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German Pages 346 Year 2018
Tina Jerman, Maxi Obexer, Christian Scholze (Hg.) In Zukunft!
Theater | Band 101
Tina Jerman, Maxi Obexer, Christian Scholze (Hg.)
In Zukunft! Neue Theaterstücke zur Gegenwart
© 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Julia Gutjahr und Jubril Sulaimon in »Call Shop« von Jubril Sulaimon. © Volker Beushausen, Castrop-Rauxel, Januar 2014 Satz: Michael Rauscher, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-3955-1 PDF-ISBN 978-3-8394-3955-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Julia Gutjahr in »Call Shop« von Jubril Sulaimon
Dieses Buch ist dem Gedenken an Musaab Sadeq Khaleel Al-Tuwaijari (1987 – 2017) gewidmet
Inhalt
IN ZUKUNF T – Neue Theaterstücke zur Gegenwart Tina Jerman, Maxi Obexer, Christian Scholze | 11
Warum die Förderung von Autor_innen mit Migrationshintergrund eine Förderung des politischen Theaters ist Maxi Obexer | 21
Interkulturelle Kulturförderung Eine kleine kulturpolitische Zwischenbilanz Peter Landmann | 25
Laudatio an die Finalteilnehmer_innen Pradeep Chakkarath | 29
Potentiale von IN ZUKUNF T Über die Möglichkeiten in der Begrenzung Tania Folaji | 33
IN ZUKUNFT I
Neue Stücke zur Gegenwart – 2011/2012 Die AutorInnen EVET, ICH WILL Sinan Akkus | 37
DAS GIF TIGE GRÜN DES HERZENS Fahime Farsaie | 49
DER REICHSTAG/K AFK A IN THE MIX – Weisse Körper – Schwarze Blicke – Das Ausgestellte Publikum Michael Küppers-Adebisi | 61
VOR WIEN Akin E. Şipal | 77
CALL SHOP Jubril Sulaimon | 93
OPERATION HEIMAT ODER AGENTUR AUSLÄNDERRAUSCH Nesrin Tanç | 107
BRUDER WERDEN Samia Susan Trabolsi | 121
SIEBEN MÄNNER FÜR HÜRMÜZ Tanya Zeran | 135
NORDSTADT Oleg Zhukov | 149
IN ZUKUNFT II
Neue Stücke zur Gegenwart – 2013/2014 Die AutorInnen MASCHINE WILL HEISSEN Daniel Ableev | 165
WAS SIE SUCHTEN Emre Akal | 179
ALLES FLIESST Luna Ali | 191
AUSGANGSSPERRE Musaab Sadeq Khaleel Al-Tuwaijari | 203
DER SIEBENTE KREIS Laia Alvares y Mestre | 213
DISCO HURGHADA Tania Folaji | 225
TÜRME DES SCHWEIGENS Mehdi Moradpour | 237
IN ZUKUNFT III
Neue Stücke zur Gegenwart – 2015/2016 Die AutorInnen AM ENDE DES HEUTIGEN TAGES Havva Gülcan Ayvalik | 253
YOUR VERY OWN DOUBLE CRISIS CLUB Sivan Ben Yishai | 267
MOT TEN Kenneth George | 275
YOUTOPIA/ABOUT:BLANK Mehdi Moinzadeh | 287
SPIEGELBLICKE Yasmina Ouakidi | 303
DAS GESPENST DER ARCHIVARIN Sonja Schierbaum | 317
LE GRAND TOUR Adnan S. Softić | 329
IN ZUKUNF T I–III — Jury-Mitglieder | 339 IN ZUKUNF T Projektteam | 341
IN ZUKUNF T – Neue Theaterstücke zur Gegenwart Tina Jerman, Maxi Obexer, Christian Scholze
Die Idee zu IN ZUKUNFT entstand 2009 in einer Zeit, die fast so etwas wie eine Auf bruchstimmung durchzog. Mit Barack Obama war gerade der erste Afroamerikaner ins Weiße Haus gewählt worden. Mit ihm verband sich die Hoffnung, dass die von Kriegen, Wirtschaftskrisen, gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und interkulturellen Spannungen geprägte Zeit zukünftig zumindest teilweise von positiver Kraft und Inspiration bestimmt sein würde. Im Juni 2009 sagte Obama in Kairo in seiner »Rede an die muslimische Welt«: »Es gibt so viel Angst und so viel Misstrauen, die sich im Laufe der Jahre aufgebaut haben. Aber wenn wir beschließen, dass wir an die Vergangenheit gebunden sind, werden wir niemals Fortschritte machen. Ich möchte das insbesondere an die jungen Menschen aller Glaubensrichtungen in allen Ländern richten – Sie, mehr als jeder andere, haben die Fähigkeit, diese Welt neu zu erdenken, neu zu gestalten. Wir alle teilen diese Welt nur für einen kurzen Augenblick. Die Frage ist, ob wir uns in dieser Zeit auf das konzentrieren, was uns auseinandertreibt, oder ob wir uns einem Unterfangen verpflichten, einer andauernden Bestrebung, Gemeinsamkeiten zu finden, uns auf die Zukunft zu konzentrieren, die wir für unsere Kinder wollen und die Würde aller Menschen achten.«
Die gemeinsame Kommunikation ist eine der Grundlagen für eine funktionierende Gesellschaft. Dazu gehören grundsätzliche intellektuelle Diskussionen, dazu gehört das Bewusstsein für die Probleme, aber auch die Wünsche des Nächsten. Dazu gehört die Möglichkeit, sich mit Anderen anhand von kulturellen Angeboten auszutauschen. In den durch Globalisierung und demografischen Wandel geprägten Zeiten ist es notwendig, die Chancen und Potenziale, die der Gestaltung einer vielfältigen Gesellschaft zugute kommen können, in ihrer Breite zu nutzen. Nordrhein-Westfalen hatte, insbesondere nach 9/11, die Bedeutung der interkulturellen Kulturarbeit erkannt. In einem Pilotprojekt wurden seit 2006 sechs ausgewählte Städte und Gemeinden darin unterstützt, interkulturelle Handlungskonzepte zu entwickeln, die der wachsenden Bedeutung eines vielfältigen Miteinanders Rechnung tragen. Begleitend dazu wurden gezielt Kulturprojekte mit interkulturellen Schwerpunkten gefördert. Das Land und besonders das Ruhrgebiet waren zudem in diesen Jahren noch von einer anderen Form des Auf bruchs geprägt. Die Planungen zum Kulturhauptstadtjahr 2010 machten deutlich, dass das interkulturelle Zusammenleben im Land als ein entscheidender Faktor für
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die Gesellschaft der Zukunft wahrgenommen wurde. Durch dieses Engagement entwickelte sich im Kulturleben eine Dynamik, die dem Miteinander in unserer Gesellschaft insgesamt sehr zugute kam. Zahlreiche Institutionen, Veranstalter, Künstler_innen und neue Netzwerke waren hier aktiv. Menschen mit und ohne Migrationshintergrund einzubeziehen, gemeinsam als Publikum zu gewinnen und zu künstlerischem Engagement zu motivieren, stand im Fokus. Bemerkenswerterweise gab es gerade beim Theater, das eigentlich am stärksten von der Kommunikation und Auseinandersetzung mit zeitgemäßen Thematiken lebt, einen sichtbaren Nachholbedarf. Produktionen mit interkulturellen Thematiken stellten, trotz der offensichtlichen demografischen Entwicklung, auf den Spielplänen der Theater Ausnahmen dar. Als Grund dafür gab man an, dass es viel zu wenige hochklassige Dramatiker_innen mit Migrationshintergrund gäbe. Die Absurdität einer solchen Behauptung liegt auf der Hand. Es kann ja nur Autor_innen geben, wenn einerseits ein Raum für sie existiert und sie andererseits Chancen bekommen, sich zu zeigen. Zudem ignoriert eine solche Aussage sämtliche Dramatiker_innen aus anderen Ländern, deren Stücke produziert werden und die sich mit Thematiken auseinandersetzen, die in vielerlei Hinsicht für Diskurse in Deutschland relevant sind. Es ist dies eine typische, sehr bequeme Positionierung, vermeintlich im Sinne einer Mehrheitsgesellschaft, die Themen bestimmt und vorgibt zu wissen, wie diskutiert werden muss. Das schließt zahlreiche Institutionen ein: Theater, Verlage, auch das Publikum mit seinen Erwartungshaltungen. Die Situation stellte sich so dar, dass es nicht nur zu wenig Theaterstücke gab, die sich mit dem allgemeinen interkulturellen gesellschaftlichen Miteinander beschäftigten, sondern auch ein Mangel an Stücken bestand, die sich mit den Situationen der migrantischen Gesellschaft auseinandersetzten. Umgekehrt bedeutet das, dass – bis heute – der Eindruck weit verbreitet ist, dass sich die Theater für bestimmte Publikumsschichten nicht interessieren. Schlimmer noch: Während im gesellschaftlichen Alltag immer wieder Themen mit interkulturellen Aspekten höchst emotional und mit extremer Polarisierung ausgetragen werden, spiegelt sich das in den Diskursen der Bühnen kaum angemessen wieder. Und noch seltener gelingt es, tatsächlich auch die Stimmen derjenigen zu Gehör zu bringen, die im Zentrum der Auseinandersetzungen stehen. Es gab und gibt eine fast schon paradoxe mentale Trägheit in großen Teilen der Bevölkerung, sich Themen zu stellen. Das hat viel mit einer sich stetig vergrößernden Kluft zu tun, die Menschen von der Politik und Wirtschaftsunternehmen trennt. Das nicht existierende Vertrauen in die Politik führt zu einer Individualisierung. Das Bedürfnis, unser Land und unsere Gesellschaft und die damit verbundenen moralischen Grundsätze zu tragen, sie gegen destruktive und menschenverachtende Strömungen zu verteidigen, ist verhältnismäßig gering. Seit Jahren wird die allgemeine Perspektive geprägt von Abgrenzungsbestrebungen. Während im Allgemeinen in den polemischen Debatten weithin eine Haltung des »Wir und die« vorherrscht, bedient die Politik in ihrer ewigen Jagd nach Wählerstimmen zum Teil diese konstruierten Feindbilder. Dies führt natürlich dazu, dass sich diejenigen, die in allem, was aus ihrer Sicht nicht deutsch ist, bestätigt fühlen. Eine Position, die das interkulturelle Miteinander und die Vielfalt als Chance und Zukunftsvision versteht, hat es vor diesem Hintergrund schwer. Selbstverständlich behauptet jede öffentliche Äußerung von offiziellen Seiten die Verpflichtung zu den Werten des Grundgesetzes. Das Handeln und die Zeichen, die ausgesendet wer-
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den, verdeutlichen jedoch Tag für Tag, dass hinter den Aussagen nicht viel steckt, um sie glaubwürdig zu machen. Diese Entwicklung führt in eine gesellschaftliche Sackgasse, die radikalen Positionen fast uneingeschränkte Möglichkeiten bietet. Dabei sind die Chancen, die sich bieten, wenn der gesellschaftliche Blick auf das interkulturelle Miteinander positiv ist, riesig. Potenziale zu nutzen, Talente zu entwickeln, den Menschen eine Inspiration zu geben, mit der man mit Hoffnung in die Zukunft blicken kann, all dies setzt Kräfte für eine Entwicklung frei, von der große Teile der Bevölkerung profitieren würden. Doch dazu gehören Vertrauen, Neugier und Offenheit. Das Gewähren von Chancen ist immer ein aktiver Prozess. Man muss sich darauf einlassen können, dass auch das, was andere beizutragen haben, eine Bereicherung ist. Die Künste müssen das im Rahmen ihrer gegebenen Möglichkeiten vorleben. Im internationalen Umfeld ist das selbstverständlich einfacher als im lokalen, regionalen oder nationalen. Während in Europa und der Welt also diskutiert wird, wie sich Länder und Gesellschaften entwickeln sollten, findet das auf den hiesigen Bühnen nur selten statt. Das Westfälische Landestheater (WLT) hatte bereits Anfang der 2000er Jahre mit einer Reihe von Produktionen sowie mit Projekten und der Mitarbeit in zahlreichen überregionalen Netzwerken im interkulturellen Bereich ein richtungweisendes Profil entwickelt. Das WLT erarbeitete Produktionen, die durch die umfangreichen Gastspielaktivitäten des Hauses im ganzen Bundesland zu sehen waren. So etwa Almanya, Schwarze Jungfrauen I + II von Feridun Zaimoglu und Günter Senkel oder Mia von Nick Wood. Damit gelang es, die Relevanz interkultureller Thematiken in die Breite zu kommunizieren und auch das Publikum außerhalb der urbanen Zentren zu erreichen. Gleichzeitig wurde immer klarer, dass der Mangel an geeigneten Theatertexten ein großes Problem darstellte. Ohne authentische Stimmen drohen klischeehaften Bilder zu entstehen. Darüber hinaus gibt es eine weit verbreitete Ignoranz über das, was an Themen und Konflikten die migrantischen Communities selbst eigentlich beschäftigt. Diese Diskrepanz mag auf den ersten Blick nicht so bedeutsam sein, tatsächlich ist sie aber entscheidend. Eine Verständigung über ein gemeinsames Miteinander setzt voraus, dass eine Sensibilisierung und ein Bewusstsein über die unterschiedlichen Lebensbedingungen und -perspektiven existieren. Nur mit diesem tiefergreifenden Blick kann man dann so feststellen, wie ausgeprägt auch die gemeinsamen Realitäten sind. Aus dieser allgemeinen Wahrnehmung entwickelten wir zusammen mit Maxi Obexer und Tina Jerman – unter der Federführung des WLT und gefördert vom Land Nordrhein-Westfalen – IN ZUKUNFT, eine einjährige Schreibwerkstatt für Dramatiker_innen mit Migrationshintergrund. Mit der interkulturellen Ausrichtung und der Absicht, mehr Präsenz von Autoren und Theatermachern mit Migrationshintergrund auf deutsche Bühnen zu bringen, war dieser Ansatz konsequent, gleichzeitig im deutschsprachigen Raum einzigartig und so zukunftsrelevant und vielversprechend. Von Anfang an war klar, dass sich diese Schreibwerkstatt von anderen, gängigen, Stückewettbewerben unterscheiden musste. Die eingeladenen Autor_innen sollten bei der Entwicklung ihrer Stücke über einen längeren Zeitraum betreut werden. Vor allem gab es keinerlei Vorgaben in Bezug auf die Wahl der Themen, die behandelt werden sollten. Die Autor_innen waren völlig frei. So-
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mit wurde sichergestellt, dass die Inhalte Raum finden wurden, die die Autor_innen wirklich beschäftigten. Um ein solches, durchaus ambitioniertes Projekt in einer angemessenen Qualität realisieren zu können, müssen sich Menschen zusammenfinden, die gleichermaßen dem Thema gewachsen wie auch in der Lage sind, das Ganze logistisch umzusetzen. Zum Schlüssel des Erfolgs von IN ZUKUNFT wurde die Kooperation des Westfälischen Landestheaters mit der Tina Jerman von der EXILE-Kulturkoordination, gut vernetzt und spezialisiert auf internationale und interkulturelle Kultur- und Bildungsprojekte, und mit Maxi Obexer, Professorin für Dramatisches Schreiben an verschiedenen Universitäten. Die mehrfach ausgezeichnete Dramatikerin und Autorin arbeitet seit vielen Jahren zu Themen wie Flucht und Migration. Sie hat die Autor_innen der drei Projektrunden von IN ZUKUNFT mit den Prinzipien des dramatischen Schreibens und der gesellschaftspolitischen Rolle des Dramatikers vertraut gemacht und bei der Entwicklung ihrer Stücke begleitet. Das Konzept, basierend auf dem Ansatz des gemeinsamen Agierens in einem neuen Raum, ging auf und funktionierte vor allem für die teilnehmenden Autor_ innen sehr gut. Bereits im Prozess von IN ZUKUNFT I entwickelte sich in der Gruppe ein starkes Gemeinschaftsgefühl: In den Workshops beteiligten sich alle intensiv, konstruktiv und aktiv an der Entwicklung aller Stücke und auch an den Diskussionen über die derzeitigen und die zukünftigen Formen einer interkulturellen Theaterlandschaft. Schon in der ersten Runde von IN ZUKUNFT wurde schnell deutlich, dass die gewählten Themen der Autor_innen sich von den üblichen Diskursen stark unterschieden. Es öffneten sich erhoffte, aber dennoch unerwartete Welten. Während zum Beispiel bis heute zahlreiche Stücke und Produktionen, die interkulturelle Thematiken aufgreifen, sehr ernst, politisch und problembeladen sind, zeigen die Stücke aus IN ZUKUNFT I eine große Vielfalt der Sicht- und Herangehensweisen, der Ästhetik und der thematischen Bedürfnisse. Das führte zu sehr lebhaften Diskussionen in den einzelnen Workshops. Die Teilnehmer_innen tauschten sich aus, kommentierten die entstehenden Stücke gegenseitig und leisteten so einen Beitrag zum Entstehungsprozess aller Werke. Die Workshops wurden so zum lebenden und lebendigen Beispiel für das, was IN ZUKUNFT in einem größeren Zusammenhang angestrebte. Aus diesem Miteinander, diesem, für den Theaterbetrieb neuartigen Diskurs entstehen vielschichtige und anspruchsvolle Werke. Letztlich ist das Ausdruck und zeigt sich das Potential der Vielfalt in unserer heutigen Zeit. Trotzdem muss das betont werden, damit überhaupt eine Wahrnehmung dafür existiert, die dem Begriff »zeitgemäß« gerecht wird. Drei Beispiele sollen dies verdeutlichen: Aus heutiger Sicht ist das offensichtlichste Beispiel dafür das Stück »Call Shop« von Jubril Sulaimon. Es beschreibt die zunehmend verzweifelte Lage eines jungen Afrikaners, Lamidi, der in einem Call Shop mit seinen Angehörigen telefoniert, weil er von ihnen dringend Dokumente für die deutschen Behörden braucht, um seine Aufenthaltsgenehmigung zu sichern. Doch für seine Verwandten und Freunde ist er derjenige, der es geschafft hat, nach Europa zu kommen und nun die Verpflichtung hat, deren Lebensexistenzen in seinem Heimatdorf zu sichern, die Menschen dort in ihren dramatischen Realitäten zu retten. Er steht aus zwei Richtungen unter fast unvorstellbarem Druck und ist kurz vor dem Zusammenbruch. Mit Verständnis kann er nicht rechnen. Die Behörden hier sind über jeden
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Menschen froh, den sie ausweisen können, die Angehörigen dort wähnen ihn in kolossalen Reichtümern. Jahre vor der sogenannten »Flüchtlingskrise« beschreibt dieses Stück bitterkomisch die Situation eines in vielfacher Hinsicht Flüchtenden. Noch 2013, zwei Jahre nach der Entstehungsphase, als das Stück am WLT uraufgeführt wurde, fühlten sich große Teile des Publikums nur am Rande betroffen. Selbst 2017 ist die Beschreibung einer Situation aus der Sicht eines Flüchtlings eher ungewöhnlich. In der allgemeinen politischen Auseinandersetzung geht es praktisch nie um einzelne Schicksale. Stattdessen wird über Obergrenzen polemisiert und die Willkommenskultur wieder und wieder für tot erklärt. Dem steht das unermüdliche konkrete Engagement vieler Menschen und zahlreicher Initiativen gegenüber. In der Bevölkerung ist das Bewusstsein für die individuellen Situationen der Betroffenen stark ausgeprägt. Trotzdem bleibt es oft nur eine Ahnung. Selbstverständlich ist die Lage von Menschen, die aus Kriegsgebieten fliehen, nochmal eine andere als die derjenigen, die auf brechen, um Lebensverhältnisse für sich und eine gesamte Community zu verbessern. Es ist ein gängiger Irrtum, glauben zu können, man könnte diese Ausgangslagen gegeneinander bewerten. Letztlich ist beides das Ergebnis von Lebensrealitäten, die vergleichbare Ursachen haben. Die Annahme, das hätte mit uns nichts zu tun, bzw. wir könnten diejenigen, die sich auf den Weg nach Europa machen, aussperren, ist verstörend ignorant. Und bis zu diesem Punkt haben wir den eigentlich wichtigsten, die menschliche Verantwortung anderen gegenüber noch nicht einmal berührt. Aber auch das muss erwähnt werden. Unser Wohlstand basiert auf der Not der anderen. In dem Maße, wie »Call Shop« der Zeit voraus war, bzw. selbst heute noch aktuelle Impulse geben kann, die der allgemeinen Auseinandersetzung gut tun würden, bietet jedes der entstandenen Stücke Perspektiven und Herausforderungen, die auf den Bühnen so kaum oder gar nicht zu finden waren/sind. Der generelle Mangel an interkulturellen Komödien auf deutschen Bühnen ist eklatant. Das ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass in fast allen anderen Genres interkulturelle Thematiken sehr erfolgreich komödiantisch behandelt werden. Sei es im Film, in Fernsehserien oder auch im Kabarett oder der Literatur. Das Theater hinkt da in einer kaum vorstellbaren Weise hinterher. In »Evet – Ich will« von Sinan Akkus werden in drei Handlungssträngen die Probleme gezeigt, die Paare haben, die gerne heiraten würden: Ein deutsch-türkisches Paar, ein kurdisch-türkisches Paar und ein schwules deutsch-türkisches Paar – sie alle müssen ihre jeweiligen Eltern dazu bringen, ihre Liebe zu akzeptieren und dem Glück nicht im Wege zu stehen. Die Verstrickungen und Nöte sind zahlreich, gemeinsam haben alle den Wunsch, das Leben künftig gemeinsam zu verbringen. Wie problematisch eine kurdisch-türkische Beziehung von anderen gesehen werden kann, ist jedem bewusst, der nur ein bisschen die Nachrichten verfolgt. Die Belastung, die das bedeuten kann, ist für jeden offensichtlich. Wichtig für uns als Zuschauer bzw. Leser ist, dass diese Konflikte und Auseinandersetzungen auch in Deutschland mit zunehmender Heftigkeit ausgetragen werden. Gerade auch wenn man berücksichtigt, dass es in jeder Migrationsgesellschaft immer starke Bestrebungen gibt, das, was als Ursprungskultur gesehen wird, zu pflegen und zu bewahren. Diese Haltung verhärtet Fronten. Ein solches potenzielles Konfliktpotenzial in einer Komödie zu behandeln, ist sehr klug, weil es die Möglichkeit bietet, über die Absurdität solcher Konflikte zu lachen. Das große Konfliktpotenzial
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verbindet die Situationen in den drei Handlungssträngen. Alle richten den Blick auf Lebenslagen in Deutschland. Es ist entscheidend, das immer wieder zu betonen. Es betrifft Menschen, die in Deutschland leben, die diese Gesellschaft und ihre Umgebung prägen, die mit ihr in Konflikt stehen und Teil von ihr sind. Das Leben jedes einzelnen hat Auswirkungen auf die Gesamtheit. Mit »Der Reichstag/Kaf ka in the Mix« hat Michael Kuppers-Adebisi einen sehr ambitionierten Ansatz gewählt, um den Rassismus, dem schwarze Menschen in Deutschland ausgesetzt sind, zu beschreiben. Er benutzt die Misshandlung, der die Kunstreiterin in Kafkas »Auf der Galerie« ausgesetzt ist, als Folie, um in einer hochgradig verkünstelten Sprachmontage, die sich Elementen von Hip-Hop genauso bedient wie des Surrealismus und der performativen Lyrik, die Brechung des schwarzen Individuums durch die Gewalt der Mehrheitsgesellschaft zu demonstrieren und spürbar zu machen. Dies hat eine außerordentliche Brillianz. Kafka als Grundlage zu nehmen ist allein schon deswegen sehr geschickt, als dass Kafka ja selbst praktisch sein ganzes Leben in Unterdrückungssituationen gelebt hat. Gleichzeitig gilt er uns heute als einer der wichtigsten und großartigsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Er ist als Mensch, wie auch als Künstler geradezu ein Symbol für den Wert des Einzelnen in einer ihn abweisenden Umgebung. Die Kunstreiterin, die vom Zirkusdirektor mit der Peitsche angetrieben wird, ist die Metapher für die weibliche Hauptfigur des Stückes, die mit allem, was ihr möglich ist, versucht, sich in der ihr feindselig gesinnten Welt zu behaupten. Die zweite IN ZUKUNFT-Runde unterschied sich stark von der ersten. Es war eine etwas andere Zeit, vor allem andere Menschen, eine neue Gruppenkonstellation. Es ist leicht nachvollziehbar, wie sehr die teilweise extrem rassistischen Diskussionen und Vorfälle, die seit einigen Jahren zu unserem Alltag gehören, auf Menschen wirken, die einen Migrationshintergrund haben und dadurch direkt betroffen sind. Es beeinflusst nicht nur den Alltag, vor allem verändert es die grundsätzliche Sicht auf das Leben. Intensiver als bei IN ZUKUNFT I rückte die offensichtliche Sicht auf das gesellschaftliche Miteinander in den Fokus. Also das Bewusstsein der Autor_innen, Teil der deutschen Gesellschaft zu sein und das Verständnis, dass Ereignisse, die im Leben des Einzelnen eine Rolle spielen, möglicherweise auch nicht in Deutschland, für die Gesellschaft in Deutschland bedeutsam sind. Es ist ein Prozess, zu diesem Bewusstsein zu gelangen. In diesen von heftigen Konflikten geprägt Zeiten, führt das bei den Autor_innen aus IN ZUKUNFT II dazu, sich einzubringen, auf die Wirkungen aufmerksam zu machen, die Ereignisse in anderen Ländern haben und das Bestreben, mit ihren Stimmen ihre Perspektiven deutlich zu machen. Damit geht eine Verschiebung der Diskurse einher. Aus besagtem Selbstverständnis entwickelt sich das Bewusstsein, dass die gewählten Themen gleich bedeutend sind, wie die von Autor_innen ohne Migrationshintergrund. »Ausgangssperre« von Musaab Sadeq Khaleel Al-Tuwaijari ist für diesen Aspekt ein hervorragendes Beispiel. Der Autor kam 2005 aus dem Irak nach Deutschland. Bis zu seiner Teilnahme an IN ZUKUNFT II hatte er nicht im professionellen Rahmen mit Theater zu tun. Er studierte hier Psychologie und arbeitete zunächst ehrenamtlich, später hauptberuflich als Flüchtlingsberater für das Deutsche Rote Kreuz im Saarland. Seine eigenen Erfahrungen, seien es die konkreten Kriegs- und Fluchterfahrungen oder die Situationen der Menschen, die er beriet, beeinflussten ihn in der Wahl seiner Themen und der Art des Schreibens.
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Das Stück erzählt von drei jungen Männern, die während einer israelischen Ausgangssperre in einer Wohnung aufeinander hocken, die sie in der Folge nicht mehr verlassen können. Da im Fernsehen nur ein Einheitsprogramm läuft (Pornos), beginnen sie, sich gegenseitig Geschichten zu erzählen. Damit wird eine Verbindung hergestellt zu Boccaccios »Dekameron«. Eine Gruppe von Menschen ist gezwungen, sich an einem Ort, den sie nicht verlassen können, zu beschäftigen. Bei Boccaccio ist es die Pest, bei Al-Tuwaijari eine Besetzung durch eine Militärmacht, bzw. der Krieg. Jeder der Charaktere ist unterschiedlich geprägt und dementsprechend unterschiedlich in der Lage, mit der Situation umzugehen. Auch wenn die Gewöhnung an die Situation an der Oberfläche scheinbar schnell eintritt, ist klar, dass die traumatischen Folgen lange nachwirken werden. Jede extreme Erfahrung begleitet die Menschen für den Rest ihres Lebens. Keiner weiß, wohin es sie als nächstes verschlagen wird. Aber die Erfahrungen, die sie mit sich tragen, haben immer starke Auswirkungen sowohl auf den direkt Betroffenen, aber auch auf alle Menschen, mit denen er in Kontakt kommt. In der Reflexion kann das zu kreativen Auseinandersetzungen darüber führen, wie Menschen miteinander umgehen, in den allermeisten Fällen bedeutet das jedoch meist eine starke Belastung für das gesellschaftliche Leben. Zu glauben, dass die durch Ausgrenzung abgewendet werden kann, ist offensichtlich illusorisch. Auch Tania Folaji setzt sich in ihrem Stück »Disco Hurghada« mit den Auswirkungen einer Gewaltsituation auf das Leben in Deutschland auseinander. In einer Ferienanlage in Ägypten befindet sich eine deutsche Reisegruppe, als in diesem Land die Revolution ausbricht. In den Wirren um diesen Umsturz, der Ungewissheit also, ob es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Militär und Demonstranten kommt, ob eine Ausreise möglich ist oder nicht, begeht der an einer seltenen Krankheit leidende Sohn einer der anwesenden Urlauber-Familien Selbstmord. Dabei sprengt er sich in der Disko der Ferienanlage in die Luft. Das Stück erzählt in der Folge, welche Auswirkungen diese Ereignisse für die Menschen haben, die zu der Reisegruppe gehörten. In den Medien in Deutschland wird der Selbstmord des jungen Mannes als Terroranschlag eines deutschen Terroristen dargestellt. Für die Eltern hat das katastrophale Folgen. Statt trauern zu dürfen, werden sie durch Berichterstattungen, die jedes Maß verlieren, fälschlicherweise in ein Licht gerückt, das mit der Realität nichts zu tun hat. In einem zweiten Handlungsstrang werden einige junge Frauen gezeigt, die sich durch die Ereignisse in Kairo inspiriert fühlen, sich politisch zu engagieren und eine »Facebook-Revolution« zu initiieren. Innerhalb kürzester Zeit gelingt es ihnen soviel Aufmerksamkeit zu erlangen, dass sie als politische Bewegung der Jugend wahrgenommen werden. Als Symbolfigur nutzen sie den DJ der Disko, in welcher der Selbstmord stattfand. Ein Mensch, für den die Folgen der ägyptischen Revolution unmittelbare Auswirkungen haben, wird zu einem Spielball einer europäischen Laune. Doch unsere Zeiten funktionieren so, dass die Medien immerfort neue Geschichten, Ereignisse und Sensationen brauchen. Die Bewegung fällt in sich zusammen und verpufft. Auch wenn der Grundton des Stückes satirisch ist, wird auch bei Tania Folaji immer deutlich, dass hinter der Komik zahlreiche ernste Themen liegen. Das Bild des Zusammentreffens einer existenziellen politischen Situation mit einer Gruppe von Urlaubern funktioniert perfekt. Es verdeutlicht den Gegensatz der Lebensperspektiven, die sich dennoch nicht voneinander trennen lassen. Das, was irgendwo
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auf der Welt passiert, hat in der heutigen Zeit der globalen Medialisierung Auswirkungen auf unser Alltagsleben. Die satirische Überhöhung in diesem Stück macht diese Realität umso deutlicher spürbar. In gleichem Maße eindrucksvoll wird uns die Gleichgültigkeit unserer Zeit vorgeführt. Sowohl die klassischen Medien als auch die Nutzer sozialer Medien lenken ihre Aufmerksamkeit in erster Linie auf das unmittelbare Ereignis. Das ist selbstverständlich keine neue Erkenntnis. Das bedeutet aber nicht, dass man diese Realität nicht weiter beanstanden sollte. Denn die eigentlichen Opfer leiden traumatisiert über einen langen Zeitraum an den Folgen. Sei es, weil sie ihren Sohn verloren haben, ihn zudem noch verleumdet sehen, sei es, dass eine Hoffnung auf neue Lebensinhalte und gesellschaftliche Erneuerungen stirbt. Die Facebook-Revolution kommt gar nicht erst auf die Beine, die Revolution in Ägypten wird instrumentalisiert. Für die beteiligten Menschen aber bleibt die Verwirrung angesichts von Dynamiken, denen sie nicht gewachsen sind. Einen vollständig anderen Ansatz, sich mit unserer Zeit auseinanderzusetzen wählt Daniel Ableev in seinem Stück »Maschine will heißen«. Das Stück ist ein Sprachkunstwerk in sich. In einer nicht näher beschriebenen Umgebung unterhalten sich zwei Menschen. Die Sprache, die sie verwenden, ist so verfremdet, dass wir als Zuhörer sie nur in Assoziationen verstehen. Durch die Umstellung von Buchstaben oder Silben gelingt es dem Autor ein Konstrukt zu erschaffen, das durch das bewusste Spiel mit Sinnentleerungen und gleichzeitigen -findungen eine neue eigene Poesie entwickelt. Die Figuren jedoch verlieren nach und nach ihre Sprachund Kommunikationsfähigkeit. Bei ihnen befindet sich eine Maschine mit einem eigenen Sprachprogramm. Während sich die beiden Protagonisten »unterhalten« probiert die Maschine Wörter oder Sätze aus, um sich einen Namen zu geben. In einer gegenläufigen Dynamik verlieren die Menschen die Fähigkeit, miteinander zu reden, bzw. sich zu verstehen, während die Maschine immer klüger wird. Das Stück ist eine wunderbar dadaeske Zumutung und gerade dadurch extrem aktuell und realistisch. Während die meisten der entstandenen Stücke aus verhältnismäßig konkreten Ausgangssituationen ihre Handlungen entwickeln, geht »Maschine will heißen« viel weiter. Das Stück nimmt seinen Ausgangspunkt bereits in einer zugespitzten Utopie, in der jede menschliche Kommunikation nahezu sinnentleert ist und nirgendwohin führt. Die beiden Protagonisten reden nur, ohne Ziel, fast ohne Inhalt. Eine Entwicklung gibt es bei ihnen nicht mehr. Das ist ein Menschenbild, das häufig in Science-Fiction-Filmen oder -Büchern zu finden ist. Die Menschheit hat das, was sie eigentlich ausmacht, von sich gestoßen. Empathie ist nur in zufälligen Momenten noch präsent. Demgegenüber hat die Maschine echte Not, denn sie hat das ganz ursprüngliche Bedürfnis nach benennbarer Identität. Es wird ein Szenarium entworfen, in dem die Maschinen nicht nur in einem technischen Sinn die Aufgaben der Menschen übernehmen, sondern auch stärker in der Lage sind, Gefühle zu entwickeln. Wie sehr aktuelle Ereignisse einen Einfluss auf das Leben von Menschen haben können wird einmal mehr deutlich an Yasmina Ouakidis Stück »Spiegelblicke«, das im Rahmen von IN ZUKUNFT III entstand. Die Werkstatt lief vom Herbst 2015 bis Mai 2016. Mitten in diese Zeit fielen die Silvestervorfälle am Kölner Hauptbahnhof. Dieses Ereignis hat für Yasmina Ouakidi bis heute nachhaltige Folgen. Bis zu
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dieser Nacht wurde sie als Frau mit algerischen Wurzeln wahrgenommen. Danach war sie Teil der nordafrikanischen Problemmenschen. In »Spiegelblicke« erzählt sie die Geschichte einer Frau algerischer Abstammung, die mit ihrer Familie, Herkunft und gesamten Vergangenheit gebrochen hat, um in der Lage zu sein, überhaupt ein erfolgreiches Leben führen zu können. Auf dem Höhepunkt ihrer Erfolge als Schauspielerin wird sie von den Realitäten, denen sie nicht entkommen kann, eingeholt. Ihr Vater hat einen Kindheitsfreund gefunden und befindet sich seit Monaten mit einer Kiste mit ihren Tagebüchern in seiner Wohnung. In Folge der traumatischen Erlebnisse des algerischen Befreiungskrieges gegen die Franzosen, die ihn in eine jahrzehntelange Schockstarre versetzt haben, ist es ihm unmöglich, mehr als das allernötigste zu sprechen. Seine einzige Sehnsucht ist seine Tochter, die jedoch den Kontakt mit ihm verweigert. »Spiegelblicke« ist ein Zeugnis von dem Preis, den Menschen über Generationen infolge von Kriegen bezahlen. Der Unabhängigkeitskrieg in Algerien ist bis heute nicht aufgearbeitet. Tausende Menschen mussten fliehen, in der direkten Kommunikation wird er tabuisiert, damit nicht zur Sprache kommt, auf welcher Seite jemand gestanden hat. Auf beiden Seiten wurden unbeschreibliche Kriegsverbrechen begangen. Dieses Schweigen wirkt bis heute nach und hat extreme Auswirkungen auf Generationen in Algerien, Frankreich oder in all den Ländern, in denen Menschen aus dieser Region heute leben. Es führt dazu, dass Menschen mit ihrer eigentlichen Identität brechen, sie verleugnen, um eine Existenzgrundlage zu haben. Dieser Schritt ist allerdings aussichtslos, da eine konstruierte Identität niemals die eigentliche Identität aufheben kann. Doch das Bemühen ist ein derartiger Ausdruck der Verzweiflung und Ausweglosigkeit, dass er ein mehr als deutliches Bild auf die Situationen der Menschen wirft, die in Deutschland mit den Folgen der Kriege, in die ihre Väter, Großväter, Eltern involviert waren, klar kommen müssen. Die im Rahmen von IN ZUKUNFT III entstandenen Stücke unterscheiden sich in Form und Anspruch wieder grundlegend von den Stücken aus den ersten beiden Runden. Allein drei der Stücke verlassen die Form der klassischen Dramatik. Sowohl Sivan Ben Yishai als auch Adnan S. Softic und Mehdi Moinzadeh verstehen Theater als einen äußerst offenen Prozess, der Texte im Sinne von Elfriede Jelinek als Fläche wahrnimmt. Der Umgang mit ihnen bietet Freiheiten. Bei Mehdi Moinzadeh geht das soweit, dass er seinen Text als ständig erweiter- und veränderbare Grundlage zur Verfügung stellt. Er nimmt damit die Dynamik gesellschaftlicher Veränderungen mit in den kreativen Schreibprozess. So wie sich Lebens- und Gesellschaftssituationen permanent verändern, gilt es auch den Text seines Stückes immer zu erweitern. Das Stück wird damit zu einem lebenden Organismus, das Theater ein Raum, in dem sich ein Stück, obgleich es immer einen bestimmten Titel trägt, von Abend zu Abend unterscheidet. Tagesaktuelle Ereignisse, denen wir ständig ausgesetzt sind, können, bzw. müssen so eingearbeitet werden, dass sie dem Publikum die Möglichkeit bieten, im Verständnis der Zusammenhänge des Textes zu bleiben. Auf diese Weise befindet sich der Autor, unabhängig von seiner Herkunft, mitten im Jetzt. So wie wir als Publikum auch. Die Sichtweisen auf das Heute synchronisieren sich. Es wird klar, dass Herkunft eine sekundäre Funktion hat, entscheidender ist, dass wir uns gemeinsam jetzt in einer Situation befinden, aus der heraus wir Ereignisse wahrnehmen, verstehen und auf sie reagieren. Nun, acht Jahre, drei IN-ZUKUNFT-Runden, 24 Stücke, vier Uraufführungen, zahlreiche Preise und bereichernde Erfahrungen später, ist das Land, in dem wir
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Tina Jerman, Maxi Obexer, Christian Scholze
leben, ein anderes. Auf eine Weise, mit der kaum jemand gerechnet hat. Die Spielpläne der Theater haben sich in den letzten Jahren deutlich verändert, selbst kleinere Häuser haben begonnen, sich mit interkulturellen Thematiken zu beschäftigen. Dazu kommt, dass auch Ensemble-Strukturen sich verändert haben. Die Diversität der Gesellschaft beginnt nun spürbar, sich auch in den Theatern widerzuspiegeln. Mittlerweile sind wesentlich mehr Produktionen von Stücken von Autor_innen mit Migrationshintergrund zu sehen. Das hat starke Auswirkungen auf die Wahrnehmung durch das Publikum und damit auch auf die individuellen Auseinandersetzungen mit den Entwicklungen in unserem Land. So kann das Theater zu einer größeren Sensibilität beitragen, sowohl für die Schicksale der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen, wie auch neugierig machen auf neue und ungewohnte Perspektiven. Gleichzeitig ist es so, dass diese Entwicklung nicht im gleichen Tempo voranschreitet, wie sich das gesamtgesellschaftliche Klima verändert. Die Notwendigkeit, das kulturelle Miteinander permanent zu beschreiben, sich zu stellen und aus allen Perspektiven zu beleuchten, hat ungeahnte Ausmaße angenommen. Seit einigen Jahren gerät das Fundament, auf dem sich die westlichen Gesellschaften gründen, ins Wanken. Wir können praktisch mitansehen, wie es extremistischen Personen und Gruppierungen gelingt, den Boden, auf dem wir stehen, bröckeln zu lassen. Dabei zeigt sich, wie labil und beeinflussbar wir sind, wenn wir über einen langen Zeitraum destruktiven Kräften ausgesetzt sind. Manchmal entsteht dabei der Eindruck, dass auch die Protagonisten in der Politik der Brutalität und Radikalität, die sich breitgemacht hat, mit zunehmender Hilflosigkeit gegenüberstehen. Gerade in solchen Zeiten bekommen Projekte wie IN ZUKUNFT eine besondere Bedeutung. Weil sie uns ins Bewusstsein rufen, wie wunderbar eine Gesellschaft ist, die sich permanent mit neuen Impulsen bereichert. Wie wertvoll all die unterschiedlichen Lebenswahrnehmungen sind, die uns ausmachen können. Und wie großartig die Vision ist, gemeinsam eine Gesellschaft und eine Zeit zu prägen. Das Theater kann nicht die Welt verändern, aber es kann durch seine zahlreichen Möglichkeiten eine Rolle einnehmen, ein Gewicht sein, ein Halt. Weil es uns Räume öffnet für das, was uns inspiriert, uns zeigt, was unser gemeinsames Leben ausmacht. Dazu gehören entscheidend unterschiedliche Stimmen. Einstellungen, die geprägt sind von Hintergründen, die uns möglicherweise nicht vertraut sind und die uns dennoch so nah sind, dass sie sehr offensichtlich viel mit uns zu tun haben. Diese Vertrautheit im Miteinander herzustellen gelingt mit Theaterstücken, die verdeutlichen, dass unsere Existenz sich aus viel mehr Einflüssen und Aspekten zusammensetzt, als wir in der Regel wahrhaben. Mit den Autor_innen und ihren Stücken, die im Rahmen von IN ZUKUNFT die Gelegenheit wahrgenommen haben, ihre Geschichten zu erzählen, haben wir als Leser und als Publikum die Chance, einen Teil des bröckelnden Bodens wieder zu stärken. Das Projekt leistet einen Beitrag. Wie groß der ist, hängt von uns allen ab. IN ZUKUNFT ist Teil einer größeren Entwicklung. Unser Wunsch ist es, den Stücken mehr Gehör zu verschaffen, sie zu verbreiten, neugierig zu machen auf neue künstlerische Themen, Sichtweisen und Potentiale und die Bühnen in unserem Land für diese neue Geschichte und ihre Geschichten zu gewinnen.
Warum die Förderung von Autor_innen mit Migrationshintergrund eine Förderung des politischen Theaters ist Maxi Obexer
I. Der vorliegende Sammelband umfasst Theaterstücke, die im Zuge von drei jeweils einjährigen Workshops entstanden sind. Die Werkstätten dienten der künstlerischen und politischen Auseinandersetzung und sollte es den Autor_innen ermöglichen, ihre Themen betreut und begleitet zu reflektieren und an ihren Werken zu arbeiten. Sie sollten Autor_innen fördern, die mehr als nur eine Heimat in sich tragen, die selbst eingewandert sind, oder die Migration als Zuschreibung und Stigma erfahren. Die folgenden Reflexionen sollen dazu dienen, die gesammelten Erfahrungen aus diesen drei Zyklen politischer und künstlerischer Auseinandersetzung zu vermitteln. Dazu gehört eine Frage, die oft gestellt wurde: Warum eine solche Werkstatt anbieten, die sich in besondere Weise an Autor_innen richtet, die mit dem »M«-Wort, dem Migrationshintergrund, in enger Verbindung stehen oder in Verbindung gebracht werden? Die Frage begleitete mich während dieser drei Werkstätten. Die Debatten, die wir darüber führten, die Tatsache, dass es Zeit und Raum gab für jede Auseinandersetzung, schließlich das gemeinsame Arbeiten an den Werken, ermöglichte mir verschiedene Einblicke und Antworten darauf. Bereits beim Anblick der öffentlichen Ausschreibung überlegte manche_r Autor_in, ob sie an einer Werkstatt teilnehmen sollte, die sich ausschließlich an solche mit einer migrantischen Biographie richtete. Das Ausschließliche, gar das Ausschließende daran: erinnerte es nicht zu sehr an die Ausschlussmechanismen, die eine Biographie mit Migrationshintergrund während ihre oder seines Lebens durchzieht? Untermauert eine solche Werkstatt nicht die Zuschreibung auf ihr unterstelltes ›Anderssein‹? Ein Dilemma – oder eine Scheindebatte? Andersherum gefragt: was ist das Ziel? Und was ist die gegenwärtige Situation? Immer mehr Menschen teilen die Erfahrung des Aus- und Einwanderns, sind entweder selbst aus- und eingewandert, oder werden damit assoziiert, weil ihre Eltern oder Großeltern es sind. Es gab und es gibt tausend Gründe dafür, ein Land zu verlassen und woanders anzufangen. Die Gesellschaften sind längst durch-
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Maxi Obexer
wandert. Die Kulturlandschaft, die Theaterszene ist es noch nicht, auch wenn sich inzwischen einiges im Auf bruch befindet. Kultur, Literatur, Theater und Kunstszenen haben ihre Repertoires und ihre Themen; wer bestimmt sie? Sicher nicht die, die von diesen kulturellen Szenen noch weitgehend ausgeschlossen sind oder die sich dort nicht vertreten sehen. Beides bedingt einander: eine Dominanzgesellschaft, die sich ihrer sicher ist in der Auswahl ›ihrer‹ Themen, und eine Migrationsgesellschaft, die sich in deren Kreisen und Themen weder vertreten noch angesprochen sieht. Wo ansetzen? Die Narrative der Migration, der Lebensrealität der Vielen, müssen erst noch geschaffen werden. Zumindest die, in der sich die Normalität behauptet, in der keine Draufschau stattfindet, keine Fremdansicht, in der sich keine neuerliche exotische Behauptung des »Anderen« einschreibt. Stattdessen Stoffe und Stücke, die das normale Leben ausleuchten: gegenwärtig, allgegenwärtig, adäquat zur Gegenwart des Alltags. Und nicht nur das. Spätestens mit den Einwanderern gelangten und gelangen politische, gesellschaftliche, soziale Realitäten ins Land. Weder Deutschland noch irgendein anderes Land kann eine Kultur behaupten, in der sich ein geschlossener oder ein abschließbarer Nationalstaat repräsentiert. Wir befinden uns alle in migrantischen Realitäten, in der die politischen Realitäten der verschiedenen Länder ineinander einwandern. Entsprechend müssen besonders die gehört werden, die darüber schreiben können. Die Vertraute der Welten sind, von denen sie uns berichten, die Momente darstellen, Realitäten beschreiben, Zusammenhänge erschließen. Die Teilnehmenden dieser Werkstätten müssen wir uns als Expert_innen denken, mit Erfahrungsschätzen, Kenntnissen, einem Wissen und einem erweiterten Reflexionsgrad, Bewohner von Zwischenwelten, den doppelten, vervielfältigten, manchmal zerrissenen, zwiespältigen Welten, denen viele Heimaten bekannt sind, denen aber die eine feste Heimat oft verwehrt bleibt. Und natürlich sind die Prozesse nicht abgeschlossen, nicht die Denkprozesse, nicht die künstlerischen Prozesse. Genau dafür steht die Schreibwerkstatt: Als Reflexionsraum, in dem nicht in Einzelhaft gedacht wird, sondern mit vielen, in dem vorwärts gedacht wird, auch, um manches wieder hinter sich zu lassen. Worum es geht: Welten hervorzubringen, nicht, weil es sich um die ganz anderen Welten handelt, sondern weil es Welten sind, die gerne ignoriert, übersehen, nicht wahrgenommen werden und das, obwohl sie Alltag sind für alle. Es geht um eine Würdigung von Erfahrungen, von Transformations- und Reifeprozessen, die von vielen durchlebt und bestanden werden, ohne dass ihnen dafür groß Anerkennung gezollt wird. Dabei sind es die Reifeprozesse einer Gesellschaft.
II. Spätestens jetzt wird wohl auch deutlich, warum diese Dramen-Werkstatt eine politische Dimension enthält und die Teilnahme daran ein politisches Bewusstsein ebenso ansprach, wie das künstlerische. Obwohl ein solches keineswegs erwartet wurde. Es traf dennoch ein. Wer sich mit seinem/ihrem Stückvorhaben bewarb, hatte einmal das künstlerische Angebot vor Augen und die Möglichkeit, damit ein Jahr lang betreut und begleitet zu werden. Sie oder er wusste auch: es ist ein politisches Momentum, ein Schritt in die potenzielle Veränderung. Wer wollte, dass künf-
Förderung von Autor_innen mit Migrationshintergrund
tig neue, andere Stücke, andere Realitäten auf die Bühne kommen, Realitäten die den Vielen entsprechen, hatte mit diesem Workshop die Möglichkeit dazu. Dieser Hintergedanke mag entscheidend dafür gewesen sein, dass in allen drei Werkstattreihen jeweils eine Gruppe künstlerisch und politischer Menschen zusammentraf, die ihrerseits Stücke und Stoffe vor sich hatten, die auf die unterschiedlichste Weise immer auch politisch waren. Es ist wohl dies die bedeutsamste Erkenntnis: dass diese Werkstätten im direkten Zusammenhang stehen mit der Förderung der politischen Dramatik. Und damit einer Dramatik, die wieder wichtig wird und bedeutsam. Die Stücke, die entstanden sind, stellen ein Angebot dar für das Theater, nämlich die Relevanz zurückzugewinnen, die entsteht, wenn sich die Theater der Vielfalt der Gesellschaft, ihrer Themen und ihrer Fragen öffnen. Und gerade die Öffentlichkeit eines Theaters ist der geeignete Ort, um die gesellschaftlichen Fragen der Zeit zu bewältigen und die Auseinandersetzungen zu führen, die uns als Gesellschaft in fortwährender Veränderung benötigen. Es lässt sich ein weiterer Zusammenhang feststellen: Mit der Vielfalt an Stoffen und politischen Realitäten, aber auch verschiedenen literarischen und dramatischen Bezügen, kam eine Vielfalt dramatischer Ausdrucksweisen zusammen, die als Grundlage für eine innovative Dramatik gedient hat. Die wiederum speist sich aus dem politischen Moment in den Stoffen. Denn wenn politische Inhalte reflektiert werden, müssen es auch die künstlerischen Formen. Ein entscheidender Grund, warum gerade das politische Schreiben im Theater das größte Erneuerungspotenzial in sich trägt: Nur eine Kunst mit dem Anspruch, die relevanten Konflikte zu benennen, strebt entsprechend auch nach der Erneuerung im künstlerischen Ausdruck. Das Dialogdrama, chorische Formen, Performance-Texte, Monologe und etliche Formen, die in sich die geschlossenen und offenen Formen vereinigen, sind aus den Werkstätten hervorgegangen. Nach drei Workshop-Zyklen, mehrfach inszenierten Stücken, szenischen Lesungen, Preisen, sowie anschließenden Förderungen und Stipendien, können wir sagen: IN ZUKUNFT konnte das realisieren, wofür es seit seiner Gründung einstand: Etliche der geförderten Autorinnen und Autoren sind auf ihrem Weg, wurden von bedeutenden Theaterverlagen übernommen, erhalten Stückaufträge und Einladungen. Sie und ihre Stücke sind sichtbar und gehören bereits jetzt zu einer kulturellen Landschaft, von der wir in Zukunft mehr Vielfalt, mehr Lebendigkeit und mehr Innovation erwarten dürfen.
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Interkulturelle Kulturförderung Eine kleine kulturpolitische Zwischenbilanz 1 Peter Landmann Für Kulturpolitiker ebenso wie für Kulturschaffende ist eine der aktuellsten und wichtigsten Fragen nach wie vor die Frage, wie wir mit der »Diversity«, mit der Vielfalt in unserer Gesellschaft umgehen, mit den Unterschieden zwischen den Menschen z. B. im Hinblick auf ihre ethnische und kulturelle Herkunft, ihr Geschlecht, im Hinblick auf ihre Gesundheit bzw. Behinderung, ihr Alter, ihre sexuelle Orientierung, ihre soziale Stellung und was dergleichen für die Teilhabe an der Kultur relevante Unterschiede noch mehr sind. Das ist ein sehr weites Feld und es betrifft natürlich nicht nur die Kultur, sondern viele andere Lebensbereiche bzw. Politikfelder in ähnlicher Weise. Es ist ein zentrales, gesamtgesellschaftliches und hochaktuelles Thema. Ca. seit 2006 hat sich die nordrhein-westfälische Kulturpolitik mit der Frage befasst, wie die Kultureinrichtungen, die Akteure der »freien Szene« und die öffentlichen und die privaten Kulturförderer auf die, durch Migration und Flüchtlinge, aber auch durch die Globalisierung verursachte Veränderung unserer Gesellschaft reagieren sollten. Allmählich ist ein neues Kulturpolitik-Feld entstanden, mit dem sich das Kulturministerium NRW in stetig wachsendem Maße forschend und fördernd auseinandergesetzt hat. Dabei hat NRW am Anfang unter den Bundesländern durchaus eine Führungsrolle eingenommen und zahlreiche Impulse mit bundesweiter Wirkung gesetzt. Inzwischen ist die Interkulturalität zumindest in allen »alten« Ländern ein eigenständiges kulturpolitisches Handlungsfeld von immer noch weiter wachsender Bedeutung. Eines der herausragenden Projekte Nordrhein-Westfalens war ab 2010/11 die Schreibwerkstatt für Theater-Autor_innen, das Förderprogramm IN ZUKUNFT, dessen Dokumentation dieser Band gewidmet ist. Das damals schon seit geraumer Zeit interkulturell profilierte Westfälische Landestheater Castrop-Rauxel war – in Zusammenarbeit mit Exile-Kulturkoordination, Essen – der ideale Initiator, Partner, Praxisort für dieses Projekt. Das Erscheinen dieser Dokumentation ist willkommener Anlass noch einmal auf die Grundfragen dieses Kulturpolitikfeldes zu schauen und eine kleine Zwischenbilanz zu ziehen: 1 | Dieser Artikel ist eine gekürzte, überarbeitete und aktualisierte Fassung eines Vortrages, den der Autor am 2. Juni 2015 anlässlich der Preisverleihung des BKM-Preises Kulturelle Bildung auf Schloss Genshagen gehalten hat.
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Über drei »Essentials« ist man sich im kulturpolitischen Diskurs heute, wenn ich recht sehe, einig: Wir sind eine Einwanderungsgesellschaft, und wir müssen adäquate Antworten darauf finden, gerade auch im Kulturbereich. Zweitens: Die interkulturelle Vielfalt, die Verschiedenheit der hier aufeinander treffenden Kulturen ist nicht ein Problem, sondern eine große Stärke, ein Potential unserer Gesellschaft, sie birgt große Chancen- und das gilt gerade für die Kultur. Und daraus folgt drittens: es geht nicht um Integration, in dem Sinne, dass man daran arbeiten müsste, die Differenz durch einseitige Anpassung der »Fremden«, der Einwanderer, an die herrschende Kultur (»Leit-Kultur«) zu beseitigen. Es ist sicherlich nicht nötig und hier jedenfalls nicht möglich, dem ziemlich intensiven, vielschichtigen und durchaus kontroversen Diskurs, der über interkulturelle Kulturpolitik seit geraumer Zeit geführt wird, im Einzelnen nachzugehen. Die interkulturelle Öffnung unseres Kulturlebens ist in den vergangenen Jahren fraglos erheblich vorangekommen. Wir haben da große Fortschritte gemacht, in einigen aktiv fördernden Bundesländern stärker als in anderen. Viele Städte (z. B. Dortmund, Mannheim, München) haben Leitfäden für die interkulturelle Öffnung ihrer Kultureinrichtungen verabschiedet und arbeiten an deren Umsetzung. Besonders im »freien«, nicht-kommunalen bzw. nicht-staatlichen Bereich haben sich Initiativen/Organisationen herausgebildet, für die die Interkulturalität ihrer Arbeit eine Selbstverständlichkeit oder sogar ihre Hauptzielrichtung ist. Es gibt da manche, deren Arbeit nicht mehr nur als interkulturell, sondern bereits als »transkulturell« zu bezeichnen ist. Aktuell erleben wir zudem eine weiterhin anhaltende, beeindruckende Welle von Kultur-Aktivitäten für und mit Flüchtlingen. Also – es gibt viele großartige Initiativen – und doch haben wir – schauen wir auf die deutsche Kulturlandschaft insgesamt – im Feld der Interkultur noch eine große Wegstrecke vor uns! Beispielsweise sind kulturelle Bildung und Interkultur in den Kulturministerien und in den Kulturämtern zumeist zwei getrennt operierende Arbeitsfelder. Obwohl es eigentlich sehr naheliegt, werden sie politisch und fördertechnisch zu selten zusammengedacht. Das ist deshalb verwunderlich, weil sie ja in der Praxis nahezu zwingend aufeinander stoßen: jedes kulturelle Bildungsprojekt in der Schule, oder im Stadtraum, jedes Projekt also, dessen Teilnehmer_innen einen mehr oder weniger vollständigen oder zufälligen Querschnitt der Gesellschaft darstellen, stößt auf einen hohen Anteil von Menschen mit (unterschiedlichem) Migrationshintergrund und ist deshalb, ob die Beteiligten das wollen oder nicht, zwangsläufig ein interkulturelles Projekt. Die Frage ist nur, ob dann jeweils die notwendige interkulturelle Kompetenz vorhanden ist, ob spezifisch professionelles Know how verfügbar ist. Die kritische Frage ist, ob Menschen mitarbeiten, die die durch einen eigenen Migrationshintergrund entstehende spezifische Perspektive, die ein spezifisches interkulturelles »know how« einbringen; und wenn das in einer Kultureinrichtung mangels personeller und/oder finanzieller Ressourcen erstmal noch nicht möglich ist – ob dann zumindest die spezifischen Herausforderungen der kulturellen Vielfalt bewusst und kreativ angenommen und im Sinne eines »learning by doing« in praktische, zukünftig nutzbringende Erfahrung umgesetzt werden. Den Bewusstseinswandel im Umgang mit der kulturellen Vielfalt haben wir zu einem großen Teil der »Freien Szene« zu verdanken. Die relativ kleinen, »freien« Institutionen und Projekte sind – so mein Eindruck – auch in diesem Punkt wieder einmal viel schneller und beweglicher am Puls der gesellschaftlichen Entwicklung
Interkulturelle Kultur förderung – Eine kleine kulturpolitische Zwischenbilanz
als die großen etablierten Kulturinstitutionen. Diese vielen kleinen Projekte wirken in der Kulturlandschaft als Vorreiter, als Treibsätze. Vor allem entsteht durch sie interkulturelle Kompetenz, an der es im herkömmlichen Betrieb der Kultureinrichtungen und ihrer kulturelle-Bildung-Aktivitäten oftmals noch mangelt und die dringend benötigt wird. Dabei sind wir im Bereich der Kulturellen Bildung, so scheint es, erheblich weiter als in der Kultur insgesamt. Schaut man sich zum Beispiel die Liste der für den BKM-Preis Kulturelle Bildung nominierten Projekte der letzten Jahre an, so fällt gleich auf, dass die freie Szene überproportional vertreten ist. Und es fällt weiter auf, dass fast alle Projekte der kulturellen Bildung sich mit der kulturellen Vielfalt aktiv auseinandersetzen. Viele kommen im Titel gar nicht mehr als »Interkultur-Projekte« daher, haben vielmehr ganz selbstverständlich interkulturellen Charakter – weil kulturelle Bildung vor Ort anders einfach gar nicht (mehr) geht. Die großen Tanker, die etablierten Kulturinstitutionen machen ja inzwischen alle in erheblichem Umfang kulturelle Bildung, tun sich aber mit diversity-orientierten und insbesondere interkulturellen Projekten der kulturellen Bildung in den meisten Fällen noch ziemlich schwer, was durchaus mit der Tatsache korrespondiert, dass sie auch in ihrem »hochkulturellen« Hauptgeschäft damit immer noch eher am Anfang stehen. Viele sind sich der Bedeutung des Themas inzwischen sehr bewusst und so gelingt es der freien Szene gerade im Bereich der Interkulturalität ziemlich häufig, große öffentlich finanzierte Kultureinrichtungen als Kooperationspartner mit ins Boot zu holen. Anders ausgedrückt: die Großen holen sich gerade auf diesem Gebiet gerne Hilfe von den Kleinen. Die immer häufiger stattfindende Kooperation von öffentlich finanzierten Häusern und freien Ensembles/ Organisationen scheint besonders häufig und besonders erfolgreich zu funktionieren im Bereich interkultureller oder transkultureller Projekte. Es ist wohl auch kein Zufall, dass es sich dabei in der Mehrzahl der Fälle um Theater handelt. Im Bereich der Theater ist das Thema vergleichsweise besonders aktuell und virulent. Das ist zum einen der jetzt vom Maxim-Gorki-Theater in Berlin angeführten, sich durchaus polemisch als grundlegende Alternative zum herkömmlichen deutschen Theater verstehende Bewegung des sog. »postmigrantischen Theaters« zu verdanken. Zum andern ergibt sich eine erhöhte Aufgeschlossenheit für eine interkulturelle Öffnung bei der wachsenden Zahl von Theatern, die sich verstärkt in die jeweilige Stadt hinein öffnen, den öffentlichen, den Stadtraum zum Gegenstand und zum Ort der Theaterarbeit machen. Tut man das, stößt man halt in ganz anderem Maße auf die kulturelle Diversität unserer Städte und der Gesellschaft, als wenn man lediglich zur Rezeption künstlerischer Produktionen und zur Teilnahme an darauf bezogenen kulturellen Bildungsangeboten in sein Theaterhaus einlädt. In Theatern, die sich auf den Weg in ihre Stadt machen, rückt auch die kulturelle Bildung mit einer gewissen Zwangsläufigkeit mehr ins Zentrum der Arbeit und wird stärker auf kulturelle Diversität ausgerichtet. Ein verstärktes Reagieren der Kultureinrichtungen, eine weitergehende interkulturelle Öffnung, ist nötig. Was das konkret und im Einzelnen heißt – »interkulturelle Öffnung« – das ist natürlich ein äußerst komplexes Thema, das ich hier nicht annähernd ausbreiten kann. Deshalb nur ein paar grobe Striche: Eine besonders spannende, und für die Zukunft der Kultur in unserer Gesellschaft insgesamt höchst brisante, »Diversity-Frage« ist die nach der Stellung der Menschen mit Migrationshintergrund in unserem
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Kulturleben, genauer: der Teilhabe dieser Bevölkerungsgruppen am Kulturleben. Dies ist wohl die Kernfrage der interkulturellen Kulturarbeit. Es geht also keineswegs nur darum, Migration, Flucht, Verschiedenheit und Gemeinsamkeiten der Kulturen und Fragen der kulturellen Identität zum Thema der künstlerischen Arbeit bzw. der kulturellen Bildungsarbeit zu machen. Es geht vielmehr vor allem darum, künstlerische Arbeit und kulturelle Bildung aus migrantischer und postmigrantischer Perspektive zu ermöglichen. Und das bedeutet: es geht darum, Menschen mit Migrationshintergrund auf allen Ebenen in allen Rollen des Kulturbetriebs mehr Mitwirkungsmöglichkeiten einzuräumen. Es gibt inzwischen genug Beispiele in allen Kultursparten, die deutlich machen, dass es ein diskriminierender Unsinn ist, sich dem entgegenzustellen mit der »Sorge« um die Qualität der künstlerischen Ergebnisse. Eine solche Öffnung unseres Kulturlebens macht keinerlei Abstriche an dessen Qualität erforderlich. Das zeigt nicht zuletzt das Förderprojekt IN ZUKUNFT, das, in dem es Theaterautoren fördert, die aus migrantischer Perspektive Stücke für das deutsche Theater schreiben, zielgenau auf die Kernfrage interkultureller Entwicklung ausgerichtet ist. Interkulturelle Öffnung bedeutet im Übrigen, die Teilhabe der Menschen mit Migrationshintergrund als Kultur-Konsumenten, als Publikum und als Teilnehmer an Projekten der kulturellen Bildung wesentlich auszuweiten. Die Zusammensetzung unserer Einwanderungsgesellschaft muss sich in den Sälen in weit größerem Maße widerspiegeln, als das zurzeit noch der Fall ist. Soweit es dabei darum geht, das Interesse der Menschen an Kulturangeboten stärker zu wecken, ist die Erkenntnis wichtig, dass Menschen mit Migrationshintergrund keineswegs eine einheitliche Zielgruppe sind. Sie haben vielmehr sehr verschiedene Interessen, Bildungsstände, soziale Status etc. Mit anderen Antworten: interkulturelle Öffnung des Kulturlebens ist alles andere als einfach, setzt weit mehr voraus, als nur einen guten Willen und ist in jedem Fall ein langwieriger Entwicklungsprozess. Die deutsche Kulturlandschaft ist da zweifellos auf einem guten Weg, auch wenn das manche Aktivisten der MigrantenKulturszene, voll verständlicher Ungeduld, nicht wahrzunehmen scheinen. Es gibt im Bereich der interkulturellen Kulturarbeit insgesamt also noch erhebliche Entwicklungsarbeit zu leisten. Dabei geht es nicht um ein paar kleinere Spezialfragen des Kulturlebens, nicht um ein »Nischenthema«, sondern um die Entwicklung, die Zukunftsfähigkeit der Kulturlandschaft und ihre zukünftige Relevanz für die Gesellschaft, d. h. um ihre Legitimität bzw. die Legitimität ihrer öffentlichen Finanzierung insgesamt.
Laudatio an die Finalteilnehmer_innen Pradeep Chakkarath
Die Jury hat entschieden. Sie hat entschieden, wen von den Juror_innen sie im Namen der Jury sprechen lassen wird. Sie hat sich mit der ihr eigenen geballten Finesse für den entschieden, der etwas Farbe in die ganze Sache bringen könnte. Und deshalb stehe jetzt ich vor Ihnen, ein Orientale, und spreche zu Ihnen, den Abendländern. Das tut mir natürlich leid. Besonders leid tut mir, dass keiner mir sagte, was genau ich eigentlich sagen soll. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie bezeichnend das für diese Jury war: Sie konnte ja auch den, literarisch so talentierten Finalist_innen nicht sagen, was sie eigentlich hätten anderes sagen sollen als das, was sie gesagt haben. Und deshalb flüchtete sie sich in das Übliche: »Na ja, von der Form her … und das Vordere hängt mit dem Hinteren doch gar nicht … und was die Szene mit dem Traktor soll, das bleibt doch sehr vage, in der Schwebe, unausgegoren …« und so weiter und so weiter. Das war der Prolog. Jetzt kommt das Mittelstück. Da spart man Jahre lang für die eigenen vier Wände und stellt dann fest, dass man sich ein- und weggemauert hat. Wussten Sie, dass deshalb in Spanien Menschen reihenweise auf die Balkone gehen, nicht um die Aussicht zu genießen oder nach Luft zu schnappen, sondern um runterzuspringen? Ich wusste es nicht, bis ich ein Stück las, in dem Spanier_innen in ihren vier Wänden nach Atem ringen, dann auf die Balkone und schließlich von der Bühne gehen. »Abgang« nennt man das im Theaterjargon, »Crash« an der Börse und in der Luftfahrt. Wussten Sie, dass man in manchen Regionen unserer Welt nicht auf den Balkon gehen muss, um abzutreten? In manchen Regionen müssen Sie nur warten, bis es nachts an die Türe klopft, und dann einfach nicht aufmachen. Selbst wenn Sie einen Balkon hätten, würde der Panzer vor der Tür ihm die Aufgabe, die er in Spanien hat, abnehmen. In solchen Gegenden sind Panzer keine blumigen Metaphern für … sagen wir mal für den »Panzer«, den Menschen sich so über die Jahre hinweg zulegen, sondern sie sind halt … Panzer: massive, unmelodische aber ausdrucksstarke letzte Worte. Panzer wie Balkone: schlechte Aussichten. Was kann man so viel aufdringlichem Charme eigentlich noch entgegensetzen? Das habe ich im Stück über Panzer und Menschen ebenfalls gelesen: Augen, so schön wie Sommernächte. Augen wie Sommernächte. Herodot berichtet im 6. Jahrhundert vor Christus, dass bestimmte Gruppen von Indern ihre toten Eltern verspeisten. Was Herodot da berichtet, ist natürlich Quatsch. Die indische Küche war nämlich schon damals noch besser als ihr Ruf. In einem der Stücke aber habe
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Pradeep Chakkarath
ich gelesen, dass auf bestimmten Türmen bestimmte Vögel den Tod zunächst in Schweigen hüllen und dann mit ihren Schnäbeln die Leichen zerfleddern. Mit den toten Resten unseres Lebens fliegen sie dann auf und davon. Das ist zwar trotzdem nicht erhebend, aber immerhin wahr. Und die Sterblichen unter uns wissen, dass es wahr ist. Aber wechseln wir das Thema! Das neue Thema heißt »Wechseln«. Wussten Sie schon, was Männer alles können? Das können Sie sich jetzt natürlich denken: Männer können wechseln. Sie wechseln die Straßenseite, sie wechseln die Reifen, sie wechseln das Geld, wenn es sein muss das Thema und neuerdings auch schon mal das Geschlecht. Und bei wem kommt so einer, der dann im wahrsten Sinne des Wortes wie ausgewechselt wirkt, besonders gut an? Natürlich bei Männern. Denn ein Mann ist einer, der sich aufs Spiel setzt, der sich für andere aufgibt, im Extremfall für sich selbst. Aber ist das eigentlich eine Aufgabe, wenn man sein Geschlecht wechselt? Eine große Aufgabe, ja. Aber gibt da jemand wirklich auf, oder erringt er einen Sieg? Ich habe da ein Stück gelesen, das mir keine Antwort darauf gab. Es ermutig aber, bei der Suche nach einer Antwort, erst einmal die Perspektive zu wechseln und dabei natürlich nicht aufzugeben. Dass Männer Frauen lieben, die mal wie Frauen aussahen, aber nie Frauen waren und dass man bei solchen Männern nie sicher sein kann, ob sie nicht eigentlich Frauen hätten sein sollen, wenn sie denn gewollt hätten, das ist modern. Dass Geschwister, ganz besonders Zwillinge, sich lieben, das ist klassisch. Dass das nicht gut gehen kann, sowieso. In einem der Stücke, die ich kürzlich gelesen habe, fand ich irgendwo im Text versteckt einen Hinweis darauf, warum so naheliegende Liebesbeziehungen immer so nahe am Abgrund wandeln: Kommunikation und Emotion sind wie ein Gespräch von Zwillingen: Man teilt ein- und dieselbe Sprache, aber der Preis dafür, sich etwas teilen zu dürfen, ist bitter: Wer etwas teilt, der verstümmelt etwas, das zuvor noch ein Ganzes war. Und deshalb ist Liebe so oft wie ein Schlachtfeld, und darum fallen die Liebenden wie Zinnsoldaten, ganz ohne Balkone, Türme oder Panzer. Finden Sie eigentlich, dass man Stücke entweder lesen und sehen, aber keinesfalls besprechen sollte? Anders gefragt: Finden Sie, die Jury plappert zu viel? Dann habe ich nämlich ein bisschen Trost für Sie: Es gibt Schlimmeres, als plappernde Menschen: plappernde Maschinen. Und das Schlimmste daran: Wir arbeiten daran, sie ununterscheidbar zu machen. Oder wollen Sie jetzt so tun als hätten Sie von Anfang an gemerkt, dass ich nur ein leidlich sprachbegabter Replikant … entschuldigen Sie … Migrant bin? Warten Sie bitte einen Augenblick, bevor Sie ein endgültiges Urteil fällen! – Bitte warten – Bitte warten – Bitte warten.
Laudatio an die Finalteilnehmer_innen
August Stramm: Sturmangriff aus allen Winkeln gellen Fürchte Wollen kreischt peitscht das Leben vor sich her den keuchen Tod. Die Himmel fetzen. Blinde schlächtert wildum das Entsetzen. Es gab da noch ein letztes Stück. In dem können Sie lernen, dass das Licht einer brennenden menschlichen Fackel, das letzte Glimmen eines von der Autorin ausgehauchten und geopferten Lebens, den einen ein Sonnenuntergang, den anderen eine Morgenröte sein kann. Und an der Morgenröte können Sie sich, und daran merken Sie, dass das alles nur Theater ist, eine Zigarette anzünden. Die brennt dann aber wirklich. Und jetzt fehlt uns noch ein Schlussteil. Es wird keinen geben. Wenn Sie jetzt aber meinen, dass ich ihn doch schon eröffnet habe, dann täuschen Sie sich, oder besser: Ich täusche Sie. Diesen Täuschungsauftrag hat mir die Jury mit auf den Weg gegeben, und jetzt verstehen Sie auch, warum die Wahl für diese Rede auf mich fiel: Wer könnte einen besser täuschen als ein Orientale?! Na, merken Sie jetzt, dass diese Jury es wirklich drauf hat? Worin liegt jetzt aber die Täuschung. Das liegt auf der Hand: Keiner der Autoren und keine der Autorinnen ist am Ende. In Ihnen allen steckt viel zu viel Potential, das nur darauf wartet, einem geeigneten Publikum um die Ohren zu fliegen. Springen Sie also nicht von den Balkonen; trotzen Sie den Panzern Ihrer Kritiker mit den Augen einer Sommernacht; holen Sie Ihre Leichen nicht nur aus den Kellern, sondern auch von den Türmen; geben Sie Ihrer Sprache genug Maschinenöl; finden Sie Ihren mitleidenden Zwilling, der Ihre Teile zu einem Ganzen fügt; lassen Sie sich nicht auswechseln; und starten Sie die nächste Revolution mit einer Lunte, die Sie an der aufgehenden Sonne entzünden. Das war jetzt vielleicht ein bisschen pathetisch. Aber ein bisschen Theater muss sein. (IN ZUKUNFT II – Lesung und Prämierung im PACT Zollverein, Essen, 22. Feb. 2015)
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Potentiale von IN ZUKUNF T Über die Möglichkeiten in der Begrenzung Tania Folaji Eine Art Epilog nach dem Epilog von Tania Folaji, der Autorin und Gewinnerin des IN ZUKUNFT II Workshops. Folaji war gleichsam Mentorin der Gruppe von IN ZUKUNFT III. Sie wirft noch einmal einen Blick zurück aus der Perspektive der Teilnehmenden: Ich war also gespalten, was diese Bewerbung für IN ZUKUNFT anging. Migrationshintergrund ist immer der Marker einer Sonderstellung aus der Perspektive nationalstaatlicher Sicht. Ich bin hier geboren, in Berlin, bin einmal für zwei Jahre nach Hamburg migriert, aber das klappte nicht, ich ging nach Berlin zurück. Das ist die knappe und spannungslose Geschichte meiner Migrationserfahrung. Ich wünsche mir, dass der Begriff Migrationshintergrund verschwindet, sich auflöst oder auf alle Menschen angewandt wird. Wir Menschen sind keine Bäume. Wir haben die Neigung, uns zu bewegen, zu wandern, migrieren. In mir keimt immer die Hoffnung vor sich hin, dass sich nationalstaatliches Denken auflöst, dieses Denken in Begrifflichkeiten des Blutes, die das Sein zementiert, verschwindet, sodass die IN ZUKUNFT-Ausschreibung wie ein Anachronismus auf mich wirkte. Aber letztendlich bin ich Autorin, will schreiben, muss manchmal sogar. Ich überwand meine Bedenken, bewarb mich, wurde angenommen. Erstaunlicherweise wurde aus der Be- und Einschränkung Migrationshintergrund meine größtmögliche Freiheit im Arbeiten, der größtmögliche Gewinn – und das kam so: Wir, die Gruppe der Schreibenden waren zum ersten Mal nicht die anderen. Es gab keinen Zwang zur Verhaltenskonformität. Wir waren in der Mehrzahl. Und das fühlte sich gut an. Auf den monatlichen Arbeitstreffen diskutierten wir oft, ob unsere ›gemeinsame‹ Erfahrung des Nicht-Zugehörig-Seins eine Verbindung von uns Autoren untereinander darstellt. Gibt es die gemeinsame Sicht auf Deutschland? Einer von uns aus dem IN ZUKUNFT-Workshop fühlt Deutschland eine große Dankbarkeit gegenüber. Das ist gut, stellt ihn als Dramatiker aber vor das Problem, unschöne deutsche Geschehnisse nicht angemessen thematisieren zu können. Ich dagegen bemerke oft erst an der Reaktion meines Gegenübers, dass ich nicht die Bio-Deutsche bin, für die ich mich halte, denn ich sehe meine Hautfarbe im Allgemeinen nur im Spiegel. Ein Anderer wieder lebte seine zwei Staatsbürgerschaften ohne Probleme. Damit will ich sagen: Bei IN ZUKUNFT wurde der Migrationshintergrund eben nicht vom Problemstandpunkt aus gesehen, und das ist wichtig, fürs Menschsein.
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Tania Folaji
Es ist vielleicht paradox, was ich jetzt sage, aber das Ausschlusskriterium Migrationshintergrund wurde für uns zu einem Raum, der die Möglichkeiten in der Begrenzung in sich enthielt. Kompliziert ausgedrückt; aber in der Realität der monatlichen Treffen ein schönes Sein.
IN ZUKUNF T I Neue Stücke zur Gegenwart – 2011/2012 Die AutorInnen
Burghard Braun in »Vor Wien« von Akin E. Şipal
EVET, ICH WILL Sinan Akkus
Sinan Akkus, 1971 im türkischen Erzincan geboren, lebt seit seinem dritten Lebensjahr in Deutschland. Nach dem Abitur in Kassel studierte er zunächst Philosophie und Germanistik, und ab 1994 Visuelle Kommunikation mit Schwerpunkt Film und Fernsehen. 2000 schloss Akkus sein Studium an der Hochschule der bildenden Künste in Kassel mit Auszeichnung ab. Erste Erfolge feierte er im Jahr 2000 mit seinem preisgekrönten Kurzfilm Sevda heißt Liebe, bei dem er das Drehbuch schrieb und Regie führte. 2002 folgte mit Lassie ein ebenfalls mehrfach ausgezeichneter Kurzfilm rund um drei Vorstadtganoven, einen Hund und einen Döner-Werbespot. Evet, ich will! ist sein erster Kinofilm, bei dem er das Drehbuch schrieb und die Regie führte. Danach drehte er seinen zweiten Kinofilm 3 Türken & ein Baby, der im Kino großer Erfolge feierte. Neben seiner Arbeit als Autor und Regisseur ist er auch als Schauspieler tätig u. a. 2004 als Sinan Turculu, ärgster Konkurrent von Christoph Maria Herbst als Stromberg in der gleichnamigen Comedy-Serie. »Immer wenn ich im Theater bin, spüre ich eine gewisse Sehnsucht. Denke, dass ich auch irgendwann gerne mal solch ein Theaterstück machen will.« Sinan Akkus
Workshopstart, 3. September 2011 Verliebt im Theater. Sinan Akkus erzählt … Ursprünglich komme ich aus Kassel und bin dann mit 16 wegen eines Mädchens in eine Theatergruppe gegangen, habe es sogar geschafft, mit ihr zusammen zu kommen, was dann ein paar Jahre gehalten hat. Ein ganz interessanter Punkt, da ich mir versuche vorzustellen, was ohne sie passiert wäre. Ob ich dann überhaupt irgendetwas mit Theater zu tun gehabt hätte? Meine Familie, mein Vater war Gastarbeiter, hatte somit annähernd nichts mit Schreiben oder Ähnlichem zu tun. Ich erfuhr, dass man in Kassel an der HBK Visuelle Kommunikation Schwerpunkt Film und Fernsehen studieren kann. Es war toll und interessant und mit dem Gedanken »Warum nicht gleich Filmregisseur«, bin ich dann auf diese Uni gegangen und habe dort studiert. Was macht man da? Dreht halt Kurzfilme, weil ein Film sehr teuer ist, und dann fängt man mit Kurzfilmen an. Mir war aber irgendwann klar, dass, sollte ich diesen Film jetzt wirklich
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weiter machen wollen und sollte dass mal mein Beruf werden, ich Kassel verlassen müsste, da dort mit Filmen nichts los ist. Es gibt nur die vier Städte in Deutschland. Erneut einer Frau wegen, bin ich Ende der Neunziger nach Köln gegangen und habe von dort aus meinen Abschlussfilm gedreht. Nach harten Kämpfen und langen Jahren durfte ich dann meinen Debut-Film drehen, der dann auch irgendwann im Kino lief. Wie hieß der Film? »Evet – Ich will!«, hieß er. Hut ab … … ah, es gibt Leute die ihn gesehen haben? Der lief dann auch im Fernsehen? Genau, er lief kürzlich erst im Fernsehen, ein paar Tage ist es her. Jetzt arbeite ich an ganz vielen Fronten und schreibe sehr viel, um meinen nächsten Film zu drehen. Und zwar ist es so, dass ich sehr viele Schauspieler kenne, die es immer nett finden, wenn man ihre Theaterstücke gesehen hat. Ansonsten sehe ich wenig Theater. Die ganzen letzten Jahre, seitdem ich in Köln bin, habe ich mit Theater eigentlich nichts mehr zu tun gehabt. Wenn ich Freizeit habe, schaue ich bloß Filme: DVD, Spielfilm, gerade auch die deutschen Filme, um diese immer im Auge zu behalten. Immer wenn ich dann im Theater war, spürte ich eine gewisse Sehnsucht. Dachte, dass ich auch irgendwann gerne mal solch ein Theaterstück machen wolle. Ich meine, Regie klar – ist etwas anderes, Filmregie und Theaterregie, aber irgendwo ist es ja: Regie! Es ist eine Vorstellung die man hat, wie man so etwas inszeniert und macht. Diese Sehnsucht war immer präsent, konnte aber aus zeitlichen Gründen bisher nicht realisiert werden. In Berlin gibt es sehr viele, die beides umgesetzt haben wie Neco Çelik zum Beispiel, er inszeniert am Ballhaustheater, macht aber nebenbei auch Spielfilm oder Miraz Bezar jetzt auch! Er hat einen wundervollen Debut-Film gemacht und inszeniert aber auch am Ballhaus und schreibt. So etwas wollte ich auch immer machen und dann hörte ich von diesem Wettbewerb. Bei »Evet – Ich will!« hatte ich immer mal daran gedacht, dass es sich auch als Theaterstück eignen würde. Mit den Konstellationen, den vielen Räumen, Familien und dem Um-Die-Hand-Anhalten. Ich finde es sehr spannend und schön! An Filmdrehbüchern habe ich jetzt mittlerweile einiges geschrieben und habe auch eine gewisse Resonanz erlangt. Doch das Theater ist interessant für mich: Wie funktioniert das? Es ist so unterschiedlich: Im Film können tausende von Menschen spielen, im Theater nicht, es gibt weniger Räume u.s.w. …
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Gedanken vom letzten Workshop Wochenende, 21./22. April 2012 Sinan, acht Monate IN ZUKUNFT Workshop sind vorbei … was ist nun für Dich eine transkulturelle Perspektive? … eine Perspektive für irgendeine Kulturgeschichte, aber für was für eine Kulturgeschichte, das weiß ich nicht. Welchen Eindruck hast du von der zurückliegenden Zeit? Es war sehr spannend, hauptsächlich aus dem Grund, weil verschiedene Menschen an verschiedenen Stücken gearbeitet haben. Ich sitze teilweise da und kann überhaupt nicht begreifen, wie man so etwas schreibt. Finde es irre, auf was alle in der Gruppe da so kommen. Was sie schreiben, was sie toll finden. Spannend, mit Menschen zusammenzukommen, die grundverschieden sind und grundverschieden was anderes machen – das war spannend. Und für Lieschen Müller, worum geht es bei Dir? In meinem Stück geht es um verschiedene Menschen, die das Ziel haben, heiraten zu wollen, aber da sie entweder homosexuell, deutsch, türkisch, gläubig oder nicht gläubig sind, haben sie eine Menge Probleme, bis sie das hinbekommen. Und da sieht man sehr schön die Probleme, die Migranten oder Ausländer oder was auch immer haben, um heiraten zu können. (Interview: Hella Sinnhuber)
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Sinan Akkus EVET, ICH WILL Das Theaterstück basiert auf dem gleichnamigen Kinofilm Evet, ich will von Sinan Akkus. Dieser Film zeigt den Weg vier unterschiedlicher Liebespaare zueinander. Gemeinsam sind hierbei allen ihre erschwerten kulturell-familiären Umstände. Der türkischstämmige Emrah liebt den Deutschen Tim, der sunnitische Kurde Coşkun liebt die türkische Alevitin Günay, Dirk liebt gegen den Willen seiner Eltern die Türkin Özlem. Salih liebt noch niemanden, sollte sich aber möglichst rasch in eine deutsche Staatsbürgerin verlieben und sie heiraten, wenn er in Deutschland bleiben will. Die zahlreichen Turbulenzen zwischen den Liebenden auf dem Weg ins Eheglück kann das, vor Jahrzehnten aus der Türkei eingewanderte, Besitzerehepaar eines Brautmodengeschäfts nur belächeln: sie sind vor knapp 40 Jahren noch von ihren Eltern füreinander ausgesucht und verheiratet worden.
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1. Szene – DIE LEIDEN DER JUNGEN MENSCHEN DIRK (deutsch/türkische Geschichte) tritt auf die Bühne. DIRK:
Guten Abend und Merhaba. Merhaba heißt guten Tag auf Türkisch. Was jetzt guten Abend heißt, weiß ich noch nicht, aber ich bin ja auch erst seit zwei Jahren mit meiner Freundin Özlem zusammen. Wie man unschwer an meiner Mimik erkennen kann, geht es mir nicht so gut. Na, ja, so schlecht jetzt auch … ALSO, es geht mir so, wie es einen Mann geht, wenn seine Frau auf einmal heiraten will. Weil wir unsere Beziehung geheim halten müssen und nach unserem Studium sowieso heiraten wollen. Hatten wir mal so besprochen, kam sie auf die glorreiche Idee: Warum bis nach dem Studium warten, wenn wir jetzt schon die Kirchenglocken hören könnten. (kurze Pause) Nee, ich glaube Kirchenglocken wird es überhaupt nicht geben. Sie Moslem, ich Atheist. Aber, das ist jetzt gar nicht das Problem, sondern meine Mutter, die alles richtigmachen will und am liebsten in der deutschen Nationalhymne jede Strophe in einer anderen Sprache singen würde. Meine Mutter hält Heiraten für spießig, und wie Özlems Eltern reagieren werden, weiß ich noch nicht. Wir haben jetzt einen Termin, da halten wir um ihre Hand an.
Günay steht auf und geht durch die Zuschauerreihen.
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GÜNAY: Dann seid ihr schon weiter, als Coskun und ich. Ich habe einen türkischen Freund, mit dem ich seit vier Jahren zusammen bin. Jetzt kommt etwas für die Frauenherzen. Gestern lädt er mich zu einem Picknick ein. Voll Romantisch. Alles stimmt. Wetter, Essen, Stimmung. Die Schmetterlinge schlagen Purzelbäume und dann kommt’s. Er schluckt seinen Bissen runter und schaut mich verdächtig an. Ein Freund taucht mit seiner Gitarre aus dem Nichts auf und ein anderer mit kiloweise Rosenblättern und während diese Rosenblätter auf mich regnen und die Gitarre »Stand by me« spielt, macht er einen Heiratsantrag. Er sagt, dass er gerne mit mir Enkelkinder haben möchte und ob ich mir vorstellen könnte, seine Hand noch zu halten, wenn sie alt und zittrig ist? Yessss … zum ersten Teil. Dann nehme ich seine Hand und sage. »Wenn es unbedingt sein muss, dass ich deine zittrige Hand halten muss, dann halt ich auch die.« DIRK:
Da fällt mir ein, dass ich Özlem überhaupt keinen Heiratsantrag gemacht hab.
GÜNAY: Hast du nicht? Schade für sie. DIRK:
Ja, sorry, das ging ja auch alles so schnell. Shit.
GÜNAY: Seine Eltern finden, dass wir zu ungläubig sind, und mein Vater findet, dass die zu gläubig sind. Also müssen wir uns etwas überlegen, wie wir unseren Eltern zusammen bekommen. Ich brauche eigentlich nicht den Segen meines Vaters, um zu heiraten, aber Coskun hätte ihn gerne. Was soll man machen? Mein Freund war nach dem Telefonat unserer Väter etwas niedergeschlagen und wollte die Operation Heiraten schon aufgeben. EMRAH (kommt aus dem Publikum): Mein Vater ist einfach religiös und hat dieses Kurdending. Er hat zwar seine toleranten Momente, aber meistens lebt er nach seiner Religion, und die verbietet dies und das. Unter anderem meine Sexualität. Günay und Dirk schauen zu Emrah. GÜNAY: Das ist der Bruder von meiner großen Liebe Coskun. Ja, den hatte ich ganz vergessen. Der hat es wirklich schwerer als wir. EMRAH (redet zum Publikum): Solange ich meine Liebe zu Tim geheim gehalten habe, war alles gut. Aber mein Geburtstag hat alles verändert. Jetzt kommt was für schwule Männerherzen. Vor zwei Tagen hab ich Geburtstag und Tim, mein Freund lädt mich ein in eine edle Bar. Alles stimmt. Stimmung, Musik, unsere Gefühle schlagen Purzelbäume, und dann reicht er mir ein Glas Champagner. Vorher macht er noch einen Eiswürfel rein, aber kein gewöhnlicher Eiswürfel, sondern einer, in dem ein Ring eingefroren ist. Er stößt an und fragt, ob ich sein Mann werden will. DIRK: Romantisch.
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EMRAH: Das Problem ist nur, dass ich mich vorher überhaupt mal outen müsste, bevor Tim und ich mit der ganzen Familie vor dem Standesbeamten stehen. Tim sagt mir, dass er mir jetzt aktiv helfen wird, mich zu outen. Zwei Tage später hat er auch schon die erste tolle Idee. Er sagt, es wäre einfach, aber wirkungsvoll. Wir sitzen im Garten beim Essen, und wenn er mit den Fingern bis drei zählt, küssen wir uns einfach. Vor der ganzen Familie, aus dem Nichts heraus. Da geht auf einem Teil der Bühne das Licht an, wo TIM und eine türkische Familie an einem Tisch sitzten. EMRAHS MUTTER: Willst du noch ein Rippchen, Tim? TIM:
Danke Frau Yildirim, aber ich bin satt.
Emrah steht am Bühnenrand und redet zum Publikum. Während alle Beteiligten am Tisch so tun, als würde Emrah bei ihnen sitzen. EMRAH: Ich sage zu Tim, um Zeit zu schinden: Iss doch noch eine, Tim. TIM (schaut neben sich zum imaginären Emrah): Nein, ich ess jetzt keine mehr. Danke Emrah. EMRAH: Und beginnt, mit seinen Fingern zu zählen. EINS. Ich denke mir, scheiße, was mach ich jetzt? Küssen? Vor der Familie? ZWEI. Abhauen, einfach aufstehen und rennen? Oder zur Seite umfallen und den Ohnmächtigen spielen? Oder, mir wie in einem schlechten Film, die Gabel in meinen Oberarm rammen und die ganze Situation in Schrecken und Aufruhr versetzen? DREIIIII Alles, was Emrah jetzt erzählt, spielen die Beteiligten in Zeitlupe am Tisch. EMRAH: Tim wischt sich noch einmal mit der Serviette seinen Mund ab, dann dreht er seinen Kopf langsam, aber zielbewusst in meine Richtung. Bei mir im Gehirn, alles tilt, Rien ne va Plus, Hasta la Pasta. Ich schaffe es gerade noch, meinen Kopf ganz leicht zu ihm zu drehen und sehe aus den Augenwinkeln, wie er seinen Mund noch leicht anfeuchtet, vermutlich damit es besser flutscht und formt dann seine Lippen zu einem Kussmund und macht die Augen zu. Pause. Der ganze Tisch verharrt in Freeze und Emrah sagt einen Moment nichts. EMRAH: 21, 22, 23. Die längsten drei Sekunden meines Lebens. Mein Vater, der Tim gegenüber sitzt, bemerkt dieses seltsame Mienenspiel als erster. Weil er sich nicht sicher ist, was er da sieht, schaut er zu meiner Mutter. Die scheint in diesem Mienenspiel etwas erkannt zu haben und nickt meinem Vater leicht zu. Dann schaut mein Vater zu meinem Bruder Coskun, der aber Bescheid weiß und deshalb nach unten schaut und
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einfach wartet, bis alles vorbei ist. Also, schaut er wieder zu Tim, der schon fast einen Rekord im Luftkussmund aufgestellt hat und fragt: Zeitlupenspiel zu Ende. EMRAHS VATER: War es doch zu scharf? Tim reißt jetzt erst die Augen auf. TIM: Bitte? EMRAHS VATER: Brennen dir die Lippen, weil es zu scharf gewürzt war? TIM:
Nein, nein, es war sehr lecker.
Die Mutter Songül lacht. SONGÜL: So standen die Jungs als Kinder immer vor uns Mädchen, wenn sie einen Kuss haben wollten. HAKAN: Was meinst du? Welche Jungs? SONGÜL: Mach dir mal keinen Kopf. Das war in den 60ern. EMRAH: Und das war gerade mal der erste Versuch mich zu outen. Aus jeder Niederlage lernt man, hat Tim gesagt.
2. Szene Günay kommt zu Coskun an den Tisch und zieht sich Kopf hörer auf. COSKUN: Melek hat sich Yellow von Coldplay gewünscht. Melek, das ist für Dich. Das Lied beginnt, Coskun und Günay nehmen die Kopf hörer runter. COSKUN (CONT’D): Warum hat dein Vater aufgelegt? Ich dachte immer, dass er mich mag. GÜNAY: Ja, du bist auch nicht das Problem, sondern deine Familie. Wenn die nicht so religiös wären, hätte er auch kein Problem. COSKUN: Super und was soll ich jetzt machen, soll ich meine komplette Familie umerziehen? GÜNAY: Also, ich brauche nicht den Segen meines Vaters.
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COSKUN: Aber ich will den Segen meines Vaters, und den bekomm ich nur, wenn ich den Segen deines Vaters habe. GÜNAY: Na gut, dann schnapp deine Familie, komm zu uns und alles andere regle ich. COSKUN: Ja, nach der Telefon-Aktion krieg ich meine Eltern nie zu euch. GÜNAY: Ich hol meinen Waldorf-Onkel dazu, der kann gut vermitteln. Und du siehst zu, dass du deine Familie zu uns bekommst, hm?
3. Szene – DIE GETÜRKTE VORHAUT EINES DEUTSCHEN Dirk und Özlem (deutsch/türkische G.) sitzen im Hörsaal in einer Vorlesung. Daher reden sie zwar etwas leiser, aber trotzdem sehr energisch. DIRK:
Das war nicht ausgemacht. Du hast gesagt, ich muss zum Islam konvertieren, aber nicht, dass ich mich beschneiden lassen muss.
ÖZLEM: Es ist doch nur ein kleines Stückchen Haut, das überhaupt keine Funktion hat. DIRK:
Du, ob das ne Funktion hat oder nicht, kann ich selbst wohl am besten entscheiden, oder?
ÖZLEM: Du bist so ignorant, ehrlich. DIRK:
Ich bin ignorant? Bei dir piept’s wohl. Ist dir mal aufgefallen, dass meine Eltern oder ich überhaupt gar keine Bedingungen an dich stellen?
ÖZLEM: Gut, dann stellt mir doch eine Bedingung. DIRK:
Ja, dass ich meine Vorhaut behalten darf zum Beispiel. Ich verlange ja auch nicht, dass du noch Jungfrau bist.
ÖZLEM: Kannst du ja auch nicht, weil ich es wegen dir nicht mehr bin. Hör mal, wenn du keinen Bock mehr hast, dann können wir das alles auch lassen. DIRK:
Ich will doch nur sagen, dass das alles ganz schön kompliziert ist.
ÖZLEM: Dann such dir doch ne Deutsche. DIRK:
Özlem, entschuldige. So war das nicht gemeint.
ÖZLEM: Du hast es ja noch nicht mal auf die Reihe bekommen, mir einen Heiratsantrag zu machen, ich meine das hätte sich jede Frau gewünscht, egal welcher Nationalität.
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Özlem geht.
4. Szene Coskun (türkisch/kurdische G.) sitzt im Radio Sender. Ein Lied läuft und er telefoniert. COSKUN: Guten Morgen, Amore, hast du verschlafen, wo steckst du? GÜNAY: Mein Vater hat mich hier zu Hause eingesperrt. Der Typ dreht total durch. COSKUN: Super Ausrede. Muss ich mir merken. GÜNAY: Nein Coskun, es ist unglaublich, aber wahr, er hat mich in der Wohnung eingesperrt. COSKUN: Wieso das denn? GÜNAY: Weil er meint, dass so Fundi-Kurden wie ihr, die Braut sogar entführen würden. COSKUN: Günay, mein Herz hör mir zu, genau das werd ich tun, ich werde dich entführen und keine Tür auf dieser Welt kann mich davon aufhalten. GÜNAY: Na ja, unsere vielleicht schon. Ich hab nämlich schon alles versucht und bekomm die nicht auf. COSKUN: Hey, ich komme mit Dolch und Degen und hol dich da raus. GÜNAY: OK, pass auf, heute Abend geht mein Vater mit meinem Onkel Fußball schauen. COSKUN: Alles klar, dann sehen wir uns heute Abend. COSKUN: ruft seinen Bruder an. Nur ins Telefon: Ekrem, hast du das Werkzeug? Ja, das ist genau, wie bei unserem Opa, als er Oma entführt hat. Ja, dieselbe Uhrzeit wie damals. Sag mal, kannst du mal aufhören mit diesem Scheiß und dich konzentrieren? Es ist nicht einfach nur eine Frau. Es ist meine Frau. Ich weiß, dass du das schwer verstehen kannst. Stell dir vor, wir würden einen Mann entführen. Das ist auch keine PimperlittchenTür sondern eine amtliche Wohnungstür, will sagen, dickes Schloss, massiv und so, kapiert? Was meinst Du damit, den Schlüsseldienst rufen? Die sollen uns einfach die Tür aufmachen? Könnte klappen.
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5. Szene DIRK:
Özlem ist das eigentlich egal, ob ich beschnitten bin oder nicht. Glaub ich zu mindestens. Sie will das nur, weil ihr Vater das will, und wenn ich auch mal was zu meiner Vorhaut sagen darf, dann muss ich sagen, ich leb eigentlich in Einklang mit ihr.
Özlem kommt zurück. ÖZLEM: Du musst meinem Vater ein »u« für’n »ü« verkaufen. Du musst ihm ein Beweisfoto liefern. DIRK:
Was denn für’n Foto?
ÖZLEM: Es wird doch einen Moslem an deiner Uni geben? Beschreibt ein Plakat und zeigt es ihm: Suche mutigen Moslem für heiklen Foto-Job. Fünfzig Euro pro Foto. Und sie werden lediglich meinem Vater vorgezeigt, und dann bekommst Du sie zurück. DIRK:
Bismillah. Ich weiß, Menschen, die sich lieben, die sagen sich viel und schweigen eigentlich dabei. Und ich bin ja nun auch nicht der Mann der großen Reden. Und eigentlich, normalerweise, müsste ich jetzt auch schweigen.
Er beginnt an der Spieluhr zu drehen und wir hören den Hochzeitsmarsch von Mendelsohn-Bartholdy.
Özlem, ich will dich heiraten. Willst du mich, Dirk Heidenreich, als deinen Mann, bis dass der Tod uns scheidet, dann antworte jetzt auf Deutsch, oder Türkisch, mit JA.
Özlem ist gerührt und antwortet nicht sofort. Umso länger sie nicht antwortet, desto unsicherer wird Dirk. DIRK:
Oder türkisch-deutsch? Deutschtürkisch? Türkisch-deutsch …
ÖZLEM: Evet, ich will! Kannst du bitte zwei türkische Wörter für mich lernen? DIRK:
Wenn ich mich mit deinem Vater unterhalten will, dann muss ich mehr als zwei türkische Wörter lernen.
ÖZLEM: Für mich heute, Canim Benim. DIRK:
Canin Benim?
ÖZLEM: Canim Benim. DIRK:
Canim Benim. Was heißt das?
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ÖZLEM: Mein Leben. DIRK:
Canim Benim – hört sich gut an. ENDE
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DAS GIF TIGE GRÜN DES HERZENS Fahimeh Farsaie
Fahimeh Farsaie, 1952 in Teheran/Iran geboren, studierte Kunstgeschichte und Jura und war als Redakteurin und Kunstkritikerin für mehrere Zeitungen im Iran tätig. 1970 wechselte sie als Korrespondentin und Redakteurin nach London und ging 1983 ins Exil nach Deutschland. Sie lebt heute in Köln und arbeitet u. a. für die Deutsche Welle. Fahimeh Farsaie erhielt zahlreiche Auszeichnungen und Stipendien: unter anderem Irans Fernsehpreis »Tamascha«, BARANs-Fond-Preis für Exil-Literatur/Schweden, Böll-Fonds-Stipendium, Drehbuchförderung des Filmbüros NRW. Sie hat bislang fünf Romane, z. T. auch in Englisch, Spanisch und Persisch übersetzt, ein Hörspiel und zwei Drehbücher geschrieben. Von der beruflichen Beschäftigung mit dem Theater und der Leidenschaft für das Schreiben kam die Ausschreibung zu einem guten Zeitpunkt. »Ich schreibe ständig Exposées, in der Hoffnung, dass ich irgendwann die Zeit bekomme, sie zu realisieren und zu schreiben.« Fahimeh Farsaie
Zum Workshopauftakt, 3. September 2011 Deutsch schreiben. Fahimeh Farsaie erzählt … Ich heiße Fahime Farsaie und ursprünglich komme ich aus dem Iran. Ich habe kurzweilig Jura studiert und war als Journalist in meiner Heimat tätig, auch in der Zeit, in der ich als Korrespondentin in London bei der Tageszeitung gearbeitet habe. Irgendwann bin ich aus politischen Gründen in Deutschland gelandet, das war, glaube ich, Mitte der 80er Jahre. Nun musste ich auch die Sprache erst mal lernen. Bis jetzt habe ich fünf Romane geschrieben, ein Hörspiel und zwei Drehbücher. Bei dem ersten habe ich bei zwei verschiedenen Firmen Optionen gehabt, welche ich aber nicht realisierte. Bei dem zweiten Drehbuch habe ich dann den Fehler gemacht, dass ich die Rechte nicht verkauft und darauf bestanden habe, dass ich selber das Drehbuch schreibe. Das war halt die Bedingung vom ZDF, weil ich nicht großartig als Drehbuchautorin bekannt war. Sie wollten das Drehbuch nicht von mir und meiner Co Autorin schreiben lassen und wollten die Rechte für das Bilder Treatment zukaufen, soweit waren wir damals. Das habe ich aber abgelehnt. Das Drehbuch liegt immer noch in der Schublade, und ich habe auch das Geld nicht bekommen. Ich hatte keine Lust mehr, mich damit weiter zu beschäftigen.
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Nun bin ich als Journalistin tätig und arbeite bei der Deutschen Welle, weil ich natürlich auch Geld verdienen muss. Ich habe unterschiedliche Workshops mitgemacht und auch persönlich mit Dramaturgen und Dramaturginnen an meinen Stücken gearbeitet. Mit dem Theater habe ich nicht so viel Erfahrung, nur, dass ich sehr oft ins Theater gehe, besonders in Düsseldorf, Köln und Bonn. Es ist sehr einfach, diese Stücke zu sehen, besonders mit der Möglichkeit, ein Stück mit verschiedenen Inszenierungen in verschiedenen Städten mitzubekommen. Da ich auch beruflich auf dieser kulturellen Ebene Beiträge schreiben soll, beschäftige ich mich mit dem Theater. Als ich dann diese Ausschreibung durch EXILE-Kulturkoordination gemailt bekommen habe, dachte ich: »Ach ja, das ist gut!« Ich hatte sowieso ein Exposé parat. Ich schreibe ständig Exposees in der Hoffnung, dass ich irgendwann die Zeit bekomme, diese zu realisieren, zu schreiben. Am einfachsten ist es dann eigentlich Romane zu schreiben, weil man nur mit einer Person zu tun hat als Verleger und mit einer Person als Lektor und nicht mit einem ganzen Team, die alles ändern wollen. Beim zweiten Drehbuch habe ich dann alles dreimal ändern müssen, bis es dann gar nicht mehr mein Thema war; weder mein Thema, noch meine Figuren. Ich habe es darauf folgend abgelehnt, da es sehr langwierig und schwierig ist. Ich ziehe es daher vor, Romane oder Kurzgeschichten zu schreiben, welches dann also die erste Erfahrung für mich ist, ein Theaterstück zu schreiben. Ich würde aber auch behaupten, dass von der Dramaturgie her ein bisschen vom Film auch mitgespielt. Sehr viel Ahnung habe ich von Theater sowie Dramaturgie nicht, deshalb freue ich mich sehr, hier etwas zu lernen und mit meinen Kollegen im Austausch zu stehen.
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DAS GIF TIGE GRÜN DES HERZENS
Fahimeh Farsaie DAS GIFTIGE GRÜN DES HERZENS Die junge Medizinstudentin Gabi ahnt nicht, was auf sie zukommt, als sie sich mit der frommen iranischen Ärztin Badri und ihrem Mann Nasser anfreundet, der zwischen Köln und Teheran hin und her pendelt. Gabi ist fasziniert von der bizarren Lebensart und macht sich diese zu Eigen: Aus Überzeugung konvertiert sie zum Islam und geht mit Nasser eine »Ehe auf Zeit« ein. Gabi will nicht, dass ihre tiefe Freundschaft zu Badri zerbricht, und um diese zu retten, gerät sie in die dunklen Geheimnisse der Familie. Sie kommt grauenvollen Ereignissen aus der Vergangenheit im Iran auf die Spur. Das giftige Grün des Herzens« ist ein einfühlsames Portrait über die magisch-rätselhafte Liebes- und Freundschaftsgeschichte zwischen Menschen aus unterschiedlichen kulturellen Welten, die ihre Hoffnung auf eine zweite Chance im Leben nicht aufgeben wollen.
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DAS GIFTIGE GRÜN DES HERZENS Textauszug
Erster Akt 1. Szene Gefängnis (Maryam, Wächterin, Gabi) Maryam wird mit verbundenen Augen auf die Bühne geschubst, eingerichtet mit einem Tisch und zwei Stühlen. Am Ende des Raumes sind Treppen zu sehen, die in den 2. Stock führen. Wächterin (OFF): Yallah, yallah, beweg dich, Maryam Khanoom, schnell! Maryam: Was gibt es wieder? Ich will zurück in meine Zelle … Da habe ich wenigstens meine RuheWächterin (OFF): Du bist nicht hier, um dich auszuruhen, sondern um für deine Sünden zu büßen! Augenband ab, yallah – (ironisch) Oder hat die Dame vielleicht den ersten Preis bei der Koran-Rezitation gewonnen: Aufenthalt in einem 4-Sterne-Hotel, Vollpension? Maryam: Was heißt 4-Sterne-Hotel? Ihr verhört und foltert mich fast jeden Tag. Ich fürchte, am Ende bleibt von meinem Körper nicht mehr viel zu steinigen; Haut und morsche KnochenWächterin (OFF): Die Dinge habe nicht ich gemacht. Ich folge nur dem Befehl. Heute gibt es außerdem kein Verhör, (leise) das habe ich dir aber nicht
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gesagt. Was du allerdings Folter nennst, sind Strafmaßnahmen. Steht, schwarz auf weiß, auch im Gesetz, sagen die Brüder Passdaran, die Revolutionswächter. Warte hier und sei stillMaryam (bestimmt): Ich will doch in meine Zelle zurück. (zu sich) Da muss ich mich nur mit der Stille abfinden, nicht mit euren Lügen … Wächterin (OFF): Jetzt hast du erst mal Besuch. Ihr habt eine Viertelstunde Zeit.
2. Szene Eine in einen schwarzen Tschador gehüllte Frau kommt verlegen auf die Bühne und legt langsam den Schleier ab. Sie geht auf Maryam zu. Maryam (fassungslos): Du, Gabi? Bist du es? (freut sich) Ist das wahr? Gabi:
So wollte es der HERR! Maryam.
Maryam (ironisch, zurückhaltend): Dass ich hier bin, ist auch SEIN Wille, (lacht) sagen die Leute hier. Gabi (beeilt sich, Maryam zu umarmen): Gott, wie siehst du aus, ein Schatten deiner selbst? Sehe ich richtig? Und deine Haare … Maryam: Hübsch, nicht? Wie ein Engel, ich meine, wie der Engel Israel. Wann bist du angekommen? Wächterin (OFF): Nicht so nah, nicht so nah! Beide Frauen schauen sich eine Weile an. Maryam zittert, bleibt aber zurückhaltend. Gabi ist den Tränen nahe, will Maryam umarmen, zögert aber. Gabi (kämpft mit den Tränen): Oh Gott, Maryam … Maryam (versucht sich zu beherrschen): Mensch, Gabi. Wir … Du … Wann bist du angekommen? Gabi (streift die Haare aus Maryams Stirn): Gestern. (leise) Hab sofort alles stehen und liegen lassen, als ich deine Nachricht gekriegt habe. Das Visum … Wächterin (OFF): Nicht so nah, Abstand, habe ich gesagt. Nicht flüstern, lauter, lauter. Gabi:
Das Visum; mit »Empfehlung«. Einer von oben hat angerufen, Allah ist groß!
Maryam: Und hier? Wie bist du hier …
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Gabi:
Hierher hat mich Junes, dein Cousin, gefahren, direkt vom Flughafen. Junes hat mir am Telefon ein paar Tipps gegeben; »Flaschen« vom Dutyfree-Shop. Allah vergib uns. Und Medikamente natürlich, das chemische Gold, sagte er. Die hatte ich auch dabei …
Maryam: Inzwischen ist es sogar wertvoller als Gold. Die Sanktionen machen den einfachen Leuten zu schaffen. Wächterin (OFF): Nicht flüstern, Weiber, laut, lauter. Maryam (laut und herausfordernd): Hast du einen guten Flug gehabt? Ist dir das laut genug, Khanoom Abadi? Wächterin (OFF): Ja, gut so. (lacht) Sonst schlafe ich ein. Wächterin (OFF): Ich komme, (leise) Gott hüte mich vor diesen Passdaran.
3. Szene Gabi nähert sich Maryam und sucht ihre Hand. Sie zieht sich zurück und geht auf Distanz. Gabi:
Warum bist du hier? Was hast du hier zu suchen? Allah, was machst du mit deinen frommen Geschöpfen?
Maryam: Hat mein Cousin Junes dir nichts gesagt? Gabi:
Dass du Hilfe brauchst, sagte er, dringend. Ich helfe, wo ER will, habe ich ihm gesagt und Ehebruch lautet die Anklage, sagte er-
Maryam (zurückhaltend): Die Anklage hat einer geschrieben, der glaubt, es gibt nur eine Wahrheit hier. (Pause) Ich wollte dich sehen, ja, versteh es aber nicht als, als eine Versöhnung. Gabi:
Vergeben können ist eine Tugend, hat der Prophet Mohammad gesagt.
Maryam: Schicke bitte die Missionarin Gabi nach Deutschland und bleib du bei mir in dieser Viertelstunde, ok? Gabi:
Ich hab mich damals entschuldigt, mehrmals.
Maryam: Aber nicht aus Reue, eher aus Angst und Schwäche. Gabi:
Hauptsache es tat mir leid und tut es immer noch. Dass ich hier bin, ist auch ein Zeichen dafür.
Maryam: Dich treibt nur dein schlechtes Gewissen. Deshalb bist du hier …
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Gabi (ironisch): Warum hast du mich denn rufen lassen? Um mein schlechtes Gewissen zu beruhigen? Maryam: Weil du die Einzige bist, die mir helfen kann. Dich anzurufen war übrigens Junes’ Idee. Es fiel mir schwer, über meinen Schatten zu springen. Gabi (panisch): Sag endlich mal, was willst du von mir? Maryam: Meine Tochter retten. Gabi (fassungslos): Deine Tochter retten? Sara? Ist sie in Gefahr? Maryam: Sie darf mich im Moment nicht besuchen, hat mein Mann, Ibrahim bestimmt. Gabi:
Sie hat dich in Deutschland auch nicht besucht.
Maryam: Sara hat mir immer vorgeworfen, ich liebe das mit Blut beschmierte Operationsmesser mehr als sie. Hier, das ist ihr aktuelles Foto. Gabi (begeistert): Hübsch … Ihre leuchtenden Augen reden mit dir. Wenn man sie ansieht, glaubt man nicht, dass es auch Trauer in der Welt gibt. Ich hab mir immer so eine Tochter gewünscht. (Pause) Wie soll ich dir, ihr helfen? Warum hilft dir Junes nicht? Anscheinend kann er allesMaryam: Er saß selbst eine Weile hier. Gabi:
Wer hat ihm geholfen, rauszukommen? Warum ist dein Cousin nun frei und du sitzest immer noch hier?
Maryam: Weil ich eine Frau bin. Hat es dir Ibrahim nicht erzählt? (ironisch) Ihr wart, ich meine, du und mein Mann, wart eher mit anderen Sachen beschäftigt als … Wächterin (OFF): So, jetzt ist aber Schluss. Habt Ihr gedacht, dass ich für immer verschwunden bin? Du, deutsche Frau, raus aus dem Zimmer. Maryam Khanoom, du gehst jetzt in deine Zelle. Dahin wolltest du ja von Anfang an, nicht? Ich komme runter und … Geräusche, Bewegung, Unruhe. Maryam: Hey, Khanoom Abadi, koutah bia baba, ist schon gut, lass gut sein! Wir reden lauter. Versprochen. Bitte. Gabi:
Sei nicht so gemein. Du hast mir nie eine Chance gegeben, dir zu erzählen, was es zwischen mir und deinem Mann Ibrahim war; was es eigentlich war …
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Maryam: – was es ist. Ich interessiere mich für das Jetzt und Heute. Das Ergebnis zählt. Ich habe keine Zeit, mich mit der Vergangenheit zu beschäftigen. (betont) Was es ist. Gabi:
Ich hätte auch gerne diese Vergangenheit gelöscht, hoffe aber, dass du mir verzeihst. Diese Hoffnung …
Maryam (ironisch): Hoffnung? (lacht) Wie schreibt sich? Solche sinnlosen Wörter kenne ich nicht mehr. Wächterin (OFF): Schluss jetzt. (ruft lauter) Brüder Reza, Ali. Das wolltet ihr, ja? Gabi (leise): Ich bin hier, um dir zu sagen, was es tatsächlich war und noch ist. Vielleicht ist es meine letzte Chance – Ich möchte diese auf gar keinen Fall verpassen. Maryam (leise, überrascht): Aha, gut zu wissen, also nicht, weil du mir helfen wolltest, bist du hier. Geräusche werden lauter. Maryam: Lass das, Khannon Abadi. Gabi ist Ärztin und hat ein paar Tabletten in der Handtasche, auch gegen Migräne. Sie hat oft schreckliche KopfschmerzenGabi zeigt, dass sie keine Tabletten dabeihat. Maryam beruhigt sie mit einer Handbewegung. Männerstimmen. Schwere Schritte. Gabi:
Das ist ein neues Produkt von Bayer. Kennen Sie diese Firma? Wirkt Wunder – (leise) Nichts ist vor Allah verborgen – (zu Maryam) Jetzt lüge ich für dich! Wie weit soll ich noch gehen, damit du mir verzeihst?
Männerstimmen (OFF): Aufmachen, Aufmachen. Khanoom Abadi! Wächterin (OFF): Nein, nein, Brüder! Keine Panik. Alles ist in Ordnung. Ich wollte nur wissen, ob IHR da seid. (zu Frauen) Abstand. Setzt euch, setzt euch an den Tisch. Gabi und Maryam setzen sich an den Tisch. Stille. Maryam: Würdest du bitte Sara … Gabi:
Gott möge dir helfen. Du hast hier aber Familie, Maryam. Warum helfen sie dir nicht?
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Maryam: Wegen Sara habe ich sie verloren. Sie dachten, ihr erster Schrei bei der Geburt zerstört ihr Haus, ihr Hab und Gut, und Ehre natürlich. Gabi:
Was meinst du damit?
Maryam: Keiner wollte sie haben, ich auch nicht. Sie ist ein unerwünschtes Kind. Sie war ein unerwünschtes Kind. Gabi:
Jetzt willst du sie und ich muss …
Maryam: Nein, sie hat wie alle ein Anrecht aufs Leben, auf ein gutes Leben, oder? Sara hat mir einmal geschrieben, dass sie Meeresgrundforscherin werden will. Ehrgeizig, habe ich ihr zurückschrieben. Nein, das war nicht. Sie wollte nur so wenig wie möglich mit den Menschen zu tun haben. Ich hab sie nicht gefragt, warum? Auf jeden Fall habe ich ihr versprochen, ihr dabei zu helfen. Gabi:
Gott beschütze sie. So enttäuscht ist sie von den Menschen, dass sie sich im Meeresgrund …
Maryam: Es gibt auch ein ODER; entweder Meeresgrundforscherin oder Serienmörderin werde ich werden, vermutlich, hat sie geschrieben. Hat sie Scherze gemacht? Stille Gabi (verlegen, der Einstieg fällt ihr schwer): Nachdem du weg warst, Maryam, ist alles zum Stillstand gekommen. Eingefroren. Nichts hat sich bewegt. Ich pendelte zwischen der Leichenhalle und dem Grab aus kaltem Beton, der meine Wohnung war, hin und her. Die schlimmsten Zeiten waren nicht die, die ich tagsüber mit Toten verbracht habe, sondern die, in denen ich nachts mit den Geistern zu kämpfen hatte. Wächterin (OFF): Was? Bist du auch kriminell? Ich dachte, Ärztin! Gabi:
Nur der Glaube an Allah hat mir Kraft gegeben, nur der Glaube an die Gnade Gottes hat mich-
Maryam (ironisch): Wegen Allahs Gnade bin ich auch hier, offensichtlich. Gabi:
Nein. Das sind Menschen, die SEINE Worte falsch auslegen. SEIN Wort ist die Wahrheit und …
Maryam (genervt): Du brauchst nicht mit einem aufgeschlagenen HADITH in der Hand mit mir zu reden! Solche Argumente habe ich mit 16 wie Cannabis inhaliert. Ich bin nicht mehr in der Pubertät. Und weiß mittlerweile, dass das Leben anders aussieht als das, was im Buche steht (erstaunt) siehst du nicht, wo ich gesteckt bin? Wovon redest du überhaupt?
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Gabi:
Von deiner Abwesenheit, damals. Deine Abwesenheit hat mich in den Wahnsinn getrieben. Jeden Abend bin ich nach der Uni nach Hause gegangen. Die Schuhe waren dort, wo sie schon am Morgen standen. Der Anruf beantworter blinkte nicht. Der Seidenteppich nicht ganz ausbreitet; gefaltet- die Sonne bleicht die Farbe der Blumenmuster vom Teppich, hast du gesagt …
Maryam: Den Teppich hat dir mein Mann Ibrahim geschenkt, ohne mein Wissen! Gabi:
Ich weiß, ich weiß! Allah, hilf mir!
Maryam: Und du hast mir nichts davon erzählt. Gabi:
Nicht direkt. Darum geht es aber jetzt nicht.
Maryam: Mein lieber Mann auch nicht. Ibrahim hat alles verheimlicht. Gabi:
Gott ist allmächtig! Ja, das stimmt. Du hattest aber mehrere Teppiche …
Maryam (erstaunt): Es geht nicht darum, ob ich ein paar Teppiche mehr oder weniger hatte als du; es geht darum, was ihr auf diesem Teppich getrieben habt, monatelang. Monatelang, ohne dass ich davon Wind bekommen hatte. Und du willst mir immer noch weismachen, dass du meine beste Freundin bist? Dass ich nicht lache … Gabi (verzweifelt): Dafür, für das, was zwischen mir und Ibrahim passiert ist, habe ich mich entschuldigt, Maryam. Maryam: Manchmal ist das Sich-Entschuldigen einfacher, als die Entschuldigung der anderen anzunehmen. Ich weiß, zu bereuen war nie deine Stärke. Gabi (erstaunt): Reue? Das stand uns zu. Wir haben geheiratet; Ehe auf Zeit. Das steht uns zu. Ibrahim darf nach islamischem Recht bis zu vier Frauen heiraten. Maryam: Ist das dein Ernst? Mit dieser Haltung willst du Tabula rasa machen? Dein Zerrbild vom Glauben steht zwischen dir und deinem Gewissen. Auch zwischen mir und dir; ich bin aber mehr als nur mein Glaube, und sehe deshalb die Dinge ganz anders. (Pause) Nur, wundere dich nicht, dass ich dir nicht verzeihen kann. Mit dem fliegenden Teppich ist meine Zuversicht auch weggeflogen. Gabi:
Du kannst mir verzeihen, wenn du die Entscheidung über die Worte und die Sitten den Geistlichen überlässt. Dann fällt es dir leichter, mir wieder zu vertrauen. (Stille) Mein Gewissen ist übrigens so leicht wie die Feder, wie der Prophet sagt und verlangt. Weil, weil ich gelitten habe, sehr, Allah ist mein Zeuge.
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Fahime Farsaie
Maryam (ungeduldig): Soll ich auch von meinem Leid erzählen? Wie unerträglich es war, mir dich und Ibrahim auf deinem wunderschönen Seidenteppich, auf den Blumenmustern vorzustellen? »Wer ist unglücklicher? Wessen Elend ist größer?« Nein, bei diesem Wettbewerb mache ich nicht mit. Wächterin (OFF): Wer mehr leidet, kommt ins Paradies, sagt der Prophet! Gabi:
Ich will auch keinen Wettstreit! Ich versuche nur, dich zu verstehen. (sachte) Sei nicht so hart, Maryam. Das bist du nicht. Ich kenne dich.
Maryam: Du kennst vielleicht dein Wunschbild von mir. Gabi:
Warst nicht du es, die sich mit fünf Männern angelegt hat, um mich zu retten? Alleine …
Maryam: Ich war immer alleine mit meinem Recht … Gabi:
Und deinem Mut …
Maryam: Naivität. Ich kenne mich gut genug. (ironisch) Du kannst vielleicht diese Dinge vor Gericht erzählen, wenn man dich als Zeugin zur Verhandlung laden würde. Gabi:
Ich werde das tun. Die Wahrheit muss gesagt werden. Ich werde Ihnen erzählen, welcher Gefahr du dich ausgesetzt hast, um mir zu helfen. Werde Ihnen erzählen, dass du die Erste warst, die mich mit dem Islam vertraut machte. Nicht mit einem Kopftuch und drei Mal beten am Tag oder Verzehrverbot von Schweinefleisch, sondern mit deiner Wärme und echter Barmherzigkeit.
Maryam: Ich stelle mich nur auf die Dinge ein. Das war keine große Leistung. Wächterin (OFF): Bald ist die Besuchszeit um und ihr redet nur dummes Zeug, wie Kinder. Allah, Allah! Gabi:
Die ersten Kopftücher hast du mir geschenkt.
Maryam: Die waren im Sonderangebot, bei Aldi-Süd. Vier Halstücher für 3.99 Euro. Made in China. Gabi:
Du warst die Einzige von uns, die aufgehört hat zu studieren, um illegale Flüchtlinge zu behandeln. Du hast sogar ihre Medikamente selbst besorgt.
Maryam (ironisch): Was hätte ich sonst machen sollen? Zu Hause hocken und mich ständig fragen, warum ich in Deutschland nicht existiere? Warum bin ich bei der Polizei nur eine Nationalität, an der Uni bloß ein Kopftuch? Selbst im Operationssaal war ich nur der Termin um 6:45 Uhr.
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Der Termin um 7:10 Uhr. Der Termin, die da, du, hey, hallo. Für niemanden hieß ich Maryam Azad, Ärztin, Chirurgin. (Pause) Die Verhältnisse dort wollte ich nicht hinnehmen. Gabi (panisch): Ich bin in einem völlig fremden Land, kenne mich absolut nicht aus. Wie stellst du dir das vor, dass ich deine Tochter entführe?
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DER REICHSTAG/K AFK A IN THE MIX – Weisse Körper – Schwarze Blicke – Das Ausgestellte Publikum Michael Küppers-Adebisi
Michael Küppers-Adebisi ist 1965 in Krefeld geboren und in Nordrhein-Westfalen und Minnesota/USA aufgewachsen. Sein Künstlername ist Sun Leegba Love a. k. a. Black Hyperion. Er studierte von 1988 bis 1995 Literatur und Philosophie an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf, 1989 postmoderne Literatur und African-American Literature in den USA und von 1993 bis 1996 Poetry und Performance an der Kunstakademie Düsseldorf. Als erster afro-deutscher Lyriker vertrat er 1996 die Bundesrepublik als literarischer Botschafter am Goethe-Institut New York beim Deutsch Nuorican Poetry Festival. 1996 und 2002 beendete er Ausbildungen als Multimedia-, als Interactive-Video- und DVD-Produzent. Für die Bundeszentrale für politische Bildung und die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland realisierte er drei internationale, afrikanische Medienkongresse in Kooperation mit Goethe Institut (2002), Heinrich-Böll-Stiftung (2003) und Haus der Kulturen der Welt (2004). Mit dem May-Ayim-Award initiierte er 2004 den »Ersten Schwarzen Deutschen Internationalen Literaturpreis« in Berlin unter Schirmherrschaft der UNESCO. 2005 erhielt er den ADLER Entrepreneurship Award der African Youth Foundation in der Kategorie Best NGO und eine ehrenwerte Nennung beim Bremer Friedenspreis 2006. Mit Lost Tribes of Afrika (1995), THEBLACKBOOK (2004) und May Ayim Award (2004) hat er wiederholt zu Schwarzer Kultur in Deutschland publiziert und war verantwortlicher Redakteur für das Online-Dossier Afrikanische Diaspora in Deutschland der Bundeszentrale für politische Bildung. Das Black Heritage Magazin ehrte ihn 2006 als einen der 50 wichtigsten AfroDeutschen. Beim Multi-Media Wettbewerb von Haus der Kulturen der Welt und dem RBB Berlin zum Thema Kulinarische Kollisionen erhielt er 2011 den Publikumspreis für den Video-Beitrag von AFROTAK TV cyberNomads Wenn das Volk nichts zu essen hat, dann soll es doch Kuchen essen. Michael Küppers-Adebisi hat auf der Suche nach einer Basis für seine Arbeit viele Jahre im Ausland verbracht und ist in die Heimat zurückgekehrt. So ist es für ihn
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an der Zeit, im Austausch mit Gleichgesinnten eine Bestandsaufnahme dessen zu machen, was aktuell möglich ist. »Der Boden hier ist auf vielen Ebenen und auch für mich auf künstlerischer Ebene wieder fruchtbar geworden.« Michael Küppers-Adebisi
Zum Workshopauftakt, 3. September 2011 Das Eigentliche, was bei mir passiert, ist vergänglich. Michael Küppers-Adebisi erzählt … Ich bin 46 und hab mein Leben zum großen Teil in Deutschland verbracht, einen großen Teil habe ich aber auch in den Staaten oder in England verbracht. Das Rheinland, in dem ich Kunst und Literaturwissenschaften studiert habe, kenne ich sehr gut. In den Staaten habe ich mich mehr mit Medienkritik, postmarxistischer Medienkritik im philosophischen Kontext auseinandergesetzt, mit Gender- und Race-Mainstreaming, wie das heute so schön im Mainstreamland angekommen ist, an der Duke University, die meines Erachtens international einfach die Vorreiter Universität weltweit ist. In Deutschland bin ich als schwarzer Deutscher aufgewachsen und habe das dann auch 1985, 86, 87 erkannt in der Begegnung mit der Initiative »Schwarze Deutsche«. In dem Zusammenhang, habe ich dann auch schon relativ früh erkannt, was ihr eigentlich macht: die Kultur als das Medium begreifen gelernt, das den Deutschen, dem Biodeutschen, dem Mainstream-Deutschen, dem unwissenderen Deutschen die Möglichkeit gibt, am globalen Diskurs teilzunehmen durch unsere Mittelbarkeit. Die deutsche Sprache hat sich mir immer sehr entzogen. Das was im Sinne von Rainer Schedlinski, »Die Rationen des Ja und des Nein«, das was sagbar oder das was nicht sagbar ist in einem Kontext, in einem Kulturkontext, ist mir immer entsprungen und ist immer so weggerutscht oder hat mir ins Gesicht geschlagen, was auch immer es da wollte. Deswegen hat mein literarisches Schreiben sehr früh versucht, die Sprache zu verlassen. Ich habe in dadaistischen Theaterstücken die Sprache komplett zerfetzt und mit Segmenten versucht, über Tonlagen, das was auch die Dadaisten in der Lyrik über Tonlagen gemacht haben – über gespielte Zusammenhänge die Sprache wieder neu zusammenzubauen, damit überhaupt erst mal Minimalstrukturen mit Sinn besetzt werden konnten. Diese sollten auch tatsächlich etwas Neues transportieren und nicht wieder das alte dann regenerieren oder ablehnen, sondern einfach wirklich neu bauen. Diese Experimente haben ein paar Jahre gedauert. Dazwischen war dann das Studium in den Staaten. An der Kunstakademie Düsseldorf bei Nan Hoover und Nam June Paik habe ich das Ganze dann in einen multimedialen Kontext gesetzt. Ich war der erste Poet, der dort angenommen worden ist. Im Film habe ich Performance mit reingebaut und bin in dem Zuge 1992 auf der Dokumenta aufgetreten etc. Das sind dann alles so Sprünge gewesen! Mit dem Literarischen bin ich in die Performance, ins Theatralische gegangen, weil ich irgendwann die Sprache nicht mehr zerfetzt, sondern auch gemerkt habe: Um das zu sagen, was neu sagbar überhaupt erst ermöglicht wird, muss ich mir die Räume bauen, in denen das, was ich sage, funktioniert. Das waren relativ große Performances mit fünf bis sechs Bühnen gleichzeitig, die auch einen esoterischen
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Hintergrund hatten. Dort gab es Themenschwerpunkte, wie z. B. die Menschwerdung etc. Die Performances waren immer im Zusammenspiel mit vielen anderen Künstlern, die auch verrückt im positiven Sinne waren, und die Lust hatten, an Visionen mit zubauen. Das Ganze wächst bei mir immer aus der Tradition, aus einer ganz alten Tradition der Performance. Das, was ich schaffe, ist vergänglich. Aber es bleibt immer irgendetwas stehen, was dann als Skulptur oder als Teil einer sozialen Skulptur im Raum verbleibt. Das Eigentliche, was bei mir passiert, ist vergänglich. Auf dieser Ebene habe ich schon immer Probleme gehabt, da ich keine ökonomische Basis habe. Das was ich mache, kann man eigentlich nicht kaufen. Das funktioniert einfach nicht. Irgendwann habe ich festgestellt, dass die Grenze kommt: Deutschland schlägt zurück mit seiner eigenen Vergangenheit und mit dem, was die kulturelle Machtelite festhält, was die Vergangenheit ist oder eben nicht ist, auch im Negativ. Im Zusammenspiel mit der Bundeszentrale für politische Bildung habe ich das erste Migrationsarchiv in Deutschland aufgebaut, das schwarze Geschichte Deutschlands dokumentiert. Was sind die Exponate? Wir haben rund 5 bis 6 Terabyte an Daten. Digital oder Texte, Bilder, Fotos, alles, was irgendwie fassbar ist, und das seit 1989. Seit 1989 laufe ich selbstständig mit der Kamera umher und halte alles zusätzlich fest. Im Augenblick haben wir einen OnlineTV-Kanal geschaffen, in dem die Sachen ansatzweise sichtbar sind, aber … was ich sagen wollte war folgendes: Ich habe zunehmend gemerkt, dass die Zustände in Deutschland einfach nicht da sind. Ich habe gemerkt, dass das, was ich zu sagen habe international funktioniert, z. B. als Botschafter für Deutschlands Gegenwartsliteratur am Goethe-Institut in New York. Dort waren inhaltliche Diskussionen möglich, während hier immer nur die Diskussion: »Warum machst du das überhaupt?«, möglich war. Zehn Jahre habe ich nun schon an den Zuständen gearbeitet, um etwas zu verändern. Auch im politischen Bereich habe ich viel gemacht, und seit drei bis vier Jahren schließt sich der Kreis jetzt wieder. Der Boden hier ist fruchtbar geworden auf vielen Ebenen und auch auf der konkret künstlerischen Ebene. Auch meine anderen Arbeiten habe ich als Teil der sozialen Skulptur verstanden, im Beuys’schen Sinne, und jetzt auf der künstlerischen Ebene komme ich wieder zu dem Kreisschluss, dass ich auch da wieder vermehrt arbeite. Im filmischen Bereich habe ich einen interaktiven Film gemacht, in dem der Vergleich zwischen schwarzer und deutscher Kultur als Drittes entsteht. Und für mich hier ist das wichtigste Element: Euch hier alle zu treffen und im Grunde genommen auch so eine Bestandsaufnahme für mich selber ziehen zu können: Wo sind wir hier?!
Gedanken vom letzten Workshop Wochenende, 21./22. April 2012 Was ist eine transkulturelle Perspektive? Machen wir es einfach: Nehmen wir das Wort auseinander: Wir haben »trans« also überschreitend und »Kultur«, also alles was uns umgibt, in jeder Form und jeder Art. Im Rahmen des Workshop, in dem es ja um Theaterstücke geht, ist eine transkulturelle Perspektive schon in der reinsten Form vor Beginn des Workshops ver-
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sammelt gewesen, dadurch, dass so viele Perspektiven zusammengekommen sind, die auch alle unterschiedliche kulturelle Ansätze mitgebracht haben. Eine transkulturelle Perspektive in der empowernsten Form ist wahrscheinlich eine, die bewusst darauf ausgerichtet ist, eine mögliche Zukunft zu bauen für einen bestimmten Kontext, ob das jetzt der Deutsche in Europa, der Welt oder wo auch immer ist. Wie blickst Du auf die acht Workshop-Monate zurück? Vom Grund her super, super gut. Es war ein sehr anstrengender und fordernder Prozess, der hier passiert ist. Der auch für mich selber an vielen Stellen ganz neue Ansätze, Denkschemata notwendig gemacht hat. Ich komme ja aus der Performance Kultur im Multimedia Bereich, dann natürlich auch Cross-Over in alle anderen Kunstrichtungen durch die Kooperationen, die da passiert sind, aber jetzt wirklich als Bühnenproduktion im klassischen Theatersinne hatte ich es vorher nicht. Für mich war es der Hammer! Ich stehe jetzt zum ersten Mal mit einem richtigen Theaterstück da und das, was ich mache geht an die Grenzen, nicht nur an meine eigenen, sondern auch an die Grenzen des Publikums, und da ist an diesem letzten Workshop etwas Wunderbares passiert. Statt wie bisher, wenn meine Texte vorgetragen wurden, eine konsternierte Ruhe, Betroffenheit oder Unverständnis oder oder geherrscht haben, war es bei dem letzten Vorträgen so, dass alle sehr angeregt miteinander diskutiert haben und miteinander sprechend aus der Vorstellung heraus gegangen sind. Das war ein Erlebnis, dass ich sehr dankbar mit nach Hause nehme. Worum geht es in deinem Stück? Es geht darum, wie die Aufnahme und die Rezeption von Realität funktioniert, und wenn man es erweitert, wie es im Machtkontext funktioniert im Sinne von Diskursanalyse und wenn man es noch weiter ausweiten will, dann geht es darum, wie haben wir in der Gegenwart die Möglichkeit auf der Basis dessen, was wir als Wesen, die eine bestimmt kulturelle Geschichte haben, und die im diesem Sinne schon immer einen Umgang miteinander hatten schon vor unserer eigenen Geburt. Wie können wir mit dieser Vergangenheit in eine neue Zukunft schreiten. In diesem Sinne passt auch der Titel des Workshops IN ZUKUNFT gut zu meinem Stück. Welche Rolle spielt Kaf ka? Zuvorderst, Kafka ist als Autor ein Mensch, der auch schon immer in der Dynamik von zwischen den Welten stehen gearbeitet hat. Konkret zwischen Tschechien und Deutschland und der Text »Auf der Galerie« ist ein Text, der in zwei Sätzen die grundsätzlichste Begegnung zwischen Publikum, Inszenierenden und Darstellenden analysiert und dann noch den Gast, das Publikum mit einbezieht. Das habe ich nochmal aufgebrochen und für die Gegenwart aktualisiert und in einen transkulturellen Kontext eingebettet. (Interview: Hella Sinnhuber)
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Michael Küppers-Adebisi DER REICHSTAG/KAFKA IN THE MIX Weisse Körper – Schwarze Blicke – Das Ausgestellte Publikum Mehr als 125 Jahre nach der Berliner Afrika-Konferenz, bei der der Kontinent unter den Kolonialmächten aufgeteilt wurde, und mehr als 100 Jahre nach dem 1. Deutschen Genozid in Namibia, hat sich die Bundesregierung immer noch nicht zu einer offiziellen Entschuldigung, und damit zu Ihrer Verantwortung für die rassistischen Gräueltaten, durchgerungen. Der Gegenwartsrassismus gegen Schwarze Deutsche und die in Deutschland beheimatete Afrikanische Diaspora schreibt sich in diskursiven Strukturen und rassistischen Straßennamen täglich neu in die Architektur der Städte und den Geist der Menschen ein (Mohrenstraße). Der Rassismus der Gegenwart ist ohne die Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit nicht denkbar. Der Reichstag/Kaf ka in the Mix untersucht daher das diskursive Potential einer sich Ihrer Vergangenheit selbstbewussten Bühne als Antrieb für einen antirassistischen, gender-ge-mainstreamten und post-kolonialen Paradigmenwechsel. Dazu wird das Publikum selber auf die Bühne gebracht, und Weiße Körper werden mit Schwarzen Blicken auf die deutsche Vergangenheit und Gegenwart konfrontiert. Wer hat das Recht für wen zu sprechen? Die Grenze der Schaukastenbühne verwischt.
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DER REICHSTAG/KAFKA IN THE MIX/ SCHWARZE BLICKE – WEISSES PUBLIKUM Textauszug
Über das Stück Franz Kafkas Parabel Auf der Galerie, erzählt in zwei Schachtelsätzen von den Dynamiken zwischen Zirkusdirektor, Kunstreiterin und Publikum. Die Parabel ist eine mit dem Gleichnis verwandte Form von Literatur, eine lehrhafte und kurze Erzählung. Sie wirft Fragen über die Moral und ethische Grundsätze auf, welche durch Übertragung in einen anderen Vorstellungsbereich begreif bar werden. Das im Vordergrund stehende Geschehen (Bühnenhandlung/Bildebene) hat eine symbolische Bedeutung für das Theaterpublikum. Der Reichstag/Kafka in the reMix inszeniert auf unterhaltsame Art und Weise postkoloniale und transnationale individuelle Identitäts-Diskurse, eingebettet in einen Dialog der Kulturen, der post-kapitalistisches kulturelles Copyright als Teil der wirtschaftlichen Produktionsbedingungen verhandelt. Kaf ka – Auf Der Galerie (1. Satz) wenn irgendeine hinfällige lungensüchtige kunstreiterin in der manege auf schwankendem pferd vor einem unermüdlichem publikum vom peitschenschwingenden erbarmungslosen chef monatelang ohne unterbrechung im kreise rundum getrieben würde, auf dem pferde schwirrend, küsse werfend, in der taille sich wiegend und wenn dieses spiel unter dem nicht aussetzendem brausen des orchesters und der ventilatoren in die immer fort weiter sich öffnende graue zukunft sich fortsetzte begleitet vom vergehenden und neu anschwellenden beifallsklatschen der hände, die eigentlich dampfhämmer sind – vielleicht eilte dann ein junger galeriebesucher die lange treppe durch alle gänge hinab stürzte in die manege riefe das halt durch die fanfaren des sich immer anpassenden orchesters. da es aber nicht so ist eine schöne dame weiß und rot herein fliegt zwischen den vorhängen welche die stolzen livrierten vor ihr öffnen vor ihren mund gehoben der direktor hingebungsvoll ihre augen suchend in tierhaltung ihr entgegen atmend vorsorglich sie auf den apfelschimmel hebt als wäre sie seine über alle geliebte enkelin die sich auf gefährliche fahrt begibt sich nicht entschließen kann das peitschenzeichen zu geben schließlich in selbstüberwindung es knallend gibt neben dem pferde mit offenem mund einher läuft die sprünge der reiterin scharfen blickes verfolgt ihre kunstfertigkeit kaum begreifen kann mit englischen ausdrücken zu warnen sucht die reifenhaltenden reitknechte wütend zu peinlichster aufmerksamkeit ermahnt vor dem großen salto mortale das orchester mit aufgehobenen händen beschwört es möge schweigen schließlich die kleine vom zitterndem pferd hebt auf beide backen küsst und keine huldigung des publikums für genügend erachtet während sie selbst von ihm gestützt, hoch auf den fußspitzen, vom staub umweht, mit ausgebreiteten armen zurückgelegtem köpfchen ihr glück mit dem
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ganzen zirkus teilen will da dies so ist im schlussmarch wie in einem schweren traum versinkend weinen wir ohne es zu wissen. NACHRICHTENSPRECHERIN Der Wikipedia Eintrag gemeinsamen Wissens in der deutschen Sprache. Zusammengetragen vom interessiertem Volk. Berlin. Das Reichstagsgebäude – kurz: Reichstag oder auch offiziell: Plenarbereich Reichstagsgebäude. In Berlin. Ist seit 1999 Sitz des Deutschen Bundestages. Auch die Bundesversammlung tritt hier seit 1994 in der Regel alle fünf Jahre zur Wahl des deutschen Bundespräsidenten zusammen. Der Bau wurde von dem Architekten Paul Wallot 1884 bis 1894 im Stil der Neorenaissance im Ortsteil Tiergarten – heute zum Bezirk Mitte gehörend – errichtet. Er beherbergte bis 1918 den Reichstag des Deutschen Kaiserreichs und anschließend das Parlament der Weimarer Republik. Der Widmungs-Text »DEM DEUTSCHEN VOLKE« wurde erst 1916 angebracht. Die Arbeit übernahm die Gießerei S. A. Loevy. Als Juden wurden die Mitglieder der Familie Loevy nach 1933 verfolgt, ermordet oder in die Emigration getrieben.
Deutschland Sucht Das Super Volk A) MOJISOLA und der weiße STAR-REGISSEUR sitzen am Deutschland Sucht Das Super Volk Theater-Jury-Tisch. Sie hält ein Schild mit der Aufschrift: Keine Verjährung für Völkermord. Das Schild fällt zu Boden. Darunter wird ein neues Schild sichtbar. Neues Deutsches Theater. MOJISOLA steht vom Tisch auf. Geht um den Tisch herum. Sie spielt nun, als wäre sie Autorin und selber Teilnehmer_in der Castingshow, deren Bühnenstück nun im Wettbewerb steht. Licht nur auf MOJISOLA. MOJISOLA zum Regisseur Ich habe die ganze Nacht geübt. Ich habe geschrieben. Geschrieben. Geschrieben. Aber jetzt habe ich geraden einen totalen WHITE-IN. Das hier ist für mich ja wirklich DIE Chance. Ich habe diese Woche eine ganze Badewanne mit Fanpost bekommen. Du kennst mich ja jetzt. Eigentlich bin ich ja schüchtern. Aber Eure harte Kritik letzte Woche habe ich super-ernst genommen und dann lief auch alles so gut und jetzt fühle ich mich weiß MOJISOLA geht zum Bühnenrand und fällt aus der Rolle und spricht schnell und sich überschlagend direkt zum Publikum Na, die Freude war dann auch schnell vorbei. Irgendwie konnte niemand wirklich etwas mit meinem Stück anfangen. Den ZDF Samstags-Abends-Top-Die-Wette-Gilt-Mainstream interessierte das Thema nicht. Was soll’s schon, welchen Job wir in der deutschen Kultur machen – und die Communities – Black Turkish He-
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bräisch Palästinensisch usw. konnten mit der gequirlten Sprache nicht wirklich was anfangen. Also, sowas wie: Mir geht es vor allem darum, Postkoloniale und sprachlich-kulturelle Kontexte und Subtexte sichtbar zu machen. Wer wen spielen darf, ob Mann Frau repräsentiert, oder Frau Mann, und wer damit für wen sprechen darf.
Rassismus und Macht. Religiöse Ausgrenzung aufgrund eigener Zeichen und Symbole. Warum soll ich als Afrikanerin kein Kopftuch tragen? Aber letztlich vor allem Fragen, wie: Was nützt mein Stück auf dieser Bühne, wenn People of Colour und Afrikaner sich nicht selber spielen. Oder wenn aufgrund von Mehrheitsverhältnissen und bundesrepublikanischen Strukturen die Menschen mir sagen, wie ich meine Kultur vertreten muss, die unsere Vorfahren versklavt haben und in KZ’s umgebracht haben?
Kein Thema! Wenn alles gut ist, sind wir alle Freunde! Aber wenn deutsche Bühnen BLACKFACE anwenden, in der Gegenwart und ohne Not, also obwohl es genug Schwarze Schauspieler_innen gibt, die keinen Job finden, oder ohne künstlerischen Sinn, also z. B. mit dem Ziel, die bestehenden Verhältnisse aus den Angeln zu heben. Wenn deutsche Bühnen also Blackface anwenden, so sagt das etwas über den strukturellen Rassismus in den Produktionsbedingungen, der jeden individuellen Fortschritt wieder zunichte macht Es geht mir um das Sagbare und das Unsagbare. Um das Verstehbare und das Verstandene. Der Reichstag/Kaf ka in the Mix ist daher zuvorderst eine Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Bühne und Publikum. Mich interessiert das Publikum. »Weiße Körper« sollen mit »Schwarzen Blicken« auf die deutsche Gegenwart und Vergangenheit konfrontiert werden. Klar will ich auf die Bühne, aber für wen spreche ich denn? Als ich noch für Schwarze Menschen inszenierte, war das alles einfach. Die anderen Communities haben mich auch verstanden, weil wir schwarze Menschen nach den Juden die erste globale Diaspora waren und schon früh neue moderne Geschichten erzählt haben.
STAR-REGISSEUR Also, lass Dir Eins mal gesagt sein: Du strengst Dich ja wenigstens an, was man ja von einigen der anderen hier nicht sagen kann. Also von mir bekommst du jedenfalls ein ja mit Fragezeichen, aber entscheiden tun das wie gesagt die Zuschauer …
Mojisola Bio A Sie steht am Rand der Bühne und spricht direkt zum Publikum. Sie hält ein Schild in der Hand, oder es baumelt von ihrem Hals: Völkermord verjährt nicht! MOJISOLA Hallo nochmal. Guten Tag. Bawoni. Das ist Yoruba und heißt auch Guten Tag.
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Ich heiße Mojisola. Das heißt übersetzt … Na, eigentlich habe ich sogar fünf Vornamen. Aber das ist zu viel für Deutschland. Ich bin gebürtige Nigerianerin aus Lagos und lebe als Familiennachzug in Deutschland. Seit meinem 12. Lebensjahr. Auf der Sprachenschule war ich Aussiedlerin. Weil, solche wie mich gab es damals, 1982, ja gar nicht. Das war cool. Hat richtig Spaß gemacht, zusammen mit den Polen-Deutschen und Russland-Deutschen. Mit den Spaniern, Türken und Griechen. Die wurden ja damals noch alle als Ausländer und Ausländerinnen geführt. In der Gründerinnenzeit da gab’s noch richtig Solidarität. Eigentlich kannte jede jeden. Jetzt sind wir Old School und haben alle Facebook. Und wenn ich erzähle, dass ich mal als Aussiedlerin eingestuft war, dann lachen wirklich alle. Die Mauer ist eingestürzt. Und plötzlich waren wir alle Asylantinnen und Scheinasylantinnen. China ist jetzt die neue Superpower in Afrika. Der Euro kriselt. Und wir sind jetzt alle Post-Migranten. Ob ein Teil von uns, oder mehrere Teile aus Polen, Russland, Spanien, Türkei und Griechenland kommen oder wir uns als Teil der afrikanischen Diaspora begreifen. Oder als Afro-Europäer. Wir heißen jetzt alle »People of Colour.« Und das ist auch gut so. Denn das soll uns gemeinsam stärker machen gegenüber den Bio-Deutschen, oder Kartoffeln, wie die früher hießen und gegenüber der Globalisierung. Aber inzwischen können die meisten Whities ja auch ganz gut tanzen. Und sich hip anziehen haben die inzwischen auch gelernt. Nicht immer nur öko oder spießig. Die haben sich nämlich auch Empowered. Wie es auf Neudeutsch heißt. Sie fragen sich jetzt, warum ich überhaupt hier stehe? Nun, ich bin die Autorin des Stückes heute. Okay. Okay. Nebenbei habe ich auch noch einen Abschluss als Diplom-Wirtschafts-Ingenieurin in Mannheim und Köln gemacht. Stimmt. Ich wollte nämlich was machen, wo nicht die Lehrer interpretieren können. Wo die Noten nicht davon abhängen, ob die Lehrer dich als Schwarze Frau akzeptieren. Etwas, wo es klare Ergebnisse gibt. ZDF. Zahlen. Daten. Fakten. Ende. Aus. Punkt. Erst haben die mich nämlich auf die Hauptschule geschickt, bevor ich auf’s Gym durfte. Das haben die Lehrer so interpretiert. Afrikaner kommen auf die Hauptschule. Dabei mussten wir in Nigeria ja noch richtig was bringen. Und Deutschland war dann eher ausruhen. Trotzdem, ich hab’s geschafft. Nach der Fachhochschulreife war der Abschluss als Ingenieurin dann noch mal richtig schwer. Aber das ist ja auch ein Männer-Reich und als Frau mit Brüsten … Na klar, da ist alleine der Studentinnen-Alltag schon schwer genug. Und ewiges Down-Sizen klamottentechnisch angesagt. Und dann haste es geschafft und willst als Schwarze Frau auch noch einen Job als Ingenieurin. Ich habe 500 Bewerbungen verschickt. Wenn die Typen von meinem Abschluss hören, kriegen die durchweg kurze Schwänze. Und dann hatte ich auch noch ne eins in der Prüfung. Das kannste fast vergessen. Und die Frauen, besonders die weißen Frauen, auch die weißen Sisters, die mich vor dem Abschluss unterstützt haben, aber auch die Afrikanischen Schwestern, verwandeln sich plötzlich zu FURIEN und HATER.
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Also wenn ich eins verstanden hab als Wirtschaftsingenieurin, dann ist das, dass es letztlich immer darum geht, wer verdient was. Und wenn’s ums Geld geht, ist sich halt jeder selbst der nächste. Und da fragt sich doch: Wer fickt Wen?
Wettbewerbsweitrag reMIX A MOJISOLA. Autorin und weißer REGISSEUR. Am DeutschlandSuchtDasSuperTheaterJury Tisch. Schild fällt. Darunter neues Schild in der Hand: Weißer Mann SPRICH Schwarze Frau. Licht auf weißen REGISSEUR und MOJISOLA REGISSEUR zu MOJISOLA Also, wir haben die Besetzung jetzt hoffentlich in Ihrem Sinne geregelt. Die Schauspielerinnen haben jetzt alle Migrationserfahrung. Wir haben ausschließlich People of Colour aus dem Ensemble ausgesucht. Afrikanerinnen ging dann ja doch nicht. Wir können dem Abo-Publikum einfach nicht so viel zumuten. Aber. Wir haben ganz viel Schwarze Musik in das Stück eingebaut. Theater, ja, das war mal die große deutsche Geschichten-Maschine. Aber heutzutage stehen wir einfach im Wettbewerb mit den neuen Medien. Und überall wird gekürzt! Wenn wir jetzt auch noch das Abo-Publikum verlieren! Dann setzt der Intendant das Stück ganz schnell wieder ab. Und vor allem mich. Ja. Ja ich weiß selber. In ein paar Jahren gibt es auch das Abo-Publikum nicht mehr. Aber daran will ich jetzt gar nicht denken. MOJISOLA zum Publikum Ich habe mich so dermaßen gefreut! Zum ersten Mal in meinem Leben ist ein Stück von mir von einem etablierten Theater angenommen worden. Na Gut. Dafür habe ich auch fette Kompromisse gemacht. Extra im Old-School-Stil geschrieben. Klassische Shakespeare Dramen und so. Der Westen steht ja auf Folklore. Wenn irgendwas aus Afrika bekannt ist, dann ist das meist Folklore. Airport Art halt. Flughafenkunst. Also Kunst, die eigentlich nur für die Touris produziert wird. Denn in Europa stehen die in Sachen Kultur selber total auf Altes. Ich nenn das Folklore, wenn die immer wieder nur Klassik aufs Bühnenprogramm setzen. Jedenfalls habe ich es endlich geschafft. Ich hab natürlich nur Männer genommen! Aber endlich Schwarze Inhalte auf einer weißen Deutschen Bühne. Und der Regisseur ist mir sogar eigenständig entgegengekommen. MOJISOLA Also zufrieden war ich zuerst nicht. Eindeutig nicht. So inszenieren uns weiße Menschen, wenn sie uns typisch darstellen wollen. Hip-Hop und Gangster. Dabei passt das gar nicht zu Deutschland! Was meint Ihr? Aber ich hatte Glück. Der weiße REGISSEUR hatte an dem Stück einen Bären gefressen. Vielleicht, weil seine Großmutter Jüdin war. Ich jedenfalls schnürte die Brüste noch etwas enger, ich sage nur Push Up, und wir starteten zusammen einen neuen Versuch. Endlich sollte ich es spielen lassen können, wie ich wollte!
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13. Szene Der Reichstag Kafka in the reMIX STAR-REGISSEUR Also dann bitte noch mal die Szene vor dem Reichstag ZIRKUSDIREKTOR wenn irgendeine hinfällige lungensüchtige kunstreiterin in der manege auf schwankendem pferd vor einem unermüdlichem publikum vom peitschenschwingenden erbarmungslosen chef monatelang ohne unterbrechung im kreise rundum getrieben würde, auf dem pferde schwirrend, küsse werfend, in der taille sich wiegend KUNSTREITERIN hält Schild in der Hand: Völkermord verjährt nicht! KUNSTREITERIN Christo IN DEN KÖPFEN KREISTE als geschichts- und kunsttouris getarnte HERUMIRRTEN im bermuda dreieck zwischen KAMERATERRORISIERTEM S-bahn anschluSS friedrichsstraSSe, DEM REICHSSTAG und dem brandenburger TOOOR. GEFANGENe im sommerloch DER SUCHE dem regenwald IHRER EXISTENZ ZIRKUSDIREKTOR und wenn dieses spiel unter dem nicht aussetzendem brausen des orchesters und der ventilatoren in die immer fort weiter sich öffnende graue zukunft sich fortsetzte KUNSTREITERIN Schild fällt. Darunter Neues Schild in der Hand: Entschuldigung Sofort KUNSTREITERIN und die menschen im festhalten an der gegenwart würfen SEHN-SÜCHTIGE BLICKE DURCH DEN ZAUN UM die pressestelle FÜR VOM SYSTEM BEGLAUBIGTE information s verteiler & S I E Z E I T Z E U G E (t) E N vergangenheit im versuch der vision – VERZWEIFELT an: ZUKUNFT ZIRKUSDIREKTOR begleitet vom vergehenden und neu anschwellenden beifallsklatschen der hände, die eigentlich dampfhämmer sind – vielleicht eilte dann ein junger galeriebesucher die lange treppe durch alle gänge hinab stürzte in die manege riefe das halt durch die fanfaren des sich immer anpassenden orchesters –
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KUNSTREITERIN Das Schild fällt. Darunter Neues Schild in der Hand: Rassismus Tötet KUNSTREITERIN das denken ÜBER DIE AKTIONEN WÜRDEn ein nach denken über die KONTROLLE DER BILDER ZIRKUSDIREKTOR da es aber nicht so ist eine schöne dame weiss und rot herein fliegt zwischen den vorhängen welche die stolzen livrierten vor ihr öffnen KUNSTREITERIN hat sich vor dem BRANDENBURGER TOOOR eine gruppe von ca. 30 JUNGEN LEUTEN zusammengefunden DIE 2 TRANSPARENTE HALTEN gegen den alltäglichen rassismus der poli-zei-ei-ei-ei DIE UNBETEILIGTEN ZU SCHAUER bilden einen zu einer seite offenen drei viertel kreis IN DESSEN MITTE eine selbst bewußte JUNGE BERLINER_IN mit nickelbrille und rastas SICHTLICH VER UNSICHERTe NEU DEUTSCHE Worte mit kecken lippen formt, die von KONFRONTATIONEN MIT SCHLAGENDEN POLIZISTEN berichten – durch den kreidekreis geschützt VOR GRÜNEN WANNEN DIE im hintergrund sich durch die menschen schieben DAS MEGAPHON mit schwerer rechter hand ZIRKUSDIREKTOR vor ihren mund gehoben der direktor hingebungsvoll ihre augen suchend in tierhaltung ihr entgegen atmend vorsorglich sie auf den apfelschimmel hebt als wäre sie seine über alle geliebte enkelin die sich auf gefährliche fahrt begibt sich nicht entschließen kann das peitschenzeichen zu geben KUNSTREITERIN DIE LANGSAM ZUM FILTER herunterbrennende zigarette, linker hand DAS SCHWARZ DER SIE SCHÜTZENDEN TRANSPARENTE und das weiSS der sie belagernden MENSCHEN und ZUHÖRER sucht einen
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PUBLIC RELATION WEG in eine surreale ÖFFENTLICHKEIT den bruch in der offiziellen BILD verhindern blutsverwandte, altbekannte PERSPEKTIVEN so dass die AUSLÖSER des kamera fuSSVOLKES WENIGER HÄUFIG KLICKEN, als nebenan just across the street WO EINE WEISSE PERFORMANCE KÜNSTLER_IN vor’m zaun um den reichstag SCHWARZE BREAK DANCE TRADITION imitiert MENSCHEN AUGEN und geldstücke hypnotisch anzieht DEM PUBLIKUM SEIN FRESSEN ozongeschwängert zwischen spektakulären erwartungen UND VEREINZELLT VOM REICHSTAG FALLENDEN plastikplanen inszenierter geschichte DEM DEUTSCHEN VOLKE – ZIRKUSDIREKTOR schließlich in selbstüberwindung es knallend gibt neben dem pferde mit offenem mund einher läuft die sprünge der reiterin scharfen blickes verfolgt ihre kunstfertigkeit kaum begreifen kann mit englischen ausdrücken zu warnen sucht die reifenhaltenden reitknechte wütend zu peinlichster aufmerksamkeit ermahnt KUNSTREITERIN DIE ZIERLICHE AFRO-DEUTSCHE erzählt von schlägen auf’s auge UND DEN RICHTERN die deutsche polizisten von angreifern ZU OPFERN MUTIEREN LASSEN ZIRKUSDIREKTOR vor dem großen salto mortale das orchester mit aufgehobenen händen beschwört es möge schweigen KUNSTREITERIN das SETTING 0 erinnert in seiner emotionalen färbung UND TROSTLOSEN TROTZDEM-ATTITÜDE an die weisse jazz hard core saxophonist_in DIE GESTERN ABEND IN DER VOLKS BÜHNE bei der party der literaturzeitschrift »SKLAVEN« gegen das extatisierte trio der TECHNO MUSIKER mit computern, synthezisern & GESAMPELTEN BREAKBEATS ANSPIELT
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Michael Küppers-Adebisi
ZIRKUSDIREKTOR schließlich die kleine vom zitterndem pferd hebt auf beide backen küsst und keine huldigung des publikums für genügend erachtet während sie selbst von ihm gestützt, hoch auf den fussspitzen, vom staub umweht, mit ausgebreiteten armen zurückgelegtem köpfchen ihr glück mit dem ganzen zirkus teilen will KUNSTREITERIN UNBEWEGTE LITERATEN und theater be sucher innen kleben in tiefen sesseln der saal leert sich NACH KURZER ZEIT im gegensatz 180 SCHLÄGE PRO MINUTE (BEATS PER MINUTE) und roboter haltung SINNVERWEIGERN ZUSCHAUER die MACHT KURZE, ABRUPTE SCHREIE; BLÖKEN WIDERSTÄNDIGES, HARMONISCHES aus dem sax PAUSEN der besinnung AUF DEN GROOVE WITHIN TAKT schlagen mit den füßen und ATEM schöpfen für die nächste ATTACKE die trennung BÜHNE-ALPTRAUM und publikum – bühne – tod WIRD ZUM KAFKAESKEN GALERIEBESUCH ALS W IR DAS brandenburger tooor VON: WEST nach: OST DURCH – QUER – EN, die minikundgebung verlass – en UND AND – EN indern, deutschen, osteuropäisch en AUSVERKÄUFERN VON ARMEEMÜTZEN und medaillien vorbei zum s BAHNANSCHLUSS UNTER DEN LINDEN vor dem grossen tooor TORKELN ZIRKUSDIREKTOR da dies so ist im Schlussmarsch wie in einem schweren traum versinkend
DER REICHSTAG/K AFK A IN THE MIX
KUNSTREITERIN spalten die touri busse den platz in zwei hälften. AUF DER EINEN DIE VERKAUFSSTÄNDE, die besucher UND DIE WACHMANNSCHAFTEN auf der anderen ZIRKUSDIREKTOR weinen wir ohne es zu wissen KUNSTREITERIN PUNKT.
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VOR WIEN Akin E. S¸ipal
Akin E. Şipal, 1991 in Essen geboren, studierte Film an der Hochschule für bildende Künste, Hamburg. Für sein erstes Theaterstück, Vor Wien, gewann er den bundesweiten Autor_innen-Wettbewerb IN ZUKUNFT, für Santa Monica erhielt er den Förderpreis Literatur der Kulturbehörde Hamburg. Şipal ist als Drehbuchautor an diversen Kurz- und Langfilmen beteiligt, die auf Festivals wie das Festival des Films du Monde de Montréal (Prix du Jury für The Bicycle), Internationale Hofer Filmtage, Internationales Kurzfilmfestival Hamburg oder Dok Leipzig zu sehen sind. Şipals Essayfilm Baba Evi hatte 2016 auf der Dokfilmwoche Hamburg Premiere. Sein drittes Theaterstück, Kalami Beach, ist ein Auftragswerk für das Nationaltheater Mannheim und wurde dort zur Eröffnung der Spielzeit 2016/17 uraufgeführt. In der Spielzeit 2016/17 ist Şipal Hausautor am Nationaltheater Mannheim. »Schreiben ist für mich ziemlich wichtig, weil es eine andere Art zu denken ist: Man kann, wenn man schreibt, zu anderen Gedankengängen finden, als wenn man zum Beispiel spricht. Dieser Vorgang interessiert mich sehr, und darum schreibe ich gerne. Es ist schön, mit IN ZUKUNFT solch einen Raum dafür zu bekommen.« Akin E. Şipal
Gedanken vom letzten Workshop Wochenende am 21./22. April 2012, sechs Monate zuvor Transkulturelle Perspektive – was heißt das für dich? Ich finde, dass Menschen mit verschiedenen Migrationshintergünden und verschiedenen Backgrounds eine neue Sichtweise mitbringen können und dieser Workshop bietet ja die Möglichkeit, dass sich diese Sichtweise etabliert und auch professionell betreut wird und das ist das Transkulturelle daran. Das bietet immer einen besonderen Blick auf das Vorhandene. Also ein Theaterbetrieb ist ja eine besondere gesetzte Struktur, die schon sehr fertig ist, gediegen ist, die funktioniert, das ist ein System. Und die Leute merken dann irgendwann, da wiederholt sich das, es wird vielleicht langweilig, es interessiert die Leute gar nicht mehr so. Theater ist extrem langsam, Theater ist ein sehr langsames Medium – habe ich zumindest gehört – und dieser Workshop könnte das etwas beschleunigen. Eine
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Entwicklung beschleunigen, die es sowieso irgendwann geben wird, weil einfach mehr Leute mit gemischten Backgrounds da sein werden. Spätestens in drei oder vier Generationen hat man dann auch die Leute auf der Bühne, spätestens. Aber es ist eine Chance, es jetzt schon zu tun. Es kann viel vorwegnehmen, es kann viel auflockern, es kann die Perspektiven vermischen. Und das bedeutet immer Dynamik, so, dass halt mehr passiert und das ist gut für alle. Wie wertvoll waren die letzten acht Monate, das heißt die Teilnahme am IN ZUKUNFT Workshop? Das hat mir sehr, sehr viel gebracht, weil ich erstens diese ganzen Menschen kennengelernt habe, die alle aus verschiedenen Richtungen kommen, aber alles etwas mit diesem Betrieb zu tun haben, sehr viel mehr Erfahrung haben als ich – ich habe sehr viel gelernt. Es ist schön zu wissen, dass es diesen Rahmen gibt, in dem man arbeiten kann, ernst genommen wird, Hilfe bekommt. Es war sehr sehr hilfreich, dass Maxi Obexer dabei war, es hat mir enorm viel gebracht. Ich habe gemerkt, dass ich mich weiter entwickelt habe. Ich sehe, dass ich anders arbeiten kann als vorher und insofern war der Workshop ein sehr großer Gewinn und eine sehr intensive Erfahrung. Alle intensiven Erfahrungen sind gut, sie haben immer einen Wert und das hier hat einen hohen Wert. Was untersuchst du mit deinem Stück? Es geht letztendlich um eine konkrete Familiengeschichte und das wird zu selten angeschaut. Und sehr viele Familiengeschichten sind zu unaufrichtig, die im Fernsehen verfilmt werden oder im Theater. Sie orientieren sich sehr stark an Stereotypen und es werden sehr wenig der Details aufgenommen. Und wenn man sich detailliert Geschichten und auch von Migranten anschaut, dann sieht man, dass sie sich sehr oft widersprechen und auch den Stereotypen widersprechen. Und das ist das Problem, was das Theater auch hat, das sich ständig reproduziert. Und Stereotype reproduzieren sich auch ständig. Ich habe versucht in meinem Stück ein Bild zu schaffen, was der Ambivalenz gerecht wird, nämlich, dass Migranten Stereotypen entsprechen und ihnen nicht entsprechen, dass es Unterschiede gibt und eben keine Unterschiede. Und ich habe versucht ein Bild zu kreieren, eine Familiengeschichte. Nicht, dass es normal ist, wenn man von einer türkischen Migrationsgeschichte spricht.
Inter view mit Akın Emanuel S¸ipal Im Rahmen der Pressekonferenz zur ersten Preisverleihung sprach Hella Sinnhuber am 6. Oktober 2012 mit dem damals erst 22-jährigen Autor in Castrop-Rauxel/ NRW. Wenn du schreibst, was ist das erste was Du siehst? Die Tastatur, die Bilder oder die Worte? Da gibt es verschiedene Ansätze. Also ich sitze manchmal in der U-Bahn und dann fallen mir bestimmte Wortfetzten ein. Und das macht mir so einen Spaß, das so einzufangen und in irgendetwas einzubetten oder das öffnet mir einen Raum, in
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dem ich das Gefühl habe, ich weiß, was ich dazu schreiben möchte. Oder es ist der Satz einer Person! Das sagt eine Person und das ist so als würde die Person wollen, dass ich sie schreibe. Das ist eine Sache. Und dann gibt es einfach diesen Prozess des Schreibens, mich hinzusetzen, abends zum Beispiel, zu schreiben, zu wissen, die anderen schlafen, und ich schreibe, das ist auch schön. Und dann vielleicht sogar das auszuarbeiten, was man tagsüber einfängt. Also zu beobachten und dann alles auszuarbeiten. Und dann auch Zeit vergehen zu lassen zum Beispiel, über die Figuren nachzudenken, um sie dann zum Leben zu erwecken, weil man dann wieder mit Ihnen arbeitet. Wenn ich schreibe, dann ist es so … es vergeht viel Zeit. Und es vergeht viel Zeit, wenn ich nicht schreibe, wenn ich zum Beispiel sehr viele Filme gucke und mir so vorstelle, wie die Leute sprechen und dann fallen mir auch immer schöne Wörter ein. Also was ich schön finde. Wenn ich dann schreibe, habe ich schon das Gefühl, dass ich weiß um welches Thema es sich dreht. Oder ich versuche zu schauen, was interessiert mich an diesem Thema an der Geschichte. Also ich habe eine Geschichte im Kopf. Auch wenn sie dann im Stück nicht so zutage tritt, gibt es immer eine Geschichte, die mich auch fasziniert, mich treibt, die dann auch erzählt werden will. Für mich ist das immer so eine Selbsterfahrung. Wo kommen die Figuren und Bilder her? Aus deinem Leben, aus Filmen oder aus Büchern? Ich liebe Fiktion. Ich liebe es, Sachen zu bauen, Welten zu bauen und ich finde es total geil, wenn eine Figur aus irgendeiner Geschichte, die ich kenne, wenn ich die mit irgendjemand zusammenbringe, den ich schon mal gesehen habe oder den ich kenne. Ich mag es, das zu vermischen. Das ist vielleicht dann auch der Kern der Arbeit: zu schauen, dass man das auch wieder schließt und irgendwie so stimmig macht. Ich liebe es, Dinge zusammenzubringen, die nicht zusammen gehören. Ich mag das so. Das macht mir Spaß am Schreiben. Wie bist Du auf das Rauschen gekommen? Ja, ich habe diese Figur vor Augen gehabt, ich will diesen Anzugträgerhaben, der es geschafft hat! Der Geld hat und der sich keine Sorgen zu machen braucht. Aber ich weiß, der hat ein Problem. Ich weiß, der ist nicht glücklich mit dem, was er macht. Und dann habe ich mich hingesetzt und dann rauscht es so. Diese Szene habe ich dann auch innerhalb kurzer Zeit geschrieben. Ich habe sie natürlich später überarbeitet, aber der Kern der Szene ist immer gleich geblieben. Ich wusste, wer diese Figur ist, was diese Figur macht, wo sie herkommt, das habe ich mir ausgedacht – es macht Spaß sich das auszudenken – und dann weiß man auch, was sie sagt in dem Moment. Wo schreibst du dann? Trinkst du dabei Whiskey? Ich habe so die Angewohnheit am Schreibtisch zu sitzen, ich schreibe auf einem kleinen Notebook, aber ich habe einen großen Bildschirm trotzdem da. Darauf schaue ich mir dann an, was ich geschrieben habe. Und jeden Tag drucke ich aus, was ich geschrieben habe und verteile es auf dem Boden. Dann sitze ich auf dem Boden und streiche die Sachen weg, die ich scheiße finde oder unterstreiche die,
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die ich gut finde. Dann sortiere ich auch und montiere sehr viel. Ich schreibe vielleicht irgendeinen Quark, irgendetwas Bescheuertes und dann sehe ich später, dass es vielleicht irgendwo passt, also zu einer Person passt, die ich entworfen habe. Es ist also viel ausdrucken, die Blätter auf dem Boden auszulegen, am Schreibtisch sitzen … und Whiskey trinken gehört dazu, aber nicht während der Arbeit, sondern meistens danach. »Vor Wien« ist das erste Theaterstück, das Du geschrieben hast. Wie war der Prozess? Es ist alles neu für mich, aber es hat mir extrem viel Spaß gemacht und ich habe gemerkt, dass ist so eine Art des Schreibens mit der ich mich sehr gut identifizieren kann. Ich arbeite sehr visuell, also ich arbeite sehr viel in Bildern. Ich habe früher viel fotografiert und dann bin ich zum Film gekommen und Film ist letztendlich für mich, also die Art von Filmen, die ich machen will, ist nichts anderes als gut zu beobachten, was man filmt. Das ist bei Theater, glaube ich, auch so, dass man sieht, was man hat. Man schreibt etwas und man kann immer sehr schlecht beurteilen, ob das gut ist oder nicht. Ob das funktioniert oder nicht und da ist immer so ein Beobachten. Das ist so ein: Ich schaue mir das an, warte mal ab, lasse es mal liegen auf dem Boden und dann komme ich wieder dahin und guck ob der Satz funktioniert, guck ob die Figur so funktioniert, guck ob das Bild funktioniert. Das ist eine Art zu arbeiten, die ich liebe. Dann sitzt man da und hat auf einmal zehn Seiten bekommen und das ist eine coole Art zu arbeiten. Ich weiß nicht, wie das ist, wenn man einen Roman schreibt, weil ich noch nie einen Roman geschrieben habe. Aber Theater ist für mich eine schöne Form, einfach weil es viel mit gucken zu tun hat, weil es ein sehr visuelles Medium ist. Weil Menschen da sind auf der Bühne, die dann wieder durch ihre Sprache und durch ihre Bewegung Räume öffnen. Das ist interessant. Willst Du einen Roman schreiben? Ich möchte mich in dem Bereich Theater weiter entwickeln. Ich möchte in die Tiefe gehen. Ich habe gemerkt, es interessiert mich und es macht Spaß, es reizt mich und ich merke ich kann da mein Potenzial ausreizen. Ich möchte wissen, was da so geht, ich möchte wissen, was das Medium bietet. Ich habe jetzt erst einen Bruchteil angeschnitten, was man da machen kann im Theater. Ich mag am liebsten, wenn es offen ist. Wenn ich weiß, das ist eine neue Herausforderung für mich. Theater ist neu für mich, ich habe aber durch Film schon ein bisschen Erfahrung gesammelt mit künstlerischer Praxis. Wie ist das, wenn es nicht klappt, wenn es nicht voran geht, dann muss man warten! Wie ist die Zeit zu warten, latent sich umzuschauen, zu beobachten … und das für Theater – ich glaub, das ist cool. Das kann gut für mich werden. In welchem Theater möchtest du deine Stücke sehen? Ich studiere ja in Hamburg und das Thalia Theater ist um die Ecke, da gehe ich gerne hin. Klar wäre das schön, wenn meine Stücke dort zu sehen wären. Aber es gibt viele andere gute Theater in Deutschland. Aber das ist jetzt ja gar nicht ent-
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scheidend, mir geht es darum, dass ich mich weiter entwickele. Und wenn ich das Gefühl habe ich entwickele mich weiter, dann mache ich es auch weiter, solange wie ich merke, dass ich weiter komme. Du schreibst für einen jungen Menschen in einer ungewöhnlichen Form versnotiert, monologisch kombiniert mit traditionellen Elementen, dramaturgischer Wendung … Ich studiere Film und im Film sprechen alle immer von Dramaturgie, im Dialog mit meinen Kommilitonen an der Kunsthochschule in Hamburg geht es immer ganz viel um Dramaturgie. Und dazu gibt es sehr viele Tricks und Kniffe, extrem viele Bücher, die wir dann auch lesen. Ich habe gemerkt, dass es gar nicht so viel bringt diese ganzen Bücher zu lesen, sondern dass jede Geschichte eine ganz eigene Dramaturgie hat und dass es eigentlich darum geht, sich sehr sensibel die Geschichte anzugucken und die Dramaturgie freizulegen, die sie hat und danach zu suchen. Man muss nicht den Plot für eine Geschichte erfinden, die Geschichte bringt den Plot mit. Man muss es so freimeißeln, frei hämmern. Es gibt ja ganz viele Fernseh- und Kinofilme, da weiß man, da sind Handwerker, die bauen den Plot so ein, weil man weiß, das funktioniert. Aber ich bin der Meinung, dass es nicht funktioniert. Ich weiß, dass es für meine Sachen nicht funktioniert. Für meine Sachen möchte ich, dass es jedes Mal die Chance gibt, eine ganz neue dramaturgische Form zu finden. Jeder Inhalt hat seine eigene Form. Und die muss man freilegen, weil, das wird dem Inhalt gerecht. Es geht ja um die Substanz, es geht ja um den Inhalt, der soll ja transportiert werden. Es soll ja keine gut geplottete Geschichte erzählt werden. Darum geht es nicht. Es geht ja darum, dass der Inhalt so zutage tritt, wie er es verdient hat. Und dann kann man auch einsteigen in eine Geschichte. Warum heißt dein Stück »Vor Wien«? Ich habe nach einem Titel gesucht und ich fand »Vor Wien« sehr passend. Es ist so eine historische Bank, es ist ein Ereignis, das hat alles verändert. Wenn man es überspitzt sagen darf: Man weiß nicht, was passiert wäre, wenn die Türken noch an Wien vorbei gekommen und noch weiter in Europa einmarschiert wären. Es hätte alles verändert. Es ist vielleicht auch ein Schlüsselereignis, um das Verhältnis zwischen dem osmanischen Reich und Europa zu verstehen. Letztendlich habe ich den Titel gewählt, weil er so einen Raum öffnet. Es ist immer schön, wenn eine Projektionsfläche gegeben wird, in der sich ein Zuschauer oder Rezipient wiederfinden kann. »Vor Wien« ist ein Titel, der macht nicht zu, sondern er macht eher auf. Ich finde »Vor Wien« ist ein schöner Titel und stehe auch dazu, das als Autor zu sagen. David Lynch zum Beispiel begründet ja seine Einstellungen immer mit: »It’s beautiful«. Das ist okay: weil es schön ist. Und »Vor Wien« ist ein schöner Titel und er passt zum Stück. Hast du Vorbilder? Das variiert ganz stark. Ich genieße es, andere Dinge zu sehen und zu betrachten, aber ich orientiere mich nicht daran. Ich liebe die Freiheit und die vielen Dozenten, die wir in Hamburg haben. Ein Dozent ist für mich besonders wichtig, der Autor
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Thomas Pletzinger. Ich bin ein sozialer Lerner, kein Autodidakt. Mir es sehr wichtig, was Menschen zu meinen Texten sagen, ich kann damit extrem viel anfangen. Und ich habe das Gefühl, dass die Texte besser werden, wenn ich mit Menschen darüber spreche. (Interview: Hella Sinnhuber)
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Akin E. Şipal VOR WIEN Erol Soner lebt ein Leben im Jetlag. Als gewissenhafter und erfolgreicher Geschäftsmann pendelt er zwischen Istanbul und Hamburg. Wäre da nicht dieses Rauschen. Das Rauschen, dass ihn nie hat einschlafen, dafür aber immer pünktlich aufstehen lassen: Es wird mehr. Dieses »Tiki Taka« im Hinterkopf, welches ihn bis vor kurzem noch zu Höchstleistungen antrieb, ist so laut, dass er nicht einmal mehr seine eigene Stimme hört. Dann kommt es Schlag auf Schlag. Erol wird entlassen und sitzt in seiner Hamburger Stammkneipe fest …
VOR WIEN Akin E. Şipal
VOR WIEN Textauszug Ein Theaterstück in zwei Akten, von Akın Emanuel Şipal. Der Text folgt der Workshop-Fassung des Projektes IN ZUKUNFT aus dem Jahr 2011.
1. Akt 1. Szene Es ist dunkel, Spot auf die Tochter: Tochter: Meine Mutter sagte: Über die eigene Familie zu sprechen, das ist ganz schlimme Propaganda. Dein Vater hat es faustdick hinter den Ohren. Sie sagte: Glaub deinem Vater kein Wort. Sie sagte: Dein Vater hält sich, für die Schiffsschraube der Erkenntnis, sei bloß vorsichtig. Mein Vater: Es passierte immer sehr viel in seinem Gesicht, es war ein bisschen wie ein Wiesel, unruhig und wühlend, warfen sich seine tiefgrünen Augen, in den weiten, großzügig beschatteten Höhlen hin und her, wie Wrestler. Sein Gesicht, als eigenständiges Lebewesen, als Wichtelmännchen meiner Kindheit. Als Maskottchen, das mich begleitete auf meinem Schulweg, auf meinem Weg hinaus, in die weite Welt und dahin zurück, wo alles angefangen hat, wo alles angefangen zu haben scheint: Istanbul. Mein Vater war ein Dichter, er hat nicht viel geschrieben. Um ehrlich zu sein, hat er kaum etwas geschrieben. Bis auf diese paar Zeilen (sie hält einen Zettel hoch). Er war ein poetischer Mensch. Denn alles, was ihn ausmachte, war der Traum einer Stadt, alles, was er sagte, war kryptisch: Alles was er sagte, hatte mit ihr zu tun, auf gigantischen Umwegen. Meine Mutter hatte es nie einfach mit ihm, denn sie hatte die härteste Konkurrenz, die eine Frau im Kampf, um die Aufmerksamkeit und die Gunst eines Mannes haben kann: Eine Stadt, solch eine Stadt. Sie fickt wie ein Feuerwerk, sagte mein Vater, über die Stadt. Er sagte, er könne nicht hin (irreal, irreal flüsterte er immer wieder, wenn er den Flur zur Hausbar entlang schlich). Es wäre ihm unmöglich, er könne nicht in dieser Stadt leben, weil sie ganz einfach ihm alleine gehöre. Istanbul ist ein Traum, sagte er, damit müsste man sich zufriedengeben, dass es das nicht gibt. Istanbul, das sei ein Nagel, der jeden Moment abbrechen könnte. Wir sollten nicht versuchen etwas daran festzumachen. Das sei ganz und gar albern. Hinzufahren sei albern, dort zu bleiben: Albern. Dort zu bleiben, das wäre das Ende. Wessen Ende? Sein Ende, mein Anfang: Start. Ich habe meinen Koffer gepackt, und das war gestern. Ich lebe nun hier, ich mache das mit Leichtigkeit, was mein Vater zu Lebzeiten, nicht in
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der Lage war, über die Bühne zu bringen, er brachte es einfach nicht fertig. Jetzt bin ich hier, und es ist wieder zusammen, was zusammengehört: Und es ist wirklich voll OK, es ist eine enttäuschte Utopie, aber das ist sexy, und das macht Spaß (oh Mann). Mein Vater war ein Visionär (zumindest hielt er sich für einen). Für Unmöglichkeiten war mein Vater stets ein Nest. Das Unwahrscheinliche war immer sicher in seinem Schoß. Und dann war da das Rauschen, sein Haus- und Hof-Parasit. Ein Außenstehender hätte gesagt: Erol Soner, du bist ein dummer Mann. Du hast so nen geilen Job, du hast so ne geile Arbeit. Du bist dumm, wenn du das einfach so hinwirfst, wie einen nassen Lappen. Mit dem Zunehmen des Rauschens nahm sein Glaube an die Linearität dessen, was wir Leben nennen, ab. Ereignisse, die längst der Vergangenheit anzugehören schienen, hatten immer öfter Auftritte in den großen Szenen seines »weltbürgerlichen« Daseins. Er wurde: seine Freunde, seine Väter, er wurde meine Zukunft. So verlor er sich in der Genauigkeit seiner Beobachtungen und kehrte nicht mehr zurück, in unsere Welt.
Die Tochter geht ab (und kommt als Stewardess zurück). GEGENWART. In einem Jahr lernt Erol Soner Aylin Brown in der Warteschlange des türkischen Generalkonsulats San Francisco kennen, ein Jahr später wird die gemeinsame TOCHTER geboren. Licht. Erol sitzt im Flugzeug. Hostessen bieten Essen und Getränke an. Es ist ein lautes Rauschen zu hören, das eine einwandfreie Kommunikation erschwert. Anmerkung: Flugbegleiterin 2 ist die Tochter. Flugbegleiterin 1: Hallo Mr. Soner, was kann ich Ihnen anbieten? Erol:
Haben Sie irgendwelche Spieße da?
Flugbegleiterin 1: Heute keine Spieße, das tut uns sehr leid: Geschmortes Kalbsfleisch? Erol:
Fleisch, haben Sie Fleisch?
Flugbegleiterin 1: Salz ist sowieso dabei, Mr. Soner. Erol:
Danke, danke. Pfeffer auch, ich weiß.
Flugbegleiterin 1: (zu Flugbegleiterin 2, die danebensteht und lächelt) Machst Du ihm einen Whisky? Flugbegleiterin 2 schüttet irgendetwas ein, dass ganz offensichtlich kein Whisky ist, gibt es ihrer Kollegin, die es dann Erol auf den Tisch stellt.
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Erol:
Woher wussten Sie, dass ich Tomatensaft trinken will?
Flugbegleiterin 1: Das ist ein Scotch Mr. Soner, ein milder Highland Single Malt, auf Eis. Erol:
Wie bitte?
Flugbegleiterin 1: Sie wissen, Sie können mit ihrer Diamont-Card schon im Voraus, genau angeben, was Sie essen wollen, was immer Sie auch essen wollen: Wir besorgen alles. Erol:
Ich verstehe Sie wirklich nicht besonders gut, können Sie vielleicht etwas lauter sprechen?
Flugbegleiterin 1: Mit Ihrer Diamont-Card können Sie auch schon im Voraus, im Voraus entscheiden, was/ Erol:
Sie wollen meine Diamont-Card sehen? Das ist jetzt aber schlecht, die ist oben, in der Gepäckablage.
Flugbegleiterin 2 greift in die Gepäckablage und holt eine Tasche hervor, die sie Erol gibt. Erol:
Danke, das ist freundlich.
Erol sucht jetzt nach seiner Diamont-Card. Er findet sie und gibt sie Flugbegleiterin 1. Flugbegleiterin 1: Mr. Soner, das brauchen Sie uns doch nicht zu zeigen, wir kennen Sie doch. Flugbegleiterin 2: Wenn Sie eine Diamont-Card besitzen, dann gehören Sie sozusagen zur Familie. Mit der Diamont-Card treten Sie jegliche Verantwortung an uns ab, und ein vielseitig kompetentes, multilinguales Team von Travel-Assistants, kümmert sich fortan um all Ihre Belange, Sie brauchen nur in unserem Diamont-Office anzurufen, und Sie werden unmittelbar mit dem Travel-Agent Ihrer Wahl verbunden, der sich um alles Weitere kümmern wird. Erol:
Danke, danke. Haben Sie vielleicht ein Glas Wasser für mich? Ein Glas Wasser?
Die beiden Flugbegleiterinnen lächeln ihn an und fahren weiter mit ihrem Wägelchen. Erol legt die Hände auf die Ohren und schließt die Augen, Erol wendet sich zu seinem Sitznachbarn, der zu schlafen scheint. Erol:
Entschuldigung, hallo, entschuldigen Sie. Hören Sie das?
Sitznachbar: Was?
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Erol:
Dieses Geräusch?
Sitznachbar: Der Motor? Erol:
Das Rauschen.
Sitznachbar: Ja, das ist der Motor. Erol:
So laut ist doch kein Motor.
Sitznachbar: Ich wüsste nicht, was das sonst sein sollte, es ist der Motor. Erol:
Ok, ok, danke.
Sitznachbar: Es ist der Motor. Erol: Ja. Erol steht auf und geht auf die Toilette. Er holt Zigaretten aus seiner Jackentasche und nimmt sich eine Zigarette heraus und hält sie in der Hand. Erol spricht laut, er will das Motorengeräusch, das jetzt etwas lauter geworden ist, übertönen. Erol:
Das Rauschen wird immer lauter, finden Sie nicht auch? Mhmmmm mmmmm, die ganze Zeit über dieses: Mhmmmmmmmmm. So hatte ich mich doch schon damit arrangiert. Gut, es war nie ein leichter Umgang. Aber nun: Es ist viel, ich glaube, es wird wirklich viel lauter, und dichter, finden Sie nicht? Ich hatte wirklich kein Problem damit. Es ließ mich nicht schlafen. Dafür konnte ich aber immer gut aufstehen, ohne Probleme. Ich habe aber wirklich das Gefühl, dass es sehr viel lauter geworden ist, in letzter Zeit, nicht? Es tut mir weh, dass sagen zu müssen, aber es tut mir fast schon ein bisschen weh, im Bauch, ein gewisser Druck, auf den Augen, am Hals. Irgendetwas, zwischen Treibsand und Algen, etwas das zerbrochen ist und es scheint wahrlich kein Sicherheitsglas zu sein. Ich kann nicht sagen was. Aber es war noch nie so laut: Mhmmmmmmmmm. Es gibt nicht viele Dinge, die besser waren, früher. Das Rauschen und das Fliegen. Beides war früher eindeutig, eindeutig besser. Früher, da durfte man Rauchen im Flugzeug, durfte man wirklich. Man durfte sich: So. Eine Zigarette anzünden. (Erol steckt sich die Zigarette an) Super, nicht? Früher hat man sich auch die guten Sachen angezogen, zum Fliegen und heute? Heute soll es gemütlich sein, denn Fliegen ist nicht viel mehr, als Busfahren oder was? Meine Eltern, ja? Meine Eltern haben tausende von Mark für Flüge ausgegeben, meine Eltern haben sich dieses Leben noch etwas kosten lassen.
Flugbegleiterin 2: Mr. Soner? Mr. Soner. Sie rauchen doch nicht etwa? Mr. Soner!
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Erol:
Bitte? Ich kann Sie/
Flugbegleiterin 2: Mr. Soner, ich bitte Sie, die Regeln zu respektieren. Erol:
Was sagen Sie? Hören Sie, es ist zu laut. Ich kann Sie beim besten Willen: Ich höre nicht, was Sie sagen.
Flugbegleiterin 2: Mr. Soner/ Erol:
Es wird doch wohl nicht wegen dieser einen Zigarette/
Flugbegleiterin 2: Das Rauchen im Flugzeug ist nicht gestattet, Mr. Soner. Das wissen Sie, genauso gut, wie/ Erol:
Es rauscht so laut. Wirklich so laut, oder etwa nicht? Das kann ich mir nicht aussuchen und eigentlich ist es, es ist echt OK, ich meine ich konnte immer alles machen, trotz Rauschen, manchmal deswegen. Ich habe immer gut gegessen, viel gesoffen. Und Frauen. Manchmal passt es sehr gut, wirklich sehr gut und ich denke dann: Gut. Wirklich sehr gut, Erol, wie schön von dir zu hören: Rauschen. Aber was wäre, und davor habe ich wirklich Angst, was wäre, wenn es aufhört? Wenn es einfach so – so – auf hört?
Flugbegleiterin 2: Mr. Soner. Ich bitte Sie, nicht zu rauchen! Erol:
Würde es Ihnen etwas ausmachen, etwas lauter zu sprechen? Das Rauschen nimmt proportional zur Fluggeschwindigkeit zu, die Frequenz. Also die Lautstärke, es ist lauter als Ihre Stimme, gute Frau. Wenn ich so darüber nachdenke, warum das Rauschen lauter geworden ist, so, ich möchte es nicht und ich gebe es auch wirklich ungern zu, in den letzten Tagen, häufiger darüber nachgedacht zu haben aber, so, ich beginne zu glauben, dass das der Anfang ist: Der Start. Der Anfang vom Ende des Rauschens. Und das macht mir Angst. Ich habe so große Angst, dass das Rauschen einfach aufhört – warum sollte es sonst einfach so lauter werden, kontinuierlich lauter, über einen bestimmten Zeitraum, ohne irgendwelche Schwankungen, ohne Stagnation lauter werden? Das kann doch wirklich nichts Anderes bedeuten, als dass es aufhört, meinen Sie nicht auch? Und dann, was ist dann? Dann schlafe ich erst einmal und dann? Dann kann ich nicht aufstehen, weil ich schlafe. Das Rauschen hat mich doch immer so gut, so gut, so gut, also vielleicht hat es mich einfach immer pünktlich aufstehen lassen, und was bedeutet das, wenn es nicht mehr rauscht, was bedeutet das für mein Aufstehen? Etwa Schlaf, ewig währender Schlaf, der ganze Schlaf, den ich nicht geschlafen habe? Aber so viel kann ich gar nicht schlafen, wie ich hätte schlafen müssen, nicht in der Zeit, die mir bleibt – in dem Leben, was ich noch vor mir zu haben hoffe. Das gelebte Leben hinter mir, ohne Schlaf, indem ich nie Probleme hatte, aufzustehen. Seit wieviel Wochen das Rauschen größer geworden ist, frage ich mich wirklich. Denn wenn das Rauschen konti-
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nuierlich größer wird, deutet das wahrhaftig auf einen Klimax hin, und ein solcher impliziert nun einmal einen radikalen Abfall des Rauschens. Das Rauschen: Das Rauschen ließ mich nicht schlafen. Dafür konnte ich immer gut aufstehen, ohne Probleme. Flugbegleiterin 2: Entschuldigung, geht es Ihnen gut, Mr. Soner? Erol:
Wie bitte?
Flugbegleiterin 1: Geht es Ihnen gut? Mr. Soner? Würden Sie bitte die, öffnen Sie bitte die Toilettentür, Mr. Soner! Erol schmeißt die Zigarette in die Toilette und öffnet die Tür. Erol:
Die Boeing 747 erreicht eine durchschnittliche Fluggeschwindigkeit von 272,23200 m/s. Ich finde, sie könnte schneller sein, finden Sie nicht?
Flugbegleiterin 2: Mr. Soner/ Erol:
Vor allem finde ich: Sie könnte leiser sein. Tun Sie doch mal etwas dafür, dass es mir gut geht.
Flugbegleiterin 2: Mr. Soner, das Rauchen im Flugzeug ist/ Erol:
Vor zehn Jahren durfte man hier noch rauchen!
Flugbegleiterin 2: Vor zehn Jahren, da habe ich noch nicht hier gearbeitet. Erol geht zurück an seinen Platz. Erol: Mhmmmmmmmmmm. Flugbegleiterin 1: Beruhigen Sie sich, Mr. Soner. In zehn Minuten beginnen wir mit dem Landeanflug, es besteht wirklich keinerlei Grund nervös zu werden. (flüsternd, sich über ihn beugend) Komm runter, Erol, Baby.
Szene 2 EXKURS IN DIE ZUKUNFT. Die Tochter erzählt eine Geschichte, die aus Erols Gegenwart betrachtet, erst in 20 Jahren stattfinden wird. Es ist dunkel, der Spot liegt auf der Tochter. Tochter: Auf der Hochzeit eines Freundes meines Vaters, Lukas, traf ich das erste Mal Martin.
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Martin wird auf einem Brett auf die Bühne gerollt. Er sitzt an einem Tisch, mit Mezes und Raki, er isst und trinkt schnell. Tochter: Mein Vater sagte zu mir: Martin ist ein Prinz, er ist mein bester Freund. Ich muss damals 18 gewesen sein und Martin nahm sich Zeit für mich. Ich sah den besten Freund meines Vaters das erste Mal in meinem Leben. Er trank vor meinen Augen eine halbe Flasche Raki und sagte diese Dinge zu mir, während mein Vater meiner weinenden Mutter auf die Toilette folgte (wenn meine Mutter geliebt werden wollte, brach sie einfach in Tränen aus und wartete, bis mein Vater kam, um sie zu retten). Martin jedenfalls sagte/ Martin:
Erol ist nervös und wehleidig, aber er ist außergewöhnlich, dein Vater ist bahnbrechend, wie ein schwuler Kosmonaut.
Tochter: Ich fragte mich in jenem Moment ernsthaft, ob dieser Mann wirklich von meinem Vater sprach. Alkohol schien bei Martin, den gleichen Effekt zu haben, wie Botox bei regelmäßiger Anwendung: Er lähmte seine Gesichtsmuskulatur, und so kam zu seinem torkelnd anmutenden Satzbau auch noch, sein, sich von Wort zu Wort nicht im Ansatz verändernder Gesichtsausdruck. Also fuhr er fort/ Martin: Dein Vater lässt sich regelmäßig gehen. Wenn ihn sein Selbstmitleid eingeholt hat, wirft es ihn zu Boden, und er liegt stundenlang auf einem Fleck, sei es auf Kacheln, bei geöffnetem Fenster oder auf dem Bürgersteig, egal, waghalsig und bahnbrechend/ Tochter: Dieses Wort schien ihm besonders wichtig: Bahnbrechend. Martin: /dann tut er das für uns. Er schlägt sich tapfer, da unten, ein großer Verdienst. Man kann es schwer festmachen an etwas und messen, kann man das schon mal gar nicht (klar?) Wenn er also daliegt, selbstvergessen, durch seine ganz persönliche Sphäre schwebend (auf dem Boden, im Schrank, wo auch immer) dann kann man ihn jagen mit Sprüchen wie: Erol, du holst dir den Tod. Oder: Denk an deine Nieren. Oder: Auf Dauer wird das ne Lungenentzündung. Viele Male konnte man ihn wirklich nur noch mit einer Flasche Whisky in das Reich der stehenden Menschen zurückholen, die Umdrehungen schafften es, sie hievten ihn zurück, in die Arme seines größten Feindes: Dem Alltag. Ich habe ihm immer gesagt: Erol, pass auf, so geht das nicht. Du bist nicht nur du, sondern auch mein Freund, wir tragen hier alle eine Verantwortung, Du kannst dich nicht so einfach aus dem Staub machen. Also pass auf Dich auf, ja? Aber dieser Mann kann so viel mehr ertragen als wir, Erol, die Möwe vom Bosporus, im endlosen Sturzflug. Tochter: »Erol, die Möwe«, zu jener Zeit wiesen seine verschmutzten Flügel massive Verschleißerscheinungen auf, geteert und gefedert vom Alltag.
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Er sagte: Ich wünschte, ich hätte mich verlaufen. Ich sagte: Um Dich zu verlaufen, Papa, musst Du erstmal runterkommen.
Martin: Dein Vater ist ein einziger Rauschzustand und das liegt nicht am Schnaps. Er ist permanent auf Trab, stets angespitzt, verstehst Du? Aber Du kennst ihn besser als ich: Er ist einfach so! Ist er nicht einfach so? Tochter: Es ist wirklich nicht einfach, mit ihm: Er ist so. Martin:
Dein Vater hat mir mal ein bisschen was erklärt, unter anderem das/Er sagte: Ein Weltbürger ist ein Mensch, der die Idee der Nation aufgegeben und erkannt hat, wie lächerlich sie ist.
Musik setzt ein, Lukas, Erol und Flugbegleiterin 1 kommen auf die Bühne. Martin steht auf, zieht die Tischdecke vom Tisch und tanzt mit den Beiden. Die Tochter steht auf und wendet sich jetzt noch stärker dem Publikum zu, während im Hintergrund getanzt wird. Sie muss die Musik mit ihrer Stimme übertönen. Tochter: Ich sah den Mann an, lange sah ich ihn an und ich fragte mich, ob er begriffen hatte, was er ausgesprochen hatte, Mein Vater verbarg sich erfolgreich vor mir, meine Kindheit über, begriff ich nicht, dass er noch woanders war. Und plötzlich sah ich die Fluten, Tränen vorletzter Generationen (die Bezeichnung: Schwarzes Meer – gewann eine ganz neue Bedeutung für mich) die durch die untiefen Furchen in seinem Gesicht strömten Das erste Mal in meinem Leben, sah ich die Salzränder um seine ausgezehrte Augenpartie. Die Tochter geht ab. Das Licht geht an. Martin und Erol sitzen zusammen, vor ihnen ein Geschenk. Martin: Hallo mein Name ist Martin. Heute sehe ich meinen besten Freund, Erol Soner, ich liebe Erol und deshalb habe ich ein Geschenk für ihn gemacht, ich hoffe er versteht, was es sein soll. Erol:
Außerordentlich schön.
Martin:
Freut mich.
Erol:
Nein, wirklich. Es haut mich um.
Martin: Schön zu sehen. Ich habe auch hart dafür gearbeitet, es hat seine Zeit gebraucht, die Teile zusammen zu suchen, so zusammen zu fügen, dass es am Ende auch noch funktioniert. Erol:
Das sieht man, es ist/Es strahlt eine gewisse, Wahrhaftigkeit aus. Meine Meinung/
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Martin: Man kann schließlich erst von Mechanik sprechen, wenn es funktioniert, nicht? Erol:
Das sehe ich genauso.
Martin:
Es freut mich, dass es Dir gefällt.
Erol:
Weißt Du, Martin, ich bewundere sehr, was Du machst, Deine Konsequenz, dieses Streben nach Perfektion, es ist so/
Erol macht roboterartige Bewegungen mit den Händen. Martin: Danke. Erol:
Nicht so bescheiden, Du kannst wirklich stolz sein. Ich meine, denke an all das Zeug, was da draußen verkauft wird, das nicht funktioniert, ja? Die könnten wirklich froh sein, wenn die mal so etwas für Geld kaufen könnten.
Martin:
Ich schenke es Dir.
Erol: Nein. Martin:
Nein, doch. Ich schenke es Dir/
Erol: Martin/ Martin:
Ich mein es ernst, ich hab es für Dich gemacht.
Erol:
Guter Martin, das/Ich kann das beim besten Willen nicht annehmen, will und kann ich nicht entgegennehmen, es ist zu kostbar, es ist viel zu sehr deins.
Martin:
Ich schenke es meinem Freund.
Erol:
Martin, ich weiß nicht was ich sagen soll, ich meine, gleich hast Du mich soweit, dann nehme ich es.
Martin:
Stell Dich nicht so an, ich hab es für Dich gemacht, nimm es. Von mir für Dich.
Erol:
Danke, guter Martin. Ich danke Dir von ganzem Herzen.
Martin:
Ich hätte nicht gedacht, dass es Dich so freuen würde.
Erol:
Gigantisch, ganz groß.
Martin:
Das freut mich.
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Ein Moment Stille. Erol:
Martin, ist das Fliegen sehr laut geworden, Deiner Meinung nach?
Martin: Bitte? Erol:
Ob das Fliegen, ob es lauter geworden ist?
Martin:
Keine Ahnung. Interessante Frage, Es ist laut, ja.
Erol:
Zu laut, nicht?
Martin:
Ja, warum nicht. Es ist schon laut.
Erol:
Wie laut, kannst Du es beschreiben?
Martin: Beschreiben? Erol: Ja. Martin:
Ich weiß nicht. So ein Brummen, nicht? Ich weiß, wenn Du fragst, weißt Du es wahrscheinlich besser, ist das jetzt ein Rätsel, oder so?
Erol:
Nein, nein. Kein Rätsel, das/Das war schon eine ernst gemeinte Frage.
Martin:
Nun, ich kann Dir, um ehrlich zu sein: Ich habe noch nie drauf geachtet. Es ist aber schon laut, klar. Ich meine, nehmen wir einmal folgende Situation: Musik hören. Es ist laut, dieses durchgehende Motorengeräusch und naja, da muss man schon aufdrehen, nicht? Ich meine, damit man etwas hören kann, oder? Natürlich stört das Geräusch.
Erol:
Ja, siehst du, das glaube ich nämlich auch. Es ist so ein/Ein Rauschen?
Martin:
Ein Rauschen? Das würde ich nicht sagen. Es ist eine Mischung aus … Ein lautes Vibrieren vielleicht. Vielleicht ein latentes Hämmern, dezent nervenaufreibend, ein kleines bisschen zu laut. Aber man gewöhnt sich dran. Der Mensch gewöhnt sich an alles, Erol. Weißt Du doch. Stört es Dich sehr?
Akın Emanuel Şipal, Vor Wien. © Suhrkamp Verlag Berlin 2012. Alle Rechte bei und vorbehalten durch Suhrkamp Verlag Berlin.
CALL SHOP Jubril Sulaimon
Jubril Sulaimon, 1968 in Ajegunle, Lagos/Nigeria geboren, folgte 1992 einer Einladung ans Schauspiel Essen, wo er bis zum Jahr 2001 immer wieder spielte. Es folgten Jahre am Schauspielhaus Bochum, am Bremer Theater und seither wurde Sulaimon als Gastschauspieler an verschiedenen Bühnen in Deutschland engagiert, u. a. am Schauspielhaus in Hamburg, Köln, Düsseldorf, Dortmund, Luxemburg. Am Theater Freiburg erfüllte sich sein Wunsch, als Schwarzer die Rolle des Othello zu spielen. Als erster Afrikaner in Deutschland spielte er auf plattdeutsch an der Fritz-Reuter-Bühne des Mecklenburgischen Staatstheaters Schwerin. Seit 1998 arbeitet er mit dem, von ihm gegründeten, afrikanischen Tanz- und Theaterensemble Jubril Sulaimon und AIPO in Dortmund. Von sich selbst spricht Sulaimon ironisch als »Einbrecher in die deutsche Kulturszene«, er kam für 6 Monate und blieb für Jahre, die deutsche Sprache erlernte er im Alltag und beim Auswendig-Lernen von Rollen. Um seine Vorstellung von Theater zu realisieren, ein Theater mit Tanz, Musik und Erzählung, schreibt er seine Stücke selbst. »Ich bin ein Theaterpraktiker, dazu gehört es, Stücke zu schreiben, sie selbst zu inszenieren und selbst zu spielen.« Jubril Sulaimon
Workshopbeginn, 3. September 2011 Ich bin ein Einbrecher. Jubril Sulaimon erzählt … Ich kam 1992 zu dem Schauspielhaus Essen, zur Uraufführung des Stückes »Ghetto« von Joshua Sobol. Es hat mit den Regisseuren zu tun, die mit mir zusammen in Nigeria gearbeitet und mein Stück inszeniert haben: Lukas Emler und Ina Schott. Ich wurde als Schauspieler des Jahres in Nigeria ausgezeichnet und beide Regisseure unterstützten dieses Stück. Über die Verbindung mit dem Goethe-Institut, die mein Stück haben wollten, bin ich nach Essen eingeladen worden. So kam ich für einen drei-Monate-Aufenthalt nach Essen und dachte eigentlich ich käme dorthin, wo man meine Sprache versteht: Englisch stand natürlich ganz oben. Ich recherchierte und bekam zur Antwort, dass alle Deutschen ebenfalls Englisch sprechen können. Jaaa, alle sprechen Englisch! Ich kam ins Theater Essen, und da konnte fast keiner mit mir Englisch sprechen. Die ostdeutschen Schau-
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spieler, das Stück Ghetto hatte ja mit ihnen zu tun, konnten kein Wort Englisch sprechen, das war sehr mühsam für mich. Aber zum Glück – und da geht es nochmal um die » Einbrechergeschichte« – zum Glück waren viele vom Schauspielhaus Essen an diesem Stück an vielen Szenen beteiligt. Dann kam ein Workshop ins Schauspielhaus Essen von der Folkwang-Schule, sie suchten da jemanden, der in anderen Bereichen versiert war. Da ich im Bereich von Schauspielimprovisation tätig bin – meine Stärke sozusagen –, bin ich einen Tag lang im Workshop aufgetreten und habe in der ganzen Schule Lärm gemacht, alles durcheinandergewirbelt, so dass die Lehrer und Dozenten alle interessiert waren. Sie wollten mich weiterhin anstellen mit einem 6-Monate oder 9-Monate Vertrag. Langsam kam ich also rein, auch wenn ich eigentlich nicht wollte. Es war viel Multikulti … Ich konnte mich mit Hand und Fuß verständigen und fragte dann in den Workshops, »Was heißt together?« also »Zusammen« … und ich sagte »Now we do everything zusammen!« Es war alles so lebendig, dass die Leute mich als »verrückt« betitelten und die Dozenten meinem Unterricht beiwohnen wollten. Immer wenn der Unterricht vorbei war, begann die Party an der Schule. Alle waren glücklich und sagten »Alles Ekstase, Junge« und ich wusste nicht, was los war … Dadurch, dass ich die Schauspielschule und die Tanzschule in meinem Unterricht kombinieren konnte, war es eine gute Sache. Somit führte mich der Weg zu Pina Bausch. Sie fragte mich, ob ich auch bei ihr Zeit verbringen und hospitieren wollte, und somit hatte ich einen Neun-Monats-Vertrag. Und so ging es weiter: »Bleibst du oder bleibst du nicht?« In dieser Zeit wollte das Schauspielhaus Bochum »Asyl in der ersten Welt« von Bettina Fless inszenieren und Bettina selber hat dieses Stück inszeniert. Man schlug mich ihr als »Den Verrückten aus der Folkwang-Schule« vor. So kam ich mir erneut wie ein Einbrecher vor, ich bin nicht freiwillig geblieben. Es passiert manchmal anders, als es geplant war.… Sie luden mich also zum Vorsprechen, zu dem 13 Leute erschienen sind, ein. Zu dem Zeitpunkt sprach ich kein Wort Deutsch, habe es bis heute nicht recht gelernt. Die Regisseurin sagte: »Das ist der Schauspieler, aber der spricht kein Wort Deutsch! Das ist er …. Der sieht gut aus, der kann alles.« Der Intendant Patrick Steckel, mein Heerführer hier, ich lobe ihn über alles, sprach Bettina gut zu und überzeugte sie davon, mir den Text zu geben und mich in Kurse zum Erlernen der Aussprache zu Gisela Dreier zu schicken. Gucken wir mal sechs Wochen lang, wie weit er das packen kann. Okay. Ich habe eingewilligt. Parallel hatte Patrick Steckel einen anderen Schauspieler engagiert, der ebenfalls im Vertrag stand, falls ich es nicht schaffen würde. War dir das klar, dass eine Zweitbesetzung für »Asyl in der ersten Welt« gebucht wurde? Ich wusste es zunächst nicht. Erst nach vier Wochen erfuhr ich es, da es zuvor hätte sein können, dass ich dem Druck nicht stand gehalten hätte. Ich habe die »Zweitbesetzung« nach 20 Jahren übrigens erneut getroffen. Ich habe dieses Stück also angenommen, habe es gespielt und war erfolgreich. Die Presse kam und wollte mich interviewen, doch als ich ihnen zu verstehen gab, dass ich kein Wort Deutsch verstand, wollten sie mir dies aufgrund meiner zwei Stunden langen Hauptrolle und schauspielerischen Leistung nicht glauben. Wie schon gesagt, bin ich also irgendwie einfach eingebrochen in die deutsche Kulturszene. Essen war immer mei-
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ne Lieblingsstadt, denn alles was ich in Essen anfing, wurde zu einem Erfolg: Wir Afrikaner sind sehr abergläubisch und sagen, dass ist die »City of Hope«. Meine Liebe zu Essen ist bis heute unerklärlich. Ja, die Zeiten haben mich so geführt. Ich hab meine eigenen Stücke immer als praktische Theaterstücke geschrieben, da mein Theater eher kommerziell ausgerichtet ist. Ein Theater, in dem du spielst, bei dem du aber nicht selber verdienen kannst, kommt nicht in Frage. Es muss ein praktisches Theater sein, bei dem du mit den passenden Requisiten überall zurechtkommst, egal wo. Das ist mein Konzept. Auch das habe ich von Zuhause. Ich habe verschiedene Stücke geschrieben, aber keines davon veröffentlicht. Alles aus Prinzip, das ist mein Material, meine Arbeit, meine Goldgrube. Wenn ich selber nicht mehr in der Lage bin, es zu spielen, dann kann man sie veröffentlichen. Ich habe so viele Erzählstücke, Märchen und so weiter, aber alles bleibt noch bei mir. Ich sehe mich nicht so sehr als Autor, ich sehe mich mehr als, so wie ihr sagt, Theaterpraktiker, da ich Regie führe, Stücke schreibe, Songs komponiere und die Instrumente selber spiele. Es muss alles drin sein. Ich habe diese Stücke vorgestellt, um den Leuten zu zeigen, wie so etwas funktionieren kann. Auf der anderen Seite bin ich dadurch viel unterwegs. Da habe ich ein Tanzstück, da ein Theaterstück, da einen Film, da bin ich im Fernsehen … wie ein Oktopus! Seit 20 Jahren mache ich das schon und ich denke, ich bin vielleicht der erste Schwarze in Deutschland, der wahrscheinlich in mehr als 25 Häusern in Deutschland auf deutschen Schauspielbühnen gespielt hat. Ich habe auch Othello gespielt! Bis heute sehe ich mich noch als der »schwarze Othello« in Deutschland. … und der schwarze Othello ist immer noch nicht freiwillig hier? Bis heute nicht, ja. Ich hab mich noch nicht dazu entschieden, hier zu bleiben. Ich habe noch keinen einzigen Tag wirklich darüber nachgedacht hierzubleiben. Natürlich habe ich inzwischen Frau und Kinder, auch wenn ich noch nicht entschieden habe. Momentan arbeite ich hier und wenn ich damit fertig bin entscheide ich, ob ich bleibe. Ich werde 44 und die Waage neigt sich noch nicht zur Hälfte … wenn ich die Hälfte in Deutschland, die Hälfte in Nigeria gewesen bin, dann gucke ich, wo sich die Waage hält, in welche Richtung sie sich neigt. Wenn ich schreibe, schreibe ich auch mit gebrochenem Deutsch, also Englisch-Deutsch, alles zusammen gemischt geschrieben und wenn es fertig ist, versuche ich mit Hilfe, es zu verbessern. Dann wäre dieses Theaterstück das erste, was Jubril Sulaimon schreibt und aufführt? Wahrscheinlich, wenn ich es durchziehe. Wenn Jubril Sulaimon bleibt … Ja also ich ….(lacht)…
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Gedanken vom letzten Workshopwochenende, 21./22. April 2012 Jubril Sulaimon, wie ist der Workshop verlaufen? Es ist ein Erfolg! Es ist eine erfolgreiche Arbeit, weil das Stück fertig ist! Ob es im Ergebnis ein Erfolg ist, ist ja unabhängig davon. Für mich war es ganz gut, dass ich die Möglichkeit hatte, mit Leuten zu arbeiten, die auch in Migrationsthemen involviert sind und darüber zu sprechen. Und ich konnte mit der Kritik sehr gut umgehen, um mich nochmal zu verbessern. Es war nicht leicht, diese Kritik acht Monate zu verarbeiten, von der eigenen Spur wegzukommen und dann wieder auf die Spur zu kommen, mit der Kritik konstruktiv umzugehen. Und das war gut, dass wir es so zusammen erarbeitet haben. Ich bin sehr froh darüber, ehrlich! Worum geht es in deinem Stück? Es geht um Ehre, es geht um Würde, es geht um Kultur, es geht um Tradition. Und vor allem geht es um Fanatismus der Tradition! Was eigentlich nicht negativ ist, aber es ist eine Schule des Lebens, weil an diesem einen Ort, wo die Leute sich festhalten müssen, um sich zu führen, um weiter zu kommen, da erzähle ich die Geschichte eines Afrikaners, der sich im Ausland befindet, aber seine ganze Heimat immer bei sich hat. Das ist natürlich unvorstellbar, wie kann er das ganze Dorf, seine Heimat bei sich haben im Ausland!? Es ist diese Bindung, er fühlt sich immer wie, einer für alle, alle für einen, dieses Zusammendenken. Man glaubt einer ist tot, aber er ist immer noch da und man muss immer noch für ihn sorgen. Dieses Denken ist für Europäer vielleicht nicht vorstellbar, aber für Afrikaner ist es so. Er ist weg, aber er ist mehr beschäftigt mit seiner Familie, als sein Dasein in Europa und seine Dinge zu regeln. Und dieses Übergewicht, er ist ungefähr 24 Jahre alt und damit ist diese Kultur 24 Jahre in ihm und sie steht nicht im Verhältnis zu den sechs Jahren, die er in Europa ist und der Kultur und Tradition, mit der er sich jetzt wirklich beschäftigen muss, weil er kurz davor ist rauszufliegen. Das zu balancieren, damit kämpft er. »Leute lasst mir ein bisschen Zeit, damit ich das hier erstmal zustande bringe und mich dann um euch kümmern kann!« Aber dafür hat seine Familie kein Verständnis. Und aus dieser Rolle spiele ich und versuche die Kultur und Tradition zu zeigen als »Ruf des Dorfes« oder CALL SHOP. Was bedeutet für dich transkulturelle Perspektive? Nur ein Wort: Zukunft! (Interview: Hella Sinnhuber)
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Jubril Sulaimon CALL SHOP Lamidi, ein Afrikaner, lebt seit fünf Jahren im Ruhrgebiet. Er ist als Student an der Universität eingeschrieben, hat in fünf Jahren aber kaum drei Semester studiert, weil er viel für seinen Lebensunterhalt und für die Unterstützung seiner Familie in Afrika arbeiten musste. Er hat gerade erfahren, dass seine Aufenthaltserlaubnis wegen fehlender Studiennachweise nicht verlängert wird. Vergeblich verbringt er mehrere Stunden am Tag im Call Shop, wo er versucht, seiner Familie in Afrika seine Lage zu schildern und ihr zu erklären, dass er all ihre Wünsche nach finanzieller Unterstützung nicht mehr erfüllen kann. Seine Familie glaubt ihm aber nicht, weil in ihrer Vorstellung Europa das Paradies auf Erden ist, in dem kein Mangel herrscht. Stattdessen werfen sie ihm vor, rücksichtslos und egoistisch zu sein. Er verliert die Nerven und bitte eine Kassiererin um Hilfe.
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CALLSHOP Textauszug Personen Kassiererin Lamidi Das Stück spielt am Morgen, Mittag und Abend.
Morgen Im Callshop. Mitten im Tagesgeschäft, verschiedene undefinierte Sprachen sind zu hören. Es ist sehr laut, die Gespräche in den einzelnen Kabinen werden sehr energisch geführt. 6, 7 oder mehr Telefonkabinen sind zu sehen, jede Kabine wird von innen extra beleuchtet. (mindestens zwei Kabinen sind belegt, was über eine Toneinspielung oder einen Statisten umgesetzt wird) Auf der Bühne rechts ist eine Kassiererin, Damika, an der Theke mit dem Kontrollcomputer und einem Monitor. Sie klebt gerade Preisplakate an. Lamidi tritt auf. Lamidi:
Guten Morgen, Kabine zwei bitte.
Geht in die Kabine rein. Sekunden später macht er die Tür wieder auf, geht in eine andere Kabine mit der Nummer sieben, kommt kurz danach wieder raus.
Was muss ich machen? Ich krieg keinen Ton.
Er wartet nicht auf Antwort, geht direkt in die Kabine Nummer fünf rein, aber auch da ohne Erfolg
Glaub mir, ich hab ganz normal gewählt und es funktioniert trotzdem nicht.
Kassiererin antwortet nicht, Lamidi packt seine Sachen, und ohne zu gucken, geht er in die Kabine sechs rein und stößt auf jemanden, der drinnen telefoniert.
Entschuldigung, ich habe Sie nicht gesehen.
Kommt wieder raus.
Die Sechs ist besetzt. Was ist mit der 3?
Geht in die Drei rein und kommt total frustriert wieder raus.
Warum gibst du die Kabine nicht frei, es kann doch nicht sein, dass ich auf einmal keinen Wahlton mehr bekomme in all deinen Kabinen, und
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ich von einer Kabine zur anderen wandern muss, wie ein zielloser Zugvogel. Was ist los, was muss ich machen? Kassiererin: Ganz normal wählen. Lamidi:
Hab ich gemacht, funktioniert trotzdem nicht.
Kassiererin: Wo rufst du an? Lamidi:
Spielt das eine Rolle?
Kassiererin: Klar spielt es eine Rolle. Lamidi: Afrika. Kassiererin: Wo genau in Afrika? Mali, Kongo, Botswana, Burundi, Casablanca, Nairobi, Nigeria, Addis Abeba, Burkina Faso? Lamidi:
Hörst du doch selber, klingt alles gleich.
Kassiererin: Süd, West, Ost und Nord-Afrika sind vier verschiedene Regionen. Lamidi:
Ok, West.
Kassiererin: Dann nimmst du Kabine 4. Lamidi:
Hast du für eine bestimmte Region eine bestimmte Kabine?
Kassiererin: Nein, Kabine 4 ist besonders isoliert gegen Lärm. Lamidi reagiert verwirrt auf die Antwort der Kassiererin. Lamidi:
Was heißt das?
Kassiererin: Egal wie laut man ist, stört es die anderen nicht. Lamidi:
Steht vor Kabine 4. Und diese Kabine sollte ich nehmen, weil du davon ausgehst, dass ich …
Kassiererin: Nein, von gar nichts gehe ich aus. Ich denke, so kannst du bequem ohne Bedenken telefonieren. Außerdem wollen wir, dass du dich in der Kabine zu Hause fühlst. Lamidi:
Lachend. Mich in einer Telefonkabine zu Hause fühlen!
Geht in die Kabine 4 und versucht, sein Telefonat zu führen.
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Hier bin ich wieder. Hier im Callshop. Von meinem Handy direkt kann ich dich nicht zurückrufen, bin etwas eilig, muss bis 9 Uhr ein sehr wichtiges Dokument an der Uni abgeben, sonst klappt alles nicht. Brüllt. Ja, verstehe ich, wichtig, was ist denn nun wichtig, eure Probleme oder meine? Antworte, hast du die Papiere für mich besorgt? Nein. Hast du die Telefonnummer von Mr. Ladejo bekommen? Nein. Weiß Baba überhaupt von all meinen Problemen? Nein. Nein, Nein. Alles ist nein, aber alle sind wichtig. Man ey … Sarkay [gesprochen: Sarke], hör mir gut zu, Leitung weg Hallo, hallo, bist du noch da …
Legt den Hörer weg, macht die Tür auf … hat fast einen Nervenzusammenbruch.
Man, ich krieg die Krätze, wie soll ich diesem verdammten Klan verständlich machen, was hier los ist, wie viele Jahre brauchen sie, um mir zu glauben! Stottert, findet keine richtigen Worte, um sich auszudrücken, kocht vor Wut. Lamidi spricht mit sich selbst. Menschenskind, bleib ruhig, du darfst dich von niemandem unterkriegen lassen, nicht von Freunden, nicht von Verwandten, selbst von deiner eigenen Familie nicht. Hast du gehört? Antworte, hast du gehört? Lamidi antwortet sich selbst. Ja, ich hab’s gehört.
Geht wieder in die Kabine rein und wählt wieder.
Hallo, was war eben passiert? Akku war alle, hab doch gesagt, warte bis ich aus der Uni zurück bin, dann komme ich direkt zum Callshop und rufe dich zurück. Dauert nur ein paar Stunden. Was? Es ist wichtig? Was zum Teufel ist so wichtig, dass du nicht warten kannst, bis ich aus der Uni zurückkomme? Wartet auf Antwort. Hä? Mein Handy ist gesperrt, ich kann nur Anrufe bekommen, und weiß Gott nur, wie lange noch. Ich muss unbedingt in den Callshop um zu Telefonieren. Also, du musst bis dahin warten. Was zum Teufel ist …. Drei Männer. Ja, drei Männer, was drei Männer. Was wollen Sie? Geld. Für was? Wie bitte. Mamas Ziegen haben deren Glasscheiben kaputt gemacht, Sarkay [gesprochen: Sarke], ich hör wirklich nicht richtig, warum machen die Ziegen Glasscheiben kaputt? Weil sie nichts zu essen bekommen? Jetzt sag mir noch mal, haben die Ziegen das Glas gegessen oder kaputt gemacht? Warum lasst ihr denn die Ziegen rumlaufen, wenn sie bockig sind! Imitiert die Stimme. Weil wir sie nicht füttern können. Dann schlachte das verdammte Vieh, wenigstens habt ihr dann was zu futtern.
Vor lauter Wut legt er den Hörer wieder auf und stürzt fluchtartig aus der Kabine raus. Hallo. Kurz vor Wutausbruch. Lamidi spricht wieder mit sich selbst.
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Ruhig, du darfst dich von niemandem unterkriegen lassen, selbst von deiner eigenen Familie nicht.
Kassiererin: Warum regst du dich so auf? Lamidi (imitiert wieder die Stimme von Sarkay): Weil das Geld, das für die Ziegen geboten wird, zu wenig ist. Wir warten auf das höchste Gebot. Lamidi lacht heftig. Die Ziegen, das ist alles, was du aus der Heimat bekommst, Piep, Ende. Lacht. Das ist doch gerade noch mal gut gegangen, schließlich hätte es ja auch schlimmer kommen können. Ich meine, es ist ihnen ja nichts passiert, keiner ist gestorben, die Ziegen sind nicht entlaufen, niemand wurde von den Hörnern gestoßen. Es war nur ein Sprung durch ein Fenster, und jetzt muss ich zahlen. Es ist mir scheißegal, ob es euch wirklich leidtut, ich bezahle euch, damit ihr mich versteht. Jeden Morgen frage ich mich, wie viele Stunden ich geschlafen habe, weil in meinem Kopf nichts Anderes ist, als die Probleme meiner Familie. Höre andauernd Telefonklingeln, gehe ins Bett mit dem Telefon in der Hand, werde geweckt vom Klingeln des Telefons, wie von einem Wecker. Auf der Straße, in der Bibliothek, in der Bahn, im Hörsaal, mein Alltag hier besteht aus dem Alltag der Heimat. Ja, ich gebe zu, dass ich mich etwas verändere, meine Geduld und Fürsorge für die gesamte Familie. Ich bin etwas müder als sonst, weil ich an keinem Tag fertigbringe, was die Heimat verlangt. Ich gebe euch jeden Tag Geld, baue euch ein Haus und Brunnen, besorge Stromerzeuger, alles was ihr wollt, weil ihr behauptet, ich sei das Glück und der Engel der Familie. Spielt die flehende Stimme aus Afrika: Ich bin’s, Tejumola, bitte leg nicht auf. Baba macht sich Sorgen um dich. Seit etwa drei Monaten ist dein Verhalten gegenüber deiner Familie sehr merkwürdig. Wir wissen nicht, wie wir dir alles sagen sollen. Oma möchte selber mit dir telefonieren, weil sie nicht glaubt, dass wir dir ihre Nachrichten weitergeben. Das Haus, in dem sie wohnt, hat kein Klo, und sie schafft es nicht mehr runter zum Fluss zum Kacken. Und Mamas Todestag, zum ersten Mal hast du uns nichts geschickt. Baba wohnt inzwischen wieder im Dorf, dort hat er noch die alten Freunde, mit denen er sich unterhalten kann. Unser Haus ist total überschwemmt. Die Stromerzeuger sind alle kaputt. Wir wissen nicht, wie wir das alles schaffen sollen. Bitte denke daran, wessen Kind du bist. Bitte rede mit uns, ruf bitte zurück, bitte ruf zurück. Die Stimme etwas weinend und flehend, klingt langsam aus. Imitiert einen Onkel aus der Heimat. Was will er uns sagen, will er sagen, dass er nicht weiß, wie schlecht es uns hier geht? Er weiß ganz genau, dass er die Verantwortung hat, sich zu kümmern, wenn es ihm besser geht, als den anderen in der Familie. Unsere Urväter haben ein weises Sprichwort: Man sagt, »wenn die Au-
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gen Dreck tragen, muss man diesen Dreck herausnehmen und ihn den Augen zeigen, damit sie den Dreck erkennen«. Wenn der Junge nun in Europa vergisst, woher er stammt und zu welchem Volk er gehört, dann muss man ihn daran erinnern, bevor es zu spät ist. Unser Dorf Akanran war ein Bauerndorf und bestens bekannt für seine großartige Kraft des Zusammenhalts, vom ältesten Dorfmann bis zum kleinsten Knaben im Dorf. Zum Beispiel damals, während des Bauernkrieges, als ein Vertreter der Regierung plötzlich mit seiner Krawatte und in einem weißen Peugeot 404 auftauchte, sich mitten ins Dorf gestellt hat, und verkündet hat, dass die Regierung unser Leben verbessern will. Als Regierungsbeamter: »Die Regierung hat beschlossen, eine moderne Straße durch das Dorf zu bauen, dazu Parkplätze, Kaufhäuser, Spielplätze. Aber dafür verliert ihr eure Felder«. Wie ein Gespenst verschwand er wieder. Wir waren aufgeregt. Damals fuhr alle 4 Stunden ein einziges Auto durch unser Dorf, der Tauschhandel funktionierte tadellos, alle waren satt und zufrieden. Nun hatte uns die Regierung gedroht, die Straße zu bauen, ob wir wollten oder nicht. So beschlossen wir, uns den Plänen der Regierung zu widersetzen. Wir versammelten uns auf dem Dorfplatz, um zu besprechen, was man tun könnte. Das ganze Dorf, Frauen und Kinder hielten in der Nacht Wache, schlachteten Ziegen als Opfer für die Flussgeister von Akaran und beteten für die Unterstützung des Dorfes. Die Soldaten kamen und schossen auf alles, was sich bewegte. Sie dachten, wir würden aufgeben, aber dann kamen immer mehr Menschen aus ihren Häusern und holten die verschossenen Kugeln aus ihre Mützen, Taschen, Beuteln: »Wollt ihr eure Kugeln noch einmal benutzen?« Da sind die Soldaten in Panik weggerannt. Die Schlacht war gewonnen. Die Kraft des Zusammenhalts ist eine höhere Macht als Voodoo. Lamidi bricht die Erzählung ab. Sachlich: Mir ist klar, wessen Kind ich bin, und unter welchen Bedingungen ich hier bin, aber noch brauche ich euch, eure präzise Unterstützung und Aufmerksamkeit.
Fängt an, in einer afrikanischen Sprache zu reden, als ob er etwas schwöre. Plötzlich fängt er an, ein Gebetslied zu singen in die Kabine 2 hinein, Er lässt die Kabinentür weit offen.
Debo, Hallo. Hallo Debo, Debo, kannst du mich hören?
Lamidi öffnet die Kabinentür und spricht zu der Kassiererin.
Ich hör ihn, aber er mich nicht. Mann, diese Kabine, man kann wirklich schwer telefonieren.
Kassiererin: Nur in Kabine 2 nicht, nimm die 4.
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Die Kassiererin klebt ein großes Schild mit der Aufschrift »Defekt« an die Tür von Kabine 2. Lamidi:
Wo bin ich?
Kassiererin: In Kabine 2. Lamidi wechselt von Kabine 2 zu Kabine 4, er schließt die Tür von Kabine 2, lässt die Tür von Kabine 4 aber weit offen. Lamidi:
Debo, wie geht es dir? Dir geht’s gut, gut, mir geht’s nicht gut, es brennt Feuer oben auf dem Berg. Ich erzähl dir später alles im Detail, ist Shola bei dir? Warum benimmt sich dieser Junge so, ich hab doch gesagt, dass ich einen neuen Pass brauche, mit neuem Alter und neuem Namen. Und er soll zu der Behörde gehen, um die Papiere zu beglaubigen, mein alter Pass gilt nicht mehr, der ist kaputtgegangen, ich darf ihn nirgendwo mehr zeigen. Anders kann ich das nicht sagen. Frag mich nicht, was los ist mit dem alten Pass. Ich sage, es brennt Feuer oben auf dem Berg. Ist das nicht genug, um zu wissen, was ich sagen will? Ich bin hier im Callshop, ich kann nicht mit ganzem Mund reden. Ich brauche eure Hilfe, in zwei Wochen hab ich keinen Aufenthalt mehr! Ich hoffe, du verstehst, was das bedeutet. Mit Sirkay habe ich vorhin gesprochen, der erzählt mir von Ziegen und drei Männern, anstatt von den Sachen, mit denen ich ihn beauftragt habe. Bitte, kannst du wieder zu meiner Schwester gehen. Was? Was hat sie gesagt, dass sie kein Geld mehr bei sich hat? Jesus Maria, siehst du, welche Last auf mir alleine ruht. Der Vater war krank, die Mutter braucht Holz, der Onkel will verreisen, die Kinder brauchen Schulgeld, die Ziegen sind hungrig, Glasscheiben, drei Männer – jetzt hab ich kein Geld mehr. Ich bin wirklich in einer heißen Pfanne. Hallo, Hallo …
Lamidi (legt den Hörer auf und eilt zu der Kassiererin): In dieser Kabine 4 ist die Leitung oft schlechter, als in den anderen Kabinen, man hört sich selbst mehr, als die Leute am anderen Ende. Kassiererin: Das Problem ist nicht von hier. Mit diesen Telefonleitungen haben bereits mehrere Kunden in verschiedene Länder telefoniert, und es funktionierte tadellos. Du bist der erste, der sich über eine schlechte Verbindung beschwert. Lamidi: Es ist nicht zu glauben, jetzt sind unsere Leitungen mal wieder schuld. Wenn etwas Gutes aus unserer Region kommt, dann sind es schlechte Nachrichten. Und wenn wir etwas gut machen, dann ist es … Kassiererin: Bist du nicht ein bisschen ungerecht? Lamidi:
Was heißt ungerecht? Immer, wenn es um mein Land und meine Landsleute geht, gibt es Diskussionen, immer hört man nur was Schlechtes.
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Wie oft hast du gehört, dass ein Landsmann von mir in Europa oder sonst wo ausgezeichnet wurde für etwas Gutes? Nenn mir ein Beispiel, wo man uns für gut hält. Wenn du meine Leute in der Zeitung oder im Fernsehen siehst, dann geht es um Bankbetrug, Asylmissbrauch, Drogenhandel, Scheinehe, man hört nur was Schlechtes. Kassiererin: Ich hab was Anderes gehört. Lamidi:
Gehört … Gehört, ja, was Anderes gehört, Positives oder Negatives?
Kassiererin: Positives natürlich. Lamidi:
Was positiv, Afrika und Afrikaner? Positiv?
Kassiererin: Ich meine nicht jetzt HIV-Positiv. Lamidi:
Das wäre ja noch schöner.
Kassiererin: Ey, du denkst aber nicht über alles so pessimistisch, oder? Lamidi:
Ich bin nicht pessimistisch, ich bin nur ehrlich.
Kassiererin: Meine Freundin Gertrud lebt seit über 20 Jahren mit einem Ausländer zusammen. Lamidi:
Der kommt bestimmt aus England oder USA.
Kassiererin: Der Malik kommt aus Afrika. Lamidi:
Und sie erzählt schöne Geschichten?
Kassiererin: Man kann sie beneiden um lauter schöne Erzählungen. Die Kassiererin macht einen sehr eifersüchtigen Eindruck. Lamidi:
Dass er mit seinem langen Schlauch spritzen kann wie die Feuerwehr.
Kassiererin: Du bist dermaßen diskriminierend, rassistisch, abartig. Lamidi:
Ich bin nicht rassistisch, ich bin nur offen.
Kassiererin: Offen für die Welt und kannst die Menschen nicht akzeptieren, wie sie sind, weil du das Gefühl hast, du wirst politisch benachteiligt. »Ich bin schwarz, komme aus Afrika, dann muss man mich mögen …«. Aber, wenn du Hilfe brauchst, dann musst du sie verdienen! Lamidi:
Ich sage nur, was ihr von uns denkt.
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Kassiererin: Dass jeder schwarze Afrikaner mit einem Zauberstab in der Hose rumläuft, dass er Rhythmus im Blut hat und tanzen kann, wie ein Kreisel. Und die Afrikanerinnen, was haben sie denn zu bieten, die haben ja wohl auch weiße Männer, oder? Lamidi:
Dass die Europäer denken, alle Afrikaner sind gleich, ist doch bekannt.
Kassiererin: Aber, dass ihr denkt, dass alle Weißen gleich sind, ist nicht bekannt. Schau dich zuerst an, bevor du die anderen kritisiert. Lamidi:
Ich möchte einfach nicht, dass irgendjemand eine Geschichte verbreitet, die nicht stimmt. Wir brauchen Wahrheit.
Kassiererin: Die Wahrheit hat sie mir erzählt. Lamidi:
Dass er …
Kassiererin: … alles getan hat, um die Beziehung aufrecht zu halten. Dass er oft mit ihr spazieren gegangen ist, obwohl er das aus seiner Heimat gar nicht kannte. Dass sie an einem Tantra-Workshop teilgenommen haben, weil er im Bett nicht gut war. Dass sie einmal in der Woche essen oder schwimmen gehen und regelmäßig zusammen in einer Salsa Gruppe tanzen, um sein schlechtes Rhythmusgefühl zu verbessern. Bei ihm liegst du voll daneben, wenn es um Klischees geht. Und sie sagt, ohne ihn hätte sie ihr Gewicht nicht reduzieren können. Hör mal, so was kriegst du selbst von einem gebildeten Mann nicht. Was willst du sonst noch mehr? Was glaubst du, was für Augen ich kriege, wenn sie mir Geschichten von ihrem Mann erzählt, wie er sie trotz des Altersunterschiedes wie eine Königin behandelt. Liebe hat nichts zu tun mit Weiß oder Schwarz, die Partner müssen zueinander passen. Lamidi:
Wie alt?
Kassiererin: 25 Lamidi:
Und sie?
Kassiererin: 52 Lamidi:
52? Ja, 52. Man sagt: wenn die Banane noch gut und essbar ist, lässt der Affe sie nicht gerne fallen. Nur eine faule Banane schmeißt der Affe gern zu Boden, damit ein anderer sie aufheben kann.
Kassiererin: Wie soll ich das verstehen? Die Kassiererin schaut Lamidi skeptisch an, Lamidi überlegt, ob er auf dieses Thema eingehen soll, er zögert ein bisschen, entscheidet sich aber dagegen.
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Lamidi: Ach, vergiss es. Ich muss aufpassen, ab 12 Uhr ist es schwierig, meine Verwandten zu erreichen. Lamidi kehrt in die Kabine zurück, die Kassiererin schaut ihn weiter an, sie hätte gerne eine Antwort. Man hört ein Telefon klingeln, es ist ein Anruf für die Kassiererin, sie guckt auf das Display des Telefons, geht aber nicht dran. Der Anruf beantworter schaltet sich ein, man hört eine fremde Sprache.
OPERATION HEIMAT ODER AGENTUR AUSLÄNDERRAUSCH Nesrin Tanç
Nesrin Tanç, 1977 wurde in Duisburg geboren und ist dort aufgewachsen. Sie studierte Germanistik und Turkistik in Essen, Psychologie in Duisburg und verbrachte verschiedene Auslandssemester in Amsterdam und in England. Während ihres Studiums assistierte sie unter anderem im Theater an der Ruhr und am Schauspiel Essen und inszenierte eigene Stücke in Schulen. Seit 2009 promoviert sie an der HfG Karlsruhe über das kunstwissenschaftliche Thema »Hybride Kunststrategien. Türkische Künstler im Kontext der deutschen Kunst«. Nesrin Tanç arbeitet als Beraterin und Projektleiterin für diverse Auftraggeber und ist Initiatorin von zahlreichen künstlerischen Interventionen. Sie pendelt zwischen Istanbul und Deutschland. »Theoretisch schreiben, Geld verdienen und künstlerisch arbeiten ist alles ein bisschen viel, aber es geht meistens. Ich freue mich sehr darüber, dass die Agentur Ausländerrausch, so heißt mein Stück, auf Interesse gestoßen ist. Ich liebe das Theater und hatte immer etwas mit dem Theater zu tun.« Nesrin Tanç
Workshopbeginn, 3. September 2011 Nesrin Tanç erzählt … Ich bin 34 Jahre alt, habe in Essen Germanistik und Turkistik studiert und in Duisburg Psychologie. Dann habe ich ziemlich schnell im Ausland studiert, in Amsterdam und in England. 2006 bin ich fertig geworden und seitdem versuche ich in der Kunstwissenschaft zu promovieren. Während des Studiums habe ich im Theater an der Ruhr angefangen, damals das einzige Theater, das die Welt so betrachtete, wie ich. So habe ich es jedenfalls wahrgenommen. Und dann fing meine Theaterzeit im Schauspielhaus Essen an, für ein paar Jahre so bis 2005, wo ich Geld verdienen konnte. Ich habe danach ganz viel in Schulen inszeniert, umsonst, Stücke, Skripte geschrieben, Geld bei den Städten organisiert in Herne, Duisburg oder Oberhausen. Es war damals schon ein wenig marketingmäßig, aber es war noch nicht dieser Hype da, der sich dann irgendwann in den Achtzigern mit der Interkulturwelle
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hochgefahren hat. In den Neunzigern habe ich dann einige dieser »Alibiprojekte« an Schulen gemacht. Immer wieder hatte es was mit dem Theater zu tun. Ich lese viel von Helmut Schäfer, habe auch zwei Jahre lang versucht, ihn zu interviewen; habe stundenlang mit ihm geredet, was aber zu nichts geführt hat und mich somit zu keinem schriftlichen Ergebnis, sondern nur zu anderen Erkenntnissen brachte. Irgendwann bin ich in die Kunst gegangen. 2006 habe ich ein Projekt bekommen, auch ein Interkulturprojekt, aus der hoheitlichen Staatskanzlei finanziert, und das habe ich vom NRW-Kultursekretariat übertragen bekommen, von Herrn Dr. Esch. Der hat auch viel bewegt in NRW, was Interkultur betrifft. So kam ich in das Netzwerk der Kulturbürokraten und Verwertungspragmatiker, die mir den Atem raubten. Die Naivität und Brutalität dort haben mich dazu gebracht, erneut in die Kunst zu gehen, nun aber in die Bildende. Dort habe ich Formen gefunden, damit umzugehen. Ich wurde zu aggressiv, was mir auch von Menschen gesagt wurde, die ich schätzte. Nun versuche ich über türkische Künstler im Kontext der deutschen Kunst zu promovieren, was auch funktioniert, eben nur langsam. Theoretisch schreiben und Geld verdienen und künstlerisch schreiben, das ist alles ein bisschen viel, aber es geht, meistens. In diesem Projekten schreiben wir auch. Ich musste zum Beispiel etliche Musikschulleiter und anderen Kulturmenschen davon überzeugen, dass die anatolische Langhalslaute in einer Musikschule angebracht ist. Man kann sich nicht vorstellen, was man da von Leuten zu hören bekommt, die zum Beispiel im öffentlichen Dienst arbeiten. So bin ich dann in Istanbul gelandet. Ich habe Deutschland abgelehnt und wohne nun in Istanbul. Ich muss nun aber wieder nach Deutschland und werde daher öfter in Berlin sein. Ich habe einen kleinen Exkurs in Köln versucht, aber NRW-Kultur-Organisation als Organisator funktioniert nicht. Die Überlegung war: Ich muss nach Deutschland, aber ich muss dieses Thema künstlerisch darstellen. Dafür hatte ich dann von Februar bis März Zeit und habe mich beworben. So sitze ich nun also hier und freue mich sehr darüber, dass meine »Agentur Ausländerrausch« auf Interesse gestoßen ist.
Resümee vom letzten Workshop-Wochenende, 21./22. April 2012 Was ist für dich eine transkulturelle Perspektive? Es ist ein konstruiertes Wort, was wir brauchen, um einen natürlichen Zustand zu beschreiben. Das bedeutet, dass man eigentlich in einem Zustand ist, der nicht sogenannt transkulturell ist, weil man ihn ja absondert. Wenn alle Zustände transkulturell wären, müsste ich ja nicht nochmal transkulturell sagen. Das ist ein bisschen absurd. Ich mag solche Begriffe nicht so sehr. Worum geht es in deinem Stück? Es geht genau um diese Begriffe. Begriffe, die erschaffen wurden für nicht deutsche Bürgerinnen und Bürger, die wir in einer sehr erschreckenden Natürlichkeit verwenden – auch wir selber. Darauf möchte ich aufmerksam machen mit diesem Stück. Es geht in den ersten Teilen darum, dass sich die Jurymitglieder über die Teilnehmenden einer Show für »Deutschland sucht den Super-Bürger mit Migrationshintergrund« bewerben und diese Jurymitglieder reden dann über diese Teilneh-
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menden. Und während sie das tun, lösen sie sich in ihren eigenen Konflikten auf, und es geht gar nicht mehr um die Teilnehmer. Im letzten Teil wird es sehr persönlich, indem ich ein Jurymitglied mit einer älteren Person in Verbindung bringe, mit der eigenen Mutter. Das sind dann emotionale Momente, während der erste Teil wild und brachial eine Verwendungsliste von Wörtern für nicht deutsche Bürger ist. Wie große war die Herausforderung für dich in den letzten acht Monaten? Es hat mir sehr gut gefallen und ich möchte mich auch für die ganze Mühe bedanken. Es war sehr liebevoll durchdacht, die Betreuung, die Kommentare, das Herangehen an die einzelnen Stücke. Das war sehr liebevoll und distanziert. Ich habe inhaltlich dramaturgisch viel gelernt. Ich muss mich noch damit auseinandersetzen, dass ich danach wieder alleine klar kommen muss. Wie war die inhaltliche Auseinandersetzung? Es war sehr intensiv und hat sehr viel Spaß gemacht und ich denke, dass es auch viel gebracht hat. Es liegt aber natürlich immer noch an einem selber, was man damit weiter macht. Man kann sich so schön daran gewöhnen, man wünscht sich, dass dieser Kreis einfach weiterhin besteht, wir uns in einem halben Jahr oder in einem Jahr wiedertreffen. Die Spanne kann ruhig größer werden, aber das müssen wir dann natürlich selber organisieren. Arbeitskreise sind eben arbeitsfördernd. (Interview: Hella Sinnhuber)
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Nesrin Tanç OPERATION HEIMAT Das Theaterstück zeigt den Weg von bis zu sieben Kandidaten der staatlich subventionierten Medienshow DSDS – Deutschland sucht das Suppenhuhn. Die Agentur Ausländerrausch ist beauftragt mit dem Casting der Kandidaten. Gesucht werden Personen mit Migrationshintergrund und einem sogenannten kreativen Leitfaden. Es winkt ein Preis von integrativem Charakter. Die Namen der Protagonisten sind Teil der künstlerischen Umsetzung und Dramaturgie des Stückes. Die mehr als 25 seit 1945 geschaffenen Begriffe für »nicht deutsche Einwohner Deutschlands«, wie zum Beispiel Ausländische Arbeitskraft, Gastarbeiter, Beruf mit Migrations- und Integrationshintergrund, Postmigrant, Rückkehrer oder Almanci werden im Stück in Form einer komödiantischen Casting-Analyse untersucht
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1. Akt 1. Szene Agenturbetreiber Jurymitglied Nummer 1 beim Dienst. Neon-Inschrift »SüperBürger« und »Agentur Ausländerrausch« Auf der Bühne ist ein Rinderkopf, blutig hängt er hinter der Glasscheibe. Rechts oder links, aber oben. Guten Tag, Agentur Ausländerrausch. Was kann ich für Sie tun? Wöfür benötigen Sie die seniorenfreundlichen Migranten? Interessant. Das Casting im neuen Integrationsministerium – schön, wie ist denn der Titel der Show: DSDS – Deutschland sucht den Süperbürger – DSDS MM Deutschland sucht den Süperbürger mit Migrationshintergrund! Schön – ganz toll …. Ja, ich habe direkt eine Vorstellung davon – für Sie –, welche gut darin sein könnten: die Einheimischen, die deutschen mit Migrations- und Integrationshintergrund. Hm, ja ich verstehe, ich verstehe … die Postmigranten … Die islamischen, nein nicht Islamisten, die produzieren … genau … wenn sie wegen ihren Kopftuchkindern nicht als Täter gelten, dann als … Stichwort Islam …
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Nein, das sind keine Gastarbeiter mehr, wir nennen das heutzutage ganz verschieden … Migrant eben und … Migrationshintergrund. Ja, wir brauchen mehr, mehr Gefühle … mehr globale Hintergründe … Ja! Als Musikprogramm haben wir ausländische, heimatlose Rückkehrer, lokale Weltmusiker aus interkulturellen Familien aus dem Einwanderer-Milieu … oder eben Bildungsausländer und weitergebildete Ehenachzugsbürger … Aber ich sage ihnen, wir haben Erfahrungen … Da können sie den »Mohr« singen, die machen nichts. Das ist ganz hingenommen, mit Frohsinn und Leichtigkeit. Höflich! Verstehen Sie? JA! alle gebildet und aufgeklärt … deutsch liiert zur Erweiterung der Kulturschmelze. Haben wir. Top! Auf der anderen Seite haben wir auch heimatbezogene Migranten und ehemalige, das ist ganz wichtig, dass wir das unterscheiden, ehemalige Gastarbeiterkinder, die leisten mit deutschen Komparsen Integrationsarbeit an den Opfern der Blutrache oder Zwangsheirat. Das sind alles Künstler im Grunde … Ja!
2. Szene Jurymitglied Nummer 1, Ayse Ol, Christian, die Nummer 3 (Agenturbetreiber und Jurymitglieder des Castings für die DSDS MM Show), Seniorin mit Migrationshintergrund (reitet auf einem Pony) Jurymitglied, Nummer 1: Verstehe ich das richtig? Wenn das Innenministerium sie auslagert, MÜSSEN wir natürlich reagieren. Natürlich – nicht affektiert, neugierig, höflich und natürlich setzten wir etwas in die Lücke! Christian, die Nummer 3: Erst einmal müssen wir klären, wie wir wen nennen werden. Wir können ihre Namen nicht nennen. Das geht allein wegen der fehlenden Aussprache nicht – wegen das kann ja keiner aussprechen. Außerdem müssten wir sie dann jedes Mal, wenn sie auftreten und an treten erklären, ihren Hintergrund, ihre Verhältnisse und ihre zugewiesene Identität, das, was wir uns für sie in diesem System ausgedacht haben, oder eher S I E und wir alle. Daher müssen wir sie mit ihrem zugewiesenen Identitätsbegriff darstellen. Das werden wir Ihnen schon klarmachen können, dass wir das immer mit benennen müssen und, dass wir das nicht privatisieren können. Also sie nicht privat oder intim oder eben privat, so wie sie meinen, dass sie genannt werden wollen, nennen können. Das ist ja hier kein Wunschkonzert.
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Jurymitglied, Nummer 1: Zusatz: dabei wussten wir nicht, dass sie bleiben werden. Wir haben ihnen dankend unsere Wohneinheiten zur Verfügung gestellt. Wir können uns ihre Bedürfnisse vorstellen. Alle, aller. Wir müssen Innenminister ihrer ausgelagerten innenministerialen Angelegenheit werden, so hoch! Ayse Ol: Ich möchte eine Frage stellen. Die ist nicht ganz verbunden mit dem, was wir hier tun sollen, oder ich sagen sollen, was keiner verstehen mag und nur wir diejenigen sind, die es ausführe dürfen. Aber ich kann mir diese Frage einfach nicht verkneifen. Sie geistert in meinem Geist herum. ES mag sein, dass sie langweilig ist, dass ich Euch alle mit meiner Frage langweilen werde, aber ich wette, ihr könnt sie nicht beantworten, so wie ich es will. So wie ich es für beruhigend empfinden würde: Also, da kommt sie, meine Frage: Wie hoch ist eigentlich der Himmel? Jurymitglied, Nummer 1: Diese Frage ist der totale emotionale Bullshit! Wie hoch soll der schon sein, dieser verkackte Himmel über dem verkackten, verkoksten Ruhrgebiet? So hoch, dass da, die Beschuldigungen und Beschimpfungen hinpassen, die wir bekommen werden, sicherlich. Wir, die wir in IHREM Namen, zu IHREM WOHL … Gut! Und auf der anderen Seite die Anerkennungen und Medaillen und die großen, riesengroßen Empfehlungen der Staatskanzleien und Vorzimmer mit migrantischem Milieu drin, die alle wir sein werden. Ablösen werden wir sie. Wir werden das Geschäft machen. So ist es. Wir müssen folglich, diesen Job, diesen Süperbürger anschaffen und praktisch alles, was über den Menschen als Arbeitswesen gesagt wurde, suspendieren, um es in die Sprache des Übens, bzw. des selbstformenden und selbststeigernden Verhaltens zu übersetzen. Dazu müssen wir in der Lage sein. Es muss was Erprobendes sein. Etwas Junges, was noch probt. Versteht ihr. Oder eben was, mit dem man es treiben kann. Nudeln soll es können, sexy sein wollen, zumindest so auf Anhieb. Aber das klären wir noch. Wir stehen ja noch am Anfang. Das war nur ein Wunsch, ein Gedanke, Migrations-Brainstorm. (lacht und lacht und lacht. Schubst Ayse Ol) Ayse Ol: »Der Ausländerbeirat kann sich mit Angelegenheiten der Gemeinde befassen und das erfassen, aber wir erfassen das nicht.« Seniorin mit Migrationshintergrund: Die Reise. Der erste Moment deiner Reise, den vergesse ich nie. Du auch nicht. Ich stand mit euch am Bahnhof. Zwei waren dabei. Du warst sechs, als wir am Bahnsteig standen. Weißt du noch, der Unfall? … Der Zug hatte einen technischen Defekt, und deswegen war ein junger Mann auf das Dach des Wagons gestiegen, und dort muss er ein Kabel angefasst haben. Er ist vor unseren Augen verbrannt. Der Zug hatte stundenlang Verspätung. Das war der Zug in den er gestiegen ist, dein Vater und wir haben ihm dann unter Tränen, … du hast nicht aufgehört zu weinen, eigentlich hast du es früher ein oder zweimal gesagt, dass du das symbolisch verstanden hast, als ein Zeichen.
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Christian, die Nummer 3: Mit den Gastarbeitern üben: Ohne die Gastarbeiter haben die Deutschen ohne Migrationshintergrund global immer nur abgesaugt. Ein dickes Gewissen wegen der Juden gehabt, aber abgesaugt. Nach dem Krieg folgte das absolute Wirtschaftswunder. Dann die 90er. Diese dot.com Blase bis Anfang 2000: Alles war super. Selbst ne Oma hatte Aktien. Und auf einmal, ist alles in sich zusammengefallen, und Oma musste ihre Aktienpakete verschenken. Wer soll denn für diese Misere hinhalten. Das steht sogar ganz legitim in Zeitschriften, und manche Male sagen Leute das sogar im Fernsehen!!! Die Türken müssen her, die Muslime, die sind datt Schuld, die verdammte Kacke nach dem Millennium, die abzusehen war. Die sind das! Und jetzt saubermachen! Wir sind sozusagen die Reinigungscrew der ganzen Scheiße. Und wenn dann wieder alles glasklar ist, müssen wir nur einfach für ein paar Schweine und Steine im Glashaus sorgen und zack, sind wir wieder im Einsatz. Das hört jetzt nicht mehr auf, das hört nimmer auf. Ayse Ol: Ist da etwa ein verdächtiges Opferrind hinter der Scheibe? (Schaut und zeigt auf den Rindsschädel. Ahmt das Reiten nach) Jurymitglied, Nummer 1: Alle Opfer sind prinzipiell auch Verdächtige. Ayse Ol: Woher soll man sonst auf das Opfer als Opfer aufmerksam werden? (Schmiegt sich immer mehr an Jurymitglied Nummer 1 an) Aber ist da ein Opferrind hinter der Scheibe? Jurymitglied, Nummer 1: Wobei, die 90er sollten wir nicht an ihre Eigenschaften anlehnen. DAS HÖREN WIR HERAUS (brüllt, gegen die leise Stimme der Seniorin mit Migrationshintergrund), wenn der Postmigrant eine Identifikation mit den 90er Jahren in seinem Leben erstellt. Das ist nicht gewünscht. Ayse Ol: Ich verstehe noch nicht so recht, was wir ihnen vorwerfen, wenn sie sich für die Show hier bewerben. Werfen wir ihnen das alles hier vor? Das mit den 90ern? Erzählen wir es ihnen. Ich meine, ihr habt sicherlich Recht. Ich meine, Ihr werdet schon wissen was das Gute für Euer Volk ist und für uns und mich. Aber wie sollen wir dabei glückliche Teilnehmer bekommen? Jurymitglied, Nummer 1: Dir ist da was ausgerutscht. Du wechselst doch nicht etwa die Seiten, meine Liebe Ayse Ol? Ich ignoriere das jetzt. Für Dich! Ayse Ol: Wieso? Seniorin mit Migrationshintergrund: Kurz und klein hast du manchmal alles zerschlagen. Einmal erst den Küchenschrank, dann den Wohnzimmerschrank. Weißt du das nicht mehr? Dein Vater hatte ihn gekauft. Ich hab keine Lust mehr. Wie viel Zeit bleibt mir, um das Morgen gegen
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diesen Krieg, gegen die OPERATION HEIMAT, den ich geführt habe, zu schützen? Jurymitglied, Nummer 1: Es hat einen Grund, warum du hier bist! Du möchtest doch nicht wieder ohne Sinn und Zweck …, du willst doch wieder zu etwas beitragen, ein Teil, ein wichtiger Teil im Ganzen Deutschland für ein ganzes Deutschland, für ein vielfältiges vervielfachtes Europa sein? Außerdem: Ich ignoriere das, weil es diese Frage nach dem Glück nicht gibt! Ayse Ol: Wo denn? Wir suchen doch den Süpergau den Süperbürger! Soll der nicht glücklich sein? Jurymitglied, Nummer 1: Der kann ja glücklich sein, der Migrant, der Nicht-BioDeutsche! Und ich weiß nicht, wieso wir ihm Fragen stellen sollten, die ihn unglücklich machen. Wieso sollten unsere Fragen so was tun? Da ist wer dann schon vorher unglücklich und den, den wollen wir nicht haben. Oder wir müssen seine Symptome als Suizidrisiko aus dem Heimatland identifizieren können. Das müssen sie mitgebracht haben. Genetisch bedingte Symptome der Zeit. Migranten und Gastarbeiter leben psychische und physische Leiden anders, sagen Ärzte in Zeitungen. Ayse Ol: Ist das nicht ein wenig blauäugig und grün hinter den Ohren. Viel zu bunt für hier, für das schwarz und weiß. Ich meine, wir werfen denen ja wirklich etwas vor. Ich meine, ich werfe mit, mit Steinen hier im Glashaus, dabei könnte das auch MEIN Haus sein. Und das finde ich ein wenig … Seniorin mit Migrationshintergund: Würde ich eine SMS aus dem Morgen an dich verschicken? Zugegebenermaßen hätte ich aus meiner heutigen Sicht keinen Bedarf. Du würdest ohnehin nicht reagieren. Ayse Ol: Ich verstehe nicht, wieso ihr so wütend seid. Ich weiß nicht, woher ich meine Wut nehmen soll. Ich habe sie abgelegt. Vor Jahren habe ich gesagt, dass ich sie ablegen, hinlegen werde, vor mich herschieben, aber nicht mehr annehmen oder aufnehmen werde. Ich möchte glücklich sein mit Euch. Mit allen! Seniorin mit Migrationshintergrund: Alle wichtigen Traditionen der Zusammenkunft waren dir stets, ab einem gewissen Alter zuwider. Wie genau kann ich den Zeitpunkt festmachen – ich suche noch. Dass ich Dir meine Gefühle und meine Gedanken, Vorstellungen und Bedürfnisse nicht mitteilen konnte, ärgert mich. Du wärst im Stande gewesen, eine Besserung zu bewirken. Eine Besserung deiner direkten Umwelt. Jurymitglied, Nummer 1: Weitermachen! (Schaut der Seniorin mit Migrationshintergrund verdutzt zu. Klopft, während sie parallel spricht, an die Glaswand dazwischen) Gut. Aus ihnen heraushörend, setzen wir es als Eigenschaft,
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die von uns an sie herangetreten wird, die hängen wir an ihre Namen, damit zu leben sie verpflichtet sind. Ohne weitere Zweckangabe! Wir brauchen ausländische Arbeitskräfte, Ausländer, Gastarbeiter, Ehenachzugs-Personenkreise, Postmigranten und Deutsche mit Migrationshintergrund, wir sind am Ende unserer pseudodistanzierten demokratisch bürokratischen Gewalt, wir brauchen den Süpergau! Den strahlenden Stern eines bunten und internationalen deutschen WIR’S! Aye Ol:
Wie kommt es zu einem Wir in einer solchen Gesellschaft? So?
Seniorin mit Migrationshintergrund: Habe ich das verursacht, habe ich mich gefragt. Aber Du bist zu einer anderen Art von Genügsamkeit gekommen. Einer, in der Du Dich lange nicht mehr gefragt hast, welches Land oder welche Nation Du liebst. Gar keine liebst Du, alle Nationen und Volksunterscheidungen, Einteilungen und Zugehörigkeitsgefühle findest Du hohl. So hohl, dass Du es vorziehst ein Leben in absoluter Spontanität und Willkür zu verbringen, anstatt in Dich und Deinen Lebensort zu investieren und Deine Position und Stellung in dieser zu festigen. Du gibst diese Aufgabe wirklich und gänzlich ab. Ich müsste dir gratulieren. Glasklar transparent, was das für mich bedeuten würde … (Ayse Ol und Christian, die Nummer 3 versuchen, mit Stühlen den Rindskopf zu greifen und höher zu befestigen) Christian, die Nummer 3: Menschen sind Produktivitätsspeicher, ausländische Arbeitskräfte. Döner? Namen werden zur Förderung des Objektivitätsgebotes vergeben. Das genügt. So eher: Gastarbeiter, Arbeiterkinder, Kinder von Erwachsenen aus dem Einwanderer-Milieu und Arbeitsmigranten-Milieu, Ausländer, Migranten, die alle Arbeit wollen. Ayse Ol: Eben, … ich muss sozusagen als Bürger die Freiheit haben, und ich habe das Recht, sofort zu erkennen, mit wem ich es zu tun habe. So? Meinen wir das SO? Jurymitglied, Nummer 1: Freiheit ist ein Wert, ein wertvolles Gut der Bürgerlichkeit. Mit Freiheit können ganz einfach alle hier als gebildet und teilweise aufgeklärt auftreten. (Begibt sich zur Seniorin mit Migrationshintergrund und brüllt es ihr entgegen) Schicksal als Chance – auch wegen der Kulturhauptstadt. Kultur und Islam, bringen WIR zusammen. WIR sind dann allesamt aus dem Häuschen, in das Sie gekommen sind. Schreibt mit: Wir helfen ihnen in die Mitte … für das WIR … Ayse Ol: Sie können das hier mit UNS als WIR verarbeiten? Das Herkommen und darüber hinaus … Christian, die Nummer 3: … wird die europäische Identität national, nein europäisch korrigiert und gestrickt …
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Ayse Ol: So … hochhalten? (Den Rindskopf höher haltend) Christian, die Nummer 3: Da brauche ich es, nein dort ist es zu Kopftuch. Ja! Nicht so künstlich. wer sagt, das Ruhrgebiet ist wie NEW YORK, wer daran glauben kann, macht das nicht künstlich, mit einem künstlichen Kopftuch. Keine Künstlichkeiten. Ich will hier keine Künstlichkeiten sehen. Jurymitglied Nummer 1: Aussitzen müssen wir das. In der Auswahl entscheiden wir: ob akademische … und Proletarier mit ausländischem und muslimischem Hintergrund und so und so – da weiter nach hinten – sind. Ayse Ol: »Der Ausländerbeirat kann sich mit Angelegenheiten der Gemeinde befassen und das erfassen, aber wir erfassen das nicht.« Wie kommt es zu einem solidarischen Wir in einer solchen Gesellschaft? So? Jurymitglied Nummer 1: Aus seinem Hintergrund heraus hat der Postmigrant …, was hat der erzählt? Er will öffentlich werden mit dem Bedürfnis, über seine Arztbesuche zu sprechen. Er wäre beim Arzt gewesen, da wollte einer seinen Sohn zum Arzt bringen, hat der Postmigrant erzählt. Warum erzählt er das? Ayse Ol: Sollen wir das als einen Angriff verstehen? Jurymitglied Nummer 1: Eine Verteidigung war das. Der Arzt wird gewählt, um uns zu zeigen, dass auch wir hätten dort sitzen können. So eine Arztpraxis ist ein öffentlicher Ort. Seniorin mit Migrationshintergrund: Auch ich will wieder unbeschwert Leben können, nur noch diese wenigen Jahre, die mir bleiben. Ohne dabei meinem Gewissen den Wecker zu stellen, ohne die Angst zu haben, dass ich damit irgendjemandem den Lebensinhalt raube oder eben dir als Eltern zu Nahe trete. Als Eltern! Dass ich alles alleine entschieden habe, weißt du, wir beide haben alleine gelebt. Wir haben ihn zu seiner Mutter gelegt. Und ich weiß nicht, was ich davon halten soll, dass das nun nicht mehr so sein soll, dass du nicht mehr neben deinem Vater liegen kannst. Dass ich daran denke, liegt nicht daran, dass es mir leichter fällt den Tod zu verwalten. Denjenigen Tod, den ich nicht denken kann – mir nicht vorstellen kann, dass auch Du sterben musst. Ayse Ol: Er war so verstört, als er das erzählte. »Der Ausländerbeirat kann sich mit Angelegenheiten der Gemeinde befassen und das erfassen, aber wir erfassen das nicht.« Jurymitglied Nummer 1: Als seniorenfreundlichen können wir diesen nicht einsetzen. Ich stelle mir meine Mutter vor, wie ich sie dieser Wut aussetzen muss. Sie hat sich so eingesetzt für die Türken. Ich kann mir dieses
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wütende, empörte Geschöpf nicht als soziale Begleiterscheinung meiner Mutter vorstellen. Ayse Ol: Wenn der Junge aus dem Libanon gestorben wäre, wo würde er begraben werden? Christian, die Nummer 3: Er saß in einer Praxis, in der auch jemand saß, der Osama hieß. Heiß das erst mal. Auf einmal war die Praxis still. Sagte er. Jurymitglied Nummer 1: Die Arzthelferin fragte dann »Wo ist er denn geboren?« Als der Mann dann »Libanon« sagte, kann man sich ja vorstellen, dass man hätte glatt denken können, dass die Leute alle in Deckung gehen oder mindestens die Polizei rufen müssen. Seniorin mit Migrationshintergrund: Es tut mir leid, dass wir hiergeblieben sind. Ich werde das in deiner Anwesenheit auch sagen können. Christian, die Nummer 3: Notiere auch diesen Blick von Rückkehrer. Dieser Blick, zu laut und fehlerhaftes Verhalten hat es mir vorgeworfen. Er, sie, es Amtswichser, weiße Amtswichser hat es gesagt. Jurymitglied Nummer 1: Werfen mir vor. Ich soll mich jetzt beruhigen. Ich muss mich nicht beruhigen. Christian, die Nummer 3: Wir haben Probleme, sie haben Probleme mit uns, wir mit Ihnen, und wir müssen das kontrollieren. Sie müssen und nicht, dass die das auch noch denken, dass wir auf sie angewiesen sind und sie das recht haben auf etwas, was das Wir nicht teilen kann. Wir können keine Deutsche mit dem SüperWir, mit dem Migrationshintergrund auszeichnen. Das ist nicht so gedacht, das ist für welche mit Migrationshintergrund, und ein Deutscher, der hat keinen Migrationshintergrund. Und das wollen die einfach nicht verstehen. Das Opferrind höher hängen. Nein niedriger, so, dass wir dann gut drankommen. Jurymitglied Nummer 1: Aber der nicht mehr sprechen wollende, von uns ausgebildete und daher eingebildete Postmigrant, und ich muss sagen, er ähnelt dem Rückkehrer nicht im Geringsten, so unhöflich, dass es mir sagen musste, ich müsse mich beruhigen. Ich mag das nicht, wenn mir das einer sagt, besonders nicht, wenn das ein Sozialisationsprofiteur sagt. Das verschissene Geld für die Bildung dazumal, was WIR für Es ausgeben haben, und ich finde das nicht kooperativ und integrationsfördernd. Seniorin mit Migrationshintergrund: Soll ich mein Potential zur Fröhlichkeit und Erleichterung, die eintritt, nach der Klärung eines langersehnten Gespräches, für ein Wesen, dass ich erschaffen habe und dessen Lebenseinstellung mir den Atem raubt, einbüßen müssen?
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Jurymitglied Nummer 1: Mit Dienst allein … man kann ja kein nationales Format für was nichtnationales wie die Ausländer haben. Aber das Bleiberecht, das Ausländerrecht, die Integrationsmaßnahmen. Einfach mehr Zeit, mehr für Kooperation von Anthropologen, Sozialtherapeuten, Wirtschaftswissenschaftlern aus dem Bundesamt für Arbeit und den gewissenhaften Geschäftsleuten von der DIN, UNS und dem Integrationsministerium. (greift nach dem Rindskopf, serviert ihn auf dem Tisch und fängt an, ihn in Scheiben zu schneiden) Ayse Ol: Das ist gut und schlecht, bunt wie schwarz und interessant und wohlmöglich auch beängstigend. Wir haben alle alle Chancen, wenn wir wären, wer wir sind, wenn wir gehen, aber nicht bleiben, die Vergangenheit kennen dürften, um des Morgens willen, Gegenwart selbstbestimmt und unbenannt, genug genannt im RISIKOSPIEL … hat Rückkehrer das gesagt? Jurymitglied Nummer 1: Ich möchte umgehend wissen, wer das war, geworden ist zu jemandem, von dem wir nichts wissen und der ohne uns ist. Wir können keine Ausländerarbeit im Quartier auf bauen, wenn wir nicht Ausländer haben und ihre Kindeskinder, die nicht wissen, wer sie sind. Wieso wiederholst du es so innig? Ayse Ol: Keiner hat das so geschrieben. Das Rind hat gesprochen. Nachdem wir es gegessen haben, hat es aus mir gesprochen, ohne Zwiebeln lag es auch schwer im Magen. Ich meine, all diese Dinge, die kann nicht ich gesagt haben oder gehört, ohne was zu sagen. Dieses Land kann nicht mit uns umgehen. So was verstehe ich, aber ich kann das nicht gesagt haben. Ich habe dann noch eine rohe, aber rote Zwiebel nachessen müssen. Kann uns töten … Ich hatte solch eine Angst. Seniorin mit Migrationshintergrund: Eigentlich ist mir doch noch immer vollkommen schleierhaft, in welchem Ausmaß der Gleichgültigkeit, und meines Erachtens nach, auch der Hilflosigkeit, Du dich nicht veranlasst fühlst, eine Veränderung einzuführen oder Dich zu melden, mit einem verständlichen Lebensentwurf, einer Lebensform, die es dir erlaubt, frei die Welt, in der wir unsere Erinnerungen gelebt haben, mit der Zukunft verbindend, an Dich und deine Kinder weiterzutragen, bzw. ich habe es ja bereits getragen, nur Du trägst es nicht weiter. Soll ich mich zurückhalten, wenn ich Dich widerlich dreist finde, in Deiner Ignoranz gegenüber meinen Fragen, die ich heute nicht mehr stelle.
2. Akt 1. Szene Ayse Ol: Ich möchte mich bedanken. Ich bin wirklich überrascht darüber, dass ich diesen Preis bekommen habe. Ich möchte den Gastarbeitern und ihren Nachkommen, ihren Kindeskindern, helfen und sie öffnen, so wie
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mir geholfen wurde. Aufmachen werde ich ihre Schubladen, ich werde mich hineinlegen und darüber reden, ihnen meinen Bericht erstatten, in Gottes Namen alles nur bitte … Danke, dass ich gegenwärtig geworden bin. Neugeboren bin, nach dem anstrengenden Leben in Angst. Angst vor den Schubladen. Das ist vorbei.
Ich werde, in dem Glashaus, das sie mir schenken, bleiben, und dafür bedanke ich mich, das ist mehr wert als eine Rente. Dafür bedanke ich mich. Also ich werde mich öffnen für ihre Institutionen, meine Organe ihren Organen übertragen. Überhaupt: ich habe meinen Ehemann bei dieser Gelegenheit kennen gelernt. Ich habe ihn endlich mal auf die Fische in seinem Teich angesprochen. Er hat ein Badetuch geschenkt, zum neben dem Teich liegen und die Fische beobachten. Ich habe mir eine Katze gekauft und lag mit ihr gemeinsam oft auf meinem Badetuch und dafür danke ich Ihnen – für diesen Preis. Manchmal habe ich den Verdacht, dass er nicht gegenwärtig ist. Mein Mann. Wenn der andere mir gibt, was ich von ihm erwarte, so als würde ich mir geben, was ich durch ihn mir wünsche und begehre, das trübt mein Anderssein, es sticht nicht mehr hervor. Also ich habe hier, da war mal ein Opferrind, aber hier werde ich die Kamera aufstellen, für Ihren Einblick.
Zugänglich habe ich mich gemacht. Ich schließe mit Ihrer Hilfe die Lücke zwischen mir und Ihrem Zugang. Danke. Wir haben uns, nachdem ich aus der Jury ausgetreten bin und mich meinem Mann zugewendet habe, dafür entschieden, dass ich zu meinem Migrationshintergrund stehen soll. Ich stehe nun vor Ihnen mit diesem Hintergrund und öffne Ihnen meine Inneres, um Ihnen zugänglich zu machen, was Ihnen unzugänglich ist: Mein Privatleben – meinen Hintergrund. So, dass ich meinen Hintergrund vor Sie legen kann. Ich lege Wert darauf, ein Teil von Ihnen zu sein. Offen gesagt, alle Teilnehmer haben das Geschenk, das Glashaus abgelehnt. Dabei hat uns das Innere das Geschenk gemacht, eben das Innere. Ich fand das sehr respektlos, und so habe ich mich mit meinem Mann, der es ablehnt, einen unzugänglichen Hintergrund zu haben, entschieden, als Teilnehmerin teilzunehmen. Wissen Sie, mein Vater hat dazu Mal seinen Pass für 1800 Mark verkauft und ist zurück in seine Heimat. Das hat dazu geführt, dass das Innere keine Informationen über mich und meinen Hintergrund mehr hatte. Mit diesem Verkauf löscht man seine Zeit. Man ist nie hier gewesen und so bin auch ich nie hier gewesen. Dabei war ich schon immer hier. Das müssen wir bereinigen, haben wir gedacht und so.
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Samia Susann Trabolsi wurde 1978 in Latakia, Syrien geboren und kehrte drei Jahre später mit der deutschen Mutter in die ehemalige DDR zurück. Dort wuchs sie seit dem 8. Lebensjahr, als älteste von vier Geschwistern, in einer Patchwork-Familie in Thüringen auf. Nach dem Abitur arbeitete sie als Regieassistentin in Kölner Kindertheatern und startete ein Puppenspielstudium an der »Staatlichen Schauspielschule Ernst-Busch« in Berlin. In den Ferien tourte sie als Marionettenspielerin mit einem griechisch-deutschen Theater durch Zypern und spielte an der Oper Thessaloniki. 2000 reiste Samia Susann Trabolsi erstmals wieder nach Syrien, um ihre Familie nach 19 Jahren zu treffen. Der arabische Frühling brachte sie von der Bühne weg und hin zum Journalismus. Sie studierte Islamwissenschaften und Publizistik in Berlin. 2007 folgte ein Volontariat als Fernseh- und Radiojournalistin. 2008 bekam sie den Hörfunk-Preis »Sofie« des Landes Mecklenburg-Vorpommern und der Heinrich-Böll-Stiftung für ihre Serie über Muslime in MV. Der Wunsch, als Drehbuchautorin eigene Komödien zu schreiben, erfüllte sich nach einem Studium an der Deutschen Film- und Fernsehakademie, Berlin. 2011 erhielt Samia Susann Trabolsi das Autorenstipendium »Heimat« des Bayrischen Fernsehens und der Stadt Nürnberg für die Drehbuchentwicklung einer Culture Clash-Komödie und brachte ihre erste Komödie 2016 ins Fernsehen. Der Bühne blieb sie trotzdem treu. Bruder werden spielt in einer frisch gebackenen Patchwork-Familie. Es geht um Lügen, Abschied nehmen von geliebten Menschen und das Austarieren von Grenzen innerhalb neuer Familiengefilde. »Es reizt mich, für Jugendliche eine Komödie zu schreiben, die auf der Bühne funktioniert. Die Komödie handelt in erster Linie davon, wie man Abschied nimmt von geliebten Menschen und wie es sich für alle Familienmitglieder in einer Patchwork-Familie so lebt. Es wird Mutproben geben, lustigen Cultur Clash, aber auch sehr traurige Momente.« Samia Susann Trabolsi
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Zum Workshop Start, 3. September 2011 Patchwork Wurzel. Samia Susann Trabolsi erzählt … Ich bin halbe Migrantin oder wie auch immer man das sagt, also ich bin halb deutsch, halb ostdeutsch, halb Ostdeutsche und halb Syrerin, ich bin in Syrien geboren, 1978. Das, was heute abläuft, ist genauso wie damals 1978. Bis 1982 demonstrierte dort die ganze Zeit das Volk, und in der Historie wurden sie dann als Bruderschaft bezeichnet. Diese Ereignisse sind auch immer wieder Themen über die ich schreibe, wie auch für den Film. Ich bin also in der Patchwork-Familie in SachsenAnhalt und in Thüringen aufgewachsen. Nach meinem Abi bin ich nach Wuppertal gegangen und nach Köln, da ich dachte ich müsse irgendetwas im Bereich Theater machen. Ich bin aber zunächst beim Puppenspiel an der »Ernst Busch«-Hochschule gelandet. Ich blieb nur für ein halbes Jahr, da mir die Hierarchien nicht gefielen. Ich hatte nicht das Gefühl, gefördert zu werden, hatte viele Kindertheaterpraktika gemacht und fand plötzlich auch Puppenspiel kitschig. Also ich hab die Form des Puppenspiels hinterfragt, ob es das Richtige für mich ist oder nicht? Da man beim Puppenspiel nicht seine eigenen Stücke schreiben kann, sondern fremde Stücke spielt, habe ich lange gesucht, bis ich einen Ort gefunden habe, an dem ich kreativ sein kann und ich mich wohl fühle. Doch das hat sehr lange gedauert. Ich bin anschließend als Praktikantin bei den Medien, bei der TAZ, Berliner Morgenpost und Radio Multikulti gelandet. Anschließend habe ich mein Volontariat als Fernseh- und Radiojournalistin beim NDR in Hamburg gemacht. Ich war im Norden tätig, aber eigentlich war ich jeden Monat in einer andern Stadt, so wie jetzt auch: Stets mit dem Köfferchen unterwegs, nachts immer im Hotel. Ich war ständig am Pendeln zwischen Berlin und Schwerin, Schwerin und Lübeck, Lübeck und Kiel, Kiel und Hannover, Hannover und so weiter. Am Schluss war ich dann in Hamburg. Ich habe aber dennoch auch irgendwie das Gefühl gehabt, unzufrieden zu sein. Ich habe natürlich ein paar schöne Sachen in der Zeit machen können: Unter anderem eine Radioserie über »Muslime in Schwerin«, die auch einen Preis bekommen hat. Es war interessant, es war halt nicht immer für mich selbst. Ich wollte es auch fürs Fernsehen machen. Dieselben Protagonisten nutzen, um Fernsehserien zu kreieren. Das ging dann nicht, weil »Dritte Welt« am Abend nicht angeschaut wird hieß es, zusammengefasst. Es ist so: Migranten sind alle gleich problematisch, sind alle arm, sind alle … ich sage jetzt mal: Gastarbeiter. Damit habe ich jetzt kein Problem. Dieser Begriff »Migration« ist immer gleich Hartz-IV, Terrorismus und negativ geprägt. Beim NDR wurde ich z. B. gefragt, was meine Eltern denn beruflich machen würden, da habe ich mir schon meinen Teil bei gedacht. So – habe ich mich jetzt hier hochgearbeitet? Meine Mutter ist Röntgenassistentin und mein Vater hat studiert, obwohl er Syrer ist. Es war immer schon komisch. Mögen tue ich das nicht und ich bezeichne mich selbst auch nicht als Migrantin, obwohl die Geschichte meiner Eltern und meine Geschichte natürlich ganz viel mit Flucht und Fremdsein in neuen Familien, in Patchwork-Familien, in anderen Konstellationen zu tun hat. Ich habe übrigens zwei Patchwork-Familien – noch eine in Syrien, wo ich dann später immer hin gependelt bin. Mein Vater hat noch mal geheiratet. So etwas spielt immer eine Rolle in Identität und Fremd-Sein und wie man wahrgenommen wird. Später auch als Praktikantin habe ich gemerkt, dass es abhängig von diesen Tatsachen war, für
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welche Themen ich eingesetzt wurde: immer diese »Migrations-Schublade«. Bei Ausschreibungen ist das hingegen eine schöne Sache, aber in der Realität ist es doch so manches Mal nervig. Das Volontariat habe ich dann beendet und in der Redaktion, in der ich gerne einen Vertrag haben wollte, gab es keinen mehr. Da ich aus dem Osten kam, laut Lebenslauf 1996, sollte ich dann nach Schwerin. Da wollte ich aber nicht hin als Berlinerin und bin daher nach Berlin zurückgekehrt. Ich ging nach Berlin, wollte nochmal neu anfangen und versuchte mich tatsächlich als Drehbuchstudentin zu bewerben. Ich wurde angenommen und bin jetzt also gerade an der DFFB, der deutsche Film- und Fernsehakademie im Studium. Ich wünsche mir aber den Weg zurück ins Theater. Ich würde mich freuen, wirklich zu lernen, wie man für das Theater schreibt. In der Zeit, in der ich vor zehn Jahren diese Praktika machte, als Regieassistentin oder Marionettenspielerin, habe ich nie fürs Theater getextet, das ganze Know-How fehlt mir. Meine Themen sind meistens eine Art »Culture-Clash-Komödien«, die ich gerne fürs Kindertheater umschreiben würde. Ich freue mich sehr, dabei zu sein, die Gruppe und Dozenten sind inspirierend und engagiert, toll!
Gedanken am Ende der IN ZUKUNF T Workshops, 21./22. April 2012 Was ist nun nach dem Workshop eine transkulturelle Perspektive für Dich, Samira? Das habe ich mich beim Schreiben auch immer gefragt, ob wir nun wirklich eine andere Sicht haben, nur weil wir multikulti Hintergrund sind. Ich sag jetzt mal nicht das böse Wort Migrationshintergrund. Ich erzähle eine Geschichte, die nicht unbedingt eine transkulturelle Perspektive hat. Es spielt für mich in meinem Schreiben gar keine Rolle. Selbst wenn die Personen multikulti sind, aber das Thema, um das es geht, könnte auch Heino Müller geschrieben haben. Wie hast du die acht Monate IN ZUKUNFT erlebt? Noch mal zurück zu der transkulturellen Frage! Ich habe mich auch gefragt, warum es diesen Wettbewerb gibt, für wen er gemacht ist und wer Migrant ist oder wer wie als Migrant gesehen wird. Die Frage zog sich durchweg durch unsere Diskussionen in der Gruppe. Es gibt halt die Kolleginnen und Kollegen mit türkischem Hintergrund, die als Kinder von Arbeiterfamilien hier aufgewachsen sind. Oder die, die hier ein Engagement als Schauspieler hatten, wie Jubril oder eben ich. Mein Vater hat hier studiert, und es war schon spannend zu sehen, warum ist man selber hier in diesem Workshop? Hmm … und ich hab damals gedacht, ich habe diesen Hintergrund, sehe mich selber aber gar nicht als Migrantin. Aber dahin führt es ja vielleicht in paar Jahren sowieso, dass irgendwer irgendwie einen Migrationshintergrund hat, dazu muss er ja gar nicht nach Deutschland eingereist sein. Welche Rolle spielt das in BRUDER WERDEN? In meinem Stück ist es zum Beispiel dann der eine arabische Junge, dessen Vater aus Bagdad nach Deutschland gekommen ist, aber auf der anderen Seite ist es auch eine deutsche Jüdin, die schon immer in Deutschland gelebt hat und nicht migriert
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ist und sich – um Gottes willen – auch nicht als Migrantin sieht! Genau so wenig wie ich, ich bin Kind eines Ausländers, aber nicht eines Migranten. Und das fand ich spannend, das war schon immer Thema zwischen uns. Und dann sind die IN ZUKUNFT Geschichten so unterschiedlich, das man neue Begriffe finden muss für Migration oder für Migrationshintergrund. Zurück zu der Workshopzeit, die acht Monate … Sie waren mal mehr, mal weniger intensiv. Aber wir sind eine tolle Gruppe und es ist sehr schade, dass es jetzt schon wieder zu Ende geht. Was mir persönlich sehr viel gebracht hat, war, dass es in unserer Gruppe sehr viele Journalisten und viele Filmemacher gibt. Und was mir persönlich noch mehr gebracht hat, war die Sicht der beiden Schauspieler, also Jubril Sulaimon und Oleg Zhukov, die aus einer ganz anderen Perspektive Feedback geben können. Das hat mich persönlich am meisten bereichert, im Theater zu denken und nicht im Film. (Interview: Hella Sinnhuber)
Samia Susan Trabolsi
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Samia Susan Trabolsi BRUDER WERDEN Joshua soll bald »Abdallah-Landgraf« heißen. Schuld daran ist sein neuer Stiefvater Abdallah, der Bestatter ist, Joshuas Mutter heiraten will und einen viel zu coolen Sohn hat, Mehdi, mit dem sich Joshua in Zukunft ein Zimmer und seine Mutter teilen soll. Der neue Bruder glaubt, dass nur Muslime mutig sind und Joshua ein Feigling ist. Joshua wird von seinem Stief bruder getestet, ob er es wert ist, Mehdis Bruder zu sein: Er stoppt die Zeit, wie lange er es im Bettkasten aushält und, ob Joshua den Mumm hat, eine Leiche zu küssen. Als sich beide Brüder in die Neue der Klasse verlieben, macht Joshua einen Vorschlag: Wer von den Brüdern am längsten in einem geschlossenen Sarg bleiben kann, kriegt Lizzy. Doch dann kommt alles anders als gedacht, denn der Deckel des Sarges klemmt …
Samina Susan Trabolsi
BRUDER WERDEN Textauszug FIGUREN JOSHUA MEHDI KARLA FADI
13 J., Deutsch-Jüdisch, Karlas Sohn 14 J., Joshuas Stief bruder, Fadis Sohn, Iraki Joshuas Mutter, neue Freundin von Fadi Mehdis Vater, Witwer, Moslem, Bestatter
JOSHUA zum Publikum: Alles fing vor 3 Monaten an, als meine Mutter mir eines Donnerstags eröffnete, dass sie einen Nachmieter für unsere Wohnung gefunden hat, und dass wir schon morgen umziehen werden … in dieses Kaff hier – zu meinem neuen Stief bruder und Stiefvater! Fadi heißt er, fast wie Vati … meinte Mama, die hat ja vielleicht Humor! Und Bestatter ist er und hat seine Särge im Keller! Direkt hier unten quasi! Auf jeden Fall ist meine Mutter total sicher, dass mit ihrem neuen Freund alles anders wird und ich einen Vater kriege und mein Stief bruder eine Mutter. Mir ist das egal … Ich brauche keinen andern Vater und erst recht keinen bekloppten Stief bruder …! FADI trägt mit MEHDI Kisten mit Aufschrift »Joshua«, »Karla« in den Raum. Mehdi ist widerwillig. MEHDI: Warum soll ich seine Kisten schleppen? Ich bin doch nicht sein Sklave! FADI: Chalas! (scharf zu Mehdi) Halt den Mund, sei nett zu Deinem Bruder! MEHDI: Er ist nicht mein Bruder!
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FADI:
Aber er wird Dein Bruder!
MEHDI: Wie soll ’n Araber und ’n Deutscher Bruder werden? FADI:
Das hat nix mit sowas zu tun!
MEHDI: Es ist jedenfalls zu eng! FADI:
Im Moment muss das gehen! Vielleicht bauen wir den Keller aus!
MEHDI: Nach der Probezeit? Die bestehen die Kartoffeln sowieso nicht! FADI:
Ich hab das gehört, Mehdi! Wenn Du Ärger machst, kommst Du in den Keller gleich neben die Särge!
MEHDI: Du wirst immer gemeiner … seit Mama tot ist! FADI:
Willst Du mir irgendetwas sagen?
MEHDI: Ach, mit Dir kann man doch gar nicht reden! Du vermisst sie überhaupt nicht! Fadi knallt Mehdi eine.
1. SZENE: IM ZIMMER DES STIEFRBRUDERS JOSHUA zum Publikum: Was natürlich auch klar war … ich bekam kein eigenes Zimmer. So ist das mit den Erwachsenen, sie locken dich, damit Du nicht meckerst und ihre Pläne kaputt machst, und dann vergessen sie, was sie versprochen haben. Man kann sich eben auf niemanden verlassen! Um alles muss man sich selbst kümmern. Hätt’ gern mal gewusst, ob ich oder Mehdi in den Keller gekommen wäre. Wahrscheinlich hätte Fadi Mehdi in den Keller gesteckt, zu mir muss er ja netter sein, ich bin ja der Stiefsohn, sonst klappt’s mit meiner Mutter nicht … Meine Mutter gibt sich auch besonders Mühe mit Mehdi. Das nervt, wenn sie über seine Witze lacht. Dabei glaube ich, dass sie ihn eigentlich viel zu frech findet. Joshua springt vom Bett und baut mit den Kisten eine Grenze zu Mehdis Seite. MEHDI: Machstes dir schon im fremden Nest gemütlich, Alta? JOSHUA: Das wird schwer bei Deinem Anblick! MEHDI: Du sagst es, Du Spast! Mehdi schaut sich die Mauer aus Kartons an, die Joshua errichtet hat.
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JOSHUA: Schutz vor der Dummheit! MEHDI: Bleib mir fern mit Deinem Dreck, Du Messi, sonst zünd ich’s an! JOSHUA: Mach doch! Ist doch Dein Zimmer … MEHDI: Ach plötzlich isses meins? Pass bloß auf, dass Du’s Dir nicht verscherzt, hier is und bleibt mein Revier! Mehdi schiebt Joshuas Kartons zu ihm und korrigiert die Kreidelinie, so dass Joshuas Seite um einiges kleiner ist. JOSHUA: Ist aber nicht die Hälfte. MEHDI: Wer sagt, dass Du die Hälfte kriegst, hä? JOSHUA: Dein Vater. MEHDI: Glaubst du alles, was dir deine Alten sagen? Das ist mein Zimmer, hier gelten meine Regeln. Und meine Regeln sind: anklopfen und reinkommen, wenn ich dich reinbitte, und gewichst wird nicht! JOSHUA: War das alles? MEHDI: Und wenn ich Besuch hab, hältst Du Deine Klappe und mischt Dich nicht ein! JOSHUA: Mach doch was Du willst, ich bin eh nicht scharf auf Dein Zimmer. MEHDI: Ach ja, und warum biste dann hier mit den ganzen Kartons? JOSHUA: Mann, checkst Du nicht, dass ich auch nicht hier sein will … ist doch nicht meine Schuld. Ich werd eh bald zu meinem Vater gehen! MEHDI: Ach, und das glaubst du? JOSHUA: Was soll das heißen? MEHDI: Naja, er kümmert sich nich um dich … JOSHUA: Wer hat das gesagt? MEHDI: Also stimmt’s? JOSHUA: Das geht dich nichts an!
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MEHDI: Und ob! Du bist in meinem Zimmer! Es gibt 3 Möglichkeiten: Dein Vater is’ in der Klapse, oder im Knast, oder mit ’ner anderen Frau durchgebrannt. Vermutlich einer jüngeren und hübscheren … JOSHUA: Blühende Fantasie hast Du! MEHDI: Das liegt wohl daran, dass wir Orientalen einfach mehr davon haben … von allem, geilere Autos, heißere Bräute … besseren Sex! JOSHUA: Du träumst ja! MEHDI: Dein Vater hat Euch also verlassen! JOSHUA: Quatsch! MEHDI: Wo is er? Zurück in sein Land? Dann hat er wenigstens mehr Grips als Du! JOSHUA: Ach ja?! MEHDI: Was bistn gleich so eingeschnappt! Hab dich nur gefragt, wo Dein Vater ist, das darf man ja wohl noch! Sein Land is doch Israel, oder etwa nicht? JOSHUA: Mein Vater ist Deutscher, auch wenn er Jude ist! Du bist hier der Ausländer, der eingewandert ist und nicht ich! MEHDI: Was willstn damit sagen? JOSHUA: Na denk mal scharf nach! MEHDI: Du bist in meinem Zimmer! MEHDI schubst Joshua in den Bettkasten und setzt sich drauf, sodass Joshua nicht raus kann. Joshua hämmert gegen das Bett von innen. JOSHUA: Mach auf, Mensch! (japst) MEHDI: Erst wenn du gehorchst! Ich geb dir Asyl, da will ich auch wissen, warum du hier bist! JOSHUA: Du Kanake! MEHDI: Also wo ist dein Vater? Hast du überhaupt ein Vater, du Bastard? JOSHUA: Scheiße, lass mich raus! MEHDI: Ich kann dich nicht hörn!
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Joshua hämmert weiter. MEHDI: Is er mit ner anderen abgezwitschert, ner jüngeren? JOSHUA: Nein. MEHDI: Sondern, … Joshua japst. Mehdi macht das Bett auf und Joshua liegt ohne eine Bewegung drin. MEHDI: Alta, mach keinen Scheiß! War doch nur Spaß … ehhh … alles ok? Mehdi ist nervös und versucht, linkisch auf die Lunge zu klopfen, Joshua prustet vor Lachen los. MEHDI: Du Arsch! JOSHUA: Selber Arsch! MEHDI: Gehst bestimmt gleich petzen, wa? JOSHUA: Du nervst! MEHDI: Meistens sind die Leute tot, wenn man nicht mehr über sie redet. Ich wette, er ist tot! JOSHUA: Blödsinn! MEHDI: Weißt Du überhaupt, wo er ist? JOSHUA: Darf ich Dir nicht sagen. MEHDI: Beim Geheimdienst? BND? JOSHUA: Sag ich nicht! MEHDI: Mossad? JOSHUA: Vielleicht ja, vielleicht nein … MEHDI: Du bluffst. JOSHUA: Vielleicht, vielleicht nicht. MEHDI: Du willst dich doch nur wichtigmachen und bist doch ’n Bastard! JOSHUA: Tu ich nicht.
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MEHDI: Dann beweise es! JOSHUA: Ich beweise es, wann ich Lust hab und nicht, wann du es sagst. Joshua klappt das Bett runter und geht schlafen. MEHDI: War gar nicht so übel, 3 Minuten haste bestimmt drin gelegen … Vielleich biste ja doch ’n Mossadkind! MEHDI: Biste noch sauer? SCHWEIGEN MEDHI: Redet Deine Mutter über ihn? Also Deinen Vater wegen Mossad und so? JOSHUA: Nur wenn sie was getrunken hat … Das ist normal. MEHDI: Und … JOSHUA: Es ist so, dass er nicht anrufen kann, dort wo er ist … Wahrscheinlich auch weil »sie« ihn dann erpressen, wenn sie wissen, wo wir leben, und dann müssten wir in so ein Schutzprogramm. MEHDI: Was »sie«? JOSHUA: Na die, die Mossad ausschecken … Jeder checkt jeden, so ist das. Der kann keinem vertrauen, mein Vater. Zu seiner Sicherheit und zu unserer … MEHDI: Krass, is ja Hammer, Alter! JOSHUA: Wir sind nämlich auf Zeit untergetaucht. MEHDI: Dann ist das mit Deiner Mutter und meinem Vater nichts Ernstes? JOSHUA: Ich glaube nicht! Wie gesagt, wir reden nicht darüber, ich hab keine Ahnung! MEHDI: Und Dein Vater weiß nicht, wo Du bist? JOSHUA: Bestimmt. Er muss nur im Untergrund bleiben. Würde bestimmt auch nie seine Adresse verraten. MEHDI: Hmm, macht Sinn! Endgeil, Mann! SCHWEIGEN MEHDI: Schläfst Du?
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JOSHUA: Neee. MEHDI: Hast du schon mal? JOSHUA: Was? MEHDI: Na was wohl. Joshua schweigt. MEHDI: Also nicht, biste schwul oder was? JOSHUA: Quatsch. MEHDI: Kann ja sein. JOSHUA: Und hast du schon? MEHDI: Klar. JOSHUA: Mit wem? MEHDI: Mit der neuen aus der Klasse. JOSHUA: Und … MEHDI: Heiße Sache, die wollte gar nicht mehr aufhören, guckt jetzt immer so komisch rüber im Unterricht und leckt sich über die Lippen, da wird einem ganz anders …
2. SZENE: JOSHUA KRIEGT POST Mehdi kommt ins Zimmer und gibt Joshua einen Brief. JOSHUA: Was ist das? Mehdi zuckt mit den Schultern, gibt Joshua den Brief, Joshua setzt sich auf sein Bett und streicht über den Brief JOSHUA: Kraaaaaass! Mein Vater. MEHDI: Echt? Sagste mir, was drinsteht? JOSHUA: Glaube nicht! MEHDI: Wirst du sowieso, ich wette!
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Joshua öffnet ihn … JOSHUA: Willste wissen, was er geschrieben hat. MEHDI: Neee. JOSHUA: Hätts dir eh nicht gesagt. Schweigen MEHDI: Und? JOSHUA: Es tut ihm leid, dass er sich so lang nicht gemeldet hat, er war in Schwierigkeiten … MEHDI: Siehste! JOSHUA: Siehste was? Wieso siehste? MEHDI: Hab dir doch gesagt, wie es ist, Spion zu sein. JOSHUA: Ach, weil du dich da so gut auskennst, ja? MEHDI: Und wo is er? JOSHUA: Kann ich dir nicht sagen! MEHDI: Steht bestimmt nicht drin! JOSHUA: Klugscheisser, klar stehts drin! Schweigen
10. SZENE: MEHDIS MUTTER MEHDI: Du fragst nie, was mit meiner Mutter war! JOSHUA: Dachte, das ist Dir unangenehm! MEHDI: Ihr Deutschen seid ja doof, man fragt. Das macht man so, wenn man ’n … Kumpel ist! JOSHUA: OK, was is passiert? MEHDI: Das einzige, woran ich mich noch erinnern kann, ist, dass wir in Bagdad die Wohnungen oft gewechselt haben, wenn wieder auf unseren Balkon geschossen wurde und es auf dem Markt immer total laut und dre-
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ckig war und Mama unser goldenes Besteck, was sie zur Hochzeit bekommen hatte, verscherbelte, damit wir genug Briefmarken hatten. Sie hat immer meiner Oma Postkarten jede Woche geschrieben, müssten eigentlich in Mamas Wäschetruhe sein, unter dem Hochzeitskleid. Das hat sie mitgenommen aus Bagdad und ein paar Fotos und ein Service. Als wir dann zurückkamen, durfte Mama nicht bei Oma Khadidsche wohnen, wir mussten erstmal in so ’n Heim. Oma Khdadische hat uns immer besucht dort. Es gab nichts außer diese grauen Zimmer Parterre, sodass alle immer reinschauen konnten, gemeinsames Essen mit allen anderen … öde wars da … Und als mich dieser blöde Hund vom Bürgermeister gebissen hat und die Zeitung da war, durfte ich mich nicht einmal beschweren, weil Mama Angst hatte, dass wir dann Ärger bekommen mit den Deutschen. JOSHUA: Und dann? MEHDI: Dann war sie tot! SCHWEIGEN JOSHUA: Wie meinst Du? Ermordet? MEHDI: Nee, das war ’n Asthmaanfall, irgend ne Allergie wegen Papas Putzmitteln im Laden, glaube ich, irgend so ’n Scheiß, was du nicht ahnst, Papa ist zu spät zum Arzt! Aber er hat gesagt, der Arzt hat Schuld! JOSHUA: Vermisst Du sie? MEHDI: Du stellst ja Fragen, du Honk! Schweigen JOSHUA: Ja, das war doof … MEHDI: Ich weiß gar nicht mehr, wie ihr Gesicht genau aussah, nur, dass sie immer so schön aussah in ihren Kleidern … ENDE
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SIEBEN MÄNNER FÜR HÜRMÜZ Tanya Zeran
Tanya Zeran 1976 wurde 1976 in Hamburg-Sankt Pauli als Tochter einer türkischen Gastarbeiterfamilie geboren und ist dort aufgewachsen. Als Journalistin arbeitet sie seit 15 Jahren für Print- Fernsehen und Webpublikationen. Schwerpunkte ihrer Arbeit: Kulturelle Annäherung, Islam, Religion und Kulturthemen. Aber auch Mode, Musik, Lifestyle und Zeitgeistiges, gehören zu Ihrem Themenspektrum. Sie hat Journalistik und visuelle Kommunikation studiert. Sie absolvierte darüber hinaus eine Tanz- und Schauspielausbildung in Hamburg und L. A. »Das Theater interessiert mich sehr, da es eine eigene Sprache hat. Es ist intensiv, schwierig und herausfordernd mit einem tiefen, intellektuellen Anspruch, den ich fast nirgends auf der Welt wiederentdeckt habe. Sprachen liebe ich, egal ob es Türkisch, Englisch oder Deutsch ist. Ich muss das Gefühl haben, da sind Dialoge, die mich wirklich interessieren, mich erwecken, mich zum Nachdenken bringen und in verschiedene Vorstellungen treiben können.« Tanya Zeran
Erster Workshoptag 3. September 2011 Theaterliebe. Tanya Zeran erzählt … Ich lebe in Berlin und bin eigentlich eine ganz normale Journalistin. Ich habe angefangen, Film zu studieren, bevor ich Journalistin wurde und hab es nie zu Ende geführt. Visuelle Kommunikation hatte ich als Schwerpunkt und habe jetzt das erste Mal begonnen, mich mit Bewegt-Bild, mit Film zu befassen. Das Theater interessiert mich sehr, da es eine eigene Sprache in Deutschland hat: so intensiv, schwierig und herausfordernd. Der Film ist ein bisschen leichter finde ich, aber das Theater hat einen tiefen, intellektuellen Anspruch, den ich fast nirgends auf der Welt wieder entdeckt habe. Ich finde es sehr spannend und würde gerne mehr über das dramatische Schreiben wissen. Ich selber habe den Schwerpunkt ins Schreiben gelegt, ob es für den Film ist oder im Journalismus. Mittlerweile mache ich sehr wenig im Journalismus, weil es nicht mehr die Form ist, in der ich mich wiederfinden kann. Das Intellektuelle und das, was gerade hier passiert, finde ich spannend. Eigentlich bin ich momentan in der Stimmung, in Deutschland gar nicht mehr gegen die »Schienen der Migranten«, die Vorurteile, in die sie fallen, anzukämpfen. Manch-
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mal ist es auch vorteilhaft, wie zum Beispiel bei diesem Wettbewerb IN ZUKUNFT. Da ist man ja nur innerhalb einer kleinen Gruppe ausgewählt. Wenn ich mich jetzt bei einem deutschen Ausschreiben beworben hätte, wäre es vielleicht sogar noch ein bisschen schwieriger, da meine Mitbewerber in ihrer Sozialisierung unter Umständen mehr gefördert wurden. Daher finde ich es ganz interessant, dass so ein Workshop hier stattfindet. Ich bin sehr autodidaktisch beim Lernen, aber man sollte auch das Handwerk ein bisschen beherrschen. Daher ist es super, dass wir hier die Möglichkeit bekommen, an der eigenen Idee zu arbeiten und diese umzusetzen, zu sehen, wie das alles funktioniert und in die Materie einzutauchen. Ich gehe selber sehr viel ins Theater, vor allem ins Ballhaus und finde es sehr spannend, was dabei herauskommt. Ich gehe aber auch viel ins Deutsche Theater in Berlin und sehe einen großen Unterschied in Bezug auf den Anspruch. Sprachen liebe ich, ob Türkisch oder Deutsch. Ich muss das Gefühl haben, da sind Dialoge, die mich wirklich interessieren, mich erwecken und mich zum Nachdenken bringen und in Welten treiben können, die etwas anregen, was uns in der Menschheit etwas weiter bringen könnte oder einfach Konflikte bespricht und uns auf Ideen kommen lässt. Da muss ich sagen, ich finde das Migranten-Theater, das Postmigrantische Theater, wie es genannt wird, fast noch ein bisschen zu schwach. Es sollte viel mehr geben und zur größeren Selbstverständlichkeit werden. Da dieser »Rechtswind weht«, als Journalist spürt man gewisse Sachen etwas intensiver, weil man sich ja viel mehr inhaltlich mit Medien und Politik beschäftigt, denke ich, dass es ein richtig guter Zeitpunkt ist, um neue Wege zu gehen, auch auf künstlerisch-kultureller Ebene. Beispiele wie »Evet – Ich will« sind die ersten Schritte, mit denen man es auch ein wenig mit Humor auffassen kann. »Almanci« hat mir auch sehr gut gefallen: Man erkennt, dass der Deutsche und der Migrant, die gemeinsam groß geworden sind, eine Geschichte finden, eine gemeinsame Sicht, eine Vielfalt, und es wird nicht bloß das Schicksal des Migranten dargestellt. Warum findest Du das postmigrantische Theater zu schwach? Ich finde das Theater von Şermin Langhoff jetzt nicht schwach, ich gehe damit immer kritisch konstruktiv um. Ich meine das auch nicht böse, aber ich selber möchte mich weiterentwickeln, und wenn ich mir nun mal ein Stück anschaue, dann fängt es bei der Sprache und den Inhalten an. Von ihrem Mann, Lukas Langhoff, der ja »Erste Generation« gemacht hat, war ich mehr angetan. Mir ist richtig die Spucke weg geblieben. Es war irgendwie klar: Er ist Deutscher, kommt aus einer Theaterfamilie und das drei Generationen und das ist sichtbar und spürbar.
Gedanken am Ende der Workshops, 21./22. April 2012 Tanya, was bedeutet für dich transkulturelle Perspektive? Das ist, wenn man in eine Zukunft schauen kann, die sozusagen auf einer wirklich wahren multikulturellen Gesellschaft basiert, die chancengleich und in Gleichheit miteinander mit diesen vielen verschiedenen Einflüssen auch etwas neues kreiert und damit leben kann.
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Was hat der Schreibworkshop bei Dir bewirkt? Mein Interesse zum Theater wurde geweckt, also auch als Zuschauerin. Mich interessiert auch der Diskus, also diese verschiedene Sprache, die außerhalb der Medien ja sehr direkt ist. Bei mir hat es ausgelöst, dass es eine sehr große Chance ist, sowohl mich als Zuschauerin weiter zu gewinnen als auch den Versuch zu unternehmen, mich als Autorin im Theater auszuprobieren. Wie hat Dir die Auseinandersetzung mit und in der Gruppe gefallen? Es hat sehr viel Spaß gemacht, und man hat deutlich gespürt, dass es einfach sehr viele Themen in diesem Bereichen gibt, die unausgesprochen sind und die auf jeden Fall noch verstärkter auftreten müssen. Worum geht es in Deinem Stück? Um individuelle Liebesbeziehungen, die im interkulturellen Kontext stehen zu Deutschland. (Interview: Hella Sinnhuber)
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Tanya Zeran SIEBEN MÄNNER FÜR HÜRMÜZ Eine humorvolle Geschichte aus der Türkei, adaptiert und sozialisiert ins deutsche Alltagsleben. Die »deutsch-türkische Hürmüz« ist jung, gutaussehend, gebildet und kultiviert. Fast zu gut für die deutsch-türkischen Männer in ihrer Umgebung. Hürmüz entdeckt, auf der Suche nach einem Lebenspartner, einige individuelle Liebesbeziehungen, die ihre konservativen Ansichten brechen. Das turbulente Stück spielt in Berlin/Kreuzberg.
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SIEBEN MÄNNER FÜR HÜRMÜZ Textauszug Eine Geschichte aus der Türkei, adaptiert und sozialisiert ins Deutsche. Ursprünglich spielt die Geschichte in Istanbul. Es geht um eine junge Frau, die aus wirtschaftlichen Interessen mit sieben Männern zusammen ist. Keiner der Männer bemerkt das berechnete Spiel von Hürmüz, bis die Situation eines Tages eskaliert. Eine humorvolle Inszenierung mit Musik und ein wenig Tanz. Die Deutsche Version ist umgeschrieben auf das Leben einer türkischen Frau in Berlin. Die »deutsch-türkische« Hürmüz ist jung, gutaussehend, gebildet und kultiviert. Fast zu gut für die deutsch-türkischen Männer in ihrer Umgebung. In der deutschen Fassung lernt Hürmüz sieben verschiedene Männertypen kennen. Alle interessant, keiner perfekt. Die Männerfiguren haben alle ihren eigenen Sprachstil. Als alle Kandidaten am Valentinstag Hürmüz überraschen wollen, wird es kompliziert. Kommentare zur Lebenssituation von Hürmüz dokumentiert ein altes deutsches Ehepaar. Die beiden Rentner schauen dem ganzen Spektakel von ihrem Wohnzimmerfenster aus zu. Die Welt der Hürmüz ist bunt, humorvoll und lebendig.
Szene 1 Sechs Orientschönheiten schminken, kleiden, kämmen sich die Haare, tragen Nagellack auf. Lachen und kichern. Sie alle bereiten sich auf eine Hochzeit vor. Am Anfang wird kurz getanzt. (Kleine Choreografie von 3 Min.) Nach dem Tanz trommelt Ayse ihre Freundinnen zusammen. Alle setzen sich gemeinsam in eine kuschelige Kissenlandschaft, und Ayse fängt an zu erzählen. Sie spricht wie eine richtige Geschichtenerzählerin aus dem fernen Orient. Ayse:
Hey, meine lieblichen Blumen, meine Rosen, Nelken, Narzissen und Tulpen, ihr wunderschönen farbprächtigen wilden Orchideen. Hört mir zu. Was ist ein Mann heute? Eine Plage, eine Bakterie. Ein verdorbener Apfel.
SIEBEN MÄNNER FÜR HÜRMÜZ
(Alle lachen) Eigentlich gehören sie ja zu meinem Beuteschema. Braune Augen, dunkle Haare, ein selbstbewusstes männliches Auftreten, starke Schultern, Barthaare, Brusthaare, Nasenhaare und wo man sonst noch so Haare vermutet. Ihr wisst schon, was ich meine. Das Interessante an einem Mann scheint nicht mehr ganz so ausgeprägt zu sein. Einige dieser Männer formen sich heute sogar die Augenbrauen und lassen sich am ganzen Körper waxen. Ich glaube, die denken wir Frauen finden das besser. Findet ihr auch? Dabei stehen wir doch auf große, schützende, raue, behaarte Männer, oder? (Alle stimmen zu) Immer dieses Umgarnen einer Frau. Die Tricks, um uns zu erobern, sind immer die gleichen. Romantisch Essen, Spaziergänge, knutschen im Treppenhaus. Ich zahle, ich bin der Mann. Dennoch, wie schön kann diese Verliebtheitsphase sein, die mehr von unseren Hormonen gesteuert, als von unserem Verstand geleitet wird. Das Tief-in-die-Augen-schauen und der Glaube, in einer eigenen Welt zu sein. Ach, rosarote Wolken und besoffen vor Glück. Wenn so ein Mann dann nachhause kommt, legt er sich zu dir und fängt an mit dir zu spielen. Und wenn es dann soweit ist, dass eure Brustwarzen hart werden, dreht er sich um und versinkt in tiefe Träume. Das ist doch kein Mann, meine liebsten Freundinnen. Wir haben solche Männer schon längst nicht mehr nötig.
Szene 5 Hürmüz hat heute eine Verabredung mit Baris. Sie hat ihn zum Essen eingeladen. Baris kommt pünktlich und klingelt energisch an ihrer Tür. Hürmüz: Es hat geklingelt. Er ist ja sehr pünktlich. Ein gutes Zeichen. Baris hat eine Flasche Rotwein mitgebracht. Baris:
Liebste Hürmüz, Du siehst wieder fantastisch aus. Küsschen auf die Wange. Wo hast du dieses bezaubernde Kleid gekauft? Gucci, Dolce oder Versace?
Hürmüz: Mein lieber Baris, das Kleid habe ich in London gekauft. Ein kleiner Designer, der noch nicht so bekannt ist. Mir fällt auf, du hast Geschmack. Baris:
Ja, deshalb kann ich auch sehen, das dein Make-up von einem Discounter stammt.
Hürmüz: Das sieht man?
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Baris:
Kauf dir lieber das neue Puder von Chanel. Das sieht auf der Haut nicht so billig aus.
Hürmüz: Danke! Baris:
Ja bitte. Ich hätte in der Modewelt Karriere machen sollen. Aber du weißt ja, die Leute wollen mich auf der Bühne sehen.
Hürmüz: Eine Bühne passt gut zu dir. Baris:
Das Leben ist schon eine Bühne. Oben ist mein naturell.
Hürmüz: Oh toll. Bei mir ist oben auch alles naturell. Baris:
Deine Brüste?
Hürmüz: Ich habe uns übrigens was gekocht. Ich hole nur schnell den Flaschenöffner. Baris nimmt die Flasche. Baris:
Ein 69er Jahrgang. Trocken, fruchtig, mit einer duftenden Note von Beeren. Auf der Zunge ist ein Erwachen der Geschmacksknospen zu spüren. Bitter trifft süß. Die Zunge schlägt und fängt automatisch an zu sprechen. Schon sind viele Hemmungen gefallen.
Hürmüz: Der Herr kennt sich also aus. Sprechen wir vom ersten Schluck oder vom 3. Glas? Oder meinst du, dass die Hemmungen nach einer ganzen Flasche fallen? Woher kennst du dich nur so gut aus? Baris:
Ich bin ein echter Kosmopolit, könnte man sagen.
Hürmüz: Sehr beeindruckt. Ich habe hier Salat gemacht, mit Himbeerdressing und asiatischem Firlefanz. Baris:
Gerne. Salat ist gesund und macht auch nicht so dick. Und asiatischer Firlefanz ist heute sehr gefragt. Als Schauspieler muss man schließlich auch auf sein Äußeres achten.
Hürmüz: Nicht nur als Schauspieler. Baris:
Wie wahr, meine Liebste, hm. Riecht das fantastisch. Ist das ein Senfdressing?
Hürmüz: Richtig. Du hast gute Geschmacksnerven, und zuhören kannst du auch gut. Das gefällt mir wirklich sehr. (ironisch) Baris versucht, Hürmüz einen zärtlichen Kuss zu geben.
SIEBEN MÄNNER FÜR HÜRMÜZ
Baris:
Ich habe auch ein gutes Bauchgefühl bei uns beiden.
Legt ihren Finger auf seine Lippen. Hürmüz: Halt. Das geht mir etwas zu schnell. Wir müssen uns doch noch richtig kennenlernen. Großes Lachen Baris:
Aber wir kennen uns doch schon. Schätzchen, hör mir zu. Wir leben in einer Zeit, wo alles Zack Zack gehen muss. Niemand hat Zeit.
Hürmüz: Die Zeit muss man sich halt nehmen … Plötzlich klingelt es an der Tür. Hürmüz: Wer ist da? Baris:
Erwartest du noch Besuch?
Hürmüz: Ähm, Hm, nicht das ich wüsste. Wer kann das bloß sein? Ich schau nach, lass dich nicht stören. Dogan:
Meine Liebste, ich bin es Doni. Also Dogan. Ich kann es nicht, abwarten dich zu sehen. Mach die Tür auf.
Hürmüz: Das geht jetzt nicht. Ich bin gerade im Bad. Kannst du morgen? Dogan:
Ist da etwa jemand bei dir? Mach am besten sofort die Tür auf. Ich will sehen, wen du versteckst.
Hürmüz: Aber nein. Hier ist niemand. Ich bin doch nur im Bad und mache mich schön für unser Treffen. Dogan:
Hürmüz … ich bringe ihn um. Wer ist es?
Hürmüz: Mir wird kalt. Steh nur mit Handtuch an der Tür. Übertreibe es nicht. Wir sehen uns doch morgen. Dogan:
Ich habe sowieso zu tun. (Geht und sagt sich selbst … »Weiber«)
Hürmüz: Kuss, Kuss, bis morgen … Das war knapp. Puh. Baris steht auf Baris:
Schatzilein, wo bleibst du??
Hürmüz: Bitte?
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Baris:
Ich bin der große Baris, der die Menschen zu einem Lächeln verzaubert. Mein Körper schreit förmlich nach den Blicken hungriger Geister. Ich bin ein Künstler, Hürmüz. Ich bin besessen von Gier und Sex. Ich muss mich zeigen können. Immer wieder und immer höher.
Hürmüz: Ein richtiger Künstler. Ach wie toll. Baris steht auf und tanzt Hürmüz einen Bauchtanz vor. Dann setzt er sich wieder zu ihr. Baris:
Weißt Du, meinetwegen kannst du auch Liebhaber haben. Mir muss nur klar sein, das ich der Vater unseres Kindes bin.
Hürmüz: Du bist so entzückend. Mit anderen Worten, dich würden meine anderen Liebhaber nicht stören? Baris:
Eigentlich nicht. Wenn du glücklich bist, bin ich es auch. Eifersucht ist doch eine zerstörerische Eigenschaft. Menschen wie wir sind für die Masse geschaffen.
Hürmüz: Das wäre ja hervorragend. Ich brauche mehrere Partner, um meine Vielseitigkeit voll einsetzen zu können. Verstehst du das? Nur was werden die anderen Verehrer dazu sagen? Baris:
Ich verstehe dich sehr gut, Hürmüz. Sehr gut.
Hürmüz: Wir sind uns schon ähnlich? Baris:
Ja, auch ich bin süchtig nach Aufmerksamkeit. Ich brauche die Blicke von tausenden Menschen.
Hürmüz: Ach, wäre doch nur jeder wie du. Baris:
Und nun gib Daddy einen Kuss. Nur einen klitzekleinen Kuss. Komm schon.
Hürmüz: Aber Baris. Baris:
Ich werde immer ganz geil bei so wunderbaren Frauen. Ab und zu auch bei Männern.
Hürmüz: Ach ja, du gehst ja auch mit Männern. Baris:
Ja, natürlich. In welchem Zeitalter lebst du eigentlich?
Hürmüz: Das weiß ich oft auch nicht. Baris:
Man verliebt sich heute in einen Menschen. Nicht in ein Geschlecht. Pfui.
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Hürmüz: Das scheint ein neuer Trend zu sein. Baris:
Trend? Nein. Ich habe nur die Wahrheit für mich gefunden. Die Liebe zu einem Mann kann genauso groß sein, wie die Liebe zu einer Frau.
Hürmüz: Und was ist mit Kindern, also mit Kinder kriegen? Hat das Kind dann lauter Elternpaare? Baris:
Warum eigentlich nicht? Aber ich werde selbstverständlich der Vater deiner Kinder sein, wie gesagt. Unsere Liebhaber können doch mit uns gemeinsam leben. Zack, hast du tausend Babysitter um dich.
Hürmüz: Hm. Darüber muss ich nachdenken. Das Konzept, nicht schlecht erdacht. Baris:
Wir hätten viel mehr Freiraum und Spaß in einer größeren Familie. Wir müssen nur die richtige Kombination finden.
Hürmüz: Wärst du dann ein fürsorglicher und verantwortungsvoller Vater? Baris:
Fürsorglich vielleicht, aber verantwortungsvoll ist nun wirklich zu viel verlangt.
Hürmüz: Aber … Baris:
Das ist gerade total uncool, Mäuschen. Können wir nicht das Thema wechseln?
Hürmüz: Aber das Thema beschäftigt mich nun mal … Baris:
Hürmüz, ich verstehe dich. Denke doch einfach weniger an die Zukunft. Wir leben für den Moment. Vielleicht werden wir morgen aussortiert und abgeschoben. Es könnte sich auch eine Naturkatastrophe ereignen, oder wir explodieren zu einem neuen Stern. Wer weiß schon, was morgen passiert?
Hürmüz: Das macht mir ein wenig Angst alles. Baris:
Angst und Liebe. Zwei so unterschiedliche Worte und doch so nah beieinander. Entscheidend ist doch, dass du jeden Moment im Leben genießen kannst.
Hürmüz: Vielleicht hast du Recht. Baris:
Kommst du noch mit in die Bar 20232567? Da können wir noch ein wenig Spaß haben.
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Hürmüz: Das ist eine gute Idee Baris. Wir lassen uns einfach durch die Nacht treiben. Baris nimmt Hürmüz an die Hand. Baris:
Raumschiff Enterprise. Bitte schnallen Sie sich an. Wir entführen Sie in eine ungewisse Zukunft, elfhundert Lichtjahre entfernt. Vorbei an Mond, Mars, Saturn, Jupiter und allen Sternschwestern unserer großartigen Welt. Captain Kirk direkt auf Expedition in die Milch-Strasse, zu den schönsten Lichtern dieser Stadt. Wir tanzen dann auf den Sternen, bis die Sonne vorbeikommt und unsere Phantasie in eine eigene Richtung treibt. Hürmüz, das Leben ist heute. Genau jetzt – hier. Wir schauen weder nach hinten, noch nach vorne. Wir wollen jetzt zusammen sein und alles andere nicht verdrängen, aber für einen Moment die Gehirnschubladen bitte ausblenden. Los jetzt. Lass dich entführen und verführen von mir.
Szene 6 Hilde und Franz stehen am Fenster und lehnen sich auf ein Kissen/Spot. Hilde:
Die lässt es sich gut gehen, die Hürmüz. Was waren das für Männer, die da ein und ausgehen?
Franz:
Passt nicht so zusammen. Der eine war doch der Sohn des Gemüsetürken. Der ist doch jetzt streng gläubig. Früher so ein Kleinkrimineller, der heute zur Besinnung gekommen ist. Ich glaube Ahmed hatte es nie einfach. Das Stottern und so …
Hilde:
Der war ja der Lauf bursche von diesem Mustafa Baba. Der ist ja heute im Gefängnis. Sein Komplize soll ja mit dem ganzen Drogengeld eine Villa in Istanbul gekauft haben.
Franz:
Der war halt schlau.
Hilde:
Nur Steuern hat er natürlich nicht gezahlt. Diese Staatssünder. Und wer war der andere Mann? Oder besser gesagt, was war das? Der sah aus wie ein Mann, bewegt sich aber wie eine Frau.
Franz:
Ich würde sagen, das war ein Paradiesvogel.
Hilde:
Ach Franz, du bist auch ein komischer Vogel.
Franz:
Und du bist eine Eule, Hilde. Hahahaha.
Hilde:
Ich kann über deine Witze schon seit einem halben Jahrhundert nicht mehr lachen.
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Franz: Nein? Hilde: Nein! Franz:
Also ich find mich witzig.
Hilde:
Der letzte Mann sah aus wie ein Transvestit. Wie der gegangen ist. Dann diese auffällig schwarz umrandeten Augen und die vielen bunten Stoffe an seinem Körper. Habe beinahe Augenkrebs bekommen.
Franz:
Hat Hürmüz was mit diesen Männern?
Hilde:
Was weiß ich denn? Ach, und so ein Muselmann wie Ahmed passt überhaupt nicht zu ihr. Soll sie sich doch lieber für einen Türken aus der Türkei entscheiden. Die sollen doch sehr modern sein.
Franz:
Aber die Hürmüz lebt doch hier.
Hilde:
Hauptsache sie kommt nicht auf die Idee, einen Deutschen zu nehmen. Bastarde gibt es zur Genüge in unserem Land. Was hat sie nur wieder vor, Franz?
Franz:
Das weiß ich auch nicht, Hilde. Aber wie ist das mit so einem Moslem? Sie muss ihn doch erst mal heiraten, bevor die …, du weißt schon …
Hilde:
Die hatte von Geburt an schon so Flittchen-Eigenschaften. Die ist niemals Jungfrau.
Franz:
Stimmt. Von der Sandkiste bis zum Teenageralter hatte die doch ständig immer neue Boyfreunde, wie sie es nannte.
Hilde:
Boyfriends hießen die. Die war bei den Doktorspielen in der Sandkiste immer die Oberärztin.
Franz:
Jungfrau ist die bestimmt nicht mehr, oder?
Hilde:
Natürlich nicht. Hürmüz hatte schon Sex, bevor sie auf die Welt kam. Schau sie doch an. Die versprüht schon Endorphin, Serotonin und Dopamin, wenn sie nur den Müll runter bringt.
Franz:
Was meinst du genau?
Hilde:
Kann mich erinnern, dass ihre Mutter immer laut geschrien hat, sie solle nun endlich den Müll raus bringen. Hürmüz dann schnell ins Badezimmer und frisch gemacht. Lippenstift, Make up, Wimperntusche. Könnte ja ein Mann beim Müll stehen.
Franz:
Das ist doch Teenagerzeug.
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Hilde:
Die arme Mutter, die hat dann immer hinterher geschrien, sie soll doch auf ihr Jungfrauenhäutchen aufpassen.
Franz:
Das ist aber nicht schön, wenn man so mit Teenagern spricht.
Hilde:
Meine Mutter hat mir Ähnliches gesagt.
Franz:
Die guten Christen und Muslime haben doch ganz schön viel gemeinsam.
Hilde:
Du übertreibst jetzt.
Franz:
So, so.
Hilde:
Wenn die Eltern von Hürmüz wüssten, wie sie sich heute aufführt. Weißt du, was Koran-Anbeter noch so machen müssen, um Sex zu praktizieren? Sie müssen sich vorher und nachher waschen.
Franz:
Aha, und woher weißt du das alles?
Hilde:
Also Franz, ich lese den Koran.
Franz:
Ach, aber sprechen willst du mit den Moslems nicht.
Hilde:
Was sollte denn so eine alte Oma wie ich noch besprechen mit dem Terrorpack. Nun hör mir mal gut zu Franz. Ich weiß genug über Liebe und Geschlechtsverkehr im Islam.
Franz:
Na dann, lass dich nicht aufhalten. Erzähl schon!
Hilde:
Der Islam hat Regeln und Anordnungen erstellt. Das ist so, weil der Islam den Sexualtrieb nicht unterdrücken möchte und kann. Das Buch hat ja wohl auch ein Mann geschrieben.
Franz:
Da gebe ich dir Recht.
Hilde:
Das ist so. Im Islam müssen beide Partner sich vor und nach dem Verkehr gründlich waschen. Nicht so wie bei uns. Du hast dich nie gewaschen, das weiß ich noch.
Franz:
Nee. Weiß ich nichts von.
Hilde: Schmutzfink. Franz:
Blöde Kuh.
Hilde:
Ach, ich zeige dir das auch im Koran. Habe ja die deutsche Übersetzung von Hatice, der Blumenfrau bekommen. Moment, ich hole es mal.
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Franz:
Du interessierst dich ja doch mehr als ich dachte.
Hilde:
So hier. Hier steht: Moment noch. Meine Lieblingsseite, Moment …, da, hier: Sure 234: al-baqarah »Haben sie sich durch ein Bad gereinigt, so geht ein zu ihnen, wie Allah es euch geboten. Allah liebt die sich Bekehrenden und liebt die sich Reinhaltenden.« So ist das nämlich und nicht anders.
Franz:
Ja aber Hilde. Warum wird das denn für unrein erklärt?
Hilde:
Was ist denn daran schlimm, dass du dich waschen musst, du Stinktier?
Franz:
Na ja. Die Lust geht doch verloren.
Hilde:
So für Spontanität haben die dann keine Zeit, würde ich sagen.
Franz:
Ich hingegen, bin sehr spontan.
Hilde:
Ich finde, wir machen es uns im Bett gemütlich, und du Franz, geh dich schon mal waschen …
Franz:
Hervorragend Hilde.
Beide lachen Spot aus
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NORDSTADT Oleg Zhukov
Oleg Zhukov kam, 1980 in Odessa in der Ukraine geboren, vor 17 Jahren nach Deutschland. Seit 2003 lebt und arbeitet Oleg Zhukov als Schauspieler in Nordrhein-Westfalen. Seine Engagements führten ihn an das Theater Oberhausen, Theater Aachen, Theater Bonn sowie an freie Theater, u. a. Hebbel am Ufer Berlin und Forum Freies Theater in Düsseldorf. Zuletzt spielte er in der Produktion Die Nase am Opernhaus Zürich (Regie: Peter Stein). Er wirkte in zahlreichen Diplom- und Abschlussfilmen und in einigen Fernsehen Produktionen, u. a. in der Krimi-Reihe Tatort mit. In dem Kinofilm Diese Nacht (Regie: Werner Schroeter) war Oleg Zhukov auf den Filmfestspielen in Venedig zu sehen. Mit einer Kurzgeschichte über Odessa begann Oleg Zhukov mit dem Schreiben. In der Zeit am Theater hat er in der Folge viele Texte produziert, doch ein »richtiges« Stück hatte er bislang nicht geschrieben. »Nordstadt wird mein erstes Bühnenstück. Es ist eine ganz neue Erfahrung, denn aus meiner Theaterpraxis und dem Sprechen von Texten habe ich einerseits einen großen Erfahrungsschatz, wie man allerdings szenisch für die Bühne schreibt, ist ein neues Handwerk.« Oleg Zhukov
Workshopstart IN ZUKUNF T, 3. September 2011 Osteuropäer mit Glatze und Kampfhund. Oleg Zhukov erzählt … Ich bin fast 31 Jahre alt und arbeite seit 8 Jahren als Schauspieler. Das ist mein Hauptberuf. Im Oberhausener Theater habe ich damit angefangen, und vor ungefähr drei Jahren begann ich zu schreiben. Das Erste, was ich geschrieben habe, war eine Kurzgeschichte über Odessa, da ich etwas verarbeiten musste. Am Theater habe ich immer wieder solche Texte geschrieben und habe viel mit Jugendlichen oder älteren Leuten gearbeitet, und dann immer über die Leuten und ihre Positionen Texte geschrieben und ihnen etwas in den Mund gelegt. Hast Du daraus auch schon Stücke entwickelt? Nein, ich habe noch kein richtiges Stück geschrieben, das heißt, dass das jetzt mein erstes Stück werden wird, über das ich mich sehr freue. Ich kenne die Praxis ganz gut, habe Theatererfahrung und viel Erfahrung mit Texten, was konkretes Spre-
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Oleg Zhukov
chen anbelangt. Texte kann ich ziemlich gut beurteilen, da ich auf der Bühne zumindest Erfahrungen mit Texten gesammelt habe. Es hilft mir beim Schreiben, solche Erfahrungen gemacht zu haben. Da merke ich, was vielleicht schön klingt oder was doch besser weggelassen werden sollte. Im Theater ist das so, wenn man einen Text liest, dass man unheimlich viel wegstreichen könnte …. … könnte auch eine Untugend sein … Ich freue mich sehr auf die nun kommende Zeit. Wo arbeitest du jetzt gerade? Ich arbeite aktuell in Zürich und mache sonst unterschiedliche Sachen. Ich bin Freiberufler, spiele sowohl Theater als auch im Fernsehen … Genau, ich habe Dich vor kurzem im Tatort gesehen … Ja genau … ich muss dann immer vor der Polizei weglaufen. Und mich als unschuldig bekunden. Man versucht die ganze Zeit, sich diesen Akzent abzuarbeiten und dann wird wieder gesagt, »Nein, bitte mit Osteuropäischem Akzent. Aber du kannst das doch so gut. Dafür wirst du doch letztendlich bezahlt!«. Es gab eine ganz kurze Geschichte bezüglich des Akzents: Ich habe mal in einem Drehbuch gelesen: »Ein Osteuropäer mit Glatze und einem Kampfhund (…)«. Und dann kam ich zum Dreh und sah aber keinen Kampfhund, sondern einen kleinen Süßen. Ich ging zum Regisseur und sagte: »Entschuldigung, also … der soll jetzt gefährlich aussehen?!« Weil das eben die Szene sein sollte, wo er den Polizisten anfällt, und es kam die Antwort: »Nein, es gibt einen Schutz für Kampfhunde, der sich dafür einsetzen, dass das Gesamtbild des Hundes nicht negativ in der Gesellschaft ankommt. Deswegen darf kein Kampfhund genommen werden.« Okay, sagte ich daraufhin: »Gibt es denn nicht auch solch einen Schutz für Osteuropäer?«
Oleg Zhukov
NORDSTADT
Oleg Zhukov Nordstadt Deniz muss Punkte sammeln. Hast Du Scheiße gebaut, gibt’s Minuspunkte, wer raucht oder sich prügelt, muss in der Zelle bleiben. Benimmst Du Dich, siehst Du zu, dass Du auf 28 Punkte kommst. Dann kann man ’ne Stunde Fernsehen am Tag. Bund? Nein, Jugendarrest! Vier Wochen. Deniz ist 15, ihm bleibt nur, permanent real nicht gegebene Handlungsmöglichkeiten und die Überproduktion von, für ihn überlebensnotwendigen, Selbstbildern zu erfinden. Und zu behaupten. Auf der anderen Seite entzieht er sich seinem eigentlichen Leben und seiner sozialen Verantwortung. Seine Freundin muss das Gelächter, den Hohn ertragen und den Sommer alleine verbringen. Doch Alleinsein hält niemand aus. Bei dem Theaterstück Nordstadt geht es um den Versuch, die alltägliche Sprache der Jugendlichen und ihre zur Sprache gebrachten Bedürfnisse, Anklagen und Reflexionen in einem Theaterraum zu integrieren.
Oleg Zhukov
DER FLUSS ZIEHT VORBEI UND WIR HOCKEN NOCH IMMER HIER Textauszug
Zweite Szene … KIMMY Er hätte die Sache im Herbst oder Winter absitzen können, aber nein, mitten im Sommer, wo es gerade voll schön wird. SADIK
Er meinte, schnell rein und schnell wieder raus. Und in der Zeit kannst du …
KIMMY Was kann ich, was kann ich machen? SADIK
Dich abreagieren.
KIMMY Abreagieren? SADIK
Ja. Irgendwie so. Er meinte, du brauchst etwas Zeit zum Überlegen vielleicht.
KIMMY Was soll ich da überlegen? SADIK
Weiß nicht.
KIMMY Er hat VERSPROCHEN, er macht kein Scheiß mehr. Hast du selber gehört.
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Ich habe mit dem scheiß Schulleiter gesprochen. Peinlich. Er hat gesagt, wir fahren zu seinem Cousin nach Frankfurt, machen richtig Urlaub, ohne den ganzen Scheiß eben. Ich habe ihm geglaubt und mich echt gefreut. WAS SOLL ICH DA BITTE ÜBERLEGEN? Pause. Die ganzen Hochhäuser da, voll schön. Man kann mit dem Aufzug hoch und die ganze Stadt sehen. Und dann ist dort irgendwo an einer bestimmten Stelle der Fluss so flach, dass man ihn durchlatschen kann, ohne zu schwimmen. Wäre was für dich, du BADEMEISTER. Er meinte, Karl der Grosse, oder so, wurde mit seinen Ritter verfolgt, und die waren alle so gut wie tot. Stehen da, überall Fluss. Konnten nicht rüber. Die hatten alle so schwerere Rüstungen an. Wären alle bestimmt ersoffen. Plötzlich sieht er, wie irgendwelche Ziegen oder Kühe auf die andere Seite laufen. Einfach so. Da sind sie mit ihren Pferden schnell hinterher. Die Feinde, als die ankamen, konnten nichts machen. Keine Brücke damals, nichts. Er meinte, sein Cousin kennt die Stelle und würde uns die zeigen. So ein Arschloch, ich bin immer noch voll wütend. Kurze Pause. Also was ist mit See morgen?
Dritte Szene Deniz steht am Fenster und atmet ein und wieder aus. Dabei macht er seltsame Geräusche. Andre kommt zurück in seine Zelle. DENIZ
Wunderschönen guten Abend, du Wichser. Uh … Das riecht bis hierhin … Stinkst echt wie Sau … Nein. Falsch. Wie ein frisch geduschtes Ferkelchen mit rosa Bäckchen. Hey, Schweinchen, hast du jetzt rosa Bäckchen gekriegt, oder hast du keine?
ANDRE Was ist? Macht dich das geil oder was? DENIZ
Hast du heute wieder Rauch gerochen? Du Rauchmelder.
ANDRE Ich hab’s doch gesagt, wie es war.
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DENIZ
Tut mir leid, dass ich dich langweile, aber ich hatte heute etwas Zeit zum Überlegen und die Frage war, wie kann man so scheiße blöd sein?
ANDRE Wie wer? DENIZ
WIE DU! Hat VORHER SCHON nach Rauch gerochen. Kapierst du?
ANDRE Nee. DENIZ
Also gut. Kratzt mit einem Aluminiumlöffel großgeschriebene Worte auf die Wand zwischen Andre und ihm: Hat VORHER SCHON nach Rauch gerochen, bedeutet: ICH habe NICHT geraucht, sondern der Wichser VOR MIR, also der, der VOR MIR geduscht hat, also der DENIZ, er hat geraucht, nicht ich. ICH NICHT. Ich bin zwar ein kleiner dummer Ticker aus …. Wo kommst du her?
ANDRE Geht dich nichts an. DENIZ
Hast Recht. Ist auch scheißegal.
ANDRE Ist nicht egal. Aus Dinslaken. DENIZ
… aus Dinslaken … aber ich bin kein User. Kein Konsumer. Kratzt wieder an die Wand. Du Scheiß-klein-Kaff-Wichser!
ANDRE Dinslaken ist nicht Scheiße. Wir haben voll die schöne Fußgängerzone. DENIZ Fußgängerzone? ANDRE Und Stadtpark. Im Sommer, voll schön da. DENIZ
Im Sommer voll schön da? Im Sommer ist es ÜBERALL voll schön.
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ANDRE Wir haben Sommer. DENIZ
Was ist? Kurze Pause.
ANDRE Wir haben Sommer. Aber hier drin ist es aber vor allem heiß. DENIZ
DAS HIER IST DOCH KEIN SOMMER. Hier drin ist es NUR heiß. Kennst du die 903, du Stadtpark?
ANDRE Klar. Die fährt von uns aus nach Duisburg-Bahnhof. DENIZ
Und weiter.
ANDRE Was soll damit sein? DENIZ
Mann fährt fast eine Stunde nach Scheiß-klein-Kaff Dinslaken. Erst ist die Bahn voll, dann steigen voll viele mit Kinderwagen in Meiderich aus, dann in Neumühl die ganzen Russen, dann kommt Hamborn, Marxloh und die ganzen Türken und so weiter und dann kommt Walsum, letzte Station vor Dinslaken. Und in der Bahn hocken nur noch paar besoffene Alkis und sonst keiner. Und weißt Du was? Selbst die steigen aus. Fahren nicht nach Dinslaken. Die Bahn ist komplett leer. Selbst der Straßenbahnfahrer hält am Kiosk an, um zu pissen kurz vor Dinslaken. Kein Schwein, du Ferkelchen, will nach Dinslaken rein, wo es im Sommer so voll schön sein soll. Nicht mal um zu …
ANDRE Die nehmen den Regionalexpress. DENIZ
Was ist?
ANDRE Wer ist so blöd, über ganz Scheiß Duisburg nach Dinslaken zu fahren? Die nehmen den Regionalexpress. Zwanzig Minuten. DENIZ
Scheiß Duisburg?
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ANDRE Ich mein ja nur. DENIZ
Ich stell morgen erstmal einen Antrag bei dem Direktor auf Verlegung. Ruft. ICH WILL NICHT DAS DER KLEINE JUNKI VON NEBENAN MICH DIE GANZE ZEIT MIT EINEM SCHEIß VOLLLABERT.
ANDRE Sei mal leise. DENIZ
Halt die Fresse.
ANDRE Laberst doch selber die ganze Zeit. Pause. DENIZ
Wie war das Spiel?
ANDRE Paar haben nach dir gefragt. DENIZ Wer? ANDRE Eure Ecke. DENIZ Und? ANDRE Was und? DENIZ
Was und? Wer hat gewonnen, du Wichser.
ANDRE War knapp. DENIZ
Hab das Geschrei bis hier hin gehört, du Knapp. Wollte schon die Bullen rufen. Wie viel?
ANDRE 7:4. DENIZ Das ist doch nicht knapp! Das ist richtig gefickt. 7:4. Voll geil! Ihr könnt so gar nichts. ANDRE Wir haben gewonnen. DENIZ
Was ist?
ANDRE Wir haben gewonnen.
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Erst habt ihr geführt, dann haben wir aufgeholt, war kurz Gleichstand. Dann haben wir noch ein Tor geschossen. Dann habt ihr angefangen zu foulen. Der Dicke ist mir mit voller Wucht auf den Zeh gestiegen. Der war eh schon so voll sauer auf mich wegen dir. Und dann haben wir es doch noch geschafft.
DENIZ
Ohne mich läuft gar nichts. Und dann?
ANDRE Nichts. Wie immer alles. Kurze Pause.… Die Tage werden kürzer. DENIZ
Was ist?
ANDRE Die Tage werden immer kürzer. Im August meine ich. DENIZ Halt ja die Fresse. Deine Tage werden auch immer kürzer. Scheiße. Dann liege ich da und denke, was stinkt hier so …? …
Vierte Szene Andre und Deniz in den beiden Zellen. DENIZ
RUMS. RUMS. KLIMPER. KLIMPER. RUMS.
ANDRE Was machst du da? Kurze Pause. DENIZ RUMS. RUMS. KLIMPER. KLIMPER. RUMS. Türen zählen. Sei mal leise. RUMS. Und die nächste Tür. KLIMPER. KLIMPER. Kurze Pause. Man muss durch acht Türen durch bis in den Hof. Dieses Türgeknalle und das scheiß Schlüssel suchen. IHR MACHT DAS DOCH SEIT JAHREN! KÖNNT EUCH DOCH LANGSAM DIE SCHLÜSSEL MERKEN! KLIMPER. KLIMPER. Idioten.
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Machen das bestimmt extra. Ziehen die Zeit in die Länge. Zwei scheiß Wochen noch. Pause. Und? Werde ich DICH wenigstens bald los? ANDRE
Weiß nicht. Ich komm rein, und der Direktor sitzt hinter der Schreibtischlampe und sagt nichts. Kein »Hallo«, gar nichts, als wäre ich nicht da, blättert irgendwas. Voll dunkel da drin, wenn man aus dem Flur kommt. Die machen den Flur immer so hell.
DENIZ
Weiß ich.
ANDRE Ich dachte, du … DENIZ
Denk nicht. Ich weiß noch, wie der Flur aussieht.
ANDRE Das ist gut. Also, ich steh blöd an der Tür und weiß nicht was ich machen soll. DENIZ
Wie immer.
ANDRE Weißt du doch gar nicht. DENIZ
Was weiß ich nicht?
ANDRE Was ich so mache. Siehst mich gar nicht. DENIZ
Du bist neben an. Das reicht. Kurze Pause. Los, weiter.
ANDRE Und da steht ein Aquarium. DENIZ Aquarium? ANDRE
Neben der Tür, ein Riesending, bestimmt zwei Meter lang. Überall Fische. Leben in einer richtigen Unterwasserwelt mit Pflanzen und Muscheln,
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in so kleinen Häusern aus Ton mit Fenstern und Türen. Und die flitzen immer rein, raus, rein, raus, die kleinen Fische. Und die ganz großen sind blau und schweben im Wasser, bewegen sich nicht. Hab voll den Farbflash gekriegt und den Direktor ganz kurz vergessen.
DENIZ
Schon wieder.
ANDRE Was ist? DENIZ
Das GANZ KURZ schon wieder!
ANDRE
Plötzlich fragt er, warum ich mich nicht setzten will. Ich setzte mich hin und er fragt: »Und? Was kann ich für dich tun?« Und ich: »Herr Direktor, ich hatte einen schriftlichen Antrag gestellt auf frühzeitige Entlassung wegen guter Führung und der maximalen Punktezahl, die ich erreicht hab.« Den Satz hatte ich vorher richtig geübt. Und er sagt dann: er hat mein Antrag schon gelesen. Lächelt dabei so’n bisschen. Fragt mich, was an gelben Wänden hier im Gebäude so besonders ist und warum ich geschrieben habe, dass sie auf Dauer so beruhigend wirken. Und ich weiß überhaupt nicht was ich sagen soll. Ich dachte wir reden über Drogenkonsum, Verkauf, so Sachen. Hab mir schon alles zu Recht gelegt und er fragt ausgerechnet nach diesem blöden Satz.
DENIZ
Was für Satz?
ANDRE Ich hatte den Antrag so angefangen: Ich sitze hier und schreibe, und die Wände um mich rum sind so gelb und so beruhigend auf die Dauer. DENIZ
Das hast du geschrieben? Ich hätte dich gleich eingewiesen.
ANDRE Wieso? Sowas kam mal im Fernsehen, über Wände und Wandfarben. Wissenschaftliche Experimente mit Pferden und Boxern und wie sie sich bei den verschiedenen Farben- verschieden beruhigen. »Also mich hat es zum nachdenken über diese Sendung angeregt und beruhigt,« sage ich zum Direktor. Er sagt aber nichts. Sitz da, zieht unter dem Tisch die Schuhe aus
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und kratz mit dem Zeh die Ferse. Sonst nichts.
DENIZ
Ich glaube ich kotz gleich.
ANDRE
Und ich erzähle ihm über die ganze Sendung. Und er hört einfach nur zu. Als ich mit der Sendung fertig war, wusste ich nicht was ich sagen soll. Und er sagt nichts, sitzt einfach da. Dann hab ich angefangen zu erzählen, was vor der Sendung kam. Eine Serie war das. Und er sagt plötzlich: »Das ist ja sehr interessant,« und fängt an, Fragen zu der Serie zu stellen, hat auch mit dem Kratzen wieder aufgehört. Ich hatte aber die Serie vorher nur paar mal gesehen und wusste deshalb voll viel nicht. Dachte aber, scheiße, er will bestimmt meine Zurechnungsfähigkeit prüfen und habe mir, als ich nicht weiter wusste, was einfallen lassen. Und er hat nicht mehr gelacht, sondern sehr interessiert zugehört und wollte alles ganz genau wissen, wer da welche Superfähigkeiten hat, wie diese Typen die einsetzten, und in ob die Helden jetzt gut oder böse sind, was weiß ich, so komische Fragen die ganze Zeit, hat echt nicht locker gelassen. Das ging immer so weiter, bestimmt ’ne halbe Stunde oder länger. Hab voll geschwitzt da drin. Hab ihm aber eine super Story aufgetischt. Den ganzen Plot. Bin voll stolz auf mich.
DENIZ
Kann ich mir vorstellen. Du bist ein richtiger Freak.
ANDRE Wieso? DENIZ
Wenn du selber nicht merkst, was für ein Freak du bist, bist du offensichtlich ein Freak! Lacht.
ANDRE Der ist gut, muss ich mir merken. DENIZ
Scheiße, schon gut.
ANDRE Dann fragt er, wie es dir geht und lächelt wieder. DENIZ Was?
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ANDRE Weiß ich nicht. DENIZ
Wieso lächelt er? WAS hast du ihm erzählt?
ANDRE Nichts. Ehrlich. DENIZ
WAS HAST DU IHM ERZÄHLT?
ANDRE
Ich hab ihm gar nichts erzählt. Er wollte nur wissen, wie es dir geht. Und ich sage: »Es ist nicht erlaubt, mit dem Zellennachbarn zu reden.« Dachte, er wollte mir eine Falle stellen. Aber er lächelt wieder so seltsam und sagt, ich soll die Hundenase schön grüßen. Das ist alles. Ehrlich.
DENIZ Hundenase? ANDRE Hab vorher nur ganz kurz erzählt, dass du dich über den Shampoo-Geruch beschwert hast, und voll die Hundenase hast. DENIZ Hundenase? ANDRE Klar. Die riechen doch alles. Auch durch die Wände. DENIZ
Ich fick dich, du Hundenase. Hörst du mich durch die Wände! Wieso sprichst DU mit dem Direktor über MICH?
ANDRE Wollte nur helfen. DENIZ
Du kleiner scheiß Wichser. Hat er dir paar Punke für gegeben? So ein scheiß Wichser!
ANDRE Geht gar nicht. Hab schon alle Punkte. DENIZ
Halt ja die Fresse.
ANDRE
Hab ihm nur gesagt, dass dir die Sache mit dem Rauchen voll Leid tut. Er meinte, du kannst ihn jederzeit sprechen und schon bald für eine Stunde raus. Das ist alles. Kurze Pause. Hörst du?
NORDSTADT
DENIZ
Ich fick dich. WIESO SPRICHST DU MIT DEM WICHSER ÜBER MICH? Pause. Fick dich.
ANDRE Für eine Stunde raus, ist doch voll geil oder? Pause. Heute gab’s Sonne. DENIZ
Sei leise! Sag jetzt gar nichts mehr! So ein Wichser. Lange Pause.
ANDRE
Ich komme in den Hof, und alle stehen in einer Reihe. Lehnen sich an die Wand und keiner sagt was. So wie jetzt. Erst dachte ich, die machen ein Gruppenfoto, wie so ein Jahrgangsfoto, aber die haben sich dahin gestellt, wo noch Sonne war. Das ist alles. Keiner hat Stress gemacht. Die ganzen Leute. Pause. Irgendwie unheimlich, wenn keiner was sagt. Kurze Pause. Was ist? Bist du eingeschlafen? Kurze Pause. Ist doch noch voll früh. Hörst du? Pause. Na, dann gute Nacht.
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IN ZUKUNF T II Neue Stücke zur Gegenwart – 2013/2014 Die AutorInnen
Burghard Braun, Vesna Buljevic, Pia Seiferth, Julia Panzelius in »Disco Hurghada« von Tanja Folaji.
MASCHINE WILL HEISSEN Daniel Ableev
Daniel Ableev, geboren 1981 in Nowosibirsk, studierte Komparatistik, Anglistik, Amerikanistik und Jura: Er lebt als freier Seltsamkeitsforscher in Bonn, schreibt für Legacy und postmondän und komponiert für Freuynde + Gaesdte. Unendlich viele Veröffentlichungen in On- und Offline-Zeitschriften und -Anthologien (Jahrbuch der Lyrik 2009, Gegend Entwürfe, Born to Fear: Interviews with Thomas Ligotti, Ann & Jeff VanderMeers: The Big Book of Science Fiction …), Alu & Malbuch ist ruhig (Autumnus Verlag), Benzol (Karl Mahnke Theaterverlag), Las Dabs Schlimme Prosa Gedichte liegen in über 10 Sprachen vor; ausgezeichnet mit dem KAAS & KAPPES-Theaterpreis 2011 für D’Arquette und dem 15. Irseer Pegasus für Über die Selectronik. IN ZUKUNFT II, conquering places-, fünfzehnminuten-, Fuchsbau Festival und 100°-Teilnehmer; Mitherausgeber von DIE NOVELLE – Zeitschrift für Experimentelles.
I ntervie w mit D aniel A blee v Warum ist IN ZUKUNFT wichtig für Dich? IN ist eine Präposition – wir brauchen die Dinger. Und ohne ZUKUNFT gibt es kein Nix. Tatsächlich ist es so, dass diese Workshop-Reihe einen ganz besonderen Fokus pflegt, der geschätzt und gelobt gehört. Migrieren dürfte immer etwas mit Herausbildung ganz spezieller Synapsen zu tun haben, sodass Migrantenhirne hie und da für eine Überraschung gut sein könnten. Wie stellst Du Dir als Autor politische Einflussnahme vor? Da ich tendenziell apolitisch/l’art-pour-l’artistisch schreibe, ist für mich diese Frage schwierig. Mein Englischlehrer hat zwar immer recht polemisch behauptet, dass selbst Fisches Nachgeschmack von Christian Morgenrock Politsatire sei, aber ich müsste mich schon sehr wundern, wenn meine (Schrift-)Stücke einen größeren gesellschaftlichen Einfluss üben sollten, als die eine oder andere, hoffentlich novellierende Entertainung der Hirnung zu bewirken. Der Begriff »gesellschaftliche Einflussnahme« kommt mir daher zu hoch gegriffen vor.
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Daniel Ableev
Was kann Theater? Theater kann ganz viel: verstören, verdichten, versauen, verändern, langweilen. Ich habe mich auf(s) Seltsamkeiten versteift. Dies kann Theater definitiv auch. … und sonst? Theater als Live-Event ist zu Vitalem bzw. Vitalisierendem im Stande. Egal, wie hell oder dunkel, hinterhältig oder naiv man es als Autor oder Regisseur treiben möchte, im Theater kann so manches Unmittelbarkeitswunder wahr werden und damit auch das von mir gewünschte Weird. Deine Motivation bei IN ZUKUNFT dabei zu sein? Ich hoffte, einen Text fertigzustellen, den ich ohne den unvoreingenommenen, erfrischenden und ehrlichen Blick meiner ZUKUNFTigen und ZUKUNFTiginnen nicht hinkriegen würde. Dass ich nebenbei auch meine Chance auf eine Inszenierung erhöhen möchte, ist selbstverständlich. Auf ein Wort Maschine will heißen – Eine aleatronische Maschination. Dein Stück … In meinem Stück will eine Maschine »heißen« (ob sie bloß einen Namen für sich sucht, oder mehr?) – dabei bekommt sie es mit Samoch und Hirnug, einem höchst seltsamen, wie dynamischen (oder doch eher statischen?) Duo zu tun … Ist der Workshop für Dich okay? Der Workshop hat mir bisher eigentlich alles gegeben, was ich erwartet hatte. Und ich hatte nur Gutes erwartet: konstruktive Gespräche, produktive Begegnungen, anspruchsvolle, aber nicht unschaff bare Herausforderungen, positiven Stress, Lustigkeiten, Gemeinsamkeiten, wertvolle Bekannt- und Freundschaften. Meine Reaktion darauf kann daher nur eine sein: Merci! (Interview: Hella Sinhuber)
Daniel Ableev
MASCHINE WILL HEISSEN Daniel Ableev
MASCHINE WILL HEISSEN Textauszug Eine aleatronische Maschination Dramatisch Personen (2 H, 1 M) SAMOCH + HIRNUG MASCHINE (will heißen) 3 Gebrauchsanweisung: Das prima eingespielte Duo safidale SAMOCH und HIRNUG (Systemetabliert) treibt nonchalant-dynamische Konversation, die sich als stagnierend herausstellen wird. Indes macht MASCHINE (Systemfremdelnd) im Laufe der drei »Randôm Aleatronic Mammory«-Stufen von MASCHINE WILL HEISSEN eine Evolution durch. Dabei sind ihre zunehmend sublimeren, enzyklopädisch-eklektischen, schlussendlich das Gesprochene/Literarische durch Einsatz von Multimedia/Performance/ Xyzz überschreitenden Hervorbringungen aus den RAM-Addenda frei und/oder zufällig auszuwählen und in den vorliegenden, von geringer Strichfassungsresistenz gekennzeichneten Stücktext – siehe exemplarische Platzhalter › ‹ – zu integrieren. RAM-Stufe I: Während SAMOCH und HIRNUG in ein facettenreiches Gespräch über dies/Cis und jenes/Trans vertieft sind, unternimmt MASCHINE erste sprachliche Gelversuche … RAM-Stufe II: SAMOCH und HIRNUG tauschen sich mit konstant hohem Dadadurchsatz über alte und neue Zerebraiten aus, während MASCHINE, anscheinend über eine Ich-Struktur verfügend, allerlei Autobio grapHieses zu berichten weiß … RAM-Stufe VIII: SAMOCH und HIRNUG lassen es weiterhin kakrachen, agieren aber viel mehr im Hintergrund, während MASCHINE durch Bilder, Töne & Coks den gesamten Ereignisraum geradezu apotheotisch für sich einnimmt … MWH möchte jene fundamentale Tragödie der Emergenz von (Ich-)Bewusstsein bzw. (Ich-)Erkenntnis mittels überkandidelter Sprachautismen (Grotesk-Surr) veranschaulichen, weshalb die 3 Protagonisten bzw. 2 Systeme in der Form einer Entropiewolke von zweifelhafter Informationsdichte vorliegen. Die Kommunikation SAMOCH/HIRNUG – ihr verbales Geben und Nehmen sei eine Metapher für die anenzephale Kontingenz von Sprache, wenn nicht gar Existenz – bzw. Nichtkommunikation Systeme/Systemf – diese beiden verhalten sich alien zueinander – könnte dabei alles von zufallsgesteuert über solipsistisch bis wahnsinnig sein. Bis zum Schluss wird nicht klar, wo echtes Bewusstsein beginnt und unechtes aufhört.
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Hauptziel von MWH ist die kritische Auseinandersetzung mit der Herausbildung und Übertragung von Information sowie dem das Leben konstituierenden Streben danach. Es gilt, das Arbiträre des Wortes und der Sprache, das Zeichen und sein widernatürliches Bedeuten(wollen) einer starken Skepsis auszusetzen und so den Horror des, zutiefst ephemeren, quasi am seidenen Jüch-Fädchen baumelnden, Semantikgerüsts aufzuzeigen, auf das der Mensch als sozial-intelleghuules (Un-) Wesen täglich angewiesen ist. Der zu diesem Zweck generierte Seltsamkeitsstrom öf Unconsciousness (= SÖS) aus impertinentem Semi-, Pseudo- und Vollnonsens soll beim Leser/Zuschauer schließlich eine semantische Übersättigung bewirken, die einen linguistisch-kognitiven Neustart erforderlich macht. SAMOCH Im Knast wurde mir auch ständig vorgeworfen, dass ich wie ein Tatsachenbaum agiere. HIRNUG Du warst? SAMOCH Nicht wirklich Knast, eher Kniff kes Liebe zur Professur. Die Leute hatten dort immer Durst, aber ich habe das »r« einfach mitgenommen und gab ihnen Stab zu fressen. HIRNUG Je m’appèlle Nyschts. SAMOCH Was ist mit den Alkalikriegen? Warst du an ihnen beteiligt? HIRNUG Oh je, die Alkalikriege. Korrektere Bezeichnung: Stürmische Großkalibrige Raketleinsuppe. Ich war damals ein Pseudovielfaches im Ö-Ring und Teil der Fleisch-§§. Wir hatten regelmäßig für ein »dünnes Halskettchen« zu sorgen, so hieß das damals unter Uber Plönin, Hauptdolchgeber. Unsere erste Gönnung bestand darin, das weiß ich noch ganz genau, Omnimodo Katayama durch Plosion nach Nihilius Beck abzuschatten. SAMOCH Wie ist es gelaufen? HIRNUG Wir sollten die Nullringparabel in einer äußerst spezifischen Position rotieren lassen, sodass die entstehenden Wellenoids die erforderliche Plosion auslösten. Es ging alles schief, was nur schiefgehen konnte. SAMOCH War das in Kaleder City? Das junge Mädchen trieb zenmagische Blasphemie und nicht frönte dem Raum der Körper, suchend vergeblich der Krieger Gebett. Es schwand die Macht der Tristaniten, Stiefmúttern sollten Seuchen wesen. 6 HIRNUG Ich war ebenfalls in Kaleder City stationiert. Ich kann mich noch gut an Kidel Kaputof, Konk-Ogm und Geknatternase-probierte-Lenkrad entrinnen. Ich weiß noch, dass Kidel zu uns stieß, nachdem er eine Oma machen gewollt hatte. Man hat ihn aber abgefangen und hinter die Aztheke gestollt.
MASCHINE WILL HEISSEN
SAMOCH War er nicht das Mörserhirn? Na, wie wärs zum Beispiel mit Spocht? HIRNUG Tigerzahn für O-Haha! Das war er in der Tat. Wir nannten ihn damals F(x)=Morbi, weil er diese brutalen Rechenkünste draufhatte. Aber ich habe doch die Bibel gebissen. MASCHINE (will heißen) Krudes Juch. SAMOCH Das stimmt, jetzt kommen die ganzen Kompetenztitten an die Oberfläche geradelt. Bundesvera und das bessere Volz, oh je. Bestiegene, primitive Leute, ACT!VE, weißt du noch? HIRNUG Umgebungsungegung: Hehe. Bundesvera hatte eine ordentlich scharfe Stülpmütze umb. Diese verdeckte fast das ganze Gesicht, nur ihre Nase kam raus. Auf der Mütze prangte die Aufschrift ACT!VE. Das war wohl auch ihr Lebensmotto. SAMOCH Oh yeah, Vera war wahrlich viral, was ¿Haben-Straßengräben-Nerven? anging. Was ist bloß aus I