischen Deiner und meiner Wahrnehmung, die vielleicht vorher gar nicht vorhanden war. Davor bin ich vielleicht in meiner eigenen Zeit gewesen, in meinen persönlichen Träumereien und Du mit deinem Hörgerät in Deiner Zeit. Und es bedarf dann seinerseits einer Operation, um überhaupt eine Gleichzeitigkeit herzustellen. Aber es muss nicht Gleichzeitigkeit zwischen uns sein, selbst dann nicht, wenn wir zusammensitzen.
20Vgl.
Derrida (2004).
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PF
Das meinte ich: Gleichzeitigkeit ist nicht in einem ›Zwischen‹. Mit ihr kann man nichts anfangen. Sozial geht’s natürlich, wenn der Sportreporter sagt: ›Hinz und Kunz waren gleichzeitig im Ziel!‹
Konditionierte Koproduktion anders gefasst: Die Verschränkung kippt in die Realität um WV Doch wie beschreibt man jetzt solche vertrackten Zusammenhänge aus einer systemtheoretischen Perspektive? Luhmann hat es ja zunächst mit der Idee der systemischen Koppelung versucht, doch diese Idee dann schnell wieder abgeändert, weil sich damit ja die Autonomie der Systeme auflösen würde. Es ist ja konstitutionell für den Systembegriff, dass ein System gegenüber der Umwelt eine gewisse Autonomie aufweist. Er hat das Konzept der Koppelung dann über die Figur Medium/Form weitergeführt und damit das Konzept der strukturellen Koppelung entwickelt, in Anlehnung an die konditionierte Koproduktion, von der Maturana und Varela sprechen. Wir haben dann zwei Systeme, die … PF Ja, die konditionierte Koproduktion ist ja immer ein Zulaufen auf die Auflösung der Figur von der Eins und der Zwei. Das Wort ›Koproduktion‹ enthält schon die Zwei, aber es ist – soweit ich weiß – ein aus der buddhistischen Metaphorik abgezogenes Bild, das schon nah dran ist an den Sachen, an denen ich auch arbeite. WV Die Zwei ist die Differenz, die Eins die Einheit, wobei die Einheit aber nur als Differenz zu haben ist und Differenz nicht ohne Einheit. PF Du hast ja eben davon gesprochen, was zwischen uns passiert. Und mit diesem Wort, mit dem ›Zwischen‹ fängt das Problem schon wieder an, und deswegen ist mein Interesse auch so stark, daran weiter begrifflich zu arbeiten. All das, was geschieht, wirft sozusagen etwas aus. Also es lässt ›Realität‹ kippen aus einer Mikrodiversität, die weitaus mehr umfasst als einem System zugänglich ist. WV Um eine Analogie aus der Quantentheorie zu nehmen: Das Umkippen entspricht dem Kollaps der Wellenfunktion. Mit Mikrodiversität meinst Du jetzt eine Komplexität, die alle körperlichen, psychischen und sonstigen Prozesse einschließlich ihrer Kopplungen umfasst? Und dann haben wir Systeme oder Begebenheiten in Raum und Zeit, für die etwas Bestimmtes, ein Bestimmbares ist, ein Phänomen, ein Konkretes, Materielles, Wirkliches eben … PF Also Luhmann sagt ja an einer Stelle, er würde die Phänomenologie des Geistes durch die Lehre von der Erscheinung der Differenz ersetzen wollen. In meinem Buch »Systemerien« spreche ich von der Erscheinung der différance. Damit passt sozusagen nichts mehr dazwischen, was noch irgendeine Ontologie wäre, doch sprachlich gesehen bleibt das Problem
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bestehen. Du weißt es ja auch: Egal was man sagt, man steckt drin – in der Falle der Seinszuschreibung. WV Ja, die Ontologie, die Lehre vom Sein. Sobald man sagt: ›Das ist.‹ ›Dies existiert aus sich heraus‹, dann hat man theoretisch-konzeptionell ein Problem. An dieser Stelle würde ich gerne noch einmal ansetzen. Du hast ja jetzt eine Analogie zwischen Derridas Begriff der différance und dem quantenmechanischen Begriff der Verschränkung aufgezeigt. Du schreibst in dem Buch »Systemerien«: »Dass psychische und soziale Systeme ein verschränkter (gemeinsamer, abstandsloser) Zustand sind, ist schon behauptet mit der System/Umwelt-Differenz. Sie besagt ja gerade, dass ein System und seine Umwelt nicht zu trennen sind. Dagegen opponieren die ›Hüben-und-Drüben-Beobachter: Das System ist hier, die Umwelt dort. Solche Beobachter ›entschränken‹ das System, ohne es zu merken.«21 In diesem Zitat wird der Begriff des Systems ja in zweierlei Weisen verwendet, einmal im Sinne der Einheit einer Differenz, also jener abstandlosen Zusammenheit, die nicht in räumlichen Vorstellungen fassbar ist, jedoch als Theoriefigur formuliert werden kann. Zum anderen erscheint das System als ein beobachteter Zusammenhang. ›Hier bin ich als System‹. ›Da bist Du als System‹. ›Meine Psyche, Deine Psyche‹. Wir können dann über ›die Wirtschaft‹ reden, die ja ›die Politik‹ und ›die Wissenschaft‹ als ›Umwelt‹ hat. In diesem Sinne sprechen wir von psychischen und sozialen Systemen. Systeme bekommen also, wie alles andere auch, erst durch den Prozess der Beobachtung ihre Realität, oder wie Du es formuliert hast: »Das System muss jeweils artifiziell via Beobachtung der Verschränkung entnommen werden.« Und dann hast Du geschrieben: »Aber auch Beobachter lassen sich Verschränkungen nicht entnehmen. Sie sind ins Spiel verwoben.«22 Der letzte Satz ist für mich besonders bemerkenswert, denn hiermit implizierst Du ja, dass der Beobachter keine Entität ist, die sich der Welt entnehmen ließe. Den Beobachter gibt es damit also ebenso wenig als Objekt wie als Subjekt. Beobachter erscheinen jetzt vielmehr selbst als eine Art Illusion, als Artefakt eines Zurechnungsprozesses. Sie entstehen in Beobachtungen, die dann fälschlicherweise den Beobachter verdinglichen. Doch egal welche Referenz man auch nimmt, sobald das System operiert, ist sozusagen keine Verschränkung mehr da, sondern etwas, das wir klassischerweise als Realität bezeichnen, in der Subjekte, Objekte und – wenn man weiß, wie man sie beobachten kann – eben auch Systeme erscheinen. Aber die Verschränkung – es ist jetzt schwierig, dafür Worte zu finden – erscheint damit sozusagen als eine Art Matrix, die nicht selbst System ist, aber aus der dann ständig Systemoperationen aus-
21Fuchs 22Fuchs
(2018, S. 175). (2018, S. 130).
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PF
flaggen, die beobachtbare Phänomene kondensieren lassen. Verschränkung findet ja per definitionem über den Raum hinweg statt, ebenso über die Zeit hinweg, und es gibt hier auch nicht die Form der Kausalität, wie sie für ein System erscheint. Um an dieser Stelle noch ein Zitat von Dir anzubringen: »Der Systembegriff ist nicht überflüssig. Er ermöglicht es, die Verschränkung für Beobachter zu ›beschränken‹. Allerdings muss Beobachtung selbst eingeschränkt werden: auf Unterscheidung und Bezeichnung.«23 Also zunächst mal würde ich sagen, dass das, was du eben zur Realität gesagt hast, ja das ist, was ich mit dem Kippen meine. Also etwas kippt sozusagen in eine Fassbarkeit hinein. Es schlägt dann in etwas um, was wir Realität nennen. Doch was die Verschränkung dann eigentlich ist, das wäre die eigentlich spannende Frage. Also einmal könnte damit ja einfach eine Hilflosigkeit, eine sprachliche Verlegenheit bezeichnet werden. Aber wenn ich das Wort différance anstelle benutze, dann habe ich ja dasselbe Problem. Deshalb habe ich mich ja intensiver mit der Quantenphysik beschäftigt, weil ich dachte, dort würde auf mathematische Weise eine einschlägige Sprache entwickelt. Aber letztendlich glaube ich jetzt, dass der mathematische Formalismus nur eine raffinierte Heuristik ist. Es fehlen also weiterhin die Worte oder die Begriffe, um zu sagen: das ist weder eins, noch differenziert es sich gegen zwei, sondern es ist etwas ganz anderes.
Verschränkung als Metapher und das Problem der Esoterik, die Einheit zu wollen WV Bei dem Thema, das wir gerade verhandeln, stellt sich unweigerlich die Frage, wie sich über etwas reden lässt, das sich einer Beschreibung mittels der Kategorien der Alltagssprache entzieht. Welcher Ressourcen bedarf es, um hier zumindest eine Ahnung zu bekommen? Ich habe gehört, wie Daniel Greenberger, ein Physiker aus New York, einigen jungen Physikern gesagt hat: »Geht in Ausstellungen, nehmt Gedichte, Romane. Also, wenn ihr gute Wissenschaftler sein wollt, zieht euch alles im Bereich von Literatur und Kunst rein, was ihr mitnehmen könnt.« PF Du betreibst ja gegenwärtig auch eine Art von Hybridenexistenz, nicht wahr? Auf der einen Seite ist diese Quantenphysik, und alles, was Dich daran interessiert, auf der anderen Seite die Soziologie, und dann hast Du jede Menge anderer Interessen, von denen man erleben kann, dass sie ganz anders geartet sind, Dich aber dennoch beeinflussen, ohne in einem Zusammenhang verrechnet werden zu können. Der moderne Not23Fuchs
(2018, S. 135).
Verschränkung in der soziologischen Systemtheorie 217
nagel ist, dass wenigstens das ›Selbst‹ als der eine Zusammenhalt des Disparaten genommen wird. Aber wir hatten ja schon angedeutet, dass diese Konvention äußerst brüchig geworden ist – nicht nur im Rahmen einer hier weit gefassten Intellektualität, sondern ganz alltäglich. Es ist die Form der funktional differenzierten Gesellschaft, die jene Konvention bricht und Ausdrücke wie ›Identität, Individualität, Selbstigkeit, Subjekt …‹ seit Jahrhunderten verdächtig gemacht hat und macht – mit zunehmender Tendenz, die alte ›Einheit‹ der Welt irgendwie zu restaurieren. Die SelfieSucht mag dafür ein Symptom sei, aber ebenso das Social Web, das man auch als D e-Privatisierung des Privaten begreifen kann. In diesem Kontext geschieht dann etwas Merkwürdiges. Verschränkung, dieser hochkomplexe Begriff, wird salonfähig. Einschlägige Bücher werden zu Bestellern. Stephen Hawking wäre dafür ein Exempel. Der Versuch einer ›de-mathematisierten‹ Darstellung, einer Art der Popularisierung ist allenthalben spürbar. Übrigens ist das mit der Allgemeinen Systemtheorie noch nicht so. Das Populäre findet man eher in sogenannten ›systemischen‹ Kontexten. Mein Eindruck ist, dass ›Verschränkung‹ mehr und mehr einem ›rolling back‹ zur Metaphorik des Verwobenen unterliegt. Sie wird zu einem quasireligiösen, geradezu mystischen Versprechungswort. Die Verheißung, die Losung, bezieht sich auf die Einheit des Uneinheitlichen. Deswegen ist das Verlangen nach einer einheitlichen Weltformel im eigentlichen Sinne: zutiefst romantisch. WV Genau, das sehe ich auch so. Damit ist eine deutliche Gefahr für dieses Projekt bezeichnet. Sobald ich nämlich die Quantentheorie mit der soziologischen Systemtheorie in einen Dialog bringe und dann schöne Begriffe finde, die eine allgemeine, verbindende Klammer suggerieren, wie jetzt hier vielleicht der Begriff der Verschränkung, dann kann es leicht geschehen, dass diese Metapher als Beschreibung der Realität genommen wird – und das wäre ein Irrtum. Ich vermute, dass dies schon Carl Friedrich von Weizsäcker in seinem Versuch passiert ist, Physik, Geistesgeschichte und Spiritualität zu verbinden. So wird allein schon mit dem Titel seines Werkes »Einheit der Natur«24 eine Einheit behauptet, die aber gewissermaßen das Staunen über die Welt ausschaltet, weil postuliert wird, dass man eigentlich die Antwort schon habe und das Rätsel zumindest prinzipiell gelöst hat. Dies ist aber eine Täuschung. Ich halte es dagegen eher mit Ludwig Wittgenstein. Für ihn ist es ja von zentraler philosophischer Bedeutung zu sagen: ›Ich bin dem Geheimnis der Welt dann nahe, wenn ich staune‹.25 Auf diese Weise lässt
24Weizsäcker 25Siehe
(1971). etwa Wittgensteins »Vortrag über Ethik« (Wittgenstein 1989).
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er das Geheimnis der Welt noch bestehen. Es herrscht demnach noch Offenheit und Neugierde. PF Ja, sicher. WV Immer wenn ich eine Einheit behaupte, etwa ›die Einheit der Natur‹, dann bin ich in der Falle, aber auch, wenn ich – wie etwa Rudolf Steiner – behaupte, das künstlerische Sehen mit wissenschaftlichem Sehen und der philosophischen Reflexion gleichsetzen zu können. Dann landen wir unweigerlich bei einem totalisierten Erkenntnismodus. Es entsteht dann eine Art Ideologie, um jetzt mal vorsichtig zu formulieren. Auf jeden Fall wird damit das kritische Potential der wissenschaftlichen Reflexion aufgegeben. Aber vermutlich tut man damit auch der Kunst und der Philosophie keinen Gefallen. Und umgekehrt befindet sich dann die Theologie oder die seelsorgerische Praxis in der Falle, wenn sie jetzt versucht, zu wissenschaftlich zu werden, also ihre Gegenstände auf scharfe Definitionen zu gründen und damit auf poetische und metaphorische Rede zu verzichten. Dasselbe gilt ja für die Psychotherapie, wie Du sie beschrieben hast. PF Genau, deswegen habe ich ja auch dieses Buch über die »Verwaltung der vagen Dinge« geschrieben.26 Also die Psychotherapie hat ihr Alleinstellungsmerkmal im Umgang mit unscharfen Verhältnissen, den unscharfen Bedeutungen der Aussagen ihrer Klienten und den hiermit einhergehenden Vieldeutigkeiten der Kommunikation. Da hat sie ihre ureigene Expertise. Und die gibt sie in dem Moment auf, wo sie Medizin werden will. Das machen die Psychologen dann aus Geldgründen, sie können dann Verschreibungen machen und das Geld der Krankenkassen in Anspruch nehmen. Dafür müssen sie Diagnosen fabrizieren, aber Diagnosen sind nun mal keine vagen Dinge. Jedenfalls sind sie bisher nicht so gedacht, dass damit auch über unscharfe Potentiale und Einschätzungen der psychischen und sozialen Lagerungen von Klienten gesprochen werden kann.
Theorie-Theorie: Lernen zu springen WV Verstehe ich Dich jetzt da richtig? Du meinst, dass diese Unschärfen unweigerlich auch schon im Begriff des Beobachters mit drin sind? Dasselbe gilt dann aber auch für den Systembegriff, der entzieht sich ebenfalls, umso genauer man ihn zu fassen versucht. Und dann probiert man es mit der Verschränkungsmetaphorik, was vielleicht einen anderen Bedeutungshof mit sich bringt, aber letztlich auch nicht zu einer definitiven Klärung führen kann. Habe ich Dich da richtig verstanden?
26Fuchs
(2011).
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PF
Ich denke, man kann das Problem auf einen Nenner bringen, wenn man erst einmal sagt, dass eine Abstraktionsebene gefunden werden müsste, auf der es möglich wird, Beobachtung zu beobachten. Denn im Moment, in dem das durchgeführt werden soll, wird’s tautologisch, zirkulär. Der Fehler des Idem-per-idem tritt auf. Allerdings ist es möglich, sich diesem Fehler gar nicht erst zu stellen, sondern einfach zu statuieren: ›Es geht nicht, also machen wir’s!‹ Mir hilft dabei ein Rekurs auf die Altbedeutung von ›Abstraktion‹. Abstrahieren, das ist wörtlich ›abziehen‹, Abstraktion entsprechend ›Abzug‹. Gemeint ist das Absehen von Konkretheit und die Inkaufnahme von Detailverlusten, kurz: spezifische Reduktion von Komplexität und Kontingenz. Hochabstraktion ist, so gesehen, ein ›Abzug von Abzügen‹, seltsamer gesagt: eine extreme Simplifikation, die Begrifflichkeiten begrifflich beobachtet – ohne Scheu. Die Luft ist dann dünner und kälter, aber was soll’s? Schön ist es aber, dass man Leute finden kann, die diese Art gesteigerter ›Abzüglichkeit‹ kennen und beherrschen und Theorie betreiben, die zum Beispiel ›Verschränkung‹ begreifen will, obwohl sie doch in das Spiel der ›Verschränkung‹ eingebunden sind. Es ist für mich kein Zufall, dass die Konzepte der Beobachtung (und des Beobachtens des Beobachtens) so früh in der Quantenphysik eine so zentrale Position besetzten wie nun auch in der Allgemeinen Theorie der Sinnsysteme. Meinem Eindruck nach ist in beiden Fällen von immenser Bedeutung, dass man lernte, dass man onto(logische)-Kalamitäten ignorieren kann, also mit unauflösbaren Komplexitäten ›leben‹ zu wissen. Doch um wieder auf unser Gesprächsthema zurückzukommen: Verschränkung spielt eine wichtige Rolle. Aber die Begriffe, die wir haben – und das würde ich auch für die Quantenphysiker geltend machen – führen nirgendwo hin, jedenfalls nicht in eine Ontologie der Dinge oder der Dinglichkeit. Also, sobald man die Einheit sucht, die EINE Theorie, die EINE Weltformel ausmacht, muss man schon daran scheitern, dass DIE Welt sich nicht vollständig beobachten lässt, wenn Beobachtungen in ihr stattfinden und kein ›ab extra‹ zur Verfügung steht. Schon sehr früh wurde das Problem formuliert: »Deus est sphaera infinita cuius centrum ubique, circumferentia nusquam.«27 Gott ist die unendliche Sphäre, deren Zentrum überall, deren Umfang nirgends ist. Will man über die
27Hermes
Trismegistos zugeschrieben, Buch der 24 Philosophen. Das Buch der 24 Philosophen wurde publiziert von Bäumker, C., Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters, Bd. XXV, Münster 1928. Der Satz wird immer wieder zitiert, z. B. von Meister Eckhart (Expositio libri Exodi, Nr. II 94, 17–15,3). Vgl. auch: François Rabelais (1494–1553), Gargantua und Pantagruel, 5. Buch, 47. Kapitel. Die Priesterin Bacbuc sagt zu den Abreisenden: »Ziehet hin Freunde, beschützt und beschirmt von dieser intellektuellen Sphäre, deren Mittelpunkt überall und deren Umfang nirgendwo ist, die wir Gott nennen.«
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Immanenz der Beobachter hinausgelangen, gerät man einfach in ein endloses Grübeln, in ein infinites ›Hintersinnen‹. Grübeln ist aber keine Lösung des Problems. In solchen Unlösbarkeitsfällen bietet sich die Chance zu springen, also nicht ein logisches Unglück zu beklagen, sondern einfach die Paradoxie als ›Sprunggelegenheit‹ aufzufassen. Ich beispielsweise atme durch, wenn ich sagen kann: ›Ich weiß nicht, was die Welt, was das Sein ist, aber ich will es auch gar nicht wissen. Sonst könnte ich aufhören zu denken.‹ Wer pathetische Sentenzen liebt, kann ja immer noch sagen: ›Ist dies alles nicht so erhaben, dass man nur demütig sein kann?‹ Aber ich binde mir derweil die Schuhe zu. Mein Eindruck ist, dass man in puncto ›Unbekümmertheit‹ viel von den Quantenphysikern lernen kann, aber eben auch von der Systemtheorie wie der Luhmanns. Irgendwie geht es um eine ›impossible mission‹, die in eine ›possible mission‹ transformiert wird. Die Referenz auf das ESSE wird durch die Referenz auf das POSSE ersetzt.28 So steht es auch, wenn man ›Verschränkung‹ ins Spiel bringt. Also müsste man vielleicht sagen, dass es an der Verschränkung liegt, dass eine Welt entsteht, in der die Dinge ungefähr so sind, wie sie sind. Wenn ich zu dir sage: ›Schieb mir den Stuhl her‹, haben wir ja kein Problem. Da entsteht unweigerlich eine Welt, da ist dann dieses plötzliche ›Einrasten‹ in eine ›konkrete‹ Welt. Damit befasst man sich ebenfalls intensiv in der Quantentheorie. Die Verbindung zwischen ihr und der allgemeinen Systemtheorie liegt dann in der ›Sinnförmigkeit‹, in dieser ›einseitigen Zweiseitenform‹, in deren extrem fluides Medium (Sinn-)Beobachtbarkeit eingeschrieben wird. WV Das entspricht dann dem Kollaps der Wellenfunktion. Wie auch immer, man rastet ein in eine Praxis – aber die kann immer nur wieder in der Sinnform bezeichnen… PF Ja, eine Praxis, von der man wissen kann, dass die Deutung mit der Praxis übereinstimmt. Aber die ist eben immer nur Deutung. Auslegung. Interpretation. Es ist dann eben immer nur gedeutet. WV Wenn ich das jetzt auf die soziale Welt übertrage: Ich kann sagen, meine Beziehung zu dieser Frau ist von Problemen geprägt und mein Handeln und Erwarten ist dann daran ausgerichtet, und dann kann das eine Weile ganz gut gehen. Ich kann sagen, ich liebe meine Frau und wenn das ernst gemeint ist, entsprechend handeln – und dann entsteht eine andere Praxis … PF Und bei der Liebe, da sind dann spezifische Zeichen, die werden gedeutet, werden in actu funktionieren. Auch hier ist ja alles immer nur symbolisch.
28Das lateinische Verb ›posse‹ meint ›können‹, ›vermögen‹. ›Esse‹ lässt sich mit ›sein‹ bzw. ›existieren‹ übersetzen.
Verschränkung in der soziologischen Systemtheorie 221
Abb. 1 Dreieinigkeit, Gemälde von Jeronimo Cosida: äußerer Text: Der Vater ist nicht der Sohn, der Sohn ist nicht der Heilige Geist; der Heilige Geist ist nicht der Vater; innerer Text: Der Vater ist Gott; der Sohn ist Gott; der Heilige Geist ist Gott
Wir können ja nichts hinter den Zeichen finden. Ich finde doch die Liebe nicht hinter der Zeichenwelt der Liebe. Ihre Form wird mir souffliert durch eine Sozialisation, die mir die je gültige Form der Intimität sozusagen ›anreicht‹. WV Ja, ganz klar. Also, das merkt man ja oft. Sobald es in der Beziehung kriselt, sind dieselben Zeichenverkettungen anders konditioniert – sie sind nicht mehr Zeichen von Liebe, sondern nur noch der Ausdruck von Heuchelei oder etwas anderem wenig Erbauendem – und dann erscheinen einem auch die früheren Gefühle als Illusion. PF Nur müssen wir darauf achten, dass wir über diese Form (heute und vielleicht bald nicht mehr) nicht im Modus der Individualität sprechen können. Wir können nicht einmal sagen, dass jene Aussage empirisch belastbar sei.
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WV Und vorher waren sie untrügliche Zeichen der Liebe, vielleicht einer unsterblichen, ewigen Liebe. PF Dito. WV Weil, also, es ist ja immer wieder davon abhängig, welche Korrelation da in die verschiedenen aufscheinenden Zeichen hineingesehen wird. PF Aber das meine ich ja immer mit dem Soufflieren, der ›Souflage‹, mit der ›Einblasung‹ von sozial angeliefertem Sinn, die wir üblicherweise ›Sozialisation‹ nennen. Hier wird dann auch deutlich, dass Erleben von Sinn nicht unabhängig von der sozialen Sphäre stattfindet, sondern in dieser Hinsicht komplett konditioniert ist. Hier hätten wir wieder einen Ansatzpunkt für die Verwendbarkeit der ›Verschränkung‹: Erleben, Kognition, Kommunikation sind in einem gemeinsamen Zustand, im Bezirk der ›abstandslosen Zusammenheit‹. Das Motiv findet sich besonders schön in der theologischen und künstlerischen Darstellung der ›Dreifaltigkeit‹. Schau mal! Besser geht’s kaum, wenn man über Verschränkung in der Sinnwelt spricht (Abb. 1).
Weitere Metaphern: der Zufall WV Genau und das Verrückte ist jetzt, dass auch die Quantenphysiker in manchen Experimenten auf solche komplexen Verwicklungen zu stoßen scheinen. Da gibt es diese Experimente von Zeilinger und seinen Kollegen zur Mehrteilchenverschränkung. In einem besonders raffinierten Experiment entscheiden sie erst, nachdem sie zwei Teilchen gemessen haben, ob die komplementären Teilchen noch miteinander verschränkt werden oder nicht. Und dann stellen sie fest: Egal wie man es macht, entweder bekommt man strenge Korrelationen zwischen dem einen Paar oder zwischen dem anderen Paar, aber alleine gemessen, erscheinen nur Zufallsereignisse. Nur wenn die zwei Teilchenfolgen gemeinsam betrachtet werden, finden sich Korrelationen. In Hinblick auf die Begriffsgeschichte ihrer eigenen Theoriebildung betrachten die Physiker diese Phänomene dann als ›Verschränkung‹. Wer nur die Einzelereignisse betrachtet, sieht ›Zufälle‹. Wer aber Beziehungen betrachtet, sieht Korrelationen – und das ist dann für die Physiker die ›Verschränkung‹. PF Ja, wobei man eben sofort sieht – jetzt wieder von unserer Perspektive aus gedacht –, dass man, wenn man zum Beispiel von Zufall spricht, eine Metapher hat. Zufall ist doch kein Begriff, der eine Tatsache bezeichnet. Also die Physiker werden jetzt auch eine bestimmte Definition von Zufall haben. Doch sie kann meiner Meinung nach nur funktionieren, wenn sie im Rahmen der Mathematik steht. Ansonsten ist Zufall eine Konvention. Das kann man wissen und deswegen jede Aussage vermeiden, die ›Zufall‹
Verschränkung in der soziologischen Systemtheorie 223
WV
PF WV
PF
WV PF
WV
ontologisch definiert. Damit wird es aber auch notwendig zu fragen, ob nicht auch die Mathematik im Kontext der Konventionalität arbeitet. An dieser Stelle kommt die statistische Mechanik ins Spiel und mit ihr das Problem der Entropie, die etwas mit dem Verhältnis von Wissen und Nichtwissen zu tun hat. Die Unordnung erscheint ja nur für denjenigen unordentlich, der die Ordnung nicht kennt. Informationstheoretisch gedeutet, ist ja Zufall nur ein Ausdruck von Nichtwissen. Das ist von der Form her ein ›Scio ut nescio‹ (›Ich weiß, dass ich nichts weiß‹) eine sehr alte, heute aber wieder aparte Paradoxie. Unweigerlich kommt da die Beobachterproblematik mit hinein. Damit stellt sich das Problem bzw. die Frage, ob das Nichtwissen ein subjektives Phänomen ist oder eine objektive Qualität physikalischer Systeme, und hier wird ein redlicher Physiker, wenn gefragt, was denn nun der Fall ist, nur antworten können, dass diese Frage nicht beantwortbar sei. Ob redlich oder nicht, er hat keine andere Wahl als sich nicht einzulassen auf diese Frage, die nur Freiheitsmöglichkeiten verspielt. Und das weiß die Quantentheorie ebenso wie die Protagonisten der Allgemeinen Systemtheorie. Also, an dieser Stelle merkt man klar, dass der Begriff des Zufalls auch nur einer Verlegenheit geschuldet ist. Verlegenheit, das würde ich vielleicht nicht sagen. Es gibt keinerlei Möglichkeit, Zufälle nachzuweisen. Man kann ja nur feststellen, dass ein Ereignis als Zufall beobachtet wurde. Und das heißt ja nichts weiter als: Man hat nicht erwartet, dass ein Ereignis jetzt und hier passieren würde. Ist es Zufall, dass man gerade nicht über die Bananenschale gerutscht ist, die da lag? Ist auch ein Zufall, nicht wahr, und wenn man ausgerutscht ist, wiederum. Es ist hier wie mit Kausalität, man rechnet immer auf Ursächlichkeiten zu. Also, bei der Kausalität finde ich es – wie Kant auch – immer sehr wichtig, auf die Kontingenz zu verweisen, die sich hinter dem Begriff und seiner Demontage verbirgt. Das kann man auch mit Studenten in Lehrveranstaltungen einfach verdeutlichen, indem man fragt: ›Nennen Sie mir mal die Gründe, warum Sie hier sind.‹ Und dann kann der Studierende selbst wahrnehmen, wie es rattert in seinem Kopf, wie er sich fragt, was man unter den gegebenen Bedingungen anschlussfähig als Antwort geben könnte. Und wenn man dann eben weiterfragt, dann könnte er ja auch irgendwann sagen: »Weil ich damals nicht über die Bananenschale gerutscht bin.« Also, es ist ein reines Spiel der Bedeutungen und Deutungen. Ich weiß jetzt nicht so ganz genau, welche Modellierung des Zufallbegriffs die Quantenphysiker konstruieren, wenn sie so etwas sagen wie: ›Das ist jetzt zufällig und das ist nicht zufällig.‹ Letztlich bleibt denen oft nichts anders übrig, als zu sagen: ›Der Beobachter hat ein begrenztes Wissen‹ und ›das, was gemessen wurde, ist vom Beobachter bzw. Versuchsleiter selektiert worden‹. Mit raffinierteren
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Experimenten können sie die Selektion dann an die Naturgesetze delegieren. Beispielsweise lassen sich bestimmte Weichenstellungen in Experimenten durch Sterne steuern, die Lichtjahre von der Erde entfernt sind, also Ereignisse, die gewissermaßen über Lichtjahre hinweg als mit hiesigen Ereignissen verschränkt zu denken sind. Das Verrückte ist ja auch, wenn man die unterschiedlichen möglichen Interpretationen der Quantentheorie betrachtet, die ja alle in sich schlüssig sind, dann kann man mit David Bohm eine vollkommen deterministische Interpretation der Quantenmechanik bekommen. Hierfür muss man aber dafür in Kauf zu nehmen, dass man nun einen Holismus hat, der das komplette Universum mit einbezieht. Wir haben dann einen Determinismus, der eine Ganzheit als Totalität voraussetzt, was mit Blick auf unsere lebensweltliche Erfahrung schon ein wenig bizarr klingt. PF Die Systemtheorie verzichtet dezidiert auf die Ganzes/Teil-Schema und ersetzt es durch System/Umwelt, durch eine Differenz, die Kontinuität und Diskontinuität verschweißt. Deswegen ist das System nur bezeichenbar als die Barre der Differenz. WV Und genauso gibt es eine Interpretation der Quantentheorie, die davon ausgeht, dass in einer konkreten Interaktion von Quantensystemen jeweils eine objektive Unbestimmtheit auftrete. Eine andere Deutung geht davon aus, dass es sich bei der Unbestimmtheit, von der etwa die Heisenbergsche Unschärferelation spricht, nur um eine subjektive Ungewissheit handele. Aber beide Positionen gehen ihrerseits mit metaphysischen Problemen einher – etwa, dass der physikalisch nicht erklärbare Subjekt-ObjektSchnitt in Kauf genommen werden muss. PF Na klar. Diese Erzwingung des In-Kauf-Nehmens ist, wenn man Sinnsysteme voraussetzt, leicht erklärbar. Aber damit eröffnet sich ein weites Feld
Von der Weisheit, bei fundamentalen Fragen auf klare Definitionen zu verzichten WV Das erinnert mich jetzt an eine spannende Stelle aus einem Gespräch mit Anton Zeilinger. Wir haben darüber gesprochen, dass das von ihm entwickelte Paradigma, Information als grundlegendes Prinzip der Physik zu betrachten, ja forschungspraktisch außerordentlich fruchtbar ist. Es hat die Wiener Gruppe zu einer Vielzahl produktiver Experimente geführt. Und in dem Zusammenhang habe ich ihm Gregory Batesons Definition vorgelegt, die in systemtheoretischen Kreisen recht beliebt ist:
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»Information ist ein Unterschied, der einen Unterschied macht«.29 Und dann hat Zeilinger sinngemäß geantwortet, ›Ja, das sind schöne Worte, das klingt erst mal gut, aber fundamentale Begriffe lassen sich nicht definieren, weil sie eben fundamental sind.‹ Ich habe das dann irgendwann den Philosophen an meiner Fakultät erzählt und die haben dann gesagt: ›Okay, das ist ein wenig naiv und undifferenziert.‹ Ich denke demgegenüber: Da ist jemand, der sich fünfzig Jahre mit dem Thema auseinandergesetzt hat – also Zeilinger hat versucht, den Bohr zu verstehen, den Schrödinger, den Einstein – und dann hat er das von allen Seiten betrachtet und sich in Wissenschaftsfelder hineinbegeben, in die sich bislang niemand hineingetraut hat. Allein aus diesem Grund muss eine tiefere Weisheit – oder vielleicht besser eine Art ausgedehntere Erfahrung – in dieser Antwort drinstecken. Er hätte sich auch entscheiden können, zu sagen: Ja, es gibt Systeme und dann ist ja ganz klar, was Information ist. Doch mit dieser Definition würde Zeilinger dann eine Grenze setzen, die er aber so aus guten Gründen nicht haben will. PF Ja, ich würde ihm sofort zustimmen und würde sagen, wir beide stecken sozusagen in der gleichen Lage. Also wir stoßen ja auch heute in dem Gespräch auf das Problem, dass wir es eben mit etwas kaum Fassbarem zu tun haben und das ist genau so komplex, dass sich auch für uns die Frage stellt: Ab wann, sage ich, es lohnt sich nicht mehr, sich damit zu beschäftigen, sondern es ist besser an einer anderen Stelle weiterzumachen? WV Ja, und das scheint mir das Interessante zu sein, dass solch ein Problem genau beim Informationsbegriff auftaucht. In der Physik kommt die Frage der Information unweigerlich beim Begriff der Entropie ins Spiel. Also Entropie ist ohne Negentropie, also irgendeiner Art von Information, nicht denkbar. Aber wenn das so ist, was ist dann Wissen? Also wenn ich chinesische Zeichen sehe, ist es für mich nur Rauschen. Die haben keine Bedeutung für mich, vielleicht schön anzusehen… PF Ja, natürlich, für mich sind die auch nur Rauschen… bis auf den Punkt, dass ich ja schon weiß, dass es um einen Text geht, also schon eine bestimmte Ordnung voraussetze. WV Also ist es vom Beobachter abhängig. Aber was ist der Beobachter? Er ist ja auch ein physikalisches Phänomen. PF Nein, das glaube ich nicht. Vielleicht haben wir es mit einer ›orientierten Struktur‹ zu tun. Luhmann spricht von einem ›Gebilde‹, also von einer Art Musterbuch für Webarbeiten. Das finde ich ganz schlau und fände es noch schlauer, wenn man an dieser Stelle die Zeit der différance heran zöge. Ich denke hier einfach nicht an etwas Physikalisches, wohl aber
29Bateson
(1987, S. 123).
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WV PF WV PF
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daran, dass die Lehre von der différance – dieser anderen Form der Zeit – auch für die moderne Physik wichtig sein könnte, jedoch ebenso für die Modellierung ›künstlicher Intelligenz‹. Also, in dem Moment vermischt sich alles. Sobald ich darüber ausführlich nachdenke, komme ich bei dem Informationsbegriff an kein Ende. Ja, das ist richtig. Man muss sich also entscheiden, wobei Heinz von Foerster die Paradoxie baut: Nur das Unentscheidbare ist entscheidbar. Und in dem Sinne ist es ein Komplex, der mich zu allem führt. Pikanter erscheint mir, nicht ›Komplex‹ zu sagen, sondern ›Komplexität‹. Da hat man gleich eine verschränkte Relation und nicht eine ›Tatsache‹. Spannend ist, dass mit dieser ›Verfaltung‹ auch ein Ausdruck wie ›Implex‹ möglich wird, der so viel wie ›Einfaltung‹ bezeichnet. Das wäre der Prozess einer ›Superverdichtung‹. Also, wie auch immer, in Hinblick auf die epistemischen und ontologischen Fragen lässt sich keine Eindeutigkeit gewinnen und damit finde ich es auch verständlich, wenn ein so erfahrener Physiker wie Zeilinger sagt, »Alle -ismen sind zu klein für mich, alle Kästchen sind zu klein«. Ich meine, man kann das auch einfach gelassen sehen und sagen, dass seitdem Philosophie ihr Eigenspiel spielt, die allmähliche Entfaltung einer Art von verantwortlichem Denken auftritt. Und diese Entwicklung wird initiiert, wie du schon sagst, anhand von Tradition und Alltagsverständnis: ›Die Dinge sind, wie sie sind‹. ›Die Sonne geht auf, egal ob sie beobachtet wird oder nicht, aber sie geht jedenfalls auf.‹ Aber sie geht nicht auf. Ich glaube einfach, dass sich die epistemologische Situation im Ganzen nicht geändert hat. Nur, die Lösungen standen oft im Dienst des Nachdenkens über Absolutes. Sie waren auf ›die Welt plus Transzendenz‹ bezogen. Ich glaube, das wäre angesichts dessen, was wir heute wissen, nicht mehr so leicht machbar. Aber wir haben andere Kommunikationsprobleme. Also, wenn ich jetzt sage, ›was wir ja gerade behauptet haben, ist nur denkbar in der Verschränkung mit etwas anderem‹, dann ist das im Alltag kein Satz, der sich sozusagen alltäglich bestätigen ließe. Wenn wir ›Ich‹ sagen, dann haben wir ja schon irgendwie von einem Du Gebrauch gemacht. Wir haben psychisch und sozial etwas ganz Kompliziertes hergestellt. Und das bestätigt sich dann auch noch laufend in der Kommunikation. ›Ich bin Ich‹. ›Du bist Du‹ und unsere Körper machen das ja automatisch mit. Du nimmst dich schließlich mit, wenn Du nach Hause gehst, und ich kann dann sagen, ›Werner ist nicht mehr da‹, Du bist physisch nicht mehr da, aber Deine Identität läuft für mich weiter. Ich kann jemandem sagen: ›Werner war heute bei mir …‹. Dabei ist ›Identität‹ auch wieder nicht das richtige Wort, sondern eine logische Falle. Ja, wir können uns jetzt über solch komplexe Problemlagen der Verschränkung von Psyche, Körper und Sozialem unterhalten, doch damit wird immer noch nicht klar, was Verschränkung eigentlich ist, im Gegenteil,
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die ontologischen und epistemologischen Kategorien, die eine eindeutige Bestimmung ermöglichen würden, kommen unweigerlich ins Wanken. PF Das Problem besteht im Prinzip darin, um es denn möglichst undramatisch ausdrücken: ›Verschränkung ist kein Weltproblem‹. WV Ja, sobald wir eine Welt haben, haben wir ja etwas Eindeutiges, eine bestimmte Gestalt. PF Wenn wir sagen, ›die Welt ist eine verschränkte‹, dann dürften wir in dem Sinne ›Welt‹ schon gar nicht sagen, denn die Welt ist etwas, das uns als etwas Distinguierbares erscheint. In unserem Fall entsteht damit zugleich ein epistemisches Problem. Bestimmte Muster funktionieren nicht mehr so. Als das Muster ›Sein oder Nichtsein‹ allmählich verschwand, es verschwand nicht ganz, aber epistemologisch verschwand es, da musste man sich sozusagen ein anderes Muster einfallen lassen. Das ist auch geschehen. Und mit diesem Einfallen kommt irgendwann der Punkt, wo der Begriff der Grenze nicht mehr funktioniert. Und das heißt, dass auch der Begriff des Systems nicht mehr funktioniert. Und darin liegt sozusagen meine größte Sorge. Nein, Sorge ist nicht das richtige Wort, aber ich ahne sozusagen, dass es in meinem neuen Buch dahin kommen wird. Ich weiß, dass das wirklich lange dauern wird, bis es fertig ist, das wird langsam gehen, ich weiß, dass es wirklich auf jede Formulierung ankommt. Wie auch immer, wenn ich jetzt mit Physikern diskutieren würde, dann würde ich denen irgendwann sagen müssen: ›Ihr verwendet in Anbetracht des Problems, mit dem ich wohl auch zu tun habe, das Wort Verschränkung‹. Aber ›Verschränkung‹ ist ein hässliches Wort. Gut, hässliche Wörter können ja wahr sein, in dem, was sie bezeichnen, aber der Begriff strahlt jetzt nichts weiter Geheimnisvolles aus, denn jeder verbindet automatisch etwas mit dem Wort. Der eine stellt sich einen Arm vor, der mit dem anderen verschränkt ist. Der andere eine Bahnschranke, oder sonst irgendwas in der Art. Doch wir wissen jetzt, dass dieser gemeinsame Zustand von Teilchen auch den Raum überschreitet, also auch bei größter Entfernung gilt – und auch das ist etwas, was ich für meine Fragestellung so ein bisschen übernehmen könnte. Ich sage mal vorsichtig und vorläufig ›ein bisschen‹. Ich bin überzeugt davon, dass man das kann, aber dass wir die Konsequenzen noch nicht überblicken, wenn wir dies im Falle des von uns verwendeten Systembegriffs tun. Dass der Systembegriff dabei sozusagen verändert wird, oder vielleicht sogar ganz verschwindet, das ist das Risiko, das ein Wissenschaftler auf sich nehmen muss, wenn er an solch einer fundamentalen Stelle irgendetwas verändert. Aber wenn man dann die Verschränkung hat, was passiert dann mit dem System? WV Das System konstituiert ja per se eine Spaltung, das System als Funktion seiner selbst und seiner Umwelt… PF In dem Zusammenhang würde ich mich auch fragen, was die Quantenphysiker machen würden, wenn sie die Weltformel hätten. Keine Ahnung.
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WV Wenn sie alles hätten, gäbe es ja keine Differenz mehr, also auch keinen Beobachter. PF Also, ich glaube nicht, dass es die Weltformel gibt. Dann müsste die Welt ja wirklich eine Einheit sein. Allerdings formuliere ich gegen meine Prätentionen, denn die Frage, ob es etwas gibt oder nicht, stellt sich mir nicht. Wenn ein Physiker, wie wohl kürzlich, einen massenmedialen Erfolg hat, weil er die Nichtexistenz des Universums behauptet, berührt mich das nicht im Mindesten. Sein oder Nichtsein, das ist keine Frage, mit der ich etwas anfangen kann. WV Ich möchte jetzt gerne noch einen anderen Aspekt ansprechen, der es schwierig macht, das Verhältnis von Systemen zur Verschränkung zu spezifizieren. Systeme verarbeiten ja Information. Sie sind information gathering systems, Systeme, die Informationen sammeln und daraus etwas machen. Sie beruhen auf einer bestimmten Form der Selektivität, sodass manches etwas für sie bedeutet bzw. für sie instruktiv wird und sehr vieles eben nicht. Die Verschränkung, wie sie von den Physikern definiert wird, zeichnet sich aber jetzt gerade dadurch aus, dass mit ihr keine Informationsübertragung stattfinden kann. Entsprechend dem sogenannten No-Cloning-Theorem würde in dem Moment, wo ein Quantenzustand teleportiert wird, also das Ergebnis einer Verschränkung an einer anderen Stelle manifestiert wird, gleichzeitig eine neue Unbestimmtheit entstehen, welche die zu übertragende Information wieder vernichtet. Auch mit Blick auf die Frage, was Information ist, liegt die Verschränkung, bzw. die mit ihr verbundenen physikalischen Konzepte, also quer zu dem Systembegriff. Das macht den Begriff der Verschränkung gewissermaßen noch geheimnisvoller, denn all das, was uns in unserem Leben vertraut ist, läuft auf Basis von Informationsverarbeitung. PF Sobald man sich in der Sinnwelt bewegt, kann ich ja sagen, dass, wenn ich den Lichtschalter betätige, da eine Information läuft, die den Strom anknipst oder was auch immer. Wenn ich Information aber jetzt als Systemtheoretiker beobachte, dann stellt sie sich ja als eine Trias dar. In der Kommunikation ist die Information ja nicht nur einfach etwas, das einen Unterschied macht, sondern sie ist immer mehr – vielleicht sogar eine Verschränkung von Information, Mitteilung und Verstehen.30 Das würde ich genauso auf psychische Operationen beziehen, also ich habe auch hier danach zu schauen, was im psychischen Prozess das Äquivalent für Information, Mitteilung und Verstehen ist. Das heißt also, die Information ist sozusagen für uns jetzt nicht etwas, was unabhängig davon beobachtet werden könnte, wie sie gemeint ist, wie sie ausgedrückt wird, und welcher Anschluss erfolgt. Und das ändert den Informationsbegriff.
30Siehe
hierzu ausführlicher Luhmann (1984, S. 191 ff.).
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Das ist dann nicht einfach ein Bit, sondern es müssen dann eben all die anderen Prozesse immer vorausgesetzt werden. WV Ja, es setzt dann alle weiteren Ausdifferenzierungen voraus, es setzt voraus, dass es Systeme gibt, die Information in dieser und nicht in anderer Weise verarbeiten, es setzt voraus, dass es Strukturen gibt. Strenggenommen, setzt es die ganze Entwicklung des Universums voraus… PF Ja … Also auch ›die schwarze Milch der Frühe‹? (Paul Celan) WV All die hiermit einhergehenden Entfaltungen und Einfaltungen – David Bohm spricht hier von einer impliziten Ordnung.31 PF Ja, wenn wir von dem aktuellen Zustand, also wenn wir jetzt von Gegenwart sprechen, meint das ja nicht, dass wir etwas erinnern, sondern dass wir jetzt so und nicht anders sind. Und entsprechend dem gegenwärtigen Stand unseres Wissens ist es so, dass wir gar nichts anderes sagen können, als dass der ganze Zustand eines Universums vorausgesetzt wird, wenn ich jetzt hier sitze und rede. Hierin liegt ja auch das Potential des Begriffs der Verschränkung, nämlich dass ich sozusagen nicht mehr daran festhänge, jetzt definieren zu wollen, wo ist Kommunikation, wo ist Information, wo ist Verstehen, sondern dass das, was hier zu geschehen scheint, Teil einer nicht kausalen Verkettung ist, um es jetzt als Paradox auszudrücken. Als Wissenschaftler findet man es immer schön, wenn man an einer Frage verzweifelt. Im hier diskutierten Fall ist das so. Also der Begriff der Verschränkung verspricht so viel, aber gleichzeitig ist es wichtig, nicht zu verkennen, dass er trotzdem eine Metapher bleibt. Denn die Wissenschaftler bestimmen ja selbst, was sie als Verschränkung auffassen wollen und was nicht. Dann reden sie beispielsweise von Lichtjahren, aber dann muss man scharf überlegen, ob diese Rede dann konsequent ist, wenn man von Verschränkung spricht. Also, wenn etwas verschränkt ist, ist es denn dann weit auseinander oder nah beieinander? Oder sind die Messergebnisse so formuliert, dass man sich eine Linie vorstellt, etwa ›Am Anfang ist eine Kugel und am Ende ist eine andere Kugel und beide verhalten sich, wenn der Zustand teleportiert wird, so, als ob sie voneinander kausal abhängig wären.‹ Sind sie aber nicht, nach den mathematischen Formulierungen jedenfalls nicht. WV Genau, das ist alles sehr bizarr, insbesondere wenn dann Begriffe aus der Alltagssprache verwendet werden. PF Ja, es ist bizarr, und dahinter stecken aber ganz, ganz viele Metaphern und ich weiß nicht, inwieweit die überhaupt als Metaphern sichtbar werden. Es gibt ja die Katachrese als Sonderform der Metapher. Die rhetorische Figur der Katachrese bezeichnet die gestorbene Metapher. Ein Beispiel ist der ›warme Klang‹ oder der ›Handschuh‹. Man weiß nicht mehr, woher
31Bohm
(1980).
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das sprachliche Bild kommt, wann es entstanden ist. Also man merkt im Alltag nicht mehr, dass es eine Metapher ist. Und fast alles, was wir denken, sagen oder schreiben könnten, beruht auf Katachresen, und auch die Quantenphysik steckt voll von gestorbenen Metaphern, deren Konsequenzen man nicht mehr mitbewegt, nicht mehr mitdenkt. Aber nicht nur in der Quantenphysik ist das so, bei uns Systemtheoretikern verhält es sich nicht anders. Der Begriff ›System‹ ist ja selber schon eine Metapher. Ich persönlich habe noch nie ein System gesehen. Die Quantenphysiker haben aber auch noch nie ein Quantum gesehen, sie haben Messergebnisse. Doch ich könnte jetzt nicht über Verschränkungen nachdenken, wenn mir die Physiker sozusagen nicht die Metapher vorgegeben hätten. Und dann sieht man ja, dass Du zum Beispiel mit den Leuten ja auch darüber sprichst. Ich bin übrigens der Auffassung, dass die Physiker wenig von der ›Form von Sinn‹ verstehen. Und die werden mir dann wohl sagen können: ›Du verstehst zu wenig von Mathematik‹. Aber ich denke mir, genau auf dem Problemniveau, im Gefilde der Hochabstraktionen, müsste Theoriearbeit geleistet werden. Dazu würde ich rechnen, dass berühmte Denker wie Einstein, Heisenberg und andere ihre Interessen weit über das Alltagsmaß hinaus erstreckt haben. Literatur, Musik, Kunst waren ihnen keineswegs fremd. Das kann man auch von Sigmund Freud oder Niklas Luhmann sagen. Für mich ist immer auch die Domäne der Mystik faszinierend. Da finden sich wundersame Paradoxien, die die Möglichkeit jeder Unterscheidung aufbrechen. WV Ja, da findet sich die sublime Ahnung von Verschränkung. PF Wenn ich heute über Verschränkungen spreche, gerate ich ja immer in den Verdacht, dass ich nun auch noch den Systembegriff weghaben will. Aber das ist gar nicht der Fall. Ich will ja nichts verlieren, nichts einbüßen von seiner Leistungskraft. Aber bei bestimmten Problemen bleibt nichts übrig als Sprunggelegenheiten zu suchen, die es gestatten, über den Horizont einer Theorie zu hüpfen. In dieser Hinsicht scheinen mir die modernen Physiker in ihrem Denkmodus sehr ähnlich zu operieren. Sie haben eine Frechheit oder Furchtlosigkeit, die es ihnen gestattet, quasi berufsmäßig Ontologien zur Seite werfen zu können. Aber sie wissen auch, dass man dabei gar nicht anders kann, als Katachresen – lexikalisierte Metaphern – zu benutzen, innerhalb derer ja doch wieder Weltrepräsentationen auftauchen. Wenn wir sie vermeiden könnte, wäre es ja gut, aber wie? Um jetzt wieder auf das soziologische Terrain zurückzukommen, wenn man sagt, Körper, Kommunikation und Bewusstsein sind verschränkt, sind also in einem gemeinsamen Zustand, dann hat man, denke ich, einerseits genau getroffen, worum es geht – aber damit sind wir bei der gleichen Problemlage. Wie sollen wir darüber reden? Also, es geht darum, dass wir bisher immer trennen. Wir sagen: ›Das hat der Körper gemacht‹.
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›Das hat die Psyche gemacht‹. ›Das hat jetzt das soziale System gemacht‹. Doch irgendwie und auch logisch gesehen sind sie jederzeit in einem Zustand der gemeinsamen Ko-Produktion oder vielleicht könnte man auch sagen: K o-Variation, ob man jetzt auch Ko-Relation sagen kann, da muss ich noch drüber nachdenken. Mich stört bei alledem das ›Ko‹
Die implizite Ordnung hat keinen Telos und Systeme verbinden sich nicht zu einem Supersystem – vom Problem der Zeit WV Du hast ja auch auf die hochparadoxen und metaphernreichen Texte der mystischen Tradition verwiesen. In dem Zusammenhang ist, glaube ich, der Hinweis wichtig, dass Mystik das Gegenteil von Esoterik ist. PF Vielleicht nicht das Gegenteil. Für mich ist Esoterik die Praxis ungedeckter Glaubenssätze, im Kern ›Geheimnisereien‹, die den Vorzug der Trivialität haben. WV Also, wovon Du sprichst, das liegt ja alles im Bereich der Immanenz. Die konditionierte Koproduktion von Kommunikation, Bewusstsein und Körper steht im krassen Widerspruch zu der Annahme der Esoteriker, dass es einen tieferen Zusammenhang außerhalb oder jenseits der Welt gibt. PF Also, wenn es um ›tiefere Zusammenhänge‹ geht, würde ich, wie gesagt, wahrscheinlich eher von Mystik reden, die ja auch vordringlich die ›Allheit‹ im Gegensatz zur Mannigfaltigkeit der Welt thematisiert und diese Referenz nicht unbedingt an die Leitunterscheidung der Religion, Immanenz/Transzendenz, oder an deren Zweitcode Heil/Verdammnis knüpft. Im Zentrum steht die ›Unio mystica‹ und die Praxis, die das entsprechende Erleben ermöglichen soll. WV Dieser immanente Zusammenhang ist uns aber verstellt, weil wir sozusagen nur als Systeme auf die Welt blicken und dann das erleben, was uns aus der Perspektive eines Systems phänomenalisiert wird. Jedes Beobachten beruht ja auf einer hochgradigen Selektivität, die unweigerlich all das als blinden Fleck hat, was nicht beobachtet wird. PF Deshalb ist für mich ja auch die Forcierung des Beobachtungsbegriffes so wichtig geworden. Das heißt, wenn wir aus dieser Perspektive von Kontingenz sprechen, geht es nicht mehr um Möglichkeiten, um Zufall und Notwendigkeit, sondern um einen bestimmten Reproduktionsmodus von Sinn. Und wenn man dann von der Verschränkung von Kommunikation und Bewusstsein oder Psyche redet, dann wird klar, dass man kein Skalpell anlegen und separieren kann, was jetzt eine soziale Operation war, was eine psychische Operation. Und die Frage ist dann höchstens, ob es da ein Megasystem, ein Supersystem gibt. Doch die Vorstellung eines globalen Supersystems ist ja hochgradig problematisch. Aber was haben wir dann?
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WV Mit dem Supersystem hätten wir ja so etwas, was ein wenig an den Weltgeist von Hegel erinnert, bzw. zumindest einen Zusammenhang, der spiralförmig in eine immer höhere Form der Selbstoffenbarung strebt. PF Das wollen und sollten wir vermeiden. WV Hiermit würden wir nämlich unweigerlich bei der politisch gefährlichen und aus wissenschaftlicher Perspektive unredlichen Annahme landen, dass die Evolution in eine bestimmte, vorgegebene Richtung gehen würde. PF Ja. WV Die Weichenstellung wäre dann etwa, ob man der Vision der Theosophen oder Anthroposophen folgt, dass es eine Entwicklung zu etwas Höherem gebe. Und die andere Variante würde dann nur einfach davon ausgehen, dass all diese Prozesse eine uns verborgene implizite Ordnung haben, die aber nirgendwo hinführe und auch kein übergeordnetes Telos habe. Diese Position lässt sich ja auch in vielen der einschlägigen mystischen Texte wiederfinden. Auch dort wird ja die Vorstellung negiert, dass sich die Menschen zu etwas Höherem entwickeln würden. Entsprechend erscheint dann Bescheidenheit und der ›Weiß-nicht-Geist‹, von dem der Zen-Buddhismus spricht, als die eigentliche spirituelle Tugend. Mein Ich oder Selbst ist dann nämlich nicht mehr als etwas Besonderes oder Höheres präsentiert, sondern nur als ein weiterer Ausdruck einer für uns rational nicht zu begreifenden Weltdynamik. Jede Teleologie, jede Vorstellung von Entwicklung erscheint demgegenüber auch nur von einem Beobachter gemacht, der die Bedingungen der von ihm getroffenen Aussage nicht durchschauen kann. PF Wir können eben nur von Fortschritt und Rückschritt und solchen Dingen reden, wenn wir eine unilineare Zeit ansetzen. Wir machen ja immer den Zeitpfeil, und der geht, wenn wir das graphisch machen, bei den meisten Menschen in Schriftrichtung. Daran sieht man ja schon die Absurdität dieser Vorstellung von einer unilinearen Zeit. Diese unilineare, ›einsinnige‹ Zeit ist dasjenige, was wir alltäglich ständig im Einsatz haben. Deswegen bestätigt sie sich immer wieder von selbst. WV Ja, es ist ein Konzept, das wir in unserer Alltagspraxis selbst erschaffen haben und das auf uns dann so evident wirkt, dass wir nicht mehr merken, dass wir es selbst erzeugt haben. PF Und wenn man nicht die Frage nach dem Sein stellt, ist das auch egal. Es ist aber dann nicht mehr gleichgültig, wenn man von Verschränkung redet und Gleichzeitigkeit als Begriff braucht und zudem gezwungen ist, Kausalitätsannahmen zu dementieren. Dies wird ja dann auch bei den Experimenten der Quantenphysiker notwendig. Doch auch dann muss man sozusagen wieder zu irgendetwas zurückkehren, typischerweise zu der Behauptung, dass die Ergebnisse zeigen, was ist. Es wäre aber vielleicht schöner, wenn man sagen könnte, dass sie ihre eigene Zeit haben.
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WV Man könnte ja auch mit Ludwig Wittgenstein sagen: »Wenn man unter Ewigkeit nicht unendliche Zeitdauer, sondern Unzeitlichkeit versteht, dann lebt der ewig, der in der Gegenwart lebt. Unser Leben ist ebenso endlos, wie unser Gesichtsfeld grenzenlos ist.«32 Leben erscheint synonym zur Gegenwart, während die Verzeitlichung eine Einschränkung von Möglichkeiten darstellt, die auf der Herstellung einer Kausalitätsbeziehung beruht. Umso mehr man das tut und auf die Spitze treibt, desto mehr würde man die Lebendigkeit und das Potential verlieren, der Welt offen zu begegnen, also den Kontingenzen der Welt neuen Sinn abzuringen, da man ja glaubt, bereits alles zu wissen. Hierin würde also – um in biblischen Metaphern zu sprechen – auch die eigentliche Sünde bestehen, nämlich vom Baum der Erkenntnis gegessen zu haben und infolgedessen in dumpfen Routinen zu versinken, welche das Geheimnis des Lebens verdunkeln. PF Und das Zitat von Wittgenstein zeigt auch noch mal, dass wir tatsächlich, wenn wir sagen, die Zukunft gibt es noch nicht, und die Vergangenheit gibt es nicht mehr, auf einen Gegenwartspunkt stoßen. So sagt es Niklas Luhmann, er spricht ja raffinierterweise auch von einem Bruchpunkt – wir haben ja anfangs schon darüber geredet. Dieser Bruchpunkt bedeutet, wenn man es klassisch logisch betrachtet, nämlich schon Ewigkeit. Wo soll der Punkt denn sein? Die Zeit ist nicht in der Vergangenheit, sie ist nicht in der Zukunft, ja, was ist sie denn dann? Also, mein Tod liegt nicht irgendwo in der Zukunft rum und wartet darauf, dass ich komme. Und mit der Vergangenheit verhält es sich doch so: Alles, was ich erinnere, wiederhole ich doch nur, aber nicht, weil die Vergangenheit eine Realität ist, sondern weil sie eine Wiederholung in der Gegenwart ist – und dabei ändert sie sich auch noch ständig. WV Kairos, die Gegenwart ergreifen. Also, da sind schon die alten Philosophen dran gewesen. Kairos gemeint als eine Art von Welterleben für die Gegenwart im Moment. PF Ja. Es geht um den Moment, in dem das ›Ich‹ erlebt, dass es sich nicht braucht. Allerdings müsste man hinzufügen, dass ›Unio mystica‹ genauer ist. Mit Kairos ist auch der Moment eines ›glückhaften Gelingens‹ bezeichnet.
Bewusstsein und Bewusstheit WV Du sprichst von Deiner Krankheit und der Zeit danach. Du hattest eine große Herzoperation und – wie ich auch im Vorwort zu Deinem letzten
32Wittgenstein
(1990, Proposition 6.4311).
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Buch gelesen habe – Du hast ein postoperatives Delir durchleben müssen, das mit Halluzinationen und anderen merkwürdigen Zuständen durchsetzt war. PF Eine Besonderheit war, dass man mir gesagt hat, ich sei fünf Monate bewusstlos gewesen und hätte dennoch gesprochen. Das haben Freunde und Verwandte mitgeschrieben. Das Erstaunliche war, dass ich offenbar nicht nur stammelte, sondern auch klare Sätze gesagt haben soll. Ich weiß absolut nichts davon. Ich weiß auch nichts von meinem ›Ich‹ während dieser Zeit. Demnach muss ES gesprochen haben. Mein nachträglicher Eindruck ist: Ich war nichts als eine irgendeine diffuse Aufmerksamkeit, gleichsam eine schwebende Attentionalität. Da war und ist keine Erinnerungsmöglichkeit. Nichts war mir bekannt. Ich fand nirgendwo den Weg, ich war völlig hilflos. Aber ohne Leiden daran, sondern es war eben nur so eine Art von Gespanntheit. Das ist sehr schwer zu beschreiben, ich versuche das gegenwärtig mit Texten. Also bin da ja durch Zufall sozusagen als ein Beobachter hineingeworfen. Nicht ich, das war für mich gar nicht präsent. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich mich im Spiegel erkannt hätte. Aber ich habe was gesehen! Das haben mir dann die anderen geschildert. Aber was ist dann dieses Sehen? WV Dein Frau hat mir mal am Telefon gesagt, du wärst jetzt in der Klinik. Aber du wärst schon wieder ein bisschen wie der Alte, weil du dich über die Körnerbrötchen beschweren würdest. Aber an solche Situationen erinnerst du dich jetzt nicht? PF Leider nein, aber passen würde es. WV Also das ist jetzt das Bemerkenswerte, dass das Sehen und auch das Agieren dann sozusagen ohne Bewusstsein im Sinne einer reflexiven Funktion stattfindet und entsprechend auch nicht erinnert wird. Du hast auch gesagt, es war kein Leiden. Es ist einfach geschehen. Aber dieses ›es‹ erscheint jetzt sozusagen in Anführungsstrichen als nichts anderes als eine ›mechanische Operativität‹. Eine Außenstehende – wie jetzt deine Frau –, erkennt demgegenüber den Peter wieder, weil der ja früher auch über Körnerbrötchen genörgelt hat. Das ist irgendwie verblüffend, dass ein intentionaler Vollzug, ja selbst ein sinnhaft erscheinendes sprachliches Handeln funktionieren kann, jedoch ohne eine Beteiligung von dem, was man Bewusstsein nennt. Das an sich ist schon ein sehr spannender Befund, der darüber nachdenken lässt, was es mit dem Bewusstsein auf sich hat. PF Ich soll zum Beispiel auch Erstaunliches gesagt haben, etwa, dass es ein Problem sei, dass mein Ich die Verfügung über seine Anwesenheit verloren habe. So etwas sagen andere schon normalerweise nicht so einfach daher. Ich sagte es im Zustand der Bewusstlosigkeit. Deswegen spreche ich lieber von ›Bewusstheitslosigkeit‹ und kappe damit den so plausiblen Eigenstand (die Autonomie) des Bewusstseins. Anders formuliert: Sprechen zumindest geht ohne die Konkomitanz von Selbstreferenz, ohne einen Dirigenten,
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der zwischen Selbst- und Fremdreferenz unterscheidet. Für mich ist so ein Geschehen ein Indiz – eine Kunde, ein Anzeichen – dafür, dass das ›Ich‹ beobachtet werden kann als eine orientierte Struktur, dass es aber nicht erforderlich ist, um zu sprechen. Es wohnt nicht im Kopf herum und besetzt dort irgendwie eine Etage. Dieser Eindruck entsteht nur sozial. Kommunikation benötigt nichts als eine soziale Adresse. Das ist einer der Punkte, an dem ich – sagen wir: sinntheoretisch – an ›Hochverschränkungen‹ denke. Wenn konsequent gedacht wird, kann ›Ich‹ gar nicht sagen, mein ›Bewusstsein‹ hätte etwas mitgeteilt oder hätte über Mehrkornbrötchen gemosert. Alle Wörter, Sätze etc. sind mir sozial zugeschustert worden, auch das ›Ich‹. Wenn ich so formuliere, wird auch deutlich, dass ich nicht eine ›Singularität‹ verkörpere, die auf der anderen Seite der Kommunikation ist. Beides kann gar nicht als Zweierleiheit begriffen werden. Es ist in einem ›gemeinsamen Zustand‹. Damit kann ›klassische Realität‹ nicht mehr einfach ›da sein‹. Man muss sich auf ungeheuerliche Komplexität einstellen. Das tut auch die Quantentheorie – ungescheut oder sans crainte. Man sieht das bei Einsichten wie der, dass bei der Verschränkung der Systemzustände jedes beteiligte System für sich nur als ›uneigentliche Mischung‹ (improper mixture) beschrieben werden kann.33 WV Und an die Halluzinationen, daran erinnerst du dich? PF Daran erinnere ich mich. WV Das ist sozusagen eine interessante Differenzierung, welche die gängigen Vorstellungen von Bewusstsein durchkreuzt. Es gibt dann einerseits eine konsensuelle, eine sprachlich geteilte Realität, die läuft als Bewusstsein ab, darüber hinaus gibt es aber auch eine Bewusstheit, die etwas anderes ist? PF Die Bewusstheit würde ich jetzt als eigenes Wort nehmen. Allerdings würde ich nicht von der Operation einer Bewusstheit sprechen. Bewusstheit ist schon die Verallgemeinerung von Gestimmtheit, die noch nicht darauf festgelegt ist, zu kommentieren. Im Falle des Bewusstseins würde ich das jedoch immer sagen. Also wenn ich die Operation des Bewusstseins beschreiben würde, dann würde ich sagen: ›Kommentare, die Kommentare kommentieren‹ und nichts sonst. Bewusstheit ist so etwas wie eine ›Situiertheit‹. WV Und zum Kommentieren brauchst Du keine Bewusstheit, und das ist in Deinem Fall auseinandergefallen. Du konntest die Brötchen kommentieren. Dafür brauchst du Bewusstsein, aber keine Bewusstheit. PF Ich meine, ›Kommentieren‹ ist ›sich einen Reim machen auf …‹ Und: ›sich einen Reim auf einen Reim machen.‹ Bewusstheit ist angesiedelt im Assoziationsfeld der ›Gestimmtheit‹. Natürlich könnte ich Dich jetzt
33Siehe
zur eigentlichen und uneigentlichen Mischung in der Quantentheorie auch Esfeld (1999).
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WV PF WV PF
WV
PF
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fragen: ›Wie bist du denn gestimmt?‹. Aber dann müssten wir sozial irgendeine passende Begrifflichkeit (Wörtlichkeit) dafür finden, also ›gestimmt‹ von ›gelaunt‹ unterscheiden können. Und würden uns wieder in einem Sprachspiel befinden. Bei Heidegger wird Gestimmtheit sehr viel massiver eingesetzt. Ja, Heidegger verweist auf eine vorsprachliche Dimension. Also jede Existenz ist eine Befindlichkeit, und die ist gekennzeichnet durch eine Gestimmtheit. Und das ist eine wundervolle Metapher natürlich, weil Stimmung schon allein ungeheuer viel bedeuten kann. Und weil Gestimmtheit besonders in der Musik gebräuchlich ist. Die Instrumente sind gestimmt. Also das ist schon als Metapher sehr überzeugend. Ich würde sogar sagen, dass Musik ein wunderbares Beispiel für Verschränkung ist, Gedichte – natürlich das, was ich für Gedichte halte – ebenso, nicht minder die Werke der bildenden Kunst. Sie sind, wenn ich so formulieren darf, Paradigmen für einen gemeinsamen Zustand. Gehen wir nochmals zu den Halluzinationen zurück, die gehören ja dann zur Bewusstheit oder beinhalten zumindest Bewusstheit. Du kannst dich ja noch jetzt an die phänomenologische Qualität dieser Zustände erinnern. Wir haben dann also einerseits den Bewusstseinsprozess. In diesem Bereich findet so etwas wie eine Verschränkung von Körperlichkeit, Psyche und sozialen Prozessen statt. Man denke jetzt an die Interaktion mit den Schwestern, die dir unbedingt Brötchen aufzwingen wollen und da regierst du dann auch mit typischen Worten. Dies geschieht ohne Bewusstheit. Und dann kommt die Bewusstheit mit den Halluzinationen. Damit aber erscheint die Bewusstheit wiederum als ein Phänomen, das – sagen wir es mal vorsichtig – weder von den Beschreibungen der Systemtheorie noch von den Beschreibungen der Quantentheorie berührt wird. Ich denke mal, dass man das so sehen kann, sehe aber Möglichkeiten, vor allem dann, wenn man nicht von verschiedenen gemeinsamen Zuständen redet, sondern von einem ›state‹, dem wir uns nur nähern können, wenn wir eine ›Sinntheorie‹ haben. Es ist klar, ein mathematisches bzw. physikalisches Formelwerk ist ohne die Sinnform nicht zu haben. Die ganze Kosmologie hängt an Sinn. Ich habe ja jetzt mit vielen Physikern geredet und ein um wissenschaftliche Redlichkeit bemühter Quantenphysiker würde sagen: ›Über Bewusstheit bzw. in Hinblick auf den Bereich, den die Philosophen mit Qualia bezeichnen, also die sinnlichen Qualitäten der Bewusstheit, darüber können wir als Physiker nicht wirklich etwas sagen. Dies ist ein weiteres Geheimnis.‹ Und auch die Systemtheorie scheint mir in dem Sinne die Psyche als ›bewusstheitsfrei‹ zu beschreiben. Wenn Luhmann von dem autopoietischen System des Bewusstseins spricht, verweist er auf die Verkettung von Gedanken, die dann auch auf Wahrnehmungen rekurrieren. Aber er spricht da nicht von Bewusstheit. Würdest du da mitgehen?
Verschränkung in der soziologischen Systemtheorie 237
PF Ja, ja. WV Der Philosoph Richard Rorty hat in seinem Buch »Der Spiegel der Natur« dieses schöne Gedankenexperiment entwickelt.34 Es geht etwa folgendermaßen: Auf einem anderen Planeten werden Wesen entdeckt, die uns vollkommen ähnlich sind. Sie haben eine Zivilisation begründet und betreiben auch Wissenschaft. Sie verfügen über Sprache und Schrift. Letztlich unterscheiden sie sich von uns Menschen bloß in einem Aspekt. Sie verfügen nicht über eine individuelle Bewusstheitserfahrung. Sie sind gewissermaßen eine Art Zombiewesen, da sie nichts fühlen. Ansonsten können sie all das tun, was wir auch machen. Sie können sich, wie wir auch, über Farben und Töne unterhalten, verwenden dafür aber Konzepte, die ein wenig anders gelagert zu sein scheinen, als mit unserem Sprachgebrauch impliziert. Sie reden nicht von der Farbe ›rot‹ im Sinne einer phänomenologischen Qualität sondern als eine Eigenschaft, die dadurch qualifiziert wird, dass ein Messgerät 700 Nanometer anzeigt oder in einem Hirnscan bei dieser Farbe nur bestimmte Neuronen Aktivität zeigen. Mit diesem Vergleich beginnt Rorty in philosophischer Schärfe auszubuchstabieren, dass menschenähnliche Wesen nicht einmal Bewusstheit brauchen würden, um so etwas wie Kultur aufzubauen. Und damit verweist Rorty auf die Dimension des Erlebens, die interessanterweise sowohl in der Quantentheorie als auch in der soziologischen Systemtheorie rausfällt. PF Wohl eher in der Quantenphysik. Systemtheorie ist nach Luhmann die Lehre von der Erscheinung der Differenz. Da ist schon ›Erleben‹ drin. Ich selbst experimentiere mit der ›Erscheinung der différance‹. Und mit diesem (Un)Begriff, glaube ich, arbeitet die Quantentheorie kaum oder gar nicht. By the way: Ich denke mir immer, dass man weiterkommt, wenn man jetzt bestimmte andere Quellen ausschöpft, auch ganz harmlose Quellen. Denk mal an diese Pflegeroboter, die mit pflegebedürftigen Menschen umgehen und die von ihnen durchaus geschätzt werden, besonders dann, vermute ich, wenn diese Roboter ›eingefleischt‹ sind. Aber für uns stellt sich jetzt die Frage, was würde denn die Maschine des neuronalen Systems von dem unterscheiden, was ein Pflegeroboter tut? Dann spricht der Roboter, er kann streicheln, er sagt etwa, wenn er eine Spritze gibt ›Das wird ein bisschen pieken … aber das hört gleich wieder auf!‹ Der Patient (oder die Patientin) wird kaum die Überschreitung von Schamgrenzen spüren, wenn die Sexualregion gewaschen werden muss, aber vielleicht denken, dass man sich nicht schämen muss. Der Roboter fühlt ja nichts wirklich. Er kann sich nicht ›mitschämen‹, und
34Rorty
(1987 [1979]).
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wenn er sich so verhält, als ob…, kann man – wenn jemand das noch beherrscht – sich vorstellen, dass er eben nur eine Maschine ist, die man so programmiert hat. Er macht das, was er tut, weil er über entsprechende Algorithmen verfügt. Es gibt tödliche Spritzen, aber der Roboter ist darauf eingestellt, den Menschen am Leben zu erhalten. Einen menschlichen Pfleger kann die Lust, die Sucht, andere Menschen zu töten, überfallen. Sie sind halt nicht-triviale Maschinen. Wenn es jedoch gelingen würde, Quantencomputer zu bauen, oder wenn es gelingen würde, organische Computer herzustellen, dann könnte es ja sein, dass über das Maschinelle hinaus irgendeine Art von Qualität durch Bewusstheit ausgedrückt werden kann – jetzt mal vorläufig formuliert: etwas, das dann sozusagen nicht ein Verlauf oder ein Prozess oder eine Struktur wäre, sondern etwas, das dann vielleicht ganz klassisch als Erleben zu bezeichnen wäre. Demgegenüber würden wir als Soziologen mit Luhmann jetzt Begriffe wie Erleben und Handeln als eine soziale Attribution auffassen. Unser Erleben und Handeln erscheinen aus dieser Perspektive als eine Reaktion darauf, dass wir von anderen für bestimmte Dinge verantwortlich gemacht werden – wie kompliziert diese Prozesse im Einzelnen auch sein mögen. Aber ich würde ja im Augenblick auch hier nicht mehr von isolierten Prozessen reden. WV Aber genau das, wovon Luhmann spricht – nämlich zu lernen, auf soziale Erwartungen zu reagieren – könnte ja theoretisch auch eine künstliche Intelligenz machen. Daniel Greenberger, den ich ja auch interviewt habe, der hat so einen kleinen schönen Aufsatz mit dem Titel »Can a computer ever become conscious« geschrieben.35 Dort entfaltet er ein Szenario, das die Fortentwicklung künstlicher Intelligenzen beschreibt. Und was machen die künstlichen Intelligenzen: Die bilden Korrelationen und dann bilden die immer weitere Korrelationen, die sich auf andere Korrelationen beziehen und ab einem gewissen Punkt beginnen sie zu vergessen, was die Mechanismen waren, die zu bestimmten Korrelationen geführt haben, und damit beginnen sie mehr und mehr aus einer Konstellation des Nichtwissens heraus zu agieren. Ab einem gewissen Punkt entstehen dann auch Korrelationen, die zu Selbstbeschreibungen führen. Damit verfügen sie über Mechanismen, sich selbst ein autonomes Handeln zuzurechnen sowie die Konstruktionen ihres Erlebens als selbst gemacht zu betrachten. Sie lernen dann also, zwischen Handeln und Erleben zu unterscheiden. Gotthard Günther hat ja bereits ähnliche Gedanken in seinem Aufsatz »Das Bewußtsein der Maschinen« formuliert.36 Aber
35Siehe als Internetressource: https://www.iqoqi-vienna.at/blog/article/daniel-greenberger/ (Download: 11.12.2018). 36Günther (1963).
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hierzu bedarf es keiner Bewusstheit in dem Sinne, dass es ein Erleben auf einer phänomenologischen Ebene ›Erleben‹ ist, sondern es reicht, wenn es einem System gelingt, aus der Weltdynamik Korrelationen herauszuziehen und sich dann irgendwann das Problem der Komplexität und das hiermit notwendigerweise einhergehende Problem des Nichtwissens reflexiv zugänglich zu machen. PF Das könnte ich mir sehr gut vorstellen, das wäre dann der Sprungpunkt. Also ich stelle mir das als einen hochkomplexen Prozess vor, der aber schon einmal gelaufen ist, nämlich in unserer Evolution. Was ist denn diese Art und Weise mit der Welt umzugehen, die wir leben, anderes als das Erzeugen einer Intelligenz? Ob man das mit Stahl macht oder mit Aluminium oder womit auch immer, das spielt eigentlich keine große Rolle. Wir würden gar nicht richtig reden können, wenn das nicht so wäre. Ich würde allerdings mit Luhmann ›Lernen‹ anders definieren. Bei ihm heißt es: »Lernen ist die Bezeichnung dafür, daß man nicht beobachten kann, wie Informationen dadurch weitreichende Konsequenzen auslösen, daß sie in einem System partielle Strukturänderungen bewirken, ohne dadurch die Selbstidentifikation des Systems zu unterbrechen.«37 Das ist, denke ich, ein anderes Kaliber. Man kann sich diese Bestimmung auf der Zunge zergehen lassen. WV Mit der Bewusstheit kommt als weiteres Moment hinzu, dass nur sie uns gestattet, die Welt zu erfahren, wobei sich mit Otto Rössler gesprochen dabei ja die Pointe ergibt, dass man die »Exowelt« nur aus der »Endoperspektive«38 heraus erfahren kann. Die konditionierte Koproduktion, die als Entstehung und Entfaltung einer Welt von innen erlebt wird.
Der Aufbau einer Welt: konditionierte Koproduktion kann erlebt werden PF Das mit dem ›Innen‹ ist natürlich, wenn man von ›Verschränkung‹ spricht, gleichsam kontraindiziert. Aber ich habe schließlich noch keine Möglichkeit, über jene Vorgänge zu schreiben, ohne im Modell des Innen/ Außen zu formulieren. Also: Ich habe die Erfahrung mit Halluzinationen persönlich erst in der Phase des Erwachens gemacht. Es war ja wirklich ein langer Zeitraum, in dem ich überhaupt nicht für mich präsent war. Danach entstand erst eine halluzinierte Welt. Das kann aber nur ein Beobachter sagen, der die
37Luhmann 38Rössler
(1984, S. 158). (1992).
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Realität für etwas anderes hält, denn Halluzinationen sind für den, der sie erlebt, Realitäten. WV Denn für dich waren die Halluzinationen ja real. Mit allem Erschrecken und allen unangenehmen Konsequenzen. PF Und nach wie vor erscheinen sie mir gelebte Wirklichkeit. Hab ich Dir erzählt von dem Hund, der mich gerettet hat? WV Nein. PF Also mich hat ein Hund aus den Halluzinationen ›gezogen‹. Das war so: Irgendwann konnte ich nicht nur herumliegen, aber ich war immer noch in dem Zustand einer sonderbaren Attentionalität, also in völliger Unklarheit darüber, warum ich mich hier aufhalte. Und dann war in meinem Zimmer plötzlich ein Hund neben meinem Tisch. Ich weiß noch genau, wie der aussah. Es war ein schwarzer großer Hund mit einer spitzen Schnauze, und der konnte grinsen. Und er war da. Auf einmal war der da, und dann war er plötzlich nicht mehr da. Und er kam immer wieder hoch in mein Zimmer, lächelte mich an, ging dann wieder raus und kam dann wieder. Genervt versuchte ihn zu vertreiben. Ich dachte, der muss weg. Zunächst ließ ich ihn einfach, bis er mir dann so auf die Nerven ging, dass ich versucht habe, ihn mit dem Rollstuhl zu überfahren, ihn schlicht umzubringen. Aber er war durchlässig. Das war der erste Moment, in dem ich Verdacht geschöpft habe. WV Verdacht geschöpft, dass es eine Halluzination ist? PF Ja, Verdacht, dass da irgendwas nicht stimmt. Zum Teil war es dann so, dass ich, sobald dieser Verdacht aufkam, mich damit zufriedengab, nicht mehr meiner Wahrnehmung trauen zu müssen – auf Treu und Glauben verzichten konnte, wenn Du so willst. Ich erkläre das mal an einem Beispiel: Es gab einen Pfleger, der für mich immer ein Russe war, also von der Wahrnehmung her. Der kam dann abends und warf mich aus dem Bett in den Rollstuhl und dann warf er mich ins Bett zurück. Und ich fand das ungeheuerlich grob. Aber jetzt war ich schon fähig, mich zu fragen, ob das Wirklichkeit ist oder nicht, jetzt nicht in Bezug auf die Erfahrung, sondern in Hinblick darauf, ob das Folgen hat oder nicht. Was geschähe denn, wenn ich zur Pflegedienstleistung ginge und sagen würde: ›Tun Sie diesen russischen Pfleger weg. Er ist ein grober Klotz.‹ Und geantwortet würde: ›Den gibt es gar nicht, absolut nicht.‹ Und meine Überlegung war, dass ›Widerständigkeit‹ auftreten könnte – von Operationen gegen Operationen, wenn man Luhmann traut, der auf diese Weise das Zentralmerkmal der Beobachtung (Konstruktion) von ›Realität‹ beschreibt. In solchen Passagen kam dann eben die Vermutung auf, dass ich in einem gewissermaßen ›fluiden‹ Zustand bin. Ein anderes Beispiel: Ich stehe am Fenster, meine Frau steigt aus dem Bus – den es auch nicht gab, wie sich später herausstellte – geht vielleicht drei
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Meter und ›Wupp‹ ist sie wieder am Startpunkt, geht wieder drei Meter und taucht erneut an der Ausgangsstelle auf… und immer und wieder und immer und wieder – Stunde um Stunde. Und ich gucke und gucke. Und dann ist Angst da. Warum kommt sie denn jetzt nicht rein? Aber zu dieser Frage kam es an diesem Zeitpunkt nicht. Kurz darauf verlief die gewohnte Zeit anders. Die Uhr im Speisesaal schien zu stehen. Die Schwestern bewegten sich viel langsamer als ich. Der Gedanke war: Jetzt kannst Du sie beschimpfen, sie sind machtlos. Mein Eindruck ist, dass ich das auch wirklich getan habe. ›Sie unselig verquatschte Ente!‹, das habe ich noch im Kopf, aber auch ein: ›Kann nicht sein, kann so nicht sein!‹ Manche solcher Ereignisse waren als stattgefundene Realität immer noch präsent, als ich wieder zuhause war. Die Töchter und meine Frau haben so allmählich angefangen, mir zu sagen, dass dies alles nicht wirklich geschehen ist, was ich da aufgeregt oder wie auch immer erzählt habe. Es dauerte noch lange, bis ich den Nichtwirklichkeitsstatus anerkannt habe, und noch heute ist es so, dass ich bei manchen Sachen das Problem habe, mich fragen zu müssen, ob das real war. Ich war beispielsweise auf einem Bauernhof, da stand ich dann, schaute den Gänsen zu und hatte einem Moment lang das Gefühl oder besser den Gedanken: ›Ist das nun belastbar?‹ WV Ich finde die Beschreibung des Prozesses Deiner Rehabilitation faszinierend. Im Sinne von George Spencer Brown39 ist damit sozusagen die konditionierte Koproduktion für Dich beobachtbar geworden. Es wird deutlich, wie der Auf- und Abbau einer Welt, einer Realität geschieht, erst ohne Bewusstheit, aber sehr wohl schon innerhalb eines Prozesses, in dem Verkettungen von Wahrnehmungen und Handlungen geschehen, um dort Korrelationen auszubilden. Dann ist Bewusstheit da, aber zunächst nur in Form fluider Realitäten, die sich spontan aufbauen und dann wieder abbauen, in Form von Phantasmen und Halluzinationen. Erst in der Begegnung mit den anderen und hiermit einhergehend mit der Entwicklung einer Sprache, die belastbare und nichtbelastbare, also fiktionale, Realität unterscheiden lässt, entsteht wieder ein Ich, dass sich sinnhaft in der normalen Welt verorten kann. Bewusst angefangen hat dieser Prozess für Dich bei dem Hund, als du begonnen hast, systematische Realitätstests zu machen. Damit sind die Folgen von Interaktionen für Dich wieder selbstreflexiv zugänglich geworden und auf diese Weise konnte wieder ein Gedächtnis aufgebaut werden, das auf einer bestimmten Systemik beruht. Am Anfang waren es nur Korrelationen und Assoziationen, die quasi freischwebend hin und her flottiert sind und dann tauchte auf einmal eine Reflexivität auf,
39Spencer-Brown
(1997).
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etwa die Intuition, dass man durch Hunde nicht mit dem Rollstuhl hindurchfahren kann. Und auf dieser Basis können weitere Korrelationen entstehen, die schließlich in die Unterscheidung zwischen Irrealem und Realem münden. All dies muss aber erst durch einen sich selbst instruierenden, mithin selbstreferentiellen Prozess aufgebaut werden. Darüber hinaus zeigt sich, dass Du diese Konsistenzprüfung nicht alleine machen kannst, sondern dass es weiterer Personen bedarf. Da wäre man im Prinzip bei der sozialen Konstruktion der Wirklichkeit, die Alfred Schütz beschreibt.40 Du brauchst die anderen, die dir mit ihren Worten bestätigen oder falsifizieren was real ist und was nicht. Das Faszinierende an der Geschichte ist, dass sich quasi in vivo das Aufbauen eines Beobachters nachvollziehen lässt. PF Ja, das macht Sinn. Es ist jetzt allerdings immer schwer, das zu beschreiben, was ich als Ich-Losigkeit bezeichne. Ich habe keine richtigen Bilder dafür, aber es ist nicht so, dass ich da jetzt dachte, ich mache das jetzt. Sondern es machte sich. WV Es geschieht. Auf einmal ist eine Korrelation da, die feststellt, dass der imaginäre Hund, den man sieht, nicht damit übereinstimmt, dass er durchlässig, imaginär, amateriell… zu sein scheint. PF Und der war dann weg! Obwohl er ja doch nicht fort war. Aber so etwas kennt man ja aus der Quantentheorie. Der Hund war da und war nicht da. WV All das hast Du noch in Erinnerung? PF Das ist mir sozusagen als Phänomenalität präsent. Aber ich erlebte all dies im Zustand einer gewissen Gelassenheit. Anders kann ich das nicht beschreiben. Auch wenn ich dann im Raucherraum war. Wenn eine Neunzigjährige im Raucherraum sitzt mit dem Sauerstoffgerät und gierig raucht, tritt auch irgendwann die Frage auf ob das jetzt eine Halluzination ist oder nicht. Mit Blick auf die Wahrnehmung gibt es kein Kriterium dafür. Da kommst du nicht mehr weiter mit einem Subjekt-Modell und auch nicht mit einem Ich-Modell. Nur die Sprache zwingt uns jetzt, das Wort ›Ich‹ zu verwenden. Ich meine, es gibt Sprachen, in denen kein Ich repräsentiert ist. Im Chinesischen und Japanischen ist das auch so, da wird kein Ich repräsentiert, sondern anstelle eines isolierten Ichs setzen sie das, was sie konkret tun und mit wem sie es tun. WV Ja, der Psychiater Kimura Bin hat dies in seiner Studie »Zwischen Mensch und Mensch – Strukturen japanischer Subjektivität« wunderbar beschrieben.41 Je nachdem, mit wem man zusammen ist, der Mutter oder der Geliebten, wird ein anderes Wort für ›ich‹ verwendet. Wie auch immer, es ist nicht leicht, das Verhältnis von Psyche, Sprache und sozialen
40Schütz
(2004). (1995).
41Kimura
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PF WV PF
WV
PF
Systemen zu beschreiben. Hierzu bedarf es schon subtiler theoretischer Konzepte – etwa die konditionierte Koproduktion. Um jetzt im Sinne von Armin Nassehi zu sprechen: da geschieht an verschiedenen Stellen etwas gleichzeitig, was dann Korrelationsmöglichkeiten anbietet, an denen es dann – um bei Deiner Geschichte zu bleiben – zu ›peterfuchsen‹ beginnt. Das ist so wie bei einem Kollaps der Wellenfunktion. Also: ›Peter Fuchs‹ wird auf einmal ausgeflaggt. Er kondensiert, hat demnach seine Bestimmtheit nicht von selbst. Ebendies ist der Punkt, an dem die Medium/Form-Differenz wichtig wird. Das können wir jetzt nicht mehr besprechen, aber ich bin ziemlich sicher, dass diese Unterscheidung auch quantentheoretisch wichtig werden könnte. Und bestimmte Korrelationen können sich nur stabilisieren, wenn andere Menschen das bestätigen. Also wenn jetzt alle anderen Menschen nur widersprüchliche Botschaften in Hinblick auf das, was als Realität erscheint gegeben hätten, dann würdest Du vielleicht immer noch in einem Zustand schweben, indem Du real und irreal nicht auseinanderhalten könntest. Du sprichst ja von Korrelieren und das kann man schön zusammen bringen mit Luhmann. Der spricht oft vom Relationieren und davon, dass Relationen relationieren, und Relationierungen von Relationierungen vorkommen. Und dann kann man sich fragen im Blick auf Korrelationen, was das ›Ko‹ soll? Wo kommt denn das her? Das ist ja auch das Problem mit dem Ausdruck ›konditionierte Koproduktion‹. Das ›Ko‹ stammt von ›cum‹ (mit, miteinander, zusammen etc.). Wir finden diese Bedeutung auch in consciousness, conscience, conscientia … aber damit ist Zweiheit impliziert. Und das stört mich ungemein, wenn es um Verschränkung als ›abstandslose Zusammenheit‹ geht, um eine sehr genau platzierte Paradoxie, in der zwar ›Zusammenheit‹ auftaucht, aber nur in einem Zuge mit ihrem Dementi durch ›Abstandslosigkeit‹. Pointiert gesagt: Das psychische System wäre verschränkt mit dem sozialen System. Dazwischen gäbe es keine Grenze … Dann würden aber auch Worte wie ›Zugleich‹ oder ›Gleichzeitigkeit‹ als Begriffe untauglich werden. Man kann sich dann nur noch fragen, wie es dann zu einer Synchronisation kommt? Und eine Antwort wäre: Sie wird – Quantentheoretiker/innen wissen das – beobachtungstechnisch erwirtschaftet. Man kann ›Vergleichzeitigung‹ nur hinzufügen, aber dann wieder ›Zu was?‹ Jedenfalls zu nichts, bei dem es Sinn macht, sich um ein SEIN oder Nicht-SEIN zu kümmern. Sobald man ›Vergleichzeitigung‹ denkt, handelt man sich auch die Schwierigkeit ein, dass ›Kausalität‹ als Begriff unscharf wird. Denn in der Gleichzeitigkeit kann es nach den alten Definitionen keine U rsache/ Wirkung-Zusammenhänge geben. Für den Alltag – klassisch: in der Lebenswelt – kann es dafür kein Verständnis geben. Das Konzept der
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A-Kausalität wird gleichsam laufend durch die Bewandtnisse des Alltags dementiert. Die Ursachen für Wirkungen werden sozial konstruiert. Das kann man leicht überprüfen. Jemand sagt: ›Ich muss jetzt für zwei Stunden einfach Luft schnappen‹, will aber nur seine Geliebte besuchen. Die Nennung dieses Grundes ist in den meisten Fällen sozial nicht sehr attraktiv. Das beherzigt ein Quantenphysiker auch, obwohl er im Labor ganz anders denken muss. Das ist auch unser tägliches Brot. Wir bewegen uns aber gerade in Kontexten, die in der Quantenphysik ebensolche Probleme generieren. Wenn in ihr von Verschränkung die Rede ist, geht es ja auch um Gleichzeitigkeit, Synchronisation, Kausalität. Wenn man sich dann fragt, wie ist das mit Bewusstsein? Wenn man sich das psychische System und das organische System als ›Koproduktion‹ vorstellt, also im Blick auf das Gehirn in diesem Fall, wäre das in der Gleichzeitigkeit, mithin nur kausalitätsfrei zu denken? In der Gleichzeitigkeit ist die Kausalität nicht so, wie Immanuel Kant sie gedacht hat. Aber er hat dann glücklicherweise schon die Idee gehabt, dass Kausalität immer Zurechnung ist. Wenn ich Dich jetzt frage, warum Du gerade hier bist, dann kannst Du nur kontingente Gründe nennen und zudem nur solche Gründe, die sozial überzeugen. Also mehr ginge eigentlich nicht. Das sind immer so Stellen, wo ich das Gefühl habe, die konditionierte Koproduktion ist auch eine Metapher, und dann die ›Verschränkung‹ nicht minder. WV Leider ist unsere Zeit jetzt verstrichen. Wir müssen aufhören. PF Nun hast Du gesagt, ›verstrichen‹. Dabei haben uns vielleicht nur, um es mit Luhmann zu sagen, die Zeitstellen verlassen.
Supertheorien im Dialog – und jetzt?
»Das Subjekt gehört nicht zur Welt, sondern es ist eine Grenze der Welt.« »Wo in der Welt ist ein metaphysisches Subjekt zu merken? Du sagst, es verhält sich hier ganz wie mit Auge und Gesichtsfeld. Aber das Auge siehst du wirklich nicht. Und nichts am Gesichtsfeld lässt darauf schließen, daß es von einem Auge gesehen wird. Ludwig Wittgenstein1
Schlechte Antworten und gute Fragen Das vorliegende Buch hat den Charakter eines Dialogs: Die Quantenphysik kommt ins Gespräch mit der soziologischen Systemtheorie. Im Dialog geht es nicht darum, die eigene Position der anderen zu unterwerfen, sie durch diese zu begründen oder zu rechtfertigen (und umgekehrt). Der Dialog eröffnet vielmehr einen diskursiven Horizont, innerhalb dessen die eigene Perspektive als eine bestimmte – jedoch nicht aus jedem Blickwinkel notwendige – sichtbar und verstehbar wird. Er eröffnet damit auch Anschlüsse zu anderen bzw. neuen Perspektiven. Es geht dabei nicht darum, Recht zu haben, dennoch wird im Gegensatz zum lockeren Gespräch oder gar Geschwafel eine hohe Intensität in der Begegnung gesucht. Der Dialog lässt nicht nur die
1Wittgenstein
(1974, Proposition 5632 und 635.633)
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Vogd, Quantenphysik und Soziologie im Dialog, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61857-8_8
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igensinnigkeit der Denkweisen oder gar die Weisheit der Beteiligten aufE scheinen, sondern bringt die eigenen und die anderen Sichtweisen erst hervor. Frei nach Merleau-Ponty lässt sich sagen, dass sich die in diesen Perspektiven offenbare Realität und Rationalität »genau an der Erfahrung« bemisst, »in der sie sich enthüllt.« Dass »es sie gibt, besagt«, dass »Perspektiven sich kreuzen, Wahrnehmungen sich bestätigen und ein Sinn erscheint«.2 Was lässt sich nun aus den vorangehenden Dialogen lernen? Selbstredend lässt sich diese Frage hier nicht abschließend beantworten, zumal jeder Leser als eigenständiger Dialogpartner seine eigenen Antworten finden muss. Insofern er oder sie wissenschaftlich unterwegs ist, sind diese Antworten zudem kritisch-reflexiv zu hinterfragen. Allzu schnell zu dem Schluss zu kommen ›Ich verstehe es. Ich weiß jetzt, wie sich alles zusammenfügt.‹ würde dann eher Misstrauen, denn Zustimmung hervorrufen müssen. In einer redlichen Reflexion (die nicht in einer Fundamentalkritik einrastet, welche solch einem Dialogvorhaben per se den Sinn abspricht), bleiben dann vermutlich mehr Fragen als Antworten übrig. Doch dies ist keineswegs verwerflich, denn eine gute Frage ist besser als eine schlechte Antwort. Es lohnt sich zunächst, sich mit einigen schlechten Antworten zu beschäftigen, um abschließend einige aus dem Projekt entstehende gute Fragen besser würdigen zu können. Dabei ist zunächst darauf hinzuweisen, dass es nicht nur unproduktiv, sondern mit Blick auf die fehlenden kausalen Bindeglieder auch unredlich wäre, soziale, politische, psychische oder biologische Prozesse durch Quantenphysik erklären zu wollen – also unreflektiert eine Einheit zwischen der Physik, dem Bewusstsein und den Sinnwelten des Sozialen zu postulieren. Jeder Versuch, die Gestaltbildung in der biologischen oder sozialen Sphäre durch quantenphysikalische Prozesse zu erklären – etwa als Ausdruck der komplexen Dynamik von physikalischen Feldern – erklärt streng genommen nichts. Denn selbst wenn es diesbezügliche kausale Zusammenhänge gäbe, sind sie mit unseren (gegenwärtigen) empirischen und theoretischen Mitteln nicht erschließbar. Die Annahme eines morphogenetischen Feldes, das irgendwie auf Quantenprozessen beruhe und auch makroskopische soziale Phänomene beeinflusse – so etwa Rupert Sheldrake3 – muss aus diesem Grunde als eine schlechte Antwort gelten. Sie erklärt – wie gesagt – nichts, sondern beschreibt nur einen Zusammenhang durch ein Bild, das so abstrakt ist, dass nicht einmal die Beziehungen zwischen den einzelnen zu erklärenden Aspekten sichtbar werden, also 2Merleau-Ponty 3Sheldrake
(1974, S. 17). (1989).
Supertheorien im Dialog – und jetzt? 247
nicht einmal annähernd gesagt werden kann, wie sich die Teile des Bildes zu einem Ganzen verbinden. Im Sinne des von Alfred North Whitehead beschriebenen fallacy of misplaced concreteness landen wir bei einem Erklärungsprinzip, das – selbst wenn es wahr wäre – aufgrund seiner Abstraktion nicht wirklich etwas dazu beiträgt, angemessene Modelle für die wirklich interessanten sozialen, biologischen oder psychischen Phänomene zu entwickeln. Auch wenn es sich als prinzipiell richtig erweisen sollte, dass man die ganze Welt durch die Wellenfunktion der Schrödinger-Gleichung beschreiben könnte, hätte man damit kein einziges ernsthaftes Problem auf psychologischer oder soziologischer Ebene verstanden oder gar gelöst. Von einer Wellenfunktion der Welt oder einem wie auch immer gearteten morphogenetischen Feld auszugehen, mag zwar Bedürfnisse ästhetischer, religiöser oder anderer Art befriedigen, gibt jedoch keine brauchbare Antwort auf wissenschaftliche Probleme. In diesem Sinne ist Rupert Ursin durchaus Recht zu geben, wenn er im Interview sagt, die Auffassung, dass ein Quantenzustand bei der Messung gleichsam in die Kohärenz des Gesamtuniversums eingehe, sei nichts anderes als ein esoterischer Standpunkt. Wenn Psychologen, Sozial- oder Geisteswissenschaftler etwas von der Quantentheorie lernen wollen, sollten sie also nicht auf die physikalischen Phänomene zurückgehen und von dort aus eine Ganzheit postulieren, sondern bei ihren eigenen Phänomenbereichen und den sich hier offenbarenden Eigengesetzlichkeiten bleiben. Es kann nicht darum gehen, diese in plumper reduktionistischer Weise auf quantenphysikalische Phänomene zurückzuführen – oder umgekehrt. Der Erkenntnisgewinn, den andere wissenschaftliche Disziplinen aus einer Auseinandersetzung mit der Quantenphysik ziehen können, liegt weniger auf der unmittelbar inhaltlichen als vielmehr auf der Ebene von Methodologie und Theoriearchitektur. Berücksichtigen wir zudem, dass die Quantenphysik zwar unser zuvor bestehendes Weltbild radikal erschüttert und Anstoß zu einer Vielzahl hoch interessanter (da fundamentaler) metaphysischer Fragestellungen gegeben, in ihrer gesamten – wenn auch zugegebenermaßen noch jungen – Historie bislang aber noch keine einzige überzeugende, bzw. allgemein geteilte Interpretation der von ihr behandelten physikalischen Wirklichkeiten finden konnte, so wird umso deutlicher, dass sie eher dazu geeignet ist, bestehende Ontologien zu dekonstruieren als neue (mit-) aufzubauen. Um die Denkfiguren, Modelle und Erkenntnisse der Quantenphysik für andere Forschungsfelder fruchtbar zu machen, müssen sie also zunächst so aufbereitet werden, dass strukturelle Homologien zwischen den beteiligten
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Disziplinen sichtbar werden. Auf diese Weise kann dann zwar keine quantentheoretisch fundierte Ontologie im Sinne einer eindeutig feststehenden und feststellbaren Ordnung des Seienden gewonnen werden, wohl aber können altbekannte Phänomene unter einem neuen Blickwinkel beobachtet und womöglich mit kreativeren Fragestellungen angegangen werden. Eine weitere Gruppe schlechter Antworten besteht darin, unserem Bewusstsein eine prominente Rolle für den Ausgang quantenphysikalischer Experimente zuzuschreiben. Nach derzeitigem Stand der Experimentalphysik ist die Auffassung, dass es das menschliche Bewusstsein sei, das die Wellenfunktion zum Kollabieren bringe, nicht haltbar. Auch hier sind, so die Worte von Rupert Ursin, die Wünsche, welche manche Physiker und spirituell sensible Denker an die Natur gehabt haben, nicht erfüllt worden. Der einzelne Mensch muss nicht einmal wirklich messen können. Die Information, welche im Versuchsaufbau realisiert wird, muss nur im Prinzip an irgendeiner Stelle in der Welt eine Rolle spielen können. Diese von der Natur gewählte Lösung sei – so Ursin – auch die schönere, da sie die Konzepte von uns Menschen mit unserem beschränkten Vorstellungsvermögen überschreite. Das eigentlich Faszinierende an der Quantentheorie sei, dass quantenmechanische Systeme viel mehr darstellen als die Summe ihrer Teile, da sie aufgrund ihrer Verschränkung auch die Koppelung ihrer Unbestimmtheiten enthalten. Wer die Befunde der Quantenphysik dahingehend interpretiert, dass letztlich das subjektive Bewusstsein allem zugrunde liege, sieht sich zudem mit dem Problem konfrontiert, dass kein Wissenschaftler derzeit wirklich sagen kann, was Bewusstsein eigentlich ist. Unsere phänomenale Welterfahrung – die Tatsache, dass wir Empfindungen haben, Farben sehen, Töne hören, Gerüche und Geschmäcker wahrnehmen können, kurz: dass wir es sind, die eine Welt erleben – erschließt sich (bislang) aus keiner physikalischen Weltbeschreibung. Informationen verarbeiten – seien es taktile, auditive, visuelle oder sonst welche Reize – kann auch ein maschinelles System, insofern es mit einem Sensorium und einigen Feedback-Schleifen ausgestattet ist, die Unterschiede verstärken.4 So reizvoll
4Richard Rorty hat die Eigentümlichkeit der hieran anschließenden Problematik wunderbar in seinem Antipoden-Beispiel durchdekliniert, wie bereits im Gespräch mit Peter Fuchs erwähnt: In einem Gedankenexperiment wird auf einem anderen Planeten die Existenz von menschlichen Zwitterwesen angenommen, die aufgrund ihrer Kultur (oder ihres fehlenden Bewusstseins – aber wer kann das entscheiden), nur technische, aber keine emotionalen Begrifflichkeiten zur Charakterisierung innerer Zustände verwenden (Rorty 1987 [1979], S. 85 ff.).
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es ist, die Geheimnisse der Quantenphysik auf das Geheimnis des Bewusstseins zurückzuführen – oder umgekehrt –, wir betreten hier den Raum einer hoch spekulativen Metaphysik. Ist die Quantenphysik der Beweis für einen metaphysischen Dualismus, wie Sir John C. Eccles vermutet hat,5 nachdem er Berechnungen angestellt hat, dass in den Pyramidenzellen des Großhirns Quantenphänomene den Ausschlag dafür geben, dass die Neurocomputation in eine bestimmte Gestalt einrastet? Ist es die Gravitation, welche die Wellenfunktion kollabieren lässt und damit auch das Bewusstsein erklärt (so Roger Penrose)?6 Entsteht das menschliche Bewusstsein über die Reduktion orchestrierter Quantenwellen in den Mikrotubuli des Cytoskeletts von Säugetierzellen, wie Stuart Hameroff annimmt?7 Wie auch immer, all diese Vorstellungen beruhen auf hoch spekulativen Annahmen. Die Kette der postulierten Mechanismen enthält zu viele Zwischenschritte, die einer empirischen Überprüfung spotten, und zudem ergeben sich in Hinblick auf die Theoriebildung eine Vielzahl von Erklärungslücken.8 Manche dieser Ansätze neigen dazu, die bislang noch unbeantwortete Frage, wie sich Quantentheorie und Allgemeine Relativitätstheorie – verbinden lassen, mit einem weiteren Mysterium zu erklären – dem phänomenalen Bewusstsein. Doch nur weil es an einer Stelle ein Geheimnis gibt, muss nicht zwingend gelten, dass es sich um dasselbe Geheimnis handelt, welches in einem anderen Bereich in Bezug auf unsere Welterkenntnis besteht. Hier kommt es leicht zu einem Kurzschluss, der sich mit Herbert Pietschmann durch folgenden Witz umschreiben lässt: Zwei Professoren treffen sich am Montagmorgen am Institut: »Höflich fragt der eine: ›Wie haben Sie denn das Wochenende verbracht, Herr Kollege?‹ Darauf der andere: ›Dieses Wochenende war ich zuhause.‹ Erstaunt erwidert der Erste: ›Komisch, dass wir einander nicht getroffen haben, ich war nämlich auch zuhause!‹« 9
5Siehe
Eccles (1994) sowie Beck und Eccles (1991). (1998). 7Hameroff (1987). 8Siehe zur Kritik etwa Grush (2008). 9Pietschmann (2013, S. 105). 6Penrose
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Und warum sollten wir überhaupt davon ausgehen, dass Bewusstsein kausal zu erklären ist, bzw. ein Element innerhalb der Kette physikalischer Erklärungen darstellt? Könnte man nicht vielmehr mit Shimon Malin im Anschluss an Whitehead von einem Monismus der anderen Art ausgehen? Hier würden dann physikalische Elementarereignisse, wie etwa das Erscheinen eines Elektrons rudimentäre Formen der Selbstempfindung ausflaggen. Bewusstsein wäre somit nicht etwas, was physikalische Phänomene – etwa den Wellenkollaps – erklärt oder quantenphysikalisch zu erklären ist, sondern eine intrinsische Qualität aller Weltphänomene. Auch wenn wir mit dieser Annahme keineswegs den Bereich spekulativer Metaphysik verlassen, kann sie sehr wohl Fragestellungen hervorbringen, die in eine empirische Metaphysik überführbar sind. Man kann jetzt beispielsweise von einem Monismus von Geist und Materie ausgehen, um dann zu schauen, welche Konsequenzen es mit sich bringt, die monistische Position auf alle Ebenen der Erfahrung auszudehnen. Wenn Physiker das Terrain der Metaphysik betreten und eigene, bizarr erscheinende Weltmodelle entwickeln – wie etwa David Deutsch auf Basis von Everetts Viele-Welten-Theorie10 – dann kann dies, insofern die entsprechenden Modelle konsequent durchdacht werden, in gute Fragen münden, die dann wiederum die Experimentalphysik voranbringen. Ontologische und metaphysische Offenheit, insofern sie nicht dem fallacy of misplaced concreteness aufsitzt – also Erklärungen zu konkreten Phänomenen zu geben beansprucht, zu denen sie eigentlich nichts sagen kann –, kann hochgradig produktiv werden, insofern sie die Forschung inspiriert, theoretisch und experimentell neue Pfade einzuschlagen. In Hinsicht auf die Bereitschaft, vertraute Ontologien und Epistemologien beiseite zu schieben, können Sozialwissenschaftler und Psychologen in der Tat noch einiges von unseren Gesprächspartnern aus der Physik lernen. An dieser Stelle noch eine letzte Bemerkung zu einer weiteren schlechten Antwort in Hinblick auf die Beziehung zwischen Bewusstsein und Quantentheorie. In alternativmedizinischen Kreisen wird gern die Auffassung ventiliert, dass es das subjektive Bewusstsein sei, das eine bestimmte Welt phänomenologisiere und dass man entsprechend mit Hilfe von gezielten Visualisierungen oder sonstigen Fokussierungen der Aufmerksamkeit Krankheiten heilen könne. Solche Glaubensauffassungen sind nichts anderes als eine weitere Hypostase typisch menschlicher Egozentrik. Weit entfernt
10Deutsch
(1997).
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davon, physikalische, psychologische und biologische Zusammenhänge zu verstehen – oder anders herum: gerade weil diese Zusammenhänge so kompliziert sind –, wird unter dem Deckmantel der Quantenphysik auf einfache magische Erklärungen zurückgegriffen. Dabei schließen auch einige seriöse Physiker nicht grundsätzlich aus, dass sich – insofern wir die Verschränkung besser verstehen – möglicherweise auch komplexere Formen der Fernwirkung realisieren lassen; doch wie Daniel Greenberger im Gespräch mit dem Autor feststellt, befindet sich die Physik in Hinblick auf diesbezügliche Fragen noch in den Kinderschuhen. So langsam beginne man die Dynamiken von Mehrteilchen-Verschränkungen zu verstehen, doch letztlich verfüge man derzeit weder über die theoretischen noch experimentellen Mittel, um die Geheimnisse komplexerer Aggregate entschlüsseln zu können. Wie auch immer, einfache Antworten mögen zwar beruhigen, erklären aber nicht wirklich etwas.11 Quanteninformationstheorie als generelles Paradigma für komplexe Systeme? Hiermit landen wir bei einer Reihe von guten Fragen: Was lässt sich anhand der Eigenarten der Theorieform, welche die Quantentheorie mit der Schrödinger-Gleichung für ein physikalisches Problem gefunden hat, für das Verständnis anderer komplexer Systeme lernen? Was lässt sich gewinnen, wenn man Kurzschlüsse zwischen den unterschiedlichen Phänomenbereichen vermeidet und stattdessen auf die Form von Problemen und Beziehungen achtet? Mit Pietschmann ließe sich von der Quantentheorie zunächst lernen, wie man auf eine raffinierte Weise mit Aporien umgehen kann, die offensichtlich selbst Bestandteil des untersuchten Gegenstandes sind. Ein Beispiel hierfür ist das Bohrsche Komplementaritätsprinzip: Wellen- und Teilchencharakter sind gleichzeitig denkbar. Hierdurch wird es logisch möglich, zu unterscheiden, ohne in verabsolutierender Weise zu trennen. Die Bezeichnung der einen Seite führt nicht zum logischen Ausschluss der anderen Seite. Dies erlaubt eine Modellbildung, in der »Vereinen«, »Unterscheiden«, 11Hierin
besteht dann auch das Problem der Studien im Umfeld von Dean Radin (s. etwa Radin et al. 2013). Selbst wenn es sich als reproduzierbar erweisen würde, dass physiophysiologische Interaktionen mit Quantensystemen über Entfernungen hinweg stattfinden können, ist damit weder die Wahrheit der Aussagen theosophischen Gedankenguts bewiesen, noch auf physikalischer Ebene ein Kausal- oder Beziehungszusammenhang aufgezeigt, der die untersuchten Phänomene angemessen erklären könnte. Die Postulate in Büchern wie Radin (2006) beruhen daher primär auf Syllogismen, Metaphern und Homologien, erklären dann aber eigentlich nicht die Zusammenhänge, die sie zu erklären behaupten.
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»Egalisieren« und »Trennen« nicht in einer sich gegenseitig inhibierenden, sondern in einer wechselseitig ermöglichenden Beziehung zueinander stehen.12 Diese Figur lässt sich wiederum auf andere, nichtphysikalische Prozesse anwenden. So lässt sich mit Pietschmann fragen, ob sich nicht etwa auch die Beziehung von Gemeinschaft und Individuum auf dieser komplementären Ebene verstehen lässt. Hierbei kommt dann zudem die Epistemologie ins Spiel, nämlich insofern als die Frage, ob die Beteiligten dieses Verhältnis als komplementär oder antagonistisch erleben, ihrerseits Auswirkungen auf das erscheinende Arrangement hat.13 Damit erscheinen zumindest Homologien zwischen einer sich als eine dialektisch-prozesshaft verstehenden Sozialwissenschaft und einer Physik, die lernen musste, nicht alle Widersprüche entsprechend dem Satz des ausgeschlossenen Widerspruchs zu behandeln. Aber ist das alles, was wir von der Theorieform der Quantentheorie lernen können? Sicherlich nicht. Insbesondere die informationstheoretische Reformulierung der Quantentheorie durch Zeilinger verweist hier auf einen interessanten Zusammenhang: Im Anschluss an Schrödingers Artikel von 1935, in dem er auch das Gedankenexperiment mit der Katze formuliert hat, wird das Phänomen der Verschränkung nämlich als eine wechselseitige Adaption des Informationsstands in unterschiedlichen Systemen behandelt.14 Im Prozess der Beobachtung (und Selbstbeobachtung) generieren diese Systeme immerfort neue Konstellationen von Wissen und Nichtwissen, wobei ›Verschränkung‹ eben heißt, dass sich das Verhältnis von Bestimmtheit und Unbestimmtheit nicht einem einzelnen System verdankt, sondern der Relation oder Beziehung mehrerer Systeme. Hieraus folgt, dass das, was vom Standpunkt eines Systems (oder Beobachters) als logisch oder kohärent erscheint, von einem anderen Standpunkt aus unlogisch oder inkohärent erscheinen kann – doch gerade diese Divergenz der Perspektiven und Wissensstände die Bedingung der Möglichkeit darstellt, dass es überhaupt Systeme und Beobachtung geben kann. Systeme beruhen darauf, Information zu verarbeiten, was zugleich heißt, nicht alles berücksichtigen und damit ›wissen‹ zu können. Fakten – so Časlav Brukner – sind in der Quantentheorie nur relativ zum Beobachter zu definieren. Im Interviewgespräch erklärt er, dass die
12Pietschmann
(2013, S. 112 f.). und Pietschmann (2015) entwickeln auf diese Weise eine Kommunikations- und Beratungstheorie. 14Schrödinger (1935a). 13Hamberger
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Herausforderung darin liege, eine Theorie zu formulieren, in der zwei unterschiedliche, sich widersprechende Aussagen gleichzeitig einen Wahrheitswert haben können (damit also beide zugleich wahr sein können). Jede Beschreibung beruhe zwar auf maximaler Kenntnis, doch man könne diese einzelnen Kenntnisse nicht in einen übergreifenden ontologischen Rahmen stellen. Man wisse zwar von der eigenen Beobachtung, habe dabei jedoch keine Kenntnis hinsichtlich der Beobachtungen anderer. Die unterschiedlichen Beschreibungen sind dann in dem Sinne komplementär, dass man jeweils eine maximale Kenntnis hat, die aber eben nicht alle möglichen Beobachtungen beinhalten könne, sondern jeweils nur diejenige Facette, welche sich aus dem eigenen Beobachterstandpunkt ergibt. Es würde gewissermaßen im Universum nicht genug Speicher geben, um alle Informationen, die des einen und die der anderen Beobachter gleichzeitig prozessieren zu können. Aus diesem Grunde lässt sich dann auch, um Schrödinger zu paraphrasieren,15 nicht gleichzeitig bestmögliches Wissen von dem Ganzen und seinen Teilen gewinnen. Insofern ein Universum in Systeme geteilt wird, bleiben – oder entstehen – Indifferenzzonen in Bezug auf das, was gewusst werden kann. Um wieder auf weitere gute Fragen zurückzukommen: Es erscheint durchaus produktiv, die Quanteninformationstheorie als paradigmatisches Beispiel für Systeme jeglicher Art zu nehmen, deren Teilsysteme auf komplexe Weise miteinander interagieren. Wie etwa die Forschungsgruppe um Masarani Asano und Ichiro Yamato aufzeigt, lassen sich auf dieser Basis etwa kognitive Systeme dezentraler Hirnaktivität sowie die Dynamiken komplexer physiologischer Stoffwechselvorgänge, ebenso auch netzwerkförmig organisierte soziale Prozesse beschreiben.16 Das Ziel ist dabei freilich nicht, biologische, kognitive oder soziale Prozesse auf (quanten-) physikalische Vorgänge zurückzuführen. Vielmehr geht es um eine eigenständige Modellierung analog zur Quanteninformationstheorie, welche davon ausgeht, dass mehrere Teilsysteme sich wechselseitig in einer solchen Weise kontextualisieren, dass ihr Verhalten für einen im System situierten Beobachter nicht determiniert erscheint und die hiermit einhergehenden Unbestimmtheiten nicht mehr durch die klassische Wahrscheinlichkeitstheorie berechnet werden können. Für letztere gilt das Gesetz der totalen Wahrscheinlichkeit, entsprechend dem sich die Wahrscheinlichkeit für ein
15Schrödinger 16Siehe
(1935a, S. 827). Asano et al. (2015).
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Ereignis A berechnen lässt, wenn man bereits die bedingte oder gemeinsame Wahrscheinlichkeit in Abhängigkeit von einem zweiten Ereignis B hat. Das Auftreten von Ereignissen in Quantensystemen lässt sich demgegenüber nur auf Basis einer nicht-klassischen Wahrscheinlichkeitstheorie berechnen. Denn die Quantenwahrscheinlichkeit muss mit Verschränkung und der hiermit einhergehenden nicht-trivialen Koppelung von Systemen und Wahrscheinlichkeiten rechnen. Dies drückt sich durch den sogenannten Interferenzterm aus, über den in der Wellenfunktion positive und negative Werte verrechnet werden (letztere ergeben in der klassischen Wahrscheinlichkeitstheorie keinen Sinn – was ist eine Wahrscheinlichkeit unter Null?). Das Gesetz der totalen Wahrscheinlichkeit wird in der Quantentheorie auch deshalb verletzt, weil unterschiedliche Systeme als gekoppelte Systeme definiert sein können, wodurch dann seine Teile unbestimmt sind – oder, um es nochmals mit Schrödinger zu formulieren: »Bestmögliches Wissen um ein Ganzes schließt nicht notwendig das Gleiche für seine Teile ein.«17 Asano und Yamato können aufzeigen, dass bereits das klassische Drei-Körper-System, wo jeweils gleichzeitig zwei Wechselwirkungen auf ein Teilsystem ausgeübt werden, nicht-klassische probabilistische Merkmale aufweist. Es lässt sich zeigen, dass auch hier die Verletzung des Gesetzes der totalen Wahrscheinlichkeit im Hilbert-Raum modelliert werden kann, wie es auch in der Quantentheorie geschieht.18 Damit erscheinen also auch für das Drei-Körper-System Überlagerungen unterschiedlicher möglicher Zustände, in denen das System angetroffen werden kann, wie es bereits aus der quantenmechanischen Modellierung des Doppelspaltexperiments bekannt ist. Unbestimmtheit erscheint damit gewissermaßen als eine paradigmatische Metapher für ein Verhalten, das überall auftreten kann, wo es zu komplexen Wechselwirkungen zwischen unterschiedlichen Subsystemen kommt. Dies ist selbstredend in biologischen und sozialen Systemen der Fall. Wie anhand des hier angeführten Beispiels deutlich wird und bei dieser Gelegenheit nochmals betont werden soll, beruht das Erkenntnispotenzial der Quantentheorie für andere wissenschaftliche Fachgebiete (in diesem Fall für jene der Biologie bzw. Soziologie) darauf, dass in einer spezifischen Hinsicht eine Homologie zum mathematischen Formalismus der Quantentheorie beobachtet werden kann. Im hier beschriebenen Fall besteht diese Homo-
17Schrödinger 18Asano
(1935a, S. 827). (2016).
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logie darin, dass die Modellierung der Wahrscheinlichkeiten quantenähnlich verläuft, ohne dass damit bestimmte (quanten-) physikalische Wirkmechanismen impliziert sein müssen. Es geht also nicht darum, die mit der Schrödinger-Gleichung implizierten physikalischen Beziehungen auf neuronale oder soziale Systeme anzuwenden. Gleichwohl macht es Sinn, für das Nachvollziehen ihrer Dynamiken die Grundidee der quantenphysikalischen Modellierung zu übernehmen, nämlich die Variablen des untersuchten Systems durch Operatoren zu ersetzen, die sich wechselseitig konditionieren. Auf diese Weise wird es möglich, sich von linearen Kausalitätsketten zu lösen und komplexe Systeme zu beschreiben, auf deren Teilsysteme zugleich unterschiedliche Wirkungen ausgeübt werden, die dann ihrerseits diejenigen Systeme konditionieren, welche diese Wirkungen ausüben. Kein Supersystem, keine Ganzheit, kein Grund der Gründe – alle denkbaren Kästchen sind zu eng Kommen wir zu einer anderen schlechten Antwort auf unserer Dialogprojekt, nämlich zum Versuch, die wie auch immer gearteten komplexen Beziehungen von Teilsystemen zu einem Supersystem zu essentialisieren, sei es materialistisch oder idealistisch gedacht. Zu sagen, alles sei Quantenmaterie – um den Realismus zu hypostasieren – oder umgekehrt zu postulieren, alles sei Bewusstsein und dieses gehe in ein Superbewusstsein, ein Supersystem, einen Superbeobachter ein, der alles enthält, macht genau die Differenzen unsichtbar, die durch die postulierte Einheit vermeintlich erklärt werden sollen. Die Differenz von System und Umwelt würde zusammenfallen und damit würde auch der Beobachter verschwinden. Jeder solchermaßen konzipierte Essentialismus führt in jene Tautologie, wie sie bereits Ludwig Wittgenstein in seinem Tractatus mit der Formulierung pointiert hat, »dass der Solipsismus, streng durchgeführt, mit dem reinen Realismus zusammenfällt. Das Ich des Solipsismus schrumpft zum ausdehnungslosen Punkt zusammen, und es bleibt die ihm koordinierte Realität.«19 In der Quantentheorie wie auch in der soziologischen Systemtheorie begegnen wir jedoch nicht nur der Einheit, sondern ebenso der Differenz. Darüber hinaus haben wir nicht nur einen Beobachter, sondern viele Beobachter, deren Welterkenntnis (oder besser gesagt: deren Welterzeugung)
19Wittgenstein
(1990, Proposition).
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nicht in Deckung zu bringen ist, wenngleich sie sich gemeinsam in konditionierter Koproduktion wechselseitig hervorbringen. Dies wird insbesondere in den Gesprächen mit Časlav Brukner und Dirk Baecker zum Thema. Den Beobachter gibt es nicht, formuliert letzterer: der Beobachter sei nur eine Theoriefigur, die man sich weder substanzialisiert noch personalisiert vorstellen dürfe. Die Figur des Beobachters besage nur, dass alle Aussagen, die man treffen könne, einer bestimmten Systemreferenz zuzuordnen sind. Das Gleiche gelte jedoch auch für den Systembegriff. Auch das ›System‹ dürfe nicht essentialistisch missverstanden werden. Es sei vielmehr nur ein theoretisches Hilfsmittel, das es erlaube, Wirklichkeitskonstruktionen – das Erscheinen einer Realität mit entsprechenden Fakten – zu rekonstruieren. Der Beobachter oder das System sind damit kein ›Ding an sich‹, das an einer konkreten Stelle in Raum und Zeit zu lokalisieren ist. Beide erscheinen vielmehr selbst als eine Konstellation von Relationen, die andere Relationen relationieren. Dekontextualisiert gibt es keine Systeme und keine Beobachter – und damit auch keine Subjekte und Objekte. Beides erscheint kontextualisiert durch andere Systeme und Beobachter sowie durch deren Beziehung zueinander. Wenn es aber Beobachter und die von ihnen beobachteten Objekte im Sinne einer identifizierbaren Essenz nicht gibt, was ist dann der Fall? Die Antworten werden nicht besser, insofern wir weiterhin im Sinne der abendländischen Metaphysik die Frage nach dem Seienden stellen oder aber in überschwänglicher Gegenreaktion einen Idealismus propagieren, der alles als Schöpfung eines metaphysischen Subjekts markiert. ›Alle diese Kästchen, die auf -ismus enden, sind mir zu eng‹, so hat es Anton Zeilinger in einem Gespräch mit dem Autor auf den Punkt gebracht. Weder Objektivismus, Realismus oder Dualismus, noch ein Subjektivismus, Idealismus oder Monismus helfen angesichts dieser epistemischen Problemlagen wirklich weiter. Denn nicht nur die Welt der Objekte, auch das Subjekt selbst hat, ebenso wie bereits der Beobachter oder das System, seinerseits keine inhärente Essenz. Doch, um nochmals Wittgenstein zu zitieren, es tritt als das »philosophische Ich« in die Weltbeschreibung mit ein, »nicht« als »der menschliche Körper«, nicht als »die menschliche Seele, von der die Psychologie handelt«, sondern als das »metaphysische Subjekt«, als »Grenze«, jedoch nicht als »Teil« der »Welt«.20 Was sich hier vor allem lernen lässt, ist,
20Wittgenstein
(1990, Proposition).
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dass man es sich in Hinblick auf ontologische Festlegungen nicht zu einfach machen darf. Allein schon aus empirischen Gründen sind hier flachere Ontologien oder aber ein gekonntes ontologisches Gerrymandering21 der Sache angemessener. Wie auch immer im jeweils konkreten Einzelfall vorgegangen wird, festzuhalten ist: Antworten, die einer essentialistischen Ontologie verhaftet bleiben, sind schlechte Antworten! Erst indem wir die Versuchung solcher Antworten beiseiteschieben und stattdessen das Augenmerk auf konkrete Prozesse und die mit ihnen einhergehenden Relationen lenken,22 erscheinen zumindest gute Fragen, die dann sowohl für die Physiker als auch für Soziologen und Geisteswissenschaftler instruktiv sein können. Keine Frage? Keine Antwort! Unter dem Primat der Information verschwimmen die Grenzen zwischen Ontologie und Epistemologie Schon Archibald Wheeler hat diesbezüglich Fragen gestellt, die auch für unser Dialogprojekt interessant sind. Auch für ihn scheiden essentialistische Antworten aus. Es gibt für ihn kein »begründendes Prinzip«, von dem aus die beobachtbaren Ordnungen der Welt entfaltet werden können – nicht einmal Raum oder Zeit. Stattdessen verschiebt Wheeler die Aufmerksamkeit auf die operative Ebene, indem er fragt: »Wie kommt es zur Existenz?« bzw. »Wie es aus vielen BeobachterTeilnehmern (observer-participants) zu einer Welt kommt?«23
Unweigerlich kommt auch hier wieder die konditionierte Koproduktion ins Spiel, also die Produktion einer Welt aus unterschiedlichen, divergierenden Beobachterperspektiven, die sich wechselseitig, jedoch in unterschiedlicher Weise informieren und instruieren. Wheeler gibt dabei zwei für unsere Diskussion besonders interessante Zugänge, ausgedrückt in den folgenden kurzen Statements:
21Dieser schöne Begriff wurde von Woolgar und Pawluch (1985) im Kontext der Science Studies geprägt und bezeichnet in Anlehnung an den ehemaligen Gouverneur Elbridge, der je nach den politischen Opportunitäten seine Wahlkreise zuschnitt, die Tatsache, dass viele Naturwissenschaftler je nach Fragestellung und Bedarf pragmatisch ihre Ontologie verändern. 22Aus diesem Grunde ist die Quantentheorie für die analytische Philosophie eine echte Herausforderung. Siehe für einen philosophischen Zugang, der das Problem immerhin ernst nimmt Esfeld (1999, 2004). 23Alle Zitate aus Wheeler (1990, S. 4).
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»Keine Frage? Keine Antwort!« »Mehr ist etwas anderes (More ist different)«.24
Dinge kommen in Existenz, weil bestimmte Fragen gestellt werden – und nicht deshalb, weil es bereits vorab eine Antwort gab, für die sich dann eine Frage finden lässt. Die Frage selbst erscheint damit als inhärenter Bestandteil des rekursiven Netzwerks von Interaktionen, welches bestimmte Phänomene erst generiert und erscheinen lässt. Wheeler vertritt hier seinerseits – wie dann später auch Zeilinger – das Primat der Information, wie salopp durch den bekannten Leitsatz »It from bit«25 ausgedrückt wird. Unweigerlich kommt hiermit auch Bedeutung oder Sinn ins Spiel, denn Information ist seinerseits ein komplexer Begriff, der Systeme und Prozesse voraussetzt, die Information verstehen lassen. Aus Perspektive eines Experimentalphysikers mag es hinreichen, Information als einen grundlegenden Begriff zu betrachten, der nicht weiter definiert werden kann und braucht, da man ihn dann ja auf etwas anders zurückführen müsste – und damit, wie es Zeilinger im Gespräch mit dem Autor ausdrückte, kein grundlegender Begriff mehr wäre. Ein intuitives Verständnis von Information reiche vollkommen aus, um auf Basis des informationstheoretischen Paradigmas raffinierte Experimente zu entwickeln, die neue Einsichten offenbaren. Ein Soziologe kann es sich hier nicht so leicht machen. Für ihn sind Bedeutung, phänomenale Erfahrung und materiale Welthaftigkeit so stark miteinander verwoben, dass er in Bezug auf die Frage nach der Bedeutung von Information nicht umhinkommt, zu versuchen, die einzelnen Stränge analytisch zu entwirren – wohlwissend, dass man dabei unweigerlich auf Aporien und Paradoxien stößt. Verstehen setzt Verstehen voraus. Eine Antwort setzt eine Frage voraus. Aus dem Medium Sinn lässt sich nicht entkommen. Jede auch noch so abstrakte mathematische Beschreibung setzt Sinngebrauch voraus. Der Begriff der Information lässt dabei, wie bereits Carl Friedrich v. Weizäcker festgestellt hat, die Grenze zwischen Geistigem und Materiellem verschwimmen. Zudem kommt der Begriff der Form ins Spiel, als eine wie auch immer geartete Gestalt, die an einer anderen Stelle einen Unterschied macht. Tintenkleckse erscheinen für einen Leser nur in einer bestimmten
24Alle 25Alle
Zitate aus Wheeler (1990, S. 4). Zitate aus Wheeler (1990, S. 6).
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Anordnung als Information – etwa als Zahl oder Buchstabe. Lassen wir v. Weizsäcker deshalb selbst mit einem Zitat zu Wort kommen: »Im Rahmen des in der Naturwissenschaft verbreiteten cartesischen Dualismus fragte man, ob Information Materie oder Bewußtsein sei, und erhielt die zutreffende Antwort: keines von beiden. Manche Autoren bezeichneten sie dann als ›eine dritte Art der Realität‹. Wir werden die positive Antwort wählen: Information ist das Maß einer Menge von Form. Wir werden auch sagen: Information ist ein Maß der Gestaltenfülle. Form ›ist‹ weder Materie noch Bewußtsein, aber sie ist eine Eigenschaft von materiellen Körpern, und sie ist von Bewußtsein wißbar. Wir können sagen: Materie hat Form. Bewußtsein kennt Form.«26
Während also bei v. Weizsäcker der Begriff der Information an jenen des Bewusstseins gekoppelt ist, umschifft Wheeler das Problem des phänomenalen Bewusstseins auf seine Weise, indem er Wissen als kommunikative Verstärkung von Fluktuationen begreift. Weil man durch andere gelernt habe, auf entsprechende Signale zu achten, können auch kleine Abweichungen einen informativen Wert bekommen und dann in eine Wirkung münden, die sich auch im Makroskopischen zeigt. Denn Bedeutung setzt nicht nur Wissen, sondern auch Kommunikation voraus. Ohne Mitteilung »kein Beitrag zur Bedeutung!« »Kein elementares Quantenphänomen ist ein Phänomen bis es, in Bohrs Worten, ›durch einen irreversiblen Akt der Verstärkung‹ zum Abschluss gebracht wurde.«27 Auch hierin liegt dann der Sinn der Aussage »More is different«. Für sich genommen, sind Zufallsschwankungen bedeutungslos. Im Kontext von Systemen, die sie makroskopisch verstärken – man denke an Schrödingers Katze –, kann ein Quantenereignis den Weltverlauf verändern. Intra-action – ohne Systeme keine Zeit, ohne Kontext kein System Mit der Frage nach der Information taucht zugleich das Problem der Irreversibilität der Zeit auf – der Zustand vor der Erkenntnis ist qualitativ ein anderer als der Zustand nach der Erkenntnis. Hiermit ergibt sich eine weitere gute Frage: Wie ist das Verhältnis zwischen System, Beobachtung und Zeit beschaffen? Genau dieser Aspekt wurde ausführlich im Gespräch mit Marcus Huber diskutiert. Quantensysteme, wie sie durch die Schrödinger-Gleichung beschrieben werden, sind in der Zeit reversibel; und 26v.
Weizsäcker (1994, S. 166 f.). Zitate aus Wheeler (1990, S. 11).
27Alle
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weil der Zeitpfeil in diesem Formalismus keine Rolle spielt, könnten unterschiedliche Systemzustände als Überlagerung gleichzeitig existieren (man denke wieder an das Gedankenexperiment von Schrödingers Katze, die zugleich tot und lebendig ist). In der Welt der Beobachtung gibt es jedoch nur distinkte Zustände sowie eine gerichtete Zeit, die Vergangenheit und Zukunft voneinander scheiden lässt. Dies ist allerdings nur möglich, insofern Systeme so konfiguriert sind, dass sie Unterschiede derart verstärken, dass die Rückkehr zum Ausgangszustand hochgradig unwahrscheinlich ist. Im Gespräch wurde dies am Beispiel der zerbrochenen Tasse illustriert. Um Zeit und damit eine Elementarform von Bedeutung zu haben, wird also ein Ensemble von Systemen benötigt, die fern vom thermodynamischen Gleichgewicht eine Spannung aufbauen (man denke beispielsweise an die biologische Zelle, bei der innen und außen aufgrund unterschiedlicher Ionenkonzentrationen ein elektrisches Potential aufgebaut wird). Auf diese Weise können kleine Wirkungen zu großen Effekten führen (wenige Photonen auf der Netzhaut führen zur Öffnung der Ionenkanäle und damit zur Entladung der Nervenzellen). Minimale Abweichungen können so verstärkt werden, dass distinkte Systemzustände als Eigenwerte angelaufen werden können, die dann auch für andere Systeme einen hinreichenden Unterschied machen, da nun offensichtlich und irreversibel etwas anderes der Fall ist – More is different. Die Scherben der zerbrochenen Tasse setzen sich nicht wieder zum ursprünglichen Gefäß zusammen (ebenso verläuft der Mechanismus der schnellen Entladung der Nervenzellen nur in einer Richtung). So betrachtet, gilt: Wenn es keine Systeme gäbe, gäbe es keine Zeit. Damit ist aber ›Zeit‹ und möglicherweise auch ›Raum‹ kein grundlegender Begriff der physikalischen Welterklärung mehr, sondern nur ein abgeleitetes Phänomen – so dann auch die Vermutung von Carlo Rovelli.28 Homolog hierzu betrachtet Armin Nassehi in seinen Zeitstudien die Dynamik des Bewusstseinsprozesses wie auch der Selbstorganisation sozialer Systeme. Auch Nassehi wechselt zu einer operativen Theorie der Zeit, welche diese nicht mehr ontologisch voraussetzt, sondern als Ergebnis des Prozessierens von Systemen sieht. Wie der Physiker Marcus Huber kommt Nassehi zu dem Schluss, dass Zeit das Ergebnis der Vergleichsoperationen eines Beobachtungsprozesses ist. Als Systeme sehen wir sozusagen zeitlich und verdanken dies der Erlebnisaufschichtung unseres Systemgedächtnisses,
28Rovelli
(2014, 2018).
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das in dieser Weise unterscheiden lässt und damit unsere Eigenzeit hervorbringt. Jedes System ist mit seiner Eigenzeit jedoch wiederum in Umwelten eingebettet, in denen Systeme mit anderen Eigenzeiten existieren (etwa dynamische Märkte, langsamere Organisationen und vielfältige Bewusstseinsprozesse), die wiederum mit dem Auseinanderfallen der Eigenrhythmen und Eigenzeiten der anderen, für sie relevanten Systeme zurechtkommen müssen, indem sie den Dissonanzen Sinn und Bedeutung abringen. Dieser Gedanke führt uns zu der bereits zuvor anklingenden guten Frage nach der rekursiven Beziehung von Frage und Antwort zurück. Durchaus im Sinne von Wheeler ließe sich nämlich auch für die von Nassehi beschriebenen sozialen Systeme formulieren, dass innerhalb dieser ständig neue Fragen entstehen, auf die seitens der unterschiedlichen Beobachter-Teilnehmer Antworten gefunden werden müssen. Mit Wheeler ließe sich beispielsweise durchaus anschauen, welche Fragen eine Ameise an die Welt stellt, welche Antworten sie hierdurch hervorruft und welche Fragen und Bedeutungen sie für den Menschen hervorbringt, der auf die eine oder andere Weise mit der Ameise interagiert – sich also auf seine typisch menschliche Art zu fragen, mit den Fragen der Ameise zu verschränken beginnt.29 So gesehen können Frage und System nur noch analytisch, jedoch nicht mehr operativ auseinandergehalten werden. Das (andere) System ist selbst die Frage, da es als lokale Systemdynamik seinerseits andere Systeme zu Antworten herausfordert, die dann für es selbst wiederum als Frage erscheinen. Der Beobachter-Teilnehmer – eine andere Formulierung des Begriffs ›lokales System‹ – erscheint damit als nichtwissender Akteur, der Fragen an die Welt stellt und aus der Weltdynamik heraus Antworten erhält, die sich als sein eigener Systemzustand manifestieren. Damit erscheinen Beobachter und Beobachtetes ihrerseits als eine Einheit, nicht als etwas Getrenntes. Doch zugleich gibt es keine Gesamtbeschreibung, die ohne Paradoxie zu haben ist. Wir finden eine konditionierte Koproduktion vor, entsprechend der beides voneinander abhängig ist. Aber was ist dann der Beobachter-Teilnehmer bzw. das ihm zugerechnete System? Beides gibt es doch eigentlich nicht, jedenfalls nicht im Sinne einer essentialistisch definierbaren Entität? Jede eindeutige Antwort auf diese Frage – dies lässt sich an dieser Stelle mit Sicherheit sagen – stellt eine schlechte Antwort dar. Sie würde das Bohrsche Prinzip inkommensurabler
29Alle
Zitate aus Wheeler (1990, S. 11).
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Komplementaritäten unterlaufen, das davon ausgeht, dass die zwei Beschreibungsweisen, die notwendig sind, um Quantenphänomene vollständig zu charakterisieren, nicht zur Deckung zu bringen sind. Paradoxien und die hiermit einhergehenden logischen Widersprüche vermeiden zu wollen, würde heißen, die systemtheoretische Einheit der Differenz entweder zulasten der Einheit oder des Unterschieds aufzulösen. Wer nach Widerspruchsfreiheit entsprechend dem Common Sense sucht, bekommt Antworten, die eine differenzlose Einheit vortäuschen oder den Subjekt-Objekt-Schnitt (und damit den Beobachter) hypostasieren. Die besseren Antworten ergeben sich durch Fragen, welche die Operativität, also das Tun oder den Prozess pointieren, wie es Maturana und Varela mit dem Satz »Jedes Tun ist Erkennen, und jedes Erkennen ist Tun«30 zuspitzen. Hiermit stoßen wir auf eine weitere gute Frage, nämlich die Frage nach der Beziehung zwischen Ontologie und Epistemologie. Ohne Frage gibt es keine Antwort, um mit Wheeler erneut zu paraphrasieren, dass Epistemologie und Ontologie in der Quantentheorie untrennbar miteinander verwoben sind. Bei Quantensystemen bestimmt der Versuchsaufbau, bzw. die hierdurch mögliche Interaktion zwischen Quantenobjekt und Messsystem, was als Phänomen erscheinen kann und welche Eigenschaft in Bezug auf den Seins-Status von Teilsystemen unbestimmt, also ontologisch nicht definiert ist. Man darf, so die zentrale Lehre der Quantenphysik, also nicht mehr davon ausgehen, dass es so etwas wie Spin, Geschwindigkeit, Impuls usw. von vornherein gibt. Bestimmte Eigenschaften und Qualitäten erscheinen immer nur im Kontext einer bestimmten Konstellation, wobei mit der Bestimmung der einen Eigenschaft zugleich der ontologische Status anderer Eigenschaften unklar wird, also seine vorherige Bestimmung verliert. Erinnern wir uns beispielsweise an das Teleportationsexperiment. Hier gilt: Fragt man durch den Versuchsaufbau: ›Sind die beiden teleportierten Teilchen verschränkt‹, so erhält man eine strenge Korrelation in Hinblick auf die jeweils gemessenen Eigenschaften der beiden Teilchen – es wird eine Verschränkung angezeigt. Schaut man demgegenüber auf den Zustand der ursprünglichen Geschwisterteilchen, so erscheinen diese verschränkt, nicht jedoch die teleportierten Teilchen. Frage und Antwort, beobachtetes Objekt und erkennendes System sind also in einer Weise miteinander verwickelt,
30Maturana
und Varela (1987, S. 2).
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dass nicht einmal mehr von einer Interaktion gesprochen werden kann – denn dies würde ja zwei voneinander unabhängige Systeme oder Teilsysteme voraussetzen. Aus diesem Grunde ist es auch nicht möglich, einem System oder einem Beobachter eine eigenständige ontische Qualität zuzugestehen. Wir können zwar nicht anders als von Systemen zu reden, wenn wir etwas untersuchen – aber streng genommen bleibt auch der Systembegriff eine Metapher aus der Alltagsprache, um etwas zu bezeichnen und handzuhaben, wofür eigentlich die Begriffe fehlen. Vielmehr, so die zentrale Lehre aus der Quantenphysik, scheint erst das spezifische Arrangement von Relationen die spezifischen Eigenschaften des jeweiligen Gegenstands – des Systems, des Beobachters, des Beobachteten – hervorzubringen. Sobald wir uns so sehr an Metaphern gewöhnt haben, dass sie für uns mit den imaginierten Gegenständen zu verschmelzen scheinen (etwa das System als eine Entität im Raum und das Teilsystem als ein Ding in einem Behälter), sie also, wie es Peter Fuchs im Gespräch ausdrückt, zu gestorbenen, vergessenen Metaphern werden, lohnt es sich, nach neuen Metaphern Ausschau zu halten, um festgefahrene Denkgewohnheiten, die uns die Gewissheit einer allzu leicht begreifbaren Welt vortäuschen, wieder aufzulockern. Karen Barads Neologismus intra-action (deutsch: IntraAktion) erscheint hierfür als ein durchaus interessanter Kandidat. Im Gegensatz zum Begriff der ›Interaktion‹, welcher von ontisch vorab definierten Entitäten ausgeht, die miteinander wechselwirken, erkennt der Begriff der Intra-Aktion an, dass Entitäten, Aktanten, Akteure oder wie auch immer bezeichnete Aggregate einer Versuchsanordnung ihrer Intra-Aktion nicht vorausgehen, sondern durch diese erst entstehen.31 Es gibt somit keine interagierenden Teilsysteme, sondern die Teilsysteme – bzw. all das, was als solche aus der Perspektive des Beobachters erscheinen mag – sind emergente Phänomene, die sich aus der Gesamtdynamik des jeweiligen Arrangements ergeben. Es gibt gewissermaßen kein Phänomen, das für sich alleine steht. An jeder Stelle stellt sich die Frage, wie veränderte Bedingungen des Gesamtarrangements die Vorhersagen über das zukünftige Verhalten des Systems definieren. Genau in der Anerkennung dieser vertrackten Beziehung lag dann auch die Antwort von Niels Bohr auf Einsteins Kritik an der Quanten-
31Barad
(2007, S. 33).
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theorie: Es gibt kein unabhängiges, dekontextualisiertes, unbeeinflusstes System.32 Mit der Verschränkung ist aber in Kauf zu nehmen, dass sich diese Beeinflussung immer zugleich auf zwei Weisen manifestiert: Jede Intra-Aktion generiert Bestimmungen, löscht aber zugleich andere wieder aus. Jede Intra-Aktion generiert neue Bindungen, die sich dann als Korrelationen zeigen, vernichtet aber auch wiederum Bindungen, wie bereits Schrödinger aufgezeigt hat.33 Intra-Aktionen teilen und verbinden gleichzeitig. Sie schneiden gleichzeitig zusammen-auseinander (im Orginal: »cutting together-apart«), wie Barad es mit einer weiteren paradoxen Begrifflichkeit ausdrückt.34 Verschränkung, intra-action, cutting together-apart – Individuation in Konnektivität Wenn also für die Quantentheorie doch so etwas wie eine Quantenontologie formuliert werden müsste, wäre also zu berücksichtigen, dass »der quantenmechanische Substanzbegriff schwächer« ist »als der klassische, da Quantenobjekte anders als klassische Objekte nicht Träger aller Eigenschaften
32»From our point of view, we now see that the wording of the above-mentioned criterion of physical reality proposed by Einstein, Podolsky, and Rosen contains an ambiguity as regards the meaning of the expression »without in any way disturbing the system.« Of course there is in a case like that just considered no question of a mechanical disturbance of the system under investigation during the last critical stage of the measuring procedure. But even at this stage there is essentially the question of an influence on the very conditions which define the possible types of predictions regarding the future behaviour of the system. Since these conditions constitute an inherent element of the description of any phenomenon to which the term »physical reality« can be properly attached, we see that the argumentation of the mentioned authors does not justify their conclusion that quantum-mechanical description is essentially incomplete. On the contrary this description, as appears from the preceding discussion, may be characterized as a rational utilisation of all possibilities of unambiguous interpretation of measurement, compatible with the finite and uncontrollable interaction between the objects and the measurement instruments in the quantum theory. In fact, it is only the mutual exclusion of any two experimental procedures, permitting the unambiguous definition of complementary physical quantities, which provides room for new physical laws, the coexistence of which might at first sight appear irreconcilable with the basic principles of science. It is just this entirely new situation as regards the description of phenomena, that the notion of complementarity aims at characterizing (Bohr 1935, 700 italics in original). 33»Bloß im vorliegenden Fall, weil das Gesamtsystem aus zwei völlig getrennten Teilen bestehen soll, hebt sich die Sache als etwas Besonderes ab. Denn dadurch bekommt es einen Sinn, zu unterscheiden zwischen Messungen an dem einen und Messungen an dem anderen Teilsystem. Das verschafft jedem von ihnen die volle Anwartschaft auf einen privaten Maximalkatalog; andererseits bleibt es möglich, daß ein Teil des erlangbaren Gesamtwissens auf Konditionalsätze, die zwischen den Teilsystemen spielen, sozusagen verschwendet ist und so die privaten Anwartschaften unbefriedigt lässt – obwohl der Gesamtkatalog maximal ist, das heißt obwohl die -Funktion des Gesamtsystems bekannt ist.« (Schrödinger, 1935a, S. 826). 34Barad (2012).
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sind«.35 Die »Quantenontologie«, so Elizabeth de Freitas im Anschluss an Barad, »untergräbt die strenge Dichotomie zwischen diskreter Individuation (Objekte) und kontinuierlicher Konnektivität (Beziehungen). Das seltsame Verhalten von Quantensprüngen ist ein Ereignis, das uns neue Formen der Beziehung zeigt«.36 Die grundlegende Vorstellung von Teilchen, die sich auf kontinuierlichen Bahnen in Raum und Zeit bewegen, sowie die hiermit einhergehenden Kausalitäten werden in Frage gestellt. »Hier und Jetzt« sowie »Dort und Dann« sind dann keine separaten Koordinaten mehr, wie Barad aufzeigt, sondern ihrerseits »verschränkte Rekonfigurationen, aus denen heraus Raumzeitmaterie entsteht« (im Original »entangled reconfigurings of spacetimemattering«).37 Selbstredend darf dann auch die Beziehung von Kontinuität und Diskontinuität nicht mehr im Sinne einer ausschließenden Dichotomie verstanden werden, denn die hiermit einhergehenden Schnitte sind, so nochmals Barad, unweigerlich eine Angelegenheit des gleichzeitigen Zusammen- und Auseinanderschneidens.38 Wiederum kann man sich an dieser Stelle die Frage stellen – und dies ist eine gute Frage –, ob die quantentheoretische Grundfigur der Verschränkung in dieser Radikalität auch auf soziale Prozesse übertragen werden könnte – und wenn ja, wie und mit welchem heuristischen bzw. theoretischen Gewinn. Wie bereits eine erste grobe Sondierung ergibt, lassen sich Beispiele hierfür durchaus finden: So geht etwa die Netzwerktheorie im Anschluss an Harrison White39 von Identitäten aus, welche extrinsisch über die Beziehungen innerhalb ihres sozialen Netzwerkes generiert werden, womit ihnen keine eigenen, von der sozialen Konditionierung unabhängigen Eigenschaften zukommen. Für eine sozialpsychologisch informierte Wirtschaftswissenschaft wiederum hätte die Konzeption der Verschränkung die Konsequenz, dass man sich endgültig von einem methodologischen Individualismus loszusagen hätte, der immer noch von Akteuren ausgeht, deren Bedürfnisse und Zweck-Mittel-Relationen als intrinsische Eigenschaften Einzelner begriffen werden.40 In diesem Sinne referiert George Akerlof, seinerseits Träger des Nobelpreises für Wirtschaftswissenschaften,41 beispielsweise auf 35Mittelstaedt
(2000, S. 67). Freitas (2017, S. 747). 37Barad (2012, S. 19). 38Im Original: »Cuts are matters of cutting together-apart« (Barad 2012, S. 19). 39White (2008). 40Akerlof (2010). 41Akerlof (2010). 36de
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die Studien von Karla Hoff und Priyanka Pandey zur »Bedrohung durch Stereotype« und Kasten in Indien. So wurden Probanden gebeten, Labyrinthrätsel zu lösen und erhielten für jedes gelöste Rätsel eine Belohnung. Allerdings ist in Indien die Kaste am Nachnamen erkennbar. Die sozialpsychologischen Experimente zeigten, dass wenn durch Aufruf per Nachnamen eine Bekanntgabe der Kaste stattfand, die Mitglieder der unteren Kasten 23 % weniger Rätsel lösen konnten als die Versuchsteilnehmer/innen aus den höheren Kasten. »Das schlichte Vorlesen ihrer Nachnamen in der Öffentlichkeit reichte aus, um ihre Leistung zu vermindern, obwohl sie einen beträchtlichen materiellen Erfolgsanreiz hatten«.42 Ein Mensch mit seinen Kompetenzen sowie den hiermit einhergehenden kognitiv-emotionalen Zuständen, einschließlich der Kernmerkmale seiner Persönlichkeit, wäre hiermit nicht zuletzt als emergentes Produkt sozialer Beziehungen zu verstehen. Selbstredend würde dies dann auch für das menschliche Begehren gelten, wie bereits sozialanthropologische Studien zur mimetischen Rivalität suggerieren.43 Hiermit ließe sich auch die Vorstellung vom Menschen als ein intentional handelnder Akteur umschreiben. Im Sinne von Robert Brandom ließe sich dann etwa vermuten, dass der Akteurstatus erst durch sprachliches Handeln in einer Gemeinschaft institutionalisiert wird und in »diesem Sinne« könnten »nur Gemeinschaften, nicht Individuen, als im Besitz von ursprünglicher Intentionalität interpretiert werden«.44 Man würde aber dem Theoriepotential der Konzeption der Verschränkung nicht gerecht werden, indem man einfach nur die Richtung der Erklärung umdreht. Zu sagen: ›Gemeinschaften erzeugen Bedürfnisse und Subjekte‹, oder: ›Netzwerke generieren Identitäten‹ stellt zwar die Common Sense-Vorstellungen in Hinblick auf die in diesen Zusammenhängen geltenden Kausalitäten vom Kopf auf die Füße. Zugleich werden damit aber neue Einheiten postuliert, denen nun ein ontischer Status zugewiesen wird.
42Akerlof
und Krankton (2010, S. 38). Siehe zur Originalstudie: Hoff u. Pandey (2006). vor allem die Studien zur Mimesis bzw. zu mimetischen Rivalität von René Girard (1987). Siehe zur Einführung Wulf (2005). 44Brandom (2000, S. 115). Um auf die entsprechenden philosophischen Fachdiskurse zu referieren: Für John R. Searle (1969) ist die ursprüngliche Intentionalität – also der Ausgangspunkt allen Handelns – noch innerhalb der Akteure lokalisiert, nämlich in ihrer Handlungsabsicht. Demgegenüber stellen Sprache und die hierin vollzogenen Zurechnungen für ihn abgeleitete Phänomene dar. Brandom kehrt nun mit Daniel Dennet (1978) das Verhältnis von abgeleiteten kommunikativen Prozessen und ursprünglicher Intentionalität um. »Daß etwas von jemandem als intentionales System betrachtet oder behandelt wird, rangiert in der Reihenfolge der Erklärung vor der Tatsache, daß es ein intentionales System ist« (Brandom 2000, S. 109). 43Siehe
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Gemeinschaften und nicht Individuen (bzw. Netzwerke anstelle personaler Identitäten) werden jetzt als das Primäre, das Verursachende angesehen. Wir verbleiben also noch im vertrauten Spiel von Grund und Begründetem. Sobald wir jedoch der gehaltreichen Metaphorik der Intra-Aktion folgen, offenbaren sich hier komplexere Beziehungen, die keine vorab definierte Richtung der Kausalität suggerieren und insofern keine ontische Bestimmung von verursachenden Elementen oder Aggregaten erfordert. Theoriearchitektonisch beschreibt die Verschränkung der Quantenmechanik nämlich keineswegs die wie auch immer geartete Beeinflussung einer Entität oder eines Aggregats durch ein anderes. Die Phänomenologisierung einer Wirklichkeit im Rahmen einer Intra-Aktion realisiert sich demgegenüber vielmehr als das bereits erwähnte gleichzeitige Zusammen- und Auseinanderschneiden. Entitäten, die entsprechend der klassisch-physikalischen Perspektive vorab ontisch bestimmt schienen – unabhängig von ihrer Größe sowie unabhängig davon, ob sie zusammengesetzt gedacht werden –, erhalten jetzt erst in der Intra-Aktion ihre individuellen Eigenschaften. Damit emergieren distinkte Entitäten, die einen gewissen ontischen Status zu haben scheinen, wenngleich ihre Eigenschaften aufgrund der Verschränkung weiterhin nicht von ihren Geschwisterentitäten isoliert zu denken sind. Wir begegnen hier also nicht nur einem heterarchischen Geflecht von Grund und Begründetem, sondern komplexen Arrangements fluider Ontologien, in denen Bestimmungen situativ im Verhältnis zu anderen Bestimmungen und Unbestimmtheiten ausflaggen. All dies geschieht in einer Gegenwart, in der Kausalität und Temporalität nachgelagert zu denken sind. Letztere erscheinen als das Ergebnis komplexer Arrangements, die ihrerseits immerfort neue Intra-Aktionen produzieren, neue Verhältnisbestimmungen phänomenalisieren lassen. In diesem Spiel gibt es keine Letztursache, keinen Grund der Gründe, aber auch keine Letztreferenz – weder das System noch den Beobachter, weder das Netzwerk noch seine Elemente. Abstandlose Zusammenheit – vom Nutzen paradoxer Metaphern Was lässt sich aber nun gewinnen, wenn man mit solch einem Verständnis von Verschränkung psychologische, sozial-, kultur- oder kognitionswissenschaftliche Forschung zu betreiben versucht? Zunächst einmal würde es heißen, Ausdrücke wie Akteur, Subjekt, Objekt, Gemeinschaft, Netzwerk, Gesellschaft, Gruppe, aber auch Bewusstsein oder Unbewusstes in
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Hinblick auf ihren ontologischen Status einzuklammern. Sie würden je nach Fragestellung und Untersuchungsgegenstand nützliche Metaphern darstellen. Ja, diese Begriffe selbst würden jetzt als Phänomene bzw. deren Ausdruck erscheinen – als Antworten auf bestimmte Fragen. Auch sie würden – wie alle anderen Phänomene – in Prozessen des gleichzeitigen Zusammen- und Auseinanderschneidens als Ergebnis einer konditionierten Koproduktion erscheinen. Wenngleich ihnen in einer solchen Betrachtungsweise keine eigenständige Existenz, kein ›an-sich-sein‹ zugestanden werden könnte, wäre es jedoch falsch, davon auszugehen, sie würden überhaupt nicht existieren. Sie erscheinen im Kontext von Relationen, die Unterschiede und Zusammenhänge verbinden, also in bedingter Entstehung. So verstanden, mündet die Verschränkung also, um es mit den Worten, die Peter Fuchs im Interview verwendet hat, auszudrücken, in eine abstandlose Zusammenheit. Eine absolute räumliche oder zeitliche Trennung – etwa in der Form ›hier bin ich, dort ist die Gesellschaft‹, ›das ist meine Psyche‹, ›das ist deine Psyche‹ funktioniert nicht mehr, jedenfalls nicht mehr in einer trivialen Weise, die von eigenständig bestehenden und insofern substantiell getrennten Entitäten ausgehen darf. Umgekehrt wäre es jedoch auch wiederum falsch, von einer Einheit ohne Differenz auszugehen. Um es am Beispiel des Dialogs zwischen meinem Gesprächspartner und mir auszudrücken: Deine Empfindungen und Deine Gedanken, ausgedrückt durch deinen Körper (der mir als Objekt erscheint), affizieren auch mein Empfinden und meinen leiblichen Ausdruck, der dann dir als Objekt erscheint. Die Identität deines Subjekts wiederum kann sich nur in einer fortlaufenden Operation der Abgrenzung von diesem vermeintlichen Objekt konstituieren und stellt keine von all diesen Prozessen unabhängige Entität dar. Wenn Du Dich plötzlich bewegst, zucke ich auch zusammen. Wenn ich Deine Worte höre, beginnt sich in mir auch etwas zu regen. Wenn sich Deine Stimmung ändert, merke ich unweigerlich, wie sich auch mein emotionaler Raum ein wenig umbildet. Darüber hinaus dringen Wahrnehmungen und Signale – wie etwa das Pfeifen eines Hörgeräts – in den Prozess mit ein, bestimmen ihrerseits, was und wie wahrgenommen wird und wie sich Bewusstsein und Kommunikation zu geteilter Aufmerksamkeit verbinden, um ein wenig später wieder in unverbundene, individuelle Aufmerksamkeitsakte zu zerfallen, die dann – vielleicht durch die plötzliche Wahrnehmung eines Knalls oder eines Wortes, das beide Teilnehmer berührt – erneut für ein paar Momente verschränkt werden. Und all dies geschieht in und mit Körpern sowie in und mit Kommunikation. Menschen sind
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»Linguistic Bodies«. Ihr Sprechen und Hören sind körperliche Akte und gehörte Worte verändern die körperlich-kognitiven Zustände.45 Materialität, Kognition, Bedeutung und Kommunikation scheinen nicht wirklich getrennt, aber ebenso wenig scheint es richtig zu sagen, sie seien substantiell dasselbe. Wir kommen nicht umhin, von Entitäten auszugehen, die eine Welt haben, bzw. für die etwas erscheint, das von ihnen getrennt ist. Die Welt, so Peter Fuchs im Gespräch, »kippt sozusagen in eine Fassbarkeit hinein. Es schlägt dann in etwas um, das wir Realität nennen.« Es wird etwas beobachtet. Und der Beobachter, ob man ihn mit oder ohne Bewusstsein konzeptionalisiert, erscheint als ein System. Wir treffen auf einen inneren Beobachter, der in einer Welt ist und eine Welt hat. Unweigerlich begegnen wir der ›System-im-System-Paradoxie‹. Die Problemlage, die hier aufscheint, ist jedoch mehr als nur eine Spiegelung in der Spiegelung; sie geht tiefer als jene rekursiven Problematiken, die dadurch entstehen, dass man die »Exowelt« nur aus der »Endoperspektive« erkunden kann.46 Denn über diese Rekursivitäten hinaus geht es hier immer auch noch um die Verwobenheit von Bestimmtheit und Unbestimmtheit, die Verschränkung von Wissen und Nicht-Wissen. Etwas zu messen oder wahrzunehmen heißt nicht nur zu festzustellen, was ist, sondern bedeutet zugleich mit zu produzieren, was unbestimmt ist. Die Existenz ist eine selektive Blindheit.47 Wenn wir – wie in vorigen beiden Kapiteln – über Verschränkung sprechen, offenbart sich die Raffinesse dieser Theoriekonzeption ja gerade darin, dass damit der Begriff des Systems, des Beobachters und der hiermit einhergehenden konzeptionellen Entitäten nicht aufgegeben werden muss, wohlwissend, dass Systeme und Beobachter keine Essenz in sich haben, es also immer noch eine andere Seite gibt, die unverstanden bleibt und deshalb theoretisch mitgeführt werden muss. An bestimmten Stellen (so bereits im Welle-Teilchen-Dualismus der Quantentheorie, aber besonders beim Phänomen der Verschränkung) bleibt also nichts anderes übrig, als über den Horizont der eigenen Weltbeschreibungen zu hüpfen, da es aus dem einen oder anderen Grunde notwendig wird, vertraute Ontologien zu verlassen. Dann aber, so wieder Fuchs, müssen wir anerkennen, dass uns die »Worte oder die Begriffe« dafür fehlen, »um zu sagen: das ist weder eins, noch differenziert es sich gegen zwei, sondern es ist etwas ganz anderes«. 45Siehe zu einer elaborierten Ausarbeitung der Beziehung von menschlichem Leben und Sprache im Anschluss an Maturana und Varela das Buch »Linguistic Bodies. The Continuity between Life« (Di Paolo et al. 2018). 46Rössler (1992). 47Hier nochmals in Referenz auf Spencer Brown (1997, S. 192).
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Doch zugleich können wir nicht anders, als hierfür Worte zu verwenden. Auch dies können wir als Sozial- und Kulturwissenschaftler von Niels Bohr lernen. All dies geht immer nur mit Hilfe der Alltagssprache und den hiermit einhergehenden Bildern und Weltrepräsentationen. Es bleibt also auch in Zukunft nichts anders übrig, als nach Metaphern zu suchen, die den jeweiligen Problemlagen angemessen sind. Über das, worüber man nicht sprechen kann, zu schweigen, wäre zu wenig. Die Kommunikation und hiermit einhergehend die soziale und psychische Autopoiesis muss weitergehen. Der Mensch ist so veranlagt, seiner Umwelt Sinn abzuringen, also bleibt ihm nichts anderes übrig, als es zu versuchen, selbst wenn es aus den oben benannten Gründen nicht so recht gelingen mag. Damit erscheint auch dies als eine gute Frage: Wie sehen brauchbare Metaphern aus, um mit diesen Problemlagen in einer intelligenten und produktiven Weise umzugehen? Responsibilität und implizite Ethik Eine weitere interessante Frage hat Marcus Huber im Interviewgespräch aufgeworfen. Er weist darauf hin, dass die meisten der Theorien, die wir zur Weltbeschreibung verwenden, einer Theoriearchitektur folgen, die eine bestimmte Art von Dichotomie hervorbringt. Gemeint ist die Unterscheidung von Observablen, deren Veränderung durch einen auf sie einwirkenden Operator erklärt wird. Damit ist jedoch die Zeit als vorab definierte, d. h. objektiv gegebene Variable in Kauf zu nehmen, was angesichts der Tatsache, dass niemand auf der Welt jemals ›Zeit‹ in ihrer Reinform gesehen hat, ein hoher metaphysischer Preis ist. Bereits Immanuel Kant begriff die Zeit als abhängig vom erkennenden Subjekt und betrachtete sie als die spezifische Form der Erkenntnisweise des Menschen.48 Aus einer systemtheoretischen Perspektive wäre demgegenüber mit Armin Nassehi zu fragen, wie unterschiedliche Systemvollzüge ihre jeweils eigene Zeit hervorbringen. Was für uns geschieht, geschieht in der Gegenwart. Nur hier vollziehen sich Intra-Aktionen (um in der zuvor eingeführten Metaphorik zu verbleiben). Wie aber könnte jetzt eine Theorie mit einer anderen ontologischen Struktur aussehen, die dann gleichsam eine ›zeitlose Theorie‹ wäre bzw. die Zeit als abgeleitetes Phänomen grundlegenderer Operationen begreift? Für die Soziologie werden diese Fragen spätestens dann virulent, wenn darüber nachgedacht wird, wie die Praxis der Soziologen und Soziologinnen 48Kant
(1952 [1781], § 5).
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ihren Gegenstand – das Soziale und die Gesellschaft – mit hervorbringt, wie sich also ihre eigenen Begriffe und Unterscheidungen in der konditionierten Koproduktion mit dem Sozialen und dem Psychischen verweben. Denn es stellt sich hiermit einhergehend die Frage, ob und wie sich Verantwortung bzw. Responsibilität ohne Teleologie und ohne Projektionen in imaginäre Vergangenheiten und Zukünfte denken lässt. Folgt, wie Karan Barad vermutet, aus der Emergenz der Intra-Akte eine implizite Ethik, entsprechend der im Sinne von Ludwig Wittgenstein49 der ethische Lohn bzw. die ethische Strafe in den jeweiligen Intra-Akten selbst liegt?50 Verschränkung wäre dann als Responsibilität innerhalb der konditionierten Koproduktion zu fassen, die per Definitionem jede egologische Perspektive überschreitet.51 Sie würde einen Zusammenhang bilden, der sich aus einer individualisierten Perspektive verantworten muss (denn das Tun bzw. Erkennen wird subjektiv erlitten), aber unweigerlich das ganze Beziehungsgeflecht im Sinne einer abstandlosen Zusammenheit mit einzubeziehen hat. Das Verhältnis von Sinn, Gegenstand und Interpretation sowie den hieraus folgenden Handlungen würde somit gleichsam vom Kopf auf die Füße gestellt. Die Verantwortung wäre damit gewissermaßen dem Verstehen vorgelagert, denn erst die anschließenden Handlungen bestimmen, welche Formen der Bedeutung möglich sind, um etwas zu verstehen. Das, was als Welt erfahren wird, erschiene damit als materialisiertes Gedächtnis iterativer, sich rekursiv stabilisierender Intra-Aktivitäten, welche immer neue Fragen und Antworten produzieren, ohne dabei den Schöpfer dieses Prozesses auffinden zu können – denn den Beobachter gibt es nicht.
49Hier
in Anspielung an Wittgenstein (1974, Proposition 6.42 ff.). hiermit einhergehenden Beziehungen würden gewissermaßen außerhalb der propositionalen Architektur der Sprache liegen, die in der Subjekt-Objekt-Dichotomie verhaftet bleibt, jedoch das Sprechen in seiner körperlich geistigen Performativität mit einschließen. Siehe hierzu auch den Dialog der Lebensphänomenologie von Michel Henry und Dōgen Zenji durch Ellen Wilmes (2018). 51Die Frage der impliziten Ethik kann hier nur angerissen werden. Siehe ausführlicher aus einer phänomenologischen und systemtheoretischen Perspektive Vogd (2018). 50Die
Anstelle eines Nachworts
In den Wochen meiner Hospitation im Labor von Anton Zeilinger hatte ich das große Glück, auch einige Male mit Daniel Greenberger sprechen zu können, der zu dieser Zeit die Wiener Arbeitsgruppe besuchte. Greenberger, 1933 in New York City geboren, hat mit Horne und Zeilinger den nach ihnen benannten verschränkten Zustand von drei Quanten-Subsystemen entwickelt. Greenberger ist eine außerordentlich wache, umfassend gebildete Persönlichkeit. Seine Wortbeiträge zeichnen sich ebenso durch einen subtilen Humor wie eine angenehme Bescheidenheit aus. Seine umfassende Erfahrung – mehr als 60 Jahre hat er sich beruflich mit der Quantenphysik beschäftigt – offenbart in Verbindung mit der Weisheit des Alters besondere, philosophisch gefärbte Perspektiven und Reflexionen. Anstelle eines Nachworts möchte ich deshalb abschließend versuchen, einige Gedanken aus den Gesprächen mit ihm, die teilweise aufgezeichnet wurden, zu rekapitulieren. Unter anderem haben wir über die Bedeutung der Verschränkung gesprochen. Viele Physiker sind ja der Auffassung, dass beim Übergang von der Welt der Quantensysteme zur klassischen Welt die Verschränkung keine Rolle mehr spielen würde, da sich die Effekte wegen der Dekohärenz in Folge vielfacher Wechselwirkungen statistisch ausmitteln würden. Greenberger sieht dies anders. Geprägt von seinen Untersuchungen an Quantensystemen, die aus mehreren Subsystemen bestehen, und dem Befund, dass die hiermit einhergehenden Quantenzustände einen erstaunlichen bzw. überraschenden Strukturreichtum haben, der Common Sense-Erwartungen radikal widerspricht, glaubt er nicht daran, dass sich © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Vogd, Quantenphysik und Soziologie im Dialog, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61857-8_9
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die Verhältnisse so einfach darstellen. Die Komplexität des Gegenstandes offenbare vielmehr, warum wir Menschen solche Schwierigkeiten haben, zu verstehen, was die Natur tut. Denn um die Verschränkung zu sehen, müsse man in der Lage sein, ›Zufälle‹ an verschiedenen Orten zu messen. Wenn man jedoch nur auf einen Ort schaue, sehe man ›Inkohärenz‹. Für die Person, welche diesen Zustand hat, sehe es so aus, als wäre dieser völlig inkohärent und ebenso für eine zweite Person, welche an einer anderen Stelle schaut. Aber wenn man die Zufälle an den beiden Orten gleichzeitig anschauen könnte, würde man möglichweise sehen, dass die Quantenzustände nicht inkohärent sind. Wenn man dies jetzt mit allen Zufällen auf der Welt machen könnte, würde man sehen, dass »sehr viel los sei« und in den vermeintlichen Zufällen völlig stimmige Beziehungen entdecken. Derzeit seien wir nur in der Lage, das Rauschen zufälliger statistischer Schwankungen wahrzunehmen, doch sobald wir bessere Messungen durchführen könnten, würden wir sehen, dass es alle Arten von unentdeckten Zusammenhängen im Inneren der Welt gibt. Gemessen an kosmischen Maßstäben sei die moderne Physik eine sehr junge Disziplin, die es gerade mal ein paar hundert Jahre gebe. Mit Blick auf die Quantenphysik seien wir wie Kinder, die ein wenig mit der Natur herumgespielt haben, doch noch nicht einmal ansatzweise gelernt haben, wie sich die Türen öffnen lassen, um das Wissen und die Zusammenhänge zu sehen, die dahinter verborgen sind. Doch wer weiß, ob und wann wir Menschen in diesen Fragen wirklich weiterkommen werden. Im Moment gleiche unsere Situation der des Suchenden in folgendem bekannten Witz: Ein Mann geht in einer dunklen Straße und sieht einen komischen Kerl, der auf den Boden unter dem Laternenpfahl herumkriecht und fragt ihn, was er tut. Dieser sagt: Ich suche nach meiner Brille. Der andere fragt: Wo hast du sie denn verloren? Der Mann erklärt: ›Auf der anderen Straßenseite‹. Auf die Nachfrage ›Warum schaust du denn dann hier und nicht dort?‹ antwortet er: ›Das Licht ist besser. Auf der anderen Straßenseite ist es zum Suchen viel zu dunkel‹ . Auch den Quantenphysikern bleibe letztlich nichts anderes übrig, als ihre Experimente dort durchzuführen, wo das Licht besser sei. Die von den Wissenschaftlern beleuchteten Orte seien dabei die experimentellen Settings, die wir entsprechend den derzeitigen technischen und theoretischen Möglichkeiten realisieren können. Doch deshalb hätten wir aber nicht das Recht, zu sagen, dass es woanders keine Zusammenhänge gäbe. Die eigentliche Herausforderung der Physik läge darin, herauszufinden, wie sich komplexe Quantensysteme in ihren Beziehungsdynamiken
Anstelle eines Nachworts 275
v erstehen lassen. Dies sei das harte Problem und wir würden derzeit nicht einmal wissen, ob wir überhaupt jemals in der Lage sein werden, es zu lösen. Doch sobald es uns gelänge, würden wir eine vollkommen andere Vorstellung davon bekommen, was lebende Systeme sind und auf welche Weise und mithilfe welcher bislang noch unbekannter Kanäle sie miteinander kommunizieren können. Vielleicht können Galaxien kommunizieren. Vielleicht können Sterne miteinander kommunizieren. Vielleicht können auch Proteine miteinander über ihre Struktur kommunizieren. ›Gibt es vielleicht Kanäle, über die Telepathie möglich ist‹ oder ›Können Steine kommunizieren‹ fragt Greenberger weiter, um dann festzustellen, dass keiner die Antwort wisse. Doch wenn solche Formen der Kommunikation möglich wären, würde dies nicht in den uns bekannten Weisen geschehen. Aufgrund unserer Neigung, derartigen Phänomenen von vornherein die Existenz abzusprechen, kämen wir im Moment nicht einmal auf die Idee, uns überhaupt darüber Gedanken zu machen, wie man dort hinschauen könnte. Als Kind habe sich Greenberger manchmal überlegt, welch einen begrenzten Horizont die Bakterien haben mögen, die in seinem Bauch leben. Sie würden nur ihre nahe Umgebung kennen und von nichts anderem wissen als dem Milieu im Darm. Doch eigentlich befänden wir Menschen uns in der gleichen Situation wie sie: Wir wissen nichts über die Schöpfung, bis auf das, was wir in unserer lokalen Umgebung erfahren. Was wir mit unserer Wissenschaft tun würden, sei nichts anderes als uns zu ermöglichen, immer enger mit unserer unmittelbaren Welt zu interagieren. Aber dies verrate uns nicht wirklich etwas über die großen Zusammenhänge des Universums. In den Gesprächen haben wir auch über den Begriff der Information gesprochen, der von den meisten Quantentheoretikern stillschweigend vorausgesetzt wird. Auch hier würden sich die Physiker – so Greenberger – üblicherweise der Komplexität der Thematik nicht wirklich stellen. Das Grundproblem der Information liege ja darin, dass sie immer ein System benötige, innerhalb dessen dann etwas etwas Bestimmtes bedeutet. Anstatt sich dem Problem auf einer tieferen Ebene zu stellen, würde man jedoch einfach so tun, als wüsste man, was Information ist, oder man verwendet irgendein einfaches Schema der Datenverarbeitung, das suggeriere, man hätte das Problem gelöst. Greenberger gibt das Beispiel eines Neugeborenen: Wenn ein Baby geboren wird, es seine Augen öffnet und sich umblickt, kenne es keine Sprache und verstehe auch noch nichts von den Dingen, die um es herum passieren. Es müsse beobachten und mit seiner Umgebung in Kontakt treten, um auf diese Weise langsam zu lernen, dass einige Dinge gut und
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andere Dinge schlecht sind. Es müsse lernen, Aspekte von visuellen Eindrücken mit den Bewegungen seiner Hände zu korrelieren. Auf diese Weise lerne es sehen und zielgerichtet mit seiner Umwelt zu interagieren. Demgegenüber seien Menschen, die ihr ganzes Leben lang blind waren und plötzlich – etwa nach einer Operation – sehen können, weiterhin nicht in der Lage, einzelne Objekte mit dem Sehsinn zu identifizieren, da die hierfür notwendigen visuell-motorischen Korrelationen fehlen. All das spiele in die Frage hinein, was Information ist. Hierin zeige sich das Grundproblem der Information. Wie könne man überhaupt erkennen, was jeweils Informationen sind? Andere Leute sagen einem, dass es da etwas Bedeutsames gibt, aber zu dem Zeitpunkt wisse man noch nicht, was da eigentlich ist oder sein sollte. Wir stünden also vor den gleichen Herausforderungen wie das Baby. Wir müssten erstens herausfinden, wie man mit all den Dingen interagieren kann, die da von außen in unsere Sinnessysteme bzw. Messsysteme hereinkommen. Und zweitens stelle sich das Problem der Manipulation, das eng mit der Frage der Relevanz verknüpft ist. ›Was muss ich tun, damit ein Zusammenhang erscheint?‹. ›Wie kann man also herausfinden, was Information ist, wenn man mit der ganzen Bandbreite von Signalen konfrontiert wird, die man noch nie zuvor gesehen hat?‹. ›Wie unterscheide ich zwischen dem, was wichtig und was unwichtig ist?‹. In gewisser Weise bleibe den Physikern – ebenso wie den Babys – also nichts anderes übrig, als das, was für sie Information darstellt, zu schaffen, bevor sie es als Information nutzen können. »Denn wenn es eine Bedeutung für dich hat, weißt du bereits, was diese Bedeutung ist.« Die eigentliche Frage für das Baby sei, zu lernen, wie sich mit der Welt umgehen lässt. Das Problem der Information sei damit ein anderes als das der Kommunikation einer großen Menge von Nullen und Einsen. Es sei viel komplizierter, denn es gehe um Systeme, die selbst herausfinden müssen – mit den begrenzten Ressourcen, die sie haben – welche eingehenden Signale für sie informativ und sinnvoll sind. Was brauche es also, damit man in der Lage ist, Bedeutung zu generieren und zu verstehen? Aus Perspektive eines Physikers erscheine das Problem alles andere als trivial, ja womöglich unendlich kompliziert, doch ein Baby könne es in ein paar Monaten schaffen, das Problem für sich zu lösen. Entsprechend empfehle Greenberger allen, die das Problem der Information lösen wollen, Babys zu studieren. In diesem Zusammenhang haben wir auch über den berühmten Satz des Mathematiker George Spencer-Brown gesprochen: »Existence is selective
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blindness«.1 Hiermit werde – so Greenberger – deutlich, dass ein wesentlicher Teil von Wahrnehmungsleistungen darin bestehe, den Löwenanteil der sensorischen Daten schlichtweg zu ignorieren, wegzuwerfen bzw. einfach nur als Rauschen zu behandeln. Wenn wir diesen Sortierprozess nämlich nicht hätten, wären die Informationen, mit denen wir in jedem Moment konfrontiert würden, so überwältigend, dass wir nicht in der Lage wären, etwas Sinnvolles zu tun geschweige denn zu überleben. Aus diesem Grunde würde die Natur uns auch davor schützen zu wissen, was in unserem Inneren vor sich gehe. Sobald wir zu viel über unsere Prozesse wüssten, würden wir in einem Zustand völliger Verwirrung leben. Hierin liege vielleicht auch ein Grund dafür, warum es so schwer ist, das Rätsel des Bewusstseins zu erforschen. Denn aus gutem Grunde gebe es diese Mechanismen, die uns davor zu schützen, zu viel über uns und unsere Welt herauszufinden. Wenn wir alles sähen, würden die Grenzen, die uns ausmachen, die uns als Beobachter in einer Welt erscheinen lassen, verschwinden. Die Grenzen zwischen Selbst und Nichtselbst würden sich auflösen, da auf einmal alles – und damit nichts mehr – relevant wäre. Wir würden nicht mehr existieren. Das Wort Existenz hat seinen Ursprung im altgriechischen ek-histemi: ›herausstehen‹, also ›räumlich vorhanden sein‹. Die Verschränkung, von der die Quantentheorie spricht, operiert jenseits der Grenzen von Raum und Zeit. Möglicherweise konstituiert sie einen Zusammenhang, der nicht erfahren werden kann. Das Ganze lässt sich nicht sehen, nur das, was nach dem Setzen eines Schnittes geschieht, der Beobachter und Beobachtetes unterscheiden lässt. Aber wer weiß? In diesem Sinne zum Abschluss ein Zitat aus dem Vorwort von Douglas Adams Roman ›Das Restaurant am Ende des Universums‹: »Es gibt eine Theorie, die besagt, wenn jemals irgendwer genau rausfindet, wozu das Universum da ist und warum es da ist, dann verschwindet es auf der Stelle und wird durch etwas noch Bizarreres und Unbegreiflicheres ersetzt. Es gibt eine andere Theorie, nach der das schon passiert ist.«2
1Spencer 2Adams
Brown (1997, S. 192). (1985, S. 5).
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