Texte und Kontexte des Sirachbuchs: Gesammelte Studien zu Ben Sira und zur fr|hj|dischen Weisheit 9783161539053, 9783161539060, 3161539052

Im fr|hen 2. Jh. v. Chr. in Jerusalem auf Hebräisch abgefasst, im späten 2. Jh. v. Chr. in Alexandria ins Griechische |b

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Table of contents :
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Titel
Vorwort
Inhalt
Wege der Sirachforschung
I. Einleitungsfragen
Ist auch Hiob unter den Propheten? Grundsätzliche Probleme der Sirachexegese am Beispiel von Sir 49,8–10
Der ‚Kanon‘ heiliger Schriften des antiken Judentums im Spiegel des Buchs Jesus Sirach
Theologien im Buch Jesus Sirach
Barmherzigkeit und Zorn Gottes im Buch Jesus Sirach
II. Einzeltexte
„Das Gesetz des Lebens“. Eine Auslegung von Sir 17,11
„Mose, sein Andenken sei zum Segen“ (Sir 45,1). Das Mosebild des Sirachbuchs
„Was haben wir für einen Anteil an David […]?“ Sir 47,12–48, 1 als relecture von 1 Kön 12
Die Gebeine Josephs. Sir 49,15 und der Tod Josephs nach Gen 50,24–26
III. Kontexte
Jakob der Gerechte (SapSal 10,10–12). Das Jakobsbild der Sapientia Salomonis
Emotionen in den Gebeten der Sapientia Salomonis
Das Ethos der Barmherzigkeit in der jüdischen Weisheit der hellenistisch-römischen Zeit
Der Glaube an den einen Gott in der israelitisch-jüdischen Weisheit
Anhang
Literatur
Nachweis der Erstveröffentlichungen
Autorenregister
Namen- und Sachregister
Begriffsregister
Stellenregister
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Texte und Kontexte des Sirachbuchs: Gesammelte Studien zu Ben Sira und zur fr|hj|dischen Weisheit
 9783161539053, 9783161539060, 3161539052

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Forschungen zum Alten Testament Herausgegeben von Konrad Schmid (Zürich) · Mark S. Smith (New York) Hermann Spieckermann (Göttingen)

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Markus Witte

Texte und Kontexte des Sirachbuchs Gesammelte Studien zu Ben Sira und zur frühjüdischen Weisheit

Mohr Siebeck

Markus Witte, geboren 1964; Studium der Ev. Theologie, Judaistik und Semitischen Philologie; 1993 Promotion; 1997 Habilitation; 2001–09 Professor für Altes Testament an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/M.; seit 2009 Professor für Exegese und Literaturgeschichte des Alten Testaments an der Theologischen Fakultät an der Humboldt-Universität zu Berlin.

ISBN 978-3-16-153905-3 eISBN 978-3-16-153906-0 ISSN 0940-4155 (Forschungen zum Alten Testament) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http:// dnb. dnb.de abrufbar. © 2015 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwer tung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Ver-lags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Sys-temen. Das Buch wurde von Gulde Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruck- papier gedruckt und von der Großbuchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.

Vorwort „In zwiefacher seelischer Erfahrung wird dem Menschen der Sinn seines Lebens lebendig, in der Erfahrung vom Geheimnis und in der vom Gebot. Man kann sie auch nennen das Wissen um das, was wirklich ist, und um das, was verwirklicht werden soll.“ (Leo Baeck, 1921 / 1922)1

Die in diesem Band gesammelten Aufsätze gehen der Bedeutung des Sirachbuchs für die jüdische Literaturgeschichte und für die biblische Theologie nach. Sie skizzieren an ausgewählten Beispielen grundsätzliche methodische Fragen der Auslegung des Sirachbuchs, die sich durchgehend mit der Pluralität seiner hebräischen, griechischen, syrischen und lateinischen Textformen konfrontiert sieht, und versuchen den Umgang Ben Siras mit den ihm vorliegenden heiligen Schriften des antiken Judentums im Kontext eines schriftgelehrten Milieus des 2. Jh. v. Chr. nachzuzeichnen. Die Aufsätze sind in den Jahren 2001 bis 2014 entstanden und an unterschiedlichen Orten veröffentlicht worden. Für den Nachdruck wurden sie durchgesehen, aber nicht substantiell verändert. Die seit dem jeweiligen Erscheinungsjahr der Originalpublikationen edierten hebräischen Fragmente zum Sirachbuch wurden selbstverständlich berücksichtigt. Dies betrifft vor allem den zuerst im Jahr 2008 erschienenen Aufsatz zur „Hiobnotiz“ in Sir 49,8–10, bei dessen Abfassung neue Fragmente der Handschriften C und D noch nicht publiziert waren.2 Ganz punktuell wurden auch die Kommentare und annotierten Übersetzungen von Charles Mopsik (2003), Johannes Marböck (2010), Burkard M. Zapff (2010), Víctor Morla (2012), Jeremy Corley (2013) und Benjamin G. Wright (2013) eingearbeitet. Die Aufsätze zu Ben Siras relecture von 1 Kön 12 in Sir 47,12–48,1 und zu „Emotionen in den Gebeten der Sapientia Salomonis“ werden hier erstmals auf Deutsch publiziert. Die Beiträge sind so angeordnet, dass zunächst am Beispiel eines Einzeltextes (Sir 49,8–10) generelle methodische Probleme aufgewiesen werden und dann zwei Überblicke über die literaturgeschichtliche Bedeutung und über die Theologien des Sirachbuchs gegeben werden. Letzteres wird mit einer Dar1 Baeck,

Geheimnis. dazu Elizur, Fragment; Egger-Wenzel, Fragment; Elizur, Leaves; Elizur / Rand, Fragment; Rey, Un nouveau feuillet. 2 Siehe

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Vorwort

stellung der Rede von der Barmherzigkeit und vom Zorn Gottes im Alten Testament mit besonderem Schwerpunkt auf dem Sirachbuch vertieft. Daran schließen sich Auslegungen von Einzeltexten an, die mit einer Interpretation der für das Verständnis von Offenbarung und Gesetz wichtigen Perikopen Sir 17,1–11 und 45,1–5 einsetzen, dabei auch auf die Selbstvorstellung der Weisheit in Sir 24 eingehen und somit die Phänomene von „Geheimnis und Gebot“ behandeln. Es folgen Ausführungen zu David und Salomo in Sir 47,12–48,1 bzw. zu Joseph in Sir 49,15 als zwei Beispielen für Ben Siras Verbindung von Schriftauslegung mit zeitgeschichtlichen Erfahrungen und eschatologischen Vorstellungen. Dabei wird zugleich verdeutlicht, wie aus der Perspektive der frühen Rezeptionsgeschichte literar- und redaktionsgeschichtliche Fragen des Ausgangstextes, zum einen von 1 Kön 12, zum anderen von Gen 50,24–26, geklärt werden können. Der Erhellung der Kontexte dienen sodann zwei Beiträge zur zwischen dem 1. Jh. v. Chr. und dem 1. Jh. n. Chr. wohl in Alexandria entstandenen Sapientia Salomonis, die in vielerlei Hinsicht als eine Fortsetzung des Sirachbuchs gelesen werden kann. Die Auslegung der Jakobsnotiz in SapSal 10,10–12 zeigt Parallelen und Unterschiede hinsichtlich der Aufnahme und Interpretation von Pentateuchstoffen im Sirachbuch und in der Sapientia auf. Die Studie zu Emotionen in der Sapientia stellt einerseits ein anthropologisches Gegenüber zur theologischen Behandlung von Barmherzigkeit und Zorn bei Sirach dar. Andererseits unterstreicht sie die für beide Schriften hohe Bedeutung des Gebets als einer wesentlichen Form der dialogischen Begegnung von Gott und Mensch. Die folgende Darstellung weisheitlicher Begründungen und Motivationen für menschliche Barmherzigkeit stellt ebenso ein Korrelat zu den eingangs angestellten Überlegungen zu „Barmherzigkeit und Zorn Gottes“ dar und ergänzt den Überblick über Theologien im Sirachbuch um eine exemplarische Zusammenschau anthropologischer, ethischer und soteriologischer Vorstellungen im frühen Judentum. Im abschließenden Beitrag zum „Glauben an den einen Gott in der israelitisch-jüdischen Weisheit“ erscheint die Rede Sirachs von dem Gott, der Alles ist (Sir 43,27), im Kontext eines sich vom Hiobbuch bis in die Sapientia erstreckenden, vielstimmigen Gesprächs über Einheit, Einzigkeit und Vielheit des einen Gottes Israels. Die innere sachliche Verbindung der hier vorgelegten literar- und theologiegeschichtlichen Studien besteht in dem im Sirachbuch als einem Kompendium alttestamentlicher Theologie deutlich werdenden Zusammenhang von „Geheimnis und Gebot“, von Gotteserleben und Lebensgestaltung, von Aufspüren und Weitergeben der göttlichen Weisheit. Dieses dynamische Gegenüber zeigt sich in Ben Siras Notiz über Ezechiels Vision des göttlichen Thronwagens (Sir 49,8) und über Hiob, den Propheten (Sir 49,9), dessen „Auge Gott schaute“ (Hi 42,5), es wird ersichtlich in Ben Siras liebevoller Suche nach der kosmischen Weisheit, die im „Gesetz des Lebens“ (Sir 17,11) Gestalt findet (Sir 24,23), in

Vorwort

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der Kundgabe der „Geheimnisse (μυστήρια) Gottes“ an die Gerechten (SapSal 2,22) und „der Erkenntnis (γνῶσις) der Heiligen“ an Jakob (SapSal 10,10), in der Deutung barmherzigen Verhaltens als Verwirklichung der imitatio dei und als Mittel von Sühne und Rettung aus dem Tod sowie in der Begründung der Einheit der Welt mittels der Einheit des einen Gottes, der das Leben liebt (SapSal 11,26): „Aus dem einen Gott kommt das Geheimnis und das Gebot, als eines aus dem Einen, und als eins erfüllt es die Seele.“3 Der Aufsatzsammlung ist eine Darstellung von Wegen der Sirachforschung vorangestellt. Hier werden zentrale Themen der gegenwärtigen Arbeit am Sirachbuch benannt, richtungsweisende Studien, die in den zurückliegenden fünfzehn Jahren erschienen sind, vorgestellt und meine eigenen Beiträge methodisch und thematisch innerhalb der Forschung zur alttestamentlichen und frühjüdischen Weisheit verortet.4 Zur Problematik der unterschiedlichen Zählungen in den verschiedenen Ausgaben der hebräischen Fragmente sowie der griechischen, syrischen und lateinischen Versionen des Sirachbuchs sei auf die von Friedrich V. Reiterer herausgegebene Zählsynopse verwiesen. Ausdrückliche Zitate aus der griechischen Überlieferung werden mit (G) gekennzeichnet. Wird eine bestimmte hebräische Handschrift zitiert, so ist das mit (H) und hochgestelltem Buchstaben für das jeweilige Fragment angezeigt. Syr steht für die syrische Version und La für die in die Vulgata eingeflossene altlateinische Version. Bei Zitaten aus dem Abschnitt, der von der Blattvertauschung im Stammcodex aller erhaltenen griechischen Handschriften betroffen ist (Kap. 30–36), werden jeweils das der hebräischen (und ursprünglichen) Textfolge entsprechende Kapitel und die Zählungen in G angegeben.5 Die Zählung zitierter Qumrantexte folgt, sofern nicht anders vermerkt, der zweibändigen Ausgabe von Florentino García Martínez und Eibert J. C. Tigchelaar (1997 / 1998). Klassische griechische Quellen sind, wenn keine andere Edition genannt wird, nach dem Thesaurus Linguae Graecae (TLG) zitiert,6 Angaben aus dem Babylonischen Talmud folgen dem Soncino Talmud.7 Darüber hinaus wurden die entsprechenden Textmodule von Accordance benutzt.8 Die bibliographischen Abkürzungen folgen dem Abkürzungsverzeichnis der vierten Auflage der RGG.9 In den Fußnoten wird die Sekundärliteratur jeweils mit dem Nachnamen des Verfassers und ei3 Baeck,

Geheimnis, S. 139. Witte, Weisheit. 5 Vgl. Reiterer, Zählsynopse, S. 31–49 und S. 176–194. 6 http://stephanus.tlg.uci.edu/inst/fontsel. 7 The Soncino Babylonian Talmud, includes Soncino English Text, Talmud Hebrew Aramaic Texts, Rashi᾽s Commentary on the Talmud, The CD-Rom Judaic Classics LibraryTM, CD-Rom 1991–1993 (2005). 8 Accordance Bible Software. Version 9.6.8, Oak Tree Software, Inc., 2012. 9 Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, 4. völlig neu bearb. Aufl., hg. von H. D. Betz / D. S. Browning / B. Janowski / E. Jüngel, I–VIII, Tübingen 1998–2005, Bd. VIII, S. XVIII‒LXXXVII. 4 Vgl.

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Vorwort

nem Kurztitel angegeben. Am Ende des Bandes findet sich eine vollständige Bibliographie. Für die Unterstützung bei der formalen Vereinheitlichung der Aufsätze und beim Lesen der Korrekturen danke ich herzlich Paul Bismarck, Heye Jensen, Johanna Kappelt, Brinthanan Puvaneswaran und Maren Wissemann. Bei der Anfertigung der Register haben mich dankenswerterweise Gesine Meier und Angela Scheuer unterstützt. Für die Erstellung der Druckvorlage bin ich Herrn Dipl. Theol. Matthias Müller zu großem Dank verpflichtet. Den Verlagen, in denen die hier aufgenommenen Aufsätze ursprünglich erschienen sind, danke ich für die Erlaubnis zum revidierten Nachdruck. Schließlich danke ich ganz herzlich den Kollegen Konrad Schmid, Mark S. Smith und Hermann Spieckermann für die spontane Zusage, die Aufsätze in die von ihnen herausgegebene Reihe der FAT zu übernehmen, sowie Herrn Dr. Ziebritzki und Frau Susanne Mang für die hervorragende verlegerische Betreuung. Gewidmet ist der Band meinen beiden großen Lehrern in der Beschäftigung mit dem Sirachbuch, Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Otto Kaiser (Marburg) und Prof. Dr. Friedrich V. Reiterer (Salzburg). Berlin, im Frühjahr 2015 

Markus Witte

Inhalt Vorwort............................................................................................................ V Wege der Sirachforschung................................................................................1

I. Einleitungsfragen Ist auch Hiob unter den Propheten? Grundsätzliche Probleme der Sirachexegese am Beispiel von Sir 49,8–10.............................................23 Der ‚Kanon‘ heiliger Schriften des antiken Judentums im Spiegel des Buchs Jesus Sirach.................................................................39 Theologien im Buch Jesus Sirach...................................................................59 Barmherzigkeit und Zorn Gottes im Buch Jesus Sirach.................................83

II. Einzeltexte „Das Gesetz des Lebens“. Eine Auslegung von Sir 17,11............................ 109 „Mose, sein Andenken sei zum Segen“ (Sir 45,1). Das Mosebild des Sirachbuchs............................................................................................ 123 „Was haben wir für einen Anteil an David […]?“ Sir 47,12–48,1 als relecture von 1 Kön 12............................................................................ 151 Die Gebeine Josephs. Sir 49,15 und der Tod Josephs nach Gen 50,24–26....................................................................................... 171

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Inhalt

III. Kontexte Jakob der Gerechte (SapSal 10,10–12). Das Jakobsbild der Sapientia Salomonis............................................................................... 191 Emotionen in den Gebeten der Sapientia Salomonis.................................... 211 Das Ethos der Barmherzigkeit in der jüdischen Weisheit der hellenistisch-römischen Zeit................................................................... 225 Der Glaube an den einen Gott in der israelitisch-jüdischen Weisheit...........245

Anhang Literatur........................................................................................................ 265 Nachweis der Erstveröffentlichungen........................................................... 301 Autorenregister............................................................................................. 303 Namen- und Sachregister.............................................................................. 305 Begriffsregister............................................................................................. 310 Stellenregister............................................................................................... 314

Wege der Sirachforschung „Wie eine Biene, die aus mancherley Blumen / jr sefftlin seuget / vnd ineinander menget.“ (Martin Luther, 1545)1

1. Die gegenwärtige Blüte der Sirachforschung Was Martin Luther in der „Vorrede auff das Buch Jesu Syrach“ (1545) hinsichtlich der Disparatheit seiner aus „mancherley Meistern vnd Büchern“ gezogenen Stücke formulierte, mag auch am Anfang einer Skizze über Schwerpunkte der Forschung zum Sirachbuch stehen. Diese ist in den vergangenen fünfzehn Jahren so explodiert, dass man sie kaum noch überschauen kann. Positiv ausgedrückt: Die Sirachforschung befindet sich gegenwärtig in einer besonderen Blüte. Um diese Blüte annähernd darstellen zu können, wird im Folgenden „aus mancherley Blumen“ ausgewählt. Die Blütenlese konzentriert sich auf Fragen zu Text und Sprache, zu Form und Komposition, zu Situation und Tradition, zu ausgewählten Themen sowie zur Rezeption. Im Vorbeigehen werden drängende Aufgaben der Forschung benannt. Eine Zusammenfassung gegenwärtiger Konvergenzen und Divergenzen in der Forschung leitet zu den Einzelbeiträgen des vorliegenden Bandes über. Dass die Sirachforschung gegenwärtig so blüht, hat mehrere Gründe. Erstens steht sie im Zusammenhang des ungeheuren Aufschwungs der Qumranund der Septuagintaforschung, der mit der Veröffentlichung fast aller bis dahin bekannten Qumrantexte zu Beginn der 1990er Jahre und mit den großen Septua­ginta-Übersetzungsprojekten Bible d’Alexandrie, New English Translation of the Septuagint, Septuaginta Deutsch und La Biblia griega einsetzt.2 Zweitens kommt dem Sirachbuch aufgrund der relativ guten Datierbarkeit in seiner mutmaßlichen hebräischen Urfassung und seiner ursprünglichen griechischen Übersetzung auf die Zeit um 180 v. Chr. bzw. um 120 v. Chr., wie dem Deuteronomium die Rolle eines archimedischen Punktes der israelitisch-jüdischen Literaturgeschichte zu. 1 Luther,

Schrifft II, S. 1751. Bible; Pietersma / Wright, Translation; Kraus / Karrer, Septuaginta; Fernández Marcos / Spottorno Díaz-Caro, Biblia. 2 Harl,

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Wege der Sirachforschung

Drittens hat in methodologischer Hinsicht die grundsätzliche Neubestimmung des Verhältnisses von Textkritik und Literarkritik sowie von Textgeschichte und Literargeschichte in der alttestamentlichen Wissenschaft dazu geführt, dass Unterschiede in der Textüberlieferung nicht mehr in erster Linie zur Gewinnung eines hypothetischen „Urtextes“ ausgewertet werden. Textliche Varianten werden vielmehr auch literargeschichtlich als empirische Belege für die Redaktionsgeschichte eines Buchs ausgewertet. Kompositions- und rezeptionsgeschichtlich werden die unterschiedlichen antiken Versionen auch als literarische Werke mit je eigener Struktur, Aussage und Wirkungsgeschichte verstanden. Viertens hat die gegenwärtige bibelwissenschaftliche, althistorische und judaistische Forschung ein besonderes Interesse an der hellenistisch-römischen Zeit als der für das antike Judentum und das frühe Christentum historisch, kulturell und religiös formativen Epoche. Fünftens ist der Boom der Sirachforschung auch konfessionell bedingt. Bis in die frühen 1970er Jahre war die literaturgeschichtliche, wirkungsgeschichtliche und theologische Würdigung der Apokryphen bzw. Deuterokanonen mit wenigen Ausnahmen auf die römisch-katholische Forschung beschränkt. Inzwischen widmet sich auch die protestantische Bibelwissenschaft ausführlich der Apokryphenforschung. Beispiele dafür sind (1) die Gründung der Reihe Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit durch den Marburger protestantischen Neutestamentler Werner Georg Kümmel (1905–1995),3 (2) die Erweiterung der Kommentarreihe Altes Testament Deutsch um die Kommentierung der Apokryphen, für Ben Sira repräsentiert durch den Kommentar von Georg Sauer (2000),4 den ersten umfassenden protestantischen Kommentar nach den vor allem auf Textfragen konzentrierten Erläuterungen von Otto Zöckler (1891), Victor Ryssel (1900) und Rudolf Smend (1906),5 und (3) die grundlegende Revision der Apokryphen im Rahmen der Durchsicht der Luther-Übersetzung 2017, bei der erstmals im Rahmen der Luther-Übersetzung der vollständige, d. h. der erweiterte, jüngere griechische Text (G-II) als Textgrundlage genommen und einschließlich des Prologs übersetzt sein wird.6

3 In Zusammenarbeit mit Christian Habicht, Otto Kaiser, Otto Plöger und Josef Schreiner und fortgeführt von Hermann Lichtenberger. 4 Sauer, ATD.A 1. 5 Zöckler, Weisheit; Ryssel, Sprüche; Smend, Sirach erklärt; ders., Sirach, hebräisch und deutsch. 6 Vgl. Witte, Kraft.

Wege der Sirachforschung

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2. Forschungen zum Text und zur Sprache des Sirachbuchs Während für den griechischen Text (G) auf die von Joseph Ziegler (1980)7 erstellte kritisch-eklektische Ausgabe und für den lateinischen Text (La) zumindest bis Sir 28,24 die von Walter Thiele (1987–2005) begonnene und von Anthony J. Forte (2014 ff.) weitergeführte kritische Edition der Vetus Latina8 vorliegt, fehlt eine kritische Ausgabe des hebräischen Textes. Verantwortlich für diesen Mangel ist die Tatsache, dass bis heute nur etwa 65 % des ursprünglichen Bestandes des Sirachbuches bekannt sind und dass das Buch im Judentum nicht unter die heiligen Schriften aufgenommen wurde und dementsprechend keine masoretische Redaktion und Rezension erlebt hat. Das Fehlen einer kritischen Ausgabe des hebräischen Textes (H) kompensiert vorläufig die diplomatische Ausgabe der hebräischen Fragmente, die Pancratius C. Beentjes vorgelegt hat (1997, revidiert 2006).9 Auch für den sprach-, überlieferungsund religionsgeschichtlich sehr wichtigen syrischen Text (Syr) gibt es keine kritische Ausgabe. Hier wird das Fehlen durch eine diplomatische Ausgabe aufgefangen, die Núria Calduch-Benages, Joan Ferrer und Jan Liesen auf der Basis der Faksimile-Ausgabe des Codex Ambrosianus (7a1), dem bis jetzt ältesten Codex der Peschitta (7. Jh. n. Chr.), erstellt haben (2003).10 Die kritische syrische Ausgabe, die Wido Th. van Peursen und K. D. Jenner im Rahmen der Leidener Peschitta vorbereiten, wird ebenfalls eine diplomatische Ausgabe auf der Basis des Codex Ambrosianus sein. Die Erstellung einer kritischen Ausgabe von H setzt eine erneute Sichtung des gesamten hebräischen Materials, d. h. der Fragmente aus der Kairoer Geniza, aus Qumran und Masada voraus. Wie die 2007 / 2008 und 2011 publizierten neuen Fragmente zu den Handschriften C und D aus der Kairoer Geniza zeigen,11 ist damit zu rechnen, dass sich in den Fragmentensammlungen aus Kairo weitere noch nicht identifizierte Sirachtexte finden. Damit verbunden ist die Hoffnung, dass auch hebräische Äquivalente zu den bisher nur in G, Syr und La vorliegenden zentralen Kap. 1; 17 und 24 auftauchen. Selbst wenn inzwischen sehr gute Fotografien aller bisher bekannten Sirachfragmente aus der Kairoer Geniza, aus Qumran und Masada online zugänglich sind,12 setzt die Erstellung einer kritischen Ausgabe nach wie vor die Einsicht in die Frag7 Ziegler,

Sirach. Sirach. 9 Beentjes, Book. 10 Calduch-Benages / Ferrer / Liesen, Edition. 11 Zu C: Elizur, Fragment; dies., Leaves; Egger-Wenzel, Fragment. Das Fragment ent­ hält die Kola 3,27a.b (vgl. HA); 6,5a–10b (vgl. HA); 6,12a–15b (vgl. HA); 6,18a.ba; 20,30a– 31b; 21,22a–23b.26a.b; 22,11a–12b.21a–22b; 23,11a.b; 25,7c.d; 36,24b (vgl. HA /Bmg); 37,1a. 2–2b (vgl. HB / Bm / D). Zu D: Elizur / Rand, Fragment (online: http://www.lib.cam.ac.uk/TaylorSchechter/fotm/january-2011/index.html); Rey, Un nouveau feuillet. Das neue Fragment enthält den Text von Sir 7,18–8,18 (vgl. HA: 7,20–21.23–25; 8,7, und HC). 12 http://www.bensira.org/ – http://genizah.bodleian.ox.ac.uk/profile/manuscript/99951 8 Thiele / Forte,

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Wege der Sirachforschung

mente vor Ort voraus, die trotz guter Konservierung leider immer schlechter lesbar werden. Das grundsätzliche Problem einer kritischen Ausgabe von H ist, dass keine der sechs Handschriften A–F einen vollständigen Text aufweist. Will man dementsprechend nicht nur die Handschriften getrennt oder im Fall von Textüberlappungen synoptisch abdrucken wie in der Ausgabe von Beentjes,13 bleibt nur die Möglichkeit eines Mischtextes wie in den Ausgaben von Francesco Vattio­ ni (1968) und Zeʼev Ben-Ḥayyim (1973).14 D. h. es wird fortlaufend jeweils die Handschrift gedruckt, die den entsprechenden Text aufweist. Sofern Varianten aus einer anderen Handschrift vorliegen, werden diese in einem Apparat mitgeteilt. In diesem Apparat hätten dann auch Abweichungen von H, wie sie G, Syr und La bieten, ihren Ort. Eine Gewinnung des bisher nicht belegten hebräischen Textes durch eine Rückübersetzung aus dem griechischen Kurztext (G-I) als dem ältesten Repräsentanten einer Vollversion des Buchs, wie dies z. B. Moshe Z. Segal (1933) und Abraham Kahana (1936 / 1937) unternommen haben,15 ist problematisch: Zum einen stellt G, wie vor allem die einschlägigen Untersuchungen von Benjamin G. Wright und Antonino Minissale belegen,16 eine relativ freie Übersetzung dar, zum anderen liegt auch G nur in jüngeren Rezensionen vor. Das Phänomen, dass unter den in Qumran und auf Masada gefundenen Texten auch Sirachtexte waren,17 zeigt, dass die Sirachforschung eng mit der Qumranforschung verzahnt sein muss. Dazu gehört auch eine systematische Sichtung aller bis heute bekannten Qumrantexte auf mögliche Zitate aus dem Sirachbuch oder Anspielungen auf dieses, so wie dies bereits teilweise für das rabbinische Schrifttum unternommen worden ist. Für die Qumrantexte liegen erste Detailuntersuchungen im Blick auf 4Q525 und 4QInstruction vor.18 Ein besonderes Augenmerk der künftigen Forschung am Text muss der Analyse der sogenannten Zusätze im hebräischen (Lang-)Text (H-II) und im griechischen (Lang-)Text (G-II) sowie den Überschüssen, die La und Syr aufweisen, gelten. Über den unmittelbaren Beitrag zur Textgeschichte ist hiervon auch eine Klärung des literatur-, sozial- und religionsgeschichtlichen Hinter522-aeb2-48fe-89af-4026c607ae2e – http://www.deadseascrolls.org.il/explore-the-archive/ search#q=‘Ben%20Sira‘. 13 Vgl. auch die ältere Ausgabe von Boccaccio / Berardi, Ecclesiasticus. 14 Vattioni, Ecclesiastico; Ben-Ḥayyim, Book. 15 Segal, ‫ ;ספר‬Kahana, ‫דברי שמעון‬. 16 Wright, Difference; ders., Access; Minissale, La versione greca; vgl. auch Beentjes, Topics, S. 6. 17 2Q18 mit minimalen Resten aus Sir 1,19–20 oder wahrscheinlicher aus 6,14a–15 und 6,20a–22b.26a–31b (1. Jh. v. Chr.), 11QPsa / 11Q05 XXI mit nicht stichisch geschriebenen Teilen von 51,13–20.30b (frühes 1. Jh. n. Chr.) und Mas / HMas / Mas 1h mit sieben stichometrisch geschriebenen Kolumnen, die 39,27–44,17 repräsentieren (zwischen 125 / 100 und 50 / 25 v. Chr.), vgl. Beentjes, Book, S. 19; 113–125; Ulrich, Scrolls, S. 719–720. 18 Puech, Ben Sira; Rey, 4QInstruction.

Wege der Sirachforschung

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grunds der Erweiterungen zu erwarten. Die Tatsache, dass die 1951 fertig gestellte Dissertation von Conleth Kearns (1902–1985) zu G-II erst im Jahr 2011 veröffentlicht wurde, signalisiert weiteren Forschungsbedarf.19 Kearns bietet eine sorgfältige Untersuchung von G-II, wie er sich im Codex Vaticanus und in einigen griechischen Minuskeln niedergeschlagen hat und wie er sich in der in die Vulgata eingedrungenen Vetus Latina sowie mit charakteristischen Modifikationen in Syr spiegelt.20 Insofern Kearns erstmals den Versuch unternahm, die Überschüsse, die G-II gegenüber dem älteren und ursprünglicheren Kurztext (G-I) aufweist, inhaltlich zu klassifizieren und religionsgeschichtlich vor dem Hintergrund des jüdischen Schrifttums aus hellenistisch-römischer Zeit (vor allem im Vergleich zu Dan 12, 1 Hen, Jub, SapSal, PsSal) zu verorten, ist seine Untersuchung nach wie vor von großer Bedeutung für das Verständnis des Judentums in der Zeit von 200 v. Chr. bis um 100 n. Chr. Seine These der essenischen Herkunft von G-II als einer systematischen eschatologischen Revision von G-I ist angesichts des gegenwärtigen Standes der Erforschung des Qumranschrifttums, die zur Abfassungszeit der Untersuchung Kearns noch in den Anfängen steckte, allerdings nicht mehr zu halten.21 Hinsichtlich der Zusätze in La und Syr sind insgesamt weitere Erkenntnisse über den Schriftgebrauch und die Hermeneutik des frühen Christentums und seiner Beziehungen zu jüdischem Schriftverständnis sowie zu theologischen Besonderheiten dieser Versionen zu erwarten. Schließlich stellt auch eine kritische Ausgabe der koptischen Sirachtexte, die nach einer Analyse von Frank Feder zu der Textform gehören, wie sie durch die griechischen Majuskelhandschriften B, S und A repräsentiert werden, ein Desiderat dar.22 Die Arbeit am Text könnte idealerweise einmal in einer kritischen Polyglotte münden, welche die Synopse von Francesco Vattioni ablösen wird. Ein unersetzliches Hilfsmittel auf dem Weg zu einer solchen Synopse und im Umgang mit dem Chaos der Zählung, das vor allem durch die Blattvertauschung im Stammkodex von G im Bereich der Kap. 30–36 sowie die unterschiedliche Verszählung in La verursacht wurde, ist die von Friedrich V. Reiterer herausgegebene Zählsynopse.23 Zum Forschungsfeld „Text“ gehört ebenso die besondere Thematisierung der Sprache, vornehmlich von H, daneben aber auch von G und Syr, bei Letzteren vor allem aus der Perspektive der Übersetzungstechnik. H wird vor allem 19 Kearns,

Text. Bedeutung der La für die Textgeschichte, speziell auch für die Textgeschichte von G, siehe auch Gilbert, Vetus Latina, sowie Forte, Old Latin Version; ders., Veteris Latinae Ecclesiastici; Legrand, La version latine; Gesche, Vetus Latina-Version. 21 Zum Verhältnis zwischen Texten essenischer Herkunft und Sirach siehe Puech, Ben Sira. 22 Feder, Coptic Version(s). 23 Reiterer, Zählsynopse, S. 174–196. Zum Problem der Blattvertauschung siehe auch Wagner, Septuaginta, S. 33–35, sowie Böhmisch, Blattvertauschung, S. 17–22. 20 Zur

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als Zeugnis eines Hebräisch zwischen dem Hebräisch der jüngsten kanonisch gewordenen Bücher der Hebräischen Bibel und der Mischna ausgewertet und zum Vergleich für das in sich zu differenzierende Hebräisch der nichtbiblischen Texte aus Qumran herangezogen. Für das Hebräisch von Ben Sira ist besonders auf die umfangreiche Studie von Wido Th. van Peursen zum Verbalsystem (2004) und auf zwei von Jan Joosten und Jean-Sébastien Rey edierte Sammelbände (2008 / 2011), aber auch auf eine Detailuntersuchung von Johannes F. Diehl zum Gebrauch von ‫ אשרי‬bei Ben Sira (2013) zu verweisen.24 Der von Joosten und Rey im Jahr 2011 herausgegebene Band trägt der forschungsgeschichtlichen Entwicklung Rechnung,25 dass die verschiedenen Versionen sprachlich und literarisch primär als eigenständige Texte zu würdigen sind und nicht mehr als Steinbruch für die Auffüllung von Lücken in den hebräischen Fragmenten.26 Dementsprechend bietet der Band linguistisch orientierte Einzelanalysen ausgewählter hebräischer Handschriften, Studien zur Übersetzungstechnik der verschiedenen griechischen Versionen sowie zum traditionsgeschichtlichen und theologischen Profil von Syr und zur Textgestalt von La. Für G sind die Studie von Christian Wagner zu den Septuaginta-Hapaxlegomena (1999) sowie die Konkordanz zu den 135 (so nach Ziegler) zusätzlichen Stichen des G-II-Textes von Jean Marie Auwers (2005) zu nennen.27 Es sind aber weitere Untersuchungen zum Griechisch von G-I und G-II sowohl im Blick auf den Charakter der Übersetzung als auch im Blick auf die Verortung im Kontext der zeitgenössischen Gräzität nötig. Hier ist auch eine gründliche Analyse des Prologs des Enkels wünschenswert, die diesen sprachgeschichtlich, übersetzungstheoretisch, textpragmatisch und kulturgeschichtlich im Kontext antiker paganer und jüdischer Übersetzungen und des frühjüdischen Diasporaschrifttums betrachtet.28 Für Syr steht eine umfassende Untersuchung von Wido Th. van Peursen (2007) zur Verfügung.29 Van Peursen bestimmt Syr als eine freie, nicht von G beeinflusste, tendenziell sich mit Targumen berührende Übersetzung aus einem jüdisch-christlichen Milieu des 2. / 3. Jh. n. Chr. Sprachgeschichtlich weist er diese einer relativ frühen Stufe des klassischen Syrisch zu. Gegenüber van Peursen plädierte aber Giovanni Rizzi (2008) nach einer erneuten kritischen Revision der Hauptthesen zur Entstehung der Sirach-Peschitta in jüdischen und / oder unterschiedlichen christlichen Milieus seinerseits für eine Herleitung aus dem syrischen Christentum des 4. Jh., das ähnlich wie Aphrahat und Ephraim mit jüdischer Exegese und Haggada vertraut gewesen sei.30 SchließPeursen, Verbal System; Joosten / Rey, Conservatism; Diehl, ʼšry ʼnwš. Texts. 26 Vgl. dazu auch exemplarisch Reiterer, Differenz. 27 Wagner, Septuaginta; Auwers / Proksch-Strajtmann, Concordance. 28 Vgl. Schorch, Pre-Eminence; Kreuzer, Prolog; Wright, Prologue; ders., Translation Greek; Lauber, Hi 32. 29 Van Peursen, Language; ders., Ben Sira. 30 Rizzi, Christian Interpretations. 24 Van

25 Joosten / Rey,

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lich vertrat jüngst Jan Joosten (2011 / 2014) die These, Syr ginge, wie einzelne westaramäische Wörter zeigten, auf ein jüdisches Targum zu Ben Sira zurück, dass in einer zweiten Stufe in einem rein christlichen Milieu syrisiert worden sei.31 Grundsätzlich besteht also weiterer Forschungsbedarf zur Klärung der sprachlichen und religionsgeschichtlichen Gestalt und Herkunft der Vorlage(n) sowie der Bearbeitungsstufen und Beeinflussung von Syr. An der Schnittstelle von Sprache und Form stehen Poetologie und Rhetorik des Sirachbuchs. Erwähnt sei hier die poetologische Analyse der Masada-­ Fragmente von Eric D. Reymond (2004).32 Derzufolge kennzeichnen die Poesie Ben Siras (1) das Bikolon als Grundmuster eines Verses, (2) die weitgehende Entsprechung der Verslängen, (3) das gehäufte Vorkommen grammatischer Parallelismen, (4) die im Vergleich zu den protokanonischen Weisheitsbüchern seltene Verwendung semantischer Parallelismen und (5) die häufig anzutreffen­ de grammatische, repetierende oder semantische Parallelität zwischen unmittelbar zusammenhängenden Versen. Innovationen gegenüber den poetischen Mustern in den Proverbien, in den Psalmen und im Buch Hiob erkennt Reymond in Ben Siras Schöpfung neuer Wortpaare und neuer Metaphern. Hinsichtlich der Konzentration auf grammatische Parallelismen zugunsten semantischer Parallelismen und traditioneller Wortpaare konstatiert Reymond eine Nähe zwischen Ben Sira und der Sapientia Salomonis.33 Im hier vorliegenden Band werden die skizzierten überlieferungsgeschichtlichen, editorischen, sprachlichen und poetologischen Probleme exemplarisch an der „Hiobnotiz“ in Sir 49,8–10 und an der „Mosenotiz“ in 45,1–5 aufgezeigt.34 Dabei werden die starken Differenzen, welche die verschiedenen Versionen aufweisen, auch im Blick auf mögliche Kommentierungen des Sirachbuchs und auf Konsequenzen für das Kanonsverständnis alttestamentlicher Texte insgesamt ausgewertet.

3. Forschungen zur Form und Komposition des Sirachbuchs Im Mittelpunkt der Forschungen zu Form und Komposition des Sirachbuchs steht die Klärung der einzelnen Gattungen im Buch, der Gattung des gesamten Buchs sowie der Literar- und Redaktionsgeschichte des Werks. Entsprechend einer allgemein im bibelwissenschaftlichen Bereich zu beobachtenden Fokussierung der Gattungsforschung richtet sich auch das gattungs­ 31 Joosten, Archaic Elements; ders., mündlich auf der Tagung „Texte – Kontexte – Le­ benswelten. Textformen des Sirach-Buches“, Eichstätt, 12.–14.09.2014. 32 Reymond, Innovations; als Beispiele dienen Reymond Sir 40,11–17; 40,18–27; 40,28– 30; 41,1–4; 41,5–13; 41,14b–15; 41,14a[sic!]–42,8; 42,9–14; 42,15–43,33; 44,1–15 sowie 5,12–6,1; 10,1–31; 15,1–20; 45,1–22. 33 Reymond, Innovations. Zur Poetik Ben Siras siehe auch Corley, Rhyme. 34 S. 23–37 bzw. S. 123–149.

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geschichtliche Interesse der Sirachforschung auf die Bestimmung der literarischen Form, Funktion und Transformation der im Buch vorliegenden Gattungen. Schwerpunkte der einschlägigen Arbeiten der letzten Jahre liegen (1) auf dem Selbstlob der kosmischen Weisheit in Kap. 24, das mit einem gewissen Konsens als ein sich mit Aretalogien auf die in hellenistischer Zeit zur Allgöttin aufgestiegene ägyptische Göttin Isis berührendes Preislied bezeichnet werden kann,35 (2) auf dem „Väterlob“ in Kap. 44–49 (die Veröffentlichungen hierzu sind Legion),36 (3) auf dem Enkomion auf den Hohepriester Simon in Kap. 50 – hier ist vor allem die umfangreiche und viel beachtete Studie von Otto Mulder (2003) zu nennen, der Sir 50 selbst als „remembrance discourse / Zichronot“ für die Liturgie des Rosch Haschana interpretiert37 und (4) auf den immer wieder in das Buch eingestreuten Gebeten.38 Dazu treten die Fragen nach der Gattung des gesamten Buchs39 und nach in ihm vorliegenden Kompositionsstrukturen. Auch wenn der Aufbau und die Gliederung des Buchs kontrovers diskutiert werden,40 so zeichnet sich doch darin ein Konsens ab, dass in dem Werk keine willkürliche Zusammenstellung von Weisheitsgedichten, Gebeten und Lehrreden gesehen wird, sondern eine planvolle Komposition. Ihren Ort könnte diese im Sinne eines weisheitlichen Lehrbuchs in einem kleinen Kreis von Schülern Ben Siras gehabt haben.41 Die gesellschaftliche und institutionelle Verortung eines solchen Schülerkreises hängt mit der grundsätzlichen Bestimmung der Akteure, Formen und Orte der Weitergabe von Bildung und Wissen (nicht nur) im Judentum der hellenistischen Zeit zusammen und bedarf weiterer Analysen. Ungeklärt ist, ob die Komposition des Buchs auf einen Autor, nämlich Ben Sira, zurückgeht, oder ob diese das Ergebnis einer gezielten Fortschreibung ist, sich also ein literargeschichtliches Wachstum zeigt. Dass das Buch Erweiterungen (und Kürzungen) erlebt hat, belegen empirisch G-II, Syr und La. Hier könnte die Klärung der Literar- und Redaktionsgeschichte des gesamten Buchs ansetzen. Abgesehen von der Annahme punktueller Fortschreibungen,42 steht 35 Vgl. dazu grundlegend Marböck, Wandel; ders., Gottes Weisheit; ders., Einwohnung; Janowski, Weisheit; Beentjes, Lady. 36 Vgl. dazu die Klassiker von Mack, Wisdom, und Lee, Studies, sowie aus neuerer Zeit die einschlägigen Aufsätze von Beentjes in seiner Aufsatzsammlung „Happy“, S. 123–165; ders., Ben Sira 44:19–23; Corley, Sirach 44:1–15; ders., Numerical; Wright, Use. 37 Mulder, Simon, aufgenommen von Corley, Sirach 44:1–15. 38 Siehe unten S. 16. 39 Vgl. Mitchell, Chronicles. 40 Vgl. Marböck, Structure; Gilbert, Siracide. 41 Vgl. Sir 24,30–34; 38,24–39,11; 51,23. 42 Vor allem das Gebet um die Errettung Zions in 36,1–22 [G: 33,1–13a; 36,16b–22] sowie 44,16; 46,12; 48,11*; 49,12* und 51,12a–o werden hier immer wieder genannt. Zur Diskussion siracidischer Verfasserschaft von Sir 36,1–22 siehe Zapff, Sirach, S. 236; Palmisano, Salvaci, 15–49. Zu dem frömmigkeits- und liturgiegeschichtlich sowie theologisch wichtigen Gebet in Sir 51,12a–o (vgl. Ps 136), das nur in HB erhalten ist (übersetzt in der Einheitsübersetzung [1980], der New Revised Standard Version [1989 / 1992] und in La Bible – Tra-

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die eigentliche literar- und redaktionsgeschichtliche Analyse des Buchs aber noch aus. Das von Jeremy Corley (2008) skizzierte Blockmodell stellt einen Anfang dar.43 Corley vergleicht den Aufbau des Buchs mit dem der Proverbien, des Hiobbuchs, des Papyrus Insinger, der Sentenzensammlung des Theognis von Megara und der vormakkabäerzeitlichen Passagen in 1 Henoch und schlägt eine Gliederung in acht Hauptteile mit einem Anhang vor.44 Anhand formaler Kriterien entwickelt er eine fünfstufige Wachstumsgeschichte, die sich im Wesentlichen als eine einfache Addition von Textblöcken darstellt.45 Zu klären bleibt aber, inwieweit mit buchübergreifenden Redaktionen, die quer zu einzelnen Blöcken des Buches liegen, zu rechnen ist. Im hier vorliegenden Band kommen Fragen zur Form und zur Komposition vor allem in den Beiträgen zu Sir 17, wobei hier auch auf Sir 24 eingegangen wird, und zu einzelnen Abschnitten im „Lob der Väter“ (45,1–5; 47,12–48,1; 49,8–10; 49,15) zur Sprache. Dabei werden auch die unterschiedlichen Strukturierungen und Einbettungen in die Gesamtkomposition sowie die differierenden intertextuellen Beziehungen der jeweiligen Versionen deutlich.

4. Forschungen zur Situation und Tradition des Sirachbuchs Aufgrund der relativ sicheren Datierung und lokalen Verortung Ben Siras in Jerusalem während des ersten Viertels des 2. Jh. v. Chr. und der griechischen Übersetzung in Alexandria während des letzten Viertels des 2. Jh. v. Chr. stellt das Buch eine hervorragende Quelle für die jüdische Kultur- und Religionsgeschichte in hellenistischer Zeit dar. Als große Synthese weisheitlicher, kultischer, historiographisch-prophetischer und juridischer Traditionen des antiken Judentums, die sich in unmittelbarem Austausch mit paganen Überlieferungen befindet, provoziert das Werk selbst die genauere Bestimmung seines Umgangs mit älteren jüdischen Traditionen und mit zeitgenössischen paganen philosophischen Strömungen. Die gegenwärtige Forschung unternimmt eine solche literatur- und traditionsgeschichtliche Lokalisierung vor allem hinsichtlich des Verhältnisses des Sirachbuchs zur älteren israelitisch-jüdischen Literatur sowie zur paganen ägyptischen, griechischen und aramäischen Weisheit. Ben Sira setzt den Makrobestand der Tora und der Propheten als heilige Schrift voraus und greift vor allem im Bereich der Kap. 16(–17); (24) und 44–49 auf Texte aus der Tora und den Propheten zurück und kennt auch nicht duction Oecuménique [2010]) siehe Peters, Buch, S. 442–445; Zapff, Sirach, S. 392–394; Mulder, Three Psalms (hier gezählt als Sir 51:12e + – zj +) und ausführlich Mies, Psaume. 43 Corley, Searching, S. 21–47. 44 I: Sir 1,1–4,10; II: 4,11–6,17; III: 6,18–14,19; IV: 14,20–23,27; V: 24,1–32,13; VI: 32,14–38,23; VII: 38,24–43,33; VIII: 44,1–50,24 mit einem Anhang in 50,25–51,30. 45 A: 1,1–23,17 + 51,13–30; B: + 24,1–32,13; C: + 32,14–38,23; 51,1–12; D: + 38,24–43,33; E: + 44,1–50,24; 50,25–26; 50,27–29.

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kanonisch gewordene jüdische Überlieferungen über Adam und Henoch. Dementsprechend sind zahlreiche neuere Studien dem Verhältnis von Ben Sira zu kanonisch gewordenen (und zu nicht kanonisch gewordenen) jüdischen Schriften gewidmet. Erneut ist auf die Arbeiten von Beentjes, der seit seiner Dissertation (1981) zahlreiche Einzelstudien zur Schriftauslegung im Sirachbuch vorgelegt hat,46 sowie auf die Überblicksdarstellungen von Benjamin G. Wright und Friedrich V. Reiterer zu verweisen.47 Der diesem Band beigegebene Aufsatz zum ‚Kanon‘ heiliger Schriften des antiken Judentums setzt hier an und verdeutlicht, wie Ben Sira punktuell aus der Tora und den Propheten zitiert. Dabei ist der Begriff „Zitat“ in einem weiten Sinn zu verstehen. Ben Sira spielt auf Texte aus der Tora und den Propheten an, setzt Formeln und Motive aus kanonisch gewordenen jüdischen Texten neu zusammen und bettet diese in seine eigene weisheitliche Argumentation ein. Daneben setzt sich das Sirachbuch mit den weisheitlichen Diskursen im Buch Hiob, im Koheletbuch und in den Sprüchen auseinander.48 In seinem Umgang mit der israelitisch-jüdischen Literatur ist das Sirachbuch ein beispielhaft intertextuelles Werk. Im Gegensatz zu den aus Qumran bekannten Kommentaren (Pescharim) oder Florilegien (vgl. z. B. 4Q174) bietet es Schriftauslegung im Modus der Neudichtung. Inwieweit das aber eine Vorform der Midraschexegese darstellt,49 ist in der Forschung umstritten. Der Schriftgebrauch und die damit verbundene Schriftinterpretation sind für jede Version des Buchs zu erheben, insofern G, Syr und La jeweils über ein eigenes, gegenüber ihren (hebräischen) Vorlagen gewachsenes Corpus an heiligen Schriften und über ein eigenes Netz von Schriftbezügen verfügen. Mindestens im Blick auf La und Syr ist auch das Neue Testament zu berücksichtigen. Dabei ist auch zu bestimmen, wie G, Syr und La ihre mutmaßliche(n) Vorlage(n), mitunter im Rückgriff auf andere Schriften auslegen und je eigene theologische Verweissysteme schaffen. Exemplarisch hat dies Johannes Marböck für H und G an der Verwendung des Begriffs ‫ ברית‬bzw. διαθήκη vorgeführt.50 Neben die Frage nach dem Umgang des Sirachbuchs (in seinen verschiedenen Gestalten) mit kanonisch gewordenen bzw. kanonischen Texten tritt die Frage nach dessen kanonischer Geltung selbst. Die Tradierung von zwei unterschiedlichen griechischen Fassungen als kanonische Texte zeigt, neben der Kanonizität von Syr und La im Raum der syrisch-orthodoxen bzw. der römisch-katholischen Kirche, dass es nicht das eine kanonische Sirachbuch gibt. Vor allem römisch-katholische Exegetinnen und Exegeten wie Maurice Gil46 Beentjes, Tenach. Neben den entsprechenden Beiträgen in Beentjes᾽ Sammelband „Happy“ ist auf folgende seiner Aufsätze zu verweisen: Rereading; Deuteronomistic Heritage; Deuteronomy; Kings. 47 Wright, Interpretation; Reiterer, Bibel. 48 Zu Hiob: Reiterer, Verhältnis; Egger-Wenzel, Gebrauch; dies., Faith. Zu Kohelet: Gilbert, Qohelet; Corley, Qohelet. Zu den Sprüchen: Corley, Proverbs 49 Minissale, La versione greca. 50 Marböck, Geschichte.

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bert, Núria Calduch-Benages, Franz Böhmisch oder Johannes Marböck haben darauf in diversen Studien hingewiesen.51 Das Sirachbuch verdeutlicht, ähnlich wie die Bücher Jeremia, Daniel, Tobit oder Esther, dass es nicht den einen kanonischen Text gibt, sondern – und dies gilt für alle biblischen Bücher – dass von einem Kanonspluralismus auszugehen ist. Während sich dieses flexible Kanonsverständnis (zumindest für Sirach) in der Bibelwissenschaft grundsätzlich durchzusetzen scheint, ist die Frage ungelöst, warum es das Sirachbuch selbst nicht in den Tanach geschafft hat. Das junge Entstehungsdatum dürfte jedenfalls angesichts des in seiner Endgestalt noch jüngeren Danielbuchs und der bis in die Hasmonäerzeit andauernden Fortschreibung einzelner Psalmen nicht der Grund sein. Auch die möglicherweise aus der Nichterwähnung Esras im „Lob der Väter“ erhebbare kritische Haltung zu Esra und den ihm zugeschriebenen religionspolitischen Maßnahmen scheint angesichts der Aufnahme des sicher esrakritischen Buchs Ruth unter die Ketuvim nicht das Fehlen von Ben Sira im Tanach zu erklären. Ein Grund könnte sein, dass Ben Sira seine Weisheit nicht wie die Proverbien und Kohelet unter die Autorität Salomos gestellt, sondern unter seinem eigenen Namen geschrieben hat – doch haben umgekehrt auch anonym abgefasste Weisheitsschriften, wie z. B. 4Q524 oder 4QInstruction,52 nicht den Weg in den Tanach gefunden. So steht die Nichtberücksichtigung Ben Siras im Rahmen der hebräischen heiligen Schriften möglicherweise im Zusammenhang der Auseinandersetzungen um das Jerusalemer Hohepriestertum seit dem Beginn des 2. Jh. v. Chr., die in der Übernahme des von Ben Sira hoch geschätzten zadokitisch-aaronitischen Hohepriestertums durch Nichtzadokiten 175 / 172 v. Chr. kulminieren. Hier sind weitere Forschungen nötig, die auch die sich in den jüngsten Schichten des Pentateuchs widerspiegelnde Konkurrenz verschiedener priesterlicher Kreise in Jerusalem in ihre Überlegungen einbeziehen.53 Drei Generationen nach dem Zug Alexanders des Großen ist auch das palästinische Binnenland voll vom Hellenismus erfasst.54 Ben Sira lebt in einer städtebaulich, kulturell und mental von paganen griechischen Vorstellungen durchdrungenen Welt. Dies schlägt sich deutlich und unbestritten in seinem Werk nieder – für die wohl in der hellenistischen Metropole Alexandria entstandene Übersetzung gilt das verstärkt.55 Gleichzeitig prägen autochthone Traditionen Ägyptens und Syriens weiterhin die Kultur Palästinas. So erstreckt sich die Frage, inwieweit das Sirachbuch pagane Weisheit aufgenommen hat, auf drei traditionsgeschichtlich und sprachlich von einander zu unterscheidende, wenn auch in hellenistischer Zeit zusammenfließende Räume. 51 Gilbert, L’Ecclésiastique; ders., Siracide; Calduch-Benages, Canon; Böhmisch, Textformen; Marböck, Fragen. Siehe dazu aber auch schon Rüger, Siracide. 52 Hempel, Wisdom Texts; Goff, Wisdom. 53 Siehe dazu Achenbach, Vollendung, und Berner, Aufstand; ders., Laien. 54 Vgl. Collins / Sterling, Hellenism; Kuhnen, Israel. 55 Zu Alexandria siehe Fraser, Alexandria; Georges / Albrecht / Feldmeier, Alexandria.

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Von den Anfängen der israelitisch-jüdischen Weisheitsliteratur an bildet neben der mesopotamischen Weisheit die ägyptische Weisheit den wichtigsten außerbiblischen Referenzrahmen. Dies gilt auch und in besonderer Weise für Ben Sira, dem nicht nur die bis ins Alte Reich zurückreichenden und teilweise bis in hellenistische Zeit tradierten und bekannten „Lebenslehren“ zur Seite zu stellen sind, sondern auch die demotische Weisheit. Durch die Übersetzungen von Miriam Lichtheim, Joachim Quack und Heinz Thissen sind diese Texte leicht zugänglich.56 Ein besonderes Augenmerk ruht auf der Lehre des Anchscheschonqi57 und der im Papyrus Insinger („Phibis“ / „Das große demotische Weisheitsbuch“)58 überlieferten und ausweislich der Handschriften weit verbreiteten Lehre. Im Mittelpunkt von „Phibis“ stehen das ethische Ideal des Bewahrens der goldenen Mitte und die Gerechtigkeit Gottes, der als die alles bestimmende, dabei unerforschliche Größe und als Spender allen menschlichen Geschicks erscheint (vgl. Sir 18,1–14; 33,7–15; 42,15–43,33).59 Spätestens seit den Werken von Martin Hengel (1969; 51988) und Theophil Middendorp (1973) sowie den sich anschließenden Studien von Otto Kaiser, John J. Collins und Erich S. Gruen zum Verhältnis von Judentum und Hellenismus wird die Frage nach dem Einfluss paganer griechischer Literatur und klassischer griechischer Bildung auf das Sirachbuch diskutiert.60 Homer, die Tragiker, Theognis von Megara, Menander, Platon und Aristoteles, die Stoa sowie die Alexandrinische Dichterschule und Lehrdichtung (Aratos von Soloi) gehören fest zum Bestand der Größen, die bei der Bestimmung der Anthropologie, Kosmologie und Theologie, aber auch dem Verständnis der Kultur Ben Siras berücksichtigt werden müssen. Studien von Oda Wischmeyer (1997), Ursel Wicke-Reuter (2000) und Frank Ueberschaer (2007) stellen hier neuere Standardwerke dar.61 Dabei ist zu überlegen, ob das Paradigma „Judentum und Hellenismus“ nicht eher „Judentum im Hellenismus“ lauten sollte. Wegweisend ist der von Ueberschaer gebotene Überblick über das Schul- und Bildungswesen im Alten Orient, einschließlich des antiken Israel, und in der klassischen Antike. So liefert Ueberschaer eine Interpretation der für die „Bildungstheorie“ Ben Siras wichtigen Texte, bestimmt als Zielgruppe des Siraci56 Lichtheim, Literature III, S. 159–217; dies., Wisdom, S. 13–92; 107–304; Quack, Einführung, S. 113–138; Hoffmann / Quack, Anthologie, S. 239–304; Thissen, in: TUAT III/2. Zur Sache siehe Sanders, Ben Sira. 57 Die Handschrift ist ptolemäerzeitlich, eine Entstehung ist nach Quack, Einführung, im 6. / 5. Jh. v. Chr. möglich. Lichtheim, Literature, und Thissen, in: TUAT III/2, verzichten auf eine Datierung. 58 Die Haupthandschrift ist spätptolemäisch, Parallelhandschriften stammen aus dem 1. / 2. Jh. n. Chr. Während Quack, Einführung, eine Entstehung im 7. Jh. v. Chr. für möglich hält, votiert Lichtheim, Literature III, für die spätere Ptolemäerzeit. 59 Siehe dazu S. 14. 60 Hengel, Judentum; Middendorp, Stellung; Kaiser, Schicksal; ders., Gott; Collins, Wisdom; ders., Cult; Gruen, Heritage. 61 Wischmeyer, Kultur; Wicke-Reuter, Providenz; Ueberschaer, Weisheit.

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den junge Männer aus der jüdischen Oberschicht des beginnenden 2. Jh. v. Chr. und entfaltet an den im Buch verwendeten Gattungen die Unterrichtsmethodik und an den behandelten Themen die Lehrinhalte. Ziel der von Ben Sira als einem frommen (nicht priesterlichen) Weisen vermittelten Bildung, die letztlich nur in der Begegnung mit der Weisheit selbst erreicht werden könne, sei die Weitergabe von Weisheit in und für die jüdische Gesellschaft. Die Thematisierung der Muße sei möglicherweise hellenistisch beeinflusst. Dem Sport gelte im Gegensatz zum hellenistischen Bildungsideal aber keine Aufmerksamkeit. Während die Bezüge des Sirachbuchs zur paganen griechischen Literatur und Philosophie bereits ausführlich, wenn auch bei weitem noch nicht erschöpfend untersucht wurden, sind Alltagstexte und -bilder, wie sie sich auf griechischen Papyri, Ostraka, Bau-, Weihe- und Grabinschriften, Stelen und Statuen, Siegeln, Bullen und Münzen finden, bisher noch wenig als Bildungsgegenstand und als Referenzgröße ausgewertet worden. Auch hier gilt, dass die Frage nach den Bezügen zu paganer griechischer Literatur und Bildung jeweils differenziert für die unterschiedlichen Versionen des Buchs, nicht zuletzt wegen der unterschiedlichen Entstehungsorte (Jerusalem, Alexandria) zu beantworten ist. Neben die ägyptische und die griechische Weisheit ist in jüngerer Zeit, befördert durch neue Erkenntnisse zur Geschichte Israels und zur Rolle der Aramäer im Rahmen des Kulturtransfers zwischen Mesopotamien und Syrien-Palästina sowie durch neue Textausgaben, verstärkt die aramäische Weisheit als Referenzgröße für die israelitisch-jüdische Weisheit getreten. Dies gilt insbesondere für den Achikar-Roman, dem zugleich umfangreichsten aramäischen Text aus dem 1. Jt. v. Chr.62 und neben dem Gilgamesch-Epos wohl beliebtesten Stoff im Alten Orient. Hier ist vor allem auf das opus magnum von Michael Weigl (2010) zu verweisen, der eine detaillierte Auswertung der Berührungspunkte zwischen den Achikar-Sprüchen einerseits und den Proverbien (besonders Kap. 22,17–24,22), Kohelet, Hiob, Psalmen, der Josephsgeschichte, einzelnen Passagen im Jeremiabuch und dem Sirachbuch andererseits bietet.63 Für eine erste schnelle Orientierung über die vielfältige literarische Vernetzung des Sirachbuchs mit der griechischen Weisheit sowie der Weisheit der Levante und des Alten Orients leistet das Parallelstellenverzeichnis, das Otto Kaiser seiner Übersetzung des Sirachbuchs (2005) beigegeben hat, gute Dienste.64 Die literatur- und theologiegeschichtlichen Kontexte des Sirachbuchs werden in dem hier vorliegenden Band einerseits in zwei Beiträgen zur Sapientia Salomonis, andererseits in einem Aufsatz zur Begründung der Barmherzigkeit mit den Armen in der frühjüdischen Weisheit und zu Formen der theoretischen 62 Küchler, Weisheitstraditionen, S. 319–413; Kottsieper, Sprache; ders., Weisheit; Green­-

field,

Wisdom; Weigl, Achikar. kennen auch die Achikar-Sprüche (1; 97 – Zählung nach Weigl, Achikar, S. 73– 79; 507–509) einen Lobpreis der himmlischen Weisheit, der traditionsgeschichtlich mit Sir 1,9–10; 24; Hi 28; Prov 8,22–31; SapSal 7 und 1 Hen 42 zu vergleichen ist; vgl. Küchler, Weisheitstraditionen, S. 46; 380–412; Witte, Leiden, S. 210–211. 64 Kaiser, Weisheit für das Leben. 63 Z. B.

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Ausgestaltung des Glaubens an den einen Gott in verschiedenen weisheitlichen Schriften des Alten Testaments erhellt. Die Beiträge zum Gesetzesverständis von Sir 17 und zu den Mosetexten (Sir 24,23; 45,1–5) bestätigen die vor allem von Ursel Wicke-Reuter herausgearbeiteten Bezüge des Sirachbuchs zu stoischen Konzeptionen.65 Dabei zeigen die hier versammelten Aufsätze zu den Kontexten des Sirachbuchs durchgehend, wie dieses Buch die ältere israelitisch-jüdische Tradition rezipiert, wie sie diese transformiert und wie sie auf jüngere weisheitliche Texte theologisch gewirkt hat. Im Vergleich mit der Sapientia Salomonis wird zugleich deutlich, wie sich die Aufnahme paganer Philosophie, zumal mittelplatonischer und stoischer Vorstellungen, in den jüngeren jüdischen Weisheitsschriften fortsetzt und wie sich jüdische Frömmigkeit in der hellenistisch-römischen Diaspora von einer Ausrichtung an Jerusalem und seinem Tempel hin zu einer vor allem durch Gebet, Gotteserkenntnis und Schriftauslegung geprägten Verehrung des einen Gottes Jhwh, der seinem Volk zu „jeder Zeit und an jedem Ort“ beisteht (SapSal 19,22), verlagern kann.

5. Forschungen zu einzelnen Themen des Sirachbuchs Der Fülle der im Sirachbuch angesprochenen Gegenstände entsprechend, finden sich in der neueren Forschung zahlreiche thematische Einzelstudien. Diese lassen sich im Wesentlichen sechs Feldern zuordnen. Ein erster Komplex betrifft das Gottesverständnis und die Theologie, einschließlich der Frage nach der Gerechtigkeit Gottes.66 In dem diesem Band beigegebenen Aufsatz „Theologien im Buch Jesus Sirach“ werden die unterschiedlichen Rollen Gottes als Schöpfer, Richter und Erlöser traditions- und theologiegeschichtlich verortet sowie hinsichtlich ihres Beitrages zum Verständnis von Weisheit als Theologie und ihres Potentials für eine gesamtbiblische Theologie ausgewertet. Auch die Artikel zum „Gesetz des Lebens“ (Sir 17,11) sowie zum „Glauben an den einen Gott in der israelitisch-jüdischen Weisheit“ dienen der Erhellung der spezifisch siracidischen Rede von Gott. Am Beispiel des Gegenübers von „Barmherzigkeit und Zorn Gottes im Buch Jesus Sirach“ wird eine für das Gerechtigkeitsverständnis und die Theologie des gesamten Alten und Neuen Testaments zentrale Vorstellung hinsichtlich ihrer traditions- und religionsgeschichtlichen Aspekte beleuchtet und zugleich die für die Theologie des Sirachbuchs entscheidende Rede von Gott als dem schlechthin Barmherzigen (‫רחום‬, ὁ ἐλεήμων, Sir 50,19) herausgearbeitet. Ein zweites gegenwärtig intensiv bearbeitetes Themenfeld umfasst das Menschenbild und das Ethos, speziell Fragen der Geschöpflichkeit, des Verhältnisses der Geschlechter und des Umgangs mit Armut und Reichtum. Hier ist 65 Wicke-Reuter,

Providenz. für die ältere Forschung Prato, Il problema; für die neuere Zeit: Egger-Wenzel, God; Beentjes, Theodicy. 66 Vgl.

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besonders die Studie von Bradley C. Gregory (2010) zu Ben Siras Umgang mit Besitz sowie zu dessen spezifischen Ausführungen zur Gewährung von Darlehen, Bürgschaften und Almosen zu nennen.67 Wesentliche theologische und anthropologische Koordinaten der einschlägigen Ausführungen des Sirachbuchs zu Arm und Reich sind nach Gregory der Glaube an die vergeltende Gerechtigkeit Gottes und die Überzeugung von der Endgültigkeit des Todesgeschickes.68 Menschliche Großzügigkeit erscheine bei Ben Sira als Erfüllung des carpe-diem-Motivs, als Mittel des Erwerbs eines himmlischen Reichtums, aus dessen Reservoir Gott gerecht vergeltend ausschütte, und als Mittel der Sühne von Sünden. Einerseits relativiere Ben Sira Reichtum im Blick auf andere Werte, andererseits schreibe er ihm eine besondere kultische Funktion zu. Im großzügigen Umgang des Menschen mit materiellen Gütern spiegele sich die Erfüllung der von Ben Sira als ethische Norm verstandenen imitatio dei. Sachgemäß diskutiert Gregory „Reichtum und Armut“ im jüdischen Schrifttum der hellenistischen Zeit, vor allem in den Proverbien und im Tobitbuch, sowie zeit- und sozialgeschichtliche Kontexte. Der in diesen Band aufgenommene Beitrag zur frühjüdischen Ethik typologisiert die unterschiedlichen Motivationen der frühjüdischen Weisheit,69 sich gegenüber den Armen und Bedürftigen solidarisch zu erweisen, und lokalisiert diese im anthropologischen, ethischen, hamartiologischen und soteriologischen Gesamtverständnis der jeweiligen Schrift. Sofern Almosen eine den Tod überwindende Kraft zugesprochen werden kann (vgl. TestSeb 8,1–2; TestBen 4,1; PsSal 9,5), ist damit zugleich die Eschatologie im frühen Judentum angesprochen. Gezielt der Eschatologie, einschließlich der Frage nach messianischen Vorstellungen, sind einzelne neuere Studien gewidmet, die das Verständnis der Geschichte im Sirachbuch thematisieren.70 Die in diesem Band versammelten Aufsätze zu Sir 49,8–10 und 49,15 sowie zu Sir 36 im Rahmen der Darstellung von „Zorn und Barmherzigkeit“ zeigen, dass Ben Sira, auch wenn er grundsätzlich die traditionelle israelitische Vorstellung vom Tod als absoluter Grenze teilt (vgl. Sir 14,15–19), seit dem 3. Jh. v. Chr. im Judentum aufkommende apokalyptische Gedanken kennt. In G-II, Syr und La schlägt sich dann deutlich die Verbindung von Weisheit und Eschatologie nieder, die auch in einzelnen späten Psalmen (wie z. B. Ps 37)71 oder besonders massiv in der Sapientia Salomonis zu greifen ist. Im Zentrum eines vierten zur Zeit diskutierten Themenkomplexes stehen der Kult und die Frömmigkeit, mit einem Schwerpunkt auf dem Verhältnis 67 Gregory,

Ring; Wright / Camp, Gold; Kaiser, Arm. besonders Sir 4,1–10; 7,11; 7,29–36; 8,12–13; 10,19–24.30–11,1; 11,4–6; 11,11– 13.20–22; 12,1–6; 13,2–23; 14,3–19; 21,5; 29,1–20; 35,1–5; 35,20–22. 69 S. 225–293. 70 Corley, Seeds; Wright, Eschatology; Rey, 4QInstruction; ders., L’espérance; Reite­ rer, Aspekte; zu postmortalen Vorstellungen in Sir auch Schnocks, Totenerweckung. 71 Vgl. Witte, Psalm 37. 68 Vgl.

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Sirachs zum Jerusalemer Priestertum und zum Tempel72 sowie zur Bedeutung des Gebets. Zu Letzterem ist besonders auf die Dissertation von Werner Urbanz (2009) zu verweisen.73 Urbanz bietet eine Übersicht über alle zum Wortfeld „beten“ gehörenden Lexeme in G und – soweit möglich – über deren hebräische Äquivalente, listet die statistische Verteilung im Buch auf und ordnet das entsprechende Lexem jeweils in die Gesamtkomposition ein. Im Anschluss an Claus Westermann74 werden als Grundformen des Gebets im Sirachbuch die Klage und das Lob bestimmt. Zwischen beiden Formen stellt Urbanz eine starke Interdependenz fest. Im Einzelnen unterscheidet er zwischen eigentlichen Gebeten, Reflexionen über Gebete und Anleitungen zum Gebet. Als Trägergruppen des Gebets erscheinen Menschen im allgemeinen, Schüler Ben Siras und der Weisheitslehrer. Wesentliche Anlässe zum Gebet gründeten in Gott selbst und in besonderen menschlichen Situationen wie Freude oder Leid. Als ein für das Sirachbuch charakteristisches Element der Klage arbeitet Urbanz die Verbindung mit dem Thema Sünde heraus. Dies ist aber, wie das Moment der Sühne, insgesamt ein Merkmal jüdischer Gebete aus hellenistisch-römischer Zeit.75 Ungebrochen ist das Interesse der Forschung am Verständnis der Weisheit und ihrer Personifikation, zumal in Kap. 24. Hier tritt in jüngerer Zeit im Zusammenhang der Thesen von einer Sapientialisierung der Tora und einer Nomisierung der Weisheit76 verstärkt die Frage nach dem mehrdeutigen Verständnis von ‫ תורה‬und νόμος im Sirachbuch, nach dem Verhältnis von ‫תורה‬ und νόμος zu ‫ חכמה‬und σοφία sowie nach dem Verhältnis von universaler und partikularer Weisheit bzw. allgemeiner und spezieller Offenbarung (vgl. besonders Sir 17,1–21) hinzu.77 Letzter Text steht auch im Mittelpunkt der in diesem Band befindlichen Interpretation des Motivs vom „Gesetz des Lebens“ bei Sirach, bei der ebenso auf die traditionsgeschichtlichen Vorläufer in Dtn 4 und 30, im Ezechielbuch und in weisheitlichen Paränesen wie auf Parallelen im Sirachbuch (Kap. 24; 45,1–5), verwandte Konzeptionen in Ps 19 und 119, in Bar 3–4 im Schrifttum von Qumran (u. a. 4Q525) sowie auf Analogien in der Stoa eingegangen wird. Schließlich finden die gegenwärtig in den Kultur- und Geisteswissenschaften vielfältig diskutierten Themen wie die Konstruktion von Identität versus Fremdheit, von Raum und Zeit, von Ethnizität, von Körper und Geschlecht, das Verständnis von Emotion und Person und der Gebrauch von Sprache, insbesondere von Metaphorik, ihren Niederschlag in der Arbeit am Sirachbuch. Hier kann die Sirachforschung, wie die Bibelwissenschaft als ganze, von kul72 Mulder,

Simon; Fabry, Sirach; Wright, Fear. Gebet; ders., Gebetsschule; vgl. auch Liesen, Praise; Reitemeyer, Weisheitslehre; Gilbert, Prayer; Palmisano, Salvaci; dies., La prière. 74 Westermann, Lob. 75 Siehe dazu Egger-Wenzel / Corley, Prayer; van der Horst / Newman, Prayers. 76 Vgl. Schipper / Teeter, Wisdom. 77 Reiterer, Akzente; ders., ‫ ;הכמה‬Schmidt Goering, Root. 73 Urbanz,

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turwissenschaftlichen Definitionen von Strukturen und Referenzen sowie von kulturwissenschaftlichen Methoden und Theorien profitieren. Jüngere beachtenswerte Beiträge stammen von Marko Marttila zum Verständnis der Völker (2012) und von Theresa Ann Ellis (2014) zur Konstruktion von Geschlecht. Eine kleine Übersicht zu Elementen jüdischer Identität hat jüngst Jeremy Corley (2015) vorgelegt.78 Marttila stellt dar, wie Ben Sira jüdische Identität im Hellenismus nicht mittels Isolation oder Assimilation, sondern mittels Adaption bestimmt.79 Dabei zeige Ben Sira eine differenzierte Sicht auf die Völker, die sich gemäß der Auslegung einschlägiger Stellen aus der Tora und den Propheten in „anti-elect nations“ (Kanaanäer, Amalekiter, Midianiter und Philister, die unter dem Zorn Gottes stehen80), „non-elect nations“ (Feinde Israels, die Segen erhalten können, wenn sie sich mit Israel arrangieren) und „elect nation“ (Israel) klassifizieren ließen.81 Marttilas Untersuchung verdeutlicht einmal mehr die Rolle Ben Siras als Ausleger der heiligen Schriften des antiken Judentums. Die Studie von Ellis bietet eine semantische Analyse des Geschlechterbildes und der Geschlechterkonstruktionen des hebräischen Sirachbuchs, wie es sich aus seiner unpersönlichen Rede ergibt.82 Dabei kommen neben klassischen formgeschichtlichen Fragen, u. a. zum Rückgriff Ben Siras auf griechisch-hellenistische Gattungen, auch historische Kontexte zur Sprache, so die hellenistische Umwelt und das Leben unter seleukidischer Dominanz. Den Schwerpunkt bilden linguistische Analysen der Texte, in denen weibliche Figuren göttlicher Natur, wie die personifizierte Weisheit, und menschlicher Natur, wie Mütter, Töchter, Ehefrauen – stets im Gegenüber zu Vätern, Söhnen und männlichen Freunden, stehen.83 Darüber hinaus blickt Ellis auf biblische Vergleichstexte, vor allem aus den Proverbien und aus dem Canticum, sowie auf von Ben Sira rezipierte Texte aus der Tora, u. a. aus Gen 1–4. Vor dem Hintergrund einer homosozialen Welt sei Ben Sira nicht, wie häufig vertreten, als Frauenfeind anzusprechen. Im Gegenüber zur paganen Welt sowie im Unterschied zu sozialen Rollenmodellen der klassischen Antike und des Hellenismus kennzeichne ihn vielmehr eine Hochschätzung der Frau und weiblicher Sexualität, was sich nicht zuletzt in der erotischen Metaphorik der personifizierten Weisheit zeige.

78 Corley,

Elements. Nations; vgl. auch Wright, Nations; Reiterer, Fremde. 80 Siehe dazu den Beitrag zu „Barmherzigkeit und Zorn Gottes“ in diesem Band S. 83– 105. 81 Zu Ben Siras Vorstellung der Erwählung Israels und der Völker siehe auch Schmidt Goering, Root. 82 Ellis, Gender; vgl. auch Balla, Family. 83 So werden ausführlich die hebräischen Texte Sir 4,11–19; 6,18–31; 7,18–26; 9,1–9; 9,10–16; 14,20–15,8; 22,9–15; 23,16–21; 23,22–27; 25,13–26,3; 26,13–17; 33,20–30; 36,18–26; 37,14–26; 40,18–27; 42,7–9 und 51,13–30 ausgewertet. 79 Marttila,

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6. Forschungen zur Rezeptionsgeschichte des Sirachbuchs Auch hier spiegelt die Sirachforschung einen gegenwärtigen Forschungstrend in den Geistes- und Kulturwissenschaften. Allerdings steht eine umfassende rezeptionsgeschichtliche Erforschung des Sirachbuchs noch am Anfang. Bisher vorgelegte Studien konzentrieren sich zumeist auf die Modifikation der Gestalt der (personifizierten) Weisheit in der Sapientia Salomonis (vgl. besonders 6,22–11,1) und auf einzelne Zitate im rabbinischen Schrifttum.84 Eine systematische Untersuchung der Aufnahme des Sirachbuchs im frühjüdischen Schrifttum, einschließlich der Schriften Philos und aus Qumran, fehlt noch. Von einer solchen Untersuchung wären sowohl weitere Aufschlüsse über die Text- und Überlieferungsgeschichte des Sirachbuchs als auch über traditionsgeschichtliche Entwicklungen weisheitlicher Vorstellungen zu erwarten. Ebenso fehlt eine systematische Untersuchung der Rezeption im frühchristlichen Schrifttum, zumal im Neuen Testament. Die überragende Bedeutung, die z. B. Sir 24 für Joh 1 und bestimmte Formen einer weisheitlichen Christologie spielt, ist längst erkannt. Im Rahmen der hier vorgelegten Beiträge zu den „Theologien im Buch Jesus Sirach“ und zum „Glauben an den einen Gott“ wird darauf eingegangen.85 Eine gezielte Durchsicht neutestamentlicher Texte auf Anspielungen und Zitate aus dem Sirachbuch böte einen guten Ausgangspunkt für die Entfaltung einer biblischen Theologie.86 Die Auswertung und Klassifikation der im Index der loci citati vel allegati des Novum Testamentum Graece (282012) genannten Sirachstellen könnte einen Anfang bilden. Wie bei allen anderen Forschungsfeldern sind auch im Rahmen der Erhebung der Rezeptionsgeschichte die unterschiedlichen Versionen des Buchs mit ihren je eigenen Überlieferungs- und Glaubensgemeinschaften zu berücksichtigen, zumal sich die jüdischen und christlichen Rezeptionsgeschichten des Sirachbuchs allein schon aufgrund der unterschiedlichen kanonischen Geltung und der starken Differenzen in den verschiedenen Gestalten sehr viel stärker als bei anderen biblischen Büchern voneinander unterscheiden.

7. Ausblick Vielleicht stärker als in anderen Bereichen der alttestamentlichen Wissenschaft zeichnet sich in der Sirachforschung in wichtigen Fragen ein weitgehender Konsens ab. Die Authentizität der in der Kairoer Geniza gefundenen hebräischen Fragmente ist spätestens seit den Textfunden in Qumran und Masada unbestritten, auch wenn im Einzelfall, vor allem bei H-II, mit Rückübersetzungen aus G 84 Neher,

Wesen; Labendz, Rabbinic Literature; Wright, Sanhedrin. S. 59–82 bzw. S. 245–262. 86 Vgl. dazu vorläufig Pistone, Blessing; Marttila, Sirachbuch; Corley, Tracing. 85 Siehe

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oder Syr und so mit Interdependenzen zwischen den Versionen und ihren unterschiedlichen Textgeschichten zu rechnen ist.87 Die Datierung Ben Siras in das erste Viertel des 2. Jh. v. Chr. ist unbestritten. Auch wenn im Einzelnen darüber diskutiert wird, ob Ben Sira eher in die Zeit um 190 oder um 175 v. Chr. zu datieren ist, so ist man sich hinsichtlich einer vorhasmonäischen Ansetzung einig. Das Gebet um die Errettung Zions in Sir 36,1–22 ließe sich gut als Reflex auf die Zeit nach der Niederlage des Antiochus III. 190 v. Chr. gegen die Römer und den damit verbundenen wachsenden Druck seitens der Seleukiden auf Jerusalem verstehen.88 Die unmittelbare zeitgeschichtliche Korrelation einzelner Aussagen, z. B. auch der antisamaritanischen Notizen in 47,12–25 und 50,25–26, bleibt aber hypothetisch. Die in diesem Band vorgeführte Analyse der relecture von 1 Kön 12 in Sir 47 diskutiert die Möglichkeiten der Verortung Ben Siras im Kontext der Konkurrenz von Jerusalem und Samaria in hellenistischer Zeit und geht, wie auch der Beitrag zur Josephsnotiz in 49,15, auf die „Samaritanerfrage“ ein.89 Dass der griechische Kurztext, einschließlich des Prologs, auf den Enkel Ben Siras zurückgeht, ist weitgehend unbestritten. Die Annahme, der Prolog sei sekundär und stehe erst im Zusammenhang der christlichen Rezeption des Sirachbuchs, so Bernd Jørg Diebner (1982) und Giuseppe Veltri (2006) mit der Datierung des Prologs in das 1. oder 2. Jh. n. Chr.,90 ist eine Sondermeinung. Durchgehend ist in der Forschung die systematisierende Kraft des Sirachbuchs erkannt. Das Werk bildet eine gewaltige Zusammenschau weisheitlicher, priesterlich-kultischer, juridischer und historiographischer bzw. prophetischer Traditionen des antiken Judentums. Im Schatten der Korrelation von Weisheit und Tora – wie immer auch im Einzelnen der Begriff der Tora gefüllt und das genaue Verhältnis von Weisheit und Tora bestimmt wird91 – entfaltet es eine ganz eigene Form der Rede von Gott, die von besonderer Bedeutung für eine biblische Theologie ist. Zunehmend wird der Charakter des Sirachbuchs als höchst kreative Form der Schriftauslegung erkannt und vor dem Hintergrund schriftgelehrter Prozesse und deren Hermeneutiken im antiken Judentum betrachtet. Ein wesentlicher Dissens besteht in der Frage, auf welcher Textbasis das Buch zu kommentieren sei. Der diesen Band eröffnende Beitrag zur „Hiobnotiz“ in Sir 49,8–10 klassifiziert vier bzw. fünf Modelle der Kommentierung nach dem jeweils zugrunde gelegten Text, sei es G (als G-I und / oder G-II), 87 Siehe

422.

dazu exemplarisch Reiterer, Differenz, und Rey, Un nouveau feuillet, S. 421–

88 Marböck, Gebet, S. 159. Zum Versuch, Sir 36 im Kontext eines mit der Heliodor-Affäre (vgl. 2 Makk 3) vergleichbaren Ereignisses unter Seleukos IV. (187–175 v. Chr.) zu verorten, siehe die umfassende Studie von Palmisano, Salvaci, S. 305–314. 89 S. 151–170 bzw. S. 171–187. 90 Diebner, Großvater; Veltri, Libraries, S. 196. 91 Siehe dazu Reiterer, Akzente; ders., ‫ ;חכמה‬ders., Interpretation; Veijola, Law; Wright, Torah.

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sei es H (als H-I und / oder H-II), sei es ein durch Rückübersetzung von G gewonnener hebräischer „Volltext“ oder ein aus G und H kritisch rekonstruierter „Mischtext“, und bietet eine kritische Würdigung.92 Moderne Kommentare von La und Syr gibt es bisher nicht. Im Sinn des pluralen Kanonsverständnisses, welches das Sirachbuch selbst lehrt, und einer wirklich ökumenischen Exegese ist zu hoffen, dass diese Lücke bald geschlossen wird.

92 S. 23–37.

I. Einleitungsfragen

Ist auch Hiob unter den Propheten? Grundsätzliche Probleme der Sirachexegese am Beispiel von Sir 49,8–101 „Er (d. h. Hiob) ist Prophet und als solcher ein Symbol des Menschen.“ (Hermann Cohen, 1928)2 Abstract: This article introduces the text and transmission history of the book of Ben Sira / Jesus Sirach and demonstrates fundamental problems of the exegesis of this work using the example of the large variations between Hebrew, Greek, Syriac and Latin versions of Sir 49:8–10. In light of the differences between the versions, which each have their own system of intertextual references, this essay favors a synoptic commentary of the book with each version interpreted separately. With respect to the various reception histories of the Hebrew text, the Septuagint, the Peshitta, the Vetus Latina, and the Vulgate, a canonical pluralism becomes evident which, in principle, applies to every biblical book.

Die Textfunde von Qumran, die auch durch diese bedingte neue Blüte der Septuagintaforschung, aber auch grundsätzliche methodologische Überlegungen zum Verhältnis von Textgeschichte und Literargeschichte sowie ein den interkonfessionellen Dialog begleitendes plurales Kanonsverständnis erfordern nicht nur eine Neubestimmung der Größe „Urtext“, sondern provozieren auch die Frage, welche Gestalt eines biblischen Buchs übersetzt und ausgelegt werden soll.3 In besonderer Weise lässt sich dies am Buch Jesus Sirach zeigen.

1. Das Problem im Überblick 1.1 Die Überlieferungslage Vollständig ist das deuterokanonische Buch Jesus Sirach nur in der Gestalt der griechischen Übersetzung durch den Enkel Ben Siras, in der davon abhängigen lateinischen Version sowie in der syrischen Version erhalten. 1 Der Beitrag geht auf einen Vortrag zurück, den ich am 06.05.2005 an der Lutherischen Theologischen Hochschule Oberursel vor der Internationalen Ökumenischen Konferenz der Hebräischlehrenden (IÖKH) gehalten habe. Für die Einladung danke ich den Veranstaltern, insbesondere Herrn Dr. Reinhard Heitzenröder. 2 Cohen, Religion, S. 266. 3 Die Frage ist freilich nicht neu, wie z. B. schon die bekannte Auseinandersetzung zwischen Augustin und Hieronymus über den Charakter der LXX zeigt; vgl. dazu Markschies, Hieronymus, S. 131–181; 163–169.

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Die griechische Version (G) wird dabei in zwei Textformen repräsentiert: 1. in einer älteren Textform, die sich in den großen Codices (Vaticanus [B], Alexandrinus [A], Sinaiticus [S], Ephraemi Syri rescriptus [C]), niedergeschlagen hat und die als G-I-Version bezeichnet wird, 2. in einer jüngeren, umfangreicheren Textform, die sich in den Rezensionen des Origenes (= GO, repräsentiert durch die Minuskel 253 und die Syrohexapla) und des Lukian (= GL, bezeugt durch die Minuskeln 248; 493; 637) sowie in weiteren bedeutenden Minuskeln und in Kirchenväterzitaten zeigt und die als G-II-Version bezeichnet wird. G-I und G-II basieren auf jeweils unterschiedlichen hebräischen Vorlagen. G-I kommt dem Urtext der Übersetzung des Enkels am nächsten, ohne mit diesem identisch zu sein.4 G-II bildet die Grundlage für die altlateinische Version (La / Vetus Latina / Old Latin), die, von Hieronymus unbearbeitet, in die Vulgata eingeflossen ist.5 Die älteste Handschrift von G bietet der Codex Vaticanus (4. / 5. Jh. n. Chr.). Sie liegt der kritischen von Joseph Ziegler bearbeiteten Göttinger Septuaginta-Ausgabe (21980) zugrunde. Die syrische Version (Syr) geht auf eine hebräische Vorlage zurück, ist aber nach G überarbeitet.6 Sie wird in allen syrischen Codices geboten. Die gegenwärtig älteste Handschrift ist der aus dem 6. / 7. Jh. n. Chr. stammende Codex Ambrosianus, auch Mailänder Codex genannt. Dieser liegt der diplomatischen Textausgabe des syrischen Sirachs von Núria Calduch-Benages, Joan Ferrer und Jan Liesen (2003) zugrunde. Eine kritische Ausgabe des syrischen Sirachs gibt es bisher nicht. Die in Vorbereitung befindliche Ausgabe des Leidener Peschitta-Unternehmens wird ebenfalls den Codex Ambrosianus (7a1) als Basistext verwenden. Seit den Textfunden in der Geniza der Karäer-Synagoge in Altkairo in den Jahren 1896 ff., in Qumran 1947 ff. und auf Masada 1964 ff. sind umfangreiche Fragmente der hebräischen Fassung (H) des Sirachbuchs vorhanden.7 Gemessen am Text der G-I-Version repräsentieren die hebräischen Fragmente ca. 65 % des Buchbestandes.8 Die Fragmente verteilen sich auf acht Gruppen: 4 Vgl. dazu die grundlegenden Untersuchungen zur Übersetzungstechnik des Enkels, die Wright, Difference; ders., Access; ders., Translation Greek; Wagner, Septuaginta, S. 30–45; 64, vorgelegt haben. 5 Dabei stammt die lateinische Fassung der Kap. 44–50 von einem jüngeren Übersetzer als die der Kap. 1–43 und 51 (Peters, Buch, S. LXVII; Marböck, Sirach / Sirachbuch, S. 16; Wagner, Septuaginta, S. 43). Darüber hinaus weist La nicht die in allen griechischen Handschriften vorhandene Blattvertauschung (Sir 33,13b–36,16b vor 30,25–33,13a) auf, so dass La auf einen anderen Hyparchetyp verweist als die griechische Überlieferung (siehe dazu auch Reiterer, Zählsynopse, S. 20; Wagner, Septuaginta, S. 34). 6 Siehe dazu grundlegend die Studie von Nelson, Version. 7 Zur Fundgeschichte siehe Reif, Discovery; Reiterer, Bibliographie, S. 16–39. 8 Vgl. die Übersicht in Reiterer, Bibliographie, S. 26–28, sowie Anm. 15 auf S. 26.

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1. auf zwei bisher aus Qumran bekannte Stücke: (a) 2Q18 mit minimalen Resten aus Sir 1,19–20 oder (wahrscheinlicher) aus Sir 6,14a–15b und aus Sir 6,20a–22b.26a–31b aus der zweiten Hälfte des 1. Jh. v. Chr.,9 (b) 11QPsa (= 11Q05) XXI,11–17; XXII,1 mit nicht stichisch geschriebenen Teilen von Sir 51,13–19b#.20a–d.30b, aus dem frühen 1. Jh. n. Chr.10 2. Ein stichometrisch geschriebenes Fragment aus Masada (= HMas) mit 7 Kolumnen, die Sir 39,27–44,17 repräsentieren, aus der Zeit zwischen 125 / 100 und 50 / 25 v. Chr.11 3. Fragmente von sechs unterschiedlichen mittelalterlichen Handschriften aus der Kairoer Geniza, die teilweise stichisch geschrieben sind (so HB, HE und HF), teilweise fortlaufend (so HA, HC und HD).12 HA, HB, HD, HE und HF bieten, abgesehen von kleineren Versumstellungen und differierenden Verseinteilungen (vgl. besonders HA) einen durchgehenden Text, während HC ein Florilegium zum Thema „Scham“ darstellt und Sirachstellen aus unterschiedlichen Kapiteln kombiniert. Dubletten innerhalb der einzelnen Handschriften und Überlappungen zwischen einzelnen Handschriften sowie der Vergleich mit der griechischen und der syrischen Version zeigen, dass zwischen zwei hebräischen Textformen, und zwar einer älteren, kürzeren, H-I-Version, und einer jüngeren, längeren, H-II-Version zu unterscheiden ist. H-I kommt der Vorlage von G-I am nächsten und entspricht daher am weitesten dem hebräischen Urtext von Ben Sira. Weiterhin zeigt ein Vergleich der hebräischen Handschriften, dass im Laufe der Überlieferung sekundär Angleichungen an einzelne Redewendungen und Formeln des MT vorgenommen wurden.13 Die Authentizität der Geniza-Fragmente ist spätestens seit den Qumran- und Masada-Funden unbestritten, auch wenn in wenigen Einzelfällen Rückübersetzungen aus dem Griechischen und / oder dem Syrischen vermutet werden.14 Die mittlerweile im Rang einer Standardausgabe stehende Edition aller hebräischen Textfragmente von Pancratius C. Beentjes (1997; 2006) bietet (1) al­ 9 Vgl. Baillet / Milik / de Vaux, Grottes, S. 75–77. Marböck, Sirach / Sirachbuch, S. 15, datiert 2Q18 grob auf die Zeit „vor 68 n. Chr.“ 10 Vgl. Sanders, Psalms, S. 79–85. Nach Marböck, Sirach / Sirachbuch, S. 15, gehört 11QPsa in die Zeit „zwischen 100–50 v. Chr.“ 11 Yadin, Ben Sira, S. 157–158. Marböck, Sirach / Sirachbuch, S. 15, datiert HMas auf den „Beginn des 1. Jh. v. Chr.“ 12 Die Datierung der Handschriften schwankt zwischen dem 10. / 11. Jh. (so z. B. Marböck, Sirach / Sirachbuch, S. 15) und dem 11. / 12. Jh. (so z. B. Rüger, Text, S. 112). 13 Siehe dazu v. a. Beentjes, Tenach, S. 209; ders., Canon, S. 181–182; Schrader, Leiden, S. 38–57; 303. 14 So z. B. von Di Lella, Text, S. 106–147; Skehan / Di Lella, Ben Sira 39, S. 57–59; dagegen Rüger, Text, S. 8.

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le bisher bekannten hebräischen Fragmente je für sich und (2) eine synoptische Darstellung.15 Die besten hebräischen Textzeugen stellen der Masada-Text (HMas) und die Geniza-Handschrift B (HB) dar. Hebräisch bisher nicht belegt sind die Kap. 1; 17; 24 und 28–29, zu den Kap. 21; 22 und 23 liegen nur ganz wenige Verse vor. Demgegenüber findet sich zu dem bisher nur von HB gebotenen, mit Ps 136 vergleichbaren Danklied in Sir 51,12a–o kein Äquivalent in den Übersetzungen, was neben den inhaltlichen Differenzen gegenüber dem sonstigen Sirachbuch ein Indiz für eine nichtsiracidische (zadokitische?) Herkunft sein könnte.16 Als textkritischer Maßstab für Emendationen des hebräischen Textes gilt nach Hans Peter Rüger grundsätzlich, dass H-I nur nach G-I und G-II zu emendieren ist, und H-II nur nach Syr, gegebenenfalls nach G-II.17 1.2 Modelle der Kommentierung Im antiken Judentum erlangte das Werk Ben Siras keinen „kanonischen“ Rang, wenngleich rabbinische Zitate zeigen, dass es eine kanonsähnliche Wertschätzung erfuhr.18 Dennoch ist festzuhalten, dass es keine masoretische Fassung von Ben Sira gibt. Im antiken Christentum hingegen wurde das Buch kanonisch, und zwar in der griechischen Kirche in Gestalt von G-I und G-II, in der lateinischen Kirche in Gestalt der Vetus Latina und in der syrischen Kirche in Gestalt der Peschitta. Aus der Überlieferungslage und dem unterschiedlichen Grad der Kanonizität ergibt sich nun aber die Frage, welches Sirachbuch übersetzt und kommentiert werden soll. Folgende Modelle sind theoretisch möglich: Modell A: Kommentierung des griechischen Textes in Gestalt von G-I Für dieses Modell spricht, dass (1) ein vollständiges Buch kommentiert wird, was Einblicke in die Architektur des Werks erlaubt (ich verweise exemplarisch auf die kompositionelle und inhaltliche Schlüsselstellung der nur im griechischen Text erhaltenen Kap. 1; 17 und 24) und dass (2) das Werk in seiner kanons- und rezeptionsgeschichtlichen Bedeutung im christlichen Kontext ausgelegt wird. Gegen dieses Modell spricht, dass (1) eine Übersetzung ausgelegt wird, die, wie der Enkel Ben Siras im Prolog selbst sagt,19 eine Übertragung 15 Zu

den seither veröffentlichten Fragmenten siehe Elizur, Fragment; dies., Leaves; EliFragment, Rey, Un nouveau feuillet, und Egger-Wenzel, Fragment. 16 Skehan / Di Lella, Ben Sira, S. 569; Schrader, Leiden, S. 74–75; Böhmisch, Textformen, S. 120. 17 Rüger, Text, S. 23. Zurückhaltender formulieren dies Skehan / Di Lella, Ben Sira, S. 60: „there are no iron or golden rules for the textual criticism of The Wisdom of Ben Sira“. 18 Vgl. z. B. die Diskussion in bSan 100b und dazu Böhmisch, Textformen, S. 119, sowie ausführlich Labendz, Rabbinic Literature, S. 347–392. 19 „(15) Laßt euch nun ermahnen, (16) mit guter Gesinnung und Aufmerksamkeit (17) die folgende Lektüre voranzutreiben (18) und Nachsicht dort zu üben, (19) wo es den Anschein haben könnte, (20) daß wir bei der Übersetzung in gewissen Fällen nicht den genauen Sinn getroffen haben, obwohl wir uns fleißig darum mühten. (21) Denn es ist ein Unterschied, das zur / Rand,

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in eine andere Sprach- und Geisteswelt darstellt, und dass (2) das Original und seine Traditions- und Rezeptionsgeschichte ausgeblendet bzw. auf ein Hilfsmittel der Textrekonstruktion von G reduziert werden. Exemplarische Vertreter dieses Modells sind hier grundsätzlich die Kommentare von Andreas Eberharter (1925) und Johannes Marböck (2010). Modell B: Kommentierung des hebräischen Textes in Gestalt von H-I Für dieses Modell spricht der klassische autorenbezogene Ansatz, der auf Erhellung der Ursprungssituation und Ursprungsintention eines Werks zielt. Gegen dieses Modell sprechen der fragmentarische Zustand des Werks und die hermeneutische Offenheit der vermittelnden Institution. So findet sich unter den Sirach-Kommentatoren zu Recht kein Vertreter dieses Modells. Eine annotierte und mit einer knappen Einleitung versehene fortlaufende Übersetzung ausschließlich der hebräischen Fragmente haben in älterer Zeit z. B. Israel Lévi (1898–1901) und in neuerer Zeit Charles Mopsik (2003) und Víctor Morla (2012) vorgelegt. Modell C: Kommentierung des hebräischen Textes in Gestalt von H-I und H-II unter Auffüllung der Leerstellen mittels einer aus G-I, G-II und Syr hergestellten kritischen Rückübersetzung Für dieses Modell spricht, dass ein vollständiges Werk kommentiert wird, das sich dem hebräischen Original möglichst weit annähert. Gegen dieses Modell lässt sich einwenden, dass ein Kunsttext ausgelegt wird, der in dieser Form nie existierte und keinen kanonischen oder quasi kanonischen Rang hatte. Vertreter dieses Modells sind, zumindest tendenziell, Victor Ryssel (1900) und Moshe Z. Segal (21958 / 31972). Modell D: Kommentierung des hebräischen Textes, wo dieser handschriftlich belegt ist, ansonsten Kommentierung des griechischen Textes Für dieses Modell spricht, dass ein vollständiges Buch kommentiert wird, dagegen, dass ein Kunsttext aus zwei verschiedenen Kontexten geschaffen wird. Gleichwohl wird dieses Modell mit leichten Modifikationen am häufigsten vertreten. 1. Norbert Peters (1913) bietet den fortlaufenden Text in einheitlicher Schrifttype mit einem Randverweis, ob H, G oder Syr übersetzt ist; ähnlich verfahren Vinzenz Hamp (1951) und Patrick W. Skehan / Alexander A. Di Lella (1987), wobei Letztere G-II gesondert unterhalb der Hauptübersetzung in einer anderen Sprache zu verstehen, (22) was ursprünglich hebräisch gesagt und danach übersetzt wurde“ ([…] οὐ γὰρ ἰσοδυναμεῖ αὐτὰ ἐν ἑαυτοῖς Ἑβραϊστὶ λεγόμενα καὶ ὅταν μεταχθῇ εἰς ἑτέραν γλῶσσαν) (Übersetzung von Sauer, ATD.A 1, S. 36). Zur Interpretation dieses Prologs vor dem Hintergrund der antiken Übersetzungspraxis siehe den Aristeasbrief (1. Jh. v. Chr.) 3; 11; 32; 38; 45; 121; 176; 308–310, sowie dazu Wright, Prologue, S. 633– 644; Böhmisch, Textformen, S. 101–108; Wagner, Septuaginta, S. 21–30; Marböck, Text, S. 47–63.

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übersetzen, sofern der G-II-Text nicht als Hinweis auf den „ursprünglichen“ Text angesehen wird. 2. Georg Sauer (2000) bietet einen fortlaufenden Text mit differenziertem Schrifttyp (aufrecht für H, kursiv für G). G-II wird teilweise im Obertext, teilweise in den Fußnoten übersetzt. 3. Josef Schreiner / Burkard M. Zapff (2002 / 2010) bieten einen fortlaufenden Text mit einheitlichem Schrifttyp; in den Anmerkungen erfolgt teilweise die Angabe der übersetzten Version (wie in der Einheitsübersetzung); in eckigen Klammern stehen G-II- und HA-Zusätze. Modell E: Kommentierung des hebräischen Textes in Gestalt von H-I und des griechischen Textes in Gestalt von G-I unter jeweiliger Berücksichtigung von H-II, G-II und Syr Für dieses Modell spricht, dass G als Repräsentant eines vollständigen Buchs kommentiert wird und dass H-I als Repräsentant des vermeintlichen Urtextes ernst genommen wird. Bei diesem Modell werden (1) Kompositionsbögen und intertextuelle Bezüge in beiden Werken adäquat dargestellt und (2) die jeweiligen Kontexte in semantischer, formgeschichtlicher, soziokultureller und rezeptionsgeschichtlicher Hinsicht beachtet. Textkritisch gilt der Maßstab, dass G nur dann nach H oder Syr korrigiert werden sollte, wenn G nicht verständlich oder offensichtlich korrupt ist, und dass H nur nach G oder Syr korrigiert werden sollte, wenn H nicht mehr verständlich oder offensichtlich verderbt ist. Ansonsten ist H-I aus H-Varianten zu rekonstruieren. Einen Spezialfall stellt ein weniger aus textgeschichtlicher Perspektive als aus römisch-katholischem Kanonsverständnis entwickelter Vorschlag von Maurice Gilbert dar.20 Nach Gilbert kämen sowohl G-I als auch dem von zahlreichen Kirchenvätern zitierten und kirchlich weitverbreiteten G-II-Text kanonische Bedeutung zu. Daher sollten sowohl G-I übersetzt und ausgelegt werden als auch G-II, der am besten durch die altlateinische Version repräsentiert werde. H-I und H-II haben in diesem Fall eine nur untergeordnete Bedeutung.

2. Sir 49,9 in seinen Kontexten 2.1 Sir 49,9 in der hebräischen Überlieferung

‫ ויגד זני מרכבה׃‬ ‫[ יחזקאל ראה מראה‬13:12] (8) ‫] דק‬....[ ‫ המכלכל כל ד‬ ‫[ וגם הזכיר איוב‬14:11 + x] (9) ‫] תם‬....[ ‫[ וגם שנים עשר הנביאים תהי עצמתם פר‬17:12 + x] (10) ].......[ ‫[ אשר החלימו את יעקב וישעוהו ב‬15:8 + x]

20 Gilbert,

L’Ecclésiastique, S. 233–250.

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Der hebräische Text (H) wird bisher nur von der stichometrisch geschriebenen Handschrift HB (11. / 12. Jh.) geboten. Sir 49,8 (H) bietet keine textkritischen Probleme: Ezechiel sah ein Gesicht und beschrieb die Formen / Gestalten / Wesen (‫)זני‬21 des Thronwagens.

Zum Motiv des Thronwagens (‫ )מרכבה‬ist zum einen auf Ez 1 und Ez 10 sowie auf Ez 43,3 in der Fassung der LXX22 und auf 4QPsEza (= 4Q385) Frgm 4,5–623 zu verweisen. Sir 49,9 (H) hingegen ist textkritisch höchst problematisch: Zunächst ist im ersten Kolon unklar, was auf das Wort ‫ איוב‬folgt. Nach Norbert Peters handelt es sich um einen Wasserfleck, nach Alexander A. Di Lella um einen Tintenfleck.24 Demzufolge lesen dann auch Segal, die Einheitsübersetzung und die Lutherübersetzung nur „Hiob“.25 Dafür, dass auf ‫ איוב‬kein Wort folgte, könnte auf die Kolometrie des Verses verwiesen werden (14:11 + x). Hingegen votieren Rudolf Smend, Victor Ryssel, Zeev Ben-Ḥayyim, Pancratius C. Beentjes, Georg Sauer und Burkhard Zapff dafür, hinter ‫ איוב‬das Wort ‫ (ה)נביא‬zu lesen, also „Hiob, der Prophet“.26 Sodann folgt im zweiten Kolon auf das Wort ‫ כל‬eine Textlücke mit Buchstabenresten. Die Lücke wird unterschiedlich aufgefüllt. Smend, Vattioni und 21 ‫זן‬

ist ein aramäisches Lehnwort, das letztlich aus dem Altpersischen stammt (HALAT, s. v.; Ges18, s. v.) und das sich im Biblischen Hebräisch nur in 2 Chr 16,14 und Ps 144,13 (text. incert.) sowie in Sir 37,28 und 49,8 findet (vgl. dazu Wagner, Aramaismen, S. 49 Nr. 79); zur Verwendung im Biblischen Aramäisch siehe Dan 3,5.7.10.15; zum epigraphischen Befund siehe DNWS I, s. v. zn1 (mit Hinweis auf den Papyrus Nr. 17 bei Cowley, Papyri, S. 52–54 [S. 53, Z. 3]); zur Verwendung in den Targumen vgl. z. B. TO zu Gen 1,11 oder TO zu Lev 11,14. 22 Καὶ ἡ ὅρασις ἣν εἶδον κατὰ τὴν ὅρασιν ἣν εἶδον ὅτε εἰσεπορευόμην τοῦ χρῖσαι τὴν πόλιν καὶ ἡ ὅρασις τοῦ ἅρματος οὗ εἶδον κατὰ τὴν ὅρασιν ἣν εἶδον ἐπὶ τοῦ ποταμοῦ τοῦ Χοβαρ καὶ πίπτω ἐπὶ πρόσωπόν μου. 23 ‫] נגה מרכבה וארבע חיות חית‬...‫המראה אשר ראה יחזק[אל‬. Zum Thronwagen (‫)מרכבא‬ siehe dann weiterhin 4Q286 Frgm. 1 ii,2; 4Q405 Frgm. 20 + Frgm. 21 ii,2–3.5.8; bChag II,1; bChag 13a; bBer 21b sowie zu griechischen Belegen Anm. 47. Zur Thronwagenspekulation im Umfeld Sirachs siehe Marböck, Henoch, S. 141–143; ders., Traditionen, S. 149–150; Mulder, Simon, S. 245–247. 24 Peters, Buch, S. 421, bzw. Skehan / Di Lella, Ben Sira, S. 542. 25 Segal, ‫ספר‬, S. 346; vgl. auch Eberharter, Sirach, S. 156; Hamp, Buch, S. 135; Kaiser, Weisheit für das Leben, S. 114, Mopsik, Sagesse, 311; Wright, Wisdom, S. 2343; Corley, Commentary, 140. 26 Smend, Sirach, hebräisch und deutsch, S. 57; Ryssel, Sprüche, S. 466; Ben-Ḥayyim, Book, S. 62 (‫ ;)נ[ב]יא‬Beentj­ es, Book, z. St. (‫]יא‬.[‫ ;)נ‬ders., Canon, S. 171; Hildesheim, Prophet, S. 206–221; Sauer, ATD.A 1, S. 333. Dem biblischen Sprachgebrauch entspräche die Lesart ‫ ;הנביא‬vgl. 1 Sam 22,5; 2 Sam 7,2; 1 Kön 14,2; 2 Kön 6,12; 19,2 u. ö. (in diesem Sinn votierten R. G. Lehmann auf der unter Anm. 1 genannten Tagung und jüngst Beentjes, Prophets, S. 219).

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Beentjes folgen in ihren Textausgaben G und Syr und lesen ‫„( דרכי צדקה‬Wege der Gerechtigkeit“).27 Segal und Sauer orientieren sich an der parallelen Verwendung von ‫ כול‬im Pilpel in Ps 112,5 und ergänzen dementsprechend zu ‫דבר‬ ‫„( בצדק‬die Angelegenheit in Gerechtigkeit“).28 Ben-Ḥayyim beschränkt sich auf eine Ergänzung zu ‫צדק‬. Sir 49,10 (H) ist nur fragmentarisch erhalten. Sofern die Ausleger nicht auf eine Auffüllung der Lücke verzichten, wie z. B. Beentjes, ergänzen sie nach G (ἀναθάλοι ἐκ τοῦ τόπου αὐτῶν, vgl. G in Sir 46,12) zu ‫פרחות מתחתם‬:29 Und auch die zwölf Propheten: Ihre Gebeine mögen [aufsprossen von ihrer (Grab-)Stätte],30 weil sie Jakob stärkten (‫)החלימו‬31 und ihm halfen durch [...................................................].

Ich konzentriere mich im Folgenden auf V. 9. Als wahrscheinlichste Übersetzung bietet sich für mich an: Und er32 erwähnte auch Hiob, {den Propheten,} der alle Wege der Gerechtigkeit erfüllte.

Die Erwähnung Hiobs erfolgt, wie V. 8 zeigt, im Rahmen des „Lobs der Väter“ im Kontext der Ezechielnotiz. Im Hintergrund dieser Zuordnung Hiobs zu Ezechiel dürfte die Aufzählung der drei urzeitlichen Gerechten (*‫ )צדק‬Noah, Daniel und Hiob in Ez 14,14.20 stehen. Ezechiels Prophetie wird nach Sir 49,8–9 (H) also auf die Themen „Thronwagenspekulation“, einen mystischen 27 Vgl.

auch Ryssel, Sprüche, S. 466; Peters, Buch, S. 419–421; Hamp, Buch, S. 135; Eberharter, Sirach, S. 156; Skehan / Di Lella, Ben Sira, S. 540–545. 28 Segal, ‫ספר‬, S. 346; Hildesheim, Prophet, S. 206–221; Sauer, ATD.A 1, S. 333. Versteht man dann ‫ דבר‬im Sinn von „Wort / Rede“ könnte als Bezugstext auch an Hi 42,7–8 ge­dacht werden. Auf das gelungene Wortspiel ‫ המכלכל כל‬weist zutreffend Mulder, Simon, S. 365– 366, hin. 29 Segal, ‫ספר‬, S. 346; Vattioni, Ecclesiastico, S. 267; Ben-Ḥayyim, Book, S. 62 (‫פר[חות‬ ‫ ;)תח]תם‬Hildesheim, Prophet, S. 208–209. 30 Angesichts der traditionellen Todes- und Jenseitsvorstellung, die sich durch das Si­ rachbuch zieht, dürfte die Wendung metaphorisch zu verstehen sein (so auch Hamp, Zukunft, S. 93). Siebeneck, Bones, S. 419, sieht in Sir 46,12 und 49,10 die Hoffnung ausgedrückt, dass sich der Ruhm der Richter und Propheten in diesen ebenbürtigen künftigen Führern Israels fortsetze. Schwemer, Studien I, S. 42, versteht Sir 46,12 (G) und 49,10 als Ausdruck einer nationalen Eschatologie (ähnlich I, S. 82; 223; II, S. 16). 31 Zu ‫ חלם‬im Sinn von „stärken“ und „heilen“, vgl. Jes 38,16; Ges17, s. v. ‫ חלם‬I; HALAT, s. v.; DCH, s. v.; Ges18, s. v.; Peters, Buch, S. 420; Hamp, Buch, S. 135; Skehan / Di Lella, Ben Sira, S. 540; Hildesheim, Prophet, S. 209; Sauer, ATD.A 1, S. 333, sowie G (παρακαλέω). Hingegen votiert Steck, Abschluß, S. 143, für eine Wiedergabe mit „träumen lassen“ (vgl. DCH, s. v. ‫[ חלם‬I] = Ges17 und HAW, s. v. ‫[ חלם‬II]). 32 D. h. Ezechiel. Hingegen versteht Goshen-Gottstein, Praise, S. 242 Anm. 22, „Gott“ als implizites Subjekt. Smend, Sirach, hebräisch und deutsch, S. 57, und Ryssel, Sprüche, S. 466, lesen im Anschluss an die griechischen Varianten in den Minuskeln 46s und 534 (ἐμνήσθην) ‫אזכיר‬, was zwar den syntaktischen Übergang zu V. 10 erleichtert und in Sir 42,15 (HB) und 51,8 (HB) eine Parallele hätte, aber textkritisch nicht überzeugt (vgl. auch Sauermann, Hiob, S. 120: ‫)אזכירה‬.

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Aspekt, und die Erwähnung Hiobs als des exemplarisch Gerechten, also einen weisheitlichen Aspekt, konzentriert. Beide Linien zeigen sich, wenn auch in unterschiedlichem Maß, im gesamten Sirachbuch.33 Kanonsgeschichtlich ist an der Rezeption von Ez 14,14 in Sir 49,8–9 interessant, dass zwar Noah (vgl. Sir 44,17–18) und Hiob erwähnt werden, nicht aber Daniel. Offenbar stand das Buch Daniel bzw. dessen Vorstufen zur Zeit der Abfassung von Sir 49,9 noch nicht in ‚kanonischem‘ Ansehen. Auslegungs­ geschichtlich ist an Sir 49,8–9 bemerkenswert, dass mitunter Ezechiel aufgrund dieser Notiz als Verfasser des Hiobbuchs angesehen wurde.34 Welcher Intention folgt nun die Erwähnung Hiobs, des Propheten in Sir 49,9? Zunächst steht Hiob in Ben Siras „Lob der Väter“ als ein Beispiel für gerechtes Verhalten. Dass auch der Nichtisraelit im „Lob der Väter“ auftaucht, entspricht der universalen Tendenz des „Väterlobs“ (vgl. vor allem das Proömium in Sir 44,1–5)35. Die Formulierung von V. 9b greift paraphrasierend auf die Gerechtigkeitsbekenntnisse in Hi 6,29; 13,8.15; 17,9; 23,10–11; 27,6; 29,14; 31,4.7, aber auch auf die Erzählernotizen in Hi 32,1 und 42,7–8 zurück.36 Dabei modelliert Ben Sira sein Hiobbild auf der Basis der Rahmenerzählung des Hiobbuchs und stehender Ausdrücke aus der Weisheit, vgl. Ps 112,5; Spr 16,30–32 (eine Art „Hiobparaphrase“); Spr 9,15 und 11,5. Die „Gerechtigkeit Hiobs“ korreliert mit der „Gerechtigkeit der Väter Israels“ (Sir 44,13) und der „Gerechtigkeit Noahs“ (Sir 44,17). Sodann erscheint Hiob als Prophet im Korpus des „Väterlobs“ in einer Reihe mit Elia (48,1), Elisa (48,8), (Jesaja [48,22])37 und Jeremia (49,7), die jeweils den Titel des ‫ נביא‬erhalten, neben den Zwölf Propheten (49,10) sowie neben Josua und Samuel, auf deren besondere ‫ נבואה‬jeweils verwiesen wird (46,1 bzw. 46,13.20).38 Damit ergibt sich, dass im hebräischen Väterlob des Ben Sira sieben Mal auf „Prophetie“ in Israel verwiesen wird,39 einmal auf Prophetie bei den Heiden. Die Einreihung Hiobs unter die Propheten wirft dann auch 33 Vgl.

dazu Marböck, Henoch, S. 133–143; ders., Traditionen, S. 137–153. von Joüon, Ben Sira, S. 583–585, der ‫ הזכיר‬mit Hinweis auf Sir 51,11; Ps 45,18; 71,16 und 77,12 als „feiern / besingen“ übersetzt. 35 Siehe dazu v. a. Mack, Wisdom, und Lee, Studies. 36 Der Nachweis, dass Ben Sira das Hiobbuch voraussetzt, kann hier nicht geführt werden; siehe dazu Reiterer, Verhältnis, S. 405–429. 37 Ein hebräisches Pendant zu 48,22c–d fehlt bisher. HB weist zwischen V. 22b und V. 24 einen Textverlust auf. 38 In Sir 46,1 wird Josua als Diener (‫ )משרת‬bzw. als Nachfolger (διάδοχος) des Mose in / durch Prophezeiung(en) bzw. im prophetischen Amt (‫בנבואה‬, ἐν προφητέιαις) bezeichnet, womit auf Num 27,18–23 und Dtn 34,9–10 rekurriert wird. Mose selbst wird bezeichnenderweise im Väterlob nicht „Prophet“ genannt (vgl. dazu Witte, Mose, in diesem Band S. 123–149). Möglicherweise deutet die Verbindung Josuas mit der Wendung ‫ בנבואה‬in kanonsgeschichtlicher Perspektive schon auf eine zur Zeit Ben Siras vorausgesetzte Bücherfolge Tora – Neviim hin (vgl. dazu Steck, Abschluß, S. 138–139; Beentjes, Canon, S. 169–186; ders., Prophets, S. 212–213, sowie Witte, Kanon, in diesem Band S. 39–58). 39 Hinzu kommen der allgemeine Hinweis auf ausgezeichnete Prophetie im Prolog des 34 So

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ein Licht auf Ben Siras Prophetenbild:40 Nach Sir 49,10 ist es Aufgabe eines Propheten, Israel zu stärken und zu erretten, nach V. 9 gehört zu prophetischer Existenz auch ein Leben in vollkommener Gerechtigkeit. Im Blick auf die Komposition von Sir 49,8–10 kommt der Hiobnotiz eine Brückenfunktion zu: so steht der „Prophet“ Hiob zwischen dem Propheten Ezechiel und den Zwölf Propheten. Die Hoffnung auf ein „Aufsprossen der Gebeine“ der Propheten bedient sich entsprechender Metaphern in Hi 14,9 und Jes 66,14.41 Motivisch wird zugleich auf Auferstehungsaussagen in Hi LXX 42,17 und Ez 37,3 verwiesen. Rezeptionsgeschichtlich trifft sich die Bezeichnung des Nichtisraeliten Hiob als Prophet mit der Auflistung der Propheten der Heiden im Babylonischen Talmud (bBB 15b),42 der Einreihung Hiobs in die Liste von 72 Propheten von Adam bis Maleachi bei Epiphanius von Salamis (1,19), mit der Erwähnung Hiobs als Prophet Allahs im Koran (Sure 4,161[163])43 und mit der Aufnahme des LXX-Nachtrags zum Buch Hiob (Hi 42,17a–e) in die syrische Rezension der Legendensammlung Vitae Prophetarum.44 Auch die Erwähnung der beispielhaften Geduld (ὑπομονή) Hiobs in unmittelbarem Anschluss an die Herausstellung der exemplarischen Leidensfähigkeit und Langmut der Propheten in Jak 5,10–11 könnte auf ein Verständnis Hiobs als Prophet hindeuten.45 Väterlobs (Sir 44,3) und die Erwähnung der Propheten Israels in dem an ein kollektives Bittund Klagelied erinnernden eschatologischen Gedicht in Sir 36,21(16). 40 Siehe dazu Mack, Wisdom, S. 40, der die von Ben Sira genannten Propheten in die Kategorien Gerichtspropheten (Elia, Elisa, Jeremia) und Gnaden- / Hoffnungspropheten (Samuel, Nathan, Jesaja, Ezechiel, XII Propheten) einteilt; Samuel verkörpere beide Aspekte; sowie Marböck, Jesaja, S. 121–135; Hildesheim, Prophet, S. 221; und Beentjes, Prophets, S. 220. 41 Vgl. weiterhin Ps LXX 27,7; TestSim 6,2. 42 „Sieben Propheten weissagten über die Völker der Welt, und zwar: Bileam, dessen Va­ ter, Hiob, Eliphaz der Temaniter, Bildad, der Schuchiter, Zophar, der Naamiter, und Elihu, der Sohn Berakels, der Buziter.“ Zur Korrelation Hiobs mit der Prophetie vgl. auch das frühmittelalterliche Targum zu Hi 3,5, wo auf die Trauer und den Schmerz Jeremias bei der Zerstörung des Tempels und Jonas bei dessen Versenkung im Meer angespielt wird, und zu Hi 27,11, wo Hiob die Freunde durch Inspiration (‫ )בנבואת אלהא‬belehrt (vgl. dazu Mangan, Interpretation, 274–275), siehe weiterhin Maimonides (bei Cohen, Religion, S. 265–266). 43 „Siehe, wir haben dir Offenbarung gegeben, wie wir Noah Offenbarung gaben und den Propheten nach ihm, und Offenbarung gaben Abraham und Ismael und Isaak und Jakob, und den Stämmen und Jesus und Hiob und Jonas und Aaron und Salomo; und wir gaben David den Psalter“ (Übersetzung von M. Henning, Der Koran, Stuttgart 1960); vgl. auch die Erwähnung Hiobs in der mit dem Titel „Die Propheten“ versehenen Sure 21,83. Zur stereotypen Bezeichnung Hiobs / Ayyubs als Prophet in der islamischen Tradition siehe Apt, Hiobserzählung, S. 12–30 (wo auch Hiobs Frau Raḥma zu den „Töchtern der Propheten“ gezählt wird), sowie Müller, Hiob, S. 13–14. 44 Vitae Prophetarum e tribus codicibus Musei Britannici, in: Nestle, Grammatik, S. 86– 107, hier: 105–106. 45 Jak 5,10–11: ὑπόδειγμα λάβετε, ἀδελφοί, τῆς κακοπαθίας καὶ τῆς μακροθυμίας τοὺς προφήτας οἳ ἐλάλησαν ἐν τῷ ὀνόματι κυρίου. ἰδοὺ μακαρίζομεν τοὺς ὑπομείναντας τὴν ὑπο-

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2.2 Sir 49,9 in der griechischen Überlieferung (8) (9) (10)

Ιεζεκιηλ ὃς εἶδεν ὅρασιν +δόξης ἣν ὑπέδειξεν +αὐτῷ +ἐπὶ ἅπμαρτος +χερουβιν καὶ γὰρ ἐμνήσθη τῶν ἐχθρῶν ἐν ὄμβρῳ καὶ ἀγαθῶσαι τοὺς εὐθύνοντας ὁδούς καὶ τῶν δώδεκα προφητῶν τὰ ὀστᾶ ἀναθάλοι ἐκ τοῦ τόπου αὐτῶν παρεκάλεσαν γὰρ τὸν Ιακωβ καὶ ἐλυτρώσαντο αὐτοὺς ἐν πίστει ἐλπίδος

(8) (9) (10)

Ezechiel, der die Schau +der Herrlichkeit+ gesehen hat, die er +ihm +auf / über dem Wagen +der Cheruben+ gezeigt hat. Denn er hat auch der Feinde im Sturm / Regen gedacht und denen Gutes zu tun, die auf rechten Wegen wandeln. Und die Gebeine der zwölf Propheten mögen aufsprossen von ihrer Stätte, denn sie haben Jakob getröstet und haben sie erlöst in / durch hoffnungsvollen Glauben46.

In V. 8a wird die Vision Ezechiels als eine Schau der göttlichen δόξα erläutert. Der Zusatz δόξα orientiert sich an der aus Ez 1,28 bekannten Formulierung ‫מראה דמות כבוד־יהוה‬. Als Subjekt von V. 8b (‫ )ויגד‬erscheint nun aber nicht Ezechiel, sondern Gott, der den Visionär unterweist (ἣν ὑπέδειξεν +αὐτῷ). Der Thronwagen selbst wird als ἅρμα χερουβιν interpretiert.47 Der erste Schwerpunkt der griechischen Sirach-Notiz liegt auf der Thronwagenschau (vgl. Ez 1; 10), unterstreicht also den „mystischen Aspekt“ von Sir 49,8–9. In V. 9 unterscheidet sich der griechische Text erheblich vom hebräischen. So findet sich hier kein Hinweis auf Hiob (‫)איוב‬. Anstelle dessen lässt die griechische Version Ezechiel der „Feinde im Sturm / Regen“ gedenken. Textgeschichtlich führt dies zunächst auf eine Lesung von ‫„( אויב‬Feind“), wobei offen ist, ob ‫ אויב‬bereits in der hebräischen Vorlage des Übersetzers stand oder ob sich der Übersetzer selbst verlesen hat.48 Die Fortsetzung mit ἐν ὄμβρῳ μονὴν Ἰὼβ ἠκούσατε καὶ τὸ τέλος κυρίου εἴδετε, ὅτι πολύσπλαγχνός ἐστιν ὁ κύριος καὶ οἰκτίρμων. Siehe dazu auch Brandt, Endgestalten, S. 77, und Burchard, Hiob, S. 13–18. Hainthaler, Ausdauer, S. 315–324, betrachtet in ihrer breit angelegten Studie zur Rezeption von Hiob im NT Jak 5,11 zu isoliert von V. 10. 46 Die nur hier in der LXX belegte Wendung πίστει ἐλπίδος ist wohl ein Hebraismus, der auf die Verwendung eines Genitivs anstelle eines Adjektivs zurückgeht (vgl. BDR § 165,1). Segal, ‫ספר‬, S. 366, vermutet dementsprechend als Vorlage von G ‫אמונה תקוה‬. 47 Vgl. 1 Chr LXX 28,18; ApkMos 22,8; 33,2–3; TestAbr A 9,31; 10,2; TestHiob 33,9 (vgl. dazu Schaller, Testament, S. 354 Anm. 9b). Im TestHiob 52,6 wird auch der Seelenwagen, der Hiobs Seele mit den Engeln in den Himmel bringt, als ἅρμα bezeichnet (vgl. dazu Schaller, Testament, S. 372 Anm. 10). 48 Nicht überzeugend ist der Vorschlag von Sauermann, Hiob, S. 123–124, G auf eine Randglosse von ‫אויב‬, die ein ursprüngliches ‫„( דניאל‬Daniel“) verdrängt habe, zurückzuführen – ein anderer Kopist, auf den die Lesart von H zurückgehe, habe die Glosse als ‫איוב‬ verstanden und gleichsam den im späteren Judentum angeblich ungeliebten Daniel getilgt.

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(„im Sturm / Regen“) könnte ein erläuternder Zusatz von G sein,49 oder – und das halte ich für wahrscheinlicher – der Hinweis auf eine bestimmte hebräische Vorlage. Nun findet sich der Begriff ὄμβρος („Regenguss, Sturm, Unwetter“) in Dtn 32,2 zur Wiedergabe von ‫ שעיר‬IV („Regenguss“). Dies führt mich zu der Hypothese, dass in der hebräischen Vorlage ursprünglich ‫„( שערה‬Sturm“) stand (vgl. Hi 9,17; 38,1; Nah 1,3).50 D. h.: G bestätigt indirekt eine Lesart ‫אויב בשערה‬, womit dann auf Hi 38,1 angespielt wäre: „Da antwortete Jhwh Hiob aus dem Sturm und sprach.“ Die Lesart ‫ אויב נביא‬wäre dann erst eine spätere Korrektur einer verdorbenen Vorlage. In der jetzigen Gestalt verweist der griechische Text von Sir 49,9(–10) hingegen motivisch auf Ez 38,9.(17),51 also auf die Weissagung gegen Gog und Magog. Dass in Ez MT 38,9 nicht ‫ שעיר‬/ ‫ שערה‬bzw. in Ez LXX 38,9 nicht ὄμβρος verwendet wird, spricht nicht gegen die vorgeschlagene Hypothese, da der Enkel Ben Siras insgesamt frei und gegenüber anderen LXX-Übersetzungen selbständig übersetzt.52 Der zweite Schwerpunkt der griechischen Ezechielnotiz des Sirachbuchs setzt damit die mystisch-apokalyptische Linie von V. 9a fort. Ein dritter Schwerpunkt der griechischen Ezechielnotiz ergibt sich aus der Wendung τοὺς εὐθύνοντας ὁδούς,53 die auf Ez 18,25 und das Motiv der individuellen Vergeltung verweist. Die Annahme, dass hinter Sir 49,9 (G) Ez 18,25(–29) steht, wird noch unterstützt, wenn man der griechischen Variante zu ἀγαθῶσαι κατορθώσαι folgt (vgl. Ez LXX 18,25 LXX-A; 18,29; 33,17–20).54 Sauermann glaubt mit seiner weder textkritisch noch rezeptionsgeschichtlich plausiblen These zugleich das Phänomen erklärt zu haben, weshalb das hebräische Sirachbuch den Nicht­ israeliten Hiob erwähnt, während es den Juden Daniel übergeht. 49 So Peters, Buch, S. 421. 50 Vgl. dazu auch Segal, ‫ספר‬, S. 338, und die Diskussion in bBB 16a sowie in bNid 52a–b. Beentjes, Prophets, S. 219–220, vermutet, wie schon Ryssel, Sprüche, S. 466, und Sauermann, Hiob, S. 120, dass G auf eine Form von ‫„( נבע‬sprudeln“) zurückgehe; vgl. die Übersetzung einer Form von ‫ נבע‬mit einem Derivat von ὀμβρέω in Sir 10,13; 50,27; Spr [Th.] 18,4; Ps [Aq.] 77(78),2. 51 Wenn als implizites Subjekt von V. 9 „Gott“ verstanden wird (s. o. Anm. 32; Lee, Studies, S. 226), dann liegt es nahe, ἐν ὄμβρῳ als „mit Sturm“ zu übersetzen und als Parallele auf Ez 38,22 und SapSal 16,16 zu verweisen (vgl. auch Homer, Il. V,91; X,6; XI,43); vgl. dazu auch Sauermann, Hiob, S. 120. 52 Siehe dazu Wright, Difference, S. 112–118; 228–230. 53 Vgl. Num 22,23; Ps 5,9; 118(119),5; Spr 9,15; 29,27; Sir 2,6; 37,15; PsSal 8,6; TestSim 5,2; TestJud 26,1. 54 Ez LXX 18,25–29: καὶ εἴπατε Οὐ κατευθύνει ἡ ὁδὸς κυρίου. ἀκούσατε δή, πᾶς οἶκος Ισραηλ· μὴ ἡ ὁδὸς μου οὐ κατευθύνει; οὐχὶ ἡ ὁδὸς ὑμῶν οὐ κατευθύνει; ἐν τῷ ἀποστρέψαι τὸν δίκαιον ἐκ τῆς δικαιοσύνης αὐτοῦ καὶ ποιήσῃ παράπτωμα καὶ ἀποθάνῃ ἐν τῷ παράπτωματι, ᾧ ἐποίσεν ἐν αὐτῷ ἀποθανεῖται. καὶ ἐν τῷ ἀποστρέψαι ἄνομον ἀπὸ τῆς ἀνομίας αὐτοῦ, ἧς ἐποίησεν, καὶ ποιήσῃ κρίμα καὶ δικαιοσύνην, οὗτος τὴν ψυχὴν αὐτοῦ ἐφύλαξεν καὶ ἀπέστρεψεν ἐκ πασῶν τῶν ἀσεβειῶν αὐτοῦ, ὧν ἐποίησεν, ζωῇ ζήσεται οὐ μὴ ἀποθάνῃ. καὶ λέγουσιν ὁ οἶκος τοῦ Ισραηλ Οὐ κατορθοῖ ἡ ὁδὸς κυρίου. μὴ ἡ ὁδὸς μου οὐ κατορθοῖ, οἶκος Ισραηλ; οὐχὶ ἡ ὁδὸς ὑμῶν οὐ κατορθοῖ; Versteht man auch hier „Gott“ als Subjekt von ἀγαθῶσαι (s. o. Anm. 32), legt sich eine Parallelisierung mit Jer 39(32),41 nahe (vgl. dann auch

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Somit zeigt die Ezechiel-Notiz des griechischen Sirach ohne den Propheten Hiob eine ‚nationalere Dimension‘ als die hebräische Version. Zugleich besitzt sie eine stärkere eschatologische Farbe und geht damit eine engere Verbindung mit V. 10 ein (vgl. Ez 37,1–14 und 4QPsEza [= 4Q385] Frgm. 2,5–8), der innerhalb des griechischen Sirachbuchs seine nächste Parallele in Sir 46,12 besitzt. Die lateinische Version von Sir 49,8–10 (49,10–12 Vg) entspricht hier im Wesentlichen G,55 besitzt aber nun eigene Bezüge innerhalb der lateinischen Überlieferung des Sirachbuchs. 2.3 Sir 49,9 in der syrischen Überlieferung (8) (9) (10)

wḥzqjʼjl ḥzj gnsʼ dmrkbtʼ wḥzʼ ḥzwʼ wʼp ʽl ʼjwb ʼmr dklhjn ʼwrḥth zdjqwtʼ hwj wʼp trʽsr nbjjn nhwwn grmjhwn mzhrjn tḥwtjhwn dʼsjw lʼjsrjl wʼtklw ʼnwn dmtprqjn.

(8) (9) (10)

Und Ezechiel schaute eine Gestalt des Wagens und sah eine Vision. Und er sprach auch über Hiob, dass alle seine Wege Gerechtigkeit waren. Und auch über die zwölf Propheten – mögen ihre Gebeine aufscheinen unter ihnen – dass sie Israel heilten und sie ihnen versicherten, dass sie erlöst würden.“

Inhaltlich bestätigt die syrische Version den Text von HB. Allerdings sind die Kola 8a und 8b vertauscht. In V. 9a wird anders als in G Hiob erwähnt, jedoch ohne den Zusatz „Prophet“. V. 10a entspricht inhaltlich HB, jedoch wird mit der Wurzel zhr („aufstrahlen“) ein anderes Bild evoziert als mit der Wurzel ‫פרח‬ („aufsprossen“) (vgl. Dan MT 12,3; 1 Hen 104,2). In V. 10b paraphrasiert Syr den hebräischen Text. Auf die Bezüge von Sir 49,9 innerhalb der syrischen Bibel kann in diesem Rahmen leider nicht eingegangen werden.

3. Zusammenfassung In der hebräischen Version erhält das Väterlob Ben Siras durch die Erwähnung Hiobs ein besonderes Gefälle. So erscheint als Gegenstand des heilvollen Erinnerns neben den Vätern Israels auch der Nichtisraelit Hiob. Über das eine Leitwort des „Väterlobs“ ‫( זכר‬vgl. Sir 44,9.13; 45,1.11; 46,11; 47,23) rückt Hiob zudem in eine Linie mit Mose (45,1), den Richtern (46,11), Josia (49,1) und Nehemia (49,13). Im „Lob der Väter“ Israels hat auch der Nichtisraelit als Paradigma des Gerechten seinen Ort. Schließlich erscheint die Gabe der Prophetie nicht als etwas exklusiv Jüdisches (vgl. 44,3). In kanonsgeschichtlidie Jeremia-Notiz in Sir 49,7, in deren Hintergrund u. a. Jer 1,4–10; 18,7; 31,28; 20,1–2; 37,15 und 21,10 stehen). 55 Sir Vg 49,10–12: Ezechihel qui vidit conspectum gloriae quam ostendit illi in curru cherubin / nam commemoratus est inimicorum in imbri [et] benefacere illis qui ostenderunt rectas vias / et duodecim prophetarum ossa pullulent de loco suo nam rogaverunt Iacob et redimerunt se in fide virtutis.

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cher Perspektive begegnet über die hebräische Version von Sir 49,9 Hiob nun außerhalb des Hiobbuchs neben der Erwähnung in der lateinischen Version von Tob 2,12.1556 und in Jak 5,10–11 ein drittes Mal. Im Blick auf die literaturgeschichtliche Klassifikation deutet die Charakterisierung Hiobs als Prophet auf ein Verständnis des Hiobbuchs als einer prophetischen Schrift,57 was sich möglicherweise auch in der Kanonstheorie des Flavius Josephus findet (vgl. Apion. I,8), wenn dort „Hiob“ zu den von Josephus genannten 13 Prophetenbüchern zu rechnen ist.58 In der griechischen Version hingegen liegt der Fokus auf der Ezechielrezeption, welche die Thronwagenspekulation, die apokalyptische Vision von Gog und Magog und die Vorstellung von der individuellen Vergeltung in Erinnerung bringt. Dabei bewegt sich die griechische Fassung von Sir 49,9 im Raum der griechischen Gestalt des Ezechielbuchs. In kanonsgeschichtlicher Perspektive könnte die griechische Version von Sir 49,9–10 zu einer Buchfolge von (Jesaja, Jeremia) Ezechiel und Dodekapropheton, d. h. ohne Daniel, führen.59 Im Blick auf die textgeschichtliche Arbeit am Sirachbuch kann Sir 49,9 zeigen, dass bei der Rekonstruktion des „Urtextes“ und der Erklärung der Lesarten in beide Richtungen, d. h. vom Hebräischen zum Griechischen und umgekehrt gedacht werden muss: So ließ sich der lückenhafte hebräische Text von V. 9b nach G, Syr und Ps 112,5 rekonstruieren, während der griechische Text von V. 9a indirekt auf eine hebräische Vorlage verwies, die sich in keiner Handschrift erhalten hat. Insofern der griechische Text in sich verständlich und gut bezeugt ist, ist allerdings keine Emendation geboten. Wenn die Ergebnisse der Analyse von Sir 49,9 auf die in Abschnitt 1 vorgestellten Kommentierungsmodelle angewendet werden, ergibt sich folgendes Bild: Nach Modell A (Kommentierung von G) erscheint Sir 49,8–10 als eine Form der Rezeption und Auslegung der Ezechieltradition. Nach Modell B (Kommentierung von H) ist nur eine punktuelle Auslegung möglich, da der Text fragmentarisch ist. Ausgelegt wird eine Ezechiel-Hiob-Notiz, wobei die Auffüllung der Lücken vor allem in V. 9 zur Kommentierung eines Kunsttextes 56 Tob Vg 2,12 + 15: hanc autem temptationem ideo permisit Dominus evenire illi [i. e. Tobi­ as / Tobit] ut posteris daretur exemplum patientiae eius sicut et sancti Iob […] nam sicut bea­to Iob insultabant reges ita isti [i. e. Tobias / Tobit] parentes et cognati eius et inridebant vitam eius dicentes. Die Verse finden sich innerhalb einer nur in der lateinischen Version des Tobitbuchs vorhandenen Passage, deren Herkunft unsicher ist (siehe dazu Fitzmyer, Tobit, S. 138–139). 57 Goshen-Gottstein, Praise, S. 242. 58 Siehe dazu auch Beckwith, Canon, S. 227 Anm. 43, und Beentjes, Canon, S. 171. Auf ein Verständnis des Hiobbuchs als einer prophetischen Schrift könnten auch die Positionierungen in diversen Kanonslisten bei Origenes und Hilarius hindeuten, wenn dort das Hiobbuch nach dem Ezechielbuch und vor dem Estherbuch erscheint (siehe dazu Brandt, Endgestalten, S. 74; 77; 208; 212). 59 Vgl. Hildesheim, Prophet, S. 214; Brandt, Endgestalten, S. 66–67.

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führt. Dieselbe Problematik zeigt sich auch bei der Auslegung nach Modell C, wenn H durch Rückübersetzung aus G oder Syr gewonnen wird. Nach Modell D (Kommentierung von H, wo ein hebräischer Text vorhanden, ansonsten von G) würde man ebenfalls eine Ezechiel-Hiob-Notiz kommentieren, allerdings in Form eines Mischtextes, insofern in V. 8 H ausgelegt würde, in V. 9 H mit Hilfe von Syr und in V. 10 G. Nach Modell E (Kommentierung von H und G als je eigene Texte) würde einerseits eine Ezechiel-Hiob-Notiz ausgelegt, andererseits eine reine Ezechiel-Notiz. In beiden Fällen wären jeweils die Textgeschichte, die Kompositionsstruktur, die Traditionsgeschichte und die intertextuellen Bezüge herauszustellen. Dieses Verfahren ist zwar das aufwendigste, erscheint mir im Blick auf das Buch Sirach aber als das angemessenste, weil nur so die unterschiedlichen Textformen in ihrer literarischen und theologischen Eigenart mit ihren je eigenen ursprünglichen Adressaten und ihren je eigenen Auslegungsgemeinschaften gewürdigt werden können.60 Insofern ist die eingangs gestellte Frage, ob auch Hiob unter den Propheten sei, mit einem Ja und einem Nein zu beantworten: für die bisher bekannte hebräische Version des Buchs Ben Sira ist er es mit einiger Wahrscheinlichkeit, hingegen erwähnen die griechische Gestalt (und die davon abhängige lateinische Version) des Sirachbuchs den leidenden Gerechten aus dem Land Uz gar nicht, während die syrische Übersetzung zumindest Hiob nennt. Die an Sir 49,9 (H / G) aufgezeigte Problematik einer polyglotten und buchgestaltpluralen Auslegung ist nicht auf das Sirachbuch beschränkt – sie zeigt sich hier nur, wie in den überlieferungs- und kanonsgeschichtlichen Parallelen der Bücher Jeremia,61 Tobit, Esther und Daniel, deutlicher. Prinzipiell gilt sie für jedes biblische Buch.

60 In diesem Sinn äußern sich beispielsweise auch Böhmisch, Textformen, S. 87–92; ders., liber, S. 180; Wagner, Septuaginta; S. 383–387; Marböck, Text, S. 59, und Beentjes, Topics, S. 5. 61 Wobei sich bei Jer das Problem nochmals verschärft, insofern dieses Buch ja auch im Judentum und in allen christlichen Konfessionen kanonisch ist.

Der ‚Kanon‘ heiliger Schriften des antiken Judentums im Spiegel des Buchs Jesus Sirach „Durch den Kanon unterscheidet sich das Judenthum vom alten Israel, seine Entstehung ist identisch mit der Gründung der uniformen Cultusgemeinde auf dem Fundament der schriftlichen Thora. Beides bedingt einander.“ (Julius Wellhausen, 1886)1 „Über die Bibel, ihre Bücher und über den Text dieser Bücher wissen wir viel. Über den Kanon selbst wissen wir nicht viel. Die Bibel weiß nichts vom Kanon.“ (Heinz-Josef Fabry, 2010)2 Abstract: This essay localizes the book of Ben Sira / Jesus Sirach in early Jewish literature and evaluates modern attempts to read it as a proof for a bipartite or tripartite canon in the 3rd century BCE. The question concerning the book’s significance for the history of the collection of authoritative writings in Ancient Judaism has to be answered separately for its various versions. For Ben Sira only the Torah and the Neviim are authoritative scriptures, even though he is acquainted with the Psalms, Job, Qohelet and non-canonical texts such as the Enochic scriptures. By contrast, the Ketuvim also seem to be part of a ‘canon᾽ for the Greek translator, although their scope cannot be delineated precisely. Furthermore, this article illustrates the various techniques of quotation and interpretation of the sacred scriptures in the Hebrew and the Greek version of the book and discusses the question of its canonical status.

1. Auf dem Weg zu einem Kanon der Hebräischen Bibel Spätestens seit der Zerstörung des Jerusalemer Jhwh-Tempels im Jahr 70 n. Chr. durch die Römer ist in der jüdischen Religion an die Stelle eines lokal gebundenen, aus Stein gebauten Heiligtums die heilige Schrift als zentrale Norm für den Glauben und das Leben getreten. Die ‚Schrift‘ (‫מקרא‬, ἡ γραφή) und der Umgang mit ihr kennzeichnen nunmehr jüdische Identität, bilden Quelle der Erkenntnis und Richtschnur des Handelns, sichern den Bestand der Gemeinschaft nach innen und außen und regeln die Beziehung zu Gott, der selbst als Ursprung dieser Schrift verstanden wird. Mit anderen Worten: Zum Judentum gehört, und zwar prinzipiell unabhängig von seinen unterschiedlichen konfes1 Wellhausen, 2 Fabry,

in Bleek, Einleitung, S. 517. Leiden, S. 18.

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sionellen Prägungen, die es vor und nach der Katastrophe von 70 n. Chr. immer hatte, ein Kanon, wenn auch nicht in dem strikten Sinn, den der Begriff im christlichen (und muslimischen) Kontext hat. Der absoluten Hochschätzung der dreigeteilten heiligen, als göttlich inspiriert geltenden sowie in ihrem materialen Bestand prinzipiell abgeschlossenen Schrift, der Tora (Pentateuch), Neviim (Propheten) und Ketuvim (Hagiographen / Schriften), wie sie sich ausdrücklich wohl erstmals bei Flavius Josephus3 und bei Rabbi Gamliel II.4 Ende des 1. Jh. n. Chr. findet,5 gehen umfangreiche prä- und ‚proto‘-kanonische Sammlungs-, Fortschreibungs- und Auswahlprozesse voraus. Die vor allem mit den Namen der Deuteronomisten (7. / 6. Jh. v. Chr.) und der Priesterschrift (6. / 5. Jh. v. Chr.) verbundenen Phasen der Redaktion der bis dahin überlieferten israelitischen und judäischen Schriften rechtlicher, kultischer, mythischer und historischer Natur bilden entscheidende Etappen auf dem Weg zu einem Kanon. Wie die eigentliche Formierung eines Kanons nach 70 n. Chr. stehen diese Prozesse im Schatten der Bewältigung der Zerstörung des Jerusalemer Jhwh-Tempels, nun des Jahres 587 v. Chr., der Sicherung der eigenen Identität unter den Bedingungen der Fremdherrschaft, 3 In seiner zwischen 93 und 95 n. Chr. verfassten Apologie Contra Apionem (I,8) listet Flavius Josephus 22 göttliche Bücher auf, die den Zeitraum von Mose bis zu Artaxerxes (I., 465–424 v. Chr.) umfassen. Zu diesen zählen (1) die fünf Bücher der Tora, (2) 13 prophetische Bücher sowie (3) vier Lob- und Lehrbücher. Entscheidendes Kriterium der Begrenzung der als göttlich (inspiriert) geltenden Bücher ist wohl die auch in der Tosefta (tSota 13,2) und im Talmud (ySota 24b; bSota 48b) belegte und möglicherweise durch Stellen wie 1 Makk 4,46; 9,27 und 14,41 vorbereitete Vorstellung des Endes der Prophetie in der Perserzeit; vgl. dazu auch 4 Esr 14,18–48. Welche Bücher nach Flavius Josephus genau der zweiten und dritten Gruppe zuzuweisen sind, ist in der Forschung umstritten; nach Beckwith, Canon, S. 119, rechnet Flavius Josephus zu den prophetischen Büchern Hiob, Josua, Richter (eventuell zusammen mit Ruth), (1–2) Samuel, (1–2) Könige, Jesaja, Jeremia (eventuell zusammen mit den Klageliedern Jeremias), Ezechiel, die Zwölf Propheten / Dodekapropheton (als ein Buch), Daniel, (1–2) Chronik, Esra-Nehemia (als ein Buch) und Esther, zu den Lob- und Lehrbüchern die Psalmen, die Proverbien / Sprüche Salomos, Kohelet / Prediger Salomo und Canticum / Hoheslied Salomos (oder, falls Pred und Hhld auszulassen sind, Ruth und die Klgl). 4 „Die Saduzäer fragten R. Gamliél: Woher ist zu entnehmen, dass der Heilige, gepriesen sei er, die Toten beleben wird? Dieser erwiderte ihnen: Aus der Tora, aus den Propheten und aus den Hagiographen“ (bSan 90b, zitiert nach der Übersetzung von Goldschmidt, ‫תלמוד‬ ‫בבלי‬, IX, S. 29; vgl. auch tRHSh 4,6; yMeg 73d–74a; yHag 77b; WaR 16,4). 5 Ob auch Lk 24,44 („das Gesetz des Mose, die Propheten und die Psalmen“) als ein Beleg für einen dreiteiligen Kanon angesprochen werden kann, oder ob hier, wie sonst im NT und im Schrifttum von Qumran, pauschal eine Zweigliedrigkeit („Gesetz und Propheten“) im Blick ist, wobei ausnahmsweise und kontextuell bedingt auch die Psalmen genannt werden, ist umstritten; siehe dazu mit ausführlicher Diskussion der entsprechenden Quellentexte Ulrich, Canon, S. 71; Brooke, Canon, S. 81–98; Lange, Law, S. 78–79. Eindeutig auf einen dreiteiligen Kanon bezogen ist dann der Befund im späteren rabbinischen Schrifttum; vgl. bBB 13b; 14b–15a; siehe dazu Rüger, Siracide, S. 49–50; Brandt, Endgestalten, S. 63–66; 71–72; Alexander, Formation, S. 58–66.

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jetzt der Achämeniden, sowie sich wandelnder gesellschaftlicher und ökonomischer Verhältnisse. Schon die Bildung erster umfassender historiographischer Entwürfe als Anfänge der Geschichtsschreibung und kommentierter Orakelsammlungen als Keimzelle prophetischer Bücher, die unter dem Eindruck des Zusammenbruchs des Königreichs Israel 722 v. Chr. und der aus diesem Ereignis in Juda geborenen Idee eines durch eine gemeinsame Geschichte und einen gemeinsamen Gott geprägten Volkes Israel entstehen, oder – sofern man in dem Bericht in 2 Kön 22 einen historischen Kern entdecken möchte – der Versuch des judäischen Königs Josia 622 v. Chr. eine Vorform des Deuteronomiums als Staat, Gesellschaft und Religion normierende Größe einzuführen, gehören in die Vorgeschichte eines ‚portativen Vaterlandes‘.6 Ob zu dieser Vorgeschichte auch eine ‚persische Reichsautorisation‘ gehörte, gemäß der im 5. / 4. Jh. v. Chr. die Tora als für die Provinz Jehud geltendes Recht sanktioniert wurde,7 was sich in gewisser Weise mit der traditionellen jüdischen Theorie der Restitution des jüdischen Gemeinwesens auf der Basis der Tora unter Esra (vgl. Esr 7 und Neh 8–10) und der von 4 Esr 14,21–48 bis zu Baruch de Spinoza (1670) reichenden These von der Redaktion der Tora unter Esra berührt,8 erscheint angesichts des literarischen Charakters der Tora eher fraglich. Gleichwohl ist unbestritten, dass sich in der Zeit der Achämeniden (538–333 v. Chr.) entscheidende soziale, kulturelle und religiöse Veränderungen im antiken Judentum vollziehen. Zu diesen gehören eine immer stärker werdende gesamtgesellschaftliche Fokussierung auf eine Tempelökonomie und auf eine Hierokratie, was sich literatur- und damit kanonsgeschichtlich in einer intensivierten Redaktion und Auslegung der Überlieferung im Umfeld des Jerusalemer Tempels und der um ihn versammelten schriftgelehrten Schreiber niederschlägt. Ein frühes Zeugnis dieser Entwicklung ist z. B. das im 5. / 4. Jh. v. Chr. entstandene Chronistische Geschichtswerk (1–2 Chr, Esr, Neh). In der Frage, wann und in welchem Umfang denn nun im antiken Judentum von einer das Leben und den Glauben normierenden, exklusiven und unveränderlichen9 Sammlung von göttlich inspirierten Texten, mithin von einem Kanon im engen Sinn des Wortes, gesprochen werden kann, spielt seit den Anfängen 6 Das Bonmot geht auf Heinrich Heines „Geständnisse“ (1853 / 54) zurück und wird seitdem häufig zitiert, vgl. z. B. Fabry, Leiden, S. 19. 7 Vgl. dazu Frei / Koch, Reichsidee; positiv aufgenommen von Blum, Studien, S. 345– 360, und nach wie vor in der alttestamentlichen Wissenschaft heftig diskutiert. 8 Spinoza, Traktat, S. 138–152; zur forschungsgeschichtlichen Einordnung der These Spinozas siehe Houtman, Pentateuch, S. 7–97 (besonders S. 12–13; 40–43). 9 Das bereits bei Flav. Jos. Apion. I,8 genannte Kriterium der Unveränderlichkeit des Textes, was zunächst nicht, wie der disparate Befund der Qumran- und LXX-Handschriften zeigt, den einzelnen Buchstaben, sondern den materialen Textbestand meint, hat eine lange Vorgeschichte in der altorientalischen Literaturgeschichte, zu der auch die ‚Kanonformel‘ in Dtn 4,2 und 13,1 gehört (Veijola, Mose, S. 113; Rüterswörden, Kanonformel, S. 19–27). Zur entfalteten rabbinischen Vorstellung von der Unveränderlichkeit der Schrift siehe Alexander, Formation, S. 66–72.

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der kritischen Bibelwissenschaft das ursprünglich auf Hebräisch abgefasste, später ins Griechische übersetzte, wesentlich von den Sprach- und Denkformen der israelitisch-jüdischen Weisheit geprägte Buch des Jesus Sirach (Ben Sira) eine zentrale Rolle. Beispielhaft ist die Einschätzung von Wilhelm Martin Leberecht de Wette (1780–1849), dem die Wissenschaft – nach Vorläuferwerken von Johann Gottfried Eichhorn (1. Auflage: 1780–1783) und Leonhard Berthold (1812–1891) – die erste ‚moderne‘ Einleitung in das Alte Testament verdankt: „Die älteste Anführung der alttestamentlichen Sammlung als eines Ganzen findet sich im Prologe des Jes. Sirach (ungef. 130 J. v. Chr.), womit jedoch die damalige endliche Schließung der dritten Abteilung noch nicht erwiesen ist.“10 Die Einschätzung, dass mindestens der Prolog zur griechischen Übersetzung des Sirachbuchs einen aus der Tora, den Neviim11 und den Ketuvim (de Wettes „dritter Abtheilung“)12 bestehenden Kanon heiliger Schriften voraussetze, zieht sich seither wie ein roter Faden durch die einschlägigen alttestamentlichen Lehrbücher und Darstellungen der Kanonsgeschichte. Dies beruht im Wesentlichen auf vier Gründen: (1) der Datierbarkeit des Sirachbuchs, (2) der Verwendung von Begriffen, die als spezifische Bezeichnung von einzelnen Kanonsteilen verstanden werden können, so vor allem im Prolog zur griechischen Übersetzung, (3) dem Aufbau des Sirachbuchs und (4) der offensichtlichen Benutzung von Texten, die in der Tora, dem Corpus Propheticum und den Ketuvim versammelt sind. Bei einer solchen Auswertung des Sirachbuchs ist aber durchgehend dessen komplizierte Text- und Überlieferungsgeschichte zu berücksichtigen. So ist zu unterscheiden zwischen der nur fragmentarisch erhaltenen hebräischen Textform, die im Fall ihrer Kurzfassung (H-I) dem 10 De Wette, Lehrbuch, S. 17 (hier zitiert nach der 5. und letzten noch von de Wette selbst bearbeiteten Auflage; die 1. Auflage erschien 1817). 11 Nach der Anordnung in der Hebräischen Bibel gehören dazu die Bücher Josua, Richter, 1–2 Samuel, 1–2 Könige (als Vordere Propheten / Neviim Rischonim) und die Bücher Jesaja, Jeremia, Ezechiel sowie das in der Antike auf einer Rolle geschriebene Dodekapropheton mit den Büchern Hosea, Joel, Amos, Obadja, Jona, Micha, Nahum, Habakuk, Zephanja, Haggai, Sacharja, Maleachi (als Hintere Propheten / Neviim Acharonim). Die Reihenfolge der Hinteren Propheten variiert, siehe dazu für die Antike die unterschiedlichen Anordnungen in 4Q76, in der griechischen Zwölfprophetenrolle aus dem Naḥal Ḥever (8ḤXII) und in der LXX (vgl. Redditt, Formation, S. 3–12, und für die späteren Handschriften und Drucke Beckwith, Canon, S. 450–451; Brandt, Endgestalten, S. 143–144). 12 Hierzu zählen in der Reihenfolge des Codex Leningradensis B 19A, der der gegenwärtigen kritischen Standardausgabe der Biblia Hebraica Stuttgartensia (BHS) und der im Erscheinen begriffenen Biblia Hebraica Quinta (BHQ) zugrunde liegt, wenngleich die BHS die Chronik an das Ende gestellt hat, (1–2) Chronik, Psalmen, Hiob, Sprüche, Ruth, Hohelied, Prediger, Klagelieder, Esther, Daniel, Esra und Nehemia (die beiden Letzteren wurden ursprünglich als ein Buch überliefert). Die Anordnung dieser Bücher ist in den hebräischen Handschriften und Drucken besonders variantenreich, vgl. Beckwith, Canon, S. 452–464; Brandt, Endgestalten, S. 148–171.

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‚Urtext‘ des Ben Sira am nächsten kommt,13 der griechischen Textform, die in einer älteren Kurz- und einer jüngeren Langversion (G-I bzw. G-II) durch die verschiedenen Handschriften und Codices der LXX repräsentiert wird und deren Kurztext (G-I) als Zeuge für die Übersetzung des Enkels Ben Siras angesehen werden kann,14 und der syrischen Textform (Syr), die wohl auf einen hebräischen Text zurückgeht, aber unter dem Einfluss von G überarbeitet wurde.

2. Die Datierbarkeit des Sirachbuchs15 Sofern der Begriff Kanon auf eine Sammlung von Texten bezogen wird, ist er immer auch ein Begriff der Literatur- und der Sozialgeschichte. Kanon, Überlieferung und Auslegung sowie Sozialgestalt der Überlieferungsgemeinschaft stehen in einem engen Wechselverhältnis. Ein Kanon wird aus der mündlichen und schriftlichen Überlieferung einer sozialen Gruppe gewonnen und bedingt zugleich den weiteren Überlieferungsprozess. Er ist in gewisser Weise ein 13 Zu den seit 1896 veröffentlichten hebräischen Fragmenten, die bisher insgesamt etwa zwei Drittel des vermeintlichen Urtextes ausmachen, gehören (1) zwei aus Qumran bekannte Stücke, (a) 2Q18 mit Resten aus Sir 1,19–20 oder (wahrscheinlicher) aus Sir 6,14a–15b und aus Sir 6,20a–22b.26a–31b aus der zweiten Hälfte des 1. Jh. v. Chr., (b) 11QPsa XXI,11–17; XXII,1 mit Teilen von Sir 51,13–19b.20a–d.30b aus dem frühen 1. Jh. n. Chr., (2) ein Fragment aus Masada (HMas) mit sieben Kolumnen, die Sir 39,27–44,17 repräsentieren, aus der Zeit zwischen 125 / 100 und 50 / 25 v. Chr., und (3) Fragmente von sechs unterschiedlichen mittelalterlichen Handschriften aus der Kairoer Geniza (HA–E). Für die Annahme einer älteren, kürzeren H-I-Version und einer jüngeren, längeren H-II-Version sprechen Dubletten innerhalb der einzelnen Handschriften und Überlappungen zwischen den Handschriften sowie der Vergleich mit der griechischen und der syrischen Version. Weiterhin zeigt ein Vergleich der hebräischen Handschriften, dass im Laufe der Überlieferung sekundär Angleichungen an Formulierungen des MT vorgenommen wurden; siehe dazu v. a. Beentjes, Tenach, S. 209; ders., Canon, S. 181–182. 14 G-I hat sich in den großen spätantiken Codices (Vaticanus [B], Alexandrinus [A], Sinaiticus [S], Ephraemi Syri rescriptus [C]) niedergeschlagen. G-II zeigt sich in den Rezensionen des Origenes (GO, repräsentiert durch die Minuskel 253 und die Syrohexapla) und des Lukian (GL, bezeugt durch die Minuskeln 248; 493; 637) sowie in weiteren bedeutenden Minuskeln und in Kirchenväterzitaten. Dabei basieren G-I und G-II auf jeweils unterschiedlichen hebräischen Vorlagen. G-II bildet die Grundlage für die altlateinische Version (La / Vetus La­ tina), die, von Hieronymus unbearbeitet, in die Vulgata eingeflossen ist. Dabei stammt die lateinische Fassung der Kap. 44–50 von einem jüngeren Übersetzer als die der Kap. 1–43 und 51 (Peters, Buch, S. LXVII; Wagner, Septuaginta, S. 43). Darüber hinaus weist La nicht die in allen griechischen Handschriften vorhandene Blattvertauschung (Sir 33,13b–36,16b vor 30,25–33,13a) auf, so dass La auf einen anderen Hyparchetyp verweist als die erhaltene griechische Überlieferung (siehe dazu auch Reiterer, Zählsynopse, S. 20; Wagner, Septuaginta, S. 34). 15 Aufgrund der Blattvertauschung, von der die griechische Textüberlieferung betroffen ist (vgl. Anm. 14), differieren im Bereich der Kap. 30–36 die Textzählungen. Ich folge hier der Gesamtzählung von Reiterer (Zählsynopse, S. 88–247, Sp. 1).

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‚natürliches‘ Produkt16 von Textauslegung und wirkt auf diese und ihre Trägerkreise zurück, indem er immer wieder neue Auslegungen freisetzt und das Leben der Traditionsgemeinschaft prägt. Dabei steht eine Auslegung in einem durchaus ambivalenten Verhältnis zu einem Kanon: Einerseits dokumentiert sie den besonderen Status eines Textes, der der Auslegung wert ist, andererseits zeigt sich, dass im Rahmen einer konkreten Überlieferungsgemeinschaft die Auslegung immer wieder an die Stelle des ausgelegten Textes treten kann und damit eher ‚dekanonisierend‘ wirkt.17 Die Rekonstruktion der israelitisch-jüdischen Überlieferungs- und Literaturgeschichte und damit verbunden einer (Vor-)Geschichte des Kanons der heiligen Schriften des antiken Judentums steht nun aber vor dem entscheidenden Problem, dass es für kaum einen der Texte, die zum einen in der Gestalt der Hebräischen Bibel und in der griechischen Übersetzung (LXX) überlebt haben und die zum anderen über das Schrifttum von Qumran, das fragmentarisch erhaltene Archiv jüdischer Bewohner der Nilinsel Elephantine und mittels der Aufnahme unter die heiligen Schriften verschiedener orthodoxer und orientalischer Kirchen erhalten geblieben sind, einen eindeutig datierbaren Entstehungszeitpunkt gibt.18 Die in der Hebräischen Bibel überlieferten Schriften sind durchgehend anonym oder pseudepigraph. Heute (noch) geläufige Autorenangaben, wie im Fall der Fünf Bücher Mose oder des Predigers Salomo, verdanken sich einer sekundären Zuweisung, die zumeist erst aus hellenistisch-römischer oder frühmittelalterlicher Zeit stammt. Bei allen in der Hebräischen Bibel versammelten Schriften handelt es sich um in mehreren Stufen gewachsene Traditions- oder Fortschreibungsliteratur, zunächst (in der Königszeit vom 10. bis ins 6. Jh. v. Chr.) höfischer und priesterlicher Kreise, in der persischen und hellenistischen Zeit priesterlicher und zunehmend weisheitlich geprägter, schriftgelehrter Gruppen. Zwar spiegeln sich in allen antiken jüdischen Schriften in unterschiedlichem Umfang zeitgenössische Erfahrungen, wobei in den Texten, mitunter zeitversetzt, Reaktionen auf die kulturellen Einflüsse der Israel und Juda im 1. Jt. v. Chr. dominierenden Hegemonialmächte (zunächst der Neuassyrer, sodann der Neubabylonier und der Achämeniden, schließlich der Griechen und der Römer) wahrnehmbar sind. Zwar lassen sich der Untergang der Staaten Israel 722 v. Chr. und Juda 587 v. Chr. sowie die jüdische Religionskrise in der Zeit der seleukidischen Vorherrschaft über Syrien-Palästina, vor allem unter Antiochos IV. Epiphanes (175–164 v. Chr.), als wesentliche Literatur generierende, Überlieferung selektierende und Gruppen differenzierende Daten namhaft machen. 16 Siehe dazu auch die Ausführungen von Davies, Canon, der in diesem Fall von einem Kanon erster Ordnung oder einer primären Kanonisierung spricht. 17 Vgl. zu diesem Phänomen auch Alexander, Formation, S. 80. 18 Zur grundsätzlichen Problematik einer israelitisch-jüdischen Literaturgeschichte siehe Witte, Analyse; einen knappen literatur- bzw. sozialgeschichtlichen Überblick bieten Kratz, Growth, und Schmid, Literaturgeschichte, bzw. Kessler, Sozialgeschichte.

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Und schließlich lassen sich auch, wie gerade die neuere Forschung (wieder) zeigt, in einem hohen Maß innerhalb des israelitisch-jüdischen Schrifttums literarische Rezeptionen älterer Texte und bewusste buchübergreifende Vernetzungen aufzeigen19 sowie Entwicklungen einzelner literarischer Gattungen nachzeichnen. Dennoch fehlen für eine exakte literatur- und kanonsgeschichtliche Bestimmung die entscheidenden Parameter. Im Gegensatz dazu lässt sich das Sirachbuch aufgrund der Angabe des Verfassers des Prologs zur griechischen Übersetzung, er sei im „38. Jahr des Euergetes“ (0,27–28), womit wegen der Regierungsdauer nur Euergetes II. (Ptolemaois VIII. Physkon) gemeint sein kann,20 nach Alexandria gekommen und habe dann das Buch seines Großvaters (πάππος, 0,7) übersetzt, zeitlich und soziologisch ziemlich genau verorten. Vereinzelte Versuche, den Prolog, vor allem wegen seines vermeintlich jungen Sprachgebrauchs, als eine erst aus dem 1. oder 2. Jh. n. Chr. stammende Fiktion zu erweisen und zwischen dem Verfasser des Prologs einerseits und dem ersten griechischen Übersetzer (G-I) andererseits zu unterscheiden,21 haben sich nicht bewährt. Die ausgesuchte Wortwahl und die besondere Stilistik sind in der griechisch-hellenistischen Literatur typisch für die Gattung eines Proömiums. Sie belegen die besondere Belesenheit und den rhetorischen Anspruch des Verfassers des Prologs. Die Anzahl der Hapaxlegomena, die der Prolog im Kontext des griechischen Sirachbuchs und im Rahmen der LXX insgesamt aufweist, sind nicht besonders auffällig.22 Insofern zwischen dem Prolog und G-I enge sachliche Beziehungen und signifikante Begriffsüberschneidungen bestehen,23 kann die Identität des Prologisten und des Übersetzers mit der Mehrheit der Forschung weiterhin vertreten werden. Je nach Verständnis der Formulierung ἐπὶ τοῦ Εὐεργέτου βασιλέως (Z. 27) fällt die Übersetzung der hebräischen Vorlage noch in die Lebenszeit des Euergetes II. (gestorben 116 v. Chr.) oder in die Zeit kurz nach seinem Tod. Versteht man die Angabe des Prologisten, dass er der Enkel des Verfassers des von ihm übersetzten Werkes sei (Z. 7), als echte Abstammungsangabe und nicht nur als einen besonderen Autorisierungsversuch,24 und rechnet man für eine Generati19 Darauf haben in neuerer Zeit v. a. M. Fishbane und O. H. Steck aufmerksam gemacht; vgl. dazu auch Schmid, Schriftauslegung, S. 1–22, und Kratz, Exegese, S. 37–69. 20 Als Beginn der Herrschaft des Euergetes II. gilt das Jahr 170 / 169 v. Chr., auch wenn Euergetes II. zunächst zusammen mit Ptolemaios VI. Philometor und Kleopatra II. regierte (Hölbl, Geschichte, S. 130 und 172–183). 21 Diebner, Großvater, S. 1–37; Veltri, Libraries, S. 196. 22 Vgl. dazu die sorgfältige Studie von Wagner, Septuaginta, S. 21–30; 117–134. Lediglich zwei Wörter (βίωσις, Ἑβραϊστί) scheinen in der Gräzität bisher nicht vor dem Sirach-­ Prolog belegt zu sein. 23 Vgl. z. B. das in der LXX – mit einer Ausnahme in 2 Makk 2,26 – nur im Si­rach-­Prolog (0,31) und im griechischen Sirach vorkommende Wort ἀγρυπνία (34,1.2.20; 38,26.27. 28.30; 42,9). 24 In diesem Sinn Diebner, Großvater, S. 19–25.

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on 30 Jahre, so kommt man unter der zusätzlichen Voraussetzung, dass Autor und Übersetzer jeweils in einem mittleren bis fortgeschrittenen Lebensalter ihre Werke angefertigt haben, für die hebräische Vorlage auf eine Abfassungszeit zwischen 190 und 175 v. Chr.25 Dieses Zeitfenster wird auch durch das Buch selbst nahegelegt. So deutet die Beschreibung des Hohepriesters Simon, der mit Simon II. zu identifizieren ist, in Sir 50,1–4 auf eine große zeitliche Nähe zu dessen Wirken.26 Von der Absetzung des Hohepriesters Onias III. um das Jahr 175 v. Chr. und den massiven Beeinträchtigungen des Jerusalemer Kultes durch die religionspolitischen Maßnahmen des Antiochos IV. Epiphanes (175–164 v. Chr.) ist in dem Buch nichts zu spüren.27 Das Gebet um die Errettung Zions in Sir 36,1–22 (G: 33,1–13a; 36,16b–22), dessen Authentizität wegen seiner eschatologischen Färbung mitunter (wenn auch zu Unrecht) bestritten wird, lässt sich gut als Reflex auf die Zeit nach der Niederlage des Antiochos III. 190 v. Chr. gegen die Römer und den damit verbundenen wachsenden Druck seitens der Seleukiden auf Jerusalem verstehen.28 Genauer als das Sirachbuch, und zwar sowohl in seiner hebräischen Urfassung als auch in seiner ursprünglichen griechischen Übersetzung, die beide in Kreisen der gebildeten jüdischen Elite wurzeln, lässt sich kein Werk der israelitisch-jüdischen Literatur aus vorchristlicher Zeit datieren und soziologisch einordnen.

3. Kanonsspezifische Begrifflichkeit im Sirachbuch? Im Prolog wird dreimal auf das Gesetz (νόμος, Z. 1; 8; 24), die Propheten (προ­ φῆται, Z. 1; 9; 24[v. l.])29 und weitere Bücher (Z. 2; 10; 25) verwiesen. Im Sinne der späteren Dreiteilung des Kanons der Hebräischen Bibel in Tora, Neviim und Ketuvim könnte diese Reihe als ein Schritt in die Richtung eines dreiteiligen Kanons verstanden werden.30 Dass hier mit dem νόμος die Tora im Sinne des Pentateuchs gemeint ist, ist weitgehend unstrittig.31 Im Blick auf das 25 Vgl. dazu Williams, Date, der aufgrund einer Korrelation der Lebensalter von Großvater und Enkel für eine Abfassung kurz vor 175 v. Chr. eintritt. 26 Zu den Baumaßnahmen Simons II., dessen Amtszeit sich nur annähernd auf die Zeit zwischen 220–190 v. Chr. datieren lässt, siehe ausführlich Mulder, Simon, S. 102–119, der die in Sir 50,1–4 beschriebenen Tätigkeiten im Kontext der nach Flav. Jos. Ant. XII,3,3–4, durch Antiochos III. um 197 v. Chr. den Jerusalemer Juden gewährten Möglichkeiten sieht. 27 Vgl. 2 Makk 3–6; 1 Makk 1,10–64; Flav. Jos. Ant. XII,4,1; 5,1–4. 28 Marböck, Gottes Weisheit, S. 159. 29 Der Hauptstrom der griechischen Textzeugen bietet die Lesart αἱ προφητεῖαι („die Prophezeiungen“, vgl. Sir 24,33; 36,14; 39,1; 44,3; 46,1; 46,20). 30 In diesem Sinn u. a. Beckwith, Canon, S. 21; Skehan / Di Lella, Ben Sira, S. 132–133; Sauer, ATD.A 1, S. 38; Schreiner, Sirach, S. 15. 31 Eine Ausnahme bildet Lange, Law, der hier, wie auch in 2 Makk 2,13 (τὰ περὶ τῶν βασιλέων βιβλία καὶ προφητῶν καὶ τὰ τοῦ Δαυιδ καὶ ἐπιστολὰς βασιλέων περὶ ἀναθεμάτων)

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Sirachbuch ist aber, wie überhaupt für die israelitisch-jüdische Literatur, zu beachten, dass die Begriffe ‫ תורה‬bzw. νόμος ein vielfältiges Bedeutungsspek­ trum aufweisen, das von der einfachen Unterweisung in alltäglichen, kultischen oder rechtlichen Dingen bis hin zu einer kosmischen Gesetzmäßigkeit oder zur Bezeichnung der Fünf Bücher Mose reicht.32 Sofern im Sirachbuch die Begriffe in diesem letzten literarischen Sinn verwendet sind, erscheinen sie hier im Kursivsatz. Die genaue Identifikation der Größe προφῆται ist aber weniger eindeutig. Sicher hat der Prologist hier im späteren Kanonsteil Neviim versammelte prophetische Schriften im Blick. Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass unter der Bezeichnung προφῆται weitere auf Propheten zurückgeführte bzw. mit Prophetenworten und Prophetenerzählungen in Verbindung gebrachte Schriften des antiken Judentums firmieren. Die dritte Größe wird dreimal unterschiedlich bezeichnet.33 Welche Schriften genau zu dieser Gruppe zu zählen sind, ist angesichts dieser variablen Formulierungen unsicher. Die Kennzeichnung dieser Bücher in Z. 10 als „väterliche“ (πάτρια) zeigt allerdings, dass der Enkel Ben Siras ausschließlich jüdische Schriften im Blick hat. Nach Arie van der Kooij könnte diese Formulierung unter dem Eindruck der hasmonäischen Restauration in den Jahren nach dem Makkabäeraufstand (167–164 v. Chr.) stehen.34 Wenn der Prologist hingegen tatsächlich eine bestimmte Buchgruppe im Blick hatte, dann deutet die unspezifische Terminologie darauf hin, dass Ende des 2. Jh. v. Chr. die Gruppe der Ketuvim noch nicht abgeschlossen war. So belegt der Prolog des Sirachbuchs maximal einen zweigliedrigen ‚Kanon‘. Dabei ist auch der zweite Teil nicht exklusiv zu verstehen, selbst unter der Voraussetzung, dass das Dodekapropheton mit seinem die Tora und die Propheten ver-

und in entsprechenden Texten aus Qumran, die auf Mose (als Autor der Tora) und Schriften der Propheten verweisen (u. a. 1QS I,2–3; VIII,15–16; 4Q390 2,I,5; 4Q504 1–2,III,12–14; 4QSd VI,7–8; 4QMMT C 10–11), lediglich eine Kategorisierung von unterschiedlichen Textgruppen bzw. -gattungen sieht. Unabhängig von Langes These sollte man den häufig zitierten Text 4QMMT C 10–11 angesichts der unsicheren Lesart und Rekonstruktion der Fragmente vorläufig nicht (mehr) als Beleg für einen dreiteiligen jüdischen Kanon in vorchristlicher Zeit in Anspruch nehmen (vgl. dazu Ulrich, Canon, S. 67–71; Carr, Writing, S. 265–266; Brooke, Canon, S. 84–88). 32 Zur Problematik im Blick auf das Sirachbuch siehe Reiterer, Akzente, S. 856–858; ders., ‫חכמה‬, S. 131–133; Wright, Tora. 33 Vgl. τὰ ἄλλα τὰ κατʼ αὐτοὺς ἠκολουθηκότα (Z. 2), τὰ ἄλλα πάτρια βιβλία (Z. 10) und τὰ λοιπὰ τῶν βιβλίων (Z. 25). 34 Van der Kooij, Temple, S. 23–24; ders., Canonization, S. 34, mit Hinweis auf 1 Makk 1,10–2,18. Zur Rückführung eines aus Tora und Neviim bestehenden hebräischen Kanons auf die hasmonäische Restauration des 1. Jh. v. Chr. siehe auch Carr, Writing, S. 260–267, und Davies, Canon, S. 23–24, der in diesem Fall von einem kategorialen Wechsel gegenüber einer ‚natürlichen Kanonisierung‘ spricht und hierfür den Begriff des ‚sekundären Kanons‘ bzw. des ‚Kanons zweiter Ordnung‘ verwendet (s. o. Anm. 16).

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bindenden Schlussstein in Mal 3,22–24, der in Sir 48,10 zitiert wird, in den letzten Jahrzehnten des 3. Jh. v. Chr. abgeschlossen war.35 Sir 38,24–39,11 bietet einen im Rahmen der biblischen Literatur einmaligen Lobpreis des weisen Schreibers (‫סופר‬, γραμματεύς),36 zu dessen Tätigkeit die Meditation des „Gesetzes des Höchsten“ (νόμος ὑψίστου), die Erforschung der „Weisheit (σοφία) der Vorfahren“, die Beschäftigung mit den „Prophezeiungen“ (προφητεῖαι) sowie das Studium von „Gleichnissen“ (παραβολαί) und „Sprüchen“ (παροιμία) gehören (Sir 38,34c–39,3).37 Mitunter wird in den hier genannten Gegenständen des Studiums des Weisen erneut ein Beleg für einen dreiteiligen ‒ aus Gesetz, Propheten und Schriften bestehenden ‒ Kanon gesehen.38 Abgesehen von der Identifikation des νόμος mit der Tora ist aber eine eindeutige Korrelation der προφητεῖαι mit den Neviim sowie der παραβολαί und παροιμία mit den Ketuvim nicht möglich. Die Bezeichnung προφητεῖαι dürfte vielmehr, wie (1) der zuvor genannte Gegenstand der σοφία, (2) das weite Verständnis von Prophetie in Sir 36,20 und in 44,3 sowie (3) der prophetische Selbstanspruch des Weisen in Sir 24,33 und 33,16–18 zeigen, in einem umfassenderen Sinn gebraucht sein. D. h. unter den προφητεῖαι können sehr wohl prophetische Schriften, die in das spätere Corpus Propheticum Aufnahme gefunden haben, gemeint sein, sie lassen sich aber nicht auf diese beschränken. Ähnliches gilt für die παραβολαί und παροιμία, zu denen sicher auch die Proverbien gezählt werden können (vgl. Sir 47,17 versus Spr 1,1), die Ben Sira in seinem Werk mehrfach zitiert,39 die aber gemäß Sir 1,25 und 3,29 bzw. Sir 6,35; 8,8 und 18,29 den Weisen in Wort und Schrift insgesamt kennzeichnen (vgl. Sir 44,4–5). Ob Ben Sira, der ausweislich seiner Anspielungen auf Henoch (Sir 44,16; 49,14) und Adam (Sir 49,16), die über die in der Genesis mitgeteilten Informationen hinausgehen, frühjüdische Adamspekulationen sowie Henoch- und Noahschriften kennt,40 hier auch besondere Weisheitsbücher im Blick hat, die nicht unter die späteren Ketuvim aufgenommen wurden, ist 35 Siehe

dazu anstelle vieler Steck, Abschluß, S. 150. Parallelen finden sich im ägyptischen Bereich, vgl. z. B. die aus der Zeit der 12. Dynastie stammende, aber bis in ptolemäische Zeit tradierte Lehre des Cheti, die möglicherweise auch Ben Sira bekannt war (Brunner, Weisheitsbücher, S. 155–168). 37 Der Text ist bisher nicht auf Hebräisch belegt. Zu einer umfassenden Auslegung siehe Marböck, Gottes Weisheit, S. 25–51. 38 Siehe dazu ausführlich Marböck, Gottes Weisheit, S. 24; Brandt, Endgestalten, S. 70; Zapff, Sirach, S. 264. 39 Vgl. Sir 1,4 mit Spr 8,22; Sir 1,14 mit Spr 1,7; Sir 1,16–17 mit Spr 8,18–19; Sir 2,5 mit Spr 17,3; Sir 2,6–9 mit Spr 3,5–6; Sir 3,18 mit Spr 3,34; Sir 4,1–6 mit Spr 17,5 und 3,27–28 u. v. a.; siehe dazu Skehan / Di Lella, Ben Sira, S. 42–45. 40 Vgl. zu Adam: 1QHa IV,15; CD-A III,20; TestAbr A 11,9–12; B 8,12; SibOr 3,24; TestLev 18; 2 Bar 18,1–2; 23,4; 48,42; 54,15; 56,5–6; 3 Bar 4,8.13.16; VitAdEv; grApkEsr 2,10; ApkSedr 4,4; 5,1–2; 7,4–5; zu Henoch: 1 Hen bzw. 4Q201–212; zu Noah: 1 Hen 106– 107; Jub 4,28–10,17; 1Q19; 1Q20 1–8; 4Q534; 5Q13; 6Q8; und dazu Marböck, Gottes Weisheit, S. 133–143; ders., Traditionen, S. 147–152; Feldman, 1Q19, S. 14–42; Witte, Propheten (in diesem Band: S. 33–34). 36 Umfangreiche

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schwer zu sagen. Angesichts seiner umfassenden, wohl auch auf Reisen erworbenen (vgl. Sir 39,4), hellenistischen Bildung ist nicht ausgeschlossen, dass Ben Sira darüber hinaus auch pagane Weisheit im Blick hat.41

4. Ein kanonsorientierter Aufbau des Sirachbuchs? Während die erste Hälfte des Sirachbuchs (Sir 1–23) weitgehend eine relativ lose Sammlung von thematisch gruppierten weisheitlichen Sprüchen, Lehr­ reden und Gedichten auf die Weisheit darstellt, wie sie im Bereich der biblischen Literatur ihre nächste Parallele im Buch der Sprüche Salomos sowie im ersten Teil der Sapientia Salomonis (SapSal 1–6) und in der Umwelt des antiken Israel in ägyptischen Lebenslehren42 oder in der unter dem Namen des Theognis von Megara vereinten Sentenzensammlung43 besitzt, bietet die zweite Hälfte zwei umfassende Kompositionen zu den Themen „Schöpfung“ (Sir 42–43) und „Geschichte“ (Sir 44–49; 50). Im Zentrum des Buchs steht das bis heute nur durch G und Syr sowie die davon abhängigen Übersetzungen belegte, stilistisch stark an hellenistische Isis-Aretalogien erinnernde Gedicht auf die kosmische Weisheit (Sir 24). Diese lässt Ben Sira auf dem Zion, näherhin am Jerusalemer Tempel, Wohnung nehmen und identifiziert sie mit dem Gesetz (νόμος), worunter gemäß Sir 24,23 in Aufnahme von Ex 24,7 und Dtn 33,4 die am Sinai offenbarte Tora zu verstehen ist: Dies alles ist das Buch des Bundes (βίβλος διαθήκης) des höchsten Gottes, das Gesetz (νόμον), das uns Mose als Erbe für die Versammlungen Jakobs geboten hat. (Sir 24,23 [G])44

Sir 24 setzt mit seiner Abfolge von weisheitlicher Kosmologie, Jerusalemer Tempeltheologie und Tora-Theologie die in den Pentateuch integrierte priesterschriftliche Heiligtumskonzeption und die deuteronomisch-deuteronomistische Vorstellung von der Tora als dem universalen lebensstiftenden Gesetz (vgl. besonders Dtn 4; 30) voraus. Zugleich belegt Sir 24 – wie das gesamte Buch – die grundsätzliche Ausrichtung Ben Siras an der Tora. Dabei ist besonders zu vermerken, dass Ben Sira als Weisheitslehrer die Tora in einen engen Zusammenhang mit dem Tempel und den Kult stellt, was in doppelter Weise innovativ ist, da in der älteren israelitisch-jüdischen Weisheit weder die Tora noch der Kult eine Rolle spielen. Dieser kulttheologische Aspekt Ben Siras lässt sich neben Sir 24 auch an der Stilisierung Aarons, dem Urbild des Hohepriesters, als Lehrer der Tora in Sir 45,17 oder an den mit Sir 24 korrespondie41 Skehan / Di

265.

42 In

Lella, Ben Sira, S. 451–452; Carr, Writing, S. 209; Zapff, Sirach, S. 264–

Übersetzung leicht zugänglich bei Brunner, Weisheitsbücher. Theognis. 44 Vgl. Sir 17,11; 32,15.24; 41,8; 45,5; 49,4; siehe dazu auch Reiterer, ‫חכמה‬, S. 123–124. 43 Hansen,

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renden, am Zion und am Jerusalemer Tempel ausgerichteten Texten in Sir 36 und 50 ablesen.45 Die Abfolge von „Schöpferlob“ (Sir 42,15–43,33) und „Geschichtstheologie“ (Sir 44,1–49,16), die die zweite Buchhälfte prägt, entspricht prinzipiell dem Makroaufbau der Tora und der Vorderen Propheten (Jos – 2 Kön), wie sie literaturgeschichtlich wohl erstmalig im 6. / 5. Jh. v. Chr. vorgeprägt wurde, nämlich einerseits durch die priesterschriftliche Konzeption einer sich von der Schöpfung über die Erzväter bis zu Mose, dem Exodus und der Einsetzung des Kultes am Sinai erstreckenden Komposition im Bereich von Genesis bis Numeri, andererseits durch die deuteronomistisch bearbeiteten Darstellungen der Geschichte des israelitischen und judäischen Königtums im Bereich von 1 Samuel bis 2 Könige. Dabei erweist sich der Hymnus in Sir 42–43 als eine Collage aus dem priesterschriftlichen Schöpfungsbericht in Gen 1,1–2,3, der ersten Gottesrede im Buch Hiob (Hi 38–39) und einzelnen Schöpfungspsalmen (u. a. Ps 104; 147), aber auch aus stoischem Pronoia-Denken.46 Die Reihenfolge der im „Lob der Väter“ genannten Figuren (Sir 44–49; 50), einer an der Gattung des Enkomions orientierten Galerie israelitisch-jüdischer Heldenminiaturen,47 entspricht im Wesentlichen der Abfolge ihrer Erwähnung in den Büchern Genesis bis 2 Könige. So erscheinen die ausgewählten Figuren der Heilsgeschichte Israels (Noah, Abraham, Isaak, Jakob / Israel, Mose, Aaron, Pinchas, Josua, Kaleb, die Richter, Samuel, David, Salomo, Rehabeam, Jerobeam, Elia, Elisa, Hiskia, Jesaja, Josia, Jeremia, Ezechiel, Hiob [nur in H, Syr], die 12 Propheten, Serubbabel, Josua Ben Josadak, Nehemia, Joseph, Sem, Set, Enosch [nur in H, Syr] und Adam) als Repräsentanten einer von Gott mittels seines ‚Bundes‘ (‫ברית‬, διαθήκη) und seiner Propheten strukturierten Geschichte, die in der Beschreibung des am Jerusalemer Tempel agierenden Hohepriesters Simon in der unmittelbaren Gegenwart Ben Siras gipfelt. Die Propheten Jesaja (Sir 48,20–25),48 Jeremia (Sir 49,6–7)49 und Ezechiel (Sir 49,8–9)50 sind chronologisch ‚passend‘ eingeordnet. Insofern die Begriffe ‚Prophet‘ (‫נביא‬, προφήτης) und ‚Prophetie‘ (‫נבואה‬, προφητεία) auf die Darstellung der Epoche von Josua (Sir 46,1) bis zu Ezechiel (Sir 49,8–9) beschränkt sind und unmittelbar an die Notiz zu Ezechiel die ‚Zwölf Propheten‘ genannt wer45 Die Aufbewahrung der heiligen Schriften im Jerusalemer Tempel ist zwar keine Bedingung entstehender Kanonizität (Beckwith, Canon, S. 80–86; van der Kooij, Temple, S. 27– 38), kennzeichnet aber die besondere Heiligkeit einzelner Schriften. 46 Siehe dazu Wicke-Reuter, Providenz, S. 91–93. 47 Vgl. Neh 9,6–37; 1 Makk 2,51–60; 3 Makk 6,4–8; 4 Makk 16,15–23; 18,10–19; SapSal 10; zu entsprechenden paganen Belegen siehe ausführlich Lee, Studies; Mack, Wisdom; Petraglio, Il libro; A. Schmitt, Lobgedicht. 48 Vgl. Jes 1,1 sowie zum gesamten Porträt 2 Kön 18,13–19,37; 20,8–11; 2 Chr 32,1– 24; Jes 36–38; 40,1.3–5; 45,20–25; 52,7–12; 61,1–2; 66,5–24, und dazu Beentjes, Happy, S. 145–158. 49 Vgl. Jer 1,1–3.5.10; 18,7; 31,28; 36,27–32; 37,8; 2 Kön 25,9; 2 Chr 36,19. 50 Vgl. Ez 1,1–2.4–28; 10,1–22; 14,14.

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den (Sir 49,10), könnte das „Lob der Väter“ auf die Existenz eines Corpus Propheticum zur Zeit Ben Siras hinweisen.51 Dabei ist allerdings zu beachten, dass zum einen indirekt auch Mose als Prophet bezeichnet wird (Sir 46,1), was seiner Kennzeichnung in Dtn 18,15; 34,10 und Hos 12,14 entspricht, und dass zum anderen, zumindest im hebräischen Text von Sir 49,9, auch Hiob den Titel eines ‚Propheten‘ trägt.52 Auffällig ist weiterhin, dass David vor der chronologisch ‚richtigen‘ Position in Sir 47,1–11 schon einmal in Sir 45,25–26 erwähnt wird, dass Henoch am Beginn und am Ende des „Väterlobs“ erscheint (Sir 44,16; 49,14) und dass abschließend ‚anachronistisch‘ die frühgeschichtliche Figur Joseph (Sir 49,15)53 sowie die urgeschichtlichen Größen Sem, Set, Enosch und Adam erscheinen (Sir 49,16)54. Gerade dieser Schluss legt es nahe, das „Väterlob“ primär nicht „canon-conscious“ zu lesen,55 sondern vielmehr thematisch und auslegungsgeschichtlich,56 auch wenn Ben Sira die einzelnen Miniaturen eindeutig unter Rückgriff auf Texte gestaltet, die in der Tora, den Propheten und den Ketuvim versammelt sind, und seine Liste ‚großer Männer‘ als „mikroskopische Abb[ildung] des kulturellen Gedächtnisses“57 der Elite des antiken Israel und Juda erscheint.

5. Die Benutzung der Schriften Israels im Sirachbuch Ben Sira verwendet eindeutig die Tora, prophetische Bücher und unter den späteren Schriften versammelte Texte. Auch wenn man der maximalen Zusammenstellung von Andreas Eberharter (1911), der erstmals eine umfassende Auflistung vermeintlich aller von Ben Sira, sei es mittels „Anspielung“, „Anlehnung“ (d. h. Zitat) oder „Kombinationen“ verwendeten „kanonischen“ Texte vorgelegt hat,58 und wenn man dessen kanonsgeschichtlichen Axiomen und Schlussfolgerungen nicht folgt, so ist doch deutlich, dass Ben Sira mit Ausnahme der Bücher Ruth, Hoheslied,59 Esther, Daniel und Esra60 offenbar mit allen

51 So entschieden Beckwith, Canon, S. 72–73; Steck, Abschluß, S. 136–144; mit leichten Modifikationen gegenüber Beckwith und Steck Ska, L’Éloge, S. 185–192. 52 Siehe dazu ausführlich Witte, Propheten (in diesem Band: S. 23–37). 53 Vgl. Gen 50,26 und dazu Witte, Gebeine (in diesem Band: S. 171–187). 54 Vgl. Gen 4,25–26; 5,1–11; 5,32; 6,10; 10,21; 11,10. 55 Goshen-Gottstein, Praise; ähnlich bereits Beckwith, Canon, S. 72–73; Ska, L’Éloge, S. 185–192. 56 Barton, Oracles, S. 89; Brandt, Endgestalten, S. 67–68; Carr, Writing, S. 210. 57 Hölter, Kanon, S. 793. 58 Eberharter, Kanon; zu punktuellen Zusammenstellungen vor Eberharter siehe Beentjes, Tenach, S. 8–19. 59 Vgl. aber Sir 47,17. 60 Vgl. aber Sir 45,17 mit Esr 7,10 und dazu Beentjes, Tenach, S. 183. Das viel diskutierte Phänomen, dass Esra im „Lob der Väter“ nicht erwähnt wird, liegt vermutlich an Ben Siras

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in der späteren Hebräischen Bibel versammelten Schriften mehr oder weniger stark arbeitet, auf diese anspielt und sie mitunter zitiert.61 In neuerer Zeit hat sich vor allem Pancratius C. Beentjes, zunächst in seiner Dissertation von 1981, dann in zahlreichen Einzelstudien, um eine methodisch abgesicherte Darstellung des Gebrauchs der israelitisch-jüdischen Traditionsliteratur durch Ben Sira verdient gemacht.62 So konnte Beentjes zeigen, dass Ben Sira von ihm benutzte Texte entweder mittels einer bestimmten Zitationsformel („introductory formulae“) einleitet,63 die Wortfolge gegenüber seinen Spendertexten umstellt („inverted quotation“)64 oder sich zur Gestaltung seines eigenen Textes kompositionell und thematisch an ihm vorliegenden Texten orientiert („structural use of Scripture“).65 Weiterhin lassen sich nach Beentjes einzigartige Wortverbindungen („unique word combinations“) dann als Indizien für eine Zitation wahrscheinlich machen, wenn diese von Ben Sira in einem mit dem mutmaßlichen Spendertext identischen Kontext verwendet werden.66 Die Ergebnisse Beentjes und vieler anderer, die sich in jüngerer Zeit ausführ-

besonderer Wertschätzung der aaronidisch-hohepriesterlichen Linie gegenüber dem levitischen Priestertum (siehe dazu auch Zapff, Sirach, S. 372). 61 Dass sich keine Bezüge zu den in den späteren Kanon der LXX aufgenommenen Büchern Tobit, Judit und Baruch finden, wie Skehan / Di Lella, Ben Sira, S. 41, vermerken, hängt einfach mit der wohl in der Zeit Ben Siras (Tob, Bar) oder kurz danach (Jdt) zu verortenden jüngeren Entstehung dieser Schriften zusammen; dies gilt erst recht für die aus dem ausgehenden 1. Jh. v. Chr. oder frühen 1. Jh. n. Chr. stammende Sapientia Salomonis. 62 Siehe besonders Beentjes, Tenach; ders., Canon. 63 Als solche fungieren ‫„( הלא‬ist es nicht so, dass?“, siehe Sir 14,15 mit einem Zitat aus Ps 49,11; Sir 38,5 mit einem Zitat aus Ex 15,25; Sir 46,4 mit einem Zitat aus Jos 10,13 und Sir 35,15 [G: 32,18–19] mit einem Zitat aus Klgl 1,2), ‫„( כי‬denn“, erweitert um eine Form von ‫„[ אמר‬sagen / denken“]; siehe Sir 5,8 mit einem Zitat aus Spr 11,4) oder ‫„( הכתוב‬es ist geschrieben“, siehe Sir 48,10 mit einem Zitat aus Mal 3,23–24); Beentjes, Canon, S. 172–175. 64 Vgl. Sir 7,11 im Gegenüber zu 1 Sam 2,7 und Ps 75,8; Sir 9,5 im Gegenüber zu Hi 31,1; Sir 18,32 im Gegenüber zu Spr 23,20–21; Sir 20,4 im Gegenüber zu Spr 17,28; Sir 32,23 im Gegenüber zu Spr 19,16; Sir 45,15 im Gegenüber zu Ex 28,41; Sir 48,19 im Gegenüber zu Jes 13,8; Sir 46,19 im Gegenüber zu 1 Sam 12,3; Beentjes, Canon, S. 175–177. Ähnliches zeigt sich nach Beentjes auch für G im Blick auf die LXX (vgl. Sir 24,15a im Gegenüber zu Ex LXX 30,23 und Sir 24,15b im Gegenüber zu Ex LXX 30,34). 65 Vgl. Sir 1,1–10 im Gegenüber zu Hi 28; Sir 6,5–17 im Gegenüber zu 1 Sam 25; Sir 45,6–22 und 50,1–24 im Gegenüber zu Ex 28; Sir 45,18–19 im Gegenüber zu Num 16; Sir 45,20–22 im Gegenüber zu Num 18,8–20; Sir 45,23–24 im Gegenüber zu Num 25,11–13; Beentjes, Happy, S. 30–33; ders., Canon, S. 177–180. 66 Vgl. Sir 36,12 als Zitat aus Num 24,17; Sir 36,11 als Zitat aus Jes 49,6; Sir 43,1 als Zitat aus Ex 24,10; Sir 43,30 als Zitat aus Jes 40,31; Sir 44,17 als Zitat aus Gen 17,4–5; Sir 45,5 als Zitat aus Ex 20,2; Sir 45,21 als Zitat aus Dtn 18,1; Sir 48,8 als Zitat aus 1 Kön 19,16; Sir 50,16 als Zitat aus Num 10,2; Sir 48,24 als Zitat aus Jes 61,3; Beentjes, Canon, S. 180–183. Insofern Jes 61,3 zu den jüngsten Fortschreibungen im Jesajabuch gehört, spiegelt Ben Sira die weitgehend abgeschlossene Form dieses Prophetenbuchs (Steck, Abschluß, S. 137; Ska, L’Éloge, S. 190).

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lich mit den Passagen des Sirachbuchs beschäftigt haben,67 in denen auf die schriftlichen Überlieferungen Israels und Judas Bezug genommen wird (vgl. besonders Sir 16; 17; 24; 36,1–22; 44–49), können hier nicht im Detail dargestellt werden. Alle diese Untersuchungen konvergieren in der Beobachtung, dass Ben Sira bewusst aus der Überlieferung auswählt, dass er nie nur einen Einzeltext zitiert, sondern dessen gesamten Kontext vor Augen hat, dass er mit der Überlieferung hinsichtlich seiner eigenen Theologie produktiv und kreativ umgeht und dass er in der Art und Weise seines Schriftgebrauches ein Vorläufer der Midraschexegese ist. Als ein charakteristisches Beispiel für Ben Siras schöpferische Rezeption der Überlieferung sei hier Sir 17 angeführt.68 So beschreibt Sir 17 in Anlehnung an Kernsätze aus Gen 1–9 die Schöpfung der Welt, die kosmische Ordnung und die Erschaffung des Menschen (Sir 16,26–30; 17,1–10).69 Er wiederholt auf der Grundlage von Ex 19, Ex 24 und Dtn 4–5 wesentliche Züge der Überlieferung von der Sinaioffenbarung (Sir 17,11–13) und bietet eine mit anthropologischen Reflexionen und ethischen Mahnungen angereicherte Begründung der Gerechtigkeit Gottes (Sir 17,15–18,14). Wie zwei Brennpunkte einer Ellipse erscheinen (1) die Aufforderung, sich von allem Bösen fernzuhalten und sich gemeinschaftsgerecht zu verhalten (Sir 17,14), hinter der eine Zusammenfassung des Dekalogs (Ex 20,1–11.12–17 par. Dtn 5,6–15.16–21) durchscheint,70 und (2) das Bekenntnis zur Barmherzigkeit des gerecht vergeltenden Gottes, der „erzieht, bildet, lehrt und sich wie ein Hirte wieder seiner Herde zuwendet“ (Sir 18,13). Anders als für den weisheitlichen Verfasser von Gen 3,5–6 gehört für Ben Sira Erkenntnis (ἐπιστήμη)71 bzw. die Fähigkeit zur Erkenntnis schöpfungsbedingt, und d. h. nicht als Folge eines ‚Sündenfalls‘, zum Menschsein dazu (Sir 17,7.11).72 Dabei geht es in Sir 17,11 um eine besondere, zusätzlich von Gott verliehene ἐπιστήμη. Entsprechend dem für die semitische Dichtung 67 Unter den neueren Kommentaren ist für die Darstellung des Schriftgebrauchs Ben Siras besonders auf das Werk von Skehan / Di Lella, Ben Sira, zu verweisen (S. 40–45, sowie jeweils z. St.). Die mit ‚biblischer‘ Sprache gesättigten Gebete in Sir 51,1–12 (vgl. Ps 18; 30–32) und 51,12e + -z + (vgl. Ps 136) sind hinsichtlich ihrer ursprünglichen Zugehörigkeit zum Sirachbuch umstritten (vgl. zuletzt Zapff, Sirach, S. 388). 68 Der Text liegt bisher nur in G und Syr und in davon abhängigen Übersetzungen vor, ist aber für den prinzipiellen Schriftgebrauch Ben Siras instruktiv; siehe dazu ausführlich Witte, Gesetz (in diesem Band S. 109–121), sowie Wright, Interpretation, S. 377–380. 69 Vgl. besonders Gen 1,26–29; 2,7; 3,19; 5,1 und 9,2. 70 Vgl. TestBen 3,3; TestSeb 5,1–3; Mk 12,29–30 par.; siehe dazu auch Marböck, Gottes Weisheit, S. 56–57, und Skehan / Di Lella, Ben Sira, S. 282–283. 71 Für die hebräische Vorlage ist wahrscheinlich ‫( דעת‬vgl. Gen 3,22) zu konjizieren. 72 Vgl. auch Hi 15,7; 4Q504 8 recto 5 und 4Q305 II,2 sowie in der schwer zu datierenden (wohl erst aus dem Mittelalter stammenden) Weisheitsschrift aus der Kairoer Geniza (WKG) VIII,14; XI,9.17 (Rüger, Weisheitsschrift). Ein drittes Modell zur Vermittlung der Erkenntnis von gut und böse deutet 4Q417 2,I,6–8 an, wonach die Erkenntnis dem „Einsichtigen“ (‫ )מבין‬mittels der Offenbarung des „Geheimnisses des Gewordenen / des Seins“ (‫ )רז נהיה‬ermöglicht wird (siehe dazu Goff, Wisdom, S. 36).

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kennzeichnenden Parallelismus membrorum, der auch die Poesie Ben Siras bestimmt, wird V. 11a nämlich durch die geschichtstheologische Motivik in V. 11b erläutert, in dem mittels der Begriffe νόμος ζωῆς und κληροδοτέω auf die Gabe der Tora am Sinai verwiesen wird.73 Mit dem Begriff νόμος ζωῆς, als dessen hebräische Vorlage die Wendung ‫ תורת חיים‬anzunehmen ist und der im biblischen Schrifttum nur in Sir 17,11 und Sir 45,5 belegt ist,74 definiert Ben Sira die Erkenntnis schenkende und Leben ermöglichende Funktion der Sinaitora. Vorläufer dieser Definition finden sich in den deuteronomisch-deuteronomistischen Gleichungen von Toragehorsam und erfülltem, d. h. langem und gesegnetem Leben,75 in den Korrelationen von göttlichen Geboten und glückendem Leben im Ezechielbuch76 sowie in weisheitlichen Paränesen77 zur Leben erhaltenden und gestaltenden Kraft elterlicher oder von Weisen erteilter Tora. Wie Dtn 30,15–20 geht Ben Sira von der Entscheidungsfähigkeit des Menschen und von der menschlichen Freiheit, das Gesetz halten zu können, aus (Sir 15,11–17). Die Wendung ‫ תורת חיים‬könnte eine systematisierende Eigenbildung sein.78 D. h. „das Gesetz des Lebens“ ist zunächst in der Fluchtlinie der Aussagen von Dtn 4–5 und Dtn 30,15–20 die Israel gegebene Tora, die besondere Erkenntnis schenkt.79 Sie liegt verdichtet im Pentateuch und nochmals komprimiert im Dekalog (Ex 20; Dtn 5) und im Šemaʽ Jiśrāʼel (Dtn 6,4–5) vor, hat aber universale Bedeutung. Was hier exemplarisch an Sir 17 gezeigt wurde, lässt sich im Blick auf das gesamte Sirachbuch sagen: Sowohl im hebräischen Werk des Ben Sira als auch in der griechischen Übersetzung seines Enkels kommt der Tora als wesentlichem Dokument der normativen Willensoffenbarung Gottes eine zentrale Rolle zu. Die mit der kosmischen Weisheit identische Tora ist Richtschnur des Lebens des Weisen und Gegenstand seines Studiums (‫דרש‬, ζητέω, Sir 32,15).80 Als „Gesetz des Lebens“ schenkt sie dem, der ihre Gebote hält, Gerechtigkeit 73 Auch Sir 17,12 bezieht sich auf den Sinai-‚Bund‘, und nicht auf den Noah-‚Bund‘, auf den bereits in Sir 17,4 angespielt wird (vgl. Gen 9,2). 74 Vgl. noch die syr. Version von Sir 39,1 (nmwsʼ dḥjʼ, G: νόμος ὑψίστου, La: lex Altissimi) und 4 Esr 14,30 (lex vitae) sowie Bar 3,9 (ἐντολαὶ ζωῆς) und 2 Bar 38,2 (nmwsk ḥjʼ hw, „dein Gesetz ist Leben“). 75 Vgl. Dtn 4,1–40; 5,33; 6,24; 8,1; 16,20; 30,15–20; 32,46–47; Neh 9,29. In dieser Fluchtlinie liegen auch die sogenannten Tora-Psalmen (Ps 1; 19; 119), die ähnlich wie das Sirachbuch ‚proto‘-kanonische Entwicklungen im antiken Judentum widerspiegeln, vgl. Ps 1,2 par. Jos 1,7–8. 76 Vgl. Ez 18,5–9.19; 20,11.21; 33,15 (‫חקות החיים‬, LXX: προστάγματα ζωῆς, vgl. Spr LXX 14,27). 77 Vgl. Spr 4,13; 6,23; 13,13–14. 78 So auch Reiterer, Akzente. 79 Zur Gleichung von Erkenntnis und Tora bzw. Weisheit und Tora siehe weiterhin Sir 15,1; 19,20 (G); 21,11 (G); 31,8 (G); 38,34–39,1 (G); 45,5; Bar 4,1 und 4Q525 2,II,3–4 („Glücklich ist der Mensch, der Weisheit erlangt […] und in der Tora des Höchsten wandelt“), aber auch WKG II,12, und zur Sache Reiterer, ‫חכמה‬, S. 97–133. 80 Zu ‫( דרש‬neben ‫בין‬, vgl. Sir 4,11) als einem zentralen terminus technicus des Studiums

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und Leben und ist sie die entscheidende Quelle der Weisheit. Die ihr gemäße Haltung ist die Gottesfurcht, wie Ben Sira in Weiterführung von Spr 1–9 immer wieder einschärft. Insofern stiftet und sichert die Tora Identität. Damit erfüllt die Tora bei Ben Sira wesentliche Kriterien eines Kanons, auch wenn ihr textlicher Bestand im Einzelnen noch nicht vollständig festgelegt oder standardisiert ist. Für die später unter dem Namen Neviim und Ketuvim versammelten Schriften lässt sich dies nicht in derselben Weise sagen. Zwar setzt Ben Sira, wie einzelne Zitate, Anspielungen, mitunter auch kritische Referenzen zeigen, die Kenntnis der Bücher Josua bis 2 Könige, Jesaja, Jeremia, Ezechiel, das Dode­ kapropheton, die Psalmen,81 Hiob und Kohelet,82 die Proverbien83 sowie die Klagelieder Jeremias voraus, wobei im Einzelnen allerdings nicht zu entscheiden ist, ob diese bereits den heute bekannten Umfang hatten oder in der heute üblichen Reihenfolge standen.84 Ebenso orientiert sich der griechische Übersetzer bei seiner Übersetzung auch an der LXX bzw. an zu seiner Zeit bereits auf Griechisch vorliegenden ‚biblischen‘ Büchern.85 Allerdings sind Zitation, Schriftstudium, Auslegung und Übersetzung überlieferter Texte noch kein hinreichendes Kriterium, um von einem Kanon zu sprechen. Sie sind vielmehr Kennzeichen einer Kultur, zu deren wesentlichen Merkmalen Schriftlichkeit und schriftgestützte Identitätspflege gehören. Bewusste textliche Referenzen und der Auslegung der heiligen Schriften, insbesondere der Tora, vgl. Esr 7,10; CD-A VI,7; VII,18; 4Q159 5,6; 4Q174 1,I,11; 4Q177 II,5. 81 Vgl. neben den in Anm. 63–66 genannten Belegen auch die Stilisierung Davids als Psalmendichter in Sir 47,8–9 (vgl. Lk 24,44; 11QPsa XXVII,2–11: David als prophetisch inspirierter [!] Dichter). 82 In vielerlei Hinsicht lässt sich das Sirachbuch geradezu als ein kritischer Reflex auf den in den Büchern Hiob und Kohelet geführten weisheitlichen Diskurs lesen, wobei Ben Sira selbst theologisch den relativ spät in das werdende Hiobbuch eingelegten Reden des Elihu (Hi 32–37) nahesteht. Zur Rezeption des Hiobbuchs durch Ben Sira siehe Reiterer, Verhältnis. 83 Vgl. neben den in Anm. 39 und 63–66 genannten Belegen auch die Stilisierung Salomos als Verfasser von Liedern, Sprüchen und Rätseln in Sir 47,17 (vgl. 1 Kön 5,9). 84 Gerade im Psalter ist noch mit der Aufnahme einzelner Psalmen in der Makkabäerzeit (164–63 v. Chr.) zu rechnen (vgl. z. B. Ps 110). Wie die unterschiedlichen Psalmenrollen aus Qumran (vgl. besonders 11QPsa), aber auch der in der LXX oder der Peschitta überlieferte Psalter zeigen, gab es im antiken Judentum unterschiedliche Psalmenanthologien. Und selbst im Pentateuch finden sich mit den Nachträgen im vierten Bileamspruch (Num 24,20–24) oder der auf die Wiedereinweihung des Jerusalemer Jhwh-Tempels unter den Makkabäern hinlaufenden Chronologie Bearbeitungen aus der Zeit nach Ben Sira. 85 Zur Frage, welche Schriften Israels der Enkel Ben Siras bereits auf Griechisch zur Verfügung hatte, siehe Caird, Ben Sira, und zur grundsätzlichen Problematik der Korrelation des griechischen Sirachbuchs mit der LXX Wagner, Septuaginta, S. 102–109. Eine Entscheidung kann hier nur im Einzelfall erfolgen, wobei auch in Erwägung zu ziehen ist, dass der Übersetzer einen anderen, der jeweiligen LXX-Lesart näher stehenden hebräischen Text vor sich hatte als den, der durch die gegenwärtig verfügbaren hebräischen Fragmente des Sirachbuchs (s. Anm. 13) angedeutet wird.

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finden sich innerhalb der Schriften des antiken Israel und Juda,86 die sich durchgehend von ihren Anfängen im frühen 1. Jt. v. Chr., verstärkt dann seit dem 6. Jh. v. Chr. bis in die hellenistisch-römische Zeit hinein als Fortschreibungsliteratur präsentieren, wie außerhalb dieser Schriften, sei es in der Gestalt eigenständiger Werke, wie im Fall des Sirachbuchs, der Sapientia Salomos, des Tobit- oder des Juditbuchs, sei es in der Gestalt umfassender Neufassungen der Überlieferung,87 wie im Fall der Chronik oder des Jubiläenbuchs, sei es in der Gestalt von gezielten Auslegungen oder kommentierten Anthologien, die neben die tradierten Bücher treten, wie im Fall der aus Qumran bekannten Kommentare / Pescharim zu einzelnen Prophetenbüchern und Psalmen oder im Fall der ebenfalls aus Qumran bekannten Florilegien.88 Sowohl das Werk Ben Siras als auch die griechische Übersetzung seines Enkels belegen die Hochschätzung, man könnte auch sagen, den autoritativen Rang bestimmter Überlieferungen innerhalb der eigenen Glaubensgemeinschaft, zu denen auch Schriften gehören können, die im späteren Judentum nicht kanonisch wurden, wie das henochitische Schrifttum. Sowohl Ben Sira als auch der griechische Übersetzer versuchen die jüdischen Überlieferungen gleichzeitig mit nichtjüdischer hellenistischer Bildung ins Gespräch zu bringen, wobei sie offenbar auch auf zentrale pagane Texte zurückgreifen.89 Die Kanonizität bestimmter jüdischer Texte bezeugen Ben Sira und sein Enkel aber mit Ausnahme der Tora nicht. Von einem unveränderlichen Text im Sinne einer standardisierten Textüberlieferung90 sind Ben Sira und sein Enkel, wie auch ihr freier Umgang in der Zitation der Überlieferung zeigt, noch weit entfernt. Wenn man den Begriff des Kanons überhaupt für die im Sirachbuch, und zwar in seinen verschiedenen hebräischen und griechischen Textgestalten, verwen86 Als ein besonders eindrückliches Beispiel sei hier Dan 9,2 zitiert: „Im ersten Jahr seiner Herrschaft da achtete (‫בין‬, vgl. dazu Anm. 80) ich, Daniel, genau auf die Bücher, (hinsichtlich der) Zahl der Jahre, die gemäß dem Wort Jhwhʼs an den Propheten Jeremia sich erfüllen sollten an den Trümmern Jerusalems: 70 Jahre“ (vgl. Jer 25,11; 29,10). 87 Häufig anachronistisch als „rewritten bible“ bezeichnet. 88 Zu einer knappen Charakterisierung dieser Gattungen und ihrer Bedeutung für die israelitisch-jüdische Literaturgeschichte siehe Kratz, Exegese, S. 40–62. 89 Eine maximalistische und nicht unumstrittene Zusammenstellung von paganen griechischen Zitaten bietet Middendorp, Stellung. Die Mehrzahl der Sirachforscher urteilt zurückhaltender, erkennt aber u. a. Bezüge zu Texten der Stoa, zu Homer, Hesiod, Theognis, Me­ nander, Sophokles und Euripides, mithin zu den Autoren, die zu den klassischen Schulautoren im Hellenismus gehören (Morgan, Education, S. 99); zu Einzelnachweisen siehe Kaiser, Weisheit für das Leben, S. 157–191. Sanders, Ben Sira, S. 61–106, und Skehan / Di Lella, Ben Sira, S. 46–50, vermuten darüber hinaus, dass Ben Sira auch die demotisch überlieferte ägyptische Weisheitslehre des Pap. Insinger gekannt habe (zum Text siehe Thissen, in: TUAT III / 2, S. 280–319, und Hoffmann / Quack, Anthologie, S. 239–273). 90 Über Davies, Canon, S. 11–23 (vgl. Anm. 16 und 34), hinausgehend könnte man hier von einer ‚tertiären Kanonisierung‘ oder einem ‚Kanon dritter Ordnung‘ sprechen. Zur Frage, wann dieser Prozess im Judentum zum Abschluss gekommen sein könnte, siehe Alexander, Formation, S. 72–74.

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deten Schriften Israels anwenden will, dann nicht in einem engen, auf die Exklusivität dieser Schriften bezogenen Sinn, sondern eher im weiten Sinn eines Bildungskanons, d. h. eines Kanons, der auf eine curricular, an einem ‫בית מדרש‬ (Sir 51,23) vermittelte Bildung (‫מוסר‬, παιδεία; Sir 0,3; 0,12–13; 0,34; 50,27) zielt. Mittels seines Zentrums in der als Gabe des einen All-Gottes Jhwh (Sir 36,1; 43,27) verstandenen Tora, der dieser innewohnenden Vorstellung einer alle Lebensbereiche umfassenden Wahrheit (vgl. Dtn 4,5–9) und aufgrund seines eigenen Verbindlichkeitsanspruchs geht das Sirachbuch allerdings sachlich und pragmatisch deutlich über die in der hellenistisch-römischen paganen Welt verbreiteten literarischen Kanones ausgewählter Klassiker (Epiker, Tragiker, Lyriker, Historiker und Redner) und deren Fixpunkt Homer hinaus. So steht das Sirachbuch für ein torazentriertes, damit offenbarungstheologisch begründetes, letztlich aber flexibles Kanonsverständnis: Um die eine Tora des einen Gottes (Dtn 6,4–5) können sich weitere Schriften Israels und seiner Umwelt lagern als Zeichen des Handelns Jhwhʼs und als Hinführung zu einer lebens­ erfüllenden Weisheit.

6. Ausblick: Das Sirachbuch als Teil des Kanons Die schillernde Rolle, die das Sirachbuch in seinen hebräischen und griechischen Gestalten im Umgang mit den heiligen Schriften Israels und im Rahmen der modernen Nachzeichnungen des Weges von heiligen zu kanonischen Schriften spielt, spiegelt sich auch in der Geschichte seiner eigenen Kanonizität. Zitationen des (hebräischen) Sirachbuchs im nachbiblischen rabbinischen Schrifttum zeigen einerseits seine punktuelle Wertschätzung. So können beispielsweise im Talmudtraktat Baba Qamma 92b Sir 13,5 und 27,9 als Teil der Ketuvim zitiert werden. Andererseits kann eine grundsätzliche Ausgliederung aus dem Bereich normativer Schriften erfolgen, wenn es z. B. im Talmudtraktat Sanhedrin 100b heißt: „R. Joseph sagte: Auch das Buch des Ben Sira darf man nicht lesen“ ‒ was nicht ausschließt, dass einzelne Sentenzen daraus zitiert werden dürfen.91 Für die letztliche Dekanonisierung des Sirachbuchs durch die Rabbinen dürfte nach Giuseppe Veltri der inspiratorische Selbstanspruch Ben Siras und seines Weisheitsbuchs verantwortlich sein,92 wodurch der Jerusale-

91 Goldschmidt, ‫תלמוד בבלי‬, IX, S. 82–84; vgl. auch ySan 28a: Wer in Ben Sira liest, hat, so Rabbi Akiba, keinen Anteil am ewigen Leben. Zur Diskussion dieser und zahlreicher weiterer einschlägiger Stellen aus dem Talmud und der Tosefta siehe Meyer, Bemerkungen, S. 197–198; Rüger, Siracide, S. 47–51; Beckwith, Canon, S. 288; 378–379; Calduch-Ben ­ a­ ges, Canon, S. 362–364. 92 Vgl. Sir 50,28 ( par. Jos 1,8; Ps 1,2); 24,33 (vgl. 48,24 und Jes 11,2); 33,16–18; 39,6.

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Der ‚Kanon‘ heiliger Schriften des antiken Judentums

mer Weisheitslehrer und sein Alexandrinischer Enkel in Widerspruch zur späteren Vorstellung des Endes der prophetischen Inspiration geraten sind.93 Vermittelt über die heiligen Schriften des Alexandrinischen Judentums ist das Sirachbuch hingegen in den Kanon der Griechischen Bibel und über diese in die Vulgata eingedrungen, so dass es im Bereich der griechisch-orthodoxen und der römisch-katholischen Kirche zu den deuterokanonischen Schriften gehört.94 Im Protestantismus ist es aufgrund des humanistisch beeinflussten Rekurses auf die Biblia Hebraica in einer literaturgeschichtlichen und theologischen Fehlentwicklung aus dem Kanon ausgeschlossen worden und findet sich nur unter den Apokryphen.95 Insofern in der Alten Kirche sowohl der griechische Kurztext als auch der griechische Langtext bzw. der diesem nahestehende altlateinische Text kanonische Bedeutung erhalten haben und sich die syrische Version des Sirachbuchs, die Teil des Kanons der Peschitta ist, von den griechischen und lateinischen Texten nochmals unterscheidet, steht das Sirachbuch in seinen verschiedenen kanonischen Gestalten für einen Kanonspluralismus.96 Diesen teilt es besonders deutlich mit den verschiedenen kanonischen Fassungen der Bücher Jeremia, Tobit, Esther oder Daniel. Wie die Funde in Qumran und ein eingehender Vergleich zwischen den hebräischen, griechischen, lateinischen und syrischen Textformen biblischer Schriften zeigen, ist dieses vom Sirachbuch bezeugte plurale Kanonsverständnis mindestens aus literatur- und religionsgeschichtlicher Perspektive, in meinen Augen auch aus soziologischer und theologischer Sicht sachlich angemessen.

93 Siehe die unter Anm. 3 genannten rabbinischen Belege und dazu Veltri, Libraries, S. 212–222; ähnlich bereits Meyer, Bemerkungen, S. 198. 94 Zur Frage neutestamentlicher und frühchristlicher Zitationen des Sirachbuchs (vgl. z. B. Mk 10,19 mit Sir 4,1; 2 Tim 2,19 mit Sir 17,26; Jak 1,19 mit Sir 5,11; Did 1,2 und Barn 19,2 mit Sir 7,30; Did 4,5 und Barn 19,9 mit Sir 4,31; Did 4,8 mit Sir 4,5) und zu seiner Rezeption im patristischen Schrifttum siehe Beckwith, Canon, S. 388; Rüger, Siracide, S. 51–60; Calduch-Benages, Canon, S. 365–369. Der Appendix der loci citati vel allegati im NTG verzeichnet zum Sirachbuch über 100 Einträge, von denen viele allerdings unspezifisch sind und sich einem gemeinsamen Sprachgebrauch jüdischer und christlicher Autoren der hellenistisch-römischen Zeit verdanken. Davon unabhängig ist das Sirachbuch aber von überragender Bedeutung zum Verständnis des NT, zumal der Christologie (vgl. v. a. Sir 24 mit Mt 11,28–29 und Joh 1). Zu den nicht ganz eindeutigen Bewertungen der deuterokanonischen Bücher in den orthodoxen Kirchen siehe Lash, Canon. 95 Auch wenn das Sirachbuch im 16. / 17. Jh. großen Einfluss auf die protestantischen Katechismen und die evangelische Lieddichtung hatte, ist es doch ‒ wie die anderen Apokryphen ‒ exegetisch und theologisch stark vernachlässigt worden. Um seine Rückgewinnung für den Protestantismus haben sich in neuerer Zeit v. a. O. Kaiser und G. Sauer bemüht. Zur besonderen theologischen Bedeutung des Sirachbuchs siehe vor allem die beiden folgenden Beiträge. 96 Gilbert, L’Ecclésiastique; Böhmisch, liber; ders., Textformen; Witte, Propheten (in diesem Band S. 35–37).

Theologien im Buch Jesus Sirach „So bleibt die jüngere (späte) Weisheit vom Anfang bis zum Ende beim eigentlichen Thema der Theologie, bei der Reflexion über Gott und beim lebendigen Umgang mit ihm […]. Die Weite und Offenheit, mit der jene Weisen Theologie getrieben haben, ist bleibende Herausforderung und Ermutigung.“ (Johannes Marböck, 1995)1 Abstract: This article begins by identifying the relationship between theology and wisdom in general and then provides an overview of different theologies found in the book of Ben Sira / Jesus Sirach. It thereby demonstrates that the book provides a grand synthesis of sapiential, cultic, historical, prophetic and juridical traditions of Ancient Judaism. This synthesis can be seen as a compendium of Old Testament theology. With its conception of God as creator, as the guarantor of justice and as a merciful judge, as well as the lord of the cosmic wisdom and saviour, the theology of the book of Ben Sira / Jesus Sirach has a triadic structure which is of special importance for biblical theology.

1. Zwei Vorbemerkungen 1.1 Weisheit und Theologie Weisheit, verstanden als ein auf Erfahrung beruhendes Differenzierungs- und Orientierungsvermögen, mittels dessen der Mensch das Leben bewältigt, ist im Rahmen einer Welt, die noch nicht den Tod Gottes verkündet hat, ein genuin religiöses Phänomen. Mag auch der einzelne Weisheitsspruch im Alten Testament, der im Sinne der Lebenskunde Wege gelingenden Lebens aufzeigt, nicht ausdrücklich Gott nennen, so setzt er doch voraus, dass der Mensch sein Leben nicht sich selbst verdankt, dass die Freiheit, die eigene Existenz zu gestalten, beschränkt ist, und dass die Wirklichkeit mehr ist als das, was unmittelbar vor Augen liegt oder was sich mittels menschlicher Erfahrung und Tradition erfassen ließe. Das Milieu der alttestamentlichen wie der altvorderorientalischen, ägyptischen und altgriechischen Weisheit ist – auch wenn sich die Welt der weisheitlichen Sentenzen, sei es im Buch der Sprüche, in ägyptischen Lebenslehren2 oder in den unter dem Namen des Theognis von Megara gesammelten 1 Marböck,

2 Lichtheim,

Die jüngere Weisheit, S. 22. Literature I, S. 58–80; 134–192; II, S. 135–163; III, S. 159–217; Brunner,

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Worten (7.–5. Jh. v. Chr.)3 vordergründig als profan darstellt – geprägt von Mythen und von Riten, von an Tempeln und in der Familie praktizierter Verehrung der Götter, von gelebter Religion im öffentlichen und im familiären Raum. Kultur und Religion lassen sich bei der alttestamentlichen Weisheit ebenso wenig voneinander trennen wie bei den alttestamentlichen Rechtstexten, Orakeln, Gebeten, Erzählungen oder Ritualen. Insbesondere zeigt sich diese enge Verflechtung von Kultur und Religion in der sogenannten theologisierten Weisheit des Alten Testaments, d. h. in der Weisheit, die ausdrücklich von Gott spricht, sei es, dass weisheitliche Lebensregeln explizit mit dem Handeln und dem Wesen Jhwh’s verbunden und begründet werden,4 sei es, dass die Weisheit personifiziert und als Mittlerin der Offenbarung Jhwhʼs verstanden wird, die als „Frau Weisheit“ zu einem glücklichen Leben einlädt5 oder als kosmische Größe vom Menschen gesucht werden muss,6 sei es, dass die Weisheit mit der Tora verbunden wird, die Tora dann als schriftgewordene Weisheit erscheint7 und der wahre Weise (‫חכם‬, σοφός) derjenige ist, der ein an der Tora ausgerichtetes Leben führt und (daher) den Titel eines „Gerechten“ (‫צדיק‬, δίκαιος) erhält.8 Die sogenannte Theologisierung der Weisheit nimmt – bezogen auf das antike Israel und Juda – in persischer und hellenistischer Zeit zu. Verantwortlich für diese Entwicklung sind im Wesentlichen drei politische, geistesgeschichtliche und ökonomische Veränderungen im Laufe des 6.–4. Jh. v. Chr. Mit dem Zusammenbruch des judäischen Königtums 587 v. Chr. verlagern sich die Schreibertätigkeiten vom Königshof an den 520 / 515 v. Chr. wieder errichteten Jerusalemer Tempel als zentraler Stätte der Schriftkultur, zu dem in fortgeschrittener hellenistischer Zeit Lehrhaus (‫בית מדרש‬, οἶκος παιδείας), Schule und Synagoge treten.9 Im Rahmen der theologischen Aufarbeitung des Untergangs des Königtums und der Zerstörung des Tempels, also der zwei Institutionen, die je für sich als Repräsentationen der kosmischen Weltordnung und als Vermittler des Rechts angesehen wurden, erhält die Weisheit ehemals königliche und kultische Epitheta und Funktionen. So wird die Weisheit zur idealen Herrscherin Weisheitsbücher; Hoffmann / Quack, Anthologie, S. 230–304 (Anm. S. 360–370); Hornung / Keel, Studien. 3 Hansen, Theognis; Strömberg, Proverbs; Althoff / Zeller, Worte. 4 Als Ziel der Weisheit gilt dann ein Leben in der Gottesfurcht (‫ יראת יהוה‬/  ‫)יראת אלהים‬ und in der Ausrichtung an dem von Jhwh geforderten Ethos, nämlich an Gerechtigkeit (‫)צדקה‬ im Sinne eines der Lebensgemeinschaft entsprechenden Verhaltens und an Barmherzigkeit (‫ )חסד‬im Sinne eines verlässlichen und beständigen Verhaltens (‫)אמת‬. 5 Vgl. Spr 9,1–6. 6 Vgl. Spr 8,22–36; Hi 28; Sir 24; 51,13–30; SapSal 6,21–9,19. 7 Vgl. Sir 21,11; 24. 8 Vgl. Ps 37,30–31; Spr 9,9; 11,30; 23,24; Pred 9,1; 4Q 299 Frgm. 3 ii,4. 9 Vgl. Sir 51,23; und dazu Marböck, Die jüngere Weisheit, S. 6, sowie ausführlich Carr, Writing; Ueberschaer, Weisheit, S. 87–134.

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und zum mentalen Heiligtum, das sie dann auch nach 520 / 515 v. Chr. neben dem realen Tempel bleibt. Infolge der Diaspora verstärkt sich die Begegnung des Judentums mit mesopotamischer, ägyptischer, persischer, kleinasiatischer und griechischer Weisheit. Auf besondere Art wirkt sich dieser Faktor bei den stetig wachsenden jüdischen Gruppen in den hellenistischen Metropolen der Levante, allen voran in Alexandria, mit ihrem kulturellen, religiösen und ethnischen Pluralismus aus. Im Kontext der alttestamentlichen Weisheit stellt das um 180 v. Chr. wohl in Jerusalem auf Hebräisch abgefasste und nach 132 v. Chr. in Alexandria erstmals ins Griechische übersetzte Sirachbuch – neben der rund 150 Jahre jüngeren Sapientia Salomonis – den Gipfel der theologisierten Weisheit dar. 1.2 Jesus Sirach – ein Lehrbuch alttestamentlicher Weisheitstheologie In seiner Vorrede auf das Buch Jesus Sirach in der Deutschen Bibel von 1545 urteilt Luther, der Verfasser habe „aus vielen Büchern zusamen gelesen das beste / so er funden hat […] wie eine Biene aus mancherley Blumen jr sefftlin seuget / vnd in einander menget“.10 Dabei erwägt Luther ausdrücklich die Möglichkeit, dass zumindest der Enkel Ben Siras, der nach eigenen Angaben im Prolog zu seiner Übersetzung unter Euergetes (0,27)11 tätig war, auch die Bibliothek von Alexandria benutzt habe. Luthers Beschreibung des Sirachbuchs als eines Sammelwerks jüdischer und paganer Traditionen ist vollkommen zutreffend. Allerdings unterschätzt Luther den systematisierenden und theologischen Charakter des Werks, wenn er die mangelnde kompositionelle Ordnung beklagt und es als „Buch von der Hauszucht / oder von den Tugenden eines fromen Hausherrn / welchs auch die rechte geistliche Zucht ist“, bezeichnet.12 Genauere Untersuchungen der Komposition und der Theologie des Sirachbuchs zeigen, dass das Werk über eine gut strukturierte Architektur verfügt13 und dass es sich gerade in seiner pädagogischen Ausrichtung nicht auf eine Sammlung von paränetischen Sentenzen reduzieren lässt, sondern ein klares theologisches Profil aufweist. Der Beschreibung dieses Profils und ausgewählter sich in ihm abzeichnender theologischer Linien gelten die folgenden Ausführungen. Dabei ist vorab auf drei Punkte hinzuweisen, die bei jeder Beschäftigung mit dem Sirachbuch zu bedenken sind: 10 Luther,

Schrifft II, S. 1751. ist Ptolemaios VIII. Euergetes II. Physkon (ca. 182–116 v. Chr.), der von 170– 164 v. Chr. zunächst zusammen mit Ptolemaios VI. Philometor und dessen Gattin, seiner eigenen Schwester, Kleopatra II., regierte, seit 145 / 144 v. Chr. dann zusammen mit Kleopatra II., die er nach dem Tod Philometors 145 v. Chr. zur Ehe gezwungen hatte, und mit Kleopatra III., seiner Nichte und Stieftochter, die er 142 / 141 v. Chr. geheiratet hatte, was staatsrechtlich „in der hellenistischen Welt ohne Beispiel“ war (Hölbl, Geschichte, S. 173). 12 Luther, Schrifft II, S. 1752. 13 Auch wenn unterschiedliche Modelle des Aufbaus diskutiert werden, so zeichnet sich in der Forschung doch ein Konsens darüber ab, dass die einzelnen Elemente des Buchs nicht planlos zusammengestellt sind (Marböck, Weisheit und Frömmigkeit, S. 31–45). 11 Gemeint

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1. Ben Sira systematisiert die literarischen Überlieferungen des antiken Israel und Juda. Er sammelt Einzelaussagen zu Gott, Welt und Mensch aus der Tora und den Neviim sowie aus einzelnen in die spätere Sammlung der Ketuvim aufgenommenen und „außerkanonischen“14 jüdischen Texten, stellt diese in thematisch fokussierten Lehrreden und Lehrgedichten zusammen und bietet eine möglichst viele Aspekte umfassende reflektierte Theologie, Kosmologie und Anthropologie. In diesem Sinn ist das Sirachbuch von seinem Autor ausdrücklich als ein Lehrbuch konzipiert (vgl. 51,23.29), von seinem Übersetzer als ein solches tradiert (vgl. 0,12–14.30–31) und in der Alten Kirche als ein Einführungswerk für die Taufanwärter rezipiert worden.15 2. Ben Sira interpretiert die literarischen Überlieferungen des antiken Israel und Juda. D. h. Ben Sira übernimmt einzelne Begriffe, Sätze und Motive, die sich jeweils eindeutig identifizieren lassen, legt diese mittels Wortspielen und Zusammenstellung unterschiedlicher Stellen aus der Tora und den weiteren prophetischen, weisheitlichen, historiographischen, kultisch-liturgischen, mitunter auch apokalyptischen Schriften des antiken Judentums aus und erweist sich hierin als ein Vorläufer der Midraschexegese. 3. Ben Sira kombiniert weisheitliche Traditionen mit juridischen, kultischen, prophetischen und historiographischen Traditionen. D. h. Ben Sira bildet aus Weisheit, Recht, Kult, Prophetie und Historiographie eine literarische und theologische Synthese. Die Weisheit Ben Siras ist dementsprechend – im Gegensatz zum Grundbestand der Sprüche Salomos, Kohelets oder Hiobs – nicht nur gegenwartsorientiert, sondern reflektiert gleichermaßen die Vergangenheit und die Zukunft. So enthält das Sirachbuch, wie die Sapientia Salomonis, Geschichtsreflexionen und eschatologische Aspekte. Wie das Erste Henochbuch, das Danielbuch oder die aus Qumran bekannten weisheitlichen Lehren in 1Q26; 4Q415–418 oder 4Q423 ist es ein Beispiel für die fließenden Grenzen von Weisheit und Eschatologie,16 wenngleich Ben Sira im Gegensatz zu den eben genannten Büchern kein Vertreter der Apokalyptik ist, dieser vielmehr kritisch gegenüber steht. 2. Theologien im Sirachbuch Aus der Vielfalt der rezipierten Traditionen ergibt sich eine Vielfalt theologischer Sprach- und Denkfiguren im Sirachbuch. In Anlehnung an die Anfänge christlicher Theologie, wie sie sich in den altkirchlichen Bekenntnissen nie14 Auch wenn sich Ben Sira im Bereich der Kap. 42–49 makrotextlich an der Chronologie der Bücher Gen – 2 Kön und der Abfolge Jes, Jer und Ez orientiert, ein Dodekapropheton, die Chronikbücher, Hiob und Pred kennt, und im griechischen Prolog zweimal die der Gliederung des späteren Kanons der Hebräischen Bibel entsprechende Formel „Gesetz, Propheten, (übrige) Schriften“ auftaucht, so setzt Ben Sira doch noch keinen abgeschlossenen Kanon voraus; vgl. dazu Witte, Kanon (in diesem Band S. 39–58). 15 Athanasius, Epistula festalis XXXIX,75,23; Origenes, Homilie zu Num 27,1. 16 Vgl. dazu Wright / Wills, Boundaries.

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dergeschlagen hat, im Blick auf das Gespräch zwischen der Systematischen Theologie und der Alttestamentlichen Wissenschaft,17 aber auch angesichts der Herausforderung der Theologie durch die gegenwärtigen ökologischen und ökonomischen Krisen möchte ich diese theologische Vielfalt des Sirachbuchs unter die Beschreibungen Gottes als Schöpfer, als Richter und als Erlöser subsumieren. 2.1 Gott als Schöpfer Charakteristisch für alle alttestamentlichen Weisheitsbücher ist ihre schöpfungstheologische Grundierung, d. h. die Vorstellung, dass Gott als Schöpfer in den Kosmos eine Ordnung eingesenkt hat, deren genaue Beobachtung dem Einzelnen Orientierung in der Welt und damit ein gelingendes Leben ermöglicht. In den Büchern Hiob, Proverbien und Kohelet ist das Motiv von Gott als Schöpfer geradezu der theologische Leitgedanke, sei es, dass die Beschreibung der von Gott planvoll strukturierten Phänomene in der Natur als Antwort auf Hiobs Negation der Macht und Anwesenheit des Schöpfers dienen (vgl. Hi 38–41 versus Hi 3), sei es, dass sich aus der Vorstellung einer vom Schöpfergott begründeten und garantierten Weltordnung ethische und religiöse Maximen zur Lebensgestaltung erheben lassen wie in den Sprüchen Salomos (Spr 3,19–20; 8,22–31; 14,31; 17,5), sei es, dass die Schöpfung als der gottgesetzte Handlungsraum des Menschen und das unbegrenzte Schöpfersein Gottes als entscheidendes Differenzmerkmal gegenüber der Endlichkeit und Vergänglichkeit des Menschen bestimmt werden wie bei Kohelet (Pred 1,3–14; 3,1–21; 6,10–12; 9,7–10; 11,5). Mit seiner Thematisierung von Gott als Schöpfer und der Welt als Schöpfung partizipiert Ben Sira an dieser für die Weisheit wesentlichen Theologie, die ihre Ursprünge im altvorderorientalischen und ägyptischen Weltordnungsdenken besitzt.18 So weist das Sirachbuch eine ausdrückliche Schöpfungstheologie auf, die sich einerseits in formelhaften, bekenntnisähnlichen Anreden Gottes als Schöpfer,19 andererseits in ausführlichen Kompositionen spiegelt.20 Dabei gebraucht Ben Sira den von „Deuterojesaja“ und der Priesterschrift geprägten Terminus ‫„( ברא‬erschaffen“)21 ebenso wie die unspezifischen Wörter ‫עשה‬ („machen“)22 oder ‫„( יצר‬formen“)23. Wie in Gen 1–3 bezieht sich die Rede Ben 17 Siehe

dazu Schwöbel, Erwartungen. dazu nach wie vor Schmid, Gerechtigkeit, sowie die Weiterführungen bei Assmann, Maʼat. 19 Vgl. 1,9 (G); 3,16 (HA); 4,6 (HA); 7,30 (HA); 10,12 (HA); 32,13 (HB); 33,13 (HE); 38,15 (HB); 39,5 (G); 39,28 (HMas); 43,5 (HB); 43,11 (HB); 46,13 (HB); 47,8 (HB); 50,22 (HB). 20 Vgl. 16,24–18,14; 39,16–35; 42,15–43,33. 21 Vgl. 3,16 (HA); 15,14 (HA); 16,26 (HA); 39,28 (HBmarg); 43,14 (HB); Jes 40,26.28; 41,20; 42,5; 43,1.7.15; 45,7; Gen 1,1.21.27; 2,3–4; 5,1–2 u. ö. 22 Vgl. 7,30 (HA); 10,12 (HA); 33,13 (HE); 35,13 (HB); 38,15 (HB); 42,24 (HB / M); 43,5 (HB / M); 43,11 (HB / M); 46,13 (HB); 47,8 (HB). 23 Vgl. 11,14 (HA); 33,10.13 (HE); 39,28 (HB); 46,1 (HB); 49,7 (HB); 49,14 (HB); 51,12 (HB). 18 Vgl.

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Siras von der Schöpfung auf die Erschaffung des Menschen (Sir 15,14; 17,1– 32) und auf die Erschaffung der Welt (42,15–43,33). In der Verwendung der Beziehungsmetapher der Formung des Menschen aus Erde (33[36],10) bleibt Ben Sira ganz in der altvorderorientalischen Tradition, wie sie sich von den akkadischen Epen über Atramchasis und Gilgamesch sowie ägyptischen Hymnen und Mythen bis zur „jahwistischen“ Schöpfungserzählung (Gen 2,7), zum Hiobbuch (Hi 10,9) oder einzelnen Psalmen (Ps 103,14) nachweisen lässt.24 [Und alle Menschen]25 sind ein Gebilde aus Ton / Erde (‫כלי חמר‬, ἀπὸ ἐδάφους), und aus Staub / Erde wurde Adam erschaffen (‫ומן עפר נוצר אדם‬, καὶ ἐκ γῆς ἐκτίσθη Αδαμ). (Sir 33[36],10)

Entsprechend dieser Metapher teilt Ben Sira die altisraelitische Vorstellung der Entsprechung von Geschöpflichkeit und Sterblichkeit. Den im antiken Judentum spätestens seit dem 3. Jh. v. Chr. literarisch belegten Vorstellungen einer Überwindung der Todesgrenze26 erteilt er, wie zwei Generationen vor ihm Ko­ helet, eine klare Absage (Sir 14,12–19; 41,3–4). Wie für Kohelet, der mit seiner Frage, ob es zwischen Mensch und Tier hinsichtlich des Todesgeschicks einen Unterschied gebe (Pred 3,21), an einem innerjüdischen Diskurs über die Zukunft der Toten teilnimmt, steht für Ben Sira fest, dass der Mensch als Geschöpf endlich ist: Der Herr hat den Menschen aus Erde geschaffen und wird ihn wieder zu ihr zurückkehren lassen. (Sir 17,1 [G], vgl. 40,11; Gen 3,19)27

24 Aus der Fülle der vorderorientalischen und ägyptischen Belege vgl. Atramchasis I,200– 230 (von Soden, in: TUAT III, S. 612–645); Gilgamesch I,ii, 34 (Hecker, in: TUAT III, S. 671–744); Enki und Ninmach 31–32; 58–59 (Römer, in: TUAT III, S. 386–401); Kosmologie des kalû-Priesters 25 (Hecker, in: TUAT III, S. 604–605); ludlul bēl nemeqi IV,110 (von Soden, in: TUAT III, S. 110–125); Babylonische Theodizee 277 (von Soden, in: TUAT III, S. 143–157); Lehre des Amenemope XXIV,13–14 (Shirun-Grumach, in: TUAT III, S. 222–250); Mythos von der Geburt des Gottkönigs II,3 (Sternberg-el Hotabi, in: TUAT III, S. 991–1005); Chnum-Hymnus aus Esna (Assmann, in: TUAT II, S. 909–910). Aber auch in alt­griechischen und römischen Mythen begegnet das Motiv, wenn Prometheus die Menschen aus Lehm und Wasser erschafft (Apollodor, I,45; Properz, Eleg. 5; Phädrus, Äsop. Fab. 4; Babrios, Äsop. Fab.). Siehe dazu Westermann, Genesis, S. 276–278; Keel / Schroer, Schöpfung, S. 121–123; 144–145. 25 So nach G; in HE ist der Text nur fragmentarisch erhalten. 26 Vgl. Ps 49,16; 73,24–26; Dan 12,1–3; SapSal 3,1; Jes 25,8; 26,19; 2 Makk 7; 1 Hen 22. 27 Vgl. Hi 1,21; 10,9; 30,19; 34,15; Pred 3,20; 12,7; Ps 104,29; 146,4; 1 Makk 2,63; 1QHa XX,27; aber auch die ägyptische, in der Ptolemäerzeit (3.–1. Jh. v. Chr.) kompilierte, nach H. J. Thissen aber noch aus der frühen Saitenzeit (7. Jh. v. Chr.) stammende Weisheitslehre im Pap. Insinger 30,6 (Thissen, in: TUAT III / 2, S. 280–319, hier: S. 313; Hoffmann / Quack, Anthologie, S. 239–273, hier: S. 268).

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Der Mensch ist für Ben Sira, wie für die weisheitlich geprägten Verfasser von Gen 18,27; Hi 42,6 oder der Loblieder aus Qumran28, „Staub und Asche“ (γῆ καὶ σποδός, Sir 17,32). Die Endlichkeit stellt geradezu die wesentliche Differenz zu Gott als dem Ewigen dar (Sir 18,1.8). Gleichwohl ist der Mensch für Ben Sira hinsichtlich seiner herrschaftlichen Funktion in der Welt ein gott­ ebenbildliches und zur Erkenntnis fähiges Wesen (Sir 17). Charakteristisch ist, wie Ben Sira das Motiv von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen aus Gen 1; Gen 9 und Ps 8 unmittelbar mit der Vorstellung der Erkenntnisfähigkeit des Menschen aus Gen 3 verbindet, ohne auf die Erzählung vom sogenannten Sündenfall in Gen 3 einzugehen: Sich selbst gleich hat er ihn [den Menschen] mit Stärke bekleidet und ihn nach seinem Bild geschaffen. Er hat die Furcht vor ihm auf alle Lebewesen gelegt, damit er kräftig herrsche über Tiere und Vögel. […] Überlegung (διαβούλιον)29 und Zunge und Augen, Ohren und Herz hat er ihnen zum Denken gegeben. Er hat sie mit verständiger Einsicht angefüllt und ihnen gezeigt, was gut und was böse. (Sir 17,3–4.6–7 [G])

Die Erkenntnisfähigkeit des Menschen entspringt hier also nicht einem urzeitlichen Vergehen des Menschen (Gen 3), sondern ist schöpfungsbedingt. Damit greift Ben Sira einerseits auf die Vorstellung vom weisen Urmenschen zurück, wie sie sich im israelitisch-jüdischen Bereich auch in Hi 15,7–8; Ez 28,12.16 und 4Q504 Frgm. 8 recto 4–7 findet,30 andererseits auf die deuteronomistische Anthropologie von der grundsätzlichen Entscheidungsfreiheit des Menschen (Sir 15,14–17, vgl. Dtn 30,11–20). Bedenkt man, dass die sogenannte jahwistische Urgeschichte aus weisheitlichen Kreisen der persisch-hellenistischen Zeit stammt,31 reiht sich Ben Sira mit seiner Anthropologie in einen innerjüdischen Diskurs über Herkunft und Wesen des Menschen ein. In diesem Diskurs steht Ben Sira für eine eigentümliche Kombination weisheitlicher Elemente mit priesterlichen und deuteronomistischen Motiven. Eine Fortschreibung des griechischen Textes (G-II) fügt diesen genuin israelitischen Motiven Elemente der stoischen Anthropologie hinzu: 28 Vgl. z. B. 1QHa XVIII,5–7; XX,28–30; 4Q427 Frgm. 7,ii,16; 4Q511 Frgm. 126,2 und dazu Witte, Leiden, 200–204. 29 Der griechische Übersetzer hat wohl ‫ יֵ ֶצר‬gelesen (vgl. Sir 15,14), vom hebräischen Autor war aber eher die Lesart ‫„( יָ ַצר‬er bildete“) intendiert (vgl. Syr); dementsprechend konjizieren Peters, Buch, S. 143; Sauer, ATD.A 1, S. 139; Schreiner, Sirach, S. 94. 30 Vgl. auch 4Q305,ii,2 sowie den Mythos von Adapa (Hecker, in: TUAT.E, S. 51–54) und dazu Witte, Urgeschichte, S. 86. 31 Witte, Urgeschichte, S. 192–205; zu einer ähnlichen Datierung, wenngleich mit anderen redaktionsgeschichtlichen Beurteilungen der entsprechenden nichtpriesterlichen Stücke in Gen 1–11, vgl. Arneth, Fall, S. 230–236.

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Sie haben den Gebrauch der Werke des Herrn empfangen, als sechstes hat er ihnen Vernunft (νοῦς) geschenkt und zugeteilt und als siebtes das Wort (λόγος) als Deuter seiner Werke. (Sir 17,5 [G])32

Begrifflich über die Schöpfungstexte in den kanonischen Büchern der hebräischen Bibel hinausgehend, kann Ben Sira Gott als den Schöpfer des Alls (18,1 [G]: ἔκτισεν τὰ πάντα κοινῇ; 24,8 [G]: ὁ κτίστης ἁπάντων) bezeichnen, womit er einerseits in der Fluchtlinie entsprechender Aussagen bei Kohelet (vgl. Pred 3,11) steht und sich andererseits mit Beschreibungen der kosmischen All- und Eingottheiten (v. a. Isis, Sarapis, Zeus, aber auch Dionysos und Hermes) in den hellenistischen Religionen berührt.33 Die auch begrifflich zugespitzte Betonung der Allwirksamkeit Gottes ist ein Charakteristikum der Theologie Ben Siras. Er gebraucht immer wieder definitorische Gottesbezeichnungen34 und zeigt eine Vorliebe für den in der jüdischen Literatur der persischen und hellenistischen Zeit gehäuft auftauchenden Titel „der Höchste“ (‫עליון‬, ὕψιστος).35 In der griechischen Version ist diese Vorstellung ausgebaut, indem hier das wohl von der LXX geprägte Epitheton „Allherrscher“ (παντοκράτωρ, 42,17; 50,14.17) auftaucht, das sich über die Verwendung in der Übersetzung der Hebräischen Bibel hinaus konzentriert in einzelnen Büchern des jüdisch-hellenistischen Schrifttums findet und das in allen Fällen gemäß seiner Etymologie für die umfassende Herrschermacht Gottes steht, wie sie sich in seinem Wirken als Schöpfer, Richter und kriegerischer Schutzherr artikuliert.36 Dabei unter32 Zur stoischen Theorie, die Seele des Menschen bestehe aus acht Teilen (den fünf Sinnesorganen sowie der Sprache, der Zeugungskraft und dem Hegemonikon), vgl. SVF II,827 und 828, und dazu Pohlenz, Stoa I, S. 87–88. Im antiken jüdischen Bereich begegnet die Vorstellung von sieben Schöpfungsgaben an den Menschen u. a. in TestNaf 2,5–6; TestRub 2,3–8; 2 Hen J 30,9 (Andersen, in: OTP I, S. 150–152). 33 Vgl. dazu Wilcken, Urkunden, S. 31; Müller, Ägypten, S. 86; Merkelbach, Isis, S. 74– 86; 94–100; 113–119; Versnel, Inconsistencies. 34 Vgl. z. B. Sir 1,8 (G); 15,18 (H); 35(32),13: ‫אלוה תשלומות הוא‬, κύριος ἀνταποδιδούς ἐστιν; Sir 35(32),15: ‫אלהי משפט הוא‬, κύριος κριτής ἐστιν; Sir 36(33),1: ‫אלהי הכל‬, δέσποτα ὁ θεὸς πάντων; Sir 36,17(22): ‫אלהי עולם‬, κύριος ὁ θεὸς αἰώνων; Sir 42,21 (ΗΜ): ‫הוא מעולם‬ ‫ ;אחד‬Sir 50,22–23; 51,12; siehe dazu unten S. 76. 35 Sir 6,37; 17,27; 23,18.23; 24,3; 40,1; 41,4; 42,2; 44,20; 49,4; 50,14.16–17, vgl. Dtn 32,8; Ps 9,3; 77,11; 78,17; 82,6; 87,5; Jes 14,14; Klgl 3,35.38 u. a.; Baudissin, Kyrios III, S. 15; Stegemann, ΚΥΡΙΟΣ, S. 276–281; Zimmermann, Namen, S. 573–602. 36 Sir 42,17 (κύριος ὁ πάντοκρατωρ; HB: ‫ ;אלהים צבאיו‬HMas: ‫ ;)אדני‬Sir 50,14 (ὕψιστος παντοκράτωρ; HB: ‫ ;)עליון‬Sir 50,17 (παντοκράτωρ θεὸς ὕψιστος; HB: ‫;)עליון […] קדוש ישראל‬ Jdt 4,13; 8,13; 15,10; 16,(5)6.(17)18; 2 Makk 1,25; 3,22.30; 5,20; 6,26; 7,35.38; 8,11.18.24; 15,8.32; 3 Makk 2,2.8; 5,7; 6,2.18.28; Jer LXX 39,19; Bar 3,1.4; Est LXX 4,17b; SapSal 7,25; Or Man 1; Arist 185,2; 3 Bar 1,3; ParJer 1,5; 9,6; TestAbr A 8,3; 15,12; SibOr 1,66; 2,220; 2,330; 8,82; 8,265; 11,8; bei Philo nur in sacr. 63,2; gig. 64,7 und in somn. II,172 als Zitat aus Jes 5,7; häufig bei Philo demgegenüber πανηγεμών: congr. 117,1; migr. 175,3; sobr. 57,2–3; plant. 58,1; agr. 50,3, post. 5,2; 9,6; zu Parallelen im paganen Bereich siehe ausführlich Witte, El Schaddaj.

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streicht Ben Sira, dass Gott und Welt, Gott und Mensch aufeinander bezogen sind. Letzteres ergibt sich auch aus seinem Gebrauch der in der älteren israelitisch-jüdischen Literatur seltenen Bezeichnung Gottes als Vater (23,1 [G]; 23,4 [G]; 51,1 [H]; 51,10 [G / H]).37 Bei aller Korrelation von Schöpfer und Geschöpf gilt aber: Gott ist größer als alle seine Werk (‫והוא גדול מכל מעשיו‬, αὐτὸς γὰρ ὁ μέγας παρὰ πάντα τὰ ἔργα αὐτοῦ). (Sir 43,28)

In wohl unmittelbarer Weiterführung von Gen 1 und in Parallele zu Hi 28 und zur ersten Gottesrede im Hiobbuch (Hi 38–39) betont Ben Sira die Finalität der Schöpfung: In der Schöpfung des Herrn (bestehen) seine Werke von Anfang an, und seit ihrer Erschaffung hat er ihnen Anteile zugewiesen (διέστειλεν μερίδας αὐτῶν). Er hat seine Werke für immer geordnet (ἐκόσμησεν) und ihre Bereiche (ἀρχαί) für alle Geschlechter. (Sir 16,26–27 [G])

Die Schöpfung ist durchgehend mit Sinn erfüllt. Wenn irgendwo in der bibli­ schen Überlieferung, dann zeigt sich bei Ben Sira die Synonymität von „Schöpfung“ und „Erfüllung mit Sinn“: Die Werke des Gottes sind alle gut, und jeden Bedarf deckt er reichlich zu seiner Zeit.38 […] Man sage nicht: „Wozu ist denn das?“, denn alles ist zu seinem Bedarf bestimmt.39 (Sir 39,16.21 [HB])

Berührt sich Ben Sira hinsichtlich der Betonung der Finalität und Sinnhaftigkeit der Schöpfung mit den Überlegungen Kohelets (vgl. Pred 1,5.7; 3,11),40 so hebt er deutlicher als dieser die Rolle Gottes als der eigentlichen sinnstiftenden Größe heraus. Ist für Kohelet Gott auch als Schöpfer in die Ferne gerückt, so kann sich Ben Sira immer wieder im Gebet direkt an Gott wenden und seine Schöpfungspassagen in ein Gotteslob münden lassen.41 Kohelet bietet Reflexionen über die Schöpfung, Ben Sira Doxologien auf den Schöpfer (Sir 43,28.30; 51,12d).42 Dabei teilt Ben Sira mit Gen 1, Ps 33,6 und 4Q381 Frgm. 1 die be37 Vgl.

dazu Reiterer, Vater; Zimmermann, Namen, S. 41–64. Textüberlieferung ist hier nicht einheitlich. Die Randlesart von HB bietet: „und für jeden Bedarf sorgen sie (die Werke) reichlich zu seiner Zeit.“ G: „Und jeder Befehl hat seine Zeit.“ 39 Auch hier differieren die Textzeugen. HB: „Denn alles ist stark / wirksam zu seiner Zeit.“ G: „Denn alles ist zu seinem Nutzen geschaffen.“ 40 Vgl. auch 41,3–4 und SapSal 1,14; 2,1–2; 6,7; 7,15–22; 12,13; 16,24; 19,6.18. 41 Vgl. Sir 22,27–23,6; 35(32),14; 48,20; 50,19; 51,1–12; und dazu Gilbert, Prayer; Urbanz, Gebet. 42 Sir 15,9–10; 17,8–10; 39,12(16)–35(41). 38 Die

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reits im sogenannten Denkmal der Memphitischen Theologie (8. Jh. v. Chr.)43 artikulierte Vorstellung von der Erschaffung durch das Wort und streicht so die Transzendenz des Schöpfergottes heraus: [Mit seinem Wort] hat er aufgeschichtet [das Wasser wie einen Haufen]44 und der Ausspruch seines Mundes hat seinen Speicher (eingerichtet). (Sir 39,17) Durch das Wort Gottes entstanden seine [Werke]45. (Sir 42,15)

Eine Summe der Schöpfungstheologie Ben Siras bietet der große Hymnus auf den Schöpfer (42,15–43,33), mit dem der zweite Hauptteil des Buchs schließt (25,1–43,33). Ben Siras Durchgang durch den Kosmos, der an die erste Gottesrede im Buch Hiob (Hi 38–39) erinnert, im Gegensatz zu dieser aber nicht in die Form rhetorischer Fragen im Munde des Schöpfers an Hiob, sondern des beschreibenden Schöpferlobs gegossen ist (vgl. Ps 104; 147), wird begrifflich strukturiert durch die Bezeichnung einzelner Schöpfungswerke als „Wunder“ (42,17: ‫נפלעות‬, θαυμάσια; 43,25: ‫פלאות תמהי מעשהו‬, τὰ παράδοξα θαυμάσια ἔργα) sowie durch die Hinweise auf Gottes Weisheit und Wort (42,18–21; 43,5. 10.13.16.23). Der Hymnus gipfelt in der biblisch einmaligen Aussage, dass Gott alles sei (‫הוא הכל‬, τὸ πᾶν ἐστιν αὐτός, 43,27). In Fortschreibung der älteren israelitisch-jüdischen Schöpfungstexte vertritt Ben Sira eine Schöpfungstheologie, bei der er zugleich ausdrücklich die Gerechtigkeit des Schöpfergottes verteidigt. Als Schöpfer ist Gott auch der Garant von Recht und Gerechtigkeit: Der ewig Lebende hat das ganze All erschaffen; der Herr allein wird sich als gerecht erweisen. (Sir 18,1–2 [G])

Die in den Schöpfungstexten der Genesis über das Motiv der Gemeinschaft Gottes mit dem Menschen implizite Verknüpfung von Schöpfung und Gerechtigkeit – implizit insofern der Begriff der Gerechtigkeit alttestamentlich (wie altorientalisch) als Relationsbegriff ein Gemeinschaftsverhältnis bezeichnet – ist bei Ben Sira explizit: Schöpfung und Wahrung des Rechts stehen in einem untrennbaren Zusammenhang und sind wesentliche Kennzeichen Gottes. In dieser Hinsicht berührt sich Ben Sira eng mit den sogenannten Gerichtsdoxo­

43 Vgl. Peust / Sternberg-el Hotabi, in: TUAT.E, S. 166–175, hier: Abschnitt j (S. 179); weitere Beispiele aus der ägyptischen Literatur bietet Assmann, Hymnen, unter den Nummern 32; 74; 93; 96; 106; 170 und 195. 44 HB ist hier verdorben, die obige Übersetzung basiert auf einer sich an G und an die Mo­ tivparallele in Ps 33,6–7 anlehnenden Rekonstruktion: ‫בדברו יעריך כנד מים‬. 45 Ergänzung nach der Randlesart von HB (‫ )מעשיו‬und G (τὰ ἔργα αὐτοῦ).

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logien im Amosbuch,46 dem postjeremianischen Gebet in Jer 32,16–25,47 den sekundär in das Hiobbuch eingefügten Reden des Elihu (Hi 32–37), die sich auf die theologische Formel „Der gerechte Schöpfergott“ bringen lassen,48 oder den Reflexionen auf das Wesen Gottes in SapSal 11,15–12,27 (vgl. besonders 12,23). Neu gegenüber der älteren israelitisch-jüdischen Tradition ist, dass Ben Sira im Rahmen seiner „Theodizeeabschnitte“49 auf polare Strukturen in der Schöpfung verweist: Das Gegenteil des Bösen ist das Gute, das Gegenteil des Lebens ist der Tod. Das Gegenteil des guten Mannes ist der Frevler, und das Gegenteil des Lichts ist die Finsternis. Schau hin auf alle Werke Gottes: Allesamt sind paarweise, eins gegen das andere. (Sir 33,14–15 [HE], vgl. 36,14–15 [G])

Im Hintergrund dieser Ausführungen könnte eine auch in der Stoa belegte, möglicherweise noch auf Heraklit von Ephesos (ca. 520–460 v. Chr.) und Plato (428 / 427–348 / 347 v. Chr.) zurückgehende Vorstellung stehen: Es kann doch nichts Einfältigeres und Dümmeres geben als die Meinung gewisser Leute, dass das Gute existieren könne, wenn es nicht ebenso das Böse gäbe. Denn wenn Gutes und Böses Gegensätze sind, dann sind beide notwendigerweise als Gegensatzpaar wechselseitig aufeinander bezogen und gestützt. Es kann keinen Gegensatz geben, dem nichts entgegengesetzt ist. […] Denn, wie schon Platon [Phaid. 60c] sagte, eines folgt aus dem anderen und ist mit seinem Gegenteil verknüpft.50

2.2 Gott als Richter Besitzt die Rede von Gott als Wahrer des Rechts bereits in der Schöpfungstheologie Ben Siras einen wichtigen Ort, so spielt sie auch im Rahmen seiner Geschichtstheologie eine zentrale Rolle. Die Proverbien und das Buch Kohelet thematisieren die von Gott gesetzte Heilsgeschichte, wie sie die geschichtliche und die prophetische Überlieferung des Alten Testaments beherrscht, kaum. Ausnahmen sind die Überschriften in Spr 1,1; 10,1; 25,1; Pred 1,1 und Pred 1,12, mittels derer die dann folgenden Sentenzen und Reflexionen als Weisheit Israels geschichtlich verortet werden. Im Buch Hiob finden sich immerhin Anspielungen auf Motive aus der Urgeschichte, der Vätergeschichte und der 46 Vgl.

Am 4,13; 5,8–9; 9,5–6. besonders V. 17–20 und zur redaktionsgeschichtlichen Einordnung Wanke, Jeremia, S. 16–17; 303–304. 48 Wahl, Schöpfer. 49 Vgl. 15,11–18,14; 33,7–15; 40,1–11; 41,1–13; siehe dazu Beentjes, Theodicy. 50 SVF II,1169 (Gellius, Attische Nächte 7,1, als Zitat Chrysipps; Übersetzung aus: Weinkauf, Philosophie, S. 131–132); Heraklit, Frgm. 22B 8; Frgm. 22B 23; Frgm. 22B 67 (auch bei Mansfeld, Vorsokratiker I, S. 256–259; 274–275). Siehe dazu Pohlenz, Stoa I, S. 100– 101; Wicke-Reuter, Providenz, S. 36–38; 273. 47 Vgl.

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Mosegeschichte.51 Ben Sira hingegen widmet sich als Weisheitslehrer dezidiert der Rede vom Handeln Gottes in der Geschichte Israels. Georg Sauer konnte im Blick auf die Bindung der Weisheit an die Geschichte gar von Ben Siras „größte(r) geistige(r) Leistung“ sprechen.52 Am deutlichsten wird dies im „Lob der Väter“ (Sir 44–49; 50),53 einer an der hellenistischen Gattung des Enkomions54 und an biblischen Geschichtspsalmen orientierten miniaturähnlichen Übersicht von der Urgeschichte der Menschheit bis in die Gegenwart Ben Siras. Die in der biblischen Literatur einmalige Aneinanderreihung von Einzelporträts eröffnet ein Prolog (44,1–15) zur grundsätzlichen Bedeutung historischen Gedenkens (‫זכר‬, μνημόσυνον, μιμνήσκω)55. Damit tritt Ben Sira entschieden dem von Kohelet konstatierten steten Abbau von Erinnerung entgegen (vgl. Pred 1,11: ‫)אין זכרון‬. Ben Sira kommt der vor allem im Deutero­nomium eingeprägten Forderung der fortlaufenden aktiven Rückbindung an die entscheidenden heilsgeschichtlichen Grunddaten jüdischer Existenz nach (vgl. Dtn 16,3) und teilt die Vorstellung vom bleibenden Gedächtnis des Gerechten (vgl. Ps 112,6; Spr 10,7 versus Pred 2,16). Zur Weisheit und zu einem weisheitlichen Diskurs gehört für Ben Sira wesentlich die Reflexion geschichtlicher Prozesse, wobei diese, wie schon die Rede von der Schöpfung, durchgehend einen doxologischen Charakter hat. Den Rahmen dieser Geschichtsschau bildet ein Lobpreis auf den urzeitlichen Weisen Henoch (44,16; 49,14), womit Ben Sira – wie mit der Erwähnung des himmlischen Thronwagens (‫ )מרכבה‬in 49,8 – auf das sich in hellenistischer Zeit im Judentum etablierende Henochschrifttum reagiert.56 Im Hauptteil des „Väterlobs“ erscheinen in quasi kanonisch-chronologischer Folge Noah, Abraham, Isaak, Jakob / Israel, Mose, Aaron, Pinchas, Josua, Kaleb, die Richter, Samuel, David,57 Salomo, Rehabeam, Jerobeam, Elia, Elisa, Hiskia, Jesaja, Josia, Jeremia, Ezechiel, die 12 Propheten, Serubbabel, Josua Ben Josadak, Nehemia, Joseph, Sem, Set, Enosch (nur in H, Syr) und Adam. Mit dem Preis auf die Herrlichkeit (‫ )תפארה‬Adams am Ende des „Väterlobs“ blickt Ben Sira hinter die mit der Erwähnung Nehemias in 49,13 erreichte Situation zurück auf die Urgeschichte (49,16). Hier zeigt sich, dass er auch um die zu seiner Zeit im Judentum aufkommenden Adamspekulationen weiß (vgl. auch Sir 16,16 51 Vgl. die vor allem an der Abrahamüberlieferung ausgerichtete Stilisierung der Rahmen­ erzählung (Hi 1–2; 42,7–17), die Anspielungen auf die Urgeschichte in Hi 15,7 (Urmensch), 22,15–16 (Flut) und 31,33–34.38–30 (Adam, Kain), auf die Väter in Hi 15,18–19 sowie auf Mose und die Tora in Hi 22,22 und 31; vgl. dazu Witte, Zeichen; ders., Väter. 52 Sauer, Weisheit, S. 122. 53 Vgl. aber auch Sir 16,7–10. 54 Siehe dazu A. Schmitt, Enkomien, sowie ausführlich Lee, Studies. 55 Als Leitwort in 44,9.13; 45,1; 46,11; 47,23; 49,1.9.13; vgl. auch in 45,9.11. 56 Vgl. dazu Marböck, Henoch; Bedenbender, Mose. 57 David wird zweimal genannt, zunächst proleptisch in 45,25–26 und dann an chronologisch „richtiger“ Position in 47,1–11.

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[G-II]).58 Dabei gehört Sir 49,16 zur positiven Adam-Rezeption, bei der die Herrlichkeit Adams als des Ersterschaffenen betont wird,59 neben der eine negative Rezeptionslinie besteht, die auf die Sünde Adams verweist, in deren Gefolge der Tod in die Welt gekommen sei.60 Auffällig ist, dass Ben Sira Esra und Daniel nicht aufführt. Die Nichterwähnung Esras könnte an Ben Siras Hochschätzung der aaronidisch-hohepriesterlichen Linie gegenüber dem levitischen Priestertum liegen.61 Die „Auslassung“ Daniels steht wohl im Zusammenhang mit Ben Siras Vorbehalt gegenüber apokalyptischen Spekulationen, den er mit Kohelet teilt.62 Wie bei vergleichbaren Geschichtssummarien der jüdisch-hellenistischen Literatur fehlen Heldinnen Israels.63 Die biographisch angelegte Geschichtsschau Ben Siras wird im Wesentlichen durch drei Motive strukturiert, die fest in der israelitisch-jüdischen Tradition verankert sind: (1) durch die „Solidarität Gottes“ (‫חסד‬, ἔλεος) mit einzelnen Vätern Israels,64 (2) durch die „göttliche Herrlichkeit“ (‫כבוד‬, δόξα), mit der einzelne Väter besonders ausgestattet wurden,65 und (3) durch den „Bund“ (‫ברית‬, διαθήκη), der hier durchgehend im Sinn der Priesterschrift (vgl. Gen 6,18; 9,9–17; 17,2) als besondere Zusage Gottes erscheint.66 In dieser Form einmalig für die alttestamentliche Weisheitsliteratur, bewahrt Ben Sira so das Potential, das der „Bund“ als ein zentrales gesamtbiblisches geschichtstheologisches Interpretament besitzt.67 58 Siehe

dazu Bousset / Gressmann, Religion, S. 22–26; 406–409; Schäfer, Adam; BranMensch. 59 Vgl. 1QS IV,23; 1QHa IV,27 (text. incert.); XVII,15; CD-A III,20; TestAbr A 11,9–12; B 8,12; SibOr 3,24; BerR VIII; XXI zu Gen 3,22; BerR XVI zu Gen 2,10 (in Verbindung mit Hi 12,13); BerR XVII,4; WaR XX,2; PesK 12; bBB 58a; bChag 12a; bSanh 38b; TgPs 92,1; 94,10. 60 Vgl. CD-A X,8; 4Q167 Frgm. 7–9,1 als Auslegung von Hos 6,7; 4 Esr 3,7.21; 4,30–31; 7,10–11; SapSal 10,1; TestLev 18; 2 Bar 18,1–2; 23,4; 48,42; 54,15; 56,5–6; 3 Bar 4,8.13.16; VitAdEv; grApkEsr 2,10; ApkSedr 4,4; 5,1–2; 7,4–5; BerR XI zu Gen 2,1; bSanh 38b. 61 So Höffken, Sirach, und Zapff, Sirach, S. 372. Dass Ben Siras Übergehen Esras an ei­ner Ablehnung von dessen rigider Abgrenzungspolitik gegenüber allem nicht Judäischen liege, ist angesichts der Würdigung Nehemias und der antisamarischen Haltung Ben Siras (vgl. 47,21; 50,25–26) unwahrscheinlich. 62 Vgl. Sir 3,21–24; 33(36),3; 34(31),1–8; Pred 3,21 – kritisch dazu Voitila, Ben Sira. 63 Vgl. Neh 9; 1 Makk 2,51–60; 3 Makk 6,4–8; 4 Makk 16,15–23; 18,9–19; siehe dann aber Hebr 11,11–12.31.35. 64 Sir 44,1 (HB); 44,10; 46,7; 47,22. 65 Sir 44,2 (allgemein); 44,19 (Abraham); 45,20 (Aaron); 45,23 (Pinchas); 47,6 (David); 47,20 (Salomo), vgl. weiterhin in G δοξάζω in 46,2 (Josua); 48,4 (Elia); 49,16 (Sem und Set); 50,24 (Simon). 66 Sir 44,17 (Noah); 44,21–23 (Erzväter); 45,15 (Aaron); 45,24 (Pinchas); 45,25 (David); 50,24 (Pinchas, Simon). 67 Im Rahmen der Weisheitsliteratur findet sich eine vergleichbare Verwendung dieses Begriffs nur noch in SapSal 18,22 – und in Spr 2,17, falls hier die Wendung ‫יה‬ ָ ‫ֹלה‬ ֶ ‫ְּב ִרית ֱא‬ ‫ ְׁש ֵכ ָחה‬im dtr. Sinn die Abkehr von der von Jhwh auferlegten Verpflichtung meint (so Fuhs, Sprichwörter, S. 65) und nicht, wie zumeist angenommen wird, eine besondere Hochschätdenburger,

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Das „Väterlob“ basiert inhaltlich auf dem Pentateuch und den Propheten. Es setzt schon ein Dodekapropheton voraus (vgl. 49,10) und bezeugt in diesem Sinn einen sich aus Tora und Neviim formierenden Kanon (vgl. 0,8–10.20–21). Im hebräischen und syrischen Text erscheint zusätzlich „Hiob, der Prophet“ (49,8), wodurch das „Väterlob“ eine die Grenzen Israels überschreitende Tendenz erhält.68 Wie in Ez 14,14 angelegt und in den Fortschreibungen in Hi 4,12–21 und 32,8–9.18–19 ausdrücklich entfaltet, werden damit Weisheit und Prophetie verknüpft – ein Phänomen, das sich auch an anderen Stellen des Sirachbuchs zeigt, wenn sich der Weise als Prophet darstellt (vgl. Sir 24,32– 33; 39,1.7–8).69 Charakteristische Einzelbilder, an denen sich der Umgang Ben Siras mit der geschichtlichen Überlieferung des antiken Judentums und seine Form der Neuinterpretation besonders schön zeigen, sind das Moseporträt (45,1–5), das David- und Salomoporträt (47,1–11.12–21) und das Elia­ porträt (48,1–12a). Am Moseporträt lassen sich gut Ben Siras Bindung an die am Sinai geoffenbarte Tora, die er in Weiterführung von Dtn 30 als „das Gesetz des Lebens“ bezeichnen kann (vgl. 17,11 [G]),70 und seine produktive Auseinandersetzung mit dem Deuteronomium, das für ihn einen normativen Rang einnimmt, ablesen. Im Davidporträt erscheint Ben Sira als Ausleger der deuteronomistischen Historiographie, übt verhalten Kritik am Königtum (vgl. 10,3–18) und gibt sich antisamaritanisch (vgl. 50,25–26).71 Das Eliaporträt zeigt seine Hochschätzung der Prophetie und der Propheten, die für ihn Ausleger der Tora, Mahner und Tröster Israels sowie verlässliche Künder der Zukunft sind (36,16[21]). Hingegen verdeutlichen die ausführliche Würdigung Aarons (45,6.20–24), die Erwähnung des Pinchas (45,23; 50,24) und die abschließende Beschreibung der Taten und des Ornats des Hohepriesters Simon das besondere Interesse Ben Siras am Kult (50,1–24). In der Hochschätzung der Prophetie und des Priestertums erweist sich Ben Sira geradezu als weisheitliches Korrektiv zu Kohelet. In den protokanonischen Weisheitsbüchern (Spr, Pred, Hi) kommen der Kult und priesterliche Themen kaum zur Sprache – und wenn, dann distanziert oder metaphorisch pervertiert. In den Sprüchen Salomos werden nur in wenigen Sentenzen Kult und Ethos kritisch gegenübergestellt.72 Kohelet konzentriert zung der Ehe als einer „Satzung Jhwhʼs“ ausdrückt. In Bar 2,35 erscheint „Bund“ nur einmal in einer von dtr. Sprache und Theologie gesättigten Passage. In den aus Qumran bekannten Weisheits­texten, in denen der Begriff ‫ ברית‬begegnet (vgl. u. a. 4Q185 Frgm. 3; 4Q415 Frgm. 2, ii + Frgm. 2a; 4Q418 Frgm. 188) ist der Kontext zu fragmentarisch, um entscheiden zu können, ob ‫ ברית‬hier eine die Gesamtkomposition strukturierende Funktion hat. 68 Siehe dazu Witte, Propheten (in diesem Band S. 23–37). 69 Vgl. dazu grundsätzlich Hermisson, Prophetie, sowie speziell zu Sir 24,3–33 Leuenberger, Gott, S. 279–312, hier: S. 303–304. 70 Vgl. dazu Witte, Gesetz (in diesem Band S. 109–121); ders., Mose (in diesem Band S. 123–149). 71 Vgl. dazu Witte, David (in diesem Band S. 151–170). 72 Vgl. Spr 15,8; 15,29; 17,1; 21,3; 21,27; 28,9. In Spr 22,17–24,22; 24,23–34; 25–27;

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sich auf Mahnungen zu einer überlegten Kultpraxis (Pred 4,17–5,5). Die Notizen von den Opfern, die Hiob vorsorglich für seine Kinder darbringt (Hi 1,5), und vom Opfer der Freunde Hiobs am Ende des Buchs (Hi 42,7), bilden nur scheinbar eine Ausnahme. So steht in allen Schichten des Hiobbuchs das Gebet (Hi 5,8; 22,27; 33,36), zumal die Fürbitte des Gerechten (Hi 42,10), über dem Opfer. Wo der Dichter des Hiobdialogs seinem Helden kultisch geprägte Begriffe und Motive in den Mund legt (vgl. Hi 9,30–31), sind diese negativ transformiert und dienen nur dem Nachweis der gestörten Beziehung zwischen Schöpfer und Geschöpf. Ben Sira hingegen integriert genuin priesterliche Vorstellungen und Sprachformen positiv in sein weisheitliches Denken und in seine weisheitliche Geschichtstheologie. So zeigt sich für Ben Sira wahre menschliche Weisheit nicht nur in der genauen Beobachtung natürlicher und gesellschaftlicher Abläufe und in einem der politischen Gemeinschaft entsprechenden Verhalten und Handeln, sondern auch und gerade im Gehorsam gegenüber der geschichtlich geoffenbarten Tora, in der Teilhabe an dem geschichtlich gestifteten und von den aaronidischen Hohepriestern (45,6–24; 50,1–24) ausgeübten Kult am Jerusalemer Tempel, im rechten Opfer, Gottesdienst und Gebet,73 und im steten Erinnern der eigenen Geschichte als der von Gott, dem Heiligen (50,17), strukturierten und qualifizierten Zeit. Dienen im „Väterlob“ die Motive „gottgestifteter Bund“, „gottgeschenkte Herrlichkeit“ und „gottgewährte Solidarität“ als geschichtstheologische Interpretamente, so arbeitet Ben Sira an anderen Passagen seines weisheitlichen Lehrbuchs, in denen er auf das Thema Geschichte zu sprechen kommt, mit dem alttestamentlich v. a. aus der deuteronomistischen Historiographie und der prophetischen Überlieferung sowie den Klagepsalmen bekannten Gegensatzpaar vom „Zorn und Erbarmen Gottes“.74 Auf drei ausgewählte Aspekte in der geschichtstheologischen Verwendung dieses Motivs möchte ich hinweisen. Mehrfach arbeitet Ben Sira in seiner Geschichtstheologie mit der sogenannten Gnadenformel „Barmherzig und gnädig, langsam zum Zorn und reich an Gnade und Treue ist Gott“, die sich mit leichten Variationen in allen Teilen des alttestamentlichen Kanons, aber auch im Qumranschrifttum findet.75 Sir 2,11 (G) bietet die Gnadenformel in der Gestalt eines besonderen Dreiklangs, bestehend aus einer Prädikation Gottes als gnädig und barmherzig (2,11a), einer 30,15–32 und 31,1–9 kommt das Thema Kult gar nicht vor; vgl. dazu Ernst, Kultkritik, und Sauer, Weisheit, S. 117–121. 73 Zur Hochschätzung des Jerusalemer Tempels vgl. Sir 47,13; 49,6.12; 50,1; zur positiven Würdigung des Kultes vgl. die Ausführungen zu Gebet (7,10.14; 35[32],21; 36,17[22]; 50,19), Opfer (7,29–31; 34[31],24[18]–35[32],20–22), Fest (50,5), Abgaben für die Priester (7,31) und priesterlicher Sündenvergebung (45,16.23–26); siehe dazu Reiterer, Opfer. 74 Siehe dazu ausführlich Witte, Barmherzigkeit (in diesem Band S. 83–105). 75 Vgl. Ex 34,6; Jo 2,13; Jon 4,2; Ps 86,15; 103,8; 145,8; Neh 9,17. Hinzu kommen mehr als 20 Anspielungen, in denen einzelne Elemente der Gnadenformel zitiert werden, sowie außerkanonische Belege (CD-A II,4; 1QHa VIII,24; 4Q511 iii,1); Spieckermann, Barmherzig; Scoralick, Güte; Franz, Gott.

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Verheißung der Sündenvergebung (2,11bα)76 und einer Zusage der Rettung in der Zeit der Not (2,11bβ). Der Vers ist in eine Lehrrede (2,1–18) eingebettet, die zu Gottesfurcht und zu Gottvertrauen ermahnt und argumentativ auf die Barmherzigkeit Gottes als dem eigentlichen Wesen Gottes verweist. Negative Erfahrungen der Gottesfürchtigen werden als zeitlich befristetes Erziehungshandeln bzw. als Prüfung (πειρασμός, V. 2)77 des gerecht vergeltenden Gottes gedeutet (V. 18; vgl. 17,23; 35,13). Mit einem Zitat aus 2 Sam 24,14 ( par. 1 Chr 21,13) folgert Ben Sira: Lasst uns in die Hände des Herrn fallen und nicht in die Hände von Menschen. Denn wie seine Größe, so ist auch sein Erbarmen, und wie sein Name, so sind auch seine Werke. (Sir 2,18 [G / Syr])78

Gottes Größe (μεγαλωσύνη)79 und Name, beides Kennzeichen seiner Gottheit und Chiffren für Gott selbst, sind die Grundlagen seiner Barmherzigkeit.80 Auch in 5,1–8 verwendet Ben Sira das Motiv „Zorn und Barmherzigkeit Got­tes“ als geschichtstheologische Interpretationsfigur in einer, nun dialogisch aufgebauten, Lehrrede. Wer sich angesichts der Barmherzigkeit und Verge­ bungs­ bereitschaft Gottes von einem ethisch und religiös verantwortlichen Handeln lossagt (vgl. Jes 55,7), muss nach Ben Sira mit der strafenden Gerechtigkeit Gottes rechnen. Der Verweis auf Gottes Zorn (Sir 5,4.6) dient hier als theologisch notwendiges Gegenüber zum Bekenntnis zu Gottes Barmherzigkeit. Der Gott, der die Sünde vergibt, wie es Ben Sira die von ihm angesprochenen Gegner unter Verwendung des kultisch geprägten terminus technicus ‫סלח‬ (ἐξιλάσκομαι)81 sagen lässt (5,6b), ist zugleich der Gott, der in seinem Zorn die Sünder straft (5,6d). Der Zorn steht hier für Gottes Tätigkeit als Richter. Das empirisch nachweisbare Glück derer, die sich selbst zum Maßstab ihres Handelns machen (Sir 5,4a, vgl. Ps 73; Hi 21; Pred 8,11–13), ist nur ein Zeichen von Gottes Langmut (5,4b), der dem Sünder Zeit zur Umkehr gewährt (5,7). Überheblichkeit des Menschen und Vergebungswille Gottes haben ihre Gren76 Sündenvergebend wirken nach Ben Sira das Gebet (vgl. 17,29; 21,1; 39,5–6; vgl. auch 28,2–4), ethisches Handeln (vgl. 3,3.14–15.30; 28,2.5; 34[31],23; 35[32],5) und der Dienst der Priester (vgl. 45,16.23); siehe dazu ausführlich Marböck, Sündenvergebung; Reiterer, Opfer, S. 171–174, sowie Witte, Ethos (in diesem Band: S. 225–243). 77 Vgl. Sir 6,7; 27,5.7; 33(36),1; 44,20; 1 Makk 2,52. 78 Der vierte Stichos fehlt in der griechischen Textüberlieferung und ist hier aus der sy­ rischen Version übernommen (wʼjk šmh hknʼ ʽbdwhj). In HA findet sich ein Äquivalent in 6,17b (‫ ;)כן מעשיו וכשמו‬vgl. auch 6,22a. 79 In der LXX wird das Wort μεγαλωσύνη ganz überwiegend, im NT (Hebr 1,3; 8,1; Jud 25) ausschließlich von Gott gebraucht. In Hebr 1,3 dient es als Umschreibung von Gott selbst. 80 Vgl. SapSal 11,23; 12,16; PsSal 7,6. 81 Vgl. Neh 9,17; CD-A II 4; Ps 130,4; Jer 31,34; 33,8; 50,20; Dan 9,9.

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ze – spätestens am „Tag der Rache“ (Sir 5,7 [HA])82 und am „Tag des Zorns“ (5,8 [HA]).83 Wie in Sir 2,11 (vgl. 35,26) die „Zeit der Not“, so kann auch der von Ben Sira aus prophetischer Tradition übernommene „Tag des Zorns“ (vgl. Zeph 1,14–16; 2,1–3) als Tag des Gerichts präsentisch und eschatologisch verstanden werden (vgl. Sir 18,24 [G]; 48,10). Das Motiv des plötzlich über die Sünder hereinbrechenden Zornestages zeigt, dass der Zorn Gottes unberechenbar und unausweichlich, aber nicht ungerecht ist. Unterstreicht Ben Sira mit der Betonung der Unverfügbarkeit von Zorn und Erbarmen Gottes die Freiheit Gottes, so verdeutlicht die Verbindung zwischen Barmherzigkeit, Sündenvergebung, Zorn und Strafe die grundsätzliche Bezogenheit Gottes auf das Handeln des Menschen. Wie Sir 5,1–8 stellt auch 16,5–16 eine „kleine Theodi­zee“ dar:84 Die Formulierung „Zorn und Erbarmen sind bei ihm“ (16,11) begegnet hier im Rahmen einer geschichtstheologischen Reflexion, die von grundsätzlichen Erwägungen über die sittliche Entscheidungsfähigkeit und die Verant­ wortlichkeit des Menschen sowie die richtende Weltwahrnehmung Gottes gerahmt wird (15,11–16,4; 16,17–23). Einzelne Geschichtsbeispiele aus der Überlieferung der Ur- und Frühgeschichte85 dienen als Beleg für den gleichermaßen in der Weisheit und im Deuteronomismus verankerten Grundsatz von der gerechten Vergeltung Gottes und einem Gericht nach den Werken86: Sein Erbarmen ist so groß wie sein Züchtigen, jeden wird er nach seinen Taten richten. (Sir 16,12 [HA])

Auch hier interpretiert Ben Sira also, wie neben und nach ihm weitere jüdische Weisheitsschriften, den Zorn als Erziehungsmaßnahme Gottes (‫תוכחה‬, ἔλεγχος, vgl. Sir 18,13c),87 und betont ausdrücklich die göttliche Richtertätigkeit (‫שפט‬, κρίνω, vgl. Sir 35,15.22). Das dritte Beispiel für die geschichtstheologische Verwendung des Motivs „Zorn und Barmherzigkeit“ stammt aus dem für die Geschichtstheologie (und „verhaltene Eschatologie“88) des Sirachbuchs insgesamt wichtigen Gebet in Sir 36,1–17, das seine nächsten Parallelen in den kollektiven Bitt- und Klage­ gebeten Ps 44; 74; 79 und 102 hat.89 Einem Appell an Gott, er möge seinen Zorn ausschütten (36,7[33,8]; vgl. Ps 78,38), steht die doppelte Bitte um Gottes Erbarmen gegenüber: 82 Vgl.

Jes 34,8; 61,2; 63,4; Spr 6,34; 1QM III,7; XV,6. Zeph 1,15; 2,2–3. 84 Prato, Il problema, 367–369; Skehan / Di Lella, Ben Sira, S. 183; Beentjes, Theodicy. 85 Vgl. im Einzelnen Gen 6,1–4; Gen 19; Dtn 7; Jos 10; Ex 12,37; Num 11,21; 14,26–45. 86 Vgl. Sir 3,14–31; 11,26; 15,19; 17,22–23; 29,11; 33(36),1; 35(32),22–26; Hi 34,10–12. 87 Vgl. 2 Makk 6,12–16; SapSal 12,19–22. 88 Höffken, Sirach, S. 197. 89 Vgl. weiterhin 2 Makk 1,24–29; Jdt 9; Tob 13–14; PsSal 17; 1QM XI; 4Q504 Frgm. 2. Entgegen gelegentlicher Bestreitungen der Ursprünglichkeit (so zuletzt wieder Zapff, Sirach, S. 236), dürfte Sir 36 zum genuinen Bestand des Buchs gehören. Vgl. dazu Marböck, Gebet. 83 Vgl.

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Erbarme dich über das Volk, das nach deinem Namen benannt ist, über Israel, dem du den Ehrennamen „Erstgeborener“ verliehen hast. Erbarme dich über deine heilige Stadt, über Jerusalem, die Stätte deines Wohnens. (Sir 36,12–13 [HB])

Charakteristisch für Sir 36 ist die Einbettung des Motivs vom göttlichen Zorn und Erbarmen in die Darstellung des Wesens und Handelns des universalen Gottes. So wird das Gebet eingeleitet mit der Anrede Gottes als dem Gott des Alls (‫אלהי הכל‬, δέσποτα ὁ θεὸς πάντων, V. 1), die im biblischen Schrifttum erstmalig bei Ben Sira begegnet. Traditionsgeschichtlich stehen im Hintergrund dieser Gottesprädikation, die wie das bereits oben angesprochene Epitheton des Allherrschers (παντοκράτωρ) für die spätere christlich-dogmatische Ausbildung der Rede von der Allmacht Gottes relevant wurde, zum einen die in altorientalischen Epitheta gründende israelitisch-jüdische Anrede Gottes als ‫„( אדון כל־הארץ‬Herr des ganzen Landes / der ganzen Erde“),90 zum anderen pagane griechisch-hellenistische Gottesvorstellungen.91 Den Schlusspunkt bildet ein Bekenntnis zu Gott als dem Gott der „Zeit“ (‫אלהי עולם‬, κύριος ὁ θεὸς τῶν αἰώνων, V. 17[22]).92 Die Gottesprädikation ‫ אלהי עולם‬auf Gen 21,33 zurück, ist aber in Sir 36,17(22) wie in Jes 40,28 in einem umfassenderen Sinn gebraucht (vgl. Tob 13,6[7]; 14,6 S; JosAs 2,2): V. 1 betont die Universalität Gottes in räumlicher Perspektive, V. 17 / 22 in zeitlicher (vgl. V. 15 / 20). Indem Ben Sira in V. 10 den Zorn Gottes sich gegen jene wenden lässt, die Gottes Gottheit bestreiten,93 setzt er die bereits in der Gnadenformel in Ex 34,6–7 angelegte Vorstellung von der Eiferheiligkeit Jhwhʼs fort: Der Zorn entspringt dem Willen eines personal verstandenen Gottes, der sich in Beziehung zu Mensch und Welt setzt und der als Schöpfer des Kosmos und Lenker der Geschichte absolute Anerkennung fordert. Weiterhin konzentriert Ben Sira die prophetischen Gerichtsworte gegen hybride Fremdvölker (vgl. Jes 14,14–27 oder Ez 28,1–19) auf die formelhaften Verse: Und sie sollen erkennen, wie wir erkannt haben:94 Es gibt keinen Gott außer dir.95 (Sir 36,5 [HB]) 90 Vgl. z. B. bereits die Bezeichnung Baals als zbl bʽl arṣ („Fürst, Herr der Erde“) im Baal-Mythos aus Ugarit (KTU 1.3 I, 2–4 u. ö.; Loretz / Dietrich, in: TUAT III / 6, S. 1135) sowie biblisch in Jos 3,11.13; Mi 4,13; Sach 4,14; 6,5; Ps 97,5; Jer 51,19; siehe dann auch 11QPsa XXVIII,7. 91 Vgl. Pindar, Isthm. 5,53 (Zeus als ὁ πάντων κύριος); Diog. Laert., VII,147; Kleanthes, Zeus-Hymnus (SVF I,537); Plutarch, De Iside et Osiride 355E (bezogen auf Osiris), siehe dazu auch oben Anm. 32. 92 Demgegenüber verstehen Sauer, ATD.A 1, S. 248, und Mulder, Simon, S. 206, ‫ עולם‬in Sir 36,17(22) im Sinn von „Welt / Weltall“. 93 Vgl. Sir 16,6; Jes 10,12–14; 14,13–14; Jdt 6,2. 94 Vgl. Jer 10,25; 16,21; Ez 28,22; Dan LXX 3,45; 2 Makk 1,27; Ps 79,6. 95 Vgl. 2 Sam 7,22; 1 Kön 8,60; 1 Chr 17,20; Jes 43,10–11; 44,6; 45,5.7.14.21–22; 64,3; Hos 13,4; Dan 2,47; 3,29.

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Deutlicher als bei den vorangehenden israelitisch-jüdischen Traditionen zeigt sich bei Ben Sira die systematische Verbindung, die zwischen der Rede vom Zorn und der Barmherzigkeit Gottes und der Vorstellung von einem Gott besteht. Ben Sira ist hier, wie durchgehend in seinem Buch, ein Erbe des von den späten Schichten des Deuteronomiums und des Jesajabuchs geprägten Jhwh-Monotheismus (Dtn 4,35; Jes 44,6),96 innerhalb dessen, wenn auch in asymmetrischer Relation, Heil und Unheil, Leben und Tod, ausschließlich auf das Handeln eines Gottes zurückgeführt werden (Sir 39,16–35). 2.3 Gott als Erlöser Das kompositionelle und gedankliche Zentrum des Sirachbuchs bildet das Lied auf die kosmische Weisheit in Kap. 24,97 das bis heute nur von den griechischen, lateinischen und syrischen Versionen bezeugt wird, aber mutmaßlich auf einer hebräischen Vorlage beruht. Das Lied steht einerseits in der auch in Sir 1 belegten Tradition der Weisheit als Gabe Gottes an den Frommen, die gleichzeitig als Lebensziel und als Lebenshaltung des Frommen bezeichnet und dementsprechend wie in Spr 1–9 mit der Gottesfurcht identifiziert werden kann. Wie für Spr 1–9 gilt für Ben Sira, dass die Furcht Gottes Anfang der Weisheit ist (Sir 1,14, vgl. Spr 1,7; 9,10). Zwischen der Weisheit und der Gottesfurcht besteht eine Dialektik: Wer Gott fürchtet, erhält Weisheit – wer weise ist, fürchtet Gott. In diesem Sinn schenkt die Weisheit Leben, d. h. sie lässt Sinn im Leben entdecken (Sir 4,11–19). Ben Sira mahnt daher, die Weisheit lebenslang zu suchen (6,18–37; 51,13–30). Die lebenslange Suche nach Weisheit entspricht dem lebenslangen Studium der Tora. Wird in Ps 1 derjenige glücklich gepriesen, der Tag und Nacht die Tora meditiert, so gilt der Makarismus Ben Siras dem, der Tag und Nacht über die Weisheit nachsinnt (14,20) und die Tora hält (15,1). Weisheit, Gottesfurcht und Tora stehen bei Ben Sira in einem unmittelbaren Wechselspiel, bei dem die einzelnen Größen austauschbar sind (32[35],24–33[36],3). Andererseits erscheint die Weisheit in Weiterführung von Hi 28 und Spr 8 und in Parallele zu Bar 3 als eine den Kosmos durchwaltende Größe. Wie die ägyptische Ma’at ist die Weisheit in Sir 24 eine kosmische Schöpfungsordnung. Von Gott erschaffen, hat die Weisheit den Kosmos durchstreift und sich – und hier besteht ein wesentlicher Unterschied zu Hi 28 und Spr 8 – schließlich auf dem Zion niedergelassen (Sir 24,1–22). Verbunden mit dieser „Einwohnung“ am kultischen Zentrum Israels, das damit in Weiterführung alter Jerusalemer Tempel- und Zionstheologie (vgl. Ps 24; 46) zum Mittelpunkt der Welt wird, identifiziert Ben Sira die Weisheit mit dem „Buch des Bundes“, d. h. mit der Tora (Sir 24,23), auf deren Charakter als „Gesetz des Lebens“ er auch in seiner 96 Siehe

dazu Aurelius, Herr, S. 325–345. dazu die grundlegende Untersuchung von Marböck, Wandel, S. 34–96; sowie Leuenberger, Gott, S. 298–304. 97 Siehe

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schöpfungstheologischen Komposition in Kap. 17 und in seinem Moseporträt verweist (vgl. 17,11; 45,5).98 In seinem Lobpreis auf die personifizierte Weisheit in Sir 24 greift Ben Sira einerseits auf die vor allem im hellenisierten Ägypten beliebte Gattung der Isis-Aretalogie zurück.99 Andererseits transformiert er hier das deuteronomistische Motiv von der „gottgeschenkten Ruhe“ (‫מנוחה‬, ἀνάπαυσις, κατάπαυσις) (V. 7, vgl. Dtn 12,9–10; 25,19), die spätdeuteronomistische Toratheologie (vgl. Dtn 4; 30) sowie Elemente der priesterschriftlichen Vorstellung von der Niederlassung (‫ )שכן‬der Herrlichkeit Jhwh’s auf dem Zelt der Begegnung (vgl. Ex 24,16; 25,8; 29,45; 40,35).100 Bereiche, die im hellenistischen Isis-Kult der Göttin zugewiesen werden, wie die Schöpfung, das Recht, die Moral, die Wissenschaft und die Religion,101 werden in Sir 24 auf die Weisheit angewandt. Doch während Isis als selbständige Göttin agiert, ist die Weisheit, von der Ben Sira spricht, ein Geschöpf Gottes, das sich in der Tora inkarniert hat. Als solche ‚fleischgewordene‘ offenbarte Weisheit ist sie die Vermittlerin zwischen Gott, Welt und Mensch schlechthin. Mag Ben Sira die Weisheit noch so stark in exotischen Bildern malen – die Einladung der Weisheit, von ihren Früchten zu essen, zielt darauf, im Buch des Lebens, in der Tora zu lesen: Kommt her zu mir, die ihr nach mir verlangt, und sättigt euch an meinen Früchten! Denn an mich zu denken ist süßer als Honig, und mich zu besitzen süßer als Honigsaft. Diejenigen, die von mir essen, hungern immer nach mir; und die von mir trinken, dürsten immer nach mir. Diejenigen, die mir gehorchen, werden nicht zuschanden; und die mir dienen, werden unschuldig bleiben. Dies alles ist das Buch des Bundes, den Gott, der Höchste, aufgerichtet hat, das Gesetz, das uns Mose befohlen hat, das Erbe für die Gemeinden Jakobs. (Sir 24,19–23 [G]; vgl. 51,25–27)

Damit ist Sir 24 ein Zeugnis für eine Form weisheitlicher Offenbarungstheologie.102 Die Identifikation von Tora und Weisheit hat eine wechselseitige Folge, indem nun die Weisheit am Offenbarungscharakter der Tora teilhat103 und umgekehrt die Tora an der Universalität der Weisheit partizipiert. Die Freude am 98 Vgl. weiterhin 1,26–27 (G); 6,37; 15,1; 19,20 (G); 21,11 (G); 23,27 (G); 34(31),8 (G); 38,34–39,11. 99 Vgl. besonders V. 3–6 und zum Nachweis bereits Deissmann, Licht, S. 109–112, und Ringgren, Word, S. 144–149, sowie Conzelmann, Mutter; Marböck, Weisheit und Frömmigkeit, S. 47–54. 100 Siehe dazu auch Schreiner, Wohnen, und Janowski, Weisheit. 101 Vgl. z. B. die Isis-Aretalogie von Kyme, 2. Jh. v. Chr. (Text: Totti, Texte, S. 1–4; eine Übersetzung bieten Leipoldt / Grundmann, Umwelt, S. 96–98). 102 So mit Janowski, Weisheit, S. 9, und Leuenberger, Gott, S. 298–304. 103 Vgl. dazu bereits Krüger, Gesetz.

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Gesetz, von der auch die Dichter von Ps 1 oder Ps 19 sprechen, ist dann hier – unter dem Einfluss der Isis-Verehrung und der Verwendung von Metaphern aus der Pflanzenwelt (Sir 24,13–18), wie sie ihren Ort in der Liebespoesie haben (vgl. Hhld 2,1–2; 4,12–15; 7,7–10), – ausgemalt zu einer weisheitlichen Erotik der Tora (Sir 51,13–29):104 Meine Seele hängt an ihr (vgl. Gen 34,8) und mein Antlitz werde ich nicht von ihr abwenden. Meine Seele habe ich auf sie gerichtet hinter ihr her, und für alle Ewigkeit will ich nicht von ihr abweichen. Meine Hand hat ihre Tore geöffnet, zu ihr [drang]105 ich ein und erblickte sie. und in ihrer Reinheit habe ich sie gefunden und Einsicht (‫ )לב‬habe ich in Hinsicht auf sie erworben von Anfang an, darum also [will ich nicht von ihr lassen]106. Mein Inneres war erregt wie ein Ofen, sie zu erblicken, darum habe ich sie erworben als ein schönes Eigentum. (Sir 51,19–21)

Im Lob auf die Weisheit mischen sich so Ben Siras Schöpfungs- und Geschichtstheologie zu einer sapientiellen Soteriologie. In und mittels der offenbarten Weisheit erscheinen Gott der Schöpfer und der Herr der Geschichte als Erlöser, so dass in gewisser Weise von einer triadischen Struktur der Theologie Ben Siras gesprochen werden kann. Dass im Rahmen der neutestamentlichen Christologie bis in die Formulierung hinein einzelne Züge aus Sir 24 und 51 von der Weisheit auf den Logos-Christus übertragen werden (vgl. Mt 11,28–30; Joh 1,1–18),107 liegt in der Fluchtlinie dieser triadischen Weisheitstheologie.

3. Die theologische Bedeutung der Weisheit des Sirachbuchs Spätestens seit den Klassikern zur alttestamentlichen Weisheit von Hans Heinrich Schmid und Gerhard von Rad, denen in jüngerer Zeit aus dem angelsächsischen Raum die Arbeiten von Ronald E. Murphy und Leo G. Perdue zur Seite getreten sind,108 ist klar, dass die Weisheit keinen Fremdkörper in der Religions- und Literaturgeschichte Israels und Judas darstellt und ihre theologische Bedeutung nicht auf die Schöpfungstheologie zu beschränken ist. Gerade die 104 Das

als Akrostichon abgefasste Lobgedicht auf die Weisheit (51,13–29) wird – zumindest fragmentarisch – durch zwei hebräische Handschriften (HB und 11QPsa XXI,13–19) repräsentiert, die sich allerdings im Detail unterscheiden; weitere Differenzen weisen G, Syr und La auf, worauf hier nicht eingegangen werden kann. Die obige Übersetzung folgt HB, da in 11QPsa nur Reste der V. 19–20c erhalten sind. 105 Lies nach G ‫( אהדר‬vgl. Vattioni, Ecclesiastico, z. St.). 106 Lies nach G ‫( לא אעזבנה‬vgl. Vattioni, Ecclesiastico, z. St.). 107 Siehe dazu zuletzt Leuenberger, Gott, S. 308–311. 108 Schmid, Wesen; von Rad, Weisheit; Murphy, Tree; Perdue, History.

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jüdischen Weisheitsschriften aus persischer und hellenistischer Zeit, zu denen unbedingt die deuterokanonischen und außerkanonischen Weisheitstexte hinzuzuziehen sind,109 weisen nicht nur sehr komplexe Theologien auf, sondern leisten insgesamt einen vielschichtigen und wesentlichen Beitrag zur jüdischen und zur christlichen Rede von Gott – und dies nicht nur in einem historischen Sinn. In Anlehnung an Johannes Marböck lässt sich dieser Beitrag hinsichtlich der Theodizeefrage, des Menschenbildes und der Ethik sowie des Umgangs mit der Tradition und der Gegenwartskultur bestimmen.110 Zur Frage nach der Theodizee steuert das Sirachbuch die Aspekte der Finalität der Schöpfung, der wechselseitigen Bedingtheit der Schöpfungswerke, des sich asymmetrisch verhaltenden Gnaden- und Zorneshandelns Gottes und des Erziehungsleidens des Frommen bei. Den Grenzaussagen des die Gerechtigkeit Gottes bestreitenden Hiob (vgl. Hi 9) wird im Anschluss an die „Niedrigkeitsredaktion“ im Hiobbuch (Hi 4,17; 15,14; 25,4; 42,2–6) eine Absage (Sir 17,32) erteilt. Das Lob auf den universal handelnden Gott und die Bitte um Rettung werden als angemessene Reaktion des Menschen auf negative Erfahrungen betrachtet. Anthropologisch unterstreicht das Sirachbuch die grundsätzliche dialogische Bezogenheit des Menschen auf Gott und die Endlichkeit des Menschen. Zugleich betont es die Entscheidungsfreiheit und Verantwortlichkeit des Menschen. Gegenüber einem deterministischen Menschenbild hebt Ben Sira die lebenslange Bildbarkeit des Menschen hervor.111 Bildung (‫מוסר‬, παιδεία), vornehmlich in und durch die Tora, aber nicht auf diese beschränkt, erscheint gemäß dem Sirachbuch geradezu als ein wesentlicher Gegenstand und eine zentrale Aufgabe der Theologie. Mittel und Ausdruck von Bildung sind nach dem Sirachbuch die eigene jüdische Tradition, die sich in „der Tora, den Propheten und den übrigen Schriften“ niedergeschlagen hat, wie es der griechische Übersetzer im Blick auf den entstehenden dreiteiligen Kanon formulieren kann (0,8–10.20–21), und die reflektierte und modifizierende Rezeption hellenistischer Vorstellungen, wie es hier im Blick auf die stoische Pronoia-Vorstellung und die Isis-Theologie angedeutet wurde.112 Obgleich das Sirachbuch sich stark an das Deuteronomium anlehnt und mindestens die Bücherfolge Tora und Propheten voraussetzt, steht es ausweislich seiner Anspielungen auf das Henoch- und Adamschrifttum für einen offenen Kanon. Durch seine Vielgestaltigkeit selbst, wie sie sich 109 Vgl.

dazu vor allem die einschlägigen Studien von Otto Kaiser (besonders die Aufsatzbände: Schicksal; Gott); Küchler, Weisheitstraditionen; Collins, Wisdom; Marböck, Weisheit und Frömmigkeit. 110 Marböck, Die jüngere Weisheit; siehe auch ders., Erfahrung. 111 Ueberschaer, Weisheit. 112 Weitere Beispiele eines unverkrampften Umgangs mit dem Hellenismus sind die Hochschätzung des Reisens (Sir 34,12 [G]) und die Hinweise zum Verhalten bei einem Symposion (Sir 31,12–32,13 [G]), die Würdigung des Arztes (38,1–15) oder das Freundschafts­ ideal (6,5–17; 25,1–11 [G]; 27,16–21 [G]; 37,1–6 u. ö.).

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in den verschiedenen kanonischen griechischen, lateinischen und syrischen Fassungen zeigt, unterstreicht das Sirachbuch die theologische Berechtigung eines Kanonspluralismus. Schließlich ist Ben Siras kreative Aufnahme hellenistischer Sprach- und Denkformen paradigmatisch für eine weltzugewandte, innovationsfreudige Theologie. Es ist eine klare Absage an Esoterik und an Bestrebungen, Kultur und Religion voneinander zu scheiden. So zeigen sich die theologische Bedeutung des Sirachbuchs als Teil der alttestamentlichen Weisheitsliteratur und der Beitrag dieses Werks zu einer die israelitisch-jüdische Weisheit produktiv aufnehmenden christlichen Theologie abschließend an vier Punkten: 1. Ben Siras Weisheit steht für eine hohe theologische Integrationsfähigkeit, insofern sein Werk unterschiedliche theologische Konzeptionen, hier verdeutlicht an den Theologumena „Schöpfung“, „Geschichte“ und „Weisheit“, mittels weisheitlicher Sprache und Denkmodelle zu einer komplexen Theologie zu verknüpfen versteht. Wenn in der (ursprünglichen) Hiobdichtung das Versagen der traditionellen Antworten aus den Bereichen Kult, Recht und Weisheit angesichts spezifischer Gotteserfahrungen verdeutlicht wird,113 so versucht Ben Sira diesen Bereichen unter dem Dach einer mit der Tora identifizierten Weisheit wieder Geltung zu verschaffen. Zugleich zeigt das Sirachbuch, dass Erfahrungs- und Offenbarungstheologie nicht nur kompatibel, sondern wechselseitig aufeinander angewiesen (vgl. Hi 42,5–6)114 sind. Die Leistungsfähigkeit einer Theologie hängt aber nicht zuletzt vom Grad ihrer Komplexität und von ihrer Integrationskraft ab. 2. Ben Siras Weisheit steht für eine theologische Abstraktionsfähigkeit, insofern sein Werk Ansätze zu definitorischen Gottesbezeichnungen bietet, und sie steht für eine theologische Vielsprachigkeit. Dabei ist die Vielfalt der von Ben Sira und dem griechischen Übersetzer gebrauchten Gottesnamen und Epitheta – ähnlich wie im Buch Hiob und in charakteristischem Unterschied zum Buch der Sprüche und zum Koheletbuch, das gänzlich das Tetragramm vermeidet und von Gott nur als ‫ אלהים‬bzw. ‫ האלהים‬spricht115 – letztlich Ausdruck der Vielfältigkeit des einen Gottes, der alles ist (Sir 36,1.17; 43,27). Abstraktionsfähigkeit und Vielsprachigkeit sind aber wesentliche Voraus113 Vgl. dazu van Oorschot, Grenzen, 67–90. Darüber hinausgehend dürfte in der ursprünglichen Hiobdichtung auch das Scheitern der Tora thematisiert sein; vgl. dazu Witte, Zeichen. 114 Man könnte für die Verbindung von Erfahrungs- und Offenbarungstheologie auch auf die weisheitlichen Lehren in 4QInstruction verweisen; allerdings beschränkt sich hier die Offenbarung des „Geheimnisses des Gewordenen / des Seins“ (‫ )רז נהיה‬auf eine kleine esoterische Gemeinschaft; siehe dazu Tigchelaar, Learning; Goff, Wisdom, S. 9–68. 115 Dabei zeigt sich gerade im Gebrauch der Gottesbezeichnungen die Notwendigkeit einer differenzierten Betrachtung der verschiedenen Textformen des Sirachbuchs, da sich hier spezifische Unterschiede zwischen den verschiedenen hebräischen Fragmenten und den griechischen, syrischen und lateinischen Versionen finden.

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setzungen für die Gesprächsfähigkeit der Theologie mit anderen Religionen, Weltdeutungen und Gegenwartskulturen. 3. Ben Siras Weisheit steht für eine theologische Dialogizität, insofern sein Werk – ähnlich wie das Buch Kohelet – Theologie in Gestalt von Rede und Gegenrede, von Zitation traditioneller Überzeugungen und kontrastierender Position bietet. Dabei kommen Elemente einer sich auf eigene Beobachtung und Erfahrung stützenden Weisheit ebenso zum Zug wie eine sich aus dem intensiven und kreativen Studium der heiligen Schriften speisende Erkenntnis. Eine Theologie des Dialogs ist aber immer ein offener Prozess, eine Theologie im Werden, und dies gerade deshalb, weil Gott letztlich unerforschlich ist und weil der, der meint, mit der Aufzählung seiner Werke am Ende zu sein, gerade erst am Anfang steht (Sir 18,7 [G]). 4. Ben Siras Weisheit steht für eine doxologische Theologie, insofern der eigentliche Modus seines Redens von Gott das Gebet und hier wiederum der Lobpreis ist (Sir 51,1–12.12a–o).116 Theologie und Liturgie gehören hierbei eng zusammen – ohne Einbettung in den Kult und in die gelebte Religion mutiert Theologie zur Religionsphilosophie (Sir 50,4–24): Und das ganze Volk des Landes jubelte im Gebet vor dem Barmherzigen, bis er (d. h. der Hohepriester) den Altardienst beendet und ihm (d. h. Gott) seine (Opfer-)Satzungen erfüllt hatte. Dann stieg er herab und erhob seine Hände über die ganze Kultgemeinde Israels und der Segen Jhwhʼs war auf seinen Lippen, und mit dem Namen Jhwhʼs rühmte er sich. (Sir 50,19–20)

116 Vgl. weiterhin Sir 17,8–10.25–28; 32(35),13; 39,5–6.12–35; 42,15–43,33; 47,8–10; 50,22.

Barmherzigkeit und Zorn Gottes im Buch Jesus Sirach „Die Anschauungen vom Z.[orn] G.[ottes] gehören zu den bezeichnendsten Stücken der israelitischen Religion. Das AT ist voll von Aussagen darüber […]. Im ganzen gewinnt man den Eindruck, daß Jahwe ein zorniger Gott ist.“ (Hermann Gunkel, 1931)1 „Andere Missverständnisse gehen aus dem verkannten Rechte anthropopathischer und anthropomorphischer Darstellung hervor. So, wenn man dem AT die Vorstellung von dem göttlichen Zorn zum Vorwurf machte, die doch auch im NT festgehalten wird, ohne dem in diesem herrschenden Bewusstsein von der göttlichen Liebe zu widerstreiten. […] In Wahrheit ist kein lebendiges Gottesbewusstsein ohne anthropopathische und anthropomorphische Vorstellung möglich; in jenem ist mit diesem zugleich die Korrektur für dasjenige gegeben, was in ihnen Unangemessenes enthalten ist.“ (Konstantin Schlottmann / Ernst Kühn, 1907)2 Abstract: This article provides an overview of the speech of God’s mercy and wrath in the book of Ben Sira / Jesus Sirach and interprets Sir 2:11; 5:6 / 16:11; 18:11; 36:1–22; 50:19; and 51:1a–o. It includes a discussion of the “formula of grace” in the Old Testament (Ex 34:5–6 par.) as well as conceptions of the divine wrath in Ancient Near East. While the Hellenistic philosophers emphasize the dispassion of the gods, Ben Sira adheres to the Israelite-Jewish conception of a personal God and employs the word-pair “mercy and wrath”, which is traditionally as cipher for the righteousness of God. The nominal designation of God as the Merciful One (‫רחום‬, ὁ ἐλεήμων, Sir 50:19) is a special feature of Ben Sira.

1. Das Sirachbuch als Kompendium biblischer Theologie Im Talmudtraktat Berakhot (bBer 7a) streiten Rabbi Jochanan und Rabbi Zutra über die Frage, ob Gott bete. Auf die Frage, was denn Gott bete, antwortet Rabbi Zutra, Gott bete darum, dass seine Barmherzigkeit (‫ )רחם‬seinen Zorn (‫ )כעס‬bezwinge, damit er mit seinen Kindern nach der Eigenschaft der Barmherzigkeit und nicht nach der des strengen Rechts verfahre. Das hier Gott in den Mund gelegte Gebet spiegelt die rabbinische Vorstellung von den zwei 1 Gunkel,

Zorn Gottes, S. 2134–2135. Kompendium, § 98 (S. 80).

2 Schlottmann / Kühn,

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Eigenschaften (‫ )מדות‬Gottes wider, von der Eigenschaft des strengen Rechts (‫ )מדת הדין‬und von der Eigenschaft der Barmherzigkeit (‫)מדת הרחמים‬.3 Fragt man nach den traditionsgeschichtlichen Wurzeln der im Traktat Be­ rakhot 7a vorliegenden Gedankenfigur der zwei Middot Gottes,4 stößt man auch auf das Buch Jesus Sirach. Zweimal heißt es dort: „[…] Erbarmen und Zorn sind bei Ihm […] (Sir 5,6; 16,11).“ Die in allen antiken Versionen des Sirachbuchs belegte Wendung ist in dieser Dichte einmalig im biblischen Schrifttum.5 Sie verdeutlicht die systematisierende Tendenz des Sirachbuchs, das sich insgesamt als ein Kompendium zentraler Theologumena der hebräischen Bibel ansprechen lässt. Als Sammelbecken weisheitlicher, kultischer, juridischer und prophetischer Traditionen bietet sich das Sirachbuch geradezu als Ausgangspunkt für einen Überblick über das im Alten Testament zentrale Thema von der Barmherzigkeit und dem Zorn Gottes an. Um 180 v. Chr. von einem Weisen wohl in Jerusalem verfasst, verbindet das Sirachbuch in der Begegnung mit dem Hellenismus weisheitliches Denken mit einer am Deuteronomium geschulten Theologie und Ethik und mit priesterlichen Vorstellungen. Dabei fehlen auch prophetisch-eschatologische und historiographische Elemente nicht. Literaturgeschichtlich am Rande des Kanons stehend, überblickt es wohl bereits die gesamte hebräische Bibel (mit Ausnahme des Danielbuchs und später Fortschreibungen in den Psalmen und in den Prophetenbüchern).6 Es sammelt deren wesentliche Aussagen zu Gott, Welt und Mensch mit dem Ziel jüdischer Selbstvergewisserung in der sich wandelnden Welt des Hellenismus. Tradition und Innovation kennzeichnen das Sirachbbuch in je eigener Weise – dies gilt insbesondere auch für die Rede vom Zorn und Erbarmen Gottes. Die Rede vom Zorn und Erbarmen Gottes nun gerade am Beispiel des Si­ rachbuchs, und nicht an einschlägigen Texten aus den Psalmen, den Propheten, den Klageliedern Jeremias oder aus der sogenannten deuteronomistischen Literatur zu verdeutlichen,7 legt sich aber nicht nur aus den eben genannten 3 Zu der aus Ex 34,6–7 entwickelten rabbinischen Vorstellung von den 13 Middot Gottes siehe bRHSh 17b und dazu Levinson, Einführung, S. 29; Scoralick, Güte, S. 130; 219 (Tab. 2). 4 Vgl. Bousset / Gressmann, Religion, S. 350–351, die hier den „Keim einer hypostatischen Spekulation“ sehen und auf Parallelen u. a. in bChag 14a (zwei Throne Gottes, einer für das Recht [‫ ]דין‬und einer für die Gerechtigkeit / Milde [‫ )]צדקה‬und in TPsJ 56,11 (Maß der Gerechtigkeit / Maß der Barmherzigkeit) hinweisen; vgl. strukturell auch Hi 12,13.16; 23,7 LXX. 5 Vgl. dann auch die Gegenüberstellung von ὀργή und ἔλεος in OrMan 5–6 sowie den (textkritisch allerdings umstrittenen) Beleg in PsOrpheus: αὐτῷ δὲ χάρις καὶ μῖσος ὀπηδεῖ (bei Denis, Fragmenta, S. 164–165,15). Hingegen liest Walter, Dichtung, S. 241 Anm. αὐ­ τοῖς und bezieht dies auf die Menschen. 6 Siehe dazu exemplarisch Beentjes, Canon, S. 172–183; Steck, Abschluß, S. 136–144; 157–166; Witte, Kanon (in diesem Band S. 39–58). 7 Vgl. demgegenüber Lohfink, Zorn; Westermann, Boten; Miller, Anger; Gross, Zorn; Berges, Zorn.

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literatur- und traditionsgeschichtlichen Gründen nahe, sondern auch aus zwei hermeneutischen und kanonsgeschichtlichen Erwägungen. Mit der nach 132 v. Chr. in Alexandria angefertigten Übersetzung ins Griechische ist das Sirachbuch Teil der griechischen Literaturgeschichte und letztlich auch der griechisch-hellenistischen Religions- und Philosophiegeschichte geworden. Dabei ist die Einschreibung jüdischer Vorstellungen in der griechischen Übertragung durch den Enkel des ursprünglichen Autors noch deutlicher als in der hebräischen Ausgangsversion. Insofern das hebräische Sirachbuch trotz all seiner Hochschätzung im rabbinischen Judentum keinen Weg in den Tanach gefunden hat, während es in unterschiedlichen Sprachgestalten in der römisch-katholischen und in den orthodoxen Kirchen kanonisch ist, zeigt sich am Sirachbuch und seinen unterschiedlichen Sprach- und Textgestalten auch die kanons- und begriffsgeschichtliche Problematik der Größe „Altes Testament“. Bezogen auf die Frage nach Zorn und Erbarmen Gottes im Alten Testament, heißt das: Gehören die Aussagen Ben Siras zu Zorn und Erbarmen Gottes in eine Darstellung der Theologie des Alten Testaments – und darüber hinaus in eine Darstellung der „Biblischen“ Theologie – oder nicht? – und wenn ja, in welcher Gestalt? In der Gestalt des mutmaßlichen hebräischen „Urtextes“, der nach den Textfragmenten, die in der Karäersynagoge in Kairo 1896 ff., in Qumran 1947 ff. und auf Masada 1964 ff. gefunden wurden, gegenwärtig ca. 65 % des ursprünglichen Umfangs des Buchs bietet, oder in der Gestalt der griechischen Versionen der Übersetzung, die eine vollständige Fassung des Buchs darstellen? Aus der Perspektive der Geschichte des Kanons ist es die griechische Version, bzw. für den Kanon der römisch-katholischen Kirche die von der griechischen Fassung abhängige lateinische Version,8 und für den Kanon der syrisch-orthodoxen Kirche die syrische Version. Aus der Perspektive der Text- und Literargeschichte ist es die hebräische Version, wobei zumindest die aus der Kairoer Geniza stammenden Fragmente von sechs verschiedenen Handschriften, die alle dem 10. bis 12. Jh. entstammen, nicht automatisch als Repräsentanten der ursprünglichen Schrift Ben Siras angesehen werden dürfen.9

8 Streng genommen ist das Problem noch komplizierter, da zwischen einer griechischen Kurzfassung (G-I), die vermutlich der Übersetzung des Enkels am nächsten kommt und die von den großen Codices A, B, S und C repräsentiert wird, und einer griechischen Langfassung (G-II), die sich in den Rezensionen des Origenes und des Lukian niedergeschlagen hat, unterschieden werden muss. Die altlateinische Version (La), die von Hieronymus unbearbeitet in die Vulgata eingeflossen ist, steht G-II nahe. Angesichts dieses Überlieferungsbefundes vertritt Gilbert, L’Ecclésiastique, für die römisch-katholische Kirche die Annahme von zwei kanonischen Fassungen des Sirachbuchs. 9 Ebenso wenig ist aus der griechischen Übersetzung des Enkels durch Rückübersetzung die ursprüngliche hebräische Fassung zu gewinnen (vgl. Wright, Difference).

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2. „Barmherzigkeit und Zorn Gottes“ im Sirachbuch 2.1 „Barmherzig und gnädig, langsam zum Zorn und reich an Gnade und Treue ist Gott“ – von Ex 34,6 zu Sir 2,11 In dieser von Hermann Spieckermann10 treffend als „Gnadenformel“ bezeichneten Wendung, die sich mit leichten Veränderungen siebenmal im Alten Testament findet,11 wird in komprimierter Weise das Wesen Jhwhʼs beschrieben. Die Formel mag ursprünglich im vorexilischen Kult Israels / Judas und in der Gebetssprache beheimatet sein. Die literarischen Belege im Alten Testament gehören alle erst der exilischen und nachexilischen Zeit an. In je eigener Weise spiegeln sie eine theologische Reflexion über das Handeln Gottes. Wie ein Vergleich der in Anm. 11 genannten Belege zeigt, sind die einzelnen Elemente der Gnadenformel austauschbar. In der jeweils unterschiedlichen Betonung einzelner Aspekte, der Gnade und der Barmherzigkeit Gottes, des göttlichen Zorns und der göttlichen Huld, der göttlichen Gerechtigkeit und der Vergebungsbereitschaft, schlägt sich der spezifische Skopus der einzelnen Belege nieder. Unter Berücksichtigung der literar- und traditionsgeschichtlichen Hintergründe der einzelnen Vorkommen lässt sich eine Entwicklung nachzeichnen, die zu einer Universalisierung der ursprünglich auf „Israel“ bezogenen Gnade, Zorn und Vergebung Gottes führt. Gilt für alle Belege der Gnadenformel, dass Gnade und Barmherzigkeit, Zorn und Strafe, Milde und Vergebung Gottes eine Beziehung Gottes beschreiben, so wandelt sich im Laufe der Geschichte der Rede von Zorn und Erbarmen Gottes im Alten Testament die Bezugsgröße: Zorn und Gnade gelten der gesamten von Gott geschaffenen Welt, Gottes Zorn ergeht nicht nur über den einzelnen Sünder, sondern über die Sünde an sich, sein Erbarmen gilt dem Menschen als einem fragmentarischen Geschöpf. Wandlungen in der Sündenvorstellung und in der Anthropologie bedingen Wandlungen in der Rede vom Zorn und Erbarmen Gottes. So werden Zorn und Erbarmen im Laufe der Religions- und Theologiegeschichte des antiken Israel und Juda zu Beschreibungsweisen von Gottes Handeln insgesamt und zu umfassenden theologischen Interpretamenten der Erfahrung gelingenden oder misslingenden Lebens. Die Streuung der alttestamentlichen Belege für die Gnadenformel und ihrer Derivate, deren sprachliche Dichte und kompositionelle Position haben daher zu Recht zu der Einschätzung geführt, die Rede von der Barmherzigkeit und dem Zorn Gottes in das Zentrum einer Theologie des 10 Spieckermann, Barmherzig; monographisch untersucht von Scoralick, Güte, und von Franz, Gott. 11 Vgl. Ex 34,6; Jo 2,13; Jon 4,2; Ps 86,15; 103,8; 145,8; Neh 9,17. Hinzu kommen mehr als 20 Anspielungen, in denen einzelne Elemente der Gnadenformel zitiert werden, sowie außerkanonische Belege (CD-A II,4; 1QHa VIII,24; 4Q511 Frgm. 52; 54–55; 57–59,1 [Kol. III,1]).

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Alten Testaments zu stellen.12 Diese Einschätzung wird durch den Gebrauch der Gnadenformel im Sirachbuch eindrücklich bestätigt. Sir 2,11 (G) bietet nun die Gnadenformel in der Gestalt eines Dreischritts: (1) eine Prädikation Gottes als gnädig und barmherzig (2,11a), (2) eine Verheißung der Sündenvergebung (2,11bα), und (3) eine Zusage der Rettung in der Zeit der Not (2,11bβ). Der Text ist bisher nur in der griechischen Übersetzung sowie mit kleineren Differenzen in den lateinischen und syrischen Versionen belegt. Im Anschluss an V. 11a findet sich in einigen griechischen Handschriften zusätzlich die aus Ex 34,6–7 par. bekannte Aussage, Gott sei „langsam zum Zorn und reich an Huld“ (‫ארך אפים ורב־חסד‬, μακρόθυμος καὶ πολυέλεος).13 Metrische Gründe sprechen für die Ursprünglichkeit des kürzeren griechischen Textes.14 Die nächste Parallele zu dem in Sir 2,11 vorliegenden Dreiklang der Gnadenaussage bietet Ps 78,38a: „Er aber war barmherzig und vergab die Schuld und vertilgte sie nicht.“ Gleichwohl ist Sir 2,11 in der vorliegenden Kombination der Gnadenaussagen einmalig. Der Schwerpunkt liegt auf der Zusage der Rettung in der „Zeit der Not“ (ἐν καιρῷ θλίψεως, vgl. V. 2: ἐν καιρῷ ἐπαγωγῆς). Der Ausdruck „Zeit der Not“ (vgl. Sir 3,15; 51,10) lässt sich sowohl auf eine jeweils gegenwärtige Notsituation als auch entsprechend Jes 33,2 oder Dan 12,1 auf die endzeitliche Drangsal, welche die Gerechten treffen wird, beziehen.15 Sir 2,11 ist in eine kunstvoll aufgebaute Lehrrede (2,1–18) eingebettet, die zur Gottesfurcht und zum Gottvertrauen ermahnt und dabei argumentativ auf die Barmherzigkeit Gottes als dem eigentlichen Wesen Gottes verweist.16 Negativerfahrungen der Gottesfürchtigen werden als zeitlich begrenzte Erziehungsmaßnahme (πειρασμός, V. 1)17 des gerecht vergeltenden Gottes gedeutet (V. 8).18 Dabei dient Sir 2,11 im Verbund mit V. 10 einerseits als ein erfahrungsund geschichtstheologisches Summarium der Mahnung zur Gottesfurcht (2,7– 9).19 Andererseits korrespondiert Sir 2,11 über das Leitwort „Barmherzigkeit“ 12 Spieckermann,

Barmherzig, S. 18. die Origenes-Rezension, die korrigierte Lesart im Codex Sinaiticus, die Lukianische Rezension, die damit verwandten Minuskeln 672; 694; 743, die Minuskel 679 sowie die bohairische Übersetzung. 14 Rahlfs, Septuaginta, bzw. Ziegler, Lesarten. 15 Vgl. Ps 36(37),39; Sir 22,23; 32(35),26; 37,4; 40,24; 1 Makk 13,5. Zu einer Verwendung des Wortes ἐπαγωγή das im griechischen Sirachbuch gegenüber der LXX auffallend oft vorkommt, in eschatologischem Kontext vgl. Sir 5,8 (ἡμέρα ἐπαγωγῆς, H: ‫)יום עברה‬. 16 In der Minuskel 248 trägt der in sich geschlossene Abschnitt Sir 2,11 die passende Überschrift περὶ ὑπομονῆς. 17 Vgl. Sir 6,7; 27,5.7; 33,1; 44,20; 1 Makk 2,52. 18 Ob sich schon der Ausdruck εὐφροσύνη αἰῶνος in V. 9 in einem eschatologischen Sinn auf die endzeitliche Freude der Gerechten bezieht, ist umstritten. Der sekundäre Stichos in V. 9c ist jedenfalls eschatologisch ausgerichtet. 19 Vgl. zu V. 10 Hi 4,7; 8,8. Auch wenn die Formulierungen in Sir 2 allgemein gehalten sind, so bilden, wie der Wortgebrauch im Sirachbuch zeigt, einzelne heilsgeschichtliche Überlieferungen wie die Figur Abrahams (vgl. V. 10b mit Sir 44,20) oder Josuas, Samuels 13 Vgl.

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(ἔλεος, vgl. V. 7.9) mit dem abschließenden V. 18, der das Erbarmen Gottes in ein Verhältnis zu dessen Größe (μεγαλωσύνη) setzt. Der Vers, der außerhalb des kompositionellen Musters von drei Strophen zu je sechs Distichen (V. 1–6.7–11.12–17) steht, stellt den Zielpunkt der gesamten Lehrrede dar und formuliert unter Zitation von 2 Sam 24,14 ( par. 1 Chr 21,13) als deren theologischen Grundsatz: Lasst uns in die Hände des Herrn fallen und nicht in die Hände der Menschen. Denn wie seine Größe, so ist sein Erbarmen, und wie sein Name, so sind auch seine Werke.20 (Sir 2,18 [G / Syr])

Barmherzigkeit erscheint hier als ein wesentliches Differenzkriterium zwischen Gott und Mensch. Gottes Majestät und Name – beides Kennzeichen seiner Gottheit und Chiffren für Gott selbst21 – bedingen seine Barmherzigkeit (vgl. SapSal 11,23; 12,16; PsSal 7,6). Nicht zu Unrecht bezeichnete Norbert Peters Sir 2,18 als einen „Höhepunkt individueller Frömmigkeit im A.T.“22 Dem Abschnitt Sir 2,1–18 und damit seinem Zielpunkt in V. 11 und V. 18 kommt für den Aufbau und die Theologie des Sirachbuchs eine herausragende Bedeutung zu, insofern er die ethischen Einzelmahnungen in den folgenden Kapiteln eröffnet.23 Für die Rede von Gottes Barmherzigkeit (und Zorn) lässt sich aus Sir 2,11 und seinem Kontext als ein erstes Fazit festhalten: 1. Von der Barmherzigkeit (und dem Zorn) Gottes wird im Rahmen der Paränese und der Paraklese gesprochen. Daraus ergibt sich der affirmative Charakter dieser theologischen Motive und ihrer Funktion. 2. Theologische Koordinaten der Rede von der Barmherzigkeit (und dem Zorn) Gottes sind Beschreibungen des Wesens Gottes in seiner Beziehung zum Menschen. 3. „Barmherzigkeit (und Zorn) Gottes“ ist eine Redefigur der Theodizee. und Davids (vgl. V. 10c.11b mit Sir 46,5.16; 47,5) einen Subtext. Analog dürften auch im Hintergrund der allgemein gehaltenen Mahnungen und Verheißungen zeitgeschichtliche Erfahrungen am Vorabend des Makkabäeraufstandes stehen (Peters, Buch, S. 21; Schrader, Leiden, S. 202). 20 Der vierte Stichos fehlt in der griechischen Textüberlieferung und ist hier aus der syrischen Version übernommen (w’jk šmh hkn’ ‘bdwhj). In der hebräischen Handschrift A findet sich ein Äquivalent in 6,16b (‫ ;)וכשמו כן מעשיו‬vgl. auch Sir 6,22a. Mit Sir 2,18d ist, so treffend Scoralick, Güte, S. 130, „die bleibende Spannung in Ex 34,6–7 gut ausgedrückt, ebenso wie die bleibende Interpretationsaufgabe der Theologie, die sich in der Vielfalt der intertextuellen Bezüge zu Ex 34,6–7* zeigt.“ 21 In der LXX wird das Wort μεγαλωσύνη ganz überwiegend, im NT ausschließlich von Gott gebraucht. In Hebr 1,3 dient es als Umschreibung von Gott selbst. 22 Peters, Buch, S. 27. 23 Die hohe theologische Bedeutung der Passage lässt sich allein schon daran ablesen, dass von Gott zwölfmal als κύριος gesprochen wird (vgl. V. 1.6[v. l.].7.8.9.10.11.14.15.16.17.18).

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2.2 „Erbarmen und Zorn sind bei ihm, aber auf den Frevlern ruht sein Grimm“ – Sir 5,6 und Sir 16,11 Der bereits in der Einleitung zitierte Vers Sir 5,6 ist nicht nur in der griechischen, syrischen und lateinischen Übersetzung des Sirachbuchs belegt, sondern findet sich auch mit kleineren Differenzen in den mittelalterlichen hebräischen Handschriften A und C aus der Kairoer Geniza.24 Für 5,6 dürfte als ursprünglicher hebräischer Text ‫„( כי רחמים ואף עמו ועל רשעים ינוח רגזו‬Denn Erbarmen und Zorn sind bei ihm, aber auf den Frevlern ruht sein Grimm“) zu lesen sein.25 Der Vers ist in eine dreigeteilte weisheitliche Warnung vor hybrider Selbstsicherheit und ethischer Sorglosigkeit eingebettet (5,1–3.4–6.7–8).26 Er schließt begründend eine Sequenz zum Verhältnis zwischen menschlicher Sünde, göttlicher Vergebungsbereitschaft und göttlichem Zorn ab. Sage nicht: „Ich habe gesündigt, und was wird mir geschehen27? Nichts!28“ Denn Gott29 ist langsam zum Zorn. [Sage nicht: „Barmherzig ist der Herr, und alle meine Vergehen wischt er weg.“]30 Verlass dich nicht auf die Vergebung, wenn du Vergehen31 auf Vergehen häufst und sagst: „Sein Erbarmen ist groß, er wird mir viele Vergehen vergeben.“ Denn Erbarmen und Zorn sind bei ihm, aber auf den Frevlern ruht sein Grimm. (Sir 5,4–6 [HA])

Gegenüber einer Lebenseinstellung, die sich unter Verweis auf Gottes Barmherzigkeit und Vergebungsbereitschaft (vgl. Jes 55,7) von einem ethisch und 24 Während es sich bei HA um das Fragment einer nicht stichisch geschriebenen Handschrift des ganzen Sirachbuchs handelt, stellt HC ein Florilegium von Sirachtexten vor allem zum Thema „Scham“ dar. 25 Die Lesung ‫ על‬anstelle von ‫( אל‬HA) basiert auf HC (vgl. 16,11d [HA]), die Lesung ‫ינוח‬ auf HA (vgl. G: καταπαύσει, Syr: nttnjḥ, vgl. Sir 44,23 – HC liest ‫[ יניח‬vgl. conj. 16,11d (HA), s. u. Anm. 43]; La mit respicit könnte, wenn dies nicht auf eine Vorlage verweist, in der ‫יביט‬ stand [vgl. Ex 3,6; Ps 34,6; Jes 66,2; 2Q21 1,5], ein Fehler für requiescit sein [Peters, Buch, S. 52]). 26 Eine detaillierte Analyse dieser kleinen Streitrede zur Theodizee bieten Beentjes, Rhetorical Analysis, und Argall, 1 Enoch, S. 220–235. 27 Anstelle von ‫ יעשה לי‬liest HC ‫יהיה לו‬. 28 Das Wort ‫„( מאומה‬nichts“) findet sich nur in HA. In HC steht nur ‫מה‬, was von van Peur­ sen, Negation, S. 231, wie in Ps 118,6 und 1 Kön 12,16 als ein Beispiel für die Verwendung der Interrogativpartikel ‫ מה‬in negativem Sinn verstanden wird. 29 HC liest ‫„( ייי‬der Herr“), vgl. G (κύριος); die Origenes-Rezension liest ὕψιστος (vgl. La: altissimus). 30 V. 4c–d findet sich nur in HA; vermutlich handelt es sich um eine Dublette zu V. 6a–b (Skehan / Di Lella, Ben Sira, S. 180–181; Sauer, ATD.A 1, S. 75; Scoralick, Güte, S. 47). 31 ‫ עון‬gegenüber ‫ חטא‬in V. 4a; in G ist der Bezug zu V. 4a durch die Verwendung desselben Wortstammes (ἁμαρτία bzw. ἁμαρτάνω) deutlicher als in H.

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religiös verantwortlichen Handeln suspendieren zu können meint, betont Ben Sira die Gerechtigkeit Gottes. Der Verweis auf Gottes Zorn (Sir 5,4.6) dient als theologisch notwendiges Gegenüber zum Bekenntnis zu Gottes Barmherzigkeit. Der Gott, der die Sünde vergibt, wie es Ben Sira unter Verwendung des terminus technicus ‫„( סלח‬vergeben“, griech. ἐξιλάσκομαι)32 die von ihm angesprochenen jüdischen Gegner sagen lässt (5,6b),33 ist zugleich der Gott, der in seinem Zorn die Sünder straft (5,6d). Der Zorn Gottes, von dem Ben Sira hier mit fünf unterschiedlichen Begriffen spricht,34 erscheint als Chiffre für Gottes Tätigkeit als Richter. Dabei ist das empirisch feststellbare Anhalten des Glücks derer, die sich selbst zur Norm ihres Handelns machen (Sir 5,4a, vgl. Hi 21; Pred 8,11–13), nur ein Zeichen von Gottes Langmut (5,4b),35 der dem Sünder Zeit zur Umkehr gewährt (5,7). Menschliche Hybris und göttliche Vergebungsbereitschaft haben ihre Grenze – spätestens am „Tag der Rache“ (5,7 [HA]: ‫)יום נקם‬36 und am „Tag des Zorns“ (5,8 [HA]: ‫)יום עברה‬,37 den Gott fern menschlicher Verfügbarkeit in seiner Freiheit setzt. Wie sich in Sir 2,11 die „Zeit der Not“ gegenwärtig und endzeitlich verstehen lässt, so kann auch das von Ben Sira aus prophetischer Tradition stammende Motiv vom göttlichen Zornestag (vgl. Zeph 1,14–16; 2,1–3)38 als Tag des Gerichts präsentisch und eschatologisch verstanden werden (vgl. Sir 18,24 [G]; 48,10). Dabei zeigt das Motiv des plötzlich über die Sünder hereinbrechenden Zornestages,39 dass 32 Vgl. Neh 9,17; CD-A II,4; Ps 130,4; Jer 31,34; 33,8; 50,20; Dan 9,9. Zu ‫( מחה‬V. 4) als Synonym zu ‫ סלח‬vgl. Jes 44,25; Jer 18,23 ( jeweils mit dem Objekt ‫ ;)חטא‬Jes 43,25; Ps 51,3; 1QS XI,3 ( jeweils mit dem Objekt ‫ ;)פשע‬Ps 51,11; 4Q393 Frgm. 1–2,II,5 ( jeweils mit dem Objekt ‫)עון‬. 33 Zu einer möglichen Identifikation dieser Gegner mit religiös laxen Angehörigen einer reichen Aristokratie, „für die der Glaube der Väter seine bindende Kraft verloren hatte und die in der Gefahr stand, dem Libertinismus zu verfallen“, siehe Hengel, Judentum, S. 25. 34 ‫עבר‬, ‫נקם‬, ‫זעם‬, ‫רגז‬, ‫אף‬. Weitere Begriffe für „Zorn“ im AT sind: ‫( חמה‬vgl. Sir 16,6; 36,8), ‫( חרון‬vgl. Sir 45,19; 46,7), ‫זעף‬, ‫( כעס‬vgl. Sir 34,29) und ‫ קצף‬sowie (gelegentlich auch) ‫רוח‬, vgl. dazu Grether / Fichtner, ὀργή; Achenbach, Zorn. Ob in Sir 7,16 (HB) mit dem Hapaxlegomenon ‫( עכרון‬G: ὀργή; Syr: rgz’) göttlicher oder menschlicher Zorn bezeichnet wird, ist unsicher. 35 Die Formulierung „langsam zum Zorn“ (‫ארך אפים‬, vgl. Ex 34,6 par.) erscheint im Vergleich mit altvorderorientalischen Epitheta als ein Spezifikum alttestamentlicher Rede von Gott (Spieckermann, Barmherzig, 4–5; ders., Dies, S. 208; Franz, Gott, S. 76). 36 Vgl. Jes 34,8; 61,2; 63,4; Spr 6,34. Der in HC gebrauchte Ausdruck ‫ עת נקם‬findet sich nur hier im AT, wird aber offenbar von G (καιρῷ ἐκδικήσεως) vorausgesetzt und dürfte die ursprüngliche Lesart darstellen (vgl. 1QM III,7; XV,6), während HA eine sekundäre Anpassung an biblischen Sprachgebrauch darstellt (Wright, Difference, S. 126; Argall, 1 Enoch, S. 220). 37 Vgl. Zeph 1,15; Spr 11,4; Hi 21,30 sowie Zeph 2,2 und Ps 74,16 ( jeweils ‫)יום יהוה‬. 38 Zur Interpretation des „Tags des Zorns“ bei Zephanja als einer traditionsgeschichtlichen Verschmelzung des Motivs vom „Tag Jhwhʼs“ (vgl. Am 5,18–20*) mit der aus akkadischen Omenlisten bekannten Vorstellung vom als Unglücks- und Zornestag verstandenen 19. Tag des Monats siehe Spieckermann, Dies, S. 194–208. 39 Vgl. auch 1 Hen 94,7; 95,6; 96,6; 97,10; 98,16 und dazu Argall, 1 Enoch, S. 220–223.

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der Zorn Gottes unberechenbar und unausweichlich, aber nicht ungerecht ist. Unterstreicht Ben Sira mit der Betonung der Unverfügbarkeit von Zorn und Erbarmen Gottes die Freiheit Gottes (und des Menschen), so verdeutlicht die Verbindung zwischen Barmherzigkeit und Sündenvergebung, Zorn und Strafe die grundsätzliche Bezogenheit Gottes auf das Handeln des Menschen. Der Gott Ben Siras ist – wie der Gott des Alten Testaments überhaupt – nicht teilnahmslos. Ebenso sind sein Zorn und sein Erbarmen nicht grundlos; sie haben beide ihren Grund: im Menschen und in Gott. Lässt sich der Abschnitt Sir 5,1–8 als eine „kleine Theodizee“ bezeichnen,40 so gilt dies auch für Sir 16,11, den zweiten Beleg für die eingangs zitierte Wendung „Erbarmen und Zorn sind bei ihm“. Denn Erbarmen und Zorn sind bei ihm [vgl. Sir 5,6c], und er hebt (Schuld) auf41 und vergibt, aber auf / über den Frevlern lässt er seinen Grimm (auf )leuchten [vgl. Sir 5,6d]. (Sir 16,11 [HA])

Der Ausdruck, dass Gott seinen Grimm (auf )leuchten bzw. hell sein lässt (‫נגה‬, Hif.), ist einmalig im Alten Testament. Er fügt sich in gewisser Weise in die alttestamentliche Feuermetaphorik, welche die Rede vom entbrennenden Zorn oder der Zornesglut Gottes begleiten kann,42 ist allerdings textkritisch unsicher.43 G bietet das breiter im Alten Testament belegte Bild vom „Ausschütten des Zorns“ (ἐκχέων ὁργήν).44 In beiden Fällen steht das Bild für das Unberechenbare und Verhängnishafte des göttlichen Zorns, der sich menschlichem Messen und Vorhersagen entzieht.45 40 Prato,

dicy.

Il problema, S. 367–369; Skehan / Di Lella, Ben Sira, S. 183; Beentjes, Theo-

41 ‫ נשא‬im Sinn von „vergeben“ ist hier elliptisch gebraucht (vgl. V. 7 sowie Gen 18,24.26; Jes 2,9; Hos 1,6); zur expliziten Erwähnung des Objekts vgl. Lev 10,17 (‫ ;)עון‬Gen 50,17 (‫ ;)פשע‬Ps 32,5 (‫)חטאת‬. G mit δυνάστης ἐξιλασμῶν („mächtig an Vergebungserweisen“) hat offenbar ‫ נשיא סליחות‬gelesen (vgl. auch La und Syr und dazu Jes 55,7). 42 Vgl. neben der Etymologie des Wortes ‫„( חרון‬Zornesglut“) und der Redewendung vom „Entbrennen (‫ )חרה‬des Zorns“ (2 Kön 23,26; Hi 32,2–3): Sir 16,6; Num 11,1; Ps 21,10; 78,21; 89,47; Jes 30,27; 66,15; Jer 4,4; 15,14; 17,4; 21,12; Klgl 2,4; 4,11; Ez 19,12; 22,20; Nah 1,6. 43 Ob HA mit ‫ יגיה‬den ursprünglichen Text bewahrt hat, ist fraglich. Möglicherweise ist wie in 5,6 (HC) ‫ יניח‬zu lesen (s. o. Anm. 25; Segal, ‫ספר‬, z. St.; DCH, s. v. ‫)נגה‬. Auch aus metrischen Gründen ist zu überlegen, ob die Wendung ‫ ועל רשעים יגיה רגזו‬insgesamt sekundär ist (Beentjes, Mercy, S. 239). 44 So auch La (effundens iram), vgl. weiterhin Sir 36,7; Jes 42,25; Jer 10,25; Ez 14,19; Hos 5,10; Ps 79,6; Klgl 4,11. G las wohl ‫( יַ ּגֵ יר‬Hif. ‫נגר‬, „rinnen lassen / ausgießen“) (Ginzberg, Randglossen, S. 623). 45 Dies steht im charakteristischen Gegensatz zu den im Alten Vorderen Orient, aber auch im griechisch-ägäischen Raum belegten Vorstellungen mittels astronomischer Berechnungen, Omina und entsprechender Rituale den Zorn der Götter zu kalkulieren und partiell zu bannen; vgl. dazu Spieckermann, Dies, S. 201–205.

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Während die Wendung ‫ כי רחמים ואף עמו‬in 5,6 in einer allgemein gehaltenen Paränese verwendet wird, gebraucht sie Ben Sira hier im Rahmen einer geschichtstheologischen Reflexion (16,5–16). Diese wird von grundsätzlichen Erwägungen über die sittliche Entscheidungsfähigkeit und die Verantwortlichkeit des Menschen sowie die richtende Weltwahrnehmung Gottes gerahmt (15,11–16,4 bzw. 16,17–23).46 So dienen einzelne aus der biblischen Überlieferung der Ur- und Frühgeschichte entnommene Geschichtsparadigmata47 als Belege für den gleichermaßen in der alttestamentlichen Weisheit und im Deuteronomismus verankerten theologischen Grundsatz der gerechten Vergeltung Gottes und einem Gericht nach den Werken:48 Sein Erbarmen ist so groß wie sein Züchtigen, jeden richtet er nach seinen Taten. […] Jeder, der einen Gerechtigkeitserweis (d. h. Almosen) tut, erhält seinen Lohn, und für jeden Menschen geht es entsprechend seiner Taten aus. (Sir 16,12.14 [HA])

Neu gegenüber Sir 5,4–6 sind (1) die Gegenüberstellung von Gottes Erbarmen und Züchtigen (‫תוכחה‬, ἔλεγχος), die der auch sonst im Sirachbuch und in spätalttestamentlichen Texten anzutreffenden Interpretation des göttlichen Zorns als einer Erziehungsmaßnahme entspricht (Sir 18,13c),49 und (2) die ausdrückliche Benennung der göttlichen Richtertätigkeit (‫שפט‬, κρίνω). 2.3 „Deshalb ist der Herr langmütig gegen sie und schüttet sein Erbarmen über sie aus“ – Sir 18,11 Begründeten die bisher betrachteten Stellen aus dem Sirachbuch das Erbarmen Gottes mit dem Wesen Gottes, so tritt dieser Begründung in Sir 18,11 der Hinweis auf die Geschöpflichkeit des Menschen zur Seite. Der Vers findet sich bisher nur in der griechischen, syrischen und lateinischen Fassung des Sirachbuchs. Er bildet einen zentralen Bestandteil der Abschlusspassage einer großen Lehrrede über die Schöpfung und die Gerechtigkeit Gottes (16,24–18,14)50 und beantwortet die aus Ps 8,5 und Ps 144,3 sowie Hi 7,17 bekannte Frage, was der Mensch sei, mit dem Rekurs auf Gottes Barmherzigkeit. Was ist ein Mensch, und was ist sein Nutzen? Was ist gut an ihm, und was ist schlecht an ihm? 46 Zu

Sir 15,11–20 als einer zentralen Theodizeeperikope Ben Siras siehe Beentjes, Theodicy, S. 266–270. 47 Vgl. Gen 6,1–4; Gen 19; Dtn 7; Jos 10; Ex 12,37; Num 11,21; 14,26–45. 48 Vgl. Sir 3,14–31; 11,26; 15,19; 17,22–23; 29,11; 33,1; 35,22–26; Hi 34,10–12. In diesem Sinn zitieren auch Clemens Alex. (Paidagogos 1,8,72,1) und Johannes Damascenus (in den Sacra Parallela unter der Überschrift περὶ παιδείας θεοῦ καὶ τῶν εὐγενῶς φερόντων) Sir 16,11–12. 49 Vgl. 2 Makk 6,12–16; SapSal 12,19–22. 50 Hebräisch sind bisher nur Fragmente von 16,24–16 belegt (HA).

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Die Zahl der Tage eines Menschen sind, wenn es viele sind, 100 Jahre. [Unbegreiflich ist aber für einen jeden, dass allen der Schlaf (des Todes) zuteil wird.]51 Wie ein Wassertropfen vom Meer und wie ein Körnchen im Sand, so sind die wenigen Jahre an einem Tag der Ewigkeit. Deshalb ist der Herr langmütig gegen sie und schüttet sein Erbarmen über sie aus. Er sieht und weiß, dass ihr Ende schlimm ist; deshalb macht er seine Vergebung weit. Das Erbarmen eines Menschen gilt nur seinem Nächsten, das Erbarmen des Herrn aber gilt allem Fleisch. Er weist zurecht, erzieht und lehrt und führt wie ein Hirte seine Herde zurück. Über die, die seine Erziehung annehmen, erbarmt er sich und über die, die eilig seinen Geboten nachkommen. (Sir 18,8–14 [G])

Die Frage nach dem Menschen führt hier – wie stets im Alten Testament, wenn über das Wesen des Menschen nachgedacht wird – zur Frage nach Gott und damit zur Frage nach der Barmherzigkeit Gottes. Charakteristisch für die Perikope Sir 18,1–14 ist die Thematisierung der Barmherzigkeit Gottes in einem dreifachen Kontext, (1) im Rahmen theologischer Kosmologie, (2) im Rahmen theologischer Anthropologie und (3) im Rahmen theologischer Ethik. 1. Barmherzigkeit ist ein Wesensmerkmal des Schöpfergottes, der die Welt – wie Sirach in Anlehnung an biblische Kosmotheologie in Gen 1; Ps 104 und Hi 38 sowie an die stoische Logos-Vorstellung52 formuliert – weise geordnet hat (16,26–30; 17,1–18,14). Zugleich erscheint Barmherzigkeit als Kennzeichen des universal richtenden und sich als einziger als gerecht erweisenden Gottes (18,1–2a).53 Der Aspekt des Richtens Gottes wird noch deutlicher, wenn man in 18,1 anstelle von ἔκτισεν („er hat erschaffen“, vgl. 16,26; 17,1) ἔκρινεν („er richtet“) liest.54 2. Die in Sir 16,24–18,14 vertretene Anthropologie entspricht der aus Gen 1–9 bekannten Kombination von Hoheitsaussagen über den als Gottes Ebenbild geschaffenen und zur Herrschaft beauftragten Menschen mit Niedrigkeitsaussagen über die Sterblichkeit und Kurzlebigkeit (Sir 17,1–4).55 Sie ist allerdings um Aussagen über die Erkenntnisfähigkeit erweitert, wobei auch hier stoische Ideen im Hintergrund stehen mögen.56 Hinzu treten Reflexi51 Der Stichos findet sich nur in der Lukian-Rezension und in der Minuskel 743 (15.– 16 Jh.); er hat kein Äquivalent in La und Syr. 52 Vgl. Kleanthes, Zeus-Hymnus (SVF I,537); Aratos von Soloi, Phainomena I (Effe, Hellenismus, S. 136–143). Siehe dazu auch Kaiser, Rezeption; Marböck, Gerechtigkeit, S. 188– 191; Wicke-Reuter, Providenz; Beentjes, Theodicy, S. 272. 53 Vgl. Ps 143,2; Hi 9,2–3. 54 Vgl. Syr: mtbq’; vgl. Peters, Buch, S. 149; Skehan / Di Lella, Ben Sira, S. 280. 55 Vgl. besonders Gen 1,26–27; 2,7; 3,19; 5,1–2; 8,21; 9,1–6. 56 Vgl. dazu Middendorp, Stellung, S. 30; Sauer, ATD.A 1, S. 141; Wicke-Reuter, Providenz, S. 152–160. Der in besonderem Maß (vulgär-)stoischen Einfluss verratende V. 5 ist

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onen über die Endgültigkeit des Todesgeschicks und die kreatürliche Minderwertigkeit des Menschen gegenüber Gott (Sir 17,30–32; vgl. 10,9; 40,3), wie sie auch aus Vergänglichkeitsklagen im Psalter (vgl. Ps 39,6–8; 90,10; 144,3), aus dem Hiobbuch (vgl. Hi 4,17–19; 15,14–16; 25,4–6) oder aus den Lobliedern aus Qumran (vgl. 1QHa V,20–23; XII,29–39; XVII,14–18) bekannt sind.57 Diesem vom Tod gezeichneten Menschen steht Gott als der „ewig Lebende“ (ὁ ζῶν εἰς τὸν αἰῶνα, 18,1; vgl. Dan 4,31; 6,27; 12,7) gegenüber. Als Verbindung zwischen Gott und Mensch erscheint die Leben ermöglichende Barmherzigkeit Gottes, die wie in Sir 2,18; Jes 55,7 und Ps 103,8 in einer unmittelbaren Relation zur unausforschbaren Größe Gottes steht: Wie groß ist die Barmherzigkeit des Herrn und die Vergebung gegenüber denen, die sich zu ihm wenden! (Sir 17,29 [G]) Die Gewalt seiner Größe – wer vermag sie auszumessen? Und wer vermag darüber hinaus seine Barmherzigkeitserweise (τὰ ἐλέη)58 zu erzählen? (Sir 18,5 [G])59

3. Gegenüber menschlicher Barmherzigkeit ist Gottes Barmherzigkeit prinzipiell grenzenlos (18,13), wenngleich sie nur denen zukommt, die sich Gott und seinen Geboten zuwenden (17,29; 18,14 [G]). Dabei geht der Hinwendung des Menschen zu Gott die Zuwendung Gottes zum Menschen voraus, der den Menschen „zurecht weist, erzieht und lehrt“ (18,13c; vgl. 2 Makk 6,12–16; SapSal 12,19–22). Das Erbarmen Gottes erscheint dann als Lohn für die, die sich von Gott bilden (παιδεύω / παιδεία) lassen (18,14 [G]; vgl. Sir 1,27; 6,18; Ps 119,17–72.97–104.124 u. ö.).60 An dieser Relation zeigt sich erneut die Ambivalenz der Rede von der Barmherzigkeit Gottes und – wenn man das Wort ἐλέγχων gemäß Sir 16,12 (ἔλεγχος αὐτοῦ) versteht – vom Zorn Gottes: „Barmherzigkeit“ und „Zorn“ kennzeichnen das Wesen und das Handeln Gottes an Welt und Mensch, sie gelten grundsätzlich universal und realisieren sich partikular. Dabei ist Gottes Erbarmen – wie auch

nur in GL und den Minuskeln 404 und 795 belegt (siehe Wicke-Reuter, Providenz, S. 153 Anm. 40). 57 Vgl. dazu Witte, Leiden, S. 194–204. 58 C liest ἔργα (vgl. Sir 43,28); die Minuskeln 307 und 336 bieten wie in V. 4 μεγαλεῖα, zum Motiv vgl. auch Sir 42,17. 59 Zum Zusammenhang zwischen „Leben“ und „Barmherzigkeit Gottes“, wie er sich im Spannungsbogen von Sir 18,1 zu V. 11 zeigt, vgl. auch Ps 36,6–10. 60 Ob G hier tatsächlich den ursprünglichen Text bewahrt hat, ist unsicher. Syr (V. 18,14) bietet einen Makarismus (ṭwbjhwn l’jljn dmskjn lrḥmwhj wl’jljn dmqbljn ldjnwhj, „Glücklich sind die, die auf seine Barmherzigkeitserweise hoffen, und die, die seine Satzungen annehmen“), vgl. dazu Peters, Buch, S. 151, und die Einheitsübersetzung, die der Lesart von Syr folgen.

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sonst im Alten Testament – stets größer als sein Zorn.61 Für den Abschluss der Lehrrede Sir 16,24–18,24 zeigt sich dies an der Häufung des Begriffs ἔλεος in 18,5.11.13–14 und an der abschließend für Gott gebrauchten Hirtenmetapher in V. 1362, die im jetzt vorliegenden griechischen Text mit der (sekundär eingefügten) Königsmetapher in V. 3 korrespondiert.63 2.4 „Erwecke deinen Zorn […] erbarme dich über dein Volk“ – Sir 36,7–17 Mit der Bitte, Gott möge Zorn über die Feinde ausschütten (36,7) und sich über sein Volk erbarmen (36,12–13), partizipiert das Sirachbuch inhaltlich und formal an einer Sprach- und Denkfigur, die für die Thematisierung vom Zorn und Erbarmen Gottes bzw. der Götter im Alten Testament und in der Literatur des Alten Vorderen Orients insgesamt typisch ist: inhaltlich, weil „Zorn“ und „Barmherzigkeit“ feste Begriffe zur Beschreibung des geschichtlichen Handelns einer personhaft vorgestellten Gottheit sind, wobei „Zorn“ zur Kennzeichnung eines als Lebensminderung verstandenen und als Strafe gedeuteten machtvollen Eingreifens der Gottheit dient und „Barmherzigkeit“ für die lebensfördernde heilvolle Zuwendung der Gottheit steht; formal, weil die Rede von Zorn und Barmherzigkeit Gottes im Alten Testament (wie in den Literaturen des Alten Orients) neben ihrer Verwendung in paränetischen Texten und in geschichtstheologischen Reflexionen einen wesentlichen Ort in Klage- und Bittgebeten sowie in „Theodizeedichtungen“ hat. Für das Alte Testament sei hier auf die individuellen und kollektiven Klage- und Bittgebete im Psalter und im Buch Hiob verwiesen,64 für den Alten Orient auf sumerisch-akkadische Herzberuhigungsklagen (ér.šà.h̬un.gá-Gebete), Handerhebungsgebete (šu.íl.­ lá-Gebete), kollektive Klagen / Stadtuntergangsklagen (balag-Gebete), Klagelieder (ér.šèm.ma-Gebete) und Lösungsgebete zur Abwehr böser Vorzeichen (nam.búr.bi-Rituale).65 Der Text von Sir 36,7 und 36,12–13 wird durch die hebräische Handschrift B sowie durch die griechischen, syrischen und lateinischen Versionen des 61 Vgl. Jes 12,1; 49,15; 54,7–10; 60,10; Jer 29,11; Ps 103,8–9; Klgl 3,31–33; PsSal 7,5 und später dann auch Philo, Deus 74–76. 62 Vgl. Jes 40,11; Ez 34,11–12; Ps 23,1; 80,2 und Mt 18,12; Joh 10,11; 1 Petr 2,23; Hebr 13,20; Apk 7,17. 63 Die Zeilen Sir 18,2b–3 finden sich nur in der Lukian-Rezension und in der Minuskel 743 und dürften eine aus 1 Sam 2,2; Jes 40,12; 44,6; 43,15; 45,21; Lev 10,10; Ez 42,20 gewonnene Glosse sein (Skehan / Di Lella, Ben Sira, S. 280). La bietet im Anschluss an V. 2a lediglich manet invictus rex in aeternum und setzt mit einem Äquivalent zu V. 4 fort. Syr hat zwischen V. 2a und V. 7a eine „Lücke“. 64 Vgl. Ps 6,2; 27,9; 30,6; 38,2; 77,10; 85,4–14; 90,7–17; Hi 6,4; 14,13; 16,9; 19,11; Klgl 2; 4,11.16. 65 Maul, Herzberuhigungsklagen; Herion, Wrath; Gross, Zorn, S. 51–57; Berges, Zorn, S. 321–325; Franz, Gott, S. 51–75. Zur Dialektik von Zorn und Gnade des Gottes Marduk in der akkadischen Theodizeedichtung ludlul bēl nēmeqi (I,15–18) siehe auch Franz, Gott, S. 52–56.

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Sirachbuchs belegt.66 Eine in V. 7b vorliegende Lücke des hebräischen Textes kann mittels einer Rückübersetzung aus G und aufgrund des Parallelismus rekonstruiert werden, so dass sich als ursprüngliche Lesart das Bikolon nahelegt: ‫( העיר אף ושפוך חמה והכניע [צר] והדוף אויב‬Sir 36,7) („Und erwecke (deinen) Zorn und schütte aus (deinen) Grimm, und erniedrige [den Widersacher] und stoße nieder den Feind.“)

G, La und Syr bieten als zusätzliche Aufforderung zum göttlichen Zorn im An­ schluss an V. 8 (H) das Distichon: Mit Feuer des Zorns soll der verzehrt werden, der sich rettet, und die, die deinem Volk schadeten, mögen Verderben finden. (Sir 36,9[11])

Der Vers hat kein Äquivalent in der hebräischen Handschrift B. Aufgrund des gleichmäßigen poetischen Musters in 36,1–17(22), nach dem sich jeweils vier Bikola zu einer Strophe fügen (V. 1–5.6–10.11–14.15–17), dürfte der Vers nicht ursprünglich sein. Motivisch entspricht das Bild vom Zornesfeuer alttes­ tamentlichem Sprachgebrauch (vgl. 16,11), textlich stehen möglicherweise Versatzstücke aus Num 24,19–20 und 1 Kön 19,17 im Hintergrund.67 Dem „Weckruf“ des göttlichen Zorns (36,7)68 steht der doppelte Appell an Gottes Erbarmen gegenüber: Erbarme dich69 über das Volk, das nach deinem Namen benannt ist, über Israel, dem du den Ehrennamen „Erstgeborener“ verliehen hast70. Erbarme71 dich über deine heilige Stadt, über Jerusalem, die Stätte deines Wohnens. (Sir 36,12–13) 66 Dabei ist zu beachten, dass sich in H und G die Verszählung aufgrund einer differierenden Segmentierung und einer Blattvertauschung in der Handschrift, von der alle erhaltenen griechischen Codices, die das Sirachbuch bieten, abhängig sind, unterscheiden. So entsprechen sich 36,6a (H) und 33,6a (G); 36,6b (H) und 33,7 (G); 36,7a (H) und 33,8 (G); 36,7b (H) und 33,9 (G); 36,8 (H) und 33,10 (G); 36,10 (H) und 33,12 (G); 36,11a (H) und 33,13a (G); 36,11b (H) und 36,16b (G); 36,12 (H) und 36,17 (G); 36,13 (H) und 36,18 (G); 36,14 (H) und 36,19 (G); 36,15 (H) und 36,20 (G); 36,16 (H) und 36,21 (G); 36,17 (H) und 36,22 (G). Ein in 33,11 (G) aufgeführter Vers, der sich auch in La und Syr als 36,11 findet, hat kein Äquivalent in H. Seinen Ort hätte er im Anschluss an V. 8. Dementsprechend springen die Ausgaben des hebräischen Sirachbuchs in der Zählung direkt von V. 8 zu V. 10 (vgl. Vattioni, Ecclesiastico; Beentjes, Book). 67 Vgl. auch Ob 18 und Am 5,19 und dazu Peters, Buch, S. 295; Sauer, ATD.A 1, S. 248. 68 Wie die Bilder vom „Entbrennen“ und „Ausschütten“ unterstreicht das Bild vom „Er- / Aufwecken“ (vgl. Ps 78,38) den dynamischen Charakter des göttlichen Zorns und dessen Unterstellung unter die Verfügungsgewalt Gottes. 69 ‫( רחם‬Pi.) ist im Imperativ nicht im Tanach belegt und könnte dementsprechend eine genuine Formulierung Ben Siras sein (so Beentjes, Mercy). G bietet hier zusätzlich eine explizite Anrede Gottes (κύριε), wodurch die Intensität und die Struktur des Gebets verstärkt werden (vgl. die griechische Fassung von V. 1, V. 5, V. 17[22]). 70 Zu ‫( כנה‬Pi., „einen Ehrennamen verleihen“) vgl. Sir 44,23 (HBmarg); Jes 45,4. 71 G variiert hier den Gebetsruf von ἐλέησον in V. 12(17) zu οἰκτίρησον in V. 13(18), wo-

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Die Gegenüberstellung von göttlichem Zorn und göttlichem Erbarmen ist eingebettet in ein kollektives Bittgebet, das seine nächsten biblischen Parallelen in den Volksklageliedern Ps 44; 74; 79 und 102 oder auch im Gebet der Judith (Jdt 9) hat.72 Gegenüber diesen weist Sir 36 aber weder eine Klage noch eine Beschreibung der notvollen Situation, in der sich die Beter befinden, auf. Die Konzentration liegt ganz auf der Bitte. Der eschatologische und der heilsgeschichtlich-nationale Charakter von Sir 36, wie er sich vor allem aus den Bitten um ein endgültiges Heilshandeln Gottes in V. 8 und um die Sammlung der in der Diaspora befindlichen Stämme Israels in V. 11 ergibt (vgl. Jes 49,5–6),73 hat gelegentlich zur Bestreitung der Ursprünglichkeit dieses Gebetes geführt.74 Allerdings finden sich auch an anderen Stellen des Sirachbuchs, nicht zuletzt im Kontext der Thematisierung von Gottes Zorn (vgl. Sir 48,10–11), eschatologische Momente.75 Die Inte­ gration geschichtlicher Themen in die weisheitliche Reflexion ist geradezu ein Charakteristikum des Sirachbuchs (vgl. das „Lob der Väter“ in Sir 44–49; 50). Schließlich sind die Fokussierung des Handelns Gottes auf Jerusalem und den Tempel / Zion (V. 13–14) kennzeichnend für die kultzentrierte Theologie Ben Siras (vgl. Sir 24; 48,17–25; 50–51). Insofern sich (1) alle wesentlichen Motive von Sir 36 auch sonst im Sirachbuch finden, (2) auch an anderen Stellen des Buchs die weisheitlichen Reflexionen und Lehrreden durch Gebete unterbrochen werden,76 (3) das Gebet in Sir 36 thematisch durch 35(32),12–26 vorbereitet wird77 und (4) in der jüdischen Weisheitsliteratur der hellenistischen Zeit auch verstärkt eschatologische und apokalyptische Elemente begegnen, kann Sir 36 als integraler Bestandteil des Buchs angesehen werden.78 Charakteristisch für die in Sir 36,7–13 vorliegende Kontrastierung von Gottes Zorn und Erbarmen sind zwei Aspekte: durch der enge Zusammenhang der V. 12–13 etwas gelockert wird. Hingegen korrespondieren in der griechischen Gestalt von Sir 36 deutlicher als in H die V. 1 und 12–13 (17–18), da in G bereits V. 1 mit dem Ruf ἐλέησον anhebt, während H mit dem Ruf ‫ השיענו‬einsetzt, der in der LXX sonst immer mit σῶσον ἡμᾶς übersetzt wird (vgl. 2 Kön 19,19; 1 Chr 16,35; Ps 106,47; Jes 37,20). 72 Vgl. weiterhin 2 Makk 1,24–29; Tob 13–14; PsSal 17; 1QM XI; 4Q504 Frgm. 1–2,III– VI. 73 Vgl. dazu Beentjes, Relations. 74 So z. B. Middendorp, Stellung, S. 125–134; Schrader, Leiden, S. 87–93. 75 Vgl. weiterhin Sir 18,24 (G); 46,12 (G); 49,10.15; möglicherweise auch 37,25; 44,13; 47,11 (Peters, Buch, S. 295; Steck, Abschluß, S. 141). 76 Vgl. Sir 22,27–23,6; 39,14–35; 42,15–43,33; 45,25–26; 50,22–24; 51,12a–o (H). 77 Dass Sir 36 auch als eine eigene Größe betrachtet werden kann, zeigen bereits die Segmentierungen in der hebräischen Handschrift B, die vor Sir 36 ein ‫ פ‬setzt, das vermutlich als Abkürzung für ‫„( פיסקא‬Abschnitt“) steht (Peters, Buch, S. 293), sowie die Überschriften ἐυχή, in der Randmarginalie des Codex Vaticanus und der Minuskel 543, ἀρχὴ λόγου in der Minuskel 307 sowie oratio hiesu filii sirach in Laz*. 78 Siehe dazu ausführlich Marböck, Gebet; Steck, Abschluß, S. 141–144; Collins, Apo­ calypticism, S. 392.

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1. die Einschreibung dieses Motivs in die Darstellung des Wesens und Handelns des universalen Gottes. So wird das Gebet in Sir 36 gerahmt von der Anrede Gottes als dem Gott des Alls (‫אלהי הכל‬, ὁ θεὸς πάντων, V. 1), die im biblischen Schrifttum erstmalig bei Ben Sira begegnet,79 und als dem Gott der „Zeit“ (‫אל[הי עו]לם‬, ὁ θεὸς τῶν αἰώνων, V. 17 / 22).80 Die Kola 5b, 10b und 17c–d, die die Strophen 1, 2 und 4 abschließen, unterstreichen als ein Leitthema des Gebets das Bekenntnis zu und die Erkenntnis von dem Gott Israels, der als der einzige Gott schlechthin erscheint. Der Zorn Gottes richtet sich dementsprechend gegen die, die seine Gottheit bestreiten bzw. sich selbst zum Gott erklären (V. 10, vgl. 16,6; Jes 10,5–19; 14,13–14; Jdt 6,2). Er ist ebenso Strafe gegen Hybris wie Ausdruck seines genuinen Wesens. Mit diesem Verständnis und Gebrauch des Motivs des Zornes Gottes schreibt Ben Sira zum einen die bereits in der Gnadenformel in Ex 34,6–7 par. angelegte Vorstellung von der Eiferheiligkeit Jhwhʼs fort: der Zorn entspringt dem Willen eines personal verstandenen Gottes, der sich in Beziehung zu Mensch und Welt setzt und der als Schöpfer des Kosmos und Lenker der Geschichte absolute Anerkennung fordert. Zum anderen konzentriert er die prophetischen Gerichtsworte gegen hybride Fremdvölker oder Fremdherrscher, wie sie sich in Jes 14,4–6 oder Ez 28,1–10 finden, auf die formelhaften Verse: Und sie sollen erkennen, wie wir erkannt haben:81 Es gibt keinen Gott außer dir.82 […] 79 Vgl. Sir 45,23; (50,15 [G]: παμβασιλεύς); 50,22 (G); 4Q409 Frgm. 1,I,6; 5Q13 Frgm. 1,2; 11QPsa XXVIII,7–8; Est LXX 4,17b; Jdt 9,12; Tob S 10,14; Röm 9,5. Traditionsgeschichtlich stehen im Hintergrund dieser Gottesprädikation, die für die spätere christlich-dogmatische Ausbildung der Rede von der Allmacht Gottes relevant wurde, zum einen die biblische Anrede Gottes als ‫„( אדון כל־הארץ‬Herr des ganzen Landes“ bzw. „Herr der ganzen Erde“, Jos 3,11.13; Mi 4,13; Sach 4,14; 6,5; Ps 97,5) und das möglicherweise von der LXX geprägte Epitheton παντοκράτωρ (vgl. Sir 42,17; 50,14.17; SapSal 7,25; Bar 3,1.4; 2 Makk 1,25 u. ö., sowie besonders häufig in der Hiob-LXX), zum anderen pagane griechisch-hellenistische Gottesvorstellungen (vgl. Pindar, Isthm. 5,53 [Zeus als ὁ πάντων κύριος]; Diog. Laert., VII,147; Kleanthes, Zeus-Hymnus [SVF I,537]; Plutarch, De Iside et Osiride 355E [bezogen auf Osiris], sowie die von den Ptolemäern geförderte Verehrung von Sarapis als kosmischem All- und Ein-Gott [siehe dazu Wilcken, Urkunden, S. 31; Müller, Ägypten, S. 86; Merkelbach, Isis, S. 74–86; 94–100; 113–119]). 80 Die Gottesprädikation ‫ אלהי עולם‬geht auf Gen 21,33 zurück, ist aber in Sir 36,17(22) wie in Jes 40,28 in einem universaleren Sinn gebraucht (vgl. auch Tob 13,7; 14,6 S; JosAs 2,2). V. 1 betont die Universalität Gottes in räumlicher Perspektive, V. 17 in zeitlicher. Demgegenüber verstehen Penar, Philology, S. 60–61; Sauer, ATD.A 1, S. 248, und Mulder, Simon, S. 206, ‫ עולם‬in Sir 36,17 im Sinn von „Welt / Weltall“ (so auch für G αἰώνων LXX.D: „Welten“, dagegen übersetzt Zapff, Sirach, 241, G mit „Ewigkeiten“). 81 Vgl. Jer 10,25; 16,21; Ez 28,22; Dan LXX 3,45; 2 Makk 1,27; Ps 79,6. In der lateinischen und in der syrischen Fassung von Sir 36 ist das Motiv der fehlenden Gotteserkenntnis der Völker verstärkt, insofern über H und G hinaus in V. 2 der Gottesschrecken über die herab­

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Zerschmettere das Haupt der Fürsten83 Moabs, das sagt: „Es gibt keinen außer mir.“ […] Und alle Enden der Erde sollen erkennen: Du bist der Gott der Ewigkeit. (Sir 36,5.10.17cd)

Deutlicher als die vorangehenden alttestamentlichen Traditionen zeigt sich bei Ben Sira die systematische Verbindung, die zwischen der Rede vom Zorn (und der Barmherzigkeit) Gottes und der Vorstellung von einem Gott besteht. 2. der Gebrauch des Theologumenons „Zorn und Erbarmen“ zur Beschreibung von Gottes (früh-)geschichtlichem, gegenwärtigem und zukünftigem Handeln an Israel und an den Völkern, ja letztlich am gesamten Kosmos, der – wie im Loblied auf die Weisheit in Sir 24 – seinen Mittelpunkt im Jerusalemer Tempel besitzt (vgl. Sir 24,8; 36,14 [H]84). So bedient sich Ben Sira bei der Herabrufung des Gottesschreckens (‫ )פחד‬auf die Völker (V. 2), speziell auf ein fremdes Volk (V. 3), das sich an die Stelle Gottes setzt und hinter dem vermutlich die Seleukiden stehen (V. 10),85 einzelner Begriffe und Motive, die in der Darstellung des Exodus als einem Grunddatum der Glaubensgerufen wird, die Gott nicht suchten und erkannten (gentes quae non exquisierunt te et cognoscant bzw. ‘mm’ dl’ jd‘wk). 82 Vgl. 2 Sam 7,22; 1 Kön 8,60; 1 Chr 17,20; Jes 44,6; 45,5.14.21–22; 64,3; Hos 13,4. 83 Die Übersetzung von ‫ פאתי‬ist hier, wie in der Bezugsstelle Num 24,17, unsicher. Die oben gebotene Übersetzung folgt der Wiedergabe von ‫ פאתי‬in TO zu Num 24,7 und in den antiken Versionen von Sir 36,10 mit „Fürsten“. Skehan / Di Lella, Ben Sira, S. 416, verstehen den Ausdruck „die Schläfen“ (vgl. HALAT, s. v. ‫ ;פאה‬Jer 48,45) als Metapher für „Fürsten“. 84 G liest anstelle von ‫„( ומכבודך את היכלך‬und [erfülle] mit deiner Herrlichkeit deinen Tempel“) καὶ ἀπὸ τῆς δόξης σου τὸν λαόν σου („und [erfülle] mit deiner Herrlichkeit dein Volk“), was sich textgeschichtlich leicht als Verschreibung von ναόν erklären lässt (vgl. Sir 49,12; 50,5; Ziegler, Lesarten, S. 471), inhaltlich aber eine Personalisierung und Spiritualisierung räumlicher Heiligkeitsvorstellungen bedeutet, wie sie sich auch in späten Psalmen (vgl. z. B. Ps 73), in Lobliedern aus Qumran (vgl. z. B. 1QHa XVI,4–40 in Weiterführung von Ez 31,3–18 und Jes 61,3), in PsSal 14,4 oder im NT (vgl. 1 Kor 3,16–17) findet und die nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels 70 n. Chr. zunehmend an Plausibilität gewinnt. 85 Diese Identifikation des „fremden Volkes“ (‫ )עם נכר‬basiert auf dem Verständnis von ‫ מואב‬in V. 10 als Chiffre für die Seleukiden (Peters, Buch, S. 296; Hamp, Buch, S. 94; Sauer, ATD.A 1, S. 250; Skehan / Di Lella, Ben Sira, S. 416; Steck, Abschluß, S. 151–152). Zu einer genaueren historischen Verortung von Sir 36 als Reaktion auf die Beeinträchtigungen Jerusalems im Zusammenhang mit dem 5. Syrischen Krieg (201 / 200 v. Chr.) siehe Marböck, Gebet, S. 159. In G ist dieser zeitgeschichtliche Aspekt verwischt, insofern in V. 3 der Plural (ἔθνη ἀλλότρια) und in V. 10(12) anstelle von ‫ מואב‬ἔχθρων („Feinde“) steht, was der Randlesart von HB entspricht. Allerdings ist nicht ausgeschlossen, dass ‫ מואב‬hier allgemein als Symbol des Bösen und Prototyp widergöttlicher Macht erscheint (vgl. Num 24,17; Jes 15; Jer 48; Ez 25,8–11; Am 2,2; Zeph 2,9; Ps 60,10 par. 108,10; 1QM I,1; XI,6; 4Q175,13 [= Num 24,17] und dazu Mulder, Simon, S. 230).

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geschichte Israels ihren Ort haben.86 Der Wunsch, Gott möge das „Ende beschleunigen“ (V. 8), der seine nächste biblische Parallele in Dan 8,19; 11,27; 11,35; Hab 2,3 und Ps 102,14 besitzt, stellt ebenso wie der Wunsch, dass sich die Propheten Israels als glaubhaft erweisen mögen (V. 16, vgl. Sir 48,22; 49,10; 11QPsa XXII,13–14), das Zornes- und Erbarmenshandeln Gottes in einen eschatologischen Kontext. Auf den Zusammenhang von Urzeit und Endzeit als den beiden zeitlichen Eckpunkten des Handelns Gottes verweist schließlich die Bitte in V. 15: Gib Zeugnis wie vom Anbeginn87 deiner Werke, und bestätige die Prophezeiung, die in deinem Namen gesprochen wurde. (Sir 36,15)88

Mit den bereits behandelten Belegen zu „Barmherzigkeit und Zorn Gottes“ im Sirachbuch teilt Sir 36,7–17 die Verbindung der Redefigur zur Frage nach der Gerechtigkeit Gottes. So steht im Zentrum des auf das Gebet in Sir 36 hinführenden Abschnitts 35(32),12–26 die Beschreibung von Gott als Richter (‫אלהי‬ ‫משפט הוא‬, κύριος κριτής ἐστιν, 35,15).89 Die das Gebet in Sir 36 abschließende Bitte um „Lohn (‫ )פעלה‬für die, die auf Gott hoffen“ (V. 16–17, vgl. 35,24), expliziert den zuvor artikulierten doppelten Ruf um Erbarmen (V. 12–13) im Sinne der positiven Vergeltung.90 D. h. auch in Sir 36 ist die Rede von der Barmherzigkeit und dem Zorn Gottes eine Funktion der Theodizee. 86 Vgl.

zu V. 1 (‫ )ישע‬Ex 14,30; zu V. 6 (‫ )אות‬Ex 4,8–31*; 7,3; 8,19; 10,17; zu V. 11 Ex 19,5; zu V. 12 Ex 4,22 (Dtn 8,5; Jer 31,9; Hos 11,1; SapSal 18,13; 4Q504 Frgm. 1–2,III,5–21*; PsSal 18,14). 87  Der Ausdruck ‫ למראש‬ist nicht eindeutig. Peters, Buch, 297, versteht ‫ מראש‬als „der /das Erste“ und sieht hier die Anfänge der Vorstellung von der Präexistenz Israels; Hamp, Buch, S. 95, übersetzt „Dein Werk von Anfang an“ und bezieht den Ausdruck in Parallele zu V. 15b auf die früheren Weissagungen (vgl. Jes 41,26; 48,16); Marböck, Gebet, S. 164–165, denkt entsprechend V. 6 und V. 11 an die „Anfänge Israels“. 88 Mit Skehan / Di Lella, Ben Sira, S. 414, ist ‫ דבר‬als Pual zu verstehen (vgl. 11QPsa XXII,13–14) – nicht als Substantiv, das als Apposition zu ‫ חזון‬gebraucht wäre (Sauer, ATD.A 1, S. 248). 89 Vgl. weiterhin 35,21d(22a), das Motiv der Erhörung des Gebets der Bedrängten in 35,16b mit 36,17a, das Motiv der Vergeltung an den Völkern in 35,22b(23a) mit 36,2.7.10, das Motiv des Einsatzes Gottes für sein Volk in 35,25a mit 36,12.17 und das Motiv des Erbarmens Gottes in der Zeit der Not in 35,26 mit 36,12–13. Dabei ist die Verbindung zwischen Sir 35,12–26 und 36,1–17 in G noch deutlicher als in H, da die Eröffnungsbitte ἐλέησον in 36,1 terminologisch unmittelbar durch das Abschlussbekenntnis ὡραῖον ἔλεος („köstlich ist sein Erbarmen“) in 35,26 vorbereitet wird (vgl. auch die Verwendung des Wortstammes ἐλεin V. 22 und V. 25). 90 Dabei findet sich in V. 22b (= V. 17b [H]) der griechischen Textüberlieferung eine charakteristische Variante: Während der Lesart von H („gemäß deinem Wohlgefallen [‫רצונך‬, εὐδοκία] über dein Volk“) nur die Minuskeln 307 und 534 entsprechen, was Ziegler, Sirach, im Obertext führt, bietet die Mehrzahl der griechischen Textzeugen „gemäß dem Segen (εὐ­ λογίαν) Aarons“, was Rahlfs, Septuaginta, und Peters, Buch, S. 297, für ursprünglich halten. Zur Hochschätzung Aarons bei Sirach vgl. Sir 45,6–22; 50,16.

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2.5 „Gebet vor dem Barmherzigen“ – Sir 50,19 Bereits in der Gnadenformel in Ex 34,6–7 par. wird Jhwh als gnädiger und barmherziger Gott (‫ )אל רחום וחנון‬bezeichnet.91 In Ps 78,38 und Ps 103,8 erscheint die Bezeichnung ‫ רחום‬in prädikativer Stellung: „Gott ist barmherzig“92. Sir 50,19 bietet nun erstmals (und zugleich einmalig) im biblischen Schrifttum die Prädikation ‫„( רחום‬der Barmherzige“) als eine eigenständige Gottesbezeichnung: Und das ganze Volk des Landes jubelte im Gebet vor dem Barmherzigen (‫רחום‬, ἐλεήμων). (Sir 50,19)

Erneut zeigt sich hier, wie Ben Sira, der die Wurzel ‫ רחם‬offenbar nur für Gott gebraucht,93 biblische Traditionen und Sprachfiguren systematisiert und konzentriert. Ein Vorläufer dieses absoluten Gebrauchs ist neben der Gnadenformel die auf Gott bezogene partizipiale Wendung ‫„( מרחם‬der, der sich erbarmt“) in Jes 49,15; 54,10 und Ps 116,5, die sich auch in Sir 15,20 (HA) findet.94 Auffällig ist, dass sich die absolute Anrede Gottes als „Barmherziger“ dann erst in spätantiken Synagogeninschriften95 und im rabbinischen Schrifttum96 sowie in griechischer Gestalt als ὁ ἐλεήμων bzw. in lateinischer Form als misericors in jüngeren nichtkanonischen Schriften findet.97 Ähnliches gilt für die 91 Siehe dazu und zu der vergleichbaren aramäischen Wendung ʼlh rḥmn in der Inschrift von Tell Fekherye (KAI5, S. 74–75, Nr. 309, 5 / 6; Schwiderski, Inschriften, S. 194) Franz, Gott, S. 16–17; 83–84; 118–119, sowie in griechischer Gestalt ὁ ἐλεήμων θεός in JosAs 11,10; Tob 6,18; 7,12; 2 Makk 8,29; 11,9; 13,12; 3 Makk 5,7. 92 Vgl. auch Dtn 4,31 (‫ )כי אל רחום יהוה אלהיך‬und Ex 22,26 (‫ )חנון אני‬und dazu Philo, som. I,93,1–4 (als Zitat von Ex 22,26); weiterhin SapSal 15,1 (σὺ δέ ὁ θεὸς ἡμῶν χρηστὸς καὶ ἀληθής μακρόθυμος καὶ ἐλέει διοικῶν τὰ πάντα); TestIss 6,4; TestSeb 9,7; Arist 208 (καὶ γὰρ ὁ θεὸς ἐλεήμων ἐστίν); ApkEsr 1,15; PsSal 5,2; 10,7; Lk 6,36; Jak 5,11 (πολύσπλαγχνός […] καὶ οἰκτίρμων); EpDiognet 8,8; Justin, Dialog, 107,2; zum Verhältnis von Zorn und Barmherzigkeit Gottes in Ps 78 siehe Witte, Exodus. 93 Siehe dazu ausführlich Beentjes, Mercy. 94 Der entsprechende Stichos hat allerdings in G kein Äquivalent und scheint eine Du­ blette zu sein (Beentjes, Mercy, S. 238–239). 95 Vgl. die Synagogeninschriften bei Beyer, Texte I (1984), S. 364 EN 4 (Engedi, 5. Jh. n. Chr.: […] ‫לשמה דרחמנה‬, „für den Namen des Barmherzigen“); S. 382 BS 7 (Rehov bei Beth Schean, 4. Jh. n. Chr.: […] ‫ ;)רחמנה‬S. 389 KJ 1 (Kokab ha-Jarden, 3.–4. Jh. n. Chr.: ‫רחמנה‬ […]). 96 Vgl. bBer 60b; bQid 81b; weitere ausgewählte Belege bei Mamorstein, Doctrine, S. 101–102 sowie 56 (‫ )אב רחמים‬und 80–81 (‫ ;)בעל הרחמים‬Levy, Wörterbuch IV, S. 440, und Sokoloff, Dictionary, S. 1069–1070. 97 Vgl. bereits Sir 48,20 (τὸν κύριον τὸν ἐλεήμονα; HB liest ‫ )אל עליון‬sowie 2 Makk 1,24; TestJud 19,4 (ὁ οἰκτίρμων καὶ ἐλεήμων) bzw. 4 Esr 7,132; 8,31–32 und im christlichen Schrifttum 1 Clem 60,1. Als Epitheton griechisch(-ägyptischer) Gottheiten findet sich ἐλεήμων u. a. in einem Lobpreis auf den Heilgott Amenothis auf einem Ostrakon vom Hatschep­sut-Tempel in Deir el Bahri aus dem Jahr 261 / 260 v. Chr. (SGUÄ V, Nr. 8266), für die (vergöttlichte) Arsinoe in einem Papyrus aus dem Jahr 252 / 251 v. Chr. (SGUÄ X, Nr. 10251), für die Göttin

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damit vergleichbare absolute Bezeichnung Jhwhʼs als des Gütigen (‫)יהוה הטוב‬, die biblisch nur in Sir 45,25 [H] und in 2 Chr 30,18 belegt ist.98 2.6 „[…] denn ewig währt seine Huld“ – Sir 51,12a–o (H) Ich schließe die Reihe der Textbeispiele zum Thema Zorn und Barmherzigkeit Gottes im Sirachbuch mit dem Lobpreis auf die Güte (‫טוב‬, ‫ )טובה‬Gottes in Sir 51,12a–o. In Anlehnung an Ps 136 fordert der Dichter vierzehnmal mit der Formel ‫ הודו‬zum Lobpreis Gottes auf, dem jeweils wechselnde Epitheta und heilsgeschichtliche Prädikate beigelegt werden und beschließt jedes Kolon mit der Formel ‫כי לעולם חסדו‬. Lediglich im letzten Vers variiert der Verfasser die Formulierung des Lobpreises. Der litaneiähnliche Hymnus bietet eine Anthologie biblischer, vor allem in den Psalmen gebrauchter Formeln und Wendungen. Er ist nur in der hebräischen Handschrift B belegt und verwendet mit den Formulierungen ‫אל התשבחות‬ (V. 12b) und ‫( מלך מלכי מלכים‬V. 12n) nur hier im biblischen Schrifttum nachgewiesene Gottestitel. Die Herkunft dieses Textes ist unklar, formale Parallelen finden sich in jüdischen Gebeten aus hellenistisch-römischer Zeit.99 Aufgrund der Hochschätzung Zadoks (V. 12i) ist eine essenische Herkunft nicht ausgeschlossen.100 Gleichwohl stellt der Hymnus eine gelungene Zusammenfassung zentraler Themen des Sirachbuchs, u. a. in der Rede vom Zorn und Erbarmen Gottes dar. So unterstreicht die vierzehnfache Wiederholung des Begriffs ‫חסד‬, der bereits in der Gnadenformel (Ex 34,6–7 par.) im Verbund der Aussagen, Gott sei gnädig und barmherzig, langsam zum Zorn und reich an Treue, die Verlässlichkeit Gottes bezeichnet, die über die Zeiten hinweg (‫ )לעולם‬wirksame heilvolle Zuwendung Gottes zu seinem Volk.101 Wie in Sir 36 sind die Motive von der Universalität Jhwhʼs und von dessen auf Israel bezogenem geschichtlichen Handeln eng verknüpft. Zentrum dieses göttlichen Handelns sind Jerusalem, der Tempel, das davidische Königtum und das zadokidische Priestertum (V. 12g–i). Wesensmerkmal dieses Gottes ist ‫חסד‬. Insofern dieser Isis in verschiedenen Hymnen des 1. Jh. v. Chr. (Totti, Texte, S. 128, Nr. 2; SEG 8,550,34) und für die Göttin Leto bei Apollodor von Athen (2. Jh. v. Chr., FGH Nr. 244, Frgm. 121; vgl. Herodianos [Ailios] von Alexandria, De prosodia catholica, 3,1,347,6–7). 98 Penar, Philology, S. 79, sieht auch in Hos 8,3; Ps 111,10 und 119,122 den Gottestitel ‫טוב‬, doch lässt sich in den genannten Stellen besser mit „das Gute“ übersetzen. Näher bei Sir 45,25 und 2 Chr 30,18 stehen Ps 145,9 bzw. Ps 118,1.29; 1 Chr 16,34; 2 Chr 5,13; 2 Esr 3,11; Philo, LA I,47; Mk 10,18. 99 Vgl. Dan LXX 3,52–90; Tob 3,2; 13,1–18; 2 Makk 1,24–28; 3 Makk 2,2–20; 6,2–15; Or Man 1–4; 18-Bitten-Gebet. 100 Skehan / Di Lella, Ben Sira, S. 569; Schrader, Leiden, S. 74–75; Böhmisch, Textformen, S. 120. 101 Zur Problematik einer angemessenen Wiedergabe des Begriffs ‫חסד‬, den Ben Sira mit Bezug auf Gott in 44,1.10; 47,22; 50,24; 51,3.8 gebraucht, siehe Jepsen, Gnade, S. 264–271; Sakenfield, Love, S. 377–380; Spieckermann, Gnade.

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Gott als „Schöpfer des Alls“ (‫)יוצר הכל‬102 und „König aller Könige“ (‫מלך מלכי‬ ‫)מלכים‬103 bekannt wird, hat auch sein ‫ חסד‬universale Dimension. Damit steht das Gebet in Sir 51,12a–o – ohne dass hier (noch) ein entsprechender Begriff für gebraucht wird – an der Seite der alttestamentlichen Texte, die ausdrücklich die Rede vom Zorn Gottes problematisieren, wie dies Karl-Friedrich Pohlmann für Hos 11,8–9 und Ez 20 gezeigt hat.104 Zugleich steht Sir 51,12a–o neben den alttestamentlichen Texten, die mittels des Motivs der „Reue Gottes“ oder der „Liebe Gottes“ von einer wesenhaften Selbstbeschränkung Gottes im Blick auf dessen Zorn sprechen.105

3. Zusammenfassung 1. Formal begegnet die Rede von der Barmherzigkeit und dem Zorn Gottes im Sirachbuch (a) in ethischen Ermahnungen (Paränesen), (b) in Bitt-, Dankund Lobgebeten sowie (c) in poetischen Geschichtsreflexionen. Trotz der systematisierenden Tendenz der Weisheitsschrift des Ben Sira tragen auch seine Reflexionen über den Zorn und das Erbarmen Gottes einen konfessorischen und doxologischen Charakter. Dies trifft sich – nebenbei bemerkt – mit Schleiermachers These aus der Glaubenslehre: „Gott Barmherzigkeit zuzuschreiben eignet sich mehr für das homiletische und dichterische Sprachgebiet, als für das dogmatische.“106 2. Inhaltlich lassen sich diese Aussagen Ben Siras vierfach klassifizieren: (a) Historiographisch dient das Motiv vom Zorn und Erbarmen Gottes wie in den geschichtstheologischen Deutungen der deuteronomistisch bearbeiteten Bücher des Alten Testaments, der großen Prophetenbücher, aber auch vorderorientalischer Geschichtsbetrachtungen als Interpretament des geschichtlichen Handelns Gottes.107 (b) Eschatologisch steht der Zorn bzw. der Tag des Zorns – wie in der späten Prophetie und der Apokalyptik – für ein am Ende der Zeit erwartetes universales Gericht (Sir 48,10), während der bis in die Tiefe der Zeit reichende ‫( חסד‬Sir 51,12a–o) die den Zorn begrenzende Liebe Gottes bezeichnet. 102 Vgl.

Jer 10,16; 51,19. 4Q381 Frgm. 76–77,7; 4Q403 Frgm. 1,I,34; 4Q405 Frgm. 4 + 5,2; 4Q491 Frgm. 8–10,I,13; 1 Hen 63,2.4; 84,2; 3 Makk 5,35; Est LXX 4,17r; 1 Tim 6,15; Apk 17,14; 19,16; mAb IV,32. 104 Pohlmann, Beobachtungen; Jeremias, Reue, 52–59. 105 Vgl. einerseits Jer 18,8; 26,3; Am 7,3.6; Jon 3,9–10; 4,2; Jo 2,13–14; Ex 32,12.14, an­ dererseits Jes 54,7–10; Jer 31,20; Hos 11,8–9; Klgl 3,31–33. 106 Schleiermacher, Glaube II, S. 475 (§ 85, Anhang zu Teil II / 3: „Von den göttlichen Ei­ genschaften, welche sich auf das Bewußtsein der Sünde beziehen“). 107 Vgl. Sir 16,11; (39,23); 45,19; 46,7; 47,20 – im Umfeld Ben Siras vgl. 1 Makk 1,64; 2,49; 3,8; 2 Makk 5,17; 7,33.38. 103 Vgl.

104

Barmherzigkeit und Zorn Gottes im Buch Jesus Sirach

(c) Gerichtstheologisch sind der Zorn und das Erbarmen Gottes Redefiguren der Theodizee. Sowohl die Ankündigung, dass der göttliche Zorn über die Frevler komme, und die Herabrufung des göttlichen Zorns über die Feinde Israels (Sir 36,8) als auch die Zusage des Erbarmens über die, die sich Gott zuwenden, und der Appell an Gottes Barmherzigkeit über sein Volk (36,12– 13) stehen im Dienst des Bekenntnisses zur Gerechtigkeit Gottes. Der Zorn ergeht hier ausdrücklich über die Sünde. Barmherzigkeit erweist sich in der Vergebung (Sir 2,11; 5,5–6; 16,11).108 (d) Schöpfungstheologisch markieren der Zorn und die Barmherzigkeit Gottes den Unterschied zwischen Gott und Mensch, sei es, dass der Zorn Gottes seine Grenze an der Geschöpflichkeit des Menschen findet und sich Gott angesichts der Vergänglichkeit des Menschen erbarmt (Sir 17,29; 18,11–12),109 sei es, dass das Maß der göttlichen Barmherzigkeit jede menschliche Form von Barmherzigkeit übersteigt (Sir 18,5.13). 3. In pragmatischer Hinsicht kennt das Sirachbuch – wie auch sonst das Alte Testament – als menschliche Möglichkeit, den Zorn Gottes fern- bzw. auszuhalten und Erbarmen zu erfahren, (a) das Gebet,110 (b) die Umkehr / Buße,111 (c) die Fürbitte112 und (d) die Sühne113. Mit diesen formalen, inhaltlichen und pragmatischen Aspekten sind die Aussagen Ben Siras repräsentativ für die geschichtlich gewordenen und im Alten Testament gesammelten Vorstellungen des antiken Israel und Juda über den Zorn und die Barmherzigkeit Jhwhʼs, wenngleich ein Aspekt des göttlichen Zorns, den das Alte Testament auch noch kennt, im Sirachbuch nicht vertreten ist, nämlich der Aspekt des willkürlich, dämonisch und rätselhaft losbrechenden Zorns Jhwhʼs (vgl. 2 Sam 6,6–11).114 So ist in Ben Siras Theologie kein Raum für Bilder eines mit maßlosem Zorn gegen sein Geschöpf anrennenden Kriegers, wie sie die Dichter des Hiobbuchs (vgl. Hi 6,4; 16,9–14; 19,11–12) oder der Klagelieder Jeremias (vgl. Klgl 2) verwenden. Der „Zorn Gottes“ bei Ben Sira lässt sich durchgehend dem von Gary A. He­ rion als pathos bezeichneten Typ zuweisen, d. h. einem Zorn, der der bewusste Ausdruck des Willens Jhwhʼs ist, im Gegensatz zum passion-Typ, d. h. einem

36.

108 Eine

weitergehende Systematisierung dieses Zusammenhangs bietet dann 4 Esr 8,30–

109 Vgl.

SapSal 11,23.26; 12,16–18; 3 Makk 6,2; OrMan 7; TestSeb 9; 4 Esr 7,134; VitAd

27,2.

110 Sir

36,16–17, vgl. Ps 51,3; Hi 9,13–15. 5,7, vgl. Jon 3,10–4,2; Ez 18,23. 112 Sir 48,10.19–20, vgl. Ex 32,11; Num 11,1–2; 14,11–20; Dtn 9,19–20; Hi 42,7–8; Ps 106,23. 113 Sir 45,16.23, vgl. Num 17,11–12. 114 An den häufig in diesem Zusammenhang genannten Stellen Gen 32,23–33; Ex 4,24– 26; 19,21–25 steht bezeichnenderweise kein Begriff für den Zorn Gottes. 111 Sir

Barmherzigkeit und Zorn Gottes im Buch Jesus Sirach

105

emotionalen, irrationalen und unkontrollierten Zorn.115 Insofern Ben Sira in einer Zeit schreibt, in der den paganen Theologen und Philosophen anthropopathische Gottesaussagen zunehmend suspekt werden,116 stehen seine aus der israelitisch-jüdischen Tradition ererbten, systematisierten und neu akzentuierten Aussagen zum Zorn und zur Barmherzigkeit Gottes für die bleibende Bedeutung, die diese Redefigur für eine monotheistische, personale und relationale Gottesvorstellung besitzt. Mit der zweimaligen Aussage, dass bei Gott Erbarmen und Zorn sind (Sir 5,6; 16,11), unterstreicht Ben Sira, dass sich von Gott und seiner Bezogenheit auf Welt und Mensch nur dialektisch reden lässt. Dabei gilt für den Siraciden in der Fluchtlinie der alten Gnadenformel und innerbiblischer Revisionen der Rede vom Zorn Gottes, dass Gott letztlich der Barmherzige ist (Sir 50,19). Damit ist Ben Sira nicht nur im literaturgeschichtlichen Sinn der Auslegung ein biblischer Theologe, vielmehr gehört seine Schrift auch sachlich in eine Darstellung derselben. Einem biblischen Theologen wie Johannes Chrysostomos war dies durchaus bewusst, wenn er beispielsweise Sir 5,6 und Sir 16,11 in seiner Homilie über Joh 3,17 zitiert.117

115 Herion, Wrath, S. 991; zum Verständnis von Emotion im AT siehe Wagner, Emotionen, sowie Witte, Emotionen, in diesem Band S. 211–223. 116 Vgl. exemplarisch Cicero, De officiis III,102; n. d. I,42; I,45; dann aber auch jüdischer­ seits Arist 254 (vgl. Arist 188; 192; 207; 209–211); Philo, Deus 52; 71; Jes LXX 57,17; Hi LXX 42,7. 117 In Ioannem (Homilie ΚΗ‘; in: PG 59,161,30–34).

II. Einzeltexte

„Das Gesetz des Lebens“ Eine Auslegung von Sir 17,111 „Jede Äußerung des L(ebens) kann, kraft der universalen Bedeutung der Religion, als religiöses Erlebnis aufgefaßt werden.“ (Gerardus van der Leeuw, 1929)2 Abstract: On the basis of Sir 17, this article first interprets the understanding of the law in the book of Ben Sira / Jesus Sirach, secondly illustrates the literary- and traditio-historical background of the term “Law of Life” in Deuteronomy, Ezekiel and in sapiential paraenesis, and thirdly determines the relation between wisdom and Torah and between universal and particular revelation (cf. Deut 4; 30; Pss 19; 119; Bar 3–4). Furthermore, this essay presents convergences and divergences between the conception of a universal law in the book of Ben Sira and in Stoicism. The particular relevance of the conception of God as creator and of the term “life” for the theology of Ben Sira remain evident throughout. Finally, the sapiential ideal of education (παιδεία) is sketched using the example of the Greek version’s prologue.

1. Zum Verhältnis von „Leben“ und „Religion“ Unter dem provozierenden Titel „Kann das Leben die Religion ersetzen?“ hat der verehrte Jubilar, der mit diesem Beitrag herzlich gegrüßt werden soll, anlässlich des Deutschen Evangelischen Kirchentags im Jahr 2003 „religionstheo­ retische Überlegungen zur Konjunktur eines Begriffs“ angestellt,3 die auch – und gerade – für die Exegese sehr furchtbar sein können, gehören doch die Fragen nach der Herkunft, der Gestaltung und der Zukunft des Lebens zu den zentralen Themen der biblischen Schriften. Der von Hans-Günter Heimbrock treffend festgestellte Aufstieg des Begriffs „Leben“ in der Theologie hat Geschichte. Repräsentativ dafür sind die Einträge zum Lemma „Leben“ in den verschiedenen Auflagen der „Religion in Geschichte und Gegenwart“ (RGG). Enthält die erste Auflage (1909 ff.) lediglich Verweise auf unter anderen Stichwörtern verhandelte Themen wie „sittlich-religiöse Auffassung vom Leben“, „Lebenswert“, „Naturwissenschaftliche Theorien des Lebens“, „Lebenshaltung“ und „Leben nach dem Tod“, so bietet die 1 Hans-Günter

Heimbrock zum 60. Geburtstag (2008). Leeuw, Leben, S. 1508. 3 Heimbrock, Leben. 2 Van der

110

„Das Gesetz des Lebens“

zweite Auflage (1927 ff.) einen kleinen Beitrag zum Stichwort „Leben“.4 Dieser ist von dem von 1918 bis 1950 an der Universität Groningen lehrenden Theologen und Religionswissenschaftler Gerardus van der Leeuw verfasst,5 dessen Schrift „Phänomenologie der Religion“ von 1936 – neben den Werken Edmund Husserls (1859–1938) – sicher zu den Säulen einer phänomenologisch orientierten Praktischen Theologie und Religionspädagogik gehören. Die von van der Leeuw präsentierte Unterscheidung zwischen (1) einem am natürlichen Zyklus von Werden und Vergehen orientierten Lebensverständnis, (2) einem von der Vorstellung der Lebensfülle und des gesteigerten, „wahren“ Lebens ausgehenden, quantitativ ausgerichteten Lebensbegriff und (3) einer zwischen diesem Leben und einem ganz anderen, jenseitigen Leben differenzierenden, qualifizierten Vorstellung steht auch hinter dem „Lebensartikel“ in der dritten Auflage (1957 ff.), der nun von dem ehemaligen Stockholmer Religionswissenschaftler Åke Hultkrantz (1920–2006) stammt. Der Artikel führt die Differenzierung zwischen „Existenz“, „Lebensstoff“ und „Lebenskraft“ ein, geht aber substantiell und umfangmäßig nicht über van der Leeuws Beitrag hinaus.6 In der vierten Auflage der RGG (1998 ff.) spiegelt sich jetzt die gewachsene Bedeutung, die der Begriff „Leben“ in der gegenwärtigen Theologie und Religionswissenschaft hat. So ist der Umfang auf 13 Druckspalten gestiegen.7 Der Artikel ist entsprechend der fachlichen Differenzierung der Theologie in sieben, von unterschiedlichen Autoren und Autorinnen verfasste Teilbeiträge aufgefächert (religionswissenschaftlich, biblisch, fundamental-theologisch, philosophisch, religionsphilosophisch, naturwissenschaftlich und ethisch). Allein der Abschnitt zum alttestamentlichen Lebensverständnis von Kathrin Liess (2002) übertrifft den Umfang des gesamten Artikels von van der Leeuw von 1929. Neu hinzugekommen ist ein eigener Eintrag zum Begriff „Lebenswelt“,8 deren religiöse Phänomene – als Formen und Gestaltungen von Theologie – wahrzunehmen und zu beschreiben, zu den wesentlichen Anliegen einer erfahrungsbezogenen, zeitgemäßen und biblisch verankerten Praktischen Theologie und Religionspädagogik gehören. Sowohl die gestiegene Bedeutung, die der Begriff des Lebens in der gegenwärtigen Theologie hat, als auch das von Heimbrock beschriebene Phänomen, dass in gegenwärtigen evangelischen religionspädagogischen Entwürfen und kirchlichen Verlautbarungen der Begriff „Leben“ an vielen Stellen den Begriff „Religion“ ersetzt, fordern zu einer klaren Definition und zu einer Verhält4 Darüber

hinaus ist gegenüber der ersten Auflage nun auch „Lebensphilosophie“ mit ei­nem eigenen, von Ernst Sommerlath geschriebenen Eintrag vertreten (ders., Lebensphilo­ sophie). 5 S. o. Anm. 2. 6 Hultkrantz, Leben, Sp. 248–249. 7 Hultkrantz, Leben, S. 133–146. 8 Verfasst von Gräb, Lebenswelt, S. 165. Zur zentralen Bedeutung des Begriffs der „Lebenswelt“ für die Praktische Theologie / Religionspädagogik siehe auch Henke, Lebenswelt, sowie Failing / Heimbrock, Gelebte Religion, und Failing / Heimbrock / Lotz, Religion.

„Das Gesetz des Lebens“

111

nisbestimmung von Leben und Religion heraus. Als ein kleiner exegetischer Baustein für eine solche Verhältnisbestimmung soll hier mit Sirach 17,11 ein Text in den Blick genommen werden, der wie kaum ein anderer biblischer Text Religion und Leben ins Verhältnis setzt und dies – im Rahmen der biblischen Schriften einmalig – auf den Begriff „Gesetz des Lebens“ bringt.

2. „Das Gesetz des Lebens“ in Sir 17,11 Obgleich seit den Textfunden in der Geniza der Karäersynagoge von Altkairo (1896 ff.), in Qumran (1947 ff.) und auf Masada (1964 ff.) heute ca. 65 % des Sirachbuchs auf Hebräisch (H) vorliegen,9 ist die Exegese für weite Teile des Buchs auf die griechische Übersetzung (G) des Enkels Ben Siras, die dieser im letzten Drittel des 2. Jh. v. Chr. in Alexandria angefertigt hat, sowie auf die teilweise von G abhängige lateinische (La) und syrische Version (Syr) angewiesen. Dies gilt auch für die Lehrdichtung in Sir 17,1–14, innerhalb derer die Wendung vom „Gesetz des Lebens“ (νόμος ζωῆς) fällt: Er (d. h. Gott) fügte ihnen Erkenntnis hinzu (προσέθηκεν) und gab ihnen das Gesetz des Lebens als Erbe (ἐκληροδότησεν), damit sie bedächten, dass sie jetzt als Sterbliche existieren. (Sir 17,11a–c)

Die Übersetzung von V. 11a folgt der von allen griechischen Handschriften gebotenen Lesart προσέθηκεν (vgl. Sir 45,20; 48,23),10 die auch von La (ad­didit) unterstützt wird. Joseph Ziegler und Francesco Vattioni konjizieren προσέθηκεν („er legte vor“), wobei sie – auf der Basis von Syr (sm) – für den hebräischen Urtext die Lesart ‫ וישם‬annehmen (vgl. Dtn 4,44; Ex 19,7).11 Anstelle der „Erkenntnis“ (G: ἐπιστήμη, La: disciplina) liest Syr qjmʼ („Bund“), womit die Korrespondenz zwischen V. 7 und V. 11 aufgelöst und V. 12 („Einen ewigen Bund errichtete er mit ihnen / und seine Rechtssatzungen tat er ihnen kund“) vorweggenommen wird. Gleichzeitig ist in Syr dadurch die 17,11 eigentlich prägende Spannung zwischen universaler und partikularer Gabe des „Gesetzes des Lebens“ zumindest abgemildert. Das in V. 11b verwendete Verb κληροδοτέω („zum Besitz / als Erbe geben“) ist ein Neologismus der LXX, der sich nur noch in Ps 77(78),55 und Esr 9,12 sowie in von der LXX abhängiger Literatur findet. Die Minuskel 578 (12. Jh.) hat den Standardbegriff der LXX zur Übersetzung von ‫ ירש‬und ‫נחל‬, κληρονομέω. Syr liest anstelle dessen ’lp („er lehrte sie“), bietet so anstelle des 9 Zur Fundgeschichte und den Problemen der Textüberlieferung siehe Reif, Discovery, sowie Reiterer, Zählsynopse, S. 6–30. 10 Vgl. Rahlfs, Septuaginta. 11 Ziegler, Sirach; Vattioni, Ecclesiastico. Vgl. auch die Rückübersetzung des griechischen Sirach ins Hebräische von Segal, ‫ספר‬, S. 103. Zur Diskussion siehe Prato, Il problema, S. 281 Anm. 172.

112

„Das Gesetz des Lebens“

Motivs von Gott als Erblasser12 das Motiv von Gott als Lehrer13. Syr bezieht damit Sir 17,11 und 45,5 noch enger aufeinander, denn nach 45,5 „lehrt“ Mose das ihm von Gott offenbarte „Gesetz des Lebens und der Klugheit“ (vgl. Ex 19,7; Dtn 4,44). Der dritte Stichos (V. 11c) wird nur von zwei Handschriften der sogenannten Lukianischen Textgruppe (L), nämlich den Minuskeln 248 (13. Jh.) und 637 (11. Jh.), sowie der Handschrift 743 (15. / 16. Jh.) geboten. Er fehlt in La und Syr und geht auf eine spätere Überarbeitung der griechischen Übersetzung des Enkels (G-I-Text) zurück, die als griechischer Langtext oder G-II-Text bezeichnet wird. Kompositionell steht Sir 17,11 im Zentrum einer schöpfungstheologischen Lehrrede (16,24–18,14), die pointiert Ben Siras Anthropologie, Theologie und Ethik enthält.14 So beschreibt Ben Sira hier in Anlehnung an Kernsätze aus Gen 1–9 die Schöpfung der Welt, die kosmische Ordnung und die Erschaffung des Menschen (16,26–30; 17,1–10).15 Er rekapituliert auf der Basis von Ex 19, Ex 24 und Dtn 4–5 wesentliche Elemente der Überlieferung von der Sinaioffenbarung (17,11–13) und liefert schließlich eine mit anthropologischen Reflexionen und ethischen Mahnungen angereicherte Begründung der Gerechtigkeit Gottes (17,15–18,14). Wie zwei Brennpunkte einer Ellipse erscheinen (1) die Aufforderung, sich von allem Bösen fernzuhalten und sich gemeinschaftsgerecht zu verhalten (17,14), hinter der eine Zusammenfassung der ersten und zweiten Tafel des Dekalogs (Ex 20,1–11.12–17 par. Dtn 5,6–15.16–21) durchscheint (vgl. TestBen 3,3; TestSeb 5,1–3; Mk 12,29–30 par.),16 und (2) das Bekenntnis zur Barmherzigkeit des gerecht vergeltenden Gottes, der „erzieht, bildet, lehrt und sich wie ein Hirte wieder seiner Herde zuwendet“ (18,13). Formal erscheint 17,11a als Wiederholung von V. 7, in dem Ben Sira die in der Schöpfung dem Menschen zugeteilte Erkenntnis (ἐπιστήμη)17 von gut 12 Vgl. Dtn 12,10; 19,3; 32,8; Jer 3,18; 12,14; Sach 8,12; Sir 44,21 (HB); 1QHa IV,15; 1QS IV,26; XI,7; 1QSb III,28; 1Q34 Frgm. 3 II,3; 4Q299 Frgm. 3 II,14; 4Q417 Frgm. 2 I,16. 13 Vgl. weiterhin mit dem Verb ‫( למד‬Pi.) Ps 25,4.5.9; 71,17; 94,10.12; 119,12.26.64.66.68. 108.124; 132,12; 143,10; Jes 48,17; Jer 32,33; Sir 15,20 (HB); 1QHa X,17; 1QM XIV,6; 11QPsa XXIV,8 bzw. mit dem Verb ‫( ירה‬III, Hif.) Ex 4,12.15; 1 Kön 8,36; Jes 2,3 ( par. Mi 4,2); 28,26; 30,20; Hi 36,22; Ps 25,8.12; 27,11; 32,8; 86,11; 119,33.102; 1QS X,13; XI,17; 1QSb III,23; 1QHa XIV,9. 14 Zu Struktur und Gedankengang siehe ausführlich Gilbert, God. 15 Vgl. besonders Gen 1,26–29; 2,7–3,19; 5,1 und 9,2. 16 So die Vermutung von Marböck, Gesetz, S. 56–57; Skehan / Di Lella, Ben Sira, S. 282– 283; Kaiser, Furcht, S. 44. 17 Der Begriff ist von σοφία zu unterscheiden und sollte daher nicht wie u. a. in der Einheitsübersetzung (1980; vgl. auch Schreiner, Sirach, S. 95) mit „Weisheit“ übersetzt werden. Ob in der hebräischen Vorlage ‫„( תבונה‬Klugheit / Einsicht“) stand, wie es die Parallele in Sir 45,5 (HB) nahe legt, oder eher ‫„( דעת‬Erkenntnis“), wofür die Verwendung der Wurzel ‫ ידע‬Gen 3 spricht, ist schwierig zu entscheiden. Mir erscheint aufgrund der vielfältigen Anspielungen von Sir 17 auf Gen 3 (s. u. Anm. 37) die Rückführung auf ‫ ידע‬plausibler; so auch Segal, ‫ספר‬, S. 103.

„Das Gesetz des Lebens“

113

und böse beschreibt. Anders als für den Verfasser von Gen 3,5–6 gehört für Ben Sira Erkenntnis bzw. die Fähigkeit zur Erkenntnis schöpfungsbedingt (und d. h. nicht als Folge eines „Sündenfalls“) zum Menschen.18 Fasst man die anthropologischen Ausführungen in 17,1–10 zusammen, so lassen sich diese auf die Aussage verdichten: Der Mensch ist ein von Gott geschaffenes, endliches, mittels seiner Gottesebenbildlichkeit und seiner gottgegebenen Reflexionsfähigkeit ausgestattetes, dabei auf Gott bezogenes Wesen, das angesichts der Schöpfungswerke zum Gotteslob aufgerufen ist.19 Die betonte Voranstellung des Prädikats προσέθηκεν („er fügte hinzu“) in V. 11a zeigt aber, dass die ἐπιστήμη, von der Ben Sira hier spricht, nicht identisch ist mit der in V. 7 thematisierten. Vielmehr geht es in V. 11a um eine besondere, zusätzlich von Gott verliehene ἐπιστήμη. Entsprechend dem für die semitische Dichtung kennzeichnenden Parallelismus membrorum, der auch die Poesie Ben Siras bestimmt, wird V. 11a durch V. 11b erläutert. In V. 11b liegt nun eine eindeutige geschichtstheologische Motivik vor, insofern die Begriffe νόμος ζωῆς und κληροδοτέω auf die Gabe der Tora am Sinai verweisen.20 Mit dem Begriff νόμος ζωῆς, als dessen hebräische Vorlage aufgrund der Parallele in Sir 45,5 die Wendung ‫ תורת חיים‬anzunehmen ist und der im biblischen Schrifttum nur in Sir 17,11, Sir 45,5 belegt ist,21 definiert Ben Sira die Erkenntnis schenkende und Leben ermöglichende Funktion der Sinaitora. Vorläufer dieser Definition finden sich in den deuteronomisch-deuteronomistischen Gleichungen von Toraobservanz und erfülltem, d. h. langem und gesegnetem Leben,22 in den Korrelationen von göttlichen Geboten und glückendem Leben im Ezechielbuch23 sowie in weisheitlichen Paränesen24 zur Leben erhaltenden und gestaltenden Kraft elterlicher oder von Weisen erteilter Tora. Wie Dtn 30,15–20 geht Ben Sira von der Entscheidungsfähigkeit des 18 Vgl. auch Hi 15,7; 4Q504 Frgm. 8 recto 5 und 4Q305 II,2 und dazu Witte, Urgeschichte, S. 86, sowie in der schwer zu datierenden (wohl erst aus dem Mittelalter stammende) Weisheitsschrift aus der Kairoer Geniza (WKG) VIII,14; XI,9.17 (Rüger, Weisheitsschrift). Ein drittes Modell zur Vermittlung der Erkenntnis von gut und böse deutet sich in 4Q417 Frgm. 2,I,6–8 an, demzufolge die Erkenntnis dem „Einsichtigen“ (‫ )מבין‬über die Offenbarung des „Geheimnisses des Gewordenen / des Seins“ (‫ )רז נהיה‬ermöglicht wird (siehe dazu Goff, Wisdom, S. 36). 19 Zur Struktur der Anthropologie Ben Siras siehe Kaiser, Mensch, und Wischmeyer, Theologie. 20 Auch V. 12 bezieht sich auf den Sinaibund, und nicht auf den Noahbund (vgl. Gen 9,16), der bereits in Sir 17,4 eingespielt wird; vgl. dazu auch Marböck, Wandel, S. 87; Witte, Mose (in diesem Band S. 148–149). 21 Vgl. noch die syrische Version von Sir 39,1 (nmwsʼ dḥjʼ – G: νόμος ὑψίστου, La: lex Altissimi) und 4 Esr 14,30 (lex vitae). Das nach 70 n. Chr. entstandene Vierte Esrabuch geht wohl auf eine semitische Vorlage zurück, ist aber lediglich auf Latein, Syrisch, Äthiopisch, Arabisch und Armenisch erhalten. Die offizielle Vulgata bietet es im Anhang. 22 Vgl. Dtn 4,1–40; 5,33; 6,24; 8,1; 16,20; 30,15–20; 32,46–47; Neh 9,29. 23 Vgl. Ez 18,5–9.19; 20,11.21; 33,15 (‫חקות החיים‬, LXX: προστάγματα, vgl. SprLXX 14,27). 24 Vgl. Spr 4,13; 6,23; 13,13–14.

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Menschen und von der menschlichen Freiheit, das Gesetz halten zu können, aus (Sir 15,11–17).25 Die Wendung ‫ תורת חיים‬könnte eine systematisierende Eigenbildung Ben Siras sein,26 der sich insgesamt darum bemüht, angesichts des sich im 3. / 2. Jh. v. Chr. ausbreitenden Hellenismus die jüdische Tradition zu bewahren und diese in kritischer Auseinandersetzung mit hellenistischer Kultur und Philosophie (v. a. der Stoa) auch begrifflich zu profilieren. Wichtig für das Verständnis von 17,11 ist die Beachtung des universalen Horizontes: Es geht um den gesamten Kosmos, den Gott geschaffen und geordnet hat (16,26; 17,1; 18,1) und dem er als der allein „ewig Lebende“ (ὁ ζῶν εἰς τὸν αἰῶνα)27 gegenübersteht (18,1). Bei aller Nähe, die dieser doxologisch ausgerichtete Abschnitt über die biblischen kosmotheologischen Parallelen (Gen 1,1–2,4; Ps 104; Hi 38,1–41,26) hinaus zu stoischen Vorstellungen einer vom göttlichen Logos durchwalteten und von der göttlichen Providenz (πρόνοια) gesteuerten Welt aufweist,28 bewahrt Ben Sira die biblische Diastase von Gott und Welt, von Schöpfer und Geschöpf. Aufgrund des schöpfungstheologischen Kontextes in 16,24–17,10 einerseits, der auf Israel bezogenen Motivik in 17,12–14 andererseits sowie des doppelten, unbestimmten Zielobjekts der Gabe der Erkenntnis und des „Gesetzes des Lebens“ (αὐτοῖς) in V. 11 liegt dann ein synthetisches Verständnis des Ausdrucks νόμος ζωῆς nahe. D. h. „das Gesetz des Lebens“ ist zunächst in der Fluchtlinie der Aussagen von Dtn 4–5 und Dtn 30,15–20 die Israel gegebene Tora, die besondere Erkenntnis schenkt.29 Sie liegt verdichtet im Pentateuch und nochmals komprimiert im Dekalog (Ex 20; Dtn 5) und im Šemaʽ Jiśrāʼel (Dtn 6,4–5) vor. In diesem, auf Israel bezogenen und mit der Figur des Mose30 verbundenen Sinn erscheint der Begriff „Gesetz des Lebens“ in Sir 45,5 und in der damit vergleichbaren Formulierung im wohl etwas jüngeren Baruchbuch (Erster Baruch): 25 Der Enkel Ben Siras spricht demgemäß im Prolog – in hellenistischer Diktion – von der „gesetzesgemäßen Lebensweise“ (ἔννομος βίωσις, Sir 0,14) bzw. vom „gesetzesgemäß leben“ (ἐννόμως βιοτεύειν, Sir 0,36). Gleichwohl ist die Ausfüllung des Begriffs νόμος auch beim Enkel Ben Siras genuin jüdisch – und das gilt ebenso für das noch stärker hellenistisch geprägte Vierte Makkabäerbuch (1. Jh v. Chr. / 1. Jh. n. Chr.), wenn es den Makkabäer Eleazar als „einen mit dem Gesetz zusammenklingenden Menschen und Philosophen eines göttlichen Lebens“ (σύμφωνε νόμου καὶ φιλόσοφε θείου βίου) preist (4 Makk 7,7; vgl. auch 6,18). Zur paganen griechischen Vorstellung vom νόμος als Regelung des βίος siehe z. B. Plato, leg. 663a (Bultmann, ζάω, S. 837) und dazu ausführlich Weber, Gesetz, S. 212–277. 26 So auch Reiterer, Akzente. 27 Zu dieser Prädikation vgl. Tob 13,2; Dan 12,7; Dan 4,34 (nach der Übersetzung des Theodotion). 28 Siehe dazu auch Kaiser, Rezeption; Marböck, Gerechtigkeit, und ausführlich Wicke-­ Reuter, Providenz. 29 Zur „Gleichung“ von Erkenntnis und Tora bzw. Weisheit und Tora siehe weiterhin Sir 15,1; 19,20 (G); 21,11 (G); 31(34),8 (G); 38,34–39,1 (G); 45,5; Bar 4,1 und 4Q525 Frgm. 2 II,3–4 („Glücklich ist der Mensch, der Weisheit erlangt […] und in der Tora des Höchsten wandelt“), aber auch WKG II,12 (s. Anm. 18). 30 Siehe dazu Witte, Mose (in diesem Band S. 123–149).

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Höre Israel die Gebote des Lebens (ἐντολάς ζωῆς), seid aufmerksam, Klugheit (φρόνησιν) zu erlangen. (Bar 3,9)31

Sir 17,11 geht aber einen Schritt weiter: Diese Israel exemplarisch offenbarte Tora zielt über Israel auf alle Menschen. Sie verbindet, wie das Motiv des unveräußerbaren Erbes (‫ )נחלה‬zeigt, bleibend und über die Generationen hinweg Gott und Mensch und hat dementsprechend eine universale Bedeutung und eine kosmische Dimension. Letzteres ergibt sich auch aus der von Ben Sira vorgenommenen Identifikation der Tora mit der kosmischen Weisheit, die, von Gott ausgehend und die Welt durchziehend, auf dem Zion und in der Tora Fleisch angenommen hat (Sir 24).32 Schöpfung und Geschichte, die ihre Einheit in dem hinter beiden stehenden und beide strukturierenden Gott besitzen, sind hier über die Tora als dem „Gesetz des Lebens“ miteinander verknüpft. Toratheologie wird zum Dreh- und Angelpunkt einer Schöpfungs- und Geschichtstheologie, die selbst, wie der Rahmen in Sir 17,9 und 17,14 zeigt, ihren angemessenen Ausdruck im Gotteslob und in einem nach den Regeln der Tora gestalteten Sozialverhalten hat. Wie das „Gesetz des Lebens“, bezogen auf den Pentateuch selbst hymnisch ausklingt (vgl. Dtn 32,1–43), und sich in Gestalt des Deuteronomiums als Lebensordnung des idealen Israel lesen lässt, so ruft Ben Sira mit seiner Lehre (16,24–25) zum Lobpreis (17,9–10) und zu einem lebensfördernden Handeln in der Gemeinschaft (17,14) auf, worin sich erfülltes Leben verwirklicht. So zeigt sich in Sir 17,1–14 komprimiert die gesamtbiblische Vorstellung vom Leben als Gabe Gottes und als Aufgabe des Menschen. Natürlich wurzelt Ben Sira bei seinen Ausführungen in Sir 17 in der altisraelitischen Tradition – und dennoch klingt seine Rede vom „Gesetz des Lebens“, zumal in der Gestalt der griechischen Übersetzung, auch wie die jüdische Alternative zur stoischen Vorstellung von dem einen, Menschen und Götter verbindenden νόμος, der den als Megalopolis vorgestellten Kosmos durchwaltet und als νόμος τῆς φύσεως oberste sittliche Norm ist.33 Dabei ist wie bei den 31 Vgl. auch die Syrische Baruchapokalypse (2 Bar, entstanden zwischen 70 und 132 n. Chr.): „Herr, mein Gott, du erleuchtest zu aller Zeit die, die sich verständig verhalten, und dein Gesetz ist Leben (nmwsk ḥjʼ hw), und deine Weisheit ist Aufrichtigkeit“ (2 Bar 38,2) und 4 Esr 14,30. 32 Siehe dazu auch Mack, Logos, S. 23–27; Marböck, Gesetz, S. 57–49; ders., Gerechtigkeit, S. 189; Wicke-Reuter, Providenz, S. 160–165; 206–219. 33 Vgl. dazu die entsprechenden Texte von Zenon, Frgm. 162 (SVF I,162), Chrysipp, Frgm. 323; 333–339 (SVF III,323; 333–339), Kleanthes, Frgm. 537 (SVF I,537); siehe dazu Weber, Gesetz, S. 431–437 und 447–449. Das Motiv von der Welt als vom göttlichen Logos durchströmter „Megacity“ dürfte auch für eine am Phänomen Stadt interessierte Praktische Theologie und Religionspädagogik nicht ohne Bedeutung sein; vgl. dazu Heimbrock, City-­ Religion. An dieser Stelle möchte ich die Gelegenheit nutzen, dem Kollegen für das an der Universität Frankfurt / M. im WS 2004 / 5 gemeinsam durchgeführte Seminar „Die Stadt als Realität und Symbol“ zu danken, in dessen Mittelpunkt die Erkundung der Stadt als theologischer Text stand.

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kosmologischen Parallelen zwischen Ben Sira und der Stoa zu betonen, dass Ben Sira strikt am biblischen Gegenüber von Gott und Gesetz festhält: Das Gesetz ist Gabe Gottes, aber – entgegen der stoischen Identifikation von Zeus und natürlichem Weltgesetz34 – nicht Gott. Vor dem Hintergrund der Gleichsetzung der Tora mit der kosmischen Weisheit (Sir 24,23), die Ben Sira – unter Aufnahme stoischer Logos-Vorstellungen und einzelner Elemente aus den Hymnen auf die seit den Ptolemäern zur All-Göttin aufgestiegene Isis – als weltordnende und lebensstiftende Größe beschreibt,35 steht der Ausdruck νόμος ζωῆς weiterhin für den „Bauplan“ des Lebens. D. h. die Tora schenkt Leben und beschreibt Leben. Für dieses doppelte Verständnis des Begriffs „Gesetz des Lebens“ sprechen nicht nur der Gedankengang von Sir 17 und der aufgezeigte traditionsgeschichtliche Hintergrund, sondern auch der kompositionelle Aufbau der Tora,36 die mit der Erzählung vom Ursprung allen Lebens (Gen 1–9) einsetzt, aus der Ben Sira nicht zufällig gerade in Sir 17 reichlich zitiert.37 Für die griechische Gestalt von 17,11 wird dieses Verständnis vom „Gesetz des Lebens“ noch dadurch unterstrichen, dass der Begriff ζωή, deutlicher als das für den hebräischen Text anzunehmende Wort ‫ חיים‬auf den Aspekt der physischen Lebendigkeit verweist – im Unterschied zum Begriff des βίος, der die individuelle Gestaltung der ζωή, die Lebensweise oder die Lebenszeit bezeichnet.38 Göttlichkeit des νόμος siehe bereits Pindar, Frgm. 169a1; Plato, epist. 8,354c; Aristoteles, pol. 1287a18–30; Zenon, Frgm. 162 (SVF I,162); Chrysipp, Frgm. 314 (SVF III,314). Weitere Belege bei Kleinknecht, νόμος, S. 1028, und zur Sache Wicke-Reuter, Ben Sira, S. 271–277, die auch auf die Parallele zwischen Sir 17,1–14 und der Stoa hinsichtlich der „Trias von Einsicht, Lob und Nachfolge des göttlichen Gesetzes“ hinweist (S. 277, Zeus-Hymnus des Kleanthes [SVF I,537,37–39]). 35 Vgl. v. a. die Isis-Aretalogie von Kyme (übersetzt in Leipoldt / Grundmann, Umwelt, S. 96–98) und zur „Isis-Religion“ insgesamt Bergman, Isis; Merkelbach, Athletik. Marböck hat vor allem auf folgende Motivparallelen zwischen den Aretalogien auf Isis und dem Lobpreis der Weisheit in Sir 24 aufmerksam gemacht (ders., Wandel, S. 49–54): (1) ehrwürdiges Alter der Isis / der Weisheit, (2) kosmologische Funktion der Isis / der Weisheit, (3) Herrschaftsanspruch der Isis / Weisheit, (4) kultische Funktion der Isis / Weisheit und (5) Isis als Gesetzgeberin / die Weisheit als Gesetz. 36 Dass Ben Sira in seinen Reflexionen immer wieder dem Aufbau der Tora folgt, zeigt sich auch in dem zweiten Hauptteil seines Buchs, der mit dem Lob des Schöpfers einsetzt (Kap. 42,15–43,33), und dann gemäß der Chronologie der Tora (und der Neviim) ausgewählte „Helden“ der alttestamentlichen Überlieferung von Henoch bis Nehemia (Kap. 44,1– 49,16) präsentiert. Zum Abschluss des „Lobs der Väter“ mit Joseph, Sem, Seth, Enosch und Adam siehe Witte, Gebeine (in diesem Band S. 171–187). 37 Vgl. Sir 17,1 mit Gen 2,7; 3,19.23; Sir 17,2–3 mit Gen 1,26–28; 5,1–3; 6,3; 9,2; Sir 17,4 mit Gen 1,28; 9,2; Sir 17,7 mit Gen 2,17; 3,1–6.22; (Sir 17,16 [G-II] mit Gen 6,5; 8,21); Sir 17,19–20 mit Gen 6,11–13; (Sir 17,21 [G-II] mit Gen 6,8; 7,23; 8,1); Sir 17,30 mit Gen 3,22; 6,3; Sir 17,32 mit Gen 2,7; 3,19.23; siehe dazu auch Wright, Interpretation, S. 377–380. 38 Bultmann, ζάω. Allerdings kann in der griechischen Übersetzung des Sirachbuchs die Differenzierung zwischen βίος und ζωή (vgl. Sir 29,21–22 gegenüber 40,29 und 48,23) auch 34 Zur

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Wenn der νόμος ζωῆς, den Gott der Menschheit vermittelt über Israel gegeben hat, dann auch der νόμος ist, gemäß dem das Leben abläuft, dann lässt sich der Ausdruck mit Rücksicht auf die Beschreibung der Ordnung der Schöpfungswerke in Sir 16,24–31 auch im Sinn von „Schöpfungsordnung“ verstehen.39 Wirkungsgeschichtlich blieb Sir 17,11 – wie überhaupt die v. a. in Kap. 1; 17 und 24 angelegte Universalisierung der Tora, die in Ps 19 einen Vorläufer, wenn nicht Zeitgenossen von Ben Sira hat – nicht ohne Folgen.40 So hat die in Sir 17,11 angelegte Mehrdimensionalität in der Zuordnung von Gesetz und Leben, nach der die Tora zum einen eine die lebendige Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch sowie zwischen Mensch und Mitmensch begründende, regelnde, erschließende und immer wieder neu verheißende Größe ist, zum anderen eine „kosmische Lebensordnung“ darstellt, ihre Fortsetzung und eschatologische Zuspitzung in der frühen rabbinischen Toratheologie erhalten. So heißt es z. B. in einer Rabbi Hillel (wohl spätes 1. Jh. v. Chr. bis frühes 1. Jh. n. Chr.) zugeschriebenen Sentenz: Wer Tora mehrt, mehrt Leben […] wer Worte der Tora sich erworben hat, hat das Leben der kommenden Welt erworben. (mAv II,viii)41

Die hinter diesem Spruch stehende Ausweitung des Lebensbegriffs auf das ewige Leben ist gleichwohl typisch für ein eschatologisches Verständnis der Begriffe ‫ חיים‬und ζωή in jüdischen Schriften der hellenistisch-römischen Zeit42 und spiegelt sich entsprechend auch im Neuen Testament, zumal im Johannesevangelium wider.43 Vermutlich ist der Zusatz in Sir 17,11c, der dem Gesetz zugunsten einer Synonymität aufgegeben sein, wenn ζωή für „Lebensunterhalt“ steht (Sir 4,1; 31,25); siehe dazu Bultmann, ἔλεος. 39 Vgl. Marböck, Gesetz, S. 57; 62. 40 Auch wenn das Sirachbuch keinen Eingang in den Tanach gefunden hat, wird es im babylonischen Talmud als „quasikanonische“ Schrift zitiert. Zu seiner in unterschiedlichen Text- und Sprachgestalten erfolgten Rezeption im Christentum und den damit verbundenen hermeneutischen Fragen siehe Gilbert, L’Ecclésiastique, und Böhmisch, Textformen. Zur fortgesetzten Universalisierung der Tora vom „Volksgesetz“ zum „Weltgesetz“ im hellenistischen Judentum nach Ben Sira siehe ausführlich Weber, Gesetz, S. 308–322, der aber merkwürdigerweise Sirach selbst nicht behandelt. 41 Bamberger, ‫פרקי אבות‬, S. 24–25; vgl. auch mAv VI,viii; bHag 3b oder WKG I,17–18 (s. Anm. 18). 42 Vgl. PsSal 14,1–3.10; 4 Esr 7,13.21.48.82.129 (Zitat aus Dtn 30,19!); 1 Hen 62,16 (mit dem schönen Bild vom „Kleid des Lebens“, vgl. Jes 61,19); TestAss 6; bBer 28b und dazu Bertram, ζάω. 43 Vgl. Joh 5,39; aber auch Lk 10,25–27. Fügt sich die Wendung von den „lebendigen Worten“ (λόγια ζῶντα) in Apg 7,38 in den deuteronomisch-deuteronomistischen Sprachgebrauch der lebensstiftenden Gebote (der Tora), so haben die Begriffe „Gesetz“ und „Leben“ und deren jeweilige Zuordnung vor allem in den Interpretationen des Christusereignisses bei Paulus und Johannes bekanntlich eine vollständige Neuqualifikation erhalten. Darauf wie auf die damit verbundenen Fragen zum Verständnis von Christus als τέλος des Gesetzes (Röm 10,4) oder dem Evangelium bzw. Christus als λόγος τῆς ζωῆς (Phil 2,16 bzw. 1 Joh 1,1) kann

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die Funktion zuweist, den Menschen in seiner Bezogenheit auf Gott zu verorten und eindringlich die Todverfallenheit der jetzt Existierenden (θνητοὶ ὄντες ὑπάρχουσιν) vor Augen zu führen, durch eine solche Eschatologisierung des Lebensbegriffs motiviert.44 Jedenfalls zeigen die Zusätze griechischen Langtextes (G-II) auch an anderen Stellen des Sirachbuchs eine Eschatologie, die im Gegensatz zu der konservativen Vorstellung Ben Siras vom Tod als Grenze mit einem Leben nach dem Tod rechnet.45 Ebenso findet die bei Ben Sira mittels der Gleichsetzung von Tora und kosmischer Weisheit angelegte Universalisierung und Hypostasierung des Gesetzes in der frühen rabbinischen Theologie ihre Zuspitzung, wenn es z. B. heißt, dass bereits Abraham die ganze Tora ausübte (‫)עשה‬, bevor sie gegeben war (mQid IV,xiv),46 und wenn die Tora als „Werkzeug der Schöpfung“ (‫כלי חמדה‬ ‫שבו נברא עולם‬, mAv III,xviii) oder als Gegenstand des Studiums Gottes selbst (bAS 3b) erscheint: R. Jehuda sagte ja im Namen Rabhs: Zwölf Stunden hat der Tag; in den ersten drei Stunden sitzt der Heilige, gepriesen sei er, und befaßt sich mit der Tora; in den anderen sitzt er und richtet die ganze Welt, und sobald er sieht, daß die Welt sich der Vernichtung schuldig macht, erhebt er sich vom Stuhle des Rechtes und setzt sich auf den Stuhl der Barmherzigkeit; in den dritten sitzt er und ernährt die ganze Welt, von den gehörnten Büffeln bis zu den Nissen der Läuse; in den vierten sitzt der Heilige, gepriesen sei er, und scherzt mit dem Levjathan […].47

3. „Leben“ und „Religion“ bei Ben Sira / Jesus Sirach Sir 17 bringt die von Ben Sira vertretene Korrelation von Religion und Leben auf den Punkt. Dabei gilt natürlich für Ben Siras Rede vom „Gesetz des Lebens“ – wie für die Verwendung des Begriff des Lebens (und der Religion!) überhaupt –, dass immer schon ein bestimmtes Verständnis von Leben

in diesem Rahmen nicht eingegangen werden; vgl. dazu klassisch Hübner, Gesetz, sowie Schnelle, Paulus, S. 516–533 (besonders S. 531); Bachmann, Christus, aber auch Kaiser, Furcht, S. 52–66. 44 Ein solches Verständnis scheint auch hinter der Auslegung von Sauer zu stehen: „Dieses Leben unter dem Gesetz zeigt aber auch gleichzeitig, daß das Tun des Menschen vorläufig und vergänglich ist“ (ATD.A 1, S. 142). Segal, ‫ספר‬, S. 106, vermutet eine christliche Herkunft des Zusatzes. 45 Vgl. Sir 17,26b; 24,18cd; (48,11b). 46 Vgl. dazu bereits das Abrahamporträt Ben Siras (44,19–21), in dem nach der griechischen Übersetzung Abraham den νόμος ὑψίστου hielt (HB bietet unspezifisch den Plural ‫„[ מצות‬Gebote“] – eine solche Generalisierung im Gebrauch des Begriffs νόμος findet sich auch sonst in der LXX; vgl. Ex 16,28; 18,16.20; Jes 24,5 und dazu Kleinknecht, νόμος, S. 1039–1040), und Jub 24,11, das die aus dem Umfeld der Pentateuchredaktion stammenden Zusätze in Gen 18,19 und 26,5 fortschreibt. 47 Zitiert nach Goldschmidt, ‫תלמוד בבלי‬, IX, S. 438.

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vorliegt.48 Bei Ben Sira ist dieses geprägt von dem auch in den protokanonischen Schriften des Alten Testaments vorliegenden Verständnis vom Leben als einer Gabe Gottes, der als Herr des Lebens dessen Anfang und Ende setzt, und dessen Qualität, die sich in Gesundheit, Glück, Frieden und langer Dauer, mit anderen Worten im ‫ שלום‬niederschlägt, von Gottes Segen abhängt (vgl. exemplarisch Dtn 28,3–15 und in Ben Siras Sprache Sir 11,20[22]; 33,17). Als wahres Leben erscheint das Leben in der Gottesgemeinschaft. Damit ist aber eine unmittelbare Zuordnung von Leben und Religion verbunden. Denn die Gottesgemeinschaft als Zentrum und als Ziel des Lebens wird, wie Ben Sira in Aufnahme und Weiterführung priesterlicher und tempeltheologischer,49 weisheitlicher50 sowie deuteronomischer Traditionen51 formulieren kann, durch den Kult, die Weisheit und die Tora vermittelt. Nun stehen bei Ben Sira der Tempel (‫ )בית‬und die Schule (‫)בית מדרש‬, heiliges Spiel und heiliger Text nicht exklusiv neben- oder gar gegeneinander. Die Tora ist die schriftgewordene Weisheit (Sir 24,23). Im vom Hohepriester am Jerusalemer Tempel zelebrierten Gottesdienst ist die Fülle der Weisheit mit allen Sinnen zu spüren (Sir 50).52 In der „Gottesfurcht“ (‫יראת אלהים‬, θεοσέβεια),53 die bei Ben Sira wie auch sonst in den Weisheitsschriften des antiken Judentums Religion im Sinne der praxis pietatis (einschließlich des Schriftstudiums, Sir 32[35],15; 39,1 [G]) meint,54 fließen Weisheit, Toragehorsam und Kult zusammen. Zwischen diesen Größen herrscht ein Wechselverhältnis (vgl. auch Sir 1,11–30 [G]; 19,20 [G]): Gottesfurcht ist Weisheit und empfängt Weisheit; Gottesfurcht äußert sich im Halten der Tora, erhält Tora und erteilt selbst Tora; Gottesfurcht ist Gottesdienst und wird vom Gottesdienst genährt.55 Paradigmatische Verkörperungen dieses Dreiklangs sind die Hohepriester Aaron und Simon, wie sie Ben Sira im „Lob der Väter“ (Kap. 44–49; 50) porträtiert.56 48 Vgl.

pointiert Heimbrock, Leben, S. 406: „Wer Leben sagt, sagt immer gedeutetes Leben.“ 49 Ps 36,9–10; 63,3–4. 50 Spr 3,1–2; 6,23; 13,14. 51 Dtn 30,15–20, vgl. Sir 15,17; 36(33),14; 37,18, aber auch 1Q22 II,5.9. 52 Zum alle Sinne ansprechenden Gottesdienst am Zweiten Tempel sei nur auf die in Sir 50 exemplarisch geschilderten Hör-, Sieh- und Riecherlebnisse verwiesen. 53 Der in der Gräzität vor der LXX gesichert nur in Xenophon, An. II,6,2 belegte Begriff θεοσέβεια, der anstelle des sonst im Griechischen üblichen Wortes für „Frömmigkeit“ εὐσέ­ βεια steht, gibt gut die Wendung ‫ יראת אלהים‬wieder; vgl. Gen 20,11; Ex 18,21; Hi 1,1.8; 2,3; 28,28; Jdt 11,17; Sir 1,25; Bar 5,4; 4 Makk 7,6.22; 15,28; 16,12; 17,15. 54 Eine Ausnahme bildet der Prediger Salomo, bei dem der Begriff ‫ יראת אלהים‬als Ausdruck kreatürlicher Differenzerfahrung (wieder) stärker die Züge eines urtümlichen, numinosen Erschreckens vor der Gottheit angenommen hat. 55 Ähnlich Marböck, Gesetz, S. 59: „Tora und Weisheit bzw. Tora und Schöpfung beleuchten sich gegenseitig.“ 56 Sir 45,6–22 bzw. Sir 50,1–24 (gemeint ist der Hohepriester Simon II., der von etwa 218

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Für Ben Sira gilt eindeutig: Weder kann das Leben die Religion ersetzen noch sind Religion und Leben identisch. Bei Ben Sira sind Religion und Leben – beides Gaben Gottes – klar aufeinander bezogen. Das Leben wird aus der Perspektive der Religion reflektiert. Die Religion, nun verdichtet auf die durch die Tora konstituierte und sich in der Verehrung Jhwhʼs, den Ben Sira deutlicher als die biblischen Autoren vor ihm als „Vater und Herr meines Lebens“ anspricht (23,1.4),57 artikulierende Frömmigkeit erscheint als Schlüssel zum Leben. In diesem Sinn kann im Gefolge Ben Siras in der rabbinischen Theologie die Tora auch als „Weg zum Leben“,58 als „Baum des Lebens“59 oder als „Mittel des Lebens“60 bezeichnet werden. Stärker als seine jüdischen Vorgänger bezieht Ben Sira in das Geflecht von Religion und Leben den Aspekt der Bildung ein. In Weiterführung alttestamentlicher (und altvorderorientalischer) Vorstellungen von Erziehung (‫מוסר‬, παιδεία) versteht er seine eigene Schrift als ein das ganze Leben in seinen unterschiedlichen Phasen, Situationen und Konstellationen umfassendes Programm (Sir 21,13 [G]; 24,30–34 [G]; 39,8 [G]; 50,27). Der Enkel Ben Siras hat dies genau erkannt, wenn er im Prolog seiner Übersetzung schreibt: Nachdem uns Vieles und Großes durch das Gesetz und die Propheten und durch die anderen (Schriften), die ihnen nachfolgten, gegeben worden ist, gehört es sich, darüber Israel wegen (seiner) Bildung und Weisheit zu loben, und weil es sich gehört, dass nicht nur die, die (darin) lesen können, erkenntnisreich werden, sondern auch denen, die das nicht können, als Liebhaber des Lernens beizustehen, und zwar als Lesende und Schreibende, nahm sich mein Großvater Jesus, der sich besonders hingegeben hatte der Lektüre des Gesetzes und der Propheten und der anderen Bücher der Väter und der darin hinreichende Kenntnisse erworben hatte, vor, auch selbst etwas von den Dingen, die sich auf Bildung und Weisheit beziehen, zu schreiben, bis 192 v. Chr. im Amt war, vgl. 3 Makk 2,1; Flav. Jos. Ant. XII,2,5; 4,10; XIII,6,3, und dazu Mulder, Simon, sowie A. Schmitt, Lobgedicht). 57 Vgl. Sir 4,10 (HA); 51,1.10 (Syr); 4Q372 Frgm. 1,16 und dazu Corley, God. 58 Vgl. bHag 3b. 59 Vgl. die Targume Jeruschalmi und Neofiti zu Gen 3,24 und dazu Witte, Urgeschichte, S. 272–273, sowie bNed 62a; bTaan 7a (auf der Basis von Spr 3,18) und viele weitere Belege bei Strack / Billerbeck, Kommentar III, S. 129–132. 60 bQid 30b: „Ebenso sprach der Heilige, gepriesen sei er, zu Jisraél: Meine Kinder, ich habe den bösen Trieb erschaffen, und ich habe die Tora als Mittel [‫חבלנין‬, wörtlich: „Gewürz“] gegen ihn erschaffen; wenn ihr euch mit der Tora befasset, so werdet ihr nicht in seine Hand ausgeliefert […].“ (Übersetzung von Goldschmidt, ‫תלמוד בבלי‬, VI, S. 606); vgl. auch bTaan 7a: die Tora als „Mixtur (‫ )סם‬des Lebens“; oder MekhSh XXXVII,iii,2 (bei Nelson, Mekhilta, S. 164). „Heilmittel (φάρμακον) des Lebens“ kann in Sir 6,16 (G) auch ein guter Freund genannt werden, worin sich die für das Sirachbuch charakteristische Hochschätzung der Freundschaft zeigt (vgl. dazu Reiterer, Freundschaft).

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damit die Liebhaber des Lernens und die darin Fortgeschrittenen um so besser vorankommen durch eine dem Gesetz gemäßen Lebensweise. (Sir 0,1–14)

Insofern ist Ben Siras ‫ תורת חיים‬bzw. νόμος ζωῆς auch ein „Gesetz für das Leben“, das die Tradition der altisraelitischen und altorientalischen Weisheit ebenso fortschreibt, wie es mit den klassisch griechischen Weisheitslehrern in ein interkulturelles Gespräch tritt, deren Sentenzen der römische Rhetor Quintilian (1. Jh. n. Chr.) als vitae leges bezeichnete.61 Wie im Rahmen der Kosmologie, des Gesetzesbegriffes, der Form, Geschichte zu schreiben,62 oder der Ethik nimmt Ben Sira auch mit seinem Bildungsverständnis am hellenistischen Diskurs seiner Zeit teil. Hier bringt er kraftvoll die jüdische Stimme in die Diskussion über „das erste der schönsten Güter, das den Menschen zuteil wird“ (Plato, leg. 644b) ein.63 Sein Konzept richtet sich primär wohl an junge Männer der Jerusalemer Oberschicht, ist aber, wie nicht zuletzt die universale Perspektive von Sir 17,11 und die Vorstellung von der jedem Menschen in der Schöpfung verliehenen Fähigkeit zur Bildung (παιδεία, Sir 16,25) und Erkenntnis (ἐπιστήμη, Sir 17,7) zeigen, auf alle Menschen bezogen. Ihr eigentliches Ziel besitzt die siracidische Pädagogik in der Anleitung zur Gottesfurcht – oder anders ausgedrückt: Ben Sira lehrt ein „Gelebtes Gesetz des Lebens“, das die Phänomene der Welt als Spuren einer von Gott geschriebenen Geschichte wahrnehmen lässt.

61 Quintilian,

V,11,39 (bei Althoff / Zeller, Worte, S. 158). Sir 44–49; 50 und dazu Lee, Studies. 63 Siehe dazu ausführlich Wischmeyer, Kultur, S. 174–200, und Ueberschaer, Weisheit. 62 Vgl.

„Mose, sein Andenken sei zum Segen“ (Sir 45,1) Das Mosebild des Sirachbuchs1 „Seine [sc. Moses] Geburt war unordentlich, darum liebte er leidenschaftlich Ordnung, das Unverbrüchliche, Gebot und Verbot. Er tötete früh im Auflodern, darum wusste er besser als jeder Unerfahrene, dass Töten zwar köstlich, aber getötet zu haben höchst grässlich ist, und dass du nicht töten sollst. Er war sinnenheiß, darum verlangte es ihn nach dem Geistigen, Reinen und Heiligen, dem Unsichtbaren, denn dieses schien ihm geistig, heilig und rein.“ (Thomas Mann, 1943 / 1944) 2 Abstract: This article offers an interpretation of the references to Moses in Sir 45:1–5; 45:15; 46:1, 7 and 24:13. It thereby teases out the specific differences in the various versions of the book of Ben Sira / Jesus Sirach (H, G, Syr, La / Vg) and analyses the composition and the understanding of history in the entire “Praise of the Fathers” (Sir 44–49; 50). For Ben Sira, Moses is primarily the exemplar of piety, that is the God-loving teacher of Torah, and sec­ ondly a wonder-working man of God, a priest and a prophet. Finally, the images of Moses in selected Jewish-Hellenistic scriptures are compared (4 Macc, Wis, Artapanus, Eupolemus, Ezechiel, Philo Alexandrinus, Flavius Josephus).

An der Art und Weise, wie einzelne biblische Figuren innerhalb und außerhalb der biblischen Überlieferung stilisiert werden, lassen sich die Theologie und die Anthropologie ebenso wie das Geschichts- und das Selbstverständnis der jeweiligen Verfasser ablesen. Diese Beobachtung gilt in besonderer Weise für das Mosebild. Von den Quellen- und Redaktionsschichten des Pentateuchs 3 bis hin zu den modernen Moseparaphrasen 4 korreliert die Darstellung Moses mit 1 Hans-Christoph

Schmitt zum 60. Geburtstag (2001). Gesetz, S. 961. 3 Die literarkritischen Ergebnisse (nicht die redaktionsgeschichtlichen Beurteilungen) der neueren Urkundenhypothese werden hier im Wesentlichen vorausgesetzt, d. h. im Bereich der Moseüberlieferung des Pentateuchs lassen sich eine priesterschriftliche und eine deutero­ nomisch-deuteronomistische Schicht unterscheiden, von denen weiterhin zwei nicht-priesterschriftliche und nicht-deuteronomistische Schichten zu differenzieren sind. Diese werden hier im Anschluss an die traditionelle Nomenklatur als „elohistisch“ und „jahwistisch“ bezeichnet. Auf die Frage, inwieweit diese Schichten Quellen und / oder Redaktionen darstellen, kann hier nicht eingegangen werden. 4 Vgl. exemplarisch Freud, Moses (siehe dazu das Themenheft „Sechzig Jahre ,Der Mann 2 Mann,

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einem bestimmten Gottes- und Menschenbild sowie implizit oder explizit mit dem eigenen Existenzverständnis. Zwar lässt sich aufgrund der Umbrüche in der neueren Pentateuchkritik und der umfassenden Neubewertung der entsprechenden literar- und redaktions­ kri­tischen Befunde die Profilierung Moses in der priester(schrift)lichen, „jah­ wistischen“, „elohistischen“ und deuteronomisch-deuteronomistischen Schicht nicht mehr so einlinig darstellen wie noch in der klassischen Darstellung bei Gerhard von Rad (1960).5 Dennoch besteht zumindest hinsichtlich der Differenzierung zwischen dem Mose der priester(schrift)lichen und der deuteronomisch-deuteronomistischen Texte ein gewisser Forschungskonsens. So steht im Mittelpunkt der priester(schrift)lichen Mosetexte des Pentateuchs Mose als der erste Empfänger der Offenbarung des Jhwh-Namens (vgl. Ex 6,2–3), als der einzige Mittler zwischen Gott und Mensch (vgl. Ex 6,6–13*) bzw. als der institutionalisierte Repräsentant Jhwhʼs und der Stifter des sühneschaffenden Opferkultes (vgl. Lev 9–10). Hingegen konzentrieren sich die deuteronomisch-­ deuteronomistischen Mosetexte auf die Darstellung der Funktion als Stellvertreter des sündigen Israel (vgl. Dtn 9,18–29; Ex 32,32; Num 11,11–17),6 als unvergleichlichen Propheten (vgl. Dtn 18,15–22; 34,10–12) 7 und als verbindlichen Ausleger des im Dekalog verkündeten Gotteswillens (vgl. Dtn 5). Theologische Korrelate dieser Mosebilder sind Gott als der dem Menschen Sühne Schaffende und damit Heil und Lebensraum Schenkende (P) bzw. Gott als der die Geschichte Qualifizierende und absolute Gerechtigkeit Fordernde wie selbst Wahrende (D). Sofern an einer „elohistischen“ und einer „jahwistischen“ Pentateuchschicht festgehalten wird, kann für diese Mose als der charismatische Führer (vgl. Ex 3,9–14; Num 11,24–25, „E“) bzw. als der Bote und Deuter (vgl. Ex 7,16–17, „J“) sowie Fürbitter (vgl. Ex 8,25–6, „J“) bestimmt werden.8 Dem entspricht dann die Vorstellung von Gott als dem Transzendenten und Unverfügbaren („E“) bzw. Gott als dem, der die Geschichte Israels und der Völker lenkt („J“).9

Moses‘. Zur Religionskritik von Sigmund Freud“, WzM 51 / 4 [1999], S. 183–251); Buber, Moses, oder in jüngerer Zeit Assmann, Moses. 5 Nach von Rad, Theologie I, S. 302–308, ist Mose bei J „ein inspirierter Hirte“, bei E „ein Prophet“, im Dtn „leidender Mittler“ und bei P der „allein für das Gespräch mit Jahwe freigestellt(e)“. Zu älteren Einordnungen siehe Smend, Mosebild, und Osswald, Mose. Zur Frage nach dem historischen Mose vgl. Smend, Mose; Görg, Beziehungen, S. 143–145, und Wehrle, Moses. 6 Vgl. dazu zuletzt Schmitt, Erzählung, S. 249–250. 7 Vgl. dazu exemplarisch van Seters, Life, S. 462. 8 Van Setersʼ Profilierung seines „spätjahwistischen“ Moses als leidender Stellvertreter und exemplarischer Führer Israels (vgl. Life, S. 462–464) beruht auf teilweise recht eigenwilligen literar- und redaktionsgeschichtlichen Entscheidungen. 9 Vgl. zu den Mosebildern in der neueren Pentateuchforschung Zenger, Mose; Coats, Moses.

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Charakteristisch für diesen theologischen Indikatoraspekt ist das Mosebild des Sirachbuchs. Als eines der ältesten jüdischen Dokumente, das den alttesta­ mentlichen Kanon makrokompositionell voraussetzt,10 verarbeitet sein um 180 v. Chr. in Jerusalem11 wirkender Verfasser die israelitisch-jüdische Moseüberlieferung. In weisheitlich-pädagogischer Absicht komprimiert er jene auf bestimmte Gesichtspunkte und vermittelt sie an ein Judentum, das sich in intensiver Auseinandersetzung mit der griechisch-hellenistischen Kultur befindet. Dabei spricht aus den Mosetexten des Sirachbuchs eine eigenständige Theologie, die auf eine Stärkung der jüdischen Identität inmitten der ethisch und religiös pluralen hellenistischen Umwelt zielt. Der Interpretation des Mosebildes des hebräischen Sirachbuchs und der hinter diesem Bild stehenden Tradition und Theologie gelten die folgenden Ausführungen. Dabei ist aufgrund des bis heute nur fragmentarisch vorliegenden hebräischen Textes des Sirachbuchs (H) zwangsläufig auch immer wieder die um zwei Generationen jüngere griechische Übersetzung (G) und die syrische Version (Syr) zu berücksichtigen. Die griechische Übertragung des Enkels Ben Siras und die syrische Übersetzung sind profilierte Versuche, den hebräischen Text an einen anderen kulturellen Kontext zu vermitteln. Dabei spiegeln sie den von Kontinuität und Diskontinuität geprägten Transformationsprozess der Moseüberlieferung in gesteigertem Maß wider. Sie verfügen über ein je eigenes Mosebild und dementsprechend über eine je eigene Theologie. Auch diese gilt es zumindest punktuell zu skizzieren.

1. Die Mosetexte des Sirachbuchs Für die Erhebung des Mosebildes des Sirachbuchs stehen im Wesentlichen vier Texte im Rahmen des „Lobs der Väter“, einer die Heilsgeschichte Israels am Beispiel ausgewählter alttestamentlicher Einzelgestalten illustrierenden „Gemäldegalerie“12 (Sir 44–49; 50), zur Verfügung. Das Hauptgewicht besitzt die Moseperikope in 45,1–5. Hinzukommen die Erwähnungen Moses im Lobpreis Aarons in 45,15 bzw. Josuas in 46,1 und 46,7. Zusätzlich findet sich eine namentliche Nennung Moses im Preislied auf die kosmische Weisheit in Kap. 24. Dieser Text liegt bisher nur in G und Syr sowie in den davon abhängigen Tochterübersetzungen vor, so dass hier die mutmaßliche hebräische Vorlage vollständig rekonstruiert werden muss. Schließlich begegnet in 16,14(15) eine 10 Siehe

dazu Witte, Kanon, in diesem Band, S. 39–58. Sir 50,27 (G) sowie 24,11 (G) und 36,13 (H). 12 Reuss, Geschichte, S. 581. Zur formgeschichtlichen Einordnung von Sir 44–50 vgl. Lee, Studies, der umfassend die Anwendung des griechisch-hellenistischen Gattungsbegriff des Enkomions (ἐγκῶμιον) auf Sir 44–50 begründete, sowie Mack, Wisdom, besonders S. 128– 137; Wischmeyer, Kultur, S. 5 („ein aretalogisch gefärbter historischer Überblick“); Hildesheim, Prophet, S. 13–14 und 38 („haggadischer Midrasch“), und Collins, Wisdom, S. 99–100. 11 Vgl.

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Anspielung auf die Mosezeit. Inmitten einer Reihe allgemein gefasster weisheitlicher Sentenzen zum Thema der gerechten Vergeltung Gottes, die illus­ triert wird durch Rückblicke auf Jhwhʼs geschichtliches Handeln in der Urzeit und in der Frühzeit Israels (16,6–10), wird paradigmatisch auf die Verstockung des Pharao unmittelbar vor dem Exodus Israels hingewiesen (vgl. Ex 7,3.17a).13 1.1 Die Moseperikope im „Lob der Väter“ – Sir 45,1–5 Der Urtext von 45,1–5 lässt sich grundsätzlich mittels eines Vergleichs zwischen den hebräischen, den griechischen und den syrischen Rezensionen herausarbeiten. Wenn die wichtigsten hebräischen, griechischen und syrischen Handschriften übereinstimmen, ist dem entsprechenden hebräischen Text der Vorzug zu geben.14 Im wesentlichen kann für 45,1–5 die von der hebräischen Handschrift B (HB) fragmentarisch gebotene Fassung als der Grundtext der Moseperikope Ben Siras angesehen werden. Rekonstruktionen der in HB nicht erhaltenen Teile sind mittels einer Rückübersetzung aus G oder Syr möglich.15 Im Anschluss an die Textausgabe von Francesco Vattioni 16 und die textkritische Analyse von Friedrich Vincenz Reiterer stellt sich der hebräische Text von 45,1–5 wie folgt dar: 17

‫( ]ויוצא] ממנו איש‬1) ‫ מוצא חן בעיני כל חי‬ ‫ ]אוהב א]להים ואנשים‬18 ‫ משה זכרו לטובה׃‬

[Und er ließ hervorgehen] aus ihm einen Mann, der Gnade fand in den Augen aller Lebenden. [Liebender / Freund G]ottes und der Menschen: Mose, sein Andenken sei zum Segen.

13 Sir 16,14(15) ist textkritisch umstritten. Der Vers findet sich zwar in der hebräischen Handschrift A (HA), in Syr und in jüngeren griechischen Rezensionen, er fehlt aber in der ältesten griechischen Fassung des Sirachbuchs (G). Mit Ryssel, Sprüche, S. 310; Middendorp, Stellung, S. 56–58, u. a., dürfte es sich um einen Zusatz zur ursprünglichen Überlieferung handeln, so dass dieser Text im Folgenden nicht zur Erhebung von Ben Siras Mosebild herangezogen wird. Zur Rezeption des Motivs aus Ex 7,3 in der jüdischen Literatur der hellenistischen Zeit vgl. auch 3 Makk 2,6–7; 6,4. 14 Zu dieser methodologischen Vorentscheidung vgl. Kaiser, Freund, S. 110: Der Grundtext Ben Siras liegt vor, wenn die Fassungen des griechischen Kurztextes und die hebräischen Handschriften übereinstimmen. 15 Siehe dazu ausführlich Reiterer, „Urtext“. 16 Vattioni, Ecclesiastico. 17 Eckige Klammern zeigen in der von Beentjes, Book, durchgesehenen hebräischen Handschrift HB fehlende Buchstaben oder Wörter an. Im Einzelnen weichen Vattioni und Beentjes bei der Wiedergabe unsicher zu lesender Buchstaben in HB teilweise voneinander ab. Im Gegensatz zu Vattioni verzichtet Beentjes durchgehend auf Konjekturen. 18 In der Forschung wird, soweit ich sehe, durchgehend im Anschluss an G (ἠγαπημένον), La (dilectus) und S (ʼrḥjm) das Part. Pass. ‫„( אהוב‬geliebt [von]“) konjiziert. Gegen diese Konjektur spricht (1) die Parallele zur Einleitung der Samuel-Perikope in Sir 46,13, die eindeutig mit ‫ אוהב‬einsetzt, (2) die Beobachtung, dass das Part. Pass. mit Ausnahme von Neh 13,26, wo es sich um eine Paraphrase von 2 Sam 12,24–25 handelt, weder im AT noch im Qumranschrifttum für einen von Gott geliebten Menschen gebraucht wird. Das Part. Akt. ‫ אוהב‬ist hingegen seit spätalttestamentlicher Zeit als fester Titel für exemplarische „Freunde

Das Mosebild des Sirachbuchs ‫( ו[יכנהו איש א]להים‬2) ‫ ויאמצהו במוראים׃‬ ‫( בד[בריו אותות] מהר‬3) ‫ ויחזקהו לפני מלך׃‬ [‫ ויצוהו [א]ל [עמו‬ ‫ ויר[אהו כבודו]׃‬ ‫( באמונתו ובענותו‬4) ‫בחר בו מכל [בשר]׃‬22 ‫( וישמיעהו את קולו‬5) ‫ ויגישהו לערפל׃‬ ‫ וישם בידו מצוה‬ ‫ תורת חיים ותבונה׃‬ ‫ ללמד ליעקב חקיו‬ ‫ ועדותיו ומשפטיו‬ ‫ לישראל׃‬

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[Und er gab ihm den Namen Mann G]ottes,19 und er stärkte ihn in Schrecknissen 20. Durch sein[e Worte 21 ließ er Zeichen ei]len, und er festigte ihn vor dem König. Und er beorderte ihn [z]u [seinem Volk] und ließ [ihn] s[ehen seine Herrlichkeit]. Aufgrund seines Glaubens und seiner Demut erwählte er ihn aus allem [Fleisch]. Und er ließ ihn seine Stimme hören und ließ ihn sich dem Wolkendunkel nahen. Und er legte in seine Hand das Gebot: die Weisung / das Gesetz des Lebens und der Einsicht, um Jakob 23 seine Satzungen zu lehren, und seine Verordnungen 24 und seine Rechtssätze Israel.

Gottes“ belegt, und zwar für Abraham (Jes 41,8; 2 Chr 20,7; CD-A III,2; 4Q252 Frgm. 1,ii,8), für Isaak (CD-A III,3) und für Jakob (CD-A III,3; 4Q372 Frgm. 1,21). 19 Ausgangspunkt für eine Rekonstruktion von V. 2a bildet die Randlesart von HB (‫)ויכ׳ ייי‬, die ein mit ‫ כ‬beginnendes Verb und eine Alternative zum Gottesnamen ‫ ייי‬verlangt. Unter diesen Voraussetzungen kommt der von Lévi, Text, S. 60, vorgeschlagenen Konjektur ‫ויכנהו‬ ‫ איש אלהים‬das höchste Maß an Wahrscheinlichkeit zu. Dabei ist ‫ ויכנהו‬dann von ‫„( כנה‬einen Ehrennamen verleihen“) abzuleiten (vgl. Sir 36,12; 44,23 [HBm]; 47,6 und dazu HALAT, s. v., 460b), so auch Vattioni, Ecclesiastico, S. 243, und Marböck, Geschichte, S. 111, ähnlich Smend, Sirach erklärt, S. 426 (‫ויכנהו באלהים‬, „und er nannte ihn Gott“), und Lee, Studies, S. 213, der ‫ ויכנהו‬allerdings auf das aram. Verb ‫ כון‬zurückführt („and he compared him among the gods“). Demgegenüber konjizieren Ryssel, Sprüche, S. 452; Peters, Buch, S. 383; Segal, ‫ספר‬, S. 307; Skehan / di Lella, Ben Sira, S. 50, und Petraglio, Il libro, S. 101, unter Berufung auf G (ὡμοίωσεν αὐτὸν δόξῃ ἁγίων) ‫„( ויכבדהו כאלהים‬Und er verherrlichte ihn wie einen Gott / wie Engel“). Sauer, ATD.A 1, S. 306, beruft sich ebenfalls auf die Randlesart von HB und setzt wohl eine Form von ‫( כון‬Hif.) voraus: ‫„( ויכנהו יהוה אלהים‬und der Herr, Gott ließ ihn hintreten“). 20 Anstelle von ‫„( במרומים‬in / auf den Höhen“) lies mit HBm ‫„( במוראים‬durch / in Schreck­ nisse / n“). HBm wird durch G (ἐν φόβοις ἐχθρῶν), La (in timore inimicorum) und Syr (ldḥlwljn) bestätigt. 21 So mit G (ἐν λόγοις αὐτοῦ). Sauer, ATD.A 1, S. 306, folgt HB (‫בדברו‬, „durch sein Wort“). 22 So mit Vattioni, Ecclesiastico, S. 243, und Segal, ‫ספר‬, S. 307, gegen Beentjes, Book, S. 79, der ‫ יבחר‬liest. 23 ‫„( ביעקב‬in Jakob“) ist gemäß der Randlesart von HB in ‫„( ליעקב‬Jakob“) zu korrigieren. Für die Übernahme der Randlesart sprechen der Parallelismus membrorum (vgl. V. 5f ‫)לישראל‬, die Fassungen von G (τόν Ιακωβ), La (Iacob) und S (ljʽqwb) sowie die Parallele in Ps 147,19 (vgl. Peters, Buch, S. 384). 24 Streiche aus kolometrischen Gründen ‫„( ועדותיו‬und seine Satzungen“). Gemäß G (καὶ κρίματα αὺτοῦ) und La (et iudicia sua) dürfte der hebräische Grundtext nur ‫„( ומשפטיו‬und seine Rechtssätze“) geführt haben (vgl. Smend, Sirach erklärt, S. 428). Der von Syr (wqjmwhj wdjnwhj) unterstützte Langtext von HB repräsentiert eine sekundäre Textentwicklung. Zur Wiedergabe von ‫ משפט‬seitens G mit κρίμα vgl. Sir 30,20; 32(35),16; 41,16; 42,2(v. l.); 43,13; 45,17; 48,7.

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Die Abgrenzung der Moseperikope differiert in den einzelnen Textversionen. In G erscheint das von H bereits als 45,1a–b geführte Distichon innerhalb des Schlussverses des vorangehenden Abschnitts als 44,23f–g. G folgt damit dem syntaktischen Zusammenhang zwischen der Erwähnung Israels / Jakobs in 44,23a–e und der Notiz, dass Gott aus ihm, nämlich aus Israel / Jakob, einen Mann hervorgehen ließ. Nach der Textsegmentierung von HB bedingen der Wechsel des Subjekts und die auf dieses bezogene Prädikation als „der Gnade fand in den Augen aller Lebenden“ in 45,1b den Einsatz eines neuen Abschnitts. In La beginnt die Moseperikope eindeutig erst mit dem in H als 45,1c–d strukturierten Bikolon. So übersetzt La den Singular ‫„( איש מוצא‬einen Mann, der fand“) bzw. ἄνδρα [ἐλέους] εὑρίσκοντα („einen Mann [der Barmherzigkeit], der fand“) und das jeweils darauf bezogene singularische Partizip als Plural homines (misericordiae) inventes 25 und versteht diese Wendung als Objekt zu dem weder durch H noch durch G gedeckten Prädikat conservavit illis („und er bewahrte jenen [sc. den zwölf Stämmen, also Israel] Menschen [der Barmherzigkeit], die fanden“). Damit erscheint 44,27 (La) nicht nur als Überleitung zur Moseperikope, sondern als Überschrift für alle folgenden Abschnitte des „Väterlobs“. Einen merkwürdigen Mischtext bietet Syr. Die pluralische Wendung in 44,23d (Syr) wnpqw mnh gbrʼ zdjqʼ („und aus ihm gingen hervor gerechte Männer“) entspricht strukturell 45,1a (H). Das singularische Schlusskolon in 44,23e (Syr) mškḥ rḥmʼ bʽjnj klhwn ḥjʼ dagegen entspricht 45,1 (H) und weist auf den Beginn der Moseperikope hin. Drei Gründe sprechen dafür, 45,1a–b (H) bzw. 44,23f–g (G) als Überleitung zu verstehen 26 und die eigentliche Moseperikope erst mit dem Distichon 45,1c–d (H) bzw. 45,1a–b (G, La, Syr) beginnen zu lassen: 27 1. die syntaktische und stilistische Parallelität zwischen den Anfängen der einzelnen Bikola in 44,23b (H), in 44,23d (H) und in 45,1a (H) jeweils mit der Konstruktion im Narrativ gegenüber dem Einsatz von 45,1c (H) mit einem Partizip, 2. die namentliche Nennung Moses erst in 45,1d,28

25 So auch die Lukianische Rezension des griechischen Textes (GL) und die äthiopische Übersetzung. 26 Der Überleitungscharakter von 45,1 wird auch deutlich an den Wortspiel zwischen den Begriffen ‫ מוצא‬und ‫( משה‬vgl. dann auch die Assonanz in V. 2 ‫)ויאמצהו‬. 27 So mit Smend, Sirach erklärt, S. 426, Segal, ‫ספר‬, S. 307, und Sauer, ATD.A 1, S. 306, gegen Peters, Buch, S. 382; Skehan / di Lella, Ben Sira, S. 506, die die Moseperikope bereits in 45,1a (H) / 44,23f (G) beginnen lassen. Gegen H, G und Syr hat La auch am Ende der Mo­ se­perikope eine etwas andere Verseinteilung, insofern V. 5c–f als V. 6 erscheinen. 28 Vgl. den syntaktischen Wechsel und die namentliche Nennung der einzelnen Helden jeweils zu Beginn der entsprechenden Doxologie in 44,19; 44,22; 45,6; 45,23; 45,25; 46,1; 46,11; 47,1; 47,2; 47,13; (48,1; 48,8); 48,17; 49,6; 49,8; 49,9; 49,10; 49,11; 49,12; 49,13; 50,1.

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3. die stilistische Betonung von V. 1c–d mittels der Alliteration am Versbeginn und des formelhaften Aufrufs zum heilvollen (‫ )לטובה‬Gedenken (vgl. 46,11d; 49,13a). Die Aufbauanalyse bestätigt die vorgeschlagene Abgrenzung. So bilden die V. 1c–5 eine gleichmäßig strukturierte Komposition aus zwei Abschnitten zu je vier Bikola (V. 1c–3 bzw. V. 4–5). Das jeweils erste Bikolon (V. 1c–d bzw. V. 4a–b) dient als eine universal ausgerichtete Überschrift. Sie hebt Moses Besonderheit hervor. Daran schließen sich jeweils drei Bikola (vgl. V. 2.3a–b.3c–d bzw. V. 5a–b.c–d.e–f ). Sie entfalten die Überschrift, indem sie konkrete Taten Gottes an bzw. durch Mose nennen. Das jeweils letzte Bikolon (vgl. V. 3c–d bzw. V. 5e–f ) enthält einen Hinweis auf das Volk Israel als Adressaten der von Gott gewirkten und über Mose vermittelten Heilstaten. Stilistische und metrische Gemeinsamkeiten der entsprechenden Distichen unterstreichen die inhaltliche Parallelität der zwei Teile der Moseperikope (V. 1c–3 bzw. V. 4–5). Die beiden Überschriften enthalten jeweils eine ausgefeilte Alliteration und ein Homoioteleuton.29 Die zwei Blöcke der Entfaltungen weisen jeweils das metrische Muster 3 + 2, 3 + 3, 3 + 2 auf. V. 1c–d V. 2a–b V. 3a–b V. 3c–d

Überschrift: „Liebender / Freund Gottes und der Menschen“ A 1. „narrative“ Entfaltung: „die Namensgebung Gottes“ B1 2. „narrative“ Entfaltung: „Moses Worte“ B2 3. „narrative“ Entfaltung: „Mose und das Volk Gottes“ B3

V. 4a–b V. 5a–b V. 5c–d V. 5e–f

Überschrift: „Erwählt aus allem Fleisch“ A′ 1. „narrative“ Entfaltung: „die Stimme Gottes“ B′1 2. „narrative“ Entfaltung: „Gottes Gebot“ B′2 3. „narrative“ Entfaltung: „Mose und das Volk Gottes“ B′3

Aus der parallelen Struktur hebt sich als ein chiastisches Element das Gegenüber der V. 3d und V. 5a heraus. Diese korrespondieren miteinander über das Wortpaar ‫ ראה‬/ ‫„( שמע‬sehen“ / „hören“) und rahmen die Erwählungsaussage in V. 4. Dadurch wird der stilistisch ohnehin schon hervorgehobene V. 4 nochmals betont: Die Erwählung aufgrund der Demut und des Glaubens erscheint als wichtigste Charakteristik Moses.30 Über die beiden Stichworte „Glauben“ (‫ )אמונה‬und „erwählen“ (‫ )בחר‬ist die Moseperikope eng mit ihrem unmittelbaren Kontext, den Abschnitten über die Erzväter (44,19–44,23 / 45,1a–b) bzw. über Aaron (45,6–22), verknüpft. So stellt Sirach mittels der Verbalwurzel ‫( אמן‬Hif., „glauben“) Mose und Abraham (44,20d) nebeneinander. Mittels der Verbalwurzel ‫„( בחר‬erwählen“) betont er die Verbindung zwischen Mose und dem von diesem zum Priester installierten Aaron (45,15–16). Dabei wird im „Lob der Väter“ nur bei Abraham, Mose und

29 V. 1c–d: 30 Vgl.

‫אוהב אלהים [ו]אנשים‬. V. 4: ‫באמונתו [ו]בענותו בחר בו […] בשר‬. dazu Maertens, LʼÉloge, S. 79–95.

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Samuel vom besonderen Glauben gesprochen bzw. nur in der Passage über Mose und Aaron deren Erwählung durch Gott thematisiert. In G ist die Vernetzung der Moseperikope mit dem gesamten „Väterlob“ intensiviert. Durch die Bezeichnung Moses als ἀνὴρ ἐλέους, was einem ‫איש‬ ‫ חסד‬entspricht (vgl. 44,1.10), erscheint Mose als ein ausgewähltes Beispiel der im Prolog genannten Schar der ἄνδρες ἐλέους (44,10). Mittels der Wiedergabe von ‫„( חזק‬stärken“) in 45,3b durch den Begriff δοξάζω („verherrlichen“), der im „Väterlob“ von G ein Leitwort darstellt,31 rückt Mose an die Seite der „verherrlichten“ Väter Josua (46,2), David (47,6), Elia (48,4), Sem und Set (49,16) sowie Simon (50,5). In der Reihenfolge des „Lobs der Väter“ kommt Mose, je nach text- und literarkritischer Beurteilung der Henochnotiz in 44,16, hinter Henoch, Noah, Abraham, Isaak und Jakob an fünfter bzw. sechster Position zu stehen.32 Die im Kontext der Bücher Genesis bis Exodus als Brückenfigur zwischen der Epoche der Erzväter und der Mosezeit fungierende Gestalt Josephs findet hier keine Erwähnung. Vielmehr erscheint Joseph erst im Nachspann des „Väterlobs“ in 49,15. Dass sich die Wendung ‫ מוצא חן בעיני כל חי‬implizit auf Joseph beziehe (vgl. Gen 39,4; 41,37–44; 45,13), ist aus motivischen und strukturellen Gründen unwahrscheinlich.33 Ein eindeutiger Grund, warum der Verfasser Joseph nicht bereits vor der Moseperikope nennt, ist nicht ersichtlich.34 Möglicherweise sollte die sich wohl an Jes 65,9 anlehnende Formel vom „Hervorgehen eines Mannes aus Jakob“ Mose vorbehalten bleiben und unmittelbar nach der 31 Vgl.

Sir (G) 44,7; 46,2.12; 47,6; 48,4.6; 49,16; 50,5.11. die Ursprünglichkeit der Henochnotiz in 44,16 und für den Einsatz des Korpus des „Väterlobs“ mit Noah in 44,17 sprechen (1) die nochmalige Erwähnung Henochs in 49,14, deren syntaktische Gestalt darauf hindeutet, dass hier erstmals Henoch genannt wird, (2) das Fehlen von 44,16 in den hebräischen Fragmenten aus Masada (HMas), (3) die Dublette zwischen 44,16a und 44,17a (‫ )נמצא תמים‬und (4) die Kompositionsstruktur des „Väterlobs“. Dem Beginn des Hauptteils des „Väterlobs“ mit Noah, dem „neuen“ Adam, steht der Ausklang mit dem Lobpreis auf den „alten“ Adam gegenüber (49,16). Der Eröffnung mit der Noah-berît, der ersten an eine namentlich genannte Figur ergangenen Verheißung im Väterlob, entspricht der Abschluss mit der Simon-berît (50,24), der letzten berît im „Väterlob“. Vgl. dazu auch Beentjes, Praise, S. 130–132; Lee, Studies, S. 230–233, und Mack, Wisdom, S. 17–18 und 199–203. 33 Vgl. Maertens, LʼÉloge, S. 89. 34 Snaith, Ecclesiasticus, S. 220, mutmaßte, Sirach habe Joseph ausgelassen, weil dieser in der späteren Legende weniger bekannt und theologisch uninteressant gewesen sei – doch vgl. nur die Wertschätzung Josephs in dem mit Sir 44–50 vergleichbaren heilsgeschichtlichen Rückblick in 1 Makk 2,53 und den jüdisch-hellenistischen Roman Joseph und Aseneth. Middendorp, Stellung, S. 56, vermutete, Sirach habe aus politischer Rücksicht antiägyptische bzw. antiobrigkeitliche Bemerkungen vermieden und daher Joseph (wie auch Esther und Esra) nicht erwähnt. Weitere Vorschläge, weshalb Sirach Joseph mehr oder weniger übergeht, diskutiert Lee, Studies, S. 208–209. Hingegen interpretiert Hildesheim, Prophet, S. 242–251, zutreffend die kompositionelle Stellung der Josephnotiz am Ende des „Väterlobs“ und die Nebeneinanderstellung der beiden Prototypen des Weisen Henoch und Joseph als Zeichen für die Hochschätzung Josephs; siehe dazu Witte, Gebeine, in diesem Band S. 171–187. 32 Gegen

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Erwähnung Jakobs in 44,23 erscheinen.35 Dass in direktem Abschluss an die Mosepassage das Lob auf Aaron folgt (45,6–22), entspricht der kanonischen Chronologie und Thematik. Die Moseperikope in 45,1–5 ist nicht nur fest in ihren näheren Kontext eingebunden, sondern weist auch zahlreiche Bezüge zur Einleitung des „Lobs der Väter“ (44,1–2.3–9.10–15) auf. Die vom Verfasser beabsichtigte Konkretion der allgemeinen Aussagen über von Gott begabte Heiden (44,3–9) 36 und über die Gestalten der Geschichte Israels (44,10–15) zeigt sich im Blick auf Mose an vier Punkten: 1. Israels Väter waren allesamt von Gott mit Herrlichkeit (‫ )כבוד‬ausgestattet (44,2). Allein den Gott und Menschen liebenden Mose ließ Gott seinen ‫כבוד‬ sehen (45,3). 2. Unter ausgewählten Heiden fanden sich auch durch Einsicht (‫ )תבונה‬ausgezeichnete Ratgeber (44,3). Allein die von Mose an Israel vermittelte Tora schenkt bleibende ‫( תבונה‬45,3). 3. Ebenso lebten unter den Heiden einzelne Gestalten mit prophetischen Fähig­ keiten (‫נבואה‬, 44,3). Allein in Israel gibt es eine durch Mose und Josua weitergegebene Kontinuität der ‫( נבואה‬46,1).37 4. Während selbst berühmte Heiden dem Vergessen (‫ )אין לא זכר‬anheimgegeben sind (44,8–9), steht Mose – wie die anderen Väter Israels auch – unter der Verheißung heilvollen Gedenkens (‫זכר לטובה‬, 45,1, vgl. 44,13; 46,11; 47,23; 49,1.13). a

a

Im Vergleich mit der Einleitung zum „Lob der Väter“ ist charakteristisch, wel­ che Prädikate Ben Sira Mose vorbehält. Allein Mose ist der „Gottliebende / Gottesfreund“ und „Gottesmann“, der aufgrund seines Glaubens und seiner Demut von Gott erwählt wird, dessen Herrlichkeit sieht und Stimme hört und dessen Tora zur Weitergabe an Israel erhält. Auf der Folie der Einleitung zum „Väterlob“ gelesen, erscheint als Spezificum Judaicum der durch Mose vermittelte Besitz der Einsicht verleihenden Tora Gottes. Im Hauptteil des „Lobs der Väter“ findet Mose seine nächsten Verwandten in Abraham und Samuel. Sirach führt hier die inneralttestamentlich zu beobachtende Linie fort, zentrale Figuren der Heilsgeschichte aneinander anzuglei-

35 Mittels

der Verwendung des Begriffs ‫ יצא‬spielt Sirach wohl auch auf den in seiner Moseperikope nicht explizierten Exodus selbst an – stellt doch das Wort ‫( יצא‬Hif., „herausführen“) einen zentralen Terminus der Exodusüberlieferung dar (vgl. Ex 3,12; 6,13.27; 7,4–5; 16,32; 18,1; Dtn 4,37 u. ö.). 36 Zum Nachweis, dass Sir 44,3–9 Heiden im Blick hat, siehe zuletzt Petraglio, Il libro, S. 27–32, im Anschluss an Ryssel, Sprüche, S. 449; Middendorp, Stellung, S. 165–166; Hengel, Judentum, S. 249. 37 Zum Motiv der prophetischen Sukzession vgl. dann auch Eupolemos, Frgm. 2b (FGH III,C,2, S. 672–673; übers. von Walter, Historiker, S. 99); mAv I,1 und Flav. Jos. Apion. I,8.

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chen. Die Parallelität zwischen Abraham und Mose zeigt sich an drei Aspekten: 38 1. am Verhältnis beider zu Gottes Gebot (‫)מצוה‬. Abraham befolgt Gottes Gesetz (44,20a, vgl. Gen 18,19), Mose vermittelt es an Israel (45,5c); 2. am Vertrauen (*‫ )אמן‬beider auf Gott. Abraham wurde als gläubig befunden (44,20d, vgl. Gen 15,6; Neh 9,8), Mose aufgrund seines Glaubens erwählt (45,4); 3. am Empfang von zentralen Heilsgütern Israels. Abraham erhält die Verheißung von Land (44,21, vgl. Gen 15,18), Mose die Tora (45,4). Die Parallelität zwischen Mose und Samuel zeigt sich an sechs Punkten: 1. an der beiden zuteil gewordenen besonderen Wertschätzung bei Gott und den Menschen (vgl. 45,1–2 bzw. 46,13); 39 2. an dem beiden gemeinsamen prophetischen Amt (‫נבואה‬, Sir 46,1 bzw. 46,13. 20); 40 3. an der von beiden ausgeübten Tätigkeit als Ordinatoren. Mose salbt Aaron zum Priester (45,15); 41 Samuel setzt mittels Salbung (‫ )משח‬politische Führer (‫ )נגיד‬ein (46,13, vgl. 1 Sam 10,1; 16,3); 4. an beider Treue zu Gottes Gebot (‫)מצוה‬. Mose vermittelt Jhwhʼs Gesetz (45,5), Samuel zeichnet sich durch dessen Befolgung aus (46,14); 5. an beider Zuverlässigkeit (‫אמונה‬, 45,4 bzw. 46,15, vgl. 1 Sam 3,20 42); 6. an der Erfahrung einer göttlichen Audition. Sowohl Mose als auch Samuel hören Gottes Donnerstimme (‫קול‬, 45,5 bzw. 46,17). Die Übereinstimmung zwischen Mose und Abraham bzw. Mose und Samuel in der Darstellung Ben Siras beruht zum einen auf der gezielten Auswahl aus der biblischen Überlieferung, zum anderen auf dem allein diesen dreien zuerkannten Glauben.43 So nimmt Sirach einerseits wesentliche und beiden Gestalten gemeinsame Aussagen aus der israelitisch-jüdischen Tradition auf. Andererseits modifiziert er den Gebrauch der Wurzel ‫ אמן‬im Kontext der Mose- bzw. 38 Zu inneralttestamentlichen Parallelisierungen zwischen Mose und Abraham vgl. vor allem die spätalttestamentliche Charakterisierung beider Figuren als Toralehrer (Gen 18,19 bzw. Dtn 4,1) und als Prophet (Gen 20,7 bzw. Dtn 34,10), siehe dazu auch Schmid, Erzväter, S. 287–289. 39 Anstelle des von H gebotenen ‫„( אוהב‬liebend“) formulieren G (ἠγαπημένος), La (dilectus) und Syr (ʼrḥjm) wie in 45,1 passivisch. Zum Hintergrund der Samuelnotiz vgl. 1 Sam 2,26. 40 Zur Bezeichnung Moses bzw. Samuels als Prophet (‫ )נביא‬vgl. Dtn 18,15; 34,10; Hos 12,14 bzw. 1 Sam 3,20; 2 Chr 35,18 zurück; s. u. S. 139. 41 S. u. S. 138. 42 Vgl. 1 Sam 2,35a, wobei unsicher ist, ob sich die entsprechende Formulierung auf Samuel bezieht. 43 G nimmt in die Reihe der durch Glauben ausgezeichneten Väter noch Jesaja auf (vgl. Sir 48,22).

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Samuelabschnitte über die Überlieferung hinausgehend zu Aussagen über die ‫ אמונה‬Moses und Samuels. Formgeschichtlich ist die Moseperikope für die Gattung des gesamten „Väterlobs“ charakteristisch. Im Zentrum von 45,1–5 steht die lobpreisende Beschreibung heilsgeschichtlicher Taten Jhwhʼs an Israel mittels der Person, der Worte und Werke Moses. Die Moseperikope lässt sich daher als eine funktionale „heilsgeschichtliche Biographie“ bezeichnen. Diese funktionale Biographie besitzt sieben Bausteine, die in Sirachs Stilisierungen der anderen Väter variiert wiederkehren: 44 1. die Erwähnung von Lohn, hier in Gestalt umfassender Anerkennung bei Gott und den Menschen und segensreichen Gedenkens (45,1b–c), 2. die göttliche Legitimation und Erwählung (45,2a.4b), 3. die Aufzählung besonderer, durch Gott ermöglichter Taten (45,2b.3), 4. die historische Verortung, hier mittels der Nennung des Pharao (45,3b), 5. der Hinweis auf die besondere Frömmigkeit (45,4a), 6. die Beziehung zur Setzung eines „Bundes“, hier implizit mittels der Anspielung auf das Sinaigeschehen (45,5a–b),45 7. die Bezeichnung eines konkreten Amtes, hier der Toralehre (45,5e).46 Aus der Art und Weise, wie Sirach mit der Tradition umgeht, ist zu schließen, dass ihm zumindest der Pentateuch und die prophetischen Schriften des Alten Testaments in ihrer endredaktionellen Gestalt vorlagen.47 Die Moseperikope in 45,1–5 bietet eine eigentümliche Mischung aus wörtlichen Zitaten aus der Überlieferung, aus motivischen Anspielungen auf die Tradition und aus selbständigen Formulierungen Ben Siras.48 Im folgenden konzentriere ich mich auf die Darstellung der wichtigsten literarischen Bezüge der Moseperikope. Die Überschrift in 45,1c geht motivisch zunächst auf die Stilisierung Moses als Freund (‫ )רע‬Gottes in Ex 33,11a zurück.49 Dabei wendet Sirach den in Jes 41,8 und 2 Chr 20,7 für Abraham nachgewiesenen Titel des „Gottliebenden / Gottesfreundes“ (‫ )אוהב אלהים‬auf Mose an. Im Hintergrund der terminologischen Modifikation gegenüber Ex 33,11 steht die Intention, Mose (wie David, 47,8) als Paradigma der in Dtn 6,5 geforderten Gottesliebe zu stilisieren.50

44 Vgl.

dazu ausführlich Mack, Wisdom, S. 18–26. den Fragen des Sinai-„Bundes“ bei Sirach s. u. S. 142–144 und S. 145–147 sowie den Aufsatz zu Sir 17 in diesem Band S. 109–121. 46 Zum prophetischen Amt des Mose (Sir 46,1), s. u. S. 139–142. 47 Vgl. dazu auch den Prolog des griechischen Übersetzers, Z. 8–9, und prinzipiell Koole, Bibel, S. 374–396, sowie Witte, Kanon, in diesem Band S. 39–58. 48 Zu den methodologischen Problemen der Erhebung von Sirachs Schriftgebrauch siehe grundsätzlich Snaith, Quotations, S. 1–12. 49 Vgl. weiterhin Num 12,8. 50 Vgl. Sir 1,10 (G); 7,30. 45 Zu

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Die von den Versionen gebotene Bezeichnung Moses als „von Gott geliebt“51 könnte dann auf die im Kontext der hellenistischen Herrscherideologie belegte Formel des von Gott geliebten Königs zurückgehen.52 Neben die Gottesliebe Moses stellt Sirach Moses „Liebe zu den Menschen“. Dieses Prädikat Moses ist alttestamentlich zwar sprachlich so nicht belegt, wurzelt motivisch aber wohl in der Überlieferung von der Solidarität Moses mit Israel (vgl. Ex 2,11; 5,1–4; Num 11,11–14; Dtn 9,19) 53 und seiner Fürbitte für sein Volk (vgl. Ex 32,11–14).54 Mit seiner Gottes- und Menschenliebe erfüllt Mose nach Ben Sira prototypisch die zentrale Forderung der Tora.55 Die (rekonstruierte) Titulierung Moses als „Gottesmann“ (‫איש אלהים‬, Sir 45,2a) begegnet alttestamentlich erstmals in Dtn 33,1.56 Von einer Verleihung dieses Ehrennamens durch Gott selbst erzählt das Alte Testament nichts. Da das Verb ‫ כנה‬im Sinn von „benennen“ noch in 36,12(17), 44,23 (HBm) und 47,6 erscheint, liegt wohl eine Eigenbildung Ben Siras vor. Die hinsichtlich des Verbs wie der Haupttext zu emendierende Randlesart 57 von HB ‫ויכ[נהו] ייי אלהים‬ („Und Jhwh gab ihm den Ehrennamen Gott“) spielt wohl unmittelbar auf die Bezeichnung Moses als Gott im Verhältnis zu Aaron (Ex 4,16) bzw. zum Pharao (Ex 7,1) an. Im Hintergrund von G (ὡμοίωσεν αὐτὸν δόξῃ ἁγίων, „und er stellte ihn der Herrlichkeit der Engel gleich“), dem hier La entspricht, steht einerseits das angelologische Verständnis des Begriffs ‫אלהים‬,58 andererseits die Vorstellung von der „Herrlichkeit der Engel“.59 Syr paraphrasiert wrbjh bbwrkt („und er ließ ihn wachsen durch Segnungen“). Das Motiv von der „Stärkung Moses in Schrecknissen“ (45,2b) stellt ein Summarium der Ereignisse vor und während des Exodus dar. Der Begriff 51 Vgl. 2 Sam 7,18 (G) par. 1 Chr 17,16 (G); Jes 51,2 (G); Dan 3,35 (G); 2 Chr 20,7 (GL); Jes 41,8 (Aq.); TestAbr A 1,6; ApkSedr 9,1. Eine messianische Implikation ist aus der Bezeichnung Moses als ἠγαπημένος (ὑπὸ) θεοῦ gegen Maertens, LʼÉloge, S. 85–86, für Sir (G) nicht erkennbar (vgl. dann aber TestBen 11,2; TestLev 8,15; ParJer 3,8; Mt 3,17). 52 Vgl. z. B. die inschriftlich belegte und sich auf Ptolemaios IV. (221–204 v. Chr.) bzw. Ptolemaios V. (204–180 v. Chr.) beziehende Wendung ἠγαπημένος ὑπὸ τῆς Ἴσιδος bzw. ἠγα­ πημένος ὑπὸ τοῦ Φθᾶ (zu den Belegen siehe Stauffer, ἀγαπάω, S. 36–37 Anm. 80). 53 Vgl. zu diesem Aspekt des Mosebildes auch Hebr 11,25. 54 Das in den Versionen vorausgesetzte Motiv des „von den Menschen geliebten Mose“ universalisiert die Notiz von der Gunst Moses in den „Augen der Ägypter und des Volkes“ (Ex 11,3). 55 Zur expliziten Verknüpfung von Gottesliebe (Dtn 6,5) und Menschenliebe (Lev 19,18) vgl. neben Mi 6,8 besonders TestIss 5,2 und TestDan 5,3 sowie natürlich Mk 12,28–34 par. und dazu Nissen, Gott, S. 226–227; 230–244, und Lührmann, Markusevangelium, S. 206– 207. 56 Vgl. dann weiterhin Jos 14,6; Ps 90,1; Esr 3,2; 1 Chr 23,14 und 2 Chr 30,16. 57 Vgl. Anm. 19. 58 Vgl. Gen 6,2 (GAr, VL); Ps 8,6 (G). Zur Verbindung zwischen Mose und den Engeln vgl. dann auch Apg 7,38 und Gal 3,19. 59 Vgl. Ex 15,11b (G); TestLev 18,5; 2 Bar 51,10; 4Q405 Frgm. 17,4; 4Q511 Frgm. 2,i,8; 20,i,2.

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‫„( במוראים‬in / durch Schrecknisse / n“) stammt aus Dtn 4,34 (vgl. auch Dtn 26,8). 45,3a–b paraphrasiert den Plagenzyklus aus Ex 8–11. Dabei greift der Verfasser auf zentrale Leitworte der Plagenerzählungen zurück. Den Begriff ‫אות‬ („Zeichen“) nimmt er aus Ex 8,19. Der Ausdruck ‫„( בדבריו‬durch / gemäß seine / n [sc. Moses] Worte/n“) geht auf die Verwendung der Verbalwurzel ‫דבר‬ („reden“) mit Mose als Subjekt zurück (vgl. Ex 8,9.27). Die Bezeichnung des Pharao als ‫„( מלך‬König“) steht unter dem Einfluss von Ex 1,15.60 Die Versionen bieten einen Plural („vor Königen“) 61 und beziehen die Stärkung Moses durch Gott so auch auf die kriegerischen Auseinandersetzungen mit den Königen Sihon von Hesbon und Og von Basan (vgl. Num 21,21–35; Dtn 3,2–3; Ps 136,17–20). Der terminus technicus der Verstockungsformel ‫„( חזק‬verhärtet sein“) 62 begeg­net bei Sirach in einem genau umgekehrten Sinn nicht für die gottgewirkte Verstockung des Pharao, sondern für Moses gottgewirkte Festigung.63„Moses Sendung zum Volk Israel“ (45,3c) rekurriert auf den entsprechenden Auftrag Gottes, wie er in Ex 6,13 mitgeteilt wird. Der Hinweis auf Moses Sehen der Herrlichkeit Gottes geht auf den Dialog beider über den ‫כבוד‬ in Ex 33,18 zurück. Der kompositionell den Mittelpunkt der Moseperikope darstellende V. 4 basiert einerseits auf einer Notiz in Num 12,3, derzufolge Mose der demütigste (‫ )ענו‬aller Menschen auf der Erde war. Andererseits weist V. 4 charakteristische Stilisierungen Moses auf, die keine unmittelbare Vorlage in der Moseüberlieferung des Pentateuch haben. Das Verb ‫( אמן‬Hif., „glauben“) findet sich im Bereich der Exodusüberlieferung im Rahmen der sogenannten Glaubensformel und bezieht sich dort auf den Glauben Israels an Gott bzw. an Mose.64 In 45,4 hingegen wird vom Glauben bzw. vom Vertrauen Moses auf Gott gesprochen, was in dieser Form sprachlich nicht durch die biblische Überlieferung vorgegeben ist.65 Angesichts des Rückgriffs Ben Siras auf Num 12,3 ist allerdings nicht ausgeschlossen, dass im Hintergrund der Aussage über Moses Glauben die als Gottesrede stilisierte Würdigung Moses als treu (‫ )נאמן‬im Hause Jhwhʼs in Num 12,7 steht.66 60 Vgl. weiterhin Ex 1,17.18; 2,23; 3,18–19; 5,4 neben ‫ פרעה‬in Ex 6,11.13 u. ö. Der Titel ‫ פרעה‬findet sich in Sir nur innerhalb der oben erwähnten Glosse in 16,14 (HA). 61 Vgl. G: πρόσωπον βασιλέων; La: in conspectu regum; Syr: qdm mlkʼ. 62 Vgl. Ex 4,21; 9,12; 10,20.27; 11,10; 14.4.8.17. 63 Maertens, LʼÉloge, S. 82, übersieht diesen verfremdenden Wortgebrauch und interpretiert Ben Siras Verwendung der Begriffe ‫ חזק‬und ‫ אמץ‬vor dem Hintergrund der Königs­ ideologie. Mose erscheine dadurch als der neue, eschatologische Heilskönig. 64 Vgl. Ex 4,1; 14,31; 19,9. 65 Zum Motiv des mangelnden Glaubens Moses vgl. einmalig im Pentateuch Num 20,12 und dazu Levin, Jahwist, S. 378. 66 Vgl. Hebr 3,2. Der Ausdruck ‫ נאמן ב‬kann freilich auch „betraut sein mit etw.“ bedeuten, vgl. DCH I, s. v. ‫אמן‬, zur literargeschichtlichen Einordnung von Num 12,7 vgl. Perlitt, Mose, S. 595.

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Sirachs Anwendung des Begriffs ‫„( בחר‬erwählen“) auf die Einzelfigur Mose wurzelt in der „deuteronomisch-deuteronomistischen“ Beschreibung der Erwählung Israels (vgl. Dtn 4,37; 7,6–8; 14,2). Während die Erwählung Israels nach Dtn 4,37 unbegründet bzw. durch die Liebe Jhwhʼs zu Israel motiviert ist, basiert die Erwählung Moses nach Sir 45,4 auf dessen Glauben und Demut.67 Ähnlich bezeichnet der späte, den Pentateuch voraussetzende Geschichtspsalm 106,23 Mose als Gottes „Erwählten“ (‫)בחיר‬.68 Mittels der Grundlegung der Erwählung im Glauben und in der Demut charakterisiert Sirach Mose wie bereits in 45,1c als Leitbild des Frommen (vgl. 1,27 [G]). Religionsgeschichtlich teilt Ben Sira damit das Ideal der vor allem in einzelnen Psalmen belegten nachexilischen Armenfrömmigkeit.69 Die von G (und La) zusätzlich geführte Notiz, dass Gott Mose heiligte (αὐ­ τὸν ἡγίασεν) hat keine exakte terminologische Vorlage in der alttestamentlichen Moseüberlieferung. Die Verwendung des Begriffs ἁγιάζω („heiligen“) mit dem Subjekt „Gott“ lehnt sich aber an älteren Sprachgebrauch an.70 In G stehen dadurch Mose und Jeremia nebeneinander, der nach 49,7 zum Propheten geheiligt wird.71 Die Notiz über die Audition Moses ist motivisch nicht auf ein Element aus der alttestamentlichen Überlieferung beschränkt. Im Zusammenhang mit der Erwähnung von Moses Herantreten an die dunkle Wolke in 45,5b dürfte V. 5a auf die Anrede Moses durch Jhwh im Rahmen der Sinaitheophanie in Ex 19,3– 5.19 zurückgehen (vgl. auch Dtn 4,36). Sir 45,5b selbst rezipiert den Wortlaut von Ex 20,21. Dabei modifiziert Ben Sira theologisch bewusst: Aus dem aktiven Sich-Nahen Moses wird ein durch Gott bestimmtes Sich-Nahen-Lassen. Ein Viertel der Moseperikope nimmt die Beschreibung der Toravermittlung ein (45,5c–d.e–f ). Die Eingangsformulierung in V. 5c (‫ )וישם בידו מצוה‬geht auf die alttestamentlich mehrfach belegte Wendung der Gabe einzelner Gebote72 bzw. der Tora insgesamt durch Jhwh und zwar ‫„( מיד משה‬durch [bzw. in die Hand des] Mose“) zurück.73 Die Charakterisierung dieser ‫ מצוה‬als „Tora des Lebens und der Einsicht“ (V. 5d) basiert auf dem vor allem in Dtn 4,1–6 und Dtn 30,15–16 vorliegenden Verständnis der Tora als der Größe, die wahres 67 Vgl.

zur Rezeption dieses Motivs zum einen 2 Bar 17,4, zum anderen AssMos 12,7. Aufnahme der Erwählungsvorstellung vgl. AssMos 1,14. 69 Vgl. Ps 25,9; 37,11; 69,33; 149,4 und zum Begriff der „Demut“ bei Ben Sira Maertens, LʼÉloge, S. 81, und von Rad, Weisheit, S. 332–333. 70 Vgl. die entsprechende Verwendung des Verbs ‫ קדש‬in Ex 29,44 mit den Objekten „Aaron und seine Söhne“ bzw. in Ex 31,13 mit dem Objekt „Israel“. 71 Dabei lehnt sich G an Jer 1,5aα an (‫הקדשתיך‬, ἡγίακά σε), während H mit ‫„( נוצר‬geschaffen“) auf Jer 1,5aβ zurückgreift (‫[ ֶא ָּצ ְורָך‬Ketib] bzw. ‫[ ֶא ָּצ ְרָך‬Qere, vgl. dazu Rudolph, Jeremia, S. 2], τοῦ με πλάσαι σε). 72 Entsprechend findet sich G und La anstelle des von HB gebotenen Singulars ‫ מצוה‬der Plural ἐντολάς bzw. praecepta. 73 Vgl. Ex 32,15 und dann formelhaft Lev 8,36; 26,46; Num 4,37; 36,13; Neh 9,14; 2 Chr 34,14 u. ö. 68 Zur

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Leben und umfassende Einsicht schenkt.74 Ebenfalls in der Linie deuteronomistischer Theologie steht die in V. 5e–f mitgeteilte Vorstellung von Mose als dem Toralehrer Israels schlechthin (vgl. Dtn 4,1.5–6.14; 32,2). Die traditions- und literaturgeschichtliche Übersicht über die alttestamentlichen Bezugsstellen von 45,1–5 zeigt, dass Sirach auf eine Darstellung von Moses Kindheits- und Jugendgeschichte, seiner führenden Rolle beim Exodusgeschehen selbst, beim Meerwunder, bei der Wüstenwanderung und im Kontext der Konflikte mit der Wüstengeneration verzichtet. Der Begriff des „Bundes“, der eine strukturierende Bedeutung für das gesamte „Lob der Väter“ besitzt,75 wird in der Moseperikope auffallenderweise nicht gebraucht.76 Erst in G, der den Terminus διαθήκη nicht nur zur Wiedergabe von ‫ ברית‬verwendet, sondern auch als Äquivalent zu ‫ חק‬und der damit die Zahl der „Bünde“ im „Väterlob“ von sieben in H auf zwölf erhöht,77 ist Mose nun der Lehrer des Bundes (45,5e). Im Mittelpunkt der Moseperikope steht die Betonung Moses als exemplarisch frommen Vermittlers und Lehrers der für die gegenwärtige Existenz Israels (und der Völker) lebenswichtigen Tora. Entscheidendes Merkmal der Gestalt Moses ist seine besondere Nähe und Beziehung zu Gott. Im Hintergrund dieses Mosebildes stehen im Wesentlichen Ex 33*; (Num 12*) und Dtn 4*. Königliche oder herrschaftliche Züge trägt Ben Siras Mose nicht.78 Der am Beispiel von 45,1–5 ausgeführte Umgang Sirachs mit der alttestamentlichen Mosetradition in Gestalt einer selektiven Mischung aus wörtlichen Zitaten, motivischen Assoziationen, verfremdendem Wortgebrauch und interpretieren­ den Eigenformulierungen zeigt, dass Sirach bei seinen Lesern eine genaue 74 Vgl. Dtn 32,46–47; Ez 20,11; Neh 9,29; Ps 119,77; 2 Bar 38,2; PsSal 14,2; Apg 7,38; vgl. Witte, Gesetz, in diesem Band S. 109–121. 75 Vgl. dazu Marböck, Geschichte. 76 Ähnlich fehlt auch in der Moseparaphrase der Geschichtsdoxologie in Neh 9,13–14 der Begriff ‫ברית‬. Zur Deutung dieses Befundes siehe Marböck, Geschichte, S. 112–113, der ‫ ברית‬bei Sirach im Anschluss an das priesterschriftliche Verständnis von „Verheißung“ interpretiert und daher den Begriff als ungeeignet für Sirachs Mosebild ansieht, doch siehe dazu unten S. 145–147. 77 Vgl. Sir (H) 44,12.17.20.22; 45,15.24; 50,24. An den von G darüber hinaus gebotenen „Bundestexten“ erscheint der Begriff διαθήκη jeweils als Äquivalent zu ‫( חק‬vgl. 44,20c [Abraham]; 45,5e [Mose]; 45,7a [Aaron]; 45,17b [Aaron]; 47,11c [David]). In 50,24 weicht G erheblich von H ab und bietet kein Äquivalent zum Simon-„Bund“. Bei der Erwähnung der David-berît in 45,25 als Kontrastgröße für die Aaron-Pinchas-berît dürfte es sich ausweislich der Prolepse der Davidfigur (vgl. 47,1–11) und der Tendenz, die aus der bewussten Gegenüberstellung von hohepriesterlicher und politischer Macht spricht, um einen späteren Zusatz handeln. 78 Gegen Maertens, LʼÉloge, S. 82–83, und Mack, Wisdom, S. 30–32. Anders möglicherweise in G: hier ist nicht ausgeschlossen, dass der Übersetzer mittels des Titels ἠγαπη­μένος ὑπὸ θεοῦ (vgl. dazu Anm. 51) und der Wiedergabe von ‫ ענוה‬mit πραΰτης Mose auch Züge des idealen Herrschers verleiht (vgl. dazu bereits Hauck / Schulz, πραΰς, S. 646, mit entsprechenden Belegen aus der hellenistischen Literatur).

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Kenntnis der alttestamentlichen Exodus- und Sinaiüberlieferung voraussetzt. Die literarischen Bezüge der Moseperikope verdeutlichen, dass der Schriftgelehrte Ben Sira, der möglicherweise an einer Weisheitsschule lehrte,79 im Milieu einer Lesekultur wirkte. Dabei hat Ben Sira kein Interesse an genuin narrativen Elementen der Moseüberlieferung. Er konzentriert sich vielmehr auf deren paradigmatische, weisheitliche und ethische Implikationen.80 Dies gilt auch im Blick auf die weiteren Mosetexte des Sirachbuchs. 1.2 Mose und Aaron – Sir 45,15 Als Grundtext kann die von HB gebotene Fassung betrachtet werden. Sie wird im Wesentlichen von G und La bestätigt. Die modifizierte Wiedergabe des terminus technicus ‫„( מלא ידו‬die Hand jemandes füllen“ als Zeichen der Ordination) von Syr mit sm ʽlwhj ʼjdh („seine Hand jemandem auflegen“) verweist auf einen anderen Bildhintergrund.81

‫ ]וי]מלא משה את ידו‬ ‫ וימשחהו בשמן הקדש‬ ‫ ותהי לו ברית עולם‬ ‫ ולזרעו כימי שמים׃‬ ‫ לשרת ולכהן לו‬ ‫ ולברך את עמו בשמו׃‬

Und] Mose füllte seine [sc. Aarons] Hand und salbte ihn mit heiligem Öl. Und es wurde für ihn ein ewiger „Bund“ und für seinen Samen alle Tage des Himmels, ihm zu dienen und ihm Priester zu sein und sein Volk mit seinem Namen zu segnen.

Die Beschreibung der Installation Aarons durch Mose in 45,15a–b geht terminologisch und sachlich auf Ex 28,41; 29,7–9; 30,30 und Lev 8,12 zurück. Dabei kombiniert die Wendung ‫„( שמן הקדש‬heiliges Öl“) Notizen über die Heiligung Aarons und seiner Söhne (vgl. den den Begriff ‫[ קדש‬Pi.], „heiligen“) bzw. über seine Salbung mit Öl (‫ )שמן‬in Ex 28,41 bzw. Ex 29,7.82 Die folgenden Versteile verbinden Aussagen über Aaron und seine Söhne aus Ex 28,41.43; Num 25,13 und Num 6,23–27. Die Tatsache, dass im „Väterlob“ Mose nur acht bzw. neun Bikola gewidmet sind, während die Aaronperikope (45,6–22) 32 Distichen umfasst, wird in der Forschung immer wieder im Sinne einer von Sirach intendierten Unterordnung Moses unter Aaron interpretiert.83 Gegen diese These spricht zunächst, dass Sirach die traditionell vorgegebene Notiz von der Einsetzung Aarons durch Mose nicht übergeht, sondern ausdrücklich zitiert und so Mose auch in sei79 Vgl. Sir 51,29 (G) sowie 24,33 (G); 33,19 und dazu Ps 49,4–5; 78,2–4; Hi 32,17–20; Dtn 32,2. 80 Vgl. dazu auch Mack, Wisdom, S. 114–116. 81 Vermutlich orientiert sich Syr an der Erzählung von Moses Handauflegung bei der Einsetzung Josuas zu seinem geistgewirkten Nachfolger in Num 27,18. Nach Reiterer, „Urtext“, S. 177, weist die Differenz in Syr hingegen auf eine von HB abweichende hebräische Vorlage hin. 82 Alttestamentlich begegnet der Ausdruck ‫ שמן הקדש‬nur einmal im Kontext der Cha­ rakterisierung des Hohepriesters in Num 35,25. 83 In diesem Sinn z. B. Janssen, Gottesvolk, S. 21; Lee, Studies, S. 12 und 207.

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ner grundlegenden Bedeutung für das Priestertum darstellt. Weiterhin berichtet Sirach, im Anschluss an den Levispruch in Dtn 33,10, zwar auch von der Gabe einzelner Gebote (‫ )מצות‬Gottes an Aaron und von dessen göttlich legitimierter Aufgabe, Israel zu unterweisen.84 Aber allein Mose empfängt das Gebot (‫)מצוה‬, also die Tora, und wird als Israels Lehrer der Einsicht und Leben schenkenden Tora stilisiert.85 Nun ist für Sirach die Tora bzw. der Gehorsam gegenüber der Tora nicht nur das Kriterium zur Beurteilung der Vorfahren Israels (vgl. 44,20; 49,4), sondern auch das Kennzeichen Israels und die Existenzgrundlage des Weisen (vgl. 19,20). Insofern der Hinweis auf die Tora und den Toragehorsam einen wesentlichen Leitgedanken des Sirachbuchs darstellt, kann von einer Unterordnung Moses als dem entscheidenden Vermittler der Tora unter Aaron bzw. unter den Kult oder von einer Erhebung Aarons zur höchsten Instanz über das Gesetz keine Rede sein. Sirach ordnet Mose nicht Aaron unter, sondern stellt Aaron Mose zur Seite (vgl. 45,6.16). Die starke Ausmalung der Porträts der priesterlichen Figuren Aaron, Pinchas und Simon im „Lob der Väter“ spiegelt zwar auch ein Interesse Sirachs für den offiziellen Tempelkult wider, dürfte aber in erster Linie im Zusammenhang mit aktuellen zeitgeschichtlichen Auseinandersetzungen um das aaronidisch-zadokidische Priestertum stehen. Die überragende geschichtliche Rolle Moses war in den verschiedenen jüdischen Gruppen des 2. Jh. v. Chr. unangefochten. Hingegen geriet das Jerusalemer Hohepriestertum im Zuge der politischen, gesellschaftlichen und religiösen Umbrüche am Vorabend der Makkabäerkriege zunehmend in die Kritik.86 1.3 Mose und Josua – Sir 46,1 und 46,7 Für die Erhebung des Mosebildes genügt es, sich auf das erste Bikolon von 46,1 zu konzentrieren. Die Distichen in V. 1c–d und V. 1e–f stellen Entfaltun­ gen des Lobs Josuas dar. Auch für 46,1a–b kann der Text von HB, der im Wesentlichen von G bestätigt wird,87 als Ausgangstext zugrundegelegt werden. Syr verbindet V. 1b mit V. 1c und bietet kein wörtliches Äquivalent zu dem für die Charakteristik Josuas bzw. dessen Verhältnisses zu Mose wichtigen Begriff ‫„( משרת‬Diener“, διάδοχος [„Nachfolger“, La: successor]).

84 Zur

juristischen Bevollmächtigung der Priester vgl. auch Dtn 17,10–11; 21,5. H den Begriff ‫ תורה‬Mose vorbehält, verwendet G den entsprechenden Terminus νόμος auch in der Aaronperikope (vgl. 45,17). Allerdings wahrt auch G den Unterschied zwischen Mose und Aaron: Allein Mose empfängt Gottes Gebote und Gesetz „von Angesicht zu Angesicht“ (κατὰ πρόσωπον), während Aaron die Aufgabe hat, im Gesetz zu unterweisen. 86 Vgl. 2 Makk 3–5; Flav. Jos. Ant. XII,4,1–2 und XII,5,1 und dazu Beckwith, Pre-History, besonders S. 31–42; Hengel, Judentum, S. 245; Soggin, Einführung, S. 230–231; Collins, Wisdom, S. 102; Sauer, ATD.A 1, S. 311–312; Wicke-Reuter, Providenz, S. 248–249. 87 Lediglich anstelle des Singulars ‫( בנבואה‬so auch Syr bnbjwtʼ) hat G den Plural (ἐν­ προ­φητείαις). 85 Während

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‫ גבור בן חיל יהושע בן נון‬Ein wackerer Held: Josua, der Sohn Nuns, ‫ משרת משה בנבואה‬Moses Diener im prophetischen Wirken.

Die Kennzeichnung des Kriegshelden Josua, des Sohnes Nuns, als „Moses Diener in der Weissagung“ (46,1a–b) ist im Blick auf das Verhältnis von Tradition und Redaktion besonders interessant. Eindeutige Bezugsstelle ist zunächst nochmals Ex 33,11. So begegnet in Ex 33,11 nicht nur der Titel „Diener“ (‫)משרת‬,88 sondern auch erstmals innerhalb des Pentateuchs die „offizielle Vorstellung“ Josuas als Sohn Nuns. Weniger eindeutig ist hingegen, worauf sich der Gebrauch des Begriffs ‫„( נבואה‬Prophetenwort“, „Weissagung“) bezieht. Drei mögliche Bezüge bieten sich an: 1. auf die in Num 27,12–23 und Dtn 34,9 mitgeteilte Installation Josuas als Moses Nachfolger. Für die Korrelierung von Sir 46,1 mit Dtn 34,9 spricht, dass im unmittelbaren Kontext Mose als Prophet (‫ )נביא‬bezeichnet wird (Dtn 34,10).89 In diesem Sinn scheint G den Text verstanden zu haben, wenn er Josua explizit nicht als Diener, sondern als Nachfolger (διάδοχος) im prophetischen Wirken bezeichnet.90 2. auf die inneralttestamentlich belegte und im nachbiblischen Judentum fortgesetzte Verleihung des Ehrentitels „Prophet“ an ausgewählte Figuren der alt­testamentlichen Heilsgeschichte.91 Dieses Verständnis scheint hinter der Über­setzung von 46,1b in La (in prophetis, „unter den Propheten“) zu stehen.92 Gegen eine solche Erklärung von 46,1b spricht, dass Sirach den Begriff ‫ נבואה‬nur noch in 46,13.20 im Blick auf Samuel und in 44,3 im Blick auf besonders begabte, namentlich nicht genannte Heiden, und zwar jeweils im Sinn prophetischen Sehens, gebraucht. Den Titel ‫ נביא‬hingegen verwendet Ben Sira bewusst nur für die bereits im Alten Testament als Propheten bezeichneten Figuren Elia (48,1), Elisa (48,8) und Jeremia (49,7).93 88 Vgl.

weiterhin Ex 24,13; Num 11,28; Jos 1,1. und dazu Perlitt, Mose, der neben Dtn 18,15; 34,10 und Hos 12,14 noch Num 11,14–17 und 12,6–8 diskutiert. 90 In der Regel stellt in G eine Form von λειτουργέω das Äquivalent zu ‫ שרת‬dar (vgl. Sir 4,14; 7,30; 45,15; 50,14). Den Begriff διάδοχος verwendet G allerdings nur zur Beschreibung prophetischer Sukzession (vgl. 48,8, dort als Äquivalent zu ‫„[ תחליף‬Nachfolger“] – gegen Barthélemy / Rickenbacher, Konkordanz, S. 126, dürfte dies substantivisch zu verstehen sein, vgl. Hildesheim, Prophet, S. 68–69). Angesichts der geprägten Wendung ‫משרת משה‬ ist es unwahrscheinlich, dass G in seiner Vorlage von 46,1 ‫( תחליף‬so Middendorp, Stellung, S. 46–48) oder ‫„( משנה‬Zweiter“, vgl. 2 Chr 28,7, so Peters, Buch, S. 394) vorgefunden hat. 91 Vgl. innerhalb des AT beispielsweise die Bezeichnung Abrahams als ‫ נביא‬in Gen 20,7. 92 Vgl. auch die griechische Minuskel 443 (ἐν προφήταις). 93 Zu Elia vgl. 1 Kön 18,36; Mal 3,23; 2 Chr 21,12, zu Elisa vgl. 2 Kön 6,12; 9,1 und zu Jeremia vgl. Jer 20,2; 25,2; Dan 9,2; 2 Chr 36,12. Die Ursprünglichkeit der Anwendung des ‫נביא‬-Titels auf Hiob in Sir 49,9 ist textkritisch umstritten. Der in HB gebotene Text ist nicht sicher lesbar. Erhalten sind nach Beentjes, Book, S. 88, nur (schwach lesbar) die Buchstaben ‫נ()יא‬. Vattioni, Ecclesiastico, S. 266, und Segal, ‫ספר‬, S. 336, verzichten hier auf eine Rekonstruktion. In Syr fehlt das entsprechende Wort. G (und La) eignen sich nicht zu einer Rekonstruktion von H, da sie ‫ ִאּיֹוב‬als ‫„( אֹוּיֵב‬Feind“) gelesen haben. Siehe dazu ausführlich 89 Vgl. Anm. 40

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3. auf die in Ex 33,7–11 (und Num 12,6–8) geschilderte Tätigkeit Moses am Zelt der Begegnung, die Ben Sira mittels des in Ex 33 nicht gebrauchten Begriffs ‫ נבואה‬als ein prophetisches Wirken interpretiert. Aufgrund des wie­ derholten Rückgriffs Sirachs auf Ex 33,94 des Wortgebrauchs von ‫ נבואה‬in Sir 46,13.20 und der Interpretatio Graeca des Übersetzers, der ‫ משרת‬mit διάδοχος wiedergibt, besitzt diese Möglichkeit die höchste Wahrscheinlichkeit. Funktion des prophetischen Wirkens Moses wie auch Josuas ist gemäß der Prophetendefinition in Sir 49,10 die Stärkung Israels in Krisenzeiten.95 Eine eigenwillige Wortkombination stellt schließlich auch die Bezeichnung Josuas als ‫ גבור בן חיל‬dar, welche die alttestamentlich mehrfach belegten Wendungen ‫ גבור חיל‬und ‫ בן חיל‬verschmilzt.96 Josua wird dadurch als besonders tapferer Kriegsheld stilisiert. Sachlicher Hintergrund sind die Berichte in den Büchern Exodus, Numeri, Deuteronomium und Josua über die Kriege Josuas. Unter diesen stellt die theologische Lehrerzählung von der Schlacht gegen die Amalekiter in Ex 17,8–16 den ersten dar.97 Insofern in Ex 17,8–16 Josua im unmittelbaren Auftrag Moses handelt,98 ist nicht ausgeschlossen, dass Ben Sira bei der Komposition der Einleitung der Josuaperikope in 46,1 neben Ex 33,11 auch Ex 17,8–16 vor Augen hatte. Traditionsgeschichtlicher Hintergrund der letzten den Namen Moses nennenden Notiz innerhalb des Sirachbuchs in 46,7a (‫ובימי משה עשה חסד‬, „und in den Tagen Moses erwies er sich getreu“) ist der Abschnitt über die Treuebekundungen Josuas und Kalebs gegenüber der Landverheißung Jhwhʼs im Gegensatz zu der murrenden „Gemeinde Israels“ (Num 14,1–10 vgl. Sir 46,7b– e). Der Ausdruck ‫ ימי משה‬ist zwar alttestamentlich nicht belegt. Die Zeitangabe mittels der Konstruktusverbindung nn‫ ימי־‬ist allerdings eine gängige alttestamentliche Formel.99 Die Wendung ‫ עשה חסד‬im Sinn von „jemandem Treue erweisen“ erscheint mehrfach innerhalb des Alten Testaments,100 jedoch nie mit dem Subden Aufsatz zu Sir 49 in diesem Band, S. 23–47. Schließlich wird in Sir 36,21 im Kontext eines Volksklagelieds allgemein von den Propheten Jhwhʼs gesprochen (vgl. Klgl 2,9). Zu den ‫ שנים עשר הנביאים‬in Sir 49,10 vgl. dann Hildesheim, Prophet, S. 206–221. 94 S.o. zu Sir 45,1c Ex 33,11a und zu Sir 45,3d Ex 33,18. 95 Vgl. dazu auch Petraglio, Il libro, S. 159–160. 96 Vgl. Ri 6,12; 1 Sam 9,1; 16,18; 1 Kön 11,28; Ruth 2,1 bzw. 1 Sam 14,52; 18,17; 1 Kön 1,52. 97 Vgl. dazu Schmitt, Geschichte. 98 Die Verwendung der Verbalwurzel ‫ בחר‬in Ex 17,9 (vgl. Jos 8,3) und in Sir 46,1d lässt sich allerdings nicht als Argument für die Abhängigkeit der Sirachpassage von Ex 17,9 verwerten, da sich der Begriff ‫„( בחיריו‬seine Auserwählten“) wohl nicht auf die von Josua ausgewählte Truppe bezieht, sondern auf das von Jhwh erwählte Israel (vgl. zum einen den alttestamentlichen Wortgebrauch von ‫בחיר‬, besonders in den Geschichtspsalmen Ps 105,6.43 und Ps 106,5 sowie in Jes 65,9.15.22, zum andern die explizite Nennung Israels im folgenden Bikolon in Sir 46,1–2). 99 Vgl. Gen 14,1; 26,1; Est 1,1; Neh 12,12; 1 Sam 17,12; 1 Chr 4,41; 2 Chr 9,20 u. ö. 100 Vgl. Gen 21,23; Jos 2,12; Ri 8,35; 1 Sam 15,6; 2 Sam 3,8; 9,1; Ruth 1,8; 1 Chr 19,2 u. ö.

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jekt Josua. Das heißt, Ben Sira greift auch in 46,7 auf vorgeprägtes Formelgut zurück und verbindet dieses zu einem poetischen Geschichtssummarium mit einem eigenen theologischen Gepräge.101 So interpretiert er die Rede Josuas und Kalebs für Jhwh gegen die unzufriedenen Israeliten als einen Akt der Solidarität mit Mose und der Ergebenheit gegenüber Jhwh.102 1.4 Mose und das Gesetz – Sir 24,23 Ausgangspunkt für eine Rekonstruktion der hebräischen Vorlage bilden G und Syr. (23a) Ταῦτα πάντα βίβλος διαθήκης θεοῦ ὑψίστου (23b) νόμον ὃν ἐνετείλατο ἡμῖν Μωυσῆς (23c) κληρονομίαν συναγωγαῖς Ιακωβ

Dies alles ist das Buch des Bundes des höchsten Gottes, nämlich das Gesetz, das Mose uns befohlen hat, als Erbteil für die Gemeinden Jakobs.

(23a) kwlhjn hljn bsprʼ dqjmh dmrjʼ dktjbn (23b) nmwsʼ dpqdn mwšʼ (23c) jwrtnʼ hw lknwšth djʽqwb

Dies alles ist im Buch des Bundes des Herrn geschrieben. Das Gesetz, das uns Mose befohlen hat, ist ein Erbteil für die Gemeinde Jakobs.

In V. 23a dürfte die in G belegte direkte Identifikation der kosmischen Weisheit mit der Tora auf den ursprünglichen Text hinweisen (vgl. 1,16; 15,1; 19,20). Syr ist wohl nur eine freie Wiedergabe der hebräischen Vorlage.103 Fraglich ist die Ursprünglichkeit der Wendung βίβλος διαθήκης θεοῦ ὑψίστου.104 Die Worte überfüllen aus metrischer Perspektive den Vers. Nun kann ein Tristichon aber auch ein bewusstes stilistisches Signal für die in V. 23 erreichte Zielaussage von Kap. 24 sein. Dass der Begriff διαθήκη im Sirachbuch sonst im priesterschriftlichen Sinn von „Verheißung“ gebraucht wird, während er hier im deuterono­misch-deuteronomistischen Sinn als „Verpflichtung“ erscheint, deutet nicht zwangsläufig auf eine spätere Einfügung der Wendung hin, sondern lässt sich auch aus dem Rückgriff Sirachs auf unterschiedliche Quellen und Traditionen erklären. Schließlich spricht der stilistisch auffällige Anschluss von νόμον in V. 23b als Akkusativ der Beziehung zu βίβλος eher für die Ursprünglichkeit von V. 23a.105 Die ausdrückliche Erwähnung des Objekts der Übergabe des Gesetzes mittels Personalpronomen in V. 23b (ἡμῖν) findet sich in der griechischen Überlieferung nicht in allen Handschriften,106 wird aber durch Syr bestätigt. In V. 23c 101 Vgl.

zur Verknüpfung dieser beiden Formeln auch Sir 49,3. 1 Makk 2,55–56. 103 So mit Ryssel, Sprüche, S. 355; Smend, Sirach erklärt, S. 221. 104 Vgl. Rickenbacher, Weisheitsperikopen, S. 126–127; Marböck, Geschichte, S. 112. 105 GO, GL und die Minuskel 542 bieten mit νόμος die einfachere und wohl sekundäre Lesart. 106 Das Pronomen fehlt u. a. in GB (vgl. auch La). Der Codex Venetus (GV) sowie zahlreiche griech. Minuskeln lesen ὑμῖν. Rickenbacher, Weisheitsperikopen, S. 127, hält – kaum 102 Vgl.

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entspricht der Singular von Syr lknwšth djʽqwb („für die Gemeinde Jakobs“) der mutmaßlichen Bezugsstelle Dtn 33,4 (‫קהלת יעקב‬, vgl. Sir 50,13.20).107 Die syntaktische Differenz zwischen G und Syr, insofern G V. 23b als direkte Explikation zu V. 23a bietet und Syr V. 23b–c als einen selbständigen Satz formuliert, ist für eine Rekonstruktion der Vorlage ohne Bedeutung. Als rekonstruierter hebräischer Grundtext ergibt sich daher:

‫( כל אלה ספר ברית עליון‬23a) Dies alles ist das Buch des „Bundes“ des Höchsten108, ‫( תורה צוה לנו משה‬23b) die Weisung, die uns Mose befohlen hat, ‫( מורשה קהלת יעקב‬23c) als Erbteil für die Gemeinde Jakobs.

Ausgangspunkt von Sir 24,23 ist Moses Stilisierung als Vermittler der Tora als Heilsgut (‫מורשה‬, κληρονομία) an Israel in Dtn 33,4. Die Gleichsetzung der kosmischen Weisheit mit dem ‫ספר ברית עליון‬, dem „Buch des ,Bundes‘ des Höchsten“, basiert auf der entsprechenden Wendung in Ex 24,7,109 die Ben Sira mit dem von ihm bevorzugten Gottestitel ‫„( עליון‬der Höchste“)110 kombiniert. Im Hintergrund der Identifikation der kosmischen Weisheit mit der Tora stehen vier Denkmodelle: 1. ein universales Verständnis der Weisheit, wie es sich alttestamentlich erstmals in Spr 8,22–36 und Hi 28,20–27 niedergeschlagen hat,111 2. ein universales Verständnis der Tora, wie es in Dtn 4,6 angelegt und in Ps 19 entfaltet ist, 3. die Gleichsetzung der Gottesfurcht mit der Weisheit, wie es in Spr 1,7 und Hi 28,28 vertreten wird, 4. die Konzentration der Gottesfurcht auf den Gehorsam gegenüber der Tora (vgl. Dtn 4,8–10; Ps 112,1). Aus (3) und (4) ergibt sich die für das Sirachbuch charakteristische Identifi­ kation der Weisheit mit dem Toragehorsam (vgl. Ps 19,8; 119,98–99). Seine nächste Parallele findet Sir 24,23 in Bar 4,1, wobei hier im Unterschied zu überzeugend – ἡμῖν (‫ )לנו‬für eine sekundäre, unter dem Einfluss von Dtn 33,4 (G, MT) stehende Ergänzung. 107 So mit Ryssel, Sprüche, S. 355. Allerdings lautet das griechische Äquivalent zu ‫קהל‬ in Sir stets ἐκκλήσια (vgl. 15,5; 30,27; 34,11; 44,15; 46,7; 50,13.20), während συναγωγή auf ein hebräisches ‫ עדה‬bzw. ‫ מעמר‬verweist (vgl. Sir 4,7; 16,6; 41,18; 45,18; 46,14 bzw. Sir 43,20). Rickenbacher, Weisheitsperikopen, S. 112 und 127, konjiziert daher in V. b anstelle von ‫( קהלת‬vgl. Dtn 33,4) ‫עדת‬, da Sirach nie ganz wörtlich zitiere. Die singularische Lesart jedenfalls wird durch die griech. Minuskeln 542 und 797 sowie La nahegelegt. Möglicherweise reflektiert der Plural συναγωγαί die spätere Situation der jüdischen Diaspora (so bereits Smend, Sirach erklärt, S. 221, zuletzt Sauer, ATD.A 1, S. 178 Anm. 5). 108 Gegen Segal, ‫ספר‬, S. 146, der ‫ אל עליון‬rekonstruiert, dürfte nur ‫ עליון‬zu lesen sein (vgl. Sir 41,4.8; 42,2; 44,20; 49,4; 50,14). 109 Vgl. weiterhin 2 Kön 23,2 ( par. 2 Chr 34,30); 2 Kön 23,21; 1 Makk 1,57. 110 Vgl. Sir 6,37; 40,1(v. l.); 41,4.8; 42,2.18; 43,2.5(v. l.); 44,2.20; 46,52; 47,5.8; 48,20; 49,4; 50,14.16–17. 111 Vgl. dazu Witte, Leiden, S. 206–211.

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Sirach nicht auf die vermittelnde Rolle Moses hingewiesen wird.112 Ein Vergleich des Gebrauchs des Begriffs κληρονομία („Erbe“) im griechischen Sirach zeigt schließlich, dass der Tora als Heilsgut Israels das Heilsgut „Land“ (44,23; 46,8) zur Seite steht.113

2. Geschichtsbild und Theologie der Mosetexte des Sirachbuchs Das „Väterlob“ Ben Siras stellt innerhalb der Literatur des antiken Judentums eine Neuheit dar. Erstmals wird hier im Rahmen einer Weisheitsschrift das Thema der Geschichte Israels umfassend gewürdigt. Dabei spiegelt sich die Intention dieser Geschichtsschau, die auch formal mit ihrer Konzentration auf Einzelgestalten innovativ ist, in den Mosetexten verdichtet wider. Sirach will nicht in erster Linie über die Geschichte Israels unterrichten, sondern sie und die in ihr wirkenden Kräfte als Gotteshandeln im Kontext der gesamten Schöpfung interpretieren. Sirach tritt hier als ein schöpfungstheologisch argumentierender Hermeneut der alttestamentlichen Geschichtsüberlieferungen auf. a) Geschichte, wie sie Ben Sira in Kap. 44–49; 50 entwirft, erscheint als ein durch Gottes Handeln begründetes und geleitetes Geschehen, das an Knotenpunkten durch von Gott besonders begabte und beauftragte Männer 114 geprägt und begleitet wird. Am Beispiel Moses entfaltet Sirach die Vorstellung, dass allein Gottes Eingreifen in die Geschichte das Leben und die Existenz des Volkes Israel sichern.115 Das vergangene Handeln Gottes an Israel und an der Welt hat stets eine Bedeutung für die Gegenwart Israels und der Welt. Die Erwählung des exemplarisch frommen Gottesfreundes Mose zielt auf die Vermittlung der Tora. Diese strahlt über die Mosezeit und den Kreis der Erstempfänger aus in die je gegenwärtige Gemeinde Israels und über Israel in die Welt. Der Gott und Menschen liebende, demütige und gläubige Mose (45,1.4) ist das Vorbild des Frommen und Weisen schlechthin (1,27). Das von Mose erstmals ausgeübte Amt des Toralehrers (45,5) und Propheten (46,1) wirkt mittels weisheitlicher, priesterlicher und prophetischer Sukzession in der Gegenwart Israels weiter. 112 Vgl.

dann aber Bar 2,28. H kann bisher kein entsprechender Vergleich angestellt werden, da für die mutmaßliche Vorlage des Begriffs κληρονομία in 24,23, ‫מורשה‬, kein weiterer Beleg in Sir nachgewiesen ist. Das hebräische Äquivalent zu κληρονομία lautet in Sir jeweils ‫( נחלה‬vgl. 42,3; 44,11.23; 45,20.23.25; 46,8–9). Eine Kennzeichnung der Tora als ‫ נחלה‬Israels ist alttesta­ mentlich nicht belegt. Hingegen findet sich die Charakterisierung der Tora bzw. des Landes als ‫ מורשה‬in Dtn 33,4 bzw. Ex 6,8; Ez 11,15; 25,4.10; 33,24; 36,2–3.5. 114 Wie andere jüdisch-hellenistische Geschichtssummarien (Neh 9; 1 Makk 2,51–60; 3 Makk 6,4–8; 4 Makk 16,20–23; 18,9–19) nennt Sir keine Heldinnen Israels, siehe dann aber Hebr 11,11–12.31.35. 115 Vgl. Sir 36,1–17 und dazu Sauer, Lob, S. 130. 113 Für

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Eine eschatologische Tendenz besitzen die Mosetexte nicht.116 Ben Sira blickt nicht auf den vergangenen Mose, weil er auf den künftigen hofft, sondern weil er Moses Gegenwartsbedeutung betonen will. Zumindest die Mosetexte Ben Siras bezeugen geradezu ein uneschatologisches Geschichtsverständnis. Die starke Betonung der Gegenwartsrelevanz und der Paradigmatik haben allerdings eine gewisse Dehistorisierung der von Sirach rezipierten geschichtlichen Stoffe zur Folge.117 b) Geschichte erscheint als ein göttlich strukturiertes und linear verlaufendes, von einer kosmischen Schöpfungsordnung umgebenes Geschehen. Schöpfung und Geschichte stehen für Sirach eng nebeneinander: sie sind Handlungsorte des einen Gottes. In Schöpfung und Geschichte begegnen gleichsam die Herrlichkeit und die Weisheit Gottes und sind dort als solche punktuell erfahrbar (vgl. 42,16; 44,2; 45,3).118 Im Blick auf die Mosetexte erweist sich die Korrelation von Schöpfung und Geschichte besonders deutlich an der Bestimmung des Verhältnisses zwischen der Erschaffung des Menschen und der Gabe der Tora in Kap. 17. Unmittelbar im Anschluss an eine schöpfungstheologische Paraphrase (17,1–10), in der Ben Sira anthropologische Kerntexte aus Gen 1,26–29; 2,7–3,19*; 5,1 und 9,2 kombiniert und Elemente der stoischen Anthropologie rezipiert,119 findet sich eine Anspielung auf Gottes Gabe der Tora (Sir 17,11–12):120 (11) (12)

προέθηκεν αὐτοῖς ἐπιστήμην καὶ νόμον ζωῆς ἐκληροδότησεν αὐτοῖ εἰς τὸ νοῆσαι ὅτι θνητοὶ ὄντες ὑπάρχουσι νῦν διαθήκην αἰῶνος ἔστησεν μετ’ αὐτῶν καὶ τὰ κρίματα αὐτοῦ ὑπέδειξεν αὐτοῖς.

116 Gegen

Er [d. h. Gott] fügte ihnen Erkenntnis hinzu und gab ihnen das Gesetz des Lebens als Erbe, damit sie bedächten, dass sie jetzt als Sterbliche leben.121 Einen ewigen „Bund“ schloss er mit ihnen und seine Gebote zeigte er ihnen.

Maertens, LʼÉloge, S. 87 u. ö. dazu auch von Rad, Weisheit, S. 354, und Mack, Wisdom, S. 117. 118 Vgl. weiterhin 44,7.13b.19; 45,7.8.12.20.25; 49,12; 50,13. Zur Bedeutung des Motivs der göttlichen Herrlichkeit als Klammer des Schöpferlobs und des Geschichtslobs siehe Wischmeyer, Kultur, S. 188–189, und zum Motiv der „Weisheit in der Schöpfung // Weisheit in der Geschichte“ Mack, Wisdom, S. 216. 119 Vgl. dazu Middendorp, Stellung, S. 30; Sauer, ATD.A 1, S. 141, und Wicke-Reuter, Providenz, S. 152–165. Der in besonderem Maß (vulgär-)stoischen Einfluss verratende V. 5 ist nur in GL und den Minuskeln 404 und 795 belegt (vgl. dazu Wicke-Reuter, Providenz, S. 153 Anm. 41). 120 Der Text liegt bisher nur in G und in S sowie den davon abhängigen Versionen vor. Als mutmaßliche hebräische Vorlage ergibt sich im Anschluss an Segal, ‫ספר‬, S.103: ‫ ותורה חיים הנחילם‬ ‫) שם לפניהם דעת‬11( ‫) ברית עולם הקים אתם ומשפטיו הודיעם‬12( 121 Der Stichos ist nur schwach bezeugt (vgl. GL und die Minuskel 743), er fehlt in La und Syr. 117 Vgl.

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Der Ausdruck „Gesetz des Lebens“, der in dieser Form nur noch in Sir 45,5 zur Beschreibung der von Mose vermittelten Tora begegnet,122 und die in 17,13 vorliegende Theophaniemotivik deuten daraufhin, dass 17,11 nicht von einem allgemeinen Naturgesetz, das allen Menschen in der Schöpfung eingepflanzt ist, spricht, sondern von der am Sinai erlassenen Tora Israels (vgl. Ex 19,3–5; 24,8; Dtn 4–5).123 Zwar wird die Sinai-Gesetzgebung alttestamentlich nie als „ewiger ,Bund‘“ (διαθήκη αἰῶνος, ‫ )ברית עולם‬bezeichnet. Dennoch braucht die Wendung διαθήκη αἰῶνος keineswegs auf den „Noah-,Bund‘“ (vgl. Gen 9,16) bezogen und damit schöpfungstheologisch interpretiert zu werden.124 So variiert Sir 44,18 bezeichnenderweise die alttestamentliche Tradition von der Noah verheißenen ‫ ברית עולם‬aus Gen 9,16 zu einer einfachen ‫ ברית‬bzw. zu einem ‫„( אות עולם‬ewigen Zeichen“).125 Hingegen bestimmt Sir 45,15 über die alttestamentliche Tradition hinausgehend, die Einsetzung Aarons durch Mose als ‫( ברית עולם‬διαθήκη αἰῶνος).126 Das Verhältnis zwischen dem schöpfungstheologischen Abschnitt in 17,1–10 und dem toratheologischen Abschnitt in 17,11–14 ist dann so zu bestimmen, dass die an Mose vermittelte Tora über Israel als Erstadressaten letztlich allen Menschen gilt. Israel teilt mit allen anderen Völkern die Bedingungen der Geschöpflichkeit (17,1–10), hebt sich aber darin von ihnen ab, dass es als Eigentumsvolk Jhwhʼs (vgl. Dtn 32,8) stellvertretend für alle Völker das „Gesetz des Lebens“ erhalten hat (17,11–13.17). Während die Schöpfung Ort und Quelle des Gotteslobs darstellt (17,8–10), ist die Tora Quelle der Gottesliebe und der Nächstenliebe (17,14). Im Rückblick auf die Verwendung des „Bundes“-Begriffs in 17,12 erklärt sich dann auch dessen merkwürdiges „Fehlen“ in der Moseperikope 45,1–5. Die doppelte Korrelierung von Schöpfung und Tora, wie sie in 17,1–11 be­ gegnet, bestimmt die Einleitung des Sirachbuchs (1,9–10.26–27). Sie spiegelt sich wider in der Beschreibung der universalen, die Schöpfung durchflutenden und sich in der Tora Israels verdichtenden Weisheit (24,1–22.23) und sie ist charakteristisch für die makro- und mikrokompositionelle Struktur des „Vä­terlobs“. So geht dem „Lob der Väter“ einerseits ein umfassender Schöpfungshymnus voraus (42,15–43,33), der über zahlreiche Leitworte und Leit122 Vgl.

darüber hinaus die in Anm. 74 genannten Texte. Wicke-Reuter, Providenz, S. 160–165. Anders Rickenbacher, Weisheitsperi­ kopen, S. 87–89 und 148, der in Sir 17 bereits die in spätere jüdische Vorstellung von der Verankerung der Tora in der Schöpfungsordnung (vgl. mAv I,2) und der schöpfungsbedingten Gabe der Gebote angelegt sieht, dabei dann aber nicht erklärt, weshalb Sir 45,5 explizit die geschichtlich einmalige Übergabe der Tora an Mose thematisiert. Siehe dazu auch den Aufsatz über Sir 17 in diesem Band auf S. 109–121. 124 So aber zuletzt wieder Collins, Wisdom, S. 60–61, demzufolge Sirach die Zeitspanne zwischen Schöpfung und Gabe der Tora am Sinai auflöse und die Noah-berît mit der Sinai-berît gleichsetze. 125 Auch G spricht im Kontext des Noah-„Bundes“ nicht von einer διαθήκη αἰῶνος, sondern von διαθῆκαι αἰῶνος (Sir 44,18). 126 Vgl. auch Sir 45,7 (G). 123 Ähnlich

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motive mit Kap. 44–50 verknüpft ist.127 Zum anderen besitzt das „Väterlob“ selbst einen inneren schöpfungstheologischen Rahmen. Der Lobpreis der einzelnen Väter hebt an mit Noah, dem Begründer der nachsintflutlichen (neuen) Menschheit (44,17–18),128 und schließt mit Adam, dem Stammvater aller Menschen (49,16), bevor Sirach dann die jüngste Vergangenheit in den Blick nimmt und ausführlich den Hohepriester Simon II. (ca. 218–192 v. Chr.) würdigt (50,1–24). c) Ben Siras Mosetexte besitzen wie sein „Lob der Väter“ insgesamt und seine geschichts-theologischen Reflexionen außerhalb von Kap. 44–50 auch eine pädagogische Zielrichtung.129 So rufen sie auf zum Toragehorsam, zum Gotteslob und zur Pflege einer Gedächtniskultur. Durch die Mosetexte des Ben Sira zieht sich die für sein gesamtes Werk typische Verhältnisbestimmung von Gottes Handeln und menschlicher Ethik. Jhwh handelt in der Geschichte und ermöglicht durch sein Handeln Leben, in den Mosetexten verdeutlicht am Beispiel der Leben und Einsicht vermittelnden Tora. Der Mensch, in den besprochenen Abschnitten illustriert an Mose und dem Pharao, an Josua und Kaleb, ist aber verantwortlich für sein Tun. Mit dem Hinweis auf die Verantwortlichkeit des Menschen führt Ben Sira die deuteronomistische Entscheidungsethik fort (vgl. Sir 15,15 mit Dtn 30,15–20; Jer 21,8). Existenzgrundlage des zur ethischen Entscheidung befähigten Menschen und Kriterium verantwortlichen Handelns ist die von Mose überlieferte und als Inkarnationsstätte der Weisheit verstandene Tora (Sir 24,23).130 Wie sich nicht zuletzt aus Sir 24 ablesen lässt, ist die Tora ein Bildungsfaktor – Religion dient der Bildung und ist ein Element derselben.131 Teil und Funktion der Geschichtsschau Ben Siras ist, wie sich explizit an dem Gebrauch der Segensformel zu Beginn der Moseperikope zeigt, Gedächtnisarbeit: Geschichtliches Gedenken wirkt sinnstiftend und ermöglicht eine heilvolle Kontinuität und Partizipation an der Person und dem Werk des Menschen, dessen gedacht wird (vgl. 45,1; 46,11; 49,1.9.13). Insofern sich Ben Sira um eine interkulturelle Vermittlung und Öffnung der Traditionen Israels bemüht, lässt sich seine Form der Gedächtnisarbeit im Anschluss an eine von 127 Vgl. das Leitwort ‫( זכר‬Sir 42,15; 44,9.13; 45,1; 46,11; 47,23; 49,1.9.13), die Beto­nung der „Herrlichkeit Gottes“ (‫כבוד‬, δόξα) als eine die Schöpfung und die Geschichte transzendierende Größe (42,16–17; 45,3), die „Engel Gottes“ als eine zwischen Gott einerseits und der Schöpfung und der Geschichte andererseits stehende Größe (42,17; 45,2 [G]), das „Wort Gottes“ bzw. das „Wort der von Gott erwählten Menschen“ als eine die Schöpfung und die Geschichte strukturierende Größe (42,15; 43,5.10.26; 45,3) und das Motiv vom Schöpfergott, der über umfassende Einsicht verfügt, die über die Tora in die geschöpfliche und geschichtliche Welt hinein vermittelt wird (42,20.22; 45,5). Vgl. dazu auch Mack, Wisdom, S. 189–193. 128 Zum sekundären Charakter der Henochnotiz in 44,16 s. o. Anm. 32. 129 Vgl. dazu auch Wischmeyer, Kultur, S. 200, und Hildesheim, Prophet, S. 256. 130 Zur Ethik Ben Siras vgl. Wicke-Reuter, Providenz, besonders S. 106–142. 131 Vgl. Sir 19,19 (G); 32,14; 39,8 (G) und dazu von Rad, Weisheit, S. 332–334.

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Jan Assmann eingeführte Differenzierung dem Typ der dekonstruktiven Erinnerung zuweisen.132 d) Mose ist für Sirach in erster Linie der exemplarisch fromme, d. h. gottliebende und gottergebene Toralehrer Israels, „un rabbi supérieur“,133 in zweiter Linie auch ein wundertätiger Gottesmann, Priester und Prophet. Allein als Toralehrer besitzt Mose eine zeitübergreifende Bedeutung, weil die von ihm empfangene Tora (45,5) eine Zeit und Raum transzendierende, zum Leben führende Relevanz besitzt. Die Tora Moses schenkt Leben – unabhängig von Kultur und Nation.134 Diese universale Tendenz, die in H angelegt ist, wird von den Versionen fortgesetzt. In G, La und Syr ist Mose dann nicht nur eine von den Israeliten und Ägyptern hochgeachtete Gestalt der Frühgeschichte Israels, sondern ein von Gott und Menschen geliebter und – wie daraus zu folgern ist – ein zu allen Zeiten zu liebender Mensch.135 Mit der Konzentration auf die Beschreibung Moses als von Gott erwählten Toravermittlers hebt sich Ben Siras Mosebild deutlich von den bunten Darstellungen des Lebens Moses in den anderen jüdischen Schriften aus hellenistischer Zeit ab. Es ist wesentlich konservativer als z. B. Moses Erhebung zum ersten Weisen (πρῶτος σοφός) und zum Schöpfer des Alphabets (γράμματα) im Werk des nur eine Generation nach Sirach schreibenden Eupolemos (158 v. Chr.),136 als Moses Inauguration zum Erfinder der ägyptischen Hieroglyphen und zum Erbauer von Schiffen, Baugeräten, Waffen u. v. m. in der romanähnlichen Biographie des θεῖος ἀνὴρ Μωυσῆς durch den Historiker Artapanos (um 100 v. Chr.) 137 oder auch als Moses Stilisierung zum philosophischen Ideal einer vernunftgemäßen Selbstbeherrschung in 4 Makk 2,17.138 Von einer Heroisierung bzw. Divinisierung Moses,139 wie sie sich in der Dramatisierung des Exodusstoffes bei dem jüdischen

132 Vgl.

Assmann, Moses, S. 26. LʼÉloge, S. 94. 134 Petraglio, Il libro, S. 112. 135 Zu dieser universalen Tendenz des Mosebildes siehe auch Janssen, Gottesvolk, S. 29– 30, der die Wendungen ‫ כל חי‬und ‫ כל בשר‬in Sir 45,1.4 auf alle Menschen bezieht. 136 Eupolemos, Frgm. 1 (in: FGH III,C,2, S.672; Walter, Historiker, S. 99). Siehe dazu auch die in der unmittelbaren zeitlichen Nähe zu Eupolemos stehende Beschreibung Moses als Lehrer von Pythagoras, Sokrates und Plato durch den jüdischen Exegeten Aristobul, Frgm. 4 (in: Denis, Fragmenta, S. 217–228; Walter, Exegeten, S. 274). 137 Artapanos, Frgm. 3 (FGH III,C,2, S. 682; Walter, Historiker, S. 128–136). Dabei weiß Artapanos auch von der Physiognomie des Mose zu berichten. 138 Ähnlich betont auch Flav. Jos. Ant. IV,3,2, Moses Fähigkeit zur Selbstbeherrschung, und bei Philo, Mos. I,21–33.48 avanciert Mose zum stoischen Weisen. Vgl. dazu Jeremias, Μωυσῆς, S. 854–860; Oberhänsli-Widmer, Mose, S. 350. 139 So Oberhänsli-Widmer, Mose, S. 354, unter Berufung auf Sir 45,1 (H) – doch beachte die Betonung der Menschlichkeit des Mose in 45,4a, vgl. zu diesem Aspekt Kieweler, Ben Sira, S. 269–271. 133 Maertens,

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Tragiker Ezechiel (zwischen 250 und 80 v. Chr.) andeutet,140 ist Sirach weit entfernt. Sein Mosebild setzt tendenziell einerseits das spätdeuteronomistische Moseverständnis fort,141 wie es sich auch in der Betonung Moses als Vermittler der Tora im chronistischen Schrifttum niedergeschlagen hat.142 Andererseits bereitet Ben Sira das rabbinische Verständnis von Mose als dem einzig autoritativen Empfänger und Vermittler der Tora vor, wie es prototypisch in der Einleitung des Mischnatraktates Pirqe Avot begegnet: Mose empfing das Gesetz vom Sinai und überlieferte es Josua und Josua den Ältesten und diese den Propheten und diese den Männern der großen Synagoge. (mAv I,i)

Insofern Ben Sira im Kontext der Moseabschnitte die Tora als Inkarnationsstätte der Weisheit und als Gesetz des Lebens beschreibt, erweist sich seine Schrift einmal mehr als wichtige Brücke zwischen dem Alten und dem Neuen Testament – ist doch nach dem Zeugnis des Letzteren nun Jesus Christus der Ort, in dem die Weisheit Wohnung nahm (Mt 11,28–30; Joh 1,14) 143 und in dem sich das Gesetz des Lebens verwirklicht (Röm 8,2). Der Alten Kirche war die zentrale Vermittlungsrolle der zugleich in der alttestamentlichen Weisheitstradition wie im Deuteronomium verwurzelten Schrift Ben Siras bewusst, wenn sie diese als Ecclesiasticus, als kirchliches Vorlesebuch bezeichnete 144 – und auch der eingangs zitierte Thomas Mann skizzierte nicht zuletzt in der Linie von Sirachs Mosebild sein eigenes Porträt von Mose als dem von Bildungslust gepackten geistig-geistlichen Bildhauer Israels.145

140 Vgl. Moses visionäre Thronbesteigung in Z. 68–82 der Exagoge Ezechiels (in: Denis, Fragmenta, S. 207–216; Vogt, Tragiker, S. 124). 141 Vgl. Jos 8,31–32; 11,15; 14,6; 21,2; 22,9; 23,6; 2 Kön 14,6. 142 Vgl. 1 Chr 22,13; 2 Chr 5,10; 8,13; 23,18; 25,4; Esr 3,2; 6,18; 7,6; Neh 1,7–8; 8,1.14; 9,14; 13,1. 143 Vgl. weiterhin Hebr 1,2; Kol 1,15–20 und dazu Härle, Dogmatik, S. 402. 144 Vgl. de Wette, Lehrbuch, S. 420–423. 145 Vgl. Mann, Gesetz, S. 974; 985 u. ö.

„Was haben wir für einen Anteil an David […]?“ Sir 47,12–48,1 als relecture von 1 Kön 12 Abstract: This article shows how Ben Sira receives 1 Kgs 3–12. In this process, Solomon’s ambivalence, being a wise man in his youth and a foolish ruler advanced in years becomes clearer than in 1 Kings. Ben Sira reduces the narration of Solomon’s temple because he sees David as the actual founder of the worship as Chronicles or Ps 78 describes it, and because the current service at the temple under Simon II is important, too. For Ben Sira, 1 Kgs 12 is a wisdom- and sin-narrative. However, he does not consider Ahijah and Shemaiah although he really honours the prophets in favour of a paradigmatic relecture of Israel’s history. The centre of Ben Sira’s interest on 1 Kgs 12 is Israel’s unity. The kings of Judah and Israel destroyed this unity. Therefore, Ben Sira reads 1 Kgs 12 in the light of criticism of kingship. Finally, 1 Kgs 12 is for Ben Sira an ‘anti-Ephraim’ and an ‘anti-Samaritan’-story.

1. 1 Kön 12 in der gegenwärtigen Forschung Die Erzählung von der Auflösung des Königreichs Salomos in zwei Teile nach dessen Tod und vom Beginn der Herrschaft Rehabeams über Juda und Jerobeams über Israel in 1 Kön 12 ist ein Schlüsseltext der gegenwärtigen Alttestamentlichen Wissenschaft. Dabei werden hauptsächlich acht Punkte diskutiert. 1. Abgesehen von den üblichen Unterschieden zwischen dem MT und der LXX, bieten die meisten griechischen Handschriften (mit Ausnahme der Hexaplarischen Rezension) hinter V. 24 eine ausführliche Variante zu dem in V. 1–24 Erzählten (3 Kgt 12,24a–z). Der Ursprung dieser griechischen Version in 3 Kgt 12,24a–z, die Geschichte ihrer Komposition und ihre Beziehung zum MT sind umstritten. Die Frage, ob 3 Kgt 12,24a–z einen Midrasch auf der Basis einer mehr oder weniger mit der Vorlage von MT identischen Quelle darstellt1 oder ob sich hier eine ursprünglichere Fassung von 1 Kön 12* als im MT erhalten habe,2 ist offen. 2. Die formkritischen Differenzen zwischen (a) der Rehabeam-Volk-Erzählung in (V. 1–20), (b) der Erzählung vom Gottesmann Schemaja (V. 21–24), (c) den in sich disparaten Notizen von baulichen und kultischen Maßnah-

1 Vgl. 2 Vgl.

Talshir, Story, S. 260; 277–291. Schenker, Jéroboam, S. 236.

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men Jerobeams (V. 25–33) und (d) den Erzählerkommentaren (V. 15, V. 19 und V. 30) zeigen, dass 1 Kön 12 literarisch nicht aus einem Guss ist.3 3. Aus dem Vorliegen eindeutig deuteronomistischer Zusätze in V. 15b und in V. 30a ergibt sich die Frage nach dem Umfang vordeuteronomistischer und postdeuteronomistischer Elemente in 1 Kön 12, näherhin nach dem Verhältnis von 1 Kön 12 zu einer vordeuteronomistischen, deuteronomistischen und postdeuteronomistischen Darstellung der Geschichte der Könige Israels und Judas. Zu diesem Fragenkomplex gehört die Klärung der literar- und redaktionsgeschichtlichen Beziehungen zwischen 1 Kön 12 und den Fron-Texten in 2 Sam 20,24 bzw. 1 Kön 5, zwischen 1 Kön 12 und den Erzählungen über Ahija von Schilo in 1 Kön 11,13–14 und zwischen 1 Kön 12,16 und der Davidüberlieferung (vgl. 2 Sam 20,1).4 4. Aus dem eindeutigen Bezug zwischen 1 Kön 12,28 und Ex 32,4.8 ergibt sich die Frage nach einer die Bücher Exodus bis Könige umfassenden Redaktion, näherhin die Frage nach dem redaktionsgeschichtlichen Verhältnis zwischen dem Pentateuch und den deuteronomistischen Geschichtswerken.5 In diese Frage integriert ist aufgrund der Lokalisierung der Ereignisse in Sichem, Pnuel, Bethel und Dan die Klärung der redaktionsgeschichtlichen Verhältnisse zwischen 1 Kön 12 und den Sichem-Texten in Gen 34, Ri 9 und in Jos 24, zwischen 1 Kön 12 und den Pnuel-Texten in Gen 32,23–33 und Ri 8,8–17, zwischen 1 Kön 12 und den Bethel-Texten in Gen 28,10–22, Gen 35 und den Büchern Hosea und Amos6 sowie zwischen 1 Kön 12 und den Dan-Texten in Ri 17–18. 5. Die Schemaja-Erzählung in 1 Kön 12,21–24 weist terminologisch, stilistisch und tendenziell eine große Nähe zu der Schemaja-Rehabeam-Erzählung im Sondergut der Chronik (2 Chr 12) auf.7 Daraus ergibt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen den Königsbüchern und der Chronik, die nicht einfach im Sinn einer beiden gemeinsamen Vorlage oder einer einseitigen Abhängigkeit der Chronik von den Königsbüchern zu bestimmen ist. Vielmehr wird gegenwärtig über eine differenzierte, wechselseitige Beeinflussung der beiden Königsbücher und der Chronik diskutiert.8 3 Für die literargeschichtliche Diskussion in den letzten zehn Jahren verweise ich exem­ plarisch auf Pfeiffer, Heiligtum, S. 26–31; Becker, Reichsteilung; Koenen, Bethel, S. 39–48; Gomes, Sanctuary, S. 17–36; Köhlmoos, Bet-El, S. 154–168; Pakkala, Jerobeam, S. 501–510. 4 Vgl. dazu besonders Becker, Reichsteilung, S. 217–221. 5 Vgl. dazu besonders Van Seters, Life, S. 290–318; 460; Berlejung, Theologie, S. 351– 357; H.-Chr. Schmitt, Erzählung, S. 235–250; Köhlmoos, Bet-El, S. 185–188; Pakkala, Je­ robeam, S. 519–525. 6 Vgl. Pfeiffer, Heiligtum, S. 65–231; Koenen, Bethel, S. 169–177; Gomes, Sanctuary, S. 141–184. 7 Vgl. auch 3 Kgt 12,24o, wo die in 1 Kön 11,29–31 erzählte Zeichenhandlung nicht Ahija, sondern Schemaja zugeschrieben wird; siehe dazu Talshir, Story, S. 105; 228–232. 8 Vgl. exemplarisch zu 1 Kön 12,1–20 Köhlmoos, Bet-El, S. 158–159.

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6. Der Rekurs auf den „Tag, an dem Ephraim sich von Juda entfernte“ in Jes 7,17 provoziert die auch aus der Parallele zwischen Jes 36–39 und 2 Kön 18–20 bekannte Frage nach einer literarischen Beziehung zwischen den Königsbüchern und dem Jesajabuch, mithin nach der Redaktionsgeschichte des Jesajabuchs. Je nach literargeschichtlicher Bestimmung von Jes 7,17 kann bei der redaktionsgeschichtlichen Verhältnisbestimmung nicht prinzipiell von der Priorität von 1 Kön 12 ausgegangen werden. 7. Ein zentraler Aspekt betrifft den Charakter und den Wert von 1 Kön 12 als historische Quelle für die Geschichte Israels9 und den Jhwh-Kult, besonders für die Geschichte des Exodus-Credos und der Jhwh-Heiligtümer in Dan und Bethel.10 Bietet 1 Kön 12, sei es in seinem erzählerischen Hauptteil in V. 1–20, sei es in den Notizen in V. 25–29, historisch zuverlässige Informationen über die frühe Königszeit, oder handelt es sich um eine fiktive Ätiologie der Zweistaatlichkeit, an die sich dann noch Fortschreibungen angelagert haben?11 Verweist die Notiz in V. 19, derzufolge das Haus Israel ‫עד היום‬ ‫ הזה‬vom Haus David abgefallen sei, zwangsläufig auf eine Entstehung der Erzählung in V. 1–20 vor dem Untergang Israels 722 v. Chr., oder spiegeln sich hierin Gegensätze zwischen Samaria und Juda, wie sie in der Perserzeit und verstärkt in hellenistischer Zeit auftreten? 8. Eine letzte Frage betrifft die Rezeptionsgeschichte von 1 Kön 12 in den jüdischen Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit. So bietet Flavius Josephus (37–100 n. Chr.) eine ausführliche Paraphrase von 1 Kön 12, verbunden mit eigenen Kommentaren zum grundsätzlichen Wesen von Herrschaft und eine lange Rede Jerobeams als Erläuterung von 1 Kön 12,26.28.12 Aber schon zu Beginn des 2. Jh. v. Chr. nimmt der Jerusalemer Weisheitslehrer Ben Sira 1 Kön 12 in seinem „Lob der Väter“ (Sir 44–49; 50) auf. So soll im Folgenden gezeigt werden wie und mit welchem Ziel Ben Sira 1 Kön 12 liest.

2. Die Komposition des Salomoporträts in Sir 47,12–25 Ben Sira ist der erste biblische Autor, der umfassend die Tora sowie die geschichtlichen, priesterlichen und prophetischen Überlieferungen Israels mit der 9 Dies gilt im Blick auf die erzählte Zeit, also das letzte Drittel des 10. Jh. v. Chr., und auf die vermeintliche Zeit der Erzähler, für die sich in der gegenwärtigen Forschung eine Spanne von rund 700 Jahren ergibt, wenn einerseits mit annähernd zeitgenössischen Textelementen gerechnet wird, andererseits späteste Ergänzungen aus hellenistischer Zeit angenommen werden. 10 Vgl. Berlejung, Theologie, S. 326–334; Pfeiffer, Heiligtum, S. 26–64; Pakkala, Sin, S. 86–94; Koenen, Bethel, S. 43–48; 165–169; Köhlmoos, Bet-El; Gomes, Sanctuary; Pakkala, Jerobeam, S. 521–525. 11 Vgl. Becker, Reichsteilung, S. 227; Köhlmoos, Bet-El, S. 158–163. 12 Ant. VIII,8,1–4; siehe zu diesem Text Begg, Account, S. 15–20; 30–40.

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Weisheit verbindet und diese dabei aktualisierend auslegt. Im Rahmen seiner von Henoch bis zum Hohepriester Simon13 reichenden Galerie der Helden der Geschichte Israels (Sir 44–49; 50) bietet Ben Sira auch ein Porträt Salomos (47,12–25).14 Der Text ist durch die hebräische Handschrift B (HB) teilweise erhalten. Lücken und der im hebräischen Text fehlende V. 16 können mittels der griechischen (G) und der syrischen (Syr) Version rekonstruiert werden.15 Das Salomoportät verfügt über einen klaren Aufbau. Ein erster Abschnitt (A) aus drei Bikola kennzeichnet Salomo als Nachfolger Davids (V. 12), der zu einer von Gott geschenkten Friedenszeit herrschte (V. 13a–b) und der Gott einen „Tempel für immer“ baute (V. 13c–d)16. Ein zweigeteilter Abschnitt (B), der aus jeweils fünf Bikola besteht und als Anastrophe gestaltet ist, bietet in direkter Anrede17 zunächst ein Lob Salomos (V. 14–18b), sodann eine deutliche Kritik an Salomo (V. 18c–21). Beide Teilabschnitte (B und B′) enden namentlich mit einem Ausblick auf das Geschick Israels (V. 18b bzw. V. 21b). Der dritte Abschnitt (C), der wie der Eingangsteil aus drei Bikola gestaltet ist, bietet einen Ausblick auf Salomos Tod und Thronfolge (V. 23a–b) und ist dann Rehabeam und Jerobeam gewidmet (V. 23c–d.e–f ). Zwei Bikola, die die Geschichte des Nordreichs zusammenfassen (V. 23g–25a), führen auf das Porträt Elias in 48,1–14(15–16) hin.18 Damit bietet Ben Sira gleich zweimal einen Rekurs auf die in 1 Kön 12 erzählten Ereignisse (47,21 bzw. V. 23–25). Diese beiden Rekurse sind in V. 22 durch eine Rekapitulation der Dynastieverheißung an David aus 2 Sam 7,11–16 (vgl. Ps 89,4.20–30.34–37)19 voneinander abgesetzt. Dieser Vers lehnt sich an die Kette der Treuezusagen Gottes in Jos 21,45; 23,14; 1 Sam 3,19; 1 Kön 8,56 und 2 Kön 10,20 an.20 Mindestens die ersten beiden Bikola 13 Es handelt sich um Simon II. (218–192 v. Chr.), vgl. 3 Makk 2,1; Flav. Jos. Ant. XII,4,10; Mulder, Simon; A. Schmitt, Lobgedicht, S. 885–886. 14 Anspielungen auf Salomo bietet Ben Sira schon in seinem allgemein gehaltenen Prolog zum „Lob der Väter“ in 44,3–5 (vgl. 47,13a–b.14–17). 15 V. 16a kann nach G rekonstruiert werden (εἰς νήσους πόρρω ἀφίκετο τὸ ὄνομά σου, vgl. Jes 66,19); V. 16b nach Syr (wmskjn lšmk, vgl. 1 Kön 5,14; 10,24) ‫עד איים רחוקים הגיע שמך‬ ‫ויבואו לשמעך‬. Ein kritisch rekonstruierter hebräischer Text und eine Übersetzung finden sich im Anhang zu diesem Aufsatz, S. 169. 16 Grammatikalisch wäre es auch möglich, in Sir 47,13b–c Gott selbst als Subjekt des Tempelbaus zu verstehen (vgl. Ps 78,69 und dazu Mulder, Simon, S. 85). Doch sprechen die Konstruktion in G und die Parallelen in 2 Sam 7,13; 1 Kön 5,19; 1 Chr 22,10 für Salomo als Subjekt. Zum gezielten Wortgebrauch von Ben Sira in 47,13, wodurch in den Rekurs auf 1 Kön 8 zusätzlich Ex 15,17 und Gen 28,12–13 eingespielt werden, siehe Hayward, El Elyon, S. 194–195. 17 Vgl. Sir 46,2; 48,4; 50,5. Syr unterstreicht dies durch die ausdrückliche Nennung des Namens Salomos. 18 Skehan / Di Lella, Ben Sira, S. 529–535, und van Peursen, Language, S. 409–412, betrachten schon V. 23a als Beginn des Elia-Porträts. 19 Vgl. weiterhin Ps 94,14; 1 Kön 8,57; 2 Kön 21,14 und dazu Pietsch, Sproß, 172–174. 20 Vgl. auch noch Tob S 14,4. G übersetzt freier (καὶ ὀυ διαφθείρῃ ἀπὸ τῶν λόγων αὐ­τοῦ) und löst damit die enge Verbindung zwischen Sir 47,22 und den oben genannten Stellen.

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sind futurisch ausgerichtet,21 so dass hier wohl nicht auf 1 Kön 11,13(32.36) Bezug genommen wird. Es könnte sich vielmehr um eine messianisch orientierte Glosse handeln, in deren Hintergrund Jes 11,1.11 steht.22

3. Ben Siras erster Rekurs auf 1 Kön 12 in Sir 47,21 In seinem ersten Rekurs auf 1 Kön 12 in 47,21 versteht Ben Sira die Entstehung von zwei Königtümern (‫ )שבטים‬in Israel als negative Folge der Hingabe Salomos an fremde Frauen (V. 19–20). Die Terminologie und das Motiv stammen aus 1 Kön 11. Allerdings übernimmt Ben Sira nicht das damit verbundene Motiv der Verehrung fremder Götter und die Errichtung fremder Kultstätten durch Salomo. Ben Sira übergeht den in 1 Kön 11,11 seitens der deuteronomistischen Redaktoren erhobenen Vorwurf des Bundesbruchs.23 Er konzentriert seine Kritik auf das Feld der Sexualethik, ohne dass damit wie in Neh 13,26 Salomo auch als Negativbeispiel in der Frage der Mischehen stilisiert wird. Entsprechend seiner Ausführungen zur Beziehung zwischen Mann und Frau in den Kap. 23,16–27 (G); 25,2 (G); 25,21 und 26,1–27 erscheint Salomos Verhalten als Ausdruck von Torheit. Ben Sira berührt sich hier mit der auch aus Spr 31,3 ablesbaren indirekten Kritik an Salomo: Die Worte Lemuels, des Königs von Massa, mit denen ihn seine Mutter unterwies: Was, mein Sohn? Was, Sohn meines Leibes? / Was, Sohn meiner Gelübde? Gib deine Kraft nicht den Frauen oder deine Wege denen, die Könige zerstören.24 (Spr 31,1–3)

Das geschichtstheologische Interpretament des „Zornes Gottes“, den der deuteronomistische Verfasser von 1 Kön 11,9 über Salomo selbst entbrennen lässt, wird von Ben Sira dahingehend modifiziert, dass Salomo durch sein Handeln den Zorn auf seine Nachkommen herabgezogen hat (47,20c–d, vgl. 2 Kön 13,3; 23,26; 24,20).25 Dabei bezieht sich die „Klage über das Bett Salomos“ (47,20d) nicht auf die Klage, die das Volk angesichts der Bedrückung durch Salomos 21 So auch die griechische Übersetzung, die im Gegensatz zu HB (‫ )בחיריו […] אוהביו‬die Verheißung singularisch auf die Nachkommenschaft des von Gott Erwählten (ἐκλεκτοῦ αὐ­ τοῦ) und des Gottliebenden (τοῦ ἀγαπήσαντος αὐτόν) konzentriert. Peters, Buch, S. 408, Eberh ­ arter, Sirach, S. 153, und Mulder, Simon, S. 85, verstehen auch V. 22e–f ([…] ‫)ויתן‬ futu­risch. 22 Vgl. Jes 11,1.10 mit Sir 47,22f (‫שרש‬, conj.; G: ῥίζαν), und Jes 11,11 mit Sir 47,22e (‫שארית‬, conj., G: κατάλειμμα, Sir 44,17), vgl. auch Ps 132,17; Segal, ‫ספר‬, S. 326. Zu einer messianischen Interpretation von V. 22 siehe Peters, Buch, S. 404–409; Skehan / Di Lella, Ben Sira, S. 528, Marböck, Erbe, S. 132, und Corley, Seeds, S. 304–306, die allerdings den Vers für ursprünglich halten, sowie PsSal 17,4; 4Q174 Frgm. 1 I,21,2,10–13; 4Q252 V,2–5. 23 Gegen Brown, God, S. 215–216. 24 Zu den textkritischen Problemen von Spr 31,1–3 siehe den Apparat in der BHS und Murphy, Proverbs, S. 239–240. 25 Zu Ben Siras Gebrauch des Motivs vom Zorn Gottes als Chiffre für das göttliche Ge-

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Sohn Rehabeam führt (vgl. 1 Kön 12,14),26 sondern in Parallele zu V. 23c auf die Nachkommen Salomos und auf die Auflösung der Einheit des davidisch-salomonischen Reichs, in der sich für Ben Sira schon die Katastrophe von 587 v. Chr. und die Klage über den Untergang Jerusalems andeuten (vgl. Klgl 1,22). In G ergeht die Klage über die „Unbesonnenheit“ (ἀφροσύνη) Salomos, so dass die enge Beziehung zwischen dem törichten Salomo und seiner törichten Nachkommenschaft (V. 23c) noch deutlicher hervortritt als in HB. Nach Syr werden die „Söhne der Söhne“ Salomos über / auf ihrem Lager klagen wegen des Unrechts (ʽwlʼ) ihres Vaters. Ein zweiter Aspekt der Kritik Ben Siras an Salomo betrifft dessen Anhäufung von Reichtum (V. 18c–d).27 Dem Lobpreis auf die Weisheit des jungen Salomo (V. 14–18b, vgl. 1 Kön 3,7–12) steht damit das Verdikt über die Dummheit des alten Salomo (V. 18c–21, vgl. 1 Kön 11,4)28 gleichgewichtig gegenüber. Maßstab für Ben Siras Kritik ist das Königsgesetz in Dtn 17,14–20.29 Dtn 17,17 bietet genau die Motivkombination „Anhäufung von Reichtum“ und „Polygamie“. Implizit ergibt sich vor dem Hintergrund des deuteronomischen Königsgesetzes auch, dass Salomo nicht die Tora studiert hat (vgl. Dtn 17,18– 19). Da für Ben Sira das Kennzeichen des wahren Weisen die Treue gegenüber der Tora darstellt,30 relativiert sich auch das Lob gegenüber Salomo. Es ist daher nur konsequent, wenn Ben Sira folgert, Salomo habe seinen ‫ כבוד‬bzw. seine δόξα befleckt (V. 20). Dadurch ist Salomo nicht nur ein historisches Negativbeispiel für Ben Siras Mahnung in 33,23(30,31) („allen deinen Taten behaupte dich als Herr, und beschmutze deine Ehre nicht“), sondern steht auch in krassem Gegensatz zu Abraham: Denn Abraham hat, wie Ben Sira zum Auftakt des „Väterlobs“ ausdrücklich schreibt, seinen ‫ כבוד‬nicht befleckt (Sir 44,19–20). Der Verlust der ungeteilten Herrschaft ist dementsprechend nicht nur vor dem Hintergrund des in 1 Kön 11,11–13 angekündigten und in 1 Kön 12 erzählten Geschehens zu verstehen, sondern auch als eine historische Verifikation der im deuteronomischen Königsgesetz implizierten Sanktion:

richtshandeln 1,22 (G); 5,7; 7,16; 16,6; 18,24 (G); 33 / 36,11 (G); 36,7 (H = 33,8 G); 39,27– 28; 45,19; 48,10; Witte, Barmherzigkeit (in diesem Band S. 83–105). 26 So Skehan / Di Lella, Ben Sira, S. 528. 27 Vgl. auch Bar 3,16–17; Sir 8,2; 13,24 und zu diesem Verständnis von Sir 47,18c: Smend, Sirach erklärt; Peters, Buch; Hamp, Buch; Skehan / Di Lella, Ben Sira; Beentjes, Countries, S. 139. Demgegenüber versteht G das Sammeln von Gold und Silber als Kollekte im Namen Gottes für den Tempelbau (vgl. 1 Kön 5,20) und würdigt daher Salomos Reichtum positiv (vgl. 1 Kön 3,13; 10,27; 2 Chr 1,15; 9,27), so dass bei G die Salomokritik erst in V. 19 beginnt (vgl. dazu Peterca, Porträt, S. 460). Diesem Verständnis folgen u. a. Ryssel, Sprüche; Eberharter, Sirach, und Sauer, ATD.A 1. 28 Vgl. Flav. Jos. Ant. VIII,7,5. 29 So mit Beentjes, Countries, S. 138–141. 30 Sir 1,26; 3,1; 6,37; 19,20; 32,15–33,3 u. v. a.

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[…] sein Herz nicht über seine Brüder zu erheben und von dem Gebot weder rechts noch links abzuweichen, damit er lange als König in Israels Mitte lebt, er und seine Nachkommen. (Dtn 17,20)

Leider ist der Beginn von Sir 47,21a in der hebräischen Handschrift B nicht erhalten. Die griechische Fassung bestätigt die in HB erhaltenen Reste, wertet über HB hinausgehend die neuen politischen Einheiten als einer geteilten τύραννις offenbar gleichermaßen negativ,31 hilft aber für eine Rekonstruktion der hebräischen Fassung von V. 21a nicht weiter. Syr unterstreicht die Auflösung des Königreichs Salomos durch den Begriff plg (Ethpe., „geteilt werden“, vgl. Gen 10,25). Sollte die von mir im Anschluss an Vattioni gebotene Konjektur ‫ להיות העם‬zutreffen,32 dann liegt der Akzent der Auslegung Ben Siras von 1 Kön 12 auf dem Zerbrechen des einen Volkes. Für diese Interpretation spricht, dass in V. 23d eindeutig von dem einen Volk die Rede ist. Ben Sira erweist sich hier einerseits als ein genauer Leser von 1 Kön 12, das in seinem Erzählkorpus (V. 3–19) das Gegenüber von König und Volk thematisiert. Andererseits vertritt er, darin den Verfassern der Chronikbücher vergleichbar, das Ideal des einen Volkes Israel. Die in V. 21b folgende Qualifikation des „aus Ephraim entstehenden Königreichs der Gewalt (‫ “)ממלכת חמס‬bildet einen scharfen Kontrast zur Eingangsnotiz, derzufolge Salomo in Zeiten des Friedens (‫בימי‬ ‫ )שלוה‬herrschte (V. 13, vgl. 1 Kön 5,4.18; 1 Chr 22,9). In G wird dieser Gegensatz noch deutlicher, da hier ein wesentlicher Aspekt des Salomoporträts das Thema des Friedens (εἰρήνη) ist (vgl. V. 13a, 16b). Allerdings schwächt G die Kennzeichnung Ephraims etwas ab, wenn er vom „Entstehen eines abtrünnigen bzw. ungehorsamen Königreichs (βασιλεία ἀπειθής)“ spricht. Nach Syr ist das Haus Ephraim die Quelle eines „heidnischen Königtums“ (mlkwtʼ ḥnpjtʼ, vgl. Sir 16,6 [HA]; Jes 10,6). Den Begriff ‫ ממלכה‬hat Ben Sira in 1 Kön 12,26 vorgefunden. Die Wortverbindung ‫ ממלכת חמס‬hingegen ist einmalig. Sie könnte eine Eigenprägung Ben Siras sein.

4. Ben Siras zweiter Rekurs auf 1 Kön 12 in Sir 47,23.24–25 In der explizit Rehabeam und Jerobeam gewidmeten Notiz (V. 23.24–25) erklärt Ben Sira die Auflösung der staatlichen Einheit als Folge der Dummheit des Salomosohnes Rehabeam. Ob dieser Gedanke bereits in V. 23a–b ausgedrückt wird, ist angesichts der Textlücke in HB nicht ganz klar.33 Vattioni liest 31 Zum Begriff τύραννις im Sinn einer Gewaltherrschaft vgl. 4 Makk 1,11; 8,15; 9,30; 11,24; SapSal 14,21. 32 Vattioni, Ecclesiastico, S. 259. 33 Zu V. 23 liefert beinahe jeder Kommentator eine andere Konjektur. Smend, Sirach, hebräisch und deutsch, S. 54 (Textteil), S. 86 (Übersetzungsteil), Hamp, Buch, S. 131, und Beentj­ es, Book, lesen ‫„( מיואש‬verzweifelt“, vgl. Pred 2,20) und verstehen V. 23a als Aussage über den alten Salomo; in ähnlichem Sinn Ryssel, Sprüche, S. 462, ‫„( מיועש‬abgelebt“, vgl.

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am Ende des Bikolons neutral ‫„( קצין‬Fürst“, vgl. 48,15f ), während Smend die Lesart ‫„( מנון‬übermütig“, vgl. Spr 29,21) vorgeschlagen hat.34 Die Lesart ‫מנון‬ passt inhaltlich gut, ist allerdings vor dem Hintergrund des Wortgebrauchs Ben Siras unsicher. Der Skopus von V. 23 wird jedenfalls im folgenden Kolon deutlich. Dabei umschreibt Ben Sira schön den Namen ‫„( רחבעם‬reich an Volk“) mit dem Wortspiel ‫„( רחב אולת‬reich an Dummheit“).35 Der an „Klugheit arme“ (‫)חסר בינה‬36 Rehabeam steht damit in einem scharfen Kontrast zu seinem Vater Salomo, der einst als „einsichtiger Sohn“ Davids37 die Welt mit seiner „Klugheit“ (‫בינה‬, conj.)38 bedeckte (V. 12 und V. 15). Doch auch hier nimmt Ben Sira Salomo nicht aus der Verantwortung für die Entstehung der Zweistaatlichkeit heraus. Salomo hat einen törichten Sohn hinterlassen und damit seine Pflichten als Vater, wie sie Ben Sira in seinen Ratschlägen zur Erziehung immer wieder einPs 31,10); Peters, Buch, S. 408, ‫„( מיושש‬betagt“); Segal, ‫ספר‬, S. 327–330, ‫„( משגש‬im Irrtum“, vgl. Hi 19,4). Vattioni, Ecclesiastico, S. 259, liest ‫משריש‬, was gemäß Hi 5,3 im Sinn von „wurzelschlagend“ verstanden und dementsprechend auf die Nachkommenschaft Salomos bezogen werden kann (vgl. V. 22e–f ). Sauer, ATD.A 1, S. 324, übersetzt „entwurzelt“, setzt also ‫ משרש‬voraus, was aber sachlich nicht passt (vgl. V. 22f ). G hatte wohl schon eine verderbte Vorlage oder verstand diese nicht und bietet die aus den Königsbüchern bekannte Standardfomulierung, Salomo habe sich zu seinen Vätern gelegt (μετὰ τῶν πατέρων αὐτοῦ, vgl. 3 Kgt 11,43; 12,24a; 14,31; 15,8 etc.). 34 Vattioni, Ecclesiastico, S. 259; Smend, Sirach, hebräisch und deutsch, S. 54 (Textteil), S. 86 (Übersetzungs­teil); Peters, Buch, S. 408, und Hamp, Buch, S. 131. G verweist mit ἐκ τοῦ σπέρματος auf ‫זרע‬, was Segal, ‫ספר‬, S. 327–330, als Basis seiner Rekonstruktion nimmt (‫זרע רך‬, „einen schwachen Nachkommen“). 35 G weist dieses Wortspiel nicht auf und nennt bereits in V. 23c das „Volk“: λαοῦ ἀφροσύ­ νην. 36 Vgl. auch den Ausdruck ‫ חסר־לב‬in Sir 6,20; Spr 6,32; 7,7; 9,4.16; 10,13; 11,12; 12,11; 15,21; 17,18; 24,30; 11QPsa XVIII,5. 37 Der literarische Hintergrund ist 1 Kön 5,21 (vgl. 1 Kön 2,3; Jer 23,5). Zum Austausch der Kennzeichnung Salomos als ‫ בן חכם‬in 1 Kön 5,21 durch die Bezeichnung als ‫בן משכיל‬ siehe Spr 10,1 versus Spr 10,5. Nach der syrischen Version von 47,12 ist Salomo ein kraftvoller König (mlkʼ tqjpʼ), vgl. die Beziehung zu V. 19a in Syr („und du gabst deine Kraft [twqpk] Frauen“). 38 Vgl. 1 Kön 5,9: Salomo als ein an „Verstand reicher“ (‫ ;)רחב לב‬so mit Segal, ‫ספר‬, S. 326–328, Vattioni, Ecclesiastico, S. 259, und Sauer, ATD.A 1, S. 322. Demgegenüber liest Smend, Sirach, hebräisch und deutsch, S. 54 (Textteil), S. 85 (Übersetzungsteil), mit G (ἡ ψυχή σου) ‫נפשך‬, ohne allerdings den in G vorliegenden Subjektswechsel mitzuvollziehen. Ryssel, Sprüche, S. 461, liest ‫( בתבונתך‬vgl. Syr und 1 Kön 5,9). Konkrete Beispiele dieser Weisheit sind Salomos Lieder, Sprüche und Rätsel, womit Ben Sira möglicherweise auf den Dreiklang der drei kanonischen Schriften Salomos (Hhld, Spr, Pred) anspielt (vgl. Go­ shen-Gottstein, Praise, S. 250). Eindeutig liegt dieses Verständnis in der syrischen Version von Sir 47,17 vor, nach der Salomo „Worte der Weisheit in einem Buch auslegte ( pšr).“ Dies mag auf ein Missverständnis des hebräischen Textes zurückgehen (so van Peursen, Lan­ guage, S. 19–20), passt aber gut zum Salomobild in Syr, so dass eine Änderung des syrischen Textes nicht nötig ist.

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schärft, vernachlässigt.39 Was Ben Sira in 30,1–13 (G / HB) allgemein als Mahnung formuliert, hat sich bei Rehabeam historisch verifiziert: Halte deinen Sohn in Zucht und mache sein Joch schwer, sonst überhebt er sich gegen dich in seiner Torheit (‫אולת‬, ἀσχημοσύνη). (Sir 30,13)40

Hervorzuheben ist hier, wie Ben Sira in wenigen Worten 1 Kön 12,1–20 vor dem Hintergrund der Weisheit liest und damit gut den Charakter von 1 Kön 12,1–20 als einer weisheitlich geprägten Erzählung trifft.41 Eine charakteristische Akzentverschiebung gegenüber 1 Kön 12,1–20 zeigt sich in V. 23d: Rehabeam ließ durch seinen Rat das Volk zügellos werden.

Aus 1 Kön 12 übernimmt Ben Sira das Leitwort „Rat“ (‫עצה‬, βουλή).42 Neu ist, dass er das Theologumenon von der „Vorherbestimmung Gottes“ (‫סבה מעם‬ ‫יהוה‬, μεταστροφὴ παρὰ κυρίου, 1 Kön 12,15)43 – wie die griechische Version in 3 Kgt 12,24s–t44 – auslässt und nicht von einem selbständigen Abfall (‫)פשע‬ Israels vom ‫ בית דוד‬spricht (1 Kön 12,19),45 sondern von einer durch Rehabeam verursachten Zügellosigkeit des Volkes. In ironischer Umkehrung seines Namens macht Rehabeam das Volk nicht „weit“, sondern zerstört dessen Zusammenhalt. Damit wird die Verantwortlichkeit für den Bruch der Einheit des Reichs stärker auf den König verlagert. Der von Ben Sira gebrauchte Begriff ‫( פרע‬Hif.) findet sich nicht in 1 Kön 12. Hingegen taucht er in Ex 32,25 auf und beschreibt dort die von Aaron veranlasste Zügellosigkeit der Israeliten, während sich Mose auf dem Sinai aufhält (Ex 32,1). Insofern zwischen 1 Kön 12,28 und Ex 32,4.8 eine direkte literarische Korrespondenz besteht, kann angenommen werden, dass der Schriftgelehrte Ben Sira schon für seine relecture der Rehabeam-Erzählung (1 Kön 12,1–20) auf Ex 32 zurückgreift.46 D. h. Ben 39 Vgl.

Sir 3,11; 11,28; 41,7. Zur Differenz in G s. o. Anm. 34. auch 7,23–24; 41,5–13. Beachte vor diesem Hintergrund auch die Ironie: Salomo legte – gegen das deuteronomische Königsgesetz (Dtn 17,16; vgl. Becker, Reichsteilung, S. 222) – den Israeliten ein schweres Joch auf (1 Kön 12,4.10.14; vgl. 5,27; 9,15), seinem Sohn aber nicht, was fatale Folgen hatte. 41 Zu 1 Kön 12,1–20 als weisheitlich geprägter Erzählung vgl. die Verwendung der Wurzel ‫( יעץ‬V. 8.9.13.14.28) und den Kontrast zwischen alten und jungen Ratgebern (Hi 12,12; 32,6–7; Spr 5,13; 15,1–2; Pred 10,16); siehe dazu auch Becker, Reichsteilung, S. 217, und Rofé, Elders. 42 Vgl. 1 Kön 12,8.13. 43 Das Wort μεταστροφή ist in der LXX nur hier und davon abhängig in 2 Chr 10,15 belegt (vgl. noch Hi 37,12 [Aq.]) und wird auch in der Profangräzität nur selten gebraucht, vgl. neben 3 Kgt 12,15 ( par. 2 Chr 10,15); Plato, rep. 525c5; 532b7; Chrysipp, Frgm. moralia 221,1 (SVF III,221,1). 44 Vgl. Talshir, Story, S. 156; 255–257. 45 3 Kgt 12a–z hat auch kein Äquivalent zu 1 Kön 12,19 (MT) oder zu 3 Kgt 12,19 (LXX); vgl. Talshir, Story, S. 156; Schenker, Jéroboam, S. 228. 46 Vgl. aber die Variante zu 1 Kön 14,22, bei der – wie in G, 3 Kgt 12,24a und 2 Chr 40 Vgl.

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Sira parallelisiert, stärker als dies in 1 Kön 12 der Fall ist, die beiden Könige Rehabeam und Jerobeam in ihrem Fehlverhalten.47 Wie auch an anderen Stellen seines Werkes bringt Ben Sira hier unterschiedliche Schriftstellen mittels punktueller Zitation von Leitworten ins Gespräch, wie es für einzelne Pesharim aus Qumran und die spätere Midraschexegese typisch ist.48 Ben Siras gezielte Verwendung von ‫ פרע‬erschließt sich auch noch vor dem Hintergrund von zwei anderen Stellen seines Buchs. In 46,7 rekapituliert er die aus Num 13–14 bekannte Kundschaftergeschichte und lobt dann Josua und Kaleb dafür, dass sie der Zügellosigkeit des Volkes (‫ )פרע קהל‬widerstanden. Auch hier ist Ben Sira der Terminus ‫ פרע‬nicht durch die Vorlage in Num 14,6–10 vorgegeben. Den eigentlichen Schlüssel zum Verständnis bietet die Sentenz in 10,3: Ein zügelloser (‫ )פרוע‬König ruiniert die Stadt.49

Was Ben Sira in 10,3 als allgemeine Beobachtung, möglicherweise vor einem konkreten zeitgeschichtlichen Hintergrund, formuliert,50 hat sich geschichtlich nach dem Tode Salomos verifiziert und kann sich jederzeit wiederholen. Tendenziell entspricht die deutliche Betonung der Verantwortlichkeit Rehabeams der Beurteilung dieses Königs in der griechischen Variante zu 1 Kön 12,16 in 3 Kgt 12,24t: οὗτος ὁ ἄνθρωπος οὐκ εἰς ἄρχοντα οὐδὲ εἰς ἡγούμενον („denn dieser Mensch taugt nicht zum Herrscher und nicht zum Führer“).51

Die Interpretation des folgenden Stichos (Sir 47,23e–f ) wird dadurch erschwert, dass der Text in der hebräischen Handschrift B einerseits stark zerstört ist, andererseits gegenüber G mit der Wortfolge ‫ עד אשר קם אל יהי לו זכר‬einen Überschuss aufweist. Hinzu kommt, dass der Stichos im Vergleich zu den anderen Stichen im „Lob der Väter“ eine Überlänge hat. Die vorliegende Fassung von HB dürfte daher auf eine Glossierung zurückgehen. Für die Annahme, dass der Name ‫ ירבעם בן־נבט‬in einem frühen Stadium der Textüberlieferung (vor Anfertigung von G) ergänzt wurde, spricht der Wunsch ‫אל יהי לו זכר‬.52 Insofern das heilvolle Gedenken ein Leitmotiv des „Väterlobs“ ist, kennzeichnet das Nichtgedenken Jerobeam als Erzbösewicht. Auf der Ebene des „Väterlobs“ 12,14 – Subjekt der Sünde nicht Juda, sondern der in V. 21 genannte Rehoboam ist, und die Tendenz, Rehabeam zu entschuldigen, in 2 Chr 13,7. 47 In Ex 5,4–5 wird ‫ – פרע‬wohl in bewusster Assonanz zu ‫ – פרעה‬verwendet. Zur Parallelisierung von Ex 5 und 1 Kön 12 siehe Van Seters, Life, S. 71. 48 Vgl. dazu auch gerade im Blick auf die Salomoperikope Peterca, Porträt, S. 457–463, und Hayward, El Elyon, S. 194–195. 49 G: βασιλεὺς ἀπαίδευτος ἀπολεῖ τὸν λαὸν αὐτοῦ, vgl. 2 Chr 28,19; Sir 10,8–9; Spr 29,18. 50 Vgl. auch Sir 47,23c mit Spr 28,16. Schließlich könnte auch die lautliche Assonanz zwischen ‫ פרע‬und ‫ אפרים‬im Hintergrund von Ben Siras Wortwahl stehen. 51 Zur Herkunft dieser Sentenz in 3 Kgt 12,24t siehe Talshir, Story, S. 130–131; 256. 52 So mit Skehan / Di Lella, Ben Sira, S. 530–532. Syr hat kein Äquivalent zu ‫עד אשר קם‬. Van Peursen, Language, S. 327–328, hält das für ursprünglich.

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bildet Jerobeam damit das negative Gegenüber zu Mose (45,1),53 zu den Richtern (46,11), zu Josia (49,1) und zu Nehemia (49,13), deren Gedächtnis der Nachwelt jeweils zum Segen dient. Inhaltlich schließt sich Ben Sira ganz der deuteronomistischen Qualifikation Jerobeams an. Die über das Leitwort ‫זכר‬ erzielte Gegenüberstellung von Josia (49,1) und Jerobeam (47,23) entspricht den deuteronomistischen Kategorien (vgl. 1 Kön 12* versus 2 Kön 23,10–25*). Im nächsten Kolon (V. 23f ) expliziert dies Ben Sira, indem er Jerobeam als Sünder und als Verführer Israels bezeichnet (vgl. 1 Kön 14,16). Worin die „Sünde Jerobeams“54 besteht, entfaltet Ben Sira nicht – er beschränkt sich in V. 23f–g auf eine formelhaft ausgeschmückte Wiederholung von 1 Kön 12,30a und verknüpft damit unmittelbar den Ausblick auf die Exilierung der Bewohner des Nordreichs, wie sie in 2 Kön 17 erzählt wird (Sir 47,24a–25).55 Dabei partizipiert Ben Sira mit dem Begriff ‫( נדח‬Hif.) in V. 24a an der vor allem vom Jeremiabuch geprägten Wendung vom „Verstoßen Israels aus seinem Land“56 und interpretiert damit zutreffend 1 Kön 13,34 und 2 Kön 17,18.21. In V. 25 (‫)ולכל רעה התמ[כר‬57 lehnt sich Ben Sira an die Formulierung in 2 Kön 17,17b an. Die Verwendung des Begriffs ‫ מכשול‬in V. 23g,58 der nicht in 1 Kön 12,30 vorkommt, und der Aufbau des Salomoporträts in 47,12–25 (vgl. den Appendix zu diesem Aufsatz, S. 169) zeigen dann aber auch, dass Ben Sira bei der Sünde Jerobeams entsprechend 1 Kön 12,28.31 an die Installation der Stierbilder in Dan und Bethel und die Errichtung von Höhenheiligtümern denkt (vgl. 2 Kön 10,28; 2 Chr 13,8; Tob S 1,5). So korrespondiert das Bikolon in V. 23e–f (C.3) mit dem Bikolon 13c–d (A.3), in dem von Salomos Bau des Tempels in Jerusalem die Rede ist. Das folgende Bikolon (V. 24b–25a) gibt mit dem Hinweis auf die wachsende Sünde Israels noch eine zusätzliche Begründung für den Untergang des Nordreichs, indem nun auch Ephraim selbst in die Verantwortung genommen wird.59 In nur drei Bikola hat damit Ben Sira die Geschichte des Nordreichs zusammen53 Witte,

Mose, in diesem Band S. 123–149. 1 Kön 14,16; 15,30; 16,31; 2 Kön 3,3; 10,31; 13,2.6; 15,9.18.24; 17,22. 55 Subjekt zu ‫( להדיחם‬V. 24a) ist wahrscheinlich noch „Jerobeam“, da ‫ נדח‬im Hifil aktive bzw. kausative Bedeutung hat (vgl. G: ἀποστῆσαι, und Peters, Buch, S. 405; Eberharter, Sirach, S. 153; Skehan / Di Lella, Ben Sira, S. 529); hingegen übersetzen Ryssel, Sprüche, S. 462; Smend, Sirach, hebräisch und deutsch, S. 86 (Übersetzungsteil), und Sauer, ATD.A 1, S. 324, ‫ להדיחם‬passivisch. 56 Jer 8,3; 16,15; 23,2–3.8; 24,9; 27,10.15; 29,14.18; 32,37; 40,12; 43,5; 46,28; vgl. auch Dtn 30,1. 57 Subjekt ist vermutlich Ephraim, so eindeutig G (ἐξεζήτησαν). Hingegen bezieht Syr V. 25a auf Jerobeam als Täter („der sie veranlasste, von ihrem Platz weg ins Exil zu gehen / und er machte ihre Sünden überaus zahlreich“). Insofern Ben Sira den Begriff ‫רעה‬, der in den hebräischen Fragmenten ansonsten 31-mal belegt ist, im Rahmen des „Väterlobs“ nur hier verwendet, hat die Notiz eine besondere Schärfe. 58 Vgl. Ez 14,3–47; 44,12; 1QS II,12; 4Q372 Frgm. 8,7; 4Q428 Frgm. 10,9. Zur Übersetzung in G (ὁδὸς ἁμαρτίας) vgl. Sir 21,10 (G); Ps LXX 1,1; 145,9. 59 G bietet hier sachlich zutreffend Pluralsuffixe, vgl. Peters, Buch, S. 409. 54 Vgl.

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gefasst. Eine ähnliche Komprimierung der Geschichte bietet 4QMMT C 19, wobei es sich zugleich um den einzigen Beleg für „Jerobeam“ in den nichtbiblischen Texten aus Qumran handelt (4Q398 Frgm. 11–13,2).60 Die Geschichte des Nordreichs ist für Ben Sira, durchaus in der Linie der deutero­nomistischen Geschichtstheologie, vom Anfang bis zum Ende eine Sündenfallgeschichte. Das Auftreten des Propheten Elia, an den Ben Sira in der nächsten Passage des „Lobs der Väter“ (Sir 48,1–14) erinnert, konnte daran nichts ändern. Trotz allem bekehrte das Volk sich nicht; / sie ließen nicht ab von ihren Sünden, bis sie aus ihrem Land verschleppt / und in alle Welt verstreut wurden. Aber für Juda ist ein kleiner Rest geblieben / und dem Haus David noch ein Fürst. (Sir 48,15, vgl. Dtn 28,63–64)

Sir 48,15–16 weist in G charakteristische, durch die zeitgeschichtliche Situation des Übersetzers bedingte Differenzen gegenüber HB auf: So bleibt nach G nicht für Juda ein kleiner Rest übrig (HB), sondern ein ganz kleines Volk (ὁ λαὸς ὀλιγοστός) überlebt; nicht für das Haus Davids (‫)לבית דוד‬, sondern im Haus Davids (ἐν τῷ οἴκῳ) wird ein Herrscher bewahrt. In Parallele zu 47,24 heißt es in 48,16b, dass einige (Könige) die Sünden „vermehrten“ (ἐπλήθυναν ἁμαρτίας), während HB davon spricht, dass diese „erstaunliches Unrecht begingen“ (‫)הפליאו מעל‬. Die griechische Version hat in V. 25b ein zusätzliches Kolon, indem auf die nicht ausbleibende göttliche Vergeltung verwiesen wird (ἕως ἐκδίκησις ἔλθῃ ἐπ᾽ αὐτούς).61 Es intensiviert die Beziehung zwischen der Notiz über die Geschichte des Nordreichs und dem Porträt Elias (vgl. 48,7b [G]) und entspricht der Tendenz der griechischen Sirachversion, die Gerechtigkeit Gottes besonders zu betonen.62 Im Blick auf 1 Kön 12 fällt wie schon bei der Skizze zu Rehabeam auf, dass Ben Sira die aktive Rolle des Königs betont. Während in 1 Kön 12 Jerobeam zunächst weitgehend im Hintergrund bleibt und das Volk die entscheidende Größe seiner Erhebung zum König ist, tritt bei Ben Sira Jerobeam sofort selbst auf (‫)קם‬. Ben Sira rezipiert damit die Notizen vom Auftreten (‫קום‬, Hif.) der Widersacher Salomos in 1 Kön 11,14.23, insbesondere die Notiz von der Revolte Jerobeams in 1 Kön 11,26, und schwenkt dann sofort über zu 1 Kön 12,25–30. Diese Betonung des selbständigen Agierens Jerobeams teilt Ben Sira mit der griechischen Parallelversion in 3 Kgt 12,24 (vgl. V. 24d–f, 24o). 60 Zur Erwähnung Jeroboams außerhalb der kanonischen Schriften siehe auch VitProph 18,3 (vgl. 1 Kön 14,7–14); 19,1 (vgl. 1 Kön 13,1–32 und 2 Bar 62,1–2); vgl. dazu Lied, Lands, S. 88–89, zu den „Jerobeam-Münzen“ siehe unten S. 166. 61 Das Kolon könnte, wie eine Rückübersetzung ins Hebräische zeigt, entweder der dislozierte Anfang von 47,23 sein oder eine Dublette zu 48,1. Vgl. ‫ עד אשר נקם יבוא עליהם‬gegenüber ‫( עד אשר קם אל יהי לו זכר‬47,23a) bzw. ‫( עד אשר קם נביא כאש‬48,1a). Darüber hinaus weist G in V. 23f–25a eine andere Anordnung der Stichen als HB an: V. 23g (HB) entspricht V. 23f (G), V. 23h (HB) entspricht V. 24b (G), V. 24b (HB) entspricht V. 25a (G), vgl. Reiterer, Zählsynopse, S. 232–233. Mit Skehan / Di Lella, Ben Sira, S. 531, dürfte HB die ursprünglichere Textfolge repräsentieren. 62 Vgl. Sir 2,10–11 (G); 12,6 (G, HA); 16,12 (G, HA).

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5. Ben Siras Bild eines idealen Herrschers Die Konzentration des Geschehens in 1 Kön 12 auf die zwei Könige Rehabeam und Jerobeam verdankt sich einerseits der Gestaltung des „Lobs der Väter“ als einer an Einzelpersonen orientierten Geschichtsschau, die ihr Vorbild in der Gattung eines Enkomions hat.63 Andererseits durchzieht das gesamte Sirachbuch eine kritische Haltung gegenüber dem Königtum (vgl. 10,3.8–18).64 In der Weiterführung der deuteronomistischen Beurteilungen der Könige erhalten nur David, Hiskia und Josia eine positive Zensur:65 Sie allein haben die ‫תורת‬ ‫ עליון‬gehalten (49,4) und sich damit als wahre Nachfahren Abrahams erwiesen (44,20).66 Damit bestätigt sich die oben aufgrund der Parallele zwischen Sir 47,18–18 und Dtn 17,17 geäußerte Vermutung, dass nach Ben Siras Überzeugung auch Salomo die Tora übertreten hat. Das eigentliche Herrscher-Ideal Ben Siras verkörpert der Hohepriester Simon, auf den das „Lob der Väter“ in Sir 50 hinausläuft.67 Er vereinigt in sich aufgrund seiner Sorge um die Stadt Jerusalem und ihren Tempel die an David, Hiskia und Josia gelobten kultischen und politischen Tugenden. Ja, letztlich erscheint der Hohepriester Simon nicht nur als der bessere Salomo, sondern als der bessere König überhaupt. Er allein kann die durch Rehabeam verwirkte Einheit Israels als einem um die Tora und den Jerusalemer Tempel versammelten Volk wiederherstellen. Nur der Jerusalemer Hohepriester vermag für Ben Sira aufgrund des ihm geltenden „Bundes“, den Gott mit Aaron und Pinchas geschlossen hat (vgl. Sir 45,15.24; 50,24 [HB]), die Kontinuität und Stabilität Israels zu sichern. Bedenkt man, dass Aaron die Aufgabe hatte, Israel die Tora zu lehren (Sir 45,17, vgl. 45,5),68 so verkörpert der Hohepriester für Ben Sira das Ideal des deuteronomischen Königsgesetzes (Dtn 17,14–20).

63 Vgl. dazu grundlegend Lee, Studies; Α. Schmitt, Enkomien, S. 359–381; ders., Lobgedicht, S. 873–896. 64 Vgl. auch die Mahnrede an die Herrscher des Volkes (‫שרי עם‬, μεγιστᾶνες λαοῦ) in 33,19 (HE) / 30,27 (G), die negative Zeichnung von Königen in 45,3; 46,20; 48,6; 49,4, sowie die Warnung vor der Willkür von Herrschern in 4,27; 7,6; 8,1. In 7,5 (HA) bezieht sich ‫מלך‬ wohl auf Gott (vgl. G, Syr, La). 65 In 1 Kön 15,11 und 22,43 werden (zumindest noch eingeschränkt) Asa und Jehoshaphat positiv beurteilt. 66 Zu Abraham als Modell des Gehorsam in der jüdischen Ethik siehe Mack, Wisdom, S. 211. 67 Vgl. A. Schmitt, Lobgedicht, S. 873–896; Marböck, Simon, S. 155–168; Beentjes, Countries, S. 141–143, und ausführlich Mulder, Simon. 68 Vgl. Fabry, Sirach, S. 274–278.

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6. Ben Siras Identifikation Ephraims Sodann fällt auf, dass Ben Sira in 47,23g, wie schon in V. 21, das Nordreich als „Ephraim“ bezeichnet, während 1 Kön 12 durchgehend von ‫ ישראל‬oder ‫בית‬ ‫ ישראל‬spricht. Im Hintergrund steht zum einen die genealogische Kennzeichnung Jerobeams als Ephraemit in 1 Kön 11,26 und die Erwähnung in 1 Kön 12,25, Jerobeam habe „Sichem im Gebirge Ephraim“ (zur Residenz) ausgebaut. Zum anderen gebraucht Ben Sira aber die Bezeichnung „Ephraim“ im Schatten des Buchs Hosea69 eindeutig in einem negativen Sinn. Damit partizipiert Ben Sira an einer Verwendung des Namens „Ephraim“ als einer Chiffre für eine negative Größe, wie sie mit jeweils unterschiedlicher Füllung und Tendenz in hellenistisch-römischer Zeit in der LXX-Variante zu 1 Kön 12,24b,70 in der Damaskusschrift,71 im Pescher zu Ps 37 aus Qumran,72 und möglicherweise auch in 4Q381 und in 4Q460 begegnet. Wenn in 4Q381 Frgm. 24,5 der Ausdruck ‫„( מאפרים‬aus / vor Ephraim“) noch in den Dank für die Erlösung Judas einbezogen ist, liegt hier wie in Sir 47,21 eine aus judäisch-Jerusalemer Sicht formulierte negative Konnotation Ephraims vor. In 4Q460 Frgm. 5,I,8–9 wird Ephraim eindeutig attestiert, keine Gebote Gottes angenommen zu haben; allerdings ist aufgrund des schlechten Erhaltungszustandes von 4Q460 nicht zu entscheiden, ob ein solches Verdikt nicht auch über Juda ergeht. Nach Frgm. 1,5 könnte Juda positiv beurteilt sein.73 Wie Ps 78,9 (vgl. auch V. 67)74 hat Ben Sira mit dem Begriff „Ephraim“ die Samaritaner im Blick. Ben Sira vertritt ganz klar eine Jerusalemer Perspektive. Dies zeigt sich (1) an seiner Hochschätzung Jerusalem als der heiligen Stadt in einzelnen Notizen im „Lob der Väter“,75 (2) in seinem Lobpreis auf die kosmische Weisheit in Kap. 24, die sich auf dem Zion niederlässt, (3) in seinem Gebet für die Errettung des Zion in Kap. 36,76 und (4) in seinem Lobpreis des Ho-

69 Vgl. exemplarisch Hos 4,17; 5,9; 9,11–16; 13,12; 14,9. Zum Hoseabuch als einem (in seiner kanonischen Gestalt) antisamaritanischen Werk siehe Levin, Testament, S. 95–96. 70 So erscheint Jerobeam hier (1) als ein ἄνθρωπος ἐξ ὄρους Εφραιμ, wodurch sich der Akzent vom „bösen Ephraemiten“ auf das „böse Ephraim“ verschiebt, und (2) als „Sohn einer Hure“ (γυνὴ πορνή); vgl. Talshir, Story, S. 51–52; 102; Schenker, Jéroboam, S. 217–218. 71 CD-A VII,10–14 als Zitation und Interpretation von Jes 7,17; vgl. dazu auch Zangenberg, SAMAREIA, S. 338–339. 72 4Q171 II,18–19 mit Zitation und Interpretation von Ps 37,15; vgl. dazu auch Zangenberg, SAMAREIA, S. 336–337. 73 Nach Zangenberg, SAMAREIA, S. 335–136, erwähnt auch 4QpNah Frgm. 3–4 II,1–11 Samaria (= Ephraim) mit einer negativen Konnotation. Aber diese Interpretation ist unsicher. 74 Vgl. Witte, Exodus, S. 118–121. 75 Vgl. 47,11; 48,17.24; 49,6; 49,12–13; 50,1–4; (51,12g–h [HB]). 76 Vgl. 36,13(18). Das Gebet in 36,1–17 (G: 33,1–13a; 36,16b–22) dürfte ein integraler Bestandteil des Sirachbuchs sein.

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hepriesters Simon, der am Jerusalemer Tempel in der Kontinuität Aarons und Pinchas den Kult zum Segen ganz Israels ausübt (Sir 50,12–13.22–24 [H]).77 Das „Lob der Väter“ gipfelt in einem Verdikt Ben Siras über die Bewohner von Seir, die Philister und „das törichte Volk, das in Sichem wohnt“ (50,25– 26). Der ‫ גוי נבל‬in Sichem ist nichts anderes als die samaritanische Kultgemeinde und der Nachfolger Ephraims. Literarischer Hintergrund dieser Bezeichnung ist möglicherweise die Erzählung von der ‫ נבלה‬der Sichemiten in Gen 34,7. Dies ist explizit der Fall im Testament Levis (7,2), das aufgrund von Gen 34 Sichem als „Stadt der Torheit“ (πόλις ἀσυνέτων) bezeichnet (vgl. Jub 30,5). 4Q372, ein fragmentarisch erhaltener geschichtstheologischer Text aus dem 2. Jh. v. Chr, erwähnt mit antisamaritanischer Tendenz ‫נבלים‬, die im Gebiet Josephs wohnen.78 In diesen Kontext gehören schließlich auch die Bezeichnungen der Bewohner Sichems als „gottlos“ (ἀσεβεῖς) und als Täter „unheilvoller Werke“ (λοίγια ἔργα) im Werk des jüdisch-hellenistischen Epikers Theodotion,79 der wohl im zeitlichen Umfeld der Zerstörung des samaritanischen Tempels auf dem Garizim und Sichems durch Johannes Hyrkan I. ca. 110 v. Chr. bzw. 108 / 107 v. Chr. schreibt,80 sowie als „Gewalttäter“ (‫ )עבדי חמסא‬im aramäischen Testament Levis (CTL Cambridge Col. B, 19; 2. Jh. v. Chr.).81 Das historische Vorbild Ephraims alias Sichem alias Samaria bildet für Ben Sira der ‫גוי‬ ‫נבל‬, der einst in der Wüste gegen Gott klagte (Dtn 32,6 sowie Sir 16,6 [‫]גוי חנף‬ mit Bezug auf Num 11,1–3).82 Ephraims nächste Verwandte sind für Ben Sira die Babylonier, die 587 v. Chr. Jerusalem und seinen Tempel zerstörten (Sir

77 Vgl. Sir 45,6–25. Dazu und zu den zeitgeschichtlich bedingten Modifikationen von 50,24 in G siehe Hayward, Tempel, S. 81–82; Mulder, Simon, S. 303–304; Fabry, Sirach, S. 272–281; Brutti, Development, S. 201–204; 280–284; Corley, Seeds, S. 308; Zsengellér, Wisdom, S. 147; Boccaccini, Ben Sira, S. 32. 78 Frgm. 1,10–11 (vgl. 4Q371,1,10), vgl. Schuller, 4Q372, S. 360; 371–376 (mit der Datierung von 4Q372 in die Zeit vor Johannes Hyrkan I.); Zangenberg, SAMAREIA, S. 332– 334; Zsengellér, Gerizim, S. 174–175. Möglicherweise bezieht sich auch die Wendung ‫גוי‬ ‫ נבל‬in 11Q14 Frgm. 2,1 auf Samaria. 79 Frgm. IX,22,9 (bei Denis, Fragmenta, S. 206,27–207,10, Übersetzungen bieten Walter, Epik, S. 169–170, und Fallon, Theodotus, S. 793; siehe auch Zangenberg, SAMAREIA, S. 35–36, und Mulder, Simon, S. 232; 238; 359). 80 Zum Samaritanischen Tempel auf dem Garizim und zu seiner Geschichte siehe 2 Makk 6,2; PsEupolemus (Samaritanischer Anonymus) 9,17 (bei Denis, Fragmenta, S. 197–198; Übersetzung bei Walter, Epik, S. 141); Flav. Jos. Ant. XI,8,4; XII,1; XII,5,5; XIII,3,4; XIII,9,1; Bell. I,2,6; bJoma 69a, sowie Kippenberg, Garizim, S. 57–59; Zsengellér, Gerizim, S. 150–156.; Magen / Misgav / Tsfania, Gerizim, S. 1–41; ders., Dating, S. 157–211. 81 Vgl. Beyer, Texte I (1984), S. 188–210; 195. Dass sich auch der Ausdruck ‫ אנשי חמס‬in 1QpHab VIII,2 auf die Samaritaner bezieht, ist unwahrscheinlich (vgl. Zsengellér, Gerizim, S. 171). 82 In G wird diese Beziehung noch deutlicher, da der Enkel in 16,6 von einem ἔθνος ἀπει­ θές spricht und in 47,21 von einer βασιλεία ἀπειθής, vgl. Ps 77(78),8 (Sym.); SibOr 3,668 (die Heiden als λαὸς ἀπειθής).

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49,5–6,83 vgl. Dtn 32,21; Ps 74,18). Wenn die in der Stadt Samaria geprägten „Jerobeam-Münzen“ aus der Zeit zwischen 350 / 333 v. Chr. als Zeugnis für das (proto-)samaritanische Selbstbewusstsein gedeutet werden können,84 dann erhält Ben Siras Verdikt in 47,23 noch zusätzlich zeitgeschichtliche Bedeutung. Am Vorabend der Religionskrise unter Antiochus IV. Epiphanes reflektiert Ben Sira Auseinandersetzungen zwischen Samaritanern und Jerusalemern.85 In der griechischen Version wird dies noch deutlicher, indem Seir durch Samaria ersetzt ist. Möglicherweise steht dahinter ein zur Zeit des Enkels Ben Siras, also nach dem 38. Jahr des Euergetes, d. h. Ptolemaios VIII., 132 v. Chr. (vgl. Sir 0,27) und unter der Herrschaft Johannes Hyrkans I. (134–104 v. Chr.), gewandeltes Verhältnis zwischen den Bewohnern von Seir / Edom, den Idumäern, und den Judäern bzw. zwischen Samaria und Jerusalem.86 Im Blick auf die relecture von 1 Kön 12 jedenfalls kann festgehalten werden, dass Ben Sira ein zentrales Interesse an der Einheit Israels hat.87 Seine Einheit findet dieses Israel gegenwärtig mittels seiner Unterweisung in der Tora (Sir 45,5.17) und seiner Teilhabe am Jerusalemer Kult sowie zukünftig in der Wiederherstellung der Gemeinschaft der 12 Stämme durch Elia (48,10). Vermittelt über den einen am Jerusalemer Tempel zelebrierenden Hohepriester erfährt Israel die heilvolle Nähe Gottes, der als der Einzige (36[33],5) zugleich „Alles“ (‫הכל‬, Sir 43,27) und der „Heilige Israels“ (50,17, ‫)קדוש ישראל‬88 ist. D. h. der letztlich durch Salomo, Rehabeam und Jerobeam verschuldete Verlust der Einheit Israels wird für Ben Sira durch die eine Tora, den einen Jerusalemer Tempelkult und die Hoffnung auf eine eschatologische Wende durch den einen Gott kompensiert.

83 G nennt in V. 5 nur ein „fremdes Volk“ (vgl. Sir 29,18; 33[36],3; PsSal 2,2; Bar 4,3; Flav. Jos. Ant. VIII,7,5), in V. 6 wird Jerusalem zusätzlich als „erwählte“ Stadt qualifiziert (vgl. 1 Kön 8,44.48; 11,13.32.36; 14,21). 84 Vgl. Spaer, Coin, S. 218; ders., Jeroboam, S. 2–3, plate 1; Meshorer / Qedar, Coinage (1991), S. 13–14; 49, Nr. 23–27, plates 3–4; Talshir, Story, S. 285; Eshel, Governers, S. 230; 233 (Jerobeam als Name eines Statthalters von Samaria?); Magen, Dating, S. 180. 85 Vgl. Purvis, Ben Sira’, S. 92–93; Kippenberg, Garizim, S. 74–93; Lee, Studies, S. 208– 209; Hayward, Tempel, S. 62–63; Mulder, Simon, S. 328; Zsengellér, Wisdom, S. 147. 86 Siehe Zangenberg, SAMAREIA, S. 41–42; Hayward, Tempel, S. 73–84; Mulder, Simon, S. 221–233; 328; 354–355; Fabry, Sirach, S. 278; Marböck, Simon, S. 165–166. 87 Vgl. Sir 36,11(33,13); 36,12(33,17); 36,17(22); 37,25; 44,23; 45,5.11; 46,14; 48,10; 50,13.19; (51,12f ). 88 G verwendet hier den im griechischen Sirach insgesamt nur dreimal gebrauchten Gottestitel παντοκράτωρ „der Allmächtige“, vgl. noch Sir 42,17 (κύριος ὁ παντοκράτωρ; HB: ‫ ;אלהים צבאיו‬HMas: ‫ )אדני‬und 50,14 (ὕψιστος παντοκράτωρ; HB: ‫)עליון‬.

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7. Ben Sira und der Anteil an David – Sir 47,22 Bezieht man den von mir eingangs als sekundär angesprochenen V. 22 noch in die Auslegung mit ein, dann findet auch der sonst von Ben Sira nicht thematisierte V. 16 aus 1 Kön 12 Berücksichtigung. Die freiwillige Abkehr des Hauses Israels bzw. Ephraims von David (‫ )מה־לנו חלק בדוד‬erscheint vor dem Hintergrund der David gegebenen Dynastieverheißung, an der auch Ben Sira festhält (vgl. 45,25–26; 47,12),89 als Kennzeichen besonderer Dummheit. Die Lossagung von David bedeutet den Verzicht auf die Partizipation an der David geltenden Verheißung, und dies kommt einer Preisgabe der eigenen Existenz gleich, wie es 2 Kön 17 und Ben Sira in 47,24 und 48,15 bestätigen. Ephraim ist eben nicht nur eine ‫ממלכת חמס‬, sondern auch ein ‫גוי נבל‬. Ephraim hat „keinen Anteil, kein Anrecht, kein Gedenken in Jerusalem“ (Neh 2,20). Damit hat Ben Sira 1 Kön 12 eindeutig in seine eigene Gegenwart hinein geholt.90 Sein Rekurs auf 1 Kön 12 ist nicht nur Erinnerung an die Vergangenheit und Gegenstand der Belehrung, sondern auch ein Mittel seiner politischen Theologie.

8. Zusammenfassung In seinem Salomoporträt hebt Ben Sira die wesentlichen Punkte der Darstellung in 1 Kön 3–11 hervor. Dabei wird die Ambivalenz Salomos als eines in seiner Jugend weisen und im Alter törichten Herrschers deutlicher als in 1 Könige. Das Thema des Tempelbaus, dem in 1 Könige vier Kapitel gewidmet sind, reduziert Ben Sira auf einen Vers. Denn für ihn ist zum einen, wie für das Buch der Chronik oder für Ps 78,91 der eigentliche Begründer des Tempelgottesdienstes David, zum anderen ist für ihn der gegenwärtige Tempelkult unter Simon entscheidend.92 1 Kön 12 versteht Ben Sira als eine Weisheits- und eine Sündenfallgeschichte. Die Ahija-Notiz in V. 15 und die Schemaja-Erzählung in V. 21–24 übergeht Ben Sira trotz seiner grundsätzlichen Hochschätzung der Propheten93 zuguns89 Vgl. Sir 51,12h. Allerdings ist die Ursprünglichkeit des Gebets in 51,12a–o (HB) umstritten. 90 Vgl. auch die historiographischen Sentenzen über die Philister (46,18; 47,7) oder die Bezüge auf das Exil Israels und Judas (47,24–25; 48,15–16; 49,4–6), die für die eigene Zeit Ben Siras transparent sind; siehe dazu Marböck, Erbe, S. 129–131; Mulder, Simon, S. 86– 87; 273–274. 91 Vgl. Witte, Exodus, S. 140–144. 92 Zu Ben Siras Tempeltheologie im Schatten von Dtn / Dtr und Ez siehe Zsengellér, Wisdom, S. 145–148. 93 Vgl. Sir 36,16(21); 39,1; 46,1.13; 48,1–15.22; 49,7–10 und dazu Goshen-Gottstein, Praise, S. 250–255. Nach der syrischen Version von 47,17 zeichnete sich auch Salomo durch die Prophetie (nbjwtʼ) aus, wobei umstritten ist, ob Syr das hebräische ‫( מליצה‬G: ἐν ἑρμηνεί­ αις) wie in Hab 2,6 und Spr 1,6 als weisheitlichen Terminus verstanden hat und dementspre-

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ten einer komprimierten und paradigmatischen relecture der Geschichte Israels. Im Zentrum seines Interesses an 1 Kön 12 steht die Frage nach der Einheit Israels. Diese wurde durch die Könige Israels und Judas verspielt. Ben Sira liest damit 1 Kön 12 als eine königskritische Erzählung. Schärfer als 1 Kön 12 kennzeichnet Ben Sira das vom Haus Davids abgefallene Ephraim als „Herrschaft der Gewalt“. 1 Kön 12 ist für ihn eine Anti-Ephraim-Erzählung. Wie sehen nun abschließend die eingangs genannten, in der gegenwärtigen Forschung diskutierten Fragen zu 1 Kön 12 aus Ben Siras Perspektive aus? 1. Ben Siras Text ist im Wesentlichen eine hebräische Vorlage, die der des MT entspricht. Es gibt aber einige auffällige Berührungspunkte mit der Version in 3 Kgt 12,24a–z (vgl. das Fehlen der theologischen Notizen in 1 Kön 12,15.19 oder die Betonung der Aktivität Rehabeams und Jerobeams). Der Enkel übersetzt den hebräischen Text seines Großvater ins Griechische und greift bei seiner Übersetzung von Sir 47,12–25 offenbar nicht auf griechische Versionen von 1 Kön 12 zurück. Unterschiede von G (vgl. Sir 47,18) sind das Ergebnis des spezifischen Verständnisses des griechischen Übersetzers und seines eigenen historischen Kontextes. 2. In literar- und redaktionsgeschichtlicher Hinsicht ist 1 Kön 12 für Ben Sira natürlich eine Einheit. Gleichwohl liest er, wie die Auslassung der Schemaja-­ Erzählung oder der theologischen Deutung in 1 Kön 12,15 zeigt, selektiv. 3. Charakteristisch ist, wie Ben Sira mittels seines Wortgebrauchs eine inner­ biblische Schriftauslegung betreibt und wie er 1 Kön 12 mit anderen biblischen Texten in Beziehung bringt. Dabei ist zwischen dem innerbiblischen Verweissystem des hebräischen Werkes Ben Siras und dem der griechischen Übersetzung des Enkels zu unterscheiden. Denn jede Version von Ben Sira besitzt ihre eigene Intertextualität und Kanonizität.94 4. Die in 1 Kön 12 erzählten Ereignisse sind für Ben Sira historisch. Sie sind für ihn aber zugleich paradigmatisch, insofern sich in ihnen weisheitliche Sentenzen verifizieren lassen, und sie sind für ihn typologisch, insofern sie den zu seiner Zeit erlebten religiösen Gegensatz zwischen Jerusalem und Samaria spiegeln.

chend den Begriff „Prophetie“ in einem weiten Sinn verwendet (so van Peursen, Language, S. 88–89), oder ob hier, entsprechend der besonderen Betonung der Prophetie in Syr (vgl. 36,17; 47,1; 48,12; 48,20.22) tatsächlich Salomo auch als Prophet im engeren Sinn verstanden wird. 94 Vgl. Witte, Propheten (in diesem Band S. 35–37).

‫‪169‬‬

‫“?]…[ ‪„Was haben wir für einen Anteil an David‬‬

‫)‪Anhang: Ben Sira 47,12–25; 48,1 (HB‬‬ ‫)‪] (12a‬ו[ בעבורו עמד אחריו‬ ‫)‪ (13a‬שלמה מלך בימי שלוה‬ ‫)‪ (13c‬אשר הכין בית לשמו‬

‫ בן [מ]שכיל שוכן לבטח׃‬ ‫ ואל הניח לו מסביב׃‬ ‫ ויצב לעד מקדש׃‬

‫ ותצף כיאר מוסר׃‬ ‫)‪ (14a‬מה חכמת בנעריך‬ ‫ ותק[לס ב]מרום שירה׃‬ ‫)‪ (15a‬ארץ [כסית בבינת]ך‬ ‫]‪] [16a‬עד איים רחוקים הגיע שמך ויבואו לשמעך׃]‬ ‫)‪ (17a‬בשיר [מש]ל חידה ומליצה עמים הסערתה׃‬ ‫ הנקרא על ישראל׃‬ ‫)‪ (18a‬נקראת בשם הנכבד‬ ‫)‪ (18c‬ותצבר כברזל זהב‬ ‫(‪ )19a‬ותתן לנשים כסליך‬ ‫)‪ (20a‬ו[ת]תן מום בכבודך‬ ‫)‪[ (20c‬להביא] אף על צאצאיך‬ ‫)‪[ (21a‬להיות העם] לשני שבטים‬

‫ וכעפרת הרבית כסף׃‬ ‫ ותמשילם בגויתך׃‬ ‫ ותחלל את יצועיך׃‬ ‫ ואנחה על משכבך׃‬ ‫ ומאפרים ממלכת חמס׃‬

‫)‪[ (22a‬ואולם א]ל לא יטוש חסד ולא יפיל מדבריו ארצה׃‬ ‫)‪ (22c‬לא [יכרית לבחירי]ו נין ונכד [וזרע אוה]ביו לא ישמיד׃‬ ‫ ול[דוד ממנו שרש]׃‬ ‫)‪ (22e‬ויתן ל[יעקב שארית]‬

‫ ‬ ‫ ‬

‫ ‬ ‫ ‬

‫ ‬ ‫ ‬ ‫ ‬ ‫ ‬ ‫ ‬ ‫ ‬ ‫ ‬ ‫ ‬ ‫ ‬ ‫ ‬ ‫ ‬ ‫ ‬

‫ ‬ ‫ ויעזב א[חריו קצי]ן׃‬ ‫)‪ (23a‬וישכב שלמה מ[ ]ש‬ ‫ ‬ ‫ רחבעם הפריע בע[צתו] עם׃‬ ‫)‪ (23c‬רחב אולת וחסר בינה‬ ‫)‪ (23e‬עד אשר קם אל יהי לו זכר {ירבעם בן נבט} אשר ח[טא והחטי]א א[ת ישראל]׃‬ ‫)‪ (23g‬ויתן לאפרים מכשול‬ ‫)‪ (24b / 25‬ותגדל חטאתו מאד‬ ‫)‪ (48,1‬עד אשר קם נביא כאש‬

‫ להדיחם [מ]אדמתם׃‬ ‫ ולכל רעה הת[מכר]׃‬ ‫ ודבריו כתנור בוער׃‬

‫ ‬ ‫ ‬ ‫ ‬

‫‪(15a) vgl. 1 Kön 3,12; 5,9; Segal; Vattioni.‬‬ ‫‪ II („loben, preisen“); Segal; Vattioni.‬קלס )‪(15b‬‬ ‫‪(16a) G: εἰς νήσους πόρρω ἀφίκετο τὸ ὄνομά σου, vgl. Jes 66,19; Segal.‬‬ ‫;‪(16b) Syr: wmskjn lšmk, vgl. 1 Kön 5,14; 10,24. G: καὶ ἠγαπήθης ἐν τῇ εἰρήνῃ σου‬‬ ‫ ‬ ‫‪vgl. V. 13a (Σαλωμων ἐβασίλευσεν ἐν ἡμέραις εἰρήνης).‬‬ ‫‪(20c) G: ἐπαγαγεῖν; Segal; Vattioni.‬‬ ‫‪(21a) G: γενέσθαι δίχα τυραννίδα; Vattioni.‬‬ ‫‪(22a) G: ὁ δὲ κύριος οὐ μὴ; Segal; Vattioni.‬‬ ‫‪(22c) G: ἐξαλείψῃ ἐκλεκτοῦ αὐτοῦ; Segal; Vattioni.‬‬ ‫‪(22d) G: σπέρμα τοῦ ἀγαπήσαντος αὐτόν; Segal; Vattioni.‬‬ ‫;‪(22e–f ) G: καὶ τῷ Ιακωβ ἔδωκεν κατάλειμμα / καὶ τῷ Δαυιδ ἐξ αὐτοῦ ῥίζαν‬‬ ‫ ‬ ‫‪vgl. Sir 44,17; Segal.‬‬ ‫ ;)‪ („verzweifelt“) (vgl. Pred 2,20‬מיואש ‪(23a) G: μετὰ τῶν πατέρων αὐτοῦ; Beentjes:‬‬ ‫ ‬ ‫‪ („im Irrtum“).‬משגש ‪ („wurzelschlagend“) (vgl. Hi 5,3); Segal:‬משריש ‪Vattioni:‬‬ ‫‪(23b) G: μετ᾽ αὐτὸν ἐκ τοῦ σπέρματος αὐτοῦ; Vattioni; vgl. Sir 48,15–16 (HB).‬‬ ‫‪(23f ) vgl. 1 Kön 15,30.‬‬ ‫‪(25a) G: ( pl.) ἐξεζήτησαν, vgl. 2 Kön 17,17; Segal; Vattioni.‬‬ ‫‪(25b) G-Plus: ἕως ἐκδίκησις ἔλθῃ ἐπ᾽ αὐτούς.‬‬

170

„Was haben wir für einen Anteil an David […]?“

A.1 A.2 A.3

(12a) (12b) (13a) (13b) (13c) (13d)

[und] um seinetwillen stand nach ihm auf ein kluger Sohn, der in Sicherheit wohnte: Salomo herrschte als König in Tagen des Friedens, denn Gott gab ihm Ruhe von allen Seiten, dass er ein Haus für seinen Namen errichtete und ein Heiligtum für immer gründete.

B.1 B.2 B.3 B.4 B.5

(14a) (14b) (15a) (15b) (16a) (16b) (17a) (17b) (18a) (18b)

Wie weise warst du in deiner Jugend! Denn du flossest über wie der Nil mit Bildung. Du [bedecktest] die Erde mit deinem [Verstand] und du sangst ein Loblied in der Höhe. Dein Name reichte bis zu den fernen Inseln, und man kam, um dich zu hören.] Mit Lied, [Gleich]nis, Rätsel, und Sentenz brachtest du Völker zum Staunen. Du wurdest beim Namen des einen Hochgeehrten genannt, der auch genannt wird über Israel.

B′.1 B′.2 B′.3 B′.4 B′.5

(18c) (18d) (19a) (19b) (20a) (20b) (20c) (20d) (21a) (21b)

Aber du häuftest Gold auf wie Eisen und vermehrtest Silber wie Blei. Und du gabst deine Lenden Frauen hin und ließest sie herrschen über deinen Körper. Und du [brach]test Befleckung auf deine Ehre und entweihtest dein Lager, [um] Zorn auf deine Nachkommen herab [zu bringen] und Klage über dein Bett, [so dass das Volk] zu zwei Stämmen [wurde] und aus Ephraim ein Königreich der Gewalt.



(22a) [Aber G]ott wird seine Barmherzigkeit nicht aufgeben (22b) und er wird nicht eines seiner Worte zur Erde fallen lassen. (22c) Er wird nicht [ausreißen] Spross und Nachkommenschaft [seiner Erwählten] (22d) und er wird nicht [den Samen derer, die ihn] lieben, vernichten. (22e) Und er wird [Jakob] einen Rest geben (22f ) und [David eine Wurzel aus ihm selbst].

C.1 C.2 C.3

(23a) (23b) (23c) (23d) (23e) (23f )

Aber Salomo starb [ ] und hinterließ [einen Prinzen] reich95 an Dummheit und arm an Verstand, Rehabeam, der durch seinen Ra[t] das Volk zum Abfall veranlasste, bis einer aufstand, für den es kein Gedenken geben soll, {Jerobeam, der Sohn Nebats,} der sü[ndigte und Israel sündigen ließ].



(23g) (24a) (24b) (25) (48,1a) (48,1b)

Und er gab Ephraim einen Stolperstein, um sie [aus] ihrem Land zu vertreiben. Denn ihre Sünde wuchs sehr, und sie ver[kauften] sich selbst an jede Bosheit. Bis ein Prophet aufstand wie Feuer, und seine Worte waren wie ein brennender Ofen.

95 Wörtl.

„weit“, s. o. S. 158.

Die Gebeine Josephs Sir 49,15 und der Tod Josephs nach Gen 50,24–261 „Mose ging hin, stellte sich an das Ufer des Nils und sagte zu ihm: Josef, Josef, die Zeit ist erreicht, von der der Heilige – gesegnet sei er – geschworen hat: ,Ich erlöse euch‘, und der Schwur ist erreicht, den du Israel hast schwören lassen […].“ (bSota 13a). Abstract: This article interprets the praise of Joseph in Sir 49:15 against the backdrop of the report of the patriarch’s death in Gen 50:24–26. It discusses fundamental questions on the composition of the “Praise of the Fathers” (Sir 44–49; 50), paying special attention to its framework, the image of Joseph in early Jewish and Samaritan traditions and the eschatology of Ben Sira (cf. Sir 44:16; 46:12; 48:10–11; 49:10). With regards to methodology, it attempts to answer the question of the redaction history of Gen 50:24–26 from the perspective of reception history. In terms of the history of tradition, it proposes to understand the transfer of Joseph’s bones from Egypt to Shechem (Ex 13:19; Jos 24:32) in light of the translatio Alexandri Magni.

Zu den vielfältigen methodischen Impulsen, die der sehr verehrte Jubilar seit nunmehr über vierzig Jahren der alttestamentlichen Wissenschaft gibt, gehört neben einer konsequent redaktionsgeschichtlichen, dabei zunächst das kompositionelle und theologische Gefälle der Endgestalt eines Textes erhebenden Exegese auch ein rezeptionsgeschichtlicher Zugang, d. h. eine Annäherung an biblische Texte, bei der die Wirkungsgeschichte einzelner Erzählzüge, Motive und Figuren als ein Vergrößerungsglas für im biblischen Text selbst angelegte, auf den ersten Blick verdeckte Aussageabsichten und Tiefendimensionen verwendet wird. Ein solcher Zugang soll im folgenden Beitrag auf einen für die wissenschaftliche Arbeit von Hans-Christoph Schmitt ganz wesentlichen Gegenstand, die Josephsgeschichte,2 angewendet werden.

1. Ein wirkungsgeschichtlicher Blick auf Sir 49,15 Die älteste, relativ sicher datierbare Rezeption der biblischen Josephsge­ schichte bietet die Josephsnotiz im „Väterlob“ des um 180 v. Chr. schreibenden 1 Hans-Christoph

Schmitt zum 65. Geburtstag (2006). H.-Chr. Schmitt, Die nichtpriesterliche Josephsgeschichte; ders., Hintergründe; ders., Geschichtswerk. 2 Vgl.

172

Die Gebeine Josephs

Weisheitslehrers Ben Sira in Sir 49,15.3 Der Text ist mit charakteristischen Varianten in der hebräischen, griechischen, syrischen und lateinischen Fassung sowie den davon abhängigen Versionen erhalten. Insofern der Makrotext der hebräischen Sirachhandschrift B (HB) von der griechischen, syrischen und lateinischen Version im Wesentlichen gestützt wird, kann er als Repräsentant des Urtextes von Sir 49,15 angesehen werden.

‫ כיוסף אם נולד גבר‬Wurde etwa ein Mann wie Joseph geboren? ‫ וגם גויתו נפקדה‬Und selbst sein Leichnam wurde sorgsam behandelt.

Die Josephsnotiz Ben Siras verblüfft in zweifacher Hinsicht. Da das „Väterlob“ nach dem allgemeinen Prolog in Sir 44,1–15 in seinem Hauptteil die biblischen Porträts von Noah bis Nehemia (44,17–49,13) in chronologischer Folge bietet – wobei die Henochminiatur in 44,16 und 49,14 als Rahmen dient – wäre der natürliche kompositionelle Ort der Erwähnung Josephs zwischen 44,23 (Jakob) und 45,1 (Mose). Anstelle dessen bietet Ben Sira die Reminiszenz an Joseph erst am Ende des „Väterlobs“ an der Nahtstelle zum Lobpreis auf den Hohepriester Simon (II.) (50,1–24), der als Zielpunkt der gesamten Komposition Sir 44–49; 50 angesehen werden kann.4 Die Annahme, Sir 49,15 sei (im Verbund mit V. 14 und V. 16) ein eschatologisch orientierter Nachtrag,5 überzeugt weder kompositionell noch inhaltlich. Sodann überrascht die Kürze der Josephsnotiz, die aber sicher kein Hinweis darauf ist, dass Ben Sira die „große Wichtigkeit“ Josephs nicht gekannt habe.6 Vielmehr konzentriert und selektiert 3 Erst in das ausgehende 2. und beginnende 1. Jh. v. Chr. gehören die Rezeption der Josephsgeschichte im Jubiläenbuch (Kap. 34; 39–46) und im Testament Josephs. Schwer zu datieren sind die Fragmente der jüdisch-hellenistischen Autoren Artapanos, Demetrios und Philo d. Älteren, deren Ansetzung in der Forschung zwischen dem 3. / 2. Jh. v. Chr. schwankt. Alle weiteren antiken Rezeptionen der Josephsgeschichte, von denen hier nur auf Apg 7,9– 16; Hebr 11,21–22, den jüdisch-hellenistischen Roman Joseph und Asenat, das Porträt De Josepho bei Philo von Alexandria und die entsprechenden Passagen in den Antiquitates Judaicae des Flavius Josephus (vgl. besonders die abschließende Würdigung in Ant. II,8,2) verwiesen werden soll, gehören in das 1. / 2. Jh. n. Chr. Zum Nachweis, dass Ben Sira zumindest die Kanonteile Tora und Neviim voraussetzt, siehe im Blick auf das „Väterlob“ Ska, L’Éloge; Goshen-Gottstein, Praise; Witte, Kanon, in diesem Band S. 39–58. 4 Siehe dazu Mulder, Simon. 5 So Middendorp, Stellung, S. 125–135; Mack, Wisdom, S. 199–203. Auch wenn die Formulierung von V. 15 prinzipiell für eine eschatologische Deutung offen ist, so weist doch im Text selbst nichts darauf hin, dass hier im Gegensatz zum grundsätzlichen Todesverständnis des Sirachbuchs an eine Auferstehung Josephs gedacht werde; so mit Hamp, Zukunft, S. 86– 97; Cavallin, Life, S. 193; Kaiser, Verständnis, S. 188–189. Selbst wenn Sir 49,15 eschatologisch orientiert sein sollte, wäre dies angesichts der Verbindung eschatologisch-apokalyptischer Vorstellungen in der späten Weisheit kein Argument gegen die Ursprünglichkeit des Verses (siehe speziell Siebeneck, Bones, S. 424–428; Marböck, Structure, S. 44–45, und allgemein Wright / Wills, Boundaries). 6 Sauer, ATD.A 1, S. 335. Auch Lee, Studies, S. 208–209; 230–234, unterschätzt den Eigenwert von Sir 49,15, wenn er den Vers lediglich als Gegenstand des vergleichenden Lobs auf Henoch bzw. auf Simon ansieht. Gegen die Vermutung von Collins, Wisdom, S. 105–

Die Gebeine Josephs

173

Ben Sira bewusst aus der Überlieferung, deren Kenntnis er bei seinen Lesern voraussetzt. Die Tradenten der griechischen und der lateinischen Sirachüberlieferung haben die Knappheit aber offenbar empfunden, wenn sie als dritten Stichos von V. 15 die Kennzeichnung Josephs als „Führer der Brüder und Stütze des Volkes“ bieten (vgl. 10,20; 44,4).7 Der biblische Texthintergrund ist klar: Ben Sira spielt hier auf den Wunsch Josephs, seine Gebeine (‫ )עצמות‬mögen beim Auszug der Israeliten aus Ägypten mit ins Heilige Land genommen werden (Gen 50,25), und auf die entsprechenden Erfüllungsvermerke in Ex 13,19 und Jos 24,32 an. Für die Langfassungen von G und La bilden Texte wie Gen 42,6 und 47,12 einen zusätzlichen Hintergrund. Dabei zeigen die Verwendung des Worts ‫„( גויה‬Leichnam“, vgl. 44,14 HMas)8 und die modifizierte Aufnahme des Begriffs ‫פקד‬, der in Gen 50,24–25 zur Beschreibung der gnädigen Heimsuchung Israels durch Gott im Exodus 106, Ben Sira habe die Josephsnotiz aufgrund seiner antisamaritanischen Einstellung (vgl. Sir 50,25–26) so kurz gehalten, spricht, dass er Joseph überhaupt erwähnt. Eine Kombination der Thesen Lees und Collins’ bietet Mulder, Simon, S. 95; 233 u. ö. Überzeugender ist die Annahme von Siebeneck, Bones, S. 419–420, die V. 14–16 dienten (parallel zur Eröffnung in 44,16) in bewusst gestalteter Prägnanz als Einleitung des Lobs auf Simon. Zur samaritanischen Hochschätzung Josephs vgl. auch Memar Marqah I,10; IV,3–6 (Macdonald, I, S. 26; II, S. 40–41 bzw. I, S. 95; II, S. 156) und dazu Kippenberg, Garizim, S. 272; sowie Zsengellér, Gerizim, S. 52. 7 G: ἡγούμενος ἀδελφῶν στήριγμα λαοῦ. La (mit der Kompilation von zwei Varianten): princeps fratrum firmamentum gentis ˹rector fratrum stabilimentum populi˺. Der Stichos dürfte ursprünglich vor 50,1 gestanden und das eigentliche Lob auf Simon eingeleitet haben (vgl. HB und Syr). Vattioni, Ecclesiastico, bietet den entsprechenden hebräischen Stichos ‫ גדול אתיו ותפארת עמו‬zwischen 49,15 und 49,16; doch siehe zur richtigen Positionierung in HB Beentjes, Book. Innerhalb des „Väterlob“ ist der Begriff ‫ תפארת‬damit der allgemeinen Kennzeichnung der Väter (44,7), Adams (49,16) und der priesterlichen Figuren Aaron (45,8) und Simon (50,1.11) vorbehalten. In G ergibt sich über die Verwendung des Worts στήριγμα ein schöner intertextueller Bezug zu Tob 8,6, wo in modifizierter Aufnahme von Gen 2,18 Eva als στήριγμα Adams bezeichnet wird. Zum religiösen Gebrauch des Begriffs als Attribut einzelner Götter siehe Orph. H. 18,7; 84,5; zur christologischen Rezeption Clemens Alex., Hymnus Christi servatoris 15. La bietet darüber hinaus die Notiz, dass Josephs Gebeine „nach dem Tod geweissagt haben“, womit auf das Motiv der „aufblühenden Gebeine“ der Richter bzw. der Zwölf Propheten in Sir 46,12(14) bzw. 49,10(12) zurückgeblickt wird (vgl. auch TestSim 6,2). Im Hintergrund von La steht entweder die Interpretation von Gen 50,25 als Weissagung des Exodus (vgl. Hebr 11,21–22) oder die Vorstellung von der belebenden Wirkung der Gebeine besonderer Menschen (vgl. im Fall Elisas 2 Kön 13,20–21 [rezipiert in Sir 48,13–14 und VitProph 22,17(20)] und im Fall Jeremias VitProph 2,4). Zur Annahme, das Josephsgrab in Sichem sei eine mit Delphi vergleichbare Orakelstätte gewesen (vgl. Gen 12,6), siehe G. R. H. Wright, Grave. 8 G (τὰ ὀστᾶ αὐτοῦ) und La (ossa ipsius) sind „wörtlicher“ als H und Syr ( pgrh), wodurch die Beziehung zwischen Sir 49,15 und Gen 50,25; Ex 13,19; Jos 24,32 einerseits und zwischen Sir 49,15 und Sir 46,10; 49,10 andererseits deutlicher ist als in H und Syr. Gleichwohl steht ‫ עצמות‬auch synekdochisch für „Leichnam“ (vgl. neben Gen 50,25; Ex 13,19 und Jos 24,32 auch 1 Sam 21,12–14; 1 Kön 13,31).

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Die Gebeine Josephs

und in Sir 49,15 nun zur Kennzeichnung der Fürsorge um Josephs Gebeine ver­ wendet wird, den freien Umgang Ben Siras mit dem biblischen Text.9 Der unmittelbare Kontext in Sir 49,14–16 verdeutlicht, dass Ben Sira auf weitere Aspekte der Josephsgeschichte anspielt. Die Korrelation von Joseph und Henoch (49,14)10 basiert nicht nur auf dem besonderen postmortalen Schicksal beider Figuren (vgl. Gen 5,24), sondern erklärt sich auch aufgrund der beiden in der antiken jüdischen Tradition zugeschriebenen Weisheit und durch Träume vermittelten besonderen Erkenntnis. Die Zusammenstellung mit Sem (49,16a1),11 der gemäß Gen 9,26 als besonders gesegneter Stammvater Israels gilt,12 entspricht der Hochschätzung Josephs als Lebensretter der „Söhne Israels“ (vgl. Gen 41,57; 42,1–25; 50,20); insofern sind die Varianten von Sir 49,15 in G und La vollkommen sachgemäß. Die Kombination mit Set (49,16a2) erklärt sich primär aus der Funktion beider Figuren als „Ersatzmänner“ (vgl. Gen 4,25 bzw. Gen 30,22–24; 45,5–7; 50,20). Bezieht man die außerkanonische Set-Überlieferung mit ein, ergibt sich als weiteres Bindeglied zu Joseph ebenfalls das Motiv der besonderen Gerechtigkeit und Weisheit.13 Die Erwähnung Enoschs, zu dessen Zeiten nach Gen 4,26 die „Anrufung Jhwh’s“ begann,14 wirft ein besonderes Licht auf Joseph als Beter (vgl. TestJos 3,3).15 Die Zusammenstellung mit Adam, dessen „Ruhm alle Lebewesen überragt“ 9 Der Begriff ‫ פקד‬erfüllt in seinem unmittelbaren Kontext die Funktion eines Leitworts, insofern er auch im Lob auf Sem, Set und Enosch (49,16) und in der Einleitung zum Lob auf Simon (50,1) verwendet wird. Eine Übersetzung mit „bestatten“ (so Sauer, ATD.A 1, S. 335–336) legt den Text einseitig fest. Eine Änderung von ‫ נפקדו‬in 49,16 in ‫נכבדו‬, wie gelegentlich unter Hinweis auf G (ἐδοξάσθησαν) vorgeschlagen wird (vgl. Skehan / Di Lella, Ben Sira, S. 541–542), ist nicht nötig, da ‫ פקד‬auch im Sinn von „ehren / erinnern“ gebraucht werden kann (vgl. äth. faqada, den Parallelismus von ‫ פקד‬und ‫ זכר‬in Ps 8,5 und dazu Grossfeld, Translation, sowie Fraade, Enosh, S. 14). 10 HB liest ‫כהניך‬, was mit G, La und Syr in ‫ כהנוך‬zu korrigieren ist; so auch die Mehrheit der Ausleger. Zu einem gezwungenen Versuch, den hebräischen Text im Sinn von „formed to your priestly service“ als Vorblick auf den Priester schlechthin, den in Sir 50,1–24 beschriebenen Simon, zu bewahren, siehe Mulder, Simon, S. 92–94. 11 Die „anachronistische“ Reihenfolge Sem – Set, die von G geteilt wird, während La und Syr der biblischen Erzählfolge entsprechend Set – Sem bieten, spiegelt die besondere Bedeutung Sems als Stammvater Israels wider. Möglicherweise steht dahinter auch die haggadische Tradition der Aufzählung nach dem Grad der Weisheit (vgl. bSan 69b). 12 Gen 10,21; 11,10–26. Zur Hochschätzung Sems im jüdischen Schrifttum der hellenistisch-römischen Zeit vgl. Jub 8,12–21; 19,24–27; TPsJ zu Gen 9,27; TestSim 6,5; bSan 69b; 108b; bJoma 10a; bMak 23b und dazu Charlesworth, Treatise. 13 Vgl. z. B. die Rückführung der Schreibkunst auf Set in VitAd 49–51 und dazu Klijn, Seth. 14 G und La haben das Wort ‫„( אנוש‬und Enosch“) als Gattungsbezeichnung und als Apposition zu Sem und Set aufgefasst („unter Menschen“), so auch Mulder, Simon, S. 90–91; Syr bietet eine Doppelübersetzung („und Enosch unter Menschen“). Zum Verständnis von Gen 4,26 als Ätiologie der Jahweverehrung siehe Witte, Urgeschichte, S. 61–65; 279–280. Zur Beurteilung Enoschs im nachbiblischen jüdischen Schrifttum (vgl. Jub 4,12–13; 19,23–25; 2 Hen J 33,10–11; Philo, Abr. 7–16 u. a.) siehe Fraade, Enosh.

Die Gebeine Josephs

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(49,16b), weil er nach Gen 5,1 von Gott selbst geschaffen wurde (vgl. Lk 3,38), stellt Joseph in den Umkreis des idealen Menschen.16 Indem Ben Sira die Josephsnotiz auf das Motiv der Sorge um dessen Gebeine konzentriert, spielt er zugleich nochmals die Figuren Moses (vgl. Ex 13,19 und Sir 45,1–5) und Josuas (vgl. Jos 24,32 und Sir 46,1–8) in das „Lob der Väter“ ein. So ist der Abschnitt 49,14–16 insgesamt ein schönes Beispiel für die Art und Weise, wie Ben Sira mittels Zitation und Kombination sich gegenseitig erläuternder Bibelstellen die Schrift auslegt und einen neuen Text schafft. Zugleich zeigen die Verknüpfungen der „universalen“ Figuren Henoch, Set und Enosch mit den „nationalen“ Figuren Joseph und Sem sowie der Abschluss mit dem Erstling der Schöpfung Adam, dass die Passage 49,14–16 auf den Beginn des „Väterlobs“ zurückweist,17 dieses prägnant zusammenfasst und zu Kap. 50 überleitet. Insofern Sir 49,14–16 am Ende des „Väterlobs“ auf das besondere Lebens- und Todesgeschick herausragender Figuren der menschlichen Urgeschichte und der Frühgeschichte Israels zurückblickt (vgl. 44,9.14), bildet diese Sequenz ein Gegenbild zu der grundsätzlichen Anthropologie des Siraciden, derzufolge der Mensch schon im Leben vom Vergehen gekennzeichnet ist (10,9–11; 17,1.32). Dennoch bleibt die Frage, warum Ben Sira die Erinnerung an Joseph auf das eine Motiv der besonderen Sorge um dessen Leichnam konzentriert hat. Hätte sich für den Weisen Ben Sira nicht viel eher nahegelegt, ausdrücklich Josephs Weisheit (Gen 41,33.39), dessen Führung durch Gott oder dessen Bewährung in Potifars Haus hervorzuheben, wie es Ps 105,22; SapSal 10,13; 4 Makk 2,2, die Verfasser der Testamente der Zwölf Patriarchen,18 der Roman Joseph und Asenat19 oder auch Apg 7,10, Flavius Josephus (Ant. II,8,2) und die Targumim20 tun? An diesem Punkt führt ein Blick auf das geistesgeschichtliche Umfeld Ben Siras sowie auf die Form und die Funktion des „Väterlob“ weiter. Bekanntlich ist Ben Sira der erste biblische Autor, bei dem sich eindeutig hellenistischer Einfluss literarisch nachweisen lässt. Auch bei der formalen 15 TestJos 4,3.8; 7,4; 8,1.5; 9,4; 10,1. Zur Tradition Josephs als Beter vgl. auch JosAs 8,9– 11; 29,9 (syr.) und das wohl aus dem 1. Jh. n. Chr. stammende „Gebet Josephs“ (Smith, Prayer). 16 Zur Beliebtheit Adams bei Sirach und im jüdischen Schrifttum der hellenistisch-römischen Zeit vgl. Sir 16,16 (G-II); 36(33),10; 40,1 bzw. Hi 15,7; Ez 28; SapSal 10,1–2; 1QS IV,23; CD-A III,20; 1 Hen 69,11; VitAd 12–17; ApkMos 21; Philo, opif. 136–141; bChag 12a und dazu Marböck, Henoch, S. 140–141. 17 Vgl. für die „universale“ Linie Sir 44,16–18 (Henoch und Noah), für den Auftakt der „nationalen“ Linie Sir 44,19–22(23) (die Erzvätertrias par. Gen 50,24!), für den Rekurs auf den „Anfang“ Sir 44,1–2; Letzteres ist in G durch die Verwendung des Wortstammes κτίζ- in 44,2 und 49,16 noch deutlicher als in H, Syr und La. 18 Vgl. TestRub 4,8; TestSim 4,5–6; TestLev 12,7–13,1 TestSeb 8,4; TestDan 1,4; TestJos 2–20; TestBen 3,1; 4,1–5; 5,5; siehe dazu auch die „Abschiedsrede Josephs“ bei Beyer, Texte I (1984), S. 188. 19 Vgl. JosAs 4,7; 18,1. 20 Vgl. dazu Niehoff, Figure.

176

Die Gebeine Josephs

Gestaltung des „Väterlob“ greift Ben Sira, wie Thomas R. Lee (1986)21 gezeigt hat, auf eine im Hellenismus beliebte Gattung, das Enkomion, zurück. Die zentrale Funktion des Sirachbuchs insgesamt wie des „Väterlob“ im besonderen ist die Sicherung der jüdischen Identität. Angesichts des hellenistischen Pluralismus an Welt-, Menschen- und Gottesbildern komponiert Ben Sira auf der Basis der israelitisch-jüdischen Tradition mittels einer Synthese aus Toratheologie, Weisheit und priesterlich-kultischen Vorstellungen eine Lebenslehre, die zugleich selbstbewusst auf die eigene Vergangenheit verweist und zu einer von Gottesfurcht und Weltoffenheit geprägten Daseinsbewältigung anleitet. Auch wenn sich das Sirachbuch auf seiner Textoberfläche weitgehend in den Bahnen der israelitisch-jüdischen Tradition und Sprache bewegt, so bildet die hellenistische Welt durchgehend einen Subtext, der als Verstehenshintergrund Ben Siras und der ursprünglichen Leser seiner Schrift zu bedenken ist. Damit stellt sich die Frage, ob hinter der Josephsnotiz in Sir 49,15 neben den genannten biblischen Texten auch ein genuin hellenistischer Subtext anzunehmen ist. Da sagte Ptolemaios zu ihnen: Es gibt eine Weissagungsstätte des Babylonischen Zeus. Von ihm wollen wir einen Orakelspruch empfangen, wohin wir den Leichnam (σῶμα) Alexanders bringen sollen […]. Nachdem so der Orakelspruch gegeben worden war, brachte ihn Ptolemaios nach Ägypten. Er nahm aber einen bleiernen Sarg (λάρναξ), legte Honig von den Inseln, Aloe und Myrrhe aus Äthiopien hinein, stellte ihn auf einen von Maultieren gezogenen Wagen (ἅμαξα) und führte ihn nach Ägypten.22

Mit der translatio des Leichnams Alexanders des Großen nach Ägypten, zwei Jahre nach dessen Tod am 10. Juni 323 v. Chr. in Babylon, scheint mir ein solcher Subtext für Sir 49,15 gefunden zu sein. Wie sich der kometenhafte Aufstieg des Makedonenkönigs und sein alle bisherigen räumlichen und zeitlichen Vorstellungen sprengender Eroberungszug von Kleinasien bis zum Indus tief in das kulturelle Gedächtnis der Levante (und weit darüber hinaus) eingegraben haben, so haben sich auch die letzten Lebenstage und die Behandlung seines Leichnams schon früh in der Literatur niedergeschlagen. Unter den hinsichtlich geographischer und personeller Details differierenden Berichten der antiken Historiker erzählt am ausführlichsten Diodor Siculus von dem letzten Wunsch des Makedonen, im Ammonheiligtum in der Oase Siwa bestattet zu werden, von der Anfertigung eines prunkvollen Leichenwagens (ἁρμάμαξα)23 durch Arrhidaios und von der Überführung des einbalsamierten Körpers durch

21 Lee,

Studies. zitierte Passage begegnet mit charakteristischen Varianten, vor allem hinsichtlich der Angabe, wer den Alexandersarg überführte (Ptolemaios oder Perdikkas), in den verschiedenen Rezensionen des Alexanderromans (PsCallisthenes), dessen literar- und überlieferungsgeschichtlichen Ursprünge im Umfeld Alexanders selbst liegen, der im Wesentlichen aber erst im 1. Jh. v. Chr bis 3. Jh. n. Chr. (bis hin zu mittelalterlichen Fortschreibungen) entstanden ist. Die hier gebotene Übersetzung folgt der Rez. α (III,34,1–4). 23 Zu Rekonstruktionsversuchen dieses Wagens siehe Seibert, Alexander, S. 177–178. 22 Die

Die Gebeine Josephs

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Ptolemaios I. nach Alexandria.24 In den Fragen, ob Alexander zunächst in Memphis und dann erst in Alexandria bestattet wurde und ob schon Ptolemaios I. oder erst Ptolemaios II. für den Bau des Grabmals in Alexandria verantwortlich war, unterscheiden sich die antiken Historiker.25 Jedenfalls spielte das Grabdenkmal, dessen Bezeichnung in der antiken Überlieferung zwischen σῶμα und σῆμα schwankt,26 eine zentrale Rolle in dem bereits 311 v. Chr. von Ptolemaios I. eingeführten, seine Herrschaft ideologisch einigenden und legitimierenden Reichskult des Alexander. Nachdem Ptolemaios IV. (221–204 v. Chr.) ein neues Mausoleum mit pyramidaler Struktur hatte bauen lassen und Ptolemaios X. Alexander I. (107–88 v. Chr.) den goldenen Alexandersarg gegen einen gläsernen (ὑαλινός) hatte austauschen lassen,27 sind Besuche des Alexandergrabes bis zu Kaiser Caracalla 215 n. Chr. nachgewiesen.28 Angesichts der Hochschätzung des Reisens in Sir 34,12 und der Tatsache, dass sich seit 301 v. Chr. eine stetig steigende Zahl von Juden in Alexandria befand, ist nicht ausgeschlossen, dass Ben Sira das Grabmal Alexanders, wenn auch nicht aus eigener Anschauung, so doch aus Erzählungen kannte. Dass ein um 180 v. Chr. wohl im hellenistisch geprägten Jerusalem schreibender Autor um die Überführung Alexanders und den sich um seinen Leichnam entfaltenden Kult wusste, ist anzunehmen. Mag auch der Bericht des Flavius Josephus von der Begegnung Alexanders mit dem Jerusalemer Hohepriester anlässlich des Durchzugs durch Palästina 331 v. Chr. legendarisch sein,29 so spiegelt sich 24 Diodor

Sic., XVIII,3,5; XVIII,26–28; vgl. weiterhin Strabo, XVII,1,8; Arrian, τὰ μετὰ Ἀλέξανδρον (FGH 156, F 9 § 25; F 10); Pausanias, I,6,3; I,7,1 (Bestattung Alexanders durch Ptolemaios I. in Memphis, Überführung durch Ptolemaios II. nach Alexandria); Curtius Rufus, X,5,4; X,10,20; Justinus (Epitome aus Pompeius Trogus), XII,15,7; XIII,4,6. Eine ganz kurze Notiz über die Bestattung in Memphis bietet auch der aus dem Jahr 264 v. Chr. stammende Marmor Parium (FGH 239, B 11). 25 Fraser, Alexandria I, S. 16, und Hölbl, Geschichte, S. 16, votieren für Ptolemaios I., H. H. Schmitt, Herrscherkult, S. 247, für Ptolemaios II. 26 Strabo, XVII,1,8; und dazu Fraser, Alexandria II, S. 32. 27 Vgl. Strabo, XVII,1,8; Fraser, Alexandria II, S. 35–36. Zu den hinter der Öffnung der Alexandergruft und dem Austausch des Sarges stehenden ideologischen Motiven siehe Böhm, Imitatio, S. 141–145. 28 Fraser, Alexandria II, S. 35. Die genaue Lage des Grabes ist unbekannt (siehe dazu auch Seibert, Alexander, S. 115f.). Zu weiteren berühmten translationes der griechischen Antike und zu einer instruktiven Nachzeichnung des Zusammenhangs von der Überführung bedeutender Persönlichkeiten und politischer Legitimierung siehe von Ungern-Sternberg, Grab. 29 Flav. Jos. Ant. XI,8,5 Im Zentrum der literarisch mehrschichtigen Erzählung, die Varianten u. a. im Alexanderroman (Rez. γ II,23; Rez. ε 20,2) sowie in bJoma 69a und in der MegTaan 21 Kislev besitzt, steht die Herausstellung Alexanders als gottesfürchtigem Herrscher, der die Kulte der anderen Völker respektiert. Damit tritt Jerusalem neben die von den antiken Alexanderbiographen genannten kleinasiatischen, ägyptischen und vorderorientalischen Kultstätten, denen Alexander gleichfalls seine Reverenz erwiesen habe. Inwieweit hier topische und historische Elemente vermischt sind, kann nur die Einzelanalyse zeigen (Kazis, Book, S. 4–11; Delling, Alexander, S. 1–51; Goldstein, Alexander; Stoneman, Traditions).

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doch in diesem Text das von Erich S. Gruen (1998)30 treffend als Einschreibung Israels in die Geschichte Alexanders bezeichnete Phänomen wider, das in den Alexander-Anekdoten im babylonischen Talmud eine Fortsetzung findet.31 Sir 49,15 scheint mir hier nun eine frühe Form der interpretatio Judaica des Auftretens Alexanders zu sein, insofern der Siracide der translatio Alexandri die translatio Ioseph gegenüberstellt: Mögen die Heiden den Leichenwagen Alex­ anders und dessen Grabmal bestaunen, so können die Juden auf die Fürsorge Gottes selbst32 um die Gebeine Josephs verweisen. Auch die Henochnotiz in Sir 49,14 erstrahlt vor diesem Hintergrund in einem neuen Licht: Nicht nur das stete Vorbild Alexanders, der von den Makedonen als Stammvater und idealer Herrscher angesehene Herakles, wurde entrückt,33 sondern eben auch der jüdische Prototyp an Frömmigkeit und Gotteserkenntnis Henoch.34 In der weiteren Fluchtlinie dieser Vorstellung liegt dann die Notiz, Alexander der Große habe selbst die Überführung der Gebeine Jeremias nach Alexandria veranlasst (VitProph 2,5), was erneut als jüdische Spiegelung der von antiken Autoren Alexander zugeschriebenen Pietät erscheint.35 Dass sich im Bereich der biblischen Figuren gerade Joseph für den Rekurs auf Alexandermotivik eignet, erklärt sich aufgrund der Parallelen, die sich zwischen Joseph und Alexander finden. Den deutlichsten Anknüpfungspunkt bildet dabei die Kennzeichnung Josephs als „Herrscher Ägyptens“,36 was in den 30 Gruen,

Heritage, S. 189. erscheint Alexander in bSan 91a (BerR 56,7) als Schlichter im Streit um Landansprüche zwischen Israeliten einerseits und Kanaanäern, Ägyptern und Ismaelitern andererseits und wird Zeuge, wie die Rabbinen die Kläger mit Versen aus der Tora widerlegen. Vgl. auch bTam 31b / 32a, wo Alexander als Dialogpartner der „Ältesten des Südens“ begegnet, als jüdisches Pendant zu den paganen Berichten über Alexanders Gespräche mit Brahmanen (Strabo, XV,1,63–66; Plutarch, Alex. 65; Alexanderroman Rez. β III,5–6; Seibert, Alexander, S. 154–156) oder mit Kynikern (Diog. Laert., VI,32.38.60.63.68). 32 Zur Interpretation von ‫( נפקדה‬Sir 49,15b) als passivum divinum vgl. Sir 44,16–17 und dazu Russell, Pseudepigrapha, S. 35–36, sowie Num 16,29 und dazu André, ‫פקד‬, S. 719. Die Lukianische Rezension von Sir 49,15 bietet dementsprechend den Langtext ἐπεσκέπη ὑπὸ κυρίου. 33 Vgl. Hesiod, theog. 954; Euripides, Heracl. 12; Diodor Sic., IV,38; Ovid, met. IX, 239– 272; Apollodor, II,160; Arrian, An. IV,10,6–7; Pausanias, III,18,11; Hygin, fab. 102 oder ikonographisch römische Sarkophagskulpturen mit Heraklesmythen (Nilsson, Geschichte, S. 522). Zur Bedeutung des Herakles unter den Makedonen und den Diadochen (vgl. Theokrit, Id. 17 [= Loblied auf Ptolemaios I.]) siehe Böhm, Imitatio, S. 45–51. 34 Zieht man hierzu noch die bei Arrian (An. VII,27,3) überlieferte Legende heran, Alex­ ander habe sich, um seine Herkunft von den Göttern zu unterstreichen und dementsprechend seine Entrückung vorzutäuschen, in den Euphrat stürzen wollen, so erhält Sir 49,14 eine ironische Note: Was der Makedone vergeblich versuchte, wurde dem Helden der jüdischen Tradition geschenkt (vgl. weiterhin Sir 48,9 [Elia]; 4 Esr 14,49–50 [Esra]; 2 Bar 13,3 [Baruch]; Flav. Jos. Ant. IV,8,48; Mk 9,4–5; Jud 9 [Mose]). 35 Kazis, Book, S. 23–24; Plutarch, Alex. 30,6. 36 Vgl. Gen 41,43 und 42,6 (Joseph als ‫ ;)שליט‬Gen 45,8 (Joseph als ‫ ;)אדון‬Gen 45,26 (Joseph als ‫ ;)משל‬Gen 49,26 ( par. Dtn 33,16: ‫נזיר‬, „Fürst“); Ps 105,21; Sir 49,15 (G); 1 Makk 31 So

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Josephsequenzen Philos des Älteren,37 des Artapanos38 und des Demetrios,39 im Roman Joseph und Asenat (29,9[11]) und in der Porträtierung Josephs als Paradigma eines „Staatsmannes“ (πολιτικός) bei Philo von Alexandria (Jos. t. 1) fortgeschrieben ist. Hinzu treten die Joseph und Alexander gemeinsamen Attribute des Empfängers von Traumoffenbarungen bzw. des Weisen.40 In der nachbiblischen jüdischen Überlieferung begegnet als weitere Parallele die Verbindung beider zu Sarapis.41

2. Ein redaktionsgeschichtlicher Rückblick auf Gen 50,25 Mit dem „alexandrischen“ Joseph des Ben Sira im Gepäck soll nun in einem zweiten Schritt der biblische Spendertext in Gen 50,25 im Zusammenhang mit V. 24 und V. 26 in den Blick genommen werden.42 In der Endgestalt des Hexateuchs gehört die Passage Gen 50,24–26 zu den wenigen eindeutigen „übergreifenden“ Leitmotiven. Die Ankündigung der „Heimsuchung“ Israels (V. 24a) weist auf den Exodus voraus (vgl. Gen 48,21–22; Ex 3,16–17; 4,31). Das Motiv des Landes, das den hier erstmals im Pentateuch in einer Reihe genannten Erzvätern „Abraham, Isaak und Jakob“ zugeschworen wird (V. 24b), verbindet den Vers mit Gen 26,3; Ex 32,13; 33,1; Num 32,11; Dtn 31,23; 34,4. Die Verpflichtung der Israeliten zur Mitnahme der Gebeine Josephs (V. 25) wird in Ex 13,19 und Jos 24,32 aufgegriffen und steht selbst mit dem Versprechen, das Jakob hinsichtlich seiner Bestattung im 2,53; Jub 40,8; SapSal 10,14; Apg 7,10; Memar Marqah I,10; IV,12 (Joseph als ‫ ;מלך‬Mac­ donald, I, S. 26; II, S. 41 bzw. I, S. 111; II, S. 186). Zur Bezeichnung Alexanders als ἡγούμε­ νος siehe z. B. den Alexanderroman Rez. β II,11,10. 37 Joseph als σκηπτοῦχος („Zepterträger“), vgl. SapSal 10,14 und zum Wort Homer, Il. I,279; Od. II,231; 5,9. 38 Joseph als διοικητής und als δεσπότης, vgl. Frgm. 2 (Denis, Fragmenta, S. 186,21 und S. 187,13). 39 Vgl. Frgm. 2,12 (Denis, Fragmenta, S. 177,2). 40 Vgl. nur Gen 37,5–9; Plutarch, Alex. 24,8; 26,5; 50,6; Curtius, IV,2,17 bzw. Gen 41,39; Ps 105,22; Plutarch, Alex. 7,5; 8,5; Strabo, XV,1,64. Zum Topos der Schönheit, die beide Figuren auszeichnet, siehe Gen 39,6; TestJos 2,4; JosAs 21,4 bzw. Arrian, An. VII,28,1. 41 So wird in bAS 43a Joseph aufgrund von dessen Bezeichnung als Stier in Dtn 33,17 und mittels des Wortspiels, er habe über Ägypten geherrscht (‫ )סר‬und das Land befriedet (‫)מפיס‬, mit Sarapis (‫ )סר אפיס‬gleichgesetzt (vgl. dazu Heller, Elements, S. 228). Zur engen Verbindung Alexanders zum Sarapiskult vgl. Arrian, An. VII,26,2; Plutarch, Alex. 76; Alex­ anderroman Rez. β I,3,13; Rez. α III,33,19 und zur Sache Nilsson, Geschichte, S. 147–148; Fraser, Alexandria I, S. 247; Hölbl, Geschichte, S. 92–94, und Seibert, Alexander, S. 276– 277. Zu weiteren Parallelisierungen von Alexander und biblischen Figuren in mittelalterlichen jüdischen Texten siehe Stoneman, Traditions, S. 50–53. 42 Zu einem originellen Versuch, die Theologien von Sir 49,15 und Gen 50,25 hinsichtlich der postmortalen Bedeutung Josephs für sein Volk und der Aspekte Geschichte, Weisheit und göttliche Vorsehung zu korrelieren, siehe Ruppert, Josephserzählung, S. 257.

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Heiligen Land seinen Söhnen abnimmt (Gen 47,29–31; 49,29–30; 50,5), in Verbindung. Die Notiz der Einbalsamierung (‫)חנט‬43 Josephs blickt auf eine entsprechende Mitteilung über den Umgang mit dem Leichnam Jakobs (Gen 50,2) zurück. Die Bettung Josephs in einen als ‫ ארון‬bezeichneten Sarg (Gen 50,26) ist angesichts des sonst im Alten Testament (mit Ausnahme von 2 Kön 12,10) nur für die „Bundeslade“ verwendeten Begriffs,44 wie die nachbiblische jüdische Tradition zu Recht bemerkt hat,45 nicht isoliert von den Nachrichten über diese Lade in den Büchern Exodus bis 2 Samuel zu sehen. Das letzte Wort der Sequenz in V. 26 (‫)במצרים‬, das zugleich das letzte Wort in der Genesis ist, weist voraus auf das folgende Buch (Ex 1,1.5.8). Auf diesen Konnex deutet auch die Wortfolge ‫בארון במצרים‬: Dem in Ägypten in einen „Kasten“ gelegten Toten, der an seinem Lebensabend den Exodus ankündigt, steht der im Schilf des Nils in einem „Kästchen“ (‫ )תבה‬niedergelegte Neugeborene gegenüber, der als der aus dem Wasser Herausgezogene zum Führer im Auszug wird (Ex 2,3.10).46 Sodann korrespondiert die Notiz vom Tod Josephs in Gen 50,26 über die Altersangabe von 110 Jahren auch mit der Todesnotiz Josuas, der ebenfalls als 110-jähriger stirbt (Jos 24,29). Über den Rekurs der Notiz von der Grablegung Josephs „in Sichem“ (Jos 24,32) auf die Erzählung vom sichemitischen Landerwerb Jakobs (Gen 33,18–19) erscheint das Motiv von den Gebeinen Josephs als ein wichtiges Glied der sich von Gen 12,6 bis Jos 24,32 erstreckenden Kette von Sichem-Aussagen im Hexateuch. Schon die Vielzahl der kompositionellen Bezüge, die Gen 50,24–26 auf der Ebene des „kanonischen“ Textes besitzt, deutet darauf hin, dass es sich bei diesen Versen redaktionsgeschichtlich um einen Spätling handelt. Der Nachtragscharakter zeigt sich auch an der Wiederaufnahme von V. 22bβ in V. 26aβ und an der Prolepse von Ex 1,6aα in Gen 50,26aα. Mit der Notiz über die 43 Das Wort ‫חנט‬, dessen Etymologie umstritten, das aber wohl nicht ägyptisch ist, begegnet biblisch nur in Gen 50,2 und Gen 50,26 und in davon abhängigen Texten (TO zu Gen 50,2; bTaan 5b); die LXX übersetzt in 50,2 mit dem Neologismus ἐνταφιάζω (vgl. Mt 26,12; Plutarch, De esu carnium i,995c), in 50,26 mit θάπτω; zum Austausch des Begriffs ‫ רפא‬in 50,2 durch das passendere Wort ἐνταφιαστής (vgl. Pap. Oxy. III,476,8 [2. Jh. n. Chr.]; Pap. Par. 7,6 [1. Jh. v. Chr.]) siehe Morenz, Spuren, S. 257. 44 Vgl. hingegen inschriftlich für einen Sarg KAI 1,1.2; 9A2; 9B4; 11,1; 13,2.3.5; Beth Schearim 17 und 22 (AHL 428–429); für ein Ossuar CIS i 6043; zum griechischen Äquivalent σόρος als Bezeichnung für einen Sarg vgl. Lk 7,14; Herodot I,68, für ein Ossuar eine Inschrift aus Jericho (1. Jh. n. Chr., SEG 31,1405 / Rahmani, Catalogue, Nr. 789), für einen Mumienkasten Pap. Haun. 17,14 (2. Jh. n. Chr.). TPsJ und Tfrgm. zu Gen 50,26 übersetzen mit dem griechischen Wort ‫ דלוסקמא‬/ ‫( גלוסקמא‬γλωσσόκομον), vgl. mOh IX,15; bMQ 24b; siehe dazu auch Meyers, Ossuaries, S. 49–56; Rahmani, Catalogue, S. 3. 45 Vgl. MekhJ zu Ex 13,19 und bSota 13a und dazu Delitzsch, Genesis, S. 537; Jacob, Genesis, S. 944–945. 46 Auch zur Darstellung des Todes des Mose (Dtn 34,5–6) zeigt sich eine Verbindung, insofern die besondere Sorge Israels um die Gebeine Josephs der Bestattung Moses durch Gott selbst entspricht. Vgl. dazu mSota I,9, wo die Bestattung Moses durch Gott mit dessen Ausführung der Gebeine Josephs aus Ägypten (Ex 13,19) verknüpft ist.

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(bleibende) Niederlassung Josephs und seiner Familie (‫ )בית אביו‬in Ägypten und der Angabe seines Lebensalters ist ein Erzählabschluss erreicht, zu dem, wie die Parallele in Hi 42,16–17 zeigt, auch noch die genealogische Angabe in V. 23 und eine einfache Todesnotiz im Stil von Ex 1,6 gehören dürften.47 Der Neuansatz einer Rede Josephs zu seinen Brüdern (‫ )אל־אחיו‬in V. 24 fügt sich hingegen schwer an V. 22–23 an. Die Spannung zwischen V. 22–23 einerseits und V. 24–26 andererseits ist in der Forschung vielfach gesehen worden. Während man sie in früheren Zeiten zumeist quellenkritisch zu lösen versuchte, insofern V. 22–23 auf die Priesterschrift und V. 24–26 (im Wesentlichen) auf den sogenannten Elohisten zurückgeführt wurden,48 konnte in der neueren Forschung der rein redaktionelle Charakter von V. 24–26 wahrscheinlich gemacht werden. Ein Dissens besteht lediglich in der Frage der literarischen Einheitlichkeit von V. 24–26 selbst und in der redaktionsgeschichtlichen Feinzuweisung. Indizien für eine literargeschichtliche Binnendifferenzierung könnten (1) im unterschiedlichen Gebrauch der Wurzel ‫ שבע‬in V. 24bγ und in V. 25aα, (2) in der unterschiedlichen Bezeichnung der Gesprächspartner Josephs in V. 24aα (‫ )אחיו‬und in V. 25aβ (‫)בני־ישראל‬, (3) in der Wiederholung der Wendung ‫פקד‬ ‫ יפקד‬aus V. 24bα bei gleichzeitig wechselndem Gebrauch der Wurzel ‫( עלה‬Hif.) und (4) in dem Subjektswechsel in V. 26a / 26b bei gleichzeitiger Nume­rus­ inkongruenz in V. 26bα (‫ )ויחנטו‬und V. 26bβ (‫)ויישם‬49 gesehen werden. Entsprechend nahm Christoph Levin (1993) eine mehrfache Schichtung an: 50,24 stamme von einem nachendredaktionellen Ergänzer, 50,25.26b gehe auf eine weitere nachendredaktionelle Erweiterung zurück, 50,26aβ stamme von der Endredaktion (d. h. der für die Kombination der Priesterschrift mit dem sogenannten Jahwisten verantwortlichen Größe) und 50,26aα sei „jahwistisch“.50 Auch wenn ein solches oder ähnliches Textwachstum, zumal an literarischen Nahtstellen und „Buchrändern“, nicht ausgeschlossen ist, so zeigt doch die kompositionelle Entsprechung von V. 24aβ // V. 26aα, V. 24bα // V. 25b und von V. 24bβ // V. 25a, dass zumindest der Abschnitt V. 24aβ–26aα bewusst gestaltet ist. Da V. 24aβ auf eine Redeeinleitungsformel angewiesen ist, kann auch V. 24aα zu dieser Passage gezählt werden. Gemäß seiner konzentrischen Anla47 Im Hintergrund des textlich schwierigen V. 23 steht einerseits die Zuordnung Ephraims und Manasses zu Joseph (vgl. Gen 41,50–52; Num 26,29–30; Jos 24,32b), andererseits das Motiv, Joseph habe Nachkommen bis in die vierte Generation gesehen (vgl. Hi LXX 42,16). 48 Vgl. Holzinger, Einleitung, Tab. 5; Noth, Überlieferungsgeschichte, S. 38; Hölscher, Geschichtsschreibung, S. 294 (außer V. 26bα); Ruppert, Josephserzählung, S. 190–191; differenzierter Smend, Hexateuch, S. 110 (V. 24 aus „J2“, V. 25–26 aus „E“), ähnlich Eissfeldt, Hexateuch, S. 106* (V. 24 aus „J“, V. 25–26 aus „E“); Procksch, Genesis, S. 426–432 (V. 24abα. 25bβ.26 aus „E“; V. 24bβ.25abα sind spätere Zusätze); Seebass, Genesis, S. 207 (V. 25–26 aus „E“, V. 24 ist ein dtr. Zusatz); Graupner, Elohist (abzüglich V. 24bβγ [dtr.] und V. 26bα [RJE]). 49 Auch wenn man der Lesart des SamPt (‫ּיּושם‬ ַ ַ‫ ו‬, vgl. auch Vg) folgt, bleibt die Auffälligkeit im Konstruktionswechsel. LXX bietet die einfache Lesart ἔθηκαν (vgl. auch Syr). 50 Levin, Jahwist, S. 313–316.

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ge51 bildet V. 26bα dann das Pendant zu V. 24aα. Da V. 26bα ohne folgende Mitteilung darüber, was mit der Mumie Josephs geschieht, in der Luft hängt (vgl. Gen 50,2–3 + 4–26), ist schließlich auch V. 26bβ zu diesem Abschnitt zu zählen. D. h. Gen 50,24–26 kann, wenn auch nicht als literarkritisch spannungsfreie, so doch als kompositionelle Einheit betrachtet werden. In der redaktionsgeschichtlichen Zuordnung von Gen 50,24–26 unterschei­ den sich die neueren Vorschläge hinsichtlich der Zuweisung an eine „Josua24-Bearbeitung“,52 eine „Hexateuch-Redaktion“ bzw. eine sehr späte Redaktion mit hexateuchweiter Perspektive53 oder an namentlich nicht festgelegte nach­endredaktionelle Ergänzungen.54 Hans-Christoph Schmitt, der noch 1980 Gen 50,24–26 literarkritisch auf vier verschiedene Hände verteilt hatte,55 führt die Verse jetzt als literarische Einheit auf eine P voraussetzende, spätdeuteronomistische Schicht zurück, die den Pentateuch und das Deuteronomistische Geschichtswerk miteinander verbinde, also auf eine Art „Enneateuchredaktion“.56 Entscheidend für unsere Fragestellung ist, dass die V. 24–26 im Wesentlichen – wie Ex 13,19 und Jos 24,32, worauf hier aus Raumgründen nicht näher eingegangen werden kann – auf nachpriesterschriftliche und nachdeuteronomistische Fortschreibung(en) mit hexateuchweiter Perspektive zurückgeführt werden und damit in die spätesten Phasen auf dem Weg zur Endgestalt des Pentateuchs gehören.57 Im Gegensatz zu der vielfachen literargeschichtlichen Behandlung von Gen 50,24–26 wurde die Frage nach dem traditionsgeschichtlichen Hintergrund des Motivs der Überführung der Gebeine Josephs in der Forschung nur relativ 51 Vgl.

Blum, Komposition, S. 256; Gertz, Tradition, S. 361. Verbindung, S. 149–151. 53 Otto, Deuteronomium, S. 219; ders., Sichem, S. 1295–1296; vgl. auch Schmid, Erzväter, in Modifikation der Position Blums von 1990 (Studien, S. 363–364): Gen 50,24 als Teil einer nachpriesterlichen und nach-dtr. pentateuchübergreifenden Redaktion und Gen 50,25– 26 (im Verbund mit Ex 13,19 und Jos 24,32) als Teil einer nachpriesterlichen und nachdtr. hexateuchübergreifenden Redaktion (S. 105; 211; 231; 250); Blum, Josephsgeschichte, S. 117; Gertz, Tradition, S. 363; Kratz, Hexateuch, S. 301–302. 54 Redford, Study, S. 186 (50,22–26 „Genesis-Editor“); Rendtorff, Problem, S. 75–79 (eine dtr. geprägte Redaktionsschicht); Westermann, Genesis, S. 242; Coats, Genesis, S. 313– 315; Levin, Jahwist, S. 313–316 (mit Ausnahme von V.26aα [„J“]). 55 H.-Chr. Schmitt, Die nichtpriesterliche Josephsgeschichte, S. 78–81: Gen 50,22–23. 26aα.b als Teil der ursprünglichen Josephsgeschichte, V. 25 als Teil der Redaktion durch „E“, V. 24 als dtn.-dtr. geprägter Zusatz und V. 26aβ als „priesterliche“ Ergänzung. 56 H.-Chr. Schmitt, Geschichtswerk, S. 297–300. 57 Dass zumindest Jos 24,32 zu einer sehr späten Redaktionsschicht gehört, wurde vereinzelt auch in der früheren Forschung gesehen (Noth, Josua, S. 141). Quer zu den referierten Positionen liegen einerseits der Vorschlag von J. Van Seters, Gen 50,22–26 (wie Ex 1,6–8; 13,19; Jos 24,32) als redaktionelle Bildung eines nach-dtr., aber vorpriesterlich anzusetzenden „Jahwisten“ zu lesen (Prologue, S. 323–327; ders., Life, S. 16–19), andererseits von H. Ausloos, Gen 50,22–26 und Ex 13,19 als Beleg für eine ursprüngliche Verbindung von Vätergeschichte und Exodusgeschichte zu verstehen, wovon Jos 24,32 literar- und redaktionsgeschichtlich zu unterscheiden sei (Deuteronomist; ähnlich auch Römer, Recherches, S. 209). 52 Blum,

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selten thematisiert. Dass Gen 50,24–26 literarisch in verdichteter Form der Beschreibung von Jakobs letztem Wort, Einbalsamierung und Überführung in Gen 49,27–50,14 nachempfunden ist, ist offensichtlich. Gleichwohl bleibt auf der Ebene der erzählten Epoche die Besonderheit der Einsargung Josephs in Ägypten, der Ausführung seiner Gebeine aus Ägypten durch Mose drei Generationen später (vgl. Ex 6,16–20) und der mit dem Zug durch die Wüste verbundenen langen Transportzeit (vgl. Ex 16,35; Num 14,33–34; Jos 5,6), bevor es dann endlich zur Grablegung kommt.58 Für Sigmund Mowinckel (1957) diente Gen 50,24–26 lediglich der Erklärung, wie die Gebeine Josephs in das bereits in vorisraelitischer Zeit verehrte Grab des vergöttlichten Ahnen in Sichem gekommen seien. Die alte Tradition eines „hebräo-kanaanäischen weli“ bilde den Wurzelgrund der Notizen in Gen 50,24–26; Ex 13,19 und Jos 24,32 – und nicht nur dieser, sondern: „Der ‚geschichtliche Kernʻ der Josephsgeschichte ist eben sein Grab“.59 Nun müssen Grabtraditionen aber keineswegs ursprünglich sein, sondern können auch auf eine sekundäre Legitimierungstendenz zurückgehen. Hinzu kommt, dass Grabtraditionen lokal nicht festgelegt sind, sondern sich wandeln können. Gerade die vielfältige Geschichte des Josephsgrabes, hinter dessen unterschiedlicher Lokalisierung in Sichem oder in Hebron auch eine Konkurrenz von Juden und Samaritanern im 2. / 1. Jh. v. Chr. deutlich wird,60 und der Überführungen der Josephsgebeine aus Ägypten nach Kanaan und von dort durch Kaiser Theodosius II. im Jahre 415 in die Hagia Sofia nach Konstantinopel ist dafür ein gutes Beispiel.61 So lässt sich die Bestattung Josephs in Sichem (‫ )שכם‬auch literarisch damit erklären, dass Joseph eben an dem Ort bestattet wurde, von dem aus er einst versklavt wurde (Gen 37,12.28), und auf dem Landstück (‫)שכם‬ sein Grab fand, das ihm sein Vater gegeben hatte (Gen 48,21–22).62 Schließlich 58 Ex 12,40 ist kaum mit weiteren chronologischen Angaben des MT zum Exodus zu korrelieren (vgl. Jacob, Exodus, S. 1033–1043). Zum haggadischen Motiv, dass aus der Generation Josephs allein Serach, die Tochter Assers (Gen 46,17; Num 26,46), Mose den Aufbewahrungsort des Leichnams Josephs mitteilen konnte (bSota 13a; MekhJ zu Ex 13,19; Memar Marqah I,10 [Macdonald, I, S. 24–26; II, S. 38–41]), vgl. Kugel, House, S. 131–134. 59 Mowinckel, Rahelstämme, S. 144; vgl. auch Gertz, Tradition, S. 364. 60 Vgl. die Variante zu TestJos 20,2 im Codex Vaticanus Graecus 731, der gemäß Joseph – wie seine Brüder – in Hebron bestattet wurde (vgl. jeweils TestXII sowie Flav. Jos. Ant. II,8,2). Die Sifre zu Num 12,15 geben als Begräbnisort das „Land Nebo“ an (vgl. Dtn 34,1–6). Sirach, dessen antisamaritanische Tendenz aus 50,25–26 ersichtlich ist (vgl. Gen 34; Ps 78,9–11; TestSim 6,3–4), umschifft das Problem, indem er gar keine Ortslage nennt. 61 Siehe dazu ausführlich Schenke, Jakobsbrunnen, S. 174–181. 62 Vgl. dazu bereits die MekhJ zu Ex 13,19 und bSota 13b, aber auch L. Schmidt, Studien, S. 270. Dass die konstruierte theologische Lehrerzählung in Joh 4 ausgerechnet „in der Nähe des Feldes, das Jakob seinem Sohn Joseph gegeben hatte“ spielt, hängt natürlich auch mit der Bedeutung Sichems als erstem Ort nach Jakobs Rückkehr aus Mesopotamien und dessen programmatischem Altarbau (Gen 33,18–20) und den Verheißung-Erfüllung-Texten in Gen 50,25, Ex 13,19 und Jos 24,32 zusammen; zu einem möglichen topographiegeschichtlichen Hintergrund von Joh 4,5 siehe Schenke, Jakobsbrunnen.

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kann kompositions- und redaktionsgeschichtlich auf die Bedeutung Sichems im Hexateuchaufriss hingewiesen werden: so kulminieren im Motiv der in Sichem bestatteten Josephsgebeine zentrale Elemente der Vätergeschichte (vgl. Gen 50,24), der Mosegeschichte (vgl. Ex 13,19) und der Josuageschichte (vgl. Jos 24,29 // 32).63 Konrad Schmid (1999) äußerte die an sich ansprechende traditionsgeschichtliche Vermutung, hinter den Notizen von den Gebeinen Josephs könne die in Ez 37,12 artikulierte Hoffnung der Wiederbelebung des toten Volkes Israel im Heiligen Land stehen (vgl. Jes 66,14).64 So reagiere dieses Motiv auf die nachexilische Diasporasituation und artikuliere wie Gen 23 (P / Ps) den Wert der Bestattung in der Heimat. Die Überführung der Gebeine Josephs würde damit in die Geschichte der allerdings erst (wieder) für die römische Zeit nachgewiesenen jüdischen Praxis der Sekundärbestattung65 gehören. Gegen die These Schmids spricht aber nicht nur das durch den archäologischen Befund geöffnete Zeitfenster, sondern auch das Fehlen eines eindeutigen auferstehungstheologischen Hinweises in Gen 50,24–26, Ex 13,19 und Jos 24,32. Manfred Görg (2000 / 1) schließlich stellte unter Hinweis auf das ägyptische Kolorit66 der Mumifizierung und Einsargung Josephs und der jüdischen Tradition von den beiden Laden Israels, der einen, mit den Gebeinen eines Toten, der anderen, mit dem Gesetz des Ewiglebenden,67 die originelle Hypothese auf, hinter dem Motiv des Josephssargs könne die ägyptische Vorstellung des Sargs als Textträger stehen: Entsprechend der Ausgestaltung eines Sargs im Alten Ägypten mit Texten aus dem Totenbuch, die als Jenseitsführer dienten, stelle der Sarg Josephs einen „Kasten mit der Weisung für den Tod“ dar, der von einem „Kasten mit der Weisung für das Leben“ begleitet werde.68 Auch wenn Görg für den jüdischen Brauch, Verstorbenen Texte mit in das Grab zu geben, auf die Silberröllchen vom Ketef Hinnom69 verweisen kann, so ist doch fraglich, ob (1) die vorgetragene Hypothese den Skopus der Textreihe Gen 50,24–26 → Ex 13,19 → Jos 24,32 trifft und (2) der Josephssarg tatsächlich

63 S. o.

S. 179–180 und v. a. Otto, Deuteronomium, S. 221. Erzväter, S. 231–233; 247. Zumindest zwischen Sir 49,14–16 und Ez 37 bestehen neben der beiden Texten gemeinsamen Thematisierung von Leben und Tod so enge begriffliche und motivische Beziehungen, dass die Annahme nahe liegt, Ben Sira habe diesen Text vor Augen gehabt, vgl. die Schöpfungstheologie in Sir 49,16 mit Ez 37,3–14, den Bezug auf die Prophetie in Sir 49,8–10 mit Ez 37,4 und die Israelperspektive in Sir 44–49; 50 insgesamt mit Ez 37,11–12. 65 Meyers, Ossuaries; Rahmani, Catalogue, S. 53–55. 66 Vgl. dazu Redford, Study, S. 187–243, besonders 240–241. 67 S. o. Anm. 45 (bSota 13a; Jacob, Genesis, S. 944–945). 68 Görg, Lade, S. 10; fortgesetzt in: ders., Josef. 69 Zu Text und Diskussion siehe HAE I, S. 447–456. 64 Schmid,

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vor dem Bildhintergrund der reichhaltig mit Bildern und Schriftzeichen versehenen ägyptischen Mumienkästen zu verstehen ist.70 Berücksichtigt man, dass das Motiv der Gebeine Josephs aus dem narrativen Dreischritt „Einbalsamierung und Einsargung (Gen 50,24–26) → Überführung nach Zwischenlagerung (Ex 13,19) → endgültige Grablegung in besonderer geschichtlicher Situation (Jos 24,32)“ besteht, und bedenkt man die aus der unter Punkt 1 skizzierten wirkungsgeschichtlichen Auslegung gewonnene Erkenntnis, dass hinter der Gestaltung von Sir 49,14–16 Alexandermotive stehen, dann soll hier, gewissermaßen als Hypothese zweiten Grades, der Vorschlag unterbreitet werden, dass bereits hinter der translatio Ioseph im Hexateuch die translatio Alexandri Magni steht. Wie Sir 49,14–16 bildet dementsprechend die Sequenz Gen 50,24–26 → Ex 13,19 → Jos 24,32 eine paradigmatische Selbstvergewisserung Israels im Spannungsfeld von biblischer Tradition und durch den Hellenismus bedingter Innovation.71 Fällt das Motiv der überführten Josephsgebeine traditions- und literaturgeschichtlich in die frühhellenistische Zeit, dann stellt sich auch die Frage nach der zeitgeschichtlichen Situation der Bestattung in Sichem, das nach einer Nichtbesiedlung in persischer Zeit ab 331 v. Chr. einen blühenden Aufschwung erlebte und zur Zeit der Ptolemäer bis zu seiner Zerstörung unter Johannes Hyrkan 107 v. Chr. eine Bedeutung wie zuletzt in der Spätbronzezeit besaß.72 Doch muss diese Frage hier auf sich beruhen. Eine Datierung der durchgehend als (nach-)endredaktionell anzusehenden Abschnitte Gen 50,24–26; Ex 13,19 und Jos 24,32 ins ausgehende 4. Jh. v. Chr. ist jedenfalls angesichts ptolemäerzeitlicher Einschübe im Pentateuch nicht prinzipiell ausgeschlossen.73 In diesem Fall wären die „Gebeine Josephs“ dann ein weiteres Beispiel dafür, dass auch die „kanonische“ Literatur des antiken Judentums im Bereich der geschichtlichen Überlieferungen ihre Endgestalt erst in der Auseinandersetzung mit dem Hellenismus gefunden hat.

70 Vgl. dazu kritisch Redford, Study, S. 25, und zum archäologischen Befund jüdischer Sarkophage, Urnen und Ossuarien Weippert, Sarkophag; Meyers, Ossuaries; ders., Burials; Rahmani, Catalogue. 71 Zur zutreffenden Beurteilung von Gen 50,24–26 als einem (an Gen 23 [P / PS]) orientierten Versuch, Fragen der Identität des nachexilischen Israels zu klären, siehe H.-Chr. Schmitt, Geschichtswerk, S. 299. Vgl. dazu prinzipiell auch H.-Chr. Schmitt, Suche. 72 Siehe dazu G. E. Wright, Samaritans; Dexinger, Ursprung, S. 117–119; Campbell, Shechem, S. 1353–1354. 73 Vgl. nur Gen 9,20–26 und 11,1–9 und dazu Witte, Urgeschichte, S. 315–323, oder Num 24,20–24 und dazu H.-Chr. Schmitt, Mantiker, S. 242. Welche Schubkraft von den Umwälzungen, die der Alexanderzug und die sich etablierenden Reiche der Ptolemäer und Seleukiden mit sich brachten, auch auf die Sammlung und Redaktion autochthoner Literaturen des Vorderen Orients ausgingen, können allein die Werke eines Berossos und Manetho verdeutlichen (Verbrugghe / Wickersham, Berossos).

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3. Ein ikonographischer Ausblick Auf eine Merkwürdigkeit des Motivs der Josephsgebeine soll abschließend noch hingewiesen werden. An keiner Stelle des Alten Testaments erfährt der Leser etwas über den Modus der translatio Ioseph. Wird im Kontext der Überführung des Leichnams Jakobs immerhin von Wagen und Gespannen gesprochen, die den Trauerzug nach Kanaan begleiteten (Gen 50,7–13) und werden die Leichname der Könige Ahasja (2 Kön 9,28) und Josia (2 Kön 23,30) zur Überführung nach Jerusalem ausdrücklich auf Wagen (‫ )רכב‬gelegt, so fehlt ein entsprechender Vermerk im Fall Josephs.74 Auch die nachbiblische jüdische Haggada, in der das Motiv der Gebeine Josephs weiter ausgemalt wird,75 und die tannaitischen Midraschim, in denen das Motiv der Überführung der Gebeine Josephs aufgrund der Hochschätzung der Sekundärbestattung außerhalb des Heiligen Landes Verstorbener nach Mög­ lichkeit in Jerusalem mehrfach reflektiert wird,76 scheinen an dieser Frage nur bedingtes Interesse gehabt zu haben. In MekhJ zu Ex 13,19 wird zwar beschrieben, wie Mose beim Auszug von der Begräbnisstätte Josephs erfuhr und wie er den Bleisarg aus dem Nil barg (vgl. auch TPsJ zu Gen 50,26 und zu Ex 13,19),77 es wird aber nicht mitgeteilt, wie er den aufgefundenen Sarg transportierte. Die Identifikation der unrein gewordenen Männer aus Num 9,6 in den Sifre zu Numeri mit den Sargträgern Josephs scheint von einem Transport per Hand auszugehen.78 Hingegen wird in einer von Louis Ginzberg gesammelten 74 Ähnliches gilt für die sich eng mit Gen 50,25 berührende Notiz von der Überführung der Gebeine des Hasmonäers Jonathan, dem zu Ehren in Modein ein an hellenistischer Grabarchitektur orientiertes pyramidales Mausoleum errichtet wird (1 Makk 13,25–30). 75 So bewirkt nach TestJos 20,2 die Ausführung der Gebeine Josephs, dass Israel im Licht aus Ägypten auszieht, während Ägypten in Finsternis versinkt (vgl. auch TestSim 8,4 und zum möglichen traditionsgeschichtlichen Hintergrund in der Osiris-Mythologie Heller, Elements, S. 415 [mit Hinweisen zur weiteren Ausschmückung in der muslimischen Tradition]). Die Versenkung des Sargs Josephs im Nil ruft Fruchtbarkeit hervor (bSota 13a; Heller, Elements, S. 416). 76 Vgl. auch bKet 111a–b (wo die schöne Vorstellung der über unterirdische Kanäle zur Auferstehung gen Jerusalem rollenden Gebeine, der Gilgul, der Gerechten diskutiert wird) und zur Sache Geller, Joseph. 77 Vgl. auch bSota 13a in Kombination mit 2 Kön 6,5; siehe zu dieser Legende, hinter der sich eine Adaption der Isis-Osiris-Mythe verbirgt, Heller, Elements, S. 414–415; Bohak, Perspectives, S. 229. Hingegen wurden nach einem wohl späteren Einschub in das TestSim (8,2b–4) die Gebeine Josephs in den „Schatzkammern der Könige“ bewacht. Zu den Vorstellungen, die hinter diesen haggadischen Traditionen, wie auch hinter dem Midrasch zu den Josephsgebeinen in Jub 46,5–10, stehen, siehe Kugel, House, S. 142–151. 78 Vgl. auch Memar Marqah I,10 (Macdonald, I, S. 24–26; II, S. 37–41); eine ähnliche Vorstellung scheint auch hinter Bild 18 aus dem Mose-Zyklus von Uriel Birnbaum (1894– 1956) zu stehen (zum Motiv vgl. TestSim 8,3, s. Anm. 77), das zu den wenigen Darstellungen des Todes Josephs in der Kunst gehört (www.ojm.at/ausstellung/auditorium/uebersicht/ bild18/; Zugriff am 6.12.2014); vgl. noch das im Herzog Anton Ulrich-Museum in Braunschweig ausgestellte Gemälde von Frans Francken II (1581–1642): „De doodskist van Jozef

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Legende erzählt, Mose habe die Gebeine Josephs in ein Schafsfell eingenäht und dieses mit dem Gottesnamen versehen. Das dadurch belebte Schaf folgte dann dem Auszug der Israeliten und begleitete das Gottesvolk durch die Wüste bis ins Heilige Land.79 Vor dem Hintergrund der translatio Alexanders auf einem eigens dafür hergestellten Wagen, scheint mir auch für die Überführung der Gebeine Josephs nur ein solches Gefährt denkbar zu sein.

en de ondergang van de Egyptenaren“ (www.bijbelencultuur.nl/direct?boek=gen;sid=4b488 dae5cf724379554fe4a10a10179; Zugriff am 6.12.2014). 79 Ginzberg, Legends II, S. 179–184; V, S. 375–377, hier: V, S. 376.

III. Kontexte

Jakob der Gerechte (SapSal 10,10–12) Das Jakobsbild der Sapientia Salomonis1 „Seine Geschichte ist ein lehrreicher Spiegel des menschlichen Herzens, und Gott hat dem männlichen Jakob selbst den Flecken abgewischt, den der jugendliche Jakob mit seinem Namen umher trug.“ (Johann Gottfried Herder, 1783 / 1787) 2 „Jakob war so etwas Ähnliches wie ein Seelentröster […]. Man ist hingegangen, weil die Welt nach solchem Besuch ein kleines bißchen rosiger ausgesehen hat […].“ (Jurek Becker, 1969) 3 Abstract: This article interprets the report of the preservation of the just “Jacob” by divine wisdom in the context of the aretalogy on the work of the σοφία in Israel’s primeval and early history (Wis 10). It thereby demonstrates how the author of Wis 10 poetically condenses the Jacob tradition in Genesis and how this tradition is transformed through the reception of Stoic motifs of the self-controlled sage and through the integration of elements of the Isis theology in the Yahwist religion. In accordance with the stylization of the book of Wisdom as an instruction of the “rulers of the world” (Wis 1:1), the report about Jacob is also accessible to pagan readers who may identify the anonymous hero saved by the σοφία with a character from their own tradition such as Hercules.

1. Biblische Figuren als Typen In seiner epochalen Dissertation aus dem Jahr 1986 (1988) hat der verehrte Jubilar eindrucksvoll gezeigt, wie die Überlieferungen von Abraham, Isaak und Jakob auf einer späten Stufe über die Gottesbezeichnungen und die Verheißungen literarisch und theologisch miteinander verknüpft und in eine chronologische Folge gebracht wurden.4 Konsequenz einer solchen Strukturierung der Überlieferung mittels bestimmter literarischer und theologischer Motive ist eine Schematisierung und Normierung. Erzählungen werden zu Paradigmen 1 Matthias

Köckert zum 65. Geburtstag (2009). Poesie, S. 294 (415). 3 Becker, Jakob, S. 250. 4 Köckert, Vätergott, S. 300–323. 2 Herder,

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eines theologischen Leitgedankens, Figuren mutieren zu Typen bestimmten Handelns und Verhaltens. Eine neue literarische Qualität und religiöse Funktion hat die Typisierung und Exemplifizierung ausgewählter Figuren aus den Geschichtsdarstellungen des Alten Testaments in den geschichtstheologischen Beispielreihen des jüdischen Schrifttums aus hellenistisch-römischer Zeit erhalten.5 Dabei kommen jeweils unterschiedliche Theologumena und Kompositionsmuster zum Einsatz, über welche die Figuren charakterisiert und in die Gesamtkonzeption der jeweiligen Schrift eingebettet werden. Während beispielsweise Ben Sira sein von Henoch bis zu Simon II. reichendes „Lob der Väter“ (Sir 44–49; 50) unter das Stichwort der Barmherzigkeit Gottes (‫חסד‬, ἔλεος) stellt und die Geschichte Israels mittels eines durch Gott gestifteten „Bundes“ (‫ברית‬, διαθήκη) strukturiert sein lässt oder in 1 Makk 2,51–61 die durch Vertrauen und Hoffnung gekennzeichnete Haltung gegenüber dem Gesetz (νόμος, 1 Makk 2,64) das Leitmotiv der figurengeschichtlichen Beispielreihe ist, dient dem Verfasser von SapSal 10,1–11,1 das Wirken der personifizierten Weisheit (σοφία) und die Kennzeichnung der Figuren als Gerechte (δίκαιος) als verbindendes Element einer von Adam bis zu Mose reichenden Geschichtsschau. Diesem Panorama, in dem die aus der Überlieferung in Genesis bis Exodus übernommenen bzw. assoziierten Erzählungen und die durch diese selbst in Genesis bis Exodus konstruierte Geschichte zu einem Paradigma von Geschichte schlechthin verdichtet sind,6 näherhin dem dabei entworfenen Bild Jakobs, gelten die folgenden Beobachtungen.

2. Aufbau und Struktur von SapSal 10,10–12 Ziel- und Höhepunkt des den zweiten Teil der Sapientia (Kap. 6,22–11,1) bestimmenden Lobs auf die Weisheit bildet eine hymnenähnlich gestaltete Beispielreihe zum Wirken der Weisheit in der Geschichte, die letztlich auf Erkenntnis Gottes, Bewährung des Frommen in schwieriger Situation und Hoffnung 5 Vgl. nach Anfängen in den sogenannten Geschichtssummarien (Neh 9,7–31) und Geschichtspsalmen (Ps 77,12–21; 78; 105; 106) in entfalteter Form Sir 44–49; 50; SapSal 10; 1 Makk 2,49–64; 3 Makk 2,1–20; 6,1–15; 4 Makk 16,18–23; 18,10–19; 4 Esr 7,106–110; CD II,14–III,12 sowie in frühchristlichen Schriften Hebr 11 und 1 Clem 4,7–6,4; 9,2–12,8. Zur literaturgeschichtlichen Ableitung dieser Beispielreihen, insbesondere von SapSal 10, aus griechischen Vorbildern siehe A. Schmitt, Struktur, S. 235–242, mit entsprechenden Beispielen aus der Rhetorik (Lysias; Isokrates), Epik (Homer, Il. V,381–402; Od. V,118–129) und Lyrik (Pindar, Nem. 10,1–20). 6 Gegen Schwenk-Bressler, Sapientia, S. 33, geht es der Sapientia nicht nur um die Interpretation von Geschichten, sondern auch um die Deutung von Geschichte als einem durch Gott bzw. die Weisheit strukturierten Geschehen und um ein Gesamtverständnis von Geschichte (siehe dazu Haag, Weisheit, S. 125; Spieckermann, Seelen, S. 350; 361; 366; Gilbert, Origins, S. 171–183).

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auf Gottes rettendes Handeln zielt. Ob der Verfasser dieser pädagogischen und parakletischen Beispielreihe auf einen vorgegebenen Hymnus zurückgegriffen hat, zu dessen älterer Gestalt auch die jetzt in SapSal 4,10–14 vorliegende Henochnotiz gehörte,7 und ob SapSal 10 erst auf eine Fortschreibung des Grundbestandes des sogenannten eschatologischen Buchs (Kap. *1,1–6,21) zurückgeht,8 kann erwogen werden, soll aber hier nicht im Mittelpunkt stehen. Die von Ernst Haag (1991) vorgebrachten Argumente für eine literarische Schichtung in SapSal 10 überzeugen nicht.9 SapSal 10,1–11,1 ist in der vorliegenden Form – trotz des unterschiedlichen Umfangs seiner inhaltlichen und poetischen Einheiten – kohärent und mit allen Teilen des Buchs sprachlich und motivisch eng vernetzt. Als Überleitung vom unmittelbar vorangehenden Gebet „Salomos“ um Weisheit (9,1–17) und als Hinweis auf die pädagogische Funktion der folgenden Beschreibung der Weisheit dient das Bekenntnis zur Belehrung und Rettung der Menschen durch die Weisheit (9,18). So greift der Verfasser von SapSal 10,1–11,1 aus 9,18c die Stichworte σοφία und σῴζω auf und komponiert mit diesen und entsprechenden Synonymen zu σῴζω10 paradigmatische Miniaturen zu „Adam“, „Noah“, „Abraham“, „Lot“, „Jakob“, „Joseph“ sowie „Israel und Mose“. Innerhalb dieser Miniaturen werden die Motive der rechten Wegführung (9,18a) und der Unterweisung (9,18b) mit der σοφία als in der Geschichte handelnder Größe entwickelt. Wie in der Salomofiktion, welche die gesamte Sapientia durchzieht (vgl. 6,25; 7,1; 8,10–11; 9,7–8.12), oder wie in der „Zehnwochenapokalypse“ des Henochbuchs (1 Hen 93,1–10 + 91,12–17) wird auf die namentliche Nennung der Beispielfiguren verzichtet. Für die in der biblischen Tradition gebildeten Adressaten der Sapientia ist die Identifikation der einzelnen Helden aufgrund der mit diesen verbundenen Motive eindeutig. Zwar zitiert der Verfasser von SapSal 10,1–11,1 nie exakt aus seiner biblischen Vorlage – der LXX –, aber seine Wortwahl lässt eine eindeutige Zuordnung zu den entsprechenden biblischen Texten zu. Der Austausch des Eigennamens der Figuren durch ihre Kennzeichnung als „Gerechte“ ist einerseits Ausdruck der literarischen Gestaltung von SapSal 10 als Lehre für in der bibli7 So

Georgi, Weisheit, S. 436. Gerechte, S. 101; Haag, Weisheit, S. 153; Spieckermann, Seelen, S. 350; Blischke, Eschatologie, S. 41; 264. 9 Haag, Weisheit, S. 110–111, führt die V. 5c.8–9.12.18–19.20–21, teilweise ohne nähere Begründung, auf unterschiedliche Bearbeitungen des Grundbestandes von SapSal 10 zurück, der seinerseits schon eine „Erweiterung“ von SapSal 6,22–25; 7,22–28(30–8,1) darstelle, aber zur „dreigliedrigen Grundschicht“ in SapSal 6,22–25; 7,22–30; 8,1; 10,1–5ab.6–7.10– 11.13–17; 11,2.6–8; 16,2–3.9–10.15–16.20; 17,1–2; 18,3 gehöre (S. 114–115; 153–154). Die V. 10,8–9 lassen sich aber als Zwischenfazit verstehen. Wie der von Haag postulierte „Widerspruch“ zwischen 10,10d und 10,12d zu erklären ist, wird weiter unten gezeigt. 10 Διαφυλάσσω (V. 1b.12a), ἐξαιρέομαι (V. 1c), τηρέω (V. 5b), φυλάσσω (V. 5c, vgl. 9,11; 19,6), ῥύομαι (V. 6a.9.13b.15b), ἀσφαλίζω (V. 12b, vgl. 4,17; Jes LXX 41,10). Siehe dazu auch A. Schmitt, Struktur, S. 225–226. 8 Ruppert,

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schen Überlieferung Gebildete. Andererseits wird dadurch die Vorbildfunktion der Gerechten unterstrichen und der Grad der Identifikationsmöglichkeit der Leser gesteigert. Der Abschnitt in 10,1–11,1 ist durch den anaphorischen Hinweis auf die Weisheit mittels des Pronomens αὕτη in sechs Abschnitte gegliedert,11 die insgesamt sieben Beispiele für das rettende Handeln der Weisheit enthalten12 und fünfmal die Kennzeichnung einer Figur als δίκαιος bieten.13 Diesen steht als exemplarischer ἄδικος „Kain“ gegenüber (10,4).14 Ein durch das Leitwort σο­ φία (vgl. 9,18; 10,4.21) eröffnetes Interludium reflektiert das Verhältnis zwischen der Ausrichtung des Menschen auf Weisheit, Erkenntnis des Guten und Rettung der Frommen durch die Weisheit (V. 8–9) und gliedert zwischen der Epoche der wenigen Gerechten in der Ur- und Frühgeschichte (V. 1–7) und der neuen Epoche der Gründungsgeschichte Israels (V. 10–11,1).15 Ein Wechsel in die direkte hymnische Anrede Gottes im „Du“ (V. 20 par. 9,17) und eine Sentenz zur Weisheit als Verursacherin des Gotteslobs (V. 21) zeigen, dass die Weisheit trotz ihres selbständigen und gerade als Retterin häufig die Rolle Gottes übernehmenden Handelns16 Gott zu- und letztlich untergeordnet ist. Zugleich beschließen die V. 20–21 die Komposition, zu der noch der Ausblick auf den „heiligen Propheten“, d. h. Mose (11,1),17 als Überleitung zur folgenden relecture des Exodus und der Wüstenwanderung Israels (11,2–14) gezählt werden kann.18 11 V. 1–4,

V. 5, V. 6–7, V. 10–12, V. 13–14, V. 15–11,1. Noah, Abraham, Lot, Jakob, Joseph, Israel. Zur Anwendung eines Siebenerschemas vgl. auch die sieben Abschnitte in Teil I der Sapientia – (1) 1,1–15; (2) 1,16–2,24; (3) 3,1–12; (4) 3,13–4,6; (5) 4,7–19; (6) 5,1–23; (7) 6,1–21) – oder die sieben Synkrisen zur strafenden Gerechtigkeit in 11,2–14 + 16,1–19,22: (1) 11,2–14; (2) 16,1–4; (3) 16,5–14; (4) 16,15–29; (5) 17,1–18,4; (6) 18,5–18,25; (7) 19,1–9. 13 Noah, Abraham, Lot, Jakob, Joseph. 14 Vgl. Philo, agr. 20–21; Cher. 52; fug. 60. 15 So mit Ruppert, Gerechte, S. 102. 16 Siehe die unter Anm. 10 genannten Äquivalente zu σῴζω und dazu SapSal 2,18 (ῥύο­ μαι); 16,7 (σῴζω); 19,9 (ῥύομαι). 17 Nachdem „Mose“ bereits in 10,16 als Gottesknecht (θεράπων κυρίου, vgl. Num LXX 12,7; Jos LXX 1,2) und „mit der Weisheit Beseelter“ (vgl. Jes 63,11 und als Kontrast SapSal 1,4) ein­geführt ist, wird er jetzt als προφήτης gekennzeichnet (vgl. neben Dtn 18,18; 34,10; Hos 12,14 im jüdisch-hellenistischen Schrifttum Aristobul 10,4 [Denis, Fragmenta, S. 218,6]; MartJes 1,3,8 [Denis, Fragmenta, S. 112,32–33]; AssMos Frgm. a,2 [Denis, Fragmenta, S. 63, 2]; Philo, her. 262; som. II,189; Mos. II,187–188; Flav. Jos. Ant. IV,8,49 sowie allgemein zur Ausstattung eines Menschen als Prophet [und Freund Gottes] durch die Weisheit SapSal 7,27). 18 Die Zugehörigkeit von 11,1 zum „Weisheitsgedicht“ in Kap. 10 zeigt sich grammatisch daran, dass die Weisheit implizites Subjekt von εὐόδωσεν („sie ließ gelingen“) ist. Inhaltlich werden die „Werke, die die Weisheit durch die Hand des Mose gelingen ließ“, hingegen erst in 11,2–13 (mit dem gegenüber 10,1–21 geänderten Subjekt „Israel“) entfaltet, und in 11,14 wird das Mosemotiv wieder aufgenommen. Wie 9,18 lässt sich 11,1 aufgrund seiner 12 Adam,

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Die umfangreichste Sequenz, die sich einer biblischen Einzelfigur widmet und die paradigmatisch zehn Rettungstaten der Weisheit illustriert, ist nun die Jakobsnotiz (10,10–12): (10a) (10b) (10c) (10d) (10e) (10f ) (11a) (11b) (12a) (12b) (12c) (12d)

Den Gerechten, der vor dem Zorn seines Bruders floh, führte sie (d. h. die Weisheit) auf geraden Pfaden. Sie zeigte ihm die Königsherrschaft Gottes und gab ihm die Erkenntnis der Heiligen. Sie machte ihn wohlhabend bei (seinen) Anstrengungen und vermehrte (den Ertrag) seiner Mühen. Bei der Habgier derer, die ihn überwältigen wollten, stand sie ihm zur Seite, und machte ihn reich. Sie bewahrte ihn vor (seinen) Feinden, und vor denen, die ihm nachstellten, brachte sie ihn in Sicherheit. Und einen schweren Kampf entschied sie zu seinen Gunsten, damit er erkannte: Mächtiger als alles (andere) ist die Frömmigkeit.

Die Jakobsnotiz ist mit allen Einzelbildern ihres Kontextes verknüpft. Mit der Adamminiatur (V. 1–2) teilt sie die Motive der Bewahrung (διαφυλάσσω) und Begabung (δίδωμι) durch Gott (V. 12a bzw. V. 10d). Mit der Notiz über Noah ist sie, wie mit den Notizen über Abraham, Lot und Joseph, über das Epitheton Jakobs als Gerechten (δίκαιος) verbunden (V. 10a). Mit der Kain-Noah-Sequenz (V. 3–4)19 hat sie darüber hinaus das Motiv des Bruderzorns gemeinsam (V. 3 par. V. 10a). Mit der Abrahamstrophe (V. 5) ist sie, wie mit der Adamnotiz, über den Wortstamm φυλάσσω, das Motiv der Erkenntnis (γινώσκω, V. 12d) und das Wort ἰσχυρός verbunden (V. 12a). Dadurch werden Abrahams Glaubensprobe in Morija (vgl. Gen 22,1–19)20 und Jakobs Kampf am Jabbok (vgl. Gen 32,23–32) parallelisiert: Beide Geschehnisse werden in der Sapientia als Beispiele göttlicher Erziehung verstanden (vgl. Jdt 8,26–27).21 Mit der Lotremi­niszenz (V. 6–7) hat die Jakobsnotiz das Motiv der Flucht (*φεύγω) gemeinsam (V. 10a, φυγάς). Mit der Josephsnotiz (V. 13–14) verbindet sie, wie mit der Adamminiatur, das Motiv der Begabung (V. 10d, δίδωμι). Hinzu kommt hier die Antitypik göttlicher und menschlicher Herrschaft (βασιλεία, V. 10c.14a) sowie eine Prolepse der Josephsreminiszenz durch die Verwendung von Wörtern, die auch in

zurück- und vorausweisenden Funktion mit Schwenk-Bressler, Sapientia, S. 34–35; 57–58, als „Schaltvers“ bezeichnen. 19 Interessanterweise wird hier die Sintflut unmittelbar mit dem Brudermord Kains begründet, womit in gewisser Hinsicht die literargeschichtliche These einer ursprünglichen Zusammengehörigkeit von Gen 4 mit Gen 6,5–8 bestätigt wird (vgl. dazu Witte, Urgeschichte, S. 171–184). Allerdings kennt auch die Sapientia, vermutlich in einer jüngeren Schicht, die Überlieferung von den „Engelehen“ (Gen 61–4; 1 Hen 6–7; vgl. SapSal 14,6). 20 Die Konzentration der Rezeption der Abrahamüberlieferung auf Gen 22* ist typisch für die Geschichtsreminiszenzen in der jüdisch-hellenistischen Literatur (Sir 44,20; Jdt 8,26; 1 Makk 2,52; 4 Makk 16,20; 18,11; vgl. dann auch Jak 2,21). 21 Zur Leidenspädagogik der Sapientia vgl. SapSal 3,4–6; 11,9–10; 12,2.22.

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der Josephsgeschichte der Genesis (LXX) vorkommen.22 Mit der Mose-Israel-Strophe schließlich (V. 15–21; 11,1) ist sie über den Begriff ὁδηγέω (V. 10b), den Bezug zum Heiligen (V. 10d) und das Gegensatzpaar εὐσέβεια – ἀσεβεῖς (V. 12, 20) verknüpft. Dazu treten die Bezüge zwischen der Jakobsnotiz und dem Interludium in V. 8–9 über die Motive der Erkenntnis und der Bewahrung in Mühen (πόνοι) sowie zahlreiche Querverbindungen zwischen den einzelnen Paradigmen, so dass diese sich gegenseitig ergänzen und erläutern. Alle diese Verflechtungen dienen wie die grundlegenden Leitworte der gesamten Komposition (σοφία, σῴζω, -φυλάσσω, δίκαιος, γινώσκω / γνῶσις) der Typisierung der beschriebenen Figuren und der von diesen erfahrenen Taten der Weisheit. Das spezifische Profil der einzelnen Typen ergibt sich (1) aus den „Füllelementen“, die selektiv aus der Überlieferung geschöpft sind, und (2) aus den Zielpunkten der einzelnen Notizen. Letztere lassen sich insbesondere aus den Gaben, welche die Weisheit verleiht (δίδωμι), ablesen. So steht Adam für die Möglichkeit des Menschen zur „irdischen Herrschaft“ (10,2, in Analogie zur Herrschaft Gottes, 10,10; 12,16–18). Jakob figuriert die „Erkenntnis der göttlichen Herrschaft (βασιλεία) und der Heiligen“ (V. 10c–d). Joseph steht für die Realisierung irdischer Herrschaft (βασιλεία, V. 14c, in Analogie zur Herrschaft Salomos, 9,7) und den Empfang „ewiger Herrlichkeit“ (δόξα αἰώνιος, V. 14f [vgl. GenLXX 45,13] in Analogie zur Herrlichkeit Gottes und der Weisheit, 7,25; 9,10–11, sowie zur Herrlichkeit Salomos, 8,10, und Israels, 18,8; 19,22).23 In besonderer Weise ist Jakob ein Beispiel für den Wert der Frömmigkeit, was sich daran zeigt, dass der Begriff εὐσέβεια, der in der Sapientia nur hier gebraucht wird,24 in betonter Schlussstellung der Jakobsnotiz und somit als Gegenüber zum Eröffnungswort αὕτη (d. h. σοφία) steht (V. 12d). Wie kommt nun der Verfasser von SapSal 10,10–12 im Detail zu seinem Jakobsbild?

3. Tradition und Komposition von SapSal 10,10–12 Bereits der einführende Titel Jakobs als „Gerechter“ (V. 10a) verblüfft – zumindest wenn man von der Lektüre der Jakobserzählungen in Gen 25–35; 48–50* und der Jakobsnotiz in Hos 12,4–5 her kommt, in denen Jakob eine ambivalente Gestalt ist, die sich zwischen Betrug und Segen bewegt. Immerhin bietet der Hinweis Jakobs auf seine „Redlichkeit“ (δικαιοσύνη) in Gen LXX 30,33 einen, wenn auch schwachen, sprachlichen Anhaltspunkt für die Bezeichnung als

22 Vgl. zu πόνος (SapSal 10,10) Gen LXX 41,51, zu πληθύνω (SapSal 10,10) Gen LXX 47,27 und zu κατισχύω (SapSal 10,11) Gen LXX 49,24. 23 Zum Programm der „Herrschaft durch Weisheit“ siehe auch Mack, Logos, S. 82. 24 Vgl. im Rahmen jüdisch-hellenistischer Weisheitstexte Spr LXX 1,7; 13,11; Sir 49,3; Arist 131,2; 210,2; 229,2; Aristobul 12,8 (Denis, Fragmenta, S. 223,30–32); AristEx 25,4 (Denis, Fragmenta, S. 196,21) sowie 46-mal in 4 Makk und 164-mal bei Philo.

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δίκαιος.25 Diese Charakterisierung lässt sich aber – neben ihrer grundsätzlichen Verankerung in der Gesamtkonzeption von SapSal 10, ausgewählte Figuren der jüdischen Tradition als „Gerechte“ zu bezeichnen und zur „Liebe der Gerechtigkeit“ aufzurufen (SapSal 1,1) – als Zusammenfassung der Nachrichten über Jakobs Kultstätten (Gen 33,20; 35,7.14), Gebete (32,10–13), Absage an fremde Götter (Gen 35,2–3) und Segensworte (Gen 47,7.10; 48,3–22; 49,28) verstehen. Sie entspricht der in der Hebräischen Bibel feststellbaren Tendenz, einzelne Figuren zu entschuldigen und zu Glaubensvorbildern zu machen, und findet ihre Parallele in der Anwendung religiöser Ehrentitel wie „Freund Gottes“, „Prophet“ oder „Gerechter“ auf Abraham, Isaak, Jakob, Mose und David im jüdischen Schrifttum der hellenistischen Zeit.26 Berücksichtigt man, dass das Jubiläenbuch in seinem breit angelegten Ja­ kobs­zyklus (Jub 19–46) die Angabe, Jakob sei ein ‫ איש תם‬bzw. ἄνθρωπος ἄπλαστος (Gen 25,27) gewesen, was zumeist im Gegensatz zur Lebensweise Esaus im Sinn von „gesittet“ verstanden wird, mit „vollkommen und rechtschaffen“ wiedergegeben hat,27 ist nicht ausgeschlossen, dass auch der Verfasser von SapSal 10,10 an Gen 25,27 dachte. Für diese Annahme könnte auch sprechen, dass sich die Wendung ‫ איש תם‬in ihren weiteren biblischen Belegen eindeutig auf eine moralisch und religiös integere Figur bezieht (vgl. Hi 1,1.8; 2,3). Dementsprechend verwendet die LXX in Hi 1,1, über den MT hinausgehend, den Begriff δίκαιος zur Qualifikation Hiobs.28 Mit dem Motiv der Flucht vor dem Zorn des Bruders (V. 10a) rekurriert der Verfasser unmittelbar auf den Rat Rebekkas, Jakob solle vor dem Zorn Esaus fliehen (Gen LXX 27,43–45; vgl. auch Gen 35,7), sowie in einem weiteren Sinn auf Jakobs Bitte, Gott möge ihn aus der Hand seines Bruders herausreißen (ἐξαιρέομαι, vgl. SapSal 10,1; Gen LXX 32,12). Zugleich werden über das Motiv 25 Vgl. auch den Hinweis Jakobs auf sein Defizit gegenüber der göttlichen Gerechtigkeit (Gen LXX 32,11). 26 Zur Kennzeichnung Jakobs als „Freund (‫ )אוהב‬Gottes“ siehe CD-A III(= 4Q269 2),2–4; 4Q372 Frgm. 1,21; zur Kennzeichnung als „Prophet“ siehe Tob 4,12 (Jakob steht hier, wie auch in JosAs 7,5; Jub 39,6 und TestJos 3,3, für die Einhaltung des Gebots der Endogamie, vgl. Tob 1,9; 3,17; 6,12; 7,10 und dazu Gen 28,1–2.6; 29,1–35); zur Kennzeichnung als „gerecht“ (δίκαιος) siehe OrMan 1 und 8. 27 Jub 19,13; 27,17; 35,12; 36,16; vgl. auch Aq. und Th., die ‫ תם‬mit ἁπλοῦς übersetzen (vgl. Hi LXX 22,3), Sym., der ‫ תם‬mit ἄμωμος wiedergibt (vgl. Ps LXX 14,2; 36,18), sowie TO zu Gen 25,27 („ein vollkommener Mann, der im Lehrhaus diente“, ähnlich TPsJ; TNeofiti 1; BerR 53 z. St.) und Philo, LA III,2, der Gen 25,27 als Beleg für die Tugend des weisen Jakob anführt (vgl. auch All. III,15; plant. 44). Zu ἄπλαστος im moralischen Sinn vgl. auch Philo, spec. II,235, Diog. Laert. vit. VII,118, und Plutarch, De genio Socratis 580B5. 28 Auf weitere Parallelen zwischen Jakob und Hiob in der biblischen wie in der nachbiblischen Tradition kann hier leider nicht eingegangen werden. Die Überlieferungen über beide Figuren teilen bei weitem mehr als das Motiv des Segens, die Verknüpfung über die Jakobstochter Dina als Ehefrau Hiobs (Targum zu Hiob 2,9; TestHiob 1,5–6; Ps-Philo, Lib Ant 8,7–8; bBB 15b) oder die Parallelisierung des Kampfes am Jabbok mit Hiobs Ringen mit dem Satan im TestHiob 27; vgl. dazu Witte, Frau; ders., Väter.

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des Zorns Kain und Esau bzw. Abel und Jakob als Gerechte parallelisiert (vgl. V. 3; Hebr 11,4.9.20–21).29 Der „Zorn“ erscheint damit in der historiographischen Konzeption von SapSal 10 als ein geschichtsbestimmender Faktor. Entsprechend der negativen Wertung des menschlichen Zorns, die SapSal 10,3.10 mit der jüdischen und ägyptischen Weisheitsliteratur sowie der zeitgenössischen paganen, vor allem stoischen Philosophie teilt,30 ist er eine Antithese zu Weisheit und Frömmigkeit. Nach Philo kennzeichnet den Gerechten geradezu die Flucht vor dem Zorn.31 Das Motiv der Führung (ὁδηγέω) Jakobs auf rechten Pfaden (V. 10b) basiert sprachlich und motivisch auf Gen 28,15.20 und 35,3. Mittels der aus Jes LXX 40,3 bekannten Wendung τρίβοι ἐυθεῖαι fasst der Dichter nicht nur den in Gen 27–28 bzw. 29–31 erzählten Weg Jakobs nach Haran und zurück sowie dessen Bewahrung vor Esau und Laban zusammen (vgl. Tob 4,19), sondern beschreibt zugleich die Hinführung Jakobs zu ethischer und religiöser Integrität, mithin zur Tugend.32 Über den Begriff ὁδηγέω parallelisiert der Verfasser Jakob mit Salomo (SapSal 9,11) und mit dem aus Ägypten ausziehenden Gottesvolk (SapSal 10,17; 18,3). Im Blick auf das Verständnis der Weisheit in SapSal 10 zeigt der hier verwendete Begriff ὁδηγέω – wie die anderen in SapSal 10 verwendeten Rettungsverben –,33 dass die Weisheit eine genuine Funktion Gottes wahrnimmt.34 Als Wegführerin und geschichtsgestaltende Kraft tritt die jüdische σοφία – wie auch in ihrer Funktion als Retterin (σωτήρ / σώτειρα) – neben die ägyptisch-­ griechische Isis.35 Mit John J. Collins (1997) lässt sich die Auswahl der heilsgeschichtlichen Figuren in SapSal 10, möglicherweise auch die Fokussierung auf das für die Sapientia so zentrale Thema der Gerechtigkeit, durch analoge 29 Zur Parallelisierung von Kain und Esau bzw. Abel und Jakob vgl. auch Philo, sacr. 14–18. 30 Vgl. z. B. Spr 14,17.29; 15,18; 16,32; 19,11; 29,8; Pred 7,8; Pap. Insinger 21,7–23 (Thissen, in: TUAT III / 2, S. 304–305; Hoffmann / Quack, Anthologie, S. 260–261); für entsprechende Belege in der Stoa siehe z. B. SVF III,397; III,444; III,459; Seneca, De ira; Marc Aurel, I,9; XI,18. 31 Philo, migr. 26–27; 208; fug. 23; som. I,45–46; II,225 (Engel, Buch, S. 173; von Gemünden, Jacob, S. 361–368). 32 Vgl. SapSal 9,18 sowie Ps LXX 24,3–4; 26,11; 118,35; Spr LXX 2,13.16.19 sowie als Kontrast SapSal 2,15; 5,7. 33 S. o. Anm. 10. 34 Vgl. SapSal 9,11 gegenüber SapSal 7,15 und Ps LXX 22,3; 42,3; 72,24; 76,21; 105,9; 106,7; Jos LXX 24,3 sowie Jes 63,14, wo der „Geist Gottes“ (‫רוח יהוה‬, πνεῦμα παρὰ κυρίου) Israel durch die Wüste führt. 35 Vgl. Philo, Deus 142–143; 159–160; opif. 70, aber auch Lk 11,49–51. Zu Isis als „Wegführerin“ (ὁδηγός) siehe Pap. Oxy. XI,1380,122 (Totti, Texte, Nr. 20; Mack, Logos, S. 66), zu Isis als „Retterin“ (σώτειρα) siehe z. B. Pap. Oxy. XI,1380,20; SGUÄ Nr. 9999; SGUÄ Nr. 8401 (Isis als πανσώτειρα) oder den Isis-Hymnus I des Isidor (Totti, Texte, Nr. 21,26, und dazu Fraser, Alexandria I, S. 260–261; 671; II, S. 940–941; Merkelbach, Isis, S. 98).

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Rettungstaten der Isis erklären.36 Wie dieser kommt der σοφία in SapSal 10 auch die Aufgabe zu, als selbst in das Wissen Gottes Eingeweihte (μύστις, 8,4) und von Gott Geführte (ὁδηγός, 7,15) in mystische Geheimnisse einzuführen,37 und „Gottesfürchtige“ (εὐσεβεῖς) zu bewahren.38 Mit dem Doppelsatz, dass die Weisheit Jakob die Königsherrschaft Gottes zeigte und ihm die Erkenntnis der Heiligen gab (SapSal 10,10c–d),39 fasst der Dichter die Erzählungen von der Traumoffenbarung Jakobs in Bethel (Gen 28,12–15), der Begegnung Jakobs mit den Engeln in Mahanajim (Gen 32,2–3) und der Offenbarung Gottes in Bethel (Gen 35,1–16; 48,3) zusammen. Dabei bezieht sich das Zeigen (δείκνυμι) der Herrschaft Gottes, was im Rahmen der jüdisch-hellenistischen Literatur Jakob in dieser Form mit Abraham teilt (vgl. TestAbr A 15,12), wohl in einem doppelten Sinn auf die himmlische Herrschaft Gottes, wie sie der Verfasser von SapSal 10,10 aus dem Bild der Engelsleiter, an deren Spitze Gott selbst steht (Gen 28,12–13), herausliest, und auf die Jakob und seinen Nachkommen angekündigte irdische Herrschaft (Gen 35,11, vgl. Gen 17,6; 27,29), wie sie sich ideal in Joseph (SapSal 10,14) und in Salomo (SapSal 7–9) realisierte.40 Insofern sowohl das Sehen der (himmlischen) Herrschaft Gottes als auch die Hoffnung auf die Herrschaft der Gerechten eschatologische Topoi des Judentums der hellenistisch-römischen Zeit sind,41 klingt in SapSal 10,10 ein eschatologischer Ton mit. Bei der „Erkenntnis der Heiligen“ (γνῶσις ἁγίων, vgl. Spr LXX 30,3) denkt der Verfasser wohl weniger an die Mitteilung „heiliger Dinge ([τὰ] ἅγια)“42 oder

36 Collins, Wisdom, S. 203–204. Isis erscheint nicht nur in den Aretalogien als Spen­ derin des Rechts und der Gesetze (Totti, Texte, Nr. 1 § 4; Nr. 3,65(4); Nr. 19,24.29; Müller, Ägypten, S. 42), sondern kann auch den Kulttitel der δικαιοσύνη tragen (Fraser, Alexandria I, S. 199). Als Parallelen zu den Rettungstaten in SapSal 10 vgl. am Beispiel der „Selbstoffenbarung der Isis“ (Totti, Texte, Nr. 1; mit Kommentierung des Textes: Müller, Ägypten) den Lobpreis auf Isis als Herrin der Schifffahrt (§ 15; § 39 par. SapSal 10,4), als Bewahrerin vor Nachstellungen (§ 34 par. SapSal 10,12), als Vermittlerin von δόξα (§ 40 par. SapSal 10,14) und als Befreierin aus Fesseln (§ 48 par. SapSal 10,14). Siehe auch Anm. 39. 37 Totti, Texte, Nr. 1 § 22; Müller, Ägypten, S. 49. 38 Totti, Texte, Nr. 22,6; Nr. 23,4.27. 39 Die Weisheit lehrt (SapSal 7,22; 9,18) und erzieht (SapSal 3,11; 7,14). Zu Isis als „Lehrerin“ siehe die „Selbstoffenbarung“ (Totti, Texte, Nr. 1 § 23; Müller, Ägypten, S. 50) und Plutarchs Beschreibung als der weisen und weisheitsliebenden Göttin, zu deren Bereich qua ihres Namens (Ἶσις) Wissen (οἶδα) und Wissenschaft gehöre (De Iside 351E–F; 352A). 40 Vgl. auch SapSal 6,20 im Kontrast zur programmatischen Anrede der „Herrscher“ in SapSal 1,1 und 6,1–2. 41 Vgl. 2 Bar 21,23; Mk 4,11 (Lk 8,10; Mt 13,11); 9,1; Joh 3,3; Apg 7,56 bzw. SapSal 3,8; Dan LXX 7,18.22.27; 1 Hen 96,1; 1QpHab V,4; Mt 19,28; 1 Kor 6,2; Apk 20,4 und dazu Bousset / Gressmann, Religion, S. 213–218. 42 Scarpat, Sapienza II, S. 313–314; Engel, Buch, S. 173 (die Weisheit selbst); Ruppert, Genesis, S. 203 (die noch in der Zukunft liegende und in Gott verborgene Heilsgeschichte Gottes mit Israel).

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des „himmlischen Heiligtums ([τὰ] ἅγια)“43 als vielmehr gemäß Gen 28,12 und 32,2 an die Engel ([οἱ] ἅγιοι).44 Dabei ist nicht ausgeschlossen, dass der Genitiv ἁγίων sowohl den Gegenstand der Erkenntnis als auch deren Qualität bezeichnet, Jakob also die Engel sieht und Erkenntnis wie die Engel erhält.45 Die vom Codex Venetus gebotene Variante (γνῶσις ἁγίου, „Erkenntnis des Heiligen“, nämlich Gottes)46 dürfte eine Angleichung an V. 10c sein, die möglicherweise von Gen LXX 32,31 (εἶδον γὰρ θεὸν πρόσωπον πρὸς πρόσωπον) inspiriert ist. Die Lesart des Codex Ephraemi Syri rescriptus (C) (γνῶσις ἀνθρώπων) entspricht der Vorstellung, dass „Erkenntnis göttlicher und menschlicher Dinge“ zum Wesen menschlicher Weisheit gehört (vgl. 4 Makk 1,16),47 dürfte aber textkritisch ebenfalls sekundär sein. Insofern Jakob durch die Vermittlung der Weisheit an der Welt der Engel partizipiert, ist es durchaus treffend, von einer „Angelisierung“ Jakobs zu sprechen.48 In JosAs 22,7 wird Jakobs Physiognomie explizit mit der eines Engels verglichen. In dem bei Origenes erhaltenen apokryphen „Gebet Josephs“ (1. Jh. n. Chr.?) ist Jakob schließlich als der Engel Israels, der sich mit Uriel um den Rang streitet und sich selbst als ἀρχάγγελος δυνάμεως κυρίου bezeichnet, vollends in die himmlische Welt aufgestiegen.49 So weit geht die Sapientia nicht. Gleichwohl wird die hier vorgeschlagene Deutung von SapSal 10,10 durch Parallelen zu der Wendung ‫„( דעת קדשים‬Erkenntnis der Heiligen“) in den aus Qumran und Masada bekannten Engelsliturgien der Sabbatopferlieder50 ebenso wie durch die Erzählungen von Jakobs Visionen in Jub 32,21–26 und in 4Q537 (= 4QAJa / 4QVisJac / 4QTestJac) bestätigt. Durch seine Schau der 43 Burrows, Wisdom, S. 405–407; Winston, Wisdom, S. 217; jeweils mit Hinweis auf TestLev 9,3 und Hebr 9,12 (vgl. auch Jub 32,22; BerR 69 zu Gen 28,17); ähnlich Larcher, Sagesse II, S. 628, allerdings mit Bezug auf den Auftrag an Jakob, ein Heiligtum zu errichten (vgl. Gen 28,17.21–22; 35,3; zur Bezeichnung des Heiligtums als [τὰ] ἅγια vgl. Sir 45,24; 1 Makk 3,43.58–59). 44 Vgl. auch Gen 31,11; 48,16 sowie zur Bezeichnung der Engel als „Heilige“ SapSal 5,5; Hi 5,1; 15,15; Ps LXX 88,6.8; 109,3; Sach 14,5; Dan 8,13; Sir 42,17; Tob 11,14; 1 Hen 1,2 (4Q201,I,3); 1,9 (4Q204,I,15); 93,2 (4Q212,III,21); 106,19 (4Q204 Frgm. 5,II,26); TestLev 3,3; PsSal 17,43; 1QGenAp II,1; 4Q400 Frgm. 1,I,17; 4Q403 Frgm. 1,I,24; 1 Thess 3,13; 2 Thess 1,10. 45 Schwenk-Bressler, Sapientia, S. 79–80, gegen Larcher, Sagesse II, S. 630. 46 Vgl. auch die Minuskel 253 und die Peschitta sowie Sir 48,20 (G); Hab 3,3; Jes 40,25; 1 Hen 14,1; 97,6; 98,6; 104,9; 1 Joh 2,20. 47 Nach Aetius geht diese Vorstellung auf die Stoiker zurück (SVF II,35), vgl. auch Sextus (SVF II,36) und Cicero, De officiis II,2(5), sowie im jüdischen Kontext Philo, congr. 79; Aristobul 12,12 (Denis, Fragmenta, S. 225,4–5). Oder steht hinter der Lesart von C auch Gen LXX 32,29 (ἐνίσχυσας μετὰ θεοῦ καὶ μετὰ ἀνθρώπων)? 48 Georgi, Weisheit, S. 438. Vgl. zum Zusammenhang von Gotteserkenntnis, Gottesschau und Vergottung auch Philo, praem. 36–46 u. ö. (und dazu Wilckens, σοφία, S. 502; Butterweck, Ringkampf, S. 66–70). Zur „Angelisierung“ Abrahams siehe Philo, sacr. 5. 49 Denis, Fragmenta, S. 61,6.10–19; van der Horst / Newman, Prayers, S. 253. Im TNeofiti 1 ist es der Engel Sariel. Vgl. dazu ausführlich Butterweck, Ringkampf, S. 72–140. 50 Vgl. 4Q402 Frgm. 4,6; 4Q400 Frgm. 2,7; 0QShirShab I,11 (= Mas1k I,11).

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himmlischen Welt nimmt Jakob dann teil am himmlischen Gottesdienst. Versteht man die Kundgabe der Königsherrschaft Gottes und der Erkenntnis der Engel als Mitteilung besonderer göttlicher Geheimnisse (μυστήρια θεοῦ, vgl. SapSal 2,22; 6,22), erscheint Jakob als ein mystischer Offenbarungsempfänger. Als solcher tritt er nicht nur Salomo, so wie ihn SapSal 7,17 charakterisiert,51 zur Seite, sondern auch dem weisen Agur (Spr LXX 30,3),52 den himmlischen Figuren der Sabbatopferlieder,53 den in das „Geheimnis des Gewordenen / des Seins“ (‫ )רז נהיה‬Eingeweihten in der Weisheitslehre 4QInstruction54 oder den Apokalyptikern Daniel (Dan 2,18–23; 4,6), Baruch (3 Bar 1,8), Esra (ApkEsr 1,5) und Henoch (1 Hen 1,2; 106,19 par. 4Q204 Frgm. 5,II,26–27).55 Durch die Weisheit wird Jakob zur Antwort auf die Frage des fiktiven Salomo in SapSal 9,13: Denn welcher Mensch wird den Ratschluss Gottes (βουλὴ θεοῦ) erkennen (γινώσκω), oder wer wird begreifen, was der Herr will? (Vgl. V. 16–17; Jes LXX 40,13; Sir 16,20; Spr LXX 30,4; Hi LXX 38,2)

Die Kundgabe besonderer Erkenntnis speziell an Jakob teilt SapSal 10,10 weiterhin mit 4Q158, einer paläographisch aus frühherodianischer Zeit stammenden Paraphrase von Gen 32,23–32, in deren Rahmen der über Gen 32,30 hinausgehende Segenswunsch ergeht, Gott möge Jakob vermehren, mit Erkenntnis und Klugheit (‫ )דעת ובינה‬beschenken sowie aus jeder Gewalt erretten (Frgm. 1–2, Z. 7–10).56 Die Aussage von SapSal 10,10c–d zusammenfassend, lässt sich also sagen, dass das in Gen 28 und 35 angelegte Bild Jakobs als eines exemplarischen Offenbarungsträgers besonders ausgemalt wird. Traditionsgeschichtlich zeigt 51 So erhält Salomo durch Gott untrügliche Erkenntnis (γνῶσις) des Seins hinsichtlich des Aufbaus des Kosmos und des Wirkens der Elemente, vgl. Ps LXX 94,10; 118,66; Spr LXX 2,6. 52 Der griechische Text, der vielfach von den Kirchenvätern zitiert wird (vgl. z. B. Clemens Alex., Strom. 2,17,77), unterscheidet sich hier erheblich vom MT, demzufolge Agur bekennt, nicht (‫ – לא‬LXX-Vorlage: ‫ )אל‬Weisheit gelernt (‫ – ָל ַמ ְד ִּתי‬LXX las wohl ‫)ל ַמד א ִֹתי‬ ִ und Erkenntnis erkannt zu haben. Entgegen der zumeist vertretenen Interpretation von ‫ קדשים‬als Gottesbezeichnung halte ich hier (wie auch in Spr 9,10) einen Bezug auf die Heiligen, d. h. die Engel, für wahrscheinlicher (vgl. Anm. 44). 53 Vgl. 4Q400 Frgm. 2; 4Q401 Frgm. 14,I,6–7. 54 Siehe dazu Tigchelaar, Learning, S. 245–248; Collins, Mysteries, S. 161–163; Goff, Wisdom, S. 13–15. 55 Zur neutestamentlichen Modifikation dieser Vorstellung s. u. Anm. 94. 56 Zur Verwendung der Wurzel ‫ ידע‬in einer Paraphrase der Jakobsüberlieferung vgl. auch 5Q13 Frgm. 2,6 (hier mit Bezug auf Gen 28,16: […] ‫]…[ אל יעקב ה[ו]עדתה בבית אל‬: „dem Jakob hast du kundgetan in Beth-El“; zu dieser Übersetzung siehe García Martínez / Tigchelaar, Scrolls I, S. 1135). Als Pendant dazu bittet Jakob in einem in den „Zauberpapyri“ (PGrM 22b) gesammelten apokryphen „Gebet Jakobs“ aus dem 4. Jh. n. Chr., mit Weisheit erfüllt zu werden (PGrM 149,23; Charlesworth, Prayer, S. 722,17; van der Horst / Newman, Prayers, S. 231,17). Zu einem auf die Gabe von Wissen und Erkenntnis zielenden Segenswunsch siehe in charakteristischer Abwandlung von Num 6,24–26 und in Zuspitzung auf die Mitglieder der Qumrangemeinschaft 1QS II,3.

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sich hier, dass die Sapientia – wie die Daniel- und die Henochüberlieferung, späte Schichten in den Proverbien, aber auch einzelne Passagen im Sirachbuch und v. a. die Lehren 4QInstruction – genuin weisheitliche Vorstellungen mit apokalyptischen Elementen verbindet.57 Da die Teilhabe an göttlichen Geheimnissen (SapSal 2,22; 6,22) und die Gotteserkenntnis (SapSal 2,13; 7,17; 14,22; 15,3) als Kennzeichen des Gerechten und als vollendete Gerechtigkeit gelten,58 liefert SapSal 10,10c–d indirekt eine weitere Begründung für die Bezeichnung Jakobs als δίκαιος. Die Hälfte der gesamten Jakobsnotiz (V. 10e–12b) bezieht sich auf die Bewahrung, Versorgung und Vermehrung des Erzvaters durch die Weisheit in der Zeitspanne von der Flucht vor Esau über den Aufenthalt bei Laban bis zur Rückkehr ins Heilige Land. Biblischer Hintergrund ist der Komplex von Gen 28,1– 32,22 (33,5–15; 35,5.11–12). Dabei greift der Verfasser von SapSal 10,10–12 erneut nur punktuell direkt sprachlich auf die Genesis zurück.59 Er entwickelt seine poetische Paraphrase, indem er mit eigenen Worten auf zentrale Motive aus dem Jakob-Esau-Zyklus und vor allem aus dem Jakob-Laban-Zyklus anspielt.60 Letzteren stellt er unter den für die pagane und für die jüdische Ethik der hellenistischen Zeit zentralen Begriff der „Habgier“ (πλεονεξία):61 Dem gerechten Jakob steht der habgierige Laban gegenüber (vgl. Ps LXX 118,36), der Jakob zu überwältigen (κατισχύω) versucht. Wie bei der Kontrastierung von Jakob und Esau kommt hier die aus der alttestamentlichen, aber auch aus der ägyptischen und griechisch-hellenistischen Spruchweisheit bekannte Antitypik des „Gerechten“ und des „Frevlers“ zur Anwendung.62 Ohne ein Äquivalent 57 Collins,

Reinterpretation, S. 157–158; Goff, Wisdom, S. 293. als Kontrast SapSal 10,8–9; 14,22; 15,11. Zum Motiv der Mitteilung von Offenba­ rungswissen an den Gerechten siehe 1QS IV,2–6; XI,2–9; 1 Hen 103,1–105,2 und in neutestamentlichem Gewand Mk 4,11 ( par. Mt 13,11; Lk 8,10) und 1 Kor 13,2 sowie in rabbinischer Gestalt im Blick auf Abraham BerR 69 zu Gen 18,17 (Wünsche, Bibliotheca Rabbinica, S. 229–231). Vgl. auch Anm. 94. 59 So im Fall des Gebrauchs von πληθύνω / πλῆθος (V. 10f, vgl. Gen 28,3; [30,30]; 32,13; 35,11; 47,27; 48,4.16), des Wortstammes πλουτίζω / πλουτέω / πλοῦτος (V. 11b, vgl. Gen 30,43; 31,16 sowie Sir 11,21) und des Leitwortes διαφυλάσσω (V. 12a, vgl. Gen 28,15.20 sowie SapSal 9,11; 10,1). 60 Vgl. zu V. 10e–f besonders Gen 31,17–18; 32,11.14–22; 33,11, zu V. 11a–b besonders Gen 29,15–31,54, zu V. 12a–b besonders Gen 31,22–54; 32,4–13. 61 Siehe dazu Delling, πλεονέκτης, S. 266–274; Bauer, Wörterbuch, S. 1342–1343. Nach dem Stoiker Chairemon (1. Jh. n. Chr., zitiert bei Porphyrios, De abstinentia 4,6,21), steht die πλεονεξία im Gegensatz zur θεῖα γνώσις. Bei Aristoxenos Mus. (4. Jh. v. Chr.), Frgm. 50,50.57, ist die πλεονεξία das Laster schlechthin und steht als solche im Gegensatz zum Recht und zur Gerechtigkeit. 62 Vgl. auch die anderen Miniaturen in SapSal 10 (Adam versus Kain versus Noah, Sodomiten versus Abraham, Joseph versus seine Bedrücker), dazu A. Schmitt, Struktur, S. 230, sowie als eine ganz kleine Auswahl von Sprüchen zum Gegensatz zwischen dem Gerechten und dem Frevler aus dem hebräischen, ägyptischen und griechischen Bereich: Spr 4,18–19; 10,3–32; 13,23 LXX; Pap. Insinger 5,8; 31,3–4; 33,10–12 (Thissen, in: TUAT III / 2, S. 286; 58 Vgl.

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für das Wortfeld „Segen“, das die Jakobserzählungen der Genesis literarisch und theologisch strukturiert, zu gebrauchen,63 zeigt SapSal 10,10–12 worin sich Segen konkretisiert, nämlich in wirtschaftlicher und sozialer Sicherung (vgl. Spr LXX 10,22), mit anderen Worten im Beistand (παρίστημι) der Weisheit (vgl. Gen LXX 31,42). Das Wort παρίστημι steht dabei nicht nur inhaltlich im Zentrum der Zusammenfassung von Gen 28,1–32,22, sondern verbindet die Jakobsnotiz der Sapientia mit dem Schlusssatz des gesamten Werks: In allem nämlich, Herr, hast du dein Volk groß gemacht und es verherrlicht, und du hast es nicht übersehen, indem du ihm zu jeder Zeit und an jedem Ort beistehst (παρίστημι). (SapSal 19,22)64

Mit dem Hinweis darauf, dass die Weisheit in einem schweren Kampf zu Jakobs Gunsten entschied, damit dieser erkannte, dass Frömmigkeit mächtiger als alles andere ist, kommt die Jakobsnotiz zu ihrem eigentlichen Ziel (10,12c–d). So läuft die gesamte Führung, die Jakob durch die Weisheit erfährt, letztlich darauf hinaus, dass dieser den Wert der Frömmigkeit kennenlernt. Der Jakobsweg der Sapientia ist ein Lernprozess. Als dessen letzte Station ruft SapSal 10,12c die Überlieferung vom Kampf am Jabbok in Erinnerung (Gen 32,23– 33). An der Wendung ἀγῶνα ἰσχυρὸν ἐβράβευσεν αὐτῷ lässt sich nochmals schön die Technik des assoziierenden Zitierens und des eigenständigen Wortgebrauchs von SapSal 10 zeigen. So komprimiert der Verfasser die Erzählung von Jakobs nächtlichem Ringen an der ostjordanischen Furt einerseits mit dem typisch hellenistischen Begriff ἀγών (vgl. SapSal 4,2), der in der biblischen Textvorlage nicht vorkommt.65 Ebenso hat das in der LXX nur hier gebrauchte Wort βραβεύω66 seinen Ort in der paganen Literatur, sei es zur Beschreibung der Funktion eines Schiedsrichters im sportlichen Wettkampf, den Sieger zu erklären,67 oder der Aufgabe eines Königs, die gerechten Dinge zugunsten seiner Untertanen zu entscheiden.68 Andererseits nimmt der Verfasser sprachlich eindeutig Bezug auf seine Vorlage in Gen LXX 32,23–33, indem er mit dem Wort ἰσχυ-ρός das Wort ἐν-ισχύ-ω, das in Gen 32,29 und Hos 12,4–5 eine zentrale Rolle spielt, rezipiert (vgl. κατ-ισχύω in V. 11a) und mit dem Wort δυνατωτέρα an das Wort δύνατος in Gen LXX 32,29 anknüpft: 314; 317; Hoffmann / Quack, Anthologie, S. 246; 269; 271); Theognis, eleg. 1,315.319–322. 393–400.613–614; Aesop, fab. 183; Plato, rep. 352b; Aristoteles, e.N. 1103b15. 63 Vgl. demgegenüber die Jakobsnotiz Ben Siras (44,22–23 [H]), der gleich zweimal das Leitwort „Segen“ aufgreift. Ebenso ist der „Segen“ das Leitmotiv der Jakobspassagen des Jubiläenbuchs (Jub 19–46*) oder der Erwähnungen Jakobs in der Reihe der Glaubenszeugen des Hebräerbriefs (11,20–21). 64 Vgl. Ps LXX 108,31; TestJos 6,2 und in neutestamentlicher Zuspitzung 2 Tim 4,17–18. 65 Zur Anwendung des Bildes vom Wettkampf auf den Jabbokskampf siehe dann auch den Midrasch BerR 77 zu Gen 32,24 (Wünsche, Bibliotheca Rabbinica, S. 377). 66 Vgl. noch einmalig in der LXX den Neologismus συμβραβεύω in 1 Esr 9,14. 67 Vgl. z. B. Sophokles, Elektra 690; 709. 68 Vgl. Musonius, Diss. a Lucio digestarum reliquiae 8,19. Zur Verwendung des Verbs mit Gott als Subjekt vgl. Philo, Mos. I,163.

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Er aber sagte zu ihm: Dein Name soll nicht mehr Jakob genannt werden, sondern Israel soll dein Name sein, denn du wurdest stark mit / gegenüber Gott69 (ἐνίσχυσας) und mit / gegenüber Menschen mächtig (δύνατος).

Auf die Nennung eines Objektes des ἀγών verzichtet der Verfasser von SapSal 10 hingegen, womit er die schon in Gen 32,25–30 angelegte Zurückhaltung fortschreibt. Demgegenüber findet sich im literarischen Umfeld der Sapientia, sofern nicht bewusst auf einen Rekurs auf den Jabbokskampf verzichtet wird wie bei Ben Sira (44,22–23) und im Jubiläenbuch, das insgesamt die Jakobsüberlieferung breit ausmalt und den Erzvater als ein einmaliges Vorbild verherrlicht,70 eine klare Identifikation des Kampfgegners. So kennen der Historiker Demetrios (Frgm. 2,7),71 das „Gebet Josephs“,72 diverse Varianten zu Gen 32,25 in der LXX-Überlieferung,73 die Targumim74 oder Justin (Dialog 58,6), wie Hos 12,5 als Gegner Jakobs einen „Engel Gottes“. Ebenso ist bei Flavius Josephus der Widerpart Jakobs ein „Engel Gottes“, wobei Josephus den Kampf zusätzlich spiritualisiert, indem Jakob eigentlich einem φάντασμα begegnet, mit dem er ringt und das sich selbst als „Engel Gottes“ ausgibt (Ant. I,20,2). Entsprechend kennzeichnet Josephus die Erscheinungen der Engel in Mahanajim (Gen 32,2) als φάντασμα.75 Auch Philo, der den Jabbokskampf mehrfach thematisiert und allegorisch auslegt, kann gelegentlich den Widersacher des von ihm häufig als Athleten (ἀσκητής bzw. ἀθλητής) angesprochenen Jakob als einen Engel bezeichnen.76 69 Zur

Formulierung μετὰ θεοῦ siehe HosLXX 9,8. „verbindet“ Jub 29,13 unmittelbar Gen 32,23–24 mit Gen 33,1. 71 Denis, Fragmenta, S. 176,16. 72 Denis, Fragmenta, S. 61,6; van der Horst / Newman, Prayers, S. 253. 73 Die Hauptüberlieferung der LXX spricht gemäß dem hebräischen Text (‫ )איש‬von einem ἄνθρωπος, ähnlich übersetzen Aq. und Sym. (ἀνήρ) und das TO (‫)גברא‬, vgl. auch Justin, Dialog 126,3. Hingegen heißt es in einer textlich in ihrer Ursprünglichkeit umstrittenen Notiz in JosAs 22,7, dass „Jakob wie ein Mensch war, der mit Gott gerungen hat“ (Denis, Concordance, S. 857; Burchard, Joseph, S. 238j; vgl. auch Chrysostomos, In Samaritanam 59,537,74), was sich natürlich vor dem Hintergrund der Deutung des Namens „Israel“ in Gen 32,29 erklärt. Dass im biblischen Grundtext der Gegner Jakobs kein Dämon, sondern Gott selbst ist, hat überzeugend Köckert, Gegner, S. 160–181 (ders., Messengers, S. 60–62) gezeigt. Zu weiteren Identifikationen in der nachbiblischen jüdischen Überlieferung siehe Butterweck, Ringkampf, S. 72–140; Smith, Prayer, S. 707. 74 TO zu Gen 32,31; TPsJ zu Gen 32,25 („ein Engel in der Gestalt eines Mannes“); TNeofiti 1 zu Gen 32,25 („der Engel Sariel in der Gestalt eines Mannes“), vgl. dann auch bHul 91b; 92a, und dazu Butterweck, Ringkampf, S. 72–140. 75 Flav. Jos. Ant. I,20,1. Vgl. auch TPsJ und TNeofiti 1 (s. Anm. 74) sowie den Midrasch BerR 77 zu Gen 32,25, der u. a. den Gegner Jakobs diesem „im Bilde wie ein Hirte“ oder „als ein Räuberhauptmann“ erscheinen lässt (Wünsche, Bibliotheca Rabbinica, S. 376–377). Zu Josephus’ Deutung Jakobs als Sinnbild einer glücklichen politischen Zukunft siehe Butterweck, Ringkampf, S. 51–56; 192–193. 76 Philo, mut. 87; zu Jakob als „Athlet“ vgl. Philo, ebr. 82; plant. 44; 90; 110; LA III,18; III,93; post. 59; fug. 4; migr. 27 u. ö. Zu Philos allegorisierender Interpretation des Jabboks70 So

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Weiterhin übergeht SapSal 10,12 die Ätiologien in Gen 32,29.31.32, wobei zumindest das Motiv von Jakobs „Sehen Gottes“ (32,31) bereits durch V. 10c–d abgedeckt sein dürfte. Der Jabbokskampf ist für die Sapientia ein Gleichnis der Macht der Weisheit und der Bewährung von Frömmigkeit. Der Anschluss von V. 12c mit καί und die in der Passage V. 10–12 einmalige Weiterführung mit einem Finalsatz (V. 12d) deuten darauf hin, dass die Wendung ἀγὼν ἰσχυρός über den direkten Bezugspunkt in Gen 32,23–33 hinaus eine Zusammenfassung des gesamten Weges, den SapSal 10,10–12c nachzeichnet, darstellt. Der Begriff ἀγών erscheint dementsprechend, wie häufig in der paganen griechischen Literatur, als Metapher für das Leben überhaupt.77 Entscheidend für die Sapientia ist, dass Jakob durch seinen Kampf, wie durch seinen ganzen, von der Führung durch die Weisheit geprägten Lebensweg, Frömmigkeit (εὐσέβεια) als „Lebensmittel“ lernt (vgl. 4 Makk 15,11–16).78 Die εὐσέβεια ist hier in Korrelation zur göttlichen σοφία Mitte, Ziel und Grund der gesamten Existenz eines Gerechten.

4. Die Funktion von SapSal 10,10–12 Vergleicht man das Jakobsbild der Sapientia mit den Stilisierungen des Erzvaters in den zeitgenössischen jüdischen Schriften, dann sind die Kennzeichnungen Jakobs als gerechtem Empfänger mystischer Offenbarungen und als Vorbild an Frömmigkeit keineswegs mehr so fremd, wie wenn man ausschließlich von Gen 25–50* her kommt. Vor allem die Zeichnung Jakobs im etwas älteren Jubiläenbuch (mit seinen Seitenstücken in 4Q158 und 4Q537), im annähernd zeitgleichen Werk Philos, der Jakob als Muster der Tugend (ἀρετή) und „Mann, der Gott sieht“ preist,79 sowie im etwas jüngeren Werk des Josephus, der wie SapSal 10,12 an Jakob die εὐσέβεια hervorhebt,80 weisen hierin die nächsten Parallelen auf. Noch einen Schritt weiter geht das Vierte Makkabäerbuch (1. Jh. n. Chr.), wenn es Jakob unter Berufung auf Gen 34,24–30 und 49,5–7 als Beispiel für Besonnenheit (σώφρων νοῦς) bezeichnet und ihm das Attribut des kampfes als Ringen für den Erwerb von Tugend, siehe z. B. mut. 14–15 und dazu Butterweck, Ringkampf, S. 62–71; 194–195; von Gemünden, Jacob, S. 361. 77 Vgl. Philo, migr. 26; LA III,14; som. II,145; agr. 112; 119 sowie ausführlich zum traditionsgeschichtlichen Hintergrund der Wettkampfterminologie im jüdisch-hellenistischen und frühchristlichen Schrifttum Merkelbach, Athletik, S. 108–136. 78 Vgl. auch 4 Makk 17,15 und Philo, virt. 45 (Scarpat, Sapienza II, S. 319). 79 Philo, ebr. 82; migr. 200; sacr. 5; 17; 45–47; LA III,191 (Butterweck, Ringkampf, S. 62–71; 194–195). Philos Interpretation des Jakobsnamens „Israel“ (Gen 32,29) als „der, der Gott sieht“ (ὁρῶν θεόν, fug. 208; Abr. 57; legat. 4,2; praem. 44; congr. 51 u. ö.) könnte auf dem Verständnis von ‫ ישראל‬als ‫ איש ראה אל‬beruhen (Smith, Prayer, S. 703; von Gemünden, Jacob, S. 365; demgegenüber vermutet Butterweck, Ringkampf, S. 65, eine Verbindung mit der Wurzel ‫שור‬, „schauen“, vgl. Hi 34,29). 80 Flav. Jos. Ant. II,8,1.

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„Allweisen“ (πάνσοφος) verleiht (2,18–19), das u. a. Sophokles für Odysseus (Frgm. 913,1) oder Philo für Abraham (Cher. 18), für Isaak (Cher. 47) und häufig für Mose gebraucht (agr. 20; plant. 27; migr. 76; spec. I,194; IV,157 u. ö.). Gleichwohl besitzt die Jakobsnotiz der Sapientia mit ihrer Betonung des passiven, von der Weisheit geführten und gelehrten Erzvaters, mit dessen doppelter Typisierung als Paradigma des einzelnen Gerechten wie des Gottesvolkes, mit ihrer poetischen Dichte und mit ihrer Mischung aus biblisch vorgegebenen Formulierungen und Vorstellungen mit paganen hellenistischen Begriffen und Denkmustern einen ganz eigenen literarischen und theologischen Charakter. Kennzeichnend für die Art und Weise, wie die Sapientia mit der Jakobsüberlieferung der Genesis umgeht, ist, neben ihrer materialen Beschränkung auf Rezeptionen aus dem Bereich Gen 27,41–32,33*; 33*; 35*; 47,27–49,33*,81 eine Typisierung, Funktionalisierung und Ethisierung Jakobs sowie eine Spiritualisierung und gemäßigte Eschatologisierung einzelner Erzählzüge. Jakob erscheint als geschichtliche Konkretion und als überzeitliches Vorbild des Gerechten (SapSal 2,10–3,19; 5,1.15), der von Gott und seiner Weisheit geführt, bewahrt, belehrt und belohnt wird. SapSal 10,10–12 illustriert so am biblischen Beispiel die Biographie des anonymen, auf der Basis von Jes 52,13–53,12 stilisierten Gerechten aus SapSal 2,12–20. Wie dem von SapSal 1,15 und 2,21–3,1 herkommenden Leser verheißen, steht am Ende eines von der Gerechtigkeit gekennzeichneten Lebens- und Lern­weges die Unsterblichkeit.82 Als bereits in dieses Leben hineinreichendes „Unterpfand“ gilt die Einsicht in die Geheimnisse Gottes (SapSal 2,22) und die Gemeinschaft mit den Engeln (SapSal 10,10), die dem Gerechten nicht erst nach dem endzeitlichen Gericht zuteil werden (1 Hen 104,1–6). Insofern Jakob paradigmatische Einzelfigur und in der Fluchtlinie der biblischen Identifikation Jakobs mit dem Stammvater Israels und des kollektiven Gebrauchs des Namens Jakob für das Volk Israel auch Chiffre für Israel ist, lassen sich alle Einzelaussagen zu Jakob in SapSal 10,10–12 auf einen einzelnen Gerechten und auf Israel als Gottesvolk beziehen. Am Ergehen des Erzvaters zeigt sich dann auch beispielhaft und prototypisch das Schicksal Israels in Vergangenheit und – wie im Blick auf die historische Situation der Sapientia als einem zwischen 30 v. Chr und 40 n. Chr. verfassten Dokument 81 Auf die Dinageschichte (Gen 34), die ansonsten im jüdisch-hellenistischen Schrifttum breit rezipiert wird (JosAs 23,13[14]; Jdt 9,2–5; Jub 28,23; 30,1–26; 34,15; TestLev 2,2; 6,1–11; Theodotos, Frgm. 3 und Frgm. 4 [Denis, Fragmenta, S. 204–207]; Demetrios, 21,9 [Denis, Fragmenta, S. 174–179]; Flav. Jos. Ant. I,21,1–2; Ps-Philo, LibAnt, 8,7; Philo, migr. 223–225; mut. 194–195), geht der Verfasser von SapSal 10 nicht ein – sei es, weil hier Jakob nicht vor Unheil bewahrt wird, sei es, weil Jakob hier kaum als selbständige Figur auftritt (doch s. o. 4 Makk 2,18–19). 82 Als Gerechter hat Jakob Anteil an der Unsterblichkeit (vgl. SapSal 3,1), was ein escha­ tologisches Pendant der Sapientia zur Vorstellung vom ewigen Leben der Erzväter in 4 Makk 7,19; 16,25; TestAbr A 20,14; Mk 12,26–27; SibOr II,246–247 oder bBB 16b / 17a darstellt. Zur Eschatologie der Sapientia siehe Blischke, Eschatologie.

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jüdischen Lebens in der ägyptischen Diaspora zu betonen ist83 – in Gegenwart und Zukunft. So wird hier die von Jakob erlebte „Begabung mit göttlichen Geheimnissen, Versorgung in Mühen, Belohnung in Anstrengungen, Bewahrung vor Habgier in fremdem Land, Rettung vor Feinden und Absicherung gegenüber Nachstellungen“ den in Alexandria lebenden, von innergemeindlichen Gegnern (typisiert durch Esau) und heidnischen Verfolgern (typisiert durch Laban) bedrohten frommen Juden zugesagt (vgl. SapSal 19,13–16). Die von Jakob in ihrer Wirkmacht erkannte und gelebte εὐσέβεια wird auch den Lesern der Sapientia als „alles überwindende Größe“ (παντὸς δυνατωτέρα)84 nahegelegt, wobei dann in der Fluchtlinie von SapSal 2,12; 6,18; 16,6; 18,4.9 unter εὐσέβεια „Gehorsam gegenüber dem Gesetz“ zu verstehen ist.85 Der Verfasser der Jakobsnotiz der Sapientia aktualisiert so die Überlieferung der Genesis und verfolgt damit – wie mit den anderen Miniaturen in SapSal 10 auch – ein paränetisches und parakletisches Ziel. Denn hie sihestu / das er durch vnd durch leret / Gott fürchten vnd trawen / Schreckt die jenigen mit Exempeln göttlichs zorns / so sich nicht fürchten / vnd Gott verachten. Widerumb tröstet die jenigen mit Exempeln göttlicher gnade / so jm gleuben und trawen / welchs nichts anders ist / denn der rechte verstand des ersten Gebots.86

Interpretiert man die Typisierung Jakobs (wie die der anderen Figuren in SapSal 10) und die verallgemeinernde Formulierung bei den Anspielungen auf die jüdische Überlieferung weitergehend als ein Mittel, den Text auch für heidnische Leser verstehbar zu machen,87 fügt sich SapSal 10 zu Form und Funktion der gesamten Sapientia als dem groß angelegten literarischen Versuch, in einem heidnischen Umfeld für das jüdische Verständnis von Gerechtigkeit, Weisheit und Frömmigkeit zu werben. Die Begabung Jakobs mit besonderer Erkenntnis durch die Gestalt der Weisheit, die ihre tendenzielle Parallele in der Vorstellung von der Inkarnation der himmlischen Weisheit in der Tora als dem Erbe für die „Gemeinden Jakobs“ (Sir 24,23) besitzt,88 kennzeichnet Jakob als einen 83 Zu dieser geschichtlichen Verortung der Sapientia siehe Winston, Wisdom, S. 20–25; Larcher, Sagesse I, S. 138–139; 155–161; Scarpat, Sapienza I, S. 21–24; Engel, Buch, S. 33– 34; Spieckermann, Seelen, S. 348–349; Blischke, Eschatologie, S. 44–49. 84 Vgl. auch Arist 229,2; Philo, decal. 52 (die εὐσέβεια als bester Anfang aller Tugenden); 1 Tim 4,8. In 3 Esr 3,12; 4,35.38 wird diese Qualifikation auf die ἀλήθεια bezogen. In weiterem Sinn kann natürlich auch auf 1 Kor 13,13 verwiesen werden (Scarpat, Sapienza II, S. 351). 85 So mit Neher, Wesen, S. 146. In der rabbinischen Tradition wird Jakobs Status als ‫חסיד‬ und ‫ צדיק‬ausdrücklich mit seiner Beziehung zur Tora begründet, was u. a. aus Gen 25,27 geschlossen wird (Butterweck, Ringkampf, S. 160–161). 86 So beschreibt treffend Luther, Schrifft, die Gesamtfunktion der Sapientia als „eine rechte auslegunge / vnd Exempel des ersten Gebots“ (II, S. 1702). 87 Schwenk-Bressler, Sapientia, S. 26, spricht in diesem Zusammenhang richtig von der „doppelten Lesbarkeit“ der Sapientia. 88 Vgl. auch Sir 24,8 und Bar 3,37–4,1(2) – gegen Spieckermann, Seelen, S. 366, der in der Sapientia kein Pendant zu Sir 24 entdeckt.

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wahren Mysten.89 Dass gerade der Stammvater Israels die Macht der εὐσέβεια, die als Ehrfurcht gegenüber den Göttern und den göttlichen Ordnungen auch in der paganen hellenistischen Welt einen enormen Wert besitzt, erfährt, führt den heidnischen Lesern die Frömmigkeit der Juden vor Augen. Das Zusammenspiel von Weisheit, Frömmigkeit, Gerechtigkeit, Einsicht und Beständigkeit lässt Jakob dann als die jüdische Alternative zu Sokrates, so wie ihn Xenophon in seinen Memorabilien zeichnet, erscheinen. In der Gestalt von SapSal 10,10–12 braucht der biblische Held weder den Vergleich mit Xenophons „bestem und glücklichstem Mann“ (ἄριστός τε ἀνὴρ καὶ εὐδαιμονέστατος)90 noch mit dem gleichfalls von Xenophon als Vorbild beschriebenen, von der Tugend (ἀρετή) auf dem rechten Weg geführten Herakles91 zu fürchten. Für den Verfasser von SapSal 10,1–11,1 hat Jakob – und mit diesem jeder Gerechte, der dem Vorbild Jakobs folgt – den Vergleich mit Sokrates wie mit Herakles längst für sich entschieden: dank der Gestalt der Weisheit und der Kraft der Frömmigkeit. Die Jakobsnotiz der Sapientia hat somit auch eine apologetische Tendenz.

5. Ausblick Die Kennzeichnung Jakobs als „Gerechter“ in SapSal 10,10–12 ist ein innerbiblischer Höhepunkt der Stilisierung des Erzvaters. Diese Höhenlinie findet jenseits der Hebräischen Bibel und der LXX eine doppelte, teilweise gebrochene Fortsetzung.92 Zu ihr gehört auch die Frage, die der Evangelist Johannes der Samaritanischen Frau am Jakobsbrunnen in Sychar in den Mund legt, ob Jesus „größer (μείζων) sei als unser Vater Jakob“ (Joh 4,12). Die Formulierung in Joh 4,12, die eine direkte sprachliche Parallele in der Kennzeichnung Jakobs als „größer als ein Mensch“ im apokryphen „Gebet Josephs“ hat,93 provoziert textstrategisch natürlich die Antwort „ja“: Jesus ist für Johannes der wahre 89 So

auch Schwenk-Bressler, Sapientia, S. 80. Mem. IV,8,11, vgl. auch Mem. I,6,12 im Gegenüber zu SapSal 10,11a (Scarpat, Sapienza II, S. 350). In diesem Zusammenhang ist auch auf die Aufzählung der vier Kardinaltugenden σωφροσύνη, φρόνησις, δικαιοσύνη und ἀνδρεία, welche die Weisheit lehrt, in SapSal 8,7 hinzuweisen (vgl. 4 Makk 1,18), sowie auf die Bestimmung der Ausrichtung der Tora auf εὐσέβεια, δικαιοσύνη, ἐγκράτεια „und die übrigen der Wahrheit gemäßen Güter“ bei Aristobul, 12,8 (Denis, Fragmenta, S. 223,30–32). 91 Xenophon, Mem. II,1,27–34; vgl. besonders II,1,27–28.32 mit den Motiven in SapSal 10,10–12 und dazu natürlich die Überlieferungen von Herakles’ Ringkämpfen (z. B. bei Apollodor, Bibl. II,105; 111; 115; 148). Zu einem Vergleich Jakobs mit Odysseus siehe schon Herder, Poesie, S. 294 (415). 92 Zur vielfältigen Rezeption Jakobs im Werk Philos, worauf hier nur punktuell verwiesen werden konnte, siehe Butterweck, Ringkampf, S. 62–71; Scarpat, Sapienza II, S. 310–319; von Gemünden, Jacob. 93 Ὁ Ἰακὼβ μείζων ἢ κατὰ ἄνθρωπον (zitiert nach dem bei Origenes, Philocalia 23,19,15– 16, mitgeteilten Fragment C; siehe dazu Denis, Fragmenta, S. 62; Smith, Prayer, S. 714; van der Horst / Newman, Prayers, S. 253). 90 Xenophon,

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Jakob (vgl. Justin, Dialog 100,3; 134,6). Gleichwohl setzt Joh 4,12 ebenso wie die hinter Joh 1,51 und seiner Rezeption von Gen 28,12 stehende Antitypik von Jakob und ( johanneischem) Christus die Vorstellung der Besonderheit Jakobs voraus. Möglicherweise spiegelt sich in Joh 1,51 und 4,5–42 eine auch in den palästinischen Targumim zu Gen 28,10–22 vorliegende Tradition wider.94 Spezifisch für die neutestamentliche Aufnahme des Bildes von den auf- und absteigenden Engeln in Gen 28,12 und der Zeichnung Jakobs als Offenbarungsempfänger in SapSal 10,10 ist aber, dass Jakob nun mit Jesus der Offenbarungsspender gegenüber gestellt wird: Während Jakob die βασιλεία τοῦ θεοῦ sieht, zeigt Jesus diese (Joh 3,3). Dementsprechend verstehen sich frühchristliche Gemeinden nun durch Christus in die göttlichen Geheimnisse eingeführt.95 Insofern der Evangelist Jesus als Offenbarer in die Fußstapfen der σοφία treten lässt, zeigt sich in SapSal 10,10–12 in nuce die zentrale traditions­ geschichtliche und theologische Bedeutung, welche die Sapientia als eine jüdische Synthese aus biblischer Tradition, aus hellenistischer Philosophie und Religiosität sowie aus apokalyptischen Weisheitsspekulationen für eine Theologie des Alten Testaments insgesamt besitzt.96 Ob sich der Verfasser des Ersten Timotheusbriefes auch vom Jakobsbild der Sapientia inspirieren ließ oder ob er lediglich an der im hellenistischen Judentum und frühen Christentum weit verbreiteten Wettkampfsprache partizipierte,97 wenn er auf das geoffenbarte Geheimnis der εὐσέβεια und deren allumfassenden Wert verweist (3,16; 4,8) und wenn er vom ἀγών des Glaubens spricht, ist schwer zu sagen. Sein Ratschlag in 1 Tim 6,12 jedenfalls scheint mir, zumal, wenn er vor dem Hintergrund von SapSal 10,10–12 gelesen wird, als Geburtstagsgruß für einen biblischen Theologen nicht unangemessen zu sein: Kämpfe den guten Kampf des Glaubens; ergreife das ewige Leben, wozu du berufen bist und bekannt hast das gute Bekenntnis vor vielen Zeugen. (1 Tim 6,12)

94 Clarke, Dream, S. 373–375; Massonnet, Targum, S. 91–100. Zur Rezeption von Gen 28,12 in Joh 1,50–51 siehe auch von Gemünden, Jacob, S. 369. 95 Vgl. 1 Kor 2,7; 4,1; Eph 1,9; 3,3; Kol 1,26–27; 2,2 u. v. a.; s. o. Anm. 55 und 58. 96 Siehe dazu ausführlich Spieckermann, Seelen. 97 S. o. Anm. 76 sowie Hebr 12,1; Phil 1,20; Kol 2,1; 1 Thess 2,2; 2 Tim 4,7.

Emotionen in den Gebeten der Sapientia Salomonis Abstract: This article provides an overview of terms for prayer in the Wisdom of Solomon, classifies the prayers in Wisdom according to form, function and contents, and evaluates the names of God and the divine epithets in these prayers. It traces the essential elements of Wisdom’s theory of prayer and identifies the divine and human emotions expressed in the prayers within their literary and traditio-historical context. Special attention is devoted to (1) the divine emotions of “wrath” and “mercy,” (2) an anthropological and theological interpretation of the prayer of Solomon in Wis 8:21–9:18, and (3) the text-pragmatic function of selected human affects and emotions mentioned in the book of Wisdom such as “love,” “joy,” “envy,” “desire” and “shame.”

1. Vorbemerkung Die im späten 1. Jh. v. Chr oder frühen 1. Jh. n. Chr. wohl in Alexandria verfasste Sapientia Salomonis bietet eine einzigartige Mischung aus weisheitlichen Lehren in der Tradition der Proverbien und Ben Siras und einer spezifischen Form der Auslegung der Exodusüberlieferung des Pentateuchs. Dabei kommen – wie es für weisheitliche und in einem umfassenden Sinn auf menschliche Bildung (παιδεία) zielende Schriften typisch ist1 – auch Emotionen, deren Wesen, Funktion und Umgang mit ihnen zu Wort. Die Darstellung von Emotionen in den Gebeten der Sapientia Salomonis kann nun auf zwei Vorträgen aufbauen, die jeweils im Rahmen einer Konferenz der International Society for the Study of Deuterocanonical and Cognate Literature (ISDCL) gehalten wurden. Auf der Inaugural-Conference der ISDCL im Jahr 2003 hielt Helmut Engel einen programmatischen Vortrag zum „Gebet im Buch der Weisheit“.2 Engel arbeitete damals die große kompositionelle und textpragmatische Bedeutung heraus, die das Gebet in der Sapientia besitzt. Dabei orientierte sich Engel besonders an dem Phänomen, dass im dritten Buchteil (SapSal 11,2–19,22) das Handeln Gottes in der Geschichte Israels häufig in der 2. P. Sg. beschrieben wird und dass die Darstellungen des Wirkens der Weisheit und Gottes immer wieder durch kurze lobpreisende Anreden Gottes im „Du“ durchbrochen werden. Auf einer eigens dem Thema „Emotions from Ben Sira to Paul“ gewidmeten Tagung der ISDCL im Jahr 2010 nahm Friedrich V. Reiterer eine Bestandsaufnahme der „Emotionen, Gefühle und Affekte im 1 Vgl.

dazu jüngst Brown, Wonder, S. 10–11. Gebet.

2 Engel,

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Buch der Weisheit“ vor.3 Dabei wies Reiterer auf zwei grundlegende Beobachtungen hin: (1) Emotionen sind kulturell bestimmt und spielen eine große Rolle bei der Konstruktion von sozialen und religiösen Identitäten. (2) Die methodische Fokussierung auf Emotionen, die in einem Text artikuliert sind, kann zum tieferen Verständnis eines Textes beitragen, und zwar sowohl im Blick auf seine ursprünglichen Verfasser und Adressaten als auch im Blick auf seine späteren Rezipienten. Ich möchte hier versuchen, eine Synthese aus den Ausführungen von Engel und Reiterer zu bilden. Ich werde dies in zwei Schritten tun. Zunächst gebe ich einen knappen Überblick über Begriffe und Formen des Betens in der Sapientia. Danach untersuche ich ausgewählte Gebete in der Sapientia auf die in ihnen angesprochenen göttlichen und menschlichen Emotionen. Dabei soll auch in den Blick genommen werden, wie Emotionen in der Sapientia auf bestimmte Werte bezogen sind, wie sich in ihnen religiöse Werturteile zeigen und wie sie religiöses Verhalten und Handeln bedingen.4

2. Begriffe und Formen des Betens in der Sapientia Salomonis Terminologisch zeichnet sich die Sapientia durch eine Vielzahl unterschiedlicher Wörter für Beten und Gebet aus. Sie finden sich ausschließlich im zweiten und dritten Buchteil (SapSal 6,22–11,1; 11,2–19,22): ἀξιόω (13,18);5 αἰνέω (10,20; 19,9) / (προαναμέλπω c.)6 αἶνος (18,9);7 αἰτέω (13,19; [19,11]); δέομαι (8,21; 16,25; 18,2) / (δέησις [16,20]);8 δίδωμι (Imperativ / 3. P. Sg. Optativ / Konjunk­ tiv, 7,15; 8,21; 9,4),9 ἐντυγχάνω (8,21; 16,28); ἐπιβοάω (14,1); ἐπικαλέομαι (7,7; 11,4; 13,17) / προσλαλέω (13,17); εὐχαριστία (16,28); εὔχομαι (7,7) / προσεύχομαι (13,17) / προσευχή ([12,20];10 18,21); ἱκετεύω (13,18; [19,3]); προσλαλέω (13,17); ὑμνέω (10,20).11

Formal verteilen sich diese Wörter für Beten und Gebet auf drei Textgruppen. Eine erste Gruppe bilden ausgeführte Gebete: Hier wendet sich das betende Ich im „Du“ an Gott und spricht eine explizite Bitte aus. Dazu zählt in erster Li3 Reiterer,

Emotionen. Wertbezug von Emotionen vgl. bereits die klassischen Definitionen von πάθη bzw. per­turbationes bei Aristoteles, rhet. 1378a; Diog. Laert. vit. IV,111; und Cicero, Tusc. IV,7 sowie zuletzt bei Brown, Wonder, S. 10–11. 5 Vgl. Jer LXX 11,14; Dan LXX 6,6.8–9; 1 Clem 51,1; 53,5; 55,6; 59,4; Herm 22,3. 6 Das Wort προαναμέλπω findet sich laut TLG in der Gräzität bisher nur in SapSal 18,19 und dürfte ein Neologismus sein. 7 Vgl. Jdt 16,1 ( par. ψαλμός). 8 Nur in B, O, Minuskel 637; vgl. Syr, Arab. 9 Zu δίδωμι als Terminus der Erhörung des Gebets vgl. 7,7; 11,7. In 7,15 ist möglicherweise δέδωκεν zu lesen (so Georgi, Weisheit, S. 425 Anm. 15, im Anschluss an die Minuskel 68, LaV und Arab). 10 Nur in der Minuskel 637. 11 Die allgemeinen Begriffe für religiöses Verehren wie σέβομαι (15,6.18, vgl. εὐσέβεια, 10,12) und θρησκεύω (11,15; 14,16; vgl. θρησκεία, 14,18.27) bleiben hier unberücksichtigt. 4 Zum

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nie das große Gebet Salomos in 9,1–18,12 das zusätzlich eine eigene narrative Gebetsüberschrift mit zwei Begriffen für „Beten“ besitzt (8,21).13 Gemäß einer engen Gebetsdefinition handelt es sich in 9,1–18 um das einzige echte Gebet in der Sapientia. Daneben lässt sich auch das mittels des Gebetsrufs ἐμοὶ δὲ δῴη in 7,15–22a eingeleitete Gebet in diese Gruppe einordnen. Eine zweite Gruppe sind Berichte über Gebete bzw. über das Beten eines einzelnen oder einer Gruppe. Diese Perikopen verdeutlichen in besonderer Weise das Gebetsverständnis der Sapientia. Sie erfüllen die Funktion, zum richtigen Beten anzuleiten. Zu dieser Textgruppe gehören (1) der Bericht Salomos über den Anlass, Gott um Weisheit zu bitten (7,7 mit der Einleitung in 7,1–6 und der Ausführung in 7,8–14), (2) die Mitteilungen über Gotteslob und Klage der Exodusgeneration in 10,20; 11,4; 16,25; 18,9 und 19,8–10(11–12), (3) die Ausführungen über das verfehlte Gebet der „Götzendiener“ in 13,17–14,1 sowie (4) die Würdigung der Fürbitte, exemplifiziert an der Fürbitte Aarons, in 18,20–25. Zu dieser Gruppe lässt sich auch noch die aus dem Mannawunder in Ex 16 gezogene Konsequenz, Gott mit Dank und Gebet zu begegnen, rechnen (16,28), auch wenn hier weniger ein Gebet mitgeteilt wird, als dass der Leser selbst zum Beten aufgefordert wird. Charakteristisch für die Mehrzahl der mitgeteilten Gebete ist, dass in ihnen von Gott in der 2. P. Sg. gesprochen wird. Dies ist einerseits der grundsätzlichen Struktur der Sapientia geschuldet, die sich – wenn auch immer wieder durch Exkurse14 unterbrochen – von 9,1 bis 19,22 als an Gott im „Du“ gerichtete Rede Salomos gibt.15 Andererseits wird dadurch das vergangene Geschehen vergegenwärtigt und der Leser mit in die Gemeinschaft seiner betenden Vorfahren integriert. Eine dritte Gruppe von Gebeten bilden hymnische Anreden Gottes in der 2. P. Sg., in denen Gott hinsichtlich seines allgemeinen Wesens und Wirkens gelobt wird. Einen eigenen Gebetsterminus weisen diese Texte ebenso wenig auf wie Elemente der Bitte, der Klage oder des Danks. In ihrem Mittelpunkt steht ein allgemeiner Lobpreis Gottes. Ich bezeichne diese Form des Gebets als generelle Doxologie. Solche Doxologien unterbrechen immer wieder die sich von 10,1 bis 19,22 erstreckende Beschreibung und Interpretation des Handelns Gottes und der Weisheit. Durch diese Hymnen werden der einstige Exodus und die Bewahrung Israels in der Wüste verallgemeinert. Die erinnerte Geschichte wird durch die Anrede Gottes im Munde Salomos als des exemplarischen Beters zur gebeteten Geschichte und zum Anlass der Anrede Gottes seitens der Leser der Sapientia. Dieser Gruppe lassen sich vor allem folgende Texte zuweisen: 11,20–12,2; 12,15–18; 15,1–3(4–6); 16,13; 17,1a; 19,22. 12 Zu

diesem Gebet siehe grundsätzlich Gilbert, La structure. δέομαι sowie indirekt δίδωμι. 14 Vgl. 13,1–14,2; 14,7–31; 17,3–21. 15 Nach einem weiten Gebetsverständnis hingegen ließe sich der gesamte Komplex von 9,1–19,22 dementsprechend als Gebet ansprechen. Doch handelt es sich literaturgeschichtlich eher um eine schriftgelehrte Geschichtsreflexion mit doxologischen Elementen. 13 Ἐντυγχάνω,

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Mit dieser Gruppe textpragmatisch eng verwandt und von ihr nicht immer deutlich zu trennen, sind Beschreibungen des Handelns Gottes in der 2. P. Sg. im Kontext der Ausführungen zum Exodus und zur Wüstenwanderung Israels. Diese Passagen enthalten keine eigentliche Bitte, Danksagung, Klage oder generelle Lobpreisung. Sie stehen formal an der Seite der sogenannten Geschichtspsalmen oder Geschichtssummarien des Alten Testaments (vgl. Ps 78; 105; 106; Neh 9; Jdt 16 u. v. a.). Sie bilden eine eigentümliche poetische Form von Schriftauslegung im Modus der Rede zu Gott und zu einem menschlichen Auditorium und stellen eine Mischung aus Doxologie und Reflexion dar. Ich bezeichne sie als doxologische Reflexionen.

3. Emotionen in den Gebeten 3.1 Emotionen Gottes Als wesentliche Emotionen Gottes, die in den Gebeten der Sapientia angesprochen werden, erscheinen ἔλεος und ὀργή. So richtet sich das große Gebet Salomos um Weisheit in 9,1–1816 an den θεὸς πατέρων und an den κύριος τοῦ ἐλέους (9,1), erweitert um die hymnische Explikation der Erschaffung des Kosmos und des Menschen (9,2). Die Kombination der Epitheta θεὸς πατέρων und κύριος τοῦ ἐλέους ist innerhalb der LXX nur hier belegt. Sie dürfte eine bewusste Bildung des Verfassers von SapSal 9 sein (vgl. 3 Kgtm 3,6 + 7). Im Hintergrund steht einerseits die aus dem Pentateuch bekannte Rede vom „Gott der Väter“,17 andererseits die vor allem in der sogenannten Gnadenformel in Ex 34,6–7 beheimatete Vorstellung von der Barmherzigkeit Gottes.18 Mit dieser Anrede Gottes stellt sich der betende Salomo in die Reihe der mit Abraham beginnenden und über Mose weiter reichenden Reihe exemplarischer Beter Israels. Beide Epitheta unterstreichen den besonderen Charakter des Gottes Israels als eines Gottes der Beziehung. So steht ἔλεος, wie seine hebräischen Standardäquivalente ‫ חן‬und ‫חסד‬, für die heilvolle Zuwendung Gottes, hier entfaltet in der durch den λόγος und die 16 V. 18 wird häufig schon als Einleitung zu den Ausführungen über das Wirken der Weisheit in der Geschichte angesehen (vgl. A. Schmitt, Weisheit, S. 49; Hübner, Weisheit, S. 131), doch dürfte der Vers noch zum direkten Gebet Salomos gehören (so mit Engel, Buch, S. 147; Neher, Wesen, S. 121; Vignolo, Wisdom, S. 256). Zum literarischen Hintergrund von SapSal 9,1–18 siehe 3 Kgtm 3,6–9 / 2 Chr 1,8–10. 17 Vgl. Gen 43,23; 46,3; Ex 3,13.15–16; 4,5; Dtn 4,1; 6,3; 12,1; 27,3; 1 Chr 5,25; 29,18; 2 Chr 30,7; 34,32–33; Esr 8,28; OrMan 1 u. ö. 18 Vgl. Jo 2,13; Jon 4,2; Ps 86,15; 103,8; 145,8; Neh 9,17. Hinzu kommen mehr als 20 Anspielungen, in denen einzelne Elemente der Gnadenformel zitiert werden, sowie außerkano­ nische Belege (CD-A II,4; 1QHa VIII,24; 4Q511 Frgm. 52; 54–55; 57–59,1 [Kol. III,1]); vgl. dazu Spieckermann, Barmherzig, S. 1–18; Scoralick, Güte; Franz, Gott, sowie Witte, Barmherzigkeit (in diesem Band S. 83–105).

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σοφία gewirkten Erschaffung der Welt und des Menschen.19 Zurückbezogen auf das Verständnis von ἔλεος als göttlicher Emotion, lassen sich der λόγος und die σοφία aus dem ἔλεος Gottes ableiten: Die Erschaffung von Welt und Mensch in ihrer Relation zu Gott entspringt der Barmherzigkeit Gottes. Anders ausgedrückt: Am Anfang der Schöpfung steht eine Emotion Gottes, das Heraustreten Gottes aus sich selbst. Diese Emotion ist im Gegensatz zu gängigen psychologischen Definitionen von Emotionen keine Reaktion auf einen von außen kommenden Reiz,20 sondern entspringt dem Wesen Gottes selbst.21 Eine solche emotionale Kennzeichnung Gottes zieht sich durch das gesamte Gebet Salomos in Kap. 9: So zielt die Bitte Salomos um Weisheit letztlich darauf zu lernen, was Gott wohl gefällt (εὐάρεστος, 9,10),22 zu tun, was Gott angenehm ist (προσδεκτός, 9,12),23 und unterrichtet zu sein über das, was Gott gefällt (ἀρεστά, 9,9.18).24 Entsprechend der Eröffnung des Gebets mit der Anrede Gottes als „Herr der Barmherzigkeit“, die zugleich ein Appell an Gott ist, immer wieder ἔλεος zu erweisen, endet das Gebet in betonter Schlussposition mit dem Wort ἐσώθησαν („sie, d. h. das Gottesvolk, wurden gerettet“, 9,18). Dies ist zugleich eine Zusage an die Leser der Sapientia, dass Gott sein Volk immer wieder retten wird.25 Das einmalig in der LXX im Rahmen einer doxologischen Reflexion in SapSal 16,7 gebrauchte Epitheton σωτὴρ πάντων liegt genau auf dieser Linie.26 Im Zentrum des grundsätzlichen Lobpreises der universalen Macht Gottes in 11,20–12,2 steht das Bekenntnis zu Gottes Barmherzigkeit und Liebe zu seiner Schöpfung. Gottes Erbarmen (ἐλέω) und Lieben (ἀγαπάω) sind Folge seiner alles umfassenden Macht. Mit dem LXX-Hapaxlegomenon φιλόψυχος („das Leben liebend“)27 wird die sich durch die gesamte Sapientia ziehende Vorstellung zusammengefasst, dass Gott als der Schöpfer ein Freund des Lebens ist (11,26). Gott liebt alles, was lebt (11,24, vgl. 1,13), weil er selbst alles mittels seines πνεῦμα belebt hat (12,1) – Schöpfersein und Hassen (μισέω, βδελύσσω) schließen sich aus (11,24b). Speziell gilt diese Liebe des „Allherrschers“ (ὁ πάντων δεσπότης) (1) der Weisheit (8,3), (2) Israel als seinen Kindern (16,26) sowie (3) dem Weisen 19 Zur

Identität von λόγος und σοφία vgl. Neher, Wesen, S. 123. McIntosh, Emotionen, S. 1258–1259. 21 Vgl. Vignolo, Wisdom, S. 263. 22 Vgl. 4,10; das Wort εὐάρεστος erscheint in der LXX nur in SapSal 4,10 und 9,10, vgl. aber TestDan 1,3; Philo, spec. I,201; virt. 67; Röm 12,1–2; 14,18; 2 Kor 5,9; Phil 4,18 u. a. 23 Vgl. Spr LXX 11,20; 16,15. 24 Vgl. SapSal 4,14. Gegen Georgi, Weisheit, S. 436, steht τὰ ἀρεστά nicht für das „Beste“, sondern für das Gott Wohlgefällige (vgl. Sir 48,22; Jes LXX 38,3; Tob 4,21; Dan LXX 4,37; siehe dazu auch Fichtner, Weisheit, S. 36; Winston, Wisdom, S. 206; Engel, Buch, S. 158). 25 Vgl. 10,4; 14,4; 16,7; 18,5 sowie 16,6; 18,7. 26 Vgl. 1 Kgtm 10,19; PsSal 16,4; Philo, fug. 162,3; Deus 156,6; 1 Tim 4,10. 27 Vgl. im paganen Bereich mit dem abwertenden Nebensinn des Hängens am Leben: Eu­ ripides, Hec. 348; Phoen. 597 („sich an das Leben klammernd“); Marc Aurel, X,8. 20 Vgl.

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(7,28) und dem Gerechten (4,10). Zumal in der dem Gerechten mittels Entrückung geschenkten Überwindung des Todesgeschicks (4,10–11)28 zeigt sich der enge Konnex von Gottes Liebe und Wille zum Leben. Dementsprechend leitet die Sapientia den Tod auch nicht aus einer Emotion des Schöpfers ab, sondern aus einer negativen Emotion, nämlich dem Neid (φθόνος),29 des διά­ βολος (2,24). In scharfem Kontrast dazu steht die „Freundschaft Gottes“ (φιλία θεοῦ, 7,14, vgl. 7,27). Das Motiv wurzelt biblisch in der Bezeichnung Abrahams als „Freund / Geliebtem Gottes“30 und in der Vorstellung von der Freundschaft zwischen Gott und Mose.31 Es verbindet die Sapientia mit Ausführungen zur Beziehung zwischen Gott und Mensch bei Plato, den Kynikern und der Stoa.32 Im Rahmen des in 7,1–14 mitgeteilten Gebets Salomos um Weisheit begründet dieses Motiv die Bitte um Weisheit, denn Weisheit bewirkt Freundschaft bei Gott. Sie gilt exemplarisch dem um Weisheit betenden Salomo (vgl. 7,7),33 ist aber grundsätzlich jedem Weisen zugänglich. Die σοφία erfüllt hier – wie in Spr 8,30–31 – eine besondere emotionale Funktion, indem sie die Freude Gottes provoziert und Gott zur Gewährung von Freundschaft veranlasst. Auf den ἔλεος Gottes rekurriert sodann die ausführliche Doxologie in 15,1– 3. Die Doxologie geht möglicherweise auf einen ursprünglich selbständigen Hymnus zurück, der redaktionell um die V. 4–6 erweitert wurde.34 In Weiterführung von Ex 34,6–7 stellt SapSal 15,1–3 ein Bekenntnis zu Gottes gütiger, wahrhaftiger und langmütiger Leitung des Alls dar. Erneut wird dem ἔλεος Gottes eine universale (τὰ πάντα) und eine partikulare Dimension zugewiesen (vgl. 11,23). So artikuliert sich der ἔλεος in der Zugehörigkeit zu Gott35 und in der Vergebung der Sünden (15,2).36 Zielpunkt des kleinen Hymnus ist die Vermittlung von Gerechtigkeit und Unsterblichkeit (ἀθανασία),37 die beide aus der Erkenntnis Gottes fließen (15,3). Wenn aber das Wesen Gottes Barmherzigkeit ist, dann gründen in der Barmherzigkeit Gerechtigkeit und Unsterblichkeit. 28 Vgl.

Gen 5,22–24. VitAd 9–17 und dazu Kaiser, Anthropologie, S. 350–351; 359; von Nordheim-­ Diehl, Neid. 30 Vgl. Jes 41,8; 2 Chr 20,7; Jak 2,23; Jub 30,20–21; SibOr 2,245; TestAbr A 1,6; ApkSedr 9,1; CD-A III,2; 4Q252 Frgm. 1,II,8; Jes LXX 51,2; Dan LXX 3,35. 31 Ex 33,11; vgl. Sir 45,1 (siehe dazu Witte, Mose, in diesem Band S. 123–149). Zu Salomo als von Gott Geliebten siehe auch 2 Sam 12,24; Neh 13,26; zu David: 2 Kgtm 7,18 / 1 Chr LXX 17,16. 32 Vgl. Plato, leg. 716cd; Tim. 53d; symp. 193b; rep. 621c; vgl. Winston, Wisdom, S. 189. 33 Vgl. 2 Sam 12,24; Neh 13,26. 34 Georgi, Weisheit, S. 455. 35 Vgl. außerhalb von Gebeten in 3,9 und in 4,15 (hier jeweils in einer Reihe mit χάρις) sowie in 6,6. 36 Vgl. 10,13; 11,23; zum Zusammenhang von „Sünden“ bzw. „Sündenvergebung“ und „Emotionen“ im Bereich des Sirachbuchs siehe Urbanz, Emotionen, S. 138–140. 37 Vgl. 3,4; 4,1; 8,13.17. 29 Vgl.

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Die Barmherzigkeit Gottes ist die Basis der Gemeinschaft mit Gott und der Überwindung des Todes. Schließlich erscheint der ἔλεος Gottes auch in den doxologischen Reflexionen: zum einen in 12,22 als Objekt der Hoffnung Israels im Gericht,38 zum anderen in 16,10 als Begründung für die Bewahrung Israels, speziell im Rückblick auf die Rettung Israels vor den feurigen Schlangen in der Wüste (mit Bezug auf Num 21,9, vgl. Mk 16,17–18). Hier dient der ἔλεος als Mittel des Heilens (ἰάομαι). Der ἔλεος übernimmt damit eine Rolle des heilenden Gottes selbst.39 So wird hier eine Emotion Gottes zur Funktion. Dieser funktionale Aspekt des göttlichen ἔλεος, der sich in verschiedenen Typen des Gebets der Sapientia – und darüber hinaus in weiteren Sprachformen der Sapientia zeigt – gilt auch für dessen wesentlichen emotionalen Oppositionsbegriff, die ὀργή.40 Analog zur Verwendung von ὀργή in der LXX bzw. seiner hebräischen Äquivalente (‫אף‬, ‫זעם‬, ‫זאף‬, ‫חמה‬, ‫חרון‬, ‫ כעס‬/ ‫כעש‬, ‫עברה‬, ‫קצף‬, ‫ )רגז‬wird ὀργή in der Sapientia als Metapher für Gottes richtende Tätigkeit und als Chiffre für seine strafende Gerechtigkeit verwendet.41 Besonders instruktiv für den Zusammenhang von Gebet und der Emotion des göttlichen Zorns ist der Bericht über die Fürbitte Aarons in 18,20–25.42 Die Passage bezieht sich auf die Murrerzählung in Num 16,41–50 (so nach der Zählung der LXX, MT: Num 17,6–15). Dabei konzentriert SapSal 18 die Abwendung des göttlichen Zorns, der über die gegen Mose und Aaron rebellierenden Israeliten entbrennt, auf die Fürbitte (προσευχή) und das Räucheropfer (θυμίαμα) Aarons (18,21). Entsprechend dem auch sonst in der Sapientia verwendeten Stilmittel der Anto­nomasie wird auf die namentliche Nennung des Helden verzichtet.43 Für die in der biblischen Tradition gebildeten Adressaten der Sapientia ist die Identifikation der einzelnen Helden aufgrund der mit diesen verbundenen Motive eindeutig. Durch die Auslassung der Namen wird das Vorbild der Gerechten hervorgehoben sowie die Möglichkeit der Applikation und der Identifikation (möglicherweise auch nichtjüdischer Leser) gesteigert. Gegenüber der Vorlage im Numeribuch ist in SapSal 18 die Gewalt des göttlichen Zorns besonders betont. So wird die gesamte Perikope durch den Begriff ὀργή gerahmt (18,20 / 25). Als Synonyme zu dem dreimal verwendeten

38 Vgl. das Motiv der Milde (ἐπιείκεια) und Nachsicht (φειδώ) des göttlichen Richters in 12,18. 39 Vgl. Ex 15,26; Ps 6,3; 102(103),3. 40 Vgl. begrifflich konzentriert in 19,1 (ἀνελεήμων θυμός). 41 Vgl. Witte, Barmherzigkeit (in diesem Band S. 103–105). 42 Die Form des Berichts wird in V. 20 einmalig durch eine direkte Anrede Gottes im „Du“ durchbrochen. 43 Vgl. die Salomofiktion, welche die gesamte SapSal durchzieht (vgl. 6,25; 7,1; 8,10–11; 9,7–8.12) sowie den Verzicht auf die namentliche Nennung der Figuren in 10,1–11,1; vgl. zum Stilmittel der Antonomasie auch 1 Hen 93,1–10 + 91,12–17.

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Wort ὀργή treten θυμός (18,21)44 und χόλος (18,22). Die von dieser göttlichen Emotion ausgehende Kraft wird damit ebenso unterstrichen wie das Wesen des Gottes Israels, der als ein ‫ אל קנא‬bzw. θεὸς ζηλωτής auf das Verhalten seines Volkes reagiert.45 Die göttliche ὀργή ist hier gleichermaßen Ausdruck der Heiligkeit Gottes wie Funktion seiner Gerechtigkeit. Entsprechend der Asymmetrie, die zwischen göttlichem ἔλεος und göttlicher ὀργή in der Gnadenformel herrscht, insofern der ἔλεος Gottes immer stärker ist als seine ὀργή, wird aber auch in SapSal 18 die Gewalt der ὀργή relativiert. So wird der Zorn im Rahmen der Perikope zweimal als „Test“ (πεῖρα, 18,20.25) und als zeitlich befristet (18,20) bezeichnet. Zudem verliert der Zorn Gottes etwas von seiner Dynamik, wenn überwiegend nominal und nur einmal verbal von seinem „Bleiben“ (μένω) gesprochen wird.46 Das Auftreten Aarons zeigt, dass die göttliche ὀργή ebenso, wie sie vom Menschen veranlasst wurde, vom Menschen beeinflusst werden kann. Mittel der Abwendung und Beendigung der göttlichen ὀργή sind menschliche Untadeligkeit (ἄμεμπτος) – ein Prädikat, das in der LXX namentlich nur Abraham (Gen 17,1, vgl. SapSal 10,5), Hiob (Hi 1,1.8; 2,3) und Esther (Est 16,13 / Add Est E 13) beigelegt wird –,47 die Fürbitte und das Opfer sowie die Erinnerung Gottes an die mit den Vätern Israels geschlossenen Bünde (18,22). Dem λόγος des Gottesknechts (θεράπων)48 kommt hier die Macht über die göttliche Emotion des Zorns zu (18,22). Im Kontext der doxologischen Reflexionen erscheint die göttliche ὀργή in 11,9–10 (mit Bezug auf Dtn 8,2–5) als Beispiel der Bestrafung der Ägypter gegenüber der Prüfung Israels, was metaphorisch durch den Kontrast zwischen einem richtenden König und einem erziehenden Vater (vgl. 2,16; 14,3) ausgedrückt wird, sowie in 16,5 (mit Bezug auf Num 21,4–9). 3.2 Emotionen des Menschen Menschliche Emotionen spielen in den Gebeten der Sapientia eine geringere Rolle als die eben angesprochenen Emotionen Gottes. Aber auch im Vergleich mit Gebeten in anderen Büchern der Hebräischen Bibel und der LXX, zumal mit dem Buch der Psalmen, werden nur wenige Emotionen in den Gebeten der Sapientia erwähnt. Dabei sind menschliche Emotionen in den Gebeten der Sapientia auf die ausgeführten Gebete und deren Kontext sowie auf die Berichte 44 Vgl. 19,1 sowie außerhalb eines Gebetskontexts in 5,22; zu θυμός als negative menschliche Emotion vgl. SapSal 10,3 (mit Bezug auf Kain). 45 Vgl. Ex 20,5; 34,14; Dtn 6,15 sowie SapSal 5,17 (vgl. Dtn LXX 29,19; 4 Kgtm 19,31; Jes LXX 37,32; 63,15). 46 So verwendet die gesamte Sapientia nicht die sonst in der LXX für „das Entbrennen“ oder „Losbrechen“ des göttlichen Zorns gebrauchten Verben ὀργίζω, θυμόω oder ἐκκαίω, vgl. ἐκχέω (Sir 16,11; 36,6); ἐλλαίω (Dtn 29,19). 47 Vgl. auch noch SapSal 10,15 im Blick auf das aus Ägypten gerettete Gottesvolk und zur Sache Engel, Gebet, S. 305. 48 Vgl. 10,16: Mose.

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über Gebete beschränkt. Zwar werden auch menschliche Emotionen in den Geschichtsrückblicken des zweiten und dritten Buchteils, die von einfachen oder reflexiven Doxologien durchbrochen werden, benannt, sie stehen dort aber nicht in einem direkten formalen oder inhaltlichen Bezug zum Gebet.49 In der Einleitung zu dem bereits vorgestellten großen Gebet in 9,1–18 lässt der Autor den fiktiven Salomo sagen, er habe „aus ganzem Herzen“ (ἐξ ὅλης τῆς καρδίας) zu Gott gebetet (8,21). Die Formulierung ἐξ ὅλης τῆς καρδίας ist typisch für alttestamentliche Frömmigkeitssprache und findet sich breit gestreut über das gesamte Alte Testament, nicht nur in Gebeten.50 Sie steht für die Ausrichtung der gesamten Person auf Gott hin und umfasst den Menschen in seiner Rationalität, Moralität und Emotionalität. Insofern Salomo hier „aus ganzem Herzen“ betet, steht er in der Tradition des Betens und Bekennens, wie es nach dem Deuteronomium Mose Israel gelehrt hat (vgl. Dtn 4,29; 6,5). Salomo erscheint so als treuer Schüler des Schema Israel. Abgeschwächt könnte man auch in der Reflexion über die menschliche Erkenntnis,51 die in 9,13–16 in das Gebet in Kap. 9 eingebettet ist, einen emotionalen Aspekt entdecken, wenn der betende Salomo die rhetorische Frage stellt, wer den Willen Gottes begreifen (ἐνθυμέομαι) könne (9,16b). So schwingt in dem Begriff ἐνθυμέομαι immer auch ein emotionaler Aspekt mit.52 Dieser Aspekt begegnet auch in dem zweiten, kürzeren Gebet Salomos um Weisheit in SapSal 7,15, in dem Salomo darum bittet, Gott möge ihm geben, die ihm gewährten Dinge angemessen in seinem θυμός zu bewegen, d. h. zu bedenken (ἐνθυμέομαι). Schließlich endet die Reflexion über die menschliche Erkenntnisfähigkeit mit dem negativ konnotierten emotionalen Hinweis, der Mensch erkenne selbst das, was vor Augen liegt, nur mit Mühe (πόνος, 9,16).53 In den Berichten über Gebete bzw. über Beten begegnen menschliche Emotionen an sechs Stellen (in 7,7; 10,20; 11,4; 18,9; 19,8–10[11] und in 13,17–19 mit 14,1). In 7,7 berichtet Salomo über sein Beten (εὔχομαι, ἐπικαλέομαι) um Einsicht und Weisheit. Anlass der Bitte ist die Erkenntnis der allgemeinen Geschöpflichkeit und Sterblichkeit (7,1; vgl. 9,5). Folge des Gebets ist die Gabe des Geistes der Weisheit, der zur leidenschaftlichen Liebe der Weisheit (7,10),54 49 Eine gewisse Ausnahme stellt die Notiz über Jakob in SapSal 10,10–12 dar, insofern der vor dem Zorn seines Bruders fliehende Jakob lernt, dass Frömmigkeit (εὐσέβεια), zu der auch das Gebet gehört, stärker ist als alles andere, vgl. dazu Witte, Jakob (in diesem Band S. 191–209). 50 Vgl. Dtn 4,29; 6,5; 10,12; 11,13; 13,4; 26,16; 30,2.6.10; 2 Chr 15,12; Jo 2,12; Zeph 3,14; Jer 3,10; 24,7; 4 Makk 7,1,8; 13,13. 51 Vgl. 1 Kön 3,9; Spr 30,1–4; Hi 11,7–8; 40,3–5; 42,1–6; Pred 8,16–17; Sir 18,4–7; 24,28–29; 43,27–33; Bar 3,29–31; Jes 40,13–14; 55,8–9; 1 Hen 93,11–14 52 Vgl. Gen 6,6; Dtn 21,11; Jos 6,18; 7,21; 1 Makk 6.8; Sir 16,20 u. a. 53 Zur Klassifikation von πόνος (vgl. SapSal 3,15; 5,1; 8,7.18; 10,9–10; 15,4; 19,16) als negative Emotion vgl. Reiterer, Emotionen, S. 283–284. 54 Vgl. 6,12; 8,2 (φιλέω) und dazu Priotto, Temple, S. 268.

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zur Freude über die Güter des Lebens (7,12),55 zur Weitergabe der Weisheit ohne Neid (7,13) und zur Freundschaft mit Gott (7,14) führt. Während die Beschreibung der conditio humana im Prolog des Betens Salomos (7,1–6) nur die eine, hier offenbar negativ besetzte Emotion der nächtlichen Lust (ἡδονή) erwähnt (7,2),56 nennt der Epilog (7,8–14) mit der Liebe, der Freude, der Neidlosigkeit und der Freundschaft mit Gott ein ganzes Set positiv geprägter Emotionen. Die in Folge des Gebets gewährte Weisheit betrifft den Menschen nicht nur in seiner Ratio und in seinem Ethos, sondern setzt auch positive Emotionen frei. Dieser emotionale Aspekt des Wesens und Wirkens der Weisheit prägt, nebenbei bemerkt, die gesamte Darstellung der σοφία in der Sapientia, zumal die Passagen, in denen diese hymnisch beschrieben wird (vgl. SapSal 7,22–8,9).57 In 10,20 referiert Pseudo-Salomo den Lobpreis der als „Gerechte“ bezeichneten Israeliten, die aus Ägypten auszogen.58 Dabei wird das Schilfmeerlied aus Ex 15 prosaisch zusammengefasst als ein Preisen (ὑμνέω) und Besingen (αἰνέω) des Namens (vgl. Ex 15,3)59 und der Hand Gottes (vgl. Ex 15,6).60 Ausgangspunkt des Gebets ist die Erfahrung der Rettung, die sich im einmütigen (ὁμοθυμαδόν) Gebet der Geretteten artikuliert. Ermöglichung des Gebets ist das Wirken der Weisheit, die selbst den Mund der Stummen öffnet.61 Für unser Thema beachtenswert ist die Betonung, dass dieses Gebet ὁμοθυμαδόν erfolgte. Damit wird zum einen der Gegensatz zwischen der Gemeinschaft der Gerechten (δίκαιοι), hier verkörpert durch Israel beim Exodus, und den Frevlern (ἀσεβεῖς), hier verkörpert durch die Ägypter,62 betont. Zum anderen ergeht an die Adressaten (die „Gemeinde“) der Sapientia der Aufruf, selbst einmütig Gott zu loben und zu preisen.63 Ähnlich ist das Anstimmen der „heiligen Loblieder (αἴνους) der Väter“ in der Nacht des ersten Passah eine Folge der einträchtigen (ἐν ὁμονοίᾳ)64 Verpflichtung der Exodusgeneration auf das Gesetz (νόμος) (18,9). Das Gotteslob erscheint vor diesem Hintergrund als ein Gebet, das Einmütigkeit bewirkt und voraussetzt. In unmittelbarem Gegenüber zum Bericht über das Gotteslob der Exodusgeneration in 10,20 steht die Notiz über die Klage (ἐπικαλέομαι) des Gottes-

18.

55 Zur

„Freude“ (εὐφραίνομαι / εὐφροσύνη; τέρψις), die in der Weisheit gründet, vgl. 8,16.

56 Zum positiv geprägten Gebrauch des Wortes ἡδονή siehe 16,20 (im Sinn von „Wohlgeschmack“, vgl. Herm 42,3; 48,3). Im Hintergrund stehen Ex 16,31 und Num 11,8; vgl. auch Ps LXX 77,24. 57 In noch emotionaleren Farben erscheint die σοφία bei Ben Sira, vgl. Sir 24,1–23; 51,13–30 und dazu Ellis, Gender, S. 173–175 passim). 58 Vgl. als Hintergrund der Notiz in 10,20a Ex 11,2; 12,35. 59 Vgl. Jes LXX 12,4–5; 25,1; Sir 51,10 (G); Est 13,17 (Add Est C 10). 60 Vgl. 3,1; 5,16; 7,16; 10,20; 11,17; 14,6; 16,15; 19,8. 61 Vgl. Ex 4,10–12; Ps 8,3; Jes 35,6. 62 Vgl. 18,5.12. 63 Vgl. Jdt 4,12; 15,9; Apg 4,24; Röm 15,6; 2 Hen 19,6; AscJes 7,15; 9,28. 64 Vgl. als Kontrast dazu SapSal 10,5.

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volkes angesichts des Wassermangels in der Wüste in 11,4. Auch hier wechselt der Autor vom Bericht über das Beten in der 3. Person hin zur direkten Anrede Gottes in der 2. P. Sg. Gegenüber der Vorlage in Ex 17,1–7 und Num 20,7–13 wird aus der Murrerzählung eine Gebetsgeschichte Israels. Während in Ex 17 Mose und in Num 20 Mose und Aaron beten, betet in SapSal 11,4 das Volk (vgl. Ps 107,4–6). Von einer Emotion Israels verlautet in SapSal 11 im Gegensatz zu Ex 17 und Num 20 nichts. So spricht aus dieser Gebetsnotiz ein doppeltes Ideal der Sapientia: (1) das Gebet der Gruppe und (2) das Ideal des selbstbeherrschten Weisen.65 Mit dem Wechsel in die Anrede Gottes im „Du“ (11,4b) regt die Sapientia ihre Leser an, in existentiellen Notsituationen selbst zu beten. Zugleich stellt sie diesen eine Erhörung durch Gott in Aussicht, der jeweils das rechte Heilmittel (ἴαμα) gibt. In 19,8–10 rekurriert die Sapientia nochmals auf die Rettung und das Gotteslob Israels am Schilfmeer (vgl. Ex 14,30–31; 15,1–21). Hier nun wird das Loben (αἰνέω) ausdrücklich von Emotionen der Freude begleitet, die mittels der Metaphern weidender Pferde und hüpfender Lämmer beschrieben wird. Die Bilder berühren sich eng mit der Darstellung des Exodus in Jes 63,13–14 (und in Ps 77,21). Die Beschreibung des bis in das Körperliche gehenden Jubels über die Rettung teilt SapSal 19 mit vielen Psalmen.66 Auch hier kollektiviert die Sapientia gegenüber der Vorlage in Ex 15,20, wenn sie den dort erwähnten Tanz der Miriam und der Frauen auf das ganze Volk überträgt.67 Charakteristisch für das Gebetsverständnis der Sapientia ist der enge Zusammenhang der Erfahrung einer Rettung, hier besonders qualifiziert als „Wunder“ (θαυμαστὰ τέρατα, vgl. Ex 15,11),68 dem Gotteslob und der Erinnerung an Gottes Handeln. Θεωρέω, αἰνέω und μιμνήσκω bilden für die Sapientia eine Einheit. Dabei ist die Freude der Exodusgeneration einerseits eine Anregung und Mahnung zur Freude für die gegenwärtigen Leser der Sapientia, andererseits ein Spiegel für die endzeitliche Freude der von Gott einst Erlösten (vgl. Mal 3,20). Im Gegensatz dazu steht die Erinnerung an die Bitte bzw. Forderung (αἰτέω) Israels in der Wüste nach mehr und anderer Speise in 19,11, die im Gefälle von Num 11,4.33–34 (vgl. Ex 16,13; Ps 78[77],18–31) das Anliegen Israels negativ als ἐπιθυμία („Begierde“)69 qualifiziert. Die umfangreichste Reflexion über das Beten bietet die Sapientia bezeichnenderweise im (zweiten) Exkurs über den Unsinn der Götzenverehrung (13,1– 65 Vgl. als Gegenüber den vom Zorn bewegten Ungerechten in 10,3–4 (Kain) und 10,10 (Esau). 66 Vgl. dazu ausführlich Abart, Lebensfreude. Zum Bild der „hüpfenden Lämmer“ vgl. auch Ps 114,4.6; Mal 3,20. 67 So mit Engel, Buch, S. 298. 68 Zur Bedeutung des „Wunders“ in den Weisheitsbüchern der Hebräischen Bibel siehe Brown, Wonder. 69 Vgl. SapSal 4,12; 6,17.20; 16,2.21 bzw. 6,11.13; 16,3. Zur Rolle der ἐπιθυμία bzw. libido in der klassischen Emotionenlehre siehe Aristoteles, rhet. 1389a (= II,12); Cicero, Tusc. IV, 6.

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15,17[19]). Mit insgesamt sieben verschiedenen Begriffen für Beten70 wird in 13,17–14,1 ironisch das verfehlte Beten derer beschrieben, denen die wahre Gotteserkenntnis fehlt (14,1). Als Objekte der Bitte erscheinen Besitz, Ehe, Kinder, Gesundheit, behütete Reise, wirtschaftlicher Erfolg. All das ist nicht Gegenstand der Kritik Pseudo-Salomos – wohl aber die Tatsache, dass diese Bitten den falschen Adressaten haben, weil sie sich nicht an den lebendigen Gott, sondern an selbst gemachte Götzen wenden. Voraussetzung richtigen Betens ist die richtige Gotteserkenntnis. Die Sapientia führt die aus Deuterojesaja bekannte Götzenpolemik fort,71 betont aber noch stärker die Lebendigkeit72 als Kriterium für den einen und wahren Gott (12,13.27).73 Die Vorstellung von Gott als dem Schöpfer des Alls und das alttestamentliche Verbot, Gott mittels eines Kultbildes zu verehren, sind in der Sapientia konsequent monotheistisch weitergedacht. Indem die Sapientia so stark die Lebendigkeit Gottes als des „Seienden“ (13,1; vgl. Ex LXX 3,14–15) betont, bewahrt sie die traditionelle israelitisch-jüdische Vorstellung von der Personalität Gottes. Genau deshalb kann sie von Emotionen Gottes sprechen. Die fehlende Gotteserkenntnis schlägt sich darin nieder, sich nicht zu schämen (οὐκ αἰσχύνεται), Götzenbilder anzubeten (13,17). Scham bzw. fehlende Scham ist die einzige Emotion, die im Rahmen der Auseinandersetzung mit dem falschen Beten zur Sprache kommt.74 Als natürliche Emotion des Menschen könnte Scham davor bewahren, Götzen anzubeten. Erneut zeigt sich der enge Zusammenhang, den die Sapientia zwischen menschlicher Rationalität, Emotionalität und Moralität75 sieht. Zum Menschen gehören: Erkennen, Fühlen und richtiges Handeln. Wahres Menschsein zeichnet sich durch Erkenntnis und Anbetung des wahren Gottes aus.

4. Zusammenfassung Beten gehört für die Sapientia zum Menschen als einem Wesen, das von einem lebendigen Gott geschaffen und auf diesen Gott bezogen ist (2,23; 9,2–3). Voraussetzungen des Betens sind Selbsterkenntnis des Menschen als Geschöpf und Annahme der eigenen Endlichkeit (7,1–6) sowie die Erfahrung des Handelns Gottes (10,20–21; 11,4; 19,8–10). Ermöglichung des Betens und der wahren Gotteserkenntnis ist die Weisheit (10,20–21). Adressat des Betens kann 70 Ἀξιόω (13,18); αἰτέω (13,19); ἐπιβοάω (14,1); ἐπικαλέομαι (13,17); ἱκετεύω (13,18); προσεύχομαι (13,17); προσλαλέω (13,17). 71 Jes 40,18–25; 44,9–21. 72 Vgl. 15,17; 16,13. 73 Vgl. Dtn 4,35.39; 32,39; Jes 44,6; 45,5–8; 46,9. 74 Im Gegensatz zum Sirachbuch, in dem die Auseinandersetzung mit Scham eine besondere Rolle spielt (vgl. 4,20–21; 5,14–15; 13,7; 20,22–23; 20,26; 21,22; 22,25; 25,22; 29,14; 41,16–17; 42,1; 51,18.29; siehe dazu auch Camp, Honor and Shame, S. 171–187; Ellis, Gender, S. 64–69; 134–137 passim), thematisiert die SapSal Scham nur in 13,17. 75 Vgl. die Fortsetzung des Exkurses in 14,22–31.

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allein der einzige, wahre und lebendige Gott sein. Gebete, die nicht an diesen gerichtet sind, sind letztlich keine Gebete, sondern Selbstbetrug (13,17–14,1). Ziel des Betens ist Gemeinschaft mit Gott, die sich in Freundschaft mit Gott, Gerechtigkeit und Unsterblichkeit verwirklicht (7,14; 15,3). Als Reaktion auf ein Handeln Gottes wirkt Beten, sei es Bitte, Dank, Klage oder Lob, auf Gott selbst zurück (18,20–25). Emotionen spielen in den Gebeten der Sapientia nur eine untergeordnete Rolle. Wo Emotionen Gottes wie ἀγάπη, ἔλεος und ὀργή / θυμός / χόλος erwähnt werden, steht dies in der Tradition der israelitisch-jüdischen Vorstellung von einem personalen Gott und religiöser Metaphorik. So wahrt die Sapientia mit der Nennung göttlicher Emotionen in einem Kontext, in dem pagane Philosophen die Affektlosigkeit und Teilnahmslosigkeit der Götter betonen, die Vorstellung eines personalen Gottes, der in seiner Schöpfung agiert und auf diese reagiert. Unter den in den Gebeten genannten menschlichen Emotionen erscheinen Liebe zur Weisheit (7,10), Einmütigkeit im Gebet (10,20), Freude über von Gott erfahrene Rettung (19,8–10) und Scham als natürliches Empfinden für den Unterschied zwischen Schöpfer76 und Geschöpf, zwischen Beseeltem und Totem (13,18). Wie auch sonst in Gebeten dient die explizite Nennung einer Emotion in den Gebeten der Sapientia (1) der Selbstvergewisserung des Beters, (2) der Bestimmung seiner Beziehung zu Gott, (3) der besonderen Artikulation seiner besonderen Lebensituation und (4) dem Versuch, Gott zum Handeln zu bewegen. Als literarisch reflektierte Emotionen77 kennzeichnen sie die jeweiligen Figuren im Text. Zugleich zielt diese vierfache Funktion der Emotionen auf die Adressaten der Sapientia. In welchem Maß die Rezipienten an den genannten Emotionen partizipieren und sich mit diesen identifizieren, hängt wesentlich davon ab, ob sie von dem in den Gebeten der Sapientia artikulierten Daseinsverständnis betroffen sind.78 Dass nur wenige menschliche Emotionen in den Gebeten der Sapientia erwähnt werden, hat zwei Gründe: einen formgeschichtlichen und einen traditionsgeschichtlichen. Zum einen finden sich in der Sapientia keine ausgeführten Klage- und Lobgebete, in denen menschliche Emotionen ein wichtiges Element der Gattung sind. Zum anderen teilt die Sapientia mit ägyptischen Weisheitslehren und paganen philosophischen, vor allem platonischen, kynischen und stoischen Vorstellungen, das Ideal des selbstbeherrschten Weisen, den weniger Emotionen als vielmehr Erkenntnis und eine von der Liebe geprägte Haltung kennzeichnen.79

76 Vgl.

2,23; 9,1; 13,3.5; 11,17; 16,24. dazu auch Gillmayer-Bucher, Emotion, S. 283–285, die hier von „Manifesta­tion in der verbalen Thematisierung“ spricht. 78 Vgl. dazu Stock, Emotionen. 79 Vgl. 6,18; 10,5.8–10; und dazu Witte, Jakob (in diesem Band S. 191–209). 77 Siehe

Das Ethos der Barmherzigkeit in der jüdischen Weisheit der hellenistisch-römischen Zeit Abstract: This article provides a tradition- and literary-historical overview of the ethics of the older Israelite-Jewish wisdom and on the basic Hebrew and Greek terms for human mercy and righteousness. Psalm 112 is interpreted as a model for the mercy of the sage. The essential early Jewish reasons for human mercy are the imago dei, the correspondence with divine mercy, the atoning power of alms and the deliverance from death. Tobit, Job (cf. TestJob) and Sebulon (cf. TestSeb) are significant examples for a merciful life. The basic convictions that humans have a free will and can discern between good and evil (cf. Sir 15:11–17 in the shadow of Deut 30:15–20) are essential for the early Jewish sapiential justifications for human mercy. The essay leads to a sketch updated sapiential reflections on the unity of God in the New Testament.

1. Geistes- und literaturgeschichtliche Vorbemerkungen zur Ethik der israelitisch-jüdischen Weisheit Die Frage nach dem Wesen des Menschen, seiner Stellung in der Welt und seinen Möglichkeiten, diese zu gestalten und sich in ihr zu orientieren, steht im Zentrum der israelitisch-jüdischen Weisheitsschriften. Man könnte die Anthropologie und die Ethik geradezu als das eigentliche Thema der Weisheit bezeichnen. Dabei kennzeichnet die Fokussierung auf den Menschen und sein Handeln nicht nur die israelitisch-jüdische Weisheit, wie sie sich literarisch in der Hebräischen Bibel, in der LXX und im nichtkanonischen jüdischen Schrifttum niedergeschlagen hat. Die anthropologische Konzentration ist auch charakteristisch für die altägyptische, mesopotamische und griechische Weisheit. Dabei stellt die Weisheit aus der Umwelt einen steten Referenzpunkt für die israelitisch-jüdische Weisheit dar, sei es als traditions- oder literargeschichtliche Quelle, als strukturelle Parallele oder als bewusstes Gegenüber, mit dem die israelitischen und jüdischen Weisen ein kritisches Gespräch führen. Insofern Anthropologie und Ethik das Hauptthema der Weisheit sind, überrascht es nicht, dass die Weisheitsliteratur sich intensiver und reflektierter als andere Überlieferungsbereiche des Alten Testaments mit dem rechten Verhalten gegenüber Bedürftigen auseinandersetzt und dabei vielfältige anthropologische und theologische Begründungen der Barmherzigkeit liefert. Dabei partizipiert das weisheitliche Ethos des Alten Testaments und der frühjüdischen Schrif-

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ten zum barmherzigen Umgang mit den Bedürftigen, wie sie vor allem durch Arme, Witwen und Waisen repräsentiert werden, an einem im gesamten Alten Orient literarisch seit dem 3. Jt. v. Chr. in Rechts- und Weisheitstexten nachweisbaren Konzept.1 Die weisheitlichen Reflexionen über die Wege, die unter der gedanklichen Voraussetzung, dass der Schöpfergott eine gerechte Ordnung in die Welt eingesenkt hat und dass zwischen dem eigenen Handeln und dem eigenen Ergehen ein unmittelbarer Zusammenhang besteht, dem Menschen ein gelingendes Leben ermöglichen sollen, sind weder zeitlich auf nur eine Epoche der israelitisch-jüdischen Religionsgeschichte noch formal auf eine bestimmte Gattung der Literaturgeschichte beschränkt. Sie finden sich von den literarischen Anfängen der israelitisch-jüdischen Weisheitsliteratur im 8. Jh. v. Chr., wie sie sich in den ältesten Sammlungen in den Proverbien (Kap. 10–29) erhalten haben, bis zu deren Ausgang im 1. / 2. Jh. n. Chr. sowie ihrer Rezeption im Neuen Testament und im rabbinischen Schrifttum.2 Im Folgenden sollen jüdische Weisheitsschriften aus hellenistisch-römischer Zeit im Mittelpunkt stehen. Dabei konzentriere ich mich auf kanonische und deuterokanonische sowie ausgewählte pseudepigraphe Schriften von der Mitte des 3. Jh. v. Chr. bis zum Ende des 1. Jh. n. Chr. und beziehe punktuell die griechische Fassung der Bücher Hiob, Proverbien und Kohelet, wie sie sich in der LXX niedergeschlagen hat, ein, zumal diese bzw. ihre Vorläufer in Gestalt eines Old-Greek-Textes gerade in der Ethik spezifische Unterschiede gegenüber dem MT aufweisen und sie die Referenztexte für die neutestamentlichen Autoren darstellen. Die genannte zeitliche Beschränkung trägt dem Umstand Rechnung, dass in jenem Zeitraum die wesentlichen religions- und kulturgeschichtlichen Weichenstellungen für die weitere Entwicklung des antiken und spätantiken Judentums erfolgten und dass sich in dieser Zeit das geistige und literarische Milieu für das aus dem hellenistisch geprägten Judentum herauswachsende Christentum entwickelte. Abweichend von dieser zeitlichen Fokussierung beziehe ich allerdings die Proverbien in ihrer Gesamtheit in meine Übersicht ein. Auch wenn einzelne der im Folgenden zitierten Sprüche aus den verschiedenen königszeitlichen Sammlungen in Spr 10–29 stammen, scheint mir eine Behandlung in diesem Kontext angesichts der erst aus hellenistischer Zeit stammenden Endgestalt des Buches gerechtfertigt, zumal die Proverbien in ihren älteren Stücken den wesentlichen Nährboden und in ihren jüngeren Passagen wichtige Seitenstücke der jüngeren Weisheitstexte wie Kohelet, Jesus Sirach oder Sapientia Salomonis bilden.3 Das Werk Philos von Alexandria 1 Siehe dazu Fensham, Widow, S. 129–139; Malchow, Justice, S. 120–124; Schellenberg, Hilfe, S. 180–200. 2 Siehe dazu aus der Fülle der Literatur Küchler, Weisheitstraditionen, S. 176–206; 553– 592; von Lips, Traditionen; Wright / Wills, Boundaries; Perdue, Sword, S. 388–419; Stemberger, Sages, S. 295–319. 3 Siehe dazu Delkurt, Einsichten. Dass nicht nur Spr 1–9, sondern die Proverbien ins-

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(etwa von 25 v. Chr. bis 50 n. Chr.) hingegen erforderte eine eigene Darstellung und bleibt hier unberücksichtigt. Ziel der folgenden Darstellung ist eine literar- und traditionsgeschichtlich sowie theologisch orientierte Typologie von Begründungen von Barmherzigkeit gegenüber den Bedürftigen, verbunden mit rezeptionsgeschichtlichen Hinweisen; sozialgeschichtliche Überlegungen fließen punktuell ein, bilden aber keinen Schwerpunkt. Gattungsmäßig verteilen sich die hier vorgestellten weisheitlichen Texte auf Sentenzen, so vor allem im Bereich der Proverbien, auf Traktate und Mahnreden, so überwiegend im Fall des Sirachbuchs, von denen nochmals Testamente (vgl. TestSeb; TestHiob) und Lehrpsalmen (vgl. Ps 112) abgegrenzt werden können, sowie auf ausführliche Erzählungen (vgl. Tob). Wesentliche Kriterien, diese von ihrer Gattung her unterschiedlichen Texte als weisheitlich oder zumindest als weisheitlich geprägt anzusprechen, sind (1) die allen gemeinsame Verwendung genuin sapientieller Begriffe, (2) die allen gemeinsame lehrhafte Tendenz und (3) das von allen diesen Schriften geteilte Denken im Horizont des Tun-Ergehen-Zusammenhangs. Dessen prinzipielle Gültigkeit wird selbst dort bejaht, wo er kritisch reflektiert wird, wie im sekundär um die „Rahmenerzählung“ erweiterten Hiobbuch,4 in den Theodizeeperikopen Ben Siras5 oder im Gespräch zwischen Hanna und Tobit in Tob 2,14. Terminologisch dominieren bei der thematischen Konzentration auf die weisheitlichen Reflexionen und Mahnung zu vom Menschen geübter Barmherzigkeit gegenüber Notleidenden in den hebräischen und aramäischen Texten die Begriffe bzw. Wurzeln ‫אמת‬, ‫ חסד‬und ‫ צדקה‬/ ‫ צדק‬bzw. ‫ חנן‬und ‫רחם‬.6 In den griechischen Texten erscheinen dafür überwiegend die Begriffe ἔλεος, ἐλεήμων und ἐλεημοσύνη. Letzteres Wort ist das wichtigste Übersetzungsäquivalent zu ‫ צדקה‬/ ‫ צדק‬und über seine Rezeption im Lateinischen als elemosyna zum terminus technicus für „Almosen“ geworden.7 Hinzu kommen Derivate gesamt erst aus hellenistischer Zeit stammen (so Fuhs, Sprichwörter), halte ich angesichts interner literar-, sozial- und theologiegeschichtlicher Differenzen für unwahrscheinlich. 4 Den Grundbestand des Hiobbuches, der sich nach meiner Einschätzung ungefähr mit dem Makrotext der Dichtung (Kap. 3,2–27,6; 29,1–31,37; 38,1–39,30) deckt, halte ich noch für perserzeitlich. Die das Denken im Tun-Ergehen-Zusammenhang nach seiner radikalen Infragestellung wieder in Geltung bringenden Passagen in Hi 24,13–25; 27,7–23; 32,1–37,24 sowie die Verbindung der Dichtung mit der ursprünglich selbstständigen Novelle (Hi 1,1–5.12–21; 42,11*–17) gehen m. E. erst auf eine Reihe von Bearbeitungen im Laufe des 4. / 3. Jh. v. Chr. zurück: siehe dazu knapp Witte, Hiobbuch, S. 432–445; zu den Modifikationen, die das Buch im Zuge seiner Übersetzung ins Griechische erfahren hat und die gerade auch die Passagen der Ethik betreffen, Witte / Kepper, Job, S. 2041–2126; sowie Opel, Anspruch, S. 169–202. 5 Vgl. Sir 5,4–8; 15,11–20; 33,7–15 und dazu Beentjes, Theodicy, S. 265–279. 6 Das in Ps 72,13 auch im Sinn von „mitleidig anblicken“ und im Parallelismus zu „retten“ gebrauchte Verb ‫( חוס‬LXX: φείδομαι) wird in der Weisheitsliteratur nicht verwendet. 7 Daneben erscheint ἐλεημοσύνη auch als Übersetzung von ‫( אמת‬vgl. Jes 38,18) und von ‫( חסד‬vgl. Gen 47,29; Spr 3,3; 14,22; 15,27 [16,6]; 19,22; 20,28; 21,21; 31,27 [31,26]); vgl. dazu Bultmann, ἔλεος, S. 474–483.

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der Stämme σπλαγχν-8 und οἰκτίρ-9, das Wort χάρις10 sowie – in Parallele zum spät- und nachbiblischen Gebrauch von ‫ – צדקה‬die (seltene) Verwendung von δικαιοσύνη im Sinn von Almosen.11 Dabei wird die Barmherzigkeit gegenüber den Bedürftigen, die in den hebräischen Texten zumeist unter den Bezeichnungen ‫אביון‬, ‫דל‬, ‫מחסר‬, ‫ עני‬oder ‫ רש‬und in den griechischen Texten überwiegend als πτωχός, πένης, πενιχρός und ταπεινός erscheinen,12 als ein eigener ethischer Topos besonders in einzelnen Sentenzen des Sprüchebuchs13 sowie ausführlich von Ben Sira / Jesus Sirach, im Tobitbuch, im Testament Hiobs und im Testament Sebulons behandelt.14 Die Sapientia Salomonis thematisiert „Barmherzigkeit gegenüber Notleidenden“ wenig. Lediglich aus den Beschreibungen der Frevler, aus Lasterkatalogen (SapSal 14,22–31) und Notizen zum vergeltenden Handeln Gottes (SapSal 3,10–12; 4,3–6.18–19; 19,14), zumal im Rahmen der Geschichte Israels (SapSal 10–19), wird (indirekt) deutlich, dass Barmherzigkeit als menschliche Entsprechung zum Wesen und Handeln Gottes das Leben des Gerechten kennzeichnen soll (SapSal 2,10–14; 12,19), insofern dieser um die allgemeine Geschöpflichkeit des Menschen, die Geheimnisse Gottes, die Tora (SapSal 6,18) und das Handeln Gottes weiß. Im außerbiblischen weisheitlichen Schrifttum von Qumran,15 findet sich – soweit angesichts des fragmentarischen Überlieferungsbefundes erkennbar – 8 Vgl.

Spr LXX 12,10; 17,5; TestSeb 1,0; 5,1; 8,1; 9,8; TestBen 4,1; vgl. Lk 10,33; 15,20; Eph 4,32; 1 Petr 3,8 sowie zu σπλαγχνίζομαι als terminus technicus zur Beschreibung des Verhaltens Jesu Mk 1,41; 6,34 par. Mt 9,36; 14,14; Mk 8,2 par. Mt 15,32; Mt 20,34; Lk 7,13 (Feldmeier / Spieckermann, Gott, S. 77; 201). 9 Ps LXX 36(37),21; 108(109),12; 111(112),4; Sir 5,6; TestSeb 2,2. 10 Vgl. Sir 17,22; 29,15; 32(35),3. 11 Tob 2,14; 12,9; 14,11; Bar 5,9; vgl. auch 2 Kor 9,10. 12 Vgl. dazu Bammel, πτωχός, S. 885–915 (besonders 893–899) und Seiler, Dimension, S. 580–581; sowie ausführlich Pleins, World, S. 61–78; ders., Poor, S. 402–414, der auf die unterschiedliche Streuung und divergierende kontextuelle Prägung dieser Begriffe in den unterschiedlichen Überlieferungsbereichen des AT (historische, juridische, prophetische, psalmistische und weisheitliche Traditionen) hinweist und speziell im Blick auf die Weisheits­ bücher charakteristische Differenzen im Wortgebrauch der Proverbien, des Hiobbuches und Kohelets herausarbeitet. 13 Dabei weisen die Sprüche in ihrer in der LXX überlieferten Gestalt eine weiter ausgeführte und kohärentere Thematisierung der Barmherzigkeit gegenüber den Notleidenden auf (vgl. Spr LXX 12,10.13a; 13,9.11; 17,5; 19,11.22; 21,26b; 22,9a; 28,22 und dazu Jüngling / von Lips / Scoralick, Paroimia, S. 1950–2000). Zur Armenthematik in den Proverbien insgesamt siehe Whybray, Wealth; Washington, Wealth; Sandoval, Discourse. 14 Vgl. v. a. die großen Barmherzigkeitsperikopen in Sir 3,30–4,10; 29,1–13 (nur in G); 32(35),14–26; in Tob 4,7–11.14–18 (als Teil der umfangreichen Ermahnung Tobiasʼ durch seinen Vater Tobit in Tob 4,3–21 [G-I]); sowie in TestHiob 9–17 und in TestSeb, das ganz dem Thema „Mitleid“ (εὐσπλανγχία) und „Erbarmen“ (ἔλεος) gewidmet ist. 15 Siehe dazu Lange, Weisheitstexte, S. 3–30; Collins / Sterling / Clements, Perspectives; Goff, Wisdom.

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bisher nur in 4Q424 (4QSapiential Text II ) eine entsprechende Reflexion.16 Die paläographisch aus frühherodianischer Zeit stammende, wohl nichtesseni­sche Schrift bietet Weisheitssprüche zum Verhalten gegenüber unterschiedlichen Menschengruppen. In diesem Zusammenhang wird auch die Verachtung der Armen kritisiert (Frgm. 2,3–5) sowie ein Aufrichtiger (‫)איש ישר‬,17 der Wohlgefallen am Recht (‫ )משפט‬hat, ein Vermögender (‫)איש חיל‬18 und ein Barmherziger (‫)איש רחמים‬,19 der sich für die Armen (‫ )אביונים‬einsetzt (Frgm. 3,8–11), beschrieben. Offenbar wird hier ein Ideal des Weisen und Gerechten entworfen, der Barmherzigkeit (‫ )צדקה‬gegenüber Notleidenden übt. Eine eigentliche Begründung für barmherziges Handeln ist in dem fragmentarischen Text nicht erkennbar.20

2. Barmherzigkeit als Kennzeichen des Weisen – Ps 112 Das mit einem Makarismus eröffnete Lehrgedicht Ps 112 (Ps LXX 111) entfaltet musterhaft das religiöse und ethische Ideal der jüdischen Weisheit in hellenistisch-römischer Zeit. Den vorbildhaften Weisen, der zugleich der exemplarisch Gerechte (‫צדיק‬, δίκαιος, V. 6) ist, kennzeichnen (1) Gottesfurcht (V. 1a), (2) Treue gegenüber der Tora (‫מצות יהוה‬, ἐντολαὶ αὐτοῦ, V. 1b) und (3) barmherziges Verhalten gegenüber dem bedürftigen Menschen. Dieses konkretisiert sich in Großzügigkeit und Freigebigkeit gegenüber dem Armen (V. 4.9). Barmherzigkeit erscheint hier als ein wesentliches Kennzeichen von Weisheit und Gerechtigkeit. Der Weise und Gerechte ist auch der Barmherzige.21 Barmherzigkeit ist ein Identitätsmerkmal, das bei Gott selbst besondere Wertschätzung erfährt: Barmherzigkeit / Almosen (ἐλεημοσύνη) eines Mannes ist wie ein Siegel bei ihm (d. h. Gott), und Wohltätigkeit eines Menschen bewahrt er (d. h. Gott) wie einen Augapfel. (Sir 17,22 [G]; vgl. Spr 19,17)

Umgekehrt kennzeichnet den Frevler (‫רשע‬, ἄδικος) fehlende Solidarität mit den Armen und mangelnde Barmherzigkeit (Sir 12,3) sowie Unterdrückung 16 Siehe

dazu Wright, Categories, S. 101–123, bes. 105–108; Goff, Wisdom, S. 193–197. Hi 1,8; 2,3; Spr 11,17 (‫ ;)איש חסד‬14,14 (‫ ;)איש טוב‬20,6 (‫)איש חסדו‬. 18 Vgl. Rt 2,1. 19 So nach der Ergänzung von Tanzer, Instruction, S. 333–346, und Abegg, Qumran; García Mart ­ ínez / Tigchelaar, Scrolls II, S. 888–891, verzichten auf eine Rekonstruktion. 20 Ob sich auch in den weisheitlich geprägten Fragmenten 4Q420 (Frgm. 1 II) / 4Q421 (Frgm. 1 II) die Mahnung zur ‫ צדקה‬auf Taten der Barmherzigkeit bezieht (so Goff, Wisdom, S. 162–165), ist angesichts des lückenhaften Erhaltungszustandes nicht zu sagen. Zur Reflexion des Übens von Gerechtigkeit und Recht (‫ )צדקה ומשפט‬und zur Armenfürsorge innerhalb der Qumrangemeinschaft als Erfüllung der Gebote des Gesetzes siehe 1QS V,3–4 (vgl. Mi 6,8); VIII,3; CD-A XIV,12–16. 21 Vgl. Spr LXX 12,10; 13,9.11; 21,26. 17 Vgl.

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der Hilfsbedürftigen (Hi 24,1–12; Spr 30,13–14; SapSal 2,10–24). Der Frevler kennt nicht das Recht der Armen (‫דין דלים‬, κρίνειν πενιχροῖς, Spr 29,7).22 Die im Korpus von Ps 112 sentenzenhaft oder implizit genannten Begründungen für das Üben von Barmherzigkeit sind paradigmatisch für jüdische Weisheitsschriften der hellenistischen Zeit, auch wenn sie dort teilweise breiter ausgeführt werden: Barmherzigkeit wirkt, entsprechend der Vorstellung reziproker Gerechtigkeit, auf den Barmherzigen zurück, insofern dieser selbst Barmherzigkeit erlebt, was sich in zahlreicher Nachkommenschaft (V. 2), wirtschaftlichem Wohlstand (V. 3), persönlicher und juridischer Integrität (V. 5b.7) sowie gesellschaftlichem Ansehen (V. 6) realisiert. Wer Barmherzigkeit tut, steht unter dem Segen und kann selbst Barmherzigkeit von Gott und den Menschen erwarten.23 Dabei ist nicht ausgeschlossen, dass die Verheißung der Vollendung der Wege im Gericht (‫משפט‬, κρίσις, Ps 112,5b), wie in Ps 1,6 oder in Ps 37 auf ein endzeitliches Gericht zu beziehen ist.24 Barmherzigkeit würde dementsprechend auch eschatologisch motiviert (s. u. Punkt 6). Als eigentliche theologische Motivation der Barmherzigkeit des Weisen er­ scheint die Barmherzigkeit Gottes selbst, den Ps 112,4 in modifizierter Aufnahme der sogenannten Gnadenformel (vgl. Ex 34,6–7 par.) als „gnädig, barm­herzig und gerecht“ bezeichnet.25 Schließlich verweist Ps 112,9c auf eine charakteristische traditionsgeschichtliche Wurzel der Integration der Barmherzigkeit in das Ideal des Weisen. So spiegelt sich in der Verheißung des „erhöhten Horns (‫קרן‬, κέρας) mit Herrlichkeit“ die Übertragung königlicher Epitheta auf den Weisen (vgl. Ps 89,18.25; 132,17). Gehört bis zum Untergang der Monarchie in Juda (587 v. Chr.) gemäß der altvorderorientalischen Königsideologie die Fürsorge gegenüber Armen, Witwen, Waisen, Fremdlingen, mithin Barmherzigkeit gegenüber den Bedürftigen, zu den Idealen des Königs (vgl. Ps 72,12–13; Spr 29,14; 31,9; Jer 22,2–3),26 so geht dieses Ideal im Judentum der nachköniglichen Zeit 22 Vgl.

Spr 14,21–22 (noch deutlicher in LXX) und pervertiert in SapSal 2,11. Sir 4,10 (Syr); 16,14; 22,23 (G); 40,17 (G); Spr 3,3b LXX; 11,17; 17,5c LXX; 19,17; 21,21; 22,9; 28,27 LXX; Pred 11,1–2; 2 Hen 42,8; außerhalb der Weisheitsschriften: Jes 58,7– 11, mit negativem Vorzeichen Ps 109,15–16; außerbiblisch: Pap. Insinger 16,3–4.11–14 (Hoffm ­ ann / Quack, Anthologie, S. 256). 24 Vgl. Ps 37,6.28.30.33 und dazu Witte, Psalm 37. 25 In MT ist das Subjekt der Prädikation der Barmherzigkeit in V. 4b nicht spezifiziert; die Varianten (vgl. den Apparat der BHS), die Entsprechung zur in V. 4a genannten Verheißung des Aufstrahlens des (göttlichen) Lichts für die Aufrichtigen (vgl. Jes 58,8) sowie die Parallelen in Ps 111,4 und 116,5 sprechen dafür, in Ps 112,4b Jhwh als Subjekt zu verstehen; vgl. auch Gregory, Ring, S. 256–257. Zur Gnadenformel siehe weiterhin Jo 2,13; Jon 4,2; Ps 86,15; 103,8; 145,8; Neh 9,17; CD-A II,4; 1QHa VIII,24; 4Q511 Frgm. 52,54–55,57–59 [Kol. III],1; TestSeb 9,7; JosAs 11,10; OrMan 7; Witte, Barmherzigkeit (in diesem Band S. 86). 26 Zu entsprechenden Belegen aus der Umwelt des alten Israel (Codex Hammurabi XLVII,59–82; Keret C / KTU 1.16 VI,33–34 [Dietrich / Loretz, in: TUAT III, S. 1213–1253]; Aqhat A / KTU 1.17 V,3–8 [Dietrich / Loretz, in: TUAT III, S. 1254–1305]; Kilamuwa [KAI 23 Vgl.

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im Zuge einer „Demokratisierung“ auf den Weisen über. Nicht nur der König, sondern der Gerechte soll „menschenfreundlich“ (φιλάνθρωπος) sein, wie es in Aufnahme eines paganen Begriffs heißt.27 Traditionsgeschichtlich könnte das auch als eine Royalisierung des Weisen bezeichnet werden.28 Diese Linie zeigt sich dann auch bei Paulus, der in 2 Kor 9,9 Ps 112,9a–b als Schriftbeweis „für die Fähigkeit zum Liebeswerk“29 zitiert und das vorbildhafte Verhalten des einen Weisen auf die korinthische Gemeinde überträgt: Im barmherzigen Handeln zeigen sich Weisheit und königliches Handeln der christlichen Gemeinde.30

3. Barmherzigkeit als Akt geschöpflicher Solidarität Mehrfach begegnet in den jüdischen Weisheitsschriften die Begründung menschlicher Barmherzigkeit mit dem Hinweis auf die gemeinsame geschöpfliche Herkunft des Armen und des Reichen. Beispielhaft ist Spr 14,31: Wer den Armen (‫דל‬, πένης) bedrückt, der verhöhnt den, der ihn geschaffen hat, aber derjenige, der sich des Armen (‫אביון‬, πτωχός) erbarmt, der ehrt ihn (d. h. Gott). (vgl. Spr 17,5)

Das die Weisheit theologisch insgesamt prägende Verständnis Gottes als Schöpfer wird hier ethisch entfaltet, insofern Barmherzigkeit gegenüber dem Armen als konsequente Folge der Annahme der eigenen Endlichkeit und Begrenztheit sowie der Erkenntnis der eigenen Bedürftigkeit erscheint. In ihrer Zuspitzung auf die Formulierung, dass der Gerechte seine Gerechtigkeit gerade darin erweist, dass er um das den Armen und Reichen, Ohnmächtigen und Mächtigen gemeinsame Erschaffensein durch den einen und einzigen Gott (‫ )אחד‬weiß (Hi

24] 9–13 [Müller, in: TUAT I, S. 638–640]; Achikar IV,53; VI,14–15 [Weigl, Achikar, S. 168]), siehe Fensham, Widow, S. 130–134; Beentjes, Waisen, S. 35–48, und Schellenberg, Hilfe, S. 184–187; 190–191. 27 Vgl. Arist 208; 290; 3 Esr 8,10; 2 Makk 14,9; 3 Makk 3,15.18.20; Est 8,12l / E 11 mit SapSal 12,19. Zum Ideal der φιλανθρωπία als paganer königlicher Tugend vgl. Xenophon, Cyr. I,2,1; I,4,1; VIII,2,1, als Tugend, die alle Menschen auszeichnen soll, vgl. Isocrates, orat. IV,29; Diog. Laert., III,98; X,10; Plutarch, virt. mor. 451E, und dazu Luck, φιλανθρω­ πία, S. 107–111. Bei Philo und Flavius Josephus, die beide das Wort ἐλεημοσύνη nicht verwenden, sind die in der paganen griechisch-römischen Umwelt weit verbreiteten Begriffe φιλανθρωπία / φιλάνθρωπος neben ἔλεος / ἐλεήμων die eigentlichen Bezeichnungen für menschliche Barmherzigkeit, vgl. z. B. Philo, spec. IV,72; decal. 164; Abr. 208 (als Kennzeichen des Gerechten); Flav. Jos. Ant. VIII,14,4, und zu Philo Nissen, Gott, S. 485–493. 28 Ähnlich Beentjes, Waisen, S. 46; Schellenberg, Hilfe, S. 187–188 (mit Hinweisen auf Parallelen in ägyptischen Texten seit der ersten Zwischenzeit [2155–2030 v. Chr.]). 29 Wolff, Brief, S. 186. 30 Siehe dazu ausführlich Theissen, Gemeindestrukturen, S. 413–444.

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31,15)31 und dementsprechend handelt,32 spiegelt sich sowohl das besondere ethische Potential, das dem Jhwh-Monotheismus innewohnt, als auch die Bedeutung der von den jüdischen Weisheitsschriften geteilten Vorstellung von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen (Gen 1,26; 5,1; 9,6; Sir 17,3 [G]; SapSal 2,23) im Sinne einer allen Menschen gleichsam aufgegebenen Rolle Gott in dieser Welt zu repräsentieren.33 Ben Sira kann dies – im Schatten von Lev 19,18 – so formulieren: „Denke daran: Dein Nächster ist wie du“ (‫דעה רעך כמוך‬, Sir 31,15 [HB];34 vgl. Sir 7,21; 17,14 [G]; Tob 4,16).35 Weiterhin kann Ben Sira diese schöpfungstheologische Begründung menschlicher Barmherzigkeit mit einer Anspielung auf den Gott des Exodus verbinden, wenn er im Rahmen seiner ersten großen Mahnrede zum Almosengeben und zu gerechtem Sozialverhalten (Sir 3,30–4,10) darauf verweist, dass Gott als der Schöpfer selbst den Hilfeschrei (‫צעקה‬, δέησις, vgl. Ex 3,7; 22,22) des Elenden erhören wird (Sir 4,6; 35[32],16–22; Spr 22,22–23): Das Gebet dieser Gruppe (d. h. der Armen, Witwen und Waisen) am unteren Ende der sozialen Pyramide dringt zu Gott und weckt seine Vergeltung gegenüber sozialer Gleichgültigkeit oder offenem Unrecht aller Gruppen und Schichten, die über den Leidenden stehen.36

Ähnlich verläuft die auf die Tora gestützte Argumentation des Sirachbuches, wenn in Verschärfung des Dekalogs Unbarmherzigkeit gegenüber dem Bedürftigen, konkret der Entzug der Nahrung und der Lebensgrundlage, als Tötung (vgl. Ex 20,13) bezeichnet wird: Brot37 bedeutet für die Armen (πτωχοί) Leben, wer es ihnen raubt, macht sich blutschuldig. Seinen Nächsten tötet, wer ihm den Unterhalt raubt. Blut vergießt, wer einen Lohnarbeiter nicht bezahlt. (Sir 31,25–27 [G])

31 Anders der griechische Text, der ‫ אחד‬als Adjektiv zu ‫ ֶר ֶחם‬versteht („in demselben Schoß“). 32 Vgl. Spr 22,2; 29,13. Umgekehrt gilt nach SapSal 14,26 das „Vergessen der Wohltat“ (χάριτος ἀμνηστία) als eine Folge des Götzendienstes. 33 Vgl. dazu als eine der wenigen positiven Würdigungen der ἐλεημοσύνη im paganen Bereich die dem Aristoteles zugeschriebene Sentenz, dass er das Almosen, das er einem „Taugenichts“ (πονηρὸς ἄνθρωπος) gab, aus Mitleid gegenüber dem Menschen gespendet habe und nicht zur Billigung seines Verhaltens (Diog. Laert., V,17; ähnlich V,21). 34 G: „Bedenke die Dinge des Nächsten aus dir (d. h. von deinem Standpunkt aus).“ 35 Vgl. TestGad 4,2; TestBen 3,5; TestSeb 5,3; Mt 19,19; 22,39; Mk 12,31.33; Lk 10,27; Röm 13,9; Gal 5,14; Jak 2,8 und dazu aus der Fülle der Literatur Nissen, Gott, S. 227–228; 278–304, und Mathys, Liebe, sowie aus neuerer Zeit Schüle, kāmōkā, S. 97–129; im Sinn der „klassischen Übersetzung“ „wie dich selbst“ zuletzt wieder Köckert, Nächstenliebe, S. 31–53; Schenker, Gebot, S. 244–248. 36 Wischmeyer, Kultur, S. 69. 37 Was zum Grundbedarf eines Menschen zählt, führt explizit Sir 29,21 (G) aus: Wasser, Brot, Kleidung und eine Wohnstätte. Sir 39,26 ergänzt Feuer, Eisen, Salz, Feinmehl, Milch, Honig, Wein und Öl.

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Dass auch hier das Motiv der Gottesebenbildlichkeit im Hintergrund steht, zeigt die Formulierung in V. 27 (ἐκχέων αἷμα), mit der auf Gen 9,6 angespielt wird: Wer das Blut eines Menschen vergießt, dessen Blut soll um des Menschen willen vergossen werden, denn ich habe ihn zum Bilde Gottes gemacht. (Gen LXX 9,6)

4. Menschliche Barmherzigkeit als Folge göttlicher Barmherzigkeit Eng verwandt mit der anthropologisch-schöpfungstheologischen Begründung ist die Vorstellung, dass sich aus dem Wesen Gottes menschliche Barmherzigkeit ergibt. Aus der bereits angesprochenen Gnadenformel, aus den Bekenntnissen, dass Gott selbst gegenüber den Unterdrückten Treue und Recht bewahrt, indem er den Hungernden Brot gibt, Gefangene befreit, Blinde sehend macht, Niedergeschlagene aufrichtet, Fremde behütet, Witwen und Waisen erhält (Ps 146,6–9),38 und aus dem im jüdischen Schrifttum wohl erstmals bei Βen Sira absolut gebrauchten Titel ‫ רחום‬bzw. ἐλεήμων (Sir 50,19),39 ergibt sich, dass Gott der schlechthin Barmherzige ist. Als wahrer und lebendiger Gott ist Jhwh der Barmherzige (JosAs 11,10). Dabei gründet die Barmherzigkeit Jhwhʼs in seiner Einzigartigkeit und fließt aus seinem himmlischen Königtum, das jegliche menschliche Macht / Ohnmacht und Gerechtigkeit / Ungerechtigkeit relativiert.40 Menschliche Barmherzigkeit erscheint dann als eine Form der Entsprechung zu Gott: Weil Gott barmherzig ist, soll es auch der Mensch sein. Barmherzigkeit ist demzufolge eine imitatio dei,41 der als Allherrscher für alle Menschen gleichermaßen sorgt (SapSal 6,7). Eine bleibende Differenz zwischen Gott und Mensch, zwischen Schöpfer und Geschöpf (vgl. Sir 17,1 [G]), zwischen dem Unendlichen und dem Endlichen (vgl. Sir 17,1 versus 18,1) zeigt sich gerade im Maß der Barmherzigkeit: Gilt die Barmherzigkeit des Menschen (nur) seinem Nächsten, so ist das Erbarmen Gottes universal (Sir 18,13 [G]). Das Testament Sebulons fordert dementsprechend dazu auf, Barmherzigkeit gegen alle Notleidenden (TestSeb 7,2), ja gegen alle Menschen und die Tiere zu üben (TestSeb 5,1; vgl. Spr LXX 12,10). 38 Vgl. Dtn 10,17–18; Ps 10,16–18; 22,25; 68,6–7; 86,1; 102,3; Hi 34,28; 36,6.15; Spr 15,25; Sir 35(32),13–14(16–17).21; JosAs 11,13; 12,13–15; 4Q434a Frgm. 1,I,1–3. Zu Parallelen aus der altorientalischen Umwelt siehe Schellenberg, Hilfe, S. 183–184. 39 Vgl. Sir 2,11; 21,5; 48,20 und weiterhin SapSal 11,23; 15,1; Tob 3,2.11 (G-II); 6,18 (G-I); 7,12 (G-I); 8,16; JosAs 11,10. 40 Vgl. dazu Witte, Gerechtigkeit, S. 37–67. 41 Vgl. dazu auch ausführlich Nissen, Gott, S. 69–76; Gregory, Ring, S. 254–290, sowie knapp Marböck, HThKAT, S. 86–87. Zur imitatio dei als königliche Aufgabe siehe explizit Arist 210; 281 (μιμνήσκω!) sowie zu paganen (platonischen, stoischen), philonischen und patristischen Belegen Merki, Ὁμοίωσις, S. 1–17; 35–44; 44–175.

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Ben Sira gibt eine darüber hinausgehende theologische Motivation zu menschlicher Barmherzigkeit, wenn er im Sinn einer Steigerung des Motivs der imitatio dei, demjenigen, der sich den Waisen gegenüber als Vater und den Witwen gegenüber als Ehemann erweist,42 die Erhebung zum „Sohn Gottes / des Höchsten“ verheißt (Sir 4,10).43 Wie in Ps 112,9 steht auch hier im Hintergrund die Übertragung eines Elements aus der alten judäischen Königs­ ideologie auf den Weisen und Gerechten.44 Die in Jes 49,15 und 66,13 in Folge des Zusammenbruchs des judäischen Königtums der Exilsgemeinde zugesprochene Gottessohnschaft45 ist bei Ben Sira im Kontext der in hellenistischer Zeit immer weiter voranschreitenden Individualisierung aller Lebensbereiche dem einzelnen Frommen zugesagt, der Gott dann im Gebet ausdrücklich als seinen „Vater“ ansprechen kann (Sir 23,1.4; 51,10).46

5. Barmherzigkeit als Mittel der Sühne Wer selbst Barmherzigkeit übt, der kann entsprechend der Vorstellung reziproker Gerechtigkeit nicht nur selbst auf Barmherzigkeit hoffen, sondern sühnt Sünden bzw. wird von Sünden gereinigt, wie es Spr 16,6 (G: 15,27); Sir 3,30 und Tob 12,9 betonen.47 Wasser löscht loderndes Feuer, so sühnt Barmherzigkeit / Almosen Sünden. (Sir 3,30 [HA])

Barmherzigkeit tritt damit neben die zentralen Frömmigkeitsübungen im antiken Judentum, neben Opfer, Gebet und Fasten (vgl. Sir 7,10; Tob 12,8–9; Dan LXX 4,24[27]),48 aber auch neben die Abgabe des Zehnten und die Wallfahrt (Sir 35[32],9–10; Tob 1,8.16). Traditionsgeschichtlich steht diese Würdigung und Motivation von Barmherzigkeit im Schatten einer Ethisierung und Spiritualisierung von kultischen Vorstellungen (vgl. Sir 35[32],1–2 [G]),49 wie sie sich im jüdischen Schrifttum der hellenistischen Zeit auch in anderen Bereichen findet.50 Barmherzigkeit ist eine Form des Gottesdienstes: 42 Vgl.

Hi 29,16; TestHiob 53,3 bzw. Ex 22,21–23; Dtn 24,17–21; Jes 1,17. nach HA; in G und Syr ist die Aussage zu einem Vergleich abgeschwächt (G: „wie ein Sohn des Höchsten“ bzw. Syr: „wie ein Sohn vor Gott“); siehe dazu Beentjes, Waisen, S. 44. 44 Vgl. Ps 2,7; 2 Sam 7,14; 1 Chr 22,10; 28,6. 45 Vgl. Ex 4,22; Hos 11,1. 46 Vgl. SapSal 14,3 sowie weitergehend Mt 6,9 und Jak 3,9. 47 Vgl. auch Dan 4,24 (MT, LXX, Th.). 48 Vgl. dazu auch TestJos 10,1; Mt 6; Apg 10,2.4.31; Did 15,4; 2 Clem 16,4. 49 Siehe dazu Kaiser, Sühne, S. 100–118. 50 Vgl. Ps 1; 19; 73; 119 (siehe dazu Stolz, Psalmen); 1QHa XIV; XVI; XIX; 4Q400–407 und zu entsprechenden neutestamentlichen Tendenzen Horn, Ortsverschiebungen, S. 69–82. 43 So

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Wer sich des Armen erbarmt, ehrt (‫כבד‬, τιμάω) ihn (d. h. Gott). (Spr 14,31b)51

Wie Ben Siras Hochschätzung des Priestertums und des Jerusalemer Tempels zeigen (Sir 45; 50; vgl. auch Tob 13–14), ist mit der Anwendung der kultischen Begriffe „sühnen“ (‫כפר‬, ἐξιλάσκομαι) bzw. „reinigen“ (ἀποκαθαρίζω) auf ein ethisch vorbildhaftes Verhalten gegenüber den Bedürftigen aber keine Abwertung des Kultes an sich verbunden: Ethos und Kultus gehören bei Ben Sira (wie auch bei Tobit) vielmehr ebenso untrennbar zusammen (Sir 34[31],21–27; 35[32],15–22; Tob 13) wie das Studium der Tora und der Besuch des Tempels (Sir 6,37; 32[35],15.24; 33[36],1–3; 50,5–21 bzw. Tob 1,4.7; 14,5.9).

6. Barmherzigkeit als Mittel der Rettung aus dem Tod Lässt sich die Qualifikation menschlicher Barmherzigkeit als Mittel der Sühne bereits als eine soteriologische Begründung bezeichnen, so gilt dies in besonderer Weise für die Zusage, die im hebräischen Text von Sir 4,10 (HA) unmittelbar auf die Zusage der Gottessohnschaft für den Barmherzigen folgt: Wer Barmherzigkeit übt, wird von Gott aus der Grube (‫)שחת‬, d. h. dem Grab,52 gerettet. Der Stichos wird zumeist im Sinn der Bewahrung des Gerechten vor oder in der Todesgefahr verstanden, so dass hier dem Gerechten, entsprechend paralleler Formulierungen in individuellen Klage- und Dankpsalmen, die bleibende diesseitige Solidarität Gottes verheißen werde, die sich beispielsweise in einem besonders langen und erfüllten Leben verwirkliche.53 Insofern aber (1) die Formulierung der Errettung aus der Grube offen für eine postmortale Deutung ist, (2) Ben Sira zu einer Zeit schreibt, da sich im antiken Judentum vornehmlich in apokalyptischen und weisheitlichen Kreisen die Hoffnung auf eine Überwindung der Todesgrenze und auf ein Leben nach dem Tod artikuliert54 und (3) Ben Sira selbst punktuell eschatologische Tendenzen aufweist,55 ist nicht ausgeschlossen, dass Sir 4,10 (H) der Barmherzigkeit eine über den 51 Vgl. Spr 19,17 (vgl. Pap. Insinger 16,13 [Hoffmann / Quack, Anthologie, S. 256]; Test Jak 7,15–16; Mt 25,35–40). 52 Vgl. Sir 51,2; Ps 16,10; 49,10; Hi 33,22–30; Jes 38,17; 1QHa XVI,30. 53 Vgl. in diesem Sinn z. B. Peters, Buch, S. 40; Schreiner, Sirach, S. 32. 54 Vgl. Jes 25,8; 26,19; Dan 12,2–3; 4Q385; 1 Hen 22 bzw. Ps 37; 49; 73 und dazu Witte, Weg, S. 95–115. 55 Vgl. Sir 36,8(33,10); 48,10–11; 49,10.12. Zwar werden die genannten Stellen gelegentlich als sekundär angesehen (so zuletzt wieder Zapff, Sirach, S. 236), doch besteht angesichts der engen Verbindungen von weisheitlichen und eschatologischen Vorstellungen im jüdischen Schrifttum der hellenistischen Zeit (siehe dazu Witte, Psalm 37, S. 39–65) sowie der terminologischen und kompositionellen Einbindung von Sir 36; 48; 49 kein Anlass dazu, diese Passagen Ben Sira abzusprechen. Dass die Eschatologie in den jüngeren Versionen des Sirachbuches, zumal im griechischen Langtext (G-II) und in der altlateinischen Fassung erheblich zunimmt, ist eine andere Sache (vgl. dazu den Klassiker von Kearns, Text).

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Tod hinausreichende Bedeutung zumisst. Diese Einschätzung gilt ebenso für die Parallelen in Sir 29,12–13 (G); 40,24; Spr 10,2; 11,4; Tob 4,10; 12,9. Ähnlich kann in Sir 7,36 die Mahnung, bei allen Handlungen das Ende (‫אחרית‬, τὰ ἔσχατα) zu bedenken und deshalb „auf ewig nicht zugrunde zu gehen“, als eine eschatologische Begründung der in Sir 7 angesprochenen ethischen Verpflichtungen, zu denen auch die Unterstützung des Armen gehört (Sir 7,32), verstanden werden. Explizit begegnet eine eschatologische Motivation der Barmherzigkeit im Testament der Zwölf Patriarchen (1. Jh. v. Chr. / 1. Jh. n. Chr.). Hier wird nun das endzeitliche Erbarmen Gottes und die himmlische Herrlichkeit denen zugesagt, die „Mitleid in Erbarmen“ (εὐσπλαγχνία ἐν ἐλέει) gegenüber allen Menschen gezeigt haben (TestSeb 8,1–2 bzw. TestBen 4,1).56 Ähnlich wird in PsSal 9,5 die Gabe von Almosen als ein Mittel verstanden, sich „Leben bei Gott“ (d. h. ewiges Leben) als Schatz zu erwerben (θησαυρίζω). Dies findet ein neutestamentliches Pendant in der Bindung des ewigen Lebens an die Erfüllung des Gebots der Nächstenliebe (Lk 10,25–27)57 und kann als Variante der späteren Vorstellung vom Erwerb himmlischer Schätze mittels Wohltätigkeit verstanden werden (Lk 12,33).58

7. Vorbilder menschlicher Barmherzigkeit – Das Beispiel Tobits, Sebulons und Hiobs Neben den generell formulierten Mahnungen und Begründungen menschlicher Barmherzigkeit in Gestalt einzelner Weisheitssprüche oder Lehrreden bieten die jüdischen Weisheitsschriften aus hellenistisch-römischer Zeit teilweise ausgeführte narrative Beispiele gelebter Barmherzigkeit. Für die Rezipienten und Rezipientinnen dieser Texte ergibt sich aus diesen Beispielen implizit die Aufforderung, sich ebenso wie der beschriebene Held oder die beschriebene Heldin zu verhalten. Die am ausführlichsten beschriebenen Prototypen menschlicher Barmherzigkeit sind Tobit, Sebulon und Hiob sowie in merkwürdiger ironischer Brechung Hanna, die Frau Tobits, und Sitidos, die im Testament Hiobs die erste Frau des leidenden Gerechten aus dem Land Uz ist.

56 Zur

eschatologischen Ausrichtung von TestSeb siehe 10,2–3 (vgl. TestBen 10; Dan 12,2–3); zum „Kranz der Herrlichkeit“ (στέφανος δόξης, TestBen 4,1) als eschatologischer Gabe an die Gerechten vgl. 4 Makk 17,15; 1QS IV,7–8; 1 Petr 5,4; (Apk 2,10); bSchab 104a. 57 Vgl. auch Mt 25,31–46 (besonders V. 34–35); Jak 2,13; bSchab 127a; 151b; bKid 40a, bGit 7a, und weiterhin bSchab 32a, wo Almosen als „Fürsprecher“ (‫ )פרקליט‬im endzeitlichen Gericht erscheinen (vgl. bBB 10a). 58 Vgl. weiterhin TestLev 13,5; 2 Bar 14,12–13; 24,1; 44,13–14; 4 Esr 7,77; 2 Hen 50,5; 51,1–3; Mt 6,20; 1 Tim 6,17 und weiterhin bBB 11a (mit Hinweis auf Spr 11,30; Dtn 24,13 und Jes 58,8) sowie Gregory, Ring, S. 204–213.

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7.1 Das Beispiel Tobits Das Tobitbuch nähert sich literaturgeschichtlich zwar eher einem Roman und rekurriert bei seiner Beschreibung des Schicksals Tobits und seiner Familie in der assyrischen und persischen Diaspora vor allem auf literarische Muster der erzählenden Bücher der Hebräischen Bibel, zumal der Genesis. Es lässt sich aber aufgrund der ausführlichen Tobit in den Mund gelegten Lehrreden an seinen Sohn Tobias, die gleichermaßen in deuteronomistischer und weisheitlicher Tradition stehen,59 sowie seiner didaktischen Tendenz auch als weisheitlich ansprechen. Tobit erscheint als ein Ideal menschlicher Barmherzigkeit (Tob 1,16–18), die sich als Solidarität mit den ebenfalls im Exil befindlichen jüdischen Glaubensgeschwistern, als Gabe des Zehnten an Arme, Witwen, Waisen und Proselyten, als Sorge um eine ordentliche Bestattung, als Speisung Hungernder, Kleidung Nackter, pünktliche Entlohung von Tagelöhnern60 sowie in der Erziehung des eigenen Sohnes zur Wohltätigkeit (φιλελεήμων)61 artikuliert. Letztlich erweist sich Barmherzigkeit als Ausdruck von Gottesfurcht und Erfüllung der Gebote der Tora (Tob 1,8; 14,2 [G-I]; 14,9 [G-I]). Dabei kann der Erzähler am Beispiel des im Vollzug seiner Barmherzigkeitstaten erblindeten Tobits auch den Wert von Barmherzigkeit an sich problematisieren, wenn er die Frau Tobits die mehrdeutige Frage stellen lässt: „Wo sind deine Barmherzigkeitstaten? Wo sind deine gerechten Werke? Siehe, alles ist offenbar an dir“ (Tob 2,14). Wird hier ironisch die Gültigkeit des Tun-Ergehen-Zusammenhangs in Frage gestellt, insofern es Tobit trotz seiner anerkannten Barmherzigkeit gegenüber anderen Menschen (vgl. Tob 7,7 [G-II]) nun selbst schlecht geht, womit Sentenzen wie Tob 12,7 („Tut Gutes, so wird euch Böses nicht treffen“)62 widerlegt wären? Wird hier Tobits Blindheit kritisiert, insofern er nicht erkennt, dass der Ziegenbock, den seine Frau zur Versorgung der Familie mit ins Haus gebracht und wodurch sie sich eigentlich selbst als ein Muster an Barmherzigkeit erwiesen hat,63 ein Geschenk ist? Oder wird hier ernsthaft Tobits Barmherzigkeit in Frage gestellt, insofern sich nun im Leid seine eigentliche Gesinnung zeigt (vgl. Tob 3,6–7)? In jedem Fall verdeutlicht die kleine Szene zwischen Tobit und Hanna, wie ihre motivische Parallele in Hi 2,9 (zumal in der ausführlichen Fassung der LXX),64 dass eigenes Leid unbarmherzig werden lässt. Letztlich behält dann aber doch, wie der Erzäh59 Siehe

dazu ausführlich Macatangay, Instructions. Tob 4,14; TestHiob 12,1; Lev 19,13; Dtn 24,15; Mal LXX 3,5; Philo, spec. IV,195; Flav. Jos. Ant. IV,8,38; PsPhok 19; Mt 20,8. 61 Das in der Gräzität sehr seltene Wort ist möglicherweise ein Neologismus, der inschriftlich auch in der Schreibung φιλελήμων (bezogen auf Asklepios) begegnet (vgl. IG 22, Nr. 4514,20 / Anthologiae Graecae Appendix, Epigrammata exhortatoria et supplicatoria, Nr. 52,20). 62 Vgl. Sir 3,31; 16,14; 29,3; 40,17; Spr LXX 17,5c; 2 Hen 63,1; Pap. Insinger 15,21–22 (Hoffmann / Quack, Anthologie, S. 255). 63 Vgl. Spr 31,20; Apg 9,36. 64 Vgl. dazu Witte, Frau, S. 355–394. 60 Vgl.

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ler an der Heilung Tobits und der erfolgreichen Verheiratung seines Sohnes mit der ebenfalls von einem Dämon befreiten Sarra zeigt, die Vorstellung ihr Recht, dass dem Barmherzigen Barmherzigkeit widerfährt, was sich nach den Schlussworten Tobits auch geschichtstheologisch belegen lässt: Manasse tat Barmherzigkeit und wurde aus der Schlinge des Todes gerettet, die er (d. h. Gott) ihm gelegt hatte; Haman aber fiel in die Schlinge und ging zugrunde. Und nun sieh, Kind, was Barmherzigkeit vermag und wie die Gerechtigkeit rettet. (Tob 14,10–11 [G-I])65

7.2 Das Beispiel Sebulons Erscheinen die eindringlichsten Mahnungen zur Barmherzigkeit im Tobitbuch im Kontext des Vermächtnisses Tobits an seinen Sohn neben anderen religiösen Ermahnungen (Tob 4), so ist das Testament Sebulons vollständig dem Mitleid und der Barmherzigkeit (περὶ εὐσπλαγχνίας καὶ ἐλέους, TestSeb 1,0) gewidmet. Dieses Thema lässt der Dichter in Form der Ich-Rede den Jakobssohn Sebulon am Vorabend seines Todes seinen Söhnen am Beispiel Josephs (TestSeb 8,4)66 und seiner selbst entfalten. In midraschähnlicher Ausmalung der Josephsgeschichte (Gen 37–50) stellt sich Sebulon als Beispiel menschlichen Mitleids dar, das sich in einer seinen ganzen Körper betreffenden Sympathie mit dem von den Brüdern verfolgten Joseph und im Fasten artikuliert (TestSeb 2; 4). Gerade im Mitleiden (συμπάσχω; σπλαγχνίζομαι67) realisiert sich für Sebulon Barmherzigkeit. Diese kann so weit gehen, dass Sebulon zwecks Bekleidung eines Nackten ein Gewand stiehlt (TestSeb 7,1) oder dass er im Fall eigener Armut den Bedürftigen begleitet und gemeinsam mit ihm klagt (TestSeb 7,3). Steht das Testament Sebulons mit seiner Korrelation von Barmherzigkeit und Erfüllung der Gebote der Tora (TestSeb 5) sowie der göttlichen Vergeltung menschlicher Barmherzigkeit unmittelbar neben den oben genannten Passagen aus Ps 112, Ben Sira oder Tobit, so weist sein eindringlicher Aufruf zum Mitleiden doch eine anthropologisch, psychologisch und ethisch vertiefte Reflexion über die Barmherzigkeit mit allen bedürftigen Geschöpfen auf. Im Testament Issachars und Benjamins wird dies noch zugespitzt, indem dort Barmherzigkeit als Konkretion von Gottesliebe und Nächstenliebe erscheint (TestIss 5,2; 7,5–6).68 Dass Barmherzigkeit schließlich eine Nachahmung provozierende Kraft innewohnt, somit Barmherzigkeit auch die Wirklichkeit grundsätzlich G-II erscheinen anstelle von Manasse (vgl. 2 Chr 33,11–17 und Flav. Jos. Ant. X,3,2, wo allerdings nicht von der Barmherzigkeit, sondern von Gebet und Buße des Königs die Rede ist) und anstelle von Haman (vgl. Est 7,10) Achikar und sein Neffe Nadab, was angesichts weiterer Achikar-Notizen in Tob 1,21–22; 2,10; 11,18(19) möglicherweise ursprünglich ist (so Ego, Tobit, S. 1316–1352, besonders 1351–1352). 66 Zu Joseph als Vorbild an Barmherzigkeit vgl. auch TestSim 4,4; TestJos 3,5; TestBen 3,1; 4,1; JosAs 8,8(9); Philo, Jos. 94; 240, zu Issachar vgl. TestIss 7,5. 67 Vgl. dazu die unter Anm. 8 genannten neutestamentlichen Parallelen, zumal Lk 10,33. 68 S. o. Anm. 35. 65 In

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zu ändern vermag, betont ausdrücklich – in Anlehnung an Gen 50,20 – das Testament Benjamins: Derjenige, der das Gute tut, überwindet das Böse. (TestBen 4,3)

7.3 Das Beispiel Hiobs In breiter narrativer Ausgestaltung der Bekenntnisse Hiobs zu seiner Barmherzigkeit gegenüber Notleidenden, mittels derer er einerseits die seitens seiner Freunde gegen ihn erhobenen Vorwürfe asozialen Verhaltens (Hi 20,19; 22,6– 9) scharf zurückweist (Hi 29,12–17; 30,25 LXX), andererseits Gott angesichts offensichtlicher Ungerechtigkeit in der Welt (Hi 9,24; 24,1–12) ultimativ zum Rechtsstreit herausfordert (Hi 31,13–23), bietet das Testament Hiobs (1. / 2. Jh. n. Chr.) die ausführlichste narrative Beschreibung von Taten der Barmherzigkeit im Rahmen des jüdischen Schrifttums aus hellenistisch-römischer Zeit.69 Die in Ps 112,9; Sir 4,10 oder in Hi 2970 greifbare Royalisierung des Weisen ist hier gewissermaßen rückgängig gemacht, insofern Hiob im Gefolge der LXX, auf der das Testament Hiobs basiert,71 ausdrücklich als König erscheint. Aus dem überbordenden Reichtum Hiobs, den der Verfasser des Testaments in Überhöhung von Hi 1,3 beschreibt, fließt die Mildtätigkeit Hiobs gegenüber Waisen, Witwen, Armen und Schwachen, Fremdlingen und Entrechteten in seinem ganzen Reich, über die der Held selbstbewusst spricht.72 Hiob erscheint als der wohltätige Herrscher (εὐεργέτης, vgl. TestHiob 16,6)73 schlechthin, als Muster an ἐλεημοσύνη, προθυμία, διακονία und ὑπερησία (TestHiob 9–17; 32,2–3.7), als „Kraft der Schwachen, Licht der Blinden, Vater der Waisen, Gastgeber der Fremden, Versorger der Witwen, Mann Gottes (ἄν­θρωπος τοῦ θεοῦ)74“ (TestHiob 53,1–4), dessen Handeln zur Nachahmung animiert (Test Hiob 11,1). 69 Siehe

dazu auch Dochhorn, Krise, S. 79–88. dazu Opel, Anspruch, S. 21–58; 175–183. 71 Vgl. dazu Schaller, Testament, S. 301–387, besonders 306; Spittler, Testament, S. 829– 868, besonders  831. 72 Dient die Herausstellung der sozialen Gerechtigkeit Hiobs in der biblischen Vorlage als Unterstreichung der Unschuld Hiobs vor Gott und als eindringlicher Appell, Gott möge den leidenden Gerechten endlich ins Recht setzen, so zielt die Beschreibung der Barmherzigkeit Hiobs im Testament auf die Präsentation seines absolut vorbildhaften Verhaltens, über das auch öffentlich zu reden geradezu geboten ist (doch siehe dazu auch Mt 6,1–4 und bBB 9b). 73 Der Begriff εὐεργέτης hat seinen eigentlichen Ort im paganen Bereich und begegnet als Titel zunehmend in hellenistisch-römischer Zeit für Götter, Herrscher, Könige, Staatsmänner, Philosophen, Erfinder und Ärzte. In diesem Sinn wird er dann auch im jüdisch-hellenistischen Schrifttum und im NT verwendet (vgl. Est 8,12c / E2; 2 Makk 9,26; 4 Makk 8,6.17; Philo, decal. 166; Lk 22,25) (Bertram, εὐεργετέω, S. 651–653). Dabei kann Philo, mut. 40, εὐεργέτειν auch allgemein als Begriff für barmherziges Verhalten verwenden. Zur Bedeutung des Euergetismus in der paganen Gesellschaft der hellenistisch-römischen Zeit siehe Gehrke, Euergetismus, S. 228–230. 74 Vgl. Dtn 33,1; Ps 90,1; 1 Kön 17,24; 2 Chr 8,14; Philo, gig. 63. 70 Vgl.

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Der gegenüber der Vorlage zu einer eigenständigen Figur ausgestaltete Satan kommt dann bezeichnenderweise als Bettler verkleidet zu Hiob (TestHiob 6,4), oder er kann sogar Hiob beschuldigen, er habe die Güter des Landes zugunsten der Notleidenden, Blinden und Lahmen verschleudert (vgl. Hi 29,15) und sich dementsprechend gerade nicht als kluger Herrscher erwiesen (TestHiob 17). Dabei erscheinen als besondere Fälle der Barmherzigkeit Hiobs die Verteilung von Opferfleisch an die Armen (TestHiob 15,5)75 und die Verurteilung des Hochmutes der Reichen als Gräuel vor Gott (TestHiob 15,8)76. Letzteres Motiv begegnet positiv gewendet auch in den weisheitlichen Spruchreihen des Pseudo-Phokylides, die u. a. zu einem verantwortlichen, das heißt großzügigen Umgang mit dem als Gabe Gottes verstandenen Reichtum mahnen (PsPhok 28–30; 109–111),77 die allerdings im Vergleich zu anderen jüdischen Weisheitsschriften aus hellenistischer Zeit „Barmherzigkeit“ wenig thematisieren (PsPhok 19; 22–29; 109–111; 137; 223–226).78 Neben der Präsentation der vorbildlichen Barmherzigkeit Hiobs spielt „Barmherzigkeit“ auch bei der Konturierung weiterer Protagonisten des Testaments eine Rolle. Elihu, der in der biblischen Vorlage ein glühender Verfechter der Gerechtigkeit Gottes ist, mutiert im TestHiob zum vom Satan inspirierten negativen Gegenüber Hiobs, zum Frevler (‫רשע‬, ἀσεβής) par excellence, den auch Unbarmherzigkeit kennzeichnet (TestHiob 43,11, vgl. Hi 20,19). Das barmherzige Verhalten der Sitidos erscheint hingegen in einer merkwürdigen Ambivalenz. Ihre Versorgung des kranken Hiob wird als Zeichen mangelnder Geduld auf Gottes rettendes Eingreifen negativ gewertet (TestHiob 23,5; 26,5; vgl. Tob 2,14), ebenso wird ihr Wunsch, die ums Leben gekommenen Kinder zu bestatten, als Ausdruck mangelnden Wissens um den himmlischen Aufenthaltsort der Toten beurteilt (TestHiob 39,8–13). Andererseits stimmen die Armen der Stadt für Sitidos, die kurz vor ihrem Tod noch zur Einsicht gekommen ist, dass sie auferstehen und himmlisch entlohnt werde, die Totenklage an (TestHiob 40,4.13). Zum barmherzigen Handeln muss dementsprechend der Glaube an das in Zeit und Ewigkeit rettende Handeln Gottes, der selbst der Barmherzige ist (TestHiob 26,5; 47,4), hinzu kommen. Barmherzigkeit ist somit nur im Kontext einer vollständigen religiösen und moralischen Integrität Ausdruck eines guten Handelns (vgl. TestAss 2,6). Eine ausdrückliche Begründung der Barmherzigkeit bietet das Testament Hiobs nicht. Die Wohltätigkeit des über sein Leiden im Gegensatz zur bibliDtn 14,28–29; Philo, spec. I,221; EpJer 27. Sir 10,7; Philo, virt. 171; 2 Hen 63,4; Spr LXX 11,1; 16,5; Lk 16,15. 77 Vgl. Vgl. Sir 5,1.8; 8,2; 11,10; 13,24; 14,3–19; 31,5; syrMen 235–237; 354–355; Pap. Insinger 16,12 (Hoffmann / Quack, Anthologie, S. 256) und dazu Wischmeyer, Kultur, S. 54– 56; Kaiser, Arm, S. 144–160; Gregory, Ring, S. 25–90. 78 Dabei gehört die Mahnung, mit dem Bedürftigen zu teilen, was Gott einem selbst gab (PsPhok 29), zu den ganz wenigen explizit theologischen Wendungen des Pseudo-Phokylides. Zu PsPhok 22–29 siehe Wilson, Pseudo-Phocylides, S. 97–103, und Tilly, Besitzethik, S. 309–325. 75 Vgl. 76 Vgl.

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schen Dichtung völlig erhabenen und um die Auferstehung wissenden Helden ist Ausweis seiner Gerechtigkeit und Frömmigkeit sowie Grundlage seiner universalen Berühmtheit. Nur implizit ergibt sich für die Lesenden die Mahnung, dass sich selbst geübte Barmherzigkeit doppelt auszahlt (vgl. TestHiob 4,6–7 im Rückgriff auf Hi 42,10), dass der Tun-Ergehen-Zusammenhang und die Gerechtigkeit Gottes demzufolge funktionieren (TestHiob 4,8), und dass Barmherzigkeit mit der Auferweckung belohnt wird (TestHiob 4,9 im Rückgriff auf Hi LXX 42,17; vgl. Jak 5,7.11).

8. Zusammenfassung Bei ihren Reflexionen über das Wesen des Menschen und seine Stellung in der Welt thematisieren die jüdischen Weisheitsschriften aus hellenistisch-römischer Zeit alle in mehr oder weniger starkem Umfang auch das Phänomen sozialer Ungleichheit, die nicht zuletzt eine Folge der ökonomischen Veränderungen in den von Ptolemäern und Seleukiden dominierten Regionen der Levante darstellt.79 Dabei beschränken sich die jüdischen Weisen nicht darauf, Armut und Reichtum als anthropologische Gegebenheiten zu konstatieren (vgl. Sir 11,14), sondern sie versuchen auch, sich psychologisch in die Situation Armer und Bedürftiger zu versetzen, wenn sie diese als Verhasste,80 Verbitterte,81 Klagende oder Leidende beschreiben oder wenn sie mahnen, Arme nicht zu verspotten.82 Psychologisch tiefsinnig kann das Testament Gads darauf verweisen, dass derjenige, der unbarmherzig (ἀνηλεῶς) handelt, selbst krank wird (TestGad 5,10–11). Vor allem rufen die Weisen ausdrücklich zur Barmherzigkeit mit den personae miserae auf. Eine eigentliche Begründung für das Faktum, dass es bedürftige und notleidende Menschen gibt, findet sich nur am Rand: So kann Armut selbstverschuldet als Folge von Faulheit, Prasserei oder Missachtung von Erziehung83 sowie als Ergebnis von Habsucht und Neid Besitzender bezeichnet werden.84 Unterdrückung und Gewalt können auf Ausbeutung durch Reiche oder auf Krieg zurückgeführt werden.85 Krankheit kann als kontingent (Tob 2,9–10), als Mittel göttlicher Strafe und Erziehung oder als Prüfung erscheinen (Hi 2,7). Oder das Phänomen von Bedürftigen und Wohlhabenden in der Ge79 Siehe dazu noch immer den Klassiker von Rostovtzeff, Wirtschaftsgeschichte I, S. 196–424; III, S. 1131–1211, sowie Hengel, Judentum, S. 32–92. 80 Spr 14,21; Sir 13,20. 81 Sir 4,1.6; 7,11; vgl. Hi 21,25; Spr 31,6; Rt 1,20; Achikar VI,11 (Weigl, Achikar, S. 157– 160). 82 Sir 4,1–5; 7,11; 11,4. 83 Spr 6,11; 14,23; 21,5.17; 24,34 bzw. Spr 13,18. 84 Spr 14,30 + 31; Pred 4,4 (vgl. Gen 4,3–8); Tob 4,7–16; TestSim 3; TestGad 3,3; 7,2; Test Ben 4,4. 85 Hi 24,1–12; Pred 5,7; SapSal 2,10–11.

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sellschaft wird einfach zu den undurchschaubaren Geheimnissen in der Welt gezählt.86 In letzterem Fall ist Respekt gegenüber dem Armen auch ein Zeichen von Klugheit, da sie mit Gottes verborgenem Handeln rechnet (Sir 11,4). Ebenso ist es weise, sofern man zu den Begüterten gehört, die Vergänglichkeit des Besitzes zu bedenken.87 Weiten Raum nehmen die Konkretionen und Motivationen menschlicher Barmherzigkeit ein. Dabei wird Barmherzigkeit zumeist vor dem Hintergrund konnektiver Gerechtigkeit bedacht, der aber dort aufgeweicht wird, wo Gottesliebe und Nächstenliebe in Barmherzigkeit Gestalt annehmen (TestIss 5,2). Anthropologisch wesentlich ist, dass der Mensch in allen hier behandelten Texten – bei allen literar- und sozialgeschichtlichen Unterschieden im Einzelnen – in der Fluchtlinie von Dtn 30,15–20 (vgl. Sir 15,11–17)88 als ein mit einem freien Willen ausgestattetes, zur Wahrnehmung sozialer Differenzen fähiges und zu einem Ethos der Solidarität geschaffenes Wesen betrachtet wird. Als konkrete Formen von Barmherzigkeit erscheinen Großzügigkeit und Freigebigkeit, Speisung und Einladung Hungernder, Bekleidung Nackter, Pflege Kranker, Rechtsschutz vor Gericht Benachteiligter, Beerdigung Unbestatteter und Mitleid, das sich auch auf den leidenden Gegner, den Sünder und die Tiere erstrecken soll. Die zur Ausübung von Barmherzigkeit motivierenden Begründungen sind entweder allgemein toratheologischer Art, insofern Barmherzigkeit generell als Erfüllung der Gebote der Tora erscheint,89 anthropologischer Art, insofern auf die gemeinsame Geschöpflichkeit aller Menschen verwiesen wird, theologischer Art, insofern menschliche Barmherzigkeit als Entsprechung zu Gott dem Barmherzigen (imitatio dei) verstanden wird,90 soteriologischer Art, insofern Barmherzigkeit eine sühnende Wirkung zugeschrieben wird, oder soteriologisch-eschatologischer Art, insofern Barmherzigkeit als Mittel zur Rettung aus dem Tod und Bewahrung im endzeitlichen Gericht verstanden wird. Eine eigentliche geschichtstheologische Motivation der Ethik mit dem Hinweis auf das Handeln Jhwhʼs in der Frühgeschichte Is86 Pred 4,1–3; 8,16–17; Hi 24,12 und ähnlich in ägyptischen Weisheitstexten: Pap. Insin­ ger 7,18–20; 17,2–3; 30,15–16; Chascheschonqi 12,x + 3; 26,x + 7–8 (Hoffmann / Quack, Anthologie, S. 248; 256; 268; 285; 298). 87 Pred 5,6–6,9; Ps 49,17–21; Sir 14,11–19; PsPhok 109–110; Pap. Insinger 17,7–9; 18,13– 14 (Hoffmann / Quack, Anthologie, S. 257–276). 88 Siehe dazu Witte, Gesetz (in diesem Band S. 113–114). 89 Vgl. Ps 112,1; Spr 19,16; Sir 29,1.8.17 (G); 35[32],7 (G); Tob 1,8; 14,9; TestJud 18,3; TestIss 5,1–2; 7,5–6; TestSeb 5. Explizite Zitate aus der Tora zur Begründung der Barmherzigkeit finden sich kaum, auch wenn als Grundtexte, die hinter den entsprechenden Formulierungen ‫ מצות יהוה‬bzw. ἐντολαὶ κυρίου stehen, die Sozialgebote aus Ex 20–23*, besonders aus Ex 21,1–10 (vgl. Sir 33[30],30[38]) und 22,20–26, aus Lev 19,18 (vgl. Sir 31[34],15) sowie aus Dtn 15,1–11 (vgl. Sir 29,9) und Dtn 15,12–18 (vgl. Sir 33[30],30[38]) angenommen werden können. 90 Vgl. Lk 6,36 sowie TPsJ Lev 22,28; BerR 48 (zu Gen 18,4), bSot 14a (siehe dazu mit weiteren Belegen aus der rabbinischen Literatur Signer, Barmherzigkeit, S. 228–232). Zur Barmherzigkeit als imitatio Christi vgl. Phil 2,1–5 und dazu Gregory, Ring, S. 284–286.

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raels, wie sie sich in der alttestamentlichen Prophetie findet,91 begegnet nur vereinzelt in der späten Weisheit des 2. / 1. Jh. v. Chr., welche die Reflexion der Geschichte ausdrücklich in ihr Denken einbezieht.92 Traditionsgeschichtlich stehen diese Begründungen im Zusammenhang einer „Demokratisierung“ der Königsideologie, insofern der Weise als Barmherziger eine königliche Aufgabe wahrnimmt, einer Ethisierung und Spiritualisierung kultischer Vorstellungen, insofern Barmherzigkeit neben Opfer, Gebet und Fasten als eine Form des Gottesdienstes erscheint, sowie einer Eschatologisierung von Heilsvorstellungen, insofern das dem Barmherzigen zugesagte erfüllte Leben auch erst ein Leben nach dem Tod sein kann. Rezeptionsgeschichtlich findet das weisheitliche Barmherzigkeitsethos in den verschiedenen neutestamentlichen Ethiken eine modifizierte und radikalisierte Fortführung, indem nun, unter Aufnahme prophetischer und apokalyptischer Motive, barmherziges Handeln in die Verkündigung der βασιλεία τοῦ θεοῦ eingeschrieben wird,93 Jesu Erbarmen mit den Notleidenden das einzigartige Spiegelbild göttlicher Barmherzigkeit ist94 und Barmherzigkeit zum christlichen Habitus wird.95

91 Siehe

dazu Seiler, Dimension, S. 584–585. neben der großen Geschichtsschau im „Lob der Väter“ (Sir 44–49; 50): Sir 16,1– 14 (besonders V. 6–10) mit Num 16,35; Gen 6,4; 19,24; Ex 23,33; 33,3; 12,37; Num 14,22– 23.29–30 und (indirekt) SapSal 19,13–17 mit Gen 45,16–21; Ex 1,14–16; Gen 19,10–11; Ex 10,21–23. 93 Vgl. Mt 9,35–36. 94 Vgl. Lk 15,1.20 und dazu Feldmeier / Spieckermann, Gott, S. 77 Anm. 89. 95 Vgl. Kol 3,12 im Gegenüber zu Hi 29,14. 92 Vgl.

Der Glaube an den einen Gott in der israelitisch-jüdischen Weisheit Abstract: This article illuminates the manifold discourse on the unity, uniqueness and multiplicity of God in the sapiential scriptures of the Hebrew Bible and the Septuagint. A journey through the Book of Job, Proverbs, Qohelet, Ben Sira / Jesus Sirach and Wisdom of Solomon illustrates how the conception of one God who is the creator of the world, the master of history and the lord over life and death is expanded pre-philosophically by the Jewish wisdom literature in the Second Temple period. Genuine Israelite-Jewish traditions such as Deutero­ nomy and Deutero-Isaiah, but also Stoic conceptions, Egyptian elements of the Ma’at theology and the Isis adoration are essential factors of this theoretical design of the faith in one God. Furthermore, creation theology and theodicy play a central role in the sapiential figuration of the belief in the one true God.

1. Weisheit als Theologie Die Frage nach der Einheit und Vielheit Gottes ist im Grunde die Frage nach dem Wesen Gottes. Als solche lässt sie sich auffächern in die Fragen nach dem Sein und dem Handeln Gottes, nach der Vielfalt der Gotteserfahrungen und der Gestaltungen dieser Erfahrungen sowie nach der Pluralität des Glaubens an unterschiedliche Götter. Damit umfasst die Frage nach der Einheit und Vielheit Gottes auch die Frage nach göttlichen Repräsentationen in der Welt und nach Möglichkeiten menschlicher Partizipation an der als Gott erfahrenen und angesprochenen Macht. Dies beinhaltet schließlich die Frage nach der angemessenen Form der Rede von, durch und zu Gott, also nach dem, was am Ende des Buchs Hiob in Gestalt eines Gotteswortes als rechte, weil sachlich zutreffende und situativ authentische, Rede über Gott, als ‫ נכונה‬bzw. ἀληθές bezeichnet wird (Hi 42,7).1 Kurz: die Frage nach der Einheit und Vielheit Gottes ist eine genuin theologische Frage. Dies mag banal klingen, ist es aber nicht, wenn

1 Die Deutung des zweifachen Urteils Jhwhʼs, sein Knecht Hiob habe im Gegensatz zu den Freunden ‫ נכונה‬zu (‫ )אל‬ihm geredet, ist vor allem wegen der Mehrdeutigkeit der Präposition heftig umstritten; zu einer kritischen Diskussion neuerer Interpretationen siehe Kottsieper, Thema, S. 775–785. Kottsiepers eigene Deutung von ‫ אלי‬als Präposition zu ‫ נכונה‬und die daraus resultierende Übersetzung als „hinsichtlich dessen, was Sache ist“, vermag mich allerdings nicht zu überzeugen.

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man bedenkt, dass „(i)n der Bibel und in der rabbinischen Literatur […] wenig darüber zu erfahren ist, was unter der Einheit Gottes zu verstehen ist.“2 Aus der Perspektive des Alten Testaments liegt es nahe, dieses Thema im Spiegel der Weisheitsbücher zu betrachten. Zwar enthalten auch die anderen alttestamentlichen Schriften Theologie, genauer Theologien, sei es, dass sie in mythischer Form von Gott erzählen, dass sie Geschichte als Handlungsort Gottes beschreibend deuten oder dass sie Leben angesichts ambivalenter Wirklichkeitserfahrungen lobend und dankend, bittend und klagend vor Gott ausbreiten. Aber die Weisheitsbücher nähern sich aufgrund ihres reflexiven und diskursiven, mitunter definitorischen Charakters sowie ihrer Anlage zu Argumentation und Selbstkritik doch am stärksten einer systematisch strukturierten und auf Anwendung bezogenen Rede von Gott. Die Weisheitsbücher lassen sich dementsprechend als alttestamentliche „Urform“ von Theologie bezeichnen.3 Vier Hinweise sollen den exemplarisch theologischen Charakter der israelitisch-jüdischen Weisheit, wie er in der Hebräischen Bibel und intensiviert in der LXX vorliegt, verdeutlichen. 1. Die Weisheitsschriften reflektieren verschiedene Arten der Gotteserkenntnis, wie die sich aus Alltagserfahrung speisende und durch Tradition vermittelte, die durch besondere Inspiration gewonnene oder die mittels einer speziellen Offenbarung (wie der Tora bzw. des Nomos) geschenkte. Die Sapientia thematisiert zusätzlich die sich aus der Betrachtung der Schöpfung ergebende Gotteserkenntnis.4 In gewissem Sinn können die Weisheitsbücher als ein kritischer Dialog zwischen Erfahrungs-, Inspirations- und Offenbarungstheologien gelesen werden.5 Beispielhaft dafür sind die unterschiedlichen Argumentationsstrategien der Protagonisten im Buch Hiob, sei es, dass sich Hiob und seine Freunde zunächst auf ihre eigene und die ihnen durch vorangehende Generationen vererbte Erfahrung berufen (Hi 4,8; 8,8–10), sei es, dass – im Rahmen einer fortgeschriebenen Buchgestalt – Elifas die Erkenntnis der grundlegenden Differenz zwischen dem allein gerechten Gott und dem als Geschöpf gegenüber Gott immer im Unrecht befindlichen, daher sündigen Menschen einer nächtlichen Vision verdankt (Hi 4,12–21) bzw. Hiob aufgrund der abschließenden Theophanie zu eben dieser Einsicht 2 Starobinski-Safran,

Monotheismus, S. 250. Zu einem ähnlichen Votum siehe FeldmeiGott, S. 97. 3 Siehe dazu auch Spieckermann, Theologie, S. 266. Insofern überrascht es, dass die Weisheitsliteratur weder von W. H. Schmidt in seinem Artikel „Monotheismus“ noch in dem von M. Krebernik und J. van Oorschot herausgegebenen Sammelband „Polytheismus“ ausführlicher zur Sprache kommt. Auch in dem von M. Oeming und K. Schmid edierten Aufsatzband „Gott“ wird die Weisheitsliteratur nur in den Thesen von Knauf, Bibel, S. 39–48 berücksichtigt. Vgl. hingegen Schroer, Weisheit, S. 151–190; Stolz, Einführung, S. 187–207; Krüger, Einheit, S. 15–50. 4 SapSal 13,1–9; zum Begriff der γνῶσις θεοῦ vgl. auch SapSal 2,13; 14,22; PsSal 9,3. 5 Vgl. dazu auch den von M. Saur herausgegebenen Sammelband zur theologischen Bedeutung der alttestamentlichen Weisheitsliteratur (2012).

er / Spieckermann,

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kommt (Hi 38,1; 42,5) oder dass – auf einer der jüngsten redaktionsgeschichtlichen Stufen des Werks – Elihu seine besondere theologische Begabung mit dem göttlichen Geist anführt (Hi 32,8.18; 33,4). 2. In der Weisheit kommt die gelebte Religion als Ort, an dem Einheit und Vielheit Gottes im Alltag und im praktischen Vollzug eine Rolle spielen, vielfältig und kritisch zur Sprache. So gehören zu den weisheitlichen Reflexionen über Gott sentenzenhafte, narrative und traktatähnliche Ausführungen über die Gestaltung der Gottesbeziehung in Gebet und Opfer, Gelübde und Divination, Kultbild und heiliger Schrift oder Tempelbesuch und Totenkult. 3. Die alttestamentliche Weisheit besitzt eine besondere theologiegeschichtliche Bedeutung innerhalb des Alten Testaments. Sie ist ein Sammelbecken der unterschiedlichen Traditionen des antiken Israel und integriert – mit jeweils graduellen Differenzen – Vorstellungen über die Einheit und Vielheit Gottes aus der mythischen, juridischen, kultisch-rituellen, prophetischen und historiographischen Überlieferung in ihr Nachdenken über den als Garant einer gerechten Weltordnung vorausgesetzten, bestrittenen oder erhofften Schöpfergott. In der griechischen Gestalt der alttestamentlichen Weisheitsbücher zeigt sich zudem ein Einfluss aus der paganen Welt (Homer, Tragiker, Alexandrinische Dichterschule, Stoa). Das Sirachbuch und die Sapientia entwickeln darüber hinaus ihre Gottesvorstellung mittels midrasch­ ähnlicher Kombinationen von Zitaten aus der „Schrift“ und Auslegungen ganzer Abschnitte aus der Tora und den Propheten. Die Sammlung dieser Traditionen in der Weisheit wirkt dann auf die entsprechenden Überlieferungsbereiche zurück, die in der heute vorliegenden Gestalt alle eine mehr oder weniger starke weisheitliche Imprägnierung besitzen, so dass auch von einer Sapientialisierung der Tora oder der Prophetie gesprochen werden kann. Gleichwohl bleiben in dieser großen Synthese alttestamentlicher Theologien in den Weisheitsbüchern religions- und sozialgeschichtlich sowie textpragmatisch bedingte Unterschiede erhalten. 4. Zu der inneralttestamentlichen Bedeutung der Weisheitsbücher tritt deren hermeneutische Relevanz für die jüdische und christliche sowie die spätantike Religionsgeschichte insgesamt. Gerade die Weisheitsbücher vermittelten, zumal in ihrer griechischen Gestalt, wesentliche Elemente der israelitisch-jüdischen Gottesvorstellungen an die pagane Welt und lieferten dem Christentum Denkfiguren für seine Theologie, insbesondere für die Bestimmung des Verhältnisses zwischen dem als unüberbietbare Manifestation des Heils verstandenen Jesus Christus zu dem von diesem ausschließlich als Vater, Herr und Guter bezeichneten Gott.6 Bei aller integrierenden und synthetisierenden Kraft bieten die Weisheitsbücher keine stringente Philosophie der Einheit und Vielheit Gottes im Stile Pla6 Vgl. Mk 10,18 par. Lk 18,19 (versus Jer 33,11; Nah 1,7; Ps 34,9; 100,5; 118,1.29; 119,68; 135,3; 136,1; 145,9; Klgl 3,25; 2 Chr 30,18; Sir 45,25; 4Q403 Frgm. 1 I,5 bzw. Mk 12,29.32.

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tos, Aristotelesʼ oder gar Plotins7, sondern eine Vielzahl von Aspekten der Rede von Gott, oft nur in Sentenzen, die sich kaum zufällig mit den Aphorismen eines Heraklit oder Xenophanes berühren. Dementsprechend kann hier auch nur ein kleiner Überblick über ausgewählte Punkte gegeben werden, die – neben vielen anderen Aspekten – zum Thema der Einheit und Vielheit Gottes gehören und die in der alttestamentlichen Weisheit als solche ausdrücklich behandelt werden. Dass diese Übersicht nur ein Fragment darstellt, ist insofern der Beschäftigung mit der Weisheit adäquat, als dass diese sich von Ben Sira / Jesus Sirach bis zu Paulus in besonderer Weise des bruchstückhaften Charakters jeder Rede von Gott bewusst ist (Sir 18,7; 1 Kor 13,9).

2. Einheit der alttestamentlichen Weisheit Die Vorstellung, dass Gott einer und einzig ist, wird in den alttestamentlichen Weisheitsbüchern vorausgesetzt. Hans-Peter Müller hat in diesem Zusammenhang auf religionsphänomenologischer Basis von dem latent monotheistischen Charakter der gesamten alttestamentlichen (und altvorderorientalischen) Weisheit gesprochen und diesen auf ihre Verankerung in einer Urheber- oder Hochgottreligion zurückgeführt.8 Hinzu kommt aber, dass die Weisheitsbücher, wie sie heute in ihrer Endgestalt aus dem ausgehenden dritten Jahrhundert vor Christus (so im Fall der Sprüche Salomos, Hiobs und Kohelets), dem frühen und mittleren zweiten Jahrhundert (so im Fall des hebräischen, aber nur fragmentarisch erhaltenen Originals und der jüngeren griechischen Übersetzung des Sirachbuchs) und dem ausgehenden ersten Jahrhundert (so im Fall der Weisheit Salomos) vorliegen, religionsgeschichtlich alle im Schatten des monotheistisch verstandenen Šemaʽ Jiśrāʼel (Dtn 6,4–5) und des spätdeuteronomistischen exklusiven Monotheismus (Dtn 4,39) stehen. Die Rezeption des Šemaʽ Jiśrāʼel, des Deuteronomiums und der Tora insgesamt ist im Sirachbuch und in der Weisheit Salomos offensichtlich.9 In den anderen Weisheitsbüchern findet sich die Aufnahme der Tora punktuell (so in den Sprüchen und Kohelet)10 oder strukturell (so in Hi7 Zu Plotin (205–270 n. Chr.) als Philosophen der Einheit Gottes siehe Weischedel, Gott I, S. 63–65. 8 Müller, Monotheismus, S. 1459–1462; ders., Neige, S. 143–168. 9 Treffend bezeichnete bereits Martin Luther die Weisheit Salomos als eine „rechte Auslegung“ des ersten Gebots (Luther, Schrifft II, S. 1702). 10 Vgl. Spr 13,13; (18,10 als Erbe der deuteronomischen Namens-Theologie); 19,16; 28,4. 7.9; 29,18; 30,1–9 bzw. Pred 5,3–4 (vgl. Dtn 23,22–24); 5,5 (vgl. Lev 4–5; Num 15,22–31); 11,9 (Num 15,39); siehe dazu auch Krüger, Kohelet, S. 48, und Schwienhorst-Schönberger, Kohelet, S. 43–44, der Zitate aus der Tora (Pred 5,3aα: Dtn 23,22a; Pred 5,5aγ: Num 15,25bα), Anspielungen auf die Tora (Pred 3,11a: Gen 1; Pred 3,20b; 12,7: Gen 2,7.19; Pred 7,29: Gen 1–2) und Querverbindungen zur Tora (Pred 12,12–14: Dtn 31,11–13) namhaft macht.

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ob).11 Gerade neuere Untersuchungen zum theologiegeschichtlichen Ort der Weisheitsbücher zeigen, dass diese auch ein kritischer Toradiskurs und damit ein kritischer Diskurs über Gottesvorstellungen der Tora, zumal des Deuteronomiums, sind.12 Was sich weiterhin durch die theologischen Reflexionen der Weisheitsbücher leitmotivisch hindurchzieht und die Weisheitsbücher zu einer geistigen Einheit macht, ist das Thema der Gerechtigkeit Gottes. So lebt die weisheitliche Reflexion der Einheit und Vielheit Gottes – bei allen literaturgeschichtlichen Differenzen – aus der Spannung zwischen dem Glauben an den einen Schöpfer und damit an eine Sinn stiftende, Leben erhaltende und Wirklichkeit bestimmende Macht einerseits und der Erfahrung der über den so Glaubenden von außen hereinbrechenden Zerstörung von Leben, die als von Gott verursachter Bruch seiner Gemeinschaft mit dem Menschen, mithin als Ungerechtigkeit wahrgenommen und versprachlicht wird, andererseits. Im Blick auf das Gottesverständnis der Weisheitsbücher der LXX ist schließlich die noch über die Hebräische Bibel hinausgehende Fokussierung menschlichen Handelns auf Barmherzigkeit typisch, insofern dieses, neben anderen Motivationen und Begründungen, aus dem Wesen Gottes als des allein und schlechthin Barmherzigen (ὁ ἐλεήμων) selbst abgeleitet wird.13 Die vielfältigen Gottesbezeichnungen und Epitheta der griechischen Weisheitsbücher konvergieren, wie auch sonst in der LXX, in der Bezeichnung Gottes als κύριος. Im Hiobbuch (LXX), im Sirachbuch (G) und in der Sapientia treten Epi­theta hinzu, welche die universale Macht Gottes betonen, wie der wohl im hellenistischen Judentum entstandene Titel παντοκράτωρ („Allherrscher“)14 und vergleichbare mit der Vorsilbe παν- („All-“) gebildete oder zusammengesetzte Gottesbezeichnungen.15 Diese gipfeln in der Aussage, dass das All (τὸ πᾶν) Gott selbst sei (Sir 43,27 [G]).

11 Siehe dazu ausführlich Braulik, Deuteronomium, S. 66–90; Opel, Anspruch, S. 135– 157; Witte, Torah, S. 54–65. 12 Vgl. Schipper, Hermeneutik. 13 Sir 48,20 (G); 50,19 (G); vgl. Sir 2,11 (G) und weiterhin SapSal 9,1; 11,23; 15,1; Tob 3,2.11 (G-II); 6,18 (G-I); 7,11 (G-I); 8,16; PsSal 5,2; 7,5; 10,7; 3 Makk 5,7; JosAs 11,10. 14 Hi LXX 5,17; 8,5; 11,7; 15,25; 22,17.25; 23,16; 27,2.11.13; 32,8; 33,4; 34,10.12; 35,13; 37,22; SapSal 7,25; Sir 42,17 (G); 50,14.17 (G); siehe dazu ausführlich Zimmermann, Namen, S. 233–256; Witte, El Schaddaj. 15 Vgl. παμβασιλεύς (Sir 50,15 [G]); ὁ πάντων δεσπότης (Hi LXX 5,8; SapSal 6,7; 8,3); ὁ τὰ πάντα ποιήσας (Hi LXX 8,3; ähnlich SapSal 9,1); ὁ θεὸς πάντων (Sir 33[36],1 [G]; 50,22 [G]); ὁ πάντων σωτήρ (SapSal 16,7).

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3. Vielheit der Weisheit 3.1 „Wo ist der Vater?“ – Aspekte der Einheit und Vielheit Gottes im Buch Hiob Hiob steht nicht nur für den leidenden Gerechten aus dem Land Uz, dem mythisch verschlüsselten Land des Ratens,16 der trotz – und wie der himmlische Dialog zwischen Jhwh und dem Satan zeigt – gerade wegen seiner einzigartigen Frömmigkeit ins Unglück gestürzt wird. Hiob steht auch für die Frage nach dem grundsätzlichen Wesen Gottes. Hiob, zu Deutsch „Wo ist der Vater?“, „Wo ist der Schöpfer und Bewahrer des Lebens?“, sucht Gott – lebenslang, zunächst im Glück, dann in tiefem Leid und letztlich wieder im Glück. Unter anderem ist es diese Suche nach der Anwesenheit Gottes, die im Hiobbuch die Einheit Gottes ausmacht. Im Kontext seiner intensivsten Suche nach dem Gott, den Hiob als Schöpfer kennengelernt hat (Hi 10,8), auch wenn er sich in seinem Leid an den Nullpunkt seiner Existenz zurückwünscht (Hi 3,4), nach dem Gott, auf dessen Treue zur Gemeinschaft er setzt (Hi 10,12), auch wenn er in seinem Leid an dessen Gerechtigkeit verzweifelt (Hi 9,20–22), in dem Moment, da Hiob – poetisch überhöht – Gott in Zeit und Raum vergeblich sucht (Hi 23,8–9), da fällt die Bezeichnung Gottes als ‫אחד‬, als einziger und einer (Hi 23,13): „Doch er ist der Eine“.17 Die Vielheit der Gottesbezeichnungen in der ursprünglichen Dichtung, El und Eloah, Elohim und Schaddaj und schließlich – in den Überschriften der Gottesreden – Jhwh fließt in dieser aus Dtn 6,4 bekannten Gottesbezeichnung ‫ אחד‬bzw. εἷς zusammen.18 Die Vielfalt der Gottesbezeichnungen, zu der auf einer späten Redaktionsstufe in Hi 28,28 noch Adonaj hinzukommt, ist weder ein Hinweis auf ein ursprünglich polytheistisches Milieu der Hiob-Dichtung noch ein Beispiel für einen „idealtypischen Monotheismus“19. Es handelt sich vielmehr um eine dichterische Varianz zur Vermeidung des Jhwh-Namens im Mund der Weisen, zumal wenn diese gemäß ihrer Herkunftsorte mindestens als Nichtisraeliten, nach einer schon in der LXX und im Talmud nachweisbaren Problematisierung gar als Nichtjuden anzusehen sind.20 Vielleicht steht zusätzlich das priesterschriftliche Konzept der gestuften Offenbarung Gottes, als Elohim vor der Welt, als El bzw. El Schaddaj vor den Erzvätern (vgl. Gen 17,1) und als Jhwh 16 Zur

Zusammenstellung von Uz (‫ )עוץ‬mit der gleichlautenden Verbalwurzel (‫עוץ‬, vgl. auch ‫ )יעץ‬siehe Witte, Mensch, S. 404–421. 17 In der Wendung ‫ הוא באחד‬ist das ‫ ב‬als beth-essentiae aufzulösen. 18 Zur Verortung dieser Gottesbezeichnung im spätbronzezeitlichen syrisch-kanaanäischen Substrat der israelitisch-jüdischen Religion siehe Loretz, Einzigkeit, S. 71–89, und zum Reichtum der Deutungsmöglichkeiten von Dtn 6,4 van Oorschot, Israel, S. 113–135. 19 So aber nach Knauf, Bibel, S. 46–47. 20 Vgl. den LXX-Zusatz zu Hi 42,17 und bBB 15a–b; siehe dazu auch Witte, Greek Book, S. 33–54; ders., Väter, S. 39–61.

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vor Mose, im Hintergrund (vgl. Ex 6,2–3),21 wenn Hiob in seinem die Dichtung eröffnenden Versuch, die Schöpfung zu negieren (vgl. Hi 3,4), Gott als Eloah anspricht,22 wenn im Dialog mit den Freunden dann zusätzlich El, Elohim und Schaddaj auftauchen und wenn die als Theophanie gekennzeichneten Gottesreden in der Überschrift das Tetragramm aufweisen. Doch wie in der Priesterschrift El und Schaddaj den einen und einzigen Gott bezeichnen, so verbirgt sich hinter allen diesen Bezeichnungen im Buch Hiob der eine und einzige Gott, den Hiob in seinem abschließenden Unschuldsbekenntnis (Kap. 31) noch einmal entschieden ‫ אחד‬nennt: Hat nicht auch ihn erschaffen, der mich im Mutterleibe schuf, hat nicht der Eine (‫ )אחד‬uns im Mutterschoß bereitet? (Hi 31,15)

Auch hier steht die Gottesbezeichnung ‫ אחד‬und mit ihr das Bekenntnis zur Einheit Gottes in unmittelbarem Bezug zu Gott als dem Schöpfer. So wird in Hi 31,15 (wie in Spr 14,31) aus der gemeinsamen geschöpflichen Herkunft von dem einen Gott die ethische Verpflichtung zur Wahrung des Rechts ökonomisch und sozial Benachteiligter abgeleitet.23 Hier zeigt sich, wie an anderen Stellen des Alten Testaments auch außerhalb der Weisheit, das ethische Potential, das im Alten Testament der Vorstellung von der Einheit Gottes innewohnt. In außerkanonischen jüdischen Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit ist diese Idee weiter ausgeführt (vgl. Arist 139), um dann bei Hermann Cohens (1842–1918) Ableitung der Einheit der Moral aus der Einheit Gottes zu gipfeln.24 In den dem Hiobbuch später zugewachsenen Sentenzen zur geschöpflich bedingten Niedrigkeit des Menschen erscheint die Korrelation der Einheit Gottes und der Menschheit hamartiologisch gewendet: Wie kann ein Mensch gerecht sein vor Gott oder ein Mann rein sein vor dem, der ihn gemacht hat? Siehe seinen Dienern traut er nicht und seinen Boten wirft er Torheit vor. (Hi 4,17–18)

Mit dieser Sentenz, die mit Modifikationen dreimal im Hiobbuch begegnet,25 ist ein Aspekt der Einheit Gottes angesprochen, der in der ursprünglichen Auseinandersetzung zwischen Hiob, seinen Freunden und Gott nicht nur wegen seiner charakteristischen Sündenvorstellung auffällt, sondern auch wegen seiner an21 Vgl.

Knauf, Bibel, S. 46; Witte, El Schaddaj, S. 211–256 (besonders S. 213–220). Gottesbezeichnung ist nur 58-mal in der Hebräischen Bibel belegt, davon 41-mal im Hiobbuch. Sie geht sprachlich auf Elohim zurück und könnte in analogem Sinn zu Kohelets Verwendung von Elohim gebraucht sein (Müller, Monotheismus, S. 1462). 23 Vgl. Spr 17,5; 19,17; 22,2; 29,13. 24 Cohen, Religion, S. 180. 25 Hi 4,17–19; 15,14–16; 25,4–6, davon abhängig und verkürzt in 9,2 und 33,12; vgl. Pred 7,20; Spr 20,9; siehe dazu Witte, Leiden, S. 91–114. 22 Diese

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klingenden Rede von den Engeln. Literargeschichtlich wohl auf verschiedene Hände zu verteilen, tauchen diese als ‫ בני האלהים‬bzw. ἄγγελοι τοῦ θεοῦ (Hi 1,6; 2,1; 38,7), als „Diener“ und „Boten“ (Hi 4,18), als „Heilige“ (Hi 5,1; 15,15), „Erhabene“ (Hi 21,22) und „Scharen“ (Hi 25,3) sowie als „Tausendschaft“ (Hi 33,23) auf. Traditionsgeschichtlich in der Vorstellung eines himmlischen Hofstaates gründend,26 im Einzelnen religionsgeschichtlich unterschiedlich gefärbt, ist allen genannten Stellen gemeinsam, dass sie die Engel zwar als dem Menschen überlegene, Gott aber vollständig untergeordnete Wesen betrachten. Ein eigenes Profil erhalten nur der Satan in den Himmelsszenen des Prologs (Hi 1,6–12; 2,1–7) und der auf diese bezogene Fürspracheengel in der ersten Rede des Elihu (Hi 33,23–26). Beide Figuren erscheinen als poetisch personifizierte innergöttliche Zwiegespräche, im Fall des Satan als – gegenüber der ursprünglichen Hiob-Novelle und der ursprünglichen Hiob-Dichtung sekundäre – Begründung der gottgeschickten Leiden Hiobs, im Fall des Fürspracheengels als – gegenüber den Himmelsszenen seinerseits sekundäres – positives Gegengewicht zum Satan, der die Wende des nun als Erziehungsmaßnahme Gottes gedeuteten Leidens bewirkt. Elihus Fürspracheengel figuriert hier das alttestamentlich breit gestreute Motiv der Reue Gottes.27 Ob nun der Satan Hiob mit Aussatz schlägt (Hi 2,7) oder der Fürspracheengel potentiell einen Wandel Gottes bewirkt (Hi 33,23–26) – es ist letztlich doch der eine Gott, der handelt (Hi 2,3b).28 In allen literarischen Schichten des Hiobbuches und in den von ihnen vertretenen verschiedenen Deutungen des Leidens, sei es als Strafe für bewusste oder unbewusste Sünden, als Mittel der Bewährung, Prüfung oder Erziehung des Gerechten bzw. als Existential und als Geheimnis, steht die Alleinwirksamkeit dieses Gottes außer Frage. Das zeigen die Klagen Hiobs gegen den als Feind erfahrenen und als Freund erhofften Gott29 ebenso wie Hiobs erster Satz im Buch „Jhwh hat es gegeben, Jhwh hat es genommen – gelobt sei der Name Jhwhʼs“ (Hi 1,21), der einmal das kompositionelle und theologische Zentrum der Hiobnovelle bildete und der variiert von der späteren Buchredaktion in 2,10 aufgenommen wird: „Das Gute haben wir von Gott erhalten und sollten das Böse nicht auch annehmen?“ Das Paradigma des leidenden Menschen spricht hier aus, was gemäß seinem literarischen Pendant, Adam, zum Wesen des Menschen als Gegenüber des einen Gottes gehört, das heißt: wie dieser zwischen gut und böse unterscheiden und beides (er)leben zu können (Gen 3,22; 6,5).

26 Vgl.

1 Kön 22,19; Ps 82,1. den Klassiker von Jeremias, Reue. Im Buch Hiob liegt dieses Motiv bekanntlich pervertiert vor, wenn am Ende Hiob so reagiert, wie er es eigentlich von Gott erwartet und Reue empfindet (Hi 42,6). Siehe dazu pointiert Fishbane, Job, S. 97–98: Weil Gott sich nicht wandelt, muss sich Hiob wandeln; ähnlich Spieckermann, Wunder, S. 22–23. 28 Siehe dazu auch Krüger, Einheit, S. 22–24. 29 Vgl. besonders Hi 6; 19. 27 Vgl.

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Wohl als Reaktion auf Elihus Theologie des gerechten Schöpfergottes30 sind Hiob Schöpfungshymnen in den Mund gelegt, die darauf hinauslaufen, die begrenzte Gotteserkenntnis des Menschen zu konstatieren: Siehe, das sind nur die Enden seiner Wege, und nur ein kleines Wörtlein davon haben wir vernommen. Wer will aber den Donner seiner Macht verstehen? (Hi 26,14)

Gott ist einer – wie aber diese Einheit zu beschreiben ist, das entzieht sich auch den Weisen (Hi 28,28). Selbst der poetische Rekurs auf den einst vom Wettergott niedergerungenen Chaosdrachen oder die vor Gott zitternden Refa­ im,31 mithin die Reaktivierung des Mythos, reicht nicht zur Beschreibung dieser Einheit. Gott und seine Einheit sind ein Mysterium. 3.2 „Der Gott hat alles schön gemacht zu seiner Zeit“ (Pred 3,11) – Aspekte der Einheit und Vielheit Gottes im Buch Kohelet Der doxologisch-resignativen Bestimmung der Einheit Gottes in den jüngsten Schichten des Hiobbuches steht die zu diesen annähernd zeitgleiche Bezeichnung Gottes ausschließlich als ‫ אלהים‬bzw. θεός („Gott“) und ‫ האלהים‬bzw. ὁ θεός („der Gott / die Gottheit“) im Buch Kohelet zur Seite. In der Konzentration auf diese Bezeichnung, bei der bewusst auf die Verwendung des Jhwh-Namens verzichtet wird, spiegelt sich wie in kaum einer anderen alttestamentlichen Schrift die Tendenz zur Abstraktion und Entmythisierung des Gottesbegriffs.32 Gott als einer kann gemäß Kohelet nur als „Gott“ bezeichnet werden. Dieser ist in der grundsätzlich schöpfungstheologisch ausgerichteten Theologie Kohelets dezidiert die alles bestimmende Wirklichkeit, die in Freiheit total und universal handelt.33 Wo sich Gottes Einheit schon in der Bezeichnung zeigt,34 kommen Mythologie und Götterkritik nicht vor. Dabei steht der Gott Kohelets der Welt, der er ein umfassendes, aber nicht unbegrenztes Eigenleben gewährt, distanziert, aber nicht a-personal oder beziehungslos gegenüber: Er ist Garant des Rechts in diesem Leben und – gemäß jüngerer Einschreibungen in das Buch35 – auch jenseits der Grenze des Todes; 30 Vgl. Hi 35,13; 36–37 und dazu Wahl, Schöpfer, S. 63–68, sowie Pilger, Erziehung, S. 147–163. 31 Vgl. Hi 7,12; 9,13; 26,12 bzw. 26,5; 38,17. Die sehr spät in das Buch eingelegten Beschreibungen des Behemot („Flusspferd“) und Leviathan („Krokodil“) in 40,15–24; 40,25– 41,26 sind weniger mythisch zu verstehen als vielmehr „natürlich“, d. h. als (gewaltige) Geschöpfe des einen Gottes (vgl. Ps 104,26), die im Kontext der Gottesreden des Hiobbuchs über kein eigenes widergöttliches Profil verfügen. 32 Vgl. dazu Müller, Neige, S. 143–168. 33 Vgl. Pred 1,13; 3,10; 7,13–17; 8,17; 11,5. 34 Zur Namenlosigkeit als Merkmal der Einheit in der Hermetik siehe Hornung, Denken, S. 31–32, und im hellenistischen Judentum siehe Hengel, Judentum, S. 485–486. 35 Vgl. Pred 3,17; 8,5; 11,9; 12,14.

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er ermöglicht Leben und lässt in seiner Freiheit den Menschen punktuell Glück erleben. Im Erleben dieses Glücks, in der Erfahrung, dass Gott alles schön gemacht hat zu seiner Zeit, wie es Pred 3,11 in charakteristischer Modifikation des priesterschriftlichen Votums aus Gen 1,31 formuliert, schenkt Gott dem Menschen Anteil an seinem Wesen. In Momenten des Glücks partizipiert der Mensch am ‫ עולם‬bzw. αἰῶν („Ewigkeit“), an der Zeit Gottes und damit an Gott selbst.36 Gleichfalls in Weiterführung des priesterschriftlichen Konzepts der Schöpfungstage (Gen 1,1–2,3) und dem daraus – wie aus der gesamten Theologie der Priesterschrift – ablesbaren Verständnis Gottes als Herrn der Zeit reflektiert Kohelet die Vielheit menschlicher Zeiterfahrungen (Pred 3). Die Vielfalt der in Pred 3 beispielhaft genannten Zeiterfahrungen von Geburt und Tod, Liebe und Hass, Krieg und Frieden, ist aber kein Spiegel einer vielfältigen Götterwelt,37 auch ist Gott selbst nicht die Zeit – er steht ihr als der allein Ewige vielmehr gegenüber und schenkt Erfahrungen seiner selbst in der Zeit. Allein diese Erfahrungen Gottes in der Zeit verleihen der für Kohelet im Gegensatz zur älteren Weisheit uneindeutig gewordenen Zeit ihre Eindeutigkeit. So steht Kohelet für die im Rahmen der Reflexion über Einheit und Vielheit Gottes philosophisch, religionsgeschichtlich und theologisch immer wieder notwendige Bestimmung des Verhältnisses Gottes zur Zeit. 3.3 „Ich war Gottes Liebling“ (Spr 8,30) – Aspekte der Einheit und Vielheit Gottes im Buch der Sprüche Salomos Mit der Beschreibung von Glückserfahrungen als „Ewigkeitserfahrungen“ ist die Möglichkeit menschlicher Partizipation an dem einen Gott angeklungen. Am Beispiel eines Textes aus dem Buch der Sprüche und seiner Parallelen in den anderen Weisheitsbüchern soll dem Aspekt menschlicher Teilhabe an dem einen Gott weiter nachgegangen werden. In Spr 8,22–36 erscheint die Weisheit personifiziert als ein schon vor der eigentlichen Schöpfung von Gott geschaffenes (nicht erworbenes)38 Wesen, gewissermaßen als vorweltliche Zeugin der Schöpfertätigkeit Jhwhʼs, als Mittlerin des Lebens und als Liebling oder als Werkmeisterin Gottes,39 die selbst vor diesem spielt (Spr 8,30). Die als Selbstprädikation der Weisheit gestaltete 36 Im Gegensatz zu Müller, Neige, S. 154, betrachte ich ‫ עולם‬gerade nicht als negativ gewertet. 37 Vgl. dagegen die hinsichtlich der Phänomene besonders qualifizierter Zeiten ausdifferenzierte Götterwelt z. B. in den griechischen und römischen sowie altvorderorientalischen Religionen. 38 Zu ‫ קנה‬im Sinn von „erschaffen“ siehe Gen 14,19.22; Dtn 32,6; Ps 139,13; Hi 36,33 (v. l.). Auch in Gen 4,1 dürfte ‫ קנה‬eher „erschaffen“ als „erwerben“ bedeuten. 39 Die Übersetzung von ‫ אמון‬ist eine alte crux. Die Übersetzung mit „Liebling“ basiert auf der Verbalwurzel ‫אמן‬, die Wiedergabe mit „Handwerker(in)“ auf der Zusammenstellung mit dem sumerisch-akkadischen Lehnwort ummānu, dem Verständnis in LXX, Vulgata und Peschitta sowie auf SapSal 7,21, wo die Weisheit als τεχνίτης bezeichnet wird.

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Rede ist – neben den Himmelsszenen im Buch Hiob – innerhalb der Weisheitsbücher der hebräischen Bibel wohl die deutlichste Reflexion über die Einheit und Vielheit Gottes. Dabei handelt es sich religionsgeschichtlich nicht um die Integration einer ehemaligen Göttin der Weisheit in den Jhwh-Glauben oder um eine Erweiterung des Verfügungsbereichs Jhwhʼs. Vielmehr liegt hier die poetische Personifikation eines ethischen und religiösen Ideals vor, parallel zur personifizierten Gerechtigkeit (Spr 12,28; 13,6), Torheit (Spr 9,13) oder Gottlosigkeit (Spr 13,6). Phänomenologisch entspricht dies der Vergöttlichung der εἰρήνη bzw. pax oder der τύχη bzw. fortuna in der paganen Welt des Hellenismus.40 Dabei ist nochmals zu betonen, dass die personifizierte Weisheit der Sprüche Salomos bei allen Anleihen an der ägyptischen Ma’at-Mythologie, weder in Spr 8 noch in den gleich zu besprechenden Seitenstücken in Hi 28, Sir 24 oder SapSal 7 und 1041 eine Göttin ist: Sie erfährt keine kultische Verehrung, ist vielmehr vollständig von Jhwh her bestimmt und trägt allein in Sprachbildern göttliche Züge. Im Blick auf die Frage nach Einheit und Vielheit Gottes sind vor allem zwei Aspekte wichtig. Zum einen spiegelt Spr 8 die innere Dynamik des einen Gottes Jhwh wider.42 Das Motiv von der Lebendigkeit Gottes, das sonst im Alten Testament fast ausschließlich in seiner geschichtlichen Relation zu Israel oder zum einzelnen Glaubenden erscheint, ist hier gewissermaßen protologisiert (vgl. die „urgeschichtlichen“ Reden Gottes zu sich selbst Gen 1,26; 3,22). Zum anderen personifiziert Spr 8 die Möglichkeit der Teilhabe des Menschen an dem einen Gott. Die Gottesfurcht, die den Frommen als solchen kennzeichnet, gewinnt hier Gestalt. Die Weisheit wird zum leibhaftigen Lockmittel Gottes auf dem Weg zu einem erfüllten Leben. So leistet Frau Weisheit textpragmatisch einen göttlichen Dienst der Animation, wenn der Weg zu Gott über die Liebe zu ihr führt.43 Theologisch füllt Spr 8 eine Leerstelle, die Kohelets Abstraktion und Transzendierung des einen Gottes hinterlässt. Dass damit im Gegenzug zumindest tendenziell der Glaube an den einen Gott aufgeweicht und der Weise zur Verliebtheit in die Weisheit verführt werden könnte, haben wohl die Autoren des Weisheitsliedes in Hi 28 befürchtet.44 Zwar erscheint auch hier die Weisheit als eine selbstständige Größe, und im 40 Siehe

dazu auch Schroer, Weisheit, S. 168 Anm. 49. den weiteren Zusammenhang gehören auch Bar 3; 1 Hen 42; 11QPsa XVIII; siehe dazu den Klassiker von Mack, Logos, sowie Witte, Leiden, S. 206–211, und Leuenberger, Gott, S. 304–308. 42 Mit Stauffer / Kuhn, θεός, S. 100, könnte man hier – wie auch bei der Einordnung der Engel in das Handeln Gottes – von einem „dynamischen Monotheismus“ sprechen. 43 Vgl. Feldmeier / Spieckermann, Gott, S. 255. 44 Das Lied könnte auf einer älteren Stufe eine eigenständige Komposition gewesen sein, die mittels des Zusatzes von V. 28 (vgl. Hi 1,1) in den Kontext des Hiobbuchs eingefügt wurde und jetzt als Teil einer Rede Hiobs fungiert. Eine weitergehende Kritik an Spekulationen über die personifizierte Weisheit könnte hinter Pred 7,23–24 stehen (siehe dazu auch Saur, Sapientia, S. 243–244). 41 In

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Gegensatz zu Spr 8 hat sie sogar ein höheres Maß an vorweltlicher Existenz, wenn sie nicht nur als Anfang des Handelns Gottes (Spr 8,22) bezeichnet wird, sondern von ihrer Ausmessung durch Gott gesprochen wird, was ihren Bestand schon voraussetzt (Hi 28,23). Doch bleibt die Weisheit in Hi 28 Gott allein vorbehalten – dem Menschen gilt wie bei Kohelet die Gottesfurcht als die ihm gemäße Form der Weisheit (Hi 28,28). Die Vitalität, die Frau Weisheit in Spr 8 kennzeichnet, ist in Hi 28 verflogen. Die Weisheit schenkt auch in Hi 28 Teilhabe an dem einen Gott, doch erscheint sie hier rematerialisiert. Nochmals transformiert tritt die personifizierte Weisheit in Sir 24 auf.45 Hinsichtlich ihrer Selbstständigkeit als durch den Kosmos spazierende und Wohnung suchende Größe sowie hinsichtlich ihres um den Frommen werbenden Charakters übertrifft die σοφία Sirachs die ‫ חכמה‬von Spr 8 und berührt sich noch stärker als diese mit der ägyptischen Allgöttin Isis in den zeitgenössischen Aretalogien.46 Doch in Sir 24 vollzieht sich ein entscheidender Wandel: So lässt sich hier die kosmische Weisheit auf dem Zion, der Stätte des Jerusalemer Tempels, nieder und inkarniert sich in der Tora (Sir 24,23). Der steinerne Ort der Präsenz und Repräsentation des einen Gottes wird zum Ort der steten Anwesenheit der Weisheit. Das schriftgewordene Wort des einen Gottes wird – ähnlich wie in den weisheitlichen Torapsalmen (Ps 1; 19; 119) – zum Mittel der Partizipation an Gott. Typisch für das Sirachbuch konvergieren hier Universalität und Partikularität des Handelns des einen Gottes. Als Vermittlerin zwischen Gott und Welt fungiert die Tora, die Ben Sira in Weiterführung einzelner vom Deuteronomium und vom Ezechielbuch geprägter Formulierungen und in Anlehnung an stoische Vorstellungen das „Gesetz des Lebens“47 nennt. Denn dieses bildet die Matrix allen Lebens und schenkt in der einmal offenbarten Schrift vom Sinai dem Menschen erfülltes Leben, der in ihm liest und seine Gebote bewahrt. Mittels des Gedankens von der Inkarnation der kosmischen Weisheit in der einen Tora Gottes ist die Vorstellung von der Transzendenz und Einheit Gottes bewahrt, mit dem Glauben an seine Gegenwart in der Welt verknüpft und ein die Generationen überbrückender Weg zur Teilhabe an Gott aufgewiesen. Wenn in nochmaliger Modifikation des Motivs der personifizierten Weisheit in der Weisheit Salomos die σοφία als „Ausfluss der göttlichen Herrlichkeit“ und „Abglanz des ewigen Lichts“ bezeichnet wird (SapSal 7) und diese als für Gott selbständig in der Geschichte handelnd beschrieben wird (SapSal 10), dann trägt die Weisheit die Züge einer Hypostase. Als „eine, die alles vermag“ (7,27), repräsentiert sie den einen Gott in seinem von Pronoia (SapSal 6,7; 14,3) geprägten Handeln in der Schöpfung und in der Geschichte. Diese von Gott selbst als ihrem ὁδηγός geführte Weisheit (SapSal 7,15) schenkt nicht nur 45 Der Text von Sir 24 liegt bis heute nur in den griechischen und syrischen sowie den davon abhängigen Versionen des Sirachbuchs vor. 46 Siehe dazu Marböck, Wandel, S. 49–54; Totti, Texte, S. 1–82. 47 Sir 17,11; 45,5 und dazu Witte, Gesetz (in diesem Band S. 109–121).

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Teilhabe an dem einen Gott, sondern bewirkt diese in der einen Welt (SapSal 10,1–11,1).48 Diese findet selbst ihre Einheit darin, dass sie Eigentum Gottes ist, dessen Liebe über alles ergeht (SapSal 11,24–26) und dessen unvergänglicher Geist in allem ist (SapSal 12,1). Die im Deuteronomium angelegte Begründung der Einheit Israels aus der Einheit Gottes, der sich Israel in Liebe zuwendet (Dtn 7),49 ist hier universalisiert. 3.4 „Das Alles ist Er“ (Sir 36) – Aspekte der Einheit und Vielheit Gottes im Buch Jesus Sirach Die Vorstellung von der Allwirksamkeit Gottes, die in der Weisheit Salomos ein Kriterium des Göttlichen und der Einheit Gottes ist, hat ihr begriffliches Seitenstück, möglicherweise auch ihr traditionsgeschichtliches Vorbild in der Anrede Gottes als ‫ אלהי הכל‬bzw. δέσποτα ὁ θεὸς πάντων, als Gott des Alls, in Sir 36,1. Die Bezeichnung ‫ אלהי הכל‬könnte eine Eigenprägung Ben Siras und ein Beispiel für seine „Innovation“ von Theologumena sein.50 Im Hintergrund dieser Gottesprädikation, die auch für die christlich-dogmatische Ausbildung der Rede von der Allmacht Gottes relevant wurde, stehen (1) die biblische Anrede Gottes als ‫„( אדון כל הארץ‬Herr des ganzen Landes / der ganzen Erde“),51 (2) das möglicherweise von der LXX geprägte Epitheton παντοκράτωρ,52 (3) pagane griechisch-hellenistische Gottesvorstellungen53 sowie (4) die von den Ptolemäern geförderte Verehrung von Zeus-Sarapis als kosmischem All- und Ein-Gott.54 In gedanklicher Weiterführung der Totalitätsaussagen Kohelets und vermutlich in Parallele zu göttlichen Epitheta in der griechisch-hellenistischen Welt, wird mit dieser Anrede ein Gebet eröffnet, das paradigmatisch Grundzüge der Rede von Gott im Alten Testament in eine Theologie der Einheit des personalen Gottes überführt (Sir 36,1–22).55 Das Handeln dieses Gottes ist bezogen auf Israel als sein Volk im Kontext aller Völker (V. 1–5), spiegelt die Herrschaft des einen Gottes und relativiert jegliche menschliche Herrschaft (V. 12), zieht die Erkenntnis des einen Gottes durch Israel nach sich und zielt auf universa48 Vgl.

Lk 11,49. dazu Feldmeier / Spieckermann, Gott, S. 101–110; 126–148. 50 Vgl. Sir 45,23 (HB, G: κύριος); 50,15 (G: παμβασιλεύς); 50,22 (G); 4Q409 Frgm. 1 I,6; 5Q13 Frgm. 1,2; 11QPsa XXVIII,7–8; Est LXX 4,17b; Jdt 9,12; Tob S 10,14; Röm 9,5. 51 Jos 3,11.13; Mi 4,13; Sach 4,14; 6,5; Ps 97,5. 52 Sir 42,17; 50,14.17; SapSal 7,25; Bar 3,1.4; 2 Makk 1,25 u. ö., sowie besοnders häufig in der Hiob-LXX; siehe dazu ausführlich Witte, El Schaddaj, S. 229–240. 53 Vgl. z. B. Pindar, Isthm. 5,53 (Zeus als ὁ πάντων κύριος); Diog. Laert. vit. VII,147; Kleanthes, Zeus-Hymnus (SVF I,537); Plutarch, De Iside 355E (bezogen auf Osiris). 54 Siehe dazu Merkelbach, Isis, S. 74–86; 94–100; 113–119. 55 Das theologisch wie rezeptionsgeschichtlich überragende Gebet wurde in neuerer Zeit mehrfach untersucht (Marböck, Gebet, S. 149–166; Zappella, L’immagine, S. 409–446; Urbanz, Gebet). Seine ursprüngliche Zugehörigkeit zum Sirachbuch scheint mir trotz vereinzelter Anfragen gesichert. 49 Siehe

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le Gotteserkenntnis (V. 5.22). Die eine heilige Stadt Jerusalem (V. 18–19) erscheint als Brennpunkt des kosmischen Handelns dieses Gottes,56 der den doppeldeutigen Titel ‫אלהי עלום‬57 bzw. ὁ θεὸς τῶν αἰῶνων („Gott der Ewigkeit / Gott der Welt“) trägt (V. 22).58 Mit der kombinierten Aufnahme der deuteronomistischen Geschichts- und Toratheologie sowie der priesterschriftlichen Heiligkeitskonzeptionen wahrt Ben Sira hier, wie in dem schon angesprochenen Kapitel über die personifizierte Weisheit (Sir 24) oder in seinem „Lob der Väter“ (Sir 44–49; 50), in der Rede von dem einen, einzigen59 und zugleich universalen Gott den Bezug zum konkreten Handeln Gottes in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Auch als ‫ הכל‬bzw. τὸ πᾶν („das All / das Alles“), wie Ben Sira am Ende seines großen Schöpferlobes Gott einmal nennt (Sir 43,27),60 bleibt der eine Gott ein Gegenüber zur Welt. Ben Siras starke Betonung der Selbigkeit und Universalität Gottes (vgl. Sir 42,19–21) führt nicht zu einer Verflüssigung der Einheit Gottes oder zu einer Entpersonalisierung Gottes, weil das Wesen dieses Gottes, den Ben Sira betend seinen Vater (Sir 51,1) und Herrn seines Leben nennt (Sir 23,1.4), Gerechtigkeit ist (Sir 18,2). Gerechtigkeit ist aber bei Ben Sira, wie in den anderen alttestamentlichen Schriften, immer als eine personale Beziehung, als eine heilvolle Lebensgemeinschaft gedacht. Ebenso wenig nivelliert Ben Siras Vorstellung polarer Strukturen in der Schöpfung, mittels derer er – wohl gleichfalls in Aufnahme stoischer Gedanken61 – das Böse als notwendiges Gegenüber des Guten interpretiert und Negativerfahrungen in das Handeln des einen vorsorgenden Gottes integriert (Sir 33,14–15), den alttestamentlich vor allem durch die prophetische Überlieferung geprägten Glauben an ein von Gott gesetztes Ziel der Geschichte. Auch hier ist es so, dass die Einheit Gottes die Einheit der Geschichte definiert, die nach Ben Sira durch eine Kette von göttlich gestifteten Bundesschlüssen strukturiert sowie im Akt des steten Erinnerns vom Men-

56 Ben Siras starke Betonung Jerusalems (vgl. Sir 49,6.11–13; 50,1–3) ist natürlich auch im Kontext seiner antisamaritanischen Haltung zu sehen (vgl. Sir 47,23; 50,25–26), vgl. dazu Witte, David (in diesem Band S. 151–170). 57 Textrekonstruktion nach Vattioni, Ecclesiastico, S. 189. 58 Vgl. Gen 21,33; Jes 40,28; Tob 13,6; 14,6 S; JosAs 12,2; 3 Hen 3,1; 9,4; 1QHa XV,31; 4Q405 Frgm. 19,3; 11QShirShabb VI,4. 59 Im griechischen Langtext und in La wird dies unterstrichen durch den Zusatz „und außer ihm ist kein anderer“ (vgl. Jes 44,6; 45,5–6.21; SapSal 12,13; 1QHa XV,32; XVIII,9; 1QS XI,18; 4QDibHama Frgm. 1–2 V,9). 60 Vgl. Röm 11,36; 1 Kor 12,6; 15,28. Der große Hymnus in Sir 42,15–43,33 zeigt, dass der alttestamentliche Monotheismus gerade keine „Entzauberung der Welt“ bewirkt, sondern zum staunenden Lob des Schöpfers anleitet, vgl. daneben auch Ps 8 oder Ps 104. 61 SVF II,1169 (Gellius, Attische Nächte 7,1, als Zitat Chrysipps; Weinkauf, Philosophie, S. 131–132); Heraklit, Frgm. 22B 8; 22B 23; 22B 67 (Mansfeld, Vorsokratiker, S. 256–259; 274–275). Siehe dazu Pohlenz, Stoa I, S. 100–101; Wicke-Reuter, Providenz, S. 36–38; 273.

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schen aktualisiert und in der gottesdienstlichen Feier am Jerusalemer Tempel (Sir 50) angeeignet wird.62 3.5 Von der Unvernunft des Götzendienstes – Aspekte der Einheit und Vielheit Gottes im Buch der Weisheit Salomos Zweimal wurde in der israelitisch-jüdischen Religionsgeschichte explizit die theologische Auseinandersetzung um die Verehrung Jhwhʼs im Bild und damit verbunden um die religiöse Bilderverehrung geführt: einmal unter dem Eindruck des babylonischen Exils im Kontext der deuteronomistischen Vergangenheitsbewältigung und Identitätsstiftung, das heißt der Kompensation des Verlustes der kultischen Repräsentationen Jhwhʼs im Tempel mittels Konzentration auf Name und Wort des bildlos zu verehrenden Gottes (Dtn 4–5), sowie ihrer Flankierung durch die deuterojesajanische Götzenpolemik (Jes 40,18–25; 46,1–2), dann nochmals in mittel- und späthellenistischer Zeit im Schatten der durch die fortschreitende Urbanisierung bedingten religiösen Pluralisierung Syrien-Palästinas sowie der Religionspolitik der Seleukiden und Ptolemäer. Für die Sprüche Salomos, Hiob, Kohelet und Ben Sira, die zwischen diesen Epochen entstanden sind, ist die Auseinandersetzung mit der Verehrung anderer Götter oder Götterbilder kein Thema.63 Anders sieht das im jüngsten kanonischen Weisheitsbuch, der Weisheit Salomos aus, die sich hierin (wie auch in anderen Passagen) als Exegetin Deuterojesajas erweist.64 So wird in SapSal 13–15 der aus Deuterojesaja und Jer 10 bekannte Spott über die Götzenbilder aufgenommen und argumentativ weitergeführt. Vor dem kulturgeschichtlichen Hintergrund der hellenistisch geprägten Metropole Alexandria mit ihrer Vielfalt in der Stadt präsenter Götterbilder und Kulte sowie angesichts des Aufblühens des römischen Herrscherkultes sieht sich der Verfasser des dritten Teils der Weisheit Salomos zu einer prinzipiellen argumentativen Apologie des jüdischen Glaubens an den einen und einzigen, damit bildlos zu verehrenden Gott herausgefordert. 62 Vgl. zu ‫ ברית‬bzw. διαθήκη Sir 44,12.17.(18).20.22.(23); 45,(5).(7).15.24–25; (47,11); 50,24 und zu ‫ זכר‬bzw. μιμνήσκω, μνημόσυνον Sir 44,9.13; 45,1.(9).(11).16; (46,11); 47,23; 49,1.9.13 und dazu Marböck, Geschichte, S. 103–123. 63 Sieht man einmal von der punktuellen Bezugnahme auf das Fremdgötter- und Bilderverbot in Hiobs Reinigungseid in Hi 31,24–28 (vgl. Ex 20,4–5; Dtn 5,8–9 und Dtn 17,2–3) oder der Sentenz in Sir 30,18–19 (vgl. Ps 115,4–5; SapSal 15,15) ab. Wo Ben Sira den aus der Kultsprache stammenden und in der deuteronomistischen Polemik gegen fremde Kulte gebrauchten Begriff ‫ תועבה‬bzw. βδέλυγμα verwendet, bezeichnet er – mit einer Ausnahme (Sir 49,2) – die Missachtung der Tora, mangelnde Gottesfurcht und Desinteresse an Weisheit. Auch in seinen geschichtstheologischen Rekursen auf Jerobeam (Sir 47,23, vgl. 1 Kön 12) und auf Elia (Sir 48,1–14, vgl. 1 Kön 17–19; 21; 2 Kön 1–2) spricht Ben Sira nur allgemein von Sünde und expliziert nicht den deuteronomistischen Vorwurf des Bilderdienstes und der Verehrung der Baale und Aschtarten. 64 Vgl. SapSal 2,10–20 als Auslegung von Jes 52,13–53,12; zu weiteren Bezugnahmen von SapSal 2 auf Texte aus dem (griechischen) Jesaja-Buch siehe Engel, Buch, S. 70–76.

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Diese Auseinandersetzung erfolgt in dreierlei Hinsicht: Die Verehrung kosmischer Elemente oder metereologischer Phänomene als Götter ist zwar angesichts deren Schönheit verständlich, aber unvernünftig, da hier die Schöpfung mit dem Schöpfer verwechselt wird (SapSal 13,1–9). Noch unvernünftiger ist die Verehrung von Verstorbenen oder Herrschern, da hier Menschen zu Göttern erklärt werden, mithin der Unterschied zwischen Gott und Mensch übersehen wird (SapSal 14,15–16). Den Gipfel der Dummheit bildet die Verehrung von Gott oder Göttern im Bild, zumal in Tiergestalt wie im zeitgenössischen Ägypten, da hier vergessen wird, dass der sterbliche Mensch nur Totes, also keinen Gott bilden kann (SapSal 15,17). Im Gegenüber zur Einheitsideologie der hellenistisch-römischen Herrscher findet die exklusiv verstandene Einheit Gottes ihr Profil: Denn es ist kein Gott außer dir, der sich um alles sorgt, auf dass du noch zeigtest, dass du nicht ungerecht richtest, noch könnte dir ein König oder Herrscher vor Augen treten, wegen derer, die du bestraft hast. (SapSal 12,13–14)

Die Einheit des bildlos zu verehrenden einen Gottes wird hier, neben Lebendigkeit, Güte, Wahrhaftigkeit, Langmut, Erbarmen und Allherrschaft zum Kriterium des Göttlichen schlechthin (SapSal 15,1). In Verlängerung und Ausweitung der spätdeuteronomistischen Begründung für das Bilderverbot in Dtn 4,15–16 wird die Bildlosigkeit der Gottesverehrung historisch begründet – den Bildern mangelt es an Ursprünglichkeit (SapSal 14,12–13) – und anthropologisch gewichtet: Götterbilder sind letztlich Feinde des Lebens, weil sie vom eigentlichen Gott des Lebens wegführen, der in seiner Lebendigkeit nicht zu fassen ist, schon gar nicht im Bild (SapSal 14,27–31). Wo Lebendigkeit und Liebe als Signum des einen Gottes erscheinen, ist es nur folgerichtig, dass der Tod keine Grenze darstellt, der Mensch vielmehr auf Unsterblichkeit hin geschaffen ist (SapSal 2,23), die freilich nur der Gerechte erhält (SapSal 3,1). So begründet hier die Einheit Gottes die Einheit des Lebens, das den Tod überdauert. Unabhängig von der Frage, ob der Verfasser der Weisheit Salomos nun der religiösen Praxis seiner Umwelt gerecht wird, steht seine kritische Theologie neben der Verankerung in der Deuteronomistik in der religionsphilosophischen Tradition eines Xenophanes und des Euhemerismus65. Zugleich spiegelt die Weisheit Salomos wie die Werke des nur wenig jüngeren Philo von Alexandria und des Paulus von Tarsos das schon im Blick auf Hi 31,15 ( par. Spr 14,31) angesprochene rationale und ethische Potential des Glaubens an den einen Gott.

65 Vgl. Jub 11,4–7; SibOr III,547; 723 und dazu Bousset / Gressmann, Religion, S. 305; Hengel, Judentum, S. 164; 484.

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4. Zusammenfassung und Ausblick Die alttestamentlichen Weisheitsbücher sind literarische Reflexionen über das Wesen Gottes unter der Voraussetzung des Glaubens an den einen und einzigen Gott Jhwh. Dabei leuchten, entstehungsgeschichtlich, gattungsmäßig und textpragmatisch bedingt, unterschiedliche Aspekte auf, die für die Rede von der Einheit und Vielheit Gottes von zentraler Bedeutung sind. Wo infolge des Leidens des Gerechten die Gerechtigkeit Gottes in Frage gestellt wird, wie im Fall Hiob, führt dies nicht zu einer Auflösung der Einheit Gottes. Diese wird vielmehr durch die Suche nach dem einen Gott, der Gutes und Böses bewirkt, verfestigt. Indem der in seiner Integrität bis ins Mark getroffene Hiob unbedingt an Gott festhält, wahrt er die Einheit Gottes. Als leidender Gerechter wird Hiob zum Stellvertreter Gottes,66 der letztlich in seinem Handeln, auch in seiner Offenbarung (Hi 42,5), ein Geheimnis ist: ein Mysterium in personaler Relation. Paulus nimmt diesen Gedanken auf, wenn er die Ausführungen über Gottes Handeln an Israel im Verhältnis zu seinem Handeln in Christus mit einem hymnischen Mischzitat aus vor allem weisheitlichen Texten der jüdischen heiligen Schriften beschließt (Röm 11,33–36). Wenn infolge einer Abstraktion des Gottesbegriffs der Name Gottes verschwindet und das Appellativum zum Namen wird, wie bei Kohelet, ist einerseits die Einheit Gottes evident. Andererseits wird, sofern die Vorstellung von der Transzendenz, Personalität und Weltbezogenheit Gottes nicht aufgegeben wird, die Frage nach der Erfahrbarkeit und Teilhabe Gottes generiert. Kohelet beantwortet sie unmythologisch mittels der Qualifikation glücklicher Zeiten als Gotteszeiten (Pred 3,13; 5,17; 8,15). Wenn die Zeit ihre Einheit in Gott findet, dann gilt dies im gesamtbiblischen Horizont auch für die Erfüllung der Zeit (Gal 4,4). Spr 8 greift zur Stilfigur der poetischen Personifikation der Weisheit, artikuliert damit nebenbei die sich durch das israelitisch-jüdische Schrifttum ziehende Vorstellung von der inneren Dynamik Jhwhʼs, und gestaltet die Weisheit zur göttlichen Mittlerin des Lebens. Bei Ben Sira ist dies zur Vorstellung von der Inkarnation der Weisheit in der Tora transformiert und in der Sapientia zur Idee der selbständigen Wirkkraft der Weisheit weitergeführt. Beide Linien der Partizipation an Gott mittels der gestaltgewordenen Weisheit finden ihre Fortschreibung im Neuen Testament: Ben Siras mit der Tora identifizierte Weisheit erlebt in den Inkarnationschristologien in Mt 11,28–30 oder Joh 1 eine Reper66 Das Motiv von der Stellvertretung, welches das Hiobbuch nach seiner theologischen Seite (vgl. Hi 1,8–11; 2,3–5) und seiner anthropologischen Seite (vgl. Hi 42,7–9) entfaltet, scheint mir für die theologische Reflexion der Einheit und Vielheit von fundamentaler Bedeutung zu sein, was ich in diesem Rahmen aber nicht weiter ausführen kann. Nur so viel sei angedeutet: Diese Stellvertretung und Repräsentanz des einen Gottes in der Welt kann nur ein Mensch als personales Wesen, in letzter Konsequenz nur ein Gottmensch (Joh 1,14.18), erfüllen. Insofern ist Hiob (neben dem Gottesknecht aus Jes 52–53 und seiner relecture in SapSal 2) in der Tat ein „Zeuge Jesu Christi“ (Vischer, Hiob).

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sonalisierung,67 die weisheitliche Imago-Theologie der Weisheit Salomos wird in Kol 1,15–20 auf die Christus-Ikone angewandt. Ben Siras Allgott, der in der griechischen Gestalt des Buchs auch den in der Theologie des hellenisierten Judentums in Ägypten entstandenen Titel des παντοκράτωρ annimmt, tritt den zeitgenössischen Allgottheiten, seien es Isis oder Zeus-Sarapis, und den sich zu Göttern stilisierenden Herrschern gegenüber und wahrt dabei die Spezifika des einen Gottes Israels, dessen Wesen sich in seinem Handeln an Israel zeigt: Zur Einheit Gottes gehört die eine heilige Stadt mit dem einen Tempel und der einmal offenbarten Tora, von der Heil und Leben der Völker ausgehen. Lukas schreibt diese Theologie aus der Perspektive des Handelns Gottes in Jesus Christus fort (Apg 1,8), der im Rahmen der altkirchlichen Christologie dann selbst den Titel Pantokrator erhalten wird.68 Wo Lebendigkeit und universale Liebe die entscheidenden Kriterien von Göttlichkeit sind, wie in der Weisheit Salomos, da erscheint nicht nur die Verehrung kosmischer Elemente als Götter und von Götterbildern als Unvernunft und Lebensfeindlichkeit, da sind nicht nur Leid und Tod relativiert, sondern da ist auch die Einheit Gottes auf eine einzigartige Basis gestellt. Wenn in der Theologie der johanneischen Schule Gottes Liebe zur Welt sich in der Gabe seines Sohnes zeigt (Joh 3,16) und Gott selbst die Liebe ist (1 Joh 4,8), dann liegt dies im Fluchtpunkt der Vorstellung eines das Leben liebenden und damit der Welt ihre Einheit schenkenden Gottes (SapSal 11,26). Die theologische Leistungsfähigkeit der alttestamentlichen Weisheit zeigt sich generell in ihrer Dialogizität und ihrer Kraft zur Integration und Transformation genuin israelitisch-jüdischer Theologien und paganer religiöser Vorstellungen. In diesem Sinn steht die alttestamentliche Weisheit auch für theologische Modernität und Interkulturalität. Im Blick auf die mit der Frage nach der Einheit und Vielheit Gottes untrennbar verbundenen theologischen Gegenwartsfragen, nämlich der ökonomisch und medial betriebenen Globalisierung, der religiösen Pluralisierung und Fundamentalisierung (nicht nur im Islam) sowie der naturwissenschaftlichen und medizinischen Wissensexplosion, dürften die hier skizzierten weisheitlichen Aspekte der Einheit Gottes von konkreter Bedeutung für die Theologie insgesamt sein.

67 Vgl.

auch 1 Kor 1,24.30; 2,1–16. z. B. Athanasius, Orationes tres contra Arianos III,4 (PG 26,329,16–18), aber auch PGrM 13a1; 21,43; zu weiteren patristischen Belegen siehe Montevecchi, Pantokrator, S. 424–430, und Bachmann, Allmacht, S. 199–200. 68 Vgl.

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–: Vom Exodus zu David. Geschichte und Geschichtsschreibung in Psalm 78, in: ders., Von Ewigkeit zu Ewigkeit. Weisheit und Geschichte in den Psalmen, BThSt 146, Neukirchen-Vluyn 2014, S. 117–149. –: Vom Leiden zur Lehre. Der dritte Redegang (Hiob 21–27) und die Redaktionsgeschichte des Hiobbuches, BZAW 230, Berlin / New York 1994. –: Von den Anfängen der Geschichtswerke im Alten Testament. Eine forschungsgeschichtliche Diskussion neuerer Gesamtentwürfe, in: E.-M. Becker (Hg.), Die antike Historiographie und die Anfänge der christlichen Geschichtsschreibung, BZNW 129, Berlin / New York 2005, S. 53–81. –: Von der Analyse zur Synthese. Historisch-kritische Anmerkungen zu Hermann Gunkels Konzept einer israelitischen Literaturgeschichte, in: U. E. Eisen / E. S. Gerstenberger (Hg.), Hermann Gunkel revisited. Literatur- und religionsgeschichtliche Studien, Exegese in unserer Zeit 20, Münster 2010, S. 21–51. –: Von der Gerechtigkeit Gottes und des Menschen im Alten Testament, in: ders. (Hg.), Gerechtigkeit, ThTh 6, UTB 3662, Tübingen 2012, S. 37–67. –: Von Ewigkeit zu Ewigkeit. Weisheit und Geschichte in den Psalmen, BThSt 146, Neukirchen-Vluyn 2014. –: „Weisheit“ in der alttestamentlichen Wissenschaft, ThLZ 137 (2012), S. 1159–1176. Witte, M. / Kepper, M.: Job / Das Buch Ijob / Hiob, in: M. Karrer / W. Kraus (Hg.), Septuaginta Deutsch. Erläuterungen und Kommentare zum griechischen Alten Testament, II, Stuttgart 2011, S. 2041–2126. Wolff, C.: Der zweite Brief des Paulus an die Korinther, ThHK 8, Leipzig 1989. Wright, B. G.: „Fear the Lord and Honor the Priest?“ Ben Sira as Defender of the Jerusalem Priesthood, in: ders., Praise Israel for Wisdom and Instruction. Essays on Ben Sira and Wisdom, the Letter of Aristeas and the Septuagint, JSJ Supplement 13, Leiden / Boston 2008, S. 97–126. –: „Put the Nations in Fear of You“. Ben Sira and the Problem of Foreign Rule, in: ders., Praise Israel for Wisdom and Instruction. Essays on Ben Sira and Wisdom, the Letter of Aristeas and the Septuagint, JSJ Supplement 13, Leiden / Boston 2008, S. 127–146. –: Access to the Source. Cicero, Ben Sira, the Septuagint and their Audiences, JSJ 34 (2003), S. 1–27. –: B. Sanhedrin 100b and Rabbinic Knowledge of Ben Sira, in: ders., Praise Israel for Wisdom and Instruction. Essays on Ben Sira and Wisdom, the Letter of Aristeas and the Septuagint, JSJ Supplement 13, Leiden / Boston 2008, S. 182–193. –: Biblical Interpretation in the Book of Ben Sira, in: M. Henze (Hg.), A Companion to Biblical Interpretation in Early Judaism, Grand Rapids / MI 2012, S. 363–388. –: Eschatology without a Messiah in the Wisdom of Ben Sira, in: M. A. Knibb (Hg.), The Septuagint and Messianism, BETHL 19, Leuven 2006, S. 313–323. –: No Small Difference. Sirach’s Relationship to Its Hebrew Parent Text, SBL.SCS 26, Atlanta / GA 1989. –: Praise Israel for Wisdom and Instruction. Essays on Ben Sira and Wisdom, the Letter of Aristeas and the Septuagint, JSJ Supplement 13, Leiden / Boston 2008. –: The Categories of Rich and Poor in the Qumran Sapiential Literature, in: J. J. Collins u. a. (Hg.), Sapiential Perspectives. Wisdom Literature in Light of the Dead Sea Scrolls, StTDJ 51, Leiden / Boston 2004, S. 101–123. –: The Use and Interpretation of Biblical Tradition in Ben Sira’s Praise of the Ancestors, in: G. G. Xeravits / J. Zsengellér (Hg.), Studies in the Book of Ben Sira, JSJ Supplement 127, Leiden / Boston 2008, S. 183–207.

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Literatur

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Nachweis der Erstveröffentlichungen Ist auch Hiob unter den Propheten? Grundsätzliche Probleme der Sirachexegese am Beispiel von Sir 49,8–10 Revidierter Nachdruck von: Ist auch Hiob unter den Propheten? Sir 49,9 als Testfall für die Auslegung des Buches Jesus Sirach, in: Kleine Untersuchungen zur Sprache des Alten Testaments und seiner Umwelt 8, Waltrop: Hartmut Spenner, 2008, S. 163–194.

Der ‚Kanon‘ heiliger Schriften des antiken Judentums im Spiegel des Buchs Jesus Sirach Revidierter Nachdruck von: Der ‚Kanon‘ heiliger Schriften des antiken Judentums im Spiegel des Buches Ben Sira / Jesus Sirach, in: E.-M. Becker / S. Scholz (Hg.), Kanon in Kon­ struktion und Dekonstruktion. Kanonisierungsprozesse religiöser Texte von der Antike bis zur Gegenwart – Ein Handbuch, Berlin / New York: de Gruyter, 2011, S. 215–241.

Theologien im Buch Jesus Sirach Revidierter Nachdruck von: Theologien im Buch Jesus Sirach, in: M. Saur (Hg.), Die theologische Bedeutung der alttestamentlichen Weisheitsliteratur, BThSt 125, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 2012, S. 37–67.

Barmherzigkeit und Zorn Gottes im Buch Jesus Sirach Revidierter Nachdruck von: „Barmherzigkeit und Zorn Gottes“ im Alten Testament am Beispiel des Buchs Jesus Sirach, in: R. G. Kratz / H. Spieckermann, Divine Wrath and Divine Mercy in the World of Antiquity, FAT II / 33, Tübingen: Mohr Siebeck, 2008, S .176–202.

„Das Gesetz des Lebens“. Eine Auslegung von Sir 17,11 Revidierter Nachdruck von: „Das Gesetz des Lebens“ (Sirach 17,11), in: H. Streib / A. Dinter / K. Söderblom (Hg.), Lived Religion. Conceptual, Empirical and Practical-Theological Approaches. Essays in Honor of Hans-Günter Heimbrock, Leiden / Boston: Brill, 2008, S. 71–87.

„Mose, sein Andenken sei zum Segen“ (Sir 45,1). Das Mosebild des Sirachbuchs Revidierter Nachdruck von: ‚Mose, sein Andenken sei zum Segen‘ (Sir 45,1). Das Mosebild des Sirachbuchs, in: Biblische Notizen 107, Bamberg: K. Urlaub, 2001, S. 161–186.

302

Nachweis der Erstveröffentlichungen

„Was haben wir für einen Anteil an David […]?“ Sir 47,12–48,1 als relecture von 1 Kön 12 Deutsche Erstveröffentlichung des ursprünglich auf Englisch erschienenen Beitrags: „What Share Do We Have in David …?“ Ben Sira’s Perspectives on 1 Kings 12, in: R. G. Kratz / H. Spieckermann mit B. Corzilius und T. Pilger (Hg.), One God – One Cult – One Nation. Ar­ chaeological and Biblical Perspectives, BZAW 405, Berlin / New York: de Gruyter, 2010, S. 91–117.

Die Gebeine Josephs. Sir 49,15 und der Tod Josephs nach Gen 50,24–26 Revidierter Nachdruck von: Die Gebeine Josefs, in: M. Beck / U. Schorn (Hg.), Auf dem Weg zur Endgestalt von Genesis bis II Regum, FS H.-Chr. Schmitt, BZAW 370, Berlin / New York: de Gruyter, 2006, S. 139–156.

Jakob der Gerechte (SapSal 10,10–12). Das Jakobsbild der Sapientia Salomonis Revidierter Nachdruck von: Jakob der Gerechte. Beobachtungen zum Jakobsbild der Sapi­ entia Salomonis (Sap 10,10–12), in: A. C. Hagedorn / H. Pfeiffer (Hg.), Die Erzväter in der biblischen Tradition, FS M. Köckert, BZAW 400, Berlin / New York: de Gruyter, 2009, S. 323–345.

Emotionen in den Gebeten der Sapientia Salomonis Deutsche Erstveröffentlichung des englischen Vortrags „Emotions in the Prayers of Wisdom of Solomon“, der am 3.2.2014 auf der ISDCL-Konferenze „Emotions in Prayers during the Second Temple Period“ an der Universität Haifa gehalten wurde.

Das Ethos der Barmherzigkeit in der jüdischen Weisheit der hellenistischrömischen Zeit Revidierter Nachdruck von: Begründungen der Barmherzigkeit gegenüber den Bedürftigen in jüdischen Weisheitsschriften aus hellenistisch-römischer Zeit, in: M. Konradt / E. Schläpfer (Hg.), Anthropologie und Ethik im Frühjudentum und im Neuen Testament. Wechselseitige Wahrnehmungen, WUNT I / 322, Tübingen: Mohr Siebeck, 2014, S. 387–412.

Der Glaube an den einen Gott in der israelitisch-jüdischen Weisheit Revidierter Nachdruck von: Einheit und Vielheit Gottes im Spiegel der alttestamentlichen Weisheit, in: Chr. Schwöbel (Hg.), Gott – Götter – Götzen. XIV. Europäischer Kongress für Theologie (11.–15. September 2011 in Zürich), VWGTh 38, Leipzig: Evangelische Verlags­ anstalt, 2013, S. 36–56.

Autorenregister Baeck, Leo V Becker, Jurek 191 Beentjes, Pancratius C. 3f., 10, 25, 29f., 52 Ben-Ḥayyim, Ze’ev 4, 29f. Berthold, Leonhard 42 Böhmisch, Franz 11 Calduch-Benages, Núria 3, 11, 24 Cohen, Hermann 23, 251 Collins, John J. 12, 198 Corley, Jeremy V, 9, 17 Di Lella, Alexander A. 27, 29 Diebner, Bernd Jørg 19 Diehl, Johannes 6 Eberharter, Andreas 27, 51 Eichhorn, Johann Gottfried 42 Ellis, Theresa Ann 17 Engel, Helmut 211f. Feder, Frank 5 Ferrer, Joan 3, 24 Forte, Anthony J. 3 Gilbert, Maurice 10, 28 Ginzberg, Louis 186 Gregory, Bradly C. 15 Görg, Manfred 184 Gruen, Erich S. 12, 178 Gunkel, Hermann 83 Haag, Ernst 193 Hamp, Vinzenz 27 Heimbrock, Hans-Günter 109f.  Hengel, Martin 12 Herder, Johann Gottfried 191 Herion, Gary A. 104 Hultkrantz, Åke 110

Husserl, Edmund 110 Jenner, K. D. 3 Joosten, Jan 6f. Kahana, Abraham 4 Kaiser, Otto VIII, 12f., 177, 183 Kearns, Conleth 5 Kooij, Arie van der 47 Kühn, Ernst 83 Kümmel, Werner Georg 2 Lee, Thomas R. 176 Leeuw, Gerardus van der 109f. Levin, Christoph 181 Lichtheim, Miriam 12 Liesen, Jan 3, 24 Liess, Kathrin 110 Luther, Martin 1, 61 Mann, Thomas 123, 149 Marböck, Johannes V, 11, 27, 59, 80 Marttila, Marko 17 Middendorp, Theophil 12 Minissale, Antonino 4 Mopsik, Charles V, 27 Mowinckel, Sigmund 183 Mulder, Otto 8 Müller, Hans-Peter 248 Murphy, Ronald E. 79 Peters, Norbert 27, 29, 88 Peursen, Wido Th. van 3, 6 Pohlmann, Karl-Friedrich 103 Quack, Joachim 12 Rad, Gerhard von 79, 124 Reiterer, Friedrich V. VII, VIII, 5, 10, 126, 211f.

304 Rey, Jean-Sébastien 6  Reymond, Eric D. 7 Rizzi, Giovanni 6 Ryssel, Victor 2, 27, 29 Sauer, Georg 2, 28f., 30, 70 Schlottmann, Konstantin 83 Schmid, Hans Heinrich 79 Schmid, Konrad VIII, 184 Schmitt, Hans-Christoph 171, 182 Schreiner, Josef 28 Segal, Moshe Z. 4, 27, 29f., 169 Skehan, Patrick W. 27 Smend, Rudolf 2, 29, 158 Spinoza, Baruch de 41 Thiele, Walter 3 Thissen, Heinz 12

Autorenregister Urbanz, Werner 16 Vattioni, Francesco 4f., 29, 111, 126, 157, 169 Veltri, Giuseppe 19, 57 Wagner, Christian 6 Weigl, Michael 13 Wette, Wilhelm Martin Leberecht de 42 Wicke-Reuter, Ursel 12, 14 Wischmeyer, Oda 12 Wright, Benjamin G. V, 4, 10 Zapff, Burkard M. V, 28 f. Ziegler, Joseph 3, 6, 24, 111 Zöckler, Otto 2

Namen- und Sachregister Aaron 32, 49f., 70–72, 100, 119, 125, 129–132, 134, 136–139, 146, 159, 163, 165, 173, 213, 217f., 221 Abraham 32, 50, 70f., 87, 118, 127, 129–133, 137, 140, 156, 163, 179, 191, 193–195, 197, 199f., 202, 206, 214, 216, 218 Achämeniden 41, 44 Achikar-Roman 13 Adam 10, 32, 48, 50f., 64, 70f., 80, 116, 130, 147, 173–175, 192–196, 202, 252 Ahija 151f., 167 Alexander der Große 178 Alexanderroman 176–179 Alexandria VI, 9, 11, 13, 45, 61, 85, 102, 111, 172, 177–179, 198f., 207, 211, 226, 259f. Alexandrinische Dichterschule 12, 247 Allmacht 76, 98, 257 Almosen 15, 92, 227–229, 232, 234, 236 Antiochos III. 46 Antiochos IV. Epiphanes 44, 46 Apokalyptik, apokalyptisch 15, 34, 36, 62, 71, 97, 103, 172, 201f., 209, 235, 243 Aratos von Soloi 12, 93 Aristoteles 12, 116, 203, 212, 221, 232, 248 Artapanos 148, 172, 179 Athanasius 62, 262 Athlet 116, 204f. Atramchasis-Epos 64 Barmherzigkeit VI, IX, X, 13–15, 17, 53, 60, 73–75, 77, 83–105, 112, 118, 128, 156, 170, 192, 214–217, 225–243, 249 Benjamin 238f. Bestattung, Beerdigung 177, 179, 180, 183–186, 237, 242

Bildung 8, 12f., 41, 49, 56f., 80, 119– 121, 147, 149, 170, 182, 211, 214 Bund 49f., 54, 71–73, 77f., 111, 113, 133, 137f., 142f., 145f., 163, 192, 218, 258 Buße 104, 238 Caracalla 177 Christologie, christologisch 18, 58, 79, 173, 262 Chronik 40, 42, 56, 62, 152, 157, 167 Chronistisches Geschichtswerk 41, 149 Chrysipp 69, 115f., 159, 258 Damaskussschrift 164 Daniel, Danielbuch 11, 30f., 33f., 36f., 40, 42, 51, 56, 58, 62, 71, 84, 201f. Dekalog 53f., 112, 114, 124, 232 Demetrios 172, 179, 204, 206 Denkmal memphitischer Theologie 68 Deuteronomistisch 49f., 54, 65, 72f., 78, 84, 103, 113, 117, 123f., 136f., 142, 147, 149, 152, 155, 161–163, 182, 237, 248, 258f., 260 Deuteronomium 1, 41, 70, 72, 77, 80, 84, 115, 141, 149, 182, 184, 219, 248f., 256f. Diodor Siculus 176–178 Dina 197, 206 Dionysos 66 Divination 247 Edom 166 Elephantine 44 Elia 31f., 50, 70–72, 130, 140, 154, 162, 166, 178, 259 Elisa 31f., 50, 70, 140, 173 Elohist, elohistisch 123f., 181

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Namen- und Sachregister

Engel 33, 127, 134, 147, 195, 198–201, 204, 206f., 209, 214f., 218, 221, 252, 255, 259 Enosch 50f., 70, 116, 174f. Ephraim 6, 151, 153, 157, 161, 164f., 167f., 170, 181 Esau 197f., 202, 207, 221 Eschatologie, eschatologisch VI, 5, 15, 30, 32, 35, 46, 62, 75, 84, 87, 90, 97, 100, 103, 117f., 135, 145, 166, 172, 193, 199, 206f., 230, 235f., 242 Essener, essenisch 5, 102, 229 Esther, Estherbuch 11, 36f., 40, 42, 51, 58, 130, 218 Euergetes II. 45, 61, 166 Euhemerismus 260 Eupolemos 131, 148 Exodus 50, 99, 101, 126, 130f., 134f., 137f., 141, 148, 152f., 164, 167, 173, 179f., 182f., 192, 194, 211, 213f., 220f., 232 Ezechiel der Tragiker 149 Ezechiel, Ezechielbuch VI, 16, 29f., 31f., 33–37, 40, 42, 50, 54f., 70, 113, 123, 149, 256 Fasten 234, 238, 243 Florilegien 10, 56 Gad 232, 241 Garizim 165f., 173 Gebet V, VI, X, 8, 14, 16, 19, 46, 53, 60, 67, 69, 73–76, 82f., 86, 95–104, 164, 167, 175, 193, 197, 200f., 204, 208, 211–223, 232, 234, 238, 243, 247, 257 Gebet Josephs 175, 200, 204, 208 Gebete, akkadische 95 Gebete, sumerische 95 Gelübde 155, 247 Geniza 3, 18, 24‒26, 43, 53, 85, 89, 111, 113 Gerichtsdoxologie 68f. Geschichte 13, 15, 41, 49f., 69f., 73, 76, 79, 81, 86, 92, 98–100, 115, 121, 124f., 131, 140, 144f., 147f., 153f., 162, 168, 175, 192–194, 211, 213f., 228, 242f., 246, 256, 258. Geschichtssummarium 142 Gilgamesch-Epos 13

Gnadenformel 73, 76, 86f., 98, 101f., 105, 214, 218, 230, 233 Gottesebenbildlichkeit 65, 113, 232f. Gottesfurcht 55, 60, 74, 77, 87, 119, 121, 143, 176f., 199, 229, 237, 255f., 259 Handerhebungsgebete 95 Hebron 183 Henoch, Henochbücher 5, 9f., 48, 51, 56, 62, 70, 80, 116, 130, 147, 154, 172, 174f., 178, 192f., 201f. Herakles 178, 208 Heraklit 69, 248, 258 Hermes 66 Herzberuhigungsklagen 95 Hiob, Hiobbuch V–VI, IX, 7, 9f., 13, 19, 23f., 29–37, 40, 42, 50f., 55, 62–64, 67–69, 72f., 80f., 94f., 98, 104, 140, 197, 218, 226–228, 234, 236f., 239–241, 245f., 248–253, 255, 257, 259, 261 Hohelied (Canticum) 17, 40, 42, 51 Hohepriester 8, 11, 46, 49f., 52, 71–73, 82, 119, 137–139, 147, 154, 163, 166, 172, 177 Homer 12, 34, 56f., 179, 192, 247 Idumäer 166 4QInstruction 4, 11, 15, 81, 201f. Isis 8, 49, 66, 78–80, 98, 102, 116, 186, 191, 198f., 245, 256f., 262 Jahwist, jahwistisch 64f., 123f., 135, 181f. Jakob VI–VII, 30, 32f., 49f., 70, 78, 127f., 130f., 142f., 170, 172, 179f., 183–186, 191–209, 219 Jeremia, Jeremiabuch 11, 13, 31f., 35–37, 40, 42, 50, 55f., 58, 69f., 84, 103f., 136, 140, 148, 161, 173, 178, 252 Jerobeam 50, 70, 151–154, 157, 160–164, 166, 168, 170, 259 Jesaja, Jesajabuch 31f., 36, 40, 42, 50, 52, 55, 70, 77, 132, 153, 259 Jesus Christus 149, 247, 262 Johannes Chrysostomos 105 Johannes Hyrkan 165f., 185 Joseph VI, 50, 70, 116, 130, 165, 171–187, 193–196, 199, 202, 238

Namen- und Sachregister Joseph und Aseneth 130 Josua 31, 40, 42, 50, 55, 70f., 87, 125, 130f., 138–142, 147, 149, 160, 175, 180, 182, 184 Jubiläenbuch 5, 56, 172, 197, 203–205 Judith, Judithbuch 97 Kain 70, 194f., 198, 202, 218, 221 Kanon IX, 2, 6f., 10f., 18, 20, 23, 26–28, 31, 35–37, 39–52, 54–58, 62, 66, 70, 72f., 80f., 84–86, 101, 117, 119, 125, 131, 133, 158, 162, 164, 168, 172, 174, 180, 185, 214, 225f., 251, 259 Ketef Hinnom 184 Kleanthes 76, 93, 98, 115f., 257 Königsideologie 135, 230, 234, 243 Kohelet (Prediger Salomo) 10, 11, 13, 40, 42, 44, 55, 62–64, 66f., 69–72, 81f., 119, 226, 238, 248, 251, 253–257, 259, 261 Konstantinopel 183 Koran 32 Krankheit 241 Kult 15, 19, 40, 46f., 49f., 60, 62, 72–74, 77f., 81f., 84, 86, 97, 116, 119, 124, 139, 151, 153, 155, 163, 165–167, 176f., 179, 197, 199, 222, 234f., 243, 247, 255, 259 Kultbild 222, 247 Laban 198, 202, 207 Lebenslehren, ägyptische 12, 49 Leidenspädagogik 195 Liebe 79, 83, 103, 126, 129, 131–134, 136, 144, 146, 148, 155, 170, 197, 199, 215f., 219f., 223, 231f., 236, 238, 242, 254f., 257, 260, 262 Loblieder (Hodajot) 65, 94, 99 Lösungsgebete 95 Lot 193–195 Ma’at 77, 245, 255 Makkabäeraufstand 47, 88 Manasse 181, 238 Menander 12, 56 Mischehen 155 Moab 99 Mose 7, 14, 31, 35, 40, 47, 49–51, 70, 72, 78, 112, 114, 123–149, 159, 161,

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171f., 175, 178, 180, 183f., 186f., 192–194, 196f., 206, 214, 216–219, 221, 251 Neuassyrer 44 Neubabylonier 44 Noah 30–32, 48, 50, 54, 70f., 113, 130, 146f., 172, 175, 193–195, 202 Odysseus 206, 208 Onias III. 46 Opfer 73f., 82, 218, 234, 243, 247 Osiris 76, 98, 186, 257 Papyrus Insinger 9, 12, 56, 64, 198, 202, 230, 235, 237, 240, 242 Paulus 117f., 231, 248, 260f. Pentateuchkritik 124 Pescharim 10, 56 Peschitta 3, 6, 24, 26, 55, 58, 200, 254 Philo der Ältere 172 Philo von Alexandria 172, 179, 260 Pinchas 50, 70–72, 137, 139, 163, 165 Plato 12, 14, 69, 114, 116, 121, 148, 159, 203, 216 Plotin 248 Priester, Priestertum 8, 11, 13, 16, 19, 44, 46, 49f., 52, 64f., 71–74, 82, 84, 102, 119, 124, 129, 132, 137–139, 144, 147f., 153f., 163–166, 171–174, 176f., 182, 235 Priesterschrift 40, 49f., 63, 71, 78, 123f., 137, 142, 181f., 250f., 254, 258 Pronoia 50, 80, 256 Prophet VI, IX, 9f., 17, 19, 23, 29–37, 40–42, 46–48, 50–52, 55f., 58f., 62, 69f., 72f., 75f., 80, 84, 90, 98, 100, 103, 120, 123–125, 130–133, 136, 140f., 144, 147–149, 151, 153, 162, 167f., 170, 173, 184, 194, 197, 228, 243, 247, 258 Proverbien (Sprüche Salomos) 7, 9, 11, 13, 15, 17, 40, 42, 48f., 55, 59, 62f., 69, 72, 81, 202, 211, 226–228, 248, 254–257, 259 Psalmen 11, 15, 50, 54, 56, 64, 70, 73, 84, 99, 102, 136, 141, 192, 214, 221, 227, 235, 256 Psalmen Salomos 5

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Namen- und Sachregister

Psalter (Buch der Psalmen) 7, 13, 32, 40, 42, 55, 84, 94f., 218 Ptolemäer 12, 64, 98, 116, 185, 241, 257, 259 Ptolemaios I. 177f. Ptolemaios IV. 134, 177 Ptolemaios VIII. Physkon (Euergetes II.) 45, 61, 166 Ptolemaios X. 177 Rabbi Gamliel II. 40 Rabbi Hillel 117 Rache 75, 90 Rehabeam 50, 70, 151f., 154, 156–160, 162f., 166, 170 Reue 103, 252 Sabbatopferlieder 201 Salomo VI, 32, 40, 44, 50, 70f., 119, 154–159, 163, 166–168, 170, 198f., 201, 214, 216, 219f. Samaria 19, 153, 164–166, 168 Samuel 31f., 40, 42, 50, 70, 126, 130–132, 140, 180 Sapientia Salomonis (Weisheit Salomos) V–VI, 7, 13–15, 18, 49, 52, 61f., 191–223, 226, 228, 248, 256f., 259f., 262 Sarapis 66, 98, 179, 257, 262 Satan 197, 240, 250, 252 Schemaja 151f., 167f. Schöpfung 7, 49f., 53, 63f., 67–70, 78, 80f., 92, 112, 115, 118f., 121, 144–147, 175, 215, 223, 246, 251, 254, 256, 258, 260 Schrift, heilige V, 3, 9‒11, 17, 39–58, 82, 261 Sebulon 225, 236, 238 Seir 165f. Seleukiden 19, 46, 99, 185, 241, 259 Sem 50f., 70f., 95, 116, 130, 174f. Set 50f., 70f., 130, 174f., 220 Sichem 152, 164f., 173, 180, 182–185 Simon II. 8, 46, 50, 71f., 119, 130, 137, 139, 147, 151, 154, 163, 165, 167, 172–174, 192 Sokrates 148, 208 Stadtuntergangsklagen 95 Stellvertretung 261

Stoa 12, 14, 16, 50, 56, 65f., 69, 80, 93, 114–116, 145, 148, 198, 216, 223, 233, 247, 256, 258 Strabo 177–179 Sühne VII, 15f., 104, 124, 234f., 242 Sünde 15f., 53, 65, 71, 73–75, 86f., 89–91, 103f., 113, 160–162, 167, 170, 216, 234, 242, 251f., 259 Tempel 14, 16, 32, 39–41, 49f., 55, 60f., 73, 77, 97, 99, 101f., 119, 139, 154, 156, 161, 163, 165–167, 235, 247, 256, 259, 262 Testament der Zwölf Patriarchen 236, 238f. Testament Levis 165 Theodizee 64, 69, 75, 80, 88f., 91f., 95, 100, 104, 227 Theodosius II. 183 Theodotion 114, 165 Theognis von Megara 9, 12, 49, 59 Thronwagen VI, 29f., 33, 36, 70 Tobit, Tobitbuch 11, 15, 36f., 52, 56, 58, 225, 227f., 235–238 Tod VII, IX, 15, 30, 45, 59, 61, 64, 69, 71, 77, 93f., 109, 118, 151, 154, 160, 171–173, 175f., 180f., 184, 186, 216f., 235f., 238, 240, 242f., 253f., 260, 262 Tora 9f., 16f., 19, 31, 39–42, 46–51, 54–57, 60, 62, 70, 72f., 77–81, 109, 113–120, 123, 131–134, 136f., 139, 142–149, 153, 156, 163, 166, 172, 176, 178, 207f., 228f., 232, 235, 237f., 242, 246–249, 256, 258f., 261f. Tugend 61, 163, 197f., 205, 207f., 231 Tun-Ergehen-Zusammenhang 227, 237, 241 Urkundenhypothese 123 Vater 8f., 11, 17, 19, 24, 28, 30–32, 35, 41, 43, 45–47, 50f., 67, 69–73, 90, 97, 116, 119f., 125f., 128–133, 137–139, 144, 146f., 153f., 156, 158, 160–165, 168, 171–176, 178f., 182–184, 191f., 197, 201f., 204–206, 208, 214, 218, 220, 228, 234, 239, 243, 247, 250, 258 Vergebung 73–75, 86f., 89–91, 93f., 104, 216

Namen- und Sachregister Vitae Prophetarum 32 Wallfahrt 234 Wunder 68, 137, 148, 213, 221, 252 Xenophanes 248, 260

309

Zadok 11, 26, 102, 139 Zehnt 234, 237 Zehnwochenapokalypse 193 Zeus 66, 76, 93, 98, 116, 176, 257, 262 Zorn VI, IX, 14f., 17, 73–77, 80, 83–92, 94–105, 155, 170, 195, 197f., 207, 217–219, 221

‫‪Begriffsregister‬‬ ‫‪Hebräische Wörter‬‬ ‫‪ 66, 71, 87, 102f., 130, 141, 169, 192,‬חסד‬ ‫‪214, 227, 229‬‬ ‫‪ 207‬חסיד‬ ‫‪ 53, 112, 145, 200f., 232‬ידע‬ ‫‪ 63, 65‬יצר‬ ‫‪ 111‬ירש‬ ‫‪ 33, 71, 99, 127, 131, 135, 147, 156,‬כבוד‬ ‫‪169‬‬ ‫‪ 66–68, 76, 98, 103, 126f., 130, 143,‬כל‬ ‫‪148, 161, 166, 169, 257f.‬‬ ‫‪ 96, 127, 134‬כנה‬ ‫‪ 83, 90, 217‬כעס‬ ‫‪ 235‬כפר‬ ‫‪ 79, 138, 158‬לב‬ ‫‪ 84‬מדות‬ ‫‪ 57, 80, 120, 169‬מוסר‬ ‫‪ 228‬מחסר‬ ‫‪ 78‬מנוחה‬ ‫‪ 102f., 127, 135, 163, 169, 179‬מלך‬ ‫‪ 157‬ממלכה‬ ‫‪ 169‬מקדש‬ ‫‪ 66, 100, 127, 145, 229f.‬משפט‬ ‫‪ 31, 139–141‬משרת‬ ‫‪ 31, 50, 131f., 139–141‬נבואה‬ ‫‪ 28, 29, 31, 34, 50, 132, 140f., 162,‬נביא‬ ‫‪169‬‬ ‫‪ 161‬נדח‬ ‫‪ 111‬נחל‬ ‫‪ 115, 144‬נחלה‬ ‫‪ 245‬נכונה‬ ‫‪ 91‬נשא‬

‫‪ 228, 231‬אביון‬ ‫‪ 76, 98, 178, 257‬אדון‬ ‫‪ 126, 129, 132, 155, 197‬אהב‬ ‫‪ 100, 127, 135, 146‬אות‬ ‫‪ 66, 231f., 250f.‬אחד‬ ‫‪ 236‬אחרית‬ ‫‪ 218‬אל קנא‬ ‫‪ 66, 81, 127, 129, 133f., 166, 252f.‬אלהים‬ ‫‪ 254‬אמון‬ ‫‪ 33, 129, 132‬אמונה‬ ‫‪ 129, 132, 135‬אמן‬ ‫‪ 60, 227‬אמת‬ ‫‪ 180‬ארון‬ ‫‪ 6‬אשרי‬ ‫‪ 127, 129, 136, 141‬בחר‬ ‫‪ 53f., 56, 113‬בין‬ ‫‪ 57, 60, 119‬בית מדרש‬ ‫‪ 63, 118‬ברא‬ ‫‪ 10, 50, 71f., 137f., 143, 145f., 192,‬ברית‬ ‫‪259‬‬ ‫‪ 173‬גויה‬ ‫‪ 84, 230‬דין‬ ‫‪ 228‬דל‬ ‫‪ 54, 57‬דרש‬ ‫‪ 30, 35, 70, 126, 131, 147, 160–162,‬זכר‬ ‫‪169, 174, 259‬‬ ‫‪ 54, 113f., 116f., 121, 127, 145‬חיים‬ ‫‪ 60, 158‬חכם‬ ‫‪ 16, 256‬חכמה‬ ‫‪ 126, 130, 214‬חן‬ ‫‪ 180f.‬חנט‬ ‫‪ 227‬חנן‬

Begriffsregister

311

‫ רז נהיה‬53, 113, 81, 201 ‫ רחום‬14, 83, 101, 233 ‫ רחם‬83, 96, 101, 227, 232 ‫ רע‬133, 232 ‫ רעה‬161, 169 ‫ רש‬228 ‫ רשע‬89, 91, 229, 240

‫ סופר‬48 ‫ סלח‬74, 90 ‫ עליון‬66, 101, 143, 163, 166 ‫ עם‬99, 137, 157, 163, 169 ‫ עני‬228 ‫ עצה‬159

‫ שבע‬181 ‫ שחת‬235 ‫ שכן‬78 ‫ שלום‬119 ‫ שעיר‬34 ‫ שערה‬34 ‫ שפט‬75, 92, 145

‫ פחד‬99 ‫ פקד‬172–174, 178, 181 ‫ פרע‬159f. ‫ פרקליט‬236 ‫ צדיק‬60, 207, 229 ‫ צדק‬30, 227 ‫ צדקה‬30, 60, 84, 227–229

‫ תורה‬16, 47, 54, 113f., 121, 127, 139, 143, 145, 163 ‫ תם‬197

‫ קדוש‬66, 166 ‫ קדש‬136, 138, 200f. ‫ קנה‬254 ‫ קצין‬158

Griechische Wörter ἀγαπάω 155, 215 ἄγγελος 200, 252 ἀγρυπνία 45 ἀγών 203–205, 209 ἄδικος 194, 229 ἀθανασία 216 ἀλήθεια 207 ἀληθής 101, 245 ἄμεμπτος 218 ἄμωμος 197 ἀνάπαυσις 78 ἀνδρεία 208 ἄνθρωπος 160, 164, 197, 204, 232, 239 ἄπλαστος 197 ἁπλοῦς 197 ἀποκαθαρίζω 235 ἀρετή 205, 208 ἀσεβής 165, 196, 220, 240

γινώσκω 195f., 201 γλωσσόκομον 180 γνῶσις VII, 196, 199–202, 246 γραμματεύς 48

βασιλεία 157, 165, 195f., 209, 243 βασιλεύς 45f., 135, 160 βίος 114, 116 βίωσις 45, 114 βουλή 159, 201

Ἑβραϊστί 45 ἐγκράτεια 208 εἰρήνη 157, 169, 255 ἐλεημοσύνη 227, 229, 231f., 239 ἐλεήμων 20, 83, 101, 227, 231, 233, 249

δεσπότης 179, 215, 249 διάβολος 216 διαβούλιον 65 διάδοχος 31, 139–141 διαθήκη 10, 49f., 71, 137, 142, 145f., 192, 259 διαφυλάσσω 193, 195, 202 δίκαιος 40, 60, 192, 194–197, 199, 202, 220, 229 δικαιοσύνη 40, 196, 199, 208, 228 δόξα 33, 71, 99, 127, 134, 147, 156, 196, 199, 236 δοξάζω 71, 134, 174

312

Begriffsregister

ἔλεος 94, 231 ἐλέω 96f., 100 ἐνταφιάζω 180 ἐνταφιαστής 180 ἐντολή 54, 115, 136, 229, 242 ἐξιλάσκομαι 74, 90, 235 ἐπιθυμία 221 ἐπικαλέομαι 212, 219f., 222 ἐπιστήμη 53, 111–113, 121, 145 ἔσχατον 236 εὐάρεστος 215 εὐεργέτης 239 εὐσέβεια 119, 196, 205, 207–209, 212, 219 εὐσεβής 199 εὐσπλαγχνία 236, 238 εὐχή 97, 212 εὔχομαι 212, 219 ζητέω 54 ζωή 54, 111, 113–117, 121, 145 θάπτω 180 θεῖος ἀνήρ 148 θεὸς ζηλωτής 218 θεοσέβεια 119 θεράπων 194, 218 θυμός 218f., 223 κληρονομέω 111 κληρονομία 142–144 κρίμα 34, 127, 145 κρίνω 75, 92f., 230 κρίσις 230 κριτής 66, 100 κτίζω 64, 66, 93, 175 κτίστης 66 κύριος 33, 66, 76, 88f., 98, 100, 166, 169, 214, 249, 257 λόγος 66, 117, 127, 154, 214f., 218 μακροθυμός 87, 101 μεγαλωσύνη 74, 88 μεταστροφή 159 μιμνήσκω 30, 33, 70, 221, 233, 259 μνημόσυνον 70, 259 μυστήριον VII, 201

νόμος 16, 46–49, 54, 111, 113–118, 121, 139, 142–145, 192, 220 νοῦς 66, 205 ὁδηγέω  196, 198 ὁδηγός 198f., 256 ὁδός 34, 161 οἰκτίρμων 33, 101, 228 ὄμβρος 34 ὁμοθυμαδόν 220 ὀργή 84, 90f., 214, 217f., 223 πάθος  212 παιδεία 94, 109, 120f. παιδεύω 94 παμβασιλεύς 98, 249, 257 πάνσοφος 206 παντοκράτωρ 66, 76, 98, 166, 249, 257, 262 πειρασμός 74, 87 πένης 228 πενιχρός 228 πλεονεξία 202 πρόνοια 114 προσευχή 212, 217 πτωχός 228, 231 σκηπτοῦχος 179 σοφία 16, 48, 112, 191–194, 196, 198–200, 205, 209, 215f., 220, 256 σοφός 60, 148, 180 σπλαγχνίζομαι 228, 238 σῴζω 97, 193f., 196, 215 σώτειρα 198 σωτήρ 198 σωφροσύνη 208 σώφρων 205 ταπεινός 228 τύχη 255 ὑπομονή 32, 87 ὕψιστος 48, 54, 66, 89, 113, 118, 142, 166 φάντασμα 204 φθόνος 216 φιλανθρωπία 231 φιλάνθρωπος 231

Begriffsregister φρόνησις 115, 208 φυλάσσω 193, 195f. φύσις 115

φιλελεήμων 237 φιλέω  219 φιλία θεοῦ 216 φιλόψυχος 215

Lateinische Wörter disciplina 111 fortuna 255 imitatio dei VII, 15, 233f., 242 lex 54, 113, 121

pax 255 perturbatio 212 praeceptum 136

313

Stellenregister Altes Testament Genesis 1–9 1–4 1–3 1 1,1–2,3.(4) 1,26–29 1,26–28 1,26–27 1,26 1,31 2,7–3,19 2,7 3,5–6 3,19–20 3,19 3,22 4,25 5,1 5,24 6,5 6,18 9 9,2 9,6 9,9–17 9,26 10,25 12,6 17,1 17,2 18,27 21,33 22,1–19 23 25–35 25,27

53, 93, 112, 116 17 63 65, 67, 93, 248 50, 114, 254 53, 112, 145 116 93 232, 255 254 112, 145 53, 64, 93, 116, 248 53, 113 63 53, 64, 93, 112, 116 53, 71, 116, 252, 255 174 53, 112, 145, 175, 232 174 116, 252 71 65 53, 54, 112, 116, 145 232, 233 71 174 147 173, 180 218, 250 71 65 76, 98, 258 195 184, 185 196 197, 207

26,3 28,10–22 28,15.20 32,23–33 34 34,7 34,8 34,24–30 35 35,3 37–50 42,6 44,14 47,12 48–50 49,5–7 50,20 50,24–26 50,24–25 50,25

179 209, 281 198, 202 104, 152, 203, 205 152, 165, 183, 206 165 79 205 152 198, 200 238 173, 178 173 173 196 205 174 171 173 173, 179, 182

Exodus 1,1.5.8 2,11 4,16 4,24–26 5,1–4 6,2–3 7,1 7,3.17 8–11 13,19 14,30–31 15 15,11 16,13

180 134 134 104 134 124, 251 134 126 135 171, 173, 175, 179f., 182–186 221 220 220 221

Stellenregister 17,1–7 17,8–16 19 19,3–5 19,7 19,19 19,21–25 20,13 20,21 22,26 24 24,7 24,8 24,13 28,41 28,43 29,7–9 30,30 32,4.8 32,11–14 32,13 32,25 32,32 33 33,1 33,11 34,6–7 34,6

221 141 53, 112 146 111f. 136 104 232 136 101 53 49, 143 146 140 52, 138 138 138 138 152, 159 134 179 159 124 141 179 133, 216 76, 84, 87f., 98, 101f., 214, 216, 230 73, 86, 90

Levitikus 8,12 19,18

138 134, 232, 242

Numeri 6,23–27 138 9,6 186 11,1–3 165 11,4.33–34 221 11,11–14 134 11,28 140 12 137 12,3 135 12,6–8 141 12,7 135, 194 12,8 133 13–14 160 14,1–10 141 17,6–15 217

315

20,7–13 221 20,12 135 21,4–9 218 21,9 217 21,21–35 135 24,19–20 96 24,20–24 55, 185 25,13 138 27,12–23 140 32,11 179 Deuteronomium 3,2–3 135 4–5 53f., 112, 114, 146, 259 4 16, 49, 78, 137 4,1–6 136 4,2 41 4,5–9 57 4,6 143 4,8–10 143 4,15–16 260 4,29 219 4,31 101 4,34 135 4,35 77 4,37 136 4,39 248 4,44 111f. 6,4–5 54, 57, 114, 248 6,5 133f., 219 7 75, 92, 257 9,19 134 12,9–10 78, 104 13,1 41 17,14–20 156, 163 18,15 51, 132, 140 25,19 78 26,8 135 28,3–15 119 30 16, 72, 78 30,11–20 65 30,15–20 54, 113f., 119, 147, 242 30,15–16 136 31,23 179 32,1–43 115 32,2 34, 137f. 32,6 165, 254

316

Stellenregister

33,4 34,4 34,9 34,10

49, 143f. 179 140 51, 132, 140, 194

Josua 1,1 21,45 23,14 24 24,32

140 154 154 152 173, 175, 179–185

Richter 8,8–17 9 17–18

152 152 152

1. Samuel 3,19

154

2. Samuel 6,6–11 7,11–16 20,1 20,24

104 154 152 152

1. Könige 5 8,56 11,9 11,13–14 12 19,17

152 154 155 152 V–VI, 19, 151, 152–157, 159–164, 166–168, 259 96

2. Könige 9,28 10,20 17 18–20 22 23,30

186 154 161, 167 153 41 186

2. Chronik 12 20,7 30,18

152 127, 133f., 216 102, 247

Esra 7

41

Nehemia 8–10 41 9 71, 144, 214 9,17 73f., 86, 90, 214, 230 13,26 126, 155, 216 Tobit 2,9–10 241 2,12.15 36 3,6–7 237 4 238 4,10 236 4,16 232 4,19 198 12,7 237 12,9 228, 234 13–14 75, 97, 225 14,10–11 238 Judith 8,26–27 9,2–5

195 206

Esther 16,13

218

1. Makkabäer 2,51–61 50, 71, 144, 192 2,64 192 4,46 40 9,27 40 13,25–30 186 14,41 40 2. Makkabäer 2,13 2,26 6,2 6,12–16

46 45 165 92, 94

Hiob 1,1.8 1,3 1,6–12 2,1–7

119, 197, 218 239 252 252

317

Stellenregister 2,3 2,9 4,8 4,12–21 4,17–18 4,17 7,17 8,8–10 9 9,17 9,20–22 9,24 10,8 10,9 10,12 14,9 15,7–8 15,7 15,14 20,19 22,6–9 23,8–9 23,13 24,1–12 25,4 26,14 28 28,20–27 28,28 29 29,12–17 30,25 31,13–23 31,15 32,8–9.18–19 32,8.18 33,4 33,23–26 38–39 38,1 42,5–6 42,5 42,6 42,7 42,17 (LXX)

119, 197, 218, 229, 252 197, 237 246 72, 246 251 80 92 246 80 34 250 239 250 64 250 32 65 53, 70, 113 80 239, 240 239 250 250 230, 239, 241 80 253 13, 52, 60, 67, 77, 255f. 143 119, 143, 250, 253, 256 239 239 239 239 232, 251, 260 72 247 247 252 50, 67f. 34, 247 81 VI, 247, 261 65, 252 73 32, 105, 241, 250

Psalmen 1 54, 77, 79, 234, 256 8 65, 258 8,5 92, 174 19 16, 54, 79, 117, 143, 234, 256 19,8 143 33,6 67 37 15, 164, 230, 235 44 75, 97 72,12–13 230 74 75, 97 77,21 221 78 101, 151, 167, 192, 214 78,9 164 78,18–31 221 78,38 75, 87, 96, 101 78,55 11 79 75, 97 86,15 86, 214, 230 89 154 102 97 103 75 103,8 73, 86, 94, 101, 214, 230 104 50, 68, 93, 114, 258 105,22 175, 179 107,4–6 221 110 55 112 225, 227, 229f., 238 112,1 143, 242 112,4 230 112,5 26, 30f., 36, 230 112,6 70 112,9 230f., 234, 239 116,5 101, 230 119 54, 234, 256 119,98–99 143 136 8, 26, 53, 102 136,17–20 135 144,3 92, 94 145,8 73, 86, 214, 230 146,6–9 233 147 50, 68 Sprüche 1–9 2,17

55, 77, 226 71

318

Stellenregister

8,22–36 8,30–31 8,30 9,13 9,15 10,2 11,4 11,5 12,28 13,6 14,31 16,6 16,30–32 19,17 22,17–24,22 22,22–23 29,14 29,21 30,3 30,13–14 31,1–3 31,9

60, 143, 254 216 254 255 31, 34 236 52, 90, 236 31 255 255 63, 231, 235, 251, 260 234 31 229 13, 72 232 230 158 199, 201 230 155 230

Prediger 3,11 3,13 3,21 4,17–5,5 5,17 8,15

66f., 248, 253f. 261 64, 71 73 261 261

Sapientia Salomonis 2,10–24 230 2,12 207 2,13 202, 246 2,22 VII, 201f., 206 2,23 222f., 232, 260 4,2 203 4,10–11 216 6,7 67, 233, 249, 256 6,18 207, 223 6,22–11,1 18, 192, 212 6,22 201f. 7–9 199 7 13, 255f. 7,7 212f., 219 7,10 219f., 223 7,14 199, 216 7,15 198f., 212, 219, 256

7,17 7,21 7,27 8,21 9,1–18 9,10 9,13–16 9,13 10 10,1–11,1 10,5 10,13 10,20 11,4 11,15–12,27 11,24–26 11,26 12,1 12,13–14 12,19 13–15 13,1–15,17[19] 13,1–9 13,1 13,17–14,1 13,18 14,3 14,12–13 14,22 14,27–31 15,1–3 15,1 16,6 18,4.9 18,20–25 18,21 18,22 19,8–10 19,22

201f. 254 194, 216, 256 212f., 219 213f., 219 215 219 201 50, 192–194, 197–199, 202–204, 206f., 255f. 192–194, 208, 217, 257 218, 220 175, 216 212f., 219f., 223 212f., 219, 221f. 69 257 VII, 215, 262 215, 257 260 228, 231 259 221f. 246, 260 222 213, 222f. 212, 222f. 218, 234, 256 260 202, 246 260 213, 216 101, 233, 249, 260 34, 207, 215 207 213, 223 212, 217f. 71, 218 213, 219, 221–223 14, 196, 203, 213

Sirach 0,1–14 121 0,12–14.30–31 62 0,27 61, 66 1,27 94, 136, 144 2,11 73–75, 86–88, 90, 104, 233, 249

Stellenregister 2,18 74, 88, 94, 217 3,9 216 3,30–4,10 228, 232 3,30 234 4,1 58, 117 4,5 58 4,6 93, 232 4,10 120, 216, 230, 234f., 239 4,31 58 5,5–6 104 5,6 74, 84, 89–92, 105, 228 5,11 58 7,21 232 7,30 58, 63, 133, 140 7,36 236 10,9 94 11,4 241f. 12,3 229 13,5 57 14,15–19 15 15,11–17 54, 114, 242 15,14 63–65 15,15 147 15,20 101, 112 16,11 75, 84, 89, 91, 96, 103–105, 218 16,12 75, 94, 162 16,26–27 67 17 3, 9, 14, 26, 53f., 64f., 78, 112f., 115–118, 145f. 17,1–21 16 17,1–14 111, 115f. 17,1–4 93 17,1 64, 93, 114, 116, 213, 233 17,3–4.6–7 65 17,5 63, 66 17,11–12 145 17,11 VI, 14, 49, 53f., 72, 78, 109, 111–117, 121, 146, 256 17,14 53, 112, 115, 146, 232 17,22 228f. 17,26 58, 229 17,29 74, 94, 104 17,32 65, 80, 116

319

18,1–14 12, 93 18,1 66, 93f., 114, 233 18,5 94 18,5.13 104 18,7 82, 248 18,8–14 93 18,11–12 104 18,11 92, 104 23,1.4 234, 258 24 VI, 3, 9, 13, 16, 18, 26, 49, 53, 58, 60, 77–79, 97, 99, 115– 117, 125, 142, 147, 164, 207, 255f., 258 24,8 66, 99, 207 24,19–23 78 24,23 VI, 14, 49, 77, 116, 119, 142–144, 147, 207, 256 27,9 57 29,12–13 236 30,13 159 31,15 232 31,25–27 232 32,15 54 33,10 96, 235 33,7–15 12, 69, 227 33,14–15 69, 258 33,23 156 35,15.22 75 36 15, 19, 50, 75f., 97–100, 102, 257 36,1.17 81 36,5 76 36,5.10.17 99 36,7–17 95, 100 36,7 75, 91, 95f., 156, 164 36,8 90, 96, 104, 235 36,12–13 76, 95f., 100, 104 36,15 96, 100 38,24–39,11 8, 48 39,16–35 63, 77 39,16.21 67 39,17 68 40,24 87, 236 42,15–43,33 7, 12, 50, 63f., 68, 82, 97, 116, 146, 258 42,15 30, 68, 147

320

Stellenregister

43,27 43,28 44,1–49,16 45,1–5 45,5 45,15 45,17 45,20 45,25 46,1 46,7 47,12–48,1 48,1–14 48,10 48,22 48,23 49,7 49,8–10 49,10 49,15 50,12–13.22–24 50,19–20 50,19 51,1–12 51,1 51,10 51,12a–o 51,19–21 51,23.29

VI, 57, 68, 81, 166, 249, 258 67, 94 50, 116 VI, 7, 9, 14, 16, 72, 125f., 131, 133, 137, 146, 175 49, 52, 54, 78, 112– 114, 132f., 136f., 144, 146–148, 163, 256 52, 71, 125, 132, 138, 140, 146 49, 51, 127, 137, 139, 163 71, 111 71, 102, 128, 137, 247 31, 46, 50, 51, 125, 128, 131–133, 139– 141, 144 71, 90, 103, 125, 139, 141–143, 160 V, VI, 9, 151 154, 162, 259 48, 52, 75, 90, 103, 156, 166 31, 100, 132, 215 111, 116 31, 35, 63, 136, 140 V, 7, 9, 15, 19, 23, 32, 35, 36, 184 31, 30, 32, 51, 72f., 100, 128, 141 VI, 9, 15, 19, 51, 130, 171–174, 176, 178f. 165 82 14, 67, 73, 101, 105, 232, 249 9, 53, 67 67, 258 67, 87, 220, 234 8, 26, 97, 102f., 167 79 62

Jesaja 7,17 11,1.11

153, 164 155

14,4–6 36–39 40,18–25 40,28 41,8 44,6 46,1–2 49,15 54,10 55,7 63,13–14 66,13 66,14

98 153 222, 259 76, 98, 258 127, 133f., 216 76, 77, 95, 99, 222, 258 259 95, 101, 234 101 74, 89, 91, 94 221 234 32, 184

Jeremia 10 21,8 22,2–3 32,16–25

259 147 230 69

Klagelieder 1,22 2

156 104

Baruch 3–4 3 3,9 4,1

16, 109, 207 77, 255 54, 115 54, 114, 143

Ezechiel 1 29, 33 1,28 33 10 29, 33 14,14.20 30 18,25 34 20 103 28,1–10 98 28,12.16 65 37,1–14 35 37,3 32 43,3 29 Daniel 2,18–23 4,6 12 12,3

201 201 5 35

321

Stellenregister Hosea 11,8–9 12,4–5 12,14

103 196, 203f. 51, 132, 140, 194

Jona 4,2

73, 86, 214, 230

Micha 6,8

134, 229

Nahum 1,3

34

Joel 2,13

73, 86, 214, 230

Maleachi 3,20 3,22–24

221 48

Neues Testament Matthäus 6,1–4 11,28–30

239 58, 79, 149, 261

Markus 10,19 12,28–34 12,29–30 16,17–18

58 134 53, 112 217

Lukas 10,25–27 12,33 24,44

117, 236 236 40, 55

Johannes 1 18, 58, 261 1,1–18 79 1,14 149, 261 1,51 209 3,3 199, 209 3,16 262 3,17 105 4,5–42 209 4,12 208f. Apostelgeschichte 1,8 7,9–16 7,10 7,38

262 172 175, 179 117, 134, 137

Römer 8,2 11,33–36 11,36

149 261 258

1. Korinther 13,9

248

2. Korinther 9,9

231

Galater 4,4

261

Kolosser 1,15–20

149, 262

1. Timotheus 6,12

209

2. Timotheus 2,19 4,17–18

58 203

Hebräer 1,2 149 1,3 74, 88 11 192 11,4.9.20–21 198 11,11–12.31.35 71, 144 11,21–22 172f. 11,25 134 12,1 209 Jakobus 1,19 5,7 5,10–11 5,11

58 241 32f., 36 101, 241

1. Johannes 4,8

262

322

Stellenregister

Frühjüdische Texte außerhalb der Hebräischen Bibel und der Septuaginta Aristobul Frgm. 4

148

2. Baruch 38,2

54, 115, 137

3. Baruch 1,8

201

4. Esra 14,18–48 40 14,21–48 41 14,30 54, 113, 115 1. Henoch 1,2 42 104,1–6 104,2 106,19

200f. 255 206 35 200f.

Joseph und Aseneth 11,10 230, 233, 249 22,7 200, 204 23,13(14) 206 29,9(11) 179 Jubiläen 11,4–7 19–46 30,5 32,21–26

260 197, 203 165 200

3. Makkabäer 2,1 2,6–7 6,4

120, 154 126 126, 144

4. Makkabäer 1,11 1,16 2,2 2,17 15,11–16 16,15–23 16,20–23

157 200 175 148 205 71 144

18,9–19

71, 144

Naḥal Ḥever 8 ḤXII

42

Ps.-Phokylides 19 237, 240 22–29 240 28–30 240 109–111 240 109–110 242 137 240 223–226 240 Psalmen Salomos 7,6 9,3 9,5

74 246 15, 216

Qumran 1Q26 62 4Q76 42 4Q158 201, 205 4Q305 II,2 53, 65, 113 4Q372 120, 127, 161, 165, 197 4Q381 67, 103, 164 4Q385 29, 35, 235 4Q415–418 62 4Q417 53, 112f. 4Q423 62 4Q424 229 4Q460 164 4Q504 47, 53, 65, 75, 97, 100, 113 4Q525 4, 16, 54, 114 4Q537 200, 205 4QMMT C 10–11 47 4QMMT C 19 162 11QPsa XVIII 255 11QPsa XXII,13–14 100 Sibyllinische Orakel III,547 260 III,723 260

323

Stellenregister Testament des Abraham A 15,12 199

Testament des Levi 7,2 165

Testament des Asser 2,6 240

Testament des Sebulon 2 238 4 238 5 53, 238, 242 5,1–3 112 5,1 233 7,1 238 7,2 233 7,3 238 8,1–2 15, 236 8,4 175, 238

Testament des Benjamin 3,3 53, 112 4,1 15, 228, 236 4,3 239 Testament des Dan 5,3 134 Testament des Gad 5,10–11 241 Testament des Hiob 6,4 9–17 11,1 15,5 15,8 16,6 26,5 32,2–3.7 39,8–13 40,4.13 47,4 53,1–4

240 228, 239 239 240 240 239 240 239 240 240 240 239

Testament des Issachar 5,2 134, 238, 242 7,5–6 238 Testament des Joseph 3,3 174, 197 20,2 183, 186

Vitae Prophetarum 2,5 178 18,3 162 Philo von Alexandria agr. 20–21 194 agr. 20 206 Cher. 18 206 Cher. 47 206 Jos. t. 1 179 spec. II,235 197 Flavius Josephus Ant. I,20,2 Ant. II,8 Ant. II,8,2 Ant. IV,3,2 Ant. XI,8,5 Ant. XII,3,3–4 Ant. XII,4,10 Apion 1,8

204 205 172, 175, 183 148 177 46 154 36, 40f., 131

Frühchristliche Texte außerhalb des Neuen Testaments Barnabas 19,2 19,9

58 58

Didache 1,2 4,5

58 58

4,8

58

Justin Dialog 58,6 Dialog 100,3 Dialog 134,6

204 209 209

324

Stellenregister

Rabbinische Texte bBer 7a bBer 60b

83 101

bSota 13a bSota 13b bSota 48b

171, 180, 183f., 186 183 40

mQid IV,xiv bQid 30b bQid 81b

118 120 101

bQam 92b

57

bBB 9b bBB 13b bBB 15a–b bBB 15b bBB 16a

239 40 250 32, 197 34

bSan 69b bSan 90b bSan 91a bSan 100b

174 40 178 26

bAS 3b bAS 43a

118 179

mAv I,i mAv I,2 mAv II,viii mAv III,xviii

131, 149 146 117 118

ySota 24b

40

ySan 28a

57

MekhJ zu Ex 13,19 180, 183, 186

Texte aus der klassischen Antike Aesop fab. 183

203

Arrian An. VII,28,1

179

Aristoteles e.N. 1103b pol. 1287a rhet. 1378a rhet. 1389a

203 116 212 221

Cicero Tusc. IV,6 Tusc. IV,7

221 212

Diodor Siculus XVIII,3,5 XVIII,26–28

177 177

Diogenes Laertius vit. IV,111 212 vit. V,17.21 232 vit. VII,118 197

vit. VII,147

76

Pindar Frgm. 169a Isthm. 5,53

116 76, 257

Plato leg. 663a leg. 644b leg. 716cd epist. 8,354c Phaid. 60c rep. 352b rep. 621c symp. 193b

114 121 216 116 69 203 216 216

Plutarch Alex. 7,5 Alex. 8,5 Alex. 24,8 Alex. 26,5 Alex. 30,6 Alex. 50,6 Alex. 65

179 179 179 179 178 179 178

325

Stellenregister Alex. 76 179 De genio Socratis 580B 197 De Iside 351E–F, 352A 199 De Iside 355E 257 Quintilian V,11,39

121

Strabo XV,1,63–66 XV,1,64 XVII,1,8

178 179 177

SVF I,162 Ι,537 II,35 II,36 II,827

115f. 76, 93, 98, 115, 257 200 200 66

II,828 66 II,1169 69, 258 III,221 159 III,314 115f. III,323 115 III,333–339 115 III,397 198 III,444 198 III,459 198 Theognis eleg. 1

203

Xenophon An. II,6,26 Mem. I,6,12 Mem. II,1,27–34 Mem. IV,8,11

119 208 208 208

Koran Sure 4,161(163)

32

Sure 21,83

32