Rußlands langer Weg zur Gegenwart 352534029X, 9783525340295

Rußland ist eine Unbekannte. Wenig wissen wir über das riesige Land im Osten, über seine Vergangenheit, seine Traditione

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German Pages 96 [100] Year 2001

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Table of contents :
Zur Einführung 5
Gottfried Schramm / Weiträumigkeit als Problem 7
Dietrich Beyrau / Die Bürde militärischer Macht 19
Dietrich Geyer / Späte Europäisierung 32
Heinz-Dietrich Löwe / Stärken und Schwächen des ausgehenden Zarenreichs 44
Gottfried Schramm / Die revolutionäre Bewegung als langer Vorlauf des Roten Oktobers 58
Stefan Plaggenborg / Macht und Ohnmacht der Sowjetunion 70
Klaus von Beyme / Rußlands Gegenwart und die Last der Vergangenheit 82
Autoren 94
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Rußlands langer Weg zur Gegenwart
 352534029X, 9783525340295

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Gottfried Schramm (Hg.)

Rußlands langer Weg zur Gegenwart

V&R YANDENKOECK& RUPRECHT

Gottfried Schramm geboren 1929, ist em. Professor für N e u e r e und Geschichte an der Universität Freiburg.

Die Deutsche Bibliothek -

Osteuropäische

CIP-Einheitsaufnahme

Rußlands langer Weg zur Gegenwart I Gottfried Schramm (Hg). Göttingen : Vandcnhoeck und Ruprecht, 2001 (Kleine Reihe V & R ; 4029) ISBN 3-525-34029-X KLEINE REIHE V&R 4029

© 2001, Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen. Internet: http://www.vandenhoeck-ruprecht.de Alle Rechte vorbehalten Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen. Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Gtrmany. Umschlag: Jürgen Kochinke, Halle Schrift: Concorde regulär Gesamtherstellung: Hubert & Co., Göttingen

V ^ o / - IU&)

Inhalt Zur Einführung

5

Gottfried Schramm Weiträumigkeit als Problem

7

Dietrich Beyrau Die Bürde militärischer Macht

19

Dietrich Geyer Späte Europäisierung

32

Heinz-Dietrich Löwe Stärken und Schwächen des ausgehenden Zarenreichs

44

Gottfried Schramm Die revolutionäre Bewegung als langer Vorlauf des Roten Oktobers

58

Stefan Plaggenborg \ Macht und Ohnmacht der Sowjetunion

70

Klaus von Beyme Rußlands Gegenwart und die Last der Vergangenheit

82

Autoren

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Matrjoschka mit Henne von S. Maljutin (Werkstatt der Gebrüder Iwanow), Anfang 20. Jahrhundert, Sergijew Possad, Lindenholz, gedrechselt, bemalt, 8teilig; Staatliches Historisches Museum Moskau.

Zur Einführung Was im folgenden einer breiteren Leserschaft vorgelegt wird, hat seine Probe bereits bei Hörerinnen und Hörern bestanden. Der Südwestfunk hatte die Idee, zum letzten Jahrtausendwechsel, von 2000 auf 2001, in einer ganzen Reihe von Sendungen und von verschiedenen Warten aus das Thema »Rußland« zu behandeln. Mir wurde durch Stefan Krass die Aufgabe angetragen, für die Reihe »Aula«, die jeden Sonntag um halb neun, also zu einer besonders günstigen Zeit, eine Folge von sieben Vorträgen zur russischen Geschichte zu konzipieren. Dieser Vorschlag schien mir auf Anhieb reizvoll. Das Programm, das ich sogleich zu Papier brachte, ging von mehreren Leitgedanken aus: - Die Wissenschaft oder die Osteuropäischen Geschichte, die ich selber bertreibe, sollte nutzbar gemacht und einem weiteren Publikum von Interessierten - oder wie ich gerne sage: »Deutschen mit Abitur« - Zugänge zu den schwierigen, dem Betrachter rätselhaften Verhältnissen im gegenwärtigen Rußland geöffnet werden. - Russische Geschichte hat sich in mehr als tausend Jahren entfaltet. Von Anfang an zeigten sich Merkmale, die sich über alle Wechsel hinweg gehalten haben. Daß Rußlands Geschichte Leitthemen besitzt, sollte am Anfang in zwei Durchblicken beispielhaft gezeigt werden. Geeignet schienen mir »Weiträumigkeit als Problem« und »Die Bürde militärischer Macht«. - Vom 18. Jahrhundert an sollten die Hauptepochen in jeweils einer Sendung behandelt werden: nicht durcherzählend, sondern unter dem Gesichtspunkt, wie weit sich in ihnen Zukunft vorbereitet hat oder für die ausgehende Zarenzeit: welchen sie bargen, die später verschüttet wurden. - Es empfahl sich, die Geschichte zwischen dem Krimkrieg und der Oktoberrevolution zweimal hintereinander und zwar aus entgegengesetzten Blickwinkeln zu beleuchten: einmal als Versuch, Rußland einer zunächst hochtraditionellen, kaiserlichen Ordnung zu modernisieren, dann aber als Vorgeschichte der bolschewistischen Revolution, die die Bahn für eine völlig andere Ordnung brach. 5

Die Beiträger suchte ich mir unter Kollegen, von denen ich aus langer persönlicher Kenntnis hoffen durfte, daß sie zu einem kollegialen Experiment, wie es mir vorschwebte, bereit sein könnten. Die Geeigneten entdeckte ich im Nahhorizont von Baden-Württemberg, wo ich seit langem zu Hause bin. Fündig wurde ich jeweils zweimal in Tübingen und Heidelberg. Bis nach Marburg griff ich aus, weil dort ein ehemaliger Freiburger lehrt. Es war mir ein Vergnügen, daß alle Angesprochenen auf Anhieb zusagten und ihre Versprechen auch pünktlich eingehalten haben. Da ich selber nur selten Rundfunk höre, erstaunte es mich, wie oft ich auf diese Reihe angesprochen wurde. Nun fragte man mich, ob man das alles auch einmal gedruckt lesen könne, weil die sieben Analysen naturgemäß viele Tatsachen und Gedanken zusammentrugen, die man beim Hören nicht alle behalten kann. Der Wunsch, den Gang durch die Geschichte Rußlands noch einmal in Ruhe nachlesen zu können, wird mit dem folgenden Bändchen erfüllt. Das Vorgelegte ist weniger als eine russische Geschichte, aber mehr als ein Bündel von diversen Beiträgen. Denn es läuft die Leitidee durch, eine lange Geschichte in Durchblicken, die auf die Gegenwart hinführen, nachvollziehbar zu machen. Freiburg, im September 2001

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Gottfried Schramm

Gottfried Schramm Weiträumigkeit als Problem 1835 erregte ein erst dreißigjähriger Franzose, Alexis de Tocqueville, Aufsehen mit einem Buch, in dem er das Fazit einer einjährigen Reise durch die Vereinigten Staaten zog. Mit ihrer demokratischen Ordnung, so erläuterte der Heimkehrer Tocqueville, verfüge der junge Staat in der neuen Welt über ein politisches System, das sich in rund einem halben Jahrhundert gefestigt und bewährt habe. Die anderen Staaten würden, so viel Widerstände dagegen auch aufgerichtet würden, diesem Muster einer nach dem anderen folgen. In einem zweiten Band, der 1840 erschien, ist das Bild, das der Verfasser entwarf, noch weiter ausgezeichnet worden. Uns sollte hellhörig machen, daß der erste Band 1835 in eine weitere Zukunftsvision ausmündete. Amerika liefere nicht nur mit seiner Demokratie das Verfassungsmuster für das kommende Weltzeitalter. Nein, es werde sich auch zu einer Weltmacht entwickeln, mit der nur ein einziger anderer Staat mithalten könne. Gemeint war Rußland, das Tocqueville im Unterschied zu den Vereinigten Staaten nicht aus eigenem Augenschein kannte und deshalb auch nicht mit der ihm eigenen Schärfe analysiert hat. Nicht seine politische Ordnung, die das genaue Gegenteil zur Demokratie in Amerika darstellte, sondern seine Weiträumigkeit weise Rußland, so hat Tocqueville wohl gemeint, eine große Rolle zu, in die es allmählich hineinwachse. Mit dieser kühnen Vision stand Tocqueville weder zu seiner Zeit noch später allein. Der deutsche Linkshegelianer Bruno Bauer sah zwei junge Staaten ohne Mittelalter, mit einer noch dünn gestreuten, aber rasch ins Riesenhafte anschwellenden Bevölkerung: hier wie dort »derselbe kolossale Charakter der Ebenen und Stromgebiete«. In Hitler wild-imperialistischen Phantasien besaß Deutschland nur dann eine Chance gegen die mächtigen Vereinigten Staaten, wenn es ihm gelänge, den zweiten großen Raumblock dieser Erde, nämlich die Sowjetunion, zu unterwerfen. Franklin Delano Roosevelt arbeitete, bevor er 1945 kurz vor dem Zusammenbruch Hitlerdeutschlands starb, auf eine neue internationale Ordnung hin, deren Hauptstützen die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion sein sollten. 7

Auch wenn die kurzfristige Partnerschaft zwischen der Sowjetunion und Amerika rasch in eine feindselige Bipolarität umschlug und der Rüstungswettlauf entbrannte, blieb es dabei, daß sich zwei Supermächte gegenüberstanden, deren Machtpotentiale ähnlich groß schienen. Das hat den Weltfrieden stabilisiert. Heute hat sich das Blatt gewendet. Viel von der Stärke der Sowjetunion enthüllte sich als Potemkinsches Dorf. Hinter der Attrappe einer Supermacht trat ein ganz ungleicher Entwicklungsstand mit viel Unterentwicklung und ineffektiver Megalomanie zutage. Um an Helmut Schmidts Spottwort anzuschließen: Obervolta mit Atomraketen. Damit sind wir in eine Problematik eingetreten, die sich seit einer fernen Vegangenheit durch die russische Geschichte zieht. Sie soll als Beispiel dienen, wie ein Rückblick in frühere Jahrhunderte Schlüssel zum Verständnis der Gegenwart bereitstellen kann. In den sechs Beiträgen, die sich anschließen werden, gedenken wechselnde Betrachter auf eine ähnliche Weise vorzugehen: wohlgemerkt jeder auf seine eigene, eigenständige Weise. War die Weiträumigkeit - so die Fragestellung, mit der wir beginnen wollen - wirklich das Unterpfand, wirklich die Trumpfkarte für eine große weltgeschichtliche Rolle? Oder lag sie eher wie eine Last auf dem Lande, die immer von neuem seine Modernisierung erschwerte? Ja, hat die Weiträumigkeit, die sich als gemeinsames Merkmal verschiedener Epochen der russischen Geschichte abhebt, durchweg dieselbe Ursache? Seit wann zeichnet sich dieses Phänomen zum ersten Mal ab? In der Generation der europäischen Geschichtswissenschaft, die hinter uns liegt, ist über Großräumigkeit und Kleinräumigkeit der Geschichte unseres Erdteils viel und fruchtbar nachgedacht worden. Ein Pionier war dabei der große Franzose Fernand Braudel, der uns hellhörig für die Gefahr gemacht hat, moderne Verhältnisse in andersartige Vergangenheiten zurückzuprojizieren. Weite Bereiche von Wirtschaft und Gesellschaft blieben gerade in Europa noch lange kleinräumig organisiert, auch wenn die Kleinräume durchaus miteinander kommunizierten. Anschaulicher ausgedrückt: die Kammern, aus denen Europa bestand, waren durch Türen miteinander verbunden. Vielfältige Untergliederungen des Raumes und der Lebenszusammenhänge wurden zur Stärke, als das Leben sich zunehmend großräumiger organisierte, weil die Vielfalt gleichsam als solides Unterfutter eingebracht werden konnte. Italien, das, vereinfacht 8

gesprochen, bis ins 16. Jh. an der Spitze der Entwicklung des Kontinents stand, stellte ein buntscheckiges Mosaik von Staaten und konkurrierenden Zentren dar. Nicht in der Zusammenfassung zu einem einheitlichen politischen und wirtschaftlichen Raum, sondern gerade im Wettbewerb vieler Räume lag Italiens Kraft und ein Grund für seine Vorreiterrolle. Nördlich der Alpen entwickelte sich ein weiterer Pionierraum in den Niederlanden, der ähnliche Merkmale aufwies. In jüngerer Vergangenheit hat die Kantonsgliederung der Schweiz mit ihrer sehr weitgehenden Selbständigkeit der Teile eine glückliche wirtschaftliche Entfaltung nicht etwa gehemmt, sondern eher gefördert. Die Vielfalt, die sich addierende Kleinräumigkeit sie machten Europa zu einem riesigen Experimentierfeld, auf dem abweichende Formen des wirtschaftlichen und sozialen Lebens nebeneinander ausprobiert wurden und in ihrer Wirksamkeit verglichen werden konnten. Den Vereinigten Staaten schlug es zum Nutzen aus, daß sie aus dreizehn Kolonien mit unterschiedlichen Verfassungen hervorgingen, die in einem schmalen Küstenstreifen des neu erschlossenen Kontinents entstanden. Ganz anders entwickelte sich die Geschichte Rußlands. In keiner Geschichtsepoche wuchs es gleichsam aus Kammern oder Kleinräumen zusammen, die ihre Eigenart in das große Ganze einbrachten. An Rußlands Anfang steht ein Großreich, das Normannen aus Schweden um 900 gegründet haben. In der Senkrechten maß es von Nowgorod bis Kiew - etwa 1.200 Kilometer und in der Diagonalen - von der Westukraine bis zur oberen Wolga - sogar 1.400 Kilometer. Das sind für das damalige Europa ganz ungewöhnliche, ja rätselhaft überdehnt anmutende Dimensionen. Wie konnten ein paar Tausend Zuwanderer aus Nordwesten ohne einen Beamtenapparat, ja ohne Erfahrung im Aufbau ausgedehnter Reiche ein solches Riesengebilde zusammenhalten? Und warum haben sie dieses Experiment überhaupt angegriffen? Schließlich: was veranlaßte die alteingesessenen Stämme, sich dem Diktat von wenigen Landfremden zu fügen? Auf solche modernen Fragen pflegen die Quellen aus fernen Jahrhunderten nicht oder doch nicht direkt zu antworten. Ja, das frühe Rußland, das durch viel weniger Zeugnisse beleuchtet wird als das westliche Europa, stellt den Historiker vor besondere Schwierigkeiten. Aber die Nestorchronik - dieser Name hat sich für einen zu An9

fang des 12. Jahrhunderts in Kiew entstandenen Text eingebürgert gibt uns immerhin eine Menge wertvoller und hinreichend verläßlicher Auskünfte. Diese wohlinformierte und anschaulich schildernde Chronik erlaubt es, wenn man sie mit anderen, namentlich griechischen und orientalischen Überlieferungen zusammennimmt, durchaus, eine Art Funktionsmodell zu zimmern, das uns nachvollziehen läßt, wie Rußland in seinen Anfängen funktioniert hat. Vor allem: wie das Ganze mit seinen Teilen zusammenspielte. Für mich stand diese Aufgabe im Zentrum von Forschungen, die ich gerade abschließe. Bevor im frühen 9. Jahrhundert Normannen aus Schweden nach Rußland kamen, haben wir mit einem Mosaik von Volksstämmen zu rechnen, die im Norden Sprachverwandte der Finnen waren, im dichter besiedelten Süden dagegen zu den Slawen gehörten. In einem Raum, in dem der Mensch sich über weite Strecken nur in verstreuten Siedlungskammern inmitten von Wäldern eingenistet hat, gab es keinen Anlaß, sich großräumig zu organisieren. Selbst zu dem aus dem frühmittelalterlichen Deutschland bekannten Vorgang, daß Kleinstämme sich zu Großstämmen - wie den Sachsen und Franken - zusammenschlössen, gibt es in Rußland nur ansatzweise Entsprechungen. Auf ähnliche Mosaike von kaum untereinander verknüpften Gesellschaften mit engem Horizont - mit größerem Reichen wie den Azteken und Inkas als seltene Ausnahmen sind die Europäer vom 16. bis zum 19. Jahrhundert in Amerika und Afrika gestoßen. Jedesmal hatten die Einheimischen der Modernität und militärischen Stärke der Eindringlinge wenig entgegenzustellen. Die Wikinger, die vom 9. bis zum 10. Jahrhundert von Skandinavien aus in alle Richtungen ausschwärmten, waren nur in eng umgrenzten Lebensbereichen modemer als die Gegenüber, auf die sie trafen. Die Schriftkultur des Nordens beschränkte sich auf kurze Runeninschriften. Ihre heimische Staatlichkeit hinkte weit hinter dem zeitgenössischen Mittel- und Westeuropa hinterher. Aber die Normannen verfügten über zwei äußerst wichtige Überlegenheiten. Sie bauten die besten Boote der Zeit und haben mit diesen ungewöhnlich weite Entfernungen überbrückt. Ja, sie dachten und handelten - das war ihre zweite Stärke - in weiten Horizonten, wobei die Ziele, die sie jeweils verfolgten, wechselten. Je nach den regionalen Bedingungen tauchten sie an Küsten und Flußmündungen 10

zu blitzschnellen Beuteaktionen aus dem Morgennebel auf, während sie anderswo auf friedlichen Handel erpicht waren. Nie vorher waren, selbst vom weit ausgedehnten römischen Imperium nicht, alle Meere, die Europa umgeben, in engere nautische Verbindung gebracht worden. Den Wikingern dagegen ist es im kurzen Anlauf gelungen, Atlantik und Mittelmeer, Nordsee und Ostsee zu befahren und zu verkoppeln. Welcher Nutzen sich aus dem Zusammenhang der Meere schlagen ließ, ist den Bootsfahrern aus Skandinavien gerade in Rußland deutlicher als anderswo aufgegangen. Sie, die Spezialisten für Meerfahrten über beliebige Entfernungen, brachten für die Erschließung von weiten Binnenräumen keine Erfahrungen mit. Aber sie haben sich - als Meister in der Bootsfahrt und in der weiträumigen Orientierung - offenbar sehr rasch in die geographischen Gegebenheiten des russischen Raumes eingefühlt. Zunutze machten sie sich, daß die Haargeflechte, in die sich die Einzugsgebiete der Ströme in einem breiten Ostrand Europas verästeln, an einzelnen Punkten oft nur wenige Kilometer auseinander liegen. Hier ließen sich die Boote über Schleppstellen in ein benachbartes Stromgebiet hinübertragen oder auch auf Rollen hinübertransportieren. Auf diese Weise wurde es möglich, die Ostsee, von deren Küsten die schwedischen Normannen gekommen waren, mit dem Eismeer und dem Schwarzen Meer zu vernetzen. Als Piraten haben sich die Ostnormannen sogar auf das Kaspische Meer gewagt. Zur Achse ihrer osteuropäischen Unternehmungen entwickelte sich der Dnjepr, der bisher in der Geschichte keine oder doch keine länger dauernde Rolle gespielt hatte. Um diesen Strom und sein weitausgefächertes Nebenflußsystem haben die Rußlandnormannen ihr Reich gleichsam herumgebaut. Ja, mit dieser Achse haben sie der Wolga Konkurrenz gemacht, die seit grauer Vorzeit eine wichtige und einträgliche Trasse des Fernhandels gewesen war. Der große Vorteil der Wolga war, daß sie sich von ihrem oberen Mittellauf leicht zum Ural gelangen ließ, wo seit alters Gold und andere wertvolle Metalle gefunden wurden. Die Wolga aufwärts ließ sich auch in die Nordostecke Europas im Süden des Eismeeres gelangen, wo alteingesessene Fallensteller besonders edle Pelztiere wie Zobel und Blaumarder in ihren Fallen fingen und an Fernhändler verkauften. In den Wolgahandel haben sich die Normannen schon früh eingefädelt. Aber sie blieben dabei zollzahlende Gäste und wurden nicht zu 11

mächtigen Gebietern. Das Reich um den Dnjepr ist als eine Konkurrenzgründung zu den Staaten um die Wolga zu verstehen: aufgebaut auf den Vorteilen, daß man hier den Gewinn nicht mit anderen teilen mußte und zugleich einen Zugang zum byzantinischen und über Land - zum westeuropäischen Markt erhielt, der durch die Wolga nicht geöffnet wurde. Der Nachteil des Dnjeprs war, daß er anders keine Zugänge zu Reichtümern öffnete, die es mit den Hinterländern der Wolga aufnehmen konnten. Warum erhob sich die Masse der Einheimischen nicht gegen das normannische Joch? Offenbar, weil die Tribute, die ihnen abgefordert wurden, schon bald zurücktraten hinter freien Lieferungen von Waldprodukten, die von den Wikinger verschifft wurden. Diese Waren brachten, solange sie nicht auf fernen, kaufkräftigen Märkten angeboten wurden, wenig ein. Ja, die Bienenbeute, die Wachs und Honig abwarf, ist in größerem Stile vielleicht erst im Gefolge des Fernhandels mit Pelzen entwickelt worden. Es gab also, wenn das gezeichnete Modell zutrifft, ein gemeinsames Interesse, das die Organisatoren des Reiches mit den unterworfenen Volksstämmen zusammenschloß. Die Herrschaft über den Wolgaraum hatten im 9. Jahrhundert zwei aus dem Osten gekommene, türkische Sprachen sprechende Völker inne: die Chasaren am Ausgang von Don und Wolga, die Wolgabulgaren dagegen am großen Wolgabogen. Diese Reiche waren, obwohl nicht vereinigt, politisch aufeinander abgestimmt. Am Handel beteiligten sich diese Völker nur in der Rolle von Zolleinnehmern, während die Bootskarawanen von Kaufleuten anderer Nationen, namentlich von Arabern und Normannen, organisiert und zu fernen Abnehmermärkten in Byzanz und den Orient gesteuert wurden. Am Dnjepr herrschten andere Verhältnisse. Um diesen Strom erstreckte sich im Süden die Waldsteppe, im Norden der Mischwald. Keiner dieser Gürtel warf Pelze von ähnlicher Qualität abwarfen wie die Nordostecke Europas. Die Normannen konnten ihre Konkurrenzgründung nur durchhalten, wenn sie eine sehr weite Fläche abschöpften. Jeder Teilraum warf nur vergleichsweise geringe Mengen mit bescheidenem Wert ab. Wenn aber die Organisatoren ihre besondere Fähigkeit einbrachten, aus einem weiten Räume Waren aufzubringen und zu fernen Märkten zu verschiffen, konnte sich der Gewinn, der erzielt wurde, durchaus sehen lassen. 12

Ja, er taugte durchaus zur Grundlage eines ganzen Reiches. Im derben Bild verdeutlicht: Kleinvieh macht auch Mist, und Großvieh stand nun einmal in dem Bereiche, in dem sich Herrschaft erobern ließ, nicht zur Verfügung. Die älteste Epoche von Weiträumigkeit der politischen Organisation im russischen Raum erklärt sich also aus der Notwendigkeit, einen Fernhandel zu organisieren, der sich aus den örtlichen Bedingungen heraus nicht selber organisierte, sondern mit den Mitteln politischer Macht organisiert werden mußte. Nur über diese Annahme läßt sich, wie ich meinen möchte, ein für Rußland einzigartiges, höchst merkwürdiges Phänomen aufschlüsseln. Die Normannen hatten eine stattliche Anzahl von bodenständigen Volksstämmen in ihr Reich eingebunden. Daraus ergab sich eine Art doppelter Ordnung: das Mosaik der untereinander kaum verbundenen einheimischen Ethnien und, gleichsam darüber gezogen, ein Netz von Handels- und Herrschaftsstützpunkten, das die Normannen geknüpft hatten. Die Knoten dieses Netzes wurden im 11. Jahrhundert zu Sitzen von Fürsten aus der einen Dynastie der Rjurikiden, die auf den Reichsgründer Rjurik des Q.Jahrhunderts zurückgingen. Städte und eine über das Land verteilte Sippe, beide auf Kiew als den Sockel des Handels und als Zentrum der Macht orientiert, hielten nun das Reich zusammen. Gegenüber dieser erst durch die Normannen geschaffenen Ordnung ist nun die ältere Ordnung der Volksstämme eigentümlich rasch und vollständig verblasst, ohne daß wahrscheinlich wäre, irgendjemand sei gegen die altüberkommene Eigenständigkeit dieser Stämme vorgegangen. Im Gegenteil: alles spricht dafür, daß die Stammesaristokratien sich längst mit dem Reich arrangiert hatten, was beiden Seiten Nutzen brachte. Die ältere Ordnung ging, wie es scheint, in einem gleitenden Vorgang in der neueren Ordnung auf: Das neue Rußland war kein Mosaik von Stämmen, sondern von Fürstentümern. Hier hat sich - wie ich meinen möchte - niedergeschlagen, daß eine von außen importierte Ordnung sich gleichsam nach unten durchfraß und stärker als die bodenständigen Strukturen erwies. Damit klingt ein Thema an, das wiederum die ganze russische Geschichte durchziehen wird. In immer neuen Anläufen hat sich dieses Land nicht aus Kleinräumen mit ausgeprägter Identität von unten nach oben aufgebaut, sondern ist von dünn gestreuten Zentren aus gleichsam von oben nach unten durchkonstruiert wor13

den. Wie Dietrich Geyer für das 18. Jahrhundert formuliert hat: es handelte sich um eine »Gesellschaft als staatliche Veranstaltung«. Aber zurück zum Handel, der sich in der russischen Geschichte als ältestes, ursprüngliches Staatsziel abzeichnet. Er wies eine empfindliche Schwachstelle auf. Ein Reich, das um das Stromsystem des Dnjeprs herum entstanden war, wurde naturgemäß von Kiew aus gesteuert, weil kurz oberhalb dieser Stadt die Hauptzubringer des Dnjeprs zusammenfließen. Die am Südrand gelegene Metropole Kiew aber ließ sich von durchbrechenden Reiterkriegern aus der Steppe in einem einzigen Tageritt erreichen. Der Sinn der Tribute, die das ganze Reich aufbringen mußte, verschob sich von der Bereitstellung von Handelsgut, die schon bald auf eine Freiwilligkeitsbasis umgestellt werden konnte, zu Hilfeleistungen für die Absicherung der Südost- und Südwestgrenze. Je weniger aber die Abwehranstrengungen fruchteten, um so weniger überzeugte die Reichskonstruktion. Im Nordosten, in einem Ausbaugebiet in der näheren und weiteren Umgebung von Moskau, setzte sich zunehmend eine kleinräumige Logik von Menschen durch, die nicht mehr glaubten, daß sich das Reich, das gemeinsame Große und Ganze, auch für sie auszahlte. Sie setzten auf die Landwirtschaft statt auf Handel, obwohl im nördlichen Rußland meist nur karge Böden bebaut wurden. Moskau, das im Konkurrenzkampf zwischen rivalisierenden Fürstentümern des Nordostens schließlich das Rennen machte, ist die Verkörperung eines Kalküls, das - um an das vorher verwendete Bild anzuschließen - auf Kleinvieh setzte: auf die Arbeit bescheidener Bauern und damit auf Einkünfte von sehr anderer Art als den Eichhornfellen, die mangels wertvoller Pelztiere der Fernhandel aus Rußland wohl zu einem guten Teil speiste. Jenes Rußland, das die Mongolen Mitte des 13. Jahrhunderts überrannten, war längst zu einer Konföderation von weitgehend unabhängigen Fürstentümern aufgeweicht. Aber erhalten blieb - bis heute! - als Erbe aus der großen Zeit des Kiewer Rußlands im 11. Jahrhundert das namentlich von der Kirche gepflegte Bewußtsein, daß die »reußischen Lande« ein zusammengehöriges Ganzes darstellten: zusammengehalten durch die Erinnerung an glänzende Anfänge, durch eine gemeinsame Dynastie und eine einheitliche Bojarenschicht, durch die ostslawische Sprache und eine orthodoxchristliche Kultur. Auf diese starke Fundamente konnte Moskau zu14

rückgreifen, als es im 14. und 15. Jahrhundert die auseinandergedrifteten Fürstentümer wieder unter einem Zepter vereinigte. Bei dem zweiten Anlauf auf Weiträumigkeit erwies sich als Vorteil, daß er von einem kleinräumigen Rahmen ausging, in dessen feste innere Strukturen sich der wachsende territoriale Zugewinn eingliedern ließ, ohne daß die Teile ein zweites Mal auseinanderfielen. Wenn ein Großfürst des 15. Jahrhunderts bei der Eingliederung von Pleskau und Nowgorod im Hinterland der östlichen Ostsee alle geschichtlich gewordene Eigenständigkeit nicht zuletzt durch grausame Deportationen kurzerhand abwürgte, dann stellt sich dies als die traurige Kehrseite einer Wiedervereinigung dar, der jeder Respekt von gewachsenen, örtlichen Traditionen abging. Ein entscheidender Schritt auf dem Wege zu einer zweiten Weiträumigkeit gelang im 16. Jahrhundert, als zwei Tatarenkhanate an der Wolga, die als Trümmer des gewaltigen Mongolenimperiums überdauert hatten, dem Moskauer Reich unterworfen wurden. Dieser Erfolg, der schon sehr rasch den Ausgriff über den Ural ermöglichte, machte freilich die Weiträumigkeit auf eine neue Weise zu einem Problem, das die Grundfesten des Staates erschütterte. In den dünn besiedelten Landstrichen, aus denen Rußland bestand, waren die Gutsbesitzer, auf die der Staat sich stützte, darauf angewiesen, möglichst viel bäuerliche Arbeitskraft unter ihrer Fuchtel zu halten. Die Bauern aber tendierten dazu, in die Ränder abzudriften, wo es sich freier leben ließ. Die Bauernschaft in eine Leibeigenschaft einzubinden, die ihnen die Abwanderung verwehrte und hohe Leistungen zugunsten der Gutsbesitzer abforderte, war eine zentrale Erfordernis des Militärstaats, der für seine Wehrhaftigkeit die Gutsbesitzer brauchte. So war es nur konsequent, wenn der Staat nach Kräften dafür sorgte, daß entflohene Bauern wieder dorthin zurückgeschafft wurden, woher sie gekommen waren. Gleichzeitig waren die Flüchtlinge in den Außenzonen, in die sie sich retteten, hocherwünscht. So hat der Staat zwar Entsprungene zurückgeschafft, aber bei anderen, wenn sie ihr Ziel erreichten, ein Auge zugedrückt. Ein Staat muß eben nicht in allen seinen Teilen dieselbe Staatsräson haben. Eine weitere Gefahr beschwor die neue Weiträumigkeit dadurch herauf, daß sich in den Außenräumen mit den Kosaken eine Schicht von mobilen, freiheitlich gesonnenen Wehrbauern herausbildete, 15

die sich einer Vereinheitlichung des Staates durch die Zaren widersetzte. Im 17. und 18. Jahrhundert unternahm sie drei große Aufstände, die alles in den Schatten stellte, was sich in Europa seit 1525 jemals auf dem Lande zusammengebraut hatte. Erst um 1800 war diese neue Gefahr gebannt, und die Kosakenschaft konnte zu einem bis 1917 gehorsamen Instrument zarischer Gewalt umgeschmiedet werden. Schon das Kiewer Rußland war, wie wir sahen, als ein Ganzes entworfen worden. Die Organisation der Fürstentümer als der Teile dieses Ganzen folgte erst später nach: mit dem Ergebnis, daß die immer selbständigeren Teile schließlich das Ganze aus den Angeln hoben. Das Rußland des 18. und 19. Jahrhunderts war, wie schon der Moskauer Staat, kopflastig: gegen die mächtigen und vergleichsweise modernen Metropolen St. Petersburg und Moskau fiel die Provinz weit und manchmal kläglich ab, weil Rußland nun einmal weit und der Zar ferne war. Es gab, anders als im westlichen Europa, zunächst viel zu wenig provinzielle Eigenständigkeit und Selbstbewußtsein. Der Adel drängte aus seiner engeren Heimat, wo er dringend für Aufgaben der provinziellen Selbstverwaltung gebraucht wurde, in die Hauptstädte, wo allein die Karriere leicht und das Leben abwechslungsreich erschien. Aber die Öde der Provinz, die in der Gegenwart so viele Ausländer zu verschrecken pflegt, war vor 1917 in einem deutlichen Abbau begriffen. In einem späteren Beitrag werden wir noch hören, daß in der ausgehenden Zarenzeit die Provinz drauf und dran war, ein Eigenleben zurückzugewinnen, das die Moskauer Großfürsten oft mit grausamer Hand vernichtet hatten: etwa in Pleskau und Nowgorod, wo sich auf russischem Boden Handelsrepubliken von hansischer Art hatten entfalten können. Nun regte sich in der Provinz eine neue Eigenständigkeit und Vitalität. Eine Gesellschaft trat auf den Plan, die mehr und anders sein wollte als eine »staatliche Veranstaltung«. Bei uns glaubt mancher der Dirigismus der jüngeren Vergangenheit und der Gegenwart seien aus einem nie gebrochenen Erbe der zarischen Vergangenheit hervorgegangen. Wer sich tiefer mit russischer Geschichte befaßt hat, wird dem mit Wehmut entgegenhalten, daß sich in der ausgehenden Zarenzeit ganz andere Entwicklungen angebahnt haben, als sich später durchsetzen sollten. Die Weiträumigkeit des Zarenreiches bröckelte zwar mit dem En16

de des Weltkrieges im Westen und im Süden ab. Aber der Sowjetmacht gelang es doch, in der Ukraine, in Sibirien, im Kaukasus und in Mittelasien das Heft wieder in die Hand zu bekommen. Dies aber bedeutete, daß der Versuch, zum ersten Mal in der Geschichte eine sozialistische Ordnung aufzubauen, ausgerechnet in dem Rahmen des größten Flächenstaats der Erde unternommen wurde. Zu seinem Schauplatz wurde, wie die Sowjetpropaganda stolz tönte, ein Sechstel der Erde. Zu wenig ist bislang bedacht worden, was diese Rahmenbedingung zu der - natürlich aus einer ganzen Reihe um Ursachen herrührenden - Funktionsunfähigkeit beigetragen hat, in der sich der Sowjetstaat schließlich festfahren sollte. Eine Sächsin hat den Zusammenbruch des Kommunismus im Ostblock auf eine vermutlich nicht einmal ironisch, sondern treuherzig gemeinte Weise so kommentiert: »Besser, sie hätten das alles erst einmal im Tierversuch ausprobiert!« Man halte dagegen, was sich im Westen abgespielt hat: der Kapitalismus ist aus einem langen Vorlauf hervorgegangen, der sich vereinfacht gesprochen - in den vielen europäischen Städten mit ihren ganz eigenen Rechtsformen und der Abhebung vom Umland ausbildete. Eben, weil das Experiment jeweils in engen geographischen Grenzen, innerhalb eines einzigen Mauerrings, angegriffen wurde und auch gegenüber den übrigen, konkurrierenden Städten selbständig blieb, konnte das Experiment gelingen und weitergehen. Ja, innerhalb der Städte wurde der Kapitalismus nur partiell, auf der gesellschaftlich höheren Ebene von Kaufleuten und Unternehmern, eingeleitet. Das Handwerk, das die freie Konkurrenz unterband und die Preise regulierte, blieb dagegen bis ins 19. Jahrhundert auf eine ganz unkapitalistische Weise organisiert. Die Einsicht, daß der Staat um des Gemeinwohls willen gut daran tat, sich sehr weitgehend aus der Wirtschaft zurückziehen, hat sich erst seit dem 18. Jahrhundert durchgesetzt: mit dem großen Schotten Adam Smith als Wegweiser. Selbst und gerade im fortschrittlichen England gingen Phasen tiefer staatlicher Eingriffe in die Wirtschaft voraus, die man erst wieder ausschwitzen mußte. Der Kapitalismus, den Marx im 19. Jahrhundert als ein allumfassendes, in sich konsequent angelegtes System beschreiben konnte, ist also aus den Erprobungen langer Jahrhunderte hervorgegangen, zu denen gerade gehörte, daß nicht immer gleich das Ganze neuorganisiert wurde, sondern zunächst nur Teile. 17

Von diesem Bilde hebt sich das bolschewistische Experiment aufs krasseste ab. Denn in Sowjetrußland wurde ein von vornherein gesamtstaatlich angelegtes Experiment ohne kleinraumigen Vorlauf, ohne jede Erfahrung angegriffen. Die Klöster, die ein Jahrtausend lang eine Wirtschaft betrieben hatten, die keinem privaten Profit diente, wurden enteignet. Ja, als 1928/29 das Gewaltunternehmen der Kollektivierung aller Bauernhöfe begann, schob man alle vor Ort, ohne staatlichen Befehl und in lokaler Streuung, begonnenen Versuche beiseite, genossenschaftlich zu wirtschaften. Weiträumigkeit, Gewaltsamkeit und eine Vereinheitlichung, die alles ohne Erbarmen über einen Kamm schor, sind einen unheiligen Bund eingegangen, der schließlich im Fiasko endete.

Weiterführende Literatur Geyer, Dietrich: »Gesellschaft« als staatliche Veranstaltung. Sozialgeschichtliche Aspekte des russischen Behördenstaates im 18. Jahrhundert, in: Ders. (Hg): Wirtschaft und Gesellschaft im vorrevolutionären Rußland, Köln 1975, S. 20-52. Goehrke, Carsten: Die geographischen Gegebenheiten Rußlands in ihrem historischen Beziehungsgeflecht. In: Handbuch der Geschichte Rußlands Bd. 1,1, Stuttgart 1981, S.9-72. Schramm, Gottfried: Fcrnhandel und frühe Rcichsbildungen am Ostrand Europas. In: Staaten und Gesellschaften im Mittelalter und früher Neuzeit. Gedenkschrift für Joachim Leuschmer (1983) S. 15-39. -: Altrußlands Anfang. Historische Schlüsse aus Namen, Wörtern und Texten zum 9. und 10. Jahrhundert, Freiburg 2001. Stökl, Günther: Russische Geschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart 51990, bes. S. 42-174.

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Dietrich Beyrau Die Bürde militärischer Macht Man hat vom alten Preußen gesagt, es sei nicht ein Staat, der eine Armee hat, sondern eine Armee, die einen Staat habe. In ähnlicher Weise war in der Zeit der Perestrojka davon die Rede, die Sowjetunion habe nicht einen militärisch-industriellen Komplex, sondern sie sei ein solcher. Verbittert und gekränkt hieß es auch schon in den Erinnerungen des Finanzministers Witte über den verlorenen Russisch-Japanischen Krieg von 1904/05: Worauf stützt sich die Macht des Russischen Reiches? »[...] ausschließlich auf seine Armee. Wer schuf das Russische Reich? Nur die Säbelmacht seiner Armee. Weder vor unserer Kultur, noch vor unserer bürokratisierten Kirche, noch vor unserer Ordnung verneigt sich die Welt. Sie verneigte sich vor unserer Macht.« Die Fetischisierung von Macht ist sicher kein Monopol russischer Politik. Angesichts der Rivalität mit zumeist ökonomisch und zivilisatorisch überlegenen Gegnern bestand und besteht hier aber immer die Gefahr, Macht auf militärische und polizeiliche Mittel zu fixieren. Beispiellose Machtentfaltung wie spektakuläre Zusammenbrüche russischer Staatlichkeit wechselten sich daher seit Beginn des 20. Jahrhunderts ab. Diese Wechselfälle verdanken sich ganz unterschiedlichen Bedingungen, haben aber immer mit der Bürde militärischer Macht zu tun. Im Ersten Weltkrieg erlagen das russische Heer und letztlich auch die Gesellschaft der Kriegsmaschine Deutschlands. Die Sowjetunion hingegen brach im Frieden zusammen. Dieser »Implosion« genannte Vorgang hatte wie im Ersten Weltkrieg mit dem Verlust an Glaubwürdigkeit im Innern zu tun. Im sowjetischen Fall war sie auch eine Folge des Mangels an ökonomischer Leistungs- und an technisch-wissenschaftlicher Innovationsfähigkeit. Zudem überforderte der außenpolitische Ehrgeiz die Mittel der Sowjetunion. Sie kämpfte um die nukleare Gleichberechtigung mit den USA und intervenierte in allen möglichen Weltgegenden von Mozambique bis Kuba, von Vietnam bis Afghanistan. Dieses unzugängliche Land sollte zur blutigen Falle sowjetischen »Internationalismus« werden, obwohl es hier nur um den Einsatz begrenzter 19

Kontingente ging. Der Afghanistan-Krieg wird wie zahllose andere Kleinkriege und Interventionen in der militärischen Fachsprache als »low intensity conflict« verharmlost, mit minimalem Einsatz von moderner Militärtechnik und maximaler Destruktivität für das betroffene Land und - wie in Vietnam - mit einer beispiellosen Demoralisierung der Interventen. Den spektakulären Zusammenbrüchen Rußlands und der Sowjetunion steht im 20. Jahrhundert der ebenso spektakuläre Erfolg im Zweiten Weltkrieg gegenüber, der ganz patriotisch zum Großen Vaterländischen Krieg werden sollte. Er stählte eine Generation von Helden - so die Selbstinszenierung in unendlichen Folgen von Sieges- und Erinnerungsfeiern. Das vermeintlich rückständige, von Industrialisierung, Kollektivierung und Terror geschundene Land widerstand dem monströsen Vernichtungskrieg des deutsch-faschistischen Eroberers. Es besiegte ihn schließlich und hißte die Rote Fahne auf dem Reichstag. Dieser Sieg, der der Sowjetunion etwa zwanzig Millionen Zivilopfer und mindestens doppelt so viele Soldatenopfer abverlangte, wie auf deutscher Seite an allen Fronten gefallen sind, erweist sich im Nachhinein in mancher Hinsicht als ein wichtiges Kettenglied in einer langen Fehlentwicklung, die zur Implosion der Sowjetunion führen sollte. In der Zeit der Perestrojka fragte man sich schließlich, wer den Krieg eigentlich verloren habe. In der Erinnerung der gegenwärtig lebenden Generationen in der ehemaligen Sowjetunion verknüpfen sich mit Kriegserfahrung und der Bürde militärischer Macht daher ganz widersprüchliche Empfindungen: Bis heute wird eine unbefragte Heldenverehrung für die »frontowiki« des Zweiten Weltkrieges mit entsprechenden jährlich sich wiederholenden martialischen Aufmärschen zelebriert. Der unter Jelzin fertiggestellte gigantische Ruhmestempel auf dem Verneigungshügel (poklonnaja gora) in Moskau mit einer himmelstürmenden Viktoria erinnert zugleich in Gestalt dreier Soldaten an die siegreichen »vaterländischen« Kriege der Vergangenheit - gegen die Polen zu Beginn des 17. Jahrhunderts, gegen Napoleon und gegen die deutsch-faschistischen Eroberer. Als ob Rußland nur Verteidigungskriege geführt hätte! Die ausgehungerten Gestalten in Erinnerung an die sowjetischen Opfer in deutschen Gefangenen- und Konzentrationslagern sind dagegen auf einen fernen Platz verbannt worden, den kaum jemand aufsucht. Sie störten offenbar die heroisierende 20

Erinnerung. Dem steht der mißmutige Umgang mit den »afganzy« gegenüber, mit den zu Breschnews Zeiten als »Internationalisten« gefeierten Soldaten und Zivilisten in Afghanistan. Kehrten sie in Zinksärgen heim, wurden nur die nächsten Angehörigen informiert. Die Heldenverehrung war öffentlich, die Trauer privat. Auch die posttraumatischen Leiden der lebend Heimgekehrten sind kein öffentliches Thema, ganz zu schweigen von den Verwüstungen, welche die »Internationalisten« in Afghanistan hinterlassen haben. Das Nebeneinander von Heldenverehrung und von Verdrängung ist sicher auch ein Nährboden für die verbreitete diffuse Gewaltbereitschaft in allen Feldern der Gesellschaft. Unter Aspekten der angestrebten Demokratisierung und Zivilisierung Rußlands wird man diese Phänomene zumindest als Erblast des Imperiums verbuchen müssen. Es will seine einstigen Untertanen nicht aus dem Bann des Fetischs militärischer Macht und politischer Mythen entlassen. Militärische Macht war im sowjetischen Fall ein wichtiges Bindemittel innerer Politik, das nicht nur die herrschende Klasse über viele Defizite hinwegtröstete. Die Fixierung auf Stärke und Weltgeltung ist auch ein Erbe russischer Machtstaatlichkeit, aber diese kam in immer neuer Kostümierung und Gestalt daher. Dieser Gestaltwandel von Machtstaatlichkeit und militärischer Bürde wird der Gegenstand des vorliegenden Essays sein. Mit Rückgriffen auf die Geschichte seit Peter dem Großen sollen folgende Fragen erörtert werden: 1. Was waren die Kosten militärischen Großmachtstatus des russischen und sowjetischen Imperiums? 2. Wie wurden die Gesellschaft oder ihre Segmente für den Krieg mobilisiert? und 3. in einem Ausblick: Welche moralischen Folgen hat die zumindest periodisch übermäßige Beanspruchung der Gesellschaft durch die Vorbereitung auf einen Krieg?

1. Zu den Kosten militärischer Macht Stalin stellte sich nicht ganz zufällig in die Kontinuität des Zaren Iwan des Schrecklichen und Peters des Großen. Iwan der Schreckli21

che hatte im 16. Jahrhundert gegen die ohgarchischen Familien der Bojaren gewütet - wie Stalin gegen die Parteielite. Peter I. galt ihm als Begründer der stehenden Armee, als Schöpfer einer autochthonen Rüstungsbasis und schließlich nach der Niederwerfung Karls XII. von Schweden als Begründer der russischen Großmacht in Europa. Die liberalen Historiker der Jahrhundertwende stritten darüber, ob der Sieg über Schweden und der Aufstieg zur europäischen Großmacht nicht den Ruin Rußlands bedeutet habe. Es benötigte Jahrzehnte, so ihre Argumentation, um sich von diesem Sieg zu erholen. Ihre sowjetischen Nachfolger hingegen rühmten Peters ökonomische Maßnahmen, weil der Krieg Gewerbe und Hüttenindustrie nachhaltige Impulse vermittelt habe. Ähnlich ließe sich über die Folgen des Zweiten Weltkrieges streiten. An seinem Ende wurden die Grundlagen von »big science«, der russischen Nuklear- und Raumfahrtindustrie gelegt, und der Aufstieg der Sowjetunion zur Weltmacht begann, obwohl die Bevölkerung von Hungersnöten geplagt wurde. Diese paradoxe Kombination von Machtakkumulation und ökonomischem Ruin unterscheidet - jedenfalls phasenweise - die russische und besonders die sowjetische Geschichte von derjenigen anderer großer Imperien und Militärmächte. Überspitzt kam dies in Helmut Schmidts Bonmot von der Sowjetunion als Obervolta mit Atombomben oder in Bismarcks immer angstbesetztem Topos vom Rußland als Koloß auf tönernen Füßen zum Ausdruck. Es gab aber auch Phasen relativer Entspannung, so unter Katherina II. in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, als sich trotz ständiger Kriege und Eroberungen die militärische Belastung in Grenzen hielt; oder in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als das Gegeneinander von Finanz- und Militärressorts dafür sorgte, daß die Ausgaben fürs Militär im europäischen Durchschnitt blieben. Erst die Niederlage im Russisch-Japanischen Krieg und der beginnende Rüstungswettlauf der imperialistischen Mächte sorgten auch in Rußland für einen Rüstungsboom, der circa 30 Prozent des Staatshaushalts verschlang. In der sowjetischen Zeit begann der eigentliche Rüstungsboom erst mit dem 3. Fünfjahrplan seit 1938, also bereits in Erwartung europäischer Komplikationen. Dieser Boom sollte den Aufstieg des militär-industriellen Komplexes (MIK) zum größten und sicher 22

auch einflußreichsten Sektor in der sowjetischen Gesellschaft begründen. Die nicht nur in der Sowjetunion, hier aber besonders effektvoll betriebene Verheimlichung der Rüstungskosten lassen bis heute nur annähernde Schätzungen zu: Obwohl die USA für die Rüstung Ende der achtziger Jahre pro Kopf der Bevölkerung fast 4.000 Dollar, die Sowjetunion aber nur 1.600 Dollar aufwendete, dürfte der Anteil der Kosten für Militär und Rüstung am Bruttosozialprodukt doppelt so hoch wie in den USA gelegen haben. Der Anteil der Rüstungsforschung an der allgemeinen Forschung wird für die USA und Großbritannien mit etwa fünfzig Prozent, für die Sowjetunion mit siebzig bis achtzig Prozent angegeben. Dennoch verzeichnete die Sowjetunion einen wissenschaftlich-technischen Rückstand, vor allem im zivilen, aber auch in Teilen des militärischen Sektors. Trotzdem stieg sie neben den USA zum größten Rüstungsexporteur auf, hier besonders in die Entwicklungsländer, die aber schlechte Zahler waren. Circa dreißig bis vierzig Prozent aller Arbeitskräfte in der Sowjetunion waren im rüstungsindustriellen Komplex tätig. Zudem dürfte die Sowjetunion neben China die größte Anzahl von Streitkräften, circa vier Millionen Mann, unterhalten haben, obwohl sie seit den siebziger Jahren in der Anzahl von interkontinentalen Raketen, Atomsprengköpfen - also in der potentiellen Nuklearkriegführung - mit den USA in etwa gleichgezogen hatte. Nun gibt es keine »objektiven« Kriterien für eine Überforderung von Gesellschaften durch Rüstung und Kriegsvorbereitung. Der sowjetischen Bevölkerung ging es Ende der achtziger Jahre sicher viel besser als 1945, aber nach den sowjetischen Kriterien lebte immer noch rund ein Viertel der Bevölkerung an oder unterhalb der Armutsgrenze. Die Stagnationskrise nach dem Aufschwung der sechziger und Anfang der siebziger Jahre, die ausbleibende Dividende für die Entspannung und nicht zuletzt der Afghanistankrieg entzogen der Partei ihre Glaubwürdigkeit. In der Sowjetunion ging der Aphorismus um, daß man den Krieg gewonnen, den Frieden wohl verloren habe.

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2. Zur Mobilisierung der Gesellschaft für den Krieg Die Bürde militärischer Macht ist aber nicht nur eine Frage der mehr oder minder meßbaren Kosten für Krieg und Rüstung, sie ist auch eine Frage gesellschaftlicher Organisation und nach Bewußtseinslagen. Dabei ist es fast schon ein Stereotyp, die russische und mehr noch die sowjetische Gesellschaft als obsessiv macht- und herrschaftsfixiert zu charakterisieren, während die Elemente ständischer, bürgerlicher und ziviler Natur nur schwach ausgeprägt waren und sind. Autoritäre und manchmal despotische Herrschaftspraktiken gingen dabei immer einher mit geringer Effizienz und Steuerungskapazität, kompensiert durch militante Durchgriffe und oft ebenso militante Gegenwehr. Der Pugatschow-Aufstand (17731775) blieb bis weit ins 19. Jahrhundert in traumatischer Erinnerung, die Revolution von 1905 führte zu blutigen Exzessen und die Revolution von 1917 leitete über zu einem beispiellosen zivilisatorischen Zusammenbruch. Umgekehrt werden der Vaterländische Krieg von 1812 gegen Napoleon und besonders der Große Vaterländische Krieg gegen HitlerDeutschland als Beispiele einer heroischen Mobilisierung von Führung und Volk für das Vaterland (1812) und die »Mutter-Heimat« im Zweiten Weltkrieg erinnert. Diese Selbstbehauptung gegen den äußeren Feind befestigte und legitimierte zugleich die Selbstherrlichkeit von Macht und die Ohnmacht einer Gesellschaft, die zwar ungeheure Opfer gebracht hatte, sich aber von ihren eigenen Despoten und von einer immer auf Krieg und Mobilisierung orientierten Disposition nicht zu befreien vermochte. Kriegserinnerung, eine immer auf polarisierende Systemkonkurrenz ausgerichtete Außenpolitik und Kriegserwartung sollten Herrschaft und Gesellschaft in ganz spezifischer, zumeist eher fataler Weise, prägen und aneinander fesseln. Spätestens seit Peter I. läßt sich die russische Gesellschaft als »kriegerisch« bezeichnen. Kriegerisch meint hier nicht unbedingt Aggressivität, sondern die Ausrichtung auf den militärischen Eventualfall: Die alten Herrenschichten wurden über die Rangtabelle zum Dienstadel formiert. Wer nicht im Zivil-, Militär- oder Hofdienst - lebenslang - diente, drohte seiner Privilegien verlustig zu gehen. Die unter Peter dem Großen ganz auf den Zweck des Dienstes am Staat orientierte Rangtabelle verlor allmählich ihre vor24

wiegend kriegerische Ausrichtung. Sie fungierte auch als Klammer des Vielvolkerreiches. Sie befestigte Privilegien und bot zugleich Chancen zum sozialen Aufstieg. Sie integrierte Angehörige des russischen Adels, bis zu den polnischen Aufständen auch der Szlachta, des Kosakenadels und der deutschen Ritterschaften in den baltischen Provinzen; und an den Rändern des Reiches erfaßte sie selbst Angehörige des georgischen Adels und vereinzelt sogar Muslime. Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts war der Dienst für den Zaren auch attraktiv für viele Ausländer, Fachleute, Adlige und Abenteurer. Die Stadtbewohner hingegen und insbesondere die Bauern wurden in Steuerklassen eingeteilt. Als Steuerpflichtige bildeten sie Untertanen ihrer Gemeinschaften. Die meisten Bauern wurden zu Leibeigenen des Adels. Die steuerpflichtigen Untertanen hatten den Staat und den Adel zu unterhalten. Der Adel diente dem Zaren, die Bauern den Herren. Ein kleiner Teil der männlichen - zunächst nur russischen! - Bevölkerung wurde in die Armee zum Dienst gepreßt. Armeedienst war eine Form von Naturalsteuer, sozusagen in Menschenleben an den Staat abgeliefert. Der Soldat galt im 18. Jahrhundert - wie in Europa, so auch in Rußland - als eine »Kombination von Vieh und Maschine«. Jedes Rekrutierungsmanifest rief im Volk eine Gärung hervor. Die von der Obrigkeit - Dorfältesten oder Gutsherren - ausgewählten Männer wurden festgesetzt und manchmal gezeichnet. In der Ukraine nannte man sie die »Gefesselten«: gefesselt für den Staatsdienst, was durchaus wörtlich zu verstehen ist. Vom Rekruten nahm man wie von einem Sterbenden Abschied. Ein deutscher Beobachter war noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts betroffen, »zu welcher Größe und Erhabenheit ein unerbittliches Schicksal den Menschen aus dem Volk erheben kann. Man hört gar oft homerische Klagen - und sieht daneben dann freilich Ausbrüche einer fast thierischen Wildheit«. Auf dem erschöpfenden Marsch zum fernen Regiment und im Regiment selbst folgte eine »Metamorphose«. Der ehemalige Bauer oder Stadtbürger wurde zum Soldaten gemacht. Prügel gehörte fast immer dazu. Die Soldaten bildeten nun einen eigenen Stand, sie dienten lebenslang, im 19. Jahrhundert zwanzig Jahre, in der Regel weit von ihrer Heimat entfernt, zu der sie jede Bindung verloren. Die Soldaten funktionierten daher wie Söldner, ebenso gut einsetzbar gegen den äußeren wie den inneren Feind. Dieser Zustand währte bis Mitte des 19. Jahrhunderts. Denn 25

im Unterschied zu den meisten Militärmächten des Kontinents vollzog Rußland nach den napoleonischen Kriegen nicht den Übergang von einer stehenden zu einer Kaderarmee mit Berufsoffizieren und rotierendem Mannschaftsbestand. Statt dessen experimentierte man mit Militärkolonien, die Wehrbauerntum mit militärischem Drill verbanden und zu blutigen Aufständen führten. Das vergleichsweise arme Rußland unterhielt Mitte des 19. Jahrhunderts eine Armee in Millionenstärke. Wie der Krimkrieg von 1853 bis 1856 dann zeigen sollte, war nur ein Teil dieser Armee einsatzfähig. Auf Reservisten ließ sich kaum zurückgreifen. Der Aufhebung der Leibeigenschaft im Jahre 1861 folgte 1874 die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht. Bis zum Ersten Weltkrieg wurden aber mit Rücksicht auf die kleinbäuerliche Landwirtschaft nur etwa 25 Prozent der männlichen Wehrfähigen eingezogen. Spätestens seit den Großen Reformen nach dem Krimkrieg, vergleichbar mit den Stein-Hardenbergschen Reformen in Preußen, läßt sich die Entwicklung in Rußland als ein Anlauf zur Entmilitarisierung und Zivilisierung der Gesellschaft beschreiben. Die Bauernbefreiung, die Justizreform, Verwaltungsreformen, die Einführung allständischer Selbstverwaltung in Stadt und Land enthielten alle Elemente, die auf eine Zivilisierung der Gesellschaft und Konstitutionalisierung des Regimes hinausliefen und 1905 tatsächlich in eine Verfassung einmündeten. Die an Normen des west- und mitteleuropäischen Typus von Rechts- und Verfassungsstaat orientierten Institutionen etablierten sich aber nur in den höheren Schichten. Sie brachen 1917 wie ein Kartenhaus zusammen. In diesen Untergang wurde auch die alte Armee hineingerissen. Das alte Offizierskorps verblutete an den Fronten, nur die Generalstäbler überlebten und dienten oft genug den neuen Herren. Die im Krieg hastig ausgebildeten Offiziere waren zumeist Anhänger der Februarrevolution und der »Vaterlandsverteidigung«. Aber die Masse der kriegsmüden Soldaten wollte 1917 auch davon nichts mehr wissen. Dies dürfte der wichtigste Grund gewesen sein, weshalb sie den Friedensversprechen der Bolschewiki folgten. Die Volksrevolution von 1917 verweigerte sich jedenfalls einer bürgerlichen Transformation Rußlands und spülte die Bolschewiki an die Macht, die ein ganz anderes Projekt verfolgten. Bei den Bolschewiki gingen politische Militanz und Militarisierung eine ganz eigenartige Verbindung ein. Im Laufe der Jahrzehnte 26

sollte sie allerdings einem erheblichen Wandel unterliegen. Das bolschewistische Denken war extrem polarisierend: Die Weltrevolution im Blick, sahen sich die Bolschewiki im Kampf gegen eine Welt von Feinden. Sie hatten aber auch den egalitären Furor und den Haß auf den Krieg der Volksrevolution im Gepäck. Daraus ergab sich eine Mischung widersprüchlicher, manchmal geradezu schizophrener Einstellungen zur Organisation von Gesellschaft wie zu Krieg und Frieden. Dies zeigt sich in der Semantik von Propagandaschlagworten, die bellizistische und pazifistische Elemente kombinierten, so im »Friedenskampf« des sozialistischen Lagers als »Friedenslager«. Der Feind - der imperialistische Gegner - sollte aber schonungslos vernichtet, in weniger militanten Phasen wenigstens »neutralisiert« werden. Ähnlich Widersprüchliches findet sich in der Selbstbeschreibung der eigenen Gesellschaft. Die Partei als Avantgarde des Proletariats verstand sich in der Phase des Übergangs zum Sozialismus als hierarchischer, auf Disziplin und Gehorsam beruhender Kampfverband, als Kaderpartei, welche der Spontaneität der Massen die Richtung zu weisen hatte. Stalin sollte sie 1924 als Orden und 1937 als militärische Organisation mit Generälen, Offizieren, Unteroffizieren und dem militärischen Fußvolk bezeichnen. Schon für Lenin und Trotzki stellte sich die Gesellschaft als kriegswirtschaftlich formierte Organisation dar mit Einmannleitung und drakonischer Disziplin in den Betrieben, mit den Gewerkschaften als Transmissionsriemen, mit Arbeitszwang und Arbeitsarmeen. Bei Lenin fällt zudem die Maschinen-Metaphorik auf, wenn es um die Organisation von Gesellschaft ging. Diese eher dem 18. als dem 20. Jahrhundert entstammende Metaphorik schmückte sich nicht zufällig mit den eher vorindustriellen Symbolen von Hammer und Sichel. Das Gewehr bzw. der Rotarmist wurden neben Hammer und Sichel bzw. Bauern und Arbeitern dann doch nicht in die Heraldik und Symbolik des Sowjetstaates hineingenommen, weil sie Lenin zu militaristisch erschienen. Dies, obwohl die Macht der Bolschewiki nicht zuletzt aus den Bajonetten und den Gewehren der Rotarmisten kam. Wenn von einem roten Militarismus oder - besser - von einer sozialen Militarisierung in der Sowjetunion die Rede ist, so meint dies nicht illegitime Macht und Einflußnahme einer militärischen Kaste, sondern die Durchdringung des öffentlichen und politischen Lebens 27

mit militant-militaristischen Normen, Werten und Symbolen. Spätestens seit den dreißiger Jahren wurde die Jugend in der Schule, in den Betrieben und in der Freizeit in paramilitärische Organisationen hineingezogen. Sie kombinierten Spiel, Sport und Wehrertüchtigung mit der Aneignung wehrtechnischer Kenntnisse. Sie konditionierten für den neuen Sowjetpatriotismus. Er vermittelte mit Bezug auf den »Vater« Stalin und die »Mutter« Heimat und mit einem infantilen Heroenkult Werte und Einstellungen, die als traditionalistisch, konformistisch und autoritär zu kennzeichnen wären. Dieser Orientierung entsprach gleichzeitig die zunehmende Ausrichtung von Wirtschaft und Gesellschaft auf Rüstung und Kriegsbereitschaft zur Verteidigung der »heiligen Grenzen«. Die monströse Aggressivität und Vernichtungspolitik NS-Deutschlands auch auf sowjetischem Territorium hat diese Einstellungen, wie sie sich schon vor dem deutschen Angriff durchgesetzt hatten, bestätigt und neu legitimiert. Denn der Feind hatte sich als noch schlimmer erwiesen, als die wüsteste Propaganda ihn hatte vorstellen können. Nach dem Krieg war auch im Westen ein M1K entstanden, er hatte aber immer mit konkurrierenden Interessen zu kämpfen und war begleitet von einem beispiellosen Anstieg des allgemeinen Lebensstandards und von technisch-wissenschaftlichen Revolutionen, die auch der Zivilbevölkerung zugute kommen sollten. Der US-Imperialismus hatte zudem seinen Klienten - jedenfalls den europäischen - mehr zu bieten als Waffen und Abhängigkeiten. Er beruhte auf »Einladung« und auf gemeinsamen Ängsten und Überzeugungen, eher selten auch auf Korrumpierung der Eliten wie in Lateinamerika.

3. Und die moralischen Folgen ... Der sowjetische MIK entwickelte sich hingegen unter ganz anderen Bedingungen: Angesichts der Monopolisierung der Macht in den obersten Parteigremien, angesichts der mangelnden Ausdifferenzierung zwischen politischen, ökonomischen, jurisdiktioneilen und militärischen Kompetenzen, angesichts allgegenwärtiger Zensur und Geheimhaltungswahns wucherte der MIK in alle Bereiche der Wirtschaft, der Wissenschaft bis hin zur Erziehung der Jugendlichen in allen möglichen Arten von Wehrsport und paramilitärischen Orga28

nisationen. Hinter dieser Fixierung der Politik und der sowjetischen Apparate auf Kriegsbereitschaft standen in der Zeit des Kalten Kriegs weniger wirkliche Aggressionsabsichten, sondern sie waren die Folgen einer politischen Paranoia, wie sie phasenweise auch der Westen teilte. Selbst während der Entspannung seit etwa 1970 expandierte der M1K und absorbierte immer höhere Anteile des wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Potentials des Landes. Hochrüstung und gelegentliche außenpolitische Abenteuer - wie zuletzt in Afghanistan - erscheinen so als nachgeordnete Phänomene der auf ständige innere Expansion und Kontrolle angelegten bürokratischmilitärischen Apparate. Sie okkupierten zwar auch das osteuropäische Vorfeld, vor allem aber okkupierten sie das eigene Land. Dies führte zur Überdehnung und zu einem zunehmenden Steuerungsverlust. Im sowjetischen Fall brachen sich mithin in spezifischer Weise die Pathologien des Atomzeitalters mit seinen selbstzerstörerischen Overkill-Kapazitäten, welche die Ziel-Mittel-Relationen schon längst hinter sich gelassen hatten. Denn die sowjetischen Apparate wie die Gesellschaft entwickelten ihrerseits informelle Praktiken, um die normativen Ansprüche der politischen Führung zu unterlaufen. Dies zeigte sich in einer ausufernden Korruption von unten bis oben, in der Entstehung einer Schattenwirtschaft und von »sozialistischen Beziehungen«, d.h. mehr oder minder korrupten und informellen Beziehungsnetzen zur Organisation von Dienstleistungen und Waren. Dies zeigte sich nicht zuletzt in einer bemerkenswerten Ineffizienz ökonomischer Steuerung und im Motivationsverlust der Werktätigen. Hier hieß es: Der Staat tut so, als ob er die Werktätigen bezahlt, die Werktätigen tun so, als ob sie arbeiten. Die allgemeine Demoralisierung fand in der Armee ihren pathologischen Ausdruck in der sogenannten »dedowschtschina«. Es handelt sich hierbei um Unterwerfungs- und manchmal Folterrituale, die ältere Soldaten fast schon systematisch an jungen Rekruten vollzogen. Ihnen sind vermutlich seit den siebziger Jahren mehr Soldaten zum Opfer gefallen als im Afghanistankrieg vom Feind getötet worden sind. Heute gehören die Streitkräfte neben vielen Rüstungsobjekten und einst geheimen Rüstungs- und Atomstädten zu den Ruinen sowjetischer Hinterlassenschaft, welche ihre Umgebung vergiften. Dies ist im wörtlichen wie im figurativen Sinne zu verstehen. Darüberhinaus haben die Streitkräfte ihr einstiges Prestige in der Bevölkerung 29

verloren. Die mit dem Verfall einhergehende Verarmung großer Teile der Bevölkerung, ihre sozialen und mentalen Frustrationen bilden den Hintergrund für eine diffuse Militanz, die sich auf ganz verschiedenen Feldern austobt - in gewöhnlicher Kriminalität, in Korruption, in Söldnertum und mafiosen Strukturen und in rasch wechselnden und unberechenbaren politischen Stimmungslagen. So haben sich die politische Führung und Teile der Armee in Tschetschenien einen Feind aufgebaut, der gnadenlos massakriert und ausgeraubt wird und seinerseits ebenso ziellos terrorisiert und erpreßt. Die Gesellschaft einschließlich der Armee - ist durchsetzt von mafiosen Strukturen. Sie betrachten das wirtschaftliche Potential des Landes als Raubgut, das nicht entwickelt, sondern geplündert wird. Nicht zufällig tauchen in den verschiedenen Entwürfen für eine sog. Militärdoktrin, welche politische und militärische Strategien für die Sicherheit des Landes fixieren sollen, neben äußeren Bedrohungen - durch die NATO, den islamischen Fundamentalismus und andere Gespenster - immer auch die kriminellen Strukturen im Lande selbst auf. Mittel zu ihrer Bekämpfung weiß man freilich nicht zu benennen, denn die politische Klasse und die Streitkräfte halten diese Strukturen selber in Gang. In der Gesellschaft konkurrieren daher militär-patriotische Stimmungen, die auf ein brachiales Ordnungschaffen setzen, und antimilitaristische Dispositionen, wie sie sich in herzzerreißenden Aktionen von Soldatenmüttern für ihre sinnlos verheizten Söhne Bahn brachen. Die Stimmungen wechseln in rascher Folge, wie die Reaktionen auf beide Tschetschenien-Kriege zeigen. Welche Kompromisse, Überlebensstrategien und weitere Katastophen zu erwarten sind, ist nicht vorherzusagen. Auf jeden Fall hat der sowjetische Militärstaat mit seinen selbstzerstörerischen Tendenzen die Gesellschaft noch keineswegs aus seinen Klauen entlassen.

Weiterführende Literatur 1. Zur Geschichte des russischen Militärs und der Kriege Beyrau. Dietrich: Militär und Gesellschaft im vorrevolutionären Rußland. Köln 1984 -: Das russische Imperium und seine Armee, in: Frevert. Ute (Hg): Militär und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1997. S. 119-142. 30

2. Zum Zweiten

Weltkrieg - Geschichtsschreibung,

Zeugnisse,

Erinnerung Alexijewitsch, Swetlana: Der Krieg hat kein weibliches Gesicht, Hamburg 1989. Arnold, Sabine Rosemarie: Stalingrad im sowjetischen Gedächtnis. Kriegserinnerung und Geschichtsbild im totalitären Staat, Dortmund 1998. Berding, Helmut / Heller, Klaus / Speitkamp, Winfried (Hg.): Krieg und Erinnerung, Göttingen 2000. Bonwetsch, Bernd: Der »Große Vaterländische Krieg«. Vom deutschen Einfall bis zum sowjetischen Sieg (1941-1945), in: Schramm, Gottfried (Hg): Handbuch der Geschichte Rußlands, Bd.3/II, Stuttgart 1992, S.9101008. Kämpfer, Frank: Vom Massengrab zum Heroen-Hügel, in: Koselleck, Reinhart / Jeismann, Michael (Hg): Der politische Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Moderne, München 1994, S. 327-349. Thurston, Robert W., Bonwetsch, Bernd (Hg): The People's War. Responses to World War II in the Soviet Union, Urbana /Chicago 2000. Werth, Alexander: Rußland im Krieg 1941-1945, München 1965.

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und zum

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Dietrich Geyer Späte Europäisierung Geschichte geschieht in Zeit und Raum. Was für Rußland charakteristisch blieb, das war die Weiträumigkeit seiner Geschichte und die Bürde militärischer Macht. Was sich veränderte, betraf das Verhältnis der Russen zur Zeit. Von stärkster Symbolkraft war die letzte Silvesternacht des 17. Jahrhunderts. Sie brachte den Abschied Moskowiens von der Weltära des griechisch-byzantinischen Reiches - 250 Jahre nachdem Konstantinopel von den Türken, den »Feinden des Kreuzes«, erobert worden war. Aus Byzanz, der oströmischen Kaiserstadt, hatten die Kiewer Rurikidenfürsten einst das Christentum empfangen. Jetzt trennten sich ihre Erben zwar nicht vom griechischen Glauben, wohl aber von der Zeitrechnung, die diesen Glauben trug. Rußland vollzog den Übergang von der biblischen Jahreszählung, die aus der Schöpfungsgeschichte abgeleitet war, zum julianischen Kalender, der auf die Geburt Jesu Christi, des Gottessohns, verwies. Durch einen Federstrich des Zaren Peter (der später »Peter der Große« hieß) wurden die Moskowiter aus dem Jahr 7208 herausgeholt und ins Jahr 1700 versetzt, aus der Vergangenheit des christlichen Ostens in die Gegenwart des christlichen Abendlandes. Kein Zweifel, daß dieser kalendarische Quantensprung mit der Überzeugung des Zaren zusammenhing, daß Rußland hinter dem übrigen Europa zurückgeblieben sei, daß Rußland sich verspätet habe auf dem Weg zur Vernunft, zum Licht, zu den Erkenntnissen der Wissenschaft. Nun wollte er demonstrieren, daß er entschlossen war, sein Reich auf das Niveau der europäischen Zeit zu bringen. Am »gregorianischen Kalender« gemessen, den die katholischen Mächte, aber auch einige protestantische, inzwischen angenommen hatten, blieb Rußland nur noch um wenige Tage zurück: zehn Tage im 18., elf im 19., dreizehn im 20. Jahrhundert. Kein orthodoxer Herrscher wollte sich gestatten, die Verfügung über die Zeit einem römischen Papst zu überlassen. Das erklärt, weshalb die volle Angleichung an den Westen erst unter bolschewistischer Herrschaft geschah - im Februar 1918, als es Lenin darum ging, die europä32

ische Revolution (die deutsche vor allem) zur Rettung seiner Räterepublik herbeizurufen. Denkt man an die Ungeduld, mit der Peter vor dreihundert Jahren Rußland umzubauen begann, in einem Tempo, das alle Welt erstaunen ließ - dann wiegt die noch verbleibende Differenz auf dem Kalenderblatt gering. Sie war ein Zeichen für den Eigensinn russisch-orthodox geprägter Kultur in einer Zeit, als Rußland und der Westen einander immer näher rückten. Doch auch die Rechtgläubige Kirche ward in den Veränderungsprozeß hineingerissen. Seit 1700 gab es an ihrer Spitze keinen Patriarchen mehr, sondern allein den Zaren, den gottgesalbten Autokraten von Moskau und der ganzen Rus. Zwanzig Jahre später wurde das russische Kirchenwesen nach dem Beispiel protestantischer Landeskirchen - vollends zu einer staatlichen Veranstaltung gemacht. »Allerheiligster Synod« hieß fortan das geistliche Ressort der Staatsregierung, und das blieb so, bis die Bolschewisten kamen. Die Zeitenwende, von der ich sprach, war nicht über Nacht gekommen. Sie hatte sich im Lauf des 17. Jahrhunderts vorbereitet, war angestoßen und in Gang gehalten worden durch die wachsenden Verbindungen Moskaus zur westlichen Welt. Sie war Ausdruck und Folge eines langfristigen, in alle Bereiche der Staats- und Sozialordnung eingreifenden Vorgangs, der in den Geschichtsbüchern gemeinhin unter dem Stichwort »Europäisierung Rußlands« oder »Eintritt Rußlands in die Neuzeit« erscheint. Doch wer von »Europäisierung« spricht, sollte einen leidlich klaren Begriff von Europa haben, denn der Europa-Begriff ist vieldeutig und, wie man täglich sehen kann, auch heute noch dem Wandel unterworfen. In der Frühen Neuzeit, seit dem 16. Jahrhundert also, haben über die Frage, was das Europäische an Europa sei vor allem zwei Kriterien entschieden. Das eine Kriterium bezog sich auf die europäische Mächtestruktur, das andere lebte von der Idee, daß sich die zivilisatorische Exklusivität Europas von selbst verstehe. Wichtigstes Merkmal war die Teilhabe am europäischen Mächtesystem, die Zugehörigkeit zu jener christlichen, überwiegend monarchisch verfaßten Staatengesellschaft, die sich zur Abwehr der Türkengefahr herausgebildet hatte. Die Glieder dieses Mächte-Europa pflegten in Krieg und Frieden nach den Regeln des Völkerrechts, des lus publicum Europaeum, miteinander zu verkehren. Ihre Verkehrsformen gli33

chen denen eines Familienverbandes; ihre regulative Idee war in einer von Symbolen und Ritualen gestützten Rangordnung aufgehoben. An ihrer Spitze stand der Wiener Hof, repräsentiert durch den Kaiser des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation. Diese Rangordnung definierte, welche Würde, Ehre und Reputation den beteiligten Souveränen zuzusprechen sei. Wer sie verletzte, riskierte den Krieg. Dennoch war diese Ordnung nicht starr, sondern beugte sich der Logik militärischer Macht. Auch das zweite Kriterium, das über die Europafähigkeit eines Landes entschied, hatte einen normativen Kern. Es berief sich auf die Einzigartigkeit der europäischen Völker in bezug auf Kultur, Wissenschaft und Bildung, auf die Vorstellung, daß Europa zwar der kleinste, doch der aufgeklärteste Teil der Erde sei - scharf geschieden von der wilden, barbarischen Völkerwelt. Europa (so die Quintessenz der herrschenden Meinung) wird von »civilisierten«, von »policierten« Nationen bewohnt; es wird nicht durch Willkür, sondern durch Gesetze regiert, nicht durch Tyrannen, sondern durch vernunftgemäß handelnde Herrscher, denen das »gemeine Beste« und die »Glückseligkeit« der Untertanen über alles gehe. In vorpetrinischer Zeit war Rußland diesem Europa nicht zugerechnet worden. Seit Iwan der Schreckliche Livland, den alten deutschen Ordensstaat, verwüstet hatte, stand das Zartum im Ruch der Barbarei, galt Moskowien als Hort der Despotie und Tyrannis. Die Moskowiter wurden als unterwürfig beschrieben, als ein Volk, das nicht zur Freiheit, sondern zur Sklaverei geboren sei. »Ich weiß nit eigentlich,« so der kaiserliche Gesandte Sigismund von Herberstein im berühmtesten Rußlandbuch des 16. Jahrhunderts, »ob ein solch unbarmherzig Volck eines solchen Tyrannen zu seinem Glücke bedürffe, oder ob durch des Fürsten Tyranney dies Volck also unmildt und grausamlich wird.« Auch später wurden die Russen diesen üblen Ruf nicht los. Noch die notorische Rußlandfeindschaft des europäischen Liberalismus und der europäischen Arbeiterbewegung hat von den alten Stereotypen gezehrt. Aus seinem Abscheu gegen das alte Moskau hatte Peter der Große bekanntlich keinen Hehl gemacht. Um das Titanenhafte seines Tuns in helles Licht zu rücken, griff er die im Westen umlaufenden Negativklischees immer wieder auf. Folgt man zeitgenössischen Äußerungen, dann hat er den Endzweck seiner Regie34

rung darin gesehen, »Barbaren« (so nannte er seine Russen) zu Menschen zu machen, »unvernünftige Thiere« zu brauchbaren Untertanen, zu »Ebenbildern Gottes«, auf daß sie, die Untertanen, »aus der Finsternis der Unwissenheit« herausfänden und der »Gemeinschaft der policirten Völcker« einverleibt werden könnten. Und die Barbarenmetapher wirkte lange nach: Im Frühjahr 1918, als das bolschewistische Rußland schon fast verloren schien, hat Lenin seine Genossen beschworen, nach dem Vorbild Peters die Errungenschaften westlicher Kultur zu übernehmen und diktatorische Maßnahmen nicht zu scheuen, um den Russen, rascher als dies der Zar getan, die Barbarei »mit barbarischen Mitteln« auszutreiben. Daß sich der Begriff des Barbarischen auch ins Positive wenden ließ, so daß Rückständigkeit und Verspätung als Privileg erschienen - für diesen Gedanken hatte Leibniz, der Nestor der deutschen Vernunftphilosophen, den Zaren zu erwärmen versucht: Weil es in Rußland »meist noch tabula Rasa ist«, so hatte Leibniz Peter dem Großen vorgestellt, »weil alles durch das Haupt eines weisen Herrn gehet, also seine gebührende Stimmung und Harmonie erlangen kann, gleich einer auf einmal und auf Eigen Riss gebaueten Stadt« also könnten in Rußland »viele bey uns (im Westen) eingeschlichene Fehler« verhütet werden, könnte eine vernunftgelenkte Ordnung leichter aufzubauen sein als im alten Europa, wo so »viele saecula über gebauet, gebessert und auch geändert worden«. - Rußland: eine Tabula rasa? ein »neuer Topf«, ein »weiß Papier«? ein Land ohne Geschichte? - diese Vorstellungen zeigen, daß Leibniz, der Rußland als Brücke zwischen China und Europa nutzen wollte, von den Sachen selber wenig Ahnung hatte. Zahllos sind die Zeugnisse für die Hemmungslosigkeit des Zaren: für die rüde Lust dieser barocken Kraftnatur, den Bojaren die Barte abzuschneiden, ihnen statt des Kaftans ausländische Röcke zu verordnen, die Moskauer Hoftitel durch deutsche Militär- und Beamtenränge zu ersetzen und eine Rangtabelle einzuführen, auf der man nicht kraft vornehmer Geburt, sondern durch Talent und Fortune avancieren konnte. Man denke an den macht- und geldsüchtigen Zarenliebling Alexander Menschikow, der als Straßenjunge Piroggen verkaufte und es zum Generalgouverneur, Generalfeldmarschall und allerdurch35

lauchtigsten Reichsfürst brachte - zum Vertrauten jener litauischen Dienstmagd, die Peters zweite Gemahlin geworden war und nach dessen Tod den kaiserlichen Thron bestieg. Man denke an die moralischen Kosten der Europäisierung: an die blasphemischen Exzesse des Allernarrischsten Saufkonzils, von dem der Zar nicht lassen mochte, an die karnevaleske Inszenierung einer verkehrten Welt, in der kirchliche und weltliche Würden nichts mehr galten. Man denke an die kalte Wut, mit der Peter seine Feinde, vermeintliche und tatsächliche Gegner seiner Neuerungen, foltern, köpfen, hängen, rädern ließ. Sein eigener Sohn, Thronfolger Aleksej, der bis nach Neapel geflohen war, starb im Kerker, nachdem ihn der Vater hatte einfangen, knuten und zum Tod verurteilen lassen. Zwischen Neugier und Entsetzen hin- und hergerissen, verfolgte die »curieuse Welt«, mit welchem Gleichmut der Zar die Menschen massenhaft verbrauchte: auf den Sumpfinseln der Newa-Mündung, wo Sankt-Petersburg, die neue Haupt- und Residenzstadt entstand, auf Schiffswerften und beim Kanalbau, und auf Feldzügen und bei der geliebten Flotte sowieso. Schwer zu überschätzen ist die Rolle des Krieges im Europäisierungsprozeß des Zarenreiches. Bis zu Peter hin war Rußland ein Appendix des europäischen Staatensystems geblieben, ein Randstaat, der in der Rangordnung der Mächte wenig zählte. Selbst der Tatbestand, daß Moskau Ende der 1680er Jahre, gestützt auf den »ewigen Frieden« mit Polen, Juniorpartner der »Heiligen Liga« gegen den türkischen »Erbfeind« geworden war, Alliierter des deutschen Kaisers, Venedigs und des päpstlichen Stuhls, hatte in dieser Hinsicht keine durchgreifende Änderung gebracht. Erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts wandte sich das Blatt. Hebel und Vehikel der Reformen - und keineswegs allein der militärischen! - war der Große Nordische Krieg, den der Zar im Sommer 1700 als Alliierter Augusts des Starken, des sächsischen Kurfürsten und Königs in Polen, gegen den Schwedenkönig Karl XII. eröffnet hatte und den er 1709, in der Schlacht von Poltawa, zugunsten Rußlands entschied. Wenige Jahre später wies Peter seine Generäle in Pommern, Mecklenburg und Holstein an, »mit dem Trommelschlag zu publiciren«, daß seine Truppen »nicht länger Moskowiter, sondern Russen genennet« würden. Mit dem Frieden 36

von Nystad, 1721, wurde die russische Hegemonie im europäischen Norden und Osten zu einem Tatbestand von langer Dauer. Sankt Petersburg, 1703 auf damals noch schwedischem Territorium gegründet, war gesichert und blieb das leuchtkräftigste Symbol für die Abkehr von der alten Zeit. Die Vormachtstellung Schwedens an der Ostsee war gebrochen und durch die Unterwerfung der deutschbaltischen Landesstaaten Estland und Livland besiegelt; Polen-Litauen - das Commonwealth einer Adelsnation, die von ihrer Freiheit große Stücke hielt - war zum Spielball russischer Interessen geworden. Moskowien, vordem ein exotisches Hinterland Europas im Grenzraum zur »wilden Tartarey«, trat nun als mächtiges Imperium auf, in Europa und in Asien gleichermaßen. Hinzu kam die Annahme des Imperatorentitels, mit der Peter seinen Anspruch auf Ebenbürtigkeit mit der deutschen Kaiserwürde demonstrierte. Seine Heiratspolitik wurde zum Auftakt für eine immer engere dynastische Verknüpfung mit deutschen protestantischen Höfen - für den Ex- und Import von Prinzen und Prinzessinnen, der die Romanow-Dynastie zu einem hochgeschätzten, oft auch gefürchteten Glied der europäischen Fürstenfamilie werden ließ. Die bedeutendste Erwerbung, die der russischen Diplomatie dabei gelang, war ohne Frage die in Stettin geborene Tochter des Fürsten von Anhalt-Zerbst: Sophie Auguste Friederike, die 1745 im zarten Alter von 16 Jahren mit dem holsteinschen Enkel des großen Peter kopuliert worden war und 1762 - über die Leiche ihres törichten Gemahls hinweg - als Kaiserin Katharina die Zweite mit Hilfe von Gardeoffizieren auf den Thron gelangte. Der einzigartige Glanz, den der Petersburger Hof unter ihrem Zepter gewann, könnte vergessen machen, daß die kulturelle Europäisierung noch lange eine Oberflächenerscheinung blieb - Sache der aristokratischen Oberschicht und einer vom Staat alimentierten schmalen Bildungselite. An Große Politik in Europa war ohne russische Mitwirkung oder Duldung seit der petrinischen Zeit nicht mehr zu denken. Europäisierung ging auch weiterhin mit imperialer Expansion zusammen. Das galt, als das alte Polenreich zerschlagen wurde, für die Annexion Litauens, Weißrußlands und der rechtsufrigen Ukraine, galt für die Eroberung der südlichen Steppengebiete bis zur Schwarzmeerküste unter Einschluß der Krim, galt wenig später dann für die Ko37

alitionskriege gegen das revolutionäre Frankreich bis hin zur Befreiung Rußlands und Europas von Napoleon. Alexander der Erste: Retter Europas, Liebling der Götter, Schöpfer der Heiligen Allianz; Nikolaj der Erste, sein Bruder und Nachfolger: Gendarm Europas, Garant der europäischen Restauration, Henker der polnischen und der ungarischen Freiheit - nur im Telegrammstil kann daran erinnert werden, daß die hegemoniale Rolle Rußlands in Kontinentaleuropa schwer zu überschätzen war. Noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts schien sie unangreifbar zu sein. Erst mit der militärischen Niederlage, die das Zarenimperium zwischen 1853 und 1856 im sogenannten Krimkrieg erlitt, der gegen Frankreich, England und die Türkei geführt wurde, veränderten sich die machtpolitischen Gewichte und die innere Lage Rußlands auch. Um diese Wendung zu verstehen, muß man sich vorab die Langzeitwirkungen der Europäisierung auf die russische Binnenwelt vor Augen führen. Zu den erstaunlichsten Ergebnissen der petrinischen Zeit gehört die Beharrungskraft der Autokratie, die Kontinuität der von keiner irdischen Instanz beschränkten Vollgewalt des Zaren. Dieses Herrschaftsinstitut, im 15. Jahrhundert entstanden, war so zählebig und so anpassungsfähig, daß es auch schwache und törichte Herrscher ertrug, Palastrevolutionen, Machtwechsel und Zarenmorde überstand und sogar einschneidende Reformen (wie 1861 die Aufhebung der Leibeigenschaft) riskieren konnte, ohne dabei selber verloren zu gehen. Erst der Massenaufruhr von 1905, die erste russische Revolution, sollte Nikolaj den Zweiten, den letzten Romanow, zum Oktroi einer Staatsverfassung zwingen, die der autokratischen Herrschaft gewisse Grenzen setzte. Erst von da an ließ sich erproben, ob die liberale Utopie, die im Begriff der »Zivilgesellschaft« noch heute weiterlebt, in Rußland Chancen zur Entfaltung habe. Kontinuität durch Anpassung, ohne daß die Macht des Herrschers dabei beschränkt worden wäre: das war eine Leistung, zu der es im übrigen Europa keine Parallele gab. Im vorpetrinischen Rußland war die Autokratie ausschließlich religiös begründet worden. Vom dreieinigen Gott gesegnet, waren die Zaren den heiligen Aposteln gleichgeachtet. Ihre Herrschaft stand in spiritueller Harmonie mit der rechtgläubigen Kirche, die nicht nur die Heilige Rus, son38

dem die Ökumene im ganzen umfing. Doch unter Peter dem Großen kam heraus, wie mühelos sich die Tradition der Moskauer Autokratie in die Sprache des neuzeitlichen Absolutismus übersetzen ließ. Nun tauchten, um die monarchische Gewalt zu legitimieren, natur- und vertragsrechtliche Argumente westlicher Staatstheoretiker (von Hugo Grotius bis Samuel von Pufendorf) auch in russischen Texten auf - zuerst bei Feofan Prokopowitsch, Peters engstem geistlichen Berater. In einem berühmt gewordenen Traktat versicherte dieser Kirchenmann, daß die »anjetzo herrlich florirende Monarchie von gantz Rußland« ihren eigentlichen Ursprung nicht in despotischer Willkür, sondern »in dem ersten Consensus des Volckes« habe. Denn dieses Volk habe - »von Gottes Finger getrieben« durch freiwilligen Gehorsam seinen Willen dareingegeben und sich bedingungslos dem Monarchen unterworfen. Der aber (hieß es) schulde Rechenschaft nicht den Menschen, sondern allein dem allerhöchsten Gott. Eine neue Stufe der Selbstlegitimierung autokratischer Herrschaft war erreicht, als Katharina die Zweite (1762-1796) in ihren Staatsschriften und Verordnungen den »Geist der Gesetze« Montesquieus kopierte und sich dem gebildeten Europa als »gekrönte Tochter der Aufklärung« zu erkennen gab. Doch die Utopie, von der die Kaiserin sich leiten ließ, meinte nicht die societä civile der französischen Enzyklopädisten, sondern den wohlgeordneten Polizeistaat, der nach den Regeln der deutschen Kameral- und Verwaltungswissenschaften funktionieren sollte. Was Katharina die »allgemeine oder politische Freiheit« nannte - »Freiheit in einem Staate, das ist: in einer Versammlung von Menschen, die in Gesellschaft leben, in welcher es Gesetze gibt« - diese »natürliche Freiheit« sollte nirgendwo anders als in der Person des Monarchen aufgehoben sein. Kennzeichnend waren die Vernunftgründe, mit denen Katharina die Unverzichtbarkeit der autokratischen Gewalt erklärte: der Verweis auf die Weiträumigkeit des Imperiums, auf das rauhe Klima, auf das Verlangen der Untertanen nach Ruhe und Ordnung, nach Schutz gegen Willkür und Bedrückung, dazu der heiße Wunsch der Kaiserin, die ihr anvertrauten Menschen auf »die höchste Staffel der Glückseligkeit« emporzureißen. 1767, als Katharina Deputierte aus allen Bevölkerungsklassen in eine Gesetzgebende Kommission zu 39

wählen befahl, konnte es scheinen, als habe die hohe Frau die »Generalstände« ihres Reiches an die Stufen des Throns gerufen. Doch schon im Jahr darauf war das Spectaculum zu Ende, weil ein neuer Krieg gegen die Türkei für solche Unternehmungen schon keine Zeit mehr ließ. Wer an die Lebenslage der russischen Untertanen denkt, der wird Mühe haben, die von »mütterlicher Menschenliebe« überfließenden Ergüsse der Kaiserin für aufrichtig zu halten. Die übergroße Mehrheit der Bevölkerung wurde von den Verheißungen der Freiheit nicht erreicht. Sie vegetierte unter den erbärmlichsten Verhältnissen. Die leibeigenen Bauern, lebendes Eigentum ihrer wohlgeborenen Herren, hatten keine persönlichen Rechte. Noch in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts konnten sie - wie auf dem Sklavenmarkt - verkauft, erworben oder verpfändet werden. Die Dorfgemeinden, auch die der Krön- und Domänenbauern, wurden für Fronarbeit, Abgaben und Steuerleistung kollektiv haftbar gemacht ein Verfahren, das der individuellen Verantwortung schroff entgegenstand. Doch der Obrigkeit schien die Kollektivhaftung so unentbehrlich zu sein, daß sie - über die Bauernbefreiung hinaus - bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts beibehalten wurde. Ähnlich rigide Beschränkungen galten für das Gros der Stadtbewohner. Wie die Bauern waren auch sie der Kopf- und Rekrutensteuer unterworfen. Die sich selbstverwaltende Bürgergemeinde, wie sie in Riga oder Reval fortbestand, hat es im eigentlichen Rußland nicht gegeben. Gewählte Ratsversammlungen und Magistrate wirkten nicht als Agenten stadtbürgerlicher Interessen, sondern als Hilfsorgane der staatlichen Polizei- und Finanzbehörden. Solange die Bauern rechtlos blieben, wurde auch die Stadt nicht frei. Diese Verhältnisse vor Augen, kam der junge Johann Gottfried Herder, der in Riga lebte und sich in überspitzten Sentenzen gern erging, zu dem folgenden deplorablen Befund: »Der Russe [schrieb er 1769 in seinem Reisetagebuch] hat für Bürger kein Wort in seiner Sprache. Der junge Russe von Stande sieht an Bürgern nichts als Knechte [...]. Der Russe ist nie anders als niedrig in seiner Schmeichelei, damit er groß gegen andere sey, das heißt: er ist Sklave, um Despot zu werden.«

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Dieses Urteil ist ohne Zweifel übertrieben und hat doch einen wahren Kern: Denn die Unverwüstlichkeit der russischen Autokratie beruhte auf der Kontinuität einer Untertanenverfassung, deren tragender Grund die Leibeigenschaftsordnung war. Die Leibeigenschaft verklammerte die Privatinteressen des grund- und seelenbesitzenden Adels mit dem fiskalischen und polizeilichen Interesse der Staatsgewalt. Daß dieses Institut der Sozialdisziplinierung und Ausbeutung im Zeitalter der Aufklärung nicht abgebaut, sondern in Wahrheit erst vollendet wurde, gehört zur Negativbilanz der »Europäisierung«, zu den Ursachen der Verspätung Rußlands im europäischen Zivilisationsprozeß. Allein der Adel schien unter Katharina in ein goldenes Zeitalter eingetreten zu sein. Seit 1762 war er von persönlicher Dienstpflicht befreit. Seither konnten Edelleute, deren Vermögenslage dies erlaubte, vom Staats- und Militärdienst Abschied nehmen und ihre Glückseligkeit in der Freiheit partikularen Lebens suchen. Doch auch als Privatleute entkamen diese Grund- und Seelenbesitzer den Zumutungen des Staates nicht. In der Gnadenurkunde der Kaiserin, die den wohlgeborenen Stand in beispielloser Weise privilegierte, wurde der Landadel verpflichtet, der Obrigkeit durch Ämterwahlen lokale Beamte und Richter zu stellen. Zu diesem Zweck wurden »Adelsgesellschaften« installiert - ständische Einrichtungen, die es vordem nicht gegeben hatte, weil das Moskauer Rußland kein dem Westen vergleichbares Ständewesen kannte. Doch korporative Solidarität, die politisch wirksam geworden wäre, hat sich in den per Ukas geschaffenen Kunstgebilden nicht entwickeln können. Während sich 1789 in Frankreich der Dritte Stand und zwei Jahre darauf der Adel in Polen zur Nation erklärte (die Franzosen hatten die Revolution vor Augen und die Polen den eigenen Untergang), gab es in Rußland keine gesellschaftliche Kraft, die die Kluft zwischen dem europäisierten Adel und der Masse unfreier Untertanen hätte überbrücken können. Keine selbsttragende Bewegung entstand, die den russischen Reichsadel zur Pflanzstätte staatsbürgerlicher Gesinnung hätte werden lassen - zum Übungsfeld einer societas civilis , die alle mündigen Bürger umfangen hätte. Gewiß, es gab auch Kritik: verhaltene Kritik in aristokratischen Salons, die das Kopieren fremder Muster beklagte und die »Sittenverderbnis« der Gesellschaft dazu; es gab Unmut, der in den Ritua41

len und Aktivitäten der Freimaurerlogen Auslauf suchte; und es gab literarische Kritik, die sich vor exklusivem Publikum (anfänglich unter Katharinas Mitwirkung) in Ironie, Satire und sarkastischen Anspielungen erging. Daneben aber gab es auch flammenden Protest, beschränkt auf eine Handvoll Außenseiter: Protest gegen die Willkür großer und kleiner Despoten, gegen das Elend der niederen Volksklassen, gegen Verhältnisse, deren Unmenschlichkeit zum Himmel schrie. Daß mit der Revolution in Frankreich die Duldsamkeit der Kaiserin zu Ende ging, das kam zutage, als Alexander Radischtschew, Zollrat im Hafen der Newa-Kapitale, 1791 sein berühmtes Pamphlet »Reise von Petersburg nach Moskau« samt einer »Ode an die Freiheit« drucken ließ. Nur ein allerhöchster Gnadenakt bewirkte, daß er dabei nicht sein Leben, sondern nur seine Freiheit verlor. Die Frage, ob solche Einzelproteste bereits den Anfang vom Ende der Selbstherrschaft markieren, den Beginn des »langen Vorlaufs« der Revolution (Gottfried Schramm) - diese Frage muß hier vorerst offen bleiben. Unzweifelhaft ist, daß während des 19. Jahrhunderts in Rußland keine Kraft zu sehen war, die fähig gewesen wäre, an die Stelle der Selbstherrschaft zu treten und die »Europäisierung« des Imperiums als gesellschaftliches Projekt erfolgreich zu betreiben. Kein Geheimbund, keine revolutionäre Partei, keine liberale Öffentlichkeit bot sich an, die dafür hätte taugen können. Obschon sich seit den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts kritische Intelligenzija als Gegenkraft zu formieren begann, hat sie die Aporien der russischen Entwicklung eher verstärkt als aufgehoben. Auf dem Weg in die Moderne rieb sich das »denkende Rußland« über Jahrzehnte hin in selbstbezogenen Debatten auf. Sie kreisten um die alte (und bis heute immer wieder neu gestellte) Frage, ob den Russen nichts bleibe als nachzuholen, was im Westen schon geschehen sei, oder ob ihnen der Allerhöchste aufgetragen habe, der Welt ein eigenes, unverwechselbares Wort zu sagen. Nachvollzug der westlichen Geschichte oder Sonderweg aus den Kraftquellen russischen Menschentums: zwischen diesen beiden Polen, den »Westlern« und den »Slawophilen«, hat sich bewegt, was man über die Zukunft des Landes zu sagen pflegte. Dabei wurden Alternativen zum alten Regime zwar reichlich abgeboten, doch gegen die Zählebigkeit der alten Macht kam offensichtlich niemand auf. 42

Wer nach Erklärungen für diese merkwürdige Erscheinung sucht, wird die Stärken und Schwächen des ausgehenden Zarenreichs genauer zu erkunden haben. Der folgende Beitrag von Heinz-Dietrich Löwe nimmt diesen Faden auf.

Weiterführende Literatur Geyer, Dietrich: Osteuropäische Geschichte und das Ende der kommunistischen Zeit, Heidelberg 1996 - zu den veränderten Problemlagen seit dem Zusammenbruch der UdSSR. Groh, Dieter: Rußland im Blick Europas 300 Jahre historische Perspektiven, Frankfurt a. M. 1988 - unübertroffene Darstellung der geistesgeschichtlichen Aspekte der Europäisierung. Hildermeier, Manfred: Das Privileg der Rückständigkeit. Anmerkungen zum Wandel einer Interpretationsfigur der neueren russischen Geschichte, in: Historische Zeitschrift 244 (1987), S. 557-603. Kappeier, Andreas: Rußland als Vielvölkerreich Entstehung - Geschichte Zerfall, München 1992 - grundlegend für die multiethnischen Strukturen und Prozesse seit dem 16. Jahrhundert. Nolte, Hans-Heinrich: Kleine Geschichte Rußlands, Stuttgart 1999 - problemorientierte Einführung in die internen und internationalen Dimensionen der russischen Geschichte. Wittram. Reinhard: Peter I. Czar und Kaiser. Zur Geschichte Peters des Großen in seiner Zeit, 2 Bände, Göttingen 1964 - nach wie vor das klassische Meisterwerk zum Eintritt Rußlands in die europäische Neuzeit.

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Heinz-Dietrich Löwe Stärken und Schwächen des ausgehenden Zarenreiches »Genossen, die Arbeiter- und Bauernrevolution ist vollbracht!« Als Lenin am 24. Oktober 1917 diesen Satz einem begeisterten Arbeiter- und Soldatenrat in Petrograd entgegen schleuderte, war noch nicht einmal ein Jahr vergangen, daß er in seinem Schweizer Exil vor Arbeitern erklärt hatte, seine Generation werde die entscheidenden Kämpfe der kommenden Revolution in Rußland wohl kaum noch erleben. Von vielen vorhergesagt, von den wenigsten noch bis vor kurzem erwartet, hatte die Revolution die dreihundert Jahre alte Dynastie der Romanovs und mit ihr das ancien regime hinweggefegt. An diese Umwälzung knüpften sich viele Hoffnungen, aber die Begeisterung der frühen Jahre ist längst verflogen und wir haben gelernt, die Revolution des Jahres 1917 als den Ausgangspunkt vieler Katastrophen im 20. Jahrhundert zu verstehen. Geblieben ist die Selbstverständlichkeit, mit der man auch heute vielfach noch den Verlauf der Ereignisse als Ausdruck einer historischen Notwendigkeit versteht. Zumindest erinnert man sich heute im allgemeinen sehr genau der Schwächen des Systems, die den Niedergang als unvermeidlich erscheinen lassen, während man von Stärken kaum noch etwas weiß. Solche Stärken muß es gegeben haben, denn sonst hätten die Zeitgenossen, je nach politischer Einstellung, nicht so resigniert oder so hoffnungsfroh mit dem Fortbestand des russischen Reiches gerechnet. Unser heutiges Bild vom Rußland vor der Revolution ist das eines Landes, dessen politische Führer unfähig bis dumm waren, und die sich Unwillens und unfähig zeigten, die notwendigen Reformen voranzutreiben. Dabei sollte uns schon die alte Erkenntnis von Alexis de Tbcqueville vorsichtig machen, der in seinen Untersuchungen zur Geschichte des ancien regime in Frankreich zu dem Schluß kam, daß nicht Beharrung und Verweigerung der Reform, nicht Repression für ein System gefährlich sind, sondern Reform und Liberalisierung, die notwendigerweise längere Phasen der Instabilität und der Unsicherheit mit sich bringen. Die 44

moderne Revolutionsforschung und Geschichtsschreibung hat dies längst dahingehend ausgeweitet, Revolution nicht als das Ergebnis von Stillstand und Unterdrückung zu verstehen, sondern als Ausdruck eines sich beschleunigenden sozialen Wandels, ja als Folge eines wegen seiner zunehmenden Geschwindigkeit verunglückten Modernisierungsprozesses. So ist es unsere Aufgabe, nach den Schwächen und den Stärken des zarischen Regimes in den Jahrzehnten vor der Revolution zu fragen und uns bewußt zu machen, daß Schwächen meistens mit Stärken, und Stärken immer auch mit Schwächen verbunden sind. Zuerst gilt es einmal nur Türen zu Kammern unseres politischen und historischen Bewußtseins zu öffnen, die wir seit Jahrzehnten nicht mehr betreten haben. Wer ist sich heute noch dessen bewußt, daß vor der Revolution russische Wissenschaft, Kunst und Kultur eine Blüte erreichten, die sie nachher nicht mehr erleben sollten und die ein sehr wichtiger Bestandteil der allgemeinen künstlerischen und wissenschaftlichen Entwicklung Europas waren? Russische Wissenschaftler gewannen Weltruhm. Fast jeder Schüler kann sich irgendwie an die Mendelejew'schen Periodenzahlen aus dem Chemieunterricht erinnern. Aber dieser Mann war keineswegs eine einsame Blume in dürrer Landschaft. Vielmehr veröffentlichten russische Wissenschaftler ihre Werke in internationalen Zeitschriften, darunter auch in deutschen, und in der Emigration fanden sie ohne große Schwierigkeit herausragende Positionen an den besten Universitäten Europas und Nordamerikas. Die russischen Universitäten spielten auch zunehmend eine gewichtige Rolle in der Entfaltung einer politischen Öffentlichkeit im Lande. Zuerst bildeten sie, vor allem mit ihren wissenschaftlichen Gesellschaften, eine Art Ersatzforum für politische oder verdeckt politische Diskussion. Unabhängige wissenschaftliche Institutionen wie die Freie Kaiserliche Ökonomische Gesellschaft und die Moskauer Kaiserliche Landwirtschaftsgesellschaft, boten aufgrund ihrer Gründungsprivilegien ebenfalls einen Schutzraum für den freien wissenschaftlichen und anfangs noch verdeckten politischen Disput. Da half auch nicht, daß der reaktionäre Innenminister Plehwe im Jahr 1903 die Freie Kaiserliche Ökonomische Gesellschaft schloß, der Staat mußte schon bald nachgeben. Die Moskauer Kaiserliche Landwirtschaftgesellschaft, die um die Jahreswende 1904/1905 von Liberalen und radikaler Intelligencija übernommen wurde, half ent45

scheidend dabei mit, eine Petitionskampagne der Bauern an den Zaren zu organisieren. Später - mit der teilweisen Konstitutionalisierung des zarischen Systems nach der Revolution von 1905 - bildeten die Universitäten und wissenschaftlichen Gesellschaften ein wichtiges Element im Konzert der öffentlichen Meinung, das auf Mäßigung drängte, aber auch mehr wissenschaftliches Denken und Rationalität in den politischen Diskurs einzubringen suchte. Das frühe 20. Jahrhundert gilt als das silberne Zeitalter der russischen Literatur. Es ist nur eine ungerechtfertigte Verschiebung in unserer Erinnerung, daß wir uns an die frühen revolutionären Schriftsteller und Dichter erinnern, aber kaum die Namen der wichtigsten Männer und Frauen vor 1917 kennen. Russische Maler entwickelten zusammen mit Picasso und Braque neue Stilformen, unter anderem den Kubismus, die man heute als die klassische Moderne bezeichnet. Leider hat man die Namen der Künstler meist vergessen, und nur ein Mann wie Wasilij Kandinskij wird noch erinnert, weil er wegen seiner Verbindung mit dem Blauen Reiter schon fast als deutscher Maler gilt. All dies braucht und brauchte natürlich sein Ambiente und sein soziales Milieu, in dem es sich entwickeln konnte. Und in der Tat schickte sich Rußland in den letzten beiden Generationen vor der Revolution an, mit Riesenschritten den Anschluß an die Moderne zu gewinnen. Den Grund hierfür legten eine Reihe von wichtigen Reformen von oben, die langfristige Entwicklungen in Gang setzten und denen auf die Dauer auch zunehmende Aktivitäten von unten entsprachen. Die Reformen begannen 1861 mit der Befreiung der Bauern aus der Leibeigenschaft und setzten sich mit der Einführung von städtischen und ländlichen Selbstverwaltungen und eines unabhängigen Gerichtssystems fort. Kontinuierliche Bemühungen der russischen Finanzminister um die Reform der russischen Währung gipfelten Mitte der neunziger Jahre in der Einführung des Goldstandards und des Goldrubels, die schließlich die rasante Industrialisierung des Landes in Gang brachten. So erlebte Rußland im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts und wieder nach dem Jahr 1908 Wachstumsraten in der Industrie, die in der Welt bis dahin kein Vorbild hatten. Auch die Landwirtschaft entwickelte sich und Rußland wurde zeitweise zum größten Getreide-Exporteur der Welt. Was seine industrielle Kapazität anging, so stand es im Jahre 1913 - vor 46

Frankreich - an vierter Stelle der Industriemächte dieser Erde. Die Reformen der sechziger Jahre lassen sich nur mit den preußischen unter Stein und Hardenberg vergleichen und sie sind in ihrem Umfang wohl bedeutender und vor allem insgesamt viel komplizierter gewesen. Die Bauernbefreiung in Rußland erwies sich für die ganz große Mehrheit der Russen als wesentlich vorteilhafter als etwa die preußischen Reformen für die dortigen Bauern. Während letztere nach einer Übergangszeit weitgehend vom Land vertrieben wurden, erhielten die russischen rund zwei Drittel des gesamten Akkerlandes als kollektives Eigentum. Dieses Land blieb rechtlich dem Bodenmarkt entzogen, kein Nichtbauer durfte es kaufen. Die Reform von 1861 begründete so eine Bauerngesellschaft, die erst durch die brutale Gewalt eines Stalin in den dreißiger Jahren zerbrochen werden konnte. All dies hatte auch seine Kehrseite. Das geringste Problem stellte noch dar, daß das russiche Pro-Kopf-Einkommen im europäischen Vergleich immer noch niedrig lag und daß das Eisenbahnnetz, obwohl es die verschiedenen Teile des Landes zu verbinden begann, noch recht grobmaschig die ungeheueren Weiten des Reiches erschloß. Unter schweren Belastungen drohte es zusammenzubrechen, was ja im Jahr 1917 in Petrograd den Anstoß zu Brotunruhen gab, die in die Februar-Revolution mündeten. Die rasante Modernisierung erfaßte das Land in einem sehr ungleichen Maß. Den Metropolen mit weltstädtischem Flair, St. Petersburg und Moskau, und einer Reihe von anderen aufstrebenden Städten, stand die tiefe russische Provinz gegenüber mit ihren von der bäuerlichen Familienwirtschaft geprägten Lebensformen und Verhaltensweisen. Wohl zeigten sich auf dem Lande, vor allem im Einzugsbereich der großen Städte, deutliche soziale und ökonomische Veränderungen. Aber in weiten Teilen des europäischen Rußland herrschten, trotz vieler Produktivitätsfortschritte, immer noch die Dreifelder-Wirtschaft und eine extensive Viehzucht. Das Dorf blieb weitgehend seinen alten Traditionen verhaftet, seine Alltagskultur von religiös-magischen Ritualen und Deutungsmustern geprägt, die von den Formen der Hochreligion nur oberflächlich beeinflußt wurden. Ein diffuser Monarchismus prägte selbst nach dem Blutsonntag vom 9. Januar 1905 in St. Petersburg das politische Bewußtsein der Bauern. Für ihre große Mehrheit war der Zar gut, aber weit, und ihre Schwierigkeiten rühr47

ten von Beamten und Gutsherren her, die sich gegen das Volk und den Zaren verschworen hatten. Auf dem Hintergrund der Dreifelder-Wirtschaft, die aufgrund der Bevölkerungsentwicklung unter Druck geriet, die aber durch die aufs Ganze gesehen immer noch schwache Nachfrage nach Agrargütern konserviert wurde, strebten die Bauern nach mehr Land. Dies konnten sie nur vom privaten Gutsbesitz erhalten. Millionen Bauern kauften Land und reduzierten so das Land der adligen Gutsbesitzer auf weniger als die Hälfte dessen, was ihnen nach 1861 übrig geblieben war. 1916 bearbeitete der private Gutsbesitz nicht einmal mehr zehn Prozent des gesamten landwirtschaftlichen Bodens. Aber in politischen oder ökonomischen Krisensituationen, vor allem wenn der interne Markt wie im Jahr 1916/1917 zusammenbrach, suchten die Bauern zum Teil mit Gewalt sich das Land der Gutsbesitzer anzueignen oder sie artikulierten die Forderung nach der Enteignung allen Privatlandes. So geschah es schon in der ersten russischen Revolution von 1905. Aber der Staat glaubte aus vielerlei Gründen, diesen Forderungen nicht nachgeben zu können, insbesondere weil dies bei der unter den Bauern weitverbreiteten Neigung nur für den eigenen Bedarf zu arbeiten, bedeutet hätte, daß die ökonomischen, politischen und internationalen Ansprüche des russischen Staates nicht mehr zu verwirklichen gewesen wären. Genau mit diesem Problem sahen sich dann ja die Bolschewiken nach der Revolution mit ihrer völligen Enteignung des Gutsbesitzes konfrontiert. In einer großen Reformanstrengung setzte das zarische System seit 1906 den Aspirationen der Bauern sein eigenes Programm entgegen: die Zerschlagung der bäuerlichen Umverteilungskommune, der »obscina«, die das Land kollektiv auf Dorfebene für den Bauern besaß und neu verteilen konnte. Dies sollte Intensivierungen lohnend machen und vor allem die individuellen Besitzinstinkte wecken. Dabei konnte Premierminister Stolypin, mit dessen Namen diese Reform verbunden ist, auf die Beobachtung bauen, daß die Bauern hartnäckig nach einer individuellen Wirtschaftsführung trachteten. Warum also sollte eine solche Einstellung sich nicht auch auf den Landbesitz ausdehnen, wenn die Individualisierung des Bodenbesitzes und ein wachsender Markt die Möglichkeiten boten, den eigenen Hof voranzubringen? Ein solches Programm brauchte Zeit. »Gebt uns 40 Jahre Frieden«, verlangte Stolypin 1909. Doch genau der sollte nicht zu haben sein. 48

Die großen Erfolge der Industrialisierung brachten auch erhebliche Probleme mit sich. Mit jedem Boom strebten Hunderttausende vom Land in die Stadt oder in die neuen Industriezentren, die oftmals in Regionen oder Orten ohne jede städtische Kultur und Infrastruktur entstanden. Die Neu-Proletarier überschwemmten das kleine, schon länger stadtsassige erbliche Proletariat, sodaß sich eine eigene proletarische Kultur, proletarische Proteststrukturen und ähnliches nur sehr langsam herausbildeten. Sie brachten ihre eigenen Traditionen und vor allem eigenen Protestformen mit. Ihre Solidarität erwies sich primär erst einmal als landsmannschaftlich und weniger als proletarisch. Sie zeigten sich in einem höheren Maße als die ältere Gruppe spontan protest- und vor allem gewaltbereit. Dies konnte sich auch nicht sehr schnell ändern, weil ein großer Teil der Arbeiter seine Verbindungen zum Land nicht aufgab. Saison-Arbeit blieb bis zur Revolution weit verbreitet. Ein großer Teil der Arbeiter, vielleicht sogar die Mehrheit, betrachtete die Anwesenheit in der Fabrik nur als Durchgangsstation. Sie lebten ohne ihre Frauen in der Stadt, vielfach sogar direkt in der Fabrik, auch wenn sie oft erst nach zwei Jahrzehnten auf das Land zurückkehrten, um vom Vater den bäuerlichen Hof zu übernehmen. Arbeiterfamilien blieben selbst in Moskau und in St. Petersburg eine kleine Minderheit. Die mangelnde Urbanisierung des Proletariats, seine geringe Einbindung in irgendwelche Organisationsstrukturen, die dünnen Fäden, die es mit Parteien oder mit sozialdemokratischer Intelligenz verband, sorgten dafür, daß in St. Petersburg und Moskau und in anderen Industrieregionen die wohl radikalste und revolutionärste Arbeiterschaft Europas heranwuchs. Immer wieder am Ende eines längeren Aufschwungs, so nach den neunziger Jahren in der Revolution von 1905 oder nach den Jahren von 1912 und 1916, radikalisierte sich die Arbeiterschaft - in der Regel nicht, weil sich ihre Lage verschlechterte, die Löhne stiegen eher, sondern weil die gerade erst in der Stadt oder in der Fabrik angekommenen Bauernarbeiter wie wohl kaum irgendwo anders die Erfahrung der Entfremdung, des Nicht-Geachtet-Seins und der mangelnden Integration machen mußten. Da dieses Protestpotential sich vor allem in den großen Städten ballte, besaßen die Arbeiter ein erhebliches politisches Gewicht, auch wenn das eigentliche Fabrik-Proletariat noch 1913 nur drei Prozent der Bevölkerung stellte. Dem Sub-Proletariat 4Q

der Arbeiterbauern und Saison-Arbeiter stand mentalitätsmäßig das Millionenheer von Tagelöhnern, Gelegenheitsarbeitern, Transportarbeitern (insbesondere der Treidler an den großen Flüssen, die mit schierer Körperkraft Lastkähne flußaufwärts zogen), der deklassierten Handwerker und landwirtschaftlichen Saisonarbeiter nahe. Dies waren die von Maxim Gorkij heroisierten »Bosjaki« (Barfüßler), vagabundisierende Opfer der Modernisierung und wirtschaftlichen Ausbeutung. Gorkij setzte ihnen und ihren sozialen Ressentiments, ihrer rohen Robustheit, Verachtung für jegliche Kultur und deren Träger, ihrem Hang zur Gewalt in seinen Werken ein Denkmal. Er registrierte mit seinen Erzählungen insbesondere im »Sturmvogel« (Burevestnik) die Vorboten der kommenden Revolution auch in ihren abstoßenden Zügen. Ein bekannter Historiker und Literaturwissenschaftler schrieb 1908, »Gorkijs Helden, die man lieber nicht in der Nacht treffen würde, sind nicht die unentschiedenen Hamlets, angefressen von Reflexion, die für die gesamte russische Literatur so charakteristisch sind. Vielmehr sind sie entschieden zu kämpfen, bar jeden Skrupels, sie benutzen ihre Fäuste oder ihre Messer in ihren Stiefelschächten, sie attackieren mit fliegenden Fahnen die Gesellschaft, die sie ausschloß. Sie sind über Gut und Böse erhaben, folgen nur ihren Instinkten und Launen und schrecken vor nichts zurück«. Ihren Erfinder, Gorkij, charakterisierte er, dabei mehr oder weniger einen Typ des russischen Intelligenzlers in seiner Selbstverachtung zeichnend, wie folgt: »Für den Rest Europas hat er keine Botschaft, es sei denn die grenzenlose Verachtung für den verweichlichten Mann von Kultur, der entsprechend lebensunfähig ist, und deshalb immer den Kompromiß sucht.« Solche Mentalitäten begründeten eine tiefe Kluft zwischen den Schichten der Gebildeten und Besitzenden auf der einen Seite, und den breiten Massen der Arbeiter und Bauern, welche selbst für die revolutionären Parteien nur unter großen Schwierigkeiten zu überbrücken waren. Aber dennoch gab es solche Brückenschläge. Bauern lernten zunehmend die Möglichkeiten der ländlichen Selbstverwaltung zu nutzen. Mit den neunziger Jahren, als die ländlichen Selbstverwal50

tungen, in Opposition zur Wirtschaftspolitik der Regierung begannen, die Entwicklung des flachen Landes, der Provinzen voranzutreiben, siedelten sich Zehntausende Ärzte, Lehrer, Veterinäre, Agronomen und Statistiker auf dem Lande an, die Kontakte zu den Bauern herzustellen vermochten. Nach der Revolution von 1905 bildeten sich Hunderte von Organisationen, die Tausende von Instruktoren, Vortragsreisenden, Künstlern, Ethnologen, Filmschaffenden und ähnlichen auf das Land schickten, um die Bauern zu erziehen und zu bilden. Und die Bauern hörten den Herren aus der Stadt zu, während sie noch in den siebziger Jahren, also dreißig Jahre, d.h. eine Generation zuvor, die Studenten, die auf das Land kamen, um die Bauern aufzuklären, an die Autoritäten verrieten. Vielfach kann man konstatieren, daß die von oben begonnenen Reformen von unten her zunehmend bereitwilliger aufgenommen wurden und dadurch aber auch ihren Charakter veränderten, wie z. B. die Stolypinschen Agrarreformen. Die Alphabetisierung machte große Fortschritte und die Bauern selbst verlangten nach Schulen, ja, oftmals organisierten sie sogar selber welche. Bauern, vornehmlich solche, die über einen Eisenbahnanschluß die Möglichkeiten eines größeren Marktes zu schätzen gelernt hatten, verlangten in den ländlichen Selbstverwaltungen, endlich Landwirtschaftsschulen einzurichten oder Veterinäre einzustellen. Kooperativen vornehmlich Kredit-Kooperativen fanden bei ihnen zunehmend Anklang. Ebenso modernisierte und verwestlichte sich die Weltanschauung des politischen Personals. Dies läßt sich sehr schön am Beispiel von Sergej Witte, des wohl bedeutendsten russischen Politikers des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, demonstrieren. Dieser begann seine großen Industrialisierungsanstrengungen als überzeugter Monarchist, der den kollektiven Landbesitz der Bauern in der obscina als einen großen Vorteil ansah, und der in der Tat seine wichtigste Reform, die Einführung des Goldstandards nur gegen den massiven Widerstand der Öffentlichkeit, gestützt auf den Zaren, durchführen konnte. Aber je länger desto mehr verfocht Witte eine Beteiligung der Gesellschaft an politischen und ökonomischen Entscheidungen und ein Abrücken von der Regelungswut des Staates. Er begann, die Auflösung der obscina zu propagieren. Er drängte die Vertreter der Gesellschaft geradezu, sich sozial und politisch zu engagieren. Es war dieser zutiefst monarchistische Mann, der in der Revolution 51

von 1905 den Zaren überredete, das System durch die Gewährung der bürgerlichen Freiheiten und einer gewählten gesetzgebenden Kammer zu konstitutionalisieren und so den Partizipationsansprüchen der Gesellschaft Raum zu geben. Natürlich war dies eine Konzession, um die revolutionäre Bewegung zu beruhigen. Aber sie bedeutete vor allem, daß in der russischen Gesellschaft die Kräfte erstarkt waren, die ihr eigenes Leben, das Leben ihres Landes, seine Politik und seine Außenpolitik mitbestimmen wollten. Dieser wichtige politische und soziale Fortschritt manifestierte sich auch in der Gründung von Parteien, von Selbsthilfeorganisationen, Kooperativen und vielem anderen. Besonders bedeutungsvoll war für die Schaffung einer politischen Öffentlichkeit, daß das Zeitungs- und Zeitschriftenwesen einen fast explosionsartigen Aufschwung nahm. Das lesende Publikum vermehrte sich schnell und kontinuierlich und schuf so die wirtschaftliche Basis, auf der vor allem die politische Publizistik sich gegen die vereinzelten und kaum noch wirksamen Zensureingriffe des Staates erfolgreich zu wehren wußte. Die russische Presse konnte wohl ebenso frei und ungehindert berichten wie etwa die in Deutschland oder in England. Sie ist deshalb auch heute noch, besonders für die Jahre nach 1905, eine nicht zu verachtende Quelle für den Historiker. Die Selbsttätigkeit der Gesellschaft, wie man das damals nannte, nahm einen Umfang an, von dem man auch heute noch für Rußland nur träumen kann. Zum ersten Mal seit Jahrhunderten machte sich die russische Gesellschaft - natürlich nicht ohne Konflikte - daran, sich vom Staat zu emanzipieren und die Zukunft in die eigenen Hände zu nehmen. Gestützt wurde eine solche Entwicklung auch dadurch, daß der ökonomische Aufschwung sich nach den Erschütterungen durch die erste russische Revolution von 1905 bis 1907 nahtlos fortsetzte. Der Staat verfügte plötzlich über ungeheuere Mittel, die zum Teil in die Rüstung gingen, die aber zu einem erheblichen Teil dem flachen Lande, den ländlichen Selbstverwaltungen zur Verfügung gestellt wurden, um einen Beitrag zur Entwicklung der bäuerlichen Wirtschaft zu leisten oder um die allgemeine Schulpflicht zu verwirklichen. Gerade in den letzten Jahren vor dem Ausbruch des ersten Weltkrieges zeigten sich erhebliche positive Veränderungen in den bäuerlichen Wirtschaften, die jetzt mit wachsender Geschwindigkeit 52

moderne Farmwerkzeuge, moderne Eisenpflüge und ähnliches in Dienst stellten. Die von der Intelligenz und vielen aktiven Vertretern der Gesellschaft unterstützten Kooperativen verfügten gerade wegen des ökonomischen Aufschwunges über wachsende Geldmittel, um auf eine vom Staat unabhängige Weise den bäuerlichen Wirtschaften zu helfen. Das Wirtschaftswachstum insgesamt schien Rußland eine gute Zukunft zu versprechen, auch wenn es in den Städten durch das Einwandern neuer, unruhiger Arbeitermassen zu erneuten sozialen Spannungen und Streikbewegungen kam. Aber eines läßt sich nicht vom Rußland dieser Zeit sagen, daß Reformen zum Stillstand gekommen seien, oder daß das System allein auf Repression setzte. Im Gegenteil, man suchte diese ganz bewußt - wie etwa bei der Abschaffung der administrativen Verbannung - zu minimieren. Die politischen Strukturen des zarischen Systems wiesen allerdings manche Schwachstellen auf. So gab es keine effektive und vernünftig organisierte städtische Selbstverwaltung, die wie in Deutschland die Arbeiter und ihre Organisationen in die tägliche politische Arbeit hätte integrieren können. Die aufgrund des Wahlrechts tonangebende städtische Plutokratie blieb lange noch überkommenen Mentalitäten verhaftet. Viele Maßnahmen urbaner Stadtentwicklung kamen deshalb nur mit quälender Langsamkeit voran, und dies verstärkte den Eindruck, daß die Plutokratie vor groß angelegten Maßnahmen zurückschreckte, weil diese nur eine höhere Selbstbesteuerung bedeuteten. Auf dem flachen Lande besaß der Staat auf der untersten Ebene praktisch keinen eigenen Apparat. Die Zahl der Polizisten blieb lange vernachläßigbar und Beamte kannte das Land eigentlich auch nicht. Erst kurz vor der ersten Revolution verstärkte man die Polizeikräfte auf dem Lande, dennoch blieb Rußland wohl - entgegen allen historischen Vorurteilen - das Land mit den schwächsten Polizeikräften Europas. Erst mit dem nicht-polizeilichen Personal, das nach 1906 die Stolypin'schen Agrarreformen durchzuführen begann, gewann der Staat auf dem flachen Lande ein eigenes Standbein, mit dem er in seinem Sinne auf die ländliche Bevölkerung einwirkte, über die die ländliche Bevölkerung aber auch umgekehrt auf die staatliche Politik vor Ort Einfluß nahm. Vielleicht zum ersten Mal in der russischen Geschichte erhielt hier der Staat ein Instrument der direkten Kommunikation mit seinen in 55

großer Ferne von der Zentrale lebenden Unterschichten. Rußland war kein totalitäres System, es war, vor der Revolution, kein Polizeistaat. Es war nicht einmal, wie seine Gegner immer wieder zu behaupten pflegten, ein überbürokratisiertes System, denn es fehlten die Beamten. Der Wahrheit näher kam der deutsche Osteuropa-Historiker Otto Hötzsch, der 1912 formulierte: Oben wird zuviel regiert und unten zu wenig verwaltet. Ein weitgehend unlösbares Problem stellten die nichtrussischen Nationalitäten dar. Immerhin - die Tatsache, daß sich die unterschiedlichsten Nationalismen im russischen Reich zu regen und zu organisieren begannen, war eigentlich ein Zeichen der Modernität. Sie bezeugen einen gewissen Grad von Entwicklung. Aber gleichzeitig bedeuteten sie eine Gefahr für den Bestand des Staates. Das wohl unvermeidliche Entstehen eines (groß-)russischen Nationalismus mußte die Grundprinzipien eines Vielvölkerstaates von der anderen Seite her in Frage stellen. Der zarische Staat fand keine Antwort auf diese Herausforderungen. Die tatsächlich verfolgte Politik, die hilflos zwischen relativer Toleranz, bewußter Einflußnahme und Repression schwankte und die in den letzten Jahren nur noch darin bestand, durch willkürliche Nadelstiche die Entfaltung nationaler Bewegungen zu behindern, verschärfte nur die ohnehin beträchtlichen Spannungen. Ein Kolonialreich im Inneren und gleichzeitig die Beherrschung von Völkern und ethnischen Gruppen, die weiter entwickelt und moderner waren als die Titularnation - dies stellte wohl, und stellt vielleicht auch heute, ein unlösbares Problem dar. Der Versuch, die nichtrussischen Völker und Gruppen niederzuhalten bzw. ihnen den Weg in Unabhängigkeit zu versperren führte dazu, daß der zarische Staat in vielen von Nichtrussen bewohnten Gebieten wesentlich mehr Geld ausgab und Ressourcen »verschwendete< als in den eigentlichen Kernlanden. Dies verlangsamte deren Entwicklung. Das Russische Imperium litt an einer Überexpansion, die über seine Kräfte zu gehen drohte. Deshalb, und auch weil (sporadische) Repressionen gegen Nichtrussen sich in der Öffentlichkeit nie rechtfertigen lassen, behinderte der multinationale Charakter eine durchgreifende Demokratisierung des Systems. Ähnliches gilt übrigens für die russischen Großmachtansprüche, die allerdings, dies sei hinzugefügt, von der großen Mehrheit der besitzenden und gebildeten Schichten mitgetragen wurden. 54

Eine ganz eigene Erscheinung bildete der offizielle russische Antisemitismus. Dieser entwickelte sich mehr und mehr zu einer antikapitalistischen Anti-Modernisierungsideologie, mit deren Hilfe konservative Kräfte die weitere Liberalisierung des Systems zu verhindern trachteten. Gerade in Zeiten besonders schnellen sozialen Wandels erstarkte der offiziöse Antisemitismus. Dabei scheuten sich reaktionäre Politiker oder Minister nicht einmal, auf die mittelalterliche Ritualmordbeschuldigung zurückzugreifen. Der von Justizund Innenministerium inszenierte Prozeß gegen den offensichtlich unschuldigen Juden Mendel Bejlis hat dabei wie kaum etwas anderes dazu beigetragen, das Prestige des zarischen Regimes zu zerrütten. Daß Bejlis freigesprochen wurde, sprach für das russische Gerichtssystems und seine Unabhängigkeit; daß die Geschworenen dennoch von einem Ritualmord ausgingen, für die tiefverwurzelten Vorurteile der sorgfältig ausgewählten bäuerlichen Geschworenen Vorurteile, die Zar Nikolaus IL, ohne dessen zumindest stillschweigende Zustimmung dieser Prozeß nicht möglich gewesen wäre, offensichtlich teilte. Als ein struktureller Schwachpunkt stellte sich auch die im Vergleich zu anderen großen Staaten Europas unvergleichlich starke Stellung des Monarchen heraus. Auch nach 1905 konnte der Widerstand des Herrschers gegen Änderungen von Grundprinzipien der Politik oder der Verfassung praktisch nur durch eine Revolution, wie 1905 oder 1917, gebrochen werden. Aufgrund seiner Persönlichkeit und seiner politischen Vorstellungen erwies sich Nikolaus IL als ein veritables Hindernis für eine evolutionäre Entwicklung des Russischen Reiches. Schon weil er die Häuslichkeit seiner Familie höher stellte als Repräsentationspflichten, mit denen moderne Monarchen die öffentliche Meinung zu ihren Gunsten beeinflussen, war er für die Position des Zaren eine glatte Fehlbesetzung. Seine tiefe, unbestreitbare, aber irgendwie außerweltliche Religiosität prädestinierte ihn nicht für die Rolle eines Monarchen in einer sich schnell wandelnden Gesellschaft. Schicksalsschläge und politische Mißerfolge nahm er als Fügungen Gottes. Politische Entscheidungen konnten nicht einfach falsch oder richtig sein, sondern nahmen den Charakter von gut oder böse an. Gerade auch die absolute Monarchie betrachtete er als von Gott geschaffen und deshalb als indisponibel. Es quälte sein Gewissen, daß er mit seinem Manifest vom 17. 55

Oktober 1905 die Teilkonstitutionalisierung des Systems erlaubt hatte. Der zunehmenden Anonymisierung, Bürokratisierung und auch >Parlamentarisierung< des politischen Prozesses suchte er - gegründet auf seine religiösen Vorstellungen von einem sehr eigenartigen Gottesgnadentum - durch eine mystische, oder auch nur symbolisch zu nennende Kommunikation mit dem Volk entgegenzutreten. Ein erstes Beispiel hierfür war die große Wallfahrt aus Anlaß der von ihm gegen den Willen des Hl. Synod durchgesetzten Heiligsprechung des Seraphim von Sarow. An der Spitze einer Schar von weit über Hunderttausend Gläubigen zog er zu Seraphims Einsiedelei und empfing dort, mitten unter einfachen Bauern das Abendmahl. Dieser theokratische >Gang ins VolkZar< zu stilisieren und wurde oft als >Zar Boris< tituliert. In seinem letzten Wahlkampf ließ sein Team verlauten: »Boris ist ein Zarenname!« Das Bedürfnis nach der zarenähnlichen Vaterfigur scheint unstillbar, und die Versuchung, es zu befriedigen, ununterdrückbar. Aber beide sind schädlich, weil sie einer durchgreifenden Demokratisierung im Wege stehen. Teile dieses Beitrags sind mit freundlicher Genehmigung des Muster-Schmidt Verlages aus der Einleitung zu Heinz-Dietrich Löwe: Stalin. Der entfesselte Revolutionär, Göttingen / Zürich 2001, entnommen.

Weiterführende Literatur Hagen, Manfred: Die Entfaltung politischer Öffentlichkeit in Rußland 19061914. in: Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa Bd. XVIII. Wiesbaden 1982 Haimson. Leopold: Das Problem der sozialen Stabilität im städtischen Rußland 1905-1917, in: Geyer, Dietrich (Hg): Wirtschaft und Gesellschaft im vorrevolutionären Rußland. Köln 1975, S. 304-332; dort auch weitere wichtige Aufsätze. Haumann, Heiko / Plaggenborg, Stefan (Hg): Aufbruch der Gesellschaft im verordneten Staat. Rußland in der Spätphase des Zarenreiches. Frankfurt/ M. 1994. Kappeier. Andreas (Hg): Die Russen. Ihr Nationalbewußtsein in Geschichte und Gegenwart. Köln 1990. Katkov. George / Oberländer, Erwin u.a.(Hg): Rußlands Aufbruch ins 20. Jahrhundert. Tatsachen und Legenden. Ölten 1970 Löwe, Heinz-Dietrich: Die Lage der Bauern in Rußland 1880-1905. Wirtschaftliche und soziale Veränderungen in der ländlichen Gesellschaft des Zarenreiches. St Katharinen 1987. -: Von der Industrialisierung zur ersten Revolution. 1890-1904. in: Handbuch der Geschichte Rußlands. Bd.3.1. Stuttgart 1981. S.204-335. Steffen. Thomas: Die Arbeiter von St. Petersburg 1907-1917. Soziale Lage. Organisation und spontaner Protest zwischen zwei Revolutionen, Freiburg 1985. 57

Gottfried Schramm Die revolutionäre Bewegung als langer Vorlauf des Roten Oktobers 1992 erschienen die ersten beiden Bände eines amerikanischen Werkes über die Russische Revolution in deutscher Übersetzung. Der erste Band behandelt den Verfall des Zarenreichs, während der zweite die gleiche Geschichte ein zweites Mal, aus anderem Blickwinkel, erzählt: als Siegeszug der Bolschewiki. Der Verfasser, Richard Pipes, ist einer der in der Welt bekanntesten, produktivsten und stimmgewaltigsten Spezialisten für die neuere Geschichte Rußlands. Wie stellt er in seinem zweiten Bande die Bolschewiki dar? Sie schrumpfen in seiner Darstellung auf die eine Führergestalt Lenins zusammen, der, sobald er die Zügel des Staates in der Hand hält, ein Machthaber von ganz neuem Zuschnitt wird: bedenkenlos, zielstrebig wie seiner Zeit Robespierre, aber noch weit radikaler in die Gesellschaft eingreifend als der Jakobiner. Lenin kann sich durchsetzen, weil in dem politisch unterentwickelten, durch den Weltkrieg ruinierten Rußland niemand ihm Einhalt zu bieten vermag. Sein Marxismus ist keine fundierte Weltanschauung, sondern ein Anstrich. In Wirklichkeit geht es ihm bloß um die Eroberung der Macht. Dieses schwarze Bild der Roten Revolution wurde von einem gebürtigen Polen gezeichnet, dem man anmerkt, daß die russische Unterdrückung seines Landes vor 1914 und die von ihm selber miterlebte Katastrophe von 1939, zu der Stalin beigetragen hatte, in ihm nachwirkt. Man spürt aber auch den Berater jenes Präsidenten Reagan durch, zu dessen Politik es gehörte, die sowjetische Konkurrenzmacht zum bösen Riesen einzuschwärzen. Als die beiden ersten Bände von Pipes' monumentalem Werk auch auf Deutsch erschienen, waren das Sowjetsystem und die Sowjetunion gerade auseinander gebrochen. So las ich das Buch, zu einer Rezension aufgefordert, als Zeugnis einer Weltzeit, die glücklicherweise gerade hinter uns lag. Was der gründliche Kenner Pipes schreibt, erschien mir keineswegs falsch, aber einseitig und verkürzt. Wenn er die Wesensart der 58

Russen und ihre sozialen Schichten in knappe Formen zwängt, klingen seine Worte manchmal geradezu abschätzig oder gar wegwerfend. Daß es neben schweren Schäden des ausgehenden Zarenreiches auch - von Pipes und anderen unterbewertet - bemerkenswerte Stärken gab, hat Heinz-Dietrich Löwe im vorausgegangenen Beitrag erläutert. Jetzt soll es uns darum gehen, die Bolschewiki in einem anderen Lichte zu sehen, als in der Ära von Ronald Reagan üblich. Gerade weil das Sowjetsystem seine Schrecken für uns, seine langjährigen westlichen Gegenüber verloren hat, können und sollen wir uns unbefangenere Gedanken über die 1917 einsetzende Neuordnung und über die Gründe machen, die sie immerhin siebzig Jahre alt werden ließen. An den Sozialismus, wie ihn die Bolschewiki in die Tat umsetzten, haben nicht nur die Anhänger im eigenen Lande geglaubt, sondern über die ganze Welt verteilt, Millionen von Menschen, die von dem Prinzip der politischen Demokratie enttäuscht waren, weil es die soziale Ungleichheit ausklammerte. Daß in den 1929 beginnenden Jahren der Weltwirtschaftskrise, in der die Arbeitslosen zu Millionenheeren anschwollen, die Sowjetunion eine Industrialisierung vorantrieb, die Millionen neuer Arbeitsplätze aus dem Boden stampfte, schien neue Gründe für die Annahme zu liefern, im ersten sozialistischen Staate der Erde sei der Mensch endlich von den dumpfen Zwängen und Zyklen der kapitalistischen Wirtschaft frei und autonom geworden. Für die Sowjetunion sprach dann 1941 bis 1945, daß ihre Truppen es waren, die Hitlers Siegeslauf zum Stehen brachten und schließlich Berlin eroberten. Und als Mao dann 1949 seine Fahnen in Peking aufpflanzte, da gab es namentlich in den unterentwickelten Ländern viele, die den Triumph des Sozialismus auf dem ganzen Globus nahe glaubten. Diese welthistorischen Siege sind nicht vom Himmel gefallen, und wir gewinnen nichts, wenn wir den Roten Oktober zum Erfolg eines gescheiten, skrupellosen Technikers der Macht schrumpfen lassen, der dann in Asien gelehrige Schüler fand. Die Machtergreifung vom Oktober 1917 - oder, in unseren Kalender übersetzt, vom November 1917 - ist nicht, wie man das für 1933 für Deutschland behaupten könnte, einigen Konjunkturrittern in einer gesellschaftlichen Notsituation gelungen, sondern den Bewahrern und Fortsetzern einer langen revolutionären Tradition. Die Bolschewiki bezogen das unerhörte Selbstbewußtsein, mit dem sie den So59

zialismus in Rußland aufrichteten, und ihre beeindruckende Tatkraft nicht zuletzt aus der Gewissheit, sie lösten endlich ein, wofür zwei Vorgängergenerationen gekämpft und gelitten hatten. Sie allein seien dem radikalen, aufs Ganze gehenden Ansatz treugeblieben, mit dem die Revolutionäre der sechziger und siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts angetreten waren. Der Vorlauf, der dem Oktober 1917 voranging, dauerte kaum kürzer als das Sowjetsystem. Durch über sechzig Jahre zieht sich das zähe Ringen von verschworenen, zu jedem Opfer bereiten Kämpfern, die sich auch dann nicht entmutigen ließen, als ihr Ziel in weite Ferne rückte. Die Gewalttätigsten unter den Revolutionären haben für ihre Taten den Galgen bestiegen. Tausende, die in die Fänge der Polizei gerieten, wurden für Jahre nach Sibirien verschickt. Sehr viele landeten im westeuropäischen Exil, wo sie unter kümmerlichen Lebensbedingungen versuchten, aus der Ferne für den Umsturz in ihrer Heimat zu wirken. Der Vergleich ist schon damals angestellt worden: So wie die ersten Christen mit ihren Martyrien den Sieg ihrer Religion über das Römische Reich vorbereiteten, so bereitete der Leidensweg der revolutionären Sozialisten den Roten Oktober vor. Die Nazis, die 1933 zur Macht gelangten, waren wenige Jahre zuvor noch belächelte Außenseiter. Ehe die Weltwirtschaftskrise ausbrach, war die deutsche Gesellschaft eben noch nicht oder doch nicht sichtbar auf der schiefen Ebene einer voranschreitenden Radikalisierung. Die Bolschewiki stehen dagegen in einer Tradition von Radikalismus, der als ein Strang unter anderen, wenn auch nicht als Dominante, seit 1861 eines der auffälligsten Grundmerkmale der ausgehenden Zarenzeit darstellt. Neben den Wandel durch friedliche Reformen, die 1855 angegriffen wurden, trat schon wenig Jahre später die Gegenüberzeugung, das Bestehende müsse vielmehr mit Gewalt beseitigt werden. Evolution und Revolution wurden zu zwei miteinander wetteifernden politischen und sozialen Programmen. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges sprach vieles für den Sieg der Evolution. Aber dann überforderte der unselige Waffengang das Land und ließ die Waage anders ausschlagen. Im Februar 1917 stießen die Volksmassen von Petrograd, ausgezehrt durch den nicht enden wollenden Krieg und verbittert durch ein reaktionäres Regime, den Thron der Zaren um. Sechs Monate lang, zwischen dem Früh60

jähr und dem Herbst 1917, ging es in Rußland noch einmal, und zwar radikaler als je zuvor, um Reformen, deren Leitziele jetzt Demokratie und soziale Gerechtigkeit waren. Aber am Ende stand ein Herrschaftswechsel, der in einer für die Weltgeschichte unerhörten revolutionären Konsequenz mit dem Bestehenden brach. Wer an der Spitze dieses Wagnisses stand, soll uns im folgenden beschäftigen. Aus welchem sozialen Milieu, aus welchem geistigen Umfeld stammte Wladimir Iljitsch Uljanow, der während der Kampfjahre in der Illegalität den Tarnnamen Lenin annahm? Für die - mehr und meistens weniger - gebildeten Russen, die um 1860 in einer radikalen Kritik an den Verhältnissen zusammenfanden, hat sich auch in der westlichen Literatur das Etikett Intelligentsia, ein damals in Rußland aufkommender Ausdruck, eingebürgert. Er bezeichnet im sozialen Spektrum eine Schicht, die sich weit weniger als die Intelligenzberufe im Westen aus dem Bürgertum rekrutierte und nicht, wie dieses einen soliden, geachteten Teil der bürgerlichen Gesellschaft darstellte, der sein Geld in respektablen Berufen verdiente. Die Intelligentsia wuchs statt dessen in einem sich rasch modernisierenden Rußland, wo es kaum bürgerliche Traditionen gab, aus Elementen sehr verschiedener sozialen Herkunft zusammen. Die mußten sich - oft kümmerlich genug - als Journalisten, kleine Beamten und Angestellte oder als Lehrer durchschlagen. Kein sozialer Status und keine gesicherte Position verbanden die Mitglieder der Intelligentsia. Ihre Klammer war vielmehr das Bewußtsein, die bestehende Ordnung sei im Kern faul und die halbherzigen Reformen des Regimes ein Verrat am Volk. Zum Zankapfel, über den sich die Anhänger gemäßigter Reformen und die Parteigänger einer sozialen Umwälzung endgültig zerstritten, wurde die Freisetzung der leibeigenen Bauern, die der Zar 1861 anordnete. Die Bedingungen, unter denen der längst fällige Umbau der ländlichen Gesellschaft nun endlich stattfinden sollte, kam nach Meinung der radikalen Intelligentsia dem grundbesitzenden Adel viel zu weit entgegen. Die wahre, die ganze Befreiung der Bauern wurde zum Urprogramm der Radikalen, das bis 1917 von allen Gruppen der sozialistischen Linken, aber seit 1905 sogar von den linksliberalen Bürgerlichen bejaht wurde. Damit entwickelte sich ein Agrarsozialismus, der in Mittel- und Westeuropa fehlte, in Rußland zu einem spezifisch osteuropäischen Merkmal linker Politik. Die Forderung 61

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lautete: der Adel, der Staat und Kirche - sie alle sollten ihren Landbesitz an die Bauern abtreten. Die Radikalen von etwa 1860 gehörten zur Denkrichtung der sogenannten Westler, die - anders als ihre slawophilen, russische Traditionen verherrlichenden Kontrahenten - das zeitgenössische Zarenreich scharf kritisch beäugten. Sie beklagten das bürokratische Regime, die Adelsherrschaft, aber immer eindeutiger auch den aufkommenden Kapitalismus und seine Profitgier. Westler und Slawophile, Radikale und Gemäßigte aber war das Ziel gemeinsam, die russische Bauerngemeinde zu erhalten, in der das Land allen gehörte und in regelmäßigen Abständen neu unter den Dorfgenossen verteilt wurde. Aus diesem angeblichen Erbe von agrarischem Urkommunismus wollten die Radikalen oder, was damals ungefähr dasselbe bedeutete, die russischen Sozialisten - anders als die sozialkonservativen Slawophilen - die sozialistische Gesellschaftsordnung der Zukunft herausentwickeln. Dieses Programm war in doppelter Weise auf Europa bezogen. Nur, wenn eine russische Revolution Unterstützung aus dem Westen bekommen würde, werde ihr ein dauerhafter Erfolg beschieden sein. Umgekehrt glaubte man dem viel weiter entwickelten Westen einen wesentlichen Dienst erweisen zu können. In Frankreich und Deutschland war die Befreiung der Volksmassen nämlich, so glaubten die Linken in Rußland, im Jahre 1848 steckengeblieben, weil die kleinmütigen Kapitalisten sich während der beiden wildbewegten Revolutionsjahre vom Gang des Fortschritts abkoppelten. In Frankreich suchten sie Schutz bei einem starken Mann, dem Neffen des Kaisers Napoleon. Nach dem beschämend-kläglichen Ausgang eines großen revolutionären Aufbruchs sei es jetzt Aufgabe der russischen Intelligentsia, die Fackel weiterzutragen und eines Tages vom Rande Europas in seine Mitte zurückzubringen. Es macht der damals noch jungen russischen Geschichtswissenschaft alle Ehre, daß sie unverzüglich die Thesen, die auf der Linken über die angeblich alterwürdige Verfassung der russischen Bauerngemeinde vertreten wurde, als Romantisierung entlarvte. In Wirklichkeit handle es sich um eine Zwangseinrichtung, die der Staat im 17. Jahrhundert eingeführt habe, um die Bauern in die gegebene Ordnung einzubinden. Aber die Linken waren Ideologen und keine Forscher und haben sich schlankweg gegen das berichtigte Bild gesperrt. 62

Die seit 1881 ernüchterten russischen Linken spürten bis in die neunziger Jahre, das Regime sei zwar vorerst stark genug, um die große Revolution zu verhindern. Doch kamen die Verhältnisse seit der zweiten Hälfte der achtziger Jahre in deutlichen Fluß. Die agrarsozialistische Richtung, mit der die revolutionäre Bewegung begonnen hatte und die nun im Streit mit der marxistischen Konkurrenz lag, hatte den Anfangsvorteil, daß sie sehr auf die Bauern setzte, die es schon gab. Dagegen standen die Marxisten, die seit den achtziger Jahren allmählich Boden gewannen, vor der Schwierigkeit, daß ein städtisches Proletariat, wie sie es für ihr Revolutionskonzept brauchten, erst in bescheidenen Ansätzen bestand. Das änderte sich seit Mitte der achtziger Jahre rasch, und die Marxisten konnten sich durch fleißige Zirkelarbeit unter den großstädtischen Industriearbeitern um die Ausbildung eines neuen proletarischen Bewußtseins bemühen. Daß es dabei nicht ohne Reibungen abging, weil die Arbeiter keineswegs immer auf der Linie der Intellektuellen lagen, hat gerade der anfangs erwähnte Richard Pipes zum Ärger der Sowjetforschung überzeugend nachgewiesen. Auch wenn die Revolutionäre ein Strang am Rande der russischen Gesellschaft blieben, haben sie doch unbestreitbar gefördert, daß sich seit Mitte der neunziger Jahre die Überzeugung ausbreitete, Rußland müsse nun endlich sein Gesicht gründlich wandeln. Das galt sogar für die Terroristen, deren Aktivität um 1900 wieder auflebte. Die illegalen sozialistischen Gruppen haben, wenn auch keineswegs alleine, dazu beigetragen, daß 1905 die erste große Revolution, die Europa seit 1848 erlebte, gerade in Rußland ausbrach. Diese gewaltige Erschütterung führte zum Erlaß von Grundgesetzen, zu einer gewählten Volksvertretung mit gesetzgebender Funktion und damit zu einer tiefgreifenden Reform des Staatsaufbaus. Wie bringen wir Lenin und seine Bolschewiki im Spektrum der politischen Öffentlichkeit Rußlands unter? Er war der Sohn eines verdienten, geachteten Schulbeamten, der sich aus kleinen Anfängen weit nach oben gearbeitet hatte. Daß fast alle Kinder dieser Respektperson der zarischen Gesellschaft sich für die Sache der Revolution entschieden, beruht - und das ist für das damalige Rußland geradezu typisch - nicht etwa darauf, daß diese Familie etwa persönlich Gründe gehabt hätte, die herrschenden Zustände zu beklagen. Das Gegenteil war der Fall. Die Uljanows sind bezeichnende 63

Beispiele dafür, daß die Revolutionäre des Zarenreichs kein selbsterfahrenes Unrecht ahndeten, sondern sich in den Dienst von schwer arbeitenden Massen stellten, über die sie selber weit sozial hinausgehoben waren. Die Radikalen enthüllen sich als Idealisten reinsten Wassers, auch wenn sie, wie Lenin, in der Regel beteuerten, sie seien strenge Materialisten. Lenins älterer Bruder ist, nachdem er, neunzehn Jahre alt, versucht hatte, den Zaren Alexander III. mit einer Bombe zu töten, aufgehängt worden. Wladimir ist seinem Bruder Szascha ohne Verzug und ohne jemals zu wanken gefolgt, allerdings unter Abkehr vom Terrorismus, den er für den falschen Weg hielt. Mehrere Schriftsteller seines Landes, die dem radikalen Denken in den sechziger Jahren die Bahn gebrochen hatten, wurden für Lenin wegweisend, bevor er Marx las. Er empfand sich als Fortsetzer des langen Vorlaufs. Den Marxismus hat er sich dann gründlich zu eigen gemacht. Er hielt sich für einen marxistischen Orthodoxen, dem aber gerade durch Marx die Möglichkeit freigegeben wurde, ohne dogmatische Scheuklappen so zu handeln, wie es die jeweilige Lage erforderte. Am Vorabend der Oktoberrevolution, in seinem finnländischen Versteck, hat er noch einmal genau studiert und kommentiert, was Marx und Engels über die Durchführung der Revolution und die Diktatur des Proletariats, die ihr folgen sollte, hinterlassen hatten. Aber er war alles andere als ein sklavischer Folger. Sein Handeln war, wie immer, auf die spezifische Situation bezogen, die er mit Scharfsinn analysierte. 1905 sind ihm dabei noch größere Irrtümer unterlaufen, während 1917 sein Kalkül vollständig aufging. Welchen Lebensweg hatte der nunmehr 47-Jährige hinter sich? Lenin durchlief die Bildbuchkarriere eines russischen Revolutionärs. Statt geradezu auf einen bürgerlichen Beruf hinzusteuern, den man sogar dem Bruder eines gehängten Terroristen nicht verwehrt hätte, beteiligte er sich schon in seinem ersten Universitätssemester an einer studentischen Protestversammlung. Das kostete ihn sogleich den Studienplatz. Nachdem er sein Juraexamen als Externer abgelegt hatte und Rechtsanwalt in Petersburg geworden war, engagierte er sich in illegaler linker Zirkelarbeit und wurde von der Polizei schon bald ausgehoben. Nach drei Jahren Verbannung in Sibirien wählte der Rückkehrer - wie so viele, die sich unter dem wachsamen Auge der Geheimpolizei keine Chancen mehr ausrechneten das westeuropäische Exil. Aus dem ist er nur während der kurzen 64

Freiheit der Revolutionszeit von 1905 bis 1906, wieder nach Rußland zurückgekehrt. In den Jahren des Exils lernte Lenin die deutsche Sozialdemokratie als den größten geschlossenen Block des europäischen Sozialismus kennen und achten. Sie inponierte ihm als eine einzigartig geschlossene Organisation, die über alle Richtungsstreit hinweg ihre Einheit aufrechterhielt. Lenin hat die Großorganisation SPD bewundert, aber ist selber einen anderen Weg gegangen. Er sah die kleine, auf die Heimat und das Exil verteilte russische Sozialdemokratie stets von Tendenzen bedroht, die ihre Radikalität gefährdeten. Um der radikalen Linie, die für ihn zum unaufgebbaren Erbe der revolutionären Bewegung gehörte und nach seiner Meinung allein in der Lage war, den großen, notwendigen Umschwung herbeizuführen, hat so entschlossen wie kein anderer die Spaltung der Partei in Bolschewiki und Menschewiki forciert. Nur aus taktischen Gründen nahm er in Kauf, daß die formale Einheit vor dem Ersten Weltkrieg wiederhergestellt wurde, weil die Kräfte überwogen, denen ein organisatorischer Zusammenhalt der russischen Marxisten wichtiger war als eine reine Lehre. Lenin wußte, wie wenig dies den deutschen Sozialdemokraten gefiel, die sich der russischen Schwesterpartei kameradschaftlich annahm. Er aber war und blieb ein Unbedingter, der sich lieber von bisherigen Weggefährten trennte, als einen tieferreichenden Meinungsstreit in den eigenen Reihen hinzunehmen. In seiner Unbedingtheit sah er sich im August 1914 schlagartig bestätigt. Noch eben hatte die SPD mit den Sozialisten aller europäischen Länder in brüderlicher Eintracht gegen den drohenden Ausbruch des Weltbrands demonstriert. Dann aber, als das Schreckliche eintrat und die Geschütze zu feuern begannen, stimmte die SPD, die zahlenstärkste Fraktion des Berliner Reichstages, am 4. August 1914 für die Bewilligung von Kriegskrediten. Das zog sogleich entsprechende Entscheidungen der sozialistischen Fraktionen in den anderen kriegführenden Staaten nach sich. Lenin, der die Nachricht aus Deutschland als Emigrant in Österreichisch-Galizien las, wollte erst seinen Augen nicht trauen. Dann aber packte ihn ein unbändiger Zorn, der alle bisherige Hochachtung vor der SPD hinwegfegte. Rasch entschlossen begab er sich aus dem Habsburgerreich, wo man ihn nicht frei hätte wirken lassen, in die Schweiz. Von dort rief er die Sozialisten aller Länder auf, den Kampf gegen das ungeheure 65

kapitalistische Verbrechen des Krieges zu eröffnen. Er war dabei, als sich einige wenige Abweichler vom Parteikonformismus im September 1915 und April 1916 in der Schweiz trafen und eine gemeinsame Linie verabredeten. Hier kam Lenin zugute, daß seine Sache stets ein radikaler Kurs und die Ablehnung jeglicher Kompromisse gewesen war. Aber während den anderen Abweichlern von der Parteilinie, die in der Schweiz berieten, in humanitärer Betroffenheit vor allem daran gelegen war, dem Massenmord auf den Schlachtfeldern Einhalt zu gebieten, ging es dem kühlen, weitblickenden Strategen aus Rußland nur darum, die bestehenden Apparate der linken Parteien zu zerschlagen und eine neue, radikale Internationale aufzubauen. Der Weltkrieg, in dem die meisten Sozialdemokraten ein schreckliches Unglück sahen, erschien ihm als eine große revolutionäre Chance. Doch bei allen Hoffnungen, der Krieg habe die sozialistische Revolution näher gerückt: als die Februarrevolution von 1917 dem zarischen Regime den Garaus machte, war Lenin noch immer ein machtloser Zirkelpolitiker im Abseits des Schweizer Exils. Nun jedoch kehrte er, als die deutsche Führung ihm die Rückkehr ermöglichte, in sein Vaterland mit dem Bewußtsein zurück, daß er mit seiner Radikalität gegen eine Welt von Andersdenkenden recht behalten hatte. Diese Überzeugung beflügelte sein Selbstvertrauen. Die Bolschewiki, die sich aus dem Untergrund, aus dem Exil und aus sibirischer Verbannung wieder sammelten, schwor er auf einen Kurs ein, der jegliche Zusammenarbeit mit der Provisorischen Regierung verwarf, obwohl diese eine demokratische Erneuerung des Landes einleitete. Die Bolschewiki kehrten im Frühjahr 1917 als Außenseiter auf die Bühne von Petrograd zurück. Wenn es ihnen in einem halben Jahr gelang, sich in die Machtmitte vorzuschieben, dann, weil ihre Radikalität sich mit einer anderen, wachsenden Radikalität verband, die Pipes in seinem Buch - zum Nachteil für das Bild, das er zeichnet! - ausblendet. Petrograd, wo Rußlands Schicksal sich entschied, war das Zentrum seiner Schwerindustrie. Die Arbeiter in den großen, modernen Maschinenfabriken mit ihren in die Tausende gehenden Belegschaften waren unter dem zarischen Regime derjenige Bevölkerungsteil, der in der schärfsten Opposition verharrt hatte. Weil die schlechte Ernährung, die auszehrende Arbeit und die quälende Länge des Krieges sich auch nach dem Sy66

stemwechsel fortsetzten, wuchs auch die Radikalität der Arbeiter. In Fabrikkomitees schufen sie sich eine zweite, noch basisnähere Plattform, neben der Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten von Petrograd. Aber auch der Sowjet rückte allmählich weiter nach links. Lenins neuer Bundesgenosse, Leo Trotzki, das Genie der praktischen Revolution, konnte als Vorsitzender dieses Rates seit September 1917 den Umschwung einleiten, während der seit dem Juli polizeilich gesuchte Lenin sich noch in Finnland verstecken mußte. Die Oktoberrevolution war eine perfekte Inszenierung: in der Art ihrer Organisation ein Staatsstreich der Bolschewiki. Aber wie kein Staatsstreich vor ihr machte sie sich eine mächtige Massenbewegung und ihre spontanen Organisationsformen zunutze. Die Eroberung der Macht wurde zeitlich so platziert, daß der Zweite Allrussische Rätekongreß, der am 25. Oktober 1917 zusammentrat, zum neuen Träger der Staatsmacht erklärt werden konnte. Seit 1905, als sich zum erstenmal Räte in Rußland bildeten, gehörte es zu deren Selbstverständnis, daß sie politisch links standen, aber sich vom Parteienstreit zwischen verschiedenen sozialistischen Richtungen freihalten wollten. Es war die taktische Meisterleistung der Bolschewiki, daß sie bei ihrer Machtergreifung nicht ihre Partei, sondern eben die überparteilichen Räte in den Vordergrund schoben, aber peinlich darauf achteten, daß sie selber und niemand anders darin das Sagen hatten. Ohne das landesweite Netz von Arbeiterräten, in deren große, manchmal übergroße Gremien eine Menge von politisch Aktiven eingebunden und eingeübt war, hätten die Bolschewiki nur schwer regieren können. Denn ihre Parteiorganisation steckte erst in den Anfängen. Außerdem war es von nicht geringer Werbekraft, daß sie den neuen Staat, den sie aufrichteten, als Republik der Räte, als Sowjet-Rußland ausgeben konnten. Mit der russischen Intelligentsia, wie sie sich um 1860 abzuzeichnen begann, haben unsere Überlegungen angesetzt. Zu diesem Ausgangspunkt sollen sie zurückkehren. Am Anfang hatte sich eine wachsende Zahl von jungen Menschen, die keinen festen Ort im vorhandenen Gefüge, weder in der traditionellen Adelsgesellschaft noch in einem noch jungen bürgerlichen Milieu besaßen, in einer oft schroffen Ablehnung der herrschenden Verhältnisse zusammengeschlossen. Aus dieser Stimmung sind in den siebziger Jahren 67

Gruppen von entschlossenen Terroristen hervorgegangen, denen im Februar 1881 die Ermordung Kaiser Alexanders II. gelang. Für Lenin war sein Bruder Szascha, der als Terrorist hingerichtet wurde, das heroische Vorbild, auf das er sein Leben ausrichtete. Von den Terroristen übernahm er nicht die Taktik, sondern setzte er, wie alle anderen Marxisten, auf eine politische Schulung des werdenden Proletariats. Aber von der ersten Generation der Revolutionäre bewahrte Lenin mit großer Konsequenz ihre Radikalität, mit der er dieser in den sechziger und siebziger Jahren angetreten war. Ja, er teilte ihre tiefe Abneigung gegen den Liberalismus, der ihm stets nach Bürgertum, Kapitalismus und faulem Kompromiß roch. Die Provisorische Regierung, die er im Oktober 1917 verjagte, war aus einem Bündnis von Liberalen und Linken hervorgegangen, die in dem gemeinsamen Wunsche nach demokratischer Erneuerung zusammengefunden hatten. Diese Regierung war unter dem Druck der Massen allmählich immer weiter nach links gedriftet. Sozialisten von teils menschewistischer, teils agrarsozialistischer Ausrichtung stellten schließlich die Mehrheit ihrer Minister. Der Rest vertrat nicht etwa, wie Lenin ihm unterstellte, das Kapital, sondern ebenfalls die Intelligentsia, nur ohne ausgesprochen sozialistische Färbung. Die Zusammensetzung der Regierung, die 1917 mit einer großen Zahl von Reformgesetzen aufwarten konnte, läßt erkennen, daß ein erheblicher Teil der russischen Sozialisten von der doktrinären Radikalität der Aufbruchsjahre abgerückt war. Aus den Revolutionären waren in einem deutschen Sinne koalitionsbereite Sozialdemokraten geworden. Das Arbeitsbündnis zwischen linken Liberalen und nichtbolschewistischen Sozialisten hätte, wie die im Oktober bereits anlaufenden Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung zeigen sollten, die große Mehrheit des Volkes hinter sich gehabt. Gesiegt aber hat mit dem genialen Revolutionsstrategen Lenin die radikale Variante der revolutionären Tradition, der es nicht um die Demokratie und nur aus taktischen Gründen um die Verteilung allen Landes an die Bauern ging. Die Bolschewiki wollten eine völlig neue Gesellschaft. Die haben sie in der Tat geschaffen. Die Aufgabe war schwieriger als vorausgesehen. Denn die schon von den Revolutionären um 1880 gehegte Hoffnung, ein Brand, der im zurückgebliebenen Rußland entflammte, werde auf den entwickelten We68

sten übergreifen und eine Weltrevolution entzünden, erwies sich erneut als Illusion und zwar gleich zweimal: 1917 bis 1918 und 1919 bis 1923. Die Bolschewiki blieben trotz allem, was sie waren: radikale Umgestalter, deren Durchgriff nicht, wie für bisherige Revolutionen typisch, mit der Zeit erschlaffte. Was Lenin eingeleitet hatte, wurde von seinem Schüler Stalin in einer noch radikaleren Weise fortgesetzt.

Weiterführende Literatur Geyer, Dietrich: Die Russische Revolution. Historische Probleme und Perspektiven, Göttingen 31980. Hildermeier, Manfred: Die Russische Revolution 1905-1921, Frankfurt a.|M. 1989. Pipes, Richard: Die Russische Revolution, 2 Bde., Berlin 1992-1993. Schramm, Gottfried: Lenins Elternhaus, in: Auerbach, Inge (Hg): Felder und Vorfelder russischer Geschichte. Studien zu Ehren von Peter Scheibert, (1985), S. 148-159.

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Stefan Plaggen borg Macht und Ohnmacht der Sowjetunion 74 Jahre hat die Sowjetmacht in Rußland gedauert, vom Oktober 1917 bis zum Dezember 1991. Unspektakulär trat die Sowjetunion im Verlauf der osteuropäischen Revolutionen von der politischen Bühne ab. 1991 verschwand ein System, das weder durch einen äußeren Feind noch durch einen Aufstand der Gesellschaft hinweggefegt wurde, sondern das in sich zusammensackte, weil alle tragenden Säulen morsch geworden waren und das schwergewichtige Gebäude Sowjetunion mit dem gewaltigen Anbau des Sowjetimperiums nicht mehr tragen konnten: ein perfekter systemischer Kollaps. Dieses Ende eines großen historischen Experiments paßt nicht zu den teilweise enthusiastischen Anfängen. Im Oktober 1917 feierten nicht nur aufgebrachte, dem Sozialismus anhängende Arbeiter in den großen russischen Industriestädten den Sieg der Bolschewiki über eine verschlissene Regierung, die nicht in der Lage gewesen war, die großen Probleme des Landes zu lösen. Auch viele Intellektuelle, die bald unter den Kommunisten leiden sollten, sahen kaum eine andere Alternative zu den verbrauchten und kompromittierten politischen Kräften im Lande als die Kommunisten. Und vergessen wir nicht: Im Westen, besonders in Deutschland, traf die Oktoberrevolution auf große Resonanz sozialistisch gesinnter Arbeiter und Intellektueller. Tausende zog es nach 1917 aus kapitalistischen Ländern in die UdSSR, dem vermeintlichen sozialistischen Paradies. Der Sozialismus - dies sollten wir in der Rückschau nicht vergessen - bildete nach dem Ersten Weltkrieg keineswegs nur für die Zukurzgekommenen der Gesellschaft eine Alternative zur bürgerlichen Welt, die zwischen Materialschlachten und Kriegsinteressen zivilisatorisch zerrieben worden war. Es gehört jedoch zu den erstaunlichsten frühen Leistungen der Bolschewiki, Illusionen über den Sozialismus rasch zerstört zu haben. Das unrühmliche Ende der Sowjetunion hat den Sozialismus dis70

kreditiert. Die große Alternative des 20. Jahrhunderts, Kapitalismus oder Sozialismus, stellt sich nicht mehr. Prophetisch hatte die sowjetische Propaganda sinngemäß stets behauptet: Der Kapitalismus steht am Rande des Abgrunds, aber wir werden ihn überholen! Soweit ist es nicht einmal gekommen. Warum brach die Sowjetunion zusammen? Und warum hat kaum jemand diesen Kollaps kommen sehen? Wie ist zu erklären, daß sich die Meinung halten konnte, die UdSSR sei ein stabiler Staat, den anzuerkennen nur ein paar unverbesserliche Antikommunisten sich weigerten? Es ist schon erstaunlich, daß Mitte der siebziger Jahre die UdSSR in der internationalen Politik glänzte und kaum jemand ernsthaft daran dachte, daß dieses System sechzehn Jahre später ein Fall für die Historiker sein könnte. Der sowjetische Dissident Andrej Amalrik brachte es auf den Punkt: »Kann die Sowjetunion das Jahr 1984 erleben?« orakelte er orwellisch, sich um sieben Jahre verrechnend. Alle Antworten auf diese Fragen führen zurück auf das Generalproblem der Sowjetunion: auf den strukturbildenden Stalinismus und die gescheiterten Versuche, ihn zu überwinden. Alle Sowjetgeschichte nach 1953, also nach Stalins Tod, ist die Geschichte des Versuchs, vom Stalinismus wegzukommen. Alle Grundprobleme der sowjetischen Wirtschaft, des Staates und der Partei, des Alltagslebens, der Herrschaftslegitimation, der Ideologie und auch des sowjetischen Imperiums wurden im Stalinismus angelegt. Stalin hat die Strukturen geschaffen, unter denen das sowjetische System bis zum letzten Moment litt. Er hat die rigorose Planwirtschaft eingeführt, beginnend mit dem ersten Fünfjahrplan 1929; er hat die Landwirtschaft brutal und mit wirtschaftlich verheerenden Folgen kollektiviert, das private Bauerntum und den bäuerlichen Familienbetrieb auf Dauer vernichtet; er hat ein Machtsystem geschaffen, dessen wesentlicher Bestandteil der Terror und die Bespitzelung der Bevölkerung war; er hat die Gesellschaft, die sich im Zarenreich im Vergleich zu den westlichen Ländern verspätet herausgebildet hatte, atomisiert; er hat Herrschaftsverhältnisse geschaffen, die in »die da oben« und den Rest teilte; er meinte, die Probleme, die aus der Tatsache entsprangen, daß Rußland immer schon ein Vielvölkerreich war, auf brutal einfache Weise zu lösen. Er errichtete ein System von Lagern und Zwangsarbeit, das auf Terror gegen die Bevölkerung gründete und massenweise Menschen vernichtete. 71

In allen diesen Punkten lagen die zukünftigen fundamentalen Krisen der Sowjetunion bereits verborgen. Erstaunlich daran ist, daß wohl selten in der Geschichte ein derart komplexes System ökonomischer, sozialer und politischer Beziehungen - in sehr kurzer Zeit als Konstrukt menschlicher Vorstellungsmöglichkeiten errichtet - sich schon nach kurzer Erprobung als durch und durch untauglich erwies. Das ist ja der Grund, warum schon am Tag nach Stalins Beerdigung die Parteispitze daran ging, dieses System zu verändern. Es war zu einer Megamaschine geworden, die umzubauen am Ende nur um den Preis der Zerstörung des gesamten Apparats möglich war. So kommt es, daß die Geschichte der Sowjetunion nach 1953 im Grunde eine Geschichte der gescheiterten Entstalinisierung darstellt und zwar in dem Sinne, daß es nicht gelang, ernsthaft die fundamentalen Strukturen, die aus dem Stalinismus stammten, zu verändern. Zugleich entbehrt diese Geschichte nicht absurder Züge, denn diejenigen, die sich an die Reformversuche machten, bemerkten nicht, daß sie Teil dieses Systems waren und dessen zugrundeliegende Logik weiterführten. Sie waren eben nicht die Steuerleute des Apparats, wie sie meinten, sondern die stalinistische Maschine steuerte sie: Gefangene einer Maschine, die im Stalinismus zusammengebaut worden war, und - trotz aller Reformversuche in ihrer Grundstruktur unverändert - bis in das Jahr 1991 weiterrumpelte. Der strukturbildende Stalinismus hat Krisen heraufbeschworen, die zu überwinden die nachstalinistischc UdSSR nicht in der Lage war. Die wichtigsten will ich im folgenden kurz erläutern: 1. die gescheiterte Modernität in der Wirtschaft; 2. die Überlastung des Sozialsystems; 3. den Verlust der Legitimation, und 4. das überdehnte Imperium.

1. Die gescheiterte Modernität in der Wirtschaft Stalins seit 1929 durchgepeitschte Industrialisierung auf der Basis von Planwirtschaft hatte sich explizit zum Ziel gesteckt, den Rückstand gegenüber dem Kapitalismus aufzuholen und den ersten sozia11

listischen Staat zu einem starken Industriestaat zu machen. Aber diese Industrialisierung wurde zu einem großen Teil vernichtet. Am Ende des Zweiten Weltkrieges waren die ehemals von den Deutschen okkupierten Gebiete auf einen archaischen Stand zurückgeworfen. Beim Rückzug hatten die deutschen Truppen Tausende Dörfer und Städte verwüstet, fast sämtliche Industrieanlagen, die Bergwerke geflutet, landwirtschaftliche Betriebe, Straßen, Eisenbahnen und Brücken zerstört. Millionen Menschen hatten sie verschleppt. Millionen getötet. Die Bevölkerung war ausgehungert und traumatisiert. Millionen Menschen kehrten aus Gefangenschaft und Zwangsarbeit heim in die UdSSR, Millionen Menschen zogen aus dem Osten, wohin sie vor den Deutschen ausgewichen waren, in die zerstörte Heimat zurück. In weiten Gebieten hieß es, wie ein Entwicklungsland wieder von vorn anzufangen. Ohne die Segnungen des Marshall-Plans, die dem deutschen Aggressor und kosmetisch entnazifizierten Trizonesien zuflössen, versuchte die Sowjetunion den Neuanfang. Er begann mit einer ökonomischen und demographischen Katastrophe. In der Hungersnot 1946 starben die Menschen in Massen. Es war die dritte gewaltige Hungersnot in der damals drei Jahrzehnte währenden Sowjetgeschichte: 1921 starben etwa fünf Millionen Menschen, 1933 etwa sechs Millionen. 1946 nicht unter zwei Millionen. Rückschläge und Verluste führten dazu, daß die UdSSR ihre Industrialisierung erst in den späten sechziger Jahren abschloß. Die entscheidende Frage aber lautet: Hat die stalinistische Industrialisierung Modernität hervorgebracht? Die Antwort lautet: Nein. Unzureichend planbare Wirtschaft, bürokratischer Wasserkopf, große ökonomische Disproportionen, geringe Arbeitsproduktivität, hohe Selbstkosten, Ressourcenvergeudung, miserable Qualität der Produkte, Kapitalaufbringung durch die gnadenlose Ausbeutung der Landwirtschaft und durch den erzwungenen Konsumverzicht der Arbeiter sowie Zwangsarbeit in gewaltigem Ausmaß bildeten die Merkmale der stalinistischen Industrialisierung. Die verfehlte Modernität lag in der Art und Weise begründet, wie die stalinistischen Industrialisierungsschübe durchgeführt wurden. Stalin kopierte den westlichen Weg über einer Importmodernisierung, wodurch die materiale Zivilisation des Kapitalismus in den Sozialismus übertragen werden sollte. Und er gab sich 73

mit dem scheinbaren Triumph der Wachstumsziffern zufrieden. »Sovetskij amerikanizm« lautete das Zauberwort. Es handelte sich um ein Industrialisierungsimitat, das auf die bestehenden agrarisch geprägten Strukturen mit Brachialgewalt aufgestülpt wurde. Was an objektiven Voraussetzungen fehlte, wurde durch Mobilisierung der Menschen wettgemacht. Enthusiasmus ersetzte Qualifikation, der vordergründige Produktionserfolg zählte mehr als geregelte Arbeitsabläufe und Professionalität. Kritiker dieses Systems ließ Stalin erschießen. Als das stalinistische Modell nach 1945 auf die bereits industrialisierten osteuropäischen Staaten übertragen wurde, hat es lediglich dazu geführt, daß dort gigantische Industriemuseen entstanden. Auf diese Weise schuf der Stalinismus eine ökonomische Strukturkontinuität, die bis in die Perestrojka hinein nicht gebrochen werden konnte.

2. Die Überlastung des Sozialsystems In Zusammenhang mit der krisenhaften Wirtschaft stellte sich ein anderes Problem, das der Sowjetunion, je länger sie existierte, immer größere Schwierigkeiten bereitete. Wiederum war der Stalinismus die Ursache. Dies sei kurz erläutert: Die stalinistische Industrialisierung erfolgte unter ungeheuren Entbehrungen der Bevölkerung. Die Menschen lebten unter unwürdigen Bedingungen. Dies traf auch für die Arbeiterschaft zu, die doch die wichtigste Klientel der Kommunisten bildete. Allein die Führungsschicht der Funktionäre hatte es verstanden, das erbärmliche Lebensniveau des Volkes hinter sich zu lassen. Die Nachfolger Stalins hatten begriffen, daß auf Dauer kein Sozialismus bestehen würde, der sich auf die mit allen Mitteln erzwungene Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft gründete. Also versuchten sie, das jämmerliche Lebensniveau der Bevölkerung zu heben. Dieser spät eingetretene unbestreitbare Wandel der Politik zeigte aber schon bald seine Kehrseite, nämlich die Schwierigkeit, die Leistungen zu finanzieren. Die Sowjetunion trat in das Stadium der sozialen Überdehnung ein. Der Staat gab gigantische Summen aus, die von der staatlich gelenkten Wirtschaft auf Dauer nicht aufgebracht werden konnten. 74

Die Kosten der Sozialleistungen, besonders der Renten explodierten absolut und pro Kopf zwischen 1965 und Anfang der achtziger Jahre. Beispielsweise wurden 1965 von einem Tag auf den anderen über zwanzig Millionen Rentner in die Rentenkasse aufgenommen. Die Realeinkommen zogen kräftig an. Die jahrzehntelange Subventionierung von Lebensmitteln verschlang riesige Summen. Dadurch blieben die Preise für Grundnahrungsmittel lange Zeit unverändert, so daß Sowjetbürger Mitte der achtziger Jahre zum Beispiel für Brot soviel zahlten wie zwanzig Jahre zuvor. Wohnung, Wasser, Heizung, Telefon, Fernsehen und Radio kosteten die Nutzer praktisch nichts. Der Staat hingegen zahlte überall drauf. Die Vollbeschäftigung, ein grundlegendes soziales Ziel der UdSSR, fraß ebenfalls riesige Unterstützungssummen. Entlassungen gab es praktisch nicht. Die Betriebe und die Volkswirtschaft insgesamt schleppten eine Vielzahl von unausgelasteten Arbeitskräften mit sich, die viel Geld kosteten, ohne auch nur annähernd eine dem Lohn angemessene Leistung zu erbringen. Dieses ganze System von Zuschüssen erwies sich als ein Faß ohne Boden. Wirtschaft und Finanzen der Sowjetunion ächzten unter der Überbeanspruchung durch das Sozialsystem. In der Sowjetunion hat man den Zusammenhang von sinkender Wirtschaftskraft und überdehntem Sozialsystem durchaus bemerkt. Ganz richtig stellten die Ökonomen fest: Wenn die Wirtschaft kriselt, sinkt der Lebensstandard, sinkender Lebensstandard bedeutet schlechtere Arbeitsmotivation, und schlechte Arbeit verschärft nochmals die Wirtschaftskrise. Ein wahrer Teufelskreis war entstanden. Wie sollte man aus ihm herauskommen? Man kam nicht heraus. Die werktätige Bevölkerung begann, die Loyalität zum Regime zu kündigen, weil sich die Lebensverhältnisse in den achtziger Jahren rapide verschlechterten. Die dramatische Alternative in der Perestrojka schließlich lautete: entweder wirtschaftlicher Erfolg, stabilisiertes Sozialsystem und Erhalt des politischen Systems oder Zerrüttung der Produktion, Ausbreitung der Armut und Zusammenbruch des Gesamtsystems. Letzteres trat ein. 1990 lagen 25% der Einkommensbezieher in der UdSSR unterhalb der nach den Kriterien der UNO festgelegten Armutsgrenze. Partei und Regierung verloren die Unterstützung der Industriearbeiter und der verarmenden Intelligenz. Die ländliche Bevölkerung war noch nie 75

für die Kommunisten gewesen. Kurioserweise konnte sie den Kommunisten erst etwas abgewinnen, nachdem sie die Postkommunisten mit ihrer ruinösen Politik erlebt hatte. Das schlug sich nach 1991 in den Wahlergebnissen nieder. Der zur Massenarmut führende Donnerschlag sollte erst in postkommunistischer Zeit kommen. Als die Regierung Rußlands nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die Preise freigab und gleichzeitig der allergrößte Teil des Handels in staatlichen Händen verblieb, schöpfte der postsozialistische Staat auf diese Weise die über Jahrzehnte angesammelten Ersparnisse der Bevölkerung in kürzester Zeit über die Preise und die Inflation ab und überführte sie in den Staatshaushalt, wo sie unproduktiv ausgegeben und in mafiaartig organisierten Finanzkartellen verschwanden. Abwertungen des Rubels schließlich mobilisierten die letzten Geldreserven der Bevölkerung zugunsten der Staatskasse. Dieser kriminelle Transfer des Vermögens der Bevölkerung aus sozialistischen Zeiten in den postsozialistischen Staatshaushalt und die für den Volkswohlstand verheerende Privatisierungspolitik des russischen Präsidenten Jelzin haben zu einer gigantischen Umschichtung des Volksvermögens in die Hände weniger Oligarchen geführt, während man die Masse der Bevölkerung auf ein erbärmliches Lebensniveau abstürzen ließ.

3. Der Verlust der Legitimation Gerade hieß es, daß die Bevölkerung aus materiellen Gründen dem Regime nicht mehr die Stange hielt. Aber lebten nicht überzeugte Kommunisten in der Sowjetunion? Waren nicht viele Bewohner Mitglieder der Kommunistischen Partei und Anhänger der marxistisch-leninistischen Ideologie? Besaßen die Kommunisten nicht eine historische Legitimation, weil sie siegreich aus der Revolution hervorgegangen waren? So einfach stellte sich die Sache doch nicht dar. Das Problem der Legitimation existierte von Anfang an, und es entwickelte sich zu einer der entscheidenden Fragen in der sowjetischen Nachkriegsgeschichte. Nicht allein die schon erwähnten sozialen Aspekte spielten eine Rolle. Es ging auch um die Frage, wie das Parteiregime unter den "6

sich nach 1945 verändernden Bedingungen die Führungsrolle absicherte. Um 1970 etwa kennzeichneten andere Faktoren die UdSSR als 1924. Die Industrialisierung war abgeschlossen, der Klassenkampf beendet. Dies hatte zur Folge, daß die Avantgarde-Rolle der Partei ausblich. Der Parteistaat mußte sich anpassen. Das Regime setzte nicht allein auf Ideologie, sondern verstärkte die Bemühungen um eine im Zweiten Weltkrieg geschaffene patriotische Bindung an das System. Veteranen, Symbole und Rituale beschworen das »Ur-Erlebnis« des »Großen Vaterländischen Krieges« immer wieder neu. In unmittelbar räumlicher Nähe zur politischen Macht, an der Kreml-Mauer in Moskau, loderte (und lodert noch immer) die ewige Flamme am Grabmal des unbekannten Soldaten. Es war Sitte, daß Hochzeitspaare am Tag der Eheschließung hier Blumen niederlegten. Erst seit den späten sechziger Jahren - und nicht vorher! - schössen Gedenkstätten für den »Großen Vaterländischen Krieg« wie Pilze aus dem Boden. Pompöse Monumentalstatuen der »Mutter Heimat« (etwa in Wolgograd und Kiew) symbolisierten, wofür man gekämpft hatte. Daß sich der Kult um den patriotischen Sieg mit dem 30. Jahrestag der Oktoberrevolution 1967 paarte, war kein Zufall. Die Partei versuchte, sich als die Beschützerin der russischen Erde zu stilisieren. Es sah so aus, als hätte der Sieg im Krieg die marxistisch-leninistische Ideologie als Legitimationsgrundlage verdrängt. Doch basierten Staat und Gesellschaft auf dieser Ideologie, die zu verbreiten und zu verfestigen das Regime nicht müde wurde. War es denn möglich, daß trotz der 17 Millionen Parteimitglieder Mitte der achtziger Jahre, trotz der 42 Millionen Mitglieder im kommunistischen Jugendverband, trotz der fast 19 Millionen KGB-Angestellten und -mitarbeiter, trotz aller staatlich gelenkten Massenorganisationen, daß trotz dieses womöglich weltweit einmaligen Systems der politischen Sozialisation und ideologischen Erziehung die Ideologie nicht in dem erwünschten Maße in die Köpfe der Sowjetbürger eindrang? Gegen Ende der siebziger Jahre entstand bei der Parteiführung völlig zu Recht der Eindruck, die ideologischen Grundlagen von Staat und Gesellschaft seien mehr und mehr ausgehöhlt. Es zeigte sich, daß Ideologie und sowjetischer Alltag weit auseinanderklafften. Die Ideologie konnte nicht überbrücken, was an Mängeln und Defiziten jedem Sowjetbürger tagtäglich ins Auge 77

sprang. Die Propaganda erwies sich zunehmend als hohl, trügerisch und verlogen, für manche war sie nur noch unmoralisch. Jedes Schlangestehen vor den Läden strafte das Versprechen der goldenen Zukunft Lüge. Lächerlich wirkten die Triumphbotschaften. Der Sieg des Sozialismus über den Kapitalismus und der Zusammenbruch des US-amerikanischen Imperialismus nahmen sich die Freiheit, gegen die historische Gesetzmäßigkeit zu verstoßen. Das Regime versprach unermüdlich das Endziel Kommunismus, das jedoch auf ernüchternde Weise in immer weitere Ferne rückte. Die Bevölkerung hörte nicht mehr hin. Den besten Beweis dafür, wie sehr die zentralen Werte der Ideologie aus Stalins Zeiten verschlissen waren, stellte die ideologische Offensive der »Rückkehr zu den Prinzipien Lenins« während der Perestrojka dar. Sie war das letzte ideologische Aufgebot des sowjetischen Kommunismus, das ironischerweise an die Anfänge zurückführte, kurz bevor er zusammensackte. Das alles war nicht weiter dramatisch, solange die Führung und die Kader das System für richtig hielten, die notfalls fehlende Legitimation durch Zwang und Gewalt ersetzen konnten. Der KGB horchte, spähte aus und sperrte ein. Als aber die Parteimitglieder, die Kader und die Parteispitze selbst in Zweifel über das System verfielen, seine Grundlagen prinzipiell hinterfragten und es prinzipiell reformieren wollten, da stand der Kaiser plötzlich nackt da. Dies geschah während der Perestrojka. Der Zyklus der osteuropäischen Sozialismuskrisen war in der Sowjetunion angekommen. In diesem Moment hätte die UdSSR eine intervenierende Militärmacht benötigt, die den »richtigen«, d.h. auf Stalins Grundlagen beruhenden Sozialismus wieder installierte - wie 1956 in Ungarn und 1968 in der Tschechoslowakei: die Anwendung der Breschnew-Doktrin auf sich selber.

4. Das überdehnte Imperium Welch eine Ironie! Hitler, der die Sowjetunion von der Landkarte tilgen und die slawischen Völker in die Knechtschaft führen wollte, hat durch den von ihm angezettelten Vernichtungskrieg die UdSSR aus dem europäischen Hinterhof zur Weltmacht katapultiert. Ganz Osteuropa wurde kommunistisch und bildete den Kern der soziali78

stischen Seite der bipolaren Welt, dessen Zentrum in Moskau lag. Im Zuge der Dekolonisierung kämpften die USA und die UdSSR um Macht und Einfluß in der sog. Dritten Welt. All das hat dazu beigetragen, daß die Sowjetunion ihre Kräfte überschätzte. Die UdSSR mauserte sich bis Ende der sechziger Jahre zur Supermacht. Die Lage war nicht günstig. Der Atommacht UdSSR standen die vier anderen feindlich gegenüber. Gigantische Summen flössen deshalb in die Rüstung. In der Perestrojka kam heraus, daß rund ein Viertel des Nationaleinkommens für Raketen, Panzer und Kriegsschiffe verwendet wurde. Die produzierten aber nichts. Das war zuviel für ein Land, das ohnehin schon unter zahlreichen Wirtschaftsproblemen litt. So kam im Westen das Wort auf: »Die USA haben einen militärisch-industriellen Komplex, die UdSSR ist einer.« Das war zwar, wie jede Pointe, übertrieben, aber unstrittig entzog der militärisch-industrielle Komplex der zivilen Produktion nicht nur Kapital, sondern auch die fähigsten Ingenieure und Wissenschaftler. All das hatte verheerende Auswirkungen auf Finanzen, Leistungsfähigkeit der Wirtschaft und Lebensstandard der Bevölkerung. Die Entspannungspolitik, die Ende der sechziger Jahre einsetzte, trug der Tatsache Rechnung, daß die Sowjetunion beim aberwitzigen Rüstungswettlauf auf Dauer nicht würde mithalten können. Gleichzeitig wuchs die politische Beanspruchung der Sowjetunion in der Welt. Die UdSSR mußte dem kapitalistischen Gegner auch in abgelegenen Weltgegenden Paroli bieten können, und zugleich sah sie sich vor die Aufgabe gestellt, das sowjetische Imperium zu hüten. Dessen drei Ringe - den ersten bildete die Sowjetunion als Vielvolkerreich mit ihren fünfzehn Republiken, den zweiten die »Satellitenstaaten« des »Ostblocks«, den dritten die außereuropäischen Verbündeten wie (Nord)Vietnam, Kuba, Nordkorea u.a. diese drei Ringe standen auf militärischem, politischem, ideologischem, wirtschaftlichem und außenpolitischem Gebiet in enger Beziehung zueinander. Dies galt besonders für die osteuropäischen Warschauer-Pakt- und RGW-Staaten. Sie erwiesen sich für die Sowjetunion als wirtschaftlliche Zuschußbetriebe enormen Ausmaßes. Durch diese Situation entstand ein schwerwiegendes Problem. Es ist als das »sowjetische Paradox« bezeichnet worden: die äußere Expansion einerseits und der innere Niedergang andererseits. Die Sowjetunion sah sich immer weniger in der Lage, das Imperium zu hal79

ten, weil es ihr zunehmend an den wirtschaftlichen Potenzen fehlte. Außerdem lösten sich ihre ideologischen und politischen Grundlagen zunehmend auf. Daß sie zu viele Ressourcen für Kanonen anstatt für Kühlschränke bereitstellen mußte, hat ihren Niedergang beschleunigt. Indem sie es nicht vermochte, von dem durch Macht und Militär charakterisierten Imperium abzugehen, hat sie sich in der Phase des wirtschaftlichen Niedergangs zusätzlichen Schaden zugefügt. Die UdSSR war als Imperium »überdehnt«. Für die sowjetische Führung jedoch bildete das enorme Reich einen Wert an sich, der als Überlegenheitsindikator gegenüber dem Westen betrachtet wurde. Hinzu kam die Ansicht, Größe schaffe Legitimation. Auch die sowjetische Bevölkerung war stolz auf die Ausdehnung der UdSSR über ein Sechstel der Erdoberfläche und die globale Stärke. Bei nüchterner Betrachtung kommt man um die Einsicht nicht herum, daß vielen in der Sowjetunion der imperiale Status wichtiger war als der Sozialismus. Der schlagende Beweis, daß die alte politische Klasse der Sowjetunion mehr am Sowjetreich als an der Ideologie hing, ist der Zeitpunkt des Putsches vom August 1991 - wenige Stunden vor der formalen Auflösung des Rest-Imperiums. Der Supermacht-Status und die Logik der bipolaren Welt zwangen die Sowjetunion zu Handlungen, die sie teuer zu stehen kamen. Wenn sie 1956 in Ungarn und 1968 in der Tschechoslowakei den Reformsozialismus niederkartätschte, so dokumentierte sie damit, daß ihr das Imperium wichtiger war als ein humaner und wirtschaftlich effizienter Sozialismus. Außerhalb Europas sah sie sich veranlaßt, überall dort aufzutauchen, wo sie den Einfluß der USA witterte. In der Rückschau handelte es sich dabei um kostspielige und törichte Abenteuer, die aus dem zementierten Blockdenken zu erklären sind. An einem kapitalistischen Angola wäre die UdSSR ebensowenig eingegangen wie die USA an der sozialistischen Redoute in Grenada. Einen verhängnisvollen Fehler aber beging die Sowjetunion, als sie in den Krieg in Afghanistan hineinschlitterte. Gedacht als Stabilisierung des kommunistischen Regimes an der Südflanke der UdSSR, entwickelte sich dieser Feldzug zum ideologischen, militärischen, finanziellen, außenpolitischen und moralischen Fiasko des sowjetischen Imperiums. Selten zuvor sah sich eine Großmacht so schnell von allen Verbündeten verlassen und in 80

der Welt isoliert. Die Ereignisse in Polen schließlich, wo sich Arbeiter und Intellektuelle zusammen gegen das Regime organisierten, zeigten, daß selbst im Ostblock die Erosion des Imperiums nachhaltig eingesetzt hatte. Wie viele strukturell bedingte Mängel und wie viele Krisen traten schließlich in der Perestrojka offen zu Tage! Es sind schon Staaten mit weniger Problemen zusammengebrochen. Als würde all das nicht reichen, kamen sogar noch weitere hinzu: die Nationalitäten der Sowjetunion, darunter auch die russische, explodierten förmlich vor Selbstbewußtsein. Eine wichtige Folge der Sowjetperiode ist die Tatsache, daß aus der diffusen Idee einer russischen Nation erstmals ein weit verbreitetes Nationalbewußtsein geworden ist. Durch das Vorbild der antikommunistischen und nationalen Revolutionen in Ostmitteleuropa bestärkt, gaben die Nationalitäten dem zerbrökkelnden Gebäude Sowjetunion den Rest. Auf diese Weise verlor das Sowjetimperium seinen Halt selbst im inneren Kreis der Sowjetrepubliken. Seit dem Augustputsch 1991 hing die UdSSR in der Luft wie ein Dach ohne tragenden Pfeiler mit einem Präsidenten Gorbatschow auf dem First. Darunter war alles eingesackt.

Weiterführende Literatur Bialer, Seweryn: The Soviet Paradox Extemal Expansion, Internal Decline, New York 1986. Halbach. Uwe: Das sowjetische Vielvölkerimperium. Nationalitätenpolitik und nationale Frage. Mannheim 1992. Hildermeier. Manfred: Geschichte der Sowjetunion 1917-1991. München 1998. Plaggenborg. Stefan (Hg.): Handbuch der Geschichte Rußlands, Bd. 5: 19451991. Stuttgart 2001. Schramm. Gottfried (Hg): Handbuch der Geschichte Rußlands. Bd.3 (in 2 Teilbänden): 1856-1945, Stuttgart 1983-1992.

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Klaus von Beyme Rußlands Gegenwart und die Last der Vergangenheit Rußlands Gegenwart ist mehr als die anderer ex-kommunistischer Länder von der Vergangenheit belastet. Rußland hatte eine Großmacht geführt. Sie brach zusammen, ohne einen einzigen Schuß abzugeben. Die osteuropäischen Länder des Lagers konnten den Zusammenbruch der Sowjetunion als Befreiung empfinden. Rußland empfand sie überwiegend als Verlust. Obwohl die Politiker wie die Wissenschaftler Ende der achtziger Jahre von einer Stabilität der Sowjetunion ausgingen, zerfiel sie. Aber nicht aus den Gründen, die einst vorhergesagt worden waren. Sie zerbrach nicht am Konflikt mit China, wie Amalrik 1970 behauptet hatte, als er die Frage stellte: »Kann die Sowjetunion das Jahr 1984 überleben?« Sie brach auch nicht unmittelbar aufgrund ethnischer Konflikte zusammen, wie vielfach behauptet. Die nichtslawischen Ethnien mit Ausnahme der Balten verhielten sich erstaunlich ruhig. Die Sowjetunion zerbrach an ihrem wirtschaftlichen Scheitern. Erst dies führte zu Ablösungstendenzen in den Unionsrepubliken, als das Zentrum den alten Lebensstandard nicht mehr garantieren konnte. Jelzin betrieb 1991 die Auflösung der Sowjetunion. Aber hatte er bedacht, daß siebzehn Millionen Russen künftig außerhalb Rußlands leben würden? Nach Umfragen hat weniger als die Hälfte der Russen diesen Staat der Russischen Föderation gewollt. Die Unterscheidung von »rußländisch« (als staatsrechtlicher Begriff, der auch Nicht-Russen in der Föderation umfaßt) und »russisch« als ethnischer Begriff, war der Mehrheit nicht nahe zu bringen. Die Mehrheit identifizierte sich noch eine Weile entweder mit der alten Sowjetunion oder mit ihrer Republik oder Region. Nur eine Minderheit akzeptierte innerlich das neue föderative Gebilde. Zur Beschönigung der Verluste von Riesenterritorien der ehemaligen Sowjetunion wurde der Ausdruck »nahes Ausland« erfunden. Er suggeriert gleichsam, daß die jetzige staatsrechtliche Trennung nicht das letzte Wort 82

der Geschichte sein wird. Vor allem die Trennung von der Ukraine wurde von vielen schmerzlich empfunden: »Sie wollen uns aus unserer Wiege werfen« kam als Slogan auf, weil in Kiew einst das erste russische Staatswesen entstanden war. Weißrußland ist inzwischen zur Konföderation mit Rußland bereit, aber die Ukraine nicht. Immerhin wurde die Teilung der sowjetischen Flotte auf der Krim pragmatisch gelöst. Der russische Nationalismus hat sich nicht tätlich entladen, wie der serbische oder der kroatische im zerfallenen Jugoslawien. Die Duma hat einst beschlossen, daß die Krim zu Rußland gehöre. Der Ukrainer Chruschtschow hatte sie in Festtagslaune der Ukraine als Geschenk zum Jubiläum der dreihundertjährigen staatlichen Gemeinschaft dargebracht, obwohl dort eine Mehrheit von Russen lebte. Die neue Apathie der Russen hat auch einen positiven Aspekt. Noch ist kein russischer Garibaldi auf der Krim gelandet, um diese zu »befreien«. Am Dnjestr in Moldawien sah es eine Weile so aus, als ob Lebed den russischen Garibaldi zur bewaffneten Vertretung der Interessen von Russen in Moldowa spielen wollte. Aber auch hier kam es nicht zu militärischen Alleingängen. Die traditionelle Unterordnung des Militärs unter die politische Führung, die im Zarenreich wie in der Sowjetunion vorherrschte, hat sich auch im neuen Regime bewährt. Dieses war um so bemerkenswerter, als die Regierung nicht einmal künftig den Sold für die Soldaten zahlen konnte. Die Russen schienen ein Volk wie im internationalen Vorurteil: »pflegeleicht und leidensstark«. Die Transformation Rußlands war doppelt schwer. Rußland hatte weder Erfahrungen mit einer Demokratie, noch eine längere marktwirtschaftliche Tradition. In keinem Land hatte die kommunistische Planwirtschaft so lange geherrscht. Es war eine Belastung, Demokratie und Marktwirtschaft zur gleichen Zeit realisieren zu sollen, was westliche Länder über lange Zeit gestreckt nach und nach verwirklichten. Die Umfragen zeigten: man akzeptierte die Demokratie als Prinzip, aber möglichst mit einem starken Führer verbunden, und man wünschte sich eine Marktwirtschaft, aber sie sollte möglichst den alten unbezahlbaren sozialistischen Sozialstaat beibehalten. Die Demokratie wird rasch legitimiert, wenn die Marktwirtschaft floriert, wie wir aus der Nachkriegsgeschichte Westeuropas wissen. Aber dieser Effekt verzögerte sich in Rußland. Die Produktion sank, 83

die Inflation stieg vorübergehend auf über 1.000 Prozent. Wenn Rußland nur etwa 11% Arbeitslosigkeit angab, so verdeckte dies die Tatsache, daß viele faktisch Arbeitslose gar nicht registriert waren. Die Arbeitslosenunterstützung war kaum organisiert. Die Preise stiegen, die Subventionierung der Grundnahrungsmittel wurde um die Hälfte gesenkt. Erst 1998 hörte man die frohe Botschaft: »Das Schlimmste ist vorbei«. Sogar ein leichtes Wachstum von zwei Prozent stellte sich ein. Die Inflation lag aber noch immer bei 28%, und die Investitionen betrugen nur etwa ein Drittel der Anteile, die sie 1989 gehabt hatten. Die Auslandsschulden wuchsen und die Frage der Kreditwürdigkeit des Staates tauchte auf. Dennoch versuchte der Westen das System zu stützen. Jelzin erschien als das kleinere Übel. Bei Wahlunregelmäßigkeiten drückte man mehr als ein Auge zu, und das Wissen darum, daß westliche Finanzspritzen immer wieder in den Taschen mafioser Bürokraten versickerte, wurde verdrängt. Rußland hatte einen weiteren Nachteil, den nur noch Ostdeutschland besaß: Es hatte nicht die Option, die Postkommunisten wieder an die Macht zu lassen, wie das Litauen 1992, Polen 1993 oder Ungarn 1994 getan hatten, ohne die Demokratisierung zu gefährden. Kommunistenführer Sjuganow, der wie ein etwas mürrischerer Bisky wirkte, hätte keinerlei Hoffnung auf westliche Unterstützung gehabt. In der Schlußzeit seiner Amtsperiode, als Jelzin so inaktiv und marode wie einst Breschnew wirkte, hat der Westen weiterhin auf ihn gesetzt und wertvolle Jahre vertan. Aber es gab keine Alternative. Die Institutionen waren mit der Verfassung von 1993 mit einiger Mühe geschaffen worden. Aber funktionierten sie in der vorgesehenen Weise? Das Parlament, die Duma, verhielt sich wie ein konstitutionelles Parlament des 19. Jahrhunderts. Es stand mehrheitlich in Opposition zur Regierung des Präsidenten. Den Kommunisten als stärkster Partei wurde jeder Anteil an Regierungsposten versagt. Jelzin hat seine Premierminister wie die Hemden gewechselt. Es gab kein Parteiensystem, das die Duma-Mehrheit und die Mehrheit der Regierung verbinden konnte. Der Präsident, der sich über den Parteien fühlte, hat Parteiführer in der Duma immer wieder erfolgreich abgeworben. Eine parlamentarische Kultur mit Aussicht auf Regierungsmacht konnte sich auf diese Weise nicht entwickeln. Die Elitenkontinuität war in einem Land, das keinen Krieg, son84

dem nur den kalten Krieg verloren hatte, naturgemäß groß. Nach soziologischen Studien hat sich auch Jelzins Team zu 70% aus der alten Nomenklatur des sowjetischen Regimes rekrutiert. Am höchsten war der Anteil bei der Regionalelite - über 82% - am niedrigsten bei der Business-Elite: 61%. Hier kamen die »Kader«, wie man früher gesagt hätte, zu größeren Anteilen aus der kommunistischen Jugendorganisation »Komsomol«. Die Regierungsmannschaft gab sich einen professionellen Anstrich durch Rekrutierung zahlreicher Wirtschaftsfachleute, Diplomaten und Angehöriger der früheren Sicherheitsdienste. Die »Revolution der stellvertretenden Abteilungsleiter« gab es auch in Rußland. Oft war der zweite Mann an der Spitze des Betriebes der, der die Manager-Privatisierung erfolgreich betrieb. In der Elitenrekrutierung haben sich seit Gorbatschow Verjüngungstendenzen gezeigt. Aber die Repräsentanz der Gruppen, etwa Frauen und ethnische Minderheiten, auf die das Sowjetsystem aus propagandistischen Gründen wert legte, ist gesunken. Die Mystifikation einer neuen Machtelite auf mafioser Grundlage wird von einem neuen Gruppenansatz in Frage gestellt. Er unterstellt, daß die verschiedenen Machteliten und ihre Hilfstruppen aus den Geheimdiensten und Sondereinheiten des Innenministeriums und des organisierten Verbrechens vielfach in Konflikt stehen. Das kriminalistische Bias dieses Elitenansatzes droht in ähnliche Unausweichlichkeitsannahmen zu verfallen, wie einst der Totalitarismusansatz. Dem System wird die Möglichkeit abgesprochen, sich demokratisch zu konsolidieren, weil das Mafia-System seine Privilegien mit Gewalt sichert. Einmal zeigen kriminalstatistische Untersuchungen jedoch, daß die Kriminalität in Rußland keineswegs linear wächst. Ab 1994 zeigten sich fallende Tendenzen bei einigen Verbrechenssorten, ab 1995 sogar bei den Tötungsdelikten. Die Mafia selbst zeigte Beschränkungen. Ihre wirtschaftliche Macht konzentriert sich vielfach auf finanzielle Transaktionen im neuen »Kasinokapitalismus«. Seit den Medici und den Räuber-Baronen in Amerikas Westen haben mafiose Strukturen in der Konsolidierung des Systems nach Legalität und Reputation gestrebt. Tendenzen zu einem parallelen Vorgang wurden auch in Rußland gesichtet. Sie sind gelegentlich an der Person Kvantriwvilis festgemacht worden, der als erster danach strebte, als reputierlicher politischer Akteur akzeptiert zu werden. 85

Es gibt wenig Anlaß für Rußland, von einer unausweichlichen Verschlechterungstheorie auszugehen. Schon der Pluralismus der mafiosen Einheiten sorgt für Bewegung. Er bleibt vorerst allerdings ein staatslobbyistischer Konflikt zwischen wichtigen Sektoren, wie der Gas- und der Erdöllobby. Sie machen vierzig Prozent des russischen Haushalts und fünfzig Prozent der Deviseneinnahmen aus. Die Gaselite gilt als diszipliniertester Sektor der Eliten und hat der Öllobby den Rang abgelaufen. Die Verflechtung der Produktionseinheiten mit den Großbanken und mit dem Medienbereich ist ein Prozeß, der noch nicht abgeschlossen ist. Einige Analysen sehen einen bürokratischen Korporatismus entstehen. Auf der föderalen Ebene war nach anfänglicher Distanz zwischen Wirtschafts- und politischer Elite eine zunehmende Partnerschaft zu beobachten. Auf regionaler Ebene sind je nach Entwicklungsgrad verschiedene Modelle im Schwange. Das Patronagemodell überwog in einigen nationalen Republiken und in Regionen mit kommunistischer Vorherrschaft. In ihm wird die Wirtschaft noch von politischen Einheiten dirigiert. Das andere Modell ist die Privatisierung der Macht durch einige Unternehmungsgruppen. Es fand sich in armen wie in reichen Regionen. Zwischen diesen beiden liegt ein Partnerschaftsmodell und ein Modell des Kampfes aller gegen alle, wo die politische Führung schwach ist und auf finanzielle Zuwendungen von Moskau angewiesen ist. Die meisten Elitenszenarios, die international im Schwange sind, leiden an einer Moskau-zentrierten Sicht, welche die zentrifugale Dynamik in dem Riesenreich unterbelichtet, das Rußland trotz aller Verluste noch immer darstellt. Aber selbst die Moskau-zentrierten Gruppenkämpfe erlaubten kaum Voraussagen. Vielfach wurde ein Kampf zweier quasi-mafioser Wirtschaftskonsortien um die Macht unterstellt. Beresovskij galt als Drahtzieher der Marionetten im Kreml. Primakow schien der letzte Premierminister mit Eigengewicht gewesen zu sein. Aber es wurde ruchbar, daß Jelzin sehr verärgert war, als Beresovskij versuchte, auf die Zusammensetzung der Regierung Kirijenko allzu offen Einfluß zu nehmen. Der Moskauer Gegengruppe um Bürgermeister Luäkov wurde die Kontrolle des Finanzplatzes Moskau nachgesagt. Die Hauptstadt konzentriert zwei Drittel aller Auslandsinvestitionen und bringt 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und 25 Prozent der Steuern in der Föderation auf. 86

Immer, wenn Präsidentschaftswahlen anstehen, schießen die Spekulationen ins Kraut. 1998 hat Tschernomyrdin noch erklärt, er werde das Rennen machen. 1999 wurden Luschkow und Primakow hoch gehandelt. Anfang 2000 war von diesen Kandidaten nicht mehr die Rede. Das Bündnis von Luschkow und Primakow mit vielen Gouverneuren zerfiel. Der Kampf um die Präsidentschaft wurde als ein Kampf zwischen dem Berezowskij-Klan und dem Vladimir Gusinskij-Clan angesehen, der Luschkow und Primakow unterstützte. Beresowskij, der sich als »bekennenden Extremisten« erklärte, rühmte sich, den linken Konsolidierungsversuch Primakows verhindert zu haben. »Wir wollten ebenfalls eine Konsolidierung, aber von rechts«. Der Sieg der »Familie« wird im Westen vielfach positiv bewertet, weil er in den Dumawahlen die demokratischen Parteien gegen Kommunisten und Rechtsextreme stärkte. Demokraten wurden undemokratisch gestärkt. Die Ernennung Putins zum Interimspräsidenten war ein so überraschender Coup, daß die Gerüchte neue Nahrung erhielten, Putin sei der Exponent der mafiosen »Familie«, die seine Popularitätskampagne organisierte und im Austausch dafür Härte in Tschetschenien und Straffreiheit für den Jelzin-Clan erwarten durfte. Seine Vergangenheit als »Mr. Stasi« verführte zur Ausrufung eines angeblichen Geheimdienstregimes, das den Etatismus wieder stärkt und ein Wirtschaftsklima erhoffen läßt, das weniger korrupt erscheint. Die alte Schizophrenie westlicher Beurteilungen lebte wieder auf, die es geboten scheinen ließ, am korrupten Jelzin-Kurs festzuhalten, um angeblich schlimmeres zu verhüten. Putin hat nicht nur vom »Klan« Popularität organisieren lassen, sondern sich auch bereits als Stabilitätsgarant im Westen empfohlen. Nach dem berühmten Wort von Marx und Engels ging ein Gespenst um in Europa - der Kommunismus. Nach über siebzig Jahren kommunistischer Herrschaft war es wie im Märchen. Als der Bann gelöst war und das Gespenst verschwand, trat gleichsam eine gute Fee hervor: »die Zivilgesellschaft«. Sie war die Leitidee der friedlichen Kerzenrevolutionen in Osteuropa. Aber Rußland hatte wenig Anteil an ihnen. Die Opposition war klein gewesen und kaum organisiert. An eine durchgreifende Säuberung der Apparate oder gar an Bestrafung einzelner Würdenträger des alten Regimes war nicht zu denken. 87

Die Demokratisierung der Institutionen ist auch in Rußland auf dem Papier geleistet. Aber die Konsolidierung der Bürgergesellschaft läßt auf sich warten. Noch ist die Fluktuation der Wählerstimmen enorm. Eine große Anzahl von Abgeordneten im Parlament fluktuiert noch zusätzlich und schließt sich wechselnden Gruppen an. Allenfalls bei den Kommunisten und der demokratischen Gruppierung »Jabloko« gab es eine gewisse Konstanz der Zusammensetzung der Fraktion. Noch gibt es große systemfeindliche Parteien, die das demokratische System ablehnen, wie etwa Schirinowskijs populistischen »Liberaldemokraten« - die fehlbenannteste Partei der Welt. Positiv ist allenfalls zu vermerken, daß das Militär und andere Gruppen bisher nicht offen nach anderen Spielregeln als denen des Systems spielen. Nach der schönen Definition von Juan Linz reicht es nicht, demokratische Institutionen zu haben. Demokratie muß auch unter den Eliten »the only game in town«, das einzige Spiel in der Stadt, sein. Ob dies der Fall sein wird, hängt zur Zeit von der Beurteilung der ersten Schritte des neuen Präsidenten ab. Jelzin hatte ein System hinterlassen, das zwischen Anarchie und Autokratie hin- und her pendelte. Die Anteile der Anarchie lagen vor allem im System des Föderalismus. Der Präsident hatte als »Zaubermeister« die »Zaunkönige« als die Chefs von 89 »Subjekten der Föderation« im Kampf gegen eine feindliche Mehrheit in der Duma, dem Parlament gerufen. Er wurde sie aber nicht mehr los. Er hatte ihnen große Konzessionen gemacht: Sie wurden zu gewählten Oberhäuptern ihrer »Kleinstaaten«. Kleinstaat ist nicht wörtlich zu verstehen. Manche dieser Territorien wie Sacha (Jakutien) waren rein flächenmäßig größer als jede europäische Mittelmacht. In bilateralen Verhandlungen mit der Moskauer Regierung handelten sie Steuerprivilegien aus. Zweidrittel der Territorien gab dem Kaiser nicht »was des Kaisers ist«. Sie standen gegenüber den Betrieben in ihrem Gebiet in einer ähnlichen Abhängigkeit. Da wird so manche unproduktive Struktur erhalten, weil die Betriebe gegen die Zusicherung, keine Arbeiter zu entlassen, Vergünstigungen und Steuernachlässe heraushandelten. In einem solchen System blühten die Übertreibungen wie: »Amerika hat eine Mafia, Rußland aber ist ein Mafia-System«. Es gab in Rußland einen Föderalismus, aber kein »bundesstaatliches System«. Noch immer fehlt in Rußland ein System des horizontalen und vertikalen Finanzausgleichs. »Bilatera88

lismus« heißt die Verhandlungsanarchie, die entstanden ist. Selbst der Verfassungsgerichtshof war ziemlich machtlos gegen die zentrifugalen Sonderbestrebungen einzelner »Landesfürsten«, welche die Gemeindeautonomie unterhöhlten, willkürlich in das Parlamentsund Wahlrecht eingriffen oder die Bürgerrechte wie Pressefreiheit oder Versammlungsfreiheit beschnitten. Das autokratische Element dieses System lag in den Verordnungen, den Ukasen, die Jelzin in Massen erließ. Vielfach widersprachen sie Parlamentsgesetzen. Der Schaden war freilich nicht selten durch die anarchischen Elemente des System begrenzt: in fernen Gebieten wurde weder das Duma-Gesetz noch der PräsidentenUkaz befolgt. Immerhin gab es am Ende der Amtszeit Jelzins Anzeichen für eine Konsolidierung des parlamentarischen Systems, das unter Jelzin als »dreiviertelpräsidentielles System« begonnen hatte. Die Zahl der normativen Dekrete ging von 202 (1994) auf 144 (1999) zurück. Die Reichweite der Regelungen des Präsidenten am Parlament vorbei nahm ab, mit Ausnahme von Tschetschenien. Zur anarchischen Seite der Prozesse gehörten vor allem jene, die vom russischen Staat kaum zu kontrollieren waren: die alte Sozialstruktur zerfiel, ein Drittel und mehr der Bevölkerung lebte unter der Armutsgrenze. Hätte nicht die kommunistische Tradition die Nebenerwerbslandwirtschaft schon entwickelt, so hätten viele Familien Hunger gelitten. Die Privatisierung des Lebensstils wurde zum herausragenden Trend. Identifikation der Bürger lief überwiegend mit einem System, das es nicht mehr gab, die Sowjetunion, oder mit den regionalen Einheiten. Apathie breitete sich aus, nachdem die kommunistische permanente Mobilisierung entfallen war. Ein Teil der Passivität ist vermutlich dadurch zu erklären, daß viele Russen die jetzige Grenzziehung nicht als das letzte Wort ansehen. Kommunisten und Nationalisten, die sich unter Schirinowskij den irreführenden Namen »Liberaldemokraten« gaben, obwohl sie ultra-rechtspopulistisch agieren, drängen immer wieder auf die »Sammlung russischer Erde«. Zum Glück wagt niemand dafür bewaffnete Auseinandersetzungen. Tschetschenien wurde zur Zerreißprobe des neuen Staates. Rußland begann sich für das Instrument des deutschen »Bundeszwanges« zu interessieren. Übersehen wurde dabei, daß man ihn schwerlich anwenden könnte. Die Demütigungen, die dieser zerfallende 89

Koloß eines ehemaligen Weltreiches erlitten hat, waren so zahlreich, daß sein Nachfolgestaat nicht wagte, weitere Gebiete in die Souveränität zu entlassen, die sie fordern. Das Beispiel könnte Schule machen, und Tschetschenien liegt an einer strategisch und ölpolitisch empfindlichen Ecke der Föderation. Die Wirtschaft hat in der späten Jelzin-Zeit das schlimmste überstanden und schreibt langsam wieder schwarze Zahlen, bei einer hohen, aber nicht mehr exorbitanten Inflation. Freilich hat die Staatsverschuldung drastisch zugenommen. Das wäre nicht dramatisch, wenn dieses Riesenland mit seinen enormen Ressourcen in der Erde, diese schon ohne fremde Hilfe hinreichend nutzen könnte. Hauptproblem bleibt die innere Organisation der Wirtschaft und die Macht der Oligarchen und Fraktionen einer Mafia, die dem Staat gewaltige Verluste an Steuereinnahmen und an Steuerungsfähigkeit gegenüber der Wirtschaft bringen. Die Verschiebung von jährlich zwölf Milliarden Dollar an russischem Geld ins Ausland ist errechnet worden. Ein bloßer Wechsel im höchsten Amt kann alle diese Verzerrungen der Entwicklung seit dem Ende des Kommunismus schwerlich über Nacht beheben. Putin schien ein unbeschriebenes Blatt. Daß er aus dem Geheimdienst kam, schien keine Empfehlung - außer bei denen, die sich von den alten Verbindungen der Seilschaften ein Gegengewicht gegen die neuen mafiosen Netzwerke der Oligarchen versprechen. Putins Wahl zum Präsidenten verlief erstaunlich glatt. Es gelang ihm sich je nach Perspektive als Liberaler, als konservativer Etatist oder als halbsozialistischer Anhänger des Wohlfahrtsstaats zu präsentieren. Nach einem Abfall des Lebensniveaus im Jahr 1999 um 15% kündigte er wahlwerbewirksam im Januar 2000 eine Erhöhung der Renten um 20% an. Vor allem die Gehälter der Militärs wurden angehoben. Mit der Wiederwahl des Kommunisten Gennadij Seleznev als Duma-Präsident durch eine Kooperation der kreml-nahen Partei »Jedinstwo« und der Kommunisten zeichneten sich neue Koalitionsbildungsmuster ab. Auf verwunderte Fragen reagierte Putin ebenso verwundert: »Zusammenarbeit mit den Kommunisten hat es in unserer Duma immer gegeben. Nicht ein Gesetz kam ohne Unterstützung der Kommunisten zustande«. »Jedinstwo« hat es verstan90

den, flexibel zwischen den Parteien zu operieren und Mehrheiten für die Vorschläge des Präsidenten zu organisieren, die Jelzin nicht erreichen konnte. Das konfliktorische Muster der Polarisierung wurde durch stärker pluralistische ad hoc-Abstimmungsblöcke ersetzt. Die Einheitlichkeit des Abstimmungsverhaltens hat sich nicht nur bei »Jedinstwo« verbessert. Die Duma hat Putin in allen wesentlichen Fragen unterstützt, hat aber durch Änderungen vielfach Konzessionen heraushandeln können. Im Juni 2000 wurde auf diese Weise die Steuerreform und die Änderung der Bestellung der Mitglieder des Föderationsrates über die parlamentarischen Hürden gebracht. Noch gewichtiger waren die Erfolge Putins bei dem Reformpakt zur Föderalismusreform (Reform des Föderationsrats, Absetzungsmöglichkeiten gegenüber den Gouverneuren, lokale Selbstverwaltung). Die Konzession, die Putin der Dumamehrheit machen mußte, lag darin, daß der Präsident nicht einfach einen Gouverneur entlassen konnte, dem er Rechtsverletzungen vorwarf. Der Präsident darf dies erst nach einer Warnung an den Gouverneur durch ein Gericht, mit einer Frist zur Korrektur illegaler Anordnungen des regionalen Würdenträgers. Die Möglichkeit ein regionales Parlament aufzulösen wurde an ein Gesetz gebunden, mit dem die Duma den Präsidenten zur Auflösung autorisiert. Den Gouverneuren wurde das Recht gegeben, die Repräsentanten ihres »Subjekts der Föderation« zu ernennen und abzuberufen. Diese Lösung ist als Annäherung an eine bürokratisches deutsches Bundesratsmodell gedeutet worden. Aber die Duma hat dem Präsidenten die Konzession abgerungen, daß Zweidrittel der regionalen Legislative beide Rechte des Gouverneurs blockieren können. Möglichkeiten der Gouverneure amtierende Bürgermeister in der Region abzuberufen wurden zwar beibehalten, aber die regionalen Hauptstädte und administrativen Zentren waren von dieser Option ausgenommen. Mit Putins Annäherung an eine de Gaulle-artige Position gegenüber seiner Partei (der Präsident ist nicht Mitglied, erlaubt aber einer Partei gnädig, sich um ihn zu scharen) ist ein Fortschritt in der Verläßlichkeit des Funktionierens der Institutionen erzielt worden. Auf die Frage nach seinen Vorbildern hat Putin immer sibyllinisch geantwortet. Bei den Ländern nannte er einmal »Korea«. Es blieb offen, welches Korea. Für Rechtsautoritäre wie für Kommunisten 91

war jeweils ein Teil Koreas akzeptabel. Falls er die Antwort ernst gemeint hat, dürfte er jedoch wohl eher an das semi-autoritäre Südkorea gedacht haben. Bei den Staatsmännern als Vorbildern wurde von Putin im Spaß Napoleon genannt. Ernstgemeint dürfte jedoch die Nennung de Gaulles gewesen sein. Aber auch Ludwig Erhard wurde erwähnt. Eine klare programmatische Linie läßt sich aus solchen Äußerungen nicht herauslesen. Bohrende Nachfragen förderten widersprüchliche Antworten zustande. Im ganzen optierte er immer klar für eine Marktwirtschaft, ließ jedoch die Möglichkeit zur staatlichen Wirtschaft in den Gebieten offen, wo sie zweckmäßig sei. Das galt etwa für die Rüstungsindustrie. Der neue Präsident hat ein funktionales Verhältnis zu seiner Partei wie de Gaulle. Aber darin liegt schwerlich abweichendes politisches Verhalten in Rußland. Noch bleibt abzuwarten, ob die russischen Politiker bei ihrer Neigung bleiben, Parteien rein funktional für ihre persönliche Karriere zu benutzen. So mancher Parteigründer hat die Partei im Stich gelassen, sowie eine Amt in der Exekutive winkte. Ein krasses Beispiel war Expremierminister Stepaschin. Immerhin hat der personelle Verschleiß durch Jelzin dahin geführt, daß in der Duma eine Reihe von Ex-Premierministern den Sachverstand des Parlaments bereichern. Noch ist die Koalition, die mit wechselnden Mehrheiten die Initiativen Putins trägt, eher eine Hofkamarilla von mehr oder weniger liberalen Technokraten als ein dauerhaftes Bündnis mit einer klaren Programm-Orientierung. Ebenso wenig ist abzusehen, ob das »institutionelle Nomadentum« (F. Rüb) beendet wird, das sich in der Ära Jelzin in das System eingenistet hatte. Die Bildung eines Staatsrats läßt nichts Gutes ahnen. Es kann jedoch sein, daß dieser eher dekorativ bleibt. Selbst bei einer dauerhaften Existenz einer Einrichtung kann ihr relatives Gewicht sich laufend wandeln wie der Sicherheitsrat zeigte, der erst wichtig schien, dann kaum noch nötig, unter Lebedj einen neuen Aufschwung nahm und nach dessen Ausscheiden Konkurrenz von einem Verteidigungsrat bekam. Die neuen sieben föderalen Distrikte wurden als wichtigen Beitrag zur Straffung des Föderalismus gewertet. Mißtrauen säte der Umstand, daß fünf der sieben »Oberaufpasser« über die Regionen Militärs waren. Die Geschichte der Großregionen in der sowjetischen Geschichte läßt keinen Optimismus zu, daß die Einrichtung 92

sich bewähren wird. Eine Föderalismus-Reform steht noch aus. Es wurden zwölf bis fünfzehn Subjekte vorgeschlagen. Diese mittelgroßen Regionen wären freilich keine gewachsenen Einheiten, sondern überwiegend Reißbrett-Erfindungen, die meist nach Himmelsrichtungen benannt werden, außer in Sibirien und Fernost. Mit einer Bildungsreform versucht Putin die indirekte Zentralisierung Rußlands voranzutreiben. Noch immer fehlt ein akzeptiertes Konzept des Finanzausgleichs. Immerhin ist dem Institutionen-Nomadentum ein Teil des bisherigen »Bilateralismus« schon zum Opfer gefallen. Putins Kampfansage an die Oligarchen wurde vielfach wohlwollend aufgenommen. Die Panne mit der Verhaftung eines »Medienzaren« wie Gusinskij hat jedoch kein Vertrauen in die Liberalität der Demokratie Rußlands erweckt. Selbst Beresovskij, Gusinskijs Konkurrent, der im allgemeinen wegen seiner Nähe zum Jelzin-Klan auch als Nahesteher Putins galt, äußerte sich besorgt. Putin leugnete, enge Beziehungen zu Beresovskij zu unterhalten, und behauptete, nur dieser habe ab und zu seine Nähe gesucht. Aber alle Interviews Putins strahlen diese kühle menschliche Ferne aus. Selbst zu Jelzin will der Nachfolger nur »einfach gute Arbeitsbeziehungen« gehabt haben. Als wichtigstes Prinzip nannte er »nie etwas zu bedauern« - was Zweifel an der Liberalität und Lernfähigkeit nicht gerade verringert. Putin bemüht sich um Professionalisierung der Politik und der Politikberatung. Die »romantischen Verirrungen« der Ära Jelzin sollen in einem Stab unter German Gref, der unter der Bezeichnung »Institut für strategische Ausarbeitungen« firmiert, in »Politik für die Dauer« umgewandelt werden. Während der französische Präsident eine Verkürzung der Amtszeit vom Volk beschließen ließ, wird in Rußland das Problem der Amtsdauer eher umgekehrt behandelt: es wird über eine Verlängerung der Amtszeit des Präsidenten nachgedacht. Im Ganzen: weniger Anarchie, aber noch nicht weniger Autokratie!

Weiterführende Literatur Beyme, Klaus von: Rußland zwischen Anarchie und Autokratie. Wiesbaden 2001. Höhmann, Hans-Hermann / Schröder, Hans-Henning (Hg.): Rußland unter neuer Führung, Münster 2001. Remington, Thomas: The Russian Parliament, New Haven 2001. 93

Autoren Klaus von Beyme, geboren 1934 in Saarau (Schlesien), ist em. Professor für Politikwissenschaft in Heidelberg. 1967 bis 1974 lehrte er in Tübingen, 1974 bis 1999 in Heidelberg. 1982 bis 1985 war er Präsident der »International Political Science Association«. Seine Schwerpunkte in Forschung tnd Lehre waren die vergleichende Lehre der politischen Systeme in West- und Osteuropa und die Theorie der Politik. Zu seinen Veröffentlichungen über Osteuropa gehören: Ökonomie und Politik im Sozialismus, München 1975/1977 (englisch: 1982); Die Sowjetunion in der Weltpolitik, München 1983/1985 (englisch: 1987); Systemwechsel in Osteuropa, Frankfurt a.M. 1994 (englisch: 1996); Rußland zwischen Anarchie und Autokratie. Opladen 2001; Politische Theorien in Rußland 1789-1945, 2001. Dietrich Beyrau, geboren 1942 in Haselberg (Ostpreußen), ist Professor für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde in Tübingen. In Lehre und Forschung vertritt er die neuere Geschichte Rußlands und des östlichen Europas. Ein inhaltlicher Schwerpunkt war die Sozialgeschichte Rußlands und der Sowjetunion mit besonderem Interesse für die Agrarreformen des 19. Jahrhunderts und die ländliche Welt Rußlands respektive der Sowjetunion (zusammenfassend vergleiche hierzu: Janus in Bastschuhen Die Bauern in der russischen Revolution, in: Geschichte und Gesellschaft 21, Göttingen 1995, 4.4). Hinzu kam die Geschichte der Bildungsschichten und des Dissens in Sowjetrußland, vergleichende Aspekte der mittel- und osteuropäischen Geschichte besonders im 20 Jahrhundert Hierzu hat er zuletzt veröffentlicht: Schlachtfeld der Diktatoren Osteuropa im Schatten von Hitler und Stalin, Göttingen 2000, und herausgegeben: Im Dschungel der Macht Intellektuelle Professionen unter Stalin und Hitler, Göttingen 2000. Die Organisation des Militärs sowie Krieg und Kriegserfahrung beschäftigen ihn seit langem. Hierzu sind erschienen: Militär und Gesellschaft im vorrevolutionären Rußland, Göttingen 1984; Das Russische Imperium und seine Arme, in: Ute Frevert (Hg), Militär und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1997. Seit 1998 arbeitet er mit im Sonderforschungsbereich »Kriegserfahrung Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit« mit eigenen laufenden Forschungsprojekten Daraus hervorgegangen ist der von ihm herausgegebene Sammelband: Der Krieg in religiösen und nationalen Deutungen der Neuzeit, Tübingen 2001. Dietrich Geyer, geboren 1928 in Cossengrun (Thüringen), ist em. Professor für Osteuropäische Geschichte in Tübingen. Auch nach seiner Emeritierung ist er in dieser Stadt geblieben Sein wissenschaftliches Interesse galt und gilt

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vor allem der russischen Geschichte, den internationalen Verflechtungen des Rußländischen Reiches in zarisch-imperialer wie in sowjetsozialistischer Zeit. Daß ihn das Problem der »Europäisierung« dabei besonders gefesselt hat, kann in seinen Veröffentlichungen nachgelesen werden: in Büchern über Lenin, die russische Revolution und den russischen Imperialismus, aber auch in einem dreibändigen Handbuch aus den siebziger Jahren über die Geschichte der sowjetischen Außenpolitik. Zu Fragen, die sich aus dem Untergang des Kommunismus für die historische Osteuropaforschung ergeben, hat er sich inzwischen mehrfach zu Wort gemeldet. Ein schmaler Band, der 1999 bei Vandenhoeck & Ruprecht unter dem Titel »Reußenkrone, Hakenkreuz und Roter Stern« erschien, hält seine Kindheits- und Jugenderinnerungen fest - auch den merkwürdigen Entschluß, Osteuropäische Geschichte zum lebenslänglichen Beruf zu machen. Heinz-Dietrich Löwe, geboren 1944, ist Professor für Osteuropäische Geschichte in Heidelberg und lehrte auch an den Universitäten Freiburg und Oxford. Er beschäftigt sich insbesondere mit der ausgehenden Zarenzeit, mit deren sozialen und ökonomischen Problemen und Entwicklungschancen, mit Minderheiten und mit der Geschichte der Juden in Osteuropa Zu diesem Bereich erschienen u.a.: The Tsars and the Jews. Reform, Reaction and AntiSemitism, 1772-1917, Harwood 1993 (erheblich erweiterte und überarbeitete Fassung von: Antisemitismus und reaktionäre Utopie. Russischer Konservativismus im Kampf gegen den Wandel von Staat und Gesellschaft, 1890-1917, Hamburg 1978); Jews Poles and Tatars: Religion, Ethnicity, and Social Structure in Tsarist Nationality Policies (Jewish Social Studies 6, 2000, Nr.3), und: Die Juden in Krakau-Kazimierz bis zur Mitte des 17 Jahrhunderts (in: Graetz, M.: Schöpferische Momente des europäischen Judentums, Heidelberg 2000). Im Handbuch der Geschichte Rußlands behandelt er den Zeitraum von 1890 bis 1904 und wesentliche Teile des Abschnitts von 1905 bis 1914. Von ihm stammen SpezialStudien zum russischen Nationalismus und zu den food riots in England, Frankreich und Deutschland im 18. Jahrhundert. Er beschäftigt sich mit städtischen Aufständen in Rußland im 17. Jahrhundert, und in Kürze wird aus seiner Feder eine Stalinbiographie erscheinen. Stefan Plaggenborg, geboren 1956, ist Professor für Osteuropäische Geschichte in Marburg. Zu seinen Spezialgebieten zählen die Sozialgeschichte des ausgehenden Zarenreiches sowie Politik, Gesellschaft und Kultur der Sowjetunion. Von ihm erschienen: Staatsfinanzen und Industrialisierung in Rußland 1881-1903 (aus: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte. Osteuropa-Institut: Historische Veröffentlichungen Bd. 144, 1990, Freiburg Diss. 1888) und: Revolutionskultur. Menschenbilder und kulturelle Praxis in Sowjetrußland zwischen Oktoberrevolution und Stalinismus, Köln 1996, (russisch: 2000). Er ist Herausgeber von: Stalinismus. Neue Forschungen und Konzepte, Berlinl998, und Mitherausgeber von: Aufbruch der Gesellschaft im verordneten Staat. Rußland in der Spätphase des Zarenreiches, Frankfurt 1994,

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und: Sowjetjugend 1917-1941, Generation zwischen Revolution und Resignation, Essen 2001. In Band 3 des Handbuchs der Geschichte Rußlands hat er über die Organisation des Sowjetstaates, in Band 5 über die BreschnewPeriode 1964 bis 1985 geschrieben. Im zweiten Teilband von Band 5 (in Vorbereitung) befindet sich sein Artikel über Lebensverhältnisse und Alltag in der Sowjetgesellschaft der Nachkriegszeit. Weitere Spezialstudien behandeln die Frage der Gewalt im Stalinismus, die Entstehung des Nationalismus im kommunistischen Jugoslawien sowie Maria Theresia und die böhmischen Juden. Er koordiniert den »Arbeitskreis Stalinismusforschung«, der die deutschsprachige Forschung auf diesem Gebiet vernetzt. Gottfried Schramm, geboren 1929, ist em. Professor für Neuere und Osteuropäische Geschichte in Freiburg. Auch als Emeritus (seit 1994) hält er noch Seminare und Kolloquien. Sein Interesse gehört - neben dem frühneuzeitlichen Polen und Ost- und Südosteuropa im Übergang von der Antike zum Mittelalter - besonders Rußland und zwei weit auseinanderliegenden Epochen seiner langen Geschichte. Gottfried Schramm ist Herausgeber des zwei Halbbände und 1.780 Seiten umfassenden dritten Bandes des Handbuchs der Geschichte Rußlands. Hier werden die Jahre 1856 bis 1945 in chronologischen und strukturellen Kapiteln behandelt. Selbst hat er dazu etwa die Kapitel über 1928/29 bis 1941 und den »Zarischen Staat und die verfasste Gesellschaft« beigetragen. Spezialstudien behandeln die Erzähler Puschkin und Turgenjew, die als Zeugen für die Geschichte des sozialen Bewußtseins in der Zeit Nikolaus' I. befragt werden. Beschäftigt haben ihn auch die Ostjuden in der ausgehenden Zarenzeit und die zarische Armee als politischer Faktor vor der Februarrevolution.

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