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German Pages 942 [948] Year 1960
STUDIUM BEROLINENSE
GEDENKSCHRIFT DER WESTDEUTSCHEN REKTORENKONFERENZ UND DER F R E I E N UNIVERSITÄT BERLIN ZUR 150. WIEDERKEHR DES GRÜNDUNGSJAHRES DER FRIEDRICH-WILHELMS-UNIVERSITÄT
ZU BERLIN
i960
WALTER
DE
GRUYTER
& CO
•
B E R L I N
VORMALS G. J. G Ö S C H E N ' S C H E V E R L A G S H A N D L U N G . J. GUTTENTAG, VERLAGSB U C H H A N D L U N G . G E O R G R E I M E R • K A R L J. T R Ü B N E R • V E I T & C O M P .
STUDIUM
BEROLINENSE
AUFSÄTZE UND BEITRÄGE ZU PROBLEMEN DER WISSENSCHAFT UND ZUR GESCHICHTE DER FRIEDRICH-WILHELMS-UNIVERSITÄT ZU BERLIN
HERAUSGEGEBEN VON
HANS LEUSSINK • EDUARD NEUMANN UND GEORG KOTOWSKI
MIT IJ ABBILDUNGEN
I 960
WALTER
DE G R U Y T E R
& CO
•
BERLIN
VORMALS G. J . GÖSCHEN'SCHE V E R L A G S H A N D L U N G . J . GUTTENTAG, V E R L A G S BUCHHANDLUNG • GEORG R E I M E R . KARL J . T R Ü B N E R . V E I T 4 COMP.
EHRENAUSSCHUSS Friedrich Baethgen (München) — Hermann Bente (Köln) — Peter Debye (Ithaca/New York) — Paul Diepgen (Mainz) — Otto Hahn (Göttingen) — Gerhard Hess (Bad Godesberg) — Erich Kaufmann (Heidelberg) — Walter Künneth (Erlangen) — Max von Laue t — Martin Lerche (Berlin) — Hans Nachtsheim (Berlin) — Erich Silbersiepe (Berlin) — Rudolf Smend (Göttingen) — Eduard Spranger (Tübingen) — Max Vasmer (Berlin).
Archiv Nr. 360260/II Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen.
©
i960 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J Göschen'sche Verlagshandlung — J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J . Trübner — Veit & Comp. Berlin W 30 Genthiner Straße 13 — Satz und Druck: Walter de Gruyter & Co., Berlin W 30 (Printed in Germany)
In diesen Tagen vor 150 Jahren wurde die Berliner Universität gegründet. Auf knappem Raum dieses Jubiläums zu gedenken, ist angesichts der schier unübersehbaren Fülle von wichtigen Begebenheiten in dieser und um diese Universität fast unmöglich. Lassen Sie mich beginnen mit einem vielleicht zunächst sehr alltäglich aussehenden, aber gerade auch unter heutigen Aspekten mir sehr bezeichnend erscheinenden Vorfall: Am 12. April 1848 richtete die Medizinische Fakultät der FriedrichWilhelms-Universität einen sehr dringenden Appell an den preußischen Kultusminister Eichhorn. Sie tat das nun schon zum dritten Male. Der Kernsatz des Appells lautete: »Die Fakultät, gestützt auf das ihr durch § 45 der Fakultätsstatuten zustehende Recht, muß Ew. Exzellenz ebenso dringend als gehorsamst ersuchen, es nicht dulden zu wollen, daß sich in Berufungsverfahren durch die Dazwischenkunft von Hofkreisen ein ungesetzlicher Einfluß dränge. Die unterzeichnete Fakultät bittet demnach, ausschließlich auf den Fakultätsvorschlag Rücksicht nehmen zu wollen.« Was war geschehen ? Gegen den Dreier-Vorschlag der Fakultät für die Nachfolge des Chirurgen Johann Friedrich Dieffenbach war eine Gruppe Berliner Ärzte mit engen Beziehungen zum Hofe für Professor Baum aus Greifswald eingetreten. Friedrich Wilhelm IV. war bereits für diesen Kandidaten gewonnen. Noch war kein Ruf ergangen, als die revolutionären Ereignisse des Jahres 1848 in den fraglichen Tagen auch Berlin erfaßten. Ein neuer Kultusminister, Graf Schwerin, löst Eichhorn ab. Die Studentenschaft unterstützt den Appell der Fakultät, die sich nunmehr durchsetzt. Eine Grundsatzentscheidung war damit gefallen, ein folgenreiches Präjudiz für die bis dahin noch nicht fest verankerte Autonomie der Fakultäten gegenüber dem Staat. Es war der Geist akademischer Freiheit, der sich hier gegenüber der Obrigkeit mutig zu Wort gemeldet hatte. Der Gedanke der Freiheit hatte bereits bei der Gründung der Friedrich-Wilhelms-Universität Pate gestanden. Schon im Jahre des Tilsiter Friedens, 1807, in einer Stunde äußerster politischer Ohnmacht also, begannen in Berlin Männer wie Schleiermacher, Fichte und Wolf mit Vorlesungen. Drei
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Jahre später, 1810, konnten der erste Rektor und vier Dekane im Amt bestätigt werden. Sicherlich dachte man bei dieser Neugründung auch an einen Ersatz der sieben verlorenen preußischen Universitäten von insgesamt neun. Der Staat mußte »durch geistige Kräfte ersetzen, was er an physischen verloren hatte«, um das berühmt gewordene Wort des Königs zu wiederholen. In ihrer Bedeutung geht diese Universitätsgründung jedoch weit über den Bereich nüchterner Staatsraison hinaus. Die geschichtliche Rolle, die dieser Hohen Schule beschieden sein sollte, wurde zwar auch dadurch bestimmt, daß sie preußische Hauptstadt-Universität war. Wesentlich größere Bedeutung aber erlangte sie dadurch, daß in ihr das Bildungsideal des deutschen Idealismus Leben und Gestalt gewann. Die Berliner Universität beruht wie kaum eine andere auf einer eigenen neuen Konzeption vom Wesen der Universitätsbildung. Beide Motive durchziehen in ihrer Wechselwirkung, ja in ihrem Antagonismus, wie Thema und Kontrapunkt ihre Geschichte. Die Grundgedanken Wilhelm von Humboldts, Steffens, Schleiermachers, Fichtes, Schellings waren prinzipiell nicht eigentlich gegen den Staat gerichtet. Vielmehr ging der aktive preußische Beamte, Wilhelm von Humboldt, davon aus, daß allen Interessen, auch denen des Staates selbst, dann am besten gedient ist, wenn der Staat sich aus den Veranstaltungen der Wissenschaft und der akademischen Lehre so weit wie irgend möglich heraushält. Die akademische Freiheit, die Humboldt im Auge hat, bezieht sich aber nicht einmal vornehmlich auf das Verhältnis der Universität zum Staat. Die Freiheit, die den Lehrenden und Forschenden vergönnt sein soll, muß auch den Studenten gewährt werden. Der Student soll bei eigener Wahl des akademischen Lehrers, des Studienortes und -faches sich diejenige Methode aneignen, durch die allein begründetes Wissen erworben werden kann. So wird die Universität eine »Schule des Lernens«. Sie wird nicht mehr nur Wissen weitergeben und »Fakten extensiv aneinanderreihen«. Neue Erkenntnisse können in der Wissenschaft vor allem durch ständigen Wechsel der Gesichtspunkte und Überprüfung der Forschungsmethoden gewonnen werden. Wenn aber die Studenten in wissenschaftlich-methodisches Arbeiten eingeführt werden sollen, so müssen ihre akademischen Lehrer imstande sein, selbst neue Ansätze zu entwerfen und alte in Frage zu stellen; sie müssen also Forscher sein.
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An die Stelle eines bloßen Aufnehmens wissenschaftlicher Ergebnisse tritt die Spontaneität des Fragens. Vor dem Hintergrund unserer eigenen Erfahrungen mit totalitären Machtansprüchen und mit einseitigem Spezialistentum hat diese damals in Berlin entworfene und verwirklichte Bildungskonzeption noch heute nichts von ihrer Aktualität eingebüßt. Wir wollen dem Schicksal der Berliner Universität, damit gleichzeitig auch der preußischen und deutschen Geschichte, im Weiterschreiten um jeweils 50 Jahre — gleichsam in kurzen Momentaufnahmen — nachgehen. Im Jahre 1860 ist Bismarck Gesandter in St. Petersburg. Er gilt als der kommende Mann. Von dem in London lebenden Karl Marx, der vor zwei Jahrzehnten in Berlin studiert hatte, wissen die wenigsten. Er hat soeben sein Werk »Kritik der politischen Ökonomie« beendet. Berlin ist aus einer provinziellen Residenz zu einer bedeutenden Industriestadt geworden. Nicht mehr so sehr die Philosophen, die Schüler Hegels, bestimmen das geistige Klima, sondern neu errichtete naturwissenschaftliche und medizinische Lehrstühle und Institute. Im Wintersemester 1859/60 hat die Universität 2434 Hörer — 1810 waren es 256 gewesen. Zum Lehrkörper gehören die Juristen Eichhorn und Beseler, die Chemiker Rose und Mitscherlich, die Historiker Ranke und Mommsen, der Mediziner Virchow. Der neu gewählte Rector Magnificus, der Altertumskundler August Boeckh, sieht in seiner Festrede zu Beginn des Semesters Preußen, dem die führende Rolle in Deutschland »angetragen werde«, also »etwas mehr als einen Militärstaat«. Die Pflege der geistigen Entwicklung im preußischen Staat »trage wesentlich zu seiner Hervorragung in Deutschland bei«. Die Universität hat ein deutliches Bewußtsein von ihrem Anteil am Aufstieg Preußens und an der Entwicklung Deutschlands. Es ist von »der deutschen Wissenschaft als Trägerin des deutschen Geistes«, von idealen Gefühlen, von echter Gesinnung »für den geliebten König« die Rede. Dieses repräsentative Pathos ist fortan kennzeichnend für Rektoratsreden und Universitätsfeiern. Ein Mitglied der Universität, Leopold von Ranke, ist seit 1841 der offizielle Historiograph des preußischen Staates. Er erscheint uns heute als Repräsentant einer zugleich protestantisch-humanistischen und preußisch-konservativen Lebensauffassung. Bei aller Tiefe der historischen Erkenntnis blieb ihr die Einsicht in die zukunftsträchti-
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gen, auf die moderne industrielle Massengesellschaft hinzielenden geschichtlichen Bewegungen des 19. Jahrhunderts versagt. Als Studienort für Engländer, Amerikaner und Russen tritt Berlin in immer stärkere Konkurrenz zu Paris. Das Ranke-Seminar beginnt in den amerikanischen Universitäten, aber auch in Japan als Vorbild zu wirken. Wie sieht es wiederum 50 Jahre später — 1910 — aus ? Der Zar besucht den Kaiser in Potsdam. Bethmann Hollweg ist knapp ein Jahr Reichskanzler. Graf Zeppelin hat ein Jahr vorher seinen ersten Flug nach Berlin unternommen. Der Ruf der Friedrich-Wilhelms-Universität ist weit über die Grenzen Deutschlands hinausgedrungen. Sie zählt zu den ersten Universitäten der Welt. Zur Weltgeltung Berlins hatten im Laufe eines Jahrhunderts weitere Forscher wie die Juristen Otto von Gierke und Emil Seckel, die Theologen Adolf von Harnack und Karl Holl, die Mediziner Koch, Bier und Bergmann beigetragen. Aus der Philosophischen Fakultät seien die Gebrüder Grimm, Wilhelm Dilthey, Wilamowitz-Moellendorff und Andreas Heusler, die Chemiker August Wilhelm von Hofmann und Emil Fischer, die Physiker Kirchhoff und Helmholtz stellvertretend für viele andere und im Bewußtsein der Zufälligkeit der Auswahl genannt. Hatte es im Eröffnungsjahr 52 akademische Lehrer gegeben, so waren es in diesem Jubiläumsjahre bereits 508. Die Studentenzahlen stiegen auf über 8000; davon waren mehr als 2000 »Nicht-Preußen«, unter ihnen Russen, Schweizer, Österreicher und Amerikaner. In der Jahrhundertfeier gedenkt die ganze Welt der Berliner Universität. Ehrengäste aus allen Ländern sind erschienen. Denkschriften werden verteilt. Den Höhepunkt der Feierlichkeiten bildet der Festakt in der Neuen Aula, eingeleitet durch eine Ansprache des Rektors, des Literaturhistorikers Erich Schmidt. Der Kaiser übermittelt der Universität seine Glückwünsche. Er sieht, so heißt es in seiner Rede, die Einrichtung »selbständiger Forschungsinstitute« als »heilige Aufgabe« der Gegenwart an, um Lücken in der naturwissenschaftlichen Ausrüstung zu schließen. Pläne von Harnack und Ministerialdirektor Althoff führten so zur Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, die heute den Namen Max Plancks, eines der großen Berliner Gelehrten, trägt. In enger Verbindung zur Universität haben die Kaiser-Wilhelm-Institute Berlin dann zu einem internationalen Zentrum der Naturwis-
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senschaften gemacht. Die Leitung des Instituts für Physik wurde vier Jahre später Albert Einstein übertragen. Ein neues physikalisches Weltbild nahm von hier aus seinen Ausgang. Im Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie gelang Otto Hahn etwa 30 Jahre später die Kernspaltung des Urans und des Thoriums. Das Atomzeitalter hatte damit auch praktisch begonnen. Die Feier des Jubiläums von 1910 war zugleich ein Staatsakt. In einer Festrede des Historikers Max Lenz vor einem internationalen Publikum ist trotzdem der Ton stolzen Selbstbewußtseins auf das Selbstergänzungsrecht der Universität nicht zu überhören. »Denn« — so sagte er — »auch wir sind nicht bloß mit der Kraft der Ideen ausgerüstet, sondern unsere Verfassungsnormen selbst sind gestärkt worden : Das Recht der Selbstergänzung, das Humboldt ausdrücklich bestritt, und Altenstein wie Eichhorn fast regelmäßig unbeachtet ließen, ist durch Statut und Tradition gewährleistet, also daß es jeder Regierung schwerfallen würde, es auszurotten.« Gehen wir abermals 50 Jahre weiter. Preußen und das Deutsche Reich haben aufgehört zu bestehen. Zwei verwüstende Weltkriege, 12 Jahre finsterster Diktatur sind über das gesamte Deutschland hinweggegangen. Die Entfernungen auf dieser Erde schrumpfen fast zu einem Nichts zusammen. Die Menschheit bereitet sich auf das Weltraumzeitalter vor. Die tiefen Gegensätze der weltpolitischen Lager zeigen keinerlei Anzeichen ihrer Überwindung. Nicht nur Deutschland ist geteilt, sondern ebenso die Stadt Berlin. Im Jahre i960 gibt es zwei Universitäten in Berlin: die Freie Universität in Dahlem und die Humboldt-Universität Unter den Linden. Die Friedrich-Wilhelms-Universität teilte damit das Schicksal des Deutschen Reiches. Mit dessen Zusammenbruch hörte auch sie zu bestehen auf. Aber nicht nur die politische Einheit der Nation ist zur Zeit verloren. Auch ihre geistige Einheit ist von tödlichen Gefahren bedroht. Das Schicksal der Berliner Universität zeigt es mit erschreckender Deutlichkeit. Es liegt an uns allen, besonders an uns akademischen Bürgern, ideologischen Zwiespalt und Doppeltheit der Wertbilder, gegen den Ungeist tapfer kämpfend, auszuhalten und durchzustehen, um auch dadurch die geistige Einheit unseres Volkes zu bewahren.
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Verglichen mit anderen deutschen Universitäten mögen die Jahre der Geschichte der Friedrich-Wilhelms-Universität eine kurze Zeitspanne sein. Doch hat sicher keine ihrer deutschen Schwestern größeren Einfluß als sie auf die Entwicklung der Wissenschaft in der ganzen Welt gehabt. 27 Träger des Nobel-Preises, Studenten wie Jakob Burckhardt, Bakunin oder Heinrich Heine zeigen Ansehen, wissenschaftlichen Rang und Liberalität dieser Hohen Schule. Es ist ein verpflichtendes Erbe für alle deutschen Universitäten und wissenschaftlichen Hochschulen, den Geist der Gründer der Berliner Universität zu erkennen und zu bewahren. Besonders geht es dabei um die Konzeption vom Wesen der Universität, wie sie von Wilhelm von Humboldt vor 150 Jahren besonders klar gefaßt und in die Praxis umgesetzt wurde; von Wilhelm von Humboldt, auf dessen Namen heute sogar eine der beiden Berliner Universitäten Anspruch erhebt. In Besinnung auf die Gedanken von Humboldt, Steffen, Fichte, Schleiermacher und auf die Arbeit großer Berliner Gelehrter wird von der Westdeutschen Rektorenkonferenz und der Freien Universität Berlin gemeinsam eine zweibändige Gedenkschrift mit Beiträgen ehemaliger Angehöriger des Lehrkörpers der Friedrich-Wilhelms-Universität vorgelegt. In ihr soll die Berliner Universität lebendig werden, wie sie wirklich war. An den Gründungsschriften und an den Beiträgen wird deutlich, daß der Gedanke der Einheit forschenden Bemühens und akademischer Lehre noch heute Gültigkeit hat. Nach wie vor kann objektive Erkenntnis nur ohne Parteilichkeit, in strenger sich kritisch ständig infrage stellender Methode gewonnen werden. Berlin hat zwar heute zwei Universitäten. Aber es gibt auch heute nur eine gültige Form, wissenschaftlich zu arbeiten. Es gibt auch heute nur einen Weg zur Wahrheit. DER PRÄSIDENT DER WESTDEUTSCHEN HANS
REKTORENKONFERENZ LEUSSINK
GELEITWORT Die Freie Universität Berlin und die Westdeutsche Rektorenkonferenz — und mit ihnen die akademische Welt Deutschlands — gedenken mit dieser Schrift der Gründung der Friedrich-WilhelmsUniversität zu Berlin. Dazu besteht, mehr als bei anderen Hochschuljubiläen, besonderer Anlaß. Als die erste Berliner Universität vor 150 Jahren ins Leben trat, geschah dies aus einer tiefdringenden Besinnung auf das Wesen der Universität und auf die Notwendigkeiten des geistigen Daseins eines Volkes überhaupt. Sich daran zu erinnern, bedeutet daher für uns Heutige, und bedeutet insbesondere für die neue Berliner Universität: sich unter den Anspruch dessen zu stellen, was damals gedacht, geplant und zum Teil verwirklicht wurde. Dies nicht in sklavischer Nachahmung des Vergangenen, sondern in dem Ernst, der, dem Gewesenen verpflichtet, in kritischer Besonnenheit die den Erfordernissen der Gegenwart entsprechende Gestalt einer freien Universität sucht. Die Anregung, der Gründung der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin durch Veröffentlichung eines Sammelwerkes zu gedenken, ist Walter Schlesinger zu verdanken. Westdeutsche Rektorenkonferenz und Freie Universität Berlin beschlossen, das Werk gemeinsam zu gestalten. Ein Ehrenausschuß, bestehend aus hervorragenden Mitgliedern der Fakultäten der alten Berliner Universität, die Westdeutsche Rektorenkonferenz und Angehörige der Fakultäten der Freien Universität Berlin wirkten zusammen, um Mitarbeiter für das geplante Werk zu gewinnen. Dabei gingen die Veranstalter von der Überzeugung aus, daß versucht werden müßte, Berichte aus jeder der ehemaligen Fakultäten zu erhalten, daß es andererseits nicht möglich sein würde, für jedes auch nur der wichtigeren Fachgebiete Mitarbeiter zu finden. Erschwerend wirkte sich aus, daß vollständige Verzeichnisse der akademischen Lehrer der Friedrich-Wilhelms-Universität fehlen. Auch mußte darauf verzichtet werden, Gelehrte anzusprechen, die jetzt innerhalb der Sowjetischen Besatzungszone leben oder noch von den dort eingesetzten Behörden abhängen. Diese Entscheidung erfolgte, weil leider Anlaß zu der Annahme bestand, daß diesen Kollegen
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aus einer Mitarbeit an diesem Werke Schwierigkeiten erwachsen könnten, die ihnen erspart werden sollten. Umso mehr aber fühlen wir uns mit ihnen im Geiste verbunden. Es gelang, eine überraschend große Anzahl von Gelehrten zur Mitarbeit zu gewinnen, wenn auch mancher fehlt, dessen Beitrag ein großer Gewinn gewesen wäre. Ich bin sicher, daß dieses Werk gleichwohl ein wertvolles Zeugnis für Leistung und Geltung der FriedrichWilhelms-Universität zu Berlin sein wird, der die Wissenschaft und unser Land so vieles verdanken.
DER REKTOR DER FREIEN UNIVERSITÄT BERLIN EDUARD NEUMANN
THEOLOGIE
ROBERT
STUPPERICH
DIE ENTWICKLUNG DER KIRCHENGESCHICHTE AN D E R FRIEDRICH-WILHELMS-UNIVERSITÄT ZU BERLIN 1871-1945 Die Reichshauptstadt Berlin hatte nach 1871 viele Kräfte in ihre Mauern gezogen, die im geistigen wie im kulturellen Leben der Stadt neue Bestrebungen auslösten. Die Universität stand mitten im flutenden Leben. In ihr vollzog sich auch mancher Wandel, der dem Zeitalter gemäß war und entsprechende Folgen über die Jahrhundertwende hinaus hatte. Der Geist der Romantik, der noch lange im Preussischen Staat wie im geistigen Leben herrschend war, trat nun zurück. Die nüchterne, wirklichkeitsnahe Betrachtung der Dinge, wie sie sich vor allem in der Geschichtswissenschaft in Berlin seit längerem ausgeprägt hatte, mußte auf die theologische Arbeit übergreifen und ihr ein neues Gesicht geben. In Methode und Fragestellung bestimmte die Historie das Feld und sollte es immer mehr tun. Noch wirkte sich der Geist, den Schleiermacher und Neander der Theologischen Fakultät in Berlin inspiriert hatten, weiter aus. Neander war zwar bereits 1850 gestorben, aber seine Auffassung von der Kirchengeschichte, wie er sie eindrücklich fast 40 Jahre lang vorgetragen hatte, bestimmte das Denken seiner Schüler 1 . Bei der Besetzung des Neanderschen Lehrstuhls hatte die Fakultät nicht viel Geschick bewiesen. Auf dem Katheder dieses bedeutendsten, für die erste Hälfte des Jahrhunderts maßgebenden Vertreters der kirchenhistorischen Disziplin standen für ein Menschenalter Männer, die ihm das Wasser nicht reichen konnten. Zuerst war es Lehnerdt, der außer der Kirchengeschichte auch die Dogmatik vertrat und bald als Generalsuperintendent nach Magdeburg ging, dann der gelehrte, 1 Ad. Harnack. August Neander. (1889) (Reden und Aufsätze I, 2 1906, S. 195—218) bezeichnet ihn als seinen »großen Vorgänger«, mit dem, wie schon F. Chr. Baur sagte, eine neue Epoche der kirchlichen Geschichtsschreibung begonnen hat. Ds. »Die theologische Fakultät Berlin« (Aus Wissenschaft und Leben 2, 1911, S. 153—164).
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aber versponnene Chr. W. Niedner, der 1865 starb, schließlich Karl Semisch, ein wissenschaftlich unbedeutender, wenig ausgewiesener Mann, der sich nach seiner Berufung aus Greifswald in Berlin nur der »praktischen Arbeit« im Konsistorium widmete. Mochte er ein strenger und gefürchteter Prüfer gewesen sein, viel Sinn für wissenschaftliche Arbeit bewies er nicht2. Unter ihm nahm die Tätigkeit im kirchenhistorischen Bereich einen müden und schleppenden Gang. Im Seminar ist wenig geleistet worden3. Semisch hat auf seinem Wege kaum eine Spur hinterlassen. In über 20 Jahren, die er in Berlin zugebracht hat, war nicht einmal ein Aufsatz von ihm erschienen. Es ist daher kein Wunder, daß sein Name in der Fachwelt vergessen ist. Daß Semisch von Greifswald nach Berlin gezogen wurde, beruhte auf einer Fehlentscheidung der Fakultät wie auch der Staatsregierung. Die Folgen aber dieser Berufung ließen sich nur langsam ausgleichen. Für die kirchengeschichtliche Arbeit war zwar noch Ferdinand Piper da, ein Gelehrter aus der Schule Neanders, der sich seit 1842 auf diesem Gebiet betätigte, aber sich immer mehr der »monumentalen Theologie« und kirchlichen Kunst verschrieben hatte4. Mochte er der christlichen Archäologie die Bahn gebrochen und ihre wissenschaftlichen Grundlagen entwickelt haben, für die eigentliche Kirchengeschichte konnte er nicht viel bedeuten, zumal er sich fast nur um den »christlichen Kalender« bemühte und auch dabei eine mehr er1 A D B 33, 692 f. (Tschackert). M a x Lenz, Geschichte der Universität Berlin II, 2, 1910, 117 schreibt es dem geringen wissenschaftlichen Sinn der Berliner Theologischen Fakultät zu, daß sie kein rechtes Urteil über wissenschaftliche Begabungen und Fähigkeiten hatte. Mit Entrüstung ruft er aus: »Einen Semisch zog man Hermann Reuter vorl« 3 In den Fakultätsstatuten von 1834 heißt es, diese sei »insbesondere« dazu berufen, »die sich dem Dienst der Kirche widmenden Jünglinge für diese tüchtig zu machen« (L. Zscharnack, Christliche Welt 29, 1910, S. 471). Die Aufgabe des Seminars wurde schon früher im Reglement vom 15. 5. 1828 dahin bestimmt, nur „ausgezeichnete Theologiestudierende zu gelehrten Arbeiten und Forschungen auf dem Gebiet des theologischen Studiums anzuleiten«. Semisch selbst klagte, daß zu seiner Zeit die Leistungen auch hinter mäßigen Ansprüchen zurückblieben. Schriftliche Seminararbeiten, die nur lateinische Stilübungen darstellten, wurden lediglich zu dem Zweck angefertigt, Stipendien zu erlangen. Diese Tatsache wurde auch im Erlaß des Ministers Falck an die Theologische Fakultät nicht ohne Kritik festgestellt vgl. Lenz a. a. O. III, 8. 4 R E s i 5 , 404 f; A D B 53, 64 und Lenz a. a. O. II, 2 115. Piper war Famulus und Reisebegleiter Neanders gewesen. »Niemand hat sich enger an Neander angeschlossen als er«. Fast ein halbes Jahrhundert hat er der Fakultät als E x traordinarius angehört von 1842 bis zu seinem Tode 1889.
D i e E n t w i c k l u n g der Kirchengeschichte
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bauliche als wissenschaftliche Art an den Tag legte. Neanders Geist paßte nicht mehr in die neuerstandene Welt. Vom Kirchenhistoriker verlangte die neue Zeit eine andere Orientierung, aber erst recht eine andere Arbeitsweise und einen anderen Arbeitsertrag. Da Karl Semisch diesen Forderungen und Aufgaben nicht gewachsen war, muß es als eine glückliche Fügung angesehen werden, daß sich in diesen Jahren eine Reihe tüchtiger jüngerer Privatdozenten in Berlin habilitierte und mit Eifer an die kirchengeschichtliche Arbeit ging. In den meisten Fällen war ihre Tätigkeit nur von kurzer Dauer: H. Weingarten5, der ein Jahrzehnt hier gewirkt hatte, ging 1873 nach Marburg, Franz Dibelius4 blieb nur ein knappes Jahr; dafür aber sollte der später gefeierte Meister der Kirchengeschichtsschreibung Karl Müller1 sich 1880 in Berlin habilitieren. 1882 a.o. Professor, ging er schon 1884 nach Halle, später nach Breslau, Gießen, Tübingen. Auf das Extraordinariat wurde nach Piper 1890 Nikolaus Müller8 berufen, der neben der christlichen Archäologie auch Kirchengeschichte las und sich vor allem als Melanchthon-Forscher einen Namen machte. Das zweite Extraordinariat wurde nach Karl Müllers Fortgang 1885 durch Samuel Deutsch9 besetzt, einen bescheidenen konservativen Gelehrten, der in großer Treue seine Arbeit über ein Vierteljahrhundert an dieser Stelle getrieben hat. Sein Spezialgebiet war die mittelalterliche Kirchengeschichte. Sein Lehrbuch der Kirchengeschichte, das er noch 1909 kurz vor seinem Tode herausgab, zeigt seine große pädagogische Gabe und sein ausgebreitetes solides Wissen. Die Lehraufgaben erfüllte neben den beiden Extraordinarien noch als Privatdozent Georg Loesche10, der freilich nach 2 Jahren schon (1887) nach Wien berufen wurde, wo er länger als ein Menschenalter das bestimmende Glied der Evangelisch-Theologischen Fakultät war.
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v g l . C. F . Arnold über H e r m a n n W e i n g a r t e n in R E 3 21, 62H.
* F . Blanckmeister, F r a n z Dibelius. 1925. ' v g l . H . R ü c k e r t über K a r l Müller in B l . f. W ü r t t . K G . 1941 und W . N i g g . D i e Kirchengeschichtsschreibung, 8
Vgl. R G G 1
1934, S. 2 3 0 — 2 4 4 .
4, 554, A E v - l u t h . K Z t g .
1912, 887t. und V o l l b e h r - W e y l , P r o -
fessoren und D o z e n t e n . . . zu K i e l . 1954 3 , 2 i f . • v g l . R E 3 23, 3 4 i f f . ; Biographisches J a h r b u c h 14, 155, E v a n g e l i s c h - K i r c h licher Anzeiger 1909, 312. 10
v g l K a r l Völker. Georg Loesche, (Jahrbuch der Gesellschaft f ü r Geschichte
des Protestantismus in Österreich 53) 1933, S. 3 — 3 2 und R G G 3 4, 429.
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ROBERT
STUPPERICH
Auf diese Weise wurde der Mangel in der
kirchengeschichtlichen
Forschung und Lehre teilweise überwunden. Trotzdem mußte die F a k u l t ä t dem überalterten Ordinarius K a r l Semisch 1887 den dringenden R a t geben, von seinem A m t e zurückzutreten. Der 77-jährige konnte sich dieser Mahnung nicht entziehen. B a l d darauf ist er gestorben. Unter Führung von Bernhard Weiß entschloß sich die Fakultät, nunmehr auf den freigewordenen Lehrstuhl primo loco
Adolf
Harnack, damals Ordinarius in Marburg, zu berufen. Der Geschichte dieser Berufung fehlt es nicht an dramatischen Höhepunkten 1 1 . Sie ist im In- und Auslande mit großer Spannung verfolgt worden. Trotz des Widerspruchs
des
Evangelischen
Oberkirchenrats
in
Berlin
setzten sich das Preußische Staatsministerium und Bismarck persönlich für diese B e r u f u n g ein. Der junge Kaiser Wilhelm I I . entschied in ihrem Sinn (3.10.1888). Man wird fragen können, wie dieses Eintreten für Harnack z u erklären ist. W a r es der Gegensatz gegen die konservative Auffassung, der
die Berufung
Harnacks
erreichte?
Harnack wurde bereits als derjenige angesehen, der die geltenden dogmatischen Grundlagen in Schrift und Bekenntnis ablehnte; in diesem Ruf stand er v o r allem in seiner baltischen Heimat. Harnack galt als der konsequente Wissenschaftler, der sich durch Motive des Glaubens bei seinen Arbeiten nicht beeinflussen ließ und über die Linie A . Ritschis hinausging, nach dessen W o r t Harnack zur »Partei der vornehmen Wissenschaft« gehörte. A u s ihm sprach der Historiker, der aber auch Theologe war und nicht von der Theologie getrennt werden wollte. Freilich sollte es eine »neue Theologie« sein. I n Preußen war Harnack tragbar, während das Sächsische Ministerium ihn 1885 abgelehnt hatte. Althoff hatte diese Tatsache bereits durch Harnacks Berufung nach Marburg unterstrichen. T r o t z der auftretenden Gegensätze und K ä m p f e lockte Berlin den geistvollen Gelehrten, so d a ß er den neuen Ruf annahm. Mit Harnacks Eintritt in die Berliner Theologische F a k u l t ä t sollte eine neue Ä r a beginnen 1 2 . Nicht umsonst hatte ihn Bernhard Weiß in seinem V o t u m als den »fleißigsten und originellsten Kirchenhistoriker von ungewöhnlicher Produktivität und wissenschaftlicher Forschungsgabe« bezeichnet. 1 1 vgl. Walter Wendland: Die Berufung Adolf Harnacks nach Berlin (Jb. f. brandenb. Kirchengesch. 29, 1934, S. I03ff.). 14 Agnes von Zahn-Harnack: A. v. H. 1936, 2 1951; E . Seeberg. A . v . H. 1930; »Adolf Harnack in memoriam« (Aland, Eiliger, Dibelius), 1951. W. Eltester — T h L Z 76, 1951, 736ff.; R G G 3 3, 7 7 f f . ;
Die Entwicklung der Kirchengeschichte
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Die kirchenhistorische Arbeit in Berlin sollte sich völlig ändern. War sie bis dahin im Wesentlichen darauf gerichtet, künftige Pfarrer zu erziehen und für ihren praktischen Dienst vorzubereiten, so sollte nunmehr ein völliger Umschwung eintreten. Harnack wirkte als Wissenschaftler, ohne zu fragen, wie seine Wissenschaft in der kirchlichen Praxis zu verwenden sei. Er besaß die Gabe, durch seine Persönlichkeit und durch seine wissenschaftliche Befähigung die junge Generation für gelehrte Studien zu begeistern und zu bestimmen. So wie Neander in der ersten Hälfte des Jahrhunderts ungewollt durch sein Auftreten die Studierenden in seinen Bann zog und ihnen Impulse für ihr Leben und Wirken vermittelte, so sollte Harnack eine entsprechende, wenn auch andersartige Wirksamkeit in der Theologischen Fakultät und teilweise auch über ihren Rahmen hinaus entfalten. War seit Schleiermacher die Theologie in Berlin aus dem Bereich der Wissenschaften so gut wie hinausgedrängt, so sollte Harnack ihre Geltung wieder herstellen. Als ein Symptom der allgemeinen Auffassung kann es gelten, daß er als erster Theologe seit Schleiermacher und Neander wieder als Mitglied in die Preußische Akademie der Wissenschaften aufgenommen wurde und in diesem Gremium bald eine hervorragende Rolle spielte. Es konnte für die Theologie und für die Kirchengeschichte nicht belanglos bleiben, daß ihr stärkster Exponent zugleich als der bemerkenswerteste Vertreter der Wissenschaft galt und daß er diese Geltung als Generaldirektor der Preußischen Staatsbibliothek wie später als Präsident der KaiserWilhelm-Gesellschaft nur noch unterstrich. Harnack kam 37-jährig nach Berlin. Schon vor seiner Berufung in die Reichshauptstadt war er in Marburg zum Rektor der Universität gewählt worden. In der wissenschaftlichen Welt war es bekannt, was er bedeutete. Er besaß nicht nur akademische Erfahrung, war nicht nur ein glänzender Dozent, sondern hatte zugleich das Vertrauen der gebildeten Welt. Als Theologe und Kirchenhistoriker ging er seine eigenen Wege. Hier ging er den Entscheidungen nicht aus dem Wege. Er verhehlte es nicht, in welchem Maße er von Albrecht Ritsehl theologisch angeregt war, wenn ihn auch der andere starke Geist dieses Zeitalters, Ferd. Chr. Baur, nicht unbeträchtlich bestimmt hatte. Harnack hat sich von der übrigen Fakultät scharf abgehoben, nicht nur durch seine freie theologische Stellung. Seine Kritik am Vergangenen war schärfer. Nach seiner Auffassung versuchten frühere
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STUPPERICH
Theologen »wie ungeschickte Schnitter die reifen Ähren einzubringen und verloren ganze Garben auf dem Wege zur Scheune«. Er nahm seine Arbeit ernst und führte sie mit großem Weitblick durch. Dadurch konnte er seiner Wissenschaft und seiner Fakultät eine neue Bedeutung geben. Bald war der wissenschaftliche Geist, der von Harnack ausging, auch im geistigen und kirchlichen Leben Berlins zu spüren. Die Anfänge des Christentums meinte er in neuer Weise darlegen zu können. Er war überzeugt, geschichtlich erfassen zu können, was das Wesentliche in der Verkündigung Jesu ist. »Ich habe keinen Gedanken «, schreibt er, »den ich mit größerer Sicherheit denke wie diesen. Und er ist das fundamentum meiner gesamten Lebensbetrachtung«. Alle philosophischen Verflüchtigungen lehnte er ab. Gedanken, die er um die Jahrhundertwende in seinem akademischen Publikum »Das Wesen des Christentums« vortrug, klingen bei ihm schon früh an. Seine These lautete: »Nicht der Sohn, der Vater allein gehört in das Evangelium, wie es Jesus verkündigt hat«. Diese Verkündigung sollte den Menschen keine neuen Rätsel aufgeben, sondern ihr dunkles Wissen und Wollen erhellen und bestimmen. »Es ist eine herrliche Aufgabe, fest zu glauben, daß Gott trotz meiner Sünde mein Vater ist. Dieser Glaube braucht keine geschichtliche Kritik zu fürchten. Um seiner selbst willen muß er sie fordern, denn ihm ist nicht die Pilatusfrage eingestiftet ,Was ist Wahrheit?', sondern ihm ist die Erkenntnis der Wahrheit als Aufgabe und Verheißung gesetzt«. Harnack vertrat eine ausgeprägt kritische Haltung. Aber er unterschied sich von Nietzsches Freund Franz Overbeck, von dem er schreibt, »wenn ich Overbeck lese, habe ich die Empfindung, als zerstöre jemand vor meinen Augen ein großes Haus und würfe die Trümmersteine den Umstehenden und mir ins Gesicht«. Eine solche Haltung war Harnack innerlich zuwider. Ihm lag es am positiven Ausdruck. Daher schätzte er auch A. Ritsehl, der den Versuch dazu mutig gewagt hatte, obwohl er auch Ritschis Einseitigkeit und Grenzen kannte. Sein Streben nach ganzheitlichem Erfassen des christlichen Glaubens zog ihn an. Er begnügte sich nicht mit einigen Scherben, sondern suchte ein Ganzes. Das hat schon Ritsehl vermittelt. Seine eigenen Forschungen am Neuen Testament ließen ihn auf der Ritschlschen Grundlage solch einen Bau mit Mitteln historischkritischer Forschung errichten.
Die Entwicklung der Kirchengeschichte
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Die Aufgabe, die Harnack in seiner 3-bändigen Dogmengeschichte lösen wollte, bezeichnet er selbst als »Beschreibung der Entstehung des christlichen Dogmas«. Er wollte bewußt kein »Repertorium der theologischen Gedanken des christlichen Altertums« bieten. Die allgemeine Kenntnis der Kirchengeschichte und der mannigfaltigen christlichen und an das Christentum herangerückten Erkenntnisse setzt er voraus. Ihm lag es daran, in einer stofflichen Auswahl seine Grundlinien darzulegen. Vor allem will er in der »Dogmengeschichte« nur über solche Lehren berichten, »die in weiten Kreisen gültig gewesen sind, oder die den Fortschritt der Entwicklung befördert haben«. »Dem Zwecke, die Entwicklung, welche zum kirchlichen Dogma geführt hat, nachzuweisen, habe ich alles unterzuordnen versucht«. Harnack hob daher selbst hervor, daß man in seinem Werk vieles vermissen könnte, »die Dogmengeschichte kann hier nur Fragmente bringen, denn mit ihrer Aufgabe verträgt es sich nicht, die Geschichte einer Theologie zu pünktlicher Darstellung zu bringen, deren Wirkungen zunächst sehr beschränkt gewesen sind«. Harnack nennt sein Werk ein Lehrbuch. Er bekennt, daß es ihm schwer gefallen sei, festzustellen, »was in einer Zeit, in welcher sich das Dogma gebildet hat, in weiten Kreisen giltig gewesen ist«. Seine These, daß das christliche Dogma eine Ausprägung des Evangeliums unter dem Einfluß des griechischen Geistes sei, hat Harnack mit großer Kraft und Eindringlichkeit für das kirchliche Altertum durchgeführt. Bekanntlich eignet seinen Darlegungen über das Mittelalter und die Reformationszeit nicht so viel Ursprünglichkeit. Harnack wollte hier nur die Auswirkungen altkirchlicher Gedanken in den Grundlinien darlegen. Zu seiner Zeit sind schon seine »Voraussetzungen der Dogmengeschichte« (I S. 48—155) sehr umkämpft gewesen. Was Harnack hier über das Evangelium Jesu Christi und die Verkündigung von Jesus Christus ausführte, hat 1892 zum Apostolicum-Streit und 1900 zu den heftigen Kämpfen über das »Wesen des Christentums« geführt. Neben seiner Dogmengeschichte gehört »Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten« zu Hamacks wirksamsten Werken. Nicht nur die Tatsache, daß vor ihm eine derartig eindringende Untersuchung gefehlt hat, erklärt ihre Wirkung. Eindrücklich ist auch die Art seiner Darstellung. Harnack hat den Wust unhaltbarer Überlieferungen ausgeräumt, um auf festen Boden zu kommen. Eine größere Sammlung zuverlässiger Quellen, als er sie
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zusammengetragen hat, ist kaum möglich. Harnack hat hier ein Mosaik entstehen lassen, das aus winzigen Stücken zusammengesetzt ist. Der Verfasser weiß besser als alle anderen, was alles noch fehlt, und wie lückenhaft die Uberlieferung im ganzen ist. Wesentlich für ihn als Historiker ist aber nicht nur, was er bietet, sondern auch wie er es bietet. Bezeichnenderweise stellt er die Darstellung der ältesten Kirchengeschichte unter universal-historische Gesichtspunkte. Für ihn ist die Frage wichtig, was das Eintreten des Christentums in die Welt bedeutet. Die Frage des 4. Jahrhunderts war: Welche Religion ist fähig, die Religion der Bürger des (römischen) Weltstaates zu werden? Er machte geltend, daß die christliche Kirche, soziologisch betrachtet, noch nicht viel bedeutete, und daß ihr soziales Programm anfangs zu hoch lag, um realisierbar zu sein. Erst als sie die wirkliche Lage stärker ins Auge faßte, ihre Forderungen mit dieser ausglich und sich von der weltflüchtigen zu einer konservativen Erscheinung umprägen ließ, konnte sie unter den neuen Verhältnissen des Konstantinischen Staates ihre Aufgaben auf breiter Basis aufnehmen und dazu noch neue übernehmen. Harnack betont aber, daß die christliche Kirche des Altertums, auch da, wo sie sich, wie in der sozialen Frage, nicht durchsetzten konnte, doch in ihrer Wirksamkeit als »wahrhaft neu« empfunden wurde. Wie sehr Harnacks Werk die Dogmengeschichte und die ganze kirchengeschichtliche Arbeit förderte, ist bekannt. In seiner »Geschichte der altchristlichen Literatur« hat er die Grundlagen für weitere Forschung gelegt. Sosehr Harnack der exakte Forscher war, hat er sich in späteren Jahren doch von E. Troeltschs großzügigen Gedanken beeindrucken lassen. In den Vorreden zu seinen großen Werken sprach sich Harnack immer über Ziel und Methode seiner Arbeit aus. Das hat er in seinen theologischen Werken ebenso getan, wie in der »Geschichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften«, die er im Jahre 1900 verfaßt hat. Die Methode ist für ihn bezeichnend. Harnack hat das Verdienst, durch seine Forschungen einen engen Zusammenhang zwischen der Altertumswissenschaft und der alten Kirchengeschichte und Patristik hergestellt zu haben. Nicht minder wichtig als die Beziehungen zur klassischen Philologie sind für ihn diejenigen zur Orientalistik und Byzantinistik geworden. Die Isolierung, in der die theologischen Disziplinen um die Mitte des Jahrhunderts sich befanden, war überwunden. Diese Tatsache ist einmal durch
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Harnacks persönliche Leistung, zum anderen durch seine Grundauffassung hervorgerufen. Eine Entfremdung ist seitdem immer wieder verhindert worden. Die Kirchenhistorie war ein Glied der historischen Wissenschaft geworden und hatte ihre Verbindungen zur Philologie und Archäologie, die sich förderlich und nützlich auswirken sollten. Neben Ad. Harnack hat auch der 1898 auf den »positiven« Lehrstuhl berufene Reinhold Seeberg zwar nicht ex officio, aber aus seiner schon früher hervorgetretenen Neigung dogmengeschichtlich gearbeitet. Sein »Lehrbuch der Dogmengeschichte«, herausgewachsen aus der Fortführung des Thomasius'schen Werkes, auf 4 Bände erweitert, hat in seiner 3. und 4. Auflage eine starke Umarbeitung erfahren und konnte als äußerst bedeutsame Leistung gelten. Im Unterschied zu Harnack, dessen Dogmengeschichte eine starke persönliche Note trug, eigene Auffassungen vortrug und eine einheitliche Konzeption darlegte, wollte Seeberg in seinem »Lehrbuch« nicht nur behaupten, sondern auch beweisen, »nicht nur das eigene Urteil zum Ausdruck bringen, sondern auch die Kenntnis und Kritik anderer vermitteln«. Im Vorwort zur 2. Auflage hatte Seeberg geschrieben: »Da ich nicht Historiker vom Fach bin, so bin ich doppelt bemüht gewesen, mich von dogmatischen Konstruktionen, die übrigens auch bei Historikern nicht selten mitunterlaufen, frei zu halten«. Weiter heißt es: »Wir Dogmatiker haben es ja vielfach schwerer als Kirchenhistoriker bei der Herstellung einer umfassenden historischen Arbeit, da uns das ganze kirchengeschichtliche Detail nicht in dem Umfange und in der Sicherheit gegenwärtig ist wie jenen, aber wir haben dafür den Vorteil, von einer zusammenhängenden und erprobten Gesamtanschauung des Christentums herzukommen, die naturgemäß den Blick für das Verständnis religiöser Probleme und für die Erkenntnis ihrer Zusammenhänge in der Geschichte schärft«. (S. IV). Seebergs Werk hat volle Anerkennung gefunden; es hat insbesondere für das Mittelalter aber auch für die Reformationszeit als die gründlichste Darstellung der dogmatischen Konzeption gelten können und hat sich als solche bis in die Gegenwart behauptet (5. Auflage 1956). R. Seeberg hat sich nicht auf entscheidende Linien beschränkt, wie sie Harnack für die Dogmengeschichte als allein zulässig erklärte. Seine Dogmengeschichte ist eine Theologiegeschichte von umfassender Art. Das Schwergewicht liegt erklärlicherweise nicht auf der Alten Kirche, sondern auf dem Mittelalter und der Reformationszeit. Be-
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sonders für das Mittelalter galt Seeberg lange als der erste Fachmann auf evangelischer Seite. Sein Vorzug ist der, daß er nicht Fragmente liefert, sondern von jedem Scholastiker ein abgerundetes Bild zu geben vermag. Erst recht hat sich sein 4. Band »Die Lehre Luthers« zu einer Monographie ausgeweitet. So temperamentvoll und rhetorisch-glanzvoll Seeberg sonst war, seine Dogmengeschichte ist eine nüchterne und solide Leistung. Er hat auch dogmengeschichtliche Vorlesungen gehalten und das Schwergewicht dieser Disziplin in Berlin verstärkt. Es war erklärlich, daß während der 35 Jahre, in denen Harnack als Ordinarius der Theologischen Fakultät angehörte, die Zahl der Studierenden, die seinetwegen nach Berlin gingen, sehr groß war. Nicht wenige schlössen sich dem Meister eng an und entschlossen sich, in seiner Nähe ihre wissenschaftliche Arbeit zu treiben. Hatte sich im selben Jahr, als Harnacks Berufung nach Berlin ausgesprochen wurde, Adolf Jülicher in Berlin habilitiert, so sollte das nur für ein Semester sein, da er gleich den Lehrstuhl in Marburg erhielt. In den 90er Jahren aber haben sich Heinrich Voigt (1892—1894)13, Paul Gennrich (1896—1899)14 und Karl Holl (1896—1900) hier habilitiert, denen Karl Schmidt 1899 15 , Leopold Zscharnack 1906 16 u. a. folgten. Treue Gehilfen Harnacks waren nur Karl Holl und Karl Schmidt geworden, der eine später ein selbständiger bedeutsamer Forscher, der andere ein unentbehrlicher Beamter in der Akademie der Wissenschaften, der die Arbeiten der Kirchenväterkommission förderte, die Herausgabe der Texte und Untersuchungen, vor allem der »Griechischen christlichen Schriftsteller« in unermüdlicher, entsagungsvoller Arbeit betreute. Schmidts eigenes Arbeitsgebiet wurde die Koptologie, für die er ein beachtenswerter Forscher war, der zahlreiche christlich koptische Texte selbst in Ägypten fand und veröffentlichte. Von Harnack angeregt war auch Heinrich Scholz 17 , der sich 1910 für das Fach der Systematischen Theologie in Berlin habilitierte. War seine Augustin-Arbeit ganz von Harnack inspiriert, so sollte er Heinrich Voigt — R G G 1 5,1700 f ; Vollbehr — Weyl, 3. Aufl. 1954, s - 15Paul Gennrich. R G G 2 2, i o i y f . " Karl Schmidt (Koptenschmidt). R G G 8 5, 206. 1 8 über Leopold Zscharnack, R G G 2 5, 2138 und H. Rust in Jb. d. AlbertusUniv. zu Königsberg/Pr. 1957, S. 49—54. 1 7 Heinrich Scholz, R G G 2 5, 245 f. H. Scholz (Schriften d. Gesell, z. Förd. der Westf. Wilh. Univ. H e f t 41) 1958. 13
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später diese Bahnen gänzlich verlassen. 1910 habilitierten sich auch Martin Dibelius18, Hans von Soden19 und Eugen Fischer. Zscharnack hat in Berlin zusammen mit Gunkel das 4-bändige Nachschlagewerk »Die Religion in Geschichte und Gegenwart« begründet, mit dem er die Harnackschen Gedanken in breite Kreise hinaustrug. Seine eigene Leistung blieb insbesondere auf Studien zur Theologie des 17. Jahrhunderts beschränkt. Den Meister erreichte unter all seinen Schülern eigentlich nur Karl Holl20. Das hatHarnack selbst gesehen und zum Ausdruck gebracht. Holl unterschied sich in vielem von seinem Lehrer und Freund; er gehörte schon einer anderen Generation an. Sosehr er in der alten Kirchengeschichte in Harnacks Bahnen ging, sollte er in der reformationsgeschichtlichen Forschung doch eine neue Periode einleiten. Als 1906 ein zweites Ordinariat für Kirchengeschichte begründet wurde, um Harnack zu entlasten, wurde Karl Holl aus Tübingen zurückgerufen, der 10 Jahre zuvor sich in Berlin für dieses Fach habilitierte, sich auf dem Gebiete der alten Kirchengeschichte durch scharfsinnige Untersuchungen, dogmengeschichtliche Darstellungen und Editionen hervorgetan, aber seit seiner Tübinger Zeit immer mehr die Probleme der Reformationszeit und der neuen Kirchengeschichte ins Auge gefaßt hatte. Mit der Errichtung des zweiten Ordinariats war eine Teilung des Kirchenhistorischen Seminars verbunden in eine Abteilung für alte und eine für neue Kirchengeschichte. Seit dieser Zeit hat Karl Holl ex officio sich stärker mit der Lutherforschung und mit der Erforschimg der neueren Geschichte des Katholizismus (Ignatius, Modernismus) und der neuen religiösen Bewegungen (wie Szientismus, Anthroposophie u. a.) befaßt. Der scharfsinnige Interpret besaß die Gabe, die Dinge neu zu sehen. In den schwierigsten Fragen kam er zu einfachen Ergebnissen, die durch ihre Klarheit und Selbstverständlichkeit einleuchtend waren. Holl gehörte wie auch Harnack zu den fleißigsten Gelehrten, die man sich nur denken kann. In Tübingen schon nannten die Studenten sein Studierzimmer die »Ewige Lampe«. In Berlin ist es nicht anders geworden. Er gönnte sich 18
vgl. W . G. Kümmel: M. D. als Theologe, ThLZ 74 (1949), 129—140. Hans von Soden. RGG 2 5, 591. 20 Harnack/Lietzmann. Karl Holl (Arbeiten z.KG 7) 1926 und H. Lietzmann, Gedächtnisrede auf Karl Holl. S A B 1927 L X X X V I f f . auch Holl, Ges. Aufs. z. KG. Bd. 3, S. 568 ff. "
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keine Ruhe und keine Erholung. Um alles zu umfassen, wie er es wollte, mußte er unmenschlich arbeiten. Es ist ihm nichts in den Schoß gefallen. Er kannte keine vorgefaßte Meinung und war selbst oft von seinen Ergebnissen überrascht. Holl war in wissenschaftlicher Beziehung einen schweren Weg gegangen, ihm war nichts erspart geblieben, darum konnte er auch anderen den Weg zeigen, die ihn danach fragten. Mit aller Zurückhaltung zeichnete er das geschichtliche Leben im Großen wie im Kleinen; seiner Darstellung geschichtlicher Gestalten war die lebendige Berührung mit ihnen abzuspüren. Daher wurden seine Darstellungen, ob sie schon in die älteste Vergangenheit führten, als aktuelle Probleme erfaßt und begriffen. Wie Emanuel Hirsch berichtet, hat K. Holl ihm gegenüber »Ferdinand Christian Baur als seinen wahren und einzigen Lehrer in der Geschichtsforschung bezeichnet«21. Das bohrende Forschen und Fragen war ihm eigen und ließ ihn nirgends auf halbem Wege stehen bleiben. Holl äußerte sich zur Sache erst, wenn er alle Quellen gelesen und durchforscht hatte. Er übernahm nichts aus zweiter Hand. Ob Patristik, ob Lutherforschung, ob die Erforschung der neuesten russischen Geistesgeschichte, er mußte die originalen Quellen haben. Als ich bei ihm 1925 zu arbeiten begonnen hatte, beauftragte er mich oft, ihm russische Werke zu besorgen. Dann hatte er auch immer Zeit, über den ihn beschäftigenden Gegenstand zu reden, und teilte dabei auch eigene Beobachtungen mit. Dieses Interesse an der russischen Kirchengeschichte wuchs noch, als er in seiner Eigenschaft als Rektor der Berliner Universität am 200. Gründungstage der Russischen Akademie der Wissenschaften 1925 Petersburg und Moskau besuchte. Trotz ausgeprägter persönlicher Überzeugungen stellte er sich auf den Boden der Tatsachen und betrachtete alles, was ihm begegnete, mit größter Nüchternheit und Sachlichkeit. Was es auch war, ob eine Vorlesung über Kirchengeschichte, die er in den üblichen 4 Teilen las, ob Konfessionskunde oder Geschichte der protestantischen Theologie, den Studenten faszinierte der Ernst, mit dem Holl bei der Sache war. Dieser ihm eigene Zug verstärkte sich in besonderem Maße, wenn er über Luther oder Calvin sprach. Was die jüngere Generation nach dem ersten Weltkrieg besonders an ihn fesselte, war sein Eindringen in die Theologie Luthers, die bis 21
in K . Holl. Christliche Reden. 1926, S. I V .
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dahin kaum jemand mit solchem Verständnis für den Reformator und seine theologischen Fragen behandelt hatte. Während Harnack bereits als Repräsentant der Vorkriegszeit galt, obwohl seine letzten großen Vorlesungen im Wintersemester 1923 noch ein großes Auditorium fanden, wirkte Karl Holl in der kirchengeschichtlichen Forschung als Bahnbrecher einer neuen Arbeitsweise und Gewinner von Neuland. Es waren ihm zwar nur wenige Jahre noch beschieden, aber in diesen wenigen Jahren bis zu seinem 1926 erfolgten Tode hat er ungemein stark gewirkt. In dieser Zeit brachte er die Ernte seines unermüdlichen Schaffens ein. Seine sachliche, völlig unpathetische Art zog an. Seine zuerst 1921 erschienene Sammlung von Lutheraufsätzen bedeutet einen Neuansatz in der Lutherforschung. Daran hat sich auch nach 40 Jahren nichts geändert. Wer über die Lutherforschung der neueren Zeit handelt, setzt bei Karl Holl ein. Selten hat ein Kirchenhistoriker eine deratige Wirkung gehabt. Holls Lutherkenntnis war einzigartig, Zitate, die er brauchte, hatte er im Gedächtnis. Er gehörte zu den Gelehrten, die nie eine Kartothek besessen haben und denen das Gedächtnis jede Kartothek ersetzte. Mit einem Male stand er in der vordersten Reihe der Lutherforscher. Weithin ist die Fragestellung und die Gesamtauffassung von ihm bestimmt worden. Eine große Anzahl jüngerer Gelehrter ging aus seinem Seminar hervor, so daß bald von seiner Holl-Schule gesprochen wurde. In seinem Seminar wurden Semester um Semester die entscheidenden Fragen der Theologie Luthers behandelt. Holl selbst hat bis in die letzten Monate seines Lebens sich mit den Fragen der Christologie und der Lehre vom Heiligen Geist bei Luther befaßt. Abschließen wollte er seine Untersuchungen ohne Luthers Hebräerbriefvorlesung nicht. Ihre Veröffentlichungen hat er nicht mehr erlebt. Daher ist seine Lutherdarstellung auch unvollendet geblieben. Während andere sich von Karl Barth beeindrucken ließen, war dem Kenner Luthers und Kierkegaards diese Theologie nicht neu. Holl, der in jungen Jahren durch alle Tiefen der Philosophie hindurchgegangen war, wußte, daß das echte Paradox Sinn haben muß, daß in der Religion die Gabe das Primäre ist, mit der Gabe aber das Sollen verbunden ist: Gott schenkt, damit wir ihn finden. Sein letztes großes Kolleg schloß mit dem Satz: »Der Mensch ist nicht durch sich da, also wird er auch nicht für sich da sein!« Das Entscheidende hatte er beim echten Luther gefunden. Karl Holl war eine seltene Erscheinung, ein großer Gelehrter und ein
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großer Mensch. Die Kirchengeschichte verdankt ihm viel, seine Schüler noch mehr. Die Nachfolge Adolf von Harnacks zu übernehmen, war keine leichte Aufgabe. Es kam hinzu, daß der Wechsel in die schwere Zeit der Inflation fiel. Daher war es nicht zu verwundern, daß zuerst Hans Lietzmann, dann Otto Scheel, seit 1920 Nachfolger Karl Müllers in Tübingen, sich nicht entschließen konnten, gleich dem Ruf nach Berlin zu folgen. Den Ruf erhielt Hans Lietzmann 1923 erneut, seit 1905 a.o. dann o. Professor in Jena, der sowohl auf dem Gebiet des Neuen Testaments als auch der älteren Kirchengeschichte sich einen Namen gemacht hatte, im Neuen Testament durch sein Handbuch, zu dem er selbst mit der Erklärung des Römerbriefes eine ausgezeichnete Einführung in die Textgeschichte der Paulusbriefe geschrieben hatte. R. Knopfs Einführung ins Neue Testament war von ihm neu bearbeitet und ebenfalls mit einem Abschnitt über Textgeschichte und Textkritik vermehrt worden. Selbst einer der exaktesten Forscher auf dem Gebiet der alten Kirchengeschichte, hat er sich auch um die Reformationsgeschichte bemüht. Hatten vor ihm schon andere kirchengeschichtliche Quellenhefte herausgegeben, Lietzmanns »Kleine Texte« sollten das beste und umfassendste Unternehmen dieser Art werden, das sich bis zur Gegenwart glänzend bewährt hat. Seine »Altchristliche Literaturgeschichte« ist trotz ihrer Kürze eine höchst brauchbare Darstellung gewesen, wie Lietzmann überhaupt ein praktischer, auf das Notwendige bedachter Pädagoge war 22 . Sein Lehrerfolg in Berlin war, gemessen an dem Harnacks und Holls nicht groß, aber wer bei ihm lernen wollte, konnte es in vortrefflicher Weise. Jeder Phrase und jeder Ungenauigkeit abhold, erzog er seine Schüler mit Bedacht zur Sachlichkeit und Exaktheit. In seinem Organisationstalent stand er Harnack nicht nach. Daher war es das Gegebene, ihn zum Nachfolger des gefeierten großen Gelehrten in der Kirchenväterkommission der Preußischen Akademie der Wissenschaften zu machen. Mit Karl Holl war er befreundet, so daß die Zusammenarbeit gesichert war. Auch literarisch ist sie unterstrichen worden in der von ihnen gemeinsam begründeten Sammlung »Arbeiten zur Kirchengeschichte«. Lietzmanns 22 H.Lietzmann: Selbstdarstellung, in: Religionswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen I I (1926), 7 7 f f . Heinrich Bomkamm: H. L. in Z N W 1942, S. i f f .
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Vielseitigkeit kam aber auch darin zum Ausdruck, daß er sich der Christlichen Archäologie widmete und auf diesem Gebiet ebenfalls führend wurde. In Berlin wurde dieses Fach zwar nach Nikolaus Müller seit 1913 durch Georg Stuhlfauth23 wahrgenommen, der sich der kirchlichen Kunst widmete. Lietzmann hat zusammen mit Rodenwaldt die »Arbeiten zur spätantiken Kunstgeschichte« herausgegeben und unterstützt von H. W. Beyer die Denkmäler der römischen Katakomben, später auch die Mauer Konstantinopels aufgenommen und veröffentlicht. Die von Harnack in die Forschung gebrachte dogmengeschichtliche Orientierung hat Lietzmann nicht in dem Maße befolgt wie F. Loofs, oder auch Karl Holl. Das Interesse am Dogmatischen hatte er in gleichem Maße nicht. Lietzmann betätigte sich auf den Gebieten, auf denen er mehr leisten konnte. Seine Arbeitsgebiete, auf denen er Meister werden sollte, hatte er sich selbst gesucht, es waren Liturgie, Kalender, altchristliche Kunst. Sein praktischer Blick brachte ihn oft zu überraschenden Ergebnissen, die meist ganz einfach und überzeugend waren. Seine Arbeit war anregend für Philologen und Historiker, für Liturgieforscher und Archäologen. Um ihn sammelten sich in Berlin nicht nur deutsche, sondern auch ausländische Studenten in großer Schar, um die Kunst des Eindringens in geschichtliche Texte und Denkmäler von ihm zu lernen. Nach Holls Tod übernahm Lietzmann 1927 sein Erbe. Er wurde sein Nachfolger als Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften, er wurde auch Ephorus des Ev. Studienhauses Johanneum, das unter ihm wie unter seinem Vorgänger eine Pflanzstätte ernster theologischer Arbeit geworden war. Als Inspektor dieses Hauses habe ich mit ihm ständig zu tun gehabt. Lietzmann hatte die Art, jungen Menschen selbständige Arbeitsaufgaben zu geben, an denen sie sich erproben sollten. Er zeigte darin jedem sein Vertrauen, erwartete allerdings, daß diese Aufgaben auch peinlich genau durchgeführt wurden. Er selbst erschien mehrfach im Semester zu Ausspracheabenden mit Studenten. An solchen Abenden besprach er wohl manche Einzelfragen. Berlin war ihm anziehend und wert geworden durch seine Arbeit. Die konzentrierte, sich an keine Zeitgrenze haltende Arbeit war auch bei ihm der beherrschende Zug. Trotz all seiner 23
Über Georg Stuhlfauth vgl. R G G 5 a , 862; Z K G 60, 1941, 541 f. und T h L Z
67, 1942, I93f. G II
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Verpflichtungen hat Lietzmann auch in Berlin ungewöhnlich viel geleistet. Lietzmanns Lebenswerk sollte die 1932 begonnene, auf 5 Bände berechnete Darstellung der »Geschichte der Alten Kirche« werden. Ein Meisterwerk der Darstellung! Klar und einfach, wie der Verfasser selbst, ist auch sein Werk. Es wird als solches noch lange Geltung haben. In ausgezeichnetem Stil geschrieben, ist das Werk für jeden zugänglich und ist weit über die Kreise der Fachtheologen hinaus gelesen und benutzt worden. Abgesehen von einigen neuen Fragen wird dieses Werk durch seine gleichmäßige Darstellung auch weiterhin als bestes Orientierungsmittel gelten. Daß der Verfasser bei der ersten Hälfte des 4. Bandes stehen geblieben ist und ihm der Tod vor Vollendung des Werkes die Feder aus der Hand genommen hat, ist allerdings oft bedauert worden. Wie H. Bornkamm schon bei der Trauerfeier für Lietzmann sagte, ist mit ihm der letzte große Berliner Kirchenhistoriker dahingegangen. Als nach dem frühzeitigen Tod Karl Holls dieser Lehrstuhl neu besetzt wurde, entschied sich das Preußische Kultusministerium dafür, ihn erst ein Jahr vakant zu lassen, um dann Erich Seeberg, der inzwischen von Königsberg nach Halle avancierte, nach Berlin zu bringen 24 . Von Erich Seeberg waren bis dahin nur einige wenige Schriften bekannt. Seit seiner Übersiedlung nach Berlin begann er sich mit Luther zu beschäftigen und brachte in den Jahren 1929 und 1938 zwei Bände einer Theologie Luthers hervor (Gottesanschauung und Christologie Luthers), die unverkennbar eine eigene Note tragen. E . Seeberg suchte von der philosophischen Seite her die reformatorische Theologie zu erfassen und konfrontierte Luther daher mit Thomas von Aquin und Erasmus. Seine These war der K . Holls entgegengesetzt. Luthers Theologie wollte er nicht von der Rechtfertigung als dem Zentralpunkt, sondern von der Menschwerdung her erfassen. Seine Gesamtkonzeption veröffentlichte E. Seeberg in einer kurzen Zusammenfassung »Luthers Theologie in ihren Grundzügen (1940), die neben guten Beobachtungen auch Übertreibungen und Ungleichmäßigkeiten hat. In den dreißiger Jahren führte E . Seeberg nicht nur den Vorsitz in der Staatlichen Kommission zur Herausgabe der Werke Luthers und der staatlich stark geförderten Eckhard-Ausgabe, sondern
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v g l . R G G 2 5, 3 6 7 .
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hatte auch die Herausgeberschaft der »Zeitschrift für Kirchengeschichte« und einer Monographieenreihe zur Kirchen- und Geistesgeschichte. Seine geschichtsphilosophischen Arbeiten sind fraglos beachtenswert. Mehrere dieser Arbeiten sind einzeln erschienen und später zusammengefaßt worden. Seine Auffassung von der Entstehung des Christentums hat er in der Neuen Propyläen-Weltgeschichte 1940 dargelegt. Dieser neuartige und fesselnde Deutungsversuch ist unbeachtet geblieben. Die Ablehnung, die der Verfasser erfuhr, wurde auf sein Werk übertragen. Im letzten Lebensjahr Karl Holls habilitierte sich bei ihm 1925 Hanns Rückert, der nach dem Tode seines Lehrers auch die Vertretung des Lehrstuhls wahrnahm, ehe er 1928 nach Leipzig berufen wurde 2 5 . Ihm folgte 1930 Walter Dreß, der sich vor allem mit spätmittelalterlicher Theologie (Marsilio Ficino und Johannes Gerson) beschäftigt hatte und ein Jahrzehnt lang die venia ausübte, bis sie ihm im Dritten Reich (1938) entzogen wurde. Bei Erich Seeberg habilitierte sich Fritz Fischer, der zwei geistesgeschichtlich wichtige Arbeiten über Nicolovius und über M. von Bethmann-Hollweg geschrieben hatte. Freilich blieb Fischer nur wenige Jahre in der Theologischen Fakultät, wechselte 1940 in die Philosophische Fakultät über und erhielt auch bald darauf den Ruf auf das Ordinariat für neue Geschichte in Hamburg, das er heute noch wahrnimmt. In derselben Zeit (1933) trat als hoffnungsvoller Forscher auf dem Gebiet der Patristik Hans-Georg Opitz hervor, dessen Athanasius-Studien und Athanasius-Ausgabe zu großen Hoffnungen berechtigten. Opitz hatte sich in Berlin für alte Kirchengeschichte habilitiert und hatte 1940 die Professur in Wien verwaltet, als er am 8. 7 . 1 9 4 1 einem Unfall zum Opfer fiel. Seine besten Schüler hatte Lietzmann im Kriege verloren. Eine Reihe tüchtiger junger Forscher, die in der Kirchenväterkommission arbeiteten, blieben im Felde, unter ihnen der junge Karl Holl und andere. Walter Eltester, der mit Lietzmann zusammen die Z N W herausgab, und seit Jahren hauptamtlich in der Preußischen Akademie der Wissenschaften arbeitete, habilitierte sich 1940. Hatte er zuerst die Arbeit Carl Schmidts übernommen, so fiel ihm nach Lietzmanns Tod die Verantwortung für das ganze verwaiste Werk zu. 26 über Hanns Rückert, Walter Dreß, F. Fischer, H. G. Opitz, W. Eltester s. Kürschners Gelehrtenkalender.
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Als Erich Seeberg gegen Ende des Krieges 1945 starb, stand die Theologische Fakultät in Berlin und vor allem die Kirchengeschichte vor Trümmern. Die namhaften bedeutenden Forscher waren dahingegangen, die Nachfolge war nicht rechtzeitig gesichert, der Nachwuchs völlig dezimiert. Das Werk eines Harnack, Holl und Lietzmann, dieses Dreigestirns am Firmament der Kirchengeschichte,war zwar nicht zu zerschlagen, aber seine Fortführung war in Frage gestellt. Wer konnte dieses Werk, das im Wesentlichen nicht nur mit der Universität, sondern auch mit der Preußischen Akademie der Wissenschaften verbunden war, in gleicher Weise fortführen ? War die Zeit der großen Kirchenhistoriker schon vorüber ?
WALTER KÜNNETH
DIE TECHNIK ALS ANTHROPOLOGISCH-ETHISCHES PROBLEM Wenn wir uns auf Technik als Wirklichkeit unserer Existenz in grundsätzlich-ethischer Überlegung besinnen, dann sind es zunächst drei Eindrücke, die unsere Gedanken beherrschen. Technik ist unser modernes Schicksal geworden, das unwiderruflich und unerbittlich unser Dasein heute formt. Eigentlich erscheint es als eine Banalität, davon zu sprechen, da die »technische Welt« unsere generellen vorausgegebenen Daseinsbeziehungen darstellt. Ohne technische Hilfsmittel könnten wir ja unsere gegenwärtige Existenz nicht bewältigen. Dieses technische Schicksal besagt die Einleitung einer modernen Weltverwandlung, einer existentiellen Metamorphose, einer elementaren Veränderung des Angesichts der Welt und der menschlichen Lebensbedingungen. Symbolhaft sind nicht nur die Fabrikanlagen und physikalisch-chemischen Laboratorien, sondern auch die Technisierung der Bauernhöfe, der landwirtschaftlichen Betriebe, welche einst Ausdruck einer Symbiose von menschlicher Arbeit und organischem Wachstum repräsentierten. Jetzt aber zeigt sich uns hier der Ersatz menschlicher und tierischer Kraft durch Traktoren; die Urgewalt der Veränderung rührt auch hier an die Fundamente der Existenz. Technik bedeutet sodann den Triumph menschlicher Leistung. Im Gegensatz zu den Mächten der Natur erhebt sich die Technik als die überlegene Möglichkeit des Menschen, um die Naturkräfte zu bezähmen, sie dem menschlichen Willen zu unterwerfen. Das Staunen über die Wunderdinge der Technik ist begreiflich, denn sie erleichtern die menschliche Arbeit und nehmen zugleich die Sorge um eine Fülle unentbehrlicher lebensnotwendiger Dinge ab. Demgemäß kommt der Technik ein außergewöhnlicher Erlebniswert zu. So korrespondiert der Entwicklung der Technik der moderne Fortschrittsglaube. Die Erhöhung des Lebensstandards, die Erfüllung der Lebensbedürfnisse, die Vermehrung des Reichtums in einem schier unbegrenzten Zu-
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kunftsaspekt sind damit unablösbar verbunden. Hier meldet sich die Frage, ob nicht in der Technik so etwas wie eine Quelle des Heils für die Menschheit sich erschlossen habe. Es ist verständlich, daß die Technik Begeisterung, Stolz, Freude begründet und Hoffnung erweckt. Die Technik erscheint aber zugleich auch als ein modernes Ungeheuer. Hier stoßen wir auf die Ahnung des Menschen, mit einer geradezu unheimlichen Macht konfrontiert zu sein. Trotz aller Rationalisierung kommt es auf einmal zur Entdeckung eines irrationalen Faktors in der technisierten Welt. Den modernen Menschen überkommt das bedrückende Gefühl, daß diese technische Macht zur Übermacht werden könnte. Man ist davon im Innersten bewegt, daß Erdsatelliten und Mondraketen auch grauenvolle Perspektiven eröffnen könnten; es ist nicht zu bestreiten, daß jede Berechenbarkeit der Energieumsätze und Kurven durch einen anthropologischen Tatbestand, nämlich durch die Unberechenbarkeit des Menschen selbst, tangiert wird. Infolgedessen wird die technische Weiterentwicklung, die rasante Evolution technischer Möglichkeiten immer zugleich irgendwie als eine Bedrohung des Menschseins und der Menschenwelt empfunden. Aufschlußreich und kennzeichnend ist, daß sich mit der modernen Technik im geheimen eine gewisse Angstpsychose, ein hohes Maß von Skepsis, eine Art Untergangsstimmung verbunden hat. Angesichts dieser Ohnmacht und Hinfälligkeit des Menschen ist es verständlich, daß gerade die geschichtsphilosophische Zeitkritik die technische Welt zum Objekt ihrer Anfragen gemacht hat. So steht die Technik vor uns als ein anthropologisch-ethisches Problem. Will man diese Wirklichkeit in ihrer eigentlichen Tiefendimension erfassen, gilt es, sie in diese ethisch-christliche Perspektive zu rücken. I. D i e e t h i s c h e P r o b l e m a t i k der T e c h n i k Inwiefern hat Technik es überhaupt mit der ethischen Frage zu tun? Stehen wir hier nicht in der Gefahr, allzuschnell bestimmte Kategorien auf ein artfremdes Gebiet, das anderen Gesetzen unterliegt, zu übertragen? Die Technik besitzt doch fraglos einen Instrumentalcharakter, stellt die sinnvoll geordnete Zusammenfassung kleinster und größter Zweckmittel dar, welche — künstlich hergestellt — nur die Rolle einer Vermittlung zu erfüllen haben. So kommt es, daß die moderne Soziologie — wir denken insbesondere an die
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Analysen von Gehlen und Schelsky — die technische Apparatur für wertneutral, für ethisch indifferent erklärt; »die Technik steht jenseits von gut und böse, jenseits von Optimismus und Pessimismus«. Diese These von der »Wertneutralität« der Technik erscheint zunächst einleuchtend und überzeugend. Und doch muß schon hier unsere kritisch-ethische Frage einsetzen. Zwar ist es richtig, daß »Werte« immer bestimmte Zielvorstellungen voraussetzen, denn ohne sie und ohne Sinnaussage gibt es keinen Wert. Wird jedoch Technik abstrakt, losgelöst von jedem Ziel, Sinn und Wert gesehen, so befindet sich die Technik gleichsam im toten Winkel der ethischen Betrachtung. Aber demgegenüber gilt es zu fragen: Ist Technik überhaupt an sich neutral nur als instrumentales Material gegeben, oder ist Technik nicht vielmehr immer mit einem Ziel, einer Aufgabe, einer Wertsetzung verbunden ? Die ethische Grundsatzerkenntnis muß daher in folgender Weise definiert werden: Der Vollzug der Technik ist ohne anthropologische Relation nicht denkbar. Daher gehört die Bezogenheit des Technischen auf den Menschen und umgekehrt das Angewiesensein des Menschen auf die Technik zum Wesen, zur Sache der technischen Wirklichkeit selbst. Hieraus resultieren zwei entscheidende Aussagen. Wesentlich ist einmal die Verhaltensweise des Menschen gegenüber der Technik. Das neutrale Zweckmittel verliert in dem Augenblick seine Wertneutralität, in dem es mit dem Menschen in Berührung kommt, also eine anthropologische Relation setzt. Wenn der Mensch auf den Gebrauch technischer Mittel verzichtet, der Technik ausweicht oder vor ihr flieht, handelt er deshalb keineswegs ethisch, sondern vielleicht töricht, unpraktisch, altmodisch, unter Umständen sogar unethisch, denn der Verzicht auf notwendige technische Hilfsmittel kann verantwortungslos sein und zur Verschuldung führen. Entscheidend bleibt immer das »Wie« der Stellung des Menschen zur Technik, die Art und Weise des Gebrauchs. Damit aber verknüpft sich mit dem technischen Geschehen, das vom Menschen vollzogen wird, ein ethischer Akzent. Der Mensch begegnet der Technik als verantwortliche Persönlichkeit; so kommt es, daß der Mensch selbst den technischen Vorgang zu einem humanen oder unmenschlichen, zu zu einem verantwortungsbewußten oder verantwortungslosen Ereignis verwandelt. Sodann eignet umgekehrt der Technik selbst eine Mächtigkeit, welche nach dem Menschen greift und den Menschen in ihren Bann
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zieht. Jede Maschine, jeder Motor statuiert einen Machtanspruch, ruft den Menschen unter den Einfluß der Technik, übt Anziehung und Wirkungskräfte aus. So mag es kommen, daß der Mensch am Steuerrad seines modernen Wagens beständig zu übersteigertem Tempo, zu Schnelligkeitsrekorden verführt wird. Der Gashebel gewinnt also Gewalt über den Menschen. Durch diesen Vorgang wird sofort die ethische Qualität des Menschen angesprochen. Inzuchtnahme des Willens, Geduld und Rücksichtnahme auf andere werden gefordert. Diese technische Mächtigkeit aber wird unübersehbar und eindrucksvoll in der Zusammenballung der technischen Erscheinungen und Möglichkeiten. Durch diese Entwicklung entsteht die moderne Wirtschaftsmacht, der rationalisierte Wirtschaftsprozeß und schließlich der »technische Staat«, dessen Mächtigkeit sich gerade in der Monopolisierung der technischen Mittel manifestiert. Mit Recht hat man geurteilt, daß der Staat souverän ist, der über die technischen Mittel wie etwa über öl und Atomenergie, verfügt. Angesichts solcher technischer Machtkonzentration erhebt sich die ethische Frage mit unerhörter Dringlichkeit: Wie steht es mit der Verantwortung für diese Mächtigkeit der Technik ? Wie werden diese technischen Potenzen verwendet? Die so gewonnene Erkenntnis ist unbestreitbar: Die Frage der Technik stellt sich wesenhaft als ein anthropologisch-ethisches Problem heraus. II. Die Sinndeutung der Technik Beginnen wir mit einer phänomenologischen Analyse der Technik, so zeichnen sich folgende Wesenszüge der Technik ab: die Technik als das typische zeitgeschichtliche Phänomen der Moderne konzentriert sich als bewußter Gegensatz zur Natur. An Stelle des organischen Wachstums, der biologischen Funktionen, der instinkthaften Daseinsbewältigung, sowie der natürlichen spontanen Genialität des Menschen tritt die Methodik einer rationalen Verfahrensweise, die Gesetzmäßigkeit zweckentsprechender »Mittelhandlung«, für welche die künstliche Herstellung, die Dauerhaftigkeit und Lehrbarkeit kennzeichnend sind. Hier vollzieht sich der großartige Sieg der ratio über den bios, der intellektuellen Berechenbarkeit über die ungewissen Naturphänomene. In der Herausstellung der Grundprinzipien der Technik hat man vor allem auf folgende Momente aufmerksam gemacht: Die Intention
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aller Technik zeigt sich in der Entlastung und Uberbietung der organischen Möglichkeiten des Menschen. Das technische Werkzeug bedeutet daher immer Organersatz, Organentlastung und zugleich Organüberbietung (vgl. Gehlen). Wir haben es demnach mit dem Prinzip der Zerlegung der Arbeit, der Auflösung der einzelnen Handlung in ihre letzten Elemente zu tun. Es geht um die Zerspaltung des Wirkungsvorganges in seine einzelnen Teile, in abstrakte einfache Bestandteile (vgl. Hans Freier: »Theorie des gegenwärtigen Zeitalters«). Dem entspricht das Prinzip der höchsten Wirksamkeit. Der kardinale Imperativ aller Technik kommt darin zum Ausdruck, daß die Herstellung der absolut besten Mittel zur höchstmöglichen Produktionssteigerung gefordert wird. Hier geht es nicht um die wirtschaftliche Zweckmäßigkeit und nicht um den Nutzen im Sinne ökonomischer Wohlfahrt, auch nicht einmal um die eigentliche wirtschaftliche Rentabilität, sondern die technische Leistungshöhe als solche, der technische Maximaleffekt steht zur Diskussion. Charakteristisch ist ferner die damit gegebene notwendige Ausweitungstendenz aller Technik. Sie besitzt ein Gefälle zur Universalität, denn jede technische Erfindung und Erneuerung löst eine Kettenreaktion des Fortschrittes aus. Die Einführung der Maschine besitzt den Trend, immer wieder neue Maschinen zur Ergänzung und Verbesserung zu postulieren und zugleich die gesamte Umwelt in den technischen Wirkungsbereich einzubeziehen. Das Eigengewicht und die Eigengesetzlichkeit des technischen Fortschrittes erscheint hier unabhängig von einem bestimmten Ziel. Für das Phänomen der Technik ist aber vor allem die Erkenntnis ihrer anthropologischen Tiefenschicht bedeutsam. Die technische Distanzierung des Menschen von der Natur besagt nämlich nicht nur eine Entfremdung von der Natur, sondern noch viel mehr eine Dokumentierung der menschlichen Naturüberlegenheit. In dem technischen Gestalten drückt sich der menschliche Trieb zum Schöpferischen aus, erweist sich zutiefst die menschliche Schöpferkraft. In dieser Tiefensicht der Technik offenbart sich das Herrentum des Menschen, die Technik gewinnt hier die Qualität eines Beweismittels für die Herrschaft des Menschen. An dieser Stelle beginnt für uns der eigentliche Kernpunkt des technischen Phänomens. Grundlegend dürfte die Einsicht sein, daß die Technik in dieser Sicht zu einem künstlichen Organ und Instrument
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der Selbstdarstellung des Menschen, zu einem Medium der Selbstbildung, ja der Selbsterkenntnis des Menschen wird. Nach Helmut Schelsky tritt »in der verwandelten Natur, in der technisch-verarbeiteten Natur der Mensch sich selbst gegenüber«. Gerade in diesem Gegenüberstehen zur Natur kommt der Mensch zu seinem eigenen Bewußtsein. Die Anziehungskraft, die »Faszination« der Technik für den Menschen kommt gerade darin zum Ausdruck, daß der Mensch sich selbst, sein Leben, seinen Willen und seine Kraft in der technischen Gestaltung wiedererkennt. Die Perfektion der Technik scheint also in die Lage der menschlichen Wesenserfüllung zu führen, in der sich der Mensch als ein Selbstschöpfer repräsentiert. Die Frage nach der Sinndeutung der Technik verlangt einen kurzen Hinweis auf die jeweilige kulturphilosophische Interpretation der Technik. Die idealistisch-humanistische Kulturlehre ist geneigt, die Technik als eine bloße, äußerliche, zivilisatorische Vervollkommnungserscheinung der Welt zu entwerten. Die technischen Vorgänge scheinen demgemäß gleichsam unterhalb der wirklichen Daseinswerte zu liegen. Man könnte in diesem Zusammenhang von einer wertphilosophischen Degradierung der Technik sprechen. Daneben steht das materialistisch-utilitaristische Verständnis der Technik als Erfüllung einer reinen Zweckaufgabe. Mit dieser Deutung verbindet sich eine grundsätzliche Entethisierung des Technischen. Geht es nur um Nutzen und Eudämonismus, dann ist der sittliche Sinn des Technischen in Frage gestellt. Zum dritten ist auf die teleologische Deutung der Technik nach Oswald Spengler hinzuweisen (»Der Mensch und die Technik«, 1931). Spengler vollzieht eine Generalisierung des Begriffes der Technik und redet morphologisch von einer »Gattungstechnik der Tierwelt«. Technik erscheint ursprünglich als eine naturnotwendige Kampfmaßnahme, denn sie ist eigentlich nichts weiter als der Grundvollzug des physischorganisch-animalischen Lebensvorganges. Sie gibt es analog der Technik der Tiere, durch welche sie sich in Anpassung und Abwehr zu behaupten versuchen, eine Technik des Menschen als eine Taktik der Lebensbewältigung. Dazu tritt noch endlich die soziologische Deutung. Hier enthüllt sich die technisierte Welt als die neue Wirklichkeit, der alles menschliche Sein in radikaler Umgestaltung unterworfen ist. Mit der mo-
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dernen Technik ereignet sich der Beginn eines neuen Daseinsverständnisses; eine neue »Kulturschwelle« wird hier sichtbar, in den technischen Sog wird alles hineingerissen und verwandelt. So kommt es zu einer totalen Veränderung der früheren Stände, der Bürger, Bauern, des Adels, der Offiziere. Es entsteht dagegen ein neuer Menschentypus, der homo oeconomicus. »Zwischen der Entwicklung der Technik und der Entwicklung eines neuen Menschheitstypus besteht ein Korrelatsverhältnis.« »Die Gestalt des Arbeiters ist maßgebend« (Ernst Jünger). Ausdruck für die neue Situation ist die Veränderung der Arbeitsweise, des Arbeitsmaterials und Arbeitssinnes. Nur von der Technik her kann das moderne Dasein begriffen werden. So wird die Technik »zur Mobilisierung der Welt durch die Gestalt des Arbeiters«. Für die so sich entwickelnde »technische Gesellschaft« erweist sich zugleich eine neue Wertskala als notwendig und verbindlich (Karl Janssen). Es dürfte klar sein, daß angesichts dieser Stimmen und Deutungen die Frage besonders bedeutungsvoll erscheint, in welcher Weise die Technik in christlicher Perspektive zu beurteilen ist. Was bedeutet dieser neue Aspekt ? Zunächst gilt es eine Warnung vor einer Fehldeutung der Technik auszusprechen, die dann akut wird, wenn christlicher Glaube in einer zu unmittelbaren Verbindung mit dem antiken Humanismus oder einer zeitgeschichtlich bedingten Wertphilosophie gesehen wird. Die christliche Glaubenserkenntnis ist jedoch umgekehrt keineswegs dualistisch, antiphysisch oder antimateriell orientiert, so daß eine vorschnelle Distanzierung von der Technik auf Grund einer spiritualistischen Abwertung nicht vollzogen werden kann. In biblisch-christlicher Sicht ergibt sich eine Doppelerkenntnis, wie sie für jede christliche Sozialethik von eminentem Gewicht ist. Zum ersten: sofern das kosmische Universum mit seinen Energiequellen als Schöpfungswelt Gottes begriffen wird, muß auch die Technik wesensmäßig in diese Gottesrelation gerückt werden; dadurch tritt also die Technik unter eine metaphysische Perspektive. Damit ist gesagt, daß sie als ein bewußtes und gezieltes Werk an der schon vorausgegebenen Gestaltung und dem Energiereichtum der göttlichen Schöpfungswelt zu begreifen ist. Technik manifestiert sich damit aber zugleich als Entfaltung, Darstellung und Ertrag der in die Schöpfung gelegten Potentialitäten der Naturelemente. Aus diesem Verständnis ergibt sich, daß der Mensch selbst von Gott dem Schöpfer zu diesem tech-
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nischen Werk bevollmächtigt wird. Der Mensch ist somit eingesetzt als Herr zur Bezähmung der Naturkräfte, als Verwalter, Statthalter der kosmischen Energien, ist von Gott berufen, als »technischer Mensch« an der Ausformung der Schöpfung »schöpferisch« tätig zu sein. Das christliche Ja zur Technik ist unüberhörbar. Zum zweiten: Sofern diese raumzeitliche Weltwirklichkeit jedoch als eine »gefallene Schöpfung« zu bezeichnen ist, als eine von Gott losgelöste und daher in Unordnung geratene Welt, darf nicht übersehen werden, daß auch die Technik an dem Fluchcharakter des Falles Anteil hat. Das »Ja« zur Technik wird demnach limitiert und relativiert. Daraus ergibt sich, daß Technik immer ein unvollkommenes, von Zerstörung und Entartung bedrohtes Werk an der Schöpfung darstellt und keine reine, dem Erhaltungswillen Gottes adäquate Explikation des Schöpfungsreichtumes repräsentiert. Die Technik und der technische Mensch befinden sich daher in der Geschichte grundsätzlich im Schatten des Nichtseinsollenden. Dialektisch entspricht daher dem Ja das »Nein« dieser Grenzerkenntnis.
III. D i e T e c h n i k im K r a f t f e l d der V e r a n t w o r t u n g Mit dieser Thematik kommen wir zu der entscheidenden Aussage. An erster Stelle muß die Bedrohung des Menschenbildes durch die Technik, auf die schon oben hingewiesen wurde, in das Bewußtsein gerückt werden. Ausgangspunkt unserer Überlegung ist folgende unbestreitbare soziologische Einsicht: Die moderne Legitimität der Technik erweist sich in ihrem optimalen Funktionieren; dieser maximale Leistungswille ist jedoch unabhängig von den Wertvorstellungen, Ideologien und menschlichen Zielsetzungen. Das »technische Argument« bedarf keiner Ideologie, weil es sich selbst durchsetzt. Man hat daher formuliert: »Je besser die Technik, desto weniger Entscheidung.« Damit wird zum Ausdruck gebracht, daß die Dominanz der Technik zu einem Minimum anthropologischer Möglichkeiten führt und den Spielraum des menschlichen Verhaltens progressiv einengt. So kommt es zu dem Angriff der Technik auf das Menschenbild, das sich ihren Anforderungen unterwerfen und anpassen muß. Die Konturen des »funktionalen« Menschen, das heißt des Menschen, der selbst in die technische Apparatur eingebaut ist und entsprechend
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der technischen Gesetzmäßigkeiten »funktioniert«, sind durch folgende Momente bestimmt: Einmal handelt es sich um die Anerkennung des Primates des Technischen vor allen anderen menschlich-ethischen Bezügen. An der Norm der technisch-zweckmäßigen und reibungslosen Tätigkeit wird die Umwelt, auch die menschliche Existenz gemessen. Damit wird durch den Menschen selbst die »Technokratie« in den Sattel gehoben und als allein gültige Machtinstitution anerkannt. Sodann erscheinen die Funktionäre, Agenten und Manager dieser Apparaturgesetzlichkeit und technischen Regierungsmaschinerie als die funktionalen Menschen, welche als Fachleute und Spezialisten der Organisation den technischen Willen, ohne jede hemmende Reflexion auf das Menschenleben, ausführen. Schließlich wird der Mensch selbst durch diese technische Methodik zum Objekt technischer Maßnahmen, da der Mensch naturaliter dem Anspruch der Technik nicht immer gewachsen sein kann. Dieser technische Anspruch ist aber nur dann realisierbar, wenn der Persönlichkeitskern selbst technisch beeinflußt wird. Daher gibt es eine »Technik der Moral«, welche die Aufgabe hat, den Menschen selbst technisch zu steuern, durch eine moralische Außenlenkung technisch zu bearbeiten. Es kommt also darauf an, durch Einsatz technischer Mittel die Leistungsmoral des Menschen zu beeinflussen und die psychologischen Voraussetzungen zu schaffen, um einen höchstmöglichen Arbeitseffekt zu gewährleisten (vgl. Die moderne Human RelationTechnik). Das Ergebnis dieser absoluten Technisierung stellt sich als eine permanente Zerstörung des Menschenbildes heraus. Schon die Umschaltung der Erlebniswerte vom Geistigen, vom Geschichtlichen, von den Überlieferungswerten auf das rein Technische erscheint weithin typisch für die heutige junge Generation und führt zu einer Interessenkrise und einer bildungsmäßigen Akzentverlagerung, auf deren pädagogische Bedeutung Karl Janssen aufmerksam gemacht hat. Es ist bekannt, daß damit das Problem der »technischen Erziehung« akut wird, das in Sowjetrußland, ideologisch unterbaut, eine zentrale Stellung einnimmt. Damit aber stellt sich die Gefahr der Vermassung, der Kollektivierung, der Entpersönlichung und Entseelung heraus. Es kommt zu der für die Moderne so charakteristischen Vereinerleiung des Beson-
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deren und zur Nivellierung des Individuellen. Kennzeichnend ist die Entstehung einer Seelensituation, in welcher der Mensch einerseits aufgeht in Betriebsamkeit, Tempo und Gewinnstreben, in der andererseits aber eine Gewissensschrumpfung, eine Lähmung und der Verlust persönlicher Entscheidungsfreiheit die menschliche Existenz überschatten. Auch hier stoßen wir auf die Momente einer verabsolutierten Technik, auf ihre »ausbeutende Wirkung«, welche die Fülle menschlicher Möglichkeiten und Freiheiten begrenzt und korrumpiert und Zeit und Kraft für andere Bedürfnisse und Aufgaben entzieht, weil der Mensch ja selbst eine optimal arbeitende Maschine werden soll. Das Resultat hat E. Jünger in folgendem Urteil zusammengefaßt: »Die Technik hat in ihrer Perfektion den Menschen selbst so verändert, daß er ihr nicht mehr gewachsen ist.« »Durch die Technik kann man zwar Perfektion der dinglichen Leistung gewinnen, nie aber Reife.« Damit ist ausgesprochen, daß das entscheidende Lebensziel durch die Vervollkommnung der Technik verfehlt wird. So kommt es vielmehr zu einer Entfremdung des Menschen von sich selbst, zum Verlust des sinnvollen Menschseins. Diese technische Offensive gegen das Bild des Menschen treibt zur Frage nach der Humanisierung der Technik. Unsere These behauptet die unlösbare Verknüpfung der Technik mit einer bestimmten Wertvorstellung, mit der Orientierung an einem sinnvollen Ziel und Telos. Diese Zielsetzung aber muß in der »Menschenhilfe« kulminieren. Infolgedessen trägt die Technik im Kraftfeld der christlichen Verantwortung einen Dienstcharakter. Es geht darum, durch den Sachvollzug technischer Möglichkeiten in Emanzipation von den natürlichen organischen Schranken, die Lebensnot der Menschheit zu bekämpfen, die Bedürfnisdeckung zu verbessern und zu beschleunigen. In diesem Sinne gewinnt die Technik die Qualität einer Funktion der Nächstenhilfe, erscheint sie als ein Ermöglichungsgrund des sozialen Fortschrittes. Ebenso trägt aber auch die Technik den legitimen Charakter einer Herrschaftsfunktion. Es handelt sich um den elementaren Dienst, durch Erfindung und Experimente die Naturkräfte dem Menschen zu unterwerfen. Auch diese instrumentale Funktion der Technik dient dem Menschenverständnis und besagt den Vollzug echter ethischer Verantwortung. Als ethisches Ziel stellt sich auch hier der Dienst des Menschen an der »Erhaltungsordnung Gottes« heraus.
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Von höchstem Interesse aber ist das spezifische personelle Postulat als Charakteristikum der rationalisierten und automatisierten Technik der Moderne. Ursprünglich glaubte man von der »geistlosen« Tätigkeit im Vollzug der technischen Arbeit reden zu müssen. Heute aber fordert gerade die Differenziertheit, Kompliziertheit und Variabilität fortgesetzt neuer technischer Möglichkeiten und Aufgaben in höchstem Maße den Einsatz der verantwortungsbewußten Persönlichkeit. Eine das Menschenleben verachtende und zerstörende Technik tötet sich selbst. Gerade das Zurücktreten der groben manuellen Arbeit bei fortschreitender Perfektion der Automatisierung enthüllt eine höchste Spannweite seelisch-charakterlicher Anforderungen. Die Feinheit der Mechanik und Subtilität der Apparatur, welche zugleich außergewöhnliche Sachwerte verkörpert, verlangen eine Steigerung der persönlichen Verantwortung in der Handhabung, Schonung und Reparatur der Maschinen. Ihre Bedienung selbst ruft zur Aufmerksamkeit, Konzentration und Anspannung der Nerven und seelischen Kräfte. Auch hier liegt auf der innersten Steuerung durch eine verantwortliche Gewissenhaftigkeit ein entscheidender Akzent. So ruft gerade auch die Spezialisierung des Technischen nach der Eigenständigkeit der individuellen Persönlichkeit, die eben letztlich nicht austauschbar und nicht leicht ersetzbar ist. Hieraus ergibt sich eine Feststellung von weittragender ethischer Wichtigkeit und Konsequenz. Die industriell technisierte und vollautomatisierte Arbeit befindet sich in einer vitalen existentiellen Beziehung zum Menschen als einer freien verantwortlichen Persönlichkeit, sie fordert Arbeitsdisziplin und Arbeitsmoral, eine bewußte Wachheit und Reife, persönliche Entscheidung; sie steht im Kontrast zu der Vorstellung des Menschen als eines willenlosen Werkzeuges, in Distanz zum Pseudomenschen der bloßen Funktionstüchtigkeit und zur Idee eines technischen »Arbeitssklaven«. Auf Grund aller dieser Erwägungen kommen wir zu der Entdeckung, welche erstaunlich und befremdend anmuten mag: Der geheime Angelpunkt der technischen Welt ist der »ethische Mensch«. Technik und Ethos stehen nicht in feindseliger Diastase, sondern in notwendiger Synthese, in lebensvoller Begegnung. Folgende Gesichtspunkte sollen diesen Sachverhalt erläutern. Es ist ein Irrtum zu meinen, daß durch die Technik das Ethos verdrängt oder abgewertet werden könnte. Auch die Soziologie er-
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kennt: »Die menschlichen Entscheidungen liegen vor der Technik, sie sind nicht aus der Technik ableitbar.« Es gibt demnach keine technische Determination der ethischen Inhalte und Werte oder der sozialen Verhältnisse und Aufgaben. Die ethische Dimension wird durch die uneingeschränkte technische Horizonterweiterung nicht aufgehoben, aber die ethische Vertikale tangiert die technische Zone in jedem Augenblick ihres Vollzuges. Umgekehrt besitzt die Technik, wie es H. Schelsky einmal formulierte, einen ethischen »Appellcharakter«. Die technischen Verpflichtungen lassen an die Gestaltungskräfte und das Verantwortungsbewußtsein des Menschen einen Anruf ergehen. So ist die menschliche Gesellschaft gefordert, immer aufs neue moralisch und geistig die technische Sphäre zu bewältigen. Was aber bedeutet im speziellen die ethische Verantwortlichkeit des Menschen im Räume der modernen Technik ? Folgende Richtpunkte dürfen nicht aus dem Blickfeld entschwinden : Zunächst ist der Gebrauch der technischen Mittel bestimmt durch die Relation zur eigenen handelnden individuellen Persönlichkeit. Die persönliche Verantwortung des Menschen für sich selbst darf nicht ausgeschaltet werden. Zum anderen ist der technische Vorgang ausgerichtet und begrenzt und zugleich korrigiert durch die Relation zum Mitmenschen. Hier wird die Frage nach der Förderung oder Schädigung des Nächsten brennend. Schließlich ist die verantwortliche Haltung normiert durch die Sachaufgabe und den Sachdienst, welcher durch technische Vermittlung dem Erhaltungswillen Gottes in dieser der Mammonisierung und Vergötzung ausgesetzten Ding- und Menschenwelt Gehorsam leisten will. So verstanden, ist die unerläßliche Humanisierung der Technik gleichbedeutend mit ihrer Ethisierung, mit dem Wirksamwerden der Verantwortlichkeit des Menschen. Die innere geistige Thematik des technischen Phänomens ist durch die anthropologische Sicht gekennzeichnet. Wir haben die auffallende Feststellung kennengelernt, daß auch im Urteil der modernen Soziologie über die Technik dem Menschenverständnis eine zentrale Stellung eingeräumt wird.Freilich gibt es mannigfache Konzeptionen über den Menschen, die sich mit dem abstrakten Begriff der Humanität begnügen. Dieser unverbindlichen Nivellierungstendenz gegenüber, die unscharf und verschwommen von dem humanum redet, gilt es die
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Technik in das Licht christlich-ethischer Entscheidung zu stellen. Das bedeutet keineswegs Preisgabe der Technik an eine Säkularisierung, sondern umgekehrt das Geltendmachen ihrer entscheidenden Gottesrelation. Auch die Technik kann zu einer Manifestation des biblischen Weltverständnisses, zu einer Demonstration einer neuen Weltordnung werden. Ethische Aufgabe wird es sein, diese neue, durch die Technik bestimmte Lebensform aus christlicher Verantwortlichkeit heraus zu gestalten; dabei ist zugleich vor der Utopie zu warnen, als ob technische Errungenschaften in ihrer futurischen Perfektion die Sinnfrage des Lebens beantworten könnten. Vielmehr muß erkannt werden, daß die Technik ihrerseits die Frage nach echter Sinnerfüllung der Existenz des Menschen aufwirft. Die geistige Bewältigung der Fülle der mit der Technik gesetzten persönlich-menschlichen und zugleich sachlichen Probleme ist abhängig von der innersten geistig-ethischen Substanz des Menschen. Die Entscheidungsfrage muß daher lauten: Was ist der Mensch? Gehört er nur als ein Glied in einen gewaltigen technischen Entwicklungsprozeß hinein, oder steht er zugleich als »Ebenbild Gottes« mit bewußter Verantwortung ihm gegenüber ? Das ist die Frage, der niemand persönlich auszuweichen vermag. An ihr entscheidet sich das Schicksal des Menschen und zugleich das Schicksal der Technik.
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RECHTS- UND STAATSWISSENSCHAFTEN
CARL A U G U S T
EMGE
ERINNERUNGEN EINES RECHTSPHILOSOPHEN AN DIE UMWEGE, DIE SICH SCHLIESSLICH DOCH ALS ZUGÄNGE NACH BERLIN ERWIESEN, AN DIE DORTIGE RECHTSPHILOSOPHISCHE SITUATION UND AUSBLICKE AUF UTOPIA »piscis
hic non est
omnium«
Wer seine wesentlichen Unterlagen verloren hat, und nun Erinnerungen wagt, läuft Gefahr, daß er sich in Manchem irrt. Aber solche Täuschungen können gerade dann, wenn sie laut werden, leicht berichtigt werden. Auch sind wir der Ansicht, daß die Uberlebenden dazu beitragen sollten, die letzten Jahrzehnte nach den verschiedensten Hinsichten aufzuhellen; dies natürlich nicht moralisch verstanden. Freilich müssen hier die rein politischen Dinge, soweit sie aus dem kleinen Winkel sichtbar wurden, ebenso ausgeschaltet bleiben wie ganze Massen überwiegend erfreulichen Erinnerungsstoffs aus dem Baltikum, über das nach -nach Goethesche Weimar mit seinen kulturellen Centren, über den der Wissenschaft gegenüber verantwortlichen Akademiekreis in Berlin. Hierfür bedürfe es auch der Belege über viele Einzeltatsachen, die jedenfalls zur Zeit nicht zur Verfügung stehen. Dazu kommt nun noch eine besondere Problematik : Wer sich gedanklich um die Erfassung einer Situation bemüht, worin er selbst nicht nur gestanden sondern sich betätigt also auch wohl so oder so gewirkt hat, gerät unvermeidlich in dialektische Positionen. Man braucht dabei für diese Einsicht weder Hegelianer zu sein noch Relativist. Wenn, wie wir aus logischen Gründen überzeugt sind, der Gegensatz von Individuum und einem beliebigen Collektiv, dem jenes angehört, nur mit Hilfe eines Prinzips fixiert werden kann, dessen Anwendung uns selbst, dem Individuum weitgehend frei steht, so müssen die die Situation beherrschenden soziologischen Umstände zu »Momenten« werden, denen auch jenes, so
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oder so verstanden, notwendig unterworfen ist. Dazu kommt, daß der dem Gedanken unerschöpfliche funktionelle Zusammenhang, wovon das Soziologische nur das bedeutet, was unter der soziologischen Kategorie steht, den Einzelnen, der sich um ihn bemüht, wirklich nur als einen »Modus« erscheinen läßt. Wir haben die dialektische Position im Kraftfeld der aneinander gespannten logisch-ontischen Momente: des denkenden Subjekts und des zu denkenden, richtig zu denkenden Objekts, eben der »Situation« jener Zeit. Man kann sich weder dagegen wehren, zu diesem Objekt zu gehören, denn man steht ja in diesem drin, macht es mit aus; noch kann man es selbst restlos »unter das Objektiv« nehmen, um sich von ihm Rechenschaft zu geben, »Logon didonai«. Der Modus der Selbstverständlichkeit wäre dann aufgegeben. — Man befindet sich dazu in einer weiteren dialektischen Position, insofern als die Situation ja kein »mit dem Beil abgehauenes« Bruchstück ist, sondern als die Situation eine von uns vorgenommene Ansichsetzung, begriffliche Isolierung eines dafür geschaffenen »Zeitpunkts«: »damals«! Während in Wirklichkeit die Zeit stetig aus einem für den Gedanken unvollendbaren Früheren ebenso sehr unvollendbar in die Zukunft reicht und jeder Zeitpunkt diese anticipierend mit sich in die Vergangenheit hinabzieht. Man kommt also insofern nicht ohne willkürliche Discretionen aus, deren ursprünglichstes und immer unumgängliches Muster ja die Discretionen durch die Wörter der Sprache sind, indisch: »Naman«. Dazu muß der Versuch, eine Situation zu erfassen, stets ein untauglicher Versuch bleiben, ein Ganzes zu ergreifen. Ein Glied aus der Reihe der Versuche, deren gefährliche Auswirkung wir ja im Gefolge »idealistischer« Systeme, des Marxismus und anderer teleologischer Geschichtsphilosophien noch am eigenen Leibe verspüren. Man übernimmt sich dabei notwendig. Es scheint so, als ob das »Ding an sich« zurückschlüge und uns des Gesichts beraube. Vielleicht hat aus einem Gefühl hierfür Kant als Kritizist dieses geschichtsphilosophische Wagnis nie recht auf sich genommen. Hinzu kommt, daß der Versuch dazu ja niemals unternommen werden kann von einem makrokosmischen »Weltauge«, einem dann wirklich »weit- und erdgemäßem« Organ, sondern von einem Menschen, der ja auch im Theoretischen, ob er will oder nicht, Haltung an oder Verantwortung auf sich nimmt, insofern er sich als Früheren ins Licht oder Dunkel damaliger Verantwortung rückt. Eine teleologische, ja rechtsdogmatische, jeweils nur für das
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Zukünftige sinnvolle Bestimmung schleicht sich notwendig ins Historische ein. Ein Zustand, der uns nötigt, diesen Rückblick mit einem Ausblick zu verbinden. Unter wissenssoziologischem Gesichtspunkt kann man die Lage, woraus der Gedanke damals anhub, sich etwa im Sinne von Hegels Phänomenologie in Bewegung zu setzen, etwa folgendermaßen schildern1. Man lebte als Jurist im sogenannten »Positivismus«. Das bedeutet, rechtsphilosophisch gesehen, in einem unbewußt aus mannigfachen Quellen gespeisten und gestalteten Rechtsdogmatismus. Das ist natürlich eine einfache Charakterisierung, die noch alles dahin gestellt läßt. Die Wissenschaftlichkeit sowohl als auch den pragmatischen terminus ad quem. Die Einstellung des Verfassers gegenüber dem Positivismus soll ausführlichere Begründung in einer »Philosophie der Rechtswissenschaft« finden, die sich z. Zt. für die Sammlung »Erfahrung und Denken« bei Duncker und Humblot im Druck befindet. Stimmungsmäßig aber mag es erlaubt sein, folgende von dritter Seite aus dem sog. Aphorismenbuch (Archiv f. Rechts- und Sozialphilosophie, Jahrg. 1942) herausgegriffene Stellen anzuführen. Um die Atmosphäre zu bereiten, aus der man das nur kurz Skizzierte am leichtesten auffaßt. Einstellungen eines Autors wie solche des Lesers leben entscheidend eben doch von irrationalen Momenten, wozu Überzeugungen ja sogar Evidenzgefühle gehören. Die Stellen, die durch viele ergänzt werden könnten, lauten: »Der positive Jurist steht Gewehr bei Fuß als Schildwache, vor dem Palais, in denen die Herrscher ermordet werden.« »Juristische Schlagworte umsummen wie Schmeißfliegen gestorbenes Recht.« »Manche Versuche zu einer neuen Gerechtigkeit ergeben bloß einen neuen Pitaval.« »Aufrichtigen Deutschen sind Rechtsgestaltungen untragbar, welche von ihnen ein sacrificium intellectus verlangen.« »Wem man die Füße küßt, dem müssen die Hände gebunden werden.« »Mancher sog. Rechtszustand war in Wirklichkeit Friedhofsruhe, bei der nur noch Hyänen in Gräbern wühlten.« 1
A u s begreiflichen G r ü n d e n werden i m G a n z e n m i t N a m e n nur solche Per-
sönlichkeiten citiert, die sich nicht mehr unter den L e b e n d e n befinden.
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Aus solcher Stimmung gegenüber dem, was man Positivismus nennt, erscheint zwar die Jurisprudenz in einem eigentümlichen Nimbus. Sie bleibt aber ein ewiger Gegenstand der Rechtsphilosophie, Wissenssoziologie, Erkenntnistheorie, der Lehre vom Nutzen und Nachteil von Ideologien, der Geschichte und Rechtspsychologie. Die Jurisprudenz hat ja ihre Funktion. Die unheilvolle Verknüpfung ihrer formellen positiven Struktur mit dem Allerweltsvehikel jener Zeit : dem sog. Wert und als Produkt davon der sog. Wert der Rechtssicherheit dürfen nicht dazu führen, daß man nun übersieht, wie auch die Naturwissenschaft auf Prognosen nach Gesetzen bedacht ist. Daß es auch im sog. Positivismus gerade in jener Zeit eine königliche Rolle der Streitfrage gibt, und damit die Eventualentscheidungen, kurz, die Auswirkung freier, undogmatischer Gedankenbewegung in einer bestimmten Dimension. Der sog. Rechtspositivismus hat es stets verstanden, die Flexibilité en raison mit der Fermeté en cceur zu verbinden, um eine Maxime Chamforts auf unserem Gebiete anzuwenden. Auch zeigt sich die Genialität im spezifisch Wissenschaftlichen des positiven Syntagmas überall in echt philosophischer Intentio, die, freilich unbewußt wirksam, dazu führt, daß bleibende Königreiche anstatt Eselinnen gefunden werden. Dieses Unbewußte, wenn auch schöpferisch Dogmatische war freilich ungerecht wie jeder Dogmatismus. Vor allem hatte das Naturrecht »seinen Lohn dahin«. Man fühlte sich ihm nicht verpflichtet. In paradoxem Verhältnis zu dieser Feststellung aber bedeutete die Systematik, genauer: das systematische Anpacken, Aufrollen der Probleme angesichts und im Gegensatz zu allem bloß »Gegebenen«, die Begründung, Fixierung, Entfaltung eines Begriffs, dies an Hand des gedanklich rezipierten, mehrfach durchgekneteten römischen Rechts — eines vielfach mißverstandenen Rechts —-, der im Naturrecht mit bekannter später in den sog. idealistischen Systemen expressis verbis zu Tage tretende Eros zum System trotzdem das anerkannte Signum der Wissenschaftlichkeit. Sie dokumentierte, im Unterschied zum eingepaukten Wissen, daß man das gedankliche Aufrollen einer rechtlichen Streitlage gründlich vorzunehmen verstand. Dieses auch humanistische Signum lehrt rechtssoziologisch, daß auch der Positivist mehr philosophisch beeinflußt war, als er ahnte. Daß er kryptologisch Vertreter einer nicht explicit behaupteten rechtsphilosophischen Position war, deren konstituierende Voraussetzungen auch heute noch
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nicht völlig erhellt sind. So lange man nicht das Recht automatisch aus dem Gesetz oder im Angelsächsischen aus den Präjudizien zieht, so lange es also den Unterschied zwischen jenen Gegebenheiten mit Anmaßungscharakter und dem Recht als einem Verbindlichen, also mehr als Angemaßtem gibt, bedarf es der Interpretation. Hier liegen die bestimmenden, logisch vorausgehenden Momente, wofür es im letzten keine bindende Anmaßung geben kann. Auf diesem »freien« Bereich herrschte nun beim Positivismus die Konvention unbewußter philosophischer Teleologie, wobei es gleichgültig ist, ob man von einer so oder so verstandenen Bindung ans Gesetz oder an Vorentscheidungen denkt, deren richtunggebender teleologischer Sinn mit dem Neuen »identisch« sein soll. Dieses ausgesprochen ideologische Moment am Positivismus zeigt sich auch darin, daß man die juristischen Tatsachen nicht etwa primär vermittels juristisch-soziologischer Aprioritäten (was unvermeidlich ist) lehrte:das was »geschieht«, worauf sich also als Gegenstand die Rechtsnormen beziehen, sondern das Gedankengefüge als terminus a quo für jene Tatsachen. So lernte man, was eine Hypothek war, nicht mit Hilfe jener unvermeidlichen Aprioritäten bei einem Hypothekenmakler kennen, sondern erschloß Sinn und Zweck, die Funktion erst aus dem Syntagma des Sachenrechtssystems. »Da haben wir also solche Begriffe und Normen, ergo werden wohl derartige Bedürfnisse, Mißstände usw. bestehen oder bestanden haben.« Man mußte so die Realitäten »erschließen«. Wobei man fälschlich dann von Möglichkeiten auf Wirklichkeiten schloß, die es gar nicht gab, weil die Systematisierungstendenz ohne Aktualitätsunterschiede Normen offerierte, wofür das praktische Leben keine Tatbestände bot. So hatte damals die »Rechtstatsachenforschung« (Nußbaum u. a.) erst begonnen, jener Rechtsdogmatik das Tatsachencorrelat bereit zu stellen, die reale Quelle der Motive für die Gesetze und den Spiegel ihrer soziologischen Geltung. Da die Rechtstatsachen, die ja stets auch die psychischen Momente: das Bewußte und Unbewußte, das »Behave« wie die Überzeugungen, also die rechtspsychologischen Momente umfassen müssen, Gegenstand der Rechtssoziologie sind, und nicht gesollt, sondern real wirksam das genetische Fundament des ganzen Rechts bedeuten, kann die geringe Rolle, die bei uns, im Gegensatz zum Angelsächsischen und im Institutionalismus der romanischen Länder, vor allem aber im soziologisch eingestellten Osten nach wie vor die Rechtstatsachenforschung im Lehrbetrieb einnimmt, Anlaß zur Sorge sein.
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Im eigentlich Rechtsdogmatischen und Historischen aber hatte gerade jene Zeit, worin wir unsere Ausbildung genießen durften, genug bekundet, wieviel philosophischer Eros sich im anspruchslosen Gewand positivrechtlicher Werke implicit dokumentieren kann 2 . Es waren jene »geniale Rechtsdenker«, die aus ungeahnter philosophischer Tiefe schöpften und jedenfalls damals auch die entsprechenden Tiefenschichten beim Vernehmenden berührten. Man braucht wohl nicht nach anderen Ursachen für die Begeisterung zu suchen, die als Ergebnis wirklicher Ansprache im Tiefsten solche damals noch wirkenden Darstellungen von Persönlichkeiten wie Sohm, Otto v. Gierke, Dernburg, Binding, Liszt, Laband — es sind nur herausgegriffene Namen aus der Fülle, die man damals noch empfand — auslösten. Aus der Perspektive des juristischen Studiums gesehen, war es so, daß die Naturrechtler wohl als interessante Erscheinung, als monstren in loco alieno in der — selten gelesenen — Geschichte der Rechtswissenschaft, in imponierenden Schweinslederbänden vom Katheder aus vorgewiesen wurden, daß jedoch das gewiß reichhaltige Spektrum seiner Bedeutungen, die sich vielfach überschnitten, die mannigfachen Intentionen nur als groteske Phantasien angesehen wurden. Parallel der Tendenz auf anderen Wissenschaftsbereichen, soweit sie nicht in Kurzschlüssen monistische Metaphysiken antizipierten, war der naive Ausgangspunkt, schien als selbstverständliche Voraussetzung ein »unbefangener« Realismus. Ebenso wie dieser annimmt, daß man »das Ding« begrifflich so sicher habe, daß man nun, im Sinne einer heute in der Psychologie längst überwundenen Abstraktionsauffassung, von da aus getrost ins Allgemeine gehen könne, nahm man auch an, daß man das Recht habe, wenn man nur die Bestimmung kenne. Wohlgemerkt »kenne«. Denn auf die alte Einsicht, daß die Behauptung jeder Tatsache bereits Theorie sei, glaubte ja der Empirismus jener Zeit verzichten zu können, insofern er »Gegebenheiten«, »Daten«, Selbstverständlichkeiten so zu Grunde legte, daß er sie der Kritik des Ansatzes entzog. Dabei gab es scharfsinnige Enthüller eingeschmuggelter Unterstellungen, wie etwa Bergbohm, der überall »naturrechtlichen« Prämissen auf die Spur zu kommen suchte. »For I am nothing if not critical.« Ebenso wenig selbstverständlich, sondern nicht aus Gründen, 2
Im Straf- u. Staatsrecht waren allerdings, wie bisher in der Soziologie, philosophische Erwägungen selbstverständlich grundlegend. Warum, wäre eine Frage an die Soziologie der Rechtswissenschaft..
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sondern nur aus wissensoziologischen Zeittendenzen, säkularisiertem Glaubensgut und anderen noch zu ermittelnden Ursachen begreiflich, wie der sog. Positivismus in der Rechtswissenschaft ist die Philosophie der »Allgemeinen Rechtslehre«, an der sich hervorragende Juristen beteiligten und deren Ziel die Errichtung des »höchsten Stockwerks« (Radbruch) des positiven Rechts war. Man geht wohl nicht fehl, wenn man bei solchen Tendenzen überall den Einfluß von J. St. Mill's Logik verspürt. Dieses System war zuerst 1843 erschienen. Wieder ein Beleg dafür, daß philosophische Lehren erst längere Zeit danach, oft, wenn sie in ihrem eigentümlichen Bereich längst als überholt gelten, auf denen der »Bindestrichphilosophien«, wozu ja solche Rechtsphilosophien gehören, eine lange währende Position beziehen. »Bindestrichphilosophien« in diesem Sinne sehen wir dort, wo jemand glaubt, im ¿4wsdenken eines zeitgenössischen oder vergangenen Denkers Philosophisches leisten zu können. Mit einzelwissenschaftlicher Intentio also und nicht mit philosophischem Eros, der sich ja nicht in ein, aus soziologischen Gründen abgestecktes, Einzelgebiet einpferchen läßt. Ein Eros, wie wir ihn gerade bei den Naturrechtlern finden, die deshalb auch auf das ganze Gebiet der sog. praktischen Philosophie und entsprechende Disziplinen befruchtend gewirkt haben. Ein äußeres Anzeichen für solche Bindestrichphilosophien ist meist schon das Zitat, wobei entweder das Weiter- und Ausdenken bekannt wird, so daß man dann jedenfalls die einheitliche Bedeutungsschicht gewahrt sieht oder eklektisch die verschiedenartigsten Denker als Autoren zitiert werden, als ob solche aus verschiedenartigen Systemen herausgerissenen Sätze einander sinnvoll konfrontiert werden könnten! Es war die Zeit der sog. Klassenlogik, die mit Begriffen wie mit Dingen verfährt, die man sicher in der Hand zu haben glaubt. Es bleibt erklärungsbedürftig, wie es kommt, daß Denker, die auf dem Gebiet einer Einzelwissenschaft schöpferisch sind, oft das Gefühl für ihre Heuristik verlieren, sobald sie aus dem Gegenstand jener auch nur etwas zurücktreten. Als ob es ein Trauma durch die Philosophie gegeben hätte! Keineswegs nach Art jener überholter Logiker geht der schöpferische Jurist vor, wenn er, um z. B. die Rechtsgeschäfte wissenschaftlich in den Griff zu bekommen, den Begriff der Willenserklärung als sinnvolle Hypothesis versucht; und so geht es überall zu, wo ein juristisches System mit früheren, in ihm im Hegeischen Sinne »aufgehobenen« Vorstadien einen »immanenten« Fortschritt aufweist. Dieses Vorgehen aber wird
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vergessen, sobald man sich »von unten«, dem angeblich sicheren Stoff aus ins Philosophische begibt. Da sieht man dann feste Schachteln als Behälter von Teilmengen in immer größeren stabil verpackt. Daß solche Bemerkungen nur die Methode, die Tendenz und nicht die überall anzutreffenden genialen Einsichten vor Repräsentanten der Allgemeinen Rechtslehre wie Bierling, Adolf Merkel, Binding u. a. treffen sollen, muß noch einmal bemerkt werden. Die fruchtbare Quelle, woraus der rechtsphilosophische Gedanke sich immer wieder erfrischt, für den Positivisten freilich daher auch die Crux, ist die Verschiedenheit der Begriffe Gesetz und Recht oder um es ganz allgemein, für jedes Recht gültig zu formulieren, vom Heteronomen, der in Gesetz, Gewohnheit, Präjudiz, Auffassung, Dogma enthaltenen Anmaßung, der bewußten oder unbewußten Unterstellung und der an solchen Gegebenheiten zu erschließenden wirklich maßgeblichen Verbindlichkeit, genannt Recht. Immer wieder sehen wir daher, wie sich bei der Frage der Interpretation der rechtsphilosophische Eros entzündet. Zunächst freilich das Übliche, daß die Orientierung e contrario das zu Bekämpfende weiter in Führerrolle zeigt. Es kommt nicht zu einer anderen begrifflichen Dimension. Die Gegnerschaft bleibt weiter in derselben Ebene. So gelangen sowohl die Freirechtsbewegung, durch die so radikal anmutenden Vorstöße von H. U. Kantorowicz 3 , Ernst Fuchs und anderen ebenso wenig aus dem Positivismus heraus, wie in ihrer Folge die gemäßigteren Bestrebungen aus dem Kreis von »Wirtschaft und Recht« und schließlich die sog. Interessenjurisprudenz4. Daß anstelle »äußerer« Gegebenheiten, des Heteronomen, das zunächst stets bloß faktisch belegt, die »inneren« Gegebenheiten, des Autonomen, das heißt solche aus psychischen Quellen, in irgend welcher »Schicht« der Persönlichkeit treten, die »Überzeugung«, die ja schon als Entscheidungsgrund in Zeiten einheitlicher traditionsgebundener Geistesverfassung wesentlich war, läßt die Problematik von der »Normativität« und auch »Permittivität« also der Maßgeblichkeit des Faktischen nicht aus diesem heraus. Man sieht auch heute noch nicht ein, daß es Anmaßung bleibt, ob eine Forderang von einem Anderen an uns oder von uns an uns selbst geht. Der Sinn des Autonomiebegriffs liegt nicht dort, wo ihn Liberalismus, Anarchismus und die höheren Gnaeus Flavius, Der Kampf um die Rechtswissenschaft. 1905. Eine vorzügliche Zusammenstellung aller dieser Tendenzen heute bei Carl Engisch in seiner Einführung in das juristische Denken (Urbanbücherei). 3
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Formen der Verantwortungsfreudigkeit gern sehen wollen. Er bedeutet nichts als Auetor einer Norm statt einer Anmaßung, jedoch das Letzte für die Realisierung der Gemäßheit, der faktischen, der Norm entsprechenden Richtung nach dem Inhalt der Richtschnur. Die Bestrebungen aus dem Kreis von »Wirtschaft und Recht« hatten mannigfache Ursachen. Sie waren gegen schlecht abstrakte Begriffsjurisprudenz gerichtet, ließen gegenüber entworfenem Norminhalt die Fülle der Wirklichkeit aufleuchten, freilich, wie bereits der verbindende Namen zeigt, von der Interessensphäre aus, die schon damals allen persönlichen Momenten gegenüber in dem Vordergrund stand. Ganz deutlich wird nun bei dem jetzt erwähnten Interessenbegriff, auch wenn man die einer Zeit als »höchste« vorgehaltenen und offiziell gepriesenen Interessen sog. geistiger oder seelischer Art hinzunimmt, daß es wie beim »Zweck« um Erfüllungen nur faktisch beschreibbarer Anmaßungen von Einzelnen, Gruppen, in unendlich bedingter historischer Situation geht. Man muß darauf hinweisen, daß es wie beim Zweck, so auch beim Interesse (beide zeigen nur Nuancen in ihrer Differenz) neben ihrer Tatsächlichkeit auch ihre Richtigkeit gibt, daß es den Zweck im Faktischen erst selbst von Unangemaßtem aus zu richten gibt. Was niemals einfach so geschehen kann, daß man Widersprüche im Faktischen vermeidet. Es gibt stets viele Möglichkeiten, durch Über- und Unterordnung Verträglichkeiten herzustellen. Immerhin verdanken wir jenen Gegenpositionen gegenüber der konventionellen Interpretation, daß nun der »Geist als Wühler« über jede positivistische Position hinausstrebte. Die konfessionelle Rechtslehre, insbesondere des katholischen Naturrechts hatte ja nie übersehen, daß Anmaßungen allein nicht verpflichten können, daß es wirklich eines im Direktiven »höheren« Prinzips bedarf, um aus Gesetzen Recht werden zu lassen. Daß dabei der Situationsbegriff nicht zu seinem Rechte kam, ebenso wenig wie bei den konventionellen Moralen, war nach den »inhaltlichen« Normen des unkritischen Naturrechts ebenso wenig verwunderlich, wie daß es bei den Schablonen inhaltsarmer Tugend- und Wertlehren blieb. Wissenssoziologisch gesehen, kann man bei den Vertretern der Allgemeinen Rechtslehre nicht eigentlich von »Schule« sprechen. Sie waren wohl dafür zu stark in ihrer Einzeldisziplin verwurzelt, wo sie ja besonders Hervorragendes leisteten. — Nun aber sehen wir eine eigentliche Schulbildung einsetzen. Die »Freirechtler« möchte man schon dazu rechnen. Die sog. Tübinger waren sich selbst dieses Charakters
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bewußt. Als Selbstverständlichkeit bei den religiös dogmatisch gebundenen Richtungen. Unter dem Gesichtspunkt der Schulbildung taucht das Problem auf, ob etwa eine Wesensart des Syntagmas hierbei entscheidend, gegenüber aller persönlichen Initiative mitwirkt. Da haben wir nun an der Spitze die wirklichen »Hegelianer«. Nicht die damals so rege wirkende, sich Neuhegelianer nennende, von Kohler und Berolzheimer ausgehende Richtung dahingehend, die Fülle rechtsvergleichenden Materials ideenmäßig zu erfassen, kommt dabei in Frage. Sie lehnte ja gerade dasjenige ab, wohin in zunehmendem Maße die Gedankenentwicklung der Transzendentalphilosophen, der Marburger Neukantianer geführt hatte: gegenüber der rein kritizistischen Haltung die synthetischen Aufgaben nicht zu vergessen, kurz das Dialektische, was ja die Einseitigkeit jeder auch noch so scharfsinnigen methodologischen Position erst überwinden hilft. Die Tendenz zur Dialektik lag im Kritizismus, wie ja die Philosophiegeschichte gelehrt hatte. So folgte auch der ersten Kantrenaissance eine Hegelrenaissance. Sobald man nun im Hegelischen Sinne Systeme versucht, zeigt sich sogleich die ursprüngliche Absolutheitstendenz des Meisters. Es macht dabei einen Unterschied aus, ob, wie bei den Naturrechtsschulen der Konfessionen das absolute Moment in der Confessio als Grundgesetz steckt oder ob es sich wie bei philosophischen Tendenzen im Begrifflichen versteckt. Damals entzündete sich das Hegeische an der Kritik am Kantianismus. Der reine Kritizismus schien über sich hinaus treiben zu müssen. So wird es begreiflich, daß auf diese Weise durch Binder die Schulbildung in Gang kam, hier in Deutschland ganz anders als bei Bolland in Holland, eine Hegelschule, die in der Erarbeitung der verschiedenen Phasen des idealistischen Meisters Hervorragendes geleistet hat. Aber Hegelschulen mit dem aus der Geschichte bekannten politischen Aspekt hat es nicht gegeben. Diese Funktion war zu sehr von anderer Seite aufgegriffen worden. Auch in Berlin, wo nach Michelet die beiden Lassons die Last der Fortführung der Tradition, der jüngere vor allem nach der Editionsseite hin, auf sich nahmen, hat es eine Hegelschule nicht mehr gegeben. Ob jene Luft der Schulbildung im Philosophischen, soweit es sich dabei nicht um die Aneignung systemverantwortlicher Anpackung der Probleme handelte, hinderlich war, mag gefragt bleiben. Sehr in Blüte stand der Neukantianismus aller möglichen Färbung. Es war Mode geworden, sich im Philosophischen, nach der Zeit des Materialismus, irgendwie auf
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Kant zu beziehen. Von der Zentrale des sog. Kritizismus, in Marburg, wo Cohen und Natorp lehrten, ging, wenn man von dem in England lebenden Max Salomon und uns absieht, unmittelbar keine Rechtsphilosophie aus. Cohen selbst hatte das der Jurisprudenz unbekannt gebliebene Wagnis unternommen, seine ganze praktische Philosophie in der »Ethik des reinen Willens« genetisch »auf das Faktum der Rechtswissenschaft« zu stützen. Insofern das auf diesem Gebiet nachholend, was Kant bei seiner Orientierung der theoretischen Vernunft mit dem Faktum der Mathematik und Naturwissenschaft versucht hatte. In Wirklichkeit war Kant, zwar vorzüglich über Naturrecht und römisches Recht unterrichtet, in seiner Rechtslehre zu einem an den Ideen der französischen Revolution orientierten »fortschrittlichen« insofern unkritischen Analogon zu seinen Tugendlehren gelangt, wobei noch die verschiedenen Fragestellungen durch einander liefen. Wir konnten s. Z. eine intensivere Erhellung dieser wirklich Kantischen Position in Gang setzen; dabei freilich auch zeigen, daß die Beschäftigung mit jenem Alterswerk Kants noch immer einen sehr wertvollen Ausgangspunkt zur Einführung in die so verschiedenartigen Problemzusammenhänge bietet. So stand Kants »Metaphysik der Sitten« fast immer im Mittelpunkt der rechtsphilosophischen Seminararbeit. In Marburg griff nun Cohen auf Trendelenburg zurück und so konnten wir es als eine seltsame Fügung empfinden, als uns, Jahrzehnte später, der Sekretär der Preußischen Akademie der Wissenschaften, unser verehrter Marburger Lehrer Heymann als ersten Rechtsphilosophen darin nach Trendelenburg (auf dem Stuhl von Stutz) begrüßte. Trendelenburg war für Cohen vorbildlich, weil er in der rechtlichen Entwicklung im Wesentlichen eine Eigenentwicklung im Ethischen sah. Es gab natürlich »Neukantianer« der Marburger Richtung in der Rechtsphilosophie, worüber wir ja ein bekanntes Buch besitzen. Eine eigentliche Schultradition des logischen Kantianismus ergab sich allerdings erst mit Rudolf Stammler. Wir wissen noch persönlich von Cohen, daß er die Beziehung zu diesem ablehnte. Auch über seine eigene »Marburger Schule« äußerte Cohen einmal zu uns: »Sie sagen nie Cohen, nur Marburger Schule. Sie fahren lieber mit dem Lokalzug als mit dem Personenzug.« Es ist bekannt, daß die für die Rechtsphilosophie am fruchtbarsten gewordene Kantschule die südwestdeutsche der Wertphilosophen geworden ist. Auch der sog. rechtsphilosophische Relativismus, mit dessen Grunddogma wir uns bei der
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Habilitation 1916 auseinander setzten, nicht ohne dadurch eine dauernde persönliche Beziehung zu Radbruch und Cantorovicz zu gewinnen, gründet sich ausdrücklich auf eine Sonderauffassung jener als Kantisch aufgefaßten Wertphilosophie. Wir selbst haben es von allem Anfang an bedauert, daß ein erst zu legitimierender Begriff wie der Wertbegriff, der an Stelle der »Würde« bei Kant wohl aus der Nationalökonomie stammend, sich die Rolle eines systematischen Grundbegriffs anmaßte, auf lange Zeit eine so lärmende Rolle in unserm Bereich spielen sollte. In seiner Doppeldeutigkeit Richtiges wie Faktisches umspannend, in letzterer Hinsicht wie der ihm verwandte Tugendbegriff aus dem Subjektiven des Einzelnen oder sozialer Gruppen stammend, hemmte er bis heute die noch kaum in Angriff genommenen systematischen Möglichkeiten auf dem gesamten direktiven Bereich und die ernstliche Erarbeitung eines teleologisch brauchbaren Situationsbegriffs als Grundbegriff einer »Situationsphilosophie«. Zu dieser hatte bereits Nietzsche Ansätze geboten, die bis heute noch kaum ausgewertet sind. Ja der zu Unrecht vergessene Stirner hätte hier sozusagen von einer extremen Gegenposition aus Anregungen bieten können. Zunächst aber war es die Wissenschaftskritik der südwestdeutschen Kantianer — nicht also ihre Situationsphilosophie, sondern das Bemühen um die nichtnaturwissenschaftliche Begriffsbildung, die für die Rechtswissenschaft zu ihrer Selbsterfassung wichtig werden mußte. Es ging auch bei der Geschichte nicht um die res gestae, sondern um die historia rerum gestarum. So ist der Einfluß der erkenntnistheoretischen Werke von Rickert und seiner Schule auf die rechtswissenschaftliche Besinnung jener Zeit nicht wegzudenken. Erkenntnistheoretisch in dem Sinne verstanden, wie eine sich im Spezifischen der in einer Disziplin geübten Begriffsbildung haltende Erfassung ihres Gegenstandes möglich sei. Nicht notwendig waren mit der Bemühung um die kategoriale Auslese die Selbstherrüchkeit aller möglichen angeblichen Werte und der sog. Kultur verknüpft. Es mutet heute wie ein echt bürgerliches Erbteil des Bindestrichoptimismus an, daß eine ganze, gewiß auch unentbehrliche Beiträge aller Art enthaltende Zeitschrift unter dem Einfluß jener Schule der »Kulturphilosophie« gewidmet war. Nicht nur die berühmten Kulturnormen, aus denen sich angeblich die Rechtsnormen bei M. E. Maier speisen, sondern die heute noch einer nüchternen Erfassung unserer Zivilisation, dem soziologischen Blick im Wege
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stehende Trennung von Zivilisation und Kultur und der Elfenbeinturm jener, die glauben, diese fein säuberlich getrennt zu haben, stammen daher; Pachtzins: Zugeständnisse an die Zivilisation, Frucht: forum internum qua cultura! Der entscheidende Sprung aus dem Positivismus ins Philosophische, genauer aus der konventionell durch immer wieder neu aufgelegte Interpretationsregeln abgesteckten Begriffsschicht ex datis in den, all solchem transzendentalen, Bereich war das Wagnis Rudolf Stammlers. Es kann nicht genug darauf hingewiesen werden, wie stark jener Appell an die philosophische Besinnung im transzendentalen Sinne wirkte. Wir selbst haben stets darauf hingewiesen, obgleich uns, von Anfang an, das Mißglücken klar war. Stammler verwechselte Voraussetzung mit Apriorität. Sein Streben zum Prinzip, echt philosophisch gegenüber jeder positivistischen Einstellung, gelangte nicht zu einer Rechtfertigung des Prinzips. Es blieb bei den Coleoptera, die auf der Erde herumkrabelten, auch wenn die Prädikabilien und Prädikamente als Geschöpfe vom Himmel gepriesen wurden. Bei dem Weg zum Prinzip genügt es nicht in der Begründungssphäre nach oben, im logischen Sinne verstanden, zu steigen, wenn man nicht unabhängig vom kontingenten »Stoff« jene »Formen« als apriorisch nachweist. Freilich war die Grundlagenkrise in der Mathematik damals noch nicht so offenbar geworden, um die ganze Problematik jenes apriorischen Unterfangens aufzuweisen. Dazu kam bei Stammler, daß er, wieder nur am Wirklichen orientiert und nicht auf die begrifflichen Dignitäten achtend, Begriffe wie Recht und Sitte einfach neben ordnete, während das Verhältnis dieser Begriffe zu einander viel komplizierter ist. Begünstigend war bei Stammler persönlich das, was seinem Werk einen klassischen Zug gab: Wie Athenae aus dem Haupte des Zeus war das System als geschlossenes sofort da. Alle späteren Darstellungen änderten nichts daran, daß man nur, wie bei Drehung eines regelmäßigen Kristalls immer wieder dasselbe zu Gesicht bekam. So bleibt es in sich geschlossen, unangreifbar. So mußte freilich auch das Ganze dahin gehen. Die Stammlerschule mußte eine Schule im engeren Sinne sein. Sie war nicht, wie die der Marburger Schule nur durch eine Methode konstituiert, durch eine mehr oder weniger bewußte Art, die Probleme anzupacken. Es paßt zu diesem Bild, daß — wie dem Verfasser ein Sohn berichtete —Stammler am Ende seines Lebens Goethe bedauerte, daß er nicht fertig geworden sei, während doch er habe definitive Arbeit leisten G II
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können. Wir selbst haben uns, wie wohl die meisten Rechtsphilosophen jener Zeit jenem Moses, der ins gelobte aber selbst nicht erreichte Land wies, stets tief verpflichtet gefühlt. Ein persönlicher Besuch des damals auf der Höhe seiner Geltung stehenden bei dem kleinen Dozenten in Gießen, das Heranziehen zu den Festschriften als Nichtstammlerianer, zu seinen Feiern, ja die Empfehlung auf den Lehrstuhl sind Zeichen hoher menschlicher Objektivität gegenüber dem, der nicht in verbis magistri schwur. Unvergeßlich wie Stammler bei seinem 80. Geburtstag in freier lateinischer Rede auf die Ansprache des Wernigeroder Gymnasialdirektors erwiderte. Daß gerade bei der Einseitigkeit sehr wichtige Gegensätze schroff ins Licht gerückt wurden, gehört ebenso zur katalysatorischen Wirkung des Stammlerschen Versuchs, all' altra riva zu gelangen. Wir erinnern an den Streit mit dem aus dem Lager der südwestdeutschen Kantianer, ja der Wertrelativisten stammenden Soziologen Max Weber über die Priorität von subjektivem Recht oder Gut. Ein Streit, der zu seiner Schlichtung wiederum des Zurückgehens auf die beiden Gebieten gemeinsamen Sphären von Aprioritäten bedarf. Wir erinnern an die leider heute zu Unrecht als erledigt angesehene Antinomie von materialistischer und — nun »anderer«, welcher denn? — Auffassung. — Mit Stammler vergleichbar ist die bereits damals gelehrte Immanz und Ansichsetzung der Schichten in der Rechtslehre der damals führenden österreichischen Rechtsphilosophen, die, nicht nur weil sie im Einzelnen reiche Anleihen aus ungeprüftem konventionellen Vorstellungsgut machte, zunächst in Wien, am Ursprungsort selbst zu interessanten methodologischen Disputen, oft mit großer Heftigkeit führte. Gewiß auch ein Zeichen dafür, daß der rechtsphilosophische Eros nun geweckt war. Als ein missing link zwischen Rechtswissenschaft und Philosophie konnte man, von der damaligen Perspektive aus Vaihingers »Philosophie des Als ob« ansehen. Der Titel konnte freilich einem Liebhaber der deutschen Sprache einen Schock bereiten. Aber die schon länger in den Sprachgebrauch eingedrungenen Abkürzungen wie BGB, CPO, OLGR, Analogien zu den studentischen AH AH, Ren, IaCB, MC wurden höchstens noch von Walter Schücking gerügt, dessen Kritiken man freilich wie die Karikaturen im Simplizissimus zum Leben brauchte.5) Unter dem mißtönenden Titel verbarg sich bei Vaihinger aber eine 5 D a ß der N a c h k o m m e Levin Schückings und der v. Gall 1918 v o n der A r t des Umbruchs erschüttert war, wissen wir aus persönlicher Quelle.
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Fülle aus der ganzen wissenschaftlich-philosophischen Universitas zusammengeholter Versuche, auf indirekte, metaphorische, allegorische und sonstige Weise Theorien zum rein geistigen oder praktischen Gebrauch praktikabel zu machen, die ohne solche Vehikel wie etwa die imaginäre Zahl nicht zu einer nötigen Erweiterung des begrifflichen Bereiches geführt hätten. Neben dem Mathematiker waren solche Mittel bereits seit den Römern dem Juristen geläufig, für den längst die Legis actio für ausgerissene Weinstöcke noch ganz Anderes bedeutete, wie ein Tanzbär im Damencoupe auch einen Hund. Diese Präsumptionen und Fiktionen aller Art führten so als Königsweg ins Philosophische. Dazu kam, daß Vaihinger als bekannter Kantforscher, als Entdecker einer ein Jahrhundert lang von keinem Leser bemerkten Blattversetzung in dem Werk des Königsbergers, auf den alljährlichen Kongressen der Kantgesellschaft in Halle die führende Rolle spielte. Aber auch hier hatte eine scharfsinnige Entdeckung im Speziellen zu den in der Philosophie beinah üblichen Hypertrophien geführt. Der Anspruch eines Panfiktionalismus mußte sich ja selbst aufheben, da er sich zu sehr mit der bekannten Paradoxie vom Pseudomenos deckte. Vorsichtiger in der Verwertung von Entdeckungen auf anderen Wissenschaftsbereichen wie etwa denen der Mengenlehre waren die die Logik der Rechtswissenschaft betreffenden Arbeiten eines noch heute in Göttingen wirkenden Gelehrten. Tendenzen, die nur auf breiterer Basis vorgenommen die Hoffnung erwecken durften, einmal eine gründlichere Umgestaltung der direktiven Begriffssphäre zu erleben, wozu ja unsere juristische und rechtsphilosophische gehören. Soweit es sich bei dem Mathematischen um Entdeckungen und fruchtbare Konstruktionen auf dem Gebiet »geordneter Gegenstände« überhaupt handelt (Itelson und andere) müßte ja derartiges bei einem höheren Entwicklungszustand im Direktiven gleichfalls spürbar sein, zur Entdeckung verschiedener Arten von Unendlichkeitsbegriffen führen. Kurz zur Erweiterung der bisher geübten Rechnung mit »natürlichen Zahlen«, die nach einem berühmten Intuitionistenausspruch allein »der liebe Gott gemacht habe« in immer höhere Dimensionen. Damit freilich auch zum erneuten Aufrollen der Frage nach Sinn und Grenzen der Wissenschaftlichkeit im Rechtsdogmatischen. Nicht recht zu begreifen ist die Wirkungslosigkeit der Neufriesianer in der Nachfolge Kants, bei Nelson und seiner Schule für die Rechtsphilosophie. Eigentlich nur indirekt, durch Einfluß etwa auf Hilbert und die Göttinger 4'
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Naturwissenschafter, nicht aber durch seine rechtsphilosophischen Werke, die in der Art der Darstellung und an Umfang mit denen Stammlers vergleichbar sind, hat bisher Nelson aufs Rechtsphilosophische breitere Wirkungen erzielt. Im großen und ganzen kann man zusammenfassend sagen: Es gab hier positive Rechtswissenschaft, hier Rechtsphilosophie. Ganz selten so etwas wie eine »wechselseitige Erhellung«, worüber s. Z. Oscar Walzel in seinem berühmt gewordenen Vortrag in der Kantgesellschaft in Berlin gesprochen hatte. Denken wir etwa an die geniale Verwertung rechtsphilosophischer Thesen durch den Berliner Kipp in seiner Lehre von »den DoppelWirkungen im Recht«! So fühlte der jüngere Jurist wohl damals etwa an Hand der Werke von Rudolf v. Ihering, dessen Ideenreichtum von dem doch wirklich nie ins eigentlich Philosophische eingetretenen, sondern in der gleichen Dimension verankerten Berliner Josef Köhler bestritten wurde, daß der tiefere Sinn rechtswissenschaftlicher Bemühungen in jener Zeit wie ein vergrabener Schatz aus dem Gehalt ganz positiv gemeinter genialer Rechtssysteme und historischer Leistungen zu heben wäre. Daß hier zwar das Recht und seine Ausstrahlungen nicht im rechtsphilosophischen Sinne bewußt intendiert wurden, sondern als Gnade, als Zugabe jener »großen Rechtsdenker« bei ihrer jeweils auf ganz anderes gerichteten Absicht zufielen. Man kann sagen: Eine Ironie der Geschichte, der Wissenschaftsgeschichte auch hier! Eine Illustration aber auch für die Lage, wo, über den Kritizismus hinausstrebend, so etwas wie eine einfache Schau an Stelle der »Orientierung am Faktum«, wie noch bei den Marburgern, im System, nicht vor dem System, durch Husserl und seine Schule der Phänomenologen aktuell wurde. Infolge Einklammerungsmöglichkeiten, künstlicher Schaffung von Perspektiven freilich sogleich ins Unübersehbare ganz verschiedenartiger Haltungen führend. So einfach ließ sich eben von jenem von genialen Juristen ausgebreiteten positiven Rechtsstoff nicht in die gewünschte, für das Begriffliche der Rechtsphilosophie entscheidende Sphäre des dafür als Hypothesis gesetzten »Schaubaren« gelangen. Aus diesem Kreis wurde eigentlich nur Reinach für die Rechtsphilosophie bedeutsam, dem zum erstenmal die eigentümliche soziologische Schicht der beim Recht vorausgesetzten Aprioritäten aufleuchtete. Wir haben seit damals ununterbrochen auf jene Leistung hingewiesen, freilich ohne daß auch nur der entweder aufs Abstrakte oder aufs Empirische eingestellte Soziologe die Eigenständigkeit jener
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soziologischenWesenssphäre eingesehen hätte. Vom Rechtsphilosophen oder gar Juristen ganz zu schweigen. Mit dem Blick auf die positiven Rechte darf man sagen, daß trotz der hervorragenden Bemühungen um den versteckten philosophischen Gehalt in den Schöpfungen großer Juristen wie etwa bei Erik Wolf, für die transzendentale Erhellung hier immer noch nicht ausgeschöpftes Anschauungsmaterial vorliegt. Sonst böte die Rechtsphilosophie ein bunteres Bild. Unzweifelhaft aber gab es damals als wir ernsthaft zu studieren anfingen, eine große Zeit für das Recht. Auch in ihrer Struktur deshalb klassisch, weil sich die von der Mathematik erst richtig aufsteigende Grundlagenkrise im Positiven noch nicht bemerkbar machte. Als man dann die exakte Methode der Begriffsbildung, wie sie die damalige makrophysikalische Naturwissenschaft verstand, bei Hans Cornelius, dem Nachfahr jener an schöpferischen Persönlichkeiten so reichen Familie, kennen lernte, wurde einem bei den stammelnden Versuchen, mit Hilfe des empirisch aufgefaßten »sozialen Werts« ans Recht heranzukommen, klar, welche Lücken da auszufüllen wären. Nicht unmittelbar durch jenen philosophisch bereits überholten Empirismus, in einer Kombination von Kirchhoff, Mach, Avenarius. Aber mittelbar durch den Einfluß der Geister, die da in Oberursel an den erkenntnistheoretischen Diskussionsabenden teilnahmen, die mit Chianti begannen und bei Chianti endeten, echte Symposien, wir nennen Koffka, W. Köhler, Kohnstamm, Fritz Raab, Wertheimer, wurde die Vielgestaltigkeit der rechtsphilosophischen Problematik bewußt. Sozusagen »induziert«, vielleicht auch »in dorso« des offiziell Behandelten. Man sieht, wie kompliziert Schülerschaft und entsprechend Dankbarkeit sein können. So ist auch hier des damals noch an der Handelshochschule dozierenden Franz Haymann zu gedenken, dessen noch heute unübertroffenes Werk über Rousseau im Kantschen Sinne mit der Interpretation jener Kontraktidee Ernst machte. Der also ein transzendental orientierter Gegenspieler des Positivismus war, dem das »unmittelbar Gegebene« als etwas Selbstverständliches erschien, das keiner begrifflichen Vermittlung bedurft hätte. Die juristische Praxis war damals völlig traditionsbedingt. Der sog. Wert der Rechtssicherheit dürfte seine Höchstform erreicht haben. Das geltende juristische Syntagma wurde höchstens von den betonten Vertretern der sozialen Seite her, durch die geistvollen Plädoyers z. B. von Sinzheimer, Bendix gelockert.
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In den alten „FliegendenBlättern" und dem »Kladderadatsch« gab es zwei Figuren: der kleine Moritz und »Carlchen Miesnick« dachten sich etwas sehr Einfaches aus. Man denkt heute an das Schwäbische: »Man werd doch noch frage derfe«. So war es schon damals unwahrscheinlich und wird es noch heute gewiß so erscheinen, daß eine Habilitation für Rechtsphilosophie, das damals wie leider heute noch vom Fakultätsstandpunkt nicht gerade hoch geschätzte Fach, das man höchstens noch »dabei« lesen kann, damit beginnen konnte, daß ein unbekannter junger Jurist um diese Möglichkeit in einem Schreiben an den Dekan der nächst gelegenen juristischen Fakultät ersucht. An einen Dekan, der ihm dazu noch persönlich unbekannt war. Aber dieser Dekan Hans Albrecht Fischer war ein Jurist, der zwar positives Recht in großemRahmen und in alterSolidität vertrat,dem aber,offenbar vom Religiösen her, die rechtsphilosophische Problematik so am Herzen lag, daß er sich mit ihr bereits in bedeutenden Werken z. B. über Rechtswidrigkeit auseinander gesetzt hatte. Da ihm früher die Möglichkeit gefehlt hatte, in einem rein philosophischen Studium eine eigene philosophische und damit rechtsphilosophische Grundlage zu erarbeiten, geschah diese Auseinandersetzung nach Art der Erörterung rechtswissenschaftlicher Streitfragen zugleich mit den verschiedensten Richtungen, sozusagen in immanenter Kritik, vom juristischen Diskussionsstoff aus, jedoch — und das spürte man sofort — mit wirklich philosophischem Eros. Die persönliche und sachliche Lage nötigte hierzu. Bewußt wurde das rechtsphilosophische Problem nicht an der Wurzel angepackt. — Die Verantwortung für die Zukunft des Habilitanden nötigte damals wie leider heute noch, dazu, ein positives Rechtsfach daneben zu fordern, nicht als Orientierungsstoff und Sicherheitsventil, um nicht zu schnell in die Wolken zu geraten, sondern nur, um Berufungsmöglichkeiten offen zu halten. Woraus dann meist selbst bei denen, wo das rechtsphilosophische Interesse wirklich überwog, der Zustand eintrat, daß das positive Fach, den Dozenten immer mehr in Anspruch nehmend und die Studierenden mehr anziehend, allmählich zum Lieblingsfach wurde, womit die Möglichkeit, sich über die für die Rechtsphilosophie so wichtige Entwicklung der Problematik in andern, ganz fern liegenden Disziplinen zu orientieren meist schwand. Die Aufgabe, ein positives Fach dazu zu nehmen, war leicht zu erfüllen. Aber der Weg war gewiesen, das Ziel stand fest, allmählich der Rechtsphilosophie auch auf deutschen Universitäten wieder zu
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einem selbständigen Lehrstuhl zu verhelfen, wie es ihn unter naturrechtlichem Titel bis zu Beginn des vorigen Jahrhunderts fast zwei Säkula lang überall gegeben hatte. Nur so durfte man damit rechnen, daß das Fach vermittelst der Anerkennung durch die Fakultätskollegen als ein grundlegend wichtiges Fach auch wieder Geltung in der Judikatur und Politik, auch Gesetzgebungspolitik finden würde. Nur so war für den Rechtsphilosophen die notwendige Entlastung von positiven Rechtsdisziplinen zu erhoffen, die es ihm wieder ermöglichte, sich spontan als Philosoph, der er ja sein mußte, und nicht als Einzelwissenschafter mit entsprechender Intentio, bloß auf philosophischem Bereich zu betätigen, dem ganzen philosophischen Kosmos verantwortlich über alle Entwicklungen orientiert, insbesondere auch denen in anderen Ländern, ja orientiert über die methodologischen Diskussionen anderer Disziplinen, wovon stets Anregungen erwartet werden konnten. Die Forderung, genug Anschauungsstoff vom positiv Juristischen zu haben, war ja dadurch erfüllt, daß der Rechtsphilosoph seine juristischen Leistungen als Abschlüsse erreicht haben mußte, die so die geistige Bewältigung der verschiedenartigsten juristischen Materien sogar einschließlich der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften voraussetzten. Dieses Ziel ist, wie man heute sieht, nur kurz erreicht worden. Außer unseren eigenen Lehrstühlen und, wie wir erfuhren, auch dem Freiburger, des bedeutenden Historikers der Rechtsphilosophie sind keine weitere mehr vorhanden. Dies zu einer Zeit, wo der Sieg, wenn er mit geistigen Mitteln errungen werden soll, gewiß nicht mit den Begriffsmitteln positiv juristischer Disziplinen erstrebt werden kann. Die gegnerischen Richtungen sind j a bewußt rechtsphilosophisch, als solche wie im konfessionellen Bereich außerordentlich diszipliniert, dialektisch versiert, auch auf dieser Ebene innerlich beweglich. Rechtsphilosophische Thesen, auch wenn sie in der Form wirtschaftswissenschaftlicher oder soziologischer Dogmen auftreten, kann man gewiß nicht mit den besten Theorien des Zivilrechts, Handelsrechts, Prozeßrechts, auch nicht des Staatsrechts widerlegen, diese wären dann staatsphilosophisch also bereits rechtsphilosophisch, wenn man nicht um Worte streiten will. Wenn man daher behaupten darf, die Gegner argumentierten stets rechtsphilosophisch, sie seien insofern tiefer, aber in jener begrifflichen Tiefenschicht schlechter, fehlerhaft, die deutsche Haltung aber geschähe von begrifflich oberflächlicher Schicht aus, also weniger tief, an den Fundamenten und Argumenten
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gemessen, sei aber darin besser, freier von Fehlern, so behauptet das doch nicht, daß damit die Rüstungen gleich seien. Der weiter reichende Schlag des Gegners wird einfach gar nicht pariert. Ganz abgesehen von der soziologischen, in die eristische Dialektik des unbedingten Erfolgs gehörenden mit jeweils verschiedenartiger, die Bewußtseinslage berücksichtigender Wirkung. Ein Stoff, der in die aktuelle Rechtssoziologie gehört, von denen die wenigsten Studierenden etwas gehört haben werden. Der heutige rechtsphilosophische Zustand, soweit er die akademische Lage betrifft, entspricht also noch durchaus jenem, wie ihn die sich so sicher fühlende, behaglich im Positiven ausruhende, mit dem ersten Weltkrieg zu Ende gehende sog. bürgerliche Zeit bekundete. Ein Zustand, der historisch nicht nur sein Ende in der Fülle von akademischen Diplomen, Berechtigungen finden dürfte! Damals in Gießen also vor bald einem halben Jahrhundert, war man bereit, jene neuen Chancen zu bieten. Jedenfalls faßte es, wie man weiter sehen wird, Hans Albrecht Fischer so auf. Aber auch in anderer Hinsicht fand der Versuch, Rechtsphilosophie in Vorlesungen und Seminaren unter hauptamtlichem Aspekt wieder einmal zu vertreten, volles Verständnis. Dafür sorgten als Ordinarien die Philosophen Messer und v. Aster, der ja auch ein alter Corneliusschüler war. Der Nachkomme des Gründers der historischen Schule Hugo und Besitzer seines Nachlasses, zusammen mit wertvollen auf das Recht bezüglichen Dokumenten aus dem Kreise um Savigny: der Sohn Burkard Wilhelm Leists, der philosophischen Ideen aufgeschlossene Germanist Hübner, ein Nachkomme Droysens, der Kriminalist Mittermayer in der Tradition seines Großvaters u. a. Sie begrüßten es, daß nach Abgang des Rechtsphilosophen Erich Jung das Fach wieder gepflegt werden sollte. Sechs Jahre, mit kurzen Unterbrechungen auch den ganzen ersten Weltkrieg hindurch, konnten so neben den regelmäßigen Vorlesungen Seminare abgehalten werden, worin je nach dem Wunsch der Teilnehmer auch ganz aktuell gewordene rechtsphilosophische Probleme behandelt wurden. So z. B. die Entwicklung der Ideen von Thomas Mann an Hand der »Betrachtungen eines Unpolitischen« bis zur »Be kenntnis zur Republik«, unter Heranziehung des zitierten Stoffes aus Novalis. Als Kuriosum sei Folgendes berichtet: Es gab seit Alters her in Gießen so etwas wie eine wissenschaftliche Gesellschaft. Sie hieß Sonderbund, da sie s. Zt. vom »Nachwuchs« gegründet worden war, um
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unter sich wissenschaftlichen Gedankenaustausch zu pflegen. Im Laufe derZeit aber war daraus so ein legeres Forum geworden, wo die Ordinarien, die natürlich auch die Vorträge mit bestritten, die Jüngeren zum ersten Male vernahmen. Wir hatten unserem Fach gemäß zum erstenmal wieder versucht, Kants Rechtslehre, die als Alterswerk meist abgetan wurde, ernst zu nehmen. Wir wählten daraus seine Eherechtsphilosophie. Der Vortrag, der später im Kantfestheft der Kantstudien erschien, brachte so seltsame Auffassungen des Hagestolzes Kant zum Vorschein, daß erschrocken über solche Lehren der bekannte Germanist Behaghel behauptete, Kant könne das unmöglich vertreten haben und entrüstet die Sitzung verließ. Aber er mußte die Wahrheit einsehen. Behaghel war damals der einzige Geheim^ Rat (nicht Geheimrat, deren es alle Sorten gab) der Universität, die nach 1945 ohne Grund eine so starke capitis deminutio erlitten hat. Von Gießen erlebte man auch die Gründung des Hochschulverbandes in Halle. Amüsant wie man, nach dem Proporz, als NichtordinarienVertreter extra ordinem zur konstituierenden Versammlung Entsandter, die Entrüstung erlebte, womit solcher Existentialismus des Nachwuchses zur Kenntnis genommen wurde. Aber man akzeptierte ihn und so kam man auch in Gießen als erster Nichtordinarius in den Senat.8 Welche entscheidende Eindrücke aber der junge Dozent von jenen Großen empfing, die verantwortlich und klug jenen Verband mit seinen verschiedenen Kommissionen schufen, wird wohl allen Teilnehmern von damals unvergeßlich sein. Zwei Geschehnisse aber waren so etwas wie Vorzeichen für Berlin. Zunächst hatten die Ereignisse des Umbruchs 1918 Persönlichkeiten ermuntert, so etwas wie ein Institut für Friedenswissenschaft in Anregung zu bringen. Die Mittel waren dafür bereit gestellt. Der Philosoph Walter Kinkel, ein Mitglied der Marburger Schule, wie sein Freund, der Philosoph Oswald Weidenbach, keinem anderen Ziel als eben der Pflege der Philosophie hingegeben (und daher ohne »akademische Laufbahn«, wie man die Ludwigstr. nannte) schlug vor, daß wir beide jenes Institut leiten sollten. Er fühlte sich dabei politisch als Vertreter der Linken, während wir be• Die Tätigkeit in der Nichtordinarienvereinigung hat uns gerade derjenige übelgenommen, der solche Aktivität nach der politischen Tradition seiner Familie sonst überall wünschte: Mittermaier. Er hat es uns auch gesagt. Was nichts daran änderte, daß wir noch mit dem Hochbetagten, später in Heidelberg, in bester persönlicher Beziehung blieben.
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reits als konservativ bekannt waren, da verschiedene Arbeiten der begrifflichen Erarbeitung dieser Haltung galten. So wäre also die Objektivität gewahrt gewesen. Aber man behauptete, es müsse dann auch ein Institut für wissenschaftlichen Militarismus geben und so fiel der Plan. Er tauchte dann aber später, in unserer Jenaer-Weimarer Zeit wieder auf. Von Berlin aus, aus der Gruppe des alten Juniclubs, späteren Herrenclubs, Berliner Clubs, worin Vertreter aller Parteien waren, kam die Anregung, eine »Friedensakademie« zu gründen. So viel wir uns erinnern, interessierte sich auch der Kreis der späteren Stresemanngesellschaft, insbesondere Curtius, für den Plan und es war vorgesehen, daß ich ihn dem damaligen Reichskanzler v. Papen vortragen sollte. Die Lage schien uns aber schon tumultarisch zu werden und aufs Gewaltsame zuzusteuern, so daß wir den Plan nicht mehr betrieben. Ebenfalls auf Berlin wies die uns wie durch Zufall zugekommene Pflege eines zweiten positiven Rechtsfachs: Finanzrecht. Wissenssoziologisch bemerkenswert, daß es Praktiker waren, Rechtsanwälte am höchsten Finanzgerichtshof, die auf einen rein methodologisch gemeinten Aufsatz in einer Steuerzeitschrift aufmerksam wurden, dessen Anliegen es war, ein der Finanzwissenschaft verantwortliches insofern von anderen nebengeordneten spezialrechtlichen Ideen unabhängiges finanzrechtliches Denken zu initiieren, wie es in seiner Selbständigkeit ja im Strafrecht bereits Wirklichkeit geworden war. Die Folge war die Aufforderung zu einem Hauptgutachten für jenen Reichsfinanzhof in der in der ersten Inflation wichtig gewordenen Frage der Besteuerung der Gratisaktien. Auch hier mußte also die Aktualität rechtsphilosophischer Gedanken dargetan werden. Das Gutachten, das gedruckt wurde, hat also damals auch die Positivisten interessiert. Eine Stufe zur Treppe nach Berlin wurde es insofern, als die Berliner juristische Gesellschaft, damals noch unter der Leitung von Geheimrat Riesser von uns über diese Problematik einen Vortrag erbat. Wir kamen dem Wunsch von Jena aus nach und man bedeutete, daß man so etwas auch gern als Probe für Berufungsmöglichkeiten ansähe, was uns der Initiator, der leider bei der Berufung nach Berlin bereits verstorbene, Kipp, auch bestätigte. Mit dem Wort Finanzrecht aber war man im Nu in eine ganz andere Beleuchtung gerückt. Ein Lehrauftrag dafür flog zu. Im Auditorium maximum mußte man vor der ganzen Kollegenschaft einen Vortrag über das Einkommensteuerformular halten. Selbst der älteste Emeritus stellte Fragen etwa über die Abzug-
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fähigkeit von Reparaturen an seinem alten Frack. Als wir dann zur Philosophie übergingen, bedauerte der damalige Universitätsreferent Ministerialrat Löhlein, daß nun alle Aufbaupläne für dieses Fach, wozu er uns bereits gut gesichert hatte, zusammenfielen. Aber wenn man auch durch Finanzrecht ein besonders geschätzter Kollege geworden war, und kein weltfremder mehr, der Philosoph klopfte auf den Tisch und verlangte seine Rechte. Zunächst mußte noch der Doktorgrad in drei der Jurisprudenz fernen Fächern: in Philosophie als Hauptfach, Psychologie einschließlich der experimentellen und neuerer Kunstgeschichte erlangt werden. (Den Statuten nach hätte man sich freilich, in Rechtswissenschaft, selbst prüfen können.) Um als Rechtsphilosoph im Vollsinne gelten zu können, mußte man eben auch Philosophie nicht nur zum Schmuck studiert haben. Man kennt ja die Charakterisierung von Vertretern derartiger Grenzgebiete. Da heißt es denn leicht von einem Naturphilosophen: »Er ist zwar kein guter ,Naturwissenschafter', aber ein guter .Philosoph' oder umgekehrt: er ist zwar kein guter .Philosoph' aber ein guter .Naturwissenschafter'.« Hatte doch selbst Leibniz über Pufendorf geurteilt, er sei »parum jurisconsultus et minime philosophus (Epistole VII ad Kestnerum).« Zunächst gelang es noch von Gießen aus Fritz Raab und uns eine neue rechtsphilosophische Zeitschrift »Philosophie und Recht« herauszubringen. Als Vignette zeigte sie die Initialen »Phi« und »Delta«. Als besondere Liebenswürdigkeit empfinden wir es, daß jetzt, nach vielen Jahrzehnten unsere Festschrift unter dem damaligen Titel erschienen ist. Jene Zeitschrift, die unter Mitwirkung von Del Vecchio, Kelsen, Rumpf, Bauch, Bonucci, Brodmann, H. A. Fischer, E. Zitelmann u. a. herauskam, hat wie viele sich besonders vornehm vorkommende Zeitschriften dieser Art, kein hohes Alter erreicht. Aber Sammler würdigen daran, daß sich z. B. ein Sonderheft über »russische Rechtsphilosophie«, zusammengestellt unter der Verantwortung von Nowgorodzeff und Gurwitsch, so spannend wie Dostojewski liest. Jedenfalls stellte damals auch bald die Zeitschrift für Rechtsphilosophie aus dem Stammlerkreis ihr Erscheinen ein und nur das ehrwürdige Archiv, dessen langjähriger Herausgeber in noch schwierigerer Zeit wir später werden durften, hielt bis heute durch. Der Besuch Stammlers bei dem jungen Dozenten, der dann die dauerde Beziehung anknüpfte, dürfte mit jener Lage der Zeitschriften zusammen gehängt haben. Die Rechtsphilosophie als solche hatte es
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eben bei uns schwer, in dem Land, woher einst die Fülle der naturrechtlichen Anregungen kam. Nur das Heimatland von Grotius verhält sich darin, jenem ersten Naturrechtler sui generis getreu. Aber überall im Osten lag es anders. Beschämend, daß sogar die östlichen Randstaaten, die partiellen Nachfolger Großrußlands, wo man es einst gewagt hatte, Nettelbladts Naturrecht als subsidiäres Recht einzuführen, Rechtsphilosophie von besonderen Kathedern aus pflegte. Daran lag es gewiß nicht, daß jene Länder nun jener ganz anderen Naturrechtslehre des Marxismus zum Opfer fielen. Die Pflege, die man dem Fach dort angedeihen ließ, durften wir bald erfahren. In Riga las in den Kursen, die der deutsch-baltischen »Herderhochschule« vorausgingen, von der wissenschaftlichen »Herdergesellschaft« getragen, der frühere Berliner Kollege, der bekannte Pandektist Paul v. Sokolowski Rechtsphilosophie und römisches Recht. Er hatte in einem großen Werk die Einflüsse der antiken Philosophen auf die Lehren der römischen Juristen nachgewiesen. Ein Werk, dessen zweite Auflage wohl den Nachkriegsereignissen zum Opfer gefallen ist, ebenso wie seine interessanten Memoiren, aus seiner Zeit als russischer Kurator und Anwärter auf das Amt des Kultusministers sowie als lettländischer Minister. Damals machte sich bereits das Fehlen einer Stelle in der Reichszentrale bemerkbar, einer »Kulturstelle«, die für den Austausch von Gelehrten mit dem Ausland verantwortlich war. Man hat dabei die verschiedensten daran interessierten Persönlichkeiten im Reichsinnenministerium kennen gelernt. Entscheidend aber war das Auswärtige Amt, von dessen wechselnden Vertretern wir stets die beste Förderung erhielten. Denn nun boten jene dem »Westler« sehr fernen östlichen Kulturländer große Orientierungs-und auch Wirkungsmöglichkeiten. Es ist dem damaligen Vertreter Deutschlands in Lettland, Leg.-Rat Weber, zu verdanken, die erste Beziehung zu der späteren baltischen Hochschule angebahnt zu haben. Von da an erfolgten wohl alljährlich Einladungen zu Vorlesungen nach Riga, später auch als ausgeliehener Gastprofessor für mehrere Semester, so als Nachfolger von Sokolowski, als er nach Kowno ging. Das Gefühl, mit dem man jene ganz andere Luft einatmete, die »large und breite Natur« des früheren Rußlands mit seiner alten deutschen Kultur und doch dem reizvollen Einfluß aller dort lebenden und geistig sehr regen verschiedenartigen Nationalitäten, all dem gerade als Reichsdeutscher ohne Ressentiment offen, empfanden wohl alle, die, wenn auch kurz den
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Einladungen folgten und die große Gastlichkeit kennen lernten. Schon unter den ersten Gästen waren von Berlin: Julius Petersen, Lüders, Spranger. Es knüpften sich dort unter den günstigen gesellschaftlichen Verhältnissen persönliche Beziehungen an, die bis heute durchhielten. Es gab dort die besten katalysatorischen Umstände! Um nicht »Urständ« zu sagen. Ein besonders glücklicher Umstand für den Rechtsphilosophen bestand dadurch, daß dort als Philosoph und Soziologe, der nicht nur über »absolute Stellungnahmen« im Religiösen sondern auch über Nation und Heimat Werke schrieb, die ihre Genesis eigener, immer schmerzlicher werdender Erfahrung verdankten, Kurt Stavenhagen die Philosophie vertrat, theoretisch und als echter »Kurischer« praktisch. Auch er von den rechtsphilosophischen Arbeiten Reinachs sehr angetan. Riga mit seinen so verschiedenartigen Konfessionen, auch einem ganzen Stadtviertel der Raskolniki, der Altgläubigen, kam sehr unserer Neigung entgegen, uns mit den russischen Philosophen in der Nachfolge von Wladimir Solowschoff vertraut zu machen, von denen viele die ostchristliche Sophienspekulation mit Hegeischen Tendenzen verknüpften. Die Beziehung mit einem von ihnen Simon Frank, der später emigrieren mußte, dessen Sohn, ein Historiker auch in Berlin mit einem heute in Frankfurt wirkenden Rechtsphilosophen im Seminar den Kreis jener Russen vertrat, ist uns von seinem ersten Vortrag an besonders wichtig geworden. Er hielt ihn in Weimar über den »russischen Nietzsche«: Rosanow, und wir durften ihn zuerst mit Rilke bekannt machen. In jener Zeit empfanden wir die Verpflichtung, die teleologische Begriffsbildung der Rechtsdogmatik und der Rechtsphilosophie durch eine von jenen östlichen Denkern angeregte teleologische Durchforschung des rationalen Gedankenguts in der r e l i g i ö s e n Glaubenssphäre zu untermauern. Die Notgemeinschaft der Wissenschaft ermöglichte so das Buch »Über den philosophischen Gehalt der religiösen Dogmatik«, dessen Restexemplare wir später im Berliner Kaufhaus des Westens vorfinden durften. Dieses begriffliche Interesse, insbesondere am Durchbrach des Reihengedankens, der mathematischen Entdeckungen an der Entfaltung eines Prinzips nach dem Prinzipiat hin, hatten wir zuerst bei den Romantikern, insbesondere bei Novalis gefunden. Den Theologen beider Konfessionen des Westens aber war dieses rationale Interesse abhanden gekommen. So daß nicht nur — wie uns selbst-
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verständlich — der Protestantismus, sondern auch der Katholizismus die Fragestellung nicht verstand. Anders bei Simon Frank, der den Sinn des Unternehmens, bisher von der Philosophie übersehene grundlegende Begriffe in der Entwicklung der religiösen Dogmatik aufzuspüren, sogleich erfaßte und die enge Beziehung zu den Hegeischen Tendenzen in einer ausführlichen Besprechung nachwies. Grade jetzt sprach der uns in der Beurteilung des Fortschrittsbegriffs nahe stehende Paul Tillich noch von »deduktiver Dogmatik«, während es sich um begriffliche Entfaltung handelt. Es kann hier nicht der Versuch unternommen werden, alle in Riga eintreffenden Gäste unseres Herderkreises anzugeben: Von Aschoff, Baron Stern, Woermann an, mit denen wir zuerst den Boden betraten, wo es noch überall die kulturellen Zeichen des deutschen Ordens und der Hansa gab, wo auch das nichtdeutsche Volkstum immer wieder neue Anregung aus seinem Schatz erhaltener Folklore spendete. Von Eucken, Scheler Hamann über Nonne, der vom Totenbett Lenins kam. Heubner, Glasenapp, Helfritz, Schüßler, bis zu nichtdeutschen Gelehrten, wie dem Leiter des »Maurizhuis« im Haag, den Jan Steen Forscher Martin. Womit die Reihe ausländischer Gelehrter anhub, etwa einseitig Deutsches auszugleichen. Leider hatte der Vertreter der Germanistik an der Sorbonne, der uns vom Weimarer Nietzschearchiv her befreundete Henry Lichtenberger seinen Wunsch, auch einmal diese Art des Deutschtums kennen zu lernen, die Kotzebue gewiß nicht in seinen »Kleinstädtern« gemeint hat, nicht mehr verwirklichen können, da er sogleich nach der Einladung starb. Während wir nun in Riga lasen, entstand die Idee, gerade auf Seiten der lettländischen Universität einen Soziologen zu berufen, der als Reichsdeutscher beiden Nationalitäten dienen konnte. Wir hatten damals eine Abhandlung über die Soziologie des englischen Philosophen und Mathematiker Bertrand Rüssel verfaßt und so kam es zu zwei Berufungen auf ein Ordinariat für Soziologie7, die jedoch nicht realisiert werden konnten. Auch ein Vortrag zum Spinozajubiläum über Spinozas Grundbestimmungen von Gott, den die sechssprachige Judenschaft Rigas erbat, mag zur Ergänzung jenes bunten Bildes erwähnt werden. 7 Starke Förderung fanden unsere Pläne durch den damaligen Gesandten Köster. Er hatte das klassische Schwabing erlebt, war Dozent für Philosophie gewesen, künstlerisch allem aufgeschlossen und bot jede Gelegenheit, die verschiedensten Geister zusammenzuführen.
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All das trug zur Befestigung der Auffassung bei, daß die Rechtsphilosophie bei uns um so mehr herausgestellt werden müßte, je mehr durch Kollision von Rechtsauffassungen in zeitlicher und räumlicher Hinsicht eine geistige Auseinandersetzung der Prinzipien dringlich wurde. Trotz der inzwischen gemachten immer schlimmeren Erfahrungen mit dem Mangel bereitstehender, wissenschaftlich errungener und in sich beweglicher, wirklich freigelassener grundlegender Rechtsideen entspricht noch heute der Zustand dem damaligen nach 1918: Als es damals zu den Verhandlungen mit den Russen kam, sahen sich die deutschen Verhandlungspartner einer geschlossenen Ideologie nach Art einer Scholastik gegenüber. Wir hatten dagegen nicht etwa eine wendige überlegene Gedankenwelt zu setzen, sondern nur die berühmte Faust des —• im übrigen in seinen Fähigkeiten günstig beurteilten — Generals Hoffmann. Aus dieser Bemerkung soll man nicht auf eine Auffassung der autonomen Macht des Geistes ä la Palmström schließen. Wenn man heute die Ratlosigkeit sieht, womit man das Bedürfnis nach überpositiven Argumenten in den höchsten Entscheidungen dadurch zu beseitigen sucht, daß man sozusagen ad hoc je nachdem mit rechtsstaatlichen Ideen, Gerechtigkeit, Menschenrechten, Naturrecht usw., argumentiert, so wird evident, daß wir über jenen Zustand von damals nicht hinausgekommen sind. Nichts aus der Rechtsphilosophie steht so bereit, wird von den positivistisch geschulten Richtern so ernst genommen, daß es Eingang in die Judikatur finden könnte, ohne daß es schwammig, vag, wie rechtliche Ausreden wirkte. Zwei schwere Weltkriege, insbesondere der letzte Sturz haben nicht genügt, um die Machtposition des Positivismus so zu erschüttern, daß nicht als Hauptargument dafür jenes Bedürfnis nach automatischem, mechanischem Geschehen, wie es sich im Streben nach sog. Rechtssicherheit ausdrückt, der wirkliche Titulus für jenen Positivismus, jede weitere rechtsphilosophische Vertiefung verhinderte! Unterdeß hatte unser verehrter Habilitationsvater Hans Albrecht Fischer für uns weiter gedacht. Nach verschiedenen Berufungen war er nach Jena gekommen und fand dort bei Eucken, Bauch, Wundt eine philosophische Situation vor, die es ihm verantwortlich erscheinen ließ, uns nun die weitere Verwirklichung des Plans nahe zu legen: zunächst einmal, um wirklich Rechtsphilosoph von zwei Fakultäten aus zu werden: die Venia und den Professor auch für Philosophie zu
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erwerben, um neben dem Volljuristen auch Vollphilosoph zu sein. (Heute würde man das schöne Wort »all« anwenden: Allbuch, Allkleber.) Zur Ausführung und um den juristischen Professortitel weiter führen zu dürfen, war die Beurlaubung aus Gießen nötig. Ministerialrat Löhlein ermöglichte das — ungern — und so wären wir, da man als hessischer Beamter nie das Gegenteil erfahren hatte, auch heute noch Professor in Gießen, der ersten »Wirkungsstätte«, wenn die rechtsstaatlichen Prinzipien gewahrt sein sollten. So tat sich also Jena-Weimar auf, »die große Stadt, an beiden Enden viel Gutes hat«. Bauch, der südwestdeutschen Schule nahestehend, aber auch mit dem früh verstorbenen, rechtsphilosophisch interessierten Fritz Münch, dem Verfasser von »Erlebnis und Geltung« eng verbunden, hat uns ebenso wie Max Wundt, an dessen gründlichen Seminaren über Fichte u. a. wir lange teilnahmen, stets gefördert. Das Haus Eucken, worin auch der Sohn, der bekannte Wirtschaftswissenschafter Walter Eucken öfters anwesend war, bot nicht nur mit seiner für jede Diskussion offenen »Tatwelt«, sondern auch als Stätte für ausländische Vortragende reiche Anregung. Seltsam, als man einmal einen buddhistischen Mönch im gelben Gewand seine ständig wiederholten Paliworte zitieren hörte. Wir selbst sprachen damals dort über das seltsame Dilemma für den europäischen Menschen: einerseits in der Tat, also Realisierung der Persönlichkeit immer verletzen, tangieren zu müssen, »indiscret« zu sein, andrerseits doch das Gebot der »Entwerdung« zu vernehmen, so wie es etwa die Mystik Ekkehards gegenüber jeder antiken Form lehrte. Gegensätze, worunter der westliche Mensch stets leiden wird. Besonders beglückend in Jena war nicht nur, daß wir nun den stark empfundenen Mangel der juristischen Hörer etwas beheben konnten: in einem stets sehr besuchten Colleg über »philosophische Grundbegriffe«. (Man muß ja die seit der Säkularisation des Schulunterrichts weggefallene, den Humanismus erst vervollständigende »philosophische Propädeutik« in beweglicherer Form nachholen!) Sondern beglückend war das Zusammenwirken mit Hans Albrecht Fischer in einem regelmäßig abgehaltenen, gemeinsamen Seminar. Schon in Riga war das Wagnis gelungen, mit dem der Phänomenologie eng verbundenen Philosophen Stavenhagen zusammen Seminare abzuhalten. Gleichaltrigkeit und gleiche musische »Freizeitgestaltung« verhinderten jede Dissonanz. Entgegengesetzte Auffassungen konnten einander mit Würde begegnen und die Teilnehmer nur zur Überwindung an-
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regen. Hier in Jena aber war es das stark philosophische Bedürfnis des Älteren, dazu sein Mecklenburgischer Humor, die das Seminar so harmonisch gestalteten. Einmal, als die Teilnehmer plötzlich zu lachen anfingen, wandte sich Fischer schmunzelnd an uns: »Wissen Sie weshalb die jetzt lachen? Sie haben grade eben etwas für widerspruchsvoll erklärt, was ich vorhin in der Vorlesung vorgetragen habe«. Auch hier bot sich reiche Gelegenheit, die Gedanken in privaten Symposien fortzuspinnen. Viribus unitis konnten wir die für die Rechtsphilosophie wichtige Bücherei gut ausbauen. So hat man noch später zum Vorwurf gemacht, daß sowohl die neue Ausgabe des Talmud als die kritische von Marx-Engels angeschafft wurden. Das Studium des letzteren im »Diamat« weiter entwickelten Gedankenguts aber wurde uns allmählich weniger wichtig als das Studium der soziologischen Realitäten, die so schnell im Osten entstanden und systematisch entwickelt worden waren. Wir verdanken der Anregung des Historikers Eduard Meyer, den wir damals bei vielen Aufenthalten in Berlin öfters im Kreis der Russen antrafen, daß wir seinen Appell, uns um jene Realitäten mehr zu widmen, aufgriffen. Zwei Reisen in die Sowjetländer, zuletzt zur Jubiläumsfeier in Kasan in der Tartarenrepublik, haben so durch die nie gehinderten Eindrücke das Verständnis für die soziologischen Wirkungen rechtsphilosophischer Gedanken und Parolen, Ideologien und Propaganda aller Modalitätsgrade gefördert, so daß uns das nun in Deutschland zu Erwartende nicht unvorbereitet traf. Die politische Geschichte jener Zeit gehört in einen anderen Rahmen. Sie kann hier nur als background, als Kuhsse der Ereignisse gestreift werden oder muß es, des Verständnisses halber. Während unserer Jenaer Zeit hielten wir uns sehr oft in Berlin auf, suchten uns, von den verschiedensten Perspektiven aus ein Bild der Vorgänge zu machen, die als reale soziologische Geschehnisse alles daraus in empirischen Momenten begründete Rechtliche bestimmen mußten. Man hatte bei Schwannecke in der Meinekestraße den Kreis der Künstler kennen gelernt, der Schriftsteller und Filmschauspieler, worüber Kuh seinen lustigen Vortrag »Über die Pleite des Geistes« hielt. Man hebte das »Romanische Café« und seine ironische Tristesse, worin sowohl der Schachmeister Lasker, der damals grade seine »Philosophie des Unvollendbar« veröffentlicht hatte, als auch die Dichterin Lasker-Schüler saßen. Neben den bekannten Bühnen, die alle Welt anzogen, die Piscatorbühne, an der der Bruder des Jenaer Schriftstellers Graf StenbockG II
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Fermor beteiligt war.Sakaschansky, der frühere Synagogensänger, hatte sein Cabaret Kaftan eröffnet, wo er mit der Habbima vergleichbare hervorragende Szenen bot. Berlin hatte, wie man weiß, eine Zeit, wo, wie häufig die kulturellen Ansätze umgekehrt proportional einer normalen gesellschaftlichen oder rechtlichen Gestaltung waren. Auch die tänzerischen Neubildungen, mehr in Dresden in der Bautzener Straße und in der Bürgerwiese zentriert, strahlten überall hin aus. Sie waren auch in Riga bemerkbar. Ebenso wie sich eine Weltordnung nicht einfach juristisch neu gestalten läßt, par ordre de Muffdi des Gesetzgebers und aus der positivistischen Gehorsamstreue des Juristen, sondern in Aufbaustufen soziologisch allmählich sichern, so kann auch das Rechtliche nicht kraft eigener Garantie im juristischen Raum schweben, wenn es nicht mehr oder weniger schnell an Boden verlieren, abgebaut werden soll. Daß der nach früherer Art erzogene Jurist dazu neigt, seine Dogmatik eigenständig zu sehen, zeigt sogar das Verhalten der Vertreter eines Gebiets, das gewiß die engste Beziehung zu den soziologischen Realitäten hat, so enge, daß der von Smend eingeführte zunächst nur im Soziologischen anwendbare Begriff der »Integration« fruchtbar werden muß, der Staatsrechtslehrer. Während draußen der Erscheinung nach beinah als Spiegelbilder, nur mit anderer Umrahmung die Demonstrationen, Aufzüge durch die Straßen zogen, um die Wächter der Ordnung herum, beriet eine Gruppe von Staatsrechtslehrern und Historikern, ob man die Verfassung von Weimar in der Quinta oder Quarta lehren solle. Radbruch hat uns nach 1945 daran erinnert, daß wir damals zu ihm sagten: »Ich möchte Eure Sorgen haben.« Uns kam es auf die Erkenntnis der Realitäten an und so wurde auch Weimar zur Zentrale wichtiger Anschauungsmöglichkeiten. Nicht nur boten seine historischen Stätten, deren hochstehende Leiter und die ständig aus aller Welt einströmenden Interessenten spontaner oder organisierter, konventioneller Art Anlaß zu ständiger Beobachtung; auch der Gegensatz jener nach-nachgoethischen Gesellschaftsschicht, im wesentlichen noch aus der Tradition des Großherzogs Carl Alexander stammend, zu der modernsten Bewegung jener Zeit: der des »Bauhauses« war ein soziologisches Reizmittel höchsten Ranges. Während uns noch in Gießen an Hand des Abbildungsmaterials die Bestrebungen des Bauhauses verschlossen blieben, änderte sich das sofort, als man in den Umgang mit jenen Meistern kam, ihre Ateliers besuchte, Farbstudien bei Kandinsky treiben durfte, schließ-
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lieh sogar Vorlesungen in dem Kreise halten. Wobei das Interesse an Hegeischen Spekulationen, am Abstrakten auch im Geistigen sogleich bemerkbar war. Auch hier war es Hans Albrecht Fischer, der gewiß persönlich jenen Tendenzen fern stehend, uns die Chance bot, darüber unsere Eindrücke in Vorträgen darzulegen, die dann von dem aus Ungarn stammenden Meister des Bauhauses Moholy'-Nagy selbst gesetzt wurden. Die Schrift, zuletzt noch in Dessau, zur Verteidigung des Bauhauses dienend, dem wir die Restauflage zur Verfügung gestellt hatten, konnte die Drangsalierung jenes Kreises nicht verhindern. Das épater le bourgeois wirkte sich bei dem Spießbürger zu stark aus. Dabei bestand ein offenbarer Gegensatz zwischen dem übermunteren »dadaistischen« Treiben der von allen Seiten herbeigeströmten Schüler und der ruhigen, verantwortungsvollen Haltung der Professoren. Gropius stammte ebenso aus traditionellem Kreise wie Kandinsky, dessen juristische Schulung seiner Darstellung zugute kam. Frau Kandinsky war die Tochter eines zaristischen Offiziers, dessen Witwe wir noch kennen gelernt haben. Klee, auch qua Ehepartner, ein psychologisch interessanter Gegensatz zu Kandinsky, war als Mensch, in seinem völlig altmodischen Milieu, was die Institutionen anbetrifft, von einer konservativ zu nennenden Gleichgültigkeit: Ausschließlich, wie ein Mystiker seiner Gottesschau, so war er seiner künstlerischen Vision hingegeben. Von allen diesen sahen wir in Berlin nur noch Muche wieder, der Mönch geworden sein soll. Unmittelbar geistiges Material boten die Schätze des Nietzschearchivs und die Gespräche mit den Persönlichkeiten, mit denen wir wegen der kritischen Nietzscheausgabe besonders zu tun hatten : Oswald Spengler, Walter Otto, von den Nietzscheanern im weitesten Sinne seiner Ausstrahlung (Klages, Prinzhorn usw.) ganz abgesehen. Fast allwöchentlich kamen Gelehrte aus aller Welt herauf. Auch die Verehrer des Konvertiten Langbehn, des »Rembrandtdeutsehen« sowohl der Kreis des Shakespeare- wie der Bacongesellschaft. Über die Struktur jenes Kreises auf dem »Silberblick« müßte einmal sine ira et studio geschrieben werden. Die komplizierte Natur der Schwester Nietzsches ergab ebenso viel Bewunderer wie Hasser, auch viele Verehrer, die zu Hassern geworden waren. Bezeichnend für die Problematik, die sie selbst ihren engsten Mitarbeitern bot, ist, daß wir abends, öfter mit dem Vetter und Archivar Max Oehler beim Wein zusammensitzend, immer ins Gespräch über gewisse Seltsamkeiten j*
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dieser Frau kamen! Ihre Verdienste um die Beschaffung der überall zerstreuten Handschriften und ihre Sammlung, den Aufbau des Archivs, woran baulich van der Velde einen großen Anteil hatte, das Schaffen eines Kreises von Mitarbeitern, von klugen prominenten Beratern, die sie sich aus allen Parteien wählte, die ganze Stiftungskonstellation, die sowohl wissenschaftliche Arbeit als auch Geselligkeit, ja den letzten sog. Salon ermöglichte, all das bewirkt von einem mittellosen Pastorentöchterchen, das, nach dem Selbstmord ihres ruhelosen Mannes in Paraguay ganz auf sich gestellt war, einer Frau, die dazu noch den berühmten Prozeß um das Urheberrecht an Briefen erfolgreich geführt hatte! Es bedarf das einer Sammlung vieler Äußerungen aus mannigfachen Kreisen, um ein einigermaßen objektives Bild zu geben. Auch das, was wir s. Z. bei der Entdeckung einer ins Parapsychologische reichenden Halluzination Nietzsches mitteilten und was zu einer Korrespondenz zwischen Thomas Mann und Alexander Rüstow führte, reicht zu einer Stellungnahme nicht aus. Ein eindeutiger Verehrer von Frau Elisabeth war jedenfalls Oswald Spengler. Ihr verdanken wir es, nach Leisegang zum wissenschaftlichen Leiter des Archivs und Vorsitzenden der Kommission für die endlich bei Lebzeiten der Schwester noch in Gang gekommene kritische Nietzscheausgabe (neben unserer Tätigkeit in Jena) berufen, daß wir zu einer klaren inneren Stellungnahme zu den nun hereinbrechenden Ereignissen nicht nur an Hand des so ungeheuren Materials an Äußerungen aus den Archivbeständen, insbesondere von Nietzsche und Jacob Burckhardt kamen, sondern auch durch den vertraulichen Umgang mit Spengler. In den mit einem Deckengemälde von Ridinger geschmückten Räumen des »Goldenen Adler« in Weimar, wo einst unter Liszt der »Neuweimarverein« getagt hatte, in einer Ecke des vom alten Großherzog gestifteten, aus einer Schmiede originell gestalteten, mit vielen Trophäen künstlerischer und potatorischer Leistungen umgestalteten Künstlervereins unterhielt sich Spengler gern vertraulich bei seinem geliebten Rotspon. Hier gingen einem auch die irrationalen Momente jenes oft als Rationalisten bezeichneten Denkers auf. Er war es, der uns da auf seriöse parapsychologische Literatur aufmerksam machte. Als die Ereignisse in Thüringen einsetzten, hatte er bereits Notizen bei sich, die Auskunft gaben sowohl über die Summen, die die Eltern Röhm spendeten, um ihre Jungens aus seinem Kreis loszueisen, als auch später über den Ubergang von Diplomatenhäusern usw. in den
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Besitz der zukünftigen Größen. Nur die oft sehr andersgeartete Anwesenheit anderer Gäste verhinderte, daß Spengler nicht damals schon in größte Gefahr geriet. Dazu haftete dem Kreis des Archivs oben so etwas wie ein Tabu an. Entscheidend war, daß Spengler bereits so früh über alles negative orientiert war, daß er auch über die Herkunftsverhältnisse (auf die er auch bei sich großen Wert legte) der nun auftauchenden Personen Bescheid wußte, und man so das bestätigt bekam, was man einfach »schaute«. Zu betonen ist aber, daß Zeiten, die offenbar aus Gründen juristischer Begriffsbildung die Menschen sozusagen in normale und verrückte einteilen ohne dabei der halbverrückten zu gedenken, um die Überschrift eines Kapitels aus Musil zu erwähnen, daß solche Schwarz-weißporträtisten der bunten Menschen mit ihren Widersprüchen auch bei Spengler hören müssen, daß dieser trotz seiner scharfen Ablehnung und kritischster Sicht sich wohl bereit gefunden haben dürfte, das Amt eines Kultusministers anzunehmen, freilich, um nach drei Tagen wieder abgesetzt zu werden. Jedenfalls ergänzte Spengler das schon für jedes offene Auge sichtbare Anschauungsmaterial, das überall die Physiognomien, der Stil und die sonstigen Allüren boten. So konnten wir bereits in den Blättern für deutsche Philosophie 1935, in Bd. X V I der österr. Zeitschrift f. öff. Recht (Verdroß) und weiterhin Auszüge aus den sog. Aphorismen bringen, genauer Gedanken, Einfälle, in denen wir damals unsere Empfindungen bei den Ereignissen abreagierten. Daß das Ganze als Band des Archivs für Rechts- und Sozialphilosophie, von Berlin aus herausgebracht, nach Jahren vergeblichen Angebots an die verschiedensten Verleger, dazu nach einem Jahr Drucklegung, unter Monierung von Stellen durch die Drucker, schließlich Jahrgang 1942 erschienen, eine solche Beachtung als Widerstandsleistung gerade bei mir damals persönlich noch wenig bekannten Persönlichkeiten, wie den Nobelpreisträgern Otto Hahn und Max v. Laue, der später ein Geleitwort verfaßte, finden würde, war uns auch dann noch nicht klar, als wir schließlich ernstlich gefährdet waren. Im Ganzen kann man, sehr simplifizierend, die Reaktion der Menschen auf die Ereignisse folgendermaßen einteilen: Die wenigsten glaubten alles; man schloß auch aus der Behandlung der Warenhäuser und schließlich sogar der Russen auf Divergenzen zwischen den Parolen und den Realisierungen, und daß es primär nur um eine Zusammenfassung von Kräften coute que coute ginge. Aber es gab in entscheidender Hinsicht eben doch drei Gruppen. Die eine meinte.
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der Mann sei so herrlich. E s war das ewige Courths-Mahler- und Spießbürgertum mit seinem Bedürfnis nach Plüschparolen. Ein Bedürfnis, das um so mehr gedeiht, je weniger Gelegenheit besteht, daß in weltmännischem Milieu, wozu j a die heute mehr denn je vermißte Zentrale Berlin Anlaß bot, naive Regungen durch schnoddrige Repliken abgebogen werden. Diese Gruppe dachte also: Der Mann ist so herrlich, also wird alles so kommen.
Die andere Gruppe war, wir können
sagen, zimperlich, ahnungslos gegenüber dem, was im Osten längst geschehen, j a schon beinah wieder vergessen war. Sie meinte: Der Mann ist so schrecklich (er ißt Spargel mit dem Messer), also wird das gewiß nicht kommen. Die dritte aber, die wohl als Menge nur wenig Elemente umfaßte, wußte aus der Geschichte und Soziologie, den T a t sachen der Kollektivbildung, von den Unverantwortlichkeit schaffenden Organisationsmöglichkeiten, von den schier unergründlichen Ursachen eines Prestiges, der Zubilligung von Lorbeeren ante festum, Anpassungsfähigkeit (man denke an die heutige gegenüber der himmelschreienden Negativa des ungeordneten Zusammenspiels einzelner technischer Wunderwerke) vor allem aber aus dem, was bereits wirklich im Osten real geworden war, daß es hier überraschend wenig »niet mööglich« gibt, u m mit Grock zu sprechen. J a das Schlimme an der Realisierung von Möglichkeiten liegt gerade darin, daß man wirkliche Muster vor sich hat, und man weiß heute, wie viele diese Muster studiert hatten. Diese Gruppe also dachte: Der Mann ist schrecklich, aber das wird jetzt kommen. Die Hauptsache wäre, nach allen Erfahrungen, daß es Verantwortlichen und klar Sehenden gelänge, in Spitzenstellungen die Dinge allmählich ins Vernünftige zu lenken. Die Ereignisse 1934 bewiesen, daß da der Anschluß verpaßt wurde. Nun galt es nur noch, neben Verhüten, den Reifen, auf die man vertrauen durfte, die Augen zu öffnen. Dies konnte gerade durch wissenschaftliche Äußerungen geschehen. Charakteristisch aber auch oft der Verlauf: V o n unserem Vortrag »zur Philosophie des Führertums« war z. B . die Veröffentlichung zuerst unmöglich, dann an einer sehr akademischen Stelle, in der Festschrift für Spranger. Danach wurde aber durch eine zu günstige Besprechung in der Neuen Züricher Zeitung 1936 eine erneut gefährliche Situation geschaffen. Jene Lage wird nun insofern nicht mehr eintreten, als die Ereignisse, im und nach dem Hitlerregime, die man genau studieren sollte, bewirkt haben, daß selbst solche Mitglieder jener Gruppe drei wohl nicht mehr leicht zur gehei-
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men Wahrnehmung von Schlüsselstellungen bereit sein dürften. 8 Die Ereignisse würden dann noch viel flotter und ungehinderter abrollen. Daß es nicht nur darauf ankommt, daß einheitliche Grundsätze als ein ruhendes Koordinatensystem zur Anerkennung aller Vertragschließenden, mit einander Koexistierenden gelangen müsse, wenn ein justus Titulus einer echten Bindung soziologisch gelten soll, sondern daß auch im Verlauf einer ständig schneller bewegten Geschichte, einem immer stärkeren Antrieb der res gestae im »juristischen Wandeln, der Ablösung von Regimen zum Trotz jene Grundsätze durchgehalten werden. Auch gegenüber den ja immer ihre Rolle wechselnden Gegnern ! Gegenüber allem »Juristischen«, das unter dieser Perspektive in die Rolle eines bloßen Überbaus rückt, sind hier behutsam die soziologischen, rechtspsychologischen Fundamente ganz neu zu legen, wenn es nicht zu immer unmenschlicheren Geschehnissen kommen soll. Das »ohne mich« ist einfach eine verständliche psychologische Resonanz auf antithetische Gesetzesmacherei. Oft glich der Mensch dem angebundenen Hofhund, der von einem tollwütigen Fuchs gebissen, danach noch getötet werden mußte, automatisch, »von Rechts wegen«. Bevor jene Ereignisse eintraten, noch zur Zeit der harmonischen Zusammenarbeit mit dem später wegberufenen verehrten Hans Albrecht Fischer, hatte Berlin nun nach dem erwähnten Vortrag in der juristischen Gesellschaft, gedruckt auch in deren Organ, zum erstenmal angeklopft. Fischer teilte uns vertraulich den Hauptinhalt eines Briefes mit, den unser späterer verehrter Berliner Kollege Kohlrausch an ihn gerichtet hatte. Darin hieß es, daß die Fakultät vor habe, ein persönliches Ordinariat für Rechtsphilosophie zu wagen und uns darauf zu berufen. Es kam aber so, daß das damalige Ministerium es für gut hielt, neben den vorhandenen Staatsrechtslehrern noch einen weiteren 8 Eine plumpe Alternative für die »Wissenschaft von der Politik«: Was ist gefährlicher ? Wenn sich die stets verführbare Masse der Menschen, töricht, anfällig, verehrungsbedürftig, von Scharlatanen begeistern und leiten läßt ? oder wenn sie auf Grund von Erfahrungen gleichgültig, stumpf geworden, sich gegenüber jedem in Unterwerfungshaltung begibt, uninteressiert an allem, was nicht ganz unmittelbar ihre kleinen Angelegenheiten betrifft ? Le monde est fait à dos d'âne. Aber die richtige Einstellung, diese uectôtt)S 8üo kcckicov läßt sich offenbar nicht juristisch, in diesem Sinne »ein-fältig« »machen«. Sie muß vielmehr »in dorso« zufallen: als Frucht sehr umwegsamer Bemühungen, die Rechtssoziologie und Rechtspsychologie erst zu erforschen hätten und die man sich nicht schwierig genug vorstellen kann. Am Schlüsse dieses Beitrags wird versucht, wenigstens im Rationalen für die Intellektuellen etwas vorzuschlagen.
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zu berufen, also keinen Lehrstuhl für Rechtsphilosophie zu schaffen. So kam der von uns sehr hoch geschätzte Staatsrechtler Heller nach Berlin, leider infolge seines frühen Todes nur für kurze Zeit, so daß die Frage jenes Lehrstuhls wieder aktuell wurde. Daß auch der damalige Universitätsreferent die Einführung der Rechtsphilosophie für dringlich hielt und es nicht durchsetzen konnte, hat er uns durch einen persönlichen Brief bestätigt, den wir noch besitzen. Um auf Weimar zurückzukommen: Seit Alters bestanden dort, offenbar mit Nietzsches Liebe für Italien zusammenhängend, enge Beziehungen der Schwester dorthin. Viel Besucher trafen auch von dort im Archiv ein. Wir erinnern daran, daß der Philosoph Orestano, mit dem man später in Berlin noch oft zusammentreffen sollte — zuletzt in knappster Zeit, wo wir ihm offiziell nur eine Blutwurst vorsetzen konnten — schon bei der Grundsteinlegung oder Eröffnung des Hauses eine Rede über Nietzsche gehalten hatte. Auch mit Farinelli, der damals die Aufzeichnungen des Vaters Goethe über seine italienische Reise herausgab, gab es öfters Déjeuners oben in den schlichten Räumen mit den Möbeln der Naumburger Nietzsches (meist bei Spezialgerichten aus Paraguay). Die Botschafter kamen von Berlin herüber. Als Mussolini den Friedenspakt mit der Curie schloß, war die Freude der Schwester besonders groß, da einen Staatsmann, der das fertig brächte, ihr Bruder für einen großen bezeichnet habe. Irgendwie mit Politik im engeren Sinne beschäftigte sie sich ja nicht. Wir amüsierten uns darüber, daß sie alle Parteien unterstützte. Der Vorsitzende der Stiftung, der uns noch hinberief, war die letzte demokratische Exzellenz aus dem großherzoglichen Ministerium gewesen, sein Nachfolger der Ministerpräsident aus der Deutschen Volkspartei. Daß ihr Antisemitismus fern lag, wurde von Frau Elisabeth immer betont : Wir deuten nur an. Von Prinzhorn eingeführt, arbeitete dort eine heute durch Frauenbiographien bekannte Schriftstellerin und erbat von der Schwester die Erlaubnis, die berühmte Eingangspforte von van der Velde als Exlibris zu nehmen. So lange wir Zugang hatten, sang eine Dame des von Hitler verschmähten Kreises, liebte sie den Bildhauer aus Weimar, und die Nachkommen einer von Bismarck geförderten Familie, die auch »betroffen« waren. Georg Brandes, den wir noch besuchten und der intime Auskünfte über sehr persönliche Dinge geben konnte, worüber wir noch Victor v. Weizsäcker berichteten, war ja der erste gewesen, der über Nietzsche Vorlesungen in Ko-
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penhagen gehalten hatte. So äußerte sie auch bis zuletzt, daß »sie kein Talent zu Antisemitismus« habe, was ja ganz der Auffassung ihres Bruders entsprach. So hat auch die Loge »Anna Amalia«, die man später drangsalierte, gern ihr Einspringen für sie bestätigt. Tatsachen, die mit dem Bedürfnis, im Mittelpunkt zu stehen, ja selbst »wahllos zu verehren«, wie einmal ein Nachruf von mir über sie in einer im französischen Sektor Berlins erschienenen Zeitung nicht mit Unrecht tituliert worden war, bei einer Frau ihres Temperaments begreiflich sind. Eines Tages — wir waren verreist gewesen, haben aber noch Aufzeichnungen darüber — fanden jener Ministerpräsident a. D., der Archivar und wir die Tatsache vor, daß sie, ohne uns zu fragen, unsere Namen auf ein Telegramm gesetzt hatten, das sie spontan — an gewisse kaiserliche Telegramme erinnernd — anläßlich des ersten Zusammentreffens von Hitler mit Mussolini, dorthin gesandt hatte. Uns allen blieb nichts anderes übrig, als die Äußerung der Verwunderung darüber, wenn wir nicht, endlich in der Lage, sie noch bei Lebzeiten, über manches befragen zu können, das ganze Unternehmen der Ausgabe gefährden wollten. Solche Parforcestreiche kamen bei ihr leicht vor. Als nun der Kongreß für Rechtsphilosophie in Rom stattfand, geleitet von unserem ältesten italienischen Freund unter reger Beteiligung auch von Radbruch, der dabei ein Referat über Gerechtigkeit, Sicherheit und öffentliches Wohl hielt, entstand, für uns völlig überraschend, eine Krise, insofern deutsche Teilnehmer den nach gewissen ominösen Gesetzen von ihnen abgelehnten langjährigen Herausgeber der Rivesta und führenden römischen Rechtsphilosophen bekämpften. Wir haben seine Rechtsphilosophie in der Übersetzung von Darmstädter, dem alten Mitarbeiter des Archivs, noch mit einem Geleitwort als Beiheft der Zeitschrift herausbringen können. Freilich erlebten wir dann auch, daß das Buch entsprechend etikettiert, in der Seminarbibliothek in Berlin stand. Es gelang damals noch, den Widerstand dieser Gruppe gegen jenen Leiter zu brechen. Dieser überraschte uns danach mit der Mitteilung, daß er als Dank anläßlich des Intern. Kongresses eine Audienz bei Mussolini in Anregung gebracht habe. Sie ergab sich sofort. Ein Offizier lud uns in den Palazzo Veneria an einem Vormittag. Wir müssen hier vorausschicken, daß Frau FörsterNietzsche kurz vor ihrem 90. Geburtstag plötzlich gestorben war, daß der italienische Botschafter, wohl Attolico, ein Gelehrter, befreundet mit Bonucci auch einem Mitarbeiter von »Philosophie und Recht«,
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dessen Studie über Imperative meine Frau übersetzt hatte, im Namen Mussolinis einen Kranz am Sarg der Schwester niedergelegt hatte. Stets wenn wir von Italien sprachen, meinte sie, bei der ersten Möglichkeit solle ich jenem ihre Grüße überbringen. Nun war die Gelegenheit »posthum« gekommen. Als ich am Ende jenes Riesensaals schließlich vor dem »Duce« stand, der mich gebräunt und in braunem Anzug in deutsch begrüßte und nun die »letzten Grüße der Verstorbenen« überbrachte, war seine Antwort »ist sie tot ?« und das Gespräch sichtlich unbeobachtet und in deutsch, über eine halbe Stunde dauernd, hauptsächlich, das Wissen Mussolinis über Nietzsche bekundend, begann mit zwei penetranten Fragen, worauf man nur schweigen konnte. Ich simplifiziere sie hier: Die erste lautete: Sie werden in Deutschland einen Kulturkampf haben. Was hat das denn für einen Zweck? Die zweite lautete: Was hat es für einen Sinn, so viel mit »Weltanschauung« zu arbeiten ? Die Masse des Weltanschauungsinhalts verhält sich doch umgekehrt proportional der Masse der Menschen, die sich ehrlich dazu bekennen. So mathematisch hat er das natürlich nicht formuliert, was er meinte. Am Ende des Gesprächs begleitete er uns, den deutschen Professor durch den ganzen Saal bis zur Tür. Seine letzten Worte galten der guten Erziehung, die Nietzsche in Schulpforta empfangen hatte und wir wollten ihm nicht mitteilen, daß auch dieses bereits zu einer nationalsozialistischen Erziehungsanstalt umgewandelt war, wie wir es gelesen hatten. Obgleich jene Äußerungen politisch gewiß nicht uninteressant waren, so hat doch niemand aus Deutschland je eine Frage nach dem Inhalt unseres Gesprächs gestellt. Abgesehen von dem persönlichen Eindruck, trug unser Verhalten gegenüber dem Vorsitzenden des Kongresses, also insofern eine rechtsphilosophische Angelegenheit, uns einen hohen königl. ital. Orden ein. Einmal »Nutzen der Rechtsphilosophie für das Leben«! — In die Jena-Weimarer Zeit fällt nun die Möglichkeit, in dem durch Bilder und Andenken doch schon historischen Räumen des Nietzschehauses in kleinem Kreis Seminare abzuhalten, wozu dort sämtliche Literatur zur Verfügung stand. Abgesehen etwa von Andler, den man sich zwar anders woher beschaffte, der aber unerwünscht war. Doch gab es auch genug Kritisches gleicher Art im Haus. Jene Möglichkeit war dadurch gegeben, daß man die schon von Goethe zusammengesehenen Kulturstätten in Jena und Weimar durch ein »Perugiaplan« genanntes Vorhaben einander anzunähern suchte. Es kam so auch zu einem »Weimar-
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Jena Kollege«, das wir für Besucher aus U S A einrichteten, woran sich dann viele Kollegen aus Jena beteiligten, woraus wir uns jedoch zurückzogen, als wir die Unseriosität derartiger Unternehmungen erkannten. Aber die mit uns befreundeten, eine besonders anregende Geselligkeit bietenden Leiter der verschiedenen Archive: Prof. Wahl, Hecker, Deetjen, die führenden Persönlichkeiten der Goethegesellschaft, wie Kippenberg (und seine mit Rilke befreundete Frau), begrüßten die nie über die erste Planung hinausgekommene Annäherung der beiden Städte schon im Interesse der wirklich kulturinteressierten Ausländer. So hat es also einmal ein Jenaer Universitätsseminar im Weimarer Nietzschehaus gegeben, das jetzt wohl nur noch als bloße Hülle fortexistiert. Noch ein anderes muß von der Rechtsphilosophie her erwähnt werden. Wie man uns vertraulich erzählte, hatte der erste Auszug aus dem allmählich anwachsenden sog. Aphorismenbuch als »Opposition« offizielles Mißfallen einer sehr hohen Persönlichkeit erregt, jedoch die seltsame Folge gehabt, daß Geheimrat Kisch, der wissenschaftliche Leiter der Akademie für deutsches Recht mich offenbar auf Anregung jener bat, seine Nachfolge zu übernehmen. Wie heute feststeht, war dies eine Stätte, wo, unabhängig von Parteiund sonstigen Einflüssen, in enger Beziehung mit der ausländischen Wissenschaft in Ausschüssen das für spätere Legislatur heranreifende Material bearbeitet wurde und wissenschaftliche Werke, wie z. B. das grundlegende Koschackers über die Bedeutung des römischen Rechts oder Editionen, z. B. der Germanenrechte, entstanden. Es bedarf hier keiner Nennung der Persönlichkeiten, deren Bedeutung auch nach 1945 wieder anerkannt wurde. Ein schon längst reifer Ausschuß für Nationalitätenprobleme gab wichtige Anregungen zur Erkenntnis ja zur Nomenklatur jener so kompliziert gelagerten Verhältnisse. Hier machten sich jedoch später politische Wünsche bemerkbar, die uns zum Niederlegen des Vorsitzes nötigten und schließlich die ganze Ausschußtätigkeit stillegten. Das war auch das Schicksal einer Arbeitsgruppe für Rechtsphilosophie. Zusammengesetzt nicht in erster Linie von sozusagen approbierten Rechtsphilosophen, sondern als eine Diskussionsgruppe für übersehene rechtsphilosophische Probleme gemeint, hatte sie als Mitglieder unter anderen zwei heute noch sehr wirksame Philosophen, die Rechtsphilosophen Stammler und Binder, wohl auch Werner Sombart, den Biologen Baron Jacob Uexküll. Als wir uns an die Arbeit begaben, erschien Alfred Rosenberg und trug
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sein bekannt unreifes Zeug vor. Die Folge davon war, daß ihn nach der Sitzung Uexktill im Hotel aufsuchte, um auf die Unmöglichkeit seiner Auffassungen aufmerksam zu machen. Eine heftige Auseinandersetzung zwischen dem berühmten Gelehrten aus alter Kulturschicht von hohem wissenschaftlichen Rang mit dem homo novus und Dilettanten! Damit war jener Arbeitsgruppe der Todesstoß versetzt. Sie konnte nie mehr zusammen kommen. Dafür ließ sich allerdings später die Widerstandsgruppe der Akademie dadurch verstärken, daß wir auf Wunsch der infolge der Juliereignisse hingerichteten Jens Jessen und Popitz eine bisher nicht vorgesehene Klasse »Wirtschaftswissenschaften« durchsetzen konnten, deren Leitung der unglückliche Jessen bekam. So war man im Falle des Gelingens gewisser Pläne der Möglichkeit näher gerückt, sofort zur Wiederherstellung eines echten Rechtszustands und zur Wiedergutmachung mit einem großen Kreis von Fachleuten bereit zu stehen. Wir waren schon lange abgesetzt, lebten im Odenwald, als uns — auf einer offenen Karte! — Jessen von dem nun kurz bevorstehenden Widerstandsakt, jedem Spitzel verständlich, Mitteilung machte. — Doch um zu jenen Jenaer-Weimarer Tagen zurückzukehren, deren Turbulenz besonderer Schilderung vorbehalten bleiben muß: Es gelang den anerkannten Fachmann für Volkstheorie, der bisher ein schon immer von den Behörden unterstütztes Institut in Berlin hatte, nach dem letzten Krieg Gründer und Präsident der Akademie in Lüneburg, für Jena zu gewinnen. Verhandlungen mit dem uns von Gießen her befreundeten Dekan von Halle; das Ordinariat in Jena; schließlich die Mitteilung, daß wir uns für Berlin vorbereiten sollten. Es war erfreulich für uns, als die alten Jenaer Kollegen wünschten, daß wir bis zur Regelung einer Nachfolge noch von Berlin aus Jena als Honorarprofessor für Rechtsphilosophie versähen. Ein Wunsch, den wir um so leichter erfüllen konnten, als in Weimar die Schwester Nietzsches noch lebte und die eingeleiteten Arbeiten ihren Fortgang nehmen mußten. In jene Zeit, wo man mit uns bereits im Kultusministerium alles Einzelne über den Berliner Lehrstuhl besprochen hatte, fiel nun der internationale Philosophenkongreß in Prag, dessen Verlauf wieder alles gefährden sollte. Thema war »Die Krisis der Demokratie«. Leiter des Kongresses war der Prager Kollege Radi, der sich sehr vornehm benahm. Wir sollten die deutsche Delegation leiten, einen Kreis von mir zum größten Teil unbekannten Persönlichkeiten.
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Umspitzelung war so gut wie sicher und zeigte sich auch sogleich. Nur einmal baten wir die Gruppe zusammen, als ein Prager Kollege bestürzt mit der Nachricht kam, die Amerikaner hätten eine Resolution für die Freiheit der Wissenschaft eingebracht. Wir riefen nun den Kreis zusammen und baten, einstimmig für jene, ja ganz selbstverständliche Resolution zu stimmen. Das geschah auch. Als eine Prager Zeitung das Gegenteil berichtete, bedauerte das sogleich der Präsident und drang auf Richtigstellung. Ich selbst hielt mein Referat über das »Aktuelle, als einen vergessenen philosophischen Grundbegriff«, das an zwei Stellen gedruckt wurde. Man hatte vorher mitgeteilt, daß wir bei der Eröffnungsfeier nicht zu sprechen brauchten. Aber es kam anders. Erst während des Beginns forderte man mich zu einer Ansprache auf. Ich war also völlig unvorbereitet. Aber ein Zufall kam mir zugute. Der Kongreß hatte als Motto auf seiner Anstecknadel den Satz Vergils »veritas vincit«. Grade kurz zuvor hatte ich die bekannte Schrift Theodor Häckers über Vergil gelesen, worin er dessen besonders bemerkenswerte Thesen herausstellt. Diese fielen mir nun ein. Eine Zeitung schrieb: Als der Leiter der deutschen Delegation das Wort ergriff, hätte man den Fall einer Nadel auf die Erde hören können. Es war aber für mich nur nötig, jenem schönen Motto des Kongresses veritas vincit zwei andere des Vaters des Abendlandes zuzugesellen: Labor vincit und amor vincit. Dann konnte ich mich setzen. Willy Hellpach, der Sozialpsychologe und Reichskanzleranwärter hat mir viele Jahre später, als ich mit ihm, als neu gewähltem Mitglied unserer Akademie der Wissenschaften und Literatur eine Rheinfahrt machte, lachend erzählt, daß man ihm danach zu der Ansprache gratuliert habe, indem man ihn mit mir verwechselte und daß er jene Gratulation schmunzelnd eingesteckt habe. Natürlich wurden jene Zitate besonders in der italienischen Gruppe gut aufgenommen; es war die Zeit, wo die berühmte »Achse« noch nicht gebildet war. Nach jenen anstrengenden Tagen suchte ich kurz Erholung, indem ich oben auf dem Hradschin durchs »Alchemistengäßchen« ging. Ich stand plötzlich vor einem ulkigen Laden, einer Wahrsagerin, die sich als Schülerin einer mir unbekannten Madame de Thebes bezeichnete. Aus Neugierde trat ich ein. Sie ließ mich zwei Karten ziehen. Auf meiner war eine Leiter. Nachdem sie mir etwas über eine gut überstandene Krankheit meines Sohnes gesagt hatte, was stimmte, wies sie auf die Karte und sagte: Sie haben etwas gerade in Gang, woran Ihnen viel liegt. Denken Sie nicht.
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daß das nun ohne weiteres so ausliefe wie Sie wünschen. Hätten Sie diese Karte gezogen — es war eine Karte mit Tauben — , so flöge Ihnen alles ohne weiteres zu. Sie müssen aber die Dinge selbst machen. Als ich aus dem in der üblichen Weise mit Eule usw. ausgestatteten Laden herauskam, kam mir der Einfall, doch den Umweg über Berlin zu machen, anstatt direkt nach Weimar—Jena zurückzufahren. Als ich in Berlin ankam und mich zuerst über den Bericht über mein Verhalten zu orientieren suchte, der glücklicherweise noch nicht erschienen war, fand ich, daß er in allem das Gegenteil brachte. Kurz entschlossen, diktierte ich ihn der Wahrheit gemäß um. Dann ging ich aufs Ministerium, um zu erfahren, ob meine Ernennung vollzogen sei. Ich entdeckte überall neue Gesichter. Ein Referentenwechsel hatte stattgefunden. Man schien keine Ahnung mehr von meiner Sache zu haben. So mußte ich veranlassen, daß man den Akten nachforschte, die man dann auch fand und erneut auf Erfüllung des Versprochenen dringen, zumal auch die Fakultät auf die Ankündigung der Vorlesungen wartete. Unterdes erfuhr ich, daß man Nikolai Hartmann, mit dem ich schon aus seiner Marburger Zeit, wo er mich in Gießen besuchte, in bester Beziehung stand, wegen seines Verhaltens auf dem Kongreß gerügt (es lag übrigens eine Verwechslung vor, die wir aufklären konnten) und mein Verhalten als ganz klare Sabotage bezeichnet hatte. So war also in der Tat unterdessen allerlei vorgefallen. Es war nötig gewesen, nach Berlin zu fahren, um wenigstens die Angelegenheit meiner Ernennung zum guten Ende zu bringen. Zurückgekehrt nach Thüringen, luden wir das mit uns befreundete Ehepaar Wahl, den Leiter des Goethehauses, ein. Ich erzählte ihnen die Sache, deren definitiver Ausgang ja noch nicht feststand. Als kurz danach die Ernennung in der Zeitung stand, rief mich Hans Wahl an: »Ich gratuliere! Madame de Thebes«. Es waren also recht seltsame Zeichen, unter denen wir nun, nachdem wir bereits das Fach provisorisch vertreten hatten, als Rechtsphilosoph an die geliebte Friedrich-Wilhelms-Universität kamen. — Doch spielten sich noch gewisse Ereignisse in Weimar ab, die ein bestimmtes Licht auf die Aussichten warfen, denen das Archiv entgegensah. Zunächst fuhr ich nach meiner Berliner Vorlesungstätigkeit nach Jena und Weimar, hierhin, um mich weiter um die Vorbereitungen für die Ausgabe zu kümmern und um Seminare abzuhalten. Da ich kein Philologe war, auch nur zum verantwortlichen Leiter der Herausgeberkommission bestellt, waren uns, wohl seitens der Notgemein-
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schaft der Wissenschaft, die durch Heinrich Maier und Geheimrat Siegismund mit uns in Beziehung getreten war, zwei hervorragende, sehr empfohlene Altphilologen, zur Verfügung gestellt worden. Als nun 1945 plötzlich die Schwester Nietzsches starb, stand der Kreis der Kommission vor einer neuen Situation. Das Nietzschearchiv war eine Stiftung mit einer Konstitution, die der verstorbenen Schwester sehr große Rechte eingeräumt hatte, die sie gewiß bei ihrer starken, ja dämonisch zu nennenden Natur noch weitergehend wahrnahm. Jetzt trat also ein Zustand ein, wo der Kreis des Archivs, an der Spitze die Verwandtschaft von Nietzsches Mutter her, der Frankfurter Generaldirektor der Bibliothek, selbst ein verdienstvoller Nietzschekenner, und der Archivar die entscheidende Rolle spielen würden. Ich wäre schon aus räumlichen Gründen genötigt gewesen, mich als unabhängigen Wissenschafter weitgehend der Familie und ihren Wünschen unterzuordnen. Das glaubte ich verhüten zu müssen. Es war mir daher eine Genugtuung, daß die mir nahe stehenden Berliner philosophischen Kollegen sowie mein verehrter alter Lehrer aus Marburg, der Sekretär der geisteswissenschaftlichen Klasse: N. Hartmann, Spranger und Heymann auch dieser Ansicht waren. Die näheren Umstände, die in der Akademie der Wissenschaften in Berlin zu dem mir allein sinnvollen Vorschlag führten, kenne ich nicht, weil ich erst später, aber wohl nicht ganz ohne Bezug auf jene Vorgänge, Frühjahr 1939 Akademiemitglied wurde. Die Akademie arbeitete einen Vorvertrag aus, worin sie festlegte, daß ich von Berlin aus, weiter wie bisher, den Vorsitz in der Kommission einnehmen solle, dazu auch eine gewisse Verantwortung für die kulturelle Auswertung und wissenschaftliche Unabhängigkeit des Archivs. War es doch Mode geworden, sich jetzt häufig auf angebliche Ideen Nietzsches zu beziehen, ohne daß sich freilich, jedenfalls so lange ich Einblick hatte, jemand dieser Kreise die Mühe gegeben hätte, durch Anfrage oder Einsichtnahme das wirkliche Material zu untersuchen. Eine Sorge in dieser Hinsicht war aber angebracht und jetzt aktuell geworden, jedenfalls für den, der doch weiter die Verantwortung von Berlin aus tragen sollte. Bekanntlich hat die Preußische Akademie der Wissenschaften viel Scherereien mit der kritischen Leibnizausgabe gehabt, also einem ähnlichen Unternehmen. Es ist sogar zu Prozessen gekommen. Ich gehörte später noch der Leibnizkommission an und erfuhr so von den Schwierigkeiten: Schwierigkeiten, die sich natürlich durch den Krieg hinzogen, sein
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Ende, die Spaltung Deutschlands, bei dem überall zerstreut liegenden Material und der Notwendigkeit, Fachleute heranzuziehen, die mit den mathematischen Problemen in der Diskussionsweise der Leibnizzeit vertraut waren! Es ist tatsächlich ein Opfer der Preußischen Akademie und nur jenen genannten Persönlichkeiten zu verdanken gewesen, denen eine wissenschaftlich, objektive Verwertung des Archivs und seiner Bestände am Herzen lag, daß sie jenen Vorvertrag beschloß. Da ich gerade in diesen Tagen verhindert war, nach Weimar zu fahren, jedoch die Ereignisse drängten, schickte ich den Vorschlag einem mit den Verhältnissen wohl vertrauten Min.-Rat, der auch bei den Stiftungsangelegenheiten des Archivs mitwirkte und dem wir die nötige Einsicht in die Bedeutung jener unerhörten Offerte zutrauen konnten, mit der Bitte zu, die Angelegenheit der offerierenden Akademie im Kreis der Erben zu vertreten. Wir erfuhren nichts anderes als vom Archiv eine brüske Ablehnung jener Offerte. Nicht einmal eine Modifikation war angedeutet. Es war ein reines »niet«, ausgesprochen gegenüber der Akademie der Wissenschaft, deren Ansehen bereits genügt hätte, die Ausgabe und das Archiv zu stärken, natürlich rein wissenschaftlich. Denn an der juristischen Struktur, der Archivverfassung sollte ja nichts geändert werden. Die Familie hatte offenbar den Wunsch, nach eigenem Gutdünken zu verfahren. Die Konsequenz war nach diesem Affront gegenüber der Preußischen Akademie natürlich: jede Beziehung zu dem Weimarer Archivkreis zu lösen. Auch Oswald Spengler hatte mir mitgeteilt, daß er Gründe dafür sehe, nach dem Tode der Schwester das gleiche zu tun. Das Verhalten der Schwester hat neuerdings Anlaß zu Diskussionen gegeben. Dazu können wir uns nicht äußern. Die Briefmanuskripte und Entwürfe waren das Einzige, was mir damals nicht zur Hand gekommen waren. Einfach, weil ich noch mit anderem zu tun hatte. Zur Beurteilung wichtig sind vielleicht zwei Tatsachen: Die bereits von der Schriftstellerin Gabriele Reuter in ihrer Biographie aus den Anfängen des Archivs bestätigte Tatsache, daß Frau Elisabeth sehr schlecht sah. Das haben wohl auch alle Späteren erfahren. Sie war öfter zur Behandlung in Jena. Andererseits aber hatte sie eine Fähigkeit, doch gut das zu erfassen, was um sie vorging. Die zweite Tatsache ist, daß seit den Anfängen die verschiedensten, an Nietzsches Gedanken und wohl auch an sich darauf stützenden eigenen Geltungsmöglichkeiten interessierte Persönlichkeiten im Archiv arbeiteten und sehr
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häufig dann nach Differenzen mit der Schwester ausschieden. Es kann gut sein, daß sie Manches vernichtet hat, denn sie wirkte als rücksichtsloser Willensmensch, der freilich auch sehr gütig, aufmerksam und liebenswürdig sein konnte. Als bald nach ihrem Tode der Archivar und ich, zum erstenmal, oben in ihr Schlafzimmer kamen, wo das schlichte Himmelbett stand, fielen uns beim öffnen einer Tischschublade eine Karte Nietzsches aus seiner geisteskranken Zeit in die Hand, worin — wenn ich mich recht erinnere —• so etwas stand, wie »Du wirst Dein Kirchlein bauen«. Vor allem aber bisher nie publizierte und uns unbekannte Photographien des Paralytikers im letzten Stadium, die wohl s. Z. Olde als Unterlage für sein bekanntes im Empfangszimmer hängendes Bild gedient hatten. Was nun den Charakter der Krankheit anbetrifft, so hat mir damals Brandes bei meinem Besuch die schon bekannte Primärinfektion bestätigt. Auch kannte er wohl den Arzt, der Nietzsche behandelt hatte. Daß der Verlauf der sekundären Krankheit atypisch verlief, ist bekannt. Ich habe nun damals angeordnet, durch Pharmakologen Abschriften von den seit frühester Jugend überall in den Notizbüchern auftauchenden Rezepten machen zu lassen, sie zu sammeln und dann einer wissenschaftlichen Kommission zu übergeben, um feststellen zu lassen, wofür sie s. Z. bestimmt waren und schließlich auch, was aus einem Menschen wird, wenn er sie dauernd nimmt, eventuell mischt. Unter Berücksichtigung der von Nietzsche selbst angegebenen Erscheinungen und Beschwernisse. Meine Anordnung ist nie ausgeführt worden. Es läßt sich das aber alles wohl noch heute feststellen, um so mehr Einsicht in jene einzigartige Persönlichkeit zu gewinnen, für die ja wohl auch jene von mir gefundenen Halluzinationen eine Selbstverständlichkeit waren. Es war eine günstige Perspektive, die sich uns von Berlin, trotz aller Sorgen und Gesichte aus der Königsallee bot. Ein glücklicher Umstand hatte dafür gesorgt, daß uns die Familie Franz v. Mendelssohn, die übrigens damals in keiner Hinsicht gehindert war, die Möglichkeit einer Wohnung in dem im Stil von Schloß Glienicke erbauten Hause bot. Wir haben freilich hier bald den Tod des Familienoberhauptes erleben müssen und anderes mehr, aber der Umgang mit dem Kreis ihrer Vertrauten erleichterte uns den Einzug in die Großstadt. Auch verdanke ich ihnen den Besitz einer riesigen Voltairebüste, der bekanntesten von Houdon, die man, von den Kindern angemalt, oben auf dem Speicher entdeckt hatte und die der Tradition nach aus der Zeit der Gn
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Beziehung von Moses Mendelssohn und Voltaire stammte, vielleicht sogar von diesem gespendet. Auch jetzt hatte ich die Freude, durch die Publikationen der Klasse der Literatur der »Akademie der Wissenschaften und der Literatur«, wofür ich damals in Baden-Baden den mit Plänen einer eigenen Dichterakademie beschäftigten Alfred Döblin gewinnen konnte, deren erster Vizepräsident er dann wurde, immer wieder an jene Berliner Zeit erinnert zu werden. Döblin selbst meinte, um seine Geburtsstadt würden sich einmal drei Städte bemühen: Stettin, woher er tatsächlich stammte, Berlin, dessen Alexanderplatz durch ihn in die große Literatur einging, und Kalau — das er wie ein Urberliner in allen möglichen Wortverdrehungen und Akzentuierungen selbst in die seriösesten Situationen einführte. Die genannte Publikationsreihe behandelt »Verschollene und Vergessene«. Hier können wir nun mit der Lasker-Schüler, mit Peter Hille, Moritz Heimann und anderen jene Zeiten wieder auferstehen lassen, von denen wir wissen, daß sie in kultureller Hinsicht, was Einfälle, Ideen anbetrifft, einzig waren. Auch ein zweiter Gründer: v.Molo und der zum Berliner gewordene Kessel, wiesen immer wieder auf Berlin hin. — Die berufliche Tätigkeit in den stilvollen, mit Büsten geschmückten Räumen der FriedrichWilhelms-Universität, Unter den Linden, war schon wegen ihrer visuellen Eindrücke eine Freude. Stets erinnerte ich mich, wenn ich an den Humboldtdenkmälern vorüber in den Vorhof schritt, daran, wie man in meinem Elternhaus die Einweihungsfeier geschildert hatte, wobei die Tochter Wilhelm v. Humboldts, Gabriele v. Bülow, feierlich vor die Statue ihres Vaters geführt wurde. In diesen Erinnerungskreis gehört auch die Feier meines 50. Geburtstages mit meinem Seminarteilnehmern im ältesten »Berliner Gasthof«: im »König von Portugal«, neben dem privilegierten Freyhaus. Bülow erzählt in seinen Memoiren, wie er noch von da den Kaiser im Gespräch beobachtete. Nachdem mir die in einem Kästchen gesammelten, jeweils durch individuelle Briefe geworbenen Glückwünsche, gottlob nur selten seriös fein gekleidet, oft köstlich schnoddrig, von dem unvergeßlichen Otto v. Schweinichen überreicht worden waren, feierten wir dort, wo — zwar nicht gerade die Badewanne (auch eine historische neben der anderen, die sich der alte »Kaiser« gegenüber aus dem auch uns noch bekannten Hotel holen ließ), der Friedrich dem Großen so teuer gekommenen Tänzerin Barbarina stand —, sondern in ihrem Lieblingszimmer, also dort, wo Lessing seinen Tellheim auf und ab schreiten läßt. So gab es von musi-
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scher Seite her für die stets wühlerische Rechtsphilosophie ein Altberliner konservatives Milieu. Auch daß jene Campanini schließlich den Sohn des berühmten Cocceji geheiratet hat, gehört am Rande dazu. Auch die sog. Kommode an der Hedwigskathedrale war ein stilvoller, längst akademisch gewordener Bau. Hier bekamen wir die Möglichkeit, das rechtsphilosophische Seminar mit genügenden Mitteln auszubauen. Man hatte auch größere »Institutspläne«, aber freilich blieben sie damals, man kann heute sagen, Gott sei Dank, und von uns auch nicht »betrieben« im Ministerium liegen. Der Rechtsphilosophie, woran dort vielleicht der eine oder andere Narr dachte, würden sie ja doch nie gedient haben. Ganz oben hatte man ein Privatzimmer, wo man sich, um im Zentrum bleiben zu können, erholen konnte. Bei der Einrichtung des ersten spezifischen rechtsphilosophischen Seminars in Berlin hat jener unvergeßliche, auf so traurige Art abgeschiedene Privatassistent Otto v. Schweinichen hingebende Arbeit geleistet. Damit stehen wir bei der »Erbschaft« von Jena-Weimar! Sie scheint uns, alles in allem, günstig gewesen zu sein. Zunächst drang von den turbulenten Zuständen nichts in den Kreis. Nicht daß die Teilnehmer gleichgültig dafür gewesen wären. Aber das auch durch die nächsten Mitarbeiter gestärkte Niveau sorgte dafür, daß nur ernsthaft diskutiert wurde. In Jena-Weimar bereits und in Berlin. Der Kreis blieb sich eigentlich gleich. Nur daß er in Berlin, mehr noch als in Thüringen, bereits Leute in Amt und Würden, ältere, die weiter teilnahmen, umfaßte. Natürlich war er in Berlin zahlenmäßig überlegen. Schon in Jena-Weimar hatte man früh erkannt, daß Parolen keine Grundbegriffe sind und etwa der Begriff »Führer« kein prinzipieller der Rechtsphilosophie. Mag er auch im Bereich soziologischer Geltung, personell oder kollektiv verstandenem Empirischen eine Rolle spielen. So waren wir also bereits in Thüringen stets im Rechtsphilosophischen streng begrifflicher Observanz geblieben, und es war eine Freude, als kürzlich einer der damaligen Teilnehmer, ein Bundesminister seit Beginn, einen größeren Kreis daran erinnerte. Als wir nach Berlin gingen, waren nun bereits Beziehungen zu Persönlichkeiten geknüpft, die dann dort zu den wertvollsten Dauermitgliedern, zum »Kern« des Seminars, gehörten. Schweinichen, wie die meisten aus jenem »Kern«, sowohl juristisch wie philosophisch gebildet, mit spontanem Interesse am Gegenstand, war aus dem Jenaer Kreis mit nach Berlin gekommen. Er hat schon damals wissenschaftlich publiziert. Auch am Archiv für 6*
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Rechts- und Sozialphilosophie mitgewirkt, das wir damals auf Wunsch von Walther Rothschild und dem neuen Verleger, dem Schweizer Auckenthaler, einem Neffen unseres verehrten Frankfurter philosophischen Lehrers Cornelius, übernehmen mußten. Es ist uns eine Freude, daß jener ursprüngliche Verleger des ehrwürdigen Archivs, aus Kohlers Zeiten, damals »großherzoglich hessischer« Verlagsbuchhändler, noch in USA lebt und erst kürzlich an jene Ereignisse erinnert hat. Es ist bekannt, daß es gelang, das Archiv und die es tragende Intern. Vereinigung, der ich jetzt auf Wunsch des Präsidenten Laun als deutsches Vorstandsmitglied angehöre, ohne »Gleichschaltung« durchzuhalten. So viel ich weiß — der spätere Mitherausgeber war gleichfalls ein gleichgesinntes, immer anwesendes Mitglied jenes Seminarkerns, der sich längst einen eigenen wissenschaftlichen Namen gemacht hat—, ist keinem einzigen Mitglied auch nur angedeutet worden, jener ominöser Gesetze wegen auszuscheiden. Radbruch schickte noch zuletzt einen Beitrag; v. Wiese war zu engerer Mitwirkung aufgefordert worden. Auch unser Gießener Habilitationsvater Fischer wirkte weiter unter den Editoren mit. Hier fand man freilich vorübergehend auch andere Namen, deren Träger aber niemals darauf einzuwirken suchten. Wenn man fragt, wie eine solche Unabhängigkeit möglich war, so braucht man nicht auf irgendeine Art von Heroismus zu verweisen. Bestand ein inneres Einverständnis des entscheidenden Kreises, so konnte man alle Aufforderungen, Statutenänderungen vorzunehmen, »schleifen« lassen. So konnte auch jene italienische Rechtsphilosophie als Beigabe erscheinen. Übrigens einigten sich der verdienstvolle Leiter der Schopenhauergesellschaft und Herausgeber der entsprechenden Jahrbücher und wir uns darin, auch diese so zu belassen. So blieb jener römische Rechtsphilosoph auch hier im engeren Gremium. Ähnlich dürfte es aber auch anderswo zugegangen sein. Die großstädtische Atmosphäre war ja schon, von Hausmeister und den Hausgenossen an, dafür eine leichtere. Insofern bestätigte sich die alte Rechtsparömie, daß »Stadtluft frei mache«. Man konnte sich also in dem Kreis, der in der »Kommode« allwöchentlich zusammenkam, einigermaßen unabhängig und unbeobachtet fühlen. Engere Anforderungen konnten abgebogen werden. So erschien einmal ein Unbekannter, bat teilnehmen zu dürfen und warf sogleich in die Diskussion die These ein, man müsse den Begriff »Volksgemeinschaft« an den Anfang oder jedenfalls in den Mittelpunkt stellen. So wichtig nun etwa im Sinne der bekannten
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Tönniesschen Unterscheidung der Pole dieser Begriff soziologisch, je nach der Aktualität in einer historischen Situation werden kann, so wenig gehört er an die gewünschte Stelle in der Topik rechtsphilosophischer Begriffe, ihrem logischen Gewicht nach. Als wir daher auf jene These nicht eingingen, verließ er das Seminar und ward nicht mehr gesehen. Einmal erschraken wir, als sich zum erstenmal im Seminar eine Uniform mit verdächtigen Farben einfand. Der Betreffende, der sich bald eine rechtsphilosophische Dissertation erbat, die eingehende Kenntnis der betreffenden Literatur verriet, gewann schnell unser Vertrauen, indem er sich als Zugehöriger des Widerstandskreises eines Polizeigenerals auswies, der nach den Juliereignissen hingerichtet wurde. Ein anderer Teilnehmer und persönlicher Assistent von dem wir sehr eingehende Informationen über die Chancen des Widerstandes erhielten, kam aus der Gruppe Canaris. So übten beide eine Schutzfunktion für den Seminarkreis aus, in den freilich hie und da immer wieder Gerüchte drangen, daß sich dieser oder jener da oder dort geäußert habe, wir würden jetzt schnell erledigt. Auffallend war schon ein Umstand, der nur wirklich rechtsphilosophisch Interessierte in den Kreis zog, daß ich niemals Gelegenheit erhielt, im juristischen Staatsexamen mitzuprüfen. Zunächst wird einem bei Besinnung auf die Zugehörigkeit zu den verschiedenen oppositionellen Kreisen klar, wie zersplittert doch das alles war, wie wenig der eine vom andern wußte. Andererseits erhöhte die Mannigfaltigkeit, die sich leicht aus der Erinnerung vermehren ließe, auch die Gefahr. Es scheint, daß als Schutz das Prestige eine Rolle spielte, das aus der Umgebung der Schwester Nietzsches stammte. Bei ihr war ja Hitler zweimal erschienen. Er hatte dort zwar kein sachliches Interesse für die Gedankenwelt des Philosophen gezeigt, sich dafür aber photographieren lassen. Die Begeisterung, die er dabei bei der verehrungs-, aber noch mehr sensationsbedürftigen Schwester auslöste, konnte zwar nicht die vom Bruder übernommene Abneigung gegen den Antisemitismus erschüttern, galt aber dem »großen Mann« und hat ja zu so komischen Vorgängen wie der Dedizierung von Nietzsches Degenstock geführt, zu der sie juristisch damals gar nicht befugt war, der ihr aber ein gutes Symbol »für den Fall eines Angriffs« zu sein schien. Möglich, daß solche Begebenheiten, auch die Teilnahme Hitlers an der Beerdigung in Röcken, wobei man verhinderte, daß ich als wissenschaftlicher Leiter über die
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Gestorbene sprach, Zugriffslustige vor Angriffen warnte. Das Archiv hatte ja mancherlei Geheimnisvolles an sich. Die pekuniäre Lage zeigte, als ich hinkam, die Abhängigkeit von der jeweiligen Thüringer Regierung. Plötzlich erschien einmal ein bisher der Schwester unbekannter Gast, der sich als bedeutender Bankfachmann herausstellte und natürlich sogleich zu hören bekam, daß Nietzsche die Finanzleute nicht geschätzt habe. Die Replik war, es gäbe ja auch solche anderer Art und die Folge, daß von da an alljährlich durch Vermittlung jenes Bankmanns ein bedeutender Scheck fürs Archiv eintraf, mit der einzigen Auflage, wie bei Lohengrin, nicht nach dem Namen des Spenders zu fragen. Natürlich ging dieses Verlangen an die so sehr auf Neuigkeiten bedachte Frau über ihre Kraft. So erlebten wir denn, daß immer wieder prominente Persönlichkeiten der Wirtschaft ihren Dank abweisen mußten, indem sie versicherten, nicht der Spender zu sein. Erst später, offenbar als er sich bedroht fühlte, wurde die Maske gelüftet. Der regelmäßige Spender war Philipp Reemtsma. So war von allem vieles selbst für die undurchsichtig, welche so oft um sie waren. In Berlin hielten wir nun Vorlesungen und Seminare ab, auch einige Zeit im kleinsten Kreis eine Übung meist über Nietzsche in der Hochschule für Politik, von der wir aber keinen Dozenten näher kennenlernten. Sorge machte die »deutsche philosophische Gesellschaft«. Es bestand Bedürfnis, daß sie ihre Vorträge fortsetzte. Gerade zurückgedrängte Persönlichkeiten konnten sich hier wieder bestätigt fühlen. Hier leistete uns die Clausewitzgesellschaft wertvolle Dienste. Es bestanden enge Beziehungen zu ihrem Vorsitzenden General v. Cochenhausen. Auch konnte Spranger seine Japaneindrücke verwerten, und andere, wie z. B. Gehlen, über ihre Spezialgebiete sprechen. Es hat in der uns näherliegenden Geschichte wohl kaum eine so widerspruchsvolle Situation gegeben, und es ist daher kein Wunder, daß man noch heute überall Rätsel entdeckt. Welche sinnvolle Antwort konnte da ein Fragebogen herauslocken, zumal sein Verfasser durch keine Sachkenntnis getrübt war! In jene Zeit fiel außer der Arbeit rein wissenschaftlicher Kommissionen z. B. über Fragen des Handelsrechts, Wasserrecht u. dgl. mit Italien und Polen9, vor 9 Die hier zu den altpolnischen Kreisen (Potocki, Morstin usw.) schon durch die Union Intellectuelle (Rohan) angeknüpften, unter den Gesandten Rauscher und v . Moltke intensivierten Beziehungen haben sich später als sehr fruchtbar erwiesen, wie man dem Verf. nach diesem Kriege dokumentierte. E i n besonderes K a p i t e l des »Widerstandes« (Biron)
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dem Krieg, auch der Kongreß für internationales Recht im Haag, der von allen Ländern besucht war. Wir waren in der rechtsphilosophischen Kommission. Es gibt nur einen Lord MacMillan, aber denkbar, daß der jetzige britische Premierminister in dieser Kommission saß, angeregt an ihr beteiligt. Unser Referat, in den Kongreßakten gedruckt, behandelte die Auffassungen über das subjektive Recht. Wir suchten dabei den Widerspruch der Theorien darauf zurückzuführen, daß man Thesen in verschiedenen Begriffsschichten einander konfrontiert, eine mir seit meinen Arbeiten über das Wesen der juristischen Person vertraute Erscheinung, und daß man nun nach Gutdünken irgendein Moment für allein existent behauptet, so daß es auf Kosten anderer begrifflich hypertrophiert. Wichtiger als jener Kongreß war für uns die Möglichkeit, eine Einladung nach Doorn zu dem im Exil lebenden Kaiser anzunehmen. Ich wußte, daß er, in hohem Maße geistig interessiert, gern Gelehrte um sich sah, um seine Interessen, wofür er jetzt mehr Zeit hatte, weiter pflegen zu können. Von jenen kannten wir Leo Frobenius von Weimar her, Alfred Jeremias (wie später seinen Sohn) von Riga her näher. Der Besuch verfehlte insofern seinen unmittelbaren Zweck, als wir den Kaiser nicht auf die oppositionellen Tendenzen in Deutschland aufmerksam machen konnten. Dazu war er, im Unterschied zu seiner zweiten Frau 10 bekanntlich zu Hitler in Opposition, offenbar zu vorsichtig. Ich hatte gerade einen Gedanken des baltischen Historikers Schiemann parat, der dann auch mit den sog. Aphorismen im Archiv 1942 herauskam: daß beim Tartareneinfall nichts so sehr die russische Seele zerrüttet habe, als die sich nun bildende Überzeugung, nicht, was das Gewissen bekunde, sei gut oder schlecht, sondern was der Khan erlaube oder verbiete. Das paßte als Katalysator, um nun zu weiterem zu gelangen. Doch der Kaiser wurde sogleich von Erinnerungen an seinen verehrten Lehrer gepackt, so daß der Inhalt jener Worte dabei verlorenging. Es war auch die Zeit, wo er Brandis Werk über Carl V. las. Aus dem mannigfachen, was berührt wurde, verblüffte uns am meisten eine Äußerung des doch mit gelehrten Theologen Liierten: das Christentum sei »die einfachste Sache von der Welt«. Uns ist von dem starken Eindruck jener Persönlichkeit die Überzeugung geblieben, daß der Kaiser auf Grund sehr strenger Erziehung zu so etwas wie einen Kantianer mit vielen Maximen geworden war. Anstatt wie ein Bildhauer von irgendeiner Idee 10
V o n der einmal eine unwahrscheinliche Z u m u t u n g ins Archiv kam.
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oder angeregt vom Block aus, jedenfalls irrational sein Werk zu versuchen, waren seine Handlungen wohl durch Grundsätze über die Richtigkeit bedingt, durch Anwendung allgemeiner Maximen auf sein Verhalten, »sentimentalisch« also nicht »naiv«, um Schillers Kategorien zu gebrauchen. Das Unmittelbare fehlte. Wie einem vollendeten Kantianer trat alles so in die gleiche Distanz. So werden auch die sog. politischen Entgleisungen als Fluchtversuche aus jenem moralischen Gehäuse verständlich. Der Besuch war uns auch deshalb als Ergänzung von Eindrücken erwünscht, die wir in dem dem Kaiser feindlichen Kreis, im alten Schönhausen hatten. Diese sich wiederholenden Aufenthalte sind uns damals, als das Milieu, aus dem Bismarck stammte, noch unberührt war, als Gegensatz zu der Fülle, in die man in Berlin geriet, sozusagen als Diätetik der Seele, besonders wichtig geworden. Sie bilden, wie sie auch Kassner im »Umgang der Jahre« geschildert hat, einen Schatz, den man bewahrt. Es ist nicht wahrscheinlich, daß ein an ganz abwegiger Stelle erschienener Aufsatz von uns über »Oberflächlichkeit und Tiefe«, damals noch in der Jenaer Zeit geschrieben, der Katalysator zu jenen Einladungen gewesen ist. Schloß Schönhausen lernte ich nicht als die Heimat des »eisernen« Kanzlers kennen, sondern als ein Milieu, wo wohl der Geist der mütterlichen Menckes überwog. Man schlief im sog. Majorszimmer, das mit verblichenen Photographien längst Verstorbener geschmückt, nach dem in der Schlacht bei Leipzig gefallenen Onkel genannt war. In dem Zimmer gegenüber »ging es« — nach lächelnd berichteter Familientradition — »um«. Der Kreis bestand meist nur aus der Schloßherrin, der Witwe des Fürsten Herbert, dem Schriftsteller Rudolf Kassner, dem Freund Rilkes und Hofmannsthals, vor kurzem in hohem Alter in der Schweiz gestorben, und zwei Damen aus dem engeren Bekanntenkreis des Hauses. Unvergeßlich die Abende, wo, die überzarte Fürstin auf einer Couchette liegend, ihre empfindlichen Augen gegen das schon gedämpfte Licht mit einem schwarzen Fächer schützte, und Kassner, der körperlich seit seiner Jugend schwer lädierte, am Kamin aus seinen neuesten Arbeiten, etwa »Die Uhr«, vorlas. Arnold Oscar Meyer, der Bruder meines engeren Berliner Kollegen, hat ja noch die zu diesem Milieu passenden religiösen Anmerkungen Bismarcks zu den »Losungen« verwerten können. Einen der schweren Pelze, die Bismarck vom Zaren als Geschenk erhalten hatte, erhielt Meyer, der mitten im Druck seines wohl verbrannten großen Bismarckwerks, durch einen Sturz
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vom Pferd starb. Man verließ Schönhausen, wenn sich der Schwiegersohn, Graf Hermann Keyserling, einstellte. Diese geistig wie körperlich ungemein vitale, damit auch für ein so ruhiges Milieu beunruhigende, aus Einfällen geradezu explodierende Persönlichkeit, hatten wir schon in Darmstadt kennengelernt, wo er bei Gesprächen seinen breiten Hut aufs Telephon legte, da er sich bespitzelt glaubte. Daß er sein Leben nicht da beenden konnte, wohin wir uns schließlich zurückzogen, in unserem Odenwald, war nur die Folge davon, daß wir selbst ohne ländliche Eigenquelle mit Müh und Not existierten. So blieb es schließlich bei der z.T. verlorenen Korrespondenz, wobei er meine Art, das Papier zu verwenden, als »Kleinraumordnung« bezeichnete. Nach dem Krieg bin ich gern der Anregung gefolgt, im Schloß Wolfsgarten, dem Wohnsitz des letzten Sohns des hessischen Großherzogs, in dem Kreis der Freunde Keyserlings am Tag des 70. Geburtstags dieser originellen Persönlichkeit zu gedenken, die wie ein »Ur« in unserem städtischen Garten wirkte. Als Gegengewicht zu dem Systematischen, wozu wir uns selbst und unseren Seminarkreis zu erziehen suchten, waren nicht so sehr die Funken Keyserlingschen Philosophierens als die ruhige Glut, die Kassners Meditationen boten, heilsam. Wo auch immer ich mit einfühlfähigen Geistern rechnen konnte, wies ich auf die für mich so wichtig gewordenen Ideen Kassners über Indiskretion, Maß, Rolle der Zahlen, des Bildhaft-Physiognomischen gleichsam zum Ausgleich hin. Kassner war ja nicht nur in die griechischen und östlichen, indischen Auffassungen tief eingedrungen; er war auch ein Kenner mathematischer Problematik, erfaßte ihre Tragweite. Insofern Spengler ergänzend. Natürlich hatte man in Berlin außer ausgesprochenen Widerstandsleuten solche mit denen man selbstverständlich seine Besorgnisse teilen konnte und andere, die dafür aus unbegreiflichen Gründen nicht in Frage kamen. Ohne dabei — dies ist wichtig — zu den Undiskutablen, Bösewichtern zu gehören, vor denen man nicht erst gewarnt zu werden brauchte. Eins von rühmenswerten Beispielen: der Kreis von Heinrich v.Schweinichen, der die geheimen Veröffentlichungen von Schriften Reinhold Schneiders ermöglichte, worin viele verkehrten, die heute an führender Stelle in der Presse stehen. Mit meinem alten Freund Heymann, der später mit zwei heute sehr geschätzten Kollegen Sekretär der Akademie für deutsches Recht geworden war, besprach man regelmäßig seine Sorgen. Er hatte, wie später der Nachfolger Vahlens,
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die größte Mühe, auch die Preußische Akademie unabhängig zu halten. Zu den Unbegreiflichen rechnen wir den genialen Kunsthistoriker, der geradezu explodierte, wenn man Kritik äußerte. Das französische Institut mit seinem Leiter Jourdin veranstaltete bis zu dem Krieg allerlei, das hohes Niveau hatte, wo man insbesondere aus dem Kollegenkreis Dessoir, den Philosophen und den jetzigen Präsidenten der Görresgesellschaft sah. Auch das Zusammensein mit dem Botschafter Fran$ois-Poncet, dem ein Sonderheft des Archivs zum Descartesjubiläum überreicht werden konnte, war beglückend, durch die weltmännische Atmosphäre. »Was würde wohl Nietzsche für einen Fragebogen gehabt haben?« waren ungefähr die ersten Worte, die er zu mir sagte, als ich ihn Ende der vierziger Jahre in Wiesbaden wiedersah. Die Geschichte, die Symptome revolutionärer Vorgänge gehören ja zu dem selbstverständlichen Bildungsgut des Franzosen. Bis zu dem heutigen Tag aber sind zwei Vorgänge unaufgeklärt geblieben, die uns als Leiter des rechtsphilosophischen Seminars besonders und hart berührten. Es war wohl 1937, als ich telegraphisch aus dem Seebad nach Berlin gerufen wurde, um am Sarg jenes ältesten Schülers Otto v. Schweinichen zu sprechen. Man hatte ihn, fürchterlich zugerichtet, in der Schorfheide gefunden. Der äußere Schein deutete auf Freitod, wofür man in persönlichen Erlebnissen Gründe finden konnte. Jedoch hat es viele unseres Kreises gegeben, die auf Grund anderweitiger Vorgänge an so was wie einen Fememord dachten. Stets nach meinem Seminar pflegte sich unser Kreis noch zur Nachlese in einem Raum des alten Café Bauer Unter den Linden zu versammeln, um an der Stelle, wo einst Josef Kohler seine Bücher verfaßte, im Stil des Pariser Café Procope eine Nachlese zu halten. Hierbei ging es sehr offen zu. Der Raum war allgemein zugänglich, und man hatte schon Warnungen ausgesprochen. Schweinichen war so etwas wie der Veranstalter. Möglich! — Der zweite Fall betrifft einen Doktoranden, der bei uns mit einer Dissertation über die »Emotienlehre des Aristoteles« bei Petrazicki summa cum abgeschlossen hatte. Als er zu mir kam, hatte er bereits seltsame Schicksale hinter sich. Croméis, der die Annahme des Angebots eines hohen Richterpostens noch verzögert hatte, um gründlich rechtsphilosophisch arbeiten zu können, war ein erfolgreicher Anwalt in Reval gewesen. Durch seine Frau war er mit dem Kreis einer der ältesten baltischen Familien verschwägert, bei deren einem Mitglied er jetzt wohnte. Es war ihm passiert, daß er in Reval auf ein Schiff
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gelockt, nach Rußland entführt und nach jahrelanger Gefängnishaft plötzlich wieder freigelassen wurde. Seine Frau hatte unterdes dieTodeserklärung des Verschollenen bewirkt. Bereits früher hatte er bei seinem Lehrer, jenem russisch-polnischen Rechtsphilosophen Petrazicki eine Arbeit vollendet und alle Prüfungen bestanden, als sich jener erschoß. Während er bei mir erfolgreich arbeitete, auch nach dem Seminar noch öfter Gesellschaft leistete, empfing er Besuche von ihm unbekannter russischer Seite draußen in seiner Wohnung. Er äußerte zu mir, daß ihm das unheimlich erscheine. Zuletzt, es komme ihm so vor, als ob, trotz des bereits so gut bestandenen Examens die Promotion wie damals bei Petrazicki nicht endgültig zu Stand komme. Als ich, damals bereits im Odenwald und nur noch hie und da nach Berlin kommend, ihm eine Karte mit sachlichem Inhalt an seine Privatadresse sandte, bekam ich sie mit dem Vermerk zurück: »Adressat verstorben«. Der angebliche Zauberring der Frau v. Krüdener, der berühmten Frau der heiligen Allianz, hat ihn nicht schützen können. Ein zweites dickes Manuskript, das über denselben Stoff nach der Veröffentlichung des ersten erscheinen sollte, ist wohl auch zugrunde gegangen. Man kann bei Umstürzen feststellen, daß der Verantwortliche, wenn ihm keine Widerstandsmöglichkeit bleibt, sich dadurch anzupassen sucht, daß er Imperatives, was keine anderweitigere Rechtfertigung hat, als daß sich eben darin höchste Gewalt manifestiert, daß dieser Verantwortliche dann jenes Tyrannische, Heteronome durch Sinnvolles, Logisches, Logonomes anzureichern sucht. Dieses »Vernunfthineinlegen«, übrigens ein Vorgang, der der Anpassung an die hochorganisierte Industriewelt genau entspricht, war für keinen unseres Kreises aktuell. Das Niveau war eben ein philosophisch-wissenschaftliches und kein soziologisches. Auch die alte Fakultät, die wir vorfanden, litt unter keinem Trauma irgendwelcher Art. Mein alter Lehrer Heymann hatte als Rechtstheoretiker zwar keinen unmittelbaren Zugang zu der philosophischen Systemidee, um so mehr mittelbaren, soweit Philosophisches in der Vergangenheit ins Rechtliche eingegangen war. Die historische, wissenssoziologische Bedeutung solcher philosophischer Strömungen war ihm außer Zweifel, auch für die Gegenwart. So fand ich in meinen Tendenzen von Anfang an in ihm einen eifrigen Förderer. Der Kirchenrechtler Stutz, auch ein Rechtshistoriker, bot gerade deshalb reizvolle dialektische Möglichkeiten bei
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Fakultätsdiskussionen. Bei der Bedeutung der scholastischen Strömungen, der Dogmenentwicklung für das Kirchenrecht war auch bei ihm die Würdigung meines Fachs gegeben. Von den beiden Staatsrechtslehrern gingen durchaus verschiedenartige Anregungen aus. Bot die Integrationslehre endlich wirklich eine der Wirklichkeit adäquate Erklärungsmöglichkeit für die sich ständig entwickelnden Vorgänge beim Staat, soziologisch also, so ging von der geistesgeschichtlichen Einfühlung in die romantischen Staatslehren die Neigung aus, allzusehr konventionell Gewordenes neu zu überprüfen. Es gibt Geister, die, abgesehen von dem, was sie wirklich erkennen, auch so etwas wie eine Lichtquelle sind, eine Laterne, die plötzlich in einen Schatten Licht wirft, erhellt, so daß andere etwas vorher nicht Erblicktes sehen, die aber selbst nicht sehen kann. So wurde ich zweifellos angeregt, die Freund-Feindtheorie der Politik auf ihren wahren Sinn zurückzuführen und zu finden, da Freundschaft-Feindschaft zwar äußerste Extreme in der begrifflichen Reihe darstellen, daß es aber hier keine Absolutheiten gibt, nur ein Mehr oder Weniger, und zwar immer nur in gewisser Hinsicht bei unseren Verhaltensweisen. Daß dabei der Politischere weniger auf Garanten vertraut, auf glückliche, seinen Wünschen förderliche Umstände, daß er insofern der Mißtrauischere ist, sich am liebsten den ganzen Hebelarm der Last bis zur letzten Realisierung seines Ziels selbst aufbürdet, während der andere vertrauend und insofern optimistisch die Dinge mehr sich selbst überläßt, gelassener ist, und dann freilich danach oft das Grocksche »Niet mööglich« ausrufen muß. Der Politischere ist insofern der Aktivere, religiös nur insofern, als er sich höchstens im Gebet stärkt oder wie Bismarck an Hand der »Losungen« rechtfertigt, während der andere an weniger verborgene Ratschlüsse glaubt. So ließen sich hier Einseitigkeiten zurecht rücken. Anders war es da, wo der Versuch einer Einteilung des juristischen Denkens dringlichen Anlaß bot, bei jeder Rechtsdogmatik auf das »Normative« hinzuweisen, das »Normale« in eine ganz andere Begriffsschicht zu verweisen und schließlich die »konkrete Ordnung« — wenn das Wort nicht einen Appell an sich bildende, dem Juristen längst gewohnte Gebräuche, an faktische Gewohnheiten, bedeuten sollte —, als pragmatisch in unendlichen Variationen vorkommende Begriffsverknüpfung aus dem Logisch-Ontischen zu enthüllen. Selbst ein bestimmtes Chaos hat ja konkrete Ordnung. Bei solchen Wendungen glaubt nun der positive Jurist, daß irgend etwas, was er ungeklärt
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in seiner Tiefe empfindet, angesprochen sei. Je mehr ein solches Wort wie konkrete Ordnung Assoziationen mit sich führt, also um so weniger claire et distincte ist, um so mehr entzündet es Assoziationsbedürfnisse und »leuchtet« ganz verschiedenartig Auffassenden ein. Ein interessantes Problem, weshalb gerade der Positivist gern auf Esprit hineinfällt. Natürlich will sein ästhetisches Bedürfnis befriedigt werden. Die Last begrifflicher Klärung fühlt er schon im positiven Rechtsbereich genügend auf sich. Es liegt ihm nicht, im Philosophischen nach Art mathematischen Vorgehens sehr umwegsame Begriffsbestimmungen zu versuchen. Da kommt ihm der Esprit zu Hilfe. Der Verfasser kann selbst schmunzelnd darauf hinweisen, wie viel mehr Beifall sein angeblich Aphoristisches gefunden hat, als seine mühsamen, viel Einfühlung und philosophische Vorarbeit fordernden systematisch intendierten rechtsphilosophischen Arbeiten. Aber so sehr das Genialische, die Einfälle in der Genesis vorausgehen müssen, die wissenschaftliche Leistung muß dann doch das behutsame begriffliche Abschreiten bringen. Die Anfälligkeit des positivistischen Kopfes für den Geist, wenn er schillert, ist die gleiche wie für die kritiklose Übernahme gegebener philosophischer Lehren, wenn sie eine gewisse soziologische Geltung erlangt haben, Autoritatives, Schuldogma geworden sind. Man nimmt sie dann gleichsam wie Gesetz hin. Stets hat, was die positive Beziehung zum Philosophischen betrifft, das Strafrecht eine Ausnahme gemacht. In Berlin vertrat nun vor allem Kohlrausch, ein in allen philosophischen Richtungen versierter, schon früh im Rechtsphilosophischen selbständiger Kopf, jenes Fach. Trotzdem er recht gehabt hätte, das gesamte rechtsphilosophische Gebiet für sich zu beanspruchen, so zeigt doch seine uns schon in Jena berührende Neigung, daß er neben sich einen Rechtsphilosophen begrüßen würde. Selbstverständlich bedurfte es keines expressis verbis abgeschlossenen gentleman's agreement dazu, daß wir nie miteinander kollidierten. Frage: Glaubt man heute noch an die Geltung selbst offizieller agreements dieser Art ? Wir haben zwar nie Seminare zusammen abgehalten, einander aber stets, auch bei Gutachten ergänzt. So stand es auch mit den Philosophen in Berlin. Besonders aus dem Kreis von Nicolai Hartmann, der ja zum Unterschied von mir Phänomenologe geworden war, hatten wir hervorragende Teilnehmer in unserem Seminar. Natürlich auch von den soziologischen Kollegen. Man hatte es also darin nie mit einem homo tumultuosus zu tun.
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So könnte man nachträglich die Frage stellen, wie damals die Bewußtseinslage beschaffen war. Man muß wohl dabei an Stendhals Schilderung der Schlacht denken, wie sie Fabrize del Dongo erlebt. Man sollte auch immer fragen: »Wer glaubt was ?« Da sitzt immer irgendwo im Leben ein Prüfer, der für ihn und seinen Kreis Wesentliches von uns festzustellen sucht. Vom Religiösen und der Fülle des Lebens aus gesehen, eine Anmaßung: einen Bestimmungsbegriff vom wirklichen Menschen bilden zu wollen. E s gehörte schon Heroismus dazu, jenen Großinquisitoren widerstehen zu wollen. Immer mehr »Außeres schlägt sich so auf die inneren Organe«. In je mehr Situationen dieser Art der Mensch gerät, um so mehr schizophren werden die Erscheinungen, um so mehr das, was man mal »den deutschen Blick« nannte, um so mehr zugemuteter »Quatsch«, wogegen sich der Einzelne schützen wird, um auf sein persönlichesTrockene zu kommen. Es braucht nicht ausdrücklich erwähnt zu werden, daß das Dozentenzimmer, die Räume, in denen den Neuangekommenen die Bilder der längst hingegangenen berühmten Mitglieder der Fakultät prüfend ansahen, freilich schon damals lang nicht mehr als Porträts, die Stelle war, wo man gerne noch vor und nach der Vorlesung seine Gedanken austauschte. Gespräche mit dem früh verstorbenen Tietze und manchen noch jetzt in Berlin wirkenden Kollegen gehörten zu regelmäßigen Freuden. Ich hatte Frühjahr 1939 die Ehre, noch nach altem Wahlverfahren als ordentliches Mitglied in die Preußische Akademie der Wissenschaften gewählt zu werden. Die Vorgänge damals, das Weimarer Archiv zu stützen, dürften dabei eine Rolle gespielt haben. Ich habe stets die besondere Vergünstigung empfunden, jenem Kreise anzugehören, eine Tatsache, von der ich nicht geträumt hatte, als ich kurz im ersten Weltkrieg in der Zentrale des »Bundes deutscher Gelehrter und Künstler«, dem sog. »Kulturbund« unter v. Waldeyer-Hartz und dem Geschäftsführer, dem seitdem mit uns befreundeten Heinrich v. GleichenRußwurm in eben diesen Räumen arbeiten konnte. Auch dies ein Stoff für besondere Abhandlungen! Ich erinnere mich gern an die braungelben Biedermeierkästchen, worin man mit Elfenbeinkügelchen die geheime Wahl vollzog. Bei einem der Vorträge, die ich dort halten konnte und die in den Akademieabhandlungen gedruckt sind, war auch Max Planck anwesend, der nachher mit mir sprach und den ich damals recht häufig bei musikalischen Veranstaltungen im privaten Kreise begrüßen konnte. Man hat später das Gerücht ausgestreut, die
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Akademie wäre ins nationalsozialistische Fahrwasser geraten. Solche Gerüchte, längst widerlegt, mögen für gewisse Zwecke nützlich gewesen sein. Sie entbehren aber jeder Grundlage. Man braucht sich nur die Veröffentlichungen der Akademie und die Protokolle ihrer Ausschußsitzungen anzusehen (ich arbeitete hauptsächlich in der Leibnizkommission mit). Nur der zeitweilige Präsident Vahlen hielt bei öffentlichen Veranstaltungen Reden, deren Ausfälle an gewisse kürzlich vernommene erinnern. Peinlich, zumal diese Sitzungen öffentlich waren. Im übrigen blieb die Arbeits- und Forschungstätigkeit unberührt. Vahlen, selbst Sohn eines Akademiemitglieds, auf dem bekannten Bild mit Mommsen porträtiert, muß unter einem uns allen unerklärlichen Trauma gelitten haben. Der im persönlichen Umgang vornehm wirkende Mensch entgleiste, wenn er öffentlich in Erscheinung trat. Damals machten sich nun Bestrebungen bemerkbar, die die Akademien und gelehrten Gesellschaften zu einer Mammutakademie zusammenschließen, ja in ihr aufgehen lassen sollten. Die Verantwortlichen der Akademie haben solchen Plänen, die von dem maßgeblichen Ministerialdirektor im Kultusministerium, aber auch von solchen Gelehrten betrieben wurden, die bisher selbst keiner Akademie angehörten, Widerstand geleistet und erreicht, daß der Plan immer mehr hinausgeschoben wurde. — Nun, nach Kriegsende wenden die Machthaber des Ostens die gleichen Mittel an, die sie für die Selbständigkeit des Ostsektors einsetzen. J e nachdem es paßt, wird rechtsdogmatisch oder rechtssoziologisch argumentiert. Rechtsdogmatisch aber ist man auf die Notwendigkeit sauberer teleologischer Schlüsse juristischer Art angewiesen. So gesehen ist keine Rechtsänderung in der Struktur der Akademie eingetreten. Die alten Mitglieder gehören der Preußischen nach wie vor an, wenn auch, das Ganze verschiebend, so etwas wie eine zweite Mitgliedschaft in der »deutschen« bei manchen dazu gekommen sein mag. Nur aus Takt, um die Beziehungen zu den anderen Kollegen nicht noch mehr abreißen zu lassen, und um die so zwei Akademien Angehörigen nicht zu belasten, vermeidet man es, zur Zeit diese Frage zu aktualisieren. Es ist ein situationsbedingtes Richtigkeitsproblem, wann man eine Rechtsfrage real zur Entscheidung bringen soll. Rechtsdogmatisch wird aber stets gefolgert, wenn man aus dem Rechtsbegriff der Rechtsnachfolge oder Identität normative Schlüsse zu ziehen sucht. Leider hält man auch im Westen die beiden Schichten der Begriffsbildung nicht immer auseinander und
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zieht dann analoge Trugschlüsse, worauf wir schon an verschiedenen anderen Stellen hingewiesen haben. Es gibt im Rechtsdogmatischen zwar ein beneficium abstinendi, aber kein Recht auf ein willkürliches beneficium inventarii, auf Rechtsnachfolge mit einseitigem Ubergang der Aktiva ohne auch einen solchen der Passiva! Wir erwähnen die Akademiesituation deshalb ausführlich, weil wir uns, in der Nachfolge Trendelenburgs begrüßt, auf dem Stuhle von Stutz, in den Kommissionen für entsprechende Mitarbeit, parallel der Lehrtätigkeit für verpflichtet hielten. — Geistesgeschichtlich gesehen kann die Situation der Seminarteilnehmer folgendermaßen charakterisiert werden. Unser Ziel mußte sein, aus verschiedenen übernommenen Haltungen herauszuführen. Zunächst aus dem sog. Positivismus, der — kurz und simpel gesagt — Gesetz mit Recht identifiziert, Anmaßung mit Maßgeblichkeit, Behauptung mit implizierter Richtigkeit. Sodann aber auch aus der genetischen Fragestellung überhaupt ins eigentlich Systematische hineinzuführen. Gerade weil man unsere Tätigkeit im Weimarer Archiv kannte, meldete man sich oft an, in der Annahme, daß man mit Gedanken von Nietzsche, Klages usw. rechtphilosophisch beginnen könne. Man identifizierte naiv das Soziologische, Historische, Psychologische, worüber man tatsächlich von jenen viel lernen konnte, mit der Frage nach der Rechtfertigung, Ansetzung, Bildung von Begriffen, Aufrollen von Problemlagen unter dem Aspekt des für sie allein zuständigen Kriteriums. Es wurden so dauernd die verschiedenen Dimensionen oder Begriffsschichten mit einander verwechselt. Wie sehr die Juristen und wohl darüber hinaus die meisten anstatt nach dem justus titulus begrifflicher Rechtfertigung nach der Ursache von Tatsachen fragen, wurde uns einmal klar, als wir an der Herderhochschule in Riga die Teilnehmer aufforderten, die wichtigste Frage aufzuschreiben, welche die Beziehung von Recht und Gesellschaft betrifft. Alle Teilnehmer, bis auf einen, wollten wissen, wie sich wohl das Recht aus Gesellschaftlichem entwickelt habe, ob es etwa gleichzeitig entstünde und ähnliches. Obgleich bereits Rousseau diese Frage abgeschnitten hat, wie der »Zustand der Fesseln« entstanden sein könne. Es ist das eine historische Frage, wobei es die berühmten unendlichen Regresse im Weiter-Zurückgehen gibt. Nur einer kam darauf, die Frage nach der Dignität der Begriffe zu stellen, also so: ob der Rechtsbegriff den der Gesellschaft als Gegenstand der Soziologie voraussetze oder umgekehrt dieser jenen. Natürlich ist jenes der Fall. Aber so
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etwas kann man nicht aus Nietzsche lernen, der ja wohl Kant nur aus den Darstellungen Kuno Fischers kannte und mit wenig Ausnahmen immer Anderem nachspürte. So kann der systematisch eingestellte Philosoph auf die Frage, was er in dieser Hinsicht bei Nietzsche dazu gelernt habe, nur antworten, wie es Goethe von seiner Frau, der Marianne Vulpius meinte: Sie ginge aus seinem Haus so heraus wie sie hereingekommen sei. Bei Nietzsche allerdings mit den Ausnahmen, daß er gerade das genetisch in den Kopf Gekommene als richtig in Frage stellte, darin ein Nachfolger Stirners und daß er nun bestrebt war, das erzielte Vacuum mit neuem Inhalt auszufüllen. Was allerdings nicht voluntaristisch, sondern nur nach logischen Gründen möglich gewesen wäre. Sodann erkannte Nietzsche in den funktionellen Zusammenhängen, der »Interdependenz«, wie wir heute gefährlich, fertige Dinge voraussetzend, sagen, kurz, der kontingenten Situation, die nach ihrem teleologischen Sinn verlangte, das missing link, ohne das jede isolierte Richtigkeitsbetrachtung bis heute einfältig ist. Aber wie konnte man zum Systematischen hinleiten, ohne sogleich in ein dogmatisches Begriffsnetz »direct fertig« zu geraten ? Das Systematische kann nicht darin bestehen, die Gedankenbewegung erstarren zu lassen: den Fluß zu Eis. Es kann nur seine Aufgabe sein, die Bewegung in die dem Gedanken gemäße Richtung zu leiten. Es ist ja der Sinn des Gedankens, der dem Denken seine logische Dignität verleiht, eben die, durch deren bewußte Wahrnehmung wir den Menschen unter den Lebewesen ausgezeichnet finden. So kommt es beim systematischen Philosophieren darauf an, sich zweier Momente bewußt zu sein. Einerseits des methodisch richtigen Vorgehens, beim Philosophieren im Unterschied zu sonstigem einzelwissenschaftlichem Nachdenken, daß es radikal sein muß, so weit trachtet, wie es sinnvoll möglich ist. Also auch nicht ins unsinnig Tiefsinnige. Aber jedenfalls nichts »dogmatisch« als unangreifbar hinnimmt oder wenn, dann nur aus »methodologischen Gründen« provisorisch unterstellt, um einmal zu sehen, wieweit man so gedanklich kommt. Sogleich aber bereit, nachher jene »eingeklammerte«, aus dem Zweifel herausgeholte »Unterstellung« wieder aufzuheben. Andererseits nur auf die logischen Gewichtsverhältnisse achtet; eine gute Formel Bertrand Russells, die er freilich selbst vergißt, sobald er sich nicht mit typisch mathematischlogischen Problemen befaßt. Dieses logische Gewicht der Bedeutung hat nun seinen Sinn nur in einer Skala: eben der logischen Verhältnisse, G II
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die am Inhaltlichen, welches sie formen, das notwendige »wenn« »dann« usw. aufhellen, bildlich: die Auszahlungen, Emanationen. Die »logische Tragweite« ist es, um jenes Bild Russells noch etwas weiter auszuführen, worauf es jeweils beim Systematischen ankommt. Um nun diese möglichst bald zu erfassen und zwar nicht so, daß man sogleich dogmatische Momente ins Gedankliche hineinläßt, wie ein trojanisches Pferd, das die Danaer einschmuggeln, um von ihrem Dogma aus dann in einem geeigneten Moment: wo der Platz in der Topik in Frage kommt, worauf das Dogma sitzt, auszusteigen und sich des ganzen Unternehmens zu bemächtigen (die bekannte Hypertrophie oder monistische Tendenz einer irgendwo ad hoc berechtigten Position). Um also jene »logische Tragweite« zu erfassen, muß dauernd gedanklich »experimentiert« werden. Es gibt nämlich, wie man längst weiß, unter den verschiedensten Bezeichnungen: Hypothesen, Annahmen, Fiktionen, Unterstellungen, Thesen usw. nicht nur im Bereich des »Tiegels und der Retorte«, sondern auch in der Gedankenentwicklung experimentelle Aufgaben, wo kein anschauliches »Aha« die Antwort erteilt, wo kein Ausschlag in der Flüssigkeit rot oder grün wird, sondern sich Unverträglichkeiten, Widersprüche und dergl. in der angenommenen Beziehung der Gedankeninhalte einstellen. Wie man aus dem hier kurz Angedeuteten hoffentlich entnimmt, ist gerade einer solchen philosophischen Tendenz nichts schädlicher als ein Hinnehmen erster gedanklicher Kristallisationsformen. Auch die großen Systematiker des sog. Idealismus haben, wie man weiß, ihre jeweiligen Systeme oft nur als Stadien in einem größeren, dem Einzelnen unerreichbaren Entwicklungsprozeß aufgefaßt, als ein provisorisches: Seht, das ist das immerhin gewaltige Gedankengewölbe, das ich, Atlas gerade hebe. Es ist gewiß noch mehr dahinter und darüber, wozu es noch stärkerer Titanen bedürfte! Aber die Epigonen nehmen oft solche Bildungen, gerade weil von ihnen ein starker ästhetischer Reiz und eine religiöse Befriedigung ausgeht, die Befriedigung die das Innere eines geschlossenen Raumes gewährt, nämlich Gehäuse für den Menschen zu sein, wo er nun ruhig ablegen kann, die Epigonen nehmen solche Bildungen definitiv. Sie zerstören damit die darin noch spürbare Bildungskraft, indem sie sie gleichsam in die Krypta verweisen, wo man jenen philosophischen Eros dann als Reliquie aufgebahrt betrachten kann. Wer von Kant herkommt, weiß, daß jene gedanklichen Experimente nun am besten mit dem Versuch zu einer sog. Topik,
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einer »örterlehre« beginnen. Es ist erfreulich, daß heute, für das »juristische Denken« unter pragmatischen Aspekten solche Versuche für zeit- und geistesgeschichtlich bedingte Positionen von jemand vorgenommen werden, der die ganze Berliner Zeit hindurch jene Gedankenexperimente als wesentlicher Experimentator mitmachte. Also eine Topik der Möglichkeiten muß versucht werden, wenn man die widerspruchslosen Momente entdecken will, die dann im empirischen Rechtsbereich Voraussetzungen für Wirklichkeiten sein können. Wir greifen zwei Beispiele heraus, die uns schon damals beschäftigten. Das eine ist das schier unsterbliche Freiheitsproblem. Gerade eben hat auch ein Mitglied jenes Kreises, ebenfalls ein wesentlicher Experimentator im Sinne des »wesentlichen Bestandteiles« des Zivilrechts, in einer ausführlichen Würdigung von Rüstows Hauptwerk anläßlich der darin häufigen Bezugnahme auf »Freiheit« auf die Vieldeutigkeit dieses Wortes hingewiesen11. Da stehen wir also vor der Aufgabe einer solchen Topik. Um die Möglichkeiten an Bedeutungen zu erfassen, die sich bei diesem Wort einstellen, um die unendlichen nur in Abbreviaturen faßbaren »Etwasse« dieser Art zu ahnen, wovon zwar eine ganze Menge dem wirklichen Menschen als wichtig im historischen Verlauf ins Bewußtsein getreten ist, kann man sich nicht, wozu eben jeder neigt, der der Mode genetischer und nicht philosophisch-systematischer Betrachtung unterworfen ist, »an die Geschichte halten«. Der Ausgangspunkt, genauer der archimedische Punkt außerhalb, um das Rad der Topik zu bewegen, liegt ganz wo anders. Er liegt im logischontologischen, wo es um das negative Urteil, die Abspreizungen geht. Wenn Nietzsche in seinem viel zitierten Wort: der Freiheit »wovon« die Freiheit »wozu« gegenüberstellte, so fügt er eigentlich nur den bisher konventionellen, vielleicht causalen, besser interdependenten, am besten wohl funktionellen »Etwassen« etwa den Imperativen, Sitten, inneren Nötigungen andere »Etwasse« eben faktischer oder richtiger oder aus beider »gemischter« Zwecke hinzu. Man könnte sich einen Kreis denken, worin jeder Punkt der Peripherie, des Umfangs ein Etwas bedeutete, wozu das Zentrum vermittelst des Radius Beziehung hätte, eine Beziehung zu etwas, was sich, wie oben benennen ließe, und die man nun negieren könnte. Auch die zu dem Zweck, den Nietzsche ins Spiel bringt. Erst wenn man nun solche Punkte mit den in der Geschichte auch der der historischen Systeme in Erscheinung 11
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getretenen, d. h. »behaupteten Freiheiten« in Beziehungen setzte, diese jetzt also logisch systematisch an jenen Punkten »bestimmte« — übrigens auch dann noch eine recht unvollkommene Bestimmung — hätte man eine Ahnung von der relativen Position, die im Rahmen der Möglichkeiten eine solche sich meist von der Situation als unabhängig gebärdende Behauptung einnähme. — Ein anderes Beispiel, was auch schon damals aktuell war und was mit Recht im Anschluß an Theodor Geiger als »ein vortreffliches Beispiel für Bacons idola fori« bezeichnet wird, bietet der Tönniessche Gegensatz von Gemeinschaft und Gesellschaft. Nicht daß er heute noch, dazu in seiner Verquickung mit aristotelischen, schopenhauerschen, romantischen Elementen aktuell wäre. Die heutige Situation hat in dieser Hinsicht Plessner zuletzt gut zusammengefaßt. Aber Katalysator, Probleme ins Licht zu setzen, die damals noch verborgen waren, ist Tönnies gewiß gewesen. Auch hier kann man nun nicht einfach beschreibend historische Erscheinungen aufgreifen und damit wie mit hier und da auf der Wiese gepflückten Blumen ein botanisches System bilden wollen. Sondern die systematische Tendenz fordert, daß man jene »Möglichkeiten« aufspürt. Dies ist, wie wir schon anderswo gezeigt, dadurch möglich, daß man Reihen von Reihen bildet, die einander parallel laufen. Jede Reihe hätte an ihrem Ende »an sich«, d. h. total von einander isolierte »Etwasse« (»an sichs«, die schon aus logischen Gründen so gar nicht möglich sind, Atome im Leeren) und am anderen Ende jene »Etwasse« mit einander ununterscheidbar zu einem einzigen Etwas verschmolzen. Zwischen diesen beiden Polen gäbe es nun unendliche Möglichkeiten. Im Verlauf der Geschichte haben sich aus pragmatischen, vorwissenschaftlich bedingten Ursachen gewisse Formen gezeigt. Denkt man nun die hic et nunc wirklichen Menschen, so könnte man sie zwar nicht senkrecht jene wagrecht laufenden Parallelen schneiden lassen, aber so daß irgend eine Verhaltens- oder Seinsweise von ihnen, jeweils nach der Kategorie des wissenschaftlichen Gegenstandes, worunter sie bei isolierter einklammernder Betrachtung gehörten, dem einen jeder Pole näher oder entfernter markiert würde. Es entstünde so eine äußerst konfuse und doch an den Reihen wohlgeordnete Figur, auf die Picasso neidisch werden könnte. Ergebnis: Man sähe jetzt besser als früher, von wieviel Ansätzen, zuvor gesetzten, hypothetisch statuierten Bestimmungen aus jeweils eine gerade aufgefallene Verhaltensweise abhängig wäre und welche komplizierte Struktur sie zusammen bildeten. Man sähe,
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daß jeder von uns in Vielem, das noch nicht unter die Kontrolle des Bewußtseins gerückt ist, dem einen Pol der Verschmelzung, wohin Tönnies Gemeinschaft steuert, näher steht als dem anderen, wohin die Gesellschaft zielt. Weiteres Ergebnis: nach wie vor solche anregende Unterscheidungen zu suchen, aber bei ihrer Aufstellung sich bewußt zu sein, daß nun erst die systematische Verarbeitung jener Funde einsetzen muß. So gesehen, kann auch die von unserem Seminar stets zugrunde gelegte »transzendentale Methode« der Marburger Schule der Neukantianer keine Verführung zu dem einen oder anderen angeblichen Dogma metaphysischer Art bedeuten, etwa eines Idealismus, der die Schicht des ontischen in die nur ihr gegenüber sinnvollen Schicht des Logischen »idealistisch« aufgehen ließe. Davon kann gar keine Rede sein. Es handelt sich nur darum, unter Kenntnis der unendlichen systematischen Aufgabe die richtige Haltung zu gewinnen, um nicht sogleich ins Dogmatische zu geraten. Es ist ein in die Philosophiegeschichte eingegangener Streit, ob man Philosophieren oder Philosophie lehren könne. Nun, Philosophie kann man jedenfalls nur lernen wie man den Wissensstoff seiner Einzelwissenschaft lernen kann, also auch lehren. Wir sind nur der Ansicht, daß dieses nützlich, ja notwendig, jenes aber überflüssig, mißverständlich, also gefährlich ist. Philosophieren nun wird man dann lernen können, wenn etwas Ursprüngliches dahin treibt, ein philosophischer Eros nur zu wecken ist, wie es der Sinn der sokratischen Maieutik war. Es ist so wie am Schluß von Faust: »Und hat an ihm von oben gar die Liebe teilgenommen«. Philosophieren lehren kann dann aber nur bedeuten, daß man günstige Umstände für das eigene herstellt, Hindernisse aus dem Wege räumt. So kann man also auch die »transzendentale Methode« nicht eigentlich lehren. Man braucht gar kein Wissen, um sie zu haben. Sondern man muß sie »beibringen«. So wie man schwimmen beibringt. Als Ergebnis natürlich auch möglichst ein Wissen um das, was man macht, wie man verfährt. Dies ist also auch der Grund, weshalb Rechtsphilosophie wie Philosophie nicht in Einschränkung als »Bindestrichphilosophie« gelehrt werden kann. Es ist kein Fach neben anderen, so daß man sagen könnte: Wir haben da schon jemand, der Maschinenbau lehrt. Ja, jede philosophische Vorlesung führt die Gefahr mit sich, daß sie den Hörer in eine einzelwissenschaftliche Haltung versetzt, wie er sie bei Aufnahme von Wissensstoff nötig hat. Deshalb ist das Verhältnis des Leiters eines Seminars zu
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seinem Kreis als eine persönliche Weise, jeweils die einzelne Bewußtseinslage aus den Antworten erschließend und so das »dialektische« Gedankenspiel zu fördern, die einzig legitime philosophische Methode. Man kann sich von einer solchen, ja uralten, dem Philosophen selbstverständlichen Auffassung seiner Funktion aus vorstellen, wie er reagieren wird, wenn ihm ein Kollege mitteilt, er müsse im nächsten Semester einmal Rechtsphilosophie lesen. Was er dafür wohl nötig habe. So als ob es darum ginge, mal mit Privatversicherungsrecht auszuhelfen. Ein solches Verfahren ist nicht nur nicht gleichgültig. Es zeigt auch nicht einmal Rechtsphilosophie etwa als demimondänen Bereich, als Dirne, denn wo wäre hier der Wille zum Anreiz. Es bedeutet die Vernichtung jeder philosophischen Neigung bei den Hörern, die sich mit Recht von einem so läppischen Stoff wieder zur Einzelwissenschaft wenden, wo die Intentio wenigstens eine echte ist. Die transzendentale Methode ist, unter diesem Aspekt, keine Geheimmethode, keine Einweihung in Riten, sondern eine Anleitung, sich bei dem Ansatz erster Urteile der Bedingungen bewußt zu werden, wovon ihre Richtigkeit abhängen muß. Es geht nicht ad res ipsas. Sondern es geht um den Rechtsgrund vorgelegter Urteilssätze, die, um diskutierbar zu sein, also nicht als psychologisches Urteilen verstanden werden, sondern als Sätze, wie sie nach einem berühmten Wort »in gedruckten Büchern vorkommen«, wobei freilich auch das rein Signitive, Sprachliche nicht sogleich primär werden darf. Die transzendentale Methode, deren Anwendung unser Bemühen galt, trug also gar nichts von einem formulierbaren Überzeugungsgut an sich, wie es vielfach konstituierendes Grunddogma einer sog. Schule ist. Man mußte im Gegenteil ständig darauf aufmerksam machen, daß die von vorgelegten Urteilen aus ermittelten Voraussetzungen ihrer Richtigkeit zunächst immer nur die Hypothesis des Ausgangs rechtfertigen. Daß also nur bei immer erneutem und an verschiedenartigem einander immer näher kommendem Material derartiger Begründungsreihen Widersprüche, Ergänzungsmöglichkeiten sichtbar werden. So könnte man gewiß eine Angelogie transzendental erhellen wollen, landete dann aber bald an dem Unterschied der in Frage kommenden Wesenheiten, wäre so genötigt, den Charakter religiöser dogmatischer Begriffe (als in letzter Linie' teleologisch intendierter) festzustellen und den Unterschied zu Begriffen von Wirklichem in der Kontingenzsphäre, des Erfahrungsbereichs der Naturwissenschaften, genau herauszuarbeiten.
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Man sieht, daß die transzendentale Methode als kritische zunächst Vorurteile bereinigt, Hypertrophien, Monismen wegräumt. Sodann aber auch, daß sie nie so etwas wie eine letzte, definitive Feststellung erstreben kann. Ihr Weg, vom vorgelegten Urteilssatz nach den Prinzipien zu, hat seine konverse Seite, ins Prinzipiat. Beide gehören zusammen: das zog Generalisierende und Spezifizierende. Aber auch dieses bedarf ja der parallel laufenden Nebenentwicklung anderer Reihen, zu denen nun kein einfacher Ubergang wie bisher mehr möglich ist, sondern ein Transzendieren, was man schon dialektisch nennen kann, wie es im Prinzipienbereich sein muß. Man sieht auch, wie sinnwidrig hier ein Haltruf wäre, ein Haltsignal: daß hier ein anderer Gegenstandsbereich beginne, der, von anderen Wissenschaften besetzt, uns nichts mehr anginge. Gewiß ist aber auch, daß gerade die gemeinsame methodologische Arbeit niemals Anstoß an verschiedenen Einzelergebnissen nehmen kann. Uber die Ursache hierfür wird man ja stets diskutieren können, da das einzig sinnvolle Minimum für das Vorgehen und einander Verstehen ja gesichert ist. — Gar nicht zufällig aber war es, daß die jedem Psychologismus und genetischem Interesse entrückte Weise schnell in das Interesse der Logistiker rückte. Gewiß eine Entwicklung, die weniger bedenklich ist als die Rückentwicklung in Positivismus, Psychologismus. Aber auch hier ist es Ungeduld, die, wie bei diesen schnelle Orientierung am handgreiflichen Scheunentor, so sofortige Formulierung verlangt. Eine präzise Fassung mit Hilfe eindeutiger Symbole, ein Kalkül, der klar erkennen läßt, welche Axiome verwendet werden, wie sie bestimmt sind, weshalb man sie benötigt, verlangt ja zuvor, daß das zu Fassende, seinen Sinnbeziehungen nach, aufgehellt sei, verlangt bereits ein begriffliches Entwicklungsstadium, das als regulative Idee über jeder rechtsphilosophischen Bemühung steht, ja es setzt eigentlich so etwas wie die früher erstrebte »klassische« Art der großen idealistischen Systeme voraus. So hat die Rechtsphilosophie als zentrales Bemühen die uns bekannte Aufhellung der begrifflichen Beziehung infolge des Sinngehalts und logischen Gewichts der behaupteten Inhalte. Da aber auch ein solches Unternehmen als Realität nicht an sich steht, sondern verantwortlich in ihrer Situation, sind wegen der Realisierung der Ergebnisse und der Erkenntnis des Aktuellen die Tatsachenwissenschaften, die Geschichte, Soziologie, Psychologie, also die genetisch verfahrenden Disziplinen sozusagen in Wartestellung. Sie wissen, daß
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sie dann von der Rechtsphilosophie »Verbindliches« verlangen dürfen. In ähnlicher Weise müssen die Ergebnisse der so verschieden struktuierten »logistischen« Bemühungen insoweit studiert werden, als sie für die Formulierung der Einsichten, die »Thesen« nötig sind. Glücklicherweise hat auch hier ein wesentliches Mitglied jenes Berliner Kreises diese Aufgabe als Lehrender in Angriff genommen. — Die Entwicklung hat, wie wir wissen, dazu geführt, daß sich immer mehr Teilnehmer verabschieden mußten. Teils emigrierten sie, teils wurden sie eingezogen. Dafür traten in zunehmendem Maße ältere Juristen, die sich als zugehörig auf Grund der Veröffentlichungen fühlten. Die äußeren Umstände forderten, daß man der Angriffe wegen die alte Arbeitsstätte verließ und sich zuletzt in Kellerräumen aufhielt, ja schließlich nur noch mit dem einen oder anderen, der auftauchte, »peripatierte«. Nur noch selten war es uns wegen der persönlichen Ereignisse möglich, in Berlin aufzutauchen und so kam schließlich das Ende heran. Beglückt aber war man dann, wenn nach vielen Jahren der eine oder andere wieder auftauchte und seine Anhänglichkeit an den alten Kreis bekundete, wozu Teilnehmer aus ältester Zeit Wesentliches beitrugen. Fragt man sich nun, was man vorschlagen sollte, um Ergebnisse in der jetzigen Situation zu aktualisieren, so sieht, von unserem Fach, von der Perspektive der Geisteswissenschaft aus, die Lage folgendermaßen aus: In Deutschland, wohl schon immer mehr als in romanischen Ländern, seit dem Hochkommen der Tatsachenwissenschaften, ist nun ein Zustand erreicht, wo gewisse Ergebnisse zwar mitgeteilt, akademisch in foro interno gewürdigt werden, daß man aber, ebensowenig wie bei Kongressen nicht einmal mehr die Ergebnisse auf den eigenen Kongreßverlauf, überhaupt nicht zu verwerten gedenkt. Sie bleiben im Elfenbeinturm. Erschütternd, wenn man hierfür einen Überblick über die Rolle zu gewinnen sucht, die das Überpositive, Metajuristische in den Entscheidungen der höchsten Gerichte spielt. Kein Wunder, denn sie werden fast nur mit Vertretern der positiven Jurisprudenz besetzt, mit großen Kennern und Könnern im spezifisch Juristischen, die aber kaum Gelegenheit hatten, etwaige Ansätze im Rechtsphilosophischen auszubauen. Deshalb sind auch die Begründungen, soweit sie überpositiv sein wollen — man sieht, wie wenig ein Wille zu Neuem ein neuer Wille wird — so dürftig wie möglich. Man kann nur sagen: aus der Hand in den Mund wird einmal dieser, einmal
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jener überpositive Gesichtspunkt zitiert: Rechtsstaat, Demokratie, Humanität, Menschenrecht usw. Es steht ja auch zum Zitieren nichts bereit als jeweils ein Katalog aus Verfassungen oder ins allgemeine juristische Bewußtsein geratenes »gesunkenes Kulturgut« älterer rechtsphilosophischer Lehren. Die Frage, wie ein solcher Zustand zu ändern wäre, stimmt trüb. Man möchte an einen berühmten Brief Piatons erinnern, worin er auf die Unrichtigkeit hinweist, sich überflüssig zu bemühen. Vielleicht aber hat es doch bisher noch an der richtigen Form gefehlt, an einer dem positiven Juristen mehr einleuchtenden, weniger suspekten Form. So schlagen wir denn noch einmal, wie schon an verschiedenen Stellen folgendes vor: Es ist überpositives Material bereitzustellen, woraus die positiven Normen, insbesondere der Verfassungen ihren Rechtsgrund, ihre Interpretationsgrundlage, Ergänzungsmöglichkeit, auch das Kriterium ihrer Gültigkeit zu beziehen hätten. Dieses Material muß seinen Charakter als wissenschaftliches, der Diskussion Offenes im Unterschied zu Dogmatischem, Aufoktroiertem, so wie wir es von ernsthaften einzelwissenschaftlichen juristischen Leistungen verlangen, bewahren, eben wie es sich aus der Forschungsarbeit ergibt. Es muß also der Möglichkeit zukünftiger Einsichten, Berichtigungen und dergl. gegenüber offen sein. Dieses Material kann nicht »aus der Kanone geschossen« werden. Es kann auch nicht einfach von einem Land oder gar einer rechtsphilosophischen Schule serviert werden. Es bedarf der Zusammenarbeit, wobei es natürlich wünschenswert ist, wenn man sich auf gewisse Ergebnisse einigen kann. Da es aber nicht wissenschaftlicher, also freier Gedankenarbeit entspricht, hier nach gewohnter Praxis etwa Mehrheitsbeschlüsse entscheiden zu lassen, müssen abweichende Ansichten stets daneben erscheinen. Sie können dann zitiert werden, berücksichtigt oder abgelehnt, wie das dem Juristen vertraute juristische Material aus Judikatur und Wissenschaft. Der Gegenstand wäre, rechtsphilosophisch, historisch, rechtsvergleichend, soziologisch; die Aufgabe: alles zu sammeln und zu veröffentlichen, was im Laufe der Geschichte und bei den verschiedensten Völkern in Forderungen, Theorien, Praktiken an sog. Menschen- oder Grundrechten mit überpositivem Geltungsanspruch behauptet worden ist. Um ein Beispiel zu geben: Bei einer Diskussion, die wir einmal im »Bund« in Wuppertal zur Anregung brachten, die sich natürlich in der Hauptsache
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auf Vertreter aus dem deutschen Sprachgebiet beschränkte, jedoch die verschiedener Konfessionen heranzog, zeigte sich, daß für das Problem der Grundrechte als Träger, Subjekt auch »menschliche Verbände«, Kollektive, so wie sie besonders Gierke in deutschrechtlichen Ausprägungen sah, in Frage kommen. Die Kardinalfrage wird dann sein, wie sich solche gegenüber denen ihrer Mitglieder, die der »Mengen« gegenüber denen ihrer »Elemente « verhalten mögen .Man sieht, daß hier ein ernsthafter wissenschaftlicher Diskussionsstoff zwischen den Vertretern verschiedener Parteidoktrinen auftaucht, vor allem aber auch die Möglichkeit, solchen aus dem Marxismus anzuhören und der wissenschaftlichen Erörterung zu unterbreiten. Abgestimmt wird ja nicht. Freilich darf auch nicht mit Schlagworten propagiert werden. Das so im Laufe der Zeit zu erarbeitende Material bedürfte, um der Jurisprudenz und Judikatur der Welt zur Verfügung zu stehen, eines eigenen Organs. Als Träger wäre wohl an ein spezifisches, nur diesem Zweck dienendes wissenschaftliches Institut zu denken, möglichst verbunden mit einer Universität in zentraler Lage, so daß auch interessierte jüngere Juristen hier eine Ahnung von den überpositiven Tendenzen bekämen. Die Mitarbeit selbst natürlich aus allen Ländern, entweder durch Referenten gesichert, jedenfalls aber durch wissenschaftliche Beiträge. Der Jurist wäre so endlich in die Lage versetzt, seine Entscheidungsgründe nicht nur aus der üblichen positiv-rechtlichen Literatur zu beziehen, sondern er hätte, gleich dieser, auch in jenen Publikationen des Instituts Theorien, die er berücksichtigen müßte. Aus der Hand in den Mund ginge es jetzt bei diesen grundlegenden Fragen nicht mehr. Seine Situation würde gewiß nicht leichter. Jedoch die Unabhängigkeit größer, da nun nicht mehr ein Wechsel der Regime oder Tendenzen in der fundierenden Machtsituation eines Staats ab nihilo zur völligen Neuschöpfung angeblicher Rechtspositionen führen könnte. Damit wäre die Stetigkeit gewahrt. Wenn man den Begriff der zivilierten Welt nicht zu eng faßt, wäre jetzt der Anfang zur Erkenntnis eines juristischen Koordinatensystems überpositiver, direktiver Art gemacht, woran sich jedes positive Gesetz ausweisen müßte. Nach der Vergangenheit hin wie über engere Landesgrenzen in der Horizontale gäbe es jetzt wieder eine nicht angeordnete, nicht verfügte, sondern gemeinsam erarbeitete Grundlage, so wie sie weitgehend einmal im Bereich des rezipierten römischen Rechts, des gemeinen Rechts galt.
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Wie könnte man aber nun das ganze Unternehmen charakterisieren ? Ist es rechtsphilosophisch, historisch, juristisch, soziologisch? Nun, es ist das alles »irgendwie«. Es dient ja einem terminus ad quem! Aus Einsicht in die Aufgabe sinnvoller SitvLdXionsentwicklung bedarf es einer angewandten notwendig teleologischen Situationsphilosophie, die, hier genetisch, Material heraufholt. Da dieses nun, als Anschauungsstoff Ergebnis tatsächlicher Vorgänge, selbst tatsächlich, »kontingent« ist, setzte nun an dem Hervorgeholten oder auch neu Erdachten eine Arbeit ein, die man mit der vergleichen könnte, wie sie Piaton bei seinen Ideen vorschwebte. Man hat diese nie ganz; immer nur Seiten davon werden unter Perspektiven sichtbar; aber untereinander fordern sie ständig ihrem Sinngehalt nach, daß man sie ordne, logisch — provisorisch — bestimmte, Lücken ergänzte usw. Wir betonen noch einmal, daß der Charakter dieser sog. Grundrechte nach Art von platonischen Ideen aufgefaßt, die einzige Garantie dafür bietet, daß sie einerseits nicht positivistisch interpretiert werden, so daß man also nicht trotz des Verlangens nach Rechtsstaat nur einen sozusagen zurückgeschobenen Positivismus: einen Positivismus höherer Dimension erreichte, andererseits, daß sie Gegenstand wirklich wissenschaftlicher Forschung bleiben. Auch wenn sie insofern niemals völlig »gehabt« werden, bleibt das, was man von ihnen einmal erfaßt hat, trotzdem praktikabel, nämlich in der so wichtigen Funktion der Koordinaten für das Positive. Wie schwierig es nach wie vor sein wird, alles das, was man heute unter humaner Auffassung, echter Demokratie, rechtsstaatlichen Ideen usw. versteht, in die Form jener Wesenheiten zu transformieren, wird vielleicht einleuchtend, wenn wir auch auf alle die mannigfachen Rechtsprinzipien hinweisen, etwa des Strafrechts, kurz auf alles, was jeweils den Stolz der internationalen Anerkennung erheischenden Rechtswissenschaft gebildet hat. Wenn, z. B. damals ein Vertreter des Auswärtigen Amtes in Wuppertal darauf hingewiesen hat, daß sich unerwartet Mahadma Gandhi für uninteressiert an jenen Menschenrechten gezeigt habe, so beweist das nur, daß es mancher Transformationen, Abbildungen, subtiler Gleichungen bedarf, bis sich erkennen läßt, unter welchen Begriffen, Einrichtungen, Selbstverständlichkeiten, die in manchen Ländern noch gar nicht ins Bewußtsein getreten sind, das Entsprechende steckt, was es bei dem hier empfohlenen Unternehmen dann begrifflich einzuordnen gilt.
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Fragen wir uns, wer die Initiative für die Ausführung ergreifen könne, so stehen wir vor demselben Problem wie vor dem nach der Errichtung rechtsphilosophischer Lehrstühle. Von positivistisch trainierten Geistern kann die Initiative und Anstrengung nicht erwartet werden und andere Geister könnten ja erst das Ergebnis der Unterrichtung sein, die wir von dem funktionierenden Institut erhoffen. Der Positivist wird die Bedeutung nie einsehen. Er wird nur, wie in solchen Fällen immer, danach trachten, daß man, rund heraus gesagt, ihm Arbeit abnimmt. Wenn man also, simpel wissenssoziologisch, in der Kette weiter denkt, liegt der Fall hoffnungslos. Auch die lärmende Art des sog. Wertbegriffs dürfte dabei noch überall stören und verhindern, daß man die zarten neuen Weisen vernimmt. Wir wissen, daß Wünsche, die zunächst auf etwas rein Geistiges gehen, dessen Nutzanwendung erst sichtbar würde, wenn sie ein Prestige bereits hätten, heute verhallen. Wir haben kein Talent mehr zu den sympathischen »reinen Toren«. Schon der Name »Grundlagenforschung« ist, so gesehen, ein Zugeständnis ans banal Pragmatische. Er unterstellt, daß das Gebäude fest gegründet sei, um dessen tiefere Schichten man sich nun, nach Schutz vor Regen und Wind bemühen könne. Vielleicht um dann noch so etwas wie einen Weinkeller zu bekommen. Wir wissen, daß die Könige keine Philosophen zu sein pflegen, ja auch diese wie Demokrit, niemals den Herrscherstab annehmen würden. Das bekannte Piatonwort ist insofern richtigzustellen, daß, nun einmal bei der Verschiedenheit menschlicher Begabung, nicht die Könige Philosophen werden müßten, sondern nur beide zugeben, daß sie einander bedürften, wobei es genügte, daß der König fühlte, der Philosoph aber wüßte. Ideen aber werden da nicht eingesehen, wo man im Innern doch nur an die Wirkung der vis absoluta glaubt. Trotz den wechselnden Erfahrungen mit solcher vis sind die geistigen Imponderabilien, im hochindustriellen Zeitalter, höchstens so etwas wie psychologische Möglichkeiten für »gut verpaßte Ideologien« (Freyer), also nützlich um maitres et possesseurs de la nature (Descartes) zu werden. Solche geistigen Gebilde sind eben nicht meßbar. Es gibt sie also eigentlich ebensowenig wie nach gewissen Physikern, die Einstein mißverstanden, die Zeit schlechthin, sondern nur den Zeitbegriff, den sich der Physiker für seine Arbeit aus jener bilden muß. Daher haben in gewissen Zeiten solche Ideen das Schicksal, wie ein Opfer auf dem Altar zu liegen, das von den Göttern nicht angenommen wird.
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ZUR GESCHICHTE DER BERLINER JURISTENFAKULTÄT IM 20. JAHRHUNDERT Zu ihrer Säkularfeier widmete Otto Liebmann der Juristischen Fakultät der Universität Berlin ein Prachtwerk im Stile jener Zeit, inhaltlich von hohem und dauerndem Wert 1 . Am 150jährigen Gedächtnistage ist nur Raum für einen Nachruf. Den Kern jener Festschrift bildet ein Uberblick von Ernst Heymann: »Hundert Jahre Berliner Rechtsfakultät«. Er zeichnet vortrefflich die großen Linien der Fakultätsgeschichte und die wissenschaftliche und menschliche Sonderart ihrer Mitglieder, einmündend in das Bewußtsein stolzer Gegenwart und die Hoffnung auf eine noch reichere Zukunft. Seitdem hat die Fakultät formell noch 35 Jahre, bis 1945, bestanden 2 . Sachlich war ihre Geschichte schon zehn Jahre früher beendet, mit der Zerstörung ihrer Geschlossenheit, ihres Charakters und damit ihres Ranges durch den Nationalsozialismus. Bis dahin war sie mehr als andere ein geschlossenes Ganzes von sehr bestimmter Prägung. Sie pflegte diese Eigenart, im Bewußtsein der beiden mächtigen Faktoren, denen sie diese Geschlossenheit verdankte, des Gesetzes, nach dem sie angetreten, einer-, ihrer Umweltbedingtheit anderseits. Von vornherein war sie die Fakultät Savignys gewesen. Er war von 1810—i842 ihr Haupt; von hier ging 1814 die Schrift »Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft« aus, von hier aus begründete er die Zivilrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, führte sie auch in das »nichtjuristische Bildungsbewußtsein«, in das geistige Selbst Verständnis der 1
Die Juristische Fakultät der Universität Berlin von ihrer Gründung bis zur Gegenwart. Mit 450 handschriftlichen Widmungen. Herausgegeben von Dr. jur. Otto Liebmann. Festgabe der Deutschen Juristen-Zeitung zur Jahrhundertfeier der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin. Berlin 1910. 2 Seit 1936 als Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät.
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Nation ein, zugleich in Erfüllung seiner europäischen Mission3, hier begründete er seine tief in die zweite Hälfte des Jahrhunderts hinein reichende Herrschaft über die deutsche Praxis 4 . Seine Fakultät bekannte sich noch im 20. Jahrhundert zu dem, was Emil Seckel 1920 in seiner Rektoratsrede den von Savigny gegebenen »königlichen Anstoß« genannt hat 6 — zur Rechtsgeschichte als Bildungsmacht und »lebensgestaltender Kraft« 8 . In der Bezeugung und fortbildenden Erfüllung eines so gerade ihr gewordenen Auftrages, in ihrer Andersartigkeit gegenüber Leipzig, Heidelberg und dem anfangs noch schwer zu überflügelnden Göttingen, wußte sie sich als einigermaßen geschlossene Individualität. Zu korporativer Geschlossenheit gefordert war sie aber von jeher auch von außen her, durch die Partner, denen sie sich gegenüber und zugeordnet fand. Sie war dem Staat, der sie mit der ganzen Universität als eine Kraft seiner eigenen Wiederherstellung in seiner Hauptstadt errichtet hatte, viel unmittelbarer zugeordnet, als andere Fakultäten, stellte ihm Berater und Gutachter, gelegentlich auch Mitglieder seiner Zentralbehörden und höheren Gerichte (u. A. Richter, Hübler, Kahl im Kultusministerium, dessen sachlicher Mitarbeiter Hinschius in noch höherem Grade war, Richter und Stahl im Oberkirchenrat, v. Martitz im Oberverwaltungsgericht), sie hatte sich vor allem mit seiner Hochschulpolitik auseinanderzusetzen. Dazu kam die unvermeidliche Berührung und Auseinandersetzung mit der Berliner Juristenschaft, mit der sich verselbständigenden evangelischen Landeskirche, im 20. Jahrhundert zunehmend mit den großen Aufgaben der Gesetzgebung, vor allem im Strafrecht, mit dem politischen Umbruch, in dessen Mittelpunkt man sich befand und der die Universität und nicht zuletzt die akademische Jurisprudenz vor neue Fragen stellte, ja sie selbst weithin ganz eigentlich in Frage stellte. In diesen Begegnungen, vor allem mit Staat und Politik, fand die Fakultät ihre eigentliche Stärke nicht in kluger Hochschul- und Fakultätspolitik oder in Verfassungsartikeln, sondern im Geltungsanspruch ihrer Aufgabe und ihrer Arbeit, wie sie sie verstand und leistete, und in mehr Fr. Wieacker, Ztschr. Sav. St. Rom. A b t . 68, X X V I ; 72, 5, 28 f., 37. E. Heymann, a. a. O. S. 23. 6 Das römische Recht und seine Wissenschaft im Wandel der Jahrhunderte, 1921, S. 25. 3
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' Fr. Wieacker, Gründer und Bewahrer, 1959, S. 34.
Zur Geschichte der Berliner Juristenfakultät im 20. Jahrhundert
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oder weniger bewußtem und ausdrücklichem korporativem Zusammenschluß in der Geltendmachung dieses Anspruchs. Dieser der Fakultät überkommene und von ihr, vor allem in ihrer Berufungspolitik, und von ihren Mitgliedern in ihrer Arbeit immer von neuem den sich wandelnden Ansprüchen der Zeit anzupassende Auftrag begründete ihre Pflichten, ihre Stärke, ihre Eigenart in der Idee. In der lebendigen Wirklichkeit gewann diese Eigenart Gestalt in der wechselnden Zusammensetzung der Fakultät, von der hier nur in Kürze berichtet werden kann —• nach den hauptsächlichen Disziplinen und, des Raums und der größeren Bestimmtheit der Konturen halber, unter Beschränkung auf die Ordinarien dieser Zeit7. Der Vortritt der Vertreter des römischen Rechts, auch sofern sie zugleich das heutige bürgerliche Recht lehrten, entspricht der Berliner Überlieferung. Hier brachte das Todesjahr von Eck und Pernice 1901 die neue Lage. Im gleichen Jahre traten Kipp und Seckel an ihre Stelle. Theodor Kipp (1862—1931, 1901—1930) hat in seiner stillen Art die Fakultät besonders stark geprägt. Der Schüler Iherings und Windscheids schlug, nach seiner Selbstbezeichnung als »einer der letzten Pandektisten«, mit seiner Ausgabe von Windscheids Pandekten »unter vergleichender Darstellung des deutschen bürgerlichen Rechts« für seine Zeit die Brücke von der Pandektenwissenschaft zu der des neuen Zivilrechts. Er führte in klassischen Darstellungen in die römischen Rechtsquellen und in das römische Rechtssystem ein und in ebenso klassischen in das neue Familien- und Erbrecht. Er legte, neben romanistischer Einzelarbeit, vor allem in einer Fülle von Monographien zum geltenden Recht alsbald rezipierte Fundamente heutiger Zivilrechtswissenschaft. Er erzog seine Hörer, aber auch seine Kollegen und die Fakultät durch das einzigartige Vorbild vollendeter Selbstzucht, des Maßes und der Harmonie in jeder Äußerung und Leistung, des vollendeten, bis zur Messerschärfe klaren Ausdrucks, des kraftvollen und gewissenhaften Denkens, der äußersten Sachlichkeit des Worts und der Haltung. 7 Für die Einzeldaten zu verweisen auf J . Asen, Gesamtverzeichnis des Lehrkörpers der Universität Berlin, I, 1955. — Die Zahlenpaare im Text bezeichnen die Lebensdaten und die Jahre der aktiven Zugehörigkeit zur Fakultät. — Für hilfreiche Beratung, insbesondere aus Berliner Erinnerungen bin ich dankbar Fr. Berber, M. Gutzwiller, L . Raiser, Fr. Schaffstein, U. Scheuner, Fr. Wieacker.
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Eitelkeit und Ursächlichkeit verstummten in seiner Gegenwart. Seine Güte und Gerechtigkeit und seine diskrete Schlagfertigkeit machten ihn zu einem vollendeten Sitzungsleiter in der Fakultät und in der Juristischen Gesellschaft. Neben der Rundung und Vollendung des Kippschen Lebenswerks mochte das von Emil Seckel (1864—-1924,1901—-1924) als eine kaum übersehbare Fülle von Fragmenten erscheinen, und vielleicht hätte auch längere Lebensdauer dies Gesamtbild nicht geändert. Trotzdem gehört er zu den bedeutendsten Figuren der Wissenschaft seiner Zeit. Ohne eigentlichen Lehrer, warf er sich zunächst als freier Privatgelehrter auf die Geschichte des wiederherzustellenden klassischen und des mittelalterlichen römischen Rechts, erwarb sich auf jahrelangen Studienreisen eindringende Kenntnis der deutschen und ausländischen Handschriftenbestände und gründlichste Praxis in ihrer Bearbeitung, wurde dabei unvermeidlich auch in die Tiefen des mittelalterlichen kanonischen und deutschen Rechts geführt. In Berlin, wo er sich 1895 habilitiert hatte und 1898 Extraordinarius geworden war, rückte er alsbald in die Führungsgruppe der großen wissenschaftlichen Unternehmungen, der Monumenta Germaniae und der SavignyZeitschrift ein, als einzigartiger Kenner, von Diels beim Eintritt in die Akademie mit den Worten begrüßt: »Jeder von uns weiß, daß Sie auf allen diesen Gebieten als Romanist, Kanonist und Feudist tiefer hinabgestiegen sind in die Quellenschachte als irgendeiner der jetzt Lebenden«8, und Heymanns Nachruf rühmt an ihm, neben der ungeheuren Stoffkenntnis, »ein Stilgefühl, eine Kombinationsgabe und ein zusammenlaufendes juristisches, philologisches und theologisches, namentlich patristisches Können, wie sie unter den Lebenden wohl kein anderer besitzen dürfte«, mit Brunners Wort über Jacob Grimm eine »prunklose Genialität«9. Ein Jurist durch und durch, bedeutend auch in seinen wenigen Monographien zum heutigen Recht, ein ausgezeichneter Lehrer, hat er neben der Fülle großer und kleiner, vor allem historischer und kritischer Untersuchungen und Editionsarbeiten keine abschließende Darstellung seiner überall großen Gesamtanschauung hinterlassen. Man hat gefragt, ob seine Arbeiten »ein solches reiches Menschenleben wert waren«, aber Heymann durfte darauf mit Recht antworten, seine Lebensarbeit sei, »unmittelbar Sitz. Ber. Beri. Ak. 1912 II 606. » das. 1924 Phil. Hist. Kl. C X V . 8
Zur Geschichte der Berliner J u r i s t e n f a k u l t ä t i m 20. Jahrhundert
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schaffend wie wegweisend, das Werk eines der größten Rechtsgeschichtsforscher unserer Tage, dessen Namen man getrost neben Baluze und neben Savigny nennen darf«10. Persönlichkeit und Lebenswerk dieser älteren Generation hatten sich noch einigermaßen im Zeichen des 19., des verhältnismäßig ungestörten »wissenschaftlichen Jahrhunderts«, vollendet. Inneres und äußeres Schicksal der Jüngeren wurde wesentlich durch die Umbrüche der neuen Zeit bestimmt oder mitbestimmt. Josef Partsch (1882—1925, 1922—25), Schüler von Ludwig Mitteis, war schon früh durch sein »Griechisches Bürgschaftsrecht« (1909) als Meister der antiken Rechtsgeschichte in ihren neuesten Fragestellungen ausgewiesen, als junger Genfer Professor (1906—'1910) in den weiten Horizont der Rechtsvergleichung hineingewachsen, ein souveräner Kenner und Kritiker des deutschen bürgerlichen Rechts —• so war er in überströmender Fülle der Kraft und der Gedanken, des Wissens und der Einfälle, der Arbeit und der Leistung eine der größten Hoffnungen deutscher Rechtswissenschaft. Da wurde die Hilflosigkeit der deutschen Verteidigung gegen den Versailler Vertrag, vor allem in seinen wirtschaftlichen und privatrechtlichen Teilen, für ihn zum Schicksal: er war wie Keiner berufen, hier vor allem für die Vertretung der deutschen Rechte vor den Gemischten Schiedsgerichten zu sorgen, er übernahm die Aufgabe, gewann als Helfer namentlich E. Rabel, E. Kaufmann und V. Bruns, und leistete auch im einzelnen an seinem Teile in Denkschriften, Prozeßschriften, Plädoyers in den wenigen Jahren bis zu seinem plötzlichen Ende neben voller akademischer Arbeit beinahe Übermenschliches. Man hat das Geheimnis seiner außerordentlichen Erfolge in gewissem Grade im Technischen finden wollen: in der »Interpolationenmethodik, die jetzt von Partsch und den Seinen so segensreich zur Auffindung der wahren Meinung bestrittener Paragraphen des Versailler Vertrages benutzt wird« 11 , oder in seiner völligen Beherrschung französischer Sprache und französischen Rechtsdenkens. Er selbst begründete sie mit Recht tiefer: in seiner Kenntnis der letzten Grundlagen gemeinsamer abendländischer Rechtskultur gegenüber der vorherrschenden geistigen Isolierung der deutschen Jurisprudenz, und in seiner Kraft eines vom 10
das. s . C X V I I .
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O. G r a d e n w i t z
in:
Rechtswissenschaft der G e g e n w a r t
in
Selbstdarstel-
lungen I I I (1929) 81. G II
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römischen Recht genährten Rechtsdenkens12. Von daher rührte seine, ihm wohl bewußte Überlegenheit in den Fragen des geltenden Rechts und Rechtsunterrichts, im Kampf um die »törichte Studienreform« gegen den Dilettantismus von Ministerien und banausischen Juristen jeden Alters. Überall setzte er zuviel Kraft ein, und so erlag er 42 jährig den Anstrengungen eines vaterländischen Kampfes. Noch zwei Romanisten von internationalem Ruhm hat die Fakultät in E. Rabel und Fritz Schulz gewonnen, um sie nach wenigen Jahren als »Nichtarier« wieder zu verlieren. Ernst Rabel (1874—1955, 1926—1935), als Schüler von L. Mitteis fest in der antiken Rechtsgeschichte verwurzelt, dazu von vornherein von weitestem übernationalem Horizont, erprobt im Kampf als Richter und Parteivertreter in den Gemischten Schiedsgerichten, schuf er in Berlin alsbald in dem Kaiser Wilhelm-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht (jetzt in Hamburg) eine unvergleichliche Zentralstelle für amtliche Beratung, vor allem aber als Arbeits-, Fortbildungs- und Bewährungsort für junge Juristen, um deutsche Rechtswissenschaft überhaupt wettbewerbsfähig mit der des Auslandes zu halten. So war er ein Hauptträger der Bemühungen um internationale Vereinheitlichung des Privatrechts, um »universale Rechtsbegriffe«, um die Überwindung des Gegensatzes zwischen kontinentalem und anglo-amerikanischem Rechtsdenken — dabei weltenfern von irgendwelchem Utopismus, ein schärfster juristischer Denker, selbstkritisch und skeptisch, voll ätzenden Spotts über Interpolationenjagd und Stubengelehrte Juristenphantasie, »einer der größten Romanisten aller Zeiten«13. Fritz Schulz (1879—1957, 1931—33), Kipps Nachfolger, war Schüler von Seckel, folgte ihm aber nicht auf seinen mittelalterlichen Arbeitswegen, sondern wurde einerseits in immer neuen Leistungen ein Mitträger der Fortentwicklung der romanistischen Arbeit zu neuen Fragestellungen und anderseits ein fruchtbarer Förderer heutiger Zivilrechtsdogmatik, beides aber in dem untrennbaren Zusammenhange, den die Sache gebietet und den das Lebenswerk so vieler hervorragender Romanisten bezeugt. Nach kurzer Berliner Wirksamkeit vom Dritten Reich als Lehrer zum Schweigen gebracht (formell 12 »Das am römischen Recht geschliffene Schwert der juristischen Bildung«: O. Lenels Nachruf auf Partsch, Sav. Ztschr. Rom. Abt. 1925, X I V . 18 H. J . Wolff, Sav. Ztschr. Rom. 1956, X X V I I I .
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entpflichtet erst 1935), gewann er Raum zum Abschluß seiner literarischen Arbeiten in den »Prinzipien des römischen Rechts« (1934), der »History of Roman Legal Science« (1946) und dem »Classical Roman Law« (1951). Sie bezeugen, mit seinen eigenen Worten, »den humanistischen Affekt, der der neueren romanistischen Forschung Aktualität, Schwung und Enthusiasmus gab« 14 , aber zugleich die gedankliche Kraft eines großen Juristen. Im Dritten Reich hat Paul Koschaker (1879—1951, 1936—41) noch einige Jahre die Berliner romanistische Tradition aufgenommen, um dann Berlin wieder zu verlassen. Die germanistische Sparte der Fakultät vertraten in diesen Jahrzehnten in der Hauptsache Heymann und Stutz als Nachfolger Brunners und Gierkes. Heinrich Brunners Wirksamkeit reicht noch in das angefangene zweite Jahrhundert der Fakultätsgeschichte hinein (1840—1915, 1873—1915). Aber seine Lebensarbeit, in den ihr gezogenen Grenzen ein krönender Abschluß der rechtsgeschichtlichen Arbeit des 19. Jahrhunderts, war im wesentlichen getan; wirksam war das Bild seiner wissenschaftlichen Persönlichkeit, wie Seckeis Nachruf es knapp bezeichnet : »ein Entdecker wie wenige, ein Gelehrter wie er sein soll, ein Künstler der Geisteswissenschaften wie wenige«1S. Stärker noch war Otto v. Gierke gegenwärtig (1841—1921,1887—1921, praktisch schon 1917 durch Stutz ersetzt): in einsamer Größe, ein Patriarch —• mit seinem mächtigen ethischen Pathos ein Zeuge von Allem, was gut und groß gewesen war am 19. Jahrhundert — dadurch freilich auch begrenzt — unkompliziert und unproblematisch und in gewissem Sinne unmethodisch, anders als die Jüngeren, denen das Pathos fremder war und Skepsis und neuer Tatsachensinn näher lag — mit den gewaltigen Blöcken seiner Werke, mit der Mächtigkeit als Person, mit der fortwirkenden Wucht seiner einmal gegebenen Antriebe der »große alte Mann« der Fakultät. Im bürgerlichen Recht hatten jene Antriebe sich schon zum Teil ausgewirkt, im öffentlichen begannen sie zu wirken. Er allein hatte die Legitimation, 1903 den Abschluß des Schulstreits zwischen Romanisten und Germanisten zu verkünden 16 — er spielte auch abgesehen von aller Einzeltätigkeit eine ähn" Sav. Ztschr. Rom. 68, 4. 16 Sitz. Ber. Prß. Ak. 1916, 767^ w Die historische Rechtsschule und die Germanisten, 1903. 8*
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lieh geistig-hegemonische Rolle, wie sie in gewissem Sinne früher Mommsen gespielt hatte 17 . Brunners Nachfolger Ernst Heymann (1870—1946, 1914—1938) war ein Mann des Übergangs. Von umfassender rechtsgeschichtlicher Bildung und Wirksamkeit, ging er neue Wege in neuer Pflege des ausländischen Rechts, vorweg des englischen, in verstärkter Vertretung des Handelsrechts, von eigener Tätigkeit in der Kriegswirtschaft ausgehend in neuer Durchsetzung des Wirtschaftsrechts. Es waren zum Teil diese neuen Aufgaben, z. T. überkommene, die zugleich seine geschäftliche und organisatorische Begabung beanspruchten: Akademie der Wissenschaften und Monumenta Germaniae, Übernahme des Rabeischen Instituts, Begründung oder wenigstens Herausgabe oder Mitherausgabe von Abhandlungsreihen und Zeitschriften. Es lag nicht nur an der Vielfalt seiner Tätigkeiten und seiner wissenschaftlichen Arbeitsgebiete, sondern wohl vor allem am Übergangscharakter der Zeit, daß dieser hervorragende Jurist der Theorie und der Geschäfte kein abschließendes Werk, kein Lehr- oder Handbuch im älteren Sinn hinterlassen hat. Eine Sondererscheinung im Gesamtbilde der Fakultät war Gierkes Nachfolger Ulrich Stutz (1868—1938,1917—1936). Er war der einzige reine Historiker, der ihr in diesen Jahrzehnten angehört hat. Seine wichtigen Arbeiten zum geltenden Recht erklären dies Recht historisch, entwickeln es nicht eigentlich im Sinne aktueller Jurisprudenz. Die große und äußerst fruchtbare Verschiebung der wissenschaftlichen Fragestellung, die er mit der Verselbständigung der kirchlichen Rechtsgeschichte vollzog, bedeutete zugleich eine mit Recht kritisierte Trennung von Rechtsgeschichte und Rechtsdogmatik 18 , die erst seine Schüler wieder überwunden haben. Besonders durch seine Forschungen zum mittelalterlich-germanischen Kirchenrecht und deren wirkungsvolle akademische, zumal seminaristische Vertretung begründete er eine die Länder- und Konfessionsgrenzen weit übergreifende wissenschaftliche Schule, und für die so angeregte kirchenrechtsgeschichtliche Arbeit schuf er die drei organisatorischen Formen der Kirchenrechtlichen Abhandlungen (seit 1902), des Kirchenrechtlichen Instituts (seit 1904, in Bonn, dann in Berlin), der Kanonistischen 17 Zu Mommsen Heymann S. 46; zu O. v. Gierke vor vielen anderen Seckeis Nachruf DJZ 26 (1921) 712. 1 8 E. Heymann, Forsch, z. brand. u. preuß. Gesch. 51, 1939, I59f.
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Abteilung der Savigny-Zeitschrift (seit 1910). Er übersah zugleich souverän die gesamte wissenschaftliche Arbeit im Bereich der deutschen Rechtsgeschichte, von der er ausgegangen war, betreute sie vierzig Jahre als Herausgeber der Germanistischen Abteilung der Savigny-Zeitschrift und waltete hier kritisch über ihren Bestand und Fortschritt, nicht zuletzt durch zahllose sorgfältige und sachkundige Rezensionen. »Die umfassende und zugleich kritische Literaturkenntnis stellt sich als das eigentliche Wesen seiner Gelehrsamkeit dar« — so hat E. Heymann seine Art im Kern zutreffend, wenn auch mißverständlich einschränkend bezeichnet19. Die Vertreter des Zivilrechts, die nicht zugleich produktive Rechtshistoriker waren, haben sich in der Fakultät immer in der Minderheit befunden. Von ihnen reicht Josef Kohlers (1849—1919, 1888—1919) Wirksamkeit bis in diese Zeit. Seine dauernden Leistungen, insbesondere auf dem Gebiet des geistigen und gewerblichen Rechtsschutzes, lagen allerdings hinter ihm. Sein Freirechtsdenken und sein Neuhegelianismus, seine Rechtsvergleichung und seine Rechtsphilosophie konnten nur noch anregen, nicht dauerhaft begründen. Man achtete seine genialischen Züge und den strömenden Reichtum seiner produktiven Natur. Aber seine ungebundene Formlosigkeit war nicht die Art der Fakultät, und so blieb er ein Einzelgänger neben ihr. Aus anderen Gründen hat eine so bedeutende Persönlichkeit wie Rudolf Stammler (1856—1938, 1916—1921) in der Fakultät verhältnismäßig geringe Spuren hinterlassen. Als er in die Fakultät eintrat, lag sein eigentliches, stolzes und anspruchsvolles Lebenswerk vor, aber zugleich war deutlich, daß sein Kampf gegen »Positivismus und Naturalismus, Logizismus und Psychologismus, Empirismus und Materialismus« zwar das denkerische Gewissen der weithin in Gedankenlosigkeit versunkenen deutschen Juristenzunft geweckt, dabei aber die seinem neukantischen Kritizismus gezogenen Schranken letzter Unproduktivität nicht überwunden hatte. In einem berühmten Satz schob Kipp mit ganz leichter Hand das Stammlersche Denken beiseite: »Stammler gibt richtig an, was der Sinn des Rechts ist, nicht was geltendes Recht ist«20 — der historisch-dogmatischen Arbeit hatte Stammler wenig zu sagen. Und sein grundsätzlicher Mahnruf traf die Fakultät nicht: sie trug ihr geistiges Korrektiv in sich. 10 20
a. a. O. S. 165. Windscheid-Kipp, Pandekten § 1 5 Anm. 5.
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Die Lehrerpersönlichkeit von einzigartiger Leuchtkraft in der Fakultät überhaupt und zumal im Zivilrecht war Martin Wolff (1872—1953, 1921—1935). Das Urteil ist wohl richtig, daß seit Vangerow kein deutscher Jurist einen solchen Lehrerfolg gehabt hat, die Leipziger »großen Vier«, Windscheid, Sohm, Wach, Binding eingerechnet. Der Zauber dieses Lehrers ist oft beschrieben, etwa von seinen Schülern in der Vorrede zu der ihm 1952 gewidmeten Festschrift : »In ihnen allen klingt die Stimme fort, die so leise und doch so eindringlich zu scharfer Logik, zu behutsamem Wägen, zu kritischer Prüfung, zu selbständigem Denken zu rufen verstand; sie fühlen noch den Blick auf sich gerichtet, der kein Ausweichen vor der juristischen Entscheidung zuließ«. Der Hörer erlebte in jedem Wort eine höchste Kraft systematischen Ordnens, eine radikale Gewissenhaftigkeit im Durchdenken jedes Gedankens und jeder Entscheidung, eine fanatische Sauberkeit des Ausdrucks, aus dem die letzte Unklarheit und die letzte Wortschlacke herausgeglüht war — das alles in höchster Anspruchslosigkeit und Sachlichkeit vorgetragen und doch mit der Kraft, den Hörer zu entzünden. Zu der Mächtigkeit des geistigen Prozesses, an der M. Wolff fast unmerklich Hörer und Leser teilnehmen ließ, kam die Energie der wissenschaftlichen Eroberung des neuen Landes, des neuen bürgerlichen Rechts —• auch von daher fühlte sich der Student wie der Leser des berühmten Sachenrechts geistig beschwingt, ohne zu wissen, worauf dieser Zauber beruhte. Wenn man seine Bücher oder Aufsätze aufschlägt, so fühlt man sich nicht nur informiert, sondern inspiriert, oft beglückt wie von einer römischen Quellenstelle. Diese eigentümliche juristische Genialität befähigte ihn besonders für die Aufgaben des internationalen Privatrechts und der Rechtsvergleichung, denen er sich in der Verbannung widmete (Private International Law, 1945, Traité de Droit Comparé, mit Arminjon und Nolde, 1950—1951). Die nationale Eigenart eines jeden Rechtssatzes brachte er vollendet zur Geltung. Als er 1949 sein Buch über das internationale Privatrecht Deutschlands, das 1933 zum ersten Male erschienen war, neu herausbrachte, konnte er feststellen, daß diesem Werk und der aus englischem Rechtsdenken heraus gegebenen Darstellung des englischen Kollisionsrechts von 1945 »nur wenig gemeinsam« sei. Es entsprach seiner Ausrichtung auf seine klassische, vollendete Art der Entwicklung des einzelnen Rechtsinstitutes und Rechtssatzes,
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daß für ihn die Systematik keinen Eigenwert hatte. Abstrakten Theorien gegenüber verhielt er sich ablehnend, rechtspolitischen Tendenzen, etwa der Aufwertungsbewegung gegenüber, kritisch zurückhaltend — was entschlossene Vorstöße, wo sie ihm geboten schienen, wie in der Frage der Weimarer Eigentumsgarantie, nicht hinderte. In seiner persönlichen Art war er Kipp am ähnlichsten, und seine Gedächtnisrede auf Kipp ist unwillkürlich zugleich die beste Charakterisierung seiner selbst geworden, die es gibt. Auch er ertrug Unsachlichkeit und Eitelkeit schwer, auch wenn er dazu schwieg; er litt unter Planlosigkeit, Unklarheit, sprachlicher Unsauberkeit in Wissenschaft, amtlichem und persönlichem Verkehr — ein stiller Erzieher aller, die ihm nahestanden oder begegneten. Weniger stark hat Heinrich Titze (1872—1945, 1923—1938) das Gesicht der Fakultät bestimmt. Selbständig beteiligt an der Überwindung des Psychologismus der vorangegangenen Juristengeneration und an der Anpassung des Zivilrechts an die Erfordernisse einer veränderten Zeit, war er zugleich auf dem Katheder und in seinen Lehrbüchern des bürgerlichen Rechts ein mit Grund hochgeschätzter Lehrer. Nur kurz gehörte in dieser Zeit Hans Lewald (geb. 1883,1932—'1935) der Fakultät an. Im Druck dieser Jahre kam dieser hervorragende Vertreter des bürgerlichen und internationalen Rechts nicht mehr zu der ihm gebührenden Wirkung. Wegweisend vertrat das Arbeits- und Sozialrecht Walter Kaskel (1882—1928, Extraordinarius 1920—1928), dem Hermann Dersch (geb. 1883, Extraord. 1929, Ord. 1931—1937) folgte. Eine starke Bewegung um die Jahrhundertwende und seitdem warf der deutschen Zivilrechtswissenschaft vor, formalistisch und positivistisch erstarrt und entartet zu sein. Die Berliner Fakultät traf dieser Vorwurf nicht. Sie war einig, das Recht als gerechte, sinnvolle, praktische Lebensordnung zu verstehen, und sie würdigte die rechtsgeschichtliche Arbeit gerade auch als eine Gewähr richtiger Haltung gegenüber dem geltenden Recht 21 . Das galt zunächst, aber nicht nur für das bürgerliche Recht. Im Zivilprozeßrecht mit seinem besonderen formalistischen Gefälle wirkte Konrad Hellwig (1856—1913, 1902 bis 1913), vom römischen Recht, aber auch von Wach herkommend, in seiner eigenartigen Prozeßrechtslehre diesem Gefälle derart ent21
Statt Vieler Th. Kipp, Heinrich Dernburg, 1908, S. 3 8 f f .
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gegen, daß die Erinnerung der Fakultät ihn als den »Ethiker des Prozeßrechts« würdigte 22 , und in ähnlichem Sinne, wenn auch von anderem Ausgangspunkt her, wirkte James Goldschmidt (1874— ,I 94°. 1919—1934) in seinen Arbeiten zum Prozeßrecht, zum materiellen Justizrecht, bis zu seinem berühmten Angriff von 1924 auf den Nominalismus formaler Gesetzesallmacht 23 . Im Gegensatz zu der — mindestens scheinbaren — größeren Stetigkeit der Zivilrechtsgeschichte war die des öffentlichen Rechts, zumal in diesem Zeitraum, bewegter — im Strafrecht durch das Ringen um seine mehr oder weniger grundsätzliche Reform, im Staatsrecht durch die politischen Umwälzungen. Diesen Gegensatz spiegelt die Geschichte der Fakultät: ihre Mitglieder aus dem Bereich des öffentlichen Rechts wurden stärker öffentlich, praktisch beansprucht. Vorweg im Strafrecht und hier vor allem in der Person seiner anfänglichen Hauptvertreter, Wilhelm Kahl (1849—1932, 1895—'1921) und Franz v. Liszt (1851—1919, 1899—1919). Sie gelangten von verschiedenen Ausgangspunkten und auf verschiedene Weise in die praktische Gesetzgebungsaufgabe. Kahl, ein Repräsentant der älteren, vom Idealismus herkommenden »klassischen« Strafrechtsschule, die vor ihm Albert Friedrich Berner (1818—1907, 1861—'1907, Privatdozent seit 1844) 63 Jahre lang in Berlin vertreten hatte, fand sie seit 1899 durch Franz v. Liszt in Berlin selbst vor den mächtigen Angriff der kriminalpolitischen Schule gestellt, vor die Forderung eines anthropologisch und soziologisch unterbauten, kriminalpolitisch und sozial praktisch gerechtfertigten und liberal-rechtsstaatlich eingegrenzten Zweckstrafrechts, für die ihr Urheber als glänzender Lehrer und Schriftsteller mit größtem Erfolge im In- und Auslande warb, als Haupt einer sich um sein Kriminalistisches Seminar bildenden Schule, als Gründer der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung (1889), als ein neuartiger Mitträger des Ruhmes und der Anziehungskraft der Fakultät. In diesem Gegensatz und angesichts der praktischen Forderung der Zeit nach Strafrechtsreform ergriff Kahl seine zweite Lebensaufgabe, der er bis an sein Ende treu blieb, den Beruf des politischen Professors. Zunächst schloß er 1902 einen Bund mit Liszt zur gesetzgeberischen Zusammenarbeit »unter Zurückstellung des Schulstreits«, 22 23
Seckel Sav. Ztschr. Rom. Abt. 59, 1926, 230t. »Gesetzesdämmerung?« Jur. Woch. Sehr. 1924, 245ff.
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der nach längerem Zusammenwirken im »Gegenentwurf« eines Strafgesetzbuchs von Goldschmidt-Kahl-v. Liszt-v. Lilienthal 1 9 1 1 sogar kodifikatorische Gestalt gewann. Kahl war seitdem in wechselnden Umständen ein praktischer Hauptträger der Reformarbeit, deren Abschluß er nicht erlebt hat. v. Liszt, der schon an der endgültigen Kommission 1911—'1913 nicht mehr beteiligt wurde, war wissenschaftlich um so entschiedener der unbestrittene Führer im kriminalistischen Bereich, durch seine literarische und akademische Tätigkeit, sein durchaus führendes Lehrbuch, seine Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, seine mehr und mehr die Lehrstühle einnehmenden Schüler — daneben vor allem völkerrechtlich tätig, hier ebenfalls wirksam durch ein oft aufgelegtes Lehrbuch des Völkerrechts — eine der eigentlichen Größen in der Geschichte der Fakultät. Sein Erbe trat Eduard Kohlrausch (1874—-1948, 1919—1942) an, um Seminar und Zeitschrift einen großen Kreis sammelnd, von hoher philosophischer und allgemeingeistiger Bildung, von leidenschaftlicher Gerechtigkeit und Lauterkeit des Wesens, klar im Gedanken und schlagfertig und präzis im Ausdruck, liberal und ritterlich, ein hervorragender, vornehmer Erzieher seines großen Schülerkreises, sachlich besonders auch den kriminal- und sozialpolitischen Jugendproblemen zugewandt. Es waren Aufgaben einer Übergangszeit, die ihm zufielen, nicht die abschließender Bearbeitung seines Feldes, statt deren er wenigstens seinen ausgezeichneten Kurzkommentar zum Strafgesetzbuch lieferte. Ein Mann des geistig und moralisch überlegenen Ausgleichs, wurde er im Dritten Reich in die undankbare Rolle des Verteidigers der liberalen und rechtsstaatlichen Ordnungsreste gedrängt, in der er sich charaktervoll bewährte, vor allem in der Strafgesetzbuch-Kommission von 1934—-1936. Inzwischen war Kahl mit 70 Jahren Parlamentarier geworden, zunächst in der Weimarer Nationalversammlung, dann im Reichstage, um es bis an sein Lebensende zu bleiben. Seiner überlegenen Mitarbeit im Verfassungsausschuß, seinem staatsrechtlich-politisch-praktischen Scharfblick hat die Weimarer Verfassung viel zu danken; im Reichstage kämpfte er vergeblich für den Abschluß der Strafrechtsreform. Im Parlament fand er eine eigentümliche Vollendung seines Wesens: seine berühmte, akademisch und synodal, in Versammlungen jeder Art und vor allem auf den von ihm geleiteten Juristentagen bewährte Beredsamkeit fand hier ihren eigentlichen Raum und stets
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das Ohr des Hauses. Das tiefe Vertrauen aller Parteien bestätigte, daß diese Erneuerung des alten Typus des politischen Professors wohlgetan war; mit Recht feierte ihn Friedrich Meinecke auf der Tagung verfassungstreuer Hochschullehrer in Weimar am 23. April 1926 als den »getreuen Eckard unseres akademischen und öffentlichen Lebens«. Seine wissenschaftliche Legitimation lag, neben vielen straf- und staatsrechtlichen Einzelarbeiten, auf dem Gebiet des Kirchenrechts, vor allem in der vorbildlichen Bearbeitung der letzten (8.) Auflage des bis dahin führenden Lehrbuchs von Richter-Dove (1886) und dem ersten Bande eines ganz andersartigen, leider nicht weitergeführten »Lehrsystems des Kirchenrechts und der Kirchenpolitik« (1894). Verlagerte Stutz den Akzent der Kirchenrechtswissenschaft rückwärts in die Kirchenrechtsgeschichte, so Kahl vorwärts in die fließende und zu gestaltende Entwicklung. Er war Mitglied der altpreußischen Generalsynode und anderer kirchenleitender Gremien, in der Generalsynode Vorsitzender der Mittelgruppe, der Evangelischen Vereinigung, in der konstituierenden Generalsynode 1920—1922 wirksames Mitglied des Verfassungsausschusses und ein Kämpfer gegen Lehrgesetzlichkeit der Bekenntnisschriften, wie sein zarter Sinn für christliches Gewissen und Grenzen des Rechts ihn auch führend für das preußische sog. Irrlehregesetz von 1910 hatte eintreten lassen. Neben Kahls strafrechtspolitischer Tätigkeit und Kohlrauschs Wirksamkeit in der Nachfolge Liszts trat James Goldschmidt stärker zurück, als der hohen Selbständigkeit seiner Leistung im Strafrecht, zum normativen Schuldbegriff, zur Abgrenzung des Verwaltungsstrafrechts, zum Prozeß- und materiellen Justizrecht, im Kampf um materielle Gerechtigkeit gegen den Nominalismus auch im Staatsrecht, entsprach. 1934 ging er in die Verbannung und starb in ihr 1940. In der Vertretung des öffentlichen Rechts im engeren Sinne, des Staats- und Verwaltungsrechts, war um die Jahrhundertwende stillere Zeit. Die große und eigenartige Wirkung Rudolf v. Gneists (1816—1895,1858—1895) lag zurück. Bernhard Hüblers (1835—1912, 1880—1912) Leistung lag mehr auf dem kirchen-, Ferdinand v. Martitz' (1839— T 9 2I > —1921) auf verwaltungs-, vor allem aber völkerrechtlichem Gebiet, für Kahl war dieser Teil seines Lehrauftrages nicht sein eigentliches Arbeitsgebiet. Aber daneben traten alsbald die repräsentativen Vertreter alten und neuen Denkens in den in besonderem Sinne politischen Fächern.
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Von 1908—1916 verwaltete Gerhard Anschütz (1867—1948) eine Professur für öffentliches Recht, um dann nach Heidelberg zurückzukehren. Ein hervorragender Jurist, von glänzender formaler Begabung, lieferte er dem Staatsrecht eine Reihe abschließend zusammenfassender Werke (einen umfassenden Kommentar zur preußischen Verfassung Bd. 1 1912; die abschließende Fassung von Georg Meyers Lehrbuch des deutschen Staatsrechts 1914—1919; den klassischen Kommentar zur Weimarer Verfassung, von 1920—1933 in 14 Auflagen erschienen; mit Richard Thoma als noch heute unentbehrliches Sammelwerk das Handbuch des deutschen Staatsrechts 1930 —-1932). Ein charaktervoller Liberaler, ein glänzender Lehrer, stand er unproblematisch fest auf dem Boden des Labandschen formalistischen Positivismus, den er dann lebenslänglich, eifrig und vergeblich verteidigt hat. 1913 trat die in den folgenden Jahrzehnten geistig und sittlich überragende Figur des Fachs, Heinrich Triepel (1868—1946, 1913—1935) in die Fakultät ein. Wie sein Lehrer Binding von (nicht zur Schau getragener) ethischer und philosophischer Tiefe, wie dieser ein leidenschaftlicher Vertreter von Staatsautorität und rechtsstaatlicher Freiheit in notwendigem Zusammenhang, noch mehr als Binding ein Überwinder des Positivismus von innen heraus. So lehrte sein alle Winkel des Bismarckreichs durchleuchtendes Buch über die Reichsaufsicht (1917) das damalige Staatsrecht eindringender und fruchtbarer sehen, als Labands Formalismus es vermochte; so stimmte er nicht programmatisch in den von den Jüngeren proklamierten Methodenstreit ein, abgesehen von seiner berühmten Rektoratsrede »Staatsrecht und Politik« (1926), sondern realisierte die inhaltliche Aufwertung der Weimarer Verfassung unmittelbar, neben anderen Untersuchungen insbesondere in dem neuen Verständnis der Grundrechte: als inhaltlich reicher gegenüber ihrem bisherigen formalisierenden Verständnis, als geltungskräftiger auch gegenüber dem Gesetzgeber, als geltungsgesicherter durch das richterliche Prüfungsrecht. Er stand hier nicht allein, J . Goldschmidt, M. Wolff, E. Kaufmann, G. Leibholz, R. Smend waren auf dem gleichen Wege, aber seine Stimme war in diesem Ringen von besonderer Autorität und ausschlaggebendem Gewicht. Mit dieser Autorität und diesem Gewicht rettete er 1922 den Kreis der Fachgenossen vor einem ihre fachliche Autorität und Glaubwürdigkeit bedrohenden Zerfall in
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streitende politische Parteien durch die Gründung der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer. Mit unpathetischer innerer Sicherheit übergab er 1927 seinem Amtsnachfolger den Berliner Rektormantel mit der Bemerkung: »Dieser Mantel ist schwer, und das ist gut, man kann ihn nicht so leicht nach dem Winde hängen«. Im Gefühl seiner Würde lehnte er es ab, nach seiner Entpflichtung 1935 von den Machthabern die Erlaubnis zu weiterer Vorlesungstätigkeit zu erbitten. Im tiefsten verwundet durch die nationalsozialistische Verwüstung von Recht und Staat vollendete er, obwohl schon im Sehen schwer behindert, in stolzer Unabhängigkeit das monumentale Werk über die Hegemonie (1938), um ihm dann noch weitere überraschende Leistungen (Delegation und Mandat 1942, Vom Stil des Rechts 1947) folgen zu lassen. Nur kurz hat Erich Kaufmann (geb. 1880,1917—1920) der Fakultät angehört, um dann nach Bonn überzusiedeln, für den internationalen Kampf um deutsches Recht nach Berlin zurückzukehren und dort als Honorarprofessor von 1927—1934 in ein loseres Verhältnis zur Fakultät zu treten. Im Doppelbesitz juristischer und philosophischer Vollbildung führte er mit den Mitteln philosophischer Kritik den notwendigen Angriff gegen die bisher herrschenden Methoden (Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie 1921), trug er Wesentliches zur neuen begrifflichen Grundlegung des staats- und verwaltungsrechtlichen Denkens bei (Das Wesen des Völkerrechts und die clausula rebus sie stantibus 1911, Art. Verwaltung, Verwaltungsrecht in Stengel-Fleischmanns Wörterbuch des Staats- und Verwaltungsrechts 1914), in der Praxis des völkerrechtlichen Kampfes ein erfolgreicher Mitstreiter. Auf anderen Wegen suchte als sein Nachfolger in der Berliner Fakultät Rudolf Smend (geb. 1882, 1922—1935) zu einem neuen Verständnis von Staat und Verfassung zu gelangen (Verfassung und Verfassungsrecht 1928). Den Abschluß bildeten die politischen Ernennungen. Zuerst die von Hermann Heller (1891—1933, Extraordinarius 1928—1932), dessen unruhig drängender Geist 1933 zu früh erlosch und dessen nachgelassene Allgemeine Staatslehre auch als Torso ein hochbedeutendes Stück des heutigen wissenschaftlichen Bestandes bleibt. Dann die von Carl Schmitt (geb. 1888, 1933—1945), dessen Schriften vor allem die verfassungsrechtliche Pathologie der Weimarer Republik schonungslos aufgehellt und dem herrschenden Denken im öffent-
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liehen Recht in ihrem Dezisionismus eine blendende Gegenthese entgegengestellt hatten, die sich alsbald als wirkungsvoller Schrittmacher des nationalsozialistischen Gewaltsystems bewährte. Im Völkerrecht hatten nach A. W. Heffter (1796—1880, 1832 bis 1879) v. Martitz und v. Liszt trotz bemerkenswerter Leistungen keine eigentlich führende fachliche Stellung. Sie fiel Triepel zu, der sie durch das grundlegende Buch der »dualistischen Theorie des Völkerrechts« (Völkerrecht und Landesrecht, 1899) und durch die Betreuung des Martensschen Recueil des Traités (seit 1908) begründet und befestigt hatte. Auf dieser Grundlage konnte er dann in der Folgezeit den geschichtlichen Charakter des geltenden Völkerrechts und dessen Verzerrung durch die Feindmächte im Versailler Vertrage und in ihrer anschließenden völkerrechtlichen Kampfjurisprudenz dartun, ein gerechtes Völkerrecht und die deutschen AnHegen gegen Versailles vertreten und mit alledem zugleich den Rückhalt für die von anderen Fakultätsmitgliedern getragene praktische völkerrechtliche Arbeit liefern. Das galt für die Arbeitsgruppe Partsch-RabelKaufmann-Bruns und für die daran anschließende wissenschaftliche Organisation, das von Victor Bruns (1884—1943, 1920—1943) 1924 gegründete Kaiser Wilhelm-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, das, ebenso wie das ihm nachgebildete Rabelsche für ausländisches und internationales Privatrecht, als zentrale Arbeitsstelle für den praktischen und wissenschaftlichen Bedarf und als Pflanzschule für den wissenschaftlichen Nachwuchs wirksam geworden ist. V. Bruns selbst, vom römischen Recht herkommend, von weiter Bildung und weitem und zugleich praktischem politischem Blick, erfüllte seine Lebensleistung zum Teil in der praktischen Arbeit in den Schiedsgerichten, als nationaler Richter oder als Sachwalter, und im Aufbau des Instituts, zum Teil in Arbeiten zur theoretischen Grundlegung des Völkerrechts, als »Theoretiker, Empiriker und Völkerrechtspolitiker« zugleich die letzten und äußersten Möglichkeiten des Völkerrechts im deutschen Kampf ums Recht abtastend und benutzend. Der Nationalsozialismus machte dem Charakter der Fakultät ein Ende. 1934 mußte Goldschmidt, 1935 M. Wolff, Rabel und Fr. Schulz dem neuen Rasserecht weichen, 1935 wurde Triepel entpflichtet, Smend gegen seinen Wunsch nach Göttingen versetzt, wich Lewald der Unerträglichkeit des Drucks nach Basel aus. Damit war Raum für
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die Überfremdung der Fakultät durch genehmere Lehrstuhlinhaber geschaffen. Die Auffüllung geschah unter tunlichster Rücksicht auf Qualität, neben dem politischen Gesichtspunkt. So ist das Bild der Fakultät in der Folgezeit das eines wissenschaftlich achtungswerten Kreises —• so für das Jahr 1940 Herbert Meyer — Kohlrausch — Graf Gleispach — Koschaker — Hedemann —• Bruns — Carl Schmitt — Emge — Siebert, daneben als Extraordinarien Peters, Höhn, Berber. Aber mit dem bisherigen Charakter der Fakultät war es zu Ende, mit dem besonderen Sinne, in dem sie eine gelehrte, eine erziehende, eine führende Fukultät gewesen war. Während bisherige Mitglieder von Weltruf, wie Wolff, Rabel, Fr. Schulz eine Unterkunft in der Verbannung suchen mußten, um Freiheit und Leben zu retten, während mindestens ein geschätztes Mitglied des weiteren Fakultätskreises, Julius Magnus, in der Gaskammer endete, während eine ganze Generation des wissenschaftlichen Nachwuchses durch Terror und Rasserecht, Krieg und Korruption und den Abscheu vor einer Universität des Widergeistes aus der Kontinuität des wissenschaftlichen Lebens ausgeschaltet wurde, erhob die Fakultät die »rassische Grundlage des Rechts« zum Gegenstande einer Fakultätsdisziplin und habilitierte dafür 24 . Das war nicht mehr die Fakultät Savignys. — Ein gewisser wissenschaftlicher Gesamtcharakter der Fakultät war spürbar vorhanden, im Zusammenhang mit ihrem Ausgang von der historischen Rechtsschule. Die Beziehungen zu den historisch-philologischen Disziplinen waren lebhaft: man fand mit Grund, daß noch im beginnenden 20. Jahrhundert das Bild der Fakultät ohne Mommsen unvollständig sein würde 25 — drei Mitglieder der Fakultät waren regelmäßig tragend beteiligt an den Arbeiten und den großen historischen Unternehmungen der Akademie der Wissenschaften, und die Mehrzahl der Fakultätsmitglieder stand jedenfalls in irgendwelchen Arbeitsbeziehungen solcher Art. Anders war das Verhältnis zur Rechtsphilosophie: man kannte die Klassiker des deutschen Idealismus, blieb aber von der Rechtsphilosophie der Zeit unberührt, und die Rechtsphilosophen der Fakultät, der Neuhegelianer Köhler und der Neukantianer Stammler, blieben als solche Außenseiter. In der Rechtsgeschichte war die Fakultät führend oder doch mittragend durch alle 24 26
Asen, a. a. O., S. 114. E. Heymann a. a. O. S. 46.
Zur Geschichte der Berliner Juristenfakultät im 20. Jahrhundert
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Wandlungen der Fragestellungen hindurch, und nicht anders im bürgerlichen Recht, zumal angesichts der neuen Aufgaben, die das Bürgerliche Gesetzbuch stellte. Im Strafrecht war sie geradezu der Ort fruchtbaren Austrags des Schulstreits, im öffentlichen Recht fruchtbarer Bemühung um den Sinn des neuen Verfassungsrechts und um die Auseinandersetzung mit der neuen völkerrechtlichen Lage. Zu der bei der Mehrzahl ihrer Mitglieder gegebenen historischen Grundlegung ihrer Arbeit trat seit der Gründung der beiden großen Institute für das Auslands- und internationale Recht die Rechtsvergleichung hinzu. Von jeher, seit Savigny, war die Fakultät eine deutsche, keine spezifisch preußische Fakultät. Die einzige beherrschende Persönlichkeit von spezifisch preußischer Prägung, die ihr ein im preußischen Sinne partikuläres Gesicht hätte geben können, Rudolf v. Gneist, hatte gerade das preußische Wesen mit dem gesamtdeutschen Liberalismus zusammenzuführen gesucht. In der Berührung mit der Akademie der Wissenschaften empfand man, daß dort die preußische Überlieferung älter und stärker war. Die Fakultät war eine eigentümlich geschlossene menschliche Gemeinschaft. Demburg hatte gestanden, daß er die Fakultät liebe wie seinen weiteren Familienkreis26, und viel von dieser Gesinnung war auf die folgende Generation übergegangen. Die einzelnen bestehenden freundschaftlichen Gruppierungen störten diesen Gesamtzusammenhang nicht, sondern verstärkten ihn. Man wußte sich im lebendigen Zusammenhang der Überlieferung von der Gründungszeit her, orientierte sich aber auch wohl besonders an der vorangegangenen Generation von 1900. Von ihr sprach man gelegentlich als von der »großen Fakultät«, in pietätvoller Erinnerung an Dernburg und Brunner, Gierke und Liszt und die von ihnen gesetzten Maßstäbe. Wer Kipp und Seckel, Triepel und M. Wolff, Rabel, Fr. Schulz und Partsch erlebt hat, mag fragen, ob diese stolze Reihe im Range hinter jener älteren zurückstand. Die Jahrzehnte des Ubergangs spiegelten sich im Wandel der wissenschaftlichen Produktion. Die Zeit der klassischen Lehrbücher ging mit Liszt, Kipp, M. Wolff zu Ende, ebenso die der großen abschließenden Handbücher. Ihnen folgte die Zeit der Einzeluntersuchungen und Monographien, vielfach bedingt durch neue grund2
* O. Gierke, D. Jur. Ztg. 12 1907, 1342.
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sätzliche Infragestellung bisheriger Fundamente, Methoden, Problemstellungen oder durch die gesellschaftlich-politischen und geistigen Umwälzungen der Zeit. Dazu trat die neue Form der Gemeinschaftsarbeit in den großen Instituten, für die nicht unmittelbar beteiligten Fachgenossen eine große Möglichkeit neuer Stofferschließung und Arbeitsentlastung, zugleich aber vielfach auch eine neue Inanspruchnahme. Die ältere Zusammenarbeit der Fakultät als Spruchkolleg war längst zu Ende; die in gewissem Sinne an deren Stelle getretene Gutachtenpraxis der einzelnen Mitglieder hielten diese bewußt in engen Grenzen, nicht nur im Interesse ihrer sonstigen Berufspflichten, sondern vor allem, um die akademische Autorität nicht zu entwerten — es galt als Regel, daß ein Gutachten als wissenschaftliche Abhandlung druckwürdig sein müsse. Der Unterricht der Fakultät stand im Zeichen des Bewußtseins, daß er durch die Jahrzehnte lange Tätigkeit eines ganz großen Lehrers inauguriert war. Die Größen um 1900 waren freilich gutenteils keine eigentlichen Lehrer: Hinschius, Dernburg, Brunner, im Grunde auch Gierke nicht. Und soweit in Berlin bewußt gut gelehrt wurde, geschah es in nicht ganz derselben Weise, wie etwa in Leipzig. Die Lehrweise der großen Leipziger war mehr die der geistig bedeutenden und ästhetisch vollendeten Darbietung, die selbst den Banausen lockte wie ein berühmtes Schauspiel. Die der Berliner, Kipp, Seckel, Wolff, war mehr die einer Inanspruchnahme des Hörers, der unmerklich und diskret aber unzweideutig zur Mitarbeit gefordert wurde. In diesem starken Willen, den Hörer erziehend zu ergreifen, lag das Geheimnis der als Lehrer hervorragenden Mitglieder der Fakultät. Alle freilich wußten sich gemahnt durch die Grabinschrift, die Mommsen 1901 einem der meistverehrten Lehrer der Fakultät, Ernst Eck, gesetzt hatte: Multos docuit et quos docuit amavit.
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H E G E L UND D I E DEUTSCHE S T A A T S L E H R E DES 19. UND 20. J A H R H U N D E R T S Viele der deutschen Universitätsgründungen haben für ihre Zeit durch Lehrmethode und geistige Ausrichtung paradigmatische Bedeutung gewonnen. Aber wohl keine von ihnen hat von Anfang an auf allen Gebieten so tief und so nachhaltig auf die Gesamtheit der Wissenschaft, ihren Geist und ihren Stil eingewirkt, als die in einer Zeit tiefster Not ins Leben gerufene Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin. Das liegt nicht nur daran, daß sie, in der Hauptstadt des bald wieder in seine geschichtliche Rolle eintretenden preußischen Staates gelegen, an dessen Aufstieg und an dem ganz Deutschlands im 19. Jahrhundert teilnahm. Der entscheidende Grund für ihre außerordentliche Wirkung ergab sich daraus, daß die Hochschule unter dem Einfluß Wilhelm von Humboldts, Fichtes und Schleiermachers ganz und gar aus dem Geist der deutschen idealistischen Anschauung heraus geschaffen und fortgetragen wurde und so allem Älteren gegenüber zum Ausdruck dieser neuen, die Zeit erfüllenden Gesinnung wurde. In diesem Sinne darf man auch die Worte verstehen, die Hegel in seine Antrittsrede zu Berlin am 22. Oktober 1818 einfügte: »Auf hiesiger Universität, der Universität des Mittelpunktes, muß auch der Mittelpunkt aller Geistesbildung und aller Wissenschaft und Wahrheit, die Philosophie, ihre Stelle und vorzügliche Pflege finden«.1 Nicht minder aber trug zum Einfluß Berlins bei, daß es gelang, in jedem Fach hervorragende Männer an die neue Universität zu ziehen, so daß sie bald und für ein ganzes Jahrhundert zum eigentlichen Richtmaß und Ansporn der deutschen akademischen Entwicklung geworden ist. Das gilt auch für die Lehre vom Staate in ihrem weiteren, nicht das engere Fach des Staatsrechts als Zweig der Jurisprudenz schränkten Sinne. Denn die Beschäftigung mit dem Staat, mit »Politik«, seit dem Mittelalter von Theologen und Philosophen 1
auf beder als
Vgl. hierzu Max Lenz, Geschichte der Kgl. Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin 1910 Bd. II, 1 S. 33. G II
9
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ein Zweig der philosophia moralis gepflegt, ist immer eine Aufgabe vieler Wissenschaften gewesen2. In der Geschichte der politischen Theorie, der »Politik« im älteren und weiteren Sinne, sind zu allen Zeiten entscheidende Beiträge nicht allein von der Rechtswissenschaft, sondern von Theologie, Philosophie und Geschichte geleistet worden. Auch die Wirkung der Berliner Hochschule für die Staatslehre zeigt diesen charakteristischen Zug. Wenn ihr Wirken auch auf diesem Felde alsbald die Züge einer neuen Richtung zeigt, so sind es die philosophischen Lehrer, Fichte und Hegel, die dafür bestimmend sind. Erst als die Philosophie in die Hände Gablers (1833) und Schellings (1840) übergegangen war und in die juristische Fakultät mit Friedrich Julius Stahl 1840 ein Denker von großer selbständiger Kraft und lebendigem politischem Verständnis eingetreten war, wird hier wie in der gesamten um die Jahrhundertmitte noch philosophisch fundierten Rechtswissenschaft der juristische Anteil an der Staatslehre führend. Das Aufkommen des Positivismus, dessen pragmatische Hinnahme der bestehenden Macht den Zusammenhang mit den Ideenströmungen und den politischen Kräften aufgibt, läßt dann erneut die Erörterung der eigentlichen Fragen des Staates an andere Fachrichtungen, die Historie und die Soziologie — es genüge an die Namen Treitschke, Meinecke, Max Weber zu erinnern — übergehen3. Die Diskussion dieses Jahrhunderts greift dann nach dem ersten Kriege erneut vom Boden der Rechtslehre und ihrer nun wieder vertieften methodischen und philosophischen Grundlagen unter Triepel und Smend die Probleme des Staates auf. Es ist kein Zufall, daß gleichzeitig, in Zustimmung und Kritik, auch das Bild Hegels wieder in der Auseinandersetzung auftaucht 4 . Gewiß ist das Erbe Hegels in dieser Zeitspanne zwischen 1830 und 1930 nur eines der Momente unter vielen anderen, die die Entwicklung der Staatslehre bestimmt haben. 2
Zu diesem älteren weiteren Begriff der Politik als der Lehre vom Staat, der Staatskunst und der politischen Ethik siehe O. Brunner, Adeliges Landleben und Europäischer Geist 1 9 4 9 S. I 2 ö f f . ; Land und Herrschaft 4 . Aufl. 1 9 5 9 S.
114/16. 3
Zu diesem Ortswechsel des Staatsdenkens, dessen Hut nun in die Sphäre der politischen Historie übergeht, vgl. R. Smend, Politisches Erlebnis und Staatsdenken seit dem 18. Jahrhundert (Nachr. d. Akad. Göttingen 1943 Nr. 13) S. 5 2 8 . 4 Ich will nur zwei Schriften anführen: Die gründliche philosophische Untersuchung von Franz Rosenzweig, Hegel und der Staat 2 Bde. 1920 und Hermann Heller, Hegel und der nationale Machtstaatsgedanke in Deutschland 1921.
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Aber es ist mächtig genug, daß es möglich erscheint, einen Überblick über die Staatslehre dieser Periode an ihm zu orientieren. 1. N a t u r r e c h t und P o l i t i k am A u s g a n g des 18. J a h r h u n d e r t s und die W a n d l u n g in der Philosophie des I d e a l i s m u s Um die Wirkung der idealistischen Philosophie auf die deutsche Staatslehre zu verstehen, muß man sich den Stand der Anschauungen vor Augen stellen, wie er am Ausgang des 18. Jahrhunderts sich in der Rechtslehre und politischen Theorie Deutschlands darstellte. Zwei Richtungen beherrschten das Feld, einander nicht ausschließend und auch nicht durchgängig gegensätzlich eingestellt, aber doch deutlich geschieden. Die tragende und vorwärtsdrängende Kraft lag in der Naturrechtslehre. Hervorgegangen aus der großen Anschauung des 17. Jahrhunderts vom Menschen und von den Grundlagen der politischen Gemeinschaft, immer noch getragen von einem säkularisierten Rest theologischer Gedanken, hat die deutsche Philosophie (vor allem Christian Wolff) und Rechtslehre in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, insbesondere im mitteldeutschen Raum von Halle und Leipzig, in einer starken systematischen Leistung ein zusammenhängendes Gesamtbild der rechtlichen Beziehungen des Menschen und der Gemeinschaft entwickelt, das als Grundlage der gesamten folgenden Rechtsentwicklung bis in unsere Zeit gedient hat. Hier finden wir die Vorstellung eines im Kreis seiner Rechte und Pflichten eingebetteten Individuums, das zugleich eingefügt ist in die engeren Gemeinschaften von Ehe, Familie und Dienst wie in die aus dem Zusammenschluß der einzelnen hervorgehende bürgerliche Gesellschaft, den Staat, der mit oberster Gewalt die allgemeine Wohlfahrt befördert und dem auch alle Verbindungen der Menschen seines Gebiets unterstellt sind5. Also noch keine Unterscheidung von Gesellschaft und Staat, vielmehr bezeichnet societas civilis noch im alten Sinne das politische Gemeinwesen8. Der seit dem 17. Jahrhundert vorwaltenden Tendenz zur Ableitung aller gesellschaftlichen Bildungen nach natur5 Vgl. dies Schema bei Heineccius, Elementa iuris naturae et gentium Halle 1738. 6 Erst August Ludwig Schlözer, Allgemeines Staatsrecht und Staatsverfassungslehre Göttingen 1 7 9 3 faßt die bürgerliche Gesellschaft nur mehr als unorganisierte Vorstufe der staatlichen Vereinigung auf (S. 6 3 ! , 7 1 ! , 9 3 ! ) .
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wissenschaftlichem Vorbild aus ihren individuellen Elementen entsprechend, wird der Staat vom Einzelnen her aufgebaut, wiewohl mit starker und unabhängiger Leitung versehen. Der Staatszweck wird mit Wohlfahrt oder später mit Glückseligkeit (beatitudo, felicitas) umschrieben, im Kern also vom Individuum her abgeleitet7. Der theologische Hintergrund wird in der Übernahme der älteren Einteilung in Pflichten gegen Gott, gegen sich selbst und gegen andere (den Nächsten)8 deutlich erkennbar. Die deutsche Naturrechtslehre ist bis zum Ausbruch der französischen Revolution über diese Auffassung, die zwar von einer libertas civilis sprach, aber darunter nur die rechtlich indifferenten Handlungen der Untertanen verstand 8 , nicht herausgekommen. Während England echte bürgerliche Freiheiten zu entwickeln vermochte, während in Frankreich der Freiheitsgedanke immer stärker wurde und in Rousseau zur Herrschaft des uniformen Gemeinwillens aller im Staate als Mittel der Erhaltung individueller Freiheit, damit zugleich zur Übertragung der Souveränität des Herrschers auf das Volk führte, blieb in Deutschland der Untertan in seiner ständischen Stellung, blieb der Gehorsam gegen eine nur wenig beschränkte Obrigkeit erhalten. Dennoch hat im Verein mit ausländischen Einflüssen diese Naturrechtslehre eine außerordentliche Bedeutung dadurch erlangt, daß sie sich die Kraft zur Bewältigung des sozialen Lebens zutraute 10 und damit der Boden für die große Reformgesetzgebung des späten 18. Jahrhunderts geschaffen wurde, die sich vor allem in Oesterreich und Preußen vollzog 11 . Im System des preußischen Allgemeinen Landrechts erscheint, neben allen retardierenden ständisch-abolutistischen Elementen, doch dank der Gesinnung seines Schöpfers Svarez auch die klare Tendenz der Beschränkung der staatlichen Macht, der Festigung des Rechts und der Sicherung der Rechte 7 Nettelbladt, Systema elementare universalis iuris naturae 4. Aufl. 1777 § 1068 (salus publica). Bei Thomasius, Institut. Iurisprudentiae Divinae 1694 Lib. I I I cap. V §§ 3, 4 tritt hier auf die beatitudo civilis. 8 Vgl. noch Kant, Metaphysik der Sitten II. Teil: Ethische Elementarlehre: Von Pflichten gegen sich selbst. Von Tugendpflichten gegen andere. 9 Nettelbladt a. a. O. § 1093. 1 0 Auf diese Kraft zur Lebensgestaltung weist hin Ernst Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung 1932 Vorrede S. X I I . 1 1 Vgl. Hans Thieme, Das Naturrecht und die europäische Privatrechtsgeschichte 2. Aufl. 1954 S. 17ff.; Fr. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit 1952 S. I97ff.
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des einzelnen; hier wird auf dem Boden des friderizianischen Preußen eine volle beispielhafte Ausprägung dieser deutschen naturrechtlichen Gedankenwelt, in ihrer Gesinnung zugleich der reformerischen Erneuerung wie des traditionellen Verharrens geschaffen 12 . Damit aber war die Leistungskraft der deutschen Naturrechtslehre, deren Glückseligkeitsströmung schon manche recht seichte Stellen aufwies 13 , erschöpft. Die französische Revolution zeigte ihr die weitergehenden Konsequenzen, die der sensualistisch und voluntaristisch begründete westliche Freiheitsbegriff für das Staatsleben zu entwickeln vermochte. Die Exzesse der revolutionären Kräfte schreckten indes die Regierungen und die Öffentlichkeit bald zurück 14 . Die grundlegenden Konflikte und Auseinandersetzungen der Revolution, ihr Ringen um persönliche und bürgerliche Freiheit und um die Erneuerung der politischen Formen, werden erst von der Philosophie des Idealismus auf einer tieferen Grundlage aufgenommen und verarbeitet 18 . Noch weniger in die Zukunft hinein wies der Weg der anderen Richtung der deutschen Staatslehre, die in Reichshistorik und »Statistik«, d. h. geographisch-realistischer Staatsbeschreibung (in gewissem Sinne eine Vorläuferin der heutigen Political Science), die überlieferte Wirklichkeit in ihrer ganzen strukturellen Vielfalt darzustellen suchte. Weniger den Territorien als dem Reich zugewandt, trug diese auf eine praktische Vorbereitung für die Staatsgeschäfte abzielende Literatur, wie sie namentlich in Göttingen (Johann Stephan Pütter) zuhause war, aber auch in den ungeheuren Foliantengebirgen J. J. Mosers und in Kochs Straßburger Tätigkeit ihren Ausdruck fand, in Achtung und Liebe vor der ererbten politischen Lebensform das 12 Siehe H. Conrad, Die geistigen Grundlagen des Allg. Landrechts für die pr. Staaten (ArbG. f. Forschung d. Landes Nordrhein-Westf. Geistesw. 77) 1958 S. 24 ff. 13 Hier mag etwa die von wohlfeiler Staatsweisheit überfließende Vorlesung des späteren Kurerzkanzlers Carl von Dalberg in der Erfurter Akademie nützlicher Wissenschaften vom 3. 8. 1793 »Von Erhaltung der Staatsverfassungen« genannt sein (Erfurt 1793). 14 Über diese Erstickung der Reformepoche in der abwehrenden Haltung nach 1792/93 in Oesterreich siehe jetzt E. Wangermann, From Joseph II. to the Jacobin Trials 1959 S. io6ff. 1 5 Über die Bedeutung der frz. Revolution für Hegel siehe die hervorragende Arbeit von Joachim Ritter, Hegel und die französische Revolution (ArbG. f. Forschung des Landes Nordrhein-Westf. 63) 1957. Zur Konfrontation der idealistischen Denker mit der französischen Revolution siehe jetzt auch J. L. Talmon, Political Messianism. The Romantic Phase i960 S. 1 7 7 f f .
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Reich und mit ihm das alte Europa über die letzten Jahrzehnte des ancien régime. Unphilosophisch, aber auch unberührt von den aufkommenden romantischen Empfindungen der Zeit, pflanzte diese trockene aber solide Schule ihre Methode über Johann Ludwig Klüber 1 6 in den Deutschen Bund und in das nun erstarkende territoriale Landesrecht fort. In den gründlichen Werken von Heinrich Zoepfl 17 und Heinrich Albert Zachariae 18 klang sie aus. Manches von der Begriffswelt dieser »historisch-positiven« Methode 19 ging noch in den konstruktiven Gedankenbau des spätkonstitutionellen Staatsrechts über, aber die geschichtsverständige und keineswegs unpolitische Tradition dieser Schule erlebte doch mit dem Aufstieg des alle wesentlichen Fragen in seinem abstrakten und leeren Formalismus zerreibenden Konstruktionsschema des Positivismus ihren Untergang. Bei Kant vollzieht sich eine entscheidende Wandlung des Freiheitsbegriffes, die für die ganze idealistische Richtung bestimmend ist. Anstelle des eudämonistischen Trieb- und Erfüllungsstrebens der englischen Philosophie wird die Freiheit als sittliche Selbstgestaltung, als Bindung nur an die eigene Bestimmung, aber in Anerkennung der moralischen Pflicht verstanden. Kants Lehre faßt in erster Linie diese Selbständigkeit der individuellen Vernunft und damit die individuelle Situation ins Auge. Der Staat wird in seiner Zielsetzung —• entsprechend ähnlichen Tendenzen der ganzen 90er und 80er Jahre (W. v. Humboldt, Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates 1 6 Öffentliches R e c h t des Deutschen Bundes 1831 (4. Aufl. 1840). Die Grundbegriffe sind, wie noch deutlicher die 1803 veröffentlichte Schrift: »Einleitung zu einem neuen Lehrbegriff des deutschen Staatsrechts« zeigt (der teilweise die ersten Paragraphen des späteren W e r k s entnommen sind) noch dem Naturrecht v e r h a f t e t : Vertragsgründung des Staats, Untertanschaft und Staatsgewalt i m Gegenüber, Herleitung des allgemeinen Staatsrechts aus dem jus gentium universale usw. Mehr wie alle anderen Autoren ist K . die Brücke, über die das ältere Reichsrecht bis in die spätkonstitutionelle Begriffswelt hinübergreift. 1 7 Grundsätze des allgemeinen und des constitutionell-monarchischen Staatsrechts mit besonderer Rücksicht auf das allgemeingültige R e c h t in Deutschland 1841 (5. A u f l . als »Grundsätze des gemeinen deutschen Staatsrechts m. b. R . auf das allgemeine Staatsrecht« 1863). 1 8 Deutsches Staats- und Bundesrecht 1841 (3. A u f l . 1863). In die gleiche Richtung gehört auch (mit stärkerem Einschlag romatisch-historischen Denkens) Fr. Schmitthenner, Grundlinien des allgemeinen oder idealen Staatsrechts 1843. 1 8 So benennt K l ü b e r selbst seine Methode (4. A u f l . S. 17).
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zu bestimmen) — vom individuellen Lebensgefüge her und daher eng begrenzt verstanden20. In den Einzelheiten seiner Staatsgestaltung lehnt sich Kant an die Gedankenwelt der späten Naturrechtslehre an. Er stellt zwischen der individuellen Freiheit und der Staatseinrichtung einen Zusammenhang in dem Gedanken der Mitwirkung des aktiven Bürgers her 21 , aber doch nur in sehr allgemeinem Zusammenhang und mit der Note, daß nicht alle zu solchem Handeln als aktive Glieder berufen seien. Freiheit wird in erster Linie als eine an einer allgemeinen Maxime orientierte moralische Selbstbestimmung des einzelnen verstanden, zu der Staat und Gesetze eher als äußere Bindung im Gegensatz stehen. Hier liegt ein Grund, weshalb die kantische Lehre — anders , als es für ihre sittlich belebende und gerade den Pflichtgedanken stärkende Wirkung auf ihre Zeit gilt — später nicht selten die Quelle eines unpolitischen Individualismus abgegeben hat. Für die Staatslehre des 19. Jahrhunderts hat Kant am stärksten gewirkt durch seine Betonung des Rechtsgedankens. Rechtsstaatsgedanke und Begrenzung der Staatsziele erweisen sich als von dort beeinflußt. Den fundamentalen Gegensatz der französischen Revolutionsphilosophie zwischen dem unbedingten Freiheitsdrang des Individuums und der Bindung an die Gemeinschaft hat Fichte viel schärfer herausgearbeitet. Selbstentfaltung und Vervollkommnung des einzelnen als vernünftiges Wesen steht auch für ihn im Vordergrund, ist der Sinn der Freiheit. Auch seinem Staatsdenken ist eine deutliche Verbindung der atomisierten Freiheit des Individuums und des politischen Ganzen nicht gelungen. Zwar treten bei Fichte in der wirtschaftlichen Vorstellung der geschlossenen Staatseinheit und später in seiner Zuwendung zum Gedanken der Nation starke universale Züge auf, aber auch hier, vor allem in seiner Konzeption der nationalen Bestimmung, steht das Ziel der persönlichen Erziehung und Vervollkommnung am Ende 22 . Das Erbe Fichtes ist von der Rechtslehre bald durch Hegel überschattet worden und daher äußerlich nur 20
Als Beschränkung des Staatszwecks auf den bloßen Rechtsschutz wird dies Moment später verstanden von R . v. Mohl, Encyclopädie der Staatswissenschaften 1859 S. 82 f. 21 Metaphysik der Sitten (1797) Teil I §46. 22 In diesem. Sinne auch Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat 7. Aufl. 1 9 2 8 S. 108. Zu den Widersprüchen in Fichtes innerster Spannung zwischen Selbstbewußtsein und Einordnung vgl. Talmon a. a. O. S. 193/95.
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in geringem Grade aufgenommen23. Mit der Idee der persönlichen Selbstbestimmung und mit der vom romantischen Ursprungsdenken und ihrer Verklärung des Schöpferischen getragenen Vorstellung der nationalen Idee hat Fichte weithin Einwirkung erlangt, wenn auch wohl erst gegen die Jahrhundertmitte hin und stärker im historischpolitischen Felde24. Der für die Auffassung des Staates entscheidende Schritt Hegels über die frühere Entwicklung hinaus besteht darin, daß für ihn die sittliche Freiheit sich nicht in individueller Selbstbestimmung erfüllt, sondern als Teil des objektiven sittlichen Bewußtseins 26 erst mit der Einordnung des Menschen in das Allgemeine, in die Gemeinschaften und den Staat, die Verwirklichung findet 28 . Die individuelle Freiheit weist für Hegel über sich hinaus, weil bei ihm Freiheit ein Vorgang, ein Prozeß des geistigen Lebens, nämlich des Selbstbewußtseins des objektiven Geistes im Rahmen der individuellen Vernunft ist 27 . So rückt die Freiheit in einen größeren überindividuellen Zusammenhang, sie wird gesellschaftlich und politisch verstanden. Sie drängt zu ihrer Verwirklichung in der geschichtlichen Erscheinung des Staates 28 . Es kann angesichts der Weite des hegelischen Denkgebäudes und der unermeßlichen Literatur dazu nicht die Aufgabe dieser kurzen Zeilen sein, seine Grundgedanken darzulegen.29 Wie für andere Philo23 In den eigentlich staatsrechtlichen Werken erscheint Fichte nur im Literaturverzeichnis mit einer »Staatslehre« 1820 (z. B. Maurenbrecher, Grundsätze des heutigen deutschen Staatsrechts 1837 S. 18; Zoepfl, Grundsätze 3. Aufl. 1846 S. 22). Es ist daran zu erinnern, daß seine gesammelten Werke erst 1845/46 herausgegeben wurden. 24 Zur späteren Einwirkung Fichtes vgl. Rothacker, Einleitung in die Geisteswissenschaften 2. Aufl. 1930 S. 67 f., 187. 26 Rechtsphilosophie (1821), Ausgabe Hoffmeister §§ 154—57. 26 Rphil. § 257. Dort der in seiner Zeit von der Staatslehre immer wieder zitierte Satz vom »Staat als der Wirklichkeit der sittlichen Idee«. 27 Randbemerkung zu S. 155 (Rphil. ed. Hoffmeister S. 412): »Begriff der Freiheit hat zu seiner Existenz das Selbstbewußtsein«. Dazu: »Die Weltgeschichte ist die Darstellung des göttlichen, absoluten Prozesses des Geistes in seinen höchsten Gestalten, dieses Stufenganges, wodurch er seine Wahrheit, das Selbstbewußtsein über sich erlangt« (Phil. d. Weltgeschichte Ausg. Hoffmeister 1955 S. 75). 28 Rphil. § 153: »Auf die Frage eines Vaters, nach der besten Weise, seinen Sohn sittlich zu erziehen, gab ein Pythagoreer (auch anderen wird sie in den Mund gelegt) die Antwort: wenn du ihn zum Bürger eines Staates von guten Gesetzen machst«. 29 Aus der neueren Literatur seien genannt: K. Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert 1947 S. 343ff-; E. Weil, Hegel et 1'Etat Paris
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sophen gilt auch für ihn, daß er zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Wissenschaften jeweils nur mit einem Teil seiner Lehre eingewirkt hat. So läßt sich ein wesentlicher Teil seines Einflusses auf das politische Denken nicht aus den speziellen Äußerungen seiner Rechts- und Staatsphilosophie ableiten, sondern ergibt sich aus den Grundkategorien seines philosophischen Ansatzes. Die Vorstellung des dialektischen Prozesses, der im objektiven Geist niedergelegten Gedanke überindividueller geistiger Zusammenhänge oder der Idee der Geschichtlichkeit des geistigen Seins und seiner Zielgerichtetheit, das sind Denkmomente, die ebensowenig aus den Grundlagen der modernen Geschichte wie der Staatslehre oder Soziologie weggedacht werden können. Fragen wir aber nach den besonderen Ideen, durch die Hegel die Staatslehre geformt hat, so möchten folgende Zusammenhänge hervorzuheben sein: Im Unterschied zu Kant und Fichte, die noch an der individualistischen Ableitung des Staates aus der Vertragslehre festhalten, gewinnt der Staat bei Hegel eine eigene Existenz und Bestimmung. In Hegels Freiheitsbegriff wird das Problem der Stellung des Menschen in den wirtschaftlichen und politischen Ordnungen nicht als ein äußeres Gegenüber von Individuum und Gemeinschaft erfaßt, sondern von dem Gedanken der Entzweiung und Entfremdung aus als eine Aufgabe verstanden, in deren Lösung sich die Auseinandersetzung des Menschen mit seiner Zeit und ihren Kräften vollzieht. Endlich aber wird der Staat in seiner konkreten Geschichtlichkeit als ein Wirkliches, als ein zugleich damit »in sich Vernünftiges« begriffen 30 . Nur kurz einige Worte zu diesen Grundzügen. Die Lösung vom Vertragsschema der Staatsbegründung 31 und damit von einer individuellen Bestimmung des Staatszwecks als Sicherung individueller Rechte leitet sich her aus der Sicht des Staates als des gemeinen Willens, als der notwendigen Verbindung der einzelnen. Das ist gleich weit entfernt von einer bloßen Annahme des Staates als Machtapparat, als Superstruktur der Gesellschaft wie von 1950; Löwith, Von Hegel zu Nietzsche 2. Aufl. 1953: Th. Litt, Hegel 1953; L. Landgrebe, Hegel und Marx (Marxismusstudien, Studiengemeinschaft der Evang. Akademien 1954 S. 3gff.; J.Ritter a . a . O . (mit umfassender Bibliographie) . 30 31
Vorrede zur Rechtsphil. X X I (Hoffmeister S. 15). Vgl. die Kritik in Rphil. § 258.
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Rousseaus volonté générale. Der Staat ruht vielmehr in sich als ein System von Institutionen32, in denen er den Prozeß seines Lebens entfaltet 33 . Es ist freilich diese immanente Begründung des Staates in seiner sittlichen Bestimmung, die zugleich den Boden für die konservative Ausprägung von Hegels Lehre abgibt. Von hier aus nehmen Vorstellungen ihren Ausgang wie die —• philosophisch nicht begründbare —• Verkörperung des Staates im Monarchen34, die Ablehnung der Gewaltenteilung, die Deutung der Bürokratie als des allgemeinen vermittelnden Standes ihren Ausgang 35 . Trifft auch die so oft wiederholte Wendung des Denkers als des preußischen Staatsphilosophen nicht zu 36 , so ist ein konservativer Zug im Staatsdenken Hegels, eine Neigung zum Bewahren, deutlich. In seinem Staat kommt die Mitbestimmung der einzelnen zu kurz. Zu dem aus der Bundestheologie herkommenden politischen Gemeinwesen der angelsächsischen Tradition steht dieser exekutivisch geführte Staatstyp im Gegensatz. Wo immer die — namentlich angelsächsische —• Kritik an seiner Fremdheit gegenüber demokratischen Einrichtungen und seiner Begünstigung der Leitung von oben Anstoß nimmt 37 , da ist diese Seite seiner Auffassung im Spiel. Im Gegensatz hierzu geht von Hegels Freiheitsbegriff und der Vorstellung der Entzweiung die entscheidende Verbindung zu den Kräften der progressiven gesellschaftlichen Gestaltung aus. Indem sich das Problem der Freiheit vor allem im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft, dem Kampfplatz »der individuellen Privatinteressen aller gegen alle«38 zeigt, hat Hegel, wie die Forschung der letzten Jahre
Rphil. § 263. Rphil. § 271. Fr. J. Stahl h a t bei aller K r i t i k Hegels diesen P u n k t als wesentlich erkannt und b e j a h t (Phil. d. Rechts 5. A u f l . 1878 Bd. 1 S. 4 7 1 : »Familie und Staat haben ihren Zweck in sich, sind nicht bloßes Mittel für das Individuum (ja sogar wird in pantheistischer Übertreibung das gerade als ihr Zweck betrachtet, die Individuen als solche aufzuheben), desgleichen haben sie ihre Notwendigkeit, den Grund ihrer Geltung, in sich, gründen sich nicht auf den Willen und V e r t r a g der Individuen«. 32 33
Rphil. § 279. Rphil. § 303. 3 6 Hierzu jetzt J. R i t t e r a. a. O. S. 48/49. Vgl. positiver zu dieser Verbindung mit Preußen dort Schieder S. 68. 3 7 E i n Beispiel angelsächsischer K r i t i k unter diesem Gesichtspunkt bei W . Friedmann, Legal Theory 3. A u f l . 1953 S. 9off. 3 8 Rphil. § 289. 34
35
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herausgearbeitet hat 39 , den Blick auf die Konflikte und Spannungen der bürgerlichen Arbeitsgesellschaft gelenkt. Er sucht die Gegensätze vom überhöhenden Staat her zu versöhnen. Wenn aber die Hegeische Linke diese Rolle des Staates zurückweist und zugleich den Akzent immer mehr statt auf den abschließenden Staat auf die Kräfte der Gesellschaft und ihre Auseinandersetzung legt, so nimmt von hier eine entscheidende Richtung der politischen Theorie des 19. Jahrhunderts ihren Ausgang. Durch die der liberalen aber auch der sozialistischen Lehre eigene Trennung von Staat und Gesellschaft ist eine Hegel fremde Dialektik in das öffentliche Leben getragen worden, die aber zum bezeichnenden Ausdruck des politischen Gegensatzes zwischen der ererbten staatstragenden Schicht und der bürgerlichen Wirtschaftsmacht im 19. Jahrhundert werden konnte, heute freilich in der »affluent society« des egalitären Wohlfahrtsstaates ihre Berechtigung verloren hat. Endlich die Geschichtlichkeit40. Sie hat die naturrechtliche Welt von einem anderen Punkt her überwunden als die historistische Schule. Statt wie diese im historischen Rückblick zu erlahmen —• hierzu die Kritik an Savigny in der Rechtsphilosophie: (§ 211) —, ruft die Hegeische Geschichtsauffassung als eines Prozesses des Selbstbewußtwerdens zur Tat auf. Den grundlegenden Zug seines Geschichtsbildes, die übersteigerte Vorstellung von der Erfüllung der Zeiten in der nahenden Gegenwart41, hat freilich die Folge alsbald verworfen. Der Sozialismus hat von ihm den Gedanken der historischen Notwendigkeit abgeleitet und zur messianischen Hoffnung eines Endstadiums der alle Entfremdungen überwindenden neuen Gesellschaft überhöht. Die Geschichtswissenschaft hat, unter Aufgabe der Gesamtdeutung der Geschichte, von hier die Idee der Bewegung, der Auf39 Löwith a. a. O. S. 260 ff.; Ritter S. 38 f. In seiner Spätschrift über die englische Reformbill von 1 8 3 1 (Schriften zur Politik u. Rechtsphilosophie Ausg. Lasson) hat Hegel geradezu den Klassencharakter der englischen Gesellschaft (S. 291 ff.), die Herrschaft einer beschränkten Schicht (S. 3 1 8 , 323) und den Zusammenhang von wirtschaftlichen Gegensätzen und politischer Verfassung (S. 3 1 7 ) hervorgehoben. 40 Auch hier hat Fr. J . Stahl mit scharfem Blick das Wesentliche erkannt (Bd. 1 S. 478): »Das große Motiv, welches sie bewegt, ist Objektivität und Geschichtlichkeit. Damit wurde die Unwahrheit der Abstraktion erkannt, welche nur das Ruhende, Unabänderliche zu erfassen vermag«. 41 Zu dieser Umdeutung einer zielgerichteten Geschichte in ein Selbstbewußtwerden des Geistes vgl. K . Barth a. a. O. S. 377.
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einanderfolge der Stufen und des Auf und Nieder der Mächte entnommen, ohne die die neueren zyklischen Kulturdeutungen von Spengler, Toynbee, Rüstow oder Alfred Weber nicht denkbar sind, die ihrerseits wieder — begrenztere — Ansätze einer Sinndeutung der Geschichte enthalten.
2. S t a a t u n d G e s e l l s c h a f t P h i l o s o p h i s c h e G r u n d l a g e n der d e u t s c h e n S t a a t s l e h r e vor der H e r r s c h a f t der p o s i t i v i s t i s c h e n
Rechtsmethodik
Die außerordentliche Breite und Vielfalt der Auswirkungen Hegels nötigt dazu, nach den einzelnen Richtungen und Gruppen zu scheiden, wenn wir nun seinem Einfluß auf die zeitgenössische Staatslehre nachgehen. Die Zeit zwischen etwa 1810 und 1870, die wir damit ins Auge fassen, ist eine Epoche lebhafter Bewegung und Auseinandersetzung innerhalb des Staatsdenkens. Überwiegt auch in der Rechtswissenschaft eine traditionelle Linie, deren Begriffe noch vom Naturrecht her ihren Ursprung haben, so wird doch die Frage nach Wissen und Zweck des Staates von den verschiedensten Ansatzpunkten her angegangen und bleiben die Erörterungen im Zusammenhang mit den politischen Ereignissen der Zeit wie mit der philosophischen Bewegung. a) Unter den verschiedenen Gruppen ist in ihrer Nachwirkung die streng das Erbe bewahrende sog. Hegeische Rechte wohl die schwächste. Sie hat das philosophische Gedankengebäude zu bewahren getrachtet, aber insbesondere die politische Theorie kaum fortentwickelt 42 . Nur bedingt könnte zu ihr Heinrich Leo gezählt werden, dessen »Naturlehre des Staates« von 1833 zwar den Staat hegelisch als die »concrete, vernünftige Gestalt der Freiheit« bezeichnet, aber weitgehend historische und naturwissenschaftliche Kategorien für die Staatstheorie heran zieht 43 . E s muß übrigens bemerkt werden, daß entgegen vielfacher Annahme Hegels Einwirkung auf die konservativen Strömungen der Zeit gering blieb. Für sie war der von ihm mit bitterem Spott bedachte Haller, später dann Stahl bedeutsam. Von Hegel 42 Über diese R i c h t u n g siehe L ö w i t h S. 6 5 0 . Z u m Einfluß Hegels auf den Historiker L u d e n siehe Heller, Hegel und der nationale Machtstaatsgedanke 1920 S. I42ff. 43 Über Leo Heller a. a. O. S. 1 5 5 f f . ; L e n z Bd. II, 1 S. 277ff.
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entfernten sie schon ihre theologische Verbindung, der sein immanenter »Pantheismus« fremd blieb. b) Das Verhältnis Stahls zu Hegel ist das eines Kritikers, der aber doch die Größe des Gegners anerkennt und manches von ihm gelernt hat. In den Grundzügen wendet sich Stahl gegen Hegels Rationalismus, er lehnt die Denkform der Dialektik ab44 und tadelt in dem pantheistischen Ruhen der Dinge in sich die Auflösung des subjektiven Elements, der Persönlichkeit46. Er sieht endlich in der Vernunftherrschaft eine Geringachtung der Wirklichkeit. Aber er erkennt an , daß Hegel ein objektives Ethos gegründet habe, er lehnt seinen Staatsgedanken vom »sittlichen Reich« an die Betonung des Sittlichen im Staate bei Hegel an46. Was Stahl in seinen eigenen Gedankengängen weit von Hegel entfernt, ist die grundlegende Rolle des persönlichen theistischen Prinzips, die von daher hergeleitete Idee der Herrschaft, die im persönlichen monarchischen Prinzip sich verkörpert47, endlich die Sicht der Geschichte nicht als der Gang des Allgemeinen, sondern als die Vielfalt konkreter realer Kräfte. Stahl ist der erste der großen Gegner Hegels, durch den doch vieles von seinen Gedanken weitergetragen worden ist48. Vielleicht ist es nicht am wenigsten Stahl zu verdanken, wenn die bei Hegel anklingende Staatsidee eines nicht von den Bürgern abgeleiteten, sondern aus seiner Herrschaftbestimmung unabhängig von ihnen begründeten Staates, mit der er den Kern der politischen Macht beim Monarchen und bei dem überlieferten Beamtenkörper beließ, in der deutschen Form der konstitutionellen Monarchie eine Fortführung fand; doch ist daran auch der Anteil des Verfechters des »monarchischen Prinzips« nicht gering. Öffnete sich auch Stahl modernen Gedanken, den Grundrechten, dem Rechtsstaat, der Repräsentation des Volkes, so leben doch in ihm vor allem die konservativen Elemente Hegels fort. c) Faßt man die Entwicklungslinien der deutschen Staatslehre bis etwa 1860 näher ins Auge, so bezeichnet Stahl in ihrem Rahmen, so glänzend seine Rolle in der Berliner Fakultät und über sie hinaus als 44
Philos. d. Rechts Bd. 1 S. 425 ff. 442 ff. a. a. O. S. 4 5 2 f f . 458ff. und hierzu E . Kaufmann, Studien zur Staatslehre des monarchischen Prinzips 1906 S. 69 ff. 46 a. a. O. Bd. II, 2 S. 7, 1 3 3 . Vgl. hierzu G. Masur, Friedrich Julius Stahl 1930 S. 12of. 47 Vgl. Kaufmann a. a. O. S. 8 5 I 48 Vgl. Masur S. i2of. 45
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Politiker in der Öffentlichkeit war, doch eher eine abnehmende Seite. Hatten bei seiner Berufung die Hegelianer widerstrebt49, so wurde er nun einsamer gegenüber der anschwellenden liberalen Strömung. Längst zog neben ihm Gneist als Extraordinarius wachsende Hörerscharen an, aber bis 1858 mußte dieser dem älteren System Preußens mit herber Kritik gegenüberstehende Rechtslehrer warten, bis ihm Fakultät und Ministerium das Ordinariat öffneten60. Seit den 40 er Jahren dringt die liberale Ideenwelt immer mehr vor. Aber es wäre falsch, ihr etwa eine bestimmte gedankliche Grundlage beizumessen. Im ganzen zeigt vielmehr die Staatslehre dieser Jahrzehnte ein reiches, aber eklektisches Bild. Nachhaltig erweisen sich die Fernwirkungen naturrechtlicher Anschauungen61. Man spricht vom Staatsvereine62, verwendet vor allem die Begriffe der Staatsgewalt und der Untertanenpflicht, wie sie schon das 18. Jahrhundert ausgebildet hatte 53 . Daneben bemerkt man allenthalben Einflüsse der historischen Richtung in der Darbietung historischer Entwicklungslinien und Begründungen des Staates, erkennt die Wirkung der romantischen Anschauung darin, daß nun zunehmend vom Volke die Rede ist 54 und findet daneben Züge eines naturalistischen Denkens, aus dem der Organismusgedanke, Vorstellungen einer Naturlehre oder Physiologie des Staates, die Zuwendung zur Bevölkerungslehre und ähnliches sich ergibt. Dennoch bleibt bei der Mehrzahl der namhafteren Autoren der Einfluß der idealistischen Philosophie und hier namentlich des—auch öfters eigens angeführten — Hegels von größter Bedeutung. Die sittliche Grundbestimmung des Staates, seine Begründung aus sich selbst heraus wird weithin angenommen. Maurenbrecher65 nennt den Staat die »zur Erreichung der höchsten Bestimmung des Menschen organisierte Gesellschaft«. Bei Zoepfl 56 lesen wir, daß der Staatszweck die Hierzu L e n z B d . II, 1 S. 514 und I V S. 549. L e n z B d . I I , 2 S. 283ff., 325t Stahl starb 1861. 5 1 Der Vielfalt der Einflüsse entspricht auch der weite N a m e der »Staatswissenschaften«, der j e t z t für die rechtliche und wirtschaftliche Befassung mit dem S t a a t in A u f n a h m e k o m m t . Vgl. C. S. Zachariae, Vierzig Bücher v o m Staate 2. A u f l . B d . 1 (1838) S. 169ff. 62 Vgl. Maurenbrecher a. a. O. S. 20. 63 Siehe C. S. Zachariae B d . 1 S. 82; Schmitthenner Grundlinien des allgemeinen oder idealen Staatsrechts 1843 S. 274L 64 Zoepfl 3. A u f l . 1846 S. 11 f f . ; Dahlmann, Politik 2. A u f l . 1847 S. 2/3. 66 a. a. O. S. 20. 5 8 a. a. O. S. 46. 49
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vernünftige Idee ist, welche durch das Dasein des Staates verwirklicht wird und dessen sittliches Wesen bildet. Am stärksten sind die Anlehnungen bei Schmitthenner. Der Staat wird als »ethisches Institut« bezeichnet57 und innerhalb des Geschichtsprozesses der Entwicklung des Geistes ist der Staat das System des sittlichen Lebens, in dem ein Volk die Genüge des irdischen Daseins haben soll58. Verwendet diese Epoche weiterhin die Begriffe eine anstaltlichen Denkens, sieht sie in der Staatsgewalt den wichtigsten Ausdruck des Staates, der die Unterwerfung des einzelnen entspricht, so erkennt sie doch eine höhere Bestimmung des Staates an und stellt in der Lehre von den Staatsformen die Gegensätze der Zeitgeschichte in den Staatsbildern zur Erscheinung. Erst mit dem Erscheinen der konstruktiven Jurisprudenz geht die sittliche Grundlage des Staates verloren59. Nun wird er, wie bei einigen älteren Autoren, eine Summe von hoheitlichen Einrichtungen, die entweder einfach mit dem Organismusgedanken erklärt wird oder aus der Figur der Rechtspersönlichkeit dargestellt wird80. d) Wenn sich der Blick auf die Nachfolge Hegels im Staatsdenken richtet, so wird man freilich zwei Namen besonders hervorrücken müssen, die beide nicht nur eine gewisse Grundanschauung und einzelne Formeln übernommen haben, sondern die die Gedanken Hegels vor allem im Hinblick auf die Entwicklung der Gesellschaft fortgeführt haben. Lorenz von Stein und Rudolf von Gneist sind sowohl der Stärke ihrer philosophischen Bildung nach, wie ihrer Richtung nach Grundlinien a. a. O. S. 252. a. a. O. S. 258 f. 68 So bei C. F. von Gerber, Grundzüge eines Systems des deutschen Staatsrechts 1869 S. iff. 211 ff. Damit verkoppelt sich für die juristische Betrachtung die Abstellung auf den Persönlichkeitsgedanken. Nur formelhaft werden daneben Wendungen wie »Volk als sittlich geeintes Ganzes« mitgeführt. Den Kern der Anschauung bildet vielmehr die alte, aus den einstigen Hoheitsrechten addierte Staatsgewalt«. Das Staatsrecht, so lesen wir (S. 3) »ist die Lehre von der Staatsgewalt«. 80 Da schon das 18. Jahrhundert den Staat als persona moralis kannte, bildet dieser Gedanke keine große Neuerung. Liest man die seichte Besprechung Albrechts zu Maurenbrecher (Göttingische Gelehrte Anzeigen 150/151 Stück v. 21. 9. 1837 S. I489ff.) und die Behauptung, nur das Denken des Staates als juristische Person könne die Grundformel für eine wahrhaft staatsrechtliche Auffassung des Staates bilden, so wundert man sich, wie jemals ein so schwacher Gedanke in den Ruf einer wissenschaftlich bedeutenden Wende gelangen konnte. Es ist vermutlich der konstruktivistisch-positive Anklang, der A. seinen Ruf verschafft hat. 57
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sehr verschieden. Gemeinsam61 ist ihnen aber die Fortsetzung einer Hauptlinie des hegelischen Einflusses, das Streben nach einer Lösung der Beziehung von Gesellschaft und Staat. Bei weitem der Bedeutendere als Theoretiker ist Stein. In seiner Auffassung der Gesellschaft verläßt er aber schon früh Hegels Stellung. Sie wird nicht mehr als ein dem Staate eingefügtes Feld wirtschaftlicher Auseinandersetzung gesehen, sondern als der eigentliche Mittelpunkt des geschichtlichen Vorganges und des Ringens um die Freiheit. In den Kämpfen der Klassen, dem Problem der Egalität im Wirtschaftlichen, im Eigentum werden die Probleme gesucht62. Die Frage der Freiheit tritt hinter die sozialen Auseinandersetzungen zurück, oder besser, sie ist in ihnen recht eigentlich enthalten und aufgegeben. In seinen späteren Schriften ist Stein gemäßigter. Die Abstellung auf die sozialen Gegensätze tritt zurück. Dafür arbeitet sich nun ein umfassendes System des Ineinander von Staat und Gesellschaft aus, in dem den freien Bildungen der Gesellschaft, den Vereinen als der Grundform der freien Verwaltung in Selbstverwaltungskörpern eine wichtige Rolle zufällt. Mit diesem Begriff werden aber von der Gemeinde bis zum wirtschaftlichen Verein die freien Bildungen der gesellschaftlichen Kräfte zusammengefaßt68. So weit alle einzelnen Vorstellungen sich von Hegels Bildern entfernen, in der Idee des dialektischen Zusammenwirkens der Teile, in der Betonung der staatsbürgerlichen Freiheit als eines Kernbegriffs 64 , in der ganzen Behandlungsart, in der sich ein Gedanke systematisch mit dem anderen zusammenfügt, erkennt man das Erbe der hegelischen Kategorien. Bei Gneist ist der philosophische Grund gering. Sein Interesse geht auf die Erkenntnis der realen Verhältnisse in ihrer geschicht61 Die erste Auflage der Verwaltungslehre (1864) trägt die Widmung Steins an Gneist. 62 Der Socialismus und Communismus des heutigen Frankreich 1842 S. 23 ff. »Die Bedingung des staatlichen Rechts ist derselbe materielle Besitz; selbst da, wo die Staatsgewalt am entschiedensten in den Händen des Volkes ruht, hängt sie von einem gewissen Besitz ab. . . . Wohin man blickt, bildet der Besitz die Basis für die Erreichung aller Güter, die die Civilisation ihrem Begriff nach als allgemein setzt.« (S. 24). 63 Vgl. Verwaltungslehre 2. Aufl. Teil I Abt. 2 und 3. Die Selbstverwaltung und ihr Rechtssystem. Das System des Vereinswesens (1869). Die Nähe zu dem Ansatz Gierke's in dem ersten Bande des Genossenschaftsrechts (1864) ist erkennbar. 64 Verwaltungslehre Teil I 2. Aufl. 1869 S. 87.
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liehen Bedingtheit und auf die Reformen, die er für Preußen erstrebt. Aber nicht nur der Unterschied Staat-Gesellschaft und das Streben, zu seiner Versöhnung beizutragen88, rücken Gneist und Stein einander nahe. Die liberale Gesinnung, die beide einte, wirkt sich in der Betonung der Freiheit aus, die sich Gneist durchaus nicht als Staatsfremdheit des Beiseitestehens, sondern als tätige Mitwirkung des ehrenamtlichen Laienelementes darstellt. Im Ausbück auf England, in dem er die Vorbilder einer solchen freien Mitarbeit der gesellschaftlichen Kräfte an Staatsverwaltung und Staatsleitung fand, ist Gneist in einer Zeit, in der sich nach der Erringung des nationalpolitischen Zieles und in der Enttäuschung schon der Rückzug der deutschen geistigen Kräfte vom Staat vorbereitete, für die Verbindung von Staat und Gesellschaft, von alter Ordnung des Fürstenstaates und bürgerlicher Schicht eingetreten. Er hat mit seinen Bestrebungen in Verwaltungsreform und in der Schaffung der Verwaltungsgerichtsbarkeit manches erreicht. Liegt die ungleich größere theoretische Eindrücklichkeit in Steins Werk, so bleibt es doch in seinen späten Jahren zunehmend isoliert und hat keine eigentliche Nachfolge gefunden. Das positivistische Staatsrecht wandte sich der reinen pragmatischen Beschreibung zu, und das Verwaltungsrecht stieß mit Otto Mayer die Verwaltungslehre aus der auf die bloße Rechtsdarbietung verengten Behandlung aus. Demgegenüber erscheint Gneist in seiner langen Wirksamkeit an der Berliner Universität (1839—1895), die er gleich Stahl mit langjähriger parlamentarischer Zugehörigkeit (Abgeordnetenhaus 1858—93, Reichstag 1868—84) vereinte, wiederum als eine diesem Ort gemäße Vertretung des öffentlichen Rechts von weiter praktischer und politischer Wirkung66.
65 In seinem bedeutenden Werk »Verwaltung, Justiz, Rechtsweg«, einer kritischen Würdigung der realen Staatsverfassung und -Verwaltung um die Mitte des Jahrhunderts, sagt Gneist (S. 3): »In dem inneren Bau der englischen Parlamentsverfassung liegt jenes gelöste Problem der Verbindung von Staat und Gesellschaft, welches die gesonderte Doktrin vom 'Staat' und von der 'Gesellschaft' nicht zu lösen vermag, an dessen Lösung Deutschland zweifelt, Frankreich verzweifelt«. 66 Smend (Nchr. d. Akad. Göttingen, Phil.-Hist. K l . 1943 Nr. 1 3 S. 528) hat gewiß Recht, daß Gneist's Streben die Schwäche eines Restaurationsversuches (gemessen vor allem an den Reformen des ersten Jahrzehnts des 19. J a h r hunderts) trägt. Aber als Ausdruck liberaler Mitgestaltung am Staate ist sein Werk doch weittragender als es auf den ersten Blick erscheint.
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3. H e g e l u n d die r e v o l u t i o n ä r e G e s e l l s c h a f t s k r i t i k Wie schon bei Stahl gilt es in sehr viel höherem Maße bei den Vertretern der Hegeischen Linken, daß Hegels Gedankenwelt bei seinen Kritikern und Gegnern sehr viel eingehender bewahrt und fortentwickelt worden ist als bei seinen Nachfolgern. Das gilt vor allem für die Wirkung Hegels auf die sozialistische Lehre, auf Karl Marx, Friedrich Engels und die spätere sozialistische und kommunistische Theorie. Es ist heute längst deutlich geworden, daß diese Verwendung hegelischer Kategorien bei Marx nicht nur eine Umwälzung der philosophischen Gedanken Hegels bedeutet, sondern in erheblichem Maße eine Fortführung, wenn auch in anderer Richtung und mit neuen Fragestellungen. Der Gedanke der Freiheit des Menschen ist, verstärkt zu der aus seiner Entfremdung durch äußere wirtschaftliche Einengung fließenden Aufgabe der Befreiung, ein Grundansatz der Lehre von Marx. Verändert ist die Erscheinung des Menschen. Die strenge Ausrichtung auf das Geistig-Vernünftige bei Hegel ist einer weiter strukturierten Persönlichkeit gewichen, bei der auch die ökonomischen Bedürfnisse mitsprechen und deren Anlage auf die Arbeit zuihrem tiefsten Wesen gehört 67 . Vor allem aberwird die Geschichtlichkeit in eine ganz neue Deutung gerückt. Sie bleibt nicht mehr Geistesgeschichte allein, sondern wird zum Träger der notwendigen gesellschaftlichen Veränderungen, zu einem Prozeß, in den aktiv miteinzugreifen aber zu den Aufgaben des Menschen gehört. Ihr Ziel liegt nun nicht mehr in dem Selbstbewußtsein des Geistes, sondern in der Schaffung derjenigen sozialen Voraussetzungen, unter denen die Entfremdung des Menschen überwunden werden kann. Indem dies Ziel einer vollkommenen Gesellschaftsordnung auf die Erde herabgeholt wird und ihr Kommen messianistisch als Notwendigkeit verheißen wird, gewinnt zugleich, wenn nun freilich in einem völlig gewandelten materialistischen Sinne, die marxistische Lehre wieder die Gestalt einer umfassenden Sinndeutung der gesamten Geschichte, wie sie auch Hegel seiner Philosophie der Geschichte gegeben hatte68.
6 7 Vgl. Landgrebe a . a . O . S. 44ff.; Jakob Barion, Die philosophischen Grundlagen des Marxismus im System Hegels in: Materialismus und europ. Geschichtsdenken 1954 S. 11 ff. 68 Vgl. Iring Fetscher in Marxismusstudien 3. Folge i960 S. 86f.; Talmon a. a. O. S. 2i8ff.
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In seiner Ausstrahlung auf die moderne sozialistisch-kommunistische Theorie hat Hegel einen sehr viel weiteren geistigen Raum, als wie mit anderen seiner Auswirkungen erreicht. Namentlich greift hier sein Einfluß über die deutschen Grenzen hinaus, die er sonst im allgemeinen nur in begrentem Maße überschritten hat. In der marxistischen Theorie leben, wenn auch umgebildet und verändert, wichtige Bestandteile des hegelischen Erbes fort, die dialektische Methode, die Grundvorstellungen der Freiheit des Menschen und der Geschichte als eines geschlossenen sinnvollen Ablaufes. Dagegen hat diese Richtung der Ausbreitung von Gedanken des Philosophen auf die allgemeine Staatstheorie erst langsam eingewirkt. Lange Zeit stand mehr die politische Polemik gegen die marxistische Anschauung im Vordergrund. Erst in der Gegenwart beginnt die in der Theorie von Marx liegende Fragestellung in ihrem objektiven Gehalt allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Die Verbindungen zum liberalen Denken sind jedenfalls früh abgerissen und heute steht die liberale Staatsauffassung den sozialistischen Ansichten, etwa über den Umfang der Staatsaufgaben, ablehnend gegenüber.
4. D i e S t e l l u n g der H i s t o r i e und S o z i o l o g i e Etwa um die Zeit der Reichsgründung unterwirft sich, wie schon früher hervorgehoben, die Rechtslehre den Methoden des Positivismus und damit werden die eigentlichen Grundfragen des Staates in diesem Bereiche heimatlos. So ist es in den Jahrzehnten zwischen 1870 und 1920 im wesentlichen die Geschichte und später die beginnende soziologische Forschung, die ein Bild des Staates zu entwerfen vermag und damit die Anschauungen der Zeit bestimmt. Für die Geschichte bedeutet das im Blick auf Hegel die Fortführung eines Einflusses, der bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts noch auf unmittelbare Verbindung zum Werk des Philosophen zurückgeht. So nahm Droysen in seinen Bemühungen um eine methodische Klärung von Grundfragen der Geschichte (Historik) manche Gedanken Hegels auf. Sybel fand in kritischer Beschäftigung mit den Meinungen Stahls den Weg zum idealistischen Erbe 69 . In besonderem Maße aber hat man seit jeher den Blick auf die Beziehungen gelenkt, die zwischen Hegels Uber69
Vgl. Seier H Z 187 (1959) S. i o 4 f . 10*
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lieferung und der Lehre von Heinrich von Treitschke bestanden haben mögen, der in der Zeit des beginnenden Kaiserreiches an der Berliner Universität eine führende Stellung einnahm. Wie viele Männer seiner Generation, die zuerst stärker vom romantischen und historischen Erbe beeindruckt waren, ist Treitschke im Gang der Erfahrung und auch Enttäuschung vom Streben zum deutschen Nationalstaat auf den preußischen Staat hingeführt worden, dessen Stärke allein es gelang, die Hindernisse der deutschen Einheit zu überwinden. Auf diesem Wege hat sich Treitschke in der späteren Zeit auch den Gedankengängen Hegels an manchen Punkten genähert70. Hier ist vor allem die Auffassung des Staates als einer Erfüllung des Selbstbewußtseins zu nennen. Die Kritiker der Anschauungen des Historikers freilich meinen in der Regel, es sei der Gedanke der Macht des Staates, den er bei Hegel gefunden und übernommen habe. Dieser These ist mit Zurückhaltung zu begegnen. Sieht man von den Frühschriften Hegels ab, so steht bei ihm niemals die Macht des Staates, sondern seine sittliche Aufgabe in der Erziehung und Entfaltung der Menschen im Vordergrunde. Nur in der Sicht der Weltgeschichte werden die Staaten als Einheiten angesprochen, die sich mit Macht gegenübertreten. Auch bei Treitschke sind die sittlichen Bindungen des Staates niemals beiseite gerückt worden, wenn bei ihm auch an die Stelle der Freiheit als oberster Bestimmung des Staates die Behauptung und die Bewährung der Macht tritt. Aber es bliebe zu fragen, ob nicht der Gedanke des machtmäßigen Wettbewerbes der Staaten, der gegen Ende des 19. Jahrhunderts das Zeitalter des Imperialismus allenthalben erfüllt, nicht eher aus vitalistischen und biologischen Anschauungen entsprossen ist als aus Erinnerungen an idealistisches Denken. Zweifellos gewinnen in der Geschichtsschreibung in jenem Zeitabschnitt universalistische Tendenzen an Gewicht. Der Blick richtet sich weniger auf die innere Ordnung des Staates als auf seine Behauptung und Entfaltung nach außen. Der Machtgedanke gewinnt eine stärkere Beachtung, gemeinsam mit der Idee des Nationalstaates. Ebensowenig wie in der Staatsrechtslehre hat die Geschichte vor dem ersten Weltkrieg die Tiefen staatlichen Geschehens ergründet. Man meinte weithin vielmehr, im System des Verfassungsstaates mit seiner 70 Dazu Walter Bussmann, Treitschke 1952 S. 225 ff. Über Hegel und Mommsen siehe Alfred Heuss, Theodor Mommsen und das 19. Jahrhundert 1956 S. 137, 182.
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noch starken Exekutive ein gültiges und bleibendes deutsches Verfassungsschema gewonnen zu haben. In der Rechtslehre wirkte sich die positivistische Gesinnung in einem Verzicht auf Infragestellung der zeitgenössischen Lösungen, in einem Hinnehmen des Bestehenden aus. Sie hat zwar in der Allgemeinen Staatslehre, wie man nun die Grundlehren des Staates zu nennen begann, eine Reihe von eingehenden und erfolgreichen Bearbeitungen erlebt 71 , aber es fehlt diesen Werken die drängende Problematik der älteren Zeit. Es werden keine Probleme erörtert, sondern nur Begriffe entwickelt, die das Bestehende abstrahieren und dieser spätkonstitutionellen Ordnung den — unverdienten — Glanz einer abschließenden Entwicklungsepoche verleihen. Nur landsam beginnt auch heute die deutsche Staatstheorie sich von den Begriffsprägungen dieser Zeit und von ihrem so starken Eigenbewußtsein zu lösen. Einen ganz anderen Weg beschritt die soziologische Wissenschaft. Hervorgegangen aus der methodischen Forderung nach exakter Gesetzlichkeit im sozialen Leben, betrachtete sie den Staat nur mehr vom Blickpunkt der Gesellschaft her, die ihr eigentliches Feld darstellte. Die Grundaufgabe des Staates trat daher in dieser Anschauung zurück. Die institutionelle Seite des Staates kam in den Vordergrund, und so nimmt es nicht wunder, daß selbst ein so weitblickender Gelehrter wie Max Weber beim Staate sich doch einem Denken nähert, das seine apparathaften Züge allzu stark betont. Im Gegensatz zur Historie ist der Blick der Soziologie mehr auf die innere Gestalt des Staates gerichtet. Aber von der Soziologie führen schon wegen des anderen methodischen Ansatzes keine Brücken zur idealistischen Philosophie. Sittliche Wertsetzungen und metaphysische Bestimmung des Staates mußten einer Wissenschaft fremd bleiben, deren führender Autor, Max Weber, an der Idee einer voraussetzungslosen Wissenschaft ohne Politik und ohne Wertung festhielt72. Im eigentlichen hat sich dies Staatsbild der soziologischen Betrachtung erst später durchgesetzt und auch die Anschauungen anderer Disziplinen berührt. Die hier geprägte apparathafte Ansicht vom Staate hat in den letzten beiden Jahrzehnten größere Annahme gefunden, so wenig sie über bloße institutionelle Beobachtung hinaus die Fragen der Zuordnung des einzelnen zum Staate zu lösen vermag. 71 72
Georg Jellink, Allgemeine Staatslehre 1899 4. Aufl. 1929. Vgl.Wolfg. J.Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1959, S.69ff.
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Die Darstellung der Auswirkungen Hegels soll hier nicht über den Abschluß des 19. Jahrhunderts hinaus geführt werden. Sie müßte sonst die Ansätze einer Erneuerung der deutschen Staatslehre aus der Erkenntnis der Notwendigkeit des politischen Ausblicks, vor allem aber aus dem Neuansatz der Integrationslehre in ihren Gesichtskreis rücken. Der Zeitpunkt scheint aber noch nicht gekommen, wo in Deutschland dieser, durch die Ereignisse von 1933 erstmals jäh abgebrochene Anfang auf breiter Grundlage fortgeführt werden kann. Die Erschütterimg des Staatsgedankens ist in Deutschland so tief, daß die Betrachtung der politischen Theorie davon beeinträchtigt wird. Weithin ist die heutige deutsche Staatslehre einfach zu stark individualistischen Deutungen des Staates als subsidiärer Sicherungsanstalt zurückgekehrt. Eine solche Stellungnahme zu den Problemen der jetzigen Epoche würde aber zu weit führen. Ein Wort noch zur Meinung über Hegel. Sie hat nicht weniger wie die Breite seines Einflusses weitschwingenden Wandlungen unterlegen. Der Bewunderung folgte der Abstieg, und diesem doch erst nach langer geduldiger Arbeit neues Verständnis und neue Verlebendigung. Kritischer hat sich schon seit der allgemeinen Skepsis gegenüber der deutschen geistigen Entwicklung, die der erste Weltkrieg dort einleitet, das Ausland zu Hegel gestellt. Die angelsächsische Lehre hat das Hegelbild des zweiten Jahrzehnts unseres Jahrhunderts, das in England aus Hegel einen Philosophen der Macht und der reaktionären Beharrung machte, niemals ganz überwunden. Aber diese Kritik beruht mehr auf einer Wertung gewisser einzelner Züge des hegelischen Gedankenwerkes als auf einer wirklichen Bewältigung seiner Grundlagen. In Deutschland selbst hat sich die Aufmerksamkeit heute auf Züge philosophischen Denkens Hegels gerichtet, die oft außerhalb der früher beachteten Bestandteile liegen. Seine Stellung zur Arbeit, die Verbindungen seiner Welt zu der der sozialistischen Theorie, aber vor allem auch die Fortbildung der hegelischen Ansätze bei Späteren findet Beachtung. Überblickt man einmal den ganzen weiten Umfang der Wirkungen Hegels in der Staatslehre des 19. Jahrhunderts, so stellt sein Beitrag eine nicht wieder zu löschende Inschrift auf der Tafel der politischen Theorien dar. In unendlich weiter Verzweigung reicht ihr Einfluß in tief verschiedene Anschauungsgruppen und in die Vorstellungen zahlreicher Disziplinen hinein. Unter diesem Gesichtspunkt darf Hegel
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unter den vielen großen Gelehrten, die an der Friedrich-WilhelmsUniversität gewirkt haben, wohl eine besondere Stelle beanspruchen. Sehr verschieden sind die Haltungen, mit der man ihm begegnet: Kritik und sogar Ablehnung auf mancher Seite, Achtung und Studium auch in der veränderten Gegenwart, Erwartung von Hilfe und Anregung bei der Bewältigung neuer geschichtlicher Probleme, alles das finden wir. So hat die Gestalt Hegels, in kritischem oder anerkennendem Licht gesehen, in jedem Falle aber immer noch eine wirksame geistige Kraft, ihre Geltung über die Zeit bewahrt und stellt ein fortwirkendes Element aus der Geschichte der Berliner Hochschule dar, ein Zeugnis ihrer Größe, ihres Reichstums und ihrer Freiheit.
G Ü N T E R SCHMÖLDERS
DIE WIRTSCHAFTLICHEN STAATSWISSENSCHAFTEN AN DER UNIVERSITÄT BERLIN VON DER REICHSGRÜNDUNG BIS 1945 Die Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin ist nicht, wie die meisten Universitäten des 16. bis 18. Jahrhunderts, als landesherrliche Anstalt zur Heranbildung des für den Staat notwendigen Nachwuchses an Geistlichen und Beamten entstanden; während an den Universitäten Halle und Frankfurt/O. im 18. Jahrhundert besondere kameralwissenschaftliche Lehrstühle errichtet worden waren, die vornehmlich diesem Ziele zu dienen hatten, wurde der neuen, nach dem militärischen Zusammenbruch gegründeten Berliner Universität von vornherein eine andere Aufgabe gestellt. »Sie sollte mehr sein als ein Ersatz für Halle, das an das napoleonische Königreich Westfalen gefallen war, mehr als eine Fachschule für die künftigen Beamten des Staates, sie sollte eine hohe Schule der Wissenschaft werden mit der doppelten Verpflichtung, zu lehren und zu forschen . . .o1. Darum wurde auch zum Sitz der neuen Universität die Hauptstadt des Staates auserkoren, während die Hohen Schulen des 18. Jahrhunderts wie Göttingen und Erlangen gerade abseits vom großen Strom des Lebens in stille Landstädte verlegt worden waren; »die allgemeine Wirkung auf Preußen nicht allein, sondern auch auf Deutschland, die man von der neuen Universität erhoffte, konnte nur dann entstehen, wenn sie ihren Sitz im Mittelpunkt des staatlichen Lebens, in Berlin erhielt«2. Zu den ersten Professoren der neuen Universität gehörte, neben Männern wie Fichte, Schleiermacher, Savigny und Niebuhr, der Statistiker und Staatswissenschaftler Johann Gottfried Hoffmann, seit 1
Härtung, F., Friedrich-Wilhelm-Universität Berlin. I n : Das akademische Deutschland, Bd. I : Die deutschen Hochschulen in ihrer Geschichte, Berlin 1930, S. 67. 2 Härtung, F., a. a. O. S. 67; über Berlin als Sitz der Universität vgl. auch König, R . , Vom Wesen der deutschen Universität, Berlin 1935 S. 54 f.
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1807 Nachfolger von Kraus in Königsberg, der zwar der Universität Berlin im Hauptamt nur wenige Jahre angehört hat; aber »gerade er war besonders ergriffen von der neuen Aufgabe der Universität, nicht allein Beamte heranzubilden, sondern zugleich die gebildeten Kreise des Staates zur regen Beschäftigung mit dem Staate und seinen Einrichtungen zu erziehen, andererseits auch die Beamten über die bloße Fachausbildung mit Verständnis für den Staat als organische Gesamtheit zu erfüllen«3. Diese nationale und politische Aufgabe der jungen Universität kam nach der Erhebung von 1813 nicht nur in der Feier vom 3. August 1814 zum Ausdruck, in der die Universität am Geburtstag ihres königlichen Stifters zugleich die Ehrenpromotion seines führenden Staatsmannes, des Fürsten Hardenberg, und der siegreichen Feldherren des Befreiungskrieges vollzog; auch ihre Professoren setzten vielfach ihren Stolz darein, neben dem geistigen auch im politischen Leben der Nation eine führende Rolle zu spielen. Zwei Generationen nach ihrer Gründung kam es in diesem Geist Fichtes und Rankes an der Berliner Universität zu einer hohen Blüte der wirtschaftlichen Staatswissenschaften, insbesondere der Finanzwissenschaft und der politischen oder Nationalökonomie, wie man die Volkswirtschaftslehre seit F. Lists »Nationalem System« zu bezeichnen pflegte; an ihrem Anfang standen »die Männer der neuen Aufgaben des Reiches, die Nationalökonomen A. Wagner und G. Schmoller, die zu Anfang ihrer Wirksamkeit wohl verspottet oder befehdet wurden als Kathedersozialisten, allmählich aber mit ihrer Auffassung der sozialen Verpflichtung des Staates sich durchsetzten in Wissenschaft und Politik«4. Vor der Reichsgründung hatte der Schwerpunkt der deutschen Staatswissenschaft keineswegs in Berlin, sondern in den süddeutschen Staaten gelegen. »In der Wirtschaftswissenschaft, die ihrer Natur nach den Strömungen des nationalen Lebens folgen muß, von denen sie sich ja nur zu leicht hierhin und dorthin treiben läßt, hatten die nichtpreußischen Universitäten durchaus die Führung, man braucht nur an Knies und Hildebrand, Rau und Mohl, an Roscher und an Hansen, vor allem aber an Lorenz v. Stein zu denken, der in seiner 3 Härtung, F , a a O S. 68; über H o f f m a n n s Auffassung v o n der A u f g a b e des Lehrfaches Staatswissenschaften vgl. Lenz, M., Geschichte der K g l . Friedr. Wilh.-Universität zu Berlin, 5 Bände, Halle 1 9 1 0 — 1 9 1 8 , Bd. I I 1 S. 250Ü. ' Härtung, F., a. a. O., S. 76.
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Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft des Rätsels Lösung gefunden zu haben meinte. Der Grund liegt nahe genug. Die Kleinstaaten, in denen sie sämtlich lehrten, waren dem Wogendrang des nationalen Lebens weit mehr ausgesetzt als das feste Gefüge der preußischen Großmacht, und boten darum mehr Gelegenheit und Antrieb, Theorien aufzustellen, Systeme zu entwickeln« 6 . Noch um die Mitte des Jahrhunderts blieb in Berlin, wie M. Lenz berichtet, das Gebiet der Staats- und Finanzwissenschaften, »das heute fast ein Übermaß an Bearbeitern hat«, nahezu unangebaut 4 ; nach der Reichsgründung, genauer mit dem Amtsantritt des preußischen Kultusministers Falk, begann eine neue Ära, die durch die Gewinnung der besten Lehrkräfte aus Süddeutschland für die Berliner Lehrstühle gekennzeichnet war. »Wie die älteste der reichsdeutschen Schwestern (Heidelberg), so hat auch die jüngste, Straßburgs Hochschule, Berlins Alma Mater mit dem Besten, was sie besaß, genährt. Als erster kam von dort, schon 1877, auf Müllenhoffs Stuhl Wilhelm Scherer. Ihm folgte, nach Adolf Heids allzufrühem tragischen Ende, 1882 Gustav Schmoller, der Erneuerer der historischen Richtung seiner Wissenschaft, der er nun, im Verein mit Adolph Wagner, den wir bereits seit dem Kriegsjahr 1870 besaßen, die der Hauptstadt des Reiches würdige Stellung schuf, welche Berlin so lange anderen Universitäten hatte überlassen müssen« 7 . Adolph Wagner, 1835 in Erlangen geboren und seit 1858 Professor in Wien, Hamburg und Dorpat, wurde 1870 von Freiburg an die Philosophische Fakultät der Universität Berlin berufen, der er bis zu seinem Tode (1917) verbunden blieb; er gehörte zu jener ersten Generation Berliner Professoren nach der Reichsgründung, deren Wirken zeitlich noch nicht durch Emeritierung und Altersgrenze beschränkt war. Seine Stellung zu der liberalen englischen Volkswirtschaftslehre von Ad. Smith, Ricardo und Malthus ergibt sich aus seinem Hinweis, die politische Ökonomie sei in einer Hinsicht nichts anderes als angewandte Psychologie; da die menschlichen Handlungen nicht nur wirtschaftlicher Natur seien, könnten sie auch nicht, wie dies die liberale Lehre versuche, ausschließlich von wirtschaftlichen Motiven, insbesondere von dem Selbstinteresse oder Gewinnstreben abhängig sein. Lenz, M., a. a. O., Bd. II 2, S. 3i7ff. • a. a. O., S. 296. 7 Lenz, M., a. a. O., S. 356
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Er forderte von der Nationalökonomie eine »entwickeltere, feinere Psychologie« unter Berücksichtigung aller den Einzelnen umgebenden Verhältnisse und seiner Gewöhnung; auch müsse »das Motivsystem des Menschen genauer betrachtet und zum Ausgangspunkt der ganzen Grundlegung genommen werden. Insbesondere sind dabei die Momente der sittlichen, auch der religiösen Anschauung, die Sitte und Gewöhnung in Verbindung mit Triebleben, Motivsystem und Rechtsordnung zu verfolgen«8. Unter dem Eindruck der temperamentvollen Schriften des Staatssozialisten Karl Rodbertus, der 1848 zwei denkwürdige Wochen hindurch preußischer Kultusminister gewesen war, brachte Wagner nach Berlin die tiefe Überzeugung von der Notwendigkeit einer umfassenden Sozialreform mit, wie sie soeben in Freiburg auch von G. Schönberg gefordert worden war; in einer Rede in der Berliner Garnisonkirche appellierte er leidenschaftlich an das soziale Verantwortungsbewußtsein der evangelischen Christen. Auf diese Bestrebungen bezog sich der Spottname »Kathedersozialisten«, mit dem der Publizist H. B. Oppenheim den großen Kreis von ehrlich um die Sozialreform bemühten Professoren belegte; wie so oft im politischen Leben, wandelte sich der Spott- in einen Ehrennamen für die Männer, die 1872 in Eisenach zum Kongreß für Soziale Reform zusammentraten, aus dem im Jahre darauf der »Verein für Socialpolitik« hervorging. In seinem »Offenen Brief an H. B. Oppenheim« war Wagner den Verunglimpfungen entgegengetreten, mit denen ein Teil der Presse die Bestrebungen der Sozialreformer zu diskreditieren suchte; ihm schloß sich eine Gruppe aufrechterJournalisten an, denen daran lag, die großen Zeitungen zu ermutigen, »sich von der Tyrannei der Manchesterlichen freizumachen«. So kam es zur Gründung des Vereins für Socialpolitik, der zunächst geradezu als »sozialpolitischer Agitationsverein« fungieren wollte. Die ersten Vereinsjahre waren von lebhaften Auseinandersetzungen um grundsätzliche Fragen erfüllt; im Zusammenhang mit dem erfolgreich abgewehrten Versuch, den Verein auf eine staatssozialistische Linie festzulegen, schied Wagner selbst zeitweilig aus dem Vereinsausschuß aus9. Anschließend wandelte sich jedoch unter E. Nasses Vorsitz (seit 8 Wagner, Adolph, Grundlegung der politischen Ökonomie, 3. Aufl. Leipzig 1892 S. I5f. 20. ' Albrecht, G., Artikel Verein für Socialpolitik, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 1 1 , i960.
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1874) der Verein von einem »sozialpolitischen Agitationsverein« in eine wissenschaftliche Gesellschaft um, deren Gewicht in der öffentlichen Meinung auf dem hohen Ansehen der in ihr vereinigten Gelehrten beruhte. Der wissenschaftliche Sekretär und eines der eifrigsten Mitglieder des Vereins war seit 1873 der Bonner Professor Adolf Held, ein Sohn des Würzburger Verfassungsrechtlers Joseph von Held; wie Lujo Brentano, der sich 1871 in Berlin habilitiert hatte, gehörte auch Held zu den entschiedensten Gegnern des Manchestertums und zu den Befürwortern einer staatlichen Sozialpolitik, deren Notwendigkeit er nicht zuletzt aus dem Studium der englischen Sozialgeschichte ableitete. Seine Schrift über Sozialismus, Sozialdemokratie und Sozialpolitik (1877) l a g ganz in der Linie des Kathedersozialismus, zu dem er sich stolz bekannte. 1879 wurde Held als Nachfolger des Historikers Helwing nach Berlin berufen, wo ihm jedoch nur ein kurzes Wirken vergönnt war; er ertrank im Sommer 1880 auf einer Schweizer Reise im Thuner See. Ihm folgte 1882 nach Berlin der unbestrittene Führer der deutschen Volkswirtschaftslehre jener Zeit, Gustav Schmoller, der seit 1872 in Straßburg lehrte. Seine Persönlichkeit und seine wissenschaftliche Leistung haben die folgenden drei Jahrzehnte Forschung und Lehre auf dem Gebiet der wirtschaftlichen Staatswissenschaften an der Berliner Universität maßgeblich geprägt und über die im Verein zu gemeinsamer Arbeit zusammengeschlossenen Fachgenossen das soziale Denken und Handeln des kaiserlichen Deutschland wesentlich beeinflußt. Schmoller war 1838 in Heilbronn a. N. geboren und hatte in Tübingen Rechts- und Staatswissenschaften studiert. Seine preisgekrönte Dissertation von 1860 über die nationalökonomischen Ansichten in Deutschland während der Reformation verriet schon eine Anschauung, die er in voller Klarheit fast vierzig Jahre später in seiner viel umstrittenen Berliner Rektoratsrede zum Ausdruck brachte, daß nämlich die Erkenntnis der wirtschaftlichen Zusammenhänge erst aus der Kenntnis der geschichtlichen Wirklichkeit des Wirtschaftslebens zu gewinnen sei; in diese geschiehtlich-politische Wirklichkeit in strenger historischer Arbeit tiefer einzudringen, in das Gegenwartsgeschehen aber auch selbst aktiv handelnd mit einzugreifen, war Schmoller ein inneres Bedürfnis. Schon als Referendar in Heilbronn versuchte er sich auf
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diesem Gebiete mit einer anonymen Broschüre »Ein Wort der Verständigung« für den preußisch-französischen Handelsvertrag gegen die Schutzzollpolitik Württembergs; 1864 an die Universität Halle berufen, vertiefte er sich zunächst in ein gründliches Quellenstudium zum preußischen Kameralismus, zur Geschichte des Gewerbewesens und zur Bevölkerimg- und Moralstatistik. Nach seiner Ubersiedlung an die neugegründete Universität Straßburg folgten Arbeiten über Straßburger Zunftkämpfe und Zunftverfassungen, insbesondere auf dem Gebiete des Tuchgewerbes und der Weberei, aber auch politische Gedanken wie über die Natur des Arbeitsvertrages und die Reform der Gewerbeordnung. Die großen Etappen in Schmollers Aufstieg zum führenden deutschen Nationalökonomen, Sozialpolitiker und Historiographen der preußischen Staatsverwaltung waren seine Mitwirkung an der Gründung des Vereins für Socialpolitik (1872), die Übernahme der Herausgeberschaft des Jahrbuchs für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft (1881) und die Berufung nach Berlin (1882) »an die Spitze der ganzen reichsdeutschen Nationalökonomie« und »inmitten des zentralen preußisch-deutschen Regierungs- und Gesetzgebungsorganismus, dessen stetiger Entwicklung zu einem national eigenartigen parlamentarischen System die ganze Liebe seiner realistisch-idealistischen Natur gehörte«10. Hier wurde Schmoller Mitglied des preußischen Staatsrats (1884), der Akademie der Wissenschaften (1887), in der er die Edition der Acta Borussica, der »Denkmäler der preußischen Staatsverwaltung im 18. Jahrhundert«, vorantrieb, und des Herrenhauses (1899); hier entstanden neben unzähligen Aufsätzen zur Politik und Sozialpolitik, zur Methodologie und Literaturgeschichte der Staats- und Sozialwissenschaften seine »Umrisse und Untersuchungen zur Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte besonders des preußischen Staates im 17. und 18. Jahrhundert« (Leipzig 1898), sein »Grundriß der allgemeinen Volkswirtschaftslehre« (Leipzig 1900 u. 1904) und zwei Bände »Charakterbilder« (München und Leipzig 1913). Seit 1890 bis zu seinem Todesjahr (1917) Vorsitzender des Vereins für Socialpolitik, den er mit seiner Autorität unter den Fachgenossen ins schutzzöllnerische Lager Bismarcks zu führen verstand, ist er in die Geschichte der 10
Brinkmann, C., Artikel Schmoller in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, 9. Bd. Güttingen 1 9 5 6 S. 1 3 5 .
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volkswirtschaftlichen Lehrmeinungen als das Haupt der »historischen Schule«, genauer der sogenannten jüngeren historischen Schule eingegangen, die, nach der Einteilung Adolph Wagners, auf den Vorleistungen von Roscher, Knies und Hildebrand aufbauend der abstrakten Theorie die empirisch-soziologische Methode der Wirtschaftsbeschreibung entgegensetzte; neben Schmoller rechnet man insbesondere Bücher, Brentano, Held, Knapp, Conrad und Herkner zu dieser »Schule«. Ihre charakteristische Leistung ist bekannt: »Nachdem die historische Nationalökonomie den wichtigsten Schritt getan hatte, das ökonomische System des Liberalismus selbst als ein geschichtliches Ergebnis zu deuten, trat die Aufgabe an die jüngeren Kräfte heran, ein neues Lehrgebäude zu entwerfen. Hier zeigte sich nun bald, daß die vorhandenen wirtschaftlich-geschichtlichen Einsichten nicht ausreichten. Daher gaben G. Schmoller und seine Anhänger die Parole aus, es müßten erst genügend Spezialuntersuchungen vorgenommen werden, ehe man die Entwicklungsgesetze des wirtschaftlichen Lebens, die man nur in den Umrissen erblickte, in allen ihren Folgerungen erkennen könne«11. Das Urteil des Faches über Schmoller und diese seine Methode, weniger über seine überragende Persönlichkeit und Leistung, hat mehrfach gewechselt. Bei wenigen Gelehrten ist die persönliche Prägung ihres Lebenswerkes durch Temperament, Abstammung und Erziehung so sichtbarlich zu erkennen wie bei Schmoller; »schon von Abstammung und Erziehung her war Schmoller ein überprovinzieller Typus des Denkers und Politikers, väterlicherseits in jenem gesamtdeutschen Kameralismus wurzelnd, der trotz der Rezeption der Smithischen ökonomischen Frühklassik ein unverlierbares Erbgut deutscher Volksund Betriebswirtschaftslehre geblieben ist; von der Mutterseite, der Calwer Mediziner- und Botanikerfamilie Gärtner, mit den Großen der experimentellen Naturphilosophie, Goethe und Darwin in überlieferter Verbindung«12. Allein dieses Erbgut mußte Schmoller davor bewahren, was ihm seine Gegner zu Lebzeiten und ihre späteren Epigonen zu Unrecht immer wieder nachgesagt haben, nämlich grundsätzlich untheoretisch oder gar theoriefeindlich zu sein; J. Schumpeter hat dem vielfach Verkannten in dieser Beziehung posthum Gerechtigkeit wider1 1 Sartorius v. Waltershausen, Deutsche Wirtschaftsgeschichte 1815—1914, Jena 1923, S. 338. 1 2 Brinkmann, C., a. a. O., S. 135.
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fahren lassen: »Wenn man konkrete Lagen konkreter Volkswirtschaften verstehen und Relevantes über ihre konkreten Probleme sagen will, wird alles das, was die theoretische Sozialökonomie als »gegeben« annimmt und womit sie sich ex professo meist nicht weiter zu beschäftigen pflegt — also eben die konkrete wirtschaftliche Verumständung eines Volkes, seine natürlichen Möglichkeiten, seine Anlagen, seine weltwirtschaftlichen Beziehungen, seine soziale Struktur, seine Produktionsziffern, Größe und Verteilung seines Sozialproduktes, seine wirtschaftliche und politische Verfassung — zur Hauptsache, zum eigentlichen Untersuchungsobjekt. Tatsachen herbeischaffen wird zur fundamentalen Aufgabe, deren Erledigung die Voraussetzung für alles weitere wird. Diese Tatsachen ordnen, übersichtlich zusammenfassen, ist die zweite Aufgabe. Hat man sie, wenn auch nur teilweise, gelöst — nie kann sie, ebensowenig wie die erste, definitiv gelöst sein, sondern die Arbeit der Herbeischaffung und Ordnung des Materials muß ohne angebbare Grenze immer weitergehen pari passu mit der Verwertung des jeweils vorhandenen Materials und der Ausbildung der Methoden seiner Beschaffung und Behandlung —, so kann man schon viele wichtige Fragen unmittelbar beantworten. Dann aber stellt sich das Bedürfnis nach Analyse der technischen Zusammenhänge, des tatsächlichen Verhaltens der sozialen Gruppen und Individuen, des Wesens und Funktionierens der sozialen Institutionen, wie Staat, Eigentum, Verkehrsrecht usw, ein. Und aus der Summe dieser Analysen entsteht das soziologische und ökonomische Wissen einer Zeit, das man versuchen kann, zu jeweils provisorischen Synthesen zusammenzuschweißen. Alle Stadien dieses Programms hat Schmoller — und das macht seine Größe aus — tatsächlich durchmessen. Er hat sein Leben zu einem Paradigma dieses Programms gemacht und dabei die beispiellose Selbstverleugnung besessen, auf Schritt und Tritt die Relativität des von ihm Geleisteten zu betonen. Er hat Tatsachen herangeschafft (Acta Borussica), Tatsachen gruppiert (z. B. Finanzstatistik), einzelne Detailgebiete durchforscht (z. B. Tucherbuch) und zahllose solche Detailuntersuchungen angeregt, er hat große Übersichten über die Entwicklung von Institutionen und Lebensformen oft kühn generalisierend konstruiert (Stadtproblem, Unternehmungsformen usw.) und schließlich ein zusammenfassendes Mosaik — es sollte Mosaik sein, das liegt im Wesen dieser Einstellung — in seinem Grundriß geboten. Und
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weil er der Einzige ist in der Geschichte unserer Wissenschaft, der ein solches Programm nicht nur wollte, sondern auch bewußt und tatsächlich durchführte, so ist er auch der Einzige, der uns nicht bloß durch das Wort oder die weisende Einzelleistung — die über ihren Spezialinhalt hinaus ja doch auch nur Wort ist — sondern durch die lebendige Tat eine Vorstellung von dieser Art von Volkswirtschaftslehre gab, der Einzige, an dessen Werk ihre Probleme studiert werden können«13. Schmollers Nachfolger im Vorsitz des Vereins für Socialpolitik war der sudetendeutsche Fabrikantensohn Heinrich Herkner, der 1891 die soziale Reform als Gebot des wirtschaftlichen Fortschritts gefordert und 1894 in seiner zweibändigen »Arbeiterfrage« das Standardwerk der wissenschaftlichen Sozialpolitik vorgelegt hatte, so wie sie die »Kathedersozialisten« verstanden wissen wollten. Er war 1863 in Reichenberg in Böhmen geboren und lehrte seit 1890 in Freiburg und Karlsruhe; über Zürich führte ihn sein akademischer Lebensweg 1907 nach Berlin, zunächst an die Technische Hochschule, seit 1912 an die Universität, der er bis zu seinem Tode 1932 angehörte. Als er in Wien und Leipzig Landwirtschaft, Philosophie und Nationalökonomie zu studieren begann, brachte er aus dem väterlichen Unternehmen bereits wirtschaftliche und soziale Kenntnisse und Erkenntnisse mit, die ihm die Probleme anschaulich und lebendig vor Augen treten ließen. »Ich hatte den vollen, unmittelbaren Anblick der Dinge selbst besessen, ehe ich mit den für sie geprägten Worten und Begriffen bekannt wurde. Bei den meisten meiner Studiengenossen war es umgekehrt. Statt der Gegenstände hatten sie nur deren Bezeichnungen im Kopfe, und es kostete ihnen viel Mühe, deren Sinn klarzustellen und sie in deutliche persönliche Eindrücke zu verwandeln«14. Diese Wirklichkeitsnähe zeichnete die wissenschaftliche und politische Arbeit Herkners in seinem ganzen späteren Leben aus; in seiner Hand lagen viele der empirischen Erhebungen des Vereins für Socialpolitik, dessen wissenschaftliche Leitung schon Jahre vor Schmollers Tod praktisch auf ihn überging, und in seinen finanzwissenschaftlichen Arbeiten führte Herkner mitten im ersten Weltkrieg den Nach1 3 Schumpeter, J., G u s t a v v. Schmoller und die Probleme v o n heute. Schmollers Jahrbuch f. Gesetzgebung, V e r w a l t u n g und Volkswirtschaft, 50. Jahrg. 1926 S. 3 5 4 I 14 Herkner, Heinrich, Der Lebenslauf eines »Kathedersozialisten«, in: Meiner, Felix (Hersg.) Die Volkswirtschaftslehre der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Bd. 1 Leipzig 1924 S. 3.'
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weis, daß die von den Alldeutschen aufgestellte Forderung nach Kriegsentschädigungen im Falle einer siegreichen Beendigung des Krieges ebenso unklug wie unnötig sei, eine Auffassung, die damals nicht ohne Schwierigkeiten vertreten werden konnte. Herkners politisches Wirken für den deutsch-österreichischen Zusammenschluß fand durch das Kriegsende einen ihn tief enttäuschenden negativen Abschluß; kurz vorher hatte er seinen einzigen Sohn im Felde verloren. Für die »jetzt zur Neige gehende ,kathedersozialistische' Periode der deutschen Nationalökonomie« forderte der Sozialpolitiker Herkner in seiner Autobiographie von 1924 eine Neubesinnung der Sozialpolitik. »Wenn ich jetzt davon abmahne, noch weiterhin in einem so stürmischen Tempo Sozialpolitik zu treiben wie in den letzten Jahren, so nur deshalb, weil ich befürchte, daß schon die bereits in K r a f t stehende Gesetzgebung teilweise die Grenzen überschreitet, welche angesichts unserer furchtbaren Lage im Interesse unserer Arbeiterschaft selbst, der Erfüllung der Reparationspflichten und des Wiederaufbaus unserer Volkswirtschaft beachtet werden müssen . . . Je weniger die Führer der Massen imstande sind, so unpopuläre Wahrheiten auszusprechen, um so mehr ist es heilige Pflicht der unabhängigen Wissenschaft, heute gegen die sozialistischen Strömungen so zu arbeiten, wie die .Kathedersozialisten' in den Vorkriegszeiten gegen die Allmacht des Manchestertums und Kapitalismus zu Felde gezogen sind«16. Auch der gleichaltrige Werner Sombart kam wie Herkner erst über den Umweg einer anderen Wirkungsstätte in die Berliner Fakultät. Geboren 1863 in dem Harzlandstädtchen Ermsleben, wurde der begabte Bremer Handelskammersyndikus 1890 nach Breslau und 1906 an die Handelshochschule Berlin berufen; erst 1917, im Todesjahr Schmollers und Wagners, übernahm Sombart ein Ordinariat für Soziologie und Kulturtheorie an der Universität. Sein Hauptwerk »Der moderne Kapitalismus« (1903—08) baute auf dem tiefen Eindruck auf, den ihm der Sozialismus und die soziale Bewegung (1896) und insbesondere das Lebenswerk von Karl Marx (1909) vermittelt hatte; die letzte (10.) Auflage seiner ursprünglich ganz im Marx'schen Geist geschriebenen Studie über den proletarischen Sozialismus (1924) ist scharf antimarxistisch. Seine unter Gustav Schmollers Anleitung verfaßte Dissertation über die römische Campagna, sein aufsehenerregen15
Herkner, H., a. a. O. S. 38.
G II
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des Buch über die Juden und das Wirtschaftsleben (1911), der »Bourgeois« (1913) und die Kriegspropagandaschrift »Helden und Händler« (1915) zeigen seine Vielseitigkeit und Wandelbarkeit, die sich im »Deutschen Sozialismus« (1934) und seiner anthropologischen Spätschrift »Vom Menschen« (1938) fortsetzte; sein Künstlertum, seine »im Alter zunehmende Lust am Paradoxen« und die Freude am »schneidigen Formulieren« darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Berliner Fakultät mit Werner Sombart eine Gelehrtenpersönlichkeit von großem Format gewonnen hatte, von der eine starke Ausstrahlung auf die Studierenden und auf alle jüngerer Kollegen ausging. Als Schmollerschüler in der Tradition der historischen Schule verwurzelt, gelang ihm mit seinem Hinweis auf »Die drei Nationalökonomien« (1930) die Versöhnung im immer noch schwelenden Methodenstreit für alle, die guten Willens waren, sich anstelle der »richtenden« oder der nur »ordnenden« der »verstehenden« Methode zu bedienen; »auch dieser letzte Vorstoß des großen Fortsetzers und Uberwinders von Marx (denn das hat er wohl immer sein wollen) ist als Sieg und Niederlage gleich ehrenvoll« (Brinkmann). Neben Herkner und Sombart ragte an der Berliner Universität die imposante Erscheinung Max Serings aus Schmollers und Wagners Tagen über die Weimarer Jahre bis in die beginnende Hitlerzeit hinein. 1857 in Barby (Bezirk Halle) geboren, hatte Sering vor seiner Berufung nach Berlin (1889) eine Professur in Bonn bekleidet und sich durch zoll- und agrarpolitische Schriften einen Namen gemacht. Eine Studienreise nach Amerika hatte ihm 1883 die Problematik der landwirtschaftlichen Konkurrenzverhältnisse vor Augen geführt, die seine weitere wissenschaftliche Arbeit bestimmend beeinflußte; auch die Stolypinsche Agrarreform studierte er später an Ort und Stelle. Im ersten Weltkrieg als Vorsitzender der wissenschaftlichen Kommission im Kriegsministerium mit den Rohstoffproblemen der Kriegswirtschaft beschäftigt, gewann er nach dem Umsturz großen Einfluß auf die Siedlungspolitik des Reiches; das Reichssiedlungsgesetz von 1919 galt geradezu als »lex Sering«. Nach seiner Emeritierung (1925) blieb Sering den praktisch-politischen Aufgaben seines Forschungsinstituts für Agrar- und Siedlungsfragen treu; als Generalberichterstatter des landwirtschaftlichen Unterausschusses der großen Nachkriegs-Enquete, als deutscher Vertreter in der Agrarkommission der Weltwirtschaftskonferenz in Genf
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und als Vorsitzender der Internationalen Konferenz für Agrarwissenschaft hat Sering neben seiner wissenschaftlichen Arbeit bis in sein hohes Alter segenreich gewirkt. Zur »alten Garde« der Berliner Staatswissenschaftler gehörte endlich Ignaz Jastrow, geb. 1856 in Nakel (Netzegau), der seit 1905/06 an der Universität und an der Handelshochschule Berlin Nationalökonomie und Sozialpolitik lehrte. Zunächst Oberlehrer am Friedrichsgymnasium und Stadtrat in Berlin-Charlottenburg, habilitierte er sich 1885 an der Universität Berlin für das Fach Geschichte; seine venia legendi wurde später auf Staatswissenschaften ausgedehnt, die er von 1906 bis 1914 an der Handelshochschule, nach dem ersten Weltkrieg als Ordinarius an der Universität vertrat. Jastrows wissenschaftliche Interessen waren breit gestreut; angefangen von seiner Breslauer Dissertation über die strafrechtliche Stellung der Sklaven bei Deutschen und Angelsachsen (1878) über Pufendorfs Lehre von der Monstrosität der Reichsverfassung (1882) und die Preisschrift über die Geschichte des deutschen Einheitstraumes (1885) bis zu Arbeiten über Wirtschafts-, Sozial- und Verfassungsgeschichte, Steuerkommentaren, Anleitungen zur Einkommensteuererklärung, Wahlaufrufen und Kriegsschriften, umschloß sein literarisches und politisches Wirken so gut wie alle Bereiche der Staatswirtschaft, Staatswissenschaft und Politik (das Verzeichnis seiner Veröffentlichungen umfaßte bereits 1929 nicht weniger als 106 Seiten). Seine sorgfältig zusammengestellten »Textbücher zu Studien über Wirtschaft und Staat« haben Tausenden von Studierenden der Kriegs- und Frontgeneration die fehlende eigene Bibliothek ersetzt; seine Seminare waren ebenso behebt, wie seine Prüfungen gefürchtet. Mit Schmollers und Wagners Tod (1917) beginnt eine neue Etappe der Berliner Staatswissenschaften; eine Generation von Hochschullehrern, deren Berufungsdatum nach der Jahrhundertwende liegt, löst allmählich die alte Garde ab, deren wissenschaftliche Grundhaltung bei allen Unterschieden der Persönlichkeiten doch durch viele Gemeinsamkeiten des Kathedersozialismus und der historischen Methode geprägt war. Die neuen Männer unterschieden sich in ihren Lehrmeinungen stärker von einander als die bisher erwähnten; aber die durch die Schmollerschule geschaffene Tradition der Wirklichkeitsnähe, die Blickrichtung auf das konkrete Wirtschaftsleben statt auf blasse Theorien und Systeme, blieb auch für die neue Generation, bei allen
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Gegensätzen im einzelnen, die gemeinsame Grundhaltung ihrer wissenschaftlichen Arbeit. Schon seit 1901 lehrte Ladislaus v. Bortkiewiecz an der Berliner Universität Staatswissenschaften und Statistik. Er war 1868 in Petersburg geboren und hatte seine ersten bevölkerungsstatistischen Arbeiten in russischer Sprache in den Schriften der Petersburger Akademie der Wissenschaften veröffentlicht (1890). Von der zaristischen Regierung zu Studienzwecken nach Deutschland geschickt, promovierte er 1892 in Göttingen und übernahm nach seiner Habilitation an der Universität Straßburg (1895) und nach einem Zwischenspiel als Beamter im russischen Verkehrsministerium ein Extraordinariat für Statistik und Staatswissenschaften in Berlin. Ausgehend von der statistischen Methodenlehre, die ihm u. a. das »Gesetz der kleinen Zahlen« verdankt (1898), wandte sich Bortkiewicz schon bald der erkenntnistheoretischen Grundlegung der Wahrscheinlichkeitstheorie zu, die er durch viele scharfsinnige Untersuchungen bereicherte; auch der Versicherungsmathematik, der Sozialpolitik, der Grundrenten-, Zins- und Geldtheorie widmete er begrifflich-theoretische Studien. Seine vorwiegend mathematische Beweisführung hinderte ihn nicht, seine Fragestellung in lebensvolle Formulierungen zu kleiden (»War Aristoteles Malthusianer?« 1906; »Wie Leibniz die Diskontierungsformel begründete« 1907; »Gibt es Deportgeschäfte?« 1920). Seine kleine Schrift über Bevölkerungswesen (1919) setzte die Probleme der Bevölkerungsstatistik weiten Kreisen verständlich auseinander; darüber hinaus begründete er als Herausgeber eine Serie populärer statistischer Bücher (i925ff.). Zu den »Jüngeren« unter den Berliner Staatswissenschaftlern gehörte Ludwig Bernhard, der 1875 in Berlin geboren und 1898 in München zum Dr. oec. publ. promoviert worden war. Den ersten Weltkrieg machte Bernhard von 1914 bis 1918 als Kriegsfreiwilliger mit, zuletzt im Stabe der Obersten Heeresleitung. Er war 1908 von Kiel an die Berliner Universität berufen worden, wo er sich fünf Jahre zuvor habilitiert hatte; Zwischenstationen seiner akademischen Laufbahn waren Posen und Greifswald. Seine Untersuchung über die Polenfrage (Das polnische Gemeinwesen im preußischen Staat, 686 Seiten, Leipzig 1907) machte den vielseitig interessierten jungen Gelehrten weithin bekannt; das Buch wurde u. a. ins Russische übersetzt und erschien 1920 in dritter Auflage unter dem Titel »Die Polenfrage. Der Nationalitätenkampf der Polen in Preußen«.
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Hatte Bernhard schon mit dieser Schrift gezeigt, daß er sich nicht scheute, heiße Eisen anzupacken, so gilt das Gleiche von seiner aufsehenerregenden Schrift »Unerwünschte Folgen der deutschen Sozialpolitik« (1912) und, nach seiner Rückkehr aus dem Felde, von seinen temperamentvollen Stellungnahmen zu außenpolitischen Fragen, zum »System Mussolini« (1924) und zur »Psychologie und Technik des Hugenberg-Konzerns« (1928). Seine Vorlesungen waren von seiner leidenschaftlichen Vaterlandsliebe geprägt; niemand, der dabei war, wird seine empörte Anklage der französischen Ruhrbesetzung am 11. Januar 1923 vergessen. Um so tiefer traf ihn der geistige Abstieg, der sich in dem Aufkommen des Nationalsozialismus und in der »Machtübernahme« Hitlers 1933 manifestierte; seines geliebten und mit warmem Herzen zum Segen der Studenten und des akademischen Nachwuchses ausgeübten Lehramts brüsk enthoben, starb Bernhard 1935 im Alter von 60 Jahren. 1917 wurde der Bremer Hermann Schumacher, geb. 1868, der Wagner und Schmoller als seine Lehrer bezeichnete und der als Mitglied einer amtlichen Handelskommission jahrelang China, Japan und Korea bereist hatte, nach mancherlei Etappen in Köln, Bonn und New York (Columbia), im Fernen Osten und Rußland an die Berliner Universität berufen. »Wenigen Hochschullehrern«, schrieb Erich Welter in seinem Nachruf auf Schumacher16, »kann man eine ähnlich nachhaltige Wirkung auf ihre Schüler nachrühmen . . . Ganz gewiß .fraternisierte' er nicht mit ihnen. Der Eindruck, den er erweckte, war zunächst eher kühl. Die Anforderungen, die er stellte, galten als unangenehm hart. Wer aber einmal Aufnahme in sein Seminar gefunden hatte, den ließ er nicht mehr aus den Augen . . . Nie fertigte er ein Seminarmitglied zwischen Tür und Angel ab. Jeder war einer sorgfältigen Beratung in wissenschaftlichen, beruflichen und persönlichen Fragen sicher. Daß er seinen Studenten nach bestandenem Examen im Berufsleben zu dem richtigen Platz zu verhelfen suchte, war für Schumacher eine Selbstverständlichkeit. Die Hingabe, mit der er sich jedem einzelnen auch später widmete, sucht ihresgleichen. Jede briefliche Anfrage wurde von ihm ausführlich meist handschriftlich beantwortet . . .«. Schumacher hat sich gegen die »Reform« des staatswissenschaftlichen Studiums, wie sie 1924 mit der Einführung des Diplomexamens 16
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7. Okt. 1952, S. 6.
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eingeleitet wurde, leidenschaftlich gewehrt. »Durch sie ist einerseits ein in der Volkswirtschaft bisher fehlendes Einpaukertum großgezüchtet worden, das von den Vorzügen der juristischen Einpauker nur den aufweist, daß es durch ein fragwürdiges E x a m e r hindurchzuhelfen versteht; andererseits sind durch sie mit deutscher Gründlichkeit von deutschen Universitäten ausländische Studenten verscheucht worden, die vielfach zu leitenden Stellen in Politik und Wirtschaft ihrer Heimatländer berufen waren . . .«17. Es war für Schumacher, der seine Lebensarbeit der Weltwirtschaftslehre und vergleichenden internationalen Wirtschaftsstudien gewidmet hatte, geradezu »unverständlich, wie man eine innenpolitisch und außenpolitisch gleich wichtige Entwicklung so verhängnisvoll hemmen kann«; die Isolierung der deutschen Nationalökonomie vom Ausland, die er schon der Schmollerschule vorwarf, war nach dem ersten Weltkrieg eine seiner größten Sorgen geworden. »Die Behandlung weltwirtschaftlicher Probleme, für die in Kiel ein glänzend ausgestattetes Institut und im Weltwirtschaftlichen Archiv ein nützliches literarisches Sammelorgan geschaffen wurde, konnte vor dem Kriege als zukunftsreiche deutsche Besonderheit bezeichnet werden. Auf ihr beruhte in erster Linie die Hoffnung, daß es der deutschen Volkswirtschaftslehre trotz aller Wechselfälle gelingen werde, sich im internationalen Wettbewerb eine Stellung zu sichern, die hinter der keines anderen Landes zurückstand« 18 . Als Schumacher 1952 im Alter von 84 Jahren starb, wurde mit ihm auch seine Hoffnung auf eine derartig führende Rolle der deutschen Wirtschaftswissenschaft im allgemeinen und seiner Weltwirtschaftslehre im besonderen begraben; aus dem Kreise seiner Schüler sind aber viele führende Männer in Wirtschaft und Politik hervorgegangen, und auch bedeutende Nationalökonomen an in- und ausländischen Universitäten zählen sich zu seinem Kreis. Erst kurz vor seinem 60. Geburtstag, im Jahre 1926, wurde Friedrich v. Gottl-Ottlilienfeld, der gebürtige Wiener (1868), nach akademischen Stationen in Brünn, München, Hamburg und Kiel an die Berliner Universität berufen. Seine »Abrechnung mit der sterbenden Wertlehre« (1923), die er bereits in seiner Dissertation von 1897 über den Wertgedanken als ein »verhülltes Dogma« der Nationalökonomie in Angriff 1 7 Schumacher, H., Staatswissenschaften, in: Abb, G., (Hrsg.) Aus fünfzig Jahren deutscher Wissenschaft, Berlin, Freiburg, München, Leipzig 1930, S. 158. 1 8 Schumacher, H., a. a. O.
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genommen hatte, kennzeichnet den kritischen Beitrag, den dieser Künstler der Stilistik zur Theorie und Begriffsbildung der Wirtschaftswissenschaft geleistet hat; die »Herrschaft des Wortes« in der Nationalökonomie zu kritisieren (1901) und demgegenüber eine eigene Auffassung von der »Wirtschaft als Leben« zu vertreten (1925), schien ihm seine wissenschaftliche Lebensaufgabe. Nach geistvollen und sprachlich wie inhaltlich blendenden Vorarbeiten über Wirtschaft und Technik (1914), insbesondere über den »Fordismus« (1924), legte v. Gottl seine eigene Theorie in »Bedarf und Deckung« (1928) und »Wirtschaft und Wissenschaft« (2 Bde., Jena 1931) vor, eine »Vorarbeit«, wie er sie nannte, »die notwendig ist, will man Nationalökonomie reiferer Art treiben«; prinzipieller noch als W. Sombart proklamierte er die Wirtschaftswissenschaft als Zweig der Geistes- und Sozialwissenschaften. Für die Berliner Philosophische Fakultät war der geistreiche Kritiker der Nationalökonomie darum sicherlich eine Bereicherung; die nationalsozialistische Heilslehre, gegen die sich seine »Sozialästhetik« nicht als immun genug erwies, riß das kunstvolle Gedankengebäude in den Strom der politisierten Wissenschaft, der auch sein großes Werk »Ewige Wirtschaft« (1942) verhaftet blieb. Gänzlich anderer Art war der 1931 aus Heidelberg nach Berlin berufene Emil Lederer, geboren in Pilsen im Jahre 1882, der in München studiert und sich 1912 in Heidelberg habilitiert hatte. 1918/19 Mitglied der ersten Sozialisierungskommission und späterhin Leiter der volkswirtschaftlichen Abteilung der österreichischen Staatskommission für Sozialisierung, entfaltete Lederer als Herausgeber des »Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik« (seit 1922), dessen Schriftleitung er schon seit 1910 betreut hatte, eine intensive literarische Tätigkeit, in deren Mittelpunkt Fragen des Sozialismus, der sozialen Organisationen und der Sozialisierung standen; Mitherausgeber des Grundrisses der Sozialökonomik, in dem er die Beiträge über Konjunktur und Krisen, über Sozialversicherung und, mit Jakob Marschak zusammen, über Arbeiterschutz, über die Klassen auf dem Arbeitsmarkt und über den »neuen Mittelstand« schrieb, Beobachter der sozialen Bewegungen in Europa und im Fernen Osten, den er als Gastprofessor in Tokio von 1923—25 kennen gelernt hatte, und scharfer Kritiker des Kapitalismus (»Technischer Fortschritt und Arbeitslosigkeit«, 1931; Planwirtschaft, 1932) und des »sozialpsychischen Ha-
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bitus« seiner Gegenwart, wirkte Lederer als belebendes, meist oppositionelles Element im Lehrkörper der Berliner Fakultät, bis ihn der Hitlerstaat zur Emigration zwang. In den Vereinigten Staaten wirkte er bis zu seinem Tode (1939) an der von ihm mitbegründeten New School of Economic Research in New York als Soziologe und Sozialpolitiker; sein posthum erschienenes Buch über die Gefahren der »klassenlosen« Massengesellschaft bietet »eine ergreifende Darstellung einer artikulierten, von spontanen Kräften belebten Demokratie im Gegensatz zu den Vermassungstendenzen in der modernen Industriegesellschaft, auf die der Marxismus seine Hoffnungen setzt und die das Substrat der modernen Diktatur bilden«19. Mit dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise und der tiefgreifenden politischen Umwälzung, die sie heranführte, schien die Bezeichnung »Staats-, Kamerai- und Gewerbewissenschaften«, unter der die Vorlesungen, Übungen und Seminare auf dem Gebiet der Nationalökonomie und Soziologie im Rahmen der Philosophischen Fakultät noch immer angezeigt wurden, endgültig ad absurdum geführt; von nun an lautete die Bezeichnung »Staats- und Sozialwissenschaften«. Mit dem Wintersemester 1936/37 wurde das neue Fachgebiet darüber hinaus gänzlich aus der Philosophischen Fakultät ausgegliedert und mit der Juristischen Fakultät zur Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät vereinigt; die Berliner Universität schloß sich damit einer Entwicklung an, in der ihr die meisten anderen Hochschulen bereits vorangegangen waren. Im Lehrkörper hatten sich inzwischen tiefgreifende Veränderungen vollzogen; der Aderlaß, den die Machtergreifung Hitlers am deutschen Geist, an Kunst und Wissenschaft im allgemeinen und an den staatlich-politisch orientierten Disziplinen im besonderen bewirkte, ging auch an der Berliner Fakultät nicht vorüber. Im Sommersemester 1933 übertraf die Zahl der ausfallenden Vorlesungen und Übungen die derjenigen, die programmgemäß durchgeführt werden konnten; noch in dem folgenden Wintersemester mußte ein besonderer Nachtrag zum Vorlesungsverzeichnis herausgegeben werden, um mit den sich überstürzenden Veränderungen Schritt zu halten. Jahre vergingen, ehe es wieder zu einer gewissen Konsolidierung des akademischen Unterrichtsbetriebes kam; die Konzessionen, die dem Ungeist des National1 9 Heimann, E., Artikel Lederer, Emil, im Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. V I , 1959, S. 553.
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Sozialismus personaliter und im Inhalt der Vorlesungen und Übungen gemacht wurden, blieben jedoch in engen Grenzen, zumal die neu Berufenen sich nicht selten als Anhänger einer »inneren Emigration«, wenn nicht als aktive Widerstandskämpfer entpuppten. Das persönliche Schicksal von Jens Jessen, der am u . Dezember 1895 in dem heute zu Dänemark gehörigen Gutsbezirk Stoltelund (Amt Tönder) geboren wurde, stand ganz und gar im Zeichen der entscheidenden Eindrücke des ersten Weltkrieges. Achtzehnjährig zog Jessen 1914 ins Feld; als er 1917 als Verwundeter zum erstenmal eine Vorlesung von Bernhard Harms in Kiel besuchte, dessen Ruf als liberaler Politiker ihm bekannt war, mußte er »als Kriegsteilnehmer« erst »eine gewisse innere Ablehnung überwinden«, ehe die Persönlichkeit und die Vortragsweise Harms' ihre Wirkung auf ihn ausübten20. Auch als Jessen sich nach beendetem juristischen und volkswirtschaftlichem Studium und nach mehrjährigem Aufenthalt im europäischen und außereuropäischen Ausland 1927 in Göttingen habilitierte, fühlte er sich noch ganz als Angehöriger jener »Frontgeneration«, in deren Mentalität er die Voraussetzung für die Teilnahme an dem »scheinbar aussichtslosen« Kampf der Nationalsozialisten erblickte21. Der junge Privatdozent, dessen Kämpfernatur und angeborener Widerstandsgeist aus diesen Worten spricht, kehrte 1933 nach erfolgreicher Lehrtätigkeit in Göttingen an seine alte Bildungsstätte, die Universität Kiel zurück, wo er die Leitung des von Bernhard Harms vor zwei Jahrzehnten gegründeten »Instituts für Weltwirtschaft« übernahm; sein langer Aufenthalt in Übersee und die Erfahrungen aus seinen praktischen Jahren kamen ihm und dem Institut dabei ebenso zugute, wie seine früheren Arbeiten über Außenhandel und Weltwirtschaft22. Als Mitarbeiter an der vierten Auflage des »Wörterbuchs der Volkswirtschaft« entfaltete Jessen gleichzeitig eine umfangreiche literarische Tätigkeit; im dritten Band des Wörterbuches bestritt er mit den Artikeln Reichsfinanzen, Reparationen, Schutzzoll und Freihandel, Staat, Weltwirtschaft, Zölle und Zollwesen fast ein Siebentel 20
Jessen, J . , Das Lebenswerk von Bernhard Harms, Schmollers Jahrbuch, 64. Jahrg. 1940, S. 1. 21 Schmölders, G., In memoriam Jens Jessen, Schmollers Jahrbuch 1949 Heft 1, S. 3. 22 Die ökonomischen Grundlagen der panamerikanischen Idee. Schmollers Jahrb. Bd. 52 (1928); Artikel »Weltwirtschaft« im Wörterbuch der Volkswirtschaft, 4. Aufl. 1933.
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des gesamten Textes. Wohl im Zusammenhang mit den politischen Ereignissen des Erscheinungsjahres 1933 wurde das Stichwort »Sozialismus« in zwei Abschnitte »sozialistische Ideen und Lehren« aufgeteilt, von denen Jessen den zweiten über den Nationalsozialismus übernahm. So präsentierte der 37jährige Ordinarius hier neben seinen durchaus in Harms' Traditionen wurzelnden fachlichen Beiträgen unvermittelt ein leidenschaftliches Bekenntnis zu einer politischen Bewegung, die er vom Ausland her mehr nach ihrem Programm als nach ihrer wirklichen Entwicklung zu beurteilen geneigt war. Nur zu bald mußte er erkennen, wie wenig die Wirklichkeit dem Programm entsprach; schon in Kiel kam es zum ersten Konflikt mit den Elementen der »Erstarrung« und »Verbonzung«, vor denen Jessen die Bewegung warnen zu müssen geglaubt hatte. Seine Berufung nach Marburg wirkte fast wie eine Strafversetzung; aber sie vermochte den aktiven Widerstandsgeist Jessens nicht zu lähmen, der nach seiner Übersiedlung nach Berlin (1937) Gelegenheit zu voller Entfaltung fand. Ulrich von Hasseil rühmt den »klugen, echt nordmärkischen Jessen«, dem er die Verbindung mit dem Grafen Stauffenberg und anderen Männern des 20. Juli verdankte 23 . Jessen hatte während des Krieges durch seine Tätigkeit beim Generalquartiermeister Fühlung mit allen Hauptquartieren und drang unablässig in die Generale, Hitler das Gesetz des Handelns aus der Hand zu nehmen. Unter dem Tarnnamen »Nordmann« erscheint Jessen in der Geschichte der Widerstandsbewegung als einer der aktivsten Verschwörer vom 20. Juli 1944; das Scheitern dieses letzten, verzweifelten Versuchs, dem Rad des Schicksals in die Speichen zu greifen, ist der tragische Wendepunkt seines Kämpferlebens. »Am Vorabend des 20. Juli 1944 war Graf Stauffenberg mit den Hauptakteuren bei ihm gewesen, um die Pläne nochmals durchzusprechen« berichtet Wolf Ulrich von Hasseil24; das Tagebuch seines Bruders verzeichnet das Gespräch, in dem Jessen Jahre vorher die Technik des Attentats, das »diesen Verbrecher beseitigen« sollte, im einzelnen entworfen hatte 25 . Am 30. November 1944 wurde Jessen im Zuchthaus Plötzensee hingerichtet. Einer der Wenigen, die auf dem Höhepunkt ihrer Jahre und ihrer akademischen Laufbahn an die Alma Mater ihrer Studienzeit zurück23 24 26
Hassel, Ulrich, v., Vom anderen Deutschland, Zürich 1946, S. 340. Hassel, a. a. O., S. 359. a. a. O., S. 306.
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kehrten, war Carl Brinkmann (1885 in Tilsit geboren), der sich nach seiner Promotion in Berlin (1908) und Habilitation in Freiburg (1913) im Jahre 1919 nach Berlin umhabilitierte und hier zwei Jahre als Extraordinarius wirkte. Brinkmann übernahm anschließend einen ordentlichen Lehrstuhl an der Universität Heidelberg, den er, 20 Jahre später, mitten im zweiten Weltkrieg mit dem Berliner Ordinariat vertauschte (1942). Carl Brinkmanns besondere Begabung lag in seiner Vielseitigkeit, seinem enormen Gedächtnis und seiner brillanten Ausdruckskraft. Historiker von Rang (Weltpolitik und Weltwirtschaft im 19. Jahrhundert, 1921, Geschichte der USA, 1924, Englische Geschichte 1815 bis 1914, 1924, Wirtschafts- und Sozialgeschichte 1927), Nationalökonom und Soziologe (Gesellschaftslehre, 1925; Soziologische Theorie der Revolution, 1948; Wirtschaftsformen und Lebensformen, 1944; Wirtschaftstheorie 1948; Friedrich List, 1949) war Brinkmann zugleich ein Vorbild geistiger Disziplin; an sich selbst, aber auch an andere stellte er hohe Anforderungen. Das vielleicht »wichtigste Stück lebendig wachsender moderner Wissenschaft« sah er auf den Grenzgebieten zwischen den herkömmlichen Fächern, »wo die Möglichkeit neuer Forschungswege und bisweilen auch schon neuer Forschungsergebnisse durch Verknüpfung bisher getrennter Fragenbereiche aufleuchtet26«; auf diesem Gebiet liegen denn auch die besten Leistungen seines vielseitigen Wirkens, das, nach einem fruchtbaren Jahrzehnt in Tübingen, 1954 zu Ende ging. Während des zweiten Weltkrieges nahmen Erwin Wiskemann, geb. in Mühlhausen im Elsaß 1896, und Hans Weigmann, geb. in Kiel 1897, für kurze Zeit die verwaisten Ordinariate für Volkswirtschaftslehre wahr; Wiskemann, wie Jessen Frontkämpfer und Schwerkriegsverletzter des ersten Weltkrieges, starb schon 1941, Weigmann, der, aus einer Gelehrtenfamilie stammend, in Rostock besonders die Raumforschung entwickelt hatte, wird seit 1942 als Major an der Ostfront vermißt. Die Aufzählung der Hochschullehrer, die an der Universität Berlin die wirtschaftlichen Staatswissenschaften entwickelt und vertreten haben, wäre unvollständig, wollte man nicht neben den Erwähnten, die inzwischen von uns gegangen sind, auch der heute noch Lebenden {Hermann Bente, Friedrich Bülow, Constantin v. Dietze, Horst Jecht, 28
Brinkmann, C., Wirtschaftsformen u. Lebensformen, 1944, Vorrede.
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Günter Schmölders) und natürlich auch derer gedenken, die ihre wissenschaftliche und pädagogische Leistung wenigstens zeit- oder teilweise der Berliner Fakultät gewidmet haben, insbesondere der Gast- und Honorarprofessoren, der Privatdozenten und der Lehrbeauftragten aller dieser Jahre und Jahrzehnte. Stellvertretend für viele andere wäre unter diesen der Präsident des Statistischen Reichsamts Ernst Wagemann zu. nennen, der Gründer des Berliner Instituts für Konjunkturforschung; ebenso Bernhard Harms, der 1934 unter Aufrechterhaltung seines Kieler Ordinariats als Honorarprofessor in Berlin wirkte, und Johannes Popitz, der preußische Finanzminister mit seiner weitgespannten wissenschaftlichen Betätigung, die den Studierenden der Staatswissenschaften ebenso zugute kam wie den jungen Juristen. Erstaunlich groß ist die Zahl derjenigen, die ihre akademische Laufbahn mit der Habilitation und einigen Privatdozentensemestern in Berlin begonnen haben; dem alten akademischen Brauch entsprechend, Nachwuchskräfte nicht am Ort aufrücken zu lassen, wurden sie von hier aus an andere Universitäten berufen, deren Ruhm ihre spätere wissenschaftliche Leistung zugutekommt 27 . Unter Wagner habilitierte sich 1871 Lujo Brentano, der alsbald nach Breslau berufen wurde; über Straßburg, Wien und Leipzig ging Brentano später nach München, wo er die historisch-soziologische Methode weiterentwickelte und zu hohen Ehren brachte. Schmollers langjähriger Assistent Karl Ohlenberg, 1891, in Berlin habilitiert, wandte sich über Marburg und Greifswald nach Göttingen, wo er hochangesehen bis zu seinem Tode (1936) lebte und lehrte. Auch die akademische Laufbahn Alfred Webers nahm 1899 ihren Anfang mit der Habilitation in Berlin; 1904 wurde Weber nach Prag, 1907 nach Heidelberg berufen, wo er sein Lebenswerk schuf. 2 Jahre nach ihm habilitierte sich Christian Eckert, der spätere Mitbegründer und erste Rektor der Kölner Universität, in Berlin; 1902 Kurt Wiedenfeld, der über Köln und Halle auf den Leipziger Lehrstuhl gelangte. Die folgenden Jahre sind besonders nachwuchsträchtig; Robert Wilbrand (1904), Leopold von Wiese (1905), Arthur Spiethoff (1907), Waldemar Zimmermann (1907), Franz Oppen27 »In Berlin versammelten sich in diesen Jahren, altem Brauch gemäß, die Kandidaten des akademischen Lehramtes in immer wachsenden Scharen; wer sich aber habilitierte, mußte, u m vorwärts zu kommen, mehr noch als es bisher bereits Gewohnheit geworden, zunächst in die Fremde gehen — darunter eine Fülle bedeutender Männer, von denen wieder einzelne später zurückgekehrt sind« (Lenz, M., a. a. O. Bd. II, 1, S. 356.)
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heim (1909), August Skalweit (1910) und Adolf Günther (1910) erwarben in Berlin ihre venia legendi. Zwei weibliche Lehrkräfte unseres Faches traten von Berlin aus ihre akademische Laufbahn an, Herkners Assistentin Charlotte Leubuscher (1922) und Charlotte Lorenz (1927); auch Walter Eucken (1921), der Leipziger Statistiker Rudolph Meerwarth (1921) und Constantin v. Dietze (1922) haben sich in Berlin habilitiert. Humboldts Universitätsidee, die Wissenschaft in freier Entfaltung mit dem Leben der Nation und des Staates zu verbinden, hat nach alledem auf dem Fachgebiet der Staatswissenschaften weitgehend Erfüllung gefunden. Nach dem Königswort von 1807, der Staat müsse durch geistige Kräfte ersetzen, was er an physischen verloren habe, ist die Friedrich-Wilhelms-Universität ins Leben getreten; die Wirklichkeitsnähe und Weltoffenheit der Schrnollerschule, die nach der Reichsgründung für Jahrzehnte die Führung der deutschen Nationalökonomie übernahm, hat zu ihrem Teil zu diesem großangelegten Programm beigetragen. Ihre Ausstrahlung in die Neue Welt, wo die Schule des Institutionalismus Schmollersche Ansätze weitergebildet hat, und in die fruchtbaren Randgebiete zwischen Ökonomie und Soziologie, Sozialpsychologie und Geschichte wirkt heute in der neu aufsteigenden sozialökonomischen Verhaltensforschung fort, die sich ihrer Verpflichtung gegenüber der Berliner Tradition bewußt ist und das Erbe Schmollers, Wagners und Herkners, die Weite des Gesichtskreises von Sombart, Schumacher und Bernhard und das Andenken an Jessen gleichermaßen in hohen Ehren hält.
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AUS GESCHICHTE
UND
DER
IM A K T I E N W E S E N
PUBLIZITÄT
GEGENWART
I. Seitdem die Aktiennovelle von 1870 das Konzessionssystem durch das Normativsystem abgelöst hat, besteht die Pflicht der Aktiengesellschaft zur Publizität, zur »Offenlegung ihrer Verhältnisse«. Sie beschränkte sich zunächst auf die Veröffentlichung des Jahresabschlusses, der Jahres-Bilanz und -Gewinn- und Verlustrechnung. Damit wurde an Publizität wahrlich nur wenig gefordert; denn abgesehen davon, daß die Unterrichtung der Öffentlichkeit über die Verhältnisse der Gesellschaft Stückwerk sein muß, wenn sie allein durch den Jahresabschluß geschieht, mag dieser auch noch so strengen Regeln unterworfen sein: Hier kam hinzu, daß es Regeln für seine Aufstellung fast gar nicht gab, daß er in der Hauptsache den Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchhaltung zu gehorchen hatte. Alle Regeln zusammen aber spannten einen so weiten Rahmen, daß der freien Gestaltung des Jahresabschlusses in formeller und materieller Hinsicht ein ausgedehntes Feld gelassen wurde. Von ihm einen Inhalt zu fordern, der seiner Autorin, der Verwaltung der Aktiengesellschaft, selbst nützlich sein, darüber hinaus ihn aber auch zur Publizität möglichst geeignet machen konnte, davon war damals nicht die Rede. Obwohl die Publizität also nur durch ein Mittel ausgeübt zu werden brauchte, und dieses noch dazu unzulänglich war, sollte es die Kontrolle der Aktiengesellschaft ermöglichen. Wie wenig sie dieses Ziel erreichte und Aktionäre und Allgemeinheit vor Schaden zu schützen vermochte, wurde schon in den Gründerjahren offenbar. Die Lehren aus ihnen suchte die Aktiennovelle von 1884 zu ziehen: Sie erweiterte die Pflicht der Aktiengesellschaft zur Publizität, indem sie von ihr jährlich »einen den Vermögensstand und die Verhältnisse der Gesellschaft entwickelnden Bericht« forderte. Doch erst seit 1900 brauchte
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er zum Handelsregister, nur der Hauptniederlassung, eingereicht zu werden. Erst damit wurde ihm Bedeutung für die Öffentlichkeit zuerkannt. Vorher konnte er für die Publizität nur beschränkt wirken, weil von seiner Gesellschaft lediglich verlangt wurde, daß sie ihn zwei Wochen vor dem Tage der Generalversammlung in ihrem »Geschäftsraum« zur Einsicht der Aktionäre auslegte, wenn sie ihn nicht an ihre Aktionäre verschickte. Die Informationen aber, die der Bericht ihnen zutrug, waren oft genug von äußerster Dürftigkeit. Es hat bis zur Reform von 1931 nicht wenige Gesellschaften gegeben, die ihre Pflicht zur Berichterstattung mit wenigen Zeilen leeren Inhaltes abtaten. Jahresabschluß und Geschäftsbericht werden bis heute für die hauptsächlichen Mittel zur Kontrolle durch Publizität gehalten. Alle Bemühungen, den Jahresabschluß zu bessern, haben in erster Linie dem Ziele gegolten, ihn für die Kontrolle immer brauchbarer zu machen. So geschah es durch die Aktiennovelle von 1931 und durch das Aktiengesetz von 1937. Durch sie wurden Jahresabschluß und Geschäftsbericht, wiederum als Frucht der Einsicht, daß sie ihre Aufgabe für die Publizität schlecht erfüllt hatten, als Mittel der Kontrolle erheblich geschärft. Und was an ihnen zu wünschen übrig geblieben ist oder was die Entwicklung der Wirtschaft mehr als bisher von ihnen verlangen zu müssen glaubt, soll die im Gange befindliche Reform des Aktienwesens bringen. II. Die Notwendigkeit der Kontrolle durch Publizität ergibt sich aus der Ordnung, die der Aktiengesellschaft von Anfang an mitgegeben worden ist. Sie ist als die Rechtsform der Unternehmen gedacht, bei denen die Aufbringung des Kapitals einerseits und die Leitung des mit dem Kapital ins Leben gerufenen Unternehmens andererseits in der Regel getrennt von einander durch zwei verschiedene Gruppen von Personen geschieht. Die erste Aufgabe ist die Sache einer voraussichtlich großen Zahl von Aktionären, die zweite ist wahrzunehmen durch den Vorstand und den ihn beaufsichtigenden Aufsichtsrat. Wenn die Beschaffung des Kapitals gelingen soll, dann müssen aber die Kapitalgeber die Möglichkeit erhalten, die Geschäftsführung des Vorstandes und Aufsichtsrates zu kontrollieren.
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Die Befugnis hierzu erhielt die Generalversammlung. Sie wurde denn auch mit großer Macht ausgestattet. Doch kann sie diese nur gebrauchen, wenn die Verwaltung ihr durch Publizität die Objekte der Kontrolle liefert, wennVorstand undAufsichtsrat dieAktionäre in gehörigem Maße über Lage und Entwicklung des Unternehmens unterrichten. Die Publizität als Mittel der Kontrolle wird von den Unternehmungen gewöhnlich als eine unangenehme Pflicht empfunden. Es wird von ihr behauptet, sie erschwere die Geschäfte von Vorstand und Aufsichtsrat. Die Kraft, die für sie und erst recht dafür eingesetzt werden müsse, um ihre Nachteile aufzuheben, sei unvergleichlich größer als der Vorteil, den sie für den Aktionär bringe. Dabei wird aber nicht bedacht, daß die Publizität für die Aktiengesellschaften ein existenziell notwendiges Übel ist. Es entsteht unabwendbar aus der Ordnung der Aktiengesellschaft. Sie verlangt Kontrolle, die nicht anders als eben durch Publizität geschehen kann. Die so geübte Kontrolle soll erweisen, ob die Aktiengesellschaft auf betriebswirtschaftlich richtigen Wegen danach gestrebt hat, ihre Zwecke zu erfüllen. Andere, sozusagen höhere Ziele der Kontrolle, erhoben sich erst mit der Zeit und zum Teil sehr viel später, als die in ihren Grundzügen noch heute bestehende Ordnung der Aktiengesellschaft geschaffen worden ist. Ich will nicht behaupten, daß die Kontrolle, zu der die Publizität befähigt, allein imstande wäre, eine Aktiengesellschaft zum Aufstieg zu führen, den Niedergang von ihr abzuwenden, sie sogar als ein nützliches Glied in die Gesamtwirtschaft einzuordnen. Aber es ist sicher, daß entscheidende Ursachen, etwa des Verfalls, die in menschlichen Unzulänglichkeiten liegen, durch ein gehöriges Maß an Publizität erkannt werden können, ehe sie verhängnisvoll geworden sind. Wer an die Ereignisse denkt, die bei uns die Krisis Ende der 20er Jahre eingeleite haben, und wer sich die Gründe für den Zusammenbruch einiger bedeutender Unternehmen in der jüngsten Vergangenheit vergegenwärtigt, wird zugeben, daß schon der Zwang zu ausreichender Publizität die Leitung einer Aktiengesellschaft antreiben kann, ihrer Tätigkeit mit mehr Vorsicht und Verantwortung, vielleicht auch mit dem Einsatz größerer Fähigkeit sich hinzugeben, als es von denen geschehen ist, die ihre Unternehmen zum Ruin geführt haben. Es ist kein Zufall, daß sie, wie an ihnen nachgewiesen werden kann, Verächter einer recht geübten Publizität waren.
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Aber Publizität wird gefordert nicht nur, damit sie Kontrolle ermögliche. Sie hat immer, und das gilt auch heute noch, in den Dienst der Kapitallenkung gestellt werden können; denn das, was sie anzubieten hat, vermag ein wichtiges Stück in den Überlegungen über den Wert der Anteile einer Gesellschaft zu sein. Aber die gelegentlich geäußerte Ansicht, Publizität sei erforderlich, damit die Spekulation von dem Charakter des Glückspiels befreit, ihr Ausgang vielmehr berechenbar gemacht würde, ist der Beachtung nicht wert. Diese Aufgabe der Publizität zumessen zu wollen, ist unrealistisch, ganz abgesehen davon, daß sie aus wichtigen Gründen überhaupt keine Berechtigung hat. Jahresabschluß und Geschäftsbericht sind aber nicht allein für die Aktionäre der Gesellschaft bestimmt. Sie sollen der Unterrichtung auch der Öffentlichkeit schlechthin dienen. Hiervon ist kein Mittel der Publizität ausgenommen. Es ist auch der Aktiengesellschaft nicht erlaubt, sich gegen die etwaige Ausnutzung der Publizität durch Nichtaktionäre zu wenden, auch dann nicht, wenn sie zu Zwecken geschieht, die ihren eigenen Interessen zuwider sind. Diese Zwecke können sich erstrecken von der reinen Erkenntnis durch die Wissenschaft bis zu Folgerungen, die aus der Publizität für die Wirtschaftspolitik gezogen werden. Es ist nicht etwa nur eine nicht abzuwendende Begleiterscheinung der Publizität der Aktiengesellschaft, daß sie über die Aktionäre hinaus dringt, sondern es ist, mit der Zeit immer mehr, geradezu ihre Bestimmung, in die Öffentlichkeit zu wirken. Dies wird neuerdings gelegentlich heftig bestritten. Es fehlt nicht an Versuchen, die darauf ausgehen, die Publizität einzudämmen, gerade mit der Behauptung, es habe kein anderer Anspruch auf sie als der Aktionär. Daher sei ihr Maß zu bestimmen nur durch die Rücksichten auf die augenblicklichen Aktionäre. Womit die die Herrschaft ausübenden Aktionäre gemeint sind. Von ihrem Standpunkt aus ist es verständlich, daß sie den Kampf um die Publizität mit diesem Ziele führen, daß sie die Publizität als eine häusüche Angelegenheit angesehen wissen möchten; denn die Erfahrung hat sie gelehrt, daß derjenige, welcher an der Publizität beteiligt wird, auch Teilnahme an der Macht der Aktiengesellschaft bekommt. Publizität, die mehr ist als Unterrichtung nur der (Minderheits-)Aktionäre, macht damit die Öffentlichkeit sozusagen zum Organ der Aktiengesellschaft. Es schaltet sich von draußen in ihre G II
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Angelegenheiten ein und es vermag so die Herrschaft, die durch die Zahl der Stimmen ausgeübt wird, zu beschränken oder sie gar zu brechen, oder sich in Pläne und Entscheidungen der Verwaltung vielleicht mit stärkerer Wirkung einzumischen, als es mit legalen Stimmen in der Hauptversammlung möglich wäre. Wie einfach aber ist es, in ihr sich Gehör, Geltung und Gefolge zu verschaffen, wenn durch Publizität das breite Interesse an den Angelegenheiten der Gesellschaft einmal geweckt ist I Dann aber wird die Gesellschaft erst recht vervielfältigte öffentliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Die durch Publizität genährte Öffentlichkeit ist eine Macht über die Aktiengesellschaft, die stärker sein kann als eine Summe von Stimmen der Aktionäre. Daher die Kämpfe, die bei jeder Reform des Aktienwesens um das Maß ihrer Publizität geführt werden zwischen den Herrschern der Aktiengesellschaften und der Öffentlichkeit, aber auch zwischen jenen und den übrigen, zur Ohnmacht umso mehr verurteilten Aktionären, je spärlicher die Pflicht der Gesellschaft zur Publizität ist. Auch Kämpfe, die unter einer anderen Flagge ausgefochten werden, gelten oft genug der Publizität. Woraus erst recht auf die Bedeutung sich schließen läßt, die ihr zugemessen wird. Da die Herrscher der Aktiengesellschaft eines Rechtes auf Unterrichtung nicht bedürfen, weil sie jede gewünschte Information sich selbst beschaffen können, haben sie nicht das geringste Interesse an Publizität. Ihr Streben geht eher dahin, Publizität zu vermeiden als sie ausüben zu lassen, weil sie zu Einfluß auf die Gesellschaft, und sogar zu einem für sie nicht ungefährlichen, führen kann. Es ist noch dazu ein Einfluß, der sich nicht auf Kapital gründet und daher jeglicher Verantwortung ledig ist. Wenn die Herrscher sich zur Publizität mit Maßen bereit finden, dann deshalb, weil sie ihr nicht entgehen können, auch wenn sie allein für die Aktionäre bestimmt wäre; denn Information kann dem nicht verweigert werden, der Stimmrecht hat. Sie ist die Voraussetzung dafür, daß der Berechtigte es auf einem Urteil gründen, also in sinnvoller Weise üben kann. So vermag die Publizität die Ungleichheit in den Herrschaftsverhältnissen abzuschleifen, die hervorgerufen wird zwischen Gruppen von Aktionären durch die verschiedene Zahl der ihnen zur Seite stehenden Stimmen. Sie schwächt ein Mehrheitsregiment, sie verhütet, daß das demokratische Prinzip ausgeschaltet wird, so lange sie
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nicht unter ein solches Maß sinkt, daß der Aktionär eine Sache nicht zu beurteilen vermag, über die seine Stimme verlangt wird. Dadurch, daß die Publizität die Öffentlichkeit möglicherweise zu einem Quasi-Organ der Aktiengesellschaft erhebt, und der Öffentlichkeit den Weg zur Teilhabe an ihrer Verwaltung erschließt, kann die »Masse« in der Aktiengesellschaft, wenn auch nicht unmittelbar und nicht zur Herrschaft, aber doch mittelbar wenigstens zu Einfluß gelangen. Dieser braucht nicht notwendig die ungünstigen Wirkungen auf die Aktiengesellschaft zu zeitigen, die ihm gewöhnlich zugeschrieben wird, wenn er solchen Ursprungs ist; denn er fördert vielleicht Bestrebungen der Minderheit der Aktionäre, die der Aktiengesellschaft und sogar der Gesamtheit zum Nutzen gereichen. Aber es kann auch die durch die Publizität in Bewegung gebrachte Öffentlichkeit im Gegenteil der Gesellschaft nicht nur unangenehm, sondern sogar gefährlich werden. So erwünscht die Teilnahme der Öffentlichkeit an den Geschicken der Aktiengesellschaften auch sein mag, diese Überlegungen zeigen, wie notwendig es ist, den Forderungen der einen Seite nach Ausdehnung, der anderen Seite nach Einschränkung oder Begrenzung der Publizität vorsichtig zu begegnen, ohne Leidenschaft Klarheit über ihre Wirkungen auf Unternehmen und Gesamtheit zu schaffen und der Publizität ein solches Maß zu geben, wie es — in erster Linie — der Gesamtheit am nützlichsten ist. Scheu vor der Publizität ist gewöhnlich nicht angebracht; allein deshalb nicht, weil die Publizität die unserer Wirtschaftsordnimg widersprechende Tatsache bei vielen Aktiengesellschaften einigermaßen ins rechte Lot bringt, daß ihre Eigentümer sich ohne rechten Grund der Vollhaftung entziehen. Bei diesen Aktiengesellschaften ist die Publizität ein Teil des Entgeltes, das ihre Eigentümer für ihre beschränkte Haftung zahlen. Die Gesellschafter der GmbH, die Publizität freiwillig auf sich nehmen (ihre Zahl wächst langsam an), scheinen sich bewußt zu sein, daß sie diesen Preis wegen eines Vorteils schuldig sind, der ihnen zwar von Rechts wegen, nicht aber wirtschaftlich zukommt. Wenn die Publizität als eine Verpflichtung angesehen wird, die die Aktiengesellschaft nicht allein ihren Aktionären gegenüber zu erfüllen hat, sondern wenn das Recht auf Publizität der Öffentlichkeit zuerkannt wird, so ist das Ausdruck der Wandlung, die die Stellung der Unternehmen im Bewußtsein der Öffentlichkeit erfahren hat. 12*
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Sie gilt besonders den Unternehmen, die in die Rechtsform der Aktiengesellschaft gekleidet sind. Überschreitet ein Unternehmen eine gewisse Größe, dann wird es herausgehoben aus der Sphäre seiner Eigentümer und zur Sache der Gesamtheit gemacht. Nicht daß dadurch das private Eigentum an ihm angetastet werden sollte. Aber dieVerfügung darüber, wie es zu leben und zu wirken hat, wird soweit von der Gesamtheit mitbeansprucht, wie es notwendig scheint, um die Existenz der Menschen zu sichern, deren Schicksal mit ihm verbunden ist. Die etwa 2600 Unternehmen, die Aktiengesellschaften sind, machen zwar eine geringe Zahl aus gegen die 80000 Offenen Handelsgesellschaften und Kommanditgesellschaften. Aber in dieser kleinen Zahl von Aktiengesellschaften ist ein beträchtlicher Teil des volkswirtschaftlichen Vermögens eingesetzt. Sein Wert läßt sich nicht genau angeben. Aus der Bilanzstatistik für die Aktiengesellschaften kann jedoch geschlossen werden, daß es mehr als 100 Milliarden DM ausmacht. Und über 2 Millionen Menschen waren bereits bei der Betriebszählung 1950 in den Aktiengesellschaften beschäftigt. Heute werden es wahrscheinlich an die 2 % Millionen sein. Das sind 1/6 bis 1/ aller in der Bundesrepublik Beschäftigten. 7 Das Interesse der Öffentlichkeit richtet sich gerade auf die Aktiengesellschaften, nicht etwa ihrer Rechtsform wegen, sondern weil die größten Unternehmen Aktiengesellschaften sind. Es ist aber keineswegs auf die Aktiengesellschaften beschränkt. Immer mehr wendet es sich Unternehmen auch anderer Rechtsformen zu, und immer deutlicher ist zu erkennen, daß die Zeit kommen wird, in der Unternehmen jeglicher Rechtsform bei gewissen Voraussetzungen unter die Pflicht der Publizität gestellt werden. In den Diskussionen über die Publizität allein der Aktiengesellschaften wird es gewöhnlich für selbstverständlich gehalten, daß sie in eine für alle Aktiengesellschaften gleichmäßig geltende Form gefaßt werden müsse. Dabei werden aber die Unterschiede außer acht gelassen, die das Leben bei den Aktiengesellschaften geschaffen hat. Diese Unterschiede müssen in der Publizität zum Ausdruck kommen. Sonst besteht die Gefahr, daß die Publizität ihre Zwecke nicht erfüllt, weil sie den einen Aktiengesellschaften zu wenig an Information abverlangt, den anderen eine Bürde an Publizität auferlegt, die in keinem Verhältnis zum Nutzen steht, den Aktionäre und Öffentlichkeit aus ihr ziehen können.
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Wer das rechte Maß der Publizität einer Aktiengesellschaft finden will, darf heute nicht mehr jene Aktiengesellschaft Muster sein lassen, der der Gesetzgeber vor langer Zeit ihr Wesen aufgedrückt hat. In ihr sind den Aktionären gleiche Rechte und Pflichten gegeben und die Befugnisse ihrer Organe klar abgegrenzt; ihr Einfluß auf die Gesellschaft, die Macht, mit der sie sich zur Geltung bringen können, sind nach dem Gewicht ihrer durch ihre Kapitaleinlage ausgedrückte Stimmenzahl festgelegt und für jeden Aktionär zu erkennen, auch für den, der nicht zu dem Kreise jener Auserwählten gehört, die der Aktiengesellschaft ihre Verfassung gegeben haben und die wichtigsten Entscheidungen für sich beanspruchen. E s ist Hans Planitz gewesen, der einige Jahre nach dem ersten Weltkrieg hierauf aufmerksam gemacht hat. E r beklagt 1 als eine Krankheit des »innersten Kernes« des Aktienrechtes die »eigentümliche Scheidung von Schein und Wirklichkeit zwischen dem geltenden Aktiengesetz und der Praxis der A.-G.« (S. 3). Sie war hervorgerufen durch das »Machtstreben der Verwaltung«. Der Aktionär, ohnehin wegen der lockeren Beziehung zu seinem Unternehmen in einer ungünstigen Stellung, und erst recht geschwächt durch die um so engere Bindung der Leiter an das Unternehmen, widersetzte sich nicht dem Machtstreben der Verwaltung, besonders, wenn seine Aktie ihm nicht Anlage-, sondern Spekulationspapier war. So kam es, daß nicht, wie es dem Gesetz entsprochen hätte, die Verwaltung von der Generalversammlung, sondern umgekehrt, »die Generalversammlung von der Verwaltung beherrscht« wurde (S. 9). Die Apathie des Aktionärs kam der Verwaltung aber am meisten dadurch zu Gute, daß die Banken mit Hilfe der ihnen durch die Deponentenaktien zuwachsenden Macht Verwaltungen einsetzten und, wenn sie mit ihr auch nicht ihre eigene Sache vollziehen ließen, sie die Macht der Verwaltung doch stützen konnten. Aber Macht ist den Verwaltungen erst recht zugewachsen, nachdem diese Schäden im Aktienwesen längst offenkundig geworden waren. E s geschah in der Zeit nach der großen Inflation, als die Lehre vom »Unternehmen an sich«, jene Lehre, die Walter Rathenau bereits 1917, wenn auch nicht unter diesem Namen, verkündet hatte, zur Wirkung kam. Sie gibt den Interessen der Gesellschaft den unbe1
Planitz, Hans, Die Stimmrechtsaktie, Leipzig 1922.
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dingten Vorrang vor denen ihrer Eigentümer; mit ihr kann die Verwaltung alles wohlbegründen, womit sie ihre Herrschaft sichert und ausdehnt: Durch Bilanzpolitik, durch Finanzierung, insbesondere Selbstfinanzierung, durch Ausweitung ihres Einflusses auf andere Unternehmen. Sie enthebt die Verwaltung der Notwendigkeit zu prüfen, ob ihre Ziele auch die Gesamtwirtschaft fördern, weil es selbstverständlich ist; denn das, was dem Unternehmen nutzt, frommt nach dieser Lehre auch der Gesamtwirtschaft. Diese Lehre hat nachweisbar auch die Auffassung über das Maß dessen beeinflußt, was die Aktiengesellschaften ihren Aktionären und der Öffentlichkeit an Publizität schuldig sind. Von denen, die ihr anhängen, wird geklagt über das sich ständig steigernde Verlangen nach Publizität, es wird der Presse daran die Schuld gegeben, es wird vor mehr Publizität gewarnt, weil sie nur um den Preis einer Schädigung der Gesellschaft und der gesamten Wirtschaft gewährt werden könne. Seitdem 1937 die Ordnung des Aktienwesens der Wirklichkeit insoweit angepaßt worden ist, als die Herrschaft von Vorstand und Aufsichtsrat auf Kosten der Hauptversammlung zum Gesetz erhoben und das Depotstimmrecht nicht angetastet wurde, hat das ursprüngliche Bild der Aktiengesellschaft sich immer mehr verzerrt. Es zeigt sich besonders darin, daß die Verflechtung von Unternehmungen heute ein Ausmaß wie nie zuvor hat. Etwa Zweidrittel des Kapitals der Aktiengesellschaften befanden sich Ende 1958 im Schachteloder Dauerbesitz anderer Aktiengesellschaften. Ein großer Teil dieser Aktiengesellschaften ist wirtschaftlich eine Personen- oder sogar Einzelunternehmung. »Die dem Einfluß auf die Verwaltung dienenden Beteiligungen (habe)«, so stellt die amtliche Statistik für 1956 fest, »das Ubergewicht gegenüber dem Kapitalanteil der freien Aktionäre und. . . dieses Übergewicht (ist) im Vergleich zur Vorkriegszeit noch gewachsen«. III. Die Aktiengesellschaften der Gegenwart weisen alles andere als eine einheitliche Struktur auf. Sie sind bis auf ihren Kern so verschieden voneinander, daß die Vielheit ihres Baues geradezu eine Seite ihres Wesens geworden ist.
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Wer sie zur Richtschnur der Publizität machen, nach ihr die Pflicht zur Publizität bemessen will, muß Typen bilden. Diese brauchen nicht allgemeine Geltung zu haben; erforderlich ist nur, daß sie für den Zweck geeignet sind, der ihnen hier zugedacht ist: Nach ihnen soll das Maß an Publizität richtig bestimmt werden können, das sie leisten müssen. E s gibt die Aktiengesellschaften, die die Merkmale dieser Rechtsform der Unternehmung rein an sich tragen. Bei ihnen liegen das Eigentum am Vermögen der Gesellschaft und die Leitung ihrer Geschäfte in den Händen verschiedener Personen; die Zahl der Aktionäre ist nur so groß, daß sie durch die Hauptversammlung ihre Gesellschaft, und daß die Mitglieder des Aufsichtsfates ihres Vertrauens den Vorstand kontrollieren können. Es gibt ferner die »personenbezogenen« Gesellschaften. Sie sind durch die Änderung des Körperschaftssteuertarifs (§ 19 KStG) geschaffen und im »Gesetz zur Änderung steuerlicher Vorschriften auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und Ertrag und des Verfahrensrechts« vom 18. Juli 1958 (BGBl. 1 1 9 5 8 S. 473) beschrieben worden. (Das bei der letzten Veranlagung zur Vermögensteuer zugrunde gelegte Vermögen der Gesellschaft darf fünf Millionen DM nicht übersteigen; seit Beginn des Wirtschaftsjahres müssen ununterbrochen folgende drei Voraussetzungen gegeben sein: Die Anteile der Gesellschaft müssen mindestens zu 76 v. H. des Stammkapitals natürlichen Personen gehören; die Aktien, die auf den Namen lauten müssen, dürfen nicht zum Börsenhandel oder zum Handel im geregelten Freiverkehr zugelassen sein; die Nennwerte der zum Betriebsvermögen gehörenden Beteiligungen dürfen insgesamt das Nennkapital nicht übersteigen.) Ein ähnlicher T y p ergibt sich aus den Bestimmungen des § 19(5) des Gesetzes über die Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln und über die Gewinn- und Verlustrechnung vom 23. Dezember 1959 (BGBl. I 1959 S. 789). (Am Abschlußstichtag dürfen keine Aktien der Gesellschaft an einer deutschen Börse zum amtlichen Handel oder zum Handel im geregelten Freiverkehr zugelassen, auch nicht die Zulassung von Aktien zum amtlichen Handel an einer deutschen Börse beantragt sein; die Bilanzsumme übersteigt nicht drei Millionen DM; oder die Gesellschaft ist eine Familiengesellschaft und die Bilanzsumme übersteigt nicht zehn Millionen DM; »als Familiengesellschaften gelten solche Aktien-
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gesellschaften, deren Aktionär eine einzelne natürliche Person ist oder deren Aktionäre natürliche Personen sind, die untereinander im Sinne des § 10 Nr. 2 bis 5 des Steueranpassungsgesetzes vom 16. Oktober 1934 — RGBl. I 1934 S. 925 — verwandt oder verschwägert sind«). Es soll weiter unterschieden werden die »Publikumsaktiengesellschaft«. Sie hat eine Zahl von Aktionären, die viele Tausend beträgt, ja in die Hunderttausend gehen kann. Ihr bilanzielles Eigenkapital ist entsprechend groß. Das tatsächliche Vermögen vieler von ihnen überschreitet erheblich das bilanzielle (Eigenkapital + Fremdkapital) Vermögen. Bei diesem Typ besteht für den einzelnen Aktionär nicht die Möglichkeit der unmittelbaren Information, der Kontrolle und der Einwirkung auf die Geschäftsführung; es sei denn, er gehöre dem Aufsichtsrat an. Ebensowenig pflegt er Einfluß zu haben auf die Zusammensetzung des Aufsichtsrates. Ob seine Stimme in der Hauptversammlung durchdringt, ist oft zweifelhaft. Gelegentlich hat sich gezeigt, daß er selbst dann kein Gewicht hat, wenn er über einen beträchtlichen Teil des Aktienkapitals verfügt. Und das Wort »Verbunden werden auch die Schwachen mächtig« gilt für das Aktienwesen keineswegs immer, wenn auch der Minderheit gewisse Rechte zugestanden sind. Schließlich gibt es den Typ, der das Wesen der reinen Aktiengesellschaft am meisten verzerrt: Die mit anderen Unternehmen verflochtene Aktiengesellschaft. Sie übt die Herrschaft über diese anderen Unternehmungen allein aus, oder sie teilt sich in sie mit wenigen anderen. Die anderen Unternehmen, Herrscher oder Beherrschte, können Aktiengesellschaften sein, aber auch sonstige Rechtsformen haben. Herrschaft bedeutet alleinige oder unumstößliche Macht für Besetzung und Funktion der Organe der Gesellschaft mit den Wirkungen hiervon auf alle ihre Entscheidungen, mögen sie die nahe oder weite Zukunft des Unternehmens gestalten; Herrschaft bedeutet auch, sich allein unmittelbare und sichere Informationen zu verschaffen über Stand und Verhältnisse der Gesellschaft und allein über das Maß der Publizität zu bestimmen. Der oder die wenigen Herrscher holen sich das Kapital, dessen sie für die Beherrschung der anderen Unternehmen bedürfen, aus einer großen Zahl von Quellen. Dadurch ist die Gesellschaft, von der aus sie Herrschaft üben, Publikumsaktiengesellschaft. Von dem Kapital dieser
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wenden sie jedem ihrer Herrschaftsbereiche oft nur soviel zu, wie erforderlich ist, damit ihre Herrschaft dort gerade noch gesichert bleibt. Um so mehr Unternehmen können sie sich mit dem aufgebrachten Kapital untertänig machen. Wie soll nun das Maß an Publizität bestimmt werden, das jeder dieser Typen von Aktiengesellschaft zu leisten hat? Es soll sich richten nach öffentlichem Interesse, das die Aktiengesellschaft beansprucht. Je geringer es an ihr ist, um so weniger Publizität braucht ihr abverlangt zu werden; je stärker es ist, um so größerem Anspruch an Publizität muß sie genügen. Aber woraus wird die Forderung hergeleitet, daß die Publizität der Aktiengesellschaft auf öffentliches Interesse auszurichten ist? Sie kann nicht etwa nur mit der Behauptung begründet werden, allein so vermöge die Publizität dem Geiste unseres Zeitalters zu entsprechen, und ihm müsse Tribut gezollt werden. Das wäre keine sachliche Rechtfertigung der Forderung, und daher ein untauglicher Versuch, sie zu stützen. Überdies träfe es nicht zu; denn schon in seiner Entscheidung vom 24. Oktober 1905 (RGSt. Bd. 38, S. 199) hat das Reichsgericht erklärt, daß die Organe der Aktiengesellschaften die ihnen auferlegten Vorschriften über Bekanntgaben in den Bilanzen und Geschäftsberichten »im öffentlichen Interesse« zu befolgen haben. Wir machen uns erst recht nicht das Wort von den »anonymen Mächten« zu eigen und fordern deshalb von den Aktiengesellschaften Publizität, die ein öffentliches Interesse beachtet. Jenes Wort soll sagen: Die Struktur der Aktiengesellschaft ermöglicht es ihren Eigentümern oder auch nur einem Teil von ihnen, durch Wahl der Firma, Strohmännertum, begrenzte Haftung, Mobilität der Anteile und auf noch anderen Wegen sich hinter ihrer Aktiengesellschaft zu verbergen und mit einem verhältnismäßig bescheidenen Risiko für ihre Person und ihr Vermögen aus dieser Stellung heraus zum Nachteil der Allgemeinheit zu handeln, ohne daß ihr Tun zur Kenntnis der Öffentlichkeit gelangte und sie zur Rechenschaft darüber gezogen werden könnten. Berechtigt ist in unserer Wirtschaftsordnung die Forderung, daß das Maß der Publizität sich nach einem Öffentlichen Interesse zu richten hat, wenn es gilt, durch die Publizität »legitime Interessen«2 der * Rudolf Reinhardt hat in seiner an Gedanken und Material reichen Studie über »Privates Unternehmen und Öffentliches Interesse« — Festschrift für
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Gesamtheit wahrzunehmen, die höher stehen als die privaten Interessen der Aktiengesellschaft oder ihrer Aktionäre, sei es aller, sei es eines Teiles von ihnen. Daß bei den Aktiengesellschaften Interessen der Gesamtheit auf dem Spiele stehen, die zwar nicht allein, aber am einfachsten und wirksam durch Publizität 3 gewahrt werden, kann nicht zweifelhaft sein: Gerade die Unternehmungen in der Rechtsform der Aktiengesellschaft sind die Arbeitsstätten und damit die Einkommensquellen eines großen Teiles der in der Volkswirtschaft beschäftigten Menschen. Die Aktiengesellschaften gehören unmittelbar und mittelbar zu den stärksten Stützen der Haushalte der öffentlichen Körperschaften. Deshalb bilden sie die Grundlage der Existenz vieler Menschen, die nicht bei ihnen in Brot stehen. Es sind nicht nur tätige Menschen, die anderswo Entgelt für ihre Arbeit beziehen, sondern auch solche, die nicht arbeitsfähig sind. Die Aktiengesellschaften sind die Stellen, denen sich das in der Volkswirtschaft gebildete Kapital zu einem guten Teil und, man darf sagen, besonders willig zuwendet. Wer ihr Gläubiger ist und wer zu den Aktionären gehört, die an der Verwaltung der Gesellschaft nicht teilhaben, würde ohne ausreichende Publizität sein Gut gleichsam mit verbundenen Augen ihr anvertrauen, ohne daß es ihm möglich wäre, durch Kontrolle derjenigen rechtzeitig sein Risiko zu erkennen und zu beschränken, die mit seinem Gute wirtschaften. Der Verlust des Gutes aber ist ein Schaden sowohl des einzelnen Kapitalgebers wie der gesamten Volkswirtschaft. Interessen der Gesamtheit verlangen aber nicht nur, daß »Lage und Verhältnisse« der Aktiengesellschaften aus ihrer Publizität beurteilt werden können; durch ihre Publizität soll es auch möglich sein zu erkennen, ob sie sich in die geltende Wirtschaftsordnung einfügen, ob sie sich als Glieder der Gesamtwirtschaft bewähren, ob ihre Leiter die Regeln dieser Ordnung beachten oder ob sie die Ordnung stören, etwa durch Verfälschung des Wettbewerbs oder durch eine Ausdehnung ihrer Macht, die für die Gesamtwirtschaft schädlich A. Hueck, München und Berlin, 1959, S. 439—457 zu dieser Frage bedeutsame Ausführungen gemacht. Sie räumen mit den verschwommenen Vorstellungen auf, die gewöhnlich darüber herrschen, was unter »öffentliches Interesse« zu verstehen sei. 3
ebenda S. 449.
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ist. Der Anspruch darauf, daß die Publizität öffentliches Interesse wahrt, ist um so mehr berechtigt, als die Geschichte lehrt, daß, wenn gerade die bedeutendsten Aktiengesellschaften Schiffbruch erleiden, die Gesamtheit es ist, die für sie unmittelbar oder mittelbar zu zahlen hat, bis der letzte Schaden ausgemerzt ist. Nicht aus einer Laune derer heraus, die über diesen Weg entscheiden, oder deshalb, weil sie den gefallenen Größen wohlwollten, sondern weil es einen andern Weg nicht gibt, auf dem die Ordnung sich wiederherstellen läßt. Die Meinung könnte aufkommen, es werde die Sozialisierung der Unternehmungen eingeleitet, wenn die Aktiengesellschaften gehalten werden, bei ihrer Publizität öffentliches Interesse zu berücksichtigen. Das Gegenteil ist richtig: Nichts ist geeigneter, schon dem Gedanken an die Sozialisierung der Unternehmen gewisser Wirtschaftszweige zu wehren, als sie zu soviel Publizität zu veranlassen, wie nötig ist, damit die Öffentlichkeit an ihrem Geschick lebendigen Anteil nehmen und gewiß sein kann, daß, bei ihnen selbst und in ihren Bezirken, nicht gegen die Gesamtheit gehandelt wird. Wenn bei Erfüllung der Publizitätspflichten ein Öffentliches Interesse gewahrt wird, so ist damit die Lehre vom »Unternehmen an sich« überwunden. Aber daraus lassen sich an die Publizität der Aktiengesellschaften nicht Forderungen herleiten, die ins Uferlose gehen. Vielmehr sind »die einander widersprechenden Interessen zu einem angemessenen Ausgleich zu führen«4. Damit dies geschehen kann, ist es notwendig, jeden Fall für sich zu »werten« und »abzuwägen«. Kehren wir nun zurück zu den Typen von Aktiengesellschaften, die wir gebildet haben, um von jeder Aktiengesellschaft die ihr gemäße Publizität fordern zu können. Selbstverständlich ist, daß ein Typ weder seine schuldige Publizität schlechthin fest umgrenzt, noch weniger, daß er ein bestimmtes Maß von öffentlichem Interesse bei seiner Publizität zu wahren habe. Beides richtet sich nicht, wie gelegentlich behauptet worden ist, nach der Höhe des Grundkapitals. Das Grundkapital vermittelt nicht einmal einen Begriff von der verhältnismäßigen Bedeutung der wirtschaftlichen Kraft einer Aktiengesellschaft, weil bei jeder Gesellschaft auf die Einheit des Grundkapitals eine verschiedene Zahl von Einheiten an Zusatzkapital Offener und Stiller Rücklagen entfällt. 4
Reinhardt, Rudolf a. a. O. S. 446.
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Es ist auch nicht abhängig von dem Wirtschaftszweige, dem die Aktiengesellschaft angehört. Das kleinste Maß an Publizität kann in der Regel von den personenbezogenen oder den diesen ähnlichen Gesellschaften gefordert werden. Doch gilt dies nicht ohne Ausnahmen; vor allem dann nicht, wenn eine Familiengesellschaft mit verhältnismäßig hohem Fremdkapital arbeitet. Je größer die Zahl der Aktionäre ist, die, anders als in den personenbezogenen und ähnlichen Gesellschaften, nicht selbst und unmittelbar die leitenden Organe der Gesellschaft kontrollieren können, womit vor allem diejenigen Personen gemeint sind, die ihrer Gesellschaft nicht durch Kapitalhingabe verbunden sind, um so mehr Publizität müssen sie leisten. An der Kontrolle der Gesellschaft teilzunehmen, sich von ihrem Stande und ihrem Leben so zu unterrichten, daß sie Risiko und Chance ihrer Beteiligung abzuschätzen vermögen, dazu muß die Publizität sie befähigen. Rousseau hat bemerkt, daß er als Bürger eines freien Staates mit seiner Stimme einen, wenn auch nur schwachen Anteil an den öffentlichen Angelegenheiten habe und daß sein Stimmrecht ihm ein Recht darauf gebe, sich über die öffentlichen Angelegenheiten zu unterrichten. Er hat damit erkannt, daß Stimmrecht und Publizität untrennbar zusammen gehören. Das gilt für den Aktionär ebenso wie für den Staatsbürger. Wenn daher der Aktionär, der nicht zu den Organen der Leitung gehört, sein Stimmrecht als Urteilender ausüben können soll, muß seine Gesellschaft ihrer Publizität ein solches Maß geben, wie er für seine Entscheidung durch sein Stimmrecht bedarf. Ein umso größeres öffentliches Interesse meldet sich für die Publizität gewöhnlich ein, ein je größerer Teil des Vermögens der Gesellschaft aus Beteiligungen besteht, je weiter also die Macht über die eigene Grenze hinaus reicht und je mehr und je enger andere Unternehmen mit ihr verflochten sind; femer, je größer die Zahl derer ist, die ihr als Aktionäre oder Gläubiger Kapital zur Verfügung gestellt haben, je mehr Menschen sie beschäftigt, je selbständiger und unangefochtener durch Wettbewerber sie die Preise ihrer Erzeugnisse setzen kann. Ein öffentliches Interesse besonderen Grades besteht an den Aktiengesellschaften, die ihren langfristigen Kapitalbedarf über die Börse decken. Aber es wird dadurch nicht gemindert, daß sie den offiziellen Kapitalmarkt meiden, indem sie, wie es in den letzten
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Jahren häufig geschehen ist, bei großen Kapitalsammlern Schuldscheindarlehen aufnehmen. IV. Ob eine Aktiengesellschaft die Publizität geübt hat, die nach ihrer Struktur von ihr gefordert werden muß, und ob dabei öffentlichem Interesse Genüge getan worden ist, darüber ist ein Urteil nur möglich, wenn das ganze Bündel der Mittel zusammengenommen wird, die der Pubüzität dienen können: Die, welche regelmäßig genutzt werden, und die, welche besonderen Gelegenheiten vorbehalten sind. Zu den ersten rechnen der Jahresabschluß mit der Bilanz und der Gewinn- und Verlustrechnung sowie der Geschäftsbericht. Von allen Mitteln der Publizität genießen sie bis auf den heutigen Tag das größte Ansehen. In Wirklichkeit verdient diesen guten Ruf der Jahresabschluß nicht. Ob ein reformiertes Aktiengesetz ihm eine solche Kraft einzugeben vermag, daß er eine Quelle wird, aus der zuverlässige und ausreichende Unterrichtung geschöpft werden kann für die Beurteilung von Lage, Tätigkeit und Entwicklung des Unternehmens in Vergangenheit und Zukunft, ist zweifelhaft. Das Haupthindernis dagegen Hegt im Zwecke des Jahresabschlusses: E r soll Erfolgsrechnung sein und kann auch nur ihr dienen. Das Problem der Erfolgsrechnung ist die Bewertung der Erfolgskomponenten Aufwand und Ertrag. Seine Lösung aber unterliegt, wie jede Wertung, dem Ermessen dessen, der den Jahresabschluß aufstellt. Ihn hiervon zu befreien, ist nicht möglich. Dieser Tatsache ist dadurch Rechnung getragen, daß für Aktiv- und Passivposten der Bilanz Höchst- bzw. Niedrigstwerte gesetzt sind. Sie bewirken, daß Stille Rücklagen, in allen Diskussionen über den Jahresabschluß die Steine schwersten Anstoßes, sich nicht ausschließen lassen. Es kommt die mit Recht große Achtung vor dem Bilanzprinzip der Vorsicht hinzu. Solange an jenen Werten und an diesem Prinzip nicht gerüttelt wird, was nicht geschehen kann, wird auch bei gutem Willen seines Autors der Jahresabschluß keine einwandfreie Erfolgsrechnung sein. Wohl aber wird ein Anreiz bestehen, an diesem Ziel in der Richtung vorbeizugehen, die zum Ausweis eines niedrigeren Erfolges führt, als wirklich erreicht worden ist. Aber selbst, wenn es anders wäre, würde der Jahresabschluß ein unzulängliches Mittel der Publizität bleiben; denn er enthält nur sog. Geschäftsvorfälle einer langen Geschäfts-
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periode, d. h. Ereignisse, die Vermögen oder Kapital oder beide zusammen geändert haben, und diese noch dazu höchst komprimiert. Geschäftsvorfälle machen aber nicht das ganze Leben des Unternehmens aus, sie bilden nur einen Teil von ihm, vielleicht nicht einmal den wichtigsten. E s fehlen alle die Ereignisse, die nicht in das Rechnungswesen eingehen können, weil sie Vermögen und Kapital überhaupt nicht angehen oder noch nicht berührt haben, z.B. Verträge mit dem Personal oder Abnahme- und Lieferungsverpflichtungen. Alle diese Ereignisse gehören der Vergangenheit an. Sie allein ergeben eine unvollständige Information. Die vollständige Publizität muß sich auch auf die Zukunft erstrecken; sie sollte, soweit angängig, sich befassen mit Plänen, die sich vorbereiten, Gefahren, die sich ankündigen. Zu allem kommt, daß der Jahresabschluß in viel zu weiten Abständen aufgestellt und in der Regel viel zu lange nach Ablauf des Zeitraumes vorgelegt wird, für den er gilt. Wenn er ein Mittel der Publizität auch nur in den Grenzen sein will, die ihm durch sein Wesen gezogen werden, so muß er durch Zwischenabschlüsse oder Zwischenberichte ergänzt werden. Der Jahresabschluß vermag auch keinen Einblick zu geben in die finanziellen Geschehnisse seines Zeitraumes und in ihre Auswirkungen. Sie kann nur die Bewegungsbilanz gewähren, jenes Rechenwerk, das sich freihält von Ereignissen, die vor dem Beginn der letzten Abschlußperiode Hegen. E s ist also nicht belastet mit historischen Werten, es gibt Auskunft über »Mittelherkunft« und »Mittelverwendung«. Erfreulich ist es festzustellen, daß ein Anfang mit Zwischenberichten gemacht worden ist und daß eine Anzahl Gesellschaften bereits Bewegungsbilanzen, zum Teil unter anderen Bezeichnungen, z. B. »Finanzveränderungsrechnung«, veröffentlichen. Da es diesen Gesellschaften nicht schlecht ergangen ist, kann die Erweiterung der Publizität durch die Bekanntgabe der Bewegungsbilanz als ein Zeichen dafür genommen werden, daß ein Schaden hierdurch nicht angerichtet wird. Die Gewinn- und Verlustrechnung wird in Zukunft ergiebiger sein als bisher, weil sie jüngst zur Bruttorechnung ausgestaltet worden ist und daher den Umsatz der Rechnungsperiode erkennen läßt. E s ist erstaunlich, für wie harmlos manche Verwaltungen ihre Aktionäre gehalten haben, wenn es galt, ihnen Schrecken einzuflößen, indem sie
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den Beweis versuchten, daß der Gesellschaft und ihnen selbst großer Schaden durch die Enthüllung des, wie es gelegentlich bezeichnet worden ist, »Staatsgeheimnisses« Umsatz drohe. Davon kann keine Rede sein. Alle Argumente gegen den Ausweis des Umsatzes, auch bei den Unternehmen, deren Produktionsprogramm nur ein einziges und immer das gleiche Erzeugnis enthält, lassen sich in Nichts auflösen. Lange früher ist man über jene Bedenken hinweggegangen, falls es nötig schien, durch Publizität die Allgemeinheit zu schützen. So in jenem Falle, in welchem die Aktien einer Brauerei zur Börse nur zugelassen werden sollten, wenn im Prospekt der Bierabsatz angegeben war. Daß eine Gesellschaft in ihrer Gewinn- und Verlustrechnung mehr gab, als die schlechte Sitte verlangte, ist nicht oft vorgekommen. Wer aber mit der Geheimniskrämerei auch nur wenig brach, hatte Aussicht, in die Geschichte einzugehen. So ist jene Mitteilung in der Generalversammlung der Ludw. Loewe & Co. A.-G. vom 15. Mai 1928 noch nicht vergessen, in der die Verwaltung bekannt gab, sie wolle, dem Wunsche der Aktionäre gemäß, den Fabrikationsgewinn und den Gewinn aus Beteiligungen gesondert ausweisen. Für den ungeübten Leser wird die Gewinn- und Verlustrechnung in Zukunft auch deshalb klarer sein, weil die Form der Staffel für sie wahrscheinlich die Regel sein wird. Sie ist von einigen Gesellschaften bereits mustergültig angewandt worden. Aber diese Fortschritte der Publizität wiegen leicht gegenüber der Tatsache, daß der Jahresabschluß immer undurchdringlicher geworden ist, besonders seitdem Steuergesetze (z. B. dieSiebenergruppe des Einkommensteuergesetzes) und mit ihnen in Verbindung stehende Gesetze, wie die Vorschriften des Investitionshilfsgesetzes, das Lastenausgleichsgesetz und nicht zuletzt das D-Mark-Bilanzgesetz, in die Handelsbilanz eingedrungen sind. Sie machen die in einer Hauptversammlung geäußerte Meinung wahr, daß die Bilanz »allein eine Angelegenheit der Fachleute bleibt«. Wenn es so bestellt ist um den Jahresabschluß, dann kann die sog. Bilanzkritik, die ihn uns erschließen möchte, nützliche Arbeit kaum leisten. E s wird um sie nicht besser bestellt sein als um das Objekt ihres Bemühens. Auch an ihr sind Fachleute irre geworden. Einer von ihnen hat in einer einschlägigen Schrift resigniert gemeint, sie habe »in den meisten Fällen zu unrichtigen und ungenauen Ergebnissen geführt«. Aus den Studien, die über Wertschriften für Kapital-
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anlagen in den Vereinigten Staaten und in der Schweiz von Maklern, eigens hierfür ins Leben gerufenen Instituten und Banken angestellt werden, können wir viel lernen, um den Jahresabschluß zu einem fruchtbaren Mittel der Publizität zu machen. Der Geschäftsbericht soll den Jahresabschluß »erläutern«; er soll ferner über Vorgänge Angaben machen, die der Berichterstattung bedürfen, wenn die Publizitätspflicht erfüllt sein soll, die aber keine »Geschäftsvorfälle« sind, also zu jenen Ereignissen gehören, welche sich der Veröffentlichung durch den Jahresabschluß entziehen. Auch noch nach der Aktienreform von 1931, erst recht aber vorher, gaben manche Geschäftsberichte Anlaß zur Klage, weil sie nicht einmal die Mindestforderungen erfüllten, die den Gesellschaften durch Gesetz bzw. Rechtsprechung (etwa RGSt., Bd. 38 S. 197) auferlegt waren. Vollends scheint es, daß die Generalklausel des § 128 Abs. 3 AktG (»Die Berichterstattung hat den Grundsätzen einer gewissenhaften und getreuen Rechenschaft zu entsprechen«) nicht immer ernst genommen worden ist. Die Verpflichtung, »wesentliche Abweichungen von dem letzten Jahresabschluß zu erörtern«, ist unvollständig erfüllt, wenn der Leser des Berichtes nicht erfährt, aus welchem Grunde die Abweichungen zu verzeichnen sind. Nicht nur langweilig sind jene Geschäftsberichte, die, bei Vollständigkeit der Berichterstattung, ihren Stoff Jahr für Jahr in der gleichen Weise darbieten, indem sie das sich ändernde Zahlenmaterial in einen feststehenden Text einfügen. Dadurch erwecken ihre Autoren auch den Eindruck, als ob sie sich einer lästigen Pflicht entledigen müßten gegenüber den Aktionären, die nicht der Verwaltung angehören, und gegenüber der Öffentlichkeit, einer Pflicht, von deren Bedeutung sie keineswegs überzeugt seien. Doch offensichtlich erkennen immer mehr Gesellschaften in den letzten Jahren, daß auf keine Weise Verwaltung, Aktionäre und Öffentlichkeit in gemeinsamem Interesse in so lebendige Beziehungen miteinander gebracht werden können wie eben durch den Geschäftsbericht. Er ist in der Tat geeignet, dem Unternehmen guten Ruf zu erwerben, ihn zu erweitern und zu festigen. Daher denn auch neuerdings das Bestreben, die Aufmerksamkeit der Leser zu wecken durch Schaubilder und Statistiken, ihm dadurch den Weg durch den spröden Stoff zu erleichtern und ihn zu fesseln, indem ihm Anteil gegeben wird am Leben des Unternehmens mit seinen Schwierigkeiten, seinen Sorgen und Erfolgen. Die
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Informationen gehen gelegentlich mustergültig in die Einzelheiten, etwa in einem Unternehmen mit sehr breitem Produktionsprogramm durch Mitteilung über die Größe des Sortiments, die Vorteile ständiger Lieferbereitschaft, den durchschnittlichen Fakturenwert, die Arbeit des Fakturierens, die Entwicklungskosten neuer Erzeugnisse. So erhält der Leser einen Begriff von der Vielfalt der Fragen, die es in diesem Unternehmen zu lösen gab; sicherlich nicht zum Schaden der Berichterstatter. Ein nach diesen Grundsätzen gestalteter Geschäftsbericht wird offenbar auch als ein wirkungsvolles Mittel der Repräsentation erachtet. Daher seine Verbreitung in einem Umfange, sogar durch Abdruck wesentlicher Teile aus ihm in Tageszeitungen, die früher als überflüssig angesehen worden wäre. Vor allem bei den Aktiengesellschaften, die allein wegen der Größe ihres Vermögens und der Zahl ihrer Aktionäre öffentliches Interesse beanspruchen, aber auch bei anderen, ist die Hauptversammlung heute mehr als früher der Ort, an dem die Verwaltung, freiwillig oder aus der Versammlung heraus angeregt, durch mündliche Berichterstattung ein gut Teil der Publizität übt. Die Erzählung Passows in seinem Buche über die Aktiengesellschaft (S. 482), in der uns der schläfrige Ablauf einer Generalversammlung vorgeführt wird, übrigens ein beliebtes Thema auch in den Journalen der Zeit bis zum Ende des ersten Weltkrieges, darf nicht verallgemeinert werden. Ebenso der bekannte Spruch, die Generalversammlung sei »eine schlecht besuchte, aber geschickt gespielte Komödie«. (Er wird gewöhnlich dem Bankier Fürstenberg, von dem Juristen Elzbacher dagegen Gustav Schmoller zugeschrieben.) Und warum soll ein ruhiger und schneller Verlauf einer Hauptversammlung Beweis für ungenügende Publizität sein, soweit sie bei dieser Gelegenheit geübt werden kann? Wenn heute die Hauptversammlung der Publizität mehr dienstbar gemacht wird als früher, so ist es nicht zuletzt eine Folge davon, daß die Kleinaktionäre ihre Gleichgültigkeit gegenüber ihrer Gesellschaft aufgegeben und viele von ihnen sich zu Vereinigungen zusammengeschlossen haben, die ihre Sprecher in die Hauptversammlung entsenden. Sie wissen das Auskunftsrecht des Aktionärs und die Auskunftspflicht des Vorstandes (s. Urteil des Zweiten Zivilsenats des Bundesgerichtshofs vom 7. April i960, besprochen in FAZ v. 11. April i960, S. 13; Urteil des Oberlandesgerichts Hamm v. 3. November 1959, besprochen in »Blick durch die Wirtschaft« G II
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v. 27. Februar i960 und 3. März i960) zu nutzen. Indem sie über die klassischen Stoffe der Hauptversammlungen: Stille Rücklagen, Abschreibungen, Dividendenpolitik u. a. hinaus, zu Themen anregen, die das eigentliche Leben des Unternehmens angehen, erweitern sie die Publizität und gewinnen tätigen Anteil an der Verwaltung. Heute wird öfters als noch vor einigen Jahren von der Gesellschaft die Presse durch unmittelbare Information für die Publizität in Dienst genommen. Nicht verwunderlich in einem Zeitalter, in welchem Pressekonferenzen als eines der wirksamsten Mittel der Reklame gelten und daher bei allen nur denkbaren Anlässen veranstaltet werden, die die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich ziehen sollen. Manche Organe wissen ihre Ergebnisse zu erweitern und so den Lesern mehr an Publizität zu liefern, als sie selbst empfangen haben. Aber die Presse vermag, worauf Bernhard Harms im Enqueteausschuß hingewiesen hat, auch dadurch der Publizität nützlich zu sein, weil durch ihre Kritik »immer wieder dahin gewirkt wird, daß auch sonst die Publizität von den Unternehmungen nach Kräften gefördert wird«. Ob die Kritik der Publizität zugute kommt, hängt allerdings auch davon ab, in welcher Weise sie geübt worden ist. Wenn schließlich auch auf den Börsen-Prospekt 5 als ein Mittel der Publizität hingewiesen wird, so geschieht es nicht, um im einzelnen die bekannte Tatsache darzulegen, daß sein Inhalt von allen Äußerungen einer Aktiengesellschaft über sich selbst die weitaus umfangreichsten und sichersten Informationen liefert. Zwar gilt dies nur von jenen, deren Effekten an die Börse gebracht werden sollen; aber es sind diejenigen, an deren Publizität am meisten gelegen ist. Der Prospekt fordert hier also nicht unsere Aufmerksamkeit wegen seines Inhaltes im einzelnen. Er ist uns vor allem deshalb wichtig, weil die Zulassungsstellen den Emittenten veranlassen können, in ihm Angaben zu machen, die über den gesetzlichen Inhalt hinausgehen. Dadurch haben sie recht eigentlich die Möglichkeit für die Erfüllung des § 36 des Börsengesetzes zu sorgen, »daß das Publikum über alle zur Beurteilung der zu emittierenden Wertpapiere notwendigen tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse soweit als möglich informiert wird.« Solche Ergänzungen des gesetzlichen Inhaltes finden sich in jedem Prospekt in mehr oder weniger großer Zahl. So willkommen sie 5 Dr. Fritz Lehmann, Der Inhalt des Aktienprospektes, Z f h F 1927 S. 33 und S. 59.
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auch für die Publizität sind: Es ist doch die Frage, ob bei der Bestimmung, welche Ergänzungen getroffen werden sollen, die Tatsache immer genügend Beachtung findet, daß die Ansprüche an Unterrichtung bei verschiedenen Unternehmen nicht gleich zu sein brauchen und auch mit der Zeit wechseln. Es dürfen also die Ergänzungen nicht schematisch gefordert werden. Sind sie den Verhältnissen der Unternehmungen und den Bedürfnissen der Zeit angepaßt, lassen sich auf diesem Wege notwendige Forderungen an die Publizität erfüllen. Wenn auch die Zahl der davon betroffenen Aktiengesellschaften beschränkt ist, so ist doch ihre wirtschaftliche Bedeutung um so beachtlicher. In diesem Zusammenhang sei an den Vorschlag erinnert', die Zulassungsstellen sollten »die emittierenden Gesellschaften dazu verpflichten, die erweiterte Publizität des Prospektes in ihren jährlichen Geschäftsberichten beizubehalten«. Mit Recht wird hierzu bemerkt, daß dieser Vorschlag den gangbarsten Weg einer Reform der aktiengesellschaftlichen Publizität weise. Das gelegentlich geäußerte Bedenken, der Prospekt würde durch die gemeinten Ergänzungen zu lang werden und den Aktionär nun erst recht davon abhalten, ihn zu lesen, verdient keine Beachtung. Wichtig ist, daß die Berater des Publikums ihn zur Kenntnis nehmen und daß sein Inhalt in die Handbücher eingeht, deren sich die Berater zu bedienen pflegen 7 . Von den einzelnen Tatsachen, auf welche die Publizität sich erstrecken muß, sind die Beteiligungen und die Beziehungen zu verbundenen Unternehmen die wichtigsten. Wenn sie durch Publizität nicht unter Kontrolle genommen werden, besteht die Gefahr, daß Macht sich unversehens zusammenballt zum Schaden von Aktionären und Gesamtheit. Der wirtschaftlichen Macht in einer Hand muß, wie wir aus der Erfahrung gelernt haben, eine Grenze gesetzt werden auch dann, wenn sie wirtschaftlich gerechtfertigt werden könnte. Aber nicht einmal das vermag oft genug für sie ins Feld geführt zu werden. Mit Recht sehen die Verantwortlichen in der Behinderung zu großer Macht, auch durch Publizität, das Kernproblem der Reform des Aktienrechtes. Was nicht ausdrucksvoller als dadurch erhärtet werden konnte, daß nach der Meinung der Vertreter der Aktiengesellschaften ' Dr. Fritz Lehmann, a. a. O. 81. 7 Eine neue Verordnung über die Zulassung von Wertpapieren zum Börsenhandel, die eine Erweiterung der bisherigen Publizität bringen soll, wird vorbereitet. 13*
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die in der Reform vorgesehenen Bestimmungen über »Offenlegung von Beteiligungsbesitz« »die ganze Reform fragwürdig machen und die Grundsätze unserer Wirtschaftsordnung gefährden.8« Die Minderheitsaktionäre aber wissen aus der Vergangenheit, daß Unternehmungen verflochten werden, Einfluß auf andere Unternehmungen genommen wird, nicht nur, um das Glück jedes einzelnen von ihnen zu erhöhen, sondern auch, um die eine oder andere der verflochtenen Gesellschaften in den Dienst einer Unternehmungspolitik zu stellen, die dem gesamten Konzern nützlich sein mag und seinen Herrschern Gewinn zuführt, einzelne Glieder des Konzerns aber vernachlässigt, etwa, weil ihnen geboten wird, Erzeugnisse an andere Unternehmen des Konzerns zu einem Preise abzugeben, der unter dem erzielbaren Preise, vielleicht sogar unter den Selbstkosten, liegt. Der Minderheitsaktionär hat ferner erfahren, daß er infolge ungenügender Publizität, gerade über Beteiligungen und Beziehungen zu verflochtenen Unternehmen, nicht in der Lage ist, den wirklichen Wert seiner Aktien zu schätzen und daß er daher allzuleicht sich bewegen läßt, sich von seinen Aktien mit Schaden zu Gunsten der Herrscher seiner Gesellschaft zu trennen. Die Folgerungen aus den Erfahrungen, die aus tinzureichender Publizität überhaupt, insbesondere aus der von Aktiengesellschaften mit Beteiligungen und Beziehungen zu verbundenen Unternehmungen gemacht worden sind, will das neue Aktiengesetz ziehen, indem es die bisherigen Vorschriften über ihre Publizitätspflicht erweitert. Daraus aber darf nicht geschlossen werden, es müsse zur Ausdehnung der Publizität immer und allein der Gesetzgeber bemüht werden. Im Gegenteil: Ein Bedeutendes mehr an Publizität durch Gesetz erzwingen zu wollen, ist kaum noch möglich; denn ein Zuviel an Vorschriften kann bewirken, daß Aktiengesellschaften der Publizität sich ganz entziehen, indem sie in eine Rechtsform fliehen, die einer Publizitätspflicht nicht unterliegt. Dies scheint bereits im Gange zu sein. Durch Zahlen läßt es sich nicht exakt beweisen, weil das Motiv des Wechsels der Rechtsform gewöhnlich nicht angegeben wird. Doch in einem Falle hat bei der Begründung des Vorschlags, die Aktiengesellschaft in eine GmbH umzuwandeln, die Verwaltung einer Gesellschaft frei und frank erklärt, »man wolle vermeiden, daß die Aktiengesell8 Gemeinsame Denkschrift zum Referentenentwurf eines Aktiengesetzes, Bundesverband der Deutschen Industrie u. a., Köln und Bonn 1959, S. 41.
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schaft nach einer Aktienrechtsreform zu einer noch größeren Publizitätspflicht gezwungen werden könnte«... »Es sei unfair, wenn in einer Branche ein Unternehmen alsAktiengesellschaft publizitätspflichtig sei, während die Konkurrenz im stillen arbeiten könne« (FAZ 25.6.59, S.io). Wenn die Rechtsreform nicht geändert und so die Publizität nicht ganz aufgehoben werden kann, muß eine Satzungsänderung dafür herhalten, daß sie für ein besonders heikles Gebiet wenigstens verschlechtert wird. So ist es bei einer Gesellschaft mit zahlreichen Beteiligungen geschehen. Sie wird die Abschlüsse nur noch der Gesellschaften in ihren Geschäftsbericht aufnehmen, deren Anteile sie sämtlich, nicht wie bisher, zur Hälfte hält; und in der konsolidierten Bilanz berücksichtigt sie in Zukunft nur noch inländische, nicht auch ausländische Beteiligungen. Bei den Überlegungen darüber, wie weit die gesetzlichen Vorschriften über die Publizität gehen sollen, ist es nützlich, an die »Auffassung« der »durch den 34. Juristentag zur Prüfung einer Reform des Aktienrechtes eingesetzten Kommission« unter dem Vorsitz von Hachenburg zu erinnern, zu deren Mitgliedern Schmalenbach gehörte. Sie hat gemeint, daß ein weiteres Maß von Publizität im allgemeinen durchaus möglich und in vielen Fällen nützlich sei, sie glaube »jedoch nicht, daß es möglich ist, hier durch gesetzliche Vorschriften einzugreifen . . . die Publizität ist eine Frage der geschäftlichen Moral einerseits, der Zweckmäßigkeit andererseits.« Heute hat die Meinung der Kommission erst recht Geltung, weil das Gesetz seine Forderungen an Publizität bereits weiter spannt als in der Zeit — es war Ende der 20er Jahre —, da die Kommission zu ihrer Einsicht gelangte. Das erwünschte oder sogar notwendige Mehr an Publizität kann nur freiwillig geleistet werden. Daß die Aktiengesllschaften sich zu ihr entschließen müssen, ist die Meinung auch von Männern, die selbst Leiter von Aktiengesellschaften sind und die sich zur freiwilligen Publizität als Gründer und Mitglieder des »Arbeitskreises zur Förderung der Aktie« bekannt haben. Bei einigen bedeutenden Aktiengesellschaften ist die freiwillige Publizität bereits auf gutem Wege: Während des Jahres durch Berichte über geschäftliche Vorgänge, Umsatz, Auftragsbestand, Produktion, Verhandlungen über Aufträge; zusammen mit dem Jahresabschluß durch Bereicherung des Inhaltes des Geschäftsberichtes über
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das vom Gesetz geforderte Maß hinaus, sowie durch seine Gestaltung, nicht zuletzt aber durch großzügige Auslegung des Auskunftsrechtes der Aktionäre in der Hauptversammlung und durch die auf Pressekonferenzen gewährten Informationen. Zur freiwilligen Publizität gehört auch die neue Gestaltung der Finanzanzeigen, die den ehemals nur aus trockenen Zahlen bestehenden Stoff umrankt mit Darstellungen, die der Unterrichtung dienen, aber auch Aufmerksamkeit erwecken sollen. Die Zahl der Gesellschaften, die mit solchen Anzeigen hervortreten, ist noch klein. Sie ist nach und nach auf etwa 30 gewachsen. Eine Aktiengesellschaft gibt es, die durch eine Zeitschrift, RohrPost, nach ihrem Haupterzeugnis genannt, Verbindung mit ihren Aktionären hält. Als Mittel, die Beziehungen mit ihren Aktionären während des Geschäftsjahres zu pflegen, scheint häufiger in Gebrauch zu sein der Aktionärbrief. Sogar Gesellschaften mit mehr als hunderttausend Aktionären scheuen nicht die Last der Publizität auf diesem Wege. Die freiwillige Publizität stammt nicht etwa erst aus unseren Tagen. Zum Beispiel sind Geschäftsberichte schon erstattet worden, bevor das Gesetz 1884 sie vorgeschrieben hatte. Sie waren längst vorher bei manchen Gesellschaften üblich®. Unter ihnen taten sich besonders einige Eisenbahn-Gesellschaften hervor. Sie erstatteten Berichte, die gewöhnlich einen Umfang von mehreren hundert Seiten hatten. In unserer Zeit scheint von den Aktiengesellschaften nicht gerade ein Übermaß freiwilliger Publizität geübt zu werden; denn nach einer Ermittlung des Deutschen Industrieinstituts haben 1956 sechs von zehn deutschen Aktiengesellschaften mehr berichtet als in den Gesetzesvorschriften gefordert wird10. Diese Zahlen besagen nicht viel; denn die Hauptsache zeigen sie nicht: Worin das Mehr bestanden und ob es nicht einen Stoff enthalten hat, über dessen Berichterstattung aus Freiwilligkeit oder Zwang vielleicht Zweifel bestehen. In den Vereinigten Staaten gibt es gesetzliche Vorschriften für die Publizität der Aktiengesellschaft überhaupt nicht. Um so strengere Publizität wird von der New Yorker Börse den Gesellschaften auf• Voss, Heinrich, Der Geschäftsbericht der Aktiengesellschaften Z f h F 1927,
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Herrmann, Prof. Dr., Walter, ZfhF, N F , 1958 S. 476.
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erlegt, deren Anteile zum Handel und zur offiziellen Notierung bei ihr zugelassen sind. Sie müssen für jedes Quartalsende einen Zwischenbericht veröffentlichen. E r kann außerdem den Aktionären persönlich geschickt werden. An die Stelle des Zwischenberichtes kann ausnahmsweise, z. B. für Saisonbetriebe, der Halbjahresbericht treten, oder, noch seltener, er kann, wenn er nichts auszusagen hätte, ganz unterbleiben. Der Zwischenbericht soll Öffentlichkeit und Aktionäre über den Verlauf der Geschäfte und über Vorgänge von besonderer Bedeutung während des Jahres unterrichten. Die Vorschriften erfordern von ihm die Mitteilung des Erfolges. Seine Ermittlung muß die außerordentlichen Aufwendungen und Erträge, das Ergebnis ohne Berücksichtigung der Steuern, die Steuern vom Einkommen und den versteuerten Gewinn der Berichtszeit erkennen lassen, also z. T. Angaben, die unsere zur Börse zugelassenen Aktiengesellschaften nur einmal im Jahre zu machen bisher weit von sich gewiesen haben. Bedeutende Ereignisse erfordern erweiterte Berichterstattung. Inanspruchnahme der gesetzlichen Rücklagen und Änderung der Methoden und der Bewertung bei der Rechnungsiegimg sind mitzuteilen. Tatsächlich geht der Inhalt der Berichte über das geforderte Mindestmaß hinaus. Dies gilt auch für die Form des Erfolgsausweises: Sie geschieht als kumulative Gewinn- und Verlustrechnung, erstreckt sich also auf den ganzen verflossenen Teil des Geschäftsjahres und zieht zum Vergleiche die Rechnung des Vorjahres heran. Die Erklärung dafür, daß die Aktiengesellschaften der Vereinigten Staaten breite Publizität freiwillig üben, gibt das Ziel, das sie damit verfolgen: Sie wollen ihren Aktien einen möglichst breiten Markt schaffen 11 . Auch den deutschen Aktiengesellschaften sollte daran gelegen sein, durch Publizität, die über die engen Grenzen des Gesetzes hinausgeht, das Interesse der breiten Öffentlichkeit für die Aktie als eine Möglichkeit der Anlage von Ersparnissen zu wecken. E s setzt ein gewisses Maß von Kenntnissen des Aktienwesens voraus, an deren Vermittlung die Publizität mitwirken kann. Wie nötig es wäre, zeigt die Tatsache, daß bei einer Erhebung von den Befragten 6 0 % nicht genau wußten, was eine Aktie ist, und 4 0 % keine zutreffende oder gar keine Antwort geben konnten 12 . 11 S. dazu Fabri, Dr. Theodor, Die Kleinaktie, Berlin (1959) S. 178 und Forberg, Kurt, ZfhF, NF, 1958, S. 450. 18 Nach Fabri, Dr. Thedor a. a. O. S. 179.
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Die freiwillige Publizität soll ferner das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Aktionären enger gestalten und das Vertrauen zu ihrer Gesellschaft stärken helfen. Damit soll sie dem Merkmal, das der Aktiengesellschaft am meisten die Züge einer kapitalistischen Unternehmungsform gibt, die Unpersönlichkeit, in die der Aktionär sich versetzt sieht, wenigstens die Schärfe nehmen. V. Der Ruf nach dem Gesetzgeber und die Aufforderung an die Gesellschaften, freiwillige Publizität zu üben und öffentliches Interesse zu wahren, sind geeignet, den Gedanken daran zurückzudrängen, daß die Publizität auch ihre äußerste Grenze hat. Von ihr wird in der Tat kaum gesprochen. Und doch ist es wichtig, sie möglichst sicher zu erkennen und einzuhalten; denn wenn sie zu weit gezogen wird, kann, wie gesagt, der Aktiengesellschaft als Rechtsform bei vielen Unternehmungen gegenüber anderen Rechtsformen so großer Nachteil aufgeladen werden, daß ihre Vorzüge nicht mehr ausreichend erscheinen, um ihr für diese Unternehmungen einen Platz in der Wirtschaft zu sichern. Mag diese Meinung im Augenblick zutreffen: Für die Dauer braucht die Wahl einer anderen Rechtsform nicht vorteilhaft zu sein. In erster Linie sind es tatsächliche und potentielle Konkurrenten, von denen die Gesellschaften glauben, sie würden durch Überschreitung der Grenzen angemessener Publizität zu klug gemacht und aufgeweckt. In schlechten Zeiten können durch die zu weite Publizität aber auch Gläubiger, darunter vor allem Lieferanten, hellhörig werden und Verlegenheiten bereiten. Es sind gewöhnlich weniger die gedruckten Informationen durch Jahresabschluß und Geschäftsbericht als vielmehr die mündlichen Auskünfte, wegen der die Grenze der Publizität angefochten wird, und es Unbehagen und Widerstand weckt, wenn sie überschritten werden muß. Dabei geht es besonders um folgende Fragen: Abschreibungen, Aufgliederung der ausweispflichtigen Steuern, der Vorstandgehälter und des Bestandes an Wertpapieren, Kurswert der Wertpapiere, Wert der Beteiligungen, Vermögenssteuerwert der ganzen Unternehmung. Das Gesetz zieht bisher die Grenze der schriftlichen und mündlichen Publizität in § 112 AktG (Auskunftrecht des Aktionärs in der Haupt-
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Versammlung); § 128 Abs. 3 AktG (Geschäftsbericht-Berichterstattung gemäß den Grundsätzen einer gewissenhaften und getreuen Rechenschaft. Nur überwiegende Belange der Gesellschaft oder eines beteiligten Unternehmens rechtfertigen es, die Berichterstattung über bestimmte Gegenstände zu unterlassen); § 296 AktG (Androhung von Strafe wegen unrichtiger Darstellung). Die Sorge des Betriebswirtschaftlers ist es, daß durch die Publizität die Ergiebigkeit des Unternehmens nicht beeinträchtigt, sondern im Gegenteil möglichst erhöht wird. »Geschäftsgeheimnisse« sind daher von der Publizität selbstverständlich ausgeschlossen. Aber es bedarf sorgfältiger Prüfimg, was Geheimnis sein muß. Dazu gehört nicht alles, was in der Zukunft liegt. Daher darf nicht jeder Blick in die Zukunft von der Publizität ausgeschlossen werden. Wenn sie auch nicht mit Überlegungen und Nachrichten belastet werden darf, die ins Ungewisse führen, so muß sie doch der Zukunft soweit Raum gewähren, wie es »überwiegende Belange« nicht verbieten und die »Grundsätze einer gewissenhaften und getreuen Rechenschaft« fordern. Nur so kann auch der wichtige Zweck der Publizität erfüllt werden: Hilfsmittel zu sein bei den Wertungen derer, die der Gesellschaft Kapital zur Verfügung gestellt haben oder beabsichtigen es zu tun. Für die Bestimmung der Grenze der Publizität wird auch anerkannt werden müssen, daß die Aktiengesellschaft sich in die geltende Wirtschaftsordnung einzufügen hat. Sie stellt an die Erfüllung auch von Publizitätspflichten andere Forderungen als die Ordnungen, die der Vergangenheit angehören, in denen es ein solches Maß von Unternehmungs-Konzentration und von Möglichkeiten, den Wettbewerb zu verfälschen wie heute nicht gab und die Notwendigkeit nicht bestand, sie der Öffentlichkeit bekannt zu geben. Daher geht es nicht an, die Grenze der Publizität noch heute nach den Anschauungen vergangener Zeiten ziehen zu wollen. Es ist eine schwierige Aufgabe der Reform des Aktienwesens, sie in rechter Weise festzulegen. Ob es durch Gesetz für lange Zeit geschehen kann, ist zweifelhaft, weil die Forderungen der Wirtschaftsordnung an die Publizität dem Wandel unterliegen. Den notwendigen Grenzverschiebungen kann die Publizität nur angepaßt werden, indem sie das freiwillig geübte Maß auf die wechselnden Ansprüche einstellt. Gerade dabei werden, nicht anders als seither, genug der verschiedenen
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Auffassungen über die zu leistende Publizität bestehen bleiben. In unserer Wirtschaftsordnung gilt es, sie durch einen Kompromiß auszugleichen. Er muß nach Möglichkeit den Zielen der Publizität gerecht werden, nicht aber in erster Linie die Wünsche der Interessenten berücksichtigen oder gar die der stärksten Gruppe von ihnen zum Zuge kommen lassen. Eine Frage der quantitativen Begrenzung ist es, ob die gesetzliche Publizität durch Jahresabschluß und Geschäftsbericht auf die Aktiengesellschaft beschränkt bleiben oder ob sie auf alle Rechtsformen der Unternehmung ausgedehnt werden soll, die unter bestimmten Voraussetzungen wirtschaften. Die Antwort hängt entscheidend davon ab, welcher Zweck durch die Publizität vor allem erfüllt werden soll. Ist es Kontrolle der »Wirtschaftsmachf«, dann kann die Publizität nicht auf die Unternehmen in der Rechtsform der Aktiengesellschaft beschränkt bleiben, dann muß sie auf alle Unternehmungen auch aller anderen Rechtsformen ausgedehnt werden, die bestimmte Merkmale aufweisen, z. B. mit einem gewissen Gesamtkapital arbeiten oder in gewissem Umfange Beteiligungen halten. Die »Gemeinsame Denkschrift zum Referentenentwurf eines Aktiengesetzes« des Bundesverbandes der deutschen Industrie usw. (S. 46) liefert hierfür die Begründung. Sie macht darauf aufmerksam, die Publizität der Aktiengesellschaft zur »Offenlegung der Verhältnisse« (als anderer Zweck der Publizität wird genannt, »das Verständnis für das Aktienwesen in der breiteren Öffentlichkeit« zu wecken) lasse »sich nicht damit begründen, daß die Aktiengesellschaft eine besonders interessante Wirtschaftsmacht darstelle. Zunächst kann man die Aktiengesellschaft nicht mit Wirtschaftsmacht gleichsetzen; sie ist lediglich eine Rechtsform, in der sich Wirtschaftsmacht verkörpern kann. Dazu eignen sich aber auch andere Rechtsformen, wie Einzelunternehmen und Personalgesellschaften.« Die Ausdehnung der Publizität auf Unternehmungen aller Rechtsformen zur Kontrolle der Wirtschaftsmacht scheint die »Drucksache 1279« (3. Wahlperiode) des Deutschen Bundestages einleiten zu wollen. Wie auch immer Gesetz und Freiwilligkeit die Publizität gestalten, und welchen Anteil jenes oder diese an ihr haben, es müssen in ihr »Zweckmäßigkeit und geschäftliche Moral« Ausdruck finden, die zu ihrer Zeit Jurist und Betriebswirtschaftler als Angehörige derselben Kommission für die Reform des AktienWesens beachtet wissen wollten.
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DIE ENTWICKLUNG DER MEDIZINISCHEN FAKULTÄT DER FRIEDRICH-WILHELMS-UNIVERSITÄT ZU BERLIN SEIT 1810 Als am io. Oktober 1810 die feierliche Eröffnung der Berliner Universität erfolgte, waren die Vorarbeiten für die medizinische Fakultät verhältnismäßig einfach: Es waren drei Institutionen vorhanden, die bereits eine Art von medizinischer Falkultät darstellten, nämlich das Theatrum anatomicum, das Collegium medico-chirurgicum und die Charité. Das Collegium bestand seit 1724 und war von Friedrich Wilhelm I. hauptsächlich für die Heranbildung von Militärärzten gegründet worden. Zur Zeit der Gründung der Universität dozierten dort eine Reihe von angesehenen Lehrern, z. B. Friedrich Ludwig Augustin und Christian Heinrich Ernst Bischoff (Physiologie), N. J. Friedländer, Karl Joh. Christian Grapengießer und Christoph Knape (Anatomie), Ernst Horn und Christoph Wilhelm Hufeland (Klinik), Christoph Friedrich Klug (Augenkrankheiten), Ludwig Ernst von Koenen (Arzneimittellehre) und viele andere. Im Jahre 1810 bestand die medizinische Fakultät aus sechs ordentlichen Professoren: Hufeland, C. F. von Graefe, Horkel, Knape, Reil und Rudolphi, einem außerordentlichen Professor, Reich und sieben Privatdozenten: Bernstein, Friedländer, Horn, Kohlrausch, Reckleben, Staberoh und Wolfart. Im Gründungsjahr erfolgte die Eröffnung eines poliklinischen Instituts unter Hufeland und einer besonderen chirurgischen Universitätsklinik unter C. F. v. Graefe. Dazu kam 1812 eine innere Klinik unter Reil, 1817 die chirurgischophthalmologische Klinik der Charité unter Rust und eine Universitäts-Entbindungsanstalt. Bereits im Jahre 1825 wurde eine Abteilung für Syphilis, 1830 eine Abteilung für Kinderkrankheiten abgezweigt, 1832 der Unterricht in gerichtlicher Medizin eingeführt. Aber erst 1853 gab es ein eigenes physiologisches Laboratorium, dem
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1877 das physiologische Institut folgte. Im Jahre 1856 wurde das pathologische Institut eröffnet, 1865 das erste anatomische Institut, 1883 das pharmakologische, 1885 das hygienische Institut. Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus gesehen, war in der Gründungzeit der Berliner Universität das Niveau etwa das gleiche wie überall während dieser Epoche. Es waren die Zeiten der Naturphilosophie, der Dynamisten und Vitalisten, der Homöopathen, der Anhänger der Brownschen Irritabilitätslehre und des Mesmerismus, die sich gegenseitig befehdeten und wechselnd den Schauplatz beherrschten. Rudolphi, Bischoff, Reichert und besonders Reil waren hervorragende Vertreter der Naturphilosophie. Hufeland, der erste Dekan und Kliniker, war ein großer Arzt und vorzüglicher Lehrer, aber weder er noch der Anatom Rudolphi waren führende Geister. Die medizinischen Ordinarien Berends, v. Stosch, Sundelin und Bartels, die sich rasch folgten, waren zum Teil Vitalisten, zum Teil Naturphilosophen, während der Privatdozent, spätere Ordinarius, Wolfart sich dem Mesmerismus oder tierischen Magnetismus verschrieb, der vielleicht als ein Vorläufer der heutigen Psychosomatik angesehen werden kann. Als Rudolphi 1833 starb, trat an seine Stelle der 32 Jahre alte Johannes Müller. Und damit beginnt für die medizinische Fakultät der Übergang zur exakten naturwissenschaftlichen Ära. Seit 1840 war Joh. Müller nicht mehr der einzige Führer in das moderne Zeitalter, denn in diesem Jahr wurde Schönlein der innere Kliniker. Beide waren von der Naturphilosophie ausgegangen. Nach der Schilderung des Zeitgenossen Dr. Otto Braus waren sich die Studenten darüber einig, daß Joh. Müller der interessanteste und gewaltigste Geist unter den Berliner Professoren war. Ihm verdankt die Physiologie die Grundsätze der Lehre von der Reflexbewegung, Mitbewegung und Mitempfindung, das Gesetz der exzentrischen Empfindungen, das Verständnis für die Mechanik des Kehlkopfes, die grundlegende Kenntnis von der Beschaffenheit des Blutes, der Lymphe und des Chylus, den Nachweis der Unabhängigkeit der Drüsensekrete von dem anatomischen Bau der Drüsen und vieles andere. Zu seinen Schülern gehörten Theodor Schwann, Friedrich Schlemm, Christian Gottfried Ehrenberg, Henle, Brücke, Helmholtz, Bischoff, Remak, Virchow, Reichert, Traube, du Bois-Reymond, Max Schultze und Haeckel.
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Müllers klinischer Kollege Schönlein war derjenige, der die medizinische Klinik durch systematische Verwendung physikalischer Untersuchungsmethoden am Krankenbett zur exakten Wissenschaft zurückführte. Seine Schüler führten die klinisch-diagnostischen Methoden in die Medizin ein. Die zu dieser Zeit in Berlin wirkenden Chirurgen waren Carl Ferdinand v. Graefe und sein Nachfolger Joh. Friedrich Dieffenbach, die einen glänzenden Ruf hatten. Die Geburtshilfe wurde durch v. Siebold und später Busch vertreten. Mit dem Tod von Joh. Müller (1858) und dem Rücktritt von Schönlein (1859) begann eine neue ebenso glänzende Periode für die Berliner Fakultät, die von Rudolf Virchow, Emil du Bois-Reymond, Ludwig Traube und Robert Koch. Anatom wurde Carl Bogislaus Reichert, dem der große Organisator Wilhelm Waldeyer folgte und zu dem 1888 ein zweiter sehr bedeutender Ordinarius für Anatomie trat, Oskar Hertwig. In die erste Zeit dieser Periode fällt auch das Wirken der Anatomen Remak und Lieberkühn. Schüler von du BoisReymond waren u. a. Isidor Rosenthal, Franz Boll, Gustav Fritsch, Hermann Münk und Eduard Hitzig. Sein Nachfolger wurde Wilhelm Engelmann und später Max Rubner. Zu Virchows Schülern gehörten Julius Cohnheim, Johannes Orth, Langerhans, Rudolf Jürgens, Oscar Liebreich und Ernst Salkowski. Virchow gebührt das Verdienst, die experimentelle Pathologie eingeführt zu haben. Seine Zellenlehre stammt, in ihrer experimentellen Begründung, von Remak, in der Formulierung von Virchow selbst. Der Kliniker Ludwig Traube war urspünglich ein Mitarbeiter von Virchow. Später wurde er Assistent bei Schönlein, 1872 Ordinarius. Leider starb der hochbegabte klinische und experimentelle Lehrer schon vier Jahre später. Sein größter Rivale war Frerichs, der ursprünglich Chemiker war und aus Breslau als Nachfolger Schönleins berufen wurde. Die Nachfolger dieser beiden Kliniker waren E . v. Leyden und Carl Gerhardt, denen Friedrich Kraus und Wilhelm His folgten. Zu ihnen traten als weitere Kliniker Hermann Senator und Alfred Goldscheider. In der Chirurgie trat Bernhard v. Langenbeck die Nachfolge des berühmten Dieffenbach an, dem Adolf v. Bardeleben an die Seite trat. Diesem folgten Ernst v. Bergmann und Franz Koenig, später Otto Hildebrandt und August Bier. Die Geburtshilfe wurde nach v. Siebolds Tode von Wilhelm Heinrich Busch, dann von Eduard Marken, später von Karl Schröder,
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Robert M. v. Olshausen und schließlich von Gusserow vertreten, dessen Lehrstuhl 1904 Ernst Bumm übernahm. Die Kinderheilkunde wurde zuerst durch Eduard Henoch, der sich 1850 habilitierte, wissenschaftlich vertreten. Otto Heubner vertrat dies Fach seit 1894 als der erste Ordinarius. Die Pharmakologie hatte ihre ersten Vertreter in Emil Osauer, Karl Gustav Mitscherlich und Oscar Liebreich, dem Arthur Heffter als Ordinarius folgte. Die moderne Augenheilkunde wurde als exakte Wissenschaft an der Berliner Universität geboren. Hermann Helmholtz, der Erfinder des Augenspiegels, erhielt seine Ausbildung unter Joh. Müller und kehrte später als Universitätslehrer nach Berlin zurück. Albrecht v. Graefe, der Sohn des Chirurgen,hat dann die Augenheilkunde zu einem selbständigen Zweig der Medizin entwickelt. Ihm folgten Karl Schweiger, Julius v. Michel, Max Burchardt und Richard Greeff. Die Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde wurde als Sonderfach in Berlin durch J. C. August Lucae begründet, der 1871 Extraordinarius, 1899 ordentlicher Honorarprofessor wurde. Die Laryngologie hatte ihren besonderen Vertreter in Bernhard Fränkel. Die wissenschaftliche Zahnheilkunde wurde durch Heinrich Wilhelm Ed. Albrecht begründet, der 1855 eine eigene Klinik eröffnete. Ihm folgten Friedrich Busch und 1906 Fritz Williger. Die Dermatologie hatte ihre eigene Abteilung bereits seit 1825 in der Charité. Von ihren Vertretern sind zu erwähnen Joseph Hermann Schmidt, Karl Gustav Theodor Simon, v. Baerensprung, Friedberg, Lewin, Schweninger, Edmund Lesser und Oskar Lassar. Die Psychiatrie wurde zunächst von Reil, dann von Horn, Ideler und seit 1865 von Wilhelm Griesinger vertreten. Unter Griesinger bahnte sich die allmähliche Abtrennung der Neurologie an, die in Moritz Romberg ihren ersten Vertreter fand. Nachfolger Griesingers wurden Karl Westphal und Friedrich Jolly. Zu ihren Schülern gehörten Karl Wernicke, Emanuel Mendel und Hermann Oppenheim. Der erste Aufschwung der gerichtlichen Medizin datiert von Johann Ludwig Casper, der sich 1824 für dieses Fach habilitiert hatte. Ihm folgten Karl Liman und Fritz Straßmann. Die Hygiene erwarb einen Lehrstuhl erst unter dem Einfluß der Arbeiten von Pettenkofer und nachdem Robert Koch die Bakteriologie zu einer exakten Wissenschaft gemacht hatte. Der erste Ordi-
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narius für dieses Fach wurde Robert Koch im Jahre 1885, ihm folgten Gaffky, Rubner und Flügge. Dieser Überblick über die Entwicklung der Hauptfächer der medizinischen Fakultät führt uns etwa bis zur Jahrhundertwende. Wie man sieht, haben die letzten 50 Jahre des 19. Jahrhunderts der Berliner und der Medizin im ganzen einen unerhörten Aufschwung gebracht — die Namen von Johannes Müller, Schönlein, Traube, Koch und Virchow legen allein schon Zeugnis für den Weltruf der Fakultät ab. Hiervon zeugt auch das Wachstum der Studentenschaft. Im ersten Semester betrug die Zahl der Medizinstudenten 117, im Winter 1829/30 wurden 308 Studenten neu immatrikuliert. Im Winter 1855/56 betrug die Zahl der Studenten 261,1875/76 263,1895/96 1226, 1907/08 1153. Die Zahl der Dozenten war in der Zwischenzeit auf 18 Ordinarien, 10 Honorarprofessoren, 44 Extraordinarien und 117 Privatdozenten gewachsen. Während der letzte Teil des 19. Jahrhunderts der Berliner medizinischen Fakultät einen ungeheuren Aufschwung gebracht hatte, begann mit der Jahrhundertwende allmählich ein Umschwung. Noch war die Berliner Fakultät an der Spitze der deutschen Fakultäten, noch waren in ihr Männer vereinigt, die in ihrem Fach in Deutschland wenig Ebenbürtige fanden: Althoff, der damals allgewaltige Ministerialdirektor im Kultusministerium hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die besten Fachvertreter Deutschlands in Berlin zu versammeln. Von Leyden, Friedrich Kraus, August Bier, Max Rubner, Waldeyer waren Namen die ihresgleichen suchten. In den nächsten Jahrzehnten jedoch ging die Führung in der Medizin allmählich auf andere Länder über. Zwar galt Berlin (neben Wien) noch immer als Zentrum medizinischen Lernens und medizinischer Fortbildung. Ärzte aus der ganzen Welt strömten noch in den Jahren nach dem ersten Weltkriege nach Berlin, um sich weiterzubilden. Die deutschen medizinischen Zeitschriften und Archive waren in der ganzen Welt hoch angesehen, und die Referatenblätter des Verlages Springer waren das Nachschlagewerk für die Mediziner der ganzen Welt ebenso wie die großen Handbücher, die in dieser Periode unter der Mitwirkung fast aller deutschen Wissenschaftler herausgegeben wurden. In diese Zeit fällt aber auch ein ungeheurer Aufschwung des Auslandes, der sich zuerst in der Entdeckung des Insulins durch Banting und Best im Jahre 1920 ankündigte. Ihm folgte bald die LeberG II
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behandlung der perniciösen Anämie durch Minot und Murphy, und daran reihten sich eine große Anzahl fundamentaler Entdeckungen an — Thyroxin, die Sulfonamide, die Antibiotica, die Antishistamine, Cyclocobalamin, die Corticoide und die Blutdruckzügler. An all diesen Entdeckungen war Deutschland nur mit den Sulfonamiden beteiligt, und der Ausbau auch dieser Entdeckung geschah großenteils im Ausland. Der Stillstand und der Rückgang kann auch an den Schülern und Nachfolgern der Berliner Ordinarien aus der Periode der Jahrhundertwende ermessen werden. Zwar waren diese Ordinarien noch immer insofern führend, als sie ihre Schüler oft auf deutsche Lehrstühle plazieren konnten. So wurden vier Schüler von Kraus, vier von Bier und sogar sechs des Ophthalmologen Krückmann Ordinarien. Aber die Bedeutung dieser Schüler konnte sich nicht mit der ihrer Lehrer messen. International sind nur sehr wenige bekannt geworden, wie z. B. der Chirurg Nissen. Auch die späteren Inhaber der Berliner Ordinariate waren nur ausnahmsweise von internationaler Bedeutung, wie der Pathologe Rössle, der Anatom Fick, der Pharmakologe Wolfgang Heubner und der Chirurg Sauerbruch. Dies Schicksal hat freilich die Berliner Fakultät mit den übrigen deutschen Fakultäten geteilt: In der Physiologie z. B. hat Deutschland in dieser Zeit nur einen einzigen hervorragenden Forscher aufzuweisen (Rein), und in der Inneren Medizin war nach Kraus, Krehl und Friedrich v. Müller niemand mehr vorhanden, der irgendetwas besonderes zum Fortschritt der Medizin beigetragen hätte. Dazu kam, daß die großen Zeitschriften und Archive immer wahlloser jede angebotene Arbeit abdruckten, so daß die deutsche Literatur, die bisher im Ausland fast mit Verehrung zitiert worden war, allmählich an Geltung verlor. Trotzdem war das Ansehen der Berliner Fakultät in Deutschland selbst noch immer ungebrochen. Sie war damals wohl die größte Fakultät im Lande. Im Jahre 1927/28 z. B. bestand sie aus 26 Ordinarien, 6 Honorarprofessoren, 25 beamteten Extraordinarien, 138 nichtbeamteten Extraordinarien, 53 Privatdozenten, 5 Lehrbeauftragten und 2 Lektoren. Die Lehrtätigkeit wurde an 10 Universitätsinstituten, 5 selbständigen Kliniken und 16 in der Charité vereinigten Kliniken ausgeübt. Zu dem Rückgang an Bedeutung, der sich seit etwa 1910 anbahnte, kam ein weiterer schwerer Schlag, den die Berliner Fakultät zu-
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sammen mit allen anderen wissenschaftlichen Fakultäten Deutschlands erlitt: die Ankunft Adolf Hitlers und seines »tausendjährigen Reiches «. Zu schwach, um sich gegen die Rassenpolitik zur Wehr zu setzen und nicht vom Geist der Märtyrer beseelt, ließen sie sich die gröbsten Eingriffe in ihre wissenschaftliche und Lehrtätigkeit gefallen. Die nicht völlig rassereinen oder politisch verdächtigen Universitätslehrer wurden aus ihren Ämtern entfernt und entweder verhaftet oder ins Ausland getrieben, das von ihnen sofort und willig Gebrauch machte. Aber auch der Nachwuchs wurde verdorben. Niemand konnte Dozent werden, der nicht durch die Schule nationalsozialistischer Lager gegangen war und der politisch als zuverlässig galt. Es ist kein Wunder, daß die guten Elemente von solchen Vorbedingungen des akademischen Erfolges abgestoßen wurden. Dann kam der zweite Weltkrieg. Schon vorher war die Verbindung mit dem Ausland unter dem eigenwilligen Kurs der Regierung schwächer geworden. Nun riß sie vollends ab, eine Isolierung, die zu schweren wissenschaftlichen Einbußen führen sollte. Immerhin waren z. B. im Jahre 1941 noch 26 ordentliche und 16 außerordentliche Professoren im Amt. Es gab 108 außerplanmäßige Extraordinarien und 74 Privatdozenten. Die Gesamtzahl der Dozenten hatte sich also gegenüber den zwanziger Jahren nicht wesentlich geändert. Auf die weiteren Einflüsse des Kriegsverlaufs, der weitreichenden Zerstörungen und Personalverluste, der nachfolgenden Hungers- und Materialnot braucht hier nicht eingegangen zu werden. Diese Vorgänge sind noch frisch im Gedächtnis aller Beteiligten. Der letzte schwere Schlag, den die Berliner medizinische Fakultät erlitt, war die Errichtung von Schranken zwischen der Universität und dem Westen und ihre teilweise Politisierung, die notwendigerweise zur Gründung der Freien Universität führte. Es ist zu hoffen, daß diese Schranken in nicht allzu ferner Zukunft wieder fallen werden, so daß der gesunden Weiterentwicklung der alten medizinischen Fakultät nichts mehr im Wege steht. Für eine Anzahl wertvoller Daten bin ich Herrn Prof. Walter Pagel in London und Herrn Prof. Unverricht in Berlin zu Dank verpflichtet. LITERATUR Pagel, I. L., Geschichte der Medizin in Berlin. Wiesbaden 1S97. Die Berliner Medizinische Fakultät im ersten Jahrhundert ihres Bestehens. Deutsche med. Woch. 1910. 14*
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B R U C K E N ZUR VERGANGENHEIT Nach bald drei Dezennien der Auswanderung die Aufforderung zu einem Beitrag für den Festtag des 150 jährigen Bestehens der Berliner Universität zu erhalten, löst eine gewisse Erschütterung aus. Einerseits ist es schwer, jene Periode zu vergessen, die so sehr im Widerspruch zu allen Grundsätzen der »Universitas« stand, andererseits ist es aber auch unmöglich, ohne Dankbarkeit und trotz allem mit einem Gefühl der Zugehörigkeit an die große Universität zurückzudenken, deren Geist in den Standbildern Alexanders und Wilhelms von Humboldt versinnbildlicht ist: Freiheit der Persönlichkeit, Freiheit der Forschung und Unabhängigkeit der Lehre vom Augenblicksmoment politischer Strömungen. Diese Bindung ist natürlich besonders stark in Erinnerung an die Männer, deren Einfluß auf die eigene Fachausbildung bis zum heutigen Tage unvergessen ist, jene glänzenden Persönlichkeiten, die das junge Fach der Hygiene an der Berliner Universität zur Blüte gebracht haben: Max Rubner, Carl Flügge, Alfred Grotjahn. Wenn ich mich frage, warum nach Jahrzehnten, in denen die präventive Medizin so ungeheure Fortschritte gemacht hat, daß die Epoche jener Pioniere in viel weiterer Vergangenheit zu liegen scheint, als es den Jahren entspricht, warum trotzdem Gestalt und Leistung dieser Männer noch so lebendig sein können, so finde ich für mich die Antwort: In der universalen Auffassung ihres Faches und dem Mut, mit dem sie bereit waren, für die Grundsätze ihrer Erkenntnis einzustehen. Die Universalität des Fachwissens, die auf so vielen Gebieten infolge der notwendigen Specialisierung verloren gehen mußte, steht seit geraumer Zeit im Brennpunkt der Diskussion über ärztliche Erziehung. Man fühlt, daß der Weg der Behandlung des Kranken über die Erfassung seiner Persönlichkeit gehen muß und daß dazu unendlich mehr gehört als Specialanalyse des Krankheitsbildes. Ja, die Annäherung der kurativen und der präventiven Medizin und
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damit die »Einheit der Medizin« ist auf dem Wege der Verwirklichung, denn die immer mehr anwachsende Last der chronischen Krankheiten kann nur gesenkt werden, wenn man den physischen, biologischen und socialen Ursachen nachspürt, die so oft für die frühzeitige Abnützung der menschlichen Arbeitskraft verantwortlich sind. Und hier haben wir das Aufgabengebiet der präventiven Medizin in seiner universalen Formulierung vor uns. Die präventive Medizin befindet sich aber ebenfalls im Zustand der Aufsplitterung in spezielle Fachgebiete und der Spezialhygieniker in der Gefahr, nicht weniger als der Therapeut seinem Patienten gegenüber, die Bedrohung der Bevölkerungsgrw^e, deren Behandlung seine Aufgabe ist, in ihrer Vielseitigkeit und in ihrem Umfang nicht richtig einzuschätzen. Unter solchen Umständen tut es jedem von uns gut — ich jedenfalls habe es so empfunden — sich mancher Äußerung der älteren Hygieniker zu erinnern, wie etwa der folgenden von Gruber1: »Das Gebiet, das die Hygiene zu durchforschen hat, ist unabsehbar groß. Bei der filzartigen Durchflechtung aller Naturvorgänge ist es nicht viel kleiner als die ganze Welt. Zu dieser Welt gehört auch das gesamte, vom Menschen Geschaffene, also die ganze Einrichtung von Staat und Gesellschaft, Religion, Kunst, Wissenschaft und Technik. Welche unermeßliche Bedeutung gerade auch diese Faktoren für die Gesundheit haben, darüber konnte kein sachkundiger und aufmerksamer Beobachter der menschlichen Dinge jemals im Zweifel sein«. Trotzdem die prinzipielle Auseinandersetzung über Wege und Ziele der präventiven — wie der kurativen — Medizin hauptsächlich in den großen Kulturländern stattfindet, so mag es doch sein, daß dort die Dringlichkeit der Probleme nicht deutlich genug in Erscheinung tritt. Ist doch so vieles an hygienischen Errungenschaften schon Gewohnheitsgut, Technik und Routine des öffentlichen Lebens geworden. In einem kleinen Lande, fern von diesen Zentren des Beispiels, einem Lande, das sich in stürmischem Aufbau befindet, in das sich Ströme von Einwanderern ergießen, aus Kultur- wie noch mehr aus unterentwickelten Ländern, in dem deshalb weder von einer Tradition noch von einheitlicher Gestaltung der Lebensformen die Rede sein kann, in einem solchen Lande mit einem wahrhaft bunten Bouquet gesundheitlicher Gefahren, verlangt Taktik und Strategie 1
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der Gesundheitsfürsorge eine mehr universale Einstellung. Ein Hygieniker, dem es nicht gelingt, in solchem Fall einen Standpunkt einzunehmen, von dem aus eine allgemeinere Übersicht möglich ist, wird nicht dem Notwendigen sein sofortiges Recht und der Entwicklung des weniger Dringlichen die gebotene Zeit anweisen können. Man sollte sogar die innere Freiheit haben, einen für einen Hygieniker paradoxen Satz zu halten, den Carl Flügge, soweit ich mich erinnere, einmal zum Thema einer Rektoratsrede in Breslau genommen hat: »Die Gesundheit ist der Güter höchstes nicht«. An Carl Flügge, der neben anderem ein meisterhafter Lehrer war, mußte ich oft zurückdenken, als mir vor 10 Jahren, mit der Gründung der Medizinischen Fakultät an der Universität Jerusalem die Aufgabe der Organisierung des hygienischen Unterrichts übertragen wurde. Studenten in diesem Fach so auszubilden, daß sie als Ärzte der Vielfältigkeit der Bevölkerung wie der Umweltsbedingungen gewachsen sein sollten, verlangte anderes und mehr als die Übermittlung eines mehr oder weniger standardisiertem Fachwissens. Der Unterricht mußte vielmehr den Studenten das geistige Rüstzeug zur Beurteilung der jeweiligen Situation liefern, nicht viel anders im Prinzip als es Flügge im Vorwort zu der ersten Auflage seines »Grundriß der Hygiene« im Jahre 1889 ausgedrückt hat: »Wir . . . sind selten in der Lage, dem angehenden Arzt festgegründete Maximen mit auf seinen Weg zu geben; sondern wir müssen versuchen, die Studierenden zu einem eigenen Urteil in hygienischen Fragen zu erziehen«. Und weiter verlangt er, daß beim Unterricht auch »die Lücken unserer Erkenntnis offen dargelegt werden«. In diesem Zusammenhang dürfte es vielleicht interessieren, daß wir, in Verfolgung solcher Unterrichtsgrundsätze, an der Universität Jerusalem einen neuen und, wie wir glauben, erfolgreichen Weg beschritten haben: In dem praktischen Jahr, das der Erteilung der Approbation als Arzt vorangeht, muß jeder der jungen Mediziner einen Monat einem Thema aus dem Gebiet der präventiven Medizin widmen. Seine Prüfung in diesem Fach ist erst abgeschlossen mit einem schriftlichen Bericht über diese Arbeit und einer anschließenden mündlichen Besprechung. Abgesehen davon, daß eine solche selbständige Tätigkeit in einem außerhalb der Krankenhauserfahrung liegenden Milieu die Voraussetzung für die Bildung des »eigenen Urteils« innerhalb späterer Tätigkeit schafft, haben diese Berichte,
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von denen nun schon einige Hunderte vorliegen, Tatsachen über Zustände in Gemeinden und Familien, über Ernährungs- und Lebensgewohnheiten der Siedler aus vielen Ländern ans Licht gefördert, die sich eben nur im engen Kontakt mit der Bevölkerung erschließen und die andererseits grundlegendes Material für sozial-ärztliche Forschung und administrative Planung liefern. Die Studenten lernen aber darüber hinaus noch zwei Dinge, die von bleibender Bedeutung für sie sein können: Einmal nicht emotionell zu urteilen und zu verurteilen, selbst wenn sie einem denkbar unhygienischen Zustand gegenüber stehen, sondern zunächst die Situation aus ihrem Kausalzusammenhang heraus zu verstehen und erst dann den Heilungsplan aufzustellen. So können sie zu der Entscheidung kommen, daß ein Fürsorger, eine Schwester oder ein Lehrer der Bevölkerung fehlen, bevor man an prinzipielle Fragen, wie Sanierung herangehen kann. Und weiter lernen sie, daß selbst eine richtige Erkenntnis nur ein Anfang ist, der Erfolg nicht auf dem Präsentierbrett liegt, sondern auch ein Arzt, der sich für das Volkswohl einsetzt, mit Mut und Ausdauer für seine Uberzeugung zu kämpfen hat und selbst einer Niederlage gewärtig sein muß, wenn die Zeitumstände gegen ihn arbeiten. Das eindrucksvollste Beispiel, das ich meinen Studenten in dieser Beziehung geben konnte, war die Haltung Carl Flügges im ersten Weltkrieg zum Problem der Nahrungsmittelrationierung. Wie unbeugsam er damals seine wissenschaftliche Überzeugung gegenüber dem sogenannten »patriotischen« Standpunkt verteidigte, kann jeder zukünftigen Generation in ähnlicher Lage als warnendes Beispiel und gleichzeitig als Maßstab der Behandlung öffentlicher Fragen von Seiten des Wissenschaftlers und Arztes dienen. Der Inhalt seines Pamphlets, das während der Dauer des Krieges selbst nur wenigen zugänglich gemacht werden konnte, fand später Abdruck in seinem Lehrbuch. Dieses ist der Wortlaut des Wesentlichen: »Wenn innerhalb der städtischen Bevölkerung die Gesundheitsschädigungen nicht durchweg ebenso schwer gewesen sind wie bei den Anstaltsinsassen, so ist dies wesentlich dem Umstand zu danken, daß fast die gesamte Bevölkerung sich im Schleichhandel Ergänzungen zu der rationierten Kost zu verschaffen wußte, die nach zahlreichen Erhebungen im Mittel etwa 50% der Ration entsprachen. . . . Soweit es sich bei diesem »Hamstern« von Lebensmitteln um kleine
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Reserven von Nahrungsmitteln handelte, die nicht über die notwendige Ergänzung des Bedarfs der einzelnen Haushaltungen hinausgingen und keineswegs in wucherischer und gewinnsüchtiger Absicht erworben wurden, hätte man sie dulden sollen, auch wenn sie ungesetzlich waren. Man kann es vom hygienischen Standpunkt nur bedauern, daß gegen solche Verfehlungen strenge Verordnungen erlassen wurden, die von ungezählten Menschen übertreten worden sind . . . Hätten die Gesetzgeber etwas mehr von der Ernährungslehre gewußt, und hätten sie die Motive zur Überschreitung der rationierten Nahrung besser berücksichtigt, so wären unmöglich Verordnungen erlassen worden, die mit polizeilicher Kontrolle und Gefängnisstrafen verhüten sollten, daß Menschen das taten, was sie als unbedingt nötig zur Selbsterhaltung und zur Erhaltung ihrer Angehörigen empfanden. Von einem Menschen, dem auf engem Wege ein durchgehendes Gespann begegnet, verlangt man doch nicht, daß er sich lieber überfahren läßt, als daß er zur Seite auf den Rasen geht, dessen Betreten verboten ist! Unverständlich ist es auch, daß sich öffentliche Ankläger und Richter fanden, welche die Übertretung solcher Verordnungen ahndeten und dem durchgreifenden Unterschied zwischen gewerbsmäßigem wucherischem Schleichhandel und dem Bestreben, sich kleine, aber lebensnotwendige Ergänzungen der Kost zu beschaffen, nicht genügend Rechnung trugen . . .« Die Kritik am Verhalten der Staatsgewalt mündet in ungemein sachverständigeVorschläge zurHebung der landwirtschaf tlichenProduktion. Als in Israel unter dem Druck schwerer wirtschaftlicher Verhältnisse nach der Staatsgründung ein allgemeines Rationierungssystem der Gebrauchsgüter auch auf Nahrungsmittel ausgedehnt wurde, war die Verteilung und die gesetzliche Handhabung mit fast denselben Fehlern behaftet, wie sie Flügge schildert. Ich machte es damals zu meiner Aufgabe, den Studenten nahe zu bringen, daß es, bei allem Respekt vor Staatsgesetzen, eine Loyalität auf höherer Stufe gibt, und daß man das Recht hat, gegen Vorschriften aufzutreten, die mit dem ärztlichen Gewissen unvereinbar sind. Ich ließ das Zitat Flügges ins Hebräische übersetzen. Der Sprache des Landes angepaßt hatte es selbst nach Jahrzehnten nicht an Uberzeugungskraft eingebüßt, man fand, im Gegenteil, es sei für die Gegenwart geschrieben! So haben mehrere Jahrgänge unserer Studenten noch aus dem Bekenntnis dieses aufrechten Wissenschaftlers Nutzen geschöpft.
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Flügges Verdienst um eine universale Auffassung des Begriffs der Hygiene, sein Mut und seine Vorurteilslosigkeit traten auch offen zutage in dem jahrelangen Kampf, größtenteils innerhalb der Fakultät, den er um die Ernennung Alfred Grotjahns zum Lehrer für Sozialhygiene geführt hat. Flügge, der ein Epidemiologe und Experimentalhygieniker war, der eine der ersten zusammenfassenden Darstellungen der Bakteriologie und das erste Handbuch der hygienischen Untersuchungsmethoden herausgegegen hat, besaß den Weitblick, dem hervorragendsten Vertreter des sozialen Gedankens im Rahmen der ärztlichen Hygiene eine Professur an der Universität zu verschaffen. So kam es, daß vom Beginn der zwanziger Jahre an die experimentelle und die soziale Hygiene als Lehr- und Forschungsfächer unter dem Dache eines Institutes vorbildlich vereinigt waren. Niemand, der mit Grotjahn in beruflichen Kontakt war, der seine Seminare besucht und seine »Soziale Pathologie« gelesen hat, konnte sich dem Eindruck dieser Persönlichkeit entziehen. Die Aufrichtigkeit seines Wesens, die Originalität seines Denkens, die Unerbittlichkeit seiner Schlußfolgerungen waren unwiderstehlich und trotz seiner temperamentvollen Ausfälle gegen die »Nur Bakteriologen« und »Pseudoexakte Tierexperimentfanatiker« hatte er wohl keine Gegner, die des Namens wert gewesen wären. Seine viel zu kurze Wirkungszeit war ein gewaltiger Auftakt für die Erforschung des sozialen Charakters der Krankheit, eine Entwicklung, die noch keineswegs abgeschlossen ist. Grotjahn war, wie mir vor kurzem ein bedeutender Epidemiologe der Harvard University erklärt hat, "fifty years ahead of his time". Am Beispiel seines eigenen Lebens — er hat im reifen Alter noch Volkswirtschaftslehre studiert — zeigte er, daß medizinische und soziale Wissenschaften zusammengehen müssen, wenn eine echte Volkswohlfahrt aufgebaut werden soll. Wie weit sind wir heute noch von dieser Synthese entfernt! Grotjahn war ein vorbildlicher Wissenschaftler, äußerst kritisch und nie zu Schlußfolgerungen geneigt, wenn die Grundlage der Erfahrung ihm noch brüchig schien. Das Verhältnis des Menschen zur Arbeit war ein Thema, das ihn sehr beschäftigte, aber praktische Forderungen, so schrieb er, könnten nicht erhoben werden, »bis nicht die Zusammenarbeit der Physiologen, Hygieniker und Volkswirte uns eine Naturgeschichte der Arbeit oder eine Dynamik der gewerb-
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liehen Leistung geschaffen hat, die der sozialen Praxis als Richtschnur dienen kann.« Grotjahns Sicht in die Zukunft der wissenschaftlichen Hygiene hatte etwas Visionäres. In seiner Autobiographie »Erlebtes und Erstrebtes« findet sich folgende Stelle: »Es wird einmal die Zeit kommen, in der es selbstverständlich sein wird, daß der sozialen Hygiene der Vorrang vor allen anderen Zweigen der Hygiene eingeräumt werden muß und die experimentelle sich mit der ihr zukommenden sekundären Stellung als Hilfswissenschaft zu begnügen hat. Dann wird man die Schwierigkeiten nicht mehr verstehen, denen damals die wenigen Pioniere einer Betonung des sozialen Momentes bei der Verursachung von Krankheiten . . . begegneten«. Das sind stolze Worte, gesprochen zu einer Zeit des Siegeszuges der Bakteriologie. Aber wer wollte heute leugnen, daß sie die wahreRangordnung j enerKräfte widerspiegeln, die heute in einer gemeinsamen Anstrengung bemüht sein müssen, die Gesundheitsbasis des menschlichen Daseins zu verbessern ? Rückblickend auf die hier nur in Streiflichtern gezeichnete Periode möchte ich meinen, sie wäre bedeutend genug, um in einer breiteren Schilderung der heutigen, Medizin studierenden Jugend Deutschlands nahe gebracht zu werden. Die Absicht dieser knappen Zeilen war es nur, der Stätte meiner wissenschaftlichen Ausbildung zu ihrem Festtage und den Männern, deren Person und Leistung unvergeßlich in meinem Gedächtnis leben, einen Tribut der Dankbarkeit zu zollen. Man möge jedoch darin auch ein Zeichen sehen für die aufrichtige Überzeugung, daß eine geistige Brücke zu einer solchen Vergangenheit zu bauen selbst unter schwierigen seelischen Belastungen niemals unmöglich ist.
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ZUR GESCHICHTE D E R PHYSIOLOGIE AN D E R FRIEDRICH-WILHELMS-UNIVERSITÄT Was wir heute unter Physiologie verstehen, beginnt um die Wende des 18. Jahrhunderts, als Reaktion auf den Vitalismus und die romantische Naturphilosophie. In Paris waren es Francois Magendie (f 1855) und sein Schüler Claude Bernard (f 1898), in Leipzig E. H. Weber (f 1818) und später Carl Ludwig (f 1895), und in Breslau war es der von Goethe hochgeschätzte Purkinje (f 1869), die das wissenschaftliche Gewissen der Medizin aufrüttelten, einig in der Ablehnung des Vitalismus und der Forderung nach experimenteller Naturforschung. In diese Zeit des Wandels und des Aufbruchs fällt die Gründung der Friedrich-Wilhelms-Universität. Das 1713 von Friedrich Wilhelm I. errichtete Collegium medico-chirurgicum enthielt u. a. auch ein anatomisches Institut, das mit der Gründung der Universität in deren Obhut überging. Mit der Berufung K. A. Rudolphis als ersten Professor auf den anatomisch-physiologischen Lehrstuhl —• Anatomie und Physiologie waren um 1800 in einer Hand — hatte man einen glücklichen Griff getan. Wenn auch Rudolphis Interessen vorwiegend der vergleichenden Anatomie galten und seine Abneigung gegen die Vivisektion dem Vordringen der experimentellen Physiologie eher hinderlich war, bleibt doch seine von den Zeitgenossen oft gerühmte Liberalität den jungen Ideen gegenüber und seine scharfe Gegnerschaft einer mißverstandenen Anwendung der Philosophie im Studium der Natur von ungewöhnlichem Wert für die Entwicklung der theoretischen Medizin. So scheint Johannes Müller, 22j ährig, als Schüler Rudolphis von seiner Neigung, die Naturforschung mit romantischen Betrachtungen zu durchsetzen, unter dem Einfluß seines Lehrers stark abgerückt zu sein. In seiner Antrittsvorlesung (1824) vor der Bonner Universität formuliert er seine Abkehr von der Naturphilosophie seiner Zeit und entwirft das Wesen eines wahren Naturforschers: »Nicht das abstrakte Denken über die Natur ist das Gebiet des Physiologen, der Physiologe erfährt die Natur, damit er sie denke A Allerdings
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sieht er die Problematik des analysierenden, den Gegenstand zertrümmernden Experimentes (Dove): »Man sieht alltäglich Versuch auf Versuch häufen, einen den Schein des anderen stürzen, beides oft genug von Männern, welche weder so sehr geistig ausgezeichnet sind, noch Wahrheit der Person und Selbstverleugnung zum Versuchen mitbringen. Es ist nichts leichter, als eine Menge sogenannter interessanter Versuche zu machen. Man darf die Natur nur auf irgend eine Weise gewalttätig versuchen, sie wird uns in ihrer Not eine leidende Antwort geben. Nichts ist schwieriger als sie zu deuten, nichts ist schwieriger als der gültige physiologische Versuch, und diesen zu zeigen und klar einzusehen, halten wir für die erste Aufgabe der jetzigen Physiologie.« Eine solche Haltung zum physiologischen Experiment mag wohl aus den bitteren Erfahrungen seiner ersten Arbeit — einer Preisarbeit der Bonner Fakultät — entstanden sein. An einer großen Zahl lebender Tiere sollte der Nachweis der Atmung des Foetus erbracht werden. Wenn auch der 20jährige mit großem Eifer an die Versuche ging und ihm auch vergönnt war, die gestellte Frage zu beantworten, mag ihm doch die Lust an der Vivisektion vergangen sein. Man darf nicht vergessen, wie in damaliger Zeit Tierexperimente ausgeführt wurden. Es gab keine Anaesthesie, die Tiere mußten in gefesseltem Zustand operiert werden. Jedenfalls gibt es in der Folgezeit unter den Arbeiten Müllers keine dieser Art. Auch Goethes Einfluß — in weiterem Sinne — Ist in dieser Rede vor der Bonner Fakultät deutlich spürbar. Wohl war Goethes Art der Naturbetrachtung beispielhaft für seine Zeit geworden, aber in Johannes Müller fand sich mehr: ein verwandter Geist. Er konnte Naturwissenschaft nicht ohne philosophisches Denken betreiben. Er war nicht wie seine Schüler von der reinen Begreifbarkeit der Natur überzeugt, er sah nur ihre Ordnung, die der Mensch in anschaulichem Denken erfassen konnte. Er, der Meister des physiologischen Experimentes, — in Paris zeigte er den schlüssigen Beweis des Bell-Magendieschen Gesetzes von der Funktion der Rückenmarkwurzeln vor A. v. Humboldt und vielen anderen bedeutenden Wissenschaftlern; in seinen Arbeiten über die Funktion der Drüsen räumte er alle Vorurteile von der unmittelbaren Entstehung der Sekrete aus den Blutkapillaren aus — er wendet sich ab von dieser analytisch-induktiven Methode. Er erkennt, daß sie allein dem Wesen der Natur nicht gerecht wird. Erst in der reinen Beobachtung der Natur können seine Intuitio-
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nen Früchte tragen. So widmet er sich in der Zeit der letzten Reife der vergleichenden Anatomie und, wie wir heute sagen würden, der descriptiven Zoologie. Die letzte Dekade seines Lebens verbringt er mit steten Reisen an sein geliebtes Meer, einige junge Freunde, die sein Werk fortführen sollen, um sich. An den großen Entdeckungen der neuen Aera nimmt er innerlich wenig Anteil. Eine Neuauflage seines Handbuches der Physiologie schiebt er hinaus mit dem Bemerken, daß er Liebigs weitere Forschungen abwarten wolle. An einem Vormittag im April des Jahres 1858 stirbt er plötzlich, ohne daß Zeichen einer schwerwiegenden Krankheit ihn gewarnt hätten. Er mag mit Goethe das Bewußtsein geteilt haben, »einer der letzten einer Epoche gewesen zu sein, die sobald nicht wiederkehrt.« Es war nicht der Suchtrieb und das »Nachstammeln von Naturgeheimnissen«, was Joh. Müller zum Naturforscher machte. Es war eher das Sich-Einsfühlen mit der Natur, wie es Goethe empfand, das ihn immer wieder auf das Meer hinaustrieb und seine Planktonnetze auswerfen ließ, damit er seine Geschöpfe betrachte und in die Ordnung des Kosmos einfüge. Aber er wußte, wie man einen gültigen physiologischen Versuch ausführt und er hat dieses Wissen seinen Schülern weitergegeben. Er hatte eine besondere Anziehungskraft auf junge Wissenschaftler. Nachdem er nach Rudolphis Tode den Berliner Lehrstuhl übernommen hatte, zeigte sich, daß das Haus hinter der Garnisonkirche, in dem Anatomie und Physiologie untergebracht waren, viel zu klein war, um die große Zahl der Schüler aufzunehmen. Um nur die wichtigsten zu nennen: es waren die späteren Ordinarien der Anatomie in Europa, J. Henle an erster Stelle, der später Müller nachfolgen sollte, aber in Göttingen blieb, weil die preußischen Gerichte ihn zu Zuchthaus wegen Zugehörigkeit zur Burschenschaft verurteilt hatten; Th. Schwann, der die Zellenlehre schuf; Fr. H. Bidder, der spätere Anatom und Physiologe der Universität Dorpat, Entdecker der Selbständigkeit des sympathischen Nervensystems; R. Virchow, der die Anregungen Müllers, pathologische Anatomie mit mikroskopischen und chemischen Methoden zu betreiben, aufnahm und auf Müllers Vorschlag den ersten Berliner Lehrstuhl für Pathologie erhielt und weltberühmt machte; und unter vielen anderen, einer der letzten seiner Schüler, E. Haeckel, der die zoologischen Studien seines Lehrers fortsetzte, sich aber am stärksten von den Anschauungen J. Müllers
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entfernte. Durch seine Bücher verbreitete er die Lehre Darwins auf dem Kontinent. Und es waren die kommenden Begründer der neuen Physiologie, keine geringeren als Helmholtz, Brücke und nicht zuletzt Du Bois Raymond, den Müller besonders förderte. Er erkannte wohl die für die Physiologie ungewöhnlich glückliche Begabung des jungen Mannes, dessen Interessen sowohl biologischer wie mathematischphysikalischer Art waren. Vielleicht war es aber auch der selbstbewußte, entschlossene und kraftvolle Charakter dieses Mannes, der Johannes Müller überzeugte. Er hatte sich in ihm nicht getäuscht. Bald konnte Du Bois Reymond einige Räume des Anatomischen Instituts für seine physiologischen Arbeiten einrichten. Im Jahre 1855 wurde er, noch nicht 3oj ährig, zum außerordentlichen Professor der Physiologie ernannt und Vorstand des »Physiologischen Laboratoriums.« Von entscheidendem Einfluß wurde das 1840 erschienene Buch Matteuccis über die elektrischen Erscheinungen der Tiere, auf das Müller den jungen Forscher aufmerksam machte. In diesem Buch stößt er auf das Problem von Reiz und Erregung in Nerv und Muskel, das ihn sein Leben lang nicht losläßt. Nach 7 Jahren intensiver Forschung veröffentlichte er zwei Bände mit zusammen 1600 Seiten über die »thierische Elektricität«. In notwendig breiter Formulierung enthalten die Bände das gesamte experimentelle Material, das die Grundlage für die Erscheinungen bildet, die die Erregung an Nerv und Muskel hervorrufen. Du Bois Reymond beherrscht das Ideengut der damaligen Physik, experimentiert mit jeder Art von elektrischen Stromquellen, Elementen, Induktorien, Kondensatoren; um die kleinen Spannungen der tierischen Substanz messen zu können, entwickelt er eigene Meßgeräte mit höchster Empfindlichkeit, sogenannte Rheoskope. Er ist der erste, der das hochempfindliche biologische Substrat selbst zu einem Meßgerät macht, zum sogenannten physiologischen Rheoskop, ein Verfahren, das in der neueren Medizin nicht mehr zur Messung elektrischer Potentiale, aber zur Austestung minimaler Quantitäten chemischer Substanzen reichlich verwendet wird. Der »Brockhaus« bezeichnet ihn als den Begründer des naturwissenschaftlichen Materialismus. Damit wird man ihm wohl nicht ganz gerecht. Man sollte doch bedenken, daß der Materialismus eine Lehre der Philosophie darstellt, Du Bois Reymond aber Physiologe war. Auch wenn er leidenschaftlich gern in die Diskussion der Zeit eingriff,
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blieb er doch bei seinem Leisten. Dieser allerdings war für ihn frei von spekulativen und ungewissen Hintergründen. Für seine Wissenschaft bekannte er: »Es gibt kein anderes Erkennen als das Mechanische, keine andere wissenschaftliche Denkform als die Mathematischphysikalische«. In seinen Reden als Sekretär der Berliner Akademie der Wissenschaften finden sich zahllose Stellen dieser Art. Sein Gefühl für ein Abweichen von den neuen Prinzipien der Naturforschung ist sehr stark entwickelt. Kaum hat er die Gefahr eines Neo-Vitalismus gewittert, tritt er ihm in schärfsten Formulierungen entgegen. »Vergeblich zieht man zu seiner Stütze die althergebrachten Argumente an, wie die Unbegreiflichkeit, die Wunderbarkeit, die Unnachahmlichkeit der organischen Natur. Unbegreiflich ist auch die anorganische Natur, da weder Materie noch Kraft noch erste Bewegung begreiflich sind...«. Er läßt sich von den Zweiflern, die bei jeder neuen Schwierigkeit in der eben begonnenen Erforschung der Lebensvorgänge einen Schleichweg zur »Lebenskraft« zurückfinden wollen, nicht beirren. »Ich bin es wahrlich nicht, der sich weigert, vor Grenzen unseres Naturerkennens Halt zu machen; bewahren wir aber doch unser Ignorabimus für Punkte auf, wo es wirklich am Platz ist.« So ist er der Wortführer der Gruppe von MwWer-Schülern, die die Begründer der modernen europäischen Physiologie werden sollten. Sie vollenden mit ihm, wie er sich selbst ausdrückt, »das Befreiungswerk aus dem Vitalismus«. Der bedeutendste unter ihnen war Helmholtz. Seine überragenden Fähigkeiten haben auch seine Zeitgenossen anerkannt. Die Freunde, die ebenso wie sein Lehrer Joh. Müller seine mathematischen Fähigkeiten bewunderten, erlebten die Mitteilung über die »Erhaltung der Kraft«: »Am 23. Juli 1847 trug er in der Physikalischen Gesellschaft eine Abhandlung über die Erhaltung der Kraft vor, in welcher er sich zu unserem Erstaunen mit einem Schlage als einen jeder Aufgabe gewachsenen Physiko-Mathematiker offenbarte.« In dieser Schrift finden wir die wichtigen Zeilen, die ihn in seiner Auffassung von den Aufgaben der Naturforschung an die Seite seines Freundes Du Bois Reymond stellen: »Jedenfalls ist es klar, daß die Wissenschaft, deren Zweck es ist, die Natur zu begreifen, von der Voraussetzung ihrer Begreiflichkeit ausgehen müsse, und dieser Voraussetzung gemäß schließen und untersuchen muß, bis sie vielleicht durch unwiderlegliche Facta zur Anerkenntnis ihrer Schranken genötigt sein sollte.«
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1849 verläßt er Berlin, um einem Ruf auf den Physiologischen Lehrstuhl von Königsberg zu folgen. Aber er bleibt mit seinen Freunden in enger Verbindung. Brücke, der schon vor ihm Berlin verlassen hatte und inzwischen nach Wien übergesiedelt war, teilt ihm seine Beobachtungen über das Augenleuchten mit und regt ihn damit an zur Erfindung des Augenspiegels, den er 1850 in Berlin demonstriert. Erst 1871 — nach reicher Ernte in der physiologischen Akustik und Optik an den Universitäten Bonn und Heidelberg — kehrt er nach Berlin zurück —• als Physiker. Nach Johannes Müllers Tode im Jahre 1858 wurde die Physiologie endgültig von der Anatomie abgetrennt und eine ordentliche Professur geschaffen. Diese wurde Du Bois Reymond übertragen. Sogleich beginnt er mit der Planung eines großen Institutes, in dem sich die Vielseitigkeit der Physiologie entfalten sollte. Es hatten sich inzwischen vier Gebiete der Physiologie entwickelt, die bereits vor der Gründung der Professur ihr Eigenleben geführt hatten. Du Bois Reymond trug dem Rechnung und richtete in seinem neuen Institut in der Dorotheenstraße vier Abteilungen ein, von denen er die physikalische, die für die elektrophysiologische Forschung eingerichtet war, selbst übernahm. Seinem Weitblick ist es zu danken, daß er der physiologisch-chemischen Forschung in seinem Institut einen umfangreichen Raum zuteilte. Seit Liebig hatte sich immer stärker die Notwendigkeit entwickelt, die chemischen Prozesse der physiologischen Funktionen zu erkennen. Einer der ersten und zugleich bedeutendsten Vertreter der physiologisch-chemischen Richtung war Hoppe-Seyler, dessen Schüler Eugen Baumann 1877 mit der Leitung der Berliner Abteilung betraut wurde. Hier hat er fast 8 Jahre gewirkt und die Grundlagen für die Erforschung der Ringchemie der tierischen Organismen geschaffen. Im letzten Jahr vor seinem Tode gelang ihm die wichtige Entdeckung des organisch gebundenen Jods in der Schilddrüse. Noch zu Du Bois' Zeiten kam als Nachfolger Baumanns Albrecht Kossei, ebenfalls ein Hoppe-Seyler-Schüler, an das Institut. In diesem Manne hatte Berlin einen der bedeutendsten Vertreter der physiologischen Chemie gewonnen (1883—-1895). Die Kenntnisse über die Zelle hatten die beiden Müller-Schüler Schwann und Virchow inzwischen erheblich gefördert und nichts lag näher, als angesichts der neu entdeckten Eigenschaften des Zellkerns, seine Chemie zu untersuchen. Kossei
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erkannte als wesentlichsten Bestandteil die Nucleinsäuren. Für seine Forschungen auf dem Gebiete der Eiweißkörper erhielt er später die große Auszeichnung des Nobel-Preises (1910). Die tierexperimentelle Abteilung, damals die vivisektorische genannt, lag in den Händen Hugo Kroneckers, der aus der Leipziger Physiologen-Schule stammte. Diese Schule, die E. H. Weber und Carl Ludwig begründet hatten, erlebte einen beispiellosen Aufschwung, besonders durch das Genie Ludwigs. Generationen europäischer Physiologen pilgerten nach Leipzig und lernten bei Carl Ludwig. Wenn diesen wohl auch der »Befreiungskrieg aus dem Vitaüsmus« mit den Berliner Freunden eng verband, blieb er doch dem öffentlichen Lärm des Kampfes fern. Ludwigs Arbeitsgebiet war die sogenannte vegetative Physiologie, die nur aus dem Tierexperiment erschlossen werden konnte. Diese Richtung der Physiologie war von Joh. Müller in seinem ersten Berliner Jahren viel gepflegt, aber, wie wir hörten, plötzlich verlassen worden. So war es ein wohl verständliches Anliegen Du Bois', einen Mann zu gewinnen, der diese in Berlin vernachlässigte Seite der Physiologie wieder aufnehmen würde. H. Kronecker hat über einen Zeitraum von 8 Jahren —1885 übernahm er den physiologischen Lehrstuhl in Bern — durch seine Untersuchungen über das Gefäßnervensystem, Herzreizbarkeit und -leistung, Ermüdung des Muskels, entscheidend zur Klärung dieser Probleme beigetragen, die später in der Berliner Physiologie einen bedeutenden Raum einnehmen sollten. Die 4. Abteilung des Instituts war die Histologie. Dieses Gebiet, das nach seinem methodischen Vorgehen ein Teil der Anatomie ist, war bei der Teilung der Fächer zur Physiologie geraten. Dies war durchaus sachlich begründet, hatte doch Joh. Müller in seinen Untersuchungen über die Drüsentätigkeit das mikroskopische Verfahren mit Erfolg zur Lösung einer physiologischen Frage herangezogen. Der Leiter der histologischen Abteilung war G. Fritsch, der sich insbesondere mit dem mikroskopischen Bau der Hirnrinde (Area centralis) des Menschen beschäftigte. Er hatte als junger Mann mit Hitzig die bedeutende Entdeckung gemacht, daß die Hirnrinde wohlumgrenzte Bezirke aufwies, die auf elektrischen Reiz Muskelkontraktionen zur Folge hatten und daß örtliche Läsionen zu Lähmungen in bestimmten Gebieten des Körpers führten (1870). Die Beziehung zur Neurohistologie wird an diesem Beispiel so einleuchtend, daß man G II
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verstehen wird, wie heute die Nervenphysiologen den Verlust der histologischen Abteilung beklagen. Doch schon vor der Ubersiedlung in das neue Institut beginnt der unaufhaltsame Aufstieg der Berliner Physiologie. Eine der bedeutendsten Persönlichkeiten der deutschen Physiologie, E. F. W. Pflüger, promoviert unter Du Bois, und habilitiert sich mit einer entscheidenden Arbeit über die Gesetze der Muskelzuckung, in konsequenter Weiterentwicklung Du Bois Reymondscher Vorarbeiten. Auch der leider früh verstorbene v. Bezold, späterer Ordinarius für Physiologie in Würzburg, wo ihm die bedeutende Entdeckung der Herzreflexe gelang, empfing seine ersten Anregungen zur physiologischen Forschung in dem alten Du ßoi'sschen Laboratorium. In dieser Zeit kommt L. Hermann, dem die Physiologie auf fast allen Gebieten bahnbrechende Arbeiten verdankt, als Famulus in das Institut. Als 2ijährigem gelingt ihm der Nachweis der anoxydativen Energielieferung bei der Muskelkontraktion. Als er sich dann mit Fragen der tierischen Elektrizität beschäftigt, gerät er in Konflikt mit seinem Lehrer. Eine Berufung auf das Ordinariat in Zürich bringt die beiden Streitenden auseinander. Obwohl Hermann eine bedeutende Zahl hervorragender Arbeiten auf elektrophysiologischem Gebiet veröffentlichte, hat er doch niemals die Anerkennung seines Lehrers erringen können. Du Bois' Theorie von der Entstehung der elektrischen Ströme im Muskel, die Hermann anzweifelte, wurde erst viel später (1902) durch Bernstein, einen Helmhottz-Schüler, endgültig widerlegt. Doch sollte man nicht vergessen, daß solche Widerlegungen nicht die Qualität der Messungen schmälerten. Die Theorien gingen mit den physikalischen Kenntnissen der Zeit parallel. Die sich um die Jahrhundertwende immer mehr entwickelnde physikalische Chemie wurde zur Voraussetzung für die von Bernstein formulierte Ionentheorie der Membranpotentiale, die die Molekulartheorie Du Bois' ablöste. Eine größere Zahl späterer Kliniker, auch Mitarbeiter aus dem Ausland, besonders den Vereinigten Staaten, erhielt die Ausbildung in der Physiologie unter Du Bois. Erwähnt sei hier der spätere Begründer der Pharmakologie in Gent, J. Fr. Heymans, der von 1887 bis 1891 als Assistent und Mitarbeiter Du Bois' tätig war. Nach dem Tode Du Bois Reymonds im Jahre 1896 folgte T.W.Engelmann aus Utrecht, der die Struktur des Institutes nicht veränderte. Doch berichtet Fritsch, daß frischer Wind aus dem lichtfrohen Holland
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mit dem neuen Direktor das alte düstere Institut durchwehte. Du Bois war schließlich dem Schicksal der Spezialisten nicht entgangen. In seiner ausschließlichen Beschäftigung mit Nerv und Muskel war er der Entwicklung der übrigen Physiologie kaum gefolgt. Seine Vorlesungen waren auf einem veralteten Stande stehen geblieben. Hier hat Engelmann offenbar eine glückliche Hand bewiesen, indem er die Arbeitsteilung des umfangreichen Stoffes nicht nur beibehielt, sondern auch die Leiter der Abteilungen zu den Vorlesungen ausgiebig hinzuzog. Die Zeit seines Wirkens war von nicht allzu langer Dauer. Ein fortschreitender Diabetes mellitus zwang ihn 1908 schließlich, sein Amt niederzulegen. Auf dem Gebiete der Herzphysiologie hat er bahnbrechende Arbeiten geleistet. Mit Max Rubner als seinem Nachfolger erscheint wieder eine kraftvolle Persönlichkeit auf dem Physiologischen Lehrstuhl. Die Zeit des Vitalismus war überwunden, der fast iooj ährige Streit entschieden: Nur mit den strengen Kriterien der exakten Naturwissenschaften ist es möglich, das Lebendige zu erforschen und gültige Ergebnisse zu erlangen. Aber die Methode wurde zum Selbstzweck. Nachdem Helmholtz und Robert Mayer den ersten Hauptsatz der Thermodynamik formuliert hatten, schien der Weg frei, die Energieumwandlungen des lebenden Organismus zu erforschen. Einer der ersten Physiologen, die sich mit dieser Frage befaßten, war der Ludwig-Schüler Carl Voit (1831—1909), der seit 1859 ™ der Münchener Physiologie lehrte. Mensch und Tier müssen sich zur Erhaltung ihres Lebens Energie zuführen. Die Energie, die aus den Nährstoffen stammt, wandelt der Organismus um zu ihm gemäßen Energieformen. Ein Riesengebiet der Forschung schien eröffnet. Um diese Zeit kam Max Rubner als junger Medizinstudent in die Laboratorien Voits. Hier lernte er die Methoden zur Erforschung des Energiewechsels kennen und wurde mit den Grundproblemen vertraut. Aber anstatt sich nun in die Analyse der Stoff- und Energieumwandlungen zu stürzen, schien den Physiologen die Frage, ob denn der Energie-Erhaltungssatz auch für die lebendige Natur Gültigkeit habe, von weit größerem Wert. Hier wirkte der »Befreiungskrieg aus dem Vitalismus« fort und hinderte die Physiologen, an ihre wahren Probleme heranzugehen. In ungeheuer mühevollen Versuchen wurden Energiebilanzen an Tier und Mensch aufgenommen und schließlich gelang es, die Gültigkeit des Helmholtzschen Satzes auch für die lebende Natur mit •s*
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einem Fehler von weniger als i % nachzuweisen. Rubners Forschergeist hatte sich an diesen Problemen so sehr entzündet, daß er sein Leben lang nicht davon los kam. Die radikale Fortsetzung der Forschen Ideen gipfelte in dem von Rubner geführten Nachweis, daß sich die Nährstoffe energetisch ersetzen könnten. Es ist interessant zu sehen, wie sich Voit zunächst dieser These widersetzte und die umfangreiche Arbeit Rubners nicht zur Publikation freigeben wollte. Carl Thomas, einer der erfolgreichsten Schüler Rubners, schreibt in seinem Nachruf die treffenden Worte: »Er hatte schwer zu kämpfen, bis er sich durchsetzte. Daher dominiert aber auch späterhin die energetische Betrachtung aller Lebensvorgänge bei ihm weitaus. Der Energiebedarf alles Lebendigen war ihm das Primäre, die stofflichen Umsetzungen das Sekundäre. . . . Ich glaube nicht, daß Rubner die Einseitigkeit seiner Auffassung gefühlt hat, aber daß in die Anerkennung sich immer häufiger Zweifel und Widerspruch mischten, hat doch wohl zu einer Verbitterung beigetragen, der er im Alter immer mehr und mehr zuneigte.« Wir werden jedoch Rubner nicht gerecht, wenn wir ihn ausschließlich nach seinen wissenschaftlichen Zielen beurteilen. Seine Natur trieb ihn dazu, seine Erkenntnisse praktisch anzuwenden. Hierin hat er Außerordentliches geleistet. Als er den Physiologischen Lehrstuhl der Friedrich-Wilhelms-Universität übernahm, hatte er dem tatkräftigen Praktiker in sich über mehr als 2 Dezennien freien Lauf gelassen. Im Berliner Hygienischen Institut, das er seit 1891 als Nachfolger Robert Kochs leitete, finden wir ihn in seinem Element. Thomas berichtet über die ungeheure Arbeitslast, die er bewältigte: »Neben dem Forschungs- und Lehrbetrieb seines Institutes, wo er an manchen Tagen 6 Stunden zu sprechen hatte, nahmen ihn die Behörden, die wissenschaftliche Deputation für das Medizinalwesen, das Reichsgesundheitsamt für Gutachten aller Art in Beschlag. Keine größere Kanalisation, keine Wasserversorgung, kein wichtigeres Krankenhaus ist damals in Preußen eingerichtet worden, ohne daß die Pläne dazu vorher durch seine Hände gegangen sind.« Das alte Hygienische Institut reichte für die gewaltige Aktivität des Mannes nicht mehr aus, so daß ein Neubau errichtet wurde. Im Jahre 1905 wurde ein großzügiges Haus nach seinen Plänen an der Hessischen Straße gebaut und als Rubner 1909 den Ruf auf den Physiologischen Lehrstuhl erhielt, machte er zur Bedingung, daß er
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in seinem neu erbauten Hause bleiben konnte. In der Tat war es so weitblickend geplant, daß nur wenige Änderungen notwendig waren, um daraus ein Institut für die Zwecke der Physiologie einzurichten. Aus Rubners Bericht in der »Geschichte der Universität Berlin« erfahren wir, daß die Übersiedlung aus dem alten Du Bois Reymondschen Gebäude aus mehreren Gründen gerechtfertigt war. Neben dem Platzmangel für die anwachsenden Forschungsaufgaben fehlte auch der Raum für die zeitgemäße Durchführung des Unterrichts. Für die Abhaltung der physiologischen Kurse mußten »ausreichend große Arbeitssäle« geschaffen werden. Thomas erhielt den Auftrag, die Übungen den modernen Erfordernissen anzupassen. Er richtete das Praktikum nach einem von v. Kries in Freiburg erprobten Vorbild für eine Teilnehmerzahl von 300 Studenten ein. Der Lehrerfolg blieb nicht aus. Durch die gründliche Einführung in die praktische Physiologie konnte man damit rechnen, daß für den jungen Medizinstudenten physiologische Erkenntnisse richtungsweisend in seinem ärztlichen Handeln würden. Der Unterricht lag in den Händen der Abteilungsleiter, also älterer, mit ihrer Wissenschaft vollauf vertrauter Männer. Diese äußerst wirksame Einrichtung entschädigte für den leider nur sehr geringen Erfolg der Vorlesungstätigkeit Rubners. Er hatte das Prinzip der Arbeitsteilung aufgegeben und las den gesamten Stoff der Physiologie allein in einer sechsstündigen Vorlesung. Rubner hatte sie zwar nach umfangreichem Literaturstudium schriftlich ausgearbeitet, las sie aber ab. Experimente wurden nicht gezeigt. Zu den bestehenden Abteilungen wurde eine ernährungsphysiologische hinzugefügt. In ihr betrieb Rubner seine eigenen Forschungen. Die mikroskopisch-biologische Abteilung wurde in eine »mikrobiologische« umgewandelt, die für bakteriologische Arbeiten ausgerüstet war. Die reine mikroskopische Anatomie war bereits längere Zeit zu einem Zweig der anatomischen Disziplin geworden. Hatte man doch in Berlin ein selbständiges »Histologisches Institut« geschaffen. Dem praktischen Sinn Rubners ist es auch zu verdanken, daß im Jahre 1913 das erste »Arbeitsphysiologische Institut« der KaiserWilhelm-Gesellschaft gegründet wurde. Mit dem Ausbruch des ersten Weltkrieges sah sich Rubner auf sich allein gestellt. Die Assistenten und Abteilungsleiten waren im Feld. Einer der Begabtesten, Hans Piper, der der physikalischen Abteilung
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vorstand, fiel im Frühjahr 1915 an der Ostfront. Erst 1917 wurde die Stelle durch Martin Gildemeister, den späteren Ordinarius in Leipzig, besetzt. 1916 kam Thomas, verwundet und felddienstuntauglich, nach Berlin zurück. Rubner übertrug ihm die Leitung des arbeitsphysiologischen Institutes. Hier konnte Thomas seine Studien über den Kreatininstoffwechsel wieder aufnehmen. Sein Nachfolger war Edgar Atzler, der später nach Dortmund übersiedelte und dort das Kaiser-Wilhelm-Institut für Arbeitsphysiologie aufbaute. Nachdem Rübner schon zu Beginn des Krieges in einer Denkschrift über die Ernährung Deutschlands im Kriege das Kriegsministerium auf die schwerwiegenden Probleme der Rationierung —• leider vergeblich —• aufmerksam gemacht hatte, gelang es ihm schließlich, 1916 in seiner Festrede gelegentlich der Einweihung des Kaiser-WilhelmInstitutes für Biologie in Gegenwart des Kaisers das Gewissen der Verantwortlichen aufzurütteln. Von der Zeit an folgte man seinem Rat. In den Nachkriegsjahren wurde zunächst für Beamte und später auch für Hochschullehrer die Altersgrenze ihrer Tätigkeit durch Reichsgesetz auf 70 und später auf 68 Jahre festgesetzt. Rubner hat diesen »Einbruch in seine wohlverdienten Rechte« innerlich nie verwunden. Ihm, dem die tägliche Arbeit im Laboratorium zur Lebensnotwendigkeit geworden war — »keinen Tag ohne Experimente vergehen lassen« — war eine solche Maßnahme unbegreiflich, da sie ihn seiner Arbeitsstätte beraubte. Seinem Nachfolger, F. B. Hofmann, einem der Schüler Hering's, war es nur kurze Zeit vergönnt, das Berliner Institut mit seinem eigenen Geist zu erfüllen. Nach kaum 2 Jahren wurde er durch den Tod abberufen. Er hatte sich durch seine sinnesphysiologischen Arbeiten, anknüpfend an seinen Lehrer, und durch seine Studien über die myogene Natur der Herzautomatie einen Namen gemacht. Seine freie, lebendige Vortragsart lockte die jungen Medizinstudenten wieder in die Vorlesung, die es sich gern gefallen ließen, daß sie mitten im Vortrag Rede und Antwort stehen mußten. Hofmann las in zwei Semestern 6 Wochenstunden und trug die gesamte Physiologie vor, ohne die physiologische Chemie ganz auszulassen. Hierfür hatte sich inzwischen die chemische Abteilung Du Bois Reymonds stark entwickelt. Steudel als Nachfolger von Thierfelder vertrat sein Fach in Vorlesungen und Übungen. Im übrigen hatte Hofmann an der be-
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stehenden Aufteilung des Institutes in mehrere Abteilungen nichts geändert. Man muß betonen, daß diese Art der Arbeitsteilung einmalig in Europa war. Wenn sie auch wohl größtenteils auf die natürliche Entwicklung der Physiologie aus mehreren Teilgebieten der Anatomie zurückzuführen war, bleibt doch der weitschauende Blick der ersten Lehrstuhlinhaber zu bewundern, denen es Gewißheit war, daß nur selbständige Denker ihr Fach vorwärts bringen können. Du Bois Reymond, Engelmann und Rubner hatten mit dieser liberalen Haltung ihren Mitarbeitern gegenüber guten Erfolg gehabt. In den zwanziger Jahren meldete sich jedoch eine neue Schwierigkeit. Die Erforschung eines einzelnen Projektes erforderte zunehmend einen umfangreicheren Apparat und mit ihm mehr und mehr Hilfskräfte. Diese Entwicklung ist unaufhaltsam fortgeschritten. Sie hat zu der heute so viel beklagten Aufsplitterung unseres Faches geführt. Wilhelm Trendelenburg, der Nachfolger Hofmanns, sah sich dieser Situation in ihrer ganzen Weite gegenübergestellt. Trendelenburg war ein Schüler von Johannes v. Kries, der ihn schon während des Medizinstudiums, das Trendelenburg in Freiburg absolvierte, begeistert hatte. Von v. Kries lernt er, daß Physiologie nicht allein mit dem Sammeln von Resultaten und Beobachtungen getan sei. Eine Bewältigung des Wissens in einem weiteren Sinne sei notwendig. Hier erfährt der junge Student, daß die Konsequenzen der iranischen Philosophie in der Lehre der Sinnesphysiologie von entscheidender Bedeutung sind. Der Sinnesphysiologe kann die Frage nicht auslassen, was denn die Beziehungen der Wahrnehmung seien zu dem, was als Wirklichkeit bezeichnet wird. Dabei sei festzustellen, was unter Wirklichkeit zu verstehen ist und wie wir erkennen, wie die Außenwelt nun wirklich beschaffen ist. Trendelenburgs große Leistung, den »Gesichtssinn« mit dem Hintergrunde des philosophischen Fragens, wie es seit Goethe und Joh. Müller kaum noch geübt worden war, dargestellt zu haben, stellt ihn unter die großen Klassiker der Physiologie. Wir verstehen, daß die Zeit des Marschierens und der Kundgebungen für diese Persönlichkeit keinen Sinn aufbrachte. So hat sich nur eine kleine Zahl von Schülern in den anderthalb Dezennien seines Wirkens in Berlin um ihn geschart. Die mit dem Hitler-Regime einsetzende Emigration hat auch die Berliner Physiologie nicht ver-
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schont. W. Feldberg, einer der erfolgreichsten Forscher auf dem Gebiete der Gewebshormone, mußte damals Berlin endgültig verlassen. Die Abteilungen Rubners waren verringert. Die Physiologische Chemie wurde ein selbständiges Fach der Medizin. Es war Trendelenburg zu danken, daß nach dem Ausscheiden Steudels ein junger und hochbegabter Schüler Meyerhofs, Karl Lohmann, berufen wurde. Die Mikrobiologie war inzwischen dem Fach der Hygiene zugefallen. Die Arbeitsphysiologie war, wie wir berichteten, in die Zentren der Industrie, nach Dortmund verlegt. Ein Extraordinariat ohne besonderen Auftrag blieb erhalten. Es sollte selbständigen Wissenschaftlern die Gelegenheit geben, sich unabhängig vom Getriebe der Zeit in ihrem Fach zu entwickeln, denn der Tag des Physiologen war in einem Maße mit den Fragen der Öffentlichkeit belastet, daß an eine beschauliche Arbeit kaum zu denken war. Die Inhaber dieses Extraordinariats: Schütz, Schriever, Schneider und als letzter Kramer, haben das Abgeschirmtsein vor den Ansprüchen einer barbarischen Zeit genützt und in Muße die Grundlagen für ihre spätere wissenschaftliche Entwicklung erarbeiten können. Unser Bericht könnte den Eindruck erweckt haben, Trendelenburg habe sich in erster Linie um die Beziehungen der Physiologie zu erkenntnis-theoretischen Problemen bemüht. Dies wäre eine falsche Interpretation seines Wesens und Schaffens. Die große Zahl seiner wissenschaftlichen Publikationen weist ihn aus als einen unermüdlichen Forscher auf nahezu allen Gebieten der Physiologie. Dabei hatte er eine glückliche Hand. Immer, sei es durch sein methodisches Vorgehen oder durch seine klare Denkweise, stieß er auf Neuland und gab den Anlaß zur Erforschung umfangreicher Gebiete. Das Ende seines Lebens fällt in die Zeit des Zusammenbruchs. Es ist zugleich das Ende einer glanzvollen Periode der Berliner Physiologie, die mit Johannes Müller begann und von Wilhelm Trendelenburg in demselben Geiste beschlossen wurde.
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A U F B A U UND ZERSTÖRUNG ALS STOFFWECHSELPROBLEME Um die Jahrhundertwende macht sich in der Inneren Medizin allgemein eine Umstellung der wissenschaftlichen Betrachtungsweise bemerkbar. Während vorher, wahrscheinlich mit angeregt durch die Vertiefung der neurologischen Symptomatik, das wissenschaftliche Interesse der inneren Klinik sich vorwiegend in kasuistischer, rein deskriptiver Nosologie bewegt hatte, sehen wir mit dem enormen Aufschwung der Naturwissenschaften, vor allem der Chemie, immer mehr das Vordringen chemischer bzw. chemisch-physiologischer Probleme in die Klinik. Das Studium der pathologischen Physiologie, die in dem Lehrbuch Krehls »Die pathologische Physiologie« s. Z. einen epochemachenden Niederschlag gefunden hatte, wurde auch weitgehend Antrieb und Mittelpunkt der medizinischen Forschung — auch in den Inneren Kliniken der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin, wie auch in den zahlreichen anderen mit hervorragenden Fachvertretern besetzten Krankenanstalten Berlins. Der Inhaber des Lehrstuhls der II. Medizinischen Klinik der Charité ab 1902, Friedrich Kraus, ein Mann von ungeheurem Weitblick, einem geradezu erstaunlichen allgemeinen Wissen und Gedächtnis, hatte gegen Ende des vorigen Jahrhunderts durch seine Monographie »Die Ermüdung als Maß der Konsitution« eine fruchtbringende Anregung zu einer völlig veränderten Einstellung zu zahlreichen klinischen Problemen gegeben. Aus der rein deskriptiven Form des Kasuistischen mit dem morphologisch festgelegten »Substrat« war Kraus zu der dynamischen funktionalen Betrachtung des weitgehend im Stoffumsatz verankerten Lebens übergewechselt. Er berücksichtigte dabei im Neurologischen besonders das im Unwillkürlichen gelegene Vegetativum, das ihn dann, z. T. gemeinsam mit S. G. Zondek im Studium über die Bedeutung der Elektrolyte in der Regelung der Funktionsabläufe bis an sein Lebensende beschäftigte. Ganz allgemein erhielt die innere Klinik von der Physiologie erhebliche Anregung, zumal an der Friedrich-Wilhelms-Univer-
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sität und der Tierärztlichen Hochschule in Berlin so bedeutende Stoffwechselphysiologen wie Rubner, Zuntz und Loewy exakte Meßverfahren des Energieumsatzes in bilanzmäßiger Form in ihren grundlegenden Ideen über den Stoffwechsel überhaupt eingeführt hatten. An dieser Stelle muß auch unbedingt Magnus Levy genannt werden, der mit dem von Zuntz-Geppert entwickelten Gasstoffwechselmeßgerät die stoffwechselsteigernde Wirkung der Schilddrüsenhormone entdeckte und mit zahlreichen klinischen Arbeiten von bewundernswerter Exaktheit die Kalorimetrie durch die Grundumsatzbestimmung in die Klinik einführte. Wie an zahlreichen anderen Stellen deutscher Forschung, aber auch denen des Auslandes, wie z. B. den USA usw., wurde nun die chemische Analyse, oft im Rahmen der Bilanz, die Grundlage für die Lösung vieler zu erforschender Probleme und gab der intern-medizinischen Forschung Berlins, insbesondere der Friedrich-Wilhelms-Universität ihr Gepräge. Unter Kraus entstanden dann 1908 durch Gustav von Bergmann, der nach dem Ausscheiden von Friedrich Kraus im Jahre 1927 den Lehrstuhl der II. Medizinischen Klinik übernahm, die bekannten Untersuchungen über die Bilanz der Fettleibigkeit und die Bedeutung des peripheren Gewebes für die Fettspeicherung im Sinne einer Art autogener Lipophilie. In der benachbarten I. medizinischen Klinik hatte nach dem Ausscheiden v. Leydens, einem weit über die Grenzen Deutschland bekannten, vorwiegend neurologisch interessierten Internisten, Wilhelm His, seine Arbeitsrichtung vorwiegend physikalisch-chemischen Problemen, methodisch und praktisch, zugewandt, was ebenfalls eine ungemeine Befruchtung der Inneren Medizin zur Folge hatte. Die Arbeiten seines Schülers Gudzent über die Gicht legen hierfür ein beredtes Zeugnis ab. So sehen wir nach dem 1. Weltkrieg eine ungeheure Aktivität in den inneren Kliniken der Friedrich-Wilhelms-Universität, vor allem der I. und II. Med. Klinik, wo der Schwerpunkt der Arbeit nun auf die Laboratorien verlegt wurde. Wie stets in der Forschung war natürlich die große Entwicklung in methodischer Hinsicht hier auch wieder die Basis, auf der solche Untersuchungsvorgänge überhaupt durchführbar waren. War doch durch die Vereinfachung der chemischen Methoden und die Anwendung der Mikroverfahren erst die Möglichkeit gegeben, Blut in Serienanalysen zum dynamischen Studium von Lebensvorgängen ohne größere Belastung der Kranken zu verwenden.
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Es kann und soll nicht Ziel dieses kleinen Beitrages zur Geschichte der Friedrich-Wilhelms-Universität sein, in lückenloser Darstellung die Leistungen der großen Zahl ihrer Mitglieder auf dem Gebiet der internmedizinischen Forschung darzulegen, sondern es sei versucht, die damals geschaffene Grundeinstellung eines s. Z. jungen Assistenten, die ihn sein ganzes Leben bei der Gestaltung forschender Arbeit am Krankenbett und darüber hinaus in allgemeiner Betrachtung des Lebens wegweisend beeinflußte, an Hand eines bestimmten Themas aufzuzeigen. Es ergeben sich dabei Probleme, die den allgemeinen Rhythmus des Lebens widerspiegeln und damit über die rein fachliche Bedeutung hinaus vielleicht auch für andere Disziplinen von Interesse sein könnten. Die in so exakter Weise durchgeführten Forschungsarbeiten in den Krankensälen und Laboratorien an der damals mir als frühe Wirkungsstärtte emöglichten I. Med. Klinik der Charité gaben hierzu reichlich Gelegenheit. Unter den Älteren Assistenten von His befanden sich manche früh sich abzeichnende Kapazitäten, wie z. B. Viktor Schilling, der in diesen Tagen verstorbene Altmeister der Hämatologie und Ehrenpräsident der Deutschen Hämatologischen Gesellschaft, wie Hermann Zondek, wohl Deutschlands erster und in seiner klinischen Einfühlungsweise enorm schöpferische Endokrinologe, und wie der bedeutende Röntgenologe Frik und zahlreiche andere »Spezialisten«. Die von meinen eigentlichen Lehrern, da »Stationsärzte«, Maase und H. Zondek 1918 erschienene Monographie über das Hungerödem stellte weit über das rein empirisch Klinische hinaus, ein Stück Zeitgeschichte dar, da in diffizil exakter Analyse der Klinik und der Stoffwechselvorgänge sich die schweren Entbehrungen widerspiegeln, denen die Bevölkerung Berlins während der verschlechterten Ernährungslage der Kriegsjähre ab 1916 ausgesetzt gewesen war. Und damit stellt sich ein ganz allgemeines Problem des Lebens heraus: Aufbau und Zerstörung, zwar vom Standpunkt des Arztes gesehen, im Sinne der Wachstumsvorgänge, des Alterns und der durch fehlerhafte oder ungenügende Ernährung sich ergebenden Störungen der Bilanz unserer lebenden Substanz, sowohl des Einzelnen als auch der Gesamtheit. Hat doch unser Vaterland und insbesondere seine Hauptstadt Berlin und damit die Friedrich-Wilhelms-Universität zweimal das grausame
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Erlebnis des Hungers und der Zerstörung durchgemacht und erlebt noch im Augenblick einen Wiederaufbau, der noch von drohenden Wolken unsicherer Zukunft beschattet ist. — Nachdem das Wachstum beendet ist, besteht als Grundprinzip des Organismus die Erhaltung seines Gesamtbestandes, wobei sich Aufbau und Abbau und die energetischen Verluste durch Arbeitsleistung durch Ersatz mit der Nahrung in einem labilen Gleichgewichtszustand um ein konstantes Niveau einpendeln. Dies gilt sowohl für die Morphe als auch für die Mehrzahl aller Funktionsabläufe, wie Körpertemperatur, wie Zusammensetzung des Blutes als Transportband in der Betriebswirtschaft des Organismus, da die Zufuhr der energiereicheren Stoffe und der Abtransport der Stoffwechselschlacken weitgehend durch den Blutstrom vermittelt werden. Regulationen der Stoffwechselvorgänge verlaufen dabei über neurale Steuerungen ebenso wie über hormonell und katalytisch fermentativ kombinierte Reglermechanismen, die weitgehend den Prinzipien der Technik gleichkommen. Anpassungen des Organismus an Umwelteinflüsse sind dabei in erheblichem Umfang möglich. Bieten die äußeren Lebensumstände große Beschränkungen oder Luxusangebote, so bleibt z. B. das Körpergewicht doch in weitem Umfang unabhängig von dem angebotenen, aber instinktmäßig nicht in Anspruch genommenen Luxus, ebenso wie der Einzelorganismus sich den Zwangslagen der Not bis zu einem gewissen Grade anpaßt. Erst wenn die Bilanz ins Negative umschlägt, droht dem Lebewesen Gefahr! So ist nach Beendigung des Aufbaus durch Wachstum also ein Stoffwechselgleichgewicht geschaffen, das erst unter pathologischen Umständen — wozu man auch die Unterernährung in wirtschaftlicher Notlage zu rechnen hat — in Gefahr gerät. So haben trotz ungemein variablen Energieverbrauchs durch körperliche Arbeit die meisten Menschen ein konstantes Gewicht und nur die Täuschung des zentral gesteuerten Hunger- oder Sättigungsgefühls — deren Sitz in bestimmten entwicklungsgeschichtlich »alten« tieferen Hirnzentren gelegen ist — durch die zivilisatorischen Gewohnheiten der Menschheit führt zur Fettablagerung über ein gewisses physiologisches Maß hinaus. Der Abbau der Substanz beim Hunger ist eines der wesentlichen Probleme im Studium des Mangelstoffwechsels und beansprucht über den Einzelfall hinaus allgemein soziologisches und hygienisches Interesse des Staates. Damit greifen die Probleme der Ernährungsforschung weit über das Individuelle der Klinik hinaus, wenn
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man auch weiß, daß, neben einer durch die wirtschaftliche oder politische Lage aufgedrängten Unterernährung, in der Klinik fast jede zehrende Krankheit, ja schon abnorme Ruhigstellung die Gleichgewichtslage des Organismus in bezug auf seine Stoffwechselbilanz erschüttert. Während der Abbau von Fett, als dem organischen Reservestoff — vergleichbar den Kohlenhalden der Energiewirtschaft — für die Leistungsfähigkeit ziemlich belanglos ist und, so lange diese noch vorhanden sind, keinerlei bedrohliche Folgen hat — der Mann verfügt bei normalem Ernährungszustand über etwa 15—20% seines Körpergewichts an Depotfett, die Frau sogar über einen noch höheren Anteil ihres Körpergewichts —- wird die Sachlage sofort bedenklicher, wenn der Eiweißhaushalt negativ wird. Dies ist gleichbedeutend mit einer Demontage des Protoplasmas, also letzten Endes der Maschinen des Organismus, da das Leben im Protoplasma abläuft und jede Funktion und Arbeitsleistung über die lebende Zelle erfolgt. Man kann diese Abbauvorgänge leicht durch die Negativität der Stickstoffbilanz erfassen, indem man die Zufuhr von Eiweiß mit der Nahrung und die Ausfuhr an Stickstoff im Harn und Stuhl über 24 Stunden bestimmt. Damit nähern wir uns im Einzelfall dem Problem des Nahrungsbedarfs, der nicht nur für den Einzelnen, sondern für die ganze Bevölkerung von so immenser Bedeutung geworden ist. Rubner hat in seinen grundlegenden Untersuchungen über den Energiehaushalt des Menschen aufgezeigt, daß es eine Eiweißmast nicht gibt und die Stickstoffbilanz des gesunden Menschen sich auch bei variabler Eiweißzufuhr auf ein Gleichgewicht einstellt, wenn erst einmal ein Minimum an zugeführtem Eiweiß gegeben ist. Damit errechnete er den Eiweiß- und Gesamtkalorien-Bedarf des Menschen. Im ersten Weltkrieg wurde er mit seinen Ideen der Nahrungsbilanz gleichzeitig zum Sprecher für die Rationierung der Nahrung, die damals bedauerlicherweise, z. T. infolge von Mißernten viel zu spät einsetzte. Die traurigen Auswirkungen dieser ersten Hungerjahre sind wohl noch in aller Erinnerung. In Berlin hatten wir dann während der Jahre der Arbeitslosigkeit und der damit verbundenen wirtschaftlichen Not das Interesse des Völkerbundes für die von dem demoralisierenden Geldmangel Betroffenen zu wecken versucht und eine Sitzung des Hygienekomitees 1932 einberufen. So betrug doch der tägliche Satz der Arbeitslosenunter-
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Stützung 51 Pf (ohne Mietsentschädigung) und 37 Pf für jeden weiteren Familienangehörigen, womit man nur mit billigsten Nahrungsmitteln den täglichen Kalorienbedarf abdecken konnte. Und in der arbeitslosen Arbeiterbevölkerung machten sich in Berlin erhebliche nutritive Mangelerscheinungen bemerkbar. Aber damals war die exakte naturwissenschaftliche Forschung in der Medizin noch nicht so weit vorgedrungen, daß sie den Ernährungszustand eines Menschen objektiv messend in großen Reihenuntersuchungen zu bestimmen sich in der Lage fühlte. Wir gingen enttäuscht auseinander, da die Hygieniker und Theoretiker kein Kriterium als ausreichend ansehen wollten, um eine tatsächliche Unterernährung im größeren Stil in der Bevölkerung erfassen zu können. Die Arbeiten wurden damals durch eine Unterstützung des Preußischen Innenministeriums mit der Gesundheitsbehörde der Stadt Berlin dennoch aufgegriffen und ergaben in den Jahren 1932/33 in Berlin (Bezirksamt Kreuzberg, Krankenhaus am Urban) eine deutliche »Demontage« der Arbeitskraft der Arbeitslosen, indem bei der Mehrzahl der zu Bilanzversuchen herangezogenen Männer bereits eine Negativität des Stickstoffhaushaltes vorlag. Mit Beginn des nationalsozialistischen Regimes mußten unter Hinweis auf das Arbeitsbeschaffungsprogramm und die Autarkiebestrebungen diese Arbeiten im März 1933 eingestellt werden. Nach dem zweiten Weltkrieg erlebte Deutschland dann seine zweite Hungerperiode, und es war weitgehend Aufgabe der Ärzte, den Kontrollmächten die schlimmen Folgen einer Unterernährung vor Augen zu führen. Wie sollte die menschliche Arbeitskraft zum Wiederaufbau beschaffbar sein, wenn die Muskebmaschinen« der deutschen Arbeiter in der Selbstzerstörung durch den Hunger vernichtet wurden. In Hamburg, wo ich damals an einem von der britischen Heilsarmee verständnisvoll unterstützten Zentrum für die Behandlung von Hungerkranken arbeitete, hatte die britische Militärregierung bald großes Verständnis für die Notwendigkeit einer wenigstens den Minimalbedarf deckenden Ernährung. Und viele Besucher aus dem Ausland — ich nenne nur den humanen Vorkämpfer für den Frieden — Victor Gollancz — zeigten sich für unsere Gedankengänge über die »Demontage« erfreulich aufgeschlossen. Jetzt sind solche Überlegungen, die den Nahrungsbedarf unterentwickelter Länder zum Gegenstand haben und eine Erfassung des Ernährungszustandes ganzer hungernder Bevölkerungen, wie in Indien
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oder Mittelamerika, sich zum Ziel gesetzt haben, in der UNO gang und gebe geworden. Es kann im weiteren nicht darauf eingegangen werden, wie viel unrationeller es ist, erst einen Protoplasmabestand an Muskel- und Organzellen zu vernichten, zu »demontieren« — wie es in der Darlegung der Ernährungsverhältnisse im damaligen vom Hunger erschütterten Deutschland den Vertretern der westlichen Kontrollmächte gezeigt wurde — als die vorhandenen Vorräte durch eine dem Minimalbedarf gerecht werdende Gesamternährung zu erhalten. Hatten doch die USA-Forscher Whipple und Madien in einwandfreien langen Versuchsreihen gezeigt, daß zur Wiederbeschaffung von Serumalbumin — dem wesentlichen Eiweißbestandteil des Blutes — mindestens die vierfache Menge an hochwertigem Eiweiß notwendig sei, die mittels der Nahrung zugeführt werden müßte. So haben die Gedankengänge quantitativer Stoffwechsellehre, die Rubner als Hygieniker und Physiologe im ersten Dezennium dieses Jahrhunderts an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität entwickelt hatte, bereits während des ersten Weltkrieges ihre Bestätigung gefunden und die innere Klinik zu entsprechenden Überlegungen im Rahmen der Pathologie des Stoffwechsels angeregt. Die Grundvorgänge — Aufbau — Stoffwechselgleichgewicht — Erschütterung (»imbalance«), vor allem der Stickstoffbilanz in Gestalt sog. kataboler Reaktionen und ihre Beeinflussung durch Hormone — wurden in den letzten 20 Jahren über den rein quantitativ berechenbaren Vorgang der Unterernährung hinaus für zahlreiche weitere wesentliche Stoffwechselstörungen in der Klinik von Bedeutung. Es sei nur an den Eiweißkatabolismus bei Infektionskrankheiten, aber auch bei größeren operativen Eingriffen, sowie bei Eiterungen und Verwundungen erinnert. Diese Vorgänge haben im 2. Weltkrieg in durch die Berliner Militärärztliche Akademie, sogar durch bis in die Frontlazarette hinaus vorgeschobene Forschungsgruppen eine gründliche Bearbeitung gefunden, an der Verf. hat teilnehmen können. Aufbau und Zerstörung sind nicht nur im Lebensrhythmus des Einzelnen typische Verhaltensweisen, die letztlich jedes Lebens charakterisieren. Sie treffen das Kommen und Gehen der Völker und Nationen; und das in stillen Arbeitsstätten der Physiologen und Laboratorien der theoretischen Institute und Kliniken der Berliner Forschungsstellen erarbeitete Gedankengut ist ein wertvoller Teil der Probleme geworden, die die inter-
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nationale Wissenschaft im Rahmen der Sorgen um die Ernährung der Erde bewegt. Über die Klinik hinaus steht die Ernährungsforschung vor Aufgaben, die mit der Zunahme der Bevölkerungsdichte immer vordringlicher werden und zu Überlegungen anregen, die weit über die einzelne Stadt, die einzelne Hochschule und das einzelne Land hinausgehen. Mutwillige Zerstörung lebender Substanz des einzelnen Menschen und der Völker ist das unrationellste, was eine starre politische Führung tun kann. Möge alle an den Problemen der Ernährungsforschung beteiligten Stellen sich dessen bewußt sein.
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ERINNERUNGEN A N SAUERBRUCH Woytek 1 sagte in seinem Nachruf auf Sauerbruch: »An seinem offenen kranzgeschmückten Grabe nahmen wir, seine Schüler, schmerzbewegt Abschied von unserem Chef, unserem großen Lehrer und Meister. In aufrichtiger Trauer mit seinen Angehörigen und einem kleinen Kreis langjähriger Freunde und Mitarbeiter gaben wir ihm, dem genialen Arzt und Forscher, dem guten Menschen und großherzigen Helfer, ehrfurchtsvoll und dankerfüllt die letzte Ehre.« — Zu diesen seinen dankbaren Schülern gehöre auch ich. Ich war fast I i Jahre Mitglied seiner Klinik (1932 bis 1943), davon die letzten 8 Jahre ehrenamtlich neben meiner eigentlichen Tätigkeit als Abteilungsleiterin am Pathologischen Institut, — Sauerbruch hatte mich »Rössle dafür leihweise überlassen«. Ich war unzählige Male in sein Haus eingeladen und verlebte dort inhaltsreiche Stunden am Familien tisch und im Kreise seiner Gäste. Wieviele Menschen von Geist und Welt durfte ich dort kennenlernen! Aber vor allem, wieviel habe ich von ihm selbst gelernt, diesem großen Mann und Arzt! Der Klinikchef Sauerbruchs Schule war hart. Der »Dienst« endete nicht eher, als bis der Chef die Klinik endgültig verlassen hatte, und das war selten vor 9 Uhr am Abend. Die Pförtner mußten auf so manchen Anruf ungeduldiger, manchmal verzweifelter Assistenten, ob der Chef schon fort wäre, enttäuschend antworten. Ich sehe es noch vor mir, wie eines Abends einer der langjährigen Oberärzte blitzschnell vorsprang und einen Volontär am Arm packte, der unauffällig aus der Klinik entwischen wollte, spät genug und doch unerlaubt früh, denn der Chef war noch nicht abgefahren. Viele Stunden warteten wir auf den Chef. Sein Zeitsinn war nicht gerade gut entwickelt. Aber er hatte auch tatsächlich viel mehr Arbeit, 1 Professor Dr. G. Woytek, Ferdinand Sauerbruch f. Deutsches Rotes Kreuz, Jahrg. 6/4 August 1951.
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als in einen voll ausgefüllten Arbeitstag hineinpaßt. So tat er vieles mit Verspätung. Seine wirklich kostbare Zeit wurde von Allen rücksichtsvoll geschont. Undenkbar, daß einmal nicht alles bis ins Letzte vorbereitet gewesen wäre, wenn er kam. Unvorstellbar, daß er jemals auch nur minutenlang in der Klinik auf irgendetwas hätte warten müssen. Alles war da, an alles hatten seine erfahrenen Oberärzte gedacht, jede Möglichkeit war von ihnen vorausgesehen und einkalkuliert worden. Die Disziplin in der Klinik war straff, er nannte es unsere »Dienstauffassung«. Nur Neulinge konnten eine Weile außerhalb dieses freiwilligen Frondienstes stehen und von dem allgemeinen Schwung unberührt bleiben. Alle anderen, Schwestern, Pfleger, »mittelalterliche« und langjährige Assistenten arbeiteten, möchte man sagen, im gleichen Atemzuge mit ihm, im gleichen Rhythmus, mit der gleichen Hingabe, mit der gleichen Anspannung und dem gleichen tiefen Verantwortungsbewußtsein wie er. Was er selbst anfaßte, machte er ganz, und so verlangte er es unerbittlich von Allen. Er glaubte, daß man von jedem mehr verlangen müßte, als er in sich hätte; dann gäbe er wenigstens, was er könnte. Die Klinik war streng gegliedert aufgebaut. Über je 2 Stationen, von denen jede ihren eigenen Stab aus Stationsarzt und Volontären hatte, stand ein Oberarzt. Uber allen Oberärzten stand wiederum der eine Oberarzt, der den Chef vertreten konnte und ihm letzten Endes für alles verantwortlich war. So wuchs mit Dienstalter, Ausbildung und Erfahrung die Größe der klinischen Verantwortung. Dieser strenge Aufbau diente aber nicht nur der Sicherheit der Patienten, sondern hatte noch eine andere großartige Folge; die Erziehung der Jüngeren lag ausdrücklich in den Händen der Erfahreneren. In Sauerbruchs Klinik war niemand sich selbst überlassen. Die Oberärzte wurden durch die ständige Zusammenarbeit mit dem Chef am Operationstisch und am Krankenbett geformt. Sie kannten seine Lehren und Auffassungen genau und gaben sie getreulich an die Jüngeren weiter. Eine meiner eindrücklichsten Erinnerungen an Sauerbruchs Klinik ist die Geschultheit aller seiner Mitarbeiter im Geiste des Chefs. Diese Schulung ging nicht sanft ab; Sauerbruchs Temperament war niemals ruhig, und die Gewitter, die er entlud, durchhallten die ganze Klinik, die Operationssäle, die Stationen, die Laboratorien,
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die Versuchstierställe, die Büros. Sauerbruchs Auftreten war schwungvoll, oft stürmisch, immer energiegeladen. Seine bloße Gegenwart vresetzte seine ganze Umgebung in einen elektrisierten Zustand erhöhter Aufmerksamkeit und Arbeitsbereitschaft. Es donnerte und krachte häufig in der Klinik. Wie oft flog jemand mit Pauken und Trompetengeschmetter hinaus! Aber oft wurde er wieder aufgefangen, nicht selten mit einer Einladung des unerhört gastfreien Chefs. Für Außenstehende scheint es oft unverständlich gewesen zu sein, wie Sauerbruch sein gewalttätiges Regiment ausüben konnte, ohne daß ihm alle davonliefen; wir bekamen manche seltsame Frage zu hören. Die Erklärung ist verblüffend einfach: Sauerbruch bezwang jeden, an dessen Mitarbeit ihm gelegen war, durch seine kraftvolle Persönlichkeit und entwaffnete alle durch Überlegenheit und Charme. Seine Ansprachen, die er bei Klinikfesten, Feierlichkeiten oder sonstigen Anlässen aus dem Stegreif hielt, gewannen ihm im Augenblick alle Herzen. In diesen Reden spendete er ebenso großzügig Anerkennung, Lob und Dank, wie er unter der Hochspannung am Operationstisch oft grob und verletzend war. Nach solchen versöhnenden Worten war niemand mehr gekränkt oder beleidigt. Auch diejenigen von seinen Herren, denen er noch vor wenigen Stunden am Operationstisch ihre hoffnungslose Unfähigkeit, Ungeschicklichkeit und Langsamkeit laut vernehmlich und vor Allen bescheinigt hatte und zwar nicht zum ersten Male, waren sofort wieder voll und ganz gewonnen. Alle waren der Aufgabe der Klinik von Neuem tief und aufrichtig verbunden. Jeder war stolz und fühlte sich geehrt, an der Seite dieses Mannes arbeiten zu dürfen. Kein Schatten von Bitterkeit blieb zurück, bis zum nächsten Gewittersturm, bis zur nächsten harten, entmutigenden und oft ungerechten Kritik. Vieles mußte heruntergewürgt werden, auch wenn man glaubte, sich viel Mühe gegeben zu haben. Aber Sauerbruchs Maßstäbe waren riesig, seine Ansprüche im Interesse der gemeinsamen Arbeit für die Kranken gewaltig. Er erwartete uneingeschränkte, bedingungslose Hingabe an den ärztlichen Beruf. Daß jemand wagte, seine privaten Interessen, z. B. Urlaubswünsche, vorzubringen, konnte auf kühle Verständnislosigkeit stoßen, mit verletzendem Schweigen übergangen werden, aber auch einen Wutanfall auslösen. Es versteht sich, daß von den ungezählten Ärzten, die als Volontäre in die Klinik eintraten, nur eine gewisse Zahl sich einem solchen Maß16»
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stab unterwerfen wollte. Viele empfanden Sauerbruchs Ansprüche als unzumutbar und gingen wieder. Die, die blieben, waren in Verantwortungsgefühl und Hingabe an ihre Aufgabe erprobt und den maßlosen körperlichen und seelischen Belastungen gewachsen, von denen niemand in seiner Umgebung verschont büeb. Es konnte nicht ausbleiben, daß viel und kräftig über den »Chef« oder »den Alten« geschimpft wurde. Im Assistentenkreise machte jeder seinem Herzen ebenso freimütig Luft, wie er es täglich bei dem Chef erlebte. Einmal fragte ich einen schwer mitgenommenen und sich laut austobenden Assistenten, warum er denn nicht wegginge, wenn die Behandlung durch den Chef »nicht mehr mit der notwendigen Selbstachtung vereinbar wäre«. Die erstaunte Antwort war: »Wohin denn? Wo gibt es denn noch einen solchen Kerl auf einem chirurgischen Lehrstuhl?« — Es hing aber auch viel von der Reaktion des betreffenden Assistenten ab, den sich der Chef gerade als Opfer für seine ihn selbst entspannenden Temperamentsausbrüche erkoren hatte. So erzählte einer seiner früheren Assistenten, wie der Chef es einmal auf ihn abgesehen hatte. Während an mehreren Tischen operiert wurde, stichelte er an ihm herum, daß er immer noch nicht mit der Operation fertig wäre, über seine »ungeschickten Poten« und so manches mehr. Schließlich rief ihm Sauerbruch über den Tisch hinweg zu, nicht wahr, er äße gewiß auch mit dem Messer? Worauf der Herausgeforderte kühl antwortete: »Nur Fisch, Herr Geheimrat!« Er hatte die Lacher und unter ihnen vor allen den Chef auf seiner Seite. — Mit Schlagfertigkeit war bei Sauerbruch ebensoviel zu erreichen wie mit mutiger Aufrichtigkeit. So behauptete Sauerbruch einmal einem Antragsteller gegenüber, daß die angeforderten Mittel vom Forschungsrat nicht bewilligt werden dürften, weil der Betreffende in seinem Fach »keinen Namen» hätte. Der Antragsteller, ein heute prominenter Anatom, gab sich nicht geschlagen. Er gewann seine Sache mit der Bemerkung, das möge ja richtig sein, aber auf keinen Fall könnte der Geheimrat darüber entscheiden, denn er verstände nichts davon. — Zu den unschätzbaren Geschenken, die uns Sauerbruch in das weitere Leben mitgab, gehört, daß er uns lehrte, wie man eine Arbeit schreibt. Dafür mußten ungezählte freie Stunden geopfert werden, aber auch er gab seine kostbare Zeit dafür hin. Es war selbstverständlich, daß wir unseren Entwurf schon viele Male, nicht 2 oder 3 mal,
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sondern vielleicht 5 bis 10 mal nach wenigen, meistens allgemein gehaltenen Anleitungen eines Oberarztes umgearbeitet hatten, bis wir wagen konnten, dem Chef selbst die Arbeit vorzulegen. Oft genug wurden danach zunächst alle hoffnungsfreudigen Erwartungen für lange Zeit abgekühlt, denn das Produkt verschwand monatelang in einer der vielen Mappen in seinem Schreibtisch. Wir mußten sogar einsehen, daß es kaum anders möglich war, denn Sauerbruch wollte wirklich viel mehr Arbeit bewältigen, als er schaffen konnte. Verreiste er z. B. zu einer Konsultation, so arbeitete er unterwegs immer; ein Assistent begleitete ihn, die Sekretärin schrieb, oder er las unsere Arbeitsentwürfe. Mit schwungvoll auf den Rand hingeworfenen Kritiken und Anregungen bekamen wir sie zurück und mußten viel Zeit und Konzentration darauf verwenden, seine temperamentvolle Schrift zu entziffern, seine oft mehr humorvollen als konkreten Anregungen zu erraten und seine Erwartungen nach Möglichkeit zu erfüllen. War er selbst an der Veröffentlichung beteiligt, so wurde der auf diese Weise entstandene vorläufige Entwurf nun zusammen durchgearbeitet. Dazu nahm er den Betreffenden abends mit in sein Haus nach Wannsee oder lud ihn zum Sonntag ein. Jedes Wort wurde darauf geprüft, ob es notwendig wäre und ob es auch genau das ausdrückte, was es sagen sollte. Übertreibungen wurden ausgemerzt, lange Sätze konsequent abgebaut. Was sich im Anfang kompliziert anhörte, klang zum Schluß einfach und klar. — Es wurde viel von uns verlangt, bis wir einer solchen gemeinsamen Korrektur gewürdigt wurden. Tageszeit, Festtage oder sonstige Pflichten blieben dabei unberücksichtigt. Wie wir bis zur Weiter arbeit mit dem Chef das bewältigten, was er uns auftrug, blieb unsere Sache und kostete uns manche Nacht. An seine eigenen Publikationen legte er natürlich einen noch strengeren Maßstab. Das Manuskript wurde von ihm mit einem dazu auserwählten Oberarzt zahllose Male gründlich durchgearbeitet. Es wurde unermüdlich gefeilt, verbessert, verkürzt und vereinfacht, bis eine Arbeit von ihm selbst in den Druck ging. Trotzdem konnte es geschehen, daß Springer ihm, dem immer noch nicht Zufriedenen, zu seinem 60. Geburtstag die 17. Fahnen(!)-Korrektur seiner »Chirurgie der Brustorgane« als »Lied ohne Worte« überreichte. — Auch hierin zeigt sich übrigens, daß selbst diejenigen, die von ihm unabhängig waren, ihm nachgaben. Wer sich für Sauerbruch entschied,
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ordnete sich ihm ganz unter, gab seine eigenen Regeln auf und paßte sich ihm an; selbst sein Verleger. — Der Hochschullehrer, Forscher und Arzt Auch diejenigen, die wie ich im Operationssaal und auf Station nur noch gelegentlich als Gast auftauchten, konnten Sauerbruchs ärztlich-klinische und medizinisch-biologische Überzeugungen genau kennenlernen. Das war in seiner Vorlesung über Klinische Chirurgie möglich. Seine Auffassung vom Organismus war naturgemäß die eines Chirurgen. Wie sehr unterscheidet sich dessen Anschauung vom Körper beispielsweise von der eines Pathologen, der ja auch die inneren Organe des Menschen mit seinen Händen angreift! Das Objekt des Pathologen, die menschliche Leiche, läßt so vieles vermissen, was der Chirurg erlebt. Bei der Sektion ist alles kalt, starr oder schlaff, stumm. Die Organe sind mißfarben. Nichts reagiert auf Berührung oder bewegt sich, ein immer gleiches Endstadium ist eingetreten. Wie so ganz anders ist das, was der Chirurg unter seinen Händen fühlt, mit seinen Augen sieht, mit seinen Ohren hört! Die Organe sind warm und schön, das Gewebe ist elastisch, Blut spritzt, alles ist in Bewegung, das Herz klopft unermüdlich, nicht immer regelmäßig, auch nicht bei allen Patienten gleich, bei dem einen so, bei dem anderen so. Arterien pulsieren, ein Blutgefäß, das berührt wird, zieht sich zusammen, über den Darm läuft eine wurmartige Bewegung, Muskulatur spannt sich an oder erschlafft. Sauerbruch konnte es einfach nicht begreifen, daß sich ein Arzt mit der Untersuchung von totem Gewebe begnügt. Über seinen Pathologen-Kollegen, dessen Arbeiten über die Entzündung allgemein bekannt waren, klagte er: Wenn er doch nur käme und zu mir sagte: »Nun zeigen Sie mir einmal eine Entzündung!« Wenn Sauerbruch die Pathologie als notwendige Hilfe auch schätzte und selbst pathologisch gearbeitet hatte, so war seine Auffassung vom Körper doch aus seinen Erfahrungen am Krankenbett und am Operationstisch entstanden. Er wußte um die enge Verflochtenheit von Körper und Seele; Basedow-Kranke z. B. gaben ihm die erwünschte Gelegenheit, vor den Studenten darüber zu sprechen. Er staunte stets von neuem über das Geheimnis der Wundheilung, deren Zellwucherung verebbt, wenn der Gewebsdefekt ersetzt ist.
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Das Lebendige stellte sich ihm dar im Ringen der Kräfte und ihrem vorübergehenden Ausgleich, in ihrem harmonischen Zusammenspiel, in Regulation, Korrelation, in der Abstimmung der Körpervorgänge aufeinander und ihrer Abhängigkeit voneinander, in Anstoß und Bremsung, in Reiz, Reaktion und Anpassung. Alle diese Lebensvorgänge, die wir kennen, aber nicht erklären können, mit denen der Arzt rechnet und die er ausnützen muß, faszinierten ihn. Für ihn war jeder biologische Zustand ein Vorgang, der gesteuert wird; Mittel der Steuerung waren ihm Körpersäfte, Hormone, das Nervensystem. »Die Nerven sind der liebe Gott der Zelle«. Die Vorstellung, daß jede einzelne Parenchymzelle innerviert wäre, war ihm hoch sympathisch. Daß irgendein Eingriff, ein Trauma, ein Krankheitsprozeß nur rein örtlich, auf einen Bezirk beschränkt wirkte, war für Sauerbruch unvorstellbar. »Wenn man etwas an einem Nasenloch macht, so merkt es die kleine Zehe«. Im Körper gehört alles zusammen, der Organismus ist unteilbar. Sauerbruch war durchdrungen von den mächtigen Lebenskräften des Körpers und setzte sie kühn und wohl berechnet in seine chirurgischen Pläne ein. Ein anschauliches Beispiel davon bildet die von ihm ersonnene »Umkipp-Plastik«. Bei dieser osteoplastischen Operation wird der von einer bösartigen Knochengeschwulst befallene Oberschenkelknochen im Hüft- und Kniegelenk exartikuliert. Er wird ersetzt durch den unter Erhaltung der Gefäße und Nerven um i8o° gedrehten gesunden Unterschenkelknochen, nachdem der Fuß abgesetzt worden ist. Das körperferne Stumpfende wird in das Hüftgelenk eingestellt und der Schienbeinkopf zur Belastungsfläche umgebaut. Das von Sauerbruch erwartete Wunder geschieht: der in die ihm fremde Oberschenkelmuskulatur eingepaßte Unterschenkelknochen stirbt nicht ab; der ihn umhüllende Weichteilmantel heilt an, der Patient lernt, den künstlich aufgebauten Oberschenkel zu bewegen. Es ist charakteristisch für Sauerbruch, daß er auf eine so kühne Idee kam und in seinen Erwartungen nicht enttäuscht wurde. Er hatte einen Instinkt dafür, welche Kräfte im Körper verborgen liegen und wie er sie ausnützen könnte. Nicht weniger charakteristisch ist es für ihn, bei welchen Gelegenheiten ihm solche Operationspläne kamen: Nicht am Schreibtisch oder im Laboratorium, sondern in der ärztlichen Sprechstunde. Er erzählte das Erlebnis
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den Studenten in der Vorlesung, als er ihnen denjenigen Patienten vorstellte, der den Anstoß zur Erfindung der Umkipp-Plastik gegeben hatte. Ein Mann, noch in jungen Jahren, kam mit einem Oberschenkelsarkom zu ihm in die Sprechstunde. Sauerbruch konnte ihm nur eröffnen, daß ihm sofort das gesamte kranke Bein bis zur Hüfte abgenommen werden müßte. Der Patient war verzweifelt. Er erklärte, wenn er schon früh sterben sollte, so müßte er doch wenigstens noch einige Zeit für die Zukunft seiner Familie arbeiten. Er wäre aber Schmied und könnte nicht auf einem Bein am Amboß stehen. Die Furcht seiner Bitte um Hilfe war Sauerbruchs Erfindung der Umkipp-Plastik. Durch diese Operation befreite er den Patienten für eine gewisse Zeit von dem lebensbedrohenden Sarkom, amputierte ihn dabei aber nur im Kniegelenk, nicht in der Hüfte. Der Schmied konnte eine Prothese tragen und damit am Amboß arbeiten. — Das Wunder, das die Operation mit sich brachte, war aber noch größer als Sauerbruch selbst es erwartete. Der Erfolg hielt nicht nur kurze Zeit an, sondern eine Reihe von Jahren. Wie Sauerbruch erzählte, besuchte ihn der dankbare Schmied immer wieder. — Dieser langjährige Operationserfolg bei einem Oberschenkelsarkom eines noch jungen Mannes erklärt sich in Sauerbruchs biologischen Gedankengängen leicht: Durch den gewaltigen Eingriff wurden alle Abwehrkräfte des Körpers mobilisiert. Was durch Untersuchungen von M. B. Schmidt bekannt ist, daß nämlich einzelne mikroskopische Geschwulstmetastasen vom Körper unterdrückt werden, bringt der zutiefst aufgewühlte Organismus im Großen zustande. In diese biologische Denkweise gehört es auch, daß Sauerbruch mit großem Respekt von der kühnen Idee eines älteren Arztes sprach. Dieser hatte einer krebskranken Frau, deren Schicksal durch nachgewiesene Metastasen als besiegelt gelten mußte, zu helfen versucht, indem er ihr einen gewaltigen Aderlaß »bis zum Weißbluten« machte. Er hatte tatsächlich einen vorübergehenden Aufschub erreicht. — Sauerbruchs Auffassung von der Krebskrankheit weicht — ihm selbst bewußt — von allem Anerkannten ab und ruht in seiner ganzen medizinisch-biologischen Vorstellungswelt. Er betrachtete Bildung und Wachstum der Geschwülste im Zusammenhang mit den gesamten Lebensvorgängen und berücksichtigte eine klinische Erfahrung vor allem, die nämlich, daß der Krebs (im engeren Sinne) eine Krankheit des höheren Alters ist. Bösartige Zellwucherungen können
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nach seiner Auffassung entstehen, wenn die normalen Regulationen des Wachstums infolge Altersveränderungen der Körpersäfte versagen. — Auf Warburgs weltberühmte Entdeckung, daß Atmung und Gärung in Krebszellen verändert sind, hatte er schnell eine verblüffend simple Antwort bereit: »Daß die Krebszelle anders schnauft, hätte ich vorher sagen können. Aber das hat nichts mit der Entstehung des Krebses zu tun, das ist nur eine Begleiterscheinung.« — So einfach wie seine Anschauungen in den aufgezählten Beispielen sind, so einfach wünschte er die Medizin überhaupt. Alles Ausgeklügelte war ihm verhaßt. Laboratoriumsuntersuchungen sollen sich nicht zwischen den Kranken und seinen Arzt drängen; er befürchtete immer, sie würden beide einander entfremden. Das A und O der ärztlichen Kunst — so lehrte er uns mit Nachdruck und Inbrunst — ist es, das Vertrauen der Kranken zu gewinnen, sein Schamgefühl und seine Zurückhaltung zu überwinden, ohne sie zu verletzen, und seine Leiden und Beschwerden durch geschickte und verständnisvolle Fragen kennen zu lernen. Der Kranke soll immer fühlen: »Dem Arzt ist nichts Menschliches fremd«! Welch unvergeßliche Lebensregel für uns, seine Schüler! — Der Arzt, der mit dem Kranken mitfühlt, ohne mit ihm zu leiden, weiß, wo er ansetzen muß, um sich ihm und seiner Krankheit zu nähern. Der gute Arzt, der »richtige Doktor«, weiß auch seine fünf Sinne am Krankenbett zu gebrauchen und stellt die Diagnose »ohne pseudowissenschaftliche Gelehrsamkeit«. Die kann nur schaden. »Einfachheit in der Medizin tut not«. So wie er lehrte, so war er, ein warmherziger Arzt und Helfer, ein Wohltäter für Viele, die ihm immer dankbar blieben. — Einmal nahm ich durch einen schönen Zufall an einem Erlebnis teil, das dieser glückliche Mensch offenbar häufiger hatte. Mitten in der Stadt, als sein offener Wagen an einer Straßenkreuzung hielt, wurde er von einem früheren Patienten erkannt. Beide waren von dem plötzlichen Wiedersehen überrascht. Sauerbruch wußte den Namen nicht mehr, aber erinnerte sich an die Operation in allen Einzelheiten! Die Freude war auf beiden Seiten gleich groß! —
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Emeritierung Dieser von so vielen dankbaren Menschen hoch verehrte Arzt wurde selbst das arme Opfer einer Krankheit. Von etwa 1945 an trat ein schnell zunehmender geistiger Verfall ein infolge einer schweren Zerebralsklerose. Sauerbruch, dieser geistesprühende, kritische Mensch konnte Dichtung und Wahrheit in seinem Leben nicht mehr unterscheiden. Er verlor Gedächtnis und Urteilskraft. 1949 tat sein Sohn Dr. med. Friedrich Sauerbruch einen schweren Opfergang. Er bat den Minister für Volksbildung in Ost-Berlin, Paul Wandel, seinen Vater von seinem Amt als Ordinarius der Humboldt-Universität und Direktor der Chirurgischen Universitätsklinik der Charité zu emeritieren, weil er die Tragweite seiner Operationen nicht mehr übersah. Der Bitte wurde in ehrenvoller Weise entsprochen. Wandel seinerseits bat Sauerbruchs Freund Rössle, diesem die schmerzliche Notwendigkeit verständlich zu machen. Rössle nahm diese tragische Freundespflicht in Treue auf sich. Es kostete ihn Sauerbruchs Freundschaft. Der kranke Sauerbruch war nicht mehr fähig, sich selbst zu erkennen und die notwendigen Folgerungen zu begreifen. Verbittert trat er von einem Tage auf den anderen zurück und blieb seiner Klinik fern. Aber andere nutzten die Kritiklosigkeit des Kranken aus, solche, die vom früheren Glanz seines Namens profitieren wollten, und andere, selbst Kranke, die nicht glaubten, daß dieser große Arzt ihnen nicht mehr helfen konnte. Manche schmerzliche Entgleisung folgte ; unseriöse und sensationsgierige Artikel und Filme über ihn, Schönheitspräparate mit seinem Namen und anderes Unwürdige erschienen auf dem Markt der Geschäftemacher. Sie haben nichts mit dem eigentlichen Sauerbruch zu tun, dem großen Mann.
FRANZ
BLUMENTHAL
D I E ENTWICKLUNG D E R WISSENSCHAFT VON DEN HAUT- UND GESCHLECHTSKRANKHEITEN AN D E R FRIEDRICH-WILHELMS-UNIVERSITÄT ZU B E R L I N VON D E R REICHSGRÜNDUNG B I S 1945 Wenn wir die Entwicklung der Dermatologie und der Venerologie an der Berliner Universität betrachten, so sind 3 Epochen zu unterscheiden: Erstens die Entwicklung von der Reichsgründung ab bis zur Berufung Edmund Lesser's auf den Lehrstuhl im Jahre 1896; zweitens die Berliner Schule unter Lesser und seinen Schülern, und schließlich die Zeit unter dem Hitlerregime. Während schon frühzeitig in Paris und um die Mitte des vorigen Jahrhunderts in Wien unter Hebra eine bedeutende dermatologische Schule bestand, hatte die Berliner Universität lange Zeit keine eigentliche Schule. Nur einzelne Universitätslehrer befaßten sich mit unserer Spezialität. Von ihnen seien Friedrich Jacob Berend zu nennen, ferner der leider sehr früh verstorbene Bärensprung. Sie kommen zwar für unsere Betrachtungen zeitlich nicht in Betracht. Doch sei Letzterer besonders erwähnt, da er als erster eine besondere Abteilung für Hautund Geschlechtskrankheiten an der Berliner Universität erhielt und zum außerordentlichen Professor gemacht wurde. Die Arbeiten seines Schülers, des Privatdozenten Max Burchardt fallen auch meist vor die von uns behandelte Zeit, doch seien einige derselben erwähnt: so die Entdeckung des Erregers des Erythrasma, der Nocardia minutissima und seine Abhandlung über die Behandlung des Eczems, die im Jahre 1885 erschien. In die erste Epoche fällt auch die Tätigkeit Schwenningers, der auf das Ansuchen Bismarck's, dessen Leibarzt er war, den Lehrstuhl für Hautkrankheiten erhielt, trotzdem er dafür keine besonderen Vorkenntnisse hatte. Trotzdem ist er für die Dermatologie von bleibender Bedeutung, da ein von ihm und seinem Schüler Buzzi beschriebenes Krankheitsbild seinen Namen trägt und als »Schwenninger-Buzzi« Atrophie weltbekannt ist.
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Von größerer Bedeutung war die Tätigkeit Oscar Lassar's, der auf therapeutischem Gebiete mit der Einführung der Zinkpaste, die überall offiziell den Namen Lassarspaste trägt, einen großen Fortschritt brachte. Dem Pharmakologen Liebreich verdanken wir die Einführung des Wollfettes, Lanolin, in die Hauttherapie. Es war die erste Salbengrundlage, die mit Wasser mischte und die Herstellung von Hautcrems ermöglichte. Georg Lewin, der die Abteilung für Geschlechtskrankheiten nach Abtrennung der Hautabteilung leitete, führte die intramuskuläre Einspritzung von Sublimatlösung in die Syphilisbehandlung ein, eine Methode, die in modifizierter Form große therapeutische Bedeutung erlangte. Aber, wie gesagt: von einer eigentlichen Berliner Schule kann erst nach Berufung Edmund Lesser's im Jahre 1896 gesprochen werden, als er die Leitung der Geschlechtskrankenabteilung und bald darauf auch die Hautabteilung übernahm. In kurzer Zeit baute er eine klinische Lehr- und Forschungsstelle auf, die mit zu den führenden in der Welt gehörte. Hierin wurde er unterstützt von Mitarbeitern, wie Buschke, Bruhns und vor allem Erich Hoffmann. Diese Bedeutung wurde weltweit anerkannt, als der fünfte internationale Kongreß im Jahre 1904 in Berlin unter seiner Leitung abgehalten wurde. So wurde die Berliner Klinik bald ein Mittelpunkt der Forschung für die venerischen und Hauterkrankungen, und Besucher aus aller Welt, die später führend in unserm Gebiete wurden, waren willkommene Gäste. Von den zahlreichen jungen Ärzten, die seine Schüler waren und namentlich auch von Erich Hoffmann's Feuereifer angezogen wurden, seien erwähnt: Löhe, Mulzer, Heuck, ich selber und besonders auch Arndt, der seine damals schon bedeutenden Kenntnisse auf klinischem und histologischen Gebiete in den Dienst der Klinik stellte. Es war die große Zeit der Syphilisforschung. Im Jahre 1903 hatten Metchnikoff und Roux die Syphilis auf Menschenaffen übertragen und damit die experimentelle Syphilisforschung neu belebt. Die größte Bedeutung beanspruchte aber die am Material der Berliner Klinik erfolgte Entdeckung des Erregers der Syphilis, der Spirochaete pallida bei Scl.audinn und Hoffmann. Sie machte die Berliner Klinik zum Mittelpunkt der experimentellen Syphilisforschung und, wie gesagt, eine Fülle von Arbeitern waren tätig, die Forschungsergebnisse der
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Berliner Klinik und anderer Forschungsstätten auszunutzen und zu erweitern. Schnell folgten Fortschritte auf diagnostischem und therapeutischem Gebiete, gefördert durch experimentelle Versuche an kleineren Laboratoriumstieren und niederen Affen, und überall stand die Berliner Klinik mit an erster Stelle. Die ersten Versuche, das Arsen als antisyphiliticum zu verwerten, wurden in Paris am Institut Pasteur mit dem von meinem Bruder Ferdinand Blumenthal an der Berliner Leyden'schen Klinik in die Therapie eingeführten Atoxyl unternommen. Uhlenhuth und Hoffmann zeigten in zahlreichen Versuchen an Tieren die Schutz- und Heilwirkung des Atoxyl. Doch waren die benötigten Dosen beim Menschen so hoch, daß die Versuche wegen der schweren Nebenwirkungen aufgegeben werden mußten; immerhin führten sie schließlich zu der Entdeckung des Salvarsans bei Paul Ehrlich. Auch an der Entdeckung der Serodiagnostik der Syphilis war die Hautklinik nicht direkt beteiligt; Wassermann, der Vater der Reaktion, gehörte dem Lehrkörper der Universität an. Die benötigten Versuche an Tier und Mensch wurden aber in Breslau ausgeführt. Ganz der Arbeit der Charitekliniken verdanken wir die Ausarbeitung der Technik, die die ersten praktisch brauchbaren Resultate ermöglichten. In gemeinsamer Arbeit haben Citron und ich selber an dem großen Material des Charitekrankenhauses eine klinisch brauchbare Technik ausgearbeitet und die praktische Durchführung ermöglicht. Auch der Einfluß der Behandlung auf den Ausfall derWassermann'schen Reaktion wurde an unserem Material zum ersten Male gezeigt. Neben der Syphilisbekämpfung hat sich die Berliner Klinik in der Hauttuberkulosebekämpfung mit an erster Stelle befunden. Die Lupuskommission des Deutschen Zentral-Kommittees für Tuberkulosebekämpfung hatte Edmund Lesser's besonderes Interesse. Für die Behandlung des Lupus schuf Lesser eine eigene Abteilung, die mit Finsenapparaten und allen technischen Einrichtungen ausgerüstet war. In diesem Lichtinstitut wurden die Grundlagen für die Strahlentherapie der Hautkrankheiten von H. E. Schmidt und seinem Nachfolger Frank Schultz mitbegründet, und ich bemühte mich als ihr Nachfolger weiter auszubauen, was sie grundlegend geschaffen haben. All dies habe ich in meinem Lehrbuch über die Strahlenbehandlung der Hautkrankheiten niedergelegt.
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Auf allen Gebieten der Haut- und venerischen Erkrankungen wurde Grundlegendes geschaffen, besonders auch durch die Mitarbeit von Georg Arndt, der später Lesser s Nachfolger wurde. Sein reiches Wissen auf klinischem und histologischem Gebiete befruchtete alles Arbeiten an der Klinik. Seine Arbeiten über leukämische und aleukämische Lymphadenosen und über die narbigen Alopecien sind grundlegend geblieben. Von den vielen ausländischen Ärzten, die an der Berliner Klinik weitere Ausbildung suchten und führend in unserem Fache wurden, seien nur Behcet, Civatte, Photinos und Wile erwähnt. So war die Berliner Hautklinik unter Lesser ein Mittelpunkt der wissenschaftlichen Forschung und Lehrtätigkeit, und blieb es auch unter seinem Nachfolger Arndt, der unterstützt von seinem Oberarzt H. Löhe die klinische und Lehrtätigkeit ausbaute, und besonders die klinischen und histologischen Kenntnisse Arndt's zogen immer mehr Schüler an. Nach der Berufung Löhe's an leitende Stelle am Rudolph-VirchowKrankenhaus übernahm ich die Oberarztstelle und nach dem frühzeitigen Tode Arndt's im Jahre 1929 die Leitung der Klinik als stellvertretender Direktor und behielt sie bis 1932, wo Friboes die Leitung endgültig übernahm. Während all dieser Jahre wurde auf allen Gebieten unseres Spezialfaches Grundlegendes geleistet. Auf dem Gebiete der Pilzkunde entdeckte Marie Kaufmann-Wolf den Erreger der Interdigitalmykose, das »epidermophyton«, das ihren Namen trägt. In gemeinsamer Arbeit mit Asta v. Mallincrodt-Haupt gelang mir der Nachweis von Antikörpern im Blutserum bei oberflächlicher Trichophytie, was die strittige Frage einer Allgemeinreaktion bei oberflächlicher Pilzerkrankung löste. Im speziellen Laboratorium wurde die Lehre von der Allergie besonders unter Leitung von Käte Jaffe ausgebaut und die Ergebnisse in einem gemeinsamen Buche »Ekzem und Idiosynkrasie» niedergelegt. Karl Hoefer baute die wissenschaftliche Kinematographie aus und benutzte die Gewebsforschung für Lösung zahlreicher Fragen. Auf dem Gebiete der Tuberkuloseforschung wurde die Heilstätte Müncheberg unter Leitung von Carl Funk gegründet und in engem Zusammenhang mit der Klinik erhalten. Von den zahlreichen Arbeiten und Krankenvorstellungen von Gottron seien nur seine grundlegenden Studien über die Amyloidosis der Haut erwähnt.
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Wenn auch die Hautklinik stets der Mittelpunkt der Dermatologischen Arbeiten blieb, so darf nicht vergessen werden, daß auch Dozenten, die nicht direkt der Klinik angegliedert waren, Hervorragendes leisteten. Ich erwähne nur Heller, der grundlegend die Erkrankungen der Nägel erforscht hat; Bruhns, der Wichtiges auf dem Gebiete der Pilzerkrankungen geleistet hat; Buschke, dessen Name mit den Skleroedema und der europäischen Blastomykose verbunden ist, und der eine Fülle von Arbeiten veröffentlichte, viele gemeinsam mit Langer, unter denen ich die Studien über das Thallium besonders erwähnen möchte; Löhe, der als einer der Ersten chemotherapeutische Präparate bei der Gonorrhoe innerlich mit Erfolg verwendete. Zum Schluß möchte ich besonders auch Felix Pinkus erwähnen. Er hat sich als der Anatom unter den Dermatologen eine besondere Stellung erworben, und mit seiner Bearbeitung der Embryologie der Haut in Keibel-Mell's Lehrbuch und der Anatomie der Haut in Jadassohn Handbuch Bleibendes geschaffen. Sein Name ist verknüpft mit dem von ihm beschriebenen Krankheitsbilde des Liehen nitidus. Für die Zeit nach 1934 bin ich leider nicht zuständig.
FRIEDRICH HARTMUT DOST / GERHARD JOPPICH
DIE AN D E R
KINDERHEILKUNDE
FRIEDRICH-WILHELMS-UNIVERSITÄT
VON D E R R E I C H S G R Ü N D U N G B I S 1945* Die Kinderheilkunde verdankt ihre Entstehung im allgemeinen zwei verschiedenen Wurzeln. Die eine ist in der raschen Entwicklung der medizinischen Wissenschaft zu sehen, die unter dem Einfluß naturwissenschaftlichen Denkens im 19. Jahrhundert in den meisten europäischen Staaten erfolgte und die Aufteilung der Heilkunde in verschiedene Disziplinen erzwang. Die Entstehung der Kinderheilkunde vermochte sie freilich nur zögernd voranzutreiben, vornehmlich deswegen, weil es sich bei der Kinderheilkunde nicht um ein Spezialfach handelt, das sich mit bestimmten Organen befaßt, sondern weil die Kinderheilkunde ein Teilgebiet der Inneren Medizin ist, das sich auf die Zeit von der Geburt bis zur Pubertät beschränkt. Sie arbeitet mit den diagnostischen und therapeutischen Methoden der Inneren Medizin und benötigt zu ihrer Ausführung die gleichen Hilfswissenschaften wie jene. So sahen sich die Vertreter der Inneren Medizin nur widerstrebend genötigt, ein Teilgebiet aufzugeben, das sie hinlänglich zu beherrschen glaubten. Am ehesten waren sie noch bereit, der Säuglingsheilkunde eine Sonderstellung einzuräumen, welche eine Betreuung durch spezialistisch geschulte Ärzte notwendig mache. Die zweite Wurzel der Kinderheilkunde ist in der Abhängigkeit des Kindes von sozialen Faktoren zu erblicken. Mehr als in anderen Altersabschnitten spielen diese für Gesundheit und Krankheit des Kindes eine Rolle. Ihnen war bis in den Beginn unseres Jahrhunderts hinein ein großer Teil der hohen Kindersterblichkeit zur Last zu legen, die seit Menschengedenken bestand und ein unumstößliches Naturgesetz darzustellen schien. Daß es sich hierbei nicht um ein rein * Dem letzten Ordinarius für Kinderheilkunde an der Friedrich-WilhelmsUniversität, Professor Dr. med., Dr. h. c. Hans Kleinschmidt zu seinem 75. Geburtstag gewidmet.
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ärztliches Problem handelte, ging allein aus der Tatsache hervor, daß die Sterblichkeit der Kinder in verschiedenen sozialen Schichten der Bevölkerung höchst unterschiedlich war und daß diejenige der unehelichen Kinder immer an der Spitze lag. Gerade das traurige Schicksal unehelicher Kinder war es, das auf indirekte Weise die Entwicklung der Kinderheilkunde schließlich am meisten gefördert hat. Denn es war der Anlaß zur Gründung von Findelanstalten, die es vor allem in den romanischen Ländern Europas, daneben aber auch in Österreich und Rußland gab. Sie waren gegründet, um der Tötung unehelicher Kinder entgegenzuwirken, und der erste Stifter einer Findelanstalt war ein Kirchenfürst, der Erzbischof Datheus von Mailand (im Jahre 787). Um die Abgabe unehelicher Kinder zu erleichtem, konnten diese nachts in einer neben der Tür angebrachten Lade abgelegt werden, ohne daß die Mutter erkannt wurde. Die Ansammlung von Säuglingen und Kleinkindern in Findelanstalten rief sogleich kinderärztliche Probleme hervor und wurde auf diese Weise zu einer der Wurzeln für die Entwicklung einer wissenschaftlichen Kinderheilkunde; denn die Einschleppung von Infektionskrankheiten aller Art und die Ernährungsstörungen von Säuglingen, denen niemand zu steuern wußte, dezimierten die Kinder in den Anstalten und wirkten hierdurch der frommen Absicht des Bischofs entgegen. In vielen Findelhäusern starben praktisch alle Kinder, in anderen wenigstens 3/4 oder die Hälfte. Dies diskreditierte die Findelanstalten aber nicht so, wie man hätte erwarten können; denn auch unter normalen Bedingungen war die Kindersterblichkeit sehr hoch. In Deutschland starb um 1830 bis zum 10. Jahr die Hälfte aller Geborenen [Henke). 1871 findet man noch in dem Lehrbuch der Kinderkrankheiten von Gerhardt die lapidaren Sätze: »Von den Geborenen sterben 1 / 10 im 1. Lebensmonat, bis zu 1 Jahr 1/5, bis zu 5 Jahren 1/3«. Daß man sich in Deutschland weniger als in anderen Ländern entschloß, Findelanstalten einzurichten, beruhte auf dem Einwand, daß die Findelanstalt die Kinder von ihren Müttern trenne, was man mit Recht für unerwünscht hielt. Auch befürchtete man, daß die Erleichterung in der Abgabe unehelicher Kinder die Unzucht fördern würde. Nachdem ein Plan Friedrich Wilhelms I., an der Berliner Charité eine »Fündelanstalt« einzurichten, nicht zur Ausführung gekommen war (was man nicht zu bedauern braucht, weil der König aus SparG II
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samkeitsgründen keine Ammen einzustellen beabsichtigte, sondern die Kinder mit Mehlbreien aufzuziehen angeordnet hatte) wurde erst rund 120 Jahre nach der Gründung der Charité — im Jahre 1829 — eine Kinderabteilung eingerichtet, die aber keine Findelanstalt beherbergte, ja von der Säuglinge ausgeschlossen waren. Sie diente bereits dem Unterricht in Kinderheilkunde, aber sie war noch recht dürftig und unzulänglich untergebracht. Ein eigener Hörsaal war nicht vorhanden, und der Unterricht erfolgte zeitweilig im Chirurgischen Operationssaal, was den verständlichen Protest des chirurgischen Ordinarius zur Folge gehabt hat. Eine eigentlich wissenschaftliche Disziplin mit einem habilitierten Lehrer an der Spitze wurde die Kinderheilkunde erst 1872, als mit Eduard Henoch (1820—1910) ein Pädiater an die Friedrich-WilhelmsUniversität berufen wurde, dessen Name bis auf den heutigen T a g in Verbindung mit dem Krankheitsbild der Purpura abdominalis in jedem deutschsprachigen Lehrbuch der Inneren Medizin und der Kinderheilkunde zu finden ist. Henoch hatte sich für Innere Medizin habilitiert, später aber mehr und mehr den Krankheiten der Kinder zugewandt. Seit 1850 hatte er ein Kolleg mit praktischen Übungen über Kinderkrankheiten gelesen, 1865 jedoch aus politischen Gründen seine Lehrtätigkeit wieder aufgegeben. Als aber sein Vorgänger, H. F. Ebert auf einer Reise in Ragaz plötzlich gestorben war, wurde er 1872 auf den außerordentlichen Lehrstuhl für Kinderheilkunde an der Friedrich-Wilhelms-Universität berufen. Die Fakultät war für einen ordentlichen Lehrstuhl damals noch nicht zu gewinnen, obwohl Gerhardt, der den Lehrstuhl für Medizinische Poliklinik innehatte und sich für Kinderheilkunde interessierte, für den Ausbau der Pädiatrie als selbständiges Fach eintrat. Henoch führte noch im Jahre seines Ausscheidens aus dem Unterricht bittere Klage über »unsere Facultäten, welche die Kinderheilkunde noch immer als eine nebensächliche Disciplin betrachten und, hinter den längst durchbrochenen Wällen veralteter Satzungen geborgen, der Pädiatrik das Recht eines eigenen Lehrstuhls bestreiten«. Hier ist zu bemerken, daß damals die Inhaber eines außerordentlichen Lehrstuhls nicht der engeren Fakultät mit Sitz und Stimme angehörten. Henoch war ein sehr beliebter Lehrer. Er gewann durch seine Liebenswürdigkeit und seine Klugheit. Die von ihm erhaltenen Bilder zeigen eine imponierende Persönlichkeit mit durchdringenden Augen,
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edlen Gesichtszügen und einem wohlgeformten Kopf. 1881 gab er ein Lehrbuch der Kinderheilkunde in Form von Vorlesungen heraus. Czerny berichtet, daß es lange Zeit »das Lehrbuch der Ärzte« gewesen sei. In dichter Folge erschienen die Auflagen, von denen es elf erlebte. Auch für den heutigen Leser ist das Buch interessant, weil es eine Fülle klinischer Beobachtungen enthält und über die Pädiatrie einer Zeit berichtete, von der man heute kaum noch Vorstellungen hat. Die großen klinischen Erfahrungen Kenochs konnten indessen nicht zu voller Wirkung gelangen, weil die Einrichtung der Klinik sehr viel zu wünschen übrig ließ. Insbesondere war eine Trennung der infektiösen von den nichtinfektiösen Kindern in den völlig unzulänglichen Räumlichkeiten des alten Charite-Gebäudes noch immer nicht möglich, und das einst im Hinblick auf die Zustände im Pariser Kinderkrankenhaus geprägte böse Wort Archambauts: »On n'y meurt pas des maladies, qu'on y port ; on meurt des maladies, qu'on y prend«, galt, wie für die meisten damaligen Kinderkrankenhäuser, auch für die Kinderklinik der Charité. Zeitweilig betrug die Sterblichkeit in der Anstalt 50%. Diese erschreckende Zahl war nicht zuletzt dadurch bedingt, daß von 1873 an auch Säuglinge in der Kinderklinik Aufnahme finden mußten. Diese wurden in einem Zimmer untergebracht, das zwischen dem Knaben- und Mädchen-Saal lag. Henochs Nachfolger Heubner beschreibt das Zimmer: »Hier stand Bett an Bett, mit kleinen, alten, schlechten Bettstellen, und entsprechend dürftiger, unzureichender Ausrüstung. Alle Betten waren fast ununterbrochen belegt. Meist nicht lange vom selben kleinen Patienten, denn ihres Bleibens war nicht lange bis zum Abgang: aber nicht zur Rückkehr zur Mutter oder ins Waisenhaus!« Heubner gibt die Mortalität auf der Säuglingsabteilung zwischen 75 und 80% an. Henoch selbst beziffert die Sterblichkeit von Kindern des 1. Lebenshalbjahres mit 7 6 % . Solche Zustände waren damals keineswegs ungewöhnlich. Gerade darum nahmen viele Kinderkrankenhäuser Säuglinge überhaupt nicht auf oder nur »ausnahmsweise mit Bewilligung des Direktors« (Anschlag am Eingang der deutschen Universitäts-Kinderklinik in Prag). Auch Henoch war der Meinung, »daß junge Kinder, besonders kranke Säuglinge, in eigentlichen Krankenhäusern gar keine Aufnahme finden sollten, sondern nur in Anstalten, welche eine zweckmäßige Ernährung durch Ammen zu bieten imstande sind (sogenannte Findelanstalten). Pium desiderium!« Folgerichtig machte er seinem Nachfolger bei der 17'
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Übergabe der Anstalt den Vorschlag, die Säuglingsabteilung wieder eingehen zu lassen, da sie nur dazu führe, die »Klinik zu diskreditieren«. In der Tat waren die Ergebnisse in den Findelanstalten, wie Henoch ganz richtig sah, damals weit besser. So berichtet Czerny, daß in der Prager Kinderklinik unter Ebstein, welche gleichzeitig Landesfindelanstalt war, etwa in der gleichen Zeit die Sterblichkeit der Säuglinge auf 5 % herabgesetzt werden konnte. Dies gelang dadurch, daß dort alle Säuglinge mit Frauenmilch ernährt wurden, die in den Findelanstalten infolge der großen Anzahl von Ammen in beliebiger Menge zur Verfügung stand. An der Kinderklinik der Charité aber gab es noch zu Henochs Zeiten keine Amme. Erst 1900 konnte Heubner die Einstellung von 4—5 Ammen durchsetzen. Die immer wieder von Henoch vorgetragenen Klagen über die mißlichen Zustände der Klinik führten schließlich dazu, daß die Mittel für eine Infektionsbaracke flüssig gemacht wurden, die im Sommer 1888 dem Betrieb übergeben werden konnte. Sie bestand aus vier durch einen überdachten gekreuzten Gang miteinander verbundenen Flügeln und enthielt »Quarantaine-Zimmer«, einen Masern-, einen Diphtherie- und einen Scharlach-Saal. Die Entfernung der infektiösen Kranken aus der Kinderabteilung war ein großer Fortschritt. Auf einem »Lageplan der Kgl. Charité vor Beginn der Neu- und Umbauten 1897« findet man diesen hölzernen Pavillon im Charité-Gelânde nahe dem Alexanderufer, ungefähr auf demjenigen Baugrund, auf welchem sich heute das Pathologische Institut befindet. Henochs Beliebtheit zeigte sich in dem guten Besuch seines Kollegs. Das Auditorium war immer voll, obwohl der Unterricht in Kinderheilkunde nicht vorgeschrieben war und das Fach im Staatsexamen nicht geprüft wurde. Außer den Studenten befand sich auch immer eine große Anzahl praktischer Ärzte unter seinen Hörern. An Krankengut war kein Mangel, denn die Poliklinik wies bis zu 5000 Patienten im Jahr auf und in der Klinik selbst wurden etwa 1100 bis 1200 Kinder behandelt. Mit 73 Jahren schied Henoch aus seinem Amte, da er an einem Augenleiden erkrankt war. Vertretungsweise übernahm der Internist Carl Gerhardt die Leitung der Klinik. Gerhardt hatte ein mehrbändiges Handbuch der Kinderkrankheiten verfaßt und war mithin in der Lage, die Kinderklinik zu leiten. Aber er war durch seine umfangreiche Tätigkeit in seinem eigenen Fach so ausgefüllt, daß es sich
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hier nur um eine Interimslösung handeln konnte. So übernahm am i . April 1894 der aus Leipzig berufene Professor Otto Heubner die Kinderklinik. Auch Heubner (1843—1926), in Mühltroff im Voigtland geboren, war aus internistischer Schule hervorgegangen. E r hatte sich 1868 habilitiert und war 1873 zum außerordentlichen besoldeten Professor für Innere Medizin ernannt worden. 1876 erhielt er die Leitung der Distrikts-Poliklinik in Leipzig und hatte somit reichlich Gelegenheit, kranke Kinder zu Gesicht zu bekommen, die einen großen Teil der Patienten darstellten. Er erkannte rasch, wie schlecht es mit Kenntnissen auf dem Gebiete der Kinderheilkunde bestellt war und beschäftigte sich daher in seinen wissenschaftlichen Arbeiten mehr und mehr mit den Krankheiten des Kindesalters. Deshalb erhielt er 1886 eine Berufung auf den Lehrstuhl für Kinderheilkunde an der Deutschen Universität in Prag. Doch bot ihm nunmehr die Medizinische Fakultät Leipzig eine Honorarprofessur für Pädiatrie an; da er Aussicht hatte, in Leipzig ein Kinderkrankenhaus zu erhalten, an dem auch die Stadt Leipzig ein großes Interesse hatte, lehnte er den Ruf nach Prag ab. Die von ihm nunmehr erbaute Leipziger Kinderklinik, die 1891 bezogen wurde, war die modernste Einrichtung, die es damals in Deutschland gab. Daher war es für Heubner kein leichter Entschluß, dem Ruf an die Friedrich-Wilhelms-Universität Folge zu leisten. E r stellte die Bedingung, daß ein Ordinariat für Kinderheilkunde geschaffen werde, was ihm der damalige Referent im Kultusministerium, Althoff, auch zusagte. Doch verzögerte sich die Errichtung des Ordinariats nach Heubners Ubersiedlung nach Berlin, so daß Heubner an das ihm gegebene Versprechen erinnern mußte. Die Fakultät hatte nicht zugestimmt und einen Protest bei Althoff veranlaßt, den dieser aber nicht berücksichtigte. Heubners Bemühen ging auch in Berlin zunächst vor allem dahin, durch Verbesserung der klinischen Verhältnisse die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Arbeit zu schaffen. Im Jahre 1896 konnte er die Säuglinge aus dem oben beschriebenen gänzlich unzureichenden Zimmer in der alten Charité in eine von Robert Koch abgetretene Doppelbaracke des Instituts für Infektionskrankheiten verlegen. Schließlich wurde im Rahmen des umfassenden Neubaus der Charité eine völlig neue Kinderklinik errichtet. Sie wurde im Oktober 1903 eingeweiht und bezogen. Auf dem Platz, welcher dem Neubau zugewiesen worden
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war, gegenüber dem Verwaltungsgebäude, befindet sich die Kinderklinik noch heute. Sie enthielt Säuglings- und Frühgeborenen-Abteilungen, Mädchen- und Knaben-Säle, Laboratorien, Röntgenzimmer, Poliklinik, Hörsaal und Schwesternzimmer. 1910 berichtete Heubner, daß die Sterblichkeit in dieser Klinik auf 23% der Aufgenommenen gesenkt werden konnte. Die Grundlage der wissenschaftlichen Forschertätigkeit Heubners war neben der Inneren Medizin vor allem die pathologische Anatomie. Hier besaß er große Erfahrungen, weil er sowohl am Pathologischanatomischen Institut bei Wagner als auch später bei Cohnheim gearbeitet hatte. In Leipzig hatte er Vorlesungen über spezielle pathologische Anatomie gehalten; in seinen Forschungen kehrte er immer wieder zu pathologisch-anatomischen Untersuchungsmethoden zurück, wie sie damals unter dem beherrschenden Einfluß der pathologischen Anatomie üblich waren. Dabei waren ihm wichtige Entdeckungen, wie z. B. die Existenz der Endarterien des Hirnstamms gelungen. Bei den Erkrankungen der Säuglinge erwies sich aber die pathologische-anatomische Forschungsweise als wenig ergiebig. Heubner erkannte, daß hier nur mit physiologischen Methoden weiterzukommen war und so verband er sich vom Jahre 1897 an mit dem Physiologen Rubner. Die Ergebnisse dieser Zusammenarbeit waren wichtige Erkenntnisse über den Energiebedarf des Säuglings und über seinen Stoffwechsel. Von Heubner stammt der noch heute gültige Begriff des Energiequotienten. (Die Erkenntnis von der Bedeutung physiologischer Arbeitsweise für die Entwicklung der Säuglingspathologie war wohl auch mitbestimmend dafür, daß Heubner bereits bei seiner Berufung nach Berlin die Aufmerksamkeit des preußischen Kultusministeriums auf den jungen Dozenten Czemy lenkte, der damals in Prag arbeitete und von der Physiologie zur Kinderheilkunde gekommen war.) Seine klinischen Erfahrungen legte Heubner in einem Lehrbuch der Kinderheilkunde nieder, das nach der Meinung Czernys deswegen von bleibendem Wert ist, weil es nicht nach dem Studium des einschlägigen Schrifttums, sondern aus umfassender eigener Sachkenntnis geschrieben worden ist. Heubner hat es in der T a t nicht im Studierzimmer, sondern auf Reisen verfaßt, und die einzelnen Kapitel verbanden sich, wie er in seinen Lebenserinnerungen berichtet, mit der Erinnerung an herrliche Orte: »Der Typhus mit Taormina, die Tuberkulose mit Palermo, die Masern mit Goslar«.
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Heubners Persönlichkeit hat der Kinderklinik an der FriedrichWilhelms-Universität jenes Profil verliehen, welches diese Anstalt zu einem, den beiden Medizinischen Kliniken ebenbürtigen Glied der Charité werden ließ. Seine Rednergabe, sein klinisches Wissen und sein Humor machten ihn nach den Worten Münks zum »Liebling und hochverdienten Lehrer der klinischen Studenten seiner Zeit«. Seine Vorlesungen waren nicht nur durch ihren wissenschaftlichen Ernst, sondern auch durch die warmherzig-ärztliche Art seines Umgangs mit den kleinen Patienten für die angehenden Ärzte ein Erlebnis von nachhaltiger Wirkung. Erst durch die Hartnäckigkeit, mit der er unbeirrt auf der Errichtung eines Ordinariats für Kinderheilkunde an Deutschlands bedeutendster Universität bestand, hatte die Kinderheilkunde den ihr zukommenden Platz in den medizinischen Fakultäten erhalten. Durch seine Schüler wurden auch an anderen deutschen Universitäten Lehrstühle für Kinderheilkunde besetzt. Als er im Alter von 70 Jahren aus eigenem Entschluß sein Amt niederlegte, war das Lehrgebäude der Kinderheilkunde schon fest gefügt. An seine Stelle trat Czerny, auf den er selbst 20 Jahre zuvor die Aufmerksamkeit des Ministers gelenkt und dessen Berufung nach Breslau er damals empfohlen hatte. Adalbert Czerny (1863—1941), einer Pilsener Familie entstammend, hatte in Prag studiert, wo er schon während seiner Studentenzeit Assistent bei dem Physiologen S. Meyer wurde. Nach gründlicher Vorbildung in Embryologie, Histologie und physiologischer Chemie wandte er sich der Inneren Medizin zu. Da gerade an der von Ebstein geleiteten Kinderklinik eine Assistentenstelle frei war, zögerte er umso weniger, diese zu übernehmen, als für ihn die Kinderheilkunde immer nur ein Teil der Inneren Medizin gewesen ist. »Der Tiefstand der Pädiatrie in der damaligen Zeit schreckte mich nicht ab. Ich war vielmehr überzeugt, daß ich ein Arbeitsgebiet betreten hatte, auf dem viel zu leisten war«. Zu einer Zeit, in der die meisten deutschen Universitäten noch gar keine Kinderklinik besaßen, verfügte Prag über deren zwei. Hier war insbesondere die Ebsteinsche Klinik einzig in ihrer Art; denn sie war zur Hälfte Landesfindelanstalt. Den größten Teil der Belegung machten daher die Säuglinge aus. So hatte Czerny Gelegenheit, sich eine Erfahrung in der Behandlung kranker Säuglinge anzueignen, die in Deutschland kein anderer besaß. Als er sich 1893 habilitierte, war Czerny schon so bekannt, daß ihn der Referent
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des preußischen Kultusministeriums, Althoff, im selben Jahr mit den Worten begrüßte, die Ärzte Deutschlands müßten von ihm vor allem etwas über die Krankheiten des Säuglings und Kleinkindes lernen. Das in Deutschland sich plötzlich entwickelnde Bewußtsein für die Bedeutung der Pädiatrie führte Czerny darauf zurück, daß zwischen Sterblichkeit und Zuwachs ein Mißverhältnis entstanden war. »Eine Persönlichkeit, die dies sehr bald erkannte, war der damalige preußische Ministerialdirektor Althoff. Ihm verdanken wir die Möglichkeit der Entwicklung einer deutschen Pädiatrie, und wer je eine Geschichte der Kinderheilkunde schreiben wird, muß seiner in größter Dankbarkeit gedenken«. Die Persönlichkeit Althoffs und seine Sachkenntnis waren es, die Ccemy veranlaßt hatten, den gleichzeitig an ihn ergangenen Ruf nach Innsbruck abzulehnen und sich für Breslau zu entscheiden, obwohl er dort gar keine Kinderklinik vorfand. In 16 Jahren fruchtbarer Arbeit hat Czerny in Breslau die Grundkonzeption seiner medizinischen Auffassung gelegt. Hier vollzog er als einer der ersten die sich damals auch in anderen Bereichen der Medizin anbahnende Wendung von der Anatomie zur Physiologie, von der Morphe zur Funktion. Dies führte ihn dazu, die alte Konstitutionslehre neu zu beleben. »Ich erreichte mit der Einführung des Konstitutionsgedankens, daß nun nicht mehr die Aufmerksamkeit allein auf die zeitweilig vorliegende Krankheit festgelegt, sondern auch dem Kinde zugelenkt wurde«. Diese neue Denkweise in Verbindung mit umfangreichen Studien über den Stoffwechsel des Säuglings, die in dem Handbuch von Czerny-Keller »Des Kindes Ernährung, Ernährungsstörungen und Ernährungstherapie« niedergelegt wurde, bildete die Grundlage für den rasch entstehenden Ruf der »Breslauer Schule«, aus der eine Reihe angesehener Forscher hervorgegangen ist. Als Czerny 1910 auf den Lehrstuhl an der Universität Straßburg berufen wurde, war es für die Lage, in der sich die Pädiatrie in Deutschland noch immer befand, charakteristisch, daß man in Straßburg die Säuglingsabteilungen von der übrigen Kinderklinik absonderte, weil man sich, wie Czerny meinte, nicht im klaren war, ob die Säuglingslehre zur Kinderheilkunde gehöre. Man hatte offenbar vor, einen Arzt als Leiter der Säuglingsabteilung und einen anderen als Leiter der Kinderklinik und Poliklinik zu berufen. »Welchen von den beiden man für den Pädiater hielt, habe ich nicht festgestellt.« Nach Czernys Meinung hatte die ältere Richtung der Pädiatrie den
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Fehler, daß sie die Pathologie des Säuglings vernachlässigte, die jüngere den, daß sie diese zu sehr in den Vordergrund stellte. Die große Straßburger Kinderklinik gab Czerny Gelegenheit, die Einheit der Kinderheilkunde zu betonen und zu zeigen, daß er selbst jedenfalls nicht nur auf dem Gebiete der Säuglingskrankheiten zu Hause war. In Straßburg entstand jenes Buch, das ihm später die Würde eines Ehrendoktors der philosophischen Fakultät der Universität Köln eintragen sollte: »Der Arzt als Erzieher des Kindes«. In diesem Buch kommt die unbestechliche Beobachtungsgabe, der feine sarkastische Humor und die Güte Czernys wohl am unverhülltesten zum Ausdruck. Czerny war selbst erstaunt, daß diese Vorlesungen im In- und Ausland eine Verbreitung fanden, die er nicht vorausgesehen hatte. Als Czerny 19x3 die Nachfolge Heubners auf dem Lehrstuhl für Kinderheilkunde der Friedrich-Wilhelms-Universität antrat, gingen die langen Friedensjahre, in denen er sich entfalten und für die Entwicklung der Kinderheilkunde zu einem Hauptfach der Medizin wirken konnte, ihrem Ende entgegen. Die folgenden Kriegsjahre sowie die wirtschaftlichen und politischen Wirren der Nachkriegszeit, unter deren Zeichen seine Berliner Zeit stand, waren seiner Tätigkeit wenig förderlich. Gleichwohl gelangte Czerny in seinen Berliner Jahren auf den Höhepunkt seines Ruhmes. Seine Arbeitskraft war unerschöpflich; es schien für seine Mitarbeiter manchmal unbegreiflich, daß Czerny kein Hungergefühl zu kennen schien. Die Erkennung der Niemann-Pickschen Krankheit geht letzten Endes auf ihn zurück (1914) (Peiper). 1918 gab er mit H. Kleinschmidt die Buttermehlnahrung an. Zwischen 1925 und 1928 erschien die zweite Auflage des Handbuches der Ernährungslehre. So ist es verständlich, daß ihm von nah und fern Schüler zuströmten und Ärzte aus aller Herren Länder Gäste an seiner Klinik waren. Der Hörsaal war nicht nur durch Studenten, sondern auch durch ausländische Hörer in großer Zahl besetzt. Dabei war Czerny im Unterricht kein Systematiker. Seine Vorlesung war anspruchsvoll und für Studenten nicht immer leicht zu verstehen, da er Grundkenntnisse als bekannt voraussetzte. Auch las er »nicht so sehr über Krankheiten wie über wissenschaftliche Fragen, die er, überlegen und gedankenvoll, von hoher Warte in vollendeter Form besprach« {Peiper). So enthielten seine Vorlesungen vornehmlich Dinge, die in keinem Lehrbuch standen. Das Lehrbuchmäßige zu bringen überließ er seinen Mitarbeitern. Peiper wie Schiff
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betonen, daß Czerny aus der stets bereiten Fülle seines Wissens lehrte und sich für die Vorlesung nicht vorbereitete. Als einmal ein zur Vorlesung ausgewähltes Kind in der offenen Tür erschien und den ungewöhnlichen Raum mit den vielen Menschen erblickte, machte es kehrt und verschwand. Czerny, der eigentlich etwas ganz anderes vortragen wollte, sprach nun eine Stunde lang über die Angst im Leben des Kindes. Es wäre falsch, aus diesen Berichten zu schließen, daß Czerny seine Verpflichtungen als Lehrer leicht genommen hätte. Im Gegenteil: für ihn war der Unterricht eine ernste Verpflichtung und er ließ nur sehr selten ein Kolleg ausfallen. Der Vorlesungsassistent hatte es nicht leicht, bei seinen Vorschlägen Czerny zu befriedigen. So konnte Czerny in schlechte Stimmung geraten, wenn diejenigen Fälle, die er vorzustellen wünschte, sich gerade nicht in der Klinik befanden. Verärgert betrat er den Hörsaal. Hier aber wich die schlechte Laune sofort, wenn er zu reden begann. Ungern unterbrach er sein Kolleg, wenn die Stunde um war, und oft hat er die Zeit weit überschritten. Im Laufe der Jahre stellten sich so zahlreiche Teilnehmer zu seiner Visite ein, daß diese nicht mehr im Krankenzimmer stattfinden konnte, sondern in den Hörsaal gelegt wurde, wohin die Kinder gebracht wurden. Czerny untersuchte die Kinder oft selbst eingehend. Er liebte Diskussionen und regte sie zuweilen mit gewagten Behauptungen an, die Widerspruch herausforderten. Czernys Persönlichkeit zu beschreiben ist nicht leicht. Die Pädiatrie hat zu seiner Zeit viele bedeutende und kluge Köpfe besessen, die als Ärzte wie als Persönlichkeiten imponierten. Czerny aber darf das Attribut »genial« beanspruchen. Damit soll nicht nur seine intuitive Gabe in der Erkennung wissenschaftlicher Probleme, wie in der Beurteilung des einzelnen Kindes, sein Blick, Zusammenhänge zu erkennen, seine künstlerische Begabung auf dem Gebiete der Malerei und der Musik zum Ausdruck gebracht werden, sondern auch das Unbegreifliche an seiner Persönlichkeit gemeint sein. Wissenschaftliche Untersuchungen, die ihm unwichtig erschienen und mit Belästigungen der Kinder verbunden waren, konnte er nicht leiden. Er war kein Diplomat, der seine Meinung hinter höflichen Redensarten verbarg, sondern er pflegte sie kundzutun, auch wenn sie ihm Feinde schaffte. Hatte Heubner der Pädiatrie in Deutschland zur Anerkennung verholten, so brachte ihr Czerny Weltgeltung ein. Der gleichmäßige Ab-
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fall der Säuglingssterblichkeit seit den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts bis zum heutigen Tag ist gewiß nicht nur ein Erfolg der Kinderheilkunde und nicht der eines Mannes. Aber ohne die Kinderheilkunde, damit auch ohne Czerny und seine Schule, wäre er kaum in der gleichen Folgezeit erreicht worden. Nach der im Jahre 1932 erfolgten Emeritierung Czernys wurde mit Georg Bessau (1884—1944) wieder ein Ordinarius der Leipziger Universität auf den Lehrstuhl der Friedrich-Wilhelms-Universität berufen. Es war kein Zufall, sondern war durch die wissenschaftlichen Aufgaben der zeitgenössischen Kinderheilkunde begründet, daß mit Bessau ein Gelehrter kam, der über die Bakteriologie und Immunbiologie den Weg zur Kinderheilkunde gefunden hatte. Das war im Hygiene-Institut der Universität Breslau bei Richard Pfeiffer gewesen. Von dort kommend war Bessau Assistent an der Breslauer Kinderklinik geworden. 1914 habilitierte er sich, 1920 erhielt er die Berufung auf den außerordentlichen Lehrstuhl für Kinderheilkunde in Marburg. Die Verhältnisse in Marburg waren freilich damals wenig befriedigend. Eine eigene Kinderklinik war nicht vorhanden. Bessau kam sich wie im Exil vor, in welchem er allerdings nur 2 Jahre auszuhalten hatte, da er schon 1922 nach Leipzig berufen wurde. Als er 10 Jahre später an die kleinere Berliner Klinik kam, war es sein erstes Anliegen, bauliche Verbesserungen zu schaffen. Denn noch immer waren jene Holzbaracken aus der Zeit Robert Kochs im Gebrauch, die im Winter mit eisernen Öfen geheizt werden mußten. Jetzt erlebte die Klinik durch erhebliche Neu- und Umbauten mit großzügiger Innenausstattung die inzwischen notwendig gewordene Anpassung an die Erfordernisse des modernen Krankenhausbaues. Im Zuge dieser baulichen Unternehmungen wurde das alte QuarantäneHaus abgerissen, ebenso die drei hölzernen Baracken und durch vier massive, zweigeschossige Klinikhäuser ersetzt, deren Ausführung und Einrichtung in allen wesentlichen Teilen den Angaben Bessaus entsprach und deren Übernahme in kurzer Aufeinanderfolge zwischen September 1938 und Januar 1939 erfolgte. Die Arbeitsrichtung Bessaus ist zeitlebens von dem Imperativ bestimmt gewesen, die Kinderheilkunde mit immunbiologischem und mikrobiologischem Forschungs- und Gedankengut zu durchdringen. Dies ist bereits in dem 1913 erschienenen bakteriologischen Teil seines zusammen mit seinem Lehrer Tobler verfaßten Werkes »Allgemeine
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pathologische Physiologie der Ernährung und des Stoffwechsels im Kindesalter« klar von ihm zum Ausdruck gebracht worden, wo Bessern, gewissermaßen in programmatischer Voraussicht, diejenigen Probleme erörtert hat, deren Lösung später von ihm selbst oder unter seiner Führung von seiner Schule angestrebt worden ist. Hierher gehören seine Tierexperimente, die ihm die Bedeutung der bakteriellen Einwirkungen auf die Entstehung der Säuglings-Darmstörungen erkennen ließ. Eine Vertiefung erfuhr die auf Czerny zurückgehende Vorstellung über die Entstehung akuter Durchfallsstörungen durch Bessaus Lehre vom Katarrh höhergelegener Dünndarmabschnitte. Die oft lebensrettend wirkenden größeren intravenösen Blutwasserübertragungen bei den schwersten Säuglings-Darmstörungen werden von vielen als seine bedeutendste wissenschaftliche Tat angesehen. Sie stellte wirklich einen Meilenstein bei der Behandlung dieser gefürchteten Krankheiten dar. Mehr als ein Jahrzehnt seines Lebens arbeitete Bessau nach seinem eigenen Ausdruck »mit der Zähigkeit eines Ostpreußen« an einem Problem, nämlich der Schaffung einer Milchmischung, die in ihren biologischen Eigenschaften der Frauenmilch möglichst nahe kommen sollte. In einer seinem Vorgänger Adalbert Czerny gewidmeten Gedächtnisvorlesung gab er die Frucht seiner langjährigen Bemühungen bekannt. Um diese Zeit aber hatten schon die Kriegsjahre zunehmend ihre Schatten verbreitet. In der Nacht des 23. August 1943 hatte die Reichshauptstadt die erste ihrer tödlichen Wunden empfangen, als 1200 Flugzeuge die südlichen Vororte Lankwitz, Südende und Lichterfelde zum größten Teil vernichteten, so daß es geboten erschien, größere Teile der Kinderklinik in das an der Stadtperipherie gelegene Städtische Krankenhaus Berlin-Buch zu evakuieren. Wenn es in den folgenden Herbstmonaten auch gelungen war, ungezählte kleinere Bombenschäden, wie hunderte von immer wieder eingedrückten Fensterscheiben und heruntergeschleuderten Dachziegeln zu ersetzen, wenn es sogar gelang, einen durch Einschlag von Phosphorbomben am 25. Januar 1944 aufgekommenen Dachstuhlbrand des Hauptund Hörsaalgebäudes der Kinderklinik so rechtzeitig zu löschen, daß das Haus selbst erhalten blieb, so war doch bereits klar zu erkennen gewesen, daß die Baulichkeiten der Klinik in dem kommenden Winter nicht mehr als nur eine notdürftige Unterkunft für die allernächste Zukunft darstellen würden.
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Weiterer Sorgen hierüber sah man sich jedoch enthoben, als in der Nacht des 3-/4- Januar 1945 das mittlere der drei einstöckigen Häuser einen Bombenvolltreffer größeren Kalibers erhielt, der das Gebäude selbst, ohne daß es zu einem Brand gekommen wäre, sowie die beiden Nachbargebäude gleichen Erbauungsdatums im Verlaufe eines Augenblicks dem Erdboden gleichmachte und darüber hinaus schwere Verwüstungen an und in dem stehengebliebenen Haupt- und Hörsaalgebäude der Klinik hinterließ. Wenn auch das gesamte Archiv sowie die von Bessau vorsorglich in den Keller verbrachte wertvolle Bibliothek der Klinik bis auf unwesentliche Verluste erhalten blieb, so war doch mit diesem Ereignis die vertraute Silhouette der Kinderklinik ausgelöscht. Nicht aber brauchten Menschenleben beklagt zu werden, denn schon seit 1943 waren bei jedem der nie gezählten Luftalarme sämtliche Kinder in mühevollem Transport von Schwestern und Ärzten in die der Klinik benachbarten massiv gemauerten Gewölbe unter der Stadtbahn verbracht worden, die nunmehr allerdings zur dauernden Zufluchtsstätte der Klinik werden sollte und in deren Halbdunkel später noch viele Kinder ihr junges Leben ausgehaucht haben. Das auf Berlin und damit auch auf seine Klinik zukommende Inferno hat Bessau nicht mehr erlebt. Er erlag am 16. November 1944 einer heimtückischen Krankheit. Für ihn war es schwer genug gewesen, daß er die Vernichtung eines Teils der von ihm errichteten Kliniksneubauten hatte mit ansehen müssen. Sein Schüler Catel schreibt, daß er damals, keinem Trostworte zugänglich, wie gelähmt in die Flammen gestarrt habe. In diesem schicksalsschweren Wintersemester (1944/45) war es H. Kleinschmidt, damals Ordinarius an der Universität Köln, den das Ministerium mit der außergewöhnlich schwierigen Aufgabe betraute, unter Wahrung seiner Rechte und Pflichten gegenüber seiner Stammfakultät die Vertretung der ordentlichen Professur für Kinderheilkunde an der Berliner Universität und das Direktorat der ChariteKinderklinik wahrzunehmen, nachdem die Kölner Klinik infolge schwerer Bombenschäden unbenutzbar geworden war und Vorlesungen dort nicht mehr gehalten werden konnten. Auch Kleinschmidt, der 1885 als Arztsohn in Elberfeld geboren worden war, hatte in seiner Ausbildungszeit entscheidende Impulse aus der Mikrobiologie und Immunbiologie empfangen, und zwar durch
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den berühmten Schöpfer des Diphtherie-Heilserums Emil von Behring, einem Forscher, der ihn tief beeindruckte und dem er immer hohe Verehrung bewahrte. Damals arbeitete Kleinschmidt an der Kinderabteilung der Marburger Medizinischen Klinik. Die Abteilung war klein, die pädiatrischen Möglichkeiten beschränkt, und so ging Kleinschmidt nach seiner Habilitation zu Czerny, der damals soeben den Lehrstuhl an der Friedrich-Wilhelms-Universität übernommen hatte. Von Berlin wurde er — kaum 35] ährig — auf das planmäßige Extraordinariat für Kinderheilkunde an der Universität Hamburg berufen, das dann bald in ein Ordinariat umgewandelt wurde. Da ihm in Hamburg manche Wünsche, insbesondere die Verfügung über brauchbare Infektionsabteilungen, an denen ihm schon seiner Forschungsrichtung wegen besonders gelegen war, nicht erfüllt wurden, nahm Kleinschmidt 1931 einen Ruf an die Universität Köln an, in deren großer Klinik ihm ein besonders reichhaltiges Krankengut zur Verfügung stand. Schon an Czernys Klinik war die Forschungstätigkeit Kleinschmidts durch die Vielfalt seiner Thematik ausgezeichnet. In Köln konnte er allen seinen Interessen erneut nachgehen; er hat diese Zeit in rastlosem Fleiß nach Kräften genutzt. Für Kleinschmidts Denkweise ist es besonders charakteristisch, daß er immer bestrebt war, die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschungen alsbald für die Kinder nutzbar zu machen. Die Vorbeugung von Krankheiten hat er immer als das wesentliche Merkmal befriedigenden Wirkens für die Kinder angesehen. Als der Krieg das für Flugzeuge leicht erreichbare Köln immer mehr in Mitleidenschaft zog, wurde ein Teil der Kinder evakuiert. Die schließlich fast vollständige Zerstörung der Stadt führte zu einer Beendigung des Universitätsunterrichtes. Auch die Kinderklinik wurde unbenutzbar; die Kinder befanden sich z. T. auf einer Rheininsel, z. T. im nahegelegenen Westerwald. So hat Kleinschmidt dem an ihn ergangenen Hilferuf aus Berlin Folge geleistet; er übernahm die Klinik bereits am 3. Dezember 1944, wenige Wochen nach dem Tode Bessaus. Hierdurch war die Kontinuität des pädiatrischen Unterrichts in Berlin gewährleistet und die Klinik wieder in einer festen Hand, dies freilich unter äußeren Umständen, die an Außergewöhnlichem nicht zu übertreffen gewesen sein dürften! Selbst Zeitgenossen vermögen heute kaum mehr zu ermessen, was es bedeutete, wie zuvor in zahlreichen anderen Großstädten, nun
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auch in Berlin unter den unaufhörlich sich wiederholenden Tag- und Nachtangriffen der Bombengeschwader bei immer erneut notwendig werdenden räumlichen und organisatorischen Improvisationen eine Kinderklinik verantwortlich zu leiten, regelmäßig trotz unzuverlässiger Verkehrsverbindungen zum Besuch entfernt gelegener Zweigstellen unterwegs zu sein, in fremden, noch eben benutzbar gebliebenen Hörsälen zu unterrichten oder auch in einem düsteren Kellergewölbe Examina abzuhalten. Gerade jetzt aber zeigte sich, wieviel ein erfahrener Arzt ohne die Hilfsmittel, die einer Klinik sonst zur Verfügung zu stehen pflegen, noch zu leisten vermag. Dies hat Kleinschmidts Mitarbeiter wohl am meisten in Erstaunen versetzt. Auf dringendes Bitten des Dekans der Medizinischen Fakultät hatte sich Kleinschmidt nach Schluß des Wintersemesters noch bereit erklärt, Lehrstuhl und Klinikleitung bis auf weiteres innezubehalten, nachdem die Fakultät seinen Namen primo loco auf die Liste zur endgültigen Wiederbesetzung des Ordinariats gesetzt hatte. Aber die Zuspitzung der Kriegsereignisse zwang Kleinschmidt, sich am 12. März 1945 auf eine Inspektionsreise zu begeben, um die ihm noch unterstehende, im Westerwald gelegene und durch das Vorrücken der Alliierten bedrohte Ausweichstelle der Kölner Universitätskinderklinik aufzusuchen. Während seiner Abwesenheit wurde Berlin eingeschlossen und erobert. Die Friedrich-Wilhelms-Universität mußte ihre Tore schließen. Es wurde eingangs dargelegt, warum die deutsche Kinderheilkunde sich erst spät und zögernd entwickelt hatte. Dann aber war sie in wenigen Jahrzehnten zu hoher Blüte gelangt. Man darf wohl sagen, daß der Friedrich-Wilhelms-Universität hierbei ein besonderes Verdienst zuzusprechen ist. Sie war zur Schrittmacherin der Entwicklung geworden, der sich alle anderen deutschen Universitäten anschlössen. Das verdankte sie vor allem der Tatsache, daß ihre Pädiater Ärzte, Lehrer und Forscher von besonderem Rang und außergewöhnliche Persönlichkeiten gewesen waren.
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LITERATUR Catel, W. : Georg Bessau. In »Pro infantibus«, München 1959. Charité-Annalen : Herausgegeben von der Direktion des Königl. CharitéKrankenhauses zu Berlin 1864—1913. Czerny, A. : Die Paediatrie meiner Zeit, Berlin 1939. Gerhardt, C. : Lehrbuch der Kinderkrankheiten, 2. Aufl., Tübingen 1871. Hartmann, H. : Gesunde Kinder, Berlin 1938. Henke, A.: Handbuch zur Erkenntnis und Heilung der Kinderkrankheiten, Wien 1830. Henoch, E.: Vorlesungen über Kinderkrankheiten, 7. Aufl., Berlin 1893. Heubner, O. in Lenz, M.: Geschichte der Universität Berlin III. Halle 1910. Heubner, W. : Otto Heubners Lebenschronik, Springer 1927. Kleinschmidt, H.: Monatsschrift für Kinderheilkunde 96; 1 (1948). Müller, E. : Archiv für Kinderheilkunde 128; 1 (1943). Münk, F.: Das medizinische Berlin um die Jahrhundertwende, Berlin 1956. Peiper, A. : Chronik der Kinderheilkunde, Leipzig 1958. Schiff, E.: Adalbert Czerny. In »Pro Infantibus«, München 1959.
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DIE ENTWICKLUNG DER SPRACH- UND STIMMHEILKUNDE AN DER FRIEDRICH-WILHELMS-UNIVERSITÄT ZU BERLIN VON DER REICHSGRÜNDUNG BIS 1945 Motto:
»Was Du ererbt von Deinen Vätern hast,
erwirb es, um es zu besitzen.« Bis zum Jahre 1841 waren die Sprachstörungen nachweislich ein wichtiger Teil des klinischen Unterrichts. Dann verschwanden sie plötzlich völlig daraus, bis, etwa zur Zeit der Reichsgründung, mit der von Broca (1842—80) und Wernicke (1848—1905) entwickelten Aphasielehre wenigstens dieser Teil der Sprachheilkunde wieder zum Gegenstand des klinischen Unterrichts wurde. Ganz allmählich fanden dann die Sprachstörungen, diese »Stiefkinder der medizinischen Wissenschaft«, wie Berkhan sie einmal nannte, wieder mehr Platz im klinischen Unterricht, bis sie dann, dank der ebenso umfangreichen wie unermüdlichen Arbeit von H. Gutzmann sen. als Sonder fach der Medizin im Jahre 1905 auch offiziell anerkannt wurden. Ehe es aber dazu kam, mußte, wie schon gesagt, eine ungeheure Vorarbeit geleistet werden. Seit 3 Generationen ist unser Familienname auf's engste mit dem ganzen großen und umfangreichen Komplex der Sprach- und Stimmstörungen verbunden. Schon in den achtziger Jahren wurden in vielen Städten Deutschlands von Lehrern, die von A. Gutzmann ausgebildet waren, einzelne Kurse für sprachgestörte Kinder abgehalten. 1887 schrieb H. Gutzmann sen. seine Inauguraldissertation »Uber das Stottern«. Am 19. Januar 1891 wurde dann von H. Gutzmann sen., dem Sohn von A. Gutzmann, ein Ambulatorium für Sprachstörungen gegründet und gleich darauf fand auch in Charlottenburg (1891) der erste Kurs für sprachgestörte Kinder statt. In Statistiken der damaligen Zeit wurde die Zahl der sprachkranken Schulkinder ziemlich gleichmäßig mit 2% angegeben. Nirgends war die Zahl unter 1%, stellenweise darüber, so z. B. in Charlottenburg 2,64%. GH
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Nachdem sich H. Gutzmann sen. — bei der Inneren Medizin — mit seiner Antrittsvorlesung: »Die Sprachstörungen als Gegenstand des klinischen Unterrichts« am 30. 1. 1905 für das Fach der Sprach- und Stimmheilkunde habilitiert hatte, fand sein 1891 gegründetes Ambulatorium seit Beginn des Wintersemesters 1907 einen geeigneten Platz im großen Hörsaal des poliklinischen Instituts für Innere Medizin. Am 15. Januar 1912 übersiedelte das Ambulatorium auf Veranlassung von Killian dann in die Hals-Nasen-Klinik der Charité, wo es auch heute noch seine segensreiche Tätigkeit ausübt. Während ursprünglich nur Sprachstörungen behandelt, und gleichzeitig Fachärzte und Sprachheillehrer ausgebildet wurden, fanden insbesondere in der Charité seit 1912 auch die Stimmstörungen die dringend notwendig gewordene Aufmerksamkeit und Behandlung. Das wurde außerordentlich gefördert durch das, ebenfalls in den Räumen der Charité untergebrachte, im Privatbesitz von H. Gutzmann sen. befindliche, phonetische Laboratorium, in dem im Laufe der Zeit recht erhebliche Mittel investiert wurden. Nach dem Tode von H. Gutzmann sen. wurde das Laboratorium dann von der Charité käuflich erworben und der Leitung von F. Wethlo, einem langjährigen Schüler und Mitarbeiter von H. Gutzmann sen. unterstellt. In der Zeit von 1907—1922 lassen sich an Hand der mehr als 300 wissenschaftlichen Veröffentlichungen von H. Gutzmann sen. deutlich drei Schaffensepochen unterscheiden, in denen er jeweils eine besondere Gruppe von Störungen in seinen Arbeiten bevorzugte. Zunächst stand das Problem des Stotterns beherrschend im Vordergrund. Etwa 1898, mit dem Erscheinen von H. Gutzmann sen. Monographie über das Stottern, schließt diese Periode ab bzw. es werden jetzt alle Störungen der Sprache systematisch untersucht. Das Stammeln, das Näseln, die Sprachstörungen der Gaumenspaltler, aber auch die Aphasien wurden intensiv bearbeitet. Daneben laufen Arbeiten über die Geschichte der gesamten Sprachheilkunde. Als Publikationsorgan stand die Medizinisch-Pädagogische Monatsschrift, die von H. Gutzmann sen. gemeinsam mit seinem Vater A. Gutzmann, seit 1891 herausgegeben wurde, zur Verfügung. Etwa seit 1905/06 treten Arbeiten über die Stimme, ihre Entwicklung, ihren Gebrauch und Mißbrauch in den Vordergrund. Geradezu zwangsläufig entsteht daraus die Beschäftigung mit der Phonetik, insbesondere mit der experimentellen Phonetik, die das beherr-
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sehende Thema der nächsten Jahre bleibt. Die Krönung dieser experimentell phonetischen Arbeiten war dann der erste Internationale Kongreß für Experimentelle Phonetik in Hamburg vom 19.—22. April 1914. Auch die seit 1891 regelmäßig erscheinende »Medizinisch-Pädagogische Monatsschrift für Sprachheilkunde« machte eine gewisse Wandlung durch. Schon seit 1907 führte die »Monatsschrift« den Untertitel »Internationales Zentralblatt für experimentelle Phonetik«. Nunmehr erscheint die Zeitschrift (seit 1913) als »Vox« »Internationales Zentralblatt für experimentelle Phonetik«. Der Charakter der Zeitschrift blieb zwar im großen und ganzen der gleiche wie bisher, erfuhr aber jetzt eine wesentliche Erweiterung nach dem Gebiete der speziellen Phonetik hin. Seit 1913 wurde die »Vox« von der Hamburger Wissenschaftlichen Stiftung mit Geldmitteln unterstützt. 1922 aber mußte die »Vox« wegen der stets zunehmenden Entwertung der Mark ihr Erscheinen einstellen. (Von 1925—1936 erschien dann die »Vox« mit dem Untertitel »Mitteilungen aus dem Phonetischen Laboratorium der Universität Hamburg.) 1913 trat an die Stelle von A. Gutzmann als Herausgeber G. Panconcelli-Calcia, ein Schüler und Mitarbeiter von H. Gutzmann sen. Eine unendlich große Zahl von Ärzten aus allen Ländern der Welt erfuhren hier in dem Ambulatorium für Stimm- und Sprachheilkunde an der Hals-Nasen-Ohrenklinik der Charité ihre Ausbildung als Phoniater bzw. Phonetiker. Weit über 300 Arbeiten hat H. Gutzmann sen. selbst über Themen seines speziellen Fachgebietes veröffentlicht, bis ihm am 4. XI. 1922 der Tod die Feder aus der Hand nahm. Beim Experimentieren in seinem Laboratorium hatte er sich mit einer Grammophonnadel eine kleine StichVerletzung zugezogen. Die nachfolgende Sepsis war nicht aufzuhalten, noch fehlten die Sulfonamide und das Penizillin. H. Zumsteeg, der letzte Assistent von H. Gutzmann sen. übernahm dann bis 1924 die Leitung des Ambulatoriums, bis der Unterzeichnete, H. Gutzmann jun., die Stelle seines Vaters am 1. X. 1924 einnahm. Der Ruf einer Klinik, ebenso einer Poliklinik, ist, je länger derselbe Chef am Ruder war, um so mehr mit dem Namen dieses Chefs verbunden. Wir erleben es immer wieder, daß mit dem Abgang eines langjährigen Chefs die Frequenz schlagartig sinkt. Der Nachfolger muß sich erst das Vertrauen der Patienten erwerben, muß sich selbst seinen i»»
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Ruf schaffen. So war es auch hier. Die Frequenz sank in den Jahren 1922—1924 auf ein minimum ab. Am 1. Oktober 1924 wurde dann der Unterzeichnete, H. Gutzmann jun., von dem damaligen Chef der Hals-Nasen-Klinik der Charité, Herrn Carl Otto von Eicken, mit der Leitung des Ambulatoriums für Stimm- und Sprachstörungen betraut. Es wurde aber nicht nur eine einfache Übernahme einer bestehenden Einrichtung, sondern es wurde ein völliger Umbau, ja, man kann sagen, ein Neuaufbau nötig. So wurde zunächst das Phonetische Laboratorium, das ja auch von H. Gutzmann sen. betreut worden war, nun von einem seiner Schüler, F. Wethlo, weitergeführt und auch seiner Leitung unterstellt. Während dem Ambulatorium bisher nur zwei Räume, die durch eine Wendeltreppe mit dem im Souterrain liegenden Phonetischen Laboratorium verbunden waren, zur Verfügung standen, wurden diese Räume bald zu eng. Auch das Ambulatorium zog ins Souterrain und behielt oben nur einen kleinen abgeschlossenen Raum zur Behandlung sehr ablenkbarer und mangelhaft konzentrierter Kinder. Im Souterrain standen 4 Räume zur Verfügung, von denen einer ausschließlich für den Ableseunterricht für Schwerhörige und Ertaubte benutzt wurde. Das konnte jetzt geschehen, da inzwischen die Hals-Nasen-Klinik mit der Ohrenklinik vereinigt worden war. Dadurch kam Th. S. Flatau vom 1. IV. 27 an, der bis dahin an der von Passow geleiteten Ohrenklinik eine Abteilung für den Ableseunterricht an Schwerhörigen und Ertaubten geleitet hatte, ebenfalls zu dem Ambulatorium, und übernahm als der Ältere die Gesamtleitung. Die offizielle Bezeichnung war nunmehr: »Universitätsambulatorium für Stimm- und Sprachkranke, Ertaubte und Schwerhörige an der Hals-Nasen-Ohrenklinik der Charité.« Flatau schied dann 1933 wieder aus. 1932 habilitierte sich H. Gutzmann jun. mit einer Arbeit : »Untersuchungen über Bewegungsvorgänge und Klänge der Polsterpfeifen in bezug auf die menschliche Stimme«, und erhielt die venia legendi für das Fach der Stimm- und Sprachstörungen. Das Ambulatorium hatte sich bisher aus eigenen Mitteln erhalten, bzw. die notwendigen Zuschüsse zahlten die jeweiligen Chefs aus eigener Tasche. Inzwischen war aber die Frequenz, und damit auch die Anzahl der Hilfskräfte (zuletzt waren es 9!), so weit gestiegen, daß dieses Verfahren doch allmählich zu kostpsielig wurde. Auch waren die Hilfskräfte weit unterbezahlt, und von Idealismus allein kann man
Die E n t w i c k l u n g der Sprach- und Stimmheilkunde
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nicht leben. Nach langen Verhandlungen konnte dann seit dem i. IV. 1937 endlich eine feste tarifmäßige Besoldung aller von der Abteilung Beschäftigten, einschließlich des Leiters, von Staatswegen erreicht werden. Das Arbeitsgebiet hatte sich, insbesondere durch das Ausscheiden des Phonetischen Laboratoriums einerseits, und durch die Hinzunahme des Ableseunterrichts für Schwerhörige und Ertaubte andererseits, etwas verschoben. Im großen ganzen aber blieb es bei den bisherigen Aufgaben. Im Rahmen dieses kurzen Berichtes sollen nur solche Heilverfahren erwähnt werden, die besonders an dieser Abteilung entwickelt bzw. ausgebaut wurden. So wurde bei der Behandlung des Stotterns neben der bewährten, bereits übernommenen, Ubungsbehandlung großer Wert auf die medikamentöse Behandlung der Konstitution des Kranken gelegt, und damit doch viele Erfolge erst ermöglicht. Durch ein besonderes, an der Abteilung entwickeltes Verfahren von kombinierten aktiven und passiven Maßnahmen konnte die Behandlung der Sprache der operierten Gaumenspalten vervollkommnet werden. Bei der Behandlung der funktionellen Stimmstörungen wurden bereits bekannte Verfahren bei der Diagnose und Therapie im großen angewandt und erweitert. Die Behandlung der Recurrenslähmungen wurde durch ein wesentlich verbessertes kombiniertes Verfahren so ausgebaut, daß es gelang, nicht nur eine klare Sprache zu erzielen, sondern sogar die Lähmung selbst in vielen Fällen zu beseitigen. Unterstützt und überhaupt erst ermöglicht wurden diese Verfahren und Erfolge aber erst durch die großzügige Anschaffung modernster Einrichtungen und Apparate auf Veranlassung des Direktors der Klinik. Zu dem Aufgabengebiet der Abteilung gehörte aber auch die Ausbildung von Helferinnen und Assistenten. Mehrfach wurden hier ausgebildete Helferinnen an andere Universitäten abgegeben, und ebenso wurden vielfach Assistenten, besonders aus dem Ausland, hier für die besonderen Zwecke der Phoniatrie und als Leiter gleicher Abteilungen ausgebildet. So sind Abteilungen für Phoniatrie in Bulgarien, Dänemark, Japan, Schweden, Ungarn, Südafrika usw. mit Leitern besetzt, die hier ausgebildet wurden. Entsprechend sind eine große Zahl von Arbeiten über phoniatrische Themen aus dieser Abteilung hervorgegangen, wobei die Arbeiten über die Polsterpfeife (s. o.) und über die Röntgenkinematographie
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der Sprechbewegungen richtungsweisend wurden, wie die oben angeführten Arbeiten über das Lispeln und über die Behandlung des Näseins jeder Ätiologie. Mit der immer sicherer werdenden Frühdiagnose und den immer vollkommner werdenden Operationsmethoden und entsprechenden Dauerheilungen ergab sich die Notwendigkeit, auch der Sprache der Kehlkopflosen, der Laryngektomierten, besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Die hierbei im Ambulatorium erreichten Erfolge fanden besondere Anerkennung. Ein Schüler von H. Gutzmann sen., M. Seemann in Prag, hat sich hier besonders verdient gemacht. Das Hauptproblem aber bildete und bildet immer noch die eigentliche Sprachneurose, das Stottern. Auch hierüber wurde eine Reihe von experimentellen phonetischen Untersuchungen, z. T. noch mit Th. S. Flatau zusammen, durchgeführt und veröffentlicht. Eine besondere Aufgabe übernahm die Abteilung mit Kriegsbeginn, als zu den sonst üblichen Krankheitsformen noch die durch Kriegseinflüsse bedingten Erkrankungen und Verletzungen der Sprachorgane hinzukamen, wozu auch die durch die Terrorangriffe gesetzten schweren Funktionsstörungen der Sprache, besonders der Jugendlichen rechnen. So stieg durch die Schrecken des Luftkrieges z. B. die Prozentzahl stotternder Kinder von bisher etwa 2 % auf über 4 % ! Auch die Spastiker gehörten schon damals zu einem bevorzugten Arbeitsgebiet des Ambulatoriums. Eine besondere Anerkennung fanden diese Bemühungen dadurch, daß 1929 der Leiter des Ambulatoriums zum persönlichen Mitglied des großen Ausschusses der Deutschen Vereinigung für Krüppelfürsorge gewählt wurde. Die Ausschließlichkeit und die Sonderaufgaben des Ambulatoriums brachten es ferner mit sich, daß dem Leiter auch von der Stadt Berlin 1942 eine besondere Schularztstelle übertragen wurde mit der Auflage, regelmäßig vor der Einschulung sowohl wie vor der Ausschulung die Schüler sämtlicher Berliner Sprachheilschulen zu untersuchen. Zur Beurteilung standen die Notwendigkeit der Einschulung in eine solche Schule, bzw. die Umschulung von dort in eine Normalschule nach erfolgter Heilung. Diese an sich außerhalb des Ambulatoriums liegende Tätigkeit brachte es aber mit sich, daß nunmehr auch diejenigen Grundschullehrer, die sich als Sonderschullehrer ausbilden lassen wollten, die Vorlesungen des Leiters des Ambulatoriums belegen mußten. Sehr
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bald wurden daraus dann Sonderlehrgänge für diese Lehrer, die nach Beendigung des Kurses sich auch einer besonderen Prüfung vor dem Landesprüfungsamt unterziehen mußten. Der Leiter des Ambulatoriums war selbstverständlich Mitglied des Prüfungsausschusses. Damit ist es notwendig, noch einige Worte über die Ausbildung von Ärzten und Logopaeden zu sagen. Von Anbeginn des Laboratoriums an waren dem Leiter zwei ständige Assistenten zugeteilt. Darüber hinaus haben fast alle Assistenten der Hals-Nasen-Ohrenklinik der Charité kürzere oder längere Zeit im Ambulatorium gearbeitet. Dazu kam eine große Zahl von Ärzten anderer Universitäten Deutschlands sowohl wie auch aus allen Ländern der Erde. Die Bedeutung des Berliner Ambulatoriums kam dadurch besonders zum Ausdruck, daß der Leiter des Ambulatoriums seit 1952 erster Vorsitzender der am 28. V. 1925 von Nadoleczny gegründeten Deutschen Gesellschaft für Sprachund Stimmheilkunde ist und auch dem Vorstand der entsprechenden Internationalen Gesellschaft angehört. Neben dieser Ausbildung von Ärzten und Lehrern (Sprachheilpädagogen) wurde auch intensiv die Ausbildung von Logopaeden bzw. Logopaedinnen betrieben. Das sind diejenigen Mitarbeiter an solchen Abteilungen, die in Zusammenarbeit mit dem Facharzt die Behandlung der Sprachkranken durchführen. Auch diese müssen sich nach vollendeter Ausbildung einer Prüfung unterziehen. Sie fanden ihren Wirkungskreis dann an den entsprechenden Ambulatorien der anderen deutschen Universitäten. Zu den wissenschaftlich bedeutendsten Schülern von H. Gutzmann sen. zählen die Ärzte Nadoleczny (j,) Schilling (Freiburg), Stern (f), Seemann (Prag), Sokolowski (f) und die Phonetiker PanconcelliCalzia (Hamburg) und Wethlo (f). Dazu kommen eine große Anzahl Ärzte und Phonetiker aus Deutschland sowohl wie aus allen Ländern der Erde. Zu den Schülern von H. Gutzmann jun. zählen Arnold (New York) und Luchsinger (Zürich) neben einer großen Anzahl anderer. Berendes (Marburg), Loebell (Münster) u. a. sind bereits Schüler der Schüler von H. Gutzmann sen. 1913 erschien der letzte Bericht über das Ambulatorium von H. Gutzmann sen. Daraus geht hervor, daß im Berichtsjahr 700 Patienten behandelt wurden. In den folgenden Jahren stieg die Anzahl der Patienten von Jahr zu Jahr. Es sind aber keine statistischen Ziffern
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mehr aufzufinden. Durch die Kriegsereignisse bes. des Jahres 1945 sind so gut wie alle Unterlagen der Zeit von 1913—1924 verloren gegangen. Nach dem Tode von H. Gutzmann sen. am 4. XI. 1922 ging die Frequenz des Ambulatoriums rapide zurück. Kommissarisch wurde die Abteilung von H. Gutzmann's sen. letztem Assistenten, H. Zumsteeg zwar weitergeführt, aber 1924 fand überhaupt keine Behandlung mehr statt. Am 1. X . 1924 wurde dann H. Gutzmann jun. vom Chef der Hals-Nasen-Ohrenklinik der Charité, Herrn C. van Eicken, mit dem Wiederaufbau und der Leitung der phoniatrischen Abteilung betraut. Mit der Unterstützung zweier ihm zugewiesenen Assistenten der Klinik, Scholz (Görlitz) und Strunden (f) gelang das auch überraschend gut. Die Anzahl der neu aufgenommenen Patienten stieg auf 1380 im Jahre 1942 mit 22676 Behandlungen. 1943 waren bis zum Juli bereits 900 Neuaufnahmen zu verzeichnen. Von da an existieren keine statistischen Aufzeichnungen mehr. Zu diesen Ziffern wäre nur noch zu sagen, daß in ihnen keine Militärpersonen enthalten sind, die ebenfalls seit 1939 in großer Zahl dem Ambulatorium überwiesen wurden. Bei den Soldaten handelt es sich einmal um Stotterer und psychogene Aphonien, dann aber um mehr oder weniger schwere Verletzungen sowohl des Stimmapparates, also des Kehlkopfes selber, als auch um Zungen-Lippen-Wangenverletzungen und um viele durch Schädelschüsse bedingte Aphasien. Mit dem Kriegsende am 8. Mai 1945 endete auch die Tätigkeit von H. Gutzmann jun. als Chef des Ambulatoriums. Er wurde aber sofort neu berufen, um die Abteilung zum zweiten Male neu aufzubauen.
WILHELM TÖNNIS
DIE
ENTWICKLUNG
DER NEUROCHIRURGIE
FRIEDRICH-WILHELMS-UNIVERSITÄT
AN
DER
ZU BERLIN
VON
DER REICHSGRÜNDUNG BIS 1945 Mit dem Wintersemester 1882 — der Übersiedlung Ernst v. Bergmanns nach Berlin — beginnt die Entwicklung der „chirurgischen Behandlung der Hirnkrankheiten" im Rahmen der allgemeinen Chirurgie. Eine selbständige Klinik und einen eigenen Lehrstuhl erhielt die Neurochirurgie erst im Jahre 1937 mit meiner Berufung von Würzburg nach Berlin. Zunächst standen natürlich die Kopfverletzungen und Wirbelsäulenverletzungen mit Rückenmarksbeteiligung im Vordergrund (Bergmann, Kopfverletzungen, 1880). Nachdem 1882 Hahn den ersten „Hirntumor" auf Grund der Diagnose von Wernicke und 1887 Horsley den ersten, von Godlee lokalisierten Rückenmarkstumor operiert hatte, trat auch dieses Gebiet der Neurochirurgie in den Arbeiten der Berliner Neurologischen und Chirurgischen Kliniken mehr und mehr hervor. Bereits 1888 und 1889 nimmt Bergmann in der zweiten Auflage der „chirurgischen Behandlung der Hirnkrankheiten" sehr kritisch Stellung zu den Versuchen der operativen Behandlung der Hirntumoren, Epilepsie, Blutungen u. a. Am eindrucksvollsten sind seine Untersuchungen über die intrakranielle Drucksteigerung, deren Ergebnisse wir heute noch bewundernd anerkennen. Von seinen Schülern haben Fritz König, Lexer, vor allem aber Guleke in Straßburg, Marburg und Jena und Moritz Borchard in Berlin dieses Arbeitsgebiet besonders gepflegt. Besondere Erwähnung verdient die Zusammenarbeit mit den Neurologen, vor allem mit Oppenheim, der neben Bruns in Hannover wohl der wesentlichste Förderer der klinischen Diagnostik und damit auch der Neurochirurgie war. 1900 übernahm Fedor Krause — ein Schüler von Bramanns, Halle —, von Altona kommend, die chirurgische Abteilung des Augustakrankenhauses in Berlin und trat damit in Beziehungen zur Medizinischen Fakultät. In Fedor Krause verehren wir neben Otfrid
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WILHELM TÖNNIS
Foerster, den beiden international anerkannten deutschen Mitbegründern der klassischen Neurochirurgie, den originellsten und schöpferischsten Operateur seiner Zeit. Fast sämtliche operativen Zugänge zu den einzelnen Gebieten der Schädelhöhle stammen von ihm. Der Zugang zur Hypophyse transfrontal-intradural wurde von ihm zum ersten Male überhaupt ausgeführt, desgleichen die Freilegung des Brückenwinkels und die erste operative Entfernung eines Vierhügeltumors. Unermüdlich war ferner sein Bemühen um die operative Behandlung der Epilepsie. Sein Schüler und Nachfolger Heymann hat die Chirurgie des Rückenmarks in hervorragender Weise entwickelt und handbuchmäßig dargestellt. Gepflegt wurde in den folgenden Jahren die Neurochirurgie in Berlin durch Ferdinand Sauerbruch im Rahmen der allgemeinen Chirurgie und ebenso durch H. Peifer, einem Schüler von V. Schmieden. — Der Chirurgenkongreß 1935 brachte eine Aussprache im Anschluß an einen Vortrag Sauerbruchs zu dem damals akut gewordenen Problem einer Spezialisierung der Neurochirurgie. Es beteiligten sich daran Olivecrona, Stockholm, Pette, Hamburg, König, Würzburg. Dieser Vortrag Sauerbruchs war provoziert worden durch die Bewilligung einer selbständigen Neurochirurgischen Abteilung in Würzburg durch das Bayerische Kultusministerium. 1936 erfolgte meine Berufung nach Berlin. Am 1. 4.1937 übernahm ich die Leitung der ersten Neurochirurgischen Universitätsklinik in Deutschland. Die zur Charité gehörende Klinik am Hansaplatz beherbergte die Neurologische Abteilung der Medizinischen Klinik (Prof. Siebeck) unter Leitung von Prof. Vogel und eine Chirurgische Abteilung der Sauerbruchschen Klinik. Durch Verlegung dieser Abteilung wurde Raum für die Neurochirurgische Klinik geschaffen. Bei der Berufung waren mir zwei Kliniken angeboten worden: eine raummäßig sehr günstige in der Klinik in der Schumannstraße und die in der Bettenzahl wesentlich begrenztere in der Hansaklinik. Aber da hier die Möglichkeit gegeben war, unter einem Dach mit den Neurologen zu arbeiten mit gemeinsamer Röntgenabteilung und klinischem Labor, zog ich die Klinik am Hansaplatz vor. Am 1. 5. 1937 konnten wir mit der Arbeit beginnen. Im Juni des gleichen Jahres hielt die British Society of Neurological Surgeons ihren Kongreß für drei Tage in Berlin und für zwei Tage in Breslau bei Otfrid Foerster ab. Diese damals einzige Gesellschaft unseres Fachgebietes kam in der
Die Entwicklung der Neurochirurgie
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ehrlichen Absicht, unseren Start zu erleichtern und die Bedeutung Berlins für die gesamte europäische Neurochirurgie herauszustellen. A m 21. 5. i960 wurde Sir Geoffrey Jefferson, Manchester, von der Deutschen Gesellschaft für Neurochirurgie in Dankbarkeit für die Unterstützung der Neurochirurgie in Deutschland die Fedor-KrauseMedaille verliehen. Mit der Berufung auf den neugeschaffenen Berliner Lehrstuhl ging parallel meine Berufung als Leiter der Abteilung für Tumorforschung und experimentelle Pathologie am Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung in Berlin-Buch, dessen Leitung gerade Hugo Spatz als Nachfolger von Oskar Vogt übernommen hatte. Diese enge Verbindung grundlegender Forschungsarbeit mit der täglichen klinischen Arbeit ergab eine Situation, die sowohl für die fachärztliche Ausbildung wie für die wissenschaftliche Forschungsarbeit in dieser Form damals wohl einmalig war. So strömten zahlreiche ausländische Kollegen zur ärztlichen wie wissenschaftlichen Ausbildung nach Berlin. 10 bis 15 Gastärzte gleichzeitig waren die Regel. Die alten Beziehungen gehen heute noch nach Südamerika, Spanien, Italien, Jugoslawien, Griechenland, Rumänien, Bulgarien, Ungarn, Türkei, Persien, Indien, Japan, Thailand, China u. a. Sie alle denken noch gerne an ihre Ausbildungszeit in Berlin zurück. Der Krieg brachte eine gewaltige Umstellung. Schon im Frühjahr 1939 verließ uns die Mehrzahl der ausländischen Kollegen. A m 1. 8. wurde eine Lazarettabteilung der Luftwaffe, deren beratender Chirurg ich war, eingerichtet. Ende September kamen die ersten Hirnverletzten. Die Klinik bestand neben dem Lazarett für Hirn-, Rückenmark- und Nervenverletzte, das nach der Verlegung in die Reinickendorfer Kaserne etwa 2000 Betten umfaßte, zuerst in der Hansaklinik weiter. Nach ihrer Bombardierung in der Nacht vom 22. zum 23. November 1943 und vom 24. zum 25. November 1943, wobei sie dann völlig ausbrannte, fand sie im Hufelandkrankenhaus in Berlin-Buch eine Unterkunft, die am 16. 3. 45 durch Bomben zerstört wurde. Glücklicherweise konnten etwa zwei Drittel der Krankengeschichten und Röntgenbilder, die die Voraussetzung einer wissenschaftlichen Bearbeitung des Krankengutes bilden, gerettet werden. Auch ein großer Teil der pathologisch-anatomischen Sammlung von Hirnpräparaten und histologischen Schnitten der Abteilung für Tumorforschung konnte sichergestellt werden.
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Wenn auch die Berliner Klinik und das Hirnforschungsinstitut zerstört und als Arbeitsstätte verlorengegangen waren, so blieb doch der Gedanke einer spezialisierten Neurochirurgie erhalten. Die 8j ährige Arbeit in Klinik und später in Sonderlazaretten hat die Notwendigkeit einer Spezialisierung der Neurochirurgie erwiesen. Zu den bereits in Göttingen, Hamburg, Bonn, Frankfurt und München vorhandenen Abteilungen kam unmittelbar nach dem Kriege fast an jeder Universität eine Abteilung oder Klinik hinzu. So kann es alle Mitarbeiter, die seinerzeit an der Aufbauarbeit in Berlin teilgenommen haben, mit Befriedigung erfüllen, daß ihre Tätigkeit sich so nachhaltig ausgewirkt hat.
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HERMANN OPPENHEIM (1858—1919) UND DIE BERLINER NEUROLOGIE Das Leben Hermann Oppenheims steht in einer besonderen Beziehung zur Entwicklung der Berliner und der deutschen Neurologie. In Deutschland, einem der Geburtsländer der Neurologie, hat sich die Entwicklung dieses Faches merkwürdig verzögert. Das erklärt sich vielleicht aus der Tatsache, daß die Neurologie ihre akademische Vertretung nicht in der Reichshauptstadt, sondern erst später in der Peripherie des Landes gefunden hat, ganz im Gegensatz zu Paris und London, wo sich frühzeitig in der Salpètrière und im National Hospital, Queen Square, eine zentrale Pflegestätte der Neurologie ausgebildet hatte. In welchen Beziehungen diese Entwicklung zum Leben Oppenheims steht, soll im Folgenden geschildert werden. Hermann Oppenheim war gebürtiger Westfale. Er begann seine medizinischen Studien in Berlin und wurde hier von der Fülle der Anregungen des geistigen Lebens und von dem Hochstand der medizinischen Forschung an der Charité so gepackt, daß er beschloß, auch sein späteres wissenschaftliches Leben dort zu verbringen. Mit 25 Jahren wurde er Assistent der Psychiatrisch-Neurologischen Klinik der Charité unter Westphal, zu dessen Lieblingsschülern er zählte. Schnell wurde er durch sein Können auf dem Gebiet der Neurologie bekannt. Eine Fülle von Veröffentlichungen richteten den Blick der Fachwelt auf den jungen Wissenschaftler, rasch wurde er Privatdozent. Er lebte in der Zeit der Begründung der klinischen Medizin als Naturwissenschaft. Zwei Arbeitsweisen waren charakteristisch: die Ordnung wie die exakte Beschreibung der Krankheitsbilder und andererseits der Versuch, ihre Pathogenese aus dem pathologisch-anatomischen Substrat zu entwickeln. In beidem war Oppenheim Meister. Westphal selbst hatte ein großes Interesse an der Neurologie und förderte die Arbeiten seines Schülers mit großem Nachdruck. In jungen Jahren schon erreichte Oppenheim die Spitzengruppe der neurologischen Kliniker und Wissenschaftler. Nonne konnte in seinem Nachruf zum 100. Ge-
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burtstag von Oppenheim mit Recht sagen, daß »der neurologische Ruf der Charité . . . insbesondere Hermann Oppenheim zu verdanken sei.« Leider wurde Westphal frühzeitig ernsthaft krank und Oppenheim mußte ihn in der Leitung der Klinik bis zu seinem Tode 1890 vertreten. Die medizinische Fakultät hat ihn damals anscheinend einstimmig auch zum Nachfolger als planmäßiger Extraordinarius vorgeschlagen. Aber das Preußische Kultusministerium hatte offensichtlich für den Berliner Lehrstuhl Vorurteile gegen Rasse und Glauben Oppenheims. Seine wissenschaftliche Leistung konnte niemals zur Debatte stehen. So wurde nicht er berufen, sondern Jolly. Oppenheim verließ 1890 die Charité. Er verließ aber nicht Berlin, sondern versuchte nun, sich aus eigenem eine wissenschaftliche Arbeitsstätte zu schaffen. Er eröffnete eine private Poliklinik und betrieb ein neuropathologisches Laboratorium auf seine Kosten. Das erschwerte zwar die Arbeit, aber sein Name war bereits soweit bekannt geworden, daß die Patienten ihm in die private Klinik folgten. Es brauchte nur ein weiteres Jahrzehnt, da zählte der junge Wissenschaftler bereits zu den führenden Neurologen der Welt. 1896 veröffentlichte er auf der Basis der für die damalige Zeit in der Welt einmaligen neurologischen Erfahrungen die erste Auflage seines Lehrbuches. Das machte ihn nicht nur in der wissenschaftlichen Welt, sondern auch bei der gesamten Ärzteschaft berühmt : sieben deutsche, drei englische Auflagen und je eine russische, spanische und italienische Übersetzung ließen ihn tatsächlich zum »Praeceptor mundi der Neurologie « werden. Kaum ein deutsches Lehrbuch hat eine solche weltweite Wirkung ausgeübt. Ich erinnere mich selbst, daß mein schottischer Lehrer Learmonth noch 1933 auf meine Frage nach einem geeigneten Lehrbuch der Neurologie mir nur zur Antwort gab : »Sie haben Ihren Oppenheim, und das ist genug.« Neben einer Fülle von Einzelpublikationen und einigen, wohl mehr aus der damaligen Zeit heraus bedeutsamen Monographien, sind es besonders zwei Dinge, die seinen Namen unserem Fach für immer erhalten haben: die Beschreibung der »Myatonia congenita« — Oppenheim und des »Oppenheimschen Reflexes.« Führend war er in der damaligen Zeit auch in der neurologischen Diagnostik der Hirntumoren. Hier erreichte er in glücklicher Zusammenarbeit mit Fedor Krause aufsehenerregende Erfolge. Tönnis berichtet in diesem Band über die ersten gemeinsamen chirurgischen Operationen dieser Arbeitsgruppe: die Freilegung der Chiasmaregion
Hermann Oppenheim (1858—1919) und die Berliner Neurologie
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(1900), des Kleinhirn-Brückenwinkels (1898) und die erste glückliche Entfernung eines Yierhügeltumors im Jahre 1913, die auf lange Zeit die einzige Operation dieser Art in der Welt blieb. Eine Monographie Oppenheims über die Hirngeschwülste berichtet uns über diese Erfahrungen vom neurologischen Standpunkt aus, während Fedor Krause in zwei — heute noch mit großem Genuß lesbaren Bänden — über die chirurgischen Ergebnisse und die technische Seite der Operationen berichtete. Aber diese glanzvolle Entwicklung spielte sich außerhalb der Charité und der medizinischen Fakultät ab. Auch Fedor Krause arbeitete in einem privaten Krankenhaus, dem Augusta-Hospital. Die Persönlichkeit Hermann Oppenheims läßt sich aber erst voll würdigen, wenn man schließlich auf seine fanatischen Bestrebungen hinweist, dem jungen Fach in der wissenschaftlichen Welt die nötige Beachtung durch Gründung einer wissenschaftlichen Gesellschaft zu verschaffen. 1907 wandte er sich an eine Gruppe von Neurologen mit dem Vorschlag zur Gründung einer solchen Gesellschaft. Die Zusage Erbs (Heidelberg), des damaligen Klassikers der Neurologie in Deutschland, den Vorsitz zu übernehmen, gab der jungen Gesellschaft von Beginn an die volle Anerkennung. Der T a g der Gründung »ist als der Höhepunkt der Lebenskurve Oppenheims anzusehen . . . E r galt von nun an als der bekannteste und gesuchteste Neurologe . . Nach Erbs Rücktritt war er dann von 1912 bis 1917 selbst der Erste Vorsitzende der Gesellschaft. Es kennzeichnet sein tiefes Verhältnis zur Wissenschaft und seine Auffassung der Einheit von Organisation und wissenschaftlicher Arbeit, daß er aus einem Streit über eine wissenschaftliche Fragestellung auf dem Kriegs-Neurologenkongreß 1917 — in dem er unterlag — auch den Vorsitz der Gesellschaft niederlegte, denn — so sagte er in seiner Schlußansprache — »wenn eine überwältigende Majorität meine wissenschaftlichen Erkenntnisse ablehnt, kann ich Vertrauen nicht mehr beanspruchen«. Es war für ihn unvorstellbar, daß die Gesellschaft von ihm weiter geführt werden konnte, wenn sich seine Erkenntnisse in einem so wichtigen Punkte als falsch erwiesen hätten. Nicht lange danach starb Oppenheim im Alter von 61 Jahren an einem Herzinfarkt. Den oben geschilderten wissenschaftlichen Niederschlag in der Frage der Deutung der »traumatischen Neurose« hat er nie verwunden . . . »Daß Oppenheim, der Sieggewohnte, hier nicht
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Sieger blieb, war ihm ein tiefer seelischer, nicht nur, wie er offenbar selbst glaubte, wissenschaftlicher Schmerz.« Mit dem Tode Oppenheims hatte die Berliner Neurologenschule ihre Spitze verloren. Oppenheim war es nicht gelungen, die Neurologie in Berlin zu einer Institution zu machen. Sie war nur durch eine Person vertreten. Er hatte zwar einige Schüler in einigen Städtischen Krankenhäusern hinterlassen, nicht aber verstanden, ein bestimmtes Krankenhaus zu einem neurologischen Zentrum werden zu lassen, wie es in London im National Hospital, Queen Square, gelungen war. Dort hatte die große Folge der Ferner, Bastian, Brown-Sequard, Gowers, Jackson, Wilson die Kontinuität in der wissenschaftlichen und klinischen Entwicklung garantiert. Auch an der Salpetrihe in Paris war die Entwicklung glücklicher verlaufen. Bereits nach dem Tode Charcots war der erste neurologische Lehrstuhl geschaffen worden, und die glanzvolle Reihe der Brissaud, Raymond, Dejerine, Pierre Marie zeigt die Höhe des wissenschaftlichen Lebens an. In welcher Beziehung steht nun der tragische Ablauf im Leben Oppenheims zur Berliner und deutschen Neurologie? Die Diskriminierung Oppenheims hat einer zentralen Entwicklung in der Reichshauptstadt im Rahmen der Universität die Spitze abgebrochen, obwohl die wissenschaftliche Leistung Oppenheims dazu die Möglichkeit gegeben hätte. Nur mühsam gelang es den anderen bedeutenden Neurologen in der Peripherie des Reiches, dem Fach Geltung zu verschaffen. Nach Erbs Ausscheiden in Heidelberg wurde dort der erste neurologische Lehrstuhl geschaffen, den Hoffmann und dann v. Weizsäcker innegehabt haben. Förster in Breslau, während seines Lebens von der internationalen Neurologie als einer der Größten anerkannt, hat nie einen offiziellen Lehrstuhl, sondern nur ein persönliches Ordinariat besessen. Auch Nonne erhielt seinen Lehrstuhl erst kurz vor seinem Ausscheiden. In Frankfurt war die Neurologie aus den privaten Bemühungen Edingers entstanden. Auch er hatte lange Jahre Laboratorium und neurologische Tätigkeit aus eigener Tasche getragen. In dem weniger konventionellen Frankfurt hatte man ihm allerdings schon 1914 einen Lehrauftrag als Ordinarius für Neurologie gegeben. Die Belebung der Neurologie als Fach durch die Berliner Universität und die Entwicklung in Preußen, das durch die Zahl seiner Universitäten im Reich ein erhebliches Ubergewicht hatte, war durch die tragische Biographie Oppenheims einmalig versäumt.
Hermann Oppenheim (1858—1919) und die Berliner Neurologie
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Es sind viele unglückliche Zufälle dazugekommen, so daß diese versäumte Entwicklung nicht nachgeholt werden konnte. Bonhoeffer, der als Berater der Regierung in Berlin zu fungieren hatte, stemmte sich energisch gegen eine selbständige Entwicklung der Neurologie, ganz im Gegensatz zu dem großen Kraepelin in München, der eine scharfe Trennung der beiden Fächer anstrebte. Die Jahre 1933 bis 1935 brachten durch die starke Emigration einen Aderlaß für das Fach, der noch durch die zwangsweise Auflösung der »Gesellschaft Deutscher Nervenärzte« potenziert wurde. Hier fand eine wissenschaftliche Gesellschaft ein Ende, deren Kongresse zu den angesehensten in der Welt gehört hatten. Das Kriegsende hat dann den Verlust der Foersterschen Klinik in Breslau und einer unter Siebeck geschaffenen ersten Neurologischen Klinik in Berlin am Hansaplatz — unter Vogel — sowie des von Vogt gegründeten Berliner Hirnforschungsinstitutes gebracht. Diesen Verlust hat die deutsche Neurologie nur schwer überwinden können. Nur langsam wird diese Entwicklung in Deutschland nachgeholt. Daß diese nachzuholen ist, hat die außerordentliche Entwicklung des Faches in den USA im letzten Jahrzehnt gezeigt. Dort hat man die »Akademie für Neurologie« geschaffen und es ist im großen Staatsinstitut für öffentliche Hygiene in Bethesda eine Abteilung für »Neurologische Krankheiten und Erblindung« eingerichtet worden, die selbst in großem Rahmen klinisch-neurologische Forschung betreibt und auch die neurologische Forschung im Lande mit erheblichen Beiträgen unterstützt und koordiniert. Man hat dort erkannt, daß die Neurologie ihre klinischen Aufgaben nur erfüllen kann, wenn auch in breitestem Rahmen moderne Forschung getrieben wird. Denn das Fach hat in den lezten zwei Jahrzehnten seine Grenzen derart ausgeweitet, daß es mehr denn je die Arbeitskraft eines Arztes vollkommen ausfüllt. Die klinische Arbeit erfordert große Kenntnisse in Neuroanatomie und Neuropathologie, in Neurophysiologie und Neuroradiologie, ja selbst Neurochemie und -pharmakologie erweisen sich in Diagnostik und Therapie als wichtig. So kommt jetzt vom Krankenbett her an die Neurologie die Mahnung zum weiteren Ausbau mit großer Dringlichkeit. Diese kann nur durch Schaffung neuer Forschungsinstitute, Begründung von Lehrstühlen und Einrichtung neurologischer Kliniken erfüllt werden, wollen wir jetzt in Deutschland eine Entwicklung nachholen, die die Zeit schon längst von uns gefordert hat. G 11
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HEINRICH SCHELLER
ZUR GESCHICHTE DER PSYCHIATRIE AN D E R B E R L I N E R UNIVERSITÄT E R I N N E R U N G A N KARL BONHOEFFER
Den jungen Mediziner, sofern sein Sinn noch aufgeschlossen war für die historische Bedingtheit allen menschlichen Tuns, mochte ein Schauer der Ehrfurcht vor so viel rühmlicher Vergangenheit überkommen, wenn er voll von Erwartungen — mitunter wohl auch von Ängsten —• durch das große Eingartgstor der Charité seine Schritte lenkte und den prüfenden Blick des Pförtners passieren mußte, der damals noch — letztes und einziges Requisit aus der Zeit der Monarchie — die alte preußische Infanteriemütze mit dem breiten roten Streifen zur blauen Litewka trug. Von der alten Charité aus der Zeit des Zopfstiles war schon damals freilich nicht mehr viel übriggeblieben, es gab aber noch einige letzte Gebäudereste, wie die Augenklinik oder die Hautklinik, die dem Neubau standgehalten hatten und noch den Eindruck des Alten vermitteln konnten, es gab auch noch ein Stück der alten Berliner Stadtmauer, die einst im Norden das Gelände begrenzt hatte, außerhalb von ihr war noch das alte Pesthaus zu sehen, das jetzt, äußerlich kaum verändert, ein Bestandteil der Frauenklinik geworden war. Es gab längs der Stadtbahn auch noch die altertümlichen, von Robert Koch errichteten Infektionsbaracken und die Kastanie, die Rudolf Virchow einst am Eingang seines Instituts gesetzt hatte, war zu einem stattlichen Baum herangewachsen. Im übrigen glich die Charité in ihren neuen Bauten mehr einer Art von Marienburg, von der dann auch ein Witzbold behauptet hatte, sie sei von den Ordensrittern im Charité-Stil erbaut. Hier wirkten also jene Männer, zu denen die jungen Mediziner respektvoll emporblickten, immer ungewiß, ob sie vor ihrem Blick bestehen würden. Der großen Masse gegenüber, auch im Bewußtsein des Berliner Publikums blieben die hier wirkenden Professoren weitgehend anonym, dem Namen nach unbekannt, jedenfalls nicht populär, ganz anders als ihre
Zur Geschichte der Psychiatrie an der Berliner Universität
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Kollegen in Wien oder Prag, wo noch der Name des Chefs die Klinik repräsentierte. Allein Sauerbruch, auch in Berlin jedem Straßenjungen ein Begriff, machte hierin später eine Ausnahme. Dafür war aber die Charité im Bewußtsein des Volkes, nicht nur der Berliner, sondern auch der Märker, ein fester Begriff, der so viel bedeuten mochte wie innerster Tempel ärztlicher Kunst, letzte Hoffnung in Krankheit und Gefahr. Mochten andere Krankenhäuser moderner und komfortabler sein, letzte Instanz in Krankheitsdingen war und blieb die Charité. Dieses oft grenzenlose Vertrauen von Kranken und Angehörigen wurde, wie selbstverständlich, auch dem jüngsten ärztlichen Mitarbeiter entgegengebracht und das Bewußtsein, gegenüber den Ärzten in anderen Krankenhäusern eine gewisse Ausnahmestellung einzunehmen, prägte ein Zugehörigkeitsgefühl der Mitarbeiter zueinander zu einer Art von Corpsgeist, der offenbar ganz an den Boden und die Tradition der Charité selber gebunden war, der auch nichts mit der Universität zu tun hatte, wie er ja auch die übrigen, außerhalb der Charité liegenden Universitäts-Institute, selbst das traditionsreiche Klinikum in der Ziegelstraße, nicht eigentlich in sich einschloß. Noch heute mag ein solches Gefühl gemeinschaftlicher Vergangenheit wieder lebendig werden, wenn das Leben alte Charité-Assistenten wieder zueinander führt. So groß war die prägende K r a f t dieser Tradition. Dabei war die Charité kein Krankenhaus im üblichen Sinne, ausgerüstet mit verschiedenen Fachabteilungen unter der Leitung einer ärztlichen Direktion, so wie sie dies einmal in der ersten Hälfte ihres bisherigen Bestehens gewesen ist. Sie war vielmehr eine örtliche Versammlung von Kliniken und Instituten, die alle für sich ihre Selbständigkeit und dementsprechend oft auch ihr sehr individuelles Gepräge bewahrt hatten. Es hätte sich vielleicht nicht gelohnt, diese Dinge hier zu erwähnen, wenn nicht solche Fragen der äußeren Organisation eines Universitäts-Krankenhauses, der räumlichen und personellen Selbständigkeit der einzelnen Kliniken, der Selbständigkeit des Instituts- und KlinikChefs und viele andere Fragen gerade auch heute, wo man an vielen Orten an die Planungen neuer Gründungen herangeht, von Bedeutung wären. Die Organisation der Charité mit ihrer weisen Ausgewogenheit von Zentralisation und Dezentralisation kann hier jeder Zeit ein Vorbild sein. Die Tradition freilich — wohl immer noch von i9'
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größerer Bedeutung als alle technischen Errungenschaften — läßt sich nur in der Arbeit von Generationen gewinnen. Die Geschichte der Psychiatrie innerhalb der Charité beginnt am i . September 1798. An diesem Tage brannte nämlich eine schon damals in Berlin bestehende kleine städtische Irrenabteilung ab und seit dieser Zeit wurden die Geisteskranken auf der inneren Abteilung der Charité aufgenommen. Hier war als Stellvertreter des zweiten Arztes — erster Arzt war damals Hufeland — in den Jahren von 1806 bis 1818 Ernst Horn tätig. Neben der damals noch allgemein üblichen Therapie mit Hilfe starker, auf die Sinnesorgane wirkender Reize — er war der Erfinder der berühmten Drehmaschine, auf der die Kranken der Wirkung der Zentrifugalkraft so lange ausgesetzt wurden, bis eine starke Blutüberfüllung des Kopfes auftrat — war er einer der Ersten, die den therapeutischen Wert der Arbeit bei Psychosen betonten. Horn war offenbar ein kenntnisreicher und gebildeter Mann, in seinen, nach seinem Tode erschienenen »Aphorismen« finden sich Gedanken, die auch heute noch ganz modern klingen. Was die therapeutische Wirkung der Drehmaschine anlangt, so vergleicht Bonhoeffer (in einer kleinen Studie über die Geschichte der Psychiatrie in der Charité) die heilsame Wirkung solcher Prozeduren mit der modernen Schock- bzw. Heilkrampf-Therapie. Möglicherweise sind bei beiden Methoden plötzliche Änderungen der Blutzirkulation im Gehirn das wirksame Prinzip. Horn trat 1818 — in erster Linie wohl auf Grund von Schwierigkeiten, die mit seiner Stellung verbunden waren — von seinem Posten zurück und widmete sich ganz der Privatpraxis, nebenher aber auch noch dem Unterricht. Nachdem von 1818 bis 1828 Karl Georg Neumann dirigierender Arzt der IrrenAbteilung gewesen war, wurde zu seinem Nachfolger Karl Ludwig Ideler ernannt. Er habilitierte sich Anfang der dreißiger Jahre, wurde später Professor und Geheimer Medizinalrat. Ideler ist als psychiatrischer Schriftsteller sehr bekannt geworden. Seine Auffassung der Geistesstörungen war vorwiegend psychologisch orientiert. Leidenschaften und Wahnsinn können in Abstufungen ineinander übergehen. Es sind die Affekte, die »gewucherten Leidenschaften«, die den Verstand verwirren. Dementsprechend kann auch die Behandlung nur eine psychische sein, eine Erziehung zur Lebensgestaltung »nach dem Prinzip der sittlichen Idee«. Bei aller Betonung der — wie wir heute sagen würden — Psychogenese der Psychosen blieb er doch immer
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im Rahmen einer naturwissenschaftlichen Psychologie. Während sein Zeitgenosse Heinroth die Geistesstörungen aus Sünde und Schuldhaftigkeit erklärte, lag Ideler eine Betrachtung von Krankheiten unter dem Aspekt moralischer Beurteilung wohl feiner. Seiner Persönlichkeit nach war er offenbar voll idealen Strebens. In den Nekrologen wird betont, daß praktisches Handeln hingegen nicht seine Sache gewesen sei, daß er sich nur schwer habe durchsetzen können. Wiederholt wurde er von schweren depressiven Verstimmungen heimgesucht, die daran denken lassen, daß es sich um endogene Phasen gehandelt hat. Nimmt man noch hinzu, daß er auch nach Ausweis der Charité-Akten in allen seinen persönlichen Ansprüchen und Forderungen mehr als bescheiden gewesen sein muß, so könnte man den Eindruck gewinnen, daß Ideler seinem Temperament nach, wie dies ja Depressive häufig sind, immer etwas gehemmt war und daß diese Wesensart offenbar auch seine Energie im äußeren Handeln lähmte. Als er im Jahre 1860 starb, war die Unterbringung der Geisteskranken in der sogen, »neuen Charité« wohl keineswegs sehr neuzeitlich. Idelers Assistent und späterer Nachfolger C. Westphal schreibt, daß er beinahe die Psychiatrie wieder aufgegeben hätte, nachdem er die Krankenabteilungen gesehen — und auch gerochen — habe. Kennzeichnend für die damalige (und auch heute leider noch nicht überall ausgestorbene) Bewertung der Psychiatrie mag der Umstand sein, daß in dieser sog. neuen Charité — einem Neubau innerhalb des CharitéKomplexes — Polizeigefangene, Krätze-Kranke, Syphilitische und Geistesgestörte in einem gemeinsamen Hause untergebracht waren. Assistenten von Ideler waren C. Westphal und Ludwig Meyer, die später beide in unserem Fach noch eine Rolle spielen sollten. Nach Idelers Tode folgte ein Intermezzo von fünf Jahren. Innerhalb dieser Zeit wurde die Klinik von dem Charité-Direktor Geheimrat von Horn, einem Sohn des oben erwähnten Ernst Horn, geführt. Horn war zwar kein Psychiater, was aber — ein lustiges Kuriosum — die Charité-Direktion keineswegs hinderte, ihn für die Leitung der Abteilung als besonders geeignet anzusehen. Schließlich drang aber die Fakultät auf die Besetzung des Lehrstuhls und nachdem zunächst ein Ruf an Solbrig in München ergangen war, erfolgte die Berufung Griesingers, der dann im Jahre 1865 sein A m t antrat. Trotz allzu kurzer Wirkungszeit — Griesinger starb, erst 51 Jahre alt, bereits im Jahre 1868 — ist er es gewesen, der grundlegende Reformen sowohl in der Behand-
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lung der Kranken als auch im Unterricht durchführte. Wilhelm Griesinger, wie manche anderen bedeutenden Psychiater aus Schwaben stammend, kam ursprünglich von der inneren Medizin her, er war längere Zeit im Orient gewesen, hatte sich wissenschaftlich mit den Infektionskrankheiten beschäftigt und über dieses Thema ein bedeutendes Lehrbuch geschrieben. Auch innerhalb der Psychiatrie hatte er sich durch die Abfassung des ersten als modern zu bezeichnenden Lehrbuchs der Psychiatrie in deutscher Sprache bekanntgemacht, und als er aus Zürich, wo er die Erbauung der später so berühmt gewordenen Psychiatrischen Klinik, des Burghölzli, in die Wege geleitet hatte, nach Berlin berufen wurde, galt er als einer der fähigsten Vertreter des Faches. Was sein Wirken in der Charité anlangt, so zählen zu seinen Hauptverdiensten die nach langen, zähen Kämpfen mit der Verwaltung schließlich durchgesetzte Abschaffung von Zwangsmitteln bei der Behandlung von Geisteskranken, seine Bemühungen um die Hebung des Ausbildungsstandes des Pflegepersonals, vor allem aber die feste Verknüpfung der Psychiatrie mit der Neurologie. Griesinger stand ganz auf dem Boden einer modernen naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise, wie sein bekannt gewordener, heute freilich in solcher Allgemeingültigkeit schon wieder zweifelhaft gewordener Ausspruch: Geisteskrankheiten seien Gehirnkrankheiten, beweist. Aus dieser Einstellung heraus ist seine Forderung verständlich, die Psychiatrie und den psychiatrischen Unterricht möglichst eng in die übrigen medizinischen Spezialdisziplinen einzugliedern. Bei seiner Berufung hatte er die Errichtung einer eigenen neurologischen Abteilung, der späteren Nervenklinik, zur Bedingung gemacht. Sie wurde innerhalb der alten Charité mit etwa 60 Betten errichtet, während die psychiatrischen Abteilungen zunächst noch, räumlich zwar benachbart, aber doch getrennt, in der neuen Charité verblieben. Damit hatte also Berlin als erste Universität eine Klinik, in welcher Neurologie und Psychiatrie gleichberechtigt wissenschaftlich betrieben und den Studierenden vorgetragen wurde. Der Nachfolger Griesingers wurde C. Westphal, Sohn eines angesehenen Berliner Arztes und Neffe des oben genannten Geheimrats von Horn. Seine Ehefrau entstammte der Familie Mendelssohn. Westphal war zunächst Idelers, dann Griesingers Schüler, mit letzterem aber später entzweit. Er war ein sehr vielseitiger Forscher, der vorwiegend sich neurologischen Fragen, wie z. B. den syphiliti-
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sehen Nervenerkrankungen widmete. Als Entdecker des sogen. Westphal'sehen Kniephänomens, des Fehlens der Kniereflexe bei der Tabes, ist sein Name auch heute noch auf der ganzen Welt jedem Studenten geläufig. Aber auch auf psychiatrischem Gebiet hat er Bleibendes geschaffen, beispielsweise als Erster die Zwangsphänomene beschrieben und analysiert. Nachdem ein Nervenleiden ihn schon längere Zeit vorher dienstunfähig gemacht hatte, starb Westphal im Jahre 1890. Von seinen Schülern und klinischen Assistenten seien hier nur Oppenheim — der später so bekannt gewordene Neurologe — sowie Siemerling, Fürstner und sein Sohn A. Westphal erwähnt. Von 1890 bis 1904 war dann Friedrich Jolly Direktor der Klinik. Aus einer bekannten Gelehrtenfamilie stammend, von ausgeglichenem Wesen und mit guten Geistesgaben ausgestattet, verlief sein Lebensweg sehr geradlinig. Er war schon frühzeitig Ordinarius in Straßburg geworden, hatte mehrere Berufungen ausgeschlagen, bis er die Berliner Klinik übernahm. Jolly hat sich auf vielen Gebieten des Faches Verdienste erworben. Innerhalb der Charité hat er sich dadurch ein bleibendes Denkmal gesetzt, daß es ihm endlich gelang, den schon lange fälligen Neubau der Klinik durchzusetzen. Dieser Neubau, der also zum ersten Male die neurologischen Abteilungen mit den psychiatrischen —• allerdings in mehreren Gebäudeteilen — vereinigte, wurde an der Stelle der abgerissenen neuen Charité aufgeführt. So wie Jolly die Klinik im Jahre 1904 eröffnen konnte, steht sie, von geringfügigen, durch Kriegsschäden bedingten Umbauten abgesehen, auch heute noch und es läßt sich vielleicht kein größeres Lob aussprechen, als daß die Klinik im Laufe von bald 60 Jahren an Zweckmäßigkeit der Raumeinteilung und an praktischer Verwendbarkeit nichts verloren hat. Auch Jolly hat kein hohes Alter erreicht; erst 6ojährig brach er eines Tages im Garten der Klinik zusammen und starb an einer Aortenruptur. Nachfolger Jollys wurde Theodor Ziehen, hervorgegangen aus der Jenaer Nervenklinik. Ziehen war ein Mann von ganz anderem Gepräge, selbstbewußt und bestimmt im Auftreten, ein glänzender Redner, der von dieser Gabe auch gern beim Unterricht Gebrauch machte, publizistisch sehr bekannt geworden durch einige recht brauchbare Lehrbücher. Seine Stärke lag wohl mehr auf dem Gebiet des Sichtens und systematischen Ordnens. 1912 zog sich Ziehen — ein seltener Fall in der Geschichte der deutschen Hochschullehrer—um das 50. Lebensjahr herum freiwillig aus seinem Amt zurück, um sich ganz seinen psycholo-
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gischen Studien zu widmen. Er ist dann später in diesem Fach in Halle a. d. Saale noch einmal Ordinarius geworden. Als dann im Jahre 1912 Karl Bonhoeffer auf den Berliner Lehrstuhl berufen wurde, sollte er für lange Zeit der Klinik das Gepräge seiner Persönlichkeit verleihen. Die anderthalb Jahrzehnte, die dem ersten Weltkrieg folgten, dürfen wohl in mancher Hinsicht als eine Zeit erneuter Blüte des Berliner kulturellen Lebens betrachtet werden. Mit dem Jahre 1914 war — dies fühlte wohl jeder — eine Epoche zu Ende gegangen, die Welt wandelte ihr Gesicht und allenthalben wollte sich Neues regen. Auch die Berliner Universität hatte damals noch einmal eine große Zeit und konnte Männer, die zu den berühmtesten Vertretern ihres Faches gehören, auf ihren Lehrstühlen versammeln. Etwas davon war auch in der Charité zu spüren, wo Lehrer vom Range eines Czerny, F. Kraus, His, Lubarsch und später Roessle und Sauerbruch wirkten. Ihnen reiht sich der Name Bonhoeffers würdig an, wenn er auch zu keiner Zeit nun etwa modische Berühmtheit erlangte oder im Brennpunkt der Diskussion in der Öffentlichkeit gestanden hätte. Alles dies hätte dem Wesen Bonhoeffers auch schwerlich entsprochen. Karl Bonhoeffer entstammte einer alten schwäbischen Familie, die aus Nijmwegen in Holland nach Hall eingewandert war und hier seit Jahrhunderten der Heimatstadt Geistliche, Juristen und auch Ärzte geschenkt hatte. Wie in vielen schwäbischen Familien aus der geistigen Elite des Landes finden sich auch in der Familie Bonhoeffer gemeinsame Vorfahren mit so erlauchten Namen wie Hegel, Hölderlin, Mörike, Hauff. Im Chor der schönen Michaelskirche in Hall verkünden eine Reihe von Epitaphien das Andenken an Vorfahren, die hier als Dekane gewirkt haben. Es wäre dies vielleicht zu erwähnen nicht notwendig, wenn nicht alles im Wesen Bonhoeffers von echter Geisteskultur und einem berechtigten Stolz auf alte Familientradition gezeugt hätte. Bonhoeffer selber ist nicht mehr in Hall geboren, er kam in Neresheim im Jahre 1868 zur Welt, wo sein Vater — später Präsident des Landgerichts in Ulm — damals noch als Oberamtsrichter wirkte. Wie so manche, die später in ihrem Fach Hervorragendes geleistet haben, konnte er später — wie er in seinen Erinnerungen schreibt — nicht mehr genau sagen, welche Motive ihn zum Studium gerade der Medizin hingeführt haben. Daß auch sein Ur- und sein Ururgroßvater Ärzte gewesen waren, spielte dabei wohl keine Rolle, aber Interessen naturwissenschaftlicher und, schon
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auf der Schule, auch psychologischer Richtung sollen bei ihm schon frühzeitig erwacht sein. Die längste Zeit seines Studiums verbrachte er im heimatlichen Tübingen, wo sein Vater einige Jahre als Richter wirkte. Einige Semester in Berlin und München, freundschaftlichgesellige, teils auch verwandtschaftliche Beziehungen zu den Häusern bedeutender Gelehrter erweiterten den Horizont des angehenden Mediziners, dem damals freilich der Gedanke an eine akademische Laufbahn noch ganz fern lag. In den klinischen Semestern besuchte er mit Interesse die zu dieser Zeit noch nicht obligatorischen Vorlesungen in Psychiatrie und hörte in Berlin Siemerling, der damals den erkrankten Westphal im Unterricht vertrat, in München Grashey. Auf Empfehlung des ihm wohlgesonnenen Tübinger Anatomen Henke trat er nach dem Staatsexamen und der Promotion bei Wernicke in Breslau in die Psychiatrische Klinik als Assistent ein. In Wernicke gewann er einen Lehrer, dessen Arbeitsrichtung dann bestimmend für seine spätere wissenschaftliche Laufbahn werden sollte. Wernicke, früher Privatdozent in Berlin und von dort aus auf den Breslauer Lehrstuhl berufen, war schon damals auf Grund seiner Entdeckung der sensorischen Aphasie und anderer hirnpathologischer Untersuchungen ein in seinem Fach berühmter, wenn auch keineswegs allgemein anerkannter Forscher; er war zu dieser Zeit mit der Ausarbeitung seines psychiatrischen Lehrbuches beschäftigt. Es war sein Bestreben, die psychopathologischen Befunde bei Psychosen mit dem Bauplan des Hirns in Beziehung zu setzen, auch auf sie das Schema des Reflexbogens anzulegen und sie damit in ein System zu bringen, das sich für die Beschreibung und Lokalisation der aphasischen Sprachstörungen so glänzend bewährt zu haben schien, in ein System von Zentren und Verbindungsbahnen, das im Grunde eine Übertragung assoziationspsychologischer Vorstellungen auf Hirnstrukturen darstellt. Es war ein Vorgehen, das letzten Endes die Erklärung psychopathologischer Syndrome nach dem Vorbild der körperlichen Funktionsstörungen des Großhirns zum Ziele hatte, die Psychopathologie also gewissermaßen als Vervollständigung und Krönung der Gehirnpathologie projektierte. Diese Grundkonzeption Wernickes — in ihrer Geschlossenheit ebenso großartig wie gewaltsam — war damals durchaus revolutionär. In ihren Voraussetzungen seit der Überwindung rein assoziationspsychologischer Vorstellungen erschüttert und verlassen, hat sie bis in unsere Tage fortgewirkt und
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Forscherpersönlichkeiten vom Range eines Hugo Liepmann, Heilbronner, Kleist geprägt. Wenn auch die theoretischen Voraussetzungen sich auf die Dauer als unhaltbar erwiesen haben und heutzutage die Psychiatrie nach Ansätzen ganz anderer Art Ausschau hält, so bildet doch das System von Wernicke neben der von Kraepelin vertretenen Forschungsrichtung, die auf das Auffinden von Krankheitseinheiten auf Grund der Krankheitsverläufe ausgerichtet war, einen der beiden Grundpfeiler, auf dem die Weltgeltung der deutschen Psychiatrie für lange Zeit beruhte. Bonhoeffer selber hat sich, entsprechend seiner Wesensart, die allem Theoretischen im Grande skeptisch gegenüberstand, von den oft allzu starren Konzeptionen seines Lehrers bald entfernt; was er aber bei Wernicke gelernt hatte, war die Meisterschaft in der exakten Beobachtung und Analyse von Krankheitsbildern, das Ausgehen vom empirisch Feststellbaren, die Einsicht in die notwendige Verbundenheit einer neurologisch und hirnpathologisch orientierten Betrachtungsweise mit der psychopathologischen Erfassung der Phänomene. Von hier aus ist es auch zu verstehen, daß das wissenschaftliche Interesse Bonhoeffers, so sehr er auch für rein psychologische Fragestellungen offen war, doch überwiegend der Erforschung psychischer Störungen bei Erkrankungen des Hirns gegolten hat. Auf diesem Gebiet sollte er später seinen Namen in der Geschichte der Psychiatrie für immer berühmt machen. Es ist für den heutigen Leser rührend, aber auch lehrreich genug, wenn er liest, unter welch primitiven äußeren Verhältnissen eine Klinik, der ein Mann vom Range eines Wernicke vorstand, zu arbeiten gezwungen war. Eine selbständige psychiatrische Klinik der Universität gab es damals in Breslau noch nicht, was sich Klinik nannte, bestand aus einer städtischen Abteilung für Geisteskranke und einer davon getrennten Nerven-Poliklinik. Schwierigkeiten mit der städtischen Verwaltungsbehörde waren an der Tagesordnung, zumal Wernickes etwas selbstbewußte und hochfahrende Natur keineswegs dazu neigte, diplomatisch aufzutreten und Konfliktsituationen zu glätten. Er war ein Mann, der in der Überzeugung, den rechten Weg zu gehen, nur die Vollendung seines Lebenswerkes im Auge hatte. Von der Mehrzahl seiner damaligen Fachgenossen hatte er kein allzu günstiges Urteil, auf Publikationen seiner Assistenten, auf alles, was den sog. wissenschaftlichen »Betrieb« ausmacht, legte er keinerlei
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Wert und vielleicht kennzeichnet ihn gut jene Antwort, die uns Bonhoeffer gern erzählte: Von einem Besucher gefragt, wo sich denn seine Bibliothek befinde, soll er nur auf einen Schrank hingewiesen haben, in welchem er Krankengeschichten aufbewahrte; dies seien seine Bücher, aus denen er lerne und neue Einsichten gewinne. Es muß, wie Bonhoeffer in seinen Erinnerungen berichtet, ein faszinierendes Erlebnis gewesen sein, Wernicke bei der Untersuchung eines Kranken zuzuhören : Er explorierte, ganz konsequent sich beschränkend, im wesentlichen nur dieKranken,die ihm wissenschaftlich gerade wichtig und interessant waren. Bonhoeffer erwähnt, wie merkwürdig es ihn berührt habe, daß der berühmte Entdecker der sensorischen Aphasie und Verfasser einer ebenso berühmten zweibändigen Hirnpathologie zu jener Zeit kaum jemals Zeit und Aufmerksamkeit für die Untersuchung und Analyse eines solchen Krankheitsbildes gefunden habe. War er aber an einem Fall interessiert — damals im wesentlichen an Pychosen — so konnte er Stunden und Stunden einen solchen Kranken untersuchen, sich eifrig Notizen machend, die dann in sein in der Entstehung begriffenes psychiatrisches Lehrbuch eingingen. Zu seinen Schülern, von denen einige, wie Liepmann, Heilbronner, Gaufip sich später einen großen Namen machten, konnte er keinen engeren Kontakt finden, er beteiligte sie wohl an der Ausarbeitung seines Lehrbuchs, ließ ihnen aber sonst völlige Freiheit. Ganz entgegen den bisherigen Gepflogenheiten seinen anderen Assistenten gegenüber war es Wernicke selber, der Bonhoeffer die Habilitation vorschlug. Das Thema seiner Arbeit betrifft die akuten Geisteskrankheiten der Gewohnheitstrinker. Der Krankenbestand der Breslauer Klinik umfaßte eine große Zahl von Alkoholikern und es ist bezeichnend für die Arbeitsrichtung Bonhoeffers, daß er sich auch hinsichtlich des Themas seiner Habilitationsschrift ganz vom jeweils empirisch Gegebenen anregen und leiten ließ. Diese Arbeit Bonhoeffers ist inzwischen klassisch geworden, sie liegt jetzt 60 Jahre zurück und wenn man sich fragt, was inzwischen Neues auf diesem Gebiet entdeckt worden wäre, so ist es nicht eben viel. Bald nach seiner Habilitation — er hatte sich inzwischen mit Paula von Hase, aus einer bekannten Theologen-Familie stammend, verlobt — schied Bonhoeffer aus der Klinik aus und übernahm eine selbständige Stellung als leitender — zunächst freilich auch einziger — Arzt einer psychiatrischen Gefangenen-Abteilung in Breslau. Auch hier war es wieder die besondere Art der ihm zur Verfügung stehenden
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Kranken, die ihm das Thema zu neuer wissenschaftlicher Arbeit gaben: Es entstand eine Studie über die bei Kriminellen aller Art, bei Vagabunden und Prostituierten festgestellten psychischen Abweichungen mit dem Ergebnis, daß nahezu zwei Drittel dieser Personen als psychisch defekt oder pathologisch abnorm zu bezeichnen waren — ein Ergebnis, das für die forensische Beurteilung solcher Menschen nicht ohne Bedeutung bleiben sollte. 1903 folgte Bonhoeffer einem Rufe nach Königsberg. Er fühlte sich zwar in der dortigen Fakultät wohl, traf aber so katastrophale Arbeitsbedingungen an, daß er schon nach einem Semester einen Ruf nach Heidelberg als Nachfolger Kraepelins nicht gut ablehnen mochte. Hier war er nun wieder seiner süddeutschen Heimat näher, eine gut eingerichtete Klinik stand ihm zur Verfügung, aber auf die Dauer konnte er sich doch nicht damit abfinden, daß in Heidelberg nach alter Tradition die Psychiatrie von der Neurologie — damals noch von dem berühmten Internisten Erb vertreten — getrennt war. So blieb er auch in Heidelberg nicht länger als ein Semester und war froh, als er auf dem Wege einer Berufung wieder nach Breslau, dem Ausgangsort seiner wissenschaftlichen Laufbahn und dem Wohnsitz seiner schwiegerelterlichen Familie zurückkehren konnte, diesmal freilich — Wernicke war inzwischen nach Halle übersiedelt •— als Ordinarius und mit der Zusage des Neubaues einer selbständigen Nervenklinik. Wenn sich Bonhoeffer später über seinen beruflichen Lebensweg einmal äußerte, konnte man immer heraushören, daß er die Jahre in Breslau eigentlich wohl als die schönsten und fruchtbarsten seines Lebens angesehen hat. Eine Schar von Kindern wurde geboren und wuchs heran, die Verhältnisse in der Fakultät und in der Klinik waren harmonisch und vor allem entstanden in jenen Jahren diejenigen Arbeiten, die den Ruhm ihres Autors in der wissenschaftlichen Welt der Psychiatrie begründen sollten: Die Konzeption des Begriffs der exogenen Reaktionstypen und die monographische Darstellung der sog. symptomatischen Psychosen. Nicht ganz leichten Herzens entschloß sich Bonhoeffer dann im Jahre 1912, die ihm lieb gewordene Breslauer Arbeitsstätte zu verlassen und einen Ruf auf den Berliner Lehrstuhl anzunehmen. Wie er selber schreibt, hatte er zuvor lange geschwankt. Die Vielzahl von Verpflichtungen gesellschaftlicher und dienstlicher Art, welche die Berliner Position notgedrungen mit sich brachte und der eigentlichen
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wissenschaftlichen Arbeit nicht gerade förderlich zu sein schienen, eine ihm angeborene Scheu vor allem, was reine Repräsentation bedeutete und ein Wirken vor einer breiteren Öffentlichkeit erforderte, machten ihm eine Übersiedelung auf den gewissermaßen bedeutendsten Lehrstuhl des Faches zunächst nicht unbedingt erstrebenswert. Im Hintergrunde blieb die Hoffnung, er könne, seinem Berliner Vorgänger Ziehen gleich, eines Tages wieder an eine kleinere Universität zurückkehren. Diese Hoffnung sollte sich freilich nicht erfüllen. Nachdem er bereits von Breslau aus einen Ruf nach Tübingen abgelehnt hatte, hätte er noch einmal, im Jahre 1926, die Möglichkeit gehabt, Berlin wieder zu verlassen. Er erhielt damals, wieder als Nachfolger Kraepelins, einen Ruf nach München. Die Verlockung, das ihm wohl nie ganz vertraut gewordene Berliner Milieu zugunsten des heimatlichen Süddeutschlands wieder zu verlassen, schien groß. Indessen hatte die Familie inzwischen in Berlin doch so festen Fuß gefaßt,daß eine nochmalige Übersiedelung Bedenken erweckte. Bonhoeffer lehnte ab und blieb. Bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1938 — im ganzen also 26 Jahre — hat er dann die Berliner Nervenklinik geleitet. Das wissenschaftliche Lebenswerk Bonhoeffers kann hier nur kurz angedeutet werden. Es versteht sich, daß er in zahlreichen Einzelarbeiten, die sich auf beinahe das ganze Gebiet der Psychiatrie und Neurologie erstrecken, zu dieser oder jener Frage Stellung genommen hat, meist wohl auf Grund konkreter Beobachtungen, wie sie sich ihm gerade angeboten haben mögen. Es finden sich darunter die so bekannten Veröffentlichungen aus dem Bereich der Aphasie, über Agrammatismus, über die Raumstörung im Umgang mit Rechts und Links, aber auch Themen ganz anderer Art, wie z. B. über das Vorkommen von Zwangssyndromen bei den Manisch-Depressiven, über neurotische Zusammenhänge und Motivationen außerhalb des im engeren Sinne Hysterischen. Was die Hysterie-Frage anlangt, so kommt Bonhoeffer das entschiedene Verdienst zu, den Faktor des Tendenziösen, des mehr oder weniger bewußt Gewollten, als Erster erkannt und als entscheidend herausgestellt zu haben. Auch hier waren es wieder konkrete Beobachtungen, nämlich solche an den Kriegszitterern des ersten Weltkrieges (die in der Gefangenschaft das Zittern wieder verloren), die Bonhoeffer diese Einsicht vermittelten und zu einer Bearbeitung dieses Themas, zum Teil in enger Gemeinschaft mit seinem Tübinger Freunde Gaupp anregten. Die definitorisch
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klare Umgrenzung und psychologische Erhellung dessen, was man als hysterisches Verhalten zu bezeichnen hat, ist dann später, weit über den Bereich der Kriegsneurotiker-Frage hinaus, für die gesamte Versicherungsmedizin von größter Bedeutung geworden. Schon viele Jahre zuvor hatte Bonhoeffer, wie oben bereits erwähnt, die Alkohol-Psychosen als Erster systematisch erforscht und beschrieben. Er hatte erkannt, daß es sich dabei nicht um die unmittelbaren Folgeerscheinungen einer Alkoholvergiftung handelt, sondern um die Auswirkung von Stoffwechselveränderungen allgemeinerer Art, die im Organismus erst durch den Alkoholmißbrauch entstehen. Damals wußte man noch wenig über die Natur dieser Stoffwechselstörang. Bonhoeffer sprach vorsichtig von »ätiologischen Zwischengliedern«, heute nimmt man an, daß der Vitaminhaushalt maßgeblich daran beteiligt ist. Aber das Wesen dieser Störung ist im Einzelnen auch jetzt noch nicht genau ergründet. Die klinische Beobachtung der Symptomatologie der Alkohol-Psychosen hatte Bonhoeffer gemeinsame Kernsymptome, die in allen solchen Störungsbildern enthalten sind, erkennen lassen. Es folgte die Beschreibung und psychopathologische Analyse anderer, gleichfalls »exogen«, das heißt durch äußere Schädlichkeiten verursachter Psychosen, die »symptomatisch«, das heißt als Folge allgemeiner Kreislauf- und Stoffwechselstörangen des Hirns auftreten. Bonhoeffer stellte eine Reihe von typischen, exogen bewirkten, psychopathologischen Syndromen auf, die er »exogene Reaktionstypen« nannte. Damit waren, in Ergänzung zu der Arbeit Kraepelins, dem wir die Aufteilung der sogenannten endogenen, im wesentlichen auf Erbanlagen beruhenden, Psychosen in die Gruppen der manisch-depressiven und der schizophrenen Krankheitsbilder verdanken, ein Großteil der Geistesstörungen in ein System gebracht, das in nosologischer Hinsicht auch heute noch im wesentlichen seine Gültigkeit behalten hat und uns gestattet, prognostische Voraussagen über die Aussichten und Möglichkeiten einer Heilung zu treffen. Alle diese Dinge sind heute beinahe anonym, sie sind so sehr selbstverständliches Allgemeingut des Wissens geworden, daß man leicht vergißt, welches Maß an subtiler klinischer Beobachtung der Zustandsbilder wie der Krankheitsverläufe von der damaligen Psychiater-Generation aufgebracht werden mußte, um erst einmal die Mannigfaltigkeit und den Reichtum des klinischen Alltags systematisch zu ordnen.
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Alle Arbeiten Bonhoeffers sind dadurch gekennzeichnet, daß in ihnen eine sehr genaue und nüchterne Beobachtung der Tatsachen vorherrscht, die theoretische Interpretation nur sehr vorsichtig und mit viel Kritik erfolgt, alles Spekulative völlig fehlt. Abgesehen von der Darstellung der Alkohol-Psychosen, der symptomatischen Psychosen und — sehr viel später — der choreatischen Bewegungsstörungen hat Bonhoeffer zusammenfassende größere Publikationen niemals erscheinen lassen; er hat auch niemals ein Lehrbuch geschrieben. Es mag dabei eine Rolle gespielt haben, daß das Bedürfnis nach systematischem Unterrichten bei ihm, wie er selbst gesteht, niemals sehr groß gewesen ist. Vielleicht ist es aber auch eine ihm angeborene Skepsis und Zurückhaltung gewesen, die ihn davon abhielt, sich theoretisch festzulegen und die Vielfalt der Erfahrung in ein bestimmtes Gedankensystem zu pressen. Wenn man mit wenigen Worten sein Wesen, so wie es in seiner Eigenschaft als klinischer Direktor und Professor seinen Assistenten sichtbar wurde, charakterisieren wollte, so müßte man vor allem sagen, daß es von Zucht und Maß bestimmt war. Von Gemüt aus alles andere als matt und lahm, sondern voller Affekte, die sich auch in heftigen und langanhaltenden Antipathien und gelegentlich auch in recht sarkastischen Beurteilungen äußern konnten, war er doch nach außen hin die Diszipliniertheit in Person. Eine Aura scheinbar kühler Distanz — die sich erst in späterem Alter etwas löste — trennte ihn von seinen Mitarbeitern. Eine natürliche Würde und Gemessenheit ließen es undenkbar erscheinen, sich jeweils den Grenzen des Respekts zu nähern, die der »Geheimrat«, den niemand anders als in der dritten Person anzureden gewagt hätte, als selbstverständlich für sich in Anspruch nehmen konnte. Nicht nur im Umgang mit dem Personal der Klinik und den Assistenten kam dies zum Ausdruck. Es war für uns immer höchst eindrucksvoll zu sehen, daß auch seine Fakultätskollegen sich diesem Einfluß nicht entziehen konnten. Selbst einer so anders gearteten Persönlichkeit wie Sauerbruch — daß beide sich gegenseitig aufs höchste schätzten, weiß ich aus ihrem eigenen Munde — ging es hierin nicht anders; auch für ihn war Bonhoeffers Autorität unantastbar. Dabei war so gar nichts in seinem Verhalten, was irgendwie an eine Pose hätte erinnern können. Wer ihn näher kannte, wußte, daß er weder gemütskalt, noch gar selbstherrlich war. Im Grunde war er nur eine äußerst sensible Natur, die sich scheute,
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andere in ihr Innerstes hineinblicken zu lassen. So wie ihm alles Maßlose, Übertriebene, Undisziplinierte von Grund aus zuwider war, so war an ihm selber alles Beherrschtheit, Einhalten der Form, äußerste Disziplin. Alles öffentliche Sich-zur-Schau-Stellen, also Ansprachen, Kongreß-Reden, auch das Kolleg-Lesen, waren ihm nicht angenehm. Der klinische Unterricht mochte ihm, wie er selber zugab, mehr eine Belastung als eine Freude oder gar ein Bedürfnis sein ; er sprach leise, etwas zögernd und war formal gewiß kein glänzender Redner. Ein Student, der vielleicht vom psychiatrischen Unterricht, wie so häufig, etwas Sensationelles, Außergewöhnliches sich erhoffte, kam bei Bonhoeffer nicht auf seine Kosten. Manische Kranke, die sich etwa dégagiert benehmen und dadurch die Heiterkeit des Auditoriums hätten hervorrufen können, stellte er nur ungern vor. Dabei waren seine Vorlesungen für den älteren, schon reiferen Mitarbeiter zu hören ein Gewinn; die ruhige, von allem falschen Pathos freie, die Würde auch des Kranken immer noch achtende Weise, mit der er die Patienten vorstellte, war vorbildlich, die Meisterschaft, einen Krankheitsfall als Ganzes in seiner Einmaligkeit zu umreißen und vor den Hörern auszubreiten, unbestritten. Wer bei Bonhoeffer als Assistent eintrat, mußte zunächst damit rechnen, einige Zeit — es mochten manchmal auch Jahre sein — von ihm nicht sonderlich beachtet zu werden. Erst wenn er sich im Dienst auf der Abteilung bewährt hatte, konnte er hoffen, eine Assistentenstelle zu bekommen. War man einmal in diesen engeren Kreis der Mitarbeiter aufgenommen — an der Klinik arbeiteten noch zahlreiche Volontäre, darunter viele Ausländer — so genoß man freilich größte Unabhängigkeit und Freiheit des Handelns. Die einzelnen Abteilungen führten ein sehr selbständiges Dasein in bezug auf Aufnahmen, Entlassungen, diagnostische und therapeutische Maßnahmen. Freilich ist dabei zu berücksichtigen, daß bei dem damals bestehenden Andrang auf die wissenschaftlichen Assistentenstellen die Auslesemöglichkeiten recht günstig lagen und als Abteilungsärzte nur solche Mitarbeiter fungierten, die entweder schon habilitiert oder aber doch schon eine Reihe von Jahren an der Klinik tätig waren, die auch innerhalb der Charité nach altem Brauch als Oberärzte tituliert wurden (was im Verkehr mit den Angehörigen sich als durchaus zweckmäßig bewährte), während die beiden amtlich bestellten Oberärzte, ältere, auf einen Lehrstuhl wartende Professoren, die Poli-
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klinik beaufsichtigten bzw. dem anatomischen Laboratorium vorstanden, sonst aber, abgesehen von gelegentlichen Vertretungen des Direktors bei dessen Abwesenheit, keinerlei offizielle Funktionen in bezug auf den Stationsbetrieb hatten. So war die Klinik also völlig dezentralisiert und es gab keine Möglichkeiten von Zwischenträgereien, da jeder Abteilungsarzt seine Angelegenheiten unmittelbar und ausschließlich nur gegenüber dem Klinikdirektor zu vertreten hatte. Dieser war freilich auch immer erreichbar. Bonhoeffer erschien pünktlich um 9 Uhr in der Klinik. Es folgte die Konferenz der Abteilungsärzte, bei der alle Aufnahmen und alle wichtigen Vorkommnisse vorgetragen wurden. Von n bis 12 Uhr war die klinische Vorlesung, die zu besuchen jedoch nur für den Abteilungsarzt, dessen Kranke jeweils vorgestellt wurden, Pflicht war. Ganz im Gegensatz zu vielen anderen Ordinarien legte Bonhoeffer keinerlei Wert darauf, an der Spitze einer großen Assistentenschar den Hörsaal zu betreten, es war ihm wohl lieber, wenn der Stationsdienst dafür umso gründlicher ausgeführt wurde. Darauf wurde allerdings streng gehalten. Bonhoeffer brachte es fertig, ohne regelmäßige, das heißt auf Stunde und T a g festgelegte Visiten zu machen, nahezu alle Kranken dieser großen Klinik persönlich zu kennen. Er hatte ein erstaunliches Gedächtnis für Details der Befunde und der Anamnese. An irgend einem Wochentage erschien er dann im Laufe des Vormittags spontan auf einer Abteilung, besuchte Patienten, die ihn interessierten oder ließ sich die Neuzugänge kurz zeigen. Niemand hätte gewagt, nicht so gut orientiert zu sein, um ihm nicht Rede und Antwort stehen zu können. Aphasische Kranke ausführlich zu untersuchen, nahm er sich immer Zeit. Freude hatte er auch an ganz alten Personen, auch an schwäbischen Landsleuten, bei denen er dann im Gespräch gern in seinen heimatlichen Dialekt zurückfiel. Unsere Absicht, mit der Vorstellung solcher Patienten ihm eine Freude zu machen, blieb ihm natürlich nicht verborgen, er hat sie vermutlich auch dankbar quittiert, zeigte aber in solchen Situationen — wie immer wohl, wenn er das Gefühl hatte, ein anderer hätte zu tief in sein Inneres geblickt — gern eine leichte Befangenheit, die er dann durch irgendeine sich selbst ironisierende Bemerkung wieder wegzuwischen strebte. Welch zartes und empfindsames Gemüt sich hinter aller äußeren Reserviertheit Bonhoeffers verbarg, zeigte sich auch bei anderen Gelegenheiten. Es kam nur selten vor, daß er nachmittags in der Klinik auftauchte. Die G 11
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meisten wußten schon, was das in der Regel zu bedeuten hatte, nämlich das Warten auf die Geburt eines Enkelkindes in der benachbarten Frauenklinik. Sein Familiensinn war ja sehr ausgesprochen und es war offenbar die Sorge um den glücklichen Ausgang eines solchen Ereignisses, die ihn in der Klinik festhielt. Traf man ihn zu solch ungewöhnlicher Stunde an, so konnte er dann auch eine leichte Verlegenheit nicht verbergen, hätte aber nie ein Wort über den Grund seines Hierseins verloren. Kurze Zeit später sah man ihn dann still und unbemerkt durch den Hinterausgang der Klinik in die Frauenklinik hinübergehen. Erlebnisse solcher Art, die im Kreise der Mitarbeiter natürlich wohlgefällig-mitfühlend registriert wurden, ließen erkennen, daß in dem sonst so kühlen »Geheimrat« auch nur ein Mensch verborgen war. Sie vermehrten nur die Zuneigung und den Respekt vor so viel Haltung. Brauchte man seinen Rat, war er sofort zur Stelle, mochten noch so viele Besucher im Sprechzimmer auf ihn warten. Er ließ sich berichten, untersuchte selber und äußerte seine Auffassung. Es kam aber auch vor, daß er gar nichts sprach, aber man konnte dann seinem Schweigen entnehmen, daß er entweder mit den getroffenen Maßnahmen einverstanden war, oder aber -— in diagnostisch schwierigen Fällen — selber nicht zu einer klaren Entscheidung hatte kommen können. Wenn er aber etwas sagte, konnte man immer gewiß sein, daß sein Urteil gut begründet war; niemals speiste er einen mit Hypothesen oder Redensarten ab. So vollzog sich der Betrieb der Klinik ohne viel überflüssiges Gerede. Wenn auch nicht viele Worte verschwendet wurden und im allgemeinen ein Ton ernstlicher Sachlichkeit vorherrschte, so mangelte es Bonhoeffer doch keineswegs an Humor und an dem Sinn für die Komik bestimmter Situationen, wie sie in psychiatrischen Kliniken häufig genug vorkommen. Nur gab er dem niemals lauten Ausdruck. Eigentlich war es erstaunlich, wie sehr er doch über alles orientiert war, was seine Assistenten anging, denn im Dienst vollzog sich der Umgang mit ihm nur aus der Distanz heraus, Gelegenheiten zu persönlichen Gesprächen waren selten. Er las die Krankengeschichten (die er etwas abschätzend für gewöhnlich nur als »Notizen« bezeichnete) sehr genau, jedenfalls diejenigen, die er zur Vorlesung oder zu eigener wissenschaftlicher Arbeit brauchte, er korrigierte eingehend jedes Gutachten (wobei es wiederum für ihn charakteristisch war, daß er sie lediglich
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im Konzept gegenzeichnete) und er mochte sich wohl auch aus der Art, wie der Betreffende ihm auf der Visite begegnete, ein Urteil über ihn bilden. Großzügig wie er war, ließ er dem Einzelnen völlige Freiheit in der Wahl seiner wissenschaftlichen Interessen. Hin und wieder konnte einer, der ihn besser kannte, aus einer flüchtigen, bei entsprechender Gelegenheit hingeworfenen Bemerkung entnehmen, daß er die Beantwortung dieses oder jenes Themas für wünschenswert gehalten hätte. Man kann aber nicht von ihm sagen, daß er seine Mitarbeiter zu wissenschaftlicher literarischer Tätigkeit gedrängt hätte, in dieser Beziehung dachte er wohl zu skeptisch über den Wert der meisten Publikationen. Auch mochte er sich sagen — und diese Einstellung hatte er vielleicht von seinem Lehrer Wernicke übernommen — , daß alle solche Dinge von alleine wachsen müssen, soll etwas Brauchbares herauskommen. Gründliche Arbeit am Krankenbett und Gewinnung eigener klinischer Erfahrung schätzte er auch bei seinen Assistenten wohl höher ein, als jegliche Form von literarischem Betrieb. Um die Mittagsstunde gegen % 2 Uhr verließ Bonhoeffer die Klinik. Der Nachmittag gehörte der Praxis, der Familie und der eigenen wissenschaftlichen Arbeit. Ohne ein äußerstes Maß an Selbstzucht hätte es niemand fertig gebracht, in wenigen Vormittagsstunden den Betrieb der großen Berliner Klinik zu überwachen und zu leiten. Dabei versäumte er kaum jemals, eine Obduction sich anzusehen oder zu einer Operation zu gehen, die bei der großen Zahl von HirntumorKranken, welche die Klinik beherbergte, häufig genug in der benachbarten chirurgischen Klinik stattfanden. Er brachte es fertig, niemals abgehetzt zu wirken, hatte auch jederzeit ein Ohr für Anliegen aller Art, setzte freilich voraus, daß man sich kurz faßte und auf Sachliches sich beschränkte. Mochte dieser oder jener seiner Mitarbeiter zunächst vielleicht auch persönliche Wärme vermissen, so mußte er doch bald einsehen und dankbar anerkennen, daß diese Haltung freundlich distanzierter Sachlichkeit, die Bonhoeffer allen seinen Assistenten gleichmäßig entgegenbrachte, das Fehlen jeder Launenhaftigkeit, aller Möglichkeiten zu Quertreibereien und Intriguen, eine Atmosphäre ruhiger Geborgenheit schaffte, die der persönlichen und wissenschaftlichen Entwicklung des Einzelnen im höchsten Maße förderlich sein mußte. Es wurde in der Klinik emsig gearbeitet, aber es gab keine Streberei. Die äußeren Verhältnisse waren denkbar einfach, die Volontäre arbeiteten unentgeltlich, aber auch die Gehälter der 20*
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Assistenten waren damals noch kärglich und bedurften der Aufbesserung durch Einnahmen aus Gutachten. Die Mehrzahl der Assistenten war unverheiratet und wohnte in der Klinik in Zimmern, deren preußisch ärarische Ausstattung — gemessen an heutigen Bedürfnissen — mehr als armselig war. Doch hatte das Wohnen in der Klinik den unschätzbaren Vorteil, daß Zeit und Wege gespart wurden und daß man in den Abendstunden und oft genug auch in der Nacht die Kranken der eigenen Station zu sehen bekam und ihnen zur Verfügung stand. Dabei gab es an der Bonhoeffer'sehen Klinik keine festen Dienststunden; sofern freie Zeit übrig blieb, konnte sie sich jeder einteilen wie er wollte, wenn nur die Arbeit getan wurde. Daran freilich mangelte es niemals. Die Charité verfügte über einen riesigen Zustrom von Kranken, hatte aber das Privileg, nur diejenigen aufnehmen zu brauchen, die für wissenschaftliche Forschung oder den Unterricht von Bedeutung waren. Der Nachteil einer solchen oft sehr spezifizierten Auslese wurde dadurch aufgewogen, daß man schon nach kurzer Zeit eine Fülle von seltenen oder diagnostisch schwierigen Krankheitsfällen zu sehen bekam. Konsilien mit den Vertretern anderer Spezialdisziplinen waren die Regel, die räumliche Nachbarschaft der Kliniken, das gemeinsame Essen der Assistenten im Ärzte-Casino der Charité förderte die Gemeinschaft junger gleichstrebender Forscher und gab Gelegenheit zu wechselseitiger Anregung und Belehrung. Es versteht sich, daß ein so auf persönlicher Autorität des Chefs beruhendes Regiment, mochte es dem Einzelnen auch kaum fühlbar werden, auch Wesen und Haltung des Mitarbeiterkreises prägte und einem solchen Organismus, wie ihn eben auch eine Klinik darstellt, einen gewissen »Stil« verlieh. Dies kam auch in der Stellung der Assistenten zueinander zum Ausdruck. Gewiß gab es auch hier zuweilen Spannungen und Reibereien, aber sie blieben harmlos oder waren vorübergehend. Alles, was nach öder Streberei oder Liebeswerben um die Gunst des Chefs ausgesehen hätte — dies alles wäre angesichts von Bonhoeffers Persönlichkeit niemanden in den Sinn gekommen. Und so herrschte auch unter den Mitarbeitern jene Atmosphäre freundlich-kollegialerDistanz,die wederlntriguen irgendwelcher Art noch eine Klüngel- oder Cliquenbildung duldete. Es war wohl nie der Ehrgeiz Bonhoeffers, eine Schule zu begründen in dem Sinne, möglichst viele seiner Schüler in mehr oder weniger prominente Stellen unterzubringen. Seiner Art, den Dingen ihren natürlichen
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Lauf zu lassen und alles Gewaltsame abzulehnen, hätte dies auch schwerlich entsprochen. Wir selber hatten zu unserer Zeit niemals den Eindruck, daß er sich sonderlich um unsere »Karriere« bemüht hätte. Dennoch haben es die Verhältnisse mit sich gebracht, daß die Zahl seiner Schüler, die das Ziel eines selbständigen Lehrstuhls erreichten, größer ist, als die seiner anderen psychiatrischen Zeitgenossen. Ob ihm dies am Ende seines Lebens doch noch eine gewisse Genugtuung gegeben hat, sei dahingestellt. Sicher aber würde es ihm eine Freude sein, wenn er hören könnte, daß wohl alle seine alten Schüler die Zeit ihrer Tätigkeit an der Charité gern noch einmal erleben würden, nicht aus Gründen sentimentaler Erinnerung an die eigene Jugend, sondern aus der klaren Erkenntnis, daß es die Persönlichkeit Bonhoeffers war, die ihnen die Möglichkeit schuf, in Freiheit, aber auch in Verantwortlichkeit sich zu dem zu entwickeln, wozu Anlagen und Neigungen sie hinführten. Als im Jahre 1933 der politische Umbruch sich vollzog, sollte sich auch das Gesicht unserer Klinik verwandeln. Bonhoeffers Autorität blieb zunächst unangetastet, die Zahl der politischen Konjunkturritter unter den Assistenten war erfreulich klein und der Respekt vor seiner Person noch viel zu groß, als daß sie es gewagt hätten, auch in der Klinik das große Wort zu führen. Die jüdischen Assistenten — es waren an der Klinik niemals viele — wurden zwar nicht, wie anderen Orts, Knall auf Fall entlassen, aber auf die Dauer konnte sie auch Bonhoeffer nicht länger halten. So mußten F. Kramer, Jossmann, Pollnow, Seidemann im Laufe der folgenden Jahre ausscheiden und emigrieren. Bonhoeffer sorgte, so gut er konnte, für ihr weiteres Fortkommen; auch in der Zeit des Dritten Reiches hatte sein Name in der internationalen Fachwelt an Ansehen und Respekt nichts eingebüßt. Nach dem Zusammenbruch 1945 durfte er es noch erleben, mit welch dankbarer Anhänglichkeit diese seine ehemaligen Schüler ihrerseits nun ihm das Leben zu erleichtern suchten. Es ist hier nicht der Ort, näher zu schildern, wie ein Mensch wie Bonhoeffer unter der Diktatur der Hitler-Zeit leiden mußte. Von Haus aus gewiß vaterländisch gesinnt, mußte ihm doch jede Form von Chauvinismus zuwider sein. Er wurzelte auch viel zu sehr in der christlichen Tradition seiner Familie und in der Überlieferung schwäbisch-liberalen Denkens, als daß er die Tendenzen des Regimes hätte gutheißen können, er war viel zu empfindsam, um nicht von den Geschmacklosigkeiten
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jener Zeit abgestoßen zu werden und nicht zuletzt auch viel zu klug, um nicht zu ahnen, wohin der Weg führen mußte. Der Weggang mancher Mitarbeiter, der Mangel an qualifiziertem Nachwuchs, eine langsame Infiltration auch des Personals mit opportunistisch eingestellten Elementen lösten das Gefüge der Klinik allmählich auf, und so war Bonhoeffer im Grunde wohl ganz froh, als er sich nach Erreichung des 70. Lebensjahres — an sich noch in voller körperlicher und geistiger Frische — emeritieren lassen konnte. Als sein Nachfolger wurde vom Ministerium — gegen den Willen der Fakultätsmehrheit — Max de Crinis eingesetzt, ein politisch verrannter, persönlich aber integerer Grenzlanddeutscher aus der südlichen Steiermark. Die Verhältnisse der damaligen Zeit — der Krieg stand unmittelbar vor der Tür — waren viel zu schwierig, als daß de Crinis hätte daran gehen können, der Klinik wieder ein persönliches Gesicht zu geben. Im Gegensatz zu manch einem seiner Kollegen — dies sei zu seiner Ehre gesagt — hielt er in Berlin bis zum bitteren Ende durch. Kurz nach dem Einmarsch der Russen in Wannsee schied er freiwillig aus dem Leben. Bonhoeffer überlebte das Kriegsende noch um einige Jahre. Trotz schwerster persönlicher Verluste — als Opfer der Widerstandsbewegung des 20. Juli mußten zwei Söhne, zwei Schwiegersöhne und ein Vetter seiner Frau ihr Leben lassen — war seine Haltung auch in den nun folgenden Jahren bitterer äußerer Not vorbildlich. Man hörte von ihm kein Wort der Klage oder auch der Anklage. In Frische und Tätigkeit konnte er noch seinen 80. Geburtstag begehen. Er starb am 10. Dezember 1948 an den Folgen einer Hirnblutung. Es wurde versucht, von der Art der Persönlichkeit und der Wirkungsweise eines deutschen Ordinarius in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen einen Eindruck zu vermitteln. Was geschildert wurde, ist sicher wohl kein Einzelfall gewesen; ähnlich — wenigstens im Grundsätzlichen — mag es auch woanders zugegangen sein. Es war ein patriarchalisches Regiment, gegründet auf Autorität, die ihr Recht wiederum herleitete aus dem höheren Maß an Wissen, Erfahrung und Lebensklugheit. Das Wesen einer solchen Institution, hier also einer Klinik, in der junge, der Wissenschaft dienende Menschen selbständiges Denken und Handeln lernen sollen, läßt sich vielleicht am ehesten noch vergleichen mit der Meisterschule eines Künstlers, auch dem Lehrbetrieb eines Handwerksmeisters. Hier wie dort sind junge Men-
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sehen ganz in die Hand ihres Meisters gegeben und niemand kann zweifeln, daß dieser im Guten wie im Bösen einen bestimmenden Einfluß auf ihre Entwicklung haben kann. Eine solche, ganz auf die Persönlichkeit des Lehrers abgestellte Erziehungs- und Bildungsordnung hat gewiß ihre Gefahren, Mißbräuche und Mangelerfolge mögen vorkommen, aber jedenfalls viel seltener sein als manche Polemiken, die heute in Fachzeitschriften oder auch in der Tagespresse zu lesen sind, glauben machen möchten. Wie bei allen hierarchisch gegliederten Ordnungen, wird es auch hier von der Auswahl der Spitze abhängen, ob das System etwas taugt oder nicht. Hier also wären Reformen und Neuordnungen schon denkbar. Die Symbole der Autorität mögen sich wandeln, die Stilformen einer solchen Ordnung andere werden, unsere wissenschaftlichen Ausbildungsstätten aber wären gefährdet, wollte man das Prinzip der hierarchischen Gliederung zu Gunsten einer Nivellierung und Aufsplitterung der Autorität aufgeben.
RICHARD
SIEBECK
ANSÄTZE UND ENTWICKLUNG DER MODERNEN NATURWISSENSCHAFTLICHEN MEDIZIN IN DEN B E R L I N E R UNIVERSITÄTSKLINIKEN
SEIT D E R
MITTE DES
VORIGEN
JAHRHUNDERTS BIS ZUR GEGENWART Wie in den Kliniken der Berliner Charité seit dem Verklingen der romantischen Richtungen in den ersten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts die moderne streng naturwissenschaftliche Medizin anfing und sich entwickelte, läßt eine Richtung erkennen, die für das Verständnis unserer heutigen Aufgabe in Wissenschaft und ärztlichem Auftrag wichtig erscheint. In dieser kurzen Skizze, die dem Jubiläum der Berliner Universität gewidmet sein soll, kann ich das nur an einigen markanten Beispielen kurz aufzeigen. Auswahl der Autoren und ihrer Arbeiten ist eine ganz persönliche, so wie ich sie in meinen Lernen und Werden erfahren habe. Zwei ganz große Namen in der Wissenschaft jener Zeit sind im voraus zu nennen: Lukas Schönlein (1793—1864) der Kliniker und Johannes Müller (1801—1858, seit 1838 in Berlin) der Physiologe. Lukas Schönlein, der 1839 v o n Bamberg an die Medizinische Klinik der Charité kam, bereitete den Boden vor. Er hat nur ganz wenig Schriftliches hinterlassen, nur eine kleine Arbeit über die Entdeckung des Flavuspilzes. Was ihm das Dringendste war und den bedeutendsten Einfluß schuf, seine klinischen Vorlesungen, können wir heute kaum zureichend beurteilen, denn sie liegen nur in der Nachschrift eines Studenten vor. Offenbar spielten bei aller Aufgeschlossenheit für die neue Naturwissenschaft naturhistorische und naturphilosophische Begriffe und Vorstellungen doch eine ziemlich große Rolle. Aber es war doch ganz anders als bei den früheren, etwa bei Reil (1762—1836) oder auch Hufeland (1759—1813), die vor ihm an der Klinik lehrten und wesentlich über jene Spekulationen sprachen, auch wenn es ihnen an manchen ärztlichen Erfahrungen und Einsichten nicht mangelte. In Schönleins Vorlesungen stand der Kranke im Mittelpunkt: Ein
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Assistent mußte die Anamnese, die »Vorgeschichte« vorlesen, er selbst betrachtete den Kranken genau und untersuchte ihn mit den modernen »naturwissenschaftlichen« Methoden der Physik und Chemie, mit der damals neuen Perkussion und Auskultation wie mit der chemischen und mikroskopischen Prüfung der Ausscheidungen. Die Diagnose wurde als eine pathologisch-anatomische entwickelt, wie es den damaligen Kenntnissen entsprach. Anschließend wurden Prognose und Therapie besprochen und schließlich eine eingehende Epikrise erörtert. Ganz neues Leben zog in die Kliniken der Charité ein, als die Schüler von Johannes Müller in ihnen wirkten. Müller war ein ganz universaler Forscher. Seine exakten Untersuchungen über Drüsen, Bau und Formen der Geschwülste, seine mikroskopischen und experimentellen Beobachtungen, seine Betonung messender und wägender Methoden, nicht zuletzt seine klassischen Erkenntnisse auf dem Gebiete der Sinnesphysiologie leiteten eine ganz neue Wissenschaft ein. Aber ehe ich von der Klinik rede, muß ich des überragenden Naturforschers gedenken, der die Geschichte der deutschen Medizin jener Zeit wie kaum ein anderer bestimmte: ich meine Rudolf Virchow, der auch aus der Schule von Johannes Müller kam, aber nicht als Kliniker, sondern als Pathologe lebte und lehrte. In seinen ausgezeichneten Arbeiten und in seinem großartigen Werk über die Cellularpatkologie entfaltete er eine neue Theorie des Lebendigen 1 . Das Fundament aller Lebensvorgänge ist zellulärer Natur. Die Zelle als elementare Einheit ist Träger allen Lebens; dessen eigentliche Leistung liegt in der Zelle, das Leben des Menschen ist nicht mehr als das Leben seiner elementaren Teile. Virchow kennt nur mechanistisches Geschehen in der ununterbrochenen Kette von Ursache und Wirkung. Jede Erkrankung ist örtlich bestimmt. Virchows Einfluß war ungeheuer, in der exakten naturwissenschaftlichen Forschung, aber auch in ihren allzu engen Grenzen. Unter den Klinikern war wohl der bedeutendste Theodor Frerichs (1809—1885), der 1859 als Nachfolger Schönleins von Kiel und Breslau nach Berlin kam. Wir haben durch seinen ausgezeichneten Schüler Naunyn eine sehr lebendige Schilderung seiner Klinik 2 . 1 Rudolf Virchow, Die Zellularpathologie, Berlin 1871; ferner: Vier Reden über Leben und Kranksein, 1862. 2 Naunyn, Theodor von Frerichs, in Arch. für exp. Pathologie und Pharmakologie, 19 S. I I I 1885; ferner Volkmanns Vorträge 478 S. 209, 1908 und in: Erinnerungen, Gedanken und Meinungen, München 1925 S. 83, 125 und i2off.
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Müllers Vermächtnis bestimmte alle Arbeit in der Klinik und in den Laboratorien. Von diesem Kreise rühmt Naunyn (1839—-1925) drei hervorragende Eigenschaften: »Nie rastender Eifer in der Forschung, die kein anderes Ziel kennt, als Mehrung des Wissens, eine heilige Ehrfurcht vor der Wissenschaft und ein gewaltiger Stolz darauf, ihr dienen zu dürfen«. Von dieser Haltung war die Klinik von Frerichs durchdrungen. Bei jeder Frage, bei jedem auftauchenden Problem hieß es, Müller hätte dies gesagt oder so entschieden. In den Vorlesungen wurden aus den Befunden am Kranken und aus den Ergebnissen des Laboratoriums, das in der Klinik neu ausgebaut wurde, die Symptome der Krankheit entwickelt und immer im Blick auf die erkennbaren chemischen und physikalischen Prozesse und die anatomischen Veränderungen der Organe so weit wie möglich »erklärt«, alles in strenger naturwissenschaftlicher Begründung. Wesentlich waren für ihn die pathologisch-anatomischen Veränderungen der Organe, aber in den weit ausgebauten Epikrisen wurden auch allgemeinere Zusammenhänge im Körper berührt. Erkrankungen der Nieren, des Stoffwechsels, wie der Diabetes und nicht zuletzt die der Leber waren seine wichtigsten Gebiete, auf denen er wertvolle Ergebnisse aufdeckte. Sehr bezeichnend für Frerichs ist die Vorrede zu seinem großen Werk der Leberkrankheiten von 18613. Dort heißt es: »Es handelt sich heute nicht um einen vollständigen Neubau, sondern zunächst um die Prüfung und Bewertung der überlieferten Erfahrungen. Die Materialien, welche die wissenschaftliche Medizin vorfand, gleichen in vielen Stücken den Vorarbeiten der Alchimisten für die neuere Chemie. In beiden Fällen hegen Beobachtungen vor, welche unter beschränkten Gesichtspunkten gesammelt wurden, daher einseitig und nicht selten unzuverlässig waren. Wie in der Chemie die Idee des Steines der Weisen, so war es hier die Idee des Heilens, welche die unbefangene natürliche Verknüpfung der Data in den Hintergrund drängte und auf Abwege führte. Die Medizin darf, so wenig wie die Chemie es getan hat, diese Vorarbeiten vernachlässigen, sondern sie muß die vorgefundenen Grundlagen weiter ausbauen und ohne Rücksicht auf die praktische Verwertung prüfen; wie die Physik und Chemie erst dann Früchte trugen, als man sich unbekümmert um die Zwecke und Meinungen des Tages ihnen hingab, so muß die Klinik 3
Frerichs, Klinik der Leberkrankheiten, Braunschweig 1861, S. V l l l f f .
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die Angaben, welche auf den verschiedensten Wegen erzielt wurden, in einen Brennpunkt konzentrieren und soweit wie möglich die Einseitigkeiten der Standpunkte, welche die Arbeitsteilung mit sich brachte, versöhnen und ergänzen«. Durch Analyse fand Frerichs besondere Substanzen im Blut und Harn Kranker, Xanthin, Harnsäure, Isonit, Leucin, Tyrosin und Cystin, die sonst fehlen; diese lassen die »schwere Metamorphose des Stoffwechsels« erkennen. Die veränderte Adhaesion zwischen der Gefäßwand und dem in seiner Mischung alterierten Blut zieht Stauungen und Rhexis der Kapillaren nach sich, die zu den typischen Blutungen bei schweren Erkrankungen der Leber führen. In den klinischen Vorlesungen wurden in der Anamnese als die »Ursachen der Organbefunde«, vor allem Infektionskrankheiten, sehr häufig Malaria und Typhus, auch Fehler der Ernährung und Alkoholismus, einmal auch Ärgernisse erwähnt. Sehr eingehend werden die großen und feineren Veränderungen der Organe beschrieben; Sektionsbefunde spielen in dieser Klinik eine ganz große Rolle. Mit diesen kurzen Angaben möchte ich nur andeuten, wie Frerichs versuchte, die Befunde zu erklären. Es sind in der Tat bedeutende neue Erkenntnisse, aber er selbst war sich dessen wohl bewußt, wie lückenhaft die Bedeutung der Symptome aus den Organbefunden zu verstehen ist. Er war ein viel zu kritischer Naturforscher, um sich vorschnell mit seinen Schlüssen zu begnügen. Er weiß, »daß zwischen dem Inhalt der klinischen Medizin und der Praxis, ihrer eigentlichen Aufgabe, eine große Kluft besteht, über welche nur an wenigen Stellen unsichere Stege führen«. Ich möchte hier in einer kleinen Abschweifung zum Vergleiche nur einen ganz kurzen Blick auf die gleichzeitige französische Medizin werfen. Ihre großen Führer waren der Physiologe Claude Bernard (1813—1876) und der weitblickende Kliniker Charcot (1825—1893). Von beiden führe ich nur zwei kleine und doch so charakteristische Sätze an. Von Claude Bernard stammt der Satz : »L'élément ultime est physique, l'arrangement est vital«, und Charcot lehrte, daß die Erkrankung des einzelnen nur eine Episode in der Geschichte der Familie ist. Leuchten hier nicht Ziele auf, an die auch Frerichs dachte ? Aber zugleich wurden hier die allzu strengen Grenzen einer starren Naturwissenschaft durch den Blick auf die Weite des Lebens überschritten. Man lese nur die schönen Vorlesungen von Trousseau
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(1801—1867), etwa die über die Angina pectoris oder die Schilderung seines schwersten Anfalles von Asthma, der ihn befiel, als er seinen Kutscher bei der Veruntreuung von Hafer entdeckte, sich sehr aufregte und dann bei dem Nachmessen des Hafers heftigem Staub ausgesetzt war. Wie sind in dieser köstlichen Schilderung die mannigfaltigen Gründe der Erkrankung gesehen! Solches findet man in der deutschen Klinik jener Zeit nicht, sie war viel enger an die Methoden der exakten Naturwissenschaft gebunden. In der medizinischen Klinik der Charité folgte auf Frerichs 1876 Ernst von Leyden (1832—1910), der sich in der Straßburger Klinik vor allem durch seine Arbeiten über die Krankheiten der Nieren und des Zentralnervensystems einen sehr guten Namen gemacht hatte. Seine großen Krankengeschichten brachten den Fortschritt dadurch, daß er die Geschichte seiner Kranken über lange Zeiten hin, oft vom Beginn bis zum Ende sorgfältig beobachtete und dabei die wechselnden Befunde verfolgte 4 . Er erkannte, daß »bei den gleichen Krankheitsformen« sehr verschiedene Bilder vorkommen. Die Scharlachnephritis und auch die Schwangerschaftsniere »bieten so große Verschiedenheiten, so daß mehrere Autoren verschiedene »Krankheiten« annehmen wollten, während es sich doch bei vielfachen Verschiedenheiten nach Stadien und Intensität um einen zusammenhängenden Prozeß und seine Ausgänge handelt. Die verschiedenen und wechselnden Veränderungen im Nierengewebe und am Gefäßapparat sind teils primär, teils sekundär zu verstehen. Auch muß damit gerechnet werden, daß etwa einer Schrumpfniere eine latente Nephritis vorausgegangen ist. Leyden war dem Kranken mehr zugewandt als sein Vorgänger. In seinen späteren Jahren in Berlin wirkte seine gute Absicht mehr und mehr maniriert und nicht recht überzeugend. Er erlag wohl den Mühen und Versuchungen des Lebens als gefeierter Arzt in der großen Stadt. Schon der theatralische Einzug des eleganten Meisters in einem großen Kreise von meist schon älteren Assistenten konnte auf die Hörer peinlich wirken; aber es soll darüber nicht vergessen werden, was seine Zuwendung zum Kranken bedeutete. Ich selbst habe 1904 zwei Vorlesungen von Leyden gehört. Beide begannen damit, daß er in betonter Geste den Kranken begrüßte 4
E. Leyden, Zeitschr. f. klin. Medizin 2, S. 133, 1881.
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und bemerkte, daß dies immer der erste Schritt der Untersuchung sein müsse. Wer wollte das wichtige Anliegen verkennen, auch wenn es in späteren Jahren nicht mehr so ganz vorbildlich wirkte. Das Neue und Wesentliche in seiner Klinik war der Blick auf die Kranken und auf ihre Geschichte über viele Jahre hin. Noch neben Leyden wirkte zu Beginn des neuen Jahrhunderts seit 1902 Friedrich Kraus aus Graz (1858—1936) als Leiter der zweiten Medizinischen Klinik. Mit ihm wurde eine ganz neue Stufe naturwissenschaftlicher Medizin erschlossen. Schon seine erste größere Arbeit in Graz ließ die Tiefe und Spannweite der Pläne dieses temperamentvollen und geistreichen jugendlichen Klinikers erkennen. Ihr Titel war: »Die Ermüdung als Maß der Konstitution«5. Was ist Ermüdung, was ist Konstitution in einer streng naturwissenschaftlichen Medizin ? Man kann wohl einige besondere physiologische Phänomene in der Ermüdung aufzeigen, aber es ist nicht möglich daraus abzuleiten, was Ermüdung wirklich ist. Auch im Begriff der Konstitution sind wohl verschiedene Betrachtungen und Ergebnisse zusammenzufassen, aber was das für das Verständnis von Gesundheit und Krankheit bedeutet, reicht weit über diese hinaus. Konstitution, das sah Kraus, ist mehr als die Summe aller Einzelheiten, Konstitution ist wie auch Ermüdung, so würden wir heute sagen, eine besondere Verhaltensweise und Leistung des Menschen in seiner Umwelt. In seinen klinischen Vorlesungen war Kraus ungeheuer lebendig und eindrucksvoll. Es ist mir unvergeßlich, wie er sprühend und mit blitzenden Augen den »Typ Boticcelli« bei zarten Mädchen schilderte, die leicht versagen und zu schleichenden Tuberkulosen neigen. Seine wissenschaftlichen Arbeiten in Berlin gingen von biologischen Gedanken und Versuchen aus. Er untersuchte die Erscheinungen an den Grenzflächen der Zellen und suchte aus chemischen und physikalisch-chemischen Phänomenen die Verbindungen zu den Funktionen abzuleiten. Aber auch bei diesen zunächst rein theoretischen Arbeiten behielt er stets sein großes Ziel im Auge, er zielte auf die weiten Zusammenhänge im Leben des Organismus und faßte in der großartigen Konzeption des »vegetativen Systems« alle Regulationen zusammen, die im Spiel der verschiedenen Leistungen zu erkennen sind6. Das vegeta5 Fr. Kraus, Bibl. Medica D I H 2 Kassel 1897; zu Kraus vgl. Christian, Das Personverständnis im modernen mediz. Denken, Tübingen 1952, S. 3off. 8 Vgl. Siebeck, Dtsche med. Wochenschrift 1944 S. 543.
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tive System ist nicht statisch, sondern funktionell und dynamisch, es ist dauernd in Bewegung, in steten Wandel mit manchen Brüchen und in immer neuem Aufbau; es besteht nicht aus Teilen, so wichtig es für uns ist, diese isoliert zu betrachten und so weit wie möglich zu erklären, es ist distributiv im Organismus angelegt, in den zentralen Schaltungen und in allen peripheren Organen. Der Vollzug ist immer chemischhormonal und physikalisch, zentral und peripher zugleich, er ist »vital«. Das vegetative System ist nicht eine Summe, sondern eine Integration. Das Ziel seiner experimentellen und klinischen Arbeiten entwickelte er in seinem großen Werk über »Die allgemeine und spezielle Pathologie der Person«, das er »Syzygiologie«, etwa Zusammenhangslehre nannte 7 . Es enthält eine Fülle wichtiger Gedanken und Beobachtungen, ist aber schwer zu lesen und auszuschöpfen. Er wußte, was »Zusammenhangslehre« bedeutet und schreibt: »Die Natur beginnt nicht mit den Elementen, mit denen wir selbst in Biologie und Pathologie anzufangen gezwungen sind«. Er konnte auch nicht übersehen, daß im Leben das Psychische immer mit einbegriffen ist, er kennt die physisch-psychische Ungeschiedenheit und fährt fort: »Sieht der Mensch Wesen und Sinn seiner Existenz darin, daß er Individuum ist, verliert das ganze Gezänk zwischen Körperlichem und Seelischem seinen Schauplatz des Kampfes. Denn die unteilbare Lenkung im Individuum ist die gemeinsame Grundlage der noch so sehr auseinanderstrebenden Teile. Wenn Sinnliches und Geistiges ungeachtet aller abstrakten Disparatheit in einem Individuum lebendig geworden ist, haben sie in der Tatsache dieser individuellen Bestimmtheit aller Lenkungen ihr unzertrennlich Gemeinsames.« Trotz dieser weit ausgreifenden Sicht bleibt sein wissenschaftlicheslnteresse doch im Biologischen haften, es ist Biologismus in ganz großem Stil. Die wissenschaftliche und theoretische Arbeit lag ihm offenbar mehr am Herzen als das ärztliche Verstehen und die ärztliche Aufgabe. Das wurde anders, als Gustav von Bergmann (1878—1955), der ärztliches Verstehen und klinisches Forschen in sich verband, 1927 die Klinik übernahm8. Er ging aus von sehr sorgfältigen und eingehenden Untersuchungen über die pathologischen Funktionen an Kranken und über ihre Zusammenhänge im Verlaufe des Leidens. 7 Kraus, Die allgemeine und spezielle Pathologie der Person, Allg. Teil Leipzig 1910; Bes. Teil, »die Tiefenperson Leipzig 1926. « 8
G. v. Bergmann, Funktionelle Pathologie 2. A. Berlin 1936.
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Durch sehr genaue und oft wiederholte Beobachtungen des Spieles untersuchten er und seine Schüler die mannigfaltigen Gründe des Ablaufes in allen Übergängen vom normalen Bereich zum pathologischen, die als »funktionelle Störungen« an die verschiedensten Einflüsse von außen und von innen, im somatischen wie auch im psychischen Bereiche gebunden sind. Es gibt alle Übergänge von einer erregten Funktion zu entzündlichen Prozessen, wie schonRoessle gezeigt hatte. Aus der veränderten Funktion kann sich aber organische Erkrankung entwickeln. Damit wurde eine neue Sicht auf das gewonnen, was man »Organneurosen« zu nennen pflegte. Organisch, funktionell und neurotisch schließen sich keineswegs aus, sie sind ineinander verflochten, eines folgt aus dem anderen, so daß hier nicht ein Entweder/Oder gilt, sondern jedes Moment je in seiner besonderen Bedeutung erfaßt werden muß 9 . Besonders am Magen konnte das sehr überzeugend entwickelt werden. Beim »nervösen« Magen, beim »Reizmagen« ist die Motilität wie die Sekretion des Magensaftes und die Durchblutung der Schleimhaut sehr empfindlich, labil, und unter den verschiedensten Umständen übermäßig erregbar, so daß Übersäuerung und Krampf folgt; die gröbere Muskulatur des Magens wie die feinere in der Schleimhaut neigen zu spastischen oder tonischen Reaktionen und die ungeregelte Durchblutung der Schleimhaut führt zu Ernährungsstörung und Geschwür. Diese Erkenntnis ist für die so häufigen »nervösen« Beschwerden am Magen von größter Bedeutung. Das Entsprechende konnte an der Funktion des Kolons und der Gallengänge beobachtet werden, und auch für das Spiel der Arteriolen, für die Einstellung des Blutdruckes sind solche Zusammenhänge entscheidend. Von Bergmann hat seine und seiner Schule Arbeiten zusammengefaßt in seinem Buche »Funktionelle Pathologie«, das er eine klinische Sammlung von Ergebnissen und Anschauungen einer Arbeitsrichtung nannte; es enthält viel mehr Bedeutsames, als ich hier anführen konnte. Von Bergmann kannte auch die moderne Psychotherapie; in Freud sah er den bedeutenden Forscher, lehnte aber seine im Grunde mechanistischen Theorien und seine gewaltsamen Deutungen und Methoden ab. 9
Siebeck, Dtsche med. Wochenschrift 1938 Nr. 49 u. 50.
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Denken wir an die »naturwissenschaftliche Medizin« eines Frerichs oder Leydens zurück, so ist die neue Wendung deutlich. Als ich selbst 1931 neben von Bergmann die andere Medizinische Klinik der Charité übernahm, kam ich aus der Schule von Ludolf Krehl (1861—1937), der durch sein berühmtes Buch über die »Pathologische Physiologie« und seine ausgezeichnete ärztliche Persönlichkeit in weiten Kreisen größte Verehrung genoß. Er war Schüler des klassischen Physiologen Carl Ludwig (1816—1895) und als solcher hatte er seine Arbeit zunächst wesentlich nach Organen ausgerichtet ; besonders auf den Gebieten des Herzens und des Kreislaufs hatte er sich große Verdienste erworben. Aber schon als er sich der Pathologie des Fiebers und des Stoffwechsels, besonders des Diabetes zuwandte, ging er viel weiter. 1919 erschien die neunte »völlig umgearbeitete Auflage« seines Buches, in der die Zusammenhänge im Organismus und im Leben des Menschen ganz neue Beachtung fanden 10 . Aus meinen Werden und meinen Lernen heraus war mein Anliegen, die Krankengeschichte in ihrer Geschichtlichkeit zu verstehen. Das bedeutet aber etwas ganz anderes und viel mehr, als selbst die Krankengeschichten eines Leydens, auch wenn sie viele Jahre umfaßten. Krankheit hat so viele Wurzeln wie das Leben selbst, innere und äußere, im leiblichen und seelischen, im individuellen und sozialen Bereiche. Nur aus einer im vollen Sinne verstandenen Lebensgeschichte kann man den Kranken recht verstehen und recht behandeln 11 . Auch in der Naturwissenschaft gibt es »Geschichte«, Entwicklungsgeschichte. Auch in ihr lassen sich sehr wesentliche »Ursachen« und Gründe aufdecken, aber aus allen erkennbaren Gründen läßt sich das wirkliche Werden, das Werdende, nicht ableiten ; zu vielgestaltig und unübersehbar sind die Gründe, und es gibt Sprünge in der Entwicklungsgeschichte, die aus dem vorhergehenden nicht zu erklären sind Es entsteht Neues, Unbestimmbares, und wie viel mehr gilt dies für das Leben der Menschen. Hier stoßen wir an die Grenzen naturgesetzlichen Denkens. So wichtig die Zusammenhänge von Ursache und Wirkung sind, im Leben ist 1 0 L. Krehl, Pathologische Physiologie, 9. A. Leipzig 1918; ferner sein »opustri-parditum«: 1. Die Entstehung innerer Krankheiten: Pathologische Physiologie 13. A. Leipzig 1930 — 2. Die Erkennung innerer Krankheiten, Berlin 1931 — 3. Die Behandlung innerer Krankheiten, Berlin 1933. 11
Siebeck, Medizin in Bewegung, 2. A. Stuttgart 1953.
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nicht alles daraus zu »erklären«; das Leben ist schöpferisch, entwickelt Neues, Unergründliches. In der Unübersehbarkeit der Gründe wird der Blick frei für das, was aus den strengen Naturgesetzen nicht erfaßbar ist, für die Geschichte. Das ist die Entwicklung der naturwissenschaftlichen Medizin: je tiefer sie dringt und je weiter sie blickt, desto deutlicher werden die Grenzen, die ihr gesetzt sind. Nichts von der strengen Naturwissenschaft darf verlorengehen oder übersehen werden, aber der Arzt, der sich um den kranken Menschen bemüht, braucht mehr und anderes als das, was in den naturgesetzlichen Zusammenhängen erklärbar ist, er braucht den Blick auf die Geschichtlichkeit des Lebens und er braucht echte Teilnahme und Hingabe. Die Geschichte der strengen naturwissenschaftlichen Medizin, so bedeutsam sie ist und immer bleiben wird, so unverlierbar ihre Ergebnisse sind, die Geschichte — und das gilt wohl nicht nur für die jener Richtung — führt zur Erkenntnis ihrer Grenzen und macht den Blick frei für ganz andere Bereiche im Leben der Menschen. Das sollte in dieser nur kurzen Skizze deutlich sichtbar werden.
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D I E ENTWICKLUNG D E R ZAHN-, MUND- UND K I E F E R H E I L K U N D E IN DEUTSCHLAND UNTER DEM EINFLUSS D E R B E R L I N E R UNIVERSITÄT Im Rahmen der vorliegenden Gedenkschrift einen Beitrag zu geben, der sich mit der Entwicklung der deutschen Zahn-, Mundund Kieferheilkunde befaßt, erscheint vermessen. Er erfüllt jedoch zunächst den Wunsch und entspricht der ehrenden Aufforderung Seiner Magnifizenz des Herrn Rektors. Darüber hinaus ist das darzustellende medizinische Spezialgebiet in seiner Entwicklung aus handwerklicher Empirie zu einem akademischen Lehr- und Sonderfach in erheblichem Maße in Berlin und durch die Berliner Universität erfolgt, daß es geradezu einer verpflichtenden Dankesschuld entspricht, anläßlich des 150-jährigen Jubiläums der alma materberolinensis auch deren Einwirkungen auf das Fach der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde vorzutragen, um so mehr als es in den drei umfangreichen Foliobänden der »Geschichte der königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin«, die zum 100-jährigen Jubiläum Max Lenz herausgegeben hat, kaum einer Erwähnung würdig befunden wurde. Als die Thesen der französischen Revolution auch den Nationalitätsgedanken herausstellten und nachfolgend durch Napoleons Unterjochungszüge der Begriff vaterländischen Fühlens und Denkens auch jenseits französischer Grenzen populär wurde, erwachte auch Preußen zum Patriotismus. Während jedoch Frankreichs Revolutionäre dabei den Dienst an der Wissenschaft mißachteten und selbst Lavoisier, der Entdecker des Sauerstoffs und der Gasgesetze, aus nichtigen Gründen und mit dem Hinweis hingerichtet wurde, daß »die Republik weder Gelehrte noch Chemiker brauche«, versucht man im monarchischen Preußen mittels einer »höheren Lehr- und Bildungsanstalt« aus der Misere des verlorenen Krieges »das Volk an die Wissenschaft heranzuführen«. Im Zeichen politischer und wirtschaftlicher Not wird die Universitätsgründung zum Ausdruck eines zeitverbundenen Nationalgefühls. Am 10. Oktober 1810 eröffnet die neue Hochschule
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Die Entwicklung der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde
in Berlin mit den vier klassischen Fakultäten ihre Pforten. Dabei erhält das gesamte Fach der Medizin, in der auch Chemie, Zoologie, Physik und Botanik von Ärzten wahrgenommen wurden, sieben ordentliche Lehrstühle. Die klinischen Fächer sind lediglich durch die »allgemeine Medizin« und die Chirurgie vertreten. Die Errichtung von Lehrkanzeln für Geburtshilfe, Gynäkologie und Psychiatrie sind zunächst nur geplant. Eine vielfache Zergliederung in Spezialfächer war nicht üblich; Psychiatrie, Pädiatrie und Dermatologie werden vom Internisten wahrgenommen, Geburtshilfe, Ophthalmologie, OtoLaryngologie, Zahn- und Kieferkrankheiten fielen dem Aufgabenbereich des Chirurgen zu. Eine solche Vereinfachung war keineswegs durch die wirtschaftlichen Verhältnisse des geschlagenen Vaterlandes, als vielmehr durch die allgemeinen ärztlichen Erkenntnisse und die Gepflogenheiten der Zeit bedingt. Als Nachfolge der Tätigkeit von Badern und Wundärzten gehörte die »Odontotechnik« zum Arbeitsfeld der Chirurgie. Bei den Chirurgen erhielten die Zahnärzte auch ihre Universitätsausbildung, soweit das Ausreißen von Zähnen und Eröffnen von Abszessen als eine solche gewertet werden konnte. Die übrigen Kenntnisse und eine spezielle handwerkliche Schulung wurden bei privaten Lehrmeistern erworben. Einer von ihnen ist in Berlin Friedrich
Wilhelm
Hesse', zunächst
praktischer Arzt, wendet er sich durch seinen Schwiegervater, den Hofzahnarzt
Lautenschläger
angeregt,
vornehmlich
zahnärztlicher
Tätigkeit zu, unterweist in seiner Praxis Schüler und prüft seit 1812 die Kandidaten als Beauftragter seiner königlichen Regierung. A l s dann 1825 Preußen ein »Reglement für die Staatsprüfungen der Medizinalpersonen« erstellt und mit ihm die Zahnärzte nach den Ärzten, Wundärzten, Apothekern und Geburtshelfern »als fünfte Klasse« eingereiht werden, wird neben der Tertiareife eines Gymnasiums verlangt, daß der Kandidat »womöglich über Zahnarzneikunde insbesondere« Vorlesungen gehört haben solle. Jedoch einen solchen Unterricht gab es zu jener Zeit noch nicht. Erst als der Generalstabsarzt der Armee Johann Nepomuk
Rust das Ordinariat für Chirurgie
erhält und Ressortbearbeiter im Kultusministerium wird, empfiehlt er seinem Minister Altenstein,
ein Extraordinariat für Zahnheilkunde
zu errichten. Allein die Fakultät, u m einen gutachtlichen Bericht befragt, lehnt ab (1829), da dieses F a c h ausreichend »von jungen Dozenten gelehrt werden könnte«. So kann es gar nicht überraschen, daß ZI»
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der Berufsstand bei seiner mangelhaften Vor- und Ausbildung nur wenig achtbar war. Allmählich aber entwickelt sich die triumphale Epoche der Berliner Medizinischen Fakultät: Zur Zeit der Universitätsgründung stand die Naturphilosophie noch weit im Vordergrund und hemmte mit ihren phantasievollen Spekulationen erheblich die aufkommende Wende. Noch Hegel machte aus seiner Meinung für Mesmerismus und »magnetische Erscheinungen« kein Hehl. Der jüngere Hufeland (Bruder des bei der Universitätsgründung tätigen königlichen Leibarztes) verfaßt Schriften über Sympathie und Magnetismus. Erst Mitte des Jahrhunderts wird die metaphysische Gedankenwelt abgetan durch die exakte Naturwissenschaft mit ihrer Hinwendung zu gesicherten Tatsachen objektiver Forschertätigkeit. Spekulative Deduktionen werden aufgegeben zugunsten induktiv-naturwissenschaftlicher Beobachtungen und Erkenntnisse; aus der naturphilosophisch ausgerichteten Heilkunst wird somit eine naturwissenschaftliche Medizin. Chemie, Physik, Physiologie und Pathologie haben ihren Siegeszug begonnen, werden mit der Medizin gekoppelt und die Krankheitsforschung wird fortan naturwissenschaftlichen Methoden unterworfen. Indem man die Morphologie nur noch der descriptiven Anatomie überließ, beginnt mit Johannes Müller1 die Physiologie eine funktionelle Wissenschaft zu werden. Er und seine Schüler revoltieren die Medizin und begründen den Ruf ihrer Fakultät : Schwann zeigt, daß Tier und Pflanze in Bau und Wachstum übereinstimmen (1839). Virchows Zellularpathologie (1858) wird zur Voraussetzung der gesamten pathologischen Anatomie. Du Bois-Reymond fordert das Studium der Naturwissenschaften als Fundament des Arztes. Die Umwälzung alter medizinischer Grundlagenfächer entwickelt neue Forschungsrichtungen, deren Detailfragen und Ergebnisse auch eine Spezialisierung der klinischen Fächer bewirken : 1830 wird an der Charité eine Abteilung für Kinderkrankheiten eingerichtet. 1834 wird Edmund Dann der erste Dozent für Ohrenheilkunde an der Universität. Innere Medizin, Psychiatrie, Dermatologie werden selbständige Spezialitäten. 1850 erfindet der Müller-Schüler Helmholtz den Augenspiegel. Albrecht von Graefe stellt mit ihm die Augenheilkunde auf eine wissenschaftliche 1 Nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Historiker Johannes Müller, den der geheime Kabinettsrat Beyme für Preußens Universitätsgründung gewonnen hatte.
Die E n t w i c k l u n g der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde
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Basis; er zeigt, daß es spezifische Erkrankungen des Auges gibt, daß viele dieser speziellen Leiden der Ausdruck einer allgemeinen Störung sind oder umgekehrt lokale Veränderungen auf den Gesamtorganismus zurückwirken. Mit dieser Erkenntnis ist die Ophthalmologie als Sonderfach geboren und sie wird richtungweisend auch für die Zahnheilkunde. Johannes Müller, Du Bois-Reymond, Dieffenbach, von Graefe, Helmholtz, Henle, Hufeland, Langenbeck, Schwann, Schönlein, Traube, Virchow, alle diese Männer lebten und lehrten in Berlin zu jener Zeit. Durch sie wird die preußische Provinzstadt zum medizinischen Mittelpunkt Europas. Und hier, im Zentrum der deutschen medizinischen Welt bilden sich auch die ersten Fachvereinigungen, die »Gesellschaft für Geburtshilfe in Berlin« (1844), die »Berliner Medizinische Gesellschaft« (1844), die »Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie« (1854) und 1847 der »Verein der Zahnärzte in Berlin«. Diese erste europäische zahnärztliche Vereinigung wird insbesondere zum Träger der beruflichen Fortbildung und der Anreiz zu einer solchen war um so stärker, als die eigentliche Ausbildung noch immer mangelhaft war. Zwar hatte die Regierung eine zahnärztliche Approbation eingeführt, ohne jedoch folgerichtig auch einen geordneten Unterricht zu schaffen. Und wiederum war es im medizinischen Berlin, daß man bestimmend vorwärtsdrängte. Seit 1846 gibt Carl Wilhelm Schmedicke den »Zahnarzt« als erste deutsche Fachzeitschrift heraus. 1848 senden die Berliner Zahnärzte eine Petition an das »Ministerium der Geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten« mit den Forderungen nach einem geregelten Unterricht. Sie wird abschlägig beschieden. Darauf kündigt im Sommer-Semester 1850 Schmedicke als erster deutscher Zahnarzt in Preußen »privatissime« Vorlesungen und Kurse an. Auf Anraten und durch Förderung von A. von Graefe eröffnet in dessen Augenklinik in der Berliner Charité der Arzt Heinrich Eduard Wilhelm Albrecht 1855 das erste deutsche »Klinicum für Mund- und Zahnkrankheiten« und wird mit seinem schnell bewährten Unternehmen beispielgebend auch jenseits deutscher Grenzen: Die Medizinische Fakultät in Zürich beruft den Graefe-Schüler Horner auf den Lehrstuhl für Ophthalmologie. Es folgt ihm 1860 aus Berlin Billroth auf die dortige Lehrkanzel für Chirurgie. Dieser hatte während seiner Berliner Assistententätigkeit bei Langenbeck in der
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Graefeschen Klinik operiert und wurde dort auf das erfolgreiche Wirken der Albrechtschen Zahnklinik aufmerksam. So wird nach dem Berliner Vorbild in Zürich die Errichtung der ersten Schweizerischen Poliklinik für Zahnkranke betrieben. Virchow hatte die makroskopische Pathologie durch die mikroskopische Forschung vertieft. Die neuen wissenschaftlichen Methoden werden auch von Albrecht übernommen; es erscheinen seine »Krankheiten der Zahnpulpa« (1858) und (1860) die »Krankheiten der Wurzelhaut«. Mit diesen Arbeiten tritt die Berliner Zahnheilkunde in den Kreis der Wissenschaften. Albrecht will sein Fach zu einem Teilgebiet der Medizin erheben; er habilitiert sich 1858 in seiner Vaterstadt für Zahnheilkunde und wird dort 1867 zum Extraordinarius ernannt. Mit dieser ersten Professur wird seine private Klinik den »Berliner Universitäts-Auditorien« eingegliedert und erlangt staatliche Anerkennung. Als Albrecht stirbt, erlaubt die Fakultät seinem ehemaligen Mitarbeiter Sauer — mit Brief vom 2. August 1883 vom Dekan Bardeleben — am schwarzen Brett der Universität Vorlesungen und Übungen anzuzeigen und Berliner Zahnärzte unterstützen mit Modellen, Zeichnungen und auch geldlich die Ausstattung seines Unterrichts. Als 1859 die deutschen zahnärztlichen Vereinigungen zu einem Zentralverein zusammenschließen wollen, bestimmen sie Berlin als das politische, geistige und medizinische Zentrum Norddeutschlands zum Tagungsort. Bereits in ihrem Gründungsaufruf wurde darauf hingewiesen, daß »die Ausübung der Zahnheilkunde das Studium einer besonderen Fachwissenschaft erfordert, die der Pflege und Ausbildung bedarf«. So kämpft man nachhaltig für eine Verbesserung der Grundausbildung und der erste Erfolg stellt sich am 25. September 1869 ein. als mit der Verkündung der Gewerbeordnung gleichzeitig auch eine Prüfungsordnung für Zahnärzte festgelegt wird, die zwar ein verbessertes Ausbildungswesen regelt, aber auch die Kurierfreiheit einführt und damit die Betriebsamkeit der Laienbehandler zuläßt. Für den Zentralverein ist die Zahnheilkunde ein gleichberechtigter Zweig der gesamten Medizin. So fordert er bei der Regierung die Errichtung staatlicher Lehrstühle und Unterrichtsanstalten. Immer wieder werden Gesuche eingereicht und mit den Amtsstellen Verhandlungen geführt. Von Seiten der Ärzte finden diese Bestrebungen keine Unterstützung, aber der Regierungskommissar im Kultusministerium Geheimer Rat Dr. Althoff weist in der preußischen Landtagsdebatte
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auf die »hohe Bedeutung der Zahnheilkunde« hin und unterstützt den Antrag des Abgeordnetenhauses zur Errichtung »eines Institutes für Zahnheilkunde, welches der Stadt und Universität würdig ist«. Und als der Zentralverein im Oktober 1884 sein 25-jähriges Bestehen feiert, verbucht er mit Stolz die Eröffnung der ersten staatlichen Universitätszahnklinik in Berlin. Durch diese Anstalt erhält die Zahnheilkunde feste Verbindung mit der Universität, sie gehört fortan zu ihren Lehrfächern, ist ein Universitätsstudium und die Zahnärzteschaft ein vollakademischer Stand. Das neue »zahnärztliche Institut der königlichen Universität zu Berlin«, nur mit sehr bescheidenen Mitteln ausgestattet, erhält die ausgedienten Räume der ehemaligen Hochschule für Musik in der Dorotheenstraße 40, nahe der Universität zugewiesen. Es ist von vornherein eine Dreiteilung im Unterricht und in der Lehrstellenbesetzung vorgesehen und man hat Glück mit der Auswahl der Dozenten. Natürlich wird die Leitung einem Chirurgen aus dem Lehrkörper der Medizinischen Fakultät, Professor Dr. Friedrich Busch übertragen und er erhält bedeutsame Abteilungsleiter in Sauer und Miller. Busch, ehemaliger Oberarzt bei Langenbeck, ein Mann voll Energie, entfaltet reiche Unterrichts- und Forschertätigkeit. Dem Zuge der Virchow-Zeit folgend, veröffentlicht er zahnärztliche Beiträge zur vergleichenden Anatomie, Paläontologie und Antropologie. Er beschreibt auch eine besondere Art hyperplastischer Zahnkronen, deren Ätiologie geklärt wird. Über diese Kümmerformen wird dann 27 Jahre später noch einmal von einem Engländer berichtet und sie werden diesem zu Ehren als »Turner-Zähne« in das deutsche Schrifttum übernommen. Carl Sauer, Assistent des verstorbenen Albrecht, übernimmt die prothetische Abteilung und wird durch seine Schienen und Verbände der Kieferbrüche internationalen Ruf gewinnen. Vor allem aber gab W. D. Miller diesem ersten staatlichen Universitätsinstitut durch seine ungewöhnlich vielseitige wissenschaftliche Tätigkeit Ansehen und Weltgeltung. Ausgestattet mit guter naturwissenschaftlicher Ausbildung, abgeschlossenem medizinischem Studium und geschult bei Robert Koch, bearbeitet er grundlegend die »Bakteriologie der Mundhöhle« (1889), klärt durch sorgfältige Untersuchungen Verlauf und Ursachen der Zahnkaries und schreibt das erste deutsche »Lehrbuch der konservierenden Zahnheilkunde«. Durch
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Verbesserung der therapeutischen Methoden und der studentischen Ausbildung wird durch ihn die Erhaltung der Zähne zum wichtigsten Prinzip des Faches erhoben. Das Wesen der Zahnheilkunde wird nicht mehr in der chirurgischen Verstümmelung des Gebisses mit dem systematischen Herausreißen defekter Zahnkronen und in der kosmetischen Ausfüllung entstandener Gebißlücken gesehen, sondern in der Erhaltung eines funktionstüchtigen Kauorgans und im Kurieren zahnkranker Menschen durch die Verwertung spezieller und allgemeinmedizinischer wissenschaftlicher Erkenntnisse. Indem die Problemstellung vom Zahnreißen zur Zahnerhaltung grundlegend abgewandelt wird, folgt der Gründung des Instituts die Entwicklung einer wahren Heilkunde, der ZahnÄa/kunde zu einem selbständigen medizinischen Spezialfach. Aber immer noch gehört es zur philosophischen Fakultät! Erst am 19. November 1909 beschließen die medizinischen Ordinarien unter dem Dekanat des Gynäkologen Bumm, die Zahnärzte als vollund gleichberechtigt in ihren Kreis aufzunehmen. Inzwischen folgen auch andere Universitäten dem Berliner Beispiel und errichten selbständige Institute, die sie, gleich ihrem Vorbild, in alten, zufällig leergewordenen Gebäuden unterbringen. Der großzügige und folgerichtige Schritt zur dreifachen Besetzung und Teilung des Faches in Chirurgie, Prothetik und Zahnerhaltung kann aber nur von wenigen, großen Fakultäten übernommen werden. Mit den errungenen Fortschritten wachsen auch die Aufgaben des Unterrichts. Unter Büschs und Millers Wirkung setzen wiederum Bemühungen ein, das Studium neuzeitlich zu ordnen, bis schließlich 1909 eine neue Studien- und Prüfungs-Ordnung zur Immatrikulation das Abitur voraussetzt und ein siebensemestriges Studium für die Staatsprüfung erforderlich ist. Noch 1859 g a b es in ganz Preußen nur 103 Zahnärzte. 10 Jahre nach der Reichsgründung war die Zahl für ganz Deutschland auf 451 gestiegen. Im ersten Semester des neuen Instituts waren bereits 63 Studierende für das Fach der Zahnheilkunde inscribiert. Im WinterSemester 1890/91 sind es 249, obwohl die Frauen noch immer vom Studium ausgeschlossen bleiben. So war das Berliner Institut die wesentliche Stätte für die Ausbildung deutscher Zahnärzte; es bestimmte für Jahre das Niveau des ganzen Berufsstandes und wird von Ausländern aus allen Teilen der Welt besucht. Noch 1909 zählen zwei Drittel aller deutschen Zahnärzte zu seinen Schülern!
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Das zugewiesene Haus wird schnell zu klein, überdies ist es auch baufällig. Die Tragewände sind nicht für 40 schwere Operationsstühle vorgesehen, wegen der Einsturzgefahr muß den Studenten das Beifalltrampeln polizeilich untersagt werden. Der Warteraum, ein Durchgang zum Hörsaal, 3 x 4 Meter groß, ohne Fenster und nur von einem Gasglühlicht erhellt, genügt schon lange nicht der wachsenden Patientenzahl. So ist die Errichtung eines speziellen Gebäudes notwendig und abermals ist die Berliner Universität wegbereitend. 1901 hatte Miller erstmalig in einem Bericht an den Minister die Mängel des alten Instituts dargelegt. 1905 ergibt eine Landtagsdebatte die Notwendigkeit zum Neubau. Aber erst als der preußische Geheime Medizinalrat Professor Miller, »veranlaßt durch die mangelhaften, unzeitgemäßen Zustände am Institut« einen Ruf nach Nordamerika annimmt, erkennt man den Ernst der Lage und es wird 1912 das erste zweckgebundene Haus als »das größte und schönste zahnärztliche Institut Europas« (Williger), »ein Wahrzeichen für die Entwicklung der Zahnheilkunde in Deutschland« (Dieck) in der Invalidenstraße, am Rande des Charitegeländes, eröffnet. So ist die deutsche Zahnheilkunde der Universität Berlins weit mehr als jeder anderen verbunden und verpflichtet. Zwar in dem ersten Drittel der abgelaufenen hundertfünfzig Jahre von ihren Professoren und Dozenten als »niederes Handwerk« kaum beachtet, steht sie zum 100-j ährigen Jubiläum bereits als akademischer Lehr- und Wissenszweig fest im Verband der Universität, um in den letzt verflossenen 5 Jahrzehnten als anerkanntes Sonderfach der Medizinischen Fakultät voll respektiert zu werden. Der schnelle Aufstieg vor dem Hintergrund der alma mater war begünstigt durch den bevorzugten Sitz der königlichen Universität in der schnell wachsenden Metropole des aufstrebenden mitteleuropäischen Staatenbundes, er war begründet auch in der außergewöhnlichen medizinischen Situation Berlins, aus der auch die Zahnheilkunde entscheidenden Gewinn zog. Den unentwegten Forderungen und der Tatkraft von Berliner Zahnärzten konnte ein aufgeschlossenes Ministerium schließlich nicht dauernd widerstreben. Dem Vorbild folgten — zuweilen bald, zuweilen erst nach Jahren —• weitere preußische und andere deutsche Landesuniversitäten. Keine dieser Hochschulen besaß ein Monopol auf die studentische Ausbildung und wissenschaftliche Forschung, aber immer wieder ging Berlin voran, immer war man dort um die Fortentwick-
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lung des Studiums besonders bemüht und erfolgreich bestrebt, sich an der Ermittlung wissenschaftlicher Erkenntnis zu beteiligen, um der Universität und seinem Fache Ansehen und Würde zu erwerben. Einstmals entstanden als der Ausdruck hoher vaterländischer Ideen, in Zeiten fremdländischer Überwachung, hat diese Universität, wie es das Beispiel Zahnheilkunde zeigt, im Laufe ihrer Geschichte vielfache Wirkungen hervorgerufen. So mag sie der Jugend als ein Symbol die Zukunft weisen, aus eigener Kraft und unbeirrt von wesensfremdem Einfluß stets ein verpflichtend Erbe zu bewahren.
VETERINÄRMEDIZIN
WALTER BOLZ
D I E VETERINÄRCHIRURGIE IN BERLIN BIS ZUM J A H R E 1945 Die Würdigung der Entwicklungsstadien der Veterinärchirurgie an der Berliner Universität muß verbunden sein mit einem Rückblick auf die Geschichte der Tierheilkunde seit der Gründung einer Lehrstätte im Jahre 1790. Diese führte neben der 1810 gegründeten Friedrich-Wilhelms-Universität 144 Jahre lang aus besonderen Gründen, die schon von Schmaltz 1940 gewürdigt wurden, ein erfolgreiches und wissenschaftlich ergiebiges Eigenleben. Bereits bei der Gründung der Berliner Universität hatte Wilhelm von Humboldt eine Vereinigung angestrebt, die erst im Jahre 1934 vollzogen wurde. Daß der Chirurgie im Rahmen der Tierheilkunde von Anfang an eine besondere Bedeutung zuerkannt wurde, geht aus der in der Human- und Veterinärmedizin gleichgerichteten geschichtlichen Entwicklung hervor. Die Operation mußte entsprechend dem Stand der allgemeinen medizinischen Erkenntnisse um 1800 herum schon wegen ihres sichtbaren Erfolges in den Vordergrund treten. Die Erarbeitung und der Ausbau der Allgemeinnarkose und Lokalanästhesie im vorigen Jahrhundert, die Verbesserung und Verfeinerung des Instrumentariums und nicht zuletzt die fortschreitenden wissenschaftlichen Erkenntnisse der Anatomie, Physiologie, Pathologie, Pharmakologie und der inneren Medizin stellten von Jahr zu Jahr größere Anforderungen an die allgemeinmedizinische Ausbildung des Veterinärchirurgen. Dies hat dazu geführt, daß die Kenntnisse der operativen Technik heutzutage nicht mehr allein in der Ausbildung an erster Stelle stehen können. Ebenso wichtig ist die weit in die Nachbardisziplinen hineingreifende Kenntnis der Dinge, die wir allein daraus ersehen können, daß die wissenschaftliche Beherrschung der neuesten Forschungsergebnisse auf dem Gebiet des Stoffwechselgeschehens und der vegetativen Funktionen heute eine unabdingbare Notwendigkeit ist für die Durchführung der immer diffiziler werdenden Operation und ihrer Technik. So entwickelte sich auch aus der anfangs groben »traumatischen«
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Chirurgie eine sorgfältig ausgeklügelte, wissenschaftlich-operative Chirurgie, deren Perfektion, gemessen an den Erkenntnissen ihrer Zeit, einen hohen Stand in einer für die Praxis anwendbaren und wirtschaftlichen Form erreichte. Jede Bildungsstätte verdankt ihre Entstehung einem Bedarf, der selten ideeller, meist wirtschaftlicher und ökonomischer Natur ist, soweit er Tiere betrifft. Einmal war es die Seuchenbekämpfung, zum anderen aber die Chirurgie und zwar besonders die Hufchirurgie und der Hufbeschlag, mit denen die Gründung der Berliner Tierarzneischule seinerzeit motiviert wurde. Solange Motoren noch unbekannt, als Motorfahrzeuge in der Entwicklung begriffen oder noch nicht allgemein verwendbar waren, stand das Pferd als Träger und Transporteur von Lasten im Vordergrund. Der Bedarf der Armee, des Marstalls, der städtischen und privaten Fuhrunternehmen, der Pferdebahn als Vorgänger der Straßenbahn, der Reichspost, der Tattersalls, auch des Trab- und Rennsports mit seinen fünf in der Umgebung Berlins liegenden Trainingszentralen, führten zu einer starken Vermehrung des Pferdebestandes in der preußischen Metropole und späteren Hauptstadt des Reiches. Deshalb war auch die Veterinärchirurgie hauptsächlich auf das Pferd abgestellt. Das in Bezug auf Rasse und Gebrauchszweck vielfältige Material vom Vollblüter bis zum schweren Lastpferd bot gute Ausbildungsmöglichkeiten für den angehenden Chirurgen und zugleich die Möglichkeit zur Dauerbeobachtung des therapeutischen Erfolges bei den Leistungsprüfungen auf Rennbahn und Turnier. Dies brachte es mit sich, daß die Veterinärchirurgie entwicklungsbedingt an die Großtierchirurgie lehrstuhlmäßig gebunden wurde. Der Veterinärchirurg war in Berlin wie seinerzeit überall anderswo vorwiegend Großtierchirurg. Er leitete den gesamten chirurgischen Unterricht, sowohl in der allgemeinen als auch in der speziellen Chirurgie und in der Operationslehre, wobei ihm auch noch die Unterweisung der Röntgenkunde und Augenheilkunde oblag. Da die Pferdechirurgen mit dem Klinikbetrieb an diesem Lehrstuhl voll ausgelastet waren, mußte es notgedrungen dazu kommen, daß die Chirurgie der Kleintiere und des Rindes anderen Stellen überlassen wurde. So zweigten sich aus dem anfangs für alle Tiere und Krankheiten eingerichteten Tierspital eine Kleintierklinik und sehr spät eine Rinderklinik ab, die ihrerseits wieder alle Krankheiten dieser
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Tierarten behandelten. Nur für die zahlenmäßig an erster Stelle stehenden Pferde bestand eine Medizinische Klinik gesondert. Mit der Ausweitung des Einzugsgebietes über die Mark Brandenburg hinaus bis auf die benachbarten Provinzen wurde die Spezialisierung der Chirurgischen Tierklinik auf das Pferd gefördert. Neuerdings haben aber andere Tierarten zunehmend chirurgische Bedeutung erhalten, und es zeichnet sich bereits der Zeitpunkt ab, an dem insbesondere die Kleintierchirurgie zahlen- und wertmäßig sowie ideell als wissenschaftliches Arbeits- und Forschungsgebiet der Veterinärchirurgie an die erste Stelle treten wird, — und die Zahl der »Pferdeexperten« verringert sich zusehends. Die zunehmende Motorisierung hat das edelste Tier, das Pferd, aus den Städten zur Zeit schon total verdrängt und macht es auch in der Landwirtschaft in zunehmendem Maße entbehrlich. Nur im Renn-, Reit- und Fahrsport hat es seine Bedeutung behalten. Wenn deshalb über die Veterinärchirurgie an der Berliner Universität berichtet wird, so muß neben den Leistungen der chirurgischen Pferdeklinik auch der für die anderen Tierarten errichteten Kliniken gedacht werden, die auf sich selbst gestellt neben dem Großtierchirurgen Veterinärchirurgie betrieben und beachtenswerte wissenschaftliche Beiträge geleistet haben. Man muß diese entwicklungsbedingte Aufspaltung der Veterinärchirurgie, die an den preußischen Hochschulen besteht, kennen, da die Chirurgie an den anderen veterinärmedizinischen Fakultäten Deutschlands und auch größtenteils im Ausland als einheitliches Wissensgebiet in einer Klinik für alle Tiere vertreten wird. Es war eine durch zeitbedingte und materielle Erfordernisse erzwungene Aufteilung nach der Tierart, nicht nach Disziplinen. Räumlich war die Veterinärchirurgie bereits im Gründungserlaß berücksichtigt, denn neben der Tierseuchenbekämpfung, die wegen der starken Verluste insbesondere durch den Seuchenzug der Rinderpest durch das Land eine wissenschaftliche Bearbeitung und Lenkung erfahren mußte, waren es von Anfang an die Erfordernisse des Marstalls und der Armee, die wohl nicht zuletzt die Einrichtung einer derartigen Anstalt notwendig machten und auch zur Tat werden ließen. Der Pferdebestand war um 1790 herum in der Armee in einem schlechten Zustand, und die Initiative zur Einrichtung eines wissenschaftlichen Veterinärinstituts geht auf Friedrich d. Großen zurück, der
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1786 verstarb (Ohmke 1940). Deshalb wurde neben einem guten Unterricht der Schmiede im Beschlag gesunder und kranker Hufe die Ausbildung von Militärtierärzten in der chirurgischen Behandlung insbesondere von Lahmheiten gefordert. Für diesen Zweck waren auch von Anfang an Räume vorgesehen. Silbersiepe berichtet 1922, daß in dem Langhansbau, dem bekannten Rundbau, der damals als Lehrgebäude errichtet wurde und der heute noch steht, bereits ein Raum für Instramente eingerichtet war und daß auch ein Operationssaal im Tierspital gebaut wurde. Nach einer zeitgenössischen Beschreibung soll es sich jedoch nur um einen offenen Operationsschuppen gehandelt haben (Beutner 1940). Die Klinik bestand vorwiegend aus Stallgebäuden. Es handelte sich, soweit es sich aus den Quellen ersehen läßt, um einen zentral geleiteten Klinikbetrieb mit einer chirurgischen Abteilung. Die Lage der Klinik hat sich seit der Gründung nicht viel geändert. Die Stallungen lagen von Anfang an in der Nordostecke des Geländes zwischen der Hannoverschen Straße (damals »an der Communication« benannt), den angrenzenden Ställen der Artillerie (dem späteren Heeresveterinäruntersuchungsamt), dem 1926 errichteten Schmiedegebäude und der das Hochschulgelände durchfließenden Panke. Die ersten Stallungen reichten bald nicht mehr aus. In den Jahren 1836—37 entstanden Neubauten, darunter ein langer, an der Hannoverschen Straße liegender Krankenstall mit einem in der Mitte liegenden Operations- und Behandlungsraum, der bis zum Jahr 1924 benutzt wurde, zuletzt jedoch nur noch für die Behandlung der Tiere und für die Operationsübungen, da ab 1895 die Operationen in der neu erbauten Operationshalle durchgeführt wurden. Seit dem Umbau der Jahre 1836/37 besteht auch der große Klinikplatz, den heute die Medizinische und die Chirurgische Tierklinik umsäumen. Erst im Jahre 1885 kam es zur endgültigen Aufteilung der Großtierklinik in eine Chirurgische und eine Medizinische Tierklinik und im Jahr 1893 gelang es dem ersten selbständigen Ordinarius für Veterinärchirurgie, Prof. Möller, neben einer neuen Stallabteilung im Laufe der Jahre eine Operationshalle, Arbeits- und Laborräume und ein Röntgenzimmer anzubauen, die allerdings räumlich äußerst klein und ausstattungsmäßig dürftig gehalten waren, weil die Wünsche des Klinikleiters durch die vorgesetzten Stellen stark beschnitten wurden. Diese Räume waren bis zum Jahr 1924 im Betrieb, aber eben unzu-
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reichend. Ein Neubau wurde bereits vor dem ersten Weltkrieg seit 1907 geplant. Der für das Jahr 1914 in Aussicht genommene Baubeginn mußte wegen des Krieges und seiner Folgen verschoben werden. Der bei der Berufung Silbersiepes erneut geforderte und zugesicherte Neubau war im Jahre 1926 beendet. Als wir damals diese Räume bezogen, waren wir stolz unter Silbersiepes Leitung in einer Klinik arbeiten zu können, die bis ins kleinste sorgfältig durchdacht und geplant allen Anforderungen entsprach, die man im Jahr 1926 an eine moderne chirurgische Tierklinik stellen konnte. Ein großer Operationssaal mit Oberlicht, der entsprechenden apparativen Ausstattung, Sterilisier- und Instrumentenräume, eine Verbandhalle mit Gabelstand und Operationsstand, ein Pferdebad und ein besonderer Röntgenraum mit einem 4-Ventilapparat und der damals leistungsfähigsten Röntgenröhre bildete die Arbeitsstätte. Die in einen zentralen Vorraum mündenden Arbeitsräume des Direktors und der Assistenten schlössen sich der Verbandhalle an. Vier Stallabteilungen für je 6 Pferde in Ständen und 3 in Boxen fügten sich dem Klinikgebäude in langer Stallgasse an. Die auf der anderen Seite liegende Stallabteilung für die Hufpatienten enthielt die tief gepolsterten und drainierten Loheboxen, die seinerzeit meines Wissens nur in Berlin vorhanden waren und viel zur Heilung der schwer kranken Pferde beitrugen. Ich kann mich nicht erinnern, daß wir jemals einen Dekubitus bei einem unserer Patienten gehabt hätten, obgleich kein Pferd in den Hängegurt gebracht wurde. Die Laborräume, Assistentenarbeitszimmer, die Bibliothek, eine Schausammlung von Röntgenogrammen mit den typischen Veränderungen zum Unterricht für die Studierenden, eine Bibliothek mit Schätzen an alten Schriften, Büchern aus der Frühzeit der Tierheilkunde und der modernsten Literatur sowie eine größere Sammlung tierärztlicher Instrumente, an der die Geschichte der Akiurgie studiert werden konnte und eine Sammlung klinischer Präparate der häufigsten aber auch der selteneren chirurgischen Leiden befanden sich im ersten Stock. Darüber lagen auf der einen Stockhälfte die Wohnungen der Tierwärter, auf der anderen die der wissenschaftlichen Assistenten. Dadurch war es möglich, das gesamte Operationsteam in dringenden Fällen auch außerhalb der Dienstzeit schnell in Aktion treten zu lassen. Im Dachstock wurde das Futter gespeichert, das durch Abwurfschächte in die zwischen den Stallabteilungen liegenden Futterkammern befördert wurde. Leider c II
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blieb die chirurgische Tierklinik von den Bombenangriffen des letzten Krieges nicht verschont. Die Abteilung für hufkranke Pferde wurde zerstört und die verglaste Operationshalle litt neben den Zertrümmerungen an vielen Stellen am stärksten. Trotz allem hat der Klinikbetrieb aufrecht erhalten werden können, nachdem die größten Schäden wieder ausgeflickt worden waren. Das Spital für kranke Hunde wird 1817 zum ersten Mal erwähnt. 1823 wurde Hertwig die Leitung des Hundespitals übertragen. Im Jahr 1846 müssen die Hundeställe nach einem mir vorliegenden Situationsplan an der Grenzmauer hinter dem Pathologischen Institut gelegen haben, dort wo sich unter Dobberstein die Sektionshalle befand. Der im Jahre 1853 entstandene Neubau der Klinik und Poliklinik für kleine Haustiere wurde an der Stelle errichtet, wo er nach den Erweiterungsbauten des Jahres 1883 heute noch steht. Auch an dieser Klinik entwickelte sich allmählich eine chirurgische Abteilung. Silbersiepe hat uns 1928 auf Grund historischer Quellenstudien einen Überblick über die chirurgische Lehrtätigkeit gegeben: Personell war bereits vor der Gründung der damaligen Tierarzneischule daran gedacht worden, die chirurgische Sparte fachmännisch gut zu besetzen. Deshalb wurde der Chirurgus Sick zur Vertiefung seiner tierärztlichen Ausbildung für 3 Jahre nach Wien und anderen Lehranstalten geschickt. Er trat sein Amt 1790 an. Ihm folgte Reckleben im Jahr 1804. Im Jahr 1819 wurde er von Dieterichs abgelöst, der aber bereits 1823 seine Stellung wieder aufgab. Ihm folgte Hertwig zunächst als Repetitor unter Naumann und von 1833 ab als Professor. Am 2. 10. 1842 übergab er den Unterricht in der Chirurgie dem wieder eingestellten Professor Dieterichs, der jedoch schon am 1. 10. 1843 wieder zurücktrat. Wendenberg war von 1843—45 sein Nachfolger. Am 27. 11. 1845 löste ihn K. Günther ab, der jedoch bereits am 26. 2. 1846 einem Ruf nach Hannover folgte. Nunmehr übernahm Hertwig wieder die chirurgischen Vorlesungen bis zum Jahr 1876. Die Operationsübungen leiteten Gerlach bis zum Jahr 1851, Spinola von 1852—1870, Dieckerhoff von 1870—74 und Möller ab 1874. Bis dahin wurde die Veterinärchirurgie im Rahmen des zentral geleiteten Pferdespitals als Abteilung betrieben. Das Jahr 1885 stellt einen Markstein in der Weiterentwicklung dieser Disziplin dar. Ihrer Bedeutung entsprechend wurde sie von diesem Zeitpunkt an selbständig und ging in die Hände von Möller über. Er war der erste selb-
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ständige Veterinärchirurg in Berlin mit eigenem Klinikbetrieb. Im Jahr 1895 trat Fröhner an seine Stelle, der vorher bereits seit 1886 die Klinik für kleine Haustiere geleitet hatte. Eberlein, der vorher unter Kärnbach in der Poliklinik tätig gewesen war, übernahm die Veterinärchirurgie im Jahre 1903 und starb mitten aus dem Beruf heraus im Jahre 1920. Silpersiepe, der von 1901 bis 1903 3 y 2 Jahre unter Eberlein Assistent an der Poliklinik, von 1907 bis 1909 Repetitor an der Chirurgischen Tierklinik und danach als Kreistierarzt in Monschau tätig war, wurde nunmehr auf Anregung Fröhners auf den Lehrstuhl für Veterinärchirurgie berufen und dadurch seinem eigentlichen Arbeitsgebiet wiedergegeben. An seinen Namen sind die Leistungen der Veterinärchirurgie während der Zeit der Zugehörigkeit zur Universität vom Jahr 1932 bis 1945 gebunden. Er war der bei den Studenten beliebte und von seinen Mitarbeitern geachtete Lehrer, der die wissenschaftlichen Erkenntnisse mit den Erfordernissen der Praxis in hervorragendem Maße zu vereinigen verstand und darüber hinaus der Chirurgie die neue, moderne Arbeitsstätte baute, die heute noch im Betrieb ist. Seine Oberassistenten waren Mann bis 1923, Pape bis 1925, Görnemann bis 1927, Lück 1928, Bolz bis 1934 und Schmal. Bolz habilitierte sich im Jahr 1932 für Chirurgie und Röntgenkunde und wurde 1934 als Ordinarius für Veterinärchirurgie und Direktor der Chirurgischen Veterinärklinik und der Hufbeschlagslehrschmiede als Nachfolger Pfeiffers an die Universität Gießen berufen. Der Unterricht in der Chirurgie umfaßte zur Gründungszeit unter Sick zwei Wochenstunden. Er las ein Kolleg »Über alle Teile der Chirurgie und chirurgischen Operationen«. Damals schon wurden den Studierenden Patienten zugeteilt, über die sie referieren mußten, an deren Operationen sie sich beteiligten, die sie selbst laufend untersuchen und auch selbst verbinden mußten. Dieser auf die Praxis hinzielende Unterricht hat sicher wesentlich zur wissenschaftlichen Ausbildung beigetragen und die wenigen theoretischen Unterrichtsstunden ergänzt, denn die Betreuung der Patienten erstreckte sich auf den ganzen Tag, bei schweren Fällen auch auf die Nacht, und Krankheitsberichte mußten damals schon angefertigt werden. Reckleben stellte im Jahre 1817 den chirurgischen Unterricht auf eine breitere Basis und las im Sommersemester vier Stunden Allgemeine Chirurgie und im Winter vier Stunden Spezielle Chirurgie. Wann die Operations-
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Übungen in den Stundenplan eingegliedert wurden, ist nicht genau bekannt. Sie erlangten jedenfalls eine zunehmende Bedeutung, so daß sie von einer zweiten Lehrkraft durchgeführt wurden und mindestens von 1851 ab einen festen Bestandteil des Lehrplans bildeten. Der Unterricht wurde entsprechend den wissenschaftlichen und technischen Möglichkeiten laufend intensiviert, besonders seit 1885 der klinische Unterricht am Patienten, so daß der Lehrplan zur Zeit der Eingliederung in die Friedrich-Wilhelms-Universität folgende Vorlesungen und Übungen umfaßte: Eine vierstündige Vorlesung über Allgemeine Chirurgie und Akiurgie und eine einstündige über Operationslehre im Sommersemester, eine fünfstündige Vorlesung über Spezielle Chirurgie im Wintersemester, den zwölfstündigen klinischen Unterricht (abteilungsweise im ganzen Jahr), die Operationsübungen (zweistündig im Wintersemester), eine einstündige Vorlesung über allgemeine und örtliche Betäubung, eine weitere über Röntgenkunde, einen Kursus im Anlegen von Verbänden (einstündig im Wintersemester), einen Augenspiegelkursus und den zweistündigen Unterricht des vorklinischen Semesters in der chirurgischen Propädeutik. Hinzu gerechnet werden müssen die einstündige Vorlesung über Hufkrankheiten und der Hufoperationskursus, die seinerzeit ebenfalls von der Chirurgischen Tierklinik aus wahrgenommen wurden. Der früher durchgeführte Massagekursus wurde fallengelassen und in den allgemeinen klinischen Unterricht eingefügt. Beliebt bei den Studierenden war seinerzeit die Tätigkeit in der stark frequentierten chirurgischen Poliklinik, einmal wegen ihrer praxisnahen Durchführung, zum andern aber auch wegen des nicht ganz reizlosen Verkehrs mit den humorvollen und schlagfertigen Berliner Droschkenkutschern und Fuhrhaltern. Die wissenschaftlichen Beiträge, welche Berlin zur Weiterentwicklung und zum Ausbau der Veterinärchirurgie leisten konnte, im einzelnen zu schildern, ist in diesem Rahmen nicht möglich. Es können nur Etappen vermerkt werden. Stets waren die Berliner Veterinärchirargen bestrebt, die neuesten Ergebnisse verbunden mit den eigenen Erfahrungen und Forschungsresultaten in Form von Lehrbüchern dem Unterricht und der Praxis zugänglich zu machen. Dieterichs (1819—23 und 1842—43) schrieb bereits ein »Handbuch der Veterinärchirurgie und operativen Chirurgie«, das sieben Auflagen erlebte. Hertwig gab 1850 sein »Praktisches Handbuch der Chirurgie«
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heraus, das 1873 in dritter Auflage erschien. Im Jahr 1847 hatte er bereits gemeinsam mit Gurlt eine »Chirurgische Anatomie und Operationslehre« der Öffentlichkeit übergeben. Intensiv bearbeitet wurde die Veterinärchirurgie ab 1885 von dem ersten chirurgischen Ordinarius, Prof. Möller, unter dessen Werken die »Chirurgische Diagnostik«, die »Allgemeine Chirurgie für Tierärzte«, eine »Spezielle Chirurgie für Tierärzte« und ein Buch über »Augenkrankheiten« besonders erwähnenswert sind. Die Allgemeine und Spezielle Chirurgie, später mit seinem Schüler, dem Hannoverschen Ordinarius Frick herausgegeben, waren etwa bis zum Jahre 1930 gern gelesene Werke, denn Möller war ein hervorragender Chirurg seiner Zeit. Fröhner schrieb 1896 seine »Allgemeine Chirurgie« und 1898 das »Kompendium der Speziellen Chirurgie«, das von ihm später mit dem jeweiligen Berliner Lehrstuhlinhaber, zunächst mit Eberlein, später mit Silbersiepe bearbeitet wurde, und von der 8. Auflage an als »Lehrbuch der Speziellen Chirurgie«, zuletzt von Silbersiepe und Berge im Jahre 1958 in der 18. Auflage herausgegeben, heute das einzige deutsche chirurgische Spezialwerk darstellt. Möller und Fröhner lieferten darüber hinaus einen wesentlichen Beitrag zur wissenschaftlichen neuzeitlichen Veterinärchirurgie in Gestalt einer großen Anzahl von Veröffentlichungen über die Pferdechirurgie. Als die Tierärztliche Hochschule im Jahr 1932 in der Universitas aufging, brachte die Veterinärchirurgie unter Silbersiepe als Repräsentant eine alte festgefügte Tradition und wissenschaftliche Ausrichtung mit, die jahrzehntelang gepflegt worden war. So war es einmal das Gebiet der Allgemeinnarkose, wissenschaftlich immer wieder zur Erforschung und Bearbeitung reizend, solange nicht die gefahrlose und praktisch anwendbare endgültige Form gefunden ist. Die Narkose, von Möller bereits bearbeitet, warf auch unter den Nachfolgern immer wieder neue Forschungsprobleme auf. Die Bearbeitung der Anästhesiologie, die in der Veterinärchirurgie seinerzeit vor großen Schwierigkeiten stand und deshalb keine bedeutenden Fortschritte machte, erhielt gerade zu der Zeit, als die Hochschule in der Universität aufging, einen starken Impuls durch das Reichstierschutzgesetz des Jahres 1933. Wenn schon vorher die perorale Chloralhydratnarkose von Eberlein intuitiert und von Rehse 1910 in einer Dissertation zusammengefaßt, beim Pferde versucht wurde, so war es Silbersiepes Verdienst, sie in Form der »Trinkwasser-
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methode« verfeinert und der Praxis vermittelt zu haben, ehe wir die Nasenschlundsonde kannten. Und in dieser Zeit zeigte es sich, daß ein chirurgischer Lehrstuhl, der an eine Spezialklinik für Großtiere gebunden ist, seine ihm praktisch zugewiesenen engen Grenzen überspringen kann, wenn es not tut. Damals stand die Narkosefrage beim Schwein im Vordergrund und die Berliner Pferdeklinik war es, die sich der wirtschaftlich bedeutsamen Frage der Allgemeinnarkose bei dieser Tierart widmete. Silbersiepe befaßte sich mit der Barbituratnarkose und prüfte das Eunarkon. Er stellte dessen Brauchbarkeit für die Praxis anhand von Einzel- und Reihenversuchen in einer Anzahl von Veröffentlichungen in den Jahren 1936 und 1937 unter Beweis. Dieses Problem wurde von seinen Schülern auch weiterhin bearbeitet (Vorlob 1938, Schmal 1941). Mit der damals viel diskutierten Elektronarkose setzte sich Breer 1936 auseinander. Mit der Prüfung der klinischen Verwendbarkeit neuerer Narkotika beschäftigten sich andere Arbeiten (Bolz und Borchers 1931). Auch die Kleintierklinik lieferte ihren Beitrag zur Anästhesiologie. Es sei an die Bearbeitung der Äthernarkose in der Narkosezelle nach Hinz (1933) erinnert, die in einer Anzahl von Dissertationen auf ihre Verwendbarkeit bei den einzelnen Tieren geprüft wurde (Schlicht 1933, Wagner 1934, Monke 1938 u. a.) und über die Hinz selbst abschließend im Jahr 1942 berichtete. Hinz erprobte als erster die Narkose mit Pernokton, das erste Barbiturat, das eine echte Toleranz hervorrief. Mit Lindner beschrieb er die intraabdominale Perkain-Anästhesie (Hinz und Lindner 1930). Die Leitungsanästhesie hatte schon seit den Arbeiten von Udriski 1901 und Rahnenführer 1902 über die Volarnervenanästhesie in der Berliner Klinik eine Pflegestätte gefunden. Die Vertiefung der Kenntnisse über das Wesen und die Ausbreitung der Anästhesie an den Extremitäten löste ein Arbeitsprogramm aus, das sich mit der Festlegung der Anästhesiegebiete und weiterer Injektionsstellen für die wichtigsten sensiblen Nerven befaßte (Bolz 1928, Bolz und Grebe 1932, Heyden 1932, Schmal 1938). Auch die aus der Klinik für kleine Haustiere stammenden Arbeiten in gleichgerichtetem Sinne von Jungwirth 1934 und Vieck 1934 seien hier erwähnt. Nachdem Schräder sich 1924 in Berlin mit der Anästhesierung der Zahnnerven befaßt hatte auf Grund der von Lichtenstein 1911 in München und Bemis in Amerika
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1917 gemachten Erfahrungen, wurde die Leitungsanästhesie am Kopf anhand der anatomischen Unterlagen von Schönberg 1927 in Berlin eingehend bearbeitet, sowohl in Bezug auf die Injektionstechnik als auch durch Festlegung der Anästhesiegebiete (Wittmann und Morgenroth 1928, Bolz 1930). Die ins Jahr 1931 fallende Bekanntgabe der Samenstranganästhesie durch Silbersiepe und Bresser 1931 soll nicht unerwähnt bleiben. Daß die Extraduralanästhesie von Berlin aus in der Veterinärmedizin ihren globalen Siegeszug angetreten hat, scheint etwas in Vergessenheit geraten zu sein. Pape versuchte sie erstmalig beim Pferd, nachdem tastende Vorarbeiten über die Anästhesierung der Schwanznerven durchgeführt waren (Retzgen 1925). Der Doktorand Pitzschk leistete die Versuchsarbeit beim Pferde (Pape und Pitzschk 1925). Benesch übertrug sie als Epiduralanästhesie auf das Rind. Inzwischen wurde sie bei allen Tierarten bearbeitet und ist bei denWiederkäuern, bei Pferd, Hund und Katze zu einem wesentlichen Bestandteil nicht nur der Anästhesiologie, sondern auch der Therapie geworden. Die Kastration einschließlich der Operation des Kryptorchismus war eines der Lieblingsgebiete von Silbersiepe, über das er viel berichtet hat (1937, 1939)- Die Nachprüfung des Wertes neuerer Kastrationsmethoden enthalten die Arbeiten von Fröhlich (1927) und Jürgens (1930). Über das Vorkommen entarteter Kryptorchidenhoden beim Pferd berichtete Silbersiepe mit Meyer (1936). Mit den Komplikationen während und nach der Kastration befaßten sich weitere Untersuchungen (Bolz 1935). Andere Arbeiten beschäftigten sich mit der Wundbehandlung und Wundheilung (Silbersiepe und Pape 1922, Laasch 1925, Podding 1925), der Widerristfistel (Silbersiepe 1932), u. a. m. Die Arbeiten über die Operationstechnik des Kehlkopfpfeifens, des Nabelbruches (Silbersiepe 1938), des Kryptorchismus, der Inguinalhernie und des Nageltritts (Silbersiepe 1949) haben in Silbersiepes Kompendium seinerzeit ihren Niederschlag gefunden. Schmal hat über die inkarzerierte Umbilikalhernie und einen besonders gelagerten Fall von Skrotalhernie 1941 berichtet. Mit der Prüfung der Brauchbarkeit der Elektrochirurgie in der Veterinärmedizin befaßten sich andere Veröffentlichungen (Bolz 1931, Bolz und Kramer 1932). Aus der Kleintierklinik stammt die Arbeit von Hinz (1935) über die operative Behandlung der Otitis externa beim Hund, die heute noch nach der da-
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mals vorgeschlagenen Technik durchgeführt wird und der Beitrag hierzu von Niemand aus dem Jahr 1942. Letzterer berichtete weiterhin 1943 über Fremdkörper und ihre Entfernung aus den verschiedenen Abschnitten des Verdauungstraktus. In einer Großstadt mußte auch die Lahmheitsdiagnostik eine wesentliche Rolle spielen, da durch das Pflaster und die Verkehrsdichte bedingt die Pferde mit Beinleiden einen wesentlichen Anteil am Patientenmaterial hatten. Außer den chronischen Gelenkerkrankungen waren es die Frakturen, welche diagnostisch und therapeutisch eine eingehende Bearbeitung erfuhren. Deshalb wurde auch die röntgenologische Diagnostik in Berlin seit jeher besonders gepflegt. Ich erinnere mich noch an die Negative auf den Glasplatten, die aus der Eberleinschen Zeit stammten und sorgfältig verwahrt wurden und auf denen noch Belichtungszeiten bis zu % Stunde für eine Fesselbeinfraktur vermerkt waren. Zwei Spezialgebiete waren es, die in Berlin besonders gepflegt wurden: Die Hufbein- und die Fesselbeinfraktur: Silbersiepe hatte sich unter Eberlein schon mit der Fesselbeinfissur befaßt und in Leipzig darüber promoviert (Silbersiepe 1908). Er baute die Diagnostik weiter aus und mir war es vorbehalten, die Heilungsvorgänge im Röntgenogramm zu verfolgen, dadurch Altersbestimmungen der Fissur und insbesondere die Unterschiede zwischen der klinischen und anatomischen Heilung zeitlich festlegen zu können. Die jahrelangen Erfahrungen der Klinik in der Diagnostik der Hufbeinfraktur sind von Pape und Löffler (1925) beschrieben worden. Ich konnte sie röntgenologisch verfeinern, die ersten Heilungsvorgänge verfolgen (Bolz 1934), später an anderer Stelle einen Behandlungs- und Heilungsplan aufstellen und einen Weg zur Therapie finden, nachdem über Heilungen bis dahin nur in Einzelfällen berichtet worden war (Bolz 1944). Über die Strahlbeinfraktur berichtete Schmal 1937. In der Klinik für kleine Haustiere erschien aus der Feder von Hinz und Schröder im Jahre 1933 eine Arbeit über die Heilungsvorgänge bei einfachen und komplizierten Knochenbrüchen, insbesondere bei der Femurfraktur des Hundes. Sie schilderte besonders die röntgenologisch feststellbaren Transformationsprozesse an dem mit voller Funktion im Winkel geheilten Knochen, ein Hinweis dafür, daß nicht immer die Knochennagelung mit ihrem anatomisch im Röntgenbilde bestechenden Heilungserfolg das Mittel der Wahl darstellt.
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Ich denke gern an Berlin zurück, an die kleine, isolierte, der wissenschaftlichen Arbeit vorbehaltene, grüne Insel im Häusermeer zwischen der Charité und der Friedrichstraße und an das Fluidum, das wissenschaftlich und allgemein bildend von der damaligen Reichshauptstadt ausging. Dem Strebenden standen alle Möglichkeiten der Information und Anregung offen. Wissenschaftlich war enge Zusammenarbeit mit der Humanmedizin möglich, die damals in der Chirurgie hervorragend mit Bier und später mit Sauerbruch besetzt war. Der Konnex war eng. Besuchte uns doch der Jäger und Tierfreund Bier oft in der Tierklinik und übernahm die beim Pferd alt eingeführten und oft als unmodern kritisierten Brennmethoden in veränderter Form für die Humanmedizin, in einer uns Assistenten damals recht radikal erscheinenden Form. Auch mit Sauerbruch und seinen Assistenten bestand zu meiner Zeit ein reger Erfahrungsaustausch, und wir behandelten seine Pferde im Grunewald. Wer Berlin als weltoffene Stadt und die vielen Ablenkungen kennt, wird aus dieser Optik heraus nicht vermuten, daß Berlin an seinen Hochschulen zugleich eine Städte ernstester und intensivster und nicht nur auf Dienststunden beschränkter wissenschaftlicher Arbeit war. Es wurde viel geleistet und dies mit Begeisterung und Forscherdrang, welche anscheinend vom Milieu abhängig dem zeitlich konzentrierten Leben der Großstadt entsprachen. Wer dazu noch unter Lehrern wie Fröhner, Eberlein und Silbersiepe die minutiöse, exakte Anleitung zum wissenschaftlichen Arbeiten unter großer Selbstverantwortung kennenlernen durfte, wird sich im Aufbau und in der Auswertung seiner wissenschaftlichen Arbeit an dieses grundlegende Rüstzeug, das er von dort aus auf den Weg mitbekam, stets dankbar erinnern. Berlin war damals eine Stadt der Arbeit und »Philippsdorf« schon für uns als Studenten eine stille Oase abseits vom Großstadtgetriebe und mir scheint es, als ob die im Grünen liegende Fakultät etwas von der vornehmen Ruhe zurückbehalten hat, die einst in dem 36 Morgen großen Gräflich-Reußschen Garten geherrscht haben mag, ehe er vor 160 Jahren zur Hochschule umgewandelt wurde.
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LEBENSMITTELHYGIENE Die Untersuchung der vom Tier stammenden Lebensmittel ist ein Sondergebiet der Veterinärmedizin, das sich im Laufe eines Jahrdunderts entwickelt hat. Im Rahmen der Friedrich-Wilhelms-Universität war dieses Fach im Institut für Lebensmittelhygiene und dem dafür bestehenden Lehrstuhl vertreten. Das Institut als solches bestand als derartige Einrichtung seit dem Jahre 1912 zunächst innerhalb der damaligen Tierärztlichen Hochschule, und es war das erste Institut dieser Art in Deutschland überhaupt, ja sogar in der Welt. Seine Anfänge gehen praktisch auf die Einführung der Schlachttier- und Fleischuntersuchung zurück. In der Mitte des vergangenen Jahrhunderts hatten einige wissenschaftliche Entdeckungen der Entwicklung der Fleischuntersuchung einen besonderen Impuls gegeben. Zenker (1860) hatte als Ursache gefährlicher Massenerkrankungen die Trichine erkannt. Küchenmeister (1848) hatte den Zyklus der Taenia solium, Leuckart (1861) den der Taenia saginata (Taeniorhynchus saginatus) geklärt. Diese wichtigen Forschungsergebnisse führten zur Schaffung des Preußischen Schlachthofgesetzes im Jahre 1868 sowie zu einem weiteren Ausbau der obligatorischen Fleischbeschau in den süddeutschen Ländern. Sie trugen aber auch wesentlich zu neuen Studien bei. So beschäftigte sich Gerlach (1870—1875 Professor an der Tierärztlichen Hochschule zu Berlin) eingehend mit der Trichinenentwicklung und der Bedeutung der Tierseuchen für die Genußfähigkeit des Fleisches. Im Jahre 1875 gab er eine Schrift »Die Fleischkost des Menschen« heraus, in der hauptsächlich auch die Genießbarkeit des Fleisches tuberkulöser Tiere behandelt wurde. Gerlach wurde damit zu einem entscheidenden Vorkämpfer auf wissenschaftlicher Basis beruhender obligatorischer Schlachttier- und Fleischuntersuchungen. Auch Schmidt-Mühlheim hatte wesentlichen Anteil an der Weiterentwicklung des Gebietes. Im Jahre 1884 schrieb er ein »Handbuch der Fleischkunde«, und im Jahre 1885 begründete er eine »Zeitschrift
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für Fleischbeschau«. Inzwischen war das »Nahrungsmittelgesetz« im Jahre 1878 erschienen, bei dessen Durchführung die Tierärzte als Sachverständige unentbehrlich wurden. Auch hier erkannte SchmidtMühlheim als erster die Notwendigkeit tierärztlicher Sachverständiger vor Gericht, zumal ärztlicherseits eine Gesundheitsschädlichkeit des Fleisches nicht selten fälschlich angenommen wurde. Schmidt-Mühlheim verfaßte daher im Jahre 1887 die Schrift über den »Verkehr mit Fleisch und Fleischwaren«. Durch diese Arbeiten wurden die Untersuchungen von Fleisch und sonstigen Nahrungsmitteln wissenschaftlich fundiert. Es ergab sich aber auch die Notwendigkeit, dieses Arbeitsgebiet mit seinen gesetzlichen Bestimmungen den Studierenden der Veterinärmedizin für den künftigen Beruf zu vermitteln. Zunächst versuchte man, die Vorlesungen und Übungen mit der pathologischen Anatomie zu verbinden, eine verständliche Maßnahme, da die Untersuchung des geschlachteten Tieres in erster Linie angewandte pathologische Anatomie ist. Eine selbständige Vorlesung in der Fleischbeschau wurde jedoch erst im Jahre 1888 aufgenommen, und zwar durch Professor Dr. Eggeling. Als im Jahre 1892 Robert Ostertag als Professor nach Berlin berufen wurde, trat ein erheblicher Wendepunkt in der Fleischbeschaulehre und damit auch in der Entwicklung eines speziellen Lehrstuhles ein. Er übernahm die Veterinär-Hygiene in Verbindung mit der Nahrungsmittelkunde. Die Fleischbeschau und die sanitätspolizeiliche Milchkunde wurden Pflichtvorlesungen. Ergänzend hierzu wurden Kurse eingeführt. Auch eine außerordentlich rege wissenschaftliche Arbeit setzte auf diesem Gebiete ein; denn Ostertag scharte eine große Zahl junger Wissenschaftler um sich und gründete so eine Schule, die durch wertvolle Forschungsarbeit ungemein befruchtend auf die Entwicklung der tierärztlichen Lebensmittelhygiene wirkte. Um die wissenschaftlichen Arbeiten eines Ostertag und seiner Mitarbeiter zu würdigen und niederzuschreiben, ist ein Spezialstudium notwendig. Ostertag hat in seinem Leben so ungeheuer viel gearbeitet und in den von ihm redigierten Zeitschriften und in seinen Lehr- und Handbüchern so viel veröffentlicht, daß sich ihre Bedeutung auch nur andeutungsweise nicht ausreichend darlegen läßt. Erwähnt seien hier nur seine zahlreichen für die rechtlichen Maßnahmen wichtigen Versuche über die Abtötung von Cysticercus inermis im Fleisch des
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Rindes, bei denen er mit seinen Assistenten und Studenten Selbstinfektionen vornahm, ferner die Trichinenarbeiten, die sich mit der Übertragungsmöglichkeit von Darm- und Wandertrichinen befaßten, die Forschungen über verschiedene Parasiten und ihre Bedeutung für den Menschen, die Arbeiten über Rindertuberkulose und deren Übertragungsverhütung durch den Milchgenuß, über die hygienische Gewinnung und Behandlung der Milch. Das Hauptverdienst Ostertags ist aber nicht allein die Begründung dieser Disziplin, sondern die Bearbeitung des Fleischbeschaugesetzes, für das er den gesetzgebenden Behörden den fachwissenschaftlichen Anteil lieferte. Mit diesem Gesetz entstanden eine für das ganze Reichsgebiet geregelte Pflichtuntersuchung zu schlachtender und geschlachteter Tiere sowie eingehende Anweisungen für die Untersuchung und Beurteilung des Fleisches und der Organe unserer Schlachttiere. Es war das erste derartige Gesetz in der Welt, das für alle anderen Staaten richtunggebend wurde. Die Verdienste Ostertags wurden daher nicht nur durch deutsche Stellen gewürdigt und anerkannt, sondern stets auch vom Ausland rühmend hervorgehoben. Die Wertschätzung Ostertags, die Größe seiner Persönlichkeit und seine nicht zu verkennenden Verdienste um Lehre und Wissenschaft kommen wohl am besten in dem Aufruf zum Ausdruck, den Geheimrat Schmaltz anläßlich des Ausscheidens Ostertags in der Berliner Tierärztlichen Wochenschrift im Jahre 1907 veröffentlichte: »Was Ostertag als Lehrer seinen Hörern und allen denen, die noch in reiferem Alter seine Schüler wurden, gewesen ist, das hat die Gefolgschaft seiner Getreuen, die in Ostertag ihren wissenschaftlichen Heerführer erkannten, gezeigt. Aber wie ein guter Feldherr bei aller Großzügigkeit in den zu erzwingenden Zielen auch für das Wohl und Wehe seiner Mannen besorgt ist, so hat auch dieser Heerführer der Wissenschaft nicht nur neue Pfade gefunden und gezeigt, sondern er war auch ein treuer Berater seiner Fachgenossen, wenn sie in großer Zahl zu ihm pilgerten, um sein Urteil und seinen R a t zu erbitten. Wer kennt nicht das kleine Gärtnerhaus in dem Parke der Tierärztlichen Hochschule zu Berlin, in dem Ostertag das erste deutsche hygienische Institut für Veterinärmedizin begründete, bis dann unter Hilfe des Staates, der seinem Gelehrten volles Vertrauen schenkte, dieses Institut nach außen und nach innen zu einer mächtigen wissenschaftlichen Anstalt emporwuchs«.
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Ostertag verließ seine Lehrstätte an der Berliner Tierärztlichen Hochschule, um im Reichsgesundheitsamt und später im Württembergischen Innenministerium die Veterinärabteilung zu leiten. Auf seine großen Ehrungen sei hier nicht eingegangen. Erwähnt sein nur, daß er in Anbetracht seiner wissenschaftlichen Verdienste geadelt wurde, daß seine Büste neben der Robert Kochs im Reichsgesundheitsamt steht und daß ihm zu Ehren eine Ostertag-Plakette für verdiente Tierärzte geschaffen wurde. Nach Robert von Ostertags Ausscheiden wurde die Abteilung Nahrungsmittelkunde vom Hygienischen Institut abgetrennt und Dr. Borchmann vorübergehend übertragen. Aber schon damals wurde vom Lehrkörper gefordert, ein selbständiges Ordinariat für Nahrungsmittelhygiene zu schaffen und ein eigenes Institut zu errichten. Dieses Ziel wurde im Jahre 1912 erreicht. Auf diesen Lehrstuhl wurde Dr. Gottfried Bongert als ordentlicher Professor berufen. Bei der Berufung Bongerts an die Tierärztliche Hochschule war ein Neubau für das einzurichtende Institut für Nahrungsmittelkunde vorgesehen, doch mußte dieser Plan infolge des Weltkriegsausbruches fallen gelassen werden. Nach Kriegsende war mit einem Neubau nicht mehr zu rechnen, deshalb übernahm Bongert das alte Anatomiegebäude der Tierärztlichen Hochschule. Damit zog das Institut in ein Gebäude ein, das ein kulturhistorisches Baudenkmal ist. König Friedrich Wilhelm 11. hatte es in den Jahren 1788—1790 nach den Plänen und unter Aufsicht des Geh. Kriegsrates und Oberbaudirektors C. G. Langhans, dem Erbauer des Brandenburger Tores, in den Gräflich Reuß'schen Gärten im schloßartigen Stil aufführen lassen. Dieses dem ersten tierärztlichen Unterricht dienende Gebäude, die sog. »Zootomie«, war ein Meisterwerk deutscher Baukunst, das mit seinem amphitheatralischen Hörsaal als Baudenkmal unter staatlichem Schutz stand und auch heute noch steht. Der Hörsaal, das »Theatrum anatomicum«, diente in späterer Zeit vielen Universitäten als Vorbild und war weit über die Grenzen Deutschlands bekannt. Bongert hat in seiner Amtszeit (1912—1933) die Lehre und Forschung auf dem Gebiet der Lebensmittelkunde weit ausgebaut. Über Fleisch und Milch hinaus zog er alle vom Tier stammenden Lebensmittel in seinen Wirkungsbereich. Insbesondere gilt dies für Fisch, Geflügel, Wild und alle industriellen Erzeugnisse. Seine Erfahrungen legte er in einem Lehrbuch »Veterinäre Lebensmittelüberwachung«
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nieder. In sein Institut kamen viele Ausländer, um das für sie neuartige Arbeitsgebiet kennen zu lernen und um es in ihrem Lande aufzunehmen. Auch kommandierte das Heer regelmäßig junge Veterinäroffiziere zur entsprechenden Ausbildung. Das Institut, das als erstes und einziges dieser Art in Deutschland bestand, wurde von Behörden, Gerichten und Industrie für Gutachten sehr stark herangezogen. Vom Jahre 1926 an richtete in ihm der Reichsverband der deutschen Fleischwarenindustrie eine besondere Forschungsstelle ein. Damit war auch die Verbindung mit der Praxis gewährleistet. Die Arbeiten Bongerts und seiner Schüler befaßten sich mit zahlreichen Problemen. Einen wesentlichen Anteil haben die zweifellos recht wertvollen Forschungen über die Pathogenese der Tuberkulose und die Erkennbarkeit für den Fleischgenuß gefährlicher Tuberkuloseformen. In den Nachkriegsjahren (1919 und folgende) griff er auch in den Streit um das Schächten und die Schlachttierbetäubung durch Versuche ein. Weitere Arbeiten betrafen die Trichinosen, die Abtötung von Schweine- und Rinderfinnen, Entstehung und Bewertung des Ikterus, die Pökelung, die Unterscheidung des Fleisches der einzelnen Tierarten, Fleischfäulnis, Fleisch- und Fischkonserven, chemische Konservierungsmittel und die Federsche Zahl. — Bongert ist stets auch für eine hygienische Gewinnung und tierärztliche Überwachung der Milch eingetreten. Grundlegende Arbeiten führte er über das maschinelle Melken zusammen mit Professor Martiny in Halle durch. Erwähnt seien auch seine Versuche über die Pasteurisierung der Milch und seine sich darauf gründenden Forderungen, das Überleben der Tuberkelbakterien bei der Kurzzeiterhitzung durch entsprechende Maßnahmen zu verhüten; Forderungen, die erst vor einigen Jahren durch die Einführung der technischen Kontrollvorrichtungen an den Pasteuren ihre Erfüllung fanden. Sein ganz besonderes Interesse wandte Bongert den Tierkörperverwertungseinrichtungen (unschädliche Beseitigung beanstandeter Teile der Schlachttiere) und den Produkten dieser Anstalten zu. E r untersuchte vergleichend ausländisches Tier- und Fleischmehl, verglich es mit deutschem Tierkörpermehl, forderte eine Abänderung des § 53 der Ausführungsvorschriften des FMG und regte den bevorzugten Verbrauch der deutschen hygienisch unbedenklicheren Fleischmehle an. Die Berechtigung der Bongertschen Forderung ist erst im letzten Jahrzehnt besonders deutlich geworden, da das Aus-
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land in sehr großer Menge Salmonellabakterien enthaltende Tierkörper-, Fleisch-, Blut- und Fischmehle einführte und damit unsere deutschen Tierbestände in unvorstellbarem Ausmaße infizierte! Durch diese Erfahrung wurde die Bongertsche Warnung als berechtigt bewiesen, und die entsprechenden rechtlichen Maßnahmen griffen Platz. Bongert schied im Jahre 1933 durch Emeritierung aus und lebte noch etwa 12 Jahre. Auch in dieser Zeit ruhte er nicht. Als wertvolle Arbeiten veröffentlichte er aus dieser Zeit die Untersuchungen über die enzymatischen Vorgänge am Fleisch. Er ebnete so den Boden für ein großes zukunftsreiches Spezialgebiet der Veterinärmedizin. Nach seinem, Ausscheiden wurde ich am 1.10.1933 als Ordinarius auf den Lehrstuhl berufen. Für das Institut wurde das gleiche Gebäude übernommen, aber es erfuhr einen umfasssenden Ausbau, wobei besonderer Wert auf die Laboratorien und Kursusräume gelegt wurde. In Anpassung an das im Jahre 1927 erschienene neue Lebensmittelgesetz wurde es umbenannt in »Institut für Lebensmittelhygiene«. Ein Jahr später, am 1. 11. 1934, erfolgte die Einbeziehung der damaligen Tierärztlichen Hochschule in die Friedrich-Wilhelms-Universität. Innerbetrieblich erfuhr das Institut eine beachtliche Vermehrung des Personals, so daß eine entsprechende Erweiterung der Lehr- und Forschungstätigkeit möglich wurde. Infolgedessen kamen zahlreiche In- und Ausländer als Volontärassistenten an das Institut, um ein oder mehrere Jahre mitarbeiten zu können. Unter den Ländern waren insbesondere Dänemark, Estland, Spanien, Bulgarien, Ungarn, Kroatien, Brasilien und Chile vertreten. Um für den Unterricht geeignetes Material zu haben und um Anregungen für Forschungsaufgaben zu erhalten, wurde im Institut auch eine entsprechende Untersuchungstätigkeit aufgenommen, die im Laufe der folgenden Jahre eine starke Ausweitung erfuhr. — Als Lehrbeauftragter trat mir im Jahre 1934 Dr. Alfred Hemmert-Halswick1 zur Seite, und zwar für das Gebiet Schlachthofkunde und Schlachthofbetriebslehre. Die Arbeitsgebiete, auf denen im Institut Forschungen durchgeführt wurden, sind sehr zahlreich und vielseitig. Vom Jahre 1933 bis zum Jahre 1945 wurden 195 wissenschaftliche Arbeiten veröffentlicht. Hierzu treten all die Forschungen, die aus verschiedenen Grün1 Hemmert-Halswick war später Oberreg.Rat im Reichsgesundheitsamt und danach ordentlicher Professor für Veterinär-Pathologie in Leipzig und in Gießen.
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den nicht in die Presse gelangen durften, sondern nur in Berichten niedergelegt sind. Die Mittel und Anregungen für die Forschungen entstammten zum Teil den Einsendungen von Untersuchungsmaterial. Die meisten Forschungen aber wurden in Zusammenarbeit mit Organisationen des Staates und der Wirtschaft durchgeführt, so zum Beispiel dem Reichsministerium des Innern, dem Reichsministerium für Ernährung, den Reichsstellen für Tiere, für Verpackung, für Eier, für Fische, dem Reichsamt für Wirtschaftsausbau, dem Reichsforschungsrat bzw. Forschungsdienst und der Fachgruppe für Fleischwarenindustrie. Mit der Fachgruppe Fleischwarenindustrie verband uns jahrelang eine sehr enge Zusammenarbeit. Für sie wurden spezielle Laboratorien eingerichtet. Aus diesen Arbeiten ergab sich später die Erkenntnis, daß dieses große Spezialgebiet »Fleisch« mit seinem ernährungsund volkswirtschaftlich höchsten Wert einer noch stärkeren wissenschaftlichen Bearbeitung in einer Spezialforschungsanstalt bedürfe, ähnlich den Forschungsanstalten für Milch. Ich regte daher im Ministerium die Einrichtung einer Forschungsanstalt für Fleisch an, in der die verschiedensten Arbeitsrichtungen durch besondere Institute vertreten sein sollten. Dies führte im Jahre 1937 zur Gründung und Einrichtung einer »Reichsanstalt für Fleischwirtschaft« in Berlin2. Uber die in den Jahren 1933—1945 durchgeführten umfangreichen Forschungsarbeiten kann nur ein ganz kurzer summarischer Überblick gegeben werden. Diese Arbeiten befaßten sich mit der Untersuchung der Schlachttiere und des Fleisches, insbesondere auch der bakteriologischen Fleischuntersuchung, mit den Lebensmitteln wie Konserven, Geflügel, Fischen, Eiern und mit der Milch. Aus dem Gebiete der »Fleischbeschau« erwähne ich nur zwei der wichtigsten Forschungsthemen, und zwar die »BlutVerwertung« und die »Salmonellen-Infektion«. Da das Blut der Schlachttiere zum erheblichen Teil der Volksernährung verloren ging (meist technische Verwertung oder Vernichtung) ergab sich die Notwendigkeit, nach Wegen zur besten Verwertung als Lebensmittel zu suchen. Hieraus resultierten zahlreiche Arbeiten über die Flüssigerhaltung des Blutes, über das Separieren a Nach ihrer Zerstörung siedelte diese im Jahre 1942 nach Kulmbach über und wurde dann in die Bundesforschungsanstalt für Fleischwirtschaft und kürzlich in die Bundesanstalt für Fleischforschung umgewandelt.
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und die Gewinnung des Blutplasmas, über die Schaffung von Blutplasmaanlagen, die Verarbeitungsmöglichkeit zu Lebensmitteln verschiedener Art wie Wurst, Würze, Eiersatz, Gemeinschaftsverpflegung. Diese Forschungsergebnisse fanden schnell in die Praxis Eingang. Aber nicht nur deutsche Stellen bedienten sich der Separierung des Blutes, sondern auch andere europäische Länder mit einem Blutüberschuß gingen sehr bald nach deutschem Vorbild zur Plasmagewinnung über und erhielten so ein wertvolles Eiweiß der Volksernährung. Einen sehr breiten Raum haben in der Forschungsarbeit die Salmonellen eingenommen. Jährlich entstanden zahlreiche Lebensmittelvergiftungen durch Salmonellabakterien. Uber ihre Herkunft und Epidemiologie sowie über die bei den einzelnen Tieren auftretenden Typen herrschte damals noch weitgehende Unklarheit. Daher wandten wir ihnen unsere Hauptaufmerksamkeit zu. Aus diesen epidemiologischen Studien entwickelte sich später auf unseren Vorschlag hin eine Zentralstelle für die Erforschung der Salmonellabakterien, die vom R M d l von 1936—1945 im Institut für Lebensmittelhygiene unterhalten wurde und deren Leitung ich meinem Mitarbeiter Dozent Dr. Horst Bartel übertrug. Hier galt es, die im Deutschen Reich bei Tieren vorkommenden Salmonella-Typen, ihr Auftreten bei den einzelnen Tierarten, ihre Häufigkeit, ihre Lebensfähigkeit in der Außenwelt und ihre geographische Verbreitung zu ermitteln sowie die Zusammenhänge mit den Lebensmittelvergiftungsepidemien der Menschen zu klären. In der Humanmedizin bestand damals noch die Ansicht, daß die meisten Gesundheitsschädigungen verursachenden Salmonellatypen ihren Ausgang nur von Haustieren nähmen. Die wirklichen Tatsachen sollten daher ergründet werden. Die Möglichkeit hierzu boten die neueren Erkenntnisse der Rezeptorenanalyse. Notwendig war es aber auch, sich zur exakten Differenzierung mit einer Reihe von Grundlagenforschungen auf dem Gebiete der Salmonellen zu befassen. Aus all diesen Forschungen resultierten Arbeiten über die Epidemiologie der Breslau-Bakterien, ihr Vorkommen bei den verschiedenen Tieren und ihre Resistenz in der Außenwelt, ferner über die Bedeutung der Maus als Überträger, der Ente und ihrer Eier, der Möwen, des Eigelbs und der Mayonnaise sowie über die Abtrennungsmöglichkeit verschiedener Typen der S. typhi murium. G 11
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In der Zentralstelle wurden 13 290 Stämme differenziert. Hierbei zeigte sich, daß die am häufigsten bei Tieren nachweisbaren Salmonella-Typen relativ selten bei Menschen vorkamen und umgekehrt. Ferner Heß sich eine bestimmte geographische Verteilung erkennen, wobei die Niederungsgebiete besonders stark betroffen waren. Die weiteren Arbeiten befaßten sich dann mit der Entstehung der Lebensmittelschädigungen und den notwendigen Verhütungsmaßnahmen. Die Forschungen, die überall größte Beachtung fanden und viel Licht in bis dahin recht unklare Zusammenhänge brachten, erfuhren einen völligen Stillstand beim Zusammenbruch, und später gelang es erst nach sehr langen Mühen, die Fortsetzung dieser epidemiologischen Arbeiten im Bundesgesundheitsamt im Jahre 1958/59 wieder aufnehmen zu lassen. Inzwischen hatten aber die Salmonellen durch Einfuhr von Eierzeugnissen und Futtermehlen, die mit Salmonellen behaftet waren, eine unvorstellbare, weltweite Verbreitung erfahren. Wurden bei den damaligen Forschungen des Institutes noch 28 Typen im deutschen Gebiet festgestellt, so waren es später bereits Hunderte. Sehr umfangreiche Forschungsarbeiten des Institutes erstreckten sich auf die Konservierung von Lebensmitteln durch chemische und physikalische Methoden. Diese Untersuchungen waren mit Rücksicht auf die große Zahl von Zersetzungsprozessen aber auch mit Rücksicht auf Gesundheitsschäden notwendig. Die Konservierung durch Hitze war wohl seit vielen Jahrzehnten üblich. Aber wissenschaftlich fundiert war sie nur wenig. So war die Herkunft der hitzewiderstandsfähigen Anaerobensporen, die zu Bombagen führten, ihre Resistenz und ihre Abtötungsmöglichkeit nur wenig erforscht. Ebenso war der Temperaturgang in den Fleischkonserven und die zur Konservierung notwendige Erhitzungszeit noch völlig unklar. Systematische Untersuchungen auf das Vorkommen dieser Sporen in den Fleischwarenfabriken, ihre Wachstumsbedingungen, ihre Differenzierung, insbesondere auch ihre Zugehörigkeit zur Botulinusgruppe, ihr Verhalten in Eiweiß und Fett waren wichtige zu lösende Fragen. Es folgten elektrometrische Feststellungen des Temperaturganges in Fleischkonserven bei der Erhitzung in verschiedenen Autoklaventypen. Im Laufe der Jahre wurden Messungen fast aller Fleischwaren durchgeführt, und es wurden so der Praxis Anhaltspunkte für eine richtige, Schäden vermeidende Erhitzung gegeben. Diese Wissenschaft-
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liehen Ergebnisse regten dann zahlreiche andere Institute zu weiteren Arbeiten auf diesem Gebiete an. Unsere Konservierungsversuche wurden vor allem durch Dozent Dr. Heinz Rievel3 durchgeführt. Versuche, den Erhitzungseffekt zu erhöhen, führten auch zur Anwendung der überschwingenden Temperatur. — Der Mangel an Dosenblech gab in der Kriegszeit auch Anlaß, zur Konservierung in Gläsern und die Erhitzungsmöglichkeit auf 121 0 C zu prüfen, wobei sich zahlreiche Probleme (Füllung und Leitfähigkeit des Glases, Innendruck, Erwärmen und Abkühlen, Verschluß und Dichtigkeit, Lichteinwirkung und Beeinträchtigung des Inhaltes) ergaben. Aus allen Forschungsarbeiten über die Hitzekonservierung resultierten mancherlei Verhütungsmaßnahmen für die Bombagen. Hierzu gehören Versuche über geeignete Desinfektionsmittel, die Prüfungsmöglichkeit der Dosendichtigkeit, die fraktionierte Erhitzung, hygienische Maßnahmen zur Saitlingsgewinnung, erste Versuche mit dem Cellophanschäldarm, Zusatz chemischer Substanzen und dergleichen mehr. All diese Versuche waren praxisnahe und dienten der Wirtschaft und Ernährung. Unsere bahnbrechenden Versuche mit den Fleischkonserven veranlaßten auch die Reichsstelle für Verpackung, uns um ähnliche Untersuchungen beim Gemüse zu bitten, wobei das Interesse insbesondere der Aluminiumdose galt. Auch diese Versuche führten zu einer Reihe neuartiger Ergebnisse. Auch die Frischhaltung von Eiern beschäftigte uns lange Zeit. Hierbei wurde von Rievel das Imprägnierungsverfahren des Eiinhaltes mit CO a und der Schutz durch Einölen entwickelt. Die Versuche mit Fischen betrafen insbesondere die schädlichen Auswirkungen der unsachgemäßen Behandlung der Fische nach dem Fang an Bord und während der Auktion im Seefischereihafen. Es waren dies Forschungsvorhaben, die zu Erkenntnissen führten, welche auch heute noch beim Bemühen um eine Qualitätsverbesserung der Seefische im Mittelpunkt der Verhandlungen stehen. Schließlich nur noch ein Hinweis auf die zahlreichen Arbeiten auf dem Gebiete der Milchhygiene. Diese betrafen vor allem drei Infek3 Assistent im Institut für Lebensmittelhygiene von 1936—1942. Später Institutsdirektor des Institutes für Bakteriologie und Histologie der Reichsanstalt für Fleischwirtschaft. Von 1953 an auch Leiter der Bundesforschungsanstalt für Fleisch Wirtschaft.
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tionskrankheiten: die Streptokokkenmastitis, Tuberkulose und Brucellose, ihre Diagnose und die Verhütungsmaßnahmen. Kriegsbedingt waren auch einige Arbeiten zur Herstellung von Bakteriennährböden. Hierzu zwangen insbesondere der Mangel an Agar und Pepton. — Die Peptoneinsparung wurde, nachdem entsprechende Versuche durch Roots4 durchgeführt waren, durch die TrypsinVerdauung der Grundsubstanzen ermöglicht. Für die Erhaltung und Einsparung des für alle bakteriologischen Untersuchungen wichtigen Agars wurde ein Agarrückgewinnungsverfahren entscheidend, das mein Mitarbeiter Dozent Dr. Bartel entwickelte und das sehr vielen deutschen Instituten die kulturelle Arbeitsmöglichkeit erhielt. Aus allen Arbeiten des Institutes resultierte schließlich ein umfangreiches Lehrbuch der Tierärztlichen Lebensmittelüberwachung (verfaßt von Lerche, Hemmert-Halswick und Goerttler), das als Standardwerk dieses Gebietes angesehen werden kann. Wenn man die Entwicklung der Lebensmittelhygiene und des hierfür geschaffenen Institutes bis zum Jahre 1945 verfolgen will, kann man auch an den sonstigen Kriegsauswirkungen nicht vorübergehen. Bei Kriegsausbruch erfolgten sofort erhebliche Eingriffe durch Einberufungen von Personal. Zunächst waren es nur die älteren Jahrgänge, die herangezogen wurden, später auch die jungen. Es kam so zu einem unaufhörlichen Personalwechsel. Gleichwohl war das Institut anderen gegenüber noch verhältnismäßig günstig gestellt, weil man erkannte, daß die Tätigkeit im Interesse der Ernährung von Bedeutung war. Ganz besonders galt dies für Arbeiten, die den Ersatzstoffen und der Konservierung dienten. In den ersten Kriegsjahren ging die Arbeit trotz mancherlei personeller Störungen noch verhältnismäßig glatt und gut voran. Die Zahl der Studierenden stieg sogar noch infolge Kommandierung zur Heeres-Veterinär-Akademie einberufener Zivilstudierender, und durch Einlegung von Zwischenstudiensemestern (Trimester) entstand eine sehr umfangreiche Arbeit. Störungen machten sich erst bemerkbar, als die Fliegerangriffe auf Berlin in erhöhtem Maße einsetzten. Im November 1943 fiel eine Bombe auf das Gelände des benachbarten Deutschen Theaters und 1 Prof. Dr. Dr. h. c. Roots, zuerst ord. Professor in Dorpat, dann Mitarbeiter im Institut für Lebensmittelhygiene und seit 1947 or< i- Professor für Mikrobio-
logie und Hygiene an der Veterinärmedizinischen Fakultät der Universität Gießen.
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beschädigte erstmals den Institutsbau, so daß erhebliche Zerstörungen im Kursussaal sowie an Fenstern, Türen und Deckenputz des Institutes entstanden. Zur Sicherung von Instrumenten, Büchern, Apparaten, Material und dergleichen wurden Auslagerungen vorgenommen und Ausweichstellen eingerichtet, jedoch mit dem Resultate, daß später doch fast alles verloren ging. — Im Mai 1944 traf eine weitere Bombe die Südwestseite des Institutes. Diesmal war der Schaden beträchtlich. Zerstört wurden 5 Laboratorien und stark beschädigt der Hörsaal und zwei weitere Laboratorien. Nur dem mutigen Einsatz aller Mitarbeiter war es zu verdanken, daß der aufkommende Brand eingedämmt werden konnte. Nur wer solche Störungen kennen gelernt hat, vermag zu ermessen, was an Energie und Opfern notwendig ist, um trotz der Schäden und seelischen Belastungen den Unterricht und die Forschungstätigkeit aufrechtzuerhalten. Als sich im Herbst und Winter 1944 die Tages- und Nachtangriffe immer mehr verdichteten und regelmäßig Türen und Fenster herausgedrückt wurden oder der Putz von Decken oder Wänden fiel, wurde das Arbeiten ganz ungemein erschwert und zeitweise fast unmöglich. Trotz allem wurde versucht, unverdrossen einen einigermaßen brauchbaren baulichen Zustand wieder herzustellen und die Tätigkeit fortzuführen. Im Laufe der Zeit hatten die Mitarbeiter so große Fertigkeit in handwerklichen Funktionen erlangt, daß sie Glaser- und Tischlerarbeiten oder dergleichen selbst schnellstens vornahmen, um das Institut wieder in einen arbeitsfähigen Zustand zu bringen. Durch die dauernden nächtlichen Störungen kam es zwar bei dem Personal allmählich zu starken Übermüdungen, zumal die oft ausfallenden Verkehrsmittel lange Fußmärsche verlangten. Aber trotz aller Schwierigkeiten und trotz persönlicher Verluste waren alle Mitarbeiter bemüht, regelmäßig an ihre Arbeit zu gehen. Ich glaube, daß man dies auch zu Ehren der Mitarbeiter in einer Chronik niederlegen muß; denn im Ausharren bei all diesen Störungen, Nöten und Erschütterungen zeigt sich erst richtig die Treue und das Verantwortungsbewußtsein der zu einer Gemeinschaft gewordenen Institutsangehörigen. In jener Zeit der ununterbrochenen Luftangriffe forderte man von uns eilige Konservierungsversuche mit Fleisch in Glasflaschen. Diese Versuche waren in den Fleischwarenfabriken nur noch des nachts möglich. Aber sie wurden durchgeführt und zeitigten brauchbare Resultate, die in der Nachkriegszeit ihre Früchte trugen.
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Erst als im April 1945 der Verkehr fast völlig unterbrochen wurde und als sich die Kampflinien ständig näherten, stellte das Institut seine Tätigkeit ein. Am 24. 4. 1945 begann der Beschuß der Fakultät, und an den folgenden Tagen erhielt das Institut mehrere Treffer. Insbesondere wurde die Kuppel des Gebäudes beschädigt. Am 2. Mai wurde dann das Gelände durch die vordringenden Truppen besetzt. Als ich am 18. Mai 1945 meine Arbeitstätte zum ersten Male wieder betrat, bot sich ein Bild des Grauens. Das Gebäude stand zwar noch, aber zahlreiche Einschüsse hatten furchtbare Schäden bewirkt. Im Hause selbst war eine grenzenlose Unordnung. Schubfächer, Schränke, Tische waren meist erbrochen und ausgeräumt, ihr Inhalt herausgeworfen, auf dem Boden zwischen Putz und Schutt liegend. Im alten historischen Hörsaal war die Decke heruntergebrochen, wüst durcheinander lagen Gebälk, Schutt, Glas, Gebrauchsgegenstände. Alles, was nur irgend brauchbar war, hatte man entwendet. So stand ich vor einem Bild schlimmster Unordnung, Unsauberkeit und Zerstörung. Das, was mühevoll im Laufe von Jahrzehnten aufgebaut und sorgfältig geordnet wurde, war vernichtet und sinnlos ausgeplündert. Niederdrückend, erschütternd! Dennoch verzweifelten wir nicht. Sich bald einfindende ehemalige Mitarbeiter legten mit mir Hand an, um zu retten, was zu retten war und um erneut ein arbeitsfähiges Institut zu schaffen. Ich habe diese schweren Monate aus den Jahren 1944/45 geschildert, damit auch sie in Erinnerung bleiben; denn auch sie sind ein Teil der Institutsgeschichte und legen Zeugnis von den Leistungen des Institutes und seiner Mitarbeiter ab.
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ENTWICKLUNG DER VETERINÄRPATHOLOGIE UND IHRE BEDEUTUNG FÜR DIE VERGLEICHENDE PATHOLOGIE Die heute bestehenden tierärztlichen Bildungsstätten wurden in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gegründet. Es war die Zeit, in der Morgagni die Grundlagen für die pathologische Anatomie geschaffen hatte, wodurch vielen spekulativen Betrachtungen über das Wesen der Krankheit der Boden entzogen und eine äußerst fruchtbringende Periode in der medizinischen Forschung eingeleitet wurde. Die Einführung der pathologischen Anatomie hat auch die Entwicklung der Tiermedizin nachhaltig beeinflußt und dazu beigetragen, daß aus der vorher rein empirisch betriebenen Tierarzneikunst eine selbständige Wissenschaft wurde, was wiederum die Erhebung der Tierarzneischulen zu tierärztlichen Hochschulen bzw. Fakultäten nach sich zog. Nach der Gründung der Tierarzneischule in Berlin im Jahre 1790 vergingen allerdings noch 80 Jahre, bis hier der erste Lehrstuhl für Pathologie und pathologische Anatomie geschaffen werden konnte und die anderen tierärztlichen Bildungsstätten diesem Beispiel folgten. Die Ausbildung an den Tierarzneischulen war in den ersten Jahren nach ihrer Gründung vorwiegend auf die praktischen Interessen der Armee, der Gestüte und Marställe ausgerichtet, was sich in Berlin schon daraus ergab, daß der Oberstallmeister Graf von Lindenau die Errichtung der Anstalt gefördert hatte und auch deren Leitung übernahm. Zur Ausbildung der »Königlichen Scholaren« (spätere Beamte), »Militärscholaren« und »Freischüler« waren in Berlin zunächst der Chirurg Prof. Sick, der Mediziner Prof. Naumann, der Apotheker Ratzeburg und der Prosektor Reckleben verpflichtet. Im Vordergrund der Lehre standen Chirurgie, Therapie, Hufbeschlag und Exterieur der Pferde. Weiterhin wurden Botanik, Chemie, Pharmazie, Rezeptierkunde, Diätetik, Seuchenlehre und allgemeine Patho-
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logie vorgetragen. In der Lehre von den Krankheiten wies man auf die zahlreichen Ähnlichkeiten hin, welche zwischen der Organisation und den Funktionen des Menschen und der Haustiere bestehen, und schloß hieraus auf die Ähnlichkeit oder Gleichheit ihrer Krankheitsprozesse. Man glaubte daher die Kenntnisse und Erfahrungen der Menschenheilkunde mit Vorteil in der Tierpathologie verwerten zu können (v. Bollinger). Spätere Untersuchungen zeigten, daß diese Annahme zu einer Reihe von Irrtümern geführt hatte, die diese Art der vergleichenden Pathologie in Mißkredit brachten (Eichbaum). Wenn auch hier und da Obduktionen von Tieren gemacht wurden, um die »inneren Ursachen der Krankheiten« zu ermitteln, so konnte doch von exakten pathologisch-anatomischen Untersuchungen noch keine Rede sein. Immerhin hatte Sick im Jahre 1801 eine ansehnliche Sammlung von anatomischen und pathologisch-anatomischen Präparaten geschaffen (W. Rieck). Im ganzen gesehen war man aber mit den wissenschaftlichen Leistungen der Berliner Tier arzneischule nicht zufrieden. »Von Seiten der höchsten Staatsbehörden wurde daher das dringende Bedürfnis, die Anstalt von Neuem zu beleben, anerkannt und dabei zunächst die Absicht ausgesprochen, daß die Tierarzeneischule mit der hier errichteten Universität in nähere Beziehung zu setzen sey« (Albers). In einem diesbezüglichen Gutachten Hufelands zur Gründung der Friedrich-Wilhelms-Universität finden wir folgende Ausführungen über die »Ecole vétérinaire« in Berlin: »Dies so herrlich etablierte und so reichlich dotierte Institut (man rechnet seine Fonds auf 20000 Tlr. jährlich) beschäftigt sich leider bisher fast bloß mit dem Hufbeschlage, den Pferdekrankheiten und der Bildung der Fahnenschmiede, und verdiente schon längst auf eine höhere wissenschaftliche Stufe gehoben und dadurch erst seiner ganzen Bestimmung nahegebracht zu werden; welche Kultur die innere Naturgeschichte der Tiere und die Kenntnis und Heilung der Krankheiten aller Haustiere betrifft (die gar kein Arzt, wenn er Physikus werden will, entbehren kann), und insofern ein höchst wichtiger und wesentlicher Teil der Heilkunde, also der medizinischen Klasse der Akademie, und als solcher auch in den vollkommensten neuen Akademien Paris, Wien, Würzburg aufgenommen ist. — Die neue Einrichtung gibt dazu die beste Gelegenheit, hauptsächlich
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dadurch, daß das Institut der Direktion des Oberstallmeisters, der in der Regel kein wissenschaftlicher Mann zu sein pflegt, entzogen und in der Verbindung und Aufsicht der Akademie gesetzt, und dann, daß ein Mann von gründlichen und wissenschaftlichen Kenntnissen angestellt wird, welcher zugleich Anatomia comparata lehren könnte, und endlich, daß es zum Gesetz gemacht werde, nicht bloß kranke Pferde und Hunde, sondern auch alle anderen Haustiere aufzunehmen und zum Unterricht der Studierenden zu behandeln« (Lenz). Am 26. 3. 1810 reichte Wilhelm von Humboldt als Chef der Sektion für öffentlichen Unterricht im preußischen Innenministerium eine Denkschrift ein, in der er die wissenschaftliche Tendenz des Tierarzneischul-Institutes hervorhob und die Eingliederung in die Universitätswissenschaften empfahl. Diese Bemühungen scheiterten an dem Widerspruch des Oberhofstallmeisters und an Ressortschwierigkeiten. Darauf wurde dem Staatsrat Langermann und dem Geheimen Rat Rudolphi (Anatomieprofessor an der Universität) der Auftrag erteilt, einen Plan zur zukünftigen zweckmäßigeren Einrichtung der Tierarzneischule zu entwerfen. Nach der hierauf erfolgten Reorganisation wurde sie dem preußischen Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheit unterstellt, das bestrebt war, das Institut zu erweitern und ihm einen größeren Reichtum an Lehrkräften und wissenschaftlichen Hilfsmitteln zuzuführen (R. Froehner). Im Zuge der dadurch möglich gewordenen Neubesetzungen kam E. W. Gurlt, der in Breslau Medizin studiert hatte, 1819 an die Berliner Tierarzneischule, an der er bis 1870 erfolgreich gewirkt hat. Gurlt lehrte hier Botanik, Naturgeschichte, Anatomie, Physiologie und erhielt auf seine Anregung hin vom preußischen Kultusministerium die Genehmigung, vom Wintersemester 1824/25 an auch über pathologische Anatomie zu lesen (Schütz). Bereits 1822 veröffentlichte er ein zweibändiges Handbuch über die vergleichende Anatomie der Haustiere. Die darin beschriebenen vergleichenden Untersuchungsergebnisse erstreckten sich nicht nur, wie bisher üblich, auf das Pferd und Rind, sondern auch auf die übrigen Haustiere. Dieses grundlegende Werk hat nicht nur den weiteren Ausbau der Anatomie gefördert, sondern auch die Voraussetzungen für die pathologische Anatomie der Haustiere geschaffen. Auch in diesem Fach ist Gurlt mit seinem in den Jahren 1831/32 veröffentlich-
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ten Lehrbuch der pathologischen Anatomie wegweisend geworden. Außerdem erschien von ihm 1837 ein Lehrbuch der vergleichenden Physiologie der Haustiere und in den Jahren 1847/48 die Anatomie der Hausvögel. Als Denkmal seines Wirkens hinterließ er der Tierärztlichen Hochschule eine Sammlung von 6418 pathologisch-anatomischen Präparaten, von denen der größere und bedeutendere Teil aus Mißbildungen bestand (Schütz). Diesem Zweig der Tierpathologie wurde in den früheren Jahrhunderten von Ärzten, Laien, weltlichen und geistlichen Fürsten immer großes Interesse entgegengebracht. A m 27. 9. 1725 hatte die Medizinaloberbehörde in Preußen verfügt, daß alle Heilkundigen und Behörden „monstreuse casus" zu melden und möglichst einer Untersuchung zuzuleiten hätten. Nach Errichtung der Tierarzneischulen fiel diesen das Sammeln und Untersuchen der Fehlbildungen zu (R. Froekner). Durch das besondere Interesse Gurlts wurde in Berlin die Sammlung von Mißbildungen in ihrer Reichhaltigkeit so unübertroffen, daß sie fortlaufend von hervorragenden Anatomen und Embryologen aufgesucht wurde, um die Abweichungen an den Tieren und ihre Entstehung zu studieren (Schütz). Auf Grund des umfangreichen Untersuchungsmaterials veröffentlichte Gurlt 1877 ein mit zahlreichen Abbildungen ausgestattetes Werk über „Thierische Mißgeburten". Hierin wird der größte Teil der bis heute bei Tieren bekannten angeborenen Fehlbildungen beschrieben und versucht, ihre Entstehung zu erklären. Wenn auch zu Gurlts Zeiten die Obduktionen von gestorbenen Tieren regelmäßig vorgenommen wurden, so bereitete ihre Durchführung schon aus Mangel an einem geeigneten Raum (es mußte im Freien seziert werden) und Personal erhebliche Schwierigkeiten. Der größte Teil der hiermit verbundenen Arbeiten fiel den Studierenden und dem Anatomiediener zu. Die Durchführung der pathologischanatomischen Demonstrationen wurde den Klinikern überlassen. Hierin wurde ein grundsätzlicher Wandel dadurch möglich, daß nach Gurlts Fortgang die von ihm gelehrten Gebiete in drei selbständige Fächer aufgeteilt wurden und W. Schütz auf den neugeschaffenen Lehrstuhl für allgemeine Pathologie und pathologische Anatomie berufen wurde. Schütz hatte zunächst in Berlin Tierheilkunde und dann Medizin studiert. Auch nach seiner Promotion zum Dr. med. blieb er ein
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eifriger Schüler R. Virchows, indem er seine Vorträge hörte und jahrelang fast täglich seine Demonstrationen und Sektionsübungen besuchte. Nach seiner Berufung wandte sich Schütz mit besonderer Sorgfalt der Durchführung der Sektionen zu. Hierfür war bisher noch kein geordnetes Verfahren bekannt. Die Kliniker bestimmten, welche Organe auf Grund der Befunde am lebenden Tier bei der Sektion untersucht werden sollten; alles andere wurde nur ganz oberflächlich beachtet. Schütz verlangte demgegenüber, daß die Sektion vollständig und objektiv durchgeführt und alle Organe eingehend untersucht wurden. Hierzu führte er bestimmte Methoden ein, deren Grundzüge er bei R. Virchow gelernt hatte und deren Besonderheiten sich aus den verschiedenartigen anatomischen Verhältnissen der Tiere ergab. Die Einzelheiten dieser Methode, zu der eine genau durchgeführte Protokollierung gehörte, wurden in den Anweisungen für das Obduktionsverfahren bei ansteckenden Krankheiten der Haustiere (Instruktion zur Ausführung des Gesetzes vom 23. Juni 1880) niedergelegt. Später erschienen Lehrbücher der Sektionstechnik von Schmey (1911), Buch und Schubert (1914) und C. Krause (1933), die die Schützsche Arbeitsweise zum Vorbild hatten. — Neben den makroskopischen Untersuchungen wurde die pathologische Histologie stärker als bisher betrieben und in den Unterrichtsplan aufgenommen. Mit Hilfe der durch R. Virchow gewonnenen Erkenntnisse in der Humanpathologie und auf Grund eines eingehenden Studiums an tierischen Objekten war Schütz wie kein anderer dazu berufen, dem neuen Lehr- und Forschungsfach die wissenschaftliche Grundlage zu geben. Von besonderem Einfluß auf die Schützschen Arbeiten waren aber auch die großen Erfolge, welche die Bakteriologie unter der Führung von R. Koch gegen Ende des vorigen Jahrhunderts zu verzeichnen hatte. Schütz erkannte frühzeitig die Bedeutung dieser neuen Forschungsrichtung für die Veterinärmedizin. Er wußte sich schnell die von Koch geschaffene Methode zur ätiologischen Forschung anzueignen und hat dann teils allein, teils in Gemeinschaft mit anderen die Erreger von wichtigen Tierkrankheiten (Rotz, Rotlauf, Schweineseuche, Druse) entdeckt. Durch die grundlegenden Experimente von R. Koch und Schütz wurde die Verschiedenheit der humanen und bovinen Tuberkulosebakterien nachgewiesen (Mießner). Die Nachfolger von Schütz in Berlin waren Nöller (1921—1926) und seit 1928 Dobberstein. Nöller hat sich als Parasitologe einen guten
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Ruf erworben. — Dobberstein brachte mit Frei, Hemmert-Halswick und Hjärre ein Lehrbuch über allgemeine Pathologie heraus, bearbeitete in der 2. Auflage des Joestschen Handbuches die Kapitel Leber, Bauchspeicheldrüse, zentrales und peripheres Nervensystem, schrieb eine Anleitung für die Sektion der Haustiere und setzte sich unermüdlich für die Förderung der vergleichenden Pathologie ein. Die Schaffung weiterer selbständiger Lehrstühle für Veterinärpathologie erfolgte in München 1874, in Hannover 1875, in Dresden 1876 und in Gießen 1901. In der Tierarzneischule in München wirkte zunächst der Humanpathologe Otto von Bollinger (1874—80). Ihm folgte 1881 der Mediziner Bonnet, der später als Anatom nach Würzburg ging. Von 1885—1932 wirkte Kitt auf dem Lehrstuhl für allgemeine Pathologie, pathologische Anatomie, Seuchenlehre und Geschichte der Tierheilkunde nicht weniger erfolgreich als Schütz in Berlin. Kitt hatte sich nach seinem tiermedizinischen Studium als Assistent von Bollinger, Bonnet und L. Franck für die Fächer Pathologie und Anatomie qualifiziert. Als Ergebnis seiner Forschungen hinterließ er neben mehr als 300 Veröffentlichungen aus dem Gebiet der Pathologie und Bakteriologie ein hervorragendes dreibändiges Werk über pathologische Anatomie der Haustiere und das Lehrbuch der allgemeinen Pathologie für Tierärzte und Studierende der Tiermedizin, das nach seinem Erscheinen im Jahre 1904 kurz hintereinander sechs Auflagen erlebte und in mehrere Fremdsprachen übersetzt wurde. Der leider zu früh verstorbene 0. Seifried (1932—1947) war ein würdiger Nachfolger Kitts. Neben zahlreichen Veröffentlichungen hinterließ er uns Bücher über die pathologische Histologie, über Vitamine und Vitaminmangelkrankheiten bei Haustieren und über die Krankheiten des Kaninchens. Weiterhin arbeitete er ebenso wie sein Nachfolger Sedlmeier zusammen mit Frau Gylstorff-Sassenhoff auf dem Gebiet der Pathologie des Geflügels. In Dresden wurde der Lehrstuhl für Veterinärpathologie zunächst von Johne (1876—1904) und dann von Joest (1904—1926) betreut, der nach seinem Studium der Veterinärmedizin in Marburg Naturwissenschaften studiert und mit einer zoologischen Arbeit zum Dr. phil. promoviert hatte. In Frankfurt/M. hatte er neben seiner Tätigkeit im pharmazeutischen Institut von Gans die Möglichkeit, im Pathologischen Institut des Senkenbergianums zu arbeiten. Nach vorüber-
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gehender Tätigkeit bei v. Behring in Marburg wurde er zunächst Leiter des Tierseuchen-Institutes in Kiel und dann Professor für allgemeine Pathologie und pathologische Anatomie an der Tierärztlichen Hochschule in Dresden, die 1923 als Fakultät an die Universität Leipzig übersiedelte. Die Ergebnisse seines erfolgreichen Forschens sind in dem von ihm herausgegebenen Handbuch der Speziellen Pathologischen Anatomie der Haustiere (fünf Bände) zusammengefaßt, das in Fachkreisen unentbehrlich ist und zur Zeit neu bearbeitet wird. Außerdem war Joest nach dem Ausscheiden von Ostertag mit Lubarsch Herausgeber der Ergebnisse der allgemeinen Pathologie und pathologischen Anatomie der Menschen und Tiere. Der Nachfolger Joests war Nieberle (1926—1944), dessen Name besonders mit der Erforschung der Tuberkulose bei Tieren verbunden ist und jedem Veterinärmedizin er durch das von ihm zusammen mit Cohrs verfaßte Lehrbuch der pathologischen Anatomie der Haustiere bekannt ist. In Hannover wurde der Lehrstuhl für Veterinärpathologie von Rabe (1875—1898) und dann von seinem Schüler Rievel (1900—1926) verwaltet. Rabe mußte neben der Betreuung seines Fachgebietes noch den Unterricht in der normalen Histologie erteilen und das Spital für kleine Haustiere verwalten. Rievels Lehrstuhl war für pathologische Anatomie und Fleischbeschau eingerichtet. E r befaßte sich mit Tuberkulose, Knochenpathologie, Pathologie des Kreislaufes, Krankheiten des Schweines und war auf dem Gebiet der Milchkunde führend. 1927 wurde Rievels Schüler Lund auf den Lehrstuhl für pathologische Anatomie und Lebensmittelkunde berufen. E r hinterließ nach seinem frühzeitigen Tod im Jahre 1937 außer seinen Einzelveröffentlichungen drei Bücher über tierärztliche Wurstuntersuchung, über pathologische Histologie und über die pathologisch-anatomische Diagnostik. Seit 1937 entwickelt Cohrs, ein Schüler Joests und Nieberles, am Veterinärpathologischen Institut Hannover eine rege Tätigkeit. Er hat neben zahlreichen Einzelveröffentlichungen mehrere Handbuchbeiträge geschrieben, ist Mitverfasser des bekannten Lehrbuches der Speziellen Pathologischen Anatomie der Haustiere, gehört zu den Herausgebern der Ergebnisse der allgemeinen Pathologie und pathologischen Anatomie und des zweibändigen Werkes über die Pathologie der Laboratoriumstiere.
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In Gießen wurde 1901 der neugeschaffene Lehrstuhl für pathologische Anatomie, Tierhygiene, Bakteriologie und Fleischbeschau mit A. Olt (1901—1934) besetzt. Er hatte Veterinärmedizin und Zoologie studiert, war 1895—1897 Repetitor bei Schütz und hatte vorübergehend als Ordinarius für Pathologie an der Tierärztlichen Hochschule Hannover gewirkt. Die Schaffung des neuen Lehrstuhles in Gießen wurde von Bostroem, dem Pathologen der Medizinischen Fakultät, unterstützt, der sich lebhaft für Tierpathologie und vergleichende Teratologie interessierte. Vor der Schaffung des veterinärpathologischen Lehrstuhles hörten die Studenten der Veterinärmedizin bei ihm die pathologischen Vorlesungen. Die allgemeine Pathologie wurde auch während Olts Amtsperiode bis 1934 gemeinsam für Mediziner und Veterinärmediziner vom Humanpathologen gehalten, und zwar auf besonderen Wunsch von Bostroem wegen der von ihm oft betonten Einheit dieses grundlegenden Gebietes der Pathologie für die gesamte Medizin (Schauder). Otts besonderes Forschungsgebiet waren die Krankheiten des einheimischen Wildes. E r schuf auf diesem Gebiete eine reichhaltige Sammlung von pathologisch-anatomischen Präparaten und brachte im Jahr 1914 mit Ströse ein Buch über Wildkrankheiten und ihre Bekämpfung heraus. Olts Nachfolger C. Krause, ebenfalls ein Schüler von W. Schütz, setzte dieses Werk mit einer umfassenden Arbeit über die Pathologie und pathologische Anatomie des Nutz- und Raubwildes sowie der sonstigen wild lebenden Säugetiere und Vögel fort. Von seinen weiteren tiefgründigen Arbeiten seien hier nur das Buch über die Bestimmung des Alters von Organveränderungen bei Mensch und Tier auf Grund histologischer Merkmale und das Kapitel »Gefäße« in Joests Handbuch der Speziellen Pathologischen Anatomie der Haustiere genannt. In den Jahren 1950—1956 wurde das Gießener veterinärpathologische Institut von Hemmert-Halswick geleitet, der ebenso wie sein Nachfolger Pallaske vorübergehend in Leipzig gewirkt hatte. Der jetzige Lehrstuhlinhaber Pallaske (Schüler von Joest und Nieberle) ist durch seine zahlreichen Veröffentlichungen sowie durch seine Bücher über die pathologische Histologie und über die pathologischhistologische Technik bekannt. Seit 1952 besteht ein Institut für Veterinärpathologie der Veterinärmedizinischen Fakultät an der Freien Universität in Berlin.
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Die Begründung der Veterinärpathologie durch eine verhältnismäßig kleine Zahl von Fachvertretern hat der Veterinärmedizin ein weites Forschungsfeld erschlossen. Die Möglichkeit für eine intensive Forschung auf diesem Gebiet sind sicher nicht geringer als in der Humanpathologie. Die Bearbeitung des anfallenden Untersuchungsgutes könnte von den wenigen veterinärpathologischen Instituten gar nicht bewältigt werden, wenn nicht auch die Tierärzte an den staatlichen Veterinär-Untersuchungsämtern, an den Tiergesundheitsämtern der Landesbauernschaften und an den Schlachthöfen fortlaufend pathologisch-anatomische Untersuchungen vornehmen würden. In Anbetracht dessen, daß der Veterinärpathologe stets mit den verschiedenartigsten Tierarten zu tun hat, ergibt sich für ihn gegenüber dem Humanpathologen eine viel größere Variationsbreite der Untersuchungsbefunde. Wenn auch Untersuchungsmethoden, Grundbegriffe und Einteilungsprinzipien weitgehend aus der Humanpathologie übernommen worden sind, so ist doch die Veterinärpathologie keineswegs als eine einfache Kopie ihrer Schwesterwissenschaft anzusehen. Die Anatomie, Physiologie und Leistungsbeanspruchung der verschiedenen Organe weicht bei den Tieren zum Teil erheblich von den entsprechenden Verhältnissen beim Menschen ab, so daß sich dementsprechend auch andere Krankheitsbilder zeigen. Hierfür seien als Beispiele angeführt die praktisch wichtigen Erkrankungen des Wiederkäuermagens, die Veränderungen des Blinddarmes, der fast bei jeder Tierart Unterschiede in Form und Größe aufweist, Euterentzündungen beim Rind, Eileiterentzündungen des Huhnes, Huf- und Klauenkrankheiten sowie Umbau und Verkalkungen der Arterienwände, die mit der beim Menschen so häufigen Arteriosklerose nicht zu vergleichen sind. Das schnellere Wachstum des Knochenskeletts, das bei neugeborenen Tieren meistens wesentlich weiter entwickelt ist als beim menschlichen Säugling, bedingt unterschiedliche Knochenerkrankungen. Die in den ersten zwei Lebensjahren beim Kind auftretende Rachitis ist deshalb in der gleichen Form bei jungen Tieren kaum zu erwarten. Parasitäre Krankheiten kommen zum Teil, der Biologie ihrer Erreger entsprechend, nur bei einzelnen Tierarten vor. Dieses gilt z. B. von der Leberegelseuche der Rinder und Schafe, die sich nur beim Weiden in der Nähe von Gewässern und bei Anwesenheit von be-
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stimmten, als Zwischenwirte fungierenden Schnecken entwickeln kann. Andererseits können die bei Menschen und Tieren vorkommenden Parasiten in ihren verschiedenen Entwicklungsstadien grundverschiedene Krankheitsbilder hervorrufen. So treten die im menschlichen Darm schmarotzenden Bandwürmer bei Tieren als harmlos aussehende bläschenförmige Gebilde in der Muskulatur in Erscheinung. Die Erreger der verheerenden Tierseuchen sind z. T. artspezifisch. Dieses trifft z. B. für die Rinderpest, die Schweinepest und die Geflügelpest zu. Ihre verschiedenartigen Erreger können immer nur bei einer Tierart ihre krank machende Wirkung entfalten. Dagegen wird die Pest der Menschen, die mit den angeführten Pestarten der Tiere nichts gemein hat, durch Nagetiere (besonders Ratten) verbreitet und auf andere Tierarten sowie auf den Menschen übertragen. Hierbei handelt es sich um eine der Anthropozoonosen, von denen wir heute eine größere Zahl (etwa 70) kennen. Das gemeinsame Interesse an diesen Krankheiten schuf die ersten Berührungspunkte zwischen Human- und Tiermedizin und hat immer wieder zu vergleichenden Studien Anlaß gegeben. Einzelne Abhandlungen über die vergleichende Pathologie hat es seit Hippokrates, Aristoteles und Galen zu allen Zeiten gegeben. In der Mitte des vorigen Jahrhunderts wurde erstmals versucht, auf diesem Gebiet systematisch zu arbeiten. Die Impulse hierzu gingen in Deutschland von Heusinger und in Frankreich von Rayer aus. Dieser begründete 1843 ein eigenes Journal »Archives de médecine comparée«, von welchem jedoch nur drei Hefte erschienen. Außer mehreren kleineren Spezialarbeiten schrieb er später einen »Cours de médecine comparée«, in dem u. a. ein vollständiger Uberblick über die bis dahin erschienenen Arbeiten auf dem Gebiet der vergleichenden Pathologie gegeben wird. Ray ers Bemühungen, in Paris einen Lehrstuhl für vergleichende Pathologie zu schaffen, schlugen fehl. Heusinger, Professor der Physiologie und der Medizingeschichte in Würzburg (1823) und dann Professor der speziellen Pathologie und Therapie in Marburg (1829) begründete die vergleichende Pathologie in Deutschland, indem er das zerstreute Material mit ordnender Hand zusammenstellte und sich eingehend mit Tierkrankheiten beschäftigte. Von seinen 150 Schriften befaßten sich 53 mit Veterinärpathologie. Beachtenswert sind besonders seine Monographie »vergleichendhistorisch-geographisch-pathologischen Untersuchungen über die
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Milzbrandkrankheiten der Menschen und der Tiere« sowie sein zweibändiges Buch »Recherches de Pathologie comparée« (1844, 1853). In London wurde Mitte des vorigen Jahrhunderts von Mr. Brown aus Dublin ein Institut mit reichlichen Geldmitteln ausgestattet, welches ausschließlich das Studium der Tierkrankheiten und deren Vergleichung mit den menschlichen Krankheiten zur Aufgabe hatte (v. Bollinger). 1874 wurde in München der an die Tierarzneischule berufene Professor 0. v. Bollinger zugleich zum außerordentlichen Professor für vergleichende Pathologie an der Medizinischen Fakultät ernannt. In der von ihm und L. Franck im Jahre 1875 begründeten »Zeitschrift für Thiermedizin und vergleichende Pathologie« finden wir in dem einleitenden Artikel von v. Bollinger folgenden richtungsweisenden Satz: »Durch die Vergleichung der Thierkrankheiten, der pathologischen Processe bei den verschiedenen Arten und Gattungen des Thierreiches wird die vergleichende Pathologie — analog der vergleichenden Anatomie und Physiologie — die Aufgabe erfüllen, die allgemeinen Gesetze der Entstehung, des Verlaufs und Ausgangs der Krankheiten zu erforschen, mit anderen Worten, die wahre allgemeine Pathologie zu schaffen«. Vorher hatte R. Virchow in einer Rede vor der preußischen Kammer am 6. Juni 1872 (also bald nach der Ernennung seines Schülers Schütz zum Professor für Veterinärpathologie) zur Entwicklung in der deutschen Tierarzneiwissenschaft mit folgenden Worten Stellung genommen : »Eine Thierarzeneischule ist nicht in erster Linie dazu da, um etwa über Thierzucht, über die Principien, nach welchen Thiere aufgezogen und vermehrt werden sollen usw., wie man gute Ra^en zu Stande bringt, zu entscheiden, sondern sie hat begreiflicherweise in erster Linie die pathologische Aufgabe zu erfüllen, wie sie die Medicin an ihrer Stelle zu erfüllen hat, und es ist ein schönes Zeichen, daß der wissenschaftliche Geist, der gegenwärtig in der deutschen Thierarzeneiwissenschaft lebt, dahin geführt hat, die allerinnigste Verbindung mit der Menschenmedicin herzustellen und die Erfahrungen der Thierheilkunde und ihre Grundsätze überall zu prüfen an den Erfahrungen und Principien, die in der größeren und besser ausgebildeten Menschenmedicin vorhanden sind. — Drängen Sie die rein praktischen Interessen in den Hintergrund und Sie werden alsbald sehen, daß die Thierarzeneischulen sich in derselben wissenschaftlichen G II
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Freiheit entwickeln werden, wie sich die deutschen Universitäten entwickelt haben.« — Auf das Kernproblem der vergleichenden Pathologie hinweisend, betonte er, »daß zwischen Thier- und Menschenarzeneikunde wissenschaftlich keine Scheidegrenze ist oder sein sollte. Das Objekt ist verschieden, aber die Erfahrungen, die aus dem Objekt zu schöpfen sind, sind Lehrsätze, welche die Grundlage der Doctrinen bilden. Daher hat sich auch von Seiten der Wissenschaft die Verbindung zwischen Thier- und Menschenarzeneikunde immer inniger gestaltet«. Im Hinblick auf die Ursachen und die Entstehung der Krankheiten schrieb v. Bollinger noch im Jahre 1875: »In Bezug auf eines der wichtigsten und zukunftsreichsten und gleichzeitig dunkelsten Gebiete der Pathologie, die Ätiologie und Pathogenese, läßt sich gleichfalls die sichere Erwartung aussprechen, daß das Studium der Krankheiten der Thiere, der Vergleich mit denjenigen des Menschen eine reiche Ausbeute zu liefern verspricht: Es gilt dies sowohl für die spontanen Erkrankungen einzelner Organe, wie für die große Reihe der Infections- und constitutionellen Erkrankungen«. Bereits ein Jahr später, im Jahre 1876, wurden die grundlegenden Untersuchungen über »Die Ätiologie der Milzbrand-Krankheit, begründet auf die Entwicklungsgeschichte des Bacillus Anthracis« von Dr. Robert Koch, Kreisphysikus in Wollstein, veröffentlicht. Als beamteter Arzt, der damals noch in Fragen der Tierseuchendiagnostik und -bekämpfung von den Regierungsstellen als Gutachter herangezogen wurde, hatte R. Koch Gelegenheit, Tiere, welche an Milzbrand gestorben waren, zu untersuchen. Dabei gelang es ihm mit neuen Untersuchungsmethoden, den Erreger dieser für Tiere und Menschen gefährlichen Krankheit zu bestimmen. Die musterhafte Arbeit schließt mit den Sätzen: »Durch die hierbei gewonnenen Resultate und Untersuchungsmethoden müssen wir uns dann den Weg zum Ferneren und Unzugänglicheren zeigen lassen. Das vorläufig Erreichbare auf diesem Gebiet ist die Aetiologie der infectiösen Thierkrankheiten und der menschlichen Krankheiten, welche, wie Diphtheritis, auf Thiere übertragen werden können. Diese Krankheiten gestatten uns, die für diese Untersuchungen allein nicht mehr ausreichende Kraft des Mikroskopes durch das Thierexperiment zu ergänzen. — Nur mit Zuhülfenahme einer so gewonnenen vergleichenden Aetiologie der Infektionskrankheiten wird es möglich sein, das Wesen
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der Seuchen, welche das menschliche Geschlecht so oft und so schwer heimsuchen, zu ergründen und sichere Mittel zu finden, um sie fernzuhalten.« Die zahlreichen Entdeckungen von Krankheitserregern bei Menschen und Tieren mit Hilfe der Kochschen Untersuchungsmethoden gingen mit ungeahnten Fortschritten auf dem Gebiet der Immunbiologie und -therapie einher, nachdem v. Behring die Immunisierung und Gewinnung von Diphtherie-Antitoxin an Schafen und Pferden gelungen war. Der vergleichenden Pathologie ist in Berlin ebenso wie zur Zeit Virchows und Kochs auch in den vergangenen Jahrzehnten von seiten der Human- und Veterinärpathologen lebhaftes Interesse entgegengebracht worden, wie dies in den regelmäßigen wissenschaftlichen Sitzungen der Berliner Pathologenvereinigung (früher Gesellschaft für pathologische Anatomie und vergleichende Pathologie) unter der Leitung von Lubarsch, Rössle, Dobberstein und Froboese immer wieder zum Ausdruck kam. Beispielgebend für weitere Arbeiten auf diesem Fachgebiet sind die Untersuchungen über die Entzündung von Dobberstein (1958) und Rössle (1923), dessen besondere Zuneigung zur vergleichenden Betrachtung auf die Anregungen seiner großen Lehrer, des Biologen Hertwig, des Serologen Gruber und des vergleichenden Pathologen v. Bollinger, zurückzuführen ist. Die Entzündung ist beim Menschen und bei den höheren Säugetieren ein aus mehreren Faktoren zusammengesetzter Vorgang, bei dem durch Entzündungsreize im Entzündungsfeld eine veränderte Durchblutung, physikalisch-chemische Zustandsänderungen der Gewebsflüssigkeit und des Gewebes, Austritt von Blutflüssigkeit mit Emigration von weißen Blutzellen (Mikrophagen) und Aktivierung der Zellen des ruhenden Mesenchyms zu Makrophagen zu beobachten ist. Dabei werden die als Entzündungsreiz wirkenden körperfremden Substanzen parenteral verdaut. In Anlehnung an die Untersuchungen Metschnikoffs (1892) und auf Grund seiner Studien über die vergleichende Pathologie der niederen Wirbeltiere versucht Rössle die einzelnen Grundformen des beim Menschen höchst verwickelten Entzündungsvorganges in den einfacher verlaufenden entzündlichen Prozessen der niederen Tiere (Coelenteraten, Anneliden, Mollusken, Fischen, Amphibien und Reptilien) zu erkennen, bei denen die Zahl der Entzündungswerkzeuge
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geringer ist als bei den hoch entwickelten Säugetieren und Menschen. Dobberstein führte weitere Untersuchungen zur Klärung der Phylogenese der Entzündungen bei verschiedenen Haus- und Versuchstieren sowie bei Reptilien, Amphibien und Fischen durch und fand, daß bereits bei den verschiedenen Säugetieren Unterschiede in bestimmten Formen der Entzündung bestehen. Unter den Entzündungszellen sind die aktivierten Mesenchymzellen (Histiozyten) die ältesten. Erst mit der Entwicklung besonderer blutbildender Organe (Knochenmark, Milz, Lymphknoten) treten dann die Lymphozyten und ganz zum Schluß die Granulozyten hinzu. Das flüssige Exsudat tritt bereits bei den niederen Säugern und dann bei allen Kaltblütern mengenmäßig stark hinter den Entzündungszellen zurück. Fibrinbildung in nennenswertem Umfang konnte nur bei den höheren Säugern sowie beim Vogel nachgewiesen werden. Dobbersteins Bemühungen zur Intensivierung der Arbeiten auf dem Gebiet der vergleichenden Pathologie haben zur Gründung eines Institutes für vergleichende Pathologie in Berlin-Friedrichsfelde geführt. In der Veterinärmedizinischen Fakultät der Universität Bern befassen sich E. Frauchinger (Dr. med., Professor für vergleichende Neurologie) und R. Fankhauser (Dr. med. vet., Professor für Neuropathologie der Haustiere) intensiv mit der vergleichenden Pathologie des Nervensystems. Sie haben 1957 eine prächtige Monographie über »Vergleichende Neuropathologie der Menschen und Tiere« herausgebracht und kürzlich eine Arbeitsgruppe für vergleichende Neurologie und Neuropathologie gegründet. Die Tagungsberichte derinternationalen Kongresse für vergleichende Pathologie und der Arbeitsgemeinschaft der Veterinärpathologen in der Deutschen Veterinärmedizinischen Gesellschaft geben einen Uberblick über ihre verschiedenen Arbeitsgebiete. An erster Stelle stehen die durch Bakterien, Viren, Parasiten und Pilze hervorgerufenen Anthropozoonosen. Aber auch die Geschwülste, Leukosen, Mineralstoffwechselstörungen und Avitaminosen von Mensch und Tieren waren öfter Gegenstand der vergleichenden Untersuchungen. Neben zahlreichen Referaten über morphologische Veränderungen und Pathogenese der verschiedenen Organerkrankungen wurde auch die Pathologie der Pflanzen berücksichtigt. Andere bemerkenswerte Themen bezogen sich auf die Vererbung in der Pathologie, auf Wachs-
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tumsstörungen, auf natürliches und krankhaftes Altern bei Mensch und Tier, auf die Toxikologie der Schädlingsbekämpfungsmittel und Imprägnierungsmittel (Chlornaphtaline) sowie auf umweltbedingte Schädigungen, insbesondere durch Verunreinigung der Luft mit Fabrikabgasen, Hüttenstaub und Hüttenrauch. Die bisherigen Arbeiten auf dem Gebiet der vergleichenden Pathologie zeigen nicht nur die Vielseitigkeit der sie angehenden Themen und Probleme, sondern auch das Bemühen, neben den morphologischen Untersuchungen die Biologie und Ätiologie zur Klärung der noch nicht genügend erforschten Krankheitsprozesse heranzuziehen. Wenn der Ausgangspunkt der Untersuchungen auch immer wieder die am Einzelfall festzustellenden pathologischen Befunde sein müssen und dadurch gerade in der Veterinärpathologie bei der Fülle der gesamten Befunde die Ubersicht erschwert werden kann, so ist doch gerade die vergleichende Pathologie dazu geeignet, den Blick für das Ganze und Wesentliche zu erhalten. LITERATUR Albers, J. C. : Geschichte der Königlichen Thierarzneischule zu Berlin. Verlag Schade, Berlin 1841. Bollinger, O. : Über die Bedeutung der Thiermedicin und der vergleichenden Pathologie. Dtsch. Ztschr. f. Thiermedicin und vergleichende Pathologie. 1 (I875) 7—23. Dobberstein, J. : Wesen und Aufgaben einer vergleichenden Pathologie. Sitzungsberichte der Dtsch. Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Jg. 1950. Dobberstein, J.: 60 Jahre Veterinär-Pathologie. Dtsch. tierärztl. Wschr. 60 (1953) i i Dobberstein, J.: Veterinärmedizin und vergleichende Pathologie. Mhfte Vet. M e d . 8 (1953) S . 3 7 9
Dobberstein, J.: Vergleichende Pathologie der Geschwülste. Zschr f. Krebsforschung 59 (1953) 600—610. Dobberstein, J. : Die Bedeutung der Veterinärmedizin für die vergleichende Pathologie. Festvortrag bei der 175-Jahr-Feier der Tierärztlichen Hochschule Hannover. Dobberstein, J. : Zur Phylogenese der Entzündung. Zbl. allg. Path. u. path. Anat. 99 (1959) 601. Eichbaum, F. : Grundriß der Geschichte der Thierheilkunde. Verlag Paul Parey, Berlin 1885. Fröhner, R. : Kulturgeschichte der Tierheilkunde. Terra-Verlag Konstanz 1954. Heusinger, Chr. : Recherches de Pathologie comparée. Vol. I und II., Cassel 1847. Koch, R. : Untersuchungen über Bakterien. V. Die Ätiologie der MilzbrandKrankheit, begründet auf die Entwicklungsgeschichte des Bacillus Anthracis. Beiträge der Biologie der Pflanzen, 2. Bd., 2. Heft, Breslau 1876.
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Krause, C. : Pathologie und pathologische Anatomie des Nutz- und Raubwildes sowie der sonstigen wildlebenden Säugetiere und Vögel. Ergebnisse d. allg. Pathologie u. pathol. Anatomie d. Menschen u. d. Tiere 34 (1939) 226—-562. Krause, C. : Z u m 100. Geburtstag v o n Wilhelm Schütz. Tierärztl. Rundschau 37 (1939) 7°9Lenz, M. : Geschichte der königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin. Halle/Saale 1910, B d . 4, S. 87. Linzbach, A . J. : Nekrolog für Professor Dr. R . Rössle. Verhandlungen der Dtsch. Gesellschaft f. Pathologie 42. T a g u n g (1958) 492. Miessner, H . : D e m Geheimen Regierungsrat Herrn Professor Dr. med. et Dr. med. vet. h.c. Wilhelm Schütz in Berlin z u m fünfzigjährigen Berufsjubiläum. Dtsch. tierärztl. Wschr. 18 (1910) 233. R a y e r , P . : Cours de médecine comparée. Introduction. Paris 1863. Renk, W . : Nekrolog für Geheimrat Prof. Dr. Dr. Olt. Dtsch. tierärztl. Wschr. 63 (1956). R e n k , W . : Nekrolog f ü r Prof. Dr. Hemmert-Halswick. Berliner Münchener tierärztl. Wschr. 6g (1956) 200. Richter, J . : Nekrolog für Obermedizinalrat Professor Dr. phil. Dr. med. vet. Dr. med. h.c. E r n s t Joest. Berliner tierärztl. Wschr. 42 (1926), 501. Rieck, W . : Beiträge zur Geschichte der Veterinärmedizin. Rössle, R . : Vergleichende Pathologie der niederen Wirbeltiere. Münchener Med. Wschr. içoô, Nr. 34. Rössle, R . : Referat über Entzündung. Verhandlungen der Dtsch. Pathologischen Gesellschaft ig (1923) S. 18. Rössle, R . : Natürliches und krankhaftes Altern bei Mensch und Tier. V I . Internat. Kongreß f. vergl. Pathologie 1952, I I I , 17. Rudolphi, K . A . : Bemerkungen aus d e m Gebiet der Tierarzneikunde, auf einer Reise gesammelt. 2 Teile, Berlin 1804 und 1805. Schmaltz, R . : Nekrolog für Prof. Dr. Rabe. Berliner tierärztl. Wschr. i8g8, S. 103. Schmaltz, R . : Nekrolog für Prof. Dr. Dr. W . Schütz. Berliner tierärztliche Wschr. 36 (1920) 624. Sedlmeier, H . : Theodor K i t t z u m Gedächtnis. Berliner Münchener tierärztl. Wschr. 1958. Gedenkschrift z u m 100. Geburtstag v o n Prof. Dr. Theodor K i t t . Schütz, W . : Die Thierärztliche Hochschule zu Berlin. 1790—1890, Festschrift. Verlag A u g u s t Hirschwald, Berlin 1890. Tagungsberichte der Arbeitsgemeinschaft der Veterinärpathologen 1. T a g u n g 1951 in H a n n o v e r 2. T a g u n g 1952 in Freiburg 3. T a g u n g 1953 in Marburg 4. T a g u n g 1954 Hamburg 5. T a g u n g 1955 in Zürich 6. T a g u n g 1956 in Düsseldorf 7. T a g u n g 1957 i n B a d Nauheim 8. T a g u n g 1958 in W i e n 9. T a g u n g i960 in München Tagungsberichte der Internat. Kongresse für vergleichende Pathologie 1. K o n g r e ß 1912 in Paris 2. K o n g r e ß 1931 in Paris
Entwicklung der Veterinärpathalogie und ihre Bedeutung 3. 4. 5. 6. 7.
Kongreß Kongreß Kongreß Kongreß Kongreß
1936 1939 1949 1952 1955
in in in in in
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Athen Rom Istanbul Madrid Lausanne
—: Nekrolog für Professor Dr. H. Johne. Ztschr. f. Fleisch- und Milchhygiene 21 (1911) 131. —: Biographie des Prof. Dr. Dr. H. Rievel in „Die Tierärztliche Hochschule in Hannover, 1778—1953". Verlag M. & H. Schaper, Hannover 1953 S. 262. —: Biographie des Prof. Dr. L. Lund in „Die Tierärztliche Hochschule in Hannover, 1778—1953". Verlag M. & H. Schaper, Hannover 1953 S. 297. Schauder, W.: Festschrift Ludwigs Universität, Justus Liebig-Hochschule 1607—1957.
GÜNTHER SCHÜTZLER
CHRONIK D E R MEDIZINISCHEN
TIERKLINIK
UND DES INSTITUTS FÜR GERICHTLICHE TIERHEILKUNDE BERLIN 1790—1945 MIT 4 ABBILDUNGEN I. V o n d e r G r ü n d u n g d e s S p i t a l s b i s z u r A u f t e i l u n g in e i n z e l n e
Kliniken
1788 wurde auf Geheiß des Königs Friedrich Wilhelm II. aus Mitteln der Königlichen Dispositionskasse ein 37 Morgen großes Gelände im Nordwesten von Berlin beiderseits der Panke gekauft. V o r 1 7 1 3 war dieses Grundstück Eigentum des preußischen Königs und diente als Parforce-Jagdhausgarten. Nach wiederholtem Besitzwechsel erwarben die Gräflich-Reußschen Erben dieses Gelände und verkauften es 1784 an den Hofrat Bertram (52). Die Baulichkeiten für die Schola veterinaria Berolinensis wurden 1788 nach Plänen und unter Aufsicht des Geheimen Kriegsrates und Oberbaudirektors Carl Gotthard Langhans, der auch der Schöpfer des Brandenburger Tores in Berlin ist, auf diesem Gelände begonnen. Bei der Eröffnung der Tierarzneischule am 1. Juni 1790 gehörte das Tierspital zu den wesentlichen Einrichtungen der neugegründeten tierärztlichen Lehranstalt. D a s Spital besaß zur Hauptsache Stallungen für Pferde. Ställe für Rinder, Schafe, Ziegen, Schweine und Hunde waren in geringer Zahl vorhanden. Der klinische Unterricht hat in den ersten Jahren vornehmlich am Pferde stattgefunden; denn die Lehranstalt
hatte die
Aufgabe,
tüchtige Fahnenschmiede durch ein dreijähriges Studium für die Armee auszubilden. Militär-Eleven waren auch in den ersten Jahren fast ausschließlich Studierende dieser Anstalt. Bei der Eröffnung zählte die Anstalt 46 Schüler: 6 Königliche Scholaren, 39 Fahnenschmiede, I Freischüler (r). In der im Jahre 1794 von dem Grafen von
Chronik der Medizinischen Tierklinik
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Lindenau erlassenen revidierten Instruktion über die Beschäftigung der Zöglinge wird auch ein »auswärtiger Dienst« angeordnet. Die Schüler mußten mit dem Professor und dem Prosektor dieköniglichenMarställe besuchen und dort die kranken Pferdebehandeln. Die Geburtshilfe beim Pferd wurde schon 1790 dem Professor Sick als Lehrfach zugewiesen, der auch 1790—1807 »Lehre von den Seuchen« vorgetragen hat. In dem Unterrichtsplan des Jahres 1804 wurde Sick beauftragt, den theoretischen und praktischen Unterricht über Krankheiten der sämtlichen übrigen Haustiere durchzuführen und zur Ergänzung Exkursionen mit den Schülern in die Umgebung von Berlin zu unternehmen. Sick trat 1806 zurück. Sein Amt blieb längere Zeit unbesetzt. Von verschiedenen Stellen wurde deshalb Klage über die nur einseitige Ausbildung der Scholaren am Pferde geführt. Inzwischen war auch die Zahl der Zivilstudierenden größer geworden. Im Sommersemester 1817 studierten 55 Zivileleven und 42 Militäreleven (J). In einem gutachtlichen Bericht vom 24. September 1817 der Regierungskommissare von Koenen und von Bandemer an den Minister wird unter anderem über das Spital folgendes vermerkt: »Der p. Naumann besorgte allein das Thierspital, welches sich indess bis jetzt nur auf Pferde erstreckte, denn ein Schwein, welches dort wahrgenommen wäre, sowie die Hunde, die mehr Raum als gebührt, einnehmen, möchten das Spital für Haustiere nicht rechtfertigen« (61). Der Minister von Altensteinveriügte daraufhin am 7. September 1818, »daß die Kur der Hunde dem p. Grüll unter Leitung des Professors Reckleben übertragen werde«. Seit 1818 ist in den Akten Rede von einer Hundeklinik. In dem Stundenplan für das Sommersemester 1824 ist das Spital für kleine Haustiere unter Hertwig zum erstenmal aufgeführt. Halbach liest ab Wintersemester 1823/24 »Krankheiten des Rindes und der anderen Haustiere mit Ausnahme des Pferdes«, Störig ab 1824 »Züchtung und Pflege des Schafes und dessen Krankheiten«. Hertwig (25) gibt 1836 in dem ersten statistischen Bericht seit Gründung des Spitals die Klinikeinteilung an: »Die Clinik der Thierarzneischule besteht gewissermaßen aus drei Abteilungen, indem sie 1. solche Thiere betrifft, die in den Krankenställen der Anstalt selbst verpflegt werden, 2. solche, die nur vorübergehend in die Anstalt kommen und dieselbe nach geschehener Untersuchung oder nach erhaltener Hülfe sogleich wieder verlassen (ambulante Patienten); und
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3. solche, die im Hause der Eigenthümer unter Leitung eines Lehrers der Thierarzneischule von den Schülern curativ behandelt werden (ambulatorische Clinik)«. 1835 genehmigte das Ministerium die Einrichtung einer ambulatorischen Klinik, die zusammen mit den kreistierärztlichen Geschäften der Kreise Teltow, Niederbarnim und Ost-Havelland dem Repetitor Dr. pliil. Spinola übertragen wurde. Am 1. April 1849 scheidet Spinola aus und Gerlach übernimmt diese Klinik mit den kreistierärztlichen Aufgaben. Aus der ambulatorischen Klinik ist 100 Jahre später die Klinik für Rinder und Geburtshilfe hervorgegangen. 1930 wurde der Bau unter Friedrich Schöttler begonnen und 1934 das Ordinariat für Geburtshilfe und Rinderkrankheiten geschaffen, auf das nach dem Tode von Friedrich Schöttler 1936 Johannes Liess berufen wurde. Die ambulatorische Klinik blieb mit diesem Lehrstuhl verbunden. Bis 1885 wurden zur Hauptsache Pferde in das Spital für große Haustiere zur Behandlung innerer und äußerer Krankheiten aufgenommen oder nur poliklinisch untersucht und behandelt. Wegen der großen Patientenzahl erfolgte 1885 die Aufgliederung des Spitals in eine selbständige Station für innere Krankheiten unter der Leitung von Dieckerhoff und eine selbständige Station für äußere Krankheiten unter Möller. Für die Leitung der Poliklinik wurde zunächst ein Repetitor eingesetzt: 1885—86: Peters, 1886—88: Malkmus, 1888—89: Preuße, 1889—90: Arndt, 1890: Rupprecht, 1891: Lothes, 1892 wurde ein ordentlicher Lehrer mit der Leitung der Poliklinik beauftragt (Ostertag bis 1896, Eberlein bis 1904; ab 1904Kärnbach, i9i4gestorben). 1919 wurde Neumann-Kleinpaul auf das Ordinariat der Poliklinik berufen, der nach Emeritierung von Fröhner 1926 die MedizinischForensische Klinik übernahm. Das Ordinariat der Poliklinik wurde zugunsten der Parasitologie aufgelöst. Die poliklinische Behandlung der Patienten fiel nun wieder der inneren und der chirurgischen Klinik entsprechend ihrem Aufgabengebiet zu. Die geschichtliche Entwicklung des Spitals mit der Aufteilung in einzelne Kliniken ist in folgender Ubersicht, die auch die Namen der Leiter enthält, zusammengestellt (1, 2, 5 , 1 4 , 1 5 , iy, 32, 50, 51, 52, 57, 58, 59, 61). 1790—1804 Leitung des Spitals durch Naumann und Sick im j ährlichen Wechsel 1804—1832 Naumann allein als Leiter eingesetzt, Vertreter: Reckleben 1818 Hundespital unter Reckleben mit Grüll eingerichtet
Chronik der Medizinischen Tierklinik 1819 1826 1S32—1849 1835 1850—1851 1852—1857 1857—1869 1870—1877 1875—^78 1878—1885 1885
1885— r 9°3 1892 1904—-1926 1906 1912 1026—1945 1926 1930 1934
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Halbach bekommt besondere Abteilung des Pferdespitals Hertwig wird Nachfolger von Halbach Hertwig Leiter des Spitals Ambulatorische Klinik unter Spinola eingerichtet Spinola Leiter des Spitals Hertwig Leiter des Spitals Köhne Leiter des Spitals Gerlach Leiter des Spitals Medizinische und Chirurgische Abteilung (Möller und Eggeling) Dieckerhoff Leiter der Klinik für große Haustiere Trennung der Klinik in: Station für innere Krankheiten, Leiter Dieckerhoff Station für äußere Krankheiten, Leiter Möller Schaffung einer Poliklinik unter Leitung eines Repetitors Dieckerhoff, Medizinische Spital-Klinik für größere Haustiere Leiter der Poliklinik für große Haustiere ein ordentlicher Lehrer Fröhner, Direktor Neue Bezeichnung: Medizinische Klinik für größere Haustiere Neue Bezeichnung: Medizinisch-Forensische Klinik für größere Haustiere Neumann-Kleinpaul, Direktor Teilung der Poliklinik, Patienten mit inneren Krankheiten werden poliklinisch von der Medizinischen Klinik behandelt Neue Bezeichnung: Medizinische Tierklinik und Institut für Gerichtliche Tierheilkunde Eingliederung der Tierärztlichen Hochschule in die Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin II. G e b ä u d e
Bei der Eröffnung der Tierarzneischule im Jahre 1790 waren für das Spital folgende Bauten errichtet worden: Großes Hauptgebäude (etwa 1 3 m breit, 55 m lang), in dem untergebracht waren: Operationsund Behandlungsraum, Pferdeställe, Ställe für Rinder, Schafe, Ziegen, Schweine und Hunde, eine Reitbahn, Wohnungen; zwei gegenüberliegende Stallgebäude, ein Bad für Pferde. E s konnten etwa 40—55 Pferde aufgenommen werden. 1 8 3 6 wurden baufällige Klinikgebäude abgerissen, renoviert und Erneuerungsbauten
durchgeführt. Zum 50-jährigen Bestehen der
Tierarzneischule im Jahre 1840 bestand das Spital aus vier verschiedenen, Gebäuden, in denen Stallungen für 1 1 0 Pferde vorhanden waren. E s gab drei Abteilungen (r). Gerlach
ließ 1 8 7 1 die alten Pferdeställe umbauen und errichtete
eine Demonstrationshalle (15 m lang, 6 m breit). 1876/77 wurde ein Krankenstall (42 m lang, 1 4 m breit) für 28 Pferde gebaut; in dem Dachgeschoß waren Wohnräume untergebracht.
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Als im Jahre 1885 die Klinik für große Haustiere geteilt wurde, standen der Medizinischen Klinik folgende Gebäude zur Verfügung: Reitbahn, Wohnungen, Dienst- und Nebenräume, Krankenställe, Pferde- und Rinderstallungen der Poliklinik, Demonstrationshalle, Krankenställe. Es konnten 40 Pferde eingestellt werden. Am Klinikhof lagen auch die Schmiede (G), die Stallungen der Chirurgischen Klinik (D) und das Apothekengebäude (H), in dem sich in späteren Jahren Unterkünfte für die Famuli der Medizinischen Tierklinik befanden (Abbildung 1).
Abb. 1: Situationsplan der Klinikgebäude im Jahre 1890, nach Schütz (6t) A
H
R e i t b a h n , Wohnungen, Dienst- und Nebenliume E r a n k e n s t ä l l e der Med. Tierklinik Pferde- und Rinderstallungen der Poliklinik Chirurg. Tierklinik Demonstrationshalle der Med. Tierklinik Krankenställe der Med. Tierklinik Schmiede Apotheke
1930 war eine Neugestaltung der Klinik geplant, die aber nicht ausgeführt wurde. 1926 wurde die Chirurgische Klinik neu gebaut. 1934 wurden die Gebäude C und G abgebrochen und dafür die Schmiede und die Apotheke mit Verwaltungsräumen neu errichtet. Kurz vor Kriegsbeginn im Jahre 1939 trat unter den Pferden in Berlin die Räude häufiger auf, so daß die Klinik eine Gaszelle im Bereich der Militärlehrschmiede Karlstraße aufstellte.
Die Demonstrationshalle, in der eine dicke Schicht Sägemehl als Untergrund diente, wurde 1942 mit Zementfußboden versehen, die Wasch- und Heizungsanlagen wurden verbessert. Die ungenügende Desinfektionsmöglichkeit der Halle war für den Umbau mit ausschlaggebend, da insbesondere 1941/42 unter den Pferden zahlreiche Fälle einer Enteritisbakterien-Infektion (Typ Newport) vorkamen (66). Während der ersten Kriegsjahre blieb die Klinik von Zerstörungen durch Luftangriffe verschont. Nur geringe Schäden an den Dächern traten auf. Am 18. März 1945 brannte der älteste Gebäudeteil (A) der Klinik, die Reithalle, mit dem angrenzenden Bau, in dem sich die Bücherei, 3 Laboratorien, Direktorzimmer und Wohnungen be-
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fanden, vollständig aus. Ein Teil des Bücherbestandes konnte gerettet werden (14). Das zerstörte Gebäude wurde an gleicher Stelle, nur etwa 6 m weiter zur Panke hin, 1952 neuerrichtet (Hörsaal, Laboratorien, Geschäftsräume, Isolierställe). III. B i o g r a p h i e n Es sind vornehmlich die Leiter des Spitals und der späteren inneren Klinik berücksichtigt worden. Für das Verzeichnis der Schriften wurde die »Bibliotheca Veterinaria« von Klee (2g) mit herangezogen. Naumann Johann Georg Naumann, geb. am 14. Oktober 1754 in Dresden, widmete sich zuerst der Apothekerkunst. Als Apothekergehilfe besuchte er die Vorlesungen von Weber und Rumpelt an der Tierarzneischule in Dresden. In Leipzig studierte er Medizin. 1787 erwarb er den Grad eines Bakkalaureus und hielt eine öffentliche Vorlesung über den Nutzen des Studiums der Tierarzneikunde für Menschenärzte. Die Medizinische Fakultät zu Leipzig empfahl dem Königlich Preußischen Oberstallmeister Grafen von Lindenau Naumann als Lehrer für die Gründung der Tierarzneischule in Berlin. Naumann ging auf Kosten des Preußischen Staates im Dezember 1787 nach Alfort bei Paris, um an der dortigen Tierarzneischule unter Bourgelat und Chabert zu studieren. Die Tierärztliche Lehranstalt zu Alfort war glänzend ausgestattet und hatte einen guten Ruf. Wegen ihrer Entfernung von Paris hatte sie aber nicht für den Unterricht ausreichend Patienten, so daß Naumann nur Pferde mit Rotz, ein Pferd mit Kolik und einige hufkranke Pferde gesehen haben soll. Naumann kehrte am Anfang des Jahres 1790 aus Frankreich zurück und trat bei der Eröffnung der Tierarzneischule zu Berlin am 1. Juni 1790 als Professor ein. Mit ihm wurde Professor Sick angestellt. Naumann und Sick hatten im jährlichen Wechsel die Leitung des gesamten Unterrichts und des Tierspitals inne. Ab 1804 wurde Naumann allein mit der Leitung des Spitals beauftragt. Eine Abteilung des Spitals wurde am 1. November 1819 dem Obertierarzt Halbach übertragen. Nach seinem Ausscheiden am 1. April 1826 trat Hertwig die Nachfolge an, der auf Wunsch von Naumann 1832 den klinischen Unterricht in allen Krankenställen übernahm. Als Sick im Jahre 1806 ausschied, wurde die Inspektion des gesamten Unterrichts Naumann übertragen und ihm 1810 der Titel Direktor
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verliehen. 1817 erhielt er das Prädikat »Ober-Staabs-Roßarzt des Garde-Corps«. Durch Verfügungen vom 14. und 29. 7. 1800 war für Naumann, Sick und den Apotheker Ratzeburg »ein dem Portepee gleiches goldenes, mit rother Seide melirtes Hutkordon« vorgeschrieben (11).
Die Vorlesung über spezielle Therapie und Pathologie und über Hufbeschlaglehre hielt Naumann bis zu seinem Tode. Als Naumann am 5. Juni 1836 in Berlin starb, war er 46 Jahre lang Professor an der Tierarzneischule. Nekrolog (24), Portrait (15). S c h r i f t e n : Charakteristik und Geschichte der vorzüglichen Hengste und Zuchtstuten der Königl. Preuß. Hauptgestüte nebst ihrer Abbildung nach dem Leben, herausgegeben in Verbindung mit Helmbrecht. 1796 bis 1798 3 Hefte erschienen; Beschreibung des Condö, eines alten Leibreitpferdes Seiner Majestät Friedrich des Einzigen, 1798; Über die jetzt herrschende Pferdeseuche, 1805; Über die vorzüglichsten Theile der Pferdewissenschaft, 2 Teile, 1. Aufl. 1800 bis 1801; 2. Aufl. 1815; 3. Aufl. 1828.
Krumm Wilhelm Krumm (Schreibweise des Namen Krum nach 1795), geboren 1744. Der Königl. Leib-Roß-Arzt hatte sich als ausgezeichneter Praktiker in dem Potsdamer Marstall bewährt und wurde deshalb bei Eröffnung der Tierarzneischule als Prosektor eingestellt. Mindestens bis 1797 versah er den Veterinärdienst in dem Spital und in den Berliner und Potsdamer Marställen. Krumm starb am 15. 10. 1809 (51). Sydow L. C. Sydow, Dr., Militärarzt, wurde nach der Ernennung von Reckleben zum zweiten Professor die freie Prosektorstelle übertragen, die er bis zum Jahre 1813 innehatte. S c h r i f t e n : Entwurf von Vorlesungen über Tierarzneikunde, Berlin 1811.
Reckleben Johann Dietrich Reckleben, Dr., geb. 1766, trat am 1. Juni 1790 als Prosektor und zweiter Assistent am Tierspital ein. Er war pensionierter Chirurgus und übte auch die ärztliche Behandlung erkrankter Beamter und Eleven aus. 1804 wurde Reckleben zweiter Professor der Zergliederungskunde und hatte die Aufsicht über das Spital bei Abwesenheit oder Krankheit der Professoren Naumann und Sick. Reckleben hielt Vorlesungen über Anatomie, Physiologie, Diätetik der Haustiere, Gerichtliche Tierheilkunde und Veterinärpolizei, Krankheiten des Rindes. A b 1818 hatte er die Leitung des Hundespitals.
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Reckleben wurde am 2. August 1842 pensioniert, nachdem er 52 Jahre lang der Lehranstalt angehört hatte. Er starb am 14. Juni 1851. S c h r i f t e n : De ruminatione animalum, Erfurt 1808.
Halbach Georg Peter Friedrich Halbach, geboren am 11. August 1791 in Lippstadt, praktizierte nach dem Studium an der Berliner Lehranstalt als Tierarzt in Lippstadt. A m 1. Oktober 1818 wurde er als Repetitor an der Tierarzneischule eingestellt. Er assistierte Naumann beim klinischen Unterricht und bekam am 1. November 1819 eine besondere Abteilung des Pferdespitals übertragen. Durch die königliche Regierung wurde er auch gleichzeitig als Gutachter in Prozeßangelegenheiten eingesetzt und mit der Führung eines Amtssiegels beauftragt. E r war auch berechtigt, amtliche Befundscheine über Sektionen auszustellen. Halbach repetierte die Vorlesung Allgemeine und Spezielle Pathologie und Therapie. Das Manuskript der Vorlesung wird von Graf (iy) in einer Dissertation besprochen. In Vertretung für Gurlt las er Osteologie, Physiologie und Botanik. Neben seiner Lehrtätigkeit betreute Halbach die Pferde des Marstalles. E r war wegen seines Lehrtalentes bei den Schülern sehr beliebt. Halbach schied am 1. April 1826 aus und wurde Roßarzt bei den königlichen Marställen. Sein Können wurde 1833 durch die Berufung in das Provinzial-Medizinal-Kollegium als Veterinär-Assessor gewürdigt. Halbach starb am 15. August 1837 (17). Hertwig Karl Heinrich Hertwig, geb. 10. Januar 1798 zu Ohlau, studierte, angeregt durch seine Tätigkeit als Krankenpfleger eines Ruhrlazarettes, in Breslau Medizin (1817—18) und erlangte die Approbation als Chirurgus. Anschließend studierte er drei Semester Tierheilkunde in Wien, zwei Semester in München und besuchte auch die übrigen tierärztlichen Bildungsstätten in Deutschland. 1822 bestand er die tierärztliche Prüfung in Berlin, wurde 1823 zum Repetitor ernannt und übernahm 1826 als Nachfolger von Halbach eine Abteilung des Spitals für große Haustiere. Neben dieser Tätigkeit setzte Hertwig sein Medizinstudium fort, wurde promoviert am 6. Februar 1826 zum Dr. med. und legte 1827 die Staatsprüfung als Arzt und Wundarzt ab. Längere wissenschaftliche Reisen führten ihn nach Frankreich und England;
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zur Beobachtung der Rinderpest hielt er sich in Rußland auf. 1829 wurde Hertwig als Oberlehrer und 1833 als Professor angestellt. Hertwig leitete von 1832 bis 1857 das Spital, nur in den Jahren 1850/51 war Spinola die Leitung übertragen worden. 1859 übernahm Hertwig die ambulatorische Klinik mit den kreistierärztlichen Aufgaben in den Kreisen Niederbarnim, Ost-Havelland und Teltow. 1870 schied Hertwig als Veterinärassessor des Medizinal-Kollegiums der Provinz Brandenburg, zu dem er 1837 ernannt worden war, aus, erhielt den Charakter als Medizinalrat und wurde mit der kommissarischen Verwaltung der Departementstierarztstelle des Regierungsbezirkes Potsdam betraut. Nach 53 y 2 -jähriger Tätigkeit an der Tierarzneischule Berlin trat er am 1. April 1877 in den Ruhestand. Hertwig starb am 19. Juli 1881 an einem gastrischen Fieber in Berlin. Portrait (73), Nekrolog (53). Die Centraivertretung der preußischen tierärztlichen Vereine rief zur Stiftung einer Büste von Hertwig auf (xo). Sie wurde von dem Bildhauer Dammann geschaffen und fand ihren Platz 1902 in der Aula der Tierärztlichen Hochschule Berlin (58). Nach 1945 befand sich die Marmorbüste im Institut für VeterinärAnatomie. S c h r i f t e n : Handbuch der praktischen Arzneimittellehre für Tierärzte (V), Leipzig 1872; Praktisches Handbuch der Chirurgie für Tierärzte (III), Berlin 1874; Die Krankheiten der Hunde und deren Heilung (VIII), Berlin 1880; Taschenbuch der gesamten Pferdekunde, Berlin 1878; Beiträge zur näheren Kenntnis der Wutkrankheit oder Tollheit der Hunde. Nebst Vorwort von Hufeland, Berlin 1829; Untersuchungen über den Übergang und das Verweilen des Arseniks in dem Tierkörper, Berlin 1847; Mitteilung aus der tierärztlichen Praxis im Preußischen Staate. 7 . — 1 2 . Jg. 1859—1864. Gurlt und Hertwig: Untersuchungen über die Haut des Menschen und der Haussäugetiere, über die Krätz- und Räudemilben, (II) Berlin 1844; Gurlt und Hertwig: Chirurgische Anatomie und Operationslehre für Tierärzte, Berlin 1847; Erdmann und Hertwig : Tierärztliche Rezeptierkunst und Pharmakologie nebst Sammlung bewährter Heilformeln (IV), Berlin 1881; Magazin für die gesamte Tierheilkunde, 1835—1874, herausgegeben von Gurlt und Hertwig.
Wagenfeld C. Ludwig Wagenfeld, Dr. phil., geb. am 4. Juni 1801 in Döhren, war Kreistierarzt in Danzig. 1840 leitete er den klinischen Unterricht im Spital für kranke Hunde und kleinere Haustiere und assistierte außerdem Hertwig in der Behandlung der größeren Haustiere. Wagenfeld war später Departementstierarzt und starb 1867 in Danzig. Er hat mehrere Schriften auf dem Gebiet der inneren Medizin verfaßt.
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Spinola Werner Theodor Johann Spinola wurde am 2.12. 1802 in Driburg in Westfalen geboren. Er studierte in Hannover und Berlin Tierheilkunde. Nach bestandenem Examen in Berlin wurde Spinola Roßarzt in den königlichen Remontedepots und später Kreistierarzt. Spinola unternahm längere wissenschaftliche Reisen, auf denen er die Veterinärschulen und Gestüte Deutschlands, Ungarns und Frankreichs besuchte. 1834 wurde er auf Grund einer Dissertation über Ansteckungsstoffe und ansteckende Krankheiten der Haustiere in Gießen zum Dr. phil. promoviert. Am 1. Oktober 1833 ging er an die Tierarzneischule Berlin. 1833/34 w a r e r Repetitor für Krankheiten der Rinder, 1834—36 für spezielle Pathologie und Therapie und Seuchenlehre. 1836 erfolgte seine Berufung als Lehrer für innere Veterinärmedizin. Vom 1. Oktober 1836 bis 31. März 1870 war spezielle Pathologie und Therapie sein Lehrgebiet. Spinola hat die Leitung der verschiedenen Kliniken innegehabt: 1835 Spital für kleine Haustiere, 1849 Ambulatorische Klinik, 1851 Klinik für große Haustiere, 1870 Klinik für kleine Haustiere.
Spinola wurde am 1. April 1870 pensioniert und starb am 17. Mai 1872 in Berlin. S c h r i f t e n : Über das Vorkommen von Eiterknoten-Abszessen in den Lungen der Pferde, Gießen 1839; Die Krankheiten der Schweine, Berlin 1842; Mitteilungen über die Rinderpest, Berlin 1846; Die Influenza der Pferde, Berlin 1849; Handbuch der speziellen Pathologie und Therapie für Tierärzte, Berlin 1863.
Köhne Heinrich Wilhelm Köhne, geboren 1822 zu Lindenau, begann 1840 an der Tierarzneischule in Berlin zu studieren. 1844 bestand er die Fachprüfung und erwarb 1846 die Approbation als Kreistierarzt. Nach der Tätigkeit als Kreistierarzt der Kreise Warburg und Kempen übernahm Köhne 1854 e i n e Repetitorstelle in Berlin. 1857 wurde er Departementstierarzt im Regierungsbezirk Köln und bereits nach einem halben Jahr wegen besonderer wissenschaftlicher und pädagogischer Fähigkeiten als Lehrer und Leiter des Spitals für große Haustiere nach Berlin zurückberufen. 1859 übernahm Köhne im Nebenamt die Departementstierarztstelle des Regierungsbezirkes Potsdam. 1870 wurde ihm das Prädikat »Professor« verliehen. Am 1. April 1870 nahm G 11
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Köhne den Ruf an die Tierarzneischule Hannover an. Von 1873 bis zu seinem Tode am 26. Juni 1885 war er Staatstierarzt in Hamburg. Nekrolog (54), Biographie (13). S c h r i f t e n : Von dem Provokations-Verfahren und der Beweis-Aufnahme zum ew. Gedächtnis bei Prozessen um Haustiere, Berlin 1864; Handbuch der allgemeinen Pathologie für Tierärzte, Berlin 1871.
Gerlach Andreas Christian Gerlach wurde am 15. Mai 1811 in Wedderstedt bei Quedlinburg am Harz geboren. Nach der Schulzeit in Halberstadt begann er am 1. April 1830 mit dem Studium an der Königlichen Tierarzneischule zu Berlin, das ihm mancherlei Einschränkungen und Entbehrungen auferlegte. Die Approbation erhielt er am 17. Oktober 1833. Nach 314-jähriger Dienstzeit als Militärtierarzt bei dem 10. Husarenregiment in Aschersleben ließ er sich in Hettstedt bei Eisleben als Tierarzt nieder. 1836 erwarb er die Qualifikation als Kreistierarzt, aber erst 1845 übernahm er die Kreistierarztstelle der Kreise Halberstadt und Oschersleben. Seine 148 Seiten umfassende Abhandlung über die Blutseuche der Schafe mit einer Beschreibung der als Futterpflanzen für Tiere dienenden Kryptogamen, die 1845 im Magazin für gesamte Tierheilkunde erschien und 1846 als selbständige Schrift herausgegeben wurde, war mit ausschlaggebend für seine Ernennung zum Repetitor der Tierarzneischule Berlin im Jahre 1846. Bis zum 31. März 1848 war Gerlach Assistent bei Gurlt in der Anatomie. 1849 wurde er als Lehrer angestellt. Er übernahm die ambulatorische Klinik, war nebenamtlich Kreistierarzt in Teltow, Niederbarnim und Ost-Havelland und wurde 1853 zum Departementstierarzt des Regierungsbezirkes Potsdam ernannt. Seine Lehrfächer und die ambulatorische Klinik behielt er bis zum Jahre 1859, in dem er als Direktor an die Königliche Tierarzneischule zu Hannover berufen wurde. 1870 wurde Gerlach als Direktor nach Berlin zurückberufen und zum Geheimen Medizinalrat ernannt. Er war der erste Tierarzt in Preußen, dem, ohne Humanmediziner zu sein, dieser Titel verliehen wurde. 1875 wurde er zusammen mit Virchow, Skrzeczka, Müller, Pauli und Schütz ordentliches Mitglied der neugegründeten »Technischen Deputation für das Veterinärwesen«. Von 1870 bis zu seinem Tode am 29. August 1877 war Gerlach Leiter der Klinik für große Haustiere. Portrait (59), Nekrolog (33). »In Anerkennung seiner hervorragenden Verdienste um die Thierheilwissenschaft und die Thierärzte« regte
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der tierärztliche Bezirksverein Stettin 1884 die Schaffung eines Denkmals an (38). Das Denkmal wurde zur 100-Jahrfeier der Tierärztlichen Hochschule Berlin im Vorgarten des Hauptgebäudes in der Luisen straße am 30. Juli 1890 feierlich enthüllt. Der Bildhauer Panzner, Dresden, hat Gerlach »in leicht vorgebeugter Haltung, in der linken Hand ein halb geöffnetes Buch haltend, die Rechte wie im Vortrage ausgestreckt« dargestellt (4). Biographie (12, 59). Als Direktor der Lehrstätte in Berlin hat Gerlach erfolgreich die mehrmals beabsichtigten Verlegungen der Anstalt nach außerhalb verhindern können und so den von ihm besonders gepflegten Kontakt mit den Instituten der Universität aufrechterhalten können. Repetitoren waren in der Klinik unter anderem: Dieckerhoff (1885, Nachfolger von Gerlach), Lustig (1873 Professor, Direktor des Spitals in Hannover), Rabe (1875 Professor für pathologische Anatomie in Hannover), Steinkühler (Arzt und Tierarzt), Möller (1881 Professor in Berlin, 1885 Leiter der chirurgischen Spitalklinik in Berlin), Eggeling (1888 Leiter der ambulatorischen Klinik in Berlin), Oemler (später Departementstierarzt, Merseburg). S c h r i f t e n : Gesetze der Tierarzneischule zu Hannover, Hannover 1851; Krätze und Räude, Berlin 1857; Die Seelentätigkeit der Tiere an sich und im Vergleich zu denen der Menschen (Vortrag), Berlin 1859; Die Fleischkost des Menschen vom sanitären und marktpol. Standpunkt, Berlin 1860; Populäre Belehrung über Rinderpest, Hannover 1866; Denkschrift über die tierärztlichen Vereinsangelegenheiten im Königreiche Hannover, Hannover 1864; Die Trichinen. Eine allgemeine Belehrung zum Schutze gegen Trichinenkrankheiten, Hannover 1866; Lehrbuch der allgemeinen Therapie für Tierärzte, Berlin 1868; Handbuch der gerichtlichen Tierheilkunde, 2. Aufl. Berlin 1872; Die Trichinen. Eine wissenschaftliche Abhandlung, Berlin 1873; Die Rinderpest, Hannover 1873; Maßregeln zur Verhütung der Rinderpest, 2. Aufl. Berlin 1875; Die Flechte des Rindes, Berlin 1875.
Dieckerhoff Friedrich Heinrich Julius Wilhelm Dieckerhoff wurde am 15. Oktober 1835 in Lichtendorf bei Schwerte in Westfalen als Sohn eines Landwirtes geboren. Von 1853 bis 1857 studierte er Veterinärmedizin und bestand am 29. April 1857 in Berlin die Staatsprüfung mit dem Prädikat »Vorzüglich Gut«. Von 1857—1858 war er Veterinär bei dem 2. Garde-Ulanen Regiment in Berlin und übte 12 Jahre lang die tierärztliche Praxis in Bochum aus. Am 26. März 1870 wurde Dieckerhoff eine Lehrerstelle in Berlin zunächst provisorisch übertragen, am 24. April 1871 erfolgte seine endgültige Anstellung. Er assistierte
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Gerlach in der Klinik für große Haustiere und bekam 1874 die ambulatorische Klinik übertragen. 1878 wurde Dieckerhoff Professor, ordentliches Mitglied der Deputation für das Veterinärwesen und erhielt die Klinik für große Haustiere, die 1885 in eine medizinische und chirurgische Abteilung aufgeteilt wurde. Dieckerhoff übernimmt die Klinik für innere Krankheiten und Gewährsmängel als Dirigent. 1888 wird Dieckerhoff zum Ehrendoktor der Medizinischen Fakultät Greifswald promoviert. In den Amtsperioden 1892—1895 und 1898—1901 ist Dieckerhoff Rektor. 1897 wird er Geheimer Regierungsrat. Dieckerhoff war Ehrenmitglied der Tierärztlichen Hochschulen zu Charkow, Dorpat, Kasan und zahlreicher wissenschaftlicher Vereine und Gesellschaften des In- und Auslandes. Dieckerhoff starb am 14. Dezember 1903 in Berlin. Nekrolog (37, 62), Portrait (57). Repetitoren an der Klinik waren unter anderem: Wolff (1878—1879), Schilling (1879—1881), Leistikow (1881—1882), Heyne (1882—1883), Peters (1883—1885), Schaumkell (1892—1894), Schroeder (1894), Peter (1895—1897), Brass (1897—1898), Neuling (1899—1902), Lange (1902—1903). S c h r i f t e n : Die Reform der Währungs-Gesetzgebung im deutschen Reiche beim Kaufe und Tausche von Haustieren, Augsburg 1875; Die Pathologie und Therapie des Spats der Pferde, Berlin 1875; Die Pferdestaupe, X , Berlin 1882; Über die Diagnose des Kehlkopfpfeifens bei Pferden. (Vortrag), Berlin 1890; Geschichte der Rinderpest und ihrer Literatur. V I I . Berlin 1890; Entwicklung und Aufgaben des medizinisch-klinischen Unterrichts in der Tierarzneikunde, Berlin 1890; Lehrbuch der speziellen Pathologie und Therapie für Tierärzte, I. Bd.: Die Krankheiten des Pferdes, Berlin 1892; II. Bd.: Die Krankheiten der Wiederkäuer und Schweine, Berlin 1892; Gedächtnisrede auf Eduard von Marcard zur Enthüllung seiner Marmorbüste in der Aula der tierärztlichen Hochschule zu Berlin, Berlin 1893; Die Gewährleistung beim Viehhandel und das Währschaftssystem im Entwürfe des bürgerlichen Gesetzbuches, Berlin 1895; Das Koppen des Pferdes, Berlin 1897; Gerichtl. Tierarzneikunde, X I I . Berlin 1899.
Fröhner Eugen Fröhner, geb. am n . März 1858 in Hirsau in Württemberg, studierte nach Besuch der Seminare zu Schöntal und Urach Tierheilkunde in Stuttgart. A m 29. August 1879 erhielt er die Approbation als Tierarzt. Anschließend studierte er Medizin an der Universität Göttingen. Vom 1. August 1880 bis 1. Oktober 1882 war er erster klinischer Assistent bei Friedberger an der Tierarzneischule München und legte 1881 die Prüfung als Oberamtstierarzt ab. Anschließend wurde er als Professor an die Tierarzneischule Stuttgart berufen. 1884
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wurde er in Tübingen zum Dr. med. promoviert. Am i. Mai 1886 erhielt er den Ruf an die Tierärztliche Hochschule Berlin und übernahm die Leitung der Klinik für kleine Haustiere. Gleichzeitig vertrat er das Fach Pharmakologie und Toxikologie. 1887 gründete er das Pharmakologische Institut. Am 1. Oktober 1895 übernahm er die Chirurgische Klinik und am 1. April 1904 die Medizinische Tierklinik. 1886 wurde er Mitglied der Technischen Deputation für das Veterinärwesen. Fröhner war Rektor der Tierärztlichen Hochschule in den Jahren 1904—1906, weiterhin Mitglied des Landesveterinäramtes. Fröhner war Ehrendoktor der Veterinärmedizin von Gießen, Wien, München und Zürich. Er war ausgezeichnet durch die Verleihung des Titels Geheimer Regierungsrat und der Goethemedaille. Fröhner war die Ehrenbürgerschaft des Veterinär-Instituts der UdSSR Leningrad und der Tierärztlichen Akademie Noverjerkast verliehen worden. Er war Träger hoher Orden des In- und Auslandes. Im Jahre 1926 schied er als Direktor der Medizinischen Tierklinik aus. Auf besonderen Wunsch des Kollegiums blieb er noch mehrere Jahre Vorsitzender des Tierärztlichen Gutachterkollegiums der Hochschule. Fröhner starb am 21. Juni 1940 in Berlin. Portrait (57, 68), Nekrolog (46, 68). Oskar Habersang (60) wurde 1919 auf Grund einer Habilitationsschrift über das Arekolin und nach einer Probevorlesung über die infektiöse Anämie des Pferdes zum Privatdozenten für innere Veterinärmedizin ernannt. Fritz Wittmann wurde am 25. Februar 1926 für das Fach Innere Medizin habilitiert. Habilitationsschrift: »Klinische Mitteilungen über die infektiöse Bronchitis (Brüsseler Krankheit) der Pferde«. Antrittsvorlesung: »Die klinische Bedeutung des Blutbildes beim Pferde«. An der Klinik unter Fröhner waren u. a. tätig: Lange, Nitzschke, König, Franke, Behrens, Gasse, Rogge. Diese Angaben über die Assistenten sind unvollständig. S c h r i f t e n : Die Lehrbücher sind in vielen Auflagen erschienen. FriedbergerFröhner: Lehrbuch der speziellen Pathologie und Therapie, 1886; Lehrbuch der Arzneimittellehre für Tierärzte, Stuttgart 1889; Lehrbuch der Toxikologie, Stuttgart 1890; Lehrbuch der Arzneiverordnungslehre, Stuttgart 1890; Friedberger-Fröhner: Lehrbuch der klinischen Untersuchungsmethoden für Tierärzte und Studierende, Stuttgart 1892; Lehrbuch der allgemeinen Therapie, Stuttgart 1893; Lehrbuch der klinischen Untersuchungsmethoden, 1893; Lehrbuch der allgemeinen Chirurgie, Wien, Leipzig 1896; Bayer-Fröhner: Handbuch der tierärztlichen Chirurgie, Wien, Leipzig, 1896—1901; Kompendium der
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speziellen Chirurgie, Stuttgart 1898; Lehrbuch der chirurgischen Diagnostik, Stuttgart 1902; Chirurgische Diagnostik der Krankheiten des Pferdes, Stuttgart 1902; Lehrbuch der Gerichtlichen Tierheilkunde, Berlin 1905; Fröhner-Kitt: Monatshefte für praktische Tierheilkunde, Bd. I 1890, Stuttgart, bis 1924 erschienen.
Neumann-Kleinpaul Kurt Neumann (späterer Doppelname: Neumann-Kleinpaul) wurde am ig. September 1882 in Marienburg (Westpreußen) geboren. An dem dortigen humanistischen Gymnasium legte er die Reifeprüfung ab und studierte anschließend in Berlin und München Veterinärmedizin. 1906 erhielt er in Berlin die tierärztliche Approbation und wurde im Jahre 1907 auf Grund einer Arbeit über die Biologie des Erregers der Kälberruhr in Gießen zum Dr. med. vet. promoviert. 1910 legte er in Berlin das Examen für beamtete Tierärzte ab. Zunächst war Neumann-Kleinpaul Assistent am bakteriologischen und Seruminstitut Dr. Schreiber in Landsberg (Warthe), dann wissenschaftlicher Hilfsarbeiter am Tierhygiene-Institut der Universität Freiburg und Assistent bei dem bekannten Kreistierarzt Kleinpaul in Johannisburg (Ostpreußen), dessen Tochter seine erste Lebensgefährtin wurde. Am pathologischen Institut der Tierärztlichen Hochschule Berlin wurde er Oberassistent von Schütz. Neumann-Kleinpaul war auch vorübergehend Leiter der Tierklinik der Universität Jena und Grenztierarzt in Eydtkuhnen (Ostpreußen). 1917 wurde er Kreistierarzt in Johannisburg und wurde von hier aus im Jahre 1919 als ordentlicher Professor an die Tierärztliche Hochschule Berlin berufen. Er übernahm die Poliklinik für große Haustiere und hielt Vorlesungen über Hufbeschlag, Fütterungslehre und Geschirrkünde. Am 1. Oktober 1926 wurde er als Nachfolger von Fröhner zum Direktor der Medizinisch-Forensischen Tierklinik ernannt. 1932 war er Rektor der Tierärztlichen Hochschule Berlin. Neumann-Kleinpaul war nach Fröhner Vorsitzender des Gutachterkollegiums der Tierärztlichen Hochschule bis 1945. Er gehörte als Mitglied dem Preußischen Landesveterinäramt, dem Landesgesundheitsamt und dem Senat für das Heeresveterinärwesen an. Seit 1952 war er Vorsitzender der obersten Behörde für Traberzucht und Rennen in Berlin. Am 25. Mai 1955 wurde ihm von der Tierärztlichen Hochschule Wien die Ehrendoktorwürde verliehen (69). Am 20. April 1951 schied er aus seiner alten Lehrstätte, der er als Ordinarius 32 Jahre angehört hatte, aus und nahm seine Tätigkeit an der Freien Universität Berlin-Dahlem auf. Im Herbst 1954 wurde
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er emeritiert. Aus Anlaß seines 75. Geburtstages veranstaltete die Veterinärmedizinische Fakultät der Freien Universität Berlin eine akademische Feier (72). Neumann-Kleinpaul starb am 23. August 1958 in Berlin. Jubiläen {6,18,4g, 55.64,75), Nekrolog (39,65, 67), Portrait (5, 6, 14, 32, 39, 49, 55, 65, 67, 73, 75). Die Medizinische Tierklinik und das Institut für Gerichtliche Tierheilkunde hatten unter Neumann-Kleinpaul zwei Oberassistenten, einen Assistenten, mehrere Famuli und approbierte Tierärzte als wissenschaftliche Hilfsarbeiter. Vom Heer wurden oft Veterinäre zur Klinik abkommandiert. Ausländische Tierärzte bearbeiteten Spezialgebiete der inneren Medizin. Unter Neumann-Kleinpaul waren u. a. tätig: Rüscher (Veterinär, an Kriegsverwundung 1945 gestorben), Schultz (Poliklinik), Reinhardt (Poliklinik), Bürger, Graßnickel, Wilma von Düring (40) ( i 9 6 0 gestorben), Hornung (Veterinär), Steffan, A. Meyer, Horn, Oehlsen, Arnold, Hennig, Steinke (1943 gefallen), Walter, Staufenbiel, Weyers, Seekel, Schützler, Riechert, Behrend, Schumann, Lohraff. Während der Kriegsjahre 1 9 3 9 — 1 9 4 5 war nur ein Assistent an der Klinik, dem mehrere Famuli zugeteilt waren u. a.: Plaster (gefallen), Siede, Ladenthin, L. F. Müller, Scheer (gefallen), Gaede, Bieling, Jordan, Bierwagen, Schoebe, Schebitz, Pernitzsch, Werner Schulz, Graupner, Lenz. S c h r i f t e n : Neumann-Kleinpaul und C. Reinhardt: Neubearbeitung des „Leitfaden des Hufbeschlages" von Rieh. Eberlein, 8. Aufl. Berlin 1 9 3 0 ; Neumann-Kleinpaul und Dobberstein: „Lehrbuch der Gerichtlichen Tierheilkunde" von Eugen Fröhner, 8., 9., 10., 1 1 . Aufl. 1942, 1948, 1 9 5 1 , 1 9 5 5 . 1 9 2 2 NeumannKleinpaul tritt in den Redaktionsausschuß der von Ellenberger und Schütz gegründeten tierärztlichen Referatenzeitschrift „Jahresberichte über die Leistungen auf dem Gebiete der Veterinärmedizin". Von 1 9 2 8 — 1 9 3 4 sind NeumannKleinpaul und Zietzschmann Herausgeber dieser Jahresberichte. 1 9 2 2 — 1 9 4 4 redigiert Neumann-Kleinpaul das „ A r c h i v für wissenschaftliche und praktische Tierheilkunde''.
IV. U n t e r r i c h t Seit Bestehen der Lehrstätte wurde im klinischen Unterricht besonderer Wert auf die Vermittlung sowohl praktischer Fähigkeiten als auch theoretischer Kenntnisse gelegt. Der Lehrer stellte in der Klinik die Patienten vor und erläuterte den Krankheitsfall. Schon die ersten Schüler der Tierarzneischule mußten unter Aufsicht jeden Fall untersuchen, behandeln und Krankenberichte anfertigen. Sie wurden auch zum Nachtdienst eingeteilt. In den ersten Jahrzehnten wurde auch
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besonders das Schreiben von Rezepten und die Anfertigung der Medikamente geübt. Hertwig (25) gibt in dem Bericht für das Jahr 1836 an, daß von den Schülern über 13000 Rezepte geschrieben wurden, von denen 10292 allein in der Apotheke der Anstalt unter Aufsicht des Apothekers Dr. Erdmann von den Schülern dispensiert worden sind. Zur Vervollständigung der praktischen Ausbildung wurden unter Leitung eines Lehrers die Marställe besucht und schon 1835 wurde die ambulatorische Klinik eingerichtet. Auf den zahlreichen Fahrten — 1890 über 400 Besuche (61) — lernten die Studierenden insbesondere die Seuchen kennen und wurden mit den Verhütungsmaßnahmen und den veterinärpolizeilichen Belangen vertraut gemacht. Der Leiter der ambulatorischen Klinik war mit kreistierärzt liehen Funktionen der Kreise Teltow, Niederbarnim und Ost-Havelland betraut. Berlin stellte die Rieselgüter mit ihrem Viehbestand für Unterrichtszwecke zur Verfügung. Auch über die in der ambulatorischen Klinik gesehenen Fälle mußten Krankengeschichten geschrieben werden. In der Poliklinik war Gelegenheit, zahlreiche Patienten mit verschiedenen Krankheiten zu untersuchen und zu behandeln. Die Teilnahme am klinischen Unterricht war in späteren Jahren nur für Studenten höherer Semester vorgesehen. Die Technische Deputation für das Veterinärwesen hatte 1878 vorgeschlagen, mit dem klinischen Unterricht erst nach gründlicher Ausbildung in den Naturwissenschaften, der Pathologie und Chirurgie ab fünften Semester zu beginnen und ihn auf drei Semester auszudehnen. 1882 wird in der Vorschrift für die Studierenden bestimmt, daß vor Zulassung zu den Spitalkliniken als Praktikant das Bestehen der naturwissenschaftlichen Prüfung und das Studium der Pathologie und Therapie, der Akiurgie und der Arzneimittellehre erforderlich sind. Durch Änderung der Studienpläne in den folgenden Jahren wird diese Bedingung dahin geändert, daß nach vollständiger bestandener Vorprüfung, zu der die naturwissenschaftlichen Fächer, die Physiologie und Anatomie gehören, der Besuch der Kliniken vorgeschrieben war. Vorlesungen über Arzneimittellehre, Chirurgie und Pathologie fielen in die klinischen Semester. In dem propädeutischen Unterricht wurden unter Anleitung von Assistenten die Untersuchungsmethoden vorgetragen und geübt. Harn- und Blutuntersuchungskurse wurden unter Dieckerhoff, Fröhner und Neumann-Kleinpaul abgehalten. Für Unterrichtszwecke wurden Pferde gehalten. Hertwig (25) erwähnt in der Statistik für das Jahr 1835
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120 Pferde, die für Übungszwecke, für physiologische, pathologische Untersuchungen und Arzneiversuche in den Kliniken standen. Unter Neumann-Kleinpaul, der als passionierter Reiter den Reitsport der Studierenden besonders gefördert hat, hatte die Klinik etwa 10 bis 14 Pferde, die einerseits der Reitausbildung der Studierenden, andererseits Unterrichtszwecken (rektale, laryngoskopische Untersuchungen, Arzneimittelversuche, Blutuntersuchungen) dienten. Der klinische Unterricht wurde durch Vorlesungen der Klinikdirektoren aus dem Gebiet der inneren Medizin ergänzt und vertieft. Hauptvorlesung war immer die Spezielle Pathologie und Therapie. Sie wurde gelesen von: Naumann (bis 1836), Spinola (1837—1869), Gerlach (1870—1875), Eggeling (1876), Roloff (1877), Dieckerhoff (1878—1903), Fröhner (1903—1926), Neumann-Kleinpaul (1926 bis 1945). Die Bedeutung dieser Vorlesung wird durch die Abhaltung von Repetitionen hervorgehoben. Repetitoren zu dieser Vorlesung waren: Unter Naumann: Halbach, Fischer, Hildebrandt, Mecke, Körber, Dressler, Spinola; unter Spinola: Ripke, Lichte, Fuchs I, Kuhlmann, La Notte, Kniebusch, Gerlach, Fürstenberg, Lathens, Leisering, Weiß, Koehne, Giese, Müller, Roloff, Albrecht, Schütz", unter Gerlach: Lustig, Rabe, Berndt, 0emier; unter Eggeling: Oehmler; unter Roloff: Wolff; unter Dieckerhoff: Wolff, Schilling, Leistikow, Heyne, Peters, Schaumkehl, Schroeder, Peter, Brass, Neuling, Lange. Naumann hielt Vorlesungen über Hufbeschlag und Arzneimittellehre, Störig über Schafkrankheiten, Halbach und Reckleben über Rinderkrankheiten, Hertwig über Arzneimittellehre und Gerlach über Seuchenlehre, Veterinärpolizei und allgemeine Therapie. 1943/44 kündigte Habersang, der unter Fröhner habilitiert war, Vorlesungen über Spezielle Pathologie und Therapie der Schweine und über Tagesfragen der inneren Klinik an. Naumann hat die als Gewährsmängel in Betracht kommenden Krankheiten in seinen Unterrichtsstunden mitbesprochen. Vorlesungen über Gerichtliche Tierheilkunde sind seit 1821 in den Studienplänen. 3 bis 5 Wochenstunden sind dafür in einem höheren Semester angesetzt. Diese Vorlesung, die auch mit Übungen verbunden war, hielt: Reckleben (1821—1837), Albers (1839—i849), Gerlach (1850—1858), Kähne (1859—1869), Gerlach (1870—1877), Roloff {1878—1885), Dieckerhoff {1886—1903), Fröhner (1903—1926), Neumann-Kleinpaul (1926—1945). Repetitoren waren u. a. Dietrichs (1821), Spinola (61).
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1839 w i r ( i die Gerichtliche Tierheilkunde in dem Schlußexamen für die Approbation der Tierärzte I. Klasse geprüft. Für die Anstellung als Kreistierarzt war ein wissenschaftlich bearbeitetes Gutachten über einen veterinärpolizeilichen oder forensischen Fall erforderlich (61). 1853 wird in der Prüfungsordnung für Kreistierärzte festgelegt, daß die Bewerber zwei schriftliche Arbeiten, von denen eine aus der gerichtlichen, die andere aus der polizeilichen Tierheilkunde zu entnehmen ist, einreichen müssen und in den mündlichen Examen in der Gerichtlichen Tierheilkunde geprüft werden. Die Abfassung von Gutachten aus dem Gebiete der forensischen Veterinärmedizin war auch für die Anstellung als Departementstierarzt erforderlich. In den späteren Prüfungsordnungen ist sowohl für die Approbation als auch für das Examen der beamteten Tierärzte die gerichtliche Veterinärmedizin Prüfungsfach.
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1794 erging die Anordnung, daß die Lehrkräfte in gerichtlichen Straf- und Zivilprozessen beim Stadt- und Kammergericht als Gutachter in allen tierärztlichen Angelegenheiten eingesetzt werden sollen (61). Von Gerichten angeforderte Gutachten hatte der jeweilige Leiter des Spitals zu erstatten. In dem durch Kabinettsorder genehmigten Lehrplan vom 9. April 1804 (61) wird bestimmt, daß Professoren gegen besondere Bezahlung Gutachten in ihrem Fachgebiet abgeben können. 1819 wird der Obertierarzt Halbach für die Erstattung von Gutachten in Prozeßangelegenheiten eingesetzt und mit der Führung eines Dienstsiegels betraut. Durch das Allerhöchste Regulativ vom 24. Juni 1836 war das Curatorium verpflichtet, »in jeder veterinärärztlichen Angelegenheit auf die Anforderung einer öffentlichen, bei der Sache selbst betheiligten Behörde, sich gutachtlich zu äußern. Auch in dieser Beziehung soll dasselbe, eben so wie es in § 9 des Rgl. vom 7. September 1830 verordnet worden, den höheren wissenschaftlichen Deputationen gleich stehen und unter Zuziehung seiner technischen Mitglieder, des Direktors und der betreffenden Lehrer der Schule in allen, namentlich in gerichtlichen, Veterinär-Angelegenheiten sein Gutachten in letzter Instanz abgeben.«
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In der Instruktion, die vom Minister der geistlichen, Unterrichtsund Medizinal-Angelegenheiten am 21. Dezember 1847 erlassen wurde, heißt es in § 9: »Insbesondere ist der Direktor verpflichtet, in jeder veterinärärztlichen Angelegenheit auf die Aufforderung einer öffentlichen, bei der Sache selbst betheiligten Behörde unter Zuziehung des Lehrer-Kollegiums sich gutachtlich zu äußern. Die Direktion der Königlichen Thierarzneischule hat in dieser Eigenschaft einer begutachtenden und rathgebenden Behörde mit den übrigen wissenschaftlichen Deputationen eine gleiche Verpflichtung und Stellung in allen, namentlich gerichtlichen Veterinär-Angelegenheiten, ihr Gutachten in letzter Instanz abzugeben. Alle Gutachten werden unter der Firma »Königliche Thierarzneischule« und unter Unterschrift des Direktors ausgefertigt«. 1850 wird vom Minister in einer Instruktion für den Vorsteher des Tierspitals besonders betont, daß er nicht befugt ist, Gutachten oder Atteste an die Tierbesitzer auszustellen, da derartige Dokumente nur von der Direktion der Tierarzneischule erteilt werden. Das Tierärztliche Gutachterkollegium hat bis 1945 bestanden. Der Lehrstuhlinhaber für innere Veterinärmedizin führte den Vorsitz. Fröhner war auf besonderen Wunsch des Kollegiums nach seiner Emeritierung noch einige Zeit Vorsitzender geblieben und hat dieses Amt dann Neumann-Kleinpaul übergeben, der es viele Jahre bis Kriegsende innehatte. Diesem Gutachterkollegium gehörten sämtliche Berliner Ordinarien der Veterinärmedizin an. Die von den Gerichten angeforderten Gutachten oder Obergutachten wurden nach Bearbeitung durch die zuständigen Fachvertreter gemeinsam beraten und dann von dem Vorsitzenden ausgefertigt. Einzelne Obergutachten, die von prinzipieller Bedeutung sind, wurden in den Fachzeitschriften veröffentlicht. Dieses Gremium hatte sich vornehmlich mit zivilprozeßrechtlichen Aufgaben zu befassen. Gutachten, die Ausbildungsfragen, Maßnahmen zur Seuchenbekämpfung betrafen und die auch zur Vorbereitung neuer Gesetze dienten, wurden von der Technischen Deputation für das Veterinärwesen in Preußen, die durch Königliche Kabinettsorder vom 21. Mai 1875 errichtet wurde, abgegeben. Bei der Gründung war Gerlach als Berliner Vertreter der inneren und gerichtlichen Tiermedizin ordentliches Mitglied und Dieckerhoff Hilfsarbeiter. Fröhner wurde 1886 Mitglied (70).
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An Stelle der Technischen Deputation trat am 13. Mai 1910 als beratende Institution das Landesveterinäramt (ji), dem Fröhner seit der Gründung und später Neumann-Kleinpaul angehörten. Eine Gutachtensammlung ist von Nevermann (45) herausgegeben worden, die später von Müssemeier (41) ergänzt wurde. Gutachtertätigkeit wurde auch für das Militär-Veterinärwesen ausgeübt. Der im Jahre 1873 errichteten Inspektion des Militärveterinärwesens wurden wissenschaftliche Konsulenten beigeordnet, zu denen ab 1889 Fröhner gehörte. Bei der Umgestaltung des Militärwesens im Jahre 1910 wurden die wissenschaftlichen Konsulenten der MilitärVeterinärakademie und 1920 bei Aufstellung des Reichsheeres dem Waffenamt-Veterinärwesen angegliedert. Ein Verzeichnis der erstatteten Gutachten befindet sich in der Geschichte des deutschen Heeres-Veterinärwesens (11). 1928 wurde der wissenschaftliche Senat für das Heeres-Veterinärwesen geschaffen, dem seit Gründung Fröhner und Neumann-Kleinpaul als ordentliche Mitglieder angehörten. Auf der ersten Tagung am 15. März 1929 hielten Fröhner und NeumannKleinpaul ein Hauptreferat (11). Vorlesungen und Prüfungen siehe Abschnitt IV. VI. P a t i e n t e n Klinik Albers (1) bringt eine tabellarische Übersicht der in den Jahren 1806—1840 im Spital behandelten Tiere. Hertwig (25), Gurlt (ig), Kähne (JJ) berichten über spätere Jahre. Tabellarische Zusammenstellungen von 1875—1917 sind im Archiv für wissenschaftliche und praktische Tierheilkunde (44) zu finden. Eine statistische Bearbeitung der Patientenzahlen der inneren Klinik haben meine Doktoranden Körner (32) für die Jahre 1885—1952, Wilcke (74) und Mager (36) für die Jahre 1928—1950 in Dissertationen durchgeführt. In den Jahren 1806—1819 wurden jährlich etwa 300 bis 400 Pferde aufgenommen. Während dieser Zeit sind insgesamt nur 32 Rinder, 26 Ziegen, 28 Schafe, 11 Schweine in den Krankenlisten verzeichnet. 19 Hunde werden in der Krankenliste seit 1816 erwähnt. Während die Zahl der Hunde in den folgenden Jahren schnell zunimmt (1840
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= 591), ist der Zugang an Rindern, Schafen, Ziegen und Schweinen immer sehr gering geblieben (jährlich etwa 10 Tiere behandelt). Ab 1820 steigt die Zahl der aufgenommenen Pferde an, so daß 1823 bereits über 1000, 1836 3000 Pferde aufgenommen wurden. Der Anteil an Patienten mit inneren Krankheiten beträgt zu dieser Zeit etwa 5 0 % (Tabelle 1, Seite 4io). Angaben für die Jahre 1841—1852 wurden nicht ermittelt. 1853 standen 1524 Patienten (einschließlich Rinder) in der Klinik. In den folgenden Jahren bis 1869 sind jährlich 1100—1200 Pferde stationär behandelt worden. 1862—1863 herrschte die Influenza unter den etwa 6000 Pferden der öffentlichen Fuhrwerke in Berlin; das hatte eine Zunahme der Patientenzahl der inneren Abteilung zur Folge. Während der Jahre 1857—1869 dominierten die Pferde mit inneren Krankheiten. Für einen Rückgang in der Patientenzahl während der Jahre 1865—1868 werden die hohen Futterpreise und die dadurch bedingten hohen Verpflegungssätze und die Nachwirkungen des Krieges verantwortlich gemacht. Auch wirkte sich die Gründung einer Aktiengesellschaft sämtlicher Omnibus-Fuhrwerke in Berlin auf den Patientenzugang ungünstig aus, denn die Gesellschaft hatte in jedem ihrer sechs Depots einen Veterinär fest angestellt. Ab 1875 wird die Klinik von Jahr zu Jahr stärker belegt, so daß bei einem Bestände von etwa 3000 Patienten mit Überwiegen der Pferde mit chirurgischen Leiden im Jahre 1885 die Trennung der Klinik in eine innere und äußere erfolgte (Tabelle 2, Seite 411). Die tierärztliche Ausbildungsstätte in Berlin hatte im Vergleich zu anderen Kliniken die meisten Pferde. Als Beispiele: 1837: Berlin 2514, Dresden (48) 1429; 1876: Berlin 2231, Hannover (47) 683, München (20) 720; 1884: Berlin 2580; 1885: Hannover (55) 839, München (20) 732. In diesen Zahlen sind Pferde mit inneren und äußeren Krankheiten und die gerichtlichen Fälle enthalten. Die Zunahme des Pferdebestandes in Berlin hatte eine stärkere Belegung der Klinik mit Patienten zur Folge. 1874 wurden in Berlin 27000, 1888 38681, 1897 50363, 1906 53742 Pferde gezählt. 1888 standen 1021 und 1897 1315, 1906 1317 Pferde mit inneren Krankheiten in der Klinik. In den Kriegsjahren 1914—1918 ist ein erheblicher Rückgang auf etwa 600 Patienten jährlich zu verzeichnen. Auch der Pferdebestand in Berlin hatte sich 1917 auf 22194 verringert. Angaben über die Nachkriegsjahre liegen erst seit 1927 mit einem
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Bestände von 1363 Patienten vor. Diese Zunahme gegenüber den Vorkriegsjahren ist auf die Schließung der Poliklinik im Jahre 1926 als selbständige Klinik zurückzuführen, da nun die Patienten, bei denen ein Klinikaufenthalt erforderlich war, der Medizinischen Tierklinik zur stationären Behandlung zugeführt wurden. Der Pferdebestand für Berlin beträgt 1928 42222, er nimmt in Berlin von Jahr zu Jahr ab — 1935: 22576,1937:17363,1938:13801,1940:11325 — (Tabelle 3, Seite 412). Viele Fuhrbetriebe stellten sich auf motorisierte Fahrzeuge um. Es gab 1938 noch ein Fuhrgeschäft mit über 1000 Pferden, die für die öffentlichen Dienste der Stadt Berlin eingesetzt waren. Dieses Fuhrunternehmen hatte eigene pferdebespannte Viehtransportwagen, mit denen die Patienten zur Klinik gebracht wurden, da die Klinik selbst über Transportfahrzeuge nicht verfügte. Poliklinik In den Jahren vor 1840 sollen täglich etwa 10 bis 20 Pferde behandelt worden sein, im Jahre somit etwa 3000 bis 6000 Pferde (J). Für das Jahr 1859 sind 2000 und für das Jahr 1864 4000 Patienten angegeben. Genaue Zahlen sind erst aus den statistischen Berichten ab 1875 (4459 Patienten) zu entnehmen. 1881 waren es über 7000 innere und äußere Fälle der Poliklinik (Tabelle 2, Seite 411). Seit Gründung einer selbständigen poliklinischen Station im Jahre 1885 ist bis zur Jahrhundertwende ein stetiges Ansteigen der Patientenzahl zu verzeichnen (von rund 5000 auf rund 11500 jährlich). In diesen Zeitabschnitt fällt auch die erhebliche Zunahme des Pferdebestandes in Berlin und der Patientenzahl in der Medizinischen Klinik. Von 1900 bis 1913 geht die jährliche Patientenzahl auf rund 6000 zurück und sinkt während der Kriegsjahre noch weiter ab (1914: rund 3000, 1916: rund 2300, 1917: rund 3300) (Tabelle 4, Seite 413). Statistische Angaben der Poliklinik von 1918 bis zur Auflösung der Poliklinik als selbständige Station im Jahre 1926 waren nicht zu erreichen. Ab 1926 wurden die inneren Fälle von der Medizinischen Tierkünik mitversorgt. Die poliklinischen Untersuchungen fanden von 11—12 Uhr statt. Es handelte sich in der Regel um leichte Erkrankungen, bei denen ein Klinikaufenthalt nicht erforderlich war. Jährlich wurden etwa 300 bis 400 Pferde untersucht.
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Krankheiten Kolik: In den Jahren 1 8 5 9 — b e t r ä g t der Anteil der Koliken an allen inneren Krankheiten des Pferdes, die in der Klinik behandelt wurden, 25%, in den Jahren 1875—1885 27%. Nach Gründung der selbständigen inneren Klinik im Jahre 1885 bleibt dieser Prozentsatz
Abb. 2: Prozentualer Anteil der Kolik und der Brustseuche an den inneren Krankheiten für die Jahre 1885—1917 in der Med. Tierklinik und der Poliklinik
bis zum Jahre 1892 bestehen. Dann erfolgt ein stetiges Anwachsen, so daß 1900 schon 62% und 1902 66% erreicht sind. 1927—1945 ist ein Rückgang an Kolikern festzustellen. In diesem Zeitabschnitt liegen die Werte zwischen rund 60 und 30%. In der Poliklinik werden wesentlich weniger Pferde mit Kolik behandelt, bei den inneren Krankheiten der Jahre 1887—1917 entfielen 5 % auf Kolik (Abbildungen 2, 3). Die Kolik ist die häufigste innere Krankheit des Pferdes, das geht auch aus anderen statistischen Erhebungen an kleinem Material hervor. So hat z. B. Holtgräve (27) für die Verhältnisse an der Klinik der Tierärztlichen Hochschule Hannover für die Jahre 1939—1949 einen Prozentsatz von 48,8 für die Kolik ermittelt. Insgesamt waren
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unter den Patienten der inneren Klinik Berlin in den Jahren 1885 bis 1945 48,6% Koliker. Die Kolik gehört auch zu den verlustreichsten Pferdekrankheiten. Bei den Kolikern, die von 1885—1945 in Berlin behandelt wurden, beträgt die Sterblichkeit rund 1 5 % . Holtgräve (27) ermittelte 1 7 % . Die Bedeutung der Kolik geht auch aus denSektionsberichten und den Angaben der Tierversicherungen hervor. Im Veterinär-Pathologischen Institut Berlin wurden in den Jahren 1922—1939 ii23Pferde seziert, von denen 555 = 49,42% infolge einer Kolikerkrankung gestorben waren (8). Die Versicherungsstatistik für das Jahr 1938 weist für das Pferd in 25 % der Fälle Entschädigungen wegen Kolik auf (28). 1327
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Abb. 3: Prozentualer Anteil der Kolik und der Brustseuche an den inneren Krankheiten für die Jahre 1927—1945 in der Med. Tierklinik
Rotz : In den Jahren 1859— 1868 wurden insges. 341 Pferde mit Rotz aufgenommen, das entspricht einem Anteil von 6 % an den inneren Krankheiten.
Im Jahre 1875 trat das preußische Viehseuchengesetz in Kraft, in dem unter anderem für Rotz die Anzeigepflicht und die Tilgungsmaßnahmen festgelegt sind. Infolge der strengen Bekämpfungsmaßnahmen tritt der Rotz als Krankheit der stationären Patienten immer seltener auf. In den Jahren 1875—1884 kommt der Rotz nur noch mit 2,2 % , bezogen auf die inneren Krankheiten, vor. Von 1885—1910 werden nur noch einzelne Patienten mit Rotz eingeliefert. Kurz vor dem Kriege 1914—1918 setzt wieder eine Zunahme ein, die ihren Höhepunkt 1916 mit 59 Fällen = 18,8% erreicht. A b 1930 bis 1945 wird Rotz nur noch im Jahre 1933 einmal und 1940 zweimal festgestellt (Abbildung 4). Insgesamt entfallen auf die Gesamtzahl der inneren Krankheiten der Jahre 1885—1945 0,6% auf Rotz. Brustseuche: Während in den Jahren 1885—1905 die Brustseuche unter den inneren Krankheiten einen höheren Prozentsatz ausmacht
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(1885 = 24,8%), nimmt in späteren Jahren die Zahl der brustseuchekranken Pferde ab. Geringe Zunahme ist 1927/28 (rund 1 1 % ) und 1939/41 (rund 7%) zu verzeichnen (Abbildungen 2,3). Die Brustseuche ist mit 8,1% in der Gesamtzahl der Patienten mit inneren Krankheiten der Jahre 1885—1945 vertreten.
Jahrgang—— A b b . 4: Prozentualer Anteil von Influenza und R o t z an den inneren Krankheiten für die Jahre 1885—1945 in der Med. Tierklinik
Influenza: Der prozentuale Anteil für die Jahre 1885—1945 ist aus der Abbildung 4 zu ersehen. In den Jahren 1885—1903 tritt die Influenza in Abständen von etwa 3—4 Jahren gehäuft auf mit dem höchsten Gipfel im Jahre 1890 (24,6%). 1939 bis 1944 herrscht erneut in Berlin die Influenza. Die Zahl der Fälle ist gegenüber früheren Seuchengängen wesentlich geringer. Insgesamt beträgt der Anteil an allen inneren Krankheiten für die Jahre 1885—1945 bei Influenza 4,2 %. Pferdegrippe: Statistische Erhebungen über die Pferdegrippe bei Patienten der Klinik für die Jahre 1929—1950 sind in der Dissertation von Mager (36) zusammengestellt. Unter dem Begriff Pferdegrippe sind die Katarrhe der oberen Luftwege, die Druse, die Bronchopneumonien und die Bronchitis zusammengefaßt. »Von 18115 innerlich erkrankten Patienten hatten 2279 Pferdegrippe, das sind 12,58%. Davon hatten 868 Patienten (38,1%) Katarrh der oberen Luftwege, 835 (36,6%) Druse, 432 (18,9%) Bronchopneumonie und 144 (6,36%) Bronchitis. Von 2279 Patienten wurden 1447 (63,4%) geheilt, 386 G 11
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(16,9%) gebessert, 276 wurden getötet oder sind gestorben (12,1%) und 156 (6,8%) wurden ungeheilt entlassen. Die meisten Patienten wurden bei der Druse geheilt (72,6%) und bei denBronchitiden gebessert (29,8%). Bei den Bronchopneumonien starben die meisten (40,7%)«. Tetanus (1,3%), Lumbago (2,5%), Hufrehe (1,5%) gehören zu den seltenen inneren Krankheiten, die in der Klinik behandelt wurden. Gerichtliche Fälle
Hauptsächlich wurden Pferde dem Spital zur Untersuchung auf Mängel zugeführt. Die Zahl der untersuchten Rinder, Schafe und Schweine für forensische Zwecke war immer sehr klein. So wurden im Jahre 1836 285 Pferde, 4 Wiederkäuer und 20 Hunde auf Mängel untersucht. Bei Hunden erstreckte sich die Untersuchung meist im veterinärpolizeilichen Interesse auf Tollwut. In den Jahren 1836—1840 befanden sich unter den eingestellten Pferden rund 12% gerichtliche Fälle, in den Jahren 1859—1868 hat der Prozentsatz auf 21 zugenommen. Werden die forensischen Fälle nur in Beziehung zu den inneren Krankheiten gesetzt, so sind für 1859—1868 etwa 30% dieser eingelieferten Fälle Pferde zur Untersuchung auf Mängel. Dieser Anteil nimmt in den Jahren 1875—1885 zu, so daß sogar 1883 und 1884 mehr forensische als innere Fälle in der Klinik waren. In den folgenden Jahren bis 1900 ist eine Abnahme der gerichtlichen Fälle zu verzeichnen, kurz vor der Jahrhundertwende beträgt das Verhältnis der gerichtlichen zu den inneren Fällen 1:3 (Tabellen 2, 3). 1900 tritt an Stelle des Preußischen Allgemeinen Landrechtes des Jahres 1794, das für den Kauf und Verkauf von Haustieren die rechtliche Grundlage bildete, das Bürgerliche Gesetzbuch mit der Kaiserlichen Verordnung. Das Preußische Allgemeine Landrecht stand in der Hauptsache auf römisch-rechtlichem Grundsatz unter Berücksichtigung einer Mängelliste für große Haustiere. Das B G B mit seinen Paragraphen für den Kauf und Verkauf von Pferd, Rind, Schaf und Schwein entspricht dem deutsch-rechtlichen Währschaftsprinzip. Die Schaffung einer neuen einheitlichen Gesetzesgrundlage hatte eine Abnahme der Rechtsstreitigkeiten im Viehhandel zur Folge. Dabei ist auch zu berücksichtigen, daß in den Jahren 1900—1907 der Pferdebestand in Berlin zunahm und daß erfahrungsgemäß bei guter Konjunktur die Viehwährschaftsprozesse abnehmen (7). Auch die Ein-
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führung der Schiedsgerichte wird dazu beigetragen haben, die Zahl der Prozesse zu beschränken (43). Die Erörterungen und Folgerungen, die sich auf die Abnahme der Prozesse seit Schaffung des B G B beziehen, werden für die Berliner Verhältnisse durch die Patientenzahlen bewiesen und bestätigt. Der Anteil der eingelieferten Pferde, die auf Gewährsmängel untersucht werden sollten, nimmt seit 1900 ab. Während er in den früheren Jahren bis zu 5 0 % betrug, bleiben in der Folgezeit nur 1 0 % übrig. Dabei treten gewisse Schwankungen auf, die mit der wechselnden wirtschaftlichen Lage in Verbindung zu bringen sind und die sich besonders deutlich in den Kriegsjahren 1939—1945 mit nicht einmal 3 % abzeichnen. Nach der Kaiserlichen Verordnung vom 27. März 1899 gelten als Hauptmängel des Pferdes beim Verkauf als Zucht- und Nutztier: Rotz, Dummkoller, Dämpfigkeit, Kehlkopf pfeifen, periodische Augenentzündung, Koppen. Rotz als Hauptmangel kommt unter den forensischen Fällen seit 1900 nicht mehr vor. Von 1885—1900 wurde auch nur einmal Rotz als forensischer Fall vermerkt. Die wenigen Rotzfälle, die nach Inkrafttreten des Viehseuchengesetzes auftraten, waren nicht Anlaß für Währschaftsprozesse, sie wurden veterinärpolizeilich erfaßt. Koppen und periodische Augenentzündung spielen unter den Hauptmängeln nach ihrer Häufigkeit eine untergeordnete Rolle. In rund 2 % der gerichtlichen Fälle wurde eine Untersuchung auf diese Hauptmängel verlangt. An der Spitze unter sämtlichen forensischen Fällen einschließlich Vertragsmängel lag von 1900—1910 der Dummkoller mit rund 44%. Dann folgen, ihrer Häufigkeit nach eingereiht, Kehlkopfpfeifen und Dämpfigkeit. In den folgenden Jahren ist für Dummkoller eine Abnahme des prozentualen Anteils von 20% zu verzeichnen, während dagegen für Kehlkopfpfeifen anfangs 20% ermittelt wurden und für die Jahre 1937—1945 eine Zunahme um 20% eintrat. VII. B e i t r a g der L e h r e r des S p i t a l s u n d der inneren
Klinik
an d e r E n t w i c k l u n g d e r V e t e r i n ä r m e d i z i n Die Gründung der tierärztlichen Lehranstalt fiel in eine Zeit, in der die Seuchen unter Tieren und Menschen große Opfer forderten. Im 18. Jahrhundert gefährdete die Rinderpest ernstlich den Vieh26»
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bestand. Die Pocken oder Blattern waren eine verbreitete und gefährliche Krankheit des Menschen. Noch im 18. Jahrhundert sollen fünf Sechstel aller Menschen daran erkrankt sein. Im damaligen Preußen sind etwa 25 000 Personen, meistens Kinder unter 10 Jahren, der Seuche zum Opfer gefallen (30). Der Gesundheitsfürsorge, der Humanund Veterinärmedizin, waren große Aufgaben gestellt. Eine Verbesserung und Neugestaltung der bisherigen Vorbildung der Kreise, denen diese Aufgaben zufielen, mußten die Voraussetzungen für eine wirksame Bekämpfung der Seuchen schaffen. Staatliche Hilfe und Maßnahmen waren hierzu erforderlich. Das Kurieren von Mensch und Tier durch oft nur ungenügend oder nicht ausgebildete Personen, vielfach im Banne des Aberglaubens, konnte diesen Anforderungen nicht gerecht werden. Bruchschneider, Branntweinbrenner, Segensprecher usw. waren in der Heilkunde tätig. Arzt und Chirurg waren getrennte Berufe. Der Arzt erhielt seine Ausbildung an den Universitäten, der Chirurg ging aus der Barbierstube hervor und lernte dort die wundärztlichen Handgriffe (21). In Preußen stiftete Friedrich Wilhelm I. zur besseren Ausbildung der Chirurgen 1723 dasCollegium medico-chirurgicum, und 1727 wurde die Charité in Berlin in den praktischen Dienst des Unterrichts gestellt. Die Versorgung kranker Tiere wurde von den Bauern selbst durchgeführt oder Schmieden, Abdeckern und Scharfrichtern überlassen. Die für die Entwicklung der Medizin entscheidenden Erkenntnisse des 18. Jahrhunderts mußten durch verbesserten Unterricht Allgemeingut der Heilkunde werden. 1761 begründete der Anatom Morgagni durch sein Werk »De sedibus et causis morborum« die pathologische Anatomie. Im gleichen Jahre veröffentlichte Leopold Auenbrugger seine Schrift: »Inventum novum ex percussione thoracis humani ut signo obstrusos morbos pectoris interni detegendi«. 1817 führte Laennec die Auskultation ein. Physikalische Methoden werden für die Diagnostik mit herangezogen. Im Jahre 1725 wurde die Königl. Preuß. Medizinal-Verfassung geschaffen. Diese Verordnung schränkte das Kurpfuschertum ein, schrieb eine ordentliche Ausbildung der Arzte und Chirurgen vor und förderte in vieler Hinsicht die Entwicklung des Medizinalwesens. Der Humanmediziner C asper (3), der die Erfolge der MedizinalVerfassung aus Anlaß des 100-j ährigen Bestehens würdigt, hebt hervor, daß über die Tierärzte das Edikt vom Jahre 1725 schweigt und daß
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diese Klasse von Medizinalpersonen am längsten stiefmütterlich behandelt worden ist. Casper stellt aber auch fest, daß durch die Gründung der Tierarzneischule der Veterinärmedizin eine neue Rolle und Gestaltung gegeben wurde. Wilhelm von Humboldt plante, die Tierarzneischule der Universität bei der Gründung im Jahre 1810 anzuschließen, Hufeland schlug vor, dem Professor Sick der Tierarzneischule das Lehrgebiet der Tierarzneilehre und vergleichenden Anatomie in der Medizinischen Fakultät der neugegründeten Universität zu übertragen (34). Nach dem Regulativ über die obere Leitung und Verwaltung der Tierarzneischule durch das Curatorium für die Krankenhaus-Angelegenheiten des Jahres 1836 sollten Studierende der Medizin und Ärzte, die sich zu ärztlichen Beamten ausbilden wollten, an der Tierarzneischule sich die erforderlichen tierärztlichen und veterinärpolizeilichen Kenntnisse aneignen (61). Kurzsichtigkeit und Dünkel einzelner Kreise unter Landwirten, Juristen und Ärzten und die sich daraus ergebenden Schwierigkeiten konnten die Entwicklung der Veterinärmedizin und ihrer Lehrstätte in Berlin zur selbständigen Wissenschaft und Hochschule im Jahre 1887 nicht hemmen. Zur 50-Jahr-Feier der Universität Berlin wurden die Tierärzte unter den geladenen Gästen vermißt (9). Auf der Jubiläumsfeier zum 100-j ährigen Bestehen der Hochschule im Jahre 1890 verkündete der Rektor der Universität Berlin, der Rechtslehrer Hinschius, daß die Studenten der Veterinärmedizin die Vorlesungen der Universität besuchen dürfen. Als letzten Abschnitt im Zuge dieser Entwicklung zur Gleichberechtigung tierärztlicher Hochschulen ist das Promotionsrecht, das im Jahre 1910 verliehen wurde, zu nennen. Für die Entwicklung der Veterinärmedizin und der Tierärztlichen Hochschule zur Selbständigkeit hat das Spital und die daraus hervorgegangene Medizinische Klinik wesentliche Beiträge in Lehre und Forschung geliefert. Der klinische Unterricht im Spital, die Exkursionen und die Vorlesung über Therapie und Pathologie nehmen schon in den ersten Lehrplänen einen breiten Raum ein. Diese Fächer werden zweckmäßig ergänzt durch Vorlesungen und Übungen in der Zergliederungskunde, Pharmazie, Botanik und Chemie. Von 1790—1817 war das Lehrpersonal an Zahl nicht ausreichend. Die Professoren Naumann und Sick mit den Prosektoren Reckleben, Krumm und dem Apotheker Ratzeburg hatten den gesamten Unterricht abzuhalten. 1817 wurde
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GÜNTHER SCHÜTZLER
eine Neugestaltung der Ausbildung durchgeführt. In dieser Zeit besuchten auch schon fast 100 Studierende die Anstalt. Repetitoren wurden eingestellt. Diese Tierärzte bekamen später nach ihrem Ausscheiden aus der Lehranstalt Kreistierarzt- oder Departementstierarztstellen zugewiesen. Auf Grund ihrer gründlichen Ausbildung waren sie in der Lage, in ihrem späteren Wirkungsbereich die Seuchenbekämpfung zu organisieren, zu überwachen und erfolgreich durchzuführen. Auch in den folgenden Jahren bis 1945 waren Tierärzte vor der Übernahme eines Kreises oder einer Tätigkeit in der Veterinärverwaltung oft Assistenten der Klinik. Durch die vermehrte Einstellung von Lehrkräften und Aufteilung der Fächer wurden die Klinikleiter entlastet und konnten sich mehr der Forschung widmen. Hertwig fand in der Fachwelt mit seinen grundlegenden Untersuchungen über die Tollwut Anerkennung. Arbeiten über die Räudemilben sind ebenfalls hervorzuheben. Seine Veröffentlichungen über Arzneimittel und Gifte wurden in medizinischen Lehrbüchern und Zeitschriften zitiert. E r galt als anerkannte Autorität seines Fachgebietes. Die von ihm verfaßten Lehrbücher vermittelten Studierenden und Tierärzten gut fundiertes Wissen, das durch eigene Beobachtungen, Untersuchungen und gründliches Quellenstudium erarbeitet war. Hertwig hat die Verbindung zur Medizin gepflegt. In einem Vortrag über die bei Menschen und Tieren gemeinschaftlichen und nicht gemeinschaftlichen Krankheiten wurden die Aufgaben einer vergleichenden Medizin insbesonders der comparativen Pathologie herausgestellt (26). Hertwig hat für das »Enzyklopädische Wörterbuch der Medizinischen Wissenschaften«, das von den Professoren der Berliner Medizinischen Fakultät herausgegeben wurde, mehrere Beiträge über Krankheiten der Haustiere geliefert. Viele tierärztliche Instrumente sind von ihm erfunden und auch in die Praxis eingeführt worden. Die Benutzung des Stethoskopes auch für tierärztliche Zwecke ist von ihm 1835 beschrieben worden, er bevorzugte aber die unmittelbare Auskultation (23). Spinola verbesserte und vervollkommnete die Diagnostik durch Übernahme der physikalischen Untersuchungsmethoden und verfaßte einige Lehrbücher. Gerlach hat als Kliniker und als Direktor in Berlin und Hannover die Entwicklung der Tierärztlichen Lehranstalt, die Seuchentilgung und das gesamte Standesleben maßgebend gefördert. 1875 veröffent-
Chronik der Medizinischen Tierklinik
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lichte er eingehende Untersuchungen über die Ubertragbarkeit der Tuberkulose und wies besonders auf die Beziehung der Rindertuberkulose zur Tuberkulose des Menschen hin (16). Gerlach hat als Gründungsmitglied der Technischen Deputation für das Veterinärwesen entscheidenden Einfluß auf die Seuchenbekämpfung genommen. Die Entwürfe zum Preußischen Viehseuchengesetz sind zur Hauptsache von ihm und dem Departementstierarzt Pauli bearbeitet worden. Dieses Gesetz trat 1875 in Kraft und wurde Vorbild für die Gesetzgebung anderer Staaten. Virchow, der ebenfalls Mitglied der Technischen Deputation war, hebt auf einer Ansprache zur 100-Jahrfeier der Tierärztlichen Hochschule Berlin die Bedeutung dieses Gesetzes hervor und bedauert es, daß die Mediziner nicht in gleicher Schnelligkeit ein entsprechendes Gesetz herausgebracht haben, denn das Reichsseuchengesetz ist erst 1900 in Kraft getreten (58). Gerlach hat die gerichtliche Tierheilkunde als selbständiges Fach weiterentwickelt und seine Erfahrungen in einem Lehrbuch zusammengefaßt. Dieckerhoff hat, angeregt durch den Besuch der Vorlesungen Virchows, erkannt, daß die Kenntnisse der pathologischen Anatomie für die innere Medizin von entscheidender Bedeutung sind. Er zeigte die Folgen auf, welche die Erkrankungen eines Organs auf den gesamten Organismus ausüben können. Harn- und Blutuntersuchungen ergänzten die Diagnostik. Die Wirkungen von Arzneimitteln, z. B. Eserin, Chlorbarium, Argentum kolloidale wurden in der Klinik erprobt. Er ist an der Ausarbeitung der Kaiserlichen Verordnung zum Bürgerlichen Gesetzbuch entscheidend beteiligt gewesen. Mit kritischer Einstellung hatte er darauf hingewiesen, daß die Zahl der Hauptmängel möglichst klein gehalten werden muß, da nach dem Stande der wissenschaftlichen Erkenntnis die Festlegung der Gewährsfristen auf größte Schwierigkeiten stößt. Diese Feststellung hat noch heute Gültigkeit. Fröhner hat die klinischen Untersuchungsmethoden unter Betonung eines systematischen Untersuchungsganges weiter ausgebaut. Seine grundlegenden Arbeiten erstrecken sich auf alle klinischen Fächer, die Gerichtliche Tierheilkunde, die Pharmakologie und Toxikologie. Die von ihm über diese Gebiete verfaßten Lehrbücher sind in vielen Auflagen erschienen, einige sind nach Neubearbeitung auch heute Standardwerke der Veterinärmedizin. Das mit Friedberger zusammen herausgegebene Lehrbuch der speziellen Pathologie und Therapie ist in mehrere Kultursprachen übersetzt worden. Nachdem 1910 die
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Tierärztliche Hochschule das Promotionsrecht erhalten hatte, erschienen bis zum Jahre 1926 unter Fröhner über 30 Dissertationen, die vielfach hämatologische Gebiete behandeln. Als Vorsitzender des Tierärztlichen Gutachterkollegiums und durch sein Lehrbuch der Gerichtlichen Tierheilkunde hat er sich um dieses Fachgebiet besonders verdient gemacht. In- und Ausland erkannten Fröhner als hervorragenden Lehrer und Forscher an. Neumann-Kleinpaul hatte vor seiner Berufung im Jahre 1919 eine vielseitige Ausbildung in wissenschaftlichen Instituten und in der tierärztlichen Praxis, die seine Lehr- und Forschungstätigkeit in Zukunft bestimmte. Als Direktor der Poliklinik in den Jahren 1919 bis 1926 hat er die Nasenschlundsonde entwickelt und zusammen mit seinem Assistenten Schultz 1924 (42) ihre Anwendung bekannt gegeben. Neue Möglichkeiten für die Therapie waren gegeben. In kurzer Zeit war die Nasenschlundsonde in die Praxis eingeführt, sie gehört zu dem wichtigsten Instrumentarium des Tierarztes. Die Erfolge der Kolikbehandlung wurden verbessert. Weitere für die Therapie und Diagnostik wertvolle Instrumente sind von Neumann-Kleinpaul geschaffen worden. Der Augenspiegel »Neukla« und die Augenlupe erleichtern Augenuntersuchungen bei Haustieren. Zahninstrumente, Spraykatheter, Tränennasengangkanüle, Plessimeter und das Cystokop für Großtiere bereichterten die diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten wesentlich. Neue Medikamente wurden in seiner Klinik entwickelt (Sulfoliquid, Bariomyl, Pharymenth, Viscopasta). Die Kolikbehandlung mit Hefe und Melasse wurde klinisch erprobt und in die Praxis eingeführt. Neumann-Kleinpaul hat mit seinen Schülern in der Medizinischen Tierklinik wichtige Gebiete der neueren Untersuchungsmethoden (Blutdruckmessung, Elektrokardiographie, Hämatologie) bearbeitet und grundlegende Ergebnisse erzielt. Die kombinierte Elektrokardiogramm-Herztonaufnahme, die endoskopische Photographie wurden beschrieben. Drackmessungen am Magen und Darm des Pferdes wurden durchgeführt. Die Arbeiten von Neumann-Kleinpaul und von seinen Schülern sind in einem Manuskript zusammengestellt, das die Titel von 150 Veröffentlichungen und von fast 200 Dissertationen enthält (63). Veterinäroffiziere und ausländische Tierärzte besuchten die Klinik und hospitierten dort, um die modernen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden kennenzulernen und um in der Medizinischen Tierklinik zu forschen. Nach
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Fröhner wurde Neumann-Kleinpaul Vorsitzender des Tierärztlichen Gutachterkollegiums. Er hat zusammen mit dem Berliner Veterinär-Pathologen Dobberstein »Fröhners Lehrbuch der Gerichtlichen Tierheilkunde« 1942 neubearbeitet. Zur Zeit liegt die 11. Auflage des Jahres 1955 vor. Die Professoren Hertwig, Gerlach, Dieckerhoff, Fröhner, NeumannKleinpaul der inneren Klinik haben durch die Gründung wissenschaftlicher Zeitschriften und durch ihre Mitarbeit als Schriftleiter die Veterinärmedizin entscheidend gefördert. Zur Zeit der Gründung der tierärztlichen Lehranstalt gab es in Deutschland einige tierärztliche Zeitschriften, die aber meist nach kurzem Bestehen ihr Erscheinen einstellten (22, 73). Der Berliner Veterinär-Anatom Gurlt begründete zusammen mit Hertwig 1835 das »Magazin für die gesamte Tierheilkunde«, das zu den führenden deutschen Zeitschriften wurde. Fast alle bedeutenden Wissenschaftler haben Beiträge geliefert. Gurlt selbst hat in 40 Jahren 128 und Hertwig 107 Veröffentlichungen in dem Magazin niedergelegt (75). Im Jahre 1874 waren 40 Bände erschienen. Hier schließt sich 1875 das »Archiv für wissenschaftliche und praktische Thierheilkunde«, das von Gerlach herausgegeben und von den Berliner Professoren Müller und Schütz redigiert wurde, an. Nach Gerlachs Tode übernimmt Roloff 1878 die Herausgabe. 1880/87 zeichnen als Herausgeber Müller und Schütz. In späteren Jahren traten die Dresdener Professoren Siedamgrotzky und Ellenberger und aus Hannover Dammann hinzu. Von 1902 bis 1921 wird das Archiv von Schütz redigiert. 1922 bis 1945 übernimmt der Kliniker Neumann-Kleinpaul die Redaktion. Hervorragende Wissenschaftler des In- und Auslandes arbeiteten als Herausgeber init, so daß das Archiv internationale Geltung hatte. Der 79. Band mit dem 3. und 4. Heft erschien 1945. Dann mußte das Erscheinen eingestellt werden, da das Verlagsgebäude durch Kriegseinwirkung zerstört wurde. In einem Generalregister für die Bände 1—79, das i960 erscheinen wird, sind Arbeiten und Personalangaben mit einem Sachregister zusammengestellt (44). Die Berliner Tierärztliche Wochenschrift wurde 1888 von dem Berliner Veterinär-Pathologen Schütz und dem Kliniker Dieckerhoff neu herausgegeben. Seit 1. Juli 1938 erscheint sie als Berliner und Münchener Tierärztliche Wochenschrift. Fröhner gründete zusammen mit dem Münchener Veterinär-Pathologen Kitt 1890 die »Monatshefte für praktische Tierheilkunde«, die bis 1924 erschienen sind.
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GÜNTHER SCHÜTZLER
trat 1922 in den Redaktionsausschuß der von und Schütz gegründeten tierärztlichen Referatenzeitschrift »Jahresberichte über die Leistungen auf dem Gebiete der Veterinärmedizin« ein. Von 1928—1943 Neumann-Khinpaul zusammen rait Zietzschmann (Hannover) diese Jahresberichte, die für das Quellenstudium unerläßlich sind, herausgegeben. Die Jahresberichte mußten in den letzten Kriegsjahren •— 1943 — das Erscheinen einstellen. Die Chronik weist bei Betrachtung der Aufgaben und Leistungen der inneren Klinik und der Lehrer eine stetige Entwicklung seit Gründung des Spitals nach. In jeder Entwicklungsperiode wurden Fortschritte durch fleißige Arbeit bei gut fundiertem Wissen erzielt. Persönlicher Einsatz für die veterinärmedizinischen Belange in der Praxis und in der Forschung war hierzu notwendig. Die Anerkennung der Erfolge konnte nach Überwindung von Schwierigkeiten nicht ausbleiben. Die an der Klinik lehrenden Männer hatten Anteil an der Entwicklung der Tierarzneischule zur Hochschule und an Fortschritten der Tierheilkunde zur Gründung eines Lehr- und Forschungsgebietes, das an veterinärmedizinischen Fakultäten der Universitäten oder an selbständigen Hochschulen vertreten wird. Neumann-Kleinpaul
Ellenberger
VIII. Tabelle 1: Patientenzahlen
Jahre
1806
Pferde
Tabellen
des Spitals in den Jahren 1806—1840
Jahre
Pferde
und
Jahre
1853—1837.
Pferde
433 407
1822
2999
23
95i 1060
1836
07
37
2514
08/09
226
24
1214
38
10
25 26
1335 1181
39 40
2774 2424
11
425 498
12/13
418
27
14
422
28
1154 1179
15 16
414
29
1449
53
1524
466
3°
1495
54
396
31
55
1346 1299
379 382
32
1385 1470
56
1152
33
1830
57
1228
678
34
1911
819
35*
1972
17 18 19 20 21
2474
* 1 8 3 5 : I n d e r Z a h l sind e n t h a l t e n : 1 2 2 V e r s u c h s p f e r d e , 2 5 3 P f e r d e z u r U n t e r s u c h u n g auf M ä n g e l , 7 6 7 innere u n d 830 c h i r u r g i s c h e
Patienten.
411
Chronik der Medizinischen Tierklinik
Tabelle i : Patienten der Klinik und Poliklinik und 1870—1885.
Jahre
Stationäre Patienten Innere
in den Jahren
184g—1868
Pferdebestand i. Berlin, ohne Militärpferde
Poliklinik
Äußere Gerichtl. 2000
163 254 295 285 362 34° 384 244 277 255
1859*) 60 61 62 63 64 65 66 67 68 70**) 71**) 73 ; 1875 76
538 5°9 644 770 752 789 775 728 461 423 insges. : insges. : insges. : 797 761
333 329 380 327 522 522 491 460 391 391 1705 2275 3000 1024 1038
513 432
198 372
1093 1239
3168 3734
80 81 82 83 84 85 (1.4. bis 30.9.)
636 918 769 710 644
1542 1323 1149 I053 1198
534 600 7°3 779 738
50 103 163 —
1466 1665 957 864 885
5365 5420 3603 4289 3647
478
559
394
—
—
4000 2500
Gerichtl. Innere
—
Äußere 28487 28877
—
*) 1859—68 und ab 1880 Jahresberechnung jeweils vom 1. April — 3 1 . März **) Angaben von Leisering aus dem Nekrolog für Gerlach (33)-
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GÜNTHER
SCHÜTZLER
Tabelle 3: Patienten der Medizinischen Tierklinik in den Jahren 1885—1945. Innere Krankheiten und gerichtliche Fälle. Pjerdebestand in Berlin. Pferde
Jahre
1885 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 1900 Ol 02 03 04 °5 06 07 08 09 10 11 12
innere Krankheiten 395 1026 998 1021 1076 IIOO 1022 972 1184 972 1152 "57 1315 1342 1460 1531 i423 1446 1760 1547 1643 1317 1254 1087 1083 1044 1039 853
gerichtl. Fälle
Pferde in Berlin ohne Militär
270 515 402 436 416 344 458 460 361 415 527 475 484 548 463 295 308 492 467 153 145 144 124 156 116 163 150 148
37815 38681
gerichtl. Fälle
in Berlin ohne Militär
895 737 628 478 603
243 128
45448 30035
55 59 70
22194
1927 28 29
1363 1434 1140
91 69 60
30 31 32 33 34 35 36
843 782 827
39 70 66
995 956 788
72 85 90
729 776 712
83 74 83 55 35 36 18 10
Jahre
1913 14 15 16 17
innere Krankheiten
43916
50363
51204 48393 51986 53742 52568 51047 49917 49065 46278
37 38 39 40 4i 42 43 44 45
874 789 889 994 645 1040 617
42974 42222
22576 17028 17363 13801 13856 11325
7 0
D i e Jahreseinteilung für die Patienten erfolgt v o m 1. April bis z u m 31. März des nächsten Jahres außer; 1. Oktober 1885 bis 31. März 1886, 1. Januar 1927 bis 31. März 1928, 1. April 1945 bis 17. April 1945, 1. A u g u s t 1945 bis 31. März 1946.
413
Chronik der Medizinischen Tierklinik
Tabelle 4: Patienten
Jahre
innere Krankheiten
1887 88 89 90
1031 717 1058 1070
91 92
1342 1417 2185 1964 2026 2074
93 94 95 96 97 98 99 1900 Ol 02 03 04 05 06 07 08 09 IO II 12 13 14 15 l6 17
2548 2046 2270 2292 2192 1847 2115 1251 986 1138 1824 1088 1428 922 1201 1028 1061 472 321 664 522
der Poliklinik
von
1887—1917•
davon Rotz 3 — — — — —
1 7 4 2 2 1 1 2 2 1 2 1 —
1 1 1 2 1
Brustseuche 19 26 78 53 69 109 228 178 241 280 345 174 122 146 90 98 88 20 55 29 3° 11 2 1 8 1
Influenza
— — — —
72 37 77 57 121 56 3° 90 47 23 14 65 35 46 29 —
14 2 1 2 1
—
1 4 5 —
1 1 1 8
1 2 4 6
Kolik
äußere Krankheiten
70
3998
47 82 68 72 80 66
4°54 4227 43 7 6 4856 6980 6964
65 59 66 128 76
7143 7537 7417 9008 9838 10371
133 103 142 "5 130 23 25 36 118 41 IOI 53 85 69 49 43 35 68 44
9479 8516 8471 7976 759° 5927 5839 6351 5760 5083 4327 6416 5078 5450 2373 2495 1774 2809
414
GÜNTHER
IX.
SCHÜTZLER
SCHRIFTTUM
1. Albers, J. C., Geschichte der Königlichen Thierarzneischule in Berlin. Berlin 1841. 2. Beutner, K u r t , 150 Jahre veterinärmedizinische F a k u l t ä t der Universität Berlin. Tierärztl. Rdsch. 46, 245 (1940). 3. Casper, Blick auf die Fortschritte der Königl. Preuß. Medizinal-Verfassung. J. p r a k t . Heilk. 66, 7 (1828). 4. Centenarfeier der Königlichen Thierärztlichen Hochschule in Berlin. Arch. wiss. prakt. Tierhk. 16, 401 (1890). 5. Dahmen, H a n s und K u r t Wagener, Die Tierärztliche Hochschule Berlin. K ü s s n a c h t a m Rigi und Düsseldorf, Lindner V e r l a g 1931. 6. Dobberstein, Johannes, Neumann-Kleinpaul, 60 Jahre alt, Portrait. Arch. wiss. prakt. Tierhk. 78 H. 1 (1944). 7. — , Die Währschaftsgesetze b e i m Viehhandel v o m Standpunkt der forensischen Veterinärmedizin. S. ber. Dtsch. A k a d . Wiss., K l . med. Wiss. Jg. 1952 Nr. 2, A k a d e m i e Verlag Berlin 1953. 8. — und Wenzel Dinter, Beiträge zur Sektionsstatistik der K o l i k des Pferdes. Arch. wiss. p r a k t . Tierhk. 76, 256 (1941). 9. E r d t , W . E . A., Die Thierarzneiwissenschaft nach ihrer Tendenz, Verwert h u n g und ihrem Standpunkte i m preußischen Staate beim Civil und Militär. Cöslin 1861. 10. Esser, Aufruf zur S t i f t u n g der B ü s t e n v o n Gurlt, H e r t w i g und Spinola. Arch. wiss. prakt. Tierhk. 27, 486 (1901). 1 1 . Fontaine, H., D a s Deutsche Heeresveterinärwesen. Seine Geschichte bis z u m Jahre 1933. Hannover, V e r l a g Schaper 1939. 12. Froehner, Reinhard, Die Tierärztliche Hochschule Hannover. Gerlach, Biographie. Beitr. Gesch. V e t . Med. VI, 48 (1943/44). 13. — , Die Tierärztliche Hochschule Hannover. Köhne Biographie. Beitr. Gesch. V e t . Med. VII, 33 (1944/45). 14. — , V o n der Tierarzneischule zur Veterinärmedizinischen F a k u l t ä t 1790 bis 1950. Mhefte V e t . med. 5, 107 (1950). 15. — , Kulturgeschichte der Tierheilkunde. 2. B d . Geschichte des deutschen Veterinärwesens. Konstanz, Terra-Verlag 1954. 16. Gerlach, Andreas, Christian, Ist das Fleisch v o n perlsüchtigen Rindern und überhaupt v o n tuberkelkranken Thieren als Nahrungsmittel f ü r Menschen zu verwenden oder zu v e r w e r f e n ? Arch. wiss. p r a k t . Tierhk. 1 , 1 (1875). 17. Graf, Josef, Der veterinärklinische Unterricht in Berlin v o r 125 Jahren. V e t . med. Diss. Gießen 1952. 18. Gratzl, Erwin, Neumann-Kleinpaul, 70 Jahre alt. Wien, tierärztl. Mschr.39, 712 (1952). 19. Gurlt, Ernst Friedrich, Berichte über die Leistungen der Königl. Thierarzneischule in den Jahren 1854, 1855, 1856. Mag. ges. Thierhk. 23, 106 (1857)20. H a h n , C. und Fr. V i a n d t , Geschichte der K . B . Zentral-Tierarzneischule München 1790—1890. München, Selbstverlag der Lehranstalt 1890. 21. Heischkel, E . , Die E n t w i c k l u n g des medizinischen Unterrichts. Med. W e l t 13, 1238, 1267 (1939)22. Hertwig, Karl, Heinrich, Übersicht über die periodische Literatur der Thierheilkunde. Mag. ges. Thierhk. 1 , 1 (1835).
Chronik der Medizinischen Tierklinik
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23. — , Miszellen: Stethoskop. Mag. ges. Thierhk. 1 , 418 (1835). 24. — , Nekrolog: N a u m a n n . Mag. ges. Thierhk. 2, 263 (1836). 25. — , Bericht über die K l i n i k im Pferdekrankenstalle der Königl. ThierarzneiSchule. Mag. ges. Thierhk. 2, 232, 326 (1836); 3, 480 (1837); 6, 129, 5 1 1 (1840); 25, 204, 473 (1859). 26. — , Über die bei Mensch und Thieren gemeinschaftlichen und nicht gemeinschaftlichen Krankheiten. Mag. ges. Thierhk. 39, 469 (1873). 27. Holtgräve, Paul, Statistische Untersuchungen an den Kolikerkrankungen der Medizinisch-forensischen K l i n i k der Tierärztlichen Hochschule H a n n o v e r in den Jahren 1939—1949. V e t . med. Diss. H a n n o v e r 1950. 28. K a h n e r t , Bruno, Tierversicherung. V e t . med. Habil. Sehr. Berlin 1943. 29. Klee, Robert, Bibliotheca Veterinaria. Leipzig, Verlag Hermann Seemann Nachfolger 1901. 30. Kleinschmidt, Hans, Lehrbuch der Kinderheilkunde. Begründet v o n E m i l Feer. 17. A u f l . Jena, G u s t a v Fischer Verlag 1952. 31. Köhne, Heinrich, Wilhelm, Bericht über das Pferdespital der Königl. Thierarzneischule zu Berlin. Mag. ges. Thierhk. 26, 76, 464 (1860); 27, 422 (1861); 28, 331 (1862); 29, 357 (1862); 31, 41 (1865); 32, 49 (1866); 33, 257 (1867); 34, 283 (1868); 36, 83, 279 (1870). 32. Körner, Theodor, Johannes, Beiträge zur Geschichte der Medizinischen Tierklinik und des Instituts für Gerichtliche Tierheilkunde der vet. med. F a k u l t ä t der Humboldt-Universität Berlin, unter Berücksichtigung der Patienten der Jahre 1885—1952. V e t . med. Diss. Berlin, Humboldt-Universität 1956. 33. Leisering, Theodor, Nekrolog: Gerlach. Arch. wiss. prakt. Tierhk. 4, 1 (1878). 34. Lenz, Max, Geschichte der Königl. Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin. I V . Bd. Halle 1910. 35. Lustig, A . , Bericht über das Pferdespital der Thierarzneischule Hannover 1885/86. Arch. wiss. p r a k t . Tierhk. 13, 241 (1887). 36. Mager, Joachim, Statistische Erhebungen über die Pferdegrippe an Patient e n der Medizinischen Tierklinik der Humboldt-Universität Berlin aus den Jahren 1929—1950. V e t . med. Diss. Berlin, Humboldt-Universität 1958. 37. Malkmus, Nekrolog: Dieckerhoff. Dtsch. tierärztl. Wschr. 12, 1 (1904). 38. Müller, C., Aufruf zur S c h a f f u n g eines Denkmals für Gerlach. Arch. wiss. prakt. Tierhk. 10, 478 (1884). 39. Müller, L . Felix, Nekrolog: Neumann-Kleinpaul, Portrait. Dtsch. Tierärzteblatt 6, 164 (1958). 40. — Nekrolog: W i l m a v o n Düring, Portrait. Berliner Münchener tierärztl. Wschr. J3, 160 (i960). 41. Müssemeier, Friedrich, Tierärztliche Gutachten, abgegeben v o m Preußischen Landesveterinäramt. Berlin, Schoetz 1930. 42. Neumann, K u r t und H . Schultz, D a s Eingeben flüssiger Medikamente durch eine Nasenschlundsonde. Berliner tierärztl. Wschr. 40, 629 (1924). 43. Neumann-Kleinpaul, K u r t , Über die deutsche Währschaftsgesetzgebung beim Tierkauf. Berliner tierärztl. Wschr. 48, 365 (1932). 44. — u. Günther Schützler, Generalregister z u m A r c h i v f ü r wissenschaftliche und praktische Tierheilkunde, B d . 1 — 7 9 einschl. Suppl. Bde. Bearb. v o n Günther Schützler, Berlin P a r e y 1961 (im Druck.) 45. Nevermann, Ludwig, Tierärztliche Gutachten, abgegeben v o m Preußischen Landesveterinäramt. Berlin, Schoetz 1919.
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GÜNTHER
SCHÜTZLER
46. Oppermann, Theodor, Nekrolog: Eugen Fröhner. Dtsch. tierärztl. Wschr. 48, 322 (1940). 47. Preußens landwirtschaftliche Verwaltung in den Jahren 1875, 1876, 1877, Berlin 1878, ref. in Arch. wiss. prakt. Tierhk. 5, 326 (1879). 48. Prinz, Carl, Gottlob, Bericht über die Thierheilanstalt bei der Königlichen Thierarznei-Schule zu Dresden im Jahre 1837. Mag. ges. Thierhk. 4, 235 (1838). 49. Renk, Walter, Neumann-Kleinpaul, 75 Jahre alt, Portrait. Berliner Münchener tierärztl. Wschr. 70, 399 (1957) un