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German Pages [192] Year 2015
OPERN SCHULE
Michael Hampe
für Liebhaber, Macher und Verächter des Musiktheaters
2015 Böhlau Verlag Wien · Köln · Weimar
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.
Umschlagabbildung: Mauro Pagano, Capriccio. Studie zum Bühnenbild »Così fan tutte« von Mozart. Salzburger Festspiele 1982.
© 2015 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig.
Lektorat: Katharina Krones, Wien Einbandgestaltung: Guido Klütsch, Köln Layout: Bettina Waringer, Wien Druck und Bindung: Theiss, St. Stefan im Lavanttal Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU
ISBN 978-3-412-22500-1
Für meine Schüler »Drum möcht’ ich, als bedürft’ger Mann, Will ich die Regeln euch lehren, Sollt ihr sie mir neu erklären.« Hans Sachs in Die Meistersinger von Nürnberg
Inhalt Vorwort 9 Was ist Oper?
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Herz 23 Die sieben W
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Sinn und Sinne
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Der Körper im Raum
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Bewegung
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Le Physique du Rôle
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Unbequem und hinderlich
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Bankräuber 62 »Beteuerungstheater« 65 Der »trizophrene« Auftakt
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Ein perfekter Musikdarsteller
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Mozart 78 Rezitativ
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Komik 99 »Zu viele Noten …«
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Inhalt
Dramaturgie 110 Regelbruch 126 Harmonie der Sphären
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Statt eines Nachworts: Meine Lehrer
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Anhang 1: Alle nützlichen Regeln im Überblick
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Anhang 2: Masterclass für Opern-Liebhaber und -Verächter
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Personenregister 189
Vorwort
L
ieben Sie die Oper? Ich liebe und ich hasse sie.
Sie hassen und Sie …? Ich liebe die Werke, das Genre, die Möglichkeit, die Welt
durch Musik darzustellen. Ich hasse die Institution, den Betrieb, der die Werke angemessen zur Darstellung bringen müsste und sie stattdessen seit vierhundert Jahren, von Ausnahmen abgesehen, herabsetzt. Unglücklicherweise bezeichnet man beides – Werke und Betrieb – mit dem Namen Oper. Aber Sie haben doch selbst jahrzehntelang Opernhäuser und Festspiele geleitet? Aus Opposition! Ich wollte den Betrieb ändern. Manchmal ist mir das auch geglückt, für kurze Zeit, unter günstigen Umständen. Aber dann wurde das Beharrungsvermögen der Institution wieder übermächtig. Kurzum: Ich habe Schlachten gewonnen, aber den Krieg verloren. Die Oper ist nicht zu ändern. Warum dann dieses Buch? Die Werke hören nicht auf, nach Antworten zu verlangen. Vielleicht kann das Buch dazu beitragen, dass sich der Opernbetrieb ernsthafter um die Oper bemüht.
Was ist Oper?
W
as ist Oper? Die Frage war gerichtet an Teilnehmer eines Meisterkurses, alle junge Opernsänger. Die
Antwort: Schweigen. Erst nach einiger Ermunterung kamen zögernd, unsicher tastend einige Vorschläge. Einer meinte: »Die Verbindung von Wort und Musik.« Ein anderer: »Große Gefühle, öffentlich dargestellt.« Ein dritter – vielleicht hatte er etwas von Wagner gelesen – schlug vor: »Gesamtkunstwerk«. Die richtige und eigentlich einfache Antwort kam nicht. »Favola per Musica« oder »Dramma per Musica« hieß die neue Kunst nach ihrer Erfindung vor gut 400 Jahren in Florenz, und das drückt genau aus, was Oper ist. Eine Geschichte durch Musik erzählen – nein, nicht erzählen: darstellen! Eine Handlung ausgedrückt durch Musik. Musik ist das Hauptausdrucksmittel der Oper. So wie im Schauspiel der Text des Dramatikers, im Ballett der rhythmisch bewegte Körper, im Film die bewegten Bilder, »the moving images«, daher der eng lische Name »movie«. Die Musik ist somit Funktion von einem Vorgang. Sie dient dazu, diesen Vorgang auszudrücken. Hier bereits gehen einige Augenbrauen in die Höhe: »Musik dient? Weiß er denn nicht, dass in der Oper die Musik herrscht?« Nur Geduld. Soweit sind wir noch nicht. »Prima la
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musica – poi le parole« (»Erst die Musik – dann die Worte«), der jahrhundertealte Streit um diese Frage ist müßig. Beide sind abhängig von der Fabel, vom darzustellenden Vorgang, der sie auslöst. Sehr wohl lässt sich eine Improvisations-Oper vorstellen, in der die Musik als Ausdrucksträger nur dient, in der, ähnlich der Commedia dell’Arte, die Handlung lediglich in ein paar Stichworten fixiert wird und alle Beteiligten auf dieser Grundlage durch improvisierte Musik die Geschichte darstellen. Ich hatte einmal einen pädagogisch begabten Korrepetitor, der, wenn die Sänger sich ungelenk verhielten, nicht spielte, was in den Noten stand, sondern zu ihrem Gehabe passende Musik improvisierte. Das dadurch ausgelöste Gelächter beantwortete die Frage nach dem Verhältnis von Darstellung und Musik fast von selbst. Nichts anderes tat auch der Pianist in frühen Stummfilmen. Der setzte sich vor die Leinwand und folgte mit seiner Musik den Bildern. Rudolf Valentino näherte sich Lilian Gish, und der Pianist modulierte langsam chromatisch in die Höhe, nun kam er ihr ganz nahe, der Pianist ging über in ein harmonisch schwüles Tremolo – der Kuss – und endete in einem harten Sforzato – die Ohrfeige, die Lilian dem allzu kühnen Rudolf verpasste. In beiden Fällen, Improvisations-Oper und improvisierte Stummfilm-Klavierbegleitung, dient die Musik ausschließlich. Im zweiten sogar einer anderen Kunstform, nämlich dem Kino, um dessen Wirkung zu verstärken. Ihre volle Höhe gewinnt die Oper erst durch die Partitur. Dann allerdings, wenn eine Partitur vorhanden ist, herrscht die Musik. Und zwar souverän und uneingeschränkt. Alles hat sich nun nach der Partitur zu richten. Alles muss entsprechend der Partitur eingerichtet und erfunden werden, muss bezogen bleiben auf die in der Partitur niedergelegte Musik.
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Nur dadurch findet die Oper ihre Rechtfertigung. Andernfalls bräuchte man keine Oper, denn die Dinge ließen sich ja in anderen Kunstformen besser ausdrücken. Opernmusik ist also: Musik zu einem Zweck. Nicht nur Musik. Der Unterschied zwischen Musik und Musik zu einem Zweck ist häufig ziemlich unklar, obwohl er einfach darzulegen ist: in der 5. Symphonie von Beethoven drückt aus und bedeutet: und sonst nichts. Es ist absolute Musik, abstrakt, wenngleich von größter Gefühlsintensität; es ist das musikalische Material, aus dem Beethoven den grandiosen ersten Satz seiner 5. Symphonie baut. »Zu Hilfe, zu Hilfe sonst bin ich verloren, der listigen Schlange zum Opfer erkoren« und die dazugehörige jagende, pulsierende Einleitung der Zauberflöte mit der schlangenartig sich aufbäumenden Bewegung im Bass ist etwas ganz anderes. Hier hat die Musik sehr konkrete Dinge auszudrücken und darzustellen. Nämlich: die spezifische Panik des bestimmten Tamino in der einmaligen Situation in dem speziellen Zustand. Die Musik, die abstrakteste der Künste, wird verheiratet mit der dramatischen Kunst, um etwas Konkretes auszudrücken. Die Musik wird gebraucht zu Zwecken. Puristen könnten sogar sagen: missbraucht. Dieser Unterschied zwischen Musik und Musik zu einem Zweck ist im Opernbetrieb manchmal bis in die höchsten und verehrungswürdigsten Ränge hinein nicht klar. Da meinen manche, sie machten Musik, während sie in Wirklichkeit doch Musik zu einem Zweck machen. Er ist häufig auch bei der Beurteilung von Oper nicht klar. Da wird geurteilt nach musikwissenschaftlichen, rezeptionsgeschichtlichen, ästhe tischen Kriterien – alles ehrenwerte Kriterien –, aber der entscheidende Maßstab, nämlich jener der Wahrhaftigkeit und
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des daraus resultierenden Gebrauchswerts der Musik und dessen Umsetzung auf der Bühne, dieser Maßstab wird, wenn überhaupt, selten erwähnt. Von »Verdoppelung der Musik durch die Darstellung« ist da kritisch die Rede, so als sei Opernmusik unabhängig und nicht von der Szene verursacht. Vom Gebrauchswert reden, heißt fragen, was sagt die Musik? Peter Cornelius, der Komponist des Barbier von B agdad, berichtet, dass Wagner bei der Hauptprobe der Meis tersinger-Uraufführung plötzlich wie besessen losgeschrien habe, und zwar im reinsten sächsischen Dialekt: »Nu singen die Kerls wieder!« Alle Anwesenden waren verblüfft. Was sollten die Sänger denn sonst tun? Wagner aber hatte schnell bemerkt, dass sie nun, als das Werk nach wochenlangen Proben zum ersten Mal ohne Unterbrechung lief, sofort wieder in die Sänger-Unart verfielen, nur schöne Töne zu produzieren, statt den Anlass der Musik zu spielen, dass sie also wieder nur Musik machten, statt den von ihm komponierten Zweck der Musik durch ihren Gesang zu verdeutlichen. Was also sagt die Musik? Wie findet man das heraus? Dazu müssen alle Beteiligten – Sänger, Regisseure, auch Dirigenten – »Musikdetektive« werden. Was tut ein Musikdetektiv? Genau dasselbe wie ein Polizeidetektiv. Der Polizeidetektiv steht vor einem Toten, durch ein Messer ermordet. Das Messer aber ist nicht mehr vorhanden. Dann findet er am Boden einen Blutstropfen und noch einen und einen dritten in Richtung Ausgang. Aus diesen Indizien schließt er, dass der Mörder das bluttriefende Messer zur Tür hinausgetragen hat. Das heißt, er trifft Rückschlüsse auf das, was sich hier abgespielt hat. Nichts anderes tut der Musikdetektiv. Hier ein Instrumentationswechsel, die Klarinette setzt ein, da eine harmonische Modulation oder eine dynamische Verän-
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derung, und dann ein Tempowechsel. Dies sind sozusagen die Blutstropfen des Musikdetektivs. Aus ihnen schließt er in einer bestimmten Situation auf den gesamten Ablauf der Ereignisse, die die Musik ausdrücken soll. Auf diese Weise spürt er in der Partitur die Vorstellung auf, die hinter ihrer Entstehung stand und den Komponisten veranlasst hat, sie so und nicht anders zu schreiben. Fazit: Der Komponist lässt es klingen wie es in seiner Vorstellung aussieht. Der Musikdetektiv geht als Regisseur den umgekehrten Weg und lässt es aussehen wie es klingt. Wenn beide sich treffen, nennt man das: Opernglück. In diesem Zusammenhang stellt sich eine weitere Frage: Was ist das Orchester? Auch diese Frage, gerichtet an die eingangs erwähnten jungen Opernsänger, wird mit Schweigen beantwortet. Allenfalls undeutliches Gemurmel ist zu vernehmen: Das Orchester sei eben da und spiele. Ja, das tut es, ohne Frage. Aber was ist es? Schließlich meine Antwort: »Das Orchester – das bist du!« Das Orchester drückt aus, was in den handelnden Personen auf der Bühne vorgeht, ihren Charakter, die Situation, den Zustand, Aktion und Reaktion und viele andere Dinge. Das Orchester – das bist du! Deswegen hast du, Sänger oder Sängerin, das Orchester zu kennen und zu wissen, was in ihm vorgeht. Natürlich ist das Orchester auch noch sehr viel mehr. Das Orchester kann Kommentar sein, kann Atmosphäre schaffen, kann mit Leitmotiven Beziehung und Bedeutung herstellen. Es kann neben das Du, d. h. den subjektiven Ausdruck der handelnden Person, auch die objektive Außensicht stellen. Es kann sogar gegen die Aktion spielen. Etwa einen Triumphmarsch, bei dem die Opfer des Triumphs vorgeführt werden. Dennoch ist die erste und wichtigste Funktion des Orchesters, die handelnden
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Personen unter allen möglichen Aspekten darzustellen, was umgekehrt bedeutet, dass diese sich nach dem Orchester zu richten haben. Wenn aber das Orchester das ausdrückt, was im darstellenden Sänger vorgeht, dann muss man noch einen Schritt weitergehen: Der Sänger muss den Spieß umdrehen und die Musik scheinbar für den Zuschauer erzeugen. Er muss dem Orchester den Grund vorgeben, so oder so zu klingen. Erst muss er sich aufregen, bevor das Orchester aufgeregt spielen kann. Tut er das nicht oder zu spät, hat das Orchester gar keinen Grund zur Aufregung. Der Sänger muss also immer etwas voraus sein. Das ist im Übrigen auch im ganz banalen Leben so. Bevor man etwas sagt, muss man zwangsläufig zwei Dinge tun: denken und atmen. Nur in ihrem Bezug zum Vorgang auf der Bühne kann man die Musik in der Oper begreifen und beurteilen. Im Schauspiel ist diese scheinbare Spontanität ganz normal. Hamlet spricht seinen berühmten Monolog »To be or not to be« so, als ob die Worte im Moment aus der Situation der Figur heraus entstünden. Nur wenn das der Fall ist, findet das Publikum: »Der ist gut, dem glaubt man«, obwohl alle doch wissen, dass die Worte vor 400 Jahren von Shakespeare geschrieben worden sind. Dasselbe ist auch vom Sänger gefordert, nur dass bei diesem statt der Worte scheinbar spontan Musik entsteht. Man will ihm glauben können. Und was bewirkt, dass man ihm glaubt? Wodurch identifiziert sich das Publikum mit dem Vorgang auf der Bühne? Was lässt es mit dem Darsteller mitfühlen, mitweinen, mitlachen? Man sagt immer, in der Oper sei es des Sängers Stimme. Genau genommen ist es aber nicht die Stimme, sondern der Klang der Stimme. Wenn ein Geiger Beethovens Konzert
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spielt, ist man ja nicht in erster Linie an der Geige interessiert, sondern an dem Klang, den der Spieler durch die Verbindung seiner eigenen mit Beethovens großer Seele auf seinem Instrument erzeugt. Und so ist es auch beim Sänger. Die Stimme ist das Instrument. Erst der Klang der Stimme ist es, der Menschen berührt und ihr Interesse an der vom Sänger verkörperten Figur erweckt. Was aber ist der Klang einer Stimme? Wie entsteht er? Hier meine Definition: »Luft + Idee = Klang.« Der Sänger entlässt Luft aus seinem Körper, die durch die Stimmbänder zum Ton wird. Und der Ton trifft nun auf die »Idee«, auf die Vorstellung nämlich, ob jemand traurig oder fröhlich, aggressiv oder verliebt ist. Eine traurige Stimme klingt völlig anders als eine fröhliche, und jeder hört sofort, ob jemand verliebt oder aggressiv ist. Es ist also der zum Ton gewordene Atem, der sich mit einer Vorstellung verbindet und so den Stimmklang erzeugt. Und damit sind wir am Kernpunkt allen Theaters: der Phantasie. Theater beruht auf Phantasie; ohne Phantasie ist alles auf der Bühne tot. Die gute Nachricht: Phantasie kann man trainieren wie den Bizeps. Und eine trainierte Phantasie wird sofort alles in Bild, in Vorstellung umsetzen. Das Grundelement des Theaters ist eine durch Phantasie erschaffene Realität unter dem Gesetz des »Magic If« – »Wenn es so wäre«. Da setzt die Phantasie an. Jedes Kind hat sie. Ein Stück Holz wird ihm zum Raumschiff, mit dem es durch das Weltall navigiert. Im nächsten Moment wird das Raumschiff zum Flammenschwert, weil der junge Krieger Star Wars nachspielt, und schon verwandelt sich das Stück Holz erneut in ein Schiff, mit dem der kindliche Pirat durch die Karibik segelt. Der Ruf der Mutter verhallt ungehört, weil das Kind völlig in seiner aus
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Was ist Oper?
Phantasie erschaffenen Realität lebt. Diese Begabung, aus Phantasie Realität zu erschaffen, ist die Grundbedingung aller darstellenden Künste, gleichviel in welchem Genre sie sich entfaltet. Wenn einer ausruft: »Da läuft eine Maus!«, so tut er das, weil er die wirkliche Maus erblickt, sie kommt dann über Auge und Sehnerv ins Hirn, dahin, wo Mäuse und Löwen verglichen werden. Je nach Charakter wird er dann über das harmlose Mäuslein lachen, oder – etwa als alte Jungfer – in Panik auf den Stuhl springen. Das ist die eine Möglichkeit. Die andere ist, dass er die Maus in seiner Phantasie erschafft. Und auch diese Phantasie-Maus kommt über Synapsen im Hirn dort an, wo Mäuse und Löwen verglichen werden. Und alles Weitere spielt sich dann ganz genauso ab wie bei der realen Maus. Unter einer Voraussetzung: Bei gleichzeitig hellstem Wachsein im Spiel muss ein bestimmtes Arealdes Bewusstseins etwas herabgedämpft sein, sodass es nicht störend dazwischenruft: »Da ist ja gar keine Maus!«, sondern wie beim Kind die Phantasie-Maus als Realität akzeptiert. Genau diese Art Phantasie ist der Kern der darstellerischen Begabung. Es gibt also genau genommen keinen Unterschied zwischen Leben und Theater. Beides spielt sich in einer Realität ab, die das Verhalten eines Menschen bestimmt. Weswegen der große Magier Max Reinhardt völlig zu Recht behauptete: »Nicht Verstellung ist die Aufgabe des Schauspielers, sondern Enthüllung.« Wohl gemerkt, Opernsänger sind keine Schauspieler und sollen es auch nicht sein. Sie sind Musikdarsteller. Der Unterschied ist klar: Der Darsteller des Hamlet kann seinen Monolog langsam und nachdenklich sprechen: »To be or not to be …«. Er kann aber auch zynisch herauslachen: »… that is the
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question.« Er kann sich seine eigene Melodie sozusagen selber komponieren. Er ist darin frei. Nicht so der Musikdarsteller. Er ist an die Partitur gebunden. Glaubhaft und wahrhaftig jedoch wird auch er nur, wenn er die Musik aus einer durch Phantasie erzeugten Realität entstehen lässt. Phantasie also steuert über den Atem den Klang der Stimme ebenso wie den Ausdruck des Körpers. Manche Naturvölker hatten für Atem und Seele nur ein Wort. Durchaus plausibel. Denn ohne Atem keine Seele, und »entseelt«, wie das schöne Wort lautet, bedeutet auch, dass da kein Atem mehr ist. Das Transportmittel für die Seele – denn das ist es, was letztlich vom Darsteller aufs Publikum übertragen wird –, das Transportmittel ist der Atem, der Körper und Stimme gleichermaßen steuert. Wobei zu sagen ist: Der Körper ist das erste Instrument. Entwicklungsgeschichtlich war er Millionen Jahre früher vorhanden, als es noch keine Stimme gab. Der Ichthyosaurus konnte sich unmissverständlich durch seinen Körper ausdrücken. Erst viel später kam die Stimme hinzu. Dann aber gehörten sie zusammen: Die Einheit von Stimmklang und Körperausdruck, vom Atem, man könnte auch sagen, von der Seele, gesteuert. Wenn es mit rechten Dingen zuginge, sollte und müsste dabei eine Art Bewegungspartitur entstehen, die aus der Musik entwickelt, ebenso differenziert wie diese, sich mit der musikalischen Partitur zusammenfügt, sodass die beiden zur Einheit werden mit dem Ziel: Verkörperung von Musik. Wagner nannte das: »Ersichtliche Taten der Musik.« Soweit in aller Kürze die Grundelemente der Kunstform Oper. Sie werden wenig bedacht und die Konsequenzen daraus nicht gezogen, geschweige denn in der Praxis umgesetzt. Die Oper ist sich ihrer selbst weitgehend unbewusst.
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Was Wunder, dass sie als einzige unter allen darstellenden Künsten in den vierhundert Jahren ihrer Existenz kein Handwerk der Musikdarstellung entwickelt hat, keinen Kanon von Regeln und Techniken, die man kennen und beherrschen muss, bevor man überhaupt diese Kunst ausüben kann. Ohne langjähriges Körpertraining kein Ballett, ohne gekonnte Handhabung der Kamera kein Film. Kabuki-Spieler üben viele Jahre, bevor sie überhaupt auf die Bühne dürfen, von der Chinesischen Oper mit ihren hochartistischen Wundern gar nicht zu reden. Die Oper hat zwar einen handwerklichen Kanon für die Ausbildung der Stimme von der Gesangskunst übernommen und weiterentwickelt, aber eben nicht für die Darstellung von Musik. Denn Singen ist ja noch nicht Darstellen. Das bewirkt, dass ein junger Sänger hunderttausend Mal, vielleicht sogar eine halbe Million Mal, seine Stimmübungen macht, bevor er überhaupt zum Sänger wird. Aber er übt nicht drei Mal einen musikalischen Bewegungsablauf, den er für die musikalische Darstellung ebenso benötigt. Nicht weil er das nicht will, sondern weil man ihm nicht gesagt hat, dass das ebenso wie die Stimmübungen erforderlich ist, um zur erstrebten Einheit von Körper und Stimme zu gelangen. So entsteht in der Oper die bizarre Situation, dass musikalisch jede Sechzehntelnote penibel beachtet wird, szenisch aber völlige Willkür in einem Brachland der Regellosigkeit herrscht. Anything goes. Alles ist erlaubt. In meinem Metier der Regie bewirkt das beispielsweise: Wenn einer lauthals verkündet, er kenne keine Oper, könne auch keine Noten lesen, vielmehr sei er unmusikalisch und möge überhaupt keine Musik, dann wird er mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit einen oder mehrere Intendanten finden, die ihn als »Mann
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neuer Wege« zur Regie drängen. Ebenso gut könnte die medizinische Fakultät mich zur Durchführung einer Herzoperation einladen. Selbstverständlich unter starker Beteiligung der Medien. Das wäre dann das erwünschte »Event«. In beiden Fällen, dem der Oper und dem meines Herzpatienten, wird die Enddiagnose lauten: Operation gelungen, Patient tot. Aus derlei Absurditäten entsteht die zu allen Zeiten beklagte Diskrepanz zwischen dem Opernbetrieb, der unbedarft einem fröhlichen Ungefähr huldigt, und den Opernwerken, die in ihren besten Exemplaren wahre Menschheitswunder sind. Zur Ehrenrettung der Sänger sei gesagt, dass sie oft selbst unter widrigen Umständen aus Begabung und Instinkt vieles richtig machen und sich selber weiterentwickeln. Aber das Richtige wird eben meist nicht gelehrt, alles bleibt dem Zufall überlassen. Die eigentliche Todsünde ist: Die Oper lernt nicht. Man schaue sich in der Geschichte der Gattung um. Von Zeit zu Zeit gab es wunderbare Inseln, auf denen das Musiktheater erblühte und Dinge entstanden, die man nie wieder hätte rückgängig machen dürfen. Gluck und Wagner waren solche Inseln, Mahler in Wien und Felsenstein in Berlin. Aber jedes Mal hat der große Ozean des Dilettantismus diese Inseln wieder hinweggespült. Und danach war alles wie vorher. Nochmals, der Fluch der Oper ist: Sie lernt nicht. Deshalb habe ich gefragt: Gibt es überhaupt Regeln und Techniken, die als Grundlage für einen handwerklichen Kanon der Oper taugen könnten? Um das herauszufinden, habe ich mit meinen Schülern in aller Welt systematisch geforscht, probiert, getestet, Gegenproben gemacht, gelegentlich auch durch extreme Versuche provoziert. Zu unserer eigenen Überraschung haben wir mehr als hundert sol-
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che Techniken und Regeln gefunden, die bewusst gemacht, gelehrt, erlernt, geübt und am Ende beherrscht und angewandt werden können. Sie zu kennen ist ergiebig für alle, die sich mit Oper befassen – nicht nur für Opern-Macher, sondern auch für Opernliebhaber und selbst -Verächter. Wir haben sie deshalb Nützliche Regeln genannt. NÜTZLICHE REGELN --
Oper: eine Begebenheit durch Musik darstellen.
--
Begreife den Unterschied zwischen Musik und Musik zu einem Zweck.
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Definiere den Zweck der Musik.
-- Werde »Musikdetektiv«. --
Kenne das Orchester.
--
Gib dem Orchester den Grund für sein Spiel.
-- Trainiere die Phantasie.
Herz
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ie eigentlich wirkt Theater? Auf zwei Zeitebenen: im Augenblick der Aufführung und in der Erin-
nerung. Als ich ein junger Schauspieler war, haben mir alte Kollegen von Max Reinhardt berichtet, bei dem sie engagiert gewesen waren und in dessen legendären Inszenierungen sie mitgewirkt hatten. Die Erinnerung an diese Erlebnisse war so stark, dass sie Tränen in den Augen hatten und vor Bewegung kaum weitersprechen konnten. Nach mehr als einem halben Jahrhundert! Reinhardt hatte sie für den Rest ihres Lebens geprägt. Ich glaube sogar, dass ihre Ergriffenheit nach dieser langen Zeit stärker war als beim ursprünglichen Eindruck. Und geht es mir selbst anders? Wenn ich von einer der schönsten Aufführungen, die ich je gesehen habe, spreche – Giorgio Strehlers Inszenierung von Goldonis Baruffe Chizzotte – und den Schluss beschreibe, das Versöhnungsfest der armen Fischer nach allen Aufregungen und Streitereien beim Schein der einfachen Lämpchen, während die Nacht über der herbstlichen, neblig-grauen Adria hereinbricht und der Cogitore – Goldoni selbst als junger Gerichtsreferendar – in seinem weinroten Mantel, der einzigen Farbe im Bild, langsam den Vorhang zuzieht …, so überwältigt auch mich das Glück dieser Aufführung, die nun fast fünfzig Jahre zurückliegt, stets aufs Neue.
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Herz
Auch dass ich zur Oper fand, verdanke ich einem solchen Erlebnis. Ich sprach, noch als Schauspielschüler, einem bekannten Intendanten in Berlin vor. Offensichtlich nicht ganz schlecht, denn sein Adlatus fragte mich, ob ich Lust hätte, abends in die Oper mitzukommen, er habe zwei Freikarten. Oper! Eine schreckliche Vorstellung. Für einen angehenden Schauspieler etwas, mit dem sich zu befassen als völlig unschicklich galt. Aber ich wollte ja engagiert werden. Also sagte ich zu. Und dann fand ich mich zu meiner Überraschung nach der langen Opernaufführung atemlos, mit klopfendem Herzen auf den letzten zwei Zentimetern meines Sitzes im Parkett wieder. Das war der Moment, in dem der Verdacht in mir aufstieg, dass nicht Mozart, Wagner oder Verdi Idioten waren – sondern ich. Ich hatte die Institution der Oper mit den Werken verwechselt. Bei der Aufführung handelte es sich im Übrigen um die Premiere von Walter Felsensteins nachmals weltberühmter Inszenierung von Hoffmanns Erzählungen. Später hatte ich das Glück, meine Schuld gegenüber Offenbach und Felsenstein mit einer eigenen gelungenen Aufführung zum hundertsten Todestag des Komponisten mit Placido Domingo in der Titelpartie abzahlen zu können. Solche Augenblicke intensivster Wirkung gibt es gar nicht so selten, in Aufführungen und auch in Proben. Es gibt Stellen von solch unmittelbarer emotionaler Gewalt, dass sie selbst alte Routiniers auf der Bühne oder im Zuschauerraum regelmäßig überwältigen. Dazu gehören Leonores Anrufung der Hoffnung als dem »Letzten Stern der Müden« mit der Horn-Einleitung im Fidelio, Evas Ausbruch: »Oh Sachs, mein Freund«, der den Knoten in den Meistersingern endlich löst und alles ins Lot bringt, oder die Szene, wenn der Graf in
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Figaros Hochzeit mit »Contessa perdono« vor seiner Frau niederkniet. Es sind aber keineswegs nur diese berühmten Stellen, nein, auch kleine, alltägliche Vorgänge – ein Blick, eine Geste – können uns unmittelbar ins Herz treffen. In solchen Augenblicken findet im Theater die große Kommunion statt: Unser Herz erkennt die Wahrheit und bedarf keines weiteren Beweises. Da ist es denn heraus, das große Wort: Wahrheit des Herzens. Genau genommen kennt alles Theater nur dieses eine Ziel. Wie es zu erreichen ist, kann nicht gelehrt werden. Alle Beteiligten – Autor, Darsteller, Publikum – können es nur gemeinsam im eigenen Herzen finden. So ist denn gleich die wichtigste Regel nicht lehrbar. Aber ohne sie sind alle folgenden nichts wert. NÜTZLICHE REGEL -- Triff mitten ins Herz.
Die sieben W
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in junger Sänger kommt in den szenischen Unter-
richt, ein wohlgewachsener, gutaussehender Bass
mit prächtiger Stimme. »Was willst du arbeiten?« – »Die Arie des König Philipp aus Don Carlos.« – »Oho! Gleich nach den Sternen gegriffen, aber bitte, probieren wir es. Wer bist du?« – »Ich?« – »Nein, nicht du, die Figur, die du darstellen sollst.« – »Ach so, ein König.« – »Richtig, ein König. Und wo?« – »Spanien?« – »Ja, natürlich, Spanien. Wann?« – (Pause) – »Hast du mal was von seiner großen Gegenspielerin gehört? Elisabeth, die Erste, nicht die Zweite, die lebt heute.« – (wieder Pause) – »Von Shakespeare?« – (Er leuchtet auf.) »Ja, da gabs einen Film.« (gemeint war »Shakespeare in Love«) – »Na also, immerhin. Ich wollte dich aber gar nicht in Geschichte prüfen. Ich wollte vielmehr wissen, wo und wann singt der König die Arie? In welchem Raum? Zu welcher Tages- oder Nachtzeit?« – »Weiß ich nicht.« – »In seinem Studio oder Schlafzimmer. Und was die Zeit betrifft, sie ist doch im Text, den du singst, angegeben. Das erste Tageslicht dringt durchs Fenster.« – »Tatsächlich, ja, das singe ich.« – »Na also. Und jetzt verstehst du vielleicht auch die lange Einleitung und kannst von ihr auf den Zustand des Königs, bei dem, was er tut, Rückschlüsse
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ziehen.« – »Welche Einleitung?« – »Nun, am Anfang das Herabsinken der Celli in ein bohrendes Grübeln, danach die langsam kreisende Bewegung, die dann noch in doppeltem Tempo in die Oktave springt und ihn fast zum Wahnsinn treibt, der furchtbare Verdacht, der ihn quält: ›Ella giammai m’amò.‹ Wer ist denn ›Ella‹?« – »Keine Ahnung. Und ein Vorspiel hat der Korrepetitor nie gespielt. Wir haben immer da angefangen, wo ich singe.« – »Aha. Nun, ›Ella‹ ist die Königin und was den König die ganze Nacht wachhält, ist der schreckliche Verdacht, dass sie ihn mit seinem eigenen Sohn betrügt.« Wenn man dem jungen Mann seine schütteren Geschichtskenntnisse nachsieht, kann man ihm eigentlich keinen Vorwurf machen. Niemand hat ihm gesagt, worum es in seinem zukünftigen Beruf geht. Der Gesangslehrer hätte ihm beibringen müssen, dass er eine Arie nur sinnvoll gestalten kann, wenn er weiß, in welchem Zusammenhang sie gesungen wird. Der Korrepetitor hätte ihm nicht nur die Noten einpauken, sondern ihm ihre Bedeutung erklären und den Ausdruck des Orchesters in Beziehung zu seinem Gesang setzen müssen. Als erster Schritt empfiehlt sich in dieser Lage für alle Beteiligten – Sänger, Regisseur und Dirigent – die Anwendung der sechs Grundfragen: Wer? Wo? Wann? Was? Wie? Warum? Wer bin ich? Wo bin ich? (Was auch einschließt: Woher komme, wohin gehe ich?) Wann bin ich? Was tue oder will ich? Wie tue oder will ichs? Und vor allem: Warum tue oder will ichs? Das umschreibt zwar noch nicht die ganze Figur, aber es ist eine Art Steckbrief. Wie bei der Polizei, wenn sie einen noch unbekannten Verbrecher sucht. Mit dieser Grundinformation kann der »Musikdetektiv« seine Arbeit aufnehmen. Dabei stellt sich sofort die zusätzliche Frage nach dem 7. W: Mit wem spricht die Figur, wer ist der Adressat? Jeder
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lebendige Ausdruck bei Mensch oder Tier hat nämlich einen Adressaten. Menschen sprechen miteinander oder mit sich selbst oder mit Gott oder einem Tier, auch mit einem Gegenstand oder mit einer Vorstellung von jemandem oder etwas. Jedes Gebet richtet sich an ein höheres Wesen, jeder Kampf, geistig oder physisch, kennt einen Gegner, jede Liebe gilt einer Person, einem Objekt. Hamlet diskutiert »to be or not to be«, seinen Selbstmord also, mit sich selbst, Xerxes singt Händels berühmtes Friedhofs-Largo, das eigentlich ein Larghetto und eine Arie ist, an seinen geliebten Baum. So mancher Diener, der in der Realität sich nicht traut, seinen Herrn zu kritisieren, stellt sich diesen vor, um ihm endlich die ungeschminkte Meinung zu sagen. Der Franzose nennt das: »L’esprit de l’escalier«, hinterher, im Treppenhaus, findet man den Mut dazu. Bei imaginierten Adressaten empfiehlt sich für den Darsteller, sie kenntlich zu machen, indem man etwa eines der grünen Notausgang-Lichter im zweiten Rang hochpersönlich anspricht. »Cruda sorte, Amor tiranno« (»Grausames Schicksal, tyrannischer Amor«) – grünes Licht (Isabella, L’Italiana in Algeri). »Komm Hoffnung, lass den letzten Stern der Müden nicht erbleichen« – grünes Licht (Leonore, Fidelio). »Se vuol ballare il signor contino« (»Will der Herr Graf den Tanz mit mir wagen«) – nein, kein grünes Licht, stattdessen singt Figaro zur Tür, die, wie er gerade erklärt hat, zum Gemach des Grafen führt. Und auch im Tierreich ist es nicht anders. Der bedrohlich knurrende Hund will den Eindringling warnen, das Krokodil führt diese Debatte erst gar nicht, sondern verschlingt kurzerhand den Adressaten. Nur durch diesen nämlich wird jeder Ausdruck lebendig. Man kann es deshalb nicht oft genug betonen: Es gibt keinen Ausdruck ohne Adressaten.
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Zwei Ausnahmen gibt es allerdings. Erstens: die Verrückten. Die reden in der Tat auf unheimliche Weise scheinbar ins Leere. Oder zumindest wechseln sie ohne ersichtlichen Grund den Adressaten. Mozart hat in der Zauberflöte eine geradezu klinische Studie eines geistig gestörten Menschen geschrieben: die Szene, in der die drei Knaben die aus unglücklicher Liebe verrückt gewordene Pamina vor dem Selbstmord retten. Diese wechselt ständig und unvermittelt den Adressaten. Sie spricht mit dem Dolch als ihrem Bräutigam und liebkost ihn erotisch-obszön: »Bald werden wir vermählet sein.« Dann sind es die drei Knaben, denen sie sagt, dass sie sterben will, indem sie den Dolch ganz real als Mordinstrument vorzeigt. Gleich danach ist es die Vision ihrer sie verfluchenden Mutter, der Königin der Nacht, und im nächsten Moment wendet sie sich an den »falschen Jüngling« Tamino – alles synkopisch schwankend, harmonisch und melodisch ohne festen Halt, bis sie zuletzt völlig klar und entschlossen, jetzt in hartem punktierten Rhythmus – »dieses Eisen töte mich« – zur Tat schreitet. Nach dieser Studie Mozarts haben also auch Verrückte Adressaten und bilden gar keine Ausnahme. Sie machen nur Angst, weil ihr Kopf im Wortsinn ver-rückt ist und sie dadurch die Adressaten ständig und ohne ersichtlichen Grund wechseln, sodass man nur schwer erkennen kann, wer oder was angesprochen und gemeint ist. Demnach bliebe dann nur noch eine einzige bedauerliche Ausnahme von dem allgemeinen Gesetz: schlechte Oper! Als widernatürliches Phänomen lässt sie sich leider in vielen Aufführungen besichtigen.
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NÜTZLICHE REGELN --
Beginne mit den 6 W: Wer? Wo? Wann? Was? Wie? Warum?
--
Definiere dann das 7. W: Wem? oder Wen? Den Adressaten.
--
Lokalisiere den Adressaten.
-- Wechsle den Adressaten, wo erforderlich. --
Bei imaginierten Adressaten wähle einen Punkt zum Ansprechen.
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ie Oper wendet sich mehr als alle anderen Künste an die Sinne. Das ist ihre Stärke und Schwäche zugleich.
»Ihr wisst, auf unseren deutschen Bühnen Probiert ein jeder, was er mag; Drum schonet mir an diesem Tag Prospekte nicht und nicht Maschinen. Gebraucht das großʼ und kleine Himmelslicht, Die Sterne dürfet ihr verschwenden; An Wasser, Feuer, Felsenwänden, An Tier und Vögeln fehlt es nicht. So schreitet in dem engen Bretterhaus Den ganzen Kreis der Schöpfung aus.« (Goethe, Faust I, Vorspiel auf dem Theater) Die Oper ließ sich das nicht zweimal sagen. Gefühl und Verstand werden ebenso angesprochen wie alle Sinne. Der Rhythmus ergreift vom Körper Besitz, der Puls jagt, die Nerven vibrieren, der Blutdruck steigt, Schmerzen verschwinden, während gleichzeitig Auge und Ohr in schönen Bildern und schmeichelnder Musik schwelgen.
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In der Blütezeit der Oper, als die höheren Stände sich eine Loge hielten, kamen noch kulinarische und erotische Genüsse hinzu: Es gab die »Aria di Sorbetto«, die Arie von Nebenfiguren, bei der man nicht so genau hinhörte, wenn zum Zitronensorbet Champagner floss. Und was danach bei zugezogenem Vorhang in der Loge geschah, führt allenfalls zu der Frage, wie viele Kinder ihre Existenz der Oper zu verdanken hatten. Im alten Teatre Liceu in Barcelona konnte man das alles noch besichtigen, bevor es 1994 niederbrannte: die Chambre-Separée hinter der Loge, die Speisetafel, die Vorhänge zum Zuziehen – alles war noch vorhanden. Die Oper hatte immer einen Hang zum genussvollen Lotterleben als die große Babylonische unter den Künsten. Die Gefahr ist dabei natürlich, dass bei diesem umfassenden Appell an die Sinne der Sinn verloren geht, der Zweck der ganzen Unternehmung. Nirgends lässt es sich, eingelullt von sinnlichem Genuss, so selig dahindösen wie in der Oper. Was soll einen da noch der Inhalt scheren? »Glotzt nicht so romantisch«, schimpfte schon Brecht. Es nutzte wenig. Dabei haben die Komponisten die größte Mühe aufgewendet, den Inhalt durch ihre Musik kenntlich zu machen, den Sinn im Einzelnen wie im Ganzen deutlich zu vermitteln. Zu diesem Behuf haben sie über Jahrhunderte ein riesiges, umfassendes, sich ständig erweiterndes, musikalisches Instrumentarium entwickelt. Alles einzig zu dem Zweck, dem Publikum Inhalt und Sinn zu vermitteln. Denn Sinn benötigt das Publikum, sonst kann es nicht mitspielen und das Theater ist tot. Vor dem Publikum sind allerdings noch die Interpreten angesprochen. Sie zuerst müssen Sinn und Zweck der Komposition in Bezug auf das Ganze begreifen. Bei einer Probe zu Così fan tutte bei den Salzburger Festspielen geschah es, dass die große alte Dame der Oper, die
Sinn und Sinne
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legendäre Kammersängerin, den Zuschauerraum betrat. Ihr Weltruhm gründete sich vor allem auf ihre unübertroffenen Interpretationen damenhafter Partien, der Marschallin im Rosenkavalier, der beiden Gräfinnen in Figaros Hochzeit und Capriccio und eben der Fiordiligi in Così fan tutte. Nun also wollte die große Künstlerin und im Alter gestrenge Lehrmeisterin, von allen mit gebührender Ehrfurcht begrüßt, ihre Schülerin, die in der Partie der Fiordiligi vor ihrem Debüt stand, begutachten. Die Probe nahm ihren Lauf bis zu der Szene, in der endlich auch Fiordiligi, die standhaft Treue, der Verführung des Tenors Ferrando erliegt und zur verzehrend-schönsten Oboenbegleitung der ganzen Opernliteratur ihren Widerstand aushaucht: »Fa di me quel che ti par.« (»Machʼ mit mir, was Du willst«). In seligem Terzengesang sinken sich die Liebenden in die Arme, zart zieht Ferrando die nicht mehr Widerstrebende zum Bett, öffnet den schwarzen Militärmantel ihres Verlobten Guglielmo, den sie sich zur Flucht angezogen hatte, aus dem nun die nackten Schultern, ihr schöner Oberkörper, hervorkommen, und legt sie sanft aufs Bett. In diesem Moment stürzt Don Alfonso aus der Garderobe, wo er mit ihrem betrogenen Liebhaber Guglielmo gelauscht hatte, zieht rasch den Vorhang über der Szene zu und schaut betreten ins Publikum. Er hat seine Wette, dass beide Schwestern, Dorabella und Fiordiligi binnen vierundzwanzig Stunden verführbar seien, gewonnen. Aber recht zu behalten macht bei so viel zerstörtem Glück keinen Spaß mehr. Der wunderbare José van Dam machte das auf so unnachahmliche Weise, dass an dieser Stelle in den Aufführungen stets ein langer Applaus losbrach.
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Sinn und Sinne
Bei dieser Probe jedoch war von Applaus nicht die Rede. Stattdessen brach aus dem Zuschauerraum ein Gewittersturm moralischer Entrüstung über mich herein. »Nein, nein, nein! Das können Sie nicht machen! Ich bitte Sie! Eine Fiordiligi ausziehen, halbnackt aufs Bett. Ein Küsschen vielleicht, höchstens! Aber doch nicht ins Bett! Fiordiligi – die Lilien blüte. Nein, nein, nein!« Ich versuchte, die Aufgebrachte, so gut es ging, zu beruhigen, indem ich – lügenhafter Weise – Besserung gelobte. Alle Umstehenden schauten inzwischen ähnlich betreten wie Don Alfonso. War es möglich, dass sich in nur einer Generation die Anschauungen so sehr verändert hatten, oder – man wagte es kaum zu denken – hatte die berühmteste Fiordiligi des Jahrhunderts den Sinn des Werks nicht begriffen? NÜTZLICHE REGELN --
Finde heraus: Was meint das Werk?
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Überlege: Was trägt deine Rolle dazu bei?
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Sorge für Sinn. Im Einzelnen und im Kontext des Ganzen.
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Sinn schlägt Effekt.
Der Körper im Raum
A
uftritt! Der Darsteller betritt die Bühne. Sofort ent-
steht eine Beziehung zwischen seinem Körper und
dem Raum, in dem er sich bewegt. Vielleicht kommt er von weit hinten in der Mitte aus der Tiefe der Bühne – als Herrscher, als Triumphator, als geblendeter Ödipus, der mit dem zerbrochenen Herrschaftsstab tappend seinen Weg sucht – oder er tritt rasch rechts oder links vorne auf – als Diener, als Verschwörer, als überraschender Gast – oder er erscheint von seitlich hinten, in langer Diagonale die Bühne durchquerend – als Bote oder als »Bittflehender« zum »Gewährenden« – immer ist die Beziehung Körper – Raum bereits Teil der Begebenheiten, die zur Darstellung gelangen. Nicht nur zum Raum jedoch tritt der Körper in Beziehung, sondern ebenso zu allen anderen Körpern und Gegenständen, die sich im Raum befinden. Und schon entsteht in Anziehung und Abstoßung, in Schwer- und Fliehkraft, in Spannung und Entspannung ein kleines Universum, das ähnlichen Gesetzen gehorcht wie das große Universum, in dem Planeten und Galaxien kreisen. Auch Supernova-artige Explo-
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sionen gibt es im magischen Raum der Bühne, ebenso wie schwarze Löcher, die alles verschlingen. Ja, selbst die unsichtbare dunkle Materie macht sich in Form der »Ausstrahlung« eines Darstellers bemerkbar, die keiner definieren kann und die dennoch mächtig alles in ihren Bann zwingt. Dieses körperliche Phänomen hat jedoch Grenzen, die im Schauspiel bei etwa 25 Metern, in der Oper bei ungefähr 32 Metern liegen. Deswegen sollten die Zuschauerräume diese Grenzen der Ausstrahlung respektieren. Über größere Distanzen verliebt man sich nicht. Genau darum aber handelt es sich: Das Publikum soll sich in die Darsteller verlieben. In der Oper hat dieses kleine Bühnenuniversum zu allem Überfluss noch eine weitere Dimension: die Musik. Wer es beherrschen will, wird gut daran tun, aus den Gesetzen des großen Vorbilds Regeln abzuleiten. Die nämlich gibt es. Eine Oberregel mit vielen Ableitungen besagt: Das Gleiche ist langweilig. Zwei Körper, die in gleicher Haltung auf gleicher Höhe dem Zuschauer gegenüberstehen, wie es so häufig geschieht, sind langweilig. Das Ungleiche hingegen ist interessant. Wenn etwa der Singende im Verhältnis zum Zuhörenden weiter hinten steht, während dieser vorne mit dem Rücken zum Publikum reagiert. Das ergibt Spannung und Gegenspannung und hat außerdem den Vorteil, dass der Sänger den Ton nach vorne projizieren, den Dirigenten sehen und den Partner ansprechen kann. Alle großen Maler machen es so: der gekreuzigte Christus im Licht und vorne die dunkle Silhouette des römichen Soldaten bei Rembrandt. Bei Goya die stolze Schöne, die an der gebückten Bettlerin im Vordergrund hochmütig vorbeischreitet. »Dios la perdone. Y era su madre!« (»Gott verzeih’ ihr. Es war ihre Mutter!«), schrieb Goya darunter.
Der Körper im Raum
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Fast alle Sänger drängen magisch angezogen zur Mitte der Bühne. Wie langweilig! – rechte und linke Seite völlig gleich. Die Mitte ist allenfalls ein Platz für einen König, der sich ohnehin nicht selbst spielen kann, sondern auf einen Hofstaat angewiesen ist, der sich verbeugend um ihn schart. Weit interessanter ist die Stellung im Goldenen Schnitt, bei etwa einem Drittel des Bühnenausschnitts, mit der kurzen Spannung auf der einen und der langen auf der anderen Seite. Dies ist nebenbei auch meistens die akustisch vorteilhafteste Position, in der Mailänder Scala »Callas Punkt« genannt, denn die große Diva wusste, wie man den Raum beherrscht. Hier steht man auch fast automatisch in einem leichten Winkel zur Rampe, was weit besser ist als die so beliebte, platt rampenparallele Position, von mir »Pfannkuchen-Stellung« genannt. Ein symmetrischer Raum tendiert meist etwas zu edler Langeweile. Er gilt deshalb vielen, denen jede strenge Form ohnehin suspekt ist, als Anathema, als Todsünde. Nur vergessen sie, dass die Asymmetrie durch die Körper im Raum hergestellt werden kann, wodurch eine starke Spannung zwischen Symmetrie und Asymmetrie entsteht. So ist auch der Kreis von alters her eine magische Figur. Zwei oder mehrere Körper stehen in oder auf einem Kreis fast in jeder Stellung in einer starken Beziehung zueinander. Eine der stärksten Spannungen kann durch den »PantherTiger-Gang« hergestellt werden: zwei Darsteller, die sich als zwei Kämpfer belauernd umkreisen, wie ein Doppelstern in Anziehung und Abstoßung aneinander gebunden. Freilich kann es dann passieren, dass einer – in der Oper meist der Tenor – sich einen Teufel um Panther, Tiger und Doppelstern kümmernd, plötzlich nach vorne abwendet, um seine Spit-
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Der Körper im Raum
zentöne dem Publikum zu präsentieren. Die ganze Spannung der Szene ist dahin. Es ist jedesmal so, als beschlösse einer unserer Planeten, nicht länger um die Sonne zu kreisen, sondern seine Bahn verlassend, auf eigene Faust als glänzender Komet einen Spaziergang ins All zu unternehmen. Es würde ihm nicht gut bekommen. Und das gilt auch für den Tenor. In einem Boxkampf läge er längst k. o. auf den Brettern. Ich habe diese unselige Angewohnheit deshalb »The Tenor’s Turn« getauft. Im Leben ist es meist höchst unangenehm, zwischen zwei Feuer zu geraten. Ein Bataillon, das von zwei Seiten angegriffen wird, ein Mann zwischen zwei eifersüchtigen Frauen, Odysseus zwische Scylla und Charibdis. Man kommt in der Regel ohne Blessuren nicht davon und sucht deshalb, solche Situationen zu vermeiden. Auf der Bühne hingegen ist die Position zwischen zwei Feuern dramatisch ergiebig und wirkungsvoll. Man soll sie suchen, wo immer möglich. Und sei es nur, weil man nach zwei Seiten agieren und reagieren kann. Von der antiken Tragödie bis zum französischen Boulevard, von der klassischen Oper bis zum amerikanischen Western benützen alle dramatischen Künste diese Konstellation, um die Spannung zu steigern. Prototyp ist die Szene in Goldonis Diener zweier Herren, in der Arlecchino gleichzeitig seinen beiden Herren das Essen servieren muss. GiorgioStrehler trieb in seiner weltberühmten Inszenierung die Szene bis zum Delirium und erteilte gleichzeitig eine hinreißende Lektion, welche dramatischen Funken sich aus der Position zwischen zwei Feuern schlagen lassen. Ein eigenartiges Phänomen ist auch, dass man intuitiv in einem Ensemble die Führungsstimme links erwartet. (Wobei manchmal schwer zu bestimmen ist, welches die Führungs-
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stimme ist, z. B. beim Quartett in Beethovens Fidelio). Vielleicht liegt es nur daran, dass auch im Orchester die ersten Geigen normalerweise links sitzen. Oder dass beim Zuschauer das Herz auf dieser Seite schlägt. Ich habe den Grund nie schlüssig herausgefunden. Dennoch: bei Sopran links – Bass rechts fühlt man sich wohl, umgekehrt eher nicht. Natürlich kann man damit auch spielen und seitenverkehrt alles auf den Kopf und dann wieder auf die Füße stellen, etwa bei Rossinis turbulenten Aktschlüssen. Dasselbe Phänomen lässt sich auch in der bildenden Kunst beobachten. Die meisten Barockmaler stellen den erhöhten Thron des Herrschers links, während Boten, Gesandte, Bittsteller und Unterworfene sich von rechts nähern. In jedem Fall tut der Darsteller gut daran, genügend Luft um sich herum zu lassen. Kommt er anderen Darstellern oder Gegenständen zu nahe, verliert er an Kraft und Bedeutung. Selbst ein Möbelstück kann auf diese Weise unfreiwillig zum Konkurrenten werden. Es sei denn, man benützt diese Wirkung mit Absicht. Die Regel dazu lautet: »Der König geht nach Frankreich.« Die rechte Bühnenhälfte ist England, die linke Frankreich. Je näher der englische König der Grenze,d. h. der Bühnenmitte, kommt, desto schwächer wird er. Wenn er die Grenze überschreitet, kann der französische König ihn nach Belieben in Ehren empfangen oder in den Kerker werfen. Der Engländer täte besser daran, im eigenen Land zu bleiben und von dort kraftvoll – die Sprache sagt es – »seinen Standpunkt zu vertreten.« Auch die vielen kleinen wenig »standfesten« Schritte oder Gänge, die manche dabei machen, sollte er unterlassen. Sie drücken nichts aus und lassen ihn nur unsicher erscheinen. Wenn er einen Gang macht, sollte der an ein Ziel gebunden sein und einen Zweck verfolgen.
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Eine extreme Wirkung der Beziehung von Körper und Raum entsteht bei Gewalt und Folter auf der Bühne. In der zweidimensionalen Bildwelt von Film und Fernsehen gibt es mehr als genug Szenen von äußerster Grausamkeit. Sie werden mit Widerwillen vom Betrachter wahrgenommen, aber meist dennoch ertragen. Anders auf der Bühne: Die drei dimensionale Leiblichkeit macht das, was einem menschlichen Körper angetan wird, sehr schnell für viele unerträglich. Ich habe es in mehreren eigenen Inszenierungen erlebt. Der Vorhang musste im Tumult fallen, oder es wurden in jeder Aufführung einige ohnmächtig. Einmal wurde sogar meine Frau in der Intendantenloge von einem aufgebrachten Besucher angespuckt. Dabei war eigentlich die Folter selbst gar nicht zu sehen. Sie wurde nur angekündigt, während entsprechende Vorbereitungen getroffen wurden. Den Rest erledigte die eigene Vorstellung des Publikums, das sich damit bei der Erzeugung von Realität durch Phantasie als fabelhafter Mitspieler erwies. Denn nun erweitert sich der Bühnenraum um den viel größeren Zuschauerraum. Diese große dunkle Höhle will beherrscht sein durch Körper und Atem des Darstellers. Von großen Zen-Meistern wird berichtet, dass sie lediglich durch langsames Hochsteigern ihrer Atem- und Körperspannung ein Auditorium über einen langen Zeitraum in Bann schlagen können. In der Oper hilft dabei die Musik mit ihren vorgegebenen melodischen, harmonischen und rhythmischen Spannungsverhältnissen. Idealerweise sollte der Zuschauer raum das Publikum eng umschließen und da enden, wo die letzten Zuschauer sitzen. Denn jeden zusätzlichen Meter Raum muss der Darsteller mit seiner Atemspannung füllen. Den letzten Zuschauer muss er erreichen. Tut er das nicht,
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hustet das Publikum. Ein Satz oder eine musikalische Phrase muss deshalb bis zum Ende mit voller Intensität durchgehalten werden. Wie bei einem Brückenbogen muss das andere Ufer erreicht werden, sonst fällt man ins Wasser. In der Oper ist das andere Ufer die letzte Reihe des obersten Ranges und das Wasser der Orchestergraben. Je größer das Auditorium ist, desto mehr Atem wird benötigt. Ein Könner beherrscht auf diese Weise seine Mitspieler und die Zuschauer wie ein Wagenlenker seine Rosse. Nach Belieben kann er die Zügel anziehen, nach links oder rechts steuern, um dann davonstürmend die Zügel wieder schießen zu lassen. Körper und Stimme bilden dabei eine vom Atem gesteuerte Einheit im Einklang mit dem Gesetz von Raum und Zeit. Im Laufe meines Theaterlebens bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass Musik und Bühne diesem Gesetz ebenso unterliegen wie das Atom und die entferntesten Galaxien. Sie alle spielen in Anziehung und Abstoßung, mit Schwer- und Fliehkraft in ihrem intakten oder gestörten Verhältnis, in Ein- und Ausatmen das große, ewig erneuerte Spiel von Spannung und Entspannung. Wer es beherrscht, ist ein Meister. NÜTZLICHE REGELN --
Der Körper im Raum ist bereits Teil der Handlung.
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Entwickle ein Raumgefühl im Verhältnis zu den Mitspielern.
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Das Gleiche ist langweilig. Sei ungleich.
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Der Singende steht hinten, der Zuhörende vorne.
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Positioniere dich im Goldenen Schnitt, nicht in der Mitte.
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Ein König kann sich nicht selber spielen. Seine Umgebung spielt
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Stehe angewinkelt zur Rampe, nicht in der
ihn. »Pfannkuchen-Stellung«.
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Der Körper im Raum
Halte die Beziehung zum Partner. Vermeide »The Tenor’s Turn«.
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Suche die Position zwischen zwei Feuern. Sie ist dramatisch
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Die Führungsstimme im Ensemble nach Möglichkeit links.
ergiebig. --
Lasse Luft um dich. Gegenstände können sonst zum Konkurrenten werden.
-- Vertritt deinen Standpunkt. Wackle dabei nicht herum. ---
Binde Gänge an ein Ziel und einen Zweck. Gewalt und Folter wirken am lebendigen Körper im Raum der Bühne stärker als im zweidimensionalen Bild.
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Fülle den Raum mit Atem. Hustet das Publikum, hast du zu wenig Atem.
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Betrachte Sätze und musikalische Phrasen als Brückenbogen. Erreiche das andere Ufer.
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Beherrsche das Spiel von Spannung und Entspannung.
Bewegung
W
er hat schon einmal eine Seele gesehen? Nicht einmal der Teufel in Goethes »Faust« kann ihrer
habhaft werden. »Und wenn ich Tagʼ und Stunden mich zerplage, Wann? Wie? Und wo? das ist die leidige Frage.« Ausdrücken kann die Seele sich nur im Atem, der Körper und Stimme »beseelt«. Womit die beiden Grundelemente der Oper genannt sind. Umso verwunderlicher, dass nur das eine, die Stimme, eine langjährige strenge Ausbildung erhält, während das andere, der Körper, völlig vernachlässigt wird. Obwohl er das urtümlichere Instrument von beiden ist. Der nicht trainierte, nicht beherrschte Körper spielt der nach Ausdruck drängenden Seele üble Streiche. Welcher Schauspieler oder Sänger kann sich nicht der Qualen erinnern, wenn in seiner Lehrzeit Körper und Stimme nicht im Stande waren, das auszudrücken, was er im Innern so lebhaft fühlte. Leider bleibt dieser Zustand, was den Körper betrifft, mangels konsequenter Ausbildung bei Opernsängern oft für den Rest ihrer Laufbahn bestehen. Es ist zum Gotterbarmen, wie bei all dem breitbeinigen Stemmen, dem unkontrollierten Gefuchtel und Gezappel überhaupt ein Ausdruck zustande kommen soll, wie die Seele sich an die unmöglichsten Orte, in den Schultern, Ellenbogen oder Knien verkriecht.
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Wenn die Seele überhaupt einen Sitz hat, dann im Solarplexus, dem Zentrum des gastro-enterologischen Nervensystems, dem »zweiten Gehirn«, das entwicklungsgeschichtlich viel älter als das Großhirn ist und damit auch viel unbewusster und kreatürlicher funktioniert. Es weigert sich nämlich, dem Kopf zu gehorchen. Der Befehl des nervösen Sängers vor dem Auftritt: »Bauch, sei ruhig« ist ganz und gar vergebens. Der Bauch tut, was er will. An diesem »Lebenspunkt« entstehen die Gefühle und steigen von hier zum Bewusstsein auf. Mozart hat diesen Vorgang grandios komponiert in der Einleitung zu Donna Annas Rezitativ, als sie in Don Giovanni den Mörder ihres Vaters erkennt. Wie da aus unbewusstem Urgrund die schreckliche Erkenntnis über zwei Takte aufsteigt, um dann im Bewusstsein zu explodieren, ist Musik gewordene Neurologie und Psychologie in einem. Alle Sprachen drücken diesen Tatbestand auf ihre Weise aus: »man trifft eine Entscheidung aus dem Bauch«, »spürtʼs im Urin«, »acts from the guts«. Von diesem urtümlichen System gehen die Signale der Seele aus. Von hier – aus der Mitte des Körpers – müssen deshalb auch die Bewegungen ihren Ausgang nehmen. Der große Schauspieler und Regisseur Fritz Kortner riet dazu, Tiere zu beobachten. Wer einen Panther in vollem Lauf, einen Adler im Flug oder einen Delphin im Spiel mit den Wellen sieht, begreift, was eine organisch aus der Mitte verlaufende Bewegung bedeutet. Auf der Bühne wird dieser kreatürliche Vorgang mit dem künstlerischen Zweck verbunden. Kortnerselbst konnte es dabei in seiner Ausdrucksbesessenheit auch übertreiben. Er benötigte für eine Inszenierung Hunde – gefährlich aussehende Hunde. Sein Wille war der Intendanz Befehl und eine Koppel bedrohlich fletschender
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Doggen wurde ihm vorgeführt. Die Darsteller folgten bei ihrem Anblick nur zu gerne seiner Aufforderung, eine Pause einzulegen und ihn mit den Hunden allein zu lassen. Als lange Zeit nichts geschah, begann man sich Sorgen um ihn zu machen. Ein Späher wurde ausgesandt, der bei seiner Rückkehr erschüttert berichtete, Kortner habe vor den Bestien gekniet und ihnen inbrünstig vorgespielt: »Nicht wau – wau, sondern WAFF – WAFF!« In der Oper nun muss die kreatürliche Bewegung mit der Musik verbunden werden. Der Atem muss Stimme und Körper zur Einheit verschmelzen. Und da liegt das Problem, eines der Grundübel der Oper: Der Körper spielt allzu oft nicht mit. Dem Sänger fehlt die Kontrolle über seinen Bewegungsapparat. Der untrainierte Körper desavouiert die wohltrainierte Stimme. Alle, die sich jemals praktisch oder theoretisch mit Oper befasst haben, mussten sich mit diesem Problem herumschlagen. Die Ausbildung des Opernsängers müsste dem Körpertraining das gleiche Gewicht beimessen wie der Stimmbildung – was aber nicht der Fall ist. Jahrelangen Stimmübungen stehen wenige, ungern wahrgenommene Bewegungslehrgänge gegenüber. Stanislawskis Übungsabfolge »schwierig – normal – leicht – schön« kann unter diesen Umständen gar nicht umgesetzt werden. Lange Zeit, bis um die Mitte des 19. Jahrhunderts, fungierte der Ballettmeister als Regisseur und Bewegungslehrer in der Oper. Was nicht falsch war. Denn im Grunde wäre dieselbe Grundausbildung für Oper und Ballett angebracht, um sich musikalisch bewegen zu lernen. Erst danach trennen sich die beiden Sparten und spezialisieren sich auf ihre jeweiligen Zwecke. Ohne eine solche musikalische Bewegungslehre wird die Oper immer dem Zufall ausgeliefert sein
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und vom Talent und Instinkt einzelner Darsteller abhängen. Ein unbefriedigender Zustand, bei dem die eine Hälfte der Opernkunst unerfüllt bleibt. Denn der Körper soll ja – von Ausnahmen abgesehen – sichtbar und verständlich machen, was man hört. Den Geiger, den man sieht, hört man besser. Dazu ist eine plastische, unverkrampfte Ausführung von Bewegungen und Gesten Voraussetzung. Sie müssen für das Publikum lesbar sein, sonst sind sie nutzlos. Eine klare, sauber ausgeführte Geste ist fast immer besser als fünf kleine, hastige. Gesten und Gänge haben im Allgemeinen ein Ziel und lenken den Zuschauer auf den Punkt der Aufmerksamkeit, den »focal point«, um den es geht. Man kann ihnen auch einen Text unterlegen. Um zum Beispiel das sinnlose Gewedel zu vermeiden, wenn andere herbeigerufen werden: »Ihr da, kommt her, schaut dorthin!« Diese einfache »Baby Text«-Technik macht das Herbeiwinken klar und ablesbar. Wackeln und Fummeln ist ganz allgemein der Tod des musikalischen Theaters. Man zerstört damit jede Wirkung, die eigene, die der Mitspieler und erst recht die der Musik. Wenn eine Sängerin eine Kollegin hasst (was vorkommen soll), so braucht sie nur, während die andere singt, Fliegen zu fangen. Dagegen ist kein Kraut gewachsen. Das Publikum wird nur noch Augen für die Fliege haben. Viele Aufführungen der jüngsten Zeit scheinen diese Technik zur Maxime erhoben zu haben. Wie sehr Wackeln auch die schönste Musik zerstören kann, lehrt folgende Episode: Rosenkavalier, Lever im Boudoir der Marschallin. Alles lauscht der Arie des italienischen Sängers. Mit vollem Recht, denn die Direktion hat sich nicht lumpen lassen und für diesen kurzen Auftritt einen hervorragenden Tenor engagiert. Doch bei den ersten hohen Tönen
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entsteht eine Unruhe im Publikum. Der Tenor spürt es und legt sich noch mehr ins Zeug. Er singt hinreißend, doch nun lässt sich bei jedem Spitzenton Gelächter vernehmen, ja, am Ende jauchzt das Publikum geradezu auf. Was war geschehen? Hinter dem Tenor stand der Tierhändler mit seinen »Hunderln, so klein, und schon zimmerrein«, zwei Pekinesen. Und eines der Tierchen, veranlasst durch irgendwelche, dem menschlichen Ohr nicht wahrnehmbare Frequenzen, wackelte bei jedem hohen Ton enthusiastisch und taktgenau mit seinem Wuschelschwänzchen. Es war allerliebst und das Publikum genoss es in vollen Zügen. An Oper, Kunst und Schöngesang war nicht mehr zu denken. Der Tenor schwor, nie wieder mit einem Tier die Bühne zu betreten. Das Fliege und Hündchen zugrundeliegende Prinzip lautet ganz einfach: Das Auge folgt spontan jeder Bewegung. Diese muss daher mit der Musik koordiniert sein, sonst zerstört sie die Musik. Als ich das einer Gruppe von Statisten erklären wollte, unterbrach mich der Statistenführer: »Sagen Sie uns einfach, was ist Ihnen lieber: stumme Jule oder Spannemann?« Der Mann hatte die Sache für seinen Bereich durchaus erfasst. Stumme Jule sind kleine Einzelaktionen, Typ bewegtes Volksleben, Spannemann bedeutet intensiv mit angehaltenem Atem und hervorquellenden Augen zuhören, Typ Showdown. Natürlich gibt es auch oft den Fall, dass ein Darsteller unbeweglich und fast ohne Ausdruck es dem Orchester überlässt, den Sturm in seinem Inneren zu schildern. Der Ausdruck wird zwischen Körper und Musik aufgespalten. Die Atemspannung wird dabei aber immer noch auf die Musik bezogen bleiben. Wäre es nicht so, würde man vom Sänger etwas verlangen, was er nicht leisten kann, denn er hat nur ein Zwerchfell und
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somit nur eine Atemspannung, nur einen Körper, mit dem er, im Gegensatz zur Musik, zu einem Zeitpunkt nur einen Ausdruck erzeugen kann. Er kann nur nach rechts oder links schauen, aber nicht beides zugleich. Was er kann, ist zwischen zwei Zuständen, zwei Körperhaltungen sehr schnell oszillieren. Zwischen Furcht und Mut, Trauer und Freude, tiefem Gefühl und Ironie. Diese Möglichkeit kann sich der Darsteller zunutze machen, und viele Szenen beziehen daraus ihre Wirkung. Aber gegen eine aufsteigende Orchester- und Gesangslinie eine abfallende Geste zu verlangen, heißt, dem Sänger Gewalt antun. Nötigt man ihn lange genug dazu, wird er sich auf das zurückziehen, was er gelernt hat, nämlich Singen, und irgendwie zusehen, wie er seine Haut rettet. Da die Musik vieles gleichzeitig kann, ergibt sich das Prinzip des Ensembles, bei dem Stimmen und Orchesterbegleitung auf verschiedene Personen aufgeteilt sind und ihr Eigenleben führen. Umso wichtiger ist dann aber in der körperlich sichtbaren Darstellung der Bezug auf die Partitur, wenn das Publikum nicht durch ein unkoordiniertes Durcheinander verwirrt werden soll. Ein schönes Beispiel ist die 16-stimmige »Prügelfuge« aus den Meistersingern von Nürnberg, in der der eisern durchgehaltene Cantus Firmus der alten Meister mit den aus der Menge auftauchenden und wieder verschwindenden Einzelstreitereien der Soli und den verschiedenen Chorgruppen der allgemeinen Prügelei kontrastiert. Die komplizierte musikalische Struktur dieser Fuge auch auf der Bühne trotz allem Aufruhr sichtbar und nachvollziehbar zu machen, mag durchaus als Gesellenstück für einen musikalischen Regisseur gelten. Selbstverständlich gibt es auch zahlreiche Gelegenheiten, bei denen man gegen die Musik agieren muss. Auch dabei
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aber muss die Bewegung, sozusagen ex contrario, auf die Musik bezogen bleiben. Um noch einmal auf das Fliegenfangen zurückzukommen: Die Fliege muss Kontrapunkt lernen. Grundsätzlich erfordern solche Gegenaktionen viel Können und müssen sorgfältig kalkuliert werden, um nicht in ein unmusikalisches Chaos abzugleiten. Ebenso wie die Musik beginnen auch Bewegungen mit dem Auftakt des Atemimpulses. Jede Vorwärtsbewegung beginnt mit einer kleinen Bewegung rückwärts, jede nach oben mit einem Ausholen nach unten. So entsteht der Rhythmus von Spannung und Entspannung, der Leichtigkeit und Eleganz erzeugt. In dieser Hinsicht kann und sollte man von den Artisten im Zirkus lernen. Ohne diesen präzise schwingenden Rhythmus müsste jeder Jongleur seine Bälle am Boden auflesen und würde jeder Trapezkünstler mit gebrochenen Gliedern in der Manege landen. Die traditionelle chinesische Oper vollbringt hier wahre Wunder. Ich habe selbst gesehen, wie die Heroine mit ihren vier Fähnchen auf dem Rücken Koloraturen sang, durchaus vergleichbar denen unserer »Königin der Nacht«, und währenddessen eine Lanze im Flug auffing und sie im Takt schwingend zurückwarf. Die nächste Lanze wehrte sie ab, indem sie den Fuß hob, sodass die Lanze von ihrer Sohle zurückprallte. Danach beendete sie ihre Koloratur mit einem Kung-Fu-artigen dreifachen Salto und stand präzise mit dem finalen Beckenschlag wieder auf den Beinen. Ein ganz klein wenig davon auch bei uns – wie würde die Oper aufblühen! Bei Tätigkeiten aller Art ist wichtig, die Bewegung an die Musik zu binden, um unmusikalisches Gestikulieren zu vermeiden, z. B. bei der Handhabung von Requisiten. Beim Anoder Ausziehen, was häufig vorkommt, ist die Gefahr beson-
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ders groß. Wenn etwa Don Giovanni und Leporello im Terzett am Anfang des 2. Aktes von Mozarts Oper ihre Kleider tauschen, während Elvira auf dem Balkon in der untergehenden Sonne ihre langen, sehnsuchtsvollen Melodie-Bögen singt, kann unkoordiniertes Kleiderschwenken die ganze zauberhafte A-Dur-Abendstimmung des Stücks zerstören. In solchen Fällen empfiehlt es sich, die Tätigkeit in Unterabschnitte einzuteilen und diese an die einzelnen Phrasen der Musik zu binden. Eine Unart vieler Darsteller (und vieler Menschen im Alltag) ist das ständige Vorbeugen, um ihrer Sache mehr Nachdruck zu verleihen. Vorbeugen ist eigentlich nur in zwei Fällen angebracht: bei Dienern oder wenn ein Mensch aus Aggression oder Verzweiflung die Kontrolle verliert. Wie mir Karl Lagerfeld verriet, wurden im 18. Jahrhundert die Fräcke so geschnitten – épauler –, dass sie dieses Vorbeugen verhinderten. Die Leute sollten als Herren in nobler Haltung auftreten. Der Schneider erzeugte den sozialen Gestus getreu dem alten Sprichwort: »Kleider machen Leute.« Das gesamte soziale Bewegungs-Repertoire – vom Kaiser bis zum Bettelmann – ist eines der wichtigsten körperlichen Ausdrucksmittel und will deshalb beherrscht sein. Ebenso die Haltung verschiedener Zustände. Glück fliegt, Unglück drückt nieder. Der Körper und seine Bewegungen werden im ersten Fall leicht und beschwingt, im zweiten zentnerschwer. Man ist dann – man achte auf die Sprache – deprimiert. Ein Schrei hingegen – ob Triumph oder Schmerz – geht nach oben zum Himmel. Auch hier sagt es die Sprache: »Aufschrei«. Auch wenn der Folterer nach unten drückt, bäumt sich der Körper im Schrei nach oben. Selbst wenn eine Kugel trifft und den Körper nach hinten reißt, wird
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dieser sich noch beim Zusammenfallen im Todesschrei nach oben recken. Wenn Leute etwas haben wollen und die Hand danach ausstrecken, fordern sie es sehr insistent. Auf der Bühne dagegen wird meist viel zu schnell aufgegeben, ohne die Spannung auf die Spitze zu treiben. Dasselbe gilt für alle Arten von Konflikten, geistige oder körperliche. Duelle gehen durch die Augen, Hass und Liebe ebenso. Der Oper, bedingt durch die Sprache der Musik als Ausdruck großer Gefühle, wird oft vorgeworfen, sie sei pathetisch mit ihren übertriebenen Operngesten. Das stimmt und stimmt nicht. Ein vom Atem gut gestütztes hohes C des Tenors verlangt automatisch auch eine gewisse gestische Expansion. Vor allem aber: Pathos gibt es. Im Leben und noch mehr in der musikalisch komprimierten Kunstform Oper. Man tötet als Medea aus Verzweiflung nicht die eigenen Kinder ohne Pathos. Die Regel ist einfach: Das Gefühl muss größer sein als die G este. Ist die Geste größer als das Gefühl, dann allerdings ist es opernhaft-pathetisch. Der emotionalen Tiefe muss das Atemvolumen entsprechen. Großes Gefühl verlangt großen Atem. Für die Oper wäre ein ideales Ziel eine aus der Musik entwickelte Bewegungspartitur, die sich der Darsteller während der Proben aufgrund der beherrschten Körpertechnik erarbeitet, ebenso, wie er mit seiner Stimmtechnik die musikalische Partitur umsetzt. Beide Partituren aufeinandergelegt und zu einem Ganzen verschmolzen würden dann ergeben: Die vom Atem beseelte Einheit von Stimme und Bewegung.
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NÜTZLICHE REGELN --
Ohne Körper keine Seele.
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Der Körperausdruck geht durch den Atemauftakt Sprache und Musik voraus.
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Bewegungen gehen von der Mitte, vom Solarplexus aus.
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Gefühle steigen vom Solarplexus zum Bewusstsein auf.
-- „Act from your guts.« --
Bewegungen von Tieren beobachten und davon lernen.
-- Trainiere den Körper ebenso wie die Stimme als musikalisches Instrument. --
Die Abfolge beim Üben: schwer – normal – leicht – schön (Stanislawski).
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Gesten plastisch und lesbar, sonst sind sie nutzlos.
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Eine klare, sauber ausgeführte Geste ist besser als fünf hastige kleine.
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Gesten eigenen »Baby Text« unterlegen, um sie deutlich lesbar zu machen.
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Gesten auf den Punkt der Aufmerksamkeit, den »Focal point« beziehen.
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Fummeln ist der Tod des Theaters und der Musik.
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Das Auge folgt spontan der Bewegung.
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Definiere, wann eine Aufspaltung von Musik- und Körperausdruck stattfindet.
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Der Körper kann zu einer Zeit nur eine Sache machen, die Musik viele.
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Körper und Atem können rasch zwischen verschiedenen Haltungen oszillieren.
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Bei Ensembles in den Bewegungen musikalisch aufeinander
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Bei Aktionen und Bewegungen gegen die Musik sich kontra-
bezogen bleiben. punktisch verhalten. --
Bewegungen beginnen mit einem gegenläufigen Auftakt.
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Den Bewegungsrhythmus finden wie die Artisten unter der Zirkuskuppel.
-- Tätigkeiten an die Musik binden. Tätigkeitsabschnitte an einzelne Phrasen. --
Nicht vorbeugen. Nur als Diener oder bei Kontrollverlust.
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Èpauler – Haltung bewahren.
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Glück fliegt – Unglück drückt nieder.
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Ein Schrei geht nach oben – »Aufschrei«.
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Insistieren, nicht zu früh aufgeben.
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Duelle gehen durch die Augen.
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Keine Angst vor Pathos. Aber das Gefühl muss größer sein als
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Großes Gefühl verlangt großen Atem.
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Das Ziel: eine Bewegungspartitur zur Musikpartitur.
die Geste.
Le Physique du Rôle
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in allentscheidendes Kriterium ist der richtige Körper für eine Rolle und die passende Art, sich zu bewe-
gen. »Le physique du role.« Fast bin ich geneigt, dies noch vor der Stimme für den wichtigsten Aspekt zu halten, da der Körper das erste und ursprünglichere Ausdrucks-Instrument ist. Bei Besetzungen sollten jedenfalls beide Gesichtspunkte gleich gewichtet werden, auch im Verhältnis zu den anderen Partien. Nicht nur die Stimmen müssen zusammenpassen, sondern auch die Körper. Nur wenn diese Voraussetzung gegeben ist, kann die Oper ihre Erfüllung finden. Wo das nicht der Fall ist, ist meist von vornherein wenig Aussicht auf Erfolg. Auch bei noch so schönem Gesang und ehrlichster Bemühung aller Beteiligten, nicht zuletzt des Kostümbildners, rennt man gegen den ursprünglichen Mangel an und kann am Ende doch ein unbefriedigendes Gefühl nicht loswerden. Dass dieser Gesichtspunkt bei Besetzungen in vielen Opernhäusern viel zu wenig Beachtung erfährt, ist ein großer Fehler und ein Hauptgrund für das weitverbreitete Ungenügen an der Oper.
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Auch verschiedene Sprachen bringen unterschiedliche Haltungen und Bewegungsmuster hervor. Man kann es an Kindern beobachten, die keine Ahnung von der jeweiligen Sprache haben, aber dennoch mit eigenem Kauderwelsch perfekt den schlaksigen Amerikaner, den gestikulierenden Italiener, den eckigen Deutschen oder den phlegmatischen Nordländer nachahmen. Auch hier ist die Besetzung möglichst so zu wählen, dass die Sprache sich idiomatisch glaubhaft aus dem zugrundeliegenden körperlichen Verhalten und der sozialen Stellung ergibt. In diesem Zusammenhang lohnt ein Blick auf Comics. Mickey Mouse und Co nämlich wenden die Prinzipien der Oper oft weit konsequenter an als der Opernbetrieb. Hier kann man die perfekte Umsetzung von Musik in körper lichen Ausdruck betrachten. Freilich kann man hier die Figuren erfinden und sie am Zeichentisch oder Computer nach den Bedürfnissen der Musik herstellen oder umgekehrt die Musik anschließend passgenau für die Figuren komponieren, statt mühsam nach lebendigen Menschen zu suchen, die Bewegung und Musik in einem Vorgang erzeugen können. Dennoch kann die Oper von guten Comics viel lernen. Mit einer stimmlich und körperlich stimmigen Besetzung lässt sich der mechanische Effekt der Comics sogar auf der Bühne nachahmen, wie folgende Episode lehrt. Karajan hat für viele seiner Produktionen die Plattenaufnahme vor Probenbeginn im Studio eingespielt. So auch für unsere Don Giovanni Produktion bei den Salzburger Osterfestspielen. Und er verlangte, dass bei den szenischen Proben der Musiknummern seine Aufnahme eingespielt wurde. Mir war das nicht sehr sympathisch, denn die Sänger sollen ja den Ausdruck selbst erzeugen, aber er bestand darauf.
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Da auf der Bühne dieselben Sänger wie auf der Aufnahme agierten, ergab sich allerdings bei den Schlussproben in Kostüm, Maske und mit Beleuchtung der faszinierende Effekt, dass auch die unmittelbar Beteiligten nicht mehr unterscheiden konnten, ob ein Sänger selbst singt oder seine Stimme über Lautsprecher ertönte. So geschah es, dass bei der Szene, in der das Quartett der Diener das Bauernvolk zum Ball ins Schloss einzutreten auffordert (»Su, svegliatevi; da bravi! Su coraggio, e buona gente« – »Auf, ermuntert euch, ihr Braven! Nur Mut, gute Leutchen«), Karajan unterbrach: »Meine Herren, Sie hetzen. Bitte noch einmal.« Alle schauten vor sich hin, und dann begann man aufs Neue. Wieder unterbrach Karajan, jetzt sichtlich gereizt: »Nein, nein! Takt halten! Sie laufen davon!« Ich fasste mir ein Herz und sagte leise zu ihm: »Das ist aber Ihre Aufnahme.« »So?«, meinte er und kniff einen Moment die Augen zusammen. Und dann ungerührt: »Also bitte noch einmal!« Und nach Beendigung triumphierend: »Na also! Warum nicht gleich so!« Diese Episode lehrt zweierlei. Erstens: Playback-Oper ist möglich. Bei richtiger körperlicher Umsetzung der mechanisch eingespielten Musik durch die agierenden, aber nicht singenden Darsteller, lassen sich durchaus verblüffende Wirkungen erzielen. In manchen Musicals wird dieser Effekt ja auch mit Erfolg verwendet. Diese Trennung von Stimme und Körper mag für viele Opernliebhaber eine erschreckende Vorstellung sein, aber für gewisse Zwecke der musikalischen Erzählung, wie auch für begleitende pädagogische Programme, können solche, heute möglichen, Techniken durchaus nützlich sein. Andererseits aber erweist sich bei diesem Auseinanderklaffen von Bühnenaktion und eingespielter Musik die ent-
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scheidende Begrenzung alles Mechanischen. Maschinen mögen praktisch sein, Kosten und Arbeit sparen und Wirkungen ermöglichen. Aber man muss wissen, wo und wie man sie einsetzt. Sie haben nämlich keinen Atem, keinen Auftakt und damit keine Seele. Eigentlich gehören sie nicht ins Theater. Nur was beatmet werden kann, gehört dorthin. Mit drei nackten Menschen in der Wüste lässt sich großes Theater machen, sofern sie mit Phantasie begabt sind. Einer, der etwas will, ein anderer, der das Gegenteil will, und ein dritter, der als Chor, Polizist oder Zuschauer den Fall beurteilt. Mehr braucht es im Grunde nicht. Ohne diese drei phantasiebegabten Nackten ist das schönste, technisch perfekt ausgestattete Opernhaus nutzlos. Einzig der durch den Atem beseelte, durch Phantasie bewegte menschliche Körper kann Theater machen. Das hat sich seit den Uranfängen nicht geändert. Darin liegt Begrenzung und Einmaligkeit des Theaters. NÜTZLICHE REGELN --
»Le physique du rôle« ist ein entscheidendes Kriterium.
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Den körperlichen Gestus verschiedener Sprachen studieren und
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Gib einer Figur ihren sozialen Gestus.
benutzen. --
Gute Comics studieren.
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Nur was Atem und einen Auftakt hat, gehört ins Musiktheater.
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Unbequem und hinderlich
R
embrandt wollte ein Bild malen: »Joseph erzählt dem Jakob seinen Traum«. Das Bild sollte recht groß
werden und wollte in seinem Aufbau gut geplant und durchdacht sein. Deshalb fertigte Rembrandt zunächst mehrere Skizzen an. Die erste zeigt Jakob bequem sitzend, den kleinen Benjamin zwischen den Knien und dem Joseph zuhörend, der direkt vor ihm steht und seinen Traum erzählt. Das versprach, ein schönes Bild zu werden. Jeder würde sofort verstehen, worum es ging. Rembrandt aber war nicht zufrieden. Die zweite Skizze zeigt Jakob wieder sitzend mit dem kleinen Benjamin zwischen den Knien, aber nun steht Joseph auf der rechten Seite, sodass Jakob sich von Benjamin weg- und Joseph zuwenden muss. Das ist unbequemer, aber erhöht eben deswegen die Wichtigkeit dessen, was Joseph zu erzählen hat. Besser also, aber für Rembrandt immer noch nicht spannend genug. Die dritte Version zeigt Jakob halb mit dem Rücken zu Joseph sitzend, und Benjamin ist nun auch nicht mehr zwischen seinen Knien, sondern lehnt an seiner linken Seite, während Joseph rechts steht. Jakob muss sich nun sehr unbequem, fast verschraubend, von Benjamin
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ab- und Joseph zuwenden, um mit halb offenem Mund zu hören, was der vorzubringen hat. Jakob wird dadurch höchst ausdrucksvoll und Joseph höchst interessant, denn eine solche Unbequemlichkeit nimmt man nicht in Kauf, wenn das Vorgebrachte nicht von großer Wichtigkeit ist. Bequemlichkeit ist der Feind des Ausdrucks, oder umgekehrt: Je unbequemer, desto ausdrucksvoller. Das Unbequeme muss sich auch keineswegs nur auf die Körperhaltung beziehen. Auch räumlich kann man sich bequem oder unbequem positionieren. Ein Delinquent, der einem Inquisitor Rede und Antwort stehen muss, welcher sich hinter ihm positioniert, sodass der peinlich Verhörte ihn nicht sehen kann, wird das nicht als bequem empfinden. Ebenso, wenn eine Auseinandersetzung in einem schwankenden Boot oder im strömenden Regen stattfindet. Natürlich gibt es Grenzen der Unbequemlichkeit, besonders bei Opernsängern, die ja vor allem schön singen sollen. Selbst in unbequemer Haltung müssen Zwerchfell und Atem noch locker und unter Kontrolle gehalten werden, sonst werden Atemstütze und Gesang beeinträchtigt. Generell aber gilt: Im Rahmen des technisch Machbaren ist meistens unbequem besser als bequem, weil es ausdrucksvoller ist. Damit verwandt ist auch die Technik, Hindernisse in eine Darstellung einzubauen. Ich habe sie dem schon erwähnten Fritz Kortner abgeschaut. Nichts konnte seiner Ausdrucksbesessenheit genügen. Nach einer langen anstrengenden Probe schien die Szene endlich zu klappen. Er aber war unzufrieden und maulte vor sich hin: »Das alles läuft zu einfach, zu glatt. Ich brauche Hindernisse.« Die Schauspieler schauten zum Himmel. Mein Gott, alle sind halb tot und nun will er auch noch Hindernisse. Er bemerkte es: »Ja, Sie verdrehen die Augen und
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meinen, der Alte sei gaga. Er ist aber nicht gaga, sondern Sie wissen nicht, dass durch das Hindernis der Ausdruck entsteht.« Wie recht er hatte, habe ich erst viel später begriffen. Menschen wollen im Allgemeinen ihr Inneres nicht zeigen und versuchen, es zu verbergen. Ein Hindernis lässt es hervortreten und deutlich wahrnehmbar werden. Auch bei ganz alltäglichen Vorgängen vergrößert ein Hindernis den Ausdruck. Wenn einer zum Beispiel durch eine Tür ins Freie schaut und sich seitwärts beugt, um etwas zu sehen, das der Türpfosten sonst verdeckt, so wird sein Ausdruck größer und der Gegenstand, den er sehen will, interessanter. Das Hindernis – der Türpfosten – lässt den Schauenden ausdrucksvoller werden. Nun will er zur Tür hinaus, und ein Stuhl steht im Weg: Kraftlos und verzweifelt sinkt er auf den Stuhl, weil er gerade eine Million verloren hat. Oder er tritt ihn wütend in die Ecke, voller Zorn auf den Betrüger, der ihn um die Million gebracht hat. Doch weil das Ganze sich als Irrtum herausstellt und er die Million in Wahrheit gewonnen hat, springt er vor Freude über den Stuhl. Jedes Mal ist der Stuhl, das Hindernis auf seinem Weg, der Anlass für einen starken Ausdruck, den er sonst wahrscheinlich gar nicht hervorgebracht hätte. Requisiten können wunderbar widerspenstige Hinder nisse sein. Ein Mantel, in den man sich beim Anziehen verheddert, während eilig etwas getan werden muss, kann ganze Ausdrucks-Gewitter zeitigen. Die altbekannte Slapstick-Nummer, drei oder mehr Gegenstände mit zwei Händen zu bewältigen, hat berühmte komische oder tragische Szenen entstehen lassen. Hindernisse bereichern und verstärken den Ausdruck, erhöhen die Spannung und machen Menschen und Dinge interessant.
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NÜTZLICHE REGELN --
Das Bequeme ist Feind des Ausdrucks. Unbequem ist ausdrucksvoller.
--
Baue Hindernisse in die Darstellung ein. Sie erhöhen Spannung
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Benütze Requisiten als Hindernisse.
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Entwickle Slapstick-Nummern (wo angebracht) aus Hindernissen.
und Interesse.
Bankräuber
I
m Allgemeinen haben Opernsänger keine Bank ausgeraubt. Gott sei Dank! Andererseits: Hätten sie es getan,
hätten sie gelernt, wie Verschwörer, Mörder, Terroristen, Dunkelmänner und eben auch Bankräuber sich betragen. Lichtscheues Gesindel, wie es in vielen Opern auftritt, verhält sich nämlich bei der Vorbereitung seiner Taten unauffällig, trifft sich eher beiläufig im Schatten an der Wand und nicht auf freiem Platz, spricht leise und scheinbar unbeteiligt mit unbewegter Miene, dabei mit den Augen stets die Umgebung nach möglichen Gefahren absuchend. Einmal beim Tresor-Knacken angelangt, reduzieren Bankräuber Worte und Gesten aufs Allernotwendigste, agieren langsam und vorsichtig, jede hastige oder gar akzentuierte Bewegung, die den Alarm auslösen könnte, vermeidend. Das alles geschieht unter größter Spannung mit angehaltenem Atem. Viele Opernsänger hingegen agieren bei solchen Szenen, deren es zahlreiche in der Opernliteratur gibt, völlig frei und unbekümmert, so als seien sie die Besitzer der auszuraubenden Bank. Sie leugnen kurzerhand den Zustand der Einbrecher und ignorieren die unheilvoll spannungsgeladene Orchesterbegleitung ihres Tuns. Sie haben, wie gesagt, eben keine Erfahrung in diesen Dingen. Ein Schuss Bankräuber-Phantasie könnte da weiterhelfen.
Bankräuber
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Dabei lässt sich in solch gefahrvollen Momenten, in denen Entdeckung droht, die Spannung durch kleine Pannen noch erhöhen: wenn ein Werkzeug versehentlich klirrend zu Boden fällt, wenn Pedrillo in Mozarts »Entführung« die zur Befreiung nötige Leiter durch ein enges, schrill quietschendes Gittertürchen bugsieren muss oder wenn Romeo beim Aufstieg zu Julias Balkon um ein Haar den Halt verliert und herunterzufallen droht. Bei solchen Szenen muss das Publikum mitfiebern und den Atem anhalten, was es aber nur kann, wenn der Darsteller selbst im Zustand höchster Spannung agiert. Auch Lauscher im Versteck kommen in fast allen Opern vor. Sie müssen ebenfalls die Spannung der Situation spielen, die Gefahr der Entdeckung, die Anspannung des Horchens, um alles genau mitzubekommen. Selbst wenn ihr Versteck so beschaffen ist, dass die Belauschten und Beobachteten sie tatsächlich nicht sehen und sie somit ganz entspannt zuhören könnten – das Publikum glaubt ihr Versteckt-Sein nur, wenn sie die Spannung des Vorgangs mit Herzklopfen und angehaltenem Atem spielen. Eines der vielen eigenartigen Theater-Phänomene. Auch das sogenannte »Apart«-Sprechen oder -Singen gehört in diese Kategorie, wenn nämlich ein Darsteller etwas zu sich selbst oder zum Publikum sagt, was der unmittelbar neben ihm Stehende nicht hören darf. Was natürlich völlig unglaubhaft ist. Wieso sollen tausend Leute in einiger Entfernung jenseits des Orchestergrabens etwas verstehen, was der Mitspieler auf der Bühne nicht wahrnimmt? Das ginge nur, wenn eine Wand zwischen beiden wäre, die aber außer bei Pyramus und Thisbe in Shakespeares Sommernachts traum nie da ist.
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Bankräuber
Was also tun? Hier gibt es zwei Techniken, die das »Apart« zumindest plausibel erscheinen lassen. Die Erste: Man baut sich sozusagen die Wand selbst, indem man sich abdreht und hinter der eigenen Schulter Deckung sucht. »Sie sind der Edelste und Beste«, schmeichelt der Diener seinem Herrn, um abgewandt hinter seiner Schulter aufsässig hinzuzufügen: »Was für ein Schurke!« Der blitzschnelle Wechsel der Körperhaltung und Atemspannung suggeriert Glaubhaftigkeit. Die zweite Technik ist, das »Apart« durch eine Tätigkeit zu überdecken, das Schnüren eines Schuhs, das Öffnen einer Flasche beim Sprechenden oder ein geschmeicheltes Lachen und Abwinken beim Angesprochenen. Man kann auch beide Techniken kombinieren, sodass niemand mehr an dem »Apart«, das oft auch eine Pointe ist, Anstoß nimmt. Natürlich ist es eine Konvention, eine Übereinkunft, wie so vieles in der Oper. Aber auch Konventionen wollen mit Leben erfüllt und dadurch glaubhaft sein. NÜTZLICHE REGELN -- Verschwörer verhalten sich gespannt – unauffällig. --
Bei Vorbereitung der Untat wenige, langsame Bewegungen bei
--
Pannen erhöhen die Spannung.
angehaltenem Atem. --
Im Versteck die Spannung des Lauschens und die Gefahr der Entdeckung spielen, sonst glaubt der Zuschauer das Verstecktsein nicht.
--
»Apart«-Sprechen hinter der »Wand« der eigenen Schulter oder/ und mit einer Tätigkeit kombiniert.
»Beteuerungstheater«
»
Sobald die röchelnde Posaune ertönt, nehmt Euren
Weg dahin«, lautet die Anweisung des Priesters an
die Prüflinge Tamino und Papageno in der Zauberflöte. Dabei weist seine rechte Hand (in der linken hält er eine brennende Fackel) unbestimmt irgendwo schräg oben in die Luft. Tamino und Papageno müssten fliegen können, um der Anweisung Folge zu leisten. Statt einfach in den für alle sichtbaren dunklen Gang zu zeigen, beteuert der Priester, dass er zeigt. Keine räumliche oder sonstige Vorstellung liegt seiner Handbewegung zugrunde. Und keineswegs nur bei kleinen Gesten wie dieser geschieht es, sondern auch bei großen Gefühlen. Der Darsteller beteuert, dass er liebt oder hasst, aber weder hasst noch liebt er. Man kann es allenthalben erleben: das Orchester aufgewühlt, der Gesang in höchster Leidenschaft – und doch fehlt etwas. Der psychische und physische Zustand fehlt, der Atem des großen Gefühls, der allein die Sache glaubhaft machen würde. Der Körper, besonders die Hände des Sängers, verraten ihn und teilen mit: »Es ist gar nicht so schlimm, das Orchester müsste sich eigentlich nicht so sehr aufregen.« Es fehlt die aus Phantasie erschaffene Realität der Darstellung. Der Sänger spielt »Beteuerungstheater«. Nun ist das mit dem fehlenden Zustand in der Oper so eine Sache. Dass Sänger den Zustand einer Figur in der Darstellung verweigern, ist ja eines der Hauptprobleme der
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»Beteuerungstheater«
Oper schlechthin, eine der Ursachen für ihre Unbedarftheit und manchmal sogar Lächerlichkeit. Vielleicht aber tun die Sänger das instinktiv aus gutem Grund. Denn Singen (und Musik machen generell) ist eben in weit höherem Grad eine technische Angelegenheit als schauspielern. Von dem berühmten Geiger Yehudi Menuhin stammt der Ausspruch: »Ausdruck ist der Feind der Technik.« Für die Oper bedeutet das: Je mehr der Sänger sich in den Zustand einer Figur versetzt, desto mehr gerät er in Gefahr, seine Gesangstechnik zu vernachlässigen. Daher die Wichtigkeit einer Ausbildung, die Stimme und Körper, beide gesteuert vom Atem des jeweiligen Zustands, zur Einheit verschmilzt. So, dass etwa der körperliche Ausdruck des Schreckens beim Anblick eines Ungeheuers gleichzeitig technisch die notwendige Zwerchfell-Stütze für den hohen Ton und das Sforzato erzeugt, die den Schrecken musikalisch ausdrücken. Hier sind gelegentlich auch Kompromisse zwische Zustand und Technik nötig. Eine Medea, die sich und die Welt verfluchend die Arme zum Himmel recken soll, wird vielleicht erklären müssen, dass sie die angemessene extreme Streckung nicht ausführen kann, weil ihr sonst der Kehlkopf hochrutscht und sie dann den Fluch über das fortissimo spielende Orchester nicht singen kann. Ich bin überzeugt, dass die große Ausdrucks-Magierin Maria Callas, eben weil sie sich völlig in den Zustand ihrer Rollen versetzte und darüber die Technik vernachlässigte, so früh ihre Stimme verloren hat. Meine persönliche Begegnung mit ihr verlief dazu noch recht unglücklich. Sie kam auf ihrer letzten Tournee mit dem Tenor Giuseppe di Stefano ans Mannheimer Nationaltheater, wo ich als junger Intendant waltete. Sie tat sich keinen Gefallen mit diesen letzten Auftritten. Die Stimme war dahin, und
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es war bemühend, mitanzuhören und zu sehen, wie sich diese große Künstlerin auf kleine Harmlosigkeiten wie »Oh mio babbino caro« aus Puccinis Gianni Schicchi zurückzog, die ihre Stimme nicht sehr beanspruchten. Zu ihrer Ankunft, die sich irgendwie herumgesprochen hatte, war eine ziemlich große Menschenmenge vor dem Bühneneingang versammelt. Sie entstieg dem Wagen, elegant in Schwarz gekleidet, wie man sie von zahllosen Fotos kannte. Dazu trug sie einen großen, auffallenden Hut. Ich begrüßte sie gebührend und geleitete sie auf die Bühne. Dort gab sie ihre Anweisungen, wo sie und der Tenor-Kollege während des Konzerts auftreten und stehen würden. Dazu äußerte sie ihre Wünsche, die Beleuchtung betreffend, völlig professionell, das Führungslicht von der Seite, in einem bestimmten Winkel, und nur das Nötigste von vorne. Um sie zu unterstützen, raunte ich dem Beleuchter zu: »Und mach’ sie schön mit weichem Licht, gib Amber und Rosè dazu.« Sie hörte es und – was ich nicht wusste – verstand Deutsch. Nach einer Pause gab sie mir einen langen, traurigen Blick und sagte dann nur – genau wie die Marschallin im Rosenkavalier – melancholisch: »Ja, ja.« Ich wollte in den Boden versinken und schäme mich noch heute meiner eigentlich gut gemeinten Unachtsamkeit. Wenn die Callas sich in den Zustand einer Rolle versetzte, erfüllte sie fast die Forderung des Opernreformators WalterFelsenstein, der Sänger müsse sich emotional so hoch steigern, dass er jenseits der Sprache nur noch singen könne. Mir war diese Forderung suspekt, da sie hysterisch-emotionales Hochpumpen an die Stelle von Phantasie setzte. Sie erinnerte an die Anekdote, in der ein junger Schauspieler in einer Szene mit Sir Lawrence Olivier, dem großen englischen Shakespearedarsteller, ein heruntergekommenes Subjekt
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darstellen sollte. Zu diesem Zweck aß und schlief er tagelang nicht, wusch und rasierte sich noch viel weniger, um sich schließlich in bejammernswertem Zustand Sir Lawrence zu präsentieren. Worauf der nur trocken meinte: »Why don’t you try it with acting? « (»Versuchen Sies doch mal mit Schauspielerei.«) Ein weiteres Problem ist: Bei der Bemühung, sich in den Zustand ihrer Rolle zu versetzen, verwechseln viele Sänger Intensität mit Druck. Dabei forcieren sie nicht nur die Stimme (was dieser gar nicht gut tut), statt auf dem Atem zu singen, sondern verkrampfen auch den Körper. Man sieht sie dann bei jedem musikalischen Akzent ruckartig nach vorne und unten zucken, was manchmal an Körner pickende Truthähne erinnert. Das ist Druck! Intensität dagegen ist immer Atem. Auch im Leben rast unser Puls bei starker Emotion und zwingt uns, mehr Atem zu schöpfen. Großes Gefühl erfordert immer großen Atem – das Gegenteil von Druck. Die Stimme ruht dabei auf der stark ausgeatmeten Luft, die den Körper, ähnlich wie beim Rückstoß eines Gewehrs, sich eher nach hinten strecken lässt. Das ist Intensität! Was große Opern-Momente und die besten Werke kennzeichnet und sie über Jahrhunderte lebendig erhält, ist ihre emotionale Intensität, die Weite und Tiefe des Gefühls. Hier liegt der Hauptunterschied zwischen Mozart und Salieri, zwischen Wagner und Meyerbeer. Wo normal gesunde Menschen 37 Grad im Herzen haben, sind es bei großen Komponisten gelegentlich 370 Grad. Wie viel Glut-Atem wird für diese Intensität von den armen Interpreten gefordert. Das vor allem ist es, was den Umgang mit Meisterwerken so schwierig macht. Denn da gilt nur eines: Mit dem eigenen Gefühl, mit der eigenen Menschlichkeit bar zahlen. »Beteu-
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erungstheater« hilft da nicht weiter. Der Weg vom Machen zum Sein, der ja das Ziel allen Theaters ist, er ist schwierig und wird nur von wenigen ganz ausgeschritten. NÜTZLICHE REGELN --
Beteuere nicht, dass du etwas tust oder fühlst. Tue oder fühle es einfach.
-- Verschmelze Ausdruck und Technik zur Einheit von Körper und Stimme. --
Intensität nicht mit Druck verwechseln.
--
Phantasie ist besser als Hysterie, um sich
--
Auf dem Atem singen, nicht auf den Stimmbändern.
emotional hochzusteigern.
Der »trizophrene« Auftakt
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ie schon erwähnt, muss man, bevor man etwas sagt, zwangsläufig zwei Dinge tun: denken und
atmen. Nur unter dieser Voraussetzung ist Sprechen überhaupt möglich. Fast noch mehr trifft das auf die Musik zu. Die musikalisch gedehnte Zeit einer breit ausgesponnenen Melodie macht diese Bedingung noch unabweisbarer, um über den dazu nötigen Atem und die entsprechende emotionale Spannweite verfügen zu können. Deshalb ist dieses »Voraussein« vor der Musik in der Oper von eminenter Wichtigkeit. Nur so kann der Sänger die Musik scheinbar aus sich heraus erzeugen; nur so bilden Stimme und Körper eine Einheit. Während der Sänger eine Phrase singt, muss er sich innerlich bereits auf die nächste einstellen, um diese rechtzeitig anzuschließen und vor allem, um das Orchester durch den Auftakt seines Atems als Ausdrucksträger sozusagen in den Dienst zu nehmen und dessen Spiel in Bezug auf die Szene verständlich zu machen. Allzu oft atmen Sänger erst, wenn sie eigentlich schon singen müssten, während das Orchester ohne sichtbaren Grund davonstürmt. Ein sicheres Zeichen, dass der Sänger nicht gedacht, oder allgemeiner, nicht rechtzeitig »geschaltet« hat. Dieses Nachhinken hinter
Der »trizophrene« Auftakt
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der Musik, statt sie rechtzeitig zu erzeugen, ist meist nicht ohne unfreiwillige Komik. Das entscheidende Element ist der Auftakt. Wer mich beim Unterrichten beobachtet, wird wahrscheinlich irritiert sein durch meinen häufigen Zwischenruf: »Und …!«, wenn der Sänger gerade am schönsten singt. Vor lauter Schönheit vernachlässigt er nämlich oft den Auftakt für das Kommende. In meiner Kindheit hatten wir eine alte pfälzische Haushaltshilfe, die die Angewohnheit hatte, Sätze auf »und« zu beenden. »Isch gehʼ jetzt eikaufe, und …« Die Wirkung war magisch, denn die ganze Familie wartete gebannt, was noch käme. Es war die Magie des Auftakts. »Und …« lautet die Zauberformel für alle Arten von Auftakten. Lange, sich über mehrere Takte hinziehende, und kurze, harte und weiche, titanisch hochreißende und graziös hüpfende, für jede Art von Musik und Bewegung. Denn immer ist Atem und Körper dabei im Spiel, und der Musik-Zauberlehrling tut gut daran, den Auftakt so lange zu üben, bis er zur zweiten Natur geworden ist. Man kann das bei alltäglichen Verrichtungen tun, z. B. beim Anziehen der Hose: »Und« Hose nehmen, »und« öffnen, »und« rechtes Bein, »und« linkes Bein, »und« hochziehen, »und« Knopf »und« Zipp. Banal, sicherlich, aber so werden Vorgänge auf der Bühne flüssig musikalisiert. Der Atemauftakt einer Idee reißt musikalisch und szenisch in die Höhe, weckt das Interesse der Mitspieler und hält die Neugier des Publikums wach. »Was hat er denn nun schon wieder?«, ist die Reaktion. Freilich gibt es auch Gelegenheiten, bei denen der Auftakt äußerlich nicht sichtbar werden darf. »Telefoniere nicht im Voraus«, sagte mir ein alter Judo-Meister, »sonst weiß dein Gegner, was du vorhast. Du musst ihn überraschen.«
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Der »trizophrene« Auftakt
Das trifft auf viele Situationen zu, z. B. für sogenannte falsche Abgänge. »Ich gehe, Sie sehen mich nie wieder! – Nur dies noch: …« Bei fast allen Sängern spürt man, dass sie den Abgang zwar ankündigen, aber nicht wirklich abgehen werden. Sie »telefonieren«. Ein untrügliches Zeichen für die Qualität eines Darstellers ist seine »Schaltgeschwindigkeit«, wie rasch er von einer Sache zur nächsten kommt. Ein Ausdruck muss dem anderen klar folgen – secco, trocken –, etwa so, wie Salami- Scheiben aus der Wurstschneidemaschine fallen. Diese »speed« genannte Eigenschaft sollte bei Besetzungen für bestimmte Rollen – vor allem bei Mozart – ein wesentlicher Gesichtspunkt sein. Bei diesem schnellen Schalten müssen dennoch die Auftakte klar gesetzt werden. Dabei gilt sowohl: »Die Stärke der Ohrfeige hängt vom Ausholen ab«, als auch: »Nicht telefonieren!« Das erfordert – je nach Gelegenheit – eine feine Balance zwischen Spontanität und Kontrolle bei den Auftakten. Der Dirigent Herbert von Karajan hob bei einer unserer Proben einmal den Taktstock, senkte ihn aber sofort wieder und befand: »zu laut«, noch bevor überhaupt ein Ton erklungen war. Bei ihm konnten Musiker und Sänger, was Auftakt und Voraussein betraf, sich sicher und wie in Abrahams Schoß geborgen fühlen, weil man immer schon weit voraus wusste, was er als Nächstes vorhatte. Ich wollte herausfinden, wie er das machte, und fragte ihn schließlich während einer Probenpause. »Weiß ich nicht«, brummelte er, »ich übe morgens mein Yoga.« Ich ließ nicht locker: »Sie dirigieren eine Sache und sind dabei schon bei der nächsten. Das ist doch fast schizophren.« »Nein, trizophren.« (Das ist zwar kein Wort, aber er benutzte es.) »Trizophren! Ich gebe den Einsatz und
Der »trizophrene« Auftakt
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muss sofort das zu laute Horn dämpfen, während ich schon im Voraus einen Tempowechsel vorbereite. Man könnte sagen: Der Einsatz ist die Gegenwart, das Horn schon Vergangenheit und der Tempowechsel die Zukunft.« Auf diesen drei Ebenen muss in der Tat jeder Musiker und besonders der Opernsänger arbeiten. Das lernt sich nicht von heute auf morgen und erfordert viel Übung. Durch Karajans »Trizophrenie« entsteht das, was ich den »Lebensfluss« in der Musikdarstellung nenne, sodass eines aus dem anderen organisch hervorgeht. NÜTZLICHE REGELN --
Sei der Musik voraus und »schalte« rechtzeitig.
--
Der Musik hinterherlaufen ist unfreiwillig komisch.
-- „Und …!«, lautet die Zauberformel für den Auftakt. Musikalisch und szenisch. --
Stelle fest, was gilt: »Nicht telefonieren!« oder: »Die Stärke der Ohrfeige hängt vom Ausholen ab.«
-- Trainiere Karajans »Trizophrenie«. Zugleich Ansatz, Kontrolle und Vorbereitung.
Ein perfekter Musikdarsteller
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an hatte mich gewarnt: Er wird seinen Falstaff
wie immer singen und sich einen Teufel um die
Inszenierung scheren. Er kam in Begleitung seiner zierlichen Frau Tilda, schaute sich zwei Tage verschlossen und eher misstrauisch an, was wir Jüngeren trieben. Dann kam Tildas Urteil: »Tito, tutto questo sarà un’ amore. Fai tutto quello che vuole.« (»Tito, das alles wird eine Liebesaffäre. Mache alles, was er verlangt.«) Er – das war ich, der Regisseur. Von diesem Moment an probte Tito Gobbi, der berühmteste Falstaff seiner Epoche, die Rolle mit uns, als sänge er sie zum ersten Mal. Alle waren tief beeindruckt von diesem Künstlertum, das sich nicht zu schade war, sich dem Neuen, Jungen auszusetzen und gleichzeitig uns zu lehren. Tilda sollte recht behalten: Die Aufführung wurde sein letzter, großer Triumph. Tito Gobbi war der perfekte Musikdarsteller. Er beherrschte sein Handwerk wie kein anderer und wusste es mit enormer Wirkung einzusetzen. Sein Auftritt als Scarpia, den er meist an der Seite von Maria Callas’ Tosca sang, mit den Worten: »Che baccano in chiesa!« (»Was für ein Aufruhr in der Kirche!«) ließ jedes Publikum in der Eiseskälte, die von ihm ausging, erstarren. Wenn er im Falstaff, verkleidet als schwarzer Jäger mit dem
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Hirschgeweih auf dem Kopf, zur Eiche des Herne im dunklen Park von Windsor trat, wagte kein Zuhörer mehr zu atmen, so mitternächtlich-geisterhaft gestaltete er Verdis magisch-harmonische Abwandlungen der zwölf Glockenschläge. Sein Zorn konnte elementar ausbrechen, in der Rolle und, wenn es sich so ergab, gleich noch privat dazu. Ein unglück licher Übernahme-Dirigent, der ihn den ganzen Abend ärgerte, bekam es zu hören. Als Alice, welche Falstaff schon selig unter der Eiche im Arm hält, sich ihm entwindet und entwischt, bricht es, gefolgt von wilden Orchesterschlägen, aus Falstaff heraus: »Il diavolo non vuol, ch’io sia dannato!« (»Der Teufel will meine Verdammnis nicht!«) Diesmal aber schleuderte Gobbi, ganz in der Rolle, dem missliebigen Dirigenten entgegen: »Il diavolo ben vuol, che TU sii dannato!« (»Der Teufel will sehr wohl, dass DU verdammt seist!«) Dem Armen fiel vor Schreck fast der Taktstock aus der Hand. Bei Gobbi war jedes Wort, selbst im äußersten fortissimo des Orchesters, völlig verständlich. »Masticare le parole« (»die Worte zerkauen«) war seine Devise. Das tat er so lange, bis jede Silbe mit völliger Selbstverständlichkeit in ihrer musikalischen Struktur und im Verhältnis von Vokal und Konsonant kristallklar herauskam. Dabei erzählte er, das sei noch gar nichts im Vergleich zu dem, was der große englische Schauspieler Sir Lawrence Olivier treibe, den er in London kennengelernt hatte. Der habe ihm anvertraut, dass er jeden Satz seiner großen Shakespeare-Rollen genau hundertundzehn Mal durchspreche, bevor er damit auf die Bühne ginge. Für die Textverständlichkeit hatte Gobbi noch eine weitere Methode parat: »Suche in einem Satz die zwei wichtigsten Worte heraus, die das Publikum auf jeden Fall mitbekommen muss, um den Sinn zu verstehen.« Diese zwei Worte seien
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unter allen Umständen über die Rampe bis zur letzten Reihe zu bringen. In der Barockoper sei das einfach gewesen. Dort wurde der Text einfach so oft wiederholt, bis ihn auch der Dümmste verstand. Wo das aber nicht der Fall sei, müsse man sich auf die »due parole« und »masticare« verlegen und wenn nötig ohne Musik, dafür mit dem Korken einer Weinflasche zwischen den Zähnen, den Text so lange üben, bis man die Sache beherrsche. Das Ergebnis war eine Textverständlichkeit, wie ich sie sonst kaum je erlebt habe. Leider ist diese Kunst der deutlichen Artikulation heute fast völlig verloren gegangen, sei es wegen der auch von den Sängern oft nur mangelhaft beherrschten Originalsprache (»Das Publikum versteht sowieso nichts.«), sei es wegen der Übertitel (»Die können ja lesen.«). Für die Einheit von Wort und Musik, die einander in ihrem Sinn bedingen, ein schlimmer Verlust. Denn ohne Textverständnis ist in der Oper auch die Musik nicht zu verstehen. Eine weitere Technik, die Tito Gobbi mir beibrachte, lautet: »Come tu metti i piedi è il ruolo.« (»Wie du die Füße setzt, ist die Rolle.«) Wie wahr! Jeder kann es selbst probieren, indem man einen Bauern oder Seemann breitbeinig daherkommen lässt, im Gegensatz zu einem Prinzen, der in edler Beinhaltung die Welt von oben betrachtet. Oder indem man Beckmesser, den kritischen Merker aus den Meistersingern in einer Art Storchengang die Gesangsfehler quasi mit spitzem Schnabel aufspießen lässt. Die Füße verbinden den Darsteller mit dem Boden und bestimmen seine Körperhaltung. Wie viele Tenöre stemmen als feurige Liebhaber unbedarft breitbeinig ihre Töne heraus, ein Bild unfreiwilliger Komik. Man hat sie nichts Besseres gelehrt, und sie hatten nicht das Glück, bei Gobbi in die Schule zu gehen.
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Bei ihm stand die völlige Beherrschung des Metiers im Dienst einer stupenden Phantasie, eine Kombination, die ihm erlaubte, seine genaueste Vorstellung einer Rolle im Kontext der Musik auf der Bühne zu verkörpern. Man konnte viel, sehr viel von Tito Gobbi lernen. NÜTZLICHE REGELN --
»Masticare le parole« – kaue den Text, bis er völlig verständlich wird.
--
Den Text mit einem Korken zwischen den Zähnen sprechen.
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Suche die zwei für das Verständnis eines Satzes wichtigsten Worte und bringe sie über die Rampe zum Zuhörer.
-- Wie du die Füße setzt, ist die Rolle.
Mozart
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Viel bei Mozart abgeschrieben«, sagte ein Rosen kavalier-Besucher zu Richard Strauss. Der darauf
ungerührt: »Na ja, wissen’s mir an Besser’n?« In der Tat, Mozart ist der beste Lehrmeister der Oper. Man kann alles von ihm lernen. Vor allem: Man kann bei ihm nicht mogeln. Beim Vorsingen etwa kommen Stärken und Schwächen eines Sängers schon nach wenigen Takten zum Vorschein. Murphy’s Law ist mächtig in ihm: Was schiefgehen kann, geht oft schief. Stilistisch ist ihm nicht beizukommen. Häufig hat er wenig anders gemacht als seine Zeitgenossen, und doch wird bei ihm ständig die Konvention zur Revolution. Noch so brillante Ideen und Konzeptionen helfen bei ihm nicht weiter. Eigentlich muss man nur das tun, was in der Musik steht, die alle Elemente einer Aufführung umfasst. »Zwar ist es leicht, doch ist das Leichte schwer.« Mozarts Einfachheit ist das Allerschwerste. Da helfen nur Können und Wahrhaftigkeit. »Das Herz adelt den Menschen«, lautet sein bekanntestes Briefzitat. Ganze Bibliotheken lassen sich füllen mit dem, was über Mozart geschrieben wurde. Alles scheint gesagt, tatsächlich aber wenig in Bezug auf die »Opern-Macher«, die bei ihm in die Schule gehen. Seine Lehren sind unerschöpflich. Hier eine kleine Auswahl:
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Bei Mozart passiert vieles sehr schnell. Man könnte sagen in einer gegebenen Zeit ein Vielfaches im Vergleich mit anderen Komponisten. Seine raschen Wechsel des musikalischen Ausdrucks, seine plötzlichen Emotionsbrücheerfordern oft eine enorme innere »Schaltgeschwindigkeit«, um die nächste Phrase mit schon wieder neuer Musik vorzubereiten. »Mozart is a brain problem«, pflegte mein langjähriger Kölner Musik direktor, der für seine Mozart-Interpretationen berühmte englische Dirigent John Pritchard, zu sagen. Viele Darsteller sind damit überfordert. Sie laufen Mozart hinterher und retten sich ausdrucksmäßig in einen allgemeinen Einheitsbrei, der die benervte Differenzierung der mozartschen Musik ignoriert. In der Tat verlangt er auch viel. Alle zwei Takte wechselt er manchmal den Ausdruck, gelegentlich sogar in jedem Takt. Im ersten Zauberflöten-Quintett beschreiben die drei Damen die Wirkungen der Flöte: »Der Traurige wird freudig sein, den Hagestolz nimmt Liebe ein.« Sieben Takte alla breve, jeder mit eigenem Inhalt. Im ersten lässt das Fagott traurig den Kopf hängen, im zweiten machen die Violinen im Handumdrehen Simsalabim, und schon hüpft im dritten der Traurige fröhlich durch die Welt. Im vierten Takt vereinigen sich Hörner und Violinen zu einem kleinen Triumphgeschmetter, wie um zu sagen: »Ja, da staunt ihr«, um übergangslos im fünften in trockenem, sozusagen gastritischem Staccato den Hagestolz zu charakterisieren, dem sich im sechsten Takt aus dem Füllhorn der Violinen schließlich mit hellem Oboenklang im siebten die Liebe ins Herz ergießt. Und weil die drei Damen das nicht nur beschreiben, sondern selbst in den »schönen Jüngling« Tamino verliebt sind, bringt Mozart zu allem Überfluss auf das Wort »Liebe« noch einen raffiniert flirtenden Vorschlag an. Das für solche Stellen notwendige »Mikromanagement«
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der Musik will gelernt sein. Man darf dabei natürlich nicht allzuviel machen, muss aber dennoch jeweils vor jedem Takt gefühlsmäßig innerlich umschalten. Diese Differenziertheit der Musik bringt dann das rasche Pingpong-Spiel der Aktionen und Reaktionen hervor. Sie finden zwischen den Darstellern statt, zwischen Darstellern und Orchester, setzen sich im Publikum fort und prallen von dort wieder zurück auf die Bühne. In den Ensembles bringt die Musik jede Person ins Spiel und verändert dabei wie eine Kamera ständig den Blickpunkt, quasi in Schnitt und Gegenschnitt, wechselnd zwischen Großaufnahme und Totale. So bildet sich jenes Netz von Interaktionen, das für Mozart charakteristisch ist. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass der jeweilige emotionale Höhepunkt an sehr verschiedener Stelle liegen kann. Bei manchen Arien liegt er sogar erst im Nachspiel (z. B. in Taminos »Bildnis«-Arie). Oder es wird bereits im vorausgehenden Rezitativ und im Vorspiel ein Zustand erreicht, dass »es« gleichsam von selbst zu singen beginnt (wie bei Susannas »Rosen«-Arie). Diese Vielfalt will jeweils erforscht und sorgfältig ausgearbeitet sein. Kleine Häuser, wie die, für die Mozart geschrieben hat, helfen dabei sehr. Ich habe während meiner Zeit im Salzburger Festspieldirektorium mit einigen bedeutenden Architekten die Frage erörtert, wie ein »Mozart-Haus« beschaffen sein müsste. Als Hauptforderung ergab sich, dass es eben dieses rasche Pingpong der Interaktionen aller Beteiligten, einschließlich des Publikums, ermöglichen müsse. In großen Häusern wird die Sache durch zu große Distanzen schwerfällig. Die Reaktionen laufen dann der Musik, die schon weit voraus ist, hinterher. Niemand wusste das besser als Mozart selbst, der es bereits bei der Komposition einkalkulierte. Im
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2. Akt von Figaros Hochzeit hat sich Susanna hinter dem Vorhang des Fensters auf der einen Seite versteckt. Nach dem Abgang von Graf und Gräfin muss sie im Vorspiel des folgenden Duettinos zwischen ihr und Cherubino so rasch wie möglich zur verschlossenen Kabinettstür auf der anderen Seite gelangen, um dort in Panik durch die Tür zu flüstern: »Aprite, presto aprite.« (»Öffne rasch, öffne.«) Das Vorspiel im richtigen Tempo erlaubt dafür allenfalls zwölf Meter. Bei der Uraufführung waren es elfeinhalb. Bei Mozart ist die Erzählung der Fabel fast immer schon in der musikalischen Struktur enthalten. Der Anfang der Figaro-Ouvertüre etwa gibt im Presto-Gewusel sofort einen Eindruck des Tollen Tags (so der Untertitel der Oper), an dem die Ereignisse sich überschlagen. Dazu verkürzt Mozart aber noch die Anfangsperiode um einen Takt. Wo man den regulären achten Takt erwartet, ist Mozart – hoppla – schon weiter im ersten Takt der folgenden Periode und bringt so gleich am Anfang die Hörer außer Atem. Dieselbe Technik – das Ineinanderschieben zweier Perioden – wendet er zu ganz anderem Zweck wieder im »Briefduett« zwischen Gräfin und Susanna an: Hier geht es darum, das vollkommene Einverständnis der beiden Frauen über alle sozialen Unterschiede hinweg Klang werden zu lassen. Die Stimmen gehen dadurch ineinander über, sodass man kaum wahrnehmen soll, wo die eine aufhört und die andere beginnt. Man könnte sagen: Weiblicher gehts nicht. Und damit ist bereits ein für Mozart wesentliches Element erwähnt: Die Stellung seiner Figuren im sozialen Gefüge. Wer ist Herr, wer Diener, wer ist reich und hat dadurch Macht und wer ist arm und dadurch abhängig? Wer befiehlt und wer hat zu gehorchen, wer passt sich an und wer ist aufsässig? Auch
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in dieser Hinsicht ist das Soziale in der Struktur der Musik hörbar. Das berühmteste Beispiel ist das erste Finale im »Don Giovanni« mit seinen drei Orchestern auf der Bühne, die den sozialen Stand der handelnden Personen musikalisch abbilden: Menuett (Dreivierteltakt) für den Adel, Deutscher (Zweivierteltakt) für die sozial ehrgeizige Zerlina mit Don Giovanni und der derbe Bauerntanz (Sextolen) für das Landvolk. Es ist deshalb auch gänzlich unzulässig – Kosten hin oder her –, diese drei Orchester nicht auf die Bühne zu bringen, wie es im gedankenlosen Opernbetrieb leider oft geschieht. Mozarts genaue Zeichnung der sozialen Verhältnisse hat Folgen für die Darstellung. Diener müssen arbeiten und haben fast immer etwas zu tun, während die Herrschaften Zeit und Mittel haben, sich ihrem reichen Seelenleben oder sonstigem angenehmen Zeitvertreib zu widmen. Die Diener haben dadurch meist eine realistische Einstellung gegenüber den Idealen der Wohlgeborenen. Das ergibt »sozialen Gestus«, durch Leben und Arbeit geprägte Haltungen, die sich gegenüber den anderen Figuren scharf und dramatisch wirkungsvoll absetzen. Und es ergibt Spannung: Denn Mozarts Diener begehren ständig auf. Wenn es offen nicht möglich ist, findet die kleine Revolte unterschwellig statt. Blondchen und Pedrillo, Susanna und Figaro, Leporello, Masetto, Despina und natürlich auch Papageno benützen jede Gelegenheit, durch »Apart«-Sprechen, durch Ironie und Sarkasmus oder übertriebene Schmeichelei die Verhältnisse und ihre Herrschaft zu kritisieren. Die wiederum zahlt mit gleicher Münze zurück: Arroganz, Herablassung und Beschimpfung allenthalben. »Pazzo, mentecatto, vechia pretendente, razza di gente, birbo, mascalzon, ceffo da cani« (»Verrückter, Schwachsinniger, alte Nervensäge, Rasse von Leuten, Gauner,
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Verbrecher, Hundefratze«), lautet eine kleine Auswahl hochwohlgeborener Beschimpfungen. Auch Tamino lässt es in der Zauberflöte an prinzlicher Arroganz und peinlicher Unreife gegenüber dem Sprecher keineswegs fehlen. Und die Figuren zwischen unten und oben, Osmin, Basilio und Alfonso, intrigieren, was das Zeug hält, um sich über Wasser zu halten. Diese sozialen Gegensätze gehörten zu den Konventionen der reifen Opera Buffa, und Mozart bediente sich ihrer ebenso wie alle anderen, die zu seiner Zeit für das Theater schrieben. Nur dass er die Konvention mit heißem, persönlich beglaubigtem Leben füllte, um den sozialen Kosmos seiner Werke zu schaffen. In vielen seiner Briefe finden sich ausgeprägte gesellschaftliche Ansichten und oft dieselbe aufsässige Grundstimmung wie in seinen Opern, häufig verbunden mit Zornausbrüchen, Ironie und beißendem Sarkasmus. Kein Wunder bei einem Mann, der mit einem Tritt in den Hintern aus dem domestikenhaften Dienst des Salzburger Fürsterzbischofs befördert worden war und Zeit seines Lebens größten Wert auf Achtung und Menschenwürde legte. Der als Freimaurer gemeinsam mit Schikaneder die große gesellschaftliche Utopie seines (und unseres!) Jahrhunderts, die Vereinigung von Macht und Gerechtigkeit, in der Zauberflöte auf die Bühne brachte. Die Freimaurerei nämlich hatte durchaus dieselben Ziele – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – wie die französische Revolution, wollte sie aber evolutionär statt revolutionär durchsetzen; ohne Guillotine sozusagen. Auch war Mozart kein Revoluzzer, der Parolen in Musik setzte. Sein Künstlertum verband die Konvention mit der Revolution, machte sie viel umfassender und dadurch auch zeitlos und heute noch gültig. Ein Blick auf Figaros Hochzeit mag dies verdeutlichen. Am Ende des 3. Aktes findet tatsächlich eine kleine Revo-
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lution statt. Die Hochzeit ist vollzogen, ohne dass der Graf sein widernatürliches Herrenrecht ausüben kann. Das Volk feiert Figaro und Susanna als Sieger. Ein kleiner Fortschritt hin zu einer gerechteren Gesellschaft, zur Achtung von Menschenrechten, ist erzielt. Wäre es Mozart nur um diesen Aspekt gegangen, könnte die Oper hier enden. Er geht aber mit seinem Librettisten da Ponte viel weiter. Die eigentliche Revolution findet im 4. Akt außerhalb der gesellschaftlichen Schranken in der nächtlichen Natur unter dem nach ewigen Gesetzen kreisenden Firmament statt. Und die Musik kreist mit und wirbelt alle durcheinander. Wenn aber alle mit allen, hoch und niedrig, jung und alt, mit oder ohne Verkleidung, hellsichtig oder getäuscht, in jeder vorstellbaren erotischen Spielart sich verbinden könnten, wie abwegig wider die Natur, wie absurd und dumm sind dann Klassenschranken – an jedem Ort und zu jeder Zeit. Alle Figuren sind bei Mozart gescheit. Ich habe im ganzen Kosmos seiner Opern keine dumme Person gefunden. Aus der Gescheitheit entsteht die Spannung und der ständige Wechsel von Angriff und Verteidigung, von Vorteil und Nachteil. Dumme zu besiegen, ist relativ einfach und erweckt kein Interesse. Wenn aber gescheit gegen gescheit antritt, wird die Sache spannend. Alle verfolgen bei Mozart ihre Absichten und Interessen auf die wirkungsvollste Weise. Zum Beispiel der Gärtner Antonio aus Figaros Hochzeit, der fälschlicherweise oft dumm und tölpelhaft dargestellt wird. Dabei hat er immer recht. Er weiß es und besteht darauf. Keineswegs sei ein Mann zu Pferd aus dem Fenster gesprungen, das habe er weder behauptet, noch sei es so gewesen. Und sogar mit durchaus kritischem Sarkasmus: Gewiss, wenn der Herr Graf meine, Cherubino sei in Sevilla, dann sei das so,
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wer könne dem Herrn Grafen widersprechen – nur sei dann eben Sevilla in seinem Hause. Und gar Osmin, der treueste und wachsamste Diener seines Herrn: Er behauptet nicht nur »ich hab auch Verstand«, er benutzt ihn auch auf seine bauernschlaue und gefährliche Weise. Mozart nimmt sie alle in seiner Musik völlig ernst, weswegen sich auch für die Darsteller jede Denunziation ihrer Figur oder gar plumpe sogenannte Komik von selbst verbietet. Gefochten wird bei Mozart gekonnt und elegant, aus Ausfall und Riposte, aus Aktion und Reaktion gescheiter Leute entsteht die Fraktur seiner Musik mit ihren schnellen Wechseln, oft oszillierend zwischen Ironie, Sarkasmus und tiefstem Gefühl, voller Überraschungen und Fallstricke, was die Sache für die Interpreten so schwer macht. Auch sie müssen gescheit sein, um diese Musik auf der Bühne angemessen umsetzen zu können. Und schließlich: Auch das Publikum muss gescheit sein – blitzgescheit sogar. Zumindest muss man es dafür halten. Mozarts Musik liefert auch oft das, was Sänger gerne verweigern, den Zustand einer Figur. Sie macht nicht nur aus Psychologie, sondern sogar aus Physiologie Klang. Herzfrequenz, Atemspannung, Muskeltonus, Blutdruck, Hormonausschüttung und Adrenalin – alles ist hör- und nachvollziehbar, Sänger und Publikum müssen sich nur darauf einlassen. Und genau das macht die Figuren so lebensvoll und damit vielseitig interpretierbar. So wie das Leben selbst nicht auf nur eine Weise gelebt werden kann, so hat auch der Darsteller bei Mozart viele Möglichkeiten der Gestaltung seiner Rolle. Er kann sich die dramatisch ergiebigste aussuchen. Zum Beispiel gewinnt Konstanze in der Entführung als Charakter ungemein, wenn man sie im Konflikt zwischen dem
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Treuegelübte gegenüber ihrem Verlobten Belmonte und der gegen ihren Willen aufkeimenden Liebe zu dem reifen, faszinierenden Mann Bassa Selim zeigt. Das ganze Stück gewinnt dabei an Tiefe. Das muss man nicht so machen, aber Mozarts Musik erlaubt es und unterstützt eine solche Auslegung. Wie alle großen Dramatiker ist Mozart seinen Geschöpfen gegenüber gerecht. Als Interpret muss man sorgfältig darauf bedacht sein, diese Gerechtigkeit, die den ganzen Kosmos seiner Werke in der Balance hält, zu beachten. Stets ist das Gegenteil mitgedacht und mitkomponiert. Wie überzeugend wird der üble Intrigant Basilio in Figaros Hochzeit durch seine sogenannte »Eselsarie« gerechtfertigt. Ein kleiner Mann, der sich in den Stürmen der Zeit dumm stellen und ducken muss, um zu überleben. Und der Graf in derselben Oper? In seiner großen Arie will er – Allegro maestoso – seine ganze feudale Macht einsetzen, um Figaro zu zermalmen und ihm Susanna zu entreißen. Doch schon knickt die Musik ein, und die Holzbläser heulen geradezu vor Eifersucht, dass Figaro die besitzen soll, »… che in me destò un affetto, che per me poi non ha.« (»… die in mir die Leidenschaft entzündet hat, die sie dann für mich nicht fühlt.«) Er leidet zutiefst, sodass man Mitleid mit ihm haben kann und seine rasenden Ausbrüche begreift. So werden alle Figuren von Mozart in ihr eigenes Recht eingesetzt. Alles ist wahr und immer auch das Gegenteil. Diese dialektische Vorgehensweise, gleichzeitig These und Gegenthese zu präsentieren, durchzieht Mozarts ganzes Opernschaffen. Sie kann seiner Musik in vielen Szenen den Charakter des Ambivalenten verleihen, des ganz und gar nicht Vertrauenswürdigen, ja, des Dämonischen. Jederzeit kann diese Dämonie den Umschlag in die Katastrophe bewirken, oder sie lauert versteckt unter einer scheinbar
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harmlosen Oberfläche. So etwa ganz am Anfang von »Così fan tutte«, wenn die beiden Schwestern sich überkreuz die Bilder ihrer Liebhaber zeigen und deren Vorzüge preisen. Alles nur frivoles Spiel im klaren Sonnenschein des schönen Morgens am ruhigen Meer – und doch zeigt der Teufel schon da seine Krallen, noch ehe die Personen oder das Publikum etwas merken. Fallhöhe lautet hier das Gesetz des großen Dramatikers, Fallhöhe von dieser hellen, unbeschwerten Tagesschönheit zum nächtlich auswegslosen, bitteren Ende. Und schließlich geht Mozart noch in einem weiteren Punkt bis an eine Grenze. Bei der Frage nämlich: Was kann Opernmusik (also Musik zu einem Zweck) leisten? Wieviel gegensätzliche, sich widersprechende Inhalte vermag sie gleichzeitig auszudrücken, ohne ihren Zweck – die Erzählung der Fabel, die Darstellung des dramatischen Vorgangs – aus den Augen zu verlieren und den zuschauenden Zuhörer zu verwirren? Kurzum, ist die musikalische Dialektik Mozarts auf dem Theater überhaupt zur Gänze darstellbar? In der Musik ohne Zweifel, denn musikalische Inhalte schließen sich gegenseitig nicht aus. Der einfachste zweistimmige Satz ist ja ein Musterbeispiel für Dialektik. Aber auf der Bühne? Lässt sich Mozarts Spiel mit gleichzeitigen Gegensätzen, sein Jonglieren mit wahr und wahr überhaupt angemessen nachvollziehen? Der Darsteller ist körperlich konkret. Er kann mit seinem Körper mimisch und stimmlich nur einen Ausdruck zu einem Zeitpunkt erzeugen, er hat nur eine Atemspannung. Im Gegensatz zur Musik kann er nicht Ausdruck und Gegenausdruck gleichzeitig erzeugen, und selbst wenn er es könnte, würde er den Zuschauer verwirren und gleichgültig werden lassen. Mozart aber verlangt ständig genau das: gleichzeitig Ausdruck und Gegenausdruck. Dabei stellt
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sich zum Beispiel die Frage: Kann Musik lügen? Oder die Wahrheit sagen? Oder beides zugleich? Oder das eine durch das andere? Was also gilt? Welche der vielen Wahrheiten soll gezeigt werden? Und wie? Und in welcher Abfolge oder Mischung? Das herauszufinden, ist die Aufgabe, an der sich schon viele die Zähne ausgebissen haben. Mozart, der sie stellt, ist eben dadurch der ideale Opernlehrmeister. NÜTZLICHE REGELN --
Bei Mozart in die Schule gehen. Bei Mozart Gelerntes ist überall
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»Mozart is a brain problem.« Trainiere bei Mozart die »Schaltge-
anwendbar. schwindigkeit«. --
Lerne das »Mikromanagement« der Musik.
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Reaktion, Reaktion! Spiele Pingpong! Mit Partnern, Orchester
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Kläre: Wie rollt im Ensemble der Ball musikalisch von Darsteller
und Publikum. zu Darsteller? --
Stelle fest: Wo liegt der emotionale Höhepunkt einer Arie?
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Definiere die soziale Stellung einer Figur.
Gestalte sie entsprechend. --
Diener und Untergebene arbeiten.
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Spiele jede Figur so gescheit wie möglich.
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Halte das Publikum für gescheit.
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Achte auf die »Physiologie« in Mozarts Musik und übernimm sie.
-- Wähle die dramatisch ergiebigste Version bei der Darstellung einer Figur. --
Sei gerecht, zeige alle Seiten einer Figur und lass das Publikum ein Urteil fällen.
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Spiele das Gegenteil mit. Zeige, dass eine Szene auch anders ausgehen könnte.
-- Wenn die Musik keine Stellung bezieht, lass ihr das Geheimnis.
Rezitativ
R
ezitative sind bei Interpreten und Publikum unbe-
liebt. Man kürzt sie, wo immer es geht, und ver-
sucht, möglichst schnell darüber hinwegzugehen, um aufatmend zur nächsten Musiknummer zu gelangen. Ein großer Fehler! Tatsächlich nämlich ist das »trockene«, meist nur von Cembalo und Cello begleitete Secco-Rezitativ eine wunderbare Erfindung auf halbem Weg zwischen Schauspiel und Oper. Es lässt dem Sänger viel von der Freiheit des Schauspielers, sich sozusagen seine eigene Darstellungspartitur selbst zu erfinden, gibt ihm jedoch einen harmonischen und rhythmischen Rahmen, innerhalb dessen er zu agieren hat. Hier liegen die Anfänge der Oper, der Idee nämlich, das Schauspiel zu musikalisieren. Die Oper war bei ihrer Erfindung zunächst rezitativisch. Das Drama wurde in die Hände der Musik gelegt, die in seinem Dienst ihre dramatischen Mittel entwickelte und mehr und mehr die Herrschaft übernahm, der sich dann alles unterzuordnen hatte. Im Rezitativ hingegen ist der Sänger frei, Tempo, Dynamik, Klangfarbe, Pausen und Pointen nach seinen darstellerischen Bedürfnissen einzurichten. Mehr noch: Im Rezitativ fällt die musikalische Zeit mit der Erzählzeit zusammen. Was der Sänger vorzutragen hat, muss er in der realen Zeit unterbringen. Schon deshalb sind viele Sänger, die gerne die Zeit im Gefühl musikalisch dehnen möchten, keine Freunde des
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Rezitativs. Die Oper hingegen hat sich mit der Abfolge von Rezitativ und Arie die unschätzbare Möglichkeit geschaffen, zwischen Nachricht und Kommentar, zwischen Mitteilungen, die nicht zum Gesang mit Orchesterbegleitung taugen, und solchen, die einer ausführlichen, emotionalen Erörterung mit dem Orchester in gedehnter Zeit wert sind, kurzum, zwischen Wissens- und Fühlenswertem zu unterscheiden. Von diesem Gegensatz leben viele Meisterwerke der Gattung, und es beeinträchtigt ihre Wirkung, das wohl ausbalancierte Gleichgewicht der beiden zu stören. Ganz abgesehen davon, dass bei manchen der üblichen Rezitativ-Striche ganze Kern szenen, die zum Verständnis des Werks unerlässlich wären, verloren gehen. Die bewährte Methode von Dilettanten, wenn Meisterwerke das Unglück haben, ihren Intentionen nicht zu entsprechen. Rezitative sind schwer, umso mehr, als der Umgang mit ihnen kaum gelehrt wird. Ihr Text muss unter allen Umständen verstanden werden. Das erfordert eine spezielle Technik: »Parlare intonato«, auf dem Ton sprechen. Meist wird stattdessen unverständlich und viel zu undifferenziert gesungen. Eine genaue und sorgfältige Ausarbeitung erfordert Zeit und Geduld. Für Rezitativ-Opern sollte deshalb grundsätzlich eine längere Probenzeit angesetzt werden, was aber kaum je geschieht. Genau besehen ist das Rezitativ nämlich die Basis allen Musiktheaters, Trainingslager und Experimentierfeld zugleich. Hier kann ein Sänger all die Fähigkeiten und Techniken entwickeln, die ihn zum Musikdarsteller machen. Er muss keine Töne stemmen und kann sich deshalb auf ihren Anlass konzentrieren. Man verlange von einem Sänger, der gerade eine Phrase oder Rezitativ-Stelle gesungen hat: »Sage den
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Text.« Er wird fast immer stocken und die Musik innerlich »zurückspulen«, bis er den Text gefunden hat. Der Text ist ihm nur in Verbindung mit den Noten, sozusagen als Nebenprodukt, geläufig. Dagegen wäre im Prinzip nichts einzuwenden, wenn er nicht den Anlass von Text und Noten unterschlagen würde. Sprache und die dazugehörigen Noten sind nämlich ein spätes Endprodukt von vielfältigen Vorgängen; von bewussten oder unbewussten Gefühlen, von feuernden Synapsen im Hirn, von Nerven, Kreislauf, Drüsen, Hormonen, die alle zusammen Gedanken formen, die sich erst ganz am Ende als Sprache und Musik äußern. Auch entwicklungsgeschichtlich sind Sprache und Musik ja erst Millionen Jahre später entstanden, nachdem alle anderen, kreatürlichen Ausdrucksmittel längst entwickelt waren. Im Leben lautet deshalb die Abfolge einer sprachlichen Äußerung unweigerlich: Denken – Atmen – Sprechen. Und so sollte es auch auf der Bühne ablaufen. In der relativen Freiheit des Rezitativs lässt sich die Fähigkeit, Gefühle und Gedanken aus ihrem Anlass zu entwickeln und auszudrücken, am besten üben, um sie dann auch auf die auskomponierte Musik in ihrer strengen zeitlich-rhythmischen Bindung anzuwenden. Das Rezitativ in seiner Nüchternheit verhindert auch gefühliges Schwelgen, das zumeist Mogeln bedeutet. Mein alter Cellolehrer pflegte in solchen Fällen zu sagen: »Gefühl kannst du haben, wenn du was kannst.« Das Rezitativ zwingt zum Konkretisieren, zur Vorstellung: Wie ist es genau? Wer will was von wem und warum? Oder auch zur räumlichen Anschauung: Wo sind die Personen und Orte, von denen ich rede? Wenn einer sagt: »Ich gehe zum Bäcker und dann zum Metzger«, so hat er eine Vorstellung, wo Bäcker und Metzger sind und welchen Weg er einzuschlagen hat. Ein
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schönes Beispiel dafür ist das Rezitativ des Grafen am Beginn des 3. Aktes von Figaros Hochzeit, in dem er die Ereignisse des 2. Aktes rekapituliert. Ereignisse also, die das Publikum zum Teil miterlebt hat und deshalb kontrollieren kann. Der Graf befindet sich im großen Saal des Schlosses. »Che imbarazzo è mai questo!« (»Was für ein peinliches Durcheinander!«), »Un foglio anonimo …« (Ein anonymes Blatt …«). Dabei versetzt er sich in den Schlosshof, wo Basilio ihm Figaros anonyme Notiz überreichte, als er gerade das Pferd zur Jagd bestieg. »La cameriera in gabinetto chiusa ... La padrona confusa …« (»Das Kammermädchen im Kabinett eingeschlossen … die Gräfin verlegen …«). Nun ist er in der Erinnerung im Schlafzimmer der Gräfin und sieht das verschlossene Kabinett rechts mit der Gräfin, die den Zutritt verweigerte, vor sich. »Un uom che salta dal balcone in giardino …« (»Ein Mann, der vom Balkon in den Garten springt …«). Damit wendet er sich innerlich der linken Seite zu, wo das Balkonfenster war, auf das der empörte Gärtner Antonio seine Aufmerksamkeit lenkte. »Un altro appresso che dice esser quel desso …« (»Ein anderer, der behauptet, er sei es gewesen …«). Damit durchlebt er erneut die Überraschung, als Figaro, der auf der anderen Seite bei der Gräfin und Su sanna stand, diese Behauptung aufstellte und als Beweis seinen beim Sprung verstauchten Fuß vorwies. »Non so cosa pensar …« (»Ich weiß nicht, was ich von all dem halten soll …«). Damit ist der Graf wieder beim Grübeln im großen Saal. Das Rezitativ verlangt auch, weil das Wissenswerte beglaubigt sein will, weit mehr als die im Gefühl angesiedelte Musiknummer, nach der Biografie einer Figur. Wie sind ihre Herkunft und bisherigen Umstände, bevor sie auf der Bühne erscheint. Woher kommt sie, wohin will sie, was sind ihre
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Absichten? Je mehr davon in die Darstellung einfließt, desto glaubhafter und wahrhaftiger wird sie. Und was passiert zwischen den Auftritten »hinter der Bühne«? Gerade dabei kann man in vielen Fällen dem Komponisten helfend unter die Arme greifen. Was zum Beispiel geschah im fernen Burgos zwischen Don Giovanni und Elvira, die er heiraten musste, um sie zu besitzen? Soweit der Text. Und nun muss aus allem, was über sie sonst zu erfahren ist, aus ihrem eigenen Verhalten und den Reaktionen der anderen ihr gegenüber, vor allem aber aus der Musik (siehe Musikdetektiv!) ihre Biografie erkundet werden, die ihren ersten, von Energie und Entschlossenheit vibrierenden Auftritt plausibel erscheinen lässt. »Cavare il cor«, das Herz will sie Don Giovanni ausreißen, wenn er nicht zu ihr zurückkehrt. Und welch ein Höllensturz folgt dann von dieser Höhe in der folgenden Szene bis zur äußersten Demütigung und Desillusionierung, wenn sie sich selber in Leporellos Register ungefähr als Nummer 987 unter den 1003 spanischen Liebschaften Don Giovannis wiederfindet. Gerade im Rezitativ, in dem keine mitreißende Musik den Darsteller trägt, gibt die mitgespielte Biografie einer Figur Tiefe, Atmosphäre und Glaubhaftigkeit. Ein alter Theaterspruch lautet: »Zuhören ist die halbe Miete!« Das trifft besonders auf das Rezitativ zu. Durch intensives Zuhören werden ganz von selbst bei Sprechendem wie Angesprochenem Reaktionen ausgelöst, die die Sache für alle Beteiligten, einschließlich des Publikums, lebendiger und interessanter machen. Man kann diesen Effekt noch durch die »He?-Technik« verstärken. Wenn nämlich der Zuhörende nicht richtig zu verstehen scheint und deswegen »He?« sagt oder nur denkt, zwingt er den Sprechenden, sich besonders deutlich und plastisch auszudrücken. Wenn etwas Über-
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raschendes mitgeteilt wird, kann man »He?« auch durch »Was?« ersetzen. Da liegt dann auch der »Double Take« ganz nahe, die Doppelreaktion, wenn nämlich etwas zwar gehört, aber nicht sofort verstanden wird. In diesem Fall wird »He?« und »Was?« miteinander kombiniert. »Deine Frau betrügt dich.« »He? – – WAS?!« Der »Double Take« ist nicht leicht. Die winzige Pause zwischen beiden Reaktionen, in der der Groschen fällt, muss präzise getaktet werden. Mechanisch, oder gar nach dem Lacher im Auditorium schielend, ist hier gar nichts auszurichten. Nur die trocken einrastende innere Schaltung kann weiterhelfen. Derartige Reaktionen kommen in Rezitativen häufig vor. Natürlich gibt es aber auch herrlich auskomponierte »Double Takes«. Einer der schönsten findet sich in Figaros Hochzeit, als der Graf das Tuch über dem im Sessel versteckten Cherubino wegzieht und erst aus der Reaktion der übrigen Anwesenden bemerkt, dass etwas nicht stimmt. Man kann das Rezitativ auch häufig an eine Tätigkeit binden, mit oder ohne Requisiten. Im Barbier von Sevilla kommt Figaro in Doktor Bartolos Haus, um Rosina zu frisieren. Dabei will er ihr mitteilen, dass »Lindoro« (in Wirklichkeit Graf Almaviva) »inamorato morto«, sterblich in sie verliebt sei. Sie hingegen will Figaro ihr bereits geschriebenes Billett an besagten »Lindoro« übergeben. Beide spielen ein ironisches Katz-und-Maus- Spiel miteinander, während Figaro virtuos seinen im Titel der Oper genannten Beruf zur Schau stellt, dessentwegen er in Sevilla so beliebt ist. Die Arbeit gibt in Synchronisation oder Gegenläufigkeit zum Dialog der ganzen Szene eine zusätzliche Dimension und bestätigt die alte Theaterweisheit: Tätigkeit führt den Darsteller zur Wahrheit seiner Rolle.
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Und wenn die Tätigkeit nun unterbrochen wird, weil etwas Neues geschieht, so wendet man mit der Unterbrechung eine der wirkungsvollsten Techniken an, Interesse zu erregen. Das Neue ist offensichtlich wichtiger als das, mit dem man gerade beschäftigt war. Wenn es ein Mensch ist, der auftritt, wird er dadurch interessanter und erregt die Neugierde der Zuschauer. Natürlich kann man ihn auch demütigen, indem man die Tätigkeit gerade nicht unterbricht. Dadurch wird er unwichtig oder sozial degradiert. An der Art der Unterbrechung und des folgenden Verhaltens lassen sich soziale Verhältnisse ebenso wie persönliche Beziehungen ablesen. Aber auch Stimmung und Atmosphärisches kann dadurch hervorgerufen werden, etwa wenn Hans Sachs in der lauen Nürnberger Sommernacht arbeiten will, er stattdessen aber, vom zarten Klarinetten-Fliederduft überwältigt (»und doch, ’s will halt nicht geh’n«), zu seinem Monolog anhebt – einem der Höhepunkte der gesamten Opern literatur. Im Rezitativ gibt es oft Pointen. Sie nicht zu verwackeln oder zu zerlaufen, sondern sie beiläufig wie einen Apfel vom Baum fallen zu lassen, ist eine schwierige, selten beherrschte Kunst. Lüge, Ironie, Sarkasmus sind dabei oft an der Tagesordnung, wozu man das Gegenteil von dem, was gesagt wird, denken muss, oft recht hässliche und schmutzige Gedanken. In Figaros Hochzeit beispielsweise überschütten sich Susanna und Marcellina in ihrem Duett mit solch vergifteten Komplimenten. Im Rezitativ lassen sich Worte oder Sätze dehnen, nach Belieben färben, man kann Leute imitieren, als lächerlich oder gefährlich charakterisieren, ganze Passagen lassen sich hochtrabend rhythmisieren – um dann jäh in die Banalität abzustürzen. Oder in die Generalpause. Und dabei
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muss man den Unterschied zwischen Pause und Loch kennen. Das Loch ist tot. Nichts geht in ihm vor. Die Pause kann eine ganze Welt beinhalten. Sie gehört zur Musik, ist eines ihrer stärksten Spannungselemente und steckt voller Energie. Beide gehören zusammen wie Materie und Antimaterie. Nur muss man die Pause beherrschen, um sie wirkungsvoll einzusetzen. Und noch ein nützlicher Hinweis: Wenn einem der Text eines Rezitativs rhythmisch oder gefühlsmäßig Schwierigkeiten macht, so ist ein gutes Hilfsmittel, ihn im eigenen Heimatdialekt zu sprechen oder zu singen. Der Dialekt ist näher als die Hoch- oder gar Fremdsprache an der Realität und bringt meistens die Sache schnell ins Lot. Und erst die öffentliche Rede, die Ansprache ans Publikum! Sie will gestaltet sein als eine Art Katz-und-Maus-Spiel mit dem tausendköpfigen Partner im Auditorium. Im Barbier von Sevilla stellt sich Figaro dem Publikum vor: »Ha, ha, che bella vita! Faticar poco, divertirsi assai, e in tasca sempre aver qualche doblone, gran frutto de la mia riputazione.« (»Ha, ha, welch schönes Leben! Wenig Anstrengung, umso mehr Vergnügen, und in der Tasche immer ein Geldstück als goldene Frucht meiner Reputation.«) Das sagt er zu allen, wirft als Beweis das Geldstück in die Luft und fängt es geschickt wieder auf. Danach wendet er sich an die besseren Kreise in den Logen: »Ecco qua: senza Figaro non si accasa in Siviglia una ragazza.« (»Das ist so: Ohne Figaro verheiratet man in Sevilla kein Mädchen.«) Nun vertraulicher in Richtung einer Dame im Parkett: »A me la vedovella ricorre pel marito.« (»An mich wendet sich die junge Witwe wegen eines Gatten.«) Hier vielleicht sogar einen diskreten Handkuss in Richtung der Dame nachschickend. Dann, wieder zu allen,
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demonstriert er seine Berufsmethode, indem er Kamm und Gitarre als Handwerkszeug vorweist: »Io, colla scusa del pettine di giorno, della chitarra col favor della notte, a tutti onestamente, non fo per dir, m’adatto a far piacere.« (»Mit dem Kamm bei Tage, mit der Gitarre im Schutze der Nacht bemühe ich mich ehrlich – das ist doch selbstverständlich – allen Vergnügen zu bereiten.«) Den Einschub, seine Ehrlichkeit betreffend, bringt er mit schöner Bescheidenheit, doch dann bricht es aus ihm heraus: »Oh che vita, che vita! Oh che mestiere! (»Oh welch ein Leben, welch ein Leben! Welch ein Beruf!«) Natürlich kann man das auch etwas anders machen, wichtig ist nur, dass er seine Geschäftigkeit und gute Laune in vielen Facetten auf die Zuhörer überträgt und wie ein Dompteur das Publikum immer im Griff behält. Und schließlich gehört zum Rezitativ am Ende noch die Kunst des Übergangs zur Arie. Leider sieht man häufig, wie der Sänger sich mit der Schlusskadenz befriedigt entspannt. Er hat seine Pflicht getan, nun ist erst einmal das Orchester mit dem Vorspiel dran. Und das Publikum tut es dem Sänger nach und lehnt sich zurück. Die ganze im Rezitativ aufgebaute Spannung ist dahin. Natürlich kann der Übergang je nach Musik und Situation sehr verschieden sein: hart kontrastierend oder weich fließend, laut oder leise, mit oder ohne Pause. Immer aber muss der Sänger im Atem der Figur bleiben, die Spannung halten und in die neue Musik überleiten. Nach all dem dürfte klar sein, dass das Rezitativ keine lästige Pflichtübung ist, sondern die hohe Schule der Musikdarstellung. Wer das Rezitativ beherrscht, kann meistens auch alles andere.
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NÜTZLICHE REGELN --
Das (Secco-)Rezitativ ist wichtig und verlangt sorgfältige Ausarbeitung.
--
Das Rezitativ muss unbedingt verstanden werden. »Parlare
--
Finde und spiele den Anlass von Text und Musik.
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Die Abfolge: Denken – Atmen – Sprechen oder Singen gilt immer.
intonato!«
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Habe eine räumliche Vorstellung: Wo sind Menschen/Dinge, von denen die Rede ist.
--
Erforsche und entwickle die Biografie einer Figur.
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Definiere: Was passiert »hinter der Bühne« zwischen den einzelnen Auftritten.
-- Zuhören ist die halbe Miete. --
Benütze die »He? und Was?«-Technik.
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Übe den »Double Take«.
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Binde das Rezitativ an eine Tätigkeit. Verwende Requisiten.
-- Tätigkeit führt den Darsteller zur Wahrheit einer Figur. -- Wende die Technik des Unterbrechens an. --
Lass Pointen wie einen Apfel vom Baum fallen.
-- Zerlaufe und verzapple Pointen nicht. --
Schiele nicht nach dem Lacher.
--
Mache ausgiebig Gebrauch von der Freiheit des Rezitativs, zu dehnen, zu beschleunigen, zu färben, zu illustrieren, zu rhythmisieren, zu imitieren oder zu pausieren. Entwickle Phantasie als »Rezitativ-Komponist«.
--
Lerne den Unterschied zwischen Pause und Loch. Spiele mit den Pausen.
--
Bei Schwierigkeiten mit dem Text, den Heimatdialekt zu Hilfe
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Bei Ansprachen ans Publikum spiele »Katz und Maus« mit den
nehmen. Zuhörern. --
Lege großen Wert auf den Übergang vom Rezitativ zur Arie. Lass kein Loch entstehen.
Komik
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ie entsteht Komik? Auf der Bühne verfolgt man Absichten, man vertritt Standpunkte, Charaktere
prallen aufeinander, man kämpft, man liebt, man lacht. Kein Mensch ist a priori komisch. Ob etwas als komisch empfunden wird, hängt von den Umständen ab – vielleicht aufgrund einer Pointe, einer widersprüchlichen Situation, einer unvorhergesehenen Wendung, durch Absturz eines Höhenflugs ins Banale, durch eine Bananenschale, durch was auch immer – es ist eine Entscheidung des Publikums. Komik mag auf der Bühne entstehen, ihre Wirkung zeigt sich im Zuschauerraum. Ein und derselbe Vorgang kann komisch oder tragisch wirken, je nach Zusammenhang und Betrachtungsweise. Beides kann auch gleichzeitig der Fall sein, etwa wenn Leporello Donna Elvira aus Don Giovannis Liebesregister vorliest – er findet es komisch, für sie bricht tragisch eine Welt zusammen, und das Publikum ist zwischen beidem hin- und hergerissen. Es gibt viele solche Szenen, die umso tragischer erscheinen, je komischer sie sind und umgekehrt. Grundsätzlich gibt es zwei Arten, komische Wirkungen zu erzeugen: Die eine verlangt alle zwanzig Sekunden eine Pointe, ein ununterbrochenes Feuerwerk. Das ist die Wirkungsweise des Boulevards. Man achte sie nicht gering. Sie verlangt viel Können und Technik: zum Beispiel Pointen scheinbar beiläufig fallen zu lassen; oder mit Gegensätzen
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zu jonglieren: groß – klein (etwa einer aufgedonnerten Pose sozusagen den Teppich unter den Füßen wegziehen), schnell – langsam, pathetisch – banal. Die andere, tiefere und umfassendere Art der Komik liegt begründet in Situation, Zustand, Charakter der Figuren und ihren Beziehungen zueinander sowie in der Führung der ganzen Fabel. Das ist die Wirkungsweise der großen Komödien. Alle großen Komödien sind gerade noch verhinderte Tragödien. Das Wesen der Komödie besteht ja darin, beim echten oder falschen »lieto fine«, dem glücklichen Ende, allen Beteiligten das erlösende Gefühl zu vermitteln: »Glück gehabt, es ist noch einmal gut gegangen, wir sind um Haaresbreite davongekommen!« Die rechtschaffenen Bürger von Windsor sind zum Beispiel gerade dabei, Falstaff an der Eiche des Herne aufzuhängen, als der im letzten Moment den Bardolfo erkennt und dadurch alle zum Lachen bringt. Ford sagt es deutlich: »Bei Gott, hätt’ ich nicht lachen müssen, du würdest jetzt da oben hängen.« Nichts drückt danach herrlicher das Komödienglück des gerade noch guten Endes aus als Verdis große Fuge: »Tutto nel mondo è burla« (»Die ganze Welt ist Narrheit«). In Figaros Hochzeit ist Figaro verurteilt, der viel älteren Marcellina das geschuldete Geld noch heute zurückzuzahlen oder sie zu heiraten. Der Graf als oberster Gerichtsherr bestätigt das Urteil. Figaro sitzt in der Falle, denn Geld hat er keines. Er kämpft wie eine Ratte im Käfig und wehrt sich verzweifelt, indem er die absurdesten Argumente vorbringt. Er sei von Adel und unterstehe somit gar nicht der Gerichtsbarkeit des Grafen. Immer abwegiger werden seine Behauptungen, während alle ihn schallend auslachen. Der Graf, dem das alles zu dumm wird, winkt ab und wendet sich zum Gehen.
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Figaro läuft ihm nach und ruft – der Graf steht bereits in der geöffneten Tür – im allerletzten Augenblick: »E sopra tutto« habe er hier auf seinem Arm noch dieses tätowierte Zeichen als Beweis für seine hohe Abkunft. Darauf Marcellina: »Eine Spachtel?« Figaro: »Ja, woher wissen Sie das?« Und aus Marcellina bricht es heraus: »Raffaello!« – ihr als Säugling ausgesetzter Sohn. Eine überraschende Wendung ins Komische, gewiss. Aber wäre der Graf eine Sekunde früher gegangen, sodass Figaro die Sache mit der Tätowierung nicht mehr hätte anbringen können, wo hätte die Geschichte dann hin geführt? Direkt zu König Ödipus von Sophokles, der Urtragödie am Beginn des europäischen Theaters, in der der Sohn unwissentlich die Mutter heiratet und mit ihr die eigenen Geschwister zeugt. Eine Sekunde! So eng liegen Komödie und Tragödie beisammen. Die Ursünde des Komödianten ist deshalb, die Wahrheit eines Charakters, eines Zustands, einer Situation der komischen Wirkung, dem Lacher aufzuopfern und damit eine Figur zu denunzieren. »Kann man denn nicht auch lachend sehr ernsthaft sein?«, heißt es in Lessings Komödie Minna von Barnhelm. Man kann den Satz auch umkehren: »Kann man denn nicht auch sehr ernsthaft die Leute zum Lachen bringen?« Man spiele Komödie gescheit für gescheite Zuhörer, lasse die Lacher für sich selber sorgen und bevormunde das Publikum nicht durch jenes peinliche Comedy-Gehabe, für das der schon erwähnte Fritz Kortner die treffende Bezeichnung »Hoppla-da-Vega-Theater« prägte. Man spiele in den großen Komödien die immer lauernde Möglichkeit des Umschlags in die Katastrophe mit. Das Glück der Komödie hat als Preis den dunkel-dämonischen Urgrund der Tragödie.
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NÜTZLICHE REGELN --
Komödie ist schwieriger als Tragödie.
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Spiele Komödie ernsthaft.
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Spiele die Möglichkeit der Tragödie mit.
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Opfere nie die Wahrheit einer Figur dem Lacher.
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Lass Lacher für sich selber sorgen.
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Nie eine Figur denunzieren.
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Mit Gegensätzen spielen, z. B. groß – klein, langsam – schnell,
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Kein »Hoppla-da-Vega-Theater«!
pathetisch – banal.
»Zu viele Noten …«
»
Zu viele Noten, lieber Mozart, zu viele Noten«, soll Kaiser Joseph II. nach der Uraufführung der Entfüh
rung aus dem Serail im alten Burgtheater zu Mozart gesagt haben. Und Mozart darauf: »Gerade so viel als nötig, Majestät.« Diese Episode hat dem armen Kaiser den Ruf eingetragen, in musikalischen Dingen ein Dummkopf gewesen zu sein. Dabei trifft das Gegenteil zu. Er war ein passabler Cellist und hörte oder spielte selbst jede Woche im Schloss Schönbrunn die neueste Kammermusik unter Anleitung von keinen Geringeren als seinen Hofkomponisten Gassmann, Salieri und Gluck. Überhaupt hätte er als einer der größten Intendanten in die Theatergeschichte eingehen können, wenn er nicht im Hauptberuf Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation gewesen wäre. Noch als Mitregent seiner Mutter, der Kaiserin Maria Theresia, hat er das Burgtheater begründet, bis heute das erste Haus deutscher Sprache. Systematisch hat er das deutsche Singspiel gefördert, dessen schönste Frucht Mozarts Entführung war. Für seine italienische Hofoper unter ihrem Direktor Antonio Salieri haben die besten zeitgenössischen Komponisten Werke geschaffen, die in ganz Europa riesigen Erfolg hatten. Neben Mozart seien hier nur
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die Namen Gluck, Haydn, Paisiello, Martin y Soler, Cimarosa und Salieri genannt, deren Opern auch heute noch gespielt werden und unter deren Librettisten neben Lorenzo da Ponte, der nur einer von vielen war, so berühmte Namen wie Giambattista Casti, Goldoni und Beaumarchais zu finden sind. Emanuel Schikaneder nicht zu vergessen, der ursprünglich mit seiner Schauspieltruppe auf persönliche Einladung des Kaisers nach Wien gekommen war, lange bevor er mit Mozart »Die Zauberflöte« schuf, das Theater an der Wien erbaute und zum ungekrönten Theaterkönig der Reichshauptstadt aufstieg. Selbst um Kleinigkeiten kümmerte sich der Kaiser, wie viele erhaltene Dokumente belegen. Man möge die Gebrüder Stadler, die ersten Virtuosen auf der Klarinette und dem neuen Bassethorn, mit guten Verträgen an Wien binden, damit sie nicht an einen anderen Hof abwandern, lautete eine seiner vielen handschriftlichen Anweisungen. Sicher, Joseph II. hatte als Kaiser die Macht und die Mittel, das alles durchzusetzen. Aber welch ein Blick für das Talent, das Wesentliche, das Lebendige und Zukunftsträchtige! Mit all dem traf er auf eine theatergeschichtliche Konstellation, die es so weder vorher noch nachher jemals wieder gab. Nie waren nämlich Theater und Musik, Schauspiel und Oper so eng miteinander verwoben als in der reifen Opera Buffa des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Die heute übliche Trennung zwischen Schauspieler und Sänger war damals weitgehend aufgehoben. Valentin Adamberger, der erste Belmonte, und Theresa Teyber, das erste Blondchen in Mozarts Entführung, spielten alternierend am nächsten Abend den Wachtmeister Werner und das Kammermädchen Franziska in Lessings Minna von Barnhelm, zwei der anspruchsvollsten Rollen des klassischen deutschen Schauspielrepertoires.
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Nancy Storace, die erste Susanna aus Figaros Hochzeit, wechselte in ihrer späteren Karriere in London häufig zwischen den Sparten. Francesco Benucci, der erste Figaro (und später Leporello in Don Giovanni und Guglielmo in Così fan tutte), wurde gleichermaßen wegen seines Gesangs wie für seine Darstellungskunst bewundert. Und der Allround-Theatermann Emanuel Schikaneder, Librettist und erster Papageno der Zauberflöte, war auch als hervorragender Darsteller von Shakespeare-Rollen, insbesondere des Hamlet, berühmt. Die Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen. Dieser Typ des Sängerdarstellers ermöglichte überhaupt erst die Meisterwerke der Opera Buffa, von denen eine große Zahl im josephinischen Wien entstand. Die musikdramatische Erzählweise dieser Opern mit ihren ständigen raschen Ausdruckswechseln erfordert Musikschauspieler, die ebenso über eine virtuose Gesangstechnik wie über eine differenzierte und wahrhaftige Darstellungskunst verfügen. Im Idealfall sollte sich deshalb eine Aufführung dieser Werke hinsichtlich glaubhafter Menschendarstellung in allen persönlichen und sozialen Verhältnissen in keiner Weise von einer guten Goldoni- oder Lessing-Aufführung unterscheiden. Nur dass hier das Schauspiel musikalisiert ist. Was also meinte der Kaiser mit »zu viele Noten, lieber Mozart«? Er wollte damit wohl auf höfliche Weise ausdrücken: »Mein lieber Mozart, du schummelst ein wenig. Du verlegst viele Elemente der Darstellung ins Orchester. Elemente wie Charakter, Zustand, Stimmung, Ausdrucksnuancen, ja, sogar Unbewusstes, die eigentlich Sache des Darstellers auf der Bühne sind.« Schubert erzählt in diesem Zusammenhang, dass sein verehrter Lehrer Salieri geradezu eine Art von Verachtung für Leute hatte, die die Orchester-
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begleitung überfrachteten. Das zielte wohl auf Mozart, und die Meinung seiner Majestät war sicher nicht unbeeinflusst durch die seines Hofkapellmeisters. Laut Salieri nämlich sollte die Musik in der Oper »das Drama unterstützen«, das heißt, dem Darsteller die großen Linien vorgeben, ihm aber sonst auf der Bühne freie Hand lassen bei der Ausarbeitung seiner Rolle. Genauso schrieben alle anderen Komponisten der Zeit, jeder auf seine Weise. Mozart jedoch sprengte diese Konvention und machte es anders, indem er dem Orchester neben dem Darsteller eine eigenständige Rolle zuwies. Was zugleich bedeutete, dass er dem Darsteller einiges von seiner Freiheit nahm und ihn enger an die Partitur fesselte. Dass der Kaiser das sogleich bei der ersten Wiener Oper Mozarts bemerkte, spricht für seinen musikalischen Instinkt und verleiht ihm aus heutiger Sicht geradezu hellseherische Gaben. Denn nun setzte eine Entwicklung ein, in deren Verlauf das Orchester sich immer mehr emanzipierte und zunehmend an Bedeutung gewann. Bei Mozart war die Erzählung der Geschichte durch Darsteller und Orchester noch in vollkommenem Gleichgewicht. Dann aber verschob es sich immer mehr zugunsten des Orchesters. Entsprechend vermehrte sich die Zahl der Instrumente, was wiederum zur Folge hatte, dass größere und dramatischere Stimmen erforderlich wurden. Gleichzeitig wurde dem Sänger immer mehr die Herrschaft über seine Darstellung entzogen. Das zeigte sich schon in der Wolfsschlucht im Freischütz, deren romantischer Schauder und Schrecken ganz vom Orchester hervorgerufen wurden. Und als Richard Wagner nicht nur die Darstellung der gegenwärtigen Geschehnisse dem Orchester überantwortete, sondern sie durch sein System der Leitmotive mit Vergangenheit und Zukunft verknüpfte, sie mit Beziehung,
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Bedeutung, Traum und Atmosphäre, mit Psychologie und Unbewusstem auflud, blieb für den Darsteller auf der Bühne nicht viel Eigenständigkeit übrig. Er ist zum Sklaven des Orchesters geworden und hat sich nach diesem zu richten. Brangäne hat in Tristan und Isolde die Schale mit dem vermeintlichen Todestrank auf Takt und Viertelnote genau dann darzureichen, wenn im Orchester das Todesmotiv erklingt, das gleichzeitig die Umkehrung des Liebesmotivs ist. Und selbst ein darstellerisch unbedarfter Steh-Bass kann nun ein überwältigender König Marke werden, weil sich das Drama und seine erschütternde Wirkung vor allem in den geheimnisvoll dunklen Farben des Orchesters mit dem charakteristischen Klang der Bassklarinette abspielen. Und erst bei Richard Strauss! In Elektra etwa oder der Frau ohne Schatten. Hier ist das Orchester so aufgeladen mit »psychischer Polyphonie«, mit »Nervencontrapunkt«, wie Strauss selber es nannte, dass nur wenige Kenner wirklich begreifen, was sich alles gleichzeitig dort vollzieht. Sicher, das Publikum ist überwältigt von den weit ausladenden Melodien, vom Gleißen der Instrumentation, von der rhythmischen Kraft und der emotionalen Wucht der Begebenheiten. Von der »Grammatik« aber, dem eigentlichen Inhalt der Orchestersprache, erfasst es kaum etwas. Ja, selbst die Sänger, die diese Musik darstellen sollen, wissen im Allgemeinen nur wenig davon. Dazu folgende Begebenheit: Elektra-Probe; die großeAuseinandersetzung zwischen Elektra und ihrer Mutter Klytämnestra. Diese verkörpert von einer großen Sängerdarstellerin, einer wunderbaren Bühnentigerin. Klytämnestra, die Mörderin ihres Gatten Agamemnon, hat schlechte Träume. »Allein – es lässt sich vertreiben.« Ich schlage vor: »Schau Elektra
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an, die scheinbar harmlosen Worte sind eine Drohung. Im Orchester hört man sie deutlich: das dreifach fallende Motiv der Axt, mit der Agamemnon erschlagen wurde. Gemeint ist: Wenn du nicht aufhörst, mich anzuklagen, wird man dich wie deinen Vater mit der Axt aus der Welt schaffen.« Die große Sängerin darauf nach einem Moment der Überraschung: »Na, was geht mich die Musik an.« Gewiss, das taugt zur Pointe. Es ist aber tatsächlich so, dass die Darsteller sich oft kaum noch darum kümmern können, was im Orchester vor sich geht. Von Elektra noch einmal weitere hundert Jahre bis in unsere Zeit nach vorne geschaut, kam es dann so, dass viele bedeutende Opernwerke keine in Bezug auf die dargestellten Geschehnisse verständliche und nachvollziehbare Syntax entwickelt haben. Worin genau die Schwierigkeit der zeitgenössischen Oper besteht. Von all dem hätte sich der Kaiser Joseph II. nichts träumen lassen. Und doch hat er einen wesentlichen Punkt allen Opernschaffens angesprochen, die Frage nämlich: Was sagt die Szene, was die Musik? Was der singende Darsteller, was das Orchester? Wann ergänzen sie sich, wann spielen sie gegeneinander? Wer lässt wem den Vortritt, manchmal bis zum gänzlichen Verstummen des einen oder anderen? Dieses Verhältnis ist von Komponist zu Komponist, von Oper zu Oper, ja von Szene zu Szene verschieden und muss stets neu ausgelotet werden. Richard Strauss hat die Frage in einem Fall bündig zu seinen Gunsten entschieden, während einer von ihm dirigierten Probe zu einer Festaufführung der Salome in Zürich. Die Inszenierung stammte von keinem Geringeren als Walter Felsenstein, der später mit seiner Komischen Oper in Berlin Opern-Geschichte schreiben sollte. Jochanaan stößt Salome
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von sich und zieht sich in seine Zisterne zurück. Es folgt das große Zwischenspiel. Salome rast vor Zorn über die Szene, um sich dann auf das Gitter der Zisterne zu werfen, jeden musikalischen Akzent, von Felsenstein penibel interpretiert, ausspielend. Hier unterbrach Strauss sein Dirigat: »Sie, Herr Felsenstein was machen’s denn da?« Felsenstein, scharf die Luft einziehend, wie es seine Gewohnheit war, stürmte nach vorne an die Orchesterbalustrade und hob zu einer Erklärungs-Tirade an: »Sehen Sie, Herr Dr. Strauss, sie ist verletzt. Halb noch Kind, aber doch schon ihrer Weiblichkeit bewusst, schafft sich ihre Frustration in langen Gängen Luft, bis sich alles zu dem entscheidenden Einfall zusammenballt: ›Ich will den Kopf des Jochana …‹« Strauss unterbrach ungerührt: »Ja, was wollenʼs denn Herr Felsenstein«, und mit einer kleinen Geste zum Orchester: »Des machʼ doch ich.« NÜTZLICHE REGELN --
Stelle fest: Was sagt die Musik, was die Darstellung?
-- Wann muss man etwas zeigen, wann überlässt man das Feld der Musik? -- Wann ist der Darsteller Sklave des Orchesters? Wann muss die Musik der Darstellung dienen? -- Was kann man weglassen, weil das Publikum es ohnehin weiß?
Dramaturgie
»
Und was versprechen Sie sich davon?« So raunte es im Augsburger Tonfall an meinem rechten Ohr. Die
Stimme gehörte Caspar Neher, dem großen Theatermann, Bühnenbildner, Librettist, Freund und Weggenossen Bert Brechts, der ihn durch mehrere Gedichte für die Nachwelt in den Theater-Olymp erhoben hat. Neher hatte sich hinter mich ans Regiepult gesetzt, schaute mir eine Zeitlang bei der Arbeit zu – und dann das! »Was versprechen Sie sich davon?« Es wirkte wie ein kalter Wasserguss und bewog mich, ernüchtert von vorne anzufangen. Neher ließ aus irgendeinem Grund seinen Furor Pädagogicus an mir aus. Und was für ein Pädagoge er war! Es war eine strenge Schule, in die er mich nahm, oft gesalzen mit Ironie und Sarkasmus. »Wir brauchen noch einen Stuhl«, sagte ich im staubigen Möbellager. »Was für einen?«, kam es prompt. »Am besten Empire«, schlug ich vor. »Soso, was meinen Sie denn mit Empire?« Ich skizzierte rasch den Stuhl: »So, Empire eben …, Napoleon.« »Aha, Sie meinen also Louis Seize.« So ging es den ganzen Tag. Beim Spaziergang im Belvedere-Garten in Wien blieb er beim Aufstieg zu Prinz Eugens Pracht-Palais plötzlich stehen und zog den kleinen Maßstab, den er immer bei sich trug, heraus. »Miss!« – »Was?« – »Die Stufen.« – »47 mal 11,5 Zentimeter.« – »Wenn du elegante Stufen brauchst, nimm die«, sagte er und steckte den Maßstab wieder ein. Bei
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anderer Gelegenheit grantelte er: »Mir ist jede Farbe recht, solange sie grau ist.« Und bewies mir dann, dass die Natur im Allgemeinen gedeckte Töne bevorzugt und starke, leuchtende Farben nur als Signal verwendet: »Befruchte mich!« oder »Giftig! Friss mich nicht!« Sein Schluss daraus: Auch im Theater sei Farbe so zu verwenden. Neher war der gnadenlos-unbestechlichste Dramaturg, der mir je begegnet ist. Dramaturgie! Ein hohes Wort. Dem oft der Begriff fehlt. Zu was muss das Wort nicht alles herhalten, für wie viel nebulöses Geschwafel! Dabei ist Dramaturgie im Grunde etwas ganz Einfaches: Was soll gesagt werden und wie muss es gesagt werden, damit es verstanden wird? Was will der Autor durch sein Werk, der Interpret durch seine Aufführung dem Publikum mitteilen? Zwischen diesen drei Mitwirkenden jeder Aufführung – Autor, Interpret und Publikum – ist zu vermitteln. Dramaturgie als die Mutter aller dramatischen Künste sorgt für Klarheit, Übersicht und Verständnis. Die Oper freilich liebt die Zucht der Mutter nicht sehr. Sie will gar nicht verstanden werden. Wozu hat sie schließlich die Musik, die sich ohne den Umweg über das Verständnis direkt an das Gefühl wendet? Mit ihrer musikalischen und bildlichen Pracht kann sie, über jeden Einwand sich erhebend, wie Phaeton im Sonnenwagen dahinfahren. Und doch endet dieser Aufschwung ohne den leitenden Zügel der Dramaturgie allzu oft im jähen Absturz. Des eigenen Wesens unbewusst, bedarf die Oper der Hilfe der Dramaturgie, um sich selber als Genre zu begreifen. Denn es ist ja nicht so sehr Mangel an Talent, sondern an dramaturgischem Denken, was die meisten Katastrophen verursacht. Und umgekehrt wird leider gute Dramaturgie in der Oper meist gar nicht bemerkt. Es stellt sich somit heraus: Ohne Selbstreflexion und Sinnver-
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mittlung, kurz, ohne ein Minimum von Philosophie, kommt auch die Oper nicht aus. Dabei muss der Dramaturg die Materialität, die Körperlichkeit und Eindeutigkeit der Bühne mit der Immaterialität, der Ungreifbarkeit und Vieldeutigkeit der Musik zusammendenken. Keine leichte Aufgabe. Sie muss in erster Linie vom Regisseur wahrgenommen werden, oft gemeinsam mit dem Bühnenbildner. Wenn dazu noch ein kritischer Dramaturg tritt, ist das ideale, aber selten anzutreffende Team beisammen. Viele Dramaturgen präsentieren zwar wertvolle und willkommene historische, biografische, rezeptionsgeschichtliche und soziologische Erkenntnisse und formulieren sie in klugen Programmheftartikeln. Aber es gibt nur sehr wenige, die unmittelbar Brauchbares für die praktische Arbeit auf der Bühne im Prozess der Inszenierung beisteuern können. Neben Caspar Neher waren es bei mir Friedrich Dürrenmatt, der viel zu früh verstorbene Angelus Seipt und der eine oder andere in aller Welt. Denn das dramaturgische Denken ist kein intellektuelles Reflektieren, als welches Denken gemeinhin verstanden wird, sondern ein von Phantasie unter Einsatz aller fünf Sinne beflügeltes assoziatives Fühlen, Lauschen, Schauen, Schmecken und Riechen, wozu das Denken sich als sechster Sinn gesellt. Vieles spielt sich dabei in der Dämmerung des Unbewussten ab. Der Duft eines guten Weins, der Anblick eines hell glänzenden Gegenstandes, der mit der Sache nicht das Geringste zu tun hat, oder auch ein handfester Krach können plötzlich zur richtigen konzeptionellen Lösung führen. Manchmal geht alles ganz schnell, ein andermal quält man sich ein halbes Jahr vergeblich ohne brauchbares Resultat in dieser Hexenküche. Selbstverständliche Voraussetzung ist die genaueste Kenntnis des Werks und der Partitur. Das ganze Handwerks-
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zeug des »Musikdetektivs« muss zur Anwendung gelangen, um herauszufinden: Was ist gemeint, im Ganzen wie im Detail. Alle Informationen, die zum Verständnis eines Werks beitragen können, sind einzuholen: Entstehungsgeschichte, Zeitumstände, geistesgeschichtliche Tendenzen, Mode strömungen, biografische Daten der Autoren und nicht zuletzt eine genaue Analyse der harmonischen und formalen Verhältnisse. All diese Vorarbeiten sind zwar wichtige Hilfsmittel zum Verständnis eines Werks. Für die praktische Arbeit auf der Bühne, die Umsetzung »ins Fleisch«, sind sie jedoch relativ belanglos. Hier kann nur die Phantasie am Zügel der Dramaturgie weiterhelfen. Denn das Werk ist, von Ausnahmen abgesehen, ein in sich ruhendes Informationssystem. Es kann nur die Informationen preisgeben, die in ihm enthalten sind. Es ändert sich nicht. Was sich ändert, sind die Umstände, unter denen es zur Aufführung gelangt, sind die Nachgeborenen, Interpreten und Publikum, und deren jeweilige Zeitläufte und Lebenserfahrungen. Dadurch ändert sich der Blick auf das vormals Geschaffene. Umso mehr, als große Werke einen solchen Reichtum an Informationen, an verschiedenen Gesichtspunkten, Eigenschaften und Widersprüchen enthalten, dass für spätere Generationen der eine oder andere Aspekt an Bedeutung gewinnt und als wesentlich hervortritt. Dazu betrachtet noch jeder Einzelne aufgrund seiner Einstellung und Erfahrung ein Werk verschieden. So entstehen ganz von selbst verschiedene Interpretationen. Wenn dann noch Zeitgeist, Mode und ein selbstbezogener Subjektivismus hinzukommen, so scheint es, als seien die Werke nach Belieben veränderlich und für alles und jedes offen. Sehr schnell verfestigt sich die Mode dann zum Dogma, sodass alle anderen
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Sichtweisen als unstatthaft, überholt und altmodisch abgetan werden. Ein solcher Subjektivismus aber fällt meist schon nach kurzer Zeit der Lächerlichkeit anheim. Tatsächlich scheinen die Werke nämlich einen weit höheren Grad an Objektivität zu besitzen, als allgemein angenommen wird. Die Interpretation, so unausweichlich sie ist, wird in ihrem Stellenwert weit überschätzt. Die Unzerstörbarkeit großer Fabeln und Partituren triumphiert meist spielend über den Zeitgeist. Nochmals: Die Werke ändern sich nicht. Die Veränderung liegt im Auge des Betrachters. Nicht die Werke haben sich der subjektiven Sicht der Interpreten anzupassen, sondern die Interpretation hat sich an der objektiven Struktur des Werks – in der Oper vor allem der Musik – zu orientieren. Wem das nicht passt, der schreibe ein neues Stück! Hier spätestens ist das R-Wort fällig, das vielen ein Ärgernis ist, das Wort Regietheater. Eine Form des Theaters, die sich in den letzten Jahrzehnten die Bühnen der Welt erobert hat. Regietheater ist nicht besser oder schlechter als jedes andere Theater auch. Es ist ein Theater, in dem nicht ein Werk dienend interpretiert wird, sondern bei dem das Werk zum Rohmaterial wird, dem der Regisseur seine eigenen Ideen, Vorstellungen, Phantasien, Assoziationen hinzufügt, unabhängig von Form und Stuktur des Werks. Dieses kann bearbeitet, verändert, umgeformt, mit anderen Materilien vermischt und gekürzt oder verlängert werden. Dabei können wie bei jedem Theater sehr schlechte, aber auch großartige, überwältigende Aufführungen entstehen. Ein Beispiel: Der große Regisseur Peter Brook wollte die Geschichte der Carmen erzählen, aber ander als Bizet. Dennoch konnte er viel von Bizets Musik gut gebrau-
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chen. Also nahm er, was ihm passte, ließ es musikalisch bearbeiten, vermischte es mit seinem eigenen Material und fügte es in seine neue Inszenierung ein. Das Ergebnis: ein faszinierender Theaterabend. Wer danach noch eine gute Aufführung von Bizets Carmen sehen konnte, war doppelt vom Theaterglück gesegnet. Eines ist allerdings noch anzumerken: Peter Brook etikettierte ehrlich. Bei ihm hieß es: »LʼHistoire de Carmen, par Peter Brook, avec Musique de Georges Bizet adaptée«. Das Regietheater sollte demnach nicht guten Wein verpanschen, sondern ehrlich etikettieren. Die Welt wird dann schon entscheiden, ob das ursprüngliche oder das Regietheaterwerk besser ist. Oder, wie im Falle Brook/Bizet, dass beide sehr gut sind. Sehr fraglich ist es auch, ob die Biografie des Komponisten in der Oper mitgespielt werden kann, wie es oft versucht wird. Wagners Beziehung zu Mathilde Wesendonck mag der Anlass für die Komposition von Tristan und Isolde gewesen sein, nur weiß Isolde nichts davon. Ihr betrogener Gatte heißt auch nicht Otto, sondern Marke. Das Werk ist kein Schlüsselroman, bei dem es sich lohnte, durchs Schlüsselloch zu spionieren. Auch erinnere ich mich einer Aufführung von Schoecks Penthesilea, bei der ein vergoldeter Konzertflügel über dem Schlachtfeld der Amazonen hing. Die Kritik am folgenden Tage klärte mich dann auf, dass der Komponist in eine leidenschaftliche Affäre mit der berühmten Pianistin XY verwickelt war, aus der er sich unter großen Qualen gelöst habe, um danach Penthesilea zu komponieren, die tragische Geschichte der Amazonenkönigin, die in rasend-verblendeter Liebe den heiß begehrten Achill im Verein mit ihren Hunden zerfleischt. Deshalb der goldene Konzertflügel!
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Ebenso ist das gegenwärtig geradezu geforderte Mitspielen der Rezeptionsgeschichte eines Werks ein zweifelhaftes Unternehmen. Keine Frage, dass Wagner dem im Bürgertum seiner Zeit weit verbreiteten Antisemitismus huldigte. Dass er mit seiner tendenziösen Schrift »Das Judentum in der Musik« selber die Grundlage für den Missbrauch seines Werkes durch die Nazis schuf. Keine Frage auch, dass er noch in der ersten Fassung der Meistersinger seinem Ärger über den bedeutenden, angeblich jüdischen Kritiker Eduard Hanslick mit der Verballhornung von dessen Namen Luft machte. Nur war er Künstler genug, um dieses biografische Detail in der Endfassung zu tilgen und den pedantischen Nürnberger Stadtschreiber Beckmesser zu nennen. Das fertige Werk weiß nichts von Antisemitismus, ge schweige denn von Nationalsozialismus. Ja, es stellt sogar den Fortbestand der Kunst über den der Nation. Zwar ist die Metamorphose von Leben in Kunst wahrscheinlich das wichtigste Element des schöpferischen Vorgangs überhaupt. Aber die Kunst darf, wenn sie groß und allgemeingültig sein will, nichts mehr von den individuellen Lebensumständen des Künstlers und den subjektiven Anlässen des Kunstwerks wissen. Wenn man sie dennoch hervorholt und mit der Darstellung des Werks vermischt, entsteht ein (vielleicht sogar interessantes) Insider-Theater für eine kleine Zahl Eingeweihter, das sich in Programmheftartikeln mehr als auf der Bühne manifestiert, mit Interpretationsansätzen in einer »Ein geweihten-Sprache«, die das »gemeine Volk« nicht versteht. Denn das Publikum weiß weder etwas von der Pianistin XY noch von Wagners Fehde mit Hanslick. Es muss das auch nicht wissen, denn davon steht nichts in Text und Partitur. Und nur die kann der Dramaturg als
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Grundlage seiner Interpretation in Betracht ziehen. Als Kind seiner Zeit kann er gar nicht umhin, der Objektivität dieser Grundlage seine subjektive Lesart hinzuzufügen. Er wird versuchen, herauszubringen, was das Werk meint, indem er es zeitgemäß liest und werkgerecht interpretiert, um so die objektiv vorhandenen Informationen mit seinen subjektiven Ideen und Assoziationen in Einklang zu bringen. Das Ergebnis wird er auf der Bühne dem Publikum präsentieren, wo es sich wiederum in der Sichtweise jedes Einzelnen widerspiegelt. Es liegt auf der Hand, dass bei all diesen Vermischungen ganz von selbst eine große Bandbreite möglicher Interpretationen entsteht. Entscheidendes Kriterium ist dabei der Sinn der Sache, vermittelbarer, nachvollziehbarer Sinn. Wer will was von wem und warum, lautet die Grundlage des Verständnisses. Ohne dieses kann kein Publikum an den dargestellten Vorgängen teilnehmen. Dabei hat es grundsätzlich zwei Möglichkeiten: Identifikation oder Distanzierung. Im ersten Fall fiebert es zum Beispiel mit Romeo, ob er heil und unentdeckt auf Julias Balkon kommt, im zweiten missbilligt es Romeos verliebte Tollkühnheit als zu gefährlich und todbringend. Zwischen diesen beiden Haltungen kann es sehr rasch oszillieren, aber nur, wenn es Ursache und Zweck der ganzen Unternehmung begreift. In diesen Zusammenhang gehört auch die oft gestellte Frage, wie ich eine Inszenierung anzulegen gedenke: traditionell oder modern? Auf meine Gegenfrage, was denn in diesem Kontext modern sei, kommt meistens keine rechte Antwort. Ich baue dem Fragenden dann die Eselsbrücke, ob wir uns dahingehend einig seien, dass die Leute im Zuschauerraum heute leben und somit moderne Zeitgenossen seien. Dann aber müsse alles, was diese Menschen anrege, aufrege,
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ärgere, zum Lachen oder Weinen bringe, offensichtlich auch modern sein. Und das, was diese Wirkung nicht habe, sondern sie langweile, nicht interessiere, sie gleichgültig lasse, das sei dann wohl nicht modern. Kurzum: »Modern« wird im Zuschauerraum mehr als auf der Bühne entschieden. Inhalt und Sinn können in vielerlei Formen daherkommen, sie müssen den Zeitgenossen nur einleuchten. Bei aller Vielfalt möglicher Interpretationen gibt es auch Grenzen, nähmlich dann, wenn irgendwelche Ideen von außen auf Werke aufgepfropft werden, die durch deren Inhalt nicht gedeckt sind. Wenn also dem Werk das Unglück widerfährt, den Meinungen der Interpreten nicht zu entsprechen, sodass kein Sinn entstehen kann. In Figaros Hochzeit beispielsweise besteht das Grundproblem darin, dass einer alle Macht und alles Recht hat und alle anderen nichts. Wie also können sie sich behaupten, wie sich wehren, wenn ihre fundamentalen Menschenrechte von der Willkür eines Einzelnen bedroht werden? Auf dieser Konstellation beruht die Handlung. Voraussetzung sind gesellschaftliche Verhältnisse, denen dieses Missverhältnis zugrunde liegt, an welchem Ort und in welcher Zeit auch immer man die Handlung spielen lässt. In einem modernen, demokratisch verfassten Staat ergibt die Geschichte keinen Sinn. Die Leute könnten ja zur Polizei gehen. Selbstverständlich kann man Opern aus Zeit und Ort ihrer Handlung lösen, aber dafür ist ein feines Sensorium für die Musik Voraussetzung. Die nämlich kann die spezifische Atmosphäre, die Stimmung, die Valeurs einer Szene besser als Worte Klang werden lassen. Unmusikalische Tolpatschigkeit kann da alles verderben. Ganz abgesehen davon ist auch Vorsicht geboten bei Transpositionen an Orte, von denen
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Opernleute nicht die geringste Ahnung haben: Atomkraftwerke, Konzentrationslager und dergleichen. Man macht sich damit nur lächerlich, oder schlimmer, beleidigt Leute, die etwas davon wissen oder gar dort gelitten haben. Dasselbe gilt für Themen, die, weil sie gerade Mode sind, in ein wehrloses Werk eingeschleust werden. Kapitalismuskritik ist so eine gängige Münze. Wenn man dann bei den wackeren Antikapitalisten ein wenig nachhakt, erlebt man Überraschungen: Nicht, dass sie das Kapital von Marx gelesen haben sollen – aber man darf doch ein wenig Kenntnis der grundlegenden Schriften erwarten, von Adam Smith bis Keynes – nein – oder der einfachsten Begriffe der Finanzwelt – auch nicht – oder man fragt, ob sie vielleicht schon einmal einen größeren Betrag investiert und dann gewonnen oder verloren haben? Nichts von alledem. Abgesehen davon, dass Kapitalismus nicht unbedingt ein Gegenstand ist, der sich zur Behandlung durch Musik eignet, wird bei derartigen Veranstaltungen nichts gewusst, nichts beglaubigt, geschweige denn erfahren. Ein von moralischer Empörung triefendes, gut gemeintes Plappertheater. Aber gut gemeint ist das Gegenteil von Kunst. Wenn Kunst – und gar die Opernkunst – überhaupt Anspruch auf Moral erhebt, dann kann diese nur in der Genauigkeit liegen, mit der etwas dargestellt wird. Das Publikum für dumm verkaufen, ist auf keinen Fall moralisch. Und Dummheit soll man – nach Bert Brecht – ja meiden, »weil sie dumm macht, die ihr begegnen.« Und unmusikalisch macht sie obendrein. Ein junger Regisseur kommt zu mir, dem Intendanten. Er will Lohengrin inszenieren, findet aber, Lohengrin sei doch ganz und gar keine positive Figur. Der käme als Strahlebold daher, ausgestattet mit der Macht des Grals, und haue einem rechtschaffenen
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Staatsanwalt, der gerade dabei sei, einen Mordfall aufzu klären, gründlich aufs Haupt, und gleich schreie das Volk: »Heil … Führer sein!« Man habe das doch zur Genüge erlebt, sodass es geradezu moralische Pflicht sei, Lohengrin als dumpf-bedrohlichen Schläger vorzuführen. Ich erwidere, ich fände diese Lesart durchaus plausibel, nur würde ich dann vorschlagen, den dumpfen Schläger nicht wie Wagner in A-Dur mit Silbertrompeten, sondern in fis-moll mit Saxophonen einzuführen. Denn wenn man in der Oper einen Vorgang in sein Gegenteil verkehre, dann müsse man das auch mit der Musik tun, die der Ausdruck des Vorgangs sei. Und auf den unsicher-erschrockenen Blick des Regisseurs: Ja, er möge die Partitur ändern. Ich würde ihm bei der folgenden öffentlichen Erregung als Intendant zur Seite stehen, denn er tue damit der Partitur Wagners nichts an. Die läge ja gedruckt vor. So könne lebendiges und sogar ehrlich etikettiertes Theater entstehen: Lohengrin von X, unter Verwendung der Musik von Wagner, bearbeitet von Y für die Aufführung in Z. Ob der junge Kollege das dann nicht wollte oder nicht konnte oder beides – jedenfalls kam die Aufführung nicht zustande. Wenn, wie in diesem Fall, die Partitur den Ideen engegensteht, sollte man entweder die Ideen – »die Läuse des Regisseurs« – oder die Musik beiseite lassen und sich mit mehr Glück in anderen Künsten versuchen. Der bedeutende Opernreformator Walter Felsenstein hat das bündig formuliert: »Musik, die nicht aus dem dargestellten Vorgang wächst, hat nichts mit Theater zu tun; und eine Darstellung, die sich nicht präzis und künstlerisch gültig mit der Musik identifiziert, sollte besser auf Musik verzichten.« Die Oper aber ist sich selber selig und will von solchen Grundsätzen eigentlich gar nichts wissen. Je mehr außermu-
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sikalische Inhalte man ihr aufbürdet, desto mehr zieht sie sich auf die Musik als ihr eigentliches Element zurück. Dabei verleugnet sie nun ihrerseits ihr eigenes Wesen, indem sie den Zweck ihrer Musik vergisst und sich deren reiner Schönheit in die Arme wirft. Und das Publikum lässt sich willig verführen, stört sich nicht weiter an Widersinn und Unmusikalität auf der Bühne, sondern schließt einfach die Augen und gibt sich der Magie der Musik hin. Denn Musik ist ihrem Ursprung und Wesen nach eine magische Kunst, dazu angetan, Menschen in Trance zu versetzen und ihnen ungeahnte seelische Räume zu eröffnen. Zugleich ist sie aber auch Zahlenmagie, ausgepichte Konstruktion und Wirkungsspekulation. So kommt es, dass die Musik den Dualismus von Identifikation und Distanzierung aufheben kann und man durch die Erkenntnis ihrer Konstruktion zugleich tief berührt sein, ja, ganz und gar außer sich geraten kann. Klarheit und Magie steigern sich gegenseitig und werden zur Einheit. Wagner spricht in diesem Zusammenhang vom »Gefühlsverständnis« als dem eigentlichen Empfangsorgan der Oper. Und er hatte für nichts mehr Verachtung als für »Wirkungen ohne Ursachen«. Bei ihm galt: »Jeder Takt einer dramatischen Musik ist nur dadurch gerechtfertigt, dass er etwas auf die Handlung oder den Charakter des Handelnden Betreffendes ausdrückt.« Mit dieser Forderung eröffnet Wagner der Dramaturgie ein weites Feld. Was drückt etwas »Betreffendes« aus? Was gehört zur Sache und was nicht? Wo liegt der Schnittpunkt zwischen den vier Polen gut – schlecht – richtig – falsch? Es kann nämlich durchaus vorkommen, dass etwas gut und falsch oder richtig und schlecht ist. Diese Ebene wird dann noch von einer weiteren überlagert: interessant – langweilig – wahr – gelogen.
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Das Ganze ist immer eine Gleichung mit vielen Unbekannten. Jede Möglichkeit, die man realisiert, schließt viele andere aus. Oft sind in der Partitur, zum Beispiel bei Richard Strauss oder Alban Berg, mehrere wichtige Motive gleichzeitig übereinander komponiert. Welches wählt man? Verfluchte körperliche Eindeutigkeit der Bühne! Was sieht und hört man, was hört man nur und sieht es nicht? Was weiß, was verschweigt, was assoziiert die Musik? Oft weiß sie mehr über die Personen, als diese selbst. Siegmund und Sieglinde kennen einander noch kaum, während das prophetische Orchester schon ihren Sohn mit dem Schwert ins Spiel bringt. Wann ist die Musik Ausdruck, wann Kommentar eines Vorgangs, wann beides zugleich? Verfluchte Vieldeutigkeit der Musik! Wie muss die Fallhöhe eines tragischen Sturzes herausgearbeitet werden, wie der Umschlag ins Komische? Wie stellt die Musik Helden dar? Oft eher bombastisch, während wahre Helden doch meist schwache Leute sind. Karl Valentin hat sie drastisch beschrieben: »Angst ham’s, weiß san’s!«Sie sind schwach und müssen ihre Furcht überwinden, um etwas scheinbar ganz und gar Unmögliches zu leisten, wie etwa Leonore in Fidelio. Dazu all die praktischen Fragen der Realisierung. Der Text des Librettos als Grundlage – sozusagen als Skelett – von Handlung und Musik wird in der Regel vom Publikum nicht verstanden. Denn deutlich artikulierende Sänger sind selten. Wie also kann man ihn dennoch verständlich machen, damit auch die Musik begriffen wird? Dazu kommt die heute übliche Originalsprache, die das Publikum nicht versteht und dadurch die Vorgänge auf der Bühne nicht auf Sinn und Plausibilität überprüfen kann. Was wiederum den Scharlatanen die Tore der Operntempel weit geöffnet hat. Also Übertitel. Oder doch besser eine Überset-
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zung in die Landessprache, wie es noch vor vierzig Jahren, vor der Globalisierung der Oper, üblich war? Beides hat Vorund Nachteile und wirkt sich auf die Art der Darstellung und den Stil der Aufführung aus. Überhaupt Stil und Ästhetik! Darüber wird meist mehr gesprochen als über Inhalt, Genauigkeit und Wahrhaftigkeit der Darstellung. Dabei sind Stil und Ästhetik doch Ergebnis und Antwort auf all diese Fragen. Und schließlich noch: Wo kann man dem Komponisten blindlings vertrauen und wo muss man ihm und seinem Werk helfen. Jawohl, auch Mozart macht Fehler! Selbst er musste zwölf Opern komponieren, bevor ihm mit Idomeneo sein erstes, noch keineswegs fehlerloses Meisterwerk gelang. Von Don Giovanni mit seinem von Da Ponte zur Hälfte bei Bertati abgeschriebenen Libretto gar nicht zu sprechen. Der Gute hatte ja auch, wie er in seinen Memoiren stolz berichtet, gleichzeitig drei Libretti zu schreiben: eines für den wichtigen Operndirektor Salieri, eines für den Erfolgskomponisten Martin y Soler, sodass er das dritte für Mozart nur abends mit Unterstützung einer reizenden »Bedienung« – wie er in seinen Memoiren ausdrücklich betont – zuwege brachte. Auch dramaturgisches Denken entwickelt sich nur langsam. Junge Genies gibt es auf diesem Gebiet kaum. Es braucht Zeit, bis man sich als Interpret freimacht von der Sucht, um jeden Preis interessant und auffallend zu sein, bis man den eigenen brillanten Einfällen kritisch entgegentritt und sie aus Text und Partitur zu entwickeln lernt, bis man äußerliche Effekte als »Wirkungen ohne Ursache« begreift und die eigene Person hinter die Aufgabe, ein Werk zu interpretieren, zurückstellt. Ehe man das hart an der Sache operierende, nüchterne Nützlichkeitsdenken entwickelt, das den guten Dramaturgen auszeichnet, eben jenes Nehersche
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»Was versprechen Sie sich davon?« Erst dann ist man in der Lage, die vielen schwierigen, oft widersprüchlichen Fragen zu beantworten, die die Werke stellen. Dem armen Dramaturgen mag dabei schwindlig werden. Er möchte es wie jener alte Burgschauspieler halten, der beim Wiener Publikum so beliebt war, dass er, wenn er im Text nicht weiter wusste, auf offener Bühne der Souffleuse zuraunen konnte: »Keine Details, Teuerste – das Stück!« Das Stück! Das eben ist das Kind, um das die Mutter Dramaturgie sich zu kümmern hat. Das sie gegen alle Zumutungen des Betriebs verteidigen muss, gegen falsche Traditionen, von Gustav Mahler Schlamperei genannt, gegen Dilettantismus und Eitelkeit der Intepreten, gegen die Geschäftsinteressen ihrer Agenten und oft auch gegen falsche Erwartungshaltungen des Publikums. Wie Hans Sachs muss der Dramaturg »Schuhmacher und Poet dazu« sein. Muss über analytisches Handwerk und ausschweifende Phantasie verfügen, um die Oper vor dem Opernbetrieb zu schützen. Um Werk und Darsteller zum Blühen zu bringen und sich dann selbst zurückzuziehen. NÜTZLICHE REGELN --
Die Grundfrage: Was soll gesagt werden und wie, damit es verstanden wird?
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Als »Musikdetektiv« arbeiten.
-- Voraussetzung: genaueste Kenntnis von Text und Partitur. --
Hilfsmittel: alles, was zum Verständnis des Werks beiträgt.
-- Zeitgenössisch lesen, werkgerecht interpretieren. ---
Für das Publikum spielen, nicht für Insider, Kritik und Medien. Grundlage des Verständnisses: Wer will was von wem und warum?
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Bei Adaptionen ehrlich etikettieren.
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»Modern« wird im Zuschauerraum entschieden.
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Keine Behauptungen über Gegenstände, von denen man nichts weiß. Man kann darüber aber etwas lernen. »Um etwas zu wissen, müssen wir studieren.« (Brecht, Herr Keuner)
-- Wenn die Fabel grundsätzlich geändert wird, muss auch die Musik als Ausdrucksträger geändert werden. Beide bedingen einander. --
Klare Darstellung der Struktur steigert die emotionale Wirkung
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Definition: Gut – schlecht, richtig – falsch, interessant – langwei-
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Fallhöhe herstellen, Kontraste betonen.
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Helden können eigentlich gar nicht, was sie dann doch tun. Sie
der Musik. lig, wahr – gelogen.
sind schwach und müssen ihre Furcht überwinden. -- Wahrhaftigkeit und Deutlichkeit zuerst. Stil und Ästhetik als Ergebnis. --
Herausfinden, wo dem Komponisten und dem Werk geholfen werden kann, und sich dann auch trauen.
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Dramaturgisches Denken üben. Das braucht Zeit und Geduld.
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Das Werk ist der Star. Alle anderen Diener.
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»
Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder des, das oben im Himmel, noch des,
das unten auf Erden, oder des, das im Wasser unter der Erde ist.« Mit dem Verstoß gegen dieses Gebot begann das ganze Theater. Theaterleute nämlich, um ihren Beruf ausüben zu können, müssen sich, ob sie wollen oder nicht, ein genaues Bildnis und Gleichnis machen von allem, im Himmel und auf Erden, ja, wenn nötig, sogar vom Allmächtigen selbst und auch von seinem Widersacher. Es geht nicht anders und muss daher sein. In die Hölle also mit ihnen! Wenn nicht ein barmherziger Erzengel – ich stelle ihn mir gerne als meinen Namensvetter Michael vor – darauf aufmerksam machte, dass eben durch den Bruch des Gebots »unbegreiflich hohe Werke« (so redet man im Himmel) zum Lobe des Allmächtigen und seiner Schöpfung entstanden seien und immer noch entstünden. Dass man nicht den Menschen nach seinem Ebenbilde erschaffen könne, um dann den göttlichen Funken des Schöpferischen durch unerfüllbare Gebote auszulöschen. Bevor also das Theatervölkchen, das es ohnehin auf Erden schwer habe, zur Hölle fahre, möge sich der Allmächtige doch einmal in die Oper begeben und sich von der Herrlichkeit der Werke überzeugen. Die Antwort auf diesen erzenglischen Einwurf steht bis heute noch aus.
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Seit diesem Ur-Verstoß wurde noch jede Regel gebrochen. Immer entstand aus dem Gegensatz von Regel (These) und Regelbruch (Antithese) etwas Neues (Synthese), das Elemente von beiden verschmolz und der Sache ein neues Ansehen gab. Die Dialektik von Regel und Regelbruch war und ist der Motor der künstlerischen Entwicklung, sowohl des einzelnen Künstlers als auch eines ganzen Genres. Warum also Regeln, wenn sie doch gebrochen und durch neue ersetzt werden. Man stelle sich ein Spiel – auch die Oper ist ein solches – ohne Regeln vor. Fußball zum Beispiel. Man könnte dann den Ball überallhin kicken, es hätte keine Bedeutung und keine Folgen. Es wäre nach kürzester Zeit langweilig und dumm. Erst die, Spielern wie Zuschauern bekannten und angewandten, Regeln machen das Spiel spannend. Wie im Rahmen der Regeln Team A gegen Team B antritt, welche neuen und überraschenden Kombinationen dabei entstehen und wie Verstöße geahndet werden – das alles ist nichts anderes als die dramatische Gundkonstellation des Theaters: Einer, der etwas will, einer, der das Gegenteil will, und einer, der die Sache beurteilt. Regeln beruhen also auf Übereinkunft, durch die alle zusammenkommen (convenire), um sich daran zu halten, mit einem Wort: auf der Konvention. Jedes Spiel, jedes Genre hat seine Konventionen, in denen die Erfahrung, die Weisheit von Generationen aufgehoben sind, sozusagen Leitplanken fürs Funktionieren. Sie sind höchst notwendig und keineswegs etwas Schlechtes. Nietzsche hat das richtig erkannt: »Jede reife Kunst hat eine Fülle Konventionen zur Grundlage … Die Konvention ist die Bedingung der großen Kunst, nicht deren Verhinderung.« (Wille zur Macht)
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Schlecht sind Konventionen nur dann, wenn sie gedankenlos angewandt oder dogmatisch als unumstößlich dekretiert werden, was beides das freie Spiel mit ihnen unterbindet. Denn Konventionen lassen viel Raum. Ähnlich wie beim Schach gibt es eine unübersehbare Zahl von Zügen und Kombinationen, worin genau der Reiz der Sache besteht. Noch nie haben Konventionen ein Genie gehindert, sein Spiel mit ihnen zu treiben. Die lange gültige Übereinkunft eines Mittelbaus mit zwei Seitenflügeln in der Architektur hat weder Michelangelo, noch Bernini oder Schinkel von ihren überraschenden Entwürfen abgehalten. Die herkömmlichen Formen der Arie, die Abfolge Rezitativ – Musiknummer und das krönende Finale wurden in der Oper lange als reifes Kompositions-Schema anerkannt und standen keinem Meisterwerk jemals hinderlich im Wege. Und doch verändern und entwickeln sich durch das Ausloten immer neuer Kombinationen im Lauf der Zeit auch die Konventionen, wodurch sich wieder neue Möglichkeiten ergeben. Im ständigen Wechselspiel zwischen Konvention und deren Handhabung entwickelt sich das Genre weiter. Dagegen steht der Umsturz, der radikale Regelbruch. Wenn er echt ist, geschieht er aus Not. Wer tiefer, weiter und umfassender fühlt und schaut und dafür einen entsprechenden Ausdruck sucht, kommt gar nicht umhin, zu experimentieren und mit dem Herkömmlichen zu brechen. Die neue Form richtet sich nach dem Bedarf. »Nun sang er, wie er musst’; und wie er musst’, so konnt’ er’s«, heißt es in den Meistersingern. Das Erstaunliche ist dabei, dass die größten und radikalsten Regelbrecher zugleich die besten Kenner und Könner des Bestehenden waren. So, wie Wagner zunächst die ganze 9. Symphonie Beethovens eigenhändig
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abschrieb, um sie sich einzuverleiben, oder in neuerer Zeit Hans Werner Henze sich in der altitalienischen Madrigalmusik wie wenige auskannte, so wussten sie alle genau, woher sie kamen und wem sie ihr Können zu verdanken hatten. Und wo sie Regeln brachen, schufen sie meistens neue, erweiterte und manchmal strengere als zuvor (Schönberg zum Beispiel). Das lässt vermuten, dass es auch bei der Interpretation von Opern ein Fehler ist, Konvention und Tradition gänzlich außer Acht zu lassen. Bezeichnet das Wort Tradition doch etwas höchst Fortschrittliches und Vernünftiges. »Transire« – weitergehen, über das Bisherige hinaus, nach jenseits, zum anderen Ufer. Dabei aber wissen, woher man kommt und aus welchem Grund man den nächsten Schritt tut. Neuerungen lassen sich damit durchaus verbinden, sie müssen nicht unbedingt mit Krawall daherkommen. Meist ist das Neue, in dem das Alte mit aufgehoben ist, viel wirkungsvoller und revolutionärer als kreischendes Revoluzzertum. Der größte Neuerer der Operngeschichte, Richard Wagner, erteilt zu all diesen Fragen in den Meistersingern von Nürnberg, diesem von den Nazis bis zu den jüngsten Exegeten so schändlich missbrauchten Werk, eine von eigener Erfahrung gesättigte, weise Lektion: über das Verhältnis von Regel und Regelbruch, vom Alten im Neuen und Neuen im Alten, von Umsturz und Tradition. Die Oper hat – aus gutem Grund – eine Menge Konventionen. Die erste ist, die Geschichte durch Musik zu erzählen, wodurch das Genre sich unter die Gesetze der Musik stellt. Der Ruf nach Schauspielregisseuren, um ihr die Unnatur auszutreiben, ist deshalb gänzlich verfehlt. Die Oper ist keine natürliche Kunstform, sondern eine musikalische. Wer sich mit ihr einlässt, muss die Musik beherrschen. Nicht die Oper
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muss Schauspiel werden, sondern das Schauspiel wird musikalisiert. Eine weitere offensichtliche Übereinkunft ist, dass in der Oper gesungen wird, folglich den Bedingungen des Gesangs Rechnung zu tragen ist. Mit dem Kopf nach unten an den Füßen aufgehängt singt es sich nun einmal schlecht, wie auch beim Klettern auf abschüssigem Gelände. Gejodelt wird erst auf dem Gipfel mit festem Boden unter den Füßen. Auch die Tatsache, dass der Mund als Schalltrichter vorne im Gesicht sitzt und eine Arie im rückwärtigen Teil der Bühne nach hinten gesungen nicht zum Vorteil der Musik gereicht, kann als nützliche Konvention angesehen werden. Ebenso, dass das Orchester einen sehr weitgehenden, eigenständigen Anteil an der Menschendarstellung und der Erzählung insgesamt übernimmt. Das Xylophon-Klappern der Mühle in Janáčeks Jenufa ist nun einmal kein für einen Computer charakteristisches Geräusch. Und wer in Beethovens Fidelio die aus dem Gefühl höchster Überwältigung aufsteigende Oboe vor: »Oh Gott – welch ein Augenblick« durch sinnlose Aktionen stört, kann nur als »Musikterrorist« bezeichnet werden. Diese leider keineswegs erfundenen Beispiele haben ihre Ursache nun keineswegs in der Ausdrucks-Not eines ungewöhnlichen Talents, sondern im Gegenteil in blanker Ahnungslosigkeit. Ahnungslosigkeit über die grundlegenden Bedingungen der Kunstform, Unkenntnis ihrer Regeln, Un fähigkeit, sie anzuwenden, und Phantasielosigkeit bezüglich ihrer Möglichkeiten. Ignoranz im Verein mit Impotenz wird oft als Avantgarde gefeiert. Man geriert sich als Umstürzler und bellt doch nur den Mond an. Bert Brecht brachte die Sache ins Lot mit seiner Frage: »Können wir den Shakespeare ändern?« Und der Antwort: »Wir können ihn ändern, wenn wir ihn ändern können.« Das Gesetz jeder Kunst lautet: Kön-
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nen. Karl Valentin hat das auf seine Weise lapidar formuliert: »I woass net, wos d’Leit allweil hab’n mit dera ›Kunst‹. Wann’sd wos kannst, is es ka Kunst. Wann’sd es net kannst, is es erst recht ka Kunst.« Auch die höchst komplexe Kunst der Oper kann man erst, wenn man sie kann. Wenn man nämlich die Fabel und die sie erzählende Partitur in allen Details technisch und inhaltlich so vollkommen wie der Pianist seinen Fingersatz beherrscht. Erst dann gewinnt man die Freiheit, mit dem Material souverän umzugehen, zu spielen, zu experimentieren und Neues zu entdecken. Ohne diese völlige Beherrschung der musikalischen und szenischen Grundlagen ist die Oper dem – oft als fortschrittlich gepriesenen – Dilettantismus ausgeliefert. Von allen Künsten hat sie die meisten natürlichen Feinde unter ihren Ausübenden. Fast allen ist gemeinsam, dass ihr Wirken ohne Rücksicht auf die Musik vonstatten geht, dass sie »Oper ohne Musik« machen. Wenn eine böse Absicht dahintersteckte, dann wäre es ja noch etwas. Aber nein, es ist nur Ahnungslosigkeit, sodass man, auf die Gefahr, blasphemisch zu werden, ausrufen möchte: »Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.« Die Ahnungslosigkeit kennt auch keine Ehrfurcht vor menschlicher Größe. Goethes »Das Schaudern ist der Menschheit bestes Teil« ist ihr nur Larifari. Ich habe mich oft gefragt, was Größe in der Musik ist. Was ist es, das uns atemlos bannt, wenn Beethoven zuweilen Sachen macht, die man einem Geringeren nicht durchgehen ließe? Wieso trifft Mozart uns oft mitten ins Herz, wenn er nichts anderes tut als alle seine Zeitgenossen auch? Warum lassen bei einem Vorsingen im fahlen Arbeitslicht der Bühne – ich habe es hundert Mal erlebt – vier Einleitungstakte von Verdi auf dem meist etwas verstimmten Klavier alle, auch die sonst unbe-
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teiligten Bühnenarbeiter, verstummen und zuhören? Was übt diese Macht über Menschen aus? Ich weiß es nicht. Eines aber weiß und beobachte ich mit Vergnügen stets aufs Neue: Talent hat ein Gefühl für Größe, selbst da, wo es gegen sie rebelliert. Es ist geradezu ein Zeichen von Begabung, dass einer vor der Größe innehält, sich an sie heranmacht und anfängt, sie zu studieren, sich so viel als möglich davon einzuverleiben, um dann mit diesem Rüstzeug seine eigene Sache vorzubringen, mit Konventionen ein verändertes Spiel zu beginnen, Regeln zu brechen oder neue aufzustellen, dabei aber zu wissen, auf wessen Schultern er steht. Nur so konnte von Generation zu Generation der gewaltige Dombau der abendländischen Musik errichtet werden, als einzigartig-unvergleichliches Geschenk Europas an die Welt. Wer Oper macht, sollte sich dessen bewusst sein. NÜTZLICHE REGELN --
Mache dir ein genaues Bild von allem, was du auf der Bühne tust, sagst oder sonst wie ausdrückst.
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Die Vorstellung muss funktionieren wie Kino im Kopf.
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Erst Können – dann Meinung.
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Gut gemeint ist das Gegenteil von Kunst.
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Spiele mit der Konvention.
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Kenne und benutze die Regeln, dann stelle sie in Frage.
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Brich Regeln, wenn nötig, aber aus einem guten Grund.
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Interessant, neuartig, avantgardistisch, revolutionär, radikal und dergleichen sind keine Gründe. Sie können sich allenfalls aus einem guten Grund ergeben.
-- Tradition ist Fortschritt in nachhaltiger Form. Verbinde sie mit Neuem. --
Entwickle ein Gefühl für Größe. Es schützt vor Dummheit.
Harmonie der Sphären
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er sich ernsthaft mit der Oper einlässt, wird früher oder später mit dem Opernbetrieb in Konflikt
geraten. Die Diskrepanz zwischen dem Anspruch der Werke und den Möglichkeiten des Apparats für ihre Darstellung ist gewaltig. Beim immerwährenden Kampf mit dieser Unangemessenheit lässt sich allenfalls Trost und Stärkung aus der Tatsache schöpfen, dass man sich in bester, in allerbester Gesellschaft befindet. Denn kaum war die Oper erfunden, hat sich bereits ihr erster Großmeister, Claudio Monteverdi, in Briefen resigniert über Schlamperei und Nachlässigkeit beim Umgang mit seinen Kompositionen beschwert. Händel haben die unersättliche Geldgier seiner Kastraten und Prima donnen, wie auch ihre unerträglichen Launen und Rivalitäten in Krankheit und finanziellen Ruin getrieben. Als seine Starsängerin Francesca Cuzzoni sich eines Tages bei einer Probe der Oper Ottone weigerte, die Arie Falsa Immagine zu singen, platzte Händel der Kragen. Der große, bärenstarke Mann griff sich die Widerspenstige, hielt sie aus dem offenen Fenster mit den Worten: »Ich weiß wohl, dass ihr eine leibhaftige Teufelin seid; aber ich will euch weisen, dass ich Beelzebub, der Teufel Oberster bin« – und drohte, sie fallen zu lassen,
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wenn sie weiter Widerworte machte. Die Arie wurde dann ein riesiger Erfolg. Cuzzoni sang sie noch dreißig Jahre später bei ihrem Abschied von der Londoner Bühne. Glucks verzweifelte Zornesausbrüche bei den Proben seiner Werke waren in Wien und Paris ebenso bekannt wie gefürchtet. Auch Mozarts berühmter Brief an den Mannheimer Geheimen Rat Anton Klein über die Wiener Zustände und die »gefallene teutsche Oper« lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: »– zum grössten unglück sind die directeurs des theaters so wohl als des orchesters beybehalten worden, welche sowohl durch ihre unwissenheit als unthätigkeit das meiste dazu beygetragen haben, ihr eigenes Werk fallen zu machen. Wäre nur ein einziger Patriot mit am brette – es sollte ein anders gesicht bekommen!« In seiner Enttäuschung endet er, »dass man sich nach solch einer herzensErgiessung keklich einen Rausch trinken dörfte, ohne gefahr zu laufen seine gesundheit zu verderben.« Das alles aber ist noch wenig im Vergleich zu Wagners lebenslangem Kampf mit dem Drachen des Opernbetriebs, seinen vernichtenden Niederlagen und gelegentlichen Siegen. Er hat sie selbst drastisch beschrieben. Etwa die Absetzung des Tannhäuser in Paris: Die Mitglieder des Jockey Clubs verlangten das Ballett wie immer im 2. Akt. Denn im ersten sei man noch beim Diner und im dritten sei die weitere Nacht bereits mit den Damen des Balletts verplant. Als Wagner sich weigerte, diesem Wunsch nachzukommen, sorgte der Jockey Club durch Einflussnahme und Randalieren für die Absetzung. Nicht viel besser erging es dem Tristan in Wien, dessen geplante Uraufführung nach wochenlangen Proben wegen »Unspielbarkeit« abgesagt wurde. In Wien rannte Gustav Mahler als Direktor der k. u. k. Hofoper gegen die als »Tra-
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dition« verkappte Schlamperei an und ruinierte dabei seine Gesundheit. Und so weiter über Felsenstein und Strehler bis zum heutigen Tag. Und Verdi? Im Alter von fast achtzig Jahren zog er in einem Brief an seinen Verleger Giulio Riccordi das bittere Fazit: »Ich für meinen Teil erkläre, dass es nie, nie, nie jemand gelungen ist, alle von mir beabsichtigten Wirkungen herauszuholen. Niemand!! Nie, nie!!! Weder Sänger noch Dirigenten!!!« So steht am Ende all dieser lebenslangen Auseinandersetzungen der größten Komponisten die bittere Erkenntnis, dass Oper, die Darstellung der Welt auf dem Theater durch Musik, im besten Fall, bei heißem Bemühen und unter günstigen Umständen, nur in Annäherungen an das schöne Ideal vieler Werke möglich ist. Soll also Verdis Bannfluch das letzte Wort sein? Nein. Alle Leiden an der Unzulänglichkeit des Betriebs werden nämlich aufgewogen von dem, was die Oper einzigartig, recht eigentlich unwiderstehlich und zukunftsfähig macht. Durch die Musik kann sie nämlich etwas, was alle anderen Künste nicht können, was sie in gewisser Weise sogar mit der fortgeschrittensten modernen Welterkenntnis verbindet: die Simultanität in Raum und Zeit. Jede andere Kunst muss auswählen, muss sich auf einen Teilaspekt der Welt festlegen. Ein Bild, selbst ein Panorama-Gemälde, ist immer ein Ausschnitt. Der Film beruht auf einer Abfolge von Bildern, meist in Schnitt und Gegenschnitt, Fahrt, Schwenk oder Zoom. Die Kamera wählt dabei zwangsläufig aus. Eine Plastik lässt sich zwar von allen Seiten betrachten, aber nicht gleichzeitig. Man muss erst um sie herumgehen, um sie von der Gegenseite zu sehen. Der Roman stellt selbst die schnellsten Gedankensprünge in zeitlicher Abfolge dar. Auch die neuesten digitalen Bildwelten können die Grenzen von Raum und Zeit nicht überspringen.
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Anders die Musik und durch ihre Konkretheit besonders die Oper. Ein einfacher zweistimmiger Kanon: »Frère Jacques, frère Jacques, dormez-vous?« macht es bereits deutlich: Man hört die erste Stimme und die zweite, jede für sich und gleichzeitig beide zusammen. Dem Kanon lässt sich nun Stimme drei, vier und fünf hinzufügen: ein Ensemble. Immer noch hört man jede einzelne Stimme und immer alle zusammen. Dazu ist noch ein Kommentar zu vernehmen, nämlich dass Stimme eins lügt und Stimme vier das durchschaut und sich darüber ärgert. Und noch viel mehr: Das Orchester teilt mit, dass aus den dargestellten Ereignissen ein Sohn mit einem Schwert hervorgehen wird. Dann ists ein Leitmotiv, das sich bei Bedarf mit anderen derartigen Motiven verbinden lässt. Und wem all das noch nicht reicht, der kann auch noch den Standpunkt des lieben Gottes hörbar werden lassen, der auf seine Geschöpfe schaut und sich zu jedem sein Teil denkt, sodass auf diese Weise der subjektive mit dem objektiven Blickpunkt von außen verbunden wird. Immer alles einzeln und zusammen in Raum und Zeit. Ich wüsste keine andere Kunst, die ein so vollständiges, viel dimensionales Abbild der Welt zeigen kann wie die Oper. Alle anderen Künste müssen sie um diese Fähigkeit beneiden. Diese Vieldimensionalität verbindet sie mit dem modernen wissenschaftlichen Weltbild, das von einem vieldimensionalen Universum ausgeht. Ja, die allerneuesten Vermutungen gehen sogar dahin, dass es außer unserem Universum noch unzählige andere geben mag, gleichzeitig entstehend und vergehend in vielen Dimensionen, sodass wir in einem Multiversum existieren. Im Kleinen kann das auch die Oper und praktiziert es sozusagen täglich. Hier liegt – besonders in Verbindung mit den neuen digital-virtuellen Möglichkeiten
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– ihr unausgeschöpftes Potenzial, nicht nur hinsichtlich der Darstellung, sondern auch neuer Inhalte und Formen. Denn Inhalt und Form befruchten sich seit jeher wechselseitig und bringen ungeahnt Neues hervor. Es mag nämlich durchaus sein, dass wir an der Schwelle eines neuen Zeitalters der Welterkenntnis stehen, ähnlich der Zeitenwende, als die Oper erfunden wurde. Damals zertrümmerte Galileo Galilei mit seiner kleinen Schrift über die Jupitermonde Sidereus Nuncius (Der Sternenbote) die Kristallschalen des alten ptolemäischen Weltbildes und stieß die Tore in die Unendlichkeit des Universums auf. Eine solche gewaltige Ausweitung der Welt könnte heute mit der Idee des Multiversums abermals in ganz und gar unvorstellbaren Dimensionen geschehen. Wo Galilei und seine Nachfolger noch das Fernrohr ins All richten und bisher unbekannte Galaxien in den ungeheuren Weiten des Universums sichtbar machen konnten, werden die neuen, jeder Vorstellung unzugänglichen Welten eines Multiversums nur in abstrakten Berechnungen Gestalt annehmen können. Ich wäre daher geneigt, den Namen Sidereus Nuncius von Galilei auszuleihen und ihn auf die Musik zu übertragen. Wenn nämlich die Musik für die Oper ihren Dienst der Herstellung konkreter musikalischer Abbildungen unserer Welt geleistet hat, so kann sie sich endlich wie Pegasus aus dem Joch befreien und sich in ihr eigentliches Reich des Abstrakt-Unsagbaren aufschwingen und als neuer Nuncius Botschaft bringen von jenen unvorstellbaren, nur geahnten Welten. Sie könnte dadurch vielleicht in unser modernes Weltbild einen Begriff zurückholen, den Kepler als »Weltharmonie« zum Titel eines seiner Werke wählte und der schon den Alten mit ihren Kristallschalen lieb und teuer war: »die Harmonie der Sphären.«
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Harmonie der Sphären
Es ist diese Fähigkeit der Musik, ihre irdischen Abbilder um das Gefühl der Unendlichkeit zu erweitern, die der Oper ihre volle Höhe und ihren wahren Wert zumisst. NÜTZLICHE REGELN
-- Lass dich von der Unzulänglichkeit des Betriebs nicht entmutigen, du bist in bester Gesellschaft. -- Gib dein Bestes, auch wenn das Ergebnis nur annäherungsweise dem Anspruch der Werke gerecht werden kann. -- Die Oper kann mehr als andere Künste. Sie hat Zukunft.
Statt eines Nachworts: Meine Lehrer
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s scheint angebracht, einige Hinweise auf die zu geben, die mich in meiner Jugend gelehrt, erzo-
gen und geprägt haben, denen ich mich bis heute in meiner Arbeit und meinen Anschauungen verpflichtet fühle. MAX REINHARDT Natürlich war Reinhardt nicht mein Lehrer. Ich war acht Jahre alt, als er in der Emigration in Amerika starb. Aber wenig später fiel mir ein magisches Buch in die Hände: »Reinhardt und seine Bühne«, herausgegeben von seinem Bühnenbildner Ernst Stern und seinem Dramaturgen Heinz Harald. Ich verschlang es wieder und wieder und konnte doch nicht genug davon bekommen. Darin war Reinhardts Theater in allen seinen Facetten aufs Anschaulichste beschrieben. Es wurde geschildert, wie eine Inszenierung entsteht, einzelne Aufführungen wurden in allen Details nacherzählt, die berühmten Darsteller Reinhardts wurden in charakteristischen Rollenportraits vorgestellt. Auch das Materielle des Theaters kam nicht zu kurz: die Drehbühne und andere Maschinen, die Arbeit in den Werkstätten, die Rolle des Lichts und der Musik, Maskenbildnerei, Statistenproben und
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Massenregie, selbst die Organisation und Verwaltung des komplizierten Betriebs war nicht vergessen. Und am Ende des Buches gab es ein Kapitel: »24 Stunden im Deutschen Theater« mit charakteristischen Skizzen von Ernst Stern für den ganzen Tagesablauf. Es begann morgens um vier Uhr bei Nachtwächter und Kulissentransport, ging weiter über Ab- und Aufbau der Dekoration, über Proben, Vorsprechen, Spielplansitzung, Einläuten zur Abendvorstellung, Applaus, Nachtarbeit in den Werkstätten bis zur Geisterstunde im leeren Auditorium. Und dann zum Schluss die finstere Theaterfassade mit nur einem erleuchteten Fenster: »Zwei Uhr nachts. Alles dunkel. Nur der Rendant rechnet.« Da wars um mich geschehen: Kulissen, Proben, Schauspieler, Werkstätten, Vorsprechen, Drehbühne und nachts rechnen. Genau so wollte ich mein Leben verbringen! Wenige Wochen später war ich bereits Direktor einer Theatertruppe, bestehend aus Geschwistern und Nachbarskindern. Wir spielten Max Reinhardt und sein Theater, klauten Backsteine und Bretter (nach Kriegsende gings nicht anders) für unsere Bühne auf dem weiträumigen Speicher des elterlichen Hauses, schrieben Stücke (eines erhielt sogar einen Preis), malten Kulissen, durchbohrten zum hellen Entsetzen der Eltern Wände für die Beleuchtungsanschlüsse und nähten alle erreichbaren Leintücher zu einem riesigen Tuch zusammen, um der strengen Bühnenvorschrift »offenes Meer« zu genügen. Auch um das Geld, das wir noch gar nicht verdient hatten, prügelten wir uns schon. Seither hat sich wenig in meinem Leben verändert, nur die Dimensionen weiteten sich etwas aus. Später konnte ich noch mit einigen Schauspielern, die ich aus dem Buch kannte, arbeiten. Sie erzählten mir in allen
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Details von Reinhardts Theaterherrlichkeit, und immer war mir dabei zumute wie beim ersten Lesen des Buches. Eines Tages stand ich im kalifornischen Santa Monica vor dem rosa Haus, in dem Reinhardt in der Emigration gelebt hatte. Es stand hart am Abgrund, wo die Küste vom Meer abgenagt wird. Vielleicht hat es der Ozean inzwischen verschlungen. Dass ich später Max Reinhardts großes Erbe, die Salzburger Festspiele, ein Jahrzehnt im Direktorium an der Seite Herbert von Karajans verwalten und mitgestalten konnte, hatte für mich seine völlige innere Richtigkeit. LOUIS KRASNER Als Geiger hatte er das große Los gezogen. Alban Berg schrieb für ihn sein berühmtes Violinkonzert »Dem Andenken eines Engels«. Er lehrte in den USA an der Syracuse University und nahm mich dort als siebzehnjährigen Cellisten in seine Kammermusikklasse auf, obwohl ich gar nicht an der Universität eingeschrieben war, sondern im Rahmen eines Stipendiums noch in die High School ging. Damit nicht genug, teilte er mich für ein Streichquartett ein, dessen übrige Mitglieder Senior Studenten vor dem Abschlussexamen waren, also etliche Jahre älter und dementsprechend fortgeschrittener als ich. Ob er dabei einen pädagogischen Heilsplan für mich, der ich gerne auf meinem Instrument gefühlvoll schwelgte, im Sinne hatte, entzieht sich meiner Kenntnis. Jedenfalls wurde es die härteste Schule, die ich in musikalischen Dingen durchzumachen hatte. Krasner verlangte ein enormes Pensum, die halbe Quartettliteratur wurde vorgenommen. Dazu mussten wir öfter ganze Quartette »live«, d. h. ohne das Netz einer vorherigen Aufnahme, im
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universitätseigenen, lokalen Radiosender spielen. Ich musste sehen, wie ich mitkam, denn sonst drohte das lächelnd ausgesprochene Urteil: »And here we’ll just ignore Michael’s cello.« Bei Krasner im Unterricht habe ich gelernt, in musikalischen Strukturen zu denken und zu fühlen, habe begriffen, wie dabei alles aufeinander bezogen sein muss. Vor allem aber wurde ich geschult, auf die anderen zu hören, zu reagieren und meinen Part als Teil des Ganzen zu gestalten; Fähigkeiten, die mir später in der Oper sehr zustatten kamen. Ich habe immer bedauert, dass Opernsänger nicht als Teil ihrer Ausbildung durch diese strenge Schule des Quartettspiels, der wohl anspruchsvollsten Musikgattung, in der man nicht mogeln kann, gehen. Krasner und das Streichquartett haben mich zum Ensemblespieler erzogen. JOSEPH OFFENBACH Er hieß nicht nur so, man hörte es auch. Er war aus Offenbach am Main und sein unverkennbar hessischer Tonfall machte sich selbst in klassischen Rollen bemerkbar. Joseph Offenbach war mein wichtigster Schauspiellehrer. Ein Charakterspieler von kleiner, untersetzter Gestalt mit großem Kopf und weit auseinanderstehenden Augen, die vor überquellender Phantasie schier aus den Höhlen treten konnten. Die ganze Ausdrucksskala vom tief Dämonischen bis zum Skurrilen stand ihm zur Verfügung, und das eine konnte oft erschreckend ins andere umschlagen. Da sein Repertoire auch viele kleinere Rollen umfasste, hatte er es darin zur Meisterschaft gebracht, eine Figur aufs Genaueste zu charakterisieren, sozusagen wie eine Silhouette scharf zu umreißen, sodass sie beim Auftritt sofort und ohne weitere Umschweife erkennbar war.
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Etwas davon brachte er auch seinen Schülern bei, indem er sie anhielt, sich alles genau vorzustellen. »Isch seh’s ja net, wann du’s net siehst.« So zwang er mich zum Beispiel, den Raum, in dem eine Szene spielte, aufzuzeichnen. »Is da vielleischt noch ä Fliegʼ an dä Wand?« Dann lehrte er, eine Figur, einen Charakter systematisch, mit einem gewissen Maß an Misstrauen zu entwickeln. Nichts hasste er mehr als Ungenauigkeit, »Geschlabbel«, wie er es nannte. Situation, Zustand, Charakter, Absichten einer Figur mussten klar kenntlich gemacht werden, bevor er gestattete, sie dem Gefühl auszuliefern. Noch heute ist er mit dieser Charakterisierungskunst oft im Fernsehen in einem der zahlreichen Filme, in denen er mitgewirkt hat, zu bewundern. Für mich war er ein idealer Phantasie-Trainer. FRITZ KORTNER Kortner probte an den Kammerspielen in München Shakespeares Was Ihr Wollt. Sein legendärer Ruf, umrankt von zahllosen Anekdoten, eilte ihm voraus. Er galt als überaus schwierig, maßlos in seinen Ansprüchen, unersättlich in dem, was er von seinen Darstellern forderte. Wir Schauspielschüler der Otto Falckenberg Schule hatten schnell heraus, dass hier ein feuerspeiender Groß-Vulkan in voller Aktivität zu erleben war. Aber wie? Seine Proben waren streng geschlossen. Ein Eindringling würde Gefahr laufen, mit glühender Lava überschüttet zu werden. Wir schlichen uns dennoch in den dunklen Zuschauerraum, hockten zwischen den letzten Sitzreihen versteckt am Boden, um dem Vulkan bei seiner Tätigkeit zuzuschauen. Ein tückischer Regieassistent verriet uns, das Licht ging an, wir waren entdeckt. Kortner tobte.
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Von Relegation von der Schauspielschule war die Rede. Wir mussten zum Intendanten Hans Schweickart, der – ein weiser Mann – streng schaute und meinte, wir sollten uns beim nächsten Mal nicht mehr erwischen lassen, sonst würden wir ihn in schlimme Schwierigkeiten bringen. Unwiderstehlich angezogen von dem, was wir bereits gesehen hatten, wagte ich mit zwei mutigen Mitschülern das Abenteuer dennoch aufs Neue. Wir fanden Zugang zu einer Projektionskabine, in der wir von nun an bei unseren Expeditionen einigermaßen sicher waren. Das Risiko lohnte sich. Denn was sich vor unseren Augen und Ohren Stunde um Stunde entfaltete, war ein Wunder an Phantasie, an Können, an Intensität, ausgehend von einer Persönlichkeit von titanisch-biblischem Zuschnitt. Hier lernte ich, dass es fast unbegrenzte Möglichkeiten gibt, eine Figur, einen Vorgang zu spielen. Kortner legte eine Szene an, probte sie lange, bis sie zu laufen begann, um dann alles über den Haufen zu werfen und ganz anders neu zu beginnen. Das konnte sich mehrere Male bis zur Erschöpfung der Schauspieler wiederholen. Manche meinten dann, er wisse nicht, was er wolle. Als ob man jemals im Leben oder auf der Bühne genau wissen könne, was man wolle, war seine gereizte Antwort. Seine überbordende Phantasie zwang ihn förmlich dazu, viele Möglichkeiten auszuprobieren. Deshalb war er auch immer in Zeitnot und wurde nie fertig. Seine Ausdrucksbesessenheit kannte keine Grenzen, und er trieb seine Darsteller in alle Höhen und Tiefen ihrer eigenen Existenz. Er überforderte alle um sich. Oft auch das Publikum. Von den vielen Aufführungen, die ich von ihm sehen konnte, hieß es häufig, sie seien in ihrer Detailversessenheit zu langatmig, zu schwerfällig und dadurch zu anstrengend. Mir waren sie immer zu kurz. Ich hätte noch viele Stunden
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diesem gewaltigen Phantasie- und Lebensstrom zusehen können, der sich tief einprägte, sodass ich noch heute, fast sechzig Jahre danach, ganze Szenen aus der Erinnerung nachspielen könnte. Durch Kortner vor allem habe ich begriffen, dass es zwischen Leben und Theater eigentlich keinen Unterschied gibt. LEOPOLD LINDTBERG In vieler Hinsicht war Leopold Lindtberg der Antipode zu Kortner, obwohl er wie dieser aus Wien stammte und auch noch in der k. u. k. österreichischen Kultur aufgewachsen war. Sein sprühendes sanguinisches Temperament verband sich mit einem scharfen, analytischen Intellekt und einer wachen, vibrierenden Sinnlichkeit. Dazu kam ein mimisches Talent direkt aus der Komödianten-Tradition des Wiener Volkstheaters. Alfred Kerr, der gefürchtete Kritiker der Weimarer Republik, verlieh ihm das Etikett: »Leopold Lindtberg – Ehrenname!« Sein Credo: »Es gibt für den Regisseur seit jeher nur den einzigen Sinn, die darzustellende Dichtung und die darstellenden Schauspieler zum Blühen zu bringen. Die Aufführung, die unmittelbar durch sich selbst spricht, ohne mit Einfällen und Auffassungen penetrant auf den Regisseur hinzuweisen, spricht am meisten für diesen. Der am Ende seiner Arbeit mit der Selbstverständlichkeit und der Überzeugungskraft der Aufführung unsichtbar werdende Regisseur ist, so scheint mir, der beste.« Lindtberg war berühmt für seine Klassiker-Aufführungen, oft in großen Zyklen dargeboten. Mindestens ebenso war er der geborene Komödien-Regisseur. Temperament, Musikalität, sein Gefühl für Farbe, Form und Rhythmus sowie sein
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unfehlbarer Sinn für die Pointe prädestinierten ihn für diese anspruchsvolle Kunst, die genau besehen schwerer ist als die der Tragödie. Im Gegensatz zu Kortner hatte er ein genaues Gespür für das, was ich den »Großrhythmus« eines Theaterabends nenne, den Spannungsbogen, der das Publikum von Anfang bis Ende bei der Stange hält. Dabei profitierte er vom Film, bei dem ja noch mehr als beim Theater alles von Rhythmus, Struktur, Tempo und Format der Bildfolge abhängt. Denn er schuf, als Emigrant gedrängt von den Zeit umständen, fast im Alleingang den Schweizer Film mit einigen Welterfolgen und einem Drehbuch-Oscar. Ich war Lindtbergs Assistent, u. a. bei seiner legendären Aufführung beider Teile des »Faust« bei den Salzburger Festspielen, die ich drei Jahre betreute und bei der bis in die kleinsten Rollen fast alle bedeutenden Darsteller des deutschen Theaters mitwirkten. Dass er mich mit knapp dreißig Jahren zu seinem Stellvertreter in der Leitung des Schauspielhauses Zürich machte und mir die ganze Planung des hoch renommierten Instituts übertrug, bedeutete einen hohen Vertrauensvorschuss. An diesem Haus gaben sich die wichtigsten und besten Schauspieler des vorigen Jahrhunderts die Klinke in die Hand. Je nach Stück und Besetzung standen oft fünf bis zehn große Stars gleichzeitig auf der Bühne. Mit ihnen konnte ich als Regisseur arbeiten, dazu mit bedeutenden Autoren wie Frisch, Dürrenmatt und Arthur Miller. »Die schlimmste Sünde, die in unserem Beruf begangen werden kann, ist, das Publikum, also ganz simpel unsere Mitmenschen, für dumm zu halten. Das Beste und Klügste, was wir aus unseren Herzen und Hirnen herausbringen, wird eben gut genug für ein gutes Publikum sein.« Auch diese Ansicht verdanke ich, wie so vieles andere, Leopold Lindtberg.
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CASPAR NEHER »Unser Freund geht bei seinen Entwürfen immer von ›den Leuten‹ aus und von dem, was ›mit ihnen und durch sie passiert‹… Nahezu alles, was sonst das Gewerbe der Bühnenbauer ausmacht, das Ästhetische, Stilistische, erledigt er mit der linken Hand.« So charakterisierte Brecht den Jugendfreund und Weggenossen in seiner »Rede des Stückeschreibers über das Theater des Bühnenbauers Caspar Neher.« Genauso lernte ich Caspar Neher am Schauspielhaus Zürich kennen. Aber er war nicht nur Bühnenbauer, sondern weit mehr: Dichter und Librettist von einem halben Dutzend Opern mit Kurt Weill und Rudolf Wagner-Régeny, Maler, Architekt, Dramaturg und wenn nötig auch Regisseur. Der umfassendste Theatermann, der mir je begegnet ist. Was ihn bewog, mich damals als Lehrling bei der Hand zu nehmen, weiß ich nicht. Er tat es energisch und schonte mich dabei nicht. Er lehrte mich vor allem, Fragen zu stellen, und zwar so, als sei ich gerade als »Mann vom Mars« auf die Erde gefallen, um Brechts »fremden Blick« auf Dinge und Verhältnisse zu richten, so als seien sie ganz neu und vorher noch nie betrachtet worden. Das war oft sehr anstrengend. Auch zeigte er mir im technisch-praktischen Bereich den Umgang mit Materialien. Welches ist warm, welches kalt und somit für welches Stück geeignet. Obwohl die Zeit knapp war, ließ er mich geduldig sein eigenes Bühnenbild beleuchten, um am Ende mit der höflichen Frage, ob ich das »Wischi-Waschi« jetzt schön fände, alles zu löschen und mir meisterhaft beizubringen, dass direktes Licht eine Quelle und somit eine Richtung habe, diffuses Licht hingegen durch Reflexion zustande käme. Vor allem bestand er immer auf technischer
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Machbarkeit und, wo immer möglich, auf der einfachsten Weise. Und noch wichtiger: Was kann man weglassen? Was weiß das Publikum oder kann es sich denken, sodass man es nicht besonders zeigen muss. Nur das Notwendige und nur, was »mitspielt«, gehört auf die Bühne, sodass alles dem Darsteller dienen kann. In die Oper, die er liebte, hat er einen Schuss Brechtsche Verfremdung eingeführt, ihr alles Schwülstige und Pompöse auszutreiben versucht und sie sozusagen trockengelegt. Was ihr glänzend bekam. Sie wurde unter seinen Händen klar strukturiert auf die Musik bezogen, was mir besonders gut gefallen hat. Leider währte unsere Bekanntschaft nur knapp zwei Jahre, bis sie durch Caspar Nehers Tod beendet wurde. Dennoch hat er mir in dieser Zeit sehr viel beigebracht. Seither ist mir das Bühnenbild-Atelier einer der liebsten Orte im Theater, wo sich das Geistige mit dem Materiellen verbindet und eines sich gegen das andere behaupten muss. Caspar Neher hat diese Alchemie wie kein Zweiter beherrscht. WALTER FELSENSTEIN Nach meiner eingangs beschriebenen Bekehrung zur Oper durch Walter Felsenstein begann ich, mich mit seinen Arbeitsmethoden vertraut zu machen. Oper als Musiktheater, und zwar – wie er sagte – »mit durchaus gleichmäßiger Betonung beider Teile des Wortes.« Erleichtert wurde mir der Zugang durch die Tatsache, dass sein ehemaliger Bühnenbildner, der genialische Rudolf Heinrich, nach seiner Übersiedlung in den Westen mein enger Freund und Arbeitsgenosse wurde, mit dem ich alles, was ich über die Oper lernte, direkt ausprobieren und umsetzen konnte. Außerdem
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besuchte ich, wann immer ich konnte, die Komische Oper und bewunderte Felsensteins berühmte Inszenierungen. Seine große Kunst war, die Musik scheinbar spontan aus dem Vorgang auf der Bühne hervorgehen zu lassen, was natürlich nur möglich war, weil er den Vorgang passgenau gemäß der Musik erfand und inszenierte. Diese Wechselwirkung hatte es mir neben der subtilen musikdramaturgischen Analyse der Werke besonders angetan. Dazu probte er ungewöhnlich lange. Auf die Frage eines Journalisten, ob es wahr sei, dass er immer neun Monate benötige, reagierte er geradezu empört, das sei eine Verleumdung, er käme durchaus auch mit sechs aus. Persönlich lernten wir uns erst zu einem Zeitpunkt kennen, als ich als frischgebackener junger Intendant des Mannheimer Nationaltheaters verkündete, dass die Oper an diesem traditionsreichen Haus künftig auf der Basis seiner Prinzipien und Arbeitsmethoden operieren würde. Das gefiel ihm offenbar sehr, denn er nahm von da an regen Anteil an meiner Arbeit und der des Theaters. Es gab einen regen Austausch, mein erster Falstaff sowie eine Reihe von Mozart-Aufführungen mit den Brüdern Rudolf und Reinhard Heinrich (Letzterer war bei ihm Kostümchef) wurden intensiv und zum Teil auch kontrovers diskutiert. Denn ich ging nicht in allem mit ihm überein. Seine Forderung, der Sänger müsse sich in einen Zustand bringen, in dem er nur noch singen könne, schien mir zu exaltiert, da doch Musik und Gesang zunächst nur eine Konvention, eine Übereinkunft über die zu verwendenden Ausdrucksmittel seien. Meine Vermutung, dass diese Theorie nur eine listig erdachte Arbeits hypothese sei, um Sängern das, was sie so gerne verweigern, nämlich den Zustand ihrer Figur, abzugewinnen, bestritt er
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heftig. Nein, er meine es völlig ernst. Ich hingegen meinte, der schauspielerische Vorgang der Erzeugung von Realität durch Phantasie sei auch als Grundlage für das Singen völlig ausreichend. Wann hat man schon Gelegenheit, mit einem großen Meister des Metiers solche Fragen zu erörtern? Was er mich und eine ganze Generation von Theaterleuten gelehrt hat, war, die Oper völlig ernst zu nehmen, ihr eine Realität zu unterlegen, die Musik aus dem Vorgang und den Vorgang aus der Musik zu begründen; kurzum, die Oper als großes dramatisches Genre zu begreifen und am Theater durchzusetzen. Darin kann er bis heute ein Vorbild sein. GIORGIO STREHLER Als Student sah ich Giorgio Strehlers weltberühmte Inszenierung von Goldonis Arlecchino Servitore de due Padroni bei einem Gastspiel in München. Am nächsten Tag kam er mit einigen seiner hinreißenden Schauspieler auch noch in unser Seminar an der Universität. Seither war ich ihm verfallen, eine Zeitlang so sehr, dass die Gefahr des Epigonentums in der eigenen Arbeit bestand. Ein Kritiker hat mich später einmal als »deutschen Protestanten mit der Sehnsucht nach dem Süden, die ihm kein Bühnenbildner stillen kann« beschrieben. Das war richtig beobachtet und gut formuliert. Bei Strehlers Aufführungen fand diese Sehnsucht ihre Erfüllung. Das Piccolo Teatro di Milano in der Via Rovello, ein ehemaliger Kinosaal unter Straßenniveau, wurde zum Wallfahrtsort. Alles, was ich mir vom Theater erträumte, fand dort seine Erfüllung. Inhalt und Form mit Können und Präzision, mit Eleganz und Leichtigkeit in der Ausführung zur Deckung gebracht. Alles
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folgte einem Rhythmus und spielte souverän auf fast musikalische Weise mit Spannung und Entspannung. Licht und Atmosphäre waren magisch, ohne doch ihre Realität zu verlieren. Wenn Wagner sich seiner »Kunst des Übergangs« in der Musik rühmte, so war Strehler ihm szenisch darin ebenbürtig. Das geschah im kleinen Raum einer winzigen Bühne ohne viel Breite oder Tiefe, ohne besondere technische Einrichtungen, sodass alles in menschlichen Dimensionen auf den Körper des Darstellers bezogen blieb. Vielleicht war es Strehlers Glück, dass sich sein jahrzehntelang gehegter Wunsch nach einem größeren, besser ausgestatteten Theater erst spät erfüllte. Im kleinen Reich des Piccolo Teatro waren seine Extravaganzen, seine oft launische Herrschaftsweise eines Barockfürsten ökonomisch verkraftbar und durch die herrlichen Ergebnisse gerechtfertigt. Wenn jemals das Sprichwort »In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister.« zutraf, dann – wenn auch unfreiwillig – hier. In der Oper mit ihren schwerfälligeren Apparaten tat er sich, trotz großartiger Inszenierungen, schwerer, wie er selbst betont hat. Von Haus aus hochmusikalisch, setzte er bei Sängern dasselbe Handwerk voraus wie bei sich und wurde ungeduldig und reizbar angesichts darstellerischer Unbeholfenheit. Das schlug dann leicht auf das Ergebnis durch. Wenn er im Schauspiel unüberbietbar war, so konnte man im Musiktheater versuchen, es mit ihm aufzunehmen. Unsere persönliche Beziehung war beschränkt auf wenige sachliche Begegnungen. In meiner Zeit am Schauspielhaus Zürich setzte ich mich dafür ein, dass das Piccolo Teatro oft zu Gastspielen mit Strehler-Inszenierungen zu uns kam. Später, während meiner Tätigkeit im Direktorium der Salzburger
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Festspiele, wurde mir hinterbracht, dass er mir übel nahm, ihn nicht wieder nach Salzburg zurückgeholt zu haben. Das hatte ich natürlich versucht, aber nach einer nicht fertig gewordenen und deshalb halb missglückten »Zauberflöte« mit Karajan als Dirigent war in dieser Hinsicht nichts zu machen. Was ich zutiefst bedauerte. In meiner Arbeit aber war und ist er bis heute präsent. Ich habe versucht, Felsensteins strengen Realismus mit Strehlers formaler Eleganz zu vereinen. Gemeinsam mit dem wunderbaren, zur Unzeit früh verstorbenen Bühnenbildner Mauro Pagano ist das öfters auch gelungen. FRIEDRICH DÜRRENMATT Ich lernte Friedrich Dürrenmatt bei den Proben zur Uraufführung seiner bitteren Komödie »Die Physiker« am Schauspielhaus Zürich kennen. Ich hatte in der Schweiz einige Stücke von Nestroy inszeniert, was Dürrenmatt zu gefallen schien, denn er betrachtete den Wiener Stückeschreiber immer als einen Geistesverwandten. Als ich für die Planung des Hauses verantwortlich wurde, gab es Arbeitssitzungen für die Aufführung weiterer Stücke von Dürrenmatt, gelegentlich in seinem Haus hoch über dem See von Neu châtel. Nach getaner Arbeit arteten sie manchmal in allerlei Blödeleien aus. Hier ist vielleicht anzufügen, dass Blödeln durchaus förderlich für eine künstlerische Zusammenarbeit sein kann. Es entspannt und ist meist ein Zeichen, dass man sich gut versteht. Fast bin ich geneigt, den vorausgegangenen Regeln noch eine weitere hinzuzufügen: »Blödeln hilft.« Bei Dürrenmatt und mir stellte sich dabei heraus, dass wir beide »Kursbuchlyriker« waren. Das sind Leute, die gerne Fahrpläne und Kursbücher lesen, um ihre Phantasie davon
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anregen zu lassen. Sie sind leider eine aussterbende Spezies, weil es kaum noch Kursbücher gibt. Dürrenmatt aber hatte eine ganze Kollektion im Haus, sodass wir beispielsweise bei edelstem Rotwein einen Wettbewerb um die schnellste Verbindung von Niederbipp – keine Dürrenmattsche Erfindung, den Ort gibt es tatsächlich samt Oberbipp im Kanton Bern –, von Niederbipp also nach Wladiwostok veranstalteten. Dürrenmatt gewann. Als ich ihn später als Intendant ans Mannheimer Nationaltheater einlud, sein Stück »Der Mitmacher« selbst zu inszenieren, was er mit Aplomb zur Freude aller Beteiligten und des Publikums tat, spielten sich ähnliche Szenen auch unter Beiziehung seines Freundes Gottfried von Einem in Mannheim ab. Ich hatte den Eindruck, dass Dürrenmatt sich dabei entlastete von seiner abgründigen Intelligenz, die er unter der Maske des behäbigen Schalksnarren zu verbergen suchte. Das Denken in dramatischen Konstellationen, in gegenläufigen Szenarien war ihm angeboren. Nur die Komödie könne dem Grauen der Welt beikommen, meinte er. Sein Theaterverstand, sein Sinn für das Absurde, für Pointen war phänomenal. »Bedeutung kann man nicht spielen, sie muss sich aus dem Vorgang ergeben.« Und: »Die Qualität eines Theaters hängt ab von der Höhe des Standpunkts, von dem aus die Welt betrachtet wird.« Das waren seine Maximen. Und immer wieder: Nicht das Schicksal sei zu fürchten, sondern der Zufall. Denn sein eigentliches Reich war das Dämonische. Dafür hat er mir die Augen geöffnet. Dass später einige meiner besten Arbeiten – u. a. Hoffmanns Erzählungen, Brittens The Turn of the Screw, Henzes We come to the River, Strindtbergs Totentanz – genau diesem Bereich entstammten, habe ich Dürrenmatt zu verdanken.
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Noch viele andere wären zu nennen, von denen ich gelernt habe. Etwa Jean Louis Barrault, der mir als Teenager in dem wieder und wieder angeschauten Film »Les Enfants du Paradis« in der Rolle des Pantomimen Baptiste unauslöschlichen Eindruck gemacht hatte. Einmal bin ich ihm während meiner amerikanischen Schulzeit sogar in New York persönlich begegnet. Oder die beiden bedeutenden Architekten Richard Neutra und Jörn Utzon, der Erbauer des Sydney Opera House, mit dem ich lange an einem Neubau-Projekt für das Zürcher Schauspielhaus arbeitete. Wäre es gebaut worden, hätte die Schweiz heute, ähnlich wie Australien, ein architektonisches Markenzeichen. Allen Genannten und Ungenannten bin ich zu Dank verpflichtet. Sozusagen als Katalysator zwischen den Generationen versuche ich, das, was ich von ihnen lernen konnte, weiterzugeben an die Jungen, die meine Hoffnung sind.
Anhang 1: Alle nützlichen Regeln im Überblick WAS IST OPER?
-- Oper: eine Begebenheit durch Musik darstellen. -- Begreife den Unterschied zwischen Musik und Musik zu einem Zweck. -- Definiere den Zweck der Musik. -- Werde »Musikdetektiv«. -- Kenne das Orchester. -- Gib dem Orchester den Grund für sein Spiel. -- Trainiere die Phantasie. HERZ
-- Triff mitten ins Herz! DIE SIEBEN W
-- Beginne mit den sechs W: Wer? Wo? Wann? Was? Wie? Warum? -- Definiere dann das 7. W: Wem? oder Wen? Den Adressaten. -- Lokalisiere den Adressaten.
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Anhang 1
-- Wechsle den Adressaten, wo erforderlich. -- Bei imaginierten Adressaten wähle einen Punkt zum Ansprechen. SINN UND SINNE
- Finde heraus: Was meint das Werk? -- Überlege: Was trägt deine Rolle dazu bei? - Sorge für Sinn. Im Einzelnen und im Kontext des Ganzen. - Sinn schlägt Effekt. KÖRPER IM RAUM
-- Der Körper im Raum ist bereits Teil der Handlung. -- Entwickle ein Raumgefühl im Verhältnis zu den Mitspielern. -- Das Gleiche ist langweilig. Sei ungleich. -- Der Singende steht hinten, der Zuhörende vorne. -- Positioniere dich im Goldenen Schnitt, nicht in der Mitte. -- Ein König kann sich nicht selbst spielen. Seine Umgebung spielt ihn. -- Stehe angewinkelt zur Rampe, nicht in der »Pfannkuchen-Stellung«. -- Halte die Beziehung zum Partner. Vermeide »The Tenor’s Turn«. -- Suche die Position zwischen zwei Feuern. Sie ist dramatisch ergiebig. -- Die Führungsstimme im Ensemble nach Möglichkeit links. -- Lass Luft um dich. Gegenstände können sonst zum Konkurrenten werden. -- Vertritt deinen Standpunkt. Wackle dabei nicht herum.
Alle nützlichen Regeln im Überblick
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-- Binde Gänge an ein Ziel und einen Zweck. -- Gewalt und Folter wirken am lebendigen Körper im Raum der Bühne stärker als im zweidimensionalen Bild. -- Fülle den Raum mit Atem. Hustet das Publikum, hast du zu wenig Atem. -- Betrachte Sätze und musikalische Phrasen als Brückenbogen. Erreiche das andere Ufer. -- Beherrsche das Spiel von Spannung und Entspannung. BEWEGUNG
-- Ohne Körper keine Seele. -- Der Körperausdruck geht durch den Atemauftakt Sprache und Musik voraus. -- Bewegungen gehen von der Mitte, vom Solarplexus, aus. -- Gefühle steigen vom Solarplexus zum Bewusstsein auf. -- »Act from your guts«. -- Bewegungen von Tieren beobachten und davon lernen. -- Trainiere den Körper ebenso wie die Stimme als musikalisches Instrument. -- Die Abfolge beim Üben: schwer – normal – leicht – schön (Stanislawski). -- Gesten plastisch und lesbar, sonst sind sie nutzlos. -- Eine klare, sauber ausgeführte Geste ist besser als fünf hastige kleine. -- Gesten eigenen »Baby Text« unterlegen, um sie deutlich und lesbar zu machen. -- Gesten auf den Punkt der Aufmerksamkeit, den »focal point«, beziehen. -- Fummeln ist der Tod des Theaters und der Musik. -- Das Auge folgt spontan der Bewegung.
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Anhang 1
-- Definieren, wann eine Aufspaltung von Musik- und Körperausdruck stattfindet. -- Der Körper kann zu einer Zeit nur eine Sache machen, die Musik viele. -- Körper und Atem können rasch zwischen verschiedenen Haltungen oszillieren. -- Bei Ensembles in den Bewegungen musikalisch aufeinander bezogen bleiben. -- Bei Aktionen und Bewegungen gegen die Musik sich kontrapunktisch verhalten. -- Bewegungen beginnen mit einem gegenläufigen Auftakt. -- Den Bewegungsrhythmus finden wie Artisten unter der Zirkuskuppel. -- Tätigkeiten an die Musik binden. Tätigkeitsabschnitte an einzelne Phrasen. -- Nicht vorbeugen. Nur als Diener oder bei Kontrollverlust. -- »Épauler« – Haltung bewahren. -- Glück fliegt – Unglück drückt nieder. -- Ein Schrei geht nach oben – »Aufschrei«. -- Insistieren. Nicht zu früh aufgeben. -- Duelle gehen durch die Augen. -- Keine Angst vor Pathos. Aber das Gefühl muss größer sein als die Geste. -- Großes Gefühl verlangt großen Atem. -- Das Ziel: eine Bewegungspartitur zur Musikpartitur. LE PHYSIQUE DU RÔLE
-- »Le physique du rôle« ist ein entscheidendes Kriterium. -- Den körperlichen Gestus verschiedener Sprachen studieren und benutzen.
Alle nützlichen Regeln im Überblick
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-- Gib einer Figur ihren sozialen Gestus. -- Gute Comics studieren. -- Nur was Atem und einen Auftakt hat, gehört ins Musiktheater. UNBEQUEM UND HINDERLICH
-- Das Bequeme ist Feind des Ausdrucks. Unbequem ist ausdrucksvoller. -- Baue Hindernisse in die Darstellung ein. Sie erhöhen Spannung und Interesse. -- Benütze Requisiten als Hindernisse. -- Entwickle Slapstick-Nummern (wo angebracht) aus Hindernissen. BANKRÄUBER
-- Verschwörer verhalten sich gespannt-unauffällig. -- Beim Vorbereiten der Untat wenige, langsame Bewegungen bei angehaltenem Atem. -- Pannen erhöhen die Spannung. -- Im Versteck die Spannung des Lauschens und die Gefahr der Entdeckung spielen, sonst glaubt der Zuschauer das Verstecktsein nicht. -- »Apart«-Sprechen hinter der »Wand« der eigenen Schulter oder/und mit einer Tätigkeit kombiniert. »BETEUERUNGSTHEATER«
-- Beteuere nicht, dass du etwas tust oder fühlst, tue oder fühle es einfach. -- Verschmelze Ausdruck und Technik zur Einheit von Körper und Stimme.
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Anhang 1
-- Druck nicht mit Intensität verwechseln. -- Phantasie ist besser als Hysterie, um sich emotional hochzusteigern. -- Auf dem Atem singen, nicht auf den Stimmbändern. DER »TRIZOPHRENE« AUFTAKT
-- Sei der Musik voraus und »schalte« rechtzeitig. -- Der Musik hinterherlaufen ist unfreiwillig komisch. -- »Und …!«, lautet die Zauberformel für den Auftakt. Musikalisch und szenisch. -- Stelle fest, was gilt: »Nicht telefonieren!« oder »Die Stärke der Ohrfeige liegt im Ausholen.« -- Trainiere Karajans »Trizophrenie«. Gleichzeitig Ansatz, Kontrolle, Vorbereitung. EIN PERFEKTER MUSIKDARSTELLER
-- »Masticare le parole« – den Text kauen, bis er völlig verständlich wird. -- Den Text mit einem Korken zwischen den Zähnen sprechen. -- Suche die zwei für das Verständnis eines Satzes wichtigsten Worte und bringe sie über die Rampe zum Zuhörer. -- Wie du die Füße setzt, ist die Rolle. MOZART
-- Bei Mozart in die Schule gehen. Was man bei Mozart lernt, ist überall anwendbar. -- »Mozart is a brain problem«. Trainiere bei Mozart die »Schaltgeschwindigkeit«. -- Lerne das »Mikromanagement« der Musik.
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-- Reaktion, Reaktion, Reaktion! Spiele Pingpong! Mit Partnern, Orchester und Publikum. -- Kläre: Wie rollt im Ensemble der Ball musikalisch von Darsteller zu Darsteller? -- Stelle fest: Wo liegt der emotionale Höhepunkt einer Arie? Gestalte sie entsprechend. -- Definiere die soziale Stellung einer Figur. -- Diener und Untergebene arbeiten. -- Spiele jede Figur so gescheit wie möglich. -- Halte das Publikum für gescheit. -- Achte auf die »Physiologie« in Mozarts Musik und übernimm sie. -- Wähle die dramatisch ergiebigste Version bei der Darstellung einer Rolle. -- Sei gerecht, zeige alle Seiten einer Figur und lass das Publikum ein Urteil fällen. -- Spiele das Gegenteil mit. Zeige, dass eine Szene auch anders ausgehen könnte. -- Wo die Musik keine Stellung bezieht, lasse ihr das Geheimnis. REZITATIV
-- Das (Secco-)Rezitativ ist wichtig und verlangt sorgfältige Ausarbeitung. -- Das Rezitativ muss unbedingt verstanden werden. »Parlare intonato!« -- Finde und spiele den Anlass von Text und Musik. -- Die Abfolge: Denken – Atmen – Sprechen oder Singen gilt immer. -- Habe eine räumliche Vorstellung: Wo sind Menschen/ Dinge, von denen die Rede ist.
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Anhang 1
-- Erforsche und entwickle die Biografie einer Figur. -- Definiere: Was passiert »hinter der Bühne« zwischen den einzelnen Auftritten. -- Zuhören ist die halbe Miete. -- Benütze die »He? und Was?«-Technik. -- Übe den »Double Take«. -- Binde das Rezitativ an eine Tätigkeit. Verwende Requisiten. -- Tätigkeit führt den Darsteller zur Wahrheit einer Figur. -- Wende die Technik des Unterbrechens an. -- Lass Pointen wie einen Apfel vom Baum fallen. -- Zerlaufe und verzapple Pointen nicht. -- Schiele nicht nach dem Lacher. -- Mache ausgiebig Gebrauch von der Freiheit des Rezitativs, zu dehnen, zu beschleunigen, zu färben, zu illustrieren, zu rhythmisieren, zu imitieren oder zu pausieren. Entwickle Phantasie als Rezitativ-Komponist. -- Lerne den Unterschied zwischen Pause und Loch. Spiele mit den Pausen. -- Bei Schwierigkeiten mit dem Text den Heimatdialekt zu Hilfe nehmen. -- Bei Ansprachen ans Publikum spiele »Katz und Maus« mit den Zuhörern. -- Lege großen Wert auf den Übergang vom Rezitativ zur Arie. Lass kein Loch entstehen. KOMIK
-- Komödie ist schwieriger als Tragödie. -- Spiele Komödie ernsthaft. -- Spiele die Möglichkeit der Tragödie mit.
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-- Opfere nie die Wahrheit einer Figur dem Lacher. -- Lass Lacher für sich selber sorgen. -- Nie eine Figur denunzieren. -- Mit Gegensätzen spielen: z. B. groß – klein, langsam – schnell, pathetisch – banal. -- Kein »Hoppla-da-Vega«-Theater »ZU VIELE NOTEN…«
-- Stelle fest: Was sagt die Musik, was die Darstellung? -- Wann muss man etwas zeigen? Wann überlässt man das Feld der Musik? -- Wann ist der Darsteller Sklave des Orchesters? Wann muss die Musik der Darstellung dienen? -- Was kann man weglassen, weil das Publikum es ohnehin weiß? DRAMATURGIE
-- Die Grundfrage: Was soll gesagt werden und wie, damit es verstanden wird? -- Als »Musikdetektiv« arbeiten. -- Voraussetzung: genaueste Kenntnis von Text und Partitur. -- Hilfsmittel: alles, was zum Verständnis des Werks beiträgt. -- Zeitgenössisch lesen, werkgerecht interpretieren. -- Für das Publikum spielen. Nicht für Insider, Kritik oder Medien. -- Grundlage des Verständnisses: Wer will was von wem und warum? -- Bei Adaptionen ehrlich etikettieren. -- »Modern« wird im Zuschauerraum entschieden.
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Anhang 1
-- Keine Behauptungen über Gegenstände, von denen man nichts weiß. Man kann darüber aber etwas lernen. »Um etwas zu wissen, müssen wir studieren.« (Brecht, Herr Keuner) -- Wenn die Fabel grundsätzlich geändert wird, muss auch die Musik als Ausdrucksträger geändert werden. Beide bedingen einander. -- Klare Darstellung der Struktur steigert die emotionale Wirkung der Musik. -- Definition: Gut – schlecht, richtig – falsch, interessant – langweilig, wahr – gelogen? -- Fallhöhe herstellen, Kontraste betonen. -- Helden können eigentlich gar nicht, was sie dann doch tun. Sie sind schwach und müssen ihre Furcht überwinden. -- Wahrhaftigkeit und Deutlichkeit zuerst. Stil und Ästhetik als Ergebnis. -- Herausfinden, wo dem Komponisten und seinem Werk geholfen werden kann, und sich dann auch trauen. -- Dramaturgisches Denken üben. Das braucht Zeit und Geduld. -- Das Werk ist der Star. Alle anderen sind Diener. REGELBRUCH
-- Mache dir ein genaues Bild von allem, was du auf der Bühne tust, sagst oder sonst wie ausdrückst. -- Die Vorstellung muss funktionieren wie Kino im Kopf. -- Erst Können – dann Meinung! -- Gut gemeint ist das Gegenteil von Kunst. -- Spiele mit der Konvention.
Alle nützlichen Regeln im Überblick
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-- Kenne und benutze Regeln, dann stelle sie in Frage. -- Brich Regeln, wenn nötig, aber aus einem Grund. -- Interessant, neuartig, avantgardistisch, revolutionär, radikal und dergleichen sind keine Gründe. Sie können sich allenfalls aus einem guten Grund ergeben. -- Tradition ist Fortschritt in nachhaltiger Form. Verbinde sie mit Neuem. -- Entwickle ein Gefühl für Größe. Es schützt vor Dummheit. HARMONIE DER SPHÄREN
-- Lass dich von der Unzulänglichkeit des Betriebs nicht entmutigen, du bist in bester Gesellschaft. -- Gib dein Bestes, auch wenn das Ergebnis nur annäherungsweise dem Anspruch der Werke gerecht werden kann. -- Die Oper kann mehr als andere Künste, sie hat Zukunft.
Anhang 2: Masterclass für Opern-Liebhaber und -Verächter
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s ist im Allgemeinen in der Literatur nicht üblich, den Inhalt eines Buches am Ende noch einmal zu wieder-
holen. Hier wird der Inhalt des Buches jedoch als Theatertext dargeboten, als »Opernschule« für das Publikum, die ihre Wirkung erst auf der Bühne entfaltet. Ich habe diese Vorstellung in vielen Ländern und manchen Sprachen gegeben. Überall war die Reaktion gleich: Ein vor Freude außer Rand und Band geratenes Publikum, das die Oper liebt, aber wenig begreift und sie gerne besser verstehen würde. Hier kann man auch ansetzen, um aus Opern-Verächtern Opern-Liebhaber zu machen. Der Zweck dieses literarischen Verstoßes ist demnach, möglichst viele Theater zu veranlassen, diesen Text aufzuführen und außerdem Opern-Liebhaber und -Verächter zu animieren, sich eine gute Aufnahme von Figaros Hoch zeit anzuhören und sich den Text anhand der angegebenen Musiknummern samt einer Flasche guten Rotweins zu Gemüte zu führen.
Masterclass für Opern-Liebhaber und -Verächter
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Einleitung : »Figaro«-Ouvertüre
Hampe (stürzt herein, unterbricht): Halt … halt, bitte … Stop!!! Ich bin völlig außer Atem. Warum? Weil wir uns im Tollen Tag befinden, La folle Journee, Le Mariage de Figaro, in Figaros Hochzeit. Da purzeln die Ereignisse übereinander, dass man kaum nachkommt. Nun heißt ja Oper, wie Sie sicher schon einmal gehört haben, eine Geschichte durch Musik zu erzählen – nein, nicht zu erzählen, darzustellen. »Favola per Musica« oder »Dramma per Musica« hieß die neue Kunstform bei ihrer Geburt in Florenz vor 400 Jahren. Lassen Sie uns deshalb zuerst einmal sehen, wie Mozart den »Tollen Tag« durch Musik darstellt, gleich am Anfang der Ouvertüre. Dazu brauche ich Ihre Hilfe: Sie müssen die Takte zählen – keine Angst, es werden nicht mehr als zehn, und Sie können die Finger zu Hilfe nehmen. Sie schaffen das! Also los! (Musik) Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht … Stop! Sehen Sie: Acht Takte, man nennt das eine regelmäßige achttaktige Periode, jeder ordentliche Komponist macht das so, sehr schnell, presto, man kommt, wie gesagt, kaum nach … Ja bitte, ist etwas falsch? War etwas nicht in Ordnung? Ist jemandem etwas aufgefallen? Das Orchester (der Pianist) hat Sie betrogen! Der erste Takt – didldildim (Musik) wurde zweimal gespielt. Nun müssen wir noch einmal zählen. Finger hoch! (zu den Musikern) Und diesmal bitte richtig! Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben … Hoppla! Wo man den achten Takt der regelmäßigen Periode erwartet, ist Mozart schon im ersten Takt der nächsten. Sehen Sie – deshalb bin ich außer Atem. Nachdem Sie nun schon eine erste Idee bekommen haben, wie man einen Vorgang durch Musik ausdrückt, kön-
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nen wir mit unserer Oper gleich weitermachen. Nein! Können wir nicht. Im Konzert – ja. In der Oper – nein. Warum? Weil im Konzert Musik gespielt wird, in der Oper aber … Musik zu einem Zweck. Wo liegt der Unterschied? Sehr einfach: BABABA BAA (Musik) in Beethovens 5. Sinfonie drückt aus und bedeutet: BABABA BAA. (Musik) Das ist absolute Musik von größter Gefühlsintensität, aber eben abstrakt. Es ist das musikalische Material, aus dem Beet hoven den grandiosen ersten Satz seiner Sinfonie baut. »Zu Hilfe, zu Hilfe, sonst bin ich verloren, der listigen Schlange zum Opfer erkoren« (Musik), die hastende, jagende, pulsierende Einleitung der »Zauberflöte« mit dem schlangenartig sich aufbäumenden Bass ist etwas ganz anderes. Hier drückt die Musik sehr konkrete Dinge aus, nämlich: die spezifische Panik des bestimmten Tamino in der einmaligen Situation und dem speziellen Zustand. Die Musik, die abstrakteste der Künste, wird mit der dramatischen Kunst verheiratet, um etwas höchst Konkretes auszudrücken. Sie wird gebraucht zu Zwecken. Puristen könnten sogar sagen: missbraucht. Deshalb können wir in der Oper nicht einfach weitermachen, sondern müssen zuerst den Zweck der Musik feststellen. Dazu bitte ich die beiden Darsteller des Figaro und der Susanna zu mir (beide kommen) und frage sie: Wer seid ihr? (das Folgende im Dialog)
- Ein Diener des Herrn Grafen. - Die Zofe der Frau Gräfin. Aha, also beide gehören zum Dienstpersonal des Schlosses. Und wo seid ihr? - In einem unbenutzten Durchgangszimmer. - Rechts geht es zu den Gemächern der Gräfin.
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- Und links zu denen des Grafen. Und wann trefft ihr euch hier? - Am frühen Morgen … - … bevor der tägliche Dienst beginnt. Und was tut ihr? - Ich richte das leere Zimmer ein. - Ich komme zufällig dazu und weiß nicht, was er hier treibt, bis er es mir erklärt. Und wie tut ihrs? - Ich baue ein prächtiges Bett auf, das der Herr Graf uns schenkt, und messe aus, wo es am besten stehen soll. - Ich zeige ihm meinen Brautschleier, an dem ich die halbe Nacht genäht habe. Und warum das alles? - (beide) Weil heute unsere Hochzeit ist. So, nun wissen wir schon einiges über die beiden, das die Musik ausdrücken soll. Wir haben es herausbekommen nach der empfehlenswerten Methode der sieben W-Fragen: Wer, wo, wann, was, wie, warum. Wer bin ich? Wo bin ich? Wann bin ich? Was tue oder will ich? Wie tue oder will ichs? Und vor allem: Warum tue oder will ichs? Und dann noch das siebte W: Wem sage ich das? Das beschreibt zwar noch nicht die ganze darzustellende Person und die dazugehörige Musik, aber es ist immerhin eine Art Steckbrief, wie bei der Polizei, wenn ein unbekannter Verbrecher gesucht wird. Mit dieser Information können wir nun endlich anfangen. (folgt Duett 1, Rezitativ, Duett 2 aus »Figaros Hochzeit«)
Sie haben sicher bemerkt, was die Musik hier alles ausdrückt, wie sie z. B. gleich zu Beginn Mann und Frau darstellt, das etwas sture, trockene Thema des Figaro (Musik), wie
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Männer halt so sind, wenn sie sich auf die Arbeit konzentrieren, und als Gegensatz dazu das weiche, weibliche Thema der Oboe (Musik) beim Auftritt der Susanna. Oder jetzt am Ende, wie die gute Laune des Anfangs sozusagen versickert angesichts der Probleme mit dem Grafen. Das alles, und viel mehr, sagt uns die Musik. Der große Geiger Isaac Stern erzählte wie er in jungen Jahren von dem weltberühmten russischen Bass Fjodor Schaljapin für eine Tournee engagiert wurde. Was tut ein junger Geiger bei der Tournee eines Bassisten? Nun, Schalja pin wollte nicht mehr so viel singen und hatte sich deshalb ausgedacht, dass der junge Mann zwischen den Arien einige Virtuosen-Stückchen als Zeitfüller zum Besten geben könne. Das ging auch recht gut, man tourte durch halb Russland und Schaljapin kümmerte sich nicht weiter um das, was sein junger Gefährte trieb. Eines Abends aber hörte er doch einmal zu, kam anschließend auf die Bühne und dröhnte: »Junger Freund, du singst schön, aber du sagst nichts.« Was also sagt die Musik? Wie findet man das heraus? Dazu müssen alle Beteiligten – Sänger, Regisseure, auch Dirigenten – »Musikdetektive« werden. Was tut ein Musikdetektiv? Genau dasselbe wie ein Polizeidetektiv. (Hampe spielt vor.) Der entdeckt einen Toten, offensichtlich durch ein Messer umgebracht. Das Messer aber ist nicht mehr vorhanden. Dann aber findet er am Boden einen Blutstropfen, und noch einen und einen dritten in Richtung Ausgang. Aus diesen Indizien schließt er, dass der Mörder das bluttriefende Messer zur Tür hinausgetragen hat. Das heißt, er trifft aufgrund von Indizien Rückschlüsse auf den ganzen Vorgang, der sich hier abgespielt hat. Nichts anderes tut der Musikdetektiv. (Musik: kurze Beispiele) Hier ein Instrumentationswechsel,
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die Klarinette setzt ein, da eine harmonische Modulation oder eine dynamische Veränderung, dann ein Tempowechsel. Dies sind sozusagen die Blutstropfen des Musikdetektivs. Aus ihnen schließt er in einer gegebenen Situation auf den gesamten Vorgang, den der Komponist sich vorstellte, als er die Partitur schrieb, und den der Interpret nun gemäß der Partitur verkörpern soll. In diesem Zusammenhang stellt sich noch eine weitere Frage: Was ist das Orchester? Als Antwort höre ich undeutliches Gemurmel. Das Orchester sei eben da und spiele. Ja, das tut es ohne Frage. Aber was ist es? Meine an die Sänger gerichtete Antwort: Das Orchester – bist du! Es drückt aus, was in einer Person auf der Bühne vorgeht, den Charakter, die Situation, den Zustand, Aktion und Reaktion und viele andere Dinge. Das Orchester – bist du. Deshalb hast du, Sänger oder Sängerin, das Orchester zu kennen und zu wissen, was in ihm vorgeht. Natürlich ist das Orchester auch noch viel mehr. Es kann Kommentar sein, Atmosphäre schaffen, kann durch Leitmotive Beziehungen und Bedeutung herstellen. Dennoch ist die erste und wichtigste Funktion des Orchesters, die handelnden Personen darzustellen, was umgekehrt bedeutet, dass diese das Orchester zu kennen und sich nach ihm zu richten haben. Das alles lässt sich sehr schön an dem folgenden Duett zwischen Susanna und Marcellina beobachten: Zwei Frauen, die einander hassen, überschütten einander mit vergifteten Komplimenten. (folgt Duett Susanna – Marcellina aus »Figaros Hochzeit«)
Das Orchester drückt also aus, was im Sänger vorgeht. Wenn Sie aber genau hinsehen, drehen die Sänger den Spieß
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um und erzeugen scheinbar den Gesang, und das Orchester reagiert darauf. So soll es auch sein. Für Sie als Zuschauer soll es so aussehen. Der Sänger muss sozusagen dem Orchester den Grund liefern, so oder so zu klingen. Erst muss er sich aufregen, bevor das Orchester aufgeregt spielen kann. Tut er das nicht oder zu spät, hat das Orchester doch gar keinen Grund zur Aufregung. Der Sänger muss also der Musik immer etwas voraus sein. Das ist im Übrigen auch im banalen Leben so. Bevor Sie mir etwas sagen, müssen Sie zwei Dinge tun, nämlich – denken und atmen. Sonst können Sie mir schlichtweg nichts mitteilen. Nur wenn es dem Sänger gelingt, Gesang und Orchesterbegleitung scheinbar aus dem Moment heraus zu erzeugen, sagen Sie: »Der ist gut, dem glaubt man!«, obwohl Sie doch alle wissen, dass Mozart die Musik vor über 200 Jahren geschrieben hat. Und was bewirkt, dass Sie ihm glauben? Was lässt Sie mit dem Darsteller mitfühlen, mitweinen oder mitlachen? Man sagt immer, es sei des Sängers Stimme. Genau genommen ist es aber der Klang der Stimme. Wenn ein Geiger ein Konzert spielt, sind Sie ja nicht in erster Linie an der Geige interessiert, sondern an dem Klang, den der Spieler erzeugt. So ist es auch in der Oper. Die Stimme ist das Instrument. Erst der Klang der Stimme ist es, der Sie berührt und Ihr Interesse an der Person und den Vorgängen auf der Bühne weckt. Was aber ist der Klang einer Stimme? Hier meine knappe Formel: Luft + Idee = Klang. Der Sänger entlässt Luft aus seinem Körper, die durch die Stimmbänder zum Ton wird. Und dieser Ton trifft nun auf die »Idee«, auf die Vorstellung nämlich, ob jemand traurig oder fröhlich, aggressiv oder verliebt ist. Eine traurige Stimme klingt ganz anders als eine fröhliche, und Sie alle hören sofort, ob jemand verliebt oder aggressiv
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ist. Es ist der zum Ton gewordene Atem, der sich mit einer Vorstellung verbindet und so den Stimmklang erzeugt. Achten Sie einmal darauf in dem folgenden Terzett. (folgt Terzett aus dem 1. Akt »Figaros Hochzeit«)
Die Vorstellung also erzeugt den Klang. Und damit sind wir am Kernpunkt allen Theaters: der Phantasie. Der Phantasie der Dichter und Komponisten, der Interpreten und nicht zuletzt des Publikums, Ihrer eigenen Phantasie. Eine trainierte Phantasie – jawohl, man kann sie trainieren wie den Bizeps –, eine trainierte Phantasie wird alles sofort in Vorstellung umsetzen, in eine Realität unter dem Gesetz des »Magic If« – des »wenn es so wäre«. Jedes Kind schafft sich seine eigene Realität aus Phantasie. Ein Stück Holz wird zum Raumschiff, mit dem es durch das Weltall navigiert, im nächsten Moment wird das Raumschiff zum Flammenschwert,weil der junge Krieger Star-Wars nachspielt, und schon verwandelt sich das Stück Holz erneut in ein Schiff, mit dem der kindliche Pirat durch die Karibik segelt. Der Ruf der Mutter verhallt ungehört, weil das Kind völlig in seiner aus Phantasie erschaffenen Realität lebt. Diese Phantasie ist die Grundbedingung aller darstellenden Künste, bei uns hier auf der Bühne ebenso wie bei Ihnen unten im Zuschauerraum. Phantasie also steuert über den Atem den Klang der Stimme. Manche Naturvölker hatten für Atem und Seele nur ein Wort. Durchaus plausibel. Denn ohne Atem keine Seele, und »entseelt« bedeutet auch, keinen Atem mehr zu haben. Das Transportmittel für die Seele – denn sie ist es, die letztlich vom Darsteller aufs Publikum übertragen wird – das Transportmittel ist der Atem, der Körper und Stimme gleichermaßen steuert.
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Wobei zu sagen ist: Der Körper ist das erste Instrument. Er war Millionen Jahre früher vorhanden, als es noch keine Stimme gab. Der Ichtyosaurus konnte sich unmissverständlich durch seinen Körper ausdrücken. »Verschwinde, oder ich fressʼ dich«. Erst viel später kam die Stimme hinzu. Und nun gehören sie zusammen. Für die Oper bedeutet das: die vom Atem – man könnte auch sagen von der Seele – gesteuerte Einheit von Stimmklang und Körperausdruck mit dem Ziel: Verkörperung von Musik. Schauen und hören Sie sich das in der folgenden Arie des Figaro an, der ein sehr komplexes Beziehungsgeflecht zugrunde liegt. (folgt Arie des Figaro »Non piu andrai …« am Ende des 1. Aktes »Figaros Hochzeit«)
Nun haben Sie schon einige Grundelemente der Oper kennengelernt: Oper heißt eine Geschichte durch Musik darstellen, Opernmusik ist nicht nur Musik, sondern Musik zu einem Zweck; um den Zweck herauszufinden, muss man »Musikdetektiv« werden. Sie haben die Anwendung der sieben W-Fragen kennengelernt und darüber nachgedacht, was das Orchester ist und wie Klang entsteht und etwas über die allumfassende Rolle der Phantasie gehört. Sie sind ja schon fast Experten! Fast – aber noch nicht ganz! Denn Kenntnisse sind noch keine Kunst. Die muss man erst machen. Und dazu braucht man Technik und Regeln. Die aber sind in der Oper weitgehend unbekannt. Zum Beispiel: Jeder Ausdruck, ob bei Mensch oder Tier, hat einen Adressaten. Menschen sprechen miteinander oder mit sich selbst oder mit Gott oder mit der Vorstellung von jemand oder etwas. Jedes Gebet richtet sich an ein höheres Wesen, jeder Kampf kennt einen Gegner (alles vorspielen mit Musik): Hamlet diskutiert »to
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be or not to be« mit sich selbst. Händels Xerxes singt das berühmte Friedhofs-Largo, das eigentlich ein Larghetto und eine Arie ist, an seinen geliebten Baum. Bei abstrakten oder vorgestellten Adressaten empfiehlt es sich, eines der grünen Notausgangslichter dort oben im 2. Rang höchstpersönlich anzusprechen: »Komm, Hoffnung, lass den letzten Stern der Müden nicht erbleichen« – grünes Licht (Leonore, Fide lio). Figaros »Se vuol ballare il signor contino« – nein, kein grünes Licht, sondern zur Tür, die zu den Gemächern des Herrn Grafen führt. Der Hund, der Sie anknurrt, will Ihnen mitteilen, dass er Sie beißt, wenn Sie nicht verschwinden, das Krokodil führt diese Diskussion erst gar nicht, sondern verschlingt den Adressaten kurzerhand. Nochmals: Es gibt keinen Ausdruck ohne Adressaten. Von dieser universalen Regel gibt es nur eine einzige traurige Ausnahme: schlechte Oper. Überzeugen Sie sich selbst beim nächsten Opernbesuch. Oder beobachten Sie bei der nun folgenden Arie des Cherubino, wie aus einer allgemeinen Adresse, den Frauen nämlich, eine spezifische wird, und sich unter der Maske eines Gedicht-Vortrags eine Liebesgeschichte entspinnt. (folgt Arie des Cherubin »Voi che sapete« aus dem 2. Akt »Figaros Hochzeit«)
Figaros Hochzeit ist ein Türenstück. Verschlossene Türen sind ein Hindernis. Hindernisse sind gut, an ihnen entzündet sich der Ausdruck. Menschen wollen im Allgemeinen ihr Inneres nicht zeigen und versuchen, es zu verbergen. Ein Hindernis aber lässt es deutlich hervortreten und wahrnehmbar werden. (das Folgende vorspielen) Wenn ich zur Tür hinausschaue und mich seitwärts neige, weil der Tür-
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pfosten sonst meine Sicht behindert, so wird mein Ausdruck stärker und der Gegenstand, den ich draußen sehen will, interessanter. Das Hindernis – der Türpfosten – lässt mich ausdrucksvoller werden. Nun will ich zur Tür hinaus, und ein Stuhl steht im Weg. Verzweifelt sinke ich darauf nieder, weil ich gerade eine Million verloren habe. Oder ich trete ihn wütend in die Ecke, voller Zorn über den Betrüger, der mich um die Million gebracht hat. Doch weil das Ganze sich als Irrtum herausstellt, und ich die Million in Wahrheit gewonnen habe, springe ich vor Freude über den Stuhl. Jedes Mal ist der Stuhl – das Hindernis auf meinem Weg – der Anlass für einen starken Ausdruck, den ich sonst vielleicht gar nicht hervorgebracht hätte. Mit dieser Technik, Hindernisse in die Darstellung einzubauen, ist folgende Regel nah verwandt: »Das Bequeme ist der Feind des Ausdrucks«. Was sagt er da, denken Sie nun, Sänger sollen doch mit der nötigen Bequemlichkeit schön singen. Das sollen sie in der Tat. Die Unbequemlichkeit darf nicht so weit gehen, dass das Zwerchfell eingeklemmt ist, sodass der Sänger beim Singen behindert wird. Was gemeint ist, kann ich am besten mit Hilfe von Rembrandt zeigen. Für sein Bild, »Joseph erzählt Jakob seinen Traum« fertigte er mehrere Skizzen an. (alles vorspielen) Die erste zeigt Jakob bequem sitzend, den kleinen Benjamin zwischen den Knien und Joseph zuhörend, der direkt vor ihm steht und seinen Traum erzählt. Schön und gut, aber Rembrandt war nicht zufrieden, es fehlte die Spannung. Die zweite Skizze zeigt Jakob wieder sitzend mit Benjamin zwischen den Knien, aber Joseph steht nun an der Seite, sodass Jakob sich von Benjamin ab- und Joseph zuwenden muss. Unbequemer, aber offensichtlich spannender. Rembrandt aber hat das immer
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noch nicht genügt. In der dritten Skizze hat er den kleinen Benjamin auf die andere Seite gestellt, sodass Jakob sich nun geradezu verschrauben muss, um Joseph zuzuhören. Jakob wird dadurch sehr ausdrucksvoll, und das, was Joseph mitzuteilen hat, höchst interessant, denn eine solche Unbequemlichkeit nimmt man ja nicht in Kauf, wenn das Vorgebrachte nicht von großer Wichtigkeit ist. In der nun folgenden Szene aus dem 2. Akt von Figaros Hochzeit ist die verschlossene Tür das Hindernis, an dem sich der Ausdruck entzündet und zu einem fulminanten Ehekrach führt. (folgt Terzett »Susanna or via sortite« und Duettino »Aprite, presto aprite« aus dem 2. Akt »Figaros Hochzeit«)
Ganz nebenbei, wie genau Mozart die Musik auch für die praktischen Bedürfnisse der Aufführung komponiert hat, konnten Sie an dem zuletzt gehörten kleinen Duettino feststellen. Danach kann man ziemlich genau die Maße der Bühne des Uraufführungs-Theaters abschätzen. Wie das? Nun, ganz einfach: Hier ist das Fenster, hinter dessen Vorhängen Susanna sich versteckt hatte, und hier auf der anderen Seite die verschlossene Kabinett-Tür. Wenn das Vorspiel im richtigen Tempo gespielt wird, kommt Susanna gerade noch rechtzeitig zu ihrem Gesangseinsatz an die Tür. Mehr als 12 Meter sind da nicht drin.Bei der Uraufführung waren es genau 11,50 Meter. Und wie in diesem Beispiel geht bei Mozart überhaupt alles ganz schnell im Hirn. Das Spiel von Aktion und Reaktion, von blitzschnellen Ausdruckswechseln in der Musik, ist für die Sänger oft kaum nachvollziehbar. Bei Mozart heißt es: »Opera is a brain problem.« Das »Voraussein« vor der Musik,
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die innere Vorbereitung auf die nächste Gesangsphrase, auf den nächsten Musikwechsel sind bei ihm besonders schwer. In dieser Hinsicht waren die Sänger bei dem großen Dirigenten Herbert von Karajan geradezu in Abrahams Schoß, weil er immer rechtzeitig signalisierte, was als Nächstes kommt. Ich wollte bei unseren gemeinsamen Proben herausfinden, wie er das macht, und fragte ihn schließlich. »Weiß ich nicht«, brummelte er, »ich mache morgens mein Yoga.« Ich ließ nicht locker: »Sie dirigieren eine Sache, sind aber gleichzeitig schon bei der nächsten. Das ist doch fast schizophren.« »Nein, trizophren.« (Das ist zwar kein Wort, aber er benutzte es.) »Trizophren! Ich gebe den Einsatz und muss sofort das zu laute Horn dämpfen, während ich schon im Voraus den nächsten Tempowechsel vorbereite. Man könnte sagen: Der Einsatz ist die Gegenwart, das Horn schon Vergangenheit und der Tempowechsel die Zukunft.« Auf diesen drei Ebenen muss in der Tat jeder Musiker und besonders der Opernsänger operieren. Das lernt sich nicht von heute auf morgen, sondern erfordert viel Übung. Durch Karajans »Trizophrenie« entsteht bei Mozart das dichte Geflecht der Reaktionen und vor allem das, was ich den »Lebensfluss« einer Opernaufführung nenne. Im nun folgenden Finale des 2. Aktes lässt sich das alles wunderbar erfahren. (folgt Finale 2. Akt aus »Figaros Hochzeit«)
(Pause) Im ersten Teil haben Sie außer den Musiknummern auch schon einige Rezitative gehört. Diese sind bei Publikum und Interpreten unbeliebt. Man
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kürzt sie oft und versucht, möglichst schnell darüber hinwegzukommen. Ein großer Fehler! Das Rezitativ ist eine wunderbare Erfindung auf halbem Weg zwischen Oper und Schauspiel. Sänger sind nämlich keine Schauspieler. Sie sollen es auch gar nicht sein. Sie sind Musikdarsteller. Der Unterschied ist einfach zu beschreiben: (vorspielen) Der Darsteller des Hamlet kann seinen Monolog langsam und nachdenklich sprechen: »To be or not to be …« Er kann ihn aber auch zynisch herauslachen: »… that is the question …« Er kann sich seine Melodie selber zurechtlegen, sich sozusagen seine eigene Wortpartitur selber komponieren. Er ist darin frei. Nicht so der Musikdarsteller. Der ist an die Partitur des Komponisten gebunden und muss immer im vorgegebenen musikalischen Rahmen agieren. Im Rezitativ aber gewinnt er viel von der Freiheit des Schauspielers. Er ist zwar noch harmonisch und im weitesten Sinne rhythmisch gebunden, sodass sein Spiel musikalisiert bleibt, wie es sich für die Darstellung durch Musik gehört. Aber sonst ist er frei, Tempo, Dynamik, Akzente, Pausen, Klangfarben nach seinen darstellerischen Bedürfnissen einzurichten. Was Sie bisher gehört haben, waren Secco-Rezitative, also nur mit Cembalo und Bassbegleitung. Secco (trocken) heißen sie, weil sie gar nicht voll gesungen werden. Stattdessen erfordern sie eine eigene Technik des »parlare intonato«, des Sprechens »auf dem Ton«, was gar nicht so leicht ist. Sie können es ja zu Hause im Dialog mit ihrer Frau selber einmal probieren. Die nächste Stufe ist das »Recitativo accompagnato«, also mit Orchesterbegleitung. Hier ist der Darsteller natürlich nicht mehr so frei, denn er muss mit dem Orchester zusammen singen. Dennoch ist er auch hier noch viel unge-
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bundener als in der dann folgenden Arie. Das können Sie nun sehr schön hören in der folgenden Arie des Grafen am Anfang des 3. Aktes von Figaros Hochzeit. Auch sonst haben Sie in diesem genialen Stück Musik viel Gelegenheit, Ihre neu erworbenen Fähigkeiten als Musikdetektiv anzuwenden. Man könnte eine ganze Masterclass nur mit dieser einzigen Arie füllen, will man alles herausfinden, was in ihr steckt. (folgt Rezitativ und Arie des Grafen »Hai gia vinta la causa …« aus dem 3. Akt »Figaros Hochzeit«)
Figaros Hochzeit – wie jede große Komödie – ist eine gerade noch verhinderte Tragödie. Das Wesen der Komödie besteht ja darin, allen Beteiligten, einschließlich des Publikums, am echten oder falschen »lieto fine«, dem glücklichen Ende, das erlösende Gefühl zu vermitteln: »Glück gehabt, es ist noch einmal gut gegangen.« Wie entsteht denn überhaupt Komik? Auf der Bühne verfolgt man Absichten, man vertritt Standpunkte und kämpft, wenn notwendig, ernsthaft miteinander. Kein Mensch ist a priori komisch. Ob etwas als komisch empfunden wird, vielleicht aus einer inkongruenten Situation heraus, durch unvorhergesehene, sich widersprechende Ereignisse, durch einen plötzlichen Umschwung der Verhältnisse oder durch was immer – das ist Ihre, des Publikums, Entscheidung. Komik ensteht eigentlich gar nicht auf der Bühne, sondern im Zuschauerraum. Das können Sie sehr schön in der folgenden Szene erleben. Figaro ist verurteilt, Marcellina noch heute seine Schulden zurückzuzahlen oder sie zu heiraten. Geld hat er keines, er sitzt in der Falle. Er kämpft um sein Leben wie eine Ratte im Käfig, er erfindet die absurdesten Behauptungen, er sei von Adel und unterstehe gar nicht der Gerichtsbarkeit des Grafen. Immer abwegiger werden sein Argumente.
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Alle lachen ihn aus. Der Graf, dem das zu dumm wird, winkt ab und wendet sich zum Gehen. (vorspielen) In allerletzter Sekunde ruft Figaro ihm nach: »E sopra tutto habe ich hier noch auf dem Arm dieses Zeichen.« Marcellina: »Eine Spachtel auf dem rechten Arm?« Figaro: »Ja, woher wissen Sie das?« Marcellina. »Oh Himmel, Raffaello!« Der als Säugling ausgesetzte Sohn! Sicher, das ist komisch. Aber was wäre, wenn der Graf sich eine Sekunde früher entfernt hätte und Figaro die Sache mit dem Zeichen nicht mehr hätte anbringen können? Wohin wären wir dann geraten? Zu König Ödipus von Sophokles, der Urtragödie am Anfang des europäischen Theaters, in der der Sohn die Mutter heiratet und seine eigenen Geschwister mit ihr zeugt. Eine Sekunde! So eng liegen Komödie und Tragödie beieinander. Mozart – wie alle großen Dramatiker – wusste: Das Glück der Komödie hat als Preis den dunkel-dämonischen Urgrund der Tragödie. (folgt Ende Rezitativ und Sextett aus dem 3. Akt »Figaros Hochzeit«)
Erinnern Sie sich an das etwas sture männliche Thema für Figaro und das charmante weibliche Oboen-Motiv für Susanna gleich zu Beginn der Oper? Figaros Hochzeit ist nämlich eine Oper über Männer und Frauen – oder besser: über Frauen und Männer. Die Frauen erweisen sich als die Überlegenen. Zweieinhalb Akte intrigieren die Männer – Figaro, der Graf, Basilio, Bartolo – und alles läuft schief. Erst als die Frauen die Sache in die Hand nehmen, kommt alles zum gerade noch guten Ende. Der Wendepunkt ist eine große Arie der Gräfin, ein wahres Wunder an musikalischer Psychologie, ja, sogar Musik gewordener Physiologie. Denn seelische Vorgänge drücken sich im Theater ja über den Körper, über Atemspannung, Herzschlag, Adrenalin und Nerven aus. Thomas Mann hat dafür das schöne Wort »benervt« geprägt. Wie hier also die von allen ver-
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lassene Gräfin musikalisch »benervt« wird, manchmal mit kleinsten harmonischen Veränderungen von nur einem einzigen Ton, wie sie zur Klarheit über ihre aussichtslose Situation durchdringt, ihre Resignation und Verzweiflung hörbar werden lässt und doch die Kraft findet, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen – das konnte keiner wie Mozart. Für uns »Musikdetektive« stellt sich hier die Aufgabe, bis in die feinsten musikalischen Nervenenden vorzudringen, das, was ich »Mikromanagement« der Musik nenne, bei dem jede kleinste Nuance Auswirkungen auf die Darstellung hat. Die jedoch gleichzeitig von der größten emotionalen Tiefe und Weite durchdrungen sein muss. Da nämlich, wo normal-gesunde Menschen 37 Grad im Herzen haben, hat Mozart gelegentlich 370 Grad. Wie sollen die armen Interpreten damit zurechtkommen? Da gilt nur eines: mit dem eigenen Gefühl, mit der eigenen Menschlichkeit bar zahlen. »Beteuerungstheater« hilft da nicht. Das ist ein Theater, in dem der Darsteller nur beteuert, dass er liebt oder hasst, aber in Wirklichkeit tut er das gar nicht. Man kann es allenthalben in der Oper erleben: Das Orchester aufgewühlt, der Gesang in höchster Leidenschaft – und doch fehlt etwas. Der Zustand fehlt, der Atem des großen Gefühls, der allein die Sache glaubhaft machen würde. Der Körper, vor allem die Hände des Sängers, verraten ihn und teilen uns mit: »Es ist gar nicht so schlimm, das Orchester müsste sich eigentlich nicht so sehr aufregen.« Er beteuert! Es fehlt die aus Phantasie erschaffene Realität hinter seiner Darstellung. In der Oper wird leider viel beteuert. Der Weg vom Machen zum Sein, das ja das Ziel allen Theaters ist, er ist schwierig und wird selten ganz ausgeschritten. Hier also die Arie der Gräfin mit dem dazugehörigen Rezitativ.
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(folgt Rezitativ und Arie der Gräfin »E Susanna non vien … Dove sono …« aus dem 3. Akt »Figaros Hochzeit«)
Haben Sie das Adrenalin gehört? Wie ihr Herzschlag raste, das Orchester am Ende mit seinen sforzato-Akzenten die Resignation quasi k. o. schlug und die Hoffnung die Gräfin schwungvoll davontrug? »Ein Flügelschlag – und hinter uns Äonen!« Das prominente Zitat, hier ist es zur Musik geworden. Und nun nehmen die Frauen die Sache in die Hand, indem sie den Grafen zu einem Stelldichein im nächtlichen Garten einladen. »Sotto i pini« (unter den Pinien), nach Su sannas Reaktion zu schließen einem offensichtlich erotisch einschlägig bekannten Ort. Die Gräfin tut das durch ein kleines Gedicht, das sie ihrer Zofe diktiert. Ein improvisierter Vierzeiler an den Abendwind: »Canzonetta sullʼaria« »Che soave zefiretto Questa sera spirerà, Sotto i pini del boschetto Dolce amor tʼaspetterà.« Entschuldigung, die letzte Zeile ist gar nicht von der Gräfin – die ist von mir. Ich habe ja schon gesagt, dass die Frauen überlegen sind. Die Gräfin macht das denn auch viel eleganter, indem sie die letzte Zeile weglässt und stattdessen befindet: »Ei già il resto capirà.« Den Rest wird er schon kapieren, was immer unter »Rest« in diesem Fall zu verstehen ist. Erinnern Sie sich an Mozarts Trick mit der auf sieben Takte verkürzten Periode in der Ouvertüre, um uns außer Atem zu bringen? Genau denselben Trick wendet Mozart hier wieder an, aber zu einem völlig anderen Zweck. Hier will er hörbar
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machen, wie zwei Frauen sich über alle sozialen Unterschiede hinweg vollkommen verstehen und miteinander harmonieren, wenn ihre Interessenlage gleich ist. Sie können gerne wieder an den Fingern mitzählen (Musik). Die Stimmen gehen ineinander über, sodass man kaum hört, wo eine aufhört und die andere anfängt. Mit Recht ist dieses kurze Duettino so berühmt. Mozart konnte Frauen wie kein anderer komponieren. Weiblicher gehts nicht. (folgt Duettino »Canzonetta sullʼaria« aus dem 3. Akt »Figaros Hochzeit«)
Am Ende des 3. Akts findet tatsächlich eine kleine Revolution statt: Die Hochzeit ist gegen alle Widerstände vollzogen, ohne dass der Graf sein widernatürliches Herrenrecht, die erste Nacht mit der neu verheirateten Braut zu verbringen, das verhasste »Ius primae noctis«, ausüben kann. Die Oper könnte hier enden. Figaro und Susanna werden vom Volk als Sieger gefeiert. Die eigentliche Revolution aber, um die es in der Oper geht, findet im 4. Akt in der nächtlichen Natur außerhalb der gesellschaftlichen Schranken statt. Wenn nämlich, wie sich zeigen wird, alle mit allen, hoch und niedrig, jung und alt, hellsichtig oder getäuscht, in jeder vorstellbaren erotischen Spielart sich vereinigen könnten – wie abwegig wider die Natur, wie absurd und dumm sind dann Klassenschranken – an jedem Ort und zu jeder Zeit. Doch schon lauert die nächste Tragödie in der Komödie. Figaro hat von der Einladung »sotto i pini« an den Grafen Wind bekommen und ist Susanna in den Garten nach geschlichen, weil er tatsächlich glaubt, dass sie ihn in der Hochzeitsnacht mit dem Grafen betrügen will. Susanna will ihn dafür bestrafen und tut so, als warte sie auf den adli-
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gen Liebhaber. Und dabei passiert ihr etwas, was wiederum nur Mozart so komponieren konnte. Überwältigt von ihrem Glück, endlich mit dem geliebten Mann verheiratet zu sein, singt sie für ihn die schönste Sehnsuchtsarie. Ein glückliches Menschenkind wird darin eins mit der magisch verzauberten Natur unter dem nächtlichen Sternenhimmel. Nur der geliebte Mann hinter dem Busch merkt es nicht, sondern glaubt, der Herr Graf sei gemeint. Seine Welt bricht zusammen, sodass das höchste Glück und das tiefste Unglück gleichzeitig auf der Bühne vereint sind. Erst ganz am Ende der Arie bemerkt Susanna, was sie angerichtet hat, und flüstert dem Zusammengebrochenen, der nichts mehr hört und sieht, mit einem kleinen musikalischen Schlenker liebevoll-maliziös ein Wort zu, das ganz andere Assoziationen weckt, wenn man nur einen einzigen Buchstaben verschluckt: »IncorOnar di rose«, mit Rosen bekrönen will ich dich, geliebter Dummkopf, nicht, wie du glaubst, »incornar«, dir Hörner aufsetzen. Die Arie ist sehr, sehr schwer zu singen. Die Stimme muss im Wechsel mit den Holzbläsern des Orchesters ganz instrumental geführt werden. Die Sängerin darf dabei gar nichts machen, sie muss nur sein. Wenn jemals die erste und letzte Regel allen Theaters zutrifft, dann hier. Sie kann nicht gelehrt werden, und doch sind alle anderen ohne sie nichts wert. Sie lautet: »Triff das Publikum mitten ins Herz!« (folgt Arie der Susanna »Deh vieni non tardar …« aus dem 4. Akt »Figaros Hochzeit«)
Der arme Figaro ist zerstört. Verzweifelt verhöhnt er sich selber. Dieser Hohn der Verzweiflung ist gefährlich. Selbstmord oder Amoklauf liegen da nicht weit. Schon wieder sind wir ganz nah an der Tragödie. Da fällt sein Blick (mit
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einem Akzent im Orchester) auf Sie, das Publikum, sodass er Ihnen, den blinden, blöden Männern, die Augen für die wahre Natur der Frauen öffnen kann. Das tut er im Wechsel von Aggression, Sarkasmus und schreiendem Schmerz. Diese blitzschnellen Wechsel in der Musik sind für den Sänger schwer umzusetzen, zumal er ja, wie wir gehört haben, dem Orchester voraus sein soll. Die Gefahr dabei ist, dass er nur schimpft, was ihn klein und lächerlich machen würde, dass er, technisch gesprochen, Druck ausübt. Ständig wird auf der Opernbühne nämlich Druck mit Intensität verwechselt. (vorspielen) Häufig sieht man Sänger ruckartig nach vorne und unten zucken, was manchmal an Körner pickende Truthähne erinnert. Das ist Druck. Intensität ist immer Atem. Großes Gefühl bedingt großen Atem – das Gegenteil von Druck. Helfen kann dabei eine Regel, die ich von dem große Bariton Tito Gobbi gelernt habe. »Wie Du die Füße setzt, ist die Rolle.« Sie können es selber probieren, (vorspielen) indem Sie einen Bauern oder Seemann breitbeinig daherkommen lassen. Im Gegensatz zu einem Prinzen, der in edler Beinhaltung die Welt von oben betrachtet. Oder indem Sie einen windigen Schleicher, wie Basilio, um die Ecke spionieren lassen. Mancher Tenor, der eigentlich einen feurigen Liebhaber darstellen sollte, stemmt seine Töne breitbeinig heraus und wird dadurch unfreiwillig komisch. Die Füße verbinden den Darsteller mit dem Boden und bestimmen seine Körperhaltung. Das gilt auch innerhalb einer Rolle für verschiedene Haltungen – Sie sehen, die Sprache überträgt hier das Wort Haltung auf seelische Zustände, und daraus ergibt sich im Idealfall eine Art Körperpartitur, die sich mit der musikalischen zur Einheit verbindet. Achten Sie darauf in Figaros Arie. Ach ja, und dann ist da am Schluss noch die Sache mit
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den Hörnern im Orchester. Was es damit auf sich hat, werden Sie als nun schon erfahrene Musikdetektive sicher leicht selber herausfinden. (folgt Arie des Figaro »Aprite un poʼ queglʼ occhi …« aus dem 4. Akt »Figaros Hochzeit«)
Nachdem Sie Ihre Gesellenprüfung mit den »Hörnern« glänzend bestanden haben, möchte ich Ihnen zum Schluss noch eine Eigenschaft der Oper nennen, die ich bisher nicht erwähnt habe. Eine Eigenschaft, die die Oper recht eigentlich unwiderstehlich und, wie ich glaube, auch zukunfts fähig macht. Die sie in gewisser Weise sogar mit der fortgeschrittensten modernen Welterkenntnis verbindet. Die Oper nämlich kann etwas, was keine andere Kunstform kann. Alle anderen müssen bei ihren Darstellungen immer einen Ausschnitt wählen. Ein Bild ist zwangsläufig ein Teilausschnitt. Der Film beruht auf einer Abfolge von Bildern, meist in Schnitt und Gegenschnitt. Die Kamera muss auswählen. Eine Plastik lässt sich zwar von allen Seiten betrachten, aber eben nicht gleichzeitig. Selbst der Roman findet bei noch so schnellen Gedankensprüngen oder Assoziationen immer in zeitlicher Abfolge statt. Anders die Musik und durch ihre Konkretheit ganz speziell die Oper. Ein einfacher zweistimmiger Kanon »Frère Jacques, frère Jacques, dormez vous«. Man hört die erste Stimme und die zweite, jede für sich und gleichzeitig beide zusammen. Dem Kanon kann man nun Stimme drei, vier, fünf hinzufügen, ein Ensemble. Immer noch hört man jede einzelne Stimme und immer alle zusammen. Weiter lässt sich noch ein Kommentar vernehmen. Etwa, dass Stimme eins lügt und Stimme vier das weiß und sich darüber ärgert. Mehr noch:
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Anhang 2
Das Orchester teilt mit, dass aus dieser Konstellation ein Sohn mit einem Schwert hervorgehen wird – ein Leitmotiv. Und wem das noch nicht reicht, der kann auch noch den Standpunkt des lieben Gottes hörbar machen, der auf seine Geschöpfe schaut und sich zu jedem sein Teil denkt, sozusagen die objektiven Aspekte mit den subjektiven verbindend. Immer alles einzeln und alles gleichzeitig! Ich wüsste keine Kunst, die ein so vollständiges, vieldimensionales Weltbild zeigen kann wie die Oper. Diese Vieldimensionalität verbindet sie mit der modernsten wissenschaftlichen Welterkenntnis, die von einem vieldimensionalen Universum ausgeht. Ja, die allerneuesten Vermutungen gehen sogar dahin, dass es außer unserem Universum noch viele andere Universa gibt, wir also in einem Multiversum existieren, das fortwährend in vielen Dimensionen gleichzeitig entsteht und vergeht. Im Kleinen kann das auch die Oper und praktiziert es sozusagen täglich. In ihren besten Momenten kann sie uns eine Vorstellung vermitteln von dem, was nur ahnbar jenseits menschlicher Erkenntnismöglichkeit liegt. Doch kehren wir aus Uni- und Multiversum zurück zur Erde. Das Finale des 4. Aktes aus Figaros Hochzeit, im nächtlichen Park unter den kreisenden Gestirnen kann Ihnen eine Idee von all dem geben. Die Alten nannten es: »Die Harmonie der Sphären«. (folgt Finale des 4. Aktes »Figaros Hochzeit«)
Personenregister A Valentin Adamberger 104 B Jean Louis Barrault 154 Pierre Augustin Caron de Beaumarchais 104 Ludwig van Beethoven 13, 16, 17, 39, 128, 130, 131, 168, Francesco Benucci 105 Alban Berg 122, 141 Gian Lorenzo Bernini 128 Giovanni Bertati 123 Bertolt (Bert) Brecht 32, 110, 119, 125, 130, 147, 148, 164 Peter Brook 114, 115 C Maria Callas 37, 66, 67, 74 Giambattista Casti 104 Domenico Cimarosa 104 Peter Cornelius 14 Francesca Cuzzoni 133, 134 D José van Dam 33
Placido Domingo 24 Friedrich Dürrenmatt 112, 146, 152, 153 E Gottfried von Einem 153 F Walter Felsenstein 21, 24, 67, 108, 109, 120, 135, 148, 149, 152 Max Frisch 146 G Galileo Galilei 137 Florian Leopold Gassmann 103 Lilian Gish 12 Christoph Willibald Gluck 21, 103, 104, 134 Tilda Gobbi 74 Tito Gobbi 74, 75, 76, 77, 186 Johann Wolfgang von Goethe 31, 43, 131 Carlo Goldoni 23, 38, 104, 105, 150 Francisco de Goya 36
190
Personenregister
H Georg Friedrich Händel 28, 133, 175 Eduard Hanslick 116 Heinz Harald 139 Joseph Haydn 104 Reinhard Heinrich 149 Rudolf Heinrich 148, 149
Wolfgang Amadeus Mozart 24, 29, 44, 50, 63, 68, 72, 78, 79, 80, 81, 82, 83, 84, 85, 86, 87, 88, 103, 104, 105, 106, 123, 131, 134, 149, 160, 161, 167, 172, 177, 178, 181, 182, 183, 184, 185
J Kaiser Joseph II. 103, 104, 108
N Caspar Neher 110, 111, 112, 123, 147, 148 Johann Nestroy 152 Richard Neutra 154
K Herbert von Karajan 55, 56, 72, 73, 141, 152, 160, 178 Alfred Kerr 145 Anton Klein 134 Fritz Kortner 44, 45, 59, 101, 143, 144, 145, 146 Louis Krasner 141, 142 L Karl Lagerfeld 50 Leopold Lindtberg 145, 146 M Gustav Mahler 21, 124, 134 Kaiserin Maria Theresia 103 Yehudi Menuhin 66 Giacomo Meyerbeer 68 Michelangelo 128 Arthur Miller 146 Claudio Monteverdi 133
O Jacques Offenbach 24 Joseph Offenbach 142 Sir Lawrence Olivier 67, 68, 75 P
Mauro Pagano 152 Giovanni Paisiello 104 Lorenzo da Ponte 84, 104, 123 John Pritchard 79
R Max Reinhardt 18, 23, 139, 140, 141 Giulio Riccordi 135 Rembrandt van Rijn 36, 58, 176 Gioachino Rossini 39
Personenregister
S Antonio Salieri 68, 103, 104, 105, 106, 123 Fjodor Schaljapin 170 Emanuel Schikaneder 83, 104, 105 Karl Friedrich Schinkel S 128 Othmar Schoeck 115 Angelus Seipt 112 William Shakespeare 16, 26, 63, 67, 75, 105, 130, 143 Martin y Soler 104, 123 Anton Stadler 104 Johann Stadler 104 Konstantin Sergejewitsch Stanislawski 45, 52, 157 Giuseppe di Stefano 66 Ernst Stern 139, 140 Isaac Stern 170 Nancy Storace 105 Richard Strauss 78, 107, 108, 109, 122 Giorgio Strehler 23, 38, 135, 150, 151, 152 T Theresa Teyber 104 U Jörn Utzon 154 V Rudolf Valentino 12 Giuseppe Verdi 24, 75, 100, 131, 135
191
W Richard Wagner 11, 14, 19, 21, 24, 68, 106, 115, 116, 120, 121, 128, 129, 134, 151 Rudolf Wagner-Régeny 147 Kurt Weill 147 Mathilde Wesendonck 115
ARNOLD JACOBSHAGEN (HG.)
VERDI UND WAGNER KULTUREN DER OPER 2014. 340 S. 45 S/W-ABB. UND NOTENBSP. GB. 155 X 230 MM | € 39,90 [D] | € 41,10 [A] ISBN 978-3-412-22249-9
Giuseppe Verdi und Richard Wagner waren die bedeutendsten Opernkomponisten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sie verkörpern zwei auf den ersten Blick scheinbar gegensätzliche Kulturen des musikalischen Theaters.
DANIEL ENDER
RICHARD STRAUSS MEISTER DER INSZENIERUNG 2014. 349 S. 27 S/W-ABB. GB. MIT SU. 135 X 210 MM | € 24,90 | ISBN 978-3-205-79550-6
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