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German Pages 295 [296] Year 2007
Schriften der Internationalen Arnim-Gesellschaft Band 6
Romantische Metaphorik des Fließens: Körper, Seele, Poesie Schönburger Kolloquium der Internationalen Arnim-Gesellschaft
Herausgegeben von Walter Pape
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2007
Umschlagabbildung: Oberwesel am Rhein mit der Burg Schönburg aus: Christian Georg Schütz: Die Rheingegenden von Mainz bis Cöln in vier und zwanzig Ansichten. Frankfurt a.M.: Körner 1822, No. 9.
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 978-3-484-10877-6
ISSN 1439-7889
© Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2007 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Walter Pape, Köln Druck und Bindung: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten
Inhalt
Vorwort
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RHEINLANDSCHAFT U N D TRAUERLANDSCHAFT
Johannes Barth »eine Welt des Glanzes und der Herrlichkeit«: Rheinromantik bei Ludwig Achim von Arnim
3
Barbara Becker-Cantarino »Über die Günderode ist mir am Rhein unmöglich zu schreiben«: Der Rhein in Bettina von Arnims »Goethes Briefwechsel mit einem Kinde« . . 1 7 Roger Paulin »Macht solcher Tränen Strom mein Lied Euch weinen«: Zu den Bildern des Fließens in Goethes »Euphrosyne« und in Werners »Der vierundzwanzigste Februar«
27
GESCHICHTE, POLITIK, INDIVIDUUM: FLIESSENDE Ü B E R G Ä N G E
Claudia Nitschke Zwischen Fluß und Übersprung: Geschichte und Individuum in Hölderlins »Tod des Empedokles«
37
Sheila Dickson Der Fluß des Geldes in Arnims Werken
55
Ariane Ludwig Fließende Übergänge: Achim von Arnims »Aloys und Rose« zwischen Poesie und Geschichte
71
Jan O. Jost Achim von Arnims »Der Rheinfall« und »Des ersten Bergmanns ewige Jugend«: Variationen der romantischen Adoleszenzkrise
85
VI
Inhalt
Holger Schwinn Brentanos Briefkunst
105
Konrad Feilchenfeldt Brentano, Grillparzer, Stifter und - Fontane: Wasser, Schnee und Eis - Aggregatzustände eines Elements in formaler Variation zwischen Poesie und Prosa
123
NATURWISSENSCHAFTEN: OBERFLÄCHE UND TIEFE
Antje Roeben »Geheimnisse des Flüssigen«: Die Bildlichkeit des Fließens in Novalis' »Heinrich von Ofterdingen« . . 143 Roswitha Burwick »Ahndung, Combination und Metamorphose« Arnims Erklärung komplexer naturwissenschaftlicher und poetischer Zusammenhänge
155
Renate Moering Wolke, Wasserfall, Eis: Das Wasser in Arnims Reise-Gedichten
167
POETIK DES FLIESSENS
Walter Pape »Leicht-Flüssigkeit« und Sinn-Fluß: Zum Flußcharakter von Metapher und Poesie
185
Achim Hölter Stufenlos regelbar? Überlegungen zur romantischen Transitionspoetik . . . . 203 Ulfert Ricklefs Lebensquell und Todesstrom: Zur Gewässermetaphorik Arnims
217
Stefan Nienhaus Poetische Magie und Geheimnis in Tiecks »Phantasus«
245
Literaturverzeichnis
257
Register
277
Verzeichnis der Beiträgerinnen und Beiträger
286
Vorwort
Wenn >alles fließtRealität< und Sprache werden vor allem mit Blick auf den >romantischen< Goethe diskutiert, und der metaphorische Prozeß wird als ein dem hermeneutischen Prozeß vergleichbares Zusammenfließen unterschiedlicher Wahrnehmungen oder >Bedeutungen< gesehen. Achim Hölters »Überlegungen zur romantischen Transitionspoetik« kann - vor allem am Beispiel Tiecks - demonstrieren, daß romantisches Erzählen auf eine implizite »Poetik des Gleitens, der Unschärfe und Grenzverwischung« verweist, die vor allem in der Versprachlichung innerer Vorgänge im Kontext der sensualistischen Affektenlehre greifbar wird. Daß sich Ulfert Ricklefs als einer der profundesten Kenner des Arnimschen (Euvres den werkübergreifenden Zeicheninszenierungen, Bildtableaus, Bildgedanken und Gedankenbildern mit den Elementen Quelle, Strom, Meer, Wasser (teilweise mit autobiographischen Erlebnishintergrund) sowie deren Derivaten im Werk Arnims und in Schriften anderer Romantiker zuwendet, macht seinen Beitrag zu einem Kompendium romantischer Fließmetaphorik, das, wie die andere Beiträge auch durch das Namen-, Werk- und Sachregister erschlossen wird. Last, but not least arbeitet Stefan Nienhaus heraus, daß die in Tiecks Phantasus zentrale Metaphorik des Fließens nicht nur in bezug auf die Landschaft und den (erotischen) Rausch oder das Traumreich, sondern auch in den dortigen poetologischen Reflexionen eine Hauptrolle spielt. Die Teilnehmer des Kolloquiums konnten dank einer Beihilfe der Deutschen Forschungsgemeinschaft unbeschwert dort tagen, wo es sich fur ein romantisches Fließ- und Fluß-Symposion gehört: auf der Burg Schönburg, oberhalb von Oberwesel. Mitten im Weltkulturerbe Mittelrhein wurde, mit dem steten Blick auf den Rhein, der heute gar nicht mehr wie in Arnims »Pfalzgraf« »erblinket blau«, das Symposion seinen Namen gerecht, denn, in der Tat, der »Rhein trägt ächte Trauben«, wie Arnim vor 201 Jahren im »Rheinischen Bundeslied« sang. Das Ganze gelang auch deshalb so gut, weil Antje Roeben und Norbert Wichard bei der Organisation, Agnes Figura und Mara Stahl beim Korrekturlesen und Registermachen halfen. - Wenn sich ein Ziel und Ergebnis festhalten läßt, dann wollten wir Sprachund Metapherninteressierten mit unserer metapherngetränkten Wissenschaftssprache den Fließ-Metaphern auf den Grund gehen, mußten aber mit Jacob Burckhardt feststellen: »Wir möchten gerne die Welle kennen, auf welcher wir im Ozean treiben, allein wir sind diese Welle selbst.«14 Köln, ein Jahr danach, im Juli 2007 Walter Pape
14
Burckhardt: Historische Fragmente, S. 269 (V. Das Revolutionszeitalter).
RHEINLANDSCHAFT UND TRAUERLANDSCHAFT
Johannes
Barth
»Eine Welt des Glanzes und der Herrlichkeit«: Rheinromantik bei Ludwig Achim von Arnim
Als im Jahr 2002 zweihundert Jahre Rheinromantik gefeiert wurden, machte diese Datierung noch einmal deutlich, daß, neben Friedrich Schlegels Erlebnis des Rheintals während seiner Reise nach Paris im Jahr 1802, vor allem die Rheinfahrt der beiden Freunde Clemens Brentano und Achim von Arnim im Juni desselben Jahres allgemein als der gleichsam offizielle Beginn dieses Phänomens angesehen wird. Zugleich zeigte sich bei diesem Jubiläum freilich auch erneut, daß es hauptsächlich Brentano ist, dessen literarisches Werk man mit der Poetisierung der Rheinlandschaft in Verbindung bringt. Dabei ist besonders an seine Rheinlyrik, vor allem natürlich an die von ihm erfundene Gestalt der Lorelei zu denken, die bereits 1801 in der Ballade »Zu Bacharach am Rheine« aus dem zweiten Teil des Godwi eingeführt wurde und in ihrer vielfachen inner- wie außerliterarischen Wirkung zweifellos singulär ist. Zumindest in germanistischen Kreisen sind als Beispiel der Rheinromantik zudem Brentanos Mährchen vom Rhein berühmt, die auch die Lorelei-Figur wiederaufnehmen und weiterentwickeln. Auch Achim von Arnim hat jedoch eine ganze Reihe von Werken geschaffen, die in den genannten Kontext gehören. So gibt es von Arnim ebenfalls bedeutende Rheinromanzen wie »Der Rheinfall« und »Die Rose«. Kaum beachtet wurden in diesem Zusammenhang bislang vor allem die ersten beiden Perioden der großen Päpstin Johanna-O'ichtang Arnims, die die Kindheit der Heldin auf der Pfalzburg bei Kaub und in Mainz schildern. Hier finden sich zahlreiche Motive, die die Rheinromantik bis in ihre trivialisierte Form im späteren 19. Jahrhundert prägen, so die später so genannte »Burgen- und Ruinenromantik« 15 - neben der Pfalz spielt bei Arnim die über Kaub gelegene Burg Gutenfels eine Rolle - und die Verherrlichung des Rheinweins in der scherzhaften »Legende vom Markebrunnen« über die renommierte Weinlage Erbacher Marcobrunn. Dieser Teil der Päpstin Johanna ist in mancher Hinsicht mit Brentanos Mährchen vom Rhein vergleichbar, speziell mit dem von Brentano auch als »Das Rheinmährchen« bezeichneten Einleitungstext. 16 Arnim hatte schon früh Kenntnis von diesen Dichtungen, die teilweise geschrieben wurden, während Brentano von 1809 bis 1811 bei seinem Freund in Berlin wohnte; das einleitende »Rheinmährchen« entstand laut der Darstellung Brigitte Schillbachs zwischen September 1810 und Anfang Januar 1812.17 Während des gemeinsamen 15 16
17
Vgl. Stephan: Die Entstehung der Rheinromantik, S. 52. Dies erwähnt auch Heinz Stephan, einer der wenigen Forscher, die die Päpstin Johanna bisher in den Kontext der Rheinromantik gestellt haben (Die Entstehung der Rheinromantik, S. 59). Vgl. Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 17, S. 349.
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Johannes Barth
Aufenthalts in Teplitz im August 1812 hatte Brentano aus den Märchen vorgelesen, worüber Arnim den Brüdern Grimm in einem Brief vom 8. September 1812 berichtete, allerdings mit Kritik am angeblich mangelnden »Märchencharacter« der Texte.18 Die Päpstin Johanna entstand unmittelbar danach, von Herbst 1812 bis Ende Januar 1813. Mit den Mährchen vom Rhein teilt diese Dichtung im übrigen das Schicksal, daß sie zu Lebzeiten des Autors nicht veröffentlicht, sondern von fremder Hand postum herausgegeben wurde, zufallig im selben Jahr 1846: die Päpstin Johanna durch Arnims Witwe Bettina, die Rheinmärchen durch Guido Görres.19 Die Parallelen zwischen den Anfangspartien der Päpstin Johanna und Brentanos Märchen gehen teilweise bis in inhaltliche Details; so spielt in beiden Werken ein sprechender Star eine wichtige Rolle: im »Rheinmährchen« der Schwarze Hans, in der Päpstin Johanna der in einen Wasserstar verwandelte Luzifer. Bedeutsamer als solche punktuellen Übereinstimmungen ist jedoch die gemeinsame Struktur der Konstruktion einer poetischen Rheinlandschaft durch ein Geflecht sagen- und märchenhafter Stoffe und Motive, die mit Geschichte und Geographie des Mittelrheins in Beziehung gesetzt werden. Der Rhein erhält dabei geradezu die Funktion einer Chiffre für Volkspoesie überhaupt, in der die verschiedensten Überlieferungen buchstäblich >zusammenfließenzerfließen< läßt. Nach Johannas gewaltsamer Vertreibung aus diesem rheinischen Paradies und der schließlichen Abreise nach Italien bleibt der Schauplatz der I. Periode eine Sehnsuchtslandschaft auch für die erwachsene Protagonistin. Eine Rückkehr ist ihr jedoch nur durch die Medien Traum und Kunst möglich, wie in der V. und letzten Periode des Werkes deutlich wird. Hier ist insgesamt dreimal die Rheinlandschaft der Kindheitsgeschichte evoziert. Zum erstenmal geschieht dies in einem Traum Johannas in der Nacht, bevor sie sich entscheiden muß, ob sie sich dem Pfalzgrafen Ludwig vermählen will. 49 In ihrem Traum sieht sich Johanna gemeinsam mit ihrem Geliebten wieder bei Kaub in einer harmonischen sommerlichen Szene, die auf die eben zitierte Einfuhrung dieses Schauplatzes in der I. Periode zurückverweist und explizit mit der »Herrlichkeit des Paradieses« gleichgesetzt wird. Arnim nimmt hier einen Abschnitt aus dem Wintergarten auf, wo im vorletzten Kapitel, »Der Eisgang«, eine angebliche mittelalterliche Buchillustration beschrieben wird, 50 und bezieht diese Passagen auf Kaub und Burg Gutenfels. Im Wintergarten geht das geschilderte Idyll in eine enthusiastische Beschwörung der idealisierten Mittelrheinlandschaft über, die Arnim durch eine Apostrophe an Clemens Brentano auf die gemeinsame Rheinreise vom Juni 1802 bezieht: »Soll ich deiner, mein Clemens, und des Rheins noch lange entbehren, nur einmal im Jahre atme erinnernd in meine Brust diese Frische des ersten Eindrucks jener schönen Welt.«" Das im Wintergarten auf die Bildbeschreibung folgende und thematisch mit ihr verbundene Gedicht »Willkommen ruft die Freude« ist in der Päpstin Johanna in das spätere Zauberfest am Kaiserhof integriert. Bei diesem Fest aus Anlaß von Johannas Hochzeit mit Ludwig kommt es zu einer weiteren scheinbaren Rückkehr an den Rhein, die diesmal auf buchstäblich künstliche Weise bewerkstelligt wird: 32 Kaub, Burg Gutenfels und die Pfalz werden hier unter Anleitung des Fischers und Dichters Thalmann auf »Tapeten«, also Theaterkulissen vorgetäuscht. Schließlich schaut Johanna ein drittes und letztes Mal im Traum in ihrer Hochzeitsnacht den Rhein und die Pfalz, 53 getragen von einem durch Thalmann gesteuerten »Luftschiff«, das von Schwänen gezogen wird, die, wie es im Text heißt, die »Träume«, aber wohl auch die Poesie verkörpern. In allen drei Szenen werden der »Lustgarten« der Pfalz und zumal das immer noch »fröhlig« springende Brünnlein als Inbegriff des paradiesischen Charakters der Visionen besonders hervorgehoben; die äußeren Mauern der Burg sind hingegen zerstört, ein Verweis darauf, daß am Ende der I. Periode vom Brand der Pfalz berichtet worden war. In diesen Passagen wird die romantisierte Rheinlandschaft zum Bild für den Zielpunkt der Pöpsiw-Dichtung, die Überwindung des Dualismus durch Ver-
49 50 51 52 53
Ebenda, S. 257f. Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 3, S. 413ff. Ebenda, S. 415. Arnim: Werke und Briefwechsel, Bd. 10.1, S. 269ff. Ebenda, S. 274.
Johannes Barth
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gegenwärtigung des Ewigen in der Liebe, deren zentrales Symbol die hier erscheinende Blume Zeitenlose ist.54 In diesem Sinne versteht Johanna die Visionen als Verheißung einer glücklichen Zukunft fur sie und ihren Gemahl. Als sehnsüchtige Reminiszenzen an die Goldene Zeit der Kindheit haben die Szenen jedoch auch einen regressiven Aspekt, der die Rheinromantik in der Päpstin Johanna in ein eher fragwürdiges Licht rückt. Dieser Zug wird bei dem ersten der beschriebenen Träume Johannas in der V. Periode am deutlichsten. Anders als in der früheren Fassung aus dem Wintergarten scheint in der Bearbeitung für die Päpstin Johanna die erträumte Rheinlandschaft zeitweise auf die Größe eines Kinderspielzeugs zu schrumpfen: »[...] die alten Städte lagen unter ihr wie Kartenhäuser aus ihrer Kindheit, sie spielte mit allem und blies in die Segel der bunten Schiffchen, daß sich die Schiffer laut freuten [,..]«.55 Nach dem Erwachen aus diesem Traum wird die Päpstin von Angst vor der Vermählung mit Ludwig überwältigt, die für sie bedeuten würde, die Realität der Welt »mit allem [ihrem] Weh«56 auf sich zu nehmen. In dieser Verfassung begegnet sie ihrer Mutter, dem Geistwesen Melancholia, die ihr eine letzte Möglichkeit zur Weltflucht eröffnet: Statt die Frau des Pfalzgrafen zu werden, soll Johanna dem »Geisterweib« in dessen Reich auf das Schloß der Aetherea folgen, das Melancholia mit dieser und ihren übrigen Schwestern, den Elementargeistern bzw. Temperamenten, bewohnt: »Und nun beschrieb sie ihr dies Schloß, wie wir die erwünschte Gegend am Rheine aus dem Traume der Johanna kennen, den Strom, die grünen Auen, die Weinberge den Wald, die offene Burg, und Johanna sah alles im Geiste sah ihren Traum erfüllt.«57 Hier wird also Johannas Verlangen nach der romantischen Rheinlandschaft ihrer Kindheit mit einem der problematischen Hauptzüge der Protagonistin in Verbindung gebracht, nämlich mit ihrer melancholischen Weltangst und Transzendenzsehnsucht. Dieser Aspekt ist besonders thematisiert in der zentralen dramatischen Einlage mit dem Titel »Das Frühlingsfest« in der II. Periode und bereits dort mit dem Rheinmotiv verbunden: Das Spiel, das als dichterische Bearbeitung eines Traums des Kindes Johanna eingeführt wird, hat eine gegenüber der Handlung der Päpstin Johanna weiter fiktionalisierte, geographisch und historisch nicht mehr festgelegte Rheinlandschaft zum Schauplatz. Als Alter ego Johannas tritt hier die Fürstin Beata auf, die ebenfalls vor einer Vermählung zurückschreckt. Dann jedoch entbrennt sie in Liebe zu dem Frühlingsgott, der über den Rhein aus seinem jenseitigen Reich in die Welt kommt, schließlich aber von dem »grimmen Fluß«58 dorthin zurückgerissen wird. Auch auf dieses Frühlingsreich wird bezeichnenderweise in der V. Periode die Sphäre der Melancholia bezogen, in der laut dem Bericht von Johannas Mutter »ein gleicher reger Frühlingsschein / Ein ewges Grün« herrschen.59
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Vgl. dazu Ricklefs: Magie und Grenze, S. 305f. Arnim: Werke und Briefwechsel, Bd. 10.1, S. 257. Ebenda, S. 263. Ebenda, S. 261. Ebenda, S. 105. Ebenda, S. 260.
Rheinromantik bei Ludwig Achim von Arnim
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Im »Frühlingsfest« werden jedoch auch bereits die Gefahren der Transzendenzsehnsucht deutlich: Am Ende ersticht sich Beata aus unglücklicher Liebe am Rheinufer, eine Anspielung auf das Schicksal der Günderode, wie erstmals Ulfert Ricklefs dargelegt hat.60 Der Rhein überflutet daraufhin das Tal und reißt auch die anderen Menschen in den Tod. Das Problem des Suizids ist ein durchgehendes Hauptthema der gesamten Päpstin Johanna-Dichtung, zusammengefaßt in der leitmotivisch wiederkehrenden Formel von der »Seligkeit des Todes«, die Arnim aus den Antikenstudien Friedrich Creuzers übernahm.61 Nicht zu entscheiden ist, ob Arnim bekannt war, daß Creuzers Freundin Karoline von Günderode an diesem Thema besonderes Interesse gezeigt hatte, wie aus dem Briefwechsel des Paares hervorgeht.62 Wie Beata, bei der bereits der lateinische Name auf dieses Motiv verweist, steht mehrere Male auch Johanna kurz davor, sich aus Verlangen nach einem jenseitigen Glück selbst zu töten. Am Ende der II. Periode, nach dem Vortrag des »Frühlingsfestes«, wird dieser Zug erneut auf den Rhein bezogen, denn Johanna will sich hier aus dem Fenster des Mainzer Schulgebäudes in den nächtlichen Fluß stürzen.63 In der erwähnten Begegnung mit Johannas Mutter Melancholia in der V. Periode ist die Päpstin zum letzten Mal dem Selbstmord nahe, was ihr und dem Leser jedoch erst im nachhinein deutlich wird: In einer Anspielung auf den Mythos von Castor und Pollux weigert sich Johanna schließlich, mit der Mutter in deren Reich zu fliehen, da der geliebte Ludwig als Sterblicher sie dorthin nicht begleiten kann. Nach dem Verschwinden des »Geisterweibs« erkennt Johanna dann, daß sie »auf morscher Felsenspitze« am Rande eines Abgrunds »geschwebt hatte«;64 wäre sie also ihrer Mutter in die »erwünschte Gegend am Rheine« gefolgt, hätte das auf der realistischen Ebene einen Sturz in den Tod bedeutet. Die Rheinromantik scheint im Falle Johannas demnach die Gefahr eines problematischen, ja lebensbedrohlichen Eskapismus zu implizieren. Wie im »Frühlingsfest« wird der Rhein dabei vom Lebens- zum Jenseitsstrom, der in die höhere Welt entreißt. Dementsprechend klingt das Thema der Seligkeit des Todes schon in Johannas Traum an, wenn die Rheininseln, in einer bereits im Wintergarten begegnenden Formulierung, als »selige Inseln«65 bezeichnet und so mit der antiken Jenseitsvorstellung der »beatorum insulae« in Verbindung gebracht werden, auf die sich die Päpstin Johanna, neben dem Namen Beatas im »Frühlingsfest«, auch an anderer Stelle bezieht.66 Tatsächlich nimmt bereits in Johannas Kindheitsgeschichte die »Welt des Glanzes und der Herrlichkeit« in vielen Szenen, anders als in den Reminiszenzen der Heldin in der letzten Periode, eher den Charakter eines Nachtstücks an, das an Rheinromanzen wie Brentanos »Ein Fischer saß im Kahne« gemahnt: Bereits die 60 61 62 63 64 65 66
Ricklefs: Magie und Grenze, S. 233-236. Vgl. Arnim: Werke und Briefwechsel, Bd. 10.2, S. 994f. Vgl. ebenda, S. 706f. Ebenda, Bd. 10.1, S. 123ff. Ebenda, S. 262. Ebenda, S. 257. Ebenda, S. 327; vgl. den Kommentar in Bd. 10.2, S. 1084.
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Johannes Barth
oben zitierte erste Einführung des Rheinufers bei Kaub vollzieht sich zwar noch im Sonnenschein, bezeichnenderweise aber bei Einbruch der Abenddämmerung. In der Neubearbeitung dieser Passage für die letzte Fassung der Päpstin Johanna wird dieser Aspekt übrigens stärker betont: Die Pfalz liegt hier bei Spiegelglanz' Ankunft »schon im Dunkeln der Schattenseite« des Bergufers, und der auch in der früheren Version genannte Kirchturm läutet nun »dem Abend ernst entgegen«. 67 Anschließend erhält in Johannas Kindheitsgeschichte die Mondnacht leitmotivische Bedeutung, wie Ulfert Ricklefs hervorgehoben hat:68 Bei Nacht betritt die kleine Johanna die Pfalzburg und verläßt sie wieder beim Schein des Vollmonds; 69 bei Vollmond beschwört der Protagonist in Arnims Version des Fischermärchens, abweichend von Runges Vorlage, das Zaubertier mit dem Spruch »Mondschein Mondschein überm Rhein / Mondschein Mondschein in dem Rhein«, 70 der Johanna zugleich fasziniert und ihr »Schauder« verursacht 71 und die Heldin von da an regelrecht verfolgt. Ebenso spielt der Hauptteil der Pfalzballade auf dem vom Mond beschienenen nächtlichen Rhein. Schließlich ist auch das Finale der II. Periode und damit der gesamten Kindheitsgeschichte der Päpstin Johanna durch die Atmosphäre des zunächst abendlichen, dann nächtlichen Rheinufers geprägt. Zumal hier ist die Stimmung gespenstisch, unterstützt durch den Auftritt des »Nachtraben«, einer blutsaugenden Schreckgestalt aus dem Volksglauben. 72 Am Ende der Kindheitsgeschichte, bei Johannas Abreise vom Rheinland nach Italien, dämmert schließlich der Morgen: »Die Sonn geht auf, der Mond geht unter.«73 Im Kontext der Päpstin Johanna verweist das hier evozierte romantische Motiv der »mondbeglänzten Zaubernacht« auf die Lebensferne der Heldin und auf ihre Faszination durch eine höhere Welt der Phantasie. Unter diesem Aspekt kann die beschriebene Ambivalenz der Einleitungsstrophen der Pfalzballade gedeutet werden als Bild einer Innerlichkeit, die um den Preis lebensfeindlicher Isolation von der Außenwelt erkauft ist. Tatsächlich wird auch das idyllische Dasein, das Johanna selbst im Garten der Pfalzburg führt, letztlich dadurch ermöglicht, daß die Kinder wegen der Todesgefahr, die dem kleinen Grafen droht, in den Mauern der Festung gänzlich vom äußeren Leben ferngehalten werden. In einer Wiederaufnahme des Gartenidylls während Johannas Aufenthalt in Mainz in der II. Periode ist dieses Moment noch schärfer pointiert: Hier kommt ein weiteres glückliches Jahr des Kindes in einem Garten nahe dem Rhein, der wiederum durch eine »hohe Mauer« 74 von der Außenwelt abgeschottet ist, allein dadurch zustande, daß in der Stadt die Pest wütet, vor der Spiegelglanz sich und seinen Zögling in Sicherheit bringen will. Das Motiv der »Seligkeit des Todes« klingt dabei wieder deutlich an: »Mitten in dem allgemeinen Elende, während des steten 67 68 69 70 71 72 73 74
Ebenda, Bd. 10.1, S. 34. Ricklefs: Magie und Grenze, S. 309. Arnim: Werke und Briefwechsel, Bd. 10.1, S. 38 und S. 44. Ebenda, S. 42. Ebenda, S. 44. Ebenda, S. 124-126; vgl. den Kommentar in Bd. 10.2, S. 918f. Ebenda, Bd. 10.1, S. 128. Ebenda, S. 62.
Rheinromantik bei Ludwig Achim von Arnim
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Läutens der Todtenglocke, wurde dieser Sommer so selig für das Kind, wie es noch keinen genossen.« 75 Die Rheinromantik der Päpstin Johanna schillert also zwischen den Bildern einerseits eines erfüllten Daseins, andererseits einer Idealsphäre, die mit den problematischen Zügen der Lebensferne und Todessehnsucht der Protagonistin in Verbindung steht. Insofern stellt Arnim auch diese Spielart der Romantik, indem er an ihrer Begründung mitwirkt, zugleich schon selbst kritisch in Frage. Von der späteren, auch als »Ruinen- und Rebenromantik« verspotteten harmonisierenden Rheindichtung 76 ist seine ambivalente Behandlung des Themas, trotz oberflächlicher Motivparallelen, in jedem Fall weit entfernt.
75 76
Ebenda, S. 61. Doderer: Brentanos im Rheingau, S. 22.
Barbara
Becker-Cantarino
»Über die Günderode ist mir am Rhein unmöglich zu schreiben«: Der Rhein in Bettina von Arnims Goethes Briefwechsel mit einem Kinde
Von seiner Rheinreise zusammen mit Achim von Arnim schickte Clemens Brentano am 22. Juni 1802 an seine Schwester Bettina einen Brief mit einer Gedichteinlage, die so beginnt: »Am Rheine schweb ich hin und her / Und such den Frühling auf.«1 Das Gedicht mußte Bettina wieder die Poetisierung der Rheinlandschaft näher bringen, wie Clemens diese Landschaft und den Rhein »als Vaterland der Kunst«2 schon in seinem Erstlingsroman Godwi oder das steinerne Bild der Mutter (1801) gefeiert hatte, in der Ballade von der >Lore Layhöhere Wahrheit< der Kunst zu gestalten. Die Ungenauigkeiten, Korrekturen an den Fakten, ihre als >Lügen< getadelten Erfindungen standen unter dem Erzählprinzip, daß alles sinnlich Wahrnehmbare eine symbolische Bedeutung hatte: »So erkläre ich mir das Christentum als Symbol einer höheren Denkkraft, wie mir denn überhaupt alles Sinnliche Symbol des Geistigen ist.«4 Schon in der »Vorrede« nimmt die Autorin das Bild von »der reichen Quelle [...] von der er ausgeströmt«, das der Kanzler Friedrich von Müller als Goethes Nachlaßverwalter in seinem Brief vom 15.8.1832 an Bettina von Arnim gebraucht, als er ihre Original-Briefe, die sie sich zurück erbeten hatte, an sie sendet, als Metapher für ihren historischen Briefwechsel mit Goethe auf.5 Bezeichnenderweise ergänzt die Autorin Müllers Metapher für die Briefe: »ein Tropfen gleichsam ihres Herzbluts« mit der Formulierung: »das dem größten und herrlichsten Menschen zuströmte« 6 - die Metapher des Strömens für das Leben klingt an, eine in Bettina von Arnims Texten immer wiederkehrende und variierte Metapher. Im Text des GoetheBuches spielen dann der Rhein und seine Landschaft eine wichtige Rolle. Gleich nach dem Weimar-Besuch der Bettine-Figur 7 zu Anfang des Ersten Teils schreibt diese aus »Winckel« (undatiert), wie »unsere ganze Bagage an der Douane untersucht war« und sie beim Verfolgen von zwei Mücken die Scheibe des Reisewagens einschlägt, »die Mücken in die goldene Freiheit, über den großen stolzen Rhein hinüber« flogen - der Rhein als Freiheitssymbol klingt an. Bettine beschwert sich über die Langeweile in »Langenwinckel«, die »schmutzigen Gassen«, die Gerüche von der Gerberei, und daß die Orgel »auch ganz falsch hier in der Kirche« klingt.8 Es ist eine Voreinstimmung auf den Unglücksort Winkel. In der Beschreibung von »meinem ganzen Lebensaufenthalt in Winckel« bildet der Rhein den Höhepunkt: »Am Abend spazieren wir an den Ufern des Rheins entlang, da lagern wir uns auf dem Zimmerplatz; ich lese den Homer vor, die Bauern kommen alle heran und hören zu; der Mond steigt zwischen den Bergen heraus und leuchtet statt der Sonne.«9 Diese romantische Szene führt das Motiv des Rheins als Ort der Dichtung und der Kunst fort: »auf dem prächtigen Rheinspiegel in Mondnächten dahingleiten und singen, wie das Herz eben aufjauchzt [...] ohne Sorge, [...] ohne Harm.«10 In diese romantische, stimmungsvolle Erinnerung hinein platziert die Autorin die Aufforderung der Frau Rat: »Du sollst die Geschichte der Günderrode auf-
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Bettine von Arnim: Werke und Briefe in vier Bänden, Bd. 2, S. 292. Ebenda, S. 15. Ebenda. Da es sich hier um die bewußt fiktionalisierte >Geschichte< handelt, der das historische Ereignis von der Freundschaft Bettina Brentanos mit Karoline von Günderrode und deren Selbstmord zugrunde liegt, unterscheide ich zwischen der Autorin Bettina von Arnim (sowie den anderen historischen Personen) und den Kunstfiguren Bettine, Caroline, Frau Rat, Goethe usw. im Briefroman. Bettine von Arnim: Werke und Briefe in vier Bänden, Bd. 2, S. 30-31. Ebenda, S. 35. Ebenda, S. 36.
»Über die Günderode ist mir am Rhein unmöglich zu schreiben«
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schreiben, und schick' sie nach Weimar, mein Sohn will es gern haben«11 ganz unvermittelt und gebieterisch wie eine bewußte Desillusionierung der kunstvoll erzeugten Stimmung. Sie fugte auch eine Metapher der Erinnerung an, wenn sie Frau Rat fortfahren läßt: »Der Mensch wird begraben in geweihter Erd', so soll man auch große und seltne Begebenheiten begraben in einen schönen Sarg der Erinnerung, an den ein jeder hintreten kann und dessen Andenken feiern. Das hat der Wolfgang gesagt, wie er den Werther geschrieben hat.«12 Die Sarg-Metapher weist auf Günderrodes Tod hin, ist aber, wie sie den Selbstmord Günderrodes mit der Nennung von Werther evoziert und sich dabei die Rolle des Dichters zuschreibt, wohl eher eine Erfindung derselben als ein (nicht nachzuweisender) Ausspruch Goethes.13 Denn im Goethe-Buch nahm Bettina von Arnim erstmals seit dem Ereignis die Geschichte der Günderrode wieder auf und gestaltete Günderrodes Tod, wie sie ihn erlebt hatte, in poetischer Form, indem sie eine lebendige, einfühlsame Schilderung ihrer Freundschaft mit Karoline von Günderrode und deren Tod in einen langen, an Goethes Mutter gerichteten Brief im ersten Teil des GoetheBuches einschaltete.14 In diesem Text ist die Günderrode-Episode die zweite episch ausgeweitete Erzählung nach der fast burlesk gestalteten Reisebeschreibung von Bettines erstem Besuch bei Goethe in Weimar, die eine Art prosaische, komische Konterfaktur zum poetisierten, dramatisierten Ereignis der Günderrode-Freundschaft bildet. - Auf Frau Rats (fiktive) Aufforderung hin, schiebt die Autorin jedoch erst eine witzige Episode zu Madame de Staels Besuch in Mainz ein, dann eine ausfuhrliche Beschreibung der »Kostbarefn] Pracht und Kunstwerke, in Köln und auf der Reise dorthin gesehen, und für meine liebste Fr. Rat beschrieben«, darunter der Hochaltar der Stiftskirche Unsrer Lieben Frauen in Oberwesel.15 Damit wird in Bettina von Arnims eklektischer, paradoxer Erzählweise das Kunstthema weitergeführt, das neben das Naturerlebnis tritt. Die lange Günderrode-Erzählung eröffnet die Autorin mit einer Beschreibung der Weinberg-Landschaft am Rhein: Am Abend in der Dämmerung fürchtete ich mich [an den Feldgöttern / Vogelscheuchen im Weinberg] vorbeizugehen, und zwar so sehr, daß ich wieder umkehrte und nicht bis an's Wasser ging, wie ich jeden Abend tue [...] ich ging also noch einmal glücklich an dem Lumpengespenst vorbei, [...] die stille weit verbreitete Ruhe über dem breiten Rhein, über den brütenden Weinbergen, wem vergleich ich die wohl, als dem stillen Abend, in dem mein
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Ebenda, S. 50. Ebenda. Die akribische Goethe-Philologie datiert das angebliche Goethe-Zitat auf 1773, kennt aber nur diese Stelle aus Bettina von Arnims Goethe-Buch, s. Goethe: Begegnungen und Gespräche. Bd. 1,S. 242. Bettine von Arnim: Werke und Briefe in vier Bänden, Bd. 2, S. 62-84. Als Bettina von Arnim die Werke ihres 1831 verstorbenen Mannes herausgeben wollte, begann sie, seinen Nachlaß und ihre eigenen Briefschaften erneut zu sichten. Dabei fand sie, wie sie dem Nürnberger Verleger Julius Merz mitteilte, ihre Korrespondenz mit der Stiftsdame Günderrode und faßte zunächst den Plan, damit einen Nachtrag zur dritten Auflage von Goethes Briefwechsel mit einem Kinde zu veröffentlichen (s. Härtl (Hrsg.): Goethes Briefwechsel mit einem Kinde, S. 680 f.). Bettine von Arnim: Werke und Briefe in vier Bänden, Bd. 2, S. 53-60.
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Barbara Becker-Cantarino Andenken ihm einen freundlichen Besuch macht, und er sich's gefallen läßt, daß das Schifflein mit meinen kindischen Gedanken bei ihm anlandet.16
Die Autorin läßt Naturerlebnis, Gefühl und Erinnerung ineinander fließen. Hier erscheint Bettina die Rheinlandschaft durch die Vogelscheuchen der Menschen verunsichert, der Fluß ein Zeichen der Ruhe und Beständigkeit, aber keineswegs vertraut oder vermenschlicht. So setzt dann die eigentliche Beschreibung der Günderrode-Episode mit der paradoxen Bemerkung der eigenen Unfähigkeit ein, am Tatort selbst über die Erinnerung zu schreiben: Über die Günderode ist mir am Rhein unmöglich zu schreiben, ich bin nicht so empfindlich, aber ich bin hier am Platz nicht weit genug vom Gegenstand ab, um ihn ganz zu übersehen; — gestern war ich da unten, wo sie lag; die Weiden sind so gewachsen, daß sie den Ort ganz zudecken; und wie ich mir so dachte, wie sie voll Verzweiflung hier herlief, und so rasch das gewaltige Messer sich in die Brust stieß, und wie das tagelang in ihr gekocht hatte, und ich, die so nah mit ihr stand, jetzt an demselben Ort, gehe hin und her an demselben Ufer.17
Die erinnernde Betrachtung der Autorin Bettina von Arnim ist einfühlsam und zugleich distanzierend, sie vermischt die Zeitebenen des Schreibens und des Geschehens; der Brief ist nicht wie die meisten Briefe im Goethe-Buch, folgt aber auf einen Brief der Frau Rat vom 8. Oktober 180718 und steht vor einem GoetheBrief vom 7. August 1807. Die Reflexion über die vergangenen Ereignisse sowie die Erinnerung daran werden in dieser unzuverlässigen Erzählperspektive vermischt: Es kränkt mich und ich mache ihr Vorwürfe, wie ich ihr damals in Träumen machte, daß sie die schöne Erde verlassen hat; sie hätt' noch lernen müssen, daß die Natur Geist und Seele hat und mit dem Menschen verkehrt, und sich seiner und seines Geschickes annimmt, und daß Lebensverheißungen in den Lüften uns umweben; ja sie hat's bös mit mir gemacht, sie ist mir geflüchtet, grad wie ich mit ihr teilen wollte alle Genüsse."
Die Autorin Bettina von Arnim besteht auf der romantischen Verbundenheit von Mensch und Natur, einem Naturbegriff von Geist und Seele, auf der Schönheit der Erde, und sie fühlt sich von der Freundin hintergangen und ist verletzt: »sie hat's bös mit mir gemacht.« Dennoch gibt die Autorin eine warme, genaue Beschreibung von Günderrodes Person und dem, was sie ihr bedeutet hat, wie sie freundschaftlich miteinander verkehrt haben, wie sie selbst von der Freundschaft profitiert hat und zur Dichtung, Philosophie und Kunst hingeführt wurde: »mit solch wunderbaren Lehren hat die Günderode die Unmündigkeit meines Geistes genährt.«20 Die
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Ebenda, S. 62. Ebenda, S. 63. Frau Rat war bereits am 13. 9. 1808 gestorben; diese und ähnliche (beabsichtigte?) Fehler oder Gedächtnislücken wurden der Autorin als »gewissenlose Fälschungen« vorgerechnet. Vgl. Oehlke: Bettina von Arnims Briefromane, S. 6. Bettine von Arnim: Werke und Briefe in vier Bänden, Bd. 2, S.63-64. Ebenda, S. 67.
»Über die Günderode ist mir am Rhein unmöglich zu schreiben«
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Freundschaft mit der Günderrode (und die mit Goethes Mutter) hat die Autorin der erotischen Beziehung zur Goethe-Figur gegenübergestellt.21 Die Autorin beschreibt den Zustand der Glückseligkeit in der Freundschaft und die Trauer bei deren Verlust, um vor dem Selbsttod zu erschaudern: Ich weiß es schon im Voraus, ich werd' allein sein mit mir selber, wie ich heut allein stand am Ufer bei den düsteren Weiden, wo die Todesschauer noch wehen über dem Platz, da kein Gras mehr wächst; dort hat sie den schönen Leib verwundet, grad' an der Stelle, wo sie's gelernt hatte, daß man da das Herz am sichersten treffe: Ο Jesus Maria.22
Die religiöse Wendung »O Jesus Maria« unterstreicht die religiöse, ethische Position, aus der heraus Bettina von Arnim den Selbstmord (und damit auch den Tod der Freundschaft) beklagt und zugleich auch indirekt tadelt, ohne ihn jedoch hier zu erwähnen. Das Wort »Selbstmord« kommt auch nur einmal vor: »Wir lasen zusammen den »Werther« und sprachen viel über den Selbstmord.«23 Aber das Ereignis selbst wird nur indirekt und dabei mehrmals beschrieben. (Auch in ihrem späteren Günderode-Buch hat Bettina Günderrodes Tod ausgelassen, in Metaphern und Anspielungen verdrängt und nicht im Kontext des romantischen Todeskultes gefeiert.) Nach dieser leidenschaftlichen Steigerung kehrt die Autorin zur Rheinlandschaft zurück: Gestern waren wir in Laubbekränzten Nachen den Rhein hinab gefahren, um die hundertfaltige Feier des Weinfestes an beiden Bergufem mit anzusehen; auf unserem Schiff waren lustige Leute, sie schrieben weinbegeisterte Lieder und Sprüche, steckten sie in die geleerten Flaschen und ließen diese unter währendem Schießen den Rhein hinabschwimmen; auf allen Ruinen waren große Tannen aufgepflanzt, die bei einbrechender Dämmerung angezündet wurden.24
Diese festliche, volkstümliche Rheinszene kontrastiert die Autorin dann mit der Stille und Verlassenheit der Uferstelle, wo die Günderrode »tot am Ufer gelegen hat [...] Da ist keiner mehr, der nach ihr frägt, und ich ging hin, nicht ohne Grausen, nein mir war bang, wie ich von weitem die Nebel über den Weidenbüschen wogen sah.«25 Bettine begegnet dann einfachen Landarbeitern, die ihr von der Günderrode erzählen und daß sie an ihrem Grab beteten, wie es auch Bettina tut - wieder ein Verweis auf die religiöse Problematik. In der nächsten hochdramatischen Szene spielt die Autorin die Vorbereitung zur Selbsttötung durch, wie die Günderrode ihren verborgenen Dolch zeigt und sich von einem Chirurg die beste Körperstelle zur Erdolchung hat bezeichnen lassen, was Bettine zu leidenschaftlichen Küssen, Tränen veranlaßt, und einer zweiten ebenso dramatischen Szene, in der Bettine den Roßhaarstuhl im Zimmer der Günderrode zerstört, um sie vom Gedanken der Selbsttötung abzubringen und ihre Freundschaft 21 22 23 24 25
Vgl. Liebertz-Grün: Ordnung im Chaos, S. 8. Bettine von Arnim: Werke und Briefe in vier Bänden, Bd. 2, S. 71. Ebenda, S. 65. Ebenda, S. 71. Ebenda, S. 72.
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zu erhalten. Weiter enthält diese lange Erzählung, die längst über die Briefform ausgeufert ist, den Tod von Günderrodes Schwester, Günderrodes erneute Reise ins Rheingau, Bettines Winteraufenthalt in Marburg bei Savigny, gegenseitige Rätselaufgaben, ihre Bekanntschaft mit Creuzer und die endgültige Entfremdung - alle diese Einzelheiten werden in ziemlich sachlichem Ton erzählt, dann phantastisch ausgesponnen; es sind zusammengestückelte, historische Details, die Einzelperspektiven zur Freundschaft und zur Günderrode bringen, ohne jedoch ein Gesamtbild ihrer Persönlichkeit oder eine Erklärung zu bieten. Dazwischen bringt die Autorin immer wieder Hinweise auf den Rhein - als Ort des Lebens, des Unheimlichen und des Todes. Mit der geplanten Rheinreise Fritz Schlossers26 und dem Besuch bei Günderrode schaltet die Autorin eine zunächst indirekte Beschreibung von Günderrodes Tod ein. Die Bettine-Figur drängt »scherzend« zur Eile: »o gehen Sie morgen sonst treffen sie sie nicht mehr; - am Rhein ist's so melancholisch, sagte ich scherzend, da könnte sie sich ein Leid's antun. [... ] Ja, ja sagt ich mutwillig, sie stürzt sich ins Wasser oder ersticht sich aus bloßer Laune.«27 Sie begleitet Schlosser und wählt dann den Landweg mit ihm, statt der Wasserfahrt, was sie bereut, als ihnen in Geisenheim eine junge Magd die Geschichte einer jungen Dame erzählt: Gestern hat sich auch eine junge schöne Dame, die sich schon sechs Wochen hier aufhielt, bei Winckel umgebracht; sie ging am Rhein spazieren ganz lang, dann lief sie nach Hause, holte ein Handtuch; am Abend sucht man sie vergebens; am andern morgen fand man sie am Ufer unter Weidenbüschen, sie hatte das Halstuch voll Steine gesammelt und sich um den Hals gebunden, wahrscheinlich, weil sie sich in den Rhein versenken wollte, aber da sie sich ins Herz stach, fiel sie rückwärts und so fand sie ein Bauer am Rhein liegen, unter den Weiden an dem Ort, wo es am tiefsten ist. Er riß ihr den Dolch aus dem Herzen und schleuderte ihn voll Abscheu weit in den Rhein. Die Schiffer sahen ihn fliegen.28
Die Bettine-Figur errät sofort, daß es die Günderrode ist. Ähnlich wie die Geschichte vom Bauernjungen im Werther eine Vordeutungsfunktion hat, so deutet diese Episode auf den kommenden Selbstmord der Günderrode, den die Autorin nochmals in einer Traumszene durchspielt und zuvor eine Versöhnung einschaltet. Der Bettine-Figur träumt in der Nacht von Versöhnung, dann hat sie einen zweiten Traum: Ich sei eilig in einem Kahn über den Rhein gefahren, um sie zu suchen; da war das Wasser trüb' und schilfig, und die Luft war dunkel und es war sehr kalt; - ich landete an einem sumpfigen Ufer, da war ein Haus mit feuchten Mauern, aus dem schwebte sie hervor und sah mich ängstlich an und deutete mir, daß sie nicht sprechen könne [...] und ich hab gefragt: Gündero-
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Fritz Schlosser, Jurist in Frankfurt ab 1803, war der Neffe von Goethes Schwager Johann Georg Schlosser. Bettina hatte Italienisch bei ihm gelernt und mochte ihn nicht, weil er in sie verliebt war. Ich danke Renate Moering für die freundliche Sendung ihres Aufsatzes: Fritz Schlosser und die Brentanos. - In: Hinkel (Hrsg.): Goethekult und katholische Romantik, S. 45-104, hier S. 48-52. Bettine von Arnim: Werke und Briefe in vier Bänden, Bd. 2, S. 82. Ebenda, S. 83.
»Über die Günderode ist mir am Rhein unmöglich zu schreiben«
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de, warum hast Du mir dies getan? Und da hat sie geschwiegen und hat den Kopf gesenkt und hat sich traurig nicht verantworten können. 29
Noch ein letztes Mal schaltet die Autorin eine realistische Beschreibung der Begegnung mit der Toten ein, die wie ein Echo gehört wird: »Am andern morgen fuhren wir bei früher Zeit auf dem Rhein weiter.«30 Obwohl Franz befohlen hatte, daß das Schiff sich jenseits halten sollte, hören und sehen sie am anderen Ufer, wie Fritz Schlosser sich von dem Bauern, der die Günderrode gefunden hat, alles genau erklären läßt, was der Bruder Franz dann nochmals wiederholt. Auch als sie in Rüdesheim ankommen, unterhalten sich alle Leute über den Fall. In der Schlußpassage rennt die Bettine-Figur aus dem Gewühl der über den Fall redenden Menschen weg und steigt ohne auszuruhen auf den Berg Ostein hinauf: Da lag der herrliche Rhein mit seinem smaragdnen Schmuck der Inseln; da sah ich die Ströme von allen Seiten dem Rhein zufließen, und die reichen friedlichen Städte an beiden Ufem, und die gesegneten Gelände an beiden Seiten; da fragte ich mich, ob mich die Zeit über diesen Verlust beschwichtigen werde, und da war auch der Entschluß gefaßt, kühn mich über den Jammer hinauszuschwingen, denn es schien mir unwürdig, Jammer zu äußern, den ich einstens beherrschen könne. 31
Die Autorin endet mit einem Naturbild, das Kraft zum Trost verleiht: der Rhein und die anderen Ströme mögen für den Strom des Lebens stehen, die wohl älteste Metapher in der Dichtung; die »reichen friedlichen Städte« und »gesegneten Gefilde« stehen fur die Menschen, ihre Arbeit und kulturelle Tätigkeit. Die Kunstfigur Bettine hat eine hohe Position auf dem Berg - dem Parnaß - erklommen, von dem aus sie das Leben (Natur und Menschen) überschaut und sich nicht damit tröstet, daß die Zeit allen Schmerz heilen werde, sondern sich entscheidet, »kühn [sich] über den Kummer hinauszuschwingen.« Natur und Dichtung sind gleichsam tröstend. Dieser Schluß, daß »die Erhabenheit der Landschaft das Gemüt über den Schmerz hinaushebt«, ist, wie schon Varnhagen bemerkte, dem Ende von Madame de Genlis Roman Souvenirs de Felicie (1804-1807) nachempfunden.32 Die Autorin Bettina von Arnim hat bewußt und an literarischen Vorlagen geschult an der Stilisierung und Literarisierung ihrer Briefprosa und Landschaftsdarstellung gearbeitet. Diese fast 22 Druckseiten umfassende Episode des Günderrode-Briefes wird kompliziert durch die Montage-Technik und narratologische Eigenwilligkeit Bettina von Arnims.33 Bettina von Arnims poetisches Verfahren schaltet frei mit der Chronologie, mit dem Verhältnis von Vergangenheit und Zukunft, setzt den realen Zeitverlauf außer Kraft, und verhindert in dieser intendierten Unstimmigkeit der Chronologie feste Urteile und Ansichten. Die Autorin betont damit die Zeitlosigkeit 29 30 31 32 33
Ebenda. Ebenda, S. 84. Ebenda. Vgl. Oehlke: Bettina von Arnims Briefromane, S. 56. Vgl. hierzu Bunzel: Bettine von Arnims poetisches Verfahren in >Goethes Briefwechsel mit einem KindeLureley< hat Bettina von Arnim nicht anknüpfen können oder wollen, ihr vielleicht sogar bewußt die Figur der Günderrode in ihrem Liebestod entgegengestellt. Auch Brentanos christlich-religiöse Anklänge in seiner Rhein-Symbolik hat Bettina nicht übernommen, wohl aber die ethische Frage des Selbstmords indirekt gestellt, dessen realistisches Bild vor einer fühllosen, immer sich gleichenden Rheinkulisse geschildert wird - eine Ablehnung der Tat durch die Natur. Nur die Menschen reagieren, von Verzweiflung zu Verwunderung, Verurteilung und Klatsch, wovon ein genuiner Goethe-Text ein authentisches Zeugnis gibt. Goethe notierte 1814, acht Jahre nach Günderrodes Tod, als er Winckel besuchte: Man zeigte mir am Rheine zwischen einem Weidicht den Ort, wo Fräulein von Günderode sich entleibt. Die Erzählung dieser Katastrophe an Ort und Stelle, von Personen, welche in der Nähe gewesen und Theil genommen, gab das unangenehme Gefühl, was ein tragisches Local jederzeit erregt. Wie man Eger nicht betreten kann, ohne daß die Geister Wallensteins und seiner Gefährten uns umschweben. 3 4
Goethe distanzierte sich mit einem »unangenehmen Gefühl« von dem tragischen »Local« wie ein desinteressierter Zuschauer; ihm fiel dabei Wallenstein, der selbst-
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Im Rheingau Herbsttage. Supplement des Rochus-Festes 1814. .Den 6. September. - Goethe: Werke (Weimarer Ausgabe) Abt I, Bd. 34, 1, S. 65-66.
»Über die Günderode ist mir am Rhein unmöglich zu
schreiben«
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herrliche Feldherr des Dreißigjährigen Krieges und tragische Held von Schillers Drama, ein, er verlor jedoch kein Wort über die Dichtung und die unglückliche Gestalt Günderrodes. Natürlich konnte Bettina von Arnim diesen Goethe-Text nicht kennen, aber sie mag diese Goethesche kalte Distanz bei ihrem Besuch und (nachweislichem) Gespräch über ihr Erlebnis mit Günderrode gespürt haben.35 So hat denn auch in der langen Günderrode-Erzählung in Goethes Briefwechsel mit einem Kinde die Autorin Bettina von Arnim ihre Kunstfigur Goethe nicht ein einziges Mal erwähnt - die Erzählung sprengt die Briefform des Werkes. Auch von der zeitgenössischen Rheinromantik der 1830er Jahre im Zeichen der Politik - Deutschlands Strom, aber nicht Deutschlands Grenze - hat sich Bettina von Arnim ganz fern gehalten. Sie griff zurück auf die Rheinromantik im Zeichen der Kunst, vielleicht sogar in Erinnerung an Achim von Arnim. Auch wenn Bettina von Arnims Günderode-Buch nachhaltig das Gedächtnis an Karoline von Günderrode wachgehalten hat, so war es doch Achim von Arnim, der der Dichterin schon 1812 ein erstes Denkmal setzte. In der Rahmenerzählung zu »Melück Maria Blainville« heißt es am Schluß: So emst Schloß die Erzählung, als das Schilf des Ufers, welches wir bewohnten, am Nachen lispelte, und der Schiffer die Kette klirrend an einen halbversunkenen Weidenbaum band. Wir stiegen ans Land und sahen einander stillschweigend an und wiesen auf die Landzunge, die im Strom versunken. Ein edles musenheiliges Leben sank da in schuldlosem Wahn, und der Strom hat den geweihten Ort ausgetilgt und an sich gerissen, daß er nicht entheiligt werde. Arme Sängerin, können die Deutschen unsrer nichts als verschweigen, das Ausgezeichnete vergessen, und den Ernst entheiligen? Wo sind Deine Freunde? Keiner hat die Spuren Deines Lebens und deiner Begeisterung gesammelt, die Furcht vor dem Tadel der Heillosen, hat sie alle gelähmt. Nun erst verstehe ich die Schrift auf Deinem Grabe, die von den Tränen des Himmels jetzt fast ausgelöscht ist, nun weiß ich, warum Du die Deinen alle nennst, nur die Menschen nicht! - Und wir gedachten mit Rührung dieser Inschrift, und einer sagte sie dem andern, der sie vergessen hatte: »Erde, Du meine Mutter, und du mein Ernährer der Lufthauch, heiliges Feuer, mir Freund, und Du ο Bruder, der Bergstrom, und mein Vater, der Äther, ich sage euch allen mit Ehrfurcht freundlichen Dank, mit euch hab ich hienieden gelebet und ich gehe zur anderen Welt, euch gern verlassend; lebt wohl denn, Bruder und Freund, Vater und Mutter lebt wohl.36
Vielleicht ist Bettina von diesem poetischen Denkmal zu ihrer Darstellung inspiriert worden und hat zugleich an Achim von Arnim erinnern wollen? Dabei steht der Rhein für das dahin fließende Leben und den mysteriösen, unheimlichen Tod, den Bettina von Arnims artifiziell gebrochener Text nicht zu erklären oder verständlich zu machen vermag. Für Clemens Brentano wurde in seiner frühen Rheinromantik die Figur der >LureleyAuferstehungsmetapher< auszulegen." Eines kann man aber festhalten: die Trauerlandschaft, die >Tränenlandschaft Vereinigung mit dem Quelk, diesmal nur im religiösen, christlichen Sinn als Rückkehr in den Schoß des Glaubens zu verstehen, durch »meiner Tränen Strom«. Es sind Tränen, nicht der Trauer um die entrückte Euphrosyne wie in Goethes Elegie, sondern der Reue um das eigene vertane Leben und der Freude um die Gnadenerlangung. Das Bild vom Tränenstrom findet Werner in seiner Lektüre des spätmittelalterlichen Mystikers Thomas a Kempis bestätigt, dessen Imitatio Christi er Germaine de Stael wärmstens anempfiehlt mit dem Zitat »Sine me paululum ut plangam dolorem meum« (»Laß ab von mir einen Augenblick, damit ich meinen Schmerz beweine«).22 1815, als Priester, kann er in einer Predigt die religiöse Umfunktionierung seiner Wassermetaphorik durch folgendes rhetorisches Gleichnis bekräftigen: Ο daß wir nur Wasser hätten, das Wasser der Reuethränen, das Wasser der Geistestaufe, das Wasser, vom dem es schon vor der Weltschöpfung heißt: Der Geist Gottes schwebte über den Gewässern. Dieses alles umfließende, alles verbindende, alles, selbst die härtesten Felsen am Ende auflösende Wasser, was bedeutet es? Die Sehnsucht, der schwache nach dem Sündenfalle noch übrig gebliebene Abglanz des göttlichen Ebenbildes der ehemals ungeschwächten menschlichen Herrlichkeit! Die Sehnsucht ist es, die immer nur Gott, selbst in de[m] Sünder sogar, aber ganz dunkel, Gott will.23
In dem Appell an die fromme Jugend Deutschlands wird der weitere Bezug des Tränenbildes sichtbar: Macht solcher Tränen Strom mein Lied Euch weinen, Heil Euch und mir, dann eilt, das Land zu reinen,[.. .]24
Zu diesem Vers liefert Werner folgende Anmerkung: »Jeremias, der Prophet, nennt einen solchen Strom einen Felsenstrom (deduc quasi torrentem lacrymas, Thren. 2, 20 21 22 23 24
Guinet: Zacharias Werner, S. 144f. Werner: Briefe, Bd. 1. S. 304. Baldensperger: Lettres inedites, S. 124. Werner: Nachgelassene Predigten, S. 202f. Werner: Der vierundzwanzigste Februar, S. 8.
Macht solcher Tränen Strom mein Lied Euch weinen
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V. 18), weil er sein Wasser von oben her erhalten muß«. Es handelt sich um den Vers in den Klageliedern Jeremiae (2, 18), bei Luther »Laß [...] Thränen herabfließen, wie ein Bach«. 25 Der Bezug auf den Trauergesang des Propheten hat zwei Funktionen: als Mahnung an das durch den Zeitgeist und ihre Werke verwüstete Deutschland, wie Jeremias im babylonischen Exil, und als Hinweis auf die Botschaft des dramatischen Textes, der sich nun nach dem Prolog entfaltet: Der vierundzwanzigste Februar. Diese im Zeichen der Wasser- und Strommetaphorik stehende Dichtung - »solcher Tränen Strom« - versteht sich also zugleich als »Bußgesang« und als Wahrheitsverkündigung. Wie wird diese Funktion im Drama selbst verwirklicht? Kehren wir zur Vorstellung der >TrauerlandschaftTränenlandschaft< zurück, die ich bei der Interpretation von Goethes Euphrosyne einführte. 1806, schon vor seiner Schweizerreise, konnte Werner sich von dem ihm bevorstehenden Erlebnis Folgendes versprechen. An Goethe schreibt er: »Noch bemerke ich über die Schweizerreise a) daß sie über die Natur, Sprache und Symbolik der Gewässer unerhörte Aufschlüsse verbreitet«. 26 In einer anderen Briefstelle nach der Reise wird diese Suche nach Bildern bestätigt: Ich habe in den Wasserfällen der Schweitz alle Symbole der Sehnsucht, von der rohen Göttlichkeit der Wollust bis zum verklärten Centraipunkt der göttlichen Liebe, ich habe die Allmacht Gottes oder die Liebe in den Thränennebel der Alpen, selbst das satanische Reich habe ich schaudernd und anbetend in den eisbedeckten Gletschern angeschaut. 27
Die Reise wird dadurch zur Pilgerfahrt, die Landschaft wird durch symbolische Bezüge denkwürdig und bilderreich. Im Sinne der ihm von Madame de Stael und Goethe anempfohlenen formalen Strenge und Gedrängtheit will Werner jedoch das ganze Arsenal der Wassermetaphorik nicht ausbreiten (Trauer, Tod, Auflösung, Vereinigung). Er beschränkt sich auf solche Bilder, die eine Korrespondenz zwischen innerem, seelischem Zustand und konkreter Topographie beinhalten; dem düsteren, wüsten pyschischen Chaos von Vater Kunz entspricht die Todeslandschaft, die >TrauerlandschaftJede Revolution löst die alte Gesellschaft auf; insofern ist sie sozial. Jede Revolution stürzt die alte Gewalt; insofern ist sie politisch< - so formulierte er [Marx] als Allgemeinsatz, was erst seit 1789 denkmöglich war.« Koselleck: Historische Kriterien des neuzeitlichen RevolutionsbegrifFes - Koselleck: Vergangene Zukunft, S. 67-86, hier S. 79. Vgl. dazu wiederum Prignitz: Hölderlins Empedokles, S. 42-79. Marion Schmaus weist auf das Problem der Möglichkeit von Diskontinuität hin: »Als Lektion des französischen terreurs war zu lernen, daß die abstrakte Negation der alten Ordnung unversehens in deren Wiedereinführung umschlägt, so daß in neuem Gewand das alte schlecht Bestehende fortlebt.« Schmaus: Das Werden im Vergehen, S. 42. Auch in der ersten Version wird ein Aufruhr kritisch beschrieben; allerdings handelt es sich bei der Perspektivfigur um Kritias, der im Zeichen des Machterhalts das »trunken[e]Revolution< eine neue Zukunft freisetzt, wird auch in der ersten Fassung des Empedokles klar konturiert. Damit treten Natur und Geschichte genau zu diesem Zeitpunkt auseinander, 45 ein Analyseergebnis, mit dem auch der Grund zum Empedokles thematisch einsetzt. Während Natur und Kunst »sich im reinen Leben nur harmonisch entgegengesezt sind«, 46 kommt es in der Übergangszeit zu ihrer »höchsten Entgegensezung« 47 .
2. Die bedingte »Renaturalisierung« von Geschichte bei Hölderlin In der Grund zum Empedokles bezeichnen das Aorgische und Organische 48 zwei extreme Pole, anhand derer die jeweilige Konstellation zwischen Natur und Kunst exemplifiziert werden kann. Mit diesen Begriffen sind zwei entscheidende Qualitäten vorgegeben, die den triadischen Geschichtsablauf, wie er dem Grund zum
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Vgl. dazu Mögel: Natur als Revolution, S. 169-179. Zu den verschiedenen Metaphorisierungen, denen die Natur als Bildbereich zugrunde liegt, und zu den daraus entstehenden Dissonanzen der Naturvorstellung Hölderlins vgl.: Benholdt-Thomsen: Dissonanzen in der späten Naturauffassung Hölderlins, S. 15—41. In diesem Sinne bleibt die »geschichtliche Erfahrung [...] eingelassen in ihre gleichsam naturalen Vorgegebenheiten, und wie die Jahreszeiten in ihrem Wechsel die immer gleichen sind, so blieben die Menschen als politische Wesen zurückgebunden in einen Wandel, der nichts Neues unter der Sonne hervorlockte. Für diese quasinaturale Erfahrung bürgerte sich nun im Laufe des 17. Jahrhunderts der Begriff der Revolution ein«. Koselleck: Historische Kriterien des neuzeitlichen Revolutionsbegriffs - Koselleck: Vergangene Zukunft, S. 70-71. Koselleck: Historische Kriterien des neuzeitlichen Revolutionsbegriffs - ebenda, S. 88. Koselleck führt dazu den »Beweis« an, »daß genau in diesen Jahrzehnten die alte Sparte der historia naturalis aus dem Gefuge der historischen Wissenschaften ausgeschieden wird«. Koselleck: Historia Magistra Vitae - ebenda, S. 38-66, hier S. 57. Hölderlin: Grund zum Empedokles - Sämtliche Werke (Stuttgarter Ausgabe), Bd. 4.1, S. 152. Ebenda, S. 155. Vgl. zum Aorgischen auch Metzger: »Schroffabbrechend«. Vom poetischen Skalpell und der Denkform der Konjektur am Beispiel Hölderlins, S. 51-53.
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Claudia Nitschke
Empedokles zugrunde liegt, strukturieren. Am Beginn steht das »reine Leben« mit seinem »Übermaaße der Innigkeit, wo sich die Entgegengesezten verwechseln«49: Der organischere künstlichere Mensch ist die Blüthe der Natur, die aorgischere Natur, wenn sie rein gefühlt wird, vom rein organisirten, rein in seiner Art gebildeten Menschen, giebt ihm das Gefühl der Vollendung. Aber dieses Leben ist nur im Gefühle und nicht für die Erkenntnis vorhanden.50
Der Übergang von Gefühl zu Erkenntnis führt zu einer Qualitätsverschiebung, bei der die Natur »durch den bildenden cultivirenden Menschen, überhaupt die Bildungstriebe und Bildungskräfte« organischer und der Mensch »aorgischer, allgemeiner, unendlicher«51 wird. Die ursprüngliche Verbindung wird durch Vertauschung der Ausgangsqualitäten unendlicher und gehört »zum höchsten, was der Mensch erfahren kann«52. Zwischen dieser potentialisierten Zielversion der Ursprungskonstellation liegt die Trennung, das Aufbrechen der Innigkeit. Aus dem Material wird durch eine Verschiebung der Komponenten ein Ereignis konstruiert, über das ein Vorher und Nachher unterschieden werden kann. In dieser irreversiblen Veränderung wird eine Form von Historizität markiert, die als Ergebnis der Interferenzen zwischen Aorgisch und Organisch zu fassen ist. Diese drei Schritte bestätigen auch für die stark fragmentarische dritte Fassung die oben beschriebene geschichtstriadische Grundlegung.53 Diese Ausgangsposition ist insofern entscheidend, als ein Hauptanliegen Hölderlins offensichtlich darin besteht, die Potenz, die Veränderungsfähigkeit und auch - das wird im folgenden noch zu klären sein - die Gestaltbarkeit der Geschichte zu erhalten: Zugleich aber besteht das benannte Telos darin, Natur und Geschichte in ihrer krisenkonstitutiven Entgegensetzung zu »versöhnen«. Dafür entwickelt Hölderlin ein Konzept, das qua Komponentenzusammensetzung unterschiedliche Zeitsituationen erfassen kann und so auf erstaunliche Weise das Auseinandertreten von Natur und Geschichte bis hin zur extremen Entgegensetzung als krisenhafte und vorübergehende Konstellation ausweisen kann. Wird beides auf einem Niveau,54 das nunmehr auch für die Erkenntnis, nicht nur für das Gefühl vorhanden ist,55 wiedervereint, ist das goldene Zeitalter erreicht und die Geschichte in diesem Sinne wiederum in naturalen Zyklen stillgelegt.56
4
' Hölderlin: Grund zum Empedokles - Sämtliche Werke (Stuttgarter Ausgabe), Bd. 4, S. 152. Ebenda. " Ebenda, S. 153. 52 Ebenda. 53 Vgl. zusätzlich dazu auch Anmerkung 20. 54 Dieses Niveau steht im Empedokles noch aus; in den späteren Fassungen verbessert Hölderlin alles, was auf ein Lösen der Rätsel, auf Einsicht und Erkenntnis abzielt. 55 Dadurch daß die harmonische Entgegensetzung von Natur und Kultur im »reinen Leben«, in der Urzeit also, »nur im Gefühle und nicht für die Erkenntniß vorhanden« (Hölderlin, Der Tod des Empedokles - Sämtliche Werke [Stuttgarter Ausgabe], Bd. 4.1, S. 152) ist, so muß es sich ja wie oben beschrieben - zunächst trennen. 56 Diese Zielperspektive scheint in sich wiederum enthistorisiert, wenn Manes in der dritten Fassung - in einem für Hölderlin durchaus nicht untypischen christologischen Anklang prophezeit: »Nur Einem ist es Recht, in dieser Zeit, / Nur Einen adelt deine schwarze Sünde. / 50
Zwischen Fluß und
In Körperströme
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Übersprung
und Schriftverkehr
entwickelt Albrecht Koschorke einen
thematischen und methodischen Zugriff auf die modernisierte Gefiihlskultur der Empfindsamkeit, w o b e i er im Verweis auf die Interdependenz v o n S e m i o s e und technischer Medialität den dabei relevanten mediengeschichtlichen Prozeß als besonderer Relation v o n Mündlichkeit und Schriftlichkeit nachvollzieht. Seine Überlegungen erweisen sich trotz der spezifischen - medialen - Zuspitzung auch für die mit Blick auf Hölderlin relevante Frage nach Naturalisierung und Denaturalisierung als maßgeblich. Koschorke versteht die M e d i e n als effiziente symbiotische Systeme, w e l c h e die historische Spur ihrer Entstehung unsichtbar machen, den dabei entstehenden blinden Fleck als Ursprung und Unmittelbarkeit inszenieren und semantisch als Sinn avisieren. Damit erscheint die historische und transzendentale D i m e n s i o n des A n f a n g s als doppelter Ursprung, dessen kontinuierliche, objektive Bedingungen niemals mit d e m v o m S y s t e m selbst als Sprung fingierten
Ursprungsmythos übereinstimmen. D i e M e d i e n funktionieren s o mittels
ihrer - nur scheinbar kontraproduktiven - Arbitrarität der Zeichen - als »Agenten der Selbstnaturalisation v o n Kultur«. 57 Ungeformte Natur und Kultur koexistieren allerdings k e i n e s w e g s in einer vertikalen Schichtung: » D i e kulturelle Reproduktion hat ihr Einzugsgebiet s o erweitert, daß sie nun selbst auf das ausgreift, w a s einmal als das Nichtgemachte seinen Grenzwert und Anschluß an die U m w e l t markierte.« 58
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Ein größrer ists, denn ich! Denn wie die Rebe / Von Erd und Himmel zeugt, wenn sie getränkt / Von hoher Sonn aus dunklem Boden steigt, / So wächst er auf, auf Licht und Nacht geboren. / Es gährt um ihn die Welt, was irgend nur / Beweglich und verderbend ist im Busen / der Sterblichen, ist aufgeregt von Grund aus. Der Herr der Zeit, um seine Herrschaft bang , / Thront finster blikend über der Empörung. / Sein Tag erlischt, und seine Blize leuchten, / Doch was oben flammt, entzündet nur / Und was von unten strebt, die wilde Zwietracht. / Der Eine doch, der neue Retter faßt / Des Himmels Stralen ruhig auf [... ]« Hölderlin: Der Tod des Empedokles - Sämtliche Werke (Stuttgarter Ausgabe), Bd. 4.1, S. 135-136. Hervorhebungen von mir. Kulturelle Systembildung als semiotisches Geschehen erfolgt unter dem Muster der Medialisierung über die Brechung und Innenwendung des weiterexistenten Außenbezugs. Der Abstand zwischen dem einzelnen transitiven Bezeichnungsvorgang und der intransitiven Selbstreproduktion beschreibt im Sinne des letzteren ein Zeitintervall, in dem die Semiose den Nexus zum Referenten hin zum Nexus zwischen Signifikanten verschiebt: »Während aber beim partikularen Signifikationsakt die Grenze zwischen Repräsentant und Referent als operativ überschreitbar erscheint,« (Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 461) kann das Gesamtsystem Referenz nur in Gestalt von Repartikularisierung wahrnehmen, also in der Form von Vergangenheit, die aber wiederum nicht erinnert, sondern nur systemintern rekonstruiert werden kann. Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 461. Der Grad der Abweichung ist dabei nicht unveränderlich, sondern nimmt proportional zur wachsenden Autonomisierung zu und markiert auf diese Weise einen Zeitindex im Prozeß der Evolution, der sich in seiner Rekursivität nicht linear, sondern nur in mediologischen Zyklen erfassen läßt: »Die erste, diachrone Beobachtungsrichtung macht sichtbar, daß die Kultur stets und immer noch aus der Bewegung des Verlassens der Natur hervorgeht; die zweite, retrospektive läßt sehen, daß die Kultur immer schon auf Substitute aufgebaut war und sich seit jeher an der undurchdringlichen Innenseite der Substituierung bewegt.« In dem Maße, wie es dem System gelingt, seine Außenbedingungen zu reproduzieren, wird die präsystemische, natürliche Genealogie absorbiert: »Der immanente Erfüllungspunkt des Systems ist zugleich der Extrempunkt der in ihm durch den Substitutionsmechanismus wirkenden Aporie: als totales sekundäres Leben, Nachschöpfung ohne Vorlage, [...] Reproduktion ohne Vergangenheit und ohne Reproduziertes [...]« Ebenda, S. 462.
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Diese neue Konkurrenz erster und zweiter Schöpfung belegt den problematischen Natur-Kultur-Übergang des 18. Jahrhunderts. Bei Hölderlins Grund zum Empedokles und auch bei der ersten Fassung des Empedokles handelt es sich um einen Reflex dieses speziellen mediologischen Zyklus (der Unsichtbarmachung des naturhaften Ursprungs im Kontext eines künstlichen Konzepts, das diesen Ursprung überschreibt). Hölderlins Aorgisch-Organisch-Konstellation ist in diesem Sinne die zweite Schöpfung, die vorgibt, einen naturhaften Ursprung zu beschreiben, ihn dabei allerdings zwangsläufig intellektuell überschreibt: Mit diesem Konzept soll dementsprechend auch das erste »reine Leben« beschrieben und - nach Hölderlin - angemessen erfaßt werden. Insofern Natur und Kunst auch während der Ursprungsphase immer schon (in sich verschiebender Gewichtung) koexistent sind, führt Hölderlin mit Natur und Kunst als zueinander notwendig komplementäre, 59 nicht konkurrierende Begriffe ein und definiert damit - im Sinne Koschorkes - einen ganz eigenen Ursprung, der eine verbindliche Kontinuität zwischen den triadischen Schritten erlaubt. In diesem Sinne ist die Pointe Hölderlins, der in seiner kulturellen Lesart ein Mischungsverhältnis zwischen Kultur und Natur konzediert, äußerst reflektiert und innovativ, kann er doch mit genau diesem Konzept Sprung und Fluß, Revolutionsgeschichte und Natur harmonisieren. Indem die radikale Neuheit des fiktiven revolutionären Umbruchs vor dem Hintergrund einer kontinuitätsversichernden Natur steht, gelingt es, den radikalen Wandel nicht nur abzufangen, sondern ihn auch über die konstellativen Veränderungen der Natur-Kunst-Relation zu legitimieren. In diesem Sinne beruhigt Empedokles in der dritten Fassung den verzweifelten Pausanias: Geh! fürchte nichts! es kehret alles wieder. Und was geschehen soll, ist schon vollendet.60
Dabei kann diese prästabilisierende Kraft der Natur überdies zugleich mit Hilfe der Konstellationen für ein anderes zeitgenössisches Phänomen geöffnet werden: nämlich der gerade etablierten Dimension der Gestaltbarkeit von Geschichte.
3. Individuum und Geschichte: Von der politischen zur poetischen Revolution Die detaillierte Beschreibung der Umstellung von der Innigkeit der aorgischen Natur und dem organischen Menschen zur Harmonie des »künstlich reinaorgischefn] Menschen« und der »Wohlgestalt der Natur« bezeichnet eine signifikante Schalt-
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»Die Kunst ist die Blüthe, die Vollendung der Natur, Natur wird erst göttlich durch die Verbindung mit der verschiedenartigen aber harmonischen Kunst, wenn jedes ganz ist, was es seyn kann, und eines [...] ersezt den Mangel des andern, den es nothwendig haben muß, um ganz das zu seyn, was es als besonderes seyn kann, dann ist die Vollendung da, und das Göttliche ist in der Mitte von beiden.« Hölderlin, Der Tod des Empedokles - Sämtliche Werke (Stuttgarter Ausgabe), Bd. 4.1, S. 152. Hölderlin: Der Tod des Empedokles - ebenda, S. 133.
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stelle. Als Verknüpfung zwischen dem ersten harmonischen Zustand und dem zweiten findet sich der »Tod des Einzelnen«. Als Initiatior für den Übergang wird auf diese Weise ein Individuum angeführt. In einer Geschichtskonzeption, die von einer »potentielle[n] Gleichförmigkeit und Wiederholbarkeit naturgebundener Geschichten« ausgeht, ist diese Rolle des Individuums unvorstellbar. Die Denaturalisierung der Geschichte ist insofern eine notwendige Voraussetzung für das Konzept der Gestaltbarkeit, als »Geschichte den Menschen überhaupt erst verfügbar schien bzw. als machbar gedacht werden konnte, nachdem die Geschichte selber zu einem singulären Leitbegriff verselbständigt worden war« 61 , denn erst dann »gerät die ehedem göttliche Teleologie in die Mehrdeutigkeit menschlicher Planung [.. .]«.62 Dementsprechend handelt es sich um eine neuzeitliche Wendung, »die vor Napoleon oder gar vor der Französischen Revolution nicht formulierbar war.«63 Liegt nicht vor dir der Menschen Schicksaal offen? Und kennst du nicht die Kräfte der Natur, Daß du vertraulich, wie kein Sterblicher Sie, wie du willst, in stiller Herrschaft lenkst? 64
fragt Pausanias Empedokles im ersten Entwurf des Dramas und etabliert eine zentrale Beziehung zwischen den wichtigen Größen der menschlichen Lenkbarkeit und Natur. Hölderlins komplexes Aorgisch-Organisch-Konzept eröffnet genau diesen Möglichkeitsbereich für das (hier hervorgehobene) Individuum, ohne damit die Naturalisierungstendenz zu entwerten. Auf diese Weise kann er zudem einen appellativen Anspruch in seinen Text einschreiben, der sich selbst als engagierte Literatur im Zeichen der triadischen Völlendung verstehen kann. Damit gewinnen die geschichtsphilosophischen Überlegungen eine poetologische Qualität und vice versa. Das Konzept des Sprungs, mit dem Empedokles eine Verschiebung der Zeit bewirkt, gilt auch als implizite Vorgabe der idealtypischen ästhetischen Evokation; der reklamierte moderne Freiraum für individuelle Machbarkeit erstreckt sich in der von Hölderlin konzipierten epiphanischen Versöhnungs-Qualität 65 auch auf den Text selbst, der - so wird es im Untergehenden Vaterland erläutert - die Aufgabe hat, die Ereignisse erinnernd zu deuten: Aber das Mögliche, welches in die Wirklichkeit tritt, indem die Wirklichkeit sich auflöst, diß wirkt, und es bewirkt sowohl die Empfindung der Auflösung als die Erinnerung des Aufgelösten. Deswegen das durchaus originelle jeder ächttragischen Sprache, das immerwährend-
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Koselleck, Über die Verfügbarkeit der Geschichte - Koselleck, Vergangene Zukunft, S. 264. Koselleck, Geschichte, Geschichten und formale Zeitstrukturen - ebenda, S. 143. Koselleck, Über die Verfügbarkeit der Geschichte - ebenda, S. 262. Hölderlin: Der Tod des Empedokles - Sämtliche Werke (Stuttgarter Ausgabe), Bd. 4.1, S. 20. Die Extreme der Zeit bestehen wie schon angedeutet im Zwist von Natur und Kunst; die Aufgabe Empedokles ist nun, »die Natur gerade darinn, wo sie der Kunst am unerreichbarsten ist, vor ihren Augen mit der Kunst versöhnen.« Hölderlin: Grund zum Empedokles - Sämtliche Werke (Stuttgarter Ausgabe), Bd. 4.1, S. 161.
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Claudia Nitschke schöpfersche. [...] Also in der Erinnerung der Auflösung wie diese, weil ihre beeden Enden vest stehen, ganz der sichere, unaufhaltsame kühne Act, der sie eigentlich ist.66
Die Deutung des Untergangs als Übergang ist somit die entscheidende Aufgabe des Dichters, 67 der die spezifische Kontinuität zwischen beiden verbürgt, genau wie es im und mit dem Tod des Empedokles geleistet wird bzw. geleistet werden soll. Auch Empedokles tritt in diesem Sinne in allen drei Fassungen als Ausleger, Deuter und Prophet auf. So wird Mekades zum Zeugen einer Rede Empedokles', die in der zweiten Fassung des Empedokles die offene Blasphemie der ersten Fassung ablöst: Ihr ehret mich, Antwortet' er, und thuet recht daran; Denn stum ist die Natur [...] und todt Erschiene der Boden wenn Einer nicht Deß wartete, lebenerwekend, Und mein ist das Feld.68
Pausanias dankt in der ersten und zweiten Fassung fur erhaltenen Erklärungen: So schlug mir oft das Herz, wenn du vom Glük Der alten Urwelt sprachst, und zeichnetest Du nicht der Zukunft große Linien69.
Auf die globale Funktion des Opfers weist in der zweiten Fassung abschließend Panthea hin: ο heilig All! Lebendiges! inniges! dir zum Dank Und daß er zeuge von dir, du Todesloses! Wirft lächelnd seine Perlen ins Meer, Aus dem sie kamen, der Kühne. So muß es geschehn. So will es der Geist Und die reifende Zeit Denn Einmal bedurften Wir Blinden des Wunders.™
Hölderlin gelingt es, eine Kontinuität der Natur zu implizieren und zugleich die Machbarkeit der Geschichte für das Individuum einzufordern. Renaturalisierung und Historisierung gehen Hand in Hand und erlauben es, den als abrupt und plötzlich eingeforderten Umbruch abzufedern; historisches Bewußtsein und Revolutions-
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Hölderlin: Das Werden im Vergehen - ebenda, Bd. 4.1, S. 283-284. »Damit revolutionäre Neuerungen als solche dauerhaft gemacht werden können, bedarf es eines kulturellen Begleitprogramms, das den Sinn einer neuen politischen Ordnung kommuniziert, mithin das >Werden im Vergehen< deutet.« Schmaus: Das Werden im Vergehen, S. 42. Hölderlin: Der Tod des Empedokles - Sämtliche Werke (Stuttgarter Ausgabe), Bd. 4.1, S. 95. Ebenda, S. 19-10. Ebenda, S. 117-118.
Zwischen Fluß und Übersprung
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bereitschaft können auf diese Weise gleichermaßen bedient werden. Zwischen Zyklizität, Entelechie und Ausbruchsmomenten ergibt sich dementsprechend auch metaphorisch eine andere Qualität, die ebenfalls an ein Naturbildnis, nämlich das des eruptiven Vulkans geknüpft wird. Das Bild des Vulkans betont die Aspekte einer potentiellen Wandlungsfähigkeit, die sich ansatzweise bereits in der Vorstellung eines irreversiblen zielgerichteten Fließens gefunden haben.71 Zugleich integriert es die Veränderung wiederum in die Sphäre der Natur, so daß sogar das unvorhersehbare Moment des Wechsels naturhaft gebunden wird. Auch hier funktioniert die Natur als regulatives, verbindliches Moment, das die Kraft des Umsturzes abschwächt. Sie garantiert ein Kontinuum, das einen individuell gestaltbaren Übergang stabilisiert. In diesem Sinne verkündet Empedokles in der zweiten Fassung der Regieanweisung nach »mit Ruhe« - eindringlich eine Art Vermächtnis: Wirken soll der Mensch Der sinnende, soll entfaltend Das Leben um ihn fördern und heitern. [...] Voll schweigender Kraft umfängt Den ahnenden, daß er bilde die Welt, die große Natur, Daß ihren Geist hervor er rufe, strebt Tiefwurzelnd das gewaltige Sehnen ihm auf. Und viel vermag er und herrlich ist Sein Wort, es wandelt die Welt72.
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Es fällt auf, daß diese Opposition von Vulkan und Fluß, die bei Hölderlin auf der Basis eines umfassenderen Konzepts harmonisiert wird, zwei Prinzipien aufgreift, die entstehungsgeschichtlich gewendet auch in der Neptunismus-Vulkanismus-Debatte eine Rolle spielen. Hölderlin: Der Tod des Empedokles - Sämtliche Werke (Stuttgarter Ausgabe), Bd. 4.1, S. 110.
Sheila
Dickson
Der Fluß des Geldes in Arnims Werken
1. Einleitung Das Kolloquium behandelt Fluß und Strom als Bilder der Zeit und des Schicksals, Quelle und Strom als Metaphern der Inspiration und des Gesanges, sowie Prozesse der Grenzüberschreitung und der Entgrenzung, der Vermittlung und des Austausches in Bildern des Fließens. Es ist aber bekanntlich nicht nur Wasser, das fließt. Jemand, der flüssig ist, verfugt über Geld. Außer in primitiven Gesellschaften ist das Geld lebensnotwendig, wie Wasser, und es ist in ständiger Bewegung. Diese Metaphorik des >Fließens< macht deutlich, wie veränderbar dieser Zustand sein kann, weil Geld sehr oft den Besitzer wechselt. Bisweilen herrscht Mangel, dann Überfluß; meistens koexistieren beide und kennzeichnen die Gewinner und die Verlierer in einer Gemeinschaft, aber auch das ist nicht fest, erst recht nicht in verschiedenen historischen und geographischen Kontexten. Das Thema Geld ist seit der Antike immer wieder aktuell, aber zur Einfuhrung möchte ich nicht weiter als bis zum 18. Jahrhundert und zur Romantik zurückblicken und mich darauf beschränken, festzustellen, wie seit dieser Zeit Bilder des Fließens mit Geld in Verbindung gebracht wurden. Eine einflußreiche Wirtschaftstheorie des späten 18. Jahrhunderts war die Physiokratie, die die Landwirtschaft als einzige Quelle des Reichtums erkannte. Durch die »Tauschakten« seiner »Tableau economique« übertrug der Physiokrat Francois Quesnay (1694—1774) das 1628 von William Harvey erforschte Bild des Blutkreislaufs auf die Wirtschaft. Das beeinflußte den Schotten Adam Smith (17231790), Begründer der klassischen Nationalökonomie, der anschließend in seinen Werken The Theory of Moral Sentiments (1759) und A η Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations (1776) den selbstregulierenden Wettbewerb, das heißt den freien Fluß des Geldes als Basis der Geldwirtschaft (Ökonomie) und als Garantie des Gemeinwohls (Moralphilosophie) hervorhob. Auf der anderen Seite maß zur selben Zeit der Merkantilismus den Reichtum des Staates an Edelmetallreserven, wobei das Geld seinen Wert durch das Statische, nicht durch das Fließen bekommt. Adam Smiths Werk bot eine überzeugende Alternative zu diesem Prinzip. Der erste Vertreter des organischen Staates unter den Romantikern war Novalis. In der Fragmentensammlung »Glauben und Liebe« schreibt er: »Gold und Silber sind das Blut des Staates. Häufungen des Bluts am Herzen und im Kopfe verrathen Schwäche in beiden. Je stärker das Herz ist, desto lebhafter und freigebiger treibt
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Sheila
Dickson
es das Blut nach den äußern Theilen. Warm und belebt ist j e d e s Glied, und rasch und mächtig strömt das Blut nach d e m Herzen zurück.« 1 In seinem R o m a n von Ofterdingen
Heinrich
vertreten die Handelsleute, der Bergmann und der Dichter unter-
schiedliche Haltungen z u m Geld. D i e positive Wirkung v o n Geld als Mittel wird der negativen v o n Geld als Selbstzweck entgegengehalten. 2 Der Hauptvertreter der romantischen Wirtschaftstheorie war A d a m Müller, der mit Arnim befreundet war. Er publizierte 1816 Versuche einer neuen Theorie
des
Geldes und bezeichnete die B e w e g u n g als dessen Hauptmerkmal: »nur im M o m e n t des U m s a t z e s oder der Circulation sind die Substanzen des Geldes wirklich Geld.« 3 Müller betrachtete das Geld als Basis der Gemeinschaft, denn es funktioniert als Kommunikationsmittel, das v o n allen verstanden und akzeptiert wird: Die Macht der Waare, die um des Beyeinanderseyns Willen mit Allen von Allen gesucht wird, die Macht des Wortes oder des Glaubens, worin sich viele oder alle Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft vereinigen: beyde Mächte sind nur Offenbarungen des Bedürfnisses aller bey einander zu seyn, oder sich doch ohne Ende auf persönlichem oder sächlichem Wege zu berühren; also der Gesellschaft, also des Staates.4 Er kritisierte das Privateigentum als unproduktiv für die Gemeinschaft, weil es nicht fließt, und plädierte für Geld als Vermittlungsglied z w i s c h e n allen in einer Gesellschaft: » w i e auch das Geld, w e l c h e s nur circulirend, v o n e i n e m z u m anderen übergehend, und z w i s c h e n z w e y Personen vermittelnd z u denken ist, niemahls ein Gegenstand des unbedingten Privateigenthums s e y n kann.« 5 W i e N o v a l i s stellte er g e g e n den Begriff v o m Staat als Maschine ( w i e z u m Beispiel bei Friedrich d e m Großen) das Modell des organischen Staates: Der Staat ist keine Maschine, vom Souverain erfunden; keine Assecuranzcompagnie, kein Meyerhof, dessen Werth blos nach dem Geldertrag, den der Pächter daraus zieht, angeschlagen werden kann: er ist der Inbegriff des physischen und geistigen Lebens einer Menschenmasse; er ist nicht blos ein Spielwerk oder Instrument in der Hand einer Person, eines Friedrichs, sondern er ist eine Person selbst·, ein freyes, in sich durch unendliche Wechselwirkungen streitender und sich versöhnender Ideen bestehendes wachsendes Ganzes, nicht ein von aussen durch einseitige Wirkung, nach kalten despotischen Begriffen zusammengefugtes, geklebtes, geknetetes Werkzeug.6
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Novalis: Glauben und Liebe - Schriften, Bd. 2, S. 483-503, S. 486, Nr. 10. Siehe Jochimsen: Die Poetisierung der Ökonomie. Die These dieser Untersuchung wird so zusammengefaßt: »Kristallisationspunkt der verschiedenen von Novalis untersuchten Wahrnehmungsarten und damit Kategorien der Wertbildung sind zum einen die Natur und zum anderen das Geld. An ihrem Beispiel arbeitet Novalis die Unterschiede ökonomisch-zweckrationaler Wert- bzw. Zweck-Mittel-Bildung am deutlichsten heraus. [...] Seine Kritik an der Einseitigeit des Tauschwertprinzips der warentauschenden Gesellschaft verbindet sich mit einer Warnung vor den Gefahren der sich verselbständigenden Geldwirtschaft.« Ebenda, S. 3. Müller: Versuche einer neuen Theorie des Geldes, S. 31. Ebenda. Ebenda, S. 29. Müller: Ueber die Betrachtungen des Zeitgeistes in Deutschland in den letzten Decennien des vorigen Jahrhunderts, (vom geheimen Cabinetsrath Brandes. Hannover 1808.) - Vermischte Schriften, Bd. 1, S. 214-224, S. 221f. Hervorhebungen im Original.
Der Fluß des Geldes in Arnims Werken
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Was auf den ersten Blick sehr liberal erscheint, basierte auf einem konservativen Grund: auf >Feodselbst< vermehrt.24 Aber obwohl Geld auf diese Art trennt, bleibt es doch das Mittel, das alle und alles verbindet: Da in der Geldwirtschaft etwas nicht gegen etwas anderes getauscht wird, sondern zuerst gegen Geld, ist Geld nach Shells Auffassung die Entsprechung von allem.25 Dasselbe hatte Simmel mit »Einheit des Seins« schon ausgedrückt.26 Shell und Hörisch betrachten unter anderem die Darstellungen von Geld in der Literatur als Zeichen seiner sich wandelnden kulturellen Bedeutung. In der europäischen Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts, so argumentiert Hörisch, untergräbt das Geld die Autoritäten von Gott, Transzendenz, Religion und Moral.27 Im 18. Jahrhundert wird nicht mehr das Geld dämonisiert, sondern sein Mißbrauch durch Gier und Verschwendung.28 In der Romantik wird das Geld zu einer bösen beziehungsweise philisterhaften Macht, die zur Entmenschlichung fuhren kann, wie man am Beispiel des Alrauns, des Bärahäuters und der Golem-Bella in Arnims Isabella von Ägypten sieht. In den Kronenwächtern ist nach Dr. Faust Geld und nicht Gott
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Ebenda, S. 457. " Ebenda, S. 377. 20 Ebenda, S. 99. 21 Shell: The Economy of Literature, S. 5, 19, 135. 22 Ebenda, S. 136. 23 Hörisch: Kopf oder Zahl, S. 63, vgl. Simmel: Die Philosophie des Geldes, S. 34f. 24 Hörisch: Kopf oder Zahl, S. 120. Hörisch verbindet dieses Potenzierungspotential mit dem »Motiv der homosexuellen Aura des Geldes, das sich zinstragend vermehrt, ohne sich auf sein anderes (heterosexuell) einzulassen«, ebenda. 25 Shell: The Economy of Literature, S. 56. 26 Vgl. Anmerkung 16. 27 Hörisch: Kopf oder Zahl, S. 55f. 28 Ebenda, S. 56f.
Der Fluß des Geldes in Arnims Werken
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Schöpfer der Welt.29 Hörisch zitiert Arnims Wunder über Wunder als Beispiel dafür, daß in der Zeit der Romantik das Geld die Ehre und den Glauben ersetzt habe.30 In ihrem historischen Überblick Changing Notions of Money and Language in German Literature (2003) führt Regina Wenzel aus, daß Geld in einer primitiven Gesellschaft keinen Wert hat, und wie sich Gesellschaften im Hinblick darauf unterscheiden, was man mit Geld kaufen kann und was als kostbar gilt.31 Sie stellt fest, daß seit dem 17. Jahrhundert das Verhältnis von Geld und Reichtum auf Zirkulation und Tausch und nicht mehr auf den Wert des Metalls gründet: »It is no longer the gold content that makes money valuable but the fact that money is a functional exchange token and the sign of wealth«.32 Demnach wird das Geld zum Zeichen, das verschiedene Bedeutungen haben kann, und zum Versprechen, wobei man das Vertrauen braucht, daß das Geld auch in Zukunft fließen wird. Daß dieses Vertrauen deplaziert sein kann, ist oft genug bewiesen worden, und Arnim hatte auch seine Erfahrungen damit. In den Kronenwächtern hat Anton keine Bedenken, eine Wette einzugehen, wenn nur seine Handschrift auf dem Spiel steht: »es ist doch nur Papier was du verlierst«,33 aber dieser Verlust an Dr. Faust hat doch, wie sich der Leser gleich denken kann, Konsequenzen. Niklas Luhmann veröffentlichte 1988 seine Studie Die Wirtschaft der Gesellschaft, in der er das Geld als Kommunikationsmedium untersucht. Er weist das Modell >Geld fließen< als Vereinfachung zurück, denn das Zirkulieren von Blut und Geld entspricht keinem einfachen Kreise, sondern einem sich selbst erschaffenden und erneuernden System: Autopoiesis. 34 Geld ist »instituierte Selbstreferenz«, 35 es »hat keinen verwendungsunabhängigen Eigenwert. Daher ist Geld der systeminternen Dauerstimulation ausgesetzt, ausgegeben zu werden. Es zirkuliert und verteilt dadurch die Knappheit im System auf von Moment zu Moment wechselnde Träger«.36 Diese Knappheit ist notwendig, damit nicht jeder jeden Wunsch befriedigen kann, sonst hat Geld keinen Sinn.37 In seiner Theorie ersetzt das Geld die Religion und die Moral, denn Geld ist der Triumpf der Knappheit über die Gewalt.38 Für ihn ersetzt auch das Geld die Moral beziehungsweise das Naturrecht: »Die Frage ist: Wann und wie darf er das? [...] Die Antwort, die das Kommunikationsmedium Geld ermöglicht, lautet: wenn er zahlt«,39
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Arnim: Die Kronenwächter - Werke in sechs Bänden, Bd. 2, S. 482. Hörisch: Kopf oder Zahl, S. 259. " Wenzel: Changing Notions of Money and Language, S. 2-7, vgl. Shell: Money, Language and Thought, S. 31. 32 Wenzel: Changing Notions of Money and Language, S. 6. 33 Arnim: Die Kronenwächter - Werke in sechs Bänden, Bd. 2, S. 469. 34 Luhmann: Die Wirtschaft der Gesellschaft, S. 135, 131. 35 Ebenda, S. 16. 36 Ebenda, S. 253. 37 Ebenda, S. 70. Vgl. auch Simmel: Die Philosophie des Geldes, S. 44, Hörisch: Kopf oder Zahl, S. 180f., 307. 38 Luhmann: Die Wirtschaft der Gesellschaft, S. 253. 39 Ebenda, S. 252, Hervorhebung im Original. 30
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Sheila Dickson
Fritz Breithaupt hat das Geld in der Epoche der Romantik in einem Beitrag »The Ego-Effect of Money« behandelt. Er nimmt die Frühromantik, insbesondere Friedrich Schlegel, als Ausgangspunkt und argumentiert: »From this point on, money appears whereever individuals and individuality should be. From the Romantic age onward, money accompanies discourses of individuality and authenticity to invade, undermine, and perhaps twist them against their original intention.«40 Nach Peter Schlemihl komme allerdings ein positiveres Konzept von Geld, bei dem die Mittlerfunktion die Hauptrolle spiele.41 Hier beruft sich Breithaupt auf Adam Müller. Nach Breithaupt müsse man beide Aspekte berücksichtigen — »money as individuation and money as a medium«:42 »The overlap of the two models allows for mistaking an act of personal accumulation of property for an act of community building. [...] By >economizing< social interaction, personal interest can be inscribed in the social sphere.«43 In unserem Zusammenhang ist vor allem wichtig, daß beide Sphären Veränderung voraussetzen und verursachen. Manfred Frank untersucht in seiner Aufsatzsammlung Das kalte Herz Gold und Geld als Versteinerung, als Verlust jeglicher lebendigen Berührungspotentials. Am Beispiel von Tiecks Der Runenberg und mit Bezug auf Marx zeigt er auf, wie die »Herrschaft des verfluchten Metalls« das Organische ersetzt.44 Dieser wichtige Themenbereich ergänzt den des Fließens, ohne daß der eine den anderen ausschließt. Im Folgenden werden nur Beispiele aus dem zweiten Themenbereich hervorgehoben.
2. Geld in Arnims Werken Meine Frage in diesem Beitrag lautet: Welche Erkenntnisse fließen für Arnims Werk aus den Theorien von Geld als Bewegung und Flexibilität, Geld als Potenzierung und als Kommunikationsmittel und Verbindungsglied, Geld als Zeichen und als Einheit des Seins, das allem entspricht?45 Daß das Geld in den unterschiedlichsten Bereichen des Lebens fließen muß, war für Arnim selbstverständlich und natürlich. In der Geschichte des Prediger Tanner (1809) schreibt er: »Gesundheit ist das Geld im inneren Leben, sie ist an sich nichts, wenn wir sie haben aber schwer wird sie vermißt, das Geld ist die Gesundheit alles menschlichen Verkehrs das in ruhigem Verkehr des nötigen Empfangens und Zurückgebens den ruhigen Puls der Gesellschaft gibt.«46 Er vergleicht Geld mit der Gesundheit»alle[nJ menschlichen Verkehrs« [Hervorhebung von mir] und sowohl mit dem Blutkreislauf (das Intime, Persönliche am einzelnen Menschen) als auch 40
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Breithaupt: The Ego-Effect of Money. - In: Helfer (Hrsg.): Rereading Romanticism, S. 227257, S. 243. Ebenda. Ebenda, S. 256. Ebenda. Frank: Das kalte Herz, S. 284. Vgl. Anmerkung 16. Arnim: Geschichte des Prediger Tanner - Werke in sechs Bänden, Bd. 3, S. 425^495, S. 476.
Der Fluß des Geldes in Arnims Werken
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mit dem Puls der Gesellschaft (Beziehungen zwischen Menschen, Allgemeinheit). Die Begriffe >gesund< und >ruhig< kommen jeweils zweimal vor, aber welche ökonomischen und persönlichen Bedingungen sind für Arnim gesund und welche krank? Wie schafft man seiner Auffassung nach Gesundheit im inneren Leben und einen ruhigen menschlichen Verkehr? In seinen Werken beschreibt er verschiedene ökonomische und persönliche Gegebenheiten, in denen Geld ganz unterschiedliche Rollen spielt. Oft sind es politische Umbruchsituationen und emotionale Krisen, in denen der Umgang mit Geld problematisiert wird. Die These dieses Beitrages ist, daß Arnim in seinen fiktionalen Werken (bei denen ich mich auf die Prosa beschränke, weil dieses prosaische Genre die schönsten Beispiele sowohl von Arnims Schreiben als auch zu diesem Thema liefert) einerseits die Auffassung von Geld dem jeweiligen historischen Zeitalter, das er beschreibt, anpaßt. Andererseits ist seine jeweilige Darstellung des Geldes - wie die von vielem anderen auch - sehr stark von der bürgerlichen Moral der Berliner Spätaufklärung geprägt, auf der seine Erziehung und Schulbildung basierte. Zu diesem Thema kurz einige biographische Informationen. Arnim lernte im Haus seiner Großmutter und am Joachimsthalschen Gymnasium schon sehr früh die Wichtigkeit des Fleißes, der anspruchlosen Lebensart, der Tugend und der Sparsamkeit schätzen. Die Themen für Aufsätze an der Schule, oft Zitate von Friedrich von Hagedorn und anderen moralischen Schriftstellern des 18. Jahrhunderts oder moralische Sentenzen aus der Antike, prägten sein Denken, zum Beispiel: Von dem Laster der Faulheit Der in der Provinz sich verbreitende Luxus Lob der prachtlosen und einfachen Lebensart O! Wie beglückt ist der, auf dessen Schätzen nicht Fluch noch Schande ruht! Der Schlaf, der goldne Schlaf ist nicht den Reichen eigen Geld ist nichts werth 47
Diese Werte sind nicht nur in den Pflichtübungen eines gequälten Schülers präsent, sie manifestieren sich ebenso in Briefen und in fiktiven Texten aus der Zeit, zum Beispiel in einem Brief an den Onkel, der eine Reise nach Hamburg beschreibt und den Bürger von Rheinsberg kritisiert, der sich mit Hofluft »einzubalsamiren« sucht und dabei »seinen Fleiß vom Ackerbau« zieht und »sein tägliches Brod auf eine leichtere Art durch den Hof zu verdienen« sucht: Er »überläßt sich dem Luxus«. 48 Noch interessanter ist die fiktionale Moralgeschichte, die sich Arnim als Widerlegung der These ausdachte, daß Geld nichts wert sei.49 Dap leidet in seinem dicken Mantel unter der Hitze und bereut seinen Reichtum. Er überläßt sein Geld einem Freund und tritt ein neues Leben als Bettelmönch an. Nach einem Gespräch mit einem Bauer, der sein anspruchloses, aber fleißiges und glückliches Leben mit Frau und Kind lobt, besinnt er sich jedoch anders und fordert sein Geld zurück. Sein
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Arnim: Arbeiten der Schüler- und Studentenzeit - Werke und Briefwechsel, Bd. 1, S. 33, 67, 70f„ 120, 121. 4 " Ebenda, S. 59. 49 Ebenda, S. 147-149.
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Freund hat aber keine Erinnerung mehr an das Geld und Dap kann ohne Geld nicht vor Gericht gehen. Die Moral der Geschichte ist: »das Geld ist doch in gar manchen Fällen recht gut! «50 Nämlich, wenn man wie der Bauer bescheiden und fleißig seine Familie ernährt, und nicht, wenn man dicke Pelzmäntel kauft oder wenn man Geld bunkert und sogar unterschlägt. Ein letztes Beispiel, auch ein Aufsatz für die Schule aber ebenfalls einer, in dem Arnim seiner Kreativität und Einbildungskraft freien Raum läßt, ist eine Umarbeitung der Geschichte des Phaedrus von dem schiffbrüchigen Simonides, der sich selber rettet und seine Reichtümer untergehen läßt, mit der Begründung, er selber sei sein größter Schatz.51 In der Arnimschen Version ist der Schatz ein Heckthaler von der Geburtsgöttin Lucina. Ihr Vermächtnis wird in folgenden Worten dargelegt: Die Kraft dieses Geschenks [...], wer könnte sie schätzen! Es kann dich, es kann tausende durch dich beglücken! Nur wende es täglich und stets zur rechten Seite; denn zur rechten Seite täglich gewendet, mehret es täglich sich zehnfach, und zehnfach glücklicher dadurch beginnst du die folgenden Tage. Ach! seufzte sie, jedem jedem Sterblichen gab ich dies Geschenk, wenn ihn zuerst das Weltlicht umstrahlt, um damit zu wuchern zum Glück der Menschheit. [...] Jedem, jedem ertheil' ich es, aber wie wenige brauchen es weise!52
Der Fluß des Geldes ist demnach ein Symbol für die Potenzierung im Sinne von positiver Selbstbildung und für eine altruistische Kommunikation. Eine Aufklärungsutopie aus dem Bilder- beziehungsweise Schulbuch. Natürlich wurde Arnims Denken auch von Erfahrungen nach der Schulzeit geprägt. Es ist bekannt, daß er immer Geldprobleme hatte,53 er wurde von seiner Großmutter testamentarisch gezwungen zu heiraten, und als Landwirt und Familienvater mußte er ein pragmatisches Verhältnis zu Geld entwickeln. Brentano schreibt an Savigny im Jahr 1810 über die »Arnimsarmut«, als sei diese sprichwörtlich.54 Diese späteren Erfahrungen bestätigten die früheren eher, als daß sie sie veränderten und deshalb, und auch weil der Nachlaß aus dieser Zeit wenig bekannt ist, scheint es berechtigt, den Einfluß der Moralphilosophie der Berliner Spätaufklärung seiner Kindheit zu betonen. Im Folgenden will ich vor diesem biographischen Hintergrund den Fluß des menschlichen Verkehrs unter den Rubriken Ökonomie, Selbst-, Familien- und Liebesbeziehungen und Kunst als Illustrationen der inneren Gesundheit und des Pulses der Gesellschaft in seinen Werken betrachten, um zu argumentieren, daß für Arnim das Geld vor allem auch ein Verbindungs- und Kommuniktionsmittel ist, und daß seine Bedeutung auf die Quelle, sowie den Besitzer und dessen Gebrauch davon ankommt. Es kann ein Geschenk oder ein Gift sein, selbstbildend oder
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Ebenda, S. 149. Ebenda, S. 142-147. Ebenda, S. 146. Vgl. zum Beispiel den Brief von der Großmutter, Caroline von Labes, zitiert bei Riley: Arnims Jugend- und Reisejahre, S. 182-186. Brentano an Savigny, 13. März 1810. - In: Brentano: Das unsterbliche Leben, S. 432.
Der Fluß des Geldes in Arnims Werken
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selbstzerstörend, eine Versöhnung oder ein Zankapfel, mit anderen Worten (denen Marc Shells): es entspricht allem. 55
3. Ökonomie Arnims Geldgeschäfte mit jüdischen Bankiers waren schon Gegenstand mehrerer Untersuchungen. 56 Zum allgemeineren Thema Geldwirtschaft in Arnims fiktionalen Werken gibt es auch schon Interpretationen. Ulfert Ricklefs hat das Kapital als Motor der Veränderung in Arnims Erzählungen bezeichnet. 57 Bernd Fischer hat die politischen Umbrüche hervorgehoben, die in den Novellen der Sammlung von 1812 durch Geld- und Goldmotive markiert werden. 58 Bernd Haustein betont den »abwehrmechanistischefn] Charakter der dichterischen Behandlung von Geld und Wissenschaft« und Arnims »politische Ratlosigkeit«. 59 Helene Kastinger-Riley hebt Arnims »Einsatz für die bereits 1815 vom König versprochene, aber nicht gewährte liberale Verfassung« vor.60 Es gibt in Arnims Werken außerdem einige über die Arnim-Forschung hinaus bekannte Beispiele für die Veränderungen, die durch Geldfluß entstehen: in den Kronenwächtern wird Barbarossas Schloß zur Textilfabrik, in den Majorats-Herren das Majoratshaus zu einer Salmiakfabrik umfunktionert. 61 Geld, wie Glück (und Wasser), bleibt nicht an einem Ort. Für Arnim war die Unterscheidung zwischen Geld als Mittel und Ware, wie Shell es beschreibt, entscheidend, das heißt er vertritt die nach Hörisch typische Sicht des 18. Jahrhunderts. 62 Als Mittel hat das Geld keinen Wert an sich, es kann gut oder schlecht sein und zum Guten oder zum Schlechten benutzt werden; es sollte natürlich rein sein und zum Wohl aller benutzt werden: das ist die aufklärerische Moral, die Arnim in der Schule lernte: »O! Wie beglückt ist der, auf dessen Schätze nicht Fluch noch Schande ruht!« 63 Als Ware, wenn es an sich wichtig wird, kann es nur schlecht sein, und diese Gefahr ist als romantische Dämonisierung des Geldes sehr deutlich in seinen Werken, zum Beispiel in Isabella von Ägypten, wo die Liebe zu Geld und Gold angeprangert wird. Isabella zieht sich zurück in die Herrlichkeit der Armut, während Karl von seinem SchatzmeisterAlraun Cornelius bis an sein Lebensende gepeinigt wird. 64 Cornelius ist die Verkör 55 56
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Vgl. Anmerkung 25. Vgl. Hartwich: Romantischer Antisemitismus als messianische Mythologie. - In: Hartwich: Romantischer Antisemitismus, S. 154-204; Henckmann: Das Problem des »Antisemitismus«; Och: Imago judaica; Oesterle: Juden, Philister und romantische; Riedl: »... das ist ein ewig Schachern und Zanken ...«; Riley: Arnims Jugend- und Reisejahre. Ricklefs: Geschichte, Volk, Verfassung und das Recht der Gegenwart, S. 97. Fischer: Interpretation als Geschichtsschreibung. Haustein: Romantischer Mythos und Romantikkritik, S. xiv, xiii. Kastinger-Riley: Die Politik einer Mythologie, S. 34. Arnim: Die Kronenwächter - Werke in sechs Bänden, Bd. 2, S. 56f., Arnim: Die MajoratsHerren - Werke in sechs Bänden, Bd. 4, S. 107-147, S. 146f. Shell: The Economy of Literature, S. 136, Hörisch: Kopf oder Zahl, vgl. Anmerkung 27. Vgl. Anmerkung 46. »[S]ie kannte nur die Herrlichkeit der Armuth, die alles besitzt, weil sie alles verschmähen
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perung von Geld als sich potenzierende Kraft im negativen Sinne, die außer Kontrolle gerät. In den Kronenwächtern wird Geld zu fragwürdigen Zwecken verwendet. Der Kaiser nennt es das Blut des Staates:65 [...] und wie der edle Held Parzifal so tiefsinnig wurde beim Anblicke dreier Blutstropfen im Schnee, so wird mir oft beim Anblick eines Kreuzers recht nachdenklich, wie viel Kunst, Taten Glück und Weisheit durch solch ein Stücklein gefördert und gelähmt werden können! Wohin hätten wir unsre Fähnlein gefuhrt, wenn es nicht an Gelde gefehlt hätte.66
Hier hat die Liebe zu Geld eindeutig mit nationaler Macht zu tun. Indem man Kriege fuhrt, vergrößert man das Land und dadurch den allgemeinen Reichtum. Aber hier fließt auch Blut, nicht nur Geld. Es ist auch die Frage, wo das Geld herkommt, zum Beispiel wurden im 16. Jahrhundert ganze Länder durch die Fugger unterstützt, und das sicher nicht aus altruistischen Gründen. Jede Gabe, die Berthold beschert wird, wird von einem Zeichen des Todes oder der Gewalt begleitet. Als Kind wird er mit seinem Schatz und mit einem Totenschädel aufgefunden, ebenda wird ihm später von einem Revenant ein Schatz und ein Messer ausgegraben, und seine wiedergefundene Mutter gibt ihm einen Trauring aus dem Schädel.67 Sein Geld wird von den Bürgern der Stadt ohne Fragen angenommen, für die es nützlich ist, egal auf welche Art es gewonnen worden sei.68 In dem Roman sind beide Geldsysteme, das alte feudalistische und das neue merkantilistische, offensichtlichen Mißständen ausgeliefert, und keines könnte als gesund gelten.69 Hier sieht man die Unterschiede zwischen Arnim und Adam Müller, der eine auf den Feudalismus zurückblickende konservative Politk vertrat. In den Majorats-Herren scheint zwar der Erzählerkommentar am Anfang die Vergangenheit zu idealisieren,70 aber diese Meinung ist die des Erzählers, und in der Geschichte wird das alte Majoratssystem ebenso wie der neue Merkantilismus kritisiert, weil keines von beiden den
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kann.« Arnim: Isabella von Ägypten - Werke in sechs Bänden, Bd. 3, S. 622—744, S. 734; »Umsonst wechselte er Wohnort und Kleider, umsonst versuchte er sogar den Afrikanischen Himmel, wenn er ihn auf immer gebannt glaubte und es bewegte irgend ein böser Wunsch sein Gemüth, gleich war der Allraun ihm nahe, bald in der Gestalt eines Heimchens, das hinter dem Ofen ihm zurief, wo er Geld und Gelegenheit dazu finden könnte, bald als eine Spinne, die von der Decke des Zimmers sich auf seine Schreibereien herabließ, bald als eine Kröte, die ihm im Gartengange entgegentrat, oft schnurrte er ihn auch an, als ein fliegender Käfer, Abends und Nachts schrie er wie ein wilder Vogel. Karl horchte und gehorchte nur zu oft dieser Stimme, wehe uns Nachkommen seiner Zeit.« Ebenda, S. 737. Arnim: Die Kronenwächter - Werke in sechs Bänden, Bd. 2, S. 170. Vgl. Novalis, Anm. 1. Ebenda, S. 170. Ebenda, S. 23f, 50, 88-90. Ebenda, S. 58. Vgl. ebenda, S. 137, 144f., 146f., 161f. »Wir durchblätterten eben einen ältern Kalender, dessen Kupferstiche manche Torheiten seiner Zeit abspiegeln. Liegt sie doch jetzt schon wie eine Fabelwelt hinter uns! Wie reich erfüllt war damals die Welt, ehe die allgemeine Revolution, welche von Frankreich den Namen erhielt, alle Formen zusammenstürzte; wie gleichförmig arm ist sie geworden!« Arnim: Die MajoratsHerren - Werke in sechs Bänden, Bd. 4, S. 107.
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freien Fluß des Geldes befördert. Hier zerstört der Mißbrauch von Geld die Familie, die Liebe, das Leben. In der Geschichte Die drei liebreichen Schwestern und der glückliche Färber fließt sowohl Lehne als auch Golno Geld zu. Im ersten Fall als himmlisches Geschenk, im zweiten als märchenhafter Lotteriegewinn. Beides sind einwandfreie Quellen. Entscheidend ist auch die Verfassung des Empfängers — beide sind unschuldig und fleißig - und der Gebrauch des Schatzes - als Mittel zum ehrlichen wirtschaftlichen Aufschwung. Nur am Schluß der Erzählung verfallt Golno der Versuchung des unerschöpflichen Reichtums, der ihm durch alchemistische Mittel dargeboten wird. Im Unterschied zu Karl, der Isabella wegstößt, läßt Golno sich von Lehne wieder bekehren. 71 Er wirft die Tinktur als unreines Mittel in den Fluß: ein schönes Beispiel für die Verbindung von Gold und Wasser. Es wird in dieser Erzählung nachgewiesen, daß Handwerk Gold wert ist. In diesem Wirtschaftssystem, das auf dem Gedankensystem des frühen 18. Jahrhunderts aufgebaut ist, bekommt man Reichtum als Belohnung für Anständigkeit und Fleiß. Es auszugeben (im Unterschied zum Anlegen) wäre ein Verrat, ein Zeichen von Gier. Das bedeutet nicht Akkumulation, sondern Aufbewahren für die rechte Stunde.72 Das rückständige Preußen des frühen 18. Jahrhunderts, wo Wenden nicht in der Gilde arbeiten dürfen und Harzgulden nur in dieser Region gelten, wird mit dem fortschrittlichen Holland verglichen, wo jeder seinen Unterhalt frei von kleinstaatlichen Handelsschranken verdienen darf und wo Papiergeld für alle gilt: ein Zeichen von gesundem Vertrauen, das jedoch, weil es auf einem Lotterieschein basiert, in diesem Text ein eindeutiges Symbol unter vielen anderen für den utopischen Charakter der dargestellten Geldwirtschaft ist. Arnim hatte kein makroökonomisches Patentrezept für die zeitgenössische Geldwirtschaft, und das ist ihm kaum zu verdenken, wenn man sich die politischen und ökonomischen Umstände seiner Zeit vor Augen führt. Die einzigen politischen und ökonomischen Lektionen, die den erwähnten Werken entnommen werden 71
Arnims Erzähler liefert dazu Informationen, die diesen Unterschied begründen: »Sie [Isabella] nahete sich im innern Kampfe dem Bette des Erzherzogs, sie küßte ihn; wäre er erwacht, sie hätte nicht von ihm lassen können; aber er stieß sie im Schlaf von sich: ihm träumte, als ob die goldne Kette, worin er die Völker fiihrte, ihm selbst, der sie hielt, immer enger sich um den Fuß wickelte, daß er dadurch zu fallen fürchtete; darum stieß er sie von sich.« Arnim: Die drei liebreichen Schwestern und der glückliche F ä r b e r - W e r k e in sechs Bänden, Bd. 3, S. 778-833, S. 734. »Und was that Lehne dabei? - Mit ihrem gewohnten Ernst, wie sie ihn einst als Lehrburschen zum Guten ermahnt hatte, sah sie ihn an, und sprach ihr Gewohntes: Golno, werde er kein Narr! Und ohne ein Wort weiter zu sagen, nahm sie das Fläschchen, das Golno, wie die Israeliten das goldne Kalb mit gefalteten Händen anzubeten schien, und warf es durch das offene Fenster in die vorbeifließende Spree. - Golnos Gesicht verzog sich wild, seine Hand ergriff ohne Bewußtseyn ein Messer, das Gundling auf dem Tische hatte liegen lassen; ob er es gegen sich, oder gegen Lehne gerichtet, er wußte es nicht, - aber die Klinge fiel aus dem Messer zur Erde, er fühlte am Kopfe einen heftigen Schmerz, er knieete nieder vor Lehne, dankte ihr die Rettung seiner Seele, und flehete sie an, auch das künstliche verführerische Gold in den Fluß zu werfen.« Ebenda, S. 832. In Golnos Fall ist es wieder (unverdientes?) Glück. Dem historischen Erzherzog Karl widerfährt kein vergleichbares märchenhaftes Geschick.
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Die himmlische Mutter, die Lehne beschenkt, ermahnt sie: »nimm diesen Segen des Himmels und bewahre ihn für die rechte Stunde!« Ebenda, S. 782.
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können, sind die persönlichen Werte Unschuld, Fleiß und Anständigkeit, die Arnim schon als Kind verinnerlicht hatte. Diese Verschränkung der Wirtschaftstheorie und Moralphilosophie ist typisch für die Aufklärung, vor allem fur Adam Smith, bei dem das Wohl des einzelnen dem Wohl der Gesellschaft gleicht. Das allgemeine, gesellschaftliche Glück wird maximiert, indem jedes Individuum im Rahmen seiner ethischen Gefühle versucht, sein persönliches Glück zu erhöhen.
4. Selbst-, Familien- und Liebesbeziehungen Diese ethischen Gefühle und das persönliche Glück fuhren uns zu den intimen zwischenmenschlichen Beziehungen bei Arnim. Er hatte doch ein mikroökonomisches Rezept, das der Spätaufklärung viel zu verdanken hatte. In seinen Taschenbüchern findet sich folgender Eintrag: »Jede Selbstbiografie beginnt mit Geldmangel und schliest mit Selbstgenügsamkeit, ich mag kein anderer seyn, aber ich möchte wohl anders werden, ich möchte lieber mehr seyn als mehr haben.«73 Geld als Mittel zur Selbstbildung oder Potenzierung kommt schon in dem SimonidesZitat vor. In dieser Erzählung, wie auch in Die drei liebreichen Schwestern, werden dem Unschuldigen, Anständigen, Bescheidenen, Fleißigen himmlische oder märchenhafte Münzen geschenkt, zum Wohl des Einzelnen und der Gemeinschaft: des Einzelnen, indem dieser frei ist, seine Wünsche zu erfüllen, der Gemeinschaft, indem diese Wünsche eben jene Werte von Unschuld, Anstand, Bescheidenheit und Fleiß verbreiten. Simonides wendet die Münze, seinen Schatz, täglich zur rechten Seite, um zum Glück der Menschheit zu wuchern, mit anderen Worten er tut jeden Tag zehnmal etwas Gutes für andere Menschen. (In der Geschichte fehlen dafür konkrete Beweise, obwohl man Simonides' Lehre an Antiphon als die erste Wohltat an diesem Tag anrechnen könnte.) Lehne bewahrt ihren Schatz für den richtigen Moment auf: Zuerst schenkt sie ihn Golno, um seine berufliche Weiterbildung zu unterstützen, am Schluß der Erzählung benutzt sie ihn für ein Waisenhaus.74 Diese Utopie ist in der Schularbeit eine Moralerzählung, in Die drei liebreichen Schwestern eine Darstellung des naiven Völksglaubens der Zeit am Anfang des 18. Jahrhunderts. In den Kronenwächtern bekommt Berthold auch einen Schatz, aber Berthold mißbraucht ihn für egoistische Zwecke, zum Beispiel fur die Verbindung zwischen seinem Haus und dem von Apollonia, wobei ein Bergmann im Brunnen umkommt.75 Wenn später der Brunnen aufhört zu fließen, leitet dieses Vorzeichen die Katastrophe ein, die das erste Buch abschließt.76 Ein weiteres abschreckendes Beispiel für die negative Weiterentwicklung des Menschen zeigt sich bei Karl in Isabella von Ägypten durch die fragwürdigen
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Arnim: Taschenbücher, unveröffentlichtes Manuskript im Freien Deutschen Hochstift. Signatur: F D H B 6 9 , S. 180. Arnim: Die drei liebreichen Schwestern und der glückliche Färber - Werke in sechs Bänden, Bd. 3, S. 824f. Arnim: Die Kronenwächter - Werke in sechs Bänden, Bd. 2, S. 184-198. Ebenda, S. 324.
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Geschenke, die ihm Cornelius macht. Hier sind sowohl Quelle als auch Gebrauch mißlich. Der Bärnhäuter in dieser Erzählung entwickelt sich überhaupt nicht: der Fluch, der auf ihm ruht, verdammt ihn dazu, in aller Ewigkeit seinem Schatz nachzulaufen. Geldzirkulation als Symbol für zwischenmenschliche Beziehungen kommt in dem schon Gesagten ebenfalls vor. Obwohl der ökonomische Tausch einen Verlust im Vergleich zu geistigem und emotionellem Austausch bringt, 77 sollte in der Familie und in der Liebe am ehesten eine Harmonisierung möglich sein. Nach Hörisch »soll die Ehe dazu dienen, ein ausgeglichenes Verhältnis von erotischer Passion und monetärer Vernunft [...] zu garantieren.« 78 In Die drei liebreichen Schwestern fuhrt die Polysemie des Wortes »Schatz« tatsächlich die ökonomischen und die emotionalen Diskurse zusammen. Die drei Schwestern sind reich an verschiedenen Arten von Liebe und alle machen Golno auf ihre Weise glücklich. Das Geld ist Symbol und Zeichen von Liebe und Vertrauen. Wie gesagt, ist Geld für Golno kurz am Schluß der Erzählung eine Versuchung. Karl, der die liebende Isabella mit Golem Bella verwechselt, die nur Gier verkörpert und Cornelius zum Lebensgefährten erkürt, sowie fast alle anderen Figuren in Isabella von Ägypten außer Bella selber, die sich zum Schluß in eine utopische primitive Gesellschaft ohne Geld zurückzieht, erliegen dem Fluch des Geldes. In den Kronenwächtern wird das Geld zum Zankapfel zwischen Anton und seiner Familie. 79 Anton wirft schließlich sein Geld vor die Füße seiner Frau, um sie zu demütigen, 80 verliert aber durch diese Geste sein Fortunati Glücksäckel, einen Schatz, den er unbewußt als Vorwurf seiner Unfähigkeit, die Familie zu ernähren, von ihr bekommen hatte.81 Anna, die das Geld aufsammelt, macht unmittelbar danach genau dasselbe: aus Mangel an Vorsicht gibt sie das Beste weg. 82 Gold und Liebe stehen im Vordergrund in Arnims Version der Bergmann zu Falun-Erzählung Des ersten Bergmanns ewige Jugend in dem Roman Armut, Reichtum, Schuld und Buße der Gräfin Dolores. Der junge Mann interessiert sich nicht für Gold, sondern für die Liebe: »>Mag nicht Rubin, nicht Goldgeflimmen, / Der starke Knabe schmeichelnd spricht, / >Ich mag den dunklen Feuerschimmer / Von deinem wilden AngesichtMetaphorik des Fließens< in einem übertragenen Sinn verstanden und kaum anhand konkreter Bilder untersucht. In Aloys und Rose wird eine Liebesgeschichte zwischen den titelgebenden Protagonisten geschildert, die sich in enger Wechselbeziehung zum zeitgeschichtlichen Hintergrund entwickelt und scheitert: Die Erzählung spielt in der Schweiz während der Helvetischen Republik - >Helvetische Republik* ist die Bezeichnung fur die Schweiz nach dem Ende der alten Eidgenossenschaft und nach der 1798 erfolgten Besetzung durch französische Revolutionstruppen. De jure bestand die Helvetische Republik bis 1815. Thematisiert wird in Aloys und Rose auch der nationale Freiheitskampf der Schweizer gegen die französische Okkupation. Im Rahmen einer Tagebuchfiktion beginnt die Erzählung aus der Perspektive eines die Schweiz bereisenden, namenlos bleibenden Ich-Erzählers, der Rose, einer jungen, aufgrund der kriegerischen Ereignisse aus Lausanne geflohenen Frau begegnet; Rose berichtet dem Reisenden von ihrer Beziehung zu Aloys, der u. a. aufgrund der zeitgeschichtlichen Umstände eine glückliche Erfüllung versagt bleibt. Einblicke in diese Beziehung vermittelt vor allem der Briefwechsel zwischen den Liebenden, den Rose dem Tagebuchschreiber zugänglich macht. Diese Korrespondenz ist durchzogen von ζ. T. sehr freien Übersetzungen, die Aloys von Texten verschiedener Epochen der Literatur angefertigt hat, und einigen beigefügten Liedern, ζ. B. über Wilhelm Teil - »die gemeinschaftliche Vorliebe für alte Bücher verband uns endlich« 3 , gesteht Rose dem Erzähler. Buch bzw. Dichtung gehören wie in Die Leiden des jungen Werthers und in dem auf Goethes Roman rekurrierenden Romanerstling von Arnim, Hollin 's Liebeleben, zu den Medien, mit deren Hilfe die Liebenden sich verständigen. Der Reigen von Aloys' der Korrespondenz beigefügten Übertragungen wird eröffnet durch eine Passage aus dem altfranzösischen Prosaroman Lancelot du Lac, es folgen der Monolog des Rodrigue aus Corneilles Tragödie Le Cid sowie Übertragungen aus Maurice Sceves lyrischem Zyklus Delie, object de plus haulte vertu und aus den Minneliedem, so daß sich große Teile von 1
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Der Beitrag entstand im Rahmen der Kommentierungstätigkeit an Aloys und Rose für Band 4 der Weimarer Arnim-Ausgabe. Arnim: Briefwechsel 1802-1804 - Werke und Briefwechsel, Bd. 31, S. 259. Arnim: Aloys und Rose - Werke in sechs Bänden, Bd. 3, S. 21.
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Ariane Ludwig
Aloys und Rose im wahrsten Sinne des Wortes als ein »Mosaik von Zitaten«4 beschreiben lassen. Die vorwiegend als Dialog gestaltete erste Begegnung von Rose und dem Tagebuchschreiber setzt sich fort in einem dialogischen Zueinandertreten verschiedener Texte im intertextuellen5 Spiel. Der einem Blick in die Vergangenheit von Rose vorbehaltenen, vorwiegend als Dialog gestalteten ersten Begegnung der jungen Frau mit dem Ich-Erzähler schließt sich eine zweite an, in deren Verlauf Rose, der träumte, Aloys sei in Gefangenschaft geraten, ein Lied singt, in dem sie sich als dessen Braut und Befreierin in einer Goethes Clärchen bzw. Beethovens Leonore6 ähnlichen Rolle imaginiert. Arnims Erzählung endet mit diesem Lied. Dem Umstand, daß der äußere Erzählrahmen nicht geschlossen wird, entspricht, daß für die Liebesgeschichte auf der >realen< Ebene der Erzählung keine Lösung angeboten und auch die politische, zum Zeitpunkt der Niederschrift von Aloys und Rose als eine sehr verworren sich präsentierende Lage keiner Synthese zugeführt wird. Letzten Endes kann das lyrische Fragezeichen, das der Schluß setzt, auch interpretiert werden als eine Konsequenz der Französischen Revolution, denn »die Desillusionserfahrung der Französischen Revolution« bestand gerade darin, - darauf verweist Wolfgang Riedel in anderem Zusammenhang - »daß diese, indem sie eine unvorhergesehene Entwicklung nahm und dem prognostischen Vorgriff auf die Zukunft sich entzog, den Herrschaftsanspruch des geschichtsphilosophischen Begriffs gegenüber der historischen Empirie annullierte.«7 Die Frage des Erzählers an Rose, es sei doch wohl ein Anfang möglich, muß sie in Bezug auf sich verneinen. Eine positive >Antwort< im Zusammenhang mit der Geschichte ihres Vaterlandes vermag sie nur zu geben, indem sie ausweicht in ein der reinen Ratio entzogenes Medium, in das Lied, das am Ende der Erzählung steht: Dort kann sie ihrer Hoffnung, die sie der trostlosen Gegenwart entgegenstellt, ihrer Hoffnung zumindest auf eine Befreiung des potentiellen Befreiers Ausdruck verleihen. - »Consiliis hominum pax non reparatur in orbe«8 wird Goethe für Arnim später auf ein Stammbuchblatt schreiben. Nachdem Ludwig Achim von Arnim ein naturwissenschaftliches Studium abgeschlossen und seinen Erstlingsroman Hollin 's Liebeleben im Sommer und
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Kristeva: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman. - In: Ihwe (Hrsg.): Literaturwissenschaft und Linguistik, Bd. 3, S. 348. Der literaturgeschichtliche Bezugsrahmen der intertextuellen Referenzen wird über die eben genannten hinaus erweitert durch Anspielungen auf Figuren der Antike (Arminius), auf Motive der antiken Literatur (glückliche Inseln) sowie auf antike Gattungen (das Totengespräch), so daß Kremers allgemein formulierte Beobachtung sich vor allem auch im Hinblick aufAloys und Rose als zutreffend erweist: »Die gesamte europäische Schrifttradition von der Antike bis in die jüngst vergangene Gegenwart (vor allem Goethe) kann ihren Anspruch auf Miturheberschaft fur Arnims Prosa geltend machen. Er bekennt sich explizit zu einer literarischen Zitatund Montagetechnik, auf die Levi-Strauss' Begriff der »bricolage«, der ethnologisch-strukturalistischen Bastelei, schon zutrifft.« (Kremer: Prosa der Romantik, S. 31). Vgl. den Kommentar von Moering zu Arnim: Aloys und Rose - Werke in sechs Bänden, Bd. 3, S. 1040f. Riedel: »Weltgeschichte als erhabenes Objekt«. Zur Modernität von Schillers Geschichtsdenken. - In: Alt/Kosenina (Hrsg.): Prägnanter Moment, S. 208. Steig/Grimm (Hrsg.): Achim von Arnim und die ihm nahe standen, Bd. 1, S. 169.
Fließende Übergänge zwischen Poesie und Geschichte
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Herbst 1801 verfaßt hatte, bricht er im November desselben Jahres zusammen mit seinem Bruder Carl Otto zu einer mehrjährigen Bildungsreise (1801-1804) auf, die ihn auch in die Schweiz fuhren und für die Erweiterung seines »politischen Horizont[s]« 9 wichtig werden wird. Literarische Frucht des Schweizer Teils von Arnims Bildungsreise ist die Erzählung Aloys und Rose, ein »Heldengedicht über die Schweiz« 10 . In dieser Erzählung transformiert der junge Dichter die aktuelle Situation in eine poetische Darstellung. Während des Schweizer Aufenthalts gewinnen zwei Momente für Arnim in besonderem Maße an Bedeutung: Das Erlebnis von Natur und Volk, das Arnims Reise vor den in der Schweiz verbrachten Monaten prägte, wird abgelöst vom unmittelbaren Eindruck und Miterleben von Geschichte," da Arnim sich zur Zeit der Helvetischen Revolution und Republik in dem Alpenland aufhält. Später wird er festhalten: »In der Schweiz eigentlicher Anfang der politischen Schmerzen«. 12 Neben einer >schmerzlichen< Anteilnahme an Geschichte aus Autopsie beginnt nach der in Göttingen erfolgten »eigentliche[n] Wendung zur Dichtung als Lebensarbeit für Arnim« 13 in der Schweiz eine auch theoretisch fundierte Hinwendung zur Poesie, die Arnim in einem euphorisch vorgetragenen Programm, dem von ihm so bezeichneten »grossen Lebensplan«, 14 in einem Brief vom Juli 1802 dem Freund Brentano eröffnet. Die Schweiz wurde vor der Zäsur von 1798 von dem »Lesepublikum des 18. Jahrhunderts [...] als Heimstatt des Republikanismus und als >das Land der FreiheitKussestauscht< verfuhren wollte, den Kuß für etwas zu halten, was irgendwo außerhalb der beiden Lippenpaare [...] läge.« (Ebenda, S. 61) Die mehr symbolische Bedeutung von >Tausch< deutet sich hier an. - Das Eudämonistische ist in Arnims Ballade gerade die Täuschung: das Versprechen sexueller Befriedigung.
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gestellte Befriedigung, die aber nicht sich selbst als Befriedigung bedeutet, sondern vorgespiegelt wird. Die Herrschaftsordnung wird stabilisiert: »Die Zeichen des Warentausches stützen sich auf das schwarze, gefahrliche und verdammte Glitzern des Metalls, weil sie das Verlangen stillen«, heißt es bei Foucault - und: es ist ein »doppeldeutiges Glitzern«.42 Das Glitzern ist hier das Selbstbild des »wackren Hauers«, des erfolgreichen Bergmanns, der übertage stolz im »Bergkleid« (ebenda, S. 618, V. 23) als Zeichen seines Wissens um die geheimen Schätze der Erde auftreten kann. Dieses Selbstbild ist es, was ihm als Ich-Ideal von der symbolischen Ordnung der ökonomischen Reproduktion der Herrschaft - oder psychoanalytisch gesprochen: vom Über-Ich - zur Verfügung gestellt wird. Mit dem Erscheinen auf dem Fest, das seine Familie in einem ihrer Schlösser feiert (vgl. ebenda, V. 19), verstößt der Bergmann gegen die symbolische Ordnung, da er sich zumindest temporär aus der Mehrwertproduktion ausklinkt. Zwar ist der unentfremdete Zustand, wie er sich im »Festtagskuchen« der ersten Strophe ausdrückte, unwiederbringlich verloren, er kann aber auf dem Fest im »Tanze« (ebenda, V. 23) zumindest simuliert werden. Hier zeigt sich, daß auch die Gewinnung der Autonomie durch den Tausch eine Täuschung war, denn sie war nur Autonomie als Freiheit von etwas (Schule, der »Eltern Scheltwort«), aber eben nicht Freiheit zu etwas. Diese mag der Knabe der ersten Strophe noch gehabt haben; nach der verdinglichenden Integration in die symbolische Ordnung fuhrt aber seine frei Wahl zur Katastrophe. Auf der Symbolebene wird diese Katastrophe dadurch motiviert, daß der Bergmann »einen Ring [...]/ Vom Gold, wie es noch keiner fand« (ebenda, S. 619, V. lf.) an die vom ihm Auserwählte unter den anwesenden jungen Damen weitergibt. Das Gold »wie es noch keiner fand« ist der »Minnesold« der Bergkönigin, der als Repräsentation des Geldkreislaufs nicht in des Bergmanns Verfügungsgewalt steht. Der eklatante Verstoß gegen die symbolische Ordnung liegt hier also darin begründet, daß der Bergmann eine eigenmächtige Umbesetzung des Zeichens >Gold< vornimmt, indem er den goldenen Ring aus dem ökonomischen Kontext herauslöst und versucht, ihn wieder zu einem Zeichen von >Liebe< zu machen. Wenn das Über-Ich als Symbolsystem auch das Individuum verdinglicht43, indem es die Sprache eines Ich-Ideals zu Verfugung stellt, so bedeutet doch der Bruch mit dem System erst recht einen totalen Ich-Verlust: denn das Über-Ich stabilisiert ja gerade das Subjekt durch die Bereitstellung des Selbstbildes. In der freien Wahl stößt der Bergmann zu seinem Kern vor, indem er sich in Freiheit verwirklicht, er gerät aber wörtlich durch den Verlust der Ich-Imago ins tötliche Wanken. Der Bergmann Hat manches Glas hinein gestürzt; Spät schwankt er fort und ganz alleine, Manch liebreich Bild die Zeit verkürzt, (ebenda, S. 619, V. 6-8)
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Foucault: Ordnung der Dinge, S. 219. Wobei der Schein libidinöser Befriedigung aufrecht erhalten wird: »Dort [im Bergwerk] zeige ich dir große Schätze, / Die reich den lieben Eltern hin, / Die streichen da nach dem Gesetze, / Wie ich dir streiche übers Kinn.« Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 1, S. 617, V. 21-24; Hervorhebung im Text.
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Schwankend kehrt der Bergmann ins Bergwerk zurück, wo »er nun dort sein Grab« findet (ebenda, V. 16). Sein Tod wird durch die Eifersucht der Bergkönigin narrativ motiviert. Letztlich verbirgt sich aber auch hierin die Strafe des Symbolsystems der ökonomischen Ordnung dafür, daß er individuelle Autonomie fur einen Moment höher gewertet hat, als seine Funktion im Mehrwertprozeß. Denn nicht einmal im Tod gewinnt der Bergmann Autonomie als Individuum. Sein Grab ist »von Gold« und er wird selbst zu Gold (ebenda, V. 18); er hätte gewarnt sein können, denn er wußte, daß die Bergkönigin ein »starres Lagerzelt« (ebenda, S. 617, V. 28; Hervorhebung von mir) hat, ein Lager der anorganischen Leblosigkeit. Die Verdinglichung des Subjekts wird in der Metallisierung sinnfällig. Das »Nachtrauschen«, das dem Knaben als »neues Land« (ebenda, S. 616, V. 5) heraufkam, entpuppte sich als Begehren, das jedoch nur als Repräsentation greifbar wurde. Die Imago der Bergkönigin gewährte keine Befriedigung individueller Liebe, sondern stand genauso für die Funktionalisierung des Subjekts, die in der Metonymie Gold / Minnesold angezeigt ist. Der Bergmann ist so selbst als Repräsentation der Funktionsweise des symbolischen Systems erkennbar. Mit seinem Tod wird aber deutlich, daß er noch über eine Repräsentation der Funktionsweise hinausgeht: Als Allegorie des Unbewußten, das verdrängt wird, um die Mehrwertproduktion aufrecht zu erhalten. Wenn Libidobefriedigung nur eine Funktionsstelle im Kreislauf von »Geld« (ebenda, S. 617, V. 12) und Gold ist, dann ist ein Verhältnis, das auf der autonomen Entscheidung als >Freiheit zu< etwas beruht, die Infragestellung des Systems, die es selbst ausschließen muß. Die symbolische Umbesetzung des Ringes macht das deutlich. Die Liebe wird dementsprechend nach dem Tod des Bergmanns suspendiert und, um im Bild zu bleiben, wohl nicht mehr als Lockmittel für seine Nachfahren verwendet: Nach seinem Tode wird kein Gold mehr gefordert, sondern nur noch die minderwertigeren Metalle »Silber, Kupfer, Eisen, Blei« (ebenda, S. 619, V. 26), die dem »Minnesold« keinen Reim mehr anbieten. Die Dialektik der Aufklärung, der Einsatz von »Maschinen« (ebenda, S. 620, V. 6), legt das Unbewußte frei, was sie in der kompletten Rationalisierung eigentlich verdecken sollte. Mit den »Maschinen« wird der »kühne Durchschlag« (ebenda, S. 619, V. 34) zur goldenen Grabkammer des Bergmanns gemacht, nachdem die Bergkönigin das Leben vieler Bergleute der zweiten Generation gefordert hat. Es ist hier der Verlust auch noch des letzten Restes von Eigenwertigkeit der Natur, die sich zuvor noch als entdifferenzierendes Geheimnis dargestellt hatte 44 . Während aus der Sicht des Knaben der Versuch, das Begehren - das als Begehren nicht restlos im Kulturtext des Symbolsystems aufgehen kann, sondern es tendenziell unterwandert - zu befriedigen noch als Anerkennung der Natur als Natur verstanden werden kann, ist in der Behandlung der Erde mit »Maschinen« die Natur zum bloßen Objekt rationaler Zwecksetzung geworden.
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Im Bergwerk »Umfließet [den Knaben] ein seiger Schimmer, / Und alles ist ihm einerlei.« (Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 1, S. 617, V. 3 f.) Während der Knabe noch die Geheimnisse des Berges im Prozeß seiner Täuschung zumindest erlebt, »[ejrwühlen« die nachkommenden Generationen nur noch die Erde (ebenda, S. 616, V. 24). Allgemein zur Tiefensymbolik des Bergwerks vgl. Böhme: Geheime Macht im Schoß der Erde, besonders S. 97-115.
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Auch das Ende der Ballade läßt nicht erkennen, daß die Verdinglichung des Subjekts in irgendeiner Weise positiv aufgehoben wird. Der Landesherr schenkt den nach 50 Jahren wiederentdeckten, vergoldeten Leichnam der inzwischen alt gewordenen Verlobten. Sie stellt ihn wie »eine Statue [...]/ Von einem lang vergeßnen Gott« (ebenda, S. 621, V. 21 f.) auf, ein Gott allerdings, von dem man vergessen zu haben scheint, wie man ihn ehrt. Die Mesalliance von lebendem Alter und toter Jugend am Ende wirkt komisch. Dabei ist die Jugend auf zweifache Weise tot: Als Unbewußtes, aber nicht mehr Verstandenes, zeigt es sich im toten Bergmann und in der »jungen Welt« (ebenda, V. 24), die in ihrem Spott nicht mehr erkennt, was ihr fehlt - die Liebe: Hier ist die Jugend, dort die Liebe, Doch sind sie beide nicht vereint, Die schöne Jugend scheint so müde, Die alte Liebe trostlos weint, (ebenda, V. 13-16)
Das »Drama der Sozialisation« artikuliert sich in Des ersten Bergmanns ewige Jugend als Dissoziation autonomer Subjektivität in den verdinglichenden Verhältnissen einer symbolischen Ordnung, die einerseits die verdinglichende Wirkung zeigt, aber eben auch das Subjekt stabilisiert: Es ist die heillose Verstrickung des Subjekts in der beginnenden industriellen Moderne, in der es, um zu sich selbst zu kommen, einen Teil seiner Autonomie an das abgeben muß, was die Autonomie usurpiert: an die verdinglichende Ordnung ökonomischer Reproduktion. Das veränderte Verhältnis zur durch die Tiefe des Bergwerks repräsentierten Natur, von der geheimnisvollen Tiefe zum Ort, an dem mit Maschinen Mehrwert produziert wird, macht das als nachträgliche Verzauberung deutlich: Durch die »einsetzende Versachlichung [wird] die Welt entzaubert«, und diese Entzauberung »wird folgerichtig gerade dort kompensiert durch die Ausbildung des Organs einer neuen Verzauberung: des Ästhetischen.«45 Anders als Hoffmann, dem es darüber hinaus um die dissoziierende Wirkung der destruktiven Kraft der Triebnatur geht, zeigt sich bei Arnim der Konflikt nicht als Durchkreuzen der symbolischen Ordnung durch (matrilinear organsierte) prä-ödipale Wunschbefriedigung. Vielmehr ist der vergoldete Bergmann die ironische Version des Ent- und Verzauberungsprozesses: als ästhetisches Objekt, in dem die Entzauberung aber als Unbewußtes des entfremdenden Prozesses aufgehoben ist.
5. Die Ballade Des ersten Bergmanns ewige Jugend sucht in der Verschränkung von ökonomischen Motiven mit der Subjektthematik Anschluß an die beginnende industrielle Moderne. In Arnims Text wird nicht nur der Entfremdungsprozeß des 45
So faßt Odo Marquard Joachim Ritters Genese des modernen Landschaftsbegriffs zusammen. Siehe Marquard: Abschied vom Prinzipiellen, S. 42; sowie Ritter: Landschaft - In: Subjektivität, S. 161.
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Individuums in der wechselseitigen Verdinglichung von Subjekt und Natur, also der Objektseite, dargestellt, sondern die Entfremdung wird mit der sich ausdifferenzierenden sozialen Ordnung - einer arbeitsteiligen, aber ungerechten Ordnung verknüpft, und mit den Interessen der Herrschaftsinstanz begründet: Dem Bergmann wird Selbstbewußtsein als freie Entscheidung verweigert. In der RheinfallRomanze fehlt diese differenzierte Analyse verdinglichender sozialer Ordnungen; der Konflikt des die Gesellschaft stabilisierenden Symbolsystems und der freien Entscheidung der Figur begegnet aber auch hier. Dabei ist die freie Entscheidung, der Eintritt in die Mündigkeit, und das Symbolsystem, dargestellt im Verbot des Vaters, wiederum metaphorisch verknüpft mit einem ökonomischen Motiv: dem Markt (vgl. V. 46) 46 . Das Motiv der Mündigkeit steht hier aber vielmehr im Vordergrund, vor allem, da das Geschehen im Laufe der Romanze von der individuellen Geschichte der jungen Frau abgehoben und verallgemeinert wird. Diese Verallgemeinerung vollzieht sich zunächst auf metaphorischer Ebene, dann durch einen zweiten Grenzüberschritt - dem Fall den Wasserfall hinunter - in dem der Fluß als Lebens- und Daseinsmetapher dann voll zum tragen kommt. Der Text mündet ein in eine mythologisch gegründete Utopie, die als religiöse Erlösung dargestellt wird. Die religiöse Rückbindung ermöglicht unentfremdete Individualität jenseits der sozialen Ordnung des »Marktes«: als Subjektivität im abgesicherten Modus. Die Veränderung auf der metaphorischen Ebene zeigt sich an den beiden Strophen, die die Trennung der jungen Frau vom Haus der Familie darstellen. Der horizontalen Metaphorik des Flusses wird eine vertikale an die Seite gestellt: Er riß mich an den Haaren, Er warf mich hart hinaus, Und mit der Schwalben Scharen Ich grub im Sand ein Haus. Ums Haus zog auf und nieder, Zwei Nächte nackt und bloß Bis alle meine Glieder, Sich rissen davon los. (V. 53-60)
Die Schwalben, die mit der Frau ein Haus im Sand bauen, sind Glücksbringer und haben darüber hinaus noch die Eigenschaft, zum »Leben Christi, auch zum Himmelbau Gottes« in Beziehung zu treten 47 . Das in den Sand gegrabene Haus erinnert zwar an ein Grab, durch die Schwalben als Bauhelfer assoziiert es aber auch gleichzeitig ein Nest als neue Behausung. Die vertikale Öffnung zur Transzendenz
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Nachweise im Text im folgenden wieder aus Der Rheinfall - Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 5, S. 251-256. Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. 7, Sp. 1391-1399, hier Sp. 1395. Die Glücksvorbedeutung wird hier dadurch zusätzlich gesichert, daß es sich gleich um eine ganze Schar von Schwalben handelt. In den Majorats-Herren werden Schwalben als die »guten schützenden Engel« bezeichnet und nehmen eine Haus und Himmel verbindende Stellung ein (vgl. Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 4, S. 120f.; auch Die Sonne scheinet an die Wand ebenda, Bd. 5, S. 932 und den Kommentar dazu, ebenda, S. 1557.
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kennzeichnet das neue Haus als eines von gänzlich anderer Qualität, als das Haus hat, dessen die Frau von ihrem Vater verwiesen wird. Es ist ein Haus des Übergangs, das in den Sand, einem unbeständigen, und damit zeitlich nur kurzfristigem Fundament, gebaut wird: »So schwanke denn im Wind, du loser Sand« 48 . Letztlich verläßt die Frau auch das neue Haus und reißt sich mit allen »Gliedern« los. Das ist nicht nur die Trennung von der sozialen Welt der Familie, dem Haus des Vaters, sondern auch eine vom irdischen Leben, die sich in der gnostischen Färbung der Metaphorik und der vertikalen Öffnung ankündigt. 49 Dementsprechend wird die Frau weitgehend entkörperlicht, was sich trennt und aufsteigt, ist wohl die Seele. Nach der Trennung wird sie, deren >schlanker Leib< (vgl. V. 38) zuvor noch betont wurde, mit dem Prädikat »zart« (V. 74) belegt, das in Kontrast mit der Körperlichkeit steht. Das Ätherische (»luftig« und »duftig« [V. 73 und 75]) ist metaphorisch der Frau zugeordnet, da das Adjektiv >zart< eher zum Wortfeld von >luftig< und >duftig< gehört, als zum Reimwort »hart« (V. 76), womit der Boden des Schiffes beschrieben ist. Diese Entkörperlichung kommt auch zum Ausdruck in den Versen: Es zittern ihre Glieder Wie Pappelblätter weiß, (V. 77f.)
Der Vergleich mit den zitternden Pappelblättern hebt die Körperlichkeit auf, so, wie es kaum möglich ist, ein einzelnes Blatt einer vom Wind bewegten Pappel zu fixieren. Diese Verschiebung auf der Metaphernebene - von körperlich zu unkörperlich, von horizontal zu vertikal - mündet in eine mythologische Ebene. Es nimmt der Schlaf das Ruder Wiegt die verloren Kind, Der Tod der ist sein Bruder, Wie Mond und Sonne sind. (V. 81-84)
Das Bruderpaar von Schlaf und Tod ist spätestens seit Lessings Wie die Alten den Tod gebildet Teil des literarischen Bildarsenals in der deutschen Literatur. Die beiden Brüder sind hier weit mehr als nur schmückendes Beiwerk. Vielmehr nimmt das antike Bild des Todes auch dem Tod der beiden Figuren - denn der erwartet sie ja im Wasserfall - den Schrecken. Hier wird endgültig klar, daß der Tod im Wasser-
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Das Schwanken des Sandes wird in diesem Stammbuchgedicht für Vamhagen von Ense nur dadurch verfestigt, daß das Ich sich mit dem ganzen Körper in das »schwankend Vaterland«, das sandige Brandenburg, festbeißt; die drohende Unbeständigkeit des Sandes, der im Wind verweht wird, wird durch das körperliche Engagement des Ichs sozusagen zusammengehalten - so wie das Vaterland dann selbst dem Ich Identität gewährt: »Mein Vaterland, und ich bin dein.« (Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 5, S. 360; vgl. auch Sternberg: Die Lyrik Achim von Arnims, S. 83-90.) Die Bedeutung des Motivs vom schwankenden Sand< liegt hier freilich anders, aber gerade vor diesem Hintergrund wird die Unbeständigkeit des Sandes als Ort der Behausung in der Rheinfall-Romanze deutlich. Zum Motiv des Hauses, das verlassen wird, als gnostisches vgl. Jonas: Gnosis, S. 82-84. Vgl. zur gnostischen Motivik bei Arnim allgemein Ricklefs: Magie und Grenze.
Variationen der romantischen
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fall nicht auf eine vermeintlich sexuelle Verfehlung 50 in der selbstbewußten Partnerwahl zurückzufuhren und so auch nicht Konsequenz aus dem Bruch mit den Regeln der Gesellschaft ist. Der »natürliche Tod«, so heißt es bei Lessing zur christlichen Vorstellung des Todes, ist »die Frucht und der Sold der Sünde«. 51 Der natürliche Tod in der Romanze wäre der Tod im Wasserfall, wie er sich auf der Ebene der realen Vorstellungswelt abzeichnet. Nach der mythologischen Wende aber ist eine Trennung vom >Haus< vollzogen worden. Die Intention der antiken Bildwahl ist nicht die, an die Stelle christlicher Sünden- und Todesvorstellungen einen fröhlichen antiken Tod zu setzen. Die Zwillingsbrüder haben hier eine originelle Funktion im Erlösungsgeschehen und der anschließenden Apotheose. »Noch vor dem Wasserfall« (V. 102)52 verfangt sich das Schiff mit den beiden eingeschlafenen Liebenden in einem Gebüsch am Ufer; dort werden sie von einem Fischer gesehen und vor dem Wasserfall gewarnt. Die beiden schlafen aber weiter. Der Fischer »ruft mit lautem Schall« (V. 104), doch: Der Schlaf ist eingeschlafen Hört nicht des Fischers Ruf, Der Tod will ihn bestrafen, Weil er neu Leben schuf. (V. 105-108) Der Schlaf schläft, er hat das Ruder abgegeben (V. 81). Er kann es nicht sein, der das neue Leben schafft - es ist der Fischer. Die Pointe liegt auf den letzten beiden zitierten Versen: »bestrafen« steht im Indikativ Präsens, »schuf« im Präteritum, in der Form abgeschlossener Vergangenheit. Das >neue Leben< ist also schon verwirklicht, die Strafe, die der Tod noch vollstrecken kann, führt ins Leere. Der Fischer hat die Rolle des Simon Petrus, des Menschenfischers 5 3 , der hier für den lebensspendenden Ruf Gottes steht 54 . Nun mögen die Liebenden eingeschlafen sein, den Ruf haben sie aber wohl gehört, wie die Präteritumsform zeigt. Wer ihn nicht hört, ist der Schlaf, der j a eingeschlafen ist (V. 105f.). Der Tod hört ihn, kann aber gegen die Autorität des erlösenden Rufes nichts mehr ausrichten. Der Ruf des Fischers vollzieht auf der Handlungsebene, was auf der Metaphernebene sich schon angekündigt hatte: die Erlösung. Das zeigt sich in der Metaphorik des Falls den Rheinfall herab. Die reale Vorstellungswelt der Metapher ist hier aufgehoben, dem Fall ist nichts tödliches eigen, sondern scheint im Gegenteil ein Fall in das neue
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Die Metapher des Wasserfalls bietet ja auch die Möglichkeit einer moralischen Deutung. Arnim nimmt aber eine andere symbolische Besetzung vor. Vgl. etwa Luise Hensel: »Doch Freund, die dritte Silbe mein / Kann dir bedenklich werden, / Drum achte auf die Tritte dein, / Du Pilgersmann auf Erden.« Hensel warnt den »Pilgersmann«, nicht der dritten Silbe des Lösungswortes des Rätsels zu verfallen: dem Wasserfall. Die Warnung wird in der Metonymie Wasserfall - Sünden/a// deutlich, vgl. Hensel: »Es ist mein erstes Silbenpaar« - Hensel: Lieder, S. 185. Lessing: Wie die Alten den Tod gebildet - Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 6, S. 778. Renate Moering liest: »Nah vor dem Wasserfall«, vgl. Moering: Anmerkungen und Korrekturen, S. 472. Vgl. Mt 4, 19 und Mk 1, 17. Vgl. Joh3, 15f.
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Leben zu sein. Die Suspendierung des realen Rheinfalls macht die Wasserfallmetapher zum Erlösungssymbol: Des wilden Rachens Schäumen Erwecket sie noch nicht, Sie fallen tief zu Räumen Wo in der Nacht das Licht. (V. 113-116)
Die beiden Liebenden fallen sozusagen durch den Wasserfall, denn sein Tosen erweckt »sie noch nicht«, was ja heißt, daß sie später, auf der anderen Seite des Wasserfalls, erwachen werden. Der Fall in die tiefen Räume ist ein Fall in den Kosmos, so läßt sich der Plural verstehen.55 Dabei ist die Wortwahl »Raum« die Wahl eines neutralen Wortes, das die Tiefe aus traditionellen Semantiken heraushebt: Das Fallen hier ist kein Abstieg, sondern ein Aufstieg, indem der Fall in den Kosmos, in die Pluralität der Räume, auch die Erde als Erkenntnisstandort aufhebt. Die Tiefe, in die hier gefallen wird, ist von einem anderen Standpunkt aus die Höhe, zu der hin aufgestiegen wird. Im Verlassen des >HausesEmpfindsam< oder >romantisch