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German Pages 365 [368] Year 1960
GRAFF, RILKES LYRISCHE
SUMMEN
WILLEM L A U R E N S G R A F F
RILKES L Y R I S C H E S U M M E N
i960
W A L T E R D E G R U Y T E R & CO. B E R L I N V O R M A L S G. J. G Ö S C H E N ' S C H E VE R L A G S H A N D L U N G • J. G U T T E N T A G , VERLAGSBUCHHANDLUNG • GEORG REIMER • K A R L J. T R Ü B N E R VEIT & C O M P .
A U S D E M E N G L I S C H E N Ü B E R S E T Z T VON E L I S A B E T H
KILLY
TITEL DER O R I G I N A L A U S G A B E : R A I N E R M A R I A R I L K E , CREATIVE A N G U I S H OF A M O D E R N P O E T , P R I N C E T O N U N I V E R S I T Y P R E S S 1956
C O P Y R I G H T i 9 6 0 B Y W A L T E R DE G R U Y T E R & C O . , V O R M A L S G. J. G Ö S C H E N ' S C H E VE R L A G S H A N D L U N G - J . G U T T E N T A G , V E R L A G S B U C H H A N D L U N G - G E O R G R E I M E R - K A R L J. T R U B N E R VEIT & COMP., B E R L I N
© ARCHIV=NUMMER
456560
Printed in Germany A L L E R E C H T E D E S N A C H D R U C K E S , D E R PH OTO M E C H A N I S C H E N W I E D E R G A B E , DER H E R S T E L L U N G VON P H O T O K O P I E N UND MIKROFILMEN, AUCH AUSZUGSWEISE, VORBEHALTEN. HERSTELLUNG:
K A H M AN N * D R U C K , B E R LI N - STE G L I T Z
Vorwort zur deutschen Ausgabe In Anbetracht der enorm angewachsenen Rilke-Literatur mag es als ein Wagnis erscheinen, dieselbe um einen weiteren Band zu bereichern. Daß der Verlag Walter De Gruyter & Co. trotzdem von meinem Buch „Rainer Maria Rilke. Creative Anguish of a Modern Poet" (Princeton University Press, 1956) eine deutsche Übersetzung bringt, gereicht mir nicht nur zur Ehre, sondern erfüllt mich mit der Zuversicht, daß mein Beitrag zur RilkeDeutung nicht schlechthin als überflüssig empfunden wird. Um gewissen Mißverständnissen, die der Titel der englischen Fassung veranlaßt hat, vorzubeugen, wurde der Versuch gemacht, die deutsche Ausgabe mit einem angemesseneren Titel zu versehen. Obwohl die Angst um seine Schöpfung an vielen Stellen in Rilkes Werk bis zum Greifen sichtbar wird, und obwohl gerade diese Angst sich immer wieder als eminent anregend und schöpferisch erwies, war es doch nicht der Hauptzweck meines Buches, dies hervorzuheben, es sei denn, insofern diese Angst als sinngebendes Erlebnis wirkte. Mein Anliegen war, Rilkes eigenartige und oft befremdende dichterische Motive und Symbole, die in seinem Werk jeweils eine mehr oder weniger endgültige Prägung erhalten — das, was er selber als „lyrische Summen" bezeichnet (Br. Muzot 230) —, nach Möglichkeit über die „einzelnen Posten" in ihren dunklen Ursprung zurückzuverfolgen, um auf diese Weise nicht nur ihre Entstehung und Entfaltung, sondern vor allem auch ihren Sinn zu durchleuchten. Gewiß hat jeder das Recht, sich den Gott des Stundenbuches nach dem Muster des eigenen Gottesbildes zurechtzuschneiden, aber hat er so den Rilkeschen Gott des Stundenbuches erfaßt? Und wie abwegig und verwirrend haben sich die mannigfaltigen, vielfach subjektiven Deutungen des Rilkeschen Engels oder der Puppe erwiesen! Auch war es meine Absicht nicht, eine Rilke-Biographie zu schreiben. Ein Rezensent der englischen Ausgabe (den ich im übrigen hochschätze) bedauert, daß ich meine Darlegungen nicht mit der Angabe von Rilkes Todesdatum abschließe, da ich doch am Anfang derselben das Datum seiner Geburt erwähne. Wenn einer ein Haus baut, so darf ihm redlicherweise nicht vorgeworfen werden, daß er keinen Tempel errichtet, oder umgekehrt. Dementsprechend werden auch jene nicht auf ihre Rechnung kommen, die eine allein an Wort und Bild orientierte ästhetische Studie oder gar Formuntersuchung erwarten. Bedeutung und Sinn des lebendigen Wortes, besonders des wahrhaft dichterischen Wortes, nähren sich von dem persönlichen Erlebnis und dessen geistigem Niederschlag, und sdimiegen sich diesem an. Und V
wenn ich ferner auf gewisse frühe Skizzen, wie Frau Blahas Magd, größeren Nachdruck lege als auf andere Frühwerke, wie etwa Die Weiße Fürstin, so dürfte auch dies aus der Anlage meines Werkes dem unvoreingenommenen Leser einleuchten. Erst während der Umbruchkorrektur habe ich den dritten Band der neuen Ausgabe von Rilkes sämtlichen Werken (SW III)., welcher viele bisher unveröffentlichte Jugendgedichte enthält, zu Gesicht bekommen; deren ausführliche Berücksichtigung war nicht mehr möglich, doch konnten an einzelnen Stellen geringe Berichtigungen vorgenommen und einige Ergänzungen eingeschaltet werden. Katharina Kippenberg sagt einmal in Hinsicht auf die Sonette an Orpheus, Rilke sei noch mehr als andere sein eigenes Gesetz gewesen, und sein Werk erst recht. Gewiß würden wir irre gehen, wollten wir uns allein auf systematische Grundbegriffe, auf herkömmliche oder gar persönliche Gedankengänge stützen, seien sie nun philosophischer oder psychologischer Art. Die Kategorien unseres Verstehens dürfen allein aus dem paradoxen Phänomen, welches Rilke war, gewonnen werden. Ein derartiger Versuch darf die jeglicher Interpretation innewohnende Gefahr nicht unbeachtet lassen. Zwar ist vollkommene Objektivität weder möglich noch im Grunde wünschenswert, jedoch andererseits ist Interpretation auch nicht gleichbedeutend mit Spekulation. Und so war mein Bestreben stets, alle verfügbaren Tatsachen und Beziehungen in ihrem Gesamtzusammenhang im Auge zu behalten. Rilke ist zu einer umstrittenen Gestalt geworden, deren Einschätzung alle Stufen, von rückhaltloser Anbetung über Liebe und Anerkennung bis zu eindeutiger Ablehnung durchläuft. Wenn meine Betrachtungsweise mitunter ernüchternd wirken mag, so hoffe ich, daß sie meine tiefe Verehrung und Bewunderung nicht verbergen, vielmehr mein Bemühen um Wahrheit und Perspektive offenbaren wird. Weder für Rilke noch für seine Leserschaft kann eine verklärende, der Hagiographie verwandte Darstellung von Gewinn sein. Und für das tiefere Verständnis eines Dichters, der selber des öfteren darauf hinwies, daß seine schöpferischen Leistungen irgendwie im Zusammenhang mit seinem Blute standen, muß es sich schließlich verhängnisvoll auswirken, wenn man ihren eigentlichen Ursprung, wie beunruhigend er sich auch immer erweisen mag, nicht beachten wollte. Wie Marcel Brion sagt, darf es unser Wohlgefallen an einem kostbaren Teppich nicht beeinträchtigen, wenn wir dann und wann auch einmal seine Rückseite betrachten. Daß ich die Worte des Dichters so freizügig unter offenbarer Mißachtung der Chronologie zitiere, hat seine Berechtigung darin, daß ich Rilkes geistige Gestalt als von konzentrischem Wachstum bestimmt und durchdrungen sehe. In der Rückschau bieten die Symbole seiner Reifezeit häufig die beste VI
Formel zur Erfassung von Bedeutungen und Bezügen, die in früheren Stadien noch der Greifbarkeit und des festen Umrisses entbehrten. Wo die Chronologie bedeutsam ist, wurde ihr die gebührende Beachtung zuteil. Auch hat die eigentümliche Verflechtung der Rilkeschen Motive die Anordnung und Gliederung des Stoffes mitbestimmt. In ihr spiegelt sich eine fortschreitende Verdichtung der Substanz wider, wobei die Frucht sich als im Samen bereits enthalten erweist und das Neue sich nur mühsam und stoßweise vom Alten abschält. Um die Fülle der Fußnoten zu vermeiden, die den Text oft so schwerfällig machen, werden die Verweise in Abkürzung in Klammern gegeben. Der Schlüssel dazu befindet sich am Ende des Buches auf S. 341 ff. Besonders in den Anfangskapiteln, wo stellenweise Gedichtzyklen der Frühzeit paraphrasiert werden, sind die Verweise auf ein Mindestmaß eingeschränkt worden. Das Abkürzungsverzeichnis mag gleichzeitig als Bibliographie dienen, da eine lückenlose Aufzählung aller in Betracht kommenden Titel sich ohnehin kaum empfahl. In meiner Interpretation habe ich mich vor allem auf Rilkes eigene Werke sowie auf verbürgte Tatsachenberichte und Briefsammlungen gestützt, und auf sie wird im Text verwiesen. Allen denen, die die Vollendung dieser Arbeit durch ihr Interesse und durch ihre moralische oder materielle Unterstützung nicht nur möglich, sondern zu einer beglückenden Aufgabe gemacht haben, sei hier mein aufrichtiger Dank gezollt. Hinsichtlich der vorliegenden deutschen Ausgabe mag sich der Leser mit mir an der Leistung der Übersetzerin, Fräulein Dr. E. Killy, sowie an der sorgfältigen und vornehmen Ausstattung, die der Verlag Walter De Gruyter & Co. dem Buch hat zuteil werden lassen, von Herzen freuen. Fräulein Renate Wolf hat bei der Durchsicht und Korrektur des Textes wertvolle Hilfe geleistet und dem Leser durch die gewissenhafte Zusammenstellung des Registers das Nachschlagen wesentlich erleichtert. Mein Dank gilt ferner dem Verlag J. Mader, Gmunden-Bad Ischl, der mir gestattete, einige längere Zitate abzudrucken, vor allem aber Frau Ruth Fritzsche-Rilke, der Tochter des Dichters, sowie dem Insel-Verlag, die mir die gütige Erlaubnis gaben, aus einer großen Anzahl relevanter Publikationen so freizügig zu zitieren. Universität McGill, Montreal, Kanada,
W. L. G.
Am Tage des „Thanksgiving"-Festes 1959
VII
INHALT Vorspiel
1 Teil I
Umwelt der frühesten Jugend 1. Kindheit 2. Der Kadett 3. Jugendliches Aufbegehren 4. Eros 5. Erste Veröffentlichungen 6. Larenopfer 7. Heimatlos
7 9 16 22 25 31 35 41
Teil II Abschied von Prag 8. Verweilen oder Eilen? 9. Rilke und die Mucker 11. Rilke und der „Nachbar" 12. Rilke traumgekrönt
45 47 51 62 65
Teil III Befreiung und freudige Erwartung 13. Allein und frei 14. Advent 15. Lou Andreas-Salomé 16. Italienische Renaissance und Florenzer Tagebuch 17. Die Dinge und ihre Melodie 18. Zwischen Tag und Traum 19. Die ewigen Gesten 20. Auf der Suche nach dem Bilde
69 71 77 87 92 96 99 105
Teil IV Rußland und die Russen 21. Rußland, das Land der Zukunft 22. Zweite russische Reise 23. Krisis 24. Das Rußland Rilkes und die Wirklichkeit 25. Die Erde
111 113 119 124 129 134 IX
Teil V Das Stundenbuch 26. Sammlung 27. Die Fortsetzung des Zyklus 28. Wandlung 29. Jahreszeit und Witterung 30. Raum und Landschaft 31. Pseudonym und Don Juan
141 143 149 153 159 163 169
Teil VI Dichter 32. 33. 34. 35. 36.
und Heiliger Furchtbare Einsamkeit Überwindung durch die Kunst Kunst und Heiligkeit Fatalismus und Opfer Das Reich des Vaters
Teil VII Elegie und Orpheus 37. Leben ist Sterben 38. Konzentrierter oder verdünnter Tod 39. Requiem für Paula Modersohn-Becker 40. Requiem für Wolf Graf von Kalckreuth 41. Tod in Paris 42. Verwandlung 43. Die metamorphe Welt
179 181 190 198 205 214
221 223 228 236 241 246 253 257
Teil VIII Engel 44. 45. 46. 47.
Der Schutzengel wird schrecklich Der Engel von Duino Der spanische Engel und der Held Stillstand
Teil IX Puppen 48. Annuschkas Puppe 49. Ungeheuer der Kindheit 50. Das Puppentheater 51. Einiges über Puppen 52. Die Puppe — Spielzeug des Engels? 53. Wiederum traumgekrönt Bibliographie und Abkürzungsverzeichnis Register X
263 265 272 279 287
297 299 305 312 323 327 337 341 345
VORSPIEL Die Kindheit ist in Rilkes Leben und Werk von größter Bedeutung. Das ist eine Tatsache, die sich schon bei einer flüchtigen Begegnung mit seiner Dichtung erweist und die in der Theorie von allen Rilkeforschern anerkannt wird. Und doch werden seine Gedanken zu häufig aus ihrem organischen Zusammenhang gerissen, mit einem Anspruch auf Allgemeingültigkeit ausgestattet oder als Lebensnormen ausgegeben. Ein solches Vorgehen kann jedoch leicht zu Mißverständnis und Verwirrung führen. Zweifellos hat die Dichtung für Rilke selbst existentielle Bedeutung: Dichtung war für ihn die eigentlichste Art zu sein. Und da er selbst zutiefst in die Grundfragen des Lebens und des Todes verstrickt und zudem noch ein großer Dichter war, so nehmen seine oft visionären Gedanken auch von einem allgemein menschlichen Standpunkt her, gleichsam aus einer stillschweigenden Folgerung heraus, den Charakter eines starken Anspruchs an. Will man jedoch diese Gedanken richtig verstehen, so ist die Erkenntnis unerläßlich, daß sie sich nicht durch analytische Vernunft noch durch philosophische Gedankenarbeit entwickelten, sondern daß sie der sinnlichen Erfahrung tief verhaftet blieben, die durch vielfältige unterirdische Kanäle mit den Träumen der Kindheit und dem Ehrgeiz der Jugendzeit verknüpft ist. Wie Edmond Jaloux bemerkt, ist Rilkes Bewußtsein nicht logisch, unterscheidend und folgernd wie dasjenige Prousts, sondern im Gegenteil, es ist intuitiv . . . verbindend (Ree. 132). Und Madame Saint-Hubert äußert, daß er die entlegensten und schwierigsten Schlußfolgerungen zieht, ohne den Umweg über die intellektuelle Kombination zu nehmen; er verläßt den Bereich seiner Sinneseindrücke nicht (Ree. 131; Silvaire-Vigee, 148 ff.). Das Ergebnis ist eine eigenartige Mischung von alogischer Intuition und reflektierender Bewußtheit. Der verfügbaren Auskünfte über Rilkes erste Lebensjahre sind bitter wenige, und sie sind zudem schwer zugänglich. In seinem eigenen Werk gibt es nur wenige Hinweise auf greifbare Kindheitseindrücke. Sein Freund Rudolf Kaßner, ein Mensch von großem Scharfblick, war von der entscheidenden Bedeutung, die die Kindheit in der schöpferischen Entwicklung des Dichters besaß, so tief überzeugt, daß er ihn drängte, seine Kindheitsgeschichte niederzuschreiben (Das Inselschiff, 122—123). Doch Rilke schuf niemals etwas in der Art von Dichtung und Wahrheit. Die einzelnen Begebenheiten, die er erwähnt, mögen bedeutsam genug sein, aber sie werden mehr oder weniger als Hinweise in einem breiten psychologischen Zusam1 Graff, Rilke
1
menhang dargeboten, in dem Chronologie nicht wesentlich ist. Für Rilke war Kindheit etwas so Unheimliches, von dunklen Ängsten Erfülltes und wiederum etwas so Reiches und Mächtiges, voll von „weißen" Freuden, daß er der Versuche niemals müde wurde, sie wieder heraufzubeschwören, doch zugleich mied er mit alptraumartiger Angst alles, was sie in rationaler Klarheit hätte bloßlegen können. Kaßner weist mit Recht auf Rilkes Neigung zur Psychoanalyse, zur Selbstanalyse in seinem Wesen und Werk hin (Br.MTT, XXXIV ff.), aber diese Neigung wirkte sich zweifellos im Dienste und im Bereich seines künstlerischen Schaffens aus, zu einer systematischen oder wissenschaftlichen Analyse drängte sie nicht. Wie Rilke selbst sagt, würde eine solche Analyse vielleicht seine Teufel austreiben, aber auch seine Engel schrecken (Br. 1907—14,193). Rilkes poetische Symbole sind Endergebnisse einer langsamen und sich wesentlich im Unterbewußtsein vollziehenden Verarbeitung ursprünglich wirklicher, sinnlicher Erfahrungen. Er selbst bezeichnet sie als lyrische Summen, welche nicht mehr in die Posten auseinandergelegt werden können, die zum Ergebnis nötig waren, denn diese einzelnen Teile liegen wie ihre Deutung zu weit zurück und sind zu zahlreich, als daß sie noch klar benennbar wären (Br. Muzot, 230). Daher müssen wir sein Werk wie ein vollendetes Stüde Spitze oder Gobelin betrachten. Ohne die äußeren Sachverhalte zu vernachlässigen, müssen wir die Fäden und Muster durch eine sorgfältige Deutung seiner poetischen Motive und seiner Selbstzeugnisse zu ihrem Ursprung zurückzuverfolgen suchen. In einem Brief äußert er zu zu den Zwei Prager Geschichten, daß sich darin „viel Kindheit (nicht als Handlung, aber als Stimmung, Angst oder Anmut)" verberge, und eben dieses trifft auf sein ganzes Werk in hohem Maße zu. Diese Erwägungen wollen wir im Sinn behalten, wenn wir uns jetzt einige Grundzüge der Kindheit im allgemeinen und ihre besondere Bedeutung im Leben des Menschen vergegenwärtigen. Von Anbeginn ist der Mensch zugleich schöpferisch und rezeptiv. Lebensenergien, über deren Ursprung und Wesen wir nur wenig wissen, beleben das gesamte Sein des Kindes und zeigen sich in einer bemerkenswerten Fähigkeit, allem, was in seine Reichweite kommt, Umriß und Gestalt zu geben. Die Sinne des Kindes sind der sich ständig weitenden Welt von Formen und Lauten, von Bewegungen und Dingen, in der es sich findet, weit geöffnet. Seinen Bedürfnissen und den Gesetzen seines Organismus gemäß nimmt es die sinnlichen Erfahrungen, die ihm von innen und von außen zufließen, auf, formt sie neu und gibt ihnen Ausdrude. In diesem Aneignungsprozeß erlebt es unaussprechliche Freuden befriedigenden Einklangs und gelungener Bewältigung, und diese liebt, erstrebt und sucht es. Daneben durchlebt es Zustände der Unstimmigkeit und des Widerspruchs, die es wahrnimmt, aber abzuwehren und zu vermeiden trachtet. Der Unter2
schied zwischen dem, was von außen herantritt, und dem, was sich langsam in seinem Innern entwickelt, ist dem Kinde nicht bewußt. Zumindest für eine gewisse Zeit besteht für das Kind allein die Welt, die es in sich selbst ausbildet. Noch findet sich keine Spur des beunruhigenden Bewußtseins vom Dualismus zwischen Subjekt und Objekt, noch ist ihm die Zeit nicht in Vergangenheit und Zukunft gespalten, nur die weiten Räume einer immerwährenden Gegenwart nimmt es wahr. Hier fühlt sich das Kind mit magischen Kräften begabt, und mit souveräner Unbedenklichkeit verwandelt es alles in eine ihm eigene Welt. Es benennt und unterscheidet alle Dinge und Gefühle, die es wahrgenommen und sich angeeignet hat, und weist ihnen ihren Platz zu. Es ist ganz Idi-bezogen und gänzlich eins mit all seinen Verhaltensweisen und Gebärden. Befangenheit, jenes beirrende Gefühl, sich von anderen mit fremden Maßstäben gemessen zu wissen, beeinträchtigt sein ursprüngliches Verhalten noch in keiner Weise. Es ist das schöne Alter, in welchem der Mensch König und Herr in einem Reich imaginärer und doch wahrhaft eigener Wirklichkeit ist. Gewiß gibt es Augenblicke, in denen die schöpferischen Mächte des Kindes angefochten sind. Aber solange die widerstrebenden Elemente eingeschränkt werden können, ist sein Reich nicht ernstlich bedroht. Schließlich sind die Erwachsenen da, um ihnen zu helfen, und sie werden als selbstverständliche Vermittler zur Beseitigung von Hindernissen hingenommen. Erst wenn diese Hindernisse unübersteigbar werden, beginnt das Kind das Dasein einer möglicherweise feindlichen Welt zu ahnen und zu fürchten. Geraume Zeit mag es sich unter dem schützenden Dach seines Heimes, unter den vertrauten Dingen seiner Umgebung und in der liebenden Fürsorge seiner Eltern geborgen fühlen. Doch dieses Gefühl des Vertrauens und der Sicherheit, das ja bereits einem erwachenden Bewußtsein entspringt, birgt wie alle bewußten Zustände im Innersten schon Besorgnis und Verletzlichkeit. Nur zu bald wird der kindliche Glaube an die Allmacht von Vater und Mutter erschüttert, denn der Widerstand scheint einer besonderen Dichtigkeit und Schwere der Dinge oder gar den Mächten der Natur zu entspringen, die jeglicher Einwirkung entzogen sind. Sollten sie einmal wirksam werden, und das nicht etwa, weil auch die Erwachsenen nichts über sie vermögen, sondern weil diese sie im Gegenteil aus irgendeinem Grunde nicht beachten oder gar noch selbst erzeugen, so wird der Schock des Kindes besonders gefährliche Formen annehmen. Denn hier sieht es sich in einer Lage, in der ein bewährtes und, wie es glaubt, stets verfügbares Mittel zur Erfüllung seiner Wünsche versagt. Es ist klar, daß der Prozeß des Hinübergleitens vom Säuglingsalter in die Kindheit und schließlich in die Jugendzeit Gemütsbewegungen mit sich bringen muß, die Auflehnung und Groll, Schwermut und Trauer umschließen. Gewiß haben die Stadien eines reifen Bewußtseins ihre Vorzüge, doch die verzauberte Welt ungebrochenen 1*
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Glücks und schöpferischer Wärme, mit denen eine frühe Kindheit begabt sein kann, vermögen sie nicht zurückzubringen. Zählt man allen diesen Faktoren noch die tiefgreifenden biologischen Wandlungen des Wachstums zu, die durch eine gärende Wirrnis und den fortschreitenden Anspruch des Geschlechtlichen gekennzeichnet sind, so wird der ganze Ernst des Heranreifens offenbar genug. Und die Einsicht, daß die Wurzeln zu allem nicht allein in der einzelnen Kindheit liegen, sondern vom Mutterleib her zu den tief in das Dunkel der Vergangenheit reichenden Verästelungen des Stammbaumes führen, macht es nicht leichter. Zum Glück des heranwachsenden Kindes werden die im persönlichen Verzieht unterdrückten Gefühle in den bestehenden Formen religiöser, sozialer und praktischer Ordnungen, die Familie und Tradition bereithalten, aufgefangen und besänftigt. Aber verlieren jene zurückgedrängten Gefühle auf diese Weise auch etwas von ihrer schweifenden Unbehaustheit, so büßen sie doch nicht alle Macht ein, noch werden sie von den ererbten Formen gänzlich aufgenommen. Ihre Rückstände tauchen in mancherlei Träumen als bedrängende Bilder auf oder rufen Ruhelosigkeit, Schmerzund Schuldgefühle hervor. Wenn sich der Umkreis der erfahrenen Wirklichkeit erweitert, so werden diese Formen mehr und mehr in Frage gestellt und immer wieder auf ihre Gültigkeit hin geprüft. In dem Maße, wie sie schließlich als unzureichend empfunden werden, lassen sie Ungewißheiten und Sehnsüchte unbeantwortet und preisgegeben zurück. Unter anderen Bedingungen oder auch in anderen Schichten der Wirklichkeit müssen neue und angemessenere Formen gefunden oder durch den einzelnen in schmerzlichen Kämpfen neu entwickelt und gestaltet werden. Zuweilen erweisen sich die Formen der Tradition als schmiegsam genug, um die verbleibenden unbestimmten Elemente aufzunehmen. In anderen Fällen zwingt eine zunehmende Vereinsamung den einzelnen, neue und zutreffendere Antworten zu finden. Carl Sieber, der Schwiegersohn Rilkes, stellt sich in seinem Buch René Rilke in Widerspruch zu denen, welche in der angeblich traurigen Kindheit und Jugend des Dichters den Ursprung der Verzweiflung des Malte wie den Anlaß zu den immer wieder um den Tod kreisenden Gedanken Rilkes sehen wollen. Er behauptet, daß das, was Rilke in späteren Jahren als die Schwere der Kindheit zu bezeichnen pflegte, weitgehend seiner Vorstellung entsprungen und nicht mehr als ein gefühlsmäßiger Eindruck gewesen sei, den seine Kindheit in ihm hinterlassen habe (Sieber, 68 ff.). Doch bin ich nicht sicher, ob er den Beweis hierfür wirklich erbracht hat. Wie er selbst bemerkt, vermag das, was einem gewöhnlichen Menschen als ganz unbedeutend erscheint, in den Augen eines beeindruckbaren Dichters gewaltige Ausmaße anzunehmen. Diejenigen, die in Rilkes frühester Erfahrung nur Traurigkeit sehen wollen, sind zweifellos im Irrtum, denn in gewissem 4
Sinne überwand sein innerstes Vertrauen alle Erschütterungen. Aber es ist richtig, daß die traurigen Eindrücke tiefe Schatten warfen, soweit es seine spätere Kindheit und Jugend betrifft. Ich muß gestehen, daß mir die Berichte über Rilkes überschwengliche journalistische Tätigkeit, sein literarisches Klubleben und seine Rührigkeit im öffentlichen Leben während seiner Prager Jahre wenig Eindruck machen (Sieber, Demetz). So mancher Beweis spricht dafür, daß es sich hier um periphere Lebensäußerungen handelt, die eine tieferliegende, mit unklarem Ehrgeiz und nagender Unsicherheit untermischte Unerfülltheit verbargen. Aus seiner frühesten Kindheit scheinen ihm Erinnerungen an einen Zustand ungetrübten Glücks und Zaubers geblieben zu sein, den er später ersehnte und verzweifelt zurückzugewinnen suchte, jedoch selbstverständlich nicht auf dem ungangbaren Wege über ein Auslöschen des reifen Bewußtseins, sondern durch das Wiedergewinnen des naiv-schöpferischen Zustands auf einer neugefundenen Ebene.
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TEIL I
U M W E L T DER F R Ü H E S T E N J U G E N D
Kde domov Wo ist meine
muj? Heimat?
(Tschechisches Volkslied)
1.
KINDHEIT Erst eine Kindheit, grenzenlos und ohne Verzicht und Ziel, o unbewußte Lust. (AW I, 392)
Rilke wurde am 4. Dezember 1875 um Mitteinacht in Prag geboren, um zwei Monate zu früh. Einen Tag zuvor noch hatte seine erwartungsvolle, nichtsahnende Mutter ein kleines goldenes Kreuz an einer Kette gekauft, das das erste Geschenk an das Neugeborene sein sollte. Sie wie ihr Mann wünschten sich ein Mädchen, das sie über den Verlust ihrer frühverstorbenen Tochter Ismene hinwegtrösten sollte. Doch als dieser Wunsch schließlich unerfüllt blieb, waren sie auch im Anblick der blauen Augen ihres winzigen, aber wohlgebildeten Sohnes glücklich. Der 4. Dezember war ein Sonnabend, der Wochentag, der der Gottesmutter Maria geweiht ist. Es ist begreiflich, daß die Mutter als fromme Katholikin darin eine glückliche Vorbedeutung sah und ihren Sohn dem Schutz der Himmelskönigin anvertraute. Bei seiner Taufe wurde der Name Maria der langen Reihe seiner Vornamen hinzugefügt, und das kleine goldene Kreuz, das er um den Hals trug, bedeutete seiner Mutter, daß Jesus ihn unter seinen besonderen Schutz genommen habe (Sieber, 63—64). Phia Rilke war eine Frau, die die unerfüllten Sehnsüchte eines seichten Lebens unter ihrer Frömmigkeit verbarg. Ihre lebhafte Phantasie war stark und beweglich genug, ihr die Eintönigkeit eines eingeschränkten und beengten Lebens nach Kräften zu verdecken. Sie verstand es, sich eine Atmosphäre der Unwirklichkeit zu schaffen, in der sie sich mit den leeren Gesten einer großen Dame gleichsam in einer Welt aristokratischer Unbeschwertheit bewegte. Vor ihrer Heirat hatte sie sich der Behaglichkeit und Würde eines wohlhabenden Elternhauses erfreut, und ihre mädchenhaften Träume hatten dort nicht ins Leere schweifen müssen. Doch nun war sie an einen Eisenbahnbeamten mit beschränktem Einkommen verheiratet und genötigt, in einem mit zusammengewürfelten Möbelstücken angefüllten Mietshause zu wohnen. Sie sah sich einem Gatten gegenüber, den die Enttäuschung, die dem jähen Ende seiner militärischen Laufbahn folgte, zu einem steifleinenen Bourgeois gemacht hatte. Zwischen Phias Träumen vom vornehmen Leben des Adels und dem ernüchternden Kleinkram einer beengten Umwelt klaffte ein trauriger und beunruhigender Abgrund. Es ist bezeichnend für ihre erstaunliche Spannkraft, daß sie diese Kluft durch ihre hartnäckig 9
durchgeführten Schaustellungen so weit zu schließen vermochte. Schwarz gekleidet wie eine fürstliche Witwe, spiegelte sie sich vor, daß ihr äußeres Auftreten die Armut ihres wirklichen Lebens gleich einem Zaubermantel verberge. Rilke berichtete später, wie bei großen Gesellschaften sein Kinderzimmer ausgeräumt wurde, um die Gäste durch eine herrschaftliche Zimmerflucht zu beeindrucken (Schmidt-Pauli, 29). Hinter dem schwarzen, mit goldenen Vögeln bestickten Wandschirm lag er hellwach in seinem Kinderbett, und sein Herz klopfte vor Angst, er könnte von einem der vorübertanzenden Paare entdeckt werden. Und wenn seine Mutter ihren Gästen billigen Tischwein aus Flaschen reichen ließ, die sie zuvor mit ehrwürdigen Etiketten versehen hatte, so erreichte sie damit mehr, als sich und andere zu betrügen. Sie erlebte und atmete die erträumte Atmosphäre der großen Welt, als sei sie Wirklichkeit. Was an Gefühlen der Entbehrung und Leere zurückblieb, fand in der äußeren Verrichtung frommer Übungen Linderung und Zuflucht. Es wäre jedoch falsch, wollte man daraus schließen, daß Phia Rilkes Religiosität nicht aufrichtig gewesen sei, ebenso wie es ungerechtfertigt wäre, sie nicht für eine echte Dame zu halten. Ihren innersten Instinkten nach war sie eine Dame, sie war fromm, und ihr Instinkt war echt. Aber er war so geartet, daß er schließlich nur ein Leben zuließ, das sich in einer gewissen theatralischen Ziererei gefiel, welche ihr ein einfaches, anspruchsloses Wesen unmöglich machte. Im Grunde war es eine Art Selbsterhaltungstrieb, der ihr dazu verhalf, so manchen grausamen Schlag zu überstehen und sich bis ins hohe Alter mit unverminderter Vitalität an das Leben zu klammern. Rilke selbst, der sich schon verhältnismäßig früh gegen die kunstreiche Vornehmtuerei seiner Mutter auflehnte, sah doch in Augenblicken ruhiger Überlegung nicht ohne Bewunderung, daß die Hochschätzung, die sie dem Schein gegenüber der Wirklichkeit zuteil werden ließ, ihr zu einer unerschöpflichen Kraftquelle wurde (Br. 1892—1904, 333; Phia, 72-74, 85-88). Rudolf Kaßner beobachtete, daß Rilkes Wahrheitsliebe aus der Unwahrhaftigkeit seiner Mutter erwuchs. „So war dann seine Reife Überreife, mußte es sein, Geist sublimierte Sinnlichkeit, die Phantasie der Geschlechtstrieb des Narciß" (Br. MTT XXXVII). Doch die daraus folgenden Trugschlüsse und Einseitigkeiten in Haltung und Anschauungen seines späteren Lebens wurden Antrieb und Urgrund einer wunderbaren Dichtung. Für Phia Rilke hingegen wurden Verstiegenheit und Künstelei zum innersten Nerv ihres unerschütterlichen Willens zur Selbsterhaltung 1 ). Rilkes Bemerkungen über seine Mutter sind zuweilen recht schonungslos. Als sie ihn im Jahre 1904 in Rom besuchte, äußerte er sich in einem Brief an Lou Andreas-Salome über das Grauen, das ihm der Anblick dieser Frau einflößte, „die nicht alt werden kann", „leer wie ein Kleid, gespenstisch und schrecklich. Und daß ich doch ihr Kind b i n . . . " (Br. Lou, 143). Lou antwortete darauf, daß er seine Mutter als eine Art Bazillus betrachten möge, „ein einziger dicker
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Aber noch lag Rilkes Erziehung in den Händen seiner Mutter, wie sie nun einmal war. Im Einklang mit ihrer angeborenen Mißachtung der Wirklichkeit zog sie ihren Jungen an, als sei er ein Mädchen. Bis zu seinem fünften Jahre trug er lange Locken und Mädchenkleider, zum Spielzeug hatte er Puppen, deren Haar er kämmte und mit denen er kochen spielte; die leichte Hausarbeit, die ihm dann und wann aufgetragen wurde, war Mädchenarbeit, und zu seinem Geburtstag wurden kleine Mädchen eingeladen, um mit ihm zu feiern und zu spielen. Offenbar hat der Knabe selbst bei diesem Spiel der Verstellung ein gewisses Vergnügen empfunden. So berichtete seine Mutter, daß er eines Tages, nachdem er unartig gewesen war, an ihre Tür klopfte, mit geflochtenen Zöpfchen und hochgeschobenen Ärmeln eintrat und sagte: „Die Ismene bleibt bei der lieben Mama, der René ist ein Nichtsnutz, ich habe ihn fortgeschickt. Die Mädchen sind doch viel herziger" (Sieber, 71). Die Besorgtheit seiner Mutter, mochte sie auch warm und in gewissem Sinne echt sein, war übermäßig. In jedem Augenblick war sie bestrebt, ihr einziges Kind vor allen nur erdenklichen Übeln zu bewahren. Die Anfälligkeit Renés war ein willkommener Anlaß, die Vorsichtsmaßregeln, mit denen er ohnehin umgeben wurde, noch zu vermehren. Zugluft wurde ängstlich gemieden, tagelang mußte er mit Salzwasser gurgeln, sein Bett war so weich wie ein Vogelnest. Vierundzwanzig Kinderfrauen wurden im ersten Jahre seines Lebens engagiert, seine Begegnungen mit Spielgefährten wurden eingeschränkt. Kein Wunder, daß das Kind von jeder ansteckenden Krankheit befallen wurde. Während seines zweiten Schuljahres fehlte er zweihundertmal, und im dritten war er während des ganzen zweiten Halbjahrs abwesend. Vage Erinnerungen an Angstträume und an Genesungstage, während derer seine Mutter an seinem Bettrand saß und ihm Gedichte vorlas, blieben unauslöschlich haften. Natürlich wunde das Kind auch in Phia Rilkes religiöse Welt eingeführt. Durch Heiligenbilder und Statuen wurde es daheim und in der Kirche mit Gott, Jesus, Maria und den Heiligen vertraut gemacht. Gemeinsam mit seiner Mutter gab es sich all den innigen Gebärden der Frömmigkeit hin, Bazillus", der aus dem eigenen System ausgeschieden werden muß, nachdem er in Gärung gebracht hat, was schon in ihm steckte. „Manche segensvollste, idealste Mutter ist für ihr Kind steril (keimfreie N a h r u n g ! ) " (Br. Lou, 147). Und am 2. November 1907 schrieb Rilke an Clara : „Ich habe meine Mutter gesehen, der gegenüber ich mich wieder ungerecht fühle, ohne daß ich weiß, wie es anders sein könnte . . . Ich kann nicht die geringste meiner Wirklichkeiten bis zu ihr bringen, sie sieht mit ihrer Vorstellung von mir ein solches Loch in mich hinein, eine solche Leere, daß ihr gegenüber nichts seine Gültigkeit behält. — W e r kann in ein Puppenhaus, auf dem Türen und Fenster nur aufgemalt sind?" (Sieber, 49). Schließlich vergleicht sich Rilke in einem Gedicht aus dem Oktober 1905 mit einem Haus, das er mühsam, Stein auf Stein legend, errichtete; doch seine Mutter, zu der „Christus kommt und wäscht sie jeden T a g " , reißt es verständnislos wieder ein (Gedichte 1906—1926, 270). 11
küßte die Füße eines Heiligenbildes oder die Statue der heiligen Jungfrau. Beim Gebet mußte es knien, bis es jedes Gefühl dafür verlor, wo seine Knie endeten und die harte Betbank begann. Am Allerheiligentage besuchten sie den Friedhof und gingen zwischen den Gräbern umher, die im Lichte kleiner Kerzen erstrahlten und deren Kränze und Blumen dufteten. Man kann sich wohl vorstellen, wie tief das Kind von den warmen und sinnenhaften Riten und Bildern der Katholischen Kirche beeindruckt wurde. Mit wachsender Erregung und Hoffnung sehnte es über Wochen den Weihnachtsabend herbei, bis sich die Tür schließlich auftat und der Knabe den Weihnachtsbaum mit seinen brennenden Kerzen und dem glitzernden Schmuck erblickte. Der kleine René lernte von Vater und Mutter, sich wie ein wohlerzogenes Kind zu betragen. Er lernte genau, was er in Gegenwart von Besuchern und Gästen zu sagen und zu tun hatte. Unter den Händen seiner Mutter wurde er zu einem reizenden Schaustück, zu einem glänzenden Musterkind, dessen wache Eitelkeit durch das konventionelle Lob der Erwachsenen noch genährt wurde. Der Vater Josef Rilke war ein gut Teil weniger überspannt als die Mutter. Für den Heeresdienst erzogen, hatte er 1850 am Feldzug gegen Italien teilgenommen und war dann von seinem Regiment als Instrukteur zur Kriegsschule abkommandiert worden. Sein ganzes Streben ging dahin, gleich seinen beiden Brüdern Offizier zu werden, aber eine immer wieder aufflackernde Krankheit vereitelte die Erfüllung dieses Wunsches. Als er sich genötigt sah, in der Zivilverwaltung eine Stelle als Eisenbahnbeamter anzunehmen, war sein Stolz empfindlich getroffen. Ein später Versuch, der eingeengten Verwaltungsarbeit zu entgehen und Verwalter eines großen Landgutes zu werden, schlug fehl. Doch dieser enttäuschte Beamte verlor niemals den Sinn für das gesellschaftliche Dekorum. Seine vornehme Haltung und sein ritterliches Betragen verfehlten ihren Eindruck nicht, und wenn er, makellos gekleidet, durch die Straßen Prags schritt, wurde er von vielen achtungsvoll gegrüßt. Der Meinung, die, wie er glaubte, die anderen von ihm hegten, wollte und mußte er sich würdig erweisen, doch hielt sich diese Selbsttäuschung durchaus in den Grenzen der allgemein üblichen gesellschaftlichen Vorstellungen. Für seinen Sohn hegte er die zärtlichsten Gefühle und die größten Hoffnungen. Wenn René Offizier werden würde, so würde seinen Enttäuschungen viel von ihrer Herbheit genommen. Dieses Ziel vor Augen, suchte er seinen Sohn mit dem Gedanken vertraut zu machen, daß er ihn zu gegebener Zeit auf die Militärerziehungsanstalt schicken werde. Da der Vater in seiner Jugend ein vorzüglicher Sportler gewesen war, so war er bestrebt, auch in seinem Sohne die Neigung für männliche Leibesübungen zu wecken. Statt der Puppen schenkte er ihm Hanteln und Zinnsoldaten als Spielzeug. Und 12
aus dem Kreise seiner Onkel erhielt er Säbel, Portepée und Helm und dazu ein Schaukelpferd. So schwankte die Seele des Kindes inmitten seiner Puppen zwischen vorgetäuschtem Mädchen- und wirklichem Knabentum. Einmal brachte er seine Puppen zu Bett und redete mit ihnen wie eine Mutter, ein andermal fühlte er sich als General, der seine Truppen in die Schlacht führt und für seine Tapferkeit ausgezeichnet wird. Eine Zeitlang gab sich der Knabe dem warmen Gefühl elterlicher Zuneigung hin, obwohl Entschiedenheit und Bewußtsein seiner selbst schon früh deutlich hervortraten. Seine Mutter berichtete, daß er stets darauf bestand, sich seine Pose für die zahlreichen Photographien, die von ihm gemacht wurden, selbst zu wählen. Diese Posen verraten einen erstaunlichen Sinn für Stil und Wirkung — und Eitelkeit. Er war bestrebt, sich durch eine besonders vornehme und würdige Haltung auszuzeichnen, eine Neigung, die durch die ehrgeizigen Schaustellungen seiner Mutter noch gefördert wurde. Schon in früher Jugend fühlte sich René von einem inneren Drange getrieben, Gedichte zu schreiben, und sein Ehrgeiz in dieser Hinsicht war groß. Zu den allerfrühesten Gedichten gehört eines, welches schon am 18. Januar 1885 entstand. Es nennt sich Klage über Trauer (Sieber, 82 ff.) und handelt von einem General, der, auf dem Schlachtfeld gefallen und von allseitiger Verzweiflung umgeben, auf der Totenbahre liegt. Der Gegensatz zwischen seinem einstigen Ruhm und dem gegenwärtigen Zustand der Vernichtung ist scharf herausgearbeitet. Unter den Trauernden tritt vor allem die Gemahlin des Generals hervor, ihre Gedanken wandern in die Zeit zurück, da sie sich aus der Umarmung ihrer Eltern riß, um ein neues Glück und ein neues Heim zu finden. In ihrer Verzweiflung stirbt sie in den Armen ihres geliebten Mannes. In diesem Gedicht sind folgende Worte unterstrichen: ew'ge Nacht, Trauer, Kummer, Heimat, Elternarme. Sieber hält es für ungerechtfertigt, hieraus die Folgerung zu ziehen, daß der junge Rilke von Natur geneigt gewesen sei, vor allem die schmerzliche Seite des Lebens zu sehen. Er weist auf den kraftvollen Ton hin, der in den Briefen vorherrscht, welche der jugendliche Rilke in jener Zeit aus der Sommerfrische schrieb. Hier rühmte sich Rilke, daß er wie ein Wolf esse, kutschiere wie ein alter Prälatenkutscher, in einem seiner Spiele ein schneidiger Major, in einem anderen ein tapferer Ritter sei. Sein Mut hatte sich so gesteigert, daß er sogar auf Bäume kletterte. Doch waren seine Gefährten bezeichnenderweise meist Mädchen. Hier muß man jedoch wohl darauf hinweisen, daß Rilke dieses jungenhafte Gebaren gerade erwähnt haben mag, weil er etwas Ungewöhnliches darin sah, das mit Stolz hervorgehoben zu werden verdiente. Zudem scheint es unbillig, bei der Beurteilung früher Neigungen einzelne Handlungen und Worte allein im Lichte widersprüchlicher Äußerungen der gleichen 13
Lebenszeit zu betrachten und die spätere Entwicklung gänzlich außer acht zu lassen. In jedem Falle steht dieses frühe Gedicht in keinerlei Widerspruch zu dem, was auch spätere Gedichte kennzeichnet: ein ursprüngliches Wissen um die Gebrechlichkeit menschlichen Tuns und ein waches Gefühl für die Geborgenheit und Wärme, die die verlorene Heimat ausstrahlt. Der junge Rilke dichtete nicht nur, er malte auch. Unter den Aquarellen, die seine Mutter bewahrte, fand sich so mancherlei: ein Ritter zu Pferde in rotem Mantel und roter Helmzier sprengt mit gezückter Lanze eine Anhöhe hinan, um den dort lauernden Drachen zu töten; den Hintergrund bildet eine phantastische Landschaft. Ein junger, zu Tode verwundeter Offizier wird von einem Kampfgefährten gestützt, während die Infanterie siegreich gegen den Feind vorgeht. Zur Seite eines gefallenen Husaren steht ein Pferd mit gesenktem Kopf, während ein Baum daneben traurig seine Zweige hängen läßt. Drei Pferde traben in einer Reihe dahin, hügelan stehen Häuser verstreut, Wasser fließt aus einem Brunnen, Inseln mit Schlössern, die sich in den bewegten Fluten des Meeres spiegeln, breitansteigende Treppen, mächtige Bäume, Statuen im Park — das sind seine Gegenstände (Sieber, 78 ff.). Es wäre ein Leichtes, auf Gedichte späterer Zeit in Rilkes Werk hinzuweisen, in denen diese Themen wiederkehren, und ähnliche Zeichnungen der Kindheit erwähnt auch Malte laurids Brigge in seinen Aufzeichnungen (AW II, 82). Bemerkenswerter ist jedoch, daß nach Sieber in allen diesen Tuschzeichnungen Raum und Bewegung hervortreten. Und gerade Raum und Bewegung sind Funktionen der Wirklichkeit, die Rilke, wie wir wissen, in zunehmendem Maße fesselten. Noch einer anderen Gattung der Malerei gab sich der Knabe hin — er zeichnete Karikaturen (Sieber, 81—82). Sieber erwähnt sechs verschiedene Porträts eines Arztes, die die verschiedenen Stimmungen bezeichnen, denen er im Verlauf seiner Praxis verfällt. Ein anderes Bild zeigt eine aufgeputzte ältere Dame mit der Unterschrift „Modernes Antiquariat", dann die Zeichnung eines Gecken mit der Beischrift „Leere Zierpflanze". Die Neigung zur Karikatur entwickelte Rilke zu großer Vollendung. Zweifellos grenzen viele seiner Schilderungen von Personen, Dingen und Begebenheiten ans Karikierte. Ewald Tragy und die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge enthalten zahlreiche typische Beispiele dafür, von dem alten Trommler der Fünften Elegie ganz zu schweigen, „eingegangen in seiner gewaltigen Haut, als hätte sie früher zwei Männer enthalten, und einer läge nun schon auf dem Kirchhof, und er überlebte den andern, taub und manchmal ein wenig wirr in der verwitweten Haut." 14
In der gleichen Elegie findet sich der junge Mann, der aussieht, „als wäre er der Sohn eines Nackens und einer Nonne". Zweifellos entsprach dieser Hang zum Karikieren einem beherrschenden Zug im Wesen seiner Mutter. Bei Rilke wurde er zu einem Mittel treffender und überraschender Charakterisierung, die der unheimlichen Fähigkeit entsprang, den ersten Eindruck dem Zerrspiegel des Unterbewußten auszusetzen. So gewährt er uns blitzartige Einblicke in die dunklen Verzweigungen seines sinnlichen Wesens, aus dem geisterhafte Schatten auftauchen, so seltsam und unheimlich für die bewußte Erfahrung, wie diese wiederum für jene sein mußten. Sieber schließt seine Betrachtung über eine Photographie des Dreijährigen damit ab, daß das „Offene" in seinem Blick, „das im Tiergesicht so tief ist", wie es in der Achten Duineser Elegie heißt, ein Kind zeigt, das Unendliches zu wissen scheint, ehe es noch gelernt hat, was es von vornherein wußte (Sieber, 70). In gleichem Zusammenhang mag uns die kindliche Bestürzung in den Sinn kommen, mit der Rilke in manchen Augenblicken seines Lebens auf die Worte seiner eigenen Gedichte zu starren pflegte, die aus ihm unbekannten Tiefen entsprungen waren.
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2. D E R
KADETT Antreten!
Abmarsch! (Sieber, 157)
Bis zu seinem, neunten Jahre lebte Rilke mit seinen Eltern, in der zärtlichen Zuneigung seines Vaters geborgen und zugleich den Überspanntheiten seiner Mutter ausgesetzt. Doch im Jahre 1884, elf Jahre nach ihrer Heirat, trennten sich seine Eltern. Dieser tiefe Bruch hatte seinen Ursprung wohl schon in den ersten Jahren ihrer Ehe (Demetz, 12), und Rilke, der ein frühreifes Kind war, bemerkte dies bald. Im Jahre 1 9 0 3 schrieb er: „Die Ehe meiner Eltern war schon welk, als ich geboren wurde" (Br. 1892—1904, 3 3 2 ) . So war die Kindheit des Dichters nicht ungetrübt. Die zwei folgenden Jahre bis zu seinem Eintritt in die Militärerziehungsanstalt im September 1886 verbrachte er in der Obhut seiner Mutter, während sein Vater eine andere Wohnung bezog 2 ). ) Valéry Rhonfeld schildert Rilkes Mutter als „hochbegabt und sehr vergnügungssüchtig", den Vater als einen zwar „bildschönen, aber hartherzigen" Mann. Sie behauptet, daß beide Eltern in ihrem Sohn nur eine Last gesehen hätten und ihn einerseits in die Militärschule schickten, um ihm eine standesgemäße Erziehung zu geben, andrerseits aber, um ihren gemeinsamen Hausstand auflösen zu können, da ihre Ehe sehr unglücklich war (Hirschfeld, 714—715). Hier folgen einige Aphorismen, die Phia Rilke in ihrem Tagebuch aufzeichnete und die ein bezeichnendes Licht auf ihre Haltung zu Liebe und Ehe werfen. „Manche Trauung ist nur — das Gebet vor der Schlacht. Egoismus ist die Basis moderner Liebe. 2
Die Achtung fordert keine Liebe, doch die Liebe kann ohne Achtung nicht bestehen. Die Trennung ist die richtigste Wage der Liebe. Eine Frau, die nicht geliebt hat, hat nicht gelebt. Das sogenannte starke Geschlecht ist meist aus Schwächen zusammengesetzt. Wer wahrhaft liebt, hat mit der Reue nichts zu schaffen. Das höchste Glück der Liebe ist die Treue. Eine geistige Mesalliance ist tausendmal schlimmer als die Standesunterschiede. Die Gewohnheit ist gar oft das einzige Band, welches die Menschen dauerhaft verbindet. Wenn über die Frauen gesprochen wird: wo bleibt die Objektivität? Wer wahrhaft liebt, gibt alles und opfert dabei nichts. Der Wert des Kusses liegt allein in seiner Glut. Es ist oft ein folgenschwerer Fehler der Eltern, daß sie ihren Kindern eine standesgemäße Erziehung geben; es wäre richtiger, sie vermögensgemäß zu erziehen. Unsere Meinungen werden von unseren Erfahrungen gebildet." (Phia, passim) 16
Die vier Jahre, die nun folgen, sah Rilke später als die schrecklichsten seines Lebens an. Wir können Sieber gewiß darin beipflichten, daß die Militärerziehungsanstalten von St. Pölten und Mährisch-Weißkirchen weder besser noch schlechter waren als andere Anstalten ihrer Art (Sieber, 85—86). Ihr Ziel war es, junge Burschen für ein soldatisches Leben zu erziehen, und so wurde einer strengen Disziplin große Bedeutung beigemessen. Übungen zur Förderung der körperlichen Ausdauer, Turnen, Fechten, Schwimmen und Reiten nahmen einen beträchtlichen Teil des Tages in Anspruch. Von vier Uhr morgens, wenn das Signal zum Wecken ertönte, bis zum Abend, wenn die Lichter in den Schlafsälen erloschen, war jeder Augenblick eingeteilt und überwacht. Die Instrukteure waren Soldaten, und ihre Schüler waren zumeist kräftige, gesunde Burschen, die sich bereitwillig aneinander anschlössen und dem unpersönlichen Geist einer solchen Anstalt einfügten. Es ist bekannt, daß schon in einer gewöhnlichen Schule die Tyrannei der öffentlichen Meinung alles bestimmt. Zeichnet man sich auf den Gebieten aus, die von den Mitschülern geschätzt und anerkannt werden, so ist man beliebt und bewundert. In einer Militärschule wird man sich diese Achtung vor allem durch Mut und körperliche Gewandtheit erwerben, und man tut gut, keinerlei Ungeschick, Schwäche, Angst oder Feigheit zu zeigen. Noch weniger entschuldbar wäre es jedoch, erweckte man den Anschein, als zöge man sich in sich selbst zurück, als hielte man sich fern und sähe auf die anderen herab. Man muß durch sein Betragen beweisen, daß man im Notfalle gute Miene zum bösen Spiel machen kann. Erinnert man sich jedoch an alles, was über die weichliche Erziehung Renés bekannt ist, an seine Anfälligkeit, an das Fehlen männlicher Spielgefährten und jungenhafter Spiele, an sein starkes Bedürfnis nach Liebe und Zuneigung, an seinen Hang zum Dichten und seine religiösen Neigungen, so läßt sich leicht denken, was ihm bevorstand. Es war der Wunsch seines Vaters, ihn zu kräftigen und abzuhärten. Er wußte, daß dies seine Zeit brauchen würde, und so war er bereit, geduldig zu warten. Es würde nicht leicht für ihn sein, sich geschlagen zu geben und seinen Stolz zu demütigen, sollte er eines Tages zugeben müssen, daß sein Sohn zum Offizier nicht geeignet sei. Phia hegte dagegen tiefstes Mitleid mit ihrem Liebling, der die häusliche Geborgenheit gegen ein Gefängnis — wie sie es nannte — hatte eintauschen müssen. Sie schrieb ihm fortwährend überspannte Briefe, die eher dazu angetan waren, seine Empfindsamkeit zu steigern, als ihn zu beruhigen (Sieber, 102). Ihr erschien es viel interessanter, ihren Sohn als bedeutenden Dichter denn als Offizier zu sehen. Sie war es auch, die in dem unglücklichen Kadetten eine ungesunde und trübe Frömmigkeit wach hielt. So ist es wohl bedeutungslos, daß diese Militärschulen nicht schlimmer als andere waren, und es ist gleicherweise müßig, zu erwägen, wie es René wohl ergangen wäre, hätte ihn seine Mutter nicht so unvernünftig ver2 Graff, Rilke
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wöhnt. Tatsache bleibt, daß Rilke tief unglücklich war und unsäglich litt. Er mag den Schaden, den ihm diese langwährende trübe Erfahrung getan hat, in späteren Jahren übertrieben haben, aber es gibt eine frühe Geschichte von ihm, die Pierre Dumont betitelt ist und deutlich autobiographische Züge trägt. Hier schildert er die traurige Rückkehr in die Kadettenanstalt am Ende der Ferien. Pierre gibt sich alle erdenkliche Mühe, seine Mutter glauben zu machen, daß es ihm dort gut gehe, während er ängstlich die Stunden und Minuten der ihm noch verbleibenden Freizeit zählt. Seine Gedanken kehren fortwährend zu den glücklichen Ferienerlebnissen zurück, an die er sich klammern und die er für immer festhalten möchte. Doch die Zeit rückt unbarmherzig weiter, und es ist rührend, wie er sich schließlich aus der Umarmung seiner Mutter mit der Bitte losreißt, ihm bald zu schreiben und Belli, den kleinen Hund, gut zu versorgen und Julie, seine Cousine, herzlich zu grüßen. Und schließlich hört er die harte Stimme des Unteroffiziers, der ihn anruft: „Dumont! Zum Teufel, wissen Sie nicht, daß Sie sich zu melden haben . . . ? " (Sieber, 141 ff.). Die unerbittliche Routine einer Militärschule konnte Rilke weder seiner körperlichen noch seiner seelischen Veranlagung nach entsprechen. Allein die Tatsache, daß das goldene Kreuz, welches er von Geburt an um den Hals getragen hatte, verschwand, als er seine Zivilkleider gegen die Uniform eintauschte, erschütterte ihn so, daß er es kaum verwinden konnte. Die Leibesübungen im Freien machten ihn immer wieder matt, so daß er tagelang mit Erkältungen oder Lungenentzündung im Revier verbringen mußte. Fieberträume peinigten ihn, während die erfrischenden Zeiten der Genesung ihm stille Freuden brachten. Wie gern wollte er es den anderen gleich tun, ja er wollte es besser machen als sie, aber da er in seinem Ungeschick und seiner Schwächlichkeit den Anforderungen nicht gewachsen war, wurde er bald zum Außenseiter gestempelt. Die Zurückhaltung, zu der er infolgedessen seine Zuflucht nahm, wurde bald als Hochmut ausgelegt und reizte seine Kameraden nur noch mehr. Selbst wenn er getreten oder geschlagen wurde, schlug er nicht zurück, sondern sagte nur mit ruhiger Stimme zu seinem ungerechten Angreifer, daß er dies leide, weil Christus es schweigend und ohne Klage erlitt, und daß er, während jener ihn schlage, Gott um Verzeihung für ihn bitte (Nach Letters 1892—1910, 19—20). Allein in dem unablässigen Bemühen, auszuharren und sich zu bewähren, kann der Grund dafür zu suchen sein, daß sich nicht mehr Klagen in den Briefen dieser Zeit finden — ein Bemühen, das durch seine immer ungesundere Religiosität und seinen angeborenen Trieb sich auszuzeichnen unterstützt wurde. Man sollte hier gewissen Berichten, die Rilkes späteren trüben Erinnerungen zu widersprechen scheinen, nicht zu viel Bedeutung beimessen. Wenn der junge Dichter-Kadett von seinen Lehrern ab und an die Erlaubnis erhielt, seiner Klasse seine poetischen Ergüsse vorzulesen, so 18
zeigten seine Klassenkameraden doch wenig Verständnis für seine dichterischen Versuche und begegneten ihnen mit stierendem Schweigen (Demetz, 39). In einem Brief an seine Mutter vom 27. Oktober 1889 dankt er Gott, daß er gesund, heiter und froh ist, und führt diesen Zustand auf die Beobachtung der goldenen Regel zurück, nach der die Wahrheit in der Mitte liege und das Ideal im „Nicht zu wenig, nicht zu viel" bestehe. Er ermuntert sich selbst mit einem energischen „En avant" und ergeht sich dann in kindlichen, pedantischen Betrachtungen über den Sinn des Lebens. Er tischt seiner Mutter allerlei zufällige Beispiele aus der Geschichte auf, in denen Namen wie Kopernikus, Evangelista, Torricelli, Goethe, Faust, Scipio, Plato, Cato, Sokrates und Robespierre sonderbar durcheinandergewürfelt sind. Diese Darbietung frisch erworbener Gelehrsamkeit gipfelt schließlich darin, daß der Mensch ohne den Glauben an Gott, der alles in seinen Händen hält, verloren sei (Sieber, 98—101). Dieser Brief zeigt deutlich, daß der Vierzehnjährige noch zu jung war, um zu begreifen, was alles dies bedeuten sollte, und man versteht, warum er glaubte, er wolle Offizier werden, wie sein Vater es wünschte. Er träumte sogar von Ruhm und Ehre, die er im Dienst fürs Vaterland gewinnen würde. Diese Selbsttäuschung findet sich noch ein Jahr, nachdem er die Militärschule verlassen hatte, in seinen Briefen wieder (Sieber, 103). Doch gleichzeitig beweisen seine inständigen Bitten um den Besuch seiner Eltern und mehr noch seine von schwermütiger Trauer erfüllten Briefe, die er auf dem Krankenbett schrieb, wie einsam und heimwehkrank er war (Sieber, 97—98). Gewiß waren die widerstreitenden Stimmungen, die Rilke zu jener Zeit beherrschten, echt: sie zeugen von einem verstörten und verwirrten Gemüt. Man braucht sich nicht gar zu weit umzuschauen, um zu sehen, welche heillosen Verkrümmungen unbewältigte äußere Einflüsse hervorrufen können. Betrachtet man die gesamte Entwicklung Rilkes, so zeigt sich unmißverständlich, daß seine soldatischen Neigungen unecht waren. Der wahre Rilke dieser Zeit spricht sich in Gedichten wie Das Grabmal, Resignation, Der Friedhof, Allerseelen, Die Waise, deren beherrschende Thematik der Tod und die Vergänglichkeit der Dinge ist, sehr viel gültiger aus. Die heimlichen Besuche, die er dem kleinen Friedhof der Militärschule abzustatten pflegte, um dort Zuflucht vor seiner rauhen Umwelt zu suchen, mögen dies bestätigen. Doch heißt dies nicht, daß Rilke in dieser Leidenszeit gänzlich die entschiedene Zuversicht gefehlt hätte, die für sein späteres Werk so bezeichnend ist. Fand er doch Trost und echte Zufriedenheit in seiner Eingezogenheit, in seinen poetischen Versuchen und in den tiefen Schichten echten religiösen Gefühls, mochten sie damals auch von mystischem Überschwang überschwemmt sein. Jahre später — am 11. März 1907 — schrieb er an seine Frau: „So richtig gelebt habe ich doch auf der kleinen Kirchhofsecke im 2'
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Anstaltsgarten, wo ich vor den Altersgleichen sicher war und der äußerst ungesellschaftlichen Umgebung ihrer Rücksichtslosigkeit, die einen wie eine Papierschere ganz scharf und klar herausschnitt aus dem Gruppenbild der unliebsamen Masse . . . " (Sieber, 94). Schon damals zeichnete sich das wahre Wesen jenes Rilke eigenen Optimismus ab — eine Zuversicht, die er nicht gewann, indem er Sorge und Traurigkeit mied, sondern indem er offenen Auges hindurchging und sie bis zur Neige auskostete. Gewiß ist es noch weit bis zu dem verklärten Rühmen der Sonette, die etwa 30 Jahre später in Muzot entstehen sollten, doch die Grundzüge sind schon deutlich erkennbar. Im Frühjahr 1891 kapitulierte Rilkes Vater schließlich vor der dauernden Qual und den immer wiederkehrenden Krankheiten seines Sohnes. Ein wenig später äußerte der junge Rilke zu Valéry Rhonfeld, man habe ihn einer „Sittlichkeitsaffäre" wegen entlassen (Demetz, 41). Was auch immer der wahre Grund gewesen sein mag, am 3. Juni verließ Rilke die Militärschule. Die ganze Zeit hindurch hatte sein Vater alles sorgfältig vermieden, was seine Neigung zum Dichten noch hätte fördern können. Er suchte sich damit zu trösten, daß René, konnte er erst einmal den kleinen Pflichten des Tages unbeschwert nachkommen, seine Gesundheit hinreichend kräftigen und, wenn auch kein Offizier, so doch ein respektabler Bürger werden würde. Der junge Rilke selbst durchlebte eine Zeit der Unsicherheit und Unschlüssigkeit. Er gab den Gedanken an die Offizierslaufbahn nicht völlig auf, sprach aber zugleich von der Vorbereitung auf einen Beruf. Während er sich in Prag erholte, trug er noch gern seine Kadettenuniform, die ihm ein größeres Ansehen verlieh. Doch das Gefühl der Befreiung nach vier qualvollen Jahren muß mächtig gewesen sein. Das folgende Jahr, das er an der Handelsakademie in Linz verlebte, brachte eine Reaktion auf die lange Zeit der vergeblichen Anstrengungen. Gewiß, die Atmosphäre, die ihn hier umgab, war völlig anders als die von St. Pölten oder Mährisch-Weißkirchen, aber dies kann nicht der einzige Grund für eine so erstaunliche Kehrtwendung sein. Im Rückblick auf dieses kurze Zwischenspiel schrieb Rilke später, daß er damals am wenigsten er selbst gewesen sei (Sieber, 109). Indessen, im Augenblick war er voll Uberschwangs oder gar jugendlichen Leichtsinns. Als ehemaliger Militärschüler erfreute er sich in der Welt der Zivilisten besonderen Ansehens, und seine Beziehung zu Lehrern und Mitschülern war normal, ja vortrefflich. In Schnee und Eis ging er auf die Jagd, er tanzte mit Vergnügen, feierte Fasching, besuchte das Theater, hörte mit Begeisterung einen Vortrag Roseggers, war stolz auf sein „höchst elegantes Herrenzimmer" in einem „höchst eleganten Haus", las Tolstoj, schrieb Gedichte und eine Geschichte des Dreißigjährigen Krieges und fand sich schließlich in eine verworrene Liebesaffäre verstrickt, die ihn wohl zur Rückkehr nach Prag bewog. Seiner Mutter in Wien bekennt er in einem Brief, den er bald darauf 20
von seinem Krankenlager schrieb, daß er töricht genug gewesen sei, sich von einer flüchtigen Leidenschaft bezwingen zu lassen. Er bereut — und stellt mit Genugtuung fest, daß er bereuen kann. Aber dennoch fühlte er, daß das Feuer, das in seiner Brust entfacht wurde, ein heiliges Feuer war, der Flamme vergleichbar, die die Priesterinnen der Vesta zu unterhalten pflegten. Daß er eine stürmische Leidenschaft zu einer zerstörenden Feuersbrunst werden ließ, das war sein Fehler. Er bedauert, daß er sich einer albernen Liebelei und nicht den edlen Antrieben der Wissenschaft und der Wahrheit ergab. Doch nun ist er — gottlob — wieder frei und liest mit gefühlvoller Hingebung Goethes Wahlverwandtschaften und den Wilhelm Meister, die beide auf ihre Art dazu beitragen, die Ausmaße dieses Erlebnisses zurechtzurücken und seine Wirkungen zu mäßigen (Sieber, 108—110).
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3. J U G E N D L I C H E S
AUFBEGEHREN
Trotz. Der Gebogene wird selber Bieger und rächt an anderen, daß er erlag. (AW I, 392) Von 1892 bis 1896 folgt nun eine Zeit, die für Rilkes dichterisches Erwachen von größter Bedeutung war. Bis in seine früheste Kindheit ließ sich das instinktive Verlangen zurückverfolgen, sich auszuzeichnen und sich Geltung zu verschaffen, ja zuweilen vom Ruhm eines Heerführers zu träumen. Daß seine Talente nicht geeignet waren, seine Mitschüler in der Militärschule zu beeindrucken, war keineswegs die geringste Ursache seines vielfältigen Kummers. In seiner fragmentarischen Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, die er nodi als Kadett schrieb, scheint es, als habe ihm vor allem an der Verherrlichung seiner Helden gelegen (Sieber, 104—107; S W III, 482 f.; 814). Auch scheint er mit Vergnügen als „René Maria Caesar Rilke" unterschrieben zu haben (Zinn, 218; S W III, 818), obwohl Caesar nicht unter seine sechs Taufnamen zählte. Wie dem auch sei, seine wahre Bestimmung wurde ihm nun immer deutlicher bewußt und drängte ihn mit wachsender Unausweichlichkeit schmerzhaft und unwiderstehlich zu einer Entscheidung. Er fühlte sich getrieben, nur nodi auf seine innere Stimme zu hören, ohne Rücksicht auf den Ehrgeiz seiner Eltern und die Meinung seiner Verwandten und Bekannten. Seine Mutter lebte in Wien, die Wohnung seines Vaters war nicht groß, und so sah er sich wiederum ungeborgen. Seine Tante Gabriele, eine verwitwete Schwester seines Vaters, räumte ihm ein kleines Zimmer in ihrem Hause ein. Alles in allem scheint sie eine mütterliche Frau gewesen zu sein, die ihr Bestes tat, um die Lücke zu füllen, die die Trennung der Eltern im Leben ihres Neffen verursacht hatte (Sieber, 113). Rilkes Onkel Jaroslav, dessen einziger Sohn gestorben war und der für seine juristische Praxis einen Nachfolger brauchte, hatte sich entschlossen, für Rilkes Ausbildung auf dem Gymnasium und für sein Hochschulstudium aufzukommen. Doch Rilke war bereits siebzehn Jahre alt, und man konnte kaum verlangen, daß er sich mit Dreizehn- und Vierzehnjährigen wieder auf die Schulbank setzte oder gar noch einmal mit dem üblichen langsam voranschreitenden Unterricht ganz von vorn begann. So wurde es ihm ermöglicht, die verlorene Zeit einzuholen und sich mit Hilfe von Privatunterricht auf die Abschlußprüfung vorzubereiten. Es ist eine verbürgte Tatsache, daß er schwer arbei22
tete, das Pensum nach drei Jahren bewältigt hatte und sein Examen 1895 mit großem Erfolg bestand. Im darauffolgenden Winter studierte er vor allem Philosophie, Kunstgeschichte und Literatur an der deutschen Universität seiner Heimatstadt, doch wandte er sich im Sommer 1896 dem Studium der Rechte zu. Dieser plötzliche Wechsel mag sich auf Drängen seines Vaters oder gar der Erben seines inzwischen verstorbenen Onkels vollzogen haben. Vielleicht war es aber auch auf den Druck seines eigenen Gewissens zurückzuführen, war doch das Stipendium, das er erhielt, ausdrücklich dafür bestimmt, einen Juristen aus ihm zu machen. Jedenfalls stellen diese beiden Semester die einzige Zeit eines geordneten Universitätsstudiums dar, die Rilke zuteil wurde. Während die Briefe dieser Zeit darauf hinzuweisen scheinen, daß ihm seine Arbeit Freude machte, fühlte er sich durch seinen grenzenlosen Ehrgeiz stark bedrängt. Wie es heißt, soll er mit einem erstaunlichen Mangel an Erkenntlichkeit über die Zuneigung und Fürsorge seiner Tante hinweggegangen sein; später bereute er diesen Undank. Das kleine Zimmer, in dem er seinen Studien nachging und seine Gedichte schrieb, wurde ihm zum Sinnbild der Weltabgeschiedenheit und der einsamen Freuden. Rilke hatte sich daran gewöhnt, sich in einer Welt allein zu fühlen, in der niemand seine ehrgeizigen Träume teilte. Schon am 7. September 1892 schrieb er an seine Mutter, daß er Gott nur in den Blumen, in Bäumen, Quellen und Vögeln, nicht aber in den Menschen begegne (Sieber, 115—116). Die Notwendigkeit, die Menschen zu meiden und nur das zu suchen, was ihm allein nottat (mag man es nun Gott oder das Ringen um eine gültige und bleibende Dichtung nennen), sollte sein Leben lang wie ein Fluch auf seinem Gewissen lasten. In seiner Familie und unter seinen Verwandten ging er wie ein Geist umher — unverstanden und fremd. In seinem Gedicht Eine alte Geschichte schildert er einen jungen Dichter, der auf seine Begabung stolz ist und nach dem höchsten Ziele strebt. Doch seine Tanten und Vettern nennen ihn hochmütig und warnen ihn vor der Einsamkeit, zu der er verurteilt sei. Mit der selbstzufriedenen Wendung „Weiß G o t t ! . . . Ich bin schuldlos" ziehen sie sich von ihm zurück (BVP 1896, 69). Einige Jahre nachdem er Prag verlassen hatte, ließ Rilke diese Zeit tastender Selbstentdeckung noch einmal an sich vorüberziehen und schilderte die schmerzlichen Erfahrungen jener letzten Tage, die er im Familienkreise verbrachte: die Haltung seines Vaters war ihm zu einer Quelle des Leidens geworden. Er liebte ihn mit der schwermütigen Zuneigung eines verwaisten Sohnes, war aber unfähig, sich die bürgerlichen Ideale und die Gezwungenheit, die sich in jeder Gebärde seiner peinlich genauen Lebensführung aussprach, zu eigen zu machen. Die Einsicht, daß sein Vater sich selbst in diesem entscheidenden Stadium hartnäckig weigerte, das tiefe Verlangen seines Sohnes zu verstehen und seinem Wunsche nach Befreiung aus den 23
engen Familienbanden und nach einem eigenen Leben zuzustimmen, verlieh wohl seinem Entschluß, die Heimat zu verlassen, den Charakter eines tragischen Schicksals. Es spricht so manches dafür, daß Rilkes Gefühle für seine Mutter den Schmerz seiner letzten Prager Tage nicht in gleicher Weise zu schüren vermochten. In ihrer Eitelkeit fühlte sie sich durch die Aussicht auf eine möglicherweise erfolgreiche dichterische Laufbahn ihres Sohnes sehr viel weniger beunruhigt als ihr Gatte. Rilke hatte ein überwältigendes Bedürfnis nach mütterlicher Liebe, an die ihm aus seiner frühesten Kindheit noch eine dunkle Erinnerung geblieben war. Doch inzwischen hatte sich Phia Rilke als ein^, so seichte Frau erwiesen, daß er sich längst daran gewöhnt hatte, sich als Waise zu fühlen. Sein Schmerz, sich um die Liebe der Mutter betrogen zu sehen, findet sich in seinen Gedichten immer wieder. An Valéry Rhonfeld schrieb er einmal, daß er den größeren Teil des Tages hindurch einem unmoralischen und skrupellosen Dienstmädchen anvertraut wurde, während seine Mutter, der er doch am ehesten und unmittelbarsten am Herzen hätte liegen müssen, ihn nur liebte, wenn sie ihn in einem neuen kleinen Kleide einigen bewundernden Bekannten vorführen konnte (Nach Letters 1892-1910, 18). Auf den letzten Seiten des Ewald Tragy, der deutlich autobiographische Züge trägt, erzählt er, wie es Ewald in den Tagen seiner Genesung von einer Krankheit, in der furchtbare Fieberträume ihn bedrängten, nach menschlicher Nähe und Wärme verlangt. Als niemand kommt, um seine Sehnsucht zu stillen, ergießt er seine Seele in einen Brief an seine Mutter: „Komm, gib mir, was mir g e h ö r t . . . Noch ist es Zeit — noch bin ich weich und kann wie Wachs sein in Deinen Händen." Doch sein Flehen findet keinen Widerhall, und am allerwenigsten bei seiner Mutter, dieser schlanken, nervösen Frau, die stolz darauf ist, wenn sie von Fremden mit „Fräulein" angeredet wird. Es ist ein Schrei der Verzweiflung, der sich aus dem Streben nach einem unerreichbaren Ideal erhebt. Ewald wirft seinen Brief ins Feuer und schaut zu, wie er langsam in den zuckenden Flammen verbrennt (ET, 62). Das Motiv vom verlorenen Sohn in der travestierten Auslegung der späteren Malte-Stimmung kündigt sich hier bereits an. Die Bande, die Rilke an Onkel und Tanten knüpften, waren noch leichter abzuschütteln. Insofern sie einst das Gefühl der Vereinsamung in ihm verstärkt hatten, trugen sie wohl zu der angespannten Atmosphäre bei, die ihn in jenen entscheidungsvollen Tagen umgab. Dodi das spöttische Zerrbild, das Rilke im ersten Teil des Ewald Tragy von den langweiligen Mahlzeiten im Hause seiner Tante entwirft, birgt ein Vorgefühl unendlicher Befreiung (ET, 13 ff.).
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4.
EROS Masken!
Masken!
Wer erträgt
daß man Eros
sein strahlendes
blende.
Gesicht?
(AW I, 390) Im allgemeinen pflegen die Biographien Rilkes die Liebesbeziehung, die der junge Dichter in Prag drei Jahre lang unterhielt, als bedeutungslos beiseite zu schieben. Der Gegenstand seiner Liebe, Valéry David-Rhonfeld, beträchtlich älter als er selbst, war die Tochter eines Offiziers, mit der er durch eine seiner Cousinen bekanntgeworden war. Sie half ihm bei seinen Studien und ermutigte ihn in seinen dichterischen Bestrebungen. Sie wird als eine etwas überspannte Frau geschildert, die allerlei künstlerischen und literarischen Liebhabereien nachging und sich gern auf eine unkonventionelle Art hervortat. Nach Rilkes Tod verkaufte sie seine an sie gerichteten Briefe und Gedichte und äußerte, daß sie den armen, häßlichen René anfangs nicht wirklich geliebt habe; sie fühlte nur Mitleid mit ihm (Hirschfeld, 716). Sie gab zwar zu, später wirkliche Liebe zu ihm empfunden zu haben, dodi machte ihr überspanntes Wesen sie wohl unfähig zu einem tieferen Gefühl. Und aus den hundertdreißig leider verschollenen Briefen, die Rilke an sie schrieb, könnte man schließen, daß diese Beziehung auch für ihn weder tiefe noch echte Bedeutung besaß. Nach den Zitaten verschiedener Autoren zu urteilen, scheint es im allgemeinen eine jener belanglosen Liebeleien der Jugend gewesen zu sein. Als sie endete, äußerte Rilke in seinem Abschiedsbrief keinerlei tieferes Gefühl (Sieber, 127), und in seinen späteren Schriften wird diese Beziehung nicht mehr erwähnt. Und doch fällt es schwer zu glauben, daß eine Beziehung, die drei Jahre währte —und gar noch zu einer Zeit, da Rilke einen der entscheidendsten Abschnitte seines Lebens durchschritt —, nicht das bezeichnende Gepräge Rilkeschen Wesens aufwiese. Sieber deutet seine damalige Haltung als diejenige eines versteckten Rebellen, der, unfähig, sein offen bekundetes Streben nach der Offizierslaufbahn zu befriedigen, eifrig bemüht war, der Welt seine Andersartigkeit zu beweisen, war er doch als „Dichter" berechtigt, mit einem Mädchen wie Vally zu verkehren (Sieber, 122—123). Gewiß ist richtig, daß Rilke zu jener Zeit etwas von einem Rebellen hatte. Mit jeder Faser seines Wesens lehnte er sich gegen die bürgerlichen Maßstäbe auf, denen er sich stillschweigend oder offen anpassen sollte. In seinen Tagebüchern und frühen Schriften finden sich Äußerungen, die einer 25
prometheischen Herausforderung gleichkommen. Die unbürgerlichen Neigungen seines Charakters, die Kaßner als einen seiner kennzeichnendsten Wesenszüge bezeichnete, traten in diesen Jahren am deutlichsten hervor. Seine ruhmredige Behauptung, daß er mit einem Count Jenison Wallworth verwandt sei (Br. v. Oe., 39, 68 f.), und seine sich durch sein ganzes Leben wiederholenden beharrlichen Hinweise auf seine adlige Abkunft beweisen, daß mehr von der Eitelkeit seiner Mutter auf ihn gekommen war, als er zuzugeben geneigt gewesen wäre. Doch war sein Verlangen zu glänzen mit einer wachsenden Abneigung gegen alles Unechte und Oberflächliche verbunden. Sollte er sich hervortun, so gewiß nicht durch billigen Wein in falsch etikettierten Flaschen. Ohne sich eine tiefere Einsicht in Rilkes erste Versuche im Bereich der Liebe anmaßen zu wollen, mag es doch gerechtfertigt erscheinen, aus der Haltung und Auffassung späterer Jahre einige Rückschlüsse auf seine frühere Zeit zu ziehen. Wenn Vally zu wirklicher Liebe und zu der damit verbundenen Verantwortung nicht fähig war, so wird es Rilke kaum mehr gewesen sein. Die Gründe hierfür waren verschieden, doch die Erfahrung mit Vally war gewiß dazu angetan, ihm seine eigene Unfähigkeit bewußt zu machen. Wenn die von Sieber zitierte Stelle aus einem unveröffentlichten Tagebuch des Jahres 1899 mit Recht auf die Beziehung zu Vally bezogen wird, so würde sie diese Vermutung bestätigen. Das Zitat lautet: „Daß die Sinnlichkeit nicht eine heimliche Flamme, die immer an der gleichen Stelle ausbricht, sei — das sei unser Stolz und unsere Stärke. Wir wollen, sie soll eine fröhliche Fackel werden, die wir lachend hinter alle Transparente unseres Wesens halten" (Sieber, 127). Ja, ich fühle mich versucht in diesem Zusammenhang die Zeilen aus der Vierten Elegie zu zitieren: „Uns aber, wo wir Eines meinen, ganz, ist schon des andern Aufwand fühlbar. Feindschaft ist uns das Nächste. Treten Liebende nicht immerfort an Ränder, eins im andern, die sich versprachen Weite, Jagd und Heimat." Und weiter: „Und ihr, hab ich nicht recht, die ihr mich liebtet für den kleinen Anfang Liebe zu euch, von dem ich immer abkam, weil mir der Raum in eurem Angesicht, da ich ihn liebte, überging in Weltraum, in dem ihr nicht mehr wart . . . " Es mag vermessen erscheinen, auch nur die leiseste Verbindung zwischen den abgründigen Erwägungen der Elegien und jenem „kleinen Anfang 26
Liebe" aus der Studentenzeit Rilkes herstellen zu wollen. Doch dürfen wir nicht vergessen, daß die reifen Symbole des Dichters „lyrische Summen" sind, deren einzelne Posten in den fernen Winkeln der Vergangenheit versteckt sind. In anderem Zusammenhang ruft er die unnennbaren Kräfte in sich an, seine von den Mühen des Tages müde Hand zu führen, damit sie jene wunderbaren Zeichen niederschreibe und „Worte, deren letzte Silbe ich mit meinem Leben rätselhaft verdecke." Sie sollen ihm „Schweigsamkeiten" gewähren, die ihm das Recht geben, „so tief in alle Stille mich zu tauchen, daß ich mich unter aller Wellen strecke, und keiner sieht es, daß ich mich bewege" (Br. Frühzeit, 231). Gewiß scheint etwas höchst Unwirkliches und Jungenhaft-Sentimentales in Rilkes Beziehung zu Vally gelegen zu haben, mit der er sich, wie es heißt, auf Kirchhöfen zu treffen pflegte (Demetz, 125). Ein Achtzehnjähriger, der sein Mädchen „mein teueres, süßes, unendlich geliebtes Herzdien, meine schöne göttliche Vally" nennt und selbst als „Dein Hidigeigei" oder „Dein kleiner grauer Kater" unterschreibt (Sieber, 125), scheint wohl in einer Märchenwelt zu leben. Doch vergleicht man diese Ergießungen mit den um Jahre später entstandenen Briefen Rilkes an Benvenuta 3 ), so ist man über die Ähnlichkeit erstaunt. „Liebe, liebe Seele" — „meine Schwester", schreibt er, „Leb wohl, liebe herzliche Freundin" — „Mein Märchen, Märchen meines Herzens" — „Fürsprecherin meiner bei meiner Zukunft" — „schönes, freudiges Herz" — „Oh Liebling" — „mein Herz soll Dein Herz fühlen wie der kleine Johannes in der Elisabeth den kleinen Jesus in der Maria" — „Leb w o h l . . . wenn ich Dir nur alles so schreiben könnte, Theure, jedesmal wenn ich aufhöre ist's mir wie der Frau, da sie aus der Kirche trat und sich ausgebetet glaubte, — an d«r nächsten Ecke schon kehrte sie um und mußte wieder hinein und auf die Knie" (So laß, passim). Zwar finden sich diese Äußerungen hier am Anfang oder am Ende von Briefen, die offenbar den Stempel von Aufrichtigkeit und überwältigender Ergriffenheit tragen. Aber welche Bewandtnis hatte es eigentlich damit? Rilke hatte Benvenuta nie gesehen und kannte sie nur aus ihren Briefen an ihn. Man ist versucht, sich zu fragen, wie Rilke, der die auflösende Wirkung der Musik bis dahin bekanntermaßen gefürchtet hatte, plötzlich so ) „Benvenuta" nannte Rilke Magda Graedener von Hattingberg, eine begabte Pianistin, die 1913 kurz vor Weihnachten die Geschichten vom lieben Gott zum erstenmal gelesen hatte. Bald darauf schrieb sie ihm aus Wien, um ihrer Bewunderung Ausdruck zu geben. Es folgte ein bemerkenswerter Briefwechsel. 1943 schrieb Benvenuta ihr Buch Rilke und Benvenuta, Ein Buch des Dankes, und 1949 wurden einige der Briefe Rilkes unter dem Titel Rainer Maria Rilke... so laß mich zu träumen gehen von Rudolf von Jouanne veröffentlicht. Zudem gab Benvenuta inzwischen eine vollständige, wenn auch immer noch unbefriedigende Rilke, Ausgabe ihres Briefwechsels mit Rilke unter dem Titel Rainer Maria Briefwechsel mit Benvenuta heraus (vgl. Br. Benvenuta).
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erlesene Worte sublimen Lobes für diese gefürchtete Kunst finden konnte, nur weil eine Frau, die er nie gehört und nie gesehen hatte, eine leidenschaftliche Musikerin war. Es ist in beiden Episoden — mit Vally wie mit Benvenuta — viel Unwirkliches. Als Rilke Benvenuta wirklich begegnete, löste sich die Beziehung bald auf, und es blieb nichts als ein Niederschlag von Realität zurück, der sich im Nachglanz dieses schönen Traumes schließlich verklärte. Hingegen kannte Rilke Vally wirklich, als er ihr jene sogenannt unernsten Briefe schrieb. Doch wie können wir genau wissen, ob seine schwungvollen Liebesworte ihm nicht eher von einem gedachten Ideal als von der lebendigen Frau eingegeben wurden, an die sie gerichtet waren? Ohne einen idealen Hintergrund hätte die Beziehung zu Vally wohl kaum so lange bestanden, obwohl sie zugegebenermaßen noch über ihre eigentliche Lebensdauer hinaus aus Gewohnheit einfach fortbestand. Als sie schließlich ein Ende fand, war die Einsicht in die Kluft zwischen Ideal und Wirklichkeit so unabweisbar geworden, daß sich keinerlei schmerzliche Gefühle mehr einstellen konnten. Daß Rilke um solchen geheimen Widerstreit zwischen Ideal und Wirklichkeit in Dingen der Liebe wohl wußte, läßt sich aus einer Stelle des König Bohusch schließen, einer der Zwei Prager Geschichten, die einige Jahre später entstanden. Der arme Bohusch, ein häßlicher Buckliger mit einer schönen Seele, glaubt sich von Frantischka, der Geliebten seines verstorbenen Vaters, geliebt. In Wirklichkeit fühlte Frantischka jedoch nur Mitleid mit dem verwaisten Krüppel. Im Traum sieht sich Bohusch an der Seite dieses Mädchens vor dem Altar, als plötzlich ihre jüngere und noch schönere Schwester aus dem Nichts erscheint und den Bräutigam für sich fordert, weil sie ihn liebt. Bohusch, der sie nur flüchtig kannte, ist über diese Störung sehr aufgebracht. Doch hatte er Frantischkas mangelnde Zuneigung unbewußt gewiß gespürt, und so führt ihm der Traum ein anderes Mädchen zu, das sein leidenschaftliches Verlangen nach wahrer Liebe erfüllen konnte. Doch damit sind noch nicht alle Fäden unterbewußten Gewebes aufgedeckt. Der Traum zeigt das schöne junge Mädchen im Gewand einer Nonne. Sein Gebrechen hatte im Innern des armen Bohusch die Vorstellung genährt, daß ihn kein Mädchen jemals lieben könne und daß das Glück, geliebt zu werden, nicht für ihn bestimmt sei. Er träumt weiter, sein Vater sei Hausverwalter im Palais des Fürsten Schwarzenberg in Prag gewesen, und so habe er als Kind oft mit Aglaja, der schönen Tochter des Fürsten, gespielt. Doch als sie heranwuchs, sah er sie nicht mehr. Eines Tages trat Aglaja in ein Kloster ein. Allein am Gründonnerstag war es auch Laien erlaubt, dem Gottesdienst in der Klosterkapelle beizuwohnen, und Bohusch, der diese Gelegenheit niemals versäumte, war jedesmal verklärt vor Entzücken, wenn er Aglajas Stimme aus dem Chor der singenden 28
Nonnen hinter dem Gitter heraushörte. Doch einmal erklang die Stimme nicht mehr, und im gleichen Jahr verließ ihn Frantischka. Von dieser Zeit an war Bohusch völlig verwandelt (ESF, 159—167). In Rilkes späterem Werk finden sich viele Elemente des Geheimnisvollen, die bis in seine Jugend und in die verborgenen Tiefen seiner Kindheit zurückzuverfolgen sind. Als Kind verbrachte er mit seiner Mutter einige Zeit in einem Landhaus an der adriatischen Küste, nicht weit von Schloß Duino. Dort spielte er häufig mit einem kleinen Mädchen namens Amélie, das ihm stets in einem Versteck ein paar Blumen zurückließ, wenn es nicht kommen konnte. Als sie sich schließlich trennen mußten, schenkte René seiner kleinen Freundin einen Ring. Später stellte sich heraus, daß sie in ein Kloster eingetreten war, und wie Rilke, der damals in der Militärschule war, berichtet, hatte er am Tage ihres Eintritts einen Traum, in dem sie ihm seinen Ring zurückgab (MTT, 47 f.). Im Jahre 1907 schrieb Rilke auf Capri ein Gedicht, in dem er sich fragt, ob das Rauschen des Blutes im Ohr plötzlich stärker geworden sei oder ob er wirklich die Stimmen von Nonnen hinter dem Gitter des Chores vernehme. Auch hier löst sich eine einzelne Stimme aus denj Gesang, „eine bleiche leichte kleine, I . . . I Und sie hält sich wie das Hohle / einer Muschel Gott ans Ohr" (Gedichte, 1906—26, 9 f.). Vor allem der Zustand, der schließlich die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge hervorbrachte, war von dunklen, frühen Erinnerungen durchsetzt, und in den Jahren, die der nahen Verbindung zu Rodin folgten, wurde Rilkes Vorstellung immer wieder von den Puppen seiner Kindheit heimgesucht, deren nachwirkende Eindrücke ihn über Jahre hin fesselten und die ganze Vierte Elegie bestimmten. Den Herbst des Jahres 1920 und den darauffolgenden Frühling verbrachte Rilke in Schloß Berg am Irchel in völliger Abgeschiedenheit. Dort schrieb er in zwei bemerkenswerten schöpferischen Stößen eine Anzahl von Gedichten, die ihm, wie er berichtete, von einem Ahnherrn des Hauses, dem Grafen C. W., „diktiert wurden" und die zweifellos mit dunkler Erinnerung beladen sind. In dem einen wendet er sich an ein Mädchen, das den gleichen Namen trägt wie jenes aus dem Traum des armen Bohusch (CW, 33): „Schöne Aglaja, Freundin meiner Gefühle, unser Frohsein erreichte den Lerchenschlag oben im Morgen. Laß uns nicht fürchten die Kühle abends nach unserm Sommertag. Kurve der Liebe, laß sie uns zeichnen. Ihr Steigen soll uns unendlich rühmlich sein. Aber auch später, wenn sie sich neigt —: wie eigen. Wie deine feine Braue so rein." 29
Und ein noch bezeichnenderes Gedicht lautet so (CW, 10): „Daß ich deiner dächte am Kamine? Nein, du irrst, ich lese. — Ach, du weinst? Kannst du wollen, daß ich wieder diene? Denn ich liebte nicht: ich diente einst. Du bezwangst, was noch in mir des Knaben Trotz und Widerstand und Schwäche war, ich verschrieb mit blutenden Buchstaben dir mein erstes eignes Jahr — Statt zu reiten, Olga, statt zu jagen, kniet ich bei dir, während jeder ging kniet ich, Seidenes um mich geschlagen, das von deiner Gnade niederhing. Fühltest du dann immer, daß idi kniete? Oder wußtest du: er sieht nicht her? — Ach, ich war die Muschel, Aphrodite, die dich trug, und in mir war das Meer." „Olga" heißt auch jene Cousine, die Rilke in dem glühenden sinnlichen Gedicht aus der frühen Sammlung Traumgekrönt erwähnt (EG, 93—94). Und als ihm Benvenuta später, im Jahre 1914, einmal schrieb, daß sie einer Dame vorgespielt habe, die Olga hieß, erwiderte er: „Erst da ich las ,01ga' zuckte etwas in mir ein klein wenig zusammen" (So laß, 63). Dieses Verfahren kann man überall in Rilkes Werk beobachten: er beschwört eine dichte Atmosphäre verwobener und genauester Stimmung, indem er einen oder mehrere Namen nennt, denen eine magische Kraft der Vergegenwärtigung innewohnt. Man kann nicht umhin, in Rilkes Erlebnis mit Vally gleichsam eine Grundfigur zu sehen, die immer wieder erscheint und die nicht allein für sein Verhältnis zu Frauen und zur Liebe, sondern auch für die besondere Art seines Idealismus höchst bezeichnend ist. Bekannte er sich nicht selbst zu „Worten, deren letzte Silbe ich mit meinem Leben rätselhaft verdecke" (Br. Frühzeit, 231)? Rilke war durch und durch ein Mensch der Sinne, und selbst seine sublimsten Symbole entspringen lebendiger sinnlicher Erfahrung. Die dichte Substanz des Lebens haftet selbst jenen Bildern und Symbolen an, die eine unaussprechbare Welt innerer Sehnsüchte darstellen. Nicht in einer abstrakten idealen Welt, sondern in diesem Bereich innerer sinnlicher Wirklichkeit haben wir wohl Rilkes Engel der Elegien, die Mädchen und Frauen seiner Gedichte, seinen verlorenen Sohn, seinen Weltinnenraum (AW1,343) und schließlich auch seine ersehnte Kindheit (AW I, 333) zu suchen. 30
5. E R S T E
VERÖFFENTLICHUNGEN Meine frühverliehenen Lieder oft in der Ruh überrankter Ruinen sang ich dem Abend sie zu.
(FG) In den Briefen an Vally finden sich etwa achtzig ihr gewidmete Gedichte. Außerdem lag das erste Manuskript der nachträglich Vally gewidmeten Sammlung Leben und Lieder schon zu Anfang des Jahres 1893 fertig vor, wurde aber erst Ende 1894 mit Hilfe des Erlöses einer von Vally verkauften Brosche veröffentlicht (SW III, 787; Demetz, 146). Rilke verwarf diese Gedichte später, und man kann ihm glauben, wenn er sagt, daß er nur die Gedichte veröffentlichte, die nichts über sein eigenes Inneres aussagen. Eine stolze und bewußt gepflegte Scheu hinsichtlich seiner innersten persönlichen Gefühle läßt sich bei ihm allenthalben beobachten, ungeachtet des Verlangens, von einer verständnisvollen Leserschaft gelesen und verstanden zu werden, wie er es in einem Brief an die Baronin von Oesteren aussprach (Br. von Oe., 23). Diesem Wunsch scheint er aber nur kurze Zeit nachgegeben zu haben, und selbst da war er sich der berechneten Zweckmäßigkeit solchen äußerlichen Bestrebens wohl bewußt. Sein Briefwechsel mit der Baronin von Oesteren beschränkt sich auf das letzte Jahr seiner Prager Zeit, und während er mancherlei Plänen zur Gründung literarischer Klubs nach neuzeitlichen Grundsätzen nachhängt (Br. von Oe., 30 ff.), bekennt er doch gleichzeitig, daß ihm allein an dem Interesse einiger erlesener Geister liege, die ihn zu verstehen, zu bestätigen und zu rühmen imstande sind, nichts dagegen daran, „den großen Philisterherden" zu imponieren. „Irgendwo gibt es ein Sprichwort: Lieber von Gott geduldet sein, als vom Pöbel vergöttert" (Br. von Oe., 38). Nimmt man diesen Äußerungen ein wenig von ihrer Schärfe, so blieb sich die Haltung, die sich hier ausspricht, während seines ganzen Lebens gleich. Über seine frühesten Dichtungen urteilt Rilke in einem Brief an Ellen Key abfällig und verwirft sie, als hätten sie nie existiert (Key, 167). An einer anderen Stelle erklärt er, sie seien nicht mehr als ein Vorwand zu 31
innerer Konzentration, und fügt hinzu, es sei die reine Einbildung, wolle man in diesen „nutzlosesten Zerstreuungen" die Anfänge einer zukünftigen Entwicklung erblicken (Br. I, 212). Will man diese und ähnliche Äußerungen in der rechten Perspektive sehen, so muß man sich vergegenwärtigen, daß sich Rilkes Wachstum im Gegensatz zu dem Hugo von Hofmannsthals spiralförmig vollzog. Letzterer ist, wenn auch nicht ohne Übertreibung, ein „sterbender Frühling, der in einer einzigen Nacht alle seine Blätter entfaltet", genannt worden (Ree., 129). Jedenfalls war Rilke geneigt, in jedem Abschnitt seiner Entwicklung auf die vorangehenden herabzusehen. „Glauben Sie mir", so schreibt er im Jahre 1922 an Heygrodt, „ich wäre gerne bereit, ja es entspräche mir am meisten, jede neue Aufgabe meines Weges unter einem neuen Namen zu leisten" (Br. Muzot, 97). Selbst das Stundenbuch fiel zuzeiten in Ungnade, während er in anderen Augenblicken doch dessen organischen Zusammenhang mit dem Malte, den Neuen Gedichten, den Elegien und den Sonetten erkannte. Als Rilkes Meisterschaft wuchs, neigte er dazu, ein Kunstwerk als einen Gegenstand sui generis zu betrachten, den man nur nach den ihm eigenen inneren Gesetzen beurteilen sollte. Nicht einmal die Wirkung, die es hervorruft, oder seine sogenannte Schönheit ist hierbei von Bedeutung. „Das Werk ist es selbst doch nur, soweit es eben selbständig geworden ist, und die ergreifenden Kunstwerke Unbekannter, die sich erhalten haben, verlieren keineswegs an Wirkung und Dasein dadurch, daß wir sie mit den Schicksalen und Daten ihrer Urheber nicht verbinden können" (Br. Muzot, 97—98). Derartige Anschauungen mögen ihre Berechtigung haben, aber sie schließen doch Betrachtungen von anderen Ebenen her nicht aus. Daß Rilke selbst die Kenntnis gewisser biographischer Daten als hilfreich für das tiefere Verständnis eines Dichters ansah, beweisen schon seine Bemühungen um einige Hinweise zum Leben Trakls, „nicht um wörtlich zu ,verstehn', sondern nur um im Instinkt da und dort bestärkt zu sein" (Br. 1914—21,35). Während Rilkes früheste Gedichte nicht viel mehr sind als ein ferner Widerschein verborgener Kräfte und tieferer Erfahrung, vermögen sie uns doch gewisse seelische Gegebenheiten zu erhellen, die sich in späteren Leistungen bestätigen, und können so zu ihrem besseren Verständnis beitragen. Schon ihre Titel und Themen wie Morgentau, Nachtbilder, Frühlingsstürme, Am Abend, Frühlingsankunft und Lenznacht sind bezeichnend (Sieber, 117). Rilkes Gedanken kreisten sein Leben lang um das Phänomen der Verwandlung, um die langsamen schöpferischen Wandlungen, den Übergang vom Tag zur Nacht und von der Nacht zum Tage, vom Winter zum Frühling, vom Sommer zum Herbst, vom Leben zum Tode und von 32
der Kindheit über die Jugend bis zur vollen Bewußtheit. Diesem Anliegen sollten später einmal die orphischen Metamorphosen der Sonette entspringen. Verschiedene Balladen aus der Sammlung Leben und Lieder scheinen Rilkes Mitgefühl mit den Armen, Elenden und Unterdrückten, besonders auch mit den Drangsalen des Künstlers, zu beweisen. Aus diesem Gefühl heraus brachte er einige seiner Gedichte, die er auf eigene Kosten hatte drucken lassen, unter den Armen in Umlauf. Er nannte sie Wegwarten, und im Vorwort zum ersten Heft erklärt er, daß das Drucken billiger Ausgaben sinnlos sei, da die wirklich Armen auch diese nicht kaufen könnten (SW III, 111—125). Zeitgenossen erinnern sich noch, ihn zuweilen im schwarzen Habit eines Priesters an einer verkehrsreichen Straßenecke gesehen zu haben, wo er diese Schriften an die Vorübergehenden verteilte (Demetz, 58). Nach Paracelsus soll die Wegwarte alle hundert Jahre einmal menschliche Gestalt annehmen, und so sollten auch diese Gaben sich in der Seele der Armen in Menschliches verwandeln. Es erschienen jedoch nur drei Hefte: die ersten beiden vor Mai 1896, das dritte im Oktober 1896, als Rilke bereits nach München übergesiedelt war. Die Tatsache, daß das letzte schon nicht mehr für die Armen, sondern für einige ausgewählte Mitglieder eines literarischen Zirkels bestimmt war, wirft ein bezeichnendes Licht auf Rilkes recht kurzlebige Aufwallung philanthropischer Gefühle. Das zweite Heft enthielt eine dramatische Skizze Jetzt und in der Stunde unseres Absterbens, in der sich folgendes begibt: Eine arme Frau liegt im Sterben. Sie besitzt zwei Töchter, die älteste schon erwachsen, die jüngere noch ein Kind. Der Hauswirt droht ihr, sie aus dem Hause zu weisen, wenn ihm die ältere, Helene, nicht zu Willen sei. Als sie das zurückweist, schickt er sich an, seine Drohung wahr zu machen. Helene gibt nach, doch die sterbende Mutter enthüllt dem Kinde, daß der Hauswirt ihr Vater sei (Sieber, 133—34). Zu Rilkes Mitleid mit den Preisgegebenen und Hilflosen gesellt sich ein Sinn für das Schreckliche und Grauenhafte. Diese beiden Züge werden im Laufe der Zeit entscheidende Wandlungen durchmachen, aber in dieser oder jener Gestalt sind sie auf jeder Stufe seiner Entwicklung anzutreffen. 1895 schrieb Rilke das Psychodram Murillo, das in einer in Bremen erscheinenden Vierteljahresschrift veröffentlicht wurde und das noch einen weiteren bezeichnenden Zug in Rilkes Wesen enthüllt. Murillo wird während eines Spazierganges von einem plötzlichen Unwohlsein befallen und in das Haus eines Bauern gebracht. Man ruft einen Priester, und der sterbende Maler nimmt, um zu zeigen, wer er ist, ein Stück Holzkohle aus dem Weihrauchbecken des Geistlichen und zeichnet einen Ecce Homo an die 3 Graff, Rilke
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Wand. Sieber kann darin nichts besonderes erblicken (Sieber, 133). Doch haben wir hier einen Künstler vor uns, dessen Glaubwürdigkeit in Frage gestellt ist. Unbekannt und namenlos wie er ist, hat er nur ein Mittel, um sich zu beweisen: er schafft ein Meisterwerk. Hätte Rilke ein besseres Sinnbild für sich selber finden können? Wohl hatte er sein Meisterwerk noch nicht geschaffen, aber das Gefühl, daß er es eines Tages schaffen müsse, um sich vor seinem Vater, vor seinen Verwandten, vor den Augen der Welt, vor allem aber vor sich selbst zu rechtfertigen, war stark in ihm, nicht nur in seiner Jugend, sondern auch in seinem späteren Leben (SW III, 9 7 - 1 0 0 ; 788).
34
6.
LARENOPFER Denn
dann nur sind die Stimmen
Wenn
hinter
Geräusche
dem Gespräch
bleiben
wie von
der Blut.
gut, Saiten
(FG)
In den Jahren, die Rilkes Abschied von Prag am 29. September 1896 vorangingen, war seine Produktivität groß. Wie sein Schwiegersohn es ausdrückte, war Rilke schon damals ein vom Geist des Schaffens Besessener, und das blieb er sein ganzes Leben lang (Sieber, 132). Er schrieb für verschiedene Zeitschriften, gab selbst eine solche heraus, er besprach Bücher und veröffentlichte gegen Ende des Jahres 1895 eine Sammlung von Gedichten unter dem Titel Larenopfer. Von einem weiteren Gedichtband Traumgekrönt ist noch ein Widmungsexemplar mit dem Datum Dezember 1896 erhalten (ET, 70—71). So müssen auch diese Gedichte im wesentlichen in Prag entstanden sein. Wie der Titel Larenopfer besagt, ist es ein Opfer an die Hausgötter. In diesen Gedichten streift Rilke durch seine Vaterstadt Prag mit ihren Häusern und Brücken, ihren Kirchen, Klöstern und ihren Heiligenstatuen, mit ihren Mietshäusern und ihrem Fabrikviertel. Im ganzen zeigt seine Abhängigkeit von der dichterischen Tradition, daß er den Rhythmus seiner eigenen Seele noch nicht gefunden hat. Aber er tastet sich auf dem Weg zu diesem Ziele voran, sucht blinde Unterwerfung unter die hergebrachten und bewährten Vorbilder zu meiden. Einige Jahre später wird Stefan George ihn schelten, weil er unreife Verse veröffentlichte und sich zu willig dem Wohlklang seiner eigenen Worte hingebe. Liliencron tadelte ihn aus dem gleichen Grunde (Demetz, 85), und Rilke selbst warnt im Buch der Bilder4) vor dem verführerischen Verlangen, zu früh zu singen: „Was spielst du, Knabe? Siehe, deine Seele verfing sich in den Stäben der Syrinx" (AW 1,114). Gewiß, hätte Rilke die strengen Maßstäbe angelegt, die Malte Laurids Brigge vom Dichter fordert, so hätte er vieles von seiner Dichtung verleugnen müssen: „Ach, aber mit Versen ist so wenig getan, wenn man sie ) Rilke gab das Buch der Bilder in zwei ganz verschiedenen Fassungen heraus. Die erste erschien im Jahre 1902 und enthielt 45 Gedichte, die er alle vor seinem Pariser Aufenthalt verfaßte; die zweite erschien im Jahre 1906 und enthielt 66 Gedichte, von denen die meisten in Paris, einige hingegen in Italien und Schweden entstanden. 4
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früh schreibt. Man sollte warten damit und Sinn und Süßigkeit sammeln ein ganzes Leben lang und ein langes womöglich, und dann, ganz zum Schluß, vielleicht könnte man dann zehn Zeilen schreiben, die gut sind. Denn Verse sind nicht, wie die Leute meinen, Gefühle (die hat man früh genug), — es sind Erfahrungen. Um eines Verses willen muß man viele Städte sehen, Menschen und Dinge, man muß die Tiere kennen, man muß fühlen, wie die Vögel fliegen, und die Gebärde wissen, mit welcher die kleinen Blumen sich auftun am Morgen. Man muß zurückdenken können an Wege in unbekannten Gegenden, an unerwartete Begegnungen und an Abschiede, die man lange kommen sah, — an Kindheitstage . . . an die Eltern . . . an Morgen am Meer . . . an Reisenächte. Man muß Erinnerungen haben an viele Liebesnächte, von denen keine der andern glich, an Schreie von Kreißenden... muß bei Toten gesessen haben in der Stube mit dem offenen Fenster und den stoßweisen Geräuschen. Und es genügt auch noch nicht, daß man Erinnerungen hat. Man muß sie vergessen können . . . und die große Geduld haben, zu warten, daß sie wiederkommen... Erst wenn sie Blut werden in uns, Blick und Gebärde, namenlos und nicht mehr zu unterscheiden von uns selbst, erst dann kann es geschehen, daß in einer sehr seltenen Stunde das erste Wort eines Verses aufsteht in ihrer Mitte und aus ihnen ausgeht" (AWII, 20—21). In Wirklichkeit wußte Rilke sehr genau, während er unablässig nach immer größerer Selbstzucht und Vollendung strebte, wo die Grenze zwischen Theorie und Praxis zu ziehen sei. Und gewiß mußten in der Zeit jugendlichen Tastens andere Erwägungen den Voirang haben. Als er im April 1896 einen Band lyrischer Gedichte rezensierte, erklärte er, daß das lyrische Gedicht der persönlichste künstlerische Ausdruck sei und uns um so mehr bedeute, je persönlicher er sei, denn das Innerste und Eigenste komme dem allgemein Menschlichen am nächsten: „Les extremes se touchent" (BTK, 73). Noch bezeichnender ist ein Brief vom Dezember 1897 an den Verleger Bonz, in dem er äußert: „Gedichte, die jede Phase meiner Seelensehnsucht begleiten, sind Erlebnisse, an denen ich reife", und weiter: „Es ist bei mir nicht der Fall, daß ich Gedichte epischen oder lyrischen Genres schreibe, welche fünf bis zehn Jahre Schreibtischluft vertragen, ohne sterbenskrank zu werden" (Br. 1892—1904,48—49). Sie müssen veröffentlicht werden, sobald sie geschrieben sind, andernfalls überleben sie sich und entsprechen der jeweiligen Entwicklungsstufe nicht mehr. Aus diesen Erwägungen heraus gab Rilke später seine Einwilligung zu einer Wiederherausgabe von Larenopfer und Traumgekrönt, die unter dem Titel Erste Gedichte in einem Bande erschienen. Obwohl von ihm nicht als vollgültig anerkannt, erschienen sie ihm doch als Dokumente seines Werdens bedeutungsvoll. Der 36
Zwang der Wachstumswehen, die das befreiende Wort forderten, bedrängte ihn aufs heftigste. „Wachsen" blieb ein Grundton seines Werkes. Rilkes Dichtung muß vor dem Hintergrund ihrer Anfänge und ihrer Entwicklung verstanden werden, will man sie überhaupt verstehen. Es ist von mehr als oberflächlicher Bedeutung, daß der Gedanke an die Hausgötter ein Jahr vor seinem Tode wieder auftauchte, als er dem polnischen Übersetzer Hulewicz ein wenig von dem Sinn der Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge und der Elegien zu erklären versuchte. „Noch für unsere Großeltern war ein ,Haus', ein ,Brunnen', ein ihnen vertrauter Turm, ja ihr eigenes Kleid, ihr Mantel unendlich mehr, unendlich vertraulicher; fast jedes Ding ein Gefäß, in dem sie Menschliches vorfanden und Menschliches hinzusparten. Nun drängen, von Amerika her, leere gleichgültige Dinge herüber, Schein-Dinge, Lebens-Attrappen . . . Ein Haus, im amerikanischen Verstände, ein amerikanischer Apfel oder eine dortige Rebe, hat nichts gemeinsam mit dem Haus, der Frucht, der Traube, in die Hoffnung und Nachdenklichkeit unserer Vorväter eingegangen w a r . . . Die belebten, die erlebten, die uns mitwissenden Dinge gehen zur Neige und können nicht mehr ersetzt werden. Wir sind vielleicht die Letzten, die noch solche Dinge gekannt haben. Auf uns ruht die Verantwortung, nicht allein ihr Andenken zu erhalten (das wäre wenig und unzuverlässig), sondern ihren humanen und larischen Wert. (,Larisch' im Sinne der HausGottheiten.)" (Br. Muzot, 374-375). Diese Worte, in denen der Hinweis auf die „amerikanischen Dinge" nicht zu wörtlich genommen werden sollte, wurden in dem Bemühen niedergeschrieben, die besondere Rilkesche Verwandlung der äußeren Welt in „Weltinnenraum" zu erklären, wie sie sich in den Elegien vollzieht. Im Larenopfer wurde mit dieser Verwandlung noch gar nicht begonnen, noch viel weniger wurde sie erreicht, aber die Grundlagen werden gelegt, der Rohstoff wird in Gestalt von Erinnerungen und Gefühlen zusammengetragen. Aufs ganze gesehen, bleiben die einzelnen Dinge noch ganz in ihrer unversehrten Greifbarkeit, noch besitzen sie nicht jene magische Beschwörungskraft kosmischer und innerweltlicher Bezüge, mit der sie nach und nach beladen werden. Aber die Atmosphäre, die sie umgibt, ist schon schwer von fruchtbarer und verheißungsvoller Wärme. Eine alles umgebende Wärme dringt schon aus einer Folge von sieben Gedichten, Der Bau (EG, 7—11). Im Gegensatz zu den Behausungen moderner Massenproduktion webt in diesem alten Hause mit seiner Uhr, seinen alten Familiensilhouetten, dem Spinnrad, dem Spinett, seiner Postille und seiner Madonna das Leben von Generationen. Der Wind singt im Kamin, während Eltern und Kinder zusammen ihr Gebet sprechen. Die erwachsenen Burschen und Mädchen bringen ihre Gefährten mit nach Hause, sie freien 37
und vermählen sich mit dem Segen des Vaters. Enkel tollen inmitten all dieser in Liebe verständigten Dinge umher. Der Vater stirbt unter den Augen der Silhouetten und der Muttergottes, und die Uhr tickt weiter, während eine Generation der nächsten Platz macht. Der gleiche Duft umhüllt Kirchen, Brücken, Kapellen, den alten Hradschin, der bis zum Rand von schicksalhafter Geschichte erfüllt ist, die Heiligen im trüben Glanz der Kerzen, St. Anna, St. Katharina, St. Wenzeslaus und St. Nepomuk, die in den Nischen der Häuser und Brücken stehen, die zerlumpten Kinder vor den Engeln von Flittergold, die gewölbten Räume und heimlichen Balkone alter Gebäude, den Dorfbrunnen und selbst die übermütigen Bauwerke, in denen sich das schwere Barock und das leichte Rokoko begegnen, der Abbé und der Roi Soleil. Wie später in seinem Brief an Hulewicz und in einigen Abschnitten der Elegien beklagt der Dichter mit sinnendem Groll jene Barbarei, die diese liebenswerten menschlichen Dinge zerstört und häßliche Baracken, Mietshäuser und Fabrikschlote an ihre Stelle setzt. Das vom Stadtgeschwätz erfüllte Murmeln des öffentlichen Brunnens wurde durch das dreiste Eindringen der modernen Wasserleitung in jedes Haus zum Schweigen gebracht. Was eine solche Entweihung den Menschen antut, spiegelt sich in den stumpfen Gesichtern und in den müden Augen der Männer und Frauen, die aus Smichov, dem Industrieviertel Prags, zurückkehren. Doch die Wirkung einer reichen Kindheit inmitten von Dingen und Gebärden, die mit Vertrautheit und Wärme erfüllt sind, mag sie auch zuweilen durch den Lärm der Welt unwirksam gemacht werden, wird sich in den entscheidenden Augenblicken des Lebens bewähren. Im vierten Gedicht aus der Folge Vigilien erinnert sich ein Mädchen, das sich eines Nachts an Lust und Sünde verlor, plötzlich einer anderen Nacht, in der es am Totenbett seiner Mutter wachte (EG, 43). Die Dinge, mit denen der Dichter im Larenopfer umgeht, unterscheiden sich weniger von denjenigen, die sich in den späteren Gedichten finden, als man gemeinhin zugibt. Unmerklich und geduldig nehmen sie an freudigen und kummervollen Augenblicken, an unserer Alltags- und Feiertagsstimmung teil. Hier und dort verbreiten sie sogar einen Hauch zeitlosen Seins und Weltraums um sich. Die alte Frau, die jahraus, jahrein an dem gleichen sauberen Stand an der Straßenecke ihre gerösteten Kastanien verkauft (EG, 25), ist jenem blinden Bettler aus dem Buch der Bilder verwandt, der auf dem Pont du Carrousel in Paris steht, „grau wie ein Markstein namenloser Reiche . . . und der Gestirne stiller Mittelpunkt" (AW 1,119). Sie ist der Sybille der Neuen Gedichte verwandt, deren man sich seit unvordenklichen Zeiten nur als einer alten Frau erinnert, „doch sie blieb und kam dieselbe Straße täglich", und ihr Alter zählte man „wie einen Wald nach 38
Jahrhunderten" (NG, 137). Rilkes Verlangen, ins Innere der Dinge vorzudringen, war so alt wie seine angeborene Neigung, sein Gefühl zu verströmen, doch es erforderte eine langgeübte Selbstzucht, bevor dieses Verlangen sich in künstlerische Leistung umsetzen ließ. In Prag war er dem Maler Emil Orlik freundschaftlich verbunden, dessen Werk er bewunderte, weil ihm hier „der Extrakt der Dinge" mit bemerkenswerter Genauigkeit dargestellt schien (Demetz, 72). Zudem finden sich schon in einigen Gedichten des Larenopfers jene Gedanken zum Tode, wie sie Rilke sein ganzes Leben hindurch bewegten. Doch hier bereits überwiegt das Gefühl, daß solche Betrachtungen die Lebensfreude nicht einschränken dürfen. Der kleine Knabe, der mit seinem Vater das Grab der Mutter besucht, soll auf das Pfefferkuchenpferd vom nahen Jahrmarkt nicht verzichten. Von den Lippen des knienden Engels auf dem Friedhof flattert ein Schmetterling, und aus dem mit Erde bedeckten Schädel wächst ein Vergißmeinnicht. In dem balladenhaften Gedicht Rabbi Low sind die Bande, die die Lebenden an die Toten knüpfen, unlöslich. Wenn die Erwachsenen sündigen, werden Unschuld und Kindheit zerstört. Wenn das Dahingehen der Kindheit das Bewußtsein des Heranwachsenden bedrängt, wird er von Qualen und bösen Träumen heimgesucht (EG, 55—58). Diese geheimnisvolle Wechselbeziehung zwischen allen Wesen findet ihren Ausdruck auch in dem Gedicht Träume. Die prächtig geschmückte Nacht bringt einem Kind mit den milde schenkenden Händen einer Gottesmutter einen goldenen Traum, aber als Preis für diese Gabe trägt sie die Seele eines anderen Kindes davon (EG, 23). Rilkes Glaube an das Leben ist trotz seines Todesbewußtseins tief in einem jugendlichen Lebensdrang verwurzelt, den er von seiner Mutter erbte. Selbst der Pessimismus Schopenhauers vermochte ihn nicht zu bezwingen. In dem Gedicht Trotzdem liest er seinen Schopenhauer, dessen Vorstellung von der Welt als einem „Kerker voller Trauer" er nicht zu widerlegen sucht. Aber gerade in der Einsamkeit dieses Gefängnisses entströmen seiner Seele Töne von so reinem Glück, wie sie die Geige des Ritters Dalibor im Kerker hervorzauberte (EG, 29) 5 ). Immerhin war sich Rilke aber selbst in jener Zeit der Zerbrechlichkeit seines Glaubens an das Leben bewußt. In einer im Januar 1896 entstandenen Skizze Eine Tote schildert er ein Mädchen, das an einer seltsamen Krankheit des Geistes leidet. Es ist überzeugt, daß es schon in der Kindheit „vor tausend Jahren" starb, als es sah, wie einer seiner Spielgefährten einem kleinen Vogel, den er in der Hand hielt, kaltherzig den Daumen in den Schnabel stieß und so das wehrlose Geschöpf erstickte. Von diesem Tag an ging das Mädchen, das bisher zwischen seinen Puppen vor den trüben 5 ) In der zweiten der Zwei Prager Geschichten, Die Geschwister, erzählt Rilke von dem Ritter Dalibor, der im Hungerturm aus lauter Sehnsucht Geige spielen gelernt hatte (ESF, 233).
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Seiten der menschlichen Natur bewahrt geblieben war, wie ein Geist aus einer anderen Welt durch die Tage. Sie findet erst wieder in die Wirklichkeit und das Leben zurück, als sie einem jungen Mann begegnet, dessen Güte ihr den Glauben zurückgibt. Als sie beobachtet, wie er einem kleinen Vogel im Walde Brotkrumen zuwirft, wird sie wiedergeboren, und die beiden verloben sich. Doch bald darauf wird der junge Mann von einer unheilbaren Krankheit befallen, sie müssen sich trennen, und der kurze Traum bleibt unerfüllt. Das Mädchen geht fort zu einem Gewässer und stirbt seinen zweiten Tod (BVP 1896, 80—92). Bei einem lyrischen Dichter von Rilkes Art darf man selbst solche Geschichten, denen jedes äußere Anzeichen einer persönlichen Bezogenheit fehlt, wohl als Ausdrude eigener Stimmungen deuten. Zweifellos empfand Rilke, daß sein Glaube an das Leben genau so gefährdet und unsicher war wie das wiedergewonnene Vertrauen des Mädchens. Etwa zehn Jahre später, in der Malte-Periode, erreichte dieser Zustand seinen Höhepunkt: seine Lebensfähigkeit schien ernstlich bedroht. Doch mit der erstaunlichen, seinem Lebenstrieb entspringenden Spannkraft überwand er auch diese Krisis und ging für neue Aufgaben gestählt daraus hervor. In den Naturgedichten des Larenopfers lauscht Rilke mit gleicher Wachsamkeit auf die Stille des Mai, wenn die Erde mit Hekatomben von Blüten bedeckt ist, auf die herannahende Nacht, die Diamanten in die blauen Fernen sät, auf den Herbst, dessen Luft schwer ist vom Duft verwitternder Blätter, auf den Sommerabend, der müde ist vom Fieber eines heißen Tages, und auf den Wintermorgen, dessen Kälte die Ohren rötet und dessen Sonne den neuen Tag in seinem Traume küßt. Der reifende Dichter tritt nun bewußt in eine Zeit erwartungsvollen Träumens ein, in welchem er zu einem König gekrönt wird, zu dem Bettler und Kinder Bruder sagen (EG, 67). Die Bettler und die Kinder erscheinen bereits in Gedichten wie Das arme Kind, Sphinx, Die Mutter, Hinter Smidiov, Bei den Ursulinen und In der Vorstadt. Und der König Abend folgt dem Stern wie einer der Heiligen Drei Könige, bis er die Mutter Nacht mit ihrem Kind, dem Traum, im Arm findet. Ihm bringt er die goldenen Schätze des Orients (EG, 24). So wartet und lauscht der Träumende in seinem Traum. Rilke weiß, daß, während er so die Welt vergißt, ein Augenblick des Glücks auf immer an ihm vorbeigehen kann. Denn Träume sind wie Orchideen, bunt und reich. Sie ziehen ihre Kräfte aus den Säften des Lebens und brüsten sich ihres ersaugten Blutes. Einen flüchtigen Augenblick lang entzücken sie, und schon im nächsten sind sie bleich und tot. Aber ihre Düfte verweilen über der wachsenden Welt, und der Träumende ahnt, daß sie leise über ihn dahinwehen (EG, 30-31).
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7.
HEIMATLOS Ich habe kein Vaterhaus, und habe auch keines verloren. (BB)
Es finden sich im Larenopfer nur wenige Gedichte rein autobiographischer Natur. Deutliche Erinnerungen an die frühe Kindheit enthält jedoch Mein Geburtshaus. Es bestätigt, daß Rilke durchaus das warme Glüdc erlebte, das ein Elternhaus geben kann. Er erinnert sich des blauseidenen Salons und der Bilderbogen. Ein Puppenkleid mit dicken Silberlitzen entzückte ihn, doch das Rechnen entlockte ihm Tränen. Auf der Fensterbank spielte er Straßenbahn oder Schiff, und schon damals liebte er Gedichte. Dieses Gedicht endet mit dem melancholischen Charme eines Märchens: gegenüber in einem Palast wohnte ein blondes Mädchen, eine junge Gräfin, die ihm zuwinkte und lächelte, wenn er ihr Küsse hinüberwarf. Doch nun ist der Zauber des Palastes dahin, denn das Mädchen ist dort, wo es kein Lächeln mehr gibt (EG, 35). O b sich hinter den letzten Zeilen dieses Gedichtes ein gewisses Maß an Wirklichkeit verbirgt, weiß ich nicht, doch vergegenwärtigt man sich, daß Rilke hier Erinnerungen heraufruft, so darf man wohl annehmen, daß dieser Vorgang, mag er auch erdacht sein, einem bezeichnenden Seelenzustand Gestalt gibt. Es verlangte Rilke nach weiblicher Nähe, nach Liebe. In der Kindheit barg dieses Verlangen noch ein frisches, ungetrübtes Glücksgefühl, von keinerlei Trieb nach Besitz oder Furcht vor Verlust beeinträchtigt. Der geliebte Gegenstand ist da, lockend und geneigt, doch zu einer wirklichen Begegnung kommt es nicht. Es ist wie jene Träume, die Orchideen gleichen, deren Schönheit beglückt, solange sie währt. Dann welken und sterben sie, wie der Gegenstand der Sehnsucht seine leibhaftige oder erträumte Wirklichkeit verliert. Doch der Duft des Traumes bleibt, und ebendiesen Duft beschwört Rilke in seinem Gedicht. Die Zeit derart heiler und reiner Erlebnisse ist die Kindheit, das Alter der Unschuld, in dem sich der Blick noch rückhaltlos den Dingen einer in sich abgeschlossenen Welt öffnet, ohne daß er sich gegen sich selbst zurückwendete. Sei es nun absichtsvoll oder nicht, diese Schilderung enthält Grundriß und Kontur einer Situation, wie sie sich ungezählte Male in Rilkes späterem Leben und Werk wiederholte. 41
Es sei hier nur das Lied der Abelone aus den Aufzeichnungen Laurids Brigge angeführt (AW II, 209):
des
Malte
„Du, der ichs nicht sage, daß ich bei Nacht weinend liege, deren Wesen mich müde macht wie eine Wiege. Du, die mir nicht sagt, wenn sie wacht meinetwillen: Wie, wenn wir diese Pracht ohne zu stillen in uns ertrügen? Sieh dir die Liebenden an, wenn erst das Bekennen begann, wie bald sie lügen. Du machst midi allein. Dich einzig kann ich vertauschen. Eine Weile bist du's, dann wieder ist es das Rauschen, oder es ist ein Duft ohne Rest. Ach, in den Armen hab ich sie alle verloren, du nur, du wirst immer wieder geboren: weil ich niemals dich anhielt, halt ich dich fest."' Und aus Rilkes Leben sollte man sich hier noch einmal jene phantastische Liebe zu Benvenuta vergegenwärtigen. Eine Frau war in sein Bewußtsein getreten, die er nie gesehen hatte, die ihm lockend von ferne zuwinkte. Die Glut der Küsse, die der Dichter ihr über die trennende Kluft hinweg zuwarf, kann nur der erfühlen, der diese wunderbaren Briefe liest. Wie er an diesem kindlich-sinnlichen, entrückt-reinen Traum festhält, wie er sich danach sehnt und doch auch wieder davor zurückschreckt, die trennende Kluft zu überqueren! Und der Traum verblaßt und stirbt gleich den Orchideen mit dem Erwachen der Erfüllung und läßt nur einen schwermütigen Duft zurück. Als ich die Universität bezog heißt ein anderes autobiographisches Gedicht. Rilke äußert hier die Genugtuung, daß er nach mühseligen Jahren voller Aufschub und Vergeblichkeit endlich der sein darf, der er sein wollte: „ein Skolar". Ursprünglich war er als Student der Rechte eingeschrieben, aber den Gedanken an diese dürren Studien gab er bald auf. Das Studium der Medizin war ihm von Vally verboten, und so beschied er sich nur zu gern mit den Geisteswissenschaften, die an dieser Universität vortrefflich vertreten waren. Das Verlangen nach der Erwerbung eines akademischen Grades war neben der Lust, ein „Skolar" zu sein, offenbar nicht sonderlich stark (EG, 27). 42
Daß hier ein wenig jugendliche Prahlerei mit unterläuft, ist kaum zu leugnen. Aber es ist wahr, Rilke war von akademischer Gelehrsamkeit nie sonderlich beeindruckt. Oft meinte er, daß er in einer Laufbahn als Arzt vielleicht eine dauerndere Befriedigung gefunden hätte, aber sieht man von dieser vagen und flüchtigen Hoffnung auf Entrinnen ab, so hatten weder akademische Grade oder Berufe noch irgendeine Art konventionellen Wissens die geringste Verlockung für ihn. Er ist ein schweifender Träumer, heimatlos in der Welt abgezirkelter Kenntnisse, von der Sehnsucht nach der künstlerischen Verwirklichung einer selbsterschaffenen Welt erfüllt. Schon 1892 schrieb er, daß er nach einem festen, schönen und leuchtenden Ziel strebe, nicht auf dem Weg der Alltagsmenschen noch auf der ausgetretenen Straße der Millionen — „auf selbstgebahnten Wegen aufwärts dringen, empor zum einen ungetrübten Licht!" (Br. 1892—1904, 5). Rilkes Gefühl der Heimatlosigkeit, der Unzugehörigkeit war zutiefst in seiner geistigen Veranlagung begründet, aber es wurde durch die Umstände seines Lebens noch beträchtlich verstärkt. Die Erziehung zum Mädchen in seinen Kindertagen, die überspannten Künsteleien seiner Mutter, die Demütigungen der Militärschulzeit, die bürgerlichen Ideale seines Vaters, die Trennung der Eltern, das Fehlen jeglicher Anteilnahme an seinen Bestrebungen und schließlich das einsame Zimmer im Hause seiner Tante — all dieses mußte in verstärkendem Maße auf sein tägliches Leben und Empfinden wirken. Das Gefühl, verwaist zu sein, war echt und tief in ihm verwurzelt, wie die vielfältigen Gedichte zeigen, die die zarte Sehnsucht einer einsamen Seele beschwören (Br. Frühzeit, 229—230; 235 ff.). Doch diese Isolierung beschränkte sich nicht auf das Familienleben. Auch das doppelgesichtige Prag und die Lage der Tschechoslowakei inmitten des vielgestaltigen österreichischen Reiches trugen das ihre dazu bei. Prag war ein Vorposten deutsch-österreichischer Kultur auf tschechischem Boden. Es war wenig Raum für Verständnis zwischen dem satten, aber schon gefährdeten Überlegenheitsgefühl der deutschen Minorität und dem patriotischen Stolz des tschechischen Volkes. Gewiß war die österreichische Regierung jenseits des Politischen liberal und achtete die Freiheit, aber das konnte die Wirklichkeit der kulturellen Spaltung nicht aufheben. Rilke, der nach Erbe und Herkommen Deutscher war, blieb so die stärkende Bindung an das Volk, unter dem er aufwuchs, versagt. Es gab ein gewisses Maß an literarischem Leben unter den Deutschen, doch sah er sich allenthalben von einer fremden Welt umgeben, die doch schließlich die einheimische war. Wenn Rilke sein dichterisches Streben verwirklichen wollte, so mußte er sich, wie ihm zunehmend deutlicher wurde, nicht nur von seiner Familie, sondern auch von seiner Vaterstadt trennen. Selbst Österreich mit seinem bunten Gemisch von Völkern und Sprachen schien Rilke nicht die Atmosphäre zu sein, in der er gedeihen konnte. Er 43
lernte niemals Tschechisch, obwohl er das tschechische Volk, das böhmische Land und dessen Folklore sehr liebte. Aber die Volkslieder, die Landschaft und die Seele des einfachen, leidenden Volkes waren mit seiner Kindheit verknüpft, ein Zustand, dem Nationalität nichts bedeutet. Es besagt wenig, daß die Tschechen nicht das naive Volk waren, das Rilke, von der Herablassung seiner deutschen Verwandten und Bekannten beeinflußt, in ihnen sah (Demetz, 160). Bedeutungsvoll ist der Eindruck, den sie in ihm hinterließen. Alle Dinge der Kindheit bezauberten seine Seele, und die Gedichte aus dem Larenopfer, die sich mit dem tschechischen Land und Volk beschäftigen, zählen unter die besten dieser Sammlung. Allem Politischen war Rilke zutiefst abgeneigt, und die Bedeutung, die es in einer Stadt wie Prag haben mußte, verschärfte nur noch sein Gefühl der Heimatlosigkeit. In dem Gedicht In Dubiis bezeichnet er den als den Größten, der sich keiner Fahne verschreibt und der, da er sich vom Teile löste, nun zur ganzen Welt gehört. Es endet mit dem Gedanken, daß in diesem Ganzen, das seine wahre Heimat ist, das Vaterland nicht viel mehr ist als das Haus, in dem er geboren wurde (EG, 36—37). In einem Gedicht aus Traumgekrönt träumt ihm, daß sich die laute, kranke Welt plötzlich in Staub aufgelöst habe, in seinem Herzen bleibt nur der „Weltgedanke, der große" zurück. Und diese große Welt ist so, wie er sie dachte: frei von Widerstreit, nur die Flügel der goldenen Sonne breiten sich über die friedlichen grünen Wälder (EG, 75). Im Dezember 1895 äußerte er in einem Brief das Verlangen, sich von dieser Welt, diesem „Stäubchen im Weltall", abzuwenden und sich dem All selbst hinzugeben, vor dem die irdischen Mühsale fast wie ein Nichts erscheinen müßten (Br. 1892—1904, 7).
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TEIL
II
A B S C H I E D V O N PRAG
Hab ich nicht recht. .. Vater? (Vierte Elegie)
8. V E R W E I L E N O D E R
EILEN? Alles das Eilende wird schon vorüber sein .. (Son. I, 22)
In diesen Jahren löst Rilke sich deutlich aus den Bindungen, die ihn an den Alltag fesselten, denn ihn verlangte nach einem Reich des Geistes, in dem sich die Satzungen des menschlichen Lebens auflösen, wenn nicht gar widerlegt und wertlos werden. Mehr und mehr mißtraute er der pragmatischen Rationalisierung, durch die sich der moderne Mensch immer weiter von seinen Ursprüngen entfernt. In einem Gedicht an den tschechischen Dichter Julius Zeyer, den Onkel Vallys, begrüßt er dessen Bemühen, in seinem Volk die Liebe zu seinem Volkstum wachzuhalten, lobt aber gleichzeitig auch dessen Bestreben, die patriotischen Ideale seines Volkes vor wirklichkeitsferner und fruchtloser Selbstverherrlichung zu bewahren (EG, 30). Doch scheint Rilke auch hier zugunsten des Onkels seiner Geliebten etwas voreingenommen zu sein, denn dieser nahm am Ergehen des einfachen Volkes keinen sonderlichen Anteil. Zu Rilkes Zeit gab es unter den tschechischen Literaten eine kosmopolitische avant-garde, die das tschechische Schrifttum vor allem der Neuromantik und dem Symbolismus nach westeuropäischen Vorbildern anzupassen suchte. Sie sahen in Zeyer ihren bedeutenden Vorkämpfer (Demetz, 149—150). In den Zwei Prager Geschichten (1899), König Bohusdi und Die Geschwister, erklärt Rilke, was an diesen Dichtern und Künstlern zu tadeln ist: zwischen ihrer Kunst und ihrem Volk klafft eine unüberbrückbare Kluft. Auf ihrer Jagd nach dem Allerneusten schweifen sie im Ausland umher, in Paris und anderswo, um Stoff und Symbolwerte zu sammeln, und was sie schließlich heimbringen, ist ein großer Dünkel und eine fin-de-siecle-Attitude. Treibhausluft und fremde Geistesnahrung hat sie zu vorschneller Reife gebracht, und das hungernde Volk weiß mit ihren Produkten nichts anzufangen. In ihrer Ungeduld erreichen sie Anfang und Ende zu gleicher Zeit (ESF, 225). In Larenopfer findet sich ein bezauberndes kleines Gedicht, das diesen Zustand — was es auch immer sonst bedeuten mag — wohl zu kennzeichnen scheint. Es heißt Das Märchen von der Wolke. Eine kleine Wolke wird von dem goldgelben Monde angezogen, als die Nacht hereinbricht. Zu gern möchte sie ein wenig von dem glitzernden Golde erhaschen, um sich darin einzuhüllen. Langsam zieht sie vorüber, langsam genug, um sich mit dem zauberhaften 47
Licht ganz anzufüllen. Doch bald verschlingt die Nacht diesen Glanz, die Wolke ist wieder schwarz und verschwindet in der Finsternis (EG, 39). Es könnte nun scheinen, als bestände zwischen Rilkes Ermahnungen an die tschechischen Dichter, mehr Geduld zu üben und ihrem natürlichen Wachstum Zeit zu gönnen, und seinem eifersüchtigen Lob des Feigenbaums in der Sechsten Elegie ein Widerspruch: „Feigenbaum, seit wie lange schon ist mir bedeutend, wie du die Blüte beinah ganz überschlägst und hinein in die zeitig entschlossene Frucht, ungerühmt, drängst dein reines Geheimnis. Wie der Fontäne Rohr treibt dein gebognes Gezweig abwärts den Saft und hinan: und er springt aus dem Schlaf, fast nicht erwachend, ins Glück seiner süßesten Leistung. Sieh: wie der Gott in den Schwan. . . . Wir aber verweilen, ach, uns rühmt es zu blühn, und ins verspätete Innre unserer endlichen Frucht gehn wir verraten hinein." Bei näherer Betrachtung erweist sich jedoch, daß dieser Widerspruch in Wirklichkeit nicht besteht. Was hier den verlangenden Blick des Dichters auf sich zieht, ist die Tatsache, daß der Feigenbaum unverzüglich in die „süßeste Leistung" zu springen vermag, ohne gegen die Gesetze seines organischen und natürlichen Wachstums zu verstoßen. Soll dagegen ein Mensch zu echter Reife gelangen, so ist er der schmerzlichen Notwendigkeit unterworfen, langsam zu wachsen. Und doch treiben ihn sein ungeduldiger Geist und sein sehnsüchtiges Herz voran und eilen ihm voraus. Unser natürliches Wachstum — das des einzelnen wie das der Gemeinschaft — stimmt in seinem Zeitmaß mit unseren verstandesmäßigen Einsichten, unseren wissenschaftlichen Errungenschaften und unseren Träumen, also mit der Welt, in der wir leben, nicht überein. Wenn wir unsere Reife erlangt haben, ist es zu spät. Die tschechischen Künstler verstümmelten ihre Entwicklungsmöglichkeiten, indem sie sich von ihrem nährenden Ursprung, von ihrem Volke, lösten, und so war das, was sie hervorbrachten, blutlos und brüchig. Daß Rilke selber die Stadt, das Land seines Ursprungs verließ, um niemals dorthin zurückzukehren, ist offenbar ein Vorgang anderer Art. Die leiblichen und sozialen Bedingungen, in die er hineingeboren wurde und unter denen er aufwuchs, konnten ihm die nährenden Stoffe nicht geben, deren er bedurfte, und so trieb die innere Notwendigkeit wie der Druck der Verhältnisse ihn, sich nirgends und überall, nahe bei dem Ursprung von Geburt und Tod, eine neue Heimat zu suchen. Das Erlebnis des Zuspätseins wie das des Vorauseilens waren für Rilke in gleicher Weise Grund zur Unzufriedenheit; tatsächlich waren sie mit48
einander verknüpft und bedingten einander. Das Gefühl, kostbare Jahre der Kindheit und Jugend verloren zu haben, verließ ihn niemals. Das sehnsüchtige Lob, das er dem Feigenbaum in der Sechsten Elegie zuteil werden läßt, ist der poetische Ausdruck dafür, und in seinem berühmten Brief an seinen ehemaligen Lehrer, den Generalmajor v. Sedlakowitz in St. Pölten, gibt er mit Bitternis zu bedenken: „ . . . daß ich damals, bei meinem Austritt aus der Militär-Oberrealschule, als ein Erschöpfter, körperlich und geistig Mißbrauchter, verspätet, sechzehnjährig, vor den ungeheuren Aufgaben meines Lebens stand, betrogen um den arglosesten Teil meiner Kraft und zugleich um jene, nie wieder nachzuholende Vorbereitung, die mir reinliche Stufen gebaut haben würde zu einem Anstieg, den ich nun, geschwächt und gesdiädigt, vor den steilsten Wänden meiner Zukunft beginnen sollte" (Br. 1914—1921,352). Es wäre jedoch falsch, wollte man glauben, diese frühzeitige Verzögerung sei die einzige gewesen oder habe allein zu diesen schmerzlichen Klagen Anlaß gegeben. Zu spät zu kommen, sich durch eine verzögerte Entwicklung benachteiligt zu fühlen verursachte ihm in allen Phasen seines Lebens immer wieder demütigende Besorgnis, während er gleidizeitig stets gehorsame Unterwerfung unter die Gesetze des Wachsens von sich forderte. Wie er in einem seiner Sonette sagt, sind „Wir gerecht nur, wo wir dennoch preisen", weil wir nichts sind als „das Süße reifender Gefahr" (Son. II, 23). Und einige Monate später, im Dezember 1922, beschwört er uns, gleich den in der Erde verwurzelten Blumen unseren inneren Lauf an der uns gebotenen Stelle zu vollenden (AWI, 376—377). Während und nach seiner Reise nach Rußland klagt Rilke darüber, daß er unfähig — das heißt nicht reif genug — sei, die überwältigenden Eindrücke zu verarbeiten und die befreienden und verwandelnden Symbole für sie zu finden. Es ist bezeichnend, daß das Hauptmotiv, das emportauchte, als das Erlebnis Rußlands sich schließlich in der ersten Fassung des Stundenbuches kristallisierte, verborgenes geduldiges Wachsen war. Selbst der russische Gott wurde niemals vollendet, sondern reifte in den Tiefen der russischen Seele, hinter den unpersönlichen Gesichtszügen der Ikonen weiter. Sein ganzes Leben lang harrte Rilke auf die glückliche Konstellation, die alle auseinanderstrebenden Elemente in dem Brennpunkt eines schöpferischen Augenblicks vereinigen sollte. Dabei entwickelte er ein äußerst feines Gespür, das ihn die verborgensten Regungen des Lebens erfühlen ließ. Sein Warten und Lauschen war geduldig und ungeduldig zugleich: geduldig, weil er in tiefster Seele wußte und die Erfahrung ihm bestätigt hatte, daß die Stunde kommen würde, in der sich das plastische Wort einstellte. „Da neigt sich die Stunde und rührt mich an / mit klarem, metallenem Schlag: / mir zittern die Sinne" (AW I, 9). Ungeduldig war es hinwiederum, weil Warten Qual bereitet und Geist und Leib des Menschen 4 G r a f f , Rilke
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sich dieser Anspannung nicht immer gewachsen fühlen. Im gleichen Stundenbuch, in dem Rilke den unvollendeten Gott des russischen Volkes preist, wendet er sich gegen die Bilder der italienischen Renaissance wegen ihres strahlenden Lichts, ihrer strahlenden Farben und der fraglosen Endgültigkeit ihres Konturs und Ausdrucks. Sie scheinen ihm zu laut, zu voreilig, als habe man zu früh finis unter den vielfältigen Fortgang des Lebens geschrieben. Sie malen Madonnen wie schöne Mütter. „Der Ast vom Baume Gott, der über Italien reicht, / hat schon geblüht. / Er hätte vielleicht / sich schon gerne mit Früchten gefüllt, verfrüht, / doch er wurde mitten im Blühen müd, / und er wird keine Früchte haben" (AW I, 25). Ebenso sind ihm der italienische Frühling mit seinem plötzlichen Ausbruch verschwenderischen Blühens, die Schweizer Alpen mit ihrer Schaustellung prahlerischer Größe, wie sie eine ungeduldige Natur hervorbrachte, Sinnbild der Hast, die eine erfüllte Reife vereitelt. „Alles das Eilende / wird schon vorüber sein" (Son. I, 22).
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9. R I L K E
UND
DIE
MUCKER Lieber im Freien verrecken Als sich im Winkel verstecken Lauernd und lugend! (BVP 1896)
Doch kehren wir zum jungen Rilke zurück. Die Einsicht, daß Dichten seine wahre Bestimmung sei, nahm gegen Ende der Prager Jahre immer greifbarere Gestalt an. Sein Vertrauen und sein Glaube waren groß, wenn seine Zukunft auch gänzlich im Ungewissen lag. Doch mag ihm wohl eine Vorahnung der Opfer gekommen sein, die ein solches Leben fordern würde; so wie er es später im Requiem für Paula Modersohn-Becker wissend ausspricht: „Denn irgendwo ist eine alte Feindschaft / zwischen dem Leben und der großen Arbeit" (AW I, 219). Unter anderm ist das Gedicht Der junge Bildner aus dem Larenopfer hier recht bezeichnend. Eine innere Stimme sagt dem jungen Künstler, daß er sein Mädchen verlassen und nach Rom ziehen müsse, um dort ein Meisterwerk zu schaffen. Er verspricht ihr, in einem Jahr zurückzukehren, aber während er seinen Plänen nachgeht, quält ihn ein Gefühl der Schuld und treibt ihn heim, wo er sein Mädchen nicht mehr lebend findet. Und so wird das Bild des toten Mädchens sein Meisterwerk (EG, 15). Der tiefere Sinn dieser traurigen Begebenheit kann einen kaum ganz ungerührt lassen, wenn man bedenkt, daß Rilkes glanzvolles Werk um den Preis heimatlosen Umherwanderns und schmerzlicher Einsamkeit entstand. Es findet sich in Rilkes Charakter ein Wesenszug, der sich in seinen Äußerungen ohnehin deutlich genug ausspricht, zuweilen aber mit besonderer Schärfe hervortritt. So zeigt er sich in den Jahren, in welchen der Entschluß heranreift, die Bande, die ihn mit Familie und Heimat verknüpfen, zu zerreißen, mit ungeahnter Heftigkeit. Man könnte ihn als eine trotzige Entschlossenheit bezeichnen, die ihn nach den Bedingungen streben ließ, unter denen er sein wahres Selbst entfalten und sein ganzes Leben der treibenden Kraft in seinem Innern anheimgeben konnte. Um sich diese Bedingungen zu schaffen, mußte er, wenn nötig, rücksichtslosen Widerstand leisten und sich gegen alle Hindernisse zur Wehr setzen, die sich ihm entgegenstellten. In seiner Kindheit hatte er schon aus einem unbewußten Trieb heraus so gehandelt, als er trotz aller Entmutigung daheim und aller Demütigung in der Schule weiter seine Verse schrieb. Später wurde diese 4'
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Haltung zum bewußten Kampf, der ihm und anderen manchen Schmerz bereitete. In der Jugend waren die Hindernisse am größten und sein Widerstand am hartnäckigsten, denn noch waren seine dichterischen Bestrebungen tastend, seine Zukunft war in den Augen der anderen unsicher und die Abhängigkeit von seiner Familie unausweichlich. Zuvor mußte er einen Weg aus dem Gewirr gesellschaftlicher Konventionen und hergebrachter Gewohnheiten finden. Im April 1897 schrieb er an Ludwig Ganghofer, daß eine trübe Kindheit ihn mißtrauisch gemacht habe, daß er sich allein von dem Zwang der Militärschule habe befreien müssen und daß seine Verwandten die Kunst für einen Zeitvertreib hielten, den man in den Freistunden betreibe. „Wer sich der Kunst nicht ganz mit allen Wünschen und Werten weiht, kann niemals das höchste Ziel erreichen . . . Nicht als Martyrium betrachte ich die Kunst — aber als Kampf, den der Auserwählte mit sich und seiner Umgebung zu kämpfen h a t . . ." (Br. 1892—1904, 40). Und an anderer Stelle finden sich die Verse (Br. 1892—1904, 5): „Es sei, so wähnen edle Menschenkenner, Oft ein Genie dem Untergang geweiht. Nein! Schafft die Zeit sich keine großen Männer, so schafft der Mann sich eine große Zeit! —" Wie tief sein Widerstand gegen die öffentliche Meinung war, zeigt sich in einer Skizze Ein Charakter, die das Datum Februar 1890 trägt. Sie schildert die Laufbahn eines Geschäftsmannes, der von Kind an als Stolz der Familie zur Sdiau gestellt wurde. Jeden Sonntag wurde er in das kalte Wohnzimmer gerufen, wo er herumgezeigt und diese oder jene Familienähnlichkeit, seine Klugheit oder was sonst auch immer bewundert wurde. So lernte der Kleine sehr bald, was die anderen von ihm erwarteten und wie er sich zu verhalten hatte. Als sein Vater starb, übernahm er das Geschäft und sogleich tauchten die ersten Gerüchte auf: es werde mancherlei Änderungen und Neuerungen geben. Und so war es auch; die Neuerungen wurden vorgenommen und hatten Erfolg. Nun tuschelte man sich zu, daß der junge Mann verlobt sei, und verschwieg auch den Namen der Glücklichen nicht. Nach geraumer Zeit kam diese Verlobung dann auch zustande, und die Hochzeit folgte ihr bald. Hier und dort hatte man inzwischen erfahren, daß dieser vermögende Mann zugunsten eines neuen Theaters eine beträchtliche Summe stiften werde. Wie konnte er sie nun verweigern, wollte er nicht seine Geschäfte beeinträchtigen? Dann hörte man, daß seine junge Frau ein Kind erwarte. Dieses Gerücht hätte sich jedoch beinahe als falsch erwiesen, denn das erwartete Ereignis blieb aus. Doch nun hieß es in aller Verschwiegenheit, daß eine Kur in einem nahen Bade vielleicht nützen könne, und dieser Vorschlag führte zu dem gewünschten Ergebnis. Bald darauf erfuhren gute Freunde von wohlunterrichteter Seite, daß man dem 52
vortrefflichen Mann eine besondere Auszeichnung zugedacht habe, und so bestätigte sich denn auch dieses Gerücht. Schließlich wurde der Arme krank. Die Menge, die sich vor seinem Hause versammelt hatte, weckte ihn aus seinen Fieberträumen, und auf seine Frage hin sagte man ihm, es habe sich das Gerücht von seinem Tode verbreitet. Gefügig verfiel er dem Fieber und starb (BVP 1896, 75-80). Es ist wohl deutlich, daß Rilke in dieser Skizze kein realistisches Bild entwerfen, sondern eine bestimmte Lebenshaltung lächerlich und verächtlich machen wollte. Diese Schilderung, der jeder versöhnliche Zug fehlt, trägt die unverhüllten Merkmale der Karikatur, oder man könnte sie als Parabel bezeichnen. Jedenfalls eröffnet sie einen Ausblick auf ganz bezeichnende Rilkesche Motive. Hier ist ein Mensch, der so lebt, liebt und stirbt, wie die Leute es von ihm erwarten. Im allgemeinen heißt es, daß der Gedanke vom „eigenen Tod" Rilke durch Jens Peter Jacobsen gekommen sei. In dieser Skizze zeichnet er sich bereits deutlich ab. Der Tod dieses Mannes ist von der gleichen Art wie jener im Hotel-Dieu in Paris, wo fabrikmäßig nach allgemeinen Richtlinien gestorben, wo der Tod als Fertigware ausgeliefert und nach Klasse und Kennzeichnung erledigt wird (AW II, 11-12). Er ist jenem von Paula Modersohn verwandt, die nicht im Gehorsam zu dem ihr eigenen Gesetz einer bildenden Künstlerin lebte und starb, sondern in die Welt ihres Mannes zurückkehrte, „in eine Welt zurück, wo Säfte wollen" (AW I, 214) und wo sie starb, „wie Frauen früher starben, / altmodisch starbst du in dem warmen Hause / den Tod der Wöchnerinnen" (AW I, 216-218). „Denn dieses Leiden dauert schon zu lang, und keiner kanns; es ist zu schwer für uns, das wirre Leiden von der falschen Liebe, die, bauend auf Verjährung wie Gewohnheit, ein Recht sich nennt und wuchert aus dem Unrecht. Denn das ist Schuld, wenn irgendeines Schuld ist: die Freiheit eines Lieben nicht vermehren um alle Freiheit, die man in sich aufbringt." Nicht sehr viel später, im Juni 1909, schreibt Rilke an den Wiener Buchhändler Hugo Heller, dessen erste Frau gleich Paula Modersohn-Becker Malerin war und im Kindbett starb, daß das Schicksal, welches er sich in seinem Requiem darzustellen und zu beklagen bemüht habe — jenes unerbittliche Schicksal, das auch Hugo Heller so unmittelbar nahe erfuhr —, vielleicht der wahre Konflikt des Künstlers sei: der Gegensatz und Widerspruch zwischen objektiver Erfahrung und persönlicher Lust an der Welt (Letters 1892-1910, 345). 53
Und das Leben jenes Mannes ist offenbar genau so falsch wie sein Tod. Es ist wie eines jener zahllosen Leben, die von ihren zufälligen Besitzern verlassen wurden und nun wie in Schatzhäusern umherliegen „wie Panzer oder Sänften oder Wiegen, / in welche nie ein Wirklicher gestiegen" (AWI, 65) oder „wie Gewänder, welche ganz allein / nicht stehen können und sich sinkend schmiegen / an starke Wände . . . " (AWI, 63). Wenn es galt, die Unabhängigkeit und Einsamkeit zu wahren, deren er für seine Arbeit bedurfte, fand Rilke stets eine passende Formel, hinter der sich oft genug ein beträchtliches Maß an Sophisterei verbarg. Am 29. April 1901 heiratete er Clara Westhoff, eine nahe Freundin Paula Beckers, die sich ihrerseits einige Wochen später mit Otto Modersohn vermählte. Paula Modersohn fühlte sich tief enttäuscht und betrübt, als sie annehmen mußte, daß Clara Westhoff über ihrer Ehe ihre Freundschaft vergessen habe, und so beklagte sie sich gegen Ende des Jahres 1901 in einem Brief, in dem sie Rilke gleichzeitig beschuldigte, die Persönlichkeit seiner Frau vergewaltigt und ihre Unabhängigkeit zerstört zu haben. „Ich folge Ihnen ein wenig in Wehmut", so schreibt sie an Clara Rilke. „Aus Ihren Worten spricht Rilke zu stark und zu flammend. Fordert das denn die Liebe, daß man werde wie der andere? Nein und tausendfach nein. Ist nicht dadurch der Bund zweier starker Menschen so reich und so allbeglückend, daß beide herrschen und beide dienen in Schlichtheit und Friede und Freude und stiller Genügsamkeit? . . . wie mir scheint, haben Sie viel von Ihrem alten Selbst abgelegt und als Mantel gebreitet, auf daß Ihr König darüberschreite . . . Lieber Rainer Maria Rilke, ich hetze gegen Sie. Und ich glaube, es ist nötig, daß ich gegen Sie hetze" (Modersohn-Becker, 165). Das Interessante an diesem Brief ist, daß Paula Modersohn Rilke vorwirft, er beschränke Clara in ihrer Selbständigkeit und beschneide ihr Recht auf Freiheit und Zurückgezogenheit. Sie beschuldigt ihn eben jenes männlichen Besitztriebes, den er später so heftig rügen sollte. Und es ist bezeichnend, daß es nicht Clara, sondern Rilke war, der diesen Brief im Februar 1902 beantwortete und die gegen ihn vorgebrachten Klagen dabei geschickt zu seinem Vorteil zu drehen wußte — ein frühes und aufschlußreiches Beispiel dafür, wie Rilke seine Schwächen so zu wenden verstand, daß sie seinen Bedürfnissen dienlich waren. Mit tiefgefühlter Entrüstung schrieb er aus Bremen (Br. Frühzeit, 167): „Wundert es Sie, daß die Schwerpunkte sich verschoben haben, und ist Ihre Liebe und Freundschaft so mißtrauisch, daß sie immerfort sehen und greifen will, was sie besitzt? . . . Auch ich stehe still und voll tiefen Vertrauens vor den Toren dieser Einsamkeit, weil ich für die höchste Aufgabe einer Verbindung zweier Menschen diese halte: daß einer dem andern seine Einsamkeit bewache. Denn wenn das Wesen der Gleichgültigkeit und der Menge darin besteht, keine Einsamkeit anzuerkennen, so ist Liebe und Freundschaft dazu da, fortwährend Gelegenheit 54
zur Einsamkeit zu geben. Und nur das sind die wirklichen Gemeinsamkeiten, die rhythmisch tiefe Vereinsamungen unterbrechen." Es ist wahr, Clara erwartete gerade ein Kind, als Paula ihren Brief schrieb, und als Rilke antwortete, war er bereits Vater geworden und von mancherlei Sorgen über seine und seiner Familie Zukunft bedrückt. Doch Paula Modersohns Klagen beziehen sich auf die ganze Zeit seit Claras Hochzeit, und es ist kaum zu glauben, daß sie gänzlich im Irrtum war, als sie meinte, Rilke drücke seine schönen, bunten Siegel nicht nur seinen feingeschriebenen Briefen, sondern auch seiner Gattin auf (Modersohn-Becker, 165). Als Rilke sich 1906 in Capri aufhielt, während Clara in Deutschland zurückgeblieben war, machte Lou Andreas-Salomé Rilke in einem Brief an Clara den Vorwurf, daß er sich seinen Pflichten als Gatte und Vater entziehe. Die Entgegnung des Dichters zählt zu seinen ergreifendsten und aufschlußreichsten Bekenntnissen an seine Frau: sie ist Selbstrechtfertigung, Erklärung und Abbitte zugleich (Br. 1,148—153). Die verbissene Entschlossenheit Rilkes, sich seine Unabhängigkeit und Freiheit in einer ihm gemäßen Welt zu sichern und zu schützen, kommt zuweilen offenem Widerstand gleich. In dem spürbar von Nietzsche inspirierten kleinen Gedicht Flammen (1896) äußert er sich recht heftig: „Lieber im Freien verrecken, Als sich im Winkel verstecken Lauernd und lugend! Immer zum Licht, wer auch hohnlacht, Besser, als eigne Ohnmacht Stempeln zur Tugend! — Ist nicht geheuer die Tugend! Loderndes Feuer der Jugend, Das laß ich gelten. Wer will die Flammen verdammen? Fiebernden Flammen entstammen Werke und Welten\" (BVP 1896, 59). Doch ein noch weit offenerer Ausbruch Rilkescher Unerbittlichkeit ist die ebenfalls im Jahre 1896 entstandene Erzählung Der Apostel. Die meisten Biographen wissen diesen Ausfall rücksichtslosen Aufbegehrens weder zu deuten noch im Gesamtwerk Rilkes einzuordnen. Nora Wydenbruck nennt sie ein „kindliches Evangelium des Hasses", dessen Grundton sie aus der „Ideologie" herleiten will, wie Ewald Tragy (Rilke) sie sich in München unter dem Druck seiner snobistischen Umgebung zusammengebraut hatte (Wydenbruck, 49). Mit ihrer Hilfe wurde Ewald, der bis dahin ein verlorenes und verirrtes Schaf gewesen war, sogleich eines der begehrtesten Mitglieder dieses Kreises (ET, 48). Ich weiß nicht, worauf Nora Wydenbruck ihre Ansicht gründet, aber selbst wenn sie zuträfe, würde eine solche 55
Deutung die Intensität des sich darin aussprechenden Seelenzustandes kaum einschränken. In dem großen, strahlend erleuchteten Eßsaal eines Hotels sind Männer und Frauen der vermögenden Kreise versammelt, um ihre Geistreicheleien und ihren kostbaren Schmuck zur Schau zu tragen und die besten Weine und erlesensten Speisen zu genießen. So haben sie schon Tage zugebracht. Am einen Ende des Tisches sitzt ein altmodisch gekleideter Fremder von blassem, strengem Äußeren. Eine junge verwitwete Baronin, die ihn für einen Künstler hält, bemüht sich verzweifelt, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, indem sie die glitzernden Reflexe ihrer Diamanten auffällig zu ihm hinüberblitzen läßt. Als dieses Bemühen ohne Wirkung bleibt, lenkt sie das Gespräch auf eine schreckliche Feuersbrunst, die in einem nahen Dorfe viele Menschen obdachlos machte. So schlägt sie vor, man solle ein Wohltätigkeitskomitee zur Unterstützung dieser Unglücklichen begründen, und wendet sich dem Fremden mit einer besonderen Aufforderung zu. Alle stimmen zu, nur er lehnt mit einem schroffen „Nein" ab. Und in die allgemeine Betroffenheit verkündet er nun unerbittliche Härte gegen alles menschliche Elend: „Sie tun ein Werk der Liebe, ich geh in die Welt, um die Liebe zu töten. Wo ich sie finde, da morde ich sie. Und ich finde sie oft genug in Hütten und Schlössern, in Kirchen und in der freien Natur. Aber ich folge ihr unerbittlich . . . Die Menschen waren unreif, als der Nazarener zu ihnen kam und ihnen die Liebe brachte. Er, in seinem lächerlichen, kindischen Edelmut, glaubte, ihnen ein Gutes zu tun! — Für ein Geschlecht von Giganten wäre die Liebe ein herrliches Ruhekissen, in dessen wollüstiger Weise sie neue Taten träumen dürften. Den Schwachen aber ist sie Ruin . . . Ich spreche nicht von der Liebe der Geschlechter. Von der Nächstenliebe spreche ich, von Mitleid und Erbarmen, von Gnade und Nachsicht. Es gibt keine schlimmeren Gifte in unserer S e e l e . . . Der, den sie als Messias preisen, hat die ganze Welt zum Siechenhaus gemacht. Die Schwachen, Elenden, Hinfälligen nennt er seine Kinder und Lieblinge. Und die Starken, die sind dazu da, diese kraftlose Brut zu beschützen, zu besorgen, zu bedienen!? Und wenn ich es in mir fühle heiß, innig und himmlisch, das stürmende Drängen nach Licht, und wenn ich mit festem Fuß den steilen, steinigen Pfad der Erreichung aufwärts steige und wenn ich es leuchten sehe, das lodernde göttliche Ziel — dann soll ich mich zu dem Krüppel bücken, der am Wege zusammengesunken dahockt, soll ihn loben, aufrichten, mitschleppen und soll meine fiebernde Kraft versickern lassen in dem ohnmächtigen Kadaver, der nach wenigen Schritten doch wieder hintaumelt? — Wie sollen wir denn hinauf, wenn wir unsere Stärke den Elenden leihen? . . . Nie kann die stumpfe, vielsinnnige Menge Träger des Fortschritts sein; nur der ,Eine', der Große, 56
den der Pöbel haßt im dumpfen Instinkte eigener Kleinheit, kann den rücksichtslosen Weg seines Willens mit göttlicher Kraft und sieghaftem Lächeln wandeln . . . " (ESF, 347-357). Das ist eine harte Sprache, und sie kommt uns von einem Dichter, der allenthalben und in gewissem Sinne zu Recht um seines einfühlenden Verstehens willen geliebt wird, den eine feinfühlige und begeisterte Frau, die Fürstin Marie von Thum und Taxis, den „Seraphico" nennen konnte und dessen Werk von der tiefen Liebe zu den Armen und Entrechteten erfüllt scheint. Wie man nun die Worte des „Apostels" auch deuten mag, sie zeigen, daß sich Härte und Rücksichtslosigkeit in Rilkes Haltung fand, die wir zu erkennen und zu verstehen suchen sollten. Es genügt nicht, darauf hinzuweisen, daß er sie gleichsam stellvertretend geäußert habe oder daß es sich hier um die Ausbrüche eines aufbegehrenden Jünglings handle, der an seinen Fesseln zerre. Derartige Äußerungen der Auflehnung finden sich zu oft. Rilke hatte zweifellos Schopenhauer wie Nietzsche gelesen. Von dem schwedischen Schriftsteller Hans Larsson schrieb er in einem Brief vom 9. Juli 1904: „Nietzsche, von dem sie bei uns alle einen Rausch bekommen haben, hat er als Medizin eingenommen und ist noch gesünder geworden davon" (Br. 1 9 0 2 - 1 9 0 6 , 1 9 5 ) . Es ist schwer abzuschätzen, wie offen Rilke solche und ähnliche Äußerungen in jener Zeit tat. Seine Tagebücher, seine Skizzen, Der Apostel, Ein Charakter und anderes mehr wie der stark autobiographische Ewald Tragy wurden erst nach seinem Tode veröffentlicht, während seine Briefe allein den ihnen bestimmten Empfängern zukamen. Mochte er seine aufbegehrende Haltung auch nicht ganz verbergen, so äußerte er sie doch gewiß nicht in aller Öffentlichkeit. An Wilhelm von Scholz schrieb Rilke am 9. Februar 1899: „Ich habe viele Ursachen, die Christus-Bilder [Christus Visionen] zu verschweigen — lange — lange noch. Sie sind das Werdende, das mich begleitet lebenentlang" (SW III, 790). Noch war er vom guten Willen und vom Verständnis seiner Eltern, seiner Verwandten und Bekannten wirtschaftlich wie gefühlsmäßig zu abhängig, und vor allem war er bestrebt, seine Begabung gegen sie zu verteidigen. So war er genötigt, seine Zuflucht zu allerlei Heimlichkeiten und Ausflüchten zu nehmen, um nicht zu sehr zu schrecken und zu befremden (s. u. S. 310).
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10. R I L K E
UND
CHRISTUS
Ich kann mir nicht vorstellen, daß das Kreuz bleiben sollte, das nur ein Kreuzweg war ... Welcher Wahnsinn, uns nach einem seits abzulenken, wo wir hier von Aufgaben und Erwartungen Zukünften umstellt sind. (AW II, 306,
doch Jenund 308).
Rilkes Verhältnis zum Christentum machte in seinen Jugendjahren tiefgreifende Wandlungen durch. Sie wurden von einem Gefühl des Grolls gegen seine Mutter und ihre übersteigerte Frömmigkeit, die auch seine Erziehung bestimmt hatte, durchzogen. Dieser Groll galt zudem jenen Fesseln, die die Betrachtung der vermittelnden Heiligen der Freiheit und Selbständigkeit der eigenen Eingebung auferlegt. Wie er das Joch des Schutzengels abwarf, zeigen seine frühen Engellieder, von denen eines prometheischer Kühnheit nahekommt (FG, 26): „Ernster Engel aus Ebenholz: du riesige Ruh. Dein Schweigen schmolz noch nie in den Bränden von Büßerhänden. Flammenumflehter! Deine Beter sind stolz: wie du. — Der du versteinst, du über den Blicken beginnender König, erkiese dir ein Geschlecht, dem du gerecht erscheinst, saumsinnender Riese. — Du, aller Matten Furchteinflößer, Einer ist größer als du: dein Schatten." Ebenso wie dem „Apostel" war Christus als Mittler und Erlöser auch Rilke im Wege. Schon in einem Gedicht aus dem Jahre 1893 leugnet er die Göttlichkeit Christi mit Entschiedenheit (Sievers, 79; S W III, 4 9 1 - 4 9 3 ; 816). Daß Christus sich wie Gott verehren ließ, war für Rilke ein Ausdruck von 58
Hoffart. Statt seine Menschlichkeit und Sterblichkeit gleich den andern anzunehmen, zog er es vor, am Kreuz zu sterben, um so seine grenzenlose Eitelkeit zu befriedigen. Unter dem Titel Christus (1896-1898) behandelt er in Elf Visionen das gleiche Thema (SW III, 1 2 9 - 1 6 9 ; 790 f.). Christus wird zum Vater eines Kindes der Maria Magdalena gemacht und seines übernatürlichen Wesens entkleidet. Nur Kinder haben das Recht, ihn Gott zu nennen, wie allein die Kinder Anrecht auf einen Schutzengel haben. Christi Tod am Kreuz ist ein Zugeständnis an die Massen. Unfähig, seine einmalige und einzigartige Größe zu begreifen, hielten sie ihn erst für einen Narren, um ihn dann auf dem Kalvarienberg zum Gott zu machen und auferstehen zu lassen. In Wirklichkeit setzten sie damit seine ungeheure Menschlichkeit herab. Aus Scham und Reue, weil er sich mit maßlosem Stolz Sohn Gottes genannt hatte, läßt er sich von einer geilen Dirne zu wildem Sinnenrausch verführen und zum Spott mit einem Kranz von zerdrückten und verwelkten Rosen krönen. „Wir sind der ewge Erbfluch dieser Welt: Der ewige Wahn ich — du die ewige Dirne"
(SW III, 152).
Als der Jude, nicht als der Erlöser, steht er am Grabe von Rabbi Low auf dem Judenfriedhof, um mit Gott zu kämpfen und zu rechten, der ihn durch elenden Betrug am Kreuz hat sterben lassen. „Und dann von tausend Erdensorgen schwer stieg meine Seele in den hohen Himmel, und meine Seele fror: denn er war leer"
(SW III, 158).
Den toten Rabbi in seinem Grabe redet er an: „Dir auch gefiel es, Alter, manchen Spruch zur Ehre jenes Gottes zusammzuschweißen. Wer hat dich, morscher Tor, auch blättern heißen in alten Psalmen und im Bibelbuch? Du hast so viel gewußt, stehst im Geruch, dich gar geheimer Weisheit zu befleißen. Heraus damit jetzt! Weißt du keinen Fluch, daß ich des Himmels blaues Lügentuch mit seiner Schneide kann in Stücke reißen?" (SW III, 158 f.). Andere Gedichte der gleichen Zeit, Das Jüngste Gericht (BB, 8 0 - 8 7 , NG, 147), Kreuzigung (NG, 157) und Abendmahl (NG, 176), die später in anderen Fassungen erscheinen, zeigen Rilkes Bemühen um eine Säkularisierung der Gestalt Christi, dessen Liebe zu Maria Magdalena in den Augen des Dichters zwar vorbildlich, aber rein menschlich war. Sein Tod am Kreuz war kein aufopferndes Martyrium, sondern die Besiegelung seiner gehorsamen Unterwerfung unter die Gesetze des Lebens. Und sein Abendmahl 59
unterstreicht nur seine völlige Einsamkeit inmitten seiner Jünger, die ihn alle mißverstehen und deshalb verraten. In einem Brief, den er am 17. Dezember 1912 in Ronda in Spanien an die Fürstin Marie von T h u m und Taxis schrieb, findet sich eine Stelle von lästerlicher Bösartigkeit: „. . . ich bin seit Cordoba von einer rabiaten Antichristlichkeit, ich lese den K o r a n . . . wirklich, man soll sich länger nicht an diesen abgegessenen Tisch, setzen und die Fingerschalen, die noch herumstehen, für Nahrung ausgeben. Die Frucht ist ausgesogen, da heißts einfach, grob gesprochen, die Schalen ausspucken. Und da machen Protestanten und amerikanische Christen immer noch wieder einen Aufguß mit diesem Teegrus, der zwei Jahrtausende gezogen hat, Mohammed war auf alle Fälle das Nächste; wie ein Flug durch ein Urgebirg, bricht er sich durch zu dem einen Gott, mit dem sich so großartig reden läßt jeden Morgen, ohne das Telephon ,Christus', in das fortwährend hineingerufen wird: Holla? wer dort? — und niemand antwortet" (Br. 1 9 0 7 - 1 9 1 4 , 2 5 5 - 2 5 6 ) . Man mag zugeben, daß ihn dieser Ausfall von Unmut in einem Zustand allgemeinen Obelbefindens,
körperlicher Leiden und geistiger
Nieder-
geschlagenheit bei dem bedrückenden Anblick der verlassenen Kirchen und Kapellen im maurisch-katholischen Spanien überkam. Doch in seinem gesamten Werk sind Äußerungen ähnlicher Art verstreut, unter denen das schöne Gedicht Der Ölbaum-Garten
bemerkenswert ist. Hier läßt er Christus
einen Schrei ungläubiger Verzweiflung ausstoßen (NG, 26—27): „Ich bin allein mit aller Menschen Gram, den ich durch Dich zu lindern unternahm, der Du nicht bist. O namenlose Scham . . . Denn Engel kommen nicht zu solchen Betern, und Nächte werden nicht um solche groß. Die sich-Verlierenden läßt alles los, und sie sind preisgegeben von den Vätern und ausgeschlossen aus der Mütter Schooß/' Sehr viel später, im Jahre 1922, schrieb Rilke zu gleicher Zeit wie seine Sonette an Orpheus jenen erdachten Brief des jungen Arbeiters, in dem Christus als Erlöser und Mittler verworfen wird und sein Kreuz nur noch ein Wegweiser ist, den man hinter sich läßt und vergißt, sobald der rechte Weg einmal eingeschlagen ist ( A W II, 305 ff.). In ähnlichem Sinne versteht er die Religion an anderer Stelle allein als eine Richtung des Herzens, wobei eben die Richtung und nicht das fest umrissene Ziel bedeutsam ist. Stets 60
schreckt Rilke vor allen Bindungen zurück, die nicht in ihm selbst ihren Ursprung haben und sich schließlich in das erfüllte und ersehnte Gedicht verwandeln. In diesem Sinne ist Rilkes Gott ein poetischer Name für den schöpferischen Geist, ähnlich wie es in Joh. 3, 8 heißt: „Der Wind bläst, wo er w i l l . . . " Im Gegensatz zu Nietzsche strebte Rilke jedoch nicht nach einer Umwertung der Werte. Zwar gibt er zu, daß er die christliche Vorstellung von einem Jenseits ablehne, aber er hat nicht die Absicht, sie anzugreifen. Wie Lou Albert-Lasard berichtet, wies er es später mit Heftigkeit zurück, Nietzsche mit ihr zu lesen (Albert-Lasard, 79). Sein Unwille war wohl vor allem ästhetischer Art und hatte seinen Grund in seinem leidenschaftlichen Verlangen nach uneingeschränkter Herrschaft im Reich seiner Dichtung.
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11. R I L K E U N D D E R
„NACHBAR" Fremde Geige, gehst du mir nach? (BB)
Neben der unerbittlichen Entschlossenheit, mit der Rilke seine schöpferische Freiheit verteidigte, mag noch ein anderer Zug zur Deutung seiner unbeirrbaren Selbstbezogenheit beitragen. Man kann ihn wohl als Trieb zu bedingungsloser Hingebung bezeichnen, und es ist eine seiner größten Leistungen, daß er diesen Hang der äußersten und uneingeschränkten Hingabe seiner dichterischen Eingebung dienstbar zu machen vermochte. Um sich zu vergegenwärtigen, welcher Hingerissenheit er fähig war, mögen wohl jene stammelnden Worte genügen, die er nach der Vollendung seiner Elegien schrieb: „Endlich, Fürstin, endlich, der gesegnete, wie gesegnete Tag, da ich Ihnen den Abschluß — soweit ich sehe — der Elegien anzeigen kann: Zehn!" — „Endlich! Die ,Elegien' sind da . . . ich habe gestöhnt in diesen Tagen und Nächten, wie damals in Duino, — aber selbst nach jenem Ringen dort —, ich habe nicht gewußt, daß ein solcher Sturm aus Geist und Herz über einen kommen kann! Daß mans übersteht! daß mans übersteht. Genug, es ist da. Ich bin hinausgegangen in den kalten Mondschein und habe das kleine Muzot gestreichelt wie ein großes Tier —, die alten Mauern, die mirs gewährt haben" (Br. II, 308 f.). Rilke war immer in der Gefahr, sich an seinen dichterischen Dämon oder an die Bezauberungen der Welt bis zur Selbstauflösung zu verlieren, und so war er oft gezwungen, sich mit Härte zu wappnen. Auf dem Grunde seiner Einsamkeit wie hinter seinen Äußerungen von Herausforderung und Aufbegehren lag eine abgründige Angst. Um sich davon zu überzeugen, muß man nur einige Stellen aus den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge lesen, so z. B. jene unheimliche Begegnung in den Straßen von Paris mit dem Mann, der am Veitstanz leidet (AW II, 60—65). „Fremde Geige, gehst du mir nach?" singt der Dichter im Buch der Bilder, „warum bin ich immer der Nachbar derer, / die dich bange zwingen zu singen / und zu sagen: Das Leben ist schwerer / als die Schwere von allen Dingen?" (BB, 42). Und, sein eigenes Gefühl verallgemeinernd, läßt er den Mönch im Stundenbuch beten: „Den Königen sei Grausamkeit. Sie ist der Engel vor der Liebe, und ohne diesen Bogen bliebe mir keine Brücke in die Zeit." 62
Rilke neigte schließlich zu der in gemildertem Sinne Nietzsches Auffassung verwandten Anschauung, daß das Mitleid nicht nach der Beseitigung des sozialen Elends streben, sondern daß es dies vielmehr durch die Deutung seiner notwendigen Wirkung in der allumfassenden Ordnung der Dinge erleichtern solle. In einem Brief an Professor Pongs aus dem Jahre 1924 spricht er dies folgendermaßen aus (Br. Muzot, 330): „ . . . ich muß gestehen, mir ist, wo ich an anderem Schidcsal teilzunehmen genötigt war, immer vor allem dieses wichtig und angelegentlich gewesen: dem Bedrückten die eigentümlichen und besonderen Bedingungen seiner Not erkennen zu helfen, was jedesmal nicht so sehr ein Trost, als eine (zunächst unscheinbare) Bereicherung ist. Es scheint mir nichts als Unordnung zu stiften, wenn die allgemeine Bemühung (übrigens eine Täuschung!) sich anmaßen sollte, die Bedrängnisse schematisch zu erleichtern oder aufzuheben, was die Freiheit des anderen viel stärker beeinträchtigt, als die Not selber es tut, die mit unbeschreiblichen Anpassungen und beinahe zärtlich dem, der sich ihr anvertraut, Anweisungen erteilt, wie ihr — wenn nicht nach außen, so nach innen — zu entgehen wäre." Ähnlich äußert Rilke in einem Gespräch im Jahre 1914, daß Atavismen eine große Macht über den Menschen besitzen, dessen Grausamkeit und Instinkt zu töten tief in den menschlichen Ursprüngen verwurzelt sind, „nur daß viele diesen Trieb bekämpfen oder verkümmern lassen, aus Furcht, aus Bequemlichkeit, aus Gott weiß welchen nahen und fernen Gründen" (Hattingberg, 67—78). So sagen Jäger, die doch mit Lust töten, häufig, daß sie Tiere wirklich lieben. Rilke sieht in diesen Vorwänden nur den Beweis, daß der Mensch nicht länger den Mut habe, die Wahrheit zu erkennen, die Grausamkeit zuzugeben oder doch jeden Gedanken zu denken, sollte er auch noch so erschreckend und demütigend sein. Und Rilke will hier nicht nur eine Tatsache feststellen: in den Sonetten an Orpheus zeigt sich deutlich, daß er die Grausamkeit des Jägers billigen und gutheißen wollte. Wie der Dichter selbst erklärt, werden in gewissen Gebieten des Karstes die eigentümlich bleichen Grotten-Tauben durch das Schwenken von in ihren Höhlen eingehängten Tüchern aus ihrem Unterschlupf gescheucht. Wenn die erschreckten Vögel auffliegen, werden sie von den listigen Jägern erlegt — und „fern von dem Schauenden sei jeglicher Hauch des Bedauerns" (Son. II, 11). Ebenso wie Rilke in seinem Leben und Werk uneingeschränkte Freiheit verlangte, forderte er die entsprechende Achtung vor der Selbständigkeit anderer, und auch hier ist er unerbittlich. Seine voreingenommene und eigenwillige Formel der Ehe als einer Begegnung und Verbindung „zweier Einsamkeiten" ist nicht nur von vornherein mit den trüben Voraussetzungen moralischer Fühllosigkeit belastet, sondern könnte, wenn verwirklicht, leicht zu einem schalen Zusammenleben führen, wie Christopher Fry 63
es in seiner Venus im Licht ausspricht: „das Lied ist verstummt, verstummt ist das Lied". Jahr um Jahr sahen sich Rilkes Frau, wie später seine Tochter und Enkelin, in ihrer Einsamkeit trotz seiner gelegentlichen Versicherungen und Zeichen der Sorge, wie er sie als Gatte und Vater empfand, auf sich selbst gestellt. Gewiß wäre es Rilke seiner seelischen Veranlagung nach unmöglich gewesen, sein großes Werk neben den Anforderungen normaler sozialer Verpflichtung zu vollenden, „denn irgendwo ist eine alte Feindschaft / zwischen dem Leben und der großen Arbeit" (AW I, 219). Und nur, wenn man dies recht erkennt, wird es möglich sein, seinen persönlichen Kämpfen wie seiner Dichtung gebührend gerecht zu werden.
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12. R I L K E
TRAUMGEKRÖNT Bettler können dir Bruder sagen, und du kannst doch ein König sein. (EG)
Schon bevor Rilke nach München übersiedelte, zog er sich mehr und mehr in seine eigene Welt zurück, in der er an dem Filigran seiner Träume spinnen konnte. In dem verzweifelten Bemühen, seiner Familie zu beweisen, daß ihm außer dem „höchst absurden Beruf" eines Dichters keine Wahl bleibe (Br. Muzot, 430), da er sich schon unwiderruflich verstrickt sah, bemühte er sich heftig um Erfolg in seinen dramatischen Bestrebungen und um eine führende Rolle in den literarischen Kreisen Prags. Doch seine rastlose Tätigkeit war in vielerlei Hinsicht so unrealistisch wie seine Träume. Die Verwandlung der alltäglichen Wirklichkeit in innere Werte von kosmischem Ausmaße lag noch außerhalb seiner Möglichkeiten, doch der Grund, in dem sie keimen und reifen konnten, wurde gelegt. In jener Zeit verliebte er sich in die spinnwebzarten Seelendramen Maeterlincks. Maeterlinck hat das Drama geschaffen, so schreibt er im Mai 1896, „in welchem nur die Seelen etwas gelten. Das Drama, dessen beredteste Sprache das Schweigen, des Katastrophe die schreiende Ruhe ist" (Br. von Oe., 33). Für ein derartiges Drama wünschte er in Prag ein „Freies Theater" zu gründen (Br. von Oe., 32). Seine eigenen dramatischen Werke dieser Zeit waren noch naturalistisch, doch träumte er von etwas unendlich viel Zarterem, Vergeistigterem. In hochfliegender Stimmung sah er sich als Schöpfer einer neuen Gattung von Dramen, die auf den bedeutenden Bühnen der europäischen Hauptstädte gespielt wurden und nebenbei genug Geld abwarfen, um ihn finanziell unabhängig zu machen (Br. von Oe., 38). Einige Jahre später sollte er Die weiße Fürstin1) schreiben, eine lyrisch-dramatische Skizze von körperloser Zartheit, sowie sein unrealistisches Stück Das tägliche Leben, dessen Aufführung in Berlin im Jahre 1902 von einem unnachsichtigen Publikum ausgepfiffen wurde. Ein Versuch in ähnlicher Richtung ist jene Skizze in Form eines Dialogs Die Blinde (AW1,147—151), die er im Herbst 1900 schrieb. Diese sollte selbst über das mystische Drama Maeterlincks hinausgehen, sollte ein Drama schlichter und reiner Sehnsucht sein, nur die rührend schlanke Gestalt eines blinden jungen Mädchens !) Die erste Fassung der Weißen Fürstin erschien 1892 in der Zeitschrift Pan. Bei einem Aufenthalt in Schweden, im Herbst 1904, überarbeitete er diese Fassung gänzlich, und in dieser Gestalt findet sie sich am Schluß der Frühen Gedichte. 5 Graff, Rilke
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darstellend, dessen Gefühle ganz an die Oberfläche seines Körpers gedrungen sind, „unendliche Düfte um ihren Leib. An ihren jungen Brüsten blüht das Gefühl wie mit Rosen, harten gefüllten Rosen — ihre Finger, die tastenden, gehen in unsichtbaren Lilien aus . . . Dürfte nicht von Liebe handeln. Einfach von Sehnsucht, müßte aus Sehnsucht sein, wie es Dinge gibt, die ganz aus Seide sind" (Br. Frühzeit, 392; S W III, 398-402). In dem einleitenden Gedicht von Traumgekrönt, das ebenfalls noch vor der Münchener Zeit entstand, krönt sich der Dichter zum König der Kinder und Träumer und hüllt sich in einen aus Sonne gewobenen Purpur und Hermelin (EG, 67). Rilke macht hier zum ersten Male den Versuch, mit einer zu einem Zyklus zusammengefaßten Sammlung von Gedichten ein ausgedehntes Gebiet von Erfahrungen zu umfassen. Mit Ausnahme des einführenden Gedichtes Königslied haben die Gedichte dieser Sammlung keine Titel. Die Überschriften der beiden Zyklen Träumen und Lieben unterscheiden sich nur vage, wie den in ihnen enthaltenen Gedichten eine wenig unterschiedene Stimmung gemeinsam ist. Doch die Neigung zur zyklischen Form sollte zunehmen und nach und nach greifbarere Gestalt gewinnen. In ihr liegt ein Streben nach vermehrter Konzentration und klarerem Zusammenhang, das der Gefahr des überwältigenden Überschwangs, welcher Rilke ausgesetzt war, entgegenwirken sollte. In einem Gedicht wenig späteren Datums äußert er betrübt, daß er seine frühen Gedichte gern zu Kränzen gewunden hätte, daß er sie in seiner Einsamkeit aber nacheinander fallen ließ, und so rollten sie wie lose Korallen weit in den Abend (FG, 5). Die Versuchung, die Kraft seiner lyrischen Antriebe tropfenweise versickern zu lassen, war groß, und der Tatsache, daß er ihr oft verfiel, danken wir viele schöne Gedichte und viele schöne Briefe. Diejenigen, die ihn kannten, rühmen einmütig den Zauber, der in vertrautem Kreise von den Gesprächen mit ihm ausging. Doch Rilke selbst beklagt sein ganzes Leben lang, daß er sich in Briefen und Gesprächen ausgebe und so seine Energien vergeudet und erschöpft seien, wenn er ihrer am meisten bedürfe. Er kämpfte unausgesetzt um eine anhaltende Sammlung, die sich in mühseligem, geduldigem Warten langsam ausbildete. Brach der Damm vorzeitig, so gingen seinem Werk kostbare Kräfte verloren und lange Zeiten des Leidens folgten. Aufs ganze gesehen durchzieht Traumgekrönt ein Unterton melancholischer Einsamkeit und unbehauster Sehnsucht. Diese Empfindungen erscheinen unter einer großen Vielfalt von Symbolen: die tiefen Farben des sinkenden Tages, das bleiche Grau des zu Ende gehenden Jahres, die lastende Müdigkeit der reifen Traube, die Leere vergessener Kapellen, durch die der Wind heult, das Schwinden der Kindheit und der Liebe, der berauschende Duft der Nacht, die Stille der Luft, die allein vom Flattern eines einsamen Schmetterlings oder vom dumpfen Fall eines Apfels unterbrochen 66
wird. Ihn verlangt nach der Weiße fallender Blüten im Mondschein, nach dem idyllischen Frieden eines Dorfes im Sonntagsgewand, nach einem kleinen Haus mit bemoostem Dach und bleigefaßten Scheiben hinter violetten Zweigen, nach dem hellen Lachen blonder Mädchen, nach der Wolke, die selbst die Sonne zu verdunkeln vermag. Mit der wehmütigen Erinnerung an den Weihnachtsbaum und die Märchen der Kindheit erhebt sich die Sehnsucht nach den Symbolen seines der Kirche entfremdeten Glaubens, nach der wundertätigen Madonna, nach den gefalteten Schwingen der Engel, nach den Sonntagsglocken und nach den geheimnisvollen Kapellen, die vom Flehen der Betenden erfüllt sind. Unter den Liebesgedichten beschwören manche die bezaubernden Offenbarungen eines sich auftuenden Herzens, andere klagen über Trennungsschmerz und erlöschende Liebe, hin und wieder loht die Flamme verzehrender Leidenschaft. Es ist nicht möglich, einzelne Erlebnisse aufzuspüren, die diese Liebesgedichte angeregt haben könnten. Man hat das Gefühl, Rilke sei eher in die Liebe als in eine bestimmte Person verliebt. Doch dieser Eindruck ist wohl trügerisch. Nicht allein, daß Rilke ein Mädchen, die Base Olga, mit Namen nennt (EG, 93), mehr als eine Stelle weist auf einen Untergrund von Wirklichkeit hin. Zudem, je vertrauter man mit Rilkes Werk wird, um so mehr zögert man, soll man den Ursprung einer Stelle allein im Spiel der Phantasie erblicken. Wir besitzen einen Brief an Benvenuta, der trotz aller Stilisierung keinen Zweifel daran läßt, daß die Mädchen, die seine jugendlichen Vorstellungen erfüllten, zahlreich und von Fleisch und Blut waren. Zugleich bestätigt auch er aufs neue jene schon öfter gemachte Beobachtung, daß sein Gefühl der Liebe in der Kindheit und Jugend die gleiche Kurve durchlief wie im späteren Leben — sie stieg an, solange er in der Sehnsucht lebte, und sank ab, sobald er sich im Gewebe der Verstrickung gefangen fühlte. In diesem Brief heißt es: „Freundinnen der Kindheit —, was ist aus ihnen geworden! . . . man sah sie auf der Straße kommen, von weither kenntlich in allen Verkleidungen ihrer Lieblichkeit, ja am ganzen Körper vorgefühlt, ehe sie noch mit ihrer Französin dort um die Ecke traten. Hats eine geahnt?" Diese Frage mag er wohl stellen, denn Folgendes geschah, als er einmal auf irgendeiner der Kurpromenaden eines Bades entlangspazierte. Rilke gibt zu, daß er sich nicht mehr genau erinnern kann, wie sie aussah. „. . . etwas Schlankes, Blondes . . . halb weggewendet" ist alles, was sein Gedächtnis bewahrte. Woran er sich jedoch genau erinnert, ist die Tatsache, daß er sein geheimes Entzücken irgendwie verraten haben muß, denn plötzlich wurde er von einem Unbekannten ergriffen, durch die Menge geschoben und gerade vor das Mädchen hingestellt, dem die ganze Geschichte seiner geheimsten Gefühle preisgegeben ward. „Ich begreife nicht", so schreibt er, „wie ich all das Blut, das mir im Gesicht zur Schande wurde, noch weiter 5'
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verwenden konnte . . . " Das Ereignis hatte seine eigene Wucht, doch damit war der Höhepunkt erreicht. Was folgte, war nur noch ein beunruhigendes Decrescendo: „Nicht etwa, daß wir einander nicht rührten und Zärtlidikeitsnamen füreinander hatten und beim Gutenachtsagen Trennung und Hoffnung auf Wiedersehen recht gründlich durchmachten —, dies alles war vorhanden (ich könnte glauben: nur zu sehr), aber es strömte nicht so unbedingt aus der inneren Fülle und Großmuth hervor, am Ende hätten wirs uns erspart, wenn nicht ein gewisses Mißtrauen gegen das Leben es uns stündlich abgerungen hätte. Wie manche Hunde nur fressen, wenn jemand auf den Teller zu die Gebärde macht, es ihnen fortzunehmen, so griffen wir nur nacheinander, weil es Krankheiten gab und unabsehbare Gefahren, weil immer wieder jemand starb und weil man über alle dem so merkwürdig auseinanderkommen konnte; — was uns so verband, muß vor allem eine Art Angst gewesen sein, ja das wars, man hatte gegenseitig Angst zu- und um-einander, eine schreckhafte Lebens- und Todesangst, die wir ausathmeten und, nur mit ein klein wenig wirklicher Luft verdünnt, wieder einsogen. Außerdem war es klar, daß vor mir eine durchaus unbekannte Zukunft lag, und man suchte diese Zukunft in die Gewalt zu bekommen, solange sie ganz klein war, damit sie, gewissermaßen, in der Gefangenschaft aufwachse und ihre eigene Wildheit gar nie kennen lerne . . . "
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T E I L III
BEFREIUNG U N D F R E U D I G E E R W A R T U N G
Er ging noch als ein Kind von Hause fort. Früh stiegen seine Hände aus dem Spiel. Und seine Eltern redeten so viel, und er verließ sie wie ein dunkles Wort. Und ward ein Wanderer. (Br. Friihzeit)
13. A L L E I N
UND
FREI
Und jetzt kann es beginnen
— das
Leben.
(ET)
Am 29. September 1896 verließ Rilke schließlich seine Familie und seine Vaterstadt. Er sollte, von einigen kurzen Besuchen abgesehen, nie mehr dorthin zurückkehren. Als er im Alter von fast 22 Jahren in München ankam, hatte er jegliche Geborgenheit hinter sich gelassen, die eine eingesessene Gesellschaft zu bieten vermag und die dem Kind und dem Heranwachsenden Schutz gewährt. Diesen Schritt hatte er — gleich dem verlorenen Sohn — aus eigenem, freiem Antrieb getan, und so sah er sich heimatlos, ohne Kirche, ohne den ihm einst vertrauten Gott, ohne irgendeine warme menschliche Bindung. Nach all dem verlangte ihn mit der ganzen Kraft seines einsamen Herzens, aber seine Sehnsüchte gingen am Treiben der Menschen vorbei und schweiften in eine entrückte Sphäre, in der sie nicht lebendige Wirklichkeit, sondern nur Erinnerungen und zukünftige Möglichkeiten in einer Welt ohne Verpflichtungen fanden. Er lebte in dem Gefühl der Enttäuschung, daß seine Kindheit unecht gewesen sei wie seine Mutter und daß seine Jugend schändlich verstümmelt wurde. Die Kindheit liebte er wie eine Lüge oder einen Traum, in dem man König ist. Er liebte „diese leisen, lautlosen Wege ums Leben herum zu Gott" (ESF, 110). Frömmigkeit und das wärmende Gefühl der Elternliebe waren ihm ein schöner Trug, der ihn so lange glücklich machte, bis er bemerkte, daß es eben nur Lüge war. Diese Entdeckung versetzte ihn in Zorn und Traurigkeit, denn nun mußte er gleichsam alles rückgängig machen, seine Schritte zu ihrem Ausgang zurückverfolgen und noch einmal von vorn beginnen. Sein Gott, seine Madonna, seine Engel und seine Heiligen, sein Vaterhaus, seine Puppen und seine Mutter übten auch weiterhin einen Zauber und damit ihre Herrschaft über seine Vorstellungen aus. Aber da es nur noch leere Hüllen waren, die ihren warmen und kostbaren Inhalt verloren hatten, wurden sie zu einer Quelle wachsender Sehnsucht. Er hatte sich, aller Fesseln los und ledig, in eine völlige Leere geworfen und war entschlossen, sie mit neuem Leben zu erfüllen. Und dieses Leben sollte kein anderes Gesetz, keine andere bindende Verpflichtung kennen als jene, die ihm sein schöpferischer Dämon auferlegte. Von nun an wird er, wenn er sich vergißt und seinem Verlangen nach menschlichen Anhänglichkeiten, 71
nach dem wärmenden Gefühl der Zugehörigkeit nachgibt, stets Qual und Verwirrung für sich und andere stiften. Die Welt, die er sich schaffen wird, muß erst einen neuen Angelpunkt, eine neue Verankerung finden. Und in ihr wird nicht der kleinste Raum für einen sich von außen einmischenden Anspruch, für abgeschlossene Erkenntnisse, festgefügte Dogmen und endgültige Antworten sein. Zudem wird sich kein Platz für jene Unentwegtheit in der Liebe finden, die fortwährend Beweise und Beteuerungen braucht (Rilke et Merline, 213). Ein untrüglicher Instinkt wird Rilke den Augenblick erkennen lassen, da eine verzückte Umarmung ihn ganz zu ergreifen und zu verschlingen droht. „Wehe der Liebkosung, die den Sternen entgegen ist" (Rilke et Merline, 214), schreibt er im Februar 1921 an Merline, als dieser Moment in ihrer Beziehung gekommen war1). „Ich lebe nie anderswo als in der Welt, in jener der Sterne und des großen Windes —" (Rilke et Merline, 269). In -dieser Welt, „irgendwo auf Inseln im Raum, auf denen nicht die gewöhnliche Schwerkraft gilt" (Rilke et Merline, 213), vermochte er alle Frauen, die seinen Weg je kreuzen sollten, ungefährdet in das eine „innere Mädchen" zu verwandeln. „Wie sollten in der Entfremdungen möglich sein?" fragt er mit peinigender Naivität (Rilke et Merline, 269). Mit Recht wird Rilke wegen der unvergleichlichen Briefe bewundert und geliebt, die er an Männer und Frauen, an junge und alte Menschen schrieb, um sie an den Früchten seiner erfahrenen Weisheit teilhaben zu lassen. Doch Rilkes Weisheit und menschliches Mitgefühl ist allein auf einer transzendenten Ebene echt und gültig; zugleich ist ihm eine verdrießliche Unverbindlichkeit, eine gelassene Enthobenheit eigen. Viele seiner Briefe sind in gewissem Sinne Monologe, psychologische Selbstanalysen, die ebenso wie den Empfänger auch ihn selbst besänftigen sollen. Sie sind „eine Art Obergang vom Mündlichen und Mittheilenden zu der niemandem Einzelnen mehr zugekehrten Schriftlichkeit der Arbeit" (Salis, 52). „Je parle à moi1 ) „Merline" wurde Elisabeth Dorothée (Baladine) Klossowska, die Gattin des ostpreußisch-polnischen Malers und Kunstkritikers Erich Klossowski, genannt. „Merline" ist die weibliche Form des Namens „Merlin", wie ihn jener Zauberer trug, der der Sage nach der Sohn eines Dämons und einer Prinzessin war, und heißt soviel wie „Zauberin". Rilke war Baladine vor dem Kriege ein- oder zweimal in Paris begegnet. Als er sich nach dem Kriege in der Schweiz aufhielt, machte er ihr im Sommer 1919 in Genf einen Besuch. Aber erst im folgenden Sommer wurde ihre Beziehung enger. Vor kurzem erschien eine reichhaltige, wenn auch unvollständige Ausgabe ihrer Korrespondenz, die durch Dietrich Bassermann besorgt wurde. Merline, die selbst malte, verfertigte verschiedene Porträtzeichnungen von Rilke und illustrierte seinen Band französischer Gedichte Les Fenêtres. Sie war es auch, die ihm im Dezember 1920 Ovids Metamorphosen zusandte. Ihre beiden Söhne, Pierre und Baltusz, leben in Paris, der erstere als Schriftsteller, der letztere als Maler. Rilke hegte eine besondere Neigung zu Baltusz.
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même devant vous" (Rilke et Merline, 132), „je parle tout autant pour moi que pour vous" (Rilke et Merline, 142) — das sind Bekenntnisse, wie er sie Merline ausdrücklich macht, wie sie jedoch unausgesprochen auch für viele andere seiner Briefe gelten. So schreibt er Clara Westhoff das Gleiche schon im Oktober 1900 (Br. Frühzeit, 50). Gewiß ist ein so persönlicher Ton gerade dem Briefschreiben angemessen und verleiht dem Gesagten Wärme und Überzeugungskraft. Aber Rilkes eigene Lebensfragen sind auf eine so einzigartige Weise mit seinen schöpferischen Leiden verflochten, seine Erklärungen werden durch ein so tiefes Bedürfnis nach Einsamkeit und äußerster Zurückgezogenheit bestimmt, daß seine Einsichten leicht abstrakt und theoretisch bleiben, wenn sie nicht ihn selbst betreffen. In diesem Zusammenhang mag das folgende Ereignis wohl der Erwähnung wert erscheinen. Im Winter 1922 schrieb Eva Cassirer, die Gattin des Leiters der Odenwaldschule, im Namen von Alwine von Keller, die an jener Schule beschäftigt war, an Rilke, um ihn zu fragen, ob er bereit sei, den zweiundzwanzigjährigen Sohn dieser Dame, der unter Schwermut litt, für eine Weile als Gast bei sich in Muzot aufzunehmen. Rilkes Antwort war rasch und unwiderruflich: er würde sich den Vorschlag gern noch einmal durchdenken, aber das Ergebnis seiner Überlegungen werde gewiß ein „Nein" sein. Er begründete dies nicht allein mit den praktischen Schwierigkeiten, die dem entgegenstanden, sondern auch damit, daß er keinesfalls die Einsamkeit opfern könne, die er für seine Arbeit brauche. Und das entsprach der Wahrheit, um so mehr, als er sich innerlich gerade auf jenen „Orkan" der Elegien und Sonette vorbereitete und seine Neigung, sich an andere zu verlieren, nur zu gut kannte. Es liegt mir ferne, Rilkes Haltung kritisieren zu wollen. Es kommt mir nur darauf an, das Wesen seines einsichtigen Verstehens zu erkennen und an den rechten Platz zu rücken. Seine Antwort kennzeichnet es deutlich als unverbindlich und selbstanalytisch. Der Rat, den er der Mutter des jungen Mannes gibt, hinkt in seiner Unverwertbarkeit recht verlegen hinter der vorangehenden Verweigerung praktischer Hilfe her (Br. II, 302—304): „Lebensmüdigkeit, in seinen Jahren", so schreibt er, „ist ja nur das Negativ einer großen Einschätzung des Lebens, die so ständig enttäuscht worden ist, daß die Aufmerksamkeit schließlich an der Hohlform haften blieb, weil die Kräfte gehemmt waren, die den ,Ausguß' dieses Negativs versuchen sollten". Das ist das gleiche Bild, das er wiederholt verwendet, um seine Krisen wie die des Malte zu beschreiben. „Auch ist man", so fährt er fort, „nie näher an einer ,Wendung', als wenn sich das Dasein, bis ins Kleinste und Täglichste hinein, für ,unerträglich' ausgibt —, gerade dann noch eine Weile zu warten, müßte eine Aufgabe mindestens der Neugierde sein. — Wie viel Schönes muß doch diesem jungen Menschen schon zuteil geworden sein, 73
damit in ihm die Oberzeugung so leidenschaftlich werden konnte, nicht genügt, d. h. es ,verdorben' zu haben." Und auch dies sagte Rilke ebenso zu sich selbst wie zu anderen. Als Rilke nach München kam, hatte er das Gymnasium absolviert, die Universität für einige Semester besucht, einige schmale Bändchen Gedichte, ein paar dramatische Skizzen und literarische Besprechungen veröffentlicht und Traumgekrönt für die nahe bevorstehende Drucklegung vorbereitet. Er hatte in literarischen Kreisen einige, wenig bedeutungsvolle Beziehungen angeknüpft, aber war darüber hinaus noch völlig unbekannt. Doch brachte er einen grenzenlosen Ehrgeiz, hochfliegende Hoffnungen und einen unerschütterlichen Glauben an seine dichterische Zukunft mit. Einige Jahre nachdem er München verlassen hatte, schilderte er in seinem Ewald Tragy rückschauend die Stimmungen und Eindrücke dieser ersten Jahre, die er fern von daheim verbrachte. Auf der Suche nach einer Behausung schweift er durch die Straßen der fremden Stadt von einer Wohnung zur anderen, abwechselnd angezogen und abgestoßen von Gerüchen, Menschen und Dingen, halb einem traumwandlerischen Antrieb hingegeben, halb mit aller Schärfe aufnehmend, was ihm auf dieser Erkundung begegnet. Endlich wählt er das Quartier, das er zuerst besichtigt hatte, weil es bei allen Mängeln einen verlockenden Schreibtisch bot (ET, 32 ff.). In dieser Schilderung entwirft Rilke unbewußt den Grundriß, der für alle seine späteren Reisen quer durch Europa bezeichnend bleiben sollte, die er auf der Suche nach dem rechten Arbeitsplatz unternahm. Seine Abhängigkeit von der rechten Umgebung, dem rechten Klima war ungeheuerlich. Lange Zeiten seines Lebens hindurch zieht er von einem Ort, von einem Land zum anderen, einmal von Erwartung beschwingt, ein andermal von völliger Verzweiflung niedergedrückt. Und mehr als einmal führen ihn seine schweifenden Wanderfahrten schließlich an den Ausgangspunkt zurück (vgl. S. 291). An der Universität München hörte er Vorlesungen zur Kunstgeschichte, vor allem zur italienischen Renaissance. Er besuchte die Kunstgalerien, schrieb für verschiedene Zeitungen und ging im Café Luitpold ein und aus, wo er andere junge, dem Ruhm nachstrebende Literaten traf. Doch bewegte er sich wesentlich in seinen eigenen Bahnen und scheute sich, irgend jemand sich anzuschließen. Auf der einen Seite stand seine kürzlich begründete Bekanntschaft mit einem jungen Aristokraten aus der Gegend des Bodensees, dem gleichaltrigen Wilhelm von Scholz, dessen Gedichtsammlung Hohenklingen (1897) die Widmung an den „treuen Freund R. M. Rilke" voraufgeht (BTK, 278). Rilke zollte dem Buch des Freundes im folgenden Jahre in einer Besprechung sein Lob (BTK, 98—102), doch zeigt er sich ein wenig später im Ewald Tragy bedeutend kritischer. Ewald erschien der befreundete Dichter als ein Großsprecher, hinter dessen prahlerischer Bilderstürmerei 74
sich die seichte Eitelkeit des Konformisten verbarg. Ein echtes Verständnis seiner leidenschaftlichen Träume konnte er von diesem wortreichen Jüngling nicht erwarten (ET, 43 ff.). Auf der anderen Seite stand Jakob Wassermann, der kritische Mann aus dem Volke, dessen Verachtung für „müßige Träume" und leere Phrasen ihren Eindruck auf den jungen Rilke nicht verfehlte, denn er spürte dahinter Reife und Wahrhaftigkeit (ET, 51—81). Einige Jahre später besprach er auch eines der Werke Wassermanns, den Roman Der Moloch, und bezeichnete hier des Autors große Kunst der Beobachtung als zu bewußt, zu gewollt und nicht frei von Haß und Ironie (BTK, 58). Tatsächlich hatte Wassermann für Rilkes lyrisches Lebensgefühl keinerlei Verständnis und wies seine rührende Bitte um Hilfe und Ermutigung kalt zurück2). Diese beiden Extreme, der unreife Anfänger und der illusionslose Realist, verwiesen Rilke auf sich selbst zurück und unterstrichen seine Einsamkeit derart, daß er sich an die Tage in der Militärschule erinnert fühlte. Auch andere Erfahrungen mit Menschen und eine kurze, von Fieberträumen begleitete Krankheit scheinen das ihre dazu beigetragen zu haben. Wie in St. Pölten zog sich Rilke von den schalen wie von den harten Seiten des Leben zurück, doch suchte er nun seine Zuflucht nicht mehr in der Religion, sondern in der Kunst. Zwar hatte er den Titel des Gedichtbandes Advent, der gegen Ende des Jahres 1897 erschien, dem liturgischen Jahr der katholischen Kirche entlehnt (EG, 101 ff). Doch die gläubige Hoffnung und Erwartung, die dieser Zeit vor Weihnachten ihren Inhalt gibt, wird hier von dem der Kirche entfremdeten Dichter gänzlich säkularisiert. Gewiß harrt seine Seele auf Erlösung, sie harrt der langsamen Verwirklichung des Mysteriums der Inkarnation, doch der Erlöser, den sie ersehnt, muß durch den heiligen Geist künstlerischen Schaffens empfangen werden, die Inkarnation, die er erwartet, muß sich in dem jungfräulichen Schoß des reifenden Wortes vollziehen. Dieses ist die Bedeutung der besonderen Religiosität Rilkes, und hier liegt von nun an der Schlüssel zu seinen katholischen Symbolen. Wo sich das Symbol zu einer derartigen Umformung eignet, daß sich sein Inhalt gänzlich in eine rein metaphorische — das heißt künstlerische — Bedeutung verwandeln läßt, wird es von dem sehnsüchtigen Schmelz und dem irisierenden Glanz seines Wortes erfüllt. Wo dem entlehnten Symbol zuviel vom Bodensatz seiner Kindheitsleiden anhaftet oder wo es, in die Sphäre des Dichters ) Später erkannte Rilke den Dienst, den Wassermann ihm in München getan hatte, aufrichtig an: „Übrigens war es Jacob Wassermann, dem ich den ersten, fast strengen Hinweis auf diese Bücher (sowie auf Turgenieff) zuschreibe; das lyrische Ungefähr, in dem ich mich bewegte, machte ihn, der die Arbeit und Erarbeitung im Künstlerischen schon werten und ausüben gelernt hatte, ungeduldig" (Br. Muzot, 307). In Ewald Tragy erscheint Wilhelm von Scholz unter dem Namen Wilhelm von Kranz und Jakob Wassermann als Thalmann (ET,67 f.). 2
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versetzt, seine eifersüchtig gehütete schöpferische Selbständigkeit beeinträchtigt, wird es durch seinen schlecht gezügelten Groll oft schmählich verzerrt. Mehr und mehr werden Kunst und Leben für Rilke austauschbare Werte. Nichts soll in der Kunst vermittelnd zwischen dem intuitiv formenden Geist des Dichters und der unablässig reifenden Substanz seiner Seele stehen. Seine bestimmende Erfahrung ist Bewegung, Zeit, sein eigentliches, aber schwer faßbares Ziel ist Umriß, Raum. In die religiöse Sphäre übertragen, bedeutet dies ein unaufhörliches Ringen des schöpferischen Menschen mit der Substanz Gottes. Keinerlei Dazwischentreten einer festen Gottesvorstellung oder einer vorgeprägten endgültigen Form wird hier geduldet. Schon während Rilkes Aufenthalt in München wird sein Gott zu einem der Kunst verhafteten und deshalb, soweit es Rilke anbetrifft, zu einem unvollendeten Gott. Noch sind ihm diese Vorgänge nicht klar ins Bewußtsein gedrungen, doch die Eindrücke, die Italien und Rußland in ihm hinterlassen sollten, werden das ihre zu dieser Entwicklung beitragen.
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14. A D V E N T Irgendwo
muß es Paläste
Dort wollen wir feste märchenallein.
geben,
geben — (Advent)
In den Gedichten des Advent befindet sich der Prozeß, in welchem der Dichter sich einen ihm gemäßen Gott schafft, noch in den Anfängen: vorerst werden die Symbole ihrer übernatürlichen Inhalte beraubt und entsprechenden Erscheinungen auf der natürlichen Ebene gleichgestellt. Der offenbarte Gott des Christentums wird durch den Gott der sich ständig wandelnden Natur ersetzt, die Seele ist nicht das, was ein Leben lang angstvoll um Beifall und um Würde bettelt „und endlich arm ein armes Sterben stirbt / im Weihrauchabend gotischer Kapellen" (EG, I I I ) , sie ist das, was in einer blauen Mainacht ein Stück Ewigkeit erlebt, wenn die Erde weiß von Blüten steht. Die Seele ist ein Gotteshaus, aus dem alle Beter gingen und in dem die verträumten Heiligenbilder auf den Sonntag mit seinen vollen Gestühlen und dem Dröhnen der Orgel warten (EG, 110—111). Der Grundton dieser Gedichte ist hoffnungsvolle Erwartung und gehütete Einsamkeit. Offenbar spürte der junge Dichter, daß die Stunde der Erfüllung, die Inkarnation des Wortes kommen würde. Wie der Hirte, der einst den Stern von Bethlehem erblickte, treibt der Wind die Flockenherde in den Winterwald, die Tannen lauschen erwartungsvoll in die kalte Luft und strecken den weißen Wegen die Zweige in frommer Erwartung der herrlichen Christnacht entgegen (EG, 103). In einem fast programmatischen Gedicht sieht der Dichter mit überraschender Klarheit den zukünftigen Verlauf seines Wachtums voraus. Der Sehnsucht hingegeben, schweift er durch seine Tage, dann will er mit tausend tiefen breiten Wurzeln in die Wirklichkeit des Lebens eindringen, um schließlich durch Leiden hindurch, „weit aus dem Leben", „weit aus der Zeit" zu reifen (EG, 107). In einem anderen, Maeterlinck gewidmeten Gedicht bittet er seine „heilige Einsamkeit . . . so reich und rein und weit / wie ein erwachender Garten", daß sie die goldene Tür geschlossen halten möge, vor der die weltlichen Wünsche warten (EG, 107). An anderer Stelle offenbart sich seine Liebe zu den vergessenen Flurmadonnen, die ratlos auf jemand warten, zu den blonden Mädchen mit Blumen im Haar, die an einsamen Brunnen träumen, zu den Kindern, die der Sonne ihre Lieder singen und ihre großen erstaunten 77
Augen zu den Sternen aufschlagen. Die Tage liebt er, wenn sie ihm Lieder bringen, und die Nächte, wenn sie sich auf tun wie Blüten (EG, 108). Ein andermal beschwört seine Phantasie ein weißes Schloß in weißer Einsamkeit, an dessen weißen Wänden die Sehnsucht sich mit irren Händen entlangtastet; alle Wege sind verschneit, die Uhren stehen still, die Zeit ist tot. Er sehnt sich nach Palästen, deren Fenster von Staub verschneit sind und in deren widerhallende Säle Tage einer längst versunkenen Vergangenheit hineinreichen. Feste will er geben in ihrer verwunschenen Einsamkeit, und er träumt davon, wie er an der Seite der „leisesten aller Frauen" zu dem heiligen Weiher des vertrauten Parks mit seinen alten Lindenalleen geht. Schimmernde Schwäne in prahlenden Pösen gleiten leise über das Wasser, wo Rosen wie Sagen aus einer versunkenen Stadt emportauchen. Die Blumen stehen wie ihre Kinder um sie her, und sie lächeln und lauschen und warten, unbekümmert auf wen . . . (EG, 115—116). Die Gedichte des Advent sind wiederum zyklisch geordnet: die der „weißen Einsamkeit" gehören dem ersten Teil an, welcher den Titel Gaben an verschiedene Freunde trägt. Im Frühjahr 1897 traf Rilke seine Mutter am Gardasee und reiste von dort aus als Gast eines jungen amerikanischen Chemikers, den er in München kennengelernt hatte, weiter nach Venedig. Über Bozen und den Bodensee kehrte er dann nach München zurück. Der zweite Teil der Gedichte, der sich Fahrten nennt und allerlei Eindrücke von dieser Reise gibt, stellt einen recht unorganischen Abschnitt dieses Zyklus dar. Die Gedichte der dritten Gruppe, Funde, atmen den zarten Duft einer im Frühling erwachenden Liebe, die sich nach und nach in die Müdigkeit des Sommers verwandelt und schließlich mit der Blässe des Herbstes verwelkt und stirbt. Das Mädchen seiner Träume war ein unerwünschtes Kind, das selbst vom Nachtgebet seiner Mutter ausgeschlossen blieb. Sie wünschte wenig, und nur dann und wann sehnte sie sich nach der fremden Melodie eines Landes mit purpurroten Zelten und weißen staublosen Wegen. Dann wand sie sich Rosen in ihr blondes Haar, und doch konnte sie selbst im Frühling nicht an Liebe glauben (EG, 140). Sie war kaum dem Alter der Unschuld entwachsen und schaute mit großen, furchtsamen, erstaunten Augen in den Tag (EG, 138). Fremd war, was sie sprach, fremd ihr Haar, fremd ihr Kleid, fremd ihre fragenden Augen, die zurück in ihre „Kindheit blickten", „ins Land, wo nichts als stilles Blühen / die Arbeit ihrer Hände war" (EG, 130). Als er die Schönheit ihres Gesichts zum ersten Male gleich einem träumenden Land zwischen den dunklen Strähnen ihres gescheitelten Haares hervorblicken sah, schien es ihm, als sähe er zwischen schwarzen Pinien auf den sinnenden Frühling. Ein verschleiertes Lächeln umspielte ihre Lippen — nur er bemerkte es, da er die Anmut des Frühlings sah und wie im Traume lebte (EG, 129—130). Mit ihr will er sich aus dem lauten Kreis der Menschen stehlen und selten betretene Wege gehen, wenn 78
die Sterne über den Eichen schimmern. An ihrer Seite ist ihm wohl und warm, die Uhren schlagen wie aus vergangenen Tagen, und niemand weiß, was sie miteinander flüstern (EG, 131). Durch des Vorhangs Falten holt die Nacht vergessenen Sonnenschein aus ihren goldenen Haaren, aber er will nichts als ihre Hände halten und still und gut und voller Friede sein. Ihre Hände müssen immer geben und fremdes Glück bereiten; sie sind zart wie bebende Birken, in denen noch die Gebärde des Gebens nachzittert (EG, 132). Ihr Duft geht wie ein Frühling durch die Kissen, während sie ihm seine zerrissenen Träume zu neuen Kränzen flicht (EG, 134). Doch die Stunde des Erwachens kommt und findet ihn wiederum gescheitert, einsam, lauschend in atemlosem Schmerz. Die Lilien in dem hohen Glas, die ihre Hände stets gepflegt hatten, sind tot, das einst so große und reine Glück ist dahin, morgen werden die frostigen Winde in ihre Herzen dringen — und dann? (EG, 143). Wie bei den Liebesgedichten in Traumgekrönt, ist es auch hier nicht möglich, in einer bestimmten Liebesbeziehung die Anregung zu diesen Gedichten des Advents zu sehen. Aber zweifellos war er zu jener Zeit vom Zauber der jungen Mädchen besonders hingenommen, und fast immer haben die Mädchen seiner Träume goldblonde Haare In den Gedichten des vierten Teiles, der Mütter betitelt ist, verherrlicht Rilke die Mutterschaft. Er träumt von einer stillen Frau mit weißem Scheitel, in deren Liebe er blüht und die den wilden Haß in seiner Seele entmächtigt. Er erinnert sich, wie seine Mutter ihn in den Schlaf sang und über seinen angstvollen Träumen wachte. Er träumt, daß sein Mädchen schwanger ist, und stellt sich vor, wie sie näht und unter duftenden jungen Bäumen in den blütenweißen Mai hineinsingt. Und wenn die Welt ihr von Schande spricht, während sie in Schmerz und Sorge wartet, so sagt er ihr, daß sie lächeln und beten solle, da sie am Rande eines Wunders stehe und das Schwellen von Leib und Seele von den Wellen der Ewigkeit bewirkt werde. Er beschwört den Schmerz der Mutter, deren Tochter vom rechten Wege abkam, und tröstet die arme verzweifelte Frau mit dem Versprechen, daß er sie zur Königin krönen werde, wenn er erst erwachsen sei (EG, 147—151). Rilkes Verehrung der Mutterschaft war tief, und sein ganzes Leben hindurch blieb sie ihm heilig. Aber auch sie entgeht den Auswirkungen seines höchsten Strebens nach künstlerischer Zeugung nicht. Wo die beiden einander widerstreiten, oder eher noch, wo Rilke sie in Widerstreit glaubt, behält das künstlerische Schaffen den Vorrang. In seinem Requiem für Paula Modersohn-Becker läßt der Dichter hierüber keinen Zweifel (AWI, 211-219).
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15. L O U
ANDREAS-SALOME Reiche, Du, Träume gibst du meiner Lieder meinem Morgen . . .
Nacht,
(Br. Lou, 24)
Im Frühling des Jahres 1897 lernte Rilke zwei Frauen kennen, von denen eine, Lou Andreas-Salomé, große Bedeutung für ihn gewinnen sollte. Die andere war die Schriftstellerin und Afrikaforscherin Frieda von Bülow. Beide waren beträchtlich älter als er, Frieda von Bülow war vierzig, Lou Andreas-Salomé sechsunddreißig Jahre alt, und beide waren hochgebildete Frauen. Ihre Reife, ihre Erfahrenheit und die Schärfe ihres Verstandes waren ihrer Art nach wohl dazu angetan, den jungen, suchenden Rilke tief zu beeindrucken. Wenn er sich schließlich Lou Andreas-Salomé nachhaltiger anschloß als ihrer Freundin, so war dies wohl in ihrer beiderseitigen Wesensart begründet. Als Frieda von Bülow ihn und Lou Andreas-Salomé 2wei Jahre später, nach seiner ersten russischen Reise, in ihrem Sommerhaus in Bibersberg bei Meiningen erwartet, spricht sie von ihm mit einem gewissen spöttischen Lächeln als vom „Loumann" oder „Jünger Lous" (Br. Frühzeit, 420). Und doch wurde Rilke trotz seiner immerwährenden Naivität und Hilflosigkeit stets durch einen so unbeirrbar sicheren Instinkt geleitet, daß es niemals — nicht einmal in seiner Begegnung mit Jens Peter Jacobsen oder Rodin — zu einem Einfluß im Sinne völliger Abhängigkeit kam, etwa so, daß ein solcher Einfluß eine Neuorientierung zu bewirken imstande gewesen wäre, die sich nicht auch ohne ihn vollzogen hätte. „Im Grunde", so schreibt er im Hinblick auf seine russischen Erlebnisse an Frieda von Bülow, „sucht man in jedem Neuen (Land oder Mensch oder Ding) nur einen Ausdrude, der irgendeinem persönlichen Geständnis zu größerer Macht und Mündigkeit verhilft" (Br. Frühzeit, 17). Diese Äußerung scheint jener sehr viel späteren zu widersprechen, die sich in einem Brief an die Fürstin Marie von T h u m und Taxis vom 24. Mai 1924 findet: „Sie wissen, daß unsere Freundschaft dreißig Jahre alt ist und daß meine ganze Entwicklung ohne den Einfluß dieser außerordentlichen Frau nicht die Wege hätte nehmen können, die zu manchem geführt haben" (Br. M T T , 807—808). Doch als Rilke dies schrieb, war er bemüht, Lou gegen gewisse Vorstellungen der Fürstin zu verteidigen. Rilke hatte sie als eine vorzügliche Psychoanalytikerin empfohlen, die gewiß imstande sein würde, 80
einer jungen Frau aus dem Kreise der Fürstin zu helfen. Die Fürstin setzte, von Rudolf Kaßner bestärkt, Zweifel in diese Empfehlung, während Rilke die Ansicht vertrat, daß Lous Einfluß, der auf ihn so wohltätig gewirkt hatte, sich auch in diesem Falle als ähnlich heilsam erweisen müsse. Es wäre ein Leichtes, nachzuweisen, daß, sooft Rilkes Entwicklung unter dem Einfluß einer Persönlichkeit oder einer Erfahrung eine entscheidende Wendung nahm, sich diese einer inneren Notwendigkeit entsprechende Wandlung bereits vorbereitet hatte und auf irgendeine Weise nach angemessenem Ausdruck drängte. Lou war die Tochter eines russischen Generals und früheren Verteidigungsministers unter Zar Nikolaus I. Dieser Zar gab der westlichen Orientierung Rußlands, die Peter der Große mit solchem Nachdruck betrieben hatte, eine entscheidende Wendung ins Gegenteil: Rußland sollte seinen Blick wiederum nach innen kehren und nur seinem eigenen Wesen Ausdruck zu geben suchen. Lous Mutter war deutscher Herkunft und entstammte einer Pfarrfamilie aus St. Petersburg. In dem obenerwähnten Brief des Jahres 1924 betonte Rilke ausdrücklich, daß sie keine Jüdin sei, und trat damit einem weit verbreiteten Gerücht entgegen. Als er im Jahre 1909 Avignon und dessen Umgebung besuchte, stellte er fest, daß sich unter den protestantischen Familien, die Frankreich im 17. Jahrhundert verlassen mußten, auch eine Familie Salomé befand, die väterlicherseits ihre Vorfahren gewesen sein mochten (Br. 1907—1914, 78). Lou Andreas-Salomé war kein Blaustrumpf, aber sie litt gewiß weder geistig noch sonst auf irgendeine Art an einem Minderwertigkeitsgefühl gegenüber dem männlichen Geschlecht. Noch als blutjunges Mädchen in St. Petersburg hegte sie die leidenschaftlichsten Gefühle für einen verheirateten Mann, den holländischen Prediger Gillot, die jedoch eine jähe Abkühlung erfuhren, als der beträchtlich ältere Geistliche ihr von Heirat sprach. Sie war einundzwanzig Jahre alt, als sie in Rom Nietzsche kennenlernte—eine Begegnung, die durch Wagners Freundin Malvida von Meysenburg und Nietzsches Gefährten Dr. Paul Rèe zustandekam. Lou war bezaubert von Rèe. Doch die Schärfe ihres Verstandes, ihre blonde Schönheit und ihr glühendes Interesse an der Philosophie übten ihre Macht bald über den einsamen Nietzsche aus, der nach kurzer Zeit um ihre Hand anhielt. Ihre Beweggründe sind oft verdächtigt worden: jedenfalls lehnte sie seinen Antrag nach einiger Zeit der Unentschiedenheit ab. Ihre Beziehung zu Ree sah sich, durch das unerquickliche Verhältnis zu Nietzsche belastet, plötzlich in ein Netz unentwirrbarer Zweideutigkeiten gezogen, als sie ihrem späteren Gatten, dem Orientalisten Andreas, begegnete, der an der Universität Berlin tätig war und später in Göttingen als Professor wirkte. Er war ein Mann von heftigem Naturell, sein Vater war Armenier, seine Mutter die Tochter eines norddeutschen Arztes und einer Malaiin (Lou, Lebens., 239). 6 Graff, Rilke
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Aus jener Zeit gibt es eine Photographie, die Nietzsche und seinen Freund Rée einen Karren ziehend zeigt, während Lou darin steht und mit der Peitsche knallt (Albert-Lasard, 79). Die Ehe mit Andreas wurde zwar nie gelöst, aber sie war von Anbeginn wenig glücklich — eine Art unerklärlicher, von beiden Seiten anerkannter Abhängigkeit, die die eheliche Verbindung ausschloß und der jede unmittelbare Gemeinsamkeit des Geistes und der Interessen fehlte. Lou Andreas-Salomés Buch über Nietzsche war schon 1893 erschienen, und man darf wohl annehmen, daß Rilkes Neigung zu gewissen Gedanken Nietzsches durch sie neue Anregung erhielt (Heller, 71—97). Später befaßte sie sich eingehend mit den Erkenntnissen Sigmund Freuds — einerseits aus einer natürlichen Neigung, andrerseits aber auch weil ihr wißbegieriger Verstand und ihr beteiligtes Herz von den zunehmend hervortretenden krankhaften Zügen Rilkes gefesselt waren. Doch besaß sie offenbar bereits in der Zeit ihrer ersten Bekanntschaft in München die natürliche Gabe, komplexe seelische Zustände bei sich und anderen zu analysieren (Simenauer, 120). Sooft Rilke sie in seinen Briefen erwähnt, tritt ihre erstaunliche Sicherheit in allen Fragen des Lebens als der beherrschende Zug ihres Wesens hervor. „Sie geht furchtlos in den glühendsten Geheimnissen umher, die ihr nichts thun . . . Ich weiß . . . niemanden, der so das Leben auf seiner Seite hätte, im Sanftesten wie im Furchtbarsten die eine Kraft erkennend, die sich verstellt, die aber immer, selbst wo sie tötet, noch gebend sein w i l l . . . " (Br. MTT, 303 f.). Die Stunden mit ihr „sind für midi auch hier wieder die bedeutendsten und so recht eigentlich die, über die es weitergeht" (Br. MTT, 317). Er spricht von ihrer Begegnung in einer Zeit, als er nicht mehr weiter wußte, als von einem Ereignis in seinem Leben, das an Einmaligkeit nur der Geburt gleichkommt (Br. 1907—1914,168). „Du kannst mir aufklären was ich nicht verstehe, Du kannst mir sagen was ich thun soll; Du weißt, wovor ich mich fürchten muß und wovor nicht —" (Br. Lou, 48). „Dein Wesen war so recht die Thür, durch die ich zuerst ins Freie kam" (Br. Lou, 250); „ . . . ich bin die einzelne kleine Ameise, die den Kopf verloren hat, Du aber siehst den Bau und versicherst mir, er sei heil, und ich würde schon wieder hineinfinden und mich nützlich machen" (Br. 1907-1914, 166). Zweifellos verstand Lou Andreas-Salomé, ihm mit psychologischem Scharfblick und analytischem Verstand viele der verwirrenden Zustände des Leibes und der Seele, mit denen er zu kämpfen hatte, zu erklären. Als ihr Interesse an den Einsichten Freuds zunahm, wurden ihre Deutungen mehr und mehr vom Geschlechtlichen und seinen unbewußten Komplexen her bestimmt. Nach Rilkes eigenen Äußerungen bleibt kein Zweifel darüber, daß sein Körper ihm bis zum Ende seines Lebens bittere Niederlagen bereitete (Br. Lou, 498—505). Lous Diagnosen vermochten seinen seelischen 82
und leiblichen Leiden viel von ihrer Bitterkeit zu nehmen und halfen ihm, das empfindliche Ineinanderwirken seiner Sinnes- wie seiner schöpferischen Erfahrungen besser zu durchschauen. Derartige Einsichten waren ihm sein ganzes Leben hindurch, besonders aber in der ersten Zeit seiner dichterischen Laufbahn, höchst wertvoll. Vielleicht war es gerade dieses Bedürfnis, das ihn zu jener Zeit zu Lou trieb und das auch in späteren Jahren ihre Beziehung wach hielt, die mit jeder Krise neue Nahrung fand. Deshalb sind Rilkes Briefe an sie so reich an tiefgehenden, Leib und Seele durchwühlenden Bekenntnissen, so voll von dunklen, nach innen gerichteten Selbstanalysen. Gegen Ende einer solchen Auseinandersetzung schreibt er am 10. Januar 1912: „So, — da hat Dein alter Maulwurf Dir wieder einmal was vorgegraben und lauter dunkles Erdreich aufgeworfen quer über einen guten Weg. Verzeih. Zu Dir red ich so Inneres wie die Menschen im Alten Testament" (Br. 1907—1914,171). Als die Symptome seiner heimtückischen Krankheit gegen Ende des Jahres 1925 beunruhigend wurden und ihn in qualvolle Angstzustände stürzten, gab Lou Andreas-Salomé zu, die wirkliche Bedeutung seiner Leiden nicht eher erkannt zu haben (Br. Lou, 503). Sie mag in Rilke vor allem das Bewußtsein seiner körperlichen Funktionen in ihrem Zusammenhang mit den Verläufen seiner schöpferischen Prozesse gefördert haben, aber wenn dem so war, so geschah es gewiß nicht im Widerspruch zu seinen eigenen Bedürfnissen und Neigungen. Wie schon erwähnt, war Rilke in bezug auf Klima und Umgebung ungewöhnlich empfindlich: einmal war es zu heiß, dann wieder zu kalt, einmal zu trocken, einmal zu feucht, hier zu stürmisch, dort zu ruhig, da zu bewölkt, dort zu sonnig. Die Wirkungen seines Körpers — einschließlich des Geschlechtlichen — auf seine schöpferischen Fähigkeiten zählten für ihn zu den bestürzenden, verwirrenden Geheimnissen. Sie dienten ihm nicht nur in beträchtlichem Maße, die Schleusen seiner Inspiration zu öffnen, sie verliehen auch den emportauchenden Bildern und Symbolen Farbe und Gestalt —tief einprägsame Farbe und ausstrahlende Gestalt. „Mag sein", so schreibt er im Jahre 1912, „daß die fortwährende innere Zerstreutheit, in der ich lebe, teilweise körperliche Ursachen hat, eine Dünnheit des Blutes i s t . . . " (Br. 1907—1914,167) — eine der mannigfachen, bemerkenswerten Vorahnungen der Ursache seines Todes: er starb an Leukämie. Manchmal fürchtete er, daß sein Körper seinen schöpferischen Geist zur Karikatur machen könne. „Eine Seele, die darauf angewiesen ist, sich in den immensen Übertreibungen der Kunst zu harmonisieren, müßte auf einen Körper rechnen dürfen, der ihr nichts nachäfft und präzise ist und sich nirgends übertreibt" (Br. 1 9 0 7 - 1 9 1 4 , 1 8 3 - 1 8 4 ) . In einem Brief vom 13. Februar 1924 klagt Rilke darüber, daß sein Gesundheitszustand ihn in jüngster Zeit zweimal genötigt habe, Badeorte zur 6»
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Kur aufzusuchen. „Dieses sich Einlassen mit Ärzten hat etwas unbeschreiblich Verwirrendes für mich, nicht anders, als ob ich mich plötzlich in der Lage fände, mit meiner Seele auf dem Umweg über einen Priester zu verkehren: denn der Umgang mit meinem Körper war, seit fünfundzwanzig Jahren, so unmittelbar und von so strikter Verständigung, daß ich das Gefühl habe, dieser ärztliche Dolmetsch dränge wie ein Keil in unsere gefügte Vereinbarung" (Br. Muzot, 237). Seine Beziehung zur Mutter und zur Kindheit, seine Gedanken zur Existenz vor der Geburt, vom Mutterleib und bis in weite Vorzeit, sein Gefühl der Blutsverwandtschaft mit dem Tode, sein Grübeln über Geburt, Blüte und Tod, seine Ängste und Träume, seine schöpferischen Wehen, die Zweipoligkeit seines Geschlechtes zwischen seinen Puppen auf der einen und seinem Schaukelpferd auf der anderen Seite, sein Ringen zwischen Kunstfertigkeit und Inspiration, die Spannung zwischen der männlichen Welt der Tätigkeit und der weiblichen Welt der Fruchtbarkeit — diese und ähnliche Probleme verstand Lou scharfsinnig zu durchleuchten. Einige bezeichnende Abschnitte in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge und verschiedene bedeutsame Stellen in den Elegien finden sich als lebendige Erfahrungen in Rilkes Briefwechsel mit Lou Andreas-Salomé. Die gesamte Dritte Elegie versenkt sich mit unheimlichem Tiefblick in den Strudel menschlichen Ursprungs. Rilkes Stellung zur Psychoanalyse war keineswegs oberflächlich. Als sein Gesundheitszustand und das Gefühl der Unproduktivität in den Jahren 1911 und 1912 Anlaß zur Sorge gaben, zog er die Möglichkeit einer psychoanalytischen Behandlung ernsthaft in Erwägung. Nach der Vollendung des Malte Laurids Brigge glaubte er geraume Zeit — und beteuerte dies wiederholt —, daß er niemals mehr schreiben könne noch wolle. Er bezeichnete dieses Werk als „Wasserscheide", jedoch eine, in der alles Wasser nach einer Seite abgeflossen war, so daß auf der anderen nichts blieb als Dürre (Br. Lou, 246). Er verfiel sogar auf den Gedanken, sich einem praktischen Beruf zuzuwenden, den er gleich einem Automaten ganz mechanisch ausfüllen konnte. Lou riet hingegen offenbar nur zu einer Behandlung, sofern es ihm mit diesen Absichten wirklich ernst sei; hoffe er jedoch noch auf eine erneute Produktivität, so sollte er den Dingen besser ihren Lauf lassen (Br. Lou, 262—263). Sie wußte, daß Rilkes Depression vorüberging und daß eine psychoanalytisch bewirkte „Desinfektion der Seele", wie Rilke es nannte (vgl. Br. 1907—1914,182), eher schaden als nützen würde. Dem stimmte Rilke zu, obwohl sich seine Frau im Frühjahr 1912 einer derartigen Behandlung unterzog (Br. Lou, 269), aber — so sagte Rilke — „bei ihr steht die Sache anders, ihre Arbeit hat ihr nie geholfen" (Br. 1907 bis 1 9 1 4 , 1 8 3 ) . Er selbst empfand seine Arbeit als eine Art Selbstbehandlung, die allerdings in dem Maße, wie sie sich entwickelte, viel von ihrem therapeutischen Wert verlor und wachsende Forderungen stellte (Br. 1907 84
bis 1 9 1 4 , 1 8 3 ) . Aber mit der Beseitigung der Spannung, des Widerstreits zwischen Leib und Seele hätte man seiner schöpferischen Arbeit das Lebensmark entzogen. Als sein Arzt Dr. von Stauffenberg ihn im Jahre 1914 in München noch einmal zu einer Behandlung bewegen wollte, empfand Rilke, „es wäre furchtbar, die Kindheit so in Brocken von sich zu geben, furchtbar für einen, der nicht darauf angewiesen ist, ihr Unbewältigtes in sich aufzulösen, sondern ganz eigentlich dazu da, es in Erfundenem und Gefühltem verwandelt aufzubrauchen, in Dingen, Tieren — , . . . wenn es sein muß in Ungeheuern" (Br. 1 9 1 4 - 1 9 2 1 , 1 4 ) 3 ) . Rilkes gefühlsmäßige Zweifel am therapeutischen Wert der Psychoanalyse werden durch die jüngsten Ergebnisse der Anthropologie bestätigt. Margaret Mead weist in ihrem Buch Mann und Weib darauf hin, daß der Schleier, der das Unterbewußte verbirgt, nie ganz gelüftet werden darf. Die frühesten Erfahrungen der Kindheit müssen in die zuchtvolle Symbolik des Lebens der Erwachsenen umgewandelt werden, und die Kultur hängt davon ab. „Diejenigen, denen diese Umwandlung nicht gelungen ist, werden geisteskrank und füllen unsere Irrenanstalten. Diejenigen, die leichten Zugang zu ihren eigenen früheren Erinnerungen behalten und außerdem Talent und Geschicklichkeit besitzen, werden unsere Künstler und Schauspieler; diejenigen, die diese frühen grundlegenden menschlichen Erfahrungen mit Weitblick und Menschenliebe verbinden, werden Propheten . . . Wird der Schleier weggezogen, so versiegt die künstlerische Einbildungskraft und stirbt; der Prophet sieht sich mit enttäuschtem und zynischem Grinsen im Spiegel, der Wissenschaftler geht fischen" (Mead, 73). Rilkes Instinkt war in diesen Dingen erstaunlich sicher und zuverlässig. Schon 1899 hatte er in sein Tagebuch geschrieben: „Ich fürchte in mir nur diejenigen Widersprüche, die Neigung haben zur Versöhnlichkeit... Meine Widersprüche sollen nur selten und in Gerüchten voneinander hören. Wie zwei Fürsten entfernter Lande, die plötzlich erfahren, daß sie einander hassen, da sie beide ausziehen, um dasselbe Mädchen zu werben" (Br. Früh3)
Kurz nach dem Kriege äußerte sich Rilke ganz betroffen über die Bedeutung, die die Psychoanalyse in der Schweiz, vor allem aber in Zürich gewonnen hatte: „fast alle diese ohnehin sauberen und eckigen jungen Leute werden analysiert —, nun denken Sie sich das aus: so ein sterilisierter Schweizer, in dem alle Winkel ausgekehrt und gescheuert sind —, was für ein Innenleben kann in seinem Gemüt stattfinden, das wie ein Operationszimmer keimfrei und schattenlos beleuchtet ist" (Br. 1914—1921, 272).
Später ist die Vermutung geäußert worden, Rilke habe gegen Ende seines Lebens dem Drängen seiner Freunde und den Qualen seines kranken Körpers nachgegeben und sei bereit gewesen, sich einer psychoanalytischen Behandlung zu unterziehen (Holthusen 5 3 ; Simenauer 688). Gewiß ist es im Angesicht der beunruhigenden Krankheitssymptome möglich, daß er in einem kritischen Augenblick schwach wurde und gegen sein besseres Wissen handelte. Doch entbehrt diese Mutmaßung ohnehin der Stichhaltigkeit. 85
zeit, 203). Und wie aus dem folgenden klar hervorgeht, ist das „Mädchen" nichts anderes als der Geist des schöpferischen Augenblicks. Im Lichte dieser Entwicklungen ist es nicht erstaunlich, daß Rilke erkannte, welche kostbare Entdeckung er gemacht hatte, als er Lou im Frühjahr 1897 kennenlernte. Auf ihren Vorschlag änderte er seinen Namen René in Rainer, denn Lou argwöhnte in diesem französischen Namen eine der Launen seiner überspannten Mutter, die leicht „Renée" daraus machen konnte. Gewiß klang Rainer männlicher und deutscher, und man muß zugeben, daß der klartönende Vokal und der verwandelte Rhythmus seinem Namen mehr Eigenart und Anmut verleihen. Es war Lou, die dem jungen Dichter seine Leistungen und Fähigkeiten bewußt machte und ihm so eine größere Selbstsicherheit und ein tieferes Gefühl der Verantwortung gab. Seine Handschrift, die bisher recht nachlässig gewesen war, wurde nun peinlich genau. Und es war Lou, die in Rilke den Wunsch und die Hoffnung nährte, mit ihr und ihrem Manne nach Rußland zu reisen.
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16. ITALIENISCHE RENAISSANCE UND FLORENZER TAGEBUCH Das waren Tage Michelangelos, von denen ich in fremden Büchern las. (Stundenbuch) Schon in Prag hatte die benachbarte slawische Welt ihre Schatten über Rilkes Seele geworfen. In seinem heimwehkranken Wesen hatten sich ihr verwandte Züge ausgebildet, die diejenigen, welche aus dem Erlebnis westlicher Lebensformen erwuchsen, im Verborgenen anfochten. Seine Neigung zum Religiösen war allmählich von seinen künstlerischen Träumen aufgesogen worden und verlangte nach weiten Räumen, in denen ein gestürzter Gott von neuem entstehen und wachsen konnte. In der Handelsakademie in Linz hatte er Tolstoj gelesen, und in München hatte Wassermann seine Aufmerksamkeit auf Dostojewskij und Turgenjew gelenkt. In Prag hatte er den tschechischen Dichter Julius Zeyer bewundert, jenen pseudo-aristokratischen Schriftsteller, der während seiner rastlosen Wanderungen Rußland dreimal besuchte, „das ihm, nach seinem eigenen Bekenntnis, wie ein seltsamer Fluch in der Seele brannte" (Demetz, 147). Rilke war auch in Italien gewesen und hatte sich wiederholt mit der Kunst der Renaissance beschäftigt. Je mehr er nun unter dem Einfluß seiner Freundschaft mit Lou AndreasSalomé über Rußland erfuhr, desto mehr begann ihn der Gegensatz zwischen der russischen und westlichen Kultur und Geschichte zu fesseln. In Wolfratshausen bei München, wo er sich eine Weile mit ihr aufhielt, erregte die italienische Renaissance noch immer sein besonderes Interesse, aber Rußland warf seine Schatten mit zunehmender Eindringlichkeit über ihre Gespräche und Studien. Im Frühjahr 1898 reiste er jedoch vorerst noch einmal nach Italien. Ende März fuhr er über Arco und Venedig nach Florenz und dem nahegelegenen Viareggio und blieb dort über einen Monat. Während dieser Zeit—und noch geraume Zeit später, als er sich vor seiner Rückkehr nach Berlin in Zoppot aufhielt — schrieb er ein Tagebuch, das eingestandenermaßen dazu dienen sollte, Lou und ihm selbst die zunehmende Reife seiner Gedanken und Einsichten zu beweisen. Wie tief er in dieser Hinsicht in Lous Schuld stand, erkannte er dankbar an: „Du Herrliche, D u " , so schrieb er gegen Ende seines Aufenthaltes in Florenz, „wie hast Du mich weit gemacht. Denn wenn die italienischen Tage mich mit Schätzen beschenkten, Du hast Raum dafür geschaffen in meiner Seele, in welcher die Träume sich drängten und die vielen 87
Bangigkeiten. Du hast mich festlich gemacht" (FT, 117). Rilke hatte sich auf diese Italienreise mit größtem Eifer vorbereitet. Im August 1897 schrieb er aus München an Frieda von Bülow: „Wir lesen in den verschiedensten Werken über italienische Renaissancekunst . . . Von Florenzens erster Blütezeit wollen wir nach und nach bis zu den Carracis vordringen. Mich fesselt in der Tat ganz besonders ein Florentiner Meister des Quattrocento — Sandro Botticelli, mit welchem ich mich nun etwas tiefer und persönlicher befassen will. Seine Madonnen mit ihrer müden Traurigkeit, ihren großen nach Erlösung und Erfüllung fragenden Augen, diese Frauengestalten, welche bangen, alt zu werden ohne eine heilige Jugend, stehen mitten in der Sehnsucht unserer Zeit" (Br. 1892—1904, 45). „O dieser rührende Schmerz der zu früh Gekommenen", schreibt Rilke im Hinblick auf Botticelli in sein Tagebuch, „wie Kinder sind sie, die in das Christbaumzimmer finden, ehe die Kerzen brennen und ehe die Dinge strahlen" (FT, 103). Den anderen Malern der Renaissance galt es nur, den religiösen Motiven der Bibel und der Heiligenlegende gerecht zu werden, ohne daß sie irgend etwas für sich selbst gewollt hätten — „als im besten Falle die Lösung irgendeines farbentechnischen oder rein formellen Problems; da kommt nun Sandro Botticelli und erkennt in seiner naiven Gottessehnsucht, daß die Madonna in ihrem tiefen, durch die seltsame Mutterschaft veredelten und geheiligten Mitempfinden ganz wohl zur Verkünderin seiner eigenen Traurigkeit und seines Müdeseins werden kann. Und alle seine Madonnen sehen in der Tat aus, als stünden sie noch ganz unter dem Eindruck einer ganz hoffnungsarmen, schwermutvollen Geschichte, welche Sandro ihnen erzählt h a t . . ." (Br. 1892—1904, 45—46). Rilkes Florenzer Tagebuch widmet den Betrachtungen über Kunst und Künstler der Renaissance einen beträchtlichen Raum: Raffael, Fra Bartolomeo, Botticelli, Giorgione, Fra Angelico, Luca und Andrea della Robbia und Michelangelo. Diese glanzvolle Blüte religiöser Kunst schien ihm zu üppig, zu leicht erblüht. Er vermißte die Ängste langsamen Keimens und Wachsens in die Endgültigkeit der reifen Frucht. Dies alles schien ihm dagegen wie ein Frühling, der gern Sommer werden wollte, der aber in der Üppigkeit der Farbe und der endgültigen Klarheit der Form schon alle Kräfte der schöpferischen Natur verausgabt hatte. Auf diese Weise hatte er den Sommer um die Mühsal des Reifens und den Herbst um seine süße Erfüllung gebracht. Raffael verglich er mit dem blühenden, heißen Juni, aber er wußte nicht zu reifen (FT, 75). Das gewaltige Genie Michelangelos besaß alle die Elemente, deren eine geduldige Entfaltung bedarf. Zuweilen kam er über den Sommer hinaus, weil er aber keinerlei Vorläufer hatte, die ihm die Weiträumigkeit zubereiteten, in welcher sein Genie sich hätte entfalten können, blieb auch er Frühling (FT, 113). Nur Botticelli schien sich des unvollkommenen Ausreifens vage bewußt zu sein. Seine müden, sehnsüchtigen 88
Madonnen scheinen an dem verschämten Bangen vor den ungelösten Geheimnissen des Lebens im Bewußtsein ihres Schöpfers teilzuhaben. Das Gefühl, nicht gelitten zu haben, macht sie müde; sie können nicht vergessen, daß sie ohne Schmerz geboren, ohne Glut empfangen haben. Ihre Mutterschaft ist voll einer vom Gefühl der Schuld beschwerten Sehnsucht, denn sie fiel ihnen zu ohne ihr Verdienst (FT, 101). Rilkes lyrisches Verhältnis zur italienischen Kunst ist eindrucksvoll. Die ihm angeborene Abhängigkeit von einer verzögerten Entwicklung wies ihn zu Botticelli, der ihm als ein versprengter und entfernter Bruder der Russen erschien. Doch war diese Zuneigung nicht frei von Sehnsucht nach ihrem Gegensatz. Wenn Rilke sich dem langsam reifenden Rußland verwandt fühlte, so beneidete er zugleich den italienischen Feigenbaum, denn „er springt aus dem Schlaf, fast nicht erwachend, ins Glück seiner süßesten Leistung" ( A W 1,264). Italien und Rußland, der Westen und der Osten sind die beiden Arme des breiten Stromes im schöpferischen Bewußtsein des Dichters, die in das Stundenbuch einmünden. Ihre Wasser flössen schon kraftvoll im vorgebildeten Strombett, bevor er Rußland mit eigenen Augen sah. Es ist eine irrige Ansicht, wollte man behaupten, daß das Stundenbuch, sogar das Buch vom mönchischen Leben, einzig durch Rußland angeregt worden sei oder daß sich in ihm das Erlebnis Rußland rein widerspiegele. Rilke bezeichnet Rußland gern als seine wahre Heimat, doch was ihm vorschwebte, war ein imaginäres Land, dessen Symbol das ihm vertraute Rußland wurde. In Wirklichkeit gab es dieses Land nirgendwo. Hätte Rilke für sein Alltagsleben Moskau an Stelle irgendeiner anderen seiner westlichen Wohnstätten erwählt, so hätte er es wohl mit gleicher oder größerer Entschlossenheit verlassen wie seine anderen Aufenthalte. Tatsächlich kehrte er nach seiner zweiten Reise nie wieder nach Rußland zurück, obwohl er dort Menschen zurückließ, die ihn mit Herzlichkeit aufgenommen hätten. Rußland und der Westen waren die beiden Prinzen, die sich im Krieg miteinander befanden, weil sie um das gleiche Mädchen warben. Und wenn man den Tatsachen glauben soll, so muß Rilke gespürt haben, daß er sein Mädchen, wenn vielleicht auch nicht im Reich des westlichen Prinzen, so doch eher von dort herkommend finden konnte. In Florenz lebte Rilke in einem von Rosen bewachsenen Hause. Doch mied er die Stadt nach Möglichkeit, um das toskanische Land und die Weite des Ligurischen Meeres zu genießen. Die Gestalten goldhaariger Mädchen und müder Frauen vermischten sich wunderbar mit dem Sonnenlicht des Frühlings und dem blühenden Glanz der Landschaft. In ihnen sah er das gleiche, was er in Botticellis Madonnen erblickt hatte: die zitternde Erwartung und den sehnsüchtigen Schmerz erwachenden Mädchentums — und die schwermütige Müdigkeit der Mutterschaft in ihrem hoffnungslosen Suchen nach den verlorenen Träumen ihrer Jugend. Und das entsprach dem, was in 89
seiner eigenen erwartungsvollen Seele vorging, doch herrschte hier die Stimmung hoffnungsvoller Erwartung vor. Ein Unterton fester Zuversicht zieht sich durch sein Tagebuch. Er fühlte sich jung und gesund — badete er im Meer, so erschienen ihm die sanft heranströmenden Wogen voller Verheißung. Von Lou hatte er in Wolfratshausen das Barfußgehen im nassen Grase gelernt, und hier am Meeresufer verband sich ihm das Gefühl inniger Berührung mit der Erde, der Mutter männlicher Kraft, mit dem des Umfangenseins vom Schöße des Meeres, der Mutter der Venus, deren sehnsüchtige Erscheinung Botticelli gemalt hatte (FT, 100 ff.). Vom Meere angeregt, sann Rilke über die Aufgaben des Künstlers, über seine eigene dichterische Zukunft, über sein Verhältnis zur Kindheit und zu Gott, über den Sinn von Geburt und Mutterschaft. Zuweilen erschien vor diesem Hintergrund unter dem blauen Himmel ein Barmherziger Bruder in schwarzem Habit, den man aus traurigem Anlaß gerufen hatte. Und dann spürte er den Schatten des Todes (FT, 82; Br. Muzot, 333-341). Doch Rilke hatte sich schon vorbereitet, dem Tode in dem zuversichtlichen Entwurf seines Lebens einen festen Platz zuzuweisen. Im Anblick der steinernen Gräber von Bischöfen und Fürsten in den toskanischen Kirchen empfand er den Tod zu freundlichem Bündnis mit dem Leben und vor allem mit der Kunst bereit. Er bedeutet ihm nicht mehr Zerstörung, sondern Zeitlosigkeit. Im Angesicht dieser Grabmäler fällt wie im Anblick des Meeres alle Furcht des Todes von ihm ab, der, wie ihm scheint, seine Macht über das Leben an den Künstler weitergegeben hat. „Übe du auch diese Gewalt; denn da du schaffst und baust, kannst auch nur du wissen, was müde und hinfällig ist und des Endes bedarf" (FT, 130—131). Dies ist wieder ein Ausdruck der Unnachsichtigkeit im Stile Nietzsches, wie wir sie bereits erwähnten, und hier zeigt sich deutlich ihr ästhetischer Ursprung. Der Bildhauer darf dem Tode nicht allein darin begegnen, daß er sein in Stein gemeißeltes Bildwerk schafft, um ihn so friedlich unter den Lebenden weilen zu lassen, sondern er muß dabei zugleich unerbittlich über alles Belanglose und Schwache hinweggehen. Rilkes Auffassung von der Aufgabe des Künstlers berührt sich hier deutlich mit derjenigen Nietzsches. Die Künstler haben Gott zu erschaffen, einen ewig werdenden Gott. Mit jedem Werk schafft der Künstler Raum für irgendeine neue Kraft, und so hat jeder einzelne diesen Raum weiter auszudehnen, bis endlich der letzte, der am Ende vieler Generationen steht, alle Möglichkeiten und Kräfte des Weltalls in sich tragen wird. Die einzelnen Künstler sind nichts als Vorläufer, die, gleich Johannes dem Täufer, Ihm, auf den alles zustrebt, den Weg bereiten. Außer Ihm ist nichts. „Er betet nicht mehr, Er ist", und jede seiner Gesten ist eine Schöpfung. Alle Künstler sind Ahnen Gottes (FT, 139—140). Das Florenzer Tagebuch zeigt, daß für Rilke eine deutliche Verwandtschaft nicht allein zwischen Kunst und Religion, sondern auch zwischen 90
Kunst und Gott, Kunst und Tod und Kunst und Leben bestand. Kunst ist für ihn die höchste Erfüllung des Lebens, letzte Rechtfertigung und Ziel der Schöpfung. Rilke war Religion nur als Schöpfung denkbar. In der Mutterschaft gleicht die Frau dem Künstler. Sie erfüllt sich im Kinde, hebt „eine Welt, voll von Mächten und Möglichkeiten, aus ihrem Schoß" (FT, 118). Ihre Religion ist Mutterschaft. Die andern sind schöpferisch durch das Gebet. In dem Maße, in dem ihre Religion ererbt ist, ist auch ihr Gebet herkömmlich, aber auch sie befreien sich -damit von den Fesseln des Zufalls und erheben sich zur Ordnung des allgültigen Gesetzes. Rilke lehnte das Übernatürliche, wie es gemeinhin verstanden wird, ab. Mystik und Tod haben nur dann ihren Ort im Leben, wenn sie als natürliche Kräfte verstanden werden (FT, 86). Jedoch befaßte er sich angelegentlich mit den geheimen Kräften der Seele und des Geistes, mit jener unsichtbaren Welt, in der Ursache und Wirkung zwar noch herrschen mögen, aber in verwandelter Form über das Reich der Materie hinausgehen. Die Demut wird er einmal als die Schwerkraft der Seele bezeichnen. In einem Brief aus dem Jahre 1897 erklärte er einem Kenner des Hypnotismus, daß der Spiritualismus eine große Anziehungskraft auf ihn ausübe, weil er in der Anerkennung vielfältiger ungenützter Fähigkeiten und in -der Unterwerfung dieser Kräfte die Befreiung unserer fernen Nachfahren erblicke. Vor allem der Künstler muß sich durch den trüben Dunst eines krassen Materialismus bis zu jenen Kundmachungen des Geistes durchringen, die ihm goldene Brücken in uferlose Ewigkeiten bauen (Br. 1892-1904, 3 1 - 3 2 ) . Der Atheist ist ein „Barbar" (FT, 43), nicht weil er nicht an einen persönlichen Gott glaubt, sondern weil er eben durch und durch gottlos und damit unschöpferisch und unfruchtbar ist. Rilkes Religion ist die Kunst, die allenthalben und zu allen Zeiten die sich wandelnden Umrisse einer zukünftigen Gottheit schafft. Eben darum preist er die pantheistischen Epochen der Geschichte: sie entspringen einer großen Liebe und einem wahren Glauben, da der Mensch wiederum großmütig und freundlich gegen Gott empfindet und begreift, daß Gott in einem fernen Himmel nicht Raum finden kann. Der Gott des Himmels führt ein bedrängtes und klägliches Dasein auf kleinem Räume. Nur wenn das ganze All bereit ist, ihn zu empfangen, kann er sich ausdehnen und in den Tausenden von Dingen träumen. Ein Gott, den man sich hinter oder über den Dingen denkt, ist ein müßiger, ein selbstgenügsamer Gott mit untätigen Händen. Gott ist in den Dingen, und ebendort muß ihn der Künstler finden (BTK, 277).
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17. DIE DINGE U N D IHRE MELODIE Die Dinge singen hör ich so gern. (FG)
Die Dinge werden für Rilke zu Gefäßen der göttlichsten Schätze. Doch der Mensch versklavt sie, er trachtet nur danach, von ihnen Besitz zu ergreifen und ihre Unschuld durch rücksichtslose Ausbeutung zu zerstören. Ihm bleiben sie verschlossen, und der Gott in ihnen bleibt ihm immer verborgen. Es ist die Aufgabe des Künstlers, ihre Reichtümer aus ihrer Gefangenschaft zu befreien, so daß sie sich entfalten und ihre geheime Melodie ausströmen können. Holz soll hier Holz, Eisen soll Eisen und nicht Rohstoff sein. Und das Mittel, über das unter den Künstlern der Dichter gebietet, um dieses Wunder zu vollbringen, ist das Wort. Doch das W o r t wurde gleich den Dingen durch den alltäglichen Gebrauch entweiht, es wurde seiner jungfräulichen Unberührtheit beraubt oder durch die Redseligkeit der Menschen schließlich bedeutungslos. Die Worte sind zu Mauern geworden, zwischen denen die Seele keinen Raum mehr findet, und Verkümmerung bedroht sie. Oftmals dienen sie eher dazu, die Seele zu verbergen, als sie zu enthüllen. Worte dieser Art sind arm und ausgezehrt und vermögen nicht mehr über den Höhen des Lebens zu glänzen. Sie offenbaren weder Gott noch die Dinge. Doch wird eines dieser müden, blutlosen Worte von den Lippen eines Liebenden ausgesprochen, wie rein, wie strahlend jung wie am ersten Schöpfungstage ist sein Klang. Da sagt einer „Licht", und es klingt als spräche er „Zehntausend Sonnen". Es sagt einer „Tag", und es klingt wie „Ewigkeit". Das geschieht, weil seine Seele gesprochen hat, seine schöpferische Seele. Der Liebende spricht wie ein Künstler, und nur der Künstler weiß so liebend zu sprechen, daß das Ding sich, angerührt, gleich einer Blume öffnet und die Welt mit seinem Duft erfüllt. Der Künstler ist ein Magier, dessen lebenspendendes Wort geheimnisvoll über seine eigenen Kräfte hinauswächst. Er gleicht einer Laute, in deren Dunkel mädchenhafte Schönheiten von Befreiung durch die Berührung der Saiten träumen (BTK, 174). Rilke war eine durch und durch lyrische Natur. W e n n er ein Ding mit seiner betörenden Melodie, mit seiner an Assonanzen und Alliterationen so reichen Inständigkeit ansang, so antwortete es wie ein Vogel dem anderen. Und doch erklärt er in seinem Florenzer Tagebuch (FT, 55), daß er sich der Musik nie auf irgendeinem Wege habe nahen dürfen. „In jedem Werke einer der Künste", so schreibt er, „müssen alle Wirkungen ,der 92
Kunst' erfüllt sein . . . ein Gedicht [darf] keiner Musik brauchen . . . " (FT, 56). Und in einer Besprechung, die er ein Jahr später schrieb, beobachtete er, daß der lyrische Ton mit der Melodie in der Musik nichts gemein habe. Er entspringe anderen, unwillkürlichen und ungeschriebenen Gesetzen, und seine Wirkungen seien anders als die einer Sonate oder einer Symphonie (BTK, 106). Von allerlei Begegnungen und Gelegenheiten angeregt, empfing Rilke durch das Erlebnis der Musik wohl manche Eingebung, und schon in Florenz war er voller Zuversicht, daß die Zeit kommen werde, da auch er von Musik reden dürfe. „Denn ich werde die Musik suchen" (FT, 56). Doch zeigen seine Betrachtungen zur Musik in seinen Briefen wie in seinen Gedichten, daß er ihr seine volle Zustimmung mehr und mehr nur dann gewährte, wenn sie auf irgendeine Weise in plastische oder architektonische Form, in Raum verwandelt werden konnte. Denn der Tondichter, der seine Bekenntnisse nicht so mitten in den Alltag stellen muß, „schenkt die schlafenden Möglichkeiten in seinen Befreiungen, und nur wer den Zauberspruch weiß, vermag sie wieder zu wecken zu Freude und Festlichkeit" (FT, 55). In Worpswede — nur kurze Zeit nach der Niederschrift des Florenzer Tagebuches — rügt er Carl Hauptmann, weil dessen dichterische Eingebung der Musik und nicht den Dingen entspringe (Br. Frühzeit, 289). Er nennt die Musik eine Ordnerin der Geräusche, welche „verrollte Perlen an Schnüre lockt" (Br. Frühzeit, 375). Die Aufgabe der Musik, wie er sie versteht, liegt darin, die „Gestalten" zu befreien, die verborgen in den Dingen warten, und „aus vielen Dingen einen Bau" zu machen (Br. Frühzeit, 376). Mit der Zeit gewinnen diese frühen Vorstellungen größere Klarheit: im Jahre 1911 war es in Ägypten im Angesicht der monumentalen Größe der Sphinx und zwei Jahre später in Spanien bei der Betrachtung der Kreuzigung von El Greco, daß sich ihm das Geheimnis der Musik mit unmittelbarer Gewalt enthüllte (Br. Benvenuta, 25; 67). Später noch, im Jahre 1918, nennt er die Musik „Atem der Statuen, . . . der Gefühle Wandlung . . . in hörbare Landschaft . . . in Herzraum" (AW I, 396), und in den Sonetten an Orpheus baut sie „immer neu aus den bebendsten Steinen . . . im unbrauchbaren Raum ihr vergöttlichtes Haus" (Son. II, 10); Orpheus singt, und der „hohe Baum im Ohr" erhebt sich wie ein „Tempel im Gehör" (Son. 1,1). Im Jahre 1925 schließlich wird die Wirkung der Musik nicht allein durch das Ohr, sondern auch durch das Auge aufgenommen wie „Dome", die „sich irgendwo im Idealen" wölben. „Irgendwo steht Musik" gleich dem Strahl des Wassers im Brunnenbecken (AW 1,397). Auch kannte Rilke sehr wohl die betörende Macht der Musik, wie aus seinem frühen Gedicht Musik (BB, 22) und aus mancherlei verstreuten Äußerungen in seinen Briefen hervorgeht. Bei seinem natürlichen Hang zu völliger, rückhaltloser Hingabe schreckte er instinktiv vor allen Einflüssen 93
zurück, die die plastische Substanz des Bildes, von dem er abhing, zerstreuen oder auflösen konnten. Ebendeshalb fühlte er sich zu dem sinnlichen Realismus Jens Peter Jacobsens, zu den Worpsweder Malern und zu dem Bildhauer Rodin hingezogen. Im Banne der geformten und zuchtvollen Arbeit Rodins geht er so weit, die Musik als „Gegensatz der Kunst" (Br. I, 56) zu bezeichnen und sie ihrer auflösenden Wirkung wegen anzuklagen. Nur Beethoven und Bach können vor seinem Urteil bestehen, weil sie beide die Auflösung haßten. Beethoven fand seine Sammlung im Leben, Bach im Gebet. Gewiß, in einem Gedicht von 1913 beschwört Rilke die Musik, daß sie ihn bestürzen möge „mit rhythmischem Zürnen" (AW1,324), weil er zu lange die Bewegungen des Herzens haushälterisch zurückhielt. Doch entstammt dieses Gedicht der Zeit, als die anhaltende Anspannung, welche das Beispiel Rodins, seine rückhaltlose Hingabe an unpersönliche Beobachtung und tägliche Arbeit auslösten, Rilkes lyrische Antriebe fast zum Erstarren gebracht hatten. Ein Rückschlag war unausweichlich und führte wohl zu jener seltsamen Verzückung, mit der er sich der Verehrung von Benvenuta, einer Frau, die er nie gesehen, und ihrer Musik, die er nie gehört hatte, ergab. Doch auch in diesem Gedicht erwartet er von der Musik, daß sie mit dem Wogen ihrer Klänge die „obersten Wölbungen" seines Herzens erfülle. Und in einem verwandten Gedicht, das dem gleichen Erlebnis entsprang (AW 1,324), versucht er vergeblich, die bevorzugte Musik jener Geliebten zu erraten, die niemals kam und die er schon im voraus verlor. Allein „die großen Bilder", die er in sich trägt, „die im Fernen erfahrene Landschaft, / Städte und Türme und Brücken und un-/vermutete Wendung der Wege" geben ihm die Möglichkeit, sie zu finden. Rilke war die Musik gefährlich, denn sie verstärkte noch den lyrischen Überschwang seiner Natur und drohte seine Kräfte zu zerstreuen. Ihn verlangte nach ekstatischer Sammlung, der eine plastische, eine greifbare Welt entspringen mußte. Es war ebendiese Ekstase, die er an dem Maler Cézanne bewunderte. Die Musik der Dichtung Rilkes kommt nicht allein aus der Melodie und dem Rhythmus seines Wortes, sondern auch aus der besonderen Mischung, die diese mit den vom Auge her erlebten Bildern seiner verwandelten Erfahrung eingehen. „Ich bin ein Bild", schreibt er, „mein Leben ist: die Stille der Gestalt. / Ich bin Anfang und Ende der Gebärde" (Br. Frühzeit, 374). Die Substanz, welche den Raum zwischen Anfang und Ende erfüllt, ist nicht von entscheidender Bedeutung — sie mag aus den unscheinbarsten Dingen oder aus den verborgensten inneren Begebnissen bestehen. Ihren Sinn empfangen die Dinge allein durch die Art, wie sie gegen ihre Umwelt abgegrenzt sind. Bedeutsam ist ihre Form und ihr Umriß, dieser muß der Seele entspringen; bedeutsam ist die Seele des Dinges, die auch dem unscheinbarsten Wesen die Schönheit des Ganzen verleiht. So verstanden, 94
erschien Rilke die lyrische Schönheit dem gewöhnlichen Drama wie dem Roman weit überlegen, weil in jenen die Materie vorherrsche und sie der Menge dienstbar seien gleich dem Spaßmacher des Königs, der erraten müsse, welcher Scherz den Launen seiner Majestät, des Publikums, wohl gerade genehm sei (BTK, 99). In dem Drama, das Rilke erträumte, verband sich das Wort mit der Stille, um so nicht die Verflechtung von Ereignissen darzustellen, sondern einen Seelenraum zu schaffen — eine Art lyrisches Drama gleich den Dramen Maeterlincks (BTK, 181 ff.). Das lyrische Gedicht hat den Vorzug, nicht populär zu sein, und so vermag es jene höchste Freiheit zu gewinnen, die aus der Einsamkeit erwächst. Das wahre Kunstwerk kann nur dem Einsamen gehören. In einer Besprechung von Pelleas und Melisande, das im Jahre 1899 im Neuen Theater in Berlin aufgeführt wurde, beklagte Rilke, daß Maeterlinck, der Prophet der Wenigen, von der Menge zu einem überspannten Sonderling herabgewürdigt werde, dessen Seltsamkeiten man beklatsche und dessen nebelhafte Hirngespinste man nachsichtig hinnehme. Dagegen ist der lyrische Dichter nicht in gleicher Weise der Anmaßung der Menge ausgeliefert. Und Rilke hegt die stolze Hoffnung, daß er werde wie jene Einsamen, die ihre Gedanken nicht auf ihrer Stirne tragen, sondern ihre Sehnsucht nur in Reimen und ihre keimenden Träume in ihren Augen offenbaren. Denn so tun es die Ganzen: sie bleiben einsam, und erst wenn die lärmende Menge wie von glänzenden Lanzen in die Knie gezwungen wird, heben sie ihre Herzen wie Monstranzen und segnen damit die kniende Menge (FG, 16).
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18. ZWISCHEN T A G UND T R A U M Ich bin zu Hause zwischen Tag und Traum. (FG) Offensichtlich war Rilke in diesen ersten Jahren, die seinem Aufenthalt in Prag folgten, eifrig bemüht, aus seinem Leben und seinen Erfahrungen Honig zu saugen und in seiner Seele Zellen zu bilden, in denen er ihn bewahren konnte. Die Themen und Motive, in welchen seine Arbeit sich speichert, begannen sich zu verdichten. Viele von ihnen gewannen in der bisher dargestellten Entwicklung bereits Gestalt: sie werden in seinen reiferen Werken, die nun folgen sollten, leicht erkennbar sein. Das kleine Bändchen Gedichte Mir zur Feier erschien zu Ende des Jahres 1899. Sie entstanden im wesentlichen in Florenz und in Berlin, wo Rilke sich, aus Italien zurückgekehrt, aufhielt. Der Einfluß des Ligurischen Meeres, der toskandschen Landschaft und der Florentiner Maler ist in vielen von ihnen klar zu erkennen. Sie wurden unter dem Namen „Rainer Maria Rilke" veröffentlicht, ein Bekenntnis zur Patenschaft Lou Andreas-Salomes. Ihre zyklische Ordnung ist kunstvoller gegliedert und stellt in ihrer poetischen Technik, in der Kristallisierung und Symbolisierung der Themen einen entschiedenen Fortschritt zum Vorhergehenden dar. Vertrauen und Jugendfrische bestimmen ihren Ton, und das Erwachen aus dem Traum zum Bewußtsein offenbart sich allenthalben. Es ist, als entwachse das Bewußtsein des Jünglings träumendem Mädchentum in der dunklen Ahnung, daß das letztere schließlich dennoch reicher an Einsicht sein werde (VPN, 16). Jede der drei zyklischen Gruppen wird von einem Schlüsselgedicht eingeleitet, das seinen schwebenden Duft über die ihm zugeordneten Gedichte ausbreitet. Der ersten Gruppe steht ein höchst melodiöses Gedicht voran, das das Leben aus einer reinen unbehausten Sehnsucht entsteigen sieht, die sich in Wünsche verwandelt; diese sind „leise Dialoge täglicher Stunden mit der Ewigkeit", die schließlich in die stille Stunde tiefer Selbstverwirklichung einmünden. Die Stimmung, die sich hier ausdrückt, liegt auch über den diesem Zyklus eingefügten Engelliedern. Der Dichter will seine Träume gewiß nicht ihrer Macht berauben. Er läßt es zu, daß sie wie das Wasser der Fontänen aus ihrer brodelnden Finsternis emporwallen, um sie dann „lichter und in Liederintervallen" in das Dunkel zurücksinken zu lassen, aus dem sie kamen. So verlieren sie ihren Schrecken, und die Kindheit wird aufs neue zum Land unschuldigen Beginns, dem man sich ohne Bangen und 96
mit Lust zuzuwenden vermag. Nur wenn der Dichter mit atemlosem und tiefem Staunen in die Tiefen seines Wesens lauscht, kann er wissen, was der Wind will, bevor noch die Birken beben. Weit muß sich seine Seele öffnen und einem Festtagskleid gleich über die sinnenden Dinge breiten. Doch soll man das Leben nicht in seiner nackten Existenz bloßzulegen und zu verstehen suchen, denn dann wird es seinen festlichen Glanz einbüßen. Das Leben muß mit kindlicher Hingabe hingenommen, seine blühenden Gaben müssen empfangen werden, wie der Wind sie uns zutreibt. Das Kind denkt nicht daran, innezuhalten, sie aufzusammeln und zu sparen, aus seinen Haaren löst es sie und streckt seine Hände aus, um seine jungen Jahre neuen entgegenzuhalten. Mit Bangen fragt sich der Dichter, ob die weißen Seelen der Kinder mit den Silberschwingen nicht ihre Träume enttäuschen und ihre lachenden Lieder mit den erwachenden Stimmen des Lebens und den tausend Geräuschen des Tages verstricken werden, wenn sie sich in immer weiteren Ringen auf das Leben zu bewegen. Er selbst hat sein Verlangen nach dem lärmenden Getriebe zum Schweigen gebracht und sich des seltsamen Treibens der Menschen entwöhnt, aber jung und allein, will er seine Brust dem Winde darbieten, der ihn landeinwärts treibt. Zwischen dämmernden Pinien wirft er sein dunkles Gewand einer Lüge gleich von Schultern und Schoß und setzt sich bleich und nackt Sonne und Meer aus, und stolz auf seine Jugend, festlich gestimmt, erwartet er die Brandung. Den armen, darbenden, unscheinbaren Worten des Alltags will er die Farben von Festtagen geben, er läßt ihre Bedeutung neu aufleuchten und in seinen Liedern in heiliger Scheu einhergehen. Doch er weiß, daß er nichts als ein Wegbereiter Größerer ist, für die sich die Rosen einst wie rote Fahnen im Wind entfalten werden. Ja, er durchlebt Tage des Zweifels, da er niederkniet und seine Krone vom Haupt heben möchte, da er sich fragt, ob ihre Steine echt oder nur aus Gram gemacht sind. Bedrängende Erinnerungen an die überspannte Frömmigkeit seiner Mutter vergegenwärtigen ihm die schmerzlichen Enttäuschungen seiner Kindheit. Die armen hölzernen Heiligen, die sie mit Blumen und Gaben aus dem Leben ihres eigenen Sohnes überschüttete, bleiben stumm und stolz in kaltem Undank. Und Christus, der wahre König der Kinder, den er besang und aus ganzem Herzen suchte, hat Macht und Glanz verloren. In Einsamkeit muß der Dichter dem Mai die Arme öffnen, damit in ihnen dessen zaudernde Ungeduld und müder Sinn Raum finden. Die Engellieder sind der schmerzliche Abschied des Dichters von seinem Schutzengel, der ihn einst mit gefalteten Flügeln bewacht hatte. Als Kind hatte Rilke in den dunklen Augenblicken der Nacht zu ihm gebetet, und der Engel hatte sich seiner erbarmt und seinen strahlenden Himmel in seine ängstlichen Hände gelegt. Er hatte seine Gebete und seine Tränen, seinen Dank und seine Leiden in die Heimat der Cherubim getragen, wo sie zu 7 Graff, Rilke
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flüsternden Hainen emporwuchsen. Im Auge des Engels lag der Glanz des ersten Tages und auf seinen Wangen die Scham der Bräute, die den Schrekken ihrer Seele in Gegenwart des Bräutigams hinter Schleiern von Purpur verbergen. Das Kind war klein in der Nähe des segnenden Engels, und der Engel war groß. Lange Zeit vermochte der Heranwachsende ihn nicht loszulassen, obwohl er langsam den Glauben an seine Wirklichkeit verlor. Denn der Engel wurde arm und klein in seinen Armen, während der Knabe groß wurde. Nun mußte der Engel um Hilfe und Freundschaft bitten, und er selbst mußte sich seiner erbarmen. Da breitete der Engel seine Flügel aus und flog zu den Sternen auf, während der Knabe sich hilflos und allein im Leben zurechtfinden mußte. Er gab dem Engel seinen Himmel zurück, und ihm blieb die Erde. Und so erkannten sie einander langsam und gewöhnten sich beide an den Wechsel ihres Ortes. Doch der Engel blickte oft nach dem Einsamen zurück und sehnte sich nach den Pflichten an seiner Seite. Und der Knabe litt um den verlorenen Engel, der wie ein Vogel in sonnenlosem Klima dem entlaubten leeren Winter preisgegeben war. Im Frühjahr 1900 schrieb Rilke Lou Andreas-Salome einmal von einigen Eichhörnchen, die er als Kind in Italien besessen hatte. Er kaufte ihnen sehr lange Ketten, damit ihre Freiheit erst in den Wipfeln der höchsten Bäume ihre Beschränkung fände. „Es war gewiß sehr unrecht, sich überhaupt als Macht in ihr leichtes Leben einzudrängen (als sie schon erwachsen waren nämlich und meiner nicht mehr brauchten), aber es war auch ein wenig ihre Absicht, mit mir auch weiterhin zu rechnen, denn sie kamen mir oft nachgelaufen, so daß es mir damals schien, als wünschten sie sich eine Kette" (Br. Frühzeit, 44). So verhält es sich auch mit dem Engel Rilkes. Er verlor ihn nie aus den Augen, wenn die Bedeutung, die er ihm gab, auch tiefe Wandlungen durchmachte. Die zweite Gruppe des Zyklus wird von einem Gedicht eingeleitet, welches von einer lauschenden Wolke über dem Walde spricht, deren dunkler Schatten nicht Besorgnis, sondern Hoffnung erweckt, bringt sie doch erfrischenden Regen für die träumende Ernte. Hier gibt Rilke in einer kleinen Zahl von Gedichten, die die Natur zum Gegenstande haben, seiner Zuversicht Ausdruck. Dann folgen die zarten Lieder der Mädchen, welche neben den Mädchengestalten und den Gebeten der Mädchen zur Maria den Zyklus in mädchenhaftes Träumen tauchen. Uber diesen Gedichten ist der strahlende Himmel Italiens und der schwermütige Zauber der Madonnen Botticellis ausgebreitet. Blumenpflückende Mädchen erwarten verträumt ein geheimnisvolles großes Ereignis und beten aus ihren erwachenden Seelen zur jungfräulichen Gottesmutter, über deren reifer und müder Mütterlichkeit das überströmende Entzücken der Verkündigung liegt wie ein goldener Traum. Ihre eigenen Mütter haben für ihre klopfenden Herzen keine Antwort bereit, denn die Jahre ihres kühlen Blühens sind für immer dahin. 98
19. DIE EWIGEN GESTEN Jede Türe in mir gibt nach . . . (Advent)
Die Gedichte der dritten Gruppe von Mir zur Feier sind auf einen neuen Ton gestimmt, in dem sich schon das Stundenbuch
ankündigt. Das ein-
leitende Gedicht, das ursprünglich an Lou Andreas-Salomé gerichtet war, trennt die Welt des Traumes von der des Wortes. Träume sind „Marmorhermen, / die wir in unsere Tempel stellen / und mit unseren Kränzen erhellen / und mit unseren Wünschen erwärmen." Worte sind „goldene Büsten, / die wir in unsere Tage tragen". Weder der Traum noch das Wort vermag aus sich selbst zu den „lebendigen Göttern . . . in der Kühle anderer Küsten" zu dringen, „aber wir haben strahlende Schatten, / welche die ewigen Gesten tun". In den Bereich dieser „ewigen Gesten" führen uns die folgenden Gedichte, weit fort von jener Welt, mit deren „spätem Glanz" der Dichter sich seine „ernste Einsamkeit" verbrämt. In der herabsinkenden Dämmerung des Abends tauschen die müden Mauern der Straßen „die letzten Fensterblicke, hell und heiß", bis die Dinge einander zuflüstern: „wer von uns beiden bist jetzt du?" Und wenn im Innern der Häuser die Uhren schlagen, so nah, als schlügen sie in unserm eigenen Herzen, läßt auch der Dichter seinen Namen und sein eigenes Wesen hinter sich und gibt sich der umhüllenden und einigenden Kraft der Nacht anheim. Seine ganze Kindheit steigt in ihm auf, und er fühlt sich mit vielen, die vor ihm lebten, eins. Sein Traum enthüllt ihm die Wahrheit: nicht eine Mutter hat ihn geboren, sondern tausend Mütter verloren ihr Leben und ließen es dem kränklichen Knaben. Wie wir die Dinge in unseren Nächten und Träumen auch benennen mögen, es ist nicht unser Name, der sie groß macht, sondern die stillen Kräfte, die stark und gesammelt in ihnen wirken. „Kann mir einer sagen", so fragt der Dichter, „wohin / ich mit meinem Leben reiche? / Ob ich nicht auch noch im Sturme streiche / und als Welle wohne im Teiche, / und ob ich nicht selbst noch die blasse, bleiche, / frühlingsfrierende Birke bin?" Die Worte der Menschen sind wie „Mauern. / Dahinter in immer blauern / Bergen schimmert ihr Sinn." Rilke schreckt vor 7*
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den seichten Worten, mit denen der Mensch die Wirklichkeit zu benennen glaubt, zurück (FG, 94) : „Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort. Sie sprechen alles so deutlich aus : und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus, und hier ist Beginn und das Ende ist dort. Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott, sie wissen alles, was wird und war; kein Berg ist ihnen mehr wunderbar; ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott. Idi will immer warnen und wehren: Bleibt fern. Die Dinge singen hör ich so gern. Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm. Ihr bringt mir alle die Dinge um." Das letzte Gedicht schließlich ist so sehr im Geiste des Stundenbuchs, daß man in ihm schon eine Vorwegnahme seines Gottes sehen kann (FG, 105): „Du darfst nicht warten, bis Gott zu dir geht und sagt: Ich bin. Ein Gott, der seine Stärke eingesteht, hat keinen Sinn. Da mußt du wissen, daß dich Gott durchweht seit Anbeginn, und wenn dein Herz dir glüht und nichts verrät, dann schafft er drin." Mehr und mehr wird Rilke die Erfahrungen zu fassen suchen, die weit jenseits alles dessen liegen, was sich mit den Sinnen fassen läßt. Paul Valéry, der in vieler Hinsicht der genaue Gegensatz von Rilke war, den Rilke aber in seinen späteren Lebensjahren bewunderte und übersetzte — vermutlich aus ebendem Grunde, daß er mit seiner mehr vom Verstand her geprägten Sensibilität in seiner Dichtung Wirkungen erzielte, um die der den poetischen Wohlklang so meisterlich beherrschende Rilke ihn wohl beneiden mochte —, Paul Valéry äußerte im Jahre 1927 bei einem Gespräch, daß er geraume Zeit unfähig gewesen sei, die eigenartige Begabung seines deutschen Übersetzers zu würdigen. Aber schließlich fühlte er doch Zuneigung zu ihm, und es eröffneten sich ihm „durch ihn hindurch Dinge, die ich auf direkte Weise nicht liebe, jenen dunklen und fast unbekannten Tiefenraum der Versonnenheit, den wir mit unbestimmten Worten bezeichnet haben wie Mystizismus, und geradezu Okkultismus, Kunde von Vorzeichen des Schicksals, Ahnungen, innere religiöse Stimmen, 100
vertrauliche Eröffnungen ferner Dinge — die zuweilen denselben Charakter haben wie weibliche Vertraulichkeiten. Alles das, was ich vom Dasein nicht wußte, oder was ich entschlossen verspottete, bot Rilke mir in entzückender Weise dar . . ." (Salis, 115). Wir sahen schon, daß Rilke die gefährliche Neigung besaß, sich den vielfältigen und mannigfachen Reizen hinzugeben, die von außen auf ihn eindrangen, und daß Sammlung in der Stille ihm vor allem anderen nottat. „Ich verrinne, ich verrinne wie Sand, der durch Finger rinnt. Ich habe auf einmal so viele Sinne, die alle anders durstig sind. Ich fühle mich an hundert Stellen schwellen und schmerzen. Aber am meisten mitten im Herzen"
(AW1,21).
Diese Worte, die ein junger Mönch des Stundenbuchs in seiner Qual ausstößt, entspringen des Dichters eigener Seele. Sein ganzes Leben lang sollte es Rilke beunruhigen, daß diese sichtbare und greifbare Welt nur eine Seite der Wirklichkeit darstellt und zudem noch die weniger bedeutsame. In ihr herrscht das Bewußtsein der Zeit, und das bedeutet das Wissen um „Sand, der durch Finger rinnt". Sich ihm hinzugeben, als sei in ihm Anfang und Ende alles wahren Lebens, verstellte ihm seine schöpferische Arbeit wie nichts anderes sonst. „Mein Leben ist nicht diese steile Stunde, / darin du mich so eilen siehst", betet er durch den russischen Mönch zu Gott. „Ich bin ein Baum vor meinem Hintergrunde, / ich bin nur einer meiner vielen Munde / und jener, welcher sich am frühsten schließt" ( A W I , 19). Ebenso wie die unsichtbare Hälfte des Mondes den Blicken der Menschen entzogen bleibt, ist eine Seite der Wirklichkeit dem leiblichen Auge verborgen. Die geheimnisvollen Kräfte, die die sichtbare Welt beherrschen, haben ihren Ursprung in der unsichtbaren, gleich dem Stamm, dem Gezweig und dem Laub des Baumes, die von den verborgenen Kräften des Lebens durch verborgene Wurzeln genährt werden. Doch unsere gewöhnlichen Wahrnehmungsorgane sind nicht geschaffen, die unsichtbare Seite der Wirklichkeit zu erfassen. „Und mit Sinnen, die noch nicht benannt sind und von denen keiner noch weiß, wo sie wohnen, haben wir Sehnsüchte und Sensationen empfangen, die wir nicht mehr verlieren werden" (Br. Frühzeit, 397—398). In dieser anderen Welt ist die Zeit aufgehoben, und das Licht ist nicht ihr Medium. Sie wird mit der „anderen Hemisphäre der Augäpfel", mit nach innen gerichtetem Blick wahrgenommen (Br. Reisegefährtin, 77). Hier 101
braucht man die Unzahl von Dingen nicht nach ihrer greifbaren Erscheinung auseinanderzuhalten, denn man erlebt sie in den Mächten, die sie gestalten, in den Wurzeln, aus denen sie hervorgehen. Die Gegenwart ist in der Vergangenheit enthalten, und die Zukunft schlummert in beiden. Rilke klagte oft über sein schlechtes Gedächtnis, d. h. über seine Unfähigkeit, sich des Einzelnen in seiner Vielfalt zu erinnern. Die Substanz seiner Erfahrungen wurde unmerklich aufgezehrt und drang ihm gleichsam namenlos ins Blut (Br. 1,372). Namen sind wie Licht nahe auf unseren Stirnen, aber sie sind zeitweiliger Notbehelf, von dem wir uns befreien müssen, wenn wir uns selbst und Gott nahe kommen wollen. „Aber Lebendige machen alle den Fehler, daß sie zu stark unterscheiden" (Erste Elegie). „Sie sind wie Wind, der an die Zweige streift und sagt: mein Baum . . . So sagen sie: mein Leben, meine Frau, mein Hund, mein Kind, und wissen doch genau, daß alles: Leben, Frau und Hund und Kind fremde Gebilde sind, daran sie blind mit ihren ausgestreckten Händen stoßen. . . . daß sie . . . das Weib so wenig haben wie die Blume, die eines fremden Lebens ist für alle" (AWI, 83). „Ich weiß, sooft mein Denken mißt, wie tief, wie lang, wie weit —: du aber bist und bist und bist, umzittert von der Zeit" (AWI, 48). In einer lyrischen Stelle seines Tagebuches vom 21. November 1899 fragt der Dichter sich voller Unruhe: „Wo bin ich, wo? Vielleicht in einem Zimmer, . . . Vielleicht in einem Namen? Und er umdrängt mich, wie ein alter Rahmen, der heimlich bangt, ob er sein Bild noch hält. — Er hält das Bild, aber der, den es schildert in ganz bestimmter kurzer Stunden Tracht, ist anders worden, sein Gesicht verwildert, und seine Hände wachen in der Nacht . . . Wo bin ich, wo? Vielleicht in einem Leibe. Und meine Glieder wissen von dem Weibe, darin sie keimten, und mich fragt der Strauch, zurück zum Boden deutend, weißt Du's auch? Ich aber weiß es nicht. Ich kann nur glauben, daß ich längst war, eh ich begann" (Br. Frühzeit, 232). 102
Die unsichtbare Welt wird unbewußt erfahren, nicht als Gegenwart, die unablässig voranschreitet, die immer mehr unwiderrufliche Vergangenheit hinter sich läßt und sich von einer noch unverwirklichten Zukunft nährt, sondern eher als Sphäre oder Zirkel ohne Anfang und ohne Ende (AWI, 49). Steht man mitten darin, so ist jeder Punkt des Umkreises, der Oberfläche und des Innenraumes gleichsam gleichzeitig in Reichweite. Von einem solchen Blickpunkt her vermag man das Ganze in jedem Augenblick neu und unmittelbar in seiner Gesamtheit — und nicht als Endergebnis langsamen Zusammenzählens — zu schauen. „Die Wünsche sind die Erinnerungen, die aus unserer Zukunft kommen", sagt Rilke (Albert-Lasard, 162). „Manchmal erinnere ich mich so genau nie gewesener Dinge", schreibt er ein andermal im Dezember 1900 in sein Tagebuch. „Ich sehe jede Gebärde von Menschen, die nie gelebt, und empfinde das Schwanken im Tonfall ihrer nie gesagten Worte . . . Es sterben Niegeborene . . . denn Niegewesenes ist Kommendes, über uns Kommendes, Künftiges, Neues" (Br. Frühzeit, 408—409). In dieser allumfassenden Wirklichkeit ist alles, wie entfernt auch immer, mit allem verknüpft. Äußerungen wie diese nehmen in wahrhaft bemerkenswerter Weise die metamorphe Welt der Sonette an Orpheus voraus. In einem Gedicht, das noch vor dem Jahre 1902 entstand, meint ein Liebender, seine Geliebte höre, wie er seine Lider senke und hebe. Jeder liebenden Gebärde, und mag sie auch noch so geringfügig sein, wird irgendwo in der Welt eine gleichgestimmte Erwiderung. „Der Abdruck meiner kleinsten Bewegung bleibt in der seidenen Stille sichtbar; unvernichtbar drückt die geringste Erregung in den gespannten Vorhang der Ferne sich ein. Auf meinen Atemzügen heben und senken die Sterne sich. Zu meinen Lippen kommen die Düfte zur Tränke, und ich erkenne die Handgelenke entfernter Engel"
(BB, 21).
„Wie alte Königshäuser viel verwandt sind mit allen Thronen ihrer Nachbarschaft, so sind wir altverwandt mit jeder Kraft, auch wenn wir müde, bange und verbannt sind. Unendlich vieles hat auf uns Bezug was ferne und an anderen geschieht" (Br. Frühzeit, 396). „Wer jetzt geht irgendwo in der Welt, ohne Grund geht in der Welt, geht zu mir"
(Br. Frühzeit, 372). 103
„Es kommt eine Zeit, wo jede Vergangenheit ihre Schwere verliert, wo Blut wie Pracht und Pracht wie Ebenholz ist für unser G e f ü h l . . . Alle Grausamkeit wird einmal Glanz bei Enkeln" (Br. Frühzeit, 371—372). „. . . da sagt ein Glas, was meinen Ahn bewegte, ein Buch verrät mir, was er heimlich hegte, und dieser Atlas, der um die Gestalten vergangner Frauen rauschend sich erregte, fällt immer wieder in die alten Falten" (Br. Frühzeit, 241). Die kleinen Bücher Paula Beckers sind „in die Seide sanfter Brautgewänder" eingebunden, und eine ihrer schönen Gesten ist wie der zarte Extrakt ganzer Zeiträume (BB, 108). Der Dichter ist „wie eine Fahne von Fernen umgeben". Er fühlt die Winde voraus, wenn sich noch nichts rührt und der Staub noch schwer ist (BB, 58). Im Innersten seines Wesens, in der Mitte der kosmischen Vorgänge gewahrt er die schlichten Gebärden der Natur: den Flug des Vogels und das Schwanken des Baumes. Die Natur, die Gott vergänglich geschaffen hat, kehrt unvergänglich zu ihm zurück. „Sieh, das Weib ist längst in der Madonna Lisa reif wie Wein; es müßte nie ein Weib mehr sein, denn Neues bringt kein neues Weib hinzu"
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(AW 1,64).
20. AUF DER SUCHE NACH DEM BILDE Ich ruhe nicht, bis ich das eine erreicht: Bilder zu finden für meine Verwandlungen. (Br. Frühzeit, 339)
„Menschen, die vor ihrer ersten Zusammenfassung sich in Kunst aussprechen und finden wollen", schreibt Rilke im September 1900, „vergrößern, schaffend, einzelne Bruchstücke ihres Wesens ins Unverhältnismäßige und entfernen sich immer mehr von jeder Harmonie, die die erste Ursache aller Kunst ist" (Br. Frühzeit, 301). Der Künstler muß die Vielfalt der sichtbaren Welt in sich aufnehmen und zu ihrer ursprünglichen Einheit und Einfachheit zurückführen. Wie ein Kind muß er nach allen Seiten seine Augen offen halten. Planende Berechnung ist in der Welt der Menschen beheimatet, im vergänglichen Licht des Tages. „Alle, welche dich suchen, versuchen dich", sagt der Mönch im Stundenbuch ( A W I , 67). Rilkes schöpferische Erfahrung war der des Propheten und des Magiers verwandt. Im tiefsten dem Gefühl kosmischer Einheit verhaftet, die Leben und Tod umfaßt, fand er Symbole und Worte, die einem Bereich jenseits seiner bewußten Kräfte entsprungen schienen und in eine Bedeutungssphäre übergingen, die ein verstandesmäßiges Begreifen überstieg. Als er viel später, im Jahre 1924, jene höchste Meisterschaft in der Gestaltung derartiger außerordentlicher Erfahrungen erlangt hatte, beschrieb*er dies in dem Gedicht Der Magier folgendermaßen (AW I, 390): „Er ruft es an. Es schrickt zusamm und steht. Was steht? Das andre; alles, was er nicht ist, wird Wesen. Und das ganze Wesen dreht ein raschgemachtes Antlitz her, das mehr ist." Doch vorerst sind seine Symbole noch weniger verkürzt, noch wuchernder. In einem Gedicht des Buchs der Bilder aus der Schmargendorfer Zeit sagt er: „Meine Stube und diese Weite, wach über nachtendem Land, — ist Eines. Ich bin eine Saite, über rauschende breite Resonanzen gespannt. Die Dinge sind Geigenleiber, von murrendem Dunkel voll; drin träumt das Weinen der Weiber, drin rührt sich im Schlafe der Groll ganzer Geschlechter . . . " (BB, 55). 105
In einem anderen Gedicht der gleichen Zeit fleht er die Nacht leidenschaftlich an: „Nacht, stille Nacht, in die verwoben sind ganz weiße Dinge, rote, bunte Dinge, verstreute Farben, die erhoben sind zu Einem Dunkel, Einer Stille, — bringe doch mich auch in Beziehung zu dem Vielen, das du erwirbst und überredest. Spielen denn meine Sinne noch zu sehr mit Licht? . . . Urteile nach meinen Händen: liegen sie nicht wie Werkzeug da und Ding?"
(BB, 56).
Nächte hindurch möchte er Seiten mit leisen Zeichen füllen, die nicht von seiner müden Hand kommen, sondern die verraten, daß er selber Hand ist — die Hand Eines, der wunderbare Dinge mit ihm tut. In die Dunkelheit dringen Dimensionen und Kräfte ein, die sich seiner bedienen, wenn er zu dienen bereit ist (Br. Frühzeit, 231). ö f t e r und öfter widerfährt es ihm, daß er nicht sagen kann: „Ich bin", sondern sagen muß: „Es ist." „Ein einziges Gedicht, das mir gelingt, und meine Grenzen fallen wie im Winde; es gibt kein Ding, darin ich mich nicht finde: nicht meine Stimme singt allein: es klingt" (Br. Frühzeit, 244). Anläßlich der Verlobung Paula Beckers bedenkt er sie in einem Gedicht mit folgenden W o r t e n : „Es ist so seltsam: jung sein und zu segnen", aber „meine Hände sind viel mehr als ich, in dieser Stunde, da ich segne. Da ich sie aufhob, waren beide leer, und da ich mich mit einer Angst, die lähmte, für meine leichten, leeren Hände schämte, da, hart vor Ihnen, legt irgendwer so schöne Dinge in die armen Schalen, daß sie mir fast zu schwer geworden sind." Ein unbekannter Geber macht ihn den Bäumen gleich: „die Winde werden weicher / und rauschen in mir, und ich segne Sie" (Br. Frühzeit, 75—77). Rilke
hatte
ein unheimliches
Verlangen
und Vermögen,
über
die
Grenzen des Faßbaren hinauszudringen, der Erfahrung gleichsam bis in den Mutterleib nachzugehen und die elementaren Kräfte des Lebens und des Todes im tiefsten zu erfühlen. Im Gegensatz zu den meisten Menschen hielt er sich gern in alten Schlössern auf, wo er dem Geist der Ahnen, 106
ihrem bewegten Leben wie ihrem traurigen Tode mit Lust nachspüren konnte und wo geheimnisvolle Geräusche die Stille der Abende unterbrachen und das Kerzenlicht unheimliche Schatten über die Bildnisse der Verstorbenen warf (Br. 1914—21, 259—260). Seine Neigung, sich ins Übersinnliche zu versenken oder sich in die Einsamkeit zurückzuziehen, entfremdete ihn den Menschen. Wenn er ins Alltagsleben zurückkehrte, klang ihm sein eigener vertrauter Name hohl und unheimlich, als vermöchte dieser ihn nicht länger zu benennen und ihm seinen Platz zuzuweisen. Selbst unter Freunden fühlte er sich einsam (Br. Frühzeit, 249—50). Das Paradoxe dieser Haltung liegt darin, daß sie im allgemeinen alle Umrisse zu verwischen droht und jegliche Unterschiede ins Vage, Nebulose eintaucht. Wie konnte Rilke bei einem derartigen Hang für übersinnliche „Wirklichkeiten" auf Erkenntnis hoffen, die der Sammlung und der poetischen Genauigkeit dienlich war? Denn, wie er im Malte sagt, haßt der wahre Dichter das „Ungefähre" ( A W I I , 144). Wenn die durch Zeit und Bewußtsein bedingte Welt der Erscheinungen ihm unzuverlässig und schattenhaft erschien, wie konnte er dann mehr Klarheit vom Unterbewußtsein und dessen dunklen, verwobenen Kräften erwarten? Dieses Paradox rührt an den innersten Kern von Rilkes schöpferischen Leiden. Die in ihm enthaltenen gefährlichen Widersprüche mußten miteinander verständigt werden, wenn er sein sehnliches Streben verwirklichen und eine Dichtung schaffen wollte, die zugleich bis zur Greifbarkeit geprägt und von mannigfaltiger Ausstrahlung sein sollte. Rilke war sich der Gefahren, die sein Werk bedrohten, wohl bewußt. Im Jahre 1903 verglich er seine frühe Dichtung der sich ständig neugestaltenden Bildung der Wolken, ein Vergleich, der auf den Gott des Stundenbuchs in gleicher Weise anwendbar wäre. Als er einige Monate früher in Viareggio das Buch von der Armut und vom Tode schuf, beschwor er den Geist des Hl. Franz von Assisi, des „braunen Bruders deiner [Gottes] Nachtigallen." „Und wenn er sang, so kehrte selbst das Gestern und das Vergessene zurück und kam; und eine Stille wurde in den Nestern, und nur die Herzen schrieen in den Schwestern, die er berührte wie ein Bräutigam. Dann aber lösten seines Liedes Pollen sich leise los aus seinem roten Mund und trieben träumend zu den Liebevollen und fielen in die offenen Corollen und sanken langsam auf den Blütengrund. 107
Und sie empfingen ihn, den Makellosen in ihrem Leib, der ihre Seele war. Und ihre Augen schlössen sich wie Rosen und voller Liebesnächte war ihr Haar. Und als er starb, so leicht wie ohne Namen, da war er ausgeteilt: sein Samen rann in Bächen, in den Bäumen sang sein Samen und sah ihn ruhig aus den Blumen an. Er lag und sang" ( A W 1,108). Rilkes Kunst, das Schwebende und Fließende in die greifbare Gestalt eines Bildes zu bannen, tritt hier deutlich hervor. Die gestaltlosen webenden Kräfte, die, nirgendwo faßbar, in allem wirken, verstand er in Symbole von sinnlicher Schönheit zu fassen und zu unserer Bewunderung gleich Rosenblättern auf einer kostbaren Schale auszubreiten. Und das erotische Wesen seiner unterbewußten Erfahrung ist im zarten Zauber dieses Gedichtes ebenso augenfällig wie in der düsteren Besessenheit der Dritten Elegie. Seine Schwierigkeit lag darin, dessen schöpferische Kräfte zu befreien und zu erschließen und doch sein Überfluten einzudämmen. Da er nun ein Dichter von ungewöhnlicher Macht der Beschwörung war, so konnte sein Zuchtmittel nur das gestaltende Symbol des Wortes sein. Als wie befreiend er das Wort empfinden konnte, wenn er sich dem Erlebnis des Unendlichen gegenübersah, zeigt sich in einem eigenartigen Prosastück, das er zu Beginn des Jahres 1913 in Spanien niederschrieb ( A W II, 264; M T T , 45 f.) .Obwohl es, in der dritten Person erzählt, von ihm selbst gleichsam abgerückt erscheint, schildert es doch offensichtlich ein eigenes Erlebnis. Als er wie gewöhnlich mit seinem Buche sinnend durch den Park des Schlosses Duino schlenderte, der sich ziemlich steil zum Meer hinunterzog, kam es ihm plötzlich, „sich in die schulterhohe Gabelung eines strauchartigen Baumes zu lehnen". Sogleich fühlte er sich so angenehm gehalten und wohlig gestützt, daß er sich der Natur in einem Zustand fast unbewußter Betrachtung hingab. Allmählich bemächtigte sich seiner ein sonderbares Gefühl, als ob aus dem Innern des Baumes kaum merkliche Schwingungen durch ihn hindurchgingen. Der sanfte Wind, der über den Hang hinwehte, konnte sie nicht hervorrufen, denn er war durch den Baum geschützt. Und noch eigenartiger als dieses Gefühl selbst war die Wirkung, die es erzeugte: es schien ihm, als habe er niemals eine zartere Bewegung verspürt. Er fühlte seinen Körper wie eine Seele behandelt, die einen Grad von Einfluß aufzunehmen vermochte, der, an der sonstigen Deutlichkeit körperlicher Empfindungen gemessen, eigentlich gar nicht wahrgenommen werden konnte. Im Bestreben, das auszusagen, was ihm widerfuhr, fand er sogleich den angemessenen Ausdruck: es war ihm, als sei er „auf die 108
andere Seite der Natur geraten". Wie in einem Traum erfüllte ihn dieses Wort mit Freude, und es schien ihm fast uneingeschränkt zuzutreffen. Das zutreffende Wort hatte einem unheimlichen Erlebnis seine möglicherweise verstörenden Wirkungen genommen. Rilkes Ambivalenz enthüllt sich allenthalben mit unmißverständlicher Deutlichkeit. Sein unbewußtes Selbst, dessen dunkle Verflochtenheit ihm unablässige Leiden verursachte, mußte mit Sorgfalt gehütet werden, denn es war der fruchtbare Boden, aus dem seine Kunst erwachsen sollte. Und sein bewußtes Selbst, dessen vergängliches Erleben ihn gleichermaßen unglücklich machte, mußte dem aus dem Unterbewußtsein aufsteigenden reichen Strom die rechten Symbole und die glänzenden Konturen verleihen. Nichts erläutert diesen Zustand besser als die Jahre, die er an der Seite Rodins in Paris verbrachte. Während er einerseits von diesem Meister lernte, wie man sich aus lyrischem Überschwang zur zuchtvollen Übung des modelé und dem gehorsamen Nachtasten geformter Oberfläche erhebt, stieg er mit gleicher, wenn nicht mit größerer Hingabe in die furchtbaren Tiefen der Alpträume und Qualen des Malte. Ohne Zweifel hatte die Verbindung mit Lou Andreas-Salomé ihm ein klares Bewußtsein seiner ambivalenten Veranlagung gebracht, die in Orpheus und dem Engel später einmal ihre glanzvollen Symbole finden sollte. Noch tastete er unsicher, aber — wie gesagt — schon jetzt wußte er, daß er seine Träume allein durch die Ausbildung seines visuellen Sinnes würde bewältigen können, dessen gestaltende Kraft dem Traum seine Unwirklichkeit nehmen, ihm aber seine schöpferische Bedeutung bewahren würde. „Du mußt ein Bild für das Gefühl erfinden", sagt er in einem Gedicht des Jahres 1899, „in Kinderworten oder Sommerlinden / muß etwas sein, was sich mit ihm vergleicht" (Br. Frühzeit, 239). Sein Worpsweder Tagebuch enthält den erdachten Brief eines Mädchens an seine Freundin Helene, der angeblich im April 1900 am Gardasee geschrieben wurde. Tatsächlich hielt sich Rilke zu jener Zeit in Berlin-Schmargendorf auf und hatte seine erste russische Reise bereits hinter sich, aber das Erlebnis, das in diesem Brief geschildert wird, geht wohl auf einen Aufenthalt in der Gegend von Arco im März 1899 zurück, der seiner Reise nach Rußland um einige Wochen vorausging. Die Briefschreiberin ruft die Tage, die sie mit ihrer Freundin verbrachte, in ihr Gedächtnis zurück und träumt die schönsten Träume. Selbst bei Tage bleibt Helene davon umfangen. „Du erwachst oft schwer und lebst einen ganzen Vormittag mit zurückgewendetem Gesicht, und Deine Stirne ist ganz blaß, wie beschienen von einem anderen Licht, das für Dich noch nicht untergegangen ist. Dann gehen alle Deine Gedanken dorthin, in Deinen Augen ist kein Raum für den Tag und Deine Hände (die schlanken!) stehen in der Arbeit umher, 109
wie Waisen, um die sich niemand kümmert." Doch nun, an den Ufern des italienischen Sees, wurden dem Mädchen die Gefahren träumerischen Schweifens in erdachten Ländern bewußt. „Wir haben unsere Mütter kaum je gesehen, und unserer Väter seltene Zärtlichkeit drang nicht bis zu uns." Sie erinnerte sich nicht einmal der Farbe, die daheim die Wände ihres Zimmers hatten, die Träume hatten alle Mauern durchsichtig gemacht, und die Schönheiten der sie umgebenden Natur waren nicht mehr als ein vager Hintergrund für ihre traumwandlerischen Wege. Ein Erlebnis in den Weingärten von Arco öffnete ihr die Augen. Während sie in der heißen Mittagssonne einen Weg entlangging, der, von hohen Steinmauern eingefaßt, die mit Reben bewachsenen Hänge trennte, fiel ihr Blick auf die zarten Grashalme, die aus den verwitterten Fugen sprossen und die Mauer gleich einem Teppich bedeckten. Doch mehr noch bestaunte sie das tiefe Dunkel der Fugen. Leichten Wellen vergleichbar, schien diese Dunkelheit hin und her zu wogen, hervorgerufen durch zahllose kleine Eidechsen, die davonhuschten, wenn ein Geräusch sie erschreckte. Und jedes dieser ungezählten kleinen Tierwesen richtete seine schwarzen Augen auf das schauende Mädchen. Was zuerst wie Dunkelheit erschien, enthüllte sich als eine Unzahl erstaunter und flehender Augen. Und so, schreibt das Mädchen an Helene, ist es mit allen Wänden, ja mit allen Dingen: sie haben Augen, die den unseren begegnen wollen. Wenn wir sie nicht sehen, gleichen wir den Blinden, die mit leerem Blick umhergehen. „Reiß Deine Augen dem Traum von den Lippen, Helene! Wende sie den Dingen zu und der Sonne und den guten Menschen auch, damit sie sie wieder füllen mit Blicken. In meinen Augen sind nun tausend A u g e n . . . " (Br. Frühzeit, 258—262).
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TEIL
IV
R U S S L A N D U N D DIE R U S S E N
Nah ist das Land, das sie das Leben
nennen.
(Stundenbuch)
21. RUSSLAND, DAS LAND DER ZUKUNFT Du bist die Zukunft, großes Morgenrot, über den Ebenen der Ewigkeit. (Stundenbuch) Rilkes Reisen nach Rußland fügten sich nicht nur seiner geistigen Entwicklung natürlich genug ein, sondern entsprachen auch seiner Prager Herkunft. Die Nachbarschaft der slawischen Welt lenkte sein Interesse auf das Land, in dem sie sich am mächtigsten verkörperte — auf Rußland. Im tschechischen Volke hatte er jene kindliche Schlichtheit und Wärme gefunden, die er daheim entbehrte und die seiner deutschen Umgebung mit ihrer bürgerlichen Anmaßung gänzlich fehlte. In Linz war seine Aufmerksamkeit auf Tolstoj gelenkt worden, und in München hatte ihm Wassermann das Werk Turgenjews und Dostojewskijs nahegebracht. Das Religiöse in ihrer Dichtung, ihrer Kunst zutiefst verwandt, entsprach seinen innersten Bedürfnissen, denn es bot ihm einen Ausgleich für die schale Frömmigkeit seiner Mutter und für die Nichtachtung, mit der Familie und weitere Umwelt seiner Dichtung begegneten. Und schließlich war es nicht bedeutungslos, daß seine aus Rußland stammende Freundin Lou ihm einen fesselnden Ausblick auf die unermeßliche Wirklichkeit eines Volkes und Landes eröffnete, das seinem Verlangen nach heiler Wahrheit und nach geduldigem Wachstum so entgegenzukommen schien. Rilkes Ideal vom „ewigen Russen" hatte in seinem Geiste schon feste Gestalt angenommen, ehe er noch russischen Boden betrat. Angelloz erwähnt eine Äußerung Ellen Key gegenüber, nach der Rilke bei seinem ersten Eintreffen in Moskau alles als wohlbekannt und längst vertraut empfand. Moskau war für ihn die Stadt seiner ältesten und tiefsten Erinnerungen, seine Heimat (Angelloz, 119). Einige Tage vor seiner Abreise schrieb er, wie sehr es ihn verlange, Ostern noch einmal unter den volleren Glocken der Kremlkirchen zu erleben, hatten ihm doch die heimatlichen zu dünnstimmig geklungen (Br. Frühzeit, 8). Und aus St. Petersburg bekannte er Frieda von Bülow gegen Ende der ersten Reise: „Alle Dinge sind ja dazu da, damit sie uns Bilder werden in irgendeinem Sinn. Und sie leiden nicht dadurch, denn während sie uns immer klarer aussprechen, senkt unsere Seele sich in demselben Maße über sie. Und ich fühle in diesen Tagen, daß mir russische Dinge die Namen schenken werden für jene fürchtigsten Frömmigkeiten meines Wesens, die sich, seit der Kindheit schon, danach 8 Grafi. Rilke
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sehnen, in meine Kunst einzutreten" (Br. Frühzeit, 17). Bei seiner Ankunft in Moskau verweilte er trotz aller Müdigkeit nur kurze Zeit in seinem Hotel und eilte dann sogleich in die Stadt. „Ich traf auf dieses", so schrieb er, „in der Dämmerung ragten die riesigen Konturen einer Kirche empor, an den Seiten im Nebel zwei kleine silberne Kapellen, auf den Stufen warteten Pilger auf die Öffnung der Türen. Dieser für mich ungewohnte Anblick erschütterte mich in der Tiefe: zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich ein unausdrückbares Gefühl, etwas wie ,Heimgefühl' — ich fühlte mit großer Kraft die Zugehörigkeit zu etwas, mein Gott, zu etwas in dieser Welt" (Brutzer, 103). Die beiden Reisen nach Rußland gehören offenbar zusammen wie zwei konzentrische Kreise um ein Erlebnis. Die erste dauerte vom 25. April bis Mitte Juni 1899, die zweite von Anfang Mai bis zum 20. August 1900. Offenbar war der Plan zu diesen Reisen zum ersten Mal in Zoppot aufgetaucht, wo Rilke im Frühjahr 1898 nach seiner Rückkehr aus Viareggio einige Wochen mit Lou Andreas-Salomé verbrachte. Mit Eifer unterrichtete er sich — selbst an Hand des Baedeker — über Rußland, doch gelang es ihm nicht, das Russische noch so weit zu erlernen, daß er es hätte sprechen können. So war seine erste Reise, aufs Ganze gesehen, eher informatorisch und von mancherlei Hindernissen begleitet. In gewisser Hinsicht scheint es, daß sie vor allem journalistischer Arbeit galt, die letztlich der Förderung seiner dichterischen Laufbahn dienen sollte. Am Gründonnerstag des russischen Kalenders traf er mit Lou und ihrem Mann in Moskau ein und hielt sich eine Woche dort auf. Die Osterfeier, zu der Tausende von Menschen von Kirche zu Kirche zogen und einander den Osterkuß gaben, zu der von allen Kirchen Hunderte von Glocken das „Christ ist erstanden" verkündeten, machte einen überwältigenden Eindruck auf Rilke und ließ für den Rest seiner Tage eine tiefe Sehnsucht in seinem Herzen zurück. Die Museen von Moskau besuchte er kaum, war er doch zu sehr vom Leben dieses Volkes und von der Vielfalt neuer Begegnungen in Bann gezogen. So bot sich ihm die Gelegenheit, auch Tolstoj einen kurzen Besuch abzustatten, der sich gerade in der Stadt aufhielt. Der betagte russische Dichter ermahnte Rilke und Lou, Frömmelei und Aberglauben durch ihre Teilnahme an den religiösen Übungen der russischen Bauern und Pilger nicht noch zu fördern, eine Warnung, die sie herzlich mißachteten (Br. Lou, 36). Für Rilke war Tolstoj „der erste Mensch im neuen Lande und der rührendste Mensch" (Br. Frühzeit, 12), und in seine gütigen alten Hände legte er ein Exemplar der Zwei Prager Geschichten, die gerade erschienen waren. Das russische Volk schien Rilke von Ehrfurcht und Frömmigkeit voll. Volk und Land erschienen ihm „neu", als hätten sie ihre endgültige Gestalt noch nicht erreicht, als seien sie von einer lebensträchtigen Zukunft erfüllt. Ihre 114
Paläste und Kirchen schienen dem Boden gerade erst zu entwachsen und ihre Vollendung erst in ferner Zeit zu finden. Doch vorerst waren Erfahrungen und Erlebnisse so ungeformt, daß er ihren Sinn noch nicht zu fassen vermochte. Er fühlte sich wie ein Fischer, dessen Netz von der Last des Fanges so schwer ist, daß er seine Rückkehr abwarten muß, ehe er sich seiner vergewissern kann (Br. Frühzeit, 16). Rußland verknüpft sich ihm mit Italien, und er empfindet diese Tage als eine „seltsame Ergänzung jenes Florentiner Frühlings". Florenz mit seiner großen, ihrer äußeren Form nach so vollendeten Kunst wird für ihn zu einer Vorbereitung auf Moskau mit seiner größeren Tiefe und schöneren Einfalt. Er ist dankbar, daß er Fra Angelico vor den Bettlern und Betern der Iberischen Madonna sah1). Wie Dostojewskijs Tochter Ljubow berichtet, fühlte sich auch ihr Vater an das russische Volk erinnert, als er die norditalienischen Bauern sah. „Die Russen, die Italien bereisen", so schreibt sie, „finden zu ihrem Erstaunen im Inneren Umbriens oder der Toskana Bauernfrauen vom gleichen Typ, wie sie ihnen daheim begegnen. Sie haben den gleichen sanften und geduldigen Ausdruck, die gleiche Ausdauer bei der Arbeit und den gleichen Sinn für Selbstentäußerung. Ihre Kleidung und die Art, wie sie ihre Tücher um den Kopf zu knoten pflegen, ist sich gleich. Deshalb lieben die Russen Italien und betrachten es in gewissem Sinne als ihre zweite Heimat" (Dostojewski)', A., 159). Rilke besuchte auch St. Petersburg, jene Stadt, durch die das Denken, die gesellschaftlichen Gepflogenheiten und die Kultur des Westens unablässig in das Zarenreich einströmten. Hier suchte er die Museen auf und tat einen kurzen Blick in den weltstädtischen Glanz des gesellschaftlichen Lebens. Doch, aufs Ganze gesehen, galt sein Interesse weniger den einzelnen Bekanntschaften, die er machte, als dem russischen Typ schlechthin, diesem geduldig wartenden Wesen, das einer langsamen Reife unterworfen ist: Symbol für seine eigene Entwicklung. Am 1. Juli 1899 war Rilke wieder in Schmargendorf, bereit, seine russischen Eindrücke zu ordnen, durch weitere Studien zu vertiefen und die russische Literatur durch Übersetzungen, Aufsätze und Theateraufführungen weiteren Kreisen zugänglich zu machen. In einem Winkel seiner Wohnung fand sich von nun an ein kleiner russischer Hausaltar; er selbst trug einen Russenkittel und sprach Deutsch mit russischem Akzent. Inzwischen verstand er das Russische ohne Schwierigkeiten und hatte im Sprechen und Schreiben große Fortschritte gemacht. Doch obschon er sich jetzt und später immer wieder heftig bemühte und von Zeit zu Zeit sogar russische Gedichte ) Die Iberische Madonna ist die Kopie einer Ikone in der Iberischen Kapelle in Moskau. Das Original befand sich im Iberischen Kloster auf dem Berge Athos. Die Kopie, die im Jahre 1648 unter Gebet und Fasten von den Mönchen angefertigt und dem Zar Alexis Michailowitsch überreicht worden war, wurde bis vor kurzem fast täglich in einem vierspännigen Wagen durch die Straßen Moskaus gefahren, wo sich die Menschenmenge tief vor ihr verneigte (GG, 72). J
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schrieb, gelang es ihm doch nicht, diese Sprache völlig zu beherrschen. Sofia Schill bittet ihn im August 1900: „Wenn Sie zur Übung russisch schreiben wollen, werde ich sehr froh sein, auch weiterhin russische Briefe zu bekommen, aber um die Wahrheit zu sagen: es tut mir leid, daß ich nicht mehr Ihre ausgezeichnete deutsche Sprache hören werde, die Sie mit solcher Vollkommenheit beherrschen... Ich glaube, daß der Mensch vollkommen nur eine Sprache beherrschen kann, das heißt den geheimnisvollen Atem ihrer Seele fühlen" (Brutzer, 15). Gewiß war Rilke zu sehr Dichter, als daß er hier nicht zugestimmt hätte, aber im Jahre 1907 äußert er einmal einem schwedischen Freund gegenüber, daß gewisse innere Erlebnisse ihn oftmals zur Gestaltung in einer fremden Sprache nötigten, weil er sie allein in dieser Form angemessen auszudrücken vermöchte (Br. 1906—1907, 242). Seine russischen Studien fanden ihren Höhepunkt wohl im August und September 1899, als er sich mit Lou in Bibersberg bei Meiningen aufhielt. Ihre Gastgeberin Frieda von Bülow klagte nach ihrer Abreise: „Von Lou und Rainer hab ich bei diesem sechswöchigen Zusammensein äußerst wenig gehabt. Nach der längeren russischen Reise . . . hatten sie sich mit Leib und Seele dem Studium des Russischen verschrieben und lernten mit phänomenalem Fleiß den ganzen Tag . . . als ob sie sich für ein fürchterliches Examen vorbereiten müßten. Kamen wir dann bei den Mahlzeiten zusammen, so waren sie so erschöpft und müde, daß es zu anregender Unterhaltung nicht mehr langte" (Br. Frühzeit, 420). Sie studierten die Sprache, die Literatur und die russische Geschichte in ihren politischen, religiösen und kulturellen Aspekten, vor allem aber die Kunstgeschichte. Die letztere umfaßte weite Gebiete: die vorchristliche Kunst, die sakrale Architektur von Kiew und Nowgorod-Pskow, alte Festungen (Befestigungen), die innere Struktur und Ausstattung der Kirchen, Ikonographie, Emaille- und Filigranarbeiten, Miniaturen, Kostüme, Möbel, Hausrat und Gebrauchsgegenstände — vor allem des 16. und 17. Jahrhunderts. Sie interessierten sich für die russische Folklore: für die alten Lieder (pesni) und die Märchen und Heldensagen (byliny). Rilke war stets bemüht, das Verhältnis zwischen italienischer und russischer Malerei zu erfassen, um so das Wesen des Russischen immer tiefer zu begreifen. Römische Erinnerungen wollte er gegen russische Eindrücke tauschen (Br. Frühzeit, 11). Was ihm für die Menschen der Renaissance am bezeichnendsten schien, war ihre leidenschaftliche Liebe zum Leben, die das Ohr dem Rauschen des Blutes und das Auge ihrem vergänglichen, vom Abgrund umlagerten Überschwang verschloß. „Ist es wunderlich, daß über die Menschen, welche dieses Gedicht sangen, eine Hast hereinbrach, ein Bestreben, alle Festlichkeit auf dieses Heute zu türmen, auf den einzigen Fels, auf dem zu bauen sich verlohnt? Und so kann man sich das Gedränge der Gestalten auf den Bildern der 116
Florentiner Maler erklären, die sich bemühten, alle ihre Fürsten und Frauen und Freunde in einem Gemälde zu vereinen. . ." (GG, 153). Mit unverhohlener Zustimmung verfolgte Rilke das Bestreben zahlreicher russischer Maler des 19. Jahrhunderts, die sich von der Darstellungsweise, den Motiven und der Technik des Westens zu befreien und zu einheimischen Inhalten und Formen zurückzukehren suchten: Iwanows (1806—1858) tragischen und einsamen Kampf um einen naiven Realismus gegen die Regelhaftigkeit der „Akademie", Kramskoys (1837—1887) spätere Führerschaft dieser anwachsenden Bewegung und Ilja Repins unzerstörbares Russentum, dem auch seine ausgedehnten Reisen nach Italien, Frankreich und Deutschland nichts anhaben konnten. Unter den Dichtern liebte Rilke vor allem Puschkin, Gogol, Turgenjew, Dostojewskij, Tolstoj, Tschechow, Lermontow und den bäuerlichen Droschin. Puschkins Märchen fesselten ihn, und sein Poltawa hinterließ in einigen Gedichten des Buches der Bilder seine Spuren. Die Episode vom Grischa Otropjew in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge ist im Gedanken an Boris Godunow entstanden. Gogol war für ihn der Kleinrusse, der tief in Tradition, Geschichte und Religion seines Volkes verwurzelt war, Turgenjew der sorgfältige und liebevolle Beobachter der Natur, Dostojewskij die Seele der Armen und Verlassenen, deren reine, demütige Liebe ebenso eine einfache Regung des Herzens ist wie ihre Sehnsucht nach Gott. In Tolstoj, dem „ewigen Russen", sah Rilke den gütigen ergrauten Dichter russischer Armut, Liebe und Demut, der „einen Drachen gemacht hat aus dem Leben, um der Held zu werden, der ihn bekämpft" (Br. Frühzeit, 367). Er und Gogol waren es vor allem, die Rilke zu der Äußerung veranlaßten, daß ihre große Güte die Russen daran hindere, Künstler zu bleiben. Aber selbst die Auferstehung, die in der Zeit entstand, da Tolstoj gegen sein Künstlertum ankämpfte, zeugt von der unbändigen künstlerischen Kraft seiner Natur (Br. Frühzeit, 35). Von Tschechow übersetzte Rilke die Tschaika (Die Möwe) und erwog — ebenso wie für den Onkel Wanja — die Möglichkeiten einer Aufführung auf der deutschen Bühne. Er liebte Droschin als den schlichten, erdverbundenen Sohn des russischen Landes und Volkes, aus dessen Werk er die alten byliny und pesni heraushörte. Überall suchte Rilke das, was seine eigenen Seelenregungen bestätigen und zu einem Bilde seines Sehnens werden konnte. Oftmals war ihm die Menschlichkeit der Künstler wichtiger als die Kunstwerke selbst: ihr prophetisches Vermittlertum zwischen Gott und Mensch, ihre schlichte Brüderlichkeit, ihre Nähe zum Ursprung, zu Gott, ihre stille Vertrautheit mit Erde und Dingen, ihr geduldiges Leiden um ein sich ständig entziehendes Ideal der Vollkommenheit. Die Heftigkeit ihrer inneren Kämpfe und Spannungen war ihm Gewähr für ihre Gott-schaffende Kraft. Ihre gewaltigen Ziele und Pläne, die in Tausenden von Jahren zu rechnen schienen, 117
machten sie ihm zu Propheten und Vorboten der Ewigkeit. Ganz im Gegensatz zum Übereifer und Stolz des Westens erhielten sie sich ihre „heilige Langsamkeit" im demütigen Bewußtsein ihrer Mängel und Unvollkommenheiten. Rilke erblickte gerade in den tragischen Widersprüchen und den quälenden Selbstprüfungen so mancher russischer Künstler eine Stärke, die eine ruhmvolle, wenn auch ferne Zukunft verhieß. „Die russischen Menschen", so schreibt er am 5. März 1900 an Sofia Nikolajewna Schill, „leben Fragmente unendlich langer und mächtiger Lebensläufe, und wenn sie auch nur einen Augenblick darin verweilen, so liegen doch über diesen Minuten die Dimensionen gigantischer Absichten und hastloser Entwicklungen" (Br. Frühzeit, 30). Rußland, „mit seinen Winden, Wassern und Wäldern rauschend am Rande des Christentums", ist das Land Gottes. Gleich Gott kann es in gewöhnlichen Farben und Lichtern nicht geschildert werden, nur in seinem schlichten Wesen kann man es benennen, in seinen ältesten Königen, in ihren Taten und Schlachten (AWI, 47). Es ist wie die Erde in ihrem gelassenen Warten — ihr sind alle Jahreszeiten wie Sommer und die Ernten wie Gezeiten; sie trägt die Mauern der Städte so geduldig wie Äcker, Kirchen und Klöster ( A W I , 47). Seine unermeßlichen Steppen und Heiden sind wie die schlafende See, unter deren erstarrten Wogen, den Kurghanen oder Grabhügeln, vergangene Generationen begraben liegen. In diesem Lande, in dem die Gräber die einzigen Hügel sind, sind die Menschen wie Abgründe — tief, dunkel und schweigend, und ihre Worte sind wie schwankende Brücken über ihrem wahren Wesen. „Rußland", schreibt er später, „war die Wirklichkeit und zugleich die tiefe, tägliche Einsicht, daß die Wirklichkeit etwas Fernes unendlich langsam zu denen Kommendes ist, die Geduld haben. Rußland, das Land, wo die Menschen einsame Menschen sind, jeder mit einer Welt in sich, jeder voll Dunkelheit wie ein Berg, jeder tief in seiner Demut, ohne Furcht, sich zu erniedrigen, und deshalb fromm. Menschen voll Ferne, Ungewißheit und Hoffnung: Werdende. Und über allem ein nie festgestellter, ewig sich wandelnder, wachsender Gott" (Br. Frühzeit, 419).
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22. Z W E I T E
RUSSISCHE
REISE
Alles wird wieder groß sein und gewaltig. Die Lande einfach und die Wasser faltig, die Bäume riesig und sehr klein die Mauern. (Stundenbuch) Rußland als das Land der Zukunft, das typische Symbol seines eigenen tiefempfundenen Verlangens nach dauernder geduldiger Entwicklung — diese Vorstellung blieb Rilke durch sein ganzes Leben. „Vielleicht", schreibt er 1903 an Lou Andreas-Salomé, „ist der Russe gemacht, die MenschenGeschichte vorbeigehen zu lassen, um später in die Harmonie der Dinge einzufallen mit seinem singenden Herzen. Nur zu dauern hat er, auszuhalten und wie der Geigenspieler, dem noch kein Zeichen gegeben ist, im Orchester zu sitzen, vorsichtig sein Instrument haltend, damit ihm nichts widerfahre . . . " (Br. Lou, 105). Nach dem ersten Weltkrieg traf Rilke in der Schweiz, in Paris und anderswo wiederholt weißrussische Emigranten, und er empfand die russische Revolution nicht als eine natürliche Äußerung des Volkes, gewiß nicht der Bauern. Er glaubte, Rußland habe seine Kraft in seinen Wurzeln zusammengezogen und sammle sich langsam für eine große Zukunft (Brutzer, 13). Daß Rußland sich vom Westen zurückzog, führte er zu seiner Rechtfertigung sogar als Beispiel dafür an, daß er selbst sich der Verantwortung für Hausstand und Familie entzog. In einem bemerkenswerten Brief vom 17. Dezember 1906 schrieb er an seine Frau: „Mir ist ein wenig wie dem russischen Volk zumute, von dem Fernerstehende oder Mißtrauischgewordene auch sagen, es müsse endlich aus seiner bisherigen Entwicklung heraus auf den normalen Bildungsweg herübergezogen werden und die Wirklichkeit ins Auge fassen, um zu etwas zu kommen. Und zu etwas käme es dann ja auch, ganz gewiß. Wie die westlichen Leute zu etwas gekommen sind, zu dem und jenem, von einem zum anderen. O b es aber zu dem Einen käme, wonach allein, über alles fort, seine Seele verlangt?" (Br. 1906—1907,136—137). Als er sich sehr viel später, im Jahre 1920, über Ljubow Dostojewskijs Biographie ihres Vaters äußert, stimmt er völlig darin mit ihr überein, daß die russische Revolution in Wirklichkeit eine List des russischen Muschik gewesen sei (den Rilke als „das unerschöpflich überstehende und aufbauende Element Rußlands" bezeichnete), dessen geheime Absicht es war, sich dem westlichen Einfluß leichter zu entziehen und entschiedener zu sich selbst zu kommen (Br. 1914—1921, 306). Der Russe eignete sich in Rilkes Augen etwa so zum Revolutionär 119
„wie ein Batisttaschentuch sehr nett ist zum Tinte aufwischen . . . " (Br. 1906 bis 1907. 253—254). In einer der Geschichten vom lieben Gott, im Lied von der Gerechtigkeit, verherrlicht Rilke den Aufstand der südrussischen Bauern im 17. Jahrhundert. Aber er erklärt eindringlich, daß dies nicht ein Aufruhr gegen die Herrschaft des Zaren, sondern gegen fremde Unterdrücker, gegen polnische Pans und habgierige Juden war, die Volk und Land rücksichtslos ausbeuteten. Spürbar erzürnt über die Nachkriegspropaganda, die Rußland zum Sündenbock für alle Obelstände machen wollte, schrieb er im Jahre 1920: „(Rußland) hat mich zu dem gemacht, was ich bin, von dort ging ich innerlich aus, alle Heimat meines Instinkts, all mein innerer Ursprung ist dort" (Br. 1914-1921, 292). Was von den russischen Künstlern gesagt wurde, gilt auch für ihr Werk: auch hier suchte Rilke vor allem das, was seinem poetischen Gefühl entsprach. Sophie Brutzer erwähnt ein Gemälde von Nicholas Gay (1831-1894), Was ist Wahrheit?, auf dem Pilatus, der durchsichtige, gesättigte Mensch des Westens, Christus, dem dunklen, unergründlichen Russen, gegenübersteht — dem Einen, „der nicht lacht", dem Fremdling, der unerkannt und verfolgt als der „immer Kommende" durch die Welt zieht (Brutzer, 23). Kramskoys erstes Bild, Christus in der Wüste, stellt Jesus so dar, wie Rilke ihn in seinem Gedicht Der Ölbaum-Garten schildert, nicht als Erlöser und Sohn Gottes, der über den Versucher triumphiert, sondern als den verzweifelten Menschen, der keinen Weg mehr sieht. Besonders Kramskoys letztes, unvollendetes Werk, Die Verhöhnung Christi durch Herodias, machte mit seinem grausigen Gelächter der Heidin einen tiefen Eindruck auf Rilke, der sich an den qualvollen Spott seiner Militärschulzeit erinnert fühlte. Es mag sich wohl lohnen, die Worte zu zitieren, die Rilke in seinem Worpsweder Tagebuch von 1900 hierzu aufzeichnete (Br. Frühzeit, 271 bis 272): „Kramskoi fühlte jahrelang: Es lacht. — Und er versuchte dieses Lachen zu malen. Er malte dies Lachen in der Ferne und dann an immer näheren Figuren. Und es wuchs das Lachen, wurde breit, breit, machte hundert Gesichter sich dienstbar, kam über Arme und Reiche, über Könige und Kriegsknechte. Ununterscheidbar schienen die Gestalten, bis das Lachen sie ergriff: in ihm wurden sie individuell... Und da plötzlich scheint es dem Maler: alle lachen also. Die Welt lacht. Das Lachen ist die Stimme der Welt. Und er kann diesem übergroßen Gelächter nicht mehr sich entgegenstellen als Gegenlast. Er muß einen suchen für das Gleichgewicht, er muß einen erbeten, erkennen, erschaffen, der nicht lacht. Und in unendlicher Angst sucht und wartet er. Und weither kommt der immer Kommende. Und stellt sich gebunden unter die Gelösten. Und s t e h t . . . " Carl Hauptmann befand sich unter denen, an die sich diese Worte richteten. Als er sich nun dagegen wandte, daß die Welt ein Gelächter sei, und 120
dies als die Erfindung eines verkannten Genies bezeichnete, erwiderte Rilke: „. . . die Welt ist kein Gelächter, aber sie ist der große gemeinsame Zufall, dessen lauteste und willigste Stimme das Lachen ist. Und dem Einsamen, Ernsten muß dieses Gelächter, das er vernimmt, der Ausdruck jener Feindschaft sein, welche die Massen, die ihn stören, für ihn bedeuten. Er hört Lachen, was dahinter geschieht, mag gar nicht immer zum Lachen passen, mag Arbeit oder Armut sein — aber oben drüber weg lacht es mit hundert Munden . . ." Rilke, der sich um eine glückliche Kindheit betrogen fühlte, ließ in seinen Geschichten
vom lieben
Gott ein Kind ähnliche Ge-
danken äußern. Die Erwachsenen, die sich ihrer Erfahrung und Bildung rühmen, werden doch in Wirklichkeit immer dümmer. „Sie ziehen den Hut voreinander, und wenn eine Glatze dabei zum Vorschein kommt, so lachen sie. Uberhaupt: sie lachen beständig. Wenn wir nicht dann und wann so vernünftig wären, zu weinen, es gäbe durchaus kein Gleichgewicht auch in diesen Angelegenheiten" (GG, 116). Während der zweiten russischen Reise wurden Rilke weit vielfältigere und tiefere Einblicke zuteil als im Jahr zuvor. Die Sprache war ihm geläufiger, das Land vertrauter, und seine Kenntnis der russischen Geschichte und Kultur war beträchtlich gewachsen. In den ersten Maitagen des Jahres 1900 trat er die Reise gemeinsam mit Lou Andreas-Salome an und wandte sich zuerst nach Moskau. Ostern war bereits vorüber, doch nutzte er die drei Wochen seines Aufenthaltes in der russischen Hauptstadt mit Eifer, um in engere Berührung mit dem Volk zu kommen, seinen Freundeskreis zu erweitern, Kirchen und Klöster aufzusuchen und die Schätze der Museen zu besichtigen. Sein Hotel lag dem Kreml gegenüber. In der Tretjakowschen und in anderen Gemäldegalerien begegnete ihm so manches Bild, von dem er in Schmargendorf und Bibersberg gelesen hatte. Er besuchte das Dorf Abramzewo, wo sich noch zwanzig Jahre zuvor eine Malerkolonie befunden hatte, wie er sie bald in Worpswede kennenlernen sollte. Einen tiefen Eindruck hinterließ ihm das Sergej-Troitzkij-Kloster, eines der vier bedeutendsten Klöster Rußlands: eine Stadt für sich, hinter deren befestigten Mauern wohl allein zwanzig Kirchen und Kathedralen lagen und in die Pilgerscharen aus allen Teilen des Landes unablässig zusammenströmten. Gegen Ende Mai reisten Rilke und Lou über Tula und Kiew nach Saratow an der Wolga. Von Tula aus machten sie einen Abstecher nach Jasnaja Poljana, um Tolstoj, von dessen Aufenthalt sie zufällig im Zuge erfahren hatten, noch einmal zu besuchen. Nach diesem Besuch, der zeigte, welche unüberbrückbare Fremdheit zwischen Rilke und Tolstoj bestand, wurde ein zweiwöchiger Aufenthalt in 121
der heiligen Stadt Kiew genommen, der Hauptstadt des alten Rußlands, das jeglicher Neuzeitlichkeit abgeneigt war. Hier bewirkte die heilige Olga ihre ersten Bekehrungen, hier boten die altehrwürdigen Mauern, Kirchen, Kathedralen und Klöster mit ihren Reliquien und Ikonen der Frömmigkeit der schlichten Volksmenge Geheimnis und Nahrung. In Kiew besuchte Rilke das unterirdische Peterskij-Kloster, von dem er seiner Mutter folgendes berichtete (Brutzer, 104—105): „Stundenweit wandert man heute noch in den Gängen (nicht höher als ein Mann mittlerer Größe und nicht mehr als schulterbreit) an den Zellen vorbei, wo die Heiligen und Wundertäter, und die von heiligem Wahnsinn Vereinsamten lebten; heute steht in jeder Zelle ein offener silberner Sarg und derjenige, welcher einst hier gelebt hat vor fast tausend Jahren liegt unverwest in kostbaren Damast gehüllt in der kostbaren Truhe. Unablässig drängt pilgerndes Volk aus allen Gegenden von Sibirien bis zum Kaukasus durch das Dunkel und alle küssen die verhüllten Hände der Heiligen. Dieses ist das heiligste Kloster im ganzen Reiche. Ich habe, eine brennende Kerze in Händen, alle diese Gänge durchschritten, einmal allein und einmal im betenden Volke. Von alledem habe ich starke Eindrücke empfangen und mir vorgenommen, ehe ich Kiew verlasse... noch einmal die seltsamen Katakomben zu besuchen." Dieses eigenartige Erlebnis findet sich in einem Gedicht des zweiten Teiles des Stundenbuches wieder, in dem Rilke das Leben jener Mönche schildert, die sich tief in die Erde gruben, „zurückgekehrt in ihrer Mutter Schooß. Sie saßen rundgekrümmt wie Embryos" (AW I, 73). Ein weiteres Gedicht aus der gleichen Sammlung mag das Ergebnis einer ähnlich unheimlichen Erfahrung sein — sei sie nun wirklich erlebt oder nachempfunden, gewiß ist sie symbolhaft autobiographisch. Es ist die einprägsame Schilderung der leidenschaftlichen Demütigungen eines gottsuchenden Mönches, dessen furchtbare Dämonen der Begierde, der Eitelkeit und des Stolzes ihn erst verließen, als er alles von sich geworfen hatte und nackt vor Gott stand ( A W I , 80; Ockel). Am 17. Juni bereiste Rilke dann die Ukraine, besuchte verschiedene Dörfer in der Gegend von Poltawa und fuhr von Saratow aus fünf Tage lang die Wolga hinauf. Die weite Ebene mit ihren Wäldern zu beiden Seiten des mächtigen Stromes, in die nur ab und an ein Dorf oder eine Stadt eingestreut lag, die Steppe, über die die Pferde dahingaloppierten, sie erschien dem Dichter als die ideale urtümliche Landschaft, in der alles von erhabener Gewalt war: das Land, das Wasser und der Himmel. Die unermeßliche Weite mit ihren verstreuten Kurghanen wurde ihm zum Symbol für das 122
Verlangen seiner Seele nach Grenzenlosigkeit und Verborgenheit. In Nischnij-Nowgorod besuchte er noch einmal die Kirchen und ihre Ikonen, und als er seine Wolgafahrt in Jaroslawl schließlich beendete, verbrachte er drei Tage bei armen Bauersleuten auf dem Lande, schlief auf dem harten Boden und teilte ihre bescheidenen Mahlzeiten. In einem der Wolgadörfer bekundete eine Bäuerin ihre Zuneigung zu dem fremden und merkwürdigen Gaste durch die Abschiedsworte: „Auch du bist wohl nur Volk" (Lou, Rilke, 25).
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23.
KRISIS
Auch noch auf voneinander getrenntesten Schiffen ging es für uns desselbigen Weges stromaufwärts — weil unser dieselbe Quelle wartet.
(Lou, Lebens., 179) Rilke kehrte am 5. Juli wiederum für zwei Wochen nach Moskau zurück und begab sich dann nach Zawidowo im Gouvernement Twer, um dort den Dichter Spiridon Dimitrij Droschin zu besuchen, in dessen von Rosen bewachsenem, inmitten duftender Wiesen gelegenem Hause er eine Woche verweilte. Seiner Mutter schrieb er von den Menschen in diesem Lande, die „so tiefgläubig sind, daß alle Ereignisse der Familie mit irgendwelchen Wundern, geheimnisvollen Gebeten und ihren leisen Erfüllungen verknüpft sind . . . In diesem Lande sind noch Fürsten, deren Vorväter Heilige waren" (Brutzer, 9 . 1 0 4 ) . Am 25. Juli ging es dann weiter nach St. Petersburg, wo er geraume Zeit in den Bibliotheken verbrachte und auch von dem Maler und Kunstkritiker Alexander Benois, dem er dort zum ersten Male begegnete, manches Wissenswerte über russische Kunst erfuhr. Lou hatte ihn hier für eine Weile allein gelassen, um Verwandte in Finnland zu besuchen. In jenen Tagen durchlebte Rilke eine Gefühlskrise, die ihn einerseits nur um so abhängiger von Lou machte, andererseits aber das Bewußtsein seiner Abhängigkeit noch erhöhte und so das innerste Gewebe ihrer Beziehung schwächte. Er schrieb ihr einen „häßlichen" Brief — der leider nicht erhalten ist —, in welchem er sich nach Lou Andreas-Salomés Erinnerung (Lou, Lebens., 182 bis 183) um der „Anmaßung" seiner Gebete willen als einen „fast Verworfenen" bezeichnete, das heißt um jener Gedichte willen, die im Ton des Stundenbuches gehalten sind. In den Jahren, die der Entstehung des Stundenbuches vorausgingen, richtete Rilke eine beträchtliche Anzahl von Liebesund sonstigen Gedichten an Lou. Außer der handschriftlichen Sammlung Dir zur Feier aus den Jahren 1897 bis 1898 sind nun auch mehrere andere von diesen Gedichten im dritten Band der neuen Ausgabe von Rilkes sämtlichen Werken verstreut gedruckt und dem Leser zugänglich gemacht worden ( S W I I I , 171—198 und passim). Nach Lous Zeugnis soll Rilke eine Anzahl dieser Gedichte später vernichtet haben, doch habe sie selber Bruchstücke davon bewahrt. Selbst ein ganzes Gedicht, das, oberflächlich und in dem 124
jetzigen Zusammenhang betrachtet, ein starker Ausdruck der Gottsuche zu sein vorgibt, soll ursprünglich ein glühendes Liebesgedicht gewesen, jedoch dann auf Lous Bitte in etwas abgeschwächter Form in das Buch von der Pilgerschaft aufgenommen worden sein (Lou, Lebens., 175). Obwohl der Herausgeber der neuen Rilke-Ausgabe die Richtigkeit von Lous diesbezüglichen Erklärungen bezweifelt ( S W III, 838), mag das betreffende Gedicht doch anschließend folgen: „Lösch mir die Augen aus: ich kann dich sehn, wirf mir die Ohren zu: ich kann dich hören, und ohne Füße kann ich zu dir gehn, und ohne Mund noch kann ich dich beschwören. Brich mir die Arme ab, ich fasse dich mit meinem Herzen wie mit meiner Hand, halt mir das Herz zu, und mein Hirn wird schlagen, und wirfst du in mein Hirn den Brand, so werd ich dich auf meinem Blute tragen." Lous Antwort auf den obenerwähnten „häßlichen" Brief ist ebenfalls verloren, doch war sie im Ganzen wohl beruhigend, denn Rilke dankt ihr in einem weiteren Brief überströmend und fleht sie in fast krankhaft demütigen Worten an, so bald wie möglich nach St. Petersburg zurückzukehren (Br. Lou, 37—40). Lou bezeichnet die Stimmung dieses Briefes als einen weiteren Ausdruck seiner „Überschwenglichkeit", die er selbst lächelnd die „vorwolfratshausensche" zu nennen pflegte und die ihm wie „ein unbegreiflicher Rückfall" erschien (Lou, Lebens., 182—183). Man muß sich vergegenwärtigen, daß der Ursprung des Stundenbuches, vor allem aber das Buch vom mönchischen Leben und das Buch von der Pilgerschaft, deren Gedichte Rilke oftmals als „Gebete" bezeichnet hat, tief mit seinen russischen Erlebnissen verknüpft sind, an denen wiederum Lou Andreas-Salomé aufs engste teilhatte. Im Sommer 1897 verbrachten Rilke und Lou in Wolfratshausen zwar geraume Zeit mit Lous Gatten und ein paar Freunden, aber dann lebten sie in einem Teil des Landhauses einige Wochen ganz für sich. In Schmargendorf und während der russischen Reisen hielten sie sich aneinander, als wären sie schon in ferner Vorzeit unverbrüchlich füreinander bestimmt worden. Über diese Zeit schreibt Lou: „War ich jahrelang Deine Frau, so deshalb, weil Du mir das erstmalig Wirkliche gewesen bist, Leib und Mensch ununterscheidbar eins, unbezweifelbarer Tatbestand des Lebens selbst. . . Nicht zwei Hälften suchten sich in uns: die überraschte Ganzheit erkannte sich erschauernd an unfaßlicher Ganzheit. So waren wir denn Geschwister — doch wie aus Vorzeiten, bevor Geschwisterehe zum Sakrileg geworden" (Lou, Lebens., 173—174). Doch schon das Florenzer Tagebuch enthielt Eintragungen, die darauf hindeuteten, wie zerbrechlich die menschlichen Beziehungen Rilkes im 125
allgemeinen waren, und selbst die frühe Bindung an Lou war hiervon nicht ausgenommen. Als sie sich nach seiner Rückkehr aus Florenz und Viareggio in Zoppot wiederbegegneten, fühlte sich der Dichter wie jenes Kind, das man geschickt hatte, um seiner kranken Schwester eine dringend benötigte Arznei zu holen, und das vom warmen Glanz des Morgens so bezaubert wird, daß es seinen Auftrag vergißt und ohne das ersehnte Mittel heimkehrt. Zudem empörte sich der junge Rilke gegen Lous überlegene Einsicht und Gelassenheit, die ihn so abhängig von ihr machten. Er empfand, daß die Erfahrungen, die er in Italien machte, die Gedanken und Gedichte, die diese ihm eingaben, und sein erhöhtes Vertrauen in eine Zukunft, die noch in ungewisse Träume eingehüllt lag, sie so hätten beeindrucken sollen, daß ein Austausch der Rollen angemessen erschienen wäre. Er glaubte, daß es nun an ihm sei, einer Frau Halt und Hilfe zu geben, die in einer von Erinnerungen erfüllten Vergangenheit zurückgeblieben war, welche nicht mehr galt. Als er Lous überlegene Sicherheit unverändert fand, wurde er unwillig und „haßte sie", weil sie zu groß war. Doch schließlich löste sich seine Starrheit vor ihrer nüchternen Reife, die ihm mit der Frage entgegentrat: „Was willst du tun?" (FT, 133-137). Gegen Ende der zweiten russischen Reise ereignete sich so mancherlei, das zur Lockerung der engen Bindung zwischen den beiden beitrug. Bei Rilke kündigte sich dieser Wandel offenbar mit vielfältigen Anzeichen von Angst, ja mit Wahnvorstellungen an (Lou, Lebens., 180—183). Sein „häßlicher" Brief aus St. Petersburg war mehr als der Ausdruck einer vorübergehenden Laune: tatsächlich begab er sich nach seiner Rückkehr aus Rußland sogleich nach Worpswede, wohin ihn der Maler Heinrich Vogeler eingeladen hatte, dem er im Jahre 1898 in Viareggio begegnet war und mit dem er seitdem einen freundschaftlichen Briefwechsel unterhielt. Worpswede wurde zu einer bedeutsamen Station in Rilkes Leben: er traf dort mit den anderen Malern dieser Künstlerkolonie in der Heide zusammen und fühlte sich vor allem von zwei jungen Frauen angezogen, von Paula Becker, jener begabten Malerin, und von Clara Westhoff, einer Bildhauerin, die Schülerin von Rodin gewesen war. Ende September beschloß er, sich unter diesen Menschen anzusiedeln, doch besann er sich plötzlich eines anderen und kehrte — angeblich um seine russischen Studien wiederaufzunehmen — nach Berlin zurück. Wieweit das Verlangen nach der Nähe Lous diese unerwartete Abreise begünstigt haben mag, ist schwer zu sagen. Jedenfalls kreisten seine Gedanken auch weiterhin um die beiden jungen Künstlerinnen in Worpswede, während der Gedanke an eine Heirat mit wachsender Eindringlichkeit wiederkehrte und den kritischen Gesprächen mit Lou neue Nahrung gab. Ende Februar 1901 reiste Rilke in der Absicht, dort zu bleiben, nach Worpswede zurück, und am 29. April heiratete er die junge Bildhauerin Clara Westhoff (Br. Lou, 523). Sie richteten sich ein altes 126
Bauernhaus her und lebten dort zusammen, bis Geldsorgen sie im Spätsommer 1902 nötigten, sich zu trennen. Inzwischen war am 12. Dezember 1901 ihre Tochter Ruth geboren, es war eine Frühgeburt, wie es die ihres Vaters vor sechsundzwanzig Jahren auch gewesen war. Sie siedelten nun nach Paris über, wo sie unabhängig und getrennt voneinander lebten und arbeiteten, während Ruth unter der Obhut der Eltern von Clara Westhoff in Oberneuland bei Bremen zurückblieb. Offenbar mißbilligte Lou den Gedanken, Rilke könnte seine Zukunft an das Leben einer anderen Frau fesseln. Schon in St. Petersburg war es ihrem Gefühl nach hohe Zeit, daß er sich in der Welt umsah und in anderen Ländern und unter anderen Menschen seine Erfahrungen sammelte, um seinen neurotischen Zustand zu überwinden und die geistige Unabhängigkeit zu erlangen, die seiner schöpferischen Arbeit nötig war. Auch ihre eigene Haltung war allmählich zu einer Art von unverbindlichem Fatalismus geworden, der sich in den Worten ausdrückte: „Ich bin Erinnerungen treu für immer: Menschen werde ich es niemals sein" (Lou, Lebens., 184). Als Rilke schließlich abreiste, versprachen sie einander, „der absoluten Gewöhnung des Allesmiteinanderteilens keine schriftliche Fortsetzung zu geben, es sei denn in der Stunde höchster Not" (Lou, Lebens., 184). In einem „letzten Zuruf" warnte sie ihn vor einer Verwirklichung seiner Heiratspläne und äußerte die Befürchtung, sein pathologischer Zustand könne im Selbstmord enden (Br. Lou, 41—43). Das war das Ende ihrer innigen Liebesbeziehung. Man konnte nicht erwarten, daß Lou die unterbrochene Verbindung als erste wiederaufnehmen würde, und in der Tat war es in der ganzen Zeit der nun folgenden Freundschaft meistens Rilke, der in Augenblicken der Krise den ersten Anstoß gab. Dies geschah zum ersten Male am 23. Juni 1903, als er sein Buch über Rodin beendet hatte und sich, von wiederholter Krankheit und den Schrecken von Paris bedrückt, anschickte, aus Frankreich nach Worpswede zurückzukehren. Im Laufe der Zeit verließ er sich mehr und mehr auf Lous Diagnosen seiner leiblichen und seelischen Störungen: man muß sich von dem Ton kindlicher Hilflosigkeit in jenen Briefen gerührt fühlen, die er gegen Ende des Jahres 1925 aus dem Sanatorium von Valmont an sie richtete, als er offenbar eher von ihr als von seinem Arzt Heilung erwartete (Br. Lou, 498—505). Ein an sich ganz unbedeutendes Erlebnis der zweiten russischen Reise mag man als beispielhaft für die Eigenart Rilkeschen Schaffens betrachten. Es verknüpft sich wohl mit einer anderen Beobachtung Lou AndreasSalomés, nach der Rilke sichtlich unter einem Gefühl der Hemmung litt, das das Andrängen der Bilder in ihm hervorrief, welche nur langsam Befreiung in dem angemessenen Ausdruck fanden. Eines Abends sahen sie ein Pferd, das für die Nacht auf die Weide geführt wurde. Es war ein 127
feuriges Tier, aber an einer seiner vorderen Fesseln war ein hölzerner Block befestigt, der es daran hinderte, frei über die Ebene hinzujagen. Der Eindruck, den dieses Erlebnis auf Rilke machte, war so nachhaltig, daß er noch Jahre später beim Anblick eines Pferdes auf einer Wiese nahe bei Paris sichtlich betroffen war: das Blut schoß ihm ins Gesicht, und er versank in tiefes Nachdenken (Kippenberg, 158—159). Im Frühjahr 1922 tauchte das Bild dieses russischen Pferdes wiederum in seinem Bewußtsein empor und fand, wunderbar verklärt, als Symbol eines berauschenden Wissens um die Weite, welches aber gleichsam wie ein „Sagenkreis" in sich beschlossen ist, Eingang in die Sonette an Orpheus (Son. I, 20).
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24. DAS RUSSLAND RILKES UND DIE WIRKLICHKEIT ... dem Russen fällt es viel leichter, sich von den Fesseln des ihm nur äußerlich aufgezwungenen bürokratisch-bourgeoisen Systems zu befreien, und dann ist er der freieste Mensch ganz Europas. (Alexander Herzen, zitiert nach Gitermann III, 137)
Rilke plante, Rußland noch ein drittes Mal zu besuchen, und es scheint fast, als habe er erwogen, sich endgültig in diesem Land niederzulassen, das er immer wieder als seine wahre Heimat bezeichnete. Wenige Wochen nach seiner Rückkehr nach Deutschland schrieb er an Paula Becker die bezeichnenden Worte: „Meine Umgebung ist nicht um mich gestellt. In der Ferne auf weiten Pfaden habe ich die Städte gesehen, die ich bewohne, und die Gärten, die über mir rauschen, sind viele Flüsse weit von mir. Kirchen, die an der Wolga stehn . . . läuten mir morgens und abends mit ihren großen stehenden Glocken, und Lieder, die Blinde und Kinder singen, gehen wie Verirrte um mich herum und betasten meine Wangen und mein Haar" (Br. Frühzeit, 53). Rilke erkannte frühzeitig und mit wachsender Klarheit, daß die Heimat, deren er für seine Arbeit bedurfte, etwas Übersinnliches sein mußte, das er mit sich nehmen konnte, wohin er auch immer ging. Es ging hier nicht so sehr um ein Haus, eine Familie oder ein Land, die er sein eigen nennen konnte, wiewohl ihn auch dieses alles mit lockendem Zauber quälte, sondern eher um eine Art geistigen Raumes, aus Erinnerung und Ahnung gebildet, eine Heimat, deren wesentlicher Sinn es war, ihm ein Gefühl der Zugehörigkeit, der Vertrautheit zu geben, ohne ihn doch in die beengenden Bande der Verantwortung zu verstricken oder den Schutzwall ureigener Einsamkeit niederzureißen. Und gerade dies bedeutete ihm Rußland mit seinen blauen Weiten, die sich über zwei Kontinente erstreckten, mit seinem urfrommen Volke, das, abgeschieden in der Einsamkeit seiner Seele, vor seinem dunklen Gott und dem Tode dennoch ein Volk von Brüdern und Gefährten war. Hier war Verborgenheit in unendlich weit verzweigter Gemeinschaft und zugleich unergründliche und unantastbare Freiheit. „Der russische Mensch", so schreibt Rilke im Jahre 1920 an seinen früheren Lehrer Sedlakowitz in St. Pölten, „hat mir in so und so vielen Beispielen vorgestellt, wie selbst eine, alle Kräfte des Widerstands dauernd überwältigende Knechtung und Heimsuchung nicht notwendig den Untergang der Seele bewirken muß. Es gibt da, für die slawische Seele wenigstens, 9 Graff, Rilke
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einen Grad der Unterwerfung, der so vollkommen genannt zu werden verdient, daß er ihr, selbst unter dem aufliegendsten und beschwerendsten Drucke, etwas wie einen heimlichen Spielraum schafft, eine vierte Dimension ihres Daseins, in der nun, mögen die Zustände noch so bedrängend werden, eine neue, endlose und wahrhaft unabhängige Freiheit für sie beginnt" (Br. 1914-1921, 354). In einem Brief, den Rilke am 17. März 1926 an eine junge Freundin richtete, erwägt er rückblickend noch einmal die jeweilige Bedeutung, die Rußland, Italien und Paris für seine poetische Entwicklung hatten: „Italien kannte und liebte ich seit meinem achten Jahr, — es war in seiner deutlichen Vielfalt und Formfülle, sozusagen, die Fibel meines beweglichen Daseins. . . . Rußland . . . wurde, in gewissem Sinne, die Grundlage meines Erlebens und Empfangens, ebenso wie . . . Paris . . . zur Basis für mein Gestaltenwollen geworden ist" (Br. Muzot, 409). Die Frage, ob Rilkes Vorstellung von Italien und Rußland objektiv und gerecht war, mag das Verwirrende verlieren, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die gleiche Landschaft, von verschiedenen Künstlern gesehen, notwendig zu ebenso verschiedenartigen Ausdeutungen führt. Jeder von ihnen mag einen wesentlichen Aspekt der Wirklichkeit erfassen, aber es wäre vermessen, wollte man behaupten, daß einer die volle Wirklichkeit eingefangen habe. Rilke, dem lyrischen Dichter, der angemessener Bilder und Symbole bedurfte, kann man wohl nachsehen, daß er die Züge in der russischen Seele überging, die mit seinen innersten Sehnsüchten unvereinbar waren. Das schmerzliche Bewußtsein der Sünde zum Beispiel und das daraus erwachsende Verlangen nach Erlösung, so bezeichnend für die Kunst Dostojewskijs, vermochten dem Dichter Rilke nichts Wertvolles zu geben. Ebenso ist es offenbar genug, daß man den dumpfen Aberglauben und das elende Leben des Muschiks oder die rohen und grausamen Züge, die neben den bewunderten Tugenden der Demut und Brüderlichkeit dem Wesen des Russen gleichfalls eigen sind, auch weniger wohlmeinend deuten könnte. Ebensowenig hätte Rilke sich je von den anarchistischen und nihilistischen Strömungen im Rußland des 19. Jahrhunderts den Blick trüben lassen, obwohl er sich im Stundenbuch einem utopischen Traum von einer kirchen- und staatenlosen Welt von Hirten und Bauern hingibt (AW I, 76). Audi die zahlreichen Aufstände der Bauern gegen die Herrschaft des Zaren übergeht er fast ganz. Das Bild Rußlands und der Russen, wie Rilke es entwirft, ist unvollständig und einseitig, aber fordert man hier unvoreingenommene Sachlichkeit, so läßt man außer acht, wie verschieden Ziel und Standpunkt des Künstlers von denen des Gelehrten sind. Gibt es einen Künstler, der nicht sein unveräußerliches Vorrecht der Auswahl um der poetischen Wahrheit willen genutzt hätte — einer Wahrheit, die wesentlich auf der Übereinstimmung von Bild, Symbol, Gedanken und Stimmung beruht? 130
Und doch entsprach Rilkes Vorstellung von Rußland trotz des begrenzten Aspektes in gewissem Sinne der Wirklichkeit. Nikolas Berdjajew weist darauf hin, daß nach dem Urteil Chaadajews die Kräfte des russischen Volkes in der Geschichte nicht wirksam wurden: sie verharrten sozusagen in einem latenten Zustand. „In Rußland haben wir ein hervorragendes Beispiel von jungfräulichem Boden. Gerade seine Rückständigkeit gewährt eine Möglichkeit zur Wahl." Zur Strenggläubigkeit der Russen zitiert er folgende Worte Chaadajews: „In sich selbst gesammelt, tief in seine eigenen Gedanken versunken, in seinem eigenen Leben befangen, so bildete sich der menschliche Geist im Osten. Hingegen entwickelte er sich im Westen, indem er sich zerstreute, sich in alle Richtungen wand und gegen alle Widerstände kämpfte" (Berdjajew, 37) In dieser Hinsicht stimmte Rilke durchaus mit Chaadajew überein und hätte zweifellos das Gleiche äußern können. Da Byzanz die Führung in Dingen der Kunst und der Religion an Moskau weitergegeben hatte, so wurde die Neigung zur Unabhängigkeit vom Westen zu einer ganz bewußten Bestrebung. Gewiß war die Einwirkung von Byzanz auf den Westen groß, vor allem in Italien, wo Rilke ihm in Florenz und Venedig nachgespürt hatte, aber andrerseits drohte der machtvolle Einfluß Roms, die italienische Renaissance und später die westliche Kultur schlechthin immer wieder, den entschiedenen Isolationismus des Ostens zu gefährden. Es ist eine historische Tatsache, daß diese Einflüsse nicht nur zur Zeit Peters des Großen, sondern schon zuvor und auch späterhin ernsthafte Konflikte in Rußland hervorriefen und daß sie den Schwerpunkt des Denkens und der Lebensführung immer wieder zu verschieben drohten. Angesichts der Ambivalenz, die Persönlichkeit und Erlebnisweise Rilkes kennzeichneten, ist es nur natürlich, daß seine schöpferischen Antriebe in der Gefühlstiefe der russischen Mystik ihre Bestätigung fanden, während sein Verlangen nach architektonischem Aufbau und bildnerischer Klarheit ihn für die Kühnheit der florentinischen Meister, den Realismus der Künstler Worpswedes, für das modelé Rodins und die Wahrheitsliebe Cézannes empfänglich machen mußten. Wir wiesen schon darauf hin, daß er Botticelli liebte, weil er in ihm eine Verwandtschaft mit den Russen fand. Zudem darf man wohl sagen, daß die Schaffensweise Rodins und Cézannes, wenigstens soweit, wie sie für Rilke bedeutsam waren, östliche und westliche Züge in sich verbanden (Br. 1902—1906,125). Die große Bedeutung, die Rilke dem natürlichen Wachstum — unbeeinträchtigt von fremder Einmischung oder Vermittlung — beimaß, ließ ihn die Trübung russischer Kunst und russischen Lebens durch westliche Einwirkung mißbilligen. Und gewiß trug auch Lou Andreas-Salomes Einfluß zu dieser Haltung bei. 9'
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Im Gegensatz zum Westen brachte Rußland niemals eine Renaissance hervor, die zu einer Trennung von Religion, Kunst und Wissenschaft führte und ihnen ganz verschiedenartige Ziele setzte. Durch die Jahrhunderte hin waren die Maler der Ikonen Mönche und Heilige, deren Leben vor allem anderen aus Selbstverleugnung, Fasten und Beten bestand. Nicht der Held, sondern der Heilige war das Ideal russischer Kunst. Die Unterwerfung des künstlerischen Eigenwillens unter die strengen Regeln althergebrachter Vorschriften wurzelte im kultischen Ursprung und in der religiösen Bedeutung der Ikone. Rilke kannte „das berühmte Rezept-Buch aller Heiligenmalerei, das Maler-Buch vom Berge Athos" ebenso wie den „sogenannten Kiewski Paterik (eine altrussische Sammlung von Ratschlägen und Vorschriften für die Darstellung biblischer Gegenstände)" (Br. Sizzo, 11—12). Im Buch vom mönchischen Leben gelobt der Malermönch, daß er sein Land beschauen und beschreiben werde „nicht mit Bol und mit Gold, nur mit Tinte aus Apfelbaumrinden" (AW I, 47). Die Ikone mit ihrer schlichten Zweidimensionalität, die noch an ihre Ableitung aus dem Fresko erinnert, blieb von jeher der Kirche vorbehalten, wo sie, ebenso wie die Ikonostase, jene den Chor vom Kirchenschiff trennende Bilderwand, ausschließlich ein Gegenstand des Kultes war. Im Laufe der Zeiten wurde es schließlich üblich, sie mit einer zarten Metallschicht zu bedecken, die nur Kopf und Hände der Heiligen frei ließ, und auch die Rahmen wurden oftmals mit dem üppigen Schmuck kostbarer Metalle beladen. In Rilkes Dichtung wird dies zum Symbol der Verborgenheit und Ferne Gottes, wiewohl diese Gepflogenheit in Wirklichkeit dekorativen Zwecken diente und das Bild zugleich vor der Wirkung der zahllosen Küsse der Gläubigen schützte. Für Rilke war die Orthodoxie der Russen weniger eine Sache des Glaubens als ein Ausdruck der Zugehörigkeit zu einer nationalen Gemeinschaft. Dielkonen finden sich nicht allein in den Kirchen, in jedem Hause bleibt eine Ecke der Muttergottes oder einem Heiligen vorbehalten. Trotz der selbstherrlichen Herrschaft der Zaren war das Gefühl der Brüderlichkeit echt und tief. Sie besaß ihr Vorbild in den Nationalheiligen Gljeb und Boris, einem Brüderpaar aus fürstlichem Geblüt, das auf zahlreichen Ikonen dargestellt ist. Entfernungen von Tausenden von Meilen vermochten die Pilger nicht abzuschrecken, nach Kiew und Moskau zu wallfahrten, um vor den heiligen Schreinen zu beten. Bärtige Propheten und Legendenerzähler, die sich zuweilen göttliche Eigenschaften anmaßten, übten ihre Anziehungskraft über weite Landstriche hin aus. Auch die russische Architektur besaß bezeichnende Eigenarten, deren symbolische Bedeutung Rilkes innerstes Empfinden zutiefst bestätigte. Die einfachen russischen Holzhäuser befanden sich zu einem Teil unter der Erde, während ihre Dächer steil geschwungen waren. Zweifellos war beides durch die klimatischen Verhältnisse bedingt, aber zugleich spiegelte sich hier ein 132
zwiefacher Wesenszug der Russen: ihre enge Verbindung zur Erde und ihr himmelwärts gerichteter Sinn. Die St. Basilius-Kathedrale in Moskau, die im 16. Jahrhundert auf Anordnung Iwans des Schrecklichen erbaut wurde, glich einem dem Boden entwachsenen, asymmetrischen und doch organischen Gebilde. Ihre spiraligen Türme und ihre zwiebeiförmigen Kuppeln sind gleich verzehrenden Flammen, die wie immerwährende Gebete zum Himmel aufsteigen. Ein ähnliches Staunen wie hier befiel Rilke, wenn er beobachtete, wie die Skulpturen Rodins dem gestaltlosen Block entwuchsen.
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25. DIE ERDE Kein Jertseitswarten ... Nur Sehnsucht... dienend sich am Irdischen zu üben. (Stundenbuch) Mehr und mehr wurde sich Rilke seiner tiefen Bindung zur Erde bewußt, in die der Gott des Schöpferischen seine „hunderte Wurzeln, welche schweigsam trinken", eingesenkt hat ( A W 1 , 1 0 ) . Im Stundenbuch ist dieses Gefühl beherrschend. Es spricht sich vor allem in der Vorliebe für den Baum aus, der zum Symbol erdgebundenen Lebens wird, welches emporstrebend zur Vollendung kommt. Oder der Dichter vermeint, daß er „durch schwere Berge gehe / in harten Adern, wie ein Erz allein" ( A W I , 89). Bald nach seiner ersten russischen Reise schrieb er das schöne Gedicht Verkündigung — Die Worte des Engels ( A W 1,122—123). In ihm nennt der Engel voll sehnsüchtigen Verlangens Maria einen „Baum", während er selbst nicht mehr ist als „der T a g " , „der T a u " , „das Beginnende" oder „ein Hauch im Hain" — Seinsweisen, die insgesamt zum Umkreis, an den Rand, allein zur umgebenden Atmosphäre gehören: „Du bist nicht näher an Gott als wir; wir sind ihm alle weit. Aber wunderbar sind dir die Hände benedeit. So reifen sie bei keiner Frau, so schimmernd aus dem Saum: ich bin der Tag, ich bin der Tau, du aber bist der Baum." Man fühlt sich durch dieses Gedicht an eine biblische Skizze des Malers Iwanow erinnert. Rilke nahm an seinem Werk großes Interesse (Brutzer, 33), und seine Verkündigung im Rumjantsow-Museum in Moskau mag ihm wohl bekannt gewesen sein (Reau 1,177). Hier blickt ein großer, kraftvoller Engel mit ausgebreiteten Flügeln und einem schimmernden, aus Licht gewobenen Gewände, der mit den Füßen kaum die Erde berührt, mit ausgestreckter Hand auf sie hinweisend, auf die heilige Jungfrau nieder. Und Maria steht in demütiger Kleinheit, in schlichte, dunkle Farben gekleidet, ihr weißes Gesicht in Betrachtung versunken und ihre zarten Hände in Bereitschaft geöffnet, fest auf der Erde. Sie strahlt Wärme und Glanz aus, gleich einem jungen Baum, der in seiner Fülle und seiner Pracht ruht. 134
Die Erde ist für Rilke in mannigfacher Beziehung das Gegenbild zur Welt. Die „Welt" begreift den Menschen mit ein, und das bedeutet selbstherrlichen, ungeduldigen Stolz, der die geheimen Absichten der Erde vergewaltigt. Es heißt zudem Zweideutigkeit und Dualismus, Unechtheit und Angleichung des einzelnen an die Masse. Insbesondere für Rilke bedeutet sie schicksalhafte Verstrickung, die Gefahr des Unterliegens und eine daraus entspringende Schwächung seiner schöpferischen Fähigkeiten. Die Erde verkörperte ihm dagegen die stille unbeirrte Sammlung gestaltender Kräfte. Die Unterwerfung unter ihre gelassen wirkenden Gesetze ist ihm, wie er in stolzer Demut meint, unabweisbare Pflicht. Diese Aussonderung bestimmter Züge um der zulänglichen Symbolisierung willen zeugt zweifellos wiederum von einer gewissen Voreingenommenheit; trifft sie aber eine unbestreitbare Wahrheit, so ist die Angemessenheit des entsprechenden Symbols gesichert. Rilkes Wille zur Hingabe an die Erde bedeutet jedoch nicht, daß er sich einem größeren Realismus verschrieb, jedenfalls nicht im gewöhnlichen Sinne des Wortes. Es bedeutet lediglich eine Ablehnung jeglicher Jenseitigkeit. All die vergänglichen Dinge und flüchtigen Vorgänge der Erde vertauschen ihre irdische Wirklichkeit nicht gegen die übernatürliche eines gänzlich andersartigen Jenseits, sondern sie strömen in das Innere des Dichters ein, wo sie in unsichtbare Wirklichkeiten von unbegrenzt wandelbarer Gestalt umgeformt werden. Der immer wieder durchlebte Frühling vieler Jahre erhöht sich zum Frühling schlechthin, alle Frauen dieser Erde, mögen sie vergangenen, gegenwärtigen oder zukünftigen Zeiten angehören, fließen ihm zu der einen Madonna Lisa zusammen ( A W I , 64). Aber sie verharren in der allumfassenden Begrenzung zwiegesichtiger irdischer Wirklichkeit, hier sichtbar, dort unsichtbar. Rilkes Erlebnis einer inneren Welt — der sichtbaren Welt, die in eine unsichtbare verwandelt wurde — bleibt bezeichnenderweise immanent oder eher noch narzißtisch. Es ist voller Dynamik und Antrieb, aber es führt dennoch zu keiner außerhalb der Person liegenden Tat und Verwirklichung. In ihm sieht der „innere Mann" sein „inneres Mädchen . . . dieses . . . nie noch geliebte Geschöpf" ( A W I , 322—323). Erst gegen Ende seines Lebens beginnt Rilke eine Vorstellung und ein Ideal von männlicherer Verbindlichkeit zu entwerfen. In einem im Februar 1924 entstandenen Gedicht äußert er, daß es nach dem „geflügelten Entzücken" jetzt an der Zeit sei, „der unerhörten Brücken / kühn berechenbaren Bug" zu bauen, daß mit anderen zu wirken keine „Überhebung an dem unbeschreiblichen Bezug" sei und daß Gott im tätigen Manne Rat suche (AW I, 399-400). In dem Rußlanderlebnis Rilkes finden sich zweifellos einige bemerkenswerte Seltsamkeiten. Wir sahen, wie er sich mit unverhülltem Abscheu von der gefühlvollen Religiosität seiner Mutter abwandte; er hielt das 135
gesamte westliche Christentum für so überlebt, daß ihm nichts als eine hohle Schale übriggeblieben war. Selbst die Kunst, die ihm entwuchs, die Malerei der Renaissance wie die gotischen Kathedralen, war in seinen Augen in eine Sackgasse geraten und nicht zu einer letzten Vollendung gelangt. Gott war für ihn nicht durch gemeinsame Verehrung zu finden, sondern konnte allein gleichsam als Richtung der einzelnen Seele erfahren werden. Er empörte sich gegen den „ernsten Engel aus Ebenholz . . .", dessen „Schweigen schmolz / noch nie in den Bränden / von Büßerhänden" (FG, 26). Doch wenn es sich um Rußland handelt, so schwindet diese Abneigung nicht nur, sondern sie verwandelt sich in begeisterte Zustimmung. Er mischte sich unter den Strom betender Pilger, er zog mit einer Kerze in der Hand durch das unterirdische Kloster von Kiew und berauschte sich am Klange der Kirchenglocken von Moskau, die die Menge zum gemeinsamen Gebet zusammenriefen. Der Anblick der frommen Bauern, welche die Hände der verstorbenen Mönche küßten, ergriff ihn tief. Für Tolstoj, den gebürtigen Russen, waren alle diese Handlungen mit leerem Aberglauben untermischt, wie Rilke es in der Frömmigkeit des Westens empfand. Peter der Große, „ein typischer Russack, travestierte possenhaft kirchliche Prozessionen" (Berdjajew, 15). Doch Rilke hielt alle diese Äußerungen russischer Religiosität für löblich und schön. Im Jahre 1914 schrieb er an Benvenuta, daß die russische Seele „von keiner Abgrenzung weiß zwischen göttlicher und menschlicher Härte", daß sie alles von Menschen verursachte Leiden aus innerstem Trieb heraus als das versteht, was es im tiefsten Grunde ist, „als ein Untergang Gottes in einem Gottes-Erlebnis" (So laß, 49—50). Hier könnte man sich fragen, ob dieser Wesenszug der russischen Seele sich nicht ähnlich auch bei Rilke fand, als er die Mißhandlungen seiner Kameraden in der Militärschule schweigend hinnahm, weil Christus sie schweigend und ohne Klage ertrug (Letters 1892—1910, 19—20). Übersah nicht auch er hier die „Abgrenzung zwischen göttlicher und menschlicher Härte"? Doch gerade diese im Grunde ähnliche religiöse Haltung mißbilligte Rilke später mit Bitterkeit (s. o. S. 18). Es ist offenbar, daß Rilkes Vorliebe f ü r Rußland, wiewohl sie nicht ganz unbegründet war, sich vor allem daraus erklärte, daß Rilke die furchtbare Kluft zwischen Religion und Verhalten in Rußland nicht bemerkte, die ihn in der Militärschule und zu Hause so tief bestürzt hatte. Gewiß stimmte nicht er mit den russischen Malern, sondern sie stimmten mit ihm überein, denn sie schilderten Christus weder als den Erlöser der gefallenen, sündigen Menschheit noch als den Mittler zwischen dem Menschen und einem in sich vollendeten, unwandelbaren Gott. Für ihn wie für sie war Christus ein tief ernüchterter, überlegener Mensch, der dazu verdammt war, unerkannt und unverstanden zu bleiben, gleich Ahasver oder auch gleich dem Künstler, der sich ihm wesensgleich fühlte (SW III, 148). Der Künstler Rilke 136
hätte in einer vom Bewußtsein der Erbsünde getrübten Atmosphäre nicht gedeihen können; dies hätte die Kräfte des Aufschwungs von Anbeginn in ihm gelähmt und seine unbestrittene Herrschaft in einem eifersüchtig gehüteten Bereich in Frage gestellt. In Rilkes Zurückweisung jeglicher Mittlerschaft oder Erlösung liegt keinerlei Demut, sondern allein ein grenzenloser Stolz. Für ihn ist der Künstler der wahre und einzige Mittler zwischen den Menschen und Gott. Rilkes vielgerühmte Demut hat einen anderen Ort: sie liegt in seiner aus der Erkenntnis der Abhängigkeit von den inneren Gesetzen der Kunst erwachsenden Unterwerfung. Im Frühjahr 1921 heftete er an eine Abschrift seiner Übersetzung der Sonnets from the Portuguese von Elizabeth Barrett Browning ein kleines Gedicht, in dem er sich scharfsinnig fragt, warum sich Demut so leicht in Stolz verwandeln könne (Gedichte 1906—26, 382): „Was wird aus stolzer Demut? Wird sie Lüge? — Nein; sie wird Überfluß — und der Genüge am Uberfluß das herrlichste Gefäß." Mit anderen Worten: wenn die Demut so übermäßig wird, daß sie überströmt, verwandelt sie sich auf wunderbare Weise in Stolz — einen Stolz, der in Wahrheit nichts anderes ist als ein Ubermaß an Demut. Das oben zitierte Gedicht wurde einem protestantischen Pfarrer gewidmet, der in seiner Beziehung zu Rilke die Frage nach der christlichen Demut wohl einmal gestellt haben mag. Rilkes Gott war in die inneren Gesetze des Schöpferischen eingehüllt, und um sie kreist sein Denken im Stundenbuch. Im Gegensatz zum christlichen Gott kann man den Gott Rilkes nicht durch einen reinen Glaubensakt erreichen (Br. Muzot, 75); zu seinem Gott kann man sich nicht bekehren. Er kann nicht durch eine Formel oder eine anthropomorphe Gestalt erfaßt werden, sondern die Beziehung zu ihm muß den tiefsten Wurzeln des eigenen Wesens entspringen. Einerseits erweckt die immanente Nähe Gottes nun Vertrauen und Hoffnung, andrerseits nötigt seine bestürzende Ferne zu schmerzlichem Verzicht. Wenn der Dichter von ihm abhängig ist, so ist er seinerseits abhängig vom Dichter, denn nur durch den Dichter kann Gott, der Schöpfergeist, wirken. Und dieser Gott ist nie vollendet, sondern wird durch alle Ewigkeit erbaut. Ein vollendeter Gott würde für den Künstler das Ende allen Wachstums und damit aller Kunst, allen Lebens als einer sinnvollen Wirklichkeit bedeuten. Ob nun zu Recht oder Unrecht — Rilke meinte alles dies in Rußland und den Russen zu finden. Er glaubte, daß ihm „russische Dinge die Namen schenken werden für jene fürchtigsten Frömmigkeiten meines Wesens, die sich, seit der Kindheit schon, danach sehnen, in meine Kunst einzutreten" (Br. Frühzeit, 17). Auch in diesem Sinne wird ihm Rußland also zur „Grundlage meines Erlebens und Empfangens" (Br. Muzot, 409). Die Maler der Ikonen individualisierten Gott, 137
die Muttergottes und die Heiligen nicht, wie die Italiener es taten. Im Angesicht ihrer sich gleichbleibenden Farben und streng gesetzmäßigen Formen blieb den russischen Menschen die Freiheit, sich aus den immer neuen und frischen Antrieben der Seele ihren eigenen Gott und ihre eigenen Heiligen zu schaffen. Ebenso bleibt das Allerheiligste im Chor der russischen Kirchen und Kathedralen hinter der Ikonostase, jener Bilderwand, die nur bei seltenen Gelegenheiten geöffnet wurde, vor den Augen der Gläubigen verborgen. Den Pantheismus, dem Rilke zuneigte, hat man wohl so zu verstehen: Gott ist im Stein, im Ton, im Wort, und er ruft den bildenden Künstler oder den Dichter auf, ihm in nimmerendenden Verwandlungen eine herrliche Gestalt zu geben. Gott kann ebensowenig erfaßt oder verstanden werden wie die Mächte des Lebens oder die Gesetze der Kunst. Jeder Versuch dieser Art ist zum Scheitern verurteilt. Gott reift in den dunklen Tiefen der Seele des Künstlers, dessen Pflicht es ist, die Wehen seiner Geburt geduldig zu erwarten. Rilkes Betrachtungen über Gott wie sein Umgang mit ihm sind niemals rein religiös. Er vermag die religiösen Naturen nicht zu verstehen, „die Gott als das Gegebene hinnehmen und nachfühlen, ohne sich an ihm produktiv zu versuchen" (Br. MTT, 38). Wie nahe Rilkes Gott der Kunst und der schöpferischen Eingebung kommt, läßt sich aus dem folgenden Abschnitt eines Briefes an Benvenuta entnehmen: „Das Entscheidende der Kunst, was die Leute lange ,Eingebung' nannten, ist freilich nicht uns in die Macht gegeben, aber das hab ich immer verstanden, daß dies nicht anders sein dürfe bei unserer Unzuverlässigkeit, es hat mich nie beunruhigt, ich habe nie das mindeste Mittel angewandt, es heraufzureizen —, dem Göttlichen gegenüber Geduld haben, ist so natürlich, denn es hat andere Maaße" (So laß, 24). Neben der sich ständig wandelnden Entwicklung zeichnet sich der russische Gott Rilkes noch durch eine weitere Eigenschaft aus, die ihn annehmbar macht. Im Jahre 1921 schreibt er an Ilse Blumenthal-Weiß (Br. Muzot, 75): „Ich habe ein unbeschreibliches Vertrauen zu jenen Völkern, die nicht durch Glauben an Gott geraten sind, sondern die mittels ihres eigensten Volkstums Gott erfuhren, in ihrem eigenen Stamme. Wie die Juden, die Araber, in einem gewissen Grade die orthodoxen Russen . . . Ihnen ist Gott Herkunft und darum auch Zukunft. Den anderen [d. h. den Christen des Westens] ist er ein Abgeleitetes, etwas, wovon sie fort und wozu sie hinstreben als eigentlich Fremde oder Fremdgewordene, — und so brauchen sie immer wieder den Mittler, den Anknüpfer, den, der ihr Blut, das Idiom ihres Blutes übersetzt in die Sprache der Gottheit . . . Diesen . . . entgleiten ihre Religionen so leicht ins Moralische, — während ein ursprünglich erfahrener Gott Gut und Böse nicht sondert und unterscheidet im Hinblick 138
auf die Menschen, sondern für sich selbst . . . Religion . . . ist keine Pflicht und kein Verzicht, es ist keine Einschränkung: sondern in der vollkommenen Weite des Weltalls ist es: eine Richtung des Herzens." Der christliche Gott des Westens gewann für Rilke die Bedeutung einer willkürlich von außen her gegebenen Macht, die dem Menschen von oben her seine Gesetze gab. Gegen diese Einmischung von außen lehnte sich Rilke, dem Wesen seines Künstlertums gemäß, mit hartnäckigem Stolze auf, während er seine demütige Unterwerfung dem immanenten Gott seiner narzißtischen Sehnsüchte vorbehielt. Offenbar war ein Gott, dem man durch die stammesmäßige Herkunft zugehörte, in seinen Augen mit seinem künstlerischen Ideal eher vereinbar. Das Element organischen Wachstums, das in der Entwicklung seiner Begriffsbildung wie seiner poetischen Gestaltung so bedeutsam war, konnte hier leicht Bestätigung finden. Als Rilke im ersten Teil des Stundenbuches die Erfahrbarkeit Gottes „im Verein" (AW I, 77) nachdrücklich leugnete, richtete er sich damit gegen den Gemeinschaftsgottesdienst der westlichen Christenheit, die ihren nach ihren Bedürfnissen gefertigten Gott in Übereinstimmung mit ihren bürgerlichen Maßstäben in den Himmel verbannt hat und ihn in ihren Kirchen gefangenhält. Der russische Bauer scheint dagegen vor einer so nivellierten Gottesvorstellung durch die Ikonen, die seinem frommen Eifer jede Freiheit lassen, ebenso gefeit wie durch die Unermeßlichkeit seines Landes, das dem einzelnen auch inmitten der Gemeinschaft seine Einsamkeit sichert. Unter diesen Bedingungen vermag die gemeinsame Gottesverehrung die Einsamkeit der Seele nicht zu gefährden. Der Künstler in Rilke wehrte sich gegen jegliches von Menschen erdachte und gestaltete Gemeinschaftsbestreben (GG, 135). Im Jahre 1914 bekannte er Benvenuta, daß er sich im tiefsten Innern der slawischen Seele verwandt fühle. Diese Verwandtschaft wird nach seiner Meinung durch den Schatten und das Licht gekennzeichnet, die von der Religion seiner Kindheit her auf das stets beunruhigte Leben seines Bewußtseins fielen. Er setzt sie seiner Verbundenheit mit den schöpferischen Kräften seines Innern gleich, die ihm, wiewohl unbestimmbar, in ihrer Wirkung unbezweifelbar waren. Mit ihnen sah er sich im Guten wie im Bösen zu einer Auseinandersetzung genötigt. Sie waren sein Schicksal, sein Gott und sein Engel, von bestürzender Fremdheit und ihm wiederum aufs engste verhaftet. Sie umkreiste er „wie der Löwe ein Feuer in der nächtlichen Wüste". Die metaphysischen Eigenschaften, die das westliche Christentum Gott beigelegt hatte, machten ihn für Rilke als innerst befruchtende Macht unbrauchbar. Die erstrebte Bestimmtheit rief in ihm die entgegengesetzte Wirkung hervor: eine Unbestimmtheit im Handeln, wenn nicht völlige Ohnmacht (So laß, 49). Rilkes frühe Konflikte, die er in Prag und in der Militärschule durchlebte, die exzentrischen Schaustellungen seiner Mutter und die hohlen und doch 139
unentrinnbaren Formen des Glaubens und Verhaltens seiner Umwelt sind aus dieser Haltung deutlich herauszufühlen. Man hätte erwarten sollen, daß die aus dem Neuen Testament erwachsene Katholizität, die die nationale Religion der Juden ablöste, Rilkes übernationaler Grundhaltung mehr gelegen hätte. In Wirklichkeit erschien ihm dieser Katholizismus unecht und formalistisch, eher durch dogmatische Definitionen als durch innere Erfahrung bedingt und allein auf der Voraussetzung der Gottessohnschaft Christi, des alleinigen Mittlers und Erlösers, beruhend. Und doch beklagte er von den Besitztümern, welche er mit dem Ausbruch des ersten Weltkrieges in Paris einbüßte, neben einer Daguerreotypie seines Vaters am meisten den Verlust eines Christusbildes, das er von Kindheit an unter seine vertrautesten Dinge gezählt hatte (Br. 1914—21, 25). Auch dürfen wir nicht vergessen, daß Rilke den Heiligen Franziskus, den poverello von Assisi, liebte, dessen sich die Katholische Kirche nicht weniger rühmt als des Papstes Innozenz III. Was man auch sagen oder zugestehen mag, gewiß ist, daß seine katholische Erziehung so manchem bezeichnenden Verlangen seines dichterischen Wesens Namen und Symbole gab, mochten sie im weiteren Verlauf auch noch so viele Umkehrungen erfahren. Vielleicht läßt sich dieser Vorgang am besten mit des Dichters eigenen Worten umreißen: „. . . der Kinder katholische Antriebe geben ihnen Tage voll Tiefe, Sehnsucht und Seligkeit. Von da ist es ein Abstieg, ein Niederfall, eine Abspannung bis zur ersten ,Verliebtheit', — und erst wenn einmal eine Liebe beginnt, schließt sie sich an jenes Fernverlorene leise tastend an" (Br. 1892-1904, 287).
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TEIL V
DAS S T U N D E N B U C H
Da neigt sich die Stunde
...
(Stundenbuch)
26. SAMMLUNG Und es kann sein: eine große Kraft rührt sich in meiner Nachbarschaft.
(Stundenbuch)
Die Umstände, die Ursprung und Veröffentlichung des Stundenbuches begleiteten, deuten auf einige bezeichnende Züge in Rilkes Schaffensweise hin, und diese wiederum verleihen allen Themen seiner Poesie in zunehmendem Maße ihre besondere Rilkesche Eigenart. Die bisherige Betrachtung der dichterischen Entwicklung Rilkes zeigte, daß er von der allmählichen Kristallisierung seiner unbewußten Antriebe und verborgenen Motive, deren er sich in wachsendem Maße bewußt wurde, zutiefst abhängig war. Zudem erwies sich, daß er sich in der steten Gefahr befand, von dem Strom innerer und äußerer Erlebnisse, von der andrängenden Flut der Bilder und vom leichten Fluß seines wohltönenden Wortes mitgerissen zu werden. Um diesen zerstreuenden Kräften und der vagen Gestaltung seines lyrischen Überschwangs entgegenzuwirken, fühlte er sich genötigt, nach größerer Genauigkeit der Symbole und einer vermehrten Konzentration zu streben. Eine solche Konzentration konnte er gewiß leichter herbeiführen, wenn er vermied, seine inneren Regungen durch gesellige Hingabe, briefliche Selbstanalyse oder momentane Gemütsentladung im einzelnen Gedicht zu vergeuden. Dadurch konnte der innere Druck so stark anwachsen, daß er sich schließlich im Zustand höchster Spannung in einen breiten Strom zyklisch zusammenhängender Gedichte ergoß. Auf diese Weise entstand das Stundenbuch. Sein erster Teil, das Buch vom mönchischen Leben, wurde dreieinhalb Monate nach der ersten russischen Reise im Zeitraum von fünfundzwanzig Tagen zwischen dem 20. September und dem 14. Oktober 1899 niedergeschrieben. Und seine Gedichte schössen, zum Teil wenigstens, in dichten Garben hervor: am 22. September waren es dreizehn, am 24. September acht und am 26. September elf Gedichte (Mövius, 51—57). Das zweite Buch, das Buch von der Pilgerschaft, wurde in elf Tagen aufgezeichnet — zwischen dem 15. und 25. September 1901. Das dritte Buch endlich, das Buch von der Armut und vom Tode, entstand zwischen dem 13. und 20. April 1903. Kaum einen Monat nach der Niederschrift des ersten Buches entstanden in gleicher Weise die Geschichten vom lieben Gott, die demselben Erlebnisbereich zugehören: Rilke brachte sie im Verlauf von elf Nächten zu Papier. 143
In einem der Prosakommentare, die sich in der ursprünglichen Fassung des Buches vom mönchischen heben befinden, äußert der Mönch, daß er hier fast ein Künstler war, wiewohl er sich von seinen Versen bauen ließ, statt sie zu bauen. Weil er seine Gefühle bezwang, wurden sie zu Versen, obzwar sie aus Wirrnis und Wildheit in die Worte eingingen (Mövius, 178—179). In einer weiteren Äußerung dieser Art heißt es, daß ihm der letzte Teil eines Gedichtes fertig einfiel, als er, atemlos aus dem Garten kommend, über die Schwelle seiner kleinen, sanft erleuchteten Zelle trat. Und die Verse brachten so viel Harmonie und Heiterkeit über ihn, daß er eine geruhsame Nacht erwartete. Aber „vor dem Schlafe her ging ein kleines Gedicht, das er noch lächelnd erkannte" (Mövius, 180). An anderer Stelle bemerkt er freudig, daß er über seine Verse wie über Stufen hinsteige und nicht müde davon werde (Mövius, 177). Auf die Frage einer Studentin nach dem Ursprung des schreibt Rilke im Frühjahr 1911 aus Paris (Br. I, 303—304):
Stundenbuches
„ . . . ich . . . war mit anderen Arbeiten beschäftigt. Da stellten sich mir seit einer ganzen Zeit schon, morgens beim Erwachen oder an den Abenden, da man die Stille hörte, Worte ein, die aus mir austraten und im Recht zu sein schienen, Gebete, wenn man will, — ich hielt sie dafür, ja nicht einmal: ich sprach sie hin und ordnete mich an ihnen für das Unbekannte des Schlafs oder des beginnenden Tags. Aber endlich fiel mir die Stärke und das Wiedereinsetzen dieser inneren Diktate doch auf, ich begann eines Tages, Zeilen davon aufzuschreiben, das Aufschreiben selbst bestärkte und lockte die Eingebung, zu der unwillkürlichen Freude der inneren Bewegtheit kam die Lust an dem, was nun schon Arbeit war, und über diesem Eingehen auf eine innere Akustik bildete sich in steten Fortschritten das heraus, was Sie als das ,Buch vom mönchischen Leben' kennen. Die anderen Abschnitte sind später entstanden: da war es natürlich nicht mehr möglich, sich über die Entstehung zu täuschen, sie waren Arbeit vom ersten Augenblick an, aber diese Arbeit war niemals eine vorausgesehene oder beabsichtigte: sie brach aus unter der Not der inneren Verschiebungen, mitten aus ihnen, und war weder zu rufen noch zu unterdrücken. Insoweit ist dieses Buch ein im wirklichsten Sinne aufrichtiges, mit allen Anzeichen des Nichtanders-Könnens, wie der Schrei sie an sich hat, den man zurückhielt und der sich plötzlich doch losreißt, ohne Rücksicht darauf, ob für ihn Raum ist in der dichten Welt. Andrerseits, von der Arbeit aus gesehen, hat es die Lust aller Kunst an sich selbst und ist dadurch anders als das Gebet, hat eine Eitelkeit, die das Gebet nicht besitzt. Aber was ist Gebet, — wissen wirs?" Dieser Abschnitt schildert rückschauend den Zustand der „Inspiration", dem das Buch vom mönchischen Leben im Ganzen spontan entsprang. Als Rilke sidi dieses Vorgangs bewußt wurde, nährte er ihn und förderte so 144
die „Inspiration" durch „Arbeit". Aber er unterstreicht deutlich, daß diese Art der Arbeit von derjenigen, die er später in Paris bei Rodin erlernte, gänzlich verschieden war: sie war niemals eine vorausgesehene oder beabsichtigte. Das Buch vom mönchischen Leben war etwas, das Rilke gleichsam „geschah" und von dem er aus dem innersten Gefühl heraus glaubte, daß er es fördern und wiederholen könne. Im Oktober 1900 schreibt er Clara Westhoff, bei der er sich wegen seines vorzeitigen Aufbruchs aus Worpswede entschuldigt, aus Schmargendorf: „ . . . allein schon wächst hinter mir im großen Meere des Hintergrunds die Arbeit wie eine wandernde Welle, die mich bald ergreifen und einhüllen wird — ganz, ganz . . . " (Br. Frühzeit, 50). In dem Maße, wie Rilkes ganzes Sein mehr und mehr von seiner Kunst abhängig wurde, wurde eben diese Art schöpferischer Eingebung zu einer Quelle unablässigen Staunens; sie wurde zum erwählten Gegenstand seines Werbens, die Mitte, um die seine ganze Arbeit kreiste, der geheimnisvolle Kern aller seiner Vorstellungen. Etwa zwanzig Jahre später tauchten die Sonette an Orpheus in der gleichen überraschenden Weise empor, „sie stellten sich, oft viele an einem Tage (der erste Teil des Buches ist in etwa drei Tagen entstanden) völlig unerwartet ein . . . Ich konnte nichts tun, als das Diktat dieses inneren Andrangs rein und gehorsam hinzunehmen . . . (bis auf wenige Gedichte am Eingang des zweiten Teils, behielten alle Sonette die chronologische Folge ihrer Entstehung)" (Br. Sizzo, 42). Die drei Wogen, welche die drei Bücher des Stundenbuches emportrugen, waren jeweils durch einenZeitraum von zwei—oder doch fast zwei—Jahren voneinander getrennt. Zwischen der Niederschrift des ersten Buches, das in Schmargendorf, und der des zweiten, das in Westerwede entstand, blieb Rilke für eine geraume Weile in der Nähe Lou Andreas-Salomés in Berlin, machte seine zweite Rußlandreise, stattete dem Maler Heinrich Vogeler in Worpswede einen längeren Besuch ab, kehrte für den Winter nach Schmargendorf zurück, um dort den Ertrag seiner russischen Eindrücke noch weiter auszuwerten, und siedelte schließlich nach Westerwede über, wo er sich im Frühjahr 1901 mit Clara Westhoff vermählte. Zwischen der Aufzeichnung des zweiten und dritten Buches verlebte er weitere acht Monate in Westerwede in einem Haus in der Heide, wurde Vater, lernte Paris kennen, machte die Bekanntschaft Rodins und suchte schließlich Zuflucht in Viareggio, wo im Frühjahr 1903 das Buch von der Armut und vom Tode entstand. Im Verlauf des folgenden Jahres finden sich in Rilkes Werk kaum Hinweise auf die Gedichte des Stundenbuchs. Die wenigen Male, da er sie beiläufig erwähnt, bezeichnet er sie als „Gebete". Lou Andreas-Salomé berichtet, daß er ihrer Veröffentlichung höchst unschlüssig gegenübergestanden habe (Lou, Rilke, 57; Mövius, 11). Ruth Mövius bezweifelt dagegen die Zuverlässigkeit dieser Äußerung, und ich bin geneigt, ihr insofern beizupflichten, als man 10 G r a f f , R i l k e
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Rilkes Unschlüssigkeit wohl eher als bedingt und vorläufig verstehen sollte. Sie zitiert einen Brief vom 16. Januar 1904, in welchem Rilke dem InselVerlag mitteilt: „Es ist da (wie auch heute schon erwähnt sein mag) noch ein anderes Manuskript, f ü r welches idi einmal den Insel-Verlag zu gewinnen hoffe; doch kann von diesem erst in ein oder zwei Jahren die Rede sein" (Mövius, 11). Rilkes Zögern im Hinblick auf eine Veröffentlichung des Stundenbuches hatte zweifellos vielfältige Gründe, die alle aufzudecken schwierig sein dürfte. Doch einige hinweisende Beobachtungen mögen hier schon erwähnt werden, während auf andere bedeutsame Faktoren später eingegangen werden soll (s.u. S. 309). Auf Rilkes Streben nach einer Konzentration seiner Dichtung durch eine zyklische Ordnung wurde bereits hingewiesen. Seine russischen (und italienischen) Studien vor, während und nach seiner ersten russischen Reise hatten nichts Bleibendes ergeben. Da brach plötzlich im Herbst 1899 während dreier stürmischer Wochen der Damm: neben anderen Gedichten und Skizzen ergoß sich aus einer gleichbleibenden dichten Stimmung in andrängenden Wogen ein ganzer Strom von Gedichten. Sie kamen ihm auf den Spaziergängen in die Wälder der Umgebung und in der Dämmerung seines Zimmers mit einer solchen Unmittelbarkeit und Fülle, daß er, als schließlich alles vorüber war, über diese Gaben des Himmels nur staunen konnte. Selbst als er sechs Jahre später das Manuskript druckfertig machte, ließ er sie in der Ordnung stehen, in der sie sich eingestellt hatten — nur einige ließ er fort und machte ein paar Korrekturen und Zusätze (Mövius, 220 ff.; 250). Hier war endlich ein wunderbarer Fischzug von seltener Üppigkeit, die ersehnte Sammlung, die die Verheißung zukünftiger Reichtümer in sich barg. Obwohl Rilke sich der erschreckenden Gefährdung durch solche Abhängigkeit vom fruchtbaren Augenblick schon bald bewußt wurde, glaubte er doch, daß dieser, der ihm einmal auf so glanzvolle Weise zuteil geworden war, gewiß wiederkehren werde, wenn er nur seine Seele in ungeteilter Bereitschaft erhielt und sie nicht in Zufälligkeiten verzettelte. „Nur eine schmale Wand ist zwischen uns, durch Zufall; denn es könnte sein: ein Rufen deines oder meines Munds — und sie bricht ein ganz ohne Lärm und Laut"
( A W I , 11).
Der Dichter soll Ruth, der Moabiterin, gleichen, die als Magd des Boas während des Tages ihren Arbeiten nachging und den Jünglingen nicht folgte, mochten sie nun arm oder reich sein. Aber des Abends bereitete sie ihre Seele, wusch und ölte sich, legte ihr Gewand an und ging zur Tenne, wo Boas lag, deckte auf zu seinen Füßen, legte sich dort nieder und sprach: 146
„Breite deine Decke über deine Magd." In der Erwartung der Rückkehr des schöpferischen Augenblicks warf Rilke einen Schleier über seine Seele, um sie vor jeder unziemlichen Berührung zu bewahren, während das Leben weiterging und ihn in Worpswede und Paris in neue Welten versetzte. „Und meine Seele ist ein Weib vor dir. Und ist wie der Naemi Schnur, wie Riuth"
(AWI, 62).
Nach diesem ersten großen Ausbruch üppig wuchernder Poesie äußerte Rilke keinerlei hingerissene Überraschung, keinerlei Seufzer äußerster Erschöpfung, wie er es später nach der Vollendung der Elegien und der Sonette tat. Wenigstens enthalten seine Briefe nichts davon. Doch in dem Buch vom mönchischen Leben finden sich Stellen, die auf ähnliches hinweisen: „Da neigt sich die Stunde und rührt mich an . . . mir zittern die Sinne" (AW I, 9). Während der Dichter um Gott, „den uralten Turm", kreist, fragt er sich noch, ob er einem jungen Falken gleiche, der jedes Mal von der Leine des Falkners zurückgerissen wird, wenn er auffliegen will, oder einem Sturm, der in schnell verrauschter Wut dahinbraust, oder einem großen, andauernden Gesang (AW I, 9). Aber dies weiß er (AW 1,12): „Wenn es nur einmal so ganz stille wäre. Wenn das Zufällige und Ungefähre verstummte und das nachbarliche Lachen, wenn das Geräusch, das meine Sinne machen, mich nicht so sehr verhinderte am Wachen —: — Dann könnte ich in einem tausendf achen Gedanken bis an deinen Rand dich denken und dich besitzen (nur ein Lächeln lang), um dich an alles Leben zu verschenken wie einen Dank." Sein Vertrauen in zukünftige Verwirklichungen ist unerschütterlich (AW I, 17): „Daraus, daß Einer dich einmal gewollt hat, weiß ich, daß wir dich wollen dürfen. Wenn wir auch alle Tiefen verwürfen: wenn ein Gebirge Gold hat und keiner mehr es ergraben mag, trägt es einmal der Fluß zutag, der in die Stille der Steine greift, der vollen. Auch wenn wir nicht wollen: Gott reift." 10»
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Der junge Dichter weiß, daß er nur die Ruhe zwischen den beiden Tönen Geburt und Tod ist, aber diese beiden Töne versöhnen sich zu einem dunklen Intervall, „und das Lied bleibt schön" (AW 1,19). Im Leben sah er darauf, daß die Gegensätze in ihm sich nicht zur Harmonie vereinten, denn das hätte die innere Spannung zerstört, die für sein Schaffen von entscheidender Bedeutung war. Im Gedicht hingegen, im „Intervall seines Lieds" ist diese Versöhnung ein glänzendes Ziel. Die zahlreichen Widersprüche des Lebens in einem dankbar ergriffenen Symbol zur Harmonie zu bringen, das bedeutete die Vereinigung mit Gott in festlicher Einsamkeit, aus der all die lärmenden Wechsler vertrieben sind. Obschon er sich fürchtet, „denn seine Rechte will schon von der Linken", fühlt er doch, wie „Raum wird auf einem neuen Angesichte", und wie nie zuvor kann nun sein „Buch" beginnen (AW 1,21-22).
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27. DIE FORTSETZUNG DES ZYKLUS Ich habe Hymnen, die ich schweige. (Stundenbuch) Ob Rilke beim Schreiben des Buches vom mönchischen Leben die Absicht hegte, es noch durch weitere Zyklen zu vermehren, ist zweifelhaft. Aber sobald er es einmal aufgezeichnet hatte, wurde es ihm zum beherrschenden Anliegen, für ein Wiederaufleben der einmal erfahrenen Inspiration bereit zu sein und ihr vorzuarbeiten. Denn er spürte mit Sicherheit, daß der Seelenzustand, dem diese Gedichte entsprangen, noch nicht voll ausgeschöpft und endgültig ausgesprochen war. Er gab seine russischen Studien nicht eigentlich auf, doch kam er nach seiner zweiten Reise ziemlich schnell davon ab, denn andere Eindrücke begannen sich in den Vordergrund zu schieben. Lou Andreas-Salome und Ruth Mövius sind der Ansicht, daß das zweite und dritte Buch des Stundenbuchs deshalb weniger ihrem Wesen nach russische Gedichte enthalten, weil die Erfahrung Rußlands dem Dichter inzwischen so in Fleisch und Blut übergegangen war, daß sie eines besonderen Ausdrucks nicht mehr bedurfte (Mövius, 75). Doch trifft diese Auffassung wohl nur teilweise zu, und eben das Zutreffende bedarf noch einer genaueren Umschreibung. Jedes der einander folgenden Bücher ist zweifellos von Rußland erfüllt, aber ein jedes hebt bisher weniger hervorgetretene Motive heraus und läßt die eigentlich russischen Elemente nach und nach zurücktreten. Diese Elemente in Rilkes Werk sind letzten Endes nicht als russische, sondern als Rilkesche Aspekte zu verstehen. Rilke war seinem tiefsten Wesen nach ambivalent: stets lagen in ihm westliche Vorstellungen und Sehnsüchte mit östlichen, slawischen im Widerstreit, wobei zuzeiten die ersteren, zuzeiten die letzteren die Oberhand gewannen, um sich schließlich zuweilen zu schöner Harmonie zu verbinden. Das „Russische" bestand in Rilke schon immer und sollte stets ein ursprünglicher Bestandteil im innersten Gewebe seines Wesens bleiben. Aus diesem Grunde, und allein aus diesem Grunde, ist Ruth Mövius berechtigt, das Stundenbuch von hinten her, d. h. vom dritten zum ersten Buch hin zu interpretieren (Mövius, 102). Unter dem Druck anwachsender Erfahrung gelangen die eigentlichen Motive Rilkes nach und nach zu größerer Durchsichtigkeit, und im Lichte ihrer klareren Kristallisation konnte ihre zuvor noch undurchsichtige Substanz 149
leichter durchdrungen werden. So sind die späten Elegien und Sonette legentlich hilfreich für das Verständnis des Stundenbuches.
ge-
Zweifellos sah Rilke im Buch von der Pilgerschaft eine Fortsetzung des Buches vom mönchischen Leben, doch als es schließlich vollendet war, hatte der ursprüngliche, wenn auch ein wenig gewandelte poetische Antrieb noch immer keinen erschöpfenden Ausdruck gefunden. Nun galt es, sich erneut in Geduld zu fassen, neuer Erfahrung zu harren und zu hoffen, daß sich der Ring vielleicht bei einem dritten Anlauf endlich schließen werde. Doch auch diese Hoffnung erwies sich als trügerisch. Das Buch von der Armut und vom Tode, das Ergebnis zweier Jahre erneuten Wartens, enthielt ursprünglich noch drei weitere Gedichte, die Rilke in der endgültigen Fassung schließlich strich, wodurch er die Bedrängnis, die ihm ein sich immer wieder entziehendes Ziel bereitete, stillschweigend eingestand (Mövius, 240-242). Diese drei Gedichte enthielten weder neue Gedanken noch neue Bilder, doch vermochten sie vor allem nicht, Anfang und Ende des Zyklus miteinander zu verknüpfen. Rilke war sich dessen offenbar bewußt, als er sie strich, und es mag ihm wohl die Befürchtung gekommen sein, ob er dieses Werk jemals zu Ende bringen werde. Doch auch jetzt verließ ihn die Hoffnung nicht, wie der obenerwähnte Brief an den Insel-Verlag zeigt, in dem er nach Verlauf von zwei bis drei Jahren zur Veröffentlichung bereit zu sein verspricht. Offensichtlich erwartete er ein viertes und endgültiges Inspirationserlebnis. Tatsächlich stellte sich jene schöpferische Stimmung im August 1904 während seines Aufenthaltes in Schweden wiederum ein und brachte den Anfang eines vierten Buches, von dem nur zwei Gedichte niedergeschrieben wurden (Mövius, 13—14; 243). Doch auch diese gingen in keiner Beziehung über die der vorangegangenen Bücher hinaus. Diese Tatsache sowie die Erkenntnis, daß sich der Charakter jenes schöpferischen Zustandes zutiefst gewandelt hatte, mag schließlich zum Abschluß dieser Dichtung und damit zu der Bereitwilligkeit geführt haben, mit dem InselVerlag zu verhandeln. In einem Brief vom 13. April 1905, in dem diese Verhandlungen aufgenommen werden, schreibt Rilke: „Es handelt sich um einen großen, weithin gerundeten Gedichtkreis. — Eine Reihe von Erhebungen und Gebeten soll damit zu einem Ganzen (zu dem es sich selbst gefügt hat) auch äußerlich vereinigt werden und in Erinnerung an die Livres d'heures soll dem Bande der Name Stunden-Buch gegeben sein, mit dem Untertitel: erstes, zweites, drittes Buch der Gebete" (Mövius, 9). Aufschlußreich ist hier, daß der Dichter das Stundenbuch zu jener Zeit als „großen, weithin gerundeten Gedichtkreis" betrachtete. Und gewiß ist die Anordnung der Gedichte sehr viel einheitlicher zusammengefaßt und zugleich mannigfaltiger gegliedert, als dies in irgendeinem der vorangegangenen Zyklen 150
der Fall war. Jedes der drei Bücher endet mit einem Gedicht, in dem das Vielerlei der einzelnen Stimmungen und Gedanken in das allumfassende Meer einer pantheistischen Gottheit einströmt. Im ersten Buch wird dies durch den mythischen russischen Kobzar symbolisiert, dessen alte Lieder aus vielen tausend Ohren der Zeit und dem Winde anheimfielen und nun in neuen Melodien aus dem Munde des Mönches zu ihm zurückkehren (AW I, 51—52). Im zweiten Buch hebt der nach dem Schatz grabende Mönch seine blutenden Finger gleich den Zweigen eines Baumes in den Wind und saugt mit ihnen Gott aus dem Raum, als hätte er sich dort einst ungeduldig zerschmettert (AW I, 85). Und das dritte Buch endet mit dem Liede des heiligen Franziskus, dessen Saat allenthalben in der Natur und im liebenden Herzen von Frauen aufging (AWI, 107—109). Nichtsdestoweniger sind diese Symbole ihrem Wesen nach weiterer Entwicklung offen und schließen die Möglichkeit, wiederum von vorn zu beginnen, keineswegs aus. Die Worte, die Rilke in der oben zitierten Äußerung in Klammern setzt, nämlich „zu dem es sich selbst gefügt hat", klingen fast wie eine Entschuldigung. Im Angesicht der bisher betrachteten Entwicklung dürfen wir uns wohl fragen, ob Rilke hier sozusagen im Dunkeln vor sich hin pfiff, um so mehr, als ein gewisser Grund dafür gegeben war. Er war zutiefst bestrebt, ein großes, „weithin gerundetes" Werk, ein organisches „Ganzes" zu schaffen, und es war zu diesem Zeitpunkt höchst bedeutsam, auf diese Vorzüge hinzuweisen, sollte sich der Verleger zur Annahme des Manuskriptes entschließen. Denn bisher hatte Rilke noch nichts aufzuweisen, was bei einem Verleger außerordentliche Hoffnungen hätte erwecken können (Br. Verleger, 6—7). Die Geschichten vom lieben Gott ließen in ihrer besonderen Eigenart eine weitere Bearbeitung dieses Gegenstandes nicht erwarten. Im Jahre 1902 war unter dem Titel Buch der Bilder eine Sammlung von Gedichten erschienen, jedoch nur in einer Auflage von fünfhundert Exemplaren. Rilke spürte gewiß, daß er wohl an die Besonderheit seines Werkes glauben mußte, wenn er in seinem Verleger das gleiche Gefühl erwecken wollte. Tatsächlich soll er später einmal zu Franz Werfel gesagt haben, daß er das Stundenbuch für formlos, für eine bloße Improvisation hielt. „So hätte ich ohne Anfang und Ende immer weiter dichten können" (Mövius, 14—15). Und gegen Hans Carossa äußerte er angeblich Ähnliches (Mövius, 249). Allein die in Klammern erscheinende Wendung aus der oben zitierten Brief stelle hat an der dort sonst offenbaren Selbsttäuschung keinen Anteil: zweifellos waren die Gedichte sämtlicher drei Bücher des Stundenbuches ein Ergebnis, das „sich selbst gefügt hatte", will man darunter die gesammelte Konzentration jenes inneren Zustandes verstehen, dem sie entsprangen. Aber auch ein solcher Zustand kann noch ungezügelt bleiben und schließlich doch nur Stückhaftes und Unvollendetes hervorbringen, so einheitlich das 151
Geschaffene im übrigen auch sein mag. Und so verhält es sich letzten Endes mit dem Stundenbuch: es bleibt eine unvollendete Symphonie. Seine Einheit beruht gänzlich auf seinem subjektiven Ursprung. Die drei einander folgenden Bücher sind in ihrem Kern aufeinander bezogen, und so sehr sich das eine auch von dem anderen unterscheidet, allen ist die gleiche wunderbare Ausstrahlung und Produktivität eigen. Doch die daraus hervorgehenden Gedichte verströmen gleich Strahlen in den Raum, ohne daß sie auf einen Gegenstand träfen, der sie zu sammeln und ihnen Gestalt zu geben vermöchte. Gewiß kreist der Dichter um Gott, aber da er jeglichen Anthropomorphismus verwirft, kann ihm sein Gott nicht zum gestaltgebenden Gegenstande werden. Zudem beobachteten wir bereits, daß der Gott Rilkes im Grunde sein eigener schöpferischer Genius ist, eine geistige Macht, die in einem sich beständig wiederholenden Ablauf von Wachstum und Reife nach mannigfaltiger Offenbarung drängt, eine Kraft, die Blätter und Früchte abschüttelt, sobald ihre Zeit erfüllt ist, um neuer Geburt und neuem Wachstum das Feld offenzuhalten. Die Vorstellung vom „Offenen" im Sinne rückhaltloser Bereitschaft zu einem neuen Tage, einem neuen Anfang wird für Rilke im Laufe der Zeit immer bedeutungsvoller. „Was ist so schön wie Anfang?" (Br. Frühzeit, 311). Der Ablauf, der hier im Hinblick auf das Stundenbuch angedeutet wurde, sollte sich Jahre später bei der Entstehung der Duineser Elegien wiederholen. Als die ersten beiden Elegien im Januar 1912 in Duino entstanden, hatte Rilke wiederum das Gefühl, dem inneren Zustand, dem sie entsprungen waren, keine endgültige Gestalt gegeben zu haben. Und wie in den Tagen des Stundenbuches lehnte er auch dieses Mal eine Veröffentlichung des unvollendeten Werkes ab, wie bemüht der Verleger nun auch darum war (Br. MTT, 150).
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28. WANDLUNG O Bäume
Lebens,
o wann
winterlich?
(Fünfte Elegie)
Das Problem, dem Rilke sich mit zunehmender Beharrlichkeit stellte, lag darin, wie er dem Zerrinnen des schöpferischen Zustandes wehren sollte, der doch aus einer Quelle entsprang. Eine langsam fortschreitende Erkenntnis, die sich am bildnerischen Bewußtsein der Worpsweder Maler schärfte und unter dem Einfluß des plastisch formenden Genies Rodins kristallisierte, brachte ihn dazu, seinem Drang nach einer überströmenden Produktivität zu mißtrauen und ihn schließlich ganz zu unterdrücken, sein kühnes Kreisen um Gott aufzugeben und sich den einfachen Dingen und Begebenheiten zuzuwenden, um aus ihrem Erlebnis heraus ihre eigentliche und wahre Wirklichkeit genauer aussprechen zu können. Es war ein Prozeß schmerzhafter Wandlung, in dem das Alte langsam von ihm abfiel und eine neue Lebenssubstanz sich bildete. In den ersten Pariser Jahren hatte Rilke den kritischen Punkt erreicht. Die düsteren Vorgänge in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge spiegeln Tiefe und Gefahren dieser Krisis wider, aber die Art der Gestaltung zeigt ein neues Gepräge: wir finden hier eine furchtlose, objektive Selbstbeobachtung, mit der sich, über einige Jahre hin in zuchtvoller Prosa sachlich und geduldig gefördert, eine entscheidende Wandlung der Gestaltungsweise vollzieht. In diesem Zusammenhang ist es wohl bemerkenswert, daß die Neuen Gedichte, die einen unbestreitbaren Sieg des Neuen über das Alte darstellen, zu gleicher Zeit mit den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge entstanden. Und noch bemerkenswerter ist es, daß sich die Neuen Gedichte schon 1903 ankündigten, als das dritte Buch des Stundenbuches noch im Entstehen war, und im Jahre 1904, als Rilke noch die Gestaltung eines vierten Buches erwog, bereits eine Anzahl eindrucksvoller Proben vorlag. Andrerseits finden sich im Buch von der Armut und vom Tode ganz gleichartige, wenn auch nicht so verzerrte Stimmungen und Gedanken wie in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, wo sie jedoch in einer kühnen Prosa ausgesprochen sind, die unter dem Einfluß Rodins in Zucht genommen und gereinigt wurde. Das künstlerische Bewußtsein Rilkes richtete sich in jener Zeit einerseits auf die schöpferische Eingebung und andrerseits auf eine ruhige, „duftende" Durchdringung des Gegenstandes, wie es sich 153
im Buch von der Armut und vom Tode vielfach dartut — so zum Beispiel an einer Stelle wie dieser: „Mein Wort soll süß sein, daß man sein begehre, und doch nicht irre machen wie der Wein. Denn meine Stimme wuchs nach zweien Seiten und ist ein Duften worden und ein Schrein"
(AWI, 96).
Dieses Ineinandergreifen alter und neuer Wachstumsperioden zeigt sich noch deutlicher, wenn wir uns vergegenwärtigen, daß der Erste Teil der Neuen Gedichte im Jahre 1907, der Zweite Teil 1908 erschien, während das Werk der Krise, die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, erst im Jahre 1910 vollendet und veröffentlicht wurde. Einige Briefe dieser Zeit zeigen, daß Rilke sich in dem Maße, wie die neue „plastische" Gestaltungsweise der Neuen Gedichte sich durchsetzte, mit wachsender Entschiedenheit bemühen mußte, den inneren Zustand, aus dem der Malte hervorgegangen und der in Wirklichkeit überwunden und überlebt war, lebendig zu erhalten. Diese Wirrnis erinnert an jene gleichsam verkapselten Überschneidungen, die wir schon früher im Verlauf der Liebesbeziehungen Rilkes beobachteten. Doch nach geraumer Zeit trat an die Stelle der Konzentration, aus der das Stundenbuch erwuchs, eine andere, die durch eine systematischere Abgrenzung und ein tieferes Eindringen in einzelne Vorgänge und Dinge, durch eine klarere Gestaltung und eine konsequenter durchgeformte Symbolisierung in einer Art kosmischen Seelenraumes gekennzeichnet war. Dies läßt sich vielleicht am besten verdeutlichen, wenn man das einleitende Gedicht des Zweiten Teiles der Neuen Gedichte, Archaischer Torso Apollos, zitiert (AWI, 155). Das Bildwerk, das Rilke hier vorschwebte, war ein Torso des Louvre, den er zuweilen eingehend betrachtet haben mag (Hausmann, 21 ff.). Gegenstand des Gedichtes ist nicht ein Gebilde der Natur, sondern ein Kunstwerk — und wahre Kunst entsteht in einer Weise, die dem Schaffen des göttlichen Schöpfers vergleichbar ist. Das Ding, das Leben und Gestalt erhalten soll, muß von seinem innersten Kern her erfaßt werden. Von hier aus muß sich seine Seele in jeden Teil seines Körpers ausbreiten und seiner Oberfläche einen verhaltenen Glanz verleihen. Der Torso stellt einen Künstler-Gott dar, genauer: den Gott der Poesie und der geordneten, zuchtvollen Musik — im Gegensatz zu Dionysos, dem Gott der ekstatischen, berauschenden Musik. So betont das Gedicht gerade die Art der Konzentration, nach der Rilke zu jener Zeit verlangte, so daß die etwas unerwartete Wendung am Schluß, die lakonische Mahnung „Du mußt dein Leben ändern", ein wirklich wesentlicher und organischer Bestandteil des Gedichtes ist. Das Grundmotiv ist hier wie im Stundenbuch das künstlerische Schöpfertum, welches in dieser oder jener Gestalt stets ein Anliegen 154
Rilkes blieb. Doch während es im Stundenbuch in das Symbol einer unbestimmbaren, verschwommenen Gottesvorstellung eingebettet war und deshalb zu keiner plastischen Gestalt gelangen konnte, ist es in den Neuen Gedichten in dem formgebenden Medium greifbarer Dinge und Ereignisse enthalten. Archaischer
Torso
Apollos
„Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt, darin die Augenäpfel reiften. Aber sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber, in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt, sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug der Brust dich blenden, und im leisen Drehen der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen zu jener Mitte, die die Zeugung trug. Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz unter der Schultern durchsichtigem Sturz und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle; und bräche nicht aus allen seinen Rändern aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern." Während eines Jahrzehnts etwa übte Rilke diese willentliche Objektivität, diese vorgebliche Selbstverleugnung mit leidenschaftlicher Hingabe, bis seine der intuitiven Eingebung verhaftete Natur sich schließlich dagegen auflehnte. Die Angst, die diese Selbstbeschränkung unter dem lastenden Anspruch dieser plastischen Technik auslöste, ist an zahlreichen Stellen seiner Briefe und Gedichte leicht zu erkennen — ja sie drang sogar unbemerkt in die eigentliche Anwendung seines neuen Stiles ein. Schon 1903 schrieb er das bemerkenswerte Gedicht Der Panther, das oft als ein schlagendes Beispiel seiner objektiven Poesie zitiert wird (AW1,189). Die unbestimmte Erinnerung an seine herrliche Freiheit, die noch immer in Leib und Seele des gefangenen Tieres nachwirkt, ist in einem echten Sinne Rilkes eigene sehnsüchtige Erinnerung an seinen ungebändigten poetischen Überschwang. In den beiden ersten Duineser Elegien, die im Jahre 1912 entstanden, machte sich dieser ununterdrückbare lyrische Impuls aufs neue mit elementarer Gewalt geltend, aber erst im Juni 1914 brach die schwelende Revolte offen aus und gab seinem Streben eine neue Richtung. In dem Gedichte Wendung ist es dem Dichter offenbar schmerzlich bewußt geworden, daß seine zuchtvolle Beobachtung allmählich zu einem offenbaren Verzicht geworden war, der in seinem Innern gleichsam einen flehentlichen Seufzer barg (AW I, 321-323). 155
„Lange errang ers im Anschaun. Sterne brachen ins Knie unter dem ringenden Aufblick. Schauend wie lang? Seit wie lange schon innig entbehrend, flehend im Grunde des Blicks? Denn des Anschauns, siehe, ist eine Grenze. Und die geschautere Welt will in der Liebe gedeihn. — Werk des Gesichts ist getan, tue nun Herzwerk an den Bildern in dir, jenen gefangenen; denn du überwältigtest sie: aber nun kennst du sie nicht. Siehe, innerer Mann, dein inneres Mädchen, dieses errungene aus tausend Naturen, dieses erst nur errungene, nie noch geliebte Geschöpf." Mit dieser klaren Einsicht beginnt Rilke einen neuen Anstieg auf seinem spiralförmig verlaufenden Weg zur Vollendung: ohne das zu widerrufen, was er durch jene plastische, nachtastende Gestaltungsweise erreicht hatte, kehrte er nun wieder in die wärmeren Bereiche der schöpferischen Eingebung, der Inspiration zurück. Auf der Höhe des neuen Aufweges befinden sich die Duineser Elegien und die Sonette an Orpheus. Vor allem in den letzteren vermischt sich Inspiration mit plastisch vollendeter Form zu höchster Harmonie. Man hat Rilkes „inspirierte" Niederschriften zuweilen der qualvollen dichterischen Gestaltungsweise Trakls gegenübergestellt. In einem Brief André Gides an Wolfgang Schneditz aus dem Jahre 1931 äußert der französische Autor sein Erstaunen darüber, „daß Rilke wie nach einem Diktat in ein Heft die längsten Gedichte, im Luxembourg-Garten auf einer Bank sitzend, ohne Korrektur, ohne ein Wort durchzustreichen, niedergeschrieben hat" (Trakl, 96). Das Erstaunliche an dieser Schilderung liegt darin, daß sie Rilkes Abhängigkeit von einer gewissen Inspiration selbst für die Zeit der Neuen Gedichte erweist. Im Dezember 1909 hielt sich die Fürstin Marie von Thum und Taxis in Paris auf und traf dort anläßlich eines Tees, zu dem sie ihn und die Comtesse de Noailles gebeten hatte, zum ersten Male mit Rilke zusammen. Die Comtesse hatte den Wunsch geäußert, einmal mit dem merkwürdigen deutschen Dichter zusammenzutreffen, der ihr „ganz ungewöhnliche Briefe" schrieb. Im Laufe des Gespräches klagte die französische Dichterin über die Schwierigkeiten, die es ihr zuweilen bereite, einem einzigen Vers seine endgültige Form zu geben. 156
Als Rilke sie mit großen ungläubigen Augen ansah, beharrte sie: „Wie, Sie finden nicht, daß es zuweilen schrecklich schwer ist?" Doch Rilke schien sie nicht zu verstehen. „Aber nein, durchaus n i c h t . . . " , erwiderte er mit ruhiger, entwaffnender Gewißheit (MTT, 6—8). Es ist wohl unnötig, zu bemerken, daß das Wort „Inspiration" in diesem Zusammenhang niemals zu wörtlich, vor allem aber nicht in irgendeinem übernatürlichen oder mystischen Sinne verstanden werden darf, als seien Rilke diese Worte gleichsam durch einen Gott oder Geist offenbart worden. Auch darf man nicht glauben, daß ihm seine Dichtung ohne Arbeit zugefallen sei — sie war im Gegenteil die Frucht schwerer, teils unbewußter, teils wohlüberlegter und in wachsendem Maße disziplinierter Arbeit. „ . . . sie waren Arbeit vom ersten Augenblick an, aber diese Arbeit war niemals eine vorausgesehene oder beabsichtigte: sie brach aus unter der Not innerer Verschiebungen . . . und war weder zu rufen noch zu unterdrücken" (Br. I, 303). In anderen Worten, Rilke mußte sich starken inneren Spannungen überlassen, die von Rhythmen und Bildern von großer Eindringlichkeit begleitet waren, und was schließlich aus ihnen hervorbrach und weder zu rufen noch zu unterdrücken war, das eben war „Arbeit". Zweifellos waren die Kräfte, die hier im Spiel waren, insofern geheimnisvoll, als ihre Wurzeln in den tiefsten Schichten des Bewußtseins lagen, weshalb Rilke häufig von „Gnade" oder bénédiction spricht, wenn er ihr Wirken beschreibt. Aber er wußte genau, daß es sich hier um einen ganz natürlichen Vorgang handelte und daß alle Elemente, so dunkel sie in mancher Hinsicht auch sein mochten, ihm im Blute lagen. Eben die klare Erkenntnis der Wechselwirkung zwischen den bewußten und unbewußten Kräften bewirkte, daß die Funktion des Schöpferischen als solche zu seinem eigentlichsten Anliegen werden konnte 1 ). !) Eine interessante Schilderung, wie Inspiration und Arbeit Hand in Hand gingen, findet sich bei Hans Jaeger, Die Entstehung der Fünften Elegie Rilkes, DuV 40 (1939), 213—236. Vgl. auch H. Pongs Erläuterungen zur Zehnten Elegie in DuV37 (1936), 97—99. Ebenso zeigt sich an einer Anzahl kürzlich in dem Band Gedichte 1906—1926 veröffentlichter Gedichte in gekürzter und umgearbeiteter Fassung das Ineinandergreifen von Inspiration und Arbeit. In diesem Zusammenhang legt die Untersuchung von H. W. Hagen, Rilkes Umarbeitungen. Ein Beitrag zur Psychologie seines dichterischen Schaffens (Form und Geist, Bd. 24; Leipzig 1931), überzeugend dar, daß Rilkes Überarbeitung früher verfaßter Gedichte vor allem unter dem Eindruck von Rodins Leitsatz „toujours travailler" und durch das Beispiel Cézannes, wie er es mit seinem hartnäckigen Eindringen in das „Motiv" gab, vorgenommen wurde. Die Kräfte, die hier am Werk waren, brachten auch die Neuen Gedichte hervor: in beiden Fällen übte Rilke bewußt eine schöpferische Einfühlung, drang gleichsam in den Kern der Dinge ein, um so ihren inneren Rhythmus und Stil neu zu erschaffen. Die „Dinge" der Neuen Gedichte gehörten der Außenwelt, die der Umarbeitungen dem Dichter selbst an, aber beiden war bereits die organische Form gemeinsam, bevor der Dichter sie neu zu schaffen versuchte. Es wird sich zeigen, daß Rilkes Instinkt hinsichtlich seiner eigentlich „inspirierten" Dichtung so sicher und untrüglich war, daß er selten ein Wort streichen oder ersetzen mußte. Wenn das für die Dichtung der Frühzeit bis etwa 1897 nicht in gleicher Weise zutrifft (SWIII, 869), so mag das wohl daran liegen, daß sich die Erlebnissubstanz in diesen frühen lahren noch nicht kern- und triebhaft genug verdichtet hatte.
Man mag Rilkes spiralförmig verlaufende Entwicklung ungefähr so darstellen: er war gezwungen, Mittel und Wege zu finden, durch die er die zentrifugalen Kräfte seines schöpferisch reichen, aber verletzlichen Genius leiten konnte. So errichtete er schließlich eine Schranke, indem er der Praxis die Theorie entgegenstellte, welche seine überströmende Eingebung eindämmte und zu einer dichten, beherrschten Poesie von höchst kontrastreichem und eigenwilligem Charakter führte. Als dies erreicht war, konnte er auf seine eigentliche Begabung zurückgreifen und alle seine magischen Reichtümer jener Zucht anheimgeben, um so Meisterschaft und Ausgewogenheit auf einer höheren Ebene zu erlangen. In sich selbst ist eine derartige Entwicklung nichts Ungewöhnliches, in ihr zeigt sich nur der natürliche Verlauf allen Wachstums. Doch was, wie schon erwähnt, im Falle Rilkes wirklich fasziniert: dieser Vorgang selbst wurde zum Grundthema und Gegenstand seiner Dichtung und wandelte sich in eine Vielfalt der Bilder, in eine Vieldeutigkeit des Wortes von schimmernder Schönheit.
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29. JAHRESZEIT UND WITTERUNG O, Wind, If Winter comes, can Spring be far behind? O, Wind, Wenn der Winter kommt, kann dann der Frühling fern sein? (Shelley, Ode to the West Wind)
Ursprung und Stimmung des Stundenbuches zeugt zudem von der engen Bindung des Rilkeschen Schaffens an Witterung und Landschaft. Jahreszeit und Umgebung steuern in der Regel — von den Briefen abgesehen — kaum etwas zum Bestand seiner poetischen Motive bei, obwohl man auch hier eine Reihe von Gedichten als Gegenbeispiele anführen könnte. Im allgemeinen kommt ihnen eher eine katalytische Wirkung zu, insofern als sie seinen schöpferischen Ausdruck lösten und beschleunigten, oder auch eine symbolische, weil sie seiner Dichtung Bilderreichtum und einen tiefen, erdhaften Hintergrund gaben. Rilke wies oftmals darauf hin, daß unter den Jahreszeiten der Herbst ihn am meisten begünstigte, aber schon eine flüchtige Nachprüfung ergäbe, daß sich der Frühling nicht minder ertragreich zeigte. Der Sommer war, wie er sagt, „ja nie und nirgends meine Hochzeit. Immer und überall galt es, ihn zu überstehen" (Br. 1902—06, 201). Er ist ihm „nur ein Vorgefühl und ein Gleichnis dessen, was kommen soll" (Br. 1902—06, 238). Er ist trügerisch, denn er macht glauben, daß man die Kräfte der Natur erkannt habe, weil man die reife Frucht in der Hand hält ( A W I , 5 5 ) . Der Winter ist ihm dagegen die Jahreszeit der Ruhe und der stillschweigenden Erneuerung in der Natur, in der die Saat im Verborgenen keimt, um neues Leben hervorzubringen. Es ist wohl unnötig, zu sagen, daß die Rilkeschen Jahreszeiten nicht in eineim astronomischen, sondern in einem typischen und symptomatischen Sinne zu verstehen sind. Da die Neuen Gedichte und die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge aus dem Entschluß erwuchsen, den Rodins Wahlspruch „toujours travailler" in ihm geweckt hatte, sollte man sie sich durchs ganze Jahr hindurch entstanden denken. Doch blieben Frühjahr und Herbst für sein „inspiriertes" Schaffen von entscheidender Bedeutung. Die ersten beiden sowie das unvollendete vierte Buch des Stundenbuches, der Cornet und die Geschichten vom lieben Gott entstanden unter dem Brausen der Herbststürme. Das Buch von der Armut und vom Tode entstand — ebenso wie die Sonette und im allgemeinen audi die Elegien — im Frühling. Die Stürme der Natur 159
gleichen den schöpferischen Wogen im Leben des Dichters. Sie bedeuten Tumult und Aufruhr, sie fegen die Starre des Winters und die Eitelkeit des Sommers hinweg. Unter ihrer Peitsche sausen die Bäume, wogen die Meere, wie das Blut in Herz und Adern pocht. Sie sind die Stimmen eines zürnenden Gottes, der die erlöschende Flamme des Lebens anfacht, wenn der Hochmut des Sommers verwelkte und die herannahende Unfruchtbarkeit den Verzagenden mit Kraftlosigkeit schlägt (BB, 65). Doch diejenigen, die gleich dem Dichter Glauben und Jugend besitzen, fühlen sich von einer bleischweren Last befreit und spüren, daß die Zeit zu feiern nah ist (BB, 141—149). Für sie ist der Sturm der große Umgestalter, der alles wie alterslos macht und der, einem Verse des Psalters vergleichbar, der Landschaft Ernst, Wucht und Ewigkeit verleiht (BB, 137). Der Sturm beschwört die majestätische Größe alttestamentlicher Weissagungen, er beschwört die weiten Räume der russischen Steppe, die der Hetmán Mazeppa durchraste. Gleich ihm fühlt sich der Dichter auf dem rauchenden Rücken des dahinjagenden Rosses — seine Augen sind wie offene Teiche, alle Dinge verschwinden, nur der Himmel bleibt (BB, 59). Gott liebt den Stillstand sowenig wie der Dichter die Starre. Der Kunst „Kämpfe sind wie die Stürme, die den Samen bringen, und ihre Siege sind dem Frühling ähnlich" (FT, 48). Der Woge poetischer Eingebung gleich, ist der Sturm in der Nacht „wie eine große Geste, ! in welcher Gott die vielen Dinge sammelt" (Br. Frühzeit, 239). Wie der Wind die fallenden Blätter in Wirbeln durch die Luft treibt, lebt der Dichter sein Leben „in wachsenden Ringen" (AW1,9), und seine „Gefühle, welche Flügel fanden", umkreisen Gottes Angesicht (AW I, 18). Er fühlt den Sturm kommen wie das erregte Meer oder die wehende Fahne (BB, 58). Im Dezember 1912 schrieb Rilke aus Ronda in Spanien an Lou AndreasSalomé, daß er wiederum einen Aufenthalt gleich Schmargendorf finden wolle, wo er den Regen und Sturm im Herbst 1899 so belebend gefunden hatte (Br. 1907—14, 280). Das Buch von der Pilgerschaft beginnt mit den Zeilen: „Dich wundert nicht des Sturmes Wucht, — du hast ihn wachsen sehn" (AW I, 55), und während er in Viareggio das Buch von der Armut und vom Tode niederschrieb, war „das Meer in Aufruhr und Raserei" (Br. 1902—06, 88). Zur Entstehung des Cornet berichtete Rilke im Jahre 1924: „[Er] war das unvermutete Geschenk einer einzigen Nacht, einer Herbstnacht, in einem Zuge hingeschrieben bei zwei im Nachtwind wehenden Kerzen; das Hinziehen von Wolken über den Mond hat ihn verursacht" (Br. Muzot, 308). Und André Gide, der mit dem Gedanken spielte, diese Dichtung zu übersetzen, erklärte Rilke : „ . . . ce quit fait à peu près la seule qualité de ce poème de jeunesse: c'est-à-dire le rythme tout intérieur, le rythme du sang qui le traverse, qui le porte, qui l'entraîne d'un bout à l'autre, sans qu'il y ait un moment d'hésitation ou d'incertitude" 160
(Br. I, 485; Silvaire-Vigée, 136 ff.). Rilke nennt es jene „Parabel einer jugendlichen Bewegung" (Br. Muzot, 318), und er bestaunt „la rapidité de cet aïeul adolescent qui, les joues encore toutes chaudes de l'enfance, traverse l'amour pour trouver la mort, l'apothéose de la mort—ébloui!" (Br. 1,485). In den Januarstürmen des Jahres 1912 klang in Duino die Erste Elegie in ihm auf: „Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen?" Und als die Elegien und die Sonette an Orpheus im Frühling 1922 vollendet waren, schreibt er: „. . . es war ein namenloser Sturm, ein Orkan im Geist . . . alles, was Faser in mir ist und Geweb, hat gekracht" (Br. Muzot, 114). Außer den Stürmen ist Frühling und Herbst noch etwas anderes gemeinsam, was auf Rilkes schöpferische Antriebe zweifellos seinen Einfluß ausübte: beides sind Jahreszeiten des Übergangs. Sie haben ein doppeltes Gesicht, reichen in die Wehen des Winters und an die Blüten des Sommers. Das unablässige Ringen um Ausgewogenheit beruht auf dem Gegensatz der Extreme, wie Rilkes Werk vom Widerstreit entgegengesetzter Kräfte abhängt. Frühling und Herbst sind Angelpunkte von Zeit und Raum. Sie bestehen aus Erinnerung und Erwartung. Die unerfüllte Vergangenheit will in der zukünftigen Erfüllung beschlossen sein. Das Ergebnis ist ein Strudel von Qual und Entschlossenheit, eine fiebernde Unruhe, die zugleich gefürchtet und gesucht wird. Die Natur durchläuft eine ihrer periodischen Wandlungen, streift Altes ab und bringt Neues hervor. Daß Rilke diese Übergänge bewußt durchlebte, beweisen zahlreiche Äußerungen in seinen Briefen. „Comme les saisons se sont entremêlées cette fois-ci", schreibt er im Februar 1921 an Merline (Rilke et Merline, 199). Im Herbst 1899 notiert der Rilkesche Mönch am Ende seines ersten Gedichtes: „Am Abend des 20. September als nach langem Regen Sonne durch den Wald ging und durch mich", und nach dem zweiten Gedicht heißt es: „Am gleichen Abende, als wieder Wind und Wolken kamen" (Mövius, 167—168). Ein wenig weiter finden wir: „Beim Heimwärtsgehen im abendlichen Wald in welchem die Wipfel verstummten, mitten im Sturm, horchend, athemlos", und es folgt ein Gedicht der Spannung, da sich das letzte Blatt des Jahrhunderts wendet (Mövius, 170) : „Ich lebe grad, da das Jahrhundert geht. Man fühlt den Wind von einem großen Blatt, das Gott und Du und ich beschrieben hat und das sich hoch in fremden Händen dreht. Man fühlt den Glanz von einer neuen Seite, auf der noch Alles werden kann. Die stillen Kräfte prüfen ihre Breite und sehn einander dunkel an." 11 Graff, Rilke
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Es ist interessant zu beobachten, daß Lou Andreas-Salome ein derartiges Erlebnis der Jahreszeiten nicht nur mit Rilke teilte, sondern auch dessen tiefe Beziehung zu ihm erkannte (Lou, Lebens., 173): „April, unser Monat, Rainer — der Monat vor dem, der uns zusammenführte. Wieviel muß ich da Deiner denken, und das ist gar nicht zufällig. Enthält er doch alle vier Jahreszeiten: mit seinen Stunden einer noch fast ehern-winterlichen Schneeluft neben solchen glühender Strahlung, und neben den herbstähnlichen Stürmen, die, statt mit entfärbtem Laube, mit zahllosen Knospenhülsen den feuchten Boden bedecken — und hält in diesem Boden nicht Frühling sich auf zu jeglicher Stunde, den man weiß, noch ehe man ihn schaut? Von alledem her jene Stille und Selbstverständlichkeit, die uns aneinander schloß wie etwas, das immerdar gewesen."
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30. RAUM UND LANDSCHAFT Wieviele von diesen Stellen der waren schon immer in mir ...
Räume
(Son. II, 1)
Wir haben verschiedentlich auf Rilkes Neigung hingewiesen, existentielle Erfahrung in räumliche Gestalt zu übersetzen, und wir sahen diesen Hang schon in seinen frühesten Malversuchen am Werke. Im Stundenbuch stellen Natur und Landschaft fast die gesamte Skala der Metaphern und Symbole. Als Gott der formlosen Bewegung Gestalt gab, seine Hände „um das Werden sich ründeten, begrenzend, warm und weise" (AWI, 12), stellte er seine Stimme, das Wort, zwischen sich und die Zeit, wie es der schaffende Künstler ihm nachtut. Aus dem Sturm der Inspiration taucht das bleibende Gedicht empor wie Venus aus der Brandung des Meeres (NG, 107—109). In den unermeßlichen Steppen Rußlands, auf der Heide von Worpswede, die man dem Meer entrissen hatte, in den weiten Räumen um die Kathedralen und angesichts der tosenden See bei Duino und Viareggio empfand Rilke die Wucht der Herbst- und Frühlingsstürme am heftigsten. Ihre Grenzenlosigkeit gab ihm ein berauschendes Gefühl der Weite und der geistigen Bewegung. Unermeßlich dehnte sich der Himmel über ihm aus, wenn die Bäume noch unbelaubt waren oder ihre Blätter schon von sich geworfen hatten. Rilke suchte aus seinem innersten Gefühl heraus ein gültiges Symbol, in dem sich ihm Raum und Zeit so untrennbar darstellten, daß es eine unauflösliche Einheit ergab. In jener Zeit, als ihn noch der lyrische Überschwang beherrschte, vermochten dem Weite und Grenzenlosigkeit am ehesten zu entsprechen. Das kleine Dorf im Moor ist ihm nur „ein Übergang zwischen zwei Weiten", und sein letztes Haus ist „so einsam wie das letzte Haus der Welt" (AW I, 71). Gott ist ihm ein „großes Morgenrot über den Ebenen der Ewigkeit... der Hahnenschrei nach der Nacht der Zeit" (AW 1,74). Es ist klar, daß der Raum, der hier als das grenzenlose Offene verstanden wurde, jegliches Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit, das er zu verheißen schien, aufzuheben drohte, und so war es nicht verwunderlich, daß Rilke später, in der Zeit der Begegnung mit Rodin, das angemessene Symbol für seine ambivalente Erlebnisweise gerade in einzelnen, in sich ruhenden Dingen fand. Doch die Wirkung war schließlich fast die gleiche, denn er ix»
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sah in den Bildwerken Rodins stets eine innere Welt, gerade wie es in jedem seiner Neuen Gedichte eine immanente Bewegung im seelischen Raum gibt. Rilke liebte die Ebene mehr als das Gebirge, doch darf man dies, ebenso wie die Vorliebe für die Jahreszeiten, nicht gar zu einschränkend verstehen. So liebte er zum Beispiel das Wallis, das Rhönetal und die Provence trotz ihrer Berge. In einem Brief an die Gräfin Sizzo sagt er einmal, daß ihm der Hintergrund der Berge in jener Gegend nie massiv erscheine: „alles ist vor sie gestellt wie in die Melodie eines Gobelins" (Br. Sizzo, 28). Selbst in der Rue de Varennes in Paris bewunderte er oft das Schimmern der Atmosphäre in der Ferne, das ihm erschien „wie ein schönes Gesicht in einer geistigen Transparenz" (Br. Sizzo, 28). Paris war ihm die „einzige Stadt, die eine Landschaft des Lebens und Todes werden konnte" (Br. II, 470), gleich der Leid-Stadt in der Zehnten Elegie. Auch in den Gesichtern und Gestalten der Menschen finden sich Landschaften. Im Stundenbuch heißt es von der Jungfrau Maria, daß sie Gott „umblüht wie eine Au" (AW I, 44), und der Mönch fragt Gott: „Reift nicht mein mailiches Gebet an deinem Blicke wie an einem Baum?" (AW 1,19). An einer anderen Stelle sagt er von den Armen: „In ihren Augen ist das feierliche Verdunkeltwerden lichter Wiesenstriche auf die ein rascher Sommerregen fällt" (AW 1,102). Wenn die Armen schlafen, fließt ihr Leib „im Liegen hin gleich einem Bache", und „sein Geschlecht ist stark und wie ein Drache und wartet schlafend in dem Tal der Scham" (AW 1,104). An anderer Stelle erinnert sich Rilke, wie Clara Westhoffs Auge über das Gesicht ihrer Großmutter hinging, die sie porträtierte, „willig mit kleinen, zögernden, lauschenden Schritten auf den vielen verwilderten Wegen eines langvergangenen Erlebens . . . und steht bei allen seinen Marksteinen andachtsvoll und ehrfürchtig still" (Br. Frühzeit, 48). Ein andermal heißt es von Rodins Mann mit der gebrochenen Nase: „Legt man die Maske vor sich nieder, so meint man auf der Höhe eines Turmes zu stehen und auf ein unebenes Land herabzusehen, über dessen wirre Wege viele Völker gezogen sind" (Rodin, 24). Und mit bitterem Humor schrieb er aus einem Schweizer Sanatorium, wo ihm im August 1923 eine tägliche Massage Erleichterung von quälenden Krankheitserscheinungen verschaffen sollte: „.. . und so tritt der groteske Fall ein, daß ein alter Herr jeden Morgen auf 164
den Händen nachdenklich über meinen Leib spaziert. Eine Circus-Nummer" (Salis, 126—127). In Muzot preist er Merline die reinen „Züge" der wallisischen Landschaft: „Vraiment á certains moments il semble posséder tout ce qui fait le charme et l'esprit d'une figure aimée" (Rilke et Merline, 407). Schon im Stundenbuch wird die eigentliche Landschaft in eine Landschaft der Seele verwandelt. „Dein ganzer Himmel horcht in mich hinaus" (AW L 18), sagt der Mönch zu Gott, und zu seiner Seele spricht er: „Sei Heide und, Heide, sei weit. Habe alte, alte Kurgane, wachsend und kaum erkannt, wenn es Mond wird über das plane langvergangene Land" (AW I, 51). Auch im Stundenbuch ist die Landschaft in das Ganze verwoben wie in die „Melodie eines Gobelins", und sie ist hier alles eher als Zierat — sie ist Kette und Einschlag seines Gewebes, Grundton seiner Melodie, das ordnende Element in seinem Rhythmus. Gewiß, der Grad der Verschmelzung von Symbol, Bild und Gehalt ist höchst unterschiedlich. Ruth Mövius analysiert ein Beispiel der Symbolisierung aus dem Buch vom mönchischen Leben, um zu zeigen, wie die Phantasie des Dichters ein Stück erlebter Landschaft aufsaugt und in ein Bild von beschwörender Kraft verwandelt. Auf Rilkes Spaziergängen in den Schmargendorfer Wäldern, die er mit Lou Andreas-Salomé zu unternehmen pflegte, geschah es häufig, daß sie Rehen begegneten, die so zahm waren, daß sie ihre Nasen in die Manteltaschen des vorübergehenden Paares steckten. Am Ende eines Gedichtes, das, wie die beigefügte Erläuterung besagt, niedergeschrieben wurde, „da es Abend wurde über Herbst und Händen", betet der Mönch zu Gott: „Oft, wenn ich Dich in Sinnen sehe, vertheilt sich Deine Allgestalt: Du gehst wie lauter lichte Rehe und ich bin dunkel und bin Wald." Mit anderen Worten: wenn die Dämmerung über die Wälder herniedersinkt, fühlt sich der Mönch mit dem Waldesdunkel eins, während Gott gleich lichten Rehen durch ihn hindurchgeht. Mit den Worten der Metapher mag man folgende Gleichung vornehmen: die dunklen Wälder verhalten sich zu den lichten Rehen wie der Mönch zu Gott. In einem anderen Gedicht, das am folgenden Morgen entstand, sagt der Mönch: „Denn was sind Kirchen und sind Klöster in ihrem Steigen und Erstehn — als Harfen, tönende Vertröster, durch die die Hände Halberlöster vor Königen und Jungfraun gehn." 165
Dieses Gedicht entstand „im Morgenwalde und bei Rehn, / die durch die Stämme golden gingen, / wie Töne welche durch das Schwingen / von übersonnten Saiten gehn". Da dieses ein Morgengebet ist, so erscheinen die Wälder nun als klar unterschiedene Baumstämme, und die fortlaufende Kette der Assoziationen hat nun folgende Glieder: die Stämme verhalten sich zu den lichten Rehen wie die Saiten der Harfen zu den Tönen, wie die aufsteigenden Kirchen und Klöster zu den betenden Händen (Mövius, 66-67). Ähnliche metaphorische Abkürzungen finden sich allenthalben im Stundenbuch und in Rilkes Werk überhaupt. Als seine Meisterschaft wuchs, nahm auch ihre Dichte zu, und ihre Unmittelbarkeit strahlte Bedeutung nach allen Richtungen aus. Das ist einer der Gründe, weshalb seine Symbole oftmals so verwirrend sind. Zudem erscheinen sie im Stundenbuch in so bestürzender Üppigkeit, daß sie uns zuerst atemlos und benommen machen. Fast ohne Unterlaß wird man von einem metaphorischen Bezug zum anderen geführt, und man findet kaum Gelegenheit, den einen oder anderen einsinken und sich ausbreiten zu lassen. Und noch bestürzender wird es durch die Tatsache, daß diese Bezüge sich allenthalben zu widersprechen und aufzuheben scheinen. Hier wird Gott mit den Wurzeln gleichgesetzt, die sich unter der Erde ausbreiten, dort mit einem Dom, den Menschen in die Höhe führen, hier mit einem Schiff, das sich der Küste nähert, dort mit einer Küste, die das Schiff erwartet. Im Buch vom mönchischen Leben wird die italienische Renaissance getadelt, weil sie Gott, den Vater, nicht zur Reife brachte und alle Kraft dem strahlenden Knaben zuwandte (AW I, 25); im Buch von der Pilgerschaft ist der Vater wie ein „verwelktes Wort in alten Büchern, die man selten liest" (AWI, 61), während der Sohn der Erbe ist, in dessen Schöße die Reichtümer der Vergangenheit und die Verheißungen der Zukunft liegen ( A W I , 60; 63). An einer Stelle ist das Wanderleben des Pilgers die Verwirklichung gottgefälliger Armut (AW 1,44—45; 78), und an einer anderen heißt es: „Denn selig sind, die niemals sich entfernten und still im Regen standen ohne Dach"
(AW 1,104).
In einem Atem wird Gott „der Taucher und der Türme Neid" (AW I, 36) oder „die Zukunft, großes Morgenrot", „der Hahnenschrei", „der Tau, die Morgenmette und die Maid, der fremde Mann, die Mutter und der Tod" genannt ( A W I , 7 4 ) . Und doch durchzieht dies alles eine wesenhafte, allumfassende Einheit, denn Gott selbst ist ein „Wald der Widersprüche" (AW I, 36), „die ewige Metamorphose / des Goldes in das Sonnenlicht" (AW 1,101), „die ruhige Mitte seinen Monologen" (AW 1,18), der immer wiederkehrende Gesang des Dichters (AW I, 30; 39). 166
Der Weltraum, in den Rilkes innere Erfahrung ausgreift, wird nach Tiefe und Wachstum und unendlicher Ausdehnung bemessen. Der Urgrund ist die Mutter Erde, der Schoß allen Lebens. Daß Rilke seinen schöpferischen Genius als eine weibliche Begabung empfand, vermag kaum zu überraschen (Br. 1,107). Zuweilen spricht er von dem sinnlichen Rausch, den die Übung seiner Kunst hervorrief. Einem jungen Dichter erklärt er: „Und tatsächlich liegt ja das künstlerische Erleben so unglaublich nahe am geschlechtlichen, an seinem Weh und seiner Lust, daß die beiden Erscheinungen eigentlich nur verschiedene Formen einer und derselben Sehnsucht und Seligkeit sind" (Br. Dichter, 20). „In einem Schöpfergedanken leben tausend vergessene Liebesnächte auf und erfüllen ihn mit Hoheit und Höhe" (Br. Dichter, 25). Das Stundenbuch enthält zahlreiche Bilder, die das erotische Wesen seines Schaffens bestätigen. Die Jungfrau Maria ist „wie ein Weinberg", der Frucht trug (AWI, 26), die Versuchungen des jungen Mönches gehen „wie . . . von Gott Gerüchte durch dein dunkles Blut" (AWI,31). Gott ist arm „wie eines Keimes Kraft in einem Mädchen, das es gern verbürge und sich die Lenden preßt, daß sie erwürge das erste Atmen ihrer Schwangerschaft"
(AW 1,101).
In der Erde ist das Leben wie im Schöße noch namenlos, und Namen sind noch ohne Bedeutung. Die Erde ist wie Gott allem offen und für jegliche Pflege und Befruchtung empfänglich, dem Pflügen und Säen des Frühjahrs und der Ernte des Herbstes (AWI, 47). Durch ihre Adern rinnt, wie durch Gott, der Saft in die Wurzeln, und in ihr ruhen die Erze und die werdenden Edelsteine (AWI,89). Und aus ihr wurde Gott in Bäume und Blumen, Berge und Täler, in Leib und Seele von Menschen und Tieren hineingeboren (AW I, 89) — gerade so, wie die Erinnerung an den dunklen Ursprung des Menschen in dem Unterbewußtsein schlummert und durch die Kindheit ins bewußte Leben emporsteigt. Zuweilen ist das Sinnliche nur unvollkommen aufgesogen, so daß dem Bilde noch ein trüber Beigeschmack des Physiologischen anhaftet. Im Buch von der Armut und vom Tode bittet der Dichtermönch seinen Gott: „Mach Einen herrlich, Herr, mach Einen groß, bau seinem Leben einen schönen Schooß und seine Scham errichte wie ein Tor in einem blonden Wald von jungen Haaren, und ziehe durch das Glied des Unsagbaren den Reisigen, den weißen Heeresscharen, den tausend Samen, die sich sammeln, vor" (AW I, 94—95). Dies ist fürwahr ein einzigartiges Gebet im Munde eines einzigartigen Rilkeschen Mönchs. 167
Die Vielfalt der Landschaft, wie sie sich im Stundenbuch darstellt, umfaßt das ganze Ausmaß der Reisen und Erlebnisse Rilkes, vom Ligurischen Meer bis zur Wolga. In ihr finden sich Ebenen und Berge, Stadt und Land, ihre Völker, Tiere, Vögel und Pflanzen, Sonnenaufgänge und -Untergänge, jegliche Jahreszeit und Witterung. Wiewohl jedes der drei Bücher unleugbar einen eigenen Schwerpunkt besitzt, schöpft doch ein jedes in gleicher Weise aus Rilkes Erinnerung erlebter Länder und Himmelsstriche. Und wie Rilke von Marianne Alcoforado, der portugiesischen Nonne, sagt, müssen einer Seele, die von einer solchen Landschaft erfüllt ist, notwendig Tag und Nacht Lieder entströmen; „ . . . denn in ein Herz verpflanzt, hat das alles Stimme bekommen und redet untereinander und flüstert und ruft hinaus" (Br. MTT, 893). Gott, den der Dichter-Mönch als seinen eigenen Sohn betrachtet, erbt seine ganze Landschaft: „Und du erbst das Grün vergangner Gärten und das stille Blau zerfallner Himmel. Tau aus tausend Tagen, die vielen Sommer, die die Sonnen sagen, und lauter Frühlinge mit Glanz und Klagen, wie viele Briefe einer jungen Frau." [Du erbst] „die Herbste, die wie Prunkgewänder in der Erinnerung von Dichtern liegen, und alle Winter wie verwaiste Länder, scheinen sich leise an dich anzuschmiegen." [Du erbst] „Venedig und Kasan und Rom, Florenz wird dein sein, der Pisaner Dom, die Troitzka Lawra und das Monastir, das unter Kiews Gärten ein Gewirr von Gängen bildet, dunkel und verschlungen — Moskau mit Glocken wie Erinnerungen" (AWI, 63).
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31. PSEUDONYM UND DON JUAN und manchmal... ging eine Neigung durch sein Angesicht zu einer, die vorüberkam. (AW 1,184) Die sogenannten Gebete des Stundenbuches wurden einem russischen Mönch in den Mund gelegt, der zugleich Maler und Dichter war. Er lebte in seiner Klosterzelle, und ab und an wurde seiner weisen Fürsorge ein junger Novize anvertraut. Das Kloster unterstand der Jurisdiktion des Metropolitan von Moskau, dem der betende Mönch zuweilen über das geistliche Leben des Klosters berichtete. Einer dieser Berichte war in der ursprünglichen Fassung enthalten, wurde aber später gestrichen (Mövius, 209-215). Alles dies ist natürlich reine Phantasie und wird keineswegs folgerichtig durchgeführt. Im Buch von der Armut und vom Tode finden wir den Mönch in den großen Städten, die ihm „verlorene" sind und „aufgelöste"; „wie Flucht vor Flammen ist die größte, —" womit wohl Paris gemeint sein mag (AW I, 91), wo „das Lächeln einer zarten Rasse / in namenlosen Nächten sich entstellt" (AW 1,92). Dazu wies Ruth Mövius an Hand der originalen Prosakommentare zum Buch vom mönchischen Leben nach, daß der Dichter Rilke sich unmerklich mit jenem erdachten Mönch identifiziert. Das bedeutet zwar nicht, daß man die beiden unbedenklich gleichsetzen kann, aber es weist auf eine nahe Verwandtschaft hin. Rilke hat schon vorher zu ähnlichen „Pseudonymen" gegriffen. Die frühe Skizze Pierre Dumont (Sieber, 144 ff.) und der spätere Ewald Tragy sind Beispiele hierfür. Der lahme Ewald der Geschichten vom lieben Gott gehört in die gleiche Kategorie, und ebenso der Malte Laurids Brigge und der „Arbeiter" jenes bemerkenswerten, erdachten Briefes über Gott (AWII, 305 ff.), den Rilke zur Zeit der Elegien und Sonette verfaßte. Auch eine eingehendere Untersuchung der Neuen Gedichte würde meiner Überzeugung nach zeigen, daß, wenn auch nicht alle, so doch viele dieser angeblich objektiven Gedichte versteckte Selbstanalysen sind. Der Hang zur Mystifizierung war zweifellos ein bestimmendes Element in Rilkes Leben und Werk. Seine Stellung zur Psychoanalyse zeigt dies deutlich, und seine frühe Äußerung, daß er Worte brauche, „deren letzte Silbe ich mit meinem Leben rätselhaft 169
verdecke", scheint darauf hinzudeuten, daß er sich nicht im Unklaren darüber war. Verlangte es ihn nicht, „so tief in alle Stille mich zu tauchen, daß ich mich unter aller Wellen strecke, und keiner sieht es, daß ich mich bewege" (Br. Frühzeit, 231)? Und Ewald Tragy bekennt: „Sie müssen nämlich wissen: ich lüge sehr oft. Je nach Bedürfnis, einmal nach oben, einmal nach unten; in der Mitte sollte ich sein, aber manchmal mein ich, es ist gar nichts dazwischen" (ET, 25). In gewissem Sinne kann gerade die Verdoppelung des eigenen Selbst Distanz und Sachlichkeit erzeugen, aber ebenso leicht konnte sie auch als List zur Erhaltung der unverbindlichen „Offenheit" und Freiheit des Dichters dienen. Zweifellos nützte Rilke dieses Mittel weidlich in der letzteren Absicht aus. Mit Kierkegaard teilte er die Neigung zum Inkognito, weil es unbegrenzte Möglichkeiten eröffnet, denn beide besaßen ein waches Bewußtsein der Ambivalenz. Was Rilke mit dem Gleichnis von den beiden feindlichen Prinzen, die um dasselbe Mädchen werben, umschreibt, äußerte Kierkegaard unmittelbarer: „ . . . die Zweideutigkeit ist ein unaufhörliches Inzitament" (Kierkegaard, Gegenwart, 21). Ebenso wie Kierkegaard Victor Eremita, Frater Taciturnus oder Johannes de Silentio war und zugleich nicht war, so war Rilke Ewald Tragy, der russische Mönch und Malte — und war es auch wieder nicht. Beide Männer waren aus einem bewußten Konflikt zwischen Kunst und Religion Gottsucher, wenn auch die Schwerpunkte und damit die Akzente verschieden verteilt waren. Bei Kierkegaard war es die Religion, genauer: der christliche Glaube und die christliche Ethik, die der Kunst den Kampf ansagten und schließlich siegreich daraus hervorgingen. Damit wurde die ursprüngliche Zweipoligkeit letztlich weitgehend aufgehoben. Das Pseudonym ist im Grunde eine Erfindung ästhetischer Prägung, eine Maskierung, die von Gott nicht anerkannt wird. Bei Rilke wiederum wurde die Religion frühzeitig von der Kunst aufgesogen und durch das beherrschende Schöpfertum, welches sich einen Gott und eine entsprechende sittliche Ordnung nach eigenem Ermessen schuf, unterworfen und gefügig gemacht. Der religiöse Kierkegaard gab offen zu, daß sein Verzicht auf Regine Olsen nicht aus dem Verlangen nach christlicher Vollkommenheit erwachsen sei (Rehm, Kierkegaard, 75—76), während der Künstler Rilke eifrig zu beweisen bemüht war, daß er jegliche Bindung und Verstrickung mied, um dem Gott seiner Kunst vollkommener dienen zu können. Die existentielle Ambiguosität Rilkes fand niemals eine Auflösung — im Gegenteil, sie verstärkte sich in dem Maße, wie seine eigene Symbolik, seine eigenen Mythen entschiedenere Gestalt annahmen. Sie sollten Leben und Tod, Gott und Mensch, Kunst und Wirklichkeit in gleicher Weise umfangen, und er rang um ihre echte existentielle Gültigkeit. Doch wird kaum einer, 170
der die Briefe seiner letzten Leidenstage las, sein Bemühen für erfolgreich halten können (vgl. Br. Lou, 4 9 8 - 5 0 5 ; Br. MTT, 884; 949 ff.). Während Ziel und Endergebnis bei Rilke und Kierkegaard diametral entgegengesetzt waren, glichen sich die wirkenden Kräfte weitgehend, und die in beiden Fällen entstehende Spannung erzeugte verwandte Symptome. Die Faszination des Möglichen, die Furcht vor äußeren Bindungen, das waghalsige Spiel mit der Versuchung, die zornige Verachtung bürgerlicher Konventionen und Ideale sowie eines zur bloßen Form gewordenen Christentums — diese Züge treten bei beiden deutlich hervor. Gewiß bieten sich angesichts ihrer gegensätzlichen Ziele und Schwerpunkte verschiedenartige Aspekte dar, doch die Übereinstimmung bleibt überraschend. Kierkegaards widersprüchliche Haltung zu Regine Olsen findet in Rilkes Verhältnis zu Frauen ihr Gegenstück. Wir sahen bereits, daß die schöpferische Stimmung, der das Stundenbuch entsprang, während Rilkes Aufenthalt in Skandinavien im Jahre 1904 noch einmal aufflackerte, und in jenen Tagen übersetzte er Kierkegaards Briefe an seine Braut. Aber im Gegensatz zu Kierkegaard scheint es Rilke recht gut gelungen zu sein, das Bewußtsein der Sünde auszulöschen, obwohl er mit der ihr innewohnenden Neugier und Nachgiebigkeit gern spielte. So meint er, daß die Sünde zwar für viele ein legitimer Umweg zu Gott sei, daß sie aber für diejenigen, die sich gleich ihm selbst ins „Ganze" eingebettet fühlen, nur ein unerträgliches Hindernis sein könne (Br. Muzot, 195). Und vom Willen heißt es bei ihm, daß er „ja überdies eine zu junge und neue Kraft ist, gemessen an dem uralten Rechthaben des Triebs" (Br. Muzot, 140—144). Rilke entkleidet die Sünde ihrer moralischen Bedeutung und macht sie zu einer einfachen Störung des Gleichgewichts auf der natürlichen Ebene. Er weigert sich vor allem, sie in den vitalen Bereichen anzuerkennen, wohin die christliche Moral nach seiner Meinung gerade ihren Schwerpunkt verlegte, nämlich in der Sphäre des Geschlechtlichen. Eher noch fühlte er sich zur freimütigen Rückkehr zu einer phallischen Gottheit geneigt (Br. Muzot, 140). Trotzdem besteht kein Zweifel, daß er häufig genug von Schuldgefühlen gepeinigt wurde, sofern wir unter Schuld eine Art von Lebensunbehagen oder geistiger Qual verstehen: so zum Beispiel, wenn sein von Krankheit geplagter Körper ein Zusammenwirken mit den schöpferischen Kräften seiner Seele verweigerte oder wenn seine innere Ruhelosigkeit ihn gesellige Zerstreuung suchen ließ, die die notwendige Sammlung beeinträchtigte. Es war ein Gefühl von Schuld und Angst, das ihn einen jungen Dichter tadeln ließ, weil er die Geduld mit dem Leben verloren und Selbstmord begangen hatte (vgl. S. 241 ff.), und eine junge Malerin, weil sie ihre Kunst verriet, zu ihrem Manne zurückkehrte und Mutter geworden war (vgl. S. 236 ff.). Rilkes besondere Empfindlichkeit gegen die Eigensucht des Mannes, der die Einsamkeit und Freiheit der Frau verletzt, wurzelte in dem schuldhaften Gefühl 171
der Unfähigkeit, die Verantwortungen der Liebe und der Ehe auf sich zu nehmen. Auch die besonderen Ängste sinnlicher und geistiger Versuchung kannte Rilke wohl. Der alte Mönch im Stundenbuch warnt den jungen Novizen (AWI, 30): „Die große Lust hat auch nach dir Verlangen, und alle Arme sind auf einmal nackt. Auf frommen Bildern sind die bleichen Wangen von fremden Feuern überflackt; und deine Sinne sind wie viele Schlangen, die, von des Tones Rot umfangen, sich spannen in der Tamburine Takt." In einem anderen Gedicht bekennt der Mönch, daß er sich aus den dunklen Tiefen Gottes in den Hochmut des Lichts verlor, wo Luzifer, „der Fürst im Land des Lichts", „der helle Gott der Zeit", nahe bei den Engeln herrscht (AWI, 38—39). In einem Brief an die Fürstin Marie von Thum und Taxis macht Rilke die eigenartige Bemerkung, daß „sich Äpfel, mehr als sonst etwas, kaum verzehrt, oft noch während des Essens, in Geist umsetzen. Daher wohl auch der Sündenfall. (Wenn es einer war)" (Br. MTT, 96). Den Unterschied zwischen Kierkegaard und Rilke mag man zudem an ihrer verschiedenartigen Behandlung des Don Juan-Motivs verdeutlichen. Mozarts Don Giovanni war für den musikalischen Kierkegaard das Nonplusultra diabolisch-betörender Musik. Man muß nur das Tagebuch eines Verführers in Entweder-Oder lesen, um dies zu verstehen. An einer anderen Stelle des gleichen Buches findet sich folgende hymnische Äußerung (Kierkegaard, Werke,94): „Höret Don Juan! . . . höret die Musik sein Leben erzählen: Wie der Blitz aus dunkler Wetterwolke, so bricht er hervor aus dem unergründlichen Ernst des Lebens, schneller als der Blitz, in wilderem Zick-Zack und doch ebenso treffsicher; höret, wie er sich hineinstürzt in die ewig wechselnde Flut der Erscheinung, wie er anstürmt gegen die festen Dämme des Lebens, höret die leichten, schwebenden Violintöne, das perlende Lachen der Freude, den Jubel der Lust, die seligen Feste des Genusses; höret wie er dahinjagt, an sich selbst vorbei, immer wilder, immer flüchtiger, höret die Leidenschaft in der Wut des zügellosen Begehrens, höret das Rauschen der Liebe, das Flüstern der Versuchung, den Wirbelsturm der Verführung, höret die Stille des Augenblicks / höret, höret, höret Mozarts Don Juan!" Rilke selbst war die magische Gabe der Verführung zweifellos keineswegs fremd. In diesem Zusammenhang hätte die psychoanalytisch orientierte Lou Andreas-Salomé vielleicht das Wort „Masochismus" gebraucht, das sie im Hinblick auf einen Vers in einem der französischen Gedichte 172
Rilkes tatsächlich anwendet (Lou, Lebens., 186). Jedenfalls finden sich in Rilkes Briefen an Merline wie in seiner Korrespondenz mit anderen Frauen Stellen genug, die an Kierkegaards Tagebuch und an Lou Andreas-Salomés Bemerkung erinnern. Doch im ganzen hatte Rilke, der sein Gefühl für die Sünde im moralischen Sinne abgestumpft hatte, das Dämonische derartiger Erfahrungen in den allgemeinen Zusammenhang der Liebes- und Schaffensprobleme einbezogen. Während Kierkegaard jegliche dichterische Existenz als Sünde bezeichnete, grenzte die Kunst für Rilke an das „Schreckliche" und „Ungeheuerliche". In dem Gedicht Don Juans Auswahl befiehlt der Engel dem berühmten Verführer, seine betörende Leidenschaft in den Dienst „wahrer Liebe" zu stellen, d. h. er soll die Frauen, die ihm „zugewiesen" sind, in andere Héloïsen verwandeln, in Frauen, deren Liebe ihre unwürdigen Liebhaber übersteigt und sie zu einer herrlichen, aber entsagenden Einsamkeit führen wird: „Und der Engel trat ihn an: Bereite dich mir ganz. Und das ist mein Gebot. Denn daß einer jene überschreite, die die Süßesten an ihrer Seite bitter machen, tut mir not. Zwar auch du kannst wenig besser lieben, (unterbrich mich nicht: du irrst), doch du glühest, und es steht geschrieben, daß du viele führen wirst zu der Einsamkeit, die diesen tiefen Eingang hat. Laß ein die, die ich dir zugewiesen, daß sie wachsend Heloisen überstehn und Überschrein." Gewiß ist kein großer Unterschied zwischen dem, was Don Juan hier aufgetragen wird, und Rilkes Haltung gegenüber Merline, die in einigen frühen Briefen ihrem leidenschaftlichen Verlangen Ausdruck gibt, dem angesichts der hochbewußten und sslbstgenügsamen Entscheidungen ihres Liebhabers eine künstlich erzeugte Entsagung und eine stoisch unterdrückte Auflehnung beigemischt ist. Am 17. Oktober 1920 entschloß sich Rilke plötzlich, den Winter in der Einsamkeit des Schlosses Berg am Irchel und nicht, wie zuvor geplant, mit Merline in Genf zu verbringen (Rilke et Merline, 77 ff.). Er traf am 12. November dort ein und schrieb ihr sechs Tage später (Rilke et Merline, 90) : „Non, Merline, je ne suis point étonné de vous trouver si forte, ce qui vous rend vaillante en ce moment c'est cette même liberté qui vous a permis de pénétrer dans le sanctuaire de notre amour pour vous y agenouiller, non pas en simple adorante, mais en prêtresse 173
élue qui de ses bras délicieusement éprouvés soulève vers le Dieu l'offrande définitive . . . faites la récolte, Merline, la première récolte d'Amour, travaillez à mettre dans les Granges de l'Ame l'innombrable moisson que nous avons mûrie de notre constante chaleur. Moi,,chasseur d'images', je monte dans mes montagnes, sauvage, taciturne, je me perds — Mais toi, ma vallée délicieuse, toi, flûte de mon cœur, toi, vase d'argile à qui j'ai donné, humble travailleur d'amour, cette courbe inspirée, qui à jamais t'a destinée aux usages divins — toi, que tu aies cette patience innée, imperturbable, qui est celle du paysage et de la flûte et du vase sacré!" Sollte es da wohl weit hergeholt erscheinen, wollte man einen Augenblick lang meinen, der Don Juan des Gedichtes sei eine Art Pseudonym für Rilke selbst und auch der Engel eine weitere Verdoppelung des Dichters, so daß der ganze erdachte Dialog des Gedichtes zu einem Monolog der Selbstdarstellung wird? Es wäre gewiß nicht befremdlich, wenn man Rilke zu sich selbst sagen hörte: „Zwar auch du kannst wenig besser lieben, (unterbrich mich nicht: du irrst), doch du glühest, und es steht geschrieben, daß du viele führen wirst zu der Einsamkeit, die diesen tiefen Eingang hat." Zudem findet sich, von Rilke her gesehen, nichts Ungewöhnliches in dem Umstand, daß der Engel Don Juan zu einem seltsamen Priestertum beruft, das die erwählten Frauen auf dem Altar der Liebe opfert . . . und erwartet, daß sie die daraus erwachsende Entbehrung lieben. Betrachtet und erwägt man die näheren Umstände und die Bekenntnisse einmal unbefangen, die Rilke im Hinblick auf Frauen wie Vally, Lou, Paula Becker, Clara Westhoff, Marthe, Benvenuta, Lulu Albert-Lasard, Merline, Mimi Romanelli und Erika Mitterer machte — ganz zu schweigen von den anderen, weniger bedeutenden oder den in Geheimnis gehüllten „Olgas", „Aglajas" und „Abelones" —, lesen wir zudem noch die Gedichte, die um solche und ähnliche Erlebnisse kreisen, so kann man den Prozeß der Sublimierung, die poetische Weihung, die sie in der Vorstellung des Dichters durchmachten, wohl verstehen. Im Herbst 1914, als die Wirkungen der Benvenuta-Krise verebbt waren, verstrickte sich Rilke aufs neue: dieses Mal war es die Malerin Lulu (Lou) Albert-Lasard, eine verheiratete Frau, die gleich Rilke in München lebte und sich nach Paris sehnte, wo sie sich vor dem Kriege für eine Weile aufgehalten hatte. Will man nach den Gedichten urteilen, die durch diese Begegnung ausgelöst wurden, so war diese Beziehung von Anbeginn höchst zwiespältig, denn Rilke war sich seiner eigenen Unbeständigkeit stets be174
wüßt und war doch geneigt, Gefühle des Verlangens und der Zugehörigkeit in ihr zu erregen. Als Lulus Mann Verdacht schöpfte, drohte er mit Scheidung, und so schlug Lulu Rilke vor, er solle nach Berlin gehen, um ihm weitere Unannehmlichkeiten zu ersparen. Doch kaum war er dort, so drängte er sie schon wieder, Weihnachten mit ihm zu verbringen — ein Weihnachten, das den Glanz des Kinderglaubens entbehrt zu haben scheint (Gedichte 1906—26, 560—564). Ganz unerwartet und ohne jegliche Ankündigung verließ er Berlin im Januar 1915 wieder, um sich nach Bayern zu begeben. Der Fürstin Marie von Thum und Taxis, die einen erneuten Einfluß Benvenutas vermutete, erwiderte er (Br. MTT, 399 f.) : „M(agda) v(on) H(attingberg) hat keine Schuld (ich sah sie nur wenig in Berlin und wir schrieben uns so gut wie gar nicht), aber , ich Unverbesserlicher habs seither nochmals mit dem Nicht-allein-bleiben versucht — und werde einmal viel zu erzählen haben, oder nichts, denn was sagbar ist, wissen Sie, Fürstin, durchschauens, und es ist ja auch dasselbe, Grausame: das unter dem Gewicht eines anderen Lebens stehen, das sich doch wieder als ein fremdes erweist und das mir mit seinen Verstrickungen und Rathlosigkeiten nur noch wieder zum Beispiel wird für des Lebens Fast-unmöglichkeit, da und dort, in jedem, und wie sehr in mir. Ich möchte helfen und erwarte, daß mir geholfen wird, das ist der unausschöpfliche Irrthum, daß die Menschen mich für einen Helfer halten, während ich sie doch geradezu in die Falle meiner Scheinhülfe hereinlocke, um dabei Abhülfe für midi herauszuschlagen. Gott weiß, was nun wird, — alles sah diesmal besser aus, lebbarer, bis äußere Verhältnisse sich eindrängten, nichts ist noch abzusehen, ich werde mich noch einmal retten müssen, aber ich möchte nicht Zerstörung und Unheil hinter mir lassen." Die Fürstin antwortete ärgerlich: „Und was brauchen Sie immerfort dumme Gänse retten zu wollen, die sich selbst retten sollen — oder der Teufel soll die Gänse holen, — er wird sie ganz bestimmt wieder zurückbringen . . . Es kommt mir vor, D(ottor) S(erafico), daß der selige Don Juan ein Waisenknabe neben Ihnen war — Und Sie thun sich immer solche Trauerweiden aussuchen, die aber gar nicht so traurig sind in Wirklichkeit, glauben Sie mir — Sie, Sie selbst spiegeln sich in allen diesen Augen —" (Br. MTT, 404). Vielleicht nahm die Fürstin Rilkes Neigung, sich zu verstricken, zu ernst. Die Rolle des Verführers besaß einen geheimen Zauber für ihn, und die daraus erwachsenden Schwierigkeiten gehörten dazu. Dergleichen ist bereits in den Abschnitten des Worpsweder Tagebuchs, die sich mit Rilkes Beziehungen zu Paula Becker und Clara Westhoff befassen (Br. Frühzeit, passim), enthalten, und allenthalben in seinem Werk finden sich weitere Beweise. So sind gewisse Stellen in seinen Briefen an Mimi Romanelli, seine „amie vénitienne" aus den Jahren 1907—1912, recht aufschlußreich (Simenauer, 265 ff.) ! Einem jungen Mädchen, das im Sana175
torium von Valmont das Zimmer unter dem seinen bewohnte, sandte der kranke fünfzigjährige Dichter eine seltsame Osterbotschaft, in der er ihr bedeutete, daß die blühenden Apfelbäume nach der Dürre des Winters vielleicht Eva rehabilitieren würden, denn die Erde bringe in aller Unschuld immer wieder Äpfel hervor, wiewohl zumeist ohne Wissen der Schlange (Silvaire-Vigee, 208 f.). Die unverhüllten und zuweilen lasziven Allüren eines Don Juan zeigen sich auch in dem Briefwechsel in Gedichten mit Erika Mitterer, einer blutjungen Wienerin. Rilke war fast fünfzig Jahre alt, als er ihn aufnahm, und das letzte an sie gerichtete Gedicht entstand wenige Monate vor seinem Tode (Br. Mitterer, 56). Er sah sie nur ein einziges Mal, als sie ihn — anderthalb Jahre, nachdem sie ihm ihr erstes Gedicht zugeschickt hatte — in Muzot besuchte. Ebenso ist den Briefen, die Rilke an Natalie Clifford Barney, die rätselhafte Autorin der Lettres d'une Amazone, richtete, um mit Lou Albert-Lasard zu sprechen, ein „Ton respektvoller Eindringlichkeit" eigen (Albert-Lasard, 160). Im „Salon de 1'Amazone" der Miß Barney — „cet aimable danger d'une gräce parfaite" (Barney, 176) — trafen sich jahrelang die Berühmtheiten aus Paris und von überallher, Künstler, Dichter, Wissenschaftler und die haute volee der Gesellschaft, und auch Rilke wechselte während seines letzten Aufenthaltes in Paris zu Beginn des Jahres 1925 Briefe mit ihr und versuchte vergeblich, eine Begegnung herbeizuführen (Barney, 75—87). Zu Lou Albert-Lasard sagte Rilke „eines Tages ganz schüchtern, als ob er einen Makel bekenne: ,Ja, ich weiß, ich habe eine große Verführung'" (Albert-Lasard, 141). Offenbar vermochten nur wenige Frauen, die ein Gefühl für den Zauber des Wortes besaßen, Rilke zu widerstehen, wenn er seine Worte „über ihren Häupten . . . wie mit Wipfeln rauschen" ließ oder wenn er „den Betäubten" mit seinem „Schweigen in den Schlummer lauschen" wollte (FG, 3). Lou Albert-Lasard nannte ihn einen „Abenteurer der Seele", worauf er erwiderte: „ . . . Ach, du hast ja recht, tausendmal, unglücklicherweise, — aber — vielleicht — muß es so sein" (Albert-Lasard, 144). Und schrieb Rilke nicht in seiner RodinMonographie: „Und in allen Lastern, in allen Lüsten wider die Natur, in allen diesen verzweifelten und verlorenen Versuchen, dem Dasein einen unendlichen Sinn zu finden, ist etwas von jener Sehnsucht, die die großen Dichter macht" (Rodin, 38)? Es mag widersinnig scheinen, wollte man die Gestalt Christi in Verbindung mit der des Don Juan nennen. Doch liest man Gedichte wie Pietä (AW1,168) oder Der Auferstandene mit Aufmerksamkeit und zudem noch im Lichte des Sermons L'Amour de Madeleine, den Rilke bewunderte und im Jahre 1912 übersetzte, so wird man bemerken, daß Christus und Don Juan in der Vorstellung des Dichters zusammengehören wie Meister und Jünger. Maria Magdalena soll gleich den Frauen werden, die Don Juan „zugewiesen" wurden, gleich Merline in den Händen Rilkes, des „humble 176
travailleur d'amour", jene „courbe inspirée" erhalten, „qui à jamais t'a destinée aux usages divins —" (Rilke et Merline, 90). Gewiß bot Christus dem Haar und dem Salböl der Maria Magdalena nur sein Haupt und seine Füße dar, aber gerade dies beweist, wie meisterhaft er Liebe zu erregen verstand. Wie Rilke zudem in einem Brief vom 3. April 1912 äußert, entzog sich Christus nicht wie andere Liebhaber, um seinen Zauber an anderen Opfern zu erproben, sondern war selbst noch im Tode ein kostbarer Gegenstand des Verlangens und der Liebe (Br. 1907—14, 232); und dies beweist seine größere Meisterschaft, den Weg zu einer Seligkeit jenseits alles Begehrens zu weisen. Denn der Gott Rilkes, diese unaussprechliche, unbestimmte und dunkle Macht, auf die Christus das Verlangen Magdalenas richtete, als er sich ihr entzog, ist ein Gott, der die Liebe nicht erwidert, sondern allein darauf sieht, daß sie zu einer Leidenschaft ohne Ziel, zu einer schlichten und reinen Bewegung des Herzens wird (AW1,169) : „Er vermochte niemals bis zuletzt ihr zu weigern oder abzuneinen, daß sie ihrer Liebe sich berühme; Aber da sie dann, um ihn zu salben, an das Grab kam, Tränen im Gesicht, war er auferstanden ihrethalben, daß er seliger ihr sage: Nicht — um aus ihr die Liebende zu formen, die sich nicht mehr zum Geliebten neigt, weil sie, hingerissen von enormen Stürmen, seine Stimme übersteigt." Liest man nun gewisse Stellen der Briefe an Merline oder an Mimi Romanelli (Simenauer, 267 f.), so hat man das Gefühl, daß Rilke im Versteckspiel mit den Herzen der Frauen genauso gewandt war, wie er es Christus nachsagt. Rilkes Übersetzung der Predigt L'Amour de Madeleine, für deren Verfasser man Bonnet gehalten hat, war mehr als eine Stilübung; sie war ein Ausdruck gleichempfindender Zustimmung (Br. 1907—14,129). Obwohl das Bild, das der Verfasser von der Beziehung zwischen Christus und Magdalena entwarf, in Übereinstimmung mit den Inhalten der Bibel und des katholischen Glaubens blieb, enthielt es doch mancherlei Züge, die eine mehrdeutige Auslegung und Anverwandlung im Sinne Rilkes zuließen. Um zu verdeutlichen, warum sich unser Dichter gerade hiervon angesprochen fühlte und warum zugleich ein Bezug zu seinem Don Juan-Motiv entstehen konnte, genügt schon die Anführung weniger Stellen. „Wie denkst du dir 12 Graff, Rilke
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das eigentlich", so fragt der französische Prediger Jesus Christus, „daß du an den Herzen mit solcher Stärke ziehst und sie so fest an dich nimmst und dann fortgehst, wenn sie's gar nicht erwarten! Was bist du grausam! Was für ein befremdliches Spiel treibst du mit den Herzen, die dich lieben!" (Magdalena, 27). Die armen verlassenen Frauen beklagen sich, „aber Jesus lacht ihrer Klagen; er läßt es geschehen, daß sie sich erschöpfen und verzehren in unaussprechlicher Begehr. Er legt selbst Hand an, um sie zu entzünden, und sieht von weitem zu, und es rührt ihn nicht; er macht sich lustig sozusagen über ihre Entrüstung und Raserei. Auch Maria Magdalena hat er so behandelt. Zuerst ist ihm nichts zuviel. Sie verlangt nach seinen Füßen: er gibt sie; sie will sie küssen: er überläßt sie ihr; sie will ihm das Haupt ölen: er duldet es; die Pharisäer murren: er tritt für sie ein; Judas nimmt Ärgernis: er lobt sie" (Magdalena, 28—29). Doch „sowie er die Liebe genügend befestigt sieht, zieht er vorsichtig seine Hände zurück". Nicht allein, daß er nun nichts mehr gibt — „er nimmt nach und nach wieder fort, was er gegeben hat" (Magdalena, 29). Und als er aus dem Grabe aufersteht und ihr wiederum erscheint, sagt er ihr nur: „Rühre mich nicht an . . . " (Magdalena, 31). Merline las diese Stellen, ebenso wie das Lied Abelones und die Briefe Bettina Brentanos, zum ersten Mal im Herbst 1920, als Rilke ihr im Bewußtsein, daß die Bedeutung ihrem wachen Ahnungsvermögen nicht entgehen werde, Abschriften der Übersetzung des Sermons, der Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge und der Briefe der Bettina zugehen ließ. Die daraus folgende Erschütterung nötigte die leidenschaftlich liebende Frau, ihre Gefühle zu beschneiden und ihr Herz auf zukünftige Verzichte vorzubereiten (Rilke et Merline, 45 ff.). Und an derSdvwelle ihrer innigstenBeziehung vermochte sie in einer eigenartigen Mischung von Einsicht und liebender Blindheit auszurufen: „II est un Saint! II est un Saint!" (Rilke et Merline, 69). Im Hinblick auf Rilkes Bewunderung für Frauen wie Gaspara Stampa, Marianne Alcoforado, Maria Magdalena und andere berichtet Rudolf Kaßner, daß sein Freund stets eine besondere Vorliebe für die Frauen gezeigt habe, die man gemeinhin als alte Jungfern bezeichnet, und zwar nicht aus Mitleid, sondern weil Rilke die Frau von innen her erlebte. Kaßner erklärte ihm daraufhin einmal, daß er diese Vorstellung aus der Dichtung seines Freundes in der wirklichen Welt merkwürdig bestätigt gefunden habe. Denn es seien ihm im Leben so viele wundervolle alte Jungfern und so unglaublich viele törichte Mütter begegnet, daß es ihm fast scheinen wolle, als seien die klugen Jungfrauen des Evangeliums alle unvermählt geblieben und die törichten alle Mütter geworden (Das Inselschiff, 124). Audi Merline spürte mit ihrem bemerkenswerten Instinkt die Bedeutung dieses Gleichnisses, als sie sich einmal entschuldigend „une vierge folle" nannte (Rilke et Merline, 48). 178
T E I L VI
DICHTER UND
HEILIGER
Stimme im Dornbusch. Streife, wem sie gilt, die Schuhe ab und krümme sich und schlage den ganzen Mantel vors Gesicht und sage in seinen Mantel: Herr, ich bin gewillt. ( A W I , 370)
32. FURCHTBARE EINSAMKEIT Hast Du nodi nie bemerkt, wie verachtete, geringe sich erholen, wenn sie in die bereiten zärtlichen Hände Einsamen geraten?
Dinge eines
(Br. Frühzeit, 242)
Wenn Rilke unter dem Pseudonym des Mönches schrieb und seine Gedichte als Gebete bezeichnete, so müssen wir daraus auf ein Gefühl geistiger Verwandtschaft schließen. Das Mönchtum ist der Heiligkeit verwandt: ist der Mönch auch nicht heilig, so strebt er doch danach. Dies kann man zwar gewiß nicht von Rilke sagen. Seine Bewunderin und Freundin, die Fürstin Marie von T h u m und Taxis, hatte zweifellos recht, als sie im Januar 1913 schrieb: „Nein Dottor Serafico, Sie sind kein ,Heiliger' — und wenn Sie den ganzen Tag und die ganze Nacht auf Ihre Knie (auf Ihre geistigen Knie bien entendu) herum rutschen. Und es ist gut so. — Ein Heiliger hätte niemals die Elegien geschrieben —" (Br. M T T , 254). Und wir könnten hinzufügen: ein Mönch, und selbst ein russischer Mönch, hätte niemals das Stundenbuch verfassen können. Doch hatte die Fürstin ebenso recht, wenn sie ihren Dichter „Dottor Serafico" nannte, ein Beiname, der von altersher den Diszipel des Hl. Franz von Assisi, den Heiligen Bonaventura, zu schmücken pflegte. Nimmt man es nicht sonderlich genau, so ist es nicht schwierig, in den Umständen, die Rilkes Leben und Werk bestimmten, mancherlei zu finden, was den Eindruck erwecken könnte, er sei eine Art „moderner Heiliger" gewesen. Schon das Stundenbuch, das erfüllt ist von seinem Ringen um Gott, vom Geiste der Demut, der Bruderliebe und der Armut, vom Streben nach Verborgenheit und von der Loslösung von der Welt, vom Zorn über gottlose Städte und der Vertrautheit mit dem Tode, legt eine solche Vermutung nahe. Und sein Leben scheint sie auf mancherlei Weise zu bestätigen: sein wiederholtes Aufsuchen zurückgezogener Einsamkeit, seine Flucht vor menschlicher Verstrickung, seine Sehnsucht nach rückhaltloser Sammlung, seine offenkundige Gleichgültigkeit gegen jeglichen Besitz, seine Ablehnung aller künstlichen Reizmittel, sein unerfülltes Verlangen nach Liebe und häuslicher Geborgenheit und zu all diesem die erstaunliche Tatsache, daß er immer wieder wie durch Zauber mit dem Nötigen versehen und aus den kritischsten Lagen befreit wurde. Paul Valéry, der Rilke in Muzot besuchte, war von der erschreckenden Kargheit dieses alten Turmes tief betroffen: „Ich hielt ein so zurückgezogenes Leben kaum für möglich, ewige Winter lang in solch über181
schwenglicher Intimität mit der Stille . . . Lieber Rilke, Sie schienen mir eingeschlossen in die reine Zeit und idi fürchtete für Sie die Transparenz eines allzu gleichmäßigen Lebens, das durch die Reihe ewig gleicher Tage deutlich den Tod erschauen läßt" (Salis, 104). Als Rilke in Schloß Berg am Irchel lebte, sah er monatelang keinen Menschen außer seiner bescheidenen Haushälterin Leni und dem Pfarrer des nahen Flaach, der ihm zuweilen seine Milch und seine Post brachte. In schmerzlichem Rückblick auf die in Paris verlebten Vorkriegsjähre schrieb er 1921, daß er während seines langen Aufenthaltes in der französischen Hauptstadt vielleicht acht Menschen gesehen habe, womit er offenbar solche meinte, die näheren Zugang zu seinem Leben und Denken gefunden hatten (Br. II, 265). Kurz vor der Niederschrift der ersten beiden Elegien verbrachte er das Weihnachtsfest des Jahres 1911 in dem großen Schloß Duino in völliger, „unverdünnter" Einsamkeit: er wünschte sich so hohe Wände, „daß man von unten am Ende, wie aus dem Grunde eines Brunnens, auch bei Tage die Sterne sieht" (Br. 1907—14,164). Edmond Jaloux bemerkte, daß die Welt Prousts die unsere sei, während man in der Welt Rilkes vor allem den Dichtern und den Heiligen begegne (Salis, 218). R. von Salis, der junge, Rilke befreundete Schweizer, erblickte im Gesicht des Dichters die Züge eines Mönchs (Salis, 48). Romain Rolland sprach von ihm als „le jeune moine de la rue CampagnePremière", wo Rilke während seines Pariser Aufenthaltes vor dem Kriege wohnte (Rilke-Gide, 123), und Rilke selbst bezeichnete seine einsamen Behausungen zuweilen als Kloster oder Zelle (Br. 1914—21, 280). Nach seiner Rückkehr aus Viareggio, wo er das Buch von der Armut und vom Tode geschrieben hatte, äußerte er im August 1903 zu Lou Andreas-Salomé: „O, daß ich Werktage hätte, Lou, daß meine heimlichste Herzkammer eine Werkstatt wäre und Zelle und Zuflucht für mich; daß alles dieses Mönchische in mir klostergründend würde, um meiner Arbeit und Andacht willen" (Br. 1892—1904, 386). Er wußte wohl, daß Kunst und Leben nicht unversöhnlich sein sollten, und er wollte sie nicht auseinanderreißen, doch wenn er sich dem Leben hingab, so fühlte er sich stets wie ein Säumiger, der sich die kostbarsten Gelegenheiten entgleiten läßt, „etwa wie man manchmal im Traum mit dem Anziehen nicht fertig werden kann und über zwei eigensinnigen Schuhknöpfen Wichtiges versäumt, das nie wiederkommt" (Br. 1892—1904, 388). Darum suchte und liebte Rilke die völlige Einsamkeit, gewiß — doch nur, wenn er auf eine dichterische Inspiration rechnete oder wenn er sich mit Entschlossenheit unter Rodins „toujours travailler" stellte. Dann unterwarf er sich einer Art klösterlicher Regel, die er selbst gewählt und festgelegt hatte. Zu anderen Zeiten suchte er mit Vorbedacht in Geselligkeit und Reisen seine Zerstreuung. Hatte die Einsamkeit ihre Wirkung getan, sei es, daß sie ihm zu der ersehnten Dichtung verholfen oder daß sie ihm diese 182
hartnäckig verweigert hatte, so wurde sie zu einer furchtbaren Last, zu einer widernatürlichen Bürde. Als er sich im Februar 1926 im Sanatorium von Valmont aufhalten mußte, schreckte er vor der Rückkehr in den Turm von Muzot heftig zurück, denn er fürchtete, „den strengen Gesetzen der Einsamkeit nicht gewachsen zu sein. Mit diesem überlebensgroßen Engel kann man nur ringen, wenn man den Saft der Arbeit in den Adern hat, sonst wird seine Dämonie zur Überwältigung und zum fortwährend sidi fällenden Urteil" (Br. II, 511). Zweifellos wirkte die Krankheit bei diesem Empfinden mit, aber sie verursachte es nicht. Es zeigte sich auch in Briefen und Gedichten aus den Zeiten des Wohlbefindens. Im Sommer 1924 beklagte er sich bei seiner Frau, daß er zuweilen unter der Einsamkeit leide, die manchmal „wie ein zu lange aufliegendes, ziehendes Pflaster" wirke (Br. Muzot, 296). Das Folgende schrieb Rilke an Merline, als er sich im November 1920 in der Hoffnung, die ihm entglittenen Fäden seines Vorkriegsschaffens wieder aufzunehmen, in die Einsamkeit von Schloß Berg zurückgezogen hatte (Rilke et Merline, 92—93) : „Oh Chère, combien de fois dans ma vie — et jamais autant que maintenant — je me suis dit que l'Art, tel que je le conçois, est un mouvement contre nature. Dieu n'a jamais prévu sans doute, qu'aucun de nous ferait ce terrible retour sur lui-même, qui ne serait permis qu'au Saint parce qu'il prétend assiéger son Dieu en l'attaquant de ce côté imprévu et mal défendu. Mais nous autres, de qui est-ce que nous nous approchons en tournant le dos aux événements, à notre avenir même, pour nous jeter dans ce gouffre de notre être qui nous engloutirait, sans cette espèce de confiance que nous y apportons et qui semble plus forte que la gravitation de notre nature? Si c'est l'idée du sacrifice que le moment du plus grand danger coïncide avec celui où on est sauvé, il n'y a certainement rien qui ressemble plus au sacrifice que cette terrible volonté de l'Art. Qu'elle est tenace, qu'elle est insensée ! Tout ce que les autres oublient, pour se rendre la vie possible, nous allons toujours le découvrir et l'agrandir même, c'est nous les véritables réveilleurs de nos monstres, auxquels nous ne sommes pas assez opposés pour devenir leurs vainqueurs, car dans un certain sens nous nous trouvons d'accord avec eux; ce sont eux, ces monstres, qui retiennent ce surplus de force, indispensable à ceux qui se doivent surpasser. A moins qu'on ne donne à l'acte de la victoire un sens mystérieux et beaucoup plus profond, ce n'est pas à nous de nous croire les dompteurs de nos lions intérieurs. — Mais tout à coup nous nous sentons marcher à côté d'eux comme dans un triomphe, sans pouvoir nous rappeler de l'instant même où se faisait cette inconcevable réconciliation: (pont à peine courbé qui relie le terrible au tendre . . . ) . " 183
Ich habe dieses Bekenntnis in aller Ausführlichkeit zitiert, weil es uns mitten in jene Welt versetzt, die von dem schrecklichen Engel der Elegien beherrscht wird. Zudem wird auch hier Rilkes Neigung deutlich, mit der Versuchung und der Gefahr zu spielen. Er weigerte sich dagegen, die „Ungeheuer" seines Innern — sei es durch die Psychoanalyse oder auf andere Weise — zu verharmlosen, sondern er wollte sich ihnen stellen und sich zugunsten seiner Kunst sogar mit ihnen verbrüdern. Wiederum erinnert man sich hier des von Lou Andreas-Salome erwähnten „Masochismus" oder auch Nietzsches „amor fati". An die Fürstin Marie von Thum und Taxis schrieb Rilke im Jahre 1910, daß „die Kunst gegen die Natur geht, sie ist die leidenschaftlichste Inversion der Welt, der Rückweg aus dem Unendlichen, auf dem einem alle ehrlichen Dinge entgegenkommen" (Br.MTT,27). Im Buch der Bilder ruft er aus (BB, 1 3 7 - 1 3 8 ) : „Wie ist das klein, womit wir ringen, was mit uns ringt, wie ist das groß; Das ist der Engel, der den Ringern des Alten Testaments erschien; wenn seiner Widersacher Sehnen im Kampfe sich metallen dehnen,' fühlt er sie unter seinen Fingern wie Saiten tiefer Melodien. Wen dieser Engel überwand Die Siege laden ihn nicht ein. Sein Wachstum ist: Der Tief besiegte von immer Größerem zu sein." Und so kommt es, daß das Schöne nichts ist „als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen, / und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, / uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich" (I. El.). — „Und dennoch, weh mir / ansing ich euch, fast tödliche Vögel der Seele, /wissend um euch" (II. El.). Wie Rilke die Kunst verstand, sah er sich durch sie genötigt, sich von der Zeit abzuwenden und sich in furchtbarer Einsamkeit dem Abgrund seines Wesens hinzugeben. Die „Ungeheuer", von denen er spricht und die die Einsamkeit beschwor, wurden ihm von seinem Unterbewußtsein in den Weg geschleudert. Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge sind voll davon. Es waren die Geister der Fieberträume aus seiner Kindheit und Jugend, seiner qualvollen Leiden in St. Pölten, seines geschlechtlichen Zwiespalts, seiner Enttäuschungen in Liebe, Religion und Häuslichkeit, seiner 184
fruchtlosen Zerstreuungen und mancherlei ähnliche Phantome, die erkannt und beherbergt sein wollten. Von der Kunst sagte er: „Ce revirement de toutes les forces, ce changement de direction de l'âme ne se fait jamais sans mainte crise" (Rilke et Merline, 92). Sie war das Ergebnis „von jenen gewaltigen Spannungen des inneren Erlebens, über die niemand Macht hat", und doch kann sie „so unbeschreiblich Reales im Geistigen durchsetzen" (Br. 1907—14,175—176). Zuweilen fragte er sich, wie sein Herz derart weitgespannte Extreme zu ertragen vermochte. So entschloß er sich mit der Zeit, jene Zurückhaltung zu üben, wie sie den Alten und den Troubadours eigen war, welche genau wußten, wie weit sie gehen durften. In Neapel gewahrte er beim Anblick einiger antiker Grabsteine plötzlich, daß er „Menschen nie mit stärkeren Gebärden berühren sollte", als diese steinernen Männer und Frauen es taten (Br. 1907—14,170 ; 188) — eine Einsicht, die sich in verschiedenen Gedichten und in der Zweiten Elegie wiederfindet ( A W I , 374; 249 ff.). Darum kehrt bei Rilke der Gedanke immer wieder, daß die wahre Liebe sich über alle Bindungen hinwegsetze: „. . . il (l'amour) m'a tout donné seulement là où il savait rester dans ses ailes sans même mettre le pied sur mon coeur!" (Rilke et Merline, 213). Der wahre Liebhaber sollte dem Beispiel Gottes folgen: „Dieser erlauchte Geliebte hat die vorsichtige Weisheit, . . . die edle List gebraucht, sich nie zu zeigen." Daher ist die Liebe nichts als härteste Arbeit. „Vielleicht", so fährt er fort, ist dies „die Ursache, warum Menschen, die sich lieb haben, voneinander gehen" (Br. 1907—14, 84) — eine gelungene Rationalisierung des Scheiterns seiner Ehe. Rudolf Kaßner erzählt eine hübsche Geschichte, die beweist, daß Rilke schon in der Kindheit gefühlsmäßig die Eindrücke auswählte, die seinem künstlerischen Geist zusagten. Kaßner hörte sie von Rilke selbst, den er als den unvergleichlichsten Erzähler bezeichnete (Kaßner, Erinnerung, 298 f.) : „Es war da in Prag ein älterer Onkel, ein Junggeselle. Dieser hatte eine einzige Leidenschaft, einen Tick der Seele: Vögel. Ein ganzes Zimmer war voll davon. An einem bestimmten Tage der Woche durfte der kleine Rilke den Onkel besuchen. Zu Mittag. Zusammen mit einer Cousine. Der Onkel kam aus dem Vogelzimmer, das ans Speisezimmer grenzte, Federn staken ihm im Haar, im Bart, der Anzug war damit bedeckt. Niemand durfte das Vogelzimmer betreten. Wenn der Onkel während des Essens aufstand, um den Vögeln einen kleinen Geflügelknochen oder ein Stück einer Frucht zu bringen, erscholl durch die geöffnete Tür das Singen, Rufen und Schreien von vielen, vielen Vögeln. Doch mit einem Tage war das alles zu Ende. Keine Käfige mehr, kein Singen und Kreischen, keine Federn mehr im Bart und Haar des Onkels. Statt der Vögel eine rothaarige, sommersprossige, sehr bunt gekleidete Person mit lauter Stimme. All die vielen Vögel, die niemand je zu Gesicht bekommen, hatten sich in diese Frau verwandelt, die dann auch meinen Onkel nicht mehr verließ und schließlich begrub . . . " 185
Im Gegensatz zu manchem anderen Künstler vermochte Rilke sich nicht in die Kunst und das Alltagsleben zu teilen. „Andere künstlerisch arbeitende Menschen", so schreibt er, „haben (so scheint es wenigstens) eine Menge Vorräte für den nahen und nächsten Verkehr, ja, weit entfernt, daß dieser an ihnen zehre, vermehren sie mittels seiner sogar den Besitzstand und die innere Spannung, die dann auf der anderen Seite ihrer künstlerischen Leistung zugute kommen. Bei mir ist das nie so gewesen" (Br. Muzot, 59). Als besonderes Beispiel nennt er Stéphane Mallarmé, „der sublimste, der ,dichteste' Dichter unserer Zeit", der aber sein tägliches Leben als Sprachlehrer zubrachte (Br. Muzot, 144). Zudem war Rilke überempfindlich gegen die beeinträchtigende Wirkung der Reflektion und des bewußten Planens. Nicht nur, daß er sich gelähmt fühlte, wenn andere ihn beobachteten, seine eigene Bewußtheit und das wissentliche Anteilnehmen an dem, was vorging, hatte die gleiche zerstörende Wirkung: „ . . . ich bin so übertrieben empfindsam, und wenn ein Auge auf mir ruht, so lähmts mich schon an einer Stelle" (Br. 1907—14, 47). Und der russische Mönch betet: „Alle, welche dich suchen, versuchen dich" (AW I, 67). Beten bedeutet für ihn: „ . . . jedes Hinknien und Vertrauen (daß es die anderen nicht beschauen.) mit vielen goldenen und blauen und bunten Kuppeln überhöhn"
(AW I, 41).
„Nur in denen, die sie nicht überwachen, darf sich die Natur alle Spiele ihrer Grenzenlosigkeit gestatten" (Br. Muzot, 42). Rilke erinnerte sich, „als junger Mensch die erstaunteste Verlegenheit durchgemacht zu haben, wenn ich mir eine Stunde Einsamkeit in meinem Zimmer dadurch gesichert hatte, daß ich, vor der Neugierde, wie sie ja in Familien üblich ist, erklärte, wozu ich diese Stunde brauche, was ich vorhätte in ihr: das allein genügte, um das errungene begrenzte Alleinsein im vornhinein wertlos zu machen, es gleichsam vorweg zu verkaufen. Der Ton, der auf diese Stunde gefallen war, vereitelte ihre Unschuld, beschlagnahmte sie, machte sie unfruchtbar, leer, und ehe ich noch mein Zimmer betrat, war mir mein Verrat dort zuvorgekommen und erfüllte es bis in alle Ecken mit Ausgegebenheit, Geheimnislosigkeit und Öde" (Br. Muzot, 60—61). Aus ebendiesem Grunde widerstrebte es Rilke auch, Lob oder Kritik an seiner Dichtung zu lesen, denn beides hätte ihm den naiven Zugang verstellt. Als Merline ihn nach den unvollendeten Elegien fragte, beschwor er sie, dies niemals wieder zu tun. „Je ne peux employer aucune ruse, ni même aucun effort direct" (Rilke et Merline, 207). In seinem Worpsweder Tagebuch ermahnt er sich selbst, vor dem Beten auszuschauen, ob nicht ein Nachbar lauscht (Br. Frühzeit, 234). An anderer Stelle schreibt er: „Ich möchte immer wieder nur die Gestirne 186
auf mir verweilen wissen, die aus ihrer Weite alles auf einmal sehen, im ganzen, und so keines binden, vielmehr alles freilassen in allem . . . " (Br. 1 9 0 7 - 1 4 , 47). Ebenso vermied Rilke es nach Möglichkeit, sich zu den Dichtungen anderer zu äußern — einerseits, weil er Auseinandersetzungen dieser Art nicht liebte, andrerseits aber auch, weil ihm dadurch die eigene Schaffensweise zu bewußt zu werden drohte. Doch lobte er das Lobenswerte gern. Zwar wirkte er, besonders während des Krieges, als Dr. Kippenberg an der Front war, als literarischer Ratgeber des Insel-Verlages, doch wußte er, daß seine Arbeit als Lektor und Kritiker nicht auf sein eigenes schöpferisches Bewußtsein zurückwirken würde, dessen zartes Getriebe von seinem Verleger wie von Katharina Kippenberg wohl erkannt und ängstlich gehütet wurde. Zudem gab sein Verleger diese halbberufliche Tätigkeit in einem Gesuch an das Kriegsministerium als Grund für Rilkes Befreiung vom Wehrdienst und später wiederum für die Erneuerung dieser Genehmigung an. Eben deshalb fühlte er sich auch „verpflichtet, nach Manuskripten zu fragen" (Br. Kippenberg, 156; 216; 226). Rilkes Empfindlichkeit in dieser Hinsicht war um so widerspruchsvoller, als er andrerseits zu unablässiger, grübelnder Selbstbespiegelung neigte. Sie wurde durch seine lebendige, eine gleichsam objektive Gegenwart beschwörende Phantasie noch gesteigert, so daß das widergespiegelte Ich oft das selbständige Leben eines geisterhaften Doppelgängers annahm. Diese erschreckende Vielschichtigkeit vermochte er nur durch sein dichterisches Schaffen zu entmächtigen: seine Kunst mußte ihm bei der Auflösung seiner existentiellen Widersprüche helfen. So berichtet Malte von einem grausigen Erlebnis seiner Kindheit (AW II, 91—96). Eines Tages durchstöberte er in seinem Vaterhaus ein paar Schränke und fand dort allerlei Masken und Kostüme. Voller Abenteuerlust hüllte er sich in diese Stoffe ein und band sich eine Maske vors Gesicht, neugierig, wie dies wohl aussehen werde. Der erste Blick in den Spiegel erheiterte ihn, doch als ihm ein kleines Mißgeschick zustieß, wurde er plötzlich von der Seltsamkeit des Spiegelbildes überwältigt. In seine Experimente versunken, hatte er einen kleinen Tisch mit allerlei Nippsachen übersehen und umgestürzt. Das Geklirr, die verstreuten Glasscherben und eine sich zu einem widerwärtigen Fleck ausdehnende Flüssigkeit ließen ihn seine Verkleidung für einen Augenblick vergessen. Er bemühte sich verzweifelt, den trüben Fleck vom Boden fortzuwischen, doch dabei verstrickte er sich immer mehr in seine Gewänder. Ein erneuter Blick in den Spiegel zeigte ihm sein anderes Ich mit erschreckender Lebendigkeit und versetzte ihn in einen Zustand tobsüchtiger Verwirrung. Er schrie um Hilfe, stürzte zur Tür, versuchte sich die Kleider vom Leibe zu reißen, bis er schließlich besinnungslos zu Boden fiel. Ein weiteres Beispiel einer solchen Sinnestäuschung findet sich an anderer Stelle. Als 187
Kind kniete Malte einmal vor dem Tisch auf einem Stuhle und zeichnete allerlei, als ihm in einem ungeschickten Augenblick ein Stift herunterfiel. Er kroch unter den Tisch, um den verlorenen Gegenstand zu suchen. Es dauerte gar nicht lange, da erschien ihm seine Hand, die da im Halbdunkel umhertastete, wie etwas Selbständiges, nicht zu ihm Gehöriges, das fortwährend vorwärts und rückwärts kroch gleich einer drohenden Kralle ( A W II, 83). Das Erlebnis, das Rilke in dem einsamen Schloß Berg am Irchel hatte, erwähnten wir schon. Zweimal sah er des Abends im Stuhle gegenüber einen Mann sitzen, der einer der verstorbenen Besitzer des Schlosses, der Graf C. W., zu sein behauptete. Und dieser Mann diktierte Rilke angeblich einige eigenartige Gedichte, die er später unter dem Titel Aus dem Nachlaß des Grafen C.VJ. veröffentlichte (C.W., 3 7 - 4 0 ) . Aus dieser Fähigkeit der Personifizierung erwächst auch Rilkes Neigung zur Hingebung und Selbstaufgabe. Alle Dinge um ihn her regten diesen Hang zur Selbstverdoppelung an. Sie verlockten ihn, nicht allein mit eigenen Augen auf sie zu schauen, sondern auch mit ihren Augen auf sich zu blicken. Das subjektiv-objektive Wesen seiner Briefe wie seiner Dichtung, vor allem seiner Neuen Gedichte, entspringt diesem paradoxen Zustand. Von diesem Gesichtspunkt aus ist es leicht verständlich, warum sich Rilke mit so großer Hingabe und Liebe mehr noch den Dingen als den Menschen zuwandte. Die unbelebten Dinge und diejenigen unter den lebenden Wesen, welche in gewissem Maße deren arglose Einfalt teilten, vermochten ihm gerade die Wesenszüge widerzuspiegeln, deren er für seine Arbeit bedurfte. Sie zeigten ihm, was das „Offene" oder, wie er es oftmals nannte, das „reine Sein" bedeutete — daß es nämlich Freiheit und die Möglichkeit „jungfräulichen Schaffens" in sich beschloß. Der vernünftige, kritische, eigenwillige und bewußte Mensch hielt ihm dagegen das Bild seiner eigenen Ambiguosität, seiner Zwiespältigkeit entgegen. Sich an die Dinge zu verlieren hatte zweifellos seine Gefahren, aber die Dinge waren geduldig, gehorsam und demütig, sie ließen sich assimilieren und konnten nach Belieben aufgegeben werden. Sich hingegen an einen Menschen oder auch nur an einen Hund zu verlieren zerriß ihn und machte ihn zur Karikatur — und zudem ließ sich über einen Menschen oder einen Hund nicht so leicht verfügen. Als man ihm als Gefährten in dem einsamen Turm von Muzot einen Hund anbot, lehnte er dies ab, weil „auch dies schon viel zu viel Beziehung ergäbe, bei meinem Eingehen auf einen solchen Hausgenossen; alles Lebendige, das Anspruch macht, stößt in mir auf ein unendliches Ihm-recht-geben, aus dessen Konsequenzen ich mich dann schmerzlich wieder zurückziehen muß, wenn ich gewahre, daß sie mich völlig aufbrauchen" (Br. Muzot, 82—83). Und an anderer Stelle schreibt er: „Ich habe kein Fenster auf die Menschen, endgültigerweise. Sie geben sich mir nur so weit, als sie in mir selbst zu Worte kommen" (Br. I, 345). Er gibt zu, daß ihm seine zahlreichen Freunde 188
für seine beständige Selbstverschwendung nichts wiedergeben konnten, „weil idi rücksichtslos und brutal, ohne Bezug auf den andern, gebe, ablade —" (Lou, Rilke, 63). Wenn Rilke seine Zustimmung und sein Lob Menschen wie dem Hirten, dem Kind, dem russischen Bauern, dem Mädchen, dem Armen oder dem Blinden zuteil werden läßt, so sind damit nicht wirkliche Personen gemeint, wie man ihnen im Leben begegnet. Vielmehr verkörpern sie als Symbole gewisse Funktionen der Unschuld und Jungfräulichkeit, die im Bereich des Geistes und der Seele dem „Stand der Gnade" entsprechen, nach dem er verlangte und dessen er bedurfte.
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33. ÜBERWINDUNG DURCH DIE KUNST Audi die Kunst ist nur eine Art zu leben ... (Br. Dichter)
Rilke verwendet das Wort „Gnade" nur ab und an, doch der Zustand, der damit gemeint ist, durchzieht sein ganzes Werk in einer Vielfalt von Symbolen. Zweifellos hatte er dessen Schönheit in seiner katholischen Kindheit wohl zu würdigen gelernt, doch gleich allen religiösen Kategorien wurde auch diese in eine Funktion der Kunst umgedeutet. Ebenso wie der Christ ohne die Gnade Gottes unfähig ist, etwas Gutes zu tun, ist die Gnade auch in der Kunst entscheidend. Für Rilke bedeutete „Gnade" schließlich einen ursprünglichen, die breiteste Basis der Bewußtseinspyramide bestimmenden Zustand, in dem Bezeichnungen und Namen noch nichts als reine, weite Möglichkeiten sind, über die der Künstler frei und schöpferisch verfügen konnte. Seine kennzeichnende Strukturformel läßt sich etwa so ausdrücken: noch nicht — doch gewiß eines Tages, wenn die Zeit reif ist. Weit davon entfernt, je verloren oder nur durch Vermittlung wiederherstellbar zu sein, war der Stand der Gnade vielmehr der geheime und unveräußerliche Besitz des Menschen. Doch vergifteten Christentum und Gesellschaft zu unserem Unglück die Reinheit dieser Lebenswirklichkeit, indem sie die Vorstellung von der Sünde und die Tyrannei von Tradition und Konvention mit sich brachten. So zwangen sie den Menschen, seine Schritte zurück zu tun, um sich wiederzufinden. In Wirklichkeit war die Welt nicht sündig, sondern heilig: Gott und Mensch waren aus dem gleichen Stoff gemacht (Sievers, 43—44). Unschuld, jungfräuliche Einfalt stellten für ihn einen Zustand dar, der nicht durch eine voraufgehende Überwindung des Widerstreits zwischen Gut und Böse, durch Entsagung oder Auferstehung zurückgewonnen werden mußte, sondern der in einer Schicht des Bewußtseins stets allen zugänglich war, die den Mut hatten, in ihre eigene Tiefe hinabzutauchen (Br. Muzot, 140—144). Er fand sich in der Kindheit eines jeden, da Gut und Böse noch nicht einmal als Erinnerung vorhanden waren; er fand sich in der Sehnsucht jedes einzelnen, die sich nicht auf eine utopische Zukunft richtete, wie im Falle der Romantiker, sondern die sich nach innen gleichsam dem ersten Schöpfungstage zuwendet. Allenthalben konnte man ihn finden: in den schlichten Gebärden der Natur, in Dingen und Pflanzen, in Kindern, Mädchen, beim einfachen Volk und in den Toten. Es ist auffallend, wie beharrlich Rilke die vielfältigen Verstrickungen dieser Welt, ja jegliche ihm 190
fremde Wirklichkeit umgeht. Die Welt, die er wahrzunehmen suchte, lag in ihm selbst, wo alles — Leben und Tod, Zerstreuung und Sammlung, Teil und Ganzheit, Versuchung und Unschuld — gleichermaßen beheimatet, gleichermaßen verfügbar und bestimmbar war. Rilke beklagte mit wachsender Sorge, daß der Mensch sich allem, was geheimnisvoll, schwer faßbar, unerklärlich und deshalb gefährlich war, nicht stellen wollte und es deshalb in eine eigene, fremdartige und im Grunde feindliche Welt verwiesen hatte. So war er mit Gott, mit dem Tod und mit der Geschlechtlichkeit verfahren. Er hatte gehofft, ihnen auf diese Weise besser gewachsen zu sein, wenn auch nicht in offener Auseinandersetzung mit ihnen, so doch indem er sie verflachte oder lächerlich machte, ihnen mit Verachtung oder Zynismus begegnete. Nach Rilkes Ansicht betrog sich der Mensch damit nur selbst: Gott, Tod und Geschlecht waren im Leben eines jeden einzelnen tief verwurzelt und reiften, wenn auch unerkannt, immer weiter. „Gott ist das älteste Kunstwerk", schrieb er im Florenzer Tagebuch. „Er ist sehr schlecht erhalten, und viele Teile sind später ungefähr ergänzt. Aber es gehört natürlich zur Bildung, über ihn reden zu können und die Reste gesehen zu haben" (FT, 53). In Dingen des Geschlechtlichen verwarf Rilke jeglichen Puritanismus, jegliches Reuegefühl als falsch und unwürdig. Das Geile wie das Frivole kamen einer Entweihung gleich, für die Religion und Gesellschaft verantwortlich waren. So wie das künstlerische Schaffen ausschließlich eine Sache des einzelnen war, waren es auch Gott, Tod und Geschlecht. Sobald sich Gesellschaft oder erstarrte Religiosität einmischten, wurde ihr Sinn entstellt. Selbst der Unterschied der Geschlechter und die daraus entspringende Illusion einer Vereinigung in der Liebe waren für Rilke belanglos, nur zu leicht mißverständlich und für den Zustand der Unschuld zerstörend. Die Ehe war eine Konvention, aber das war schließlich auch die außereheliche Liebe wie jede einzelne ihrer Gesten, selbst die Trennung. Nur der einzelne in seiner ungebrochenen Einsamkeit konnte unkonventionell sein (Br. Dichter, 31—34; 37—39). Es läßt sich nicht leugnen, daß in all dem eine tiefere Wahrheit liegt. Jegliche Gemeinschaft, und bestünde sie auch nur aus zwei Menschen, vermag ohne Konventionen nicht auszukommen. Jede öffentlich vollzogene Handlung des einzelnen wird zum Gegenstand verschiedenartiger Deutung, sie wird zum Gespräch und ist damit Zuordnungen und Verzerrungen unterworfen. So stellt sie für jeden einzelnen eine Versuchung dar, sich dem Urteil der Umwelt anzupassen und sich vor sich selbst zu verstellen. Doch wäre es falsch, wollte man hieraus schließen, Rilke hätte jemals dem Anarchismus das Wort geredet. Ihm schwebte eine Ordnung vor — wie trügerisch dies auch immer sein mochte —, in der jeder über die vollkommenste Freiheit des anderen wachte und in der dem Künstler eine entscheidende Verantwortung zufiel. 191
In diesem Zusammenhang stellt er in den Briefen an einen jungen Dichter einige erstaunliche Betrachtungen an. „Lieben ist zunächst nichts, was aufgehen, hingeben und sich mit einem Zweiten vereinen heißt . . . es ist ein erhabener Anlaß für den Einzelnen, zu reifen, in sich etwas zu werden, Welt zu werden, Welt zu werden für sich um eines anderen willen" (Br. Dichter, 37—38). „Und vielleicht sind die Geschlechter verwandter, als man meint, und die große Erneuerung der Welt wird vielleicht darin bestehen, daß Mann und Mädchen sich, befreit von allen Irrgefühlen und Unlüsten, nicht als Gegensätze suchen werden, sondern als Geschwister und Nachbarn und sich zusammentun werden als Menschen, um einfach, ernst und geduldig das schwere Geschlecht, das ihnen auferlegt ist, gemeinsam zu tragen" (Br. Dichter, 2 6 ; 41). Rilke schrieb dies etwa zwei bis zweieinhalb Jahre nach seiner Heirat, und er hat dabei weder etwas wie „freie Liebe" noch das androgyne Ideal der Romantiker oder die „Emanzipation des Fleisches" des Jungen Deutschland im Sinn. Was schließlich hinter diesen eigenartigen Äußerungen lag, war nicht mehr und nicht weniger als die Sorge des Künstlers um eine reine Empfänglichkeit, um die ungeschmälerte Schönheit des neuen Anfangs, um den strahlenden und schöpferischen Zustand der Gnade auf dem Grunde phallischer Unschuld. Auf diesem Hintergrund kann das häufig wiederkehrende Motiv der „Versuchung" in der wahren Perspektive verstanden werden. Der Mönch des Stundenbuches bekennt, daß er sich immer wieder in seltsamen Abwegen verloren und sich aus „allen Stücken seiner Schande" wieder aufgebaut habe ( A W I , 57). In dem Gedicht Die Versuchung, das durch ein Bild von Cezanne angeregt wurde, peinigt eine Schar hetzender und kläffender Dämonen Leib und Seele des Heiligen mit gierigen Umarmungen, bis der Engel sie alle in sein Inneres zurücktreibt. Denn es geht nicht an, sie auszutreiben, wie Christus es mit den Teufeln getan hatte. Sie müssen im Innern bleiben, damit der Heilige aus dem schwelenden Fieber den noch ungeklärten Gott gewinnen kann (NG, 148—149). Wie gut stimmt diese Deutung zu Rilkes Auffassung künstlerischer Erfahrung, in der die Versuchungen allen diesen inneren „Ungeheuern" und den langen Zeiten der Zerstreutheit entsprechen. Sie waren nur Täler, die mit den Höhen wechselten und zusammen die Landschaft in ihrer Ganzheit ausmachten. Tatsächlich können die Gipfel ohne die Täler nicht bestehen. Rodin pflegte zu sagen, daß die Luft um die Kathedralen durch deren Größe und Reinheit beunruhigt und gequält scheine, so daß stets ein böser, durchdringender Wind um ihre Pfeiler wehe (Br. 1902—06, 275). Und wie Rilke es in seinem französischen Gedicht Vergers ausspricht, muß der Papst den Teufel schon durch das Gesetz des Gegensatzes anziehen (GFS, 20). Auch in Rilke wirkte, wiewohl umgekehrt, dies gleiche Gesetz des Gegensatzes: es war der „Orkan" der Elegien, der — noch Unendliches offen lassend — schließlich die 192
formvollendeten Sonette hervorrief — „O hoher Baum im Ohr" (Son. 1,1). Verworfen werden nur jene, deren Leben keine Gipfel aufweist, und die, welche gleich Christus in dem Gedicht der Ölbaum-Garten in Augenblicken der Niedergedrücktheit verzweifeln (AW1,167—168). Doch die Heiligen wie die Künstler vermögen Gott aus Verfall und Verwesung zu gewinnen, wie es sich ähnlich auch in Baudelaires Gedicht Une Charogne ausspricht, in dem der Himmel auf das gewaltige Skelett eines Aases herabsieht, das mit gespreizten, emporgestreckten Beinen offen und entfaltet wie eine Blume daliegt. Alles dies war in Rilkes Kunstauffassung einbegriffen, nach der es die entscheidende Aufgabe der Kunst war, sich mit der gesamten Wirklichkeit des Lebens, einschließlich seiner Ungeheuer und Schrecknisse, auseinanderzusetzen. Rilkes Interesse an diesem Gedicht Baudelaires ist redit aufschlußreich. In einem der berühmten Briefe über Cézanne, die er an seine Frau richtete, äußerte er die Ansicht, daß „ohne dieses Gedicht die ganze Entwicklung zum sachlichen Sagen, die wir jetzt in Cézanne zu erkennen glauben, nicht hätte anheben können; erst mußte es da sein in seiner Unerbittlichkeit. Erst mußte das künstlerische Anschauen sich so weit überwunden haben, auch im Schrecklichen und scheinbar nur Widerwärtigen das Seiende zu sehen . . . " Eine Auswahl, „ein einziges Ablehnen irgendwann" von Seiten des Künstlers „drängt ihn aus dem Zustand der Gnade, macht ihn ganz und gar sündig" (Br. I, 207). Gleich Saint-Julien-l'Hospitalier in Flauberts Legende muß auch der Künstler bereit sein, sich zu dem Aussätzigen zu legen und mit ihm die Wärme des Leibes und des Herzens zu teilen. Es berührte Rilke tief, daß Cézanne dieses Gedicht Baudelaires auswendig wußte und noch in seinen letzten Jahren Wort für Wort herzusagen pflegte. Die Heiligkeit beginnt, wenn man eine derartige „Selbstüberwindung" erreicht. Jene aber, die gleich Malte dorthin nicht gelangen konnten, werden im Himmel wohl „die Jungfrau Maria zu sehen bekommen, einzelne Heilige und kleine Propheten, den König Saul und Charles le Téméraire — : aber von Hokusai und Lionardo, von Li-Tai-Pe und Villon, von Verhaeren, Rodin, Cézanne, — und gar vom lieben Gott wird man ihm auch dort nur erzählen können" (Br. I, 208). Man sieht leicht, daß die „Selbstüberwindung", die Rilke hier im Sinne hat, nicht mehr und nicht weniger ist als die des Künstlers in seiner „künstlerischen Vision". Nichts weist darauf hin, daß der Künstler wie Saint-Julien-l'Hospitalier aus christlicher Liebe handeln sollte. Dieser Aspekt der Heiligkeit wird gänzlich übergangen (s. o. S. 62 f.). Was Rilke so sehr an Cézanne bewunderte, war seine „alle Einmischung in eine fremde Einheit ablehnende Sachlichkeit". Keine Spur davon, daß der Künstler auch nur etwas von sich an einen anderen weggeben sollte. Cézannes Hände waren gleich denen Verlaines für andere leer, weil sie so voll von Arbeit waren. 13 Graft, Rilke
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„Je ne donne rien aux pauvres", sagt Verlaine in Mon Testament, „parce que je suis un pauvre moi-même" (Br. 1,206). Die Hierarchie der Heiligen in Rilkes Himmel sagt genug. Zudem empfand Rilke mit Malte die gleiche Abneigung gegen die letzten Zeilen dieses sonst so bewunderten Gedichtes von Baudelaire. In ihnen wird das „memento mori" zu deutlich ausgesprochen, und die aristotelische Unterscheidung zwischen Form und Materie, zwischen Geist und Leib erinnert zu sehr an den christlichen Dualismus. Hier, so schien es Rilke, hatte Baudelaire den Bereich der Kunst verlassen, wo eine solche Teilung nicht geduldet werden konnte (AW 11,66). Es will mir scheinen, als liege allen diesen Auseinandersetzungen Rilkes der lebhafte Wunsch zugrunde, mit den widerstreitenden Elementen der äußeren Wirklichkeit in Einklang zu kommen. So sah er sich auf seine — des Dichters — Art dem alten Problem gegenüber, wie man die Kluft zwischen Subjekt und Objekt überbrücken könne. Dabei beschäftigte ihn die philosophische Seite dieser Frage keineswegs. Philosophie als eine strenge Schule des Denkens lag ihm nicht, und er wußte dies auch (Br. Muzot, 322). Er bedurfte zur Oberbrückung dieser Kluft eines Bildes oder Symbols, das nicht nur von der Vernunft als annehmbar, sondern auch von seinem dichterischen und existentiellen Bewußtsein als befriedigend empfunden werden konnte. Denn wenn etwas für Rilke bezeichnend ist, so ist es wohl dies: Leib und Seele wollten in gleicher Weise an seiner schöpferischen Arbeit in harmonischer Einheit teilhaben. Krankheit des Leibes blieb ihm immer etwas Verwirrendes und gänzlich Unbegreifliches. Er war sich stets bewußt, daß in seinem Falle „eine alte Feindschaft zwischen dem Leben und der großen Arbeit" bestand (AW 1,219), doch das war seine Art, den Gegensatz zwischen Subjekt und Objekt zu erleben, den er zu überwinden suchte. Um dies zu erreichen, mußten sich die ihn umgebende Wirklichkeit wie auch die Funktionen seines Körpers auf irgendeine Weise der verklärenden Katalyse durch die Kunst anheimgeben. Rilkes poetische Motive und Symbole sollten sich existentiell bestätigt finden. Wäre es anders, so könnte man viele seiner Briefe kaum würdigen, denn die Belehrung und Anregung, die er zu geben hatte, war zutiefst von seiner Erfahrung von Wesen und Aufgabe der Kunst bestimmt. Zwischen seinen Briefen und seiner Dichtung besteht nach Gehalt und Bedeutung kein Unterschied, sie unterscheiden sich allein durch Form und Symbolisierung. Rudolf Kaßner sieht zwischen der Dichtung und den Briefen Rilkes die gleiche Beziehung wie zwischen Rock und Futter (Kaßner, Erinnerung, 305). Kaßner geht sogar so weit, zu behaupten, daß Rilke nicht nur das Leben, sondern die Kunst selbst durch die Kunst zu überwinden suchte (Das Inselschiff, 125). Wenn die Widersprüche von Leben und Kunst durch den Zauber des Schöpferischen versöhnt werden konnten, so mochte es auch möglich 194
sein, wieder einfach, in schlichter Unterwerfung unter die kosmischen Gesetze zu leben und zu sterben wie Tier und Pflanze. Schon 1899 veröffentlichte Rilke in der Zeitschrift Ver Sacrum einen Aufsatz Über Kunst, in dem er die Kunst als eine „Art zu sein" bezeichnete. Damit meinte er nicht ein vorsichtiges „Sich-Beherrschen und -Beschränken um bestimmter Zwecke willen", sondern eher „eine weise Blindheit". Offenbar ist dieser Art zu sein „etwas Naives und Unwillkürliches" eigen, das sie jener Zeit des Unbewußten, der Kindheit, ähnlich macht. „Die Kindheit ist das Reich der großen Gerechtigkeit und der tiefen Liebe. Kein Ding ist wichtiger als ein anderes in den Händen des Kindes. Es spielt mit einer goldenen Brosche oder mit einer weißen Wiesenblume. Es wird in der Ermüdung beide gleich achtlos fallen lassen und vergessen, wie beide ihm gleich glänzend erschienen, in dem Lichte seiner Freude" (VPN, 47). In diesem Zustand, der ein schöpferischer Zustand ist, und, wie Rilke meint, auf das Leben übertragen werden sollte, werden alle Zwiespältigkeiten aufgehoben — Subjekt und Objekt sind eins. Ähnliche Anschauungen äußerte er mehr als zwei Jahrzehnte später in den Briefen an einen jungen Dichter, und im Jahre 1922 rät er einem jungen Mann, der sich ihm anvertraut hatte: „Kämpfen Sie arglos" (Br. II, 349). Einem Blinden, der ihm Manuskripte zugeschickt und sich in der Annahme, ihn geneigt zu stimmen, besonders auf seine Blindheit berufen hatte, erklärte Rilke: „Sie konnten nicht anders, als eben dieses vollkommene Leid . . . in die Mitte Ihres umgeräumten Bewußtseins stellen; es bleibt, mit Recht, die unverschiebbare Stelle, von der aus alle Abstände und Bewegungen Ihrer Erfahrung und Ihres Gemütes zu messen sind. Aber nun müßte, da diese Einrichtung einmal getroffen ist, Ihre stille Übung dahin gehen, dieses zentrale Leid mehr und mehr ohne jeden besonderen Namen zu ertragen, was sich in Ihren künstlerischen Bestrebungen etwa so offenbaren würde, daß dort nirgends mehr zu erkennen wäre, welche unendliche Einschränkung die Veranlassung ist, daß Sie in beschwörender Leistung Anspruch erheben auf einen unendlichen Ausgleich. Kunst kann nur aus rein anonymer Mitte hervorgehen. Aber auch für Ihr Leben (was es sonst auch hervorzubringen bestimmt sei) scheint mir diese Leistung die entscheidende; sie erst wäre der Kern Ihres Verzichts" (Br. II, 189). Man bedarf wohl kaum eines klareren Beispiels, um zu erkennen, wie sehr Rilke danach strebte, die Rätsel des Lebens durch die Kunst zu lösen, und wie sehr es ihn darüber hinaus verlangte, auf der jenseitigen Seite der Kunst in ein verwandeltes Leben aufzutauchen. Noch bemerkenswerter ist Rilkes wachsende Überzeugung, daß das Kunstwerk selbst für die Kunst letzten Endes belanglos sei (Br. II, 135; Br. Muzot, 132). Selbst in diesem innersten und eigensten Bereich seines Wesens erweist es sich, daß er mit dem Geschaffenen als mit etwas Selbständigem in seinem Leben rechnen mußte. Er gleicht dem Magier, von dem 13'
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er sagt: „Er ruft es an. Es schrickt zusamm und steht. / Was steht? Das Andre, alles, was nicht er ist." Ist das Kunstwerk erst einmal geschaffen, muß selbst sein Schöpfer sich ihm stellen, ihm ins Gesicht sehen: „Und das ganze Wesen dreht / ein raschgemachtes Antlitz her, das mehr ist." Es trägt Elemente und Kräfte in sich, deren sich selbst der Künstler nicht bewußt war (AWI, 390). Es ist wie das Gold, das geschmolzen und zur Fassung eines kostbaren Steines geformt wird: „Mit metallnem Hassen" schlägt es „seine Krallen" in das Fleisch des Goldschmieds (AWI,391). Ist der Künstler nicht wachsam, so wird das Kunstwerk zu seinem Meister und Tyrannen. Zudem wird es gleich den anderen Dingen Teil der äußeren Wirklichkeit und damit zum Gegenstand unablässiger Mißdeutungen durch die Menschen. Gleich dem Ruhm erschwert es dem Künstler, er selbst zu bleiben: es bedroht seine Freiheit — frei zu sein für einen neuen, jungfräulichen Anfang. Niemals durfte es das Ziel des Dichters oder Künstlers sein, daß sein Werk gelesen oder bewundert werde, und Rilke erklärt die Selbständigkeit des Kunstwerks ausführlich, ja er verteidigt sie fast. Schon das Florenzer Tagebuch enthält folgenden Ausruf: „Ja, zum Teufel, dann laßt doch eure Bücher nicht drucken und eure Werke nicht ausstellen, wenn sie uns nichts angehen, kann einer belehren. — Wir aber müssen unsere Vergangenheit in Werken aus uns herausstellen, abschließen. Sie sind erst vollendet, wenn sie nicht mehr Teile sind unser selbst, wenn sie übersetzt sind in eure Umgangssprache, das heißt, wenn das Buch Buch, das Bild Bild in eurem Sinne ist. Dann ist keine Brücke mehr von uns dazu, dann sind sie hinter uns, und wir können uns auf sie stellen" (FT, 55). „Das wird immer sein. Die Kunst geht von Einsamen zu Einsamen in hohem Bogen über das Volk hinweg" (FT, 52). Bedeutsamer ist jedoch der schöpferische Augenblick und alles, was zu ihm hinführt. Der Künstler muß zugleich sein eigener Mund und sein eigenes Ohr sein, gleich den steinernen Masken, aus deren Mund unablässig klares Wasser fließt und ihnen die Geheimnisse der Erde, der Lebenden und der Toten anvertraut. Nur das marmorne Becken, „ein Ohr der Erde", empfängt in seiner Höhlung das dahinfließende Geflüster: der Mund der Erde spricht durch diese Brunnen in ihr eigenes Ohr. Ein Krug, den man dazwischenschiebt, unterbricht nur das Gespräch der Erde mit sich selbst (Son. II, 15). Daß ein Gedicht oder ein Kunstwerk entsteht, ist eine unendliche Befreiung und Genugtuung, aber dies darf nicht des Künstlers Rechtfertigung oder Absicht sein. „Es wäre überheblich, einem Kunstwerk zuzumuten, daß es helfen könne; aber daß die Spannung des Menschlichen, die ein Kunstwerk, ohne sich nach außen zu verwenden, in sich trägt, daß seine innere Intensität, ohne extensiv zu werden, durch ihre bloße Gegenwart, die Täuschung hervorrufen konnte, als ob sie Streben, Forderung, Werbung —, werbende hinreißende Liebe, Aufruhr, Berufung sei: das ist 196
des Kunst-Dings gutes Gewissen (nicht sein Beruf) —, und dieser Betrug zwischen ihm und dem verlassenen Menschen kommt allen jenen priesterlichen Betrügen gleich, mit denen, seit Anfang der Zeiten, das Göttliche gefördert worden ist" (Br. Frau, 7 f.). Dieser bemerkenswerten Verflochtenheit von Kunst und Leben wegen kann man Rilke niemals des reinen „Ästhetizismus" bezichtigen. Wie Rudolf Kaßner sagt, „ist vielleicht manches in Rilke Zierat, Schnörkel, Ornament und Spiel, aber nichts, nichts Klischee. Rilke war Dichter, war Persönlichkeit, auch wenn er sich nur die Hände wusch . . . Das was viele in seinem Kunstwerk für Ästhetentum halten möchten, war auch nicht Mangel an Größe, sondern Fehlen des Klischees der Größe. Oder: seine wirkliche Größe war die Einheit von Form und Inhalt" (Das Inselschiff, 125). Mit dem Widerstreit zwischen Kunst und Leben beschäftigte sich ein Brief an die Gräfin Sizzo, in dem Rilke sich mit der Auffassung Richard Dehmels zu diesem Thema auseinandersetzte. Dehmel tadelte an Rilke, daß er seine Kunst nicht unmittelbar in den Dienst der Zeit und der Gesellschaft stellte, in der er lebte, und nicht entschiedener sozial gesinnt sei. Rilke äußerte sich hierzu folgendermaßen (Br. Sizzo, 17—18): „Dehmels Wunsch, den Dichter ins Leben zu stellen (— Briefe, die er mir schrieb, ließen auch erkennen, wie sehr er immer wieder auf dieses Thema zurückkam —) ging wohl zunächst aus von der Scheu, von dem Abscheu vor dem Schreibtisch-Literaten, in welcher Abneigung er sich z. B. mit seinem Freunde Detlev von Liliencron so herzhaft einig fand (und schließlich mit wem nicht?!) aber zuletzt lag doch da irgendwo ein Fehler vor, ein nicht tief genug Gedacht- und Beobachtet-haben. Ist etwa um den Schreibtisch herum, an den sich einer, sagen wir, zurückzöge, kein Leben mehr, reicht Schicksal, Dasein, Nichtsein und alles Bedrängende, Gefährliche und Mächtige etwa nicht an diesen dorthin (sagen wir) Geflüchteten? Was seine Hervorbringung schwach, unwahr, überflüssig oder lächerlich macht, ist nicht sein Platz, an dem er sich hält, sondern daß er an diesem Platze (der ebenso gut eine vitale Mitte darstellen könnte, wie irgendein anderer Platz auf der Welt) vom Leben absehen lernt, das ihn auch dort umdrängt und umbrandet, — daß er das Leben überhaupt nicht mehr gewahrt, sondern nur das Papier und den Tintenfleck am Federfinger: das macht diesen — eminent deutschen — Typus so hoffnungslos und widerwärtig. Aber warum ihn bekämpfen —, genügt es nicht, ihn zu übersehen?"
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34. K U N S T UND HEILIGKEIT Nun aber weiß ich, daß diese Arbeit [des Dichters] genau so bestritten ist wie das Heiligsein ... (AW II, 159) Im Lichte des Gesagten mag es nicht ungerechtfertigt erscheinen, wenn man einmal Rilkes existentieller Beziehung zu seinen Symbolen, einschließlich Mönchtum und Heiligkeit, nachgeht. Bei Künstlern, die ihre Kunst und ihr Leben entschiedener getrennt zu halten vermochten, mögen solche Fragen müßig sein, doch bei Rilke sind sie unerläßlich. Zudem war sein Interesse an der Heiligkeit so stetig, daß es unsere Beachtung verlangt. Die Heiligen seiner katholischen Kindheit wurden durch die der italienischen Maler und der russischen Ikonen abgelöst. Seine häufigen Besuche von Kirchen und Klöstern mit ihren Statuen, Grabmälern und bunten Fenstern hielten dieses Interesse wach, und wiederholt las er Legenden und Bücher über das Leben der Heiligen, vor allem eines von dem Spanier Ribadaneira. Im Jahre 1911 übersetzte er mit Eifer wohl ein Dutzend Kapitel der Confessiones des heiligen Augustin (Zinn, 220). Die Namen des hl. Augustinus, des hl. Franziskus von Assisi, der hl. Therese von Avila und anderer finden sich häufig in seinen Briefen, und in einer Anzahl seiner Gedichte versucht er die wesentliche Seinsweise verschiedener Heiliger festzuhalten, um in ihnen eine Bestätigung oder auch eine Herausforderung seiner eigenen Widersprüche zu finden. Benvenuta bekannte er im Februar 1914, daß der Heilige stets ein Gegenstand seiner innersten Anteilnahme gewesen sei und daß er sich immer danach gesehnt habe, ihm gleich zu werden (Br. Benvenuta, 33 f.). Zudem führte Rilke zahlreiche und ausführliche Gespräche mit Rudolf Kaßner, dessen Werk hinreichend beweist, wie sehr ihn die Frage der Heiligkeit beschäftigte. Es gibt Gedichte, in denen die Erfahrung des Heiligen als der des Künstlers sehr ähnlich geschildert ist. In einem der Neuen Gedichte läßt St. Sebastian die Pfeile mit so offenbarer Gelassenheit in seinen Körper eindringen, daß er nur leise lächelt, bis er mit Trauer und Zorn wahrnimmt, daß die, welche ihn zum Märtyrer machen, einen Gegenstand großer Schönheit zerstören — seinen Leib ( A W 1,172). Diese heitere Überlegenheit, die einem inneren unzerstörbaren Kern von Unschuld und Einheit entspringt, ist die gleiche, die Rilke vom Künstler und von sich selbst forderte. In einem anderen Gedicht, Aus dem Leben eines Heiligen, dienen alle die 198
Schrecknisse der Einsamkeit, die den Heiligen befallen, nur dazu, ihn auf den glücklichen Augenblick vorzubereiten, in dem er sich in die eigenen Hände legt „wie die ganze Kreatur" (NG, 168). Was ist dies anderes als das vertraute Motiv von der Einheit und Ganzheit, die ihm das sine qua non des Schaffens und des wahren Lebens war? In der Ersten Elegie ermahnt sich der Dichter, auf die innere Stimme zu hören, „wie sonst nur / Heilige hörten: daß sie der riesige Ruf / aufhob vom Boden; sie aber knieten, / Unmögliche, weiter und achtetens nicht: / So waren sie hörend" (AW 1,247). Als Rilke aus Ronda in Spanien schrieb, daß er in dem Bestreben, den Menschen zu verstehen, immer gleich bis zum Heiligen hindenken müsse, begründete er es damit, daß sich allein in ihm jene Intensität, jene Ausdauer und jene Unbedingtheit finde, deren der Künstler bedarf und nach der er verlangt (Br. I, 428). Doch im gleichen Briefe äußerte er, daß der Heilige vielleicht nicht mehr in dem gleichen Maße beispielhaft und aufklärend für uns sei, wie er es in vergangenen Zeiten war. Vielmehr, so erklärt er, interessiere es uns, „zu verfolgen, was dieser Aufwand an Gott wirke, wenn er, statt dorthin sich zusammenzunehmen, unmerklich in hiesigen Beziehungen verteilt, eine unauffälligere, aber nicht weniger große Arbeit tut" (Br. I, 428—429). Wir werden sehen, wie in Rilkes Augen der Heilige gerade in Spanien, wo er den Winter 1912—13 verbrachte, viel von seinem Nimbus an den Helden verlor (vgl. S. 280). Die oben angeführte Stelle weist offenbar auf einige Wesenszüge der Heiligkeit hin, die der Dichter in keinem seiner Symbole umgreifen konnte und die doch wesentlich und entscheidend waren. Sie trennen den Künstler, und sei er noch so begnadet, mit Entschiedenheit vom Heiligen. Da Rilke die ererbte Gottesvorstellung von sich geworfen hatte, suchte er etwas, das diese Leere zu füllen vermochte. „Jeder kommt in Trauerkleidern vom Sterbebette seines Kindheitsgottes", schrieb er in sein Florenzer Tagebuch (FT, 53). Einen persönlichen Gott, der nicht allein in seiner Schöpfung, sondern auch neben und über ihr existierte, zudem einen Gott, der dem Menschen sein Gesetz nach seinem höchsten Ratschluß geben und der, wenn es sein mußte, den eigenen Genius zum Opfer fordern konnte— einen solchen Gott lehnte Rilke aus seinem innersten Gefühl heraus ab. Und selbst ein pantheistischer Gott — sofern man seinen Gott so nennen darf — hat seine Macht vom Dichter zu empfangen, wenn der letztere sich ihm in Demut und Gehorsam unterwerfen sollte. Im Hinblick auf die bedeutenderen Teile der Geschichten vom lieben Gott schreibt Rilke, daß er bereit wäre, alles zu opfern, sollte ihm der Engel wiederum eine ähnliche große Arbeit gewähren, doch fügt er hinzu, daß er selbst der Schöpfer dieses Engels sein müsse (Br. 1902—06, 90—91). Offenbar ist die Kunst mit einer derartigen Huldigung vereinbar, doch Mönchtum und Heiligkeit sind es nicht. Selbst die großen Mystikerinnen, jene Heiligen, die — wie Rilke 199
es ausdrückte — Christus gebrauchten „wie einen Beischläfer: als ein süßes Männlichkeitssurrogat, als den zärtlichsten Amant, der zu haben war, endlich doch noch zu haben war" (Br. I, 245) — selbst diese erlangten ihre Glückseligkeit nur durch gänzliche Selbstverleugnung. In dem echten mystischen Erlebnis sucht der Heilige seine Beseligung durch die Abtötung seiner selbst bis zur völligen Selbstvernichtung, aber ebendadurch geht er in einem anderen Wesen auf. Jeder wahren Mystik liegt letztlich immer die Vorstellung vom Gegensatz zwischen dem endlichen Menschen und dem unendlichen Gott zugrunde. Die Mystik erregte bei Rilke um so mehr Ärgernis, als er selbst einen Hang dazu hatte, unter dessen Wirkung ihm Bilder und Symbole zu verschwimmen drohten. Die einzige Möglichkeit, diese Gefahren zu meistern, lag in der gestaltenden Kraft des Wortes. Er mißbilligte jene, für die die Liebe Gottes nichts weiter ist als eine geheime, tödlich-süße Liebe „zum Chaos", die „die Götter nur um der Götterdämmerung willen lieben" (Mason, Lebenshaltung, 43). Sein Verlangen nach Verborgenheit, Demut und Armut, sein Lobpreis des heiligen Franziskus von Assisi, der in den Dingen der Natur und den Herzen der Frauen aufging, waren Ausdruck seines Verlangens nach Einfalt und Jungfräulichkeit, dem notwendigen Urgrund des Schöpfertums. Für den Mystiker sind Selbstaufgabe und Vereinigung mit Gott das letzte Ziel; für Rilke war es ein Mittel, ein neuer Ausgangspunkt schöpferischer Herrschaft, die ihrem Wesen nach derjenigen Gottes verwandt war. Zweifellos las Rilke, trotz seiner gegenteiligen Behauptung vom 21. Oktober 1924, die Schriften der Mystiker, vor allem Meister Eckhart, Mechthild von Magdeburg und Suso. Doch was er in diesem Zusammenhang in zwei unveröffentlichten Briefen aus den Jahren 1905 und 1913 äußerte, ist höchst bezeichnend. Er betont, daß er Eckharts Schüler und Verkünder gewesen sei, ehe er ihn noch kannte, aber daß er ebendort, wo die Äußerungen und Vorstellungen des Mystikers auf Endgültiges zu weisen scheinen, über ihn hinauswuchs. „Wo er aber floß, wo er rauschte und in großen Gefällen zu Gott niederfiel", wo er „mit dem breiten Delta der Dreieinigkeit in die Ewigkeit ausgeht", fühlte Rilke sich ihm zutiefst verwandt. Um seinen Standpunkt klarzumachen, läßt er zwei Predigten Eckharts, in denen der gleiche Standpunkt von Gott und Mensch hervorgehoben wird, seine besondere Zustimmung zuteil werden (Sievers, 29), und in diesem Sinne darf der Dichter ohne Furcht vor Anmaßung oder Stolz sagen: „ . . . ich fasse den piatischen Tag. Nichts war noch vollendet, eh ich es erschaut, ein jedes Werden stand still" (AW1,9). Rilke wußte genau, wo die Kunst endet und die Heiligkeit beginnt. Auch war er sich wohlbewußt, daß er nicht zum Heiligen taugte und „nicht die 200
mindeste Aussicht" hatte, „je diesen guten Geruch zu verbreiten" (Br. MTT, 245). Hier und da nahm dieses Bewußtsein sogar die Form eines unbestimmten Schuldgefühls an, gegen das er sich zur Wehr setzen mußte. Im Stundenhuch entschuldigt der Mönch sich wiederholt, weil er hochmütig und überheblich erscheine. Rilke wurde von einem untrüglichen Instinkt geleitet, als er Christus zu einem bloßen Wegweiser, die Religion zu einer bloßen Richtung des Herzens, Gott zu einer ins Unendliche wachsenden, sich wandelnden Kraft machte, als er der wahren Liebe jeden greifbaren Gegenstand, jedes Ziel nahm, als er den eigenwilligen Menschen beiseite ließ und seine Liebe den „geduldigen, gehorsamen" Dingen zuwandte, als er seine Erwartung auf eine Art weiblichen Gnoms richtete, der ihn umsorgen sollte, ohne einen Anspruch auf sein Herz zu erheben. Marianne Alcoforado war nicht heilig, weil sie, von einem unwürdigen Liebhaber verschmäht, ihre Liebe ins „Offene" zu wenden lernte und nun von keinem Gegenstande mehr, mochte er göttlich oder menschlich sein, Erfüllung erwartete. „Lieben" gewährt Freiheit und hält das Herz allen Möglichkeiten offen, „geliebt zu werden" wirft eine Last von Verantwortung auf das Herz und hält es gefangen. Wenn Rilke zuweilen bemerkte, daß allein der Heilige zu lieben verstehe, so bezog er sich mit unverhohlener Einseitigkeit darauf, daß sich die Liebe des Heiligen nicht mit Ausschließlichkeit an einen Menschen bindet. Hingegen übersah er geflissentlich, daß diese Liebe sich einer ganz bestimmten höheren Wirklichkeit zuwendet: Gott. In Rilkes in Spanien geführtem Taschenbuch findet sich am Dreikönigstage 1913 eine eigenartige Eintragung, der in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung zukommt (Br. 1907—14, 286—287). Sie wurde einem Briefe an Lou Andreas-Salomé beigefügt, und obwohl sie in der dritten Person abgefaßt ist, geht doch deutlich genug daraus hervor, daß Rilke selbst gemeint war. Im Bewußtsein seiner bisherigen Leistungen — das Stundenbuch, das Buch der Bilder, die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, die Neuen Gedichte und einige Elegien lagen inzwischen vor — bemerkt er mit tiefer Befriedigung, in wie hohem Maße er den Geist franziskanischer Armut und Verborgenheit verwirklichte: „Sein Geschehen war schon draußen, stand in den überzeugten Dingen, mit denen die Kinder spielen, und ging in ihnen zugrund. Oder es war gerettet im Aufschaun einer Fremden, die vorüber kam, wenigstens verließ es sich dort auf seine Gefahr. Aber auch die Hunde liefen damit vorbei, beunruhigt und sich umsehend, ob er es ihnen nicht wieder wegnähme. Wenn er aber vor den Mandelbaum trat, der in seiner Blüte war, so erschrak er dennoch, es so völlig dort drüben zu finden, ganz übergegangen, ganz dort beschäftigt, ganz fort von ihm; und er selber nicht genau genug gegenüber und zu trübe, um dieses sein Sein auch nur zu spiegeln. Wäre er ein Heiliger geworden, so hätte er aus diesem Zustand eine heitere Frucht gezogen, die 201
unendlich unwiderrufliche Freude der Armut: denn so lag vielleicht der heilige Franz, aufgezehrt, und war genossen worden, und die ganze Welt war ein Wohlgeschmack seines Wesens. Er aber hatte sich nicht rein geschält, hatte sich aus sich heraus gerissen und Stücke Schale mit fortgegeben, oft auch sich (wie Kinder vor Puppen tun) an einen eingebildeten Mund gehalten und geschmatzt dabei, und der Bissen war liegen geblieben. So sah er jetzt dem Abfall gleich und war im Weg, — so viel Süße auch in ihm gewachsen sein mochte." Mit anderen Worten — während sich der Heilige so weit aufgab, daß er in den Dingen der Welt aufging, bis sie zum klaren Spiegel seines ganzen Wesens wurden, hatte der Dichter Stücke von sich selbst losgerissen und hergegeben, die nun unaufgezehrt dalagen und noch immer unverkennbar Stücke seiner selbst waren. Es waren genau jene Stücke, kraft derer die „geduldigen" und „gehorsamen" Dinge unter der Herrschaft des Dichters blieben und die ihn letzten Endes unendlich weit von dem klaren Bild des Heiligen trennen. Ebendiese Stücke starren uns auch aus den Neuen Gedichten entgegen und verleihen ihnen ihre subjektiven Untertöne trotz ihrer entschiedenen Objektivität. Es scheint, als verspüre Rilke, der schaffende Künstler, beim Anblick des blühenden Mandelbaumes etwas wie Neid und bestehe darauf, an dem blühenden Wachstum teilzuhaben. Die äußere Wirklichkeit, das andere, das „Du" war ein beständiges Problem und oft genug ein Hindernis für Rilke. Denn für den Menschen heißt Schicksal „gegenüber sein und nichts als das und immer gegenüber"
(VIII. EL).
Der Überschwang Rilkes war so groß, daß er von dem „anderen Ding" verzehrt werden oder es selbst verzehren mußte. Zuweilen erweckt es den Eindruck, als verlangte es ihn nach dem ersteren, doch in Wirklichkeit wandte sich sein ganzes Streben in die entgegengesetzte Richtung. Hier unterscheidet sich der Künstler von dem gewöhnlichen Menschen wie vom handelnden Helden, und ebenhier entspringt die „alte Feindschaft zwischen dem Leben und der großen Arbeit". So muß der Künstler auf irgendeine Weise zu einem Seelenzustand gelangen, in dem das „Gegenüber" als Ursache von Verstrickung und Zerstreuung nicht mehr besteht. In diesem Sinne ist es seine Aufgabe, „außerhalb alles Schicksals", das heißt frei von allen Bindungen oder Verstrickungen, zu sein (AW II, 348). Das letzte Ergebnis einer solchen Haltung muß eine furchtbare Einsamkeit sein, in der allein „der Wind voller Weltraum uns am Angesicht zehrt" (AW I, 245), in der man wartet wie vor einer Bühne, auf der die Lampen ausgingen und von der „das Leere herkommt mit dem grauen Luftzug" CAW I, 256—257). 202
„In meiner Art, die Dinge aufzunehmen", so schrieb Rilke, „ist etwas, was sie spurlos verzehrt, ich fühl es mir nicht nur aus dem Buch, sondern auch aus dem eigenen Wissen gleichsam auf, es geht mir ins Blut, dort mischt es sich Gott weiß mit was und riskiert, so gut wie verloren zu sein" (Br. I, 372). Doch im rechten Augenblick übt der Dichter seine magische Gewalt: „Er ruft es an. Es schrickt zusamm und steht" ( A W I , 390). Im Gegensatz zur Haltung des Mystikers war diejenige Rilkes tief in dem Willen begründet, zu formen, das heißt zu bewältigen, wenn nicht gar zu herrschen, in einem Willen zur Meisterschaft, wenn nicht gar zur Macht. Wie Heidegger sagt, liegt über Rilkes Dichtung ein Schatten der Metaphysik Nietzsches (Heidegger, 264). In gewissem Sinne kann das von aller Kunst und allen Künstlern, ja vom Leben schlechthin gesagt werden, doch in einem Falle, da der Dichter so nachdrücklich auf Geduld und Demut besteht, scheint es widersprüchlich. Bedenken wir, daß Rilke selbst die äußerste Verkörperung der Ambivalenz darstellte, so können wir seine klagenden wie seine anklagenden Worte über die menschliche Welt wohl würdigen. Doch geht es um den Heiligen, der sein ganzes Sein einem höchsten Gott opfert, so droht Rilkes Haltung in einen verdrießlichen Groll gegen Gott und den Heiligen umzuschlagen. In seinem Essay Über den jungen
Dichter,
das 1913 entstand,
fragt er mit ängstlicher Sorge, „was das menschliche Herz wäre, wenn außerhalb seiner, draußen, an irgendeinem Platze der Welt Gewißheit entstünde: letzte Gewißheit. Wie es mit einem Schlage seine ganze in Jahrtausenden angewachsene Spannung verlöre . . . Denn wahrlich, auch die Größe der Götter hängt an ihrer Not: daran, daß sie, was man ihnen auch für Gehäuse behüte, nirgends in Sicherheit sind, als in unserem Herzen" ( A W I I , 294). Bei dem Gedanken an einen Gott, der seine offenbare Wirklichkeit und Überlegenheit behauptet, kann es in deutlichem Unmut zu folgendem Ausfall kommen: „Es bereitet mir jetzt oft eine unsägliche Genugtuung, ihn [Gott] zu schonen — von etwas ganz Bewegendem zu handeln und ihn doch nicht zu bemühen. Qu'il se repose. C'est assez encombrant d'avoir fait le monde, es wäre eine Courtoisie dieser Welt, Gott zu verschweigen, wenigstens eine Zeit lang" (Salis, 62). In seinem Tagebuch
Florenzer
von 1898 findet sich folgende witzige Bemerkung: „Das ist oft
im Wesen unfähiger Menschen, sie wollen sich, solang es geht, von den Eltern erhalten und verantworten lassen. Solange dieser Gott lebt, sind wir alle Kinder und unmündig. Er muß einmal sterben dürfen. Denn wir wollen selbst Väter werden. Aber er ist ja tot; die alte Geschichte von Kara Mustafa. Die Wesire des Reiches müssen von seinem Sterben schweigen, damit die Janitscharen sich nicht empören und weiter kämpfen" (FT, 52). 203
Rilkes Eifersucht auf Gott als den höchsten Schöpfer ist so edit wie die, welche der Mönch im Stundenbuch Michelangelo zuschreibt: „Nur Gott bleibt über seinem Willen weit: da liebt er ihn mit seinem hohen Hasse für diese Unerreichbarkeit"
( A W I , 25).
„Der Dichter einzig hat die Welt geeinigt", so fühlt er (SG, 119). Im Gegensatz zum Glauben hat Religion kein Gegenteil (Br. Muzot, 79).
204
35. FATALISMUS UND OPFER Warum muß einer gehn und fremde Dinge so auf sich nehmen . . . (AW I, 359) Rilkes Verhältnis zum Schicksal war so doppeldeutig wie seine Stellung zu Leben und Kunst. Er bekennt sich zuweilen zu einer Art amor fati, doch wenn er dies tut, so gibt er dem Schicksal eine Bedeutung, die ihm seine eigene Herrschaft sichert. Weit davon entfernt, seine persönliche Freiheit zu zerstören, bestätigt es diese im Gegenteil auf eigentümliche Weise. „Ein denkendes, ein uns mitwissendes S c h i c k s a l . . . " , schreibt er im Mai 1922, „ja, oft wünschte man durch ein solches bestärkt und bestätigt zu sein; aber wärs nicht zugleich sofort ein uns von außen anschauendes, ein uns zuschauendes, mit dem wir nicht mehr allein wären? Daß wir einem ^ l i n den Schicksal' eingelegt sind, ihm innewohnen, ist doch gewissermaßen die Bedingung unseres eigenen Blicks, unserer schauenden Unschuld" (Br. Muzot, 153). Ein derartiges Schicksal tritt nicht von außen an den Menschen heran, sondern erwächst aus seinem Innern. So betrachtet, haben wir „keinen Grund, gegen unsere Welt Mißtrauen zu haben, denn sie ist nicht gegen uns. Hat sie Schrecken, so sind es unsere Schrecken, hat sie Abgründe, so gehören diese Abgründe uns, sind Gefahren da, so müssen wir versuchen, sie zu lieben" (Br. Dichter, 47). Doch im Hinblick auf Maurice de Guerin, dessen Le Centaure er übersetzte, schreibt Rilke zu ebenjener Art des Schicksals, die von außen kommt: „Vielleicht ist der Dichter wirklich außerhalb alles Schicksals gemeint und wird zweideutig, ungenau, unhaltbar, wo er sich einläßt. Wie der Held erst im Schicksal wahr wird, so wird der Dichter verlogen darin; der eine erhält sich in der Überlieferung, der andere in der Indiskretion" (AW II, 348). Vermöchte der Dichter nur immer die Seinsweise des Lorbeers, des Symbols der Kunst, zu teilen. Ihn kümmert allein sein Grün, „ein wenig dunkler als alles andere Grün, mit kleinen Wellen an jedem Blattrand (wie eines Windes Lächeln)". Doch als Mensch muß der Dichter am Menschlichen teilnehmen und ist dazu verurteilt, sich nach Schicksal zu sehnen, während er es zu gleicher Zeit vermeidet (IX. El.). Dagegen setzt sich der Held über die Wechselfälle und Gefahren des Lebens hinweg. Ungeduld ist sein Gesetz, gleich dem des 205
Feigenbaums, der die Blüte beinah ganz überschlägt und sogleich in die Frucht drängt. Er will nicht dauern: „selbst der Untergang war ihm nur ein Vorwand zu sein"
( A W I, 246).
Ihn beneidet der Dichter um sein Hinstürmen „durch die Aufenthalte der Liebe" zu den Höhen ( A W 1 , 2 6 5 ) . Im Herbst 1 9 1 0 hielt sich Rudolf Kaßner zu gleicher Zeit wie Rilke in Paris auf und schrieb dort an den Elementen
menschlicher
Größe.
Sie ver-
brachten täglich bis in den späten Abend hinein viele Stunden zusammen. Eines Abends trug Kaßner nach seiner Rückkehr ins Hotel den folgenden Gedanken, der ihm im Gespräch mit Rilke gekommen war, in sein Taschenbuch ein: „Von der Innigkeit zur Größe gibt es nur einen W e g : das O p f e r " (Das Inselschiff, 120—121) 1 ). Kaßner sah den Unterschied zwischen dem *) Dieser Satz entstammt den „Sätzen des Yogi", deren erster Teil in der Neuen Rundschau, 22 (1911), 92—93 erschien. Der genaue Wortlaut war folgender: „Wer von der Innigkeit zur Größe will, der muß sich opfern." (DuV, 40 [1939], 122). Selbstverständlich zitierte Rilke aus dem Gedächtnis, aber wie er sich der Worte Kaßners erinnerte, ist bezeichnend. Während der eigentliche Satz des Yogi unmißverständlich die Selbst-Aufopferung fordert, war Rilkes Wiedergabe weniger direkt und persönlich verpflichtend gehalten: sie spricht lediglich von Opfer, ohne jedoch dessen Art und Wesen näher zu bestimmen. Das höchste Vorbild des Opfers in der nachsokratischen Welt ist für Kaßner das Opfer Christi, das in seinem negativen Aspekt Verzicht, in seinem positiven Aspekt Liebe bedeutet. Es ist die Peripeteia, der Wende- und Angelpunkt, mit dem der Dualismus von „Innen" und „Außen", der in der vorsokratischen Zeit mehr oder weniger imbedeutend und unwirksam war, aber später Bedeutung gewann, wiederum aufgehoben wird. Während der griechische Gott Dionysos noch in eine innige Verbindung mit der Dichtung treten konnte — ging doch aus seinem Kult die griechische Tragödie hervor —, war eine solche Verbindung zwischen dem hochbewußten modernen Dichter und Christus undenkbar. Für den modernen Dichter liegt das einzige Mittel einer Objektivierung der Welt und seiner selbst im Wort, während es für Christus das Opfer war, denn in ihm war das Wort Fleisch geworden. Aber Rilke mißverstand nicht nur, was Kaßner mit „Opfer" meinte, er mißdeutete auch den Sinn von „Innigkeit" (Rudolf Kaßner, 123—125; 195). Es ist ein Wort, dessen Bedeutungsgrenzen besonders schwankend sind. Daß in diesem Yogi-Satz nicht dasselbe gemeint ist, wie in dem Brief an Lou vom 20. Februar 1914, wo Rilke von der „Innigkeit" der „kleinen Kreatur" redet, leuchtet ohne weiteres ein. Die „Innigkeit" der Mücke stammt aus dem „Nicht-im-Leibe-Herangereiftsein, das es mit sich bringt, daß sie eigentlich den schützenden Leib nie verläßt (Lebenslang ein Schooßverhältnis hat)" (Br. 1,490). „O Glück der Mücke, die noch innen hüpft, selbst wenn sie Hochzeit hat: denn Schooß ist Alles" (VIII. El.). Ein „Außen" besteht für die Mücke nicht, da für sie ja „Außen" und „Innen" zusammenfallen. Die „Innigkeit" der „kleinen Kreatur" ist etwas Angeborenes und Passives. In dem Yogi-Satz dagegen handelt es sich um eine geistige Tätigkeit des Dichters, die darin zu bestehen scheint, daß von ihm eine gefühlsmäßige Identifizierung mit einem anderen vollzogen wird. „Innigkeit" in diesem Sinne Rilkes bedeutet gewissermaßen eine völlige Einfühlung in einen anderen, oder vielmehr eine Eins-fühlung mit ihm, eine Empathie, und diese selbstentäußernde Tätigkeit erweist sich bei Rilke als ausdrücklich schöpferisch. 206
diristlidien und dem antiken Menschen — um es kurz zu sagen — darin, daß der erstere seinen Feind lieben sollte, der letztere hingegen nicht. Für den Christen erweiterte sich damit der Bereich möglicher Schuld ungeheuerlich, ja er wurde grenzenlos, und es gab nur einen Ausweg, die Selbstaufopferung. Die Alten waren groß, weil sie nicht nach innen gewandt, nicht introvertiert waren (für sie barg die Introversion des Menschen Hybris, W a h n sinn und Verhängnis); sie maßen mit dem Maß der Gestirne. Ihre Harmonie war ursprünglich, nicht die Summe versöhnter Teile. Ihre Einsamkeit war Angesichts der Kluft, die Rilkes Erlebnis- und Gedankenwelt von der seines Freundes trennte, ist es nicht überraschend, daß die Gedanken des letzteren eine Rilke gemäße Umdeutung erfuhren, als sie in die geistige und schöpferische Welt des Dichters übergingen. Ich glaube, daß die beiden im allgemeinen aneinander vorbeiredeten und sich nur anzogen wie magnetische Pole, ohne je auf wirkliche grundlegende Gemeinsamkeiten zu stoßen. Kaßner war der aktive, der männliche Pol, Rilke der mehr passive, feminine, den es zur Hingabe, zum rückhaltlosen Zuhören drängte und der sich so „leer" machte. Als Kaßner einigen Freunden, unter denen sich auch Rilke befand, in München während des Krieges Auszüge aus Zahl und Gesicht vorlas, fand er, daß unter allen Zuhörern der letztere ihm mit dem feinsten Gefühl und mit einer Hingabe zustimmte, die so bewußt und tief war, daß er sich an des Dichters angespanntes Bemühen erinnert fühlte, wie in den Tagen der Neuen Gedichte „Werk des Gesichts" zu tun und „kniend" zu schauen. Für Kaßner hingegen war Knien die angemessene Haltung der Kontemplation mit geschlossenen Augen, nicht die des Schauens. Doch Rilkes Sehen und Schauen war so übermäßig bewußt und beharrlich, daß er schließlich vor einer leeren Bühne saß und sich beobachtete, wie er sich zusah (Rudolf Kaßner, 113). Es gibt einige Äußerungen Rilkes aus jener Zeit, die deutlich in die gleiche Richtung weisen wie meine Deutung von „Innigkeit" in dem vorliegenden Zusammenhang. Was Rilke unter Innigkeit verstand, wird in einem Brief an Benvenuta vom 18. Februar 1914 näher erläutert: „Und dann, siehst Du, da war das Häßliche. Ich durfte davor nicht stehen bleiben in meiner Kunst, denn es war ja nicht meine Aufgabe, gegen den Dingen über zu sein, sondern: in ihnen drin. Dazu hatte ich ja die Innigkeit, daß ich auch im Häßlichen sei. Ich durfte mich nicht zu den Aussätzigen legen, die Liebe fehlte mir, der Aussatz wäre unter mir nicht umgeschlagen in ein seeliges Gegentheil. Aber ich sollte ganz hinein, dorthin, wo des Aussatzes Unschuld war, wo er noch Kindheit hatte; dort mußte ich alle meine Kraft zusammennehmen und stark und dringend sein und ihm das Bewußtsein ausreden, daß er häßlich sei" (So laß, 60—61). Und am Ende eines der Späten Gedichte, in Waldteich, das unmittelbar — gleichsam als Vorspiel — vor dem programmatischen Gedicht Wendung vom 20. Juli 1914 entstand, schrieb er: „Denn dies ist mein Wesen zur Welt: daß sich draußen Erscheinung wie auf ein stilles Geräusch hin (in mich innen) weither in mich hineinfreut." Auf dem gleichen Blatt, auf dem Rilke diese Zeilen niederschrieb, heißt es weiter: „Daß dieses leerzehrende Aus mir hinausschaun abgelöst werde durch ein liebevolles Bemühtsein um die innere Fülle" (DuV, 40 [1939], 122 ff.). Rilkes entsagungsvolle Versuche um eine „objektive" Dichtung, wie sie der Zeit der Neuen Gedichte zugehören, hatten ihn ausgehöhlt und erkalten lassen. Darum strebte er von da an nach seiner eigenen „inneren Fülle", nach seinem „inneren Mädchen". 207
keine Absonderlichkeit, es war die Einsamkeit der Planeten. Die Selbstaufopferung bedeutete ihnen nichts, sie kannten kein Pathos, keine Gefühlsseligkeit, keine „Innigkeit". In der christlichen Welt gab es Größe nur durch Schuld oder durch die Selbstaufopferung des Heiligen. Offenbar war Rilke an der Arbeit Kaßners und an seiner Analyse menschlicher Größe sehr interessiert, denn als die Veröffentlichung des Buches im Sommer 1911 vorbereitet wurde, bat er den Verleger, ihm ein Probeexemplar zur Lektüre zu überlassen (Br. 1907—14,141). Verschiedene Briefe dieser Zeit zeigen, wie tief Rilke nicht nur von seinem Inhalt, sondern auch von dem obengenannten Satz ergriffen war, den er sich aus dem Gedächtnis in sein Taschenbuch eingetragen hatte. Kaßner berichtet, daß Rilke ihm hierzu schrieb: „Diesen Satz habe ich mir für mich herausgeschrieben. Er ist auch irgendwie für und gegen midi" (Das Inselschiff, 121). Am 16. Juni 1911 schrieb Rilke dann aus Paris: „Was mich angeht, so hab ich noch immer nicht die Wende geleistet, die mein Leben machen muß, um aufs neue ergiebig oder gar gut zu sein. Einmal, in Kairo, schrieb ich mir aus Ihren Sprüchen in mein Taschenbuch: ,Der Weg von der Innigkeit zur Größe geht durch, das Opfer' — (Ich schrieb aus dem Gedächtnis, weiß nicht, ob wörtlich richtig) — das wird es wohl sein, aber wie?" (Br. 1907—14, 141—142). Und in einem bezeichnenden Brief an Benvenuta schrieb er am 17. Februar 1914, daß Kaßners Satz ihm durch und durch gegangen sei wie ein Dolch, der ihm in die Brust gestoßen wurde (Br. Benvenuta, 97). Hier müssen wir im Gedächtnis behalten, daß dieses Gespräch Rilkes mit Kaßner ungefähr ein halbes Jahr nach der Vollendung des Manuskriptes der Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge stattfand, die den Dichter nach der Mühsal dieser Arbeit in dem Gefühl zurückließ, er habe sich gänzlich verausgabt und werde nie wieder fähig sein, etwas Bedeutendes zu schreiben. In dieser Stimmung beeindruckte ihn die Maxime Kaßners so, als habe sie gerade für ihn eine besondere Bedeutung. Nicht ganz ein Jahr später äußerte er in dem oben erwähnten Brief vom 16. Juni 1911, daß die „Wendung", die eine neue Zeit der Produktivität einleiten sollte, noch nicht angebrochen sei und daß seine mangelnde Bereitschaft zum Opfer etwas damit zu tun haben müsse. „Aber wie?" fragte er sich. Im Februar und März 1911 hielt Rilke sich in oder um Kairo auf. Er hatte gerade Luxor und Karnak besucht, wo ihn die Gewalt der Tempel mit ihren Säulen und Pylonen tief ergriffen hatte. Neben den oben erwähnten Eintragungen in sein Taschenbuch finden sich noch andere Hinweise darauf, wie sehr ihn der Gedanke des Opfers in jenen Tagen bewegte. In einem der Gedichte Aus dem Nachlaß des Grafen C. VJdie er neun Jahre später, im November 208
1920, niederschrieb, ruft er sich die ungeheuren Tore und Säulen jener alten Ruinen wieder ins Gedächtnis zurück und bestaunt, „daß solches Stehn dem Dasein angehörte, in dem wir [die heutigen Christen] starben." Er beklagte, daß er die Beeindruckbarkeit der Jugend verlor und die ägyptische Welt des Raums und der Magie nur theoretisch betrachten könne, indem er sich gleich einem Eremiten aus dem alltäglichen Leben zurückziehe. Und doch lehrten ihn die Reliefs dieser gewaltigen Bauwerke, daß eben das Opfer ihrer Unermeßlichkeit Sinn und Maß gab. Ungleich den unseren, erfüllten die Opfergaben der alten Ägypter ihr Leben so gänzlich, daß sich ihre Götter gleich gestillten Kindern in einem beständigen Zustand der Besänftigung befanden und schon die „Geste" des Opfers genügte, um sie zu stillen. Die Papyrus-Blüte mußte nicht mehr gebrochen und zu Girlanden geflochten werden; es genügte, die Hände in symbolischer Gebärde um sie zu legen. Wir dagegen opfern unserem Gott nur bei besonderen Gelegenheiten, und diese Opfer sind nichts als Unterbrechungen unserer selbstsüchtigen Geschäfte. Unser „Sonntag rafft sich auf, die langen Wochen verstehn ihn nicht" (AW I, 3 5 4 - 3 5 7 ) 2 ) . Im Januar 1912 entstanden schließlich die ersten beiden Elegien und einige Fragmente — nicht als Früchte systematischer Arbeit wie die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge und die Neuen Gedichte, sondern „inspiriert", wie es beim Stundenbuch der Fall gewesen war. Zu Anfang des Jahres 1914 nahm er jenen verhängnisvollen Briefwechsel mit Benvenuta auf, dem ihre Begegnung in Berlin und eine ernüchternde Reise durch verschiedene Städte in Deutschland, Österreich und der Schweiz, nach Paris, Duino und Venedig folgte. Im Mai fand diese Beziehung ein Ende, und Rilke kehrte schmerzlich enttäuscht in seine Einsamkeit nach Paris zurück. Während eines kurzen Aufenthaltes in Assisi war er tief betroffen über den Abgrund, der ihn von dem poverello trennte. Seine Armut erschien ihm nun „handgreiflich wie ein Stein und ebenso hart" (Br. 1,495). „Ich war starr und hart wie ein Stein", schrieb er einen Monat später aus Paris, „und bin ) Am 28. Mai 1924 erinnerte sich Rilke in Muzot, daß Katharina Kippenberg einige Tage später ihren Geburtstag feiern werde. Blumen aus seinem Garten konnte er ihr zu dieser Zeit nicht schicken, denn sie hätten die Reise nach Leipzig nicht überstanden. So beschloß er, sie nicht zu pflücken, sondern sie ihr in der gleichen Weise zu weihen, in der die Ägypter — wie die Reliefs von Karnak zeigten — ihren Göttern ihre Blumen darbrachten: er legte die Hände still und gesammelt um die lebendigen, wachsenden Stengel. Diese Geste sollte seiner verehrten Freundin im Duft der Blüten Segen bringen (Br. Kippenberg, 537). Mag Rilke diese rituelle Handlung nun wirklich vollzogen haben oder nicht, der Gedanke allein beweist schon, wie tief seine künstlerische Erfahrimg im wirklichen Leben wurzelte. 2
14 Graff, Rilke
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noch in dieser mineralogischen Verfassung, weshalb ich mich überaus eingehend mit dem Schlafen eingelassen habe, der steinähnlichsten Beschäftigung" (Br. M T T , 384). Doch Kaßners Satz vom Opfer ging ihm auch weiterhin nach, denn am 20. Juni 1914 setzte er ihn als Motto über ein Gedicht, das er noch am gleichen Morgen mit folgenden Worten an Lou Andreas-Salomé sandte: „Lou, liebe, da ist ein wunderliches G e d i c h t , . . . das ich Dir gleich schicke, weil ichs unwillkürlich ,Wendung' ( A W I, 321) nannte — weils die Wendung darstellt, die wohl auch kommen muß, wenn ich leben soll" (Br. 1,506). W i r haben die wesentlichen Verse dieses Gedichtes schon an anderer Stelle angeführt (s. o. S. 156). Offenbar hatte Kaßners Motto für Rilke eine Beziehung zu dessen Inhalt, und es läßt sich wohl annehmen, daß diese Beziehung zwiefältiger Art war: „für und gegen mich". Während der „Rodin-Periode" hatte er für die Bilder in sich selbst „Werk des Gesichts" getan, und zwar „innig entbehrend, / flehend im Grunde des Blicks", das heißt auf Kosten von etwas, das ihm teuer war. Seine Arbeit hatte der Wärme und Liebe entbehrt und ihn so ohne weitere Inspiration gelassen. Aus ungezählten Mädchen hatte er das eine „innere Mädchen" in sich ausgebildet, und doch hatte er es noch nicht lieben gelernt. So scheint es, als habe Rilke empfunden, daß er etwas Kostbares, nämlich die warme, inspirierende Liebe, geopfert habe und deshalb mit Unfruchtbarkeit geschlagen wurde. Doch ein derartiges Opfer meinte Kaßner keineswegs, der Rilkes Leben und Werk bis in die Tage ihrer Pariser Gespräche hin gut kannte. Dagegen war die Liebe, die Rilke seit dem Juni 1914 zu üben beschloß, ebendie zu seinem „inneren Mädchen, / diesem errungenen aus tausend Naturen". Mit anderen Worten — er beschloß, Frauen nur noch zu lieben, um sein „inneres Mädchen" zu bestätigen. Die jüngst mit Benvenuta durchlebte Erfahrung hatte ihn dies gelehrt, wenn die unmittelbare Wirkung dieser Lehre auch nur wenige Monate anhielt. Rilkes Gedicht unterscheidet offenbar zwei Arten des Opfers: das eine, unzulängliche, fordert die Aufgabe warmer Inspiration zugunsten bildnerischer, kühler Objektivität, das andere besteht in der Aufgabe des „Werks des Gesichts" zugunsten einer neuen inspirierenden Liebe, die allein dem „inneren Mädchen" vorbehalten bleibt. Nach dem Ton des Gedichtes und den Lou AndreasSalomé gegebenen Erläuterungen zu urteilen, meinte Rilke wohl, daß diese beiden Schaffensweisen ein echtes Opfer verlangten, daß aber jenes, welches die Liebe zu seinem „inneren Mädchen" forderte, ebendas war, welches Kaßner im Sinne hatte und welches den Weg zur Größe führte. Kaßners Ausspruch konnte sowohl „für und gegen" Rilke sein. Daß Rilke es so verstand, wird durch die Definition des Opfers bestätigt, die er Benvenuta gab, noch ehe er ihr persönlich begegnet war. „Was ist Opfer?" fragt er. „Ich meine, es ist nichts anderes, als der grenzenlose, nirgends 210
mehr einschränkbare Entschluß eines Menschen zu seiner reinsten inneren Möglichkeit" (Br. Benvenuta, 97). Das war jedoch keineswegs Kaßners Auffassung. In einem 1927 zum Gedächtnis Rilkes verfaßten Aufsatz sagt er: „Er (Rilke) wollte das Opfer nicht, besser: er wollte wohl das Opfer des Alten Bundes (die Früchte des Feldes, ein Lamm oder was sonst von den Dingen einem Menschen lieb ist), aber nicht das des Neuen. Er wollte nicht, daß wir das M a ß erst durch das Opfer gewönnen. Vielleicht weil er fühlte, daß man schon Gott sein müsse, um dann mehr als bloß anmaßend zu sein . . . Nein, er verstand und begriff das Reich des Sohnes nicht . . ." (Das Inselschiff, 121). Kaßner, dem es wohl möglich war, sich eine unmittelbare Vorstellung von der Haltung Rilkes zu machen, besteht auf ebendieser Unterscheidung zwischen dem Reich des Vaters und dem des Sohnes. Er hatte sie offenbar ursprünglich in der Upanischad gefunden. Soweit es die vorliegende Frage betrifft, liegt der Unterschied wohl darin, daß der Vater als höchster Herr und letzte Instanz die Art des Opfers bestimmt, die er wünscht — ein Supremat der freien Entscheidung, der Rilke zweifellos zusagte. Demzufolge genießt der Vater offensichtlich das beneidenswerte Vorrecht steter und neuer Schöpfung, die keines Mittlertums bedarf. Die der Herrschaft des Vaters über sein geschaffenes Reich innewohnende Gesetzlichkeit bewahrt ihn unberührt von aller unerwünschten Willkür oder Selbstherrlichkeit seiner Schöpfung, für ihn ist es weder Anmaßung noch Raub, wenn er das Maß aller Dinge und aller Verhältnisse zu sein verlangt. Doch der Sohn muß den Vater gleich Christus auf dem ö l b e r g bitten: „Vater, willst du, so nimm diesen Kelch von mir; doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe." Daß Rilke diese Art der Selbstaufopferung ablehnte, ist offenbar genug: „Denn Engel kommen nicht zu solchen Betern" ( A W 1,167). Der freiwillige Verzicht auf die eigene Freiheit, die Bereitschaft, den eigenen Genius zu opfern, war eine Ungeheuerlichkeit, die keiner Erwägung bedurfte. Zweifellos werden viele geneigt sein, Rilke zuzustimmen. Doch ist es eine Sache des Gesichtspunktes, ob Mönchtum und Heiligkeit Ungeheuerlichkeiten oder höchster Ausdruck wahrer Freiheit sind. Ehe man Rilke beipflichtet, tut man zudem gut, sich zu erinnern, daß er das, was er Gott verweigerte, für sich selber forderte und daß er die Kunst als „eine Bewegung gegen die Natur, als eine Umkehrung der Kräfte" bezeichnete. „Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang"
(I.EI.).
Der furchtbare, unsinnige Wille zur Kunst (Rilke et Merline, 93), das heißt sein eigener schöpferischer Dämon, war Rilkes höchstes Gesetz. Auf diesem Altar war er alles zu opfern bereit, selbst treue und bindende Liebe, sein eigenes wie der Geliebten Glück. 14»
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Rudolf Kaßner ging nicht fehl, als er Rilkes Welt als die des Vaters bezeichnete. Man weiß, daß Rilke die Bibel sein ganzes Leben lang mit großem Eifer las. Nach den Anmerkungen zu urteilen, die er in der seinigen notierte, war es vor allem das Alte Testament und besonders der Psalter, der ihn anzog (Sievers, 9). In den Psalmen unterstrich er gerade jene Stellen, die im Leben des Menschen ein Ringen um Gott sehen. Zu Psalm 50, dessen 9.—13. Vers er unterstrich, und zum darauffolgenden Psalm 51, 1 ff. schrieb er an den Rand: „Gott nimmt nichts an." An dieser Stelle lauten die Gebete des Psalmisten: „Denn du hast nicht Lust zum Opfer . . . Ich will nicht von deinem Hause Farren nehmen noch Böcke aus deinen Ställen. Denn alle Tiere im Walde sind mein und das Vieh auf den Bergen, da sie bei tausend gehen . . . Meinst du, daß ich Ochsenfleisch essen wolle oder Bocksblut trinken?" Für Rilke bestätigten diese Worte offenbar die Sinnlosigkeit des Opfers, welches ja eigentlich von der Voraussetzung ausgeht, daß der Mensch etwas für sein Eigentum hält, während in Wahrheit alle Dinge ausschließlich und stets Gott gehören. In diesem Sinne waren die Worte des Psalters Rilkes künstlerischem Instinkt höchst genehm. Ebenso stimmte er der Bemerkung Rodins freudig zu, daß es der Nachfolge Christi des Thomas a Kempis nichts von der Wahrheit und Weisheit nähme, wenn man in diesem Buche an die Stelle des Wortes „Gott" das Wort „Kunst" setzte (Br. II, 192—193). Nennt der Dichter-Mönch im Buch von der Pilgerschaft Gott seinen Sohn, seinen Erben, so sieht er darin keine Blasphemie, denn er will ihm all seine Liebe geben, obwohl er weiß, daß er keinerlei Erwiderung finden wird. Wenn der Vater auch ist wie ein „verwelktes Wort in alten Büchern, die man selten liest", was tut das schon? Ist nicht der Sohn sein Sohn? Und ist der Sohn nicht „alles, was der Vater war, und der, der er nicht wurde?" (AW I, 60—61). Das kann doch nur bedeuten, daß der Sohn in einem hervorragenden und gesteigerten Sinne Vater ist. Rilke betonte häufig, daß er niemals auch nur den mindesten Trieb verspürt habe, seinen Leib zu kasteien, um jene Gnade des schöpferischen Zustandes zu erlangen. Wie schon gesagt, bedurfte er vor allem anderen eines vollkommenen Einvernehmens zwischen Leib und Seele. „Ich werde nie zu denen gehören, die eine Vermehrung des Geistes herstellen konnten, indem sie ein Versagen des Körpers ausnutzten; . . . dieser Körper hat zu inbrünstig an den Reichtümern meiner Seele mitgewirkt" (Salis, 128—129). Rilke konnte allein aus einem Zustand völliger Konzentration heraus schaffen, in dem jegliches Bewußtsein eines Dualismus zeitweilig aufgehoben schien. Er selbst litt unter dem Zwiespalt zwischen seinem Ich und der es umgebenden Welt, zwischen dem Ich und Gott, zwischen Leib und Seele, Kunst und Leben. Oftmals wurden diese Gegensätze zum eigentlichen Gegenstand seiner Dichtung, doch konnten sie nur dann in seine Gedichte eingehen, wenn die disharmonischen und quälenden Widersprüche in schöpferischen 212
Augenblicken aufgehoben wurden. Diese zerreißenden Konflikte mußten in einem einzigen vereinenden Ansturm überwältigt werden, um so, unterworfen und verwandelt, in der plastischen Form seines Gedichtes emporzutauchen. Doch vermochte Rilke diese Harmonie keineswegs jederzeit oder mit jedem widerstrebenden Element seiner Erfahrung zu erlangen. Einige dieser Elemente des Zwiespalts widersetzten sich jeglicher Sublimierung und bedrohten sein geistiges Gleichgewicht trotz aller Bemühungen beständig. So fand er heroische Worte der Einsicht und der Hinnahme, wenn er die körperlichen Leiden anderer deutete, doch wenn Krankheit das Gleichgewicht seiner eigenen schöpferischen Kräfte zerstörte, war er verwirrt und hilflos. Zudem enthüllte auch das noch so glanzvoll Gelungene immer wieder Risse, sobald der Rausch des Augenblicks vorüber war. Der Gott des Stundenbuches, den er mit so melodischer Süße und einem solchen Reichtum an Bildern besungen hatte, rückte ihm immer ferner, je trügerischer sich seine warme Nähe erwies, während seine Gegenwart und Macht auch weiterhin in dunklen Winkeln unheimlich lauerte. Ebenso verlor der Orpheus der Sonette, dessen gewaltige Natur den Reichen des Lebens wie des Todes entsprungen war, dessen Rühmung noch den Moder der Könige einbezog, der Schalen mit rühmlichen Früchten weit in die Türen der Toten hielt (Son. I, 7), seinen Zauber und seine Macht, als der Tod des Dichters herannahte (Br. M T T , 9 5 5 - 9 5 6 ) . Und doch hatte Rilke recht, als er schrieb: „In einem Gedicht, das mir gelingt, ist viel mehr Wirklichkeit als in jeder Beziehung oder Zuneigung, die ich fühle. W o ich schaffe, bin ich wahr, und ich möchte die Kraft finden, mein Leben ganz auf diese Wahrheit zu gründen, auf diese unendliche Einfachheit und Freude, die mir manchmal gegeben ist" (Br. 1902—06,115). In Augenblicken losgelöster Überlegung fand er zuweilen eine Formel für jenen Zustand, in dem die Gegensätze aufgehoben waren: „In der Hingerissenheit einiger Liebender oder Heiliger . . . (wird) Absage und Ausfüllung identisch" (Br. Muzot, 142). Die Erfahrung des schlechthin Möglichen, ja selbst des Unmöglichen wird noch als ein Zuwachs an innerer Wirklichkeit, an Besitz empfunden. Noch das Abwesende vermag in einem echten Sinne zu den Freuden des Gegenwärtigen beizutragen (AW I, 384; 403). Geist und Seele des Menschen erstrecken sich über den einer Pyramide gleichenden Bereich des Bewußtseins und des Unterbewußtseins: in seiner Spitze entstehen die Handlungen und Entscheidungen unseres gewöhnlichen, alltäglichen Lebens, während in der tiefsten und breitesten Schicht jene Gegebenheiten des irdischen Daseins wurzeln, für welche Raum und Zeit und alle einander ausschließenden Gegensätze bedeutungslos sind (Br. Muzot, 2 9 1 - 2 9 2 ) . 213
36. D A S REICH DES V A T E R S Künstler sein heißt: nicht rechnen und zählen; reifen wie der Baum. (Br. 1,47) Noch in einer anderen Beziehung können uns Kaßners Anschauungen dazu dienen, diejenigen Rilkes zu erklären, obwohl es dem letzteren offensichtlich einige Schwierigkeiten bereitete, sie zu verstehen, oder doch sie anzunehmen und ihre Anwendbarkeit auf sich selbst zu erkennen. W i e für Kierkegaard, den er bewunderte, lag auch für Kaßner die Bestimmung des Menschen und die Lösung seiner Lebensfragen außerhalb des Bereichs der Kunst. Doch hatte er gründliche Studien zu Physiognomie und Charakter des europäischen und asiatischen Menschen gemacht und war so imstande, Komplexe zu entwirren, die Rilke zutiefst durchlebt hatte. In der Geschichte der Menschheit hatte sich nach Kaßners Anschauung das vorwiegende Bewußtsein vom Raum zur Zeit, der Sinn für Architektur mehr zur Musik hin verschoben. In der Frühzeit war die Vorstellung von einer Entwicklung, von einem linearen Fortschreiten ad infinitum noch unausgesprochen. Statt dessen herrschte ein Gefühl für die Metamorphose vor, für die Austauschbarkeit aller Dinge, die in dem geschlossenen, endlichen Universum im Innersten eines Wesens waren. Entwicklung betont eine stetig fortschreitende Sonderung von Individuen, Typen und Gattungen; Metamorphose weist auf die wesenhafte Einheit des Grundstoffs, dessen Form allein sich in abgeschlossener Bewegung umbildet. In einer solchen metamorphen Welt war das Bewußtsein der Individualität in ihrer eigentlichen Unmitteilbarkeit und Selbständigkeit noch urierweckt und unwirksam. Alles war magisch: Name, Bild und Ding waren austauschbar, Quantität und Qualität, Subjekt und Objekt, Tod und Leben waren noch keine unvereinbaren Gegensätze. Die Architektur der alten Ägypter war vor allen Dingen räumlich und spiegelte eine zeitlose Welt wider. Der Überfluß an Lebenskraft fand Raum in den mächtigen Bauwerken, die den Jahrhunderten trotzten, nicht in Flugversuch und Schnelligkeit (Son. II, 22). In den griechischen Bildwerken lag schon mehr Bewußtsein von Zeit und Bewegung, während das höchste M a ß an Bewegtheit im Zeitalter des Barock seinen Ausdruck fand. Auch das Alte Testament war noch weitgehend von magischer Unmittelbarkeit erfüllt. Noch lag die Beziehung zwischen Gott und Welt mehr in jener zwischen Gott und seinem auserwählten Volk in dem 214
ihm ausersehenen Lande als zwischen Gott und dem Individuum. Wurden Tiere und die Früchte des Feldes geopfert, so war dies ein Sinnbild für die Ergebenheit der Stämme, kein Ausdruck der Sühne oder Hingabe des einsamen Herzens. In dem Maße, wie das Bewußtsein der Zeit und der Individualität wuchs, erlosch der Sinn für die innerste Ganzheit, für den magischen Kreis von Dingen und Ereignissen fast ganz. Dieser Vorgang hatte schon in der vorchristlichen Zeit seinen Anfang genommen und spiegelte sich vor allem im Wesen und Denken des Sokrates wider. Als Christus auftrat, hatte der Individualismus mit seiner geschärften Bewußtheit von Sünde und persönlicher Schuld, von Vergänglichkeit und Tod, vom diesseitigen und jenseitigen Leben ein kritisches Stadium erreicht. Die westliche Kultur ist durch einen zunehmenden Sinn für das Historische und damit durch einen wachsenden Relativismus gekennzeichnet, und das Gefühl für das Absolute nahm dementsprechend ab. Hingegen tritt die Bedeutung der Zeit in Asien und, in geringerem Maße, auch in Rußland vor der des Raumes zurück, und die Stellung zum Individuum wie zum Tode ist von der des Westens grundverschieden. Hermann Keyserling fiel auf seinen Reisen durch Indien immer wieder die verhältnismäßig geringe Bedeutung auf, die der Einzelne — gegenüber jener, welche die westliche Welt ihm beimißt — im Bewußtsein des Hindus hat (Keyserling I, 671). Die Einwirkung des westlichen Historismus und Individualismus auf die asiatische und russische Geisteshaltung rief in der Seele des Volkes denn auch tiefgreifende Umwälzungen hervor und spiegelt sich in dessen Schrifttum seltsam wider (Kaßner, Zahl, passim). In den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge findet sich eine Episode, die die Wirkungen dieses Einbruchs eindrucksvoll darstellt und bezeichnenderweise in St. Petersburg spielt, von wo der Geist des Westens sich am mächtigsten ausbreitete. Nikolaj Kusmitsch hatte eines Tages den Einfall, die Zeit zu berechnen, die er wohl noch leben würde — ungefähr fünfzig Jahre. Als er sie in Tage, in Minuten und schließlich in Sekunden aufteilte, kam er auf eine Zahl, die größer war als alle, die er je gesehen hatte, und von der ihm der Kopf schwindelte. Für einen Augenblick verspürte er die Furcht reicher Leute, ein weniger Wohlhabender könne ihm vielleicht etwas stehlen. Doch meist fühlte er sich im Gedanken an einen so gewaltigen Besitz erhoben. In einem schrulligen Selbstgespräch ermahnte sein „armes Ich" das reiche, sich nur nichts auf seinen Reichtum einzubilden. „Bedenken Sie immer, daß das nicht die Hauptsache ist, es gibt arme Leute, die durchaus respektabel sind; es gibt sogar verarmte Edelleute und Generalstöchter, die auf der Straße herumgehen und etwas verkaufen." Nikolaj lebte nun so fort; nur des Sonntags brachte er seine Rechnung in Ordnung. Doch bald erschreckte es ihn, wieviel er ausgab, und er beschloß, etwas sparsamer zu leben. Er stand des Morgens früher auf, wusch sich 215
weniger häufig, trank stehend seinen Tee, eilte ins Büro und kam viel zu früh. Er sah nun, daß er von seinem anderen, dem rechnenden Ich betrogen worden war, als er seine Jahre gegen Kleingeld eintauschte. Und so forderte er die ihm verbliebene Zeit in großen Scheinen zurück: vier zu zehn und einen zu fünf Jahren. Den Rest mochte es in Teufels Namen behalten. Doch sein anderes Ich kam dieser Aufforderung nicht nach, und dem reichen Nikolaj rannen die Zehntausende flüchtiger Sekunden weiter durch die Hände. Er konnte sich nur damit trösten, daß er ohnehin nichts von Zahlen verstehe und daß sie schließlich nur eine staatliche, um der Ordnung willen getroffene Einrichtung seien. „Niemand hatte doch je anderswo als auf dem Papier eine gesehen. Es war ausgeschlossen, daß einem zum Beispiel in einer Gesellschaft eine Sieben oder eine Fünfundzwanzig begegnete." Im übrigen war diese trübe Angelegenheit mit der Zeit für jedermann die gleiche, auch wenn er es vielleicht nicht bemerkte. Doch dieser Inkubus ließ sich nicht so leicht abschütteln. Nikolaj Kusmitsch wurde sich der vorübergehenden Zeit mehr und mehr bewußt, bis er schließlich alle diese kleinen Sekunden vorübereilen sah, eine wie die andere, aber schnell, schnell. Er wurde schließlich empfindlich gegen die Drehung der Erde unter seinen Füßen, eine Art Seekrankheit befiel ihn, er torkelte in seinem Zimmer wie an Bord eines Schiffes umher und fürchtete die Straßenbahnen (AW II, 145-151). Diese eigenartige Episode hat ihren Ursprung vermutlich in Rilkes Gespiäch mit Kaßner, der berichtet, daß er sich seit seiner Kindheit fragte, warum nicht statt eines Kieselsteins einmal eine Zahl am Wege liege (Kaßner, Erinnerung, 144). Selbst der Name Kusmitsch findet sich in einem der Kaßnerschen Dialoge, Der Aussätzige (1914), in dem Feodor Kusmitsch als der Mörder des Zars Paul I. erscheint. Zudem nimmt Zar Alexander I., der Sohn Pauls, in diesem Dialog, vom Gedanken an die Mitschuld gepeinigt, die Schuld des Mörders auf sich und führt ein Leben der Einsamkeit und Buße (Kaßner, Chimäre, 47). Wir fühlen uns hier an die Vierte Elegie erinnert, in deren letzten Versen Rilke den Tod als Ende, wie er vom Mörder verstanden wird, dem Tod als dem Leben innewohnend, wie er vom Kinde gelebt wird, gegenüberstellt. Was nun die Geschichte des Nikolaj Kusmitsch in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge anbelangt, so trägt sie offensichtlich den Stempel Rilkescher Karikaturen. Sie schildert mit deutlicher Übertreibung das wachsende Zeitbewußtsein und den Hang zur Reflektion, wie er der Kultur des Westens, zu deren bedeutenden Vertretern Rilke zählte, eigen ist. In Rußland waren diese Züge, wie er meinte, sehr viel weniger ausgesprochen, und wo sie einmal hervortraten, war ihre Wirkung verderblich. Seine Begegnung mit Tolstoj im Jahre 1899 veranlaßte Rilke noch 1913 zu der Erwägung, daß alles wahrhaft Gültige „der Zeit nicht achtet und durch sie durch hinüberstrahlt, sie ein für allemal 216
überholend". Und Dostojewski] deutet die Zeit „wie ein äußerst vorläufiges Bild für das unendliche Geschehen" (Buddeberg, 153). Wie Kaßner darlegte, zeigte Christi Opfer am Kreuz, daß Leben und Tod eines jeden einzelnen ihr eigentliches Wesen voll und ganz enthielten und daß ihnen durch die Tatsache, daß Millionen leben und sterben, nichts hinzugefügt werden könne. Zahlen sind zu einer rein formalen Einrichtung geworden, die über das Wesen der Dinge selbst nichts auszusagen vermag. Quantität und Qualität wurden unwiderruflich voneinander getrennt. Einige andere merkwürdige Stellen in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge mögen besser verständlich sein, wenn man sich dieser Erwägungen erinnert, so zum Beispiel jene, da Malte sich in seiner kleinen Stube in Paris verzweifelt fragt: „Ist es möglich, daß man von den Mädchen nichts weiß, die doch leben? Ist es möglich, daß man ,die Frauen' sagt, ,die Kinder', ,die Knaben' und nicht ahnt (bei aller Bildung nicht ahnt), daß diese Worte längst keine Mehrzahl mehr haben, sondern nur unzählige Einzahlen?" ( A W II, 24). Von allen Versuchen — so meint Kaßner —, die gemacht wurden, um den Sinn für Wert und Größe durch die Wiedereroberung des Absoluten und Ewigen zurückzugewinnen, ist nur der, den Christus uns lehrte, gültig und wirksam. Allein das „christliche" Opfer vermag die Welten, die wir trennten, wieder zu vereinen. Im Orient und in gewissem Sinne auch in Rußland ist die Vorstellung von der Heiligkeit anders als die unsere. Bei uns gründet sich die Askese auf die Verachtung des Leibes und des irdischen Lebens zugunsten der Seele und des Lebens im Jenseits, während dieses im Osten nicht im gleichen Sinne und Maße Bedingung der Heiligkeit ist (Kaßner, Erinnerung, 262—272). Weder der buddhistische Mönch noch der Yogi der Hindus sucht geistige Erkenntnis und Vollkommenheit durch die Kasteiung des Leibes zu erlangen. Wie Hermann Keyserling andeutet, ist die Formel der Heiligkeit im Orient negativ und passiv: man soll dem anderen nicht antun, was man selbst nicht angetan haben will — während die des Westens aggressiv und aktiv ist: tue andern, was man dir selbst tun soll (Keyserling I, 51—52; 140). In dieser wie in mancher anderen Hinsicht ist die Frömmigkeit des Russen der des Hindu auffallend ähnlich (Keyserling I, 229). Aufs ganze gesehen, ist es jedoch offenbar genug, daß Rilke ein höchst übertriebenes Bild, eine Art Karikatur vorschwebte, als er den Westen so geißelte, während Rußland, der Gegenstand seines Lobes, ihm wie eine ideale Welt erschien, in der der Dualismus des Westens unwirksam war. Doch war Rilke sich dieser Voreingenommenheit wohl bewußt. „Hab ich das Errungene gekränkt, nichts bedenkend, als wie ich mirs finge, und die großgewohnten Dinge im gedrängten Herzen eingeschränkt?" (SG, 22—23) 217
fragt er in einem Gedicht, das im Juni 1914, einen oder wenige Tage vor dem Gedicht Wendung, entstand. Andrerseits schreibt er, um seine unbeirrbare Haltung selbst dem Häßlichen und Krankhaften gegenüber zu verteidigen: „Man müsse mich, sagte ich, schon in meiner Hingabe gewähren lassen, selbst wo sie zu unbedingt, selbst wo sie unhaltbar scheint. Glauben Sie mir, es muß, damit die Welt vollzählig sei, gelegentlich auch einer da sein, der in seiner Hingabe bis zur Unvorsichtigkeit geht" (Br. II, 12). Und im Hinblick auf die Sonette wird man kaum leugnen, daß jener „Baum der Ekstase" herrliche Früchte trug. Zudem muß man wohl zugeben, daß das einseitige Herausheben eines Dinges in seinen Höhen und Tiefen, das Übersteigern in der einen oder anderen Richtung schließlich die Mitte hervortreten läßt, jene Mitte, die Rilke in einer Anzahl von Gedichten preist. West und Ost wurden Rilke zu Symbolen zweier gleich gewichtiger Grundzüge seiner selbst und des Menschen schlechthin: sie verkörpern ihm das Verlangen nach dem Eilenden, unendlich Fortschreitenden und die Sehnsucht nach immanenter Bewegung in einer endlichen Welt. Rilke, der auf der Grenze zwischen West und Ost geboren war, durchlebte beides mit gleicher Hingebung, aber er glaubte an eine Verirrung des Westens, die hätte vermieden werden können und sollen. Nach Herkunft und Kultur war er selbst ein Opfer aller der Widersprüche des christlichen Westens. So suchte sein schöpferischer Geist Zuflucht in einer weniger geschichtsbewußten Welt, in der man diese Widersprüche übergehen konnte. Doch konnte man darüber hinweggehen, welchen Sinn hatte dann Christus und sein Opfer, das doch zu besagen scheint, daß zwischen Leben und Tod nach Zeit und Art eine tiefe Kluft besteht? In der räumlichen, unhistorischen Welt, in der an Stelle der entwicklungsbedingten Veränderungen die Metamorphose, die Verwandlung steht, ergänzen Leben und Tod einander und sind nur verschiedene Aspekte der gleichen Erscheinung. Welchen Sinn hat da die Erbsünde oder die Sünde schlechthin, die Erlösung und damit die Selbstaufopferung? Wenn es zudem wahr ist, daß Ost und West zwei einander ergänzende Seinsweisen darstellen, die gleichermaßen in der menschlichen Natur begründet sind, und wenn wir bedenken, daß sie nie zuvor in der Geschichte einander so bewußt wurden wie heute, dann dürfen wir vielleicht darin einen der Gründe für das wachsende Interesse an einem Dichter sehen, dessen Art zu erleben auf Verständigung und Ausgleich hinzudeuten scheint. So mancherlei in Rilkes merkwürdiger Art, zu erleben, hängt mit dem tiefen Verlangen des Künstlers nach Ganzheit inmitten einer von der Zeit beherrschten Welt zusammen. So lange er das Dahinfließende zu einem Zirkel zu runden vermochte, in dem jeder Augenblick zugleich Anfang und Ende war, galt es allein, das angemessene Symbol zu finden, und die magische Welt wurde innere Wirklichkeit. Doch wenn äußere Umstände, 218
wie etwa ein Krieg, den Zusammenhang plötzlich gewaltsam zerbrachen, so wurden Rilkes schöpferische Kräfte zerstört, und er war wie ein steuerloses Schiff. Und das betraf den Menschen wie den Künstler. Kein Wunder, daß er die Tiere beneidete, deren Blick sich einem reinen ungeteilten Räume öffnet und die von Tod und Vergangenheit nichts wissen. Und je größer die Unwissenheit, desto tiefer war der Neid. Denn in dieser Hinsicht gibt es eine Hierarchie im Reich der Tiere. Die in einem Schöße ausgetragen wurden, bewahrten eine dunkele „Erinnerung, als sei schon einmal das, wonach man drängt, näher gewesen, treuer und sein Anschluß unendlich zärtlich. Hier ist alles Abstand, und dort war's Atem." Diese Tiere spüren instinktiv, „daß wir nicht sehr verläßlich zuhaus sind / in der gedeuteten W e l t " . Die Vögel hingegen, die im Nest geboren wurden, scheinen unabhängiger von der Schwerkraft, die der Erinnerung gleicht. Doch ihr Nest ist immerhin wie ein von der Erde ausgeliehener Schoß, und ihr Flug in die offenen Räume befreit sie nicht völlig vom Gewicht ihres irdischen Ursprungs. Und wie bestürzt ist die Fledermaus, die geflügelt ist wie ein Vogel und die Erinnerung an den Schoß mit sich trägt. „Wie vor sich selbst erschreckt, durchzuckts die Luft, wie wenn ein Sprung durch eine Tasse geht. So reißt die Spur der Fledermaus durchs Porzellan des Abends." Das Tier, das am ehesten Lebensfreude empfindet, die durch keine Trennung der Geburt getrübt wurde, ist die Mücke. Diese kleine Kreatur bleibt immer in dem Schöße, der sie trug: Schoß und Welt, in der sie lebt, sind eins. „ O Glück der Mücke, die noch innen hüpft, selbst wenn sie Hochzeit hat: denn Schooß ist Alles." Von hier kommt ihre „Innigkeit" (Achte Elegie). Doch liegt nicht nur Neid in Rilkes Lobpreis der Mücke. Er sieht in dem Ursprung des Menschen im Schöße ein Beispiel dafür, wie sich auf einer anderen Ebene die dichterische Schöpfung vollziehen muß. Denn in dem Maße, wie äußere Ereignisse und Wirklichkeiten vom inneren Vorgang der Schwangerschaft ausgeschlossen sind, wird der Mensch im Mutterschoß in sich selbst Welt. Und ebendieses muß auch der Dichter wieder werden: Welt, Weltinnenraum, ganz und rund, durch keinerlei äußere, zufällige Gegebenheiten bedrängt. 219
T E I L VII
ELEGIE U N D
ORPHEUS
Aber ein Turm war groß, nicht wahr? O Engel, er war es, — groß, auch noch neben
dir? (Siebente Elegie)
37. LEBEN I S T S T E R B E N Vous ne pouviez vous comprendre sans restriction aucune, car vous êtes le poète de la vie — de la vie belle, terrible, joyeuse, tragique . . . mais toujours de la vie — et lui était le poète de la mort! . . .
Fürstin Marie von Thum und Taxis an Hugo von Hofmannsthal (Br. MTT, 962)
Verglichen mit der vielfältigen Verflochtenheit der menschlichen W e l t , sind die Bahnen der Himmelskörper im Weltall einfach. W i r wissen nicht allein, daß die Sonne des Morgens auf- und des Abends untergehen wird, wir können diesen Augenblick auch für jeden T a g des Jahres auf die Minute genau berechnen. W o Gewißheit herrscht, ist für Furcht kein Raum. Doch wer weiß, welcher Same aufgehen wird und wann — und wer von uns morgen sterben wird? Diese Ungewißheit läßt unsere Erwartungen um so gespannter und furchtsamer werden, je klarer wir wissen, daß stets neues Leben entsteht und wir sterben müssen. Ins Keimen und Wachsen vermögen wir willkürlich einzugreifen, wir können morden und unserem eigenen Leben, wenn wir wollen, ein Ende machen. Nach der Bibel k a m der T o d durch den Brudermord in die W e l t . Die leblosen Dinge ruhen furchtlos im harmonischen Spiel der Naturkräfte, doch der Mensch vermag diese Kräfte mit mutwilliger Unbesonnenheit zu stören und Unsicherheit hervorzurufen. D e r Vogel singt sein schlichtes Lied aus ungetrübtem Trieb, während der Mensch seine Freude in Schweigen hüllen und seine Gleichgültigkeit hinter einem Liede verbergen kann. Sein Schrei wird von innerem Widerspruch zerrissen, und so treibt er einen Keil in die arglose Natur. Als G o t t die W e l t erschuf, sagte er „leben" laut und „ s t e r b e n " leise ( A W I , 12). Es gab den Tod, gewiß, aber als natürliche Ergänzung des Lebens erweckte er keine Furcht. D e r Mensch starrte nicht in bewußter Rückwendung gegen sich selbst auf den Tod, er ging nicht voller Furcht wie auf einen Abgrund darauf zu. W e i l er ihn in sich trug, hatte er ihn hinter sich, wiewohl er ihn noch vor sich hatte. Sein Blick prallte nicht von einer undurchdringlichen W a n d zurück, hinter der sich Dunkelheit verbarg, sondern ging ins Offene wie der Blick des Tieres (Achte Elegie). Ist der Tod nahe, so schaut der Mensch „vielleicht mit großem Tierblick" und sieht den Tod nicht mehr. Natur ist allenthalben Gesetz, der freie Mensch lebt dahin und ist in jedem Augenblick dem Zufall preisgegeben. Gesetz gibt Sicherheit; in seinem Bereich ist der T o d mit dem Leben ebenso im Einklang wie 223
die Geburt. Der Zufall ist wankelmütig, er trennt Geburt und Tod voneinander, löst das Leben von ihnen und macht es unendlich zerbrechlich, einem Geschick unterworfen, das es zugleich sucht und flieht. Rilkes Mißtrauen gegen die menschliche Freiheit als eine Quelle der Willkür und der Arglist steht nur scheinbar im Widerspruch zu seiner Forderung nach uneingeschränkter Selbständigkeit. Doch gerade es macht diese Forderung nur um so dringender, denn die Willkür des Menschen droht die Absichten und Bestrebungen des Künstlers zu durchkreuzen. Kunst, wie Rilke sie auffaßt, ist Gehorsam gegen das Gesetz in aller seiner Strenge, von innen heraus geleistet, aber frei gewollt. Dieser widersprüchlichen Notwendigkeit, einen bewußten, freien Willen mit blinder, aus dem Innersten kommender Hingabe zu verbinden, war Rilke sich schon zur Zeit seines Florenzer Tagebuches bewußt: „Jetzt bin ich in allen diesen Empfindungen bewußter und werde deshalb in meinem Schaffen naiver sein" (FT, 40). „Wir sind nicht mehr Naive, aber wir müssen uns befehlen, primitiv zu werden, damit wir bei jenen beginnen können, die es von Herzen waren" (FT, 71). Als der Dichter in der Vierten Elegie vor der Bühne mit den Puppen, ihren Bälgen, Drähten und leeren Gesichtern sitzt, ist er entschlossen, dort auszuharren, selbst wenn die Lampen erlöschen und von der Bühne nichts mehr herkommt als ein grauer, kalter Luftzug — er will warten und schauen, bis schließlich ein Engel erscheinen muß, um sein Schauen aufzuwiegen, und die Bälge hochreißt. „Fallen" stimmt besser mit dem Schöpferischen, mit der großen Kunst zusammen als „fliegen"; Demut ist besser als Stolz (AW 1,280). In den Wurzeln liegt die Kraft des Lebens, und die Wurzeln nähren sich aus dem, was starb und begraben wurde. Es ist der Künstler, der die Wahrheit erkennen muß, daß Leben Sterben, daß der Tod nur eine gesteigerte Bewegung des Lebens ist und daß weder Leben noch Tod durch eine willentliche Flucht in ein imaginäres Jenseits entweiht werden dürfen. Die Errettung der Menschheit kann nicht aus dem Schöße derer kommen, die einen Gott gebar, sondern sie muß vom Künstler der Zukunft ausgehen, welcher das Leben in Spaliere aufbinden soll, damit sie einen vergöttlichten Tod hervorbringen, der in der Wärme eines südlichen Klimas herrlich heranreift (AW I, 93). Der Künstler ist es, der den Tod seinem rechtmäßigen Besitzer zurückgibt: dem Leben. Rilkes Beschäftigung mit dem Tode war alles andere als ein ästhetisches Geplänkel oder eine romantische Flucht. Wohl war es in gewissem Sinne eine Flucht, doch sein eigentlicher Antrieb lag, außer in der Furcht, in dem tiefen Verlangen, sich dem Leben auf dieser Erde, die er weder verlassen noch verachten wollte, unverzagt zu stellen. Für ihn war der Versuch, den Tod durch die Kunst und nicht durch die Religion zu überwinden und dem Leben so seinen wahren Wert zurückzugeben, der 224
Wirklichkeit höchst gemäß. Wenn dieser Versuch in kritischen Augenblicken seines Lebens fehlschlug, so besagt das nichts über die Echtheit seiner Haltung und ihren künstlerischen Ausdruck. In Wahrheit barg Rilkes elementare und alptraumhafte Todesfurcht eine nie erlahmende Herausforderung an seinen Lebenstrieb und seinen schöpferischen Dämon. Wir können den Gang dieser mühseligen Arbeit von seiner frühen Kindheit, als seine Vorstellung noch von den Bildern des katholischen Glaubens erfüllt war, bis hin zur letzten Klarheit des orphischen Mythos in den Sonetten verfolgen. In seinen Tagebüchern und Briefen wie auch in seinen Gedichten ist er beharrlich und unablässig bemüht, Formeln und Symbole zu schaffen, durch die er den Tod nicht allein zu bewältigen und zu zähmen, sondern dessen gewaltige Macht zudem der Förderung seiner schöpferischen Ziele nutzbar zu machen hoffte. Im Jahre 1898 sah er in Viareggio jenen Barmherzigen Bruder, der, Haupt und Gesicht mit einer schwarzen Kapuze bedeckt, welche nur Augenlöcher gestattete, inmitten des üppig duftenden Gartens stand: der Tod in der warmen, ihm zusagenden Atmosphäre von Überfluß und Leben (FT, 81—86). In Die weiße Fürstin, die ihren Ursprung dem Erlebnis von Viareggio verdankt, schildert ein Bote der Fürstin die grausigen Schrecken des Todes, die der Ausbruch der Pest über die Umgegend gebracht hat (FG, 123—124): „Ihr habt das nicht gesehen, wie der Tod da kommt und geht, ganz wie im eignen Haus; und ist nicht unser Tod, ein Fremder aus . . . aus irgendeiner grundverhurten Stadt, kein Tod von Gott besoldet." Doch die Prinzessin, deren Augen träumerisch zur See hin irrten, sagt (FG, 1 3 3 - 1 3 4 ) : „Sieh, so ist Tod im Leben. Beides läuft so durcheinander, wie in einem Teppich die Fäden laufen; und daraus entsteht für einen, der vorübergeht, ein Bild. Wenn jemand stirbt, das nicht allein ist Tod. Tod ist, wenn einer lebt und es nicht weiß. Tod ist, wenn einer gar nicht sterben kann. Vieles ist Tod; man kann es nicht begraben. In uns ist täglich Sterben und Geburt, und wir sind rücksichtslos wie die Natur, die über beiden dauert, trauerlos und ohne Anteil. Leid und Freude sind nur Farben für den Fremden, der uns schaut. 15 G r a f t , R i l k e
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Darum bedeutet es für uns so viel, den Schauenden zu finden, ihn, der sieht, der uns zusammenfaßt in seinem Schauen und einfach sagt: ich sehe das und das, wo andere nur raten oder lügen." Diese frühe Dichtung enthält die Essenz der bitter-süßen Todesfurcht Rilkes. Im innersten Kern unseres Wesens schrecken wir vor dem Tode in angstvollem Widerwillen zurück, und unsere Einbildung ist jederzeit bereit, unserer Furcht in Schreckbildern Gestalt zu geben. Rilke war nicht fähig, sich jemals gänzlich von diesen gräßlichen Vorstellungen zu befreien. Wie Gespenster gehen sie durch sein Werk, hier erschreckend greifbar, dort bedrängend unsichtbar. Das Buch von der Armut und vom Tode, die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, die Elegien — alle sind sie auf diese oder jene Weise erfüllt davon, und in den Neuen Gedichten lauern sie aus jeder Spalte. Unter allen möglichen feindseligen Wirklichkeiten war der Tod die furchtbarste. Seine Unentrinnbarkeit konnte nicht geleugnet und mußte docii bewältigt werden. Wenn jemals schöpferische Magie notwendig war, so war sie es hier. Weder die althergebrachten religiösen noch die üblichen weltlichen Auskünfte konnten hier Hilfe bieten: die ersteren versagten wegen ihrer metaphysischen Voraussetzungen, die letzteren wegen ihrer seichten Spitzfindigkeit. Hier wurde nur „geraten oder gelogen". Beide wiesen Leben und Tod getrennte Bereiche zu, die nur durch einen nach einer Richtung gehenden Weg verbunden waren. Sollte die dunkle Macht des Todes wieder in den Dienst des Lebens gestellt werden, so war allein der Künstler dazu fähig und verpflichtet, denn nur er vermag uns zu sehen, wie wir wirklich sind. Er ist es, „der uns zusammenfaßt in seinem Schauen und einfach sagt: ich sehe das und das". Wie in allen anderen Gegebenheiten objektiver Wirklichkeit gab es auch hier für den Künstler nur einen Weg: er mußte die Andersartigkeit und Fremdheit des Todes entmächtigen, indem er ihn in die Vertrautheiten seines eigenen Wesens hereinholte. Weil es in diesem Innenraum, „Weltinnenraum", keine Grenze zwischen Leben und Tod, zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gab, konnte er in endlosen Verwandlungen kommen und gehen, zusammen mit dem „inneren Mädchen" und mit all den anderen „Einzahlen", die aus den unzähligen „Mehrzahlen" gewonnen waren. Solange dieser inneren Welt gebändigter Dämonen Wahrheit und Wirklichkeit gegeben werden konnte, war von den Härten des Lebens, von leeren Pflichten und Verpflichtungen nichts zu fürchten. Aber schließlich und endlich läßt jedes poetische Symbol, wie befriedigend es sonst auch sein mag, einen Rest von Wirklichkeit zurück, der der völligen Anverwandlung 226
widersteht. Denn nicht allein, daß die nackte Tatsache des Todes im Grunde von künstlerischer Sublimierung unberührt bleibt, wird das sublimierende Symbol, je zutreffender und angemessener es ist, die quälende Furcht des Künstlers nur um so klarer enthüllen, ebenso wie das Elend der Armen, die Verzweiflung des unerhörten Liebhabers, die Leiden der verlassenen Frau oder des verlassenen Kindes und jedes andere Übel des Lebens durch die „erlösenden" Symbole des Dichters in Wirklichkeit nur um so deutlicher hervortreten. Nikolaj Kusmitsch vermeidet schließlich jegliche Bewegung, liegt fest zu Bett und sagt sich beruhigende Gedichte her, die ihn die dahinfließende Zeit vergessen machen sollen (AW II, 150). Ja, gewinnt nicht so das bestürzende Problem der Vergänglichkeit nur noch schärferen Umriß und bleibt dennoch ungelöst?
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38. KONZENTRIERTER ODER VERDÜNNTER TOD? O Herr, gib jedem seinen eignen Tod. (Stundenbuch)
Alle Rilkeschen Deutungen des Todes haben eines gemeinsam: sie stellen ihn mitten ins Leben. Angesichts der ungeteilten Ganzheit des Mondes nennt er den Tod die unsichtbare Seite des Lebens, oder er stellt ihn mit den anderen alltäglichen Erfahrungen der Einbuße wie Verlust, Abschied und Trennung auf eine Ebene. Alle diese inneren Ereignisse sind Abarten des Todes, die sich nicht begraben lassen. Im Verlauf des Lebens sterben wir in jedem Augenblick. In dem Requiem für eine junge Freundin Clara Westhoffs (November 1900) erwägt der Dichter: „Leben ist nur ein T e i l . . . Wovon? Leben ist nur ein Ton . . . Worin? . . . dein Tod war schon alt, als dein Leben begann; drum griff er es an, damit es ihn nicht überlebte"
(BB, 164; 168).
Im Buch der Bilder hockt der Tod im Panzer des Ritters und wartet begierig, daß der Harnisch durchstoßen werde, damit er sich ausstrecken und ausdehnen kann (BB, 11). Der Tod „nimmt alle in die Hand . . . Er ist kein Fremder, denn er wohnt im Blut". Der Dichter kann nicht glauben, daß er Unrecht tut, obwohl er viel Böses von ihm hört (BB, 64). Im Schlußgedicht des gleichen Buches sind wir „die Seinen lachenden Munds" (BB, 169). Der Tod wird als ein Teil des Lebens verstanden, und so erscheint er einmal als Samen, der langsam wächst und sich zur reifen Frucht vollendet, dann wieder als eine verdünnte Essenz, die unser ganzes Wesen und das ganze All unsichtbar durchdringt. Das Symbol von Samen und Frücht wurde vor allem in der Periode des Stundenbuches und des Malte entwickelt. Im Zusammenhang damit kam es zur Unterscheidung zwischen dem „eigenen" und dem „uneigenen Tod", der unter den Menschen der modernen Städte so allgemein wurde (AW I, 92 ff.). Der letztere verdankt die Einbuße an Eigentlichkeit dem Einfluß .des Verhaltens und der Anschauungen der Massen sowie dem in der zur Institution gewordenen Medizin und Religion begründeten Einebnungsprozeß, die den wahren, •eigenen Tod zu einem bloßen exitus letalis machten, der zur Diagnose einer Krankheit gehört, oder zum Duft von Blumen und zum Weihrauch 228
in einer gotischen Kapelle. Mehr und mehr wird der Tod der Möglichkeit beraubt, sich zu einer Frucht zu öffnen, die nach dem Menschen schmeckt, in dem sie wuchs, so wie es sich beim Kammerherrn Brigge in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge verhielt (AW II, 14—17). Zu oft wird die Frucht des Todes unreif und grün gepflückt; sie verkümmert und schrumpft in einer Gesellschaft, die Eigenart und Auszeichnung haßt. Aber diese Gesellschaft hat ebendadurch, daß sie den Tod wie einen Vorgang der Degenerierung aus allen Bereichen des Lebens verbannte und ihn soweit wie möglich mit Stillschweigen überging, unser Todesbewußtsein schändlich um ein Tausendfaches gesteigert. Der Tod bedeutet für den gläubigen Christen entweder Himmel oder Hölle, für den freidenkenden Ungläubigen hingegen etwas, das dem vollkommenen Nichts verwandt ist. Im Kinde ist dieses Bewußtsein noch unentwickelt, bis wir es umwenden, „zwingens, daß es rückwärts / Gestaltung sehe, nicht das Offene" (Achte Elegie). Der Tod eines Kindes ist noch ein einfacher, unbefragter Teil seines jungen Lebens wie ein Stück „graues Brot, das hart wird", oder wie der „Gröps von einem schönen Apfel in seinem runden Mund" (Vierte Elegie). Aber wir, die „aufgeklärten" Erwachsenen, schauen stets in eine Welt der Ziele und der beschränkenden Gegenstände, niemals hinaus in den reinen Raum, wir sehen „niemals Nirgends ohne Nicht" (Achte Elegie). Die bekannteste Form des Samen- und Fruchtsymbols findet sich im Buch von der Armut und vom Tode. Der Dichter sieht das höchste Ziel des menschlichen Strebens darin, den Samen des Todes im Schoß des Lebens fruchtbar werden zu lassen und ihn bis hin zur vollen Reife und zur glorreichen Geburt zu nähren (AW I, 94—96). Die Gesellschaft hat das Geschlechtliche so herabgewürdigt und preisgegeben, daß Mutterschaft oft der Hurerei weichen muß, daß die Zeugung angekränkelt ist und nur ein kläglicher Embryo in schmerzvollen Wehen vorzeitig zur Welt kommt. Durch die leichtfertige Verzerrung der Werte wurde die Welt unfruchtbar, und selbst der Tod wurde lebensunfähig wie eine Fehlgeburt (AW 1,94). Wir haben uns so daran gewöhnt, den Tod mit billigem Aufputz zu schmücken, daß unsere Zivilisation den Vorraum des Leichenbestatters zu einem Schönheitssalon gemacht hat, wo junge Mädchen hergerichtet werden, als wollten sie zum Ball gehen. Wir haben den Tod entmächtigt, weil wir das Leben zu einem Putzgeschäft machten, wo „Madame Lamort" en gros die „billigen Winterhüte des Schicksals" verkauft, die mit den „ruhlosen Wegen der Erde" verziert sind wie mit „Schleifen, Rüschen, Blumen, Kokarden und künstlichen Früchten" (Fünfte Elegie). Der starke Tod muß wiedergeboren werden, ein Tod, den der Mensch als den seinen anzuerkennen vermag und den jeder Künstler vorauszuahnen und vorherzusagen berufen ist. 229
Denn der Tod ist der höchste Augenblick des Lebens, der die glatte Gewandtheit der Menschen an den Ort zurückverweist, „wo sie noch lange nicht konnten, noch voneinander abfielen, wie sich bespringende, nicht recht paarige Tiere"
(Fünfte Elegie).
Der Künstler-Mönch des Stundenbuches wußte — wie Rilke selbst es zu jener Zeit wußte, als er sich dieses Spiegelbild schuf —, daß die Menschheit für so unbekannte tiefe Erfahrungen weder bereit noch auch groß genug war, um ihnen eine angemessene Form zu geben. Er spürte, daß der letzte Gebärer dieses großen Todes angegriffen und verfolgt werden würde wie der Totengräber in jener frühen Worpsweder Skizze (1899), der den Kirchhof des Dorfes — selbst den ungenutzten, bis dahin ganz verwilderten Teil — in einen Garten voll bunter und duftender Blumen verwandelt hatte. Bald waren die beiden Teile kaum noch voneinander zu unterscheiden, und zuweilen konnte man ein altes Mütterchen an einer Stelle beten sehen, wo sich gar kein Grab befand. Wenn sich die Leute aus dem Dorf auch fernhielten und den fremden Gärtner seinen einsamen Pflichten überließen (nur die junge Gita, des Bürgermeisters Tochter, besuchte ihn ihren Eltern zum Trotze täglich), so hießen sie seine Arbeit doch stillschweigend gut, denn sie ließ sie die Last des Todes leichter tragen. Doch als die Pest in ihrem Dorf zu wüten begann, verlor der schöne Garten all seine Macht und seinen Zauber und erschien ihnen wie eine böse Herausforderung des Todes in seiner ganzen grausigen Abscheulichkeit, und hierfür war ihr geheimnisvoller Totengräber verantwortlich. Wenn ihr Versuch, ihn zu steinigen, ihn unversehrt ließ und allein Gita dabei ums Leben kam, so geschah dies nur, weil ihre mörderische Absicht den Tod nur zu um so größerer Wut anstachelte und so verheerende Verwirrung in ihren Reihen hervorrief. Sie starben weiterhin in Mengen, unablässig warfen der schwarze Sicco und seine Gesellen die entstellten Leichen über die Friedhofsmauer, bis der Fremde schließlich, aufgebracht über ihre Unfähigkeit, den Tod als einen „heiligen Einfall" der Erde zu erleben (AW I, 275), Siccos Schädel mit seinem Spaten spaltete und davonging — niemand weiß, wohin (Br. Frühzeit, 212—219). Aber der Rilkesche Mönch wußte auch, selbst in jener frühen Zeit schon, daß der wahrhaftig erlebte Tod die verborgene Quelle und das Ziel all unserer Sehnsucht nach dem Ewigen und Absoluten ist. „Wir brauchen die Ewigkeit", schrieb Rilke in sein Florenzer Tagebuch, „denn nur sie gibt unseren Gesten Raum; und doch wissen wir uns in enger Endlichkeit. Wir müssen also innerhalb dieser Schranken eine Unendlichkeit schaffen, 230
da wir an die Grenzenlosigkeit nicht mehr glauben" (FT, 71). So ist der Tod die Frucht, um die alles kreist. „Um ihretwillen heben die Mädchen an und kommen wie ein Baum aus einer Laute, und Knaben sehnen sich um sie zum Mann Und ihretwillen bleibt das Angeschaute wie Ewiges, auch wenn es lang verrann, — und jeder, welcher bildete und baute, war Welt um diese Frucht . . . "
(AW1,93).
Die Beziehung des Todes zu Zeugung und Geschlecht wird durch seine Verwandtschaft mit dem Liebestaumel noch hervorgehoben: das Bewußtsein der Zeit wird hier aufgehoben. Der Tod wirft wie die Liebe auf alle vergänglichen Dinge einen Schatten, der ihnen eine tiefere Bedeutung verleiht und sie in Atome der Ewigkeit verwandelt. „Seid nur einen Tag unmodern, dann werdet ihr sehen, wieviel Ewigkeit ihr in euch habt" (FT, 77). Mit dem Bild vom eigenen Tod, von einer Frucht, die in unserem Innern reift und der ein nur uns zugehörendes, einzigartiges Aroma eigen ist, wandte sich Rilke gegen die gleichmachenden Strömungen der modernen Gesellschaft. Doch Rudolf Kaßner sah darin eine Schlußfolgerung, die falschen Voraussetzungen entsprang; für ihn war „der eigene Tod" eine Affektiertheit oder eine Selbstverständlichkeit: „Die stinkigste Zigeunerin stirbt ihren eigenen Tod" (Rudolf Kaßner, 207). Rilke selbst benutzte diese Wendung in seiner späteren Dichtung seltener. Die Vorstellung vom „eigenen Tod" war das unmittelbare, wiewohl merkwürdige Ergebnis seines unbedingten Verlangens nach Freiheit — einer Freiheit, die nicht allein das Leben, sondern auch den Tod im Einklang mit der Eigenart eines jeden zuließ. Sollte er den Tod deuten, der von außen, durch Unfall oder Gewalt, verursacht wurde, so setzte ihn dies allerdings in Verlegenheit. Noch bevor er die rechte Bezeichnung bei Jens Peter Jacobsen fand, weissagte er bereits in dem Florenzer Tagebuch: „Es wird eine Zeit kommen, da keinen das Schicksal besiegt, ehe er nicht fruchtbar war. Es werden Tage der Ernte kommen" (FT, 73). Daran hielt er sich auf diese oder jene Weise bis ans Ende seines Lebens, ja noch, als die Reihe zu sterben an ihn selbst kam. Er weigerte sich, im Tod allein einen biologischen Vorgang zu sehen, der durch bestimmte pathologische Störungen hervorgerufen wurde. Für ihn blieb der Tod eine einmalige und unaussprechliche Erfahrung, ein einzigartiges Mysterium. Er untersagte seinem Arzt, jemals eine der medizinischen Bezeichnungen auszusprechen, die seinen Tod in die Masse der anderen einreihten (Br. MTT, 955). 231
Hier ist die Erkenntnis nicht unwesentlich, daß das Reifen des Todes, wie Rilke es versteht, genauso bewußt-unbewußt vor sich geht wie das Reifen Gottes. Es ist das Ergebnis einer inneren Umgestaltung, die die Lebenskraft mehrt, nicht die Frucht krankhaften Grübelns, welches die Tatkraft lähmt und das Leben seiner Fülle beraubt. Das christliche memento mori weist uns auf ein Leben im Jenseits: Rilke hingegen vermischte das Leben eindringlich mit dem Tode und machte ihn zu einem Mittel heilsamer Lebenssteigerung. Gerade in den Gedanken und Äußerungen zum Tode, wie sie in der Tradition des Westens zur Regel wurden, sah Rilke die Ursache für den Verlust naiven, reinen menschlichen Seins. Denn eben sie verstellen dem Menschen wie eine Wand den Ausblick auf einen freien Horizont. Statt zu befreien, kerkern sie ein. Und nur der Mensch sieht gegen diese Wand. „Das freie Tier hat seinen Untergang stets hinter sich und vor sich Gott, und wenn es geht, so gehts in Ewigkeit, so wie die Brunnen gehen" (Achte Elegie). Der Tod muß sich derart in unserem Lebensmark auflösen, daß wir lebend im Tode leben, ohne ihn zu sehen. Statt „in Christus", d. h. in der Hoffnung auf ein neues Leben durch die Auferstehung des Fleisches zu sterben, sollen wir „in Eurydike" (Son. II, 13) sterben: wir sollen den Tod als die andere Seite des Lebens hinnehmen, von wo Rückkehr nichts als eine kindische Leugnung seiner Gesetze wäre. In Eurydike zu sterben heißt, den Tod von vornherein zu überwinden, alle Trennungen und Abschiede vorwegzunehmen und hinter sich zu lassen, noch ehe sie sich zutrugen. „Sei allem Abschied voran" (Son. II, 13). Die Vorstellung von einem Jüngsten Gericht, da die Toten, wahnwitzig nach ihren Leibern suchend, voller Ungeduld der Posaune des Engels folgen und nackt nach der unheimlichen Befriedigung aller Lüste eines vergeblichen Lebens dürsten, bevor der Urteilsspruch fällt — das ist eine furchtbare Erfindung des Menschen, der für immer nach neuen Brocken eines sinnlosen Lebens giert. In seinem frühen Gedicht Das Jüngste Gericht bittet Rilke Gott inständig, er möge diese Schrecken niemals wahr werden lassen (BB, 80—86). Und in einem späteren Gedicht des Jahres 1913, in der Auf erweckung des Lazarus, tut Christus — tief betrübt, weil das Volk ein Wunder fordert — der ruhigen Natur Gewalt an. Zorn über die seichte Unterscheidung, die die Menschen zwischen den Toten und den Lebenden machen, schwelt in jeder Faser seines Wesens. Langsam und schwer hebt er seine Hand, die sich zur Kralle zusammenzieht, und mit heiserer Stimme befiehlt er: „Hebt den Stein!" Und schief und verkrümmt erhebt sich etwas, und „das ungenaue vage / Leben nahm es wieder mit in Kauf" (AWI, 345-346). 232
Die Vorstellung von einem „verdünnten" Tode, wofür ihm der Tod des poverello von Assisi als Beispiel diente, verknüpfte sich bei Rilke mit dem Namen Orpheus erst spät im Leben des Dichters, obwohl eine solche Beziehung sich im Jahre 1907 bereits vage abzeichnete1). In einer Äußerung über verschiedene Skulpturen Rodins, deren eine Orpheus darstellte, heißt es: „Und ich fühle schon, wie mir der Name im Munde zerfließt, wie das alles nur mehr der Dichter ist, derselbe Dichter, der Orpheus heißt, wenn sein Arm auf einem ungeheuren Umweg über alle Dinge zu den Saiten geht" (Rodin, 86). Diese Stelle mag als ein ferner Vorläufer des Fünften Sonetts empfunden werden: „Errichtet keinen Denkstein. Laßt die Rose nur jedes Jahr zu seinen Gunsten blühn. Denn Orpheus ists. Seine Metamorphose in dem und dem. Wir sollen uns nicht rnühn um andre Namen. Ein für alle Male ists Orpheus, wenn es singt. Er kommt und geht." Doch in dem Gedicht aus dem Jahre 1904, Orpheus. Eurydike. Hermes., verkörpert diese mythische Gestalt der Griechen noch den ruhelosen, ungeduldigen Mann, dessen ungezügelte Neugier ihn alles das preiszugeben nötigte, was er durch den Zauber seiner Musik gewann. Sein Weib Eurydike hingegen war erfüllt von ihrem jungen Tod wie „eine Frucht von Süßigkeit und Dunkel" und unberührbar wie ein junges Mädchen. „Ihr Geschlecht war zu wie eine junge Blume gegen Abend." — „Sie war schon aufgelöst wie langes Haar und hingegeben wie gefallner Regen und ausgeteilt wie hundertfacher Vorrat. Sie war schon Wurzel"
(AW 1,199-202).
Ebenso ist es in dem Gedicht Alkestis aus dem Jahre 1907 der Mann, Admet, der noch um die allerletzten Krumen des Lebens bettelt, während die Frau, deren Leben nichts ist als eine Kette von Abschieden, das ihre gelassen lächelnd zum Ersatz des seinen bietet (AW I, 202—205)2). Diese !) Rilke machte sich mit den verschiedenen Aspekten des orphischen Mythos durch die Lektüre der Metamorphosen des Ovid vertraut, einer Dichtung, die eine Welt des Zaubers und der „Verwandlung" beschwor, welche seinen reifenden Träumen wunderbar gemäß war (Zinn, 219). Er benutzte wohl die französische Übersetzung von M. Cabaret-Dupaty (Paris), in der er verschiedene Stellen — vor allem das sich auf Narzissus beziehende „Heu, frustra dilecte puer!" — unterstrich (Ovid, Metamorphosen III, 500). Merline steuerte Illustrationen zu den Hauptthemen, wie zum Narzissus, bei (Simenauer, 739 ff.). 2 ) Über die Beziehung von Rilkes Alkestis zur griechischen Mythologie vgl. Zinn, 201—210. 233
Frauen sind in Rilkes Augen den Dingen verwandt: wie diese ruhen sie in sich, ohne etwas von außen zu fordern oder zu erwarten, und beziehen sich allein auf das, was in ihnen liegt. Und so ist Gott, und so soll der Künstler sein. Rilkes „Verdünnung" des Todes war ein ästhetisches Mittel, das der realistischen Aufgabe dienen sollte, dem „unverdünnten" Tode seinen Stachel zu nehmen. Das Symbol vom „verdünnten" Tode wäre wohl niemals entstanden, wäre nicht die nackte Wirklichkeit des Todes so überwältigend, so bestürzend gewesen. In dieser Hinsicht fühlte sich unser Dichter zweifellos Tolstoj verwandt, über den er in einem bedeutsamen Brief vom 8. November 1915 schrieb (Br. II, 58): „Sein enormes Naturerleben . . . setzte ihn erstaunlich in den Stand, aus dem Ganzen heraus zu denken und zu schreiben, aus einem Lebensgefühl das vom feinverteiltesten Tode so durchdrungen war, daß er überall mit enthalten schien, als ein eigentümliches Gewürz in dem starken Geschmack des Lebens —, aber gerade deshalb konnte dieser Mensch so tief, so fassungslos erschrecken, wenn er gewahrte, daß es irgendwo den puren Tod gab, die Flasche voll Tod oder diese häßliche Tasse mit dem abgebrochenen Henkel und der sinnlosen Aufschrift ,Glaube, Liebe, Hoffnung', aus der einer Bitternis des unverdünnten Todes zu trinken gezwungen war . . . sein Verhältnis zum Tode wird bis zuletzt eine großartig durchdrungene Angst gewesen sein, eine Fuge von Angst gleichsam, ein riesiger Bau, ein AngstTurm mit Gängen und Treppen und geländerlosen Vorsprüngen und Abstürzen nach allen Seiten . . . " Am nächsten Tage schrieb Rilke sein bemerkenswertes Gedicht Tod, in dem die gleichen Symbole wiederkehren: der bläuliche Absud, die Tasse mit dem gesprungenen Henkel und die lächerliche Inschrift. Um über diesen furchtbaren Tod Herr zu werden, mußte sich Rilke jene Sterne lebhaft ins Gedächtnis zurückrufen, die er im Winter 1912—13, in Toledo auf einer Brücke stehend, niederstürzen sah und die ihn das Gegenteil lehrten: „Stehn" ( A W I , 360) 3 ). Und nirgendwo wird der bitter-süße Geschmack des Todes ergreifender gerühmt als in der Zehnten Elegie, in der eine der Älteren unter den Klagen einen jungen Toten leitet 3 ) Nach Kaßners Ansicht ist die Behandlung des Todes in diesem Gedidit kleinlich und seicht. „Rilke dekolletierte sich mit dem Tode" und gab sich mit einem prunkend nackten Tode preis wie eine Frau mit ihren nackten Schultern im ausgeschnittenen Kleide (Rudolf Kaßner, 207).
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„durch die weite Landschaft der Klagen [und] zeigt ihm die Säulen der Tempel oder die Trümmer jener Burgen, von wo Klage-Fürsten das Land einstens weise beherrscht. Zeigt ihm die hohen Tränenbäume und Felder blühender Wehmut, (Lebendige kennen sie nur als sanftes Blattwerk); zeigt ihm die Tiere der Trauer, weidend, —" »Wir waren, sagt sie, ein Großes Geschlecht, einmal, wir Klagen. Die Väter trieben den Bergbau dort in dem großen Gebirg; bei Menschen findest du manchmal ein Stück geschliffenes Ur-Leid Ja, das stammte von dort. Einst waren wir reich. —"
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39. REQUIEM FÜR PAULA MODERSOHN-BECKER Komm her ins Kerzenlicht. Ich bin nicht bang, die Tote anzuschauen. (AW 1,214)
In zwei längeren Gedichten, dem Requiem für Paula Modersohn-Becker und dem für Wolf Graf von Kalckreuth, die beide im Herbst 1908 entstanden, wandte sich Rilke mit dem offenbaren Gefühl persönlicher Beteiligung gegen das beklagenswerte Faktum des „uneigenen" Todes. Diese Requiems stellen das Verhältnis Rilkescher Kunst zum Tode und die besondere Verantwortlichkeit des Künstlers gegenüber Leben und Werk klar heraus. Zudem zeigen sie deutlich, daß den eigenen Tod sterben vor allem das eigene Leben leben heißt. Bei seinem angeborenen Hang zur Hingabe brauchte Rilke eben dieses: angesichts aller Verlockungen und aller Schrecknisse, die seine Arbeit gefährdeten, mußte er sich selbst treu bleiben. Paula Becker, die blonde Freundin von Clara Westhoff, war eine Malerin von echter Begabung. Zum Lobe ihres mädchenhaften Wesens windet Rilkes Worpsweder Tagebuch verschleierte Gefühle zu duftenden Kränzen. Während der Monate, die Rilke vor seiner Heirat unter den Malern von Worpswede zubrachte, fesselte ihn der eigenartige Zauber Paulas ebensosehr wie die gesetzteren, gediegenen Tugenden ihrer Freundin Clara, der Bildhauerin und ehemaligen Schülerin Rodins. Liest man Rilkes Tagebuch jener Zeit, so kann man sich kaum des Gefühls erwehren, daß er Paula als die reizvollere und anziehendere empfand. Andrerseits zeigen die Briefe und Tagebuchaufzeichnungen Paulas ganz deutlich, daß ihr zwar manche Gedichte Rilkes und so manches, was er vorlas, gefiel, daß sie sich aber von Otto Modersohn, einem der Maler der Worpsweder Kolonie, weit mehr angezogen fühlte, mit dem sie sich im Frühjahr 1901 denn auch verlobte. Nach Rilkes eigenen Bekenntnissen heiratete er vor allem deshalb, weil er für seinen schwankenden leiblichen und geistigen Zustand eine gewisse Geborgenheit zu finden trachtete, zumal sich Lous seelisches Übergewicht als eine zu beeinträchtigende Belastung erwiesen hatte. So ist es verständlich, daß sich die Erinnerung an Paula mit den zwiespältigen Gefühlen von Enttäuschung und Verlegenheit verband. Hingegen entstand in Paula Becker zweifellos eine gewisse Eifersucht auf Rilke, der ihr eine gute Freundin genommen hatte, während Rilke einen heimlichen Groll gegen Otto Modersohn hegte, der die Zuneigung der liebenswerten Freundin Claras gewann. 236
Paula Beckers Bemühungen um die Ehe währten einige Jahre länger als die Rilkes, aber auch sie verließ im Februar 1906 ihren Mann, um sich wieder ganz ihrer Kunst zu widmen. Nach der Trennung wandte sie sich nach Paris, wo Rilke schon seit einigen Jahren lebte, und hier trafen sich die beiden ab und an. Obwohl die äußeren Umstände, unter denen sich ihre jeweilige Bindung gelöst hatte, verschieden waren, scheinen sie doch letztlich die gleiche Ursache gehabt zu haben, nämlich die Unvereinbarkeit der ehelichen Verantwortungen mit der künstlerischen Arbeit. Doch im Gegensatz zu Rilke kehrte Paula gegen Ende des Jahres zu ihrem Ehegefährten zurück. Am 21. November 1907 wurde sie Mutter und starb kurz darauf. „Wie schade!" waren ihre letzten Worte (Modersohn-Becker, 243). Rilkes Requiem läßt keinen Zweifel darüber — er konnte Paula nicht verzeihen, daß sie den Bitten ihres Gatten, zurückzukehren, nachgegeben hatte. Ein unüberhörbarer Ton des Grolls, nicht allein gegen Otto, sondern auch gegen Paula, durchzieht das ganze Gedicht. Der Grund hierfür lag zweifellos einerseits in der echten Überzeugung Rilkes, daß Kunst und Weltlichkeit unvereinbar seien, doch eine weitere und keineswegs geringfügige Ursache lag in seinem Schuldgefühl und in dem Verlangen nach Selbstverteidigung. Vielleicht trugen zudem noch andere, unbekannte Motive, von denen bis heute der Schleier nicht gelüftet wurde, das ihre zu dieser verwickelten Beziehung bei. Gegen Paulas Bruder, der ihm eine Kopie ihres Tagebuches zugesandt hatte, äußerte er im Jahre 1913, daß ihr Tod ihn mehr erschüttert habe als irgendein anderer: „Es mögen einige andere Umstände bedeutend mitgewirkt haben", aber der wesentliche Grund war doch das „über die Maßen Liebliche in ihrem Herzen" (Br. 1,441). Und Katharina Kippenberg erwähnt den schmerzlichen Ausspruch Rilkes: „Sie ist der einzige Tote, der mich beschwert" (Kippenberg, 44), ein Gefühl, das den Eingang des Gedichtes bestimmt. Doch letzten Endes wurzelten alle diese Antriebe Rilkes gewiß in seinem dämonischen Verlangen nach uneingeschränkter Unabhängigkeit und Freiheit für seine Kunst. Wie der verlorene Sohn in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge schreckte auch Rilke krankhaft davor zurück, geliebt zu werden, weil er fürchtete, dies fordere eine Lebensform von ihm, die er ablehnte. Der verlorene Sohn des Neuen Testaments kehrte reuig heim; derjenige Rilkes kehrte zurück und blieb, um die Liebe seiner Angehörigen als einen willkommenen Schutz zu nutzen, in dem er seiner Freiheit nur um so sicherer sein konnte (AW II, 211—218). Umgekehrt wehrte Rilke sich heftig gegen die Schreckbilder des Todes, weil er fürchtete, daß sie ihm Seinsweisen aufnötigten, die seine schöpferischen Fähigkeiten lähmen könnten. Aber trotzdem kehrte er zu ebendiesen Ungeheuern zurück und nutzte sie, um sich einen Turm einsamer Freiheit zu errichten. 237
Als Rilke heiratete, vermochte er noch für eine Weile die Täuschung aufrechtzuerhalten, daß die Ehe trotz aller wirtschaftlichen Unsicherheit eine Notwendigkeit für ihn sei. „Meine mit dem zeitlichen Leben so wenig zusammenhängende Welt", schrieb er am 8. Januar 1902, „war in der Junggesellenstube allen Winden preisgegeben, unumschützt, und bedurfte zu ihrer Entwicklung des stillen eigenen Hauses unter den weiten Himmeln der Einsamkeit. Auch las ich bei Michelet, daß das Leben zu zweien einfacher und billiger sei als das von allen Seiten betrogene Dasein und die ausgenutzte Existenz des Einzelnen — und glaubte dem lieben Kinde Michelet seinen Glauben gerne nach" (Br. Frühzeit, 141) 4 ). Doch schon einige Monate früher legte er folgendes aufschlußreiches Bekenntnis ab: „Im übrigen bin ich der Meinung, daß die ,Ehe' als solche nicht so viel Betonung verdient, als ihr durch die konventionelle Entwicklung ihres Wesens zugewachsen ist. Es fällt niemandem ein, von einem einzelnen zu verlangen, daß er ,glücklich' sei, — heiratet aber einer, so ist man sehr erstaunt, wenn er es nicht ist" (Br. Frühzeit, 107). Auch Paula Becker hatte sich offenbar so in die Ehe gleiten lassen und beging später den schicksalhaften Fehler, zu ihrem Mann zurückzukehren. Doch tat sie es nicht im Geiste des Rilkeschen verlorenen Sohns, sondern in dem irrigen Glauben, daß Mutterschaft und Kunst nebeneinander bestehen könnten. Dafür zahlte sie mit ihrem Tode. Im Frühjahr 1898 hatte Rilke in der Toskana in sein Tagebuch geschrieben: „Eine Frau, welche Künstlerin ist, muß nicht mehr schaffen, wenn sie Mutter wurde. Sie hat ihr Ziel aus sich hinausgestellt und darf im tiefsten Sinne Kunst leben fortan" (FT, 119). Doch — widersprüchlich genug — angesichts der Mutterschaft und der künstlerischen Bestrebungen seiner Frau spürte Rilke keineswegs, wenn überhaupt, derartig heftige Bedenken. Äußerungen, die er in den Tagen seiner jungen Ehe in diesem Zusammenhang tat, mag man zum Teil für Selbsttäuschung halten, doch die Sicherheit ihres Tones ist auffällig: „für die Frau ist — nach meiner Überzeugung — das Kind eine Vollendung und Befreiung von aller Fremdheit und Unsicherheit: es ist, auch geistig, das Zeichen der Reife; und ich bin erfüllt von der Überzeugung, daß die Künstler-Frau, die ein Kind gehabt hat und hat und liebt, nicht anders als der reife Mann, fähig ist, alle Höhen des Künstlertums zu erreichen, die der Mann unter gleichen Voraussetzungen, d. h. wenn er Künstler ist, erreichen kann" (Br. Frühzeit, 188—189). Später kehrte Rilke zu seiner ursprünglichen Ansicht zurück, daß Kunst und Frauentum sich nicht recht vermischen. Daraus mag man wohl schließen, daß seine Anschauungen nicht aus unpersönlichen Erwägungen erwuchsen, sondern das natürliche Ergebnis unmittelbarer Erfahrungen und Bedürfnisse waren — sie waren mit den Verhältnissen dem Wandel unterworfen. Vergegenwärtigt man sich dies ebenso wie die Tatsache, daß sein Leben im wesentlichen von der Kunst 4)
Rilke hatte das in Jules Michelets L'Amour gelesen.
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aufgesogen wurde, so mag es verzeihlich erscheinen, wenn wir sie als Rationalisierungen bezeichnen. In dem Requiem tadelt er Paula Becker, weil sie ihre künstlerische Begabung an eine Welt verraten habe, „wo Säfte wollen" (AWI, 214) — ein Verstoß, der um so beklagenswerter war, als sie überreichlich bewiesen hatte, wie sehr sie alle Dinge in ein dauerndes, inneres Dasein zu verwandeln, sie aus ihrem eigenen Wesen heraus wieder in sich hineinzuspiegeln vermochte, zeitlos und jenseits alles Begehrens. Statt nun weiter „jeglichen Saft" in sich umzusetzen „in ein starkes Dasein, das steigt und kreist, im Gleichgewicht und blindlings" (AW I, 214), läßt sie sich in die Welt des Zeitlichen zurücklocken — „und Zeit ist lang. Und Zeit geht hin, und Zeit nimmt zu, und Zeit ist wie ein Rückfall einer langen Krankheit" (AW I, 215). Der Dichter möchte die Erinnerung an die Tage ihres Künstlertums festhalten, da sie, wie in einem ihrer Selbstporträts, nackt vor dem Spiegel stand und sich hineinließ bis auf ihr Schauen, „das blieb groß davor und sagte nicht: das bin ich; nein: dies ist." Ihr Schauen war zuletzt so „ohne Neugier", so „besitzlos, von so wahrer Armut", daß es selbst sie nicht mehr begehrte: es war „heilig" (AW I, 213). Doch nun gewährt ihre ruhelose Neugier ihr selbst im Tode keinen Frieden, und der Dichter fühlt sich von der Angst bedrängt, sie gehe um und werfe ihm vor, daß er nicht auch in die Welt natürlicher Bindungen und Verpflichtungen zurückgekehrt sei, — sie versuche, auch ihn dorthin zu locken. „O nimm mir nicht, was ich langsam erlern. Ich habe recht; du irrst wenn du gerührt zu irgendeinem Ding ein Heimweh hast" (AW I, 211). Es ist Rilkes eigenes Gefühl des Zweifels und der Schuld, das diesen beschwörenden Schrei der Verwahrung laut werden läßt. „Komm nicht zurück. Wenn du's erträgst, so sei tot bei den Toten. Tote sind beschäftigt. Doch hilf mir so, daß es dich nicht zerstreut, wie mir das Fernste manchmal hilft: in mir" (AW I, 219). Rilkes Requiem für Paula Modersohn-Becker ist ein ergreifendes Zeugnis der Selbstverteidigung, in welchem der in die Enge getriebene Dichter sich wehrt, indem er Anklage mit Anklage begegnet. Die beiden Prinzen liegen in diesem Gedicht im Streit, weil sie entdeckten, daß sie um dasselbe Mädchen werben: um die Kunst, die Leben ist. Wenn Paula einem geborgten Tod erlag, wenn sie sich beharrlich „in Brocken" aus ihrem eigenen 239
Gesetz herausbrach, wenn sie aus ihres „Herzens nachtwarmem Erdreich die noch grünen Samen" grub, daraus der Tod aufkeimen sollte, der ihr eigen war und zu ihrem Leben gehörte (AW I, 215), so war das schmachvoll, aber es war ihre Sache und verpflichtete Rilke in keiner Weise. Sie wählte den „kleinen Tod" (AW I, 28; 92), von dem der Dichter in seinem Drang zur Selbsterhaltung nicht wahrhaben wollte, daß er ein Grund zur Angst sein sollte. „Ich lebe noch", sagt der Mönch des
Stundenbuches,
„ich habe Zeit zu bauen: mein Blut ist länger als die Rosen rot"
(AW I, 28).
Und wenn der Dichter nicht Otto Modersohn selbst, aber alle Männer in ihm bitterer anklagte, als er Paula Becker schalt, so deshalb, weil er im Manne (und, beiläufig, auch in dem Manne in sich selbst) den eigentlichen Übeltäter und die eigentliche Gefährdung sah. Denn unsägliche Leiden verursacht des Mannes falsche Liebe, „die bauend auf Verjährung wie Gewohnheit, ein Recht sich nennt und wuchert aus dem Unrecht" (AW 1,217). Die Frau hingegen (und darunter versteht Rilke auch das EmpfänglichFeminine in sich) ist von Natur der Erde und ihren Gesetzen des Lebens und Todes gehorsam, aber sie bedarf des Schutzes gegen die Übergriffe des Mannes.
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40. REQUIEM FÜR WOLF GRAF VON KALCKREUTH Was hast du nicht gewartet ...? (AW I, 222) Das andere Requiem entstand zum Gedächtnis des jungen Dichters, des Übersetzers von Verlaine und Baudelaire, Wolf Graf von Kalchreuth, der kurz nach seinem Eintritt beim Militär Selbstmord beging. Rilke war ihm selbst nie begegnet, stand aber in freundschaftlicher Beziehung zu seiner Familie. Hier war es wieder ein Künstler — diesmal ein Mann —, der einen „uneigenen" Tod starb. Der Tod Paula Modersohns hatte in Rilke Gefühle der Selbstverteidigung erregt, die seinem Entschlüsse galten, sich von allen äußeren Bindungen frei zu halten. Wir haben diese Empfindungen als Bestätigung einer Lebensform, nicht als Ausdruck einer romantischen Spielerei mit dem Tode gedeutet. Dieser positive Aspekt der Beziehung Rilkes zum Tode tritt in seinem Requiem für Wolf Graf Kalckreuth noch deutlicher hervor. Denn hier wendet er sich nicht allein gegen die falsche Art zu sterben, sondern auch gegen den willkürlichen Wunsch zu sterben. Paula Modersohn starb widerstrebend, ihr schmerzlicher Seufzer im Angesicht des Todes schien der einer Künstlerin zu sein, die gezwungen ist, so viel schöne Arbeit ungetan zurückzulassen. Wolf von Kalckreuth hingegen hatte mit der bezeichnenden Ungeduld des Mannes einem an schöpferischen Möglichkeiten reichen Leben freiwillig ein Ende bereitet. Paula Modersohn machte er zum Vorwurf, daß sie den alltäglichen Forderungen der Welt erlegen sei; Wolf von Kalckreuth legte er zur Last, daß er sich den Eingebungen des „Heiligen Geistes" nicht mit genügend Geduld und Beharrlichkeit hingegeben habe. Es ist deutlich, die beiden Requiems ergänzen einander wie die beiden Pole ein und derselben Befürchtung Rilkes: der Furcht einerseits, er könne sich in falscher Hingabe selbst verlieren, und andererseits, er könne in der richtigen Hingabe nicht bis zum rühmlichen Ende beharren. Dem einen Pol entspricht Rilkes Bedürfnis nach vollkommener Sammlung und Selbstbehauptung bis zur rücksichtslosen Sophisterei, dem anderen sein Verlangen nach fragloser Demut und Gehorsam, nach völliger Verborgenheit und Selbstaufgabe; hier ist es der Stolz des Künstlers, dort der unterwürfige Glaube des Heiligen; hier die empfänglichste Bereitschaft der Puppe in den Händen dessen, der sie bewegt, dort die narzißtische, sich selbst bespiegelnde Beschaulichkeit des Engels. Wenn diese beiden, der Engel und die Puppe, zusammenwirken wollten, wenn der Stolz und die 16 G r a f f , R i l k e
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reiche Fülle des Dichters sich der Demut und der verborgenen Armut, fies Heiligen verbinden könnten, „dann kommt zusammen, was wir immerfort entzwein, indem wir da sind" (Vierte Elegie), dann würde sich die Leere unseres hingebenden Willens mit den stolzen Reichtümern unserer Selbstoffenbarung füllen. Es ist der Traum von einer magisdien Welt, in der die Quadratur des Zirkels ein Leichtes ist, in der sich Kreis und Quadrat durch die beschwörende Macht des Wortes mühelos ineinander verwandeln. Es ist bemerkenswert, daß sich in dem Requiem für Wolf Graf Kalckreuth jene grollende Bitterkeit nicht findet, die das Paula Modersohn gewidmete durchzieht. Im Gegenteil scheint Rilke hier ebenso von mitfühlendem Verständnis wie von Bedauern bewegt. Ja, es klingt fast wie eine Abbitte, wenn er am Ende des Gedichtes sagt (AW1,225): „Doch dies ist kleinlich, zu denken, was nicht war. Auch ist ein Schein von Vorwurf im Vergleich, der dich nicht trifft. Das, was geschieht, hat einen solchen Vorsprung vor unserm Meinen, daß wirs niemals einholn und nie erfahren, wie es wirklich aussah. Sei nicht beschämt, wenn dich die Toten streifen, die andern Toten, welche bis ans Ende aushielten. (Was will Ende sagen?) Tausche den Blick mit ihnen, ruhig, wie es Brauch ist, und fürchte nicht, daß unser Trauern dich seltsam belädt, so daß du ihnen auffällst. Die großen Worte aus den Zeiten, da Geschehn noch sichtbar war, sind nicht für uns. Wer spricht von Siegen? Uberstehn ist alles." Diese versöhnliche Haltung mag zum Teil durch das Wesen dieses besonderen Falles erklärt werden: Rilke kannte Wolf von Kalckreuth nicht, während ihm Paula Modersohn sehr nahestand, und zudem wollte er die Gefühle der Hinterbliebenen des jungen Mannes nicht verletzen. Doch damit ist noch nicht alles gesagt. Trotz der zahlreichen Zeiten tiefer Depression hat Rilke die Möglichkeit des Selbstmordes niemals ernstlich erwogen. Gewiß, in den Erinnerungen von Valéry Rhonfeld, deren Veröffentlichung nach ihrem Tode sie gestattete, versichert die rachsüchtige alte Dame, daß ihr junger Verehrer in Prag ihr zuweilen gedroht habe, er werde sich das Leben nehmen, wenn sie von einer Beendigung ihrer Liebesbeziehungen sprach (Hirschfeld, 716). Ebenso warnte Lou Andreas-Salomé ihren neurotischen Freund nach der zweiten russischen Reise vor den möglicherweise 242
verhängnisvollen Folgen seines seelischen Zustandes. Doch in keinem der beiden Fälle war wirklich Grund zur Sorge; Rilkes Lebenswille war viel zu stark, ja so stark, daß die Verlockungen der Welt nur von seinem unbezwinglichen schöpferischen Dämon bewältigt werden konnten. Andererseits empfand Rilke die Rückkehr Paula Modersohns zu ihrem Mann als einen Vorwurf gegen sich selbst, der nicht zu Frau und Tochter zurückfand. Daß man ihm derartige Vorwürfe machte und daß er sehr empfindlich gegen sie war, ist außer Frage. Nadi seiner Heimkehr aus Paris verlebte er im Juli und August 1903 mit seiner Frau einige Wochen in Worpswede im Hause Heinrich Vogelers, und anschließend verbrachten sie mit ihrer Tochter Ruth geraume Zeit im Hause der Eltern Clara Rilkes in Oberneuland. In dem wieder aufgenommenen Briefwechsel mit Lou Andreas-Salomé bekennt er, daß Paris ihn „dichter" gemacht habe, daß „weniger Poren" in ihm seien, „weniger Zwischenräume, die sich anfüllen wenn Fremdes eindringt und schwellen" (Br. Lou, 70). Doch seine Fortschritte wie die seiner Arbeit wurden mit der Vernachlässigung seiner menschlichen Beziehungen erkauft: „ . . . Aber halten kann sidi doch niemand an mir: mein kleines Kind muß bei fremden Leuten sein, meine junge Frau, die auch ihre Arbeit hat, hängt von anderen ab, die für ihre Ausbildung sorgen, und ich selbst kann nirgends nützlich sein und nichts erwerben. Und wenn mir auch die Allernächsten, die es angeht, keinen Vorwurf machen deshalb, so ist der Vorwurf doch da und das Haus, in dem ich jetzt gerade bin [H. Vogelers], ist seiner ganz voll" (Br. Lou, 71). „Auch ich", schreibt er ein wenig später, „will ja Kunst und Leben nicht voneinanderreißen; ich weiß, daß sie irgendwann und irgendwo eines Sinnes sind. Aber ich bin ein Ungeschickter des Lebens" (Br. Lou, 100—101). Weniger als ein Jahr vor Paula Modersohns Tod hatte Lou Andreas-Salomé Rilke in einem Brief an Clara vorgeworfen, daß er eine verantwortungslose Wahl zwischen seinen Pflichten getroffen habe, weil er gerade den natürlichsten und nächstliegenden aus dem Wege ging. „Wüßte Lou", schrieb Rilke aus Capri an seine Frau, „wieviel solche Briefe ich in Gedanken an mich selber schreibe. Lange Briefe mit solchen Einwürfen. Sie sind mir alle ganz vertraut. Ich kenne ihre Gesichter, in die ich stundenlang hineingesehen habe, ich weiß, wie sie näher und näher kommen und grade und blindlings auf mich zu . . . aber meine nächstliegenden und natürlichsten [Pflichten] sind immer, schon in meiner Knabenzeit, diese hier gewesen, auf deren Seite ich immer wieder zu stehen versuche, und wenn ich andere zu übernehmen gewünscht habe, so wars nicht als neue Aufgabe zu jener ersten, ohnehin schon übergroßen hinzu, sondern weil ich in gewissen Pflichten einen Stützpunkt zu erkennen glaubte, eine Hilfe, etwas, was in meiner haltlosen Heimatlosigkeit eine feste Stelle bilden würde, ein Nichtverschiebbares, Dauerndes, Wirkliches" (Br. 1,148). Gegen einen Bekannten, 16'
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den jetzigen Professor der englischen und amerikanischen Literatur an der Universität Basel, Dr. Henry Lüdeke, soll Rilke 1919 in Soglio geäußert haben: „Ich war auch einmal verheiratet — es ist aber nicht gut gegangen" (Br. Nölke, 163). Noch ein weiterer Grund mag sich für die größere Duldsamkeit des Dichters gegenüber Wolf von Kalckreuth finden. Rilke kannte die jüngsten und reifsten Werke Paula Modersohns, wenn er ihre Begabung auch offensichtlich geraume Zeit unterschätzte. Seine Äußerung vom 21. Oktober 1924, daß er damals wie 1906, als er sie zuletzt sah, wenig von ihren spätesten Werken wußte, mag man wohl cum grano salis nehmen (Br. Muzot, 323). Sein Requiem straft sie Lügen und läßt sie sehr viel eher als ein weiterer verwirrender Ausdruck seines Grolls gegen sie erscheinen. Paula Modersohn besaß das große Geheimnis der Kunst, das nach Rilkes Anschauung darin bestand, daß der Künstler jedem persönlichen Verlangen vollkommen entsagte und Willen und Seele ganz in sein geschaffenes Werk versenkte. Gegen dieses Geheimnis verstoßen zu haben war eine unverzeihliche Sünde wider den „Heiligen Geist". Paula Modersohn hatte sich dem schrecklichen Engel der Einsamkeit geweiht und gehörte ihm nun fürs Leben an. Mit Wolf von Kalckreuth verhielt es sich dagegen anders: er befand sich erst an der Schwelle zur Kunst, sein Einblick war noch flüchtig, denn er war noch unerfahren. Er hatte noch nicht erkannt, daß das Schöne nichts ist als „des Schrecklichen Anfang" und daß wir es schließlich doch ertragen, „weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören". Hätte er das gewußt, so hätte er auch die Geduld gehabt, zu warten. „Was hast du nicht gewartet, daß die Schwere ganz unerträglich wird: da schlägt sie um und ist so schwer, weil sie so echt ist. Siehst du, dies war vielleicht dein nächster Augenblick; er rückte sich vielleicht vor deiner Tür den Kranz im Haar zurecht, da du sie zuwarfst. O dieser Schlag, wie geht er durch das Weltall, wenn irgendwo vom harten scharfen Zugwind der Ungeduld ein Offenes ins Schloß fällt"
(AWI, 222).
Paula Modersohn wußte den wahren Tod von seinem falschen Gegenbild wohl zu unterscheiden, und doch wählte sie den letzteren. Wolf von Kalckreuth hingegen vermochte sie noch nicht voneinander zu trennen und wählte den falschen nur aus Irrtum. Paula Modersohn war aus dem Spiegel herausgetreten, in den sie so gänzlich eingegangen war, daß Künstler und Bild eines wurden. Doch dann saß sie auf im Kindbett, hatte sich ganz aus diesem Bilde genommen und war nun gänzlich vor dem Spiegel, schaute hinein, während sie ihr Haar kämmte und Schmuck umlegte, und sagte nicht 244
mehr: „Dies ist", sondern: „das bin ich". Wolf von Kalckreuth hatte dagegen noch gar nicht gelernt, wie man die Kluft zwischen Subjekt und Objekt schließt. Wie viele unter den Dichtern „urteilte" er noch über seine Gefühle, statt sie zu „bilden", sie in Worte zu verwandeln, „wie sich der Steinmetz einer Kathedrale verbissen umsetzt in des Steines Gleichmut" (AW 1,224—225). Immer wieder ließ es sich beobachten: Rilke wand sich unter der Spannung seines Zwiespaltes, unter seinem gespaltenen Bewußtsein, welches nur die Kunst des Orpheus aufzuheben vermochte: „Kundiger böge die Zweige der Weiden, wer die Wurzeln der Weiden erfuhr"
(Son. 1,6).
Paula Modersohn hatte dies erfahren, und es zu widerrufen hieß ihre einzige Pflicht preisgeben, war verhängnisvoll — wie es dies für Rilke gewesen wäre. Wolf von Kalckreuth wurde auf seinem Wege von Dunkelheit überwältigt, seine selbstzerstörerische Tat war beklagenswert, aber begreiflich. Rilke mochte wohl Grund haben, Paula Modersohns Rückfall gleich einem Geist zu fürchten, der seinen eigenen Gewinn bedrohte; gegen die unreife Gewaltsamkeit Wolf von Kalchreuths fühlte er sich dagegen ziemlich gefeit 5 ).
) Gut anderthalb Jahre vor der Entstehung des Requiems für Wolf Graf von Kalckreuth äußerte er sich über den Selbstmord eines anderen jungen Dichters, Walter Cale, und deutete ihn in gleicher Weise als Ausdruck von Ungeduld und Hast (Br. 1906—07,201—202). s
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41. T O D IN PARIS Jetzt wird in 559 Betten gestorben. Natürlich fabrikmäßig. Bei so enormer Produktion ist der einzelne Tod nicht so gut ausgeführt, aber darauf kommt es auch nicht an. Die Masse macht es. (AW II, 11) In Paris beschäftigte sich Rilke mit dem Tod in seiner häßlichsten Gestalt und versuchte verzweifelt, ihm eine verborgene Süßigkeit abzugewinnen. Alle die negativen Elemente seines eigenen Lebens verstärkten sich, als er sie in den Gesichtern verhärmter Frauen, um Jugend und Liebe betrogener Mädchen, hungernder Studenten, Bettler und Krüppel und im Antlitz der Kranken widergespiegelt sah, die um ein paar Pfennige die Stunde in einer Mietdroschke ihrem Massentod in den Hospitälern entgegenfuhren. Der dumpfe Geruch all der Ausdünstungen der Armut — ihrer Geburten, ihrer Wollust und ihres Sterbens — erstickten ihn beinahe angesichts eines abgerissenen Hauses (AW II, 42—45). Genaugenommen gehören die stark aufgetragenen Farben Malte, einem der Spiegelbilder des Künstlers, zu. Doch brauchen wir nur ein wenig zurückzutreten und aus einigem Abstand hinzusehen, so erscheinen die Züge Rilkes deutlich genug. Seine Briefe jener Zeit, ja sein ganzes Werk bestätigen es. W a s sollte man schließlich auch von einem seelisch so überempfindlichen Menschen, wie Rilke es war, anders erwarten? Kaum ein Jahr verheiratet und mit der neuen Erfahrung von Vaterschaft und eigenem Heim noch unvertraut, war er um wirtschaftlicher Schwierigkeiten willen bereits gezwungen, Weib und Kind in der Worpsweder Heide oder in der Obhut von Verwandten zurückzulassen. Einsam, allein die brennende Flamme dichterischer Sehnsucht im Herzen, lebte er bescheiden in einem kärglich möblierten Zimmer, von Nachbarn umgeben, deren undurchschaubares Kommen und Gehen von ferne in seiner Einsamkeit nachhallte. Und draußen dröhnte die Stadt, hart und schwer von der Last menschlichen Leidens, die ein leichtherziger Menschenschlag trug. Gewiß lebte wenige Meilen entfernt Rodin, und näher noch waren der Jardin du Luxembourg, der Jardin des Plantes, Notre Dame und der Louvre. Doch die gehörten in ein anderes Kapitel. Paris bedeutete für Rilke die Hoffnung auf Erfüllung seiner künstlerischen Träume und den Abstieg in die Niederungen menschlichen Jammers und Sterbens. In den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge befindet sich der Tod wie alle Gebrechlichkeiten des Leibes und der Seele in einem Schmelztiegel 246
der Läuterung, um gereinigt zu werden. Doch das Ergebnis dieser fortschreitenden Klärung steht zum Malte schon in keiner Beziehung mehr. Es findet sich in den vereinzelten, in sich beschlossenen Dingen der Neuen Gedichte, wird in den Elegien einer weiteren Läuterung unterzogen, um schließlich in den Sonetten kristallen und durchsichtig zu erstehen. In der Stimmung, der der Malte entsprang, ging Rilke dem menschlichen Elend und dem Tode mit der gleichen Leidenschaft, die Rodin auf der Suche nach dem modelé getrieben hatte, bis in alle ihre gewundenen Falten hinein nach. In sich selbst sind die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge nur die gleichsam negative, die hohle Form, und in diesem Sinne wollen sie gelesen werden. Malte schwelgt in den gräßlichsten Erscheinungen menschlichen Elends mit einer Entschlossenheit, der alle Anzeichen einer besessenen Krankhaftigkeit eigen sind, und doch ist ihm bewußt, daß er bei aller Furdit wie einer ist, „der vor etwas Großem steht" (AW II, 49). Soweit es Rilke selbst angeht, ist alles dieses wie ein Schlammbad, das Gesundheit und Kraft bringen soll. Der Tod von Maltes Großvater, Christoph Detlev Brigge, verschlingt mit wilder Gier alles, was einst der ebenso eigenwilligen Herrschaft: des starken Kammerherrn unterstand (AW II, 14—17). Es wäre eine kindliche Vereinfachung, wollte man diesen Tod als den natürlichen Ausgang der Wassersucht bezeichnen, ebenso wie Rilke auf seinem Totenbett die Ansicht zurückgewiesen hätte, sein eigener Tod sei mit Leukämie erschöpfend bezeichnet. Ähnlich war das Leben von Maltes Vater derart von Todesfurcht durchlöchert, daß er in seiner Brieftasche eine Geschichte über König Christian IV. mit sich trug, der drei Stunden vor seinem Tode seinen Arzt fragte: „O, Doktor, Doktor, wie heißt er?" und seine eigene Frage mit der klaren Stimme der Agonie beantwortete: „Der Tod, der Tod" (AWII, 140). Kein Wunder, daß das Testament dieses Vaters eine Klausel enthielt, nach der sein Arzt in sein Herz stoßen sollte, damit er nicht lebend begraben werde. Und sein Sohn Malte bestand darauf, diesem erschreckenden Eingriff beizuwohnen (AW II, 135—136). Als Maltes Hund starb, blickte er seinen Herrn hart und befremdet an, als wollte er ihn beschuldigen, daß er den Tod hereingelassen habe (AW II, 141—142). Audi die Haltung der Lebenden gegenüber dem Tode ist für Malte wie für Rilke ein Gegenstand beharrlichen Interesses. Maltes Großmutter Margarete Brigge war so von selbstsicherer Lebenskraft erfüllt, daß sie keinerlei Nebenbuhler duldete und im Leben wie im Tode eine Art Wettlauf erblickte, aus dem sie stets als Siegerin hervorgehen mußte. Ja, sie nahm die Rücksichtslosigkeit ihrer eigenen Tochter übel, die dreist genug gewesen war, vor ihr zu sterben (AW II, 108). Malte erinnerte sich eines dicken Mädchens, das in der elektrischen Bahn in Neapel plötzlich starb. In dem leidenschaftlichen Bemühen, den Tod davonzujagen, brachte die Mutter die Kleider der Tochter in Un247
Ordnung, goß ihr etwas in den Mund, schüttelte sie, rief ihren Namen und schlug ihr schließlich ins Gesicht (AW II, 141). So hartnäckig verweigern wir dem Tod seinen Anteil am Leben. Im Einklang mit Rilkes Absicht, dem Tode seine Macht zu nehmen, indem er ihm ins Angesicht blickte und Form verlieh, wurde im Verlauf der Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge eine Vielfalt von Toden und Ängsten bis ins kleinste hinein durchleuchtet und ausführlich ausgeführt. Audi seine Poesie ist damit angefüllt, doch hier werden durch das verkürzende und läuternde Symbol die Einzelheiten geklärt und der Gehalt gemildert. Alle Quellen seiner reichen Vorstellungskraft werden erschlossen, um in das Wesen von Sein und Bewußtsein einzudringen, das auf der anderen, der unsichtbaren Seite des Lebens herrschen mag. Vor allem die Liebenden und die Frühverstorbenen werden oftmals befragt, weil sie mehr noch als andere die eigentümlichen Züge der Landschaft des Todes gegenüber der des Lebens zu offenbaren vermögen. Beide halten „die Grabtür offen" — die einen durch ihre völlige Hingabe in der Liebe, die anderen durch das Unvollendete, durch die Unschuld ihrer Jugend, so daß wir, die wir es erleben, „die Hälfte des Lebens frisch erhalten und offen nach der anderen wundoffenen Hälfte zu" (Br. Muzot, 377). Auch der Tod des Dichters ist erhellend, und ebenso ist es der geliebter Menschen. In den Elegien wird selbst den Spuren des Todes im menschlichen Blute nachgegangen, die die endlose Reihe unserer Vorfahren dort hinterließ (Dritte Elegie). Rilkes ganze zurückgewandte Neugier entspringt dem Verlangen, den Tod als einen integralen Bereich der weiten Landschaft menschlichen Lebens zu erfassen. Ahnenbilder besitzen gerade aus diesem Grunde eine besondere Anziehungskraft für ihn. Ebenso darf man die historischen Rückblicke in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge nicht in dem Verlangen nach nüchternen geschichtlichen Ausblicken prüfen oder deuten, sind sie doch vor allem Vokabeln für die Not des Künstlers (Br. Muzot, 359). Diese Trächtigkeit an innerer Erfahrung und poetischen Motiven, die von wiederholten Wehen und immer wiederkehrenden Geburten begleitet wird, währt die ganze Lebenszeit Rilkes hindurch. Wenn wir in den Duineser Elegien und in den Sonetten an Orpheus den Gipfel seiner dichterischen Laufbahn erblicken, so darf man ihn wohl dessen rühmen, was er im Buch von der Armut und vom Tode von dem Dichter der Zukunft prophetisch erwartet, daß er nämlich einen großen und schönen Tod gebären werde. Als Rilke die Elegien im Februar 1922 vollendete, hatte er vorerst keineswegs die Absicht, die Sonette zu schreiben, ja, er ahnte gar nicht, daß sie im Entstehen waren. Um die Fortsetzung der Elegien hatte er in angstvoller Spannung gebangt und gebetet. Noch wenige Tage bevor der Sturm in Muzot nach zehn Jahren des Wartens wiederum losbrach, klagte er, daß ihm die glückliche Wendung nicht gelingen wolle und er nur mehr Geduld 248
üben könne (Br. Muzot, 109). Die Elegien kamen weniger einer Geburt als den Wehen einer Geburt gleich, die sich über ein Jahrzehnt hinzogen, daher ihre innere Unruhe und gärende Trübheit. Im Gegensatz zu dem Engel, dessen symbolische Bedeutung — den wiederholten Krisen bis hin in die Kindertage abgerungen — tiefgreifende Wandlungen durchgemacht hatte, erschien der Orpheus der Sonette wie durch ein Wunder im Glänze seiner Vollendung der Venus gleich emporgespült. Eines Tages erblickte Rilke in einem Schaufenster in der Schweiz eine kleine Gravüre, die Orpheus mit der Leier darstellte, und es geschah, daß sich wie „in einem Blitz die Sonette um diese Gestalt gruppiert hätten, die ihnen den Namen gab, um sich dann mit dem frühverstorbenen Mädchen und ihrem Grabmal zu verbinden" (Kippenberg, 327—328). Das Mädchen war Wera Ouckama Knoop, deren Mutter Rilke, kurz bevor der Strom der Elegien aufs neue einsetzte, ein Tagebuch über die lange, tödliche Krankheit ihrer Tochter gesandt hatte. Wera war ein „schönes Kind, das erst zu tanzen anfing und bei allen, die sie damals sahen, Aufsehen erregte . . . " Eines Tages erklärte sie „ihrer Mutter unvermutet, daß sie nicht länger tanzen könne oder wolle . . . (das war eben am Ausgang des Kindseins), ihr Körper veränderte sich seltsam, wurde, ohne seine schöne östliche Gestaltung zu verlieren, seltsam schwer und massiv . . . (was schon der Anfang der geheimnisvollen Drüsenerkrankung war, die dann so rasch den Tod herbeiführen sollte) . . . In der Zeit, die ihr noch blieb, trieb Wera Musik, schließlich zeichnete sie nur noch —, als ob sich der versagte Tanz immer leiser, immer diskreter noch aus ihr ausgäbe . . . " (Br. Sizzo, 42—43). Zu dieser Zeit sah Rilke in Orpheus nicht länger allein den Mann, dem sich durch die Macht seiner Kunst die Unterwelt geöffnet und der sein Weib Eurydike befreit hatte, sondern den Halbgott, der, gleich Dionysos, von den Mänaden zerrissen und in die Welt verstreut worden war, wo sein Gesang seither allen Dingen entströmte (Son. I, 26). Er war zum Symbol der allesdurchdringenden schöpferischen Macht von Kunst und Natur geworden, die Personifizierung des im Leben verflüssigten Todes. Diese beiden Gestalten, Wera und Orpheus, gaben den Anstoß und beschworen die Sonette inmitten der Entstehung der Elegien herauf. Im eigentlichen Sinne sind die Sonette die süße Frucht des Ringens um die Elegien. Eben sie und nicht die Elegien waren das geheime, selbst Rilke verborgene Ziel seiner ein Leben währenden Arbeit. Sie waren für ihn „vielleicht das geheimste, mir selber, in ihrem Aufkommen und sich-mir-Auftragen, rätselhafteste Diktat, das ich je ausgehalten und geleistet habe . . . Und das zu einer Zeit, da ich mich für eine andere große Arbeit gefaßt hatte" (Br. Muzot, 205). Selbst ihm enthüllte sich ihre Bedeutung nur allmählich, indem er sie sich und anderen vorlas. In den Elegien ist diese qualvolle Trächtigkeit in ihrem letzten Stadium, doch ist sie von Ahnungen des nahenden Messias und Ausblicken 249
auf das gelobte Land durchsetzt. Die Elegien sind von Stürmen durchtobt, von inneren Spannungen beunruhigt, vom ungeklärten Bodensatz getrübt. Hingegen befinden wir uns in den Sonetten in einem zeitlosen Land der Magie, in dem Tote und Lebende einander berühren, in dem sich die Musik im Ohr in Tempel und Bäume verwandelt und die Einweihung in die Kunst von dem Genuß des Mohns an der Seite der Toten untrennbar ist. Hier ist Gesang Dasein (Son. II, 3), und hier endlich triumphierte die Kunst über den Tod. Die magische Formel, durch die sich diese merkwürdige neue Welt aus der Zeit in eine innere Wirklichkeit erhebt, ist Wandlung: „Wolle die Wandlung. O sei für die Flamme begeistert, drin sich ein Ding dir entzieht, das mit Verwandlungen prunkt" (Son. II, 12.) Unnachgiebig versuchte Rilke, alles das aufzulösen, was ihm als gegenwärtig, vergangen oder zukünftig entgegentrat, bis es zur ätherischen Essenz wurde, die sich in besänftigendem Rhythmus aus- und einatmen ließ. In den Elegien erreichte dieses Streben seinen Höhepunkt: alle Kräfte seines schaffenden Genius, die in mancherlei Siegen und Rückzügen erprobt waren, werden hier zu einer höchsten schöpferischen Anstrengung gesammelt. Die Fülle der Ungeheuer und Dämonen, denen er dann und wann einzeln mit weniger zusammengefaßter Kraft entgegengetreten war, sammelt sich hier zu einem Letzten Gericht. Und jedes der widerstrebenden Elemente geht gereinigt und befreit aus den Elegien in die Sonette über. Das Wesen der Formel Rilkes läßt sich wohl als Verwandlung umschreiben — eine Verwandlung alles Äußeren, das den Gesetzen der Natur und der Zeit und damit der Vergänglichkeit und dem Tode unterworfen ist, in innere Substanz, welche an dem Gefühl subjektiver und personaler Wesensgleichheit teilhat. Das vielfältige Objekt wird in das eine Subjekt aufgenommen: dadurch verliert es sein Gewicht. Doch mußte es zuvor so lange ertragen werden, bis es nicht länger fühlbar war. Subjekt ist wesentlich der Künstler, der die Verwandlung der objektiven Welt in subjektive Wirklichkeit zu vollziehen vermag, ohne doch die erstere zu zerstören oder zu mindern. Die Unsicherheiten und Zwiespältigkeiten des menschlichen Lebens bleiben, aber in dem magischen Kreis des vom Künstler geschaffenen Weltinnenraumes verlieren sie Zeitverfallenheit und Brüchigkeit und werden zu Schnittpunkten, in denen sich Zeit und Ewigkeit, Subjekt und Objekt begegnen. Soweit das Subjekt auch Objekt ist, ist es vergänglich und den Gesetzen der Zeit und der Kausalität unterworfen. Als schöpferisches Subjekt ist es jedoch zeitlos; sein Tod ist nicht von jener häßlichen Art, der Unterbrechung und Ende bedeutet: er ist Verwandlung in einer erfahrenen 250
kosmischen Einheit und gewährleistet so Zusammenhang: „Vergangen nicht, verwandelt ist was war" (Gedichte 1906—26,301; Son. 1,19). Wir bemerkten schon, daß Rilke die Bekenntnisse des Heiligen Augustinus nicht nur gelesen, sondern im Jahre 1911 auch Teile daraus übersetzt hatte. In diesem Jahre widmete er „seiner lieben Mama dieses herrliche Buch im Gedächtnis der gemeinsam darüber verbrachten Stunde". Ein kurzes, dem Geschenk beigefügtes Gedicht zeigt, daß dieses Gespräch Augustins Gedanken zu Zeit und Ewigkeit zum Gegenstande hatte (Gedichte 1906—26, 328). St. Augustin bewegte dieses Problem ebenso wie Rilke. Für den christlichen Heiligen war die Ewigkeit allerdings eine transzendente Wirklichkeit, deren Wesen erahnt, wo nicht verstanden werden konnte. Er strebte danach, eine Form der Erfahrung zu finden, in der sich das Geheimnis der Schöpfung in der Analogie offenbarte. Rilke dagegen suchte jeglichen transzendenten Zusammenhang zu meiden und seinen eigenen poetischen Symbolen inmitten eines dahinfließenden Lebens und einer sich wandelnden Welt bleibende Bedeutung zu verleihen. Beide stimmten jedoch darin überein, daß, wollten sie ihr Ziel erreichen, das Erlebnis der Zeit sich in ein Erlebnis des Raumes umsetzen mußte, indem es sich im Bewußtsein des Subjektes ausbreitete. Zu diesem Zwecke entwarf Rilke seinen Weltinnenraum, in dem sich alle wirklichen Frauen in die eine Madonna Lisa verwandelten und alles Zählen bedeutungslos wurde. Augustin versetzte die Trinität der Zeitphasen in den menschlichen Geist: die Vergangenheit in Gestalt des Gedächtnisses, die Gegenwart in Gestalt der augenblicklichen Sicht und die Zukunft in Gestalt der Erwartung (St. Augustinus, Confess. XI, 10—XII, 1—15). So verstanden, sind die drei potentiell wirksame Phasen des gleichen umfassend-gegenwärtigen Geistes, ein Gedanke, der auf der Ebene des Empirischen (Ontischen) Heideggers Vorstellung von den „Ekstasen" am „Horizont" der Zeit etwa entspricht. In den Elegien geht die feindselige Wirklichkeit noch mit allen ihren schneidend-scharfen Gegensätzen, ihren Zwiespältigkeiten und Widersprüchen einher. Noch gibt es die Schrecken des Todes, Verrat und Gewalt in der Liebe, die Unfaßbarkeit der Zeit. Wachstum vollzieht sich zu schnell oder zu langsam, Habgier und Besitzstolz finden sich allenthalben. Das Leben wird noch immer von Abschieden und Trennungen, von Alpträumen und Ängsten, von unablässigen Verwirrungen und Unvereinbarkeiten unterhöhlt. Sie breiten sich nicht so aus wie in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, sie sind weniger sternschnuppenartig verstreut als im Stundenbuch, aber in ihren verkürzenden und geballten Symbolen ist ihre Wirkung noch eindringlicher. Selbst das, was Rilke in einen günstigen Gegensatz zum Menschen zu setzen pflegte, zeigt nun Sprünge, die das Gefühl des Schmerzes eher noch unterstreichen. Der offene Tierblick wurde schwermütig und mißtrauisch (VIII. El.), die ersehnten Nächte sind sanft 251
enttäuschend und dunkel drohend (I. El.), die Frühlinge erfüllen ihre Versprechungen nicht (I. El.). Schönheit schwindet wie Tau vom Frühgras, und die Liebenden, denen die Umarmung Dauer verspricht, sehen sich auf immer dem Versagen gegenüber (II. El.). Mutter und Tochter, die die schweifende Sehnsucht des Jünglings zu halten und zu binden trachten, finden sich in ihrer Hoffnung getrogen, denn seine Träume stürzen ihn durch das Dunkel seines Blutes in uralte Leidenschaften (III. El.). Die Puppe und die Marionette zeigen achtlos ihren Balg voll Sägemehl, und das Kind, dieses Sternbild kunstloser Wahrheit, verliert seinen Glanz, wenn es zu denken beginnt und sich nach dem Großsein sehnt (IV. EL). Die schmiegsame Gewandtheit der fahrenden Akrobaten wird allein durch rücksichtslosen Willen und durch Drill erlangt, die das Lächeln des Kindes erstarren lassen und die erwachende Liebe des Mädchens ersticken (V. El.). Am ärgsten aber ist es, daß die Dinge, die herrlichen Sinnbilder von Gesetz und Ganzheit, die gerade bestimmt sind, uns zu überleben, mehr und mehr dahinschwinden, weil wir in unserem Drang nach Taten und Herrschaft ihre Unschuld vergewaltigen (VII. El.). Die Elegien sind der Ausdruck der Lebenskrise Rilkes auf ihrem Höhepunkt, und diese Krise wird von der Furcht vor dem Tode bestimmt. All das, was doch offenbar ein gewisses Maß an Dauer und Stetigkeit versprach, zeigt sich kaum weniger vergänglich als wir selbst. Die wenigen Dinge, die bleiben, sind hoffnungslos unerreichbar. Vielleicht hört der Heilige die Stimme Gottes, doch wir, die wir ebenso angespannt lauschen, vermögen sie nicht zu hören und am Leben zu bleiben. Nur das Wehende einer ununterbrochenen Nachricht aus der Stille des Todes erreicht unser Ohr (I. El.). Der Engel, der so gehorsam die Kindheit behütete, der in den Tagen Tobiae so hilfreich war, ist nun so ferne, daß — träte er nur um einen Schritt hinter den Sternen hervor — uns unser schlagendes Herz erschlüge (II. EL). Die Adern des Helden wurden vom Gärtner, dem Tode, gebogen; sein Untergang ist ihm nur ein Vorwand zu sein, seine letzte Geburt, die nur wenige erreichen. Die Liebe verlassener Frauen, die allein groß ist, weil ihr die Erfüllung genommen wurde, ist unfruchtbar, denn die Natur, die sie hervorbrachte, erschöpft sich damit und nimmt sie in ihren Schoß zurück (I. EL).
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42. VERWANDLUNG . . . und diese, von Hingang lebenden Dinge . . . wollen, wir sollen sie ganz im unsichtbaren Herzen verwandeln. (Neunte Elegie)
Gerade weil mit den Elegien ein Endpunkt erreicht zu sein scheint, kommt hier die Wendung des Weges in Sicht. Es ist eine der tröstlichsten Überzeugungen Rilkes, daß bis zum äußersten auszuharren zu unsäglicher Befreiung führen wird. Beharrung schließt Ungeduld ebenso aus wie zielbewußtes Bemühen. Ungeduld war der verhängnisvolle Irrtum Wolf von Kalckreuths; Ungeduld und berechnendes Streben sind die Gefahren der modernen Zivilisation, deren Tüchtigkeit der technisch-akrobatischen Gewandtheit entspringt, so daß „das reine Zuwenig unbegreiflich verwandelt —, umspringt in jenes leere Zuviel" (Fünfte Elegie). Wahres Ausharren verlangt Demut, die wiederum Offenheit und Freiheit zum Tode fordert. Diese unerwartete Wendung ist für Rilke ganz besonders bezeichnend: vom Tode, den er fürchtet, entlehnt er sich die höchste Bejahung des Lebens. Aber da sein unbeugsamer künstlerischer Selbsterhaltungstrieb ihn nötigte, alle landläufigen Deutungen des Todes und die Todesfurcht selbst zurückzuweisen, mußte er dem Tod eine neue Gestalt, einen neuen Sinn geben. An ebendieser Stelle erscheint nun Orpheus, der Rilkesche Messias, und hier entstehen die Sonette: aus dem angeschwemmten Boden am Rande des Leidlands, in der Landschaft der Klagen (Zehnte Elegie). „Nur im Raum der Rühmung darf die Klage gehn, die Nymphe des geweinten Quells"
(Son. I, 8).
Als alle jene gebräuchlichen, doch trügerischen Deutungen des Lebens versagten, blieben allein zwei unleugbare Wirklichkeiten: die unfaßbare Weiträumigkeit des Todes und die sichtbare Erde in der Vielfalt ihrer vergänglichen Erscheinungen. Beide können aus dem Leben weder weggeleugnet noch fortgeträumt werden. Es gab Zeiten, da sie mit Hilfe des Sichtbaren untereinander vertauschbar waren, denn ihre Grenzen waren noch 253
nicht fest umrissen. Die ägyptische Sphinx, die Säulen und Pylonen von Karnak sind dauernde Monumente der magischen Vereinigung jener Völker mit ihren Toten. Ebenso bezeugen die gotischen Kathedralen noch einen schöpferischen Glauben, der, erd- und steingebunden, Bewegung und Zeit in ewig ausgewogene Gebärden bannte. Diese weist Rilke dem Engel stolz als unabweisbares Zeugnis der eigentlichen Zeitlosigkeit des Menschen (Siebente Elegie). Auch die Griechen vermochten zwischen Klippe und Strömung einen schmalen Streifen reiner Menschlichkeit zu finden, denn sie benutzten ihren Zauberstab „Beherrschung". „Erstaunte euch nicht auf attischen Stelen die Vorsicht menschlicher Geste? War nicht Liebe und Abschied so leicht auf die Schultern gelegt, als war es aus anderm Stoffe gemacht als bei uns? Gedenkt euch der Hände, wie sie drucklos beruhen, obwohl in den Torsen die Kraft steht." Gewiß, ihr Herz überstieg sie, wie uns das unsere übersteigt, aber in besänftigenden Bildern und in den Körpern der Götter sahen sie es zur Mäßigung gelangen. Weiter strebten sie nicht, denn in der Herrschaft über sich selbst erfaßten sie das Ewige im Flusse der Zeit (Zweite Elegie). Doch diese Zeiten sind vergangen. Wir Heutigen schreiben den Toten selbst unsere eigene Ungeduld, unsere Neugier, unsere heimwehkranken Wünsche zu. „Weite Speicher der Kraft schafft sich der Zeitgeist gestaltlos wie der spannende Drang, den er aus allem gewinnt. Unser Leben geht hin mit Verwandlung. Und immer geringer schwindet das Außen. W o einmal ein dauerndes Haus war, schlägt sich erdachtes Gebild vor, quer zu Erdenklichem völlig gehörig, als ständ es noch ganz im Gehirne. Tempel kennt er nicht mehr. Diese des Herzens Verschwendung sparen wir heimlicher ein. Ja, wo noch eins übersteht, ein einst gebetetes Ding, ein gedientes, geknietes —, hält es sich, so wie es ist, schon ins Unsichtbare hin. Viele gewahren's nicht mehr, doch ohne den Vorteil, daß sie's nun innerlich baun, mit Pfeilern und Statuen, größer!" (VII. El.). 254
So ist dieses Rilkes letzte Deutung seiner selbst und des modernen Menschen schlechthin: „ . . . wir vergessen so leicht, was der lachende Nachbar uns nicht bestätigt oder beneidet. Sichtbar wollen wirs heben, wo doch das sichtbarste Glück uns erst zu erkennen gibt, wenn wir es innen verwandeln. Nirgends, Geliebte, wird Welt sein, als innen." Die Bauwerke, Kathedralen und Tempel, die unschuldigere Völker in Granit oder Stein aus sich herausbilden konnten, müssen wir nun aus unserem Wissen um Bezug und Wandlung in uns errichten (AW I, 267—268). Das bedeutet zweierlei: wir müssen die Wirklichkeiten des Lebens auf dieser Erde hinnehmen, und „wie die Zunge zwischen den Zähnen, die doch, dennoch, die preisende bleibt" (Neunte Elegie), müssen wir sie rühmen. Das ist die realistischste und anziehendste Seite Rilkescher Weisheit. Doch zugleich müssen wir die verwandelte Bedeutung dieser außer uns liegenden Wirklichkeit erkennen: „Mehr als je fallen die Dinge dahin, die erlebbaren, denn, was sie verdrängend ersetzt, ist ein Tun ohne Bild" (Neunte Elegie). So müssen wir sie in uns hineinziehen und ihnen im Innern, unsichtbar, aber dauernd, Leben und Gestalt geben. Hier hingegen zeigt sich ein entschieden künstlerischer Zug, dessen Gültigkeit sich als höchst fragwürdig erweist, wenn es um die harten Tatsachen des Lebens geht. Selbst Katharina Kippenberg äußerte im Februar 1925 schmerzlich: „ . . . eine neue Erde in sich bilden, . . . ist schwer" (Br. Kippenberg, 560). Und auch wenn man es könnte, was würde es letztlich helfen? In der Siebenten und Neunten Elegie ist Rilkes Wille zum Preisen am klarsten ausgesprochen. Diese Elegien stehen den Sonetten in Gedanken und Stimmung am nächsten und bestätigen unsere wiederholte Beobachtung, daß nämlich Rilkes Ängste wie seine Abhilfen vor allem die des Künstlers und erst in abgeleiteter Form auch die des Menschen waren. Die Neunte Elegie beginnt mit der Frage, warum der Künstler als Künstler leben kann und es doch zugleich mit dem Menschlichen aufnehmen muß, „Schicksal vermeidend, sich sehnen nach Schicksal". Und die Antwort lautet: gewiß nicht, weil es Glück gibt, den „voreiligen Vorteil eines nahen Verlusts", noch auch „aus Neugier oder zur Übung des Herzens"; solche Antriebe könnten rein künstlerischer Art sein und müßten nicht notwendig zu einer schicksalhaften Bindung führen. Der wahre Grund ist der: 255
„. . . weil Hiersein viel ist, und weil uns scheinbar alles das Hiesige braucht, dieses Schwindende, das seltsam uns angeht. Uns, die Schwindendsten . . . Aber dieses ein Mal gewesen zu sein, wenn auch nur ein Mal: irdisch gewesen zu sein, scheint nicht widerrufbar." Aber wie kann es Sicherheit oder Dauer darin geben, wenn es doch feststeht, daß wir alle Dinge hinter uns lassen müssen und es kein Jenseits gibt? Hier nun läßt Rilke keinerlei Zweifel darüber, daß er diese Erde niemals um leerer Spekulationen willen, die jeglichem plastischen Ausdruck widerstreben, preisgeben wird. Oberirdisches gehört in die Sphäre des Engels, nicht auf die Erde der Menschen. Es ist sinnlos, dem Engel eine Welt zu preisen, für die uns die angemessenen Worte fehlen und die er besser kennt als wir. Nein, wir müssen bei unseren Dingen bleiben, weil sie unser bedürfen. Mehr denn je erwarten sie, daß wir ihre gefangene Schönheit erschließen; nur so können wir sie und uns selbst vor Vergessenheit und Vernichtung bewahren. Wie? Indem wir sie „sagen", sie so liebend und verstehend sagen, daß unser Wort ihre schlichte Wahrheit enthüllt, und Wahrheit ist ewig. Vielleicht müssen wir, um uns hervorzutun, gar nicht von Kunstwerken, von „Säulen" oder „Tünnen" sprechen, wiewohl der Engel darüber eher noch staunen könnte, sondern die vertrauten, einfachen Dinge genügen: „Haus, Brunnen, Tor, Krug, Obstbaum, Fenster", sofern wir sie nur mit unserm entzückten Gefühl erfüllen. Selbst unser schmerzliches Leid mag in einem Ding Zuflucht und Gestalt finden, mag darin sterben und ihm als Lied entströmen (IX. EL). So scheint es dem Dichter, als sei es der geheimnisvolle Wille der Erde, daß wir die sichtbaren, vergänglichen Dinge in unsichtbare Dinge des Herzens verwandeln, und er ruft aus: „Erde, ist es nicht dies, was du willst: unsichtbar in uns erstehn? — Ist es dein Traum nicht, einmal unsichtbar zu sein? — Erde! unsichtbar! Was, wenn Verwandlung nicht, ist dein drängender Auftrag? Erde, du liebe, ich will Immer warst du im Recht, und dein heiliger Einfall ist der vertrauliche Tod" (IX. Elegie). Da haben wir es: der Tod als ein heiliger Einfall ist im magischen Netz gefangen, ohne den Beistand des christlichen Glaubens, ohne Mittler oder Erlöser, allein durch die Kraft des poetischen Wortes, zu dessen einzigem Wächter und Walter nun Orpheus werden kann. Eine letzte Reise durch das Leidland in der Zehnten Elegie, und des Dichters Klage steigt in den Sonetten als reiner Gesang, als Rühmung empor. 256
43. DIE METAMORPHE WELT Gesang
ist
Dasein.
(Son. II, 3) Die Sonette sind nach meiner Ansicht der erlesenste und schönste Teil des Rilkeschen Werkes, die Frucht, in der sich die ganze Süßigkeit seines reifen Genius sammelte. Es blieb genug von der elegischen Stimmung, um ihnen eine reiche, fruchtbare Tiefe zu geben, ohne doch ihre strahlende Durchsichtigkeit zu mindern. Man mag sich Rilkes Werk einer Wetterkarte vergleichbar denken, auf der zahllose Pfeile auf Strömungen, Querströmungen und Gegenströmungen weisen, in der sich jedoch letztlich alle die widerstreitenden Kräfte unweigerlich zu bleibender Harmonie zusammenfügen. Sein Hang zu orphischem Ausdruck, orphischer Erfahrung ist stetig: während er sich langsam ausbildet, findet er häufig zeitweilige Erfüllung, doch seine höchste Steigerung erreicht er in den Sonetten, dem „Baum der Ekstase" (Son. 11,18). Um diese Sonette recht zu würdigen, muß man begreifen, daß wir uns hier in einer Welt der Magie und der Verwandlung befinden, in welcher der Übergang von der Zeit in den Raum, von der Musik in die anschauliche Wirklichkeit ein Leichtes ist. Hier auf der ruhenden festen Erde müssen wir spüren können, daß wir rinnen, im Angesicht rinnenden Wassers müssen wir an dem zeitlosen Sein teilhaben können, und zugleich müssen wir stets wissen, daß eines Wirkung und Bedingung des anderen ist (Son. II, 29). Zwischen den Künsten wie zwischen den Empfindungen liegt nur ein unmerklicher, leicht überbrückbarer Raum. Sehen wir die anmutig-bedeutsamen Bewegungen der Tänzerin, so müssen wir die südliche Landschaft, die sie beschwört, und die Wärme, die von ihr ausgeht, erleben können; wir müssen die herbe Süßigkeit der Orange schmecken, wie sie in sich ertrinkt und sich gegen ihre Süße wehrt (Son. 1,15). Wir müssen begreifen, daß sich diese Wunder durch Wort und Symbol des Dichters vollziehen, daß Orpheus der Dichter ist, und der Dichter ist Rilke. All das ist nur möglich, wenn die Dichtigkeit von Dingen und Körpern ungeheuer gelockert und erhellt wird, so daß sich ihr Wesen öffnet und bereitwillig durchdringen läßt. Jede Faser der Wirklichkeit besteht nur als ein Teil des Ganzen, doch ohne sie ist auch das Ganze nicht mehr ganz und heil. Das Bedeutsame einer solchen Welt ist ihre in sich selbst beschlossene 17 Graff, Rilke
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Wesenheit, in der Spannungen und Beziehungen nicht allein zwischen den einzelnen Dingen bestehen, sondern kreisend durch sie alle hindurchgehen. Sie umfaßt die Lebenden auf der Erde und die Toten in ihr, wo sie weiterhin die Wurzeln des Lebens nähren. Ihr Raum ist ihre Zeit; es besteht zwischen den beiden eine so völlige, wechselseitige Durchdringung, daß wir Raum zeitlich und Zeit räumlich verstehen müssen. Bald nachdem Katharina Kippenberg die Sonette kennenlernte, äußerte sie hierzu: „Hier ist, scheint mir, oft sehr weit Herstammendes geformt, Wesentliches aus dem ägyptischen Erlebnis . . . " (Br. Kippenberg, 455). Die Zeit ist eingebettet und enthalten im Räume, der endlich, wiewohl ohne Anfang und Ende, und deshalb in gewissem Sinne zeitlos ist. Es ist eher eine Welt der Beziehungen als der faßbaren Dinge, aber es ist offensichtlich, daß Bezug in dieser metamorphen Welt etwas anderes ist als in der kausalen. In der letzteren ist es eine Abstraktion, die sich von den Dingen selbst deutlich unterscheidet, in der ersteren hingegen sind es die Dinge selbst in ihrer eigentlichen gegenseitigen Durchdringung. Der Künstler steht in dieser metamorphen Welt stets am Haupttor, das in der Mitte liegt und sich nach allen Richtungen hin gegen das Ganze öffnet. Er ist weder hier noch dort, sondern uneingeschränkt fähig, überall und allenthalben zu sein. Seine Wirklichkeit ist das Mögliche. Wie Buddha in der Glorie aus den Neuen Gedichten ist er „Mitte aller Mitten. Kern der Kerne" (NG, 255). Er ist die Stimme eines Armen, den der Engel durch die Straßen geleitet und der bekennt: „Was ich seh, erreicht nicht, was ich immer wußte" (AWI, 395). Wenn Rilke darauf besteht, daß wir jenseits von Eigentum und Besitz den „reinen Bezug" zu erfahren lernen müssen, so ist es diese Art metamorpher Beziehung, die er hier im Sinne hat (Son. 1,12; II, 13). „Sei — und wisse zugleich des Nicht-Seins Bedingung." Zählen ist nutzlos geworden: die Zahl ist vernichtet (Son. II, 13). Sinnlos ist es, Denksteine für Vergangenes, für Tote zu errichten. „Laßt die Rose nur jedes Jahr zu seinen Gunsten blühn . . . Ein für alle Mal ists Orpheus, wenn es singt"
(Son. I, 5).
„Ist er ein Hiesiger: Nein, aus beiden / Reichen erwuchs seine weite Natur. . . " , und er mischt der Toten „Erscheinung in alles Geschaute" (Son. 1,6.). Ist das metamorphe Zeitalter vergangen, so bedeutet dies nicht, daß es nicht zurückgewonnen werden könnte. Die Russen hatten den Sinn für die einfache Ganzheit in Rilkes Augen noch nicht ganz verloren, und in den Jahren 1912—13 fand er in Spanien ein Volk und ein Land, in dem „Himmel und Erde" noch eines waren (Br. 1,401). Die Augenblicke der Klage im 258
Februar 1922 waren für Rilke zugleich Augenblicke unbezwinglichen Glaubens: „ . . . denn wie tief ist in uns noch der Tag der Athener und der ägyptische Gott oder Vogel gefügt." Noch gibt es Kindheit und „die Schooße gerechter gebender Mütter". Ihre schöpferischen Kräfte lassen sich anfachen und können „unbeirrt durch das hindernde Holz künftige Ströme gebären." — „Diese, vor allem, heimliche Grenze des Bösen, die auch den Ruhenden, der sich nicht rührte, umkreist", kann wiederum ausgelöscht werden, und ebenso soll es mit den Grenzen des Todes und denen zwischen den Geschlechtern geschehen. Das Kind in uns kennt sie sowenig wie den Unterschied zwischen dem „Weißsein" und dem „Weiß des Kleides" (AW 1,374). „Aber noch ist uns das Dasein verzaubert; an hundert Stellen ist es noch Ursprung. Ein Spielen von reinen Kräften, die keiner berührt, der nicht kniet und bewundert" (Son. II, 10). Tatsächlich schafft die moderne Zivilisation, ohne es doch zu beabsichtigen, Bedingungen, die dem erneuten Aufleben eines metamorphen Bewußtseins günstig sind. Wieder und wieder hat das Schicksal die Götter zerstört, die wir in kühnen Entwürfen planten: „Nur noch in Dampfkesseln brennen die einstigen Feuer"
(Son. 1,24).
Dennoch, „sie meinen auch uns, alle der Villa d'Este / spielende Brunnen . . . wir sind die Erben, trotzdem, dieser gesungenen G ä r t e n . . . keiner der Götter vergeh. Wir brauchen sie alle und jeden" (AW I, 373). Vielleicht sind die Kurven unserer Flüge und die, die sie fuhren, nicht umsonst, wenn sie auch nur als Gedanke bleiben (Son. II, 22). Wir dürfen das, was wir mit Stolz errangen, nicht widerrufen, sondern wir müssen lernen, aus anderen Beweggründen als aus eitler Prahlerei oder um des wohlberechneten Gewinns willen zu handeln. Unser Knabenstolz muß die wachsenden Apparate als ein Symbol reiner absichtsloser Bewegung erleben lernen, dann wird der Gewinn sich unerwartet und überreichlich einstellen (Son. I, 23). Den Lauf der Zeit müssen wir als das Unerhebliche im Bleibenden nehmen (Son. II, 27). In der Raserei unserer Tätigkeit nehmen wir „an Kraft ab, wie Schwimmer" (Son. I, 24), doch unser Atem ist „ein unsichtbares Gedicht", wüßten wir es nur. Atmen ist „immerfort um das eigene / Sein rein eingetauschter Weltraum . . . Gegengewicht... Raumgewinn . . . " 17*
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„Wieviele von diesen Stellen der Räume waren schon innen in mir. Manche Winde sind wie mein Sohn. Erkennst du mich, Luft, du, voll noch einst meiniger Orte? Du, einmal glatte Rinde, Rundung und Blatt meiner Worte" (Son. 11,1). Wir müssen davon ablassen, Erfüllung unserer immer unerfüllbareren Wünsche zu suchen, vielmehr sollen wir jede unbekannte und unerreichbare Schönheit preisen, denn es gibt keine Entbehrungen, haben wir uns einmal entschlossen zu sein (Son. II, 21). Wir müssen „tot in Eurydike" sein, um alle Winter zu überstehen, noch ehe sie kamen (Son. II, 13). Der Schmerz der Elegien muß in den magischen Kreis unseres Rühmens gezogen werden, und sei es auch etwas so Schuldhaftes wie das Verlassen einer geliebten Frau, welches Rilke an anderer Stelle so leidenschaftlich mißbilligt. Doch in den Sonetten bestätigt er strahlend als ein Recht der Natur, was zuvor noch Übergriff war, und die einsame Frau braucht ihr Schicksal nicht länger der Erbarmungslosigkeit des Mannes zur Last zu legen: „O ihr Zärtlichen, tretet zuweilen in den Atem, der euch nicht meint, laßt ihn an eueren Wangen sich teilen, hinter euch zittert er, wieder vereint" (Son. 1,4). Gewiß, dieses ist die bemerkenswerte Formel eines Meistermagiers, dem die Sinnlichkeit schon in früher Jugend eine „fröhliche Fackel" war, „die wir lachend hinter alle Transparente unseres Wesens halten" (vgl. S. 26), und der inzwischen gelernt hatte, „über den Häupten" der Frauen „mit Worten wie mit Wipfeln" zu rauschen und ihnen in den Schlummer zu lauschen (FG, 3). Don Juan konnte in seinem Verlangen, liebende Frauen in Helo'isen zu verwandeln (AW 1,185) und ihnen die beseelte Neigung zu verleihen, die sie für immer zu göttlichem Gebrauch bestimmt (Rilke et Merline, 90), kaum ein besserer „Bilderjäger" sein. Es ist leicht zu sehen, wie gefällig sich dieses alles in den Grundriß Rilkescher Kunst und Erlebnisweise einfügt, die wir aus den Samen seiner Kindheit sich entfalten sahen. Alle Motive, denen wir begegneten, vereinigten sich schließlich um den Engel der Elegien und den Orpheus der Sonette. Um abschließend das zarte und zerbrechliche Wesen der magischen Welt Rilkes, an der harten Wirklichkeit des Lebens gemessen, noch einmal zu kennzeichnen, wollen wir auf ein Sonett (1,11) hinweisen, in dem er die Verbindung von Roß, diesem „Stolz der Erde", und Reiter, „der ihn treibt und hält und den er trägt", verherrlicht. In ihrer harmonischen Einheit sind sie musterhaft wie ein Sternbild. Aber diese Harmonie erweist sich 260
schließlich als weniger tief, als uns ihre Erscheinung glauben macht: sie besteht nur so weit und so lange, wie ihr gemeinsamer Weg währt. „Namenlos schon trennt sie Tisch und Weide. Auch die sternische Verbindung trügt." Doch was soll uns das? „ . . . uns freute eine Weile nun der Figur zu glauben. Das genügt", singt der Dichter.
261
TEIL Vili
ENGEL
... und will jede [Stelle meines großen zukünftigen zu einem Engel machen und midi von ihm
Buches]
überwinden
lassen und ihn zwingen, daß er mich beuge, obwohl ihn gemacht habe
ich
...
(Aus einem Brief an Clara Rilke vom 24. April 1903)
44. DER SCHUTZENGEL WIRD SCHRECKLICH Seit midi mein Engel nicht mehr bewacht, kann er frei seine Flügel entfalten ... (FG) Man nimmt gewöhnlich an, daß der Engel der Elegien mit dem Schutzengel der Kindheit wenig gemein habe, und doch sind sie zutiefst verwandt. Gewiß wurde alles Christliche bald aus der Vorstellung von ihm entfernt, aber das Element des Übermenschlichen blieb. Zudem findet sich so mancher christliche Zug, der den Vorrang des Engels in der Hierarchie der Schöpfungsordnung bestätigt, auch in den Elegien. Rilke behauptete zwar, daß der Engel seines Spätwerkes eher der islamischen als der christlichen Tradition nahestehe, aber wenn es sich wirklich so verhält, ist dies nicht mehr als ein bloßes Zusammentreffen. Denn Rilke pflegte seine Symbole niemals fremden Vorbildern anzugleichen, es sei denn, es hätten sich die wesentlichen Züge dieser Symbole zuvor aus seiner innersten Erfahrung hervorgebildet. Stets wird hier seine erlebte Beziehung zur äußeren Realität und nicht die Realität als solche einbezogen. Das Buch der Bilder enthält ein Gedicht, in dem die Bedeutung des Schutzengels treffend beschrieben ist: er ist der namenlose „Vogel, dessen Flügel kamen, wenn ich erwachte in der Nacht und rief." In seinem Schatten kam der Schlaf, und er nährte die Träume. Wenn sie den Knaben in einem Alpdruck den Schlaf wie den Tod empfinden ließen, war es der Engel, der ihn aus der Finsternis des Herzens emporhob — „und wolltest mich auf allen Türmen hissen wie Scharlachfahnen und wie Draperien". Es war der Engel, „der von Wundern redet wie vom Wissen und von den Menschen wie von Melodien und von den Rosen: von Ereignissen, die flammend sich in deinem Blick vollziehn"
(BB, 25—26).
Dem Kinde war der Engel wie eine Mutter, die die Schreckbilder der Nacht in arglose Dinge verwandelte und in Augenblicken der Ungewißheit oder Angst auf jeden seiner Winke oder Rufe bereit war. Die Tage der Kindheit 265
glichen jenen des Alten Testamentes, als Raphael dem jungen Tobias nodi als freundlicher Begleiter erscheinen konnte (II. EL). Doch als Rilke das Buch der Bilder schrieb, gingen er und sein Engel bereits getrennte Wege. Schon war der letztere der „ernste Engel aus Ebenholz: du riesige Ruh" (FG, 26). Voller Aufbegehren bezweifelte der sich befreiende Jüngling nun die angebliche Macht und die liebende Anteilnahme des Engels, dessen überwältigende Gegenwart ihm den unvollendeten Gott seines wachsenden schöpferischen Bewußtseins verstellt hatte. Aber wenn der Schutzengel Rilkes Vorstellungen nur noch als eine vage Erinnerung aus dem verlorenen Alter der Unschuld heimzusuchen pflegte, so bleibt doch die Wirklichkeit des Engels an sich bestehen. Doch ist er nun nicht mehr dem intimen Leben des Dichters zugehörig, sondern sein Himmel ist nun von der Erde des Dichters getrennt (FG, 20—21). Engel und Erde schließen einander nun aus, und beiden mußte sich Rilke stellen, denn beide hatten ihre Macht über ihn bewahrt. Es ist bezeichnend für seine gesamte Entwicklung, daß er sich mit der Zeit mehr und mehr der Erde gleichsetzte und den Engel seiner Sphäre überließ, doch nicht weil er ihm weniger bedeutsam geworden wäre, sondern weil die Natur des Engels sich ihm in wachsendem Maße mit allem Überwältigenden und Ungebändigten verband. So steht Rilke, mit beiden ringend, zwischen Engel und Erde, überwindet in gewissem Sinne die Erde und wird vom Engel überwunden. Im Hintergrunde zeichnet sich in mattem Umriß, bewußt mit wachsendem Schweigen übergangen, ein unbestimmter Gott ab, dessen unerklärliche Macht in dem Maße wächst, wie der „zukünftige" Gott des Stundenbuches problematisch wird. Wir sahen schon, daß die Erde bei Rilke alles das verkörpert, was der Mensch im Zwiespalt seines Zeitbewußtseins und seiner unberechenbaren Willkür nicht ist. Soweit es unserem Dichter gelang, alle die unbezwinglichen Lebensmächte in gewissem Sinne zu entmächtigen, gingen sie geläutert und besänftigt in den Kreis seiner orphischen Kunst ein, und der Dichter vermochte sich ihrer „sternischen Verbindung" eine Weile zu freuen. Aber da das Sternbild vom Reiter durch die Unvereinbarkeit von „Tisch und Weide" unablässig gefährdet war (Son. I, 11), tauchte der Engel als der drohende Wächter eines Schönen empor, das nichts ist, „als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen, und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören" (I. El.) Weit davon entfernt, Freund und Bruder des Orpheus zu sein, ist der Engel vielmehr sein Gegenspieler, der seine Herrschaft unablässig bestreitet. Gewiß, um in die Sphäre der Kunst und der Rühmung einzutreten, muß man zuvor das Leidland durchqueren (X. EL). Orpheus kann nur der erfahren, 266
der die Unerbittlichkeit des Engels ertrug, doch die Macht des letzteren, mag man sie auch zuweilen umgehen, besteht weiter. Mit Orpheus „kommt und geht" der Dichter durch alle diese einander ausschließenden Bereiche, aber jemals die Schwelle zum Reiche des Engels zu überschreiten, kann er nicht hoffen: voll Neid und Stolz weigert er sich, um ihn zu werben, und doch wirbt er mit vorgeblicher Demut, indem er ihm die „bleibenden" Leistungen des schöpferischen Menschen entgegenhält (II., VII., IX. El.). Rilke warf schließlich all das Ungebändigte an den Übeln des Lebens in den Schoß des Engels, der allein sich als fähig erwies, es aufzunehmen und es letztlich unbeachtet zu übergehen. Er bedurfte eines Symbols, das alle negativen Seiten des Lebens barg und sie in das Positive umsetzte, was ihm versagt war. Der Engel blieb stets Rilkes eigene Schöpfung, die Formel, die alles das deckte, was er weder war noch sein konnte, aber zu sein verlangte, sofern er nur zugleich menschlich bleiben konnte. Indem er so das Unmögliche in ein Symbol einschloß, vermochte er es nach den jeweiligen Bedingungen als einen Anreiz zur Eingebung zu nutzen. Er bedurfte des Schrecklichen, des Unerreichbaren und nannte es Engel. Orpheus ist das Symbol für Rilkes Triumph in der Kunst, der Engel ist es für seine unentrinnbaren Ängste und Fehlschläge im Leben. In gewisser Weise ist Orpheus sowohl eine Flucht vor den Schrecken des Engels wie ein Sieg über sie. Wenn der Engel als ein Symbol für die schöpferische Eingebung gedeutet werden soll, so kann es nur in dem Sinne sein, in dem das Unmögliche einen ewigen Anreiz darstellt. Seine tatsächliche Verwirklichung hätte die völlige Aufhebung aller menschlichen Bedrängnisse und damit des eigentlichen Antriebs bedeutet, dessen Rilke bedurfte. Gegen eine derartige Möglichkeit mußte sich Rilke nun als Künstler mit der gleichen zwiespältigen Entschlossenheit verwahren, mit der er sie im Leben zu erreichen trachtete. So sind die letzten Verse der Siebenten Elegie von prometheischer Entsagung und Verwegenheit erfüllt: „Glaub nicht, daß ich werbe, Engel, und würb ich dich auch! Du kommst nicht. Denn mein Anruf ist immer voll Hinweg; wider so starke Strömung kannst du nicht schreiten. Wie ein gestreckter Arm ist mein Rufen. Und seine zum Greifen oben offene Hand bleibt vor dir offen, wie Abwehr und Warnung, Unfaßlicher, weitauf." Diese Beziehung Rilkes zum Engel, wie sie der Zeit der Elegien eigen ist, war das Ergebnis langen Wachstums. Als in den Jahren des Florenzer Tagebuchs und des Buches vom mönchischen Leben im ersten freiheitsdürstenden Überschwang des Heranreifenden die Hausgötter mit wehmütigem Unglauben gestürzt wurden und der Schutzengel in den Himmel zurückgeschickt wurde, wo er hingehörte, konnte Rilke die Aussaat eines zukünftigen Gottes 267
in die russische Erde noch für leicht und einfach halten. Im Stundenbuch werden die Engel als Verkörperungen westlichen Denkens und Verbreiter des Zeitbewußtseins abgetan. Sie werden an den Rand des irdischen Lebens verwiesen, wo sie mit ihren Verehrern in den Städten am Wipfelsaum des Baumes Gott lärmen. Fast steht auf ihrer Seite Luzifer, „der Fürst im Land des Lichts" und „der helle Gott derZeit" (AW 1,39). Und wenn im Buch von der Pilgerschaft der Mönch betroffen ist, weil selbst die Engel der Renaissance nicht mehr fliegen, sondern um Gott sitzen gleich „Trümmern von Vögeln" (AW I, 69), so zeigt auch das, mit welcher Unbedenklichkeit der junge Dichter diese prätentiösen Wesen von sich stieß, die sich angesichts seines erwachenden Genius als derart ohnmächtig erwiesen hatten. Doch während die Engel hier mit kaum verhohlener Herablassung und prahlerischer Demut behandelt werden, werden sie gleichzeitig mit einigen beklagenswerten Zügen im Leben des Menschen verknüpft: mit seinem Hochmut, mit seinem Drang nach Zerstreuung, seinem Mangel an Sammlung, seinem Gefühl für die Vergänglichkeit und folglich auch mit seiner Bemäntelung des Todes. Noch erscheinen die Engel nicht schrecklich, sondern eher kläglich. In seiner jugendlichen Begeisterung, von den ersten Wogen der Inspiration getragen und durch die psychologischen Darlegungen Lou Andreas-Salomés befreit, blickt unser Dichter auf sie herab. Noch ist er nicht auf den harten Kern des wirklichen Lebens gestoßen, das später so schwer zu erdulden und mit der Kunst so schwer zu versöhnen sein sollte. Im Laufe der Zeit wird der Engel sich fähiger zeigen, die ihm auferlegte Last zu tragen, als der Dichter. Er wird alles das in sich beschließen können, was von ihm ausgeht, während der Dichter klagt: „ . . . ach wir atmen uns aus und dahin; von Holzglut zu Holzglut geben wir schwächern Geruch" (AW I, 249). In dem Maße, wie Rilke erkennen muß, daß seine immer wiederkehrenden glücklichen Augenblicke der Inspiration ihn ebenso wie seine systematischen Bemühungen dennoch dem Schicksal überlassen, wird der Engel in seiner beneidenswerten Umfriedung und Unerreichbarkeit immer gewaltiger aufragen. In Übereinstimmung mit der vorgreifenden Erfahrensweise Rilkes zeichnet sich der spätere „schreckliche Engel" bereits in dem Buch vom mönchischen Leben ab. Gott befiehlt dem Mönch zu schreiben, daß Grausamkeit, das Vorrecht der Könige, der Engel vor der Liebe sei und daß Gott ohne sie keine Brücke in die Zeit habe. Mit der Liebe allein wäre der Mensch zeitlos wie Gott. Der Engel der Grausamkeit bringt das Element der Unsicherheit und unterwirft so den Menschen dem Schicksal (AW I, 41). Auch in einem Gedicht vom Januar 1901 erscheint der Engel unter der Wucht des Sturms, der „durch den Wald und durch die Zeit geht", als ein Symbol der Ewigkeit und der unermeßlichen überwältigenden Macht. „Wen dieser Engel überwand, welcher so oft auf Kampf verzichtet", für den bedeutet Wachstum, „der Tief besiegte von immer Größerem zu sein" (AW 1,146—147). 268
In den Jahren des Malte und der Neuen Gedichte zerbrach Rilke fast unter der Last der Einsamkeit, die ihm sein Leben in Paris auferlegte, und die steinerne Welt Rodins sandte schließlich Kälteschauer durch seine leidenschaftlich wache Seele. Nachdem er kaum mehr als ein halbes Jahr in der französischen Hauptstadt zugebracht hatte, schüttelte er sein Joch ab und entfloh in die wärmeren Himmelsstriche der Toskana. Die zahlreichen Tunnels, die er auf seinem Wege nach Viareggio zu durchfahren hatte, verdrossen ihn: „ . . . es ist einem, als läge des Gebirges ganze Last auf einem . . . die Last des Steines, der Erze und der Quellen und über allem der schwere, schwere Schnee und der kalte Himmel . . . " (Br. 1902—06, 70). Das Buch von der Armut und vom Tode, das in dieser Stimmung geschrieben wurde, beginnt mit den klagenden Worten: „Vielleicht, daß ich durch schwere Berge gehe in harten Adern, wie ein Erz allein . . . alles wurde Nähe und alle Nähe wurde Stein"
( A W I , 89).
Und nach seiner Rückkehr nach Deutschland bekannte er Lou AndreasSalomé, wie sehr er an dem übergroßen Beispiel Rodins gelitten habe, dem er nicht unmittelbar zu folgen vermochte, weil seine Kunst ihm keine vergleichbaren Mittel bot: „ . . . die Unmöglichkeit, körperlich zu bilden, ward Schmerz an meinem eigenen Leib und auch jenes Angsthaben, (dessen stofflicher Inhalt die enge Nähe von etwas zu Hartem, zu Steinernem, zu Großem war) entsprang aus der Unvereinbarkeit zweier Kunstwelten . . . " (Br. Lou, 95). Es ist nur natürlich, daß diese Züge auf den Engel übergingen, der spürbar unerbittlicher und unzugänglicher wird. Er weist jegliche Verpflichtung von sich und wendet sich ausschließlich dem zu, was in seinem Innern vorgeht. Seinen leichten Händen kann man keine der eigenen Lasten anvertrauen, „sie kämen denn bei Nacht zu dir, dich ringender zu prüfen, und gingen wie Erzürnte durch das Haus und griffen dich als ob sie dich erschüfen und brächen dich aus deiner Form heraus" (NG 49). In einem Brief vom 17. Dezember 1906 versuchte Rilke die Einsamkeit seiner unter ihrer Trennung leidenden Frau mit den Worten zu lindern: „Haben nicht Engel uns schon dazu angehalten mit der tief en, überzeugten Unerbittlichkeit, die Engeln gegeben ist?" (Br. 1,151). Und im Hinblick auf die Neuen Gedichte, die der Entschlossenheit entsprangen, den harten Tatsachen des Lebens nicht um des lyrischen Uberschwanges willen auszuweichen, empfand Rilke: „Es kann im Schrecklichen nichts so Absagendes und Verneinendes geben, daß nicht die multiple Aktion künstlerischer Bewältigung 269
es mit einem großen, positiven Überschuß zurückließe, als ein Dasein-Aussagendes, Sein-Wollendes: als einen Engel" (Br. I, 263). Rilke schuf seinen Engel jeweils in Übereinstimmung mit seinen Bedürfnissen als ein Gefäß, in dem er alle seine Ängste bewahren und in ihr Gegenteil verkehren konnte. Sein Engel ist janushäuptig: auf der einen Seite ist er offen, um alle unaufgelösten Schrecken des Dichters aufzunehmen, auf der anderen ist er hermetisch verschlossen. So kreisen diese Schrecken verklärt, in vollkommenem Frieden, aber in narzißtischer Unfruchtbarkeit. Etwas von unserem Wesen ist in den Engeln enthalten, doch „sie merken es nicht in dem Wirbel ihrer Rückkehr zu sich"
(AW I, 250).
Dieser Vorgang der Übertragung sollte niemals enden. Hätte Rilke seine Bedrängnisse völlig gelöst zurücknehmen können, so wäre dies das Ende seiner Kunst gewesen. Denn er bedurfte eines Engels, der, kaum bezwungen, sich ihm bei der nächsten Wendung aufs Neue entgegenstellte (Br. I, 306). Immer konnte der Engel gleichsam als ein idealer Richter oder Schrittmacher dienen, dessen Gesetze jedoch der Bestätigung Rilkes bedurften, um bindend zu sein. Die gleiche Bedeutung hat auch der anklagende Engel im Requiem für Paula Modersohn-Becker (AW I, 217). Hier tadelt Rilke die Eigensucht des Mannes gegenüber der Frau und zugleich Paula Modersohn, weil sie ihrer einen und einzigen Pflicht auswich. „Wenn irgendwo ein Kindgewesensein tief in mir aufsteigt, das ich noch nicht kenne, vielleicht das reinste Kindsein meiner Kindheit: ich wills nicht wissen. Einen Engel will ich daraus bilden ohne hinzusehn und will ihn werfen in die erste Reihe schreiender Engel, welche Gott erinnern." Der Engel muß die Last des ehelichen Dilemmas Rilkes tragen und sein Versagen in der Liebe aufwiegen. Und merkwürdig genug, dieser Engel trägt die reinsten Züge der einstigen Kindheit des Dichters: das Alter der Unschuld wird angerufen und zum anklagenden Engel gemacht — blind, „ohne hinzusehen". Gewiß, die Reinheit des Kindes würde dieser Anklage in den Augen Gottes Kraft und Gewicht verleihen, und mehr noch, sie würde jeden Verdacht persönlicher Voreingenommenheit ausschließen. Doch ist sie mit der im Requiem ausgesprochenen Klage selbst nur schwer vereinbar. Nicht allein könnte das Kind in Rilke das von Paula verübte Unrecht vielleicht gar nicht sehn, ja, es würde ihn vielleicht sogar begreifen und verzeihen machen. Und das käme dem Zugeständnis bedenklich nahe, daß 270
Paula und Otto Modersohn schließlich so schuldig nicht waren, als sie wiederum zusammenfanden, um eine Familie zu gründen. Doch wie hätte sich da Rilkes Beziehung zu Clara eingefügt? Nein, die Macht reiner Kindheit mußte hier unbeirrbar und abgewandten Blickes beschworen werden, um die Eindeutigkeit unvoreingenommenen Urteils hinlänglich zu erweisen. Doch brachte dies alles den Mann und Künstler Rilke der Lösung seiner Fragen näher? Wurden die Dämonen seiner Kindheit hierdurch gebannt, seine Kunst geheiligt und seine Lebensweise gerechtfertigt? Wie tief mag der Stachel der Schuld Rilke im Fleisch gesessen haben, und wie sehr bedurfte er wohl des Engels, an dem er sich schadlos halten konnte!
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45. DER ENGEL VON DUINO . .. Und dennoch, weh mir, ansing ich euch, fast tödliche Vögel der
Seele.
(Zweite Elegie)
Es kann kaum wundernehmen, daß ungefähr drei Jahre nach der Niederschrift des Requiems für Paula Modersohn-Becker — im Jahre 1912 — jener Schmerzensschrei die sturmdurAtoste Luft Duinos zerriß: „Wer, wenn ich schriee, hörte midi denn aus der Engel Ordnungen? Und gesetzt selbst, es nähme einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge vor seinem stärkeren Dasein" (I. EL). Der Engel erweist sich ebensowenig als Hilfe wie Mensch, Tier oder Ding, und wo schließlich sind die versprochenen Sicherheiten der Liebe, die doch wie nichts sonst Täuschungen nährt? Nur die liebende Frau, der die dauernde Erwiderung ihrer Liebe versagt wurde, kann in ihrer Einsamkeit zum Leitstern werden. „Weißt du's noch nicht?" fragt sie der Dichter. „ . . .Wirf aus den Armen die Leere zu den Räumen hinzu, die wir atmen; vielleicht daß die Vögel die erweiterte Luft fühlen mit innigerm Flug." Rilke wußte wohl, daß diese erhabenen Vorstellungen in den Augen seiner Frau nur einen kläglichen Ersatz für ein verantwortungsbewußtes Familienleben darstellen konnten; er wußte, daß ihr, die doch ebenfalls Künstlerin war, die Aufgabe zufiel, ihr gemeinsames Kind aufzuziehen, und daß man kaum erwarten konnte, sie werde das unerbittliche Entweder—Oder ihres Mannes und seine mit leisem Neid untermischte Verherrlichung jener anderen verlassenen Frau, Gaspara Stampa, sonderlich zu würdigen wissen (vgl. S. 328). Gewiß war es kein Versehen Rilkes, daß seine Frau geraume Zeit aus der Zahl derer ausgeschlossen blieb, die die ersten Elegien lesen durften, welche im Jahre 1912 in Duino entstanden (Br. MTT, 298). Neben den verlassenen Frauen vermögen uns vielleicht noch die Jungverstorbenen zu helfen, wiewohl sie sich selbst nur schwer an ihren unvertrauten Zustand gewöhnen. Doch sie starben um unsertwillen, weil wir den Tod brauchen, weil ihr Tod uns erst das Leben möglich und die Kunst groß macht (AW I, 248). Offensichtlich bereitet sich hier im Geiste Rilkes 272
die Vorstellung von Orpheus vor, doch noch scheint allein der Engel fähig, die Grenze zwischen Leben und Tod außer acht zu lassen. „Engel (sagt man) wüßten oft nicht, ob sie unter Lebenden gehn oder Toten. Die ewige Strömung reißt durch beide Bereiche alle Alter immer mit sich und übertönt sie in beiden" (I. EL). Doch ach, die Engel sind „fast tödliche Vögel der Seele" (II. El.), und „wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen?" An Lou Andreas-Salomé schrieb Rilke am 1. März 1912, kurz nach Vollendung der Ersten Elegie, über den „Mißbrauch, den der Körper in so vielem mit der Seele treibt, die in den Tieren Ruhe hat und in den Engeln erst Sicherheit" (Br. I, 372). Gewiß, denn die Engel sind körperlos, ein Zustand, nach dem es Rilke nicht verlangte. Wonach er sich sehnte, war wohl, in beidem zugleich beheimatet zu sein, im Zustand des reinen Engels und in dem des puren Leibes, Engel und Puppe zugleich zu sein (IV. El.) — dem Menschen unerreichbar. Die Vermischung beider, in der die engelhaften Anlagen unablässig durch den gleich einem Siebe von der Zeit durchlöcherten Leib rinnen und in der andererseits der Leib mit ewigen Täuschungen statt mit unverfälschtem Sägemehl gefüllt ist, eine solche Mischung ergibt einen Zustand, der dem Leib und dem Engel in uns nichts als Enttäuschung und Mühseligkeit bieten kann. Und doch scheinen diese ebendie Bedingungen, unter denen Kunst und Künstler leben können und müssen — eine Wahrheit, die Rilkes Augenmerk in zunehmendem Maße auf sich ziehen sollte. Ist sie tief genug eingedrungen, wird sich der Dichter willig der Erde, die er in sich unsichtbar entstehen läßt, hingeben. Aus dieser unsichtbaren Erde der Elegien wird Orpheus erstehen, der einzige „Geist, der uns verbinden mag, denn wir leben wahrhaft in Figuren" (Son. 1,12). Im Jahre 1912 war Rilke jedoch zu dieser klaren Erkenntnis noch nicht gelangt. Trotz aller Enttäuschungen hegte er noch immer die vage Hoffnung, daß er Leben und Kunst, wie er sie verstand, zum Einklang bringen könne. Mit anderen Worten: wiewohl er unerbittlich in eine Sackgasse getrieben wurde, war er doch nicht endgültig davon überzeugt, daß er nicht menschlich bleiben und zugleich an der selbstgenügsamen Unabhängigkeit des Engels teilhaben könnte. Als er seine menschlichen Unzulänglichkeiten nach und nach dem Engel aufbürdete, der sie bewältigen mußte, hatte er ein Symbol von beneidenswerter, aber erschreckender Macht entwickelt, dessen Möglichkeiten noch ergründet und erprobt werden mußten. So ist nach meiner Ansicht jene Stelle in der Zweiten Elegie zu verstehen, in der der Dichter den Engel befragt. „Wer seid ihr?", forscht er, als sei er entschlossen, bis zum Grunde vorzudringen. Und die Antwort, die an die reiche lapidare Bildersprache katholischer Litaneien gemahnt, ist bezeichnend. Sie 18 Graff,
Rilke
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läßt keinen Zweifel an der übermenschlichen Natur der Engel, wenn sie auch Geschöpfe Gottes sind. In diesem Zusammenhang muß man sich Rilkes so häufig ausgesprochener Anschauungen über das Wesen Gottes erinnern: eine bloße Richtung des Herzens, ein unvollendeter, ein zukünftiger Gott, dessen Schaffung und Verwirklichung die besondere Aufgabe des Künstlers ist. Wie kann man da die Folgerung umgehen, daß auch die Engel Geschöpfe des Künstlers sind? Doch als solche sind sie unmittelbar gelungen, „frühe Geglückte", die keinerlei Ringen oder Wachstum unterworfen sind. Sie sind „Verwöhnte der Schöpfung", weil sie von Anbeginn an über alle Ängste des Menschen erhaben waren, obschon der letztere, in Gestalt des Künstlers, ihr Schöpfer ist. Sie sind „Höhenzüge, morgenrötliche Grate aller Erschaffung", ungleich ihrem Schöpfer, dem Künstler, der die Wechselfälle des Schicksals in den Niederungen fliehen und doch suchen muß. Sie sind „Pollen der blühenden Gottheit": in der Blüte seines Wachstums zeugt Gott die Engel als Pollen, der die Welt des Künstlers befruchten soll. Und da es die eigentliche Aufgabe des Künstlers ist, einen großen Tod hervorzubringen, um dessentwillen „das Angeschaute" bleibt „wie Ewiges, auch wenn es lang verrann" ( A W I , 93), so sind die Engel die Befruchter, und das letzte Ergebnis ist jene verherrlichte Todesfrucht, die zum Unterpfand der Zeitlosigkeit in einer neuerlebten Welt der Dinge wird. Die Engel sind weiter „Gelenke des Lichtes", durchgeformtes Wissen im Gegensatz zu der dumpfen Stummheit der Puppe, die nichts ist als Körper. Rilke fühlte sich stets von den Menschen tief beeindruckt, die durch höhere Einsicht der Vernunft oder der Seele Gleichgewicht und Ausgewogenheit zu erlangen wußten. Lou Andreas-Salomé war ein solcher Mensch, und an Rudolf Kaßner, dessen Elemente menschlicher Größe er eben gelesen hatte, schrieb er: „Sie bringen immer mehr Sicherheiten auf und kommen gewiß mit den großen Dingen in so reinen Verkehr wie keiner von uns" (Br. I, 309). Noch größer war jedoch Rilkes Ehrfurcht und Bewunderung, wenn er Menschen begegnete,, deren unbeirrbare Selbstsicherheit durch heroische Zucht im künstlerischen Streben erlangt wurde, wie es bei Rodin, Cézanne und Paul Valéry der Fall war. Triumphierten die Engel, so würden sie alle Dunkelheit aus der Welt des Menschen verscheuchen, aber zu unserem Unglück (oder soll man sagen: zu unserem Glück?) triumphieren sie nicht. Doch sie sind „Gänge", durch die der Künstler hindurch muß, soll ihm die Herrlichkeit des Rühmens gelingen; sie sind „Treppen", die, gleich des Helden „Aufenthalte der Liebe" in der späteren Sechsten Elegie, zu „Thronen" über dem Herzschlag aller Liebenden führen, wo eine „herrische Auswahl" über grenzenlose Räume hin sich eröffnet. Die Engel verwandeln Rilkes bedrängendes Bewußtsein der Zeit in „Räume aus Wesen", eine Wirksamkeit, die für ihn immer bedeutsamer wird. Zudem werden die Engel für Rilke, den es so sehr nach Zucht und Lenkung seines Hanges zum Überströmen verlangte, zu schützenden „Schil274
dem aus Wonne". In ihnen wird die Angst, sich ungebührlich zu verlieren, gemildert, und „stürmische Tumulte" werden zu „entzücktem Gefühl" besänftigt — einem Gefühl, wie es den Dichter im Jahre 1912 in Duino so plötzlich überwältigte und das er, nachdem er so lange unter Anleitung Rodins kaltes „Werk des Gesichts" getan hatte, mit wachsender Sorge erwartete. „Tue nun Herz-Werk an den Bildern in dir, jenen gefangenen", sollte es zweieinhalb Jahre später bei ihm heißen ( A W I, 322). Hier ist zu beobachten, daß alle die Eigenschaften, die sich auf die Engel in der Mehrzahl beziehen, flüchtig betrachtet, noch eine gewisse Verwandtschaft mit überkommenen religiösen Vorstellungen haben. Doch erweist sich Rilke entschiedener als unorthodox, wenn er den einzelnen Engel darstellt. Hier schreibt er ihm offenbar Wesenszüge zu, die gewöhnlich mit Gott verbunden werden, mit einem Gott, dem der Künstler sich ebenbürtig denkt. Der Grund, aus dem der Engel seine höheren Zwecke in der Schöpfungsordnung erfüllen kann, ist der: er ist ein Spiegel. Alles, was er beabsichtigt und zu tun vermag, ist nichts als die Gesamtheit seines immanenten Wesens, dem jegliches Verlangen nach Mitteilung, jedes Begehren fehlt. Unberührt und in sich selbst beschlossen, strahlt Rilkes Engel sein schönes Sein aus und spiegelt es in endlosen Kreisen reinen Raumes in sein eigenes Antlitz zurück ( A W 1,249). Er vermag sich völlig hinzugeben, ohne sich vor Vereinzelung und Einsamkeit zu fürchten, ohne sich einem Gegenüber stellen zumüssen, das„ein raschgemachtes Antlitz" herdreht, „das mehr ist" (AW I, 390). Der Engel ist ein von Rilke stets beschworenes Luftgebilde, ein Phantom, das allein in einer magischen Welt Wirklichkeit werden kann, in der der Name und die Eigenschaften des Engels gegen die des Orpheus ausgetauscht werden. Als Rilke im Januar 1912 die ersten Elegien niederschrieb, wußte er, daß er aus der „objektiven" Dichtung zur warmen, belebenden Inspiration zurückfinden mußte. Aber wie konnte er das, ohne wiederum jenem verzehrenden jugendlichen Verströmen anheimzufallen, das ihn einstmals in den Abgrund der Malte-Stimmungen gestürzt hatte? Vor allem aber, wie konnte er zu einer Liebe finden, die seine Seele bis zum Zerspringen erfüllte und ihn dennoch in keinerlei Bindungen und Enttäuschungen verstrickte? Wie die Antwort lauten wird, wissen wir nun: alle Frauen müssen in die eine Madonna Lisa, alle Mädchen in das eine innere Mädchen verwandelt werden und alle die vergänglichen Dinge dieser Welt in Weltinnenraum. Alle Entzückungen der Liebe müssen von dem einen verzehrenden Entzücken künstlerischen Schaffens aufgesogen werden. Angesichts der so verlaufenden Entwicklung Rilkes ist es wohl deutlich, daß die Zweite Elegie 18'
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nur recht verstanden werden kann, wenn man sich vergegenwärtigt, daß das künstlerische Schaffen für Rilke nach Wesen und Intensität dem Geschlechtserlebnis gleichkam. „Ihr aber", so fragt er die Liebenden, „die ihr im Entzücken des anderen / zunehmt, bis er euch überwältigt / anfleht: nicht mehr ... . . . euch frag ich nach uns. Ich weiß, ihr berührt euch so selig, weil die Liebkosung verhält, weil die Stelle nicht schwindet, die ihr, Zärtliche, zudeckt; weil ihr darunter das reine Dauern verspürt. So versprecht ihr euch Ewigkeit fast von der Umarmung" (AW I, 250). Als im Winter 1913 die Fürstin Marie von Thum und Taxis die Zweite Elegie ins Italienische übersetzte, war Rilke mit der Übertragung gerade dieser Stelle nicht zufrieden. Stolz, einen gültigen Ausdruck für das Wesen intimer Berührung gefunden zu haben, sollte dieser durch eine Paraphrase nichts von seiner Greifbarkeit einbüßen (Br. MTT, 334—335). Wie tief Kunst und Geschlecht in der Entstehung der Elegien verflochten sind, zeigt sich zudem in der Tatsache, daß auch der Anfang der Dritten Elegie in jener Zeit entstand. „Eines ist, die Geliebte zu singen. Ein anderes wehe, jenen verborgenen schuldigen Fluß-Gott des Bluts . . . O des Blutes Neptun, o sein furchtbarer Dreizack. O der dunkele Wind seiner Brust aus gewundener Muschel." So nimmt es nicht wunder, daß die Beherrschung der alten Griechen sehnsüchtig beschworen wird, wiewohl sie uns nicht mehr erreichbar ist, weil wir, die wir uns Flug und Schnelligkeit ergeben haben, unsere ungestümen Herzen nicht mehr zu besänftigen vermögen, indem wir sie in Götterbildern verkörpern (AW 1,251). Nun, da wir Rilkes ganzes Werk überschauen können, wissen wir, daß dieses quälende Problem sich ihm erst in dem Glauben an die trügerische „sternische Verbindung" von Roß und Reiter lösen wird (Son. 1,11). Zu jener Zeit tastete er noch nach dieser glücklichen Formel, obwohl sich ihr erahnter Umriß schon an vielen Stellen abzeichnet. Die Anfangszeilen der Zehnten Elegie, die ebenfalls 1912 in Duino entstanden, lassen keinen Zweifel darüber, daß die orphische Zukunft trotz des drohenden Engels nahe ist: „Daß ich dereinst, an dem Ausgang der grimmigen Einsicht, Jubel und Ruhm aufsinge zustimmenden Engeln. Daß von den klar geschlagenen Hämmern des Herzens keiner versage an weichen, zweifelnden oder reißenden Saiten." 276
Und in der Ersten
Elegie
findet sich eine gleichermaßen aufschlußreiche
Stelle: „Ist die Sage umsonst, daß einst in der Klage um Linos wagende erste Musik dürre Erstarrung durchdrang?" Ebenso wie die Sonette produkt der Elegien
an Orpheus
im Jahre 1 9 2 2 gleichsam als Neben-
entstanden, stellte sich, während Rilke 1 9 1 2 seine er-
sten Elegien
schrieb, unerwartet eine Abfolge von Gedichten, nämlich Das
Marienleben,
ein ( A W I , 229—241). Zur Gräfin Sizzo äußerte er 1 9 2 2 , daß
vieles in Einzelheiten und Anordnung dieser Folge von Bildern nicht seiner eigenen Erfindung entsprungen sei. Er beruft sich auf Werke von Tizian und Tintoretto als Vorbilder und auf das Maler-Buch
vom Berge Athos und
den Kiewski Paterik als Quellen. Zudem erklärt er, daß der allgemeine Ton der Gedichte zwar sein eigener sei, aber doch einer überlebten Vergangenheit angehöre. Kunst, so äußert er, müsse dem Leben, nicht einer schon bestehenden Kunst entspringen, es sei denn, der Künstler bereichere das W e r k um ein beträchtliches Maß eigener Erfahrung. Dieses sei, wie der Dichter betont, im Marienleben
im großen und ganzen nicht der Fall (Br.
Sizzo, 1 1 - 1 2 ; Br. M T T , 7 0 0 ) 1 ) . Gewiß, soweit sich die darin aussprechende Stimmung noch in katholische Symbolik kleidet, stellen diese Gedichte zweifellos eine Rückkehr in vergangene Tage dar. Auch muß man zugeben, daß sie nach Technik und Form !) Es scheint in Rilkes Gedächtnis einige Verwirrung über den Ursprung des Marienlebens geherrscht zu haben, denn in einem Brief vom 21. Oktober 1924 an Hermann Pongs erklärt er, daß die Entstehung dieser Gedichte „ganz äußerlich" bedingt gewesen sei. Während seiner ersten Zeit in Westerwede hatte er gelegentlich Mariengedichte in Vogelers Gästebuch geschrieben. Später erfuhr er, daß Vogeler diese frühen Gedichte zu veröffentlichen und mit Zeichnungen zu versehen beabsichtigte. „Dies zu verhüten", so schreibt Rilke, „und ihm wenigstens, falls er bei seiner Absicht bleiben sollte (was nicht geschah), bessere und zusammenhängendere Texte zu liefern, schrieb ich in wenigen Tagen, bewußt zurückfühlend, diese (bis auf eines oder zwei) unwichtigen Gedichte . . ." (Br. Muzot, 333). Doch mag der Widerspruch nicht so groß sein, wie er erscheint: die „äußerlichen" Bedingungen boten nur den Anlaß für die sonst unerwartete Entstehung der Gedichte. Bemerkenswerte Einzelheiten zu der Anregung, die Rilke dem Maler-Buch vom Berge Athos verdankte, und zu dem griechischen Motto seines Marienlebens gibt Ernst Zinn (Zinn, 215—217). Rilke scheint dies Motto fälschlich als „Raum in sich habend" verstanden zu haben, was seinem „Weltinnenraum" entsprechen würde. (Siehe hierzu auch SW III, 844.) Das Marienleben ist gleich den Sonetten an Orpheus ein deutlicher Ausdruck für Rilkes mehrschichtige Erlebnisweise und seine zweischneidige Art des Schaffens. Im Januar 1912 drängte sich die „plastische" Darstellungsweise der Pariser Jahre im Verlaufe wiederauflebender Inspiration in Duino mit verspäteter Gewalt noch einmal vor, und so entstand der Zyklus des Marienlebens, dessen Form aus diesem Grunde ein wenig von seiner Echtheit eingebüßt hatte. Da das Alte hier das Neue beeinträchtigte, glaubte Rilke sein Werk entschuldigen zu müssen. Im Februar 1922 fand die sich lange hinziehende Qual künstlerischer Zeugung in Muzot ihre plötzliche Entspannung in den Sonetten. Hier war es das unerwartete Neue, das das Alte überwog, und dem entsprang das Gefühl der Befreiung und der freudigen Zustimmung. 277
die besten dichterischen Leistungen Rilkes nicht erreichen (Belmore, 203 ff.). Doch sieht man davon ab, so wird man Rilkes abwertenden Bemerkungen schwerlich allenthalben zustimmen können. Auf jeden Fall ist die Bedeutung des Engels in einem der Gedichte, in Mariae Verkündigung, völlig anders als in dem früheren Gedicht gleichen Titels (vgl. oben 5.134). In jenem früheren nämlich blickte der Engel sehnsüchtig, ja neidisch auf Maria, die ihrerseits das von ihm ausgehende Licht nicht spürte; in dem späteren dagegen ist er schrecklich — auch für Maria. Und die Begründung ist interessant: nicht seine Erscheinung an sich erschreckte ihre Unschuld und Reinheit, sondern daß sein junger Blick mit dem ihren so völlig zusammenschlägt und damit die Welt um sie her ausgeleert und aufgehoben ist. Das ist schön, aber schrecklich. Schön ist es, weil nur durch eine so völlige Durchdringung von Sehendem und Gesehenem, von Subjekt und Objekt das Große geboren wird; aber schrecklich ist es, weil es die vollkommene Trennung vom „Baum an dem Abhang", von der „Straße von gestern" und vom „verzogenen Treusein einer Gewohnheit, der es bei uns gefiel", bedeutet (AW I, 231). So war der Widerspruch zwischen Rilkes Engeln und seiner Kunst geartet: er mußte aufs innigste um sie werben, aber doch zugleich fürchten, sie zu erreichen, denn sie sind allem feindlich, was dem Menschen teuer ist. Das ist ein wahrhaft tragischer Zwiespalt, in dem allein „der Figur zu glauben" möglich ist. Doch am Ende des gemeinsamen Weges von Roß und Reiter „trennt sie Tisch und Weide".
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46. DER SPANISCHE ENGEL UND DER HELD Ich halte sie für die Angreifer par excellence. (Brief vom 15. März 1913; Br. 1907—14)
Nach den großen schöpferischen Tagen von Duino sank Rilke in einen Zustand der Ruhelosigkeit zurück, überschattet von dem bedrängenden Engel, der nach und nach aus einer Unzahl gebändigter Dämonen bestand. Für die nächsten zehn Jahre kann man sein Leben wohl als ein beständiges Ringen mit dem Engel um die Vollendung der Elegien und um Befreiung durch sie bezeichnen. Zuerst setzte er alle Hoffnung auf eine Reise nach Spanien, von der er sich zuversichtlich eine ähnlich befruchtende Wirkung erwartete, wie Rußland sie ihm beschert hatte. Schon im Jahre 1900 hatte ein Buch, das von dem holländischen Maler Joseph Israels illustriert war, seine Aufmerksamkeit auf die Iberische Halbinsel gelenkt (Br. Frühzeit, 85). Wenig später, bereits im Jahre 1902, machte er die Bekanntschaft des spanischen Malers Ignacio Zuloaga, von dem er schon in deutschen Museen einige Werke bewundert hatte. In gewissem Maße spielte Zuloaga hinsichtlich Spaniens die gleiche Rolle, die Lou Andreas-Salomé hinsichtlich Rußlands gespielt hatte: durch ihn wurde Spanien zu einer lebendigen, vielversprechenden Wirklichkeit, um so mehr, als Rilke in seinem Pariser Atelier einige El Grecos fand. Und als der Dichter im Jahre 1907 das Glück hatte, in einer Pariser Ausstellung El Grecos Toledo zu entdecken, empfand er, daß diese Stadt, die sich an den ansteigenden Ufern des Tajo gegen ihre Kathedrale und noch höher hinauf gegen ihre gewinkelte wuchtige Festung hin erhob, der angemessene Ort für seine Träume sein würde. Auf El Grecos Gemälde war die Erde von einem zerfetzten Licht wie aufgerissen und zeigte hier und da blaßgrüne Weiden gleich Flecken von Schlaflosigkeit (Br. 1907—14,58). Am 12. Oktober 1912 äußerte Rilke gegen seinen Verleger Kippenberg, daß El Greco für ihn das größte Ereignis der letzten zwei oder drei Jahre gewesen sei (Br. Verleger, 179). Zudem hatten verschiedene seiner Freunde — darunter Rodin, die Fürstin Marie von Thum und Taxis und Kaßner — Spanien besucht und ihm von diesem Land, seinen Städten und seinen Bewohnern erzählt. Im Herbst 1912 nahm Rilke auf dem Landsitz der Fürstin, deren Sohn ein Medium und die selbst Mitglied einer Gesellschaft für parapsychologische Forschungen war, an spiritistischen Versuchen teil. Im Verlauf dieser Sitzungen, in denen der Geist einer angeblich aus Toledo stammenden Frau auf Rilkes Fragen antwortete, wurden diese 279
Stadt, ihre Sterne, ihr Himmel und ihre Engel wiederholt erwähnt (Br. M T T , 902—914). Wenig später begab sich Rilke in der Absicht, den ganzen Winter in Toledo zu verbringen, nach Spanien 2 ). Der Eindruck, den Toledo auf ihn machte, war vielleicht ebenso tief wie derjenige, den Moskau zwölf Jahre früher hinterließ, und die Unterschiede spiegeln die dazwischenliegende Entwicklung wider. Moskau war für Rilke die Stadt des „zukünftigen", seiner Verwirklichung entgegengehenden Gottes, Toledo hingegen mag man als die des unmittelbar gegenwärtigen, schrecklichen Engels bezeichnen. Einiges ist ihnen beiden gemeinsam: Raum und eine prophetische, alttestamentarische Größe (Br. 1907—14, 255—262). Doch der russische Raum war die unendliche Steppe mit ihren in der dunklen Ferne schwindenden Kurghanen, der spanische schien dem Dichter dagegen wie ein Himmel ohne Perspektive, von so scharfem Lichte erfüllt, daß Dinge und Menschen — durch keinerlei sanfte Übergänge verbunden — den Sternen eines Sternbildes glichen. Später empfand Rilke zwischen der Landschaft Spaniens, der Provence und der Umgebung von Muzot, denen der „unbeschreiblichste (fast regenlose) Himmel" eigen ist (Br. Muzot, 8), eine große Ähnlichkeit. Der Gott des Stundenbuches war in den Wurzeln und bedeutete Erde, der spanische Engel ist Licht und meint die Sterne. Der russische Gott ist warm, der Engel ist kalt und jeglichen zarten Mitempfindens unfähig. In ihm befindet sich ein entschieden intellektueller Zug, der dem frühen Gott wie dem späten Orpheus fehlte. Das hat seinen Grund darin, daß der Engel zur Summe der negativen, zweideutigen Eigenschaften Rilkes wurde, die sich in ihm, ins positive und eindeutige Gegenteil gewandt, wiederfanden. Er ist ein Symbol der Schöpferkraft nur in diesem privativen oder antithetischen Sinne und gehört so naturgemäß in die Elegien; mit dem russischen Gott und Orpheus fühlte sich Rilke fast bis zur Identität innig verwandt. Soweit der Gott des Stundenbuches ferne ist, steht er dem Engel der Elegien nahe; soweit er brüderlich und nah ist, ist er dem Orpheus verwandt. Im Stundenbuch sind diese antithetischen Aspekte noch eins in Gott, in den Elegien und den Sonetten unterscheiden sie sich voneinander und schließen sich gegenseitig aus. Schließlich war Rilke durch die Welt Rodins hindurchgegangen, die ihn gelehrt hatte, daß jedes Ding seine Umwelt, seinen eigenen Umriß habe, und das hatte seine trennende Wirkung getan. Zudem hatte er sich gefühlsmäßig sehr viel weiter von der Kindheit und dem warmen religiösen Gefühl entfernt, denen beiden etwas Verbindendes eigen ist. Sein Aufenthalt in Spanien ist vor allem durch seine heftigen antichristlichen Äußerungen gekennzeichnet. Einen der erbitterten Angriffe dieser Art, der sich in einem Brief aus Ronda vom 17. Dezember 1912 findet (vgl. oben S. 60), zitierten ) Ein interessanter Artikel von Gabriel Marcel über Rilkes Beschäftigung mit dem Okkulten findet sich bei Silvaire-Vigee, S. 136 ff, 2
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wir schon. Zwei Tage später schrieb er an Lou Andreas-Salomé/ daß er Bücher von dem Franzosen Fabre d'Olivet lese, dessen hebräische Studien ihn zu dem Schlüsse geführt hatten, „daß die Bücher Moses in ihrem Urtext etwas völlig anderes sind, als sowohl die griechischen wie die lateinischen Übertragungen enthalten" (Br. 1907—14,281). Rilkes Unkenntnis der Bibelexegese war erschreckend. So merkwürdig es auch erscheinen mag, Rilke hatte unter dem Einfluß Rodins zwar gelernt sich zu sammeln, aber während er diese Sammlung im Hinblick auf die Fülle einzelner Dinge mit Überlegung und Versenkung übte, hatte er in gewissem Sinne seine Kräfte verzettelt und seine Fähigkeit zum warmen Umfangen des Ganzen aufs Spiel gesetzt. Er hatte „Werk des Gesichts" getan, das vom Gegenstande her zwar einen gewissen Glanz empfing, aber schließlich doch unpersönlich und analytisch blieb. Nun galt es „Herz-Werk" zu tun, das verband, doch sollte es dieses Mal nicht um einen unbestimmten Gott oder verwandte religiöse Symbole kreisen. Schon Malte hatte sich beklagt, daß er über der harten Arbeit, sich Gott zu nähern, ihn fast ganz aus den Augen verloren habe ( A W I I , 216). Was nun den Engel anbelangt, so ist er zweifellos der sichtbare Angelpunkt der Elegien, doch seine Aufgabe ist katalytisch, ihrem Wesen nach Herausforderung. Wie aus zahlreichen verstreuten Äußerungen klar hervorgeht, wußte Rilke, daß das Joch des Engels eines Tages abgeschüttelt werden müsse, doch wann und wie, vermochte er nicht vorauszusehen. Zweimal zitiert er in seinen Briefen aus Spanien eine Stelle aus den Schriften der Heiligen Angela von Foligno (1248—1309), die zeigen, daß diese erneute Offenbarung nur aus einer völlig neuen Richtung hervorgehen konnte. „Wenn alle Weisen und alle Heiligen des Paradieses mich mit ihren Tröstungen und ihren Verheißungen und Gott selbst mich mit Gaben überschütteten — wenn er mich selbst nicht änderte, wenn er nicht tief in meinem Innern sein Wirken neu begänne, so würden die Weisen, die Heiligen und Gott meine Verzweiflung, meinen Zorn, meine Traurigkeit, meinen Schmerz und meine Blindheit nur über allen Ausdruck anfachen" (Br. 1907—14, 271—272; 277). Man braucht hier jedoch wohl kaum zu bemerken, daß die innere Wandlung, die Rilke erwartete, eine andere war als diejenige, welche die italienische Heilige erstrebte. Spanien stellt noch in einem anderen Sinne eine Trennungslinie dar: Rilkes Interesse am Heiligen verschob sich hier mit Entschiedenheit zugunsten des Helden, eines unreligiösen Typus. Der Heilige ist das russische Ideal, der Held das des Westens. Für den Heiligen ist bezeichnend, daß er sich sanft in Gott hinübergleiten läßt, der Held hingegen weist auf einen jähen Aufstieg, in dem die einzelnen Stufen übersprungen werden, dem Feigenbaum vergleichbar, der sogleich in die Frucht springt. Es ist etwas Aggressives um den Helden wie um den spanischen Engel. Nur wenige 281
Monate nach seiner Rückkehr aus Spanien schrieb Rilke aus Paris: „Es vertrüge sich nicht mit der Leidenschaftlichkeit der Engel, Zuschauer zu sein, sie übertreffen uns an Handlung genauso weit, als Gott über ihnen Handelnder ist ; ich halte sie für die Angreifer par excellence" (Br. 1907—14,291). Das bedeutet, daß auch der Dichter, um dem Engel zu begegnen und ihn zu meistern, eines wachsenden Maßes an Mut bedarf. Rilkes spanischer Engel ist ein Nachfahre des frühen „ernsten Engels aus Ebenholz", dem trotzig bedeutet wird: „Einer ist größer als du: dein Schatten"
(FG, 26).
Diesen Schatten stellt in beträchtlichem Maße der Dichter selbst dar. Der Heilige nutzt Menschen und Dinge nicht, um zu einem großen irdischen Geschick zu gelangen; hingegen ist der Held dem Genie verwandt: seine innerste Natur fordert, daß er hinstürme „durch Aufenthalte der Liebe, jeder hob ihn hinaus, jeder ihn meinende Herzschlag" (AW 1,265). Dieser Wechsel vom Heiligen zum Helden war mit Rilkes wachsendem Wissen um den Widerstreit zwischen den Forderungen des Lebens und der Kunst verknüpft. Vor allem in jenen Pariser Tagen, als er sein neugegründetes Heim in der Heide verlassen hatte, wurde es dem bedrängten jungen Gatten und Vater klar, daß er eine bewußte Rücksichtslosigkeit gegen alles üben mußte, was der Kunst nicht förderlich war, sollte der Künstler in ihm überleben. Immer wieder weist er in seinen Briefen darauf hin, daß Rodin ein glänzendes Beispiel einer solchen unerbittlichen Zielstrebigkeit war. „Sein tägliches Leben und die Menschen, die hineingehören, liegen da wie ein leeres Bette, durch das er nicht mehr strömt; aber das hat nichts Trauriges an sich: denn nebenan hört man das große Rauschen und den gewaltigen Gang des Stromes, der sich nicht an zwei Arme teilen wollte . . . " (Br. I, 58). Rilke zitierte von Rodin folgende Worte: „II est mieux d'être seul. Peut-être avoir une femme — parce qu'il faut avoir une femme" (Br. 1902—06, 36). So erstrebenswert eine Frau in mancher Hinsicht auch sein mag, so ist sie doch notwendiges Übel für den Künstler und dürfte sein Werk nicht stören. „Nicht rechts, nicht links schauen", so fährt Rilke fort, „das deutet alles auf dasselbe hin: daß man sich entscheiden muß, entweder das oder jenes. Entweder Glück oder K u n s t . . . Die großen Menschen alle haben ihr Leben zuwachsen lassen wie einen alten Weg und haben alles in ihre Kunst getragen. Ihr Leben ist verkümmert wie ein Organ, das sie nicht mehr brauchen . . . " (Br. 1902—06,36—37). Und auf Rodin folgte Cézanne als eine Art heldisches Vorbild und Beispiel. „Vielleicht ist er zum Begräbnis dieses [seines] Vaters gekommen; seine Mutter liebte er auch, aber als sie bestattet wurde, war er nicht da. Er befand sich ,sur le motif'., wie er es nannte" (Br. 1906—07, 366). 282
Schon 1898 fühlte Rilke sich bei der Lektüre von Emersons Considerations by the Way von dem bündigen Satz beeindruckt: „The hero is he who is immovably centered" — „Der Held ist derjenige, der unverrückbar im eigenen Mittelpunkt ruht" (Mason, Münchhausen, 21; DuV, 122). Diesen Satz stellte er im Jahre 1902 seiner Monographie über Rodin voran, der ihm zu jener Zeit als solch ein heroischer Typus erschien. Später änderte er bekanntlich seine Ansicht (Br. 1907—14,158). Vor seinen Pariser Erfahrungen bedurfte Rilke eines Symbols wie das des „schrecklichen Engels" und der daraus erwachsenden Forderung nach der heldischen Bereitschaft, sich ihm zu stellen, nicht in gleichem Maße. Der russische Mönch war mit „Demut" und einem Schein von Heiligkeit ausgestattet, und dies erschien als ein hinreichender Schutz gegen die Verlockungen und Wechselfälle des Lebens. Und noch in Paris, dem „Ort der Verdammnis", vermochte ein Engel Rilke „die Peinen der Verdammten" zu deuten (Br.1907—14,335—336). Das Heldentum Rodins, wie ein wenig später das Cezannes, die beide „unverrückbar im eigenen Mittelpunkt zu ruhen" schienen, hielt der Dichter damals noch für erreichbar, handelte es sich doch um eine rein künstlerische Kategorie. Im Requiem für Wolf Graf von Kalckreuth (1908) sprach Rilke die Anschauung aus, daß der Dichter sich zu verwandeln fähig sein müsse, „wie sich der Steinmetz einer Kathedrale verbissen umsetzt in des Steines Gleichmut"
(AW I, 225),
und so siegreich mit dem Engel ringen solle. Heldentum bedeutet hier noch nicht das gänzliche und unproblematische Eingehen auf die Aufgaben des Lebens mit der fraglosen Gewißheit auf Überwindung und Sieg. Andrerseits beobachteten wir bereits, daß der Held für Rilke später, im Jahre 1911, zu etwas wurde, was der Künstler niemals sein kann, nämlich zum typischen Extrovertierten, dem homerischen Typ, dessen eigentliche Natur es ist, „sich zu ereignen", das heißt, durch das Einbegreifen der äußeren Kräfte, der menschlichen wie der kosmischen, er selbst zu werden. Der Dichter war nun nach Rilkes Ansicht dazu bestimmt, außerhalb des Schicksals zu bleiben und dort, wo er sich einließ, ungenau und zweideutig zu werden (AW II, 348; vgl. oben S. 205). In dieser Hinsicht muß selbst zwischen dem Dichter und dem Bildhauer unterschieden werden: der letztere vermag leichter ganz in seinem Werk aufzugehen, weil es aus greifbarem, festem Stoff gemacht ist. Ihm wird es leichter, den von außen kommenden Verlockungen zu widerstehen. Das Medium des Dichters ist dagegen unendlich flüchtiger und läßt ihn mehr „ausgesetzt auf den Bergen des Herzens" (AW I, 334). Rodin, dem es zumindest an der Oberfläche gelungen war, alle Erfordernisse des Tages seinem Werk unterzuordnen, dessen Inneres so hart war wie das Material, das er bearbeitete, wurde für Rilke zu einem Engel des Schreckens, um den er, der lyrische, empfindsame Dichter, nur werben 283
konnte, ohne verstanden zu werden. Gleich einem jener Engel mit der Sonnenuhr an der Kathedrale von Chartres schien ihm nicht bewußt, „wie dir unsre Stunden abgleiten von der vollen Sonnenuhr, auf der des Tages ganze Zahl zugleich, gleich wirklich, steht in tiefem Gleichgewichte, als wären alle Stunden reif und reich". „Was weißt du, Steinerner", so fragt der Dichter, „von unserm Sein?" (NG, 32). Doch 1906 hatte Rodin, dem Erzengel vergleichbar, Rilke aus dem Paradies vertrieben; und als dem Dichter schließlich nach Jahren des Irrens und Suchens in Duino die ersten Elegien zuteil wurden, erwies sich diese „Gnade" als karg und von kurzer Dauer. Die Notwendigkeit, sich, einsamer denn je, gegen den Engel zu wappnen, wurde unabweisbar, und in Spanien hoffte er auf die rechte Atmosphäre. Daher die heroische Steilheit, die unerbittlichen Gegensätze, die dem spanischen Erlebnis eigen sind. Um eine Stadt wie Toledo zu erbauen, mußten „ein Heiliger und ein Löwe gemeinsam am Werk gewesen sein" (Br. 1907—14, 267). Diese Züge fanden ihren klaren poetischen Ausdruck zwar erst zur Zeit der spanischen Erlebnisse, doch bildeten sie sich schon eine geraume Weile, vor allem in den Pariser Jahren, aus. So ist es nicht verwunderlich, daß der Held schon in der Ersten Elegie als ein Typus erscheint, der dem gewöhnlichen Menschen überlegen ist, denn „der Untergang war ihm nur ein Vorwand, zu sein" (I. El.). Und in dem liebenden Jüngling der Dritten Elegie, die in Duino begonnen, aber erst 1913 in Paris vollendet wurde, ist etwas vom Helden wie vom Genie. „Liebte sein Inneres, seines Inneren Wildnis, diesen Urwald in ihm . . . . . . ging die eigenen Wurzeln hinaus in gewaltigen Ursprung, wo seine kleine Geburt schon überlebt war. Liebend stieg er hinab in das ältere Blut, in die Schluchten, wo das Furchtbare lag, noch satt von den Vätern. Und jedes Schreckliche kannte ihn, blinzelte, war wie verständigt. Ja, das Entsetzliche lächelte . . . " Geradeso wie des Helden „herrische Auswahl" schon im Mutterschoß begann, war das lächelnde Entsetzliche schon „im Wasser gelöst, das den Keimenden leicht macht". Bei aller tiefgründigen Symbolik um die dunklen Mächte von Liebe und Geschlecht verteidigt auch die Dritte Elegie vor allem das Recht des Künstlers, geliebt zu werden, ohne doch wiederlieben zu müssen — es sei denn, es ginge um jene flüchtigen „Aufenthalte der Liebe". 284
In den Schoß, der ihn gebar, haben sich „hoch von dem Herzrand, klagend, / schon die Mädchen gestürzt, künftig die Opfer dem Sohn" (VI. EL). Wie alle anderen Rilkeschen Motive wurde auch das des Helden, das sich während und unmittelbar nach dem Aufenthalt in Spanien herausgebildet hatte, noch weiter entwickelt. Schon in zwei Sonetten, die im November 1913 entstanden, wird die jähe und heftige Steilheit des spanischen Heldentypus schmiegsam gemacht, bis er zu einem wesentlichen Bestandteil im kreisenden Strom „des Ganzen" wird. „Außer dem Helden ist noch dies: der Kreis", so sagt der Dichter. „ . . . wo gibt es eins, das nicht vom Andern weiß?" Der Mann, der mit so viel Ernst auf seinen Unterscheidungen und Ordnungen besteht, der so mit dem Endenden und Untergehenden vertraut ist, mag wohl unfähig sein, zugleich „Teil und Gegenteil", das Strahlende, Heldische und das Bange, Erliegende zu erfahren. Nur Frauen zeigen im Ausdruck ihrer Gesichter, daß sie beides zu mischen wissen (SG, 40). Rilke war sich der Bedeutung seines Spanienerlebnisses in seinem ergänzenden Gegenspiel zu Rußland wohl bewußt. Bei Edmond Jaloux findet sich eine Bemerkung Rilkes, nach der er das Gefühl des sich schließenden Kreises liebte. Darunter verstand er die Genugtuung, die er empfand, wenn eine neue Erfahrung, welche einen Zuwachs an Wissen versprach, sich tatsächlich nur als eine Bestätigung dessen erwies, was er gefühlsmäßig schon längst gewußt hatte. Ohne ihren Namen zu ahnen, hatte er von der Stadt Ronda schon Jahre früher in Rußland erfahren, als er das Reisetagebuch eines jungen Adligen las (Ree., 14). Toledo war ihm „eine Stadt Himmels und der Erden", die „in gleichem Maße für die Augen der Verstorbenen, der Lebenden und der Engel da" ist (Br. 1907—1914, 258). Eine grenzenlose Vielfalt von Abtönungen in Rußland, eine Landschaft unter den klar hervortretenden Sternen des klaren spanischen Himmels — das waren die sich ergänzenden Symbole der Sehnsüchte Rilkes. Und diese beiden konnten keineswegs einfach durch erfinderischen Geist oder klugen Witz versöhnt werden. In Ronda las Rilke Cervantes in deutscher Übersetzung und ärgerte sich an seinem „kindischen" Don Quijote. „Künstlerisch verstanden hat ja dieses Buch überhaupt keine Grenzen, sondern etwa nur die, die eine geistvolle erfinderische Verkleidung in Wirklichkeit haben würde —, und die sind leichtsinnig bei weitem überschritten" (Br. 1907—1914, 275). Aber was sollte schließlich aus Rilkes gewaltigem Ringen mit dem Engel werden, wenn er einfach als ein Kampf gegen Windmühlenflügel abgetan werden konnte? Die heroische Sechste Elegie entstand in Ronda, wiewohl sie erst 1922 in Muzot vollendet wurde. Der Held verachtet das demütige Ausharren des Heiligen und freut sich des Dahinstürmens bis zum „Ende der Lächeln" 285
(VI. El.). Diese Elegie zeugt nachdrücklich von der kämpferischen Entschlossenheit Rilkes, welche jenseits der Elegien ihre Krönung in den Sonetten an Orpheus finden sollte. In diesem Sinne sind die Sonette ein lyrisches Zeugnis, das dem Trotz einer bitteren heldenmütigen Ergebung entsprang, dem Trotz des Künstlers gegen den tauben Engel als selbstbezogenen Verwandler der Lebensängste. Zudem trotzen sie der steinernen Welt des Bildhauers durch das fließende Wort des Dichters und seinen „Baum aus Bewegung" (AWI, 310) und stellen einen stolzen Sieg des metamorphen Orpheus über den verhaltenen Glanz des Apollo der Neuen Gedichte dar, der schließlich so manches mit dem Engel mit der Sonnenuhr gemeinsam hatte. Eine solche Herausforderung und ein solcher Sieg erforderten Heldentum, die einzige Art von Heldentum, die Rilke schließlich für sich beanspruchte. Es kam ihm niemals in den Sinn, sich durch wirkliche Heldentaten auszeichnen zu wollen, es sei denn in jenen abwegigen Träumen seiner Schulzeit in der Militärerziehungsanstalt von St. Pölten. Das gibt er in einer Tagebuchnotiz, die er im Oktober 1925 an Lou AndreasSalomé sandte, freimütig zu. Er erkannte seine große Entfremdung von allen natürlichen menschlichen Beziehungen bewußt an, denn er spürte, daß eben sie ihm eine gewisse Freiheit gegen die Menschen verlieh. Gewiß konnten diese kaum vermuten, „daß er nicht (wie der Held) in allen ihren Bindungen, nicht in der schweren Luft ihrer Herzen, zu seiner Art Überwindung gekommen war, sondern draußen, in einer menschlich so wenig eingerichteten Geräumigkeit, daß sie sie nicht anders als ,das Leere' nennen würden" (Br. Muzot, 351—352). Im Hinblick auf den Krieg schrieb Rilke am 10. Oktober 1915: „Kanns denn keiner hindern und aufhalten? Warum gibt es nicht ein paar, drei, fünf, zehn, die zusammenstehn und auf den Plätzen schreien: Genug! und erschossen werden und wenigstens ihr Leben dafür gegeben haben, daß es genug sei . . . Wie viele halten diesen Schrei mit Mühe zurück, — oder nicht? irr ich mich und gibt es nicht viele, die so schreien könnten, so begreif ich die Menschen nicht und bin keiner und hab nichts nichts mit ihnen gemein" (Br. II, 49). Wenn es Rilke jemals nach einem Heldentum der Tat verlangte, so ging es ihm um Taten der Seele, die die Freiheit einer „herrischen Auswahl" gewährten. Als Simson die Säulen zerbrach, „so wars, da er ausbrach / aus der Welt deines Leibs in die engere Welt, wo er weiter / wählte und konnte" (VI. El.). Sämtliche anderen Ausprägungen tätigen Heldentums überließ Rilke anderen.
286
47. STILLSTAND Ausgesetzt
auf den Bergen
des Herzens. (AW I, 334)
Spanien erfüllte die Hoffnungen Rilkes jedoch keineswegs. Das Klima und ein allgemeines Übelbefinden zwangen ihn schon zu Beginn des Jahres 1913 — viel früher, als er geplant hatte — zur Rückkehr nach Paris. Wie leidenschaftlich er auf das große Gedicht, das der Sterne würdig war, gehofft, wie sehr er darum gebetet hatte, zeigt das erste Gedicht seiner Spanischen Trilogie vom Januar 1913 (Gedichte 1906—26, 101 f.). Er hatte in Toledo viele Gemälde El Grecos gesehen, doch war hier, eingebettet in die ihnen zugehörige Umgebung, ihre Wirkung weniger groß gewesen (Br. 1907-14, 261). Doch ein Bild hatte er in Toledo oftmals besucht, die Himmelfahrt Mariae in San Vicente: der Engel steigt hier aus Blumen auf und trägt im Entschweben die Gottesmutter empor. „Neig uns Gnade, stärk uns wie mit Wein", betet Rilke zu ihr, „denn vom Einsehn ist da nicht die Rede" (Gebser, 32—33). In einem weiteren in Ronda entstandenen Gedicht An den Engel spricht der Dichter seine furchtbare Einsamkeit aus, wie es uns aus den Elegien vertraut ist. So fragt er: „Engel, klag ich, klag ich? Doch wie wäre denn die Klage mein? Ach, ich schreie, mit zwei Hölzern schlag ich und ich meine nicht, gehört zu sein . . . Leuchte, leuchte! Mach mich angeschauter bei den Sternen. Denn ich schwinde hin" (AW I, 348). In den Münchener und Schmargendorf er Tagen hatte Lou AndreasSalomé dem jungen Rilke beigestanden, wenn es galt, seine dunklen, inneren Regungen zu klären, doch nun stand er seinem Engel allein gegenüber. „. . . das andere ist nun für mich und für den Engel da, wenn wir nur zusammenhalten: er und ich, und Du von ferne", schrieb er im Oktober 1913 an sie (Br. 1907—14, 317). Doch wenige Monate später bekannte er der Fürstin Marie von Thum und Taxis, daß sein Engel ihn verlassen habe, und ohne den hilfreichen Engel früherer Jahre fand er „keine rühmliche Auslegung" für seine Leiden (Br. MTT, 344). „Lieber Gott . . .", so schreibt er im Dezember 1914, „was ist Leben und Tod ungeheuer, wenn man nicht beides immerfort in Einem sieht und fast nicht unterscheidet. Aber das ist 287
ja eben Sache der Engel, das zu thun, nicht unsere, oder doch unsrig nur ausnahmsweise, für langsam erschmerzte Augenblicke" (Br. MTT, 346). Kurz nachdem er die Vierte Elegie niedergeschrieben hatte, klagte er im Oktober 1915 in München, daß es nicht länger seine Aufgabe sei, die Welt vom Menschen her gesehen darzustellen, sondern vom Engel her. In seiner Jugend, so sagt er, übte die Umwelt einen unmittelbaren Zauber über ihn aus, der sein noch so tief verstricktes Herz völlig zu überwältigen vermochte. Als er dann später unter dem Einfluß von Cézanne und Rodin sich ganz dem Streben nach Objektivität hingab, sprachen die Dinge nur noch selten so unmittelbar und gebend zu ihm, ohne zugleich von ihm zu fordern, daß er sie so bedeutsam und angemessen darstelle wie andere Dinge. Diese Verfassung erreichte in Spanien ihren Höhepunkt, „indem dort das äußere Ding selbst: Turm, Berg, Brücke zugleich schon die unerhörte, unübertreffliche Intensität der inneren Äquivalente besaß, durch die man es hätte darstellen mögen. Erscheinung und Vision kamen gleichsam überall im Gegenstand zusammen, es war in jedem eine ganze Innenwelt herausgestellt, als ob ein Engel, der den Raum umfaßt, blind wäre und in sich schaute". Doch um eine Welt von Dingen zu schaffen, die so im Engel geschaut würde, „wie müßte einer beschützt und beschlossen sein!" (Br. II, 51). In dieser interessanten Darstellung unterscheidet Rilke drei Stadien in seinem Verhältnis zum Leben und zum Engel. In seinem Frühwerk, einschließlich des Stundenbuches, schien die Wirklichkeit durch einen bloßen Aufschwung des Herzens überwindbar. Offenbar empfand sich Rilke in jener Zeit als ein ziemlich wahlloses Instrument überwältigender Eingebung. „Baum, Tier und Jahreszeit" waren magische Offenbarungen seines eigenen Innern, Erscheinung und Vision befanden sich noch im Zustand ursprünglicher Einheit. Sie begegneten sich eher im Subjekt als im Objekt. Gott, das Ding und der eigene Tod umfaßten alles, und sie waren dem Dichter gehorsam, wie der Dichter ihnen gehorsam war. Ihre verborgene Seltsamkeit und ihre mögliche Häßlichkeit hatten sich noch nicht losgelöst und zu Wesenszügen verselbständigt, die ein besonderes Symbol forderten. Das subjektive Empfinden überwältigte sie mit bemerkenswerter Leichtigkeit, und der Engel wurde in die Sphäre des Lichtes verwiesen, weit entfernt von den Wurzeln, die Gott verkörperten. Er war lediglich ein schmükkender Gegensatz. In den Neuen Gedichten und in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge treten Erscheinungen wie die Vergänglichkeit, Trockenheit der Seele, Zerstreutheit, Einsamkeit, Tod, Versagen in der Liebe und die Dämonie des Geschlechts bedrohlicher hervor und beginnen allmählich das sie umfangende Symbol zu fordern. Der Engel beginnt sie mit zunehmender Beharrlichkeit in sich aufzunehmen, wenn auch noch nicht mit jener eifersüchtigen 288
Besitzgier, als wolle er ihre Bewältigung durch ein kühnes Entgegentreten unmöglich machen. Die Dinge der äußeren Wirklichkeit sind mit den gezügelten und beherrschten Sehnsüchten noch im Gleichgewicht. Noch besitzt der Engel nicht die ausschließliche Entscheidungsgewalt über das, was dem Menschen erreichbar oder unerreichbar ist. Der klarsichtig tätige Dichter hat eine Vision von seinem Gegenstand, eine innere Entsprechung, die diesen zur vollen Verwirklichung seiner selbst zu bringen vermag. Das Ergebnis war der subjektiv-objektive Charakter der Studien Rilkes nach der Natur, wie sie sich in den Neuen Gedichten darstellen. Der Gegenstand war vom menschlichen Gesichtspunkt her vom Dichter abhängig und hatte ein Anrecht auf die Vision des Dichters, mit der er in einer wechselseitigen wirksamen Durchdringung verschmelzen mußte. Der Engel, der diese Wirklichkeit in sich aufnahm, war selbstbezogen und schwer erreichbar, doch noch fühlte sich der Dichter fähig, in sein Inneres vorzudringen. In Spanien erreichte diese objektive Haltung ihren Höhepunkt. Der Dichter hatte sich inzwischen so weit geübt, dem Objekt unvoreingenommen gerecht zu werden, daß es sich nun durch sich selbst aussprach und aus einer Gleichsetzung mit seiner inneren Vision nichts mehr gewinnen konnte. Vor allem in ihren negativen, abstoßenden Aspekten wurde die vielfältig verflochtene Wirklichkeit nun bedrängend unbändig, es sei denn, daß sie in einem einigenden Symbol von schließlicher Unzulänglichkeit, im spanischen Engel, eingefangen und aufgehoben wurde — und das bedeutete, existentiell gesehen, keinerlei Bewältigung. Dieser Engel war blind und forderte nichts vom Dichter. So gänzlich und beharrlich hatte Rilke seine Vision dem Gegenstand unterworfen, daß dieser sich verselbständigt hatte und, wie der Engel, allein nach innen blickte. Der Engel und der Dichter befanden sich nun auf entgegengesetzten Polen und konnten sich nicht erreichen. Von dem trotzenden Engel zurückgestoßen, der allein das Widerwärtige und Unberechenbare zu bewältigen vermochte, mußte der Dichter in eine Welt der Magie gedrängt werden, wo nicht der Engel, sondern Orpheus herrschte. Diese Welt, die der seiner frühen Jahre so verwandt ist, unterschied sich von ihr jedoch in verschiedener Hinsicht bedeutsam: ihre Gültigkeit reichte zugestandenermaßen nur so weit wie das Vermögen des Künstlers, seinen eigenen erdachten Symbolen ein gewisses Maß an Wirklichkeit zu geben, und entsprechend dem reifen Genius des Künstlers hatte alles eine bewegte, strahlende Plastizität bekommen. Dem Engel in seiner erschreckenden Überlegenheit konnte man nur mit heldischem Trotz oder schmerzlicher Sehnsucht gegenübertreten. „Wie müßte einer beschützt und beschlossen sein", wenn die Welt der Dinge so „im Engel geschaut" werden sollte und „nicht mehr vom Menschen a u s " ! 19 Graff, Rilke
289
Wie schon wiederholt angedeutet wurde, erkannte Rilke mit wachsender Klarheit, daß die sich stoßweise entwickelnden Elegien
ihrer verborgenen
Bedeutung nach nur das Gerüstwerk für die zukünftigen Sonette
waren.
W a s er am 27. Dezember 1913 im Hinblick auf den französischen Dichter Léon Deubel (1879—1921) schrieb, schildert die Lage sehr gut und wurde ihm wohl von dem Verlangen eingegeben, seine eigenen Klagen denen des französischen Dichters entgegenzustellen (Br. 1907—14, 336—338) : „. . . denn am Ende überwiegt in diesem wunderlichsten Berufe [dem des Dichters] die bénédiction,
sie nimmt ja einfach überhand, das muß jeder
zugeben. Darum entsteht etwas eigenmächtig Verzerrtes, (für unseren Blick) nicht länger Wahres, wenn einer die misère (cette
misère
revêche
qui s'entête)
vorwurfsvoll aufdecken
und sie zugleich zum konstruktiven Be-
standteil einer Poetenexistenz machen will. W i r wissen einfach nicht, was die Not in einem Herzen zerstört, was sie aufrichtet. Konstruktiv ist sie auf keinen Fall, höchstens das Gerüst, das mit Lappen verhängte, hinter dem sich zuweilen die endgültigen Steine ordnen und besinnen mögen. Aber dann muß man auch zugeben, daß sie im stillen abgetragen werde, wo sie nicht mehr durchaus nötig ist, statt daß man Planken und Bretter bedeutend nimmt, zusammen mit den Anschlägen und Aufrufen, die sich dort nach und nach den Platz zunutze gemacht haben . . . M a n soll als Dichter selbst die détresse
nicht zu seiner Geliebten machen, sondern alle Heimsuchung
und Seligkeit in das W e r k verlegen, und das äußere Leben muß davon geprägt sein, daß man sich weigert, sie beide anderswo durchzumachen." Die Wirkung des Erlebnisses von Spanien auf Rilkes Werk war tief und nachhaltig. Neben einem wesentlichen Teil der Sechsten die ersten Verse der Neunten
Elegie
Elegie
entstanden
sowie eine Anzahl sehr bezeichnender
Gedichte in Spanien oder entsprangen doch seiner Atmosphäre. Im allgemeinen liegen die kennzeichnenden Züge in einer Verschärfung der Kontraste von Dunkelheit und Licht, in einer dementsprechenden
größeren
Isolierung und Einsamkeit, in einem zunehmend elegischen Ton der Enttäuschung, einer verstärkten Säkularisierung religiöser Motive, einer deutlichen Zuwendung zum unperspektivischen Raum, in einer entschiedeneren Zurückweisung menschlicher Bindungen und, als Ersatz dafür, in einem ungeheuer verstärkten Verlangen nach der Wärme weiblicher Zuneigung. Zudem hatte die auflösende Wirkung seines Strebens nach dem Objektiven den heftigen Wunsch ausgelöst, die Verbindung zur magischen Kindheit neu zu entdecken. In dem allen findet sich viel von El Grecos leidenschaftlichem Expressionismus. Von dem Augenblick an, da er Spanien verließ. 290
bis hin zu den Jahren des Krieges wanderte Rilke nun ziellos von Ort zu Ort und wechselte seine Aufenthalte unzählige Male 3 ). Seine Gesundheit war schwankend, Geist und Seele waren beunruhigt, sein Briefwechsel mit Lou Andreas-Salomé belebte sich aufs neue. Die Beziehung zu seiner Frau verschlechterte sich derart, daß es im Herbst 1913 fast zu einer Scheidung kam (Br. MTT, 329; 332; Albert-Lasard, 55). In Paris beschäftigte er sich viel mit Marthe, der armen Fabrikarbeiterin, die mit einem brutalen russischen Bildhauer zusammenlebte und von Rilke mit einer seltsamen Zuneigung betreut wurde (Gedichte, 1906—26, 525—527). Nach einer hektischen Reise quer durch Deutschland erschien ihm Paris so lastend und unerträglich, daß er für kurze Zeit in die Provinz nach Rouen entfloh. „Eine ganze Kathedrale thut noth, mich zu übertönen" (Br. Lou, 315). In einer stillen Straße von Rouen rührten ihn die Augen der vorübergehenden Frauen so, daß er kaum etwas zu sehen noch sich hernach zu sammeln vermochte. „Ich erschrecke, wenn ich denke, wie ich aus mir hinauslebte, wie immer am Fernrohr stehend, jeder Kommenden eine Seligkeit zuschreibend . . . die Seligkeit, einst, meiner einsamsten Stunden." Mit bitterer Schwermut erinnert er sich der Jahre der Neuen Gedichte, in denen er wie der „unbegehrende" Fremde empfinden konnte, der alle Liebesnächte für seine Nächte schweifender Freiheit hinzugeben bereit ist (NG, 231). Doch er selbst war nun aufs neue nichts als Begierde, und alles mußte noch einmal getan werden. Es ist nicht verwunderlich, daß in ebendiese Jahre nach dem spanischen Aufenthalt einige Gedichte gehören, in denen Rilke vor seiner eigenen Zwiespältigkeit und der Dürre seiner Seele Zuflucht sucht. Er sucht Trost in der kosmischen Weiträumigkeit der Nacht (Gedichte an die Nacht), verlangt nach einer neuen Leidenschaft, die ihn überwältigen möge wie Musik, und zittert doch zugleich bei dem Gedanken daran. „Leicht verführt sich der Gott zur Umarmung. Ihn triebe Duft eines Lächelns in den erschrockenen Schooß" (Gedichte, 1 9 0 6 - 2 6 , 550). Schon bevor er Spanien verließ, klagt er darüber, daß er jegliche Fähigkeit, sich zu sammeln, eingebüßt habe: ) Hier sind die wesentlichen Stationen von Rilkes Irrfahrten zwischen den letzten Februartagen des Jahres 1913, als er Spanien verließ, und dem Ausbruch des Krieges im August 1 9 1 4 : Paris, Bad Rippoldsau im Schwarzwald, Göttingen (mit Lou Andreas-Salomé), Leipzig, Weimar, Heiligendamm an der Ostsee, Berlin, München, Dresden, Riesengebirge (wiederum in der Begleitung von Lou AndreasSalomé), Paris, Berlin, wo er Benvenuta traf, dann weiter mit ihr nach München, über Zürich nach Paris, Duino, Venedig, dann allein zurück nach Paris über Assisi und Mailand, wiederum nach Leipzig und schließlich nach München. 3
19'
291
„Perlen entrollen. Weh, riß eine der Schnüre? Aber was hülf es, reih ich sie wieder: du fehlst mir, starke Schließe, die sie verhielte, Geliebte Dich nur begehr ich. Muß nicht die Spalte im Pflaster, wenn sie, armsälig, Grasdrang verspürt: muß sie den ganzen Frühling nicht wollen? Siehe, den Frühling der Erde" (AW 1,323). Und später: „Bestürz mich, Musik, mit rhythmischem Zürnen" „Ist Schmerz, sobald an eine neue Schicht die Pflugschar reicht, die sicher eingesetzte, ist Schmerz nicht gut? . . . Wieviel ist aufzuleiden. Wann war Zeit, das andre, leichtere Gefühl zu leisten?"
(AW 1,324).
(AW 1,368 f.).
Es gibt Gedichte, in denen der ganze Zauber einer erwachenden Liebe wiederersteht, doch darüber steht das Gestirn des Schicksals. „Hinter den schuld-losen Bäumen langsam bildet die alte Verhängnis ihr stummes Gesicht aus", doch noch ist es ferne und wohnt „schwebend im himmlischen Gang, eine leichte Figur"
(AW 1,325).
Rilkes leeres Herz verlangte mit ungehemmter Sehnsucht nach überströmender Erfüllung. „Sie sind ein großer Dichter", schrieb ihm Fürstin Marie von Thum und Taxis im März 1913, „und wissen es ganz genau. Sie sind verliebt (nicht raisonniren, Sie sind verliebt und immer verliebt, wer wie und was, ist gleichgültig). Sie haben ein kleines Atelier in Paris — und es ist März — der ganze wundervolle Frühling klopft an der Thür. Herein! gerufen Dottor Serafico." Und anschließend schreibt die Fürstin: „Aber Rilke wollte ja immer das Außergewöhnliche, auch und vor allem in der Liebe." Kein Wunder, daß die Briefe der portugiesischen Nonne ihn zu dieser Zeit fesselten: „Was für eine rücksichtlose Herrlichkeit", so schreibt er, „aber wie furchtbar, Liebe zu entzünden, welcher Brand, welches Unheil, welcher Untergang. Selbst zu brennen freilich, wenn man kann, ja das möchte wohl des Lebens und des Todes wert sein . . ." (MTT, 69; 70). Doch als sich zu Beginn des Jahres 1914 statt der erregenden Inspiration die Umrisse einer enthusiastischen Frau in Gestalt Benvenutas am Horizont abhoben, wußte er intuitiv, daß er die Geliebte schon „im voraus" verloren hatte. Auf seiner Fahrt von Paris nach Berlin, wo er ihr zum ersten Male begegnen sollte, vertraute er seinem Taschenbuch an, daß er nun, da er „aus den leichten Kreisen seiner Fühlungen" herausgetreten sei, die Last der Nähe und „tägliche Trauer" ertragen müsse (Gedichte, 1906—26,554). 292
Bald nachdem die kometenhafte Begegnung mit Benvenuta vorüber war, beschrieb er den Zustand seiner Seele in einem Brief vom 8. Juni 1914: „Liebe Lou, da bin ich wieder einmal, nach einer langen, breiten und schweren Zeit, einer Zeit, mit der wieder eine Art Zukunft vorüber ist, nicht stark und ehrfürchtig aufgelebt, sondern zuende gequält bis sie zugrundeging (worin mirs ja nicht so leicht einer nachthut.) . . . einsehen müssend diesmal, daß keiner mir helfen kann, keiner; und käme er mit dem berechtigtsten, unmittelbarsten Herzen und wiese sich aus bis an die Sterne hinan, und ertrüge mich, wo ich mich noch so schwer und steif mache, und behielte die reine, die unbeirrte Richtung zu mir, auch wenn ich ihm zehnmal den Liebesstrahl bräche mit der Trübe und Dichte meiner Unterwasser-Welt . . . Was schließlich so völlig zu meinem Elend ausfiel, fing mit vielen, vielen Briefen an, leichten, schönen, die mir stürzend von Herzen gingen; ich kann mich kaum erinnern, je solche geschrieben zu haben" (Br. Lou, 332). Ein Gedicht, das etwa einen Monat später entstand, offenbart auf andere Weise die gefährliche Wirkung, die die Unfähigkeit, sein inneres Gleichgewicht wiederherzustellen, auf Rilke hatte. Als er, schmerzlich verwundet, nach Paris zurückgekehrt war, umgab er sich in seiner tiefen Enttäuschung und in dem vergeblichen Bemühen zu vergessen mit Rosen und schwelgte in Tausenden von verstreuten Rosenblättern, die ausgebreitet oder noch unentfaltet in mannigfachen Schalen umherstanden. Während des langen und kalten Winters, im Strudel seines schweifenden Verlangens nach Liebe und Fülle des Herzens, waren ihm das Gefühl und die duftende Erinnerung an die Rose fast verlorengegangen, so daß sich seine genesende Seele nun in einer Stimmung hingerissener Verzückung hemmungslos in den Aufruhr der Blüten stürzte: „Nacht aus Rosen. Nacht aus vielen vielen hellen Rosen, helle Nacht aus Rosen, Schlaf der tausend Rosenaugenlider heller Rosenschlaf, ich bin dein Schläfer: Heller Schläfer deiner Düfte, tiefer Schläfer deiner kühlen Innigkeiten" (Gedichte 1 9 0 6 - 2 6 , S56) 4 ). 4 ) Nicht ohne Grund setzte ich dieses Gedicht in den Zusammenhang des Benvenuta-Erlebnisses. Das Gedicht wurde im Juli 1914 niedergeschrieben, und wie es scheint, hat Rilke am 14. Juli diese ganze Episode abgeschlossen. Denn an diesem Tage verschnürte er alle Briefe, die er von Benvenuta erhielt, zu einem kleinen Päckchen, das er versiegelte und mit folgender Aufschrift versah: „Eigentum der Frau Magda von Hattingberg (Benvenuta), versiegelt a m 14. Juli 1 9 1 4 " (Br. Benvenuta, 7). Es ist kaum denkbar, daß er diese Briefe durchgesehen und in ihrer zeitlichen Ordnung gebündelt haben sollte, ohne hier und
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Trotz seiner durchsichtigen und triumphierenden Leichtigkeit gewinnt dieses Gedicht einen düsteren und beunruhigenden Hintergrund, wenn wir ihm jene berühmten Zeilen gegenüberstellen, die Rilke später zu seiner Grabschrift bestimmte: „Rose, oh reiner Widerspruch, Lust, Niemandes Schlaf zu sein unter soviel Lidern" ( A W I , 405). Zweifellos gab die tragikomische Benvenuta-Episode den Elegien überreichliche Nahrung und trübte des Dichters Hoffnung auf eine baldige Befreiung in der Rühmung des Orpheus empfindlich. Er hatte erwartet, durch eine normale Liebesbeziehung eine gesunde und ausgewogene Einstellung zur menschlichen Welt und zu seinem eigenen Körper zu finden oder, wie er selbst es ausdrückte, „alle Distanzen" richtigzustellen (Br. Lou, 349). Die Anziehungskraft, die die Zerstreuungen der Welt für ihn hatten, beunruhigte ihn; beständig drohten sie alle Schranken niederzubrechen und alles Bewußtsein der Distanzen zwischen ihm und der Welt auszulöschen. In Rom beobachtete er einmal eine Anemone, die sich tagsüber so heftig und weit geöffnet hatte, daß sie sich zur Nacht nicht mehr schließen konnte. „Es war furchtbar sie zu sehen in der dunklen Wiese, weit offen, immer noch aufnehmend in den wie rasend aufgerissenen Kelch, mit der vielzuvielen Nacht über sich" (Son. II, 5). Er verglich sich mit dieser kleinen Blume und empfand, daß auch er in der ungezügelten Heftigkeit seiner Liebesleidenschaft seine innere Verwirrung nicht zu ordnen vermocht hatte und so ärger daran war als zuvor. Er hatte zugelassen, daß sich Beziehungen zwischen ihn und seinen Körper einschoben, die ihn nur aufreizten und „wahrscheinlich von derselben Verirrung sind wie meine Beziehungen zum Leiblichen überhaupt" (Br. Lou, 350). Das Ergebnis war, daß er nur auf die verborgenste und innerste Kraft seines Schöpfertums rechnen konnte, die unzerstörbar, aber doch dazu verdammt war, in beständiger Furcht vor Entbehrung „wie während einer Belagerung" auszuhalten und nur dann da noch einmal bei ihrem Inhalt zu verweilen, ohne sich noch einmal die Stimmungen zu vergegenwärtigen, die sie hervorgerufen hatten, und sich noch einmal des zitternden Vorgefühls zu erinnern, das der Kommunion mit seinem geliebten Idol vorangegangen war. Ich benutzte das W o r t „Kommunion" hier absichtlich, denn in einem der letzten Briefe bedient sich Rilke der gleichen Sprache und beschwört die gleichen Vorstellungen, mit denen ein katholisches Kind sich auf die erste Heilige Kommunion vorbereitet (Br. Benvenuta, 145). Ihre Begegnung fand am 26. Februar in Berlin statt, und nur wenige Tage zuvor, am 17. Februar, hatte Benvenuta geschrieben: „Oh, Rosen! Ich hab immer die größte Sehnsucht gehabt, Rosen in silbernen Schalen zu sehen (nicht sie zu besitzen, so weit verstieg sich die Wunschmöglichkeit garnicht), eine Fülle, eine Fülle. Weißt Du, in Florenz hat m a n sie, wie ich sie noch nie sah, mit dem sonderbaren innigen Rot und einem ganz anderen Duft, als sonstwo. Und auch die vertrauten hellen La France — und die Schneeköniginnen — und der ,Sultan von Sansibar', schwarzrot, betäubend duftend" (Br. Ben venuta, 88). Hierauf antwortete Rilke unter anderem: „ . . . sind dies nicht alle Deine Blumen, was ich Dir da schreibe, nicht eine, die Du nicht hervorgebracht hast, Herz-Sonne, und wie viele noch fiir rlip meine Erde zu klein ist, rufst Du und rufst, Du strahlende Stimme" (Br. Benvenuta, 118).
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und wann in den „Bruchstücken der Elegien" oder in der „Anfangszeile" eines Gedichtes hervorzubrechen. Als Folge seiner Beziehung zu Merline sollte Rilke im Winter 1920/21 an den gleichen schmerzhaften Symptomen vergeblichen Bemühens leiden, obwohl er dieses Mal wohl besser zu verhüten wußte, daß dieses Verhältnis sich so verheerend auf seine Arbeit auswirkte, oder doch der liebenden Frau schließlich jene „beseelte Neigung zu geben verstand, die sie für immer zu göttlichem Gebrauch bestimmte" (Rilke et Merline, 93). Die Beziehung zu Benvenuta hatte ihn sehr viel tiefer verstört, wie das Gedicht Klage zeigt, das im Juli 1914 entstand: „Wem willst du klagen, Herz? Immer gemiedener ringt sich dein Weg durch die unbegreiflichen Menschen. Mehr noch vergebens vielleicht, da er die Richtung behält, Richtung zur Zukunft behält, zu der verlorenen. Früher. Klagtest? Was wars? Eine gefallene Beere des Jubels, unreife. Jetzt aber bricht mir mein Jubelbaum, bricht mir im Sturme mein langsamer Jubelbaum. Schönster, in meiner unsichtbaren Landschaft, der du mich kenntlicher machtest Engeln, unsichtbaren"
(AW I, 334).
Dies ist ein wahrhaft ergreifendes Zeugnis, welches deutlich dartut, daß des Dichters ersehnter Jubel an Orpheus eines Tages das besondere Mittel sein werde, um den Engel zu beeindrucken, und ebendeshalb sein geheimes Ziel.
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T E I L IX
PUPPEN
Und schon spaltet sie an, im Rückgrat, des Willens Gerte, daß sie gegabelt, ein zweifelnder der Auswahl wachsend
Ast am
Judas-Baume
verholze. (AW1,333)
48. ANNUSCHKAS PUPPE Ich habe noch eine ganz große
Puppe.
(Br. F r ü h z e i t 228)
Die elegische Stimmung Rilkes, die die Jahre nach seinem Aufenthalt in Spanien beherrschte, gipfelte schließlich in der Vierten Elegie, welche er am 22. und 23. November 1915 niederschrieb, mehr als ein Jahr nach dem Ausbruch des ersten Weltkrieges und nur kurze Zeit vor seinem Eintritt in den österreichischen Heeresdienst. Diese Elegie zeigt ebenso deutlich wie zahlreiche andere Gedichte, die um das gleiche Thema kreisen, wie sehr die Kindheit den Dichter bewegte. Sie enthält einige höchst dunkle Stellen mit einem entschieden biographischen Unterton und scheint — in wie weitem Bogen auch immer — jene beiden grundlegenden Kindheitserfahrungen zu verknüpfen: Puppe und Engel. Um dieses und manches andere im Ringen des reifen Dichters zu verstehen, müssen wir uns zurückwenden und in die verborgenen Schichten der Kindheit und der frühen Jugend einzudringen suchen — in der Hoffnung, dort einige „Posten" zu entdecken, die zusammen schließlich die lyrischen Summen ergaben. Wie die Kindheit selbst sind auch Engel und Puppe zwiegesichtig — Symbole geborgenen Glücks und schrecklicher Einsamkeit. In den frühen Jahren des noch unentwickelten Bewußtseins erlebte Rilke tatsächlich in der innigen Gemeinschaft mit Engel und Puppe die volle Ganzheit des Lebens. Zum ersteren war die Beziehung vertrauensvoll und aufnahmebereit, zur letzteren eher schöpferisch und gebend. Bei beiden konnte er für eine Weile uneingeschränkte Erwiderung erwarten und fand sie auch. Aber mit der erwachenden Nachdenklichkeit und der wachsenden Unabhängigkeit des Kindes verloren sie ihren Zauber. Der Beistand des Engels erwies sich als imaginär und unwirksam, und die Puppe war zu beseeltem Einverständnis nicht mehr fähig. Der ursprüngliche Zustand von Unschuld und Zauber erhielt sich nur in einer unbestimmten Erinnerung, in wehmütiger Sehnsucht. Sein Verlust war das entscheidende Ereignis, der Angelpunkt in Rilkes Leben, die verborgene Quelle seiner Elegien und — durch diese hindurch — seiner Rühmung des irdischen Lebens. Sowohl der Verlust wie die bleibende Erinnerung waren für die Entfaltung seiner Kunst notwendig, und das Bewußtsein dessen zwang ihn, die Wirkung beider sein ganzes Leben hindurch unvermindert wach zu halten. 299
Die frühen bezeichnenden Züge für Puppe und Engel verwischten sich niemals: der Engel blieb wissend, wirkend und der Mitteilung fähig — eine Fähigkeit, die er jedoch zu nutzen zunehmend abgeneigt war. Die Puppe blieb untätig und stumm, willfährig, und zuweilen fehlte ihr selbst zum Hinnehmen die Phantasie. Beide wurden in ihrer Art zu einer Herausforderung, und da sie zu entgegengesetzten Ordnungen des Erlebens gehören, so können ihre Gegensätze nicht auf der existentiellen Ebene aufgehoben werden. Eine Lösung ist nur möglich, wenn die Existenz sublimiert wird, und bei Rilke war eine Sublimierung nur durch die Kunst denkbar. Auf dieser Ebene werden Engel und Puppe hinter dem verschmelzenden Symbol des Orpheus den Blicken entschwinden. Noch ein weiterer Unterschied besteht zwischen den beiden: die Wirklichkeit des Engels wird wie diejenige Gottes durch die religiöse Überlieferung gestützt und ist im tiefsten geistiger Natur. So bewahrt sie auch dann noch eine beträchtliche Selbständigkeit, wenn der Glaube an den Engel bereits geschwunden ist. Dieser Unabhängigkeit wegen ist er eher fähig, Ehrfurcht und Schrecken einzuflößen, wenn er im Bewußtsein des Erwachsenen weiterlebt. Hingegen ist die Puppe gänzlich von der schöpferischen Kraft des heranwachsenden Kindes abhängig; ihre Wirklichkeit ist seinem Glauben preisgegeben, dessen Erlöschen nur Lumpen, Werg und starre Augen zurückläßt. Sie wird von keinerlei bewährtem Herkommen getragen, und so konnte Rilke der Puppe ohne Gewissensbedenken mit herablassender Überlegenheit begegnen, während der Engel sich „schrecklich" und unnahbar zu zeigen vermochte. Es bestehen zudem noch bedeutsame Unterschiede zwischen Puppe und Marionette, obwohl Rilke die Trennungslinie nicht immer deutlich zieht und das Wort Puppe für beide verwendbar ist. Aber im Gegensatz zur einzelnen Puppe fordert die Marionette eine Bühne, ein Stück und Zuschauer, sie steht in vielfältiger Beziehung zu dem Puppenspieler, zu den anderen Marionetten, zu den Zuschauern und diese schließlich noch zum Drahtzieher. Die Puppe hingegen lebt in der einen schlichten Beziehung zum Kinde, einer warmen, innigen Gemeinschaft, in der das Kind der belebende Partner ist. Was die Puppe auch immer hinzugeben mag ist in Wirklichkeit die Erfindung des Kindes, doch trotz aller Einseitigkeit ist dies schöpferische Zusammenwirken makellos und erfüllt. Durch seinen schöpferischen Zauber hat das Kind dem Balg der Puppe eine Seele eingeblasen, und die beiden sind unlöslich eins geworden. Aber da die Überlegung diese Einheit zerstörend bedroht, so steht das hilflose junge Wesen allmählich vor einer fremdartigen Welt und vor der Erinnerung an eine verlorene Ganzheit. Rilke äußert in einer seiner kleinen Schriften, Einiges über Puppen, daß die Seele der Puppe, die ihren Leib einbüßte, ihre Wirklichkeit zwar nicht verliere und in den Herzen der Menschen weiterlebe, aber nun ohne greifbaren 300
Umriß vergeistigt und unfaßbar umherschweife. Ihre Unbestimmtheit setzt sie nach und nach der Vernachlässigung, ja der völligen Nichtachtung und Abgestandenheit aus. Das erzeugt im Erwachsenen wiederum ein Gefühl von Enttäuschung und Verlust, das er durch faßbare Erscheinungen der Wirklichkeit aufzuwiegen sucht. So mag er sich in einer Welt greifbarer Materie sicher fühlen, aber in Wahrheit ist er, ohne es zu wissen, zu einer Marionette unter Marionetten geworden, über denen ein verborgener Puppenspieler wirkt. Doch die Seele der Puppe erhält die Erinnerung an die ursprüngliche Fülle in ihm lebendig und läßt ihn dann und wann die Wertlosigkeit des Lumpenbalgs und die Unwirklichkeit des Marionettentheaters auf der Bühne des menschlichen Lebens spüren. Im Gegensatz zur Auffassung seines Freundes Kaßner besaß die Marionette für Rilke Phantasie, die Puppe hingegen nicht. Für Kaßner ist diese Fähigkeit mit der anderen verknüpft, das eigene Bild im Spiegel erkennen zu können, und dazu ist die Marionette ebenso außerstande wie die Puppe (Kaßner, Melancholia,
145). Nach Rilkes Erfahrung brachte die Puppe den
Menschen mit ihrer völligen Teilnahmslosigkeit und ihrem Schweigen zum ersten Mal in seinem Leben dahin, in den leeren Raum zu blicken und dessen Schrecknisse zu empfinden. Auch die Marionette konnte diese Wirkung hervorrufen, aber sie war andrerseits wiederum fähig, eine Welt heraufzubeschwören, die mit Leben und Tätigkeit erfüllt war (AW II, 278—279). Zudem konnte geschehen, daß sie, wiewohl ihre Gebärden und ihr Ausdruck von oben auf das gesprochene Wort abgestimmt werden, zuweilen überraschend eine entschiedene Persönlichkeit hervorkehrte, mit der niemand gerechnet hatte. Am 8. November 1899, kurz nach der Vollendung des Buches vom mönchischen Leben und noch vor der Entstehung der Geschichten vom lieben Gott, schrieb Rilke eine grausige Erzählung, Frau Blahas Magd, die bedeutsame autobiographische Tatsachen hinter einer dunklen Symbolik verbirgt (Br. Frühzeit, 222—229). Frau Blaha stammte aus einer armen, sumpfigen Gegend Böhmens und war an einen kleinen Eisenbahnbeamten in der Stadt verheiratet. Jedes Jahr kehrte sie für einige Zeit in ihr Heimatdorf zurück, und auf einem dieser Besuche fragte sie eine ihr bekannte Bäuerin, ob ihre Tochter nicht mit ihr in die Stadt kommen und ihr im Haushalt zur Hand gehen wolle. Auf diese Weise hätte das Mädchen den Vorteil, in der Stadt zu sein, und fände zugleich die Möglichkeit, so manches zu lernen. Was sie da lernen sollte, wußte Frau Blaha jedoch selbst nicht genau zu sagen. Als die Bäuerin diesen Vorschlag ihrem Manne vortrug, fragte der nach einer Weile, ob denn die Frau wisse, daß Anna schwanger sei? „Dummkopf" — machte die Bäuerin — „wir werden doch nicht!" 301
So kam Annuschka in die Stadt, wo sie die meiste Zeit allein in der Küche ihrer Herrin verbrachte. Kinder gab es keine, und Herr und Frau Blaha gingen den Tag über arbeiten. Jeden Morgen kam der Leierkastenmann und spielte im Hof. Da lehnte sich Anna aus dem Fenster und horchte so voller Freude zu, daß sie sich zu tanzen gedrängt fühlte, bis sie schwindlig und schließlich ängstlich wurde. Dann begann sie durch das ganze dunkle Haus zu gehen bis hinunter in die verqualmte Schenke, wo irgendeiner in seiner ersten Trunkenheit sang. Auf diesen Wegen begegnete sie stets den Kindern der Gasse, die Geschichten von ihr erzählt haben wollten. Wenn sie ihr bis in die Küche folgten, so setzte sich Annuschka nahe dem Ofen nieder, bedeckte ihr leeres Gesicht mit den Händen und sagte: „Nachdenken." Doch sie dachte so lange, daß die Kinder sich zu fürchten begannen und davonliefen, so daß die arme Magd in Tränen ausbrach und sich verlassen und heimwehkrank fühlte. Es war schwer zu sagen, wonach sie Heimweh hatte, vielleicht ein wenig nach den Schlägen, die sie zu Hause bekam, doch vielleicht eher noch nach etwas Unbestimmtem, das einmal war oder das sie auch nur geträumt haben mochte. Langsam tauchten dunkle Erinnerungen in ihr auf: erst etwas Rotes, ganz Rotes, und dann viele Leute. Und dann eine laut tönende Glocke und ein König, ein Bauer, ein Turm. Und der Bauer sagte: „Lieber König", und der König antwortete: „Ich weiß." Und warum sollte ein König schließlich auch nicht alles wissen, was so ein Bauer zu sagen hatte? Eines Abends, kurz vor Weihnachten, ging Frau Blaha einkaufen und nahm Anna mit. In einem hell erleuchteten Schaufenster sah da das arme Mädchen ihre Erinnerung: den König und den Bauern und den Turm. Sie wußte kaum ihre Freude zu verbergen, aber aus Furcht, sich zu verraten, schaute sie rasch beiseite und hielt sich dicht an ihre Herrin, die das Puppentheater in dem Fenster nicht einmal gesehen hatte. Ein wenig später kehrte Anna an ihrem freien Sonntag des Abends nicht zurück. Ein Mann, dem sie schon zuvor in der Schenke begegnet war, überredete sie, mit ihm irgendwohin zu gehen. Als sie am Montagmorgen wieder in der Küche stand, fand sie alles noch viel kälter und grauer als bisher, und als sie an diesem Tage eine Suppenschüssel zerschlug, wurde sie sehr gescholten, aber niemand bemerkte, daß sie mit dem fremden Manne fort gewesen war. Vor Neujahr blieb sie noch drei weitere Nächte aus, aber dann nicht mehr. Nun verschloß sie sich alle Tage ängstlich in der Wohnung, und zuweilen schaute sie nicht einmal hinaus, wenn der Leierkastenmann kam. 302
Eines Sonntagmorgens, als der trübe Winter gerade einem zaghaften Frühjahr gewichen war, bekam Annuschka ein Kind. Es kam ihr ganz unerwartet, obwohl sie sich schon wochenlang dick und schwer gefühlt hatte. Ohne sichtliche Bewegung betrachtete sie es, das gerade zu schreien begann, als Frau Blaha rief und nebenan ein Bett krachte. Annuschka ergriff ihre blaue Schürze, wand die Bänder um des Kindes Hals und legte das blaue Bündel tief unten in den Koffer. Dann ging sie ihren morgendlichen Pflichten nach, als sei nichts geschehen. Als sie einige Tage später allein war, zählte sie ihre Ersparnisse, verschloß die Türen und öffnete den Koffer. Sie legte das blaue Bündel auf den Küchentisch, maß den reglosen Körper vom Kopf bis zu den Füßen ab, verschloß alles wieder in ihrem Koffer und begab sich in den Laden, in dem sie die Puppen gesehen hatte. Sie war zwar enttäuscht, daß der König, der Bauer und der Turm so viel kleiner waren als ihre „große Puppe", aber sie kaufte sie dennoch und dazu noch andere: eine Prinzessin mit roten, runden Punkten auf beiden Wangen, einen großen Mann, der wie ein Nikolaus aussah, mit einem Kreuz auf der Brust und langem Bart, und noch zwei oder drei andere, die nicht so schön und nicht so bedeutend waren. Dazu ein Theater mit einem auf- und niedergehenden Vorhang, hinter dem ein Garten erschien und wieder verschwand. Nun war Annuschkas Heimweh vorüber. Sie stellte ihr Theater in der Küche auf und stand wie ein rechter Puppenspieler dahinter, um etwas zu spielen. Ab und zu, wenn der Vorhang gerade oben war, ging sie nach vorn, um sich den schönen Garten mit den hohen Bäumen zu betrachten, und alles Grau verschwand. Dann lief sie wieder dahinter, stellte ein paar Puppen auf und ließ sie etwas sagen, was sie sich ausgedacht hatte; doch ein rechtes Stück wurde es nie. Höchstens gab es ab und zu einmal ein seltsames Gespräch, und dann und wann verneigten sich die Puppen mit erschrockenem Gesicht voreinander. Oder die zwei verbeugten sich vor dem alten Mann, der die Verneigung nicht erwidern konnte, denn er war ganz und gar aus Holz gemacht. Er konnte nur aus Dankbarkeit zu Boden fallen. Als die Kinder von Annuschkas Theater hörten, fanden sie sich des Abends, erst ein wenig mißtrauisch, aber dann ganz zutraulich, in der Küche ein und schauten den schönen Puppen zu, die immer dasselbe sprachen. Einmal sagte Annuschka, ihre Wangen heiß vor Eifer: „Ich habe noch eine ganz große Puppe." Dieses erregte große Neugier unter den Kindern, aber Annuschka schien es wieder vergessen zu haben; sie stellte alle Puppen im Garten auf, nur die nicht, welche nicht allein stehen konnten. Die lehnte sie gegen die Wand, und unter ihnen war auch ein Harlekin, den die Kinder nie zuvor 303
gesehen hatten. Währenddessen baten sie immer wieder darum, die große Puppe sehen zu dürfen, und sei es auch nur für einen Augenblick. Annuschka ging zu ihrem Koffer und ließ die Kinder und die Puppen allein im Dunkeln und in der allgemeinen Stille zurück, die sie alle sonderbar gleich erscheinen ließ. Nach einer Weile schien es, als ahnten die weit aufgerissenen Augen des Harlekins etwas Furchtbares, die Kinder überkam Angst, und sie liefen alle ohne Ausnahme davon. Als Annuschka mit ihrer großen blauen Puppe zurückkehrte, war die Küche ganz dunkel und leer, aber, obwohl ihre Hände zitterten, fürchtete sie sich nicht. Ruhig lächelnd ging sie auf die Bühne zu, stürzte sie mit dem Fuße um und zertrat alle die kleinen Brettchen, die den Garten darstellten. Dann spaltete sie in der dunklen Küche allen Puppen die Köpfe, auch der großen blauen.
304
49. UNGEHEUER DER KINDHEIT Ich habe um meine Kindheit gebeten, und wiedergekommen, und ich fühle, daß sie noch so schwer ist wie damals und daß es genützt hat, älter zu werden. (Aufzeichnungen des Malte Laurids
sie ist immer nichts Brigge,
AW II, 59) Wie einige andere schon erwähnte frühe Skizzen befremdete auch die Geschichte von Annuschka die meisten Rilkeforscher, die sie entweder als eine bedeutungslose Grille des Dichters übergehen oder als einen Ausdruck seines verborgenen Hanges zum Grauenvollen deuten. Tatsächlich haben wir hier ein bemerkenswertes Zeugnis seiner besonderen Art von Psychoanalyse durch die Kunst. Es lassen sich buchstäblich Dutzende von Fäden aufspüren, die dem dunklen Hintergrund früher Erlebnisse entsprangen und in das Gewebe dieser Geschichte eingingen, obwohl hinsichtlich der Einzelheiten einige mehr oder weniger gewagte Deutungen unerläßlich sein mögen. Da ist zuerst der scharfe Gegensatz zwischen der grauen, engen Welt der Familie, der bourgeoisen Umgebung, die durch die Küche versinnbildlicht wird — und der strahlenden, verheißungsvollen Welt von Liebe und Kunst, die in Garten und Bühne symbolisiert ist. Frau Blaha und ihre Stadt gehören zu der Sphäre der Küche, der Leierkastenmann und die Weihnachtsstimmung mit ihren Puppen und dem erleuchteten Schaufenster deuten hingegen auf die „Sehnsucht, die die großen Dichter macht". Annuschkas nächtliche Abenteuer sind dunkle Ausflüsse jener Stimmung, aus der Rilke in seiner Rodin-Monographie die „Laster und Lüste wider die Natur" ableitet (Rodin, 38; vgl. S. 176). Wie Annuschka hatte auch Rilke seine Heimat verlassen und war in die große Welt gegangen, nach München, Florenz, Berlin und Moskau, wo er etwas lernen konnte, wie unbestimmt dies auch immer sein mochte. Wie Annuschka fühlte sich auch Rilke unendlich einsam und heimwehkrank, vielleicht wegen der zahllosen Enttäuschungen daheim und in der Militärschule, doch vielleicht eher noch wegen etwas Unbestimmtem, das einmal war oder das er auch nur geträumt haben mochte. Ewald Tragy schildert diese paradoxen Sehnsüchte mit Bitternis (ET, passim). Auch die nächtlichen Eskapaden fehlten nicht — weder in Linz noch in Prag (Hirschfeld, 715; 720). Zudem war Rilke trächtig mit etwas, das er in den dunklen Augenblicken des Erwachens empfangen hatte und das er ängstlich verbarg, weil er fürchtete, daß es die, welche ihm nahestanden, entrüsten könne. 20 G r a f f , R i l k e
305
Sein Vater hatte zu seinen ungewöhnlichen Ideen und seinem Entschluß, Dichter zu werden, schwere Zweifel geäußert, seine Verwandten hatten mit den Achseln gezuckt und ihn sich selbst überlassen; nur seine Mutter in ihrer Eitelkeit war gewillt, ihn gehen zu lassen, damit er etwas Einzigartiges und Großes hervorbringe. Annuschka ist in Rilkes Geschichte keineswegs töricht; der Intellekt ist hier bedeutungslos — was zählt, ist allein die blinde instinktive Kraft, die sie treibt und die sie nicht begreift, gerade so, wie es bei dem Dichter selbst der Fall war. Was war es nun, was Rilke in sich trug, und was er keinesfalls verraten wollte? Die Antwort auf diese Frage kann man wohl im Ewald Tragy finden. In einem Anfall zorniger Auflehnung sagt Ewald zu seiner Tante: „Ich bin mein eigener Gesetzgeber und König, über mir ist niemand, nicht einmal G o t t . . . es gibt keinen wie ich, hat nie einen Solchen gegeben . . . " (ET, 26). Kaum hat er dies gesagt, so bricht er in Tränen aus, aber nicht etwa, weil er grob und überheblich war, sondern weil er durch diesen Ausbruch sein Geheimnis hätte verraten können. In einer Skizze, die zur gleichen Zeit entstand wie die Geschichte von Annuschka, läßt Rilke einen jungen Bastard, der zum Kardinal und dann zum Papst aufsteigt, eine ähnliche Äußerung tun. Der Jüngling war ein schlechter Schüler, aber ein großer Liebhaber der Falkenbeize. Als sein Lehrer, der — wie Rilke ironisch hinzufügt — nicht viel von Jagd weiß, ihn fragt, was er täte, wenn sein Falke eines Tages nicht zurückkehrte, antwortet der ungestüme Zögling in heftiger Erregung: „Dann, dann, — dann werde ich selbst Flügel spüren" (Br. Frühzeit, 219—220). Rilke war trächtig mit einem neuen Gott, einem Gott nach seinem eigenen Bilde, den er selber schuf. Es ist leicht vorzustellen, daß sich der Same hierzu in jener Zeit in seine Seele senkte, als seine Enttäuschung über den alten Gott ihren Höhepunkt erreicht hatte, und das geschah in St. Pölten, als seine krankhafte mystische Religiosität von einem tiefen Groll gegen einen Gott verdrängt wurde, der seine Feinde mit Ruhm überschüttete und seinen inbrünstig betenden Diener gleich einem vergessenen Mauerblümchen der Verlassenheit und dem Elend preisgab (Br. Muzot, 309). Dabei wissen wir, wie glühend es den jungen Rilke danach verlangte, sich hervorzutun und zu glänzen, doch dazu bedurfte er eines anderen Gottes, nicht einer tauben und stummen Puppe, sondern einer empfänglichen Marionette, deren Drähte ihm allein in die Hand gegeben waren. Nur durch einen solchen Gott konnte er geadelt, zum König gekrönt oder zum Mönch berufen werden. Man braucht nur die Gedichte aus Traumgekrönt oder Advent zu lesen, um zu erkennen, aus welchem glanzvollen, einsamen Stolz die Demut des zukünftigen russischen Mönches gemacht war. Wie sehr die Erinnerung an St. Pölten Rilke in jenen Tagen verfolgte, geht deutlich aus der ernstlichen Erwägung hervor, einen Militärroman zu 306
schreiben, in dem diese Jahre des Leidens Gestalt finden sollten. Und es ist interessant, in seinem Tagebuch zu lesen, warum er diesen Roman schließlich nicht schrieb. So mannigfache andere Dinge drängten sich in seiner Vorstellung, und was bedeutete es schließlich, was zuerst herankam? Ihm ist der Gegenstand des Kunstwerks nicht länger von Bedeutung. Bedeutsam ist allein das Gefühl, das sich gleich einem Vorhang vor der Handlung ausbreitet. Die letztere mögen wir ganz nach unserem Willen wählen, wir mögen sie zu ganzen Dramen verwerten, allein um uns ein einziges neues Gefühl bewußter zu machen und reicher durch es zu werden (Br. Frühzeit, 205—206). Und wollte nicht Annuschka gerade das mit ihren Puppen und ihrem Theater? Zudem war es Rilke unmöglich, einer Situation angemessene Gestalt zu geben, in der die Masse, wie sie sich in den Kadetten von St. Pölten darstellte, einbezogen war. Der einzelne ist im tiefsten stets ein Kind, aber in der Menge wird er zur gestaltlosen Kraft von dumpfer Grausamkeit. Rilke haßte nicht nur die Masse, sondern hegte zudem eine instinktive Abscheu gegen die „dritte Person". In den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge hält er es für ein Zeichen phantasielosen Denkens, daß der Dramatiker stets jenes „Dreiecks" bedarf, in dem ein dritter Schauspieler als ein billiges Mittel verwandt wird, die Gefühle und Wirrnisse in den Seelen der einzelnen in Gang zu setzen (AW II, 22). Kein Wunder, daß Rilke niemals Dramatiker sein konnte: er war unfähig, ein Werk zu schaffen, in dem die einzelnen Personen in einer von vielfältigen Mächten bestimmten Welt ihre Konflikte austrugen (BTK, 164—165). Auch ist es kaum verwunderlich, daß Annuschka mit ihren Puppen nie ein eigentliches Stück darstellt, sondern zumeist etwas wie ein Zwiegespräch, das der Strophe und Antistrophe des Chores im antiken Drama gleicht. Später, im Februar 1914, schrieb Rilke einmal an Benvenuta, er habe seiner Tochter Ruth in München drei Puppen gekauft in der Hoffnung, daß seine Freundin Regina Ulmann ein Stück für sie schreiben werde, weil er, wie er zugibt, unfähig sei, ein solches zu erfinden (So lass, 50). Gewiß vermochte Rilke in seinen Neuen Gedichten in gewissem Sinne sogenannte objektive Dichtung zu schreiben, indem er sich jedesmal einem einzelnen Ding zuwandte. Doch selbst angesichts dieser Poesie mußte er in Spanien bekennen, er habe „sich nicht rein geschält, hatte sich aus sich herausgerissen und Stücke Schale mit fortgegeben, oft auch sich (wie Kinder vor Puppen tun) an einen eingebildeten Mund gehalten und geschmatzt dabei, und der Bissen war liegen geblieben." (Br. 1907—14, 286). Wenigstens fiel es Rilke entschieden leichter, Kräfte auf einander einzustellen und abzustimmen, wenn nur zwei Menschen im Spiele waren und er einer von ihnen war, so daß eine hinreichende Osmose möglich war; jeder Dritte war hinderlich, ein unbeteiligter Beobachter, ein Spaßmacher, ein Richter oder ein grinsender Harlekin. Rudolf Kaßner würde 20'
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hier bemerken, daß es im Reich des Vaters, welches dasjenige Rilkes war, kein Drama gebe, sondern allein einen Dialog, der ein verhüllter Monolog ist (BTK, 176 ff.; Das Inselschiff, 120). Was nun Annuschkas unbestimmte Erinnerung an etwas Rotes und die laut tönenden Glocken symbolisieren soll, bleibe dahingestellt; dagegen sind Bauer, König und Turm in Rilkes Werk leicht als Symbole für die wesentlichen schöpferischen Voraussetzungen erkennbar: erdgebundene Einfalt, königliche Gewalt bis zur Grausamkeit und stolze Einsamkeit. Es ist erstaunlich, mit welcher Instinktsicherheit Rilke sich selbst einzuschätzen und mit welcher überraschenden Kürze er sein ganzes Wesen in ein paar rätselhaft beschwörende Bezeichnungen zu fassen verstand. Der Embryo, den Rilke als so „dick und schwer" empfand, war der des Gottes aus dem Buch vom mönchischen
Leben, dem er gerade unerwartet in
einer Art schlafwandlerischer Eingebung Gestalt gegeben hatte. Wie wir bereits beobachteten, entwickelte sich dieser embryonale Gott in der religiösen Atmosphäre der Militärschulzeit oder auch kurz danach, als — wie Rilke es beschreibt — „ein rücksichtsloses in-Gebrauch-nehmen jener Gottesbeziehung, die konfessionell nicht zu bezeichnen wäre", begann (Br. Muzot, 309). Doch wie konnte er sich zu diesem Gott bekennen, ohne die Gefühle anderer zu beleidigen? Noch war er von seinem Vater, den er liebte, und von seinen Verwandten, von denen er die meisten verabscheute, wirtschaftlich abhängig; und gefühlsmäßig war er trotz allem noch in dem vielfältigen Gewebe kindlicher Bindungen und jugendlicher Träume befangen. Wollte er nicht all seinen spöttischen und ungläubigen Verwandten und Bekannten beweisen, daß er ein Genie war und ein Meisterwerk hervorbringen werde? Daß seine Verwandten über seine gewandelte Sinnesart, von der sie offenbar nach seinem Abschied von Prag etwas vernommen hatten, beunruhigt waren, läßt sich aus einem kurzen Brief schließen, den er seiner Tante Gabriele am 30. Dezember 1897 aus Berlin sandte: „Es soll kein Streit die Tage uns verkümmern. Wir wollen keinen kränken und keinen Gott stürzen von seinem Thron. Auch wenn wir predigen den neuen Glauben ,Schönheit'. So im Jahre des nahen Heils 98 wie in alle Ewigkeit." Diese Zeilen sind mit „RenéRainer in alter Dankbarkeit und Aufrichtigkeit" unterzeichnet und enthalten so zugleich den verborgenen Hinweis, wie eng Lou Andreas-Salomé mit diesem neuen Glauben verbunden war (Br. 1892—1904, 52; vgl. oben S. 86). In ebendiesen Jahren schmerzlichen Wachstums bestand er zudem beharrlich auf der Notwendigkeit der Lüge, „einmal nach oben, einmal nach unten" (ET, 25). Selbst in seinen späten französischen Gedichten des Carnet Poche 308
nennt er die Lüge noch eine Waffe der Jungen, „mensonge,
de arme
d'adolescent ... ami d'enfance", ja, der grüblerisch-brütende junge Mensch ist die Personifizierung jener „naiven Lüge", von der es heißt: „Tu as des sœurs si grandes et si pures que les siècles, à force d'en prendre mesure s'épuisent ..." Die Lüge ist gleich dem „parfum des calices que de vagues institutrices avaient brodés sur des coussins.
. . ."
(GF5,96—97).
Und ist nicht Rilkes verlorener Sohn nach der Rückkehr ins Haus des Vaters die Verkörperung der planmäßigen Lüge? Der ganze Bereich des Versteckspielens mit dem Pseudonym im Werke Rilkes hat seinen Ursprung in jenen Jahren der inneren Selbstbefreiung, und er stellt sich nur um so nachdrücklicher dar, als sein werdender Gott in beträchtlichem Maße phallischer Natur war; das erotische Element mancher Gedichte im Stundenbuch wie das Gewicht, das er sein Leben lang auf die nahe Verwandtschaft von Kunst und Geschlecht legte, bezeugen dies hinlänglich. Der kürzlich veröffentlichte Briefwechsel zwischen Lou Andreas-Salome und Rilke verscheucht hier jeden Zweifel. Ebenso wie Annuschka nur einen raschen Blick in das Schaufenster mit den Puppen warf, bemühte sich auch Rilke in jener Zeit geflissentlich, zu verbergen, was in seinem Innern vorging. Fünf Jahre lang erfuhr (mit Ausnahme von Lou) niemand etwas über das Buch vom mönchischen Leben, gerade wie Annuschka ihr Kind unten im Koffer versteckte. Gewiß lag einer der Gründe, wie wir bereits erläuterten, darin, daß Rilke die schöpferische Stimmung, der diese Gedichte entsprangen, noch nicht als endgültig gestaltet ansah (vgl. oben S. 146), doch zweifellos geschah es auch deshalb, weil er noch nicht bereit war, sich als der zu zeigen, der er war. Das wird durch die verstreuten Eintragungen in seinem Tagebuch wie durch den Ewald Tragy vielfältig belegt, und es erklärt, wie mir scheinen will, auch jene besondere, umständliche Scheu, mit der er seine Geschichten vom lieben Gott nicht den Kindern, für die sie doch bestimmt waren, sondern dem lahmen Ewald und der Frau Nachbarin erzählt. Wenden sich die Geschichten an den Lehrer mit seinen erstarrten sozialen Ideen, so nimmt diese Scheu die Gestalt verborgener Ironie oder Satire an (GG, 160 ff.). Die Geschichten vom lieben Gott sind mit rätselvollen Maskierungen durchsetzt und von tiefer, in dichte Symbolik eingehüllter Bedeutung durchzogen. Diese Symbolik bedarf einer gründlichen und unvoreingenommenen Untersuchung. Offensichtlich ärgerte sich Paula Modersohn-Becker an diesem Versteckspiel ihres Freundes Rilke, denn in jenem Brief vom Spätherbst 1901, in dem sie sich bei Clara Rilke über die Vernachlässigung ihrer Freundschaft und bei Rilke über die Gewalt, 309
die er dem Wesen seiner Frau antue, beklagte (vgl. oben S. 54), heißt es: „Ich danke Ihnen, lieber Freund, sehr für Ihr schönes Buch. Und bitte, bitte, bitte, geben Sie uns keine Rätsel auf. Mein Mann und ich, wir sind zwei einfache Menschen, wir können so schwer raten, und hinterher tut uns der Kopf weh und das Herz" (Modersohn-Becker, 166). Das „schöne Buch", das hier erwähnt wird, war sicher ein Exemplar der Geschichten vom liehen Gott, dessen Erstdruck im Jahre 1900, dessen zweite Auflage 1901 erschien. Schon lange wußte Rilke, daß er ein Fremder unter den Menschen war, die, hätten sie nur sein wahres Ich gekannt, in Bestürzung geraten wären (Br. Frühzeit, 249—250; vgl. oben S. 57, 107). Doch sich in die Wüste zu begeben und anzunehmen, daß man zurückkehren und seine Mitmenschen belehren dürfe, schien ihm unter die allzu gebräuchlichen Irrtümer zu zählen, die er stolz zu vermeiden entschlossen war (Br. Frühzeit, 254—258). Doch kehren wir zu Annuschkas Puppen zurück. Man muß wohl kaum erwähnen, daß das Erwürgen des Kindes symbolisch zu verstehen ist. Für sie war es ebenso lebendig wie die anderen Puppen, die sich verneigen und ihre Zwiegespräche halten konnten. Ja, es war noch lebendiger für sie, denn es war als reife Frucht eines tiefen eigenen Erlebnisses aus ihrem Leibe hervorgegangen. Zudem hat der Gott des Stundenbuches eine seltsame Ähnlichkeit mit dem großen, dem „eigenen" Tod, den nur der Künstler der Zukunft zu endgültiger Reife bringen kann. Rilke selbst empfand sich als Vorläufer dieses Künstlers, und so fühlte er sich tief verpflichtet, ihm den Weg zu bereiten, indem er immer wieder einen solchen metamorphen Gott nach seinem Ermessen zu schaffen suchte. Diese ganze Richtung des Denkens und die mit ihr verbundene Versinnbildlichung mußte zweifellos erst sorgfältig verzuckert werden, ehe man sie dem Publikum in der Erwartung anbieten konnte, daß es sie auch schlucken werde. Rilke war keineswegs fürs Leben daran gebunden, doch zu jener Zeit diente sie ihm als Antwort auf seine schöpferischen Ängste. Sein großes dichterisches Genie bedurfte keines Psychoanalytikers. Daß diese innersten Fragen, die sich in der Symbolik der Geschichte von Annuschka so unheimlich verbergen, Rilkes Gemüt sehr bewegten, zeigt sich in den Schriften jener Zeit nur zu deutlich: im Ewald Tragy, in seinen Tagebüchern und im Florenzer Tagebuch, die alle nicht zur Veröffentlichung bestimmt waren, in seinem Stundenbuch, das zu einem späteren Zeitpunkt erschien, und in seinen behutsamen Geschichten vom lieben Gott, die 1900 erschienen, aber sich, gleich Annuschkas Geschichten und Puppenspielen, mit Vorbedacht an Kinder wandten, das heißt an eine Auswahl von Menschen, von denen zu erwarten war, daß sie für derart seltsame Wirklichkeiten ein Gefühl haben würden (Br. II, 215). Aber selbst die Kinder verspürten etwas Entsetzliches in dem geheimnisvollen Gebaren Annuschkas, und das unerwartete Grinsen des bis dahin unbemerkten Harlekins wirkte wie ein verzerrtes 310
und verunstaltetes Spiegelbild des unheimlichen Schauspiels und vertrieb sie voller Schrecken. Äußerungen der Unerbittlichkeit und der Auflehnung, wie z. B. Der Apostel und andere, blieben bis nach dem Tode Rilkes wohl verborgen. Wir wissen aus dem kürzlich veröffentlichten Buch der Erinnerungen Lou Andreas-Salomés, daß der Dichter das Buch vom mönchischen Leben nicht allein einer Veröffentlichung vorenthielt, sondern daß er auch eine Anzahl von „Gebeten" vernichtete, denen zu viel von ihren persönlichen Bezügen anhaftete (Lou, Lebens., 175—176; vgl. oben S. 124 f.). In seinen Tagebüchern jener Zeit finden sich Eintragungen, die von Augenblicken fast nihilistischer Verzweiflung zeugen (Br. Frühzeit, 404-407). Als Annuschka die Küche gerade in dem Augenblick ganz leer und dunkel fand, als sie ihr eigenes Kind zu den Puppen in dem strahlenden, duftenden Garten bringen wollte, empfand sie plötzlich den hoffnungslosen Zwiespalt zwischen Leben und Kunst. Soweit nun dieser abschließende Ausbruch von Zerstörungswut und von selbstzerstörerischem „Masochismus" eine Stimmung und ein Gefühl widerspiegelt, ist es zugleich eine Schilderung des jungen Rilke. Später wird er sich selbst derartigen Furchtbarkeiten unerschrocken zu stellen wissen, doch zuvor mußte er aus seinen existentiellen und schöpferischen Ängsten den Engel der Elegien hervorgehen lassen (AW I, 257). Als Rilke im Jahre 1899 die Skizze von Annuschka niederschrieb, hatte er seinen Schutzengel bereits zum Spiel in den Baumkronen entlassen, doch achtete er wohl darauf, daß er ihn, gleich jenem Eichhörnchen, das er an einer langen Kette zu halten pflegte, jederzeit zurückziehen konnte. Unterdessen konnte ihm der Engel wenig nützen, während die Puppe, der so mancherlei aus der Welt der Kinderstube anhaftete, ihn mit ihrem Zauber nur um so mehr verfolgte. In der Vierten Elegie wird das Gefühl der Leere schließlich durch die Gegenwart eines Engels aufgewogen, in dem sich alle Schrecknisse dieser Welt in Stärke verkehrten. Mochte diese Stärke auch bedrohlich sein, so hatte Rilke doch ein Symbol dafür geschaffen, und das allein war schon Grund genug zu schöpferischem Stolz.
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50. DAS PUPPENTHEATER Die alter von den
Marionetten können traurig sein wie die Frauen Flandrischer Meister in einer Beweinung: gebogen Gram, und ihre Frohheit steigt in ihnen wie in Seligen auf dem jüngsten Gericht des Angelico.
(BTK, 181—182)
Irgendwo fand sich in Rilkes Natur eine wesentliche Stelle, die ihn sein ganzes Leben lang ein Kind sein ließ und von der aus er tief in die dunklen Schönheiten jenes weiten Waldes hineinschauen konnte, der Kindheit war — „cette vaste forêt qu'était l'enfance" (Br. I, 466). Doch diese Stelle war mit einem verwirrenden Gestrüpp von Zwiespältigkeiten überwuchert: er selbst vermochte zwar ins Weite zu blicken, aber das Kind da draußen wußte das Bild seiner Seela hinter der undurchdringlichen Hecke nicht immer zu finden. Rilke hätte das Vertrauen der Kinder gern besessen, aber — sonderbar genug — er fühlte sich unbeholfen und verlegen in ihrer Gegenwart (Kippenberg, 59; M T T , 21 f.). „Ich weiß nichts von Kindern", schreibt er am 16. Dezember 1902, „ich weiß mit Kindern nicht umzugehen, ich bin befangen und verlegen, und ihre Welt tut sich mir nicht auf" (Br. 1892—1904, 285). Selbst sein Vetter Egon, der Knabe mit dem Schielauge, der sehr früh starb und um dessen Freundschaft Rilke gleich seinem Spiegelbild Malte vergeblich warb — selbst Egon Rilke blieb seinem Werben gegenüber gleichgültig ( A W II, 104). In der Vierten Elegie finden wir ihn an der Seite des Dichters vor der dunklen, leeren Bühne, nachdem alle übrigen schon fortgegangen sind, aber schließlich geht auch er davon und läßt ihn ganz allein. Im Jahre 1915, als Rilkes Geheimnis durch die Veröffentlichung des Stundenbuches, der Neuen Gedichte und vor allem durch die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge längst jedem zugänglich geworden war, brachen alle diese frühen Erfahrungen aus der fernsten Vergangenheit wieder empor, als werde der Dichter von einem innersten Gefühl zu ihnen zurückgetrieben, um sich vor seinem Engel und vor sich selbst zu rechtfertigen. Diese Versuche einer Selbstverteidigung waren dem Wunsche nahe verwandt, die Zustimmung und Bestätigung seiner Familie und seiner frühesten Umwelt zu gewinnen, wie aus der Vierten Elegie deutlich hervorgeht. „Hab ich nicht recht?" fragt er hier eindringlich seinen verstorbenen Vater und alle jene, die ihn einst liebten. O b die weitverzweigten autobiographischen Elemente im Werke Rilkes seinerzeit von vielen Lesern bemerkt wurden, ist hier bedeutungslos; er selbst war sich ihrer zutiefst bewußt und blieb es sein ganzes Leben hindurch. 312
Annuschka besaß Puppen von zweierlei A r t : die beweglichen, die der erwidernden, lebendigen Bewegung fähig waren, und die hölzernen, die sich weder beugen noch allein stehen konnten. Diese werden an die W a n d gestellt und vom Spiele ausgeschlossen: sie verkörpern alles, was Rilke als orthodox und als unerschütterlich bourgeois verabscheute.
Sie
besitzen
weder Schmiegsamkeit noch Wandlungsfähigkeit, und so müssen sie an etwas anderes angelehnt werden. Unter ihnen befindet sich auch der alte M a n n mit dem Bart und dem Kreuz, offenbar ein Abbild des alten, ererbten Gottes. W i e tief Rilke ihm zu jener Zeit grollte, beweist die Rolle, die er ihm zuweist: er ist steif und hölzern, er ist vom Leben aller ausgeschlossen, nur von dem der Beschränkten und Unfreien nicht, und wenn sich einmal zwei Marionetten vor ihm verneigen, so fällt er vor Dankbarkeit um. Es ist bemerkenswert, daß das erste bedeutsame Zeugnis zum Thema der Puppen, dessen Veröffentlichung Rilke zuließ, sein Essay Einiges Puppen
über
aus dem Jahre 1 9 1 4 war, und wir werden sehen, wie diejenigen, die
zwischen den Zeilen zu lesen verstanden, von der ihm zugrunde liegenden unheimlichen Erlebniswelt, der es entwachsen war, sogleich ernstlich betroffen waren. Es gibt zwar hier und da einige weniger bedeutsame Äußerungen über Puppen, aber sie sind rein beschreibender, nicht symbolischer Natur. Die wesentlichste findet sich in einem Aufsatz über Maeterlincks Theater, der zu Beginn des Jahres 1 9 0 1 in einer Hamburger Wochenschrift erschien, ein gutes J a h r später also, als Rilke die Geschichte von Annuschka seinem Tagebuch anvertraute. Die folgende, dem entnommene Stelle scheint deshalb so erwähnenswert, weil sie offenbar mit dem Gedicht Theater
Marionetten-
vom 20. Juli 1 9 0 7 verwandt ist. „Die Puppe hat nur ein einziges
Gesicht", so schreibt der junge Rilke, „und sein Ausdruck steht für immer fest. Es gibt entsetzte Puppen und fromme und einfältige. Jede hat nur ein Gefühl im Gesicht, aber dieses ganz, in seiner höchsten Steigerung. Und außerdem verfügt jede über einen abbiegbaren Leib. Ihrer Bewegungen sind nicht viele; sie spielen sich auch nicht in den Handgelenken oder den Schultern ab, sondern konzentrieren sich an wenigen schlanken Stellen der Figuren. Dort werden sie vollzogen, eifrig, mit Wichtigkeit, weithin sichtbar. Die Marionetten können traurig sein wie die Frauen alter Flandrischer Meister in einer Beweinung: gebogen von G r a m , und ihre Frohheit steigt in ihnen wie in den Seligen auf dem jüngsten Gericht des Angelico" ( B T K , 181—182). Es wird sich zeigen, daß die Ähnlichkeit der beschreibenden Einzelheiten, wie sie sich hier und im Marionetten-Theater
finden, auffallend sind, und
der erste Teil des Gedichtes, welcher den Rohstoff der ursprünglichen Erfahrung enthält, könnte auch schon im Jahre 1 9 0 1 niedergeschrieben sein. In Wirklichkeit haben wir hier jedoch ein weiteres Beispiel eines zukünftigen poetischen Motivs, das in Rilkes Gedächtnis schlummerte, bis es weit später, im Herbst 1 9 0 6 , mit symbolischer Bedeutung erfüllt war. W ä h r e n d 313
seines Aufenthaltes in Flandern, kurz nach seiner Trennung von Rodin, fühlte er sich an jene Beziehung erinnert, die er zwischen den Marionetten und den flämischen Puppen und wiederum zu dem flämisch-französischen Maeterlinck früher einmal empfunden hatte. Selbst die Erinnerung an Fra Angélicos Jüngstes Gericht scheint in die Symbolik dieses Gedichtes eingegangen zu sein. Als die Neuen Gedichte veröffentlicht werden sollten, hielt Rilke das Marionetten-Theater jedenfalls nach einigem Zögern aus einem Grunde zurück, den er nicht erklären konnte (Br. 1906—07, 299; 305). Möglicherweise hatte er einige Zweifel an seiner Komposition und seiner Form, aber angesichts der bisherigen Erwägungen dürfen wir wohl annehmen, daß auch hier tiefere Bedenken ihren Anteil hatten. Bis zum Ende war Rilke sich der beunruhigenden Kluft bewußt, die zwischen der Wirkung, die die reifen und edlen Symbole seiner Dichtung auf den unbefangenen Leser hatten, und jener unbeschönigten Wirklichkeit bestand, in die sie eingebettet waren. Oftmals warnte er in seinen Briefen seine eifrigen Leser davor, diese beiden ganz verschiedenen Dinge zu verwechseln. Auch Ariel, jenes liebenswerte, reine Wesen in Shakespeares Sturm, stand im Dienste der „üblen Hexe Sycorax", bevor er zum ätherischen dienenden Geist des weisen edlen Zauberers Prospero wurde. Rilkes Werk kann man jenen Wasserlilien vergleichen, die ihre reine Weiße auf dem Spiegel eines Teiches wiegen, deren schleimige Stiele aber bis auf den schlammigen Grund reichen. Gewiß vermag nicht jeder das Häßliche neben dem Schönen zu sehen, ohne daß das letztere durch dieses Beieinander litte. Doch während Rilke zuweilen betonte, daß das Kunstwerk ein Gebilde sui generis sei, und deshalb jegliches neugierige Forschen nach seinem Urheber und seinen Ursprüngen mißbilligte, beharrte er mit viel unmittelbarerer Glaubwürdigkeit darauf, daß das Schöne nichts als des Schrecklichen Anfang sei. Wie Maritain darlegt, ist die schöpferische Unschuld keineswegs moralische Unschuld. So mag ein großer Künstler wohl verderbt sein, während seine schöpferische Eingebung es niemals ist. Die Zeit wird, wie Shelley sagt, den Dichter in den Augen derer von allen Sünden reinwaschen, die von ihm das reine Geschenk tieferer Einsicht in das Erlebnis des Schönen und der menschlichen Seele empfangen (Maritain, 374 ff.). Die Symbolik im Marionetten-Theater wurde durch eine Bußprozession angeregt, die Rilke im Jahre 1906 in Fumes in Westflandern vorüberziehen sah. Überlebensgroße Statuen büßender Heiliger wurden von den in Bußgewänder gehüllten Bewohnern des Ortes vorübergetragen, und diesem geistlichen Schauspiel folgte wohl eine Kirmes mit ihrem Zeitvertreib und ihren Lustbarkeiten. Die Flamen sind ein sinnenfrohes Volk mit einer derben Lust an Späßen und herzhaftem Gelächter. Unter den Zuschauenden herrscht eine Mischung frommer Neugier und festlicher Fröhlichkeit, 314
so daß sie nur schwer der Versuchung widerstehen können, sich über die grotesken Figuren und die eckigen Bewegungen ihrer Träger lustig zu machen. Ihre Bewegungen sind hölzern und ungelenk, ganz anders als die geölte Schmiegsamkeit der Gaukler, denen Rilke in den Straßen von Paris mit Aufmerksamkeit zugesehen hatte (V. EL; Br. II, 575—576). Diese Prozessionen stammen aus dem Mittelalter, als die Menschen noch kindlich gläubig waren. Ihre Vorstellung von einem festumrissenen Gott war nach Rilkes Ansicht eine Täuschung, die der Furcht vor dem Unbekannten entsprang. Rilke fühlte sich von dem Mißverhältnis recht betroffen, das in dieser plumpen Schaustellung mittelalterlicher Gläubigkeit vor dem Hintergrunde spaßhafter Aufgeklärtheit lag. Das Ganze erinnerte ihn an ein Marionettentheater, in dem nicht allein die ungelenken Statuen, sondern auch ihre Träger Puppen waren. Sie schienen gar nicht zu bemerken, daß sie durch ihren Glauben zu Gefangenen eines mißverstandenen Gottes wurden. Ihre Stimmen sind nicht die ihren, sondern die ihrer eingebildeten Knechtschaft, ihre Gesichter sind so gleichförmig wie ihr Glaube, „schlicht, dringend und ideal" wie die von Kindern. Vor diesem Hintergrund müssen wir Rilkes Gedicht zu verstehen suchen (Gedichte, 1906—26, 45 ff.) 1 ): Marionetten-Theater „Hinter Stäben, wie Tiere, türmen sie ihr Getu; die Stimme ist nicht die ihre, aber sie ziehn dazu ihre Arme und Schwerter ungemein und weit (findige Verwerter dessen was grade schreit). Sie haben keine Gelenke und hängen ein wenig quer und hölzern im Gehenke, !) Rilkes Puppen- und Marionettensymbolik wird zuweilen mit Kleists Aufsatz „Uber das Marionettentheater" in Verbindung gebracht (Mason, Lebenshaltung, 85; Kurt Bergel, „Rilkes Fourth Elegy and Kleists Essay ,Über das Marionettentheater'"; Modern Language Notes, Bd. 60 [Februar 1945], 73—78). Gewiß stand Rilke besonders in den Jahren 1913—14, als Einiges über Puppen entstand, unter dem Eindruck des Kleistschen Aufsatzes, doch, wie ich annehmen möchte, vor allem deshalb, weil Kleists Gedanken mit den seinen in mancher, wesentlicher Hinsicht übereinstimmten. Rilkes Symbolik war die Frucht seiner eigenen Erfahrung und Schöpfung. Doch ist es nicht unwahrscheinlich, daß Einiges über Puppen viel von der scharfen Genauigkeit und der auslotenden Gründlichkeit seiner Analyse den Gesprächen mit Kaßner und den Unterredungen und dem Briefwechsel mit Lou Andreas-Salomé verdankt. 315
aber sie können sehr töten oder tanzen oder auch im Ganzen, sich verneigen und noch mehr. Auch pflegen sie kein Erinnern; sie machen sich nichts bewußt, und von ihrem Innern gebrauchen sie nur die Brust, um manchmal darauf zu schlagen als schlügen sie sie ein. (Sie wissen, dieses Betragen ist deutlich und allgemein.) Ihre großen Gesichter sind ein für alle M a l ; nicht wie die unsern: schlichter, dringend und ideal; Offen wie beim Erwachen mitten aus einem Traum. Das giebt natürlich Lachen draußen in dem Raum, aus dem die von den Bänken sehn wie sich die Puppen kränken und schrecken und an Schwänken in Bündeln zu Grunde gehn. Wenn einer es anders verstände und säße und lachte nicht: ihr einziges Stück verschwände und sie spielten ihr jüngstes Gericht. Sie rissen an ihren Schnüren herein vor die kleinen Coulissen die Hände von oben, die Hände, die immer versteckten, entdeckten häßlichen Hände in R o t : und stürzten aus allen Türen und stiegen über die Wände und schlügen die Hände tot." Dieses Gedicht gibt nicht nur das realistische Bild eines Puppenspiels: in einem solchen Bilde würde der Aufruhr der in Menschen verwandelten Puppen gegen die „Hände in R o t " keinen Sinn geben. Offenbar ist es symbolisch zu verstehen und verlangt eine Deutung. Da gibt es die Puppen 316
und ihr „einziges" Stück, die lachenden Zuschauer und unter ihnen den einen einsamen Betrachter, der nicht lacht, die Hände in Rot und den Aufruhr gegen sie; ein Jüngstes Gericht wird erwähnt, und der Dichter beobachtet alles dies die ganze Zeit. Was soll das bedeuten? Wie die Antwort auch lauten mag, sie muß den gesamten Zusammenhang des Erfahrens und Denkens Rilkes einbeziehen. Die Puppen zeigen sich von zweierlei Seiten, die Rilke in jeder der vier ersten Strophen des Gedichts klar herausarbeitet. Einerseits scheinen sie sich des lenkenden Sprechers über ihnen nicht bewußt, und da sie nicht über sich nachdenken, so bleibt ihnen das Unechte ihrer Rolle in diesem Spiel verborgen. Diese Unbefangenheit hat eine sich allem mitteilende Überzeugungskraft, die wiederum ungewöhnliche und weite Gesten hervorruft. Soweit sind die Marionetten mit sich und ihrer Umgebung völlig eins, sie haben den „offenen Tierblick" und die unbeirrte Freimütigkeit des Kindes; sie sind „voll" im Sinne der Vierten Elegie. Ihre unbewegten Mienen sind „ein für alle Mal", ihnen fehlt die schwankende und unzuverlässige Beweglichkeit des von Zweifeln zerrissenen, befangenen Menschen. Doch fehlt ihnen auch die gepflegte Mäßigung der Bewegung, die der Zucht, der Selbstbeherrschung und dem Drill entspringt. Sie befinden sich noch ganz im Zustand reiner Möglichkeit, „wie sich bespringende, nicht recht paarige Tiere" (V. El.), und das macht ihre Bewegungen ein wenig hölzern und ungelenk. Alles dieses sind Wesenszüge, die Rilke, wie wir wissen, bewunderte, aber verloren hatte, deren er sich vage erinnerte und von denen ihm ein unbestimmtes Gefühl geblieben war, welches er nicht länger wirksam zu machen verstand. Später, in der Vierten Elegie, wird er „vor seines Herzens Vorhang" sitzen, er wird die Ereignisse beobachten, die sich dahinter drängen, und er wird erkennen, daß es nicht die seinen, sondern die eines blinden Spielers über ihm sind. In dem hier betrachteten Gedicht wird dieser Spieler jedoch noch nicht für blind, sondern für wissend und grausam, gehalten. Aber gerade dagegen sträubte er sich, ebenso wie die Puppen sich sträuben, sobald sie einmal dahintergekommen sind. Wie wir schon sahen, glaubte Rilke in späteren Jahren an ein blindes Schicksal, weil er darin ein Gefühl größerer persönlicher Freiheit fand (vgl. oben S. 205). Doch zu einer Zeit, als die Wunde noch in seinem Herzen blutete, die der Verlust des Vertrauens, welches Rodin in ihn gesetzt hatte, ihm geschlagen hatte, hatte er eine befriedigende Formel für seine Schicksalserfahrung noch nicht gefunden. Er war, gleich den Puppen hinter den Schranken ihrer kleinen Bühne, in einer bilderstürmerischen Stimmung. Doch haben die Puppen des Gedichts noch eine zweite Seite: sie scheinen sich der Zuschauer dunkel bewußt zu sein, sie wissen, daß es allenthalben üblich, eindeutig und eindrucksvoll ist, sich gegen die Brust zu schlagen, und wenn sie auch nicht bemerken, daß ihre Stimme nicht die eigene ist, 317
so sind sie doch erfinderisch genug, sich alles Gehörte zunutze zu machen, und es gibt so viel Lärm in der Welt. Sie gehen freudig darauf ein, wenn sie beobachtet und beklatscht werden. Sie lieben es, sich in ihren Zuschauern widerzuspiegeln, und wissen nicht, daß das zurückgeworfene Bild oberflächlich und trügerisch ist. Man fühlt sich an den in Maske und Verkleidung vor dem Spiegel stehenden Malte erinnert, der sich am Bild seiner theatralischen Posen oder Gesten erfreut, oder auch an die Kinder, die sich an Annuschkas Puppen ergötzten, bis das Grinsen des Harlekins den Zauber zerstörte. Kaßner, der zuchtvolle Denker, konnte der Marionette folgerichtig alle Phantasie absprechen, doch Rilke, dem Dichter, der mehr in der Welt der Symbolik beheimatet war, schien es nur natürlich, ihr etwas von seiner schöpferischen Vorstellungskraft beizulegen. Für ihn besaß die Unterscheidung zwischen der teilnahmslosen Puppe der frühen Kinderzeit und der Marionette ihre Wirklichkeit. Es ist nun bemerkenswert, welche Fähigkeiten Rilke den Marionetten zubilligt. Sie können mit den Armen schlenkern und ihre Schwerter „ungemein und weit" ziehen, sie können sehr wohl töten und tanzen, sie können sich verneigen und ähnliches dieser Art tun, sie können sich mit offenbarer Übertreibung gegen die Brust schlagen, sie können sich kränken und schrecken, bis sie in Bündeln sterben. Es ist nicht schwer, in diesen Gesten die Allgemeinheit der Menschen zu erkennen, die ihr Leben als Schauspieler verbringen, ohne es zu wissen, die tanzen und töten, während sie sich salbungsvoll an die Brust schlagen, die kein eigenes Leben führen und keinen eigenen Tod sterben. Und alles das, weil sie sich durch die Einseitigkeit ihres Bewußtseins ihren offenen Blick mit einer hemmenden Mauer von Zuschauern, von äußerer Welt verstellt haben. Könnte man diese Mauer unbeachtet lassen oder niederbrechen, so könnte ihr Blick wiederum in den offenen Raum hinausschweifen. Im weiteren Verlauf des Gedichtes geht Rilke auch auf die Rolle ein, die die Zuschauer hier spielen. Sie sehen, d. h. soweit sie es wissen, stehen sie dem Schauspiel gegenüber, ohne an ihm beteiligt zu sein. Doch wiewohl sie nur zuschauen, gehören auch sie in gewisser Weise zu diesem Spiel. Sie wissen zwar, daß es einen Puppenspieler gibt, aber dieses Wissen ist doch zeitweilig unwirksam, und es ist nicht die Ursache ihres Gelächters. Zudem beschäftigt sich der Spieler allein mit den Puppen und nicht mit den Zuschauern. Was sie so echt und unwiderstehlich lachen macht, sind die großen unbewegten Gesichter der Marionetten, die so anders als die „unsern" sind, d. h. als die von uns allen, einschließlich Rilke, die wir am Drama des Lebens beteiligt sind. Wir sind so voreingenommen geworden, daß wir über das naive Verhalten des Kindes in der Kinderstube ebenso lachen wie über das Kind in uns. Man kann nicht umhin, sich hier der Auseinandersetzung 318
Rilkes mit Carl Hauptmann in Worpswede zu erinnern, in der er behauptete, daß das Lachen die Stimme der Welt sei. Wir wissen, was dieses allgemeine Gelächter dem einsamen Rilke in der Militärschule und bei anderen Gelegenheiten in seinem späteren Leben angetan hatte (vgl. oben S. 120 f.). Zudem muß man sich vergegenwärtigen, daß Rilke sich der besonderen seelischen Situation des Schauspielers wohl bewußt war, dessen eigentliches Leben darin besteht, andere zu verkörpern, auf die Gefahr hin, sein eigenes, wahres Selbst dabei einzubüßen (Rehm, Rilke, 353 ff.). Um ebendieses Eindringen in andere Menschen und Dinge hatte sich Rilke nach dem Vorbild Rodins in den Neuen Gedichten bemüht, und es will fast scheinen, als habe er sich zu jener Zeit, als er das Marionetten-Theater niederschrieb, bereits zutiefst gegen eine so unwirkliche Lebenshaltung aufgelehnt. Der einsame Zuschauer nun, der dort sitzt und nicht lacht, ist der Künstler, der allein sagen kann: „Ich sehe das und das, / wo andere nur raten oder lügen" (FG, 134). Und die Wirkung seines ominösen Schweigens ist die gleiche wie diejenige, welche der Harlekin auf die Kinder hatte: die Puppen sehen plötzlich, daß nicht sie spielen, sondern daß sie von jemand über ihnen „gespielt werden". Nun bemerken sie, daß sie durch ihr waches Bewußtsein jenes verborgenen Phantoms mit „Händen in Rot" um ihren kostbarsten Besitz, nämlich um ihre innere Kindheit, betrogen wurden, und Schrecken befällt sie, ein Schrecken, der um so heftiger ist, als dieses Phantom offensichtlich auch die Zuschauer als Mittel und Opfer seiner gräßlichen Machenschaften benutzt. In Zorn und Wut zerren sie die „entdeckten, häßlichen Hände" auf die Bühne und ziehen sie in einem eigenen Jüngsten Gericht zur Rechenschaft. Ihr Spiel, das ihnen einst so fesselnd und vielfältig erschien, enthüllte schließlich seine gleichbleibende Eintönigkeit und wurde zunichte. Was übrig blieb, waren die dunkle Bühne und ein grauer Luftzug, der die entsetzten Zuschauer erstarren läßt. So scheint es, daß die Wirkung der phantasievollen Marionette und der dumpfen Puppe in dieser Hinsicht letztlich die gleiche war: beide ließen Rilke das Grauen der Leere erleben. Ja, das Marionettenspiel, welches zugegebenermaßen einer künstlerischen Äußerung gleichkommt, ist schließlich noch nihilistischer in seiner Wirkung als die Puppe, denn es enthüllt mit erschreckender Gewalt die Verletzlichkeit aller Kunst, einschließlich derjenigen Rilkes selbst. Die „Hände in R o t " endlich sind die eines verborgenen Gottes, den man sich doch eigentlich immer als einen fürsorglichen Gott gedacht hatte. Nach den Geschichten vom lieben Gott wurde der Mensch von einem geistesabwesenden Gott geschaffen, dessen Hände unabhängig von ihm arbeiteten, während sein Blick auf der Erde weilte, um zu sehen, was sich dort ereignete. So geschah es, daß der Mensch in seinem ungeduldigen Verlangen nach Freiheit den knetenden Händen entglitt, ehe er noch vollendet war, so daß Gott nicht mehr sehen konnte, wie sein Geschöpf aussah. Um es 319
nun herauszufinden, ließ er sich seine rechte Hand (Christus) abschlagen und sandte sie auf die Erde, damit sie die Menschheit kennenlerne und ihm davon berichte. Unterdessen bedeckte Gottes Blut, das seinem rechten Arm entströmte, die ganze Erde, so daß er beinahe daran starb. Da erkannte er seinen Irrtum und rief seine rechte Hand zurück, und so weiß er bis zum heutigen Tage nicht, wie der Mensch aussieht. Die einzigen, die es ihm sagen können, sind die Kinder und — so fügt Rilke mit großer Vorsicht und Zurückhaltung hinzu — „diejenigen Leute, welche malen, Gedichte schreiben, bauen . . ." (GG, 13). Zudem mag man hier — während man sich vergegenwärtigt, daß für Rilke eine nahe Verwandtschaft zwischen Gott und Tod bestand — auf eines der Neuen Gedichte, Todes-Erfahrung, verweisen, das er nicht lange nach seiner Reise nach Furnes in Capri niederschrieb (NG, 64; Schnack, 12). Hier trägt der Tod eine tragische Maske, die sein wahres Gesicht vor uns verbirgt, so daß wir keinen Grund haben, ihm Bewunderung, Liebe oder Haß zu zeigen. In dieser Verkleidung spielt er die führende Rolle in der Welt der Menschen, und solange wir begierig nach Beifall sind und zu gefallen suchen, spielt er mit uns, obwohl unser Beifall nicht ihm gilt. Doch ab und an begibt sich in diesem Spiel etwas, dessen Wirkung der Schauspieler mit der Maske weder beabsichtigte noch voraussah. Wenn jemand stirbt, der uns lieb ist, sehen wir plötzlich durch einen Spalt dieser trügerischen Bühne hindurch und erhaschen einen Blick von der wahren Wirklichkeit dahinter. Diejenigen, welchen dies widerfährt, müssen weiterhin die gleichen „ewigen Gesten" machen, die gleichen erlernten Worte hersagen, doch zuweilen befähigt sie die Erfahrung des Todes, das Leben echter zu spielen, ohne an Beifall und Erfolg zu denken. Aus all dem darf man wohl schließen, daß Rilkes Groll gegen den Gott herkömmlicher Vorstellung in jener Zeit um 1907 sich eher gesteigert als nachgelassen hatte. Der „nahe" Gott des Stundenbuches war nicht länger wirklich und wirksam, und ein befriedigender Ersatz war nicht zur Hand. Rilke verspürte keine sonderlichen Gewissensbisse, als er Christus entthronte und die Madonnen und Heiligen ihrer Glorie beraubte, doch sein Verhältnis zu Gott, das mit seinen verschwommenen Kindheitserinnerungen stets eng verknüpft blieb, war höchst zwiespältig, schwankend und unstet. In einem Gedicht vom September 1923, Imaginärer Lebenslauf, durchmißt Rilke in großen Zügen noch einmal den Kreis seines Lebens. „Erst eine Kindheit, grenzenlos und ohne / Verzicht und Ziel", dann „auf einmal Schrecken, Schranke, Schule, Frohne / und Abstieg in Versuchung und Verlust." Dann „Trotz", Herausforderung und triumphierende Racho und schließlich „allein im Weiten, Leichten, Kalten" des Raumes und hier in der Tiefe der „errichteten Gestalt ein Atemholen", ein Verlangen nach dem Ursprung, nach dem Alten. Dies war der Augenblick, da „Gott aus seinem Hinterhalt" stürzte (Br. Muzot, 217—218), und seitdem herrschte „eine un320
beschreibliche Diskretion" zwischen Rilke und Gott (Br. Muzot, 195). Indessen wurde er immer wieder von Qual und einer grausigen Angst vor Vernichtung überwältigt, bis er schließlich in der Entlastung durch den Engel und in der Zuflucht in Orpheus eine gewisse Erleichterung fand. Der Gott „im Hinterhalt" erzeugte in ihm ein wachsendes Gefühl von Unsicherheit und Angst und damit eine allgemeine Unlust, ihm unmittelbar und in seinem eigenen Namen gegenüberzutreten: statt dessen benutzte er mancherlei Decknamen und suchte sich ihm auf Umwegen über den Engel, den Tod und Orpheus zu nähern. Das apokalyptische Entsetzen, das die Marionetten am Ende ihres Stückes dazu bringt, die „Hände in Rot" zu töten, ist von der gleichen Art wie jenes, dem Rilke sich in der Vierten Elegie stoisch stellt in der Erwartung, daß, warte er nur lange genug, sich etwas Erlösendes ereignen werde. In den unfruchtbaren Tagen der Enttäuschung des Jahres 1913, die dem Aufenthalt in Spanien folgten, las Rilke Shakespeares Sturm — offenbar in Schlegels Übersetzung. Diese Dichtung muß wohl einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht haben, denn sie regte ihn zu dem Gedicht Der Geist
Ariel
an, das er wenig später schrieb. Und dies ist kaum verwunderlich, denn hier findet sich die Gestalt Prosperos, des einstigen Herzogs von Mailand, der sich, von seinem falschen Bruder betrogen, weit fort von der Welt der Menschen auf eine einsame Insel zurückzog. In dieser gesegneten Einsamkeit findet er sich mit Kräften begabt, die ihn befähigen, die schöpferischen Geheimnisse der Natur wie durch Zauberkraft zu erschließen. Sie stehen ihm nun in Gestalt Ariels zu Gebote, den er aus niedrigem Dienst mit so unerwarteter Schnelligkeit befreite, wie „man sich als Jüngling / ans Große hinriß, weg von jeder Rücksicht". Doch Ariel, der schöpferische Geist, will nicht auf immer dienen. Seine weite Heimat ist das All, und dorthin möchte er entschwinden, aufgelöst und namenlos. Prospero muß ihm zureden, muß ihn an alles erinnern, was er für ihn getan hat, und ihm erneut versprechen, daß er ihn entlassen werde, sobald noch ein paar letzte Zauberstücke vollbracht sind. In der Stimmung, die Rilke in jener Zeit nach dem Aufenthalt in Spanien beherrschte, stellt er sich vor, Prospero genieße gewissermaßen wie eine süße Verlockung die Aussicht auf Ariels Hingehen und auf seine eigene Rückkehr in die Welt des Zufalls und der Abhängigkeit. Der alte Zauberer tröstet sich in dem Gedanken, daß ihm der ätherische Geist einst zu Diensten war und daß er sich, wiewohl nun arm, machtlos und alternd, auch weiterhin an seinem unsichtbaren Duft erfreuen kann. Und wie Shakespeares Spiel endet auch Rilkes Gedicht mit einem Epilog, den er in Klammern setzt: 21 C r a f f , R i l k e
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„(Ließ ich es schon? Nun schreckt mich dieser Mann der wieder Herzog wird. Wie er sich sanft den Draht ins Haupt zieht und sich zu den andern Figuren hängt und künftighin das Spiel um Milde bittet . . . Welcher Epilog vollbrachter Herrschaft. Abtun, bloßes Dastehn mit nichts, als eigner Kraft: ,und das ist wenig'.)" (AW I, 352-353). Doch im Gegensatz zu Shakespeares Epilog, der sich an die Zuhörer richtet, wendet sich derjenige Rilkes, dem seine Leserschaft bekanntlich gleichgültig war, an ihn selbst. Zudem läßt der der Wirklichkeit nähere Shakespeare Prospero in die Welt der Menschen zurückkehren, der er zugehört, oder, wie Rilke es sarkastisch ausdrückt, mag er sich nun wiederum den Draht durchs Haupt ziehn, sich zu den andern Puppen hängen und hoffen, daß das Spiel von nun an milde mit ihm verfahren möge. Rilke selbst, der Paula Modersohn um ebendieses Schrittes willen so leidenschaftlich angeklagt hatte, spielte mit diesem Gedanken nur wie mit einer bittersüßen Versuchung und schreckte letztlich doch davor zurück wie vor einem kläglichen „Epilog vollbrachter Herrschaft". Je nach seiner Stimmung gebrauchte Rilke Puppe und Marionette als Symbol, hier für beneidenswerte „Offenheit" und schöpferische Unschuld, dort für die hoffnungslose Nichtigkeit und blindes Verhängnis in einer Welt der törichten Konvention und des Zufalls.
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51. EINIGES ÜBER PUPPEN Die Puppe hat das grausig Realistische . . . und am Effekt erhitzt sich das Blut . . . (Br. Lou, 377)
Einiges über Puppen, ein Essay Rilkes von meisterhafter Prosa, wurde durch eine Sammlung ungewöhnlicher Puppen angeregt, deren farbige Wiedergaben er in Paris sah und die einer exzentrischen Frau der avant-garde, Lotte Pritzel, gehörten. Rilke traf sie später in München häufig. Ihre Puppen waren in höchstem Maße intellektualisiert, sie waren stilisiert bis zur Blutlosigkeit, gaben sich in tanzender oder liegender Haltung von geistig verlockendem Raffinement (LPP, 14 ff.). Ihr Leben war, wie Rilke es ausspricht, von der Kindheit völlig getrennt, deren Freuden und Sorgen sie entwachsen waren. Sie hatten ein eigenes Leben begonnen, das ganz -aus Unwirklichkeit bestand ( A W I I , 274-284). Rilke fragt sich nun, ob dies wohl das Geschick aller Puppen der Kindheit sei und ob deshalb all das Wesen, was um sie gemacht wird, nicht letztlich einem von ihnen aufrechterhaltenen schändlichen Betrug entspringe. Das führt ihn dazu, seine Beziehung zu ihnen im Lichte seiner späteren Enttäuschung noch einmal eingehend zu betrachten. Die Puppen wurden in die ersten unnennbaren Vertraulichkeiten des frühen Kinderlebens eingeweiht, als verheißungsvolle Gefährten des Schlafs in die Gitterbetten gezogen oder, „verschleppt in die schweren Falten der Krankheiten", in die Verhängnisse der Fiebernächte verwickelt. Und was trugen sie zu der Fülle dieser erträumten Gemeinschaft bei? Nichts. Mit bitterem Groll stellt Rilke ihrer ohnmächtigen Schlaffheit die warme, dankbare Hilfsbereitschaft anderer Dinge des täglichen Gebrauchs entgegen. Sie mögen zwar äußerlich abgenutzt werden, aber sie teilen ihre wehmütige Vergänglichkeit mit dem Menschen, und so strahlen sie Zärtlichkeit und zerbrechliche Schönheit aus. Gewiß bedurfte das Kind derart gleichgültiger Dinge, die sich alles gefallen ließen und seine Launen ertrugen. Im Umgang mit den Erwachsenen konnte sich das Kind deren überlegenem Wissen getrost hingeben und sich ihnen anvertrauen, doch die Puppe nötigte es, sich selbst zu behaupten, denn da war nichts, dem es sich hätte hingeben können. So zwang die dumme Puppe das Kind, sich selbst in Teil und Gegenteil zu spalten, damit die übermächtige Welt es nicht verschlänge. Sie wurde gleichsam zu einem Probierglas, in dem das Kind alle Geheim21*
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nisse seines eigenen jungen Lebens sprudeln und sich färben sehen konnte, mochte selbst dieses auch nur wiederum seiner eigenen Erfindung entspringen. Hätte die Puppe nur ein wenig Phantasie besessen, so hätte sie sich ihr teilnahmsloses Schweigen wenigstens zunutze machen können, um Ehrfurcht einzuflößen oder Ruhm zu erlangen, wie es mit dem Gott der Christen und dem Schicksal der Alten der Fall gewesen war. In der Kinderzeit, in der jeder andere bemüht war, beschwichtigende Antworten zu finden, e r f u h r Rilke am leeren Blick der Puppe „zuerst jenes Hohle im Gefühl, jene Herzpause, in der einer verginge, w e n n ihn d a n n nicht die ganze, sanft weitergehende Natur, wie ein Lebloses, über Abgründe hinüberhübe. Sind wir nicht wunderliche Geschöpfe, daß wir uns gehen u n d anleiten lassen, unsere erste Neigung dort anzulegen, wo sie aussichtslos bleibt? So daß überall in dem Geschmack jener unüberlegtesten Zärtlichkeit die Bitternis sich verteilte, daß sie vergeblich war? W e r weiß, ob nicht mancher später draußen im Leben aus solchen Erinnerungen den Verdacht nimmt, daß er nicht zu lieben sei? O b nicht in dem u n d jenem seine Puppe heillos weiterwirkt, so daß er hinter vagen Befriedigungen her ist, einfach aus Widerspruch gegen das Unbefriedigtsein, mit dem sie sein Gemüt verdorben hat? —" Ganz offensichtlich werden die Puppen hier so unerbittlich behandelt, weil der Knabe, den m a n als Mädchen erzog, von Anbeginn unausweichlich nach zwei entgegengesetzten Richtungen gerissen wurde. Die Einzelheiten der Analyse ergeben deutlich, daß die Puppe, die Rilke vorschwebte, weiblich war. Seine falsche mädchenhafte Beziehung zu ihr konnte seine Phantasie nicht lange zu schöpferischem Spiel anfachen, und seine k n a b e n h a f t e Zuneigung zu ihr war zu noch größerer Unfruchtbarkeit verdammt. W e n n er über das Schaukelpferd schreibt, so wird seine Abenteuerlust zu flammender Begeisterung entfacht, und selbst der Kopf eines Kaspers, unzerstörbar in seiner Häßlichkeit, vermag noch ein positives Gefühl auszulösen. Hier ist Rilke in der ihm zugehörenden Welt und die Illusion gesunder Lebenskraft wenigstens von seinem Geschlecht getragen. Ganz anders verhielt es sich dagegen mit der Puppe, die weder d e n Knaben noch das Mädchen in ihm überzeugen konnte. Rilke bezichtigte sich, wie schon erwähnt wurde, oftmals der Grausamkeit und Rücksichtslosigkeit in seinen menschlichen Beziehungen, und die Schuld daran gab er seinem f r ü h e n Umgang mit Puppen. In seiner noch unbedenklichen Zuneigung geht das Kind unsanft mit seiner Puppe um, reißt ihr zuweilen mit sadistischer Lust ein Glied aus dem Gelenk, und diese Grausamkeit überträgt sich auch auf das tägliche Leben (So laß, 36—37). Einiges über Puppen entstand Ende Januar oder A n f a n g Februar 1914, zu ebender Zeit, als Rilke den Briefwechsel mit Benvenuta a u f n a h m — im März des gleichen Jahres wurden diese Aufzeichnungen in einer Monatsschrift 324
veröffentlicht. Als Rilke sie ein wenig später in Duino Benvenuta vorlas, spürte diese sogleich das Widernatürliche in dieser unheimlichen Leichenschau unschuldigster Freuden, und sie verbarg ihm ihre Gefühle nicht (Hattingberg, 202—208). Als Rilke schließlich enttäuscht und erschöpft nach Paris zurückkehrte, fragte er Lou Andreas-Salomé in einem Brief vom 9. Juni 1914, was sie von diesem Essay halte. Unglücklicherweise ging ihre erste Antwort verloren, doch am 20. Juni erwiderte der Dichter: „Aber ist es nicht furchtbar, daß man ahnungslos so etwas hinschrieb, unter dem Vorwand einer Puppenerinnerung vom Ureigensten handelnd, und dann die Feder rasch fortlegt, um das Gespensthafte noch einmal unbegrenzt, ja wie noch nie auszuleben: bis einem jeden Morgen der Mund dürr war vom Werg, mit dem man, Balg durch und durch, angefüllt war, bis in ihn herauf?" (Br. 1,506—507). Zugleich sandte Rilke sein Gedicht Wendung mit Kaßners Motto „Der Weg von der Innigkeit zur Größe geht durch das Opfer" an Lou, die es in unmittelbare Beziehung zu dem Erlebnis mit Benvenuta brachte (vgl. oben S. 210). Für sie entsprang dieses Erlebnis letztlich der Mißachtung des unbefriedigten Körpers, der mehr für sich forderte als nur künstlerisches „Werk des Gesichts". Es schien ihr, als habe Rilkes Körper die Notwendigkeit einer „Wendung" weit eher gespürt als sein Geist, und so hatte er sich in die Arme einer Frau geworfen, die in seinen „Augen wie in Spiegeln sich sah" (Br. Lou, 344—346), statt seinen Geist seinem „inneren Mädchen", jenem „nie noch geliebten Geschöpf", zu verbinden. Wir beobachteten bereits die Ruhelosigkeit, die Rilke nach seinem Aufenthalt in Spanien befiel und die Leib und Seele in gleicher Weise ergriff. Im Oktober 1913 unternahm er mit Lou eine Reise ins Riesengebirge, und in dieser Zeit verweilten ihre Gespräche vielfach bei dem Problem des Geschlechts in der modernen Welt. Offenbar plante Rilke damals einen Zyklus phallischer Hymnen, und in diesem Zusammenhang äußerte Lou, daß der Phallus, mit dem kompliziert Sinnvollen der sonstigen Körpergliederung verglichen, ein merkwürdig dummes Leibesorgan darstelle. Er fasse eine so unbeschreibliche Ganzheit auf so knappem Raum in sich zusammen, daß dieser als ein gänzlich „Anderes" und fast nur wie ein Symbol empfunden werde. Für uns Heutige, die das Materielle nur als Basis und niederste Stufe zum Geistigen betrachten, sei „das Geschlechtliche zum Widerspruch, zu etwas wunderlich Undifferenziertem und doch merkwürdig Verhängnisvollem — zu so etwas zwischen Kichern und Grausen" geworden (Br. Lou, 329—330; 601). Später, in einem Brief vom 27. Juni 1914, bezieht sich Lou AndreasSalomé wiederum auf jene unheimliche Erfahrung, die uns zum ersten Mal mit unserm Körper als dem leblosen, trägen Widerpart unserer selbst gegenüberstellt. Wiewohl organisch, hat er doch die Wirkung von etwas Unorganischem, fast Feindseligem, das einen unablässigen Anspruch an uns stellt, der vielleicht unberechtigt, aber unabweisbar ist. Das bewußte Auf325
stoßen auf den Körper als auf das unmittelbarste und unentrinnbarste „Du", mit dem wir uns auseinanderzusetzen haben, war nach Lou AndreasSalomés Ansicht der ersten Begegnung mit der unheimlichen Andersartigkeit der Puppe verwandt (Br. Lou, 346—348). Als Rilke im September 1914 eine Abschrift der Fünf Gesänge an Lou Andreas-Salomé sandte, in welchen der Kriegsgott zuerst überschwenglich besungen und dann trauernd angeklagt wird, fühlte sie sich wiederum an die Puppe erinnert. In einer Zeitung hatte sie gelesen, daß einige Chauvinisten ihren „patriotischen" Gefühlen Luft gemacht hatten, indem sie eine Puppe in der Uniform des Feindes vor einen einfahrenden Zug warfen. Nach Lou Andreas-Salomés Ansicht geben wir unseren Kindern Puppen nicht allein zum Spielen, sondern auch, damit sie sich einer fremden und möglicherweise feindlichen Welt anzupassen lernen. Unglücklicherweise lernen sie dieses nun so gründlich, daß sie das Grausig-Realistische der Puppe auch noch als Erwachsene benutzen, um ihre Leidenschaften an ihr auszulassen. Die Puppe wird zum Schreckgespenst, das furchtbare Opfer fordert. Gewiß verstand Lou Andreas-Salomé, scharfblickend und an Freud geschult, der Bedeutung der Puppen Rilkes bis in die dunkelsten Verästelungen hin nachzuspüren, und ihre Deutungen waren keine Hirngespinste. Rilke machte zudem die Welt des Mannes für das unselige Leben jener alternden, verblühten Straßenmädchen verantwortlich, mit denen das Leben spielte wie mit Puppen, „ihnen Frühling um Frühling für nichts und wieder nichts die Arme auseinanderschlagend bis sie locker wurden in den Schultern" ( A W I I , 181). Abschließend mag man wohl noch hinzufügen, daß Rilke schon am 3. April 1903 an Ellen Key geschrieben hatte: „Ich glaube, meine Mutter spielte mit mir wie mit einer großen Puppe" (Br. 1892—1904, 332). So ist es kaum verwunderlich, daß er seine Unfähigkeit, die Verantwortungen der Liebe auf sich zu nehmen, damit erklärte, daß er seine Mutter nicht lieben konnte.
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52. DIE PUPPE - SPIELZEUG DES ENGELS? Engel und Puppe: dann ist endlich Schauspiel. (Vierte Elegie)
Wenden wir uns nun der Vierten Elegie zu, so gewahren wir nicht ohne Erstaunen, daß der Engel plötzlich als eine Art idealer Ergänzung zur Marionette erscheint (IV. EL). In keinem der drei Zeugnisse, die in den vorangegangenen Kapiteln erläutert wurden, findet sich ein Hinweis auf den Engel, obwohl er einen ebenso bedeutsamen Anteil an der Kindheit hatte wie die Puppe. Doch im Bewußtsein des Kindes werden sie ebenso wie in der Erinnerung des Mannes streng geschieden: die Seele des Engels kann einem Balg voller Sägemehl nicht eingeblasen werden. Selbst mit dem Abbild eines Engels ließ sich nicht spielen wie mit einer Puppe oder sonst einem Spielzeug. Von Anbeginn besaß der Engel Flügel und vermochte vom Himmel zur Erde, von der Erde zum Himmel zu fliegen. Er konnte das Kind aus der Tiefe der Alpträume zurück zu den vertrauten Dingen des Tages und über sie hinaus zu Höhen des Entzückens heben, doch als wärmender Bettgenosse oder als Gefährte ruheloser Fiebernächte ließ er sich nicht benutzen. Auch später noch blieb der „ernste Engel aus Ebenholz" eine machtvolle Wirklichkeit. Zudem vermochte die Seele der Puppe die reife schöpferische Vorstellung erst anzufachen, nachdem sie aus ihren Lumpen befreit war, und auch dann nur kraft des Wirkens der Phantasie, die der Marionette, nicht der Puppe, zugehört. In dem Brief vom 23. Januar 1912, in dem Rilke bekennt, daß er „kein Fenster auf die Menschen" habe, bezeichnet er zwei Gestalten, von denen her er auf den Menschen zurückschließen könne: nämlich die Jungverstorbenen und mehr noch die Liebenden (Br. I, 345—347). Er begründet das damit, daß sie ihm sowohl erscheinen „mit der Deutlichkeit der Marionette (die ein mit Überzeugung beauftragtes Äußeres ist) als auch als abgeschlossene Typen, über die es nicht mehr hinausgeht, so daß die Naturgeschichte ihrer Seele könnte geschrieben werden". Die Seelen der Jungverstorbenen wie der liebenden Frau sind unermeßlichen Möglichkeiten offen und verharren auf immer in diesem Zustand des „Glücks" — die einen durch den Tod, die anderen durch Verlust. Sie können nicht länger in die Zweideutigkeiten des Lebens verstrickt werden, so daß ihre Züge gleich dem Gesicht der Puppe „ein für alle Mal" festgelegt sind, und so ist ihre Erscheinung, ihr „Äußeres" von eindeutiger Überzeugungskraft. Eine solche Betrachtung 327
zeigt klar, daß Rilkes seltsame Teilnahme für diese Gestalten eher von dem Ringen um poetische Symbole als durch unmittelbares menschliches Mitgefühl diktiert war. Er saß „vor seines Herzens Vorhang", und das Drama, das sich dahinter abspielte, sollte ihm jene Gefühle bewußter — und ihn damit reicher — machen, nach denen es ihn sein Leben lang verlangt hatte: unbefangene Unschuld und unbeschränkte Freiheit. Und es ist kein Zufall, daß er in diesem Zusammenhang eine Verwandtschaft zwischen der Marionette und der liebenden Frau empfand. Die Frau, die Rilke hier vor allem im Sinn hatte, war die portugiesische Nonne Marianne Alcoforado, die von ihrem französischen Liebhaber de Chamilly verlassen wurde. Ihr Fall war so „wunderbar rein", schrieb Rilke, „weil sie die Ströme ihres Gefühls nicht ins Imaginäre weiter wirft, sondern mit unendlicher Kraft die Genialität des Gefühls in sich zurückführt: es ertragend, sonst nichts. Es widerstrebt ihrem seltenen Takt, an Gott anzuwenden, was nicht von Anfang an für ihn gemeint war und was der Graf von Chamilly verschmähen durfte" (Br. I, 347). Man kann hier wohl beobachten, daß Rilke sich in der Erfahrung der Alcoforado gerade auch durch den letztgenannten Zug ihres Gefühls bereichert empfand. So wurde sie eben keine Heilige, wiewohl sie selbst zum Engel hätte werden können, hätte sie ihr Gefühl wohl in Gott einströmen lassen, aber zugleich auch zugelassen, daß Gott es in sie zurückwarf. Hier gibt uns Rilke einen bemerkenswerten Aufschluß darüber, wie er zwischen der Marionette, dem Heiligen und dem Engel unterschied. Die Marionette ist ihrem Wesen nach reines Außen, bloße Erscheinung, und so ist sie sich des Puppenspielers nicht bewußt; würde sie seiner gewahr, so hörte sie auf, Marionette zu sein, und würde zu einem sinnlosen Gegenstand. In ihrer Beziehung zum Zuschauer ist ihr ein „offener" Blick eigen, und so ist sie eindeutig und überzeugend. Der Heilige weiß um die Gegenwart Gottes, des Puppenspielers, aber dieses Bewußtsein zerstört ihn nicht, sondern läßt ihn in Gott wie in einen sicheren Hafen einlaufen. Zugleich steht er der Welt gegenüber, ja spürt ihre Verlockung, doch müht er sich unablässig, seinen Blick von ihr abzuwenden. So fehlt ihm der „offene" Blick, er teilt die Zwiespältigkeit des Menschen und ist weder eindeutig noch überzeugend. Der Engel ist sich des Daseins Gottes bewußt, aber geht nicht in ihn ein, weil Gott ihn gänzlich in sich zurückwirft. Nach dem ausdrücklichen Willen Gottes ist der Engel seinem Wesen nach selbstgenügsam, in sich selbst beschlossen, und so sind für ihn die Zuschauer, das heißt die Welt der Menschen, gänzlich gleichgültig, gleichsam nicht vorhanden. Dadurch ist der Engel zweifellos eindeutig, aber seine narzißtische „Selbstsucht" macht ihn abschreckend und unüberzeugend. Schließlich darf man in diesem Zusammenhang nicht vergessen, daß Gott nach Rilkes Überzeugung keine echte Wirklichkeit war, sondern noch geschaffen wird, und sein 328
Schöpfer ist der Dichter. Hätte Marianne Alcoforado den Strom ihres Gefühls nicht in sich selbst zurückgewandt, sondern ihn in Gott übergehen lassen, so hätte sie sich nur selbst betrogen. In einem Brief an Eva Cassirer vom 2. Januar 1914 äußert Rilke, daß nach seiner Meinung selbst der Heilige im Innersten nicht an eine wirksame Hilfe Gottes glaube (Mason, Münchhausen, 21). An anderer Stelle, in der Erinnerung an Verhaeren, aus der der erdachte Brief des jungen Arbeiters von 1922 hervorging, schreibt er: „Wie herrlich, Verhaeren, daß Gott sich uns nicht deutlicher macht, wie müßte er uns überholen und alles vereiteln!" (Mason, Münchhausen, 73; AWII,408). Kurzum, Puppe und Marionette drohten beständig, sich als trügerisch zu erweisen, und da Rilke „kein Fenster auf die Menschen hin" besaß, so tat sich ein gähnender Abgrund auf — wäre nicht der Engel gewesen. Doch der selbstbezogene Engel bedeutete einsame Abgeschlossenheit und völlige Gleichgültigkeit gegen die „Welt", die in ihrer unermeßlichen lockenden Weite zwischen den sich gegenseitig ausschließenden Bereichen der vollkommenen Naivität der Puppe und dem vollkommenen Bewußtsein des Engels lag. In dieser „Welt" überwiegen das Äußere und die Verstrickung, denen doch die naive Unschuld fehlt. Wieder und wieder gab Rilke ihren Verlockungen ausgiebig, geschickt und sich wiederum entziehend nach, mied ihre Bindungen, die sein Schaffen behinderten und litt zugleich an Gefühlen der Beeinträchtigung und der Schuld. Wäre Rilke fähig gewesen, die Zweideutigkeiten, Verpflichtungen und Ängste des Lebens als das hinzunehmen, was sie sind, nämlich als Wirklichkeiten, die, wie alles übrige, tapfer ertragen und angenommen werden müssen, hätte er sie nicht ganz entnerven und sie dann in einem unzugänglichen Engel verkapseln oder sie in metamorphe Bewegung und reine Symbolik auflösen wollen, so besäßen wir weder die Elegien noch die Sonette an Orpheus und wären entsprechend ärmer. Doch gingen wir fehl, gäben wir diesen schönen Gedichten eine existentielle Bedeutung, die sie nicht haben können. Schlichte, unbewußte Äußerlichkeit und unverdünnte, bewußte Innerlichkeit können in dieser Welt von Raum und Zeit nicht zugleich wirksam gemacht werden. Zwar wird uns diese Möglichkeit in der Vierten Elegie als verwirklicht vor Augen gestellt, indem das schweigende Ausharren des Dichters den Engel schließlich zwingt, die Puppe zu ergreifen, sie in seine ihm eigene Bewegung hineinzureißen und mit ihr zu spielen. Doch Rilke wußte im Innersten wohl, daß sich dergleichen in unserer Welt, mochte er seine Vorstellungskraft auch noch so weit spannen, niemals ereignen konnte: wenn überhaupt, so muß sich dergleichen über uns zutragen, und das bleibt reine Vorstellung, wie wir uns auch immer dazu stellen mögen. Der einzige Akt des Lebens, in dem diese Vorstellung eine gewisse Ähnlichkeit mit der Realität (außerhalb der Mystik) zu empfangen vermag, liegt eben in jener künstlerischen Schöpfung, in der Raum und Zeit für eine Weile aufgehoben werden und 329
eine magische Welt beschworen wird. Das zeigt wiederum, wie Rilkes Engel unmerklich Orpheus weichen, wie die Sonette aus den Elegien hervorgehen mußten. Rilke spürte sehr deutlich, daß eine solche Verwandlung der vielfältigen Kompliziertheit des Lebens zu einem Ausdruck der Ganzheit gesucht werden mußte, wenn die auseinanderstrebenden Kräfte der modernen Zivilisation gezügelt werden sollten, aber es ist offenbar, daß seine eigene verzweifelte Lösung einen breiten Keil zwischen ihn und seine Umwelt trieb. So ist es nicht verwunderlich, daß ihn heftig nach der Zustimmung seines Vaters verlangte, der, wie er fürchtete, ihn noch im Tode nicht gelten ließ, ebenso wie er im Requiem für Paula Modersohn-Becker leidenschaftlich darauf bestand, daß nicht sie, sondern er im Recht sei. So läßt sich die Folgerung nicht umgehen, daß Rilke trotz seiner entschiedenen Hingabe an die Erde weit weniger realistisch war als Goethe, der sich durch die Göttin der Wahrheit ermahnen ließ: „. . . Du siehst, wie klug, wie nötig war's, euch wenig zu enthüllen! Kaum bist du sicher vor dem gröbsten Trug, kaum bist du Herr vom ersten Kinderwillen, so glaubst du dich schon Übermensch genug, versäumst die Pflicht des Mannes zu erfüllen: Wie viel bist du von andern unterschieden? Erkenne dich, leb mit der Welt in Frieden!" Zwar hatte Rilke es im 20. Jahrhundert in einem Maße mit den Verworrenheiten einer sich auflösenden Gesellschaft und einer Art kulturellen Niedergangs zu tun, wie es ein Jahrhundert zuvor noch undenkbar gewesen wäre, doch fehlte ihm nicht allein Goethes sichere Bewältigung erfaßbarer Wirklichkeit, er schreckte aus einer inneren Angst sich zu binden vor ihr zurück. Im Jahre 1908 rügte Rilke Goethe einmal mit großer Strenge, weil er die überströmende Verehrung Bettina Brentanos, die sich in ihren Briefen an ihn aussprach, nicht freigebiger erwidert hatte: „Ich hätte wohl ihre Briefe beantworten mögen; das wäre eine Himmelfahrt geworden, ohne Scham, vor aller Augen . . . Wie hätte man sich geliebt, face en face" (Br. 1907—14, 45—46). Kaum sechs Jahre später versuchte er mit Benvenuta eine solche Himmelfahrt und stürzte dabei mit gebrochenen Schwingen auf die Erde zurück. So ist es nicht verwunderlich, daß er den jungen Goethe bald darauf beneidete, weil „ihm der Ertrag von vornherein das Maaß des Erträglichen ist, aber auch seines Glücks. Nichts Unbrauchbares in die Hand zu nehmen und das Brauchbare recht" (Br. Lou, 351). Von Rilke mag man sagen, daß im Anfang das W o r t war, das schöne, befreiende Rilkesche Wort. Der so vielfältig beteiligte und geschäftige Goethe bestand dagegen auf einer angemessenen, tätigen Anteilnahme an allem Menschlichen: „Im Anfang war die T a t " (Faust). 330
In der Zeit vom November 1915, als die Vierte Elegie entstand, bis zum Februar 1922 gelang es Rilke nicht, seine schöpferischen Kräfte zur Vollendung der Elegien zu sammeln. Im Winter 1920/21, den er in dem einsamen Schloß Berg am Irchel verbrachte, kam er diesem Ziel zwar nahe, aber die Ungewißheit, ob er sich diese geliebte Zuflucht erhalten könne, und die Gemütsbewegung, die ihm seine Sorgen um Merline bereiteten, hielten seinen Geist in beständigem Zwiespalt. So hat man angenommen, daß die seltsamen Gedichte des angeblichen Grafen C. W. ihm gleichsam als kärglicher Ersatz zufielen und daß es ihm ebendeshalb so widerstrebte, sie als die seinen anzuerkennen (Bassermann, 355). Doch wie dem auch sein mag, der starke Anteil der Kindheit an diesen Gedichten offenbart deutlich, daß Rilke im Verborgenen hoffte, sie werde die Verbindung bilden, durch die sein gestörtes Gefühl für Zusammenhang sich wiederherstelle. Dieses findet sich auch in einer beträchtlichen Anzahl von Gedichten der vorangehenden Jahre bestätigt, die sich alle in gewisser Weise auf die Vierte Elegie beziehen, in der die Kindheit ein wiederkehrendes Thema ist. Einige Tage bevor diese Elegie entstand, verfaßte Rilke, von Dürers Apokalypse angeregt, ein Gedicht, in dem der Herr Johannes bittet, mit beiden Händen Worte der völligen Zerstörung niederzuschreiben, die alles zeitliche Treiben des Menschen verwerfen. Allein im Kinde macht der Sohn Gottes eine Pause und gewährt, daß sich das verworrene Brausen der Welt in seinem muschelförmigen Ohre sammle. „Sieh, in diesem Engen, Hingestellten / ordn ich das Gewühle meiner Welten" (Gedichte, 1906—26, 570—573). Eine ähnlich apokalyptische Stimmung, wiewohl mehr bacchanalisch und persönlich getönt, beherrscht die Ode an Bellmann, die einige Monate früher entstand. Ihre Rücksichtslosigkeit erinnert an Annuschkas zerstörerischen Wahnsinn oder an den Aufstand der Marionetten gegen die „häßlichen Hände in Rot" 2 ). Schließlich ist das Requiem auf den Tod eines Knaben vom 13. November 1915 mit den Geheimnissen der Kindheit und dem Glück des frühen Todes geradezu durchtränkt (Gedichte, 1906-26, 121-125). Gewiß half auch der kurze Aufenthalt in Paris Ende Oktober 1920 — wenige Wochen bevor er sich in Berg am Irchel niederließ — Rilke dazu, sein verlorenes Gefühl für Zusammenhang zurückzugewinnen. Doch ist es bezeichnend, ) Die Ode an Bellmann wurde vor dem Hintergründe des Krieges geschrieben, der nun auch Rilke mit seinen militärischen Pflichten bedrohte. Bellmann war ein schwedischer Dichter, Komponist und Sänger volkstümlicher Trinklieder, von denen Rilke im Herbst 1915 in München einige gehört hatte. Eines dieser Lieder, das offenbar einen tiefen Eindruck auf Rilke machte, richtet sich an einen vielseitig begabten, doch schwindsüchtigen Musikanten und beschwört eine makabre Szene herauf, in der W e i n und Geschlecht der Krankheit und dem Tode vermählt werden (Bellmann, 57 f.). In einigen seiner Lieder parodiert Bellmann die Briefe des Heiligen Paulus. Hendrik van Loon übersetzte und illustrierte eine Auswahl in The Last of the Troubadours (Simon and Schuster, New York, 1939), in dem die ursprüngliche Begleitung für Laute durch Grace Castagnetta für Klavier bearbeitet wurde. 2
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daß er während dieses Besuches keinerlei alte Freunde oder Bekannte aufsuchte, sondern sich allein der Stadt, dem Schauplatz seiner Leiden in den Jahren der Erlebnisse um Malte, zuwandte. Und diese Leiden entsprangen im Tiefsten seinem verzweifelten Drang, die dunklen Bedrängnisse seiner Kindheit zu bewältigen. Es war nicht Paris, sondern die Kindheit, dieser innerste und eigenste Besitz, die das verbindende Glied in der zerrissenen Kette zwischen Vergangenheit und Zukunft darstellte. Die Vierte Elegie nun gibt dem wehmütigen Gefühl Ausdruck, daß wir das Maß, mit dem man die Welt des Kindes messen könnte, unwiderbringlich verloren haben. „Wer zeigt ein Kind, so wie es steht? Wer stellt es ins Gestirn und gibt das Maaß des Abstands ihm in die Hand?" (AW I, 258). Es ist mehr als ein Zufall, daß Rilke im Dezember 1920 in Berg am Irchel ein unvollendetes Gedicht niederschrieb, das sich fast wie ein Kommentar und eine Paraphrase zu dieser dunklen Stelle liest. Ganz zu Anfang des Fragments stehen die Zeilen: „Laß dir, daß Kindheit war, diese namenlose Treue der Himmlischen, nicht widerrufen vom Schicksal 3 )." Und der Dichter fährt fort, die Kindheit als ein unaussprechliches Geschenk des Himmels zu preisen, obschon er wohl weiß, daß sie zahllosen Gefahren ausgesetzt und letztlich weniger behütet ist als die Welt der Erwachsenen, weil sie sich der Bedrohung nicht bewußt ist. Die Fürsorge der Mutter stärkt des Kindes Gefühl der Sicherheit, das auf Unwissenheit beruht, aber wie trügerisch ist in Wirklichkeit ihr Schutz! Der Augenblick von Angst und Zweifel kommt unerwartet, trügerisch wächst die Gabelung des Zwiespalts „am Judas-Baume der Auswahl" und beschattet selbst des Kindes unschuldiges Spiel mit der Puppe. Das freigebige Gefühl, das neidlos an den Lumpenbalg gewendet wird, kehrt in erdachter Erwiderung zum Kinde zurück und weist so nachdrücklich auf seine Selbstverdoppelung und seine furchtbare Einsamkeit hin. „Fernen des Spielens!" ruft der Dichter aus, „Da gab sich die Fruchtende weiter selig erfindender fort, als im spätesten Nachwuchs, weit über Enkel hinaus, die getroste Natur!" ( A W I, 333). Im Bewußtsein des Kindes konnte die Puppe schmerzlos und in leichter Verwandlung durch hundert Tode gehen und zu gleicher Zeit Mutter, Kind 3 ) In A W I wird dieses Fragment auf den „Winter 1913—14" datiert, was bedeuten würde, daß es entweder in Paris oder irgendwo in Deutschland entstand. Das Datum wäre glaubhaft genug, denn Rilke war in jener Zeit von der Kindheit geradezu bedrängt. Doch nach der vor kurzem erschienenen und verbindlicheren Ausgabe der Gedichte von 1906 bis 1926 entstand es im Dezember 1920 in Berg am Irchel.
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und Enkel sein. Das gewaltige Ausmaß des Gefühls, das zwischen Kind und Puppe entstand, war so weit wie der Raum zwischen den Gestirnen — es machte das Kind einsam und entrückt wie ein Sternbild. W i r Erwachsenen haben die Fähigkeit gänzlich eingebüßt, jenen Dunstkreis zu durchdringen, der uns von der Kindheit trennt. „ O Puppe, fernste Figur —, wie die Sterne am Abstand / sich zu Welten erziehen, machst du das Kind zum Gestirn." In diesem beneidenswerten Zustand bleibt das Kind unerreichbar, bis es seinem Firmament entwächst und jener „namenlose Abbruch" erfolgt: „gefüllt mit der Hälfte des Daseins will sie [die Puppe] nicht mehr, verleugnet, erkennt nicht. Starrt mit geweigertem Aug, liegt, weiß nicht; nicht einmal Ding mehr sieh, wie die Dinge sich schämen für sie . . ." (AW 1,334). So will es scheinen, als habe Rilke diese lange, qualvolle Zeit zwischen 1912 und 1922, zwischen Duino und Muzot gebraucht, um dem schrecklichen Engel in einem verzweifelten, unablässigen Ringen zu entwachsen und verwandelt in das ätherische Reich des Orpheus einzugehen. Schon in einigen späteren Elegien äußerte sich in seiner Hingabe an die Erde, in seinem entschiedenen Willen, die sichtbaren Dinge und die menschlichen Errungenschaften der Vergangenheit in unsichtbaren inneren Besitz zu verwandeln, mit dem er dem Engel entgegentreten konnte, der leidenschaftliche Entschluß des Dichters, der Elegie zu entkommen und zur orphischen Rühmung zu gelangen. Unter Klagen mühte er sich, die Elegiert zu bewältigen, wie er sich Jahre zuvor mit der Vollendung der Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge gequält hatte: „Ich kann nur durch ihn [Malte] durch weiter, er liegt mir im W e g " (Br. 1907—14,50). Und noch einen Tag bevor die Sonette entstanden, fragte er sich: „Wann wird, wann wird, wann wird es genügen das Klagen und Sagen?" (Gedichte, 1 9 0 6 - 2 6 , 1 4 7 ) . Es bestehen bemerkenswerte Parallelen zwischen dieser Zeit, die vielfach um die Kindheit und die Vierte Elegie kreist, und den Tagen jugendlichen Erwachens. Geradeso wie Rilke sich in seiner Jugend der Geborgenheit unter den Flügeln des Schutzengels entzogen hatte, befreit er sich nun von dem schrecklichen Engel. Es ist gewiß kein Ausdruck der Demut, wenn der Dichter in der Siebenten Elegie ausruft: „Werbung nicht mehr, nicht Werbung, entwachsene Stimme, sei deines Schreies Natur." Die Bedeutung dieser Verse ist in einfachen Worten wohl die: der unzugängliche Engel soll von nun in seiner eigenen Sphäre belassen werden, damit der Dichter sich von den drohenden Ängsten, die in dem Engel verwandelt und verkörpert wurden, befreie. Er wird sich eine eigene unsichtbare Welt schaffen, in der er seine reine und ungetrübte Rühmung anstim333
men kann. Zwar bedeutet die Achte Elegie eine Unterbrechung in diesem Ablauf, doch muß man bedenken, daß sie, obzwar erst 1922 niedergeschrieben, in Stimmung und Symbolik auf den spanischen Aufenthalt im Winter 1912/13 zurückgeht. Nach seiner Rückkehr nach Paris las Rilke die Drei Briefe an einen Knaben von Lou Andreas-Salome, die ähnliche Gedanken enthielten, wie sie sich in der Achten Elegie über die „kleine Kreatur", die Mücke, finden, deren Welt der Schoß bleibt, und in einem Brief vom 20. Februar 1914 äußert er sich ausführlicher über diesen beneidenswerten Zustand einer ungebrochenen Existenz (Br. I, 489—490; Kaßner, Erinnerung, 317). Auch beschwört die Zehnte Elegie noch einmal das weite Land der Klagen, doch ist dies eher als eine Klärung und endgültige Bestätigung eines früheren Ausblicks auf zukünftige Rühmung zu verstehen, wie sie sich in den schon im Januar 1912 entstandenen Anfangszeilen ankündigt: „Daß ich dereinst, an dem Ausgang der grimmigen Einsicht, / Jubel und Ruhm auf singe zustimmenden Engeln" (X. El.). Im Jahre 1922 hatte der Dichter den Engeln die Zustimmung schließlich abgerungen. Für die Komposition des Zyklus war es von entscheidender künstlerischer Wirkung, daß Rilke die Klagen der Achten Elegie zwischen die optimistische Siebente und Neunte einschob: allenthalben entwächst ja Orpheus dem Engel. Ebenso wirkungsvoll ist es, daß das Leidland an das Ende des Zyklus verlegt wurde — gleichsam als Tor, durch das der Gott der Rühmung hervorgehen werde, und auch hier ist die phallische Bedeutung unmißverständlich. In der Zehnten Elegie liegt das Land, wo „Kinder spielen, und Liebende halten einander, — abseits, ernst, im ärmlichen Gras, und Hunde haben Natur" — dieses Land „echter Wirklichkeit" liegt unmittelbar jenseits der Planken, die es von den Buden des Jahrmarkts trennen, wo Erwachsene zuschauen, „wie das Geld sich vermehrt, anatomisch, nicht zur Belustigung nur: der Geschlechtsteil des Gelds, alles, das Ganze, der Vorgang —, das unterrichtet und macht fruchtbar . . ." (X. EL). Diese Verse erinnern an jene im Buch von der Armut und vom Tode, in denen Gott „einen schönen Schooß" für den Künstler der Zukunft bauen „und seine Scham errichte wie ein Tor in einem blonden Wald von jungen Haaren" (AW I, 94; vgl. oben S. 167). In der Vierten Elegie sieht sich der Dichter vor „seines Herzens Vorhang" sitzen, und als dieser sich hebt, zieht das Schauspiel seines Lebens an ihm vorüber. Da sein Herz die Bühne ist, so haben wir eher Erlebnisse innerlicher Art und Bedeutung als äußere Erlebnisse zu erwarten. Das erste und 334
eindringlichste dieser Erlebnisse ist „Abschied". Für Rilke war das recht verständlich, denn sein Leben war von den vielfältigsten Abschieden wie durchlöchert: da war der Verlust der Kindheit, des Schutzengels und der Puppe, des überkommenen Gottes, der Madonnen und der Heiligen, die ihm aufgezwungene Trennung von daheim, als die Zeit der Militärschule kam, der freiwillige Abschied von seiner Familie und von Prag, die Scheidung von Weib und Kind, zuerst durch die Umstände aufgenötigt, dann freiwillig fortgesetzt, die Auflösung ungezählter Liebesbeziehungen und menschlicher Bindungen, wie sie sich sein ganzes Leben lang beständig wiederholten. Das zweite Erlebnis ist der Garten, ein wenig schwankend und ungewiß, Rilke ebenfalls wohlvertraut — ein Garten, wie Annuschka ihn geliebt hatte, weil er sie die graue Küche vergessen ließ, und den sie später schließlich doch zerstörte, weil er unfähig war, die große blaue Puppe, die Frucht ihres Leibes, aufzunehmen. Auch war es der Traumgarten von Rilkes früherer Poesie, der ihn über die Beschränktheit seiner Umwelt in Prag und anderwärts hinwegtröstete — er war das Symbol späterer vergeblicher Versuche, die Nöte des Lebens durch die Kunst aufzuheben. Dann kommt der „Tänzer", jener Schauspieler, der mit gesellschaftlicher Gewandtheit und geschickter Anpassung durchs Leben zu tändeln scheint, wie Wilhelm von Scholz in München oder Rilke selbst in Linz und immer wieder in seinem Leben es trieb, wenn er sich mit ausweichender Verbindlichkeit in einer schalen Welt bewegte. Diese Art zu leben, diese „Schauspielerei" zu eigener und anderer Unterhaltung bezeichnete Rilke oftmals als einen Betrug, dessen verborgener Kern Eintönigkeit und das Grau der Küche war. Seine Maske war halb erfüllt und halb leer. Es ist bezeichnend, daß Rilke auch hier jeglichen Ausdruck aufrichtigen menschlichen Bemühens außerhalb der Kunst überging, weil dergleichen ihm durch Ich-Befangenheit und Selbstbetrug verderbt schien. So blieb allein die unverfälschte Kunst, die Puppe mit dem „offenen" Blick und dem Gesicht, das „ein für alle Mal" ist. Solange dies währte, erzeugte es ein Gefühl der Fülle, doch wenn es mit der Wiederkehr des Grinsenden im Spiegel schwand, blieb nichts als Dunkelheit zurück. Ein ähnlich trübes Geschick hatte Rilkes Vater für seinen Sohn wohl befürchtet, als dieser Dichter zu werden beschloß. Doch Rilke blieb unbeugsam und stellte sich der Dunkelheit oftmals und zuweiler lange Zeit, bis er schließlich den Engel der Elegien schuf. Aber dieser Engel nahm unglücklicherweise Eigenschaften an, die mit der Naivität der Puppe vollkommen unvereinbar waren, unterstrich so den Konflikt nur um so nachdrücklicher und machte das Streben nach einer anderen Ebene verklärender Illusion unerläßlich: nach jener, über die Orpheus herrschte. Gewiß kann man der verflochtenen Beziehung zwischen Engel und Puppe, Engel und Orpheus, Elegie und Rühmung eine idealere Auslegung von allgemeinerer Bedeutung zuteil werden lassen. Aber die grundlegenden 335
autobiographischen Elemente sind so unabweisbar, daß man Gefahr läuft, die Absicht des Dichters bis zur Unkenntlichkeit zu verdrehen, wenn man sie aus den Augen verliert. Gegen Ende des Jahres 1925 wurde Rilke von seinem polnischen Übersetzer von Hulewicz um einige Erklärungen zu den Elegien gebeten. „Und bin ich es", so fragt er zurück, „der den Elegien die richtige Erklärung geben darf? Sie reichen unendlich über mich hinaus" (Br. Muzot, 371). Aber dennoch beginnt er dann, sie zu deuten — offensichtlich in dem Bewußtsein, daß, was er auch immer sagen mag, eine Erläuterung post factum sein wird. In der Tat ist seine Deutung eine Art Rationalisierung, wie er sie drei Jahre nach der Vollendung der Elegien, als die Qualen längst vorüber waren, wohl versuchen konnte. Doch solche in der Rückschau getroffenen Formulierungen wirken leicht verfälschend, weil sie sich eines anderen Zusammenhangs bedienen und die Perspektiven sich verschoben haben. So schreibt Rilke vom Engel: „Der Engel der Elegien ist dasjenige Geschöpf, in dem die Verwandlung des Sichtbaren in Unsichtbares, die wir leisten, schon vollzogen erscheint. Für den Engel der Elegien sind alle vergangenen Türme und Paläste existent, weil längst unsichtbar, und die noch bestehenden Türme und Brücken unseres Daseins schon unsichtbar, obwohl noch (für uns) körperhaft dauernd. Der Engel der Elegien ist dasjenige Wesen, das dafür einsteht, im Unsichtbaren einen höheren Rang der Realität zu erkennen — daher schrecklich' für uns, weil wir, seine Liebenden und Verwandler, doch noch im Sichtbaren hängen" (Br. Muzot, 376). Die Elegien enthalten jedoch keinerlei Hinweis darauf, daß dem Engel jemals die Aufgabe zufiel, sichtbare Paläste, Türme und Brücken in unsichtbare zu verwandeln. In ihm waren sie von Anbeginn unsichtbar. Es ist das Vorrecht des Dichters, die Verwandlung zu vollziehen; es ist der Dichter, der dadurch den Engel in seiner selbstbezogenen Entrücktheit zu beeindrucken sucht. Die Überlegenheit des Engels entsprang seiner Fähigkeit, die existentiellen Nöte aufzulösen und die Feindschaft zwischen ihnen und der schöpferischen Arbeit zu übergehen oder aufzuheben. Für den Dichter selbst blieb dieses ein unerreichbares Ideal, und so mußte er sich mit der Herrschaft in der trügerischen Sphäre des Orpheus begnügen. Wenn Rilke den Engel später in reichem Maße mit den Aufgaben betraute, die auf weniger vollkommene Weise dem Dichter zufielen, so war das die Wirkung rückschauender Abstraktion.
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53. WIEDERUM TRAUMGEKRÖNT Es ist ein Spiegel,
was sie hält. Siehst
sie zeigt dem Einhorn
(Aus den Aufzeichnungen Laurids
Brigge,
du:
sein Bild —. des
Malte
A W II, 114)
Man mag die Frage stellen: welche Gültigkeit für ihn selbst und für uns liegt denn nun in Rilkes erdachter und seltsam losgelöster Welt? Daß sie ihm gegen die inneren und äußeren Zwiespältigkeiten des Lebens, die er so bitter empfand, Schutz gewährte, ist außer Zweifel. Doch gibt es Anzeichen genug dafür, daß es sich nur bis zu einem gewissen Grade so verhielt. Nicht allein, daß er sich zuweilen Bedingungen gegenübersah, die ihn preisgegeben und hilflos machten, nicht allein, daß der nackte Tod mit seinem altmodischen Jenseits unablässig hinter der Rüstung lauerte, die er sich angelegt hatte, selbst der Gott seiner Kindheit blieb letztlich unvergessen, und das Geheimnis der „Gnade" nennt er wiederholt mit Ehrfurcht als ein reines Geschenk. In diesem Zusammenhang mag man wohl ein Bekenntnis erwähnen, das Rilkes eigene Zweifel in die letzte Gültigkeit seiner orphischen Formel auch für ihn selbst verrät. Es findet sich in einem Brief der Erwiderung an Ellen Delp, die Adoptivtochter von Lou Andreas-Salome, der am 22. August 1915, ein Jahr nach Ausbruch des ersten Weltkrieges, niedergeschrieben wurde (Br. 1914—21, 75—76). Rilke hielt sich zu jener Zeit in München auf und machte mancherlei Pläne, wenn auch „merkwürdig ungläubig" (Br. 11,48). Bald darauf fand sich dieser Mangel an Vertrauen gerechtfertigt, denn am 14. November wurde er für den Landsturm tauglich befunden, und am 4. November 1916 trat er in den österreichischen Heeresdienst ein — was er lange Zeit gefürchtet hatte, war unausweichliche Wirklichkeit geworden. In ihrem Brief an Rilke hatte Ellen Delp offenbar von den Gefühlen gesprochen, die der Anblick einiger Vögel in ihr erregt hatte, welche, vom Strahl eines Leuchtturms angezogen, in ebendem Licht umgekommen waren, das sie gesucht hatten. Für Rilke geschah das, was den Vögeln widerfuhr, in Übereinstimmung mit den Gesetzen des Lebens, und zweifellos hätte er unter gewöhnlicheren Umständen verherrlichende und beifällige Worte über diese Gesetze gefunden. (Man vergleiche hier nur sein Sonett an Orpheus II, 11 über die Vögel im Karst.) Doch nun war es anders. In Besorgnissen 22 Graff, Rilke
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persönlichster und bedrängendster Art befangen, gewahrte er die erschrekkenderen Aspekte der „anderen Seite des Lebens". Er empfand das Geschick dieser Vögel so, „daß da ein Mißverständnis der Sinne Entzückungen und Untergänge anrichtet, bloß weil da ein Ding ist, das in die Menschenwelt gehört, das in der Umwelt dieser Vögel nicht vorkäme, nicht vorkommen dürfte, ein in ihrem Sinne Übertriebenes, eine Musik; eigentlich vernichtet sie das Ding, weil es eines ist, das es für sie nicht gibt (etwa wie uns ein Gespenst vernichten würde)". Dann vergleicht Rilke den Leuchtturm mit Gott und die Vögel mit der Menschheit, einschließlich seiner selbst: „Und weiter noch, das Furchtbarste für mich . . . daß auch wir in unseren innersten Immanenzen vielleicht gar nicht am Wahren wahr werden, sondern am uns Unzugehörigen, an dem, was nicht da sein dürfte, an irgendwelchen Leucht-Türmen, die über uns fort Zeichen geben, uns nicht meinen, uns nicht kennen, für uns nichts sind als unbegreifliche Übermaaße einer in uns nur gleichsam als Frage enthaltenen Kraft, die uns durch die Gewalt ihrer überwiegenden Antwort verzehrt. . . Aber natürlich, ich weiß, wenn man weit genug denkt, ist ja das Göttliche auch nur außerhalb unser denkbar, als so ein Leucht-Turm in mehr als unsrigem Raum; so würde es sich nur darum handeln, das größte, das äußerste aller uns möglichen Mißverständnisse abzuwarten, um in der Flamme unterzugehen, jubelnd, die [die] allerunfaßlichste und tödlichste ist; in keiner mindern. Ist dies das Leben?" Katharina Kippenberg berichtet, daß Rilke einmal geäußert habe: „Die Kunst ist überflüssig." Nach ihrer Deutung entsprang dieses verzagte Bekenntnis dem Gedanken, daß Kunst keine Wunden heilen und dem Tod nicht die Bitterkeit nehmen kann. Sie kann die Verzweiflung nicht stillen, die Hungrigen nicht nähren und die Frierenden nicht kleiden (Kippenberg, 237). Gegen Ende seines Lebens nötigte der „Rohstoff" des Leidens Rilke gegenüber Erika Mitterer die Klage ab, daß sein Herzraum nicht fähig sei, seine Qual aufzunehmen, und daß seine geistigen Maße untauglich seien, ihn zu ermessen. „Ich, der ich ausging, beide [Leben und Tod] zu bejahen,/ erschrecke vor dem Kampf, der Krankheit heißt" (Br. Mitterer, 54). Doch welches echte Maß an Tröstung Rilke in seiner eigenen Welt auch gefunden haben mag, für den gewöhnlichen Sterblichen, der sich mit den Forderungen des Tages auseinandersetzen, der „durch seine Küche in die Wohnung" gehen muß (IV. El.), kann seine Stimme in der Wüste niemals den gleichen gültigen Klang haben, wie diejenige Christi in der Bergpredigt ihn hatte. Wenn wir offenen Herzens das Heiligtum Rilkescher Poesie betreten, mögen wir uns vom Duft der Kindheit einhüllen lassen und für eine Weile mit ihm an das Einhorn glauben, dieses „reine Tier, das es nicht gibt", und doch „erhob es leicht sein Haupt" im Herzraum des Menschen. 338
„Sie nährten es mit keinem Korn, nur immer mit der Möglichkeit, es sei. Und die gab solche Stärke an das Tier, daß es aus sich ein Stirnhorn trieb. Ein Horn. Zu einer Jungfrau kam es weiß herbei — und war im Silber-Spiegel und in ihr."
(Son. II, 4)
So muß es wohl der Entscheidung jedes einzelnen überlassen bleiben, welchen Antrieb er aus dem Werke Rilkes gewinnen kann außer der Freude, welche schöne und dem Gedanken zuträgliche Dinge gewähren. Vielleicht können wir uns eines Bildes aus einem der Neuen Gedichte als Gleichnis bedienen und das Gebäude seines Schaffens einer jener Kathedralen vergleichen, wie man sie in den Städten der französischen Provinz sehen kann und wie sein Gedicht sie schildert (NG, 33—34). Still steht sie in dem alten Faltenmantel ihrer Strebepfeiler, inmitten der kleinen Häuser und Buden zu ihren Füßen, wo Männer, Frauen und Kinder in ihrem beständigen Streben nach Glück ihre Bürde von der Wiege bis zum Grabe tragen und wo Lust und Gold gegen Schweiß getauscht wird. So nahe steht ihnen die Kathedrale, daß sie sie kaum bemerken, nur wenn die Buden des Nachts geschlossen sind, horchen sie auf und lauschen empor. Denn auch in den Fundamenten dieses gewaltigen Bauwerks sind die Wehen der Geburt, in ihren aufragenden Steinen ist Kraft und Inspiration, ihre Portale sind von Seufzern erfüllt, und allenthalben ist Liebe wie Wein und Brot. Und in ihren Türmen, denen Entsagung Einhalt gebot, ist der Tod.
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BIBLIOGRAPHIE U N D
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS
Eine sehr gute Bibliographie der veröffentlichten Werke Rilkes sowie der gesamten Rilke-Literatur bis 1951 findet sich bei Walter Ritzer, Rainer Maria Rilke Bibliographie (Wien 1951). In dem folgenden Verzeichnis bezeichnet ein vorangehendes RMR vor dem Titel die Werke Rilkes. Albert-Lasard: Lou Albert-Lasard, Wege mit Rilke. Frankfurt a. M. : S. Fischer, 1952. Angelloz: J. F. Angelloz, Rainer Maria Rilke, L'évolution spirituelle du poète. Paris: Paul Hartmann, 1936. Augustinus, St.: St. Augustinus, Bekenntnisse. Lateinisch-deutsch. Hrsg. von Joseph Bernhart. München: Kösel, 1955. A W I , II: RMR, Ausgewählte Werke. I. Gedichte; II. Prosa und Übertragungen. Hrsg. vom Rilke-Archiv in Weimar in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke und Carl Sieber durch Emst Zinn. Insel-Verlag, 1950. Barney: Natalie Clifford Barney, Aventures de l'esprit. Paris: Emile-Paul Frères, 1929. Bassermann: Dieter Bassermann, Der späte Rilke. München: Leibniz-Verlag, bisher R. Oldenbourg Verlag, 1947. Bellmann: Carl Michael Bellmann, Fredmans Episteln. Aus dem Schwedischen von Felix Niedner. Jena: Eugen Diederichs Verlag. 1909. Belmore: Herbert W. Belmore, Rilke's Craftsmanship. An Analysis of His Poetic Style. Oxford: Blackwell, 1954. Berdyaev: Nicolas Berdyaev, The Russian Idea. London: Geoffrey Bles, The Centenary Press, 1947. Berger: Kurt Berger, Rainer Maria Rilkes frühe Lyrik. Entwicklungsgeschichtliche Analyse der dichterischen Form. Marburg a. d. L.: N. G. Elwert'sche Verlagsbuchhandlung. G. Braun, 1931. BB: RMR, Das Buch der Bilder. Leipzig: Insel, 1935. Br. I, II: RMR, Briefe I, 1897—1914; II, 1914—1926. Wiesbaden: Insel, 1950. Br. 1892—1904: RMR, Briefe aus den Jahren 1892—1904. Leipzig: Insel, 1939. Br. 1902—1906: RMR, Briefe aus den Jahren 1902—1906. Leipzig: Insel, 1930. Br. 1906—1907: RMR, Briefe aus den Jahren 1906—1907. Leipzig: Insel, 1930. Br. 1907—1914: RMR, Briefe aus den Jahren 1907—1914. Leipzig: Insel, 1939. Br. 1914—1921: RMR, Briefe aus den Jahren 1914—1921. Leipzig: Insel, 1938. Br. Benvenuta: RMR, Briefwechsel mit Benvenuta, Hrsg. von Magda von Hattingberg. Eßlingen: Bechtle Verlag, 1954. Br. Dichter: RMR, Briefe an einen jungen Dichter. Leipzig: Insel, 1929. Br. Frau: RMR, Briefe an eine junge Frau. Leipzig: Insel-Bücherei No. 409, 1946. Br. Frühzeit: RMR, Briefe und Tagebücher aus der Frühzeit, 1899—1902. Hrsg. von Ruth Sieber-Rilke und Carl Sieber. Leipzig: Insel, 1933. Br. Kippenberg: Rainer Maria Rilke — Katharina Kippenberg Briefwechsel. Wiesbaden: Insel, 1954. Br. Lou: Rainer Maria Rilke — Lou Andreas-Salomé Briefwechsel. Hrsg. von Ernst Pfeiffer. Zürich: Niehans; Wiesbaden: Insel, 1952. Br. Mitterer: RMR, Briefwechsel in Gedichten mit Erika Mitterer, 1924—1926. Wiesbaden: Insel, 1950. Br. M T T : Rainer Maria Rilke und Marie von Thum und Taxis. Briefwechsel. I, pp. 1—490; II, pp. 492—1034. Zürich: Niehans & Rokitansky; Wiesbaden: Insel, 1951. 341
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des Grafen
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A Biographical
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344
REGISTER
Das Register wurde — von dem der englischen Originalausgabe abweichend — der größeren Übersichtlichkeit wegen dreifach gegliedert. Der erste Teil umfaßt alle vorkommenden Personennamen, soweit sie ermittelt werden konnten, einschließlich mythologischer und solcher aus Dichtungen Rilkes und anderer Autoren. Eng zum Namen gehörige Titel wurden nicht nachgestellt (s. Don Juan, Meister Eckhart usw.) Nichtrilkesche Werke sind unter dem Namen ihres Verfassers zu suchen. Ferner wurden hier u. a. Zeitschriften, Verlage, Kunstwerke und Schriften unbekannten Ursprungs aufgenommen (kursiv). Der zweite Teil enthält alle geographischen Begriffe, soweit sie nicht unmittelbar zum Titel eines Werkes gehören (z. B. „Florenzer Tagebuch"), auch die Namen bekannter Anlagen und Gebäude. In der Regel sind die Nationenbezeichnungen und die dazugehörigen Adjektive unter dem Stichwort des betreffenden Landes zu suchen. So finden sich alle Erwähnungen des „russischen Mönches" aus Rilkes „Stundenbuch" unter dem Stichwort „Rußland". Sprachbezeichnungen (Englisch, Latein usw.) und ihre Adjektive wurden nicht berücksichtigt. Im dritten Teil erscheinen die Titel der Werke Rilkes (kursiv) und die Anfangszeilen der zitierten Gedichte.
345
I. Abelone 42. 174 Admet 233 Aglaja z8(. 174 Ahasver (Ewiger Jude) 136 Albert-Lasard, Lou (Lulu) 61. i74f. 176 Alcoforado, Marianne 168. 178. 201. 292. 328f.
Alexander I. (Zar) 216 Alexis Michailowitsch (Zar) 1 1 5 (Anm.) Altes Testament 83. 160. 2iif. 214. 266. 280
Amélie 29 Andreas, F. C. 8if. 86. 114. 125 Andreas-Salomé, Lou 10 (Anm.). 55. 8off. 84. 86. 8 7 . 90. 96. 98. 99. 1 0 9 . 1 1 3 . 1 1 4 . 116. 119. 1 2 1 . 124Í. 126. 127. 13a. 145. 149. 160. 162. 165. 172t. 174. 182. 184. 20X. 206 ( A n m . ) . 2 1 0 . 2 3 6 . 2 4 2 t . 2 6 8 f . 2 7 3 f . 2 7 9 . 2 8 1 . 286. 2 8 7 . 2 9 i f . 3 o 8 f . 3 1 1 .
315 (Anm.). 325f. 334. 337 Drei Briefe an einen Knaben 334 Angelloz, J. F. 1 1 3 Annuschka 299ft. 305Íf. 313. 318. 331. 335 Apollo 154. 286 Ariel 315. 321 Aristoteles 194 Bach, Johann Sebastian 94 Barney, Natalie Clifford 176 Lettres d'une Amazone 176 Barrett Browning, Elizabeth 137 Sonnets from the Portuguese 137 Bassermann, Dietrich 72 (Anm.) Baudelaire, Charles 193Í. 241 Une Charogne 193 Becker, Paula s. Modersohn-Becker Paula Beethoven, Ludwig van 94 Bellmann, Carl Michael 33a (Anm.) Benois, Alexander 124 Benvenuta 27 (Anm.). 27Í. 30. 42. 67. 94. 1 3 6 . 1 3 8 . 1 3 9 . 1 7 4 . 1 7 5 . 1 9 8 . 207 (Anm.). 208. 209f. 291 (Anm.). 292Íf. 307. 324^ 330
Berdjajew, Nikolas 1 3 1 Bibel 212. 223. 281 Blumenthal-Weiß, Ilse 138 346
Boas 146 Bohusch 28f. Bonz (Verleger) 36 Bonnet, Jacques Bénigne 177 L'Amour de Madeleine lyóff. Boris s. Gljeb Botticelli, Sandro 88. 89. 90. 98. 1 3 1 Geburt der Venus 90 Brigge, Christoph Detlev 229. 247 Brigge, Malte Laurids 4. 14. 24. 35. 40. 73. 109. i 8 7 f . I 9 3 f . 2 1 7 . 246f. 275. 281. 312. 318. 332f.
Brigge, Margarete 247 Brentano, Bettina 178. 330 Brutzer, Sophie 120 Bülow, Frieda von 80. 88. 1 1 3 . 116 Cabaret-Dupaty, M. 233 (Anm.) Calé, Walter 245 (Anm.) Carossa, Hans 1 5 1 Carracci, Agostino 88 Carracci, Annibale 88 Carracci, Lodovico 88 Cassirer, Eva 73. 329 Castagnetta, Grâce 331 (Anm.) Cato 19 Cervantes, Saavreda Miguel de 285 Don Quijote 285 Cézanne, Paul 9 4 . 1 3 1 . 1 5 7 . 192.193. 274. 282f. 288
Chaadajew, P. Jaklowewitsch 1 3 1 Chamilly, Noël Bouton de 328 Charles le Téméraire (Karl der Kühne) 193 Christian IV. (König) 247 Christus 58ff. 9 7 . 1 2 0 . 1 3 6 . 1 4 0 . 1 6 6 . i 7 ó f . 192. 200f. 206 (Anm.). 2 1 1 . 2 1 5 . 217(. 232. 320. 3 3 1 . 3 3 8
Dalibor 39 David-Rhonfeld, Valéry 16 (Anm.). 20. 24. 25ÎÏ. 30. 3 1 . 42. 4 7 . 1 7 4 . 2 4 2
Dehmel, Richard 197 Delp, Ellen 337 Deubel, Léon 290 Dionysos 154. 206 (Anm.). 249 Don Juan ìógff. 260 Dostojewskij, Fjodor M. 8 7 . 1 1 3 . 1 1 7 . 1 1 9 . 217
Dostojewskij, Ljubow (Aimée) 1 1 5 . 1 1 g . 130 Droschin, Spiridon Dimitrij 1 1 7 . 1 2 4 Dürer, Albrecht 3 3 1 Apokalypse 3 3 1 El Greco (Domenico Theotocopuli) 93. 27g. 287. zgo Kreuzigung 93 Mariae Himmelfahrt 287 Toledo im Gewitter 279 Emerson, Ralph Waldo 283 Considérations by the Way 283 Eurydike 232t. 24g. 260 Evangelista 19 Fabre d'Olivet, Antoine 278 Faust 19 Flaubert, Gustave 193 Fra Angelico 88. 1 1 5 . 3 i 3 f . Das Jüngste Gericht 3i3f. Fra Bartolomeo 88 Frantischka 28f. Freud, Sigmund 82. 326 Fry, Christopher 63 Venus im Licht 64 Gabriele s. Kutschera-Woborsky Ganghofer, Ludwig 52 Gay, Nicholas 120 Was ist Wahrheit? 120 George, Stefan 35 Gide, André 1 5 6 . 1 6 0 Gillot, Henrik 81 Giorgione 88 Gita 230 Gljeb und Boris 1 3 2 Goethe, Johann Wolfgang von 19. 330 Dichtung und Wahrheit 3 Wahlverwandtschaften 2 1 Wilhelm Meister 2 1 Gogol, Nikolaj Wassiljewitsch 1 1 7 Graf C. W. 29.188. 331 Guérin, Maurice de 205 Le Centaure 205 Hattingberg, Magda Graedener von s. Benvenuta Hauptmann, Carl 93. 120. 319 Heidegger, Martin 203. 251 Helene 33. logf.
Heller, Hugo 53 Héloïse 173. 260 Heygrodt, Robert Heinz 32 Hofmannsthal, Hugo v. 32. 223 (Motto) Hokusai 193 Homer 283 Hulewicz, Withold von 37. 38. 336 Iberische Madonna 1 1 5 (Anm.) Innozenz III. (Papst) 140 Insel-Verlag 146. 150. 187 Israels, Joseph 279 Italienische Renaissance 50. 74. 87ff. 1 1 6 . 1 3 1 . 138. 166. 198 Iwan der Schreckliche (Zar) 1 3 3 Iwanow, Alexander Andrejowitsch 1 1 7 . 134 Verkündigung 134 Jacobsen, Jens Peter 53. 80. 94. 231 Jaloux, Edmond 1 . 1 8 2 . 285 Johannes (Evangelist) 3 3 1 Apokalypse 33a Johannes der Täufer 90 Jouanne, Rudolf von 27 (Anm.) Judas 178 Junges Deutschland 192 Kalckreuth, Wolf Graf von 236. 24iff. 253 Kara Mustafa 203 Karl der Kühne (Herzog) s. Charles le Téméraire Kaßner, Rudolf 1 . 2. 10. 26. 81. 178. 185. ig4. ig7. 198. 2o6ff. 2ioff. 2x4. 2i6f. 231. 234. (Anm.). 274. 27g. 301. 307f. 315 (Anm.). 318. 325 Der Aussätzige 216 Elemente menschlicher Größe 206. 274 Melancholia 301 „Sätze des Yoghi" 206 (Anm.) Zahl und Gesicht 207 (Anm.) Keller, Alwine von 73 Key, Ellen 3 1 . 1 1 3 . 326 Keyserling, Hermann 215. 217 Kierkegaard, Soren i7off. 214 Tagebuch eines Verführers (in: Entweder—Oder) ijz f. Kiewskij Paterik 132. 277 Kippenberg, Anton 187. 279 Kippenberg, Katharina 187. 20g (Anm.). 2 37- 255- 25 8 - 338
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Kleist, Heinrich von 3 1 5 (Anm.) Über das Marionettentheater 315 (Anm.) Klossowska, Elisabeth Dorothée (Baiadine) s. Merline Klossowski, Baltusz 72 (Anm.) Klossowski, Erich 72 (Anm.) Klossowski, Pierre 72 (Anm.) Knoop, Wera Ouckama 249 Kobzar 1 5 1 Kopernikus 1 9 Kramskoy, Iwan Nikolajewitsch 1 1 7 . 1 2 0 Christus in der Wüste 1 2 0 Die Verhöhnung Christi durch Herodias 1 2 0 Kusmitsch, Feodor 216 Kusmitsch, Nikolaj 215t. 227 Kutschera-Woborsky, Gabriele von 22f. 308 Larsson, Hans 57 Leni 1 8 2 Lermontow, Michail Jurewitsch 1 1 7 Liliencron, Detlev von 35. 1 9 7 Linos 277 Lionardo da Vinci 1 9 5 Li-Tai-Pe 1 9 3 Loon, Hendrik van 3 3 1 (Anm.) The Last of the Troubadours 3 3 1 (Anm.) Lüdeke, Henry 244 Luzifer 1 7 2 . 268 Madame Lamort 229 Madonna Lisa 104. 1 3 5 . 2 5 1 . 275 Maeterlinck, Maurice 65. 77. 95. 3 1 3 . 3 1 4 Pelléas und Mélisande 95 Maler-Buch vom Berge Athos 1 3 2 . 277 Mallarmé, Stéphane 186 Malte s. Brigge, Malte Laurids Marcel, Gabriel 280 (Anm.) Maria (Madonna, Muttergottes etc.) 1 1 . 7 1 . 88f. 98. 1 3 2 . 1 3 4 . 1 3 8 . 164. 1 6 7 . 1 9 3 . 224. 277f. 287. 320. 335 Maria Magdalena 59. 1 7 6 f f . Maritain, Jacques 3 1 5 Marthe 1 7 4 . 291 Mazeppa 160 Mead, Margaret 85 Mann und Weib 85
348
Mechthild von Magdeburg 200 Meister Eckhart 200 Merline 72f. 1 6 1 . 165. i 7 3 f . I76ff. 1 8 3 . 185. 233 (Anm.). 295. 3 3 1 Meysenburg, Malvida von 81 Michelangelo (Buonaroti) 88. 204. Michelet, Jules 238 L'Amour 238 (Anm.) Mitterer, Erika 174. 176. 338 Modersohn, Otto 54. 23óff. 240. 243. 271. 310 Modersohn, Paula s. Modersohn-Becker Modersohn-Becker, Paula 5 1 . 53Íf. 104. 106. 126. 1 7 4 . 1 7 5 . 23öff. 2 4 i f f . 270f. 309L 322 Mohammed 60 Moses 281 Mövius, Ruth 1 4 5 L 149. 165. 169 Mozart, W o l f g a n g Amadeus 1 7 2 Don Giovanni 1 7 2 Murillo, Bartolome Esteban 33 M u s t a f a s. K a r a M u s t a f a Naemi 1 4 7 Narziß 233 (Anm.) Neptun 276 Neue Rundschau (Zs.) 206 (Anm.) Neues Testament 140. 2 1 1 . 237 Nietzsche, Friedrich 55. 57. 61. 63. 8 i f . 90. 184. 203 Nikolaus I. (Zar) 8 1 Noailles, A n n a Elisabeth Comtesse de i5óf. Oestéren, Láska Baronin von 3 1 Olga 30. 67. 1 7 4 Olsen, Regine
170Í.
Orlik, Emil 39 Orpheus 109. 2 1 3 . 2 2 i f f . 233. 245. 249. 253. 256. 257Í. 260. 266f. 273. 275f. 280. 286. 289. 294f. 300. 3 2 1 . 330. 333ff. 337 Ovid 72 (Anm.). 233 (Anm.) Metamorphosen 72 (Anm.). 233 (Anm.) Pan (Zs.) 65 (Anm.) Paracelsus 33 Paul I. (Zar) 2 1 6 Peter der Große (Zar) 81. 1 3 1 . 1 3 6
Pilatus 120 Plato 19. 200 Pongs, Hermann 63. 277 (Anm.) Pritzel, Lotte 323 Prometheus 267 Prospero 315. 32if. Proust, Marcel 1 . 182 Psalter 212 Psalm 50 212 Psalm 5 1 212 Puschkin, Alexander 1 1 7 Boris Godunow 1 1 7 Poltawa 1 1 7 Raffael (Raffaello Santi) 88 Raphael 266 Rèe, Paul 8if. Repin, Ilja 1 1 7 Rhonfeld, Valéry s. David-Rhonfeld Ribadaneira, Pedro A. 198 Rilke, Clara 1 1 (Anm.). 20. 54ff. 64. 73. 84. 1 1 9 . I26f. 145. 164. 174. 175. 182. 193. 228. 236. 238. 243. 246. 269. 271. 272. 291. 30 9 f. 335 Rilke, Egon 312 Rilke, Ismene 9 Rilke, Jaroslav 22f. Rilke, Josef 9. 12. i6f. 20. 22ff. 34. 140 306. 308. 312. 330. 335. Rilke, Phia 9 ff. 15. 16. 1 7 . 19. 20. 22ff. 26. 58. 78. 86. 1 1 3 . 124. 135. 139. 251. 306. 326. 335 Rilke, Ruth 127. 243. 246. 307. 335 Robbia, Andrea della 88 Robbia, Luca della 88 Robespierre, Maximilien de 19 Rodin, Auguste 29. 80. 94. 109. 126. 127. 1 3 1 . 1 3 3 . 145. 153. 157 (Anm.). 159. ió3f. 182. 192. 193. 210. 212. 233. 236. 24óf. 269. 274F. 279ff. 288. 314. 317. 319. Mann mit der gebrochenen Nase 164 Orpheus 233 Rolland, Romain 182 Romanelli, Mimi 174. 175. 177 Rosegger, Peter 20 Ruth (Moabiterin) i46f. Saint-Hubert, Madame 1 Saint-Julien-l'Hospitalier 193 Salis, J. R. von 182
Saul (König) 193 Schill, Sofia Nikdajewna 1 1 6 . 1 1 8 Schlegel, August Wilhelm 321 Schneditz, Wolfgang 156 Scholz, Wilhelm von 57. 74. 75 (Anm.). 335
Hohenklingen 74 Schopenhauer, Arthur 39. 57 Schwarzenberg (Fürst) 28 Scipio 19 Sedlakowitz, von (General) 49. 129 Seuse, Heinrich s. Suso Shakespeare, William 315. 321Ì. Der Sturm 315. 321?. Shelley, Percy Bysshe 315 Sicco 230 Sieber, Carl 6. 13. 14. 15. 17. 25. 34. 35 Sieber-Rilke, Ruth s. Rilke, Ruth Simson 286 Sizzo, Gräfin 164. 197. 277 Sokrates 19. 206 (Anm.). 215 Stampa, Gaspara 178. 272 St. Angela von Foligno 281 Stauffenberg, W. v. 85 St. Augustinus 198. 251 Confessiones (= Bekenntnisse) 198. 251 St. Bonaventura 1 8 1 St. Franziskus von Assisi 107. 140. 1 5 1 . 1 8 1 . 198. 200. 202. 209. 233 St. Olga 122 St. Paulus 3 3 1 (Anm.) St. Sebastian 198 St. Therese von Avila 198 St. Thomas à Kempis 212 Nachfolge Christi 212 Suso 200 Sycorax 315 Thum und Taxis, Fürstin Marie von 57. 60. 8of. 156. 172. 175. 18a. 184. 276. 279. 287. 292 Tintoretto 277 Tizian 277 Tobias 252. 266 Tolstoj, Leo 20. 87. 1 1 3 . 1 1 4 . 1 1 7 . 1 2 1 . 136. 216. 234 Auferstehung 1 1 7 Torricelli 19 Trakl, Georg 32. 156 349
Tschechow, Anton Pawlowitsch 1 1 7 Onkel Wanja 1 1 7 Tschaika (= Die Möwe) i%y Turgenjew, Iwan Sergejewitsch 75 (Anmerk.). 87. 1 1 3 . 1 1 7 Ulmann, Regina 307 Upanischad 2 1 1 Valéry, Paul 100. 1 8 1 . 274 Vally s. David-Rhonfeld, Valéry Venus 90. 163. 249 Verhaeren, Émile 195. 329 Verlaine, Paul 193t. 241 Mon Testament 194 Verlorener Sohn 24. 30. 237. 309 Ver Sacrum (Zs.) 195 Villon, François 193 Vogeler, Heinrich 126. 145. 243. 277 (Anm.) Wagner, Richard 81 Wallworth, Count Jenison 26 Wassermann, Jakob 75. 87. 1 1 3 Der Moloch 75 Werfel, Franz 1 5 1 Westhoff, Clara s. Rilke, Clara Wydenbruck, Nora 55 Zeyer, Julius 47. 87 Zinn, Ernst 277 (Anm.) Zuloaga, Ignacio 279
II. Abramzewo 1 2 1 Ägypten 93. 2o8f. 214. 254. 258f. Amerika 37. 60 Araber 138 Arco 87. i09f. Asien 214. 215 Assisi 209. 291 (Anm.) Athen 259 Athos, Berg 1 1 5 (Anm). 1 3 2 Attika 254 Avignon 81 350
Basel 244 Bayern 175 Berg am Irchel, Schloß 29. 173. i82f. 188. 33if. Berlin (s. auch Schmargendorf) 65. 81. 87. 96. 126. 145. 175. 209. 291 (Anm.). 292. 294 (Anm.). 305. 308 Bethlehem 77 Bibersberg 80. 116. 1 2 1 Bodensee 74. 78 Böhmen 301 Bozen 78 Bremen 33. 54. 127 Byzanz 1 3 1 Capri 29. 55. 243. 320 Chartres 284 Cordoba 60 Deutschland 1 1 3 . 1 1 7 . 129. 209. 269. 279. 291. 332 (Anm.) Dresden 291 (Anm.) Duino, Schloß 29. 62. 108. 152. 1 6 1 . 163. 182. 209. 2720. 279. 284. 291 (Anm.). 333 Europa 74. 214 Finnland 124 Flaach 182 Flandern 3i3ff. Florenz 87. 88. 89. 93. 96. 1 1 5 . 1 1 7 . 126. 1 3 1 . 168. 294 (Anm.). 305 Frankreich 81. 1 1 7 . 269. 339 Furnes 313. 320 Gardasee 78. i09f. Genf 72. 1 7 3 Göttingen 81. 291 (Anm.) Griechenland 214. 254. 276 Heiligendamm 291 (Anm.) Hradschin 38 Indien 215 Italien 35 (Anm.). 76. 87ff. 96. 98. 1 1 0 . 1x5. 1 1 7 . 126. 130. 1 3 1 . 146. 281 Janitscharen 203 Jardin des Plantes 246 Jardin du Luxembourg 156. 246
Jaroslawl 1 2 3 Jasnaja Poljana 1 2 1 Juden 120. 1 3 8 . 140 Kairo 208 Karnak 208. 209 (Anm.). 254 Karst 63. 337 Kasan 168 Kaukasus 1 2 2 Kiew 1 1 6 . 1 2 1 . 1 2 2 . 1 3 2 . 1 3 6 . 168 Kreml 1 1 3 . 1 2 1 Leipzig 209 (Anm.). 291 (Anm.) Ligurisches Meer 89. 96. 168 Linz 20. 87. 1 1 3 . 305. 335 Louvre 1 5 4 . 246 Luxembourg s. Jardin du L. Luxor 208 Mährisch-Weißkirchen 1 7 . 20 Mailand 291 (Anm.). 3 2 1 Meiningen 80. 1 1 6 Moskau 89. 1 1 3 . 1 1 4 . 1 1 5 . 1 2 1 . 124. 1 3 1 . 1 3 2 . 1 3 3 . 1 3 4 . 136. 168. 169. 280. 305 München 33. 55. 65t. 7 1 . 74. 75 (Anm.). 76. 78. 81. 85. 87. 88. 1 1 3 . 174. 207 (Anm.). 287f. 291 (Anm.). 305. 307. 323. 3 3 1 (Anm.). 335. 337 Muzot 20. 6z. 73. 165. 176. 1 8 1 . 183. 188. 209 (Anm.). 248. 277. 280. 285. 333 Neapel 185. 247 Nischnij-Nowgorod 1 2 3 Notre Dame 246 Nowgorod-Pskow 1 1 6 Oberneuland 1 2 7 . 243 ölberg 2 1 1 Orient 2 1 7 Österreich 43. 209. 299. 337 Ostsee 291 (Anm.) Paris 35 (Anm.). 38. 47. 53. 62. 72 (Anm.). 109. 1 1 9 . 1 2 7 . 128. 130. 140. 144. 1 4 5 . 147. 1 5 3 . 156. 164. 169. 174. 176. 182. 206. 208. 209. 2x0. 217. 233 (Anm.). 236. 243. 264^. 269. 277 (Anm.). 279. 2 8 2 ® . 287. 2 9 i f f . 3 1 5 . 323. 325. 3 3 i f . 334
Peterskij-Kloster 122. 1 3 6 Pisa 168 Polen 120. 336 Poltawa 1 2 2 Portugal 168. 292. 328 Prag 5. 9. 1 2 . 20. 23L 25. 28. 3 1 . 35. 38. 39. 43. 44. 5 1 . 65. 7 1 . 87. 96. 1 1 3 . 1 3 9 . 185. 242. 305. 308. 335 Provence 164. 280 Rhónetal 164 Riesengebirge 291 (Anm.). 325 Rippoldsau, Bad 291 (Anm.) Rom 1 0 (Anm.). 5 1 . 81. 1 1 6 . 1 3 a . 168. 294 Ronda 60. 160. 199. 280. 285. 287 Rouen 291 Rumjantsow-Museum 1 3 4 Rußland 49. 76. 81. 86. 87. 89. 109. 1 - 1 3 ® . H 9 Í f . 124ft. 127t- 129ft. 1 3 4 - ! 3 5 f 1 3 7 Í . 143. 1 4 5 . 146. 149. 1 6 3 . 169. 1 8 1 . 189. 198. 215ft. 2 4 2 - 2 5 8 - z 6 8 - 279ft291. 306 San Vicente 287 Saratow 1 2 1 . 1 2 2 Schmargendorf, Berlin- 105. 109. 1 1 5 . 1 2 1 . 1 2 5 . 145. 160. 165. 287 Schwarzwald 291 (Anm.) Schweden 35 (Anm.). 65 (Anm.). 1 1 6 . 1 5 0 Schweiz 72 (Anm.). 85 (Anm.). 1 1 9 . 182. 209. 249 Schweizer Alpen 50 Sergej-Troitzkij-Kloster 1 2 1 Sibirien 1 2 2 Skandinavien 1 7 1 Smichov 38 Soglio 244 Spanien 60. 93. 108. 160. 199. 201. 258. 279ft. 287ft. 299. 307. 3 2 1 . 325. 334 St.-Basilius-Kathedrale 1 3 3 St. Petersburg 81. 1 1 3 . 1 1 5 . 124. 125. 126. 127. 215 St. Pölten 1 7 . 20. 49. 75. 129. 136. 1 3 9 . 184. 286. 305ft. 319. 335 Tajo 279 Toledo 234. 279f. 284?. 287 Toskana 89. 90. 96. 1 1 5 . 238. 269 Tretjakow-Galerie 1 2 1 351
Troitzka Lawra
168
Bei den Ursulinen
Tschechoslowakei 4 j f . 47. 1 1 5
Briefe
Tula 121
Buddha
40
an einen jungen
Dichter
192. 194
in der Glorie 258
T w e r 124 Carnet de Poche 3o8f. Ukraine 122
Christus.
Umbrien 115
Cornet
V a l m o n t 127. 176. 183 V e n e d i g 78. 87. 1 3 1 . 168. 175. 209. 291 (Anm.) V i a r e g g i o 87. 107. 1 1 4 . 126. 145. 160. 163. 182. 225. 269
D a neigt sich die Stunde . . . 147
V i l l a d'Este 259 W a l l i s 164. 165 W e i m a r 291 (Anm.) W e s t e r w e d e 145. 277 (Anm.) W i e n 20. 22. 27 (Anm.) W o l f r a t s h a u s e n 87. 90. 125 W o l g a 1 2 1 . i 2 2 f . 129. 168 W o r p s w e d e 93. 94. 109. 1 2 1 . i 2 ó f . 1 3 1 . 145. 147. 153. 163. 230. 236. 243. 246. 282. 319 Z a w i d o w o 124 Z o p p o t 87. 1 1 4 . 126 Zürich 85 ( A n m ) . 291 (Anm.)
III. Abelones Abendmahl
Lied 42. 1 7 8 59
75. 77®. 306 I: Gaben an verschiedene Freunde 78 T e i l II: Fahrten 78 Teil III: Funde 78 Teil I V : Mütter 79 Alkestis 233 Allerseelen 19 Als ich die Universität bezog 42 Am Abend 32 An den Engel 287 Archaischer Torso Apollos Auguste Rodin 127. 176. 283. 305 Aus dem Leben eines Heiligen igS(. Aus dem Nachlaß des Grafen C. W. 29. 188. 208. 331
Advent Teil
352
Elf Visionen
57. 59
s. Die Weise von Liebe und Tod ...
D a r a u s , daß Einer dich einmal gewollt hat . . . 147 Das arme Kind 40 Das Buch der Bilder 35. 38. 62. 105. 1 1 7 . 1 5 1 . 184. 201. 228. 2Ó5f. Das Buch vom mönchischen Leben (Stundenbuch, 1. Teil) 89. 125. 132. 139. i 4 3 f f . 147. 149. i 5 o f . 159. 1 6 5 . 1 6 6 . 1 6 9 . 26y(. 301. 3o8f. 3 1 1 Das Buch von der Armut und vom Tode (Stundenbuch, 3. Teil) 107. 143. 145. 149. i 5 o f . i 5 3 f . i 5 9 f . 167. 169. 182. 226. 229. 248. 269. 334 Das Buch von der Pilgerschaft (Stundenbuch, 2. Teil) 122. 125. 143. 145. I49ff. 159. 160. 166. 212. 268 Das Grabmal 19 Das Jüngste Gericht 59. 232 Das Lied von der Gerechtigkeit 120 (s. auch: Die Geschichten vom lieben Gott) Das Märchen von der Wolke 47 Das Marienleben 277 D a ß ich deiner dächte . . . 30 D a ß ich dereinst, an dem A u s g a n g . . . 276. 334 Das Stundenbuch. 32. 49f. 62. 89. 99. 100. 101. 105. 107. 122. 124. 125. 130. 134. 137. 139. i 4 3 f f . i 4 9 f f . 153. i 5 4 f . 159. 1638. 181. 192. 201. 204. 209. 213. 228. 230. 240. 251. 266. 268. 280. 288. 309f. 312. 320 1. T e i l : s. Das Buch vom Leben
mönchischen
2. Teil: s. Das schaft
Buch von
der
Pilger-
3. T e i l : s. Das Buch von und vom Tode 4. T e i l : 150. 153. 1 5 9
der
Armut
Das tägliche Leben
65
D e n K ö n i g e n sei G r a u s a m k e i t . . . 62 D e n n dieses Leiden dauert schon z u l a n g . . . 53
Der Apostel Der
5 5 ® . 57. 58. 3 1 1
Auferstandene
176
Der Bau
37
Der Brief
des jungen
Der Friedhof
Arbeiters
60. 329
19
Der Geist
Ariel
Der junge
Bildner
Der Magier
321 f . 51
1 0 5 . i 9 5 f . 203
Der Ölbaum-Garten Der Panther
60. 1 2 0 . 1 9 3
155
Die Auferweckung des Lazarus 2 3 2 Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge 1 4 . 29. 32. 37. 42. 62. 84. 1 0 7 . 1 x 7 . 1 5 3 t . 1 5 9 . 1 6 9 . 1 7 8 . 1 8 4 . 2 0 1 . 208. 209. 2 i 5 f f . 226. 228. 229. 2 3 7 . 24Óff. 2 5 1 . 269. 288. 307. 3 1 2 . 3 3 3 Die Blinde
65
Erste Elegie 102. 1 5 5 . 1 6 1 . 182. 199. 209. 2 7 3 . 277. 284 Zweite Elegie 1 5 5 . 1 8 2 . 1 8 5 . 209. 2 7 3 . 275 f. Dritte Elegie 84. 1 0 8 . 276. 284 Vierte Elegie 26. 29. 2 1 6 . 224. 288. 299. 3 1 1 . 3 1 2 . 3 1 7 . 3 2 1 . 326. 329. 3 3 1 Á . Fünfte Elegie 14t. 1 5 7 (Anm.) Sechste Elegie 48. 49. 274. 2 8 5 f . 290 Siebente Elegie 254t. 267. 3 3 3 f . Achte Elegie 1 5 . 2 1 9 . 3 3 4 Neunte Elegie 2 5 5 L 290. 3 3 4 Zehnte Elegie 1 5 7 (Anm.). 1 6 4 . 234f. 256. 276. 3 3 4 Ein C h a r a k t e r 52f. 57 Eine alte Geschichte
23
Eines ist, die Geliebte zu singen . . . 276 Eine
Tote 39
Die Geschichten vom lieben Gott 27 (Anm.). 1 2 0 . 1 2 1 . 1 4 3 . 1 5 1 . 1 5 9 . 1 6 9 . 199. 301. 309^ 3 1 2 Die große Lust hat auch nach dir V e r langen . . . 1 7 2 Die Liebe der Magdalena (Übers.) iy6ii. Die Mutter 40
Einiges über Puppen jooL 3 1 3 . 3 1 5 (Anm.). 323ÍÍ. Elegien s. Duineser Elegien Engellieder 58. g6ff. Er ging noch als ein Kind von Hause
Die Sonette an Orpheus 30. 32. 3 3 . 49. 60. 63. 7 3 . 93. 1 0 3 . 1 2 8 . 1 4 5 . 1 4 7 . 1 5 0 . 1 5 6 . 1 5 9 . 1 6 1 . 1 6 9 . 1 9 3 . 2 1 3 2 1 8 . 225. 2 3 3 . 2 4 7 f f . 253. 255. 2 5 7 f f . 277. 280. 2 8 5 f . 290. 329Ì. 3 3 3 . 3 3 7 Die Spanische Trilogie 287 Die Stimme eines Armen 258 Die Versuchung 192 Die Waise 1 9
Ernster Engel aus Ebenholz . . . 58. 1 3 6
Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke 1 5 9 L Die weiße Fürstin 65. 2 2 5 f . Dir zur Feier 1 2 4 Don Juans Auswahl 173 D u bist nicht näher an G o t t als wir . . . 134 D u darfst nicht warten, bis Gott zu dir geht . . . 1 0 0 D u , der ichs nicht sage, daß in der Nacht . . . 42 Duineser Elegien 26. 30. 32. 37. 38. 62. 7 3 . 84. 1 4 7 . 1 5 0 . 1 5 2 . 1 5 5 . 1 5 6 . 1 5 9 . 1 6 1 . 1 6 9 . 1 8 1 . 1 8 2 . 1 8 4 . 1 8 5 . 1 9 2 . 2 0 1 . 209. 2 2 i f f . 246. 248ff. 2 5 3 . 2 5 5 Ì . 260. 2 6 5 0 . 272ÌÌ. 2 7 9 f f . 287. 290. 294. 299. 3 1 1 . 3
29ff.
23 Graff, Rilke
fort . . . 70 Erinnerung
an Verhaeren
329
Errichtet keinen D e n k s t e i n . . . 2 3 3 Er ruft es an. Es schrickt zusamm . . . 105. 196 Erste Gedichte 36 Er vermochte niemals bis zuletzt . . . 1 7 7 Es sei, so wähnen edle Menschenkenner . . . 52 Ewald Tragy 1 4 . 24. 55. 57-74-75 (Anm.). 1 6 9 . 1 7 0 . 305Í. 3 0 9 ^ Fahrten
s.
Advent
Feigenbaum, seit wie lange schon . . . 48 Flammen
55
Florenzer Tagebuch 8yft. 92. 93. 1 2 5 . 1 9 1 . 1 9 6 . 199- 203. 224. 230Í. 238. 267. 3 1 0 Frau Blahas Magd j o i f f . 305ff. Frühe Gedichte 65 (Anm.) Frühlingsankunft 32 Frühlingsstürme 32 Funde s. Advent Fünf Gesänge 326 Gaben vent
an verschiedene
Freunde
s.
Ad-
353
Gebete der Mädchen zur Maria Gedichte an die Nacht 291 Geschichte des Dreißigjährigen 20. 22
98 Krieges
Heute will ich dir zu Liebe . . . 293 Hinter den schuld-losen Bäumen . . . 292 Hinter Smichov 40 Hinter Stäben, wie Tiere . . . 315^ Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort . . . xoo Ich lebe grad, da das Jahrhundert geht . . . 161 Ich verrinne, ich verrinne . . . 1 0 1 Imaginärer Lebenslauf 320 In der Vorstadt 40 In Dubiis 44 Ist Schmerz, sobald an eine neue Schicht . . . 292 Jetzt und in der Stunde bens 33 Klage 295 Klage über Trauer Königslied 66 Kreuzigung 59
unseres
Abster-
13
Lange errang ers im Anschaun . . . 156 Larenopfer 35. 36. 37. 38. 39. 40. 41. 44. 47- 5 1 Laß dir, daß Kindheit war . . . 332 Leben und Lieder 3 1 . 32. 33 Lenznacht 32 Les Fenetres 72 (Anm.) Lieben 66 Lieber im Freien verrecken . . . 55 Lieder der Mädchen 98 Lösch mir die Augen aus . . . 1 2 5 Mach Einen herrlich, Herr . . . 167 Mädchengestalten 98 Mariae Verkündigung 278 Marionetten-Theater 3i3ff. Mein Geburtshaus 41 Mir zur Feier g6f(. 99 Morgentau 32
354
Murillo 33 Musik 93 Mütter s. Advent Nachtbilder 32 Nacht, stille Nacht, in die verwoben sind . . . 106 Neue Gedichte (u. Der neuen Gedichte anderer Teil) 32. 38. 1 5 3 ® . 156. 1 5 7 (Anm.). 159. 164. 169. 188. 198. 201. 202. 207 (Anm.). 209.226.247.258. 269. 286. 288f. 291. 307. 3 1 2 . 314. 3 i 9 f . 339 Ode an Bellmann 3 3 1 Orpheus. Euridyke. Hermes.
233
Perlen entrollen. Weh, riß eine der Schnüre? . . . 292 Pierre Dumont 18. 169 Pietä 176 Portugiesische
Sonette
(Übers.) 1 3 7
Rabbi Low 39. 59 Requiem auf den Tod eines Knaben 3 3 1 Requiem für eine Freundin 228 Requiem für Paula Modersohn - Becker 5 1 . 53. 79. 1 7 1 . 236ff. 242. 244. 270. 272. 330 Requiem für Wolf Graf von Kalckreuth 1 7 1 . 236. 2 4 i f f . 283 Resignation 19 Rodin s. Auguste Rodin Schlußstück 229 Schöne Aglaja, Freundin meiner Gefühle . . . 29 Spanisches Tagebuch 201 Späte Gedichte 207 (Anm.) Sphinx 40 Tod 234 Todes-Erfahrung 320 Träume 39 Träumen 66 Traumgekrönt 30. 35. 36. 44. 66f. 74. 79. 306 Trotzdem 39 Uber den jungen Dichter 203 Über Kunst 194 Und der Engel trat ihn an . . . 1 7 3
Und du erbst das Grün . . . 168 Und meine Seele ist ein Weib vor dir . . . 147 Vergers 1 9 2 Verkündigung — Die Worte des Engels 134 Vielleicht, daß ich durch schwere Berge gehe . . . 26g Vigilien 38 Waldteich 207 (Anm.) Wann wird, wann wird . . . 333 Was wird aus stolzer Demut? . . . 1 3 7 Wegwarten 33 Wem willst du klagen, Herz? . . . 295
23»
Wendung I 5 5 f . 207 (Anm.). 210. 219. 325 Wenn es nur einmal so ganz stille wäre . . . 147 Wer jetzt geht irgendwo in der Welt . . . 103 Wie alte Königshäuser viel verwandt sind . . . 1 0 3 Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt . . . 1 5 5 Wo bin ich, wo? . . . 1 0 2 Worpsweder Tagebuch 109. 120. 175. 186. 236 Zwei Prager Geschichten 2. 28. 47. 1 1 4 1 . König Bohusch z8(. 47 2. Die Geschwister 39 (Anm.). 47
355