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German Pages 238 Year 2018
Jörn Peter Hiekel, David Roesner (Hg.) Gegenwart und Zukunft des Musiktheaters
Musik und Klangkultur | Band 25
Jörn Peter Hiekel, David Roesner (Hg.)
Gegenwart und Zukunft des Musiktheaters Theorien, Analysen, Positionen
Gefördert vom Kulturreferat der Landeshauptstadt München, der Münchener Universitätsgesellschaft und der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber, Dresden.
© 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Szene aus der Uraufführung Underline, Münchener Biennale 2016, Komposition und Instrumente: Hugo Morales Murgui; Storyline, Video, Ausstattung, Inszenierung: Deville Cohen. Foto: © Franz Kimmel (München), 2016 Satz: Mark-Sebastian Schneider, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-3933-9 PDF-ISBN 978-3-8394-3933-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Vorwort Jörn Peter Hiekel, David Roesner | 7
1. M usik theater heute — eine S tandortbestimmung Grenzüberschreitungen und neue Arbeitsweisen Zu einigen künstlerischen Suchbewegungen im Musiktheater der Gegenwar t Jörn Peter Hiekel | 13
Dés-œuvrément ›Entwerkung‹ von Kunst Dieter Mersch | 47
Dialog mit Untertiteln Manos Tsangaris, Daniel Ott | 71
2. B eispiele und A nalysen Stand-up comedy auf zweiter Stufe Die Form des theatralisier ten Solo-Rezitals bei Georges Aperghis Leo Dick | 79
Strategien der Raum-Komposition und die sich selbst beobachtende Szene Überlegungen zu Musiktheaterstücken von Georges Aperghis, Manos Tsangaris, Isabel Mundry und Mark Andre Martin Zenck | 99
Kein Original mit Untertitel Rober t Walser und das Théâtre musical Roman Brotbeck | 121
Die Entwicklung des Musiktheaters als offene Frage Christoph Mar thalers Unanswered Question (Basel 1997) David Roesner | 137
»Solch hergelauf’ne Laffen« Zur Inversion von Alterisierungsstrategien in Ibrahim Quraishis Saray – Mozart alla Turca und Chaya Czernowins Zaïde–Adama. Fragments Regine Elzenheimer | 155
Für heute, morgen und übermorgen Zur Tradierung von Pina Bauschs Tanztheater Katja Schneider | 173
Hören und Sehen in unvertrauten Zusammenhängen Reflexionen über das junge Format der ›Briefmarkenopern‹ Tobias Eduard Schick | 189
3. D iskurs Originale und Autorschaft? Neue Formen der Ko-Kreativität im Musiktheater Leo Dick, Judith Egger, Christian Grammel und Marion Hirte im Gespräch mit David Roesner im Rahmen der Münchener Biennale 2016 | 213
Autorinnen und Autoren | 233
Vorwort
Bereits seit seinen Anfängen in der Zeit Claudio Monteverdis gehören zum Musiktheater die unterschiedlichsten Neuakzentuierungen des Zusammenspiels der Elemente Klang, Text, Bewegung und Bild. Schon in früheren Zeiten war dieses Zusammenspiel vielfältig und abwechslungsreich, doch im Laufe des 20./21. Jahrhundert haben sich die Gestaltungsmöglichkeiten geradezu potenziert. Dabei wurde es mehr und mehr zur Selbstverständlichkeit, erprobten Lösungen der Verknüpfung der vier genannten Ebenen zu misstrauen und neue transdisziplinäre oder intermediale Ansätze zu entwickeln. Der fortwährende Wandel erstreckt sich schon seit längerem auf unterschiedliche Mischverhältnisse und Hierarchisierungen dieser elementaren Dimensionen des Musiktheaters, aber in immer noch wachsendem Maße auch auf neue Formate, Präsentationsformen und Mediennutzungen. Und so begegnet man heute einem Pluralismus von Ansätzen, der von höchst unterschiedlichen ästhetischen Auffassungen, Rezeptionsgewohnheiten und Autorschaftskonzepten getragen ist. Ist dieser Pluralismus zur Gänze noch als Musiktheater zu bezeichnen? Im Sinne einer trennscharfen Gattungstheorie mag hier die Gefahr einer Aufweichung bestehen, die dem Wunsch nach klaren Kriterien für eine Gattungszugehörigkeit zuwiderläuft. Dieser Wunsch spiegelt sich häufig auch im Feuilleton wieder.1 Doch erscheint es möglich und sinnvoll, auch weiterhin von einer erheblichen Wandelbarkeit des Begriffs Musiktheater auszugehen und mit ihm auch heute noch jenen Erneuerungswillen zu assoziieren, der besonders etwa zu Beginn des 20. Jahrhunderts 1 | Der Pressespiegel der Münchener Biennale 2016 lässt zum Beispiel immer wieder erkennen, dass die Berichterstattung mit der bewusst vollzogenen Ausweitung der Formate unter dem Titel »Festival für neues Musiktheater« sehr haderte.
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sowie in den 1960er Jahren markant hervortrat. Trotzdem haben die ins Elementare reichenden Verschiebungen vor allem in jüngerer Zeit zu einzelnen alternativen Begriffsprägungen geführt, die eine noch schärfere Konturierung ungewöhnlicher künstlerischer Strategien zum Ausdruck bringen sollen. Der vorliegende Band sucht die Bandbreite wichtiger neuerer künstlerischer Arbeiten anhand von Beispielen zu spezifizieren und zu erläutern. Er geht daher induktiv vor, entwickelt anhand von Werk- oder Kontextbeschreibungen neue Ansätze zur Analyse von Musiktheater und stellt punktuell auch ausgewählte begriffliche Neuansätze zur Diskussion. Doch vor allem wird ein breites Spektrum von Gestaltungsmöglichkeiten sichtbar gemacht und werden daher sehr unterschiedliche nach 1995 entstandenen Konzepte beleuchtet, deren Gemeinsamkeit zunächst darin besteht, dass sie das Miteinander der Musiktheater-Ebenen nicht unhinterfragt aus traditionellen Formmodellen ableiten – in einigen Beiträgen zeigt sich dies auch darin, dass Aufführungen als zentraler Untersuchungsgegenstand betrachtet werden. Erhebliche zentrifugale Kräfte kommen dabei zum Zuge, die von der Tradition klassischer Opernformate in pointierter Weise wegführen, andere Kunst- und Vermittlungstraditionen aufgreifen und zuweilen jenseits des klassischen Werkbegriffs operieren. Doch eine Rolle spielen auch verschiedenste Konzepte, die bestimmten Prägungen, Spuren oder Ausdrucksmomenten der Operntradition bewusst folgen, sie in reflektierter und kreativer Form aufgreifen oder zumindest Anklänge an sie zulassen. Die Texte basieren auf Vorträgen eines Symposiums der Münchener Biennale für neues Musiktheater 2016, das mit dem Titel »OmU. Echoräume und Suchbewegungen im heutigen Musiktheater« überschrieben war.2 Dieser Titel zeigt eine durchaus grundsätzlich gemeinte Akzentuierung oder sogar Neuausrichtung innerhalb des Programms der Biennale an, die auch in einigen Beiträgen diskutiert wurde und in der mitunter experimentell zu nennenden Erprobung transdisziplinären Agierens bestand. Daniel Ott und Manos Tsangaris, die beiden Leiter der Münchener Biennale, die in diesem Band auch mit einem gemeinsamen eigenen Beitrag vertreten sind, wählten mit dem eher aus dem Filmbereich geläufigen Hinweis auf »Original« und »Untertitel« eine ebenso griffige 2 | Vgl. dazu den programmatischen Text der beiden Festival-Dramaturgen Marion Hirte und Malte Ubenauf unter http://www.muenchenerbiennale.de/editorial/.
Vor wor t
wie enigmatische Formel. In ihr klingt einerseits die Wechselbeziehung zwischen unterschiedlichen Ebenen an, aber als Option andererseits auch eine Öffnung gegenüber unerwarteten Möglichkeiten intermedialen Agierens sowie eine Suspendierung vertrauter Hierarchien. Das Motto »OmU« ist insofern vor allem wohl ein Kürzel für die Ermutigung zu ungewöhnlichem künstlerischen Arbeiten wie auch zur Reflexion hierüber. Diese Reflexion kann, wie einzelne Beiträge des vorliegenden Bandes zeigen, auch die Frage nach der Macht und Relevanz von Originalen einschließen, die in Zeiten der fortschreitenden Digitalen Revolution besonders virulent wurde. Das gleichermaßen perspektivenreiche wie verheißungsvolle Motto lässt mithin die Möglichkeit zur Fokussierung von Gestaltungselementen ebenso aufscheinen wie die rigorose Infragestellung von Originalität oder herkömmlichem Werkcharakter oder aber die Entfaltung von transkulturellen und/oder transdisziplinären Arbeitsweisen. Doch es kann nicht zuletzt auch auf die Weitung, Verbreiterung oder Überreizung von semantischen wie darstellerischen Möglichkeiten etwa im Sinne des von manchen Surrealisten propagierten Kunstverständnisses deuten. Denn nicht Eingängigkeit oder völlige Kohärenz der Ebenen ist in vielen neueren Musiktheaterarbeiten das Ziel, sondern eher eine Form von Überlagerung oder Verschränkung, die sowohl Momente des Widerspruchs als auch der Verdopplung von Aussagen und Erfahrungsmomenten einschließen kann. Sind dies alles, so kann gefragt werden, Alleinstellungsmerkmale des neueren und neuesten Musiktheaters? Nicht unbedingt, aber sie treten in ihm in besonders facettenreicher Weise in Erscheinung. Eine Gemeinsamkeit der im vorliegenden Band versammelten, teilweise bewusst ins Grundsätzliche ausgreifenden Texte mit den so unterschiedlichen Produktionen des 2016er-Jahrgangs dieses wichtigsten europäischen Festivals für neues Musiktheater besteht wohl darin, dass sie die in der Formel »OmU« vorausgesetzte Heterogenität von Ansätzen sichtbar und plausibel machen. Diese kommen hier aus der Philosophie, der Theater-, Musik-, Tanz und Literaturwissenschaft und reichen von grundlegenden ästhetischen Betrachtungen über verschiedenste Werk- und Aufführungsanalysen und Probenethnographien bis hin zur verschriftlichten Lecture-Performance und der Aufzeichnung einer Podiumsdiskussion zu künstlerischen Arbeitsweisen. Dabei geht es inhaltlich zum Teil um künstlerische Arbeiten, die auf großen Opernbühnen ihren Platz gefunden haben, aber in einem erheblichen Maße auch um Ansätze, die
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gerade dort kaum adäquat realisierbar wären und daher an ganz anderen Orten zur Entfaltung kommen. Grenzüberschreitungen und Übergänge – auch etwa jene zum Tanz- oder zum Sprechtheater – sind dabei einer der roten Fäden dieser Publikation. Und dass in der Tendenz zu solchen Überschreitungen nicht nur die Gegenwart des Musiktheaters, sondern auch ein Teil seiner Zukunft liegen dürfte, ist eine Behauptung, die im Titel des vorliegenden Buches ganz bewusst anklingt. Die Herausgeber danken zunächst allen beteiligten Autorinnen und Autoren des vorliegenden Bandes, überdies den beiden Leitern sowie dem gesamten Team der Münchener Biennale für das mit Nachdruck realisierte Vorhaben, Praxis und Theorie mit Hilfe der Tagung wie der Publikation eng miteinander zu verflechten, daneben auch dem Kulturreferat der Stadt München und vor allem deren Musikreferentin Heike Lies für die große Unterstützung, der Münchener Universitätsgesellschaft sowie der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden für die finanzielle Hilfe, schließlich Lukas Stempel für die Beteiligung an der redaktionellen Arbeit. Dresden/München, Herbst 2017, Jörn Peter Hiekel und David Roesner
1. Musiktheater heute— eine Standortbestimmung
Grenzüberschreitungen und neue Arbeitsweisen Zu einigen künstlerischen Suchbewegungen im Musiktheater der Gegenwart Jörn Peter Hiekel
Neue Untertitel und Strategien Reicht der gängige Begriff ›Musiktheater‹ im 21. Jahrhundert überhaupt noch aus, um all das angemessen zu fassen, was in dem mit ihm bezeichneten Felde des Zusammenspiels von Musik, Text, Bewegung, Bildern und Räumen passiert? Mögliche Antworten auf eine solche Frage hängen davon ab, wie eng oder weit man diesen Begriff fassen möchte. Für dessen Beschreibung gibt es ja zwei gegenläufige Ansätze. Erstens ist die Tendenz verbreitet, ihn als »Sammelbegriff sämtliche[r] Formen musikalisch-theatraler Aufführung«1 zu verstehen. Doch daneben steht zweitens jene engere Auffassung, der zufolge er im spezifischeren Sinne als Alternative und Kontrast zur guten, alten Oper und deren Darstellungsweisen firmiert.2 Um in diesem Felde der Alternativbildungen noch klarere Abgrenzungen zu pointieren, werden allerdings nicht selten zum Begriff Musiktheater noch die Attribute ›Neues‹ oder ›Experimentelles‹ hinzugesetzt. Ob man solcher Attribute tatsächlich bedarf, kann man durchaus bezweifeln. Doch andererseits wird mit ihnen noch stärker auf jenen Wil1 | Chr. Utz, Artikel »Musiktheater«, in: Jörn Peter Hiekel/Christian Utz (Hg.): Lexikon Neue Musik, Stuttgart/Kassel: Metzler/Bärenreiter, 2016, S. 407-417, hier S. 407. 2 | Utz weist mit Recht darauf hin, dass sich dieser Gebrauch »letztlich nicht durchgesetzt« hat (vgl. ebd.).
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len zur Selbsterneuerung verwiesen, der zwar eine wichtige Konstante in der mehr als 400-jährigen Operngeschichte markiert, der jedoch – nicht erst heute, aber heute mehr denn je – in dem stark von kommerziellen Erwägungen, Repräsentations- und Unterhaltungsbedürfnissen geprägten Musikbetrieb unter die Räder zu kommen droht. Insofern überrascht es nicht, wenn in den letzten Jahrzehnten bei verschiedensten neuen Produktionen einige alternative oder ergänzende Begriffe bzw. Untertitel ins Spiel gebracht worden sind, die über die allgemeine Rubrizierung als ›Musiktheater‹ bewusst hinausgehen und z.B. Aspekte des Performativen, Bildlichen, Räumlichen oder Weltbezogenen stärker kenntlich zu machen suchen, um dabei auch auf grundsätzliche Fragen und Neuakzentuierungen des Miteinanders der verschiedenen Ebenen des Musiktheaters zu verweisen. Genannt seien hier zunächst nur etwa Untertitel wie ›Instrumentales Theater‹, ›Musik mit Bildern‹, ›Tragedia dell’ascolto‹, ›szenisches Konzert‹, ›Landschaftsoper‹, ›Dokumentaroper‹, ›Stationentheater‹, ›multimedia opera‹, ›Theorie-Oper‹, ›Geräuschoper‹ oder ›Thinkspiel‹, die allesamt nicht aus der wissenschaftlichen Literatur, sondern aus der Praxis stammen. Sie alle, verwendet für Werkkonzepte von so verschiedenen Persönlichkeiten wie Mauricio Kagel, Helmut Lachenmann, Luigi Nono, Peter Ablinger, Helmut Oehring, Manos Tsangaris, Steve Reich, Patrick Frank, Carola Bauckholt und Philippe Manoury und in der Regel von diesen selbst geschaffen, stehen für eigenwillige kompositorische Versuche der kreativen Überschreitung von Gattungsgrenzen3 und indizieren in ihrer Gesamtheit eine bemerkenswerte Vielfalt des neueren Musiktheaters. Die Suche nach solchen und ähnlichen Begriffen darf man nicht mit streng systematisch gesetzten Begriffs-Unterscheidungen verwechseln, wie man sie im Felde der Wissenschaft erwarten kann. Doch sie erfolgt im gemeinsamen Bewusstsein aller an ihr Beteiligten, dass selbst so epochale, mutige Werke des 20. Jahrhunderts wie Alban Bergs Wozzeck oder Bernd Alois Zimmermanns Die Soldaten einen engen Bezug zur Operntradition keineswegs verleugnen – in ihrer Art der forcierten Expressivität und wohl auch in der Art der Erzählung von Geschichten 3 | Ähnliches lässt sich etwa auch für das Motto ›OmU‹ sagen, das die Münchener Musiktheater-Biennale 2016 zur Bekräftigung vor allem der kollaborativen Prozesse des Musiktheaters ausgab (von denen im Vorliegenden noch ausführlich die Rede sein wird).
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und der Schaffung von Assoziationsräumen. Zugleich aber knüpfen die genannten neuen Bezeichnungen, so flüchtig hingeworfen sie zum Teil auch erscheinen, an die Tradition jener einschlägigen Begriffs-Neuprägungen Richard Wagners an, die für den Versuch der nachdrücklichen Überschreitung des im Opernbetrieb Möglichen stehen. Wenn in die nachfolgende Beschreibung einiger Perspektiven des gegenwärtigen Musiktheaters und seines Willens zur Selbsterneuerung, die von solchen Einsichten ausgehen, kurze Seitenblicke auf einzelne wichtige Werke des vorigen Jahrhunderts integriert sind, soll damit keineswegs die oft zu hörende Behauptung bekräftigt werden, dass alles schon mal irgendwie da gewesen sei. Stattdessen geht es darum, das Profil signifikanter heutiger Konzepte auf der Folie verschiedener früherer Ansätze deutlicher hervortreten zu lassen. Fragt man in diesem Sinne zunächst summarisch danach, in welcher Weise die verschiedenen neu entstehenden Werke des 21. Jahrhunderts bestimmte, in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts bereits angebahnte Tendenzen radikalisieren, wird man sowohl auf die Rezeptionssituation von Opernaufführungen wie auch auf spezifische Produktionsbedingungen verwiesen. Aufschlussreich ist trotzdem die Frage, inwieweit die mit den eben genannten Begriffen gemeinten Konzepte mit jenen großen Institutionen verknüpft sind, die seit Jahrhunderten für das Musiktheater zuständig sind und dafür ja auch in erheblicher, in der freien Szene oft unvorstellbarer Weise subventioniert werden (dies eigentlich in der Hoffnung, auch ästhetische Öffnungen auf den Weg zu bringen). Mit Blick auf diese Auswahl von Namen lässt sich eine solche Verknüpfung wohl hauptsächlich für Helmut Lachenmann und sein im Untertitel ›Musik mit Bildern‹ genanntes Werk Das Mädchen mit den Schwefelhölzern geltend machen. Dieses wurde im Januar 1997 in der Hamburgischen Staatsoper uraufgeführt und hat nach dem Verständnis des Komponisten tatsächlich in klassischen Kontexten seinen angemessenen Platz. Das liegt vor allem daran, dass dieses Werk im Kontrast zu dem hier Üblichen und zugleich im Rekurs auf eine traditionelle Märchengeschichte, die auch in traditionellen Opern als Vorlage denkbar wäre, seine Besonderheiten kenntlich macht. Die meisten der erwähnten anderen Werkkonzepte jedoch entstanden außerhalb des klassischen Opernbetriebs in freien Produktionen verschiedener Veranstalter oder Festivals. Wären, so könnte man fragen, ihre grundsätzlichen Akzentverschiebungen hinsichtlich Produktion wie auch Rezeption auch innerhalb dieses Betriebs zu realisieren? Vermutlich
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ja – doch bislang geschieht dies allenfalls in Ausnahmefällen. Von einzelnen Ansätzen, für die dies gilt, wird ebenso noch die Rede sein wie von Werken, die ähnlich wie die großen Musiktheaterwerke von Berg, Zimmermann, Karlheinz Stockhausen, Luigi Nono oder Lachenmann gerade auf die Nutzung der Möglichkeiten eines Opernhauses setzen – oder die Utopie von deren Überschreitung in sich tragen. Im Folgenden werden einzelne signifikante Strategien des aktuellen Musiktheaters herausgegriffen, um punktuell auch noch weitere neuere Begriffsprägungen (wie namentlich die auf die integrale Verknüpfung verschiedener Ebenen gemünzte Formel ›Composed Theatre‹) anzudeuten, um vor allem aber den Facettenreichtum der heutigen Ansätze zu zeigen – und dann anschließend kurz auch Fragen der problematischen Rezeption anzusprechen. Entsprechend der Überschrift des vorliegenden Beitrags geht es um spezifische Grenzüberschreitungen. Aber es geht bei dieser kleinen Auswahl von Arbeiten auch um neue Wege der Verknüpfung von klanglichen, textlichen und szenischen Ebenen. Diese zeigen sich besonders etwa in der räumlichen Disposition, in der Welt- und Alltagsbezogenheit der Konzepte, in ihrer jeweiligen Art der Einbeziehung von Mitwirkenden, des Publikums oder von Medien (besonders von Videoelementen) sowie in der Akzentuierung einer spezifischen Art von Körperlichkeit, aber punktuell auch in der Verschränkung von Elementen der klassischen Oper mit ganz anderen Erfahrungen bzw. Darstellungsformen.
Formate, Orte, Raumbewegungen Zu den Aspekten, die im Musiktheater der letzten Jahrzehnte erheblich an Bedeutung gewonnen haben, zählt die Variabilität der Formate. Denkt man an dieser Stelle zunächst an die deutlich sichtbar werdende Tendenz zu kleinformatigen Arbeiten, liegt es nahe, neben der ästhetischen auch die pragmatische Seite zu bedenken. Gewiss sollte man sich davor hüten, diese überzubetonen. Andererseits werden an nicht wenigen Häusern die Projekte in kleineren Formaten, gerade wenn sie einen experimentell zu nennenden Charakter aufweisen, auf Nebenschauplätze des Opernbetriebs (etwa Werkstattbühnen) verschoben und dabei mit einem nur kleinen Produktionsetat ausgestattet – sodass der Eindruck einer gewissen Randständigkeit dieses Bereichs eher noch unterstrichen wird. Umso wichtiger sind jene Initiativen, die mit den Gestaltungsmöglichkeiten
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forschend und entwickelnd umzugehen verstehen und sich den kleinen Formaten sowie ihren künstlerischen Potenzialen – und zum Teil natürlich auch dem Großformatigen – unter weitaus besseren Produktionsbedingungen widmen. Wird es solchen Initiativen4 sogar gelingen können, eine neue Form des Musiktheaters so zu etablieren, dass diese – womöglich als neue Form der Verbindung von Konzertantem und Szenischem5 – irgendwann im Musikleben in seiner ganzen Breite ankommt? Skepsis ist schon deshalb angebracht, weil die künstlerische Hochschulausbildung, von Ausnahmen abgesehen (auf die punktuell noch einzugehen ist), allzu deutlich in konventionellen Bahnen verläuft.6 Zur Tradition des Musiktheaters im 20. Jahrhundert gehören ohnehin neben vielfältigsten Erkundungen in kleineren Formaten auch jene auf pragmatische Erwägungen kaum beziehbaren Konzepte, die mit einer entschiedenen Weitung von Möglichkeits- und Entfaltungsräumen und dabei auch mit größeren Formaten einhergehen. Bernd Alois Zimmermann, dessen pluralistisch konzipierte Oper Die Soldaten hierfür ein Paradebeispiel darstellt, hat in einem Grundsatzbeitrag für den Kongress ›Neue Musik – Neue Szene‹ innerhalb der Darmstädter Ferienkurse des Jahres 1966 gefordert, dass ein Opernhaus »nicht schlechter ausgerüstet sein sollte als ein Weltraumschiff« 7. Es solle ein »Weltraumschiff des 4 | Zu ihnen zählt die Münchener Musiktheater-Biennale in der Konzeption von Daniel Ott und Manos Tsangaris. 5 | Vgl. hierzu sowie zu einigen Teilaspekten des vorliegenden Themas im 20. Jahrhunderts die Schrift von Christa Brüstle: Konzert-Szenen. Bewegung, Performance, Medien. Musik zwischen performativer Expansion und medialer Integration 1950-2000, Stuttgart: Franz Steiner 2013 (Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft, Bd. 73). 6 | Vgl. hierzu Heiner Goebbels: »Forschung oder Handwerk? Neun Thesen zur Zukunft der Ausbildung für die darstellenden Künste«, in: ders.: Ästhetik der Abwesenheit Texte zum Theater, Berlin: Theater der Zeit (Recherchen, Bd. 96), 2012, S. 128-134. Dort (S. 128) heißt es kritisch: »Alle […] Ausbildungsstätten wurden gegründet mit der einzigen Absicht, Nachwuchs bereitzustellen für die repräsentativen Institutionen, die Abend für Abend Ballette, Opern, Konzerte, Theater und Musicals präsentieren.« 7 | Bernd Alois Zimmermann: »Zukunft der Oper. Einige Gedanken über die Notwendigkeit der Bildung eines neuen Begriffs von Oper als Theater der Zukunft«, in: Intervall und Zeit. Aufsätze und Schriften zum Werk, Mainz: Schott 1974, S. 38-
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Geistes« sein, um den auf die Verknüpfung unterschiedlichster Ebenen und (auch technischer) Gestaltungsmittel hinauslaufenden neuen Werken wirklich gerecht zu werden. Dabei ist der Rückgriff auf technische Medien (wie Film- und Klang-Einblendungen) in Die Soldaten nicht akzidentiell, sondern spielt eine tragende Rolle – was auf die Tendenz zur Mischung unterschiedlicher Darstellungsebenen in vielen heutigen Musiktheaterprojekten vorausweist.8 Wichtig für die Montageverfahren der Soldaten ist es, dass sie jede Tendenz zur Geschlossenheit bewusst überschreiten. Darin, aber zugleich auch in der Ausdehnung und technischen Hochrüstung der Opernmittel sind diesem Konzept einige Komponisten gefolgt, dies – wie besonders an Stockhausens Großprojekt LICHT sichtbar wird – zum Teil deutlich über die von Zimmermann selbst eingesetzten technischen Mittel hinaus. Die von Zimmermann propagierte Erweiterung auf technischer Seite gelingt heute allerdings am ehesten in Produktionen, die abseits der großen Opernhäuser angesiedelt und daher meist kleiner dimensioniert sind.9 Im Rahmen des Darmstädter Kongresses von 1966 wurde außer der Stellungnahme Zimmermanns auch ein weiteres wichtiges Positionspapier zum neuen Musiktheater diskutiert, das ebenfalls die Formatfrage und den Aufwand der Mittel thematisiert. Es stammte von Mauricio Kagel und in ihm wurde – in erkennbarem Gegensatz zur Idee eines hochgerüsteten Großtheaters – eine unmittelbare Nähe zwischen Musi46, hier S. 45. Das folgende Zitat ebd. Vgl. zu dieser Diskussion auch: Inge Kovacs: »Der Darmstädter Kongreß ›Neue Musik – Neue Szene‹ 1966«, in: Christoph-Hellmut Mahling/Kristina Pfarr (Hg.): Musiktheater im Spannungsfeld zwischen Tradition und Experiment (1960-1980) (Mainzer Studien zur Musikwissenschaft 41), Tutzing 2002, S. 25-34. 8 | Zu denken ist hier natürlich – wie schon bei der Tendenz, mit Untertiteln ein Abweichen von Traditionen zu signalisieren – auch an das bei der Münchener Musiktheater-Biennale 2016 als Motto gewählte Kürzel ›OmU‹ (für ›Original mit Untertitel‹) mit seinen verschiedenen Implikationen. 9 | Ein Beispiel ist Gerhard E. Winklers interaktive Oper Heptameron (2002), wo aus der Verknüpfung der technischen Mittel mit den live agierenden Musikern erwachsende Gefüge von Suchbewegungen und Irritationen in Konvergenz zu den Textaussagen und zugleich zu deren aufgefächerter Präsentation steht. Hierzu vgl. meinen Beitrag »Möglichkeitsräume. Gerhard E. Winklers interaktives Musiktheaterwerk ›Heptameron‹«, in: Neue Zeitschrift für Musik 171 (2010), H. 3, S. 54-57.
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kern und Publikum und zugleich ein ›Anspruch auf wirklichkeitsechte Kommunikation«10 gefordert. Kagel verwendete, um die Dimensionen des Ganzen anzudeuten, den Ausdruck ›Zimmertheater‹. Dieser signalisiert außer dem Bewusstsein für die künstlerischen Möglichkeiten in kleinen szenischen Formaten auch die Abkehr von Ausdrucksklischees der großen Operntradition sowie die Möglichkeit der integralen Verknüpfung der verschiedenen Ebenen des Musiktheaters, insbesondere jene von instrumentalen und vokalen Akteuren. Mit Blick auf die Durchdringung der performativen Ebenen sprach Kagel von einem »idealen Zustand […], wo alle Musiker wie Schauspieler und alle Schauspieler wie Musiker und Sänger eingesetzt werden.«11 Kagels Überlegungen laufen auf die Option einer konsequenten Vermischung aller bisher getrennten Ebenen des Musiktheaters hinaus. Entsprechendes gilt für den noch offeneren, weniger auf semantische Fokussierungen gerichteten Ansatz von John Cage, von dem Kagels Denken erkennbar beeinflusst ist. »Theater findet jederzeit statt, wo immer man ist«,12 lautet ein einschlägiger Satz von Cage über die Orientierung seines eigenen Theaterbegriffs an Alltagserfahrungen. Nicht wenige der heutigen Musiktheaterprojekte an Orten des Alltags gehen von Optionen aus, die in diesem Satz stecken, und setzen darauf, dass an alternativen Orten andere Erwartungshaltungen als in klassischen Opernhäusern herrschen. Zu den Komponisten, die in besonderem Maße an ungewöhnlichen, oft aus bestimmten Alltagssituationen vertrauten Orten Musiktheaterprojekte realisieren (übrigens oft als Aufträge von Staats- und Stadttheatern) und dabei gleichermaßen die Ansätze von Kagel wie Cage weiterdenken und doch auch die Option einer Weitung der Dimensionen einschließen, gehört Manos Tsangaris. Er verwendet zur Beschreibung seines eigenen Musiktheaters gern die Metapher des ›Zeltes‹, in der ein Übergang zwischen festen bzw. geschützten und offenen Raumsituationen anklingt. Und stärker als bei Kagel oder Cage wird der Aspekt der Räumlichen, der immer auch mit dem Wechselverhältnis zwischen Nähe und Ferne zu tun 10 | Zit. nach Kovacs: »Der Darmstädter Kongreß ›Neue Musik – Neue Szene‹«, a.a.O., S. 32. 11 | Zit. nach ebd., S. 31. 12 | John Cage: »45‹ für einen Sprecher« [1954], in: John Cage, Silence, übersetzt von Ernst Jandl, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S. 64-157, hier S. 121.
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hat, bei ihm zu einem integralen Moment. Dabei findet das Musiktheater von Tsangaris einerseits in öffentlichen Räumen statt, etwa in U-Bahnzügen und Aufzügen (in Orpheus, Zwischenspiele, 200213), auf einem Motorschiff (in Schwalbe, 2011) oder in Ladenlokalen einer Fußgängerzone (in Mauersegler, 2013), aber andererseits auch in ganz nahen, privaten Situationen, die dezidiert in deutlichem Kontrast zum Öffentlichen stehen. In vielen Stücken geht es um unterschiedliche räumliche Konstellationen, die vom Publikum zu durchwandern sind – oft erlebt man die Stücke in Kleingruppen. Um dieses Durchwandern als integralen Aspekt kenntlich zu machen, wird – auch vom Komponisten selbst – gern der Begriff ›Stationentheater‹ verwendet. Die Rezeptionsseite wird in ungewöhnlicher Weise fokussiert, was einige Wechsel der Betrachtungs-Richtungen einschließt und mit dem Begriff der ›Immersion‹ beschrieben werden kann. Zur Idee einer ›szenischen Anthropologie‹ bei Tsangaris gehört eine spielerische Haltung, doch auch eine systematische und forschende Seite. Die Werkstruktur ist in seinen Stücken zwar durchweg noch vorhanden, aber sie wird angereichert und flexibilisiert. Das Ganze zielt auf einen im Vergleich zu klassischen Opern erheblich aktiveren Modus der Erfahrung. Doch ist dieser immer wieder in spezifischer, bei Cage oder Kagel wohl undenkbarer Weise mit Weltbezügen ausgestattet, die auch vielerlei kritische Reflexionen einschließen.14 Die räumliche Disposition, die im Stationentheater von Tsangaris mit dem Modus des Durchwanderns von Räumen verknüpft ist, markiert innerhalb des Musiktheaters der letzten Jahrzehnte einen überaus wichtigen Aspekt und ist hier wie in manchen anderen Fällen kaum denkbar ohne gewisse Impulse aus dem Feld der Klanginstallationen. Doch gibt es natürlich auch Konzepte, die davon weithin unabhängig erscheinen. Dies etwa gilt für Nonos viel diskutiertes letztes Musiktheaterwerk Prometeo 13 | Schon der Untertitel zeigt die Vielfalt sowie die charakteristische räumliche Staffelung des Werkes an: »Stationentheater für Sopran, Mezzosopran, Altus, kleines Orchester, Buchstabenprojektion, 15 Darsteller, mindestens 50 Statisten, Fadenorgel, Aufzug, drei U-Bahnzüge und Licht«. 14 | Näheres dazu in meinem Beitrag »Erhellende Passagen. Zum Stationentheater von Manos Tsangaris«, in: Musik & Ästhetik (2009), H. 52, S. 48-60. Und zum Aspekt der wechselnden Formate bei Tsangaris vgl. Raoul Mörchen: »Groß und klein. Maßstab im Werk von Manos Tsangaris«, in: Jörn Peter Hiekel (Hg.): Zurück zur Gegenwart? Weltbezüge in Neuer Musik, Mainz: Schott 2015, S. 190-204.
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(1981-85), das freilich ebenfalls ohne Raum-Erfahrung kaum adäquat rezipierbar ist. Konsequenterweise war die Uraufführung von Prometeo in einem extra hierfür geschaffenen Bau von Renzo Piano angesiedelt, der aufs Engste mit dem ästhetischen Grundkonzept verbunden ist: mit der fragilen Klang- und Text-Präsentation, die auf die Faszinationskraft des Brüchigen und Fragmentarischen setzt und in eigentümlicher Dialektik Auflösung und zugleich Verdichtung erzeugt. Die höchst intensive, von vielen leisen Phasen geprägte Seite dieser Komposition dürfte in erheblichem Maße eine Ermutigung oder sogar ein Impuls für einige wichtige Konzepte von Komponistinnen und Komponisten der nachfolgenden Generation gewesen sein. Zu denken ist hier etwa an die Musiktheaterwerke Gramma (2004-06) und Atlas (2012/13) von José María Sánchez-Verdú, die konsequent auf Wechsel von Nähe und Ferne beim Erleben von Klängen, Texten, Bildern und Räumen setzen und dabei gezielt auch Momente der bewussten Verschleierung ausspielen.15 Aber zu denken ist ebenso auch an Mark Andres Komposition wunderzaichen (2008-2014), die in ebenfalls räumlich aufgefächerter Weise mit Resonanzen operiert und dabei die Präsenz von Klängen in vielfältiger Weise abschattiert. Das Spektrum in wunderzaichen reicht von unmissverständlicher Klarheit bis zum puren Hauchen, und in jedem Moment dieses Stückes teilt es sich mit, dass es um Fragen der Erfahrbarkeit auch des Nichtevidenten geht. Eine Klangraum-Erfahrung kommt in diesem Stück allerdings noch mehr dadurch zum Ausdruck, dass an verschiedensten Stellen Aufnahmen eingespielt werden, die an konkreten Orten entstanden und von Mark Andre als ›akustische Fotografien‹ oder auch ›Echographien‹ bezeichnet werden.16 Die Vielfalt spezifischer Raum-Konzepte im heutigen Musiktheater ist enorm. Dass dabei außer den Impulsen von Tsangaris oder Nono auch jene von Zimmermann zum Zuge kommen, wird durch einen Blick auf 15 | Die integrale Funktion des Raumaspekts in Atlas wird schon der Besetzung deutlich: »Oper für 5 Vokalsolisten, 12 Instrumentalisten, Auraphon, CD-Zuspielung, Live-Elektronik und 3 obligate Räume« heißt es da. Zu diesem Werk vgl. José-M. Sánchez-Verdú: »Kartographie und Utopie. Zu meinem Musiktheater Atlas – Inseln der Utopie«, in: Positionen, Heft 98 (Februar 2014), S. 15-17. 16 | Zu diesem Werk vgl. meinen Beitrag »Resonanzen des Nichtevidenten. Mark Andres Musiktheaterwerk ›wunderzaichen‹«, in: Musik-Konzepte, Bd. 167, hg. von Ulrich Tadday, München 2015, S. 15-39, sowie den Beitrag von Martin Zenck im vorliegenden Band.
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Sacrifice (2017) von Sarah Nemtsov deutlich.17 Ein wichtiger Faktor hierfür und sogar entscheidend für die pluralistische Seite dieses Werkes (die auch in der Verwendung von Rockmusik-Elementen und Videos zum Ausdruck kommt) ist jene Raum-Konstellation, in der das Stück zumindest bei der Uraufführung im Opernhaus Halle präsentiert wurde und die in Anlehnung an Michel Foucault ›Heterotopia‹ genannt wird. Diese im Probenprozess mit dem Regisseur gemeinsam entwickelte Idee bedeutet, dass das Publikum auf einer Drehbühne positioniert ist und selbst an vielen Stellen in Bewegung gerät. Es ist inmitten eines Strudels von höchst unterschiedlichen Ereignissen postiert und kann sich damit weit mehr als sonst in der Oper als Teil des Geschehens fühlen. Gedankliche, emotionale und körperliche Beweglichkeit und sich verändernde Wahrnehmung können, wie man hier erlebt, in enge Nähe zueinander gebracht werden. Das durch spezifische Orte und Raumauffächerungen unterstrichene Weltbezogene ist in manchen Stücken auch mit ganz anderen Elementen verknüpft, die freilich ebenfalls einen Wandel der Darstellungsmöglichkeiten und Formate erzeugen. Dies gilt etwa für jene Präsentationsformen, die an Vorträge, Reden oder Moderationen erinnern. Man mag innerhalb des neueren Musiktheaters hier zunächst an Stockhausens Helikopter-Quartett aus Donnerstag aus LICHT (1996) denken, wo die Rolle eines Moderators, der das Projekt erläutert, fest integriert und unentbehrlich ist.18 Doch dasselbe gilt, mit zum Teil ganz anderen Akzentuierungen, auch für die reflektierenden Moderationen in verschiedenen Arbeiten von Christoph Marthaler, Patrick Frank (etwa in seiner ›TheorieOper‹ mit dem Titel Freiheit – die eutopische Gesellschaft von 2015), Martin Schüttler oder Johannes Kreidler sowie in dem von Philippe Manoury und Nicolas Stemann entworfenen Musiktheaterstück Kein Licht (2017). Ver17 | In diesem schlicht ›Oper in vier Akten‹ bezeichneten Stück, in dem es um zwei Mädchen geht, die in den Nahen Osten reisen, um sich der Armee des so genannten ›IS‹ anzuschließen, wird die Unsicherheit darüber, ob ein Musiktheaterwerk dergleichen Themen überhaupt angemessen zur Anschauung bringen kann, mitreflektiert. 18 | Vgl. Minoru Shimizu: »Potentiale multimedialer Aufführung und ›szenische Musik‹ – einige Bemerkungen zum Helikopter-Streichquartett«, in: Imke Misch/ Christoph von Blumröder (Hg.): Internationales Stockhausen-Symposion 2000, Münster: LICHT, 2004, S. 61-73.
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gleichbares lässt sich für Simon Steen-Andersens Komposition it this then that and now what (2016) sagen, die der Komponist, um die Fülle von Formaten und Darstellungstraditionen anzudeuten, als »eine abendfüllende Vorstellung irgendwo zwischen Theater, Lecture-Performance, Konzert, Tanz, Lightshow«19 bezeichnet. Die Reflexion darüber, was das Stück sei, gehört zum Kern des Ganzen.
Instrumentalistinnen und Instrumentalisten als Akteure Die räumlichen Staffelungen und Perspektivenwechsel in vielen neueren Musiktheaterwerken hängen oft damit zusammen, dass bildliche oder performative Anteile zunehmend konzeptionell mitgedacht werden. Gerade die Aufhebung der in der Oper wie in Konzertmusik jahrhundertelang üblichen Trennung zwischen Instrumentalisten und Bühnenakteuren ist hierfür konstitutiv, dies in deutlicher Fortführung und Variierung von Kagels Idee des ›instrumentalen Theaters‹. Mit einer immer weiterwachsenden Selbstverständlichkeit wird von Ensembles für Gegenwartsmusik daher heute die Fähigkeit und Bereitschaft zu szenischem Agieren und zum Einsatz der eigenen Vokalstimme (sprechend, aber zum Teil sogar singend) geradezu gefordert. Kaum jemand kann heute noch – entsprechend dem Profil bzw. den gewerkschaftlich verbrieften Rechten und Pflichten eines Orchestermusikers – darauf beharren, ausschließlich durch das Bedienen eines einzelnen Instrumentes eingesetzt zu werden. Das aber eröffnet Perspektiven, die auch den Umgang mit älteren Werken einschließen können. Zu denken ist hier etwa an einzelne Produktionen von Sasha Waltz oder an Anna Teresa De Keersmaakers großartige, schon bei etlichen Festivals gezeigte Inszenierung von Gérard Griseys Komposition Vortex Temporum (2013), bei der das belgische Ictus Ensemble die vom Komponisten gesetzten ›Zeitstrudel‹ durch fast permanente Bewegungen im Raum und durch Dialoge mit Tänzerinnen und Tänzern zu ›Raumstrudeln‹ werden lassen. Impulse lieferten wiederum auch Stücke, die schon mehr als ein halbes Jahrhundert alt sind. Zu nennen sind hier etwa Zimmermanns ViolaKonzert Antiphonen (1966), wo die Instrumentalisten literarische Texte sprechen, oder jene offenen Werkkonzepte, die so angelegt sind, dass sie 19 | Simon Steen-Andersen, Programmheft der Münchener Musiktheater-Biennale 2016, o.S.
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einer Ausarbeitung bedürfen, um Interpreten am Prozess der Entstehung zu beteiligen. Ein geläufiges Beispiel für Letzteres ist Dieter Schnebels Komposition Glossolalie (1959/60), die im Jahre 1993/94 vom Ensemble Recherche neu eingerichtet wurde. Diese Einrichtung des jahrzehntelang in einen Dornröschenschlaf versunkenen Stücks zeigte, welche gestalterischen Potenziale aus der Bereitschaft eines ganzen Musikensembles zu szenischer Mitgestaltung resultieren können20 und welche kreativen Möglichkeiten der Verschleierung der Grenzen zwischen ›Original‹ und Bearbeitung es geben kann. Ein wichtiges Referenzbeispiel für Partizipation von Musikerinnen und Musikern, das zudem noch weitere Einsichten nahelegt, ist das im Jahre 1996 in enger Zusammenarbeit mit dem Ensemble Modern entstandene Musiktheaterstück Schwarz auf Weiß von Heiner Goebbels. Zum Grundkonzept der Verschränkung von Konzert und szenischer Darstellung hat der Komponist selbst hervorgehoben, wie wichtig es ihm war, dass die Musiker des Ensemble Modern »andere szenische Fähigkeiten jenseits ihrer musikalischen Virtuosität entdecken: sie schreiben, singen, ordnen Gegenstände, spielen Badminton und anderes, werfen mit Tennisbällen auf Bleche und Trommeln.«21 Wenn es mittlerweile in der Freien Szene geradezu eine Selbstverständlichkeit geworden ist, dass Instrumentalistinnen und Instrumentalisten auch mit ihren Bewegungen sowie mit vokalen Aktionen einbezogen werden, so kann man immerhin konstatieren, dass dies vereinzelt sogar auch für Produktionen der großen Stadt- oder Staatstheaterbühnen gilt. Zu den Werken, die diese Potenziale in integraler Weise nutzen, gehört Isabel Mundrys Komposition Ein Atemzug – die Odyssee (2003/05), die in enger Kooperation mit der Choreografin Reinhild Hoffmann entstand. Aus dieser Kooperation resultierte ein Musterbeispiel dafür, wie durch ein Miteinander der musikalischen und der choreografischen Ebene Erfahrungsmöglichkeiten entstehen, die durch die Beschränkung auf eine Ebene kaum denkbar wären und in spezifischer Weise die Wahrnehmung zum Thema machen. Wichtig für die Gesamtkonzeption ist zunächst, 20 | Näheres hierzu in: Simone Heilgendorff: Experimentelle Inszenierung von Sprache und Musik. Vergleichende Analysen zu Dieter Schnebel und John Cage, Freiburg i.Br.: Rombach 2002. 21 | Heiner Goebbels: »Ästhetik der Abwesenheit. Wie alles angefangen hat«, in: ders.: Ästhetik der Abwesenheit a.a.O., S. 11-21, hier S. 14.
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dass der strikte Verzicht auf ein durch Texte geprägtes lineares Erzählen (aus Homers Odyssee wird kein einziger Satz zitiert) mit einer nachdrücklichen Aufwertung anderer Darstellungsebenen einhergeht. Gerade hierfür stehen neben der Bedeutung der choreografischen Dimension – und mit dieser unmittelbar verknüpft – die besonderen Aufgaben, die einigen Instrumentalisten übertragen werden: als im Raum agierende, handlungstragende Personen. Was, so kann gefragt werden, ist mit solcherart Verknüpfungen gewonnen? Durch sie wird das Bewusstsein dafür geschärft, was alles in der Musik passiert – und wie diese zugleich in ein performatives Gesamtgefüge eingebettet ist, das in jedem Moment auch das Erleben bzw. Aufspüren der Texte und der Bewegungen einschließt.22 Konsequent aufgegriffen und sogar noch zugespitzt wird diese Idee der Integration von Instrumentalisten in das Gesamtgeschehen – die zuvor auch schon in Stockhausens Donnerstag aus LICHT (1978-80) realisiert worden war23 – in La Ciudad de las mentiras (2011-14) von Elena Mendoza. Dieses Stück ist in enger Zusammenarbeit mit dem Textautor Matthias Rebstock entstanden und in mancher Hinsicht eine Fortsetzung des zehn Jahre vorher gemeinsam entwickelten Musiktheaterwerks Niebla. Denn auch das auf Texten des Dichters Juan Carlos Onetti basierende neuere Stück sucht Inhalte und Geschichten so zu erzählen und zu beglaubigen, dass dabei die Ausdrucks- und Erzähl-Gewohnheiten der guten, alten Oper überwunden oder zumindest erweitert werden – zugunsten eines ebenso dichten wie offenen Gefüges von Ambivalenzen, Anspielungen und Sinnverdichtungen. Es geht dem Autorenteam erkennbar um das Ausfalten oder zumindest Andeuten von ungewöhnlichen oder sogar skurrilen Charakteren und Situationen. Eine existenzielle Grundierung ist dabei unübersehbar und gegenseitiges Missverstehen ein Leitmotiv. Doch auf kunstvolle Weise kommt – gleichermaßen auf musikalischer, textlicher wie inszenatorischer Seite – zugleich eine Sprunghaftigkeit des Erzählens zum Zuge und erweist sich als höchst vitalisierend. Und gerade diese Sprunghaftigkeit, die auch ironische Kontrapunkte zur existen22 | Näheres hierzu in meinem Beitrag »Ein Theater der Suchbewegungen. Zum Musiktheaterwerk ›Ein Atemzug – die Odyssee‹«, in: Isabel Mundry, hg. von Ulrich Tadday, München 2011 (Musik-Konzepte, Sonderband), S. 19-36. Und vgl. auch Martin Zencks Beitrag im vorliegenden Band. 23 | Im Michaels Reise um die Erde genannten zweiten Akt spielt ein Trompeter die Hauptrolle des Michael.
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ziellen Dimension beisteuert, ist nun erheblich durch die weitgehende Aufhebung der gewohnten Trennung zwischen vokaler und instrumentaler Ebene bedingt. Gleich sechs Instrumentalisten werden in der Partitur als ›Menschen von Santa María‹ ausgewiesen und sind als Träger der Handlung fast ständig im Einsatz: ihr jeweiliges Instrument spielend, aber auch singend und sprechend. Und drei weitere übernehmen mit bemerkenswerter Selbstverständlichkeit sogar Hauptpartien. Die Vielfalt der klanglichen wie gestischen Differenzierungen gründet darauf, dass sie alle nicht nur virtuos ihre Instrumente bedienen und ihnen jeweils auch ungewöhnliche Farben zu entlocken vermögen, sondern dass auch sie zugleich vokal agieren. Gerade die enorm ausgefeilte absurde Seite des Ganzen profitiert davon: etwa bei einem Liebesduett am vierhändig gespielten Akkordeon, bei Schlagwerkaktionen mit Küchenutensilien oder bei Kneipen-Brettspielen mit markanten rhythmischen Akzentuierungen. Insgesamt vermögen die Verknüpfungen zwischen den Ebenen des Musiktheaters das zu intensivieren und zu beglaubigen, was die Komponistin in einem Kommentar zur Erzählweise Onettis sinnfällig »Polyphonie von Charakteren, Plätzen und Situationen« nennt.24 Zum surrealen Gesamteindruck trägt dabei auch das Changieren zwischen manchmal grotesken oder komischen Momenten einerseits und bedrohlichen und düster-existentiellen andererseits bei. Für letzteres ist die Tatsache wesentlich, dass in diesem Werk punktuell auch herkömmlich Opernhaftes zum Zuge kommt und damit eine emotionale Fallhöhe kenntlich wird. Eine wesentliche Differenz zum Musiktheater-Erstling Niebla besteht dabei darin, dass durch die Weitung der Mittel und Akzente eine Dialogsituation zwischen den Usancen des neueren, nichtlinearen Musiktheaters sowie der Tradition der klassischen Oper zur Entfaltung gelangt. Der im Opernbetrieb allgegenwärtige Gestus wird nicht schlicht ausgeblendet und ignoriert, sondern mit ihm wird produktiv umgegangen.
Neue Arbeitsbündnisse und Verknüpfungen Einen wesentlichen Impuls für die erhebliche Weitung der performativen Möglichkeiten erhielt das Musiktheater der Gegenwart durch jene zunächst im Bereich des Sprechtheaters entwickelten Projekte der letzten 24 | Kommentar von E. Mendoza im Programmheft der Uraufführung, Teatro Real in Madrid, Februar 2017.
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Jahrzehnte, die ihrerseits zugleich auf eine Vielstimmigkeit und eine Enthierarchisierung der verschiedenen Dimensionen von Theater zielten. Zu denken ist hier zunächst an jene weit gefächerte Tendenz, die mit dem Begriff des ›Postdramatischen‹ umschrieben werden kann – und auch für die zuletzt genannten Beispiele geltend zu machen ist. Der Begriff des Postdramatischen ist bekanntlich im Rahmen der Theaterwissenschaft schon seit Jahrzehnten in Umlauf (erstmals hat ihn wohl Andrzej Wirth ins Spiel gebracht, geläufig wurde er aber vor allem durch die Schriften von HansThies Lehmann25). Mittlerweile hat er längst auch im Musiktheaterbereich Verwendung gefunden – wobei in der Musiktheaterwissenschaft noch nicht hinreichend oder gar systematisch erörtert wurde, welche Mischformen von dramatischen und postdramatischen Ansätzen es geben kann. Vergleichsweise präsent – und zur Präzisierung wichtiger Teilaspekte gewiss tauglich – ist seit ein paar Jahren jener Begriff ›Komponiertes Theater‹ bzw. ›Composed Theatre‹ (meist eher in dieser englischen Version verwendet), der schon durch das Wort ›Komponiert‹ einen expliziten Musikbezug sichtbar macht. Wichtig ist dabei allerdings auch die Tendenz zur Abkehr von einer zu großen Prädominanz der musikalischen Seite. Diese kann als »prinzipielle Gleichberechtigung der Elemente Text, Musik, Aktion, Bild und deren musikalisch-kompositorische Organisation«26 beschrieben werden. Wird aus dieser prinzipiellen eine tatsächliche Gleichberechtigung, dann ist damit eine erhebliche Umwertung bezeichnet. Diese Umwertung, die einstweilen leichter bei Festivals als bei klassischen Opernhäusern realisierbar erscheint,27 ist sinnfällig charakterisierbar als Auflösung der – für die Oper typischen – gestaffelten Produktionsform […]. Favorisiert werden Stückentwicklungen und kollaborative Produktionsstrukturen, in denen aus den verschiedenen Richtungen (Musik, Text, Szene) direkt für das
25 | Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, Frankfurt a.M. 1999. 26 | M. Rebstock, D. Roesner: »Composed Theatre. Zur Konzeption des Begriffs«, in: Positionen 104 (August 2015), S. 2-4, hier S. 2. Vgl. auch dies. (Hgg.): Composed Theatre. Aesthetics, Practices, Processes, Bristol: intellect 2012. 27 | Die Münchener Biennale für Neues Musiktheater steht dafür exemplarisch. Immerhin aber trägt sie durch Kooperationen mit Stadt- oder Staatstheatern einige seiner Impulse auch auf diese Ebene.
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Aufführungsereignis gearbeitet wird. Damit verbunden sind dann neue Werk- und Autorschaftskonzepte. 28
Die Breite des mit diesen Worten Beschriebenen und zugleich das Gemeinsame vieler als ›Composed Theatre‹ zu fassender Ansätze29 sind anhand zweier Kernaspekte zu verdeutlichen: Erstens ist gerade hier die Suche nach Alternativen zur Institution Oper mitsamt ihren stark ausgeprägten Hierarchien und Praktiken zu nennen. Es geht dabei namentlich um eine Alternative zur gängigen Praxis, der zufolge Komponistinnen und Komponisten eine fertiggestellte Partitur (mit mehr oder weniger großen Einspruchsmöglichkeiten) in die Hände von Regisseurinnen und Regisseuren sowie Bühnenbilderinnen und Bühnenbildner geben. Paradigmatisch für Alternativen hierzu erscheinen verschiedenste Arbeiten etwa von Kagel, Tsangaris, Goebbels oder Marthaler, wo niemand auf die Idee käme, Komposition, Text, Ausführung und Inszenierung auseinanderzudividieren.30 Doch auch die von Isabel Mundry gemeinsam mit Reinhild Hoffmann, von Elena Mendoza gemeinsam mit Matthias Rebstock bzw. von Philippe Manoury mit Nicolas Stemann geschaffenen Stücke deuten auf diese Grundrichtung. Und dasselbe gilt für einige jener Ansätze innerhalb des neuen Musiktheaters, die auf die Historie reagieren – so namentlich das Musiktheaterwerk Aschemond oder The Fairy Queen (2013), bei dem Helmut Oehring und Claus Guth Henri Purcells berühmte, aber kaum je adäquat umgesetzte Semi-Oper The Fairy Queen (1692) in produktiver Weise mit neuen Klängen und Texten konfrontieren und jenes Spannungsverhältnis zwischen Fremdheit und Vertrautheit kreieren, das auch im Motto ›OmU‹ anklingt.31 Alle diese Projekte (und es ließen sich auch hier noch zahlreiche weitere nennen) stehen für jene produktiven neuen Wege, auf denen sich das heutige Musiktheater im Widerspruch zur jahrhundertelang gängigen Praxis und doch zum Teil 28 | Rebstock/Roesner, Composed Theatre, a.a.O. 29 | Im Buch von Rebstock und Roesner (Composed Theatre. Aesthetics, Practices, Processes, a.a.O.) ist besonders von Aperghis, Tsangaris, Ott und Ruedi Häusermann die Rede, aber wird zugleich sichtbar, dass auch viele andere Ansätze zu ihm passen. 30 | Zu Marthaler vgl. den Beitrag von David Roesner im vorliegenden Band. 31 | Ähnliches kann natürlich auch für Chaya Czernowins Zaïde–Adama (2006) gesagt werden, an dessen Entstehung ebenfalls Claus Guth beteiligt war, vgl. den Beitrag von Regine Elzenheimer im vorliegenden Band.
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sogar in Zusammenarbeit mit klassischen Bühnen entfaltet. Charakteristisch ist es jeweils, dass zwischen der Art des Zusammenwirkens und entscheidenden ästhetisch-konzeptionellen Akzenten einschließlich des Umgangs mit der literarischen oder inhaltlichen Seite große Evidenzen aufscheinen, bei denen man an Theodor W. Adornos berühmtes Wort von der ›Mimesis am Gegenstand‹ denken kann.32 Zweitens kann die ästhetische Dimension mit einer im weiteren Sinne als politisch zu bezeichnenden Haltung einhergehen. Entstanden in einer Zeit, in der das Musiktheater insgesamt noch stärker als heute von einem traditionellen Rollenverständnis ausging, wurde etwa das Konzept von Schwarz auf Weiß von Heiner Goebbels als eine Art subversiver Akt verstanden: Das war zugleich auch ein Statement gegen eine oft auf vielen Ebenen hierarchische Kunstform: in der Organisation wie im Arbeitsprozess, im Einsatz der theatralen Mittel, in den künstlerischen Ergebnissen und nicht zuletzt im totalitären Charakter ihrer Ästhetik und Beziehung zum Publikum. 33
Die entdeckerische und emanzipatorische Seite bezeichnet eine Versuchsanordnung, die in dieser Zuspitzung kaum wiederholbar ist. Und doch ist der improvisatorische, spielerische Gestus, der daraus spricht, noch Jahrzehnte später – das Stück wird bis heute regelmäßig gespielt – vernehmbar, so genau festgelegt die (nach der Premiere erstellte) Partitur auch ist. Was sich dabei besonders nachdrücklich vermittelt, ist ein Sinn fürs Beiläufige, Kontingente, aber zugleich – und das zeigt den Unterschied zu zahlreichen anderen, weniger auf semantische Sinnfälligkeiten achtenden Konzepten – für jene Ars Combinatoria, die für Goebbels typisch ist.34 In seinem Essay Jean-Luc Godard als Komponist sprach er von einer »scheinbare[n] Zusammenhanglosigkeit«, die unauflöslich mit 32 | Dies ist in einigen anderen Projekten, wie etwa der explizit ›Choreografische Oper‹ genannten Tanztheaterdarbietung, die Sasha Waltz im Zusammenhang mit Toshio Hosokawas Musiktheaterwerk Matsukaze (2010/11) schuf, weniger der Fall. 33 | Heiner Goebbels: »›Ich wollte doch nur eine Erzählung machen‹. Jean-Luc Godard als Komponist«, in: Ästhetik der Abwesenheit, a.a.O., S. 90-95, hier S. 91. 34 | Näheres zu diesem Stück in meinem Beitrag »Mehrdimensionale Echoräume. Weltbezüge in den Musiktheaterwerken Schwarz auf Weiß und Eislermaterial von
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dem Eindruck verbunden ist, »als hänge alles so wundersam zusammen«35 – und es ist unschwer möglich, diese Beschreibung auf sein eigenes Arbeiten zu beziehen. Man wird auf eine kulturelle Praxis verwiesen, die akzeptiert oder sogar ausdrücklich intendiert, dass es jenseits der Idee fein gezirkelter Meisterwerke, die ausschließlich Elemente der Hochkultur akzeptiert, auch offenere Musiktheaterformen geben kann. Für diese kann es ein Charakteristikum sein, dass sie an den Rändern gleichsam zu zerfransen scheinen, indem sie Alltägliches zulassen – die Integration eines Teekessels ist in Schwarz auf Weiß hierfür einer der deutlichsten Momente. Dabei verraten die Montagetechniken dieses Stückes jene Selbstverständlichkeit im Umgang auch mit Elementen der Popmusik, die Goebbels wiederum bei Godard hervorhob.36 Auch diese Dimension deutet auf einen Teilaspekt, der noch im letzten Jahrhundert im Bereich des Musiktheaters weithin unüblich war. Offenheit und Kontingenz können im Musiktheater der Gegenwart noch erheblich weiter gehen als in diesem Beispiel – bis dahin, dass ein aus Improvisationen entwickeltes Resultat als etwas dezidiert Anlassgebundenes erscheint und eine finale Fixierung einer Werkgestalt nicht sinnvoll oder nur in sehr allgemeiner Weise machbar erscheint.37 Was aber weithin eine Konstante bleibt, ist die Tendenz, bei der Kreation und Produktion von Stücken gerade sehr unterschiedliche Persönlichkeiten mit ihren jeweiligen Fähigkeiten zusammenzubringen.38 Hier kristallisiert sich eine Form von Offenheit heraus, die immer auch die Gesamtaussage wesentlich prägt. Dies etwa gilt für die beiden Musiktheaterwerke Arbeit Nahrung Wohnung (2007/08) und IQ (2011/12), die Enno Poppe in enger ZusammenHeiner Goebbels«, in: Heiner Goebbels, hg. von Ulrich Tadday, München 2018 (Musik-Konzepte, Bd. 179), S. 5-22. 35 | Heiner Goebbels, »›Ich wollte doch nur eine Erzählung machen‹«, a.a.O., S. 91. 36 | Vgl. ebd., S. 93. 37 | Ein Beispiel hierfür ist die installative Gemeinschaftsproduktion The Navidson Records, in die das durch die Räume wandernde Publikum unmittelbar integriert ist. Gezeigt wurde diese bei der Münchener Biennale 2016. 38 | Auch im Schaffen von Goebbels ist dies häufiger anzutreffen. Und dabei lässt sich dies zumindest punktuell auch auf jene Stücke übertragen, die der Komponist in seiner Zeit als Direktor der Ruhr-Triennale herausbrachte.
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arbeit mit dem Dichter Marcel Beyer realisierte. Die Distanz beider Stücke gegenüber dem im heutigen Musiktheaterbetrieb weithin Geläufigen wird schon bei den Untertiteln der beiden Werke sichtbar, die ›Bühnenmusik für 14 Herren‹ sowie ›Testbatterie in 8 Akten‹39 lauten. Wichtig sind dabei zumindest drei Aspekte: Erstens ist jeweils das Bewusstsein dafür zu spüren, dass das Singen in einem Musiktheaterwerk keineswegs als unhinterfragte Selbstverständlichkeit aufzufassen ist, sondern bei jeder vokalen Äußerung gut genug zu erwägen ist, ob diese eher gesungen oder gesprochen oder aber in einer Zwischenform zwischen beidem artikuliert wird. Hier ist der Einfluss jener Ausprägungen des neueren Theaters – namentlich etwa von Christoph Schlingensief und vor allem Christoph Marthaler – spürbar, die sich kunstvoll und mit immer wieder wechselnden Schwerpunkten (und mit manchen ironischen Tönungen) im Zwischenbereich von Opern-, Schauspiel- und Performance-Tradition bewegen, alle Grenzen lustvoll überspringend.40 Und dabei kommt zum Tragen, dass bei beiden Stücken in einer engen, mustergültig transdisziplinären Zusammenarbeit auch die Bühnenbildnerin Anna Viebrock mitwirkte. Zweitens gehören auch diese Werke zu jenen markanten Konzepten des neueren Musiktheaters, für die das gemeinsame Agieren von Vokalsolistinnen und Vokalsolisten und Instrumentalistinnen und Instrumentalisten auf der Bühne von integraler Bedeutung ist. Jeweils ruft die Vermischung der Rollenprofile (Sängerinnen und Sänger agieren punktuell auch als Instrumentalistinnen und Instrumentalisten, sprechen und singen auch) einige für die Handlung essentielle Wirkungen und Aussagen sowie auch ungewöhnliche Akzentuierungen auf klanglicher Seite hervor. Drittens wird an Punkten wie diesen deutlich, dass gerade der Aspekt des Instabilen, der in beiden Werken auf fast allen Ebenen feststellbarer inhaltlicher Kernaspekt ist, auch auf Seiten der Faktur zum Tragen kommt, jeweils durch ein erhebliches Maß an unkonventioneller Offenheit.41 39 | Dieser im Programmheft der Uraufführung verwendete eigenwillige Untertitel ist in der gedruckten Partitur des Werkes (Ricordi Verlag Sy. 3994/00) allerdings durch den geläufigeren Begriff ›Musiktheater‹ ersetzt. 40 | Im Gespräch mit dem Verf. am 26. Okt. 2016 hat Poppe sein Interesse vor allem für Marthalers Theaterprojekte deutlich bestätigt. 41 | Vgl. hierzu im Detail meinen Beitrag »Beschränkung und Entfaltung. Zu den Musiktheaterwerken Arbeit Nahrung Wohnung und IQ von Enno Poppe und Mar-
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Das zuletzt Gesagte trifft auch für jenes schon kurz erwähnte Musiktheaterprojekt Kein Licht (2011/2012/2017) zu, das in enger Kooperation von Philippe Manoury und Nicolas Stemann entstand und den Untertitel ›Ein Thinkspiel‹ trägt. Es bezieht sich zwar auf das gleichnamige Theaterstück von Elfriede Jelinek, doch der bewusste Weg in den Zwischenraum zwischen verschiedenen theatralen Traditionen wurde nicht zuletzt dadurch wesentlich geprägt, dass die Autorin im Laufe des Entstehungsprozesses noch weitere Texte beisteuerte42 und damit zu einer weiteren wichtigen Mitstreiterin in diesem Projekt wurde. Dessen besondere Wirkung resultiert aus der Vielfalt der Ebenen. Zentripetale, auf den Kern einer intensiven Musikerfahrung gerichtete Kräfte einerseits – bedingt u.a. durch atemberaubend virtuose Passagen elektronischer Musik sowie durch opernhaften Gesang und Instrumentalspiel – und zentrifugale Kräfte andererseits, die von jeder herkömmlichen Oper denkbar weit wegführen, werden in ein markantes Spannungsverhältnis gebracht. Das Ganze ist über weite Strecken ein absurdes Theaterstück, aber zugleich eine Video-Installation. Und zudem tritt auch der Komponist selbst als Moderator in Erscheinung, um damit einen Teil jener Denkanstöße selbst zu geben, die der Untertitel (der ja keineswegs nur auf eine ironische Dimension deutet) wohl erwarten lässt. Manoury selbst schrieb in einem begleitenden Essay zur Konvergenz von Form, Erzählhaltung und Inhalt des Stückes Folgendes (und lieferte damit nebenbei auch eine schöne Erklärung für die verbreitete Lust an der Herausbildung neuer Untertitel im heutigen Musiktheater): Wie soll man in Zeiten des Internets eine Geschichte erzählen, deren Daten, Wirklichkeiten (und Pseudo-Wirklichkeiten) in um sich greifenden Überlagerungen und unter akkumulierten Schichten die ›echte‹ Wirklichkeit begraben? Jelineks Text erfordert diese Kluft. Was könnte nun am besten die Form charakterisieren, die ich eher aus spielerischem Geist als aus theoretischem Ehrgeiz heraus ›Thinkspiel‹ genannt habe? Die Zeit des Theaters ist eine freie Zeit. Die in der Musik ist gemessen, eingeschränkt. Wir versuchen hier eine gegenseitige Durchdringung. Wir möchten nicht ›eine Insze-
cel Beyer«, in: Enno Poppe (Musik-Konzepte, Bd. 172/173), hg. von Ulrich Tadday, München 2017, S. 73-96. 42 | Diese tragen die Titel ›Epilog?‹ (2012) und ›Der Einzige, sein Eigentum (Hello darkness, my old friend)‹ (2017).
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nierung auf die Musik legen‹, sondern eine organische Form bauen, die aus der Konfrontation der Gewalten des Theaters und der Musik das Licht erblickt. 43
Besonders zwei ins Grundsätzliche reichende Fragen stellen sich bei Projekten wie diesen, die wohl mit der Idee des Transdisziplinären beschrieben werden können, immer wieder von Neuem: Reicht in ihnen die offenkundig vorhandene Aufwertung von anderen musiktheatralen Ebenen so weit, dass diese dem Klanglichen tatsächlich gleichrangig sind und die zitierte Idee der geteilten Autorschaft in radikaler Weise umgesetzt wird? Und inwieweit folgen diese Stücke der klassischen Werk-Idee bzw. einer von dieser bewusst abweichenden Tendenz der ›Entwerkung‹?44 Mit Blick auf beide Fragen wäre es möglich, noch verschiedenste andere Ansätze zu finden, die sie aufwerfen. Doch so unterschiedlich die Antworten jeweils ausfallen mögen, so deutlich ist doch zu betonen, dass hier im gegenwärtigen Musiktheater-Diskurs ein kritischer Punkt mancher Beurteilungen liegt (von den journalistischen Reaktionen auf das heutige Musiktheater wird daher noch die Rede sein).
Emphatische Neuansätze Für die Tendenz mancher Stücke, mit einer ganz neuen Selbstverständlichkeit neben der Musik auch die anderen Ebenen des (Musik-)Theaters zum Zuge kommen zu lassen, um damit gegebenenfalls auch den Werkcharakter in Frage zu stellen, gibt es innerhalb der Musik des 20./21. Jahrhunderts eine stattliche Reihe von Impulsgebern. Zu ihnen zählen neben unterschiedlichsten Komponisten45 auch etwa Theatermacher wie Christoph Marthaler, Christoph Schlingensief oder René Pollesch sowie Autorenkollektive wie Rimini Protokoll oder She She Pop. Immer wieder und mit wechselnden künstlerischen Versuchsanordnungen geht es um die schon herausgestellte Idee, auch die visuelle und/oder die performati43 | Philippe Manoury: »Operation in Echtzeit. Einige Gedanken über das Thinkspiel als eine neue Form des Musiktheaters«, in: Programmheft Kein Licht, Uraufführung bei der Ruhr-Triennale am 25. August 2017 in Duisburg, o.S. 44 | Vgl. den Beitrag von Dieter Mersch im vorliegenden Band. 45 | So etwa (größtenteils bereits erwähnte) Persönlichkeiten wie John Cage, Dieter Schnebel, Nicolaus A. Huber, Mauricio Kagel, Heiner Goebbels, Frederic Rzewski, Georges Aperghis, Manos Tsangaris oder Daniel Ott.
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ve Ebene als integrale Elemente einer Komposition anzusehen, also nicht bloß als deren Ergänzung, und dabei zu wechselnden Gewichtungen dieser Elemente zu gelangen. Das heißt in manchen Fällen sogar, dass die musikalische Seite erst im Laufe der gemeinsamen Probenarbeit fixiert wird. Anhand von manchen Arbeiten der Generation der zwischen 1975 und 1985 Geborenen lässt sich nun aber beobachten, dass der Einbezug nichtmusikalischer Elemente, der früher ein – zuweilen ironisch grundierter – Ausnahmezustand war, mittlerweile zum Teil sogar ein unhintergehbarer Ausgangspunkt werden konnte. Die Verbindungen zwischen Musik, Text, Bild und Handlung sind heute in vielen Fällen so vielfältig, dass die alten Hierarchien noch viel weiter ins Wanken geraten oder sogar ganz suspendiert wurden. Zuweilen kommt auch die noch vergleichsweise junge Tradition der ›Entwerkung‹ zum Zuge, die freilich kaum für das Musiktheater insgesamt geltend zu machen ist (fast alle bislang genannten Stücke sind durchaus auch als ›Werke‹ zu fassen). Um die bei diesen Absetzbewegungen oft zu bemerkende Emphase zu illustrieren, sei ein Statement des US-amerikanischen Komponisten Travis Just zitiert, das zunächst an die von Goebbels mit Blick auf Godard reklamierte ›Zusammenhanglosigkeit‹ denken lässt, aber zudem noch weitere Aspekte ins Spiel bringt, die durchweg mit der nicht-hierarchischen Arbeitsweise zusammenhängen: Ich bin nicht an der alten Rolle des Komponisten als oberster Synthetisierer von Ideen und Konzepten interessiert, die dann auf ein Publikum warten, um ausgepackt, verstanden und gewürdigt zu werden. Ebenso wenig ergründe ich meine psychologisch-emotionale Beziehung zum Klang oder trachte danach, einer verzückten Zuhörerschaft Zustände metaphysischer, erlebbarer Schönheit zu liefern. Und ich bin auch nicht daran interessiert, am Erwartungshorizont eines klassischen Musikpublikums zu feilen. 46
Typisch für Travis Just ist eine Form des Musiktheaters, die bewusst auf allzu deutliche inhaltliche Zentrierungen und Entwicklungen verzichtet. Ein Beispiel ist die Komposition Innova (2011), die er u.a. gemeinsam mit der Dichterin Kara Feely entworfen hat. Um das Kollaborative deutlich 46 | Travis Just: »Das Medium ist nicht die Botschaft«, in: MusikTexte 149 (Mai 2016), S. 7f., hier, S. 8. Und vgl. ders.: »After opera«, in: Arcana II, hg. von John Zorn, New York 2014, S. 105-116.
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sichtbar zu machen, agieren beide gemeinsam mit weiteren Mitstreitern unter dem Gruppennamen ›Object collection‹. Der Grundgestus des als ›Experimental Opera‹ bezeichneten Stückes, das auch auf Video-Sequenzen zurückgreift, hat etwas gänzlich Unklassisches, Anarchisches. Es erinnert in der Klanglichkeit an Free Jazz oder bestimmte Spielarten von Rockmusik und in der Art der Präsentation an einige Stücke von René Pollesch. Tatsächlich beruft sich Travis Just gerade auf Pollesch wie auf Jean-Luc Godard. Ausdrücklich als Referenz hervorgehoben wird von ihm ein Satz von Godard: »Es geht nicht darum, politische Filme zu machen, sondern das Ziel ist es, Filme in einer politischen Art zu machen.«47 Im Hintergrund dieser Sicht auf das Politische steht im Falle von ›Object collection‹ eine Auffassung von Kontingenz und Offenheit im Zusammenwirken der Beteiligten wie auch in der Verklammerung der Elemente. Diese lässt in ihrer spezifischen Sicht des Politischen bzw. Weltbezogenen außer an Heiner Goebbels und Manos Tsangaris noch an weitere europäische Gegenwartskomponisten – wie etwa Mathias Spahlinger48 – denken, aber in ihrer tatsächlichen Art der Integration des Beiläufigen wohl vor allem an John Cage. Noch dezidierter und pointierter allerdings – und mit deutlicher Distanz zu den bei Cage wichtigen spirituell grundierten Kunstauffassungen – wird dabei das Nichtfokussierte, Nichtperfekte ausgespielt. Eine Tendenz zur Rebellion gegenüber dem Kunstwerk-Charakter weiter Teile des Musiktheaters ist unübersehbar. Dementsprechend schreibt Kara Feely: Spieler sollten verlernen, wie man spielt. Insbesondere Schauspielern wird beigebracht, auf der Bühne in bestimmter Weise zu sprechen, wie es innerhalb des Theaterkontexts üblich ist – laut, klar, selbstsicher, effizient. Aber wäre es nicht interessant, wenn ein Spieler gerade nicht überzeugend ist? Oder konsequent auf eine inkonsequente Weise spielen würde?49 47 | Jean-Luc Godard: »What is to be done«, in: London (April 1970), o.S., zit.n. Travis Just, »Das Medium ist nicht die Botschaft«, a.a.O., S. 7. 48 | Vgl. hierzu Tobias Schick: »Aufbau und Zersetzung von Ordnungen. Zu einem zentralen Aspekt im Schaffen Mathias Spahlingers«, in: Mathias Spahlinger (= Musik-Konzepte, Bd. 155), hg. von Ulrich Tadday, München, 2012, S. 31–46. 49 | Kara Feely: »Vier Worte«, in: MusikTexte 149 (Mai 2016), S. 5f., hier S. 6. Diese Tendenz, auch das Nichtperfekte zum Zuge kommen zu lassen, ist auch etwa in Schwarz auf Weiß von Heiner Goebbels bereits angelegt.
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Trevis Just und ›Object collection‹ stehen beispielhaft dafür, dass in vielen neueren Arbeiten kollektive Arbeitsweisen aufgegriffen, zum Grundprinzip erhoben und teilweise radikalisiert werden, die es innerhalb der Neuen Musik früher eher punktuell gegeben hat und die oft auch eher so durchgeführt wurden, dass die Rolle der Komponisten die entscheidende blieb.50 Das Zusammenspiel zwischen musikalischen und Video- bzw. FilmElementen, das schon in einzelnen weitaus früheren Werken des Musiktheaters darauf zielte, die Erzählebenen zu weiten und anzureichern (man denke an die Werke Les trois souhaites von Bohuslav Martinů oder Christophe Colomb von Darius Milhaud von 1929/30), hat im jüngeren und jüngsten Musiktheater eine neue Aktualität gewonnen und ist für manche Komponistinnen und Komponisten mittlerweile ebenfalls etwas geradezu Selbstverständliches geworden. Film- bzw. Video-Sequenzen, die schon vor mehr als 20 Jahren oft (und zum Teil in durchaus verzichtbarer Weise) in Operninszenierungen zum Einsatz gebracht wurden, sind dabei das, was sie zuvor auch bei Zimmermanns Soldaten waren: nicht bloß Zusatz, sondern integrale Elemente. Gleiches gilt, wenn auch im Verbund mit einer ganz anderen Musiksprache, für die von Steve Reich und Beryl Korot gemeinsam geschaffene multimedia opera The Cave (1993). Charakteristisch für deren Konzeption ist es, dass die Text-Präsentation wie die ihr eng zugeordnete klangliche Seite eigentlich erst beim Erleben auch der Video-Sequenzen voll zur Geltung gelangen. Hinzu kommt, dass auch die Präsenz der verschiedenen Screens, auf denen die Videopräsentationen zu sehen sind, einer Rhythmisierung unterworfen, also musikalisiert ist. Abweichend von dieser Idee eines integralen Musiktheaterwerks werden in heutigen kollaborativen Projekten allerdings oft Verknüpfungen favorisiert, die sich von bloßen Konvergenzen erheblich entfernen und den klassischen Werkcharakter zumindest in Frage stellen. Dies gilt etwa für die in gemeinsamer Autorschaft entstandenen Arbeiten des Komponisten Hannes Seidl mit dem Filmemacher Daniel Kötter. Diese zielen mit sehr unterschiedlichen Strategien darauf, gerade das Zusammenspiel von Musik und Video zu erkunden und produktiv zu machen. Ein Beispiel hier50 | Zu den Beispielen gehört Stockhausens meist im Kontext der Fluxus-Bewegung rezipierte, gemeinsam mit Mary Bauermeister konzipierte Komposition Originale. Vgl. hierzu den Beitrag von Dieter Mersch.
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für ist die Trilogie Ökonomien des Handelns, die sich aus den Teilen Kredit (2013), Recht (2015) und Liebe (2015-16) zusammensetzt. Auch hier gibt es eine dokumentarische Filmebene, allerdings eine, bei der die musikalischen Akteure auf raffinierte Weise integriert sind (wie bei Martinůs eben erwähnter Oper werden die Ebenen unauflöslich vermischt). Der erste Teil der Trilogie heißt im Untertitel ›Stummfilm-Oratorium‹ und tatsächlich dienen oratorische Mittel dazu, einen Film ohne Tonspur zu illustrieren. Welches der Medien (Musik und Film) das andere bestimmt, ist eine Frage, die sich beim Erleben durchaus stellt – ein Bezug zum Inhalt, bei dem es um Machtverhältnisse geht, kristallisiert sich dabei heraus. Der Schlussteil Liebe dagegen ist als performative Klanginstallation zu bezeichnen und repräsentiert damit eine weitere ungewöhnliche Richtung der konzeptionellen Weitungen im heutigen Musiktheater.51 Im Mittelpunkt steht ein schmelzender Eisblock. Er ist ein Faktor innerhalb einer winterlichen Szenerie, die mit deutlichen Assoziationen an Schuberts Winterreise ausgestattet ist (was vor allem durch mitlaufende Filmbilder evoziert wird). Doch überdies geben seine Tropfen Impulse für unterschiedlichste Klänge. Fragt man bei Musiktheaterarbeiten wie Liebe noch danach, welche Ebene des Ganzen dominant und welche begleitend ist? Wohl kaum. Auf der Ebene der Darstellungsmittel hat sich – passend zum Titel dieses Stückes – eine wirkliche Integration vollzogen.
›The New Discipline‹ Mit den auf neue, produktive Arbeitsbündnisse zielenden Projekten von ›Object collection‹ und punktuell auch bei der konsequenten Kooperation von Hannes Seidl und Daniel Kötter sind wir nah an dem Begriff ›The New Discipline‹, den seit einiger Zeit vor allem die irische Komponistin Jennifer Walshe propagiert. Genau dort nämlich, wo das – auch von Walshe ausdrücklich als Beispiel erwähnte – Künstlerkollektiv ›Object collection‹ mit seinen multidimensionalen Projekten zum Zuge kommt, zeichnet sich ab, was die ›neue Disziplin‹ ausmacht: eben eine Arbeits51 | Vgl. hierzu auch das Stück Hundun von Neele Hülcker (Komposition und Klangkonzept) und Judith Egger (Idee und visuelle Umsetzung) bei der Münchener Biennale 2016. Neele Hülcker war dabei damit beschäftigt, die Oberfläche eines körperartigen, aber ungewöhnlichen Objekts mit Mikrophonen zu untersuchen und durch diesen Abtastprozess ebenso ungewöhnliche Klänge zu erzeugen.
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weise von Projekten, die »das Anliegen teilen, dass sie im Körperlichen, Theatralen und Visuellen sowie im Musikalischen verankert sind«52 – wobei das markante Hervortreten der körperlichen Dimension von Musikaufführungen der signifikanteste Aspekt ist. Die Komponistin schlägt vor, die künstlerischen Resultate möglichst nicht als ›Musiktheater‹ zu bezeichnen, weil dies institutionell gesehen einen Sonderstatus, einen Ausnahmezustand markiere und etwas einschüchternd Großes sei, das vielleicht falsche Erwartungen wecke (die Konvergenz mit der Tendenz zum Nichtperfekten bei ›Object collection‹ liegt auf der Hand). Es geht ihr stattdessen um einen Zwischenbereich zwischen Konzert und Musiktheater – und um etwas möglichst wenig Etabliertes, das auf den rebellischen Potenzialen früherer Zeiten auf baut, aber diese weiterdenkt: Die Neue Disziplin gedeiht aus dem Erbe von Dada, Fluxus, Situationismus usw., aber […] ist eine Musik aus einer Zeit, in der Dada, Fluxus oder Situationismus bereits in die Jahre gekommen sind und überall respektiert werden. Sie setzt diese Stilrichtungen voraus, sowohl liebevoll als auch frech, wie sie auch Harmonik und E-Gitarre für selbstverständlich nimmt. […] Obwohl Kagel und andere eindeutige Vorfahren sind, ist seit den 1970er-Jahren […] viel passiert. 53
Als Beispiele aus dem eigenen Erfahrungshaushalt, der sich vom Umgang mit Elementen der Hochkultur deutlich entfernt, werden von Walshe unter anderem MTV-Sendungen und etliche Popmusikerinnen und Popmusiker, das Internet sowie »die Verfügbarkeit von billigen Kameras und Projektoren« genannt, sodann aber auch Yoga-Unterricht – und schließlich die »Überlegenheit von YouTube-Dokumentationen gegenüber Aufführungen.«54 Gedanken wie diese mögen auf den ersten Blick provokativ klingen, weil sie jede Fixierung auf Elemente der ›Hochkultur‹ unterlaufen. Aber sie sind eher ein Ausdruck für eine Strategie, zwischen dem aus Sicht von Walshe starren klassischen Musikbetrieb (unter den die Komponistin offenbar auch die Spielorte des Musiktheaters subsummiert) 52 | Jennifer Walshe: »Die ›Neue Disziplin«, in: Jörn Peter Hiekel (Hg.): Body sounds. Aspekte des Körperlichen in der Musik der Gegenwart, (Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt, Bd. 56), Mainz: Schott, 2017, S. 214-217, hier S. 216. 53 | Ebd., S. 215. 54 | Ebd.
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und der Mainstream-Popkultur (der sie ebenfalls kritisch gegenübersteht) einen dritten Weg zu finden. Dabei ist es unschwer möglich, den emphatischen Gestus solcher Sätze wie auch das in ihnen Gesagte selbst auf die Kompositionen von Jennifer Walshe zu beziehen – so sprunghaft und querstehend zu vielen sonst gültigen Hierarchisierungen wie die zitierten Worte sind auch einige Stücke. Hier liegt allerdings der Akzent nicht allein auf der Schaffung neuer Arbeitsbündnisse, sondern fast noch mehr auf der pointierten, auf Inkohärenzen zielenden Verknüpfung von Medien und Darstellungsformen. Ein Beispiel ist das gemeinsam mit dem Arditti Quartet aufgeführte Stück Everything is important (2016), das mit Vokalperformance, Filmmomenten und Tanzeinlagen des Cellisten aufwartet. Schon der programmatische Titel signalisiert, dass es darin um eine Auflösung altbekannter Hierarchien geht. Die berühmteste aller Kammermusik-Gattungen ist dafür ein als Kontrastfolie bestens geeignetes Objekt. Als Jennifer Walshe im Jahre 2002 das erste Mal mit ihren entschieden gegen die Tradition der absoluten Musik gerichteten Ideen bei den Ferienkursen in Darmstadt als Dozentin in Erscheinung trat, hat das für Furore gesorgt – und durchaus auch für manche Polarisierung. Inzwischen allerdings ist sie im Felde der Gegenwartsmusik längst eine der Leitfiguren. Dies gilt offenkundig für ganz Europa (oder genauer gesagt: für ein wachsendes Segment innerhalb der Gegenwartsmusik, kaum natürlich für den Reigen der staatlichen oder städtischen Konzerthäuser). Und es grenzt an eine Auffassung von Musik im Gefüge anderer Künste, die eine nicht unwichtige Tradition des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts markiert. Musik ist nach diesem Verständnis, das im neueren Musiktheater eine wachsende Präsenz besitzt, nicht bloß etwas für die Ohren – die von Marcel Duchamp so nachdrücklich propagierte nichtretinale Bildende Kunst ist hier oftmals als Vergleichsbeispiel präsent.55 Markiert das, wenn es so konsequent ausgespielt wird wie bei Jennifer Walshe, eine Revolution der Musik oder gar einen Paradigmenwechsel? Gewiss ist es zu früh, eine solche Frage zu beantworten. Aber sicher ist, dass die Komponistin gemeinsam mit etlichen Mitstreitern diese Tendenz 55 | Diese Tradition hat Harry Lehmann im Rekurs auf Marcel Duchamp und Seth Kim-Cohen als ›nicht-cochlear‹ zu fassen versucht. Vgl. Harry Lehmann: Die digitale Revolution der Musik: Eine Musikphilosophie, Mainz: Schott 2012, und vgl. Seth Kim-Cohen: In the Blink of an Ear. Toward a non-cochlear sonic art, New York 2009.
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– die in ihrer performativen Energieentfaltung denkbar weit wegführt von Eduard Hanslicks eindimensionaler Formel von Musik als ›tönend bewegter Form‹ – mit großer Verve und Phantasie ausspielt. Wie nicht wenige andere Komponistinnen und Komponisten, die heute in kollektive Arbeitsprozesse eingebunden sind, tritt Walshe überdies selbst als Performerin in Erscheinung. Das unauflösliche Verschränken der Darstellungsebenen schließt ausdrücklich die Möglichkeit ein, für alle Ebenen verantwortlich zu sein (und kollektive Arbeitsweisen spielen bei ihr ohnehin eine etwas geringere Rolle als bei den zuvor genannten Beispielen). In The Total Mountain (2014) etwa ist Walshe für das Visuelle, Performative wie auch das Klangliche gleichermaßen zuständig, das Ganze erinnert am ehesten an die Bühnenshows, die man aus der Popmusik kennt (und auch ein Bezug zum bereits genannten Stück von Simon Steen-Andersen liegt auf der Hand). Markant allerdings ist zudem das Medienkritische und Ironische ihrer Performances. Wenn sich nun durch ihre Beteiligung – als Komponistin wie zugleich auch als Performancekünstlerin – selbst das ehrwürdige Arditti Quartet dafür öffnet, eine Konzertveranstaltung durch performative und inszenatorische Elemente anzureichern, um damit deren Format erheblich zu weiten und einen fließenden Übergang zwischen Konzert und Musiktheater zu vollziehen (diese Charakterisierung gilt gewiss mehr für Walshe als für die weitaus meisten vergleichbaren Performancekünstlerinnen), so legt dies noch eine weitere Überlegung nahe: Heute sind das Interdisziplinäre wie die Vielfalt von Aktionen jenseits des Instrumentalspiels so verbreitet, dass der Musiktheaterdramaturg Roland Quitt es sogar als ›Mainstream‹ kritisierte.56 Gemeint war mit dieser Kritik erstens das – aus der Sicht des Autors unreflektierte – Anknüpfen an Traditionen der 1970er-Jahre, aber zweitens auch die gesteigerte Häufigkeit, mit der heute szenische Elemente in Konzerten auftauchen.57 Ohne die wohl tat56 | Roland Quitt: »Notizen zum Feld von Musik und Theater«, in: Positionen 100 (August 2015), S. 5-8, hier S. 7. 57 | Ebd. heißt es (mit Anspielungen auf tatsächliche Projekte inszenierter Konzerte): »Wer möchte noch ein Stück von Feldman hören, befände er sich nicht dabei in der inszenierten Situation einer Traumnacht. Wer noch ein Streichquartett hören, sei es von Widmann oder von Beethoven, wäre es nicht gespielt (innerhalb einer Form des ›inszenierten Konzerts‹) unter einer Autobahnbrücke oder überzuckert durch einen Lichtkünstler, der es in Farben tauchte.« Quitt kritisiert überdies
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sächlich existierende Gefahr des allzu Modischen, Beliebigen oder bloß äußerlich Wirkenden bestimmter Projekte zu leugnen, darf man diese kritische Einschätzung zumindest um einen Punkt ergänzen: um den Hinweis darauf, dass man doch auch weiterhin einer Fülle von Konzerten in klassischer Situation begegnen kann. Und zuweilen – nicht immer – mag dies sogar heißen, dass man sich etwas Visuelles oder Performatives geradezu wünschen würde, etwas also, das die Wiedergabe der akustischen Ereignisse in eine ernstzunehmende inszenatorische Dialogsituation versetzt.58
Jenseits von Rebellion Aufschlussreich für die Einschätzung der Gesamtsituation des heutigen Musiktheaters ist angesichts aller hier angedeuteter Aspekte das, was Daniel Ott, Jahrgang 1960, zum künstlerischen Umgang mit dem Dispositiv Oper äußerte. Er wies darauf hin, dass es – verglichen mit der Erfahrung von Persönlichkeiten wie Kagel, Schnebel, Stockhausen, Zimmermann oder Cage – bereits seine Generation »einfacher hatte, weil sowieso schon alles ›zertrümmert‹ war!«59. Erst recht gilt diese Diagnose einer veränderten Gesamtsituation für die nachfolgende Generation von Komponistinnen und Komponisten. Dabei mag in dieser Generation der um 1980 Geborenen die Neigung, bestimmte Begriffe und Rubrizierungen ins Spiel zu bringen, sehr unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Doch ein gewisses Theorieinteresse bringen fast alle mit, in einem modernen Kompositionsunterricht ist die Reflexion über den Kunstbegriff und seine Veränderungen ohnehin heute viel üblicher als früher. eine »Konzertsaalmusik, die sich sporadisch ins Performative öffnet, ohne dass dieser Öffnung eine eigene Idee anzusehen wäre.« 58 | Warum nicht mal einen Liederabend mit Schuberts Winterreise in der 2014 von den Musikern Matthias Görne und Markus Hinterhäuser gemeinsam mit dem Filmemacher William Kentridge gestalteten Weise (die u.a. in Wien, Amsterdam, Aix-en-Provence und New York zu erleben war) mit filmischen Bildern aufführen, um dann beim nächsten Mal vielleicht wieder die vertraute Wirkung ohne die Bilder zu testen? 59 | Vgl. »Eine Vitaminspritze fürs Musiktheater. Die Münchener Biennale 2016. Roman Brotbeck im Gespräch mit Daniel Ott und Manos Tsangaris«, in dissonance 3/2016, S. 15-19, hier S. 16
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Die Tendenz zu neuen medialen Grundsituationen, Arbeitsformen und Formaten ist zwar weit entfernt davon, das Musikleben in seiner ganzen Breite zu erreichen (man mag mit Blick auf das von Roland Quitt Angemerkte auch darüber diskutieren, ob das zwingend notwendig ist). Aber sie ist mittlerweile zumindest an einem Teil der europäischen Musikhochschulen bei vielen praktischen Projekten anzutreffen. In Berlin, Dresden, Zürich oder Linz (und punktuell wohl auch andernorts) gestalten oder konzipieren Studierende Projekte, die mit gewisser Selbstverständlichkeit von einer erheblichen Relevanz performativer und visueller Aspekte ausgehen, um von dieser Basis aus, oft gemeinsam mit Mitstreiterinnen und Mitstreitern aus anderen Bereichen, neue, immer weiter diversifizierte Konzepte zu entwickeln. Zuweilen vollzieht sich dies innerhalb von ganz kleinen Formaten, auch installative Arbeiten gehören hierzu.60 In der Regel ist die Option dabei, auf Musik oder auf irgendeine andere Dimension des Ganzen sogar komplett zu verzichten. Und gerade das Kleinformatige, von dem schon die Rede war, lässt neue Musiktheater-Konstellationen zu, die ganz eigene, immer wieder wechselnde Mischungen aus Nähe und Ferne ausprägen – und dazu angetan sind, neben dem Öffentlichen auch das Private zu thematisieren.61 Ist, so kann gefragt werden, dieselbe Selbstverständlichkeit, mit der heute manche Komponistinnen und Komponisten früher undenkbare Arbeitsbündnisse eingehen und den Begriff von Musiktheater weiten, auch bei jenen vorhanden, die journalistisch über diese Projekte schreiben und meist nicht derselben Generation angehören? Wohl kaum. Kritikerinnen und Kritiker sind, so sei behauptet, oft wesentlich stärker ein Teil des Dispositivs Oper als ihnen selbst bewusst ist. Damit ist es wohl zu erklären, dass nur recht wenige von denen, die mehrmals monatlich über klassische Operninszenierungen berichten (und zumeist mit Nachdruck deren innovative Seiten zu beschreiben suchen), auch mit den Kriterien klarkommen, die das hier in Rede stehende Feld von grundlegenden Neuansätzen ausprägt. Schon allein die Tatsache, dass es unter den Komponierenden der letzten Jahrzehnte viele gibt, für die jener emphatische Werkbegriff nicht mehr weiterführbar ist, der aus früheren Jahrhunderten überliefert ist und an den selbst in der Avant60 | Vgl. hierzu den Beitrag von Tobias Schick im vorliegenden Band. 61 | Passenderweise ist das Private ein zentrales Thema der Münchener Biennale für neues Musiktheater 2018.
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garde der 1950er-Jahre zunächst noch angeknüpft wurde, wird vielfach schlicht ignoriert. Die verschiedensten performativen, konzeptionellen und/oder intermedialen Ansätze im Komponieren der heute jüngeren Generation werden oft entweder vorschnell als bloße Rebellion gegenüber den Usancen des Musikbetriebs oder aber als bloße Wiederholungen des von Cage, Kagel, Schnebel oder anderen Komponisten bereits Geleisteten missverstanden. Bei solchen Beurteilungen obwaltet ein konservatives Denken – oder aber jene Tendenz zu Verkürzungen der neueren Musikgeschichte auf einfache teleologische Modelle, die zumindest früher auch in der Musikwissenschaft allenthalben dominant war. Begriffs-Prägungen, die von Künstlerinnen und Künstlern ins Spiel gebracht werden, um damit auch eigene Ansätze zu bezeichnen, sind bekanntlich oft heikel. Sie geraten zumindest dann, wenn sie gewisse Unschärfen aufweisen, schnell in den Verdacht, vor allem der Propaganda für eigene Ideen zu dienen. Im Falle des Begriffs ›New Discipline‹ etwa mögen, trotz der Intensität und Originalität einiger mit ihm bezeichneter künstlerischer Arbeiten, Zweifel erlaubt sein, ob er Wesentliches enthält, das nicht auch schon mit dem Begriff ›Composed Theatre‹ zu fassen wäre – oder gar mit dem noch umfassenderen Begriff ›Musiktheater‹, der heute längst bis ins Ortsbezogene, Installative, Transdiszipilinäre oder Konzeptionelle reicht. Das Begriffliche allerdings bleibt ohnehin sekundär gegenüber den Stücken selbst und gegenüber den durch sie verkörperten Momenten des Auf bruchs ins Unbekannte. Dies gilt für den von Grenzüberschreitungen und neuen Arbeitsformen geprägten Bereich des Musiktheaters ganz besonders. Und gewiss spricht manches dafür, für alle im Vorliegenden präsentierten Beispiele und Tendenzen am Begriff ›Musiktheater‹ festzuhalten, selbst wenn sich das mit ihm zu Fassende auf allen Ebenen gerade verschiebt und erweitert. Dennoch aber sollte man die in jüngerer Zeit unter den 30-40-Jährigen erkennbare neue Lust an programmatischen Texten und Begriffen nicht einfach – wie dies zuweilen geschieht – mit einer Handbewegung wegwischen, zumal sie für eine Bereitschaft zum Diskurs steht, die zumindest mancherorts zeitweise abhanden zu kommen schien. Und zumal nicht wenige Ansätze gegenwärtig von der Überzeugung durchdrungen sind, dass sich tatsächlich im Zuge der digitalen Revolution in den letzten Jahren nicht nur vielfältigste neue Möglichkeiten ergeben haben, sondern auch geradezu die Verpflichtung, neue Darstellungsformen,
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Formate und Arbeitsweisen zumindest in Betracht zu ziehen. Das aber heißt, dass niemand, der sich bewusst oder unbewusst noch an die traditionelle Oper klammert, eine adäquate Qualitäts-Ermessungsgrundlage besitzt.62 Die Lebendigkeit des heutigen Musiktheaters in unterschiedlichen Formaten liegt ja gerade darin, dass es mit unterschiedlichsten ZeichenSetzungen operiert und gewissermaßen an sich selbst verschiedenste Suchbewegungen verkörpert, gerichtet auf ein kreatives und neues Zusammenspiel von Musik, Bild, Text und Bewegung. Aber die Möglichkeit einer Entfaltung dieser Suchbewegung – die bei allen hier erwähnten Musiktheater-Arbeiten feststellbar ist – hängt natürlich auch von dem Maß ab, mit dem der Opernbetrieb willens und in der Lage ist, von den dominierenden Repräsentationsbedürfnissen immer wieder auch weit genug abzurücken, um Notwendigkeit und spezifischen Reiz des Übergangs vom Gewohnten zum Ungewohnten überhaupt zum Zuge kommen zu lassen. Betrachtet man den sogenannten ›klassischen‹ Musikbetrieb als Ganzes und sieht ab von einigen markanten Ausnahmen (zu denen in den letzten Jahren etwa die Uraufführungen großer Musiktheaterwerke von Mark Andre, Chaya Czernowin, Beat Furrer, Georg Friedrich Haas, Adriana Hölszky, Bernhard Lang, Helmut Oehring, Rolf Riehm oder Salvatore Sciarrino gehörten), kommt man ohnehin kaum umhin, auf jene erschreckend großen Differenzen hinzuweisen, die zwischen den im Vorliegenden skizzierten Momenten des Aufbruchs und dem in diesem Musikbetrieb weithin Üblichen bestehen. Im Sprechtheater nimmt kaum jemand Anstoß daran, wenn ein traditionelles Stück mit dem Untertitel ›eine Performance‹ angekündigt und in seinem Grundduktus erheblich verändert wird. Doch im Opernbereich ist das zuweilen immer noch Anlass für markanten Widerspruch. Die in Staats- oder Stadttheatern sich abspielende Opernkultur bietet heute im Übermaß Beispiele für die Wirkungsmacht der auf große und stabile Lösungen fixierten Repräsentationskultur, die mit Mutlosigkeit und Repertoireenge einhergehen. Hierzu gehören ein Hang zu einfachen Rezeptionsmustern, aber auch eine weitgehende Ignoranz etwa gegenüber den experimentell mit filmischen Mitteln arbeitenden Musiktheaterwerken aus der ersten Hälfte des 2 0. Jahrhunderts oder auch gegenüber 62 | Einige der Rezensionen zur Münchener Biennale 2016 sowie zur Ruhr-Triennale 2017 belegen nachdrücklich, wie wichtig dieser Hinweis ist.
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einigen von Opernnormen abweichenden Werken früherer Zeiten. Doch verlässt sich die Institution Oper ganz darauf, opulentes Entertainment vor allem für wohlsituierte Ältere zu sein, verstärkt dies den Zweifel, ob man ihrer überhaupt noch bedarf.
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Dés-œuvrément ›Entwerkung‹ von Kunst Dieter Mersch
Ver vielfältigung: Original und Untertitel Original und Untertitel bilden zwei Begriffe, die eine seltsame Spannung, eine Disharmonie miteinander unterhalten. Sie stehen quer zueinander, denn es handelt sich nicht um ein Gegensatzpaar, um eine Opposition wie etwa Original und Kopie oder Ursprung und Ableitung, sondern um eine ›Hinzusetzung‹, eine Verschränkung, die unterschiedlichen Territorien entstammen. Wir sind folglich mit zwei ›Logiken‹ oder Registern konfrontiert, einmal mit einer oppositionellen oder kontradiktorischen Logik, die durch eine Negation regiert wird, denn eine Kopie ist nicht das Original, wie das Abgeleitete, das Supplement nach traditioneller Auffassung kein Ursprung sein kann – und ein Motiv der Derrida’schen Dekonstruktion bestand darin, diese Differenz zu verwirren –; und andererseits mit einer additiven oder kontrastiven Ordnung, die eine Relation oder einfach nur eine Konjunktion eröffnet, gleichsam ein ›Mit-Sein‹ oder ›Und-Sein‹. Sie evoziert von vornherein eine Spannung, denn ein Untertitel fügt gewöhnlich dem Original einen Kommentar hinzu, der es erläutert, das heißt er erweitert es, um gleichsam die Möglichkeiten oder Assoziationen, die es auslöst, zu vermehren, womöglich sogar zu stören. Der erstere Fall, der Gegensatz, schreibt sich übrigens einer diskursiven Logik zu, die die Differenzen als Ausschließungen oder Dichotomie ausbuchstabiert, letztere einer ästhetischen, die sich, wie es Walter Benjamin ausgedrückt hat,
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lauter ›Dingsprachen‹ bedient,1 seien diese Dinge Objekte, Klänge, Stoffe oder Formen, die dem Prinzip der Zusammensetzung, der Assemblage gehorchen. Original und Untertitel, mit der rätselhaften, kaum stringenten oder plausibel zu machenden Verbindung ›und‹ – denn die Konjunktion scheint miteinander Inkommensurables zu mischen – folgt so dem Prinzip einer Montage, die zugleich eine Trennung zu betonen scheint. Während also die Differenz zwischen Original und Kopie dem Schema der Sprache als Diskurs angehört, gegen deren Unterscheidung spätestens seit der Massenproduktion des Industriezeitalters, der Ubiquität technischer Reproduktion angekämpft wurde, um gegen sie neue Unterscheidungen einzuführen, bekommen wir es bei der scheinbaren Differenz zwischen Original und Untertitel mit einer Unterscheidung im Ästhetischen zu tun, die zwei Disparitäten zueinander ins Verhältnis setzt und zwischen ihnen eine Ordnung eigener Art etabliert: Originale, Singularia und Titel, Schriften, ob als Untertitel oder Überschriften, von denen René Magritte gesagt hat, dass sie nicht der Erklärung dienen, sondern der Ausdehnung eines Feldes. Gleichzeitig wirft dabei das Verhältnis von Original und Untertitel, insbesondere verstanden als Original mit Untertitel, eine Reihe von Fragen ihrer jeweiligen Relationierung auf. Offenbar erweist sie sich in sich selbst als plural, denn es ist keineswegs ausgemacht, ob sie eng miteinander verschränkt auftreten oder, wie in Jean-Luc Godards Histoire(s) du Cinema (1988), gelegentlich beziehungslos nebeneinander stehen oder sich sogar widersprechen, ob es sich bei den ›Untertiteln‹ um eine Vielzahl von Überlagerungen oder gegenseitiger Durchkreuzungen handelt, etwa wenn verschiedene Übersetzungen des Originals gleichzeitig abgebildet werden, oder ob wir es mit jenen charakteristischen Verkürzungen oder Abbreviaturen zu tun bekommen, die, wie in OmU-Filmen, eine eigene Textsorte erzeugen und viel eher eine Ahnung des Gesprochenen wiedergeben, denn ein luzides Geschehen. Manchmal sind wir auch mit Subtexten oder Kommentaren konfrontiert, die auf einer anderen Ebene mitlaufen, die das Original flankieren, es unterlaufen oder die wahrnehmbaren Bilder und Klänge wie bei einem Voiceover allererst verständlich machen. Jeder Untertitel bietet dann eine andere Differenz: Entsprechend haben 1 | Walter Benjamin: »Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen.« In: Gesammelte Schriften, 5 Bde., Bd. II.1., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974, S. 140-157, hier: S. 156.
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wir es mit Verdopplungen zu tun, die verschiedene Behauptungen aufstellen – etwa erstens die Behauptung, etwas, eine Notiz, eine Fußnote, eine Soufflierung oder vielleicht sogar eine dämonische Einflößung steht mit etwas anderem, einem Ursprung bzw. einem zuerst oder erst nachträglich Gegebenen derart in Beziehung, dass gleichsam eine ›Reaktion‹, gewissermaßen eine chemische Mischung geschieht, die das Ganze, seinen Willen zur Totalisierung zum Bersten bringt und zersplittert; aber auch zweitens das Versprechen einer Konvergenz, einer gegenseitigen Annäherung oder Resonanz, vielleicht sogar einer Einheit gegenüber ihrer Streuung, ihrer Divergenz oder Entfernung, bis zuletzt zwei parallele Linien entstehen, die nicht mehr miteinander zu schaffen haben als die Bahnung zweier einsamer Sterne, die einander verlegen anstarren. Als drittes ergibt sich aber auch die Möglichkeit, dass das Original, was immer damit gemeint sei, immer schon, sozusagen von seiner Herkunft her, eine unreine Legierung darstellt, eine Ordnung ohne Kern, an der die unterschiedlichsten Genres partizipieren, sodass es sich von Anfang an um ein abwesendes oder abhandengekommenes Original handelt, das lediglich aus einer Serie von Untertiteln, Paratexturen oder Marginalien hervorgeht; sogar schließlich, um noch eine weitere Alternative aufzuzählen, viertens die Behauptung, dass sich beide, nach einer Metapher der Bildtheorie, zueinander wie Figur und Grund verhalten, sodass sie manchmal assoziativ, manchmal konfligierend oder sperrig gegeneinander hervortreten, jedoch stets so, dass das eine nicht ohne das andere auskommt. Letztlich gibt es dann kein Original ohne Untertitel und keinen Untertitel ohne Original.
Konstellationen/Kompositionen: Die ästhetische Konjunktion Allerdings wurde so – verschiedene Varianten gleichsam austestend, um den Horizont der Begriffe auszudehnen und ihre Potenziale auszuprobieren – bereits eine subtile, aber folgenschwere Verschiebung vorgenommen und der Obertitel Original mit Untertitel mit einem weiteren Untertitel versehen, der an ihm – dem Original – selbst schon einen Kommentar beifügt, um ihn mit einem anderen Grund zu versehen, denn die charakteristische Präposition mit wurde auf diese Weise durch die Konjunktion und ersetzt. Präpositionen eröffnen raumzeitliche Relationen, wobei das ›mit‹ insbesondere einen Konnex, einer Unterlage oder eine bestimmte Verbindung adressiert, während die Konjunktion sozusagen eine Univer-
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salkopula bildet, die alles miteinander in Verbindung zu bringen vermag, um es im selben Augenblick wieder voneinander zu trennen. Präpositionen demonstrieren folglich Anordnungen in Raum und Zeit, wobei die Untertitel meist unten, manchmal, z.B. in der Oper, oben mitlaufen, also Mitläufer sind, die sowohl die Blickordnung regieren als auch einer Struktur der Sukzession folgen, die an ihnen Vieles problematisch erscheinen lassen. Beispielsweise, um nur einige Schwierigkeiten aufzuzeigen, vermögen sie einen Bruch in der Aufmerksamkeit zu erzeugen, der zwar in einigen Fällen willkommen sein kann, aber nicht muss, vielmehr meist als Störung empfunden wird, oder, als andere Schwierigkeit, schreiben sie eine Linearität vor, wo keine besteht, etwa wenn andere, parallele Räume oder Streams der Wahrnehmung entzogen werden –, wohingegen Konjunktionen komplexe Netze von Relationen spinnen, die jedoch immer die Eigenart besitzen, Konjunktion und Disjunktion, d.h. Verknüpfung und Differenz zugleich zu sein. Dies sei vor allem deswegen erwähnt, als in der Simultaneität von Verbindung und Trennung eines der Geheimnisse der ästhetischen Kopula besteht, die in diesem Sinne anders als die Satzkopula funktioniert, mithin auch andere Denkformen generiert, denn das ›und‹, ›oder‹, ›weder-noch‹, ›nicht-nur-sondern-auch‹ sowie ähnliche Konjunktionen entfalten komplette, nebeneinander geordnete Gespinste aus heterogenen Substanzen, gleichsam Wucherungen unterschiedlicher Materien, die die möglichen Welten vermehren, während die prädikative Kopula ›Ist‹ lediglich Subjekt und Prädikat, d.h. Substanz und Eigenschaft aneinander koppelt und damit ein ›Sein‹ kennzeichnet, indem sie seine Bestimmung vornimmt und damit Signifikanzen erzeugt.2 Die Determination ist dem ad-iectivum oder epi-theton, dem Danebengesetzten oder ›Anhaftenden‹ zugeordnet, das immer mitgesehen wird, wenn wir eine Aussage formulieren oder etwas diskursiv manifestieren; in Opposition dazu nimmt das ästhetische Denken gar keine Bestimmungen vor, sondern ›be-dingt‹ oder konstituiert erst das, was ›zusammen‹ gelesen, gesehen oder gehört werden kann, indem sozusagen Alternativen zueinandergesellt werden, um Freundschaften oder Feindschaften zu schließen und folglich Kombinationen aus Verträglichem und Unverträglichen, 2 | Dieter Mersch: Epistemologien des Ästhetischen, Zürich, Berlin: Diaphanes 2015, S. 53ff, 171ff. Vgl. auch Peter Bexte: »Vorwörter. Bemerkungen zu Theorien der Präpositionen«, in: Jan-Henrik Möller, Jörg Sternagel, Lenore Hipper (Hg.): Paradoxalität des Medialen, München: Fink 2013, S. 25-40.
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aus Vergleichbarem und Unvergleichlichem oder aus Kompatibilitäten und Inkompatibilitäten herzustellen. Anders gewendet: Das Ästhetische drückt sich in ›Konstellationen‹ aus, die so dispers sind wie die stellae der Sternbilder, die sich nur mit Mühe und unter dem Zwang der figura zu Gestalten arrangieren lassen, welche ihnen also nicht eingeprägt sind, wie Eigenschaften, sondern aufgeprägt werden. Nichts Anderes bedeutet auch der Ausdruck ›Komposition‹. Das Denken des Kompositorischen ist eines des ›con‹ oder ›cum‹, des ›Mit‹ und ›Zusammen‹, dem das ›Und‹, nicht das ›Ist‹ wesentlich ist und durch dessen konjunktional/disjunktive Zusammen-Stellung oder com-positio Unterbrechungen, Grenzgänge, Erfahrungsresistenzen, Überraschungen, nicht selten Ärgernisse, aber auch ›Witze‹ im Wortsinne des Ingeniums auslösen,3 deren entscheidendes Moment die Evokation einer Reflexivität darstellt. ›Re-Flexivitäten‹ verweisen hier im Wortsinne auf die Aufschließung oder Zurückwerfung der Ereignisse selbst, durch die allererst etwas sichtbar, hörbar oder wahrnehmbar wird und unser Denken affiziert. Sie konstituieren als Ereignisse gleichzeitig den ästhetischen Prozess, seine ebenso praktische wie diskursive Struktur, d.h. seine Interpretation wie auch Betrachter und Zuhörer. Alle Elemente sind nicht schon da, sondern ergeben sich erst im Laufe der Geschehnisse, wie auch das Publikum kein passiver Beobachter ist, der sich etwas servieren lässt, um es zu konsumieren, sondern alle drei werden erst durch die jeweilige Art der Komposition und ihrer Präsentation gebildet – auch die Trägheit der Zuhörer als Konsumenten. Wir bekommen es folglich mit einer ursprünglichen Triangulation zu tun, denn zum einen spielt die Weise der Fugung, die jeweilige Modalität und Materialität und Relationen eine maßgebliche Rolle, auch wenn diese lediglich ›passiert‹ oder das Produkt eines Zufalls bildet, zum anderen erweisen sich die jeweiligen Praktiken wie auch ihre Medien und technologischen Bedingungen und ihre soziale Situierung als für die Rezeption ausschlaggebend, wie umgekehrt zum Dritten die Rezipienten und ihre ›(Nicht-)Ver-Gemeinschaftung‹ eine Resultante der beiden anderen Momente darstellt. Als Akteure kollaborieren sie miteinander, sodass es heute für die Konstitution theatraler Ereignungen von 3 | Vgl. insbesondere Mira Fliescher: »Der Witz der Kunst«, in: Prekäre Genres. Kleine, periphere, minoritäre, apokryphe und liminale Gattungen und Formen, hg. von Hanno Berger, Frédéric Döhl und Thomas Morsch, Bielefeld: transcript 2015, S. 65-83.
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entscheidender Bedeutung ist, dass die traditionelle Ordnung der Triangulation aufgebrochen und neu arrangiert wird. Dabei ist wesentlich, die Kategorie des Wissens und der ästhetischen Episteme in die Diskussion zu bringen, denn Kunst erweist sich als eine ›Forschung‹ eigenen Rechts, die von der Weise der Kollaboration und ihrer Konditionen abhängt, nicht von irgendwelchen Absichten, Vorgaben oder normativen Setzungen.4 Zudem entsteht die Form des Wissens aus konträren Konstellationen oder Widersprüchen und ›Katachrese‹, die in dem Maße ein reflexives Geschehen induzieren, wie durch deren Chiasmen oder Paradoxien eine Aufmerksamkeit gestiftet wird, die die Beteiligten als gemeinschaftlich Adressierte ebenso bannt wie stellt – wogegen die diskursive Erkenntnis der Wissenschaften sich in Exklusion und Signifikation, d.h. in Unterscheidung und Symbolisierung ausdrückt, die zuletzt immer eine Determination finalisiert. Originale und Untertitel umspielen dann selbst schon das Verfahren des Ästhetischen, das nicht in strikten Differenzen organisiert ist, um ein Gesetz oder eine generelle Aussage zu formulieren, sondern das, was sich im wörtlichen Sinne des ›Fügens‹ als eine ›Fuge‹ kennzeichnen lässt.
Geschichte des Originals und seiner Urheberschaft Was aber heißt dann noch Original? Die Begriffe des Originals und der Originalität gehören in den Bereich der klassischen Ästhetik seit Beginn der frühen Neuzeit; sie zerbrechen spätestens seit den 1960er Jahren sowohl durch die neuen technischen Reproduktionsmedien als auch in ihrer innerästhetischen Geltung. Ursprungslogisch an Autorschaft gebunden, welche spätestens seit dem ›Tod des Autors‹ von Roland Barthes fraglich geworden ist, erweist sich die Kategorie des ›Originals‹ somit an eine Epoche gebunden, deren Zeitspanne von ca. 1500 bis zur Mitte des 20. Jahrhundert währt, um sich zunehmend im Performativen aufzulösen.5 Dass Kunst also mit Originalität zu tun hat, ist keineswegs selbstverständlich, historisch sogar eher die Ausnahme, denn auch die Antike und das Mittelalter kannten weder die normative Idee des Originals noch des Autors. Zugleich wurden beide Begriffe vor allem in den 4 | Vgl. Mersch: Epistemologien des Ästhetischen, a.a.O., S. 63ff. 5 | Vgl. ders.: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, bes. S. 157ff.
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Ästhetiken des 18. Jahrhunderts emphatisch besetzt, denn sie drückten eine Unversehrtheit, eine Nichtwiederholbarkeit und Singularität aus, die gleichzeitig an das ›Werk‹ und seinen ›Wert‹ gebunden war, die nicht beschädigt oder sonst wie entwendet werden durften. Ebenso ein Ganzes wie Ungeteiltes, d.h. mit buchstäblicher Individualität ausgestattet, bedeutete die Zuschreibung einer Originalität vielmehr eine Quelle, die auf die auctoritas, die Autorität wie gleichermaßen auf die Authentizität eines Urhebers oder einer Urheberin zurückging und die nicht nur ein einklagbares juristisches Prinzip darstellte, sondern auch nicht ohne Erlaubnis der Schöpfersubjekte zitierbar war, ohne deren Recht massiv zu verletzen. Vergessen wir darüber hinaus nicht, dass der heute ebenfalls problematisch gewordene Begriff der ›Authentizität‹ – der ja bekanntlich nichts anderes als den Täter einer Tat meint – zuletzt die Autorschaft als Ursache einer Handlung oder eines Werkes nennt, die wiederum die Personalität einer Person betraf, die zu dem, was sie hervorgebracht hat, ein Besitzverhältnis unterhielt. Was auf diese Weise also ›verursacht‹, ›geschaffen‹ oder ›gebildet‹ wurde, sei es eine Tat, ein Text oder ein ›Werk‹, bildet etwas in sich Abgeschlossenes, Fertiges, das mit Vollständigkeit assoziiert wurde und nur in einer einzigen Version existierte. In ihrer Geltung mittels einer Unterschrift besiegelt, bekommen wir es auf diese Weise insgesamt mit einem kompletten Arsenal wechselseitig aufeinander bezogener Instanzen zu tun, an denen ebenso Diskurse und Theorien wie Institutionen und Techniken oder Praktiken der Sammlung und Aufführung hingen, welche wiederum an der Konstitution eines Originals als Fetischobjekt mitarbeiteten. Anders ausgedrückt: In den alten Ästhetiken bedeuten ›Autor‹, ›Werk‹, ›Original‹ wie gleichermaßen ›Individuum‹ (Unteilbares), ›Einzigartigkeit‹ und ›Eigentum‹ dasselbe, um sich gleichzeitig auf Dauer zu stellen und für sich eine ›Wahrheit‹ bzw. – in den Worten Benjamins – einen ›Ewigkeitswert‹ zu reklamieren. Kunst bzw. das Künstlerische eines Kunstwerks wurde dadurch im gleichen Maße ›de-finiert‹ wie eingeschränkt, denn dasjenige, was viele Urheber hat, was von vielen geteilt wurde, was sich wiederholen kann oder für Vervielfältigung frei stand, wurde, wie die Serienerzählungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts oder später das Kino, in seinem Kunststatus angezweifelt. Umgekehrt destabilisierten diese das angestammte Kunstverständnis, sodass, mit der Wiederholbarkeit, dem Zufall als Urheber oder der Fragmentarität der ›Werke‹, Kunst systematisch in ihre Krise geriet. Insbesondere kollidier-
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te aber der Anspruch auf Originalität regelmäßig mit den Aufführungskünsten wie der Musik oder dem Theater, die Nelson Goodman deswegen als allographisch statt autographisch kennzeichnete, denn sie schrieben sich nicht selbst, sondern wurden durch andere allererst realisiert, sodass sich das Prinzip der Originalität schließlich wieder dadurch retten ließ, dass es kurzerhand an einen Kerntext, eine Notation oder Partitur, das heißt an ein Konzept als Diagramm usw. geknüpft wurde.6 Man kann sagen, dass die semiotische Überdetermination der Künste, ihre bloße Manifestation als Text oder Schrift sowie ihre penetrante Reduktion auf den Zeichencharakter eine direkte Ableitung dieser Mystifikation bildet, wie Skripturalität, Signatur und Spur an den Abdruck einer Individualität im Werk wie überhaupt an die Person des Autors oder der Autorin als ausgezeichneter kultureller Institution gebunden wurde. Sie sicherte durch zahlreiche Regeln, Sanktionen oder gesetzliche Fixierungen ihre zeitliche Spanne zwischen dem 16. und späten 19. Jahrhundert, ohne ansonsten für andere kulturelle Perioden zu gelten, um aber gleichzeitig permanent durch Technologien und Reproduktionsmedien herausgefordert zu werden: Walter Benjamins Kunstwerkaufsatz bildet vielleicht einer der markantesten Reaktionen darauf. Zugleich ging die Auszeichnung von Textualität und Semeion einher mit einer manifesten Betonung des Symbolischen und seiner Verkörperung, d.h. einer inhaltsbezogenen Deutung der Kunst, einer Hermeneutik, die einseitig das Concetto, mithin die Idee und ihr Disegno privilegierte, während sie im selben Augenblick die ästhetische Rezeption individualisierte und ausschließlich auf subjektive Aneignungen beschränkte. Korrelat dieser Kunstinterpretation ist die Einschränkung der Bedingung ästhetischer Erfahrung auf die Situation einer contemplatio, eines ›Verweilens‹ und der stillen Versenkung vor dem Werk und seiner Erlebbarkeit, wie sie in eigens dafür geschaffenen Räumen zwischen Bild und Betrachter im Museum oder als Dressur des Hörens im Konzertsaal ihren Niederschlag fanden. Die Dispositive ästhetischer Affektion sind daher nicht zufällig: Sie entsprechen ebenso einer Kunsttheorie wie einer bestimmten Form ästhetischer Arbeit und dessen Selbstverständnis, sodass, wollte man sie auf brechen, alle Momente ästhetischer Präsenz gesprengt werden.
6 | Vgl. Nelson Goodman: Sprachen der Kunst, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995, S. 115ff., 125ff.
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Doch vergessen wir nicht, dass der Begriff des ›Originals‹, wie er hier sozusagen fortschreitend mit Untertiteln versehen wird, um ihn immer mehr als eine obsolete ›Ideologie‹ zu entlarven, spätestens seit der Nachkriegszeit restlos seiner Macht beraubt, destituiert und aus der Kunst ›ausgetrieben‹ wurde. Das gilt vor allem im Zuge der Etablierung performativer Verfahren, der Kontingenz und der Auflösung der Genres zu offenen, transdisziplinären Mannigfaltigkeiten, zu denen, neben den großen Happenings, auch die Theaterperformances und das Musiktheater als Symptome gehören. Weder kommt dann dem Werk eine präzise Funktion zu, noch spielen eigentlich der Künstler oder die Künstlerin als Autor und Autorin, noch das Publikum, an das sich die Geschehnisse wie eine Flaschenpost richtete, eine konstitutive Rolle. Die Wende kündigt sich schon früh gegen Ende des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts durch Verfahren wie der Serialisierung, der Adaption fremder Artefakte aus außereuropäischen Kulturräumen oder des Jazz in der Kunstmusik sowie dem Spiel der afrikanischen und asiatischen Masken, z.B. in Fotomontagen und Collagen des Dadaismus an, um nur einige zu nennen. Endgültig wird die Spaltung von Werk und Original spätestens in den 1950er und beginnenden 1960er Jahren mit der amerikanischen Happening- und Fluxus-Bewegung und dem Einbruch der Aleatorik besiegelt, die dem Ereignis als einem nichtintentionalen, und damit auch niemandem gehörenden und niemanden verpflichtenden Augenblick gegen die Maßstäbe klassischer Notation und Kontrolle als Prinzipien künstlerischer Expressivität den unbedingten Vorzug erteilten. Seither bedeutet Kunst etwas anderes, eine ›Offenheit‹, wie sie Umberto Eco in seiner ebenso antistrukturalistischen wie antiserialistischen Ästhetik vehement gefordert hatte:7 Eine chronisch unfertige Potenzialität, nirgends gemacht, um sich zu erfüllen oder ihren Finalismus zu zelebrieren, vielmehr bestenfalls eine Folge aus Experimenten oder immer neuen und anderen ›Ungestalten‹, die sich nirgendwo zu verstehbaren Objekten oder Narrativen schließen. »Nichts versteht man«, heißt es bereits in Bertolt Brechts expressionistischem Baal: »Geschichten, die man versteht, sind nur schlecht erzählt«.8
7 | Vgl. Umberto Eco: Das offene Kunstwerk, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977. 8 | Bertolt Brecht: Baal (1919), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970, S. 124.
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Performative Wende und die Offenheit der Kunst Was diese genuine Unverständlichkeit und Offenheit der Kunst für den Komplex zwischen ›Werk‹, ›Autorschaft‹ und ›Rezeption‹ sowie der Frage der Konstitution eines neuen Publikums bedeutete, sei im Folgenden anhand eines besonders für die deutsche Kunstszene dieser Zeit markanten Beispiels der frühen 1960er Jahre skizziert, das zugleich einer der paradigmatischen ›Ursprünge‹ des Musiktheaters bildete – einerseits, um es ironisch mit dem zu verbinden, was mit ›Original und Untertitel‹ (anstatt ›mit‹ Untertiteln) eigentlich erst auf dem Spiel steht und sich in anhaltender Bewegung befindet, andererseits um daran exemplarisch die Potenziale musiktheatraler Produktionen, wie sie heute etwa von Heiner Goebbels oder Manos Tsangaris weitergeführt werden, aufzurollen. Anstatt nämlich mit der Arbeit am ästhetischen Original fortzusetzen und das im Grunde ungenügende und zerstörte ›Werk‹ in der Nachkriegszeit bruchlos weiter zu feiern, ›entwerkte‹ Karlheinz Stockhausen deren Geltungen mit der Arbeit Originale von 1961, dem er listig keine eindeutige ›Werknummer‹ zuordnete, sondern die Opusbezeichnung 12 2/3 – was zwar eine Zahl und damit immer noch eine Katalognummer darstellte, gleichzeitig aber als gebrochen rationale Kardinalzahl selbst bereits den Bruch anzeigte.9 Die sogenannte ›Uraufführung‹ am 26. Oktober 1962 im Theater am Dom in Köln glich einem exzentrischen Happening nach der Manier des Black Mountain Happenings von John Cage, Robert Rauschenberg und David Tudor; darauf folgten 11 weitere singuläre Aufführungen bis zum 6. November desselben Jahres, die allesamt bestenfalls die Struktur des Stückes wahrten, sich aber in Ablauf und Resultat radikal voneinander unterschieden. Die Originale bewirkten dabei gleich in mehrfacher Weise eine Zäsur mit jenem Anspruch auf Originalität, der die Kunst bis dahin immer noch regierte. Erstens betonte der Titel – gleichsam als sein eigener Untertitel – den Plural, der aus jeder einzelnen Aufführung selbst ein Original machte und damit die Einzigkeit der überkommenen künstlerischen Originale konterkarierte. Zweitens war damals das ›Theater am Dom‹ in 9 | Vgl. dazu und im Folgenden: Die 1960er Jahre. Kölns Weg zur Kunstmetropole. Vom Happening zum Kunstmarkt. Hg. von Wulf Herzogenrath, Gabriele Lueg, Köln: Kölnischer Kunstverein 1986, bes. S. 130ff.; Happening und Fluxus. Materialien zus. v. H. Sohm, Köln: Kölnischer Kunstverein 1970.
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Köln ein Ort des Boulevards und gerade nicht der sogenannten hohen Kunst, was den künstlerischen Impetus zugleich dadaistisch entkunstete. Drittens alludiert der Titel, der auch unter ›Kölner Originale‹ firmiert, den Ausdruck ›Kölsche Originale‹, der wiederum in der Stadt Köln seit dem 18. und 19. Jahrhundert einen stehende Topos bildet und ›auffällige Personen‹ meint – sozusagen stadtbekannte Charaktere oder ›MenschenExemplare‹ wie Tünnes und Schäl (die einzigen fiktiven Gestalten unter den Charakteren) oder andere ›schräge Vögel‹, Clochards und Ausnahmeerscheinungen, sodass sich der Sinn des ›Originals‹ vom Werk zu den Personen, d.h. den unverwechselbaren Individuen und ihren bisweilen seltsamen Zügen übertrug – wobei daran zu erinnern ist, dass das Wort ›Individuum‹, zumal im Mittelalter, den ›Sonderling‹ bezeichnete, der sich von der Gemeinschaft entfernt und abgelöst hatte, um ein buchstäblich ›eigen-sinniges‹ Leben zu leben – der entsprechende griechische Ausdruck dafür lautet idiōtes, der Einzelne ohne besonderes gesellschaftliches Ansehen. Viertens aber waren die Originale ein Gemeinschaftswerk, wenn überhaupt, einerseits zwischen Stockhausen und der Malerin Mary Bauermeister, andererseits zwischen ihnen und den Aufführenden, denn die Performance war hochgradig improvisiert und voller Spontaneitäten und Unvorhersehbarkeiten. Beteiligt waren übrigens in den Kölner Aufführungen neben Stockhausen und Mary Bauermeister auch David Tudor, Nam June Paik, die beiden damaligen Kinder Stockhausens, der Perkussionist Christoph Caskel, der Schriftsteller Hans G. Helms sowie ebenfalls eine Reihe typischer ›Kölscher Originale‹ wie eine Zoo-Wärterin, eine Zeitungsverkäuferin und eine Toilettenfrau. Hinzu kamen zahlreiche Musikerinnen und Schauspieler. Im Gegensatz dazu nahmen an der New Yorker Aufführung drei Jahre später neben den beiden Hauptprotagonisten und Nam June Paik Persönlichkeiten wie Alan Ginsberg, Alan Kaprow, Alvin Lucier und die Cellistin Charlotte Moorman teil, um nur einige bekanntere Künstler neben jenen ›Art-Aktivisten‹ zu nennen, die vor dem Konzerthaus gegen Stockhausen als ›Kulturimperialisten‹ demonstrierten – was selbstverständlich selbst Teil der Aufführung war. Überdies gab es eine Reihe von Revivals, so in San Francisco 1990 und in Berlin 2015 u.a. mit dem Schriftsteller Gerhard Rühm. Fünftens aber bildete jede Aufführung mit ihren unterschiedlichen Beteiligten, ja jeder Abend mit seinem surrealen Mix aus Performances, zufälligen Ereignissen und Provokationen ein geradezu absurd anmutendes Original, dem allerdings dann kein Gegenbegriff mehr zugeordnet werden konnte, ja
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für das die damaligen Zeitgenossen nicht einmal den Ausdruck ›Kunst‹ reserviert hätten: Sozusagen lauter Originale, aber keine Kopie. Tatsächlich markiert das Stück eine Wende im Œuvre Stockhausens und eine der Geburtsstunden des modernen Musiktheaters als Performance, das den offenen Improvisationsrahmen mit strengen seriellen Kompositionen wie Kontakte für Klavier, Schlagzeug und Elektronik oder Tonbandeinspielungen aus Carré für vier Orchester sowie dem Gesang der Jünglinge kombinierte, um während der ca. 90 Minuten Raum unter anderem für die Lesung vollkommen unzusammenhängender Texte oder einer Shampoonierungsszene in der Badewanne zu lassen – eine Spezialität Nam June Paiks, dem es darum ging, anderen im wahrsten Sinne des Wortes den Kopf zu waschen. Die musiktheatrale Avantgarde beginnt folglich als Destruktion: Sie zerstückelt restlos das bis dahin gültige Musik-, Konzert- und Theaterverständnis. Entsprechend gehörte die Verunsicherung der Genres zum Konzept, dennoch handelt es sich bei den 18 Szenen der Originale nicht nur einfach um ein Happening- und FluxusSpektakel, sondern um eine Anzahl, nach Makrorhythmen organisierter Strukturen, die von Stockhausen, trotz des vermeintlichen Wahrnehmungschaos, strikt kalkuliert und dirigiert wurden – wie er überhaupt selten etwas dem Zufall überließ. Das macht das Stück zum paradigmatischen Fall einer Passage: Ein ›Werk‹, das kein Werk mehr sein will, sondern nur mehr eine Streuung von Szenen, ein Nicht-Opus, das sich mit seiner Kardinalzahl als Bruch dennoch eine gewöhnliche Ordnungsnummer zuweist und sie ironisiert, mithin eine Komposition im Übergang zu einem anderen musikalischen ›Schauplatz‹, dem Schauplatz des theatron, der Zeugenschaft, der die tradierten Einteilungen der Künste verlässt, um ein transdisziplinäres Ereignis zu statuieren, dessen ästhetische Durchdringung eine chronische Uneinheitlichkeit oder Nichteindeutigkeit erzeugt. Weder zielt es auf das Theater noch auf eine wie immer geartete neue Musik, sondern auf ein unbestimmtes Drittes, eine Praxis ohne klassifikatorischen Impuls. Jenseits aller Wiederholbarkeit oder technischen Reproduktion offerieren die Originale damit ein schlechthin Nichtdokumentierbares, das sich zuletzt ins Dunkel verschwiegener Beschreibungen, Momentaufnahmen oder willkürlicher Eindrücke verliert, die jedoch ob ihrer immer schon vergangenen Singularität gleichwohl den Begriff des Originals noch einmal ins Absolute überhöhen und damit gleichzeitig auratisieren. Der Avantgarde waren – trotz allem Willen zur
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Zertrümmerung der Aura – solche Reauratisierungstendenzen immer schon immanent.10
›Entwerkung‹ und Nichtankunft Es geht hier allerdings keineswegs darum, die Leistungen Stockhausens zu relativieren oder zu schmälern, indem auf diese Weise die Ambivalenz und innere Dialektik seines Versuchs skizziert wird, sondern darum, die Kölner, oder auch New Yorker und andere Originale (die Berliner bildeten dabei lediglich ein Stück Musealisierung) als Symptome eines Transitionspunktes zu lesen, die in ihrem rigorosen Experimentalismus weit vorweisen auf den Prozess jener fortschreitenden ›Entwerkung‹, die Kunst im Verlauf ihrer mehr als 50jährigen postavantgardistischen Geschichte konsequent weiter unternommen hat, um sich heute an einem radikal anderen Ort zu befinden. Um diese Verschiebungsarbeit wenigstens in Ansätzen zu analysieren, sei an den von Jean-Luc Nancy in Anklang an Maurice Blanchot in die Diskussion gebrachten Ausdruck desœuvrement erinnert, ohne ihn allerdings sogleich mit dem Sozialen zu assoziieren. Désœuvré meint das ›Nichtwerken‹ – mit ›Entwerken‹ hat es Christoph Tholen übersetzt, was sicher richtig ist, doch wäre sein Sinn mit Bezug auf die Praxis des Ästhetischen noch zu erweitern. Desœuvrement meint dann entsprechend nicht nur den Entzug eines Werkes, sondern den Verzicht auf seine ›Werkbarkeit‹, mithin die Abkehr von jeder ›Erwerkung‹, jeder finalen Machbarkeit. Was bedeutet das? Der Ausdruck desœuvrement bezieht sich bei Nancy auf die Gemeinschaft, von der es heißt, dass sie beständig im Werden begriffen sei, dass sie mithin ihre eigene Differenz oder Abständigkeit, ihren Aufschub beinhaltet.11 Die Gemeinschaft ist folglich immer abständig, ausstehend, unfertig, durchfurcht von einem grundlegenden Riss, sodass sie auch nicht das Werk eines Werkprozesses, kein Herstellbares darstellt, vielmehr muss sie sich erst ›bilden‹, mit allen Konnotationen der Bildung und Gestaltung, aber auch der Verweigerung der Gestalt, des Ungestalteten, der Nichtankunft und Unerfüllbarkeit. 10 | Mersch: Ereignis und Aura, a.a.O. 11 | Jean-Luc Nancy: »Mit-Sinn«, in: Elke Bippus, Jörg Huber, Dorothee Richter (Hg): ›Mit-Sein‹, Zürich: Voldemeer 2010, S. 21-32; ders.: Die Mit-Teilung der Stimmen, Berlin: Diaphanes 2014; ders.: singular plural sein, Berlin: Diaphanes 2016; ders.: Die verleugnete Gemeinschaft, Berlin: Diaphanes 2016.
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Immer kommt etwas ›Dazwischen‹, unterbricht die Figuren, die Formen des ›Zusammen‹, der Fusion oder ›Kon-Zentration‹. Jedes ›Mit-Sein‹ bzw. jede ›Mit-Teilung‹ oder ›Teil-Habe‹ – die mit ihrer langen Tradition über die methexis bis zur Partizipation etwas anderes bedeutet als ›gleichberechtigte Teilnahme‹, die moderne, verfahrenstechnische Schwundstufe eines politischen Sozialen – bewegt sich darum stets schon im Offenen, dem unbestimmten Zwischenraum des ›Mit‹ und erweist sich insofern als ›unerwerkbar‹, als sie nirgends gegeben oder ›gemeistert‹ und produziert werden kann, sondern jeweils nur als ein Zukünftiges, buchstäblich ›U-Topisches‹ in der Ferne bleibt und sich ankündigt. Das Gemeinsame wie die Gemeinschaft, die Sozialität des Sozialen kann daher allein als ein Unabschließbares oder Vorläufiges existieren, wie umgekehrt jede Aufrichtung oder ›Her-Stellung‹ unmöglich und als Entzogenes prekär bleibt. Dieser dezidiert soziale wie politische Sinn des Ausdrucks desœuvrement und die in ihm verborgenen Vorstellungen des ›Nicht‹ seien jedoch im Weiteren für die Kunst und insbesondere für die Kunst der Gemeinschaftsbildung, d.h. für die Frage der Triangulation zwischen ›Kom-Position‹, ›Inter-Pretation‹ und der Bildung eines Publikums ausgeborgt – eine Assoziation, die im Übrigen auch bei Nancy und Blanchot anklingt, denn das Werk und die ›Werkung‹ bilden genuine Kategorien des Ästhetischen. Mehrere Aspekte sind dabei zu beachten. Denn einmal wäre nunmehr die Kunst selbst das Unmachbare, das, was im steten Versuchen, dem ›Ex-Perimentellen‹ zwischen expetere und exagium zu sich hin winkt. Es stößt zu oder widerfährt, weshalb auch dem Verstehen ein Widerfahrnischarakter, die Plötzlichkeit einer Evidenz, die immer prekär bleibt, zukommt. Zudem ist in allen Bemühungen um eine Verweigerung des Werkes und seiner ›Entwerkung‹ sowie der Dekonstruktion des Ästhetischen unter dem Eindruck des Postavantgardismus und der ›performativen Wende‹ nach den 1960er Jahren, trotz aller expliziten Thematisierung, die Frage des Publikums und seiner Gemeinschaft oder Vergemeinschaftung, seiner – im Wortsinne – ›Sozialisierung‹ (wobei der Begriff nicht pädagogisch gemeint ist) offengeblieben. Entweder wurden die jeweiligen Publika instrumentalisiert oder es dachte niemand daran, sich einbeziehen und demokratisieren zu lassen, sodass die Statuierung performativer Ereignisse in Unterhaltung und Aufführung in Vorführung umschlugen. Zum anderen depravierte, was als neue politische Kunst sich gerierte und die Massen zu formieren und aufzurütteln, sie zu Engagement und Stellungnahme, zu Antwort und Ver-Antwortung zu
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›be-wegen‹ trachtete, zu bloßen Spektakeln der Sinne, die den Zauber der Indifferenz und Askese, das ›Sichberührenlassen‹ durch eine Alterität gerade wieder verspielten. Entwerkung, Offenheit und Nichtankunft bilden keine Selbstzwecke, sondern die Bedingungen des Ästhetischen selbst. Sie radikalisieren gleichzeitig jene verwegenen, aber unbestimmt bleibenden avantgardistischen Konzepte einer Überführung von Kunst in Leben, die deswegen ausblieben, als sie bestenfalls eine Ästhetisierung des Alltags versprachen, nicht aber eine Rekonstitution des Sozialen im Milieu der Künste.12 Diese ist mit der Figur des désœuvré, des ›Nichtwerken‹ als Ereignis, wie es besonders Josef Beuys mit der Idee der ›sozialen Plastik‹ und seinem Büro für direkte Demokratie vertrat, die stets aufs Neue die Frage sowohl nach der Kunst und ihren Möglichkeiten als auch ihrer Wahrnehmung, ihrer Fähigkeit, Erfahrungen zu stiften, ihren Ort im Praktischen wie im Politischen zu bestimmen, unmittelbar verwoben. ›Plastik‹ meint hier vor allem die Plastizität, den Prozess einer beständigen Variabilität und Transmutation, die Nichtfestlegbarkeit einer Gestalt und die unendliche Fortsetzung der Arbeit, die nicht nur das Ästhetische jedem einzelnen Akt inkorporiert, sondern auch eine ›Wendigkeit‹ und Wandelbarkeit anzeigt, die sich in ›Sprüngen‹ manifestiert, deren beständig neu ansetzende Kraft einer permanenten Verschiebung oder ›Drift‹ entspringt. Ihre Fluidität und Nichtschließung kommt dabei einem ästhetisch auszubuchstabierenden différance-Prinzip gleich. Der Sprung beansprucht insofern keine Gründe, sondern allenfalls ›Abgründe‹.
Nichter werkbare Ästhetik Dies sei, als abschließende Überlegung, in äußerst verknappter Form mit Blick auf die ästhetischen Praktiken der Musikperformance und des Musiktheaters im Zeichen der technologischen Wende konkretisiert. Dazu ist erforderlich, noch einmal kurz zu den Kölner Originalen zurückzukehren und sie in einen größeren Kontext zu stellen. Denn die Originale als eine Mischung aus Dadaismus, Happening und Fluxus inmitten der konstruktivistischen Dominanz serieller Musik betrieb nicht nur die Karikatur des Originalitätsbegriff und seines Anspruchs auf Einmaligkeit und Unwiederbringlichkeit, sondern auch das, was einmal als ›Reauratisierung 12 | Peter Bürger: Theorie der Avantgarde, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974; ders.: Nach der Avantgarde, Weilerswist: Velbrück 2014.
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in performativer Kunst‹ bezeichnet wurde.13 Sie beinhaltete neben einer Kritik des Ästhetischen damit aber auch eine Skepsis gegenüber fortschreitenden Technisierungsschüben und ihrer Aggressivität, die unterdessen alle Lebensvollzüge, nicht nur die Ästhetik in Gestalt des Designs, sondern auch des Konsums, der Regelung der Affekte, der ökonomischen Produktions- wie Distributionsverhältnisse sowie Formen der Partizipativität und der sozialen Kommunikation usurpiert haben. Sie haben im gleichen Maße sämtliche Bereiche der Kunst erfasst, sowohl hinsichtlich des Kunstmarktes als auch des unverhohlenen Verlangens nach Immersion, Effekt und Spektakel. Bildete Benjamins Kunstwerkaufsatz noch die Grundfolie der ernüchternden Diagnose, dass Kunst im »Zeitalter ihrer technischer Reproduzierbarkeit« ihre Singularität und damit ebenfalls ihre Aura eingebüßt hat, rückte er am Schluss des Essays das Kino an die Stelle der klassischen Künste, um deren an Kontemplation geschulten ästhetischen Selbstzweck an die Massenpolitisierung abzutreten. Verbunden ist damit eine Transformation der Publika von der bürgerlichen Vergeistigung zur Agitation. Auf der anderen Seite fokussiert jedoch das Kino seine Betrachter, stellt sie still, anonymisiert sie mit naiver Unterhaltung, wie Siegfried Kracauer zeitgleich herausgestellt hatte,14 um ihnen gleichzeitig jede Urteilskraft zu rauben, wie sie noch für die ›gebildeten‹ Ästheten der Klassik und Romantik bis zum beginnenden 20. Jahrhundert ausschlaggebend war. Die Teilhabenden depravieren so im buchstäblichen Sinne zu ›Zu-Schauenden‹, zu teilnahmslosen ›Bystanders‹, die sich durch den angebotenen Illusionismus und seiner am Kapitalismus orientierten Steigerungslogik immer wehrloser und gefügiger der Fixierung auf das Bild und dessen Narrativ hingeben. Rezeption bildet kein kritisches Verfahren, sondern eine Genussform, wie sie Benjamin in seinem berühmten Schlussbefund der zweiten Fassung seiner Schrift zwar als ›testende‹ Examinierung herbeisehnte, die jedoch, wie er gleichzeitig zu verstehen gab, auf Zerstreuung beruht, nicht auf eine sachlich bezo-
13 | Vgl. Dieter Mersch: »Ereignis und Reauratisierung.« In: Hubig, Poser (Hrg.): Cognitio humana – Dynamik des Wissens und der Werte, Workshop-Akten des XVII. Deutschen Kongresses für Philosophie, Leipzig 1996, Bd. 2, S. 1292-1299. 14 | Vgl. Siegfried Kracauer: Kino, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995.
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gene Konzentration.15 Die Streuung desavouiert aber die Möglichkeit von Einheit, verhängt sie zu geheimnisloser Magie. Gegen sie und die Versammlung des Zuschauers zur Masse – zu erinnern sei im Besonderen an die Verwendung des Terminus bei Elias Canetti und Hermann Broch –, setzte sich im Zuge der ›performativen Wenden‹ seit den 1960er Jahren gleichwohl ein anderes Verständnis von Politisierung durch, das den verschiedenen Publika einerseits die emphatische Rolle von Beteiligten zuwies, die ins Geschehen einzugreifen wüssten, um sie auf der anderen und im gleichen Atemzug wieder zu entmündigen. Das Erbe der 1960er Jahre ist diese Ambivalenz in Gestalt einer Dialektik der Gewalt, denn die Aufklärung, die sie betrieb, geschah im Namen derer, die sich als bereits Aufgeklärte verstanden, um entsprechende pädagogische Maßnahmen zu ergreifen. Folgerecht galt es, die Unaufgeklärten ihrer inerten Indifferenz zu entreißen und ›in Bewegung‹ zu versetzen – ›Bewegung‹ im gleichen Sinne von Agitation wie von der Selbstzuschreibung eines antiautoritären Protestes, der sich bezeichnenderweise im Kollektivsingular selbst als ›die Bewegung‹ im Widerstand gegen ›das System‹ verstand. Man denke hier – stellvertretend für viele Produktionen der Zeit – an Peter Weiss’ Die Ermittlung, an Handkes Publikumsbeschimpfung oder an John Cages Inversion des ästhetischen Ereignisses durch die konsequente Ausschließung jeglicher Vorgaben, um die Sinne für das jeweils erst ›Zukommende‹ allererst aufzuschließen und damit die systematische Einübung in andere Sensibilitäten zu ermöglichen. Beuys Ausdehnung der ästhetischen Kampfzone im ›erweiterten Kunstbegriff‹ wie auch Marina Abramovićs Performances, die die ethische Frage aufwarfen, wie weit Kunst gehen darf und inwieweit jede Betrachtung zwischen Voyeurismus und Eingriff eine Haltung einnehmen muss, gehören ebenfalls hierher wie gleichfalls der Aktionismus Valie Exports oder Peter Weibels, dessen Kriegskunstfeldzug von 1969 den unverhohlenen Terror nutzte, um die ignorante Menge mittels Tumult, Anschlag und potentieller Gefährdung direkt zu attackieren. Es ging also, in summa – neben den dekonstruktiven Interventionen ins Ästhetische selbst –, um eine Bearbeitung der Triangulation zwischen künstlerischem Prozess, Perzeptivität und negativer Gemeinschaftsbil15 | Walter Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, in: ders., Gesammelte Schriften I.2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974, S. 471-508, hier: S. 505.
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dung als einer Ökonomie des Sozialen, sodass, gleichsam, aus Kunst ein Erziehungsprogramm wurde, dem sich jedoch die derart ›Zu-Erziehenden‹ auf ihre Weise zu widersetzen wussten. Es war besonders das frühe Musiktheater, das mit seiner charakteristischen Kreuzung aus dramatischen und musikalischen Mitteln dafür wegweisend wurde – zu nennen sind hier vor allem die Multimedia-Experimente der Zeit –, doch blieb zugleich, trotz aller Verwerfung, Trägheit und Diktatur, die Aufgabe einer anhaltenden Sensibilisierung deren Unabgegoltenes. Entwerkung und différance wie ebenso die Öffnung für ein Alteritäres und das beständige Anderswerden durch ein immer wieder neu und anders Ansetzen der Aufführungen dienten dieser Aufgabe. So steht bis heute, auch wenn die Hierarchien tendenziell fortgeschrieben wurden, statt sie zu überwinden, die Beantwortung der darin aufgeworfenen Fragen weiterhin aus, auch wenn sie auf andere Weise gestellt werden, nämlich als Fragen nach radical pedagogies unter dem Eindruck der Eindimensionalität technischer Vernetzungen. Sie sind ab den 1990er Jahren virulent geworden, um in der sogenannten ›Relational Art‹ ihr blindes Korrelat zu finden.16 Ursprünglich traten darüber hinaus die Netzwerke, konträr zu ihrer heutigen Entwicklung, mit dem umfassenden Versprechen auf allseitige Verfügbarkeit von Informationen und grenzenloser Egalität auf, das im Personal Computer als seinem Medium und dezentralen Knotenpunkt sein eigentliches Instrument sowie seine Utopie der Befreiung und Gegenoffensive gegen staatliche Kontrolle fand. Fred Turner hat in seinem Buch From Counterculture to Cyberculture dessen Geschichte rekonstruiert,17 die im gleichen Maße die Geschichte eines Missverständnisses darstellt. Symptomatisch für diese ›Kehre‹ erscheint unter anderem, dass der Autor des Whole Earth Catalog, Stuard Brand, nur weniger Jahre nach dessen Veröffentlichung den Whole Earth Software Catalog und das Netzwerk Whole Earth ›Lectric Link mit dem Akronym WELL gründete, um schnell zum Pionier aller möglichen Online-Communities zu avancieren. Das Phantasma, das von Herbert Marcuses ›großen‹ gegenkulturellen Verweigerung zu den virtuellen Communities überging, bestand folglich im Glauben, der 16 | Nicolas Bourriaud: Relational Aesthetics, Dijon: Les presses du rèel 1998/2002. 17 | Fred Turner: From Counterculture to Cyberculture. Stewart Brand, the Whole Earth Network, and the Rise of Digital Utopianism. Chicago: University of Chicago Press 2008.
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PC könnte zu einer Dissidenz-Apparatur par excellence werden, zu einer Agentur der Demaskierung antidemokratischer Macht durch ein Dispositiv der Kritik, das für alle gleichermaßen zugänglich sei und nicht nur helfe, subversive Gegen-Öffentlichkeit zu etablieren, sondern auch neue Arten von Gemeinschaften, welche imstande seien, die herkömmlichen, auf Ungleichheit auf bauenden Sozialstrukturen aufzubrechen. Doch lehrten sie zuletzt unterhalb der Schwelle des Politischen und der staatlichen Gesetzgebung ihren Usern, die inzwischen zu bloßen Erfüllungsgehilfen eines unendlich akzelerierenden Kommunikations- und Warenstroms mutiert waren, das, was sie in Zukunft werden wünschen und konsumieren würden, nicht, wie man meinen könnte, um sie zu kontrollieren, sondern um ihr Begehren allererst freizusetzen (was schlimmer ist als Kontrolle). Cyberculture bedeutet dann die Verwirklichung von Counterculture als ihr kompletter Ruin, ihre Depravation und Entstellung, die sämtliche, damals kursierenden Utopismen bis zum letzten Buchstaben verbrannt haben. Kunst ist heute mit ihren Großinstallationen und den neuerlichen Verheißungen einer Überwältigungsästhetik einer ähnlichen Illusion erlegen.
Jenseits der Illusionen und die Zukunft der Künste Selten ist eine Zeit derart bedingungslos zum Zeuge eines Zusammenbruchs ihrer Visionen geworden wie unsere. Die Ambivalenz der Konstitution der Publika unter den Bedingungen digitaler Kulturen bildet deren Korrelat. Was als neue Formen von Communities erträumt wurden, ging gleichermaßen auf die Künste und im Besonderen das Theater über, das an Konzerten der Rockmusik ihr Vorbild nahm, um der Intensitätssteigerung und einem uniformen dionysischen Rausch zu frönen. Tatsächlich haben wir es mit zwei Seiten derselben Medaille zu tun: Die immaterielle Vernetzung aller mit allen und die körperlichen Exzesse der Präsenz als deren Kompensat, die beide einer Lust überbordender Vereinigung dienten. Zieht man die Schlüsse für die Frage der Vergemeinschaftung und ihrer ›Erwerkung‹ durch die Künste, fällt das Urteil durchaus negativ aus: Was sich im Kontext der Cyberrevolution an Musiktheater formiert, erliegt den gleichen Mystifikationen wie diese. Das Verhältnis der Künste zu ihren Publika unterzieht sich damit einer abermaligen Wende. Sie wäre der Formierung einer Bildung ästhetischer Gemeinschaften durch die verschiedenen Epochen des Kunstmachens als weitere problemati-
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sche Stufe hinzuzufügen. Ihre Geschichte ist allenfalls in Ansätzen geschrieben. Sie geht einher mit einer Geschichte des Hörens. Wollte man sie skizzieren, bedürfte es einer Archäologie der Beziehung zwischen Ästhetik und Sozialität, deren Stationen mit Bezug auf die Musik und ihre Theatralisierung über die Bildung religiöser Gemeinden im Akt der Konzentration durch die Monodien mittelalterlicher Gregorianik über die individualisierten Verwebungen der Vielstimmigkeit in der frühneuzeitlichen Motettenkunst bis zur Erzeugung des bürgerlichen Publikums als Abrichtung zu Versenkung und Kontemplation zu verfolgen wären; letztere strich die Körper und ihren Ausdruck aus, um im katatonischen Zustand der Arretierung ganz Geist und Empfindung zu werden. Ihr steht das intellektuelle Erlebnis der Neuen Musik entgegen, denn die Zwölftonkompositionen Arnold Schönbergs verlangte, trotz aller klagenden Einsamkeit der Stücke, von denen Adorno gesagt hat, sie spiegelten die ›Liquidation der Subjekte‹ und ihrer gesellschaftlichen Unterwerfung,18 eine sich einlassende ›Arbeit des Hörens‹, wie sie analog für Olivier Messiaen, Pierre Boulez, Stockhausen oder John Cage gilt, um nur einige zu nennen. Doch bleiben sie, trotz aller Radikalität, im Schema einer Dramaturgie der Darstellung und ihrer Destruktion befangen: Musik ist Struktur, auch als Zufall, als Happening, mit einem direkten Impuls zur Zeitkritik. Sie spiegelt, wie Adorno nicht müde wurde zu wiederholen, den Zustand der beschädigten Subjekte, die in der Unerträglichkeit der Klänge die Unerträglichkeit der gesellschaftlichen ›Verhältnisse‹ mitentdeckten. Das ideale Publikum gleicht so der Analyse, die die Musik an ihm vollzieht: Kunst gerät zum Aufklärungsprogramm, das der Ambiguität der Moderne nachgeht, der sie entsprungen ist, um ihre Betrachter oder Zuhörer im Durchgang durch ihre Aufnahme zu anderen zu machen, als sie je waren. Natürlich gibt es auch andere Ansätze wie die ephemeren Klangteppiche Morton Feldmans, die die Haltung der Wahrnehmung selber thematisieren und verwandeln, um stattdessen von Engagierten zu Meditierenden überzugehen. Ihnen ist die Kritik europäischer Rationalität immanent, um an nichteuropäische Esoteriken anzuknüpfen, die den Ermächtigungsphantasien der actio die entmächtigenden Resonanzen einer ihr vorgängigen passio entgegenhalten.
18 | Theodor W. Adorno: »Philosophie der neuen Musik«, in: Gesammelte Schriften in 20 Bden, Bd. 12, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003.
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Und dennoch dominiert darin überall noch ein Zug von Setzung, von Gestaltung, d.h. einer Erwerkung, die das Unerwerkbare sowohl des Ästhetischen als auch des Aisthetischen, der Aufnahme und Widerfahrung als Alterität verleugnet. Sie belassen die Publika in ihrer klassischen Rolle. Technische Netzwerke und ihre Vernetzung der Akteure mit der Vorstellung einer direkten Teilhabe und Partizipativität machen dabei keine Ausnahme: Ihr Credo des digitalen Samplings, der Kollaboration der Gadgets, der Konstruktion neuer Sounds oder der Entfaltung interaktiver Möglichkeiten wie Spielzeuge in der Hand vergnügungssüchtiger Pubertierender verbleiben im selben Modell gesteuerter Kollektive, in denen weiterhin das Werk, die Aneignung und die Verfügung im Zentrum steht. Keineswegs liegt die Zukunft der Musik in der Herrschaft über ihre Mittel und der Theatralisierung von Soundtechnologies, die mit ihren virtuellen Gemeinschaften bestenfalls einen Taumel des thaumaton erleben, statt die katharsis einer Reflexivität, die stets aufs Neue die ›Un-Möglichkeit‹ der Schließung und ihres dés-œuvré und der damit verbundenen Spannung oder Unruhe anzeigt. Dagegen manifestiert sich in jüngster Zeit eine andere Dramaturgie, die das dés-œuvrément ernster nimmt und die Krise der Repräsentation bereits hinter sich gelassen hat. Sie entgeht den Fabeln der Erwerkung, um gleichzeitig eine andere Form von Publika zu realisieren. Zu denken ist vor allem an jenen Sinn fürs Dokumentarische, das weder anklagt noch auf begehrt, sondern sich damit begnügt zu zeigen und folglich zu bezeugen. Er ist verknüpft mit einer Wiederherstellung des Realen. Seine Herkunft findet es im Reenactment, das nicht nur einfach etwas wiederholt, um die Wiederholung als Differenz auszuweisen, vielmehr wird, gleichsam an Ort und Stelle, eine Wirklichkeit manifestiert, die sich durch sich selbst aufdrängt, unsere Sinne in Beschlag nimmt und zum Zeugnis aufruft und Antwort verlangt. Filme wie Joshua Oppenheimers Act of Killing (2013), Kurzvideos wie Omer Fasts 5.000 Feet is the Best (2011), Aktionen des Künstlers Artur Zmijewskis oder Milo Raus Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs (2015) oder andere Stücke wie Ruanda. Hate Radio (2011) oder Die Moskauer Prozesse (2014) sprechen eine andere Sprache.19 Sie findet sich gleichermaßen in Manos Tsangaris’ Musiktheater und den jüngeren, experimentellen Arbeiten von Isa19 | Vgl. dazu als erste Versuche Magdalena Marszalek, Dieter Mersch (Hg): Seien wir realistisch. Neue Realismen und Dokumentarismen in Philosophie und Kunst, Berlin/Zürich: Diaphanes 2016.
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bel Mundry. Sie repräsentieren nichts, sie stellen nichts nach, sondern präsentieren Erfahrungen im Modus von Zeugenschaft. Die Zeugin aber changiert als fragile Figur zwischen Wissen und Ethos, denn es gibt sie nur im Rahmen einer ethischen Beziehung, die nicht produziert, sondern nur mehr angenommen werden kann. Jeder Zeuge ist ein Beteiligter, der nicht partizipiert, sondern sein Stigma auf sich nimmt und zur Schau stellt. Daher verlangt das Zeugnis den selbst schon kollektiven Akt der Anerkenntnis und des Vertrauens, die weder gesetzt noch erwerkt werden kann, sondern jederzeit auf dem Spiel steht. Zeugenschaft beinhaltet eine Singularität. Eine Neubestimmung von Kunst wäre von dort her vorzunehmen. Das bedeutet auch einer Entdeckung jener ›Gegen-Spiele‹, die noch einmal eine Apologie des Utopischen wagten. In der Tat liegt die Zukunft der Künste im Allgemeinen wie des Musiktheaters im Besonderen in den Chancen solcher ›transmedialen‹ Konstellationen, die, ohne die Digitalisierung abzulehnen oder sie zu mystifizieren, unter Auf bietung aller ästhetischen Kräfte die Genres sprengt und jene ›Verfransung‹ allererst realisiert, wie sie Adorno bereits Ende der 1960er Jahre heraufkommen sah.20 Das Theatrale wie auch die Verbindungen zwischen Musik, Text, Bild und Handlung, die Austarierung ihrer Konfliktlinien, die Stiftung kleiner oder ›vor-sichtiger‹ Passagen, die Rückkehr der geschundenen Körper und die Manifestation ihrer Leiden, das Unvorhersehbare oder Unvollendete und nirgends Aufgehende gewinnen daran die Brisanz einer ›anderen Authentizität‹ wie auch der ›Authentizität des Anderen‹, die nicht auf den Täter oder die Täterin im Sinne eines auctors rückführbar ist und auf dessen Taten zielt, sondern auf das, was selbst unter dem Signum konstruierter Identitäten nicht zu verneinen wäre. Ihr Sinn heißt: Widerstand – weniger als Resistenz gegen die offensichtlichen Formen der Herrschaft und Kontrolle als vielmehr gegen die Vereinnahmung durchs technologische System, worin heute alle Macht sich kristallisiert und das im letzten Sinne eine Trübung der Sinne unter der Totalisierung des Mathematischen vornimmt.21 Sie tilgt ebenso sehr die Schatten der Absenzen wie die Spuren der Unberechenbarkeit, der Unverfügbarkeiten oder Unentscheidbarkeiten, wie ihr gleich20 | Theodor W. Adorno: »Die Kunst und die Künste«, in: ders., Ohne Leitbild. Parva Aesthetica, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1967, S. 168-192. 21 | Vgl. dazu auch vom Verfasser: Dieter Mersch: Ordo ab chao/Order from noise, Berlin/Zürich: Diaphanes 2014.
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zeitig das Imperfekte, Brüchige oder Verletzliche, das Poröse oder kaum zu Fassende zum Opfer fällt, das Gilles Deleuze und Felix Guattari das »Gekerbte« genannt haben. Dazu gehört ebenfalls die hinfällige Exzentrizität des Fleisches wie auch solcher ›Er-Fahrungen‹, die im Wortsinne der ›Fahrung‹ ›radikale‹, d.h. an die Wurzel reichende Reisen unternehmen. Rührte die künstlerische Performance, das Happening, die Wiener Aktionskunst, mithin das, was sich als ›performative turn‹ in den Künsten seit den späten 1960er Jahre ankündigte, an eine Vergemeinschaftung der Tat, handelt es sich demgegenüber heute vornehmlich um die Notwendigkeit einer Arbeit am Ästhetischen, am Sinnlichen und Passiven, welche sich der Desensibilisierung im Übermaß der Affekte zu widersetzen suchen, um sie durch eine Praxis der ›Forschung‹ oder ›Bildung‹ zu unterlaufen, welche imstande ist, die Mikrophänomene der inframinces (Duchamp) zu restituieren. Solche Praktiken geben zuletzt nicht nur das Soziale, sondern auch die Wahrnehmung und das Humanum selbst als das Unerwerkbare preis. Doch darf dabei nicht, mit Nancy und gegen die Oberflächenpolitisierung der Künste durch die Ideologien des Partizipativismus, wie sie auf verschiedenste Weise seit nunmehr zwanzig Jahren propagiert werden, verkannt werden, dass den Künsten selbst ein Nichterwerkbares eignet, gleichsam ihr inhärentes désœuvrement als beständig uneinlösbarer Furor, der jeden Versuch einer Formung und Formierung, eines wie immer gearteten Diktats des Designs vereitelt. Scheint letzteres, mit Entwurf und Weltgestaltung,22 den manifesten Konstruktivismus technologischer Kultur im Modus des Ästhetischen restlos überformt zu haben, bedeutet Entwerkung im weiteren Sinne ebenfalls eine ›Ent-Wirkung‹ wie ›EntLassung‹ der Künste selbst. Sie sieht vom Technischen, vom Machen und seiner poietischen Macht ab. Zugleich impliziert sie, Partizipation oder Teilnahme offen zu lassen für andere Formen der ›Teil-Habe‹, des Andersseins schlechthin, auch der expliziten Departizipation, der Widerständigkeit gegen die Zumutungen ihrer Inklusion. Mithin das Offene offen zu halten und gerade nicht auf Praktiken der Vernetzung, der Herstellung oder Einbeziehung zu setzen: das wäre die ethische Erwartung an Kunst heute. Sie korrespondiert mit ihrer epistemologischen. Diese bedeutet: An22 | Vgl. Otl Aicher: die welt als entwurf, Berlin: Ernst und Sohn 1991; Friedrich von Borries: Weltentwerfen. Eine politische Designtheorie, Berlin: Suhrkamp 2016.
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ders denken zu lernen, das Andere denken lernen wie auch das Andere des Denkens, welches allein im Rahmen einer Kunst statthaben kann, die die Bodenlosigkeit nährt.23
23 | Vgl. dazu die Bemühungen des Verfassers in: Dieter Mersch, Epistemologien des Ästhetischen, a.a.O.
Dialog mit Untertiteln Manos Tsangaris, Daniel Ott Ott kommt mit blauem Auge, Tsangaris hinkend auf die Bühne. Es dauert eine Weile, bevor sie loslegen. Manos Tsangaris: Daniel und ich untertiteln uns schon seit mehr als vier Jahren. Und das dürfen wir jetzt fortführen. Uns interessiert sehr stark die Sprachverschiebung, die unterschiedlichen Sprachen, die unterwegs sind und z.B. in einem solchen Raum hier umherschwirren. Oder wir wollen in irgendeiner Form zumindest die Differenz wahrnehmen. Denn wir nutzen – oder wir denken, wir nutzten – ungefähr dieselbe Sprache. Ein Wort wie ›Dynamik‹ ist ein schönes Bespiel hierfür: Es kann für einen Wirtschaftswissenschaftler, für eine Psychologin, für einen Musiker, für einen Kunstwissenschaftler, also für den jeweiligen Diskurs, jeweils etwas völlig Unterschiedliches bedeuten. Da sind wir also schon bei der Frage des Originals mit Untertiteln. Denn die jeweiligen Diskurse erschaffen unsichtbare Präsenzen. Doch Daniel, bevor du mich wieder unterbrichst… Daniel Ott: Was ist ein »Original«? Was ist die Idee des Originals im Kunstzusammenhang? Was stärkt die jeweilige Grundidee? Denn es gibt Situationen, wo die Ideen sprießen, diese aber vom Grundgedanken ablenken. Und manchmal muss man so viel wegschmeißen, dass fast nichts mehr übrigbleibt, um wieder zum Original zu kommen. Tsangaris: Also wenn wir ehrlich sind, beschäftigt sich in Wahrheit keiner von uns mit der Frage des Originals. Wenn ich ein Stück versuche zu schreiben oder aufzuführen, ist mir das im Grunde völlig egal. Und auch der eigentliche Treibstoff, von dem her gearbeitet wird, ist doch eher eine Lücke, eine Auslassung, als die Vorstellung eines manifesten Originals.
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Wenn mich etwas antreibt, dann ist es ein Defizit, ein Mangel also. Mir fällt jetzt auf, wenn ich diese Situation beobachte: Wir sind die ersten, die zu ihrem Vortrag keine Abbildungen zeigen und kein PowerPoint verwenden. Wir leben mehr und mehr in vielsprachigen Situationen. Schauen und Hören und doppelt Schauen und Hören aus unterschiedlichen Quellen, das ist heute ganz normal. Ich habe ganze Kongresse erlebt, wo wirklich alles, alles in PowerPoint präsentiert war, was ja imaginieren soll: wir verstünden etwas. Also durch die Wirkkraft der Emblematik, weil wir etwas sehen: Wir sehen ein Foto, eine Überschrift, und dazu wird getextet. Und der Eindruck, der dann entsteht, ist, wir verstünden etwas, allein schon durch diese Zusammenfügungen aus Bild, geschriebenem und gesprochenem Text. Das hat mit Verstehen, was immer das sein mag, natürlich nichts zu tun. Was ich sagen will, ist: Die Freiheit im Umgang mit unterschiedlichen Sprachen, die interferieren oder miteinander eine Komposition ergeben, wird in unterschiedlicher Weise eingeengt. Wir gestalten das alle in unseren individuellen Leben, und zugleich ist das sozusagen der Indikator, oder die Folie, der Raum, in dem ich mich befinde, in dem ich von Vorneherein einfach ein gesellschaftliches Wesen bin. Ott: Jetzt möchte ich Dich als Komponisten fragen – mir fallen gleich zwei Beispiele dazu ein: Vor 15 Jahren hat Matthias Rebstock eine eigene Version von Deinem Stück winzig [Musiktheater für ein Haus] in einer Stahlfedern-Fabrik in Kreuzberg, Berlin aufgeführt. Letztes Jahr hat OperaLab von Love and Diversity eine neue Version aufgeführt. Wie ist das für Dich als Autor, der die Sachen ja zuerst inszeniert hat: Ist Deine Erst-Inszenierung das Original? Gibt es eine Variation des Originals, die Dich interessiert? Gibt es eine Weiterentwicklung? Oder wird Deine Arbeit dadurch untertitelt oder weitergeführt? Tsangaris: Wir sind jetzt mit der Frage der Werkhaftigkeit befasst und mit der individuellen Verantwortbarkeit. Wo ist das Original? Diese Diskussion in der Kunstgeschichte wurde schon ausführlich skizziert. Gerade in der Musikwissenschaft ist das ja ein Riesenthema: Ist die Partitur, die Ausführung, ist die Rezeption das jeweilige Original? Und ist es heutzutage die Dokumentation? Um mich an dieser Stelle auf eine hoffentlich produktive Weise noch bewegen zu können, würde ich etwas so Romantisches sagen wollen wie: es ist der ›Glutkern‹ des Werks. Es ist das, was die ganze Sache antreibt, wo auch aktuell die Energie gebündelt ist und
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von wo sie abstrahlt. Glutkern heißt: ich kann es auch nicht einfach so anfassen. Es wird sich irgendwo bewegen, womöglich – ich stelle mir das in dieser Sekunde so vor wie ein Stück Magnesium, das an Sauerstoff kommt und reagiert, und dann zischelt es so vor sich hin und es bewegt sich die ganze Zeit. Irgendwie so etwas. Nichts Manifestes. Etwas, das unbedingt in Bewegung sein muss, um zu existieren. Ott: Ich lese auf unserem ersten Stichwort-Zettel zur Biennale »Anspruch aufs Original, Moraldeutungshoheit«. Das Wort ›Deutungshoheit‹ hat mich sofort angesprungen. Dies betrifft eben die Frage – wir sprechen schon lange darüber –, dass Komponieren sich nicht nur beschränkt auf das Arbeiten mit Tönen, sondern fast eine Haltung zur Welt ist, eine Art, die Welt zu sehen, Dinge miteinander in Beziehung zu setzen, zu komponieren. Und tatsächlich ist es manchmal eine Frage, auch für ein Team, das ein Kunstwerk schafft: Wo und wieweit wollen wir uns an der Deutungshoheit beteiligen? Wann ist unsere Kunst Flaschenpostkunst, die wir weggeben? Ich habe in diesem Zusammenhang immer mal wieder an LICHT von Karlheinz Stockhausen gedacht. Stockhausen hat lange versucht, auch die Deutungshoheit über seine Werke zu behalten. Und jetzt passiert etwas Spannendes: jetzt, wo er diese Deutungshoheit – jedenfalls aus meiner Sicht – nicht mehr hat, wo auch andere Blicke auf die Arbeit zugelassen sind, da werden erst die interessantesten Realisierungen seines Werks möglich. Tsangaris: Du hast eben gesagt, das Komponieren sei auch eine Weise die Welt zu sehen und zu betrachten. Ich muss das nochmal umdrehen und auf diese gesellschaftliche Sache pochen, weil alles, was uns entgegenfliegt, eigentlich schon mit Komposition zu tun hat. Und eben das zeigt auch schon so eine PowerPoint-Situation beim Vortrag. Jeder Videoclip, jedes Ereignis in diesen Geräten, den Pads, die wir am Körper tragen [zeigt ein Smartphone], alles das ist komponiert. Sogar sehr absichtsvoll komponiert. Inklusive der BMW-Limousinentür, die zuschlägt. Sie könnte eigentlich lautlos zuschlagen, aber das wird bewusst gestaltet: Es gibt ein Sounddesign, damit dieses Auto teuer klingt. Also ich behaupte mal im Umkehrschluss, dass Menschen, die sich mit Musiktheater beschäftigen, ob man das ›New Discipline‹, ›New Conceptualism‹ oder wie auch immer nennt, zumindest sensibilisiert werden könnten, im aufkläreri-
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schen Sinne, für die Vielstimmigkeit der Welt, inklusive des Beeinflussungsapparats, der eben gesteuert wird, auch mit Blick auf die politische Dimension und Wirkung. Ott: Genau so wichtig ist für uns das Politische des Theatermachens. Nämlich schon die Form, in der wir beispielsweise versucht haben die Biennale zu organisieren, in wechselnden Hierarchien. Manchmal wechselt innerhalb von Sekunden die Kompetenz, so dass man sich sagt: Jetzt müssen wir aber dem Techniker folgen, und jetzt sollten wir dem KBB [Künstlerisches Betriebsbüro] folgen. Als Biennale-Team haben wir versucht, Kompetenzen so einzusetzen, dass die klügste Person in einem bestimmten Zusammenhang – es gibt ja niemanden, der immer klug ist, ich kenne zumindest niemanden – das Sagen hat. Und wenn eine Gesellschaft – oder heruntergebrochen ein Mini-Biennale-Team – in der Lage wäre, in solcher Weise mit wechselnden Hierarchien umzugehen, wäre das schon großartig. Das ist für mich vielleicht das viel Politischere als der Inhalt, der da verhandelt wird. Wenn man nicht die Gelegenheit hat, diese und jene Produktion innerhalb des Biennale-Spielplans zu sehen und diese in Beziehung zu setzen zu anderen Produktionen, dann ist es gar nicht möglich, eine Idee vom Festival als Ganzem zu bekommen. Tsangaris: Du siehst das wieder so schön vom Sozialen her. Daniel ist derjenige, der so etwas sehr schön organisieren kann. Und ich sehe es automatisch (zumindest in einer Parallelbewegung) anhand der Werkzeugkiste des Musiktheaters. Die Art und Weise, in der unser Gedächtnissystem, unser Memory System, konfiguriert ist und die Arbeit konditioniert und mit bestimmt, welche Grammatik darin enthalten ist, verursacht die Form, in der wir überhaupt arbeiten und denken können. Soll sagen: Komponierende sind seit Jahrhunderten damit befasst, vorerst nur Klänge aufzuzeichnen in einem anderen Medium – also zu visualisieren innerhalb eines bestimmten Zeichensystems – und auf diese Art und Weise etwas, das eigentlich sehr flüchtig ist, zu bannen und zu bearbeiten. Aber eben auf dem Papier. Und so denke ich, dass die Komponierenden eigentlich die ersten Medienkünstler sind, was die Reflexion zwischen diesen verschiedenen Sinnes- und Sprachebenen angeht. Heutzutage hat sich das natürlich extrem ausdifferenziert, weil Komponieren auch im musik-musikalischen Sinne schon sehr weit geht, seit Edison den Phonographen erfunden hat und seit all den Fortschreitungen, weil
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also Komponieren heutzutage auch sehr stark im Abbildenden stattfinden kann, vergleichbar der Fotografie oder dem Film. Und jetzt stehen diese verschiedenen Gedächtnissysteme, Sprachen, Grammatiken auch gegeneinander und bedingen sehr unterschiedliche Resultate. Die Konkretion dessen, was man da untersuchen kann, korrespondiert mit dem, was ich eben gesagt habe, nämlich dem gesellschaftlichen Apparat, dessen ästhetische Benutzeroberfläche sich uns immer wieder sich verwandelnd darbietet. Als etwas Komponiertes, also auch als etwas, das wir als solches lesen und analysieren können. Ott: Eigentlich gibt es auch genügend Momente, wo die Frage der unterschiedlichen Grammatiken und des sozialen Zusammenhangs im Theatermachen miteinander überblenden. Viele von Ihnen haben die beiden Eröffnungsproduktionen der Biennale gesehen. Die eine war Sweat of the Sun, bezogen auf die Dreharbeiten des Kino-Films Fitzcarraldo von Werner Herzog. Die andere war if this then that asnd now what von Simon Steen-Andersen. Bei Sweat of the Sun war es so, dass da in den letzten drei Jahren eine sehr intensive Teamarbeit stattfand. In erster Linie haben sich der Komponist und der Regisseur mit den Tagebüchern von Werner Herzog befasst und sich mit ihren jeweiligen Werkzeugen – Manos hat es vorhin Erinnerungswerkzeuge, Erinnerungssysteme, genannt – dem Original genähert. Bei dem Stoff, der dieser Produktion zu Grunde liegt, stellt sich die Frage: was ist denn das Original? Ist es die historische Figur Fitzcarraldo mit ihrem Wunsch, im peruanischen Urwald ein Opernhaus hinzuzaubern? Ist es der Film, der ja auch schon eine Art Übersetzungsarbeit leistet dazu? Was hat wiederum dieser Film mit der italienischen Oper oder dem Opernidiom zu tun? Ist die Oper das Original? Was ist aus dem Originalzusammenhang gerissen und wird in einen anderen Kontinent verpflanzt? Was ist daran kolonial? Ist wiederum der Amazonas der geographische Original-Hintergrund? Schwer zu sagen. Am Anfang standen die Tagebücher, der Text, mit dem sich das Team auseinandergesetzt hat, um daraus in unendlicher Kleinarbeit – das ist von der ersten Sekunde an Zusammenarbeit – gemeinsam dieses Werk zu bauen. D.h. in Wechseln, in minutenhaft wechselnden Hierarchien. Ganz anders bei Simon Steen-Andersen. Er hat erst einmal allein gearbeitet. Er hat alle Gewerke, Text, Komposition, Regie, Bühne selbst entwickelt, das war alles in seinem Kopf. Er hat aber letztlich nicht weniger zusammengearbeitet mit anderen Leuten, zwischen den Abteilungen, den Fächern des Werk-
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zeugkastens. Und darüber hinaus hat er sich auch während des Kompositionsprozesses immer wieder mit unterschiedlichen Leuten unterhalten und von ihnen beraten lassen. Der Produktionsprozess danach hätte nicht vielstimmiger sein können. Da war der ganze Theaterapparat mit mindestens 60 Beteiligten nötig, um sein Werk umzusetzen. Tsangaris: Es war alles verständlich, aber dafür machen wir jetzt zehn Sekunden Pause. [ca. zehn Sekunden Pause] Bei mir gibt es schon auch die Tendenz, mich mit anderen zu verknüpfen, aber dann muss ich immer wieder schnell mal nach Hause gehen, um meine Hausaufgaben zu machen, wie ich das nenne. Ott: Das ist interessant … Tsangaris: [m u r m e l n d] ich wollte noch weitersprechen [spielt auf Waldteufel] [Tsangaris bringt den Bühnen-Boden mit Superball zum Klingen, Ott beginnt am präparierten Klavier … Die beiden untertiteln sich … … und ihre Rede … gegenseitig … …] Tsangaris: Danke! Die beiden gehen von der Bühne, Tsangaris mit blauem Auge, Ott hinkt. Transkription des frei geführten Dialogs: Benjamin Damm
2. Beispiele und Analysen
Stand-up comedy auf zweiter Stufe Die Form des theatralisierten Solo-Rezitals bei Georges Aperghis Leo Dick In mancher Hinsicht fällt Georges Aperghis’ Stück Pub – Reklamen (2016) aus dem Rahmen der Münchener Biennale für neues Musiktheater 2016 – nicht allein, weil der Kompositionsauftrag an den griechisch-französischen Altmeister schwerlich mit dem erklärten Festivalkonzept einer ›Nachwuchsförderung‹ in Deckung zu bringen ist.1 Unabhängig hiervon steht die ostentative Aufwandlosigkeit der Produktion in scharfem Kontrast zum Setting aller übrigen Produktionen der Festivalausgabe. Aperghis’ Projektdesign sieht eine einzelne, unbegleitete, frontal auf der Bühne eines Black Box Theatre stehende und nur in ganz engem Radius agierende Sängerin (Donatienne Michel-Dansac) vor, die ihren Vokalvortrag den ganzen Abend über direkt ans Publikum richtet – kein weiterer Cast, kein Bühnenbild, keine auffällige Kostümierung, kein ausgefeiltes Raumkonzept, kein komplexes Lichtdesign und kein Einsatz multimedialer Technologien wie im übrigen Biennale-Programm; stattdessen scheinbar altmodische, direkte Face-to-Face-Kommunikation zwischen Akteurin und Publikum und damit einhergehend absolute Konzentration auf die affektive Wirkkraft der ›phänomenalen Leiblichkeit‹ der Soloperformerin:2 Deutlicher lässt sich die innere Distanz des Klassikers zu den
1 | Zur konzeptuellen Neuausrichtung der Biennale vgl.: Ott, Daniel/Tsangaris, Manos: »Musiktheater heute … und die Münchener Biennale 2016«, in: positionen, 106 (Februar 2016), S. 8-9. 2 | Erika Fischer-Lichte grenzt die »phänomenale Leiblichkeit«, das heißt die spezifische physische Identität eines Performers, vom »semiotischen Körper« ab, vgl.:
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itinerarischen, installativen, postspektakulären oder sonst wie dezentrierten Theaterkonzepten einer jüngeren Generation kaum artikulieren. Es griffe allerdings zu kurz, Pub – Reklamen deshalb als exterritorialen Sonderfall im Festivalprogramm 2016 abzustempeln. Der Produktion ist vielmehr offensichtlich die Rolle zugedacht, musikalische Bühnenexperimente der Gegenwart in der Historie des Composed Theatre zu verorten.3 Im Sinne einer Hommage an die Ursprünge dieser Theaterpraxis fungiert Pub – Reklamen gleichsam als Bezugsfolie, von der sich die ästhetischen Suchbewegungen einer jüngeren Generation wirkungsvoll abheben können. Dies betrifft zuvorderst den Aspekt des Auftritts: Das (halb-) theatral ausgespielte Solo-Rezital ist der grundlegende Performance-Typus einer progressiven musikszenischen Vortragskunst im 20. Jahrhundert. Seit Arnold Schönbergs Pierrot lunaire (1912) oder auch Kurt Schwitters’ Ursonate (1923) dominiert dieser Typus sowohl die Kammerformen eines anti-illusionistischen Musiktheaters als auch die eng verwandten Gebiete des extended vocal repertoire und der spoken word performance. Neben Komponisten wie etwa John Cage mit Aria (1958), Luciano Berio mit Sequenza III (1966) oder Recital I (for Cathy) (1972), Mauricio Kagel mit Phonophonie (1963-64) oder Vinko Globokar mit Toucher (1973) hat Aperghis selbst mit seinem kompositorischen Schaffen maßgeblichen Einfluss auf die Weiterentwicklung dieses spartenübergreifenden Darbietungsformats nach 1945 genommen. Der Zyklus Pub – Reklamen fügt sich nahtlos in die Reihe früherer Werke wie Récitations pour voix seule (197778), Six Tourbillons (1989) oder Quatorze Jactations (2001) ein. Freilich ist Aperghis’ Rückgriff auf ein bereits vielfach erprobtes Modell im Rahmen der Münchener Biennale keinesfalls als bloßer Akt künstlerischer Routine zu verstehen. Mit seiner Formatwahl reagierte Aperghis vielmehr auf das Festivalmotto »Original mit Untertitel« und sucht – nicht anders als die jüngeren Kolleginnen und Kollegen – dessen Wirkungspotential auf Fischer-Lichte, Erika: Performativität: Eine Einführung, Bielefeld: transcript 2015, S. 61f. 3 | Der Begriff Composed Theatre wurde in jüngerer Zeit von Matthias Rebstock und David Roesner geprägt und diskutiert. Als Composed Theatre wird eine Theater- bzw. Musiktheaterpraxis bezeichnet, in der kompositorisches Denken (im musikalischen Sinne) die Gestaltung aller Theaterparameter und ihrer Beziehung zueinander dominiert, vgl. Matthias Rebstock/David Roesner (Hg.): Composed Theatre. Aesthetics, Practices, Processes, Bristol: intellect 2012.
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seine Weise zu erschließen. Die Form des szenisch erweiterten Solo-Rezitals überblendet nämlich seit jeher diverse historisch aufgeladene Auftritts- und Präsentationsmodelle aus unterschiedlichen künstlerischen und sozialen Zusammenhängen. So adaptiert bereits das musikalische Virtuosentum des 19. Jahrhunderts die Auftrittsattitüde populärer Bühnenpraktiken und überführt sie in den Bereich bürgerlich-elitärer Kunstausübung.4 Diese dialektische Reibung verschärfen die Avantgarden des 20. Jahrhunderts zu einer brisanten Vermischung von Kunstreligion und Schaustellerei. Die windschiefe Synthese von Disparatem, quasi eine changierende, wechselseitige ›Untertitelung‹, zielt darauf ab, durch die Irritation habitualisierter Rezeptionsmodi faszinierende Ambiguitätserfahrungen zu stiften. Hierdurch kommen komplexe performative Dynamiken in Gang, die unversehens quasi-rituelle Züge annehmen können, wie im Folgenden insbesondere anhand Aperghis’ frühem musiktheatralem Œuvre erläutert werden soll.
Original und Adaption: cabaret und comedy als Auftrittsmodelle für avanciertes Musiktheater Aufführungen der oben genannten Avantgarde-Klassiker offenbaren immer wieder aufs Neue, wie sehr sich die musikszenische Konzeption des Vokalen in der Neuen Musik am performativen Vokabular boulevardesker Kleinkunst orientiert. Wenn Pierre Boulez ein Schlüsselwerk des 20. Jahrhunderts wie Pierrot lunaire als »eine Art ›schwarzen Kabaretts‹« bezeichnet,5 so ist das wörtlich zu nehmen: Mit der musikalisierten Sprechpartie des Pierrot hat Schönberg der Neuen Musik nämlich das formale Potential des Varietés seiner Zeit beziehungsweise des cabaret artistique erschlossen. Dabei entstand letztlich eine alternative Art der Theatralisierung des vokalen Solo-Vortrags abseits des herkömmlichen Opernauftritts. Angestrebt wurde die Emanzipierung der kleinen Form, ein direkter, intimer Publikumsbezug, der Durchbruch der vierten Wand des bürgerlichen Illusionstheaters und die Ersetzung einer kohärenten, auf 4 | Adolf Weissmann etwa legt dar, dass der klassische Virtuose vom Gaukler abstammt, vgl.: Adolf Weissmann: Der Virtuose, Berlin: Paul Cassirer 1918. 5 | Pierre Boulez: »Sprechen, Singen, Spielen«, in: Ders.: Werkstatt-Texte (aus dem Französischen von Josef Häusler), Frankfurt a.M.: Ullstein 1972, S. 124-141, hier: S. 130.
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dialogischer Figurenrede basierenden Rollenpsychologie durch einen flexiblen monologischen Auftrittsgestus. Zum Vorbild nahmen sich Schönberg und seine Nachfolger insbesondere die Vortragsattitüde der Pariser Diseusen. Für Ulrich Kühn äußert sich in den Auftritten legendärer Künstlerinnen wie Yvette Guilbert im Cabaret Chat Noir eine grundsätzliche »Differenz zwischen der Figur der Diseuse […] und der skizzierten Modellierung einer Rollenfigur, die sich im Chansontext als lyrisches Ich zu Wort meldet«.6 Diese Brechung ermögliche es, »permanent zwischen Rolle, Präsentation und Selbstpräsentation zu fluktuieren«.7 Der schillernde monologische Figurengestus des Chanson-Vortrags, den Pierrot lunaire produktiv aufgreift, wird fortan zu einem zentralen performativen Modell für experimentelle Theaterformen, in deren Mittelpunkt die Inszenierung des Musizierens rückt. Die ständige ›Erforschung der Übergänge‹ zwischen konzertanter Präsentation und theatraler Darstellung, von denen Matthias Rebstock in Bezug auf Mauricio Kagels Werke spricht,8 kennzeichnet sowohl den ChansonVortrag im frühen Cabaret als auch die Auftrittspraxis des avancierten Musiktheaters und hebt beide Bereiche von der Oper ab: »Der Sprechgesang der Diseuse stilisiert sich nicht, wie der Gesang der Oper, als Resultat dramatisch motivierter Regungen einer Rollenfigur, sondern er zeigt sich dem Publikum als in jedem seiner Momente reflektierter und faktisch nie vollzogener Übergang von der Stellungnahme zur Darstellung.«9 In Pierrot lunaire wird diese Haltung nicht nur als Auftrittstechnik übernommen, hier beginnt vor allem auch das ganzheitliche Spiel mit dem ästhetischen Ambiente einer populären Halbweltkultur im elitären Rahmen der Neuen Musik. Dessen ›Als ob-Charakter‹ liegt dabei 6 | Ulrich Kühn: Sprech-Ton-Kunst. Musikalisches Sprechen und Formen des Melodrams im Schauspiel- und Musiktheater (1770-1933), Tübingen: Niemeyer 2001, S. 240. 7 | Ebd. 8 | Vgl. hierzu: »Das Entscheidende bei Kagel ist die Erforschung der Übergänge: wo beginnt eine Rolle, ab wann wird die Aktion zur Darstellung von etwas und wie lange bleibt sie einfach Aktion; wie tritt das Sichtbare über das Hörbare hinaus, verändert dadurch das ›scheinbar‹ normale Instrumentalspiel etc.« (Matthias Rebstock: Komposition zwischen Musik und Theater: das instrumentale Theater von Mauricio Kagel zwischen 1959 und 1965, Hofheim: Wolke 2007, S. 136.) 9 | Ulrich Kühn: Sprech-Ton-Kunst, S. 240.
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stets offen zu Tage: Die Sprechinterpretinnen des Pierrot lunaire haben in der Regel hinsichtlich ihrer sozialen Herkunft und ihres Ausbildungshorizonts wenig gemein mit den Diseusen des Montmartre cabaret. Der Gestus des Sprechvortrags erfährt demgemäß eine Umfärbung. An die Stelle der scharfzüngigen, sozial aufmüpfigen und latent anzüglichen chansonière tritt die Interpretin klassischer Musik, deren Auftrittskonventionen niemals gänzlich preisgegeben werden. Ähnlich wie bei Kühn hinsichtlich Guilberts Vortragsart beschrieben, können dieser Grundattitüde aber »andere Rollenkomponenten als transparente Masken«10 übergestülpt werden. Das flexible Changieren zwischen verschiedenen Präsentationsmodi wurde, von Pierrot lunaire ausgehend, zu einem zentralen Merkmal vokaler Performance im Bereich des Composed Theatre. Im Zuge einer Neukonfiguration des Vokalauftritts nach 1945 haben Komponisten wie Cage, Berio oder Kagel Schönbergs idealisierende Ästhetisierung des Kabaretts bis zur Verunkenntlichung des Originals weitergetrieben. Verloren ging dabei nicht nur dessen beißende Sozialkritik und tagesaktuelle politische Einflussnahme, sondern auch jener anarchische Humor des Kabaretts, der in Pierrot lunaire in makabrer Form durchaus noch durchschimmert. In dieser Hinsicht markiert Aperghis’ Schaffen wiederum eine entschiedene Wende im Bereich der Nachkriegsavantgarde. Im Gespräch mit Antoine Gindt äußert die Schlagzeugerin und Vokalperformerin Françoise Rivalland ihre Bewunderung für Aperghis’ Bühnenkunst hinsichtlich deren Fähigkeit, Lachen zu provozieren: »Il y a quelque chose qu’on apprend avec la musique d’Aperghis: provoquer le rire. C’est une sensation merveilleuse. […] Il faut aimer rire, car le rire est libérateur et ne respecte rien: insolent, c’est une réaction envers les facteurs d’angoisse, la mort, l’amour, la vie.«11 In der Tat erregt Aperghis’ spielerisch-dekonstruierender Umgang mit Fragmenten banaler Alltagsrealität – im Falle von Pub – Reklamen sind das TV-Werbespots – beim Publikum regelmäßig Heiterkeitsausbrüche, die alles andere als typisch für ›Neue Musik-Präsentationen‹ sind. Aperghis provoziert dabei jene Art 10 | Ebd. 11 | Antoine Gindt: Georges Aperghis, le corps musical, Arles: Actes Sud 1990, S. 29-30: »Es gibt etwas, das man durch Aperghis’ Musik lernt: Lachen provozieren. Das ist eine wundervolle Erfahrung. […] Wir sollten es lieben zu lachen, denn Lachen ist befreiend und respektlos, frech, es ist eine Reaktion gegen Faktoren der Angst, gegen Tod, Liebe, das Leben. » (Übersetzung: der Verfasser)
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von Lachen, die Michail Bachtin in seinem Buch Rabelais und seine Welt beschrieben hat. In diesem epochalen, in Westeuropa erst gegen Ende der 1960er Jahre rezipierten Text unternimmt der russische Literaturtheoretiker den Versuch, anhand einer Neulektüre von François Rabelais’ Romanzyklus Gargantua und Pantagruel (1532-1564) die »volkstümliche Lachkultur zu erforschen« und ihre Beziehung zur »offiziellen Kultur der herrschenden Klassen« zu umreißen.12 In der Übergangsphase vom Spätmittelalter zur Renaissance sieht Bachtin eine einzigartige Periode der Annäherung von Volkskultur und Hochkultur: In der Renaissance gelang es dem Lachen in seiner radikalsten, universalsten, vielleicht weltumfassendsten und zugleich heitersten Form, ein einziges Mal im Lauf der Geschichte für (je nach Land) fünfzig oder sechzig Jahre aus dem Volk heraus und zusammen mit den (»vulgären«) Volkssprachen in die große Literatur und die offizielle Ideologie vorzudringen. Diesem Umstand verdanken der Decamerone Boccaccios, die Romane Rabelais’ und Cervantes’, Shakespeares Komödien und andere Werke der Weltliteratur ihre Entstehung.13
Das Prinzip dieses ›universalen Lachens‹ basiert gemäß Bachtin auf der im Mittelalter und in der Renaissance geltenden ›Karnevalssprache‹, mithin einem System von bestimmten Zeichen. In ihrem Vorwort zur deutschen Ausgabe des Rabelais-Textes zählt Renate Lachmann die entscheidenden Paradigmen dieser Karnevalssprache auf: »fröhliche Relativität, Instabilität, Offenheit und Unabgeschlossenheit, das Metamorphotische, die Ambivalenz, das Exzentrische, die Materialität-Leiblichkeit, der Überfluss, das Austauschen der Wertpositionen: oben/unten, Herr/Sklave, und das Gefühl der Universalität des Seins«.14 Wie viele andere kreative Köpfe seiner Generation macht sich Aperghis zentrale Aspekte der Kunstauffassung Bachtins zu eigen. Insbesondere das Prinzip der karnevalistischen Inversion etablierter Ordnungsmuster wird zum Motor seines Musiktheaterschaffens. So charakterisiert er etwa die Projektarbeit im Rahmen seines 1976 in Bagnolet gegründeten 12 | Michail Bachtin: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur (aus dem Russischen von Gabriele Leupold), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S. 519. 13 | Ebd., S. 122. 14 | Renate Lachmann: »Vorwort zu ›Rabelais und seine Welt‹«, in: M. Bachtin: Rabelais und seine Welt, S. 25f.
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Atélier Théâtre et Musique (ATEM) mit den Schlagworten détournement und tendresse, die ganz offensichtlich Bachtinschen Geist atmen: Deux idées président au travail de création et de gestion à l’ATEM. La seconde est la tendresse. La première, le détournement. […] Rendre le social intime, le sonore visuel, le concert théâtral, les mots musique, le sentimental comique, nous semble un jeu vital dans la polémique que nous engageons contre le goût du jour. […] Quant à la tendresse, c’est celle que nous éprouvons pour les objets, les choses et les sons abandonnés par tous, réputés sans valeur, les chutes, les mauvaises idées, les concepts contre lesquels on a dit tout le mal possible et qui souvent, vus sous un autre angle, reprennent vie et inspiration.15
Das französisch als ›détournement‹ bezeichnete Verfahren einer ›Umleitung‹, ›Verkehrung‹ oder ›Zweckentfremdung‹ stellt Aperghis in den Dienst der lustvollen Überzeichnung und Verzerrung von Bildausschnitten der alltäglichen Lebenswelt. Aperghis’ Kompositionen behalten dabei stets den stofflichen und mentalen Erfahrungshorizont ihrer Ausführenden und ihres Publikums im Blick und nähern sich hierin dem Kabarett oder auch seiner modernen Ausformung als stand-up comedy an.16 Der ge15 | Georges Aperghis: »Programme de Conversations« (1985), abgedruckt in: A. Gindt: Georges Aperghis: le corps musical, S. 73: »Zwei Ideen leiten die Arbeit der Kreation und Produktion im ATEM. Die zweite ist die Zärtlichkeit, die erste das détournement (Zweckentfremdung, Umleitung). […] Das Soziale intim machen, das Klingende visuell, das Konzert theatral, die Worte zu Musik, das Sentimentale komisch: das scheint uns ein lebendiges Spiel innerhalb der Polemik zu sein, die wir gegen die Tagesmode entfachen. […] Was die Zärtlichkeit betrifft: Sie ist es, die wir für die Objekte, Dinge und Klänge empfinden, die von allen aufgegeben wurden, die als wertlos gelten, für die Abstürze, die schlechten Ideen, die Konzepte, gegen die man alles mögliche Schlechte vorgebracht hat, die aber oft – aus einem anderen Blickwinkel betrachtet – Leben und Inspiration wieder anfachen.« (Übersetzung: der Verfasser) 16 | Seit der Jahrtausendwende hat sich die Forschung vermehrt mit Geschichte, Form, Struktur und Wirkungspotential der stand-up comedy befasst, vgl. etwa: Oliver Double: Stand-up! On being a comedian, London: Methuen 1997, ders.: Britain had talent: a history of variety theatre, Basingstoke: Palgrave MacMillan 2012, oder Sophie Quirk: Why Stand-up Matters. How Comedians Manipulate and Influence, Bloomsbury: Methuen 2015.
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forderte ›zärtliche‹ Umgang mit vernachlässigten, verdrängten oder verworfenen Gegenständen, Ideen und Eigenschaften, im Sinne Julia Kristevas mit ›Abjekten‹,17 weist erstaunliche Parallelen zu Techniken und Wirkungsabsichten moderner stand-up comedians auf. Wie John Limon erläutert, liegen deren Auftritten Prozesse der ›abjection‹ zugrunde, also der symbolischen Auseinandersetzung mit Abjekten, die das verkörpern, ›what cannot be subject or object to you‹: »When you feel abject, you feel as if there were something miring your life, some skin that cannot be sloughed, some role (because »abject« always, in a way, describes how you act) that has become your only character. Abjection is self-typecasting.«18 Stand-up comedy verfolgt demnach im Grunde das Ziel, auf unterhaltsame und amüsante Weise lebensweltliche Bruchlinien psychischer und sozialer Art freizulegen und aufzuarbeiten. Ähnliches peilt auch Aperghis mit seinen theatralisierten Solo-Rezitalen an, zudem mit vergleichbaren formalen Mitteln. Ebenso wie viele konventionelle stand-up performances stehen seine konfrontativen Bühnenmonologe vornehmlich im Dienst der Verhandlung von Geschlechterrollen. Die ludische und oft bizarre Symbolwelt, die Aperghis erzeugt, ist freilich tendenziell komplexer und widersprüchlicher strukturiert als bei vielen kommerziell ausgerichteten stand-up comedies.19 Mit kompositorischen und inszenatorischen ›détournement-Verfahren‹, die im Folgenden ansatzweise am Beispiel des frühen Vokalzyklus Récitations beschrieben werden, hebt er das populäre Format gleichsam auf eine zweite Stufe: Die künstlerisch veredelte stand-up comedy wird dabei zum transformierten ›gender-Ritus‹, einer symbolischen Auseinandersetzung mit geschlechtlichen Rollen- und Interaktionsmustern mit den Mitteln einer musikszenischen Kleinkunst.
17 | Zur Definition des Begriffs vgl. Julia Kristeva: Pouvoirs de l’horreur: essai sur l’abjection, Paris: Editions du Seuil 1980, S. 9f. 18 | John Limon: Stand-up Comedy in Theory, or, Abjection in America, Durham: Duke University Press 2000, S. 4. 19 | Damit soll freilich herausragenden Vertreterinnen und Vertretern des Genres wie z.B. Julian Clary oder Eddie Izzard keineswegs die Fähigkeit zu inhaltlicher und struktureller Komplexität abgesprochen werden.
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Détournement I – Text, Komposition und musikalische Interpretation Eine Transzendierung des monologischen Comedy-Modells vollzieht sich bei Aperghis zunächst in poetischer Hinsicht: Ganz konform zu der Linie einer neuen, experimentellen Vokalität nach 1945 zielt sein Umgang mit Text niemals auf eine ›Sprachvertonung‹, sondern stets auf die Autonomie einer Sprach- bzw. Sprechmusik ab. Syntax und Semantik erscheinen fragmentiert oder werden im Sinne abstrakter Lautpoesie gänzlich suspendiert zugunsten einer Freisetzung des klanglichen Potentials artikulatorischer Vorgänge. Typisch für Aperghis’ Sprachlaut-Kompositionen sind dabei die schillernden Übergänge zwischen Abstraktion und Konkretion. Um diese zu erzeugen, operiert Aperghis mit der Überlagerung kompositorischer Techniken, die einander widersprechen, behindern oder durchkreuzen. Einige dieser Überblendungsverfahren lassen sich anhand der 1976 komponierten Récitations leicht beschreiben: So exponiert etwa das erste der 14 weitgehend autonomen, auch einzeln oder in beliebiger Reihenfolge aufführbaren Stücke zu Beginn als Grundmaterial eine festgelegte Abfolge der zwölf Töne der chromatischen Skala. Im weiteren Verlauf bleibt die Lage der Töne fixiert, auf die üblichen Ableitungen und Transpositionen der Reihe wird gänzlich verzichtet. In gleichmäßiger Bewegung trägt die Singstimme zunächst unterschiedlich lange, jeweils durch Pausen getrennte Teilsequenzen der Reihe vor, jede neue Phrase setzt die Tonfolge an dem Ort fort, an dem die letzte zuvor unterbrochen wurde. Ab der zweiten Zeile brechen Vorschläge und repetierte Töne den bis dahin regelmäßigen Fluss auf, ab der dritten kommen einzelne Haltetöne und die Wiederholung von Tonpaaren im Halbton-Abstand hinzu und im letzten Drittel des Stücks werden diese Halbtonpaare zu veritablen Trillern ausgesponnen. Der Notentext suggeriert demnach ein selbstgenügsames Spiel mit simplen, nachvollziehbaren musikalischen Abläufen. Aperghis streut dabei allmählich immer mehr Sand in ein zunächst reibungslos laufendes Getriebe. Die darüber projizierte textliche Ebene lädt dieses Spiel mit Bedeutung auf. Jeder der zwölf Töne wird mit einem bestimmten Wort gekoppelt. Als Serie erscheint die Wortfolge zusammenhanglos, der semantische Gehalt der einzelnen Begriffe jedoch durchaus vielsagend: »tresses-femme-elle-jeune-les-œil-son-lève-jeune-elle-la-lie« (deutsch: »Zöpfe-Frau-sie-jun-
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ge-die-Auge-ihr-hebt-jung-sie-die-bindet«). Ignoriert man die auffälligen Wortwiederholungen von elle/jeune, lässt sich die Folge etwa zu diesen beiden vollständigen Sätzen umstellen: »La jeune femme lève son œil. Elle lie les tresses.« (deutsch: »Die junge Frau erhebt ihr Auge. Sie bindet sich die Zöpfe.«) Der Textgehalt evoziert von daher recht unverblümt die Männerphantasie einer verführerisch-unschuldigen Kindfrau. Die Fusion von Text und Tonstruktur durchkreuzt diesen Eindruck zunächst nicht etwa, sondern verstärkt ihn. Halte- und Vorschlagstöne sowie Tonwiederholungen fallen primär mit den Schlüsselbegriffen »jeune« und »elle« zusammen. Die repetitiven Figuren erscheinen in diesem Licht als vorgeblich absichtslos-naives Dahinträllern (etwa von Abzählversen), umso mehr, als die Triller bevorzugt mit dem Wortpaar »la-lie« betextet und somit zur spielerischen Vokalise umgeformt werden. Über das spielerisch Liedhafte legt sich aber zunehmend eine Schicht mechanischer Motorik, die zuweilen ins Stottern gerät. Hier offenbart sich ein grundlegender Wesenszug von Aperghis’ Musik, den Marcus Gammel folgendermaßen beschreibt: »Aperghis’ künstlerisches Spielfeld spannt sich zwischen zwei (scheinbar) weit auseinanderliegenden Polen: das Seinsvergessene, Maschinelle, Objekthafte, Unbelebte auf der einen Seite, und das Organische, Wachsende, erinnernd Lebendige auf der anderen.«20 Eine Gegenüberstellung der beiden Aufnahmen der Récitation 1 von Martine Viard und Donatienne Michel-Dansac macht diese Pole erlebbar.21 Viard singt das Stück fast durchweg leicht hauchig, sotto voce, mit künstlich aufgehellter, gleichsam mädchenhafter Klangfärbung. Sie schlägt ein recht gemäßigtes Tempo an und phrasiert entspannt, wie beiläufig, den spielerischen Charakter der Komposition betonend. In MichelDansacs Version kommt die Motorik des Stücks stärker zum Zug, allein schon durch das deutlich schnellere Tempo. Anders als Viard verzichtet sie auf karikierende Stimmfärbungen und präsentiert insofern mehr eine Etüde als ein Charakterstück. Beide Versionen orientieren sich letztlich am variantenreichen, stets aber stark textbezogenen Diseusen-Tonfall einer Yvette Guilbert. Noch 20 | Marcus Gammel: »Klangkörper der Erinnerung – Musikalische Puppen bei Georges Aperghis«, in: Hilberg, Frank/Vogt, Harry (Hg.): Wittener Tage für neue Kammermusik 2007, Saarbrücken: Pfau 2007, S. 44-51, hier: S. 45. 21 | Die Aufnahme von Martine Viard ist im Jahr 2000 beim Label Montaigne erschienen, diejenige von Donatienne Michel-Dansac 2006 bei col legno.
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expliziter tritt das historische Modell allerdings in anderen Teilen des Zyklus hervor: Bis auf No. 12 und No. 13 operieren sämtliche weitere Récitations mit diversen Formen des Übergangs zwischen Sprechen und Singen und greifen damit ein zentrales Charakteristikum des Diseusenvortrags auf. No. 9 liegt etwa ein gesprochener Satz recht unverhohlen erotischen Inhalts zugrunde: »Parfois je résiste à mon envie, parfois je lui cède – pourquoi donc ce désir?« (deutsch: »Zuweilen widerstehe ich meiner Lust, zuweilen gebe ich ihr nach – warum nur dieses Verlangen?«) Die Komposition durchsetzt den gemessen rhythmisierten Sprechvortrag mit kurzen vokalen Affektgebärden: einer aus extrem hohem Register schnell abfallenden Koloratur, einem langen Ausatmen, dem ein schnapphafter Atemzug folgt, einer Sequenz von kurzen Atemstößen auf verschiedenen Tonhöhen. Das Wort »donc« wird ferner als chromatisch vom f2 abfallende, gebundene Dreitonfolge gesungen: ein klassischer Seufzer- bzw. Leidenstopos. Die karikierende Stoßrichtung einer sentimental überzeichneten Selbstaussprache machen sowohl Viard als auch Michel-Dansac deutlich. Unterschiedlich reagieren die Interpretinnen aber auf Aperghis’ Strategie der Mechanisierung dieser quasi-barocken Affektabfolge. Die Partitur baut die Sequenz von Zeile zu Zeile sukzessive auf, jeweils ein Textelement hinzufügend: »sir – désir – ce désir – donc ce désir« etc. Daraus resultiert jene auch für den Bereich der optischen Poesie typische Geometrisierung der schriftlichen Textgestalt, die zum Markenzeichen von Aperghis’ Partitur-Layout werden sollte. Während Viard dem Notentext ganz konventionell von oben nach unten folgt, den gesprochenen Satz also langsam rückwärts aus seiner Schlusssilbe entwickelt, geht MichelDansac den umgekehrten Weg von unten nach oben und spitzt die Aussage buchstäblich und zunehmend atemlos auf den Schlüsselbegriff désir zu. Beide Fälle verdeutlichen, dass Aperghis’ streng formalistisch-additive Kompositionstechnik den Affektgehalt der sprachlichen Aussage und des Vokalvortrags nicht etwa abstrahiert (oder gar neutralisiert), sondern ins Manische wendet und/oder ironisiert. Das Prinzip, durch additive Aneinanderreihung und Wiederholung von knappen Partikeln komische und absurde Wirkungen zu erzielen, dürfte sich Aperghis von der italienischen Oper abgeschaut haben. Im Gespräch mit Omer Corlaix bekennt er, seine ›période rossinienne‹ gehabt zu haben:
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Je suis fasciné par cet entrain, cette gaieté, cette folie furieuse qui dominent tout le temps des œuvres comme le Barbier de Séville ou l’Italienne à Alger. Cette folie parvient à embarquer les mots, les personnages, les situations dans un tourbillon. […] Il se coule dans le moule de cette nouvelle société bourgeoise pour mieux nous donner à entendre et à voir les imprévus de la machine sociale. 22
Rossinis Kompositionsverfahren steigert Aperghis in der berühmten Récitation 11 zu einem Prozess der Teilchenbeschleunigung. Der Notentext wird hier zu einer Pyramide geformt, die sich aus dem additiven Strukturprinzip ergibt, jeder Wiederholung einer Sprechsequenz auf der nächsten Zeile jeweils ein neues kurzes Motiv sowohl voranzustellen als auch anzufügen. Die motivischen Bausteine bestehen aus kurzen Fragmenten alltäglichen Geplauders (»Comme ça! – faut pas vous appeler – va lui demander toi – je m’excuse – et puis?« usf.) und aus einigen Affektlauten wie etwa kurzem Lachen, das als abwärts glissandiertes Tremolo notiert ist. Die kurzen Notenwerte und die Andeutung von Tonhöhenverläufen suggerieren ein klangvolles parlando im vokaltraktorientierten und daher leicht affektiert wirkenden Sprechtonfall. Ganz offensichtlich steht hier nicht nur das Rezitativ der Buffa Pate für die imaginierte Vortragsweise, sondern auch der Sprechstil der französischen Boulevardkomödie und nicht zuletzt Jacques Offenbachs opéra bouffe mit ihren »›fugues des mots‹ fondées sur la répétition de syllabes et de mots«.23 Das Räderwerk der von Aperghis beschworenen machine sociale machen sowohl Viard als auch Michel-Dansac fühlbar, ansonsten unterscheiden sich ihre Interpretationen der Récitation 11 fundamental. MichelDansac nutzt die kinetische Energie der Komposition zur Ausstellung rezitatorischer Virtuosität. Das bis zum Schluss durchgehaltene horrende Tempo und die permanente exakte Reproduktion der einmal gesetzten, 22 | Aperghis in: Omer Corlaix: »L’opéra entre chien et loup. Entretien avec Georges Aperghis«, in: dissonance 86, Mai 2004, S. 20-23, hier: S. 21: »Ich bin fasziniert von diesem Schwung, dieser Fröhlichkeit, dieser zornigen Verrücktheit, die solche Werke wie den Barbier von Sevilla oder die Italienerin in Algier fortwährend beherrschen. Diese Verrücktheit schafft es, die Worte, Personen und Situationen in einen Strudel einzuschleusen. […] Er [Rossini] versenkt sich in die Form dieser neuen bürgerlichen Gesellschaft, um uns das Unerwartete dieses sozialen Getriebes besser sehen und hören zu lassen.« (Übersetzung: der Verfasser) 23 | Ebd.
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engmaschigen Tonfallkontraste peilen Wirkungen einer Virtuosenperformance an, wie sie Gabriele Brandstetter, Bettina Brandl-Risi und Kai van Eckels beschrieben haben: Sie »scheinen die Grenzen des physisch Leistbaren zu überschreiten«24 und zielen darauf ab, den Hörer in den Bann zu schlagen und zu verblüffen. Viard hingegen stülpt der gleichförmigen Mechanik der Partitur eine eigene, nicht-notierte Affektdramaturgie über, die verschiedene Phasen – etwa der Euphorie, Wut, Verzweiflung und Resignation – durchläuft. Unabhängig von der geometrischen Ordnungsstruktur wandeln sich dabei laufend Tempo, Tonfall und Phrasierung. Maschinelles erscheint hier tendenziell im Lichte einer vielschichtigen und widersprüchlichen (bis pathologischen) Persönlichkeitsstruktur. Die heterogene und diskontinuierliche Oberfläche der Récitations ist auf einen im Grunde leicht verständlichen Ursprungskern zurückzuführen, den Aperghis selbst ganz offen benennt: »En fait tout vient d’une réflexion sur l’hystérie, car juste avant j’avais réalisé L’histoire de loups où je reprenais le récit clinique de L’homme aux loups de Sigmund Freud.«25 Der Zyklus exponiert allerdings weniger eine individuelle Krankengeschichte, sondern setzt ein dissoziiertes, quasi-rituelles Geschehen frei. Die Récitations partizipieren in hohem Maße am Symbolarsenal archaischer Riten, »whose major purpose is to establish, reaffirm, or problematize gender«.26 Nicht umsonst sehen sich auch ganz und gar nüchterne Exegeten wie Daniel Durney angesichts der affektiv aufgeladenen Vokalpartie mit Fragen wie dieser konfrontiert: »Chante-t-elle quelque chose comme ›l’amour et la vie d’une femme‹, version XXe siècle?«27 Durney gelangt zu folgendem Schluss: »Ce qui est mis en jeu dans cette œuvre, plutôt qu’un récit, est 24 | Gabriele Brandstetter/Bettina Brandl-Risi/Kai van Eikels: »Über- und Unterbietung | Outperformance und Gleichheit | Selbstinszenierung und kollektive Virtuosität = Eine Einleitung«, in: Dies. (Hg.): Prekäre Exzellenz. Künste, Ökonomien und Politiken des Virtuosen, Freiburg i.Br.: Rombach 2012, S. 8. 25 | Aperghis in: O. Corlaix: »L’opéra entre chien et loup«, S. 23. 26 | Pollock, Kelly Therese: »Gender Rituals«, in: Salamone, Frank A. (Hg.): Encyclopedia of Religious Rites, Rituals and Festivals, London: Routledge 2004, S. 145149, hier: S. 145. 27 | Durney, Daniel: »Quelques repères d’analyse pour les Récitations de Georges Aperghis«, in: Musurgia, Vol. 2, No. 1, Préparation aux épreuves d’analyse musicale (1995), S. 52-60, hier: S. 52: »Singt sie so etwas wie ›Liebe und Leben einer Frau‹, Version 20. Jahrhundert?« (Übersetzung: der Verfasser)
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une posture, une attitude mentale: celle de la répétition inlassable, du rabâchage, du ressassement – peu nous importe, en vérité, de connaître les raisons de cette attitude.«28 Dieser Befund lässt sich zuspitzen auf eine Abwandlung der berühmten Sentenz McLuhans: Bei den Récitations ›ist der Auftritt die Botschaft‹. Den Akt des körperlichen ›In-ErscheinungTretens‹ gestaltet Aperghis als stark erotisch konnotiertes Muster aus verbalen, prosodischen, gestischen und mimischen Schlüsselreizen. Dieses Reizmuster soll weniger kognitive Verstehensvorgänge in Gang setzen, sondern vielmehr gegensätzliche Instinktreaktionen auslösen: Ganz ähnlich wie stand-up comedians sehen sich die Interpretinnen von Aperghis’ solistischen Vokalzyklen mit der Aufgabe konfrontiert, durch ihre Bühnenperformance Spannungszustände aufzubauen, die sich jäh in befreitem Lachen entladen können.
Détournement II – Inszenierung und Bühnenperformance Mit der textlichen und musikalischen Gestaltung steht somit zugleich auch die Dimension der Inszenierung im Zeichen einer grundsätzlichen Ambiguität – in Aperghis’ Stücken ist das eine nicht vom anderen zu trennen. Bühnenversionen der Récitations haben einen Schwebezustand zwischen den Polen einer Konzertdarbietung einerseits und eines theatralen ›Als-ob‹ andererseits herzustellen.29 Entsprechend sieht sich die Bühnenprotagonistin mit der Herausforderung konfrontiert, aus den divergierenden Auftrittskomponenten einer Musikinterpretin, Rezitatorin und comédienne eine liminal persona, das heißt eine Figur im changierenden Übergangsstadium zwischen fest definierten Rollenmustern zu mo28 | Ebd.: »Was in diesem Werk ins Spiel gebracht wird, ist – vielmehr als eine Geschichte – eine Haltung, eine geistige Attitüde: die einer unermüdlichen Wiederholung, des Geplauders, der beständigen Wiederkehr – im Grunde ist es uns ziemlich unwichtig, die Ursachen dieser Attitüde zu erfahren.« (Übersetzung: der Verfasser) 29 | Rebstocks Ausführungen zur ›Erforschung der Übergänge‹ im Neuen Musiktheater zielen genau in diese Richtung (vgl. Anm. 8). Auch bei Christa Brüstle steht das Oszillieren zwischen diesen beiden Performance-Modi im Fokus ihrer Ausführungen zu »Konzert-Szenen«, vgl. hierzu: Brüstle, Christa: Konzert-Szenen: Bewegung, Performance, Medien. Musik zwischen performativer Expansion und medialer Integration 1950-2000, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2013, S. 138f.
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dellieren. Die Interpretation von Bénédicte Davin zum Beispiel geht ganz direkt vom lediglich behutsam modifizierten Auftrittsmodell der stand-up comedy aus.30 Sie spielt sich ohne Dekor im Kammerspiel-Rahmen einer Blackbox ab und erweitert das übliche minimalistische Set-up lediglich um einen einzelnen Stuhl als Bühnenrequisit. Die ersten Phrasen der pyramidalen Récitation 11 richtet Davin sitzend direkt ans Publikum – unvermittelt, eruptiv, anfangs noch stockend. Sie echauffiert sich sodann kurz, steht auf, geht einen Schritt aufs Publikum zu, entschuldigt sich aber sogleich (»je m’excuse«) für die allzu forsche Anrede, setzt sich wieder scheinbar beruhigt, nur um einen Moment später mit ihrem exaltierten, sich zunehmend überschlagenden Wortschwall fortzufahren. Körpersprache und Sprechduktus Davins evozieren ein bestimmtes Milieu. Die Akteurin zitiert verfremdend die vor allem aus Filmen geläufige Klischeevorstellung einer weiblichen Pariser concierge, die einst in der Loge und den Treppenhäusern der meisten französischen Mietskasernen anzutreffen war und die als ebenso geschwätzig wie einschüchternd und robust galt. Zu deren Zuständigkeitsbereich gehören die Ordnung, Sicherheit und Sauberkeit des Wohnobjekts sowie die Entgegennahme und Weiterleitung der Post. Indem Davin den Konversationston einer concierge karikiert, verortet sie die Récitations demnach sehr feinsinnig an der Schnittstelle zwischen privatem und öffentlichem Raum und verhandelt in der Maske einer liminal persona des alltäglichen Lebens symbolisch die Wechselwirkungen und Brüche zwischen Gesellschaft und Individuum. Damit tritt buchstäblich das schwellenhafte Moment des Stücks in den Vordergrund. Davins Performance zeichnet sich ferner dadurch aus, dass sie trotz des konkreten Deutungsansatzes einen darstellerischen Schwebezustand aufrecht zu erhalten vermag, wozu nicht zuletzt der Verzicht auf eine illustrative Verdoppelung der Karikatur durch Kostüm, Schminke, Perücke o.ä. wie auch der bewusst gesetzte Kontrast zwischen einer ausgeprägt androgynen Physiognomie der Rezitatorin und der betont femininen Gewandung im kupferfarbenen Konzertkleid beiträgt. Eine andere Art von féminité spielt Angelika Luz in ihrer Performance der Récitation 9.31 Auf den ersten Blick setzt sie einen banalen Sketch in 30 | Vgl. den Video-Mitschnitt unter: https://www.youtube.com/watch?v=tE Wqk b0 t6dE&t=164s vom 28.04.2017. 31 | Vgl. den Video-Mitschnitt unter: https://www.youtube.com/watch?v=p 9ynZ tt CMH4 vom 28.04.2017.
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Szene: Die Sängerin steht hinter einem Bartisch, auf dem ein mit einer Servierglocke abgedeckter Teller liegt. Während sie verbal von ihrem »Verlangen« berichtet, dem sie »zuweilen widerstehe, zuweilen nachgebe« hebt sie die Glocke immer wieder an, nur um im nächsten Moment den Teller entschlossen wieder wegzuschieben. Zu guter Letzt wird sie schwach, sticht ihre Gabel in das Geflügel, das sich unter der Glocke verbirgt, und führt bei der letzten Phase des Stücks den ersten Bissen zum Mund. Die ebenso konkrete wie simple Spielsituation erweist sich bei genauerem Hinsehen als vielsagendes détournement. Die bittersüßen erotischen Affektgesten des Textes und der Musik gehen hier nicht mit einer unvermittelten Ausstellung geschlechtlicher Schlüsselreize konform, sondern werden von der nicht mehr ganz jungen Sängerin mit ironischem Unterton gleichsam ›umgeleitet‹ auf den Bereich des Essens, der bekanntlich als Spielwiese einer ›Erotik des Alters‹ gilt. Am anderen Ende des Generationenspektrums finden sich freilich auch viele Interpretinnen der Récitations, die den in der Partitur beschworenen juvenil-femininen Charme auch szenisch ausspielen. Ganz auf die Verlockungen einer Kindfrau setzt etwa die Performance von Lisa Tatin.32 Gewandet in ein hüftlanges, mädchenhaftes Dolly-Kleid betritt Tatin zu Beginn der Vorstellung mit einem Spielzeugkinderwagen die Szene. Im Wagen befinden sich sechs Plastikobjekte, die sie sogleich auf einem Tisch frontal zum Publikum ausbreitet: Eine Dinosaurierfigur, ein gelber Bauhelm, eine Saugflasche, eine kleine Gießkanne, eine Puppe und ein Plastikhummer. Zur Récitation 2 beginnt Tatin eine Art Puppenspiel, bei dem die fragmenthaften Sprachrepliken jeweils unterschiedlichen Objekten zugeordnet werden. Gestik und Mimik der Sängerin sind dabei übertrieben kindlich-affektiert, zu diesem Eindruck trägt nicht unwesentlich auch das helle Timbre des sehr hoch gelagerten Soprans bei. Zur ›désir‹Récitation 9 setzt sich Tatin breitbeinig auf den Tisch und legt sich zum Ende des Stücks in Embryo-Stellung hin – die Sängerin kommuniziert mit ihrem Publikum also fast ausschließlich über erotische Schlüsselreize. Der latenten Gefahr des Abdriftens in Banalität begegnet Tatin, indem sie im Spiel mit den Objekten zuweilen Versuche einer abstrahierenden ›Zweckentfremdung‹ wagt, beispielsweise wenn sie die Spielzeuge als klangliche Resonatoren, Dämpfer oder Verzerrer für ihren Vokalvortrag 32 | Vgl. den Video-Mitschnitt unter: https://www.youtube.com/watch?v=WZme tIVRTPc vom 28.04.2017.
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nutzt. Allerdings drängt sich auch in solchen schillernden Momenten letztlich die Eindeutigkeit einer sinnlich provozierenden Attitüde in den Vordergrund. Der Vergleich der drei Stückinszenierungen untermauert den früheren Befund: Aperghis’ Récitations sind ein ausgesprochenes genderStück. Die ausgewählten Bühnenversionen mögen sich äußerlich stark voneinander unterscheiden – letztlich kreisen sie aber gleichermaßen um physische, mentale und performative Facetten einer artifiziellen ›Bühnen-féminité‹, die mehr oder weniger vieldeutig, stets aber unter den Vorzeichen grotesker, monologischer ›stand-up-Komik‹ verhandelt werden. Auf der Spielwiese des Geschlechtlichen werden somit im Moment der Aufführung grundlegende Mechanismen des menschlichen Zusammenlebens symbolisch auf den Prüfstand gestellt.
Quasi-rituelle Dynamiken einer transformierten stand-up comedy Aperghis’ musikszenische Solo-Rezitale entbehren weitgehend jenes gesellschaftsverändernden Impulses, zumindest aber jenes Sendungsbewusstseins, das sich klassenkämpferisch, aufklärerisch, sozialkritisch oder spirituell gefärbt in vergleichbaren szenischen Vokalwerken Cages, Kagels, Globokars oder Berios wiederfindet. Das Kultische an Aperghis’ Sprechperformances zelebriert dafür umso nachdrücklicher das hic et nunc des Theaterereignisses. Aperghis’ Theater zielt auf Momente einer vorurteilslosen, entgrenzenden Intensivierung von Gemeinschaftlichkeit ab – sein utopischer Kern liegt in der Feier sozialer Immanenz, die freilich im Zeichen fundamentaler Ambiguitätserfahrungen steht. Wie Rossinis Typenkomödie lässt auch Aperghis’ Théâtre Musical seine Bühnenfiguren in der Grauzone zwischen eigentlichem und uneigentlichem Ausdruck agieren. Sie werden als zwischen Selbstbehauptung und Außensteuerung zerrissene Wesen vorgeführt, als rebellierende Gefangene einer vom Komponisten zwar gestarteten, dann aber der Selbststeuerung überlassenen Bewegungsmechanik. Geschlechtliche Rollenvorgaben erscheinen als zentrale Werkzeuge dieser bizarren machine sociale. In den Récitations hebt Aperghis die burleske Überzeichnung femininer Verhaltensmuster durch Verfahren des détournement und der tendresse aus der boulevardesken Trivialsphäre des Lachtheaters auf die Metaebene eines quasi-rituellen Geschehens. Der Zuschauer wird dabei gleichsam zum Initianden,
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zum rituellen Subjekt, das in einen Schwellenraum »zwischen allen Axiomen und vorgegebenen Polaritäten und Hierarchien der Gesellschaft« geführt wird, »zwischen Herrschaft und Knechtschaft« und insbesondere »zwischen den Geschlechtern«.33
Conclusio: Potentiale eines Rückgriffs auf (ver)alte(te) Auftrittsmuster Zurückkommend auf die einleitenden Bemerkungen bleibt abschließend wenigstens ansatzweise die Frage zu erörtern, inwieweit Aperghis’ Rückgriff auf ein Auftrittsmodell, dessen Ausdrucks- und Wirkungsmöglichkeiten der Komponist in früheren Schaffensperioden bereits eingehend erkundet, wenn nicht gar ausgeschöpft hat, dem aktuellen Musiktheater noch neue Impulse zu vermitteln vermag. Zweifellos haben die Récitations seinerzeit Ende der 1970er Jahre frischen Wind in den Bereich der experimentellen, musikszenischen Vokalkunst gebracht: Die spielerische Leichtigkeit, die humorvollen und burlesken Aspekte des Werks sowie der unverhüllte Bezug zur populären Auftrittstradition französischer Chansonièren und Diseusen setzten einen neuen Ton, der sich von der Neigung der damaligen progressiven Musik zur selbstbezüglichen Hermetik deutlich abhob. Das monologische ›vis-à-vis‹-Format des Stücks hingegen entsprach absolut den Aufführungskonventionen des zeitgenössischen extended vocal repertoire. Der Kontext, in dem nun das in vieler Hinsicht ähnlich strukturierte Werk Pub – Reklamen erscheint, ist demgegenüber ein fundamental anderer. Das Programm der Biennale 2016 weist einen allgemeinen Trend des derzeitigen Musiktheaters aus, der weg von der monologischen ›Bühnenansprache‹ in Richtung netzwerkhafter Kommunikationsmuster zielt. Fast alle Produktionen der Festivalausgabe weichen die bewährte Frontalität der Guckkastenbühne zugunsten tendenziell offener, dezentrierter Erfahrungsräume zumindest auf, teilweise unter exzessiver Nutzung moderner Medientechnologien. Die auffällige Orientierung an Hervorbringungen der zeitgenössischen performance oder sound art, des post33 | Ulrike Brunotte: »Gefahr und Mut im Übergang. Theorien und Rituale der Initiation – ihre Aktualität und Variation«, in: Eschler, Stephan/Griese, Hartmut M. (Hg.): Ritualtheorie, Initiationsriten und empirische Jugendweiheforschung, Stuttgart: Lucius und Lucius 2002, S. 12-33, hier: S. 21.
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spektakulären Theaters und der plurimedialen Installationskunst stellt die herkömmlichen binären Kommunikationsmuster in weiten Teilen der Neuen Musik und des Neuen Musiktheaters radikal infrage. Vor diesem Hintergrund gewinnt Aperghis’ Festhalten an den Prinzipien rhetorischer Fokussierung und frontaler Auf bereitung plötzlich an Sprengkraft. Seine ostentative Reduktion der Bühnenmittel unter Verzicht auf jegliches elektronisches processing und sein Beharren auf scheinbar überholten Präsentationsweisen kann unterschiedlich gelesen werden: Einerseits als Kommentar eines elder statesman des Neuen Musiktheaters zu gegenwärtigen ästhetischen (Fehl-)Entwicklungen in diesem Bereich, als mahnende Erinnerung gar an die Wurzeln des Neuen Musiktheaters im 20. Jahrhundert. Für diese Lesart spricht, dass Aperghis sich in Werken wie Machinations, Hamletmaschine-Oratorio oder Luna Park, die um die Jahrtausendwende entstanden sind, dezidiert kritisch und pessimistisch mit Überwachungs- und Manipulationsmechanismen einer digitalen Welt auseinandersetzt und dabei regelrechte intermediale Netzwerk-Dystopien entwirft. Aus dieser Perspektive würde ein durch und durch analoges Stück wie Pub – Reklamen eine demonstrative Abkehr vom zeittypischen Digitalisierungshype ausdrücken, die mit sanftem Spot auf einen medial propagierten Konsumrausch einhergeht – das Stück stünde sinnbildlich für eine konservative Wende. Anderseits könnte man im minimalistischen Set-up von Pub – Reklamen aber auch den sinnfälligen und zukunftsorientierten Ausdruck einer kulturgeschichtlichen Entwicklung erblicken, die derzeit in vollem Gange ist. Schon zu Beginn des neuen Jahrtausends konstatierten Doris Kolesch und Sybille Krämer die »Erosion eines forcierten Medientechnizismus«, die umgekehrt »Begriffe wie ›Körper‹, ›Körperlichkeit‹ und ›Verkörperung‹« im Wert steigen lasse.34 Möglicherweise kündigt sich bei Aperghis also eine Art ›postdigitaler Besinnung«35 auf den unmittelbaren 34 | Doris Kolesch/Sybille Krämer: »Stimmen im Konzert der Disziplinen. Zur Einführung in diesen Band« in: Dies. (Hg.): Stimme. Annäherung an ein Phänomen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 7-15, hier: S. 9. 35 | In den Kulturwissenschaften wird seit einiger Zeit über eine postdigitale Neuorientierung (auch und besonders in den Künsten) debattiert, vgl. hierzu etwa: Mel Alexenberg: The Future of Art in a Postdigital Age: From Hellenistic to Hebraic Consciousness, Bristol: Intellect 2011.
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Mitteilungs- und Ansprachecharakter an, das körperliche vis-à-vis, auf virtuose Affizierung und den direkten Publikumsbezug herkömmlicher musiktheatraler Performance, ohne dass deshalb die Veränderungen ignoriert würden, die das digitale Zeitalter mit sich gebracht hat. Ob nun allerdings tatsächlich eine vitalisierende Renaissance traditioneller Präsentations- und Auftrittstechniken ansteht, die mittelfristig neue Wege des kritischen Umgangs mit moderner Medientechnologie weist, oder ob das Spiel mit einfachen binären Kommunikationsmustern des vergangenen Jahrhunderts nicht doch eher als Rückzugsgefecht einer alten Garde aufzufassen ist, wird sich erst noch herausstellen müssen.
Strategien der Raum-Komposition und die sich selbst beobachtende Szene Überlegungen zu Musiktheaterstücken von Georges Aperghis, Manos Tsangaris, Isabel Mundry und Mark Andre Martin Zenck
Vorbemerkungen zum Thema ›Original mit Untertitel‹ (OmU) Einige Reflexionen seien hier vorausgeschickt, um das Folgende auch unter den hier angeführten Überlegungen zu lesen und zu diskutieren. Dabei sei mit Blick auf das Thema ›OmU‹ an die doppelte Fassung der »Einbildungskraft« in Kants Anthropologie 1 erinnert, der dort eine produktive, welche Gegenstände aufruft, die gar nicht gegenwärtig vorhanden sind, von einer reproduktiven unterscheidet, die sich auf Vorhandenes bezieht, was nur noch zu vergegenwärtigen ist. Im gleichen Zusammenhang führt Kant den so zentralen Sachverhalt der »Originalität«2 ein, welche der produktiven Einbildungskraft und zwar ausdrücklich dort dem »Genie« zugesprochen wird, das nicht einfach etwas abbildet, was schon da ist. Dagegen setzt Kant das bloße Imitieren, also den ›Untertitel‹, ziemlich herab als eine Zusammenstellung von etwas Bekanntem, das er der »Schwärmerei«3 zeiht. Und wenn bei der produktiven Einbildungskraft zusätzlich die Kant’sche Bestimmung des ›Genies‹ aufgerufen wird, das der Natur die Regel gibt, ihr und ihren Richtlinien also nicht folgt, wie 1 | I. Kant: Anthropologie (1798), Kap. »Vom Erkenntnisvermögen«, in ders.: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie und Pädagogik 2, Werkausgabe, Bd. XII, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a.M.: 1977, S. 466. 2 | Kant, § 27 Die Originalität (nicht nachgeahmte Produktion), a.a.O., S. 472. 3 | Kant, S. 472.
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es Kant ansonsten an anderer Stelle fordert, dann haben wir einen umfassenden Zusammenhang mit der neuzeitlichen Phantasie im 16. und 17. Jahrhundert, das sich vom Gebot der Mimesis, der Nachahmung von Natur befreite, um sich selbst produktiv an ihre Stelle zu rücken. Kant und die frühe Neuzeit favorisieren also eindeutig die produktive Seite der Originalität, um sie von der bloßen Imitation, von der einseitigen Transformation des Originals zu befreien, wobei dagegen insbesondere gegen den Kult der Originals eine Culture of Copy4 zu richten wäre, der zufolge es keine Originale gibt, sondern nur Inszenierungen eines solchen in den vielfachen Überschreibungen, die zu einem veränderten Begriff von Originalität führen würden (auch weil diese nur durch das Kopieren von ›Originalen‹, vom vielfachen, sich auch verändernden Abschreiben und durch das Nachahmen einer idealisierten Vorlage erreicht werden kann). Um hier wiederum auf den Begriff ›origo‹, den der ›Originalität‹, zurückzukommen: Diesem Begriff ist alles Problematische eines Ursprungsbegriffs einer ersten Philosophie und einer Auffassung zu nehmen, wie sie der frühe Walter Benjamin sowie Martin Heidegger in seinem Text Der Ursprung des Kunstwerks entwickelt haben. Im Gegensatz hierzu schlug der Philosoph Bernhard Waldenfels vor, von einer »Vorgängigkeit« eines »Pathos« auszugehen, von einer »Unvordenklichkeit im Sinne Schellings, fern aller Hegel’scher Begriffsalchemie«5,womit gemeint ist, dass Hegel im Gegensatz zu Schelling das »Vorbegriffliche ins Begriffliche aufhebt, als könne das Denken seiner Anfänge je Herr werden. Hegel versucht die Zeit restlos zu denken, seine Dialektik hat daher etwas von den magischen Vergoldungskünsten, die im Grunde voraussetzen, dass schon alles Gold ist«.6 4 | Hillel Schwartz: The Culture of Copy. Striking Likeness, Unreasonable Facsimiles, New York: Zone Books, 1996. 5 | Bernhard Waldenfels hat mir die bedenkenswerte Überlegung in einer E-Mail vom 7. Juni 2016 zukommen lassen. 6 | Diese Überlegung mit der anschließenden Klärung der »Unvordenklichkeit« bei Schelling hat mir Bernhard Waldenfels in seiner E-Mail vom 15. Juli 2017 zukommen lassen mit folgender Ausführung: »Schellings ›Unvordenklichkeit‹ tastet sich dagegen an die Tatsache heran, dass das ›Faktum der Vernunft‹, das schon bei Kant auftaucht, nicht selbst vernünftig ist, sondern etwas, das uns geschieht, akustisch gesprochen im Hören des Klangs der Worte oder Töne. Das ex auditu bedeutet ein Pathos, dem wir nur ›nachsetzen‹ können. Für die ›Eintönungskraft‹, die
Strategien der Raum-Komposition und die sich selbst beobachtende Szene
Wenn Waldenfels hier überraschend vom »Pathos« spricht, so meint er die »Unvermitteltheit eines Empfindens, das es ohne den ›Verrat‹ der Worte und Töne nicht gäbe«. Es betrifft nach seiner Auffassung bereits jedes ›Original‹, d.h. jedem setzenden Beginn eines Ursprungs vorausgehende »Paradoxie eines Anfangs, der sich selbst zuvorkommt und eines Endes, das sich selbst überdauert.« Über das noch hinaus, was Waldenfels meint,7 lässt sich allerdings eine nicht ursprungsphilosophisch gefasste Interpretation des ›Originals‹ auch dann feststellen, wenn von einer Vorstellung oder einer Imaginationskraft gesprochen wird, die jedem ›Original‹ vorauseilt. Dabei könnte auch an Ferruccio Busoni erinnert werden, welcher der Meinung war, dass er nicht zwischen Improvisation, also einem spontanen Akt der Erfindung und des Fantasierens am Klavier, und der relativ freien oder geregelten Komposition unterscheiden wolle, weil beide aus einer »Vorstellung« hervorgingen, die vor dem eigentlichen Tun des Improvisierens und Niederschreibens einer Partitur liege. Dies vorausgesetzt, gibt es dann folgende Möglichkeiten, das ›Original‹ und seine Umschreibungsmöglichkeiten in Form eines ›Untertitels‹ zu bestimmen: erstens ist es die logische Konsistenz und semantische Dichte des ›Originals‹, welche entweder eine Auseinandersetzung mit ihm paradoxerweise geradezu herausfordert, weil es in sich so vollkommen ist und es gilt, diese Perfektibilität in Frage zu stellen oder diese Auseinandersetzung gerade wegen der unbestreitbaren Vollendetheit 8 unmöglich macht, Zweitens ist es im Sinne von Dieter Mersch naheliegend, für das Thema des einzelnen und scheinbar unverwechselbaren ›Originals‹ Karlheinz Stockhausens Stück Originale – die auch Kölsche Originale genannt werden könnten – ins Spiel zu bringen, weil jede Pluralisierung des ›Origider Einbildungskraft gleicht, würde ich ähnliches gelten lassen, da in jedem Erfinden ein Korn des Findens, in jeder Invention ein Moment des Kommens steckt. 7 | Ebd. widersprach Waldenfels dieser Überlegung. 8 | Als Modell bietet sich hierfür Pina Bauschs Inszenierung von Bartóks Einakter Herzogs Blaubarts Burg unter dem Dirigat von Pierre Boulez 1998 beim Festival in Aix-en-Provence an. Nach der exemplarischen und singulären ›Originalität‹ von Pina Bauschs früheren Choreografie, in welcher die Frau immer wieder dies Stück von Bartók auf dem Grammophon zum Laufen bringt und dabei unterbrochen ihre von Blaubart verfolgten Irrwege gehen muss, war dieser spätere Versuch einer Fortschreibung der früheren Choreografie in Form einer Inszenierung des genannten Einakters von Bartók zum Scheitern verurteilt.
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nals‹ seine Einzigartigkeit unterläuft.9 Drittens ist es bei Heiner Müller in dessen Prosatext der Bildbeschreibung gerade das erzählerische Verfahren des Autors, auch noch die genaueste Beschreibung eines Bildes ständig in Frage zu stellen, zu revozieren und mit der abschließenden vierfachen Übermalung den ganzen Text überhaupt zu löschen. Hierbei kann die These aufgestellt werden, dass gerade ein sich selbst ständig in Frage stellender Text die Voraussetzung für seine Anschlussfähigkeit darstellt, aus dem ›Original‹ fruchtbare Untertitel zu ziehen. Viertens gibt es mit der von Tobias Schick10 vorgeschlagenen Umkehrung – statt ›OmU‹ ›UmO‹ – die Möglichkeit, mittels der sogenannten ›Briefmarkenopern‹ an der Dresdner Hochschule für Musik (namentlich auch mittels der ›Minioper‹ von Tobias Schick selbst) die Singularität eines ›Originals‹ zu unterminieren, dies mit der Pointe, dass es gerade wiederum die äußerst verknappten und miniaturhaften Formate der ›Briefmarkenoper‹ sind, die konzeptionell über sich hinausweisen mit Projektionen ins Großformatige und somit eine andere Art der Culture of Copy herausfordern, wie dies auch in dem zitierten Buch mit weitreichenden Perspektiven von Hillel Schwarz entwickelt wird mit Bezug auf das Original und in deutlicher Abkehr von diesem. Zu diesen von der Originalität und Authentizität abweichenden Perspektiven gehören nach Schwartz die musikalischen Formkategorien des ›Refrains‹, der ›Recapitulation‹, in der Kunstgeschichte die des ›Portraits‹ und ›Self-portraits‹, der ›Doubles‹ im Film und Theater, der ›Doppelgänger‹ in der Literatur, die schließlich auf die plausible Erklärung einer ›Second Nature‹ hinauslaufen mit folgender Schlussbehauptung: »In consequence, we confront on every horizon problems of duplicitiy and virtuality, which must be resolved before we can reclaim or recreate a persuasive notion of authenticity.«11 9 | Wichtig für diese Bestimmung ist die vollkommen gegenläufige Meinung Stockhausens zur Frage eines ›Originals‹, wie es vor allem seine frühe Elektronische Studie II auszeichnet. Da darin Konzeption, Komposition und Aufführung vollkommen ineinander fallen, kann dies über Wagners opus perfectum et absolutum des Parsifal als ein vollkommenes und unüberbietbares, nicht anschlussfähiges ›Original‹ verstanden werden; vgl. den Beitrag von Dieter Mersch im vorliegenden Band und die auch von meiner Seite geführte Diskussion nach dem Vortrag von Dieter Mersch. 10 | Siehe Tobias Schicks Beitrag im vorliegenden Band. 11 | So die Erläuterung zum Kapitel VIII »Discernment«, Schwartz, S. 9.
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Die Auswirkungen einer sich-selbst-beobachtenden Szene in Heiner Müllers Bildbeschreibung und in deren Inszenierungen Von Heiner Müllers Konzeption einer unter Selbstbeobachtung stehenden Bildbeschreibung, einer Textvorlage, von der direkte Linien zu Georges Aperghis’ Paysage Sous Surveillance 12 (2001) und Manos Tsangaris’ Karl May, Raum der Wahrheit13 (Dresden, Semperoper 2014) führen, sei hier im Folgenden zunächst ausgegangen. Denn der einmal inszenierte, begangene und ausgemessene Raum der Bildbeschreibung scheint in seiner Konstitution alles andere als selbstverständlich. Ist der Raum gerade durchmessen, wird die scheinbar so zielgerichtete Handlung schon gleich wieder zurückgepfiffen, weil sie nicht gesichert erscheint. In einem ersten Zugang könnte von einem selbstreflexiven, nicht-euklidischen Raum gesprochen werden, dessen Fix- und Koordinatenpunkte den Raum nicht ein für alle Mal aufspannen, sondern ihn in Zwischen-Räume und ÜberRäume aufteilen, wobei diese nicht als gleichbleibende bewahrt werden, sondern als in Bewegung befindliche, sich nach den Seiten und nach oben verschiebende aufgefasst werden. Sicherlich ist dafür Heiner Müllers kurzer und äußerst gedrängter Prosatext Bildbeschreibung eine geeignete Urszene. Denn hier, in dieser unter Beobachtung stehenden Handlung – deswegen hat Aperghis des französischen Titel Sous Surveillance (Brüssel 2002) gewählt – ist einerseits der Ausgangspunkt eine Tuschezeichnung der bulgarischen Studentin Emilia Koleva, die teilweise von Heiner Müller in seinem Prosatext reflektiert wird, andererseits wird in diesem Prosatext ständig das Beschriebene widerrufen, um es schließlich in die vielfache Übermalung der ALKESTIS münden zu lassen, die »das Nô-Spiel Kumasaka, den 11.
12 | Vgl. dazu ausführlich Martin Zenck: »kein Schmerz, kein Gedanke. Heiner Müller und das europäische Musiktheater – Georges Aperghis und Wolfgang Rihm«, in: NZfM, Sonderheft Das Musik-Theater, 4/Juli-August 2009, S. 46-52. 13 | Vgl. dazu Martin Zenck: »›Die Rettung Wagners durch Karl May‹ oder durch Manos Tsangaris? Über das Musiktheaterstück Karl May, Raum der Wahrheit«, in: Manos Tsangaris: Musik-Konzepte. Sonderband, Neue Folge, XII/2015, hg. v. Ulrich Tadday, S. 160-183.
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Gesang der ODYSSEE, Hitchcocks VÖGEL und Shakespeares STURM zitiert« (so Heiner Müller im Nachspann zu seinem Prosatext14). Bei Müllers Bildbeschreibung gilt es zu bedenken, dass er noch zu Lebzeiten Müllers theatrale Inszenierungen erfahren hat, so dass das dortige Bild, das nicht im Sinne einer Ekphrasis beschrieben wird, weil der Text seinerseits eine eigene, wenn auch imaginäre Dramaturgie enthält, die 1985 zu einer entsprechenden und auch erweiterten Umsetzung in der Grazer Inszenierung von Ginka Tscholakowa geführt hat. Ob es nun eher nur der Prosatext Müllers war, der Aperghis und Tsangaris zu entsprechenden theatralen Konsequenzen veranlasst hat, oder eben der Inszenierungstext der Bildbeschreibung selbst, möchte ich hier offenlassen. Wie Hans-Thies Lehmann auch bei einem ganz anderen Text, nämlich bei Der Tod des Seneca, gezeigt hat, liegt hier – wie auch beim Entwurf eines Opernlibrettos zu einer ›Orestie‹ für Pierre Boulez – das Geheimnis der kurzen Müller’schen Texte und Notizen gerade darin, dass die minimalen und pointierten Skizzen Müllers in nuce ein ganzes Drehbuch und Scenario enthalten konnten. Die Skizze ist dabei nicht mehr und nicht weniger als ein Anhaltspunkt für eine Szene, die im Sinne der Theatertradition von den Schauspielern dann frei improvisiert wird. Dabei beziehe mich vor allem auf Luigi Riccobonis Traktat ›Discorso della Commedia all‹ improviso e scenari inediti,15 dem zufolge, Schauspieler – vor allem der commedia dell’arte-Truppen im 17. und 18. Jahrhundert – ganze Szenerien auf der Grundlage von Handlungsgerüsten ad hoc erfanden. Es ist denkbar, dass Heiner Müllers Stücke – neben der Hamletmaschine eben auch die Bildbeschreibung, weil Müller zwischen den Gattungen nicht prinzipiell unterschied – in ihrer Skizzierung auf solche Handlungsgerüste zurückgehen und aus ihnen ganz verschiedene Ausarbeitungen und Inszenierungen möglich wurden – dies im Sinne eines Satzes von Georges Tabori: »Das Inszenieren ist das Fortsetzen des Schreibens mit anderen Mitteln.«16 14 | Heiner Müller: »Bildbeschreibung«, in ders.: Werke 2 Die Prosa, Frankfurt a.M. 1999, S. 119. Dort stehen diese Werktitel original in Versalien; vgl. dazu den Kogr.-Ber. Heiner Müller: Bildbeschreibung. Ende der Vorstellung, hg. v. Ulrike Haß (Theater der Zeit. Recherchen, Bd. 29), Berlin 2005. 15 | Milano 1793; deutsch-französische Ausgabe, hg. v. Stefan Hulfeld. 16 | Georges Tabori, zit.n. Heiner Müller, der diese Äußerung Taboris folgendermaßen ergänzt hat: »Zum Schreiben gehört ja, dass du nicht weißt, was kommt. Du kannst es nur machen, wenn du nicht weiß, wie es ausgeht.« Siehe »Gegen
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Weil also bereits in der Skizze vielfältige Inszenierungsmöglichkeiten enthalten sind, kann diese kurz und knapp gehalten werden. Ähnliches gilt für die ›Gedankenskizzen‹ von Pierre Boulez, aus denen dann ganze, unabschließbare Werk-Komplexe entstanden sind. Mit Heiner Müller spannt sich mit dem äußerst kurz und gedrängt gefassten Text der Bildbeschreibung eine unter Verdacht stehende Szene auf – mit der Option einer Löschung auch dieser Szene –, für den Fall, dass die zitierten Übermalungen sich über diese legen würden. Jean Jourdheuil, der französische Theaterwissenschaftler (und bedeutende Regisseur Mozart’scher Werke an der Staatsoper Stuttgart) hat mit Blick auf seine Übersetzung »Paysage sous surveillance« den Text Heiner Müllers in einen Zusammenhang mit Kafkas In der Straf kolonie und vor allem mit Foucaults 1975 erschienenem Werk Surveiller et Punir (»dt. Übersetzung: Überwachen und Strafen«) gebracht.17 Diesen Kontext gilt es zu bedenken, wenn im Folgenden die musiktheatralen Konsequenzen aus Heiner Müllers Bildbeschreibung bei Georges Aperghis und bei Manos Tsangaris thematisiert werden. Von beiden wird weder mit dem dramatischen Text noch durch die Musik ein lineares Narrativ verfolgt, das die szenischen Abschnitte geradlinig durchläuft und einen gesicherten Theater-Raum durchmisst, sondern mit den Mitteln der Revokation und der Infragestellung wird eine Rückläufigkeit der Prozesse aufgerufen, die auch noch die scheinbar gesicherten Retrograden sprengt und dafür sorgt, dass eine mögliche Handlung in alle Richtungen verzweigt wird. In der Konsequenz bedeutet dies, dass diese Aktionen der Handlung nicht selbsttätig einer künstlerischen Phantasie frei folgen, sondern dass diese wiederum selbst noch unter Beobachtung und unter dem Verdacht einer Straftat stehen. Insofern ist Jourdheuils Hinweis auf Foucault nicht zufällig, sondern unterstellt scheinbar freie gesellschaftliche Aktionen der Kunst und des Theaters den Dispositiven der Macht, wie sie bei Foucault auch auf die Kontrolle in und von Gefängnissen und psychiatrischen Anstalten bedie Idiotie des Professionalismus. Gespräch zwischen Heiner Müller, Erich Wonder, Annette Murschetz und Stephan Suschke 1993 in Bayreuth«, in: Müller Macht Theater. Zehn Inszenierungen und ein Epilog, hg. v. Stephan Suschke. Theater der Zeit 2003, S. 44. 17 | Vgl. den von Irène Bonnaud gegeben Hinweis auf Jean Jourdheuil in: HeinerMüller Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Hans-Thies Lehmann und Patrick Primavesi, Stuttgart 2003, S. 370.
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zogen werden, mit der Konsequenz, dass noch alle möglichen Frei-Räume in den Verwerfungen zwischen den Dispositiven der Macht dann doch drohen aufgerieben werden. Bei Aperghis und Tsangaris geschieht dies schon scheinbar rein äußerlich: bei Aperghis durch eine mit und in der Szene mitlaufenden Kamera, welche die Szene unter ständige Beobachtung stellt; bei Tsangaris durch eine Projektion des Stummfilms Afgrunden von 1912 von der Decke auf der Szene – wobei der Stummfilm selbst schon durch einen Polizisten die wilde und laszive Szene unter Beobachtung stellt und mit der Projektion in der Karl May Oper Raum der Wahrheit auch die teils kriminellen Handlungen des Protagonisten Karl May. Es gibt also in diesen beiden Szenerien zwar Vorgänge, die einfach abzulaufen scheinen und vom Publikum darin mit allen Sinnen wahrgenommen werden, aber gleichzeitig werden diese Vorgänge entweder gefilmt oder durch eine Filmprojektion gleichsam von außen unter Beobachtung gestellt mit der Pointe, dass auch das Publikum zumindest dem Verdacht des Voyeurismus ausgesetzt wird. Wir können bei dieser Verwandlung von Eigen- in Fremdbeobachtung auch an die grundlegende Verschärfung der Betrachtungsweise des berühmten Bildes Hinrichtung der Aufständischen vom 3. Mai 1808 von Goya in Jean-Luc Godards Film Passion18 (1982, einschließlich des Films zum Film) denken, wo die bei Goya noch auf die Aufständischen gerichteten Gewehre durch Godard plötzlich auch auf uns, die scheinbar gesicherten Personen im Zuschauerraum, umgeschwenkt werden. Wir stehen also wie bei Aperghis und Tsangaris unter Beobachtung, da wir etwas, das auf der Bühne geschieht, überhaupt zulassen. Hier ist eine indirekte Berührung mit der Performance Art der Marina Abramović gegeben, bei deren teils lebensgefährlichen Aktionen wir als unmittelbar Anwesende aufgerufen werden, in die Aktionen einzugreifen, denn sonst würden wir den Akt der lebensbedrohlichen Selbstverstümmelung zulassen oder voyeuristisch dankbar zur Kenntnis nehmen. Wir sind also im Theater nicht nur Betrachter, auch nicht nur göttlich Betrachtete wie im barocken Theatrum mundi, sondern nehmen an der Szene teil, werden beobachtet und sind vielleicht aufgerufen, in die Szene selbst noch einzugreifen, um 18 | Vgl. dazu Martin Zenck: »Lécriture du geste théâtral, cinématographique et musical dans la pensée de Roland Barthes, Jean-Luc Godard et Pierre Boulez«, in: Expression et geste musical. Sous la direction de Susanne Kogler et Jean-Paul Olive (=Arts 8), Paris: L’Harmattan, 2013, S. 86.
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ein ungeheures Geschehen nicht zuzulassen, was bei Tsangaris mit dem Film Afgrunden zumindest nahe gelegt wird, weil wir mit der dortigen »Surveillance« zugleich selbst Überwachte sind und dagegen rebellieren könnten oder das zu vollstrecken versuchen, was der Polizist im zitierten Film Afgrunden tut. Nachfolgend möchte ich nun die beiden Musiktheaterstücke von Georges Aperghis und Manos Tsangaris in der Perspektive eines sich selbst beobachtenden Raums weiter diskutieren, um mich dann – nach einem Seitenblick auf Paul Klee – ganz anderen Konstitutionen des musikalischen Raums zuzuwenden: zunächst der Konstitution des Zwischenraums bei Mark Andre im Musiktheaterwerk wunderzaichen (UA Stuttgart 2014), sodann jener des Resonanzraums in Isabel Mundrys Musiktheaterwerk Ein Atemzug – Die Odyssee (UA Berlin 2003/2005).
Der sich selbst beobachtende Raum: Sous surveillance von Georges Aperghis und Karl May, Raum der Wahrheit von Manos Tsangaris Die Vorstellung eines sich selbst beobachtenden Raums durch eine auf der Szene mitlaufende Kamera oder einer von außen auf die Szene gerichteten Filmprojektion, welche die Szene unter Beobachtung stellt, hat in verschiedenen Beispielen von Teichoskopie ihre Voraussetzung. Denn durch sie erfolgt ein Bericht von weit außerhalb von dem Ort der Handlung. Doch informiert dieser Bericht von einem Geschehen, das der Zuschauer im Theaterraum selbst nicht wahrnehmen kann, weil es in weiter Ferne geschieht. Eine berühmte Teichoskopie liegt – neben der bekannten Mauerschau in der zweiten Szene des zweiten Aktes von Kleists Drama Der Prinz von Homburg – im Melodram von Franz Schuberts romantisch-heroischer Oper Fierrabras vor, in dem aus weiter Entfernung von einer Schlacht berichtet wird. Vor laufender Musik wird mittels eines gesprochenen dramatischen Rapports von einem zentralen Ereignis einer möglichen Rettung inmitten einer Schlacht unterrichtet – und gerade, weil die Szene selbst im Unsichtbaren und eigentlich Verborgenen verbleibt, ist die musikalisch-akustische Suggestionskraft des Melodrams an dieser Stelle besonders intensiv, zumal der Bericht und die Musik gemeinsam etwas zur Erscheinung bringen, das dem Zuschauer im Opernhaus verschlossen bleibt. Der Zuschauer wird hier also in eine eigentümliche Ambivalenz der Betrachtung hineingezogen. Diese liegt darin, zwar
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die Ahnung eines gefährlichen und auch unheimlichen Geschehens zu haben, diese Ahnung aber transformiert zu sehen durch einen eindrücklichen Bericht eines Beobachters, der vielleicht mit einem Fernrohr etwas sieht, was dem Betrachter im Zuschauerraum im Theater entzogen bleibt. Meine These ist in diesem Zusammenhang eben diese, dass es sich bei den neuen sich selbst medial beobachtenden Räumen um eine Einwanderung der Teichoskopie in die Szene selbst handelt. Das, was also früher als Bericht aus einem erhaben-erhöhten Standpunkt, etwa eines Turms, über eine weit entfernte Szenerie erzählt wurde, wird nun von einer laufenden Kamera oder von einer Filmprojektion übernommen – mit dem deutlichen Unterschied, dass der Betrachter der Szene durch die Teichoskopie zwar Einblick in ein eigentlich unsichtbares Geschehen gewinnen konnte, dabei aber nicht selbst zum Gegenstand der Betrachtung durch einen dritten wurde. Während der Betrachter in der Teichoskopie noch außerhalb des Geschehens stand, wird er nun zusammen mit der Szene in das Geschehen hineingerissen und Gegenstand einer Supervision. Dieses geschieht in Sous surveillance von Georges Aperghis durch die semi-szenischen und rein musikalischen Hinweise in der Partitur. In der Konsequenz nehmen wir als Zuschauer und Zuhörer mehrere Wirklichkeiten auf der Szene wahr: eine Frau, mit der ganz realistisch etwas geschieht, der Gewalt angetan wird und die sich von der Gewalt in einem großen Angstzustand zu befreien sucht; dann eine Frau, auf die nicht nur unser Auge gerichtet ist, sondern auch das Auge einer Kamera und einer vorproduzierten Videoproduktion, die beide diese Frau verzerrt im Infrarot-Spektrum zeigen. Die Auswirkung von Gewalt wird also nicht durch das Zeigen von Wunden dargestellt, sondern allein durch die optische Entstellung der Frau. Diese ist nicht nur mögliches Opfer des Mannes, sondern auch ein Objekt der Beobachtung, auf das ein Verdacht gerichtet wird. Obwohl der Mann vermutlich der Täter ist, wird die Frau, mithin das Opfer, gewissermaßen dem Verdacht ausgesetzt, selbst mit der Gewalt etwas zu tun zu haben, wobei diese mögliche Teilhabe eher auf die mediale Inszenierung der Überwachung zurückgeht. Es geht Aperghis um die Darstellung des Undarstellbaren, das in der Differenz von vermutlicher Tathandlung, Beteiligung auf der einen Seite und der medialen Projektion und In-Besitz-Name durch den doppelten Blick auf der anderen Seite verortet wird. Entscheidenden Anteil an diesem doppelten Vor-
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gang hat die Musik im Verhältnis zum Bild und mit den von der Szene geworfenen Schatten auf der Leinwand: Die Musiker (zwei Klarinettisten, zwei Cellisten, zwei Spieler auf dem elektrischen Klavier, die doppelt/paarige Schatten sind) werden jeweils an der Aktion teilnehmen an dem Verhältnis von Bild (Schatten und Szene) und Musik…Gefangen genommen von einer Installation von Video-Kameras der Überwachung, wodurch ein Schattentheater entsteht, werden diese Schatten dank ihrer Musiken auf das Bestmögliche versuchen, sich zu inszenieren, der Schauspieler und die Tänzerin, welche, obwohl sie gehorsam sein werden, dennoch vollkommen unkontrollierbar werden, wie in einem Kreisverkehr.19
Auf andere und auch zum Teil verdeckte Beobachtung setzt Tsangaris in Raum der Wahrheit20 die Szene einem Verdacht aus. In der Inszenierung der Szene stellen sich diesem Werk verschiedene Räume dar – dies im deutlichen Gegensatz zu Tsangaris’ bisherigen Arbeiten, für die strikt geschlossene Handlungs- und von der Szene abgewandte Spielräume bestimmend sind. In der Karl-May-Oper dagegen gibt es erstens einen Zuschauerraum, der den Bühnenraum in der Mitte umschließt, auf dem die Figuren und Musiker agieren. Der kreisförmig angelegte Zuschauerraum wird zweitens von einem aufgefächerten Raum eines Panoramas umfasst, in dem Szenen aus bekannten oder scheinbar bekannten Wild-WesternSequenzen abgebildet werden, wobei wir uns an die berühmten Panoramen von Hubert Sattler aus der Mitte des 19. Jahrhunderts erinnern. Drittens ist dieser panoramatische, die Szene wie das Publikum umgebende Raum nicht geschlossen, sondern wird zuweilen perforiert, um dadurch besondere Erscheinungen, wie die des schönen »Blumenmädchen«, in farblich illuminierter Form zur Geltung zu bringen. Viertens haben wir 19 | G. Aperghis: Vorwort zur Partitur in französischer Sprache in meiner Übersetzung. Georges Aperghis, Paysage sous surveillance, Partitur, Durand-salabertEschig, Paris 2001. Vgl. hierzu https://www.youtube.com/watch?v=MP95hHze0cE vom 01.11.2017. 20 | Vgl. dazu ausführlich Martin Zenck: »Die Rettung Wagners durch Karl May oder durch Manos Tsangaris?« a.a.O. (vgl. dort auch die Fotos von der Szene der Karl-May-Oper von Manos Tsangaris in der Semper-Oper II). Siehe auch den Videoausschnitt aus der Produktion: https://www.youtube.com/watch?v=dVeFq_ MSQqg vom 07.07.2017.
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an der Bühnendecke so etwas wie einen Über-Raum, der zuweilen beleuchtet, erleuchtet wird durch Projektionen einer schreibenden Hand, derjenigen von Karl May in seinen verschiedenen Lebensaltern und die seiner Frauen, wobei diese Schrift-Projektionen noch durch eine besondere Film-Projektion aus dem Stummfilm Afgrunden von 1912 mit der erotischen Tänzerin Asta Nielsen in einer besonderen Weise den Bühnenraum auch nach oben hin entgrenzt. Diese Filmszene steht unter der Beobachtung eines Polizisten, der innerhalb des Filmbildes die geplante und gewagte Verführung, einschließlich einer Fesselung, observiert. Es gibt also diese vier Spielräume einer latenten Offenheit, welche sowohl die Seitenräume als auch die Deckenräume durchsichtig und einsichtig macht. Wir als Zuschauer, als Mitspieler, Co-Akteure befinden uns also in einem mehrfach aufgefächerten und mobilen Raum, von dem aus wir nicht nur als Betrachter und Hörer das Geschehen wahrnehmen, sondern vor allem durch den projizierten Stummfilm selbst zu Betrachteten werden, sodass wir – wie auch das Geschehen auf der Bühne – unter Beobachtung, »under surveillance« stehen, wie das auch bei Heiner Müller in der Bildbeschreibung und in Georges Aperghis’ Musiktheaterstück heißt. Die Anspielung auf das barocke Welt-Theater ist dabei – allerdings in der Umkehrung – mehr als deutlich. Während wir dort von oben göttlich Geschaute und Angeschaute sind mit der Annahme eines auch vielleicht gnädigen Blicks, sind wir bei Tsangaris nicht nur Betrachtete, sondern Beobachtete durch CIA oder BND: wir stehen also unter Verdacht, schwerste Verbrechen begangen oder solche vor zu haben.
Komponierter – nicht-komponierter Raum. Paul Klee Nichtkomponiertes im Raum 21 (1929) Um deutlich zu machen, wie wenig selbstverständlich Dargestelltes im Raum als wirklich zusammenhängend ausgewiesen werden kann – und das gilt für den musikalischen Raum nicht weniger als für den bildnerischen – sei auf ein Bild von Paul Klee verwiesen. Es zeigt vereinzelte Gegenstände im Raum, die Klee als ›nicht zusammengesetzt‹, als Nichtkomponiertes bezeichnet hat. Die Gegenstände liegen hier also im Bild 21 | Aquarell, Feder, Kreide, Bleistift auf Papier, auf Karton, 31,7x24, 5 cm; FranzMarc-Museum, Kochel am See.
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gleichsam wahllos herum. Und obwohl im Sinne einer möglichen Eingliederung der Objekte und einer liegenden Figur Querlinien eingezogen sind, die eine Integration dieser Gegenstände in einem geordneten Raum nahelegen könnten, verhalten sich diese Gegenstände zumindest teilweise nicht danach. Sie erscheinen willkürlich versammelt in dem Bild, obwohl es Anhaltspunkte wie die Querlinien und eine mögliche Zentrierung auf das schwarze Rechteck oben im Bild gibt. Klee, der ein Musiker und Musiktheoretiker von Rang war, möchte also mit dem Bild zeigen, dass etwas auf einem Bild Zusammengesetztes noch nichts über dessen Status einer wahren, dynamischen und angeordneten Zusammengehörigkeit besagt, wie er es in der Musik J. S. Bachs, Mozarts und Jacques Offenbachs vorfand. Wie verschiedene Dinge, Aspekte, Bereiche also dann in einem zusammengesetzten musikalischen Raum als wirklich ›zusammenhängend‹ gestaltet werden, ist bei Paul Klee eine ausgesprochen zentrale Frage, mit der ich mich auch hinsichtlich der verschieden gefassten Räumlichkeiten der Musik befassen werde. Die Gefahr besteht darin, dass statt wahrer, affiner und dynamischer Zusammengehörigkeit der Dinge im Raum nur bloße und beliebige Juxtaposition herrscht. Klee hatte für solche Dinge einen besonderen Blick, wie sein botanisches Theater vor allem in dem Bild ad marginem22 von 1930 zeigt. In dessen Mitte liegt eine alles belebende wie verbrennende Sonne, die alles in ihrem direkten Umfeld verdorren lässt bis zu den Rändern des Bildes, deswegen der Titel ad marginem, an denen die vertrockneten Pflanzen in hieroglyphische Schriftzeichen übergehen, also alles von Dingen und Pflanzen erster Ordnung in eine zweite Ordnung verwandelt wird. Damit ist es in seinen Ordnungen des Sichtbaren ein Gegenbild zu Nichtkomponiertes im Raum von 1929.
22 | Vgl. zur Interpretation und Diskussion des Bildes ad marginem von Paul Klee: Oliver Wiener und Martin Zenck: »Szenen und Räume des musikalisch Imaginären im Diskursfeld von Einbildungskraft und Phantastik. Versuch einer Grundlegung mit fünf musikalischen wie bildnerischen Modellen«, in: Die Musik – eine Kunst des Imaginären? Musik-Konzepte. XII/2016. Sonderband hrsg. von Ulrich Tadday, München 2016; dort zum fraglichen Bild von Paul Klee, S. 47-52.
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Zwischen- und Resonanzräume in Mark Andres wunderzaichen und Isabel Mundr ys Ein Atemzug – die Odyssee In Mark Andres Musiktheaterstück wunderzaichen23 haben wir – vergleichbar mit Manos Tsangaris’ Karl May-Oper – mehrfache Spiel- und Handlungsräume, die ineinander übergehen, aber auch den scheinbar zentrierenden Bühnenraum entgrenzen. Es gibt hier eine Wartehalle im Flughafen von Ben Gurion, in der Jesus in der Gestalt des Humanisten Johannes Reuchlin den Fluggästen und Mitgliedern einer Gemeinde erscheint und erkannt wird; weiter einen Kontroll- und Untersuchungsraum, in dem sich Jesus/Reuchlin verständlicherweise nicht ausweisen kann und den imaginierten Klang-Raum der Grabeskirche in Jerusalem. In besonderer Weise werden dabei – wie auch in Orchesterwerken des Komponisten – Zwischenräume wirksam, weil sie die entscheidenden Dinge nicht in essentialistisch festgelegten Orten und lokalisierbaren Räumen sich ereignen lassen, sondern im Passageren, weniger Ortbaren des Dazwischen. Darauf verweist schon die Etymologie von ›Inter-esse‹: auf eine Teilnahme an einem Da-Zwischen, womit eine Verschiebung des Teilnehmenden als auch des Gegenstandes erreicht wird, und wodurch beide, der Interessierte wie das Interessierende, disloziert werden. Das ›Inter-esse‹ ist also eine ortbar- nicht ortbare Markierung des Dazwischen. In mehrfacher Hinsicht befinden wir uns im Musiktheater von Mark Andre in einem ›Zwischenraum‹: erstens in demjenigen zwischen Tod und noch nicht vollzogener Auferstehung, wobei für das ›Dazwischen‹ die Schwelle in besonderer Weise bedeutsam wird. Wie in der entsprechenden Stelle des Johannes-Evangelium Jesus, obwohl verstorben, dennoch durch die geschlossene Tür zu den Jüngern tritt, er zwischen verloren gegangener Leibhaftigkeit und erneut wieder gewonnener physischer Präsenz steht, so ist Johannes auf der Szene zunächst ein Eindringling,
23 | Vgl. dazu die ausführliche Studie von Jörn Peter Hiekel: »Resonanzen des Nichtevidenten. Mark Andres Musiktheaterwerk wunderzaichen«, in: Mark Andre. Musik-Konzepte. II/2015, Neue Folge, hg. v. Ulrich Tadday, München 2015, S. 1539; vgl. unter anderer Perspektive Martin Zenck: »Zwischenräume. Räume des Imaginären im Ensemblestück Zwischenraum und im Musiktheater wunderzaichen von Mark Andre«, in: Die Musik – eine Kunst des Imaginären? a.a.O., S. 190-220; vgl. insbesondere zu wunderzaichen, S. 208-215.
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der eigentlich nicht mehr lebend, doch durch die Einpflanzung eines neuen Herzens das Leben wiedergewonnen hat. Als paradigmatisch hierfür kann [diese] Szene gelten, von der im Johannes-Evangelium berichtet wird. […] Demnach stellt sich die Frage nach den magisch-religiösen Bewegungsformen im Zwischenraum, wenn sie sich nicht erst auf dem Weg ins Jenseits vollziehen, sondern noch auf der Erde ausgeführt werden von Handlungsträgern, deren Körperstatus sich im Übergang befindet. Hier wird das Konzept des frontier aus der Domäne eines bloß topologisch gefassten Grenzraums um die Dimension eines transzendentalen Grenzzeitraums erweitert – eines Übergangsraums zwischen Diesseits und Jenseits, in dem man gewissermaßen zwischen diesen beiden Welten schwebt. 24
Demnach können in dieser Figur zweitens mehrfache Doubles gesehen werden: Johannes Reuchlin kann in der erkannten Gestalt von Jesus und Johannes als ›Verkörperung‹ des Philosophen Jean-Luc Nancy gesehen werden, aus dessen Text Der Eindringling 25 zitiert wird – und der seinerseits eine Figur mit ›fremdem Herzen‹ ist (da sich Nancy das Herz transplantieren lassen musste, um zu überleben.). Diese Figur ist also nicht fest umrissen, sondern hat Zwischenzustände einer sowohl bestimmten leiblichen Existenz26 als auch einer ganz anderen. 24 | Uwe Wirth: »Zwischenräumliche Bewegungspraktiken« in: Bewegen im Zwischenraum, hg. v. Uwe Wirth, Berlin 2012, S. 14. 25 | Jean-Luc Nancy: Der Eindringling/L’intrus. Das fremde Herz. Aus dem Französischen von Alexander Garica Düttmann, Berlin 2000 (zweisprachige Edition im Verlag Merve). Ausschnitte aus diesem Text sowie aus anderen Texten des Straßburger Philosophen Jean-Luc Nancy spielen im Musiktheaterwerk wunderzaichen mehrfach eine entscheidende Rolle, sodass auch deswegen seine Figurenrede mit derjenigen von Johannes Reuchlin und dem Johannes-Evangelium in Verbindung gebracht wird. Nicht zuletzt ist es die doppelte Körperstrategie in der abendländischen Geschichte, diejenige der Überwältigung des Körpers und seiner Gefühle wie der Entzug einer solchen Überwältigung, die in Nancys Studie Noli me tangere eine entscheidende Rolle spielt. 26 | Ich lasse an dieser Stelle den grundlegenden Unterschied zwischen der Unvertretbarkeit des [einzelnen]Körpers, wie sie Jean-Luc Nancy versteht, und einem differenzierten Begriff vom Embodiment außer Acht, bei dem nicht einfach der eine Körper in den anderen übergeht, also von einer bestimmten privaten Person
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Um Zwischenräume geht es drittens insofern, als es in der Grabeskirche in Jerusalem zahlreiche im Verlauf ihrer Architekturgeschichte veränderte Räume gibt, die auch zu Zwischenräumen wurden. Dieser Ort der Grabeskirche ist für Johannes Reuchlin ein ersehnter, aber nie betretener, weil er zuvor im Flughafen Ben Gurion zusammenbricht. Von diesen hat der Komponist Mark Andre viertens zusammen mit dem Tonmeister und Elektronik-Spezialisten Joachim Haas und dem Dramaturgen Patrick Hahn vor Ort in der Grabes-Kirche und in der Wüste akustische Fotos, die ›Echographen‹ genannt werden, aufgenommen. Verändert und transformiert durch live-elektronische Verfahren werden diese kaum hörbaren Klänge der Szene zugespielt. Sie dokumentieren zum einen längst verloschene Klangspuren, welche übertragen in aktuelle Klangträger den Klangraum der Szene bestimmen. Zugleich bleibt aber eine Differenz zwischen der möglichen Authentizität solcher Klangspuren und ihrer Aktualisierung, wodurch auch hier im Akustischen ein Zwischenraum entsteht: zwischen dem ›räumlich-symbolischem‹ und dem ›akusmatischen‹, als welchen sie vom Komponisten Mark Andre bezeichnet wurden.27
auf den Schauspieler, sondern, dass beide bei der Verkörperung einen Abstand von sich selbst markieren, die Figur auf der Szene zu einer doppelten wird: einerseits ist sie es, etwa Sancho Pansa, andererseits ist sie es nicht, sondern diejenige, die diese nur Rolle spielt. (vgl. dazu Martin Zenck: »Unvertretbarkeit des Körpers oder Embodiment? Zu den Hölderlin-Kompositionen von Heinz Holliger und Nicolaus A. Huber«, in: Body Sounds. Aspekte des Körperlichen in der Musik der Gegenwart, hg. v. Jörn Peter Hiekel, Mainz: Schott 2017, S. 158-175). 27 | Vgl. dazu einerseits zu den verschiedenen Typen von Zwischenräumen, die jeweils mit unterschiedlichen »Zeitfamilien« verbunden sind (Mark Andre: »Die Klang-Zeitfamilien und kompositorischen Zwischenräume in üg für Ensemble und Elektronik«, in: Mark Andre. Musik-Konzepte, a.a.O., S. 40-60), zum anderen den Vortrag »Von kompositorischen Zwischenräumen« bei den 47. Internationalen Ferienkursen für neue Musik in Darmstadt 2014 von Mark Andre zu dieser Thematik mit Abbildungen und systematisierten Synopsen, die mir der Komponist dankenswerter Weise zukommen ließ. Mark Andre hat dort zwischen ›symbolischen‹ und ›akusmatischen‹ Zwischenräumen unterschieden, womit er einen Terminus von Michel Chion aufnimmt. Chion unterscheidet zwischen der sichtbaren, gleichsam verkörperten Stimme des ›écoute visualisée‹ und der unsichtbaren Stimme, der
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So unterschiedliche Werke wie Mark Andres wunderzaichen und Isabel Mundrys Odyssee in einem Atemzug zu nennen, mag überraschen. Nähere Beziehungen ergeben sich aber einerseits aus der Vorstellung ›einer gefalteten Zeit‹, mit der Mundrys Oper wohl in Anspielung auf Mallarmé und Boulez‹ Werk pli selon pli28 (»Falte für Falte«) anhebt, um verschiedene Zeiten auseinander zu falten, um diese dann, wenn sie wieder zusammengefaltet werden, nicht deckungsgleich werden zu lassen. Durch die entstehenden Überhänge entstehen dann auch ganz unabsehbare Zeiten. Andererseits entstehen gerade aus diesen Inkongruenzen Zwischenräume, die im Sinne von Andre zu verstehen sind – Mundry nennt sie »gefächerte Räume«. Es sind in beiden Werken Räume, die entworfen, auseinandergeschlagen, auseinandergezogen wiederum ganz andere Verbindungen zwischen vergangenen und gegenwärtigen Zeiten herzustellen vermögen. Sie erscheinen wie ›akusmatische‹ und textuelle Resonanzen, welche aus Gesteinsplatten und aus alten Texten wie durch Palimpseste gepresst in unsere Gegenwart hindurchklingen. So jedenfalls können in einem ersten Zugang die alttestamentarischen Assonanzen und Klangspuren aus der Grabeskirche in Jerusalem in den wunderzaichen von Mark Andre und die Resonanzräume verstanden werden, die aus den alten homerischen Gesängen der Odyssee bis heute, bis hin zu Kafkas Das Schweigen der Sirenen sowie bis in das Sirenenkapitel der Oper Ein Atemzug – Die Odysseee von Isabel Mundry nachzittern. Mark Andres wunderzaichen wie auch Isabel Mundrys Odyssee rufen also nicht nur eine längst vergangene, vielleicht auch verlorene Zeit auf, sondern mit ihren Werken geben sie einen Wink: den Hinweis, dass mit diesen auch ihre eigene Gegenwart verlöschen, auf jeden Fall die eigene Zeit nicht überdauern wird. Darin ist in jedem Fall eine Gegenposition ›voix acousmatique‹ die ausschließlich in ihrer Reinheit hervortritt (Michel Chion: La voix de cinéma, Paris 1982, S. 27) 28 | Vgl. dazu Martin Zenck: Pierre Boulez. Die Partitur der Geste und das Theater der Avantgarde, Paderborn 2016 (dort das Kapitel I, 10 »Das sichtbare und das unsichtbare Theater: Orestie (IV.) und Pli selon pli«, dort insbesondere die Seiten 389-401); vgl. weiter neuerdings Martin Zenck: »Die Livre-Konzeption von Pierre Boulez‹ Mallarmé-Kompositionen«, in: Mallarmé. Begegnungen zwischen Literatur, Philosophie, Musik und den Künsten, hg. v. Giulia Agostini, Wien: Passagen, 2018 (in Vorbereitung).
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zur romantischen Dichtungstheorie einer unabschließbaren, nicht vollendbaren ›progressiven Universalspoesie‹ im Sinne Friedrich Schlegels und zu den Kunst-Manifesten des frühen 20. Jahrhundert zu erkennen, die von einer emphatischen, unablässig wirksamen Futurisierung der Gegenwart bestimmt wird. Eher, so meine ich, sind wir heute gegenüber Utopien etwas bescheidener geworden. Und so geht es bei Mark Andre wie bei Isabel Mundry darum, aus den kleinsten Spuren einer verloren geglaubten Zeit einen Funken zu schlagen, der noch in die eigene Gegenwart und vielleicht in die Zukunft überspringt: eine deutliche Erinnerung der »schwachen messianischen Kraft«, von der Walter Benjamin sprach29, den Luigi Nono in seinem Prometeo zitiert. In Mundrys Stück werden die entfernten Zeichen aus der homerischen Antike schon dadurch gewonnen, dass zwar einzelne Teile ihres Musiktheaters auf die Stationen der Odyssee von Homer zurückgehen, aber von dort nur die einzelnen Episoden aufgerufen werden, ohne dabei die Gesänge von Homer in ihrem Textverlauf wörtlich im Einzelnen zu komponieren. Vielmehr beginnt hier schon eine erste Verwandlung durch die freie Umdichtung wie beim Sirenen-Kapitel, wo eher traumwandlerisch von der »grausend Umliebten« die Rede ist, die mit ihrem verzaubernden und rührenden Gesang (also der Musik als einer taktilen Kunst) und dabei fast gewalttätigen Lied so viele Seefahrer, die in die Nähe ihrer Insel kamen, ins Verderben stürzte. Homers zwölfter Gesang ist hier also in ein eigenes Gedicht und eine eigene musikalische Szene überführt, bei der es nicht wie bei Homer Kirke ist, die Odysseus anspricht. Sondern es ist Odysseus, der die Sirene mit den Worten »Glaubtest Du meiner/Singe, Du Traum, lebe« adressiert, mit dem das Gedicht auch wiederum endet und somit einen auch tödlichen Bogen spannt. Die elf Verszeilen sind vielleicht eine Anspielung auf den elften Gesang im Hades, den Odysseus nach der doppelten Todeserfahrung mit seinen Gefährten verlässt (Bestattung des Gefährten Elpenors und der Gang aus der Unterwelt). Die genannten Verszeilen stellen also eine weitere Allusion an den elften Gesang des Hades (Aides) dar, der sich bei Heiner Müller über die Bildbeschreibung legen soll (also hier der sinnvolle Bezug bei Müller auf die Alkestis und den elften Gesang des Homer). Diese Verszeilen sind 29 | Vgl. dazu Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung v. Th. W. Adorno und G. Scholem, hg. von R. Tiedemann und H. Schweppenhausen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1990.
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im letzten des fünften Teils von Mundrys Musiktheater auf sechs Sopran- und drei Altstimmen verteilt, in Abfärbung der einzelnen Stimme/ Stimmgruppe auf die andere, sodass aus der Sirene ein vielfacher Gesang hervorgeht, auch in ein Duett mit der Solo-Trompete, welche nach Angabe der Komponistin die Stimme des Odysseus vertritt. Insgesamt aber ist im Sinne des ›aufgefächerten Raums‹ das ganze Ensemble zusammen mit dem Orchester in einen alles umfassenden Bühnen-, Orchester- und Außenraum projiziert, sodass die Bühne selbst schon von Musikern besetzt erscheint, die wie in Mozarts ›Instrumentalem Theater‹ (vgl. die Zuordnung des Fagotts zu Leporello in Don Giovanni, wie die Klarinette zur Donna Elivira) den beiden Figuren auf der Szene zugesellt erscheint. Wie Jörn Peter Hiekel in seiner Studie über dieses Werk von Isabel Mundry dargelegt hat, sind nicht nur einzelne Instrumente wie das Akkordeon der Penelope, die Trompete des Odysseus, sondern ein spezielles siebenköpfiges Instrumental-Ensemble, welches auf der Bühne agiert, ist in einer besonderen Weise den Figuren auf der Szene zugewiesen, vergleichsweise wiederum wie die Bühnenmusiken in zwei Schlüsselszenen des Don Giovanni. Erweitert wird der musiktheatrale Raum nicht nur vermöge der durchgehenden Präsenz des Instrumentalensembles auf der Szene, dem Orchester im Graben und womöglich verteilt auf den Seitenlogen, sondern des Weiteren über eine spezifische Choreografie des musikalischen Geschehens durch Reinhild Hoffmann, sodass sich (wie neuerdings auch bei Sasha Waltz und wie früher schon bei Pina Bausch bereits erwähnter Inszenierung von Herzogs Blaubarts Burg) die musikalische Szene zwischen Ballett, Choreographie und Oper bewegt. Die Komponistin sprach in einem ihrer Schlüsseltexte inmitten der Heimatlosigkeit des Odysseus von dem, was seine »Heimat sein könnte: Sprachraum, Resonanzraum, Ort der Erinnerung, des Vergessens.« Und wenn der Untertitel ›ein Atemzug‹ hinzugenommen wird, durchschwingt die Musik dieses Theaters einen vielfachen Raum vom einzelnen komponierten Atem/Odem – auch in den Atemgeräuschen einzelner Blasinstrumente (siehe Partitur30) bis hin zu vielfach sich überlagernden szenischen Elementen der Dynamik der Instrumente, der Singstimmen, des Ensembles und des Orchesters bis hin zu einer spezifischen Bewegungschoreografie der Figuren, welche allenthalben musikalische sind. 30 | Isabel Mundry: Ein Atemzug – die Odyssee. Musiktheater, Partitur, Wiesbaden: Breitkopf & Härtel 2003, S. 82.
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Bei dem zitierten ›Resonanzraum‹, den die homerischen Gesänge zusammen ihren Neudichtungen als Grundlage für die Musik bilden, könnte auch an ein musikalisches Palimpsest erinnert werden, welches die Vergangenheit der griechischen Antike nach oben bis in unsere Gegenwart hindurchpresst und dort zumindest in kurzen Augenblicken der Atemzüge etwas für uns in klingende Schwingung versetzt, was die Zeit so wenig überdauern wird wie die visionäre Antike von Hubert Robert. In diesem Aspekt des Resonanzraums, wie er dargestellt wurde, findet sich die deutlichste Parallele zur Wiedererweckung akusmatischer Klangspuren aus der Grabeskirche in Jerusalem im genannten Werk von Mark Andre. 7.SIRENEN Glaubest Du meiner, singe, Du Traum, lebe, lebe im Grau. Stunde und Staub, Meerigel, und Laub, steig‹, Meer, Du mein Glaube. Erst im Blute des grauen August, der im Nebel um’s Regenlied baut, grausend Umliebte glaubest Du meiner.31
Zusammenfassung und Ausblick Von ganz anderen und neuen Räumen im Musiktheater war die Rede, von Verschiebungen fixierter Orte, von vielfach anderen Räumen in Form von Seiten-, Zwischen- und Überräumen, die sich verschränken oder auch für sich bestehen. Auch von akusmatischen Unter-Räumen wurde gehandelt (in denen Stimmen erklingen, ohne auf einen direkten Körper zurückgeführt werden zu können) und dabei auch und vor allem von vertikalpalimpsestartigen Resonanz-Räumen, welche den einmal scheinbar gesicherten euklidischen in einen nicht-euklidischen Raum überführt haben. Damit werden die gängigen Koordinaten, auch noch die vektoriellen des euklidischen Raums, außer Kraft gesetzt und eine neue Dimension, die 31 | I. Mundry: Ein Atemzug – die Odyssee, S. 120-126.
Strategien der Raum-Komposition und die sich selbst beobachtende Szene
des ›Zwischenraums‹ im Sinne von Jacques Derrida eingeführt. Am Ende des ersten Teils seiner Grammatologie heißt es: »Denken [ist] an dieser Stelle für uns ein vollkommen neutraler Name, weißer Zwischenraum im Text, der notwendigerweise unbestimmte Index für eine zukünftige Epoche der »Differenz«.32 Obwohl Derrida bei dem »weißen Zwischenraum im Text« sicherlich zunächst an die ›blancs‹ Mallarmés in der ›préface‹ zu un coup de dès gedacht hat, die gleichwohl räumlich konnotiert sind auf Grund der geforderten mise en scène und vor allem wegen des »espacement du texte et de la lecture«33, sind es gerade die gleichsam räumlichen Leerstellen, welche die Denotate umgeben und dies imaginäre Theater als eines der Zwischenräume ausweisen im Sinne der von Derrida aufgerufenen »zukünftigen Epoche der Differenz«34 einer zwischen dem Zeichen und dem Bezeichneten. Diese Differenz wird grundsätzlich zwischen dem Text einer Partitur und dem oral-mimetischen Subtext der Aufführungsgeschichte und gegenwärtig im »entwerkten Werk des Musiktheaters«35 im Sinne von Dieter Mersch wirksam. Das »désoeuvré« (Mersch) ist allerdings eine brisante Formulierung vor dem Hintergrund eines mehr als problematischen Werkbegriffs (ich erinnere an die Diskussion des L’oeuvre inconnue bei Balzac und an das »opus perfectum absolutum« des Parsifal von Wagner) und zeichnet sich dabei sowohl in der Verabschiedung eines durchgängigen Narrativs als auch in der grundlegenden Durchbrechung einer jeglichen Zentralperspektive des musik-theatralen Raums ab. Dieser wird entgrenzt, zusammengezogen, verschoben in viele Richtungen des Seitenraums, auch des perforierten, sowie des Über-Raums und des unheimlichen Sótterráneo, wodurch wir als die Zuschauer und Zuhörer auf vielfältige Weise in diese neuen Raumerfahrungen hineingezogen werden, um die Perspektive eines gesicherten Abstands für immer zu verlieren, weil auch wir zu Objekten der Supervision werden. 32 | Jacques Derrida: Grammatologie, übersetzt von Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler, Frankfurt a.M. 1983, S. 170 (die französische Originalausgabe war 1967 unter dem Titel De La Grammatologie, Paris, Les Editions de Minuit, erschienen). 33 | Mallarmé: »Préface« zum Un Coup de Dés, in, ders.: Gedichte. Zweisprachig. Neu übersetzt und kommentiert von Gerhard Goebel, Gerlingen 1993, S. 244. 34 | Jacques Derrida: Grammatologie, a.a.O., S. 170. 35 | Vgl. den Beitrag von Dieter Mersch im vorliegenden Band.
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Kein Original mit Untertitel Robert Walser und das Théâtre musical Roman Brotbeck
Der Schweizer Dichter Robert Walser wurde in den letzten zwanzig Jahren zu einem der am meisten neu vertonten Schriftstellern. Von den ungefähr 120 Kompositionen, die ich bisher nachweisen konnte, sind 75 Prozent seit 1996 entstanden. Erstaunlich ist dabei die Bedeutung, welche das Genre Théâtre musical1 einnimmt. Circa ein Drittel aller Walser-Vertonungen sind in einem erweiterten Sinne dem Théâtre musical zuzuordnen, indem sie auf die Mittel des Melodrams, des Sprechtheaters, der Kurzoper und des Cabarets zurückgreifen und polystilistisch und multimedial angelegt sind. Im Folgenden werde ich nur vereinzelte Beispiele aus der großen Anzahl von Werken und Produktionen überhaupt beleuchten können. Zu Lebzeiten wurde Robert Walser nur von zwei Komponisten vertont: Sehr früh 1912 durch den Berliner Komponisten James Simon (1880-1942, in Auschwitz ermordet) und am 1. September 1939, am Tag des deutschen Einmarsches in Polen, durch den Bieler Komponisten Wilhelm Arbenz (1899-1969). Anders als zum Beispiel seine Zeitgenossen Hermann Hesse oder Thomas Mann hatte Robert Walser ein ausgesprochen kritisches Verhältnis zum klassischen Musikbetrieb,
1 | Ich verwende für die Erscheinungen, die mit Begriffen wie Composed Theatre, Instrumentales Theater bzw. Experimentelles Musiktheater benannt werden, die französische Bezeichnung Théâtre musical. Der Begriff ist neutral, enthält keine impliziten Wertungen (wie ›experimentell‹ oder ›komponiert‹) und ist historisch viel weniger belastet als ›instrumentales‹ Theater. Zudem trägt der Begriff, der durch das Schaffen von Georges Aperghis im Französischen fest verankert ist, etwas zur sprachlichen diversité culturelle bei.
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insbesondere zum hohen Gesang und zu den ›Klavierlöwen‹; so gibt es keine Nachweise von Kontakten zu komponierenden Zeitgenossen.2 Die hohe Musikalität von Walsers Sprache begann man erst in den 1980er, dann aber vor allem in den 1990er Jahren zu entdecken. Das hat auch viel mit der Schweiz zu tun. Nachdem die Schweizer Bevölkerung sich 1992 unter Einfluss rechtsnationalistischer Strömungen zum politischen Alleingang in Europa entschieden hatte, wurde Robert Walser in seiner Beiseit-Stellung zu einer Identifikationsfigur vieler Schweizer Kulturschaffenden, die von einer anderen Schweiz träumten. Regionales, Rückzüge, Dialekte, Ungehobeltes, Miniaturen, die Verweigerung der großen Botschaften und Diskurse bekamen da eine enorme Bedeutung. Und oft bildete die Beschäftigung mit Walser eine Art Umschlagpunkt in den einzelnen künstlerischen Biografien. Sehr schön lässt sich das bei Heinz Holliger beobachten, der sich jahrelang mit Vertretern der Weltliteratur wie Hölderlin, Beckett, Trakl und Nelly Sachs auseinandersetzte, 1990 den Liederzyklus Beiseit nach Robert Walser schuf und sich danach vor allem mit unbekannten Dichtern und Dichterinnen auseinandersetzte; er vertonte Gedichte in seltenen, zum Teil fast schon ausgestorbenen Dialekten, die auch für Schweizer nur schwer verständlich sind, oder jüngst auch rätoromanische Texte. Das sind alles Sprachen, die nur noch von einigen Hundert bis einigen Tausend Menschen verstanden und gesprochen werden. Bis zu einem gewissen Grad ist auch das Théâtre musical eine schweizerische Spezialität, die mit Philipp Eichenwald, Heinz Holliger, Urs Peter Schneider, Hans Wüthrich und Jürg Wyttenbach schon in den 1960er Jahren beginnt und seither kontinuierlich weitergepflegt wird. Interessant ist allerdings, wie sich in den letzten zehn Jahren auch Nicht-Schweizer mit den Mitteln des Théâtre musical Robert Walser genähert haben, z.B. Johannes Harneit mit Räuber 2005, Georges Aperghis mit Zeugen 2007, Helmut Oehring mit Gunten 2008 und die Japanerin Ezko Kikouchi mit Der Teich 2012. Bei den meisten Walser-Vertonungen spielt Walsers magische und abgründige Biografie eine zentrale Rolle; insbesondere der rätselhafte Tod im Schnee beschäftigt eigentlich fast alle, die sich mit Walser musikalisch auseinandersetzen. Walser wurde am Weihnachtstag 1956 so gefun2 | Vgl. Robert Walser: »Das Beste, was ich über Musik zu sagen weiss«, Roman Brotbeck/Reto Sorg (Hg.), Berlin: Insel 2015.
Kein Original mit Unter titel
den, wie er es in seinem Werk Jahrzehnte früher mehrfach beschrieben hatte, allein im Schnee liegend, den Mund gegen den Himmel geöffnet, die eine Hand an der Brust, die andere ausgestreckt zum Hut. Weitere magische Punkte der Biografie Walsers sind die jugendliche Hochbegabung: drei große Romane schrieb er noch vor dem 30. Lebensjahr, dann kamen der Rückzug in die Schweiz und das Schreiben der ›Prosastücklein‹ zuerst in einem Zimmer in Biel, später in Bern. Schon in den 1920er Jahren trennt sich Walsers Schreiben auf in eine Entwurfsschrift, die sogenannte Mikrogramm-Schrift, die immer kleiner und wilder wird, und in eine schülerhaft steif wirkende Reinschrift der Manuskripte. Aufgrund des Streits mit Vermieterinnen und unflätigen Verhaltens, vor allem aber wegen Suizidgedanken akzeptiert Walser 1929 die Einweisung in die Nervenheilanstalt Waldau bei Bern. Dort schreibt und publiziert er weiterhin Texte, teilweise echte literarische Kostbarkeiten. 1933 wird Walser gegen seinen Willen ins Appenzellische Herisau verlegt. Dort stellt er das Schreiben ein. 23 Jahre verbrachte er dann in der Heilanstalt Herisau, wo er Papiersäcke klebte und Knäuel von Schnüren aufdröselte, was im Schweizerdeutschen sinnigerweise ›verlesen‹ heißt. Diese biografische und schöpferische Entwicklung dominierte fast alle frühen Walser-Auseinandersetzungen: Tod, Schnee, Winter, Miniatur, Verstummen, Beiseit – das sind die Topoi, die redundant auftreten. Lucas Marco Gisi publizierte 2012 eine aufschlussreiche Studie zu Walsers psychischer Erkrankung. Er stellte dort ein weiteres Mal mit einer gewissen Irritation fest, dass auch jüngere Psychiater an der Diagnose ihrer früheren Kollegen keinesfalls zweifeln. So haben 2011 vier Gießener Psychiater, nämlich Stephan Partl, Bruno Pfuhlmann, Burkhard Jabs und Gerald Stöber,3 eine ausführliche Studie zu Robert Walsers Krankheit vorgelegt. Ich zitiere ihre Erkenntnisse in der Zusammenfassung von Lucas Marco Gisi: Die Psychiater gelangen anhand der Krankenakte zur Diagnose einer katatonen Schizophrenie nach der internationalen Klassifikation psychischer Störungen ICD-10 und einer sprachträge-manierierten Katatonie nach der differenzierten Psychopathologie. Die Krankheit habe die schriftstellerische Produktivität zunehmend beeinträch3 | Stephan Partl/Bruno Pfuhlmann/Burkhard Jabs/Gerald Stöber: Meine Krankheit ist eine Kopfkrankheit, die schwer zu definieren ist. In: Der Nervenarzt 82/1 (2011), S. 67-78. Robert Walser in seiner psychischen Erkrankung.
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tigt: Während die Schrift immer kleiner werde, falle es Walser gleichzeitig immer schwerer, seine Sätze zu einem Abschluss zu bringen. Anhand von Walsers Texten der 1920er Jahre ließen sich zwei Formen der Katatonie nachweisen. Auf der einen Seite führe eine manierierte Katatonie zu einer Unfähigkeit zur Entschlussbildung, was sich in Klang- und Wortassoziationen, Wortneubildungen, der Unfähigkeit gedanklich zum Abschluss zu kommen, Verschachtelungen und dialektischen Entgegensetzungen äußere; auf der anderen Seite resultiere aus einer sprachträgen Katatonie eine Unfähigkeit zur gedanklichen Filterung, wovon im Werk unerwartete Einschübe und Unterbrüche des Gedankenflusses zeugten. 4
Diese Position stammt nicht etwa aus den 1950er Jahren, sondern aus dem Jahr 2011! Die eigentlichen Qualitäten von Walsers Schreiben, die in der Germanistik heute mehrfach herausgearbeitet worden sind, werden pathologisiert. Aus solcher Sicht müssten neben jener von Walser auch zahlreiche andere literarische Positionen des 20. Jahrhunderts als ›manierierte Katatonie‹, als psychische Störung ICD-10 klassifiziert werden. Aber auch bei einem Musikästhetiker unserer Zeit, nämlich ClausSteffen Mahnkopf, wäre Walsers Werk chancenlos, wenn man seinen Text Die Qualitätsfrage mit Walsers literarischen Ansätzen abgleicht, denn kein einziger seiner Texte hat ›einen starken Einheitsgedanken‹, bei dem alles ›als eine Einheit gedacht‹ ist. »Diese Einheit ist […] eine Einheit der Differenzen, nicht aber eine Differenzialität sui generis. Man mag beispielsweise ein Fragment komponieren, dieses muss aber genauso durchartikuliert sein wie ein Nicht-Fragment«. Und ganz schlimm müsste für Mahnkopf sein, dass Walser ein künstlerisch unökonomischer Autor ist, »der mit wenigen Abweichungen eine Werkidee mehrmals umsetzt, seinen Wahrheits- und Qualitätsanspruch auf mehrere Werke verteilt«, also so handelt, »als hätte Beethoven die Pastorale drei- oder viermal komponiert. Das ist künstlerisch unökonomisch, eine Verschwendung kreativen Potentials, denn jede Pastorale wäre für sich weniger wert als eine, welche ihre Idee auf den Punkt bringt, anstatt es dem Hörer zu überlassen, aus der Aneignung mehrerer Stücke deren geistige Mitte zu destillieren.
4 | Lucas Marco Gisi: Das Schweigen des Schriftstellers. Robert Walser und das Macht-Wissen der Psychiatrie, in: Martina Wernli (Hg.), Wissen und Nicht-Wissen in der Klinik. Dynamiken der Psychiatrie um 1900, Bielefeld: transcript 2012, S. 231-259.
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Weniger ist eben mehr«5. Was würde Mahnkopf wohl zu Robert Walser sagen, der Hunderte von ›Pastoralen‹ geschrieben und gewissermaßen immer nach dem Prinzip ›mehr als weniger‹ gearbeitet hatte? Auch diese Position von Mahnkopf ist keineswegs ein Jugendstreich, vielmehr wurde der Text 2016 unter dem Titel Die Qualitätsfrage publiziert. In seiner schon fast versteinert werkzentristischen Haltung werden größte Teile des globalen Musikschaffens qualitativ ausgeschlossen, darunter auch ein Großteil der Produktionen der Münchener Biennale 2016. Ich zitiere Mahnkopf und die Gießener Psychiater hier nur, weil sie ex negativo erklären können, weshalb das Théâtre musical mit den wahlweise uneinheitlichen, mehrperspektivischen, multimedialen, paradoxen, polystilistischen, multikulturellen Mitteln und mit den Klang- und Wortassoziationen, Wortneubildungen, Verschachtelungen, dialektischen Entgegensetzungen, unerwarteten Einschüben und Unterbrüchen des Gedankenflusses, kurz mit der ›Differenzialität sui generis‹ Robert Walsers Texten am adäquatesten beizukommen weiß. Gerade das Einheitsstreben – oder wie Claude Lévy-Strauss schon 1964 in Le cru et le cuit bei seiner Kritik des Serialismus schrieb: »l’utopie du siècle, qui est de construire un système de signes sur un seul niveau d’articulation«6 – wird von Robert Walser nämlich schon in den allerersten Texten systematisch hintertrieben. Sobald sich beim Lesen seiner Texte das Gefühl eines Fixpunktes, einer klaren Perspektive oder eines festen Grundes einstellt, stehen wir meist schon auf der Falltür, die sich sanft-freundlich öffnet und uns in völlig andere Gemächer gleiten und manchmal auch wegschweben lässt. Den Titel der Münchener Biennale 2016, Original mit Untertiteln könnte als Metapher für Walsers Schreiben dienen, zumal die Untertitel explizit im Plural erscheinen, denn Walser verfasst zu seinen ›Originalen‹ meist einen Dschungel von Untertitelungen, die gerade im Spätwerk das ›Original‹ bis zur Unkenntlichkeit überwuchern. Ein traditioneller Walser-Lieder-Zyklus, eine richtige Walser-Oper oder gar ein Walser-Oratorium, die eine musikalische ›Untertitelung‹ und Erweiterung sein wollen, sind da meist schon ein kreatives Missverständnis, weil die Musik immer nur verharmlosend oder bestenfalls romantisch-dämonisierend, schlimmstenfalls einheitsbildend ein5 | Claus-Steffen Mahnkopf: »Die Qualitätsfrage«, in: Musik & Ästhetik, 20. Jg., Heft 78, April 2016, S. 84f. 6 | Claude Lévi-Strauss: Mythologiques. Le cru et le cuit, Paris: Plon 1964, S. 32.
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greift und der vertrackte Text oft genug die ihn vereinfachende Musik verspottet. Die musikalischen Genres passen nicht zur alles Genrehafte verweigernden Sprache Walsers. Und wohl deshalb ist gerade das die Genres vermischende Meta-Genre des Théâtre musical so bedeutend geworden in der musikalischen Walser-Rezeption.
Flucht von Wladimir Vogel und Dornröschen von Gerhard Lampersberg Schon in der ersten großen, ja schon fast monumentalen Auseinandersetzung mit Robert Walser, im zweistündigen dramma-oratorio Flucht des in Russland aufgewachsenen deutschen und später schweizerischen Komponisten Wladimir Vogel aus dem Jahr 1964 fließen Elemente des Théâtre musical ein. Das ist erstaunlich, denn Wladimir Vogel hat seine ganze Theorie des dramma-oratorio in Opposition zum Theater entwickelt und bis zu Flucht explizit darstellende Elemente ausgeschlossen. Bei Robert Walsers Biographie und Sprache erkennt selbst er, dass damit nicht durchzukommen ist, und er empfiehlt zu Beginn der Partitur vorsichtig den Einbezug szenischer Momente: »Schauspieler (nicht die Sänger) sind kostümiert und geschminkt nach Beschreibungen im Text. […] Den Hintergrund bilden Projektionen (angebrachter als Bühnendekorationen). Bilder je nach Gegebenheiten im Text oder Vorgang, aber nur angedeutet ohne den Zuschauer zu stark und dauernd abzulenken.« 7 Angestoßen wurde dieser vorsichtige Einbezug szenischer Elemente wohl durch einen Briefwechsel, den Vogel während des Kompositionsprozesses mit Rolf Liebermann führte, der während des 2. Weltkriegs sein erster Kompositionsschüler war. Vogel wollte Liebermann, inzwischen erfolgreicher Intendant der Hamburger Staatsoper, eine Bühnenfassung seines drammaoratorio Thiel Claes vorschlagen. Als Bearbeiterin dieses vor und während des Weltkrieges entstandenen antifaschistischen Monuments schlug er die innovative Tänzerin, Choreographin und Regisseurin Margarete Wallmann vor. Liebermanns Antwort war ablehnend und zeigt, wie konventionell zu Beginn der 1960er Jahre einer der wichtigen Intendanten noch dachte: man könne das Oratorium »nicht auf die Bühne bringen, weil
7 | Wladimir Vogel: Flucht, dramma-oratorio für 4 Sprech- und 4 Gesangstimmen, Sprechchor und Orchester, Kassel: Bärenreiter 1966.
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es keine Rollen habe« und ihm »richtige, ausgearbeitete Figuren«8 fehlten. Und von der ehemaligen Ausdruckstänzerin Margarete Wallmann hielt Liebermann ebenfalls wenig: »Das ist jedenfalls sehr weit von dem weg, was ich unter Kunst verstehe.«9 Liebermanns riet von einer Fassung für die Opernbühne dringend ab: »Es könnte sonst so etwas Furchtbares dabei herauskommen wie der Versuch der szenischen Darstellung der Matthäus-Passion, der vor ein paar Jahren gemacht wurde.«10 In Zeiten des postdramatischen Theaters sind solche Argumentationen kaum noch nachvollziehbar, und es dürfte faszinierend sein, Vogels Sprech-Oratorien szenisch umzusetzen, insbesondere Flucht, in der biographische Daten zu Walser, ein Kommentar von Christian Morgenstern über Walser, Kommentare des Librettisten Paul Müller und schließlich Walsers eigene Texte, darunter ein langer Ausschnitt aus dem Roman Jakob von Gunten collagiert werden. Leider wurde das Werk seit fünfzig Jahren nicht mehr aufgeführt. Die wechselnde und multiperspektivische Erzählstruktur würde erstaunliche Parallelen zum postdramatischen Theater aufzeigen und das Werk Flucht als frühen, wenn auch ziemlich monumentalen Versuch eines Théâtre musical kennzeichnen. 14 Jahre nach Wladimir Vogel beschäftigte sich der österreichische Schriftsteller und Komponist Gerhard Lampersberg erstmals mit einem der Dramolette von Walser, die als frühe Beispiele des absurden Theaters gelten dürfen. Lampersbergs Ruf und Reputation ist wegen der sprachgewaltigen Karikatur, die Thomas Bernhard im Roman Holzfällen dem Ehepaar Lampersberg widmet, leider bis heute ziemlich angeschlagen. Lampersberg war früh von Walsers poetischen Qualitäten überzeugt und vertonte 1978 das Dramolett Dornröschen, wobei er sich wie Vogel der dodekaphonen Technik bediente, allerdings in sehr freiem Stil, ohne Fixierung auf eine bestimmte Reihe und mit vielen Anklängen an andere Musikstile. Lampersbergs Dramolett mischt Sprech- und Gesangsrollen; vor allem werden alle Frauenrollen von Männern und alle Männerrollen von Frauen gespielt, was der Absurdität von Walsers Dramolett entgegen8 | Liebermann an Vogel, 18.04.1963, Zentralbibliothek Zürich, Mus NL 116: Kh 99. 9 | Liebermann an Vogel, 31.12.1962, Zentralbibliothek Zürich, Mus NL 116: Kl 95. 10 | Liebermann an Vogel, 24.4.1963, Zentralbibliothek Zürich, Mus NL 116: Kl 101.
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kommt, aber auch auf das frühe Aquarell anspielt, das Karl Walser von seinem jüngeren Bruder gemalt hatte. Robert hatte sich als Karl Moor aus Schillers Die Räuber verkleidet. Das Bild zeigt ihn zwar mit Dolch und Pistole, aber er hat ein kindlich mädchenhaftes Gesicht. Bei Lampersbergs Produktion erscheint der Prinz in der Maske dieses lieblichmelancholischen Karl Moor.
Heinz Holligers Beiseit und Mischa Käsers Nettchen Dass sowohl Lambersberg als auch Vogel an einer zwölftönigen Grundkonzeption festhalten, ist insofern interessant, als sich Walsers Sprache dem Einheitsstreben, bzw. einem »système de signes sur un seul niveau d’articulation« eigentlich in jedem Satz entzieht. Dabei entstehen bei Vogel fruchtbare Widersprüche zwischen der abstrakten Tonhöhenstruktur und dem direkten ›Wir‹ der Sprechchöre. Während Vogel solche Widersprüche nicht reflektierte, sind sie von Lampersberg mit verfremdenden Stilzitaten gezielt zugespitzt worden. Auf diese dodekaphone Tradition nimmt Holliger in seinem Lieder-Zyklus Beiseit (1990) für Kontratenor, Klarinette, Akkordeon und Kontrabass direkten und textausdeutenden Bezug. Ich mache meinen Gang; der führt ein Stückchen weit und heim, dann ohne Klang und Wort bin ich beiseit.
Das Gedicht Beiseit ist heute schon fast zu einer Chiffre für Walser geworden. Es steht auch ganz am Anfang von Holligers Liederzyklus. Die ersten beiden Verse werden von der Singstimme in einer streng konstruierten Zwölftonreihe vorgetragen. Dann folgt bei ›und heim‹ noch ein kurzes Krebsfragment, anschließend bricht die Reihentechnik ab. Das Wort ›beiseit‹ wird vom Kontratenor in der Baritonlage gesprochen. Die Zwölftontechnik, so Holligers impliziter Untertitel, führt eben nur ›ein Stückchen weit‹, von der Stille – der Welt ›ohne Klang und Wort‹ – weiß sie nichts. Auch beim gesprochenen ›beiseit‹ ließe sich über den Gegensatz von Gesungenem und Gesprochenem spekulieren, der in zahlreichen Walser-Vertonungen auftaucht. Im Beiseit-Zyklus wird dieser Gegensatz dramatisch genutzt, indem der Kontratenor oft ein Zwiegespräch mit
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seiner hohen Gesangsstimme und der tiefen Sprechstimme führt. Ohne das Werk dem Théâtre musical zuzuordnen, lässt Holliger implizit Szenisches in seinen Zyklus einfließen, etwa wenn der Kontrabass mit Utensilien förmlich gefesselt und gequält wird oder wenn das Akkordeon am Schluss in den Hintergrund treten muss, um Ferne und Entfernung zu evozieren. Nach diesem vielbeachteten Zyklus von Holliger schießen WalserVertonungen förmlich aus dem Boden. 1996 kreiert der 1957 geborene Mischa Käser Nettchen nach dem gleichnamigen Miniaturdramolett, das erst in den Mikrogrammen entdeckt wurde. Die Mikrogramme sind jener riesige Textkorpus, der in einem Zettelkasten überlebt hatte und nach Jahrzehnten der Entzifferung heute sechs Bände umfasst. Käser nennt sein Werk ein mikrodramatisches Singspiel. Er komponierte es für die Oberwalliser Spillit, ein innovatives Volksmusikensemble, das sich 2001 auflöste. Dazu kamen zwei Schauspielerinnen, ein Schauspieler sowie ein Sopran und ein Tenor. Mischa Käsers Singspiel, das am Opernhaus Zürich uraufgeführt wurde, ist die erste Beschäftigung mit Walser, die ganz auf den Witz und die absurde Komik von Walser setzt und mit dem Volksmusikensemble, das zum großen Teil aus Laien bestand, das Grobianische von Walser in die Musik brachte. Käser verzichtet in Nettchen – der Name ist eine typisch Walser’sche Überkreuzung von miniaturisiertem ›nett‹ und edlem ›Sonett‹ – auf alle Klischees von Todesahnung und Todessehnsucht und konzipierte eine operettenhafte Revue, die bei Walser radikal neue Aspekte freilegte. In der Walser-Rezeption war das ein wichtiger Schritt, der 1994 von Ruedi Häusermann mit der Produktion Weshalb Forellen in Rapperswil essen, wenn wir im Appenzellerland Speck haben können bereits eingeleitet wurde. Walser erscheint nicht als pathetisch Scheiternder, auch nicht als expressionistischer Fantast, sondern ein sein Scheitern kongenial wie irrwitzig schildernder Clown. Nettchen bildet eine der ersten Auseinandersetzungen von Mischa Käser mit dem Théâtre musical, dessen Möglichkeiten er inzwischen in verschiedensten Formen erkundet hat, oft auch als Interpret (Vokalist und Gitarrist) und Regisseur.
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Walser außerhalb der Schweiz Die Walser-Rezeption hat sich in den letzten Jahren enorm verändert und ist viel offener und internationaler geworden. Walser, der zu Zeiten von Wladimir Vogel noch ein Geheimtipp war – ein Kritiker empörte sich 1966 darüber, wie man denn diese Pubertätsliteratur nur ernst nehmen könne11 –, ist heute ein Weltautor geworden, der in über 30 Sprachen übersetzt wurde. Das erlaubt neue Perspektiven, die sich teilweise sehr weit von Schweizerischem und Biographischem entfernen. Gerade in jüngster Zeit haben im Bereich des Théâtre musical jene Spannendes geschaffen, die Walser nicht oder nur beiläufig kannten, z.B. der griechisch-französische Komponist Georges Aperghis, der während seiner Kompositionsund Théâtre musical-Kurse an der Hochschule der Künste Bern (HKB) 2007 ein interdisziplinäres Projekt realisierte. Aus den Mikrogrammen, also den späten Texten von Walser, stellte Aperghis ein Libretto zusammen, dessen Texte er sieben Handpuppen, welche Paul Klee für seinen Sohn gestaltet hatte, in den Mund legt. Walser und Klee hatten sich 1933 in Bern nur knapp verpasst; am 19. Juni 1933 wurde Robert Walser von der Nervenheilanstalt Waldau in die Nervenklinik Herisau verlegt, und im Dezember 1933 kehrte Paul Klee Nazideutschland den Rücken und kam in sein Elternhaus nach Bern zurück. Aperghis bringt diese beiden Persönlichkeiten zusammen. Zeugen nennt er das Stück, weil die KleePuppen wie Zeugen behandelt werden, die aus Walsers Zeit berichten. Die Konservierungsabteilung der HKB baute diese Puppen im doppelten Maßstab originalgetreu nach, also auch unter Berücksichtigung historischer Stoffe. Allerdings gab es auch Grenzen, denn Klee verwendete bei der Figur des Todes auch Tierknochen, die sich naturbedingt nicht in doppelter Größe finden ließen. Die Werkstätten bauten ein Puppentheater mit 80 kleinen Scheinwerfern. Dazu wünschte Aperghis zwei Screens über der Puppenbühne, auf denen er zwei verschiedene Videos mit den tanzenden Kleepuppen, aber auch Live-Aufnahmen der Puppen (Gesichter und Kostüme) zeigte. Eines der wichtigsten formalen Verfahren von Walser, nämlich Verkleinerung und Vergrößerung, wird bei Aperghis zum szenischen Grundprinzip, weil der Puppenspieler mit einer kleinen Videokamera die Puppen abtastet und sie quasi ›medizinisch‹ untersucht. 11 | ohr [Peter Otto Schneider]: »Wladimir Vogels Walser-Oratorium«, in: Die Tat, vom 12.11.1966.
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Das Szenenfoto auf Abbildung 1 zeigt diese verschiedenen Dimensionalitäten: Links die zusammengedrängten Puppen, daneben der Kopf der sitzenden Sängerin (Salome Kammer) und der stehende Marionettenspieler (Christopher Widauer), der mit der Handkamera das Auge einer Puppe abtastet, sodass man auf dem Screen über dem Puppentheater dieses mehrfach vergrößerte Auge studieren kann. Georges Aperghis: Zeugen. Aufführung im Conservatoire von Paris, 23. Oktober 2011. Foto von Emilie Morin.
Der Puppenspieler schiebt die auf kleine Ständer gestellten Puppen nur herum, ›spielt‹ sie also nie. Er spricht in ruhigem Tempo, gestaltet die Sprache Walsers kaum; dabei zählt er – einer sprechenden Uhr ähnlich – auch alle Rollen (›Er‹, ›Sie‹, ›Wanderer‹, ›Peter‹ etc.) auf. Von der zwischen den Handpuppen agierenden Sängerin sieht man meist nur den Kopf, der neben den Puppen riesenhaft wirkt. Ihre Partie ist hochvirtuos und versammelt gleichsam alle Künstlichkeiten hoher Soprane, über die Robert Walser in seinen Texten gerne spöttelt. Die Reflexion aller szenischen Elemente ist ein wichtiges Moment von Aperghis’ Musiktheater. Bei Zeugen zeigt sich das darin, dass er die Grenzen des Puppentheaters doch einmal sprengen muss, und zwar lässt er die Sängerin aus dem Theater ganz heraustreten und vollzieht den im Text geschilderten Ausbruch auch räumlich. Zugleich kann die Sängerin erstaunt von außen auf das
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Puppentheater schauen, in dem sie zuvor gefangen war. Das Instrumentalensemble besteht aus auffällig differenten Instrumenten: Klarinette, Saxophon, Klavier, Akkordeon und Cimbalom. Das Akkordeon wurde von Robert Walser mehrfach als ›Handharfe‹ poetisch überhöht; er schätzte den einfachen Klang und auch die einfachen Hände, die es spielen, aber implizit auch seinen nie enden wollenden Ton, weil das Instrument auf Zug und Stoß Klänge produziert. Der meist rasend schnellen Musik der Sopranistin und des Instrumentalensembles, die an Walsers virtuose Schreibkunst und an seine parole automatique (psychiatrisch gesprochen: seine Unfähigkeit zur gedanklichen Filterung) anspielen, stehen die trockenen Worte des Puppenspielers und die zu Statuen erstarrten Puppen gegenüber. Eine komplexe Lichtregie verändert kontinuierlich die Stimmung, und die beiden Videos lenken noch einmal in fremde Welten. Zeugen zählt in der Polyphonie und Differenzierung der Mittel, in der Differenzialität sui generis zu den komplexesten und überzeugendsten Auseinandersetzungen mit Walser. Ein Jahr nach Zeugen komponierte Helmut Oehring das Théâtre musical Gunten; es war eine weitere wichtige Station, Walser aus einem rein schweizerischen Kontext herauszulösen. Gemäß seiner eigenen Aussage ist Oehring12 zufällig auf den Roman Jakob von Gunten gestoßen. Er habe von Robert Walser gar nichts gewusst und sei von diesem Roman sofort fasziniert gewesen. Oehring hat denn auch Biographisches, soweit es nicht schon in Walsers Roman enthalten ist, konsequent ausgeschlossen. Sein Werk stellt Walser in neue und unerwartete Zusammenhänge, zum Beispiel ins Wien der Jahrhundertwende mit Anspielungen auf Gustav Mahler. Oehring wagt aber auch, Schweizer Volkslieder unverfremdet zu zitieren, was zumindest für das Schweizer Publikum irritierend wirkte. Das Musikensemble spielt die Zöglinge des Instituts Benjamenta und tritt in kurzen Hosen auf, die an historische Schuluniformen erinnern. Das Institut ist eine Dienerschule, die vom Vorsteher Herrn Benjamenta und seiner Schwester Lisa Benjamenta geführt wird. Die herkömmlichen Produktions- und Organisationsformen (Notenpulte, Dirigat, musikalische Kommunikationen innerhalb des Ensembles) werden in verschiedensten Formen von Gehorchen, Widersprechen, Anhimmeln und Verachten ins Szenische gesteigert. Für Lisa Benjamenta konnte Oehring für 12 | Äußerung des Komponisten während eines öffentlichen Gesprächs mit dem Autor anlässlich der Aufführung von Gunten am Musikfestival Bern (17.09.2011).
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die Uraufführung die kleinwüchsige Schauspielerin Christine Urspruch gewinnen, die dem Publikum als ›Alberich‹ aus dem Münsteraner Tatort bekannt ist. Diese Besetzungsidee ist durchaus hintersinnig, weil das von den Knaben angehimmelte Fräulein dadurch in ein viel komplexeres Machtgefüge gestellt wird. Gunten tendiert hierdurch stark ins Sprechtheater, das eine Geschichte erzählt und klare Rollen aufweist. Damit werden die offenen Romangestalten psychologisch gestützt, und es gibt ›richtige, ausgearbeitete Figuren‹, wie es Liebermann Vogel gegenüber forderte. Gerade das Changierende, sich selbst Kommentierende, sich in Anderen Widerspiegelnde, quasi das genial ›Katatonische‹ von Walsers Gestalten, die ihren Rollen ständig entlaufen, kann damit nicht vermittelt werden. Gunten bleibt ein äußerst wirkungsvolles Musiktheater, aber mit zu rudimentärer ›Untertitelung‹. Gleichsam konträr dazu steht das Monodrama Der Teich von Ezko Kikouchi, bei dem eine Sängerin fast alle Rollen des Stückes selber singt und spricht. Der Teich ist der einzige schweizerdeutsche Text von Robert Walser. Er ist im hochsprachlichen Raum fast unbekannt, da Klaus Händl und Raphael Urweider den Text erst 2014 ins Hochdeutsche übersetzt haben.13 Das Dramolett ist 1902 entstanden und erzählt eine typische Familiengeschichte, die viele autobiographische Züge aufweist: Fritz fühlt sich von seiner Familie missverstanden und spielt am Teich einen Selbstmord vor, indem er seinen Hut auf dem Wasser schwimmen lässt und erfreut beobachtet, wie seine Familie ihn betrauert. Die in der französischen Schweiz lebende Japanerin Ezko Kikouchi hat 2012 den Teich erstmals vertont. Sie entschied sich für eine französisch-schweizerdeutsche Version, wobei das Französische gewissermaßen die syntaktische Grundstruktur bildet, aus der die typischen und nur unbeholfen zu übersetzenden schweizerdeutschen Wörter des Bieler Dialektes wahlweise wie Kraftwörter oder besondere ›Blumen‹ herausragen, z.B. ›Pläre‹, ›Gränne‹, ›Briegge‹ (für Weinen), ›verrissnigs Chutteli‹ (verschlissener Rock), ›rätsche‹ (petzen), ›ersüffe‹ (sich ertränken). Daraus ist eine Sprachenmischung entstanden, die dem Sprachalltag in der doppelsprachigen Stadt Biel, in der Walser seine Jugend verbrachte, entspricht. Ezko Kikouchi erweitert aber das Libretto noch und fügt Texte anderer Autoren ein. Es sind vielsprachige Untertitel, die sich einerseits direkt 13 | Vgl. Robert Walser: Der Teich, aus dem Schweizerdeutschen von Klaus Händl und Raphael Urweider, zweisprachige Ausgabe. Berlin: Insel Verlag 2014.
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auf die szenische Situation beziehen und andererseits den Referenzraum enorm erweitern. So fügt sie bei den gefährlichen Spielen der Kinder zum Beispiel ein Epitaph von Paul Eluard ein: »L’enfant joue sans jamais réfléchir«. Und dort, wo Fritz vorgibt, in den Teich gesprungen zu sein, zitiert sie einen berühmten Text der japanischen Schriftstellerin Akiko Yosano, die im gleichen Jahr wie Walser geboren wurde und 1904 – zwei Jahre nach Der Teich – das Gedicht Ach, mein Bruder, gib Dein Leben nicht her schrieb, um gegen den japanisch-russischen Krieg zu protestieren, was ihr massive Vorwürfe einbrachte und zur Ächtung als Schriftstellerin führte. Kikouchi zitiert auch das bereits erwähnte Gedicht Beiseit, allerdings in der ersten Version, die von Viktor Widmann im Berner Bund publiziert wurde. Dort hieß das Gedicht nämlich noch Befreit, also »ohne Wort und Klang bin ich befreit«, was in der Erstfassung noch fast beängstigender Walsers Tod vorwegnimmt. Ezko Kikouchi wählte für die Vertonung dieses Walser-Monodramas die Besetzung von Arnold Schönbergs Pierrot Lunaire, bei der Tasten-, Streich- und Holzblasinstrumente gemischt werden (Flöte/Piccolo, Klarinette/Bassklarinette, Violine/Bratsche, Violoncello, Klavier). Nur ein einziges Mal kommt das ganze Ensemble zum Klingen, nämlich dort, wo dieses als Ganzes die Rolle des aggressiven Vaters einnimmt. Die Sängerin singt und spricht alle Rollen der Kinder, nämlich Fritz, die Schwester Klara und den Bruder Paul. Die Flüche des Vaters werden vom Ensemble gesprochen; und die Stimme der Mutter, die reinen Bieler Dialekt spricht, wird von einem alten Tonband abgespielt. Die Grenzen des Theaters werden in diesen an szenischen Elementen sparsamem Monodrama mitreflektiert, weil die Sängerin zwischen den Instrumentalisten eine Art Theater im Theater gestaltet. Diese Idee entspringt einer Schlüsselszene von Walsers Teich. Gegen Schluss erklärt Fritz nämlich den ganzen Konflikt des Stücks, indem er mit Besteck ein ›Puppentheater‹ aufführt und mit Messer (Fritz), Gabel, Löffelchen und einem Tintenfleck (als Teich) die Geschichte en miniature nochmals erzählt. Allein schon die Idee, den Tintenfleck zum Teich zu machen, in dem das Messer einen Selbstmord vorgibt, hat weltliterarisches Niveau. Mit der alle Kinder darstellenden Sängerin hat Kikouchi dieses Theater im Theater auf das ganze Stück ausgedehnt.
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Was Walser nicht geschrieben hat In der Musik- und Literaturgeschichte gibt es Dichter, die sofort von den komponierenden Zeitgenossen verstanden und von den besten vertont wurden, z.B. Goethe, Eichendorff, Verlaine oder Celan; und es gibt andere wie Lenz, Hölderlin, Büchner oder eben Walser, die erst hundert und mehr Jahre nach ihrer Geburt von den Komponisten entdeckt werden. Erst als es in der Musikgeschichte möglich wurde, sich von den Ideen eines einheitlichen Stils, einer verbindlichen Grammatik und eines geschlossenen Werkes, eines Originals ohne Untertitel zu verabschieden, bekam Walser als früher Vertreter der absurden Literatur eine Chance. Das erklärt die lange und spannende Beziehung zwischen Robert Walser und Théâtre musical: Auf das sich selbst untertitelnde Schreiben Walsers konnte nur das Meta-Genre des Théâtre musical adäquat reagieren, weil es selbst von wechselseitigem Untertiteln lebt. Dabei soll hier keinesfalls eine geschichtsphilosophische Notwendigkeit konstruiert werden: Weder ist Walser für das Théâtre musical substantiell wichtig, noch Walser auf das Théâtre musical entscheidend angewiesen. Aber in der Begegnung sind einige hochspannende Werke und Produktionen entstanden, weil die untertitelnden Verfahrensweisen von Walser und dem Théâtre musical sich so sinnfällig, oder genauer, so ›unsinnfällig‹ ergänzen. Der Höhepunkt an Absurdität in Walsers Leben wurde aber bisher noch in keiner Kunstgattung verarbeitet. Im oben erwähnten Aufsatz von Lucas Marco Gisi wird nämlich erstmals genauer untersucht, wer Robert Walser 1933, als er gegen seinen Willen nach Herisau versetzt wurde, dort als Anstaltsarzt betreute: Otto Hinrichsen, literarischer Dilettant und Walsers erster Rezensent in der Neuen Zürcher Zeitung, mit dem Walser in Zürich schon in den 1890er Jahren eine negative ›Rencontre‹ erlebt hatte! Wissenschaftlicher Schwerpunkt von Otto Hinrichsen: Geisteskranke Dichter! Erstes Ziel von Hinrichsen: Walser beim Schreiben zu beobachten und Walsers Texte psychiatrisch zu begutachten; dabei durchaus verständnisvoll und allenfalls mit dem Ehrgeiz gemischt, nach den wissenschaftlichen Erfolgen, die sein Berner Kollege Morgentaler mit Adolf Wölfli gefeiert hatte, nun mit dem literarischen Irren zu wissenschaftlichen Ehren zu kommen. Hinrichsen hatte die Rechnung aber ohne Walser gemacht: Dieser hörte nämlich ganz einfach auf zu schreiben; das war seine einzige Waffe gegen den Zugriff durch die Psychiatrie. Die Doktorszene aus Woyzeck
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von Georg Büchner wollte er nicht nachspielen. Jedenfalls – so die überzeugende These von Lucas Marco Gisi – verstummte Walser nicht, weil ihm die Worte ausgegangen wären, nein: Er wollte sein Schreiben nicht zum Untersuchungsmaterial für die Psychiatrie machen. Und die Diagnose der vier Gießener Psychiater von 2011 bestätigt, wie gut er daran getan hat. In den Gesprächen mit seinem Vormund Carl Seelig, die übrigens einen völlig luziden, das literarische und politische Leben im Detail verfolgenden Walser zeigen, erzählte er mit sarkastischem Stolz, Hinrichsen hätte gerne sein Urteil über eines seiner Lustspiele kennen wollen; er habe da natürlich nur geschwiegen. Und nun habe dieser Hinrichsen, der ihm immer wie »ein Destillat aus einem Höfling und einem Zirkusartisten vorgekommen«14 sei und der sich für einen bedeutenden Dichter gehalten habe, halt sterben müssen, ohne seine, Walsers, Meinung je vernommen zu haben. Mit andern Worten: Selbst, wenn einmal alle Texte von Walser vertont sind, bleiben dem Théâtre musical immer noch jene, die Walser aus Widerstand gegen die ihn vereinnahmen wollende Psychiatrie nie geschrieben hat. ›Kein Original mit Untertitel‹ könnte ein solches Projekt genannt werden.
14 | Carl Seelig: Wanderungen mit Robert Walser, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, S. 33.
Die Entwicklung des Musiktheaters als offene Frage Christoph Marthalers Unanswered Question (Basel 1997) David Roesner
Untertitel Es gibt mehrere Gründe, warum sich Christoph Marthaler und Jürg Hennebergers Musiktheaterprojekt Unanswered Question, uraufgeführt in Basel 1997, im Kontext der Themenstellung dieses Tagungsbandes aufdrängt. Ein zentraler Bezugspunkt der in diesem Band versammelten Beiträge ist ja – wie das Vorwort bereits deutlich macht – das Motto der Münchener Biennale 2016 unter der neuen künstlerischen Leitung von Daniel Ott und Manos Tsangaris: ›OmU‹. Dieses Akronym für ›Original mit Untertiteln‹ signalisiert zum einen eine Öffnung des Musiktheaters für andere Künste und Medien, zum anderen eine Infragestellung dessen, was eigentlich das ›Original‹ und was die kommentierenden, übersetzenden Untertitel sind. Der nächstliegende Grund ist daher zunächst, dass Untertitel, bzw. genauer gesagt: Übertitel, in Marthaler und Hennebergers wegweisender Produktion tatsächlich nicht nur im übertragenen Sinne eine ganz zentrale Rolle spielen. Die beiden spielen mit dieser weiterverbreiteten Technik von Opernaufführungen, aber in dieser Inszenierung entwickeln die Übertitel eine geradezu anarchische Eigendynamik und entfalten eine Komik, die sich vor allem dem opernkundigen Publikum erschließt. Als wiederkehrender running gag strukturieren sie zudem die Inszenierung mit und liefern ein wiederkehrendes parodistisches Motiv. Zu ›O sole mio‹ sehen wir asiatische Schriftzeichen, die den meisten Besuchern unbekannt und kaum als Übersetzung dienlich sein dürften,
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zu Mischa Polianskys ›Heute Nacht oder nie‹ gibt es italienische und persische Untertitel; die Katalogarie aus Don Giovanni wird auf Schwyzerdütsch angezeigt, Lortzings ›Auch ich war ein Jüngling‹ sehen wir auf Norwegisch. Hier beginnen sich die Untertitel zu Werbebannern zu verselbständigen: »Entdecken Sie Norwegen … mit der SBB« heißt es da zunächst; zu einem späteren Pas de Deux mit langer Würstchenkette lesen wir: »Das Original St. Galler Bauern OLMA-Schüblig… der Schüblig der bei 100 Grad nicht platzt. Noch mehr Fett!!« Diese immer absurderen Übertitel zur dargebotenen Collage bekannter Opern- und Operettenmelodien beinhalten bereits einige Angriffspunkte der Marthaler’schen Komik in Bezug auf das Musiktheater. Die Oper, so scheinen sie zu suggerieren, ist lost in translation: sie erschließt sich uns nicht mehr und führt in eine Art babylonische Sprachverwirrung. Auch, so scheint es, besteht eine gewisse Beliebigkeit der Übersetzung: sind die Stoffe wirklich der Entschlüsselung wert? Die eingestreuten Werbetexte hingegen verweisen auf einen weiteren Komplex: die immer stärkere Verquickung von Kunst und Kommerz, Musiktheater und Marketing, Partitur und product placement. Dass das Ganze hier auf einer Geschäftsebene verhandelt wird, die man sonst von Vorstadtkinos in Form vergilbter Diawerbung kennt, verstärkt die komische Verzerrung. Was Marthaler und Henneberger damit – neben der offensichtlichen Gattungsironie und dem lustvollen Aufs-Korn-Nehmen von Genrekonventionen – in den Blick nehmen, ist ein Aspekt von Musik, Musiktheater und Musikrezeption, den der amerikanische Theoretiker Christopher Small 1998 mit den Neologismus musicking zur Diskussion gestellt hat. »Music«, so sagt er, »is not a thing, but an activity, something that people do«1. Daher sei es eben auch notwendig, dem Substantiv music ein Verb in Gerundiv-Form musicking beizustellen, das es in der englischen Sprache eigentümlicherweise gar nicht gibt. Small fasst dieses viel stärker prozessual gefärbte Verständnis von Musik aber gleichzeitig weiter, als es etwa das deutsche ›Musizieren‹ tut. »Musicking« sei »to take part, in any capacity, in a musical performance, whether by performing, by listening, by rehearsing or practicing, by providing material for performance (what is called composing), or by dancing«.2 Ein Jogger mit Kopfhörern und 1 | Christopher Small: Musicking: The Meanings of Performing and Listening, Hanover: University Press of New England 1998, S. 2. 2 | Ebd., S. 9.
Die Entwicklung des Musiktheaters als offene Frage
einem mp3-Player betreibe eben auch musicking. Das verändere auch, so Small, unser Verständnis, was Musik eigentlich bedeute: So if the meaning of music lies not just in the musical works but in the totality of a musical performance, where do we start to look for insights that will unite the work and the event and allow us to understand it? The answer I propose is this. The act of musicking establishes in the place where it is happening a set of relationships, and it is in those relationships that the meaning of the act lies. 3
Dass diese Beziehung im Fall der Oper dysfunktional und verkommen ist, beschreibt der erste Teil der Inszenierung, während der zweite einen möglichen Gegenentwurf für das Musiktheater insgesamt entwickelt. Beides gilt es nun genauer zu untersuchen.
Klamauk, Kritik, Utopie? Eine durchaus didaktische Dramaturgie Bei allem Klamauk beinhaltet der erste, lustigere Teil im Kern von Marthaler und Hennebergers ›Opernexperiment‹ (Programmheft Unanswered Question, Basel 1997) eine durchaus scharfe Kritik an unseren institutionell und medial zugerichteten Hör- und Sehgewohnheiten. In dieser parodistischen Revue, die im Gewand eines von launigen Moderatoren präsentierten bunten Potpourri beliebter Musiktheatermelodien daherkommt, wird in der für Marthaler typischen Collage-, Wiederholungsund Schichtungstechnik vorgeführt, wohin Opernalltag, Sängerkarussell, Stimmfetischismus und von Classic FM und ähnlichen Verwertern weichgespülter Hörgewohnheiten uns gebracht haben. Das Programmheft zitiert hier sogar Hans Mayers Diktum von der Gesellschaft »als eine[r] Wegwerfgesellschaft, mithin als eine der Kulturzerstörung«.4 Marthaler verpackt seine Kritik dabei aber sehr humorvoll. So steht nach einem oft wiederholten »Grüß Gott, alle miteinander« zunächst eine eher zarte Sequenz, in der sich die Sängerinnen und Sänger ›Entschleimen‹ und Einsingen, was aber zu einem geradezu polyphonen Satz 3 | Ebd., S. 13. 4 | »Unanswered Question.« Programmheft zur gleichnamigen Produktion von Christoph Marthaler und Jürg Henneberger, Redaktion: Albrecht Puhlmann, Theater Basel 1997, S. 6.
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arrangiert ist. Im typischen Gestus sich vorbereitender Sängerinnen und Sängern seufzen, summen, schmatzen, gurgeln und intonieren die Bühnenfiguren, alle an trostlosen einzelnen Kantinentischen, ihre Stimmbänder warm, streuen ein paar Takte ihrer Lieblingsmelodien mit ein, halten inne und suchen über Blicke den Kontakt mit den anderen. Schon dieses kleine Beispiel beinhaltet in nucleo eine wichtige Technik des zeitgenössischen Musiktheaters: die ›De-Kompositon‹ und ›ReKomposition‹, wie wir sie von John Cages Europeras 1&2 (1985-1987) bis zu David Martons Musiktheaterprojekten (z.B. Wozzeck, 2007 oder La Sonnambula, 2016) wiederfinden. Gesucht wird nicht mehr unbedingt nach völlig neuen Klängen, noch nie zuvor Gehörtem, sondern nach neuen Kombination, Überlagerungen, Zersetzungen des allzu Bekannten: es entsteht eine Fremdheit des Vertrauten, ein Musiktheater, das uns bei unseren Hörgewohnheiten und -bedürfnissen liebevoll ertappt. Das passiert bei Marthaler immer auch durch das Konterkarieren (oder sollte man ›Konterkarikieren‹ sagen?) von Musik und szenischer Aktion, die meist in der Schwebe zwischen Hommage und bissiger Parodie bleibt. Cage geht hier durch seine aleatorischen Verfahren noch weiter und führt das Musiktheater, bzw. genauer die Oper gerade durch die Absichtslosigkeit in der Rekombination ihrer Bausteine ad absurdum.5 Bei Marthaler wird Oper hingegen bewusst »bis zur Kenntlichkeit entstellt«6 – durchaus eben auch mit einem ideologischen Impetus, der Cage fremd war. In der Sequenz ›The World of Richard Wagner‹ gibt es zum Beispiel eine wunderbare Persiflage der bierernsten Wagnerrezeption, wo zu majestätischen Bläsern und Chören Weißbier getrunken und Sauerkraut aus Handtaschen verspeist wird und allerhand Wurstwaren akribisch mit Maßbändern vermessen und katalogisiert werden. Der erste Teil der Inszenierung vor der Pause kulminiert schließlich in einer Art ›Best of‹-Medley, in dem immer rücksichtsloser, immer kunst- und künstlerverachtender Musik und insbesondere Oper zum Eventschnipsel verkommen: der Tenor Christoph Homberger darf aus Taminos berühmter Arie 5 | Siehe z.B. Hans-Peter Jahn: »›Viel Lärm um Nichts‹ — Das Theater um das Musiktheater«, in: Armin Köhler/Rolf W. Stoll (Hg.), Vom Innen und Außen der Klänge. Eine Hörgeschichte des 20. Jahrhunderts. CD-ROM mit den Texten der Sendereihe des SWR, Baden-Baden/Mainz: SWR/Schott, 2004. 6 | Diese zur Redewendung gewordene Formulierung wird häufig Bertolt Brecht zugeschrieben, ist aber nicht nachgewiesen.
Die Entwicklung des Musiktheaters als offene Frage
nur noch »Dies Bild-…« schmettern, bevor die Moderatoren schon zum nächsten highlight springen, ungeduldig Takte herunterzählen, das Motto ›Kunst, Klassik, Spaß‹ ausgeben und zum Weber’schen Jägerchor eine Polonaise anzetteln. ›OmU‹ bekommt hier eine weitere Bedeutung: die Idee der Vermittlung durch Übersetzung und Kommentar gerät hier zu einer kontinuierlichen Überschreibung und Überzeichnung des Repertoires durch eine exzessive Verwertungskultur, in der die Musik zu Werbejingles, memes oder Klingeltönen geworden ist. Diese Kritik an einer oberflächlichen, quasi ›zappenden‹ Beschleunigung unserer konsumierenden Wahrnehmung korrespondiert mit einem bestimmten Menschenbild, einer Marthaler’schen Theaterethik: In einem Dokumentarfilm von 1996 gebraucht er das Bild, dass unsere sich immer schneller bewegende Gesellschaft einer Zentrifuge gleiche, bei der manche Menschen an den Rand geschleudert würden und herausfielen – diese Menschen seien es aber gerade, die ihn interessierten.7 Statt Stars und celebrities stehen im zweiten Teil der Inszenierung einsame und isolierte Menschen im Mittelpunkt, doch um diesen dramaturgischen Bruch zu markieren wird zuvor das bunte Opernkarussell auf geradezu erschütternde Weise von einer Komposition zu Stillstand gebracht, die kaum typischer für Marthaler sein könnte. Es ist das Stück eines kompositorischen Außenseiters, eine Miniatur, schwer einzuordnen und von einer ganz eignen Wirkung – rätselhaft und wunderlich: es handelt sich natürlich um das titelgebende, etwa fünfminütige Instrumentalstück The Unanswered Question von Charles Ives aus dem Jahre 1908, dem hier eine geradezu paradigmatische Rolle zugewiesen wird.
Whither music? Ein wichtiger Grund dafür, dass mir Marthalers Collage im Kontext einer Standortbestimmung des Musiktheaters auch noch 20 Jahre später zeitgemäß und wegweisend erscheint, ist, dass es ebenfalls eine Suchbewegung darstellt. Es ist programmatisch zu sehen, dass Marthaler sein Projekt nach dem Stück von Charles Ives benennt: dieses stellt nicht nur ein 7 | Siehe: Rainer C. Ecke: Des Chaos‹ wunderlicher Sohn. Christoph Marthaler ou √Suisse + Allemande. Kamera: Gottfried Baum, Schnitt: Thomas Stoklossa. Produktion des ZDF, gesendet 1996 bei Arte.
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musik-dramaturgisches Scharnier in der Aufführung dar (wie noch zu zeigen sein wird), sondern stellt eben vor allem eine unbeantwortete, bzw. unbeantwortbare Frage. Worin besteht nun diese Frage? Das kann kaum jemand so kompetent wie charmant beantworten wie Leonard Bernstein in seinen berühmt gewordenen Charles Eliot Norton Lectures an der Harvard-University von 1973, die er ebenfalls insgesamt mit dem Titel der Ives’schen Komposition überschrieb. Nachdem Bernstein den Beginn der Atonalität bei Arnold Schönberg in dessen Drei Klavierstücken op. 11 (1908) und den damit verbundenen Gezeitenwechsel beschreiben hat, sagt er: In that same crucial year of 1908, far away from all this – an ocean and a continent away, in Connecticut of all places – the sharpest comment, the most trenchant description of the tonal crisis, was made by an unheard, unhonoured and unsung Sunday composer named Charles Ives. He also knew; though totally unaware of Schoenberg or any of that Viennese upheaval, he knew something was up, and he proclaimed it in his half-playful, mystical, quirky way through a marvellous little piece called ›The Unanswered Question‹. […] I have always thought of Ives‹ Unanswered Question as not a metaphysical one so much as a strictly musical question: Whither music in our century?8
Ähnlich, wie sich Eric Saties Klavierstück Vexations (1893) mit seinen geforderten 840 Wiederholungen und der Spielanweisung tres lente naheliegenderweise als ein Schlüsselwerk durch das Œvre des Langsamkeitsund Wiederholungskünstlers Marthaler zieht, wird spätestens in dieser Inszenierung auch Ives mit seiner Komposition zu einer paradigmatischen Figur. Ives bleibt ein Außenseiter der Musikgeschichte, spielt mit großer Ambiguität in seiner Musik und lagert ein Nebeneinander zeitlich unterschiedlich verlaufender Ereignisschichten übereinander – die Parallelen zu Marthalers Ästhetik sind evident. »Whither music-theatre – wohin, Musiktheater?«, scheint demnach auch Marthaler mit seiner Inszenierung immer wieder zu fragen. Anders als bei Ives geht es weniger um die musikimmanente Frage nach ›Tonalität und syntaktischer Klarheit‹ vs. ›Atonalität und syntaktische Konfusion‹, wohl aber um die Frage nach den dramaturgischen und ökonomischen Traditionen sowie 8 | Bernstein, Leonard: The Unanswered Question. Six Talks at Harvard, Cambridge (Massachusetts) and London: Harvard University Press, 1976, S. 268f.
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den Wahrnehmungskonventionen des Musiktheaters, nach einem dritten Weg jenseits von Werktreue und Regietheater, jenseits von Repertoire und Uraufführung. Der zweite Teil des Abends stellt der parodistischen Dekonstruktion des ersten Teils einen solchen dritten Weg gegenüber: er widmet sich nun der szenischen Aufführung von Stücken in ihrer Gesamtheit – alle vier sind allerdings ursprünglich für den Konzertsaal und nicht für die Opernbühne konzipiert, was durchaus auch programmatisch gemeint ist: Die Oper hat ausgedient, die szenische Musik tritt an ihre Stelle. Nach der den zweiten Teil eröffnenden Wiederholung von Charles Ives’ titelgebendem Stück – auch das bereits eine kleine dramaturgische Provokation – folgen Johannes Harneits Zwölf Sätze für Streicher nach den ›Petits Chorals‹ von Eric Satie (1995), Anton Bruckners Abendzauber (1878) und György Kurtágs Die Botschaften des verstorbenen Fräulein R. V. Trussova (1976-1980). Hans-Klaus Jungheinrich beschreibt den Effekt dieser dialektischen Struktur wie folgt: Der dramaturgisch-philosophische Zweischritt ist einleuchtend: Im ersten, längeren […] Teil wird der alltägliche Mottenfraß der Unterhaltungsindustrie und des Kommunikations(un)wesens von seiner hedonistischen Seite vorgeführt. Gewaltige Fuhren amüsanten Materials (oder amüsant gebrachten traurig-schäbigen Materials) werden vor dem Publikum ausgeschüttet, sozusagen nach der Devise: Seht, wie wir uns zu Tode amüsieren. Im zweiten, kürzeren Teil herrschen Einsamkeit und Autismus dann ungebrochen. 9
Marthaler setzt hier, besonders mit der den zweiten Teil dominierenden Komposition Kurtágs, ganz auf die Ausdruckskraft der Musik, die szenisch nicht ausagiert, sondern lediglich gerahmt und aufgeladen wird. Er schafft dafür eine rätselhafte, aber assoziationsreiche und atmosphärisch dichte szenische Grundsituation umherirrender Außenseiter im Gänsemarsch und gibt der überragenden Sängerdarstellerin Rosemary Hardy Raum, die Partitur nicht zu bebildern, sondern sich auf die theatrale Expressivität der ungewöhnlichen musikalischen Faktur und Stimmbehand9 | Hans-Klaus Jungheinrich: »Magischer Realismus, Komik der Konfusion. Zu den musiktheatralischen Arbeiten Christoph Marthalers«, in: Klaus Dermutz (Hg.), Christoph Marthaler. Die einsamen Menschen sind die besonderen Menschen, Salzburg: Residenz 2000, S. 177-190, hier: S. 182.
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lung der Kurtág’schen Botschaften zu verlassen. Es ist ein Moment der Inszenierung, der von der Künstlerpersönlichkeit Hardy lebt – wie übrigens einige Jahre später auch das (für eine Theateraufführung!) provozierend lange Ende von Marthalers Projekt 20th Century Blues (2000), in dem Hardy den fast 30-minütigen letzten Satz von Mahlers Lied von der Erde sang. Jungheinrich interpretiert Marthalers Lesart der Botschaften so: Auch dies eine ›philosophische‹ Aussage: Die Séance zerbröselt nicht in der KaterStimmung motivischer Entropie oder leimiger Qualtinger-Katastrophik, sondern entlässt, mit der Abbildung leidender Subjektivität, in die Hoffnung, dass die Erfahrung menschlicher Würde und Größe nicht ganz verloren sei.10
Die Anforderungen der Kurtág’schen Partitur sind enorm: hier ist filigran-differenzierte Stimmkunst gefordert, um die anspruchsvollen Tonfolgen, extremen Ausdrucks- und Tonhöhenregister und rhythmischen Vertracktheiten zu meistern.11 Dafür findet Marthaler eine zurückgenommene, rätselhaft atmosphärische Form der Inszenierung, die jenseits einer einfachen szenischen Verortung und Figurendarstellung liegt. Wie sehr er damit Kurtág gerecht wird, lässt sich aus Karl Katschthalers Beobachtungen zu Kurtágs Kaf ka-Fragmente ablesen. Das hier beschriebene Verhältnis von Musik und Szene trifft meines Erachtens eben auch auf Marthalers Inszenierung der Trussova-Botschaften zu: Die Ausgrenzung des Visuell-Theatralen zu Gunsten der Reinheit des MusikalischAuralen findet sich wieder bei György Kurtág als Verbot alles Gestischen in der Aufführung seiner Musik. Auch Kurtág aber übertritt das Verbot. Über Vermittlung durch einen reduktionistischen Theatralitätsbegriff gelingt es ihm aber, theatrale Gesten zugleich auch als musikalische Gesten zu formulieren und in der Partitur auch zu notieren. Damit übertritt er nicht mehr nur das Verbot, sondern überschreitet zugleich die Ausgrenzung. So deutet sich ein neuer, performativer Musikbegriff an.12 10 | Ebd., S. 184. 11 | Siehe auch: Claudia Stahl: Botschaften in Fragmenten: Die großen Vokalzyklen von György Kurtág, Saarbrücken: Pfau 1998. 12 | Karl Katschthaler: Latente Theatralität und Offenheit. Zum Verhältnis von Text, Musik und Szene in Werken von Alban Berg, Franz Schubert und György Kurtág, Frankfurt a.M.: Peter Lang 2012, S. 106.
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Diese ›performative Musik‹, der Marthaler durch große szenische Zurückhaltung Raum gibt, funktioniert meines Erachtens nur mit einer Sängerin, deren technische Kontrolle über ihren Stimmapparat eben jene Vielfalt an stimmlicher Theatralität und Expressivität erzeugen kann und gleichzeitig über eine starke Musikerpersönlichkeit verfügt. Wandelbarkeit und Unverwechselbarkeit (durch eine gewachsene und gelebte Stimmbiographie) sind hier vonnöten.13 Sängerin Rosemary Hardy bringt beides mit, sicherlich nicht zuletzt durch ihre kontinuierliche Neugier und Bereitschaft, sich jenseits festgefügter Stimm- und Aufführungsmuster zu bewegen, mit diesen aber gleichzeitig wohl vertraut zu sein. Hardy singt mit großer Persönlichkeit und Individualität, aber das Eigene ihrer Stimme ist hier eben gepaart mit den technischen Fähigkeiten, das Eigene auch zu transzendieren. Dabei entsteht ein Musiktheater, das nicht vom ›als-ob‹ lebt, nicht von dargestellten Emotionen, sondern von erlebbar gemachten Gefühlen, hier besonders durch das, was Jenny Schrödl als ›vokale Intensitäten‹ beschrieben hat (und was sich für mich unmittelbar mit Hardys Auftritt in Verbindung bringen lässt): Gemeint sind damit Situationen [vokaler Intensität], in denen Stimmen von Schauspielern und Schauspielerinnen oder Akteuren und Akteurinnen explizit hervortreten oder auffällig werden und auf besonders eindringliche Weise Zuhörende affizieren, sie aufmerken lassen, sie leiblich, sinnlich und affektiv betreffen und mithin ein Erfahrungspotenzial diesseits semantischer oder reflexiver Dimensionen eröffnen. Kennzeichnend für solche Situationen ist also eine erhöhte Auffälligkeit von Präsenz von stimmlichen Erscheinungen sowie ein gesteigertes Erleben derselben im Hier und Jetzt der konkreten Aufführung.14
Ein zweiter Aspekt ist noch wichtig zu erwähnen, der den Bogen zurück zu Smalls musicking schlägt: Die subtile Theatralität von Hardys Performance funktioniert deshalb so gut, weil zuvor ein dramaturgischer Kon-
13 | Siehe auch: David Roesner, »Hybride Stimmbiographien – Musiktheatergesang zwischen Individualisierung und Generalisierung«, in: Andreas Meyer/Christina Richter-Ibáñez (Hg.), Übergänge: Aktuelles Musiktheater und inszenierte Musik, Stuttgart: Schott 2015, S. 34-48. 14 | Jenny Schrödl: Vokale Intensitäten. Zur Ästhetik der Stimme im postdramatischen Theater, Bielefeld: transcript 2012, S. 13f.
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text geschaffen wurde, ein spezifisches ›set of relationships«15, das die Szene rahmt und assoziativ auflädt. Besonders dadurch, dass im ersten Teil bestimmte Arten der Stimminszenierung ausführlich vorgeführt und karikiert wurden, wirken die unzeitgemäßen Lieder Kurtágs – zusätzlich gerahmt von der eindringlichen Klammer der titelgebenden Komposition von Charles Ives – so eindringlich, präsent und intensiv. Und die Sängerinnen, Sänger und Moderatoren des ersten Teils durchziehen immer wieder geisterhaft in einer Art Polonaise der abgelebten Figuren, der untoten Opernfaktoten die Szene und steigern so die verzweifelte Lebendigkeit der Trussova. Auf Gerhard Rohde wirkte das so: »Marthaler führt die Sängerin Rosemary Hardy als geschäftige Serviererin des Etablissements ein und gewinnt dann für die letzten der Liedbotschaften mit der Sängerin eine wunderbare, ergreifende, schmerzende Ruhe«16, und in der Zeit urteilt Eckhard Roelcke: »Eine Marthaler-Musik-Theater-Sternstunde, die wie eine Sternschnuppe am Himmel verglüht.«17 Inwiefern soll nun aber diese zurückgenommene, eher von innerer Dramatik statt opernhaftem Spektakel geprägte Aufführung eines Konzertstücks richtungsanzeigend für das Musiktheater des 21. Jahrhunderts sein? Dies will ich in einem letzten Schritt versuchen zu skizzieren.
Weg weisungen: Unanswered Question und die Utopie eines neuen Musiktheaters Bei aller Offenheit und Unabgeschlossenheit der Frage »Whither musictheatre?« würde ich doch so weit gehen, Marthalers Produktion – Jungheinrich nennt sie »seine vielleicht profundeste Collage«18 – in mancherlei Hinsicht als paradigmatisch und wegweisend zu interpretieren. 15 | Chr. Small, Musicking, S. 13. 16 | Gerhard Rohde: »Die wahrhaftige Musik. Christoph Marthaler stellt einige Fragen«, Neue Musik Zeitung (nmz) 12 (1997), www.nmz.de/artikel/die-wahrhaf tige-musik vom 28.8.2014. 17 | Eckhard Roelcke: »Grüß euch Gott – alle miteinander. Dr. Christoph Marthaler beantwortet keine Fragen: ›The Unanswered Question‹ in Basel«, DIE ZEIT, 7. November 1997, 46 (1997), www.zeit.de/1997/46/Gruess_euch_Gott_-_alle_mit einander vom 9.5.2016. 18 | H.-K. Jungheinrich, »Magischer Realismus«, S. 182.
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Welche Tendenzen, bzw. zum Teil sicher auch Utopien für das Musiktheater entwirft Marthaler nun mit seiner Uraufführung, die ausschließlich aus nicht-originalem Musik-Material besteht? Ich werde vier Aspekte hervorheben: die Infragestellung einfacher Narrative, eine Ethik der Spezifizität, einen unorthodoxen Umgang mit Stimme und Instrument und eine Ästhetik der Grenzverschiebungen.
Infragestellung einfacher Narrative Marthalers Inszenierungen stellen immer wieder die Annahme in Frage, dass (Musik-)Theater aus szenisch-musikalischem Handeln, psychologischen Figuren und linearen Narrativen bestehen müsse. Gerade im Opernrepertoire ist dies aber nach wie vor die Norm und selbst bei neuen Werken des Musiktheaters, die im Kontext von Opernhäusern entstehen, sind klassische oder romantische literarische Vorlagen noch sehr populär. Gerd Kühr schreibt – auch Mitte der 1990er-Jahre: »Unabhängig von der stofflichen Tendenz bildet der Rückgriff der Komponisten auf literarische Vorlagen zumeist die textliche Basis«.19 Und eine Dekade später pointiert der britische Opernforscher Nicholas Till in seinem kritischen Manifest mit dem Titel ›I don’t mind if something’s operatic, just as long it’s not opera‹: A genuine critical modernism has barely been broached within opera. Even composers whose musical language may be radical invariably fall back upon a reified model of nineteenth-century dramaturgy, nineteenth-century models of plot, character, subjectivity, vocal expressivity etc. 20
Sieht man sich im Kontrast hierzu zum Beispiel die Auswahl des internationalen Wettbewerbs für neues Musiktheater ›Music Theatre Now!‹ von 2015 an, bei dem vorwiegend kleinere Arbeiten ausgezeichnet werden, die 19 | Gerd Kühr: »Im Zurückweichen vor zunehmendem Wahnsinn. Zur Stoffwahl im zeitgenössischen Musiktheater«, in: Otto Kolleritsch (Hg.), Vom Neuwerden des Alten. Über den Botschaftscharakter des musikalischen Theaters, Wien, Graz: Universal Edition 1995, S. 188-200, hier: S. 199. 20 | Nicholas Till: »›I don’t mind if something’s operatic, just as long it’s not opera.‹ A Critical Practice for New Opera and Music Theatre«, Contemporary Theatre Review, 14 (2004), S. 15-24, hier: S. 17.
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oft von freien Gruppen, Festivals oder alternativen Institutionen produziert worden sind, ist das Bild ein anderes: gerade einmal drei der vierzehn prämierten Produktionen zeigen psychologische Figuren, die eine Geschichte ausagieren. In allen anderen Fällen stellt sich Narration als komplex, nicht-linear, offen, angedeutet, multipel oder sogar gänzlich abwesend heraus. Diese Tendenz, auf unsere immer komplexer werdende Gegenwart mit anderen Formen von Erzählung und Repräsentation zu reagieren, die im Sprechtheater eine längere und breiter rezipierte Entwicklung vollzogen hat, zeichnet sich bei Marthaler nun auch für das Musiktheater bereits ab. Auch hier gibt es Vorläufer, wie zum Beispiel die ›Anti‹-Opern von John Cage (Europeras 1&2, 1985-1987) oder Mauricio Kagel (Staatstheater, 1967/1971), aber grundsätzlich bestehen in der Oper und dem Musiktheater – als Institution und Kunstform – eben große Beharrungskräfte, die Projekten wie Unanswered Question die entsprechende Reibungsfläche bieten. Marthalers Theater ist ein Theater der Zustände, der fragmentierten und oft chorisch polyphonen Andeutungen von Geschichten, und er bricht völlig mit traditionellen Dramaturgien, setzt die Kenntnis dieser aber häufig voraus – zumindest, wenn man dem Anspielungsreichtum und der intertextuellen Komik folgen möchte. Das Handeln, bzw. NichtHandeln seiner typisierten Figuren folgt oft keiner kausalen Logik, keiner erklärbaren Motivation und ist dennoch weder abstrakt noch lässt es einen kalt. Marthaler ›erzählt‹ mit seiner Musik-Theater Collage viel über die conditio humana, aber tut dies nicht durch eine einfache Erzählung, sondern durch ein oft kontrapunktisches Zusammenspiel von Musik und Szene.
Spezifität Eine zweite Eigenschaft von Marthalers Musiktheaterarbeit ist die Spezifizität vieler Entscheidungen, insbesondere in Bezug auf die Besetzung. Es ist eine Gegenbewegung zum damals noch üblichen Karussell der Stars, zu Neu-, Um- und Zweitbesetzungen, zu Wiederaufnahmen in anderen Städten oder Ländern usw., die allesamt letztlich eine Austauschbarkeit der Ausführenden garantiert und eine Unabhängigkeit der Inszenierung von den Bedingungen der Aufführung suggerieren, mit allen finanziellen Vorteilen, die daraus erwachsen.
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Bei Marthalers Projekten konstituieren sich Inszenierung und Aufführung wechselseitig, sie sind das flüchtige Werk und nicht dessen Interpretation, und die Besetzung ist prägend für Entstehung und Ausführung. Mit anderen Darstellern wäre ein ganz anderes Projekt entstanden (oder gar keins), und wenn jemand erkrankt, wird die Vorstellung abgesagt. Das heißt aber auch, dass die kollektive Autorschaft und künstlerische Identifikation und Gestaltungsmacht – man könnte sagen: die agency der Beteiligten – eine andere ist. Diesem Modell der kollektiven Kreativität und der untrennbaren Verschmelzung der individuellen künstlerischen Biographien mit der Form der Inszenierung begegnet man heute häufig im neuen Musiktheater. Nicht selten sind Aufführungen darüber hinaus speziell für einen bestimmten Raum, eine bestimmte Stadt, einen bestimmten Kontext geschaffen. So konnte zum Beispiel Marthalers Produktion Das Theater mit dem Waldhaus 2008 trotz Einladung nicht beim Theatertreffen in Berlin gezeigt werden, da sie eben für das Hotel von Jürg Kienbergers Familie in Sils im Engadin entwickelt worden war, in der Zwischensaison unter aufgerollten Teppichen und abgedeckten Fauteuils. Indem solche und andere Produktionen etablierte Arbeitsweisen des Opernbetriebs abstreifen, müssen Theatermacher wie Marthaler, zum Teil immer wieder neu, eigene kreative Prozesse erfinden, eigene Kriterien der Wertschätzung und Beurteilung, eigene Dramaturgien und Ästhetiken. Sie zielen auf eine Spezifität und weitgehende Unersetzbarkeit aller wesentlichen Komponenten, auch wenn dies mitunter Utopie bleibt, weil die Sachzwänge sie einholen. Dies beinhaltet eine Ethik des Musiktheatermachens, die sich einer Neoliberalisierung von Kunst zu widersetzen sucht. Heiner Goebbels schreibt diese Idee einer Spezifizität, einer Eigenheit, die oft nicht marktkonform sein kann, am Beispiel seiner eigenen Arbeit fort: A good director discovers the personalities, talents and creativity of the performers and organises the process in a way which relates to the drama. For my process as a composer it means: not having the score ready, but working with musicians from a very early stage, to invite them for improvisations, being attentive to the options they propose as musicians; ready to discover what else they can offer,
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which are the unique qualities of the individual musicians or of an orchestra or an ensemble. 21
Stimme und Instrument (Heterogenität, Rauheit) Ein dritter Aspekt betrifft die Verwendung von Stimme und Instrument – beides konstitutive Bestandteile des Musiktheaters, die in den verschiedenen Epochen jeweils klaren normativen Vorgaben unterworfen waren und sind. Jede Gattung des Musiktheaters ist unweigerlich an bestimmte Vorstellungen geknüpft, welcher Apparat wie zu klingen hat, welche Stimmästhetik und -technik angemessen sind und wie jeweils dafür ausgebildet wird. Marthalers Produktion und viele weitere Inszenierungen anderer Theatermacher – zum Teil parallel, zum Teil danach – wie David Marton, Carola Bauckholt, Alain Platel, Heiner Goebbels, Ruedi Häusermann oder Thom Luz suspendieren dieses normative Denken und befragen ihr Material häufig mit einem höchst heterogenen Apparat. Da treffen Opernsänger auf singende Schauspieler, Vokalartisten, indigene Stimmen und Jazzmusiker, da mischen sich Orchesterinstrumente mit Elektronik, exotischen Instrumenten und erweitertem Schlagwerk. Mit der berühmten Barthes’schen Formel von der Rauheit, bzw. besser übersetzt: Körnigkeit der Stimme, werden auch hier Herkunft, Biographie, Materialität und Patina im Musizieren sinnfällig gemacht. Das bedeutet nicht selten ein bewusstes Spiel zwischen Können und NichtKönnen, Virtuosität und Dilettantismus (in seinem ursprünglichen, nicht abwerten Wortsinn) und führt die so sorgsam etablierten Vorstellungen eines objektiv messbaren und prüf baren Handwerks in die Irre. Marthalers Unanswered Question steht hier für eine Tendenz des heutigen Musiktheaters, die Konventionen der jeweiligen Gattung in Bezug auf Dramaturgie und Narration, auf Besetzungs- und Produktionsökonomien und eben in Bezug auf musikalische Klanggewohnheiten und Stimmästhetik zu hinterfragen, auszustellen oder mit ihnen sein Spiel zu treiben. Dies ist eng verknüpft mit Verschiebungen und Verwischungen in Bezug auf die jeweiligen Rahmungen der Aufführung durch bestimmte Genreerwartungen. Noch einmal Christopher Smalls Ausführungen 21 | Heiner Goebbels: »›It’s all part of one concern‹: A ›Keynote‹ to Composition as Staging«, in: Matthias Rebstock/David Roesner (Hg.), Composed Theatre. Aesthetics, Practices, Processes, Bristol: Intellect 2012, S. 111-120, hier: S. 113.
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zu musicking folgend, scheint mir, dass es im heutigen Musiktheater nicht unbedingt das musikalische Material ist, aus dem die jeweilige Bedeutung einer Produktion erwächst, sondern die Art und Weise, wie es – im Sinne Erving Goffmans22 – gerahmt wird. Das wird vor allem dann sinnfällig, wenn an diesen Rahmen gerüttelt wird.
Grenzverschiebungen Marthalers Unanswered Question geht, wie viele andere Beispiele dieser vielfältigen Formen von (Musik-)Theater, die Matthias Rebstock und ich unter dem Begriff des ›Composed Theatre«23 zu fassen versucht haben, mit zahlreichen Grenzverschiebungen bzw. Entgrenzungen einher. Composed Theatre dekonstruiert die festen Formeln der jeweiligen Gattungstraditionen, z.B. indem die Trennung von Musik und Szene, Partitur und Aufführung verwischt oder aufgehoben wird. Marthalers Theater ist bei der Entwicklung von neuen Prozessen und Spielformen des Musiktheaters ein wichtiger Anstoß gewesen (und ist es noch). Charakteristisch ist dabei, dass Musik und Theater nicht addiert, sondern gewissermaßen intermedial kurzgeschlossen werden. Kompositorisches Denken wird auf alle Aspekte der Aufführung angewandt, nicht nur auf die Musik. Dies kann in einer Art ontologischer Übertragung bestehen (indem zum Beispiel die Gestaltung grundlegender musikalischer Parameter wie Dauer, Lautstärke, Tonhöhe oder Klangfarbe auf andere Theatermittel bezogen wird) oder auch in historischer Hinsicht, indem musikalische Formen und Modelle mit ihren jeweiligen Techniken – von polyphonem Gesang, über instrumentalen Kontrapunkt, von Improvisationsformen des Jazz über Songmodelle aus Pop und Rock – zum kreativen Motor szenischer Gestaltung werden. Gesucht wird in allen Fällen nach einer Musikalität des Szenischen und einer Theatralität des Musizierens. Composed Theatre ist damit auch weder mit dem ›heutigem Musiktheater‹ synonym, das im Titel des vorliegenden Bandes als umbrella term steht, noch mit dem dem ›new music theatre‹, wie Eric Salzman und Tho-
22 | Siehe Erving Goffman: Frame Analysis: An Essay on the Organization of Experience. London: Harper & Row 1974. 23 | Matthias Rebstock/David Roesner (Hg.): Composed Theatre. Aesthetics, Practices, Processes, Bristol: Intellect 2012.
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mas Desi es in ihrem gleichnamigen Buch von 2008 charakterisieren.24 Zum einen ist Composed Theatre keine Gattung, sondern eher ein Feld von Theaterphänomenen, die eine kompositorische Herangehensweise im Prozess gemeinsam haben, dabei aber oft zu ganz unterschiedlichen Resultaten führen, von denen manche nicht unbedingt als ›Musiktheater‹ zu bezeichnen sind. Zum anderen unterscheiden sie sich in der Art und Weise ihres experimentellen Charakters voneinander: heutiges Musiktheater mag innovativ sein in Bezug auf Stoffe, musikalische Idiome, aber tut dies unter Umständen innerhalb gegebener institutioneller, hierarchischer und ästhetischer Rahmenbedingungen, die es vielleicht punktuell etwas verschiebt, aber nicht grundsätzlich in Frage stellt. Composed Theatre verlässt hingegen diese Rahmungen und die damit verbundenen Vorannahmen und Erwartungen. Es experimentiert grundsätzlicher mit den Bedingungen von Autorschaft, Produktionsmethoden und -chronologien, Vorstellungen von ›Handwerk‹ oder beruflicher Identitäten. Der eingangs bereits zitierte Nicholas Till beschreibt zum Beispiel seine eigene Praxis ›post-operativer Produktionen‹ als eine kritische Praxis, die Gebrauch und Funktion von Medien in der Oper erforscht, um genau die Bedingungen und Schwierigkeiten des Musiktheatermachens zu thematisieren und zu anderen Arbeitsprozessen zu kommen: »non-score based devising and improvisatory processes for music theatre challenging the hierarchical metaphysics of most music-theatre production.«25 Hier und in vielen neueren Beispielen bezieht das Composed Theatre oft auch neue Technologien als kreative Partner mit ein, die nicht mehr nur Verlängerung menschlicher Ideen sind, sondern neue Verschaltungen der Ausdrucksmittel ermöglichen und dies als Herausforderung an unser kreatives Tun zurückspielen. Composed Theatre entzieht sich häufig einer klaren Gattungszuordnung, oszilliert zwischen Oper, Sprechtheater, Tanztheater, Konzert und Installation. Es stellt die Grenzen zwischen Komponieren, Inszenieren, Musizieren und Darstellen in Frage. Es macht unsere ontologi24 | Eric Salzman/Thomas Desi: The New Music Theatre, Oxford: Oxford University Press, 2008. 25 | Nicholas Till in: Roesner, David: »›It is not about labelling, it’s about understanding what we do‹ – Composed theatre as discourse«, in: Matthias Rebstock und David Roesner (Hg.), Composed Theatre. Aesthetics, Practices, Processes, Intellect: Bristol, 2012, 319-362, hier: S. 354.
Die Entwicklung des Musiktheaters als offene Frage
schen Unterscheidungen zwischen Sprache, Musik, Geste und Bewegung und die damit verbundenen Zuständigkeiten in den Institutionen problematisch. Es sprengt unsere gängigen Notationsformate. All das ist in Marthaler und Hennebergers Produktion bereits zu beobachten, wobei sie m.E. zweierlei tun: sie bewegen sich sowohl innerhalb der »hierarchischen Metaphysik«26 des Musiktheaters, bedienen den Apparat, aber ironisieren ihn auch und verlassen ihn bisweilen. Es herrscht eine Ambiguität, die auch sonst für Marthaler typisch ist: eine Stimmung zwischen Hommage und Abgesang an das Repertoire. Durch all dies ist sein Musiktheater im Allgemeinen und Unanswered Question im Besonderen immer auch hochgradig selbstreflexiv und stellt die eigene Berechtigung, die eignen Vorannahmen und Gewohnheiten, die Bedingungen von Ästhetik kontinuierlich auf den Prüfstand, angetrieben von der Frage: »whither music-theatre«?
26 | Ebd.
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»Solch hergelauf’ne Laffen« Zur Inversion von Alterisierungsstrategien in Ibrahim Quraishis Saray – Mozart alla Turca und Chaya Czernowins Zaïde–Adama. Fragments Regine Elzenheimer »Was wir sind, sind wir nie ganz und gar. […] Es gibt keine Welt, in der wir je völlig zu Hause sind, und es gibt kein Subjekt, das je Herr im eigenen Hause wäre«. Bernhard Waldenfels 1
›Betrug des Unisonos‹ Die israelische Komponistin Chaya Czernowin hat den Dialog als eines ihrer kompositorischen Strukturmodelle beschrieben. Es ist kein künstlerisch-sozialer oder kultureller Versöhnungsoptimismus, um den es hier geht, sondern ein von komplexen Fragen nach Identität, Spannungsräumen und Perspektiven geprägtes Modell. Sehr genau werden hier die Auswirkungen der grundlegenden Distanz der Dialogpartner, ihrer kulturellen und zeitlichen Verortung, sowie die Option externer und interner, das heißt einheitliche Identitäten in Frage stellender Dialoge reflektiert. In dem Text, von dem ich hier spreche, ist auch von einem kalkuliert komponierten ›Betrug‹ des Unisonos die Rede, d.h. vom bewussten kompositori-
1 | Bernhard Waldenfels: Topographie des Fremden. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 11.
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schen »Ignorieren« der Distanz zwischen musikalischen Dialogpartnern, um den »Abgrund« zwischen ihnen »beispielhaft zu zeigen«2 . Chaya Czernowin ist mit einem politischen Konflikt aufgewachsen, der sich maßgeblich aus der gleichzeitigen Beanspruchung von so etwas wie ›Ursprünglichkeit‹ speist, aus der Frage, wem das originale Habitationsrecht in Palästina zusteht – wenn man sich auf das lateinische »origo« als Original des Wortes »Original« in der Bedeutung von Ursprung, Stamm oder Wurzel bezieht. Chaya Czernowin beschreibt ihr künstlerisches Verfahren des Dialogs differenter Partner dahingehend, dass »[m]it diesen beiden gegensätzlichen Komponenten, die zur selben Zeit wirken, […] eine Art Mehrschichtigkeit von Beobachtung oder Wahrnehmung«3 geschaffen wird. Dieses Modell des Dialogs und der Mehrschichtigkeit ist eine künstlerische Strategie, zerstörerische, weil mit einem Machtanspruch des Originalen verbundene Fragen nach dem Ursprung zu vermeiden. Vielmehr können so auch weit auseinanderliegende, einander fremde Identitäten in eine Konstellation gebracht werden, die etwas Drittes hervorbringt, das die einander fremden Identitäten nicht dialektisch aufhebt und synthetisiert. Diese etwas abstrakte Beschreibung lässt sich an Chaya Czernowins Beitrag zum Mozartjahr 2006 gut im Hinblick auf die in diesem Band verhandelten Fragestellungen exemplifizieren. Die Komponistin hat auf Initiative und in enger Zusammenarbeit mit dem Regisseur Claus Guth für die Salzburger Festspiele eine von ihr so genannte »Kontrapunktoper«4
2 | Chaya Czernowin: »Der Dialog als ein kompositorisches Modell«, in: Jörn Peter Hiekel/Marion Demuth (Hg.): Freiräume und Spannungsfelder. Reflexionen zur Musik heute, Mainz: Schott 2009, S. 164-170, hier S. 169. In ihrer Komposition Excavated Dialogues werden die weit entfernten musikalischen Dialogpartner (in diesem Falle zwei differente Orchestergruppen mit östlichen und westlichen Instrumenten) unter Bezug auf ein Gemeinsames zu neuen instrumentenspezifischen Gruppen von Streichern, Zupf- und Blasinstrumenten zusammengesetzt, sodass oberflächlich der Anschein erweckt wird, es gäbe keinen Konflikt, während der »Bruch (westlich/östlich) […] aber sehr präsent ist« (ebd.). Für Czernowin wird »diese Distanz zwischen östlichem und westlichem Klang« gerade durch ein »dynamische[s] und rhythmisches[s] Unisono« (ebd.) deutlich. 3 | Ebd., S. 165. 4 | Ebd., S. 166.
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mit dem Titel Adama5 zu Mozarts von der Nachwelt Zaïde genanntem Singspielfragment geschaffen.6 Grundlage hierfür war, dass Mozart für Czernowin, wie sie sagt, »ein großer Fremder« 7 war und dass sie mit seiner Komposition in einen Dialog treten konnte, im Sinne eines »Dialog[s] zwischen fremden oder divergierenden musikalischen Materialien«8. Diese aus der Gegenwart heraus geführte kompositorische Auseinandersetzung mit Mozart, die durch die konsequente Vermeidung eines rekonstruierenden oder irgendwie komplettierenden Zugriffs Mozarts Musik zum Gegenüber machte, wurde vom Festspielpublikum offensichtlich als Verrat am Status des vermeintlichen ›Originals‹ verstanden: während man die Ausführenden der Mozart-Musik – neben den Sängern der Dirigent Ivor Bolton und das Mozarteum-Orchester – feierte, wurden die Komponistin und der Dirigent Johannes Kalitzke mit dem Österreichischen Ensemble für Neue Musik (oenm) bei der Uraufführung in skandalöser Weise von Teilen des Publikums ausgebuht, obwohl – oder weil – die neu komponierte Musik zusammen mit Mozarts Komposition ein neues Stück bildete und beide Ensembles gleichberechtigte und unverzichtbare Teile einunderselben Inszenierung und einunderselben Aufführung waren.9 5 | »Im Hebräischen: Adama = Erde, adam = Mann/Mensch, dam = Blut«, zit.n.: Chaya Czernowin/Wolfgang Amadeus Mozart: Zaïde–Adama. Fragments, Partitur, Mainz: Schott 2006, o.S. 6 | Wolfgang Amadeus Mozart/Chaya Czernowin: Zaïde–Adama. Fragments (1779/2004-2005); UA Salzburger Festspiele 2006 in Koproduktion mit dem Theater Basel; Musikalische Leitung: Ivor Bolton (Mozarteum Orchester); Johannes Kalitzke (oenm – Österreichisches Ensemble für Neue Musik); Basler Madrigalisten; Inszenierung: Claus Guth; Bühne/Kostüme: Christian Schmidt; Elektronische Realisation: Experimentalstudio für akustische Kunst Freiburg; Zaide: Mojca Erdmann; Gomatz: Topi Lehtipuu; Allazim: Johan Reuter; Sultan Soliman: John Marc Ainsley; Osmin: Renato Girolami; Frau: Noa Frenkel; Mann: Yaron Windmüller; Vater: Andreas Fischer; Tänzer: Paul Lorenger; Schauspieler: Bernd Grawert. 7 | Chaya Czernowin/Wolfgang Amadeus Mozart: Zaïde–Adama, Programmheft Salzburger Festspiele, Salzburg 2006, S. 28. 8 | Ebd. 9 | Vgl. Chaya Czernowin/Wolfgang Amadeus Mozart: Zaïde–Adama, DVD Salzburger Festspiele/Unitel Classica/Deutsche Grammophon/3SAT 2006. – Die deutsche Erstaufführung fand 2008 in Bremen in einer Neuinszenierung statt, die
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»Nomadische E xistenz« – Installation/Opera Ich möchte diese Arbeit im Folgenden vergleichend mit einem weiteren Beitrag zum Mozartjahr 2006 vorstellen, der sich vor dem Hintergrund der 2006 (also noch zu Lebzeiten des österreichischen Rechtspopulisten Jörg Haiders) wie heute (angesichts der Flüchtlingssituation) aktuellen Fremdenfeindlichkeit in Österreich mit möglichen interkulturellen Implikationen von Mozarts Entführung aus dem Serail auseinandergesetzt hat. Am Schauspielhaus Wien hat Ibrahim Quraishi zusammen mit dem türkischen Dirigenten Serdar Yalçin, dem Dramaturgen Gabriel Smeets, einem österreichisch-türkischen Ensemble von Sängern und Darstellern sowie einem türkischen Musikerensemble eine experimentelle deutschtürkische Adaption von Mozarts Singspiel erarbeitet.10 Quraishi ist ein Konzept-, Medien- und Performancekünstler mit familiären Wurzeln im Jemen, in Usbekistan und Pakistan, der in Deutschland, den Niederlanden und Frankreich lebt und weltweit arbeitet. Bewusst inszeniert er seine offensichtlich muslimisch-arabisch geprägte Herkunft in einer Mischung aus Fakten und Fiktion als panarabisch und pankulturell und nicht als stabile Identität und bezeichnet sich selbst als auch zum Mannheimer Mozartsommer eingeladen wurde, 2017 wurde das Stück in Freiburg, von Czernowin um eine Chorpartie erweitert, erneut inszeniert. Dass es hier nicht bei der üblichen einmaligen Aufführungsserie im Rahmen einer beauftragten Uraufführung blieb, belegt die Relevanz eines solchen künstlerischen Dialog-Modells für die Spielpläne der Theater, zumal angesichts der gegenwärtig sich zuspitzenden konflikthaften weltpolitischen Situation. 10 | Saray – Mozart alla turca. Musiktheater nach Die Entführung aus dem Serail von W.A. Mozart. UA Schauspielhaus Wien in Koproduktion mit Het Toneelhuis Amsterdam und Grand Théatre de la Ville Luxembourg 2006/DEA Mannheimer Mozartsommer 2007. Musikalische Leitung/Bearbeitung/Übersetzung: Serdar Yalçin; Regie: Ibrahim Quraishi; Text: Ibrahim Quraishi, Gabriel Smeets; Bühne: Stefanie Wilhelm; Kostüme: Aziz; Video: Marc Perroud aka tzèd; Dramaturgie: Gabriel Smeets; Esmercik/Blonde: Ğörkem Ezgi Yildirim; Felix H./Selim Bassa: Martin Niedermair; Feraye/Konstanze: Serap Göğüs; Kahraman/Pedrillo: Erdem Erdoğan; Oskar S./Osmin: Michael Doumas; Süleyman/Belmonte: Ali Murat Erengül; Übersetzerin: Alev Irmak/Çigdem Soyarslan/Klavier: Serdar Yalçin, Martin August Fuchsberger; Kanun: Didem Başar Dermen (1.), Serkan Mesut Halili, Güniz Yilmaz (2.); Kemençe: Binnaz Çelik, Neva Özgen; Ud: Eren Özek; Klarinette: Turgut Aktaş
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nomadische Existenz ohne eindeutigen kulturellen und geographischen Ursprung.11
»Verbindung von Nähe und Ferne« Die Frage nach dem ›Ursprung‹ verknüpft sich mit der Frage nach dem Umgang mit dem Fremden, als etwas, das als nicht ursprünglich (und damit auch als etwas nicht Eigenes) kategorisiert wird. Für die folgenden Betrachtungen scheint es mir sowohl in Bezug auf das Verhältnis von vermeintlichen Originalen und zeitgenössischer Bezugnahme darauf, die man in der Tat als ›Ver-‹ oder ›Entfremdung‹ dieser Originale bezeichnen könnte, als auch auf die in beiden Produktionen verhandelte Thematik von Identität und Fremdheit hilfreich, noch einmal Georg Simmels bekannte Definition des Fremden in Erinnerung zu rufen: Dieser wird bezeichnet als ein »Wandernder«, der eben nicht »heute kommt und morgen geht, sondern […] heute kommt und morgen bleibt«, als einer, der »die Gelöstheit des Kommens und Gehens nicht ganz überwunden hat«12 . Fruchtbar für die weitere Diskussion scheint mir Simmels Definition des Fremdseins im Verhältnis von Menschen dahingehend, dass »der Ferne nah ist«13. Diese Beschreibung des nahen Fernen könnte man auch auf das Verhältnis von Menschen und Kunst-Werken übertragen. Simmel bestimmt »Fremdsein« als »positive Beziehung«14, die durch eine Verbindung von Nähe und Ferne charakterisiert ist, einer Nähe, die durch eine noch immer mögliche Beziehung auf ein die konkrete Beziehung übersteigendes Allgemeines entsteht und einer Ferne, der die Möglichkeit der Objektivierung als Freiheit innewohnt. Diese Bestimmung kontrastiert mit einem jeder Positivität beraubten Konzept von Fremdheit, das jeden 11 | Vgl. seine Website ibrahimquraishi.org, dort besonders die Darstellung seiner ›Family Portrait Series‹ (2013). In seinem Text »Cultural Space« heißt es: »My approach to the world is that of a traveler. Traveling is about moving and not settling down. Traveling in the unknown, rather than settling in one specific place on the planet.« (http://ibrahimquraishi.org/texts/cultural-space/ vom 20.05.2017). 12 | Georg Simmel: »Exkurs über den Fremden«, in: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Berlin: Duncker & Humblot 1908, S. 509-512, hier S. 509. 13 | Ebd. 14 | Ebd.
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verbindenden Bezug auf ein mögliches Allgemein-Menschliches verneint, wie es mit Simmel im Verhältnis der Griechen zu den ›Barbaren‹ zu finden sei15. Dies wäre – mit Chaya Czernowin zu sprechen – das Ende des Dialogs. Ein Verhältnis, das in der vermeintlichen Nähe – wie sie in der Vereinnahmung des Originals oft beansprucht wird – das Fremde, und sei es nur den fremden Blick ignoriert, wäre in meinen Augen das Ende der Kunst.
»Türkenopern« – »Strategische Alterisierung« – »türckische Musick« Die Rezeptionsgeschichte von Mozarts Singspielfragment Zaïde ist geprägt vom Vergleich mit der Entführung aus dem Serail: zum einen, weil beide dem im 18. Jahrhundert beliebten Genre der sogenannten ›Türkenoper‹ zugehören und die Gefangenschaft von Europäern in orientalischen Kulturen verhandeln. Zum anderen im Hinblick auf die Frage nach dem Ende: Mozarts Entführung bietet hier auf den ersten Blick mit dem Gnadenakt des Bassa Selim, der die beiden Paare aus humaner Einsicht in die Freiheit entlässt, ein ›lieto fine‹, ein dem Singspiel adäquates glückliches Ende aus dem Erbe der Opera Seria. Ivan Nagel hatte den ›clemenza‹-Schluss der Entführung auch als »politisches Attentat der Seria auf das Singspiel«16 bezeichnet. Bei Zaïde hingegen fehlen im Hinblick auf das Gattungsschema Ouvertüre, Dialoge und der Schluss. Die überlieferte letzte Nummer der Oper bietet allen Anlass zum Zweifel daran, dass hier noch eine Wendung des Sultans Soliman zur Gnade stattgehabt hätte. Gleichwohl stehen neben Rezeptionstendenzen, die Zaïde als tragische Version der Entführung bezeichnen, solche, die ein glückliches Ende hypothetisieren. Fragmente provozieren mit allen Dimensionen des Spekulativen entschieden die Frage nach dem ›Original‹, bzw. nach der vermeintlich originalen Absicht des Künstlers. Es kann als kulturwissenschaftlicher Konsens gelten, dass es sich bei den ›Türkenopern‹ und Exotismen des 18. Jahrhunderts keineswegs um eine Auseinandersetzung mit dem Fremden als Identität oder Kategorie eigenen, mithin fernliegenden oder gar unverfügbaren Ursprungs, 15 | Vgl. ebd., S. 512. 16 | Ivan Nagel: Autonomie und Gnade. Über Mozarts Opern, München: DTV/Kassel u.a.: Bärenreiter 1991, S. 20.
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ja nicht einmal um eine versuchte authentifizierende Darstellung des Fremden handelt. Christopher Balme hat eingehend dargelegt, dass die Konstruktionen des Fremden in Europa Teilprozesse einer Selbstvergewisserung bzw. einer ›Stabilisierung des Eigenen‹ sind: »Identität und Alterität sind subjektphilosophisch gesehen untrennbar miteinander verbunden.«17 Die Alteritätsforschung spricht hier auch von »strategische[r] Alterisierung […]«.18 Die »nie gelöscht[e] Figur des Guten«19, von der Ivan Nagel spricht, ist besonders im 18. Jahrhundert konträr verknüpft mit der Figur des Fremden, bzw. ›fremden‹ Figuren. Alexandra Böhm und Monika Sproll identifizieren »das Fremde als Maßstab westlicher Zivilisation«: Die zeitgenössische Auseinandersetzung mit Alterität manifestiert sich […] in der Kunst in der Form alterisierter, ›fremder Figuren‹, deren verfremdende Effekte Unordnung und Abweichung produzieren und signalisieren. […] Die ›strategischen‹ Alterisierungen zielen – direkt oder indirekt – auf eine Definition des Eigenen in ästhetischen, kulturellen und anthropologischen Entwürfen. 20
Die Janitscharenmusik figuriert als musikalischer Code des Orients, wie er in der Entführung aus dem Serail in der Ouvertüre, in den Huldigungschören an den Bassa und in den Nummern Osmins verwendet wird (und z.B. auch in Glucks Iphigenie auf Tauris in besonders primitiver Form zur charakteristischen Bezeichnung der ›barbarischen‹ Taurer verwendet wird). Dieser »Trommel- und Triangelorient«,21 wie Ivan Nagel ihn genannt hat, fehlt jedoch in Zaïde gänzlich.
17 | Christopher Balme: Das Theater der Anderen. Alterität und Theater zwischen Antike und Gegenwart, Tübingen [u.a.]: Francke 2001, S. 8. 18 | Alexandra Böhm/Monika Sproll: »Einleitung«, in: dies. (Hg.): Fremde Figuren. Alterisierungen in Kunst, Wissenschaft und Anthropologie um 1800, Würzburg: Königshausen & Neumann 2008, S. 7. 19 | I. Nagel: Autonomie und Gnade, S. 27. 20 | A. Böhm/M. Sproll: Fremde Figuren, a.a.O. 21 | I. Nagel: Autonomie und Gnade, S. 21.
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Abbildung 1: Czernowin, Chaya/Mozart, Wolfgang Amadeus: Zaïde-Adama. Fragments, Partitur, S. 85, © 2006 SCHOTT MUSIC Mainz.
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Adama Chaya Czernowin hat ihre Komposition Adama weder als Vervollständigung noch als Kommentar, Interpretation oder Übersetzung von Mozarts ›Original‹ konzipiert, sondern an den Stellen der vermuteten fehlenden Dialoge ihre eigene gleichfalls fragmentarische Komposition hineingeschoben, sie quasi zwischen den musikalischen Nummern Mozarts mit diesen verzahnt. Ihre Komposition greift sprachliches Material aus diesen Nummern auf, meist nur einzelne Wörter oder kurze Textpassagen, die auf Deutsch, Hebräisch oder Arabisch erscheinen. Neben der vermeintlichen Geschichte um die Gefangenschaft des Liebespaares Zaide und Gomatz im Reich des Sultans Soliman und der missglückten Flucht mit Hilfe von Solimans Diener Allazim wird eine subtile Parallelgeschichte um die unmögliche und sprachlose Liebe zwischen einer Israelin und einem Palästinenser entworfen, die am Ende von symbolischen Vaterfiguren ihrer eigenen Kultur als vermeintliche Verräter bestraft und gesteinigt werden. Durch das Fehlen der Dialoge, die üblicherweise eine narrative Kohärenz herstellen, erscheint Zaïde wie ein Gerüst aus stehengebliebenen Affekten, die durch keine Erzählung vermittelt werden. Es kann als kongeniale Entscheidung des Regisseurs Claus Guth gelten, auf die Wiederherstellung dieser Vermittlung zu verzichten und sich, die Akteure und das Publikum stattdessen einem szenischen Dialog auszusetzten, in der alle Beteiligten die Fremdheit aushalten müssen. Interessant für den weiteren Vergleich ist auch die Tatsache, dass es sich bei dem zur Verzeihung bereiten Bassa Selim der Entführung ebenso wie bei dem Fluchthelfer Allazim aus Zaïde jeweils um Renegaten handelt, während der Osmin der Entführung ebenso wie der Sultan Soliman aus Zaïde als veritable Orientalen dargestellt werden, die sich einem als europäisch projizierten aufklärerischen Humanismus verweigern und sich stattdessen einer archaischen Logik von Rache und Vergeltung verschreiben. Symptomatisch hierfür ist Osmins Arie über die »hergelauf’ne[n] Laffen, die nur nach den Weibern gaffen«22, in deren Stretta sich Osmin in seine Hassphantasien hineinsteigert, indem er die Fremden »erst geköpft und dann gehangen, dann gespießt auf heiße Stangen, dann verbrannt, dann gebunden und 22 | Wolfgang Amadeus Mozart: Die Entführung aus dem Serail. Deutsches Singspiel in drei Aufzügen, Klavierauszug, Kassel [u.a.]: Bärenreiter 2004, S. 31f.
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getaucht, zuletzt geschunden!«23 sehen will.24 Die entsprechenden Zerstörungsphantasien des Sultans Soliman aus Zaïde werden am Anfang des 2. Akts über einen Melolog transportiert und bleiben schließlich unversöhnlich und eben ›gnadenlos‹ und nicht ›gnadenvoll‹ im abschließenden Quartett stehen. Die Projektion dieser Grausamkeit auf einen Orientalen unterwandern Chaya Czernowin und der Regisseur Claus Guth, indem Soliman einerseits als durch zurückgewiesene Liebe gekränkt und verletzt und als Teil eines von symbolischen Köpfen dominierten Kollektivs erscheint, dessen Anführer und Opfer er zugleich ist. Gleichzeitig gibt es in Adama eine mit Soliman assoziierte zerstörerische Vaterfigur auch auf israelischer Seite. Abbildung 2: W.A. Mozart/Chaya Czernowin: Zaïde-Adama, Salzburger Festspiele 2006, © Monika Rittershaus.
23 | Ebd., S. 41. 24 | »der zorn des osmin wird dadurch in das komische gebracht, weil die türkische Musick dabey angebracht ist. – […] ein Mensch der sich in einem so heftigen zorn befindet, überschreitet alle ordnung, Maas und Ziel, er kennt sich nicht – so muß sich auch die Musick nicht mehr kennen«. Wolfgang Amadeus Mozart: Brief an den Vater vom 26. September 1781, zit.n.: Dieter Borchmeyer/Gernot Gruber (Hg.): Mozarts Opern. Das Handbuch (Teilband 1), Laaber 2007, S. 406.
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Abbildung 3: W.A. Mozart/Chaya Czernowin: Zaïde-Adama, Salzburger Festspiele 2006, © Monika Rittershaus.
Chaya Czernowin demontiert mit ihrem fragmentarischen Kontrapunkt, in dem es auf beiden Seiten Opfer und Täter als Folge eines zerstörerischen kollektiven Nationalismus gibt, jeden politischen Anspruch kollektiver Inanspruchnahme eines Originären. Aneignung, die mit Enteignung bezahlt wird, kann nur über ein Be-, Ver- und Entfremden des vermeintlich Vertrauten, also in Form eines dialogischen Prozesses als Fremd-Bleiben-Dürfen unterwandert werden. Simmel schreibt: »Der Fremde ist eben seiner Natur nach kein Bodenbesitzer, wobei Boden nicht nur in dem physischen Sinne verstanden wird, sondern auch in dem übertragenen einer Lebenssubstanz, die, wenn nicht an einer räumlichen, so an einer ideellen Stelle des gesellschaftlichen Umkreises fixiert ist.«25 In diesem Sinne kann man Chaya Czernowins Komposition durchaus als ästhetische Stellungnahme zum Territorial- und Kulturkonflikt zwischen Israel und den Palästinensern sehen.
25 | Georg Simmel: Exkurs über den Fremden, S. 510.
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Saray – Mozart alla Turca Ibrahim Quraishi hat zusammen mit seinem Dramaturgen Gabriel Smeets für seine Produktion Saray – Mozart alla Turca eine neue Textfassung erarbeitet, die zunächst wie eine Inversion der Konstellation in Mozarts Entführung aus dem Serail scheint: Der rechtspopulistische Politiker Felix H. liebt die Türkin Feraye und hält sie in seiner Villa gefangen, damit niemand davon erfährt. Sein politischer Weggenosse Oskar S. erscheint als ethnisch umgekehrter Osmin, Ferayes Freundin Esmercik (übersetzt: »Schwarzchen«) ist das Pendent zu Mozarts »Blonde«. Die türkischen Protagonisten Süleyman und Kahraman entsprechen Mozarts Belmonte und Pedrillo und reisen nach Europa, um die beiden Frauen aus der Gefangenschaft europäischer Männer zu befreien. Das Libretto verzeichnet außerdem eine türkisch-deutsche Übersetzerin, die gegen Ende in Erscheinung tritt, sowie drei Entführer und drei Geiseln, die als sogenannte »Migration Hostages«26 (Migrationsgeiseln) bezeichnet werden, als Menschen, die auf der Suche nach Glück in ihren eigenen Wünschen gefangen sind. Der Text fußt neben dem Original-Libretto von Johann Gottlieb Stephanie, das hier für die Arien und Ensembles ins Türkische übertragen wurde, auf Reden von Atatürk, Jörg Haider und Hitlers Vorbild, dem katholischen Antisemiten und Wiener Bürgermeister um die Jahrhundertwende Karl Lueger, sowie u.a. auf Interviews mit Arnold Schwarzenegger.27 Serdar Yalçin hat Mozarts Musik aus der Entführung aus dem Serail für Klavier und ein Ensemble türkischer Instrumente bearbeitet: für 2 Kemençes (Kniegeigen), Ud (Kurzhalslaute), 3 Kanuns (Zithern) und Klarnet (Klarinette). Die seit dem 17. Jahrhundert mit der türkischen Musik synonymisierte Janitscharen-Musik, also die als »martialisch«28 in der Lautstärke und
26 | Ibrahim Quraishi/Gabriel Smeets: Saray – Mozart alla Turca, nach W.A. Mozart/Gottlieb Stephanie d.J.: Die Entführung aus dem Serail, Textfassung, unveröffentl. Manuskript 2006, S. 1. 27 | Die Fassung fußt außerdem auf Texten von Mike Tyson und Mine Ege (einem unbekannten türkischen Blogger) sowie Songs der Rockband Ween. 28 | Tahsin Incirci: Musik in der Türkei (unter Mitarbeit von Hubert Kolland), Dortmund: Pläne-Verlag, o.J., S. 3.
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»Angst-einflößend«29 charakterisierte Musik der osmanischen Militärkapellen, die weniger musikalisch, als vielmehr durch eine spezifische Schlagzeug-Kombination aus großer Trommel, Tamburin, Triangel und Becken als typisches ›alla-turca‹-Idiom Eingang in die europäische Kunstmusik und insbesondere die Oper fand und die Mozart in der Entführung verwendet – diese musikalische Codierung des Orients aus westlicher Sicht findet in Serdar Yalçins Ensemble-Bearbeitung gerade keinen Ort. Vielmehr wird das Janitscharen-Element, das seit den 1950er Jahren in der Türkei nur noch als touristische Attraktion weiterlebt, in einer billigen elektronischen Hip-Hop-Version der Mozart’schen Ouverture an den Drum-Computer delegiert. Über diese bearbeitete Ouvertüre rezitiert Felix H. die orientalenfeindliche Kindergeschichte vom »böse[n] HatschiBratschi«30, einem »Zauberer aus dem Mohrenland«31, der arme kleine blonde Jungen frisst, wie es im Text aus der Feder des den Nationalsozialisten nahestehenden Franz Karl Ginzkey heißt. Quraishi invertiert nicht nur die Zuschreibungen antiaufklärerischer Xenophobie, wie sie in Osmins Arie von den »hergelauf’nen Laffen« und den auf diese bezogenen Vernichtungsphantasien gestaltet ist: Sein Stück beginnt und endet damit, dass der ›weiße‹ Rechtspopulist Oskar diese Arie singt. Auch die festgefahrenen Geschlechter-Bilder eines muslimischen Machismo werden von Quraishi durch das Verfahren der Inversion hinterfragt: Bei Mozart adressiert die gefangene Engländerin Blonde ihre Arie »Durch Zärtlichkeit und Schmeicheln«32 an den grob gezeichneten Orientalen Osmin, um ihn über alternative und erfolgversprechendere Strategien der Verführung zu belehren. Bei Quraishi wird diese Arie von der Türkin Esmercik an ihren türkischen Liebhaber Karahman gerichtet und ihre Arie »Welche Wonne, welche Lust«33 erscheint als Esmerciks Lobgesang auf ein westlich orientiertes, aber auch kapitalisiertes Verständnis von weiblicher Lust und sexueller Selbstbestimmung.
29 | Ebd., S. 32. 30 | Ibrahim Quraishi/Gabriel Smeets: Saray – Mozart alla Turca, Textfassung, S. 11. 31 | Ebd. 32 | Vgl. Wolfgang Amadeus Mozart: Die Entführung aus dem Serail, Klavierauszug, S. 89ff. 33 | Vgl. ebd. S. 136ff.
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Feraye wird von Beginn an immer wieder in Rückenposition als ›Odaliske‹ inszeniert. Der Verweis auf Jean-Auguste-Dominique Ingres’ Gemälde Grande Odalisque (1814), das die Haremsdame im 19. Jahrhundert zu einer Projektionsfläche männlicher Sehnsüchte und erotischer Phantasien stilisierte, markiert den Bruch in der nationalistisch geschlossenen Oberfläche der Politikerfiguren.34 Abbildung 4: Ibrahim Quraishi: Saray – Mozart alla turca. Schauspielhaus Wien 2006, © Nick Mangafas.
34 | Vgl. hierzu auch das Kapitel »House of Mirrors« in: Maaike Bleeker: Visuality in the theatre. The locus of looking, Hampshire/New York: Palgrave Macmillan 2008. Bleeker untersucht den Aspekt der Repräsentation von Fremdheit in verschiedenen Inszenierungen der »Entführung aus dem Serail« auch im Hinblick auf das im Bühnenbild für Quraishis Inszenierung wesentliche Element der Spiegelungen: »Rather than absorbing the audience in music that sounds comfortably familiar, this version de-familiarizes the well-known sound, inviting the audience to listen in a different way, highlighting the structural characteristics of the music instead of directing attention to the execution of the well-known melodies and arias. […] The result is a displacement that undermines seemingly self-evident visions of what is good and what is bad, what is right and what is wrong, what is self and what is other.« Ebd., S. 194.
»Solch hergelauf’ne Laffen«
Abbildung 5: Ibrahim Quraishi: Saray – Mozart alla turca. Schauspielhaus Wien 2006, © Nick Mangafas.
Der musikalische Populismus des ›alla turca‹ aus dem 18. Jahrhundert wird hier umgekehrt übertragen in einen westlichen Standards angepassten Import türkischer Kultur wie er auch im türkischen Tango auf der Wahlparty von Felix H. und Oskar S. erscheint, zu dem die rechtspopulistischen Politiker mit den türkischen Frauen tanzen, die ihre Herkunft zuvor durch blonde Perücken unkenntlich gemacht haben. (Die Initialen der Nachnamen von Felix H. und Oskar S. darf man durchaus als Anspielungen auf Jörg Haider und Arnold Schwarzenegger verstehen). Die hasserfüllte Stretta der Osmin-Arie, deren Reprise schon Mozart als subversive Trübung in das oberflächlich freudige und überschäumende Schlussvaudeville eingeschrieben hat, wird bei Quraishi mit Oskar zur finalen politischen Schreckensvision, nachdem die türkische Übersetzerin vor dem Vaudeville, in dem die türkischen Sänger schließlich deutsch singen, polemisch das patriarchal dominierte Geschlechterverständnis der beiden türkischen Paare in Frage gestellt hat.
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Fremd bleiben können Man mag Quraishis Verfahren der Inversion plakativ und schematisch finden. In seiner Unversöhntheit legt Saray – Mozart alla turca den Finger jedoch ebenso in eine offene Wunde wie das unversöhnliche Ende von Zaïde–Adama. Anders als jeder oberflächliche inter- oder transkulturelle Optimismus, in dem die Differenz zwischen fern und fremd zu verschwinden droht, beharren diese Produktionen auf dem Aushalten dieser Differenz ohne sinnstiftendes Angebot zu deren Überwindung. Die Suche nach Sinn »zielt« mit Michel de Certeau »auf ›Verstehen‹ und deckt mit dem ›Sinn‹ die Andersartigkeit [des] Fremden zu«35. Die Distanz und Nicht-Identität zwischen Gegenstand und Schreibprozess, wie sie von de Certeau in Bezug auf die Historiographie kritisch als Dialog mit den Toten und ›Geschichtemachen‹ beschrieben wurde, diese Distanz als reflektierte, als Zwischen-Raum, auch als Spiel-Raum scheint unabdingbar, damit das Verhältnis disparater oder divergenter Elemente nicht notwendig eines der Über-, Unter- oder Nachordnung oder gar der Egalisierung wird, sondern Möglichkeiten der Ko-Existenz ohne Preisgabe des unverzichtbar Eigenen bietet.36 Der Zwang zur Egalisierung, zum Eliminieren von Distanz und Fremdheit als notwendiger »Negativität« in der globalisierten »Transparenz- und Leistungsgesellschaft« ist von Byung-Chul Han als »Gewalt der Positivität«37 diagnostiziert und mit einem emphatischen Begriff des Fremden und der Andersheit als Rettung des Eros und Potential des Widerständigen konterkariert worden.38 Wenn das ›Original‹ in diesem Sinne der Fremdheit als eines unverfügbaren Ursprungs verstanden wird, der eines Anderen bedarf, und nicht anders als mindestens zweigleisig wahrzunehmen ist, wie man die Bezeichnung ›OmU‹ (Original mit Untertiteln) auch verstehen könnte, dann läge die 35 | Michel de Certeau: Das Schreiben der Geschichte, Frankfurt a.M./New York: Campus 1991, S. 12. 36 | De Certeau reflektiert abendländische Geschichtsschreibung als Verdrängungsprozess des scheinbar Vergangenen, im Gegesatz etwa zu Zeitvorstellungen im indischen Geschichtsverständnis als »Koexistenz- und Reabsorbtionsprozess« (Louis Dumont). Ebd., S. 15. 37 | Byung-Chul Han: Müdigkeitsgesellschaft, Berlin: Matthes & Seitz 2010, S. 14. 38 | Vgl. Ders.: Transparenzgesellschaft, Berlin: Matthes & Seitz 2013.
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Betonung nicht mehr auf dem Original, sondern auf der durch das ›mit‹ bezeichneten Gleichzeitigkeit zweier notwendig unterschiedlicher Wahrnehmungsebenen, mithin der Mehrschichtigkeit eines Gegenstands, dem das »Nicht-Verstehen«39 notwendig eingeschrieben ist. Man könnte daraus folgern, dass das ›OmU‹ im Idealfall dem Fremden seine Fremdheit belässt.
39 | Han spricht mit Bezug auf Richard Sennett von der »Freiheit zum Nicht-Verstehen des anderen« als Kennzeichen von Autonomie. Ebd., S. 10.
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Für heute, morgen und übermorgen Zur Tradierung von Pina Bauschs Tanztheater Katja Schneider
Als im April 2016 das Bayerische Staatsballett Pina Bauschs Stück Für die Kinder von gestern, heute und morgen im Münchner Nationaltheater präsentierte, fand damit eine doppelte Premiere statt: Es war die Münchner Erstaufführung und es war die erste Aufführung eines ›typisch‹ Bausch’schen Tanztheaters durch eine fremde Kompanie. Wie, so ist zu fragen, verhalten sich vermeintliches Original, Wiederholung und Übertragung zueinander? Das Werk war 2002 beim Tanztheater Wuppertal im spezifischen Arbeitsmodus von Bausch entstanden; erarbeitet wurde es dort von Null auf, gestützt auf die berühmt gewordene Fragetechnik der Choreographin und in enger Kooperation mit ihrem Ensemble. Die Tänzerinnen und Tänzer tanzen in Kinder nicht nur, sie sprechen, singen, erzählen Geschichten, sie kämmen sich selbst und ausgewählte Zuschauer mit Besenbürsten oder bauen eine Sandburg, setzen sich kichernd auf aufgeblasene Discounter-Plastiktüten oder fotografieren ins Publikum. Dass die Tänzerinnen und Tänzer das im Stück verwendete Material selbst kreieren und dass sie sich vielfältiger Ausdrucksformen, nicht nur des Tanzes, bedienen, charakterisiert die Arbeiten von Pina Bausch ebenso wie die Tatsache, dass viele Wuppertaler Darsteller zu Stars geworden sind, die seit Jahrzehnten mit dem Tanztheater Bauschs identifiziert werden – wie Lutz Förster, Ensemblemitglied seit 1975, Nazareth Panadero, die seit 1979 dabei ist, oder Dominique Mercy, der zeitgleich mit Bausch, 1973, in Wuppertal begann. Als wie originell, einmalig und individuell die Arbeitsweise des Ensembles und die künstlerische Praxis der Wuppertaler im Vergleich zu anderen zeitgenössischen Kompanien wahrgenommen wurden, davon zeugen auch zwei Dokumentarfilme aus dem Jahr 1983, die den Blick
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explizit auf die Generierung der Stücke, also den Arbeitsprozess, richten. Klaus Wildenhahn blickt in Was tun Pina Bausch und ihre Tänzer in Wuppertal?1 wie ein Ethnologe auf eine besondere Spezies. Sein Akzent liegt auf dem »tun«. Wie sieht ihr Arbeitsalltag aus? Was tun Pina Bausch und ihre Tänzer in Wuppertal? »Tun« ist hier verstanden im Sinne von »machen«, auch in der ideologischen Färbung von »arbeiten«, »leisten«. Dass dies in Wuppertal passiert, spielt eine wesentliche Rolle im Film – wie es auch für Pina Bausch immer wichtig war, dort zu arbeiten und im Probenraum im ersten Stock des ehemaligen Kinos Lichtburg in Barmen ihren Tänzerinnen und Tänzern Fragen zu stellen. Bauschs Fragemodus wurde als so zentral für ihre Arbeit begriffen, dass ihn die belgische Regisseurin Chantal Akerman in den Titel ihres Films setzte: »Un jour Pina a demandé …« 2 . Obwohl Rollen, Parts so eng mit einzelnen Akteuren identifiziert werden, gab es im Tanztheater Wuppertal – im ›Tanztheater Wuppertal Pina Bausch‹, wie es heute heißt – dabei schon immer und nicht selten Wechsel in der Besetzung.
Originalbesetzung und Umbesetzungen Erkrankte, verletzte Tänzer und Tänzerinnen mussten fallweise für Aufführungen ersetzt werden. Auf Tournee ging das Ensemble immer mit mehr Mitgliedern, als das Stück erforderte, um die Möglichkeit zu haben, 1 | Klaus Wildenhahn (Drehbuch, Ton, Sprecher, Regie): Was tun Pina Bausch und ihre Tänzer in Wuppertal?, Kamera: Wolfgang Jost, Schnitt: Petra Arciszewski, 120 Min., Produktion: NDR und WDR, 1982/1983. 2 | Chantal Akerman (Buch, Regie): Un jour Pina a demandé… [Reihentitel: Repères sur la Modern Dance. Pina Bausch]; Kamera: Babette Mangolte, Luc Benhamou; 57 Min.; Produktion: Alain Plagne, Unité de Programmes Jean Michel Meurice – INA, A2, RM Arts, RTBF, BRT, 1983. (im Netz: http://derives.tv/un-jourpina-m-a-demande/ und www.ina.fr/video/CPB83053483 vom 01.11.2017). Als kanonisch gewordenes Beispiel für die Genese einer Szene kann das GebärdenSolo von Lutz Förster in Nelken zu dem Song The Man I Love gesehen werden. In Akermans Film erläutert Lutz Förster, wie es zu diesem Solo kam: Er wurde während der Probe von Pina Bausch gefragt, auf was er besonders stolz sei, und er antwortete, darauf, dieses Lied in Gebärdensprache gelernt zu haben, und buchstabierte es. Er demonstriert den Tanz erst in der Garderobe, später sieht man das Solo in einer Aufführungssituation.
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im Notfall Partien zu übernehmen, aufzuteilen oder auch mit Material aus anderen Stücken zu improvisieren. Manche Tänzerinnen und Tänzer gingen vorübergehend weg, weil sie ein Engagement anderswo wahrnehmen wollten oder schwanger wurden, andere verließen das Ensemble ganz. Pina Bausch sprach bereits 19823 davon, dass sich die Kompanie »dauernd« verändere. Sie reagierte auf diese Veränderungen, indem sie Parts splittete, auf mehrere Akteure verteilte oder ganz einem Kollegen übergab. Hinzu kam, dass Pina Bausch bereits in den 1970er Jahren begonnen hatte, Wiederaufnahmen zu erarbeiten, um ihr Repertoire zu erhalten, und dann, verstärkt ab 1981, mit der Geburt ihres Sohnes, Stücke rekonstruierte, für die unter Umständen neue Besetzungen gefunden werden mussten. Im Unterschied zu diesen punktuellen Veränderungen gab es zudem Mitte der 1990er Jahre einen größeren Austausch, als eine Reihe älterer Tänzerinnen und Tänzer ausschied und eine Reihe jüngerer nachrückte.4 Auch übertrug sie Stücke auf andere Ensembles wie die beiden 1975 entstandenen Werke Le Sacre du printemps5 und Orpheus und Eurydike 6 an das Ballett der Pariser Oper 1997 und 2005, oder bei den Einstudierungen von Kontakthof, das 1978 uraufgeführt wurde, an Da-
3 | Pina Bausch: »Die Dinge, die wir für uns selbst entdecken, sind das Wichtigste«. Gespräch mit Jochen Schmidt, 21. April 1982, in: O-Ton Pina Bausch. Interviews und Reden, hg. von Stefan Koldehoff und der Pina Bausch Foundation, Wädenswil: Nimbus 2016 (= Pina Bausch Editions 01), S. 67-71, hier S. 71. 4 | Vgl. Pina Bausch: »[Dass man wieder Lust hat, das Leben anzupacken]«. Interview mit Norbert Servos, September 1998, in: O-Ton Pina Bausch 2016 (wie Anm. 3), S. 197-203, hier S. 198-200, sowie die Vorbemerkung der Herausgeber, ebd. S. 196. 5 | Le Sacre du printemps wurde im Rahmen eines dreiteiligen Abends »Frühlingsopfer« am 3. 12. 1975 im Opernhaus Wuppertal uraufgeführt. 6 | Orpheus und Eurydike wurde am 23. 5. 1975 im Opernhaus Wuppertal uraufgeführt.
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men und Herren ab ›65‹ 7 im Jahr 2000 und an Teenager ab ›14‹ 8 2008. Hier wurden zum einen durchchoreographierte und, was ihre Genese betrifft, vergleichsweise traditionelle Stücke an ein internationales Spitzenensemble vergeben (im Fall von Sacre und Orpheus), beziehungsweise die beiden Kontakthof-Versionen als Tanztheater-Community-Projekte durchgeführt. Ebenfalls zu unterscheiden von einer Übertragung wie der von Kinder ist die Rekonstruktion des Tannhäuser-»Bacchanals« von 1972, das Pina Bausch noch vor ihrem Antritt in Wuppertal dort als Gast choreographiert hatte, und das zweimal, 2004 und 2013, rekonstruiert wurde.9 Zwar sind bestimmte Parts mit bestimmten Menschen verbunden. Das aber heißt nicht, dass sie deswegen notwendigerweise autobiographisch sind oder generell von dem Interpreten entwickelt wurden, der den Part tanzt. Material wurde auch überarbeitet, anderen Parts hinzugefügt, von Kollegen übernommen. Dabei stellte sich heraus, dass es graduelle Abstufungen gab hinsichtlich der Frage, was leichter und was schwieriger umzubesetzen war. Pina Bausch sagt dazu: »Natürlich ist es manchmal sehr schwierig, das Stück umzubesetzen oder es dauert länger, bis es sich entwickelt, daß es wieder schön rund wird. Manchmal geht es ganz schnell, und manchmal ist es viel besser hinterher. Viele Sachen sind viel besser geworden, auch durch Umbesetzungen. Da gibt es gar kein Rezept. 7 | Kontakthof wurde am 9. 12. 1978 im Opernhaus Wuppertal uraufgeführt. – Die Uraufführung mit den Senioren fand am 25. 2. 2001 im Schauspielhaus Wuppertal statt, siehe: Kontakthof with Ladies and Gentleman over »65«/mit Damen und Herren ab »65«/avec des dames et messieurs au-dessus de »65« ans/con signore e signori oltre »65« anni. A piece by/Ein Stück von/Une pièce de/Un pezzo di Pina Bausch [Buch mit DVD], Paris: L’Arche Éditeur 2007. Film: Deutschland 2001, 149 Min., Regie: Pina Bausch, Kamera: Olaf Klein, Detlev Erler, Andreas Fiegel, Schnitt: Peter Przygodda. 8 | Kontakthof. Mit Teenagern ab ›14‹. Die Uraufführung fand am 7. 11. 2007 im Schauspielhaus Wuppertal statt. Siehe auch: Tanzträume. Jugendliche tanzen Kontakthof von Pina Bausch. Ein Dokumentarfilm von Anne Linsel und Rainer Hoffmann. Deutschland 2009, 89 Minuten, Buch und Regie: Anne Linsel, Kamera: Rainer Hoffmann, Schnitt: Mike Schlömer. 9 | Vgl. Stephan Brinkmann: »Rekonstruktion als schöpferischer Prozess. Das Tannhäuser-Bacchanal von Pina Bausch 1972 – 2004 – 2013. Ein Probenbericht«, in: Tanz erben. Pina lädt ein. Hg. von Marc Wagenbach und der Pina Bausch Foundation, Bielefeld: transcript 2014, S. 85-95.
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Manche Dinge habe ich noch gar nicht gewagt umzubesetzen. Da würde sich dann erst mal das Stück erübrigen.«10 Nach dem Tod von Pina Bausch 2009 stellte sich die Frage nach dem Erhalt des Repertoires neu. Diskutiert wurde sie im Kontext des kulturellen Erbes, einem Diskurs, der im Feld von Performance Art, Theater und Tanz vor allem seit 2000 als rege Debatte um Reenactments geführt wurde. 2003 wurde das »Übereinkommen zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes« in der UNESCO-Generalkonferenz verabschiedet, das drei Jahre später in Kraft trat. Das gestiegene Bewusstsein für die Bedeutung immaterieller kultureller Ausdrucksformen, für ein spezifisches Wissen, für »Repertoires«11 manifestierte sich in der Initiative der UNESCO wie auch im 2011 aufgelegten ›Tanzfonds Erbe‹, der auf Initiative der Kulturstiftung des Bundes Projekte fördert, die sich mit dem deutschen Tanzerbe auseinandersetzen. Der Tod von Pina Bausch (und der von Merce Cunningham im selben Jahr) intensivierte zudem die Auseinandersetzung um die Pflege und die Möglichkeiten des Erhalts choreographischen Erbes. Im Fall von Bausch gründete ihr Sohn Salomon im Sommer 2009 die Pina Bausch Foundation. Die »Transmission« von Für die Kinder von gestern, heute und morgen ist als ein Projekt der Pina Bausch Foundation auf deren Website aufgeführt und als eine Strategie der Erbepflege expliziert.12 Der relevante zweite, etwas ältere Diskurs speist sich aus dem translational turn, der sich im Tanzbereich spätestens mit dem Tanzkongress 2013 etablierte, dessen Motto Bewegungen übersetzen – Performing Translations lautete. Hier stellte auch Gabriele Klein ihr DFG-Forschungsprojekt ›Praktiken des Übersetzens im Werk von Pina Bausch und dem Tanztheater Wuppertal‹ vor13. Klein entwickelt ihren Zugang der »Praxeologie des Übersetzens«14, worunter sie »Praktiken des Übersetzens von Bewegung […] als ein Bündel körperlicher und mentaler Aktivitäten [versteht], wobei 10 | Pina Bausch im Interview mit Norbert Servos, 1998 (wie Anm. 4), S. 200. 11 | Vgl. Diana Taylor: The Archive and the Repertoire. Performing Cultural Memory in the Americas, Durham und London: Duke University Press 2003. 12 | www.pinabausch.org/de/projekte/transmission-muenchen vom 4.5.2017. 13 | Vgl. auch Gabriele Klein: »Praktiken des Übersetzens im Werk von Pina Bausch und dem Tanztheater Wuppertal«, in: Tanz erben, 2014 (wie Anm. 9), S. 25-38. 14 | Ebd. S. 31.
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das Mentale in Praktiken registriert, ratifiziert, bestätigt und beobachtbar wird«15. Übersetzungen als »Akte des Aushandelns«16 zu begreifen, erlaubt es, auch die Weitergabe von Stücken unter diesem Aspekt zu sehen. Nicht als Transfer, nicht als Rekonstruktion eines »Originals«, sondern immer als dynamischer, brüchiger, fragiler Prozess. Schon Jurij M. Lotman wies darauf hin, dass jeder kommunikative Akt eine »Translation«, ein »Re-encoding«17 darstelle, und dass es dabei qualitativ um eine Übersetzung des Unübersetzbaren gehe: »je schwieriger und inadäquater die Übersetzung eines sich nicht überschneidenden Raums in die Sprache des anderen ist, desto wertvoller wird die Tatsache dieser paradoxen Kommunikation in informativer und sozialer Hinsicht. Man kann sagen, die Übersetzung des Nicht-Übersetzbaren ist Träger hochwertiger Information.«18. Der Dialog geht also vom prinzipiell Fragmentarischen und von der Unverständlichkeit von Sprachen, Codes und Einstellungen aus. Diese wechselseitige Differenz wiederum macht kulturelle Kommunikation erst produktiv, da sie sich andernfalls in der Repetition des Gleichen erschöpfen würde. Bei Lotman ist auch bereits die Ambivalenz der Grenze, die im Diskurs des translational turn zentral ist, beschrieben; er nennt die Grenze einen »Übersetzungsmechanismus« und eine »filternde Membran«, die umformt, was von außen kommt, indem sie »die fremden Texte so stark transformiert, dass sie sich in die interne Semiotik der Semiosphäre einfügen, ohne doch ihre Fremdartigkeit zu verlieren«.19 Dieses Konzept ist zugleich dynamisch, weil es notwendigerweise zu einem permanenten 15 | Ebd. 16 | Ebd. S. 33. 17 | Jurij M. Lotman: »The Sign Mechanism of Culture«, in: Semiotica 12 (1974), S. 301-305, hier S. 302. 18 | Jurij M. Lotman: Kultur und Explosion [russ. O. 2000]. Aus d. Russ. von Dorothea Trottenberg. Hg. u. mit e. Nachw. von Susi K. Frank, Cornelia Ruhe und Alexander Schmitz, Berlin: Suhrkamp 2010, S. 13. Lotmans Kommunikationsmodell abgegrenzter oder sich partiell überschneidender Räume/Mengen gilt für Sprecher, Sprachen/Codes, Kulturen. 19 | Juri M. Lotman: Die Innenwelt des Denkens. Eine semiotische Theorie der Kultur [russ. O. 2000]. Aus d. Russ. von Gabriele Leupold und Olga Radetzkaja. Hg. und mit e. Nachw. von Susi K. Frank, Cornelia Ruhe und Alexander Schmitz, Berlin: Suhrkamp 2010 (= stw; 1944), S. 182.
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Austausch, zu einer Adaption diesseits und jenseits kultureller Grenzen führt. Bezieht man Lotmans Gedanken auf die Arbeit an Kinder, dann lassen sich Kontaktzonen untersuchen, die sich bei Aneignungsprozessen ergeben.
Die Tradierung in München In München wurde zunächst im Format von Workshops gearbeitet. Der erste fand im Dezember 2014 statt, an dem sehr viele der fast 70 Münchner Tänzerinnen und Tänzer teilnahmen. Dem folgte ein zweiter Workshop zu Beginn des Jahres 2015. In beiden wurden Teile der Choreographie von Wuppertaler Tänzerinnen und Tänzern gezeigt und von den Münchnern gelernt. Die eigentlichen Proben schlossen sich einer Casting-Phase an, nach der etwa 30 Tänzerinnen und Tänzer dabeiblieben. Geprobt wurde in mehreren Blöcken von rund 14 Tagen, an denen teilweise in bis zu drei Räumen gleichzeitig gearbeitet werden konnte; der normale Betrieb des Bayerischen Staatsballetts (mit anderen Proben und Aufführungen anderer Stücke) lief parallel weiter.20 Das Leitungsteam der Einstudierung bestand aus drei Mitgliedern der Wuppertaler Kompanie: Ruth Amarante hatte das Stück bei der Uraufführung nicht getanzt; Daphnis Kokkinos war damals der choreographische Assistent von Bausch gewesen, Azusa Seyama im Cast der Uraufführung. Alle 14 Tänzerinnen und Tänzer der Uraufführung21 reisten nach München an, um ihre Partien an die Münchner (meist zwei bis drei Tänzer pro Rolle) weiterzugeben. Die Besetzung entschied sich vergleichsweise spät, wurde auf 16 Tänzerinnen und Tänzer (wie in der Version, die von den Wuppertalern zuletzt 2015 in 20 | Den Prozess der Einstudierung begleitete ich zusammen mit Studentinnen (Domenica Ewald, Anja Fetzer, Anne Ördögh, Katharina Pößnecker, Ina Rudolf, Leonie Thies, Mengfan Wang) des Instituts für Theaterwissenschaft der LudwigsMaximilians-Universität München. »780 Stunden Arbeit ohne Pina Bausch« resümierte ein Mitglied des Dokumentationsteams (Andrea Lerchl) den Prozess: das macht rund 97 achtstündige Arbeitstage oder knapp 20 40-Stunden-Wochen Arbeit an einem Werk von Pina Bausch ohne Pina Bausch. 21 | Besetzung der Uraufführung: Rainer Behr, Alexandre Castres, Lutz Förster, Ditta Miranda Jasjfi, Melanie Maurin, Dominique Mercy, Pascal Merighi, Nazareth Panadero, Helena Pikon, Fabien Prioville, Azusa Seyama, Julie Anne Stanzak, Fernando Suels Mendoza, Kenji Takagi.
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Paris gezeigt wurde) erweitert und doppelt besetzt.22 Dabei wurde in der Regel nie eine Besetzung komplett ausgetauscht, sondern einzelne Rollen wurden gewechselt. Die Premiere fand am 3. April 2016 im Münchner Nationaltheater statt.
Aushandlungsprozesse: »Re-Tracking« Für die Kinder von heute, gestern und morgen, uraufgeführt am 25. April 2002 in Wuppertal, war zuletzt 2015 für ein Gastspiel in Paris wiederaufgenommen worden; dabei hatten Daphnis Kokkinos, der auch in München im Leitungsteam war, und Robert Sturm die Probenleitung und Mitarbeit an der Wiederaufnahme inne. Diese Fassung für 16 Tänzerinnen und Tänzer, an der immerhin noch elf Tänzerinnen und Tänzer der Uraufführung beteiligt waren, bildete jedoch nicht die Vorlage, mit der in München gearbeitet wurde. Für diese Einstudierung nutzte man ein aufwendiges Verfahren, das ich als ›Re-Tracking‹ bezeichne: Jedes Mitglied des Leitungsteams, das sämtliche Bewegungen, also das ganze Stück, gelernt hatte, speiste seine Vorstellungen von der Ausführung einer Bewegung in den Aushandlungsprozess ein, dessen Resultat dann zunächst eine Synthese der individuellen Vorstellungen war, die einmal als »Ideal« bezeichnet wurde.23 Diese ›Ideal‹-Fassung, ein Konstrukt, glich man mit einer Videoaufnahme des Stücks von 2005 ab, einer Videofassung, die wohl aus dem Venedig-Gastspiel im selben Jahr stammt und auf die man sich als adäquate Version geeinigt hatte (und die um andere, von 2007 und 2014, ergänzt wurde). Diese Videofassung gab den Referenzrahmen für die Entscheidungen, die Timing, Wege, Aufstellungen der Tänzer und Abläufe betrafen. Die zu den Proben nach München angereisten 14 Tänzerinnen und Tänzer der Uraufführung gaben ihre Parts persönlich an das Ensemble des Bayerischen Staatsballetts weiter. Sie arbeiteten mit ihrem Kör22 | Besetzung München: Ivy Amista, Joana de Andrade, Sophia Carolina Fernandes, Séverine Ferrolier, Lisa Gareis, Marta Navarrete Villalba, Mia Rudic, Daria Sukhorukova, Alexa Tuzil, Zuzana Zahradníková, Jonah Cook, Matteo Dilaghi, Léonard Engel, Norbert Graf, Dustin Klein, Nicholas Losada, Erik Murzagaliyev, Gianmarco Romano, Ilia Sarkisov, Nicola Strada, Robin Strona, Shawn Throop, Matej Urban. 23 | Ruth Amarante in der Probe am 25. Februar 2016.
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per- und Bewegungsgedächtnis, mit eigenen Aufzeichnungen und mit Videos ihrer eigenen Tänze, die sie für besonders gelungen hielten, vor allem auch mit der Erinnerung an ihre Quellen, nämlich den Prozess der Genese ihres Parts. Zudem gab es das Regiebuch der Uraufführung von Daphnis Kokkinos. Zu den Bühnenproben reisten weitere Wuppertaler Künstler an, die wiederum ihre Sicht der Dinge zur Diskussion stellten. So entstand eine aktualisierte Version von Kinder, die als temporäre Multiprojektion bezeichnet werden kann. Ähnlich gingen Stephan Brinkmann und Barbara Kaufmann 2004 – also noch zu Lebzeiten Bauschs – bei der Rekonstruktion des Tannhäuser-»Bacchanals« (1972) vor, das durch solche multiperspektivische Arbeit wiederbelebt wurde: »In einer späteren Phase des Entschlüsselns und Puzzelns sei dann Pina Bausch dazu gestoßen«, so Brinkmann, »Bewegungen zeigend und musikalisch Hilfestellung gebend, immer mit dem Kommentar: ›Das kenn’ ich‹ und ›Das kenn’ ich nicht.‹ Ein drittes Video, erinnert sich Barbara Kaufmann schmunzelnd, habe Pina Bausch damals dann auch noch aus der Tasche gezogen. Im Tun habe sich Pina Bausch an ihre Bewegungen erinnert und dann vor allem Details mit den Tänzern geklärt.«24 Diese Möglichkeit gibt es seit 2009 nicht mehr, und wer den Film kennt, in dem Pina Bausch für eine Umbesetzung des Opfers in ihrem Sacre probt 25, kann ermessen, was Detailarbeit für Pina Bausch bedeutete. Diese Autorität zu übernehmen, ist neu für die Wuppertaler; die Art und Weise, Übergaben von Mitgliedern des Ensembles vorzubereiten, die dann von Pina Bausch autorisiert wurden, hingegen war ihnen eine vertraute Praxis. Dass die Rolle von dem Tänzer, der sie geprägt hat, an den nächsten weitergegeben wurde, galt Pina Bausch als bewährtes Mittel.26 24 | Brinkmann 2014 (wie Anm. 9), S. 86. 25 | Une répétition du Sacre/Probe Sacre/Sacre rehearsal. Un document de/Ein Probendokument von/A Document by Pina Bausch [DVD mit Buch], Paris: L’Arche Éditeur 2013. Film: Frankreich 1992, 45:55 Min., Kamera: Detlev Erler, Produktionsleitung: Herbert Rach. 26 | Pina Bausch: »Man weiß gar nicht, wo die Phantasie einen hintreibt«. Gespräch mit Jean-Marc Adolphe, 1. März 2006, in: O-Ton Pina Bausch 2016 (wie Anm. 3), S. 273-291, hier S. 290: »Wenn ich weiß, dass jemand weggeht, versuche ich natürlich, dass die Person, die weggeht [sic!] das Stück auf die neue Person überträgt. Das ist der ideale Zustand. Dass sie die Rolle mit den anderen zusam-
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Vergleicht man Fotos und Filmaufnahmen von Wuppertaler und Münchner Kinder-Inszenierungen, dann lässt sich unschwer erkennen, dass phänotypische Ähnlichkeit (Größe, heller oder dunklerer Typ) und Sprachzugehörigkeit (spanischer Akzent) wichtige Referenzpunkte für die Besetzung gewesen sind, denen Aspekte wie Alter (ein markantes Merkmal der in dieser Hinsicht heterogenen Wuppertaler Kompanie) untergeordnet wurden. Manche Tänzer lernten zunächst Parts von unterschiedlichen Wuppertaler Tänzern, was den Prozess deutlich verlängerte, aber die Möglichkeit bot, sich in unterschiedlichen Idiomen auszuprobieren, so zu lernen und dann auch zu erkennen, was einem besonders liegt.27 Das Leitungsteam unterteilte das knapp dreistündige Stück in 20 sogenannte »Bögen«, die mal mehr, mal weniger Auftritte, Tänze und Aktionen umfassten. Die Tänzer der Uraufführung arbeiteten mit einer kleinen Gruppe von Münchnern an ihren Parts. Manche legten dabei den Fokus vor allem auf die Vermittlung der Bewegung, andere erzählten sehr viel über die Genese ihres Tanzes. Einige arbeiteten mit Musik, andere ohne. Selten zählten die Tänzer die Schritte, wie sonst im Tanz sehr üblich. Gearbeitet wurde von der Mikro- auf die Makroebene, das heißt, der Fokus lag zunächst auf der Detailarbeit an einem Tanz oder einer Aktion, einer Bewegung oder Geste. Später wurden die Aktionen zu einem sogenannten Bogen kontextualisiert (in dem verschiedene Aktionen auch parallel stattfanden). Diese Bögen wurden wiederum wie in einer DNAmen lernt, bevor ich überhaupt eingreife, ist am schönsten. Manche Tänzer, die schon lange in dem Stück sind, sind auch behilflich … aber trotzdem …«. 27 | Léonard Engel erzählte bei einem Roundtable-Gespräch beim Münchner Symposium »Das hat nicht aufgehört, mein Tanzen«. Zu Rezeption und Tradierung im Werk von Pina Bausch (8./9. 4. 2016), dass er die Parts von Kenji Takagi (die er letztlich übernahm), Dominique Mercy und Pascal Merighi lernte. Von Merighi erfuhr er, wie man etwas zeigt, ohne sich zu bewegen; Mercy beeindruckte ihn mit emotionaler Wucht, und Tagaki machte ihm klar, dass es einen Unterschied macht, ob man mit 21 anfängt zu tanzen und alles groß, sportiv, aber mit physischen Grenzen macht oder wie er selbst mit acht Jahren im Reglement des klassischen Tanzes begonnen hatte: »Ich wusste nicht, wie ich das machen sollte. Es war eine neue Art, den Körper zu benutzen. So etwas Schwieriges hatte ich noch nie gemacht.«
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Kette miteinander verknüpft. Dies simulierte in etwa den Arbeitsprozess in Wuppertal bei der Kreation eines Stücks, das aus vielen Einzelteilen entstand, die in einem Editierungsprozess von Bausch zusammengefügt wurden. Bei den Soli zu beginnen, erleichterte den Probenverlauf insofern, als sich Bewegungsmotive in wechselnden Konstellationen durch das Stück ziehen und die Tänzer so im Laufe der Erarbeitung immer wieder an bereits Bekanntes anschließen konnten.
Das Originalitätspostulat In Bezug auf Repertoirebildung, Wiederaufnahmen und Umbesetzungen korrelierte Pina Bausch auf markante Weise Tradierungsmedien wie Videoaufnahmen, Neubesetzung und individuelle Gestaltung miteinander: »Wir arbeiten nicht mit Tanznotation, sondern mit Video, weil die Emotion, das Individuelle an der Gestaltung im Tanz, für uns wichtig ist. So lasse ich auch zu, dass sich die Stücke verändern, wenn wir sie wiederaufnehmen. Und gerade das ist wiederum ein wichtiger Prozess.«28 Interessant an dieser Antwort ist auch, worauf sie nicht antwortet, denn der zweite Teil der Frage der Interviewerin lautete: »was ist [sic!] Authentizität eines Stücks?«29 Man könnte diese Frage vielleicht so beantworten: Das kommt darauf an. Texte wurden – im Fall von Kinder in München – wie Rollentexte behandelt, die eine feste musikalisch-rhythmische Struktur haben und so übernommen wurden, mit allen Fehlern, Modulationen, inhaltlichen Widersprüchlichkeiten. Da erzählt dann der junge italienische Tänzer von seiner Kindheit im Ruhrgebiet zur Zeit der D-Mark. Originalität, Individualität waren dennoch gefordert. Eine direkte Kopie war nicht erwünscht. Verbal triggerten die Wuppertaler bei der Übergabe ihrer Parts Zugangsweisen mit Sätzen wie »Stell dir vor …«, »Das ist wie …«, »Denk an …«, die sich sowohl auf Erlebnisse als auch auf den Charakter einer Bewegung beziehen konnten, Kontaktzonen herstellten und einen individuellen Zugriff auf den Part ermöglichen sollten. Als der Münchner Tänzer Léonard Engel in einem Film eine Bewegung zeigte und gefragt wurde, welche Art von Emotion in einem Tanz 28 | Pina Bausch: »Lust tanken«. [Gespräch mit] Esther Sutter, September 2003, in: O-Ton Pina Bausch 2016 (wie Anm. 3), S. 249-251, hier S. 251. 29 | Ebd.
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zum Ausdruck komme, antwortete er, diese Bewegung sei »nicht dramatisch, aber vom Gefühl kommend«.30 Nachgefragt, »welches Gefühl« hier gezeigt werde oder beteiligt sei, antwortet er: »[…] jeder hat seine einzige Geschichte, glaube ich.«31 Untertitelt man diese Äußerung des Franzosen durch eine ›Übersetzung‹ in konventionelles Deutsch, lautet die Proposition »jeder hat seine eigene Geschichte«. Das ganz und gar Individuelle wäre zugleich also das Allgemeine, alle jeweils für sich Charakterisierende. Engel spricht nicht von seinem eigenen Gefühl bei dieser Bewegung, wählt keine aus dem sprachlich möglichen Paradigma von Charakterisierungen. Ex negativo charakterisiert er die Bewegung als nicht konventionell-expressiv im Sinne eines traditionellen theatralen Zeichen- und Qualitätenrepertoires. Bezogen auf die Bewegung wiederum heißt das, sie verdanke sich ebenjener Individualität des Tänzers und seiner eigenen Geschichte. Mögen nun auch im klassischen Tanz und anderen Formen Einfühlung und Ausdruck bei der Ausübung und Einstudierung von Bewegungen beteiligt sein, so passt diese Proposition doch in den Kontext von Ausdruckstanz und speziell in den Kontext des Tanztheaters Wuppertal. Dort ging es allerdings darum, Bewegungen und Aktionen zu finden, als Antwort auf eine sprachliche, Qualitäten, Reflexionen und Emotionen evozierende Trigger-Frage. Die jeweils ›eigene Geschichte‹ wird auch als Teil der Gesamtkomposition des Stücks oder in Fragen zum Ensemble als eine der grundlegenden Charakterisierungen zum Bausch’schen Tanztheater relevant. Und damit die Frage, welche Funktionen die ›eigene Geschichte‹ im Repertoire, bei Übergaben und bei der Übertragung auf ein anderes Ensemble übernimmt. Indem Engel nicht von der individuellen Qualität der Bewegung spricht, nicht sein eigenes Gefühl dabei charakterisiert, nicht von seinen persönlichen Erfahrungen bei der Übergabe und seinem eigenen Lern-/Erfahrungsprozess, berichtet er nicht über den Prozess der Aneignung. Stattdessen fügt er sich mit seiner Äußerung (vor der Premiere) umstandslos in den Bausch-Kosmos ein.
30 | Darauf referiert auch Stephan Brinkmann 2014 (wie Anm. 9), vgl. S. 91. 31 | Angelika Kellhammer: Erstmals mit dem Bayerischen Staatsballett, [Vorbericht im Rahmen der Sendereihe] Capriccio, BR Fernsehen, 31. 3. 2016, 22 Uhr, 5 Min., zitierte Passage Min. 00:59-01:18, www.ardmediathek.de/tv/Cap riccio/Erstmals-mit-dem-Bayerischen-Staatsballe/BR-Fernsehen/Video?bcas tId=14913352&documentId=34426716 vom 17. 11. 2016.
Für heute, morgen und übermorgen
Wie viel Individualität zugelassen wird, diese Frage wird dabei übersprungen beziehungsweise nicht gestellt. Das Individuelle ergibt sich, so scheint mir, in einem Prozess, den Tim Ingold als »intimate coupling of perception and action«32 bezeichnet. Dies führe zu »fine-tuning or ›sensory correction‹«33, die eine »›workmanship of risk‹«34 etabliere. Das Individuelle, das gefordert wird, stellt sich über die Bewegungsform und das Gefühl, das sie evoziert, her, und manifestiert sich in der eigenen Geschichte, die zu dem Part generiert wird. Dabei mussten die Tänzer des Bayerischen Staatsballetts im Kontakt mit ihrer Bezugsperson (dem Wuppertaler Solisten) aus sich selbst schöpfen und aus der Kontaktzone an der Peripherie beider Organisationen, die während der Proben entstanden war, um permanent ihr Feintuning voranzutreiben.35 Im Unterschied dazu waren die Wuppertaler Tänzer bei Übergaben nicht nur mit der Arbeitsweise vertraut, sondern konnten auch aus der Form eines Parts (während des Erlernens) auf dessen höchst individuellen Aspekt schließen. Dies illustriert ein Beispiel der Tänzerin Anne Martin, die von Pina Bausch während deren Schwangerschaft ihren Part in Café Müller übertragen bekam. Martin habe keine »psychologischen«, sondern nur technische Anweisungen bekommen. »Und erst als ich die Form total beherrschte, habe ich verstanden, alles was [sic!] Pina in diese 32 | Ingold, Tim: Being Alive. Essays on movement, knowledge and description, London, New York: Routledge 2011, S. 58. 33 | Ebd. 34 | Ebd., S. 59. »In such workmanship the quality of the outcome depends at every moment on the care and judgement with which the task proceeds.« (S. 59) Ingold bezieht sich hier auf die Bewegung des Sägens. 35 | Im Einstudierungsprozess wurde die Erfahrung, selbst Mitkreateur des Werkes zu sein, nicht praktiziert und auch nicht simuliert (was man hätte tun können, um die Art und Weise der Arbeit nachvollziehbar zu machen). Sie wurde – nachträglich – erläutert und von einigen Tänzerinnen und Tänzern bei der Übergabe in Form von Erklärungen zum Charakter der Rolle oder der Erinnerung an die Frage, die zum Ausgangspunkt einer Sequenz wurde, genutzt. Sie wurde aber nicht als Praxis ausprobiert. Interessant dabei ist, dass sich das Erlebnis der Materialgenese trotzdem einstellt, wenn auch zeitlich verschoben und zu einem anderen Anlass, wie der Tänzer Léonard Engel aus dem Probenprozess mit Richard Siegal berichtet, in dem er auf der Basis der Erfahrungen im Bausch-Probenprozess Bewegungsmaterial generierte. Engel beim Roundtable-Gespräch 2016 (wie Anm. 27).
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Rolle eingeführt hatte.« Auf die Frage, ob sie das erläutern könne, habe sie gesagt, »Nein, es ist viel zu intim.« Bausch kommentierte diese Antwort: »Sie hat es [Café Müller; K. S.] oft gesehen, und sie kennt die Geschichte, und sie kennt auch Rolf Borzik [den Bühnenbildner und Lebensgefährten von Pina Bausch, der 1980 starb; K. S.] … Was soll ich da sagen. Sie weiß das alles. Ich würde nicht, was mich tief im Innern sehr bewegt, zu erzählen anfangen. Sie hat mich auch gesehen, sie weiß. Da nützt kein Wort.«36 Die für eine Übertragung relevanten Kontaktzonen zwischen den Mitgliedern des Wuppertaler Ensembles sind vorbereitet durch die gemeinsame Erfahrung langer Arbeitstage im Studio, die individuellen oder kollaborativen Explorationen, ein spezifisches Verhältnis von Wissen und Nicht-Wissen (darüber, ob und wie das entwickelte Material in das Stück genommen wird), das Vertrauen darauf, dass ein Stück entstehen wird, und den Fokus auf einen bestimmten Tanzstil. Zudem verfügen die Wuppertaler Tänzerinnen und Tänzer über höchst relevante Erfahrungen in einer Arbeitsweise, die man mit Rudi Laermans als eine Spielart der »semi-directive work relationship« beschreiben könnte (im Unterschied zur Ballettkompanie einerseits und zu tatsächlicher kollektiver Arbeit andererseits).37 Diese Erfahrungen erlauben den Tänzerinnen und Tänzern ihre Kontaktzonen – bewusst oder unbewusst – so auszugestalten, dass sie auf die Entscheidungen treffende Choreographin so genau wie möglich reagieren können.38 Das unterscheidet sowohl die Kreation in Wuppertal als auch die Übertragung von Parts innerhalb des Ensembles zu Lebzeiten von Pina Bausch fundamental von Übertragungsprozessen nach ihrem Tod. Je nach Art der verfügbaren Kontaktzonen variieren die Zugänge. Sind Studierende der Folkwang-Universität zwar nicht mit der Arbeitsweise und dem Ensemblealltag in Wuppertal vertraut, so sind sie es doch mit der Technik, die sie in ihrem Studienalltag lernen und die sie nun in choreo36 | Pina Bausch: »Man weiß gar nicht, wo die Phantasie einen hintreibt« (wie Anm. 26), S. 287. 37 | Rudi Laermans: Moving Together. Theorizing and Making Contemporary Dance, Amsterdam: Valiz 2015 (Antennae Series; 18), S. 295. 38 | Laermans beschreibt dieses Austarieren am Beispiel der Kompanie Rosas von Anne Teresa De Keersmaeker als »a reflexivly played tactical game of implicit manipulations and counter-mainpulations [unfolds] in which the choreographer is often but not always the most successful agent« (ebd., S. 299).
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graphischer Umsetzung anwenden können.39 Sie stehen nicht nur in der Tradition einer Organisation, sondern in der einer institutionellen Ästhetik40 – als solche würde ich innerhalb des Bühnentanzes das Genre des Tanztheaters begreifen –, die den Münchner Tänzerinnen und Tänzern, die allenfalls ein Stück von Pina Bausch gesehen hatten, fremd war. Das macht das Ausmaß der Herausforderung eines solchen Projektes deutlich.
Organisationen im Wandel Diese Herausforderung konnte auch deswegen angenommen werden, weil zu diesem Zeitpunkt beide Systeme – das Wuppertaler »semi-directive regime«41 und das Bayerische Staatsballett – im Wandel waren. Das Wuppertaler Tanztheater Pina Bausch, nun ohne Pina Bausch, muss sich neu ausrichten, die Pina Bausch Foundation muss einen Weg finden, wie mit externen Anfragen nach Übertragungen umzugehen ist. Der Export des internen Gebrauchs nach außen stellt die Stücke und die Arbeit in einen neuen Perspektivenzusammenhang, der die binnenkulturelle Autopoiesis in einen zwischenkulturellen Dialog bringt. Man könnte mit Lotman von einer Ordnungstransformation in der Organisation sprechen, denn mit der Schöpferin und Leiterin fehlt das organisierende Zentrum, das alle Informationen und Außenkontakte ins Wuppertaler System übersetzte. Das Bayerische Staatsballett hatte seit der Spielzeit 2013/2014 mit der Initiative ›Tanzland Deutschland‹, die im Spielplan wichtige Repräsentanten der Tanzmoderne ab 1900 zeigen sollte, eine Richtung eingeschlagen, der mit einem prototypischen Stück Tanztheater noch der Schlussstein fehlte, der in der letzten Spielzeit der Ägide Liška gesetzt werden konnte. Damit wurde die Kernkompetenz des Bayerischen Staatsballetts (klassisches und modernes Ballett) erweitert und es machte die 39 | Vgl. Brinkmann 2014 (wie Anm. 9), S. 89. 40 | Ich referiere hier auf das von Christopher Balme am Institut für Theaterwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität gegründete Forschungszentrum Institutionelle Ästhetik (INAES) und dessen Sprachgebrauch. Demnach sind Kompanien und Theater »Organisationen«, »Institutionen« werden verstanden als Regeln einer Gesellschaft (vgl. Douglass C. North: Institutionen, institutioneller Wandel und Wirtschaftsleistung, Tübingen: Mohr 1992, S. 5). 41 | Laermans 2015 (wie Anm. 37), S. 295.
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Kompanie zu einem Repräsentanten einer gesamten Tanzmoderne von Duncan bis Forsythe. Begreift man Ballett einerseits und Tanztheater als divergente institutionelle Ästhetiken, wie es hier geschieht, dann führte Ivan Liška, von 1998 bis zur Spielzeit 2015/16 Ballettdirektor beim Bayerischen Staatsballett, einen zweifachen Wandel herbei: zum einen den der Kompanie, also der Organisation, zum andern den ihres institutionellen Rahmens. Mehr als einhundert Jahre nach der Sezession des modernen Tanzes vom klassischen Tanz konnte ein Ballettensemble eine zur eigenen Ästhetik als oppositionell markierte ästhetische Praxis reintegrieren und damit einen temporären institutionellen Wandel initiieren.42
42 | Mit der Reetablierung einer reinen Ballettkompanie stoppte der seit 2016 amtierende Ballettdirektor Igor Zelensky diese Entwicklung.
Hören und Sehen in unvertrauten Zusammenhängen Reflexionen über das junge Format der ›Briefmarkenopern‹ Tobias Eduard Schick Das Wort ›Briefmarkenoper‹ besteht aus einem metaphorisch eindrücklichen Gegensatzpaar, assoziiert man doch mit dem Begriff der Oper gemeinhin eher Großformatiges, Ausladendes, Monumentales – dramatische Handlungen, lang ausgedehnte Abende in großen Opernhäusern, opulente Orchestersätze und schwere Gesangspartien. Die Briefmarke hingegen ist das Symbol des Winzigen, Miniaturhaften. Bilder oder Portraits werden in der Regel nie in kleinerem Format als auf Briefmarken dargestellt. Mit dem Wort ›Briefmarkenoper‹ lassen sich also miniaturhafte Musiktheaterwerke assoziieren, und es verwundert nicht, dass der Begriff aufgrund seiner suggestiven Leuchtkraft in kurzer Zeit zum Label der kleinformatigen Musiktheaterarbeiten aus der Kompositionsklasse von Manos Tsangaris an der Hochschule für Musik in Dresden avanciert ist, wenngleich der Begriff der ›Oper‹ in diesem Zusammenhang bewusst weit gefasst ist oder sogar irrezuführen vermag, handelt es sich doch bei den ›Briefmarkenopern‹ meistens viel eher um im weiteren Sinne szenische, performative oder konzeptuelle Arbeiten. Im Januar 2011 fand im Konzertsaal der Hochschule für Musik Dresden unter der Überschrift »Briefmarkenopern« der erste Abend mit solcherart Musiktheaterminiaturen statt. Das Format existiert bis heute, die vorläufig letzte Ausgabe war im Oktober 2017. In den etwa vier Jahren entstanden fast 60 Stücke aus der Feder von etwa 25 Komponistinnen und Komponisten. Manche waren mit nur einer Arbeit beteiligt, wohingegen Studierende, die lange Mitglied der Kompositionsklasse waren, vier oder fünf Stücke beisteuerten. Die meisten Abende waren thematisch ungebunden, es gibt jedoch zwei wichtige Ausnahmen: im Jahr 2013 fand in
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Kooperation mit den Landesbühnen Sachsen in Radebeul der sogenannte »Briefmarkenring« statt. Dieser bestand aus Stücken, die sich in irgendeiner Weise mit der Person oder dem Richard Wagner beschäftigten, dessen 200. Geburtstag in diesem Jahr ausgiebig begangen wurde. Im Jahr 2014 wurde die Kompositionsklasse von der Akademie der Künste Berlin eingeladen, sich mit thematischen Beiträgen an der mehrmonatigen Veranstaltungsreihe »Schwindel der Wirklichkeit« zu beteiligen. Anfang Dezember 2014 fanden in diesem Rahmen in Berlin drei Abende unter dem Titel »AURA-FALLEN. Ein Mini-Festival zum Thema (An-)Ästhetik in der Musik« statt, an denen neben den Studierenden eine Reihe namhafter Künstler und Wissenschaftler beteiligt waren, so der Schriftsteller Marcel Beyer, der Philosoph Wolfgang Welsch, die Künstlerin Jacqueline Merz, die Pianistin Pi-hsien Chen, der Musikwissenschaftler Jörn Peter Hiekel sowie der Komponist Manos Tsangaris. Neben den Einladungen an die Akademie der Künste Berlin und der Zusammenarbeit mit den Landesbühnen Sachsen fanden auch Kooperationen mit der Sächsischen Akademie der Künste sowie mit der Hochschule der Künste Bern (Studiengang Théatre Musical) statt, in deren Rahmen es 2012 auch zu einem Gastspiel bei dem Festival »Das Theater um die Muhsiiik« in Bern kam. In diesem Beitrag soll statt einer von vorneherein zum Scheitern verurteilten Überblicksdarstellung versucht werden, eine Auswahl an Stücken zu untersuchen, die in paradigmatischer Weise spezifische szenische oder konzeptuelle Aspekte thematisieren, welche unvertraute Konstellationen von Musik, Bild und Szene entstehen lassen.1 Insbesondere die folgenden vier Merkmale stehen dabei im Zentrum der Reflexion: die Umdeutung von Rahmensetzungen, spezifische mediale Konstellationen, konzeptuelle Strategien und theatrale Situationen, die zwischen einer ästhetischen und einer semantischen Dimension oszillieren.
1 | Ich selbst war als Komponist und Mitwirkender mehrfach an den ›Briefmarkenopern‹ beteiligt. Wenn ich im Folgenden auch auf eigene Beispiele eingehe, so möchte ich versuchen, mit diesen nicht anders als mit denjenigen anderer Autoren zu verfahren, sie also weder besonders in den Vorder- noch in den Hintergrund zu stellen.
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Umdeutung von Rahmensetzungen Das Stück, mit dem die allererste Ausgabe der Briefmarkenopern im Januar 2011 eröffnet wurde, war die Oper ohne Worte, ein Gemeinschaftsprojekt von Katharina Vogt und mir selbst. Dieses Stück wurde damals aufgrund einer gemeinsamen dramaturgischen Entscheidung der gesamten Klasse an den Anfang des Abends gesetzt, bildete es doch mit seiner Grundaussage, dass alles auch anders sein könne, als man es erwarte, eine Art Motto nicht nur des Abends sondern vielleicht des Formates der ›Briefmarkenopern‹ überhaupt. Was geschieht? Zwei Musiker treten auf, setzen sich, richten sich ein. Der Dirigent erscheint, verbeugt sich, gibt den ersten Einsatz, woraufhin das Licht ausgeht. Das Publikum und die Interpreten sitzen im Dunkeln. Nach und nach sind einzelne verhaltene, geräuschhafte Klangaktionen zu hören. Erst allmählich wird es heller, die Musik strukturierter, definierter. Die Klänge werden jedoch nicht von den Musikern auf der Bühne hervorgebracht, sondern von vier Performern im Publikum, die zu Beginn nicht als solche erkennbar waren. Die Grundidee der Oper ohne Worte besteht in der möglichst umfassenden Spiegelung der Rahmenbedingungen des Konzertrituals. Das Publikum, von den äußerlich nicht von diesen zu unterscheidenden Performern vertreten, macht die Musik, während die Interpreten nur zuhören. Folgerichtig applaudieren am Ende die Musiker dem Publikum, das mit einem ›Audience-Blinder‹ auch visuell ins Rampenlicht getaucht wird. Die Umkehrung der Rahmenbedingungen macht auch vor den Instrumenten nicht halt. Während die teuren Instrumente auf der Bühne schweigen, machen die Performer Musik mit Alltagsgegenständen wie Papier, Kugelschreibern oder Reißverschlüssen sowie einfachen Instrumenten wie Melodica und Mundharmonika, wodurch eine Art akustische ›arte povera‹ entsteht. Auch in einigen anderen Briefmarkenopern haben die szenischen oder performativen Aspekte ihren Ausgangspunkt in einer kreativen Weiterspinnung oder Umdeutung von klassischen Rahmensetzungen der Instrumentalmusik. Der Titel des kurzen Konzertstücks für sieben Hände von Nicolas Kuhn (2012)2 erweckt den irreführenden Anschein, es hande2 | Das Konzertstück ist während einer Exkursion der Kompositionsklasse nach Sauen entstanden. Der im Osten Brandenburgs gelegene Gutshof Sauen ist eine Begegnungsstätte für Studierende und Lehrende der Berliner Kunsthochschulen
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le sich bei diesem im Rahmen eines Musiktheaterabends aufgeführten Stück um konzertante Musik ohne explizite szenische Komponenten. Das Stück beginnt damit, dass drei Interpreten auftreten und an einem Flügel Platz nehmen. Jeder Spieler wiederholt ein ihm zugeordnetes Pattern. Die drei Muster überlagern sich aufgrund ihrer unterschiedlichen Dauer. Bereits die drei dicht gedrängt an einem Flügel sitzenden Personen, die wie in einem Hamsterrad unablässig dasselbe spielen, lassen eine theatrale Situation entstehen. Nach einer kurzen Zeit tritt jedoch noch eine vierte Person auf, deren Körpersprache von gegensätzlicher Natur ist. Sie bewegt sich langsam, dabei eher nachlässig und unbeteiligt als wirklich träumerisch, auf das Klavier zu, hält kurz inne, beobachtet, kommt dann näher, um mit nur einer Hand in das gut geölte Getriebe hineinzugreifen. Sie spielt langsam und ametrisch ein paar Töne, während die drei sitzenden Pianisten aufgrund der Konzentration auf ihr Tun die Störung ihrer hektischen Betriebsamkeit nicht einmal registrieren. Das Konzertstück kommt mit nur wenigen Aktionsvorschriften aus, der schauspielerische Aspekt ist auf ein Minimum reduziert. Dennoch ist die visuell-performative Dimension des Stückes essenziell, ein bloßes Konzertstück ist es nicht. Es scheint, als rege insbesondere der Flügel in seiner Eigenschaft als ›Möbelstück‹, als Inbegriff der bürgerlichen Musikkultur, zu szenischen Auseinandersetzungen an. In Ausweidung von Katharina Vogt (2015) versammeln sich möglichst viele Performerinnen und Performer um einen Flügel, dessen Deckel abgenommen ist und versetzen die Saiten des Klavierinnenraums in Schwingung. Sie treten nicht gleichzeitig, sondern nacheinander auf, wodurch sich sowohl die musikalische Struktur als auch der Raum um den Flügel herum nach und nach verdichtet. Die sieben oder mehr Personen, die um einen Flügel versammelt sind, bilden jedoch nicht nur ein groteskes Bild der Überfüllung, auf dem der sonst so riesige Konzertflügel regelrecht klein wirkt, sondern die vielfache Be-
(vgl. www.stiftung-august-bier.de/index.php/stiftung/dorf-sauen/udk-sauen vom 21.04.2016). Die Studierenden der Dresdner Kompositionsklassen waren in den letzten Jahren mehrfach zu gemeinsamen Workshops mit Berliner Studierenden dorthin eingeladen. Gerade die Zwanglosigkeit und das unkonventionelle Umfeld der Workshops ließ oftmals eine befreiende Vielfalt an Ideen entstehen, die in der Folge häufig zu aufführungsreifen Musiktheaterminiaturen ausgearbeitet wurden.
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arbeitung des Flügels mit Kreditkarten lässt auch eine musikalisch spannende aufgeraute und geräuschhafte Klangtextur entstehen. Abbildung 1: Katharina Vogt, Ausweidung, Aufführung vom 04.12.2015 in der Hochschule für Musik Dresden. Foto: Marcus Lieder.
Mediale Konstellationen Nicht selten entstehen theatrale Räume durch spezifische mediale Konstellationen. In diesem Zusammenhang sei auf zwei Werke eingegangen, die im Rahmen des Projekts »AURA-FALLEN. Ein Mini-Festival zum Thema (An-)Ästhetik in der Musik« aufgeführt wurden und sich inhaltlich mit der Thematik ›Schwindel der Wirklichkeit‹ auseinandersetzen. No News Good News von Kaj Duncan David ist nicht erst für diesen Anlass entstanden, fügt sich thematisch aber gut in dessen Kontext ein. In No News Good News ist es die mediale Wirklichkeit, die schwindeln macht. Vier Performerinnen und Performer sitzen an einem schwarz abgedeckten Tisch. Sie tragen Kopfhörer und hören laut Musik. Außerdem lesen sie Zeitung, obwohl ihre Augen mit schwarzen Tüchern verbunden sind. Die Individuen sind voneinander abgeschottet. Ihre Augen und Ohren sind geschlossen, wodurch sie unempfänglich werden für das, was sich um sie herum ereignet. Obwohl die Akteure nichts voneinander wahr-
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nehmen, verhalten sie sich doch auf die gleiche Weise, was besonders ins Auge springt, wenn sie nach einiger Zeit trotz der Augenbinden synchron ihre Zeitungen umblättern. Die Situation der vier Menschen, die sich ihre je eigene akustische Wirklichkeit erschaffen, ist erkennbar von realen Situationen inspiriert, wie sie sich tagtäglich etwa in der U-Bahn ereignen. Verschiedene Menschen hören so laut Musik, dass sie selbst akustisch nichts mehr von der Umwelt wahrnehmen, und ähnlich wie in der UBahn überlagern sich auch in No News Good News die einzelnen, mit Ausschnitten aus Pop- und Rockmusik bestückten Audiotracks zu einer Collage, in der gleichwohl die einzelnen Songs noch teilweise voneinander zu unterscheiden sind. Das Lesen trotz verbundener Augen hingegen gerät zu einem eindrucksvollen Sinnbild des Nicht-Wahrhaben-Wollens, der Blindheit trotz Information. Die Menschen lesen, ohne dass damit ein Erkenntnisprozess verbunden wäre. Damit stellt No News Good News nicht zuletzt auch die Diskrepanz heraus, die so oft zwischen Wissen und Handeln besteht. Man weiß, was zu ändern wäre, verhält sich aber so, als wüsste man von nichts. Diese Strategie wird auch im weiteren Verlauf des Stückes deutlich. An einem späteren Punkt setzen die Performerinnen und Performer die Augenbinden ab, halten sich aber schon bald danach sehr plötzlich und kollektiv die Hand vor die Augen – sie ertragen den ungeschönten Blick auf die Wirklichkeit nicht. Indem das Stück alltägliche Handlungen aufgreift, verfremdet und zuspitzt, bildet es Wirklichkeit nicht ab, sondern kommentiert diese kritisch. Dem medialen Zusammenspiel von Klang und Szene kommt in diesem Zusammenhang die entscheidende Bedeutung zu, eine Verbindung zwischen dem Geschehen auf der Bühne und dem alltäglichen Leben herzustellen. No News Good News macht auf ungeschützte Weise die Hand in Hand gehende Normalität und Absurdität des alltäglichen Verhaltens deutlich. Zeitpyramide, eine Gemeinschaftsarbeit zwischen dem Komponisten Alberto Arroyo und der Videokünstlerin Nastasja Keller, ist ebenfalls im Kontext des Projekts »Schwindel der Wirklichkeit« angesiedelt und setzt sich mit dem irritierenden Phänomen des Déjà-vus auseinander, für dessen Ursachen bis heute nur Hypothesen existieren. Mit dem Begriff Déjàvu ist ein Gefühl bezeichnet, das darin besteht, eine neue Situation schon einmal erlebt, nicht jedoch geträumt zu haben.3 Das Spannungsverhält3 | Der Titel Zeitpyramide verweist auf das Buch Piramidi di tempo. Storie e teoria del déjà vu des italienischen Philosophen Remo Bodei, aus dem während des
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nis zwischen der Wahrnehmung einer momentanen Situation und der gleichzeitigen Erinnerung an ein zurückliegendes ähnliches Ereignis, das aber gar nicht stattgefunden hat, wird in Zeitpyramide durch die Konstellation eines realen Geschehens und eines nahezu deckungsgleichen Videos repräsentiert. Die realen Handlungen und das Video sind nahezu identisch, immer wieder treten jedoch geringfügige Differenzen auf. Arroyo und Keller entwickeln im Laufe des Stückes verschiedene Muster des Verhältnisses zwischen realem Geschehen und Video. In Zeitpyramide steht die virtuelle Realität des Videos für das Phänomen des Déjà-vus. Wie bei diesem die Erinnerung schon vor dem Geschehen liegt, ist auch der Film den realen Aktionen über weite Strecken zumeist ein Stück weit voraus. Das Video als dokumentarisches Medium wird vom Performer nachgeahmt, anstatt ein Abbild des realen Geschehens zu sein. Das sukzessiv-lineare Zeitkontinuum wird aufgesprengt. Aus diesem Grund sind die Lücken und Brüche, die das Phänomen des Déjà-vus entstehen lässt, nicht nur Inhalt des rezitierten Texts, sondern dieses bestimmt gleichermaßen Form und Struktur des Stückes. Ganz ähnlich wie in No News Good News dient also auch in Zeitpyramide der Auf bau einer spezifischen medialen Konstellation dazu, Struktur und Inhalt des Stückes untrennbar miteinander zu verweben.
Stückes in einer englischen Übersetzung verschiedene Ausschnitte rezitiert werden. Die irritierende oder gar erschreckende Wirkung des Déjà-vus entsteht laut Bodei dadurch, dass dieses die Vorstellung einer zeitlich linear fortschreitenden Wirklichkeit aufsprengt und somit die stabile Struktur der Weltwahrnehmung als brüchig erfahren wird (vgl. Remo Bodei: Pirámides de tiempo: historias y teoría del déjà vu, Valencia 2010, S. 19. Der diesbezügliche Ausschnitt wird auch im Stück zitiert. Weitere rezitierte Texte entstammen außerdem der Aphorismensammlung Zibaldone di pensieri des italienischen Dichters und Essayisten Giacomo Leopardi [1798-1837]).
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Abbildung 2: Alberto Arroyo/Nastasja Keller, Zeitpyramide. Aufführung vom 03.12.2014 in der Akademie der Künste Berlin. Videostill.
Konzeptuelle Strategien Immer wieder gab es im Rahmen der Briefmarkenopern Ansätze, die sich als konzeptuell beschreiben lassen, insofern in ihnen gedankliche Momente eine herausragende Rolle spielen.4 Eine wesentliche Strategie in Stellenwert für Plattenglocke solo (2014) von Nicolas Kuhn etwa ist es, Objekte, die verschiedene oder gar gegensätzliche semantische Konnotationen aufweisen, miteinander in Beziehung zu setzen, mit dem Ziel, die semantische Aura, die dem Instrument Plattenglocke gleichermaßen aufgrund seiner Klangstruktur wie seiner Verwendung in der Musikgeschichte innewohnt, kritisch zu reflektieren. Ähnlich wie der des Tamtams ist auch der Klang der Plattenglocke hochgradig affektiv besetzt, noch bevor der Komponist zu schreiben begonnen hat.5 Die Reichhaltigkeit des disharmonischen, bereits in sich komplexen Frequenzspektrums verleiht dem Klang eine magische, beinahe sakrale Aura, zu der auch die spezifische Objekthaftigkeit der massiven, golden schimmernden Metall4 | Vgl. Helga de la Motte-Haber: »Konzeptkunst«, in: Conceptualisms in Musik, Kunst und Film, hg. von Christoph Metzger, Saarbrücken: Pfau, 2003, S. 23-29. 5 | Vgl. dazu Helmut Lachenmann: »Zum Problem des Strukturalismus«, in: Musik als existentielle Erfahrung. Schriften 1966-1995, hg. von Josef Häusler, Wiesbaden: Breitkopf & Härtel, 2004, S. 83-92.
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platte beitragen mag und deren Erhabenheit insbesondere im dynamischen Forte zum Pathetischen tendiert. Diese semantische Aufladung wird in Stellenwert nicht einfach benutzt, sondern kritisch reflektiert und teilweise konterkariert. Stellenwert besteht aus drei klar voneinander abgrenzbaren Teilen. Im ersten Abschnitt wird die Glocke in relativ großen Abständen immer wieder mit einem Glockenhammer angeschlagen. Die einzelnen Impulse sind meist stark gedämpft. Im zweiten Abschnitt wird die Glocke mit einem Seifenblasenspender in weitgehend regelmäßigen Achteln umrundet, während der dritte Teil wiederum von Einzelimpulsen geprägt ist, die allerdings immer mit unterschiedlichen Gegenständen ausgeführt werden. Das Stück beginnt mit einem Piano-Schlag des Glockenhammers in die Mitte der Glocke. Diese ist stark durch die Hände und den Körper des Interpreten abgedämpft, sodass nur ein kurzer Impuls erklingt. Die Aktion erfolgt auf dem zweiten Viertel eines Fünf-Viertel-Takts und erklingt insgesamt elf Mal nacheinander. Das Stück soll in »mäßige[m] Tempo« gespielt werden, sodass also etwa alle fünf Sekunden ein neuer Impuls erklingt. Der Anfang des Stücks ist von radikaler Reduktion gekennzeichnet. Der einzelne Glockenschlag ist soweit als irgend möglich abgedämpft, sodass nur ein kurzer, wenig charakteristischer Metallklang ertönt. Durch ihre mechanische Wiederholung implizieren die einzelnen Aktionen keinerlei formale Fortschreitung. Diese Reduktion aufs Elementare bewirkt jedoch eine Fokussierung. Da strukturell nichts passiert, was die Aufmerksamkeit ablenken würde, ist es möglich, die einzelnen Klänge wie unter einem Mikroskop genau zu beobachten und die minimalen Differenzen zu registrieren, die sie aufweisen. Denn obwohl die elf Schläge genau gleich notiert sind, kann ein Interpret diese doch nie auf ganz identische Weise spielen.6 Nach dem elften Schlag ist die Pause plötzlich um ein Viertel reduziert. Der nächste Schlag erfolgt auf den Volltakt, 6 | Eine ganz ähnliche Strategie, durch radikale Reduktion das Unverfügbare und Ephemere des Klanges zu fokussieren, verfolgt etwa auch Mathias Spahlinger in éphémère für Klavier, Schlagzeug und veritable Instrumente (1977), vgl. dazu Peter Niklas Wilson: »Mathias Spahlinger«, in: Komponisten der Gegenwart, 48. Nachlieferung (2012), hg. von Hanns-Werner Heister und Walter-Wolfgang Sparrer, S. 6, sowie Martin Zenck: »Die Musik ist nur von transitorischem Eindrucke (Kant). Zum Verhältnis von Wiederholung und Flüchtigkeit in Mathias Spahlingers éphémère (1977)«, in: Ephemer, hg. von Petra Maria Meyer, Paderborn: Fink, 2018.
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ebenfalls im Piano und stark gedämpft, nun aber in der rechten oberen Ecke der Plattenglocke statt in der Mitte. Bis Takt 22 treten immer wieder Impulse an unterschiedlichen Anschlagstellen auf, die Dynamik wird bis zum dreifachen Piano reduziert. Die einzelnen Varianten unterscheiden sich kaum, doch je weniger passiert, desto stärker fallen einzelne geringfügige Veränderungen ins Gewicht. Der Schlag in der oberen Ecke klingt deutlich heller als in der Mitte, der in der unteren Ecke ähnlich hell, aber etwas voluminöser als der obere. Ab Takt 23 erklingt alle vier Viertel ein Impuls, nun im Mezzopiano und nur noch teilweise gedämpft. Die Kontaktstellen wechseln noch häufiger als zuvor und werden nahezu systematisch erforscht. Der Klang der Plattenglocke wird somit auf nahezu naturwissenschaftliche Weise unter die Lupe genommen und seziert. Im zweiten Teil klopft der Interpret mit einem Seifenblasenspender in regelmäßigen Achteln auf den Rand der Glocke, immer kontinuierlich weiterwandernd. Mit einer Ausnahme in Takt 43 tritt immer vor dem Wechsel der Seite ein einzelnes Sechzehntel auf. Das Tempo ist ruhig und gleichmäßig, der Klang durch das Aufschlagen von Plastik auf Metall und das dynamische Mezzoforte unspektakulär und eher unspezifisch. Die kleinen ›Stolpersteine‹ der synkopischen Sechzehntel treten immer nach einer unterschiedlichen Anzahl an Achteln (mal 19, mal 26, mal 16, mal 18 etc.) auf und sind dadurch metrisch nicht antizipierbar, wohl aber visuell, da der Hörer beim nahenden Seitenwechsel die Unterbrechung des regelmäßigen Achtelpulses zu erwarten vermag. Der dritte Teil besteht aus einzelnen Impulsen, die mit unterschiedlichen Gegenständen ausgeführt werden. Alle Impulse werden in der Mitte der Glocke gespielt, zunächst immer im Mezzopiano und frei ausklingend, dann im Mezzoforte und stark gedämpft. Die Gegenstände werden in ruhiger Weise und ohne zusätzliche metrische oder rhythmische Strukturierung nacheinander präsentiert, denn nach jedem Impuls ist ein Ausklang und eine darauffolgende Pause mit Fermate notiert. Die Plattenglocke wird nacheinander mit folgenden Gegenständen bearbeitet: Klebstift, Streichholz, Traubenzucker-Packung, Toilettenpapierrolle, Paketbandrolle, Seifenblasenspender, Banane, Haarbürste, kleine Triangel, Handy, Nudelholz, Hundefigur, Pullover, Kruzifix, Wattebausch, Buch, Teebeutel, Spülbürste, Seife, Drumstick, Kuscheltier, Locher, Pinsel, 2-Euro-Münze und Wasserabzieher. Es zeigt sich, dass der Aspekt der Klangforschung, der schon die ersten beiden Teile des Stückes prägte, nun noch einmal an Bedeutung gewinnt. Denn der vordergründig zent-
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rale Aspekt des dritten Teils besteht darin, die Varianten des Klangs der Plattenglocke zu untersuchen, die sich durch die Benutzung der verschiedenen Perkussionsgegenstände ereignen. Vor allem im dritten Teil des Stückes zeigt sich aber auch, wie essenziell die visuelle Dimension für dieses ist und wie untrennbar Hören und Sehen miteinander verbunden sind. Denn dem Publikum werden die Gegenstände zuerst optisch vorgeführt, dann erst wird die Glocke damit bespielt. Dies ermöglicht es, eine Hörerwartung aufzubauen und diese sofort mit der Realität abzugleichen. Darin besteht das konzeptuelle Moment des Stückes, denn das resultierende Spannungsverhältnis, das gewissermaßen der eigentliche Inhalt ist, entsteht erst im Kopf des Rezipienten. Die Wahrnehmung des einzelnen Rezipienten wird somit zur Schnittstelle des Stücks, zum Ort der Kunsterfahrung. Das Stück bleibt unvollständig ohne den aktiv wahrnehmenden Rezipienten, »Betrachter und Hörer werden als werkstiftendes Medium eingeführt.« 7 Das Thema des Werks ist somit nicht nur die Erforschung des Plattenglockenklangs jenseits von jedem Pathos, sondern insbesondere die Erfahrbarmachung einer Differenz von Vorstellung und Wirklichkeit. Ein entscheidender Aspekt des Stückes ist die Differenz der semantischen Assoziationen. Die Aura der Plattenglocke und die semantischen Assoziationen der einzelnen Perkussionsobjekte kontrapunktieren einander und bilden semantische ›Intervalle‹ aus, die unterschiedlich ›konsonant‹ oder ›dissonant‹ sein können. Gerade wenn die Aura des Instruments und des Perkussionsgegenstands so gar nicht zueinander passen wollen, etwa wenn der Interpret im Begriff steht, die Plattenglocke mit einem Teebeutel oder einer Banane zu traktieren, entstehen immer wieder auch komische Momente. Auffällig ist jedoch, dass die Komik eher subtiler Natur ist, was insbesondere auch daran liegt, dass kaum Gegenstände auftreten, die extreme semantische Assoziationen auszulösen vermögen. Mit einem Vibrator etwa wird die Plattenglocke nicht bearbeitet, und auch das Kruzifix ist so klein, dass es kaum als solches zu erkennen ist. Vielmehr kommen zumeist Gegenstände aus dem Alltag zum Einsatz, die der Komponist auf seinem Schreibtisch oder in seiner Küche gefunden hat. Diese Tendenz zum Mittleren, betont nicht Exotischen kehrt 7 | Christoph Metzger: »Conceptualisms versus Conceptual Art«, in: Conceptualisms in Musik, Kunst und Film, hg. von dems., Saarbrücken: Pfau, 2003, S. 9-22, hier S. 12.
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in der Struktur des Stückes wieder. Immer bleibt diese bewusst in einem Mittelbereich, alle Extreme werden vermieden. Die Dynamik bewegt sich meist zwischen Piano und Mezzoforte, das Tempo ist mäßig und die Abstände zwischen den einzelnen Klangereignissen von unspektakulär mittlerer Länge. Gerade diese Tendenz zum Mittelmäßigen wird jedoch kompromisslos verfolgt und gewinnt dadurch eine überzeugende Qualität in einer Art, die bereits Theodor W. Adorno beschrieben hat: »Auch wo Gemäßigtes, Ausdrucksloses, Gebändigtes, Mittleres angestrebt wird, muß es mit äußerster Energie durchgeführt werden; unentschiedene, mittelmäßige Mitte ist so schlecht wie die Harlekinade und Aufregung, die sich durch die Wahl unangemessener Mittel übertreibt.«8 Die nüchterne Haltung und die gleichförmige Struktur lassen sich als Negation oder als Gegengewicht des Pathos’ und der magischen Aura des Instruments verstehen. Kompositorische Makro- und klangliche Mikrostruktur kontrapunktieren einander. Gleichzeitig vermag das Stück durch seine Konzentration und Fokussierung des Mittleren etwas von der auratischen Qualität des Instruments zurückzugewinnen, die durch zu häufiges bloßes Abrufen möglicherweise zum expressiven Klischee geworden ist. Abbildung 3: Nicolas Kuhn, Stellenwert, Aufführung vom 03.12.2014 in der Akademie der Künste Berlin durch Manos Tsangaris, Perkussion. Videostill.
8 | Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie (= Gesammelte Schriften, Bd. 7), Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2003, S. 284.
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Auch in anderen Ansätzen erweist sich die konzeptuelle Differenz zwischen Imagination und Wirklichkeit als bedeutsam. Bereits seit 2010 arbeite ich selbst immer wieder an einer mittlerweile fünf Stücke umfassenden Reihe für unterschiedliche ›virtuelle Instrumente‹, die alle den Titel Inkonsequenza tragen. Das Grundkonzept der Serie ist schnell beschrieben. Ich habe kurze Solostücke in einer instrumententypischen Idiomatik komponiert. Diese werden aber nicht von dem jeweiligen Instrument, sondern als Stimm-Performance ausgeführt, was einer Übertragung des in der Pop-Musik beliebten Prinzips des Beatboxing in die Neue Musik gleichkommt. So gibt es etwa eine Inkonsequenza für virtuelle Oboe, ausgeführt von einer Frauenstimme und ein Stück mit dem Titel Couleurs de l’air (Inkonsequenza III) für virtuelle Bassflöte, das von einer Männerstimme interpretiert wird. Was mich an diesen Stücken interessiert hat, sind einerseits die Differenzerfahrungen, die sich zwischen der Hörerwartung und dem tatsächlich Klingenden ereignen können: Wie klingt eine virtuelle Bassflöte anders als eine tatsächliche Flöte? Wie unterscheidet sich aber auch der Klang der virtuellen Bassflöte von unserer Erwartung an sie? Die für mich wichtigsten Fragen, die die Stücke aufwerfen, sind jedoch die nach den Konsequenzen, die diese Rahmenverschiebung für die Wahrnehmung hat. Wie verändert sich ein Vokalstück, wenn man denkt, es handle sich um ein instrumentales Werk? Die Erkenntnis, die die Stücke aus der Inkonsequenza-Reihe ermöglichen sollen, besteht darin, deutlich zu machen, dass die Wahrnehmung eines (ästhetischen) Ereignisses nicht kontextunabhängig ist, sondern durch die Rahmensetzung wie durch gezielte Information vorgeprägt und beeinflusst wird. Die Wahrnehmung eines Sachverhalts ist nie objektiv, sondern immer von Vorbedingungen abhängig.
Theatrale Situationen zwischen ästhetischer und semantischer Wahrnehmung Das Grundprinzip vieler Briefmarkenopern besteht darin, Konstellationen zu entwerfen, die im Grenzbereich zwischen der konkret-materialen und der semantischen Dimension von Ereignissen angesiedelt sind. In Constelaciones (2012) von Carlos Gerardo Hérnandez Canales etwa stehen vier schwarz gekleidete, ungefähr gleich große Darstellerinnen
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und Darsteller in einer Reihe.9 Nur ihre Gesichter werden beleuchtet. Nach einiger Zeit beginnen sie stumm, aber teils in sehr erregter und ausdrucksstarker Weise zu sprechen. Die dadurch entstehenden unterschiedlich gearteten expressiven Momente werden jedoch aus einem narrativen Kausalzusammenhang herausgelöst, da die Gründe für die Erregung und Intensität, mit der sie uns etwas mitzuteilen versuchen, im Dunkeln bleiben. Diese Abstraktion der expressiven Gesten von konkreten Handlungen wird dadurch verstärkt, dass die Rahmenbedingungen stark formalisiert sind, etwa durch die klare Anordnung der Performerinnen und Performer im Raum, ihre gleiche Größe und die fokussierte Beleuchtung. Der Ausdruck der Erregung etwa ist nicht mehr Resultat eines konkreten Ereignisses, sondern bildet eine eigenständige Situation aus. Dadurch wird die Möglichkeit verstärkt, nicht nur die semantischen Bedeutungen der Gesichtsausdrücke, sondern auch ihre konkrete Physiognomie zu betrachten. Die Abstraktion von konkreten Handlungen und die visuelle Fokussierung ausschließlich auf die Gesichter erlaubt es, diese auch unabhängig von der Bedeutung ihres Ausdrucks in ihrer konkreten Materialität und Struktur zu beobachten und sie damit vielleicht sogar genauer wahrzunehmen. Diese Herauslösung aus kausallogisch-narrativen Zusammenhängen stärkt die performative Qualität der Komposition, denn die Desemantisierung führt dazu, stärker die Eigenbedeutung der Gesichter wahrzunehmen: »Die Dinge bedeuten das, was sie sind bzw. als was sie in Erscheinung treten.«10 Die Gesichter stehen zwar nicht vordergründig als Zeichen für etwas anderes, sind aber auch alles andere als insignifikant. Sie »in ihrer spezifischen Materialität wahrzunehmen heißt« vielmehr, »sie als selbstreferentielle, sie in ihrem phänomenalen Sein wahrzunehmen.«11 Gerade, dass eine intentionale Bedeutung der expressiven Gesten im Dunkeln bleibt, ermöglicht es jedoch den Betrach-
9 | Möglichst wenig sichtbar hinter diesen befinden sich im Hintergrund drei Musikerinnen und Musiker (Bratsche, Akkordeon und Klarinette). Diese sind also nicht intentionaler Bestandteil der Szenerie. Die Entwicklungen von klanglicher und visueller Dimension des Stückes verlaufen weitgehend parallel, musikalische und szenische Verdichtungsprozesse gehen etwa meist Hand in Hand. 10 | Vgl. Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2014, S. 245. 11 | Ebd., S. 244.
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tern, sie ihrerseits mit Bedeutungen zu belegen,12 die allerdings nicht in sich kohärent sein müssen, sondern vielmehr assoziativ und sprunghaft sein können. Die Emergenz dieser Bedeutungen ist aber nicht nur von der Materialität des Wahrgenommenen, sondern vor allem auch von den Vorprägungen des wahrnehmenden Subjekts abhängig.13 Der Zwischenraum zwischen der ästhetischen und der semantischen Dimension von Ereignissen ist auch in Ähm Me, hm [I], and M, einer »Versuchsanordnung für vier Sprechende« (2015/rev. 2016) von Barblina Meierhans bedeutsam. Die klangliche Ebene des Stückes besteht vorwiegend aus einzelnen Sätzen, Wörtern oder Silben, deren semantische Ebene wichtig ist, aber bewusst im Ungefähren und Andeutungshaften verbleibt, da die meisten Äußerungen entweder unvollständig sind oder es sich um Floskeln oder Füllwörter handelt. Im ersten größeren Abschnitt des Stückes etwa wechseln zwei der vier Darstellerinnen und Darsteller immer wieder zwischen bejahenden und verneinenden Wörtern: »Ja – Doch – Oh doch! – Aber doch? – Doch doch. – Ja doch! – Ähm… – Mh… nananein. – Nanein – Nein Nein! – Hm-M. – Hm…«.14 Diese Abfolge zeigt nicht nur die subtile Vielfalt und den Differenzierungsgrad der bejahenden und verneinenden Äußerungen, sondern auch, dass die Unschlüssigkeit, die aus dieser Passage spricht, nicht nur Resultat der häufigen Wechsel ist, sondern sich auch durch die häufigen Füllwörter vermittelt, die als Ausdruck des Zögerns aufgefasst werden können. Es zeigt sich, dass die Sprecherinnen und Sprecher gedanklich mit einem Entscheidungsprozess beschäftigt sind, von dem die Zuhörerinnen und Zuhörer jedoch nichts wissen. Es vermittelt sich somit eine Unschlüssigkeit, deren Grund im Verborgenen bleibt. Zur gleichen Zeit erinnern sich der zweite, und später auch der vierte Darstellende an ihre gestrigen Erlebnisse, sprechen jedoch ebenfalls nur andeutungsweise davon: »Yesterday… – Yesterday, I was so… – Ahem, yesterday, I… – Yesterday, I was SO happy and that was SO nice«.15 Erst nach einigen Anläufen erfahren wir also, dass die Person glücklich war. Warum, bleibt jedoch offen. Als noch sparsamer als die sprachliche Ebene erweisen sich die gestischen Aktionen der Sprecherinnen und Sprecher, die bisweilen den Kopf 12 | Vgl. ebd., S. 242. 13 | Vgl. ebd., S. 254f. und S. 264-267. 14 | Partitur von Ähm Me, hm [I], and M, erste Stimme, Takt 6-12. 15 | Ebd., zweite Stimme, Takt 2-7.
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schütteln, einzelne Blätter zur Seite ziehen oder auf den Boden fallen lassen. Deren Verständnis lässt sich nur teilweise erschließen. Wenn die vier Ausführenden über zwanzig Sekunden hinweg ein immer stärkeres und zum Schluss eingefrorenes Lächeln entwickeln, erfährt man den Grund dafür nicht. Und wenn der vierte Akteur plötzlich eine Partiturseite zu einem Fernrohr faltet, dieses an sein Auge hält und nach kurzem Schauen »Wow« sagt, kann man sich ausmalen, dass er etwas Beeindruckendes gesehen haben muss, was dies jedoch ist, bleibt im Dunkeln. Abbildung 4: Barblina Meierhans, Ähm Me, hm [I], and M, Versuchsanordnung für vier Sprechende, Partitur, S. 2 (Ausschnitt).
Obwohl die Ansätze von Hérnandez Canales und Meierhans im Einzelnen recht unterschiedlich sind, führt der Verzicht auf konkrete narrative Zusammenhänge ähnlich wie in Constelaciones auch in Ähm Me, hm [I], and M zu einer Stärkung der ästhetischen Dimension. Die einzelnen Wörter und Satzfragmente sind nicht nur semantisch deutbar, sondern werden gleichsam musikalisiert. Dazu trägt insbesondere bei, dass die Sprachaktionen häufig rhythmisch exakt ausnotiert und in ihrer Abfolge genau bestimmt sind. Dennoch nehmen diese nur wenig artifiziellen Charakter an, da Sprechtonhöhen nicht vorgegeben sind und es immer wieder Wechsel zwischen rhythmisch präzisem und normalem, nicht rhythmisierten Sprechen gibt. Ähm Me, hm [I], and M bewegt sich dadurch in einem Grenzbereich, in dem sich semantisches Verstehen und ästhetisches Erleben auf subtile Weise die Waage halten. Die ›Versuchs-
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anordnung‹ von Meierhans’ Komposition provoziert ein häufiges, sich im Einzelnen jedoch unkontrolliert vollziehendes Umspringen zwischen zwei Wahrnehmungsordnungen. Die Ordnung der ›Präsenz‹, die die Materialität des Wahrgenommenen in den Mittelpunkt rückt, und die Wahrnehmungsordnung der ›Repräsentation‹, die dessen Zeichenhaftigkeit fokussiert, unterliegen jedoch unterschiedlichen, ja nachgerade gegensätzlichen Gesetzmäßigkeiten,16 weswegen im »Augenblick des Umspringens … ein Zustand der Instabilität [entsteht].«17 Der wiederholte Wechsel zwischen verschiedenen Wahrnehmungsweisen kann jedoch dazu führen, dass »sich die Aufmerksamkeit des Wahrnehmenden auf den Prozeß der Wahrnehmung selbst« zu richten vermag.18 In Hérnandez Canales’ wie in Meierhans’ Komposition geht es demnach weniger um eine Kommunikation von intentional konzipierten Bedeutungen oder Inhalten. Der bewusst aufgesuchte Grenzbereich zwischen ästhetischer und semantischer Wahrnehmung dient vielmehr dazu, die Selbstreflexion der eigenen Wahrnehmung und der Bedingungen, denen diese unterliegt, zu ermöglichen.
Fazit Für das Format der ›Briefmarkenopern‹ ist charakteristisch, dass die einzelnen Stücke oftmals sehr unterschiedlich geartete theatrale Situationen entstehen lassen. So gibt es etwa Ansätze, die vom Konzertrahmen als theatraler Situation ausgehen und in diesen eingreifen, oder Stücke, die die performativen Qualitäten von Instrumentalmusik zum Ausgangspunkt haben. In anderen Miniaturen dienen spezifische mediale Konstellationen dazu, inhaltliche Fragen zu reflektieren. Noch andere Herangehensweisen thematisieren die Differenz zwischen Hörerwartung und tatsächlich Klingendem und lassen so die Wahrnehmung des Rezipienten zur Schnittstelle der Kunsterfahrung werden. Viele Stücke bilden Situationen aus, die die Rezeption bewusst einem Grenzbereich aussetzen und zwischen ästhetischer Wahrnehmung und semantischer Deutung oszillieren lassen.
16 | Vgl. Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 259f. 17 | Ebd., S. 258. 18 | Ebd., S. 261.
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Es gibt einige Aspekte, die die meisten Briefmarkenopern miteinander teilen. Dazu gehören neben der a priori vorausgesetzten Überschaubarkeit des Formats (alle Stücke bewegen sich in einem Bereich zwischen etwa 2 und 15 Minuten, was für Musiktheaterarbeiten eher die Ausnahme sein dürfte)19 und der vorrangig pragmatisch bedingten Beschränkung der technischen Möglichkeiten insbesondere der häufige Verzicht auf explizit narrative Strategien. Zwar gab es auch solche immer wieder, wenngleich sie im Gesamtkontext der ›Briefmarkenopern‹ eher eine Ausnahme darstellten. Gerade im Verzicht auf eine explizite Narrativität oder eine großformale Dimension zeigt sich, dass die einzelnen Musiktheaterarbeiten zumeist kaum mehr mit dem Begriff der ›Oper‹ als emphatischer Gattungsbezeichnung fassbar sind, zumal mit diesem – im Gegensatz zum Begriff ›Musiktheater‹ als neutralere Bezeichnung oder gar als bewusst konzipierte terminologische Alternative – gerade im 20. Jahrhundert oftmals stark traditionelle Momente assoziiert werden.20 Es scheint, als diene der Begriff der ›Oper‹ weniger einer Charakterisierung des Formats, als vielmehr der Markierung einer ironischen Brechung. Vielleicht vermag aber gerade der Widerspruch zwischen dem markanten Begriff und dem von ihm Bezeichneten ein Nachdenken über die spezifische Theatralität des Formats anzuregen. Opern im »klassischen Sinne« entsprechen die ›Briefmarkenopern‹ in aller Regel nicht. Viel eher ließen sie sich in vielen Fällen mit dem Begriff eines ›Composed Theatre‹21 assoziieren, der als inklusive Sammelbezeichnung zur Beschreibung von musiktheatralen Arbeiten entwickelt wurde, die »zwischen den klassischen Konzeptionen – und Institutionen bzw. Strukturen – von Musik, Theater und Tanz liegen«,22 weisen sie doch eine Reihe von Merkmalen auf, die mit diesem konvergieren. Dies betrifft etwa die »Auflösung der – für die 19 | Dies hat unter anderem sowohl pragmatische als auch pädagogische Gründe: kleine Formate lassen sich im Hochschulkontext, der ohne großes Budget auskommen muss, leichter realisieren. Darüber hinaus lässt die Überschaubarkeit des Formats auch eine Konzentration aufs Wesentliche leichter zu. 20 | Vgl. Christian Utz: »Musiktheater«, in: Lexikon Neue Musik, hg. von Jörn Peter Hiekel und dems., Stuttgart und Kassel: Metzler 2016, S. 407-417. 21 | Vgl. dazu Matthias Rebstock/David Roesner (Hg.): Composed Theatre: Aesthetics, Practices, Processes, Bristol: intellect, 2012. 22 | Matthias Rebstock/David Roesner: »Composed Theatre. Zur Konzeption des Begriffs«, in: Positionen 104, 2015, S. 2.
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Oper typischen – gestaffelten Produktionsform (Libretto, Komposition, Inszenierung)« zugunsten alternativer, teils »kollaborativer Produktionsstrukturen«.23 In den meisten ›Briefmarkenopern‹ ist eine Autorin bzw. ein Autor für das Stück allein verantwortlich, wodurch der sukzessive Produktionsprozess ohnehin entfällt und individuellen Arbeitsprozessen Platz macht. Wichtige Ausnahmen wie die Zusammenarbeit von Alberto Arroyo und Nastasja Keller zeigen aber auch die gleichberechtigte Kollaboration zweier Autorinnen und/oder Autoren, die eine Arbeit gemeinsam entwickeln und dabei ihre individuelle Perspektive in das gemeinsame Ergebnis mit einbringen. Typisch für die ›Briefmarkenopern‹ sind aber auch »musikalisch-kompositorische Strategien und Techniken …, die aber nicht mehr nur auf das Feld des Musikalisch-Klanglichen appliziert werden, sondern auch auf außermusikalisches Material wie Sprache, Aktion, Bewegung, Licht etc.«24 In der Oper ohne Worte etwa erfolgt der Einsatz verschiedener Lichtstimmungen nicht nur nach dramaturgischen Gesichtspunkten, sondern wird zu einem zentralen Mittel der Formbildung. In Ausweidung korreliert die allmähliche Zunahme der Performerinnen und Performer als theatrale Aktion mit einer Verdichtung der immanentmusikalischen Struktur. In Stellenwert bilden die akustische und die visuelle Dimension zwei Ebenen, die oftmals synchron geführt werden, die sich aber auch kontrapunktisch zueinander verhalten können. In Ähm Me, hm [I], and M hingegen sind die einzelnen Wörter häufig mehr nach kompositorischen als nach narrativen Kriterien gesetzt. So lassen sich allmähliche, behutsame Weiterentwicklungen genauso beobachten wie Verdichtungen oder plötzliche semantische Kontraste. Vor allem aber, und das wäre ein drittes wichtiges Kennzeichen eines ›Composed Theatres‹, lässt sich in den ›Briefmarkenopern‹ auch eine »prinzipielle Gleichberechtigung der Elemente Text, Musik, Aktion, Bild«25 beobachten, die sich – bedingt durch die Kürze der Stücke – oftmals weniger in der sukzessiven Ablösung eines jeweils dominierenden Mediums als darin zeigt, dass in den jeweiligen Arbeiten häufig unterschiedliche Parameter im Vordergrund stehen. In den Stücken der Inkonsequenza-Reihe mag die akustische Dimension dominieren, wenngleich die visuelle Wahrnehmung der Ausführenden ebenfalls essenziell 23 | Ebd. 24 | Ebd., S. 3. 25 | Ebd., S. 2.
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ist, um das konzeptuelle Spannungsverhältnis zwischen der vorgeblichen Gattung des instrumentalen Solostücks und der tatsächlichen stimmlichen Ausführung entstehen zu lassen. In Constelaciones hingegen kann die musikalische Ebene gegenüber der performativen durchaus in den Hintergrund treten. Viel häufiger als das Dominieren eines Elements ist jedoch die Verschmelzung verschiedener Ebenen zu einer untrennbaren Gesamtsituation. In Ähm Me, hm [I], and M etwa befinden sich die musikalische und die semantische Dimension des Klingenden in einem schwebenden Gleichgewicht, aber auch in No News Good News oder in Zeitpyramide stehen die einzelnen medialen Bausteine im Dienst der künstlerischen Idee und formen eine theatrale Situation, in der es kaum möglich ist, die Bedeutung der einzelnen Ebenen unterschiedlich zu bewerten. Die Münchener Biennale für neues Musiktheater 2016 rückte das Thema ›OmU‹ – Original mit Untertiteln – in den Mittelpunkt des Festivals. Diese aus dem fremdsprachigen Film stammende Gepflogenheit, Redebeiträge nicht zu synchronisieren, sondern mittels Schrifteinblendungen zu untertiteln, wurde jedoch nicht als Programm, sondern als Fragestellung und Suchbewegung verstanden. Statt von vornherein die einzelnen Bestandteile eines Musiktheaterwerks in einem stabilen hierarchischen Gefüge anzuordnen, ging es viel häufiger darum, tradierte Verhältnisse und Abhängigkeiten zu hinterfragen und Neuanordnungen vorzunehmen. Diese für das heutige Musiktheaterschaffen insgesamt wesentliche Perspektive, nicht nur angestammte Produktionsprozesse, sondern auch das Verhältnis einzelner Medien wie Sprache, Musik, Bewegung, Licht oder Bühnenbild auf neue und flexible Weise zu gestalten, ist jedoch nicht nur ein Charakteristikum vieler Produktionen der Münchener Biennale, sondern auch eines der meisten ›Briefmarkenopern‹. In diesen werden Text, Bild, Szene und Klang in Abkehr von traditionellen Produktionsprozessen nicht mehr als einzelne, voneinander getrennte Medien mit angestammten Rollen betrachtet, sondern können in immer wieder neuen Konstellationen zusammentreten. Es wird nicht mehr nur mit Tönen, sondern mit verschiedenen medialen Bausteinen komponiert. Indem die Rahmensetzungen und szenischen Konstellationen jedoch zum Kernbestand der künstlerischen Konzeption werden, stellt sich die Frage von ›Original‹ und ›Untertitel‹ auf eine neue Weise. Denn wenn es keine prioritären ›Original‹-Texte gibt, die inszeniert, interpretiert oder untertitelt werden, sondern die verschiedenen medialen Dimensionen
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von Anfang an substantiell aufeinander bezogen werden, resultiert daraus nicht zuletzt die Wandelbarkeit oder sogar Auflösung angestammter medialer Hierarchien. Die ›Briefmarkenopern‹ erweisen sich in diesem Kontext als ein Beitrag zu einer heutigen Musiktheaterkonzeption, in der Hören und Sehen untrennbar miteinander verwoben werden, in der niemals jedoch eine der beiden Dimensionen nebensächlich bleibt.
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3. Diskurs
Originale und Autorschaft? Neue Formen der Ko-Kreativität im Musiktheater Leo Dick, Judith Egger, Christian Grammel und Marion Hirte im Gespräch mit David Roesner im Rahmen der Münchener Biennale 2016 1
David Roesner: Die Münchener Biennale 2016 hat sich neben der Idee, viele neue Ansätze in Bezug auf Formate, Ästhetik oder Werkverständnis zu erproben, vor allem auch zum Ziel gesetzt, neue Impulse für die Entstehung, kreative Zusammenarbeit und Autorschaft zu setzen. Zunächst also eine Frage an die Künstlerinnen und Künstler: wie hat sich das bemerkbar gemacht, wie seid ihr damit umgegangen? Christian Grammel: Mir kommt das sehr entgegen, denn ich möchte bei meinen Darstellerinnen und Darstellern Interesse für den Inhalt oder für den Stoff wecken. Wenn ein Sänger einer Produktion an einem normalen Opernhaus sagt »meine Meinung tut doch hier überhaupt nichts zur Sa1 | Leo Dick (LD) ist Komponist, Regisseur und Dozent an der Hochschule der Künste, Bern und war teilnehmender Beobachter der Produktion The Navidson Records (Tesche, Wyler von Ballmoos) bei der Münchener Biennale 2016. Judith Egger (JE) ist Bildende Künstlerin und gestaltete gemeinsam mit Komponistin Neele Hülcker die Performance/Installation Hundun für die Biennale 2016. Christian Grammel (CG) ist seit seinem Abschluss der Angewandten Theaterwissenschaft in Gießen freischaffender Regisseur und inszenierte für die Biennale die Produktion Speere Stein Klavier. Marion Hirte (MH) ist Dramaturgin und Professorin der Universität der Künste Berlin und gehört seit 2016 zum Leitungsteam der Biennale. David Roesner (DR) ist Professor für Theater und Musiktheater an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Das Podiumsgespräch fand am 5. Juni 2016 im Gasteig in München statt.
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che« und »sag mir, was ich tun soll«, und das so weit geht, dass sie jedes Anheben der Kaffeetasse choreographiert bekommen wollen, dann stoße ich mit den Begriffen, wie ich gerne arbeiten würde, allerdings klar an die Grenzen der Institution. Leo Dick: In meiner Praxis habe ich diese vordefinierten Strukturen der Institution Oper noch als stark lebendig empfunden. Ich denke, dass sich dieser Betrieb nicht umsonst spätestens seit der Grand Opera des 19. Jahrhunderts in seiner Arbeitsteiligkeit und seinen Abläufen – die ich hier überhaupt nicht geringschätzen möchte – perfektioniert hat. Das kann ja auch wahnsinnig produktiv sein, aber es gibt eben sehr klare Rahmenbedingungen vor. Ich habe es bisher so wahrgenommen, dass es sich für mich eigentlich als gescheit herausgestellt hat, mit diesen Rahmenbedingungen zu spielen. Weniger zu versuchen, sie mit dem Holzhammer aufzubrechen, sondern im Mikrobereich für Begegnungen zu sorgen, wo man in einen echten Austausch kommt. DR: Es leuchtet sicher ein, dass Prozesse und Rahmungen immer auch Auswirkungen auf künstlerische Resultate haben. Aber kann man diese Korrelation kausal klar festmachen? Oder ist es ein komplizierteres Zusammenspiel von bestimmten Institutionen und bestimmten Arbeitsweisen? LD: Es ist sehr komplex. Schon das bloße Faktum der Ausrichtung auf einen spezifischen Premierentermin, Abgabetermine, und – im großen Unterschied zur freien Szene – die Zentrierung auf die üblichen sechs bis acht Wochen Probenphase nehme ich als etwas wahr, das sich klar in einem Resultat ausdrückt – ohne dass ich das werten will. In der freien Szene arbeite ich viel versprengter. Auch das drückt sich dann im Resultat aus. Das sind verschiedene Arten von Erfahrungsräumen. Die entstehen stärker dann, wenn es von den äußeren Bedingungen her etwas dezentrierter ist. Und die Zentrierung habe ich als starkes Charakteristikum von Stadttheater-Institutionen wahrgenommen. CG: Zur Arbeitsteiligkeit des Opernbetriebes, die Du angesprochen hast: ich habe ganz oft das Gefühl, dass sich das natürlich in der Ästhetik niederschlägt. Wie vernetzt können die einzelnen Sparten im ästhetischen Ergebnis wirklich sein? Mal ein Beispiel: Wenn ich auf der Probebühne
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der Theaterwissenschaft in Gießen jemanden brauche, der das Licht fährt und den Scheinwerfer hängt, dann ist das ein Kommilitone von mir. Und der hat dann ein Eigeninteresse daran, dass er ›mitspielt‹ und nicht nur supportet. Und das ist eine Erfahrung, die mich im Studium sehr geprägt hat und die ich gerne mitnehme, aber das heißt natürlich, dass ich eigentlich auch im Probenprozess im Idealfall jemanden für das Licht habe oder jemanden für Ton auf der Bühne, der kreativ mitgestalten kann, und dass die Sparten aufeinander reagieren. Das heißt nicht unbedingt, dass es ein kollektiver Prozess sein muss. Aber wenn ich einen Lichttechniker vom Haus habe, der erst in den Endproben ins Team kommt, ist der gemeinsame Arbeitsprozess natürlich ein ganz anderer. Wenn ich dann trotzdem möchte, dass das Licht ›mitspielt‹, ist es für mich ein ganz anderer Vorbereitungsaufwand, weil ich das in der Fantasie mitdenken und -planen muss. LD: Eine gewisse Art von Laboratorium entsteht einfach schwerer. Marion Hirte: Ich würde das ergänzen wollen: Auch beim Festival müssen wir natürlich den Premierentermin halten. Ich finde eher, es geht um ambivalente Strukturen, die ich einerseits als Errungenschaften des Theaterbetriebs wahnsinnig wichtig finde – wie geregelte Arbeitszeiten, berufsständische Formationen, gewerkschaftliche Verabredungen – die es aber wahnsinnig kompliziert machen. Genauso auch der Repertoire- und Ensemblebetrieb; beides zutiefst wichtige Aspekte des Stadttheaterwesens, die aber noch viel mehr als das Gebundensein an Aufführungstermine die Arbeitsweisen prägen. Gerade große Kollektive wie etwa Orchester und Chor empfinde ich als unglaublich starr und unbeweglich, spätestens um 13 Uhr wird Mittagspause gemacht. Das ist mitten im künstlerischen Prozess eine Unterbrechung, die einen komplett rausschleudert. Aber gesellschaftlich eben schwerst errungen und deshalb auch von Bedeutung. Eine weitere Anmerkung: ich merke es selbst schon in der Ausbildung – da weiß ich gar nicht so genau, was ich gut oder schwierig finden soll – weil schon in der Grundlagenausbildung zu Sängerinnen und Sängern und Schauspielerinnen und Schauspielern extrem disziplinär gearbeitet werden muss, um die Basis des Berufs zu lernen. Das heißt aber auch, dass man schon in der Ausbildung bestimmte Engführungen und Vorstellungen von Arbeitsweisen perpetuiert und nicht besonders produktiv
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in Frage stellen kann. So gesehen scheint gerade die Produktionsform Festival dazu geeignet, zu ganz anderen Arbeitsformen zu kommen. DR: Vielleicht kann ich da nochmal nachhaken: Wie habt ihr als verantwortliches Team der Biennale (gemeinsam mit Manos Tsangaris, Daniel Ott, Malte Ubenauf und Katrin Beck, Anm. DR) das denn konkret im Detail für das Festival entschieden: einerseits bewusst andere Arbeitsformen zu ermöglichen, zu initiieren und zu stiften, und andererseits mit den Sachzwängen umzugehen, also Premierentermine und viele Kooperationen mit festen Institutionen, wie dem Staatstheater Mainz, dem Theater Augsburg oder der Deutschen Oper Berlin. MH: Es ist ein Spagat, würde ich sagen. 80 Prozent des Programms, das die Biennale jetzt ausmacht, ist vor gut zweieinhalb Jahren auf Einladung von unserem künstlerischen Leitungsteam an 35 junge Künstlerinnen und Künstlern entstanden, die wir zu einem einwöchigen Workshop, der sogenannten Plattform eingeladen haben. Diese Künstlerinnen und Künstler haben wir aufgrund ihrer bisherigen künstlerischen Arbeiten ausgewählt, die uns in verschiedenen Zusammenhängen aufgefallen sind. Sie stammen aus ganz unterschiedlichen Sparten – von Regie über Videokunst, Autorinnen und Autoren, Komponistinnen und Komponisten, Bühnenbildnerinnen und Bühnenbildner, auch einige Interpretinnen und Interpreten –, weil wir uns gewünscht haben, dass am Ende dieser Woche schon kleine ›Skizzen‹ entstehen sollten. Und in dieser extrem intensiven Woche haben wir zum einen das damals schon feststehende Thema (OmU – Original mit Untertiteln, Anm. DR) eingeführt, um Entwicklungsprozesse anzustiften. Gleichzeitig diente die Woche dazu, dass sich die aus internationalen Zusammenhängen stammenden Künstlerinnen und Künstler kennenlernen. Und dann erwarteten wir auch noch von ihnen am Ende der Woche, dass sie als Teams, die sich grade erst kennengelernt hatten, schon Ideen haben sollten, was es denn werden könnte. Das war quasi eine produktive Überforderung. Wichtig war uns vor allem, damit von vorneherein eine bestimmte Hierarchie auszuhebeln; also nicht den Komponisten als alleinigen Anstifter für ein musikalisches Werk ins Zentrum zu rücken, sondern Impulse aus ganz unterschiedlichen Quellen zu ermöglichen. So kann man bei jeder einzelnen Produktion unterschiedliche Ausgangspunkte festmachen. Im Sinne dieser produktiven Überforderung wollten wir auch die Biennale bewusst über-
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fordern. Wir haben den Output, also die Produktionsanzahl, mindestens verdreifacht und damit den Betrieb an seinen Rand gebracht. Uns war gleichzeitig klar: so großzügig die Stadt das Unternehmen auch fördert – das reicht nicht. Wobei es auch unter [Peter] Ruzicka (künstlerischer Leiter der Münchener Biennale von 1996-2014, Amn. DR) üblich war, dass es Koproduzenten gab. Das ist einerseits finanziell notwendig, aber auch schön, da die Produktionen an anderen Orten noch mehr Aufführungsmöglichkeiten bekommen. Innerhalb der jeweiligen Produktion ist das aber natürlich absolut spannungsvoll. Da treffen andere Arbeitsweisen auf das Stadttheater und das geht nicht ohne Reibung. DR: Wir gehen jetzt stark von den Traditionen des Opernbetriebs aus mit seinen Arbeitsteilungen und Abläufen. Was ist aber mit den Arbeiten, die viel eher aus der Bildenden Kunst und der Performance kommen? Judith Egger: könntest Du anhand Eurer Produktion Hundun mit der Komponistin Neele Hülcker schildern, wie sich dort die Zusammenarbeit jenseits fester Traditionen gestaltet hat? Ich stelle mir vor, dass es Teil des Prozesses ist, das zu definieren, weil man sich ja jedes Mal in einer Form bewegt, die vorher nicht schon gegossen wurde. Judith Egger: Ich habe über die Frage der Hierarchien viel nachgedacht und ich fand dieses Erlebnis der Plattform sehr interessant und auch sehr herausfordernd, weil es eine idealistische Idee ist: die Leute, die ihr gut findet, in einen Topf zu werfen und machen zu lassen. Und da ist das Scheitern ja mit einberechnet und auch die Schwierigkeit für uns Künstlerinnen und Künstler, in der kurzen Zeit jemanden zu finden, der auf der gleichen Wellenlänge ist. Ich denke, für mich ist persönlich das Ausschlaggebende, dass es eine Art von Beziehung ist, die sehr intensiv ist. Und wo ich jemanden finden muss, der mit mir schwingt, dass die Reibungsverluste nicht so groß sind und man sich nicht über ganz rudimentäre Dinge die Köpfe einschlägt, sich auf ganz vielen verschiedenen Ebenen ergänzt und bereichert. Und ich hatte bei der Biennale das Glück, dass mir die Neele Hülcker vorgeschlagen wurde und wir einfach gut zu einander passen. DR: Wie merkt man das? In der Arbeit? Oder im Gespräch? Gibt es gemeinsame Dinge oder Vorbilder, die man gut findet?
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JE: Der erste Berührungspunkt war ein Link ihrer Website. Ich habe mir ihre Arbeiten angehört, und in dem, wie sie denkt und was spürbar ist, habe ich schon mal eine Verwandtschaft bemerkt. Für sie war es das Gleiche. Es ist ein bisschen wie eine Dating-Börse gewesen. Ihre Herangehensweise an Klang fand ich einfach toll. Für unser konkretes Projekt habe ich die Idee oder das Konzept vorgeschlagen und sie war absolut damit einverstanden, dass ich erst einmal die Basis baue und sie dann sozusagen dazukommt. Ich denke, das ist auch wichtig, dass man die wichtigen Punkte klärt. Ich würde nicht sagen, dass es eine Hierarchie ist, aber dass man eben Aufgaben verteilt und sich klar ist, wer für was steht und wo man sich trifft. So gibt es dann am Ende auch keine Streitereien, beispielsweise über die Urheberschaft. DR: Eben, das ist ja gar nicht so unproblematisch. Wir sind alle recht positiv eingestellt, was kollektives Arbeiten und kollektive Autorschaften angeht. Das bringt aber tatsächlich auch Konsequenzen und Probleme mit sich. In wieweit ist das kollektive Arbeiten auch bewusstes Verwischen von Autorschaft, bis hin zu rechtlichen Konsequenzen? CG: Ich habe in der Vergangenheit zwei Projekte realisieren können, wo wir am Ende alle gemeinsam sagen konnten: das ist ein Projekt ›von und mit‹. Also ohne benennen zu wollen, wer für was zuständig gewesen ist, weil sich das auch nicht mehr rekonstruieren ließ. Das ist ein bisschen ein utopischer Moment, wo man sich denkt, es könnte so schön sein. Aber das passiert eben manchmal auch nicht. Letztlich sucht man ja permanent nach passenden Kollegen und für den Start solcher gemeinsamen Arbeitsprozesse braucht es auch Formate wie die ›Datingbörse‹, die die Biennale geschaffen hat. Wir haben das Biennale Team täglich eine Stunde gesehen und ansonsten haben wir unsere eigenen Strukturen und unseren eigenen Kosmos geschaffen und uns kennengelernt. Das war wahnsinnig anstrengend und anregend. Und trotzdem steht das alles natürlich unter der Überschrift ›big chance‹. Das heißt, man ist massiv daran interessiert, irgendwie ein Team zu finden. Und ein Team muss sich kennenlernen und lernt sich tatsächlich erst in der Arbeit kennen. Man kann stundenlang über Dinge sprechen und Beispiele heranziehen, aber was wir wirklich meinen mit den Begriffen und den Ideen, die wir im Kopf tragen, sehen wir erst, wenn es wirklich dasteht. Also wenn die ersten Notenskizzen da sind, wenn wir über den Bühnenraum sprechen
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oder merken, was es jeweils für Arbeitsrhythmen gibt. Und wenn man dann merkt, es gibt einen Konflikt oder wir brauchen eine Mediation, da stehen wir in diesem Kontext erst einmal unter dem Druck, unbedingt dabei bleiben zu wollen und die Chance nicht verstreichen zu lassen. Viele Gelegenheiten, ganz frei etwas Neues zu schaffen und das in dieser Größenordnung, gibt es nicht. Da also heil rauszukommen mit allen Beteiligten, ist an sich eine Herausforderung, die bestehen bleibt und in freien Kontexten ganz anders ist. Wenn es da nicht mehr harmoniert, hat man vielleicht das Problem der Autorschaft, aber ist nicht gezwungen, nochmal zusammenzuarbeiten. LD: Ich glaube, Teambildung ist in diesen neuen Musiktheater Kontexten ein ganz zentraler und problematischer Punkt. Wenn wir vorhin über vordefinierte Strukturmuster im Bereich der Oper gesprochen haben, die sich mit ihrer Arbeitsteiligkeit historisch lang entwickelt haben, so sind das ja Muster, die irgendwo auch der Vereinfachung dienen. Nach meiner Erfahrung – auch im Kontext der Produktion dieser Biennale – muss das auch besonders in größeren Formaten irgendwie ersetzt, kompensiert werden. Auf einmal gewinnen dann ganz formale, fast rituelle Abläufe an Relevanz, also: wie bekommt man so ein heterogenes Autoren- oder Produktionsteam unter einen Hut? Und wenn man dann noch einen größeren Ensemblekontext zusammengestellt hat, dann wird die von Victor Turner beschriebene Bildung von Communitas2 wichtig: Dieses Moment, dass man durch zeremonielle, rituelle Verfahren eine Gemeinschaft herstellt. Eine verschworene Gemeinschaft, fast in spiritueller Art. So eine ›Glaubensgemeinschaft‹ ersetzt dann einen konventionalisierten Rahmen, der mit schon vordefinierten Strukturmustern arbeitet. Und das ist etwas, das kann im Zweifelsfall auch prekär werden – vor allem im Fall des Scheiterns –, kann aber auch zu einer größeren Intensität des Erlebens führen. DR: Du warst ja bei der Produktion Navidson Records als teilnehmender Beobachter involviert und hast auch später auch bei den Aufführungen in Form einer Art von diskursivem Live-Kommentar involviert.
2 | Victor Turner: The Ritual Process: Structure and Anti-Structure, London: Routledge 1995 [1969].
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LD: Ja, das ist eben auch ein Beispiel für so einen Prozess von Communitas: Ich habe angefangen aus einer gewissen Distanz heraus, obwohl ich mit einigen Teammitgliedern auch von früheren Erfahrungen gut bekannt bin. Und man hat dann gemerkt, innerhalb von diesem recht – im besten Sinne – unstabilen Projekt, dass eine Instanz, die von Außen draufschaut, ein Störfaktor ist. Diese Idee eines diskursiven Überbaus – Gespräche, Reflexionen zu den Aufführungen – hat sich immer mehr verwandelt in einen integrierten Teil der Performance, sodass diese Trennung von Innen und Außen infrage gestellt und neu verhandelt wurde. DR: Ich finde sehr interessant, was du über die Gemeinschaftsrituale gesagt hast. Wenn man sich anschaut, wo es in letzter Zeit ausgeprägt kollektive Arbeitsweisen gibt, da gibt es oft eine Art Familienbildung3: wir kennen das von Christoph Marthaler, aber es gibt viele dieser Teams, die sehr stark kontinuierlich zusammenarbeiten. Ich denke da auch an Heiner Goebbels. Es gibt da scheinbar ein Bedürfnis, bestimmte strukturelle Sicherheit und von Außen vorgegebene Abläufe durch innere Stabilität im Team zu ersetzen – Heiner Goebbels hat ja häufig gesagt, dass er an Deutschen Stadttheatern nicht mehr arbeiten kann und will und das aus den Gründen, die Christian Grammel auch genannt hat: dass es da institutionell zwei getrennte Apparate gibt, nämlich den technischen und den kreativen, was sein Theaterverständnis unmöglich macht.4 MH: Vielleicht als Ergänzung zur Frage der Teambildung, weil das etwas ist, worüber wir bei der Biennale immer auch nachdenken: Die Plattformen sind ein Versuch dieser Teamstiftungen gewesen und so etwas evaluieren wir natürlich auch permanent und auch wir entwickeln uns weiter. Navidson Records kam zu uns aus einer Art Ausgründung der Plattform in Bern, die damals noch ganz andere Bedingungen der Teilnahme formuliert hatte. Hier konnten sich Gruppen mit Ideen bewerben und es gab einen Gewinner, der ausgewählt wurde, bei der Biennale München produziert zu werden. Es gab also auch die Form, als schon bestehendes 3 | Hajo Kurzenberger. Der kollektive Prozess des Theaters: Chorkörper – Probengemeinschaften – theatrale Kreativität, Bielefeld: transcript 2009. 4 | Heiner Goebbels. Ästhetik der Abwesenheit: Texte zum Theater, Berlin: Theater der Zeit 2012.
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Team dazuzukommen. Ich würde sagen, dass unser Versuch dieser kuratierten, eingeladenen Künstlerinnen und Künstlern am Anfang der Plattformen der Versuch eines Ensembleersatzes war. Die Sehnsucht danach bleibt ja auch deshalb bestehen, weil es keine Erfolgsingredienzien gibt, die todsicher zum Erfolg führen. Und gleichzeitig ist es auch immer eine konkurrenzielle Situation. Ob das Team schon besteht oder sich erst findet – ich glaube, die Konkurrenzsituation ist eine ähnliche. Aber die Vertrautheit, die entstanden ist mit den einzelnen Künstlerinnen und Künstlern, die dazu geführt hat, dass beispielsweise Manos sich dachte, Judith und Neele, das könnte passen – das hat schon im besten Sinne etwas von einer funktionierenden Intendanz, die sehr wohl weiß, welche Menschen an ihrem Haus arbeiten und sich überlegen, welche Zusammenfügungen wären fruchtbar – auch wenn man es nicht garantieren kann. So würde ich auch die Arbeit an einem gut funktionierenden Stadttheater beschreiben in ihren positiven Aspekten. JE: Wollt ihr das Team der Plattform denn so beibehalten? MH: Das Prinzip der Plattform als Anstiftung bleibt bestehen, aber die Frage: wie und wen man einlädt, sich kennenzulernen – das ist sozusagen die Stellschraube, an der man bisschen dreht. DR: Ich wollte einen Themenkomplex aufgreifen, den Marion Hirte schon in Bezug auf die Ausbildung angedeutet hat. Ein Teil der Stoßkraft von neuen Arbeitsformen ist ja auch eine andere Verschmelzung oder Zusammenarbeit zwischen den unterschiedlichen Ausdruckselementen des Theaters, ob Musik und Text, oder Geste und Bewegung, oder Licht und Bühne usw. zu ermöglichen, als es die strenge Trennung, Arbeitsteilung und Hierarchie, und vielleicht auch strenge Chronologie vorsehen. Die Arbeit mit neuen Formen versucht, damit umzugehen, hat aber auch zur Folge, dass sich bestimmte Zuständigkeiten und auch künstlerische Identitäten infrage stellen. Plötzlich müssen alle an allem mitarbeiten und mitdenken. Könnt ihr aus eurer Arbeit Beispiele erzählen, wie das gelingen kann oder wo es mal nicht gelungen ist? Wo eine frühe Integration unterschiedlichster Elemente eine Chance hatten und über welchen eigenen Horizont man da springen muss?
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CG: Ich glaube, es geht gar nicht immer darum, dass sich Zuständigkeiten auflösen. Man muss stark unterscheiden zwischen kollektiven Arbeiten, die in einer Nullhierarchie funktionieren, wo alle für alles verantwortlich sind – aber auch da ist meine Erfahrung, dass sich trotz allem Verantwortungsbereiche herauskristallisieren – und Teams mit einer flachen Hierarchie: Ich bin kein Komponist, aber trotzdem möchte ich natürlich mit dem Komponisten darüber sprechen, was er tut und vielleicht auch, wie ich mir bestimmte Sachen vorstelle. Dann heißt das ja nicht, dass der Komponist nicht mehr in der Verantwortung dessen ist, aber der Austausch darüber findet früher statt. Deswegen würde ich nicht sagen, dass sich die Verantwortungen auflösen. Im Idealfall ergibt es sich aus der Arbeit, dass ich weiß, ich kann meinen Kolleginnen und Kollegen vertrauen und sie übernehmen bestimmte Aufgaben, ohne dass wir darüber sprechen. Ganz klar ist zum Beispiel, dass ich der Szenografie im Team bestimmte Sachen nicht sagen muss und es läuft trotzdem. In einer festen Hausstruktur ist das alles hingegen sehr klar geregelt, wer welche Aufgabe übernimmt. Und da kann es passieren, dass die Tontechnik das Stromkabel nicht anfasst, weil dafür die Beleuchtung zuständig ist. Das ist für mich einfach die uncharmantere Variante, das zu regeln. Das hat eben auch mit Vertrauen und einer Art Familienbildung zu tun, dass man sich aufeinander verlassen kann, sowohl in Arbeitsprozessen als auch in der Ästhetik. LD: Was ich in meiner Praxis öfters erlebt habe, wenn herkömmliche Projektentwicklungen auf den Kopf gestellt werden, ist, dass eben am Anfang von so einem Projekt gar nicht unbedingt ein Sujet oder eine Thematik im weitesten Sinne steht – vom Text erst gar nicht zu sprechen –, sondern in meinem Fall ganz oft eine räumliche Vorstellung. Bei Navidson ist es die Idee des Labyrinths gewesen, ganz am Anfang. Erst in einem weiteren Schritt kam dann der Bezug zu diesem konkreten Roman (gemeint ist House of Leaves von Mark Z. Danielewski aus dem Jahr 2000, Amn. DR), der selber labyrinthisch angelegt ist. DR: Welche Rolle spielt in dem Zusammenhang so etwas wie Handwerk? Also wie wichtig ist das auch für Eure Identität, für Euer Selbstverständnis? Gerade, wenn man sich immer wieder neu aushandelt, indem man immer wieder neue Arbeitszusammenhänge sucht? Heißt Handwerk, einen Rückzug auf einen Kern in der Arbeit zu haben, von dem man
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weiß: »das habe ich gelernt, das kann ich«, oder ist dieser Begriff selbst problematisch geworden? CG: Also, ich habe ja in Gießen studiert. Ich würde jetzt sagen, im Grunde habe ich überhaupt kein Handwerk. Ich lauf hier zwar mit einer Zimmermannshose herum, aber das ist keine klassische Regieausbildung. Also bin ich da vielleicht der falsche Ansprechpartner. Das Ganze ist für mich ein anderer Lernprozess, der viel mit ›learning by doing‹ zu tun hat. DR: Ist es nicht in Gießen sogar so, dass den Studierenden geradezu verboten wird, sich in den ersten zwei Jahren auf eine bestimmte Fachrichtung zu spezialisieren, sondern dass man bewusst durch die Gewerke geht? CG: Explizit wird das nicht verboten, aber aus den Anforderungen des Studiums ergibt sich die Beschäftigung mit mehreren Disziplinen zwangsläufig und Spezialisierung gibt es sozusagen in dieser Form nicht. Es ist, im positiven Sinne, ein Gemischtwarenladen. Also kein Fachgeschäft, sondern ein Gemischtwarenladen, und man stellt sich seinen Einkaufskorb dann eben selber zusammen aber hat dann auch die Verantwortung dafür. Das heißt, was ich also im Bezug auf Handwerk einen ganz wichtigen Impuls finde, den ich auch für die Regieausbildung, für das Dramaturgie- oder Kompositionsstudium wahnsinnig interessant finde, ist die Kenntnis und auch Wertschätzung von technischen Prozessen im Theater. Also ich habe drei Nächte lang Scheinwerfer aufgehängt und das Licht dann selbst gefahren. Das heißt, ich weiß, wie lang das dauert, und ich weiß, was dahintersteckt, und ich kann mich auch jetzt mit dem Chef beleuchter anders unterhalten über das Licht. Ich sage nicht, »irgendwie so blau«, sondern »können wir da hinten den 5KW nicht mit 201 setzten?«. Das ist natürlich sehr spezifisch, aber es hilft zu wissen, was in dieser Maschine da noch drinsteckt. MH: Das ist ein sehr schönes Thema, das ich sehr gerne aufgreife, weil es ein Steckenpferd von mir ist. Im Sinne eines magischen Denkens rede ich da immer gerne darüber, weil wir von der Gründung eines Studiengangs (an der Universität der Künste Berlin, Amn. DR) träumen, von dem ich überhaupt nicht weiß, ob wir in Zeiten knapper Ressourcen jemals das Geld dafür kriegen werden. Ich halte das aber für sehr notwendig: ein
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Studiengang, der genau über diese Form von neuer und kollektiver Autorenschaft nachdenkt, gespeist aus den verschiedenen Kunstsparten, weil ganz im Sinne von Richard Sennett, der in diesem wunderbaren Buch Zusammenarbeit5 und im früheren Buch Handwerk 6 genau diese Verbindung herstellt: auch ich bin bekennende Traditionalistin – zumindest in diesem Zusammenhang – und glaube sehr an das Handwerk, muss ich sagen. Ich fand es dabei sehr interessant im Gespräch mit Kollegen an traditionellen Kunsthochschulen festzustellen, dass diese wichtigen Impulse von kollektiven Gruppen, kollektiven Arbeitsprozessen und Ästhetiken nicht in erster Linie von künstlerischen Hochschulen stammen, sondern eben aus Gießen oder Hildesheim. Und dort haben – im besten Sinne – Laienkollektive Ästhetiken massiv verändert, im Sprechtheater oder in der Performance. Diese Impulse gibt es an den künstlerischen Hochschulen bis heute interessanterweise nicht. Warum diese Entwicklung an den Kunsthochschulen vorbeizieht, darüber lässt sich nachdenken. Das hat sicherlich etwas mit dieser Hochspezialisierung zu tun. Ich glaube aber, man müsste sich als Kunsthochschule wieder an die Spitze dieser Entwicklung setzten, das sollte es uns eigentlich wert sein. Aber es geht eben nicht in der jetzigen Ausbildungssituation, jetzt noch durch den Bologna-Prozess verschärft, da diese gar keinen Raum mehr für solche Begegnungen lässt. DR: Das deckt sich mit meinen Erfahrungen: Als Matthias Rebstock und ich vor einigen Jahren Composed Theatre 7 geschrieben haben, haben wir im Vorfeld mit vielen Künstlerinnen und Künstlern Gespräche geführt. Und was sich dabei wie ein Generalbass durch die Gespräche zog, war eben dieses Thema, das alle aus ihrer Ausbildungssituation berichteten: »Also da wo ich gelernt habe, da saßen die Komponisten in der einen Ecke, die Tänzer in der anderen Ecke und die Schauspieler in einer weiteren Ecke und die haben nie miteinander geredet und das konnten wir nie verstehen und deshalb haben wir unser Theater XY gegründet und machen jetzt seit 30 Jahren auf ganz andere Weise Theater.« Und das fand ich interessant, dass es auch an einem Ort, wo es ja eigentlich so einfach 5 | Richard Sennett. Together: The Rituals, Pleasures and Politics of Cooperation, London: Penguin 2012. 6 | Richard Sennett. The Craftsman, London: Penguin 2008. 7 | Matthias Rebstock und David Roesner. Composed Theatre. Aesthetics, Practices, Processes, Bristol: intellect 2012.
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wäre, in der Kantine diese fünf Meter zu überbrücken, dennoch nicht passiert. Das ist schon faszinierend und bringt mich zu der Frage, wie wichtig es ist, sich in einer bestimmten Phase auch mal abzuschotten, um eine klare disziplinäre Identität zu entwickeln, und ab wann man das auch auf brechen kann? CG: Es kann, glaub ich, ganz oft nicht nur mit einem Freiraum, sondern auch mit einem Zwang zu tun haben, ob ich mich öffne. Wenn ich an der Musikhochschule Komposition studiere, habe ich in der Regel auch die Möglichkeit, dass es da ein Ensemble gibt, das meine Sachen spielt. Genauso, wenn ich Regie studiere, sind da einfach Schauspielerinnen und Schauspieler. Als Gießen damals gegründet worden ist, gab es nur einen Hörsaal, den die Studierenden selber zu einer Blackbox-Bühne umgebaut haben. Aber sonst gibt es da einfach nichts. Da gibt es keine Schauspielerinnen und Schauspieler. Ich habe daher auch immer das Gefühl, dass auch diese Struktur ein Grund dafür war, dass Rimini-Protokoll8 angefangen haben alleine und mit Laien zu arbeiten. JE: Ich wollte noch etwas zum ›Ausbildungs-Thema‹ ergänzen, weil ich damals in England ein Erasmus-Jahr und eine anderer Erfahrung gemacht habe; ich habe ja eigentlich Kommunikationsdesign studiert nach meiner Holz-/Bildhauerlehre und danach bin ich an das Royal College of Art in London gegangen und habe einen Studiengang gewählt, der so eine Mischung von Kunst, Design und Illustration war. Das hieß Communication Art and Design und war relativ neu angelegt. Das Steckenpferd unseres Head of Department damals, Dan Fern, war eben der Mix von Grafik und Kunst und Musik. Er hat begonnen eine spezielle Untergruppe in seinem Studiengang zu gründen, eine Kollaboration mit der Guildhall School of Music und der Royal Academy of Music, und so habe ich zum ersten Mal mit Komponistinnen und Komponisten und Musikerinnen und Musikern zusammengearbeitet und fand das wahnsinnig spannend. Das war auch für Designerinnen und Designer gedacht und hatte mit Theater gar nichts zu tun. Aber ich habe bemerkt, dass die Studierenden 8 | Rimini Protokoll sind die drei Gießener Absolventinnen und Absolventen Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel, seit 2002 eines der erfolgreichsten Theatermacher-Teams im deutschsprachigen Theater mit einem Schwerpunkt auf dokumentarischem Theater.
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in England schon im Bachelor sehr viel ideenbasierter und experimenteller gearbeitet haben als hier in Deutschland, wo sehr viel mehr um das solide Handwerk ging. DR: Ja, das ist sicher wichtig festzuhalten, dass das je nach Nation und Kultur auch durchaus sehr unterschiedlich ist. Leo: wie ist das in der Schweiz? LD: Ich bewege mich dort beruflich in einem akademischen Bereich, der ein sehr schillerndes Verhältnis zum Handwerk pflegt und zwar auch aufgrund seiner geschichtlichen Herkunft. Wir (gemeint ist: Die Hochschule der Künste Bern, Anm. DR) haben einen Master-Studiengang Théâtre musical und ein Teil dieses Studiums ist tatsächlich auch eine Art Repertoirepflege im Umkreis des instrumentalen Theaters von [Mauricio] Kagel, [Dieter] Schnebel und Konsorten seit den 1960er Jahren. Und zu uns kommen normalerweise Instrumentalistinnen und Instrumentalisten, die schon einen Master gemacht haben und zwar ganz häufig einen Konzertmaster, so hochspezialisierte Leute, die da – wie das eben in den 1960er Jahren auch die Idee war – nach einer Erweiterung der eigenen Möglichkeiten suchen, wobei trotzdem auch immer der Gedanke der Virtuosität mitspielt. Und diese Denke heraus zu bekommen, ist ganz schwierig. Unsere Studierenden haben bei dem, was sie frei entwickeln sollen, immer den Anspruch »das muss aber jetzt auch zu einer Könnerschaft, zu einer Meisterschaft geführt werden, und das muss auch sichtbar werden«. Und da ergeben sich eigentlich ganz interessante, im besten Fall, produktive Reibungspunkte. Gleichzeitig ist unser Studiengang so angelegt, dass er als Zusammenspiel zwischen Komponistinnen und Komponisten und Musikerinnen und Musikern/Darstellerinnen und Darstellern funktionieren soll, wo auch solche festgefügten Rollenmuster aufgebrochen werden sollen. Bei den Komponistinnen und Komponisten ist es dabei ganz ähnlich, wenn man sich in der Traditionslinie von Kagel & Co sieht. Dann ist dann erst einmal die Idee: »Ich als Komponist erweitere meine Strukturen um weitere Parameterebenen«. Das heißt, ich maße mir mal an, jetzt eben nicht nur meine Töne zu organisieren, sondern sämtliche Parameter des Theaters, was dann auch wieder zu ganz komischen Vorstellungen von Handwerk führen kann. Wenn man sich einige der rigideren Beispiele aus der Vergangenheit anschaut, ist man heutzutage schon wieder sensibilisierter dafür, dass Visuelles dann doch
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anders funktioniert, als, wie ich meine Töne organisiere. Und insofern ist dieses Thema zwischen Handwerk und dem notwendigen Loslassen und sich Einlassen können auf Begegnungen, auf so ein zentrales Experimentier- und Verhandlungsfeld, eben und gerade auch im akademischen Bereich ganz zentral. DR: Das Stichwort des ›Verhandelns‹ finde ich ganz wichtig: All diese experimentellen Formen haben doch gemeinsam, dass man nicht mehr ganz so viel für gegeben und gesetzt und sozusagen ›unhintergehbar‹ annimmt, sondern eben darüber reden muss: wie soll die Zusammenarbeit geregelt sein, wie ist unser Zeitplan, von was von einem Raum gehen wir aus usw. Ich glaub daher auch, dass es nicht eine Frage von einer Abschaffung von Handwerk ist: auf Gelerntes zurückzugreifen ist ja nicht nur ein intellektueller, sondern auch ein verkörperter Vorgang, ein Zugriff auf Erfahrung und ›Körperwissen‹ über bestimmte bildnerische Materialien oder kompositorische oder dramaturgische Verfahren, und hat zweifellos einen großen Wert, kann und sollte aber immer wieder auch in Frage gestellt werden und neu verhandelt werden dürfen. Fragen aus dem Publikum Gisela Nauck: Es war am Anfang von den festen Strukturen die Rede, die im Stadttheater nach wie vor wirksam sind und die Münchner Biennale hat uns jetzt gezeigt, dass andere Wege versucht werden, um von vornherein die Produktionsbedingungen flexibler zu halten, als Kennzeichen eines neuen Musiktheaters. Meine Frage: Ist neues Musiktheater in dieser Form der Flexibilisierung der Produktionsbedingungen im Stadttheater überhaupt noch möglich oder muss sich neues Musiktheater nicht auch Wege suchen, so, wie es die neue Musik getan hat. Nämlich aus den Konzertsälen respektive Opernhäusern hinausgehen, um sich in unterschiedlichsten Räumlichkeiten auch inhaltlich neue Auseinandersetzungsformen für Musiktheater zu suchen? CG: Wir koproduzieren Speere Stein Klavier für die Biennale mit dem Theater Augsburg und uns war von Anfang an klar, dass wir eine TryoutPhase brauchen, bevor wir in den eigentlichen Probenprozess starten. Also haben wir erfolgreich dafür gekämpft, dass wir einen ersten Block von drei Wochen im Februar bekamen und mit den eigentlichen Proben
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jetzt im Mai begonnen haben, um wie in einem Workshop bestimmte Sachen herauszufinden und anzupassen zu können und auch auf den Betrieb nochmal reagieren zu können. Das war eben möglich, und ich glaube daher schon, dass sich ein Stadttheater auch anderen Zeitabläufen öffnen kann. Und gleichzeitig eröffnet es auch Freiräume: Wenn ich einen 30-köpfigen Chor als Ausdrucksmittel haben will, wird es außerhalb des Theaters schnell wahnsinnig schwierig. LD: Ich würde sagen, das neue Musiktheater war noch nie im Stadttheater. Das hat sich eigentlich zunächst in den 1960ern in diesen Freiräumen rund um Rundfunkveranstaltungen und in Konzerträumen jenseits des Etablierten entwickelt, und insofern finde ich es schwierig, davon zu reden, das Musiktheater müsste sich aus den Stadttheater-Strukturen herauslösen, denn da war es noch nie richtig drin. Mich würde eher umgekehrt interessieren, wie das im Vergleich beim Tanz aussieht. Ich bin in Basel groß geworden und in den 1990er Jahren wurde dort das klassische Ballett abgeschafft und durch das Tanztheater von Joachim Schlömer ersetzt. Und zunächst ging einmal ein großer Aufschrei durch die Bürgerschaft: ›Skandal‹ und ›Untergang der abendländischen Kultur‹. Ein paar Jahre später war das völlig selbstverständlich und ist dann auch zum Kult geworden. Die Frage ist, jetzt nur mal hypothetisch gedacht, ob es analog auch im Stadttheater eine Umwandlung von einer Opernsprache hin zum neuen Musiktheater geben wird? MH: Das finde ich eine gute Beobachtung, weil ich glaube, dass da das Sprechtheater schon ein bisschen weiter ist; von daher wäre es in der Tat zu wünschen, dass in den Musiksparten der Dreispartenhäuser dann passieren würde, was im Sprechtheater schon an der Tagesordnung ist: man hat die Entwicklungen kollektiver Prozesse und Ästhetiken beobachtet, ans Stadttheater geholt und für sich fruchtbar gemacht. Es wäre sicher wünschenswert, dass das vielleicht auch mal im Musiktheater passiert. GN: Ich habe noch eine Ergänzung beziehungsweise möchte die vorherige Frage noch von einem anderen Gesichtspunkt beantworten. Wir haben bisher vor allem über strukturelle Aspekte gesprochen. Um das einmal weiterzudenken, frage ich mich, ob eine bestimmte ›Inhaltlichkeit‹, die uns heute bewegt, mit musiktheatralen Mitteln innerhalb des Stadttheaters überhaupt noch darstellbar und zu gestalten ist, oder ob die fixen
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Strukturen dort nicht doch bestimmte traditionelle Gestaltungsausrichtungen vorgeben? Muss sich das neue Musiktheater nicht auch deshalb ganz andere Formen suchen, um als Reflexionsort auf die Gegenwart überhaupt reagieren zu können? CG: Ich würde gerne mit einer Anekdote darauf antworten: Also ich bin ein großer Freund, ein großer Verfechter des Stadttheaters. Das ist eine ganz wunderbare Institution und ich glaube, dass sie ganz oft ganz anders verstanden werden muss, als ein Ort des Dialogs und der Auseinandersetzung. Ich habe im Rahmen des Fonds Experimentelles Musiktheater9 vor vier Jahren eine Produktion in Krefeld/Mönchengladbach gemacht, die hieß Josefine, basierend auf der Geschichte von Kafka, Josefine, die Sängerin, die wir verknüpft haben mit der Frage nach Individuum und Digitalität heute. Und unsere Grundvoraussetzung für dieses Projekt mit dem Komponisten Sagardia war, dass wir das mit einem großen Laienchor machen wollten und haben dann eigenmächtig 60 Laien aus der Region gecastet, was für das Theater ein großer Aufreger und Konflikt war. Wir hatten viele Publikumsgespräche und in einem ist ein Herr um die 70 aufgestanden und hat gesagt: »Entschuldigung, ich bin jetzt seit 40 Jahren Abonnent hier in diesem Haus und ich war letzte Woche mit meiner Frau hier in der Norma – das war eine ganz tolle Sängerin, wunderschöne Inszenierung, und dann sind wir nach Hause gegangen und haben drüber gesprochen, ob wir das Wohnzimmer neu streichen. Heute Abend bei Ihnen habe ich das nicht genau verstanden, ich weiß nicht, was sie da genau gemacht haben, aber ich weiß, dass ich da jetzt noch zwei Wochen darüber nachdenken muss. Und das würde ich mir mehr wünschen.« Und das fand ich einen ganz berührenden Moment, weil das eigentlich für die Institution und auch dafür spricht eben neue Formen und Experimente in die Häuser zu tragen – und auch das Abo-Publikum nicht zu unterschätzen. Manos Tsangaris: Daniel [Ott] und ich sagen immer gerne: man muss das eine tun und darf das andere nicht lassen. Das ist eines unserer Mantras. 9 | Eine Initiative des Kultursekretariats und der Kunststiftung NRW, die neues Musiktheater im Zusammenarbeit mit den Stadttheatern in NRW fördert. Siehe www.nr w-kultur.de/en/programme/fonds_experimentelles_musiktheater/#/ vom 04.06.2017.
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Ich würde daher gerne versuchen, auf Gisela Naucks Frage ein bisschen genauer zu antworten, nämlich in Bezug auf die Gefäße des tradierten Theaters, wobei Sprechtheater und Opernhäuser noch gravierende Unterschiede aufweisen, was die Flexibilität des Systems und der Produktionsmechanismen angeht. Die Notwendigkeit, in neue Räume zu gehen, in neue Situationen, ist ja nicht nur dadurch gegeben, dass wir in die Häuser nicht reinkommen oder nur sporadisch die Gelegenheit haben, diese tollen Gefäße zu nutzen, um sie auch eventuell umzudeuten, sondern es ist ja auch eine inhaltliche Frage. Also wenn wir zum Teil sogenannte site-specific – also situationsspezifische – Stücke produzieren, dann liegt das ja auch daran, dass das ein ganz anderes Denken erfordert darüber, was Komposition, was Aufführung und Realisierung bedeuten können in einer lebensweltlichen Situation, die sich im Bezug auf die Verhandlung unseres Gemeinwesens und Öffentlichkeit radikal verändert, gerade in diesem Moment, gerade in diesem Jahr mehr verändert als meinetwegen in den 1960er Jahren. Ich will damit sagen: Bestimmte Dinge müssen und sollen in die Häuser! Um das jetzt mal bisschen überspitzt auszudrücken: wir sollten buchstäblich auf eine Quote pochen. Ich finde, dass 50 % der Produktionen zeitgenössische Produktionen sein sollten unter Einberechnung des Scheiterns. Dann haben wir eben nicht so einen schönen abgezirkelten Kanon des Repertoires, bei dem wir wissen: diese ungefähr 30 Stücke im Musiktheater gehen ja immer, sondern man sollte wirklich sagen: wir müssen uns auf Dauer als Gesellschaft gegenüber der Lockenwickler-Fraktion zur Wehr setzen und dafür sorgen, dass die vielen, vielen Mittel, die da reingesteckt werden, ins Laboratorium gehen und nicht nur in so eine Art missverstandenes Museum. Und auf der anderen Seite ist es eben manchmal auch inhaltlich begründet, das Theater zu verlassen, wenn Leute Stücke interventiv machen auf der Straße, wenn für Hauptbahnhöfe komponiert wird, wenn auf einmal sensible Klangkörper und Aufführungsphysiognomien dann auf ganz andere Art und Weise gezwungen sind, Kohärenz-Fragen zu stellen: was heißt dann noch Komposition oder welche Art von Artefakt ist jetzt hier notwendig? Es kann ja nicht nur um Wiederholung von etwas gehen, das schon stattgefunden hat mit Cage, mit Fluxus und so weiter, und dass man sagt »Leben und Kunst werden miteinander in Beziehung gesetzt und alles kann irgendwie poetisiert werden«, um Novalis zu zitieren, sondern, dass die Fragen nach Komposition sich auf eine neue Weise stellen.
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Roland Quitt: Daran möchte ich kurz anknüpfen. Ich arbeite für den Fonds Experimentelles Musiktheater, von dem schon die Rede war und der im Grunde versucht, Stadttheater mit diesen neuen Formen zu infizieren, die dort nie wirklich ein zu Hause gehabt haben. Ich glaube, man spürt in den Stadttheatern sehr, das ist jedenfalls meine Beobachtung, dass diese herkömmliche Form von Regietheater Post-Neuenfels den Stachel verloren hat und eigentlich nicht mehr richtig funktioniert und dass man sich in einer Krise befindet. Es gibt durchaus viele Versuche, die ich an Stadttheatern sehe, neue Formen und zum Teil auch, ganz vorsichtig, neue Arbeitsformen einzuführen, und sich, wie das Schauspiel das schon länger getan hat, mit der Off-Szene zu verbinden. Ich glaube, ein großes Problem, das nach wie vor existiert, ist, dass die Dramaturgen, die dort arbeiten so stark auf die Oper fixiert sind, dass sie eigentlich überhaupt keine Ahnung haben, was in der Szene für neues Musiktheater stattfindet. Ich bin immer wieder schockiert, dass die gesamte zeitgenössische Musik an diesen Dramaturgen zum größten Teil vorbeigegangen ist. Es ist nach wie vor so, dass sie, wenn sie von neuer Musik sprechen, meistens damit Benjamin Britten meinen (Lachen), und insofern glaube ich auch, was Manos gesagt hat: 50 % Quote, sonst gibt es keine andere Chance diese Häuser zu eropern (lacht), also nicht ›zu eropern‹, sondern zu ›entopern‹ vielleicht, also zu erobern! Das heißt, man kann nicht darauf warten, dass man da reingeholt wird, man muss wirklich versuchen, in entscheidende Positionen zu kommen, um das zu verändern. Daher ist es wichtig, dass sich ein neues Musiktheater, das im Moment seinen Ort auf Festivals und anderen Institutionen findet, nicht aus diesem Spiel rausfällt. DR: Vielen Dank. Ich finde, das ist eigentlich ein sehr schönes, provokatives Schlusswort und danke nochmals herzlich unserem Podium, der Biennale, dem Gasteig und Ihnen, den Zuhörerinnen und Zuhörern!
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Autorinnen und Autoren
Roman Brotbeck (*1954) arbeitet als Musikforscher an der Hochschule der Künste Bern (HKB) sowie als freier Publizist und Berater. 1982-1988 Musikredaktor beim Hörfunk (SRF 2 Kultur), 1988-1994 Forschungen zur Mikrointervallik im 20. Jahrhundert (México, USA, UdSSR, Kanada und Frankreich), 1997-2014 diverse Leitungstätigkeiten in der HKB, zuletzt als erster Gründer und Leiter der Graduate School of the Arts Bern, dem ersten Promotionsprogramm für die Künste in der Schweiz. Zahlreiche Publikationen und Referate, vor allem zur Musik des 20. Jahrhunderts. Konzeption und Organisation verschiedener kultureller Großprojekte im musikalischen und interdisziplinären Bereich. Seine Forschungsgebiete sind Mikrointervalle, Musiktheater, Musikpolitik und Schweizer Musikgeschichte. Leo Dick (*1976) studierte in Berlin Komposition und Musiktheaterregie und war danach Meisterschüler von Georges Aperghis in der Klasse ›Théâtre Musical‹ an der Hochschule der Künste Bern. In Zusammenarbeit mit Formationen wie dem Ensemble Mosaik, den Neubrandenburger Philharmonikern, dem Rias-Jugendorchester, dem Ensemble Adapter, Ensemble Kontraste, dem Basler Sinfonieorchester, dem Nouvel Ensemble Contemporain u.a. entstanden zahlreiche Instrumentalwerke, die im Rahmen diverser Festivals (Ultraschall, Beethovenfest Bonn, Klangwerkstatt Kreuzberg, Festspiele Mecklenburg-Vorpommern) und an prominenten Veranstaltungsorten (Gare du Nord Basel, Ballhaus Naunynstrasse Berlin, Sophiensaele Berlin, Philharmonie Neubrandenburg) aufgeführt wurden. Der Schwerpunkt seiner Arbeit liegt auf Formen des Neuen Musiktheaters.
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Gegenwar t und Zukunf t des Musiktheaters
Regine Elzenheimer (*1967) ist seit 2014 Professorin für Dramaturgie mit dem Schwerpunkt Musiktheater/Konzert/Tanz an der Hochschule für Musik und Theater ›Felix Mendelssohn Bartholdy‹ in Leipzig. Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Frankfurt am Main (1997-2003), dort Promotion in Theaterwissenschaft. Langjährige Arbeit als Dramaturgin für Oper, Neues Musiktheater und zeitgenössische Musik u.a. an den Opernhäusern in Frankfurt, Stuttgart und in leitender Funktion in Mannheim sowie für das Kulturprogramm des Deutschen Pavillons auf der EXPO2000 in Hannover. Zahlreiche Vorträge und Publikationen zum Musiktheater des 20./21. Jahrhunderts und zu den Schnittstellen zwischen Neuer Musik und postdramatischem Theater. Jörn Peter Hiekel (*1963) ist Professor für Musikwissenschaft an der Hochschule für Musik in Dresden und Leiter des dortigen Instituts für Neue Musik, außerdem Dozent für Musikgeschichte und Musikästhetik an der Zürcher Hochschule der Künste, stellv. Leiter der Musiksektion der Sächsischen Akademie der Künste und Vorstand des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt. 2014 wurde er mit dem erstmals verliehenen Sächsischen Lehrpreis ausgezeichnet. Dieter Mersch (*1951) Studium der Mathematik und Philosophie in Köln und Bochum. Promotion und Habilitation in Philosophie an der Technischen Universität Darmstadt. Zwischen 2004 und 2013 Lehrstuhl für Medientheorie und Medienwissenschaften an der Universität Potsdam, seit 2013 Leiter des Instituts für Theorie an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK). Gastprofessuren u.a. an den Universitäten Chicago, Wien, Budapest, Sao Paulo. Arbeitsschwerpunkte: Ästhetik, Medienphilosophie, Semiotik, Poststrukturalismus, Dekonstruktion. Daniel Ott (*1960) studierte Klavier und unterrichtete anschließend Klavier und Musik in Basel und Graubünden. Zeitgleich baute er verschiedene freie Theatergruppen mit auf. Er studierte Komposition bei Nicolaus A. Huber an der Folkwang-Hochschule Essen und bei Klaus Huber an der Musikhochschule Freiburg im Breisgau. Daniel Ott ist freischaffend tätig als Komponist, Pianist und Darsteller mit Arbeitsschwerpunkt Neues MusikTheater - sowie mit interdisziplinären und raum- bzw. landschaftsbezogenen Arbeiten. Er gründete das Festival ›neue musik rümlingen‹ und ist gemeinsam mit Manos Tsangaris künstlerischer Leiter der ›Mün-
Autorinnen und Autoren
chener Biennale – Festival für neues Musiktheater‹. Daniel Ott ist Professor für Komposition und Experimentelles Musiktheater an der UdK Berlin. David Roesner (*1972) ist Professor für Theaterwissenschaft mit Schwerpunkt Musiktheater an der LMU München. Er forschte und lehrte bisher an den Universitäten Hildesheim, Exeter und Kent und arbeitet außerdem gelegentlich als Theatermusiker. Er studierte Kulturwissenschaften und Ästhetische Praxis an der Stiftung Universität Hildesheim und promovierte dort mit einer Arbeit zu Theater als Musik (Narr, 2003). Forschungsschwerpunkte sind die Musikalisierung des Theaters und die Theatralisierung der Musik, Sound und Performance, Intermedialität, sowie Performativität und Musikalität in Videospielen. 2007 wurde sein Aufsatz ›The Politics of the Polyphony of Performance‹ (CTR 18/1, 2008) mit dem Thurnauer Preis für Musiktheaterwissenschaft ausgezeichnet. Tobias Schick (*1985) studierte Komposition in Dresden und Rom, u.a. bei Mark Andre, Ernst Helmuth Flammer und Manos Tsangaris, elektronische Musik u.a. bei Franz Martin Olbrisch sowie Kontrabass und Klavier. Im Jahr 2017 wurde er mit einer musikwissenschaftlichen Arbeit über Weltbezüge in der Musik Mathias Spahlingers promoviert. Schick ist Alumnus der Studienstiftung des deutschen Volkes und des Cusanuswerks. Er arbeitet als freischaffender Komponist und unterrichtet Musikwissenschaft und Analyse an der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden. Katja Schneider (*1963) lehrt als Privatdozentin und wissenschaftlicheMitarbeiterin am Institut für Theaterwissenschaft der Ludwig-MaximiliansUniversität München. Lehraufträge in Bytom (Polen), Salzburg, Bern und Zürich. Schwerpunkte in Lehre und Forschung: Tanz und Medialität, Performance Art sowie zeitgenössisches Theater und Theater im 18. Jahrhundert. Promotion 1996 in Neuerer Deutscher Literaturwissenschaft mit einer interdisziplinären Arbeit zu dem Theaterautor Johann Christian Krüger; Habilitation 2013 mit der Schrift Tanz und Text. Figurationen von Sprache und Bewegung, München 2016. Als Redakteurin arbeitete sie für die Fachmagazine tanzdrama, tanzjournal und tanz (1992–2012), als Dramaturgin ist sie für das Münchner Festival »Dance« tätig.
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Manos Tsangaris (*1956) Komponist, Trommler und Installationskünstler, zählt zu den bedeutendsten Vertretern des neuen Musiktheaters. Seine Werke finden international Beachtung. 2009 wurde er zum Professor für Komposition an die Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden berufen, im selben Jahr zum Mitglied der Akademie der Künste Berlin gewählt (2012 zum Direktor der Sektion Musik). Seit 2010 ist er Mitglied der Sächsischen Akademie der Künste, seit 2017 ordentliches Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Im Studienjahr 2012/13 war Tsangaris Artist In Residence der Zürcher Hochschule der Künste, seit 2016 ist er künstlerischer Leiter der Münchener Biennale für Neues Musiktheater (gemeinsam mit Daniel Ott). Er gründete im Jahr 2011 das ›Internationale Institut für Kunstermittlung‹ und widmete sich Forschungen auf dem Gebiet der szenischen Anthropologie. Martin Zenck (*1945) Prof. Dr. an der Universität Würzburg im Institut für Musikforschung mit dem Schwerpunkt ›Aesthetik, Medien, Neue Musik‹, arbeitet seit Jahren einmal am Schwerpunkt ›Aisthesis‹ über Wahrnehmungs- und Erkenntnisleistungen der Künste, über den ein Buchprojekt mit dem Titel »Der Sinne der Sinne« in Vorbereitung ist; zum anderen an einem ausgesprochenen Frankreich-Schwerpunkt über Foucault, Deleuze, Barthes und Derrida, in dem ein Buch über »Pierre Boulez . Die Partitur und das Theater der Avantgarde« im November im Wilhelm Fink-Verlag (Paderborn) 2016 erschienen ist. Am 22. 2. 2013 erhielt er zusammen mit der Komponistin Isabel Mundry den ›Happy New Ears‹-Preis der Hans-und Getrud-Zender-Stiftung in der Bayerischen Akademie der Künste. Die Doppel-Laudatio hat der Berliner Philosoph Dieter Mersch gehalten. Im Springsemester 2013 hatte er eine Gastprofessur an der University of Chicago wahrgenommen. Auch auf seine Initiative erschien 2016 einer Sonderband in den Musik-Konzepten über die Frage »Die Musik – eine Kunst des Imaginären?« Im Herbst 2016 hat er zusammen mit Susanne Kogler eine Teilsektion innerhalb der Jahrestagung der Gesellschaft für Musikforschung an der Universität Mainz geleitet. Erschienen sind inzwischen zwei Aufsätze über Kafka und die Musik und unter seiner Mitherausgabe der Band »Intermedialität von Bild und Musik«. Im Frühjahr 2017 war er Guest Researcher am Getty Research Institute in Los Angeles, um dort an der David Tudor Collection zu arbeiten, worüber zwei Beiträge über David Tudor und Bill Viola im AfMw IV/2017 und in der NZfM VI/2017 erschienen sind.
Musikwissenschaft Michael Rauhut
Ein Klang – zwei Welten Blues im geteilten Deutschland, 1945 bis 1990 2016, 368 S., kart., zahlr. Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3387-0 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3387-4
Thomas Phleps (Hg.)
Schneller, höher, lauter Virtuosität in populären Musiken August 2017, 188 S., kart., zahlr. Abb. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3592-8 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3592-2
Lars Oberhaus, Christoph Stange (Hg.)
Musik und Körper Interdisziplinäre Dialoge zum körperlichen Erleben und Verstehen von Musik Juli 2017, 342 S., kart. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3680-2 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3680-6
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Musikwissenschaft Sylvia Mieszkowski, Sigrid Nieberle (Hg.)
Unlaute Noise / Geräusch in Kultur, Medien und Wissenschaften seit 1900 (unter Mitarbeit von Innokentij Kreknin) März 2017, 380 S., kart. 34,99 € (DE), 978-3-8376-2534-9 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2534-3
Johannes Gruber
Performative Lyrik und lyrische Performance Profilbildung im deutschen Rap 2016, 392 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3620-8 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3620-2
Sebastian Bolz, Moritz Kelber, Ina Knoth, Anna Langenbruch (Hg.)
Wissenskulturen der Musikwissenschaft Generationen – Netzwerke – Denkstrukturen 2016, 318 S., kart. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3257-6 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3257-0
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