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German Pages [175] Year 2019
Palaestra Untersuchungen zur europäischen Literatur
Band 348
Begründet von Erich Schmidt und Alois Brandl Herausgegeben von Bernd Auerochs, Heinrich Detering und Maria Moog-Grünewald
Editorial Board: Irene Albers, Elisabeth Galvan, Julika Griem, Achim Hölter, Karin Hoff, Frank Kelleter, Katrin Kohl, Paul Michael Lützeler, Per Øhrgaard
Thomas Martinec (Hg.)
Rilkes Musikalität
V& R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. Gedruckt mit freundlicher Unterstþtzung der Fritz Thyssen Stiftung. 2019, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage j www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 0303-4607 ISBN 978-3-7370-1032-0
Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rüdiger Görner Im Klang der Verwandlung. Rilkes Fragen nach dem Wesen der Musik
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Jacob-Ivan Eidt »Cave musicam« oder die Problematisierung der Musik im 19. Jahrhundert am Beispiel von Goethe, Nietzsche und Rilke . . . . . . .
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Thomas Martinec »Wirklich, ich behalte keine Melodie«. Musikalische Unfähigkeit als produktiver Impuls in Rilkes Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Antonia Egel Rilke hört Musik und schreibt. Zur Genese der Neuen Gedichte . . . . . .
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Robert Vilain »Herr der Heerschaaren«. Rilke und Beethoven
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Lothar van Laak Rauschen, Klang und Stille. Zur Musikalität von Literatur am Beispiel von Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge . . . . . . . . . . . 103 Winfried Eckel Landschaft als Klangraum. Zum Soundscape des Wallis in Rilkes später Lyrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Charlie Louth Zu Rilkes Gong-Gedichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
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Inhalt
Eva-Tabea Meineke »Brückenbogen strahlender Rettung«. Musikalität und Gesang in der surrealistischen Rilke-Rezeption (Alberto Savinio und Louis Aragon) . . 155 Personenregister
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Einleitung
Rilkes Auseinandersetzung mit der Musik in seinen Werken, poetologischen Schriften, Briefen und Tagebüchern ist durch eine unübersehbare Ambivalenz charakterisiert. Einerseits findet Rilke in der Musik eine Art letzte Instanz und göttliche Kraft, ein Sinn gebendes Gesetz und eine Zusammenhang stiftende Ordnung, die er auf vielfältige Weise in seinen Gedichten aufgreift und für wichtige poetologische Vorstellungen fruchtbar macht. So erscheinen etwa das »Tönen« der Seele als Ursprung der Kunst,1 die »Melodie des Hintergrundes« als spürbare Ordnung auf der Bühne,2 die Musik als »[f]reie bewegte Kraft, Überfluß Gottes« und als »Ursache aller Kunst«,3 das »Singen« der Dinge als Alternative zu einer als bedrohlich empfundenen Sprache4 und »eine Ton-Folge, eine Musik …« als Wirkung des Abtastens der Kranznaht durch einen Phonographen.5 Andererseits aber ist Rilkes Haltung gegenüber der Musik durch eine tiefe Skepsis und durch die »dichteste Unfähigkeit« in musikpraktischen Fragen charakterisiert.6 Rilke konnte nach eigenem Bekunden weder ein Musikinstrument spielen noch singen, und es fiel ihm schwer eine Melodie wiederzuerkennen. Sowohl in Gedichten und im Malte als auch in zahlreichen Briefen zeigt er überdies eine tiefe Skepsis gegenüber der Wirkung von Musik: »Der Klang ist wie ein Kerker«, heißt es in dem Gedicht Musik, in dem ein Jüngling vor der seelischen Überwältigung durch diese Kunst gewarnt wird.7 Neben den seelischen sieht Rilke vor allem ästhetische Gefahren in der Musik: In einem Brief an die Freundin Lou Andreas-Salom8 beschreibt er die Musik als »Gegensatz der Kunst, 1 2 3 4 5 6
Moderne Lyrik. In: KA IV, S. 69. Notizen zur Melodie der Dinge. In: Ebd., S. 112. Marginalien zu F. Nietzsche »Die Geburt der Tragödie«. In: Ebd., S. 171. »Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort«. In: KA I, S. 106. Ur-Geräusch. In: KA IV, S. 701. Rilke an Magda von Hattingberg, 4. Februar 1914. In: RMR, Briefwechsel mit Magda von Hattingberg »Benvenuta«. Hg. v. Ingeborg Schnack, Renate Scharffenberg. Frankfurt a. M. 2000, S. 35. 7 KA I, S. 264.
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Einleitung
dieses Nicht-ver-dichten, diese Versuchung zum Ausfließen«,8 und Malte attackiert die bürgerlichen Musikliebhaber, die eine Bedrohung für die Fruchtbarkeit der Kunst darstellen: »Wer treibt sie aus den Musiksälen, die Käuflichen mit dem unfruchtbaren Gehör, das hurt und niemals empfängt?«9 Die hier skizzierte Ambivalenz führte in der Forschung immer wieder zu kontroversen Einschätzungen von Rilkes Musikalität. Auf der einen Seite wurden Rilkes Dilettantismus und seine Skepsis gegenüber der Musik als Belege für deren Bedeutungslosigkeit in seinem Werk angeführt, so etwa von George C. Schoolfield in dem viel zitierten Beitrag Rilke and Music: A Negative View.10 Weitere Arbeiten verwendeten die ablehnende Seite von Rilkes Verhältnis zur Musik als Beleg dafür, dass die bildende Kunst »den höchsten inspiratorischen Rang für Rilkes Schaffen« hat.11 Als symptomatisch für diese Einschätzung kann gelten, dass das Rilke-Handbuch in seiner Erstauflage von 2004 dem MusikKapitel dreieinhalb, dem Kapitel zur bildenden Kunst hingegen 21 Seiten widmet.12 Auf der anderen Seite hat die Forschung auf die herausragende Bedeutung der Musik für Rilke aufmerksam gemacht. Einen ersten materialreichen Überblick über Musik in Rilkes Werken und Briefen bot Christoph Petzsch,13 gefolgt von Clara M#grs konziser Monographie.14 Nachdem die 1973 erschienene (bereits 1959 in Yale eingereichte) Dissertation von Herbert Deinert zu Rilke und Musik von der deutschen Forschung kaum zur Kenntnis genommen wurde,15 wies in den 1980er Jahren zunächst Rüdiger Görner mehrfach auf die herausragende Bedeutung der Musik insbesondere für Rilkes Spätwerk hin.16 Seither sind eine ganze Reihe von Arbeiten zu Rilkes Musikauffassung insgesamt17 sowie 8 RMR an Lou Andreas-Salmo8, 8. August 1903. In: RMR, Andreas-Salom8: Briefwechsel. Hg. v. Ernst Pfeiffer. Frankfurt a. M. 1975, S. 94. 9 KA III, S. 508f. 10 George C. Schoolfield: Rilke and Music. A Negative View. In: James M. MacGlathery (Hg.): Music and German Literature. Columbia 1992, S. 269–291. 11 Jacob Steiner : Anschauungsformen. In: Ders.: Rilke. Vorträge und Aufsätze. Karlsruhe 1986, S. 5–18, hier S. 6; kurz zuvor, S. 5, erklärt Steiner: »Rilkes Beschäftigung mit der Musik ist dilettantisch gewesen […].« 12 Vgl. Rüdiger Görner: Musik. In: Manfred Engel (Hg. unter Mitarb. v. Dorothea Lauterbach): Rilke-Handbuch. Stuttgart, Weimar 2004, S. 151–154. 13 Christoph Petzsch: Musik. Verführung und Gesetz. Aus Briefen und Dichtungen Rilkes. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 10 (1960), S. 65–85. 14 Clara M#gr : Rainer Maria Rilke und die Musik. Wien 1960. 15 Herbert Deinert: Rilke und die Musik. Diss. Yale 1959, Yale 1973 (http://courses.cit.cornell. edu/hd11/Rilke-und-die-Musik.pdf). 16 Vgl. Rüdiger Görner : »… und Musik überstieg uns …«. Zu Rilkes Deutung der Musik. In: Blätter der Rilke-Gesellschaft 10 (1983), S. 50–68; ders.: Rilkes »Musik des Hintergrunds«. In: Universitas. Zeitschrift für Wissenschaft, Kunst und Literatur 40 (1985), S. 327–332; ders.: Rainer Maria Rilke. Im Herzwerk der Sprache. Wien 2004. 17 Vgl. etwa Winfried Eckel: Musik, Architektur, Tanz. Zur Konzeption nicht-mimetischer Kunst bei Rilke und Val8ry. In: Manfred Engel, Dieter Lamping (Hgg.): Rilke und die Welt-
Einleitung
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zu der Bedeutung der Musik in einzelnen Werkphasen und Werken erschienen.18 Die »im eigentlichen Sinne musikpoetische Studie über R[ilke]s Werk«, die Rüdiger Görner 2004 im Rilke-Handbuch noch vermisst hatte,19 wurde schließlich 2014 von Antonia Egel vorgelegt: Egel attestiert der Musik eine »poetologische Sonderstellung« und liefert eine Fülle von Argumenten dafür, »dass die Musik Rilkes grundlegender poetologischer Begriff ist […].«20 Das literaturwissenschaftliche Interesse an Rilkes Musikalität erschöpft sich nicht darin, das Werk eines einzelnen Autors zu ergründen, sondern es trägt auch dazu bei, Rilke im Kontext einer literarischen Moderne zu verstehen, für deren gesamte Formierung die Auseinandersetzung mit der Musik zentral ist. Winfried Eckel stellte 2014 den komplexen Zusammenhang von literarischer Moderne und Musik unter dem programmatischen Titel Ut musica poesis. Die Literatur der Moderne aus dem Geist der Musik detailliert dar und machte damit zugleich auf den herausragenden Stellenwert der Musik im literarischen Diskurs der Moderne aufmerksam. Auf der Basis von Forschungsbeiträgen, die der Funktion des Musikalischen im literarischen Diskurs um 1800 nachgegangen sind,21
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literatur. Düsseldorf 1999, S. 236–259; Jacob-Ivan Eidt: Rilke und die Musik(er). Überlegungen zu Rilkes Musikverständnis im Kontext seiner Zeit. In: Andrea Hübener, August Stahl (Hgg.): Rilkes Welt. Festschrift für August Stahl zum 75. Geburtstag. Frankfurt a. M. 2009, S. 127–134. Vgl. etwa Thomas A. Kovach: »Du Sprache wo Sprachen enden«. Rilke’s Poem »An die Musik«. In: Seminar. A Journal of Germanic Studies 22 (1986), S. 206–217; Harry E. Seelig: Rilke and Music. Orpheus and the Maenadic Muse. In: Sigrid Bauschinger (Hg.): RilkeRezeptionen = Rilke reconsidered. Tübingen 1995, S. 95–110; Silke Pasewalck: Die Maske der Musik. Zu Rilkes Musikauffassung im Übergang zum Spätwerk. In: Hans Richard Brittnacher, Stephan Porombka, Fabian Störmer (Hgg.): Poetik der Krise. Rilkes Rettung der Dinge in den »Weltinnenraum«. Würzburg 2000, S. 210–229; Jacob-Ivan Eidt: Rilke contra Wagner. Rilke’s early concept of Music and the Convergence of the Arts around 1900. In: Studia theodisca 18 (2011), S. 35–54; Verf.: »In Wahrheit singen, ist ein andrer Hauch.« Musik und Verwandlung in Rilkes Sonetten an Orpheus. In: Blätter der Rilke-Gesellschaft 32 (2014), S. 159–174; ders.: Ur-Geräusch. Rilkes Betrachtungen eines Unmusikalischen. In: Sylvia Mieszkowski, Sigrid Nieberle (Hgg. unter Mitarb. v. Innokentij Kreknin): Unlaute. Noise/Geräusch in Kultur, Medien und Wissenschaften seit 1900. Bielefeld 2017, S. 219–238. Görner : Musik, S. 154. Antonia Egel: »Musik ist Schöpfung«. Rilkes musikalische Poetik. Würzburg 2014 (Klassische Moderne, Bd. 23), S. 16. Zu nennen sind hier vor allem Barbara Naumann: Musikalisches Ideen-Instrument. Das Musikalische in Poetik und Sprachtheorie der Frühromantik. Stuttgart 1990; und Christine Lubkoll: Mythos Musik. Poetische Entwürfe des Musikalischen in der Literatur um 1800, Freiburg i. Br. 1995. Ähnliche Ansätze verfolgten später Pia-Elisabeth Leuschner : Orphic Song with Daedal Harmony. Die »Musik« in Texten der englischen und deutschen Romantik. Würzburg 2000; Nicola Gess: Gewalt der Musik. Literatur und Musikkritik um 1800. Freiburg i. Br., Berlin 2006; John T. Hamilton: Musik, Wahnsinn und das Außerkraftsetzen der Sprache. Aus dem Amerikanischen übersetzt v. Andrea Dortmann, Göttingen 2011 (Manhattan Manuscripts, Bd. 5), im Original: Music, Madness, and the Unworking of Language.
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Einleitung
nimmt Eckel Entwicklungen der Frühromantik als Ausgangspunkt für die Literatur der Moderne in den Blick. Der »Austausch von Malerei gegen Musik« wird dabei als »Indiz eines grundsätzlicheren poetologischen Paradigmenwechsels« verstanden, »infolgedessen die Literatur gegenüber der Mimesistradition ein neues, poietisches Selbstverständnis und parallel dazu neue, a-mimetische Verfahrensweisen ausbildet, in denen sie ihre Autonomie gegenüber allen vorgegebenen Ordnungen behauptet.« Die Musik, so Eckel, dient in diesem Zusammenhang als »Metapher für sprachliche Figurationen, die eine Welt nicht wiedergeben, sondern allererst ermöglichen.«22 Der vorliegende Band möchte dazu beitragen, einen differenzierten Blick auf die Musikalität von Rilkes Werk zu entwickeln und dessen Bedeutung im Rahmen einer literarischen Moderne »aus dem Geist der Musik« hervorzuheben. Hierzu werden Aspekte des biographisch motivierten Verhältnisses zur Musik, wie z. B. Musikerlebnisse, Begegnungen mit Musikerinnen und Musikern sowie Empfindungen gegenüber der Musik, ebenso einbezogen wie literarische, philosophische und musikästhetische Traditionen, an denen Rilke u. a. durch seine Lektüren von Nietzsches Geburt der Tragödie, Fabre d’Olivets La musique und Busonis Entwurf einer Neuen Ästhetik der Tonkunst teilhatte. Die hier versammelten Beiträge konzentrieren sich entweder auf einen Aspekt dieser Musikalität, der in verschiedenen Werken und Schriften von Bedeutung ist, oder auf ein Werk, das mit Blick auf spezifische Aspekte von Rilkes Musikalität interpretiert wird. Auf diese Weise werden sowohl unterschiedliche Probleme im Zusammenhang des Gesamtwerks systematisch entfaltet als auch einzelne Werke vor dem Hintergrund ihrer Musikalität neu interpretiert. Die ersten drei Beiträge setzen sich mit Problemen der Musikalität von Rilkes Werk insgesamt auseinander. Rüdiger Görner eröffnet den Band mit einer Darstellung von »Rilkes Fragen nach dem Wesen der Musik«, die einen Eindruck von dem Facettenreichtum des Themas verschafft, indem sie wichtige Aspekte von Rilkes Musikalität in unterschiedlichen Lebens- und Werkphasen skizziert. Hierzu gehören Rilkes Pendeln zwischen dem Wunsch, den Dingen auf lyrische Weise ihre »Melodie« zu entlocken, und dem Versuch, die Stille durch die Musik hindurchzuhören, das unverhoffte Auftreten von Aufzeichnungen zur Musik und Rilkes eklektisches Hören, die Einbindung der Musik in die All-Natur und der Fokus auf lautlich-rhythmische Akzentuierungen des Vortrags. Diese und weitere Aspekte werden in verschiedenen Kontexten erörtert, die von Rilkes persönlicher Furcht vor der Musik und der Liebe zur Pianistin Magda von Columbia 2008. Vgl. ferner den Sammelband Siobh#n Donovan, Robin Elliott (Hgg.): Music and Literature in German Romanticism. Rochester, NY 2004. 22 Winfried Eckel: Ut musica poesis. Die Literatur der Moderne aus dem Geist der Musik; Ein Beitrag zur Poetik der Figuration. Paderborn 2014, S. 14 u. S. 18.
Einleitung
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Hattingberg über die Begeisterung für die rhythmische Gestaltung von Hölderlins Versen bis hin zur Busoni-Lektüre und dem Interesse an der physikalischen Erzeugung von Tönen zählen. In diesem Zusammenhang wird auch auf einen bisher übersehenen Aspekt hingewiesen: Rilkes Interesse am Material der Kunst, das für die Rodin-Studien zentral ist, spielt auch für seine Überlegungen zur Musik eine wichtige Rolle. Jacob-Ivan Eidt stellt Rilkes Ambivalenz gegenüber der Musik in den Kontext von Goethes und Nietzsches Überlegungen. Goethes Haltung gegenüber der Musik wird als Versuch ausgewiesen, ein Gleichgewicht von Subjekt und Objekt zu bewirken, das sich mit Blick auf die Poesie in der Kultivierung der musikalischen Ur-Kraft durch den Logos äußert, und in Nietzsches Konzept der Musik als dionysischer Erscheinung des Willens, der jenseits der apollinischen Individuation liegt, wird die mit Goethe geteilte Auffassung von der Musik als Teil der ungezügelten Natur identifiziert. Die in Goethes und Nietzsches Vorstellungen herausgearbeiteten Polaritäten von Dur und Moll, Subjekt und Objekt, Musik und Logos, Dionysischem und Apollinischem werden in modifizierter Form dann auch in Rilkes Überlegungen zur Musik sichtbar gemacht: Die Musik erscheint dabei als eine metaphysische Kraft, die in den einzelnen Künsten ihre Individuation erfährt. Auf der Basis dieser Vorstellung werden sowohl Rilkes Furcht vor der Überwältigung durch eine ungebändigte Musik als auch seine Kritik an der Gedichtvertonung verständlich. Mein Beitrag geht der Frage nach, wie sich die musikalisch-praktische »Unfähigkeit«, die sich Rilkes selbst attestiert, zu der Musikalität seines Werkes verhält. Als Antwort dient die These, dass Rilkes Unfähigkeit, die nicht mit Unmusikalität zu verwechseln ist, einen metaphysischen Zugang zur Musik stimuliert, indem sie die Auseinandersetzung mit den profanen Problemen der Tonkunst verstellt. Auf der Basis der Darstellung einer auffallenden Sachferne in der Beschreibung musikalischer Erlebnisse und der poetischen Gestaltung musikalischer Metaphern werden Grundzüge von Rilkes musikalischer Metaphysik (Musik als immanente Kraft und stille Rückseite) herausgearbeitet. Der produktive Impuls, der von Rilkes Unfähigkeit ausgeht, wird schließlich in den Kontext von Busonis und Russolos avantgardistischen Angriffen auf traditionelle Vorstellungen von Musikalität und von Nietzsches Konzept einer dionysischen Musik gestellt. Auf diese Weise wird Rilkes Unfähigkeit als wichtiger Impuls für die Musikalität im Kontext der Moderne ausgewiesen. Auf die Beiträge zu Problemen von Rilkes Musikalität folgen Arbeiten, die einzelne Werke oder Werkgruppen in den Blick nehmen. Zu Beginn dieser Sektion plädiert Antonia Egel dafür, die etablierte Auffassung, dass die Neuen Gedichte einen Bruch zu Rilkes Frühwerk markieren, zu relativieren, indem sie zeigt, dass sich auch in prominenten Ding-Gedichten jene musikalische Poetik manifestiert, die Rilke bereits im Frühwerk entwickelt hatte und bis zu den
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Einleitung
Sonetten an Orpheus immer wieder aufgreifen sollte. Hierzu weist sie auf bisher unbemerkte Verbindungen zwischen einigen Neuen Gedichten und musikalischen Reflexionen hin, so z. B. zwischen dem Panther und Rilkes musikalischen Erlebnissen in Berlin und Worpswede, zwischen den Hetären-Gräbern und dem frühen Gedicht Strophen und zwischen David singt vor Saul und Rilkes Überlegungen zu Rodins Wahrnehmung von Musik. Hervorgehoben wird in diesem Zusammenhang, dass sich Rilkes Interesse an Rodin auch auf dessen Umgang mit der Musik richtete, so dass die Hinwendung zur Ding-Dichtung nicht länger als Abkehr von der Musik, sondern als Wandel im Umgang mit ihr erscheint. Die beiden nächsten Beiträge befassen sich mit musikalischen Aspekten in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, wobei es erneut bezeichnend für die Komplexität und den Facettenreichtum von Rilkes Musikalität ist, dass hier zwei völlig verschiedenartigen Fragestellungen auf der Basis von unterschiedlichen Textausschnitten nachgegangen wird. Robert Vilain rückt Maltes 24. Aufzeichnung in das Zentrum seiner Darstellung von Rilkes Beethoven-Rezeption. Er weist zunächst auf die zentrale Bedeutung des Komponisten für Rilkes Musikalität hin, indem er Beethovens kontinuierliche Relevanz für Rilkes Werk skizziert, die sich von den frühen Musik-Gedichten aus der Zeit in Worpswede bis hin zu der Lektüre von Hofmannsthals Rede auf Beethovens 150. Geburtstag aus dem Jahr 1920 erstreckt. Die Analyse der berühmten Beethoven-Reflexion in Maltes 24. Aufzeichnung arbeitet dann religiöse, biblische und kulturkritische Referenzen heraus, untersucht die auffallend drastische Sexualmetaphorik und skizziert Parallelen von Maltes Beethoven und den Engeln der Duineser Elegien, wobei Bettine von Arnims Briefwechsel mit Goethe ebenso für die Interpretation herangezogen wird wie Rilkes späterer Briefwechsel mit Magda von Hattingberg. Insgesamt wird deutlich, dass Rilkes Musikalität, die durch die Ambivalenz von Faszination und Furcht charakterisiert ist, von der Figur des tauben Komponisten, der Musik denken muss, weil er sie nicht hören kann, wichtige Impulse empfangen hat. Lothar van Laak findet in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge eine implizite Poetik der Musikalität von Literatur. Passagen des Romans, die durch die Thematisierung von Musik, Klängen, Geräuschen und Stille eine Reflexion von Klanglichkeit leisten, in deren Zentrum der Übergang von Geräusch bzw. Musik und Stille steht, werden als Reflexionen von darstellungstheoretischen Bedingungen für die Musikalität von Literatur gelesen. Diese bestehen darin, dass die Literatur im sprachlichen Vollzug – ebenso wie die Musik – die Position der Stille besetzt, wobei die Musikalität von Literatur als mimetische Entfaltung von Stille bzw. als Prozess begriffen wird, der die Flüchtigkeit der erzählten Konkretion hörbar und auf diese Weise Sinnlichkeit erfahrbar macht. In diesem medialen Sinn erscheinen die Aufzeichnungen als Versuch, die Stille durch das Erzählen aufzuheben.
Einleitung
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Nach den Beiträgen zu den Neuen Gedichten und den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge befassen sich die folgenden zwei Arbeiten mit der Musikalität von Rilkes später Lyrik. Winfried Eckel untersucht die Aufwertung des Akustischen gegenüber dem Optischen in Rilkes Spätwerk und findet in der Eröffnung von Klangräumen Rilkes Antwort auf die Frage, wie die Bewegung des Blicks durch die Landschaft poetisch zu gestalten sei. Auf der Basis einer Analyse der Darstellung von Geräuschen, Klängen, Stille und Lärm in den Quatrains Valaisans, 36 französischen Landschaftsgedichten aus dem Sommer 1924, wird die bislang unbemerkt gebliebene Klanglandschaft des Wallis in Rilkes GedichtZyklus als Ergebnis einer gezielten Stilisierung ausgewiesen, durch die Natur als ästhetische Landschaft erfahrbar wird. Als Kraft, die vereinzelte Geräusche in eine Ordnung überführt, verknüpft die Musik dabei die Klanglandschaft mit der Idee des im Raum aufgelösten Göttlichen, das in der musikalischen Ordnung erfahrbar wird. In dem Entwurf einer solchermaßen musikalisch gestalteten Klanglandschaft entdeckt Eckel zugleich eine Reflexion auf die wirklichkeitskonstituierende Funktion der Kunst: Natur und poetische Imagination werden miteinander verschränkt, indem das Gedicht die Klanglandschaft nicht nur nachahmt, sondern der Landschaft zugleich klangliche Attribute zuschreibt. Charlie Louth nähert sich Rilkes Gong-Gedicht, dessen magischer Charakter in der Forschung immer wieder hervorgehoben wurde, von der klanglich-metrischen Seite, die bisher kaum Beachtung gefunden hat. Dieser Zugang bietet sich an, weil der Titel »Gong« sowohl das Instrument als auch dessen Klang bezeichnet und selbst Klang gewordener Sinn ist; zudem macht der Gong die Grenze zwischen wahrnehmbarem Klang und nicht mehr wahrnehmbarer Schwingung erfahrbar, die für Rilkes Versuch, die Wirklichkeit poetisch zu erschließen, zentral ist. In einer metrischen Analyse von Rilkes insgesamt drei Gong-Gedichten (Entwurf, deutsches und französisches Gedicht) aus den Jahren 1925/26 hebt Louth die geschlossene metrische Struktur des deutschen Gedichts hervor, und zeigt überdies, dass diese Struktur ausschließlich an den Stellen aufgelöst wird, an denen »Klang« oder »Gong!« auftreten. Die Musikalität des Gedichts ereignet sich hier also in dessen klanglicher Gestalt, die ebenso wie der Gong in der Lage ist, ihre feste Struktur in Klang aufzulösen. Der Band schließt mit einem Beitrag zur Rilke-Rezeption, in dem Eva-Tabea Meineke das Verhältnis von Schreibweisen der Surrealisten Alberto Savinio und Louis Aragon zu Rilkes Musikalität untersucht. Vor dem Hintergrund einer Skizze ästhetischer Verbindungen zwischen Rilke, Busoni, den italienischen Futuristen und den französischen Surrealisten Breton und Aragon werden auffallende motivische Parallelen zwischen den Darstellungen von Musikalität in Texten von Rilke (Malte, Das Schweigen der Sirenen), Aragon (Une vague de rÞves, Le paysan de Paris) und Savinio (Tragedia dell’infanzia) herausgearbeitet, wobei der Umgang mit gemeinsamen Motiven (Bögen, Wellen, Teppich, Sirenen)
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Einleitung
auch grundlegende Differenzen zu erkennen gibt: Während die Musik bei Rilke meist imaginativ, stumm und distanziert erscheint, überwältigt sie bei Aragon und Savinio das Subjekt durch ihre mächtige Performanz; und während Rilke versucht, Musik durch die literarische Form zu zügeln, lassen die Surrealisten der musikalischen Überwältigung des Ichs in der 8criture automatique freien Lauf. Die hier versammelten Beiträge gehen auf eine Tagung zurück, die, vorbereitet im Rahmen einer Übung, 2017 am Institut für Germanistik der Universität Regensburg stattfand. Ich danke Ursula Regener für ihre ausdauernde Unterstützung, Laura Klauer für ihre zuverlässige Mitarbeit und der Fritz Thyssen Stiftung für die großzügige Förderung der Tagung sowie des vorliegenden Bandes. Rilkes Werke werden in dem gesamten Band nach folgenden Ausgaben mit den Siglen SW und KA zitiert: SW Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke. Hg. vom Rilke-Archiv. In Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke besorgt durch Ernst Zinn. Frankfurt a. M. 1955–1966. KA Rainer Maria Rilke: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Hg. v. Manfred Engel, Ulrich Fülleborn, Horst Nalewski, August Stahl. Frankfurt a. M., Leipzig 1996. Der Supplementband zu dieser Ausgabe wird mit der Sigle KA V angegeben: Rainer Maria Rilke: Gedichte in französischer Sprache. Mit deutschen Prosafassungen. Hg. v. Manfred Engel, Dorothea Lauterbach. Übertragungen v. Rätus Luck. Frankfurt a. M., Leipzig 2003.
Thomas Martinec
Rüdiger Görner
Im Klang der Verwandlung. Rilkes Fragen nach dem Wesen der Musik1
Musik eignet etwas beglückend Verstörendes: Preis ihres Erklingens ist ihr Verklingen. Sie lebt in und durch ihre Aufführung, gewinnt in digitalisiertem Zustand relative Dauer, kann selbst unsichtbar Räume beschallen oder Räume evozieren, oft verbunden mit Lichteffekten; Phänomene, die sich etwa das resonanzreiche multimediale Rilke-Projekt zu Nutze gemacht hat. Eichendorff ging noch davon aus, das dichterische »Zauberwort« könne das in allen Dingen schlafende Lied wecken und damit die Welt zum Singen bringen. Die digital ermöglichte Allgegenwart der Musik lässt einen zuweilen das Umgekehrte hoffen: dass ein poetisches Wort den Rückzug der Musik in die Dinge bewirke, um dort in Stille sich von ihrem eigenen Dauererklingen zu erholen. Rilkes latent intensives, zeitlebens gespanntes, insgesamt gesehen entschieden dissonantes Verhältnis zur Musik schien zwischen diesen beiden Extremen zu pendeln: einerseits dem Wunsch, den Dingen auf lyrische Weise das ihnen Eigene abzulauschen und zu entlocken, ihre »Melodie« zu verstehen, wie er in einer frühen Essayskizze aus dem Jahre 1898 bekundete; andererseits durch die Musik hindurchzuhören und dann wie sein Orpheus durch die Leier zu gehen – zu einer noch unerhörten Stille hin, die sich im Gedicht aufhebt. Sie blieb Rilkes Utopie, jene Vorstellung »einmal die große Melodie, in der Dinge und Düfte, Gefühle und Vergangenheiten, Dämmerungen und Sehnsüchte mitwirken«, als Dichter »vollenden« zu können, wie er sich dies als Lebensprogramm in den Reflexionen Zur Melodie der Dinge selbst vorgeschrieben hatte.2 Völlig zurecht sehen etwa Antonia Egel und Rolf J. Goebel das Werk Rilkes als Beispiel für einen literarischen Modernismus, der die »acoustic imagination« von der »hegemony of the visual« zu befreien suchte.3 Dazu gehörte für Rilke »das Singen einer Lampe«
1 Dieser Beitrag ist zuerst erschienen in: Verf.: Schreibrhythmen – Musikliterarische Fragestellungen. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2019, S. 63–78. 2 SW V, S. 418. 3 Rolf J. Goebel: Auditory Desires, Auditory Fears: The Sounds of German Literary Modernism. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 66, H. 4 (2016), S. 417–437, hier S. 425; Antonia
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Rüdiger Görner
oder die »Stimme des Sturms«4 und die Stille dazwischen, in der sich die Sprache regeneriert. Diesen Denk-und Deutungsansatz übernahm übrigens Rudolf Kassner an unvermuteter Stelle, nämlich in seinem Essay über Percy Bysshe Shelley, der seine Sammlung Englische Dichter eröffnete. Kassner betont die synästhetische Disposition Shelleys, die ihm durch seine Nähe zu Rilke gegenwärtig war : »Die Dinge werden ihm [Shelley ; R. G.] zu Tönen, die sich den großen Harmonien einfügen. Die Metaphern haben Farbe für das Auge, Ton für das Ohr, sie besitzen Geruch und Geschmack.« Dem folgt Kassners These, die wie unmittelbar aus Rilkes Ansatz abgeleitet klingt: »Ein Ding verstehen, heißt Ohr für dessen Musik haben.«5 Im Buch der Bilder artikulierte Rilke als poetisches Ich das Bedürfnis, den Dingen am Rande des Alltags und den Benachteiligten am Rande der Existenz eine Stimme zu verleihen.6 Im vorspannhaften Titelblatt des Zyklus im Zyklus Die Stimmen kommt dieses Anliegen programmatisch zum Ausdruck: Bettler, Blinde, Trinker, Selbstmörder und andere gesellschaftliche Randfiguren sollen – musikalisch – zu Wort kommen, »[…] weil alle sonst, wie an Dingen, / an ihnen vorbeigehn, müssen sie singen.« Und wenn sie erst singen, dann »hört man noch guten Gesang.« Damit verbindet das poetische Subjekt seine Kritik an den herkömmlichen Hörgewohnheiten, was sich später im Malte Laurids Brigge noch erheblich verstärken wird: »Freilich die Menschen sind seltsam; sie hören / lieber Kastraten in Knabenchören.«7 Dass eine »gewisse musikalische Gemütsstimmung« der »poetischen Idee« und ihrer Umsetzung in Produktion vorausgehen müsse, hatte Friedrich Schiller in einem Brief an Goethe vom 18. März 1796 bekannt. Damit benannte er gerade auch im Vorgriff auf moderne Diskurse über eine Ästhetik der Stimmungen8 ein schaffenspsychologisches Prinzip, das zwar betont individuell erscheint, aber doch einem Grundprinzip des Schöpferischen zumindest nahekommt: das Musikalische als Katalysator im künstlerischen Verwandlungsprozess. Der frühe
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Egel: »Musik ist Schöpfung«. Rilkes musikalische Poetik. Würzburg 2014 (Klassische Moderne, Bd. 23). Notizen zur Melodie der Dinge. In: SW V, S. 418. Rudolf Kassner : Percy Bysshe Shelley. In: Ders.: Englische Dichter. Leipzig 1920, S. 5–60, hier S. 26f. Vgl. Verf.: Parabelhafte Vokalität. Rainer Maria Rilke: Die Stimme. In: Ders.: Stimmenzauber. Über eine literaturästhetische Vokalistik. Die Salzburger Vorlesungen II. Freiburg i.Br. 2014, S. 99–111. SW I, S. 448. Vgl. dazu u. a.: David Wellbery : Stimmung. In: Karlheinz Barck u. a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Stuttgart 2003, S. 703–733; AnnaKatharina Gisbertz (Hg.): Stimmung. Zur Wiederkehr einer ästhetischen Kategorie. München 2011; Burkhard Meyer-Sickendieck, Friederike Reents (Hg.): Stimmung und Methode. Tübingen 2013. Die Schwerpunkte dieser Arbeiten liegen auf der Dichtung und bildenden Kunst, überraschender Weise weniger auf der Musik.
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Rilke hatte explizit eine gegenteilige Auffassung vertreten, und zwar in seinen mit Marginalien zu Nietzsche später betitelten, im Jahre 1900 entstandenen Aufzeichnungen zu dessen Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Hier befindet Rilke: »Der Lyriker bedarf ja nicht der Musik, um zu schaffen, sondern nur jenes rythmischen [sic!] Gefühles, das schon nichtmehr des Gedichts bedürfte, wenn es sich erst in Musik ausspräche.«9 »Musik« verstand er dabei als »erste dunkle Ursache der Musik«, als Ursache und Urgrund »aller Kunst«, als »freie bewegte Kraft«, gar als »Überfluß Gottes.«10 In einem Gedicht Rainer Maria Rilkes vom Mai 1913, das zum Umkreis erster Entwürfe zu den Duineser Elegien gehört, versucht das poetische Ich inmitten einer Schaffenskrise eine solche Stimmung geradezu herbeizuzwingen. Mit imperativischer Geste glaubt es, der Musik gebieten zu können: »Bestürz mich, Musik, mit rhythmischem Zürnen!«11 Wohlgemerkt, es fordert eine konkrete »Musik«, nicht das eher unverbindlich wirkende Musikalische; es will mehr als eine bloße Stimmung, will die Konfrontation, ja Überwältigung durch die Musik als einer wesenhaften Kraft.12 Ein weiteres Fragment aus jener Zeit greift dieses Motiv bereits abgemildert auf: »Ich bins, Nachtigall, ich, den du singst, / hier, mir im Herzen, wird diese Stimme Gewalt, / nicht länger vermeidlich.«13 In diesen Versen deutet alles auf ein Wechselverhältnis hin: Das Ich wähnt sich als Inhalt des Naturgesangs der Nachtigall, und dieser Gesang wiederum wirkt zurück ins Empfindungszentrum des Ichs und wird darin zur unwiderstehlichen stimmlich gewaltigen Kraft, der ihrerseits Verwandlungen zuzutrauen wären. Musik begriff Rilke zeitlebens als das ganz Andere14 und doch Verwandte, das an ihm rührte und ihn irritierte, eine strömende Kunst, die in der Architektur, wie Schopenhauer sagte, erstarrt sei. Wohl gerade deswegen schien Rilke Musik eine Zeitlang nur in Kathedralen erträglich: »Sturm in der Säule«, wie er im späten Gong-Gedicht dichten wird.15 Dort erst geschieht die Umkehrung des herkömmlichen Verhältnisses von Hörer zum Gehörten: nunmehr wird der Gong zum »tieferen Ohr«; nicht wir hören ihn, er hört uns, die wir nur scheinbar zu hören im Stande sind. 9 10 11 12
SW VI, S. 1176, Hervorhebung durch RMR. Ebd., Hervorhebung durch RMR. SW II, S. 60. Vgl. dazu auch den Befund von Karine Winkelvoss: Le Deuil Originel. Po8sie et musicalit8 selon Rilke. In: Marko Pajevic (Hg.): Po8sie et Musicalit8. Liens, croisements, mutations. Paris 2007, S. 89–102, hier S. 91: »[…] Rilke verra bientit dans cette conception ›musicale‹ des choses une n8gligence coupable / leur 8gard: les 8couter de loin, ce serait en r8alit8 ne pas faire l’effort de les regarder de trop prHs.« 13 SW II, S. 61. 14 Vgl. Goebel: Auditory Desires, S. 427. 15 SW II, S. 186.
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»Bestürz mich, Musik […]« – Was schon wenig später auf ihn einstürzen wird, sind die Briefe einer jungen Pianistin, Magda von Hattingberg, die seine Benvenuta werden sollte. Im Verhältnis zu ihr traf zu, was er in seinem Gedicht Liebes-Lied vorgeprägt hatte, namentlich in den Versen: »Doch alles, was uns anrührt, dich und mich, / nimmt uns zusammen wie ein Bogenstrich, / der aus zwei Saiten eine Stimme zieht.«16 Liebenden wird in diesem Gedicht die Wahrnehmung zu einer musikalischen Phrase. Rilke wird im Rückblick auf diese Beziehung Lou Andreas-Salom8 berichten, dass er selbst diesen Briefsegen mit Schreiben beantwortet habe, die ihm »stürzend von Herzen« gegangen seien.17 Unter den zahlreichen Briefwechseln Rilkes ist jener mit seiner Benvenuta der einzige, der durchgängig musikalisch grundiert und von musikalischem oder musikalisiertem Empfinden durchdrungen ist. Für Rilkes widersprüchliches Musik-Verständnis stellt sein Briefdialog mit dieser Busoni-Schülerin eine besondere Quelle dar, erschließt sie doch eine biografisch wie ästhetisch wichtige Scharnierstelle innerhalb der mittleren Schaffensperiode des Dichters. Und ein Weiteres ›stürzte‹ auf ihn in jener Zeit: Hölderlin, namentlich der legendär werdende vierte Band der historisch-kritischen Ausgabe, die Norbert v. Hellingrath begonnen hatte. Im April 1914 trägt dann Rilke auf Schloss Duino mehrfach Hölderlin-Dichtungen vor, die Rhein-Hymne, Hyperions Schicksalslied und die Elegie Brod und Wein wie Hattingberg überliefert.18 Das bedeutet: Rilke will diese Dichtungen zu Gehör bringen, das »rhythmische Zürnen« in ihnen erspüren, ihren melodischen Charakter, das Musikalische an ihnen vermitteln. Und wieder prägt das Fallen und Stürzen die poetische Artikulation seines Eindrucks; so in seinem Gedicht An Hölderlin, das er in sein Exemplar des vierten Bandes der Gesamtausgabe eintrug: »[…] aus den erfüllten / Bildern stürzt der Geist zu plötzlich zu füllenden / […] Hier ist Fallen / das Tüchtigste. Aus dem gekonnten Gefühl / überfallen hinab ins geahndete, weiter.«19 Hölderlins Dichtung entwöhnt vom Gewohnten, erlaubt entlang der rhythmischen Kadenzierungen den freien Fall ins bis dahin Unbekannte des in der deutschen Sprache Möglichen. Schon früh in ihrem Briefwechsel bringt Benvenuta einen bestimmten Komponisten ins epistolarische Liebessprachspiel: Beethoven. Sie schreibt Rilke in einer Weise über Musik, wie er dies bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht erlebt hatte. Zudem vermittelt sie ihm die Rilke als dem »Musiker in Worten« gewidmete Ästhetik der Tonkunst ihres Lehrers, des Komponisten und Pianisten 16 SW I, S. 482, Hervorhebung durch RMR. 17 RMR an Lou Andreas-Salom8, 8. Juni 1914. In: RMR, Lou Andreas-Salom8: Briefwechsel. Hg. v. Ernst Pfeiffer. Frankfurt a. M. 1989, S. 322. 18 Vgl. Rainer Maria Rilke, Norbert von Hellingrath: Brief und Dokumente. Hrsg. v. Klaus E. Bohnenkamp. Göttingen 2008, S. 94 (Anm. 185). 19 SW II, S. 93.
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Ferruccio Busoni, dessen Musik er Anfang März 1914 mit Benvenuta hört (»Und die seltsamsten Fügungen und Musik –, herrliche durch Busoni.«20). Und doch scheute der Dichter immer wieder zurück vom ›Zuviel‹ dieser Kunst, lebte wiederholt musikabstinent. Was aber veranlasste Rilke zu solcher Widersprüchlichkeit in seinem Verhältnis zu dieser flüchtigsten, aber auch am unmittelbarsten wirkenden Kunstform? Dieser Briefwechsel dokumentiert Rilkes Versuch, sich der Musik dadurch zu öffnen, dass er eine ihrer Interpretinnen geradezu in sich aufnimmt. Schon in seiner Antwort auf Magda von Hattingbergs ersten Brief, in dem sie ihm auf den Kopf zusagte, dass der Verfasser der Geschichten vom lieben Gott Musik »lieb haben« müsse, sei es Beethoven oder Bach, will er ihr erzählen, »wie’s zwischen der Musik und mir aussieht.«21 Und er berichtet ihr von seiner Krisenzeit in Ronda, wo es ihm so vorkam, dass sein »Sehen überladen« sei; und es schien ihm seinerzeit, dass nur Musik ihm hätte helfen können, jenes Element, in das, wie er sich ausdrückte, »die Welt gelöster übergeht«, und das ihn vom zu vielen Sehen hätte entlasten können.22 Rilke erprobt in diesen Briefen seine Metaphorik für Musik, wobei er sie wiederholt begriffsontologisch zu fassen sucht. So gilt sie ihm einmal als »ein näheres Wesen«, das auf uns einströmt und zwar als »eine höhere Luft«,23 dann wieder ist sie ihm das von Engeln wie ein Ball aufgefangenes Kreuzigungsblut – eine Vorstellung, die er beim Betrachten von El Grecos Kreuzigungsszenen gewinnt.24 Dagegen erhebt Magda von Hattingberg dann Einspruch, indem sie behauptet, Musik sei »immer Auferstehung.«25 Bedeutsam freilich, dass Rilke während der Zeit des intensivsten Austausches mit der geliebten Pianistin, die ihm auch Beethovens Hammerklavier-Sonate näherbrachte, die dann in der Zehnten Duineser Elegie von motivischer Wichtigkeit werden sollte, besonders hellhörig las, wenn ein Text von Musik handelte. So bemerkt er kritisch über Prousts Un Amour De Swann (1913): Nur die Stellen gegen Schluss über die Phrase in der Sonate und die erst da und dort, in unverbundenen Zwischenräumen, auf den zahllosen Tasten des Alls angeschlagenen Musik –: nur diese Stellen gehören vielleicht zum Wichtigsten innerhalb der vielen, man kann wohl sagen, überfüllten Seiten.26
20 RMR an Lou Andreas-Salom8, 9. März 1914. In: RMR, Lou Andreas-Salom8: Briefwechsel, S. 321. 21 RMR an Magda von Hattingberg, 26. Januar 1914. In: RMR, Magda von Hattingberg: Briefwechsel mit Magda von Hattingberg »Benvenuta«. Hg. v. Ingeborg Schnack, Renate Scharffenberg. Frankfurt a. M., Leipzig 2000, S. 23. 22 Ebd. 23 RMR an Magda von Hattingberg, 13. Februar 1914. In: Ebd., S. 83. 24 Vgl. RMR an Magda von Hattingberg, 13. Februar 1914. In: Ebd., S. 84. 25 Magda von Hattingberg an RMR, 20. Februar 1914. In: Ebd., S. 150. 26 RMR an Magda von Hattingberg, 15. Februar 1914. In: Ebd., S. 99.
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Rilke meinte damit die fiktive Sonate für Violine und Klavier des ebenso fiktiven Komponisten Vinteuil, angelehnt an die d-Moll-Sonate op. 75 von Camille SaintSa[ns. Damit bezeichnete er genau den Übergang vom musikalischen Motiv ins Poetologische, also sprachlich Gestaltbare, wobei ihm die von Prousts Erzähler betriebene Fiktionalisierung der Musik vermittelt, dass nicht sie, die Musik, das inkommensurable Medium sei, sondern die Sprache zum Medium der Musik werde. Ähnliches ereignet sich, wenn aus Beethovens Hammerklavier-Sonate die »klar geschlagenen Hämmer des Herzens« in der Zehnten Duineser Elegie werden sollten: Die Poetisierung der Musik führt dazu, dass sie sich sprachlich handhaben lässt. In der Entwicklung von Rilkes Musikverständnis finden sich ebenso aussagekräftige Konstanten wie deutliche Veränderungen. Was letztere betrifft, fällt ein Phänomen besonders auf: Zunehmend beschäftigte Rilke die Frage nach der Tonerzeugung und damit das Problem, wie aus einer bestimmten Materialität von Gegebenheiten das immateriell-ätherische Kunstmedium werden kann. Gewöhnlich steht in Untersuchungen zu Rilke und Musik die Frage nach dem Verwandlungspotential der Musik im Vordergrund. Dagegen finden sich vergleichsweise wenige Überlegungen dazu, welche Art der Verwandlung materieller Voraussetzungen nötig ist, damit Musik entsteht. Dieser Aspekt ist deswegen von besonderem Interesse bei Rilke, weil ja gerade er ein ausgeprägtes Gespür für den Zusammenhang von Material-und Produktionsästhetik hatte und damit für die Frage, wie das Material die künstlerische Produktion vorformt, ein Aspekt, der namentlich in seiner Rodin-Studie eine Schlüsselrolle spielt. Es wäre durchaus nicht verfehlt, darin – in diesem Sinn für das Wechselverhältnis von Material und künstlerischer Hervorbringung – einen erheblichen Teil von Rilkes so unablässig erörterter Modernität zu erkennen. Daher soll nun Ferruccio Busonis Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst etwas eingehender zur Sprache kommen; denn darin konnte Rilke auch einen ausführlichen Hinweis auf das sogenannte Dynamophon und Telharmonium des bedeutenden USamerikanischen Erfinders Thaddeus Cahill (1867-1934) finden. Mit Cahill beginnt die elektrizitätsgestützte Erzeugung und Verbreitung von Musik.27 Nun darf als sicher gelten, dass sich Rilke genauso wenig wie Busoni für Cahills Musikverbreitungsvorhaben interessierte, die ihnen wohl nur Zwangsvorstellungen gewesen wären; Cahill erwog nämlich eine Art Dauerbeschallung von Hotels, Restaurants, Theaterräumen und – auf Telefonwegen – von Privathäusern. Seine Experimente zur elektrischen Musikerzeugung dagegen faszinierten Busoni und dürften auch Rilkes diskrete Aufmerksamkeit erregt haben. Busoni beschreibt Cahills elektrischen Musikapparat wie folgt: Seine Konstruktion ermögliche es, 27 Vgl. Reynold Weidenaar : Magic Music from the Telharmonium. London 1995.
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einen elektrischen Strom in eine genau berechnete, unalterable Anzahl Schwingungen zu verwandeln. Da die Tonhöhe von der Zahl der Schwingungen abhängt und der Apparat auf jede gewünschte Zahl zu ›stellen‹ ist, so ist durch diesen die unendliche Abstufung der Oktave einfach das Werk eines Hebels, der mit dem Zeiger eines Quadranten korrespondiert.28
In seiner Beschreibung dieses neuartigen Musikgerätes bleibt Busoni genau: »Zum Vermittler der Schwingungen zwischen dem elektrischen Strom und der Luft wählte der Erfinder das Telefon-Diaphragma«, was eine gleichmäßige Schallverteilung erlaube.29 Und Busoni gerät sogar ins Schwärmen: »Der in Verbindung stehende Raum wird zauberhaft mit Klang erfüllt, einem wissenschaftlich vollkommenen, niemals versagenden Klang, unsichtbar, mühelos, und unermüdlich.«30 Aufschlussreich hierbei ist zweierlei: Busoni betont zum einen den ungebrochenen Verwandlungscharakter von Musik im Zeitalter ihrer technischen Produzierbarkeit: vom elektrischen Strom in Schwingung. Zum anderen unterstreicht er den wissenschaftlichen Charakter dieser elektrischen Musikproduktion. Rilke hat auf diese Lektüre – soweit bekannt – nicht unmittelbar reagiert, Arnold Schönberg dagegen schon, wenn auch eher ausweichend, wenn er konstatiert, dass Busoni das Material überschätzt habe, wogegen andere – er nennt den Neuromantiker Hans Pfitzner – es unterschätzten. In gewissem Sinne knüpfte Busoni mit seiner Bemerkung, durch Cahill werde eine Art wissenschaftlicher Musik möglich, an eine These von Hector Berlioz an, die nach bestem romantischem Selbstverständnis besagte: »Die Musik ist gleichzeitig eine Empfindung und eine Wissenschaft.«31 Dass bei Cahill die »Empfindung« kaum noch eine Rolle spielte, dürfte vor allem Rilke irritiert haben, doch beschäftigte auch ihn die Frage nach dem wissenschaftlichen Erzeugen von Musik, auch wenn er dabei den elektrischen Impuls seinerseits in ein anderes Medium der Erkenntnis überführte, nämlich in seinem eigenen Entwurf zu einer experimentellen Musikerzeugung, dem Ur-Geräusch von 1919, ins PhysiologischAnatomische. Nur drei Jahre liegen zwischen dieser Versuchsbeschreibung Rilkes und der erweiterten Neuausgabe von Busonis Entwurf, die 1916 auf Rilkes Empfehlung in seinem Hausverlag, Insel Leipzig, erschien. 28 Ferruccio Busoni: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. Mit Anmerkungen von Arnold Schönberg und einem Nachwort von H.-H. Stuckenschmidt. Frankfurt a. M. 1979, S. 57, Hervorhebung durch F. B. 29 Ebd. 30 Ebd. 31 Hector Berlioz: Musik. In: Ders.: Schriften. Betrachtungen eines musikalischen Enthusiasten. Ausgewählt, herausgegeben und kommentiert von Frank Heidelberger. Übersetzt von Dagmar Kreher. Kassel, Stuttgart, Weimar 2002, S. 38.
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Ausgangspunkt ist eine Erinnerung an ein Experiment im Physikunterricht: die Nachbildung eines Phonographen mit elementaren Hilfsmitteln und Materialien. Das ist die erste wichtige Aussage dieses Textes: dass die Klangerzeugung nur einfacher, quasi natürlicher Mittel bedarf. Die Übertragung dieses Unterrichtserlebnisses geschah dann – so der Aufsatz – in jener ersten Pariser Zeit, als Rilke Anatomie-Vorlesungen an der Pcole des Beaux-Arts besuchte. Was ihn damals interessierte war das »aride Skelett«;32 von Schädeln ging für ihn sogar etwas Bezauberndes aus. Vor ihnen verfiel er nicht in Hamlethaftes Grübeln und Sinnieren; vielmehr regten sie seine »rhythmische Eigenheit« seiner »Einbildung« an,33 indem er sich an die Versuchsanordnung aus dem Physikunterricht erinnerte und diese auf ein imaginiertes Experiment übertrug: Die Kronen-Naht des Schädels […] hat – nehmen wirs an – eine gewisse Ähnlichkeit mit der dicht gewundenen Linie, die der Stift eines Phonographen in den empfangenden rotierenden Cylinder des Apparates eingräbt. Wie nun, wenn man diesen Stift täuschte und ihn, wo er zurückzuleiten hat, über eine Spur lenkte, die nicht aus der graphischen Übersetzung eines Tones stammte, sondern ein an sich und natürlich Bestehendes – gut: sprechen wirs nur aus: eben (z. B.) die Kronen-Naht wäre –: Was würde geschehen? Ein Ton müßte entstehen, eine Ton-Folge, eine Musik […].34
Dieses elementare »Ur-Geräusch« bezeichnet Rilke bereits als »Musik«, wodurch er deren Kunstcharakter relativiert. Anders als etwa Goethes »Urpflanze« ist dieses »Ur-Geräusch« von Rilke nicht als Grundtypus gedacht, aus dem sich alle anderen Geräusche oder Töne generieren wie aus der »Urpflanze« alle übrigen Pflanzen. Vielmehr verfügt das »Ur-Geräusch« über etwas Spezifisches, die einem jeden Menschen eigene Tonfolge. Im zweiten, scheinbar nicht mit dem »Ur-Geräusch«-Experiment zusammenhängenden Teil dieses Aufsatzes, der auf die Problematik der mechanischen Erweiterung unserer sinnlichen Wahrnehmung durch Hilfsinstrumente zuläuft, spricht Rilke von den »fünf Hebeln« der Sinne, die zu gleichen Teilen zusammenwirken müssten, um ein »vollendete[s] Gedicht«,35 hervorzubringen oder auch Liebe zu zeugen. In unserer Zeit, so Rilke weiter, sei freilich der Gesichtssinn zu sehr »mit Welt überladen« und das Gehör »unaufmerksam« geworden,36 so dass es an Einfluss und Wirkung eingebüßt habe. Mittelbar fordert Rilke daher genuine Gehör-Bildung, Schulung des Ohres, im Grunde aber seine Entwicklung hin zu einem Urzustand »unbeschlafenen« Hörens.37 Gleichzeitig stand Rilke, lebensgeschichtlich gesehen, an der Grenze zum neuen Massenmedium Rundfunk. Manfred Koch hat darauf aufmerksam 32 33 34 35 36 37
SW VI, S. 1088. Ebd., 1089. Ebd., S. 1090. Ebd., S. 1091. Ebd., S. 1090. Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. In: SW VI, S. 780.
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gemacht, dass im Erscheinungsjahr der Sonette an Orpheus in Deutschland die erste Rundfunksendung ausgestrahlt wurde, und er malt die reizvolle Szene aus, Rilke seine Sonette für das drahtlose Medium aufnehmend, das hörende »Empfangen«, die »Schwingung« und die »Antennen« sowie die »Welle« – alles Begriffe aus den Sonetten für die Verbreitung seiner Dichtung nutzend.38 Eine originelle Interpretation oder Transposition von Rilkes phonographischer Versuchsanordnung unternahm der französische Komponist Hugues Dufourt mit seiner Komposition Ur-Geräusch (2016). Rilkes Ansatz reflektiert der Komponist wie folgt: Der Titel Ur-Geräusch ist außerordentlich aufschlussreich. In ihm steckt eine Vorahnung des 20. Jahrhunderts, und deshalb geht er weit über das sonderbare Experiment mit einer Phonographennadel hinaus. Mit dem Titel kündigt sich eine Welt der Überlegenheit des Ohres über die übrigen Sinne an. […] Das Ohr deckt die ursprüngliche Welt, die Welt in ihrem Urzustand, auf.39
Dufourt orientierte sich dabei an der französischen Version des Titels (»Rumeur des Ages« – also »Das Getöse der Zeitalter«) und deutet »Ur-Geräusch« daher als »kosmischen Lärm«, »die Spur längst vergangener Zeiten« sowie als »die Verflechtung der einzelnen Geräusche, die über die Epochen hinweg zu uns gekommen sind«. Doch Dufourt geht noch weiter. Als Vertreter des sogenannten Spectralisme sind für ihn Klang und Klangfarbe ausschlaggebend. Die Spektralisierung des Klanges oder »Geräuschs« und damit die Auffächerung in seine jeweiligen Färbungen versteht sich als Antwort auf den Serialismus. Mit seiner Komposition Ur-Geräusch will Dufourt überdies unmittelbar auf Beethovens Sinfonia Eroica antworten, indem er die »hämmernden Akkordfolgen, bewusst falschen harmonischen Verbindungen« dieser revolutionären Komposition segmentiert und damit gleichsam in »Ur-Geräusche« zurück übersetzt. Damit setzt er »Energien« im Sinne von »inneren Regungen« oder pulsions frei.40 Rilkes Aufzeichnungen zur Musik fallen oft durch ihre Unverhofftheit auf. Nicht selten wirken sie disparat, tauchen aus dem Geschriebenen auf wie ein unvermuteter Ton. Das trifft auch auf den überraschenden Bezug auf Musik in den Nominalreihungen zu, die Rilke über drei Seiten lang in seinen Aufzeichnungen Das Testament vornahm. Die inhaltlich disparaten interpunktionslosen Reihungen, die keinerlei Anspielungen auf Musik erkennen lassen, schließen jedoch mit der Bemerkung: »[…] spielt langsam aber keine Musik reicht an den 38 Manfred Koch: Der Dichter-Sänger : Antikes Modell und spätere Adaptionen. In: Nicola Gess, Alexander Honold (Hg. unter Mitarb. v. Sina Dell’Anno): Handbuch Literatur & Musik. Berlin, Boston 2017, S. 217–245, hier S. 239. 39 Matthias Nofze: Ästhetik der Energie. Gespräch mit Hugues Dufourt. In: General-Anzeiger v. 25. August 2016, S. 6. (Beilage Beethoven Fest Bonn »Revolutionen«). 40 Alle Zitate in diesem Abschnitt ebd.
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Reigen Naumann.«41 Die auffordernde Wendung »spielt langsam« kann sich auf die vorigen Nomen beziehen, gleichsam als eine Tempoangabe für das Lesen und Sprechen dieser Wortfolgen. Mit dem »Reigen Naumann« kann die Musik des Barockkomponisten Johann Gottlieb Naumann (1741-1801) gemeint sein, etwa die Vertonung von Psalm 149: »Sie sollen loben seinen Namen im Reigen«, die Rilke gehört haben kann. Naumanns Musik scheint er hier als Ideal zu begreifen, an die der Klang der vorigen Wortfolgen oder Sprachkomposition nicht heranreiche, da dies für jede Art (Sprach-) Musik zutreffe. Rilkes Verhältnis zur Musik42 charakterisiert ein eklektisches Hören. Als Hörer eines, sagen wir, ganzen Beethoven-Zyklus, sei es der Symphonien oder der Klaviersonaten, wäre er schlicht nicht vorstellbar gewesen. Sein Hören hatte offenbar nichts von einer umfassenden Klangwahrnehmung; vielmehr ergab es sich aus einem Suchen nach Musik, wie er im Tagebuch aus seiner Frühzeit vermerkte.43 Doch kennt seine frühe Lyrik auch die Umkehrung dieser Suche: »Fremde Geige, gehst du mir nach?«44 Das Ich dieses Gedichts sieht sich als ein »Nachbar« derjenigen, die dieser Geige abverlangen »zu singen und zu sagen: Das Leben ist schwerer / als die Schwere von allen Dingen«. Damit ist es das zu hören gezwungen, was andere hören wollen. Ein Widmungsvers für Pauline von Thurn und Taxis vom August 1911 verleiht dieser Konstellation (Instrument – Hörer) nochmals eine andere Wendung: »Viel schon erreicht ein Buch, wird Erfundenes drinnen notwendig: / aber im Geigenton wird das Notwendige kühn.«45 Das Notwendige, Zwingende in der Kunst gewinnt im »Geigenton« noch eine zusätzliche Steigerung, wenn nicht Eigendynamik. Im Gedicht Aus einer Kindheit aus dem Buch der Bilder hat diese Eigendynamik des Klanglichen eine bedrohliche Wirkung. Mutter und Knabe »schauten beide bang nach dem Klavier, / denn manchen Abend hatte sie ein Lied, / darin das Kind sich seltsam tief verfing.«46 Was dem Kind im Lied widerfährt, kann sich auch im Gehör ereignen: In den Aufzeichnungen Maltes findet sich eine Stelle, an der sich der »Nachbar«, seine Geräusche und sein Wesen, im Gehör des IchErzählers verfängt, einnistet und wie »Pneumokokken« durch die Nase zum Gehirn vordringt.47 Die Sinnesorgane werden so zu Brutstätten für pathologische Zustände. Anders im Falle dessen, was Malte von Abelone hört. Ihr Gesang 41 RMR: Das Testament. Faksimile der Handschrift aus dem Nachlass. Im Anhang Transkription der Handschrift. Erläuterungen und Nachwort von Ernst Zinn. Frankfurt a. M. 1974, S. 106. 42 Grundlegend dazu: Egel: »Musik ist Schöpfung«. 43 Vgl. RMR: Tagebücher aus der Frühzeit. Hrsg. v. Ruth Sieber-Rilke u. Carl Sieber. Leipzig 1942, S. 56. 44 SW I, S. 392. 45 SW VI, S. 1232. 46 SW I, S. 185. 47 SW VI, S. 863.
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konnte ihm »Himmel öffnen«, ihn über sich selbst hinaufheben. Man konnte auf dieser Musik, dem ausdrücklich als »männlich« apostrophierten Gesang Abelones (vermutlich eine ausgeprägte Alt-Stimme), »aufrecht aufwärtssteigen«. Zudem verhalf dieser Gesang Malte, sein Misstrauen gegenüber der Musik zu überwinden, das er seit seiner Kindheit hegte: »[…] nicht, weil sie mich stärker als alles forthob aus mir, sondern, weil ich gemerkt hatte, daß sie mich nicht wieder dort ablegte, wo sie mich gefunden hatte, sondern tiefer, irgendwo ganz ins Unfertige hinein […].«48 Musik dislokalisiert. Malte erfuhr sie weniger ästhetisch-temporal als Klangzeitgestaltung, sondern räumlich. Er erlebte an sich wie sich das Akustische seine eigene Räumlichkeit schafft und damit dem Hörenden ein Klangraumgefühl vermittelt. Dieses Motiv sollte Rilke bleiben und im ersten der Sonette an Orpheus ihr gültiges Sprachbild finden: »Da stieg ein Baum. O reine Übersteigung! / O Orpheus singt! O hoher Baum im Ohr!« Noch wichtiger ist in dieser Hinsicht der abschließende Vers: »[…] da schufst du ihnen Tempel im Gehör.«49 Aus dem Pneumokokken-Vergleich ist eine Tempel-Allegorie geworden, aus dem Einnisten ein Schaffen. Im Gehör bildet sich demnach der eigentliche innere Klangraum, dem die Sonette an Orpheus als lyrisches Korpus entsprechen; ja sie selbst bilden ihrerseits einen poetischen Raum, in dem sich das Klangbild der Gedichte und seine/ihre Resonanz entfalten können. Rilke, vielmehr der Erzähler des Malte, wusste noch von einer anderen Art Gehör zu berichten, nämlich von Ohren, die durch Musik erotisiert werden, aber auch von einem Gehör, das »Gott verschlossen hat, damit es keine Klänge gäbe, außer seinen.«50 Gemeint ist die Interpretation von Beethovens Totenmaske, die Malte bei einem Mouleur entdeckt. In ihr verdinglicht sich Musik; sie gewinnt ein erkennbares »Antlitz«, in dem sich der folgende Eindruck zeigt: Eine »unerbittliche Selbstverdichtung fortwährend ausdampfen wollender Musik.«51 Diesem Prozess liegt ein »harter Knoten aus fest zusammengezogenen Sinnen« zu Grunde, womit der Ich-Erzähler sagt, Musik lasse sich in verschiedene Zustandsformen überführen, beziehungsweise sie könne diese annehmen – in diesem Falle das Evaporieren. Diese Episode bietet eine erzählte Metapher, deren Komplexität eine wesentliche Absicht verfolgt: die Einbindung der Musik in natürliche Abläufe, ja buchstäblich in die All-Natur. Aus Beethoven, so der enthusiasmierte Ich-Erzähler Malte, habe sich die Musik »erhoben« wie »der Aufstieg unserer Niederschläge«, um die »Welt mit Musik« zu umwölben und auf die Erde zurück48 49 50 51
Ebd., S. 824. SW I, S. 731. SW VI, S. 779. Ebd.
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zufallen wie Regen. Malte stellt sich ein in der Wüste für Beethoven erbautes »Hammerklavier« vor, zu dem ihn ein »Engel« führte, damit er dem »All« seine Musik spiele »als wärst du der Sturm«.52 Malte kontrastiert diese absolute Reinheit dieser Musik mit dem korrumpierten »unfruchtbaren« Gehör der üblichen Konzertbesucher, das nur hure und »niemals« empfange. Zuletzt ruft er Beethoven mit einer göttlichen Evokation (»Herr«) an, um seine Ausdeutung der Beethovenschen Maske und der in ihr gebündelten Musik zu einer buchstäblich unerhörten Klimax zu führen: »Wo aber, Herr, ein Jungfräulicher unbeschlafenen Ohrs läge bei deinem Klang: er stürbe an Seligkeit oder er trüge Unendliches aus und sein befruchtetes Hirn müßte bersten an lauter Geburt.«53 Das Orgiastische dieses Klangerlebens, seine physische Dimension, verweist auf die scheinbar grenzenlose Fruchtbarkeit im Aufnehmen dieser Musik, sofern das Gehör noch unberührt ist. Das ästhetische Erleben vollzieht sich hier als geschlechtlicher Akt mit dem Gehör als dessen androgynem Organ. Es befruchtet, empfängt und gebiert. Die Musik, diese Beethovensche Musik, hat solchermaßen die Androgynisierung des Gehörorgans bewirkt. So evident es ist, dass sich Rilkes Verhältnis zur Musik und Verständnis von Musikalität im Laufe seines Schaffens veränderte – die markanten Entwicklungsstufen hatte schon Clara M#gr in ihrer pionierhaften Studie Rainer Maria Rilke und die Musik (1960) herausgearbeitet und weitgehend zutreffend bezeichnet54 –, Konstanten lassen sich gleichfalls orten, von denen die frühen Aufzeichnungen Zur Melodie der Dinge, wie gesehen, die wichtigsten versammeln. Zu ihnen gehört auch die Schlusspointe dieser klar strukturierten Notizen, die wieder das Hören thematisiert: Derjenige, welcher die ganze [R. G.: ›breite Lebens-‹] Melodie vernähme, wäre der Einsamste und Gemeinsamste zugleich. Denn er würde hören, was Keiner hört, und doch nur weil er in seiner Vollendung begreift, was die anderen dunkel und lückenhaft erlauschen.55
Dieser Eine wäre der Dichter, später der orphisch inspirierte Sänger, in dessen Einsamkeit sich das Gemeinsame spiegelt oder genauer : einen Echo-Raum findet. Von der Musikalität zur Poetizität – oder sollte man bei Rilke sogar von einer ›Musikalizität‹ des Poetischen sprechen, wobei sich die innere Sprachform seiner Dichtungen auch aus musikalisierten Empfindungen ergab? Doch unterscheidet Rilke emphatisch bereits ein Jahr nach der Niederschrift der thesenhaften Überlegungen zur Melodie der Dinge zwischen dem »lyrischen Klang« 52 53 54 55
Ebd. Ebd., S. 780. Clara M#gr : Rainer Maria Rilke und die Musik. Wien 1960. SW V, S. 425, Hervorhebung durch RMR.
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und der »Melodie in der Musik«: Die »Gesetze« des »lyrischen Klangs« seien »andere«, meint er in einer Rezension, »(unwillkürliche und niegeschriebene) und seine Wirkungen sind von denen einer Sonate oder Symphonie verschieden.«56 Das Zitat zeigt auch, wie entschieden Rilke eine geschriebene Poetik ablehnte und eine solche allenfalls implizit zuließ. Der »lyrische Klang«, könnte man folgern, war für Rilke eine andere Musik, eben der andere Klang und der Klang des unpersönlich Anderen. Demnach ging er von einer spezifisch lyrischen Art des Musikalischen aus. Doch worin besteht sie? Prüfen wir diese Frage an der ersten Strophe des bereits erwähnten Gedichts Der Nachbar: Fremde Geige, gehst du mir nach? In wieviel fernen Städten schon sprach deine einsame Nacht zu meiner? Spielen dich hunderte? Spielt dich einer?57
Die Strophe erzeugt ein sonantisches Feld, einen Umklang, der von diesen Versen ausgeht und diese umgibt. Das Sonanzfeld hat durchaus Verwandtschaft mit dem magnetischen Feld, denn auf ihm richten sich die Sprachlaute und ihre mehr oder weniger leise Resonanz aus, wobei Klang und Deutung, sinnliche Wirkung und Reflexion (hier in Gestalt einer vergewissernden, aber offenbleibenden Frage) nicht unbedingt Pole bleiben, sondern sich wechselseitig durchdringen. Dieses Ausrichten der Sprachlaute ist jedoch instabil, beziehungsweise es generiert seinerseits von Interpretation zu Interpretation verschiedene KlangFiguren, wobei Interpretation durchaus auch eine Rezitation meinen kann. Die sorgfältige Vorbereitung, die Rilke seinen vergleichsweise seltenen öffentlichen Lesungen angedeihen ließ, spricht dafür, dass er diese interpretatorische Dimension des Rezitierens wertschätzte. Interpretation schließt dabei unterschiedliche lautlich-rhythmische Akzentuierungen ein, die das Melos des Gedichts verändern können. Im zitierten Gedicht gehört dazu etwa die Art, wie und wie lange man »sprach« in der Schwebe lässt, bevor man es mit der Folgezeile bindet; wie laut oder leise man »Spielen dich hunderte?« und »Spielt dich einer?« liest; und wie man die durch Interpunktion getrennte Alliteration »[…] Geige, gehst […]« behandelt. Aus diesem konsonanten oder dissonanten Zusammenstimmen ergibt sich das Sonanzfeld des Gedichts, das Rilke gemeint haben dürfte, als er auf den Unterschied aufmerksam machte zwischen »lyrischem Klang« und der »Melodie in der Musik«. Vor diesem Hintergrund mag es reizvoll sein, uns noch einmal dem »UrGeräusch« zuzuwenden. In den Notizen zur Melodie der Dinge ging es um das 56 SW V, S. 463. 57 SW I, S. 392.
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akustisch-poetische Orten von Klangspuren bestimmter Dinge – im weitesten Wortsinne verstanden. Das »Ur-Geräusch« stellt nun die umgekehrte Vorstellung dar : Eine von der Natur vorgeformte »Spur«, die »Kronen-Naht« des Schädels, wird ins Klangliche transponiert und wird damit sinnlich akut. Ein anatomischer Sachverhalt erhält auf diese Weise auch sein sonantes Um-Feld. Doch dieses Phänomen hat auch poetologische Konsequenzen, da sich Sätze und Verse analog zur »Kronen-Naht« denken lassen, ist doch auch ein Satz oder ein Vers der Nahtbereich zwischen zwei Hälften, die eine und die andere Stille, die der Satz entlang seiner selbst miteinander vernäht. Gerade Rilke hatte ja die vielfach wiederholte Vorstellung, dass Worte aus der Stille kommen, aus ihr gehoben und damit geborgen werden. Wenn wir sprechend – oder rezitierend – dieser Verbalnaht nachgehen, entsteht – noch unzweifelhafter als beim »UrGeräusch«-Experiment – eine sprachspezifische, eben satz- oder verstypische Tonfolge. Versucht man, Rilkes ambivalentes Verhältnis zur Musik und sein Verständnis des Musikalischen zu erfassen, erfordert dies, zunächst nach Anhaltspunkten für die besondere Art seines Hörens zu suchen. Viele seiner Verse gleichen daher auch Spuren dieses Hörens. Sie, diese Gedichte, zu deuten, meint daher immer auch, sie zum Klingen zu bringen.
Jacob-Ivan Eidt
»Cave musicam« oder die Problematisierung der Musik im 19. Jahrhundert am Beispiel von Goethe, Nietzsche und Rilke
1.
Einleitung
1944 schrieb Thomas Mann im amerikanischen Exil anlässlich des 50-jährigen Dirigenten-Jubiläums von Bruno Walter in seinem Essay Die Sendung der Musik: Ist die Welt Musik, so ist umgekehrt die Musik das Abbild der Welt, des dämonisch durchwalteten Kosmos […]. Denn sie ist Moral und Verführung zugleich, Nüchternheit und Trunkenheit zugleich, Aufforderung zu höchster Wachheit und Lockerung zu süßem Zauberschlaf zugleich, Vernunft und Widervernunft, – kurz, ein Mysterium, einschließlich all der initiatorisch-erzieherischen Weihen, die seit eleusischen und pythagoräischen Tagen dem Mysterium eigen waren; und ihre Priester und Meister sind Eingeweihte und Praeceptoren der Doppeltheit, der göttlich-dämonischen Ganzheit der Welt, des Lebens, des Menschen und der Kultur.1
Zur Zeit der Niederschrift dieser auf Schopenhauer anspielenden Worte war die Musik bereits ein Problem für Thomas Mann geworden. Hans Rudolf Vaget zufolge schlug die einst »affirmative Darstellung der deutschen Musikkultur« in »eine kritische, ja warnende« um.2 Mann unterbrach die Arbeit an seinem Musiker-Roman Dr. Faustus, um den oben zitierten Essay für den Freund Walter zu schreiben. Dabei hört man in der Schilderung des Wesens der Tonkunst in der Sendung der Musik die Klänge des Teufelspakts nachhallen. Bei dieser Charakterisierung der Musik und ihrer Meister, die für Mann eine Schlüsselrolle in der Verkettung von Musik, Politik und deutscher Identität spielt, prägt Mann den bemerkenswerten Begriff vom »eingeweihten Praeceptor der Doppeltheit«. Um der wachsenden Problematisierung der Musik im 19. Jahrhundert näher zu kommen, die Thomas Mann im 20. Jahrhundert schon als vollendet betrachtete, ziehen wir drei sogenannte »Praeceptoren der Doppeltheit« zu Rate, nämlich Goethe, Nietzsche und Rilke. 1 Thomas Mann: Essays. Bd. 5: Deutschland und die Deutschen: 1938–1945. Hg. v. Hermann Kurzke. Frankfurt a. M. 1996, S. 241. 2 Hans Rudolf Vaget: Seelenzauber. Thomas Mann und die Musik. Frankfurt a. M. 2012, S. 11.
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Die Wahl dieser »Praeceptoren« ist nicht zufällig. Zeitlich vertreten sie nicht nur das ganze 19. Jahrhundert, sondern reflektieren in ihrer Ästhetik auch gewissermaßen die Tendenzen der unmittelbar vorhergegangenen und nachkommenden Epochen, in deren Mitte jene Problematisierung stattfand. Und im Gegensatz zu Thomas Mann ist bei ihnen die Problematisierung der Musik noch im Gange, ein Problem, das noch keine klar umrissenen Formen nachzuweisen hatte, im Werden. Alle drei sind große Lyriker gewesen, wortmächtige Künstler, deren Gedichte selbst vertont wurden. Zudem pflegten alle eine Ästhetik, bei der die Beziehung von Musik und Wort klargestellt werden musste. So klar musste diese Relation sein, dass sie es zuweilen für nötig hielten, sich von der Musik als Kunstform kritisch zu distanzieren. Schließlich repräsentieren alle drei eine gewisse Abkehr von der Entwicklung der herkömmlichen deutschen Musikkultur, die Thomas Mann letztendlich für so gefährlich und verwickelt hielt. Es entspricht durchaus nicht meinem Vorhaben, mit diesem Vergleich eine historische Entwicklungslinie nachzuzeichnen, oder gar einen Kausalzusammenhang zwischen den drei »Praeceptoren der Doppeltheit« herzustellen. Vielmehr geht es darum, Licht auf gewisse gemeinsame Themenkomplexe zu werfen, die dem breiteren Kontext der Problematisierung Gestalt verleihen könnten. Goethe, Nietzsche und Rilke teilen gewisse Ähnlichkeiten in Bezug auf ihre ausgesprochene Ambivalenz der Musik gegenüber. Und wo sie sich konzeptionell voneinander unterscheiden, ist selbst die Divergenz aufschlussreich. Zudem bringt jeder etwas vom Vorgänger mit, und auf diese Weise entsteht eine gewisse Kontinuität des Gedankenganges, ohne dass man von Ursache und Wirkung sprechen muss.
2.
Goethe und das »Urphänomen« der Musik
Im Jahre 1830 besuchte der junge Felix Mendelssohn-Bartholdy den alten Goethe in Weimar. Mendelssohn, der ein Student von Goethes Freund und musikalischem Berater Carl Friedrich Zelter war, versuchte, Goethe auf Bitten des großen Dichters einen Eindruck von der neusten Musik zu verschaffen. Also spielte er ihm eine kleine Musikgeschichte vor. Für den jungen Romantiker Mendelssohn musste jener Vortrag in dem Werk von Ludwig van Beethoven gipfeln, denn für die europäische Musikwelt von 1830 bewirkte Beethoven einen musikhistorischen Paradigmenwechsel sowohl in Bezug darauf, wie man Musik machte, als auch in Bezug darauf, wie man sie als Phänomen und Kunst zu begreifen hatte. Aber nachdem Mendelssohn Händel, Bach, Haydn, und Mozart gespielt hatte, geschah etwas Bemerkenswertes, das Mendelssohn später in seinen Erinnerungen festhielt.
Die Problematisierung der Musik im 19. Jahrhundert
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An den Beethoven wollte er gar nicht heran; ich sagte ihm aber, ich könne ihm nicht helfen, und spielte ihm nun das erste Stück der c-moll-Symphonie vor. Das berührte ihn ganz seltsam. Er sagte erst: »Das bewegt aber gar nichts, das macht nur staunen; das ist grandios!« Und dann brummte er so weiter und fing nach langer Zeit wieder an: »Das ist sehr groß, ganz toll! Man möchte sich fürchten, das Haus fiele ein. Und wenn das nun alle die Menschen zusammen spielen!« – Und bei Tische, mitten in einem anderen Gespräch, fing er wieder damit an.3
Interessant an Goethes Reaktion ist die Ambivalenz, die in der Goetheforschung lange als mangelndes Musikverständnis fehlgedeutet wurde.4 Beethovens Musik erwies sich als problematisch für Goethe nicht so sehr, weil sie ihm missfiel, sondern weil sie nicht in Goethes Weltbild passte. Goethe bezog die Musik wie so viele Dinge auf sein Werk und sein Lebensgefühl. Dies sieht man deutlich am Beispiel des sogenannten Dur-Moll-Streites von 1808. Bei diesem Streit zwischen Goethe und seinem Freund Zelter geht es um die Gleichberechtigung der Tongeschlechter. Zelter charakterisierte die Dur-Tonart als die Ursprünglichere,5 indem er erklärt: »Die Molltonart unterscheidet sich von der Durtonart durch die kleine Terz, welche an die Stelle der großen Terz gesetzt wird.«6 Weiter heißt es bei Zelter, dass auf natürliche, d. h. mathematische Weise, die kleine Terz niemals durch Teilung zu erzielen sei wie im Falle der großen Terz. Die große Terz sei ein Grundton, und Moll werde also aus dem Dur künstlich hergestellt.7 Weil Zelter nur die Dur-Tonart als natülich gelten lässt, entpuppt er sich, um Dieter Borchmeyers Begriff zu borgen, als »Dur-Monist«.8 Goethe hingegen war ein entschiedener »Dur-Moll-Dualist«;9 der Unterschied zwischen beiden Tongeschlechtern hat Folgen nicht nur für Goethes Musikauffassung, sondern auch für sein Weltbild. Goethe wollte die Tonarten als gleichberechtigt sehen, denn er meinte, dass das eigentliche Wesen der Musik aus der Polarität von Dur und Moll bestehe. 1810 schrieb Goethe in Verbindung mit und parallel zu der Farbenlehre die Skizze zu einer Tonlehre, die auf seinem naturphilosophischen Begriff der Polarität basiert. In seiner 1828 geschriebenen Erläuterung zu dem aphoristischen Aufsatz Die Natur (1783) beschreibt der alte Goethe im Rückblick auf seine damaligen Gedanken die Naturphänomene als Erscheinungen, denen etwas Unerforschliches, Unbedingtes und sich selbst 3 Zit. n. Hedwig Walwei-Wiegelmann: Goethes Gedanken über Musik. Eine Sammlung aus seinen Werken, Briefen, Gesprächen und Tagebüchern. Frankfurt a. M. 1985, S. 41. 4 Vgl. Heinz Kindermann: Das Goethebild des XX. Jahrhunderts. Wien/Stuttgart 1952, S. 308. 5 Dieter Borchmeyer : Anwalt der kleinen Terz – Goethe und die Musik. In: Thomas Daniel Schlee (Hg.): Beethoven, Goethe und Europa, Almanach zum Internationalen Beethovenfest Bonn 1999. Laaber 1999, S. 41–62, hier S. 49. 6 Zit. n. Walwei-Wiegelmann: Goethes Gedanken über Musik, S. 203. 7 Dietlinde Küpper: Musik in Goethes Leben: zum Sehen geboren? Weimar 2011, S. 170. 8 Borchmeyer : Anwalt der kleinen Terz, S. 48. 9 Ebd.
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Widersprechendes zu Grunde liege.10 Jedoch liegt die Wahrnehmung dieses sonst Unerforschlichen in der Anschauung von dem, was Goethe »die zwei großen Triebräder aller Natur« nennt,11 nämlich die Begriffe von Polarität und Steigerung. Er klassifiziert diese Begriffe, indem die Polarität der Materie und die Steigerung dem Geist zugeordnet werden. Die Erscheinung von Geist und Materie als Ganzes ist wiederum in dem sogennannten »Urphänomen« wiederzuerkennen.12 Das »Urphänomen« ist ein spezifischer Einzelvorgang, der Universelles und Essentielles gleichzeitig enthält. Man sieht das Allgemeine im Einzelnen und so lebt das Ganze weiter in der Teilerscheinung.13 Weiter dient das »Urphänomen« als transzendentale Erkenntnisgrenze. Es repräsentiert für Goethe eine gewisse Limitierung des menschlichen Verstandes und wird als solche mit der Unbegreiflichkeit der Natur in Verbindung gebracht. Aller Natur wohne eine gewisse undurchschaubare Polarität inne, die das wahre Wesen der Welt nur erahnen lasse, und die wiederum auch als »Urphänomen« von einem Subjekt erlebt und erkannt werde. Für Goethe existiert die Dur-Moll-Polarität in der Natur und wird als akustischer Vorgang vom erfahrenden Subjekt begriffen und innerlich gesteigert. Dur treibt ins Objektive, zur Tätigkeit in die Weite, und Moll ins Subjektiv-Wehmütige nach Innen.14 So versteht Goethe die barocke Affektenlehre und die musikalische Wirkung auf die Gemüter als bezogen auf die zugrundeliegende Einheit von Natur und Geist. Wenn hingegen die Musik aus dieser Natur-Geist-Einheit ausgesondert wird, entsteht ein Problem, das Goethe vermeiden will. Im Gegensatz zu seinen romantischen Zeitgenossen sucht Goethe in seinem Musikbild die Einheit von Natur und Kunst und damit auch die Wechselwirkung und das Gleichgewicht von Subjekt und Objekt. Die Romantik trennt die Musik von der konkreten Welt und steigert das Subjektive ins Unermessliche. Goethe sieht die Vernunft als ausgleichendes Element im Subjekt-Objekt-Verhältnis. Ebenso teilt er die Ansicht der alten platonischen Lehre, dass rein instrumentale Musik ohne Logos, also ohne Wort-Komponente, eine minderwertige Art von Musik sei.15 Goethe bevorzugt den Gesang, wie er in seinen Schriften zur Natur10 Vgl. Johann Wolfgang von Goethe: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hg. v. Erich Trunz. München 1998, Bd. XIII, S. 48. 11 Ebd. 12 Zu Goethes Begriff vom »Urphänomen« vgl. John Erpenbeck: Urphänomen (Art.). In: Bernd Witte u. a. (Hg.): Goethe-Handbuch in vier Bänden. Bd. 4.2: Personen, Sachen, Begriffe L–Z. Hg. v. Hans-Dietrich Dahnke, Regine Otto. Stuttgart, Weimar 1998, S. 1080–1082. 13 Vgl. Henri Bortoft: The Wholeness of Nature Goethe’s Way of Science. Trowbridge 2007, S. 22. 14 Vgl. Claus Canisius: Goethe und die Musik. München 1999, S. 200. 15 Vgl. Barbara Mühlenhoff: Goethe und die Musik, Ein musikalischer Lebenslauf. Darmstadt 2011, S. 108.
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und Wissenschaftslehre erklärt: »Wäre die Sprache nicht unstreitig das Höchste, was wir haben, so würde ich Musik noch höher als Sprache und als ganz zuoberst setzen«.16 Einerseits stellt Goethe ohne Zweifel das Wort über die wortlose Musik. Andererseits schreibt er der Musik einen höheren Wert zu als die platonische Lehre. Wie im »Urphänomen«, wo das Begreifliche an seine Grenzen stößt, ohne aber an Bedeutung zu verlieren, schätzt Goethe auch hier das Irrationale, Unbegreifliche in der Natur. Goethes klassische Suche nach Harmonie und Gleichgewicht in allen Dingen zeigt sich in seiner Kunstauffassung, die das Elementarische in der Natur mit dem fertigen Kunstobjekt in Verbindung bringt. Goethe verdeutlicht dies mit seiner Unterscheidung zwischen religiöser und profaner Musik, die er Eckermann vortrug: In der Poesie, sagte Goethe, ist durchaus etwas Dämonisches, und zwar vorzüglich in der unbewußten, bei der aller Verstand und alle Vernunft zu kurz kommt, und die daher auch so über alle Begriffe wirkt. Desgleichen ist es in der Musik im höchsten Grade. Denn sie steht so hoch, daß kein Verstand ihr beikommen kann, und es geht von ihr eine Wirkung aus, die alles beherrscht und von der niemand imstande ist, sich Rechenschaft zu geben. Der religiöse Kultus kann sie daher auch nicht entbehren; sie ist eins der ersten Mittel, um auf die Menschen wunderbar zu wirken.17
Gemäß Goethes pietistischen Wurzeln spielt die Vernunft für ihn keine zentrale Rolle in der religiösen Erfahrung. Aufgrund ihres elementarischen, nicht-logozentrischen Charakters darf die Musik im liturgischen Kontext ungezügelt auftreten. Im Bereich der Poesie aber ist es notwendig, das Dämonische und Elementarische durch das logisch zu begreifende Wort auszugleichen. Für Goethe ist die Poesie halb dämonisch/elementarisch/irrational, also musikalisch, und halb logisch/logo-zentrisch im Sinne des begrifflich bestimmten Wortes. Poesie ist die Ehe von Musik und Wort, von Irrationalem und Rationalem, eine Einheit von Polaritäten in der menschlichen Kunsterfahrung. Musik ist die elementarische oder Ur-Kraft, der die Sprache generell und die poetische Sprache insbesondere entspringt. Für Goethe ist Kunst eine morphologische Entwicklung, die vom Elementarischen weg- und zum Verfeinerten hinführt. Das Elementarische ist sowohl Voraussetzung der Kunst als auch ihre größte Gefahr. Ungehindert kann das Elementarische die Oberhand gewinnen und den harmonisierenden Kunsttrieb überwältigen. Die Folge ist eine Kunst, die aus dem Gleichgewicht gerät. Dies empfand Goethe auch in Bezug auf Beethovens Tonkunst. 1811 besuchte der Kunsthistoriker Sulpiz Boisser8e Goethe in Weimar. Auch zu Gast bei Goethe war ein Freund von Beethoven, der Baron Oliva aus Wien. In 16 Zit. n. Walwei-Wiegelmann: Goethes Gedanken über Musik, S. 55. 17 Zit. n. ebd., S. 56.
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einem Brief an seinen Bruder erzählt Boisser8e von einem Gespräch mit Goethe, das sowohl die Malerei als auch Beethovens Musik zum Thema hatte. Während Baron Oliva etwas von Beethoven auf dem Klavier spielte, betrachteten Goethe und Boisser8e die Arabesken von Philipp Otto Runge, denen Goethe sehr kritisch gegenüberstand. Boisser8e charakterisiert Beethoven und Runge als typisch für den Zeitgeist. Goethe gibt ihm Recht und beschreibt die allegorischen Bilder als wahnsinnig, aber schön zugleich.18 Boisser8e notierte das Gespräch: Ja, ganz wie die Beethovensche Musik, die der da spielt, wie unsere ganze Zeit. »Freilich«, sagte er, »das will alles umfassen und verliert sich darüber immer ins Elementarische, doch noch mit unendlichen Schönheiten im einzelnen. Da sehen Sie nur, was für Teufelszeug, und hier wieder, was da der Kerl für Anmut und Herrlichkeit hervorgebracht, aber der arme Teufel hat’s auch nicht ausgehalten, er ist schon hin, es ist nicht anders möglich, wer so auf der Kippe steht, muß sterben oder verrückt werden, da ist keine Gnade.«19
Es ist klar, dass Goethes Reaktion auf Beethoven mit seinen Begriffen von dem Elementarischen und dem Urphänomen zusammenhängt. Er ist einerseits angezogen von der Urkraft der Poesie, lehnt aber andererseits deren destruktiven Einfluss auf sein Kunstideal ab. Hier zeigt sich Goethes Aneignung der barocken Affektenlehre im Zusammenhang mit dem eigenen Weltbild, und man findet hier auch eine mögliche Erklärung für seine Meinung, dass Beethovens Musik staunen lässt, ohne aber zu bewegen, bzw. für seine Furcht, das Haus stürze ein. Wie Dieter Borchmeyer es formulierte, sah Goethe in Beethoven »eine Verkörperung des durch Subjektivität gefährdeten modernen Künstlertums.«20 Das gefährdete Künstlertum ist auch wohl das Bindeglied zum nächsten »Praeceptor der Doppeltheit«.
3.
Nietzsche und die Romantik
Nietzsche erkannte vielleicht deutlicher als Goethe die allgemeine metaphysische Gefahr der neuen Musik als absoluter autonomer Kunst. Während gewisse isolierte Tendenzen der zeitgenössischen Musik Goethe problematisch vorkamen, war die Musikproblematik bei Nietzsche ausgeprägter und zeigte weitreichendere Folgen. Wie eben dargelegt, wuchs Goethes Musikbegriff aus seinem Naturbegriff heraus. Und als solcher blieb er dem spätromantischen Musikverständnis fern. Nietzsche wollte sich ebenfalls vom Romantischen distanzie18 Zit. n. ebd., S. 193. 19 Zit. n. ebd. 20 Borchmeyer: Anwalt der kleinen Terz, S. 58.
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ren, aber wohl aus anderen Gründen. Die Flucht aus der Welt und den Ich-Verlust im romantischen Musikerlebnis erkannte er schon in der Geburt der Tragödie: […] erst aus dem Geiste der Musik heraus verstehen wir eine Freude an der Vernichtung des Individuums. Denn an den einzelnen Beispielen einer solchen Vernichtung wird uns nur das ewige Phänomen der dionysischen Kunst deutlich gemacht, die den Willen in seiner Allmacht gleichsam hinter dem principio individuationis, das ewige Leben jenseit aller Erscheinung und trotz aller Vernichtung zum Ausdruck bringt.21
Deutlich klingen hier E.T.A. Hoffmanns Worte über Beethoven und seine das Ich vernichtende Musik nach, aber diesmal unter Bezugnahme auf das Tragische und die Rolle des Apollinischen bzw. des Dionysischen. Nietzsche sah Dionysos als ein nötiges Gegengift zum dekadenten Zeitgeist. Goethe hingegen sah eine Gefahr darin, wenn das Elementarische nicht durch Form und Verstand gezügelt und positiv gelenkt wird. Nietzsche aber interpretierte Goethes erbauliche Ansicht als ein grundlegendes Missverständis der alten Griechen,22 denn er verstand das Griechentum als eine Lebensbejahung, die aber aus einer dunklen Tragik geboren wurde. Er erklärt dies durch die Wechselwirkung des Apollinischen und des Dionysischen: Die metaphysische Freude am Tragischen ist eine Uebersetzung der instinctive unbewussten dionysischen Weisheit in die Sprache des Bildes: der Held, die höchste Willenserscheinung, wird zu unserer Lust verneint, weil er doch nur Erscheinung ist, und das ewige Leben des Willens durch seine Vernichtung nicht berührt wird. »Wir glauben an das ewige Leben«, so ruft die Tragödie; während die Musik die unmittelbare Idee dieses Lebens ist.23
Die Ewigkeit des Lebens wird innerhalb von Schopenhauers Willensmetaphysik ausgedrückt. Das Dionysische als musikalisches Prinzip freut sich des Ich-Verlusts, denn die Vernichtung des Individuums dient zur Freilegung des Willens und zur Auflösung des Individuationsprinzips. Das Urerlebnis in der Kunst sei die Erfahrung des Ich-Verlusts als Lebenswahrheit, gepaart mit der apollinischen Bejahung des Lebens zugunsten der Ewigkeit der Erscheinung. Das Leben als Wille sei ewig, der individuelle Mensch aber vergehe wie ein Traum. Wichtig für Nietzsche ist nun, dass die Transzendenz als Hindernis zu jener Lebenswahrheit relativiert werden muss. Die Natur und das Diesseitige mitsamt der scheinbaren Kurzlebigkeit des Individuums müssen aufgewertet und im tragischen Kontext neu evaluiert werden. Alles, was dem im Wege stünde, akzeptiert Nietzsche nicht. Hier werden der Sokratismus, das Christentum und die 21 Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. München 1999, Bd. 1, S. 108, Hervorhebung durch J.-I. E. 22 Vgl. ebd., Bd. 6, S. 159. 23 Ebd., Bd. 1, S. 108.
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Romantik zur Zielscheibe seiner Kritik. Interessant ist nun das Musikproblem, das aus diesem Kontext hervorgeht. Zur Zeit der Niederschrift der Geburt der Tragödie verfasste Nietzsche ein Fragment über Musik und Sprache. Carl Dahlhaus machte auf zwei bemerkenswerte Aspkete dieser Schrift aufmerksam: Zu einer Zeit, in der Nietzsches Freundschaft mit Wagner noch nicht getrübt war, sind bereits die Anfänge seiner späteren Wagnerkritik zu erkennen; außerdem formuliert Nietzsche in diesem Fragment fast unbewusst einen umfassenden Begriff von absoluter Musik, der die latente Einheit der Musikästhetik des 19. Jahrhunderts ausdrückt.24 Darin sehen wir allerdings den klarsten Ausdruck von Nietzsches eigener problematischer Musikauffassung, die erst Rilke dreißig Jahre später als selbstbewusster Poet wieder aufnehmen wird. Ohne sich in Nietzsches philosophischen Gedankengang bezüglich der Musik zu vertiefen, kann man hier ein entscheidendes Problematisierungsmoment identifizieren. Nietzsches Fragment über Musik und Sprache, das Wagner deutlich, wenn auch nicht öffentlich kritisiert, enthält nicht nur eine klare Formulierung der Musikästhetik seiner Zeit, sondern auch eine Verstärkung ihres transzendierenden romantischen Charakters. Während Nietzsche die Neigung der abendländischen Metaphysik zur Transzendenz verwirft, findet sich hier ein eher unbewusstes Bekenntnis zum metaphysischen Musikideal. Das Dionysische als tragisches Verständnis des Lebens verwirklicht sich als existentielle Erkenntnis der eigenen Sterblichkeit. Wo das Dionysische fehlt, fehlt auch die Relevanz der Diesseitigkeit als apollinischer Drang, sie ästhetisch rechtfertigen zu müssen.25 Aber in seinem Musikverständins bzw. in seiner Auffassung von Wort und Sprache verankert Nietzsche die Musik in einer Metaphysik, die tendenziell von aller Diesseitigkeit abzulenken droht. Nietzsche geht von Schopenhauers Willensmetaphysik aus, die Platon und Kant viel zu verdanken hat, assimiliert dabei allerdings auch Aspekte der Romantik. Das Zerstörerische im Dionysischen macht die Individuation zunichte und legt den Willen und damit das Ureine bloß. Wie bei den Romantikern aber steht die Musik eben diesem Ursprung sehr nah. Nietzsche formuliert es so: Was dagegen den Ursprung der Musik betrifft, so habe ich schon erklärt, daß dieser nie und nimmer im ›Willen‹ liegen kann, vielmehr im Schooße jener Kraft ruht, die unter der Form des ›Willens‹ eine Visionswelt aus sich erzeugt: Der Ursprung der Musik liegt jenseits aller Individuation, ein Satz, der sich nach unserer Eröterung über das Dionysische aus sich selbst beweist.26 24 Vgl. Carl Dahlhaus: Between Romanticism and Modernism. Berkeley 1989, S. 39. 25 Vgl. Stefan Lorenz Sorgner : Nietzsche. In: Ders., Oliver Fürbeth (Hg.): Music in German Philosophy. Chicago 2010, S. 141–163, hier S. 151f. 26 Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Bd. 7, S. 365, Hervorhebung durch F. N.
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Für Nietzsche wird also die Musik wie der Wille dem principio individuationis nicht ausgesetzt. Weiter heißt es: »Der ›Wille‹, als ursprünglichste Erscheinungsform, ist Gegenstand der Musik: in welchem Sinne sie Nachahmung der Natur, aber der allgemeinsten Form der Natur genannt werden kann«.27 Wie Goethe versteht Nietzsche Musik als Teil der Natur, aber eben nur als unindividualisierten Teil. Nietzsche will damit zeigen, dass Musik die Gefühle weder erzeugt noch darstellt, und nur den Willen selbst als Gegenstand hat, der ebenfalls jenseits der Individuation liegt. Später wird das auch die Basis für seine Wagnerkritik sein. Wagners Musik mache krank, weil sie auf theatralische Art und Weise die Gefühle bloß anreize, aber dem Zuhörer nicht zur tragischen dionysischen Erkenntnis verhelfe. Musik müsse dem Leben dienen. Wagner wird deswegen als Schauspieler und Betrüger beschimpft: »Wer Gefühle als Wirkungen der Musik davonträgt, hat an ihnen gleichsam ein symbolisches Zwischenreich, das ihm einen Vorgeschmack von der Musik geben kann, doch ihn zugleich aus ihren innersten Heiligthümern ausschließt.«28 Die Ambivalenz, die Nietzsche der Musik in späteren Jahren entgegenbringt, rührt von der anfänglichen Begeisterung für Wagner und der darauf folgenden bitteren Enttäuschung her. Sowohl Nietzsches positivistische Phase als auch sein Versuch, Goethe als anti-romantisches Vorbild dienstbar zu machen,29 sind Zugeständnisse, dem Seelenzauber der Musik verfallen zu sein. In Menschliches Allzumenschliches sieht Nietzsche der Gefahr ins Auge: Ich began damit, dass ich mir gründlich und grundsätzlich alle romantische Musik verbot, diese zweideutige grossthuerische schwüle Kunst, welche den Geist um seine Strenge und Lustigkeit bringt und jede Art unklarer Sehnsucht, schwammichter Begehrlichkeit wuchern macht. »Cave musicam« ist auch heute noch mein Rath an Alle, die Manns genug sind, um in Dingen des Geistes auf Redlichkeit zu halten; solche Musik entnervt, erweicht, verweiblicht, ihr »Ewig-Weibliches« zieht uns – hinab!30
Wie Dahlhaus anmerkt, formulierten nur Schlegel, Hoffmann und Nietzsche ein Musikverständnis, das ohne Einschränkung ans Metaphysische gebunden war. Gefühle bildeten nicht die Grundlage von Musik, sondern waren im Gegenteil nur deren Gleichnisse. Sie waren sekundär, und hierin fand die Musik ihre Autonomie begründet.31 Aber es war eben diese Autonomie der Welt gegenüber der Erscheinung, die die Musik auch für die anderen Künste problematisch
27 Ebd. 28 Ebd. 29 Vgl. Adrian Del Caro: Nietzsche contra Nietzsche. Creativity and the Anti-Romantic. Baton Rouge 1989, S. 97. 30 Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Bd. 2, S. 373. 31 Vgl. Dahlhaus: Romanticism and Modernism, S. 38.
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machte. Diese Problematik spürte Rilke um die Jahrhundertwende stärker als der Philosoph.
4.
Rilke und der Ursprung der Dichtung
Rilke fand seinen Weg zu Nietzsche auf der Suche nach dem Ursprung der Dichtung.32 Diese Suche führte ihn auch letztendlich zur Frage nach der Komplementarität von Wort und Musik und zum Problem der Autonomie der Musik im Kontext der gesamtkünstlerischen Vision seiner Zeit.33 Rilkes Interesse an Nietzsche stammt gewissermaßen aus alten Problemen um den Ursprung der Kunst und demzufolge um erkenntnistheoretische Fragen nach dem Verhältnis von Subjekt und Objekt, Welt und Ich, Geist und Materie. Mit Rilkes Lektüre von Die Geburt der Tragödie beginnt die Formulierung der eigenen Musikauffassung, die eine jahrelange Entwicklung durchmachen wird. Darüber hinaus sind Spuren seiner Beschäftigung mit Nietzsche überall in Rilkes Werk zu finden.34 Obwohl Rilke, ganz wie Goethe, sein eigenes idiosynkratisches Bild von der Musik formte, werden auch Nietzsches Ausgangspunkt, philosophischer Kontext und Problemkreis berücksichtigt, selbst wenn es Rilke weniger darum geht, tiefer in Nietzsches Gedankenwelt einzudringen. Er hat beispielsweise weder Wagners zentrale Rolle für Nietzsches Frühwerk begriffen,35 noch die geistesgeschichtliche Relevanz von Schopenhauer und Kant zur allgemeinen Themengeschichte gewürdigt.36 Da Rilkes Vorgehensweise jedoch durch Nietzsches Problemstellung mitgeprägt wird, bleibt der Problematisierungscharakter der Musik bestehen, auch wenn bei Rilke die Akzente anders liegen. Rilke ist bemüht, diese Problematisierung auf seine Weise zu lösen, weil sie eine zentrale Rolle für sein eigenes Dichterverständnis spielt. In dieser Hinsicht steht er Goethe sehr nah, der sich ebenso konsequent mit der gängigen Philosophie beschäftigte, wenn es darum ging, sich selbst und die Welt dichterisch zu etablieren. In seinen Marginalien zu Friedrich Nietzsche geht Rilke auf Nietzsches Begriffspaar des Apollinischen und Dionysischen als Ursprung der Kunst ein. Er folgt Nietzsche auch in wesentlichen Teilen dieser Auffassung. Bemerkenswert 32 Vgl. Antonia Egel: »Musik ist Schöpfung«. Rilkes musikalische Poetik. Würzburg 2014 (Klassische Moderne, Bd. 23), S. 59f. 33 Vgl. Rüdiger Görner : Rainer Maria Rilke. Im Herzwerk der Sprache. Wien 2004, S. 151–153. 34 Vgl. Egel: »Musik ist Schöpfung«, S. 57f. 35 Vgl. Claude David: Eine verfehlte Begegnung. Rilke und Nietzsche. In: Heinz Gockel, Michael Neumann, Ruprecht Wimmer (Hg.): Wagner – Nietzsche – Thomas Mann. Festschrift für Eckhard Heftrich. Frankfurt a. M. 1993, S. 163f. 36 Vgl. KA IV, S. 170.
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ist, dass seine Äußerungen zu diesem Text auch eine gewisse Affinität zu Nietzsches Fragment über Sprache und Musik aufweisen. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass Rilke diesen Text aus Nietzsches Nachlass kannte, aber die gedankliche Nähe zu den im Fragment enthaltenen Ideen verrät die Tiefe der Auseinandersetzung mit Nietzsche. Wenn Rilke von der Musik als »der große Rythmus des Hintergrunds«, als nicht zu ertragende »unangewandte Kraft« oder sogar als »der freie Überfluß Gottes« spricht,37 spiegelt er Nietzsches Behauptung wider, dass der Ursprung der Musik jenseits aller Individuation liege. Dies wird noch klarer, wenn Rilke meint, dass die Musik nicht in unsere Werke steigt, sondern uns ganz und gar umgeht.38 Wie Antonia Egel gezeigt hat, unterscheidet Rilke zwischen Musik als individueller Kunst und Musik als Ursprung.39 Jeder Schöpfungsakt ist eine Art Individuation. Wenn die Musik jenseits der Individuation liegt, ist sie ein metaphysischer Ausdruck einer allumfassenden Einheit von derselben. Hierin äußerte sich Nietzsches unbewusste Rückkehr zur Romantik und seine ungewollte Verstärkung der Autonomie der Musik allen anderen Künsten gegenüber. Rilke folgt ihm auch in diesen Gedanken. Zentral für den Autonomiebegriff der romantischen Musik war das romantische Prinzip des Poetischen, das Friedrich Schlegel in seinem Gespräch über die Poesie als eine ursprüngliche und allen Kreaturen innewohnende Einheit des Gesamtlebens formulierte. Das Poetische repräsentiert jedoch etwas anderes als die Vernunft und das ihr zugehörende Wort: »Diese aber ist das Erste, Ursprüngliche, ohne die es gewiss keine Poesie der Worte geben würde.«40 Auch Schelling integrierte die Idee des Poetischen in seine Philosophie, die ähnlich wie bei Goethe an eine Naturphilosophie anknüpfte. Das berühmte Diktum von Schelling, »Die Natur soll der sichtbare Geist, der Geist die unsichtbare Natur seyn«,41 drückt nicht nur die metaphysische Einheit der Welt aus, sondern auch die Sonderstellung der Kunst als höchstes Phänomen, wo »bewußte und unbewußte Natur gleichzeitig erscheinen.«42 Hier treffen sich Goethe und die Romantiker im Ausdruck eines geteilten Daseinsgefühls, was Wolfdietrich Rasch das Zentralerlebnis einer Generation nennt: »die Erfahrung der Welt durch das Medium der Dichtung.«43 37 38 39 40
Ebd., S. 161, Hervorhebung durch RMR. Ebd. Vgl. Egel: »Musik ist Schöpfung«, S. 63. Friedrich Schlegel: Kritische und theoretische Schriften. Hg. v. Andreas Huyssen. Stuttgart 1994, S. 166. 41 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Schelling. Ausgewählt u. vorgestellt v. Michaela Boenke. München 1995 S. 132. 42 Wolfdietrich Rasch:Die Zeit der Klassik und der frühen Romantik 1775–1805. In: Heinz Otto Burger (Hg.): Annalen der deutschen Literatur : Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart 1962, S. 465–550, hier S. 536. 43 Ebd., S. 537.
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Obwohl sich Goethes ästhetische Anschauung von Schellings spekulativem Idealismus im Wesentlichen abhebt, teilen sie dessen Ausgangspunkt. Die Welt wird ins Wort verwandelt,44 eine Formel, die Rilke zum Leitwort seines Schaffens als Verwandlung des Sichtbaren ins Unsichtbare umformuliert. Aber bei der romantischen Formulierung des Poetischen liegt ein metaphysisches Problem vor, wenn die Musik von der Welt getrennt wird. Das Poetische war für die Romantiker nicht nur Sache der Dichtung, sondern die gemeinsame Substanz aller Kunst. Es waren Tieck und Hoffmann, die die instrumentale Musik ohne logos-Komponente als die reinste, romantischste Form der Kunst krönten.45 Sie ist damit ursprünglicher und heiliger zugleich, dem Ureinen und der Weltseele näherstehend. Eine logische Folge dieser Weltanschauung war die Distanzierung des Poetischen als Ursubstanz von der physischen, erfahrbaren Welt, als Voraussetzung eines jeden ästhetischen Erlebnisses. Die Musik steht diesem vereinheitlichenden Ursprung näher als das einfache Wort, das wiederum als Artikulationsvermögen des aus der Individuation herauskommenden Menschen angesehen wird. Das ist im Endeffekt die Umkehrung von Goethes Musikverständnis, das das Wort höher bewertet als das Elementarische in der Musik, weil dieses erst durch das Wort zur höchsten Potentialität im Menschen gesteigert wird. Während Goethe sich vom Elementarischen entfernen will, kehren die Romantiker zu diesem, zum Ursprung zurück. Goethes Ästhetik steigert mäßig das Subjekt und stärkt das Individuum sinnlich und sittlich im Kunsterlebnis. Nietzsche erhebt das Elementarische im Individuum, aber gleicht es simultan mit dem Apollinischen aus. Die Romantiker hingegen lösen sich darin auf, was am Ende den IchVerlust bedeutet, wie ihn Hoffmann bei Beethoven findet: Seine Musik »vernichtet uns bis auf den Schmerz der unendlichen Sehnsucht.«46 Bei Rilke wird die Ich-Stärkung im Subjekt-Objekt-Verhältnis von großer Bedeutung. Er greift nun tastend zur Welt der Dinge und zur Poesie als etwas Dasein-Rettendem angesichts der romantischen Auflösung durch die Musik.47 In den Marginalien ist zu lesen: »In der plastischen Kunst überwindet Apollo das Leiden des Individuums durch die Verherrlichung der Ewigkeit der Erscheinung, während in der dionysischen geradezu die ewige Flucht der Erscheinung gefeiert wird.«48 Dieser Anmerkung folgen Kommentare über Lyrik und Musik, die aus Nietzsches Ausführungen zum Unterschied zwischen Musik und Wort herzuleiten sind. Auch in seinem Fragment über Sprache und Musik 44 45 46 47
Ebd. Vgl. Carl Dahlhaus: Die Idee der absoluten Musik. Kassel, München 1978, S. 69f. E.T.A. Hoffmann: Schriften zur Musik. Singspiele. Hg. v. Viktor Liebrenz. Berlin 1988, S. 25. Vgl. August Stahl: ›Ein paar Seiten Schopenhauer‹. Überlegungen zu Rilkes SchopenhauerLektüre und deren Folgen. In: Schopenhauer-Jahrbuch 70 (1989), S. 174–187, hier S. 182. 48 KA IV, S. 166.
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meint Nietzsche, dass Musik weder Gefühle noch Bilder zum Gegenstand haben könne. Unser Versuch, die Musik an uns und an die Welt der Dinge zu binden, verschließt uns bloß ihre Wahrheit als etwas, das dem Ursprung und dem Ureinen nahesteht. Nietzsche schreibt: Wenn also der Musiker ein lyrisches Lied componiert, so wird er als Musiker weder durch die Bilder, noch durch die Gefühlssprache dieses Textes erregt: sondern eine aus ganz andern Sphaeren kommende Musikerregung wählt sich jenen Liedertext als einen gleichnisartigen Ausdruck ihrer selbst. Von einem nothwendigen Verhältniß zwischen Lied und Musik kann also nicht die Rede sein; denn die beiden hier in Bezug gebrachten Welten des Tons und des Bildes stehn sich zu fern, um mehr als eine äußerliche Verbindung eingehen zu können.49
Ähnlich spricht Rilke von der Programmmusik und vom Gebrauch der Musik für eine Lyrik, die deren gar nicht bedarf. Dies ist auf den musikalischen Ursprung der Dichtung zurückzuführen. Hierin sind sich Goethe, Nietzsche und Rilke einig. Goethes Kommentare zu der Vertonung seiner Lyrik ähneln sogar denen von Rilke, auch wenn sie mit Hilfe von Zelter technisch ausgemalt sind. Rilke sieht in der Anwendung der Musik auf die Lyrik einen Missbrauch, denn diese habe die Musik schon in sich, und jegliche Vertonung sei überflüssig, wenn man Musik hier […] im Sinne jenes primären Rhythmus des Hintergrundes auffaßt, mit dessen Erlauschen das lyrische Schaffen beginnt, das mit dessen Erlösung an steigenden Bildern sich genugtut. Die meisten Gedichte sind nicht Bilder, erzwungen von den Schauern vor der vorbeiströmenden, unverbrauchten fremden Musik […].50
Was man hier deutlich merkt, ist die strenge Trennung von Musik als Flucht und Wort als Verankerung in der Welt der Individuation. Wie Goethe erkennt Rilke die Notwendigkeit der Musik für die Lyrik als deren Ursprung an, fürchtet aber zugleich ihre ungebändigte Wirkung. Denn die Musik habe als ihren Gegenstand etwas jenseits aller Individuation. Lyrik wird jetzt verstanden als diesseitiger Schöpfungsakt der Individuation, als apollinische Verherrlichung der Ewigkeit der Erscheinung. An dieser, also an den Dingen, durch die er das eigene Ich zu stärken suchte, orientiert sich Rilke. In einem Brief über Rodin spricht Rilke sein Misstrauen gegenüber der Musik aus. Er nimmt Rodin zum Vorbild eines Künstlers, dessen Arbeit an der IchFindung den Dingen gewidmet war : Seine Kunst war von allem Anfang an Verwirklichung (und das Gegentheil von Musik, als welche die scheinbaren Wirklichkeiten der täglichen Welt verwandelt und noch weiter entwirklicht zu leichten, gleitenden Scheinen. Weshalb denn auch dieser Ge49 Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Bd. 7, S. 366, Hervorhebung durch F. N. 50 KA IV, S. 166f.
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gensatz der Kunst, dieses Nicht-ver-dichten, diese Versuchung zum Ausfließen, so viel Freunde und Hörer und Hörige hat […].51
»Verwirklichung« heißt hier das Gegenteil von Musik als Flucht vor Ich und Welt. Zu dieser Zeit konnte Rilke sich der Musik nur von der Seite ihrer Materialität nähern.52 Musik als Raum, Musik als festgewordenes Ding, Musik als Hintergrund oder Musik als kosmische Ordnung, die einem festen mathematischen Gesetz folgt, so konnte sich Rilke die Musik poetisch nutzbar machen. Wie Rüdiger Görner anmerkt, lautet die Frage für Rilke, ob das Verhältnis zwischen Sprache und Musik ein komplementäres oder ein konkurrierendes sei. Kann die Kunst, sei es als Wort oder als Musik, unser Dasein, unsere diesseitige Lebenswelt und den Raum eines Anderen überbrücken?53 Die Fragen nach dem Ursprung der Kunst, der Überbrückung zweier Bereiche und der Rolle der Kunst in der Stellung des Menschen in der doppelten Welt beschäftigten Goethe, Nietzsche und Rilke gleichermaßen. Was Goethe ursprüglich an Beethoven missfiel, wurde zum Paradigma in Nietzsches Zeit. Aus dem ursprüglichen Zusammenhang heraus kann man eine allmähliche Intensivierung der Problemstellung beobachten, die im moderneren Kontext zugespitzt wird. Die Skepsis wuchs vom Problem eines einzelnen Künstlers zum Problem einer spezifischen Epoche und Tendenz und schließlich zum Problem einer ganzen Kunst. Am Ende geht es um die modern wahrgenommene Doppeltheit der Existenz. Thomas Mann formulierte die Faszination an jener Wahrnehmung so: Groß ist das Geheimnis der Musik, – sie ist ohne Zweifel die tiefsinnigste, philosophisch alarmierendste, durch ihre sinnlich- übersinnliche Natur, durch die erstaunliche Verbindung, die Strenge und Traum, Sittlichkeit und Zauber, Vernunft und Gefühl, Tag und Nacht in ihr eingehen, die faszinierendste Erscheinung der Kultur und Humanität.54
Als selbst ernanntes Kind des 19. Jahrhunderts war Thomas Mann mit seiner Beschreibung in bester Gesellschaft. Er dürfte sich auch zu den »Praeceptoren der Doppeltheit« zählen. Rückblickend auf das 19. Jahrhundert, bringt Mann die deutsche Katastrophe des 20. Jahrhunderts mit der deutschen Musikkultur und deren Problemen in Verbindung. War die Sonderstellung der Musik als ursprungverhaftete Kunst, die von Wort und Welt getrennt war, das Verhängnisvolle an ihr? Nietzsches »cave musicam« war noch nie so prophetisch, denn in Manns Kontext würde Goethes Haus tatsächlich einfallen. Die Wahrnehmung 51 RMR an Lou Andreas-Salom8, 8. August 1903. In: RMR: Briefe. Hg. v. Rilke-Archiv und Ruth Sieber-Rilke. Weimar 1987, Bd. 1, S. 58. 52 Vgl. Görner: Herzwerk der Sprache, S. 140. 53 Vgl. ebd., S. 146. 54 Mann: Essays. Bd 5, S. 239.
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der musikalischen Doppeltheit scheint eben doch Sache der Eingeweihten zu sein, vor allem dort, wo jene Doppeltheit auf das dichterische Wort trifft.
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»Wirklich, ich behalte keine Melodie«. Musikalische Unfähigkeit als produktiver Impuls in Rilkes Werk
Die Lyrik des frühen 20. Jahrhunderts war so intensiv mit verschiedenen Vorstellungen von Musik verknüpft, dass die Auseinandersetzung mit aktuellen Problemen der Lyrik geradezu zwangsläufig auch eine Auseinandersetzung mit Fragen der Musik mit sich brachte. Grund hierfür ist jene »›Musikalisierung‹ von Literatur in der Romantik«,1 die zu einer nachhaltigen Umgestaltung der Poetik geführt hat: Die Erhebung der Musik zum literarischen Vorbild und die in ihrem Gefolge zu beobachtenden Veränderungen der Literatur sind keine isoliert verstehbaren Phänomene, sondern müssen als Ausdruck eben jenes geschichtlichen Umbruchs begriffen werden, infolgedessen die Literatur gegenüber der Mimesistradition ein neues, poietisches Selbstverständnis und parallel dazu neue, a-mimetische Verfahrensweisen ausbildet, in denen sie ihre Autonomie gegenüber allen vorgegebenen Ordnungen behauptet.2
Vor diesem Hintergrund kam auch Rilke nicht umhin, sich auf dem Gebiet der Poesie im beginnenden 20. Jahrhundert mit musikalischen Aspekten auseinanderzusetzen. Fragen der lyrischen Form etwa waren seit dem französischen Symbolismus, der um 1900 von der deutschsprachigen Lyrik intensiv rezipiert wurde, in hohem Maße von musikalischen Überlegungen bestimmt.3 Die von den Symbolisten geforderte Befreiung der Poesie aus ihren begrifflichen Grenzen verlief über Rhythmus und Klang des freien Verses, der im Dienste der Suggestion stand. Auch das musikalische Verfahren einer referenzfreien Kombination von musikalischen oder sprachlichen Elementen, die keineswegs an die Grenzen von Rhythmus und Klang gebunden war, spielte im Symbolismus eine wichtige Rolle. 1 Barbara Naumann: ›Musikalisierung‹ von Literatur in der Romantik. In: Nicola Gess, Alexander Honold (Hg.): Handbuch Literatur & Musik. Berlin, Boston 2017, S. 374–385. 2 Winfried Eckel: Ut Musica Poesis. Die Literatur der Moderne aus dem Geist der Musik; Ein Beitrag zur Poetik der Figuration. Paderborn 2014, S. 14. 3 Vgl. z. B. Robert Vilain: The Poetry of Hugo von Hofmannsthal and French Symbolism. Oxford 2000.
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Nietzsches Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, ein ebenfalls um 1900 intensiv rezipierter und von Rilke bekanntermaßen gründlich gelesener Text,4 führt die Poesie auf die dionysische Kraft der Musik zurück; dabei beschränkt sich Nietzsche nicht auf die attische Tragödie, deren Wiedergeburt er in Wagners Gesamtkunstwerk ausmacht, sondern er leitet im Rahmen seiner Argumentation auch das Volkslied und die Lyrik insgesamt aus dem Geiste der Musik her.5 Sprachkritische Überlegungen um 1900, die zweifellos auch für Rilkes Werk wichtig sind, zeigten ebenfalls eine gewisse Affinität zur Musik. Rüdiger Görner weist in seiner Rilke-Monographie, in der er Leben und Werk des Dichters aus dessen Verhältnis zur Sprache heraus entwickelt, auf diesen Zusammenhang hin: »Hinter Rilkes Unbehagen an der Musik verbarg sich für ihn die Frage, wie er das Verhältnis zwischen Sprache und Musik werten sollte – als ein komplementäres oder konkurrierendes.«6 In der Tat zog die Musik im Kontext sprachkritischer Überlegungen einiges Interesse auf sich, wurde sie doch als eine Kunst aufgefasst, die sich durch die Absolutheit ihrer Mittel über die nun fragwürdig erscheinende semantische Dimension der Wortsprache hinwegsetzte. Dass der zentrale Stellenwert der Musik in Rilkes Werk trotz der herausragenden Bedeutung dieser Kunst für die Lyrik im frühen 20. Jahrhundert insgesamt lange vernachlässigt wurde, hat im wesentlichen drei Gründe, die sich aus Rilkes persönlichem Verhältnis zur Musik ergeben: Rilke beschäftigte sich mit der bildenden Kunst offenkundiger und umfangreicher als mit der Musik, er kritisierte die Musik energisch, weil er sich von ihr bedroht fühlte, und er war nach eigenem Bekunden unmusikalisch.7 Nachdem in der Forschung allerdings immer wieder auf die Bedeutung der Musik für Rilkes Werk hingewiesen wurde, steht diese spätestens seit Antonia Egels umfangreicher Monographie zu Rilkes musikalischer Poetik außer Frage.8 Auch hierfür existieren in Kürze drei Gründe, die von der Forschung bereits in extenso ausgeführt worden sind: Rilke beschäftigte sich mit der Musik sowohl in seinen literarischen Werken als auch in seinen poetologischen Überlegungen wesentlich intensiver und vielfältiger als 4 Vgl. hierzu den dritten Abschnitt des vorliegenden Beitrags. 5 Vgl. Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. Hg. v. Karl Schlechta. München 1954–1956, Lizenzausgabe Darmstadt 1997. Bd. 1. München 1954, S. 37–40. 6 Rüdiger Görner : Rainer Maria Rilke. Im Herzwerk der Sprache. Wien 2004, S. 146. 7 Vgl. George C. Schoolfield: Rilke and Music. A Negative View. In: James M. MacGlathery (Hg.): Music and German Literature. Columbia 1992, S. 269–291. Vor Schoolfield hatte bereits Jacob Steiner: Anschauungsformen. In: Ders.: Rilke. Vorträge und Aufsätze. Karlsruhe 1986, S. 5–18, hier S. 5, erklärt: »Rilkes Beschäftigung mit der Musik ist dilettantisch gewesen […].« Auf der Basis dieser Einschätzung attestiert Steiner, ebd., S. 6, der bildenden Kunst neben der Dichtung »den höchsten inspiratorischen Rang für Rilkes Schaffen.« 8 Antonia Egel: »Musik ist Schöpfung«. Rilkes musikalische Poetik. Würzburg 2014 (Klassische Moderne, Bd. 23). Vgl. hier auch den Forschungsüberblick S. 19–32.
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vielerorts wahrgenommen, auch seine energische Kritik an der als bedrohlich empfundenen Musik ist ein wichtiges Moment in seiner intensiven Auseinandersetzung mit dieser Kunst, und das Bild von Rilke als unmusikalischem Dichter ist durch eine Vita zu relativieren, die sich »zwischen Musik, Musikanten und Tonkünstlern« zugetragen hat, um den Titel jenes umfangreichen Abschnitts aufzugreifen, in dem Antonia Egel den nicht unbeträchtlichen musikalischen Teil dieser Vita quellenreich nachzeichnet.9 Durch die Neubewertung der Musik in Rilkes Werk wird ein Problem sichtbar, das jenem Teil der Forschung, dem Rilkes Musikalität entging, verborgen bleiben musste. Am 4. Februar 1914 schreibt Rilke an die Pianistin Magda von Hattingberg: [E]inmal, sehen Sie, müssen Sie im vollständigsten Verstande nehmen, was ich neulich von meinem Gehör Ihnen schrieb: dass es wie eines Saugkindes Fußsohle sei: das will nicht nur heißen: so neu, so ungebraucht, so vor aller Verwendung, sondern auch so ungeschickt, so unbrauchbar und unbeholfen und am Ende, (was man mir schon als Kind immer versicherte) gar nicht fähig, zu gehen, außerstande, auch nur drei Schritte zu lernen. (Wirklich, ich behalte keine Melodie, ja ein Lied, das mir nahe ging, das ich dreißigmal hörte, ich erkenn es wohl wieder, aber ich wüsste auch nicht den mindesten Ton daraus anzusagen, das ist wohl die dichteste Unfähigkeit selber.)10
Rilke beschreibt hier einfallsreich eine ernüchternde Banalität, nämlich seine eigene zumal »dichteste Unfähigkeit«, mit der technischen Seite der Musik umzugehen. Mit Blick auf sein aktives Verhältnis zur Tonkunst stellt er sich dabei 9 Ebd., S. 185–273, Kapitel III: »Von Zusammenstößen und Zärtlichkeiten. Rilke zwischen Musik, Musikanten und Tonkünstlern«. Das historische Spektrum der Kompositionen, mit denen Rilke bekannt war, deutet auf einen vielseitigen Musikgeschmack hin: Es reicht von Gregorianischen Gesängen und Bachs Matthäus-Passion über Mozarts Zauberflöte und Beethovens späte Streichquartette bis hin zu Busonis Indianischer Phantasie und einer Violinsonate von Ernst Kr8nek, um nur ein paar Beispiele zu nennen, die Egel: Ebd., S. 185–259, anführt. Vgl. ferner Ivan Eidt: Rilke und die Musik(er). Überlegungen zu Rilkes Musikverständnis im Kontext seiner Zeit. In: Andrea Hübener, August Stahl (Hg.): Rilkes Welt. Festschrift für August Stahl zum 75. Geburtstag. Frankfurt a. M. 2009, S. 127–134. 10 RMR an Magda von Hattingberg, 4. Februar 1914. In: RMR, Magda von Hattingberg: Briefwechsel mit Magda von Hattingberg »Benvenuta«. Hg. v. Ingeborg Schnack, Renate Scharffenberg. Frankfurt a. M. 2000, S. 34f., Hervorhebung durch RMR. Der Brief, auf den sich Rilke zu Beginn der zitierten Passage bezieht, ist sein Brief an von Hattingberg, 26. Januar 1914, in dem er, S. 23, ein Erlebnis im südspanischen Ronda beschreibt: »Einmal spielte jemand in dem kleinen Hitel, ich sah ihn nicht, ich saß im Nebenzimmer und empfand wie in jenes wunderbare Element (ich kenne es kaum, auch war es immer zu stark für mich) die Welt gelöster übergeht, und es gab mir ein überfülltes, fast müheloses Glück, sie von dort her hereinzufühlen, denn mein Gehör ist neu wie ein Tragkindes Fußsohle –«. Mit Blick auf Rilkes Musikauffassung wird der Briefwechsel mit Magda von Hattingberg eingehend untersucht von Egel: »Musik ist Schöpfung«, S. 92–117, wo die Korrespondenz gesehen wird als »Kulminationspunkt von Rilkes Grundfrage […]: wie es möglich sein könnte, mit der Sprache zu musizieren« (S. 95).
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ein vernichtendes Zeugnis aus: Schon in Kinderzeiten sei sein musikalisches Gehör nicht nur »ungeschickt«, »unbrauchbar und unbeholfen«, kurz: »unfähig« gewesen, sondern überdies auch »außerstande […] zu lernen«. Hält man Rilke für einen insgesamt unmusikalischen Autor, so ist diese Selbsteinschätzung unproblematisch, denn sie scheint die Bedeutungslosigkeit der Musik für sein Werk ja nur zu bestätigen. Nimmt man die herausragende Bedeutung der Musik für Rilke jedoch ernst, so wirft seine musikalische Unfähigkeit die Frage auf, wie sie sich mit der hochgradigen Musikalität seiner Schriften vereinbaren lässt. Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, Rilkes musikalische Unfähigkeit nicht im Widerspruch zur Musikalität seines Werks, sondern vielmehr als Bedingung für deren spezifische Ausformung darzustellen. Musikalische Unfähigkeit, so meine These, stimuliert in Rilkes Werk metaphysische Überlegungen, indem sie die Auseinandersetzung mit den technischen, diesseitigen Problemen der Tonkunst verstellt. Während Rilkes Kompetenz auf dem Gebiet der bildenden Kunst zu einer sachkundigen Auseinandersetzung mit technischen Fragen führt, die Rilke in einschlägigen Kunstkritiken, Essays, Vorträgen und Monographien demonstriert, begründet seine Unfähigkeit, mit den technischen Seiten der Tonkunst (Harmonie, Rhythmus, Instrumentierung etc.) im Rahmen der theoretischen Reflexion oder der praktischen Ausübung umzugehen, eine auffallende Tendenz, Fragen der Musik auf der Ebene der Metaphysik zu diskutieren.11 Wie zu zeigen sein wird, untersucht Rilke nicht die tonale Gestaltung einer Melodie, sondern er denkt über den metaphysischen Zusammenhang von Erscheinungen nach, den er als »Melodie der Dinge« bezeichnet. Ihn interessiert auch nicht das Verhältnis von Orchester, Chor und Solisten in Wagners Gesamtkunstwerk, sondern er fragt nach einer metaphysischen Kraft in allen Künsten, die er »Musik« nennt, und er analysiert nicht die harmonische Entwicklung in dem Satz einer Beethoven-Sinfonie, sondern entwirft das Modell einer unhörbaren Musik, die auf der »Rückseite« aller Harmonien zu finden sei. In einer historischen Situation, in der Fragen der Musik zum Kernbestand poetologischer Probleme zählen, steht Rilkes Unfähigkeit also nicht im Widerspruch zur Musikalität einiger seiner Werke, sondern sie trägt vielmehr als wichtiger Impuls maßgeblich zu deren Gestaltung bei.
11 Die zentrale Bedeutung des Übens für die Einstellung gegenüber Musik wird gerne ignoriert, obwohl schon Horaz in seiner Ars Poetica/Die Dichtkunst. Übers. u. hg. v. Eckart Schäfer. Stuttgart 1994, V. 414f. (Übers., S. 31) betont: »qui Pythia cantat / tibicen, didicit prius extimuitque magistrum« (»wer sich bei den Pythischen Spielen als Flötist hören läßt, hat vorher gelernt und seinen Lehrer gefürchtet«).
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1.
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»so überaus vorübergehend und der Länge nach«. Unsachliches Schreiben über Musik
Rilkes Reflexionen von musikalischen Erlebnissen geben eine auffallende Sachferne zu erkennen. Symptomatisch hierfür ist bereits der Eintrag im Florenzer Tagebuch, in dem Rilke seine Auseinandersetzung mit der Musik in Aussicht stellt. Nachdem er die »Stimmung, die ein Bild oder ein Gedicht hervorruft,« mit einem »Lied« verglichen hat, schreibt er : »Es wird die Zeit kommen, da ich auch von diesem reden darf. Denn ich werde die Musik suchen. Ich fühle ja: sich nur werden lassen, nicht drängen und nicht grübeln. Wie ein Morgen kommt jede Klarheit hinter jeder Nacht.«12 »Musik suchen« wird hier als ein weitgehend unkonturiertes Geschehenlassen dargestellt, das sich ausdrücklich gegen gezielte Bildungsbemühungen absetzt; ohne »drängen« und »grübeln« sind musikalische Fertigkeiten, wie Notenlesen,13 Gehörbildung, Kenntnisse in der Harmonielehre usw. nicht zu erwerben, von dem Erlernen eines Instruments ganz zu schweigen. Hierauf machte bereits George C. Schoolfield aufmerksam, indem er danach fragte, »why Rilke never decided to include a course on music among those many projects he undertook for his improvement – studying Danish, studying art history, studying Egyptology.«14 Die Ferne zu technischen Aspekten der Tonkunst zeigt sich auch in der Reflexion musikalischer Erlebnisse. Selten versucht Rilke, ein gehörtes Musikstück zu beschreiben, Fachtermini werden kaum verwendet, eine musikgeschichtliche Einordnung bleibt in der Regel aus. Stattdessen wird die Darstellung eines konkreten Musikerlebnisses in abstrakte Betrachtungen überführt, die den musikalischen Gegenstand rasch hinter sich lassen. In einem Brief an Marie von Thurn und Taxis vom 7. April 1914 etwa demonstriert Rilke dieses Verfahren: Sonnabend hörten wir hier in der Schola Cantorum das »Stabat Mater« von Pergolesi, – wie erkannt ich ihn in den schmerzlichen Stellen. Frau v. Hattingberg wundert sich sehr über die Art, wie die Franzosen Musik machen, so überaus vorübergehend und der Länge nach, gar nicht nach einwärts.
12 RMR: Tagebücher aus der Frühzeit. Hg. v. Ruth Sieber-Rilke, Carl Sieber. Leipzig 1942, S. 56. Ebenso unspezifisch äußert sich Rilke später in einem Brief an Marie von Thurn und Taxis, 12. März 1914. In: RMR, Marie von Thurn und Taxis: Briefwechsel. Hg. v. Ernst Zinn. Zürich 1951, Bd. 1, S. 369: »[…] die Musik lebt in ihr [= Magda von Hattingberg; T. M.] auf eine so große und wunderbare Art, wie ichs nie für möglich hielt: ich glaube, durch sie kann ich mich so an der Musik entwickeln und aufrichten wie einst an Rodin’s Skulptur.« 13 Ob Rilke Noten lesen konnte, ist ungewiss. Egel: »Musik ist Schöpfung«, S. 224 u. S. 247, führt Indizien dafür an, dass Rilke zumindest grundlegende Kenntnisse im Notenlesen besaß. 14 Schoolfield: Rilke and Music. A Negative View, S. 284.
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Gestern spielte sie mir einen wunderbaren ganz einfachen Händel, das ist dann jedesmal eine »Insel in der Luft«.15
Noch deutlicher wird Rilkes Ferne zur technischen Seite der Tonkunst in dem Brief an Nanny Wunderly-Volkart vom 22. März 1920, in dem Rilke von einer Aufführung der Matthäus-Passion am 20./21. März 1920 im Basler Münster berichtet. In der ausführlichen Schilderung seines Konzerterlebnisses macht Rilke kaum Anstalten, einen nachvollziehbaren Eindruck von der gehörten Musik zu verschaffen: Erb, als Evangelist, war von großartigster Beherrschung. Zurückhaltend und doch unabweislich deutend, wie eben ein Zeigender, wußte er eine männliche Milde in die Interpretierung seiner Sätze zu legen, so daß mit ihnen zugleich ein Bett der Empfindungen gegeben war ; an ihm lag es ja, alle Vorgänge herauszuführen: niemand hätte sie größer ankündigen können, nie maaßte seine Stimme sich einer Beschwörung an, ein eigenmächtiges Aufrufen des Geschehens, sodaß jede Wendung aus der Tiefe ihrer eigenen Bestimmtheit hervortrat, nur eben angesagt, nie überholt von der Stärke des Erzählers. Vielleicht, daß der Bach’sche Evangelist noch einfältiger sein dürfte in dem durchaus protestantischen Geiste dieses enormen Werkes, nebenstehender, überraschter : die Erb’sche Auslegung und Führung verlangte nicht durchaus den Gläubigen sich gegenüber, sie ging selber aus Betrachtung und Abstand hervor, nicht aus dem Erlebnis, für den heutigen Hörer mochte sie die richtigste und entsprechendste sein. In den größesten Stellen stand man indessen doch im Gefühle Bachs, das mir unendlich herrlich wurde, wo es, um sein Großartigstes zu erweisen, seine schlichtesten und strengsten Erfahrungen in Gebrauch nahm: ein unermüdlich gekonntes Handwerk und einen ununterbrochen geübten Glauben. Wie rein, wie ohne nach Wirkung zu drängen, sind die Anwendungen seiner Empfindung. Unvergeßlich zeigt sie sich, wenn nach der Frage des Landpflegers: »Was hat er denn Übles gethan?« und den folgenden Versen, die die Kreuzigung verlangen, die Erklärung von Christi Wohlthun und Unschuld eingeschoben wird, in einem weich von Flöten begleiteten Rezitativ, einem Musik-Thal von solcher Milde des Klima’s, daß, drin noch verweilen zu müssen, fast über die Kraft geht, wo man doch nichts als Härten und Schrecknisse vor sich sieht, bis zu jenem steilen Gipfel im ewigen Schnee des Opfers.16
Abgesehen davon, dass in dieser langen Passage ein Sänger, dessen Stimme, der Komponist und Flöten, die ein Rezitativ begleiten, erwähnt werden, erfährt die Adressatin des Briefes nichts über das, was Rilke gehört hat. Bach wird zwar ein »unermüdlich gekonntes Handwerk« attestiert, doch worin sich dieses in der gehörten Matthäus-Passion äußert, wird an keiner Stelle des Briefes deutlich. Im Zentrum stehen Rilkes Eindrücke und Assoziationen; ein Bemühen um musikalische Ekphrasis gibt der Brief indes nicht zu erkennen. 15 RMR an Marie von Thurn und Taxis, 7. April 1914. In: RMR, Marie von Thurn und Taxis: Briefwechsel, Bd. 1, S. 372f. 16 RMR an Nanny Wunderly-Volkart, 22. März 1920. In: RMR: Briefe an Nanny WunderlyVolkart. Hg. v. Rätus Luck. Frankfurt a. M. 1977, Bd. 1, S. 193f.
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Die These, dass die auffallende Sachferne, mit der sich Rilke über Musik äußert, auf seine musikalische Unfähigkeit zurückzuführen ist, lässt sich durch einen Vergleich mit Rilkes Schreiben über die bildende Kunst stützen. Dort zeigt sich nämlich, dass Rilke über eine Kunst, der er mit Sachverstand begegnet, auch kompetent und sachbezogen schreibt. Rilke suchte die fachlich-analytische Auseinandersetzung mit der bildenden Kunst: 1895 begann er ein Studium der Fächer Literatur, Geschichte, Philosophie und Kunst in Prag, das er 1896 in München fortsetzte, und er reiste nach Berlin, Florenz, Russland, Worpswede und Paris, eigens um dort Kunstwerke zu betrachten und Künstler zu besuchen.17 In den zahlreichen Arbeiten, die hierdurch entstanden, denkt Rilke nicht über die bildende Kunst nach, sondern er untersucht einzelne Kunstwerke, in deren Betrachtung er gezielt Elemente herausgreift, wie etwa die Oberfläche von Rodins Skulpturen18 und die Farbe in C8zannes Gemälden.19 In seinen Darstellungen bezieht Rilke nicht nur das jeweilige Genre, wie z. B. Skizze und Gemälde,20 Ikone und Freske,21 Landschaftsmalerei und Porträt,22 ein, sondern er ist auch immer wieder um eine historische Einordnung bemüht.23 Überlegungen zur Ästhetik, Kunstgeschichte und Künstlerbiographie gehen meist von konkreten Beobachtungen aus und werden immer wieder an diese zurückgebunden.24 Rilke demonstriert hier also genau jenes Interesse an den technisch-materiellen und historischen Seiten des Kunstwerks, das seine Auseinandersetzung mit der Musik weitgehend vermissen lässt; und im Unterschied zu seinen Überlegungen zur Musik teilt er seine Eindrücke von bildender Kunst in Monographien, Essays, Rezensionen und Vorträgen der Öffentlichkeit mit, anstatt
17 Vgl. den biographischen Überblick von Joachim W. Storck: Leben und Persönlichkeit. In: Manfred Engel (Hg. unter Mitarb. v. Dorothea Lauterbach): Rilke-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar 2004, S. 1–25. 18 Auguste Rodin. In: KA IV, S. 458: »Aber lassen Sie uns einen Augenblick überlegen, ob nicht alles Oberfläche ist was wir vor uns haben und wahrnehmen und auslegen und deuten?« 19 Briefe über C8zanne. In: KA IV, S. 614: »Und dann verglichen wir [= Rilke und Mathilde Vollmoeller ; T. M.] artistische Sachen, die er in Paris unter dem Umgang mit anderen gemacht haben mochte, mit seinen eigensten, in Bezug auf die Farbe.« 20 Vgl. Russische Kunst. In: KA IV, S. 156f. 21 Vgl. ebd., S. 154f. u. S. 157. 22 Vgl. Worpswede. In: KA IV, S. 307. 23 Vgl. etwa die Ausführungen zur historischen Entwicklung des Umgangs mit der Farbe in den Briefen über C8zanne. In: KA IV, S. 606f., und die Einordnung des Werkes von Victor Michailowitsch Wasnetzow in stilistische Strömungen und künstlerische Schulen in dem Essay Russische Kunst. In: KA IV, S. 156. 24 Dies gilt vor allem für Rodin und C8zanne, die Worpswede-Künstler Mackensen, Modersohn, Overbeck, am Ende und Vogeler sowie für Victor Michailowitsch Wasnetzow in Russische Kunst.
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sie ausschließlich in der persönlichen Sphäre von Tagebüchern, Briefen und Marginalien zu reflektieren.25
2.
»Melodie der Dinge«. Musik als Metapher und metaphysische Verwandlung
Die Distanziertheit gegenüber der Tonkunst, die Rilkes Beschreibung musikalischer Erlebnisse zu erkennen gibt, findet man auch auf poetischem und poetologischem Gebiet. Hier äußert sie sich entweder in einer Metaphorisierung, die musikalischen Elementen, wie Singen, Ton, Klang und Melodie, die Hörbarkeit nimmt, oder sie kommt dadurch zum Ausdruck, dass die Musik als Ausgangspunkt einer metaphysischen Verwandlung erscheint, in deren Rahmen die physische Tonkunst ohne eigenständigen Wert erscheint. Beginnen wir bei der Metaphorisierung. In »Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort« aus Mir zur Feier (1897) wird im Gefolge Nietzsches zunächst der Wahrheitsgehalt der Sprache in Zweifel gezogen: »Sie sprechen alles so deutlich aus«, »Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott«.26 Einen Ausweg findet das lyrische Ich in der Musik: »Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern. / Die Dinge singen hör ich so gern.« Das Singen der Dinge scheint sich dem begrifflichen Verfahren der Sprache, das um 1900 in die Krise geraten war, zwar zu entziehen, an eine hörbare Tonkunst aber dürfte Rilke in diesem Zusammenhang kaum gedacht haben, denn für Dinge gilt im Allgemeinen das, was auf die in dem Gedicht angeführten Dinge »Hund«, »Haus«, »Berg«, »Garten« und »Gut« auch zutrifft: Sie singen nicht – im eigentlichen Sinn des Wortes.27 In seiner frühen Rede über Moderne Lyrik (1898) erklärt Rilke: »Erst dann, wenn der Einzelne durch alle Schulgewohnheiten hindurch und über alles Anempfinden hinaus zu jenem tiefsten Grunde seines Tönens hinabreicht, tritt er in ein nahes und inniges Verhältnis zur Kunst: wird Künstler.«28 Auch zur Schil25 Musikkritische Schriften in Analogie zu den kunstkritischen sind in Rilkes Werk nicht zu finden. 26 KA I, S. 106. 27 Zu Rilkes Umgang mit der Musik im Kontext sprachkritischer Überlegungen vgl. auch das Gedicht An die Musik. In: KA II, S. 158, in dem die Musik angerufen wird als »Du Sprache wo Sprachen / enden«. Zur romantischen Tradition dieser Vorstellung vgl. Wilhelm Heinrich Wackenroder, Ludwig Tieck: Phantasien über die Kunst, für Freunde der Kunst. In: Wackenroder: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. v. Silvio Vietta, Richard Littlejohns. Heidelberg 1991, Bd. 1: Werke. Hg. v. Silvio Vietta, S. 147–252, wo man in dem Kapitel IX »Symphonien«, S. 244, über den Komponisten von Instrumentalmusik liest: »[H]ier kann er die hohe poetische Sprache reden, die das Wunderbarste in uns enthüllt, und alle Tiefen aufdeckt […].« 28 KA IV, S. 62, Hervorhebung durch RMR.
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derung seines eigenen Schaffens zieht Rilke die Termini »Tönen« und »Klang« heran. In einem der beiden Gedichte, die das Florenzer Tagebuch eröffnen, findet man die Eingangsverse: »Ich kann nur schweigen und schauen … / Konnte ich einmal auch tönen?«29 An anderer Stelle heißt es: »Dann gelangen mir meine Lieder, und Klanges voll kam ich im ersten Dämmer aus dem Wald.«30 Sowohl in der Rede über Moderne Lyrik als auch in den beiden Passagen aus dem Florenzer Tagebuch bleibt indes unklar, wie das Tönen im Künstler klingt, oder wie man sich jenen Klang vorzustellen hat, der das lyrische Ich erfüllt. In ebenso lautloser Bedeutung verwendet Rilke den Ausdruck »Melodie«. In den Notizen zur Melodie der Dinge wird damit ein Hintergrund beschrieben, der das Drama zum »Bild des tieferen Lebens« macht:31 »Sei es das Singen einer Lampe oder die Stimme des Sturms, sei es das Atmen des Abends oder das Stöhnen des Meeres, das dich umgiebt – immer wacht hinter dir eine breite Melodie, aus tausend Stimmen gewoben, in der nur da und dort dein Solo Raum hat.«32 Ebenso wie Gesang, Ton und Klang wird auch die Melodie als Metapher für eine Offenbarung verwendet, die nicht hörbar ist, erscheint sie doch als »die große Melodie, in der Dinge und Düfte, Gefühle und Vergangenheiten, Dämmerungen und Sehnsüchte mitwirken«.33 Eine akustische Vorstellung liegt dieser Melodie nicht zugrunde. In Rilkes Spätwerk erscheint die Musik wiederholt als Ausgangspunkt einer metaphysischen Verwandlung, die so dargestellt wird, dass ihre physische Grundlage entweder weitgehend aufgelöst oder aber offen angegriffen wird. Die Auflösung der traditionellen Tonkunst findet man in Rilkes Essay Ur-Geräusch aus dem Jahr 1919. Vor dem Hintergrund eines Experiments mit einem selbst gebauten Phonographen, an dem Rilke als Schüler im Physikunterricht beteiligt war, skizziert er in diesem Essay die Idee zu folgendem Versuch: Die Kronen-Naht des Schädels (was nun zunächst zu untersuchen wäre) hat – nehmen wirs an – eine gewisse Ähnlichkeit mit der dicht gewundenen Linie, die der Stift eines Phonographen in den empfangenden rotierenden Cylinder des Apparates eingräbt. Wie nun, wenn man diesen Stift täuschte und ihn, wo er zurückzuleiten hat, über eine Spur lenkte, die nicht aus der graphischen Übersetzung eines Tones stammte, sondern ein an sich und natürlich Bestehendes –, gut: sprechen wirs nur aus: eben (z. B.) die KronenNaht wäre –: Was würde geschehen? Ein Ton müßte entstehen, eine Ton-Folge, eine Musik …
29 30 31 32 33
RMR: Tagebücher aus der Frühzeit, S. 15. Ebd., S. 85. KA IV, S. 107. Ebd., S. 106. Ebd., S. 107.
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Gefühle –, welche? Ungläubigkeit, Scheu, Furcht, Ehrfurcht –: ja, welches nur von allen hier möglichen Gefühlen? verhindert mich, einen Namen vorzuschlagen für das UrGeräusch, welches da zur Welt kommen sollte…34
Auffallend ist hier der Brückenschlag zwischen Musik und Geräusch, denn mit ihm hebt Rilke die für die Tradition grundlegende Unterscheidung zwischen »Geräuschen und musikalischen Klängen« auf, die Hermann von Helmholtz in seiner Lehre von den Tonempfindungen formuliert hatte.35 In seiner Schilderung des Phonographen-Experiments im Physikunterricht hebt Rilke die schlechte Tonqualität ausdrücklich hervor: Der Klang »zitterte, schwankte aus der papierenen Tüte […], unsicher zwar, unbeschreiblich leise und zaghaft und stellenweise versagend, auf uns zurück«.36 Dennoch erscheint es ihm völlig unproblematisch, die Grenzen zwischen musikalischen Klängen und (nicht musikalischen) Geräuschen aufzuheben und damit eine zentrale Grundlage für traditionelle Vorstellungen von Tonkunst zu beseitigen.37 In den Sonetten an Orpheus schließlich wird die Tonkunst offen attackiert. Hier dient der orphische Gesang als Verfahren der Verwandlung von Diesseitigem in Jenseitiges, von Leben in Tod. Diese Verwandlung setzt die Präsenz eines Diesseitigen voraus, dessen Wertschätzung Rilke in einem Brief an Witold Hulewicz vom 13. November 1925 ausdrücklich betont: Die Natur, die Dinge unseres Umgangs und Gebrauchs, sind Vorläufigkeiten und Hinfälligkeiten; aber sie sind, solang wir hier sind, unser Besitz und unsere Freundschaft, Mitwisser unserer Not und Froheit […]. So gilt es, alles Hiesige nicht nur nicht schlecht zu machen und herabzusetzen, sondern gerade, um seiner Vorläufigkeit willen, die es mit uns teilt, sollen diese Erscheinungen und Dinge von uns in einem innigsten Verstande begriffen und verwandelt werden.38
Die Musik allerdings scheint von dieser Wertschätzung des Diesseitigen ausgenommen zu sein. So wird der orphische Gesang immer wieder ausdrücklich gegen die diesseitige Tonkunst abgesetzt: »Gesang, wie du ihn lehrst, ist nicht 34 KA IV, S. 702. 35 Hermann von Helmholtz: Die Lehre von den Tonempfindungen. Als physiologische Grundlage für die Theorie der Musik. 6. Ausgabe Braunschweig 1913 [1. Ausgabe, 1863]. ND Hildesheim, Zürich, New York. 2. Auflage 1983, S. 13, Hervorhebung durch H. H. 36 KA IV, S. 699f. 37 Zu Rilkes Gleichsetzung von Geräusch und Musik vgl. auch die Briefe an Magda von Hattingberg, 1. Februar 1914. In: RMR, Magda von Hattingberg: Briefwechsel, S. 30, und an Dieter Bassermann, 5. April 1926. In: RMR: Briefe aus Muzot 1921 bis 1926. Hg. v. Ruth Sieber-Rilke, Carl Sieber. Leipzig 1936, S. 384. Rilkes Umgang mit der Musik im Ur-GeräuschEssay wird ausführlicher dargestellt von Verf.: »Ur-Geräusch«. Rilkes Betrachtungen eines Unmusikalischen. In: Sylvia Mieszkowski, Sigrid Nieberle (Hg.): Unlaute. Noise/Geräusch in Kultur und Medien seit 1900. Bielefeld 2017, S. 219–238. 38 RMR an Witold Hulewicz, 13. November 1925. In: RMR: Briefe aus Muzot 1921 bis 1926, S. 334, Hervorhebung durch RMR.
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Begehr, / nicht Werbung um ein endlich noch Erreichtes«, heißt es im dritten Sonett des ersten Teils.39 Auch scheint Orpheus nicht wirklich ein Instrumentalist zu sein, denn, so erfährt man im fünften Sonett des ersten Teils: »Der Leier Gitter zwängt ihm nicht die Hände. / Und er gehorcht, indem er überschreitet.«40 Das 13. Sonett des 2. Teils schließlich impliziert die Überwindung der Tonkunst durch deren Zerstörung: »Hier, unter Schwindenden, sei, im Reiche der Neige, / sei ein klingendes Glas, das sich im Klang schon zerschlug.«41
3.
»Freie bewegte Kraft, Überfluß Gottes«. Musikalische Metaphysik
Der bisher skizzierte Umgang Rilkes mit Musik zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass deren technische, praktische, hörbare Seite auffallend wenig Aufmerksamkeit erfährt. Verglichen mit den sichtbaren Mitteln der bildenden Kunst wirken die hörbaren Mittel der Musik in Rilkes Darstellung und literarischen Adaptionen auffallend vage und fern; in der Gestaltung von Metamorphosen, werden sie mithin aufgelöst oder gar offen attackiert. Zugleich haben die musikalischen Metaphern bereits zu erkennen gegeben, dass Rilke sie verwendet, um metaphysische Aspekte poetologischer Probleme zu bezeichnen. So brachten die singenden Dinge eine Sprache zum Ausdruck, die sich der Begrifflichkeit entzieht, das Tönen und der Klang die Genese moderner Lyrik und die Melodie der Dinge den Zusammenhang des auf der Bühne darzustellenden Lebens. Die sich hier abzeichnende Tendenz, Musik zum Ausgangspunkt metaphysischer Überlegungen zu machen, ist für Rilkes Ästhetik zentral. Schon in seinem Florenzer Tagebuch aus dem Jahr 1898 findet man folgenden Eintrag zur Musik: »Oft scheint mir, sie ist in allen anderen Künsten drin und kommt uns leiser aus ihren Werken entgegen. Wirklich: die Stimmung, die ein Bild oder ein Gedicht hervorruft, gleicht in so vielem Sinn einem Lied.«42 Die Vorstellung von einer Musik, die »in allen anderen Künsten drin« ist und damit nicht Tonkunst sein kann, führt Rilke zwei Jahre später in seinen Marginalien zu Nietzsches Geburt der Tragödie aus: 39 KA II, S. 242, Hervorhebung durch T. M. 40 Ebd., S. 243. Zur Entwertung der Leier als Musikinstrument im Verlauf des Sonettzyklus vgl. Rüdiger Görner : Warum Sonette in elegischer Zeit? Zu Rilkes orphischer Verwandlungspoetik nebst einem Bezug zu Kafka. In: Ders.: Form und Verwandlung. Ansa¨ tze zu einer literaturästhetischen Morphologie. Heidelberg 2010, S. 123–135, hier S. 133. 41 KA II, S. 263. Vgl. auch Verf.: »In Wahrheit singen, ist ein andrer Hauch.« Musik und Verwandlung in Rilkes Sonetten an Orpheus. In: Blätter der Rilke-Gesellschaft 32 (2014), S. 159–174. 42 RMR: Tagebücher aus der Frühzeit, S. 56.
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Es ist zu auffallend, daß man für »Musik« in allen erwähnten Wirkungen immer jenes Andere setzen kann, das nicht Musik ist, sondern, welches nur durch Musik am reinsten ausgedrückt wird. […] Und sollte mit Musik nicht überhaupt jene erste dunkle Ursache der Musik gemeint sein und somit die Ursache aller Kunst? Freie bewegte Kraft, Überfluß Gottes? Auch Malerei und Bildhauerei hat nur den Sinn, jene »Musik« zu interpretieren, an Bildern zu verbrauchen. Und dann wäre etwa die Musik schon der Verrat jener Rhythmen, die erste Form sie anzuwenden, noch nicht an den Dingen der Welt, sondern an den Gefühlen, an uns.43
Antonia Egel hat darauf hingewiesen, dass Rilke hier jene beiden Aspekte gegeneinander absetzt, die seinen Musik-Begriff insgesamt charakterisieren: »Rilkes Musik-Begriff ist zwiefältig. Es gibt einen theoretischen Musik-Begriff, der sich über die Musik als dieses Ursprungsbereiches Rechenschaft gibt […]. Und es gibt die Musik als erklingende Kunstform, die mit diesem Ursprung auf eine privilegierte Weise verbunden ist […].«44 Als »[f]reie bewegte Kraft« existiert die Musik jenseits aller Künste und zeichnet sich durch ihren metaphysischen Charakter aus. Schopenhauers Vorstellung, dass die Musik »unmittelbar Abbild des Willens selbst ist«,45 wirkt hier nach, auf die sich Nietzsche in der Geburt der Tragödie bezieht.46 Anders als Schopenhauer aber findet Rilke diese unmittelbare Erscheinung nicht mehr in der Musik als Tonkunst, sondern in einer abstrakten Kraft, die diese ebenso wie alle anderen Künste hervorbringt. Musik als Tonkunst stellt nur noch eine von mehreren Applikationen der Musik im metaphysischen Sinn dar – und das nicht eben affirmativ als »Verrat jener Rhythmen«.47 Die Überführung der Musik in Metaphysik erweist sich zugleich als Versuch, jene Kunst, der Rilke auf praktisch-technischer Ebene mit Unfähigkeit begegnet, auf metaphysischer Ebene zu legitimieren, ihr mithin einen höheren Wert bzw. tieferen Sinn zu geben. Das polare Verhältnis zwischen hörbarer Diesseitigkeit und stiller Jenseitigkeit der Musik zeigt sich etwa in Maltes Überlegungen beim Anblick von Beethovens Totenmaske: Denn wer holt dich jetzt aus den Ohren zurück, die lüstern sind? Wer treibt sie aus den Musiksälen, die Käuflichen mit dem unfruchtbaren Gehör, das hurt und niemals 43 KA IV, S. 171, Hervorhebung durch RMR. 44 Egel: »Musik ist Schöpfung«, S. 16. Zu der zentralen Bedeutung Nietzsches für Rilkes Musikbegriff vgl. ebd., S. 59, und Irina Frowen: Nietzsches Bedeutung für Rilkes frühe Kunstauffassung. In: Blätter der Rilke-Gesellschaft 14 (1987), S. 21–34. 45 Arthur Schopenhauer : Die Welt als Wille und Vorstellung. 2 Bde. In: Ders.: Sämtliche Werke. Textkritisch bearb. u. hg. v. Wolfgang Frhr. von Löhneysen. 2. Aufl., Stuttgart, Frankfurt a. M. 1968. ND Darmstadt 2004, Bd. 1, S. 366. 46 Vgl. Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, S. 88f. 47 Zu Rilkes Abwertung der Musik in diesem Zusammenhang vgl. August Stahl: »Ein paar Seiten Schopenhauer«. Überlegungen zu Rilkes Schopenhauer-Lektüre und deren Folgen. In: Schopenhauer-Jahrbuch 69 (1988), S. 569–582.
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empfängt? da strahlt Samen aus, und sie halten sich unter wie Dirnen und spielen damit, oder er fällt, während sie daliegen in ihren ungetanen Befriedigungen, wie Samen Onans zwischen sie alle. Wo aber, Herr, ein Jungfräulicher unbeschlafenen Ohrs läge bei deinem Klang: er stürbe an Seligkeit oder er trüge Unendliches aus und sein befruchtetes Hirn müßte bersten an lauter Geburt.48
Zwei Jahre nach der Veröffentlichung des Malte fand Rilke seine Auffassung von der metaphysischen Überwindung der performativen Bedrohung durch die Musik im Rahmen seiner Lektüre von Antoine Fabre d’Olivets (1768–1825) La musique (Paris 1828) bestätigt.49 In einem Brief an Marie von Thurn und Taxis vom 17. November 1912 schreibt er : hier ist die Stelle, wo manches zu erfahren wäre, was mit meinem Gefühl, Musik gegenüber, zu thun hat, ich meine, diesem äußerst unberechtigten rudimentären Gefühl eine Art nachträglichen Stammbaums lieferte: daß diese wahrhaftige, ja diese einzige Verführung, die die Musik ist, (nichts ver-führt doch sonst im Grunde) nur so erlaubt sein darf, daß sie zur Gesetzmäßigkeit verführe, zum Gesetz selbst. […] Darum besticht es mich so, Fabre d’Olivet zu glauben, daß nicht allein das Hörbare in der Musik entscheidend sei, denn es kann etwas angenehm zu hören sein, ohne daß es wahr sei […].50
Die Sinnlichkeit der Tonkunst wird metaphysisch legitimiert. Sie verführt zum Gesetz, die Töne gelten lediglich als »Vor-wand«:51 »Akustisch gesprochen ist diese Rückseite die absolute Stille, die hinter dem ›Klangmaterial‹ wohnt und
48 KA III, S. 508f. Zu Beethovens Taubheit vgl. auch Rilkes Brief an Magda von Hattingberg, 8. Februar 1914. In: RMR, Magda von Hattingberg: Briefwechsel, S. 50, Hervorhebung durch RMR: »Warum nicht sagen: ich will einsam sein, war ers nicht, Beethoven, um seiner Musik willen, und ward ihm in seinem Gehör nicht auch noch das letzte Gegenüber genommen, damit er nur noch rausche wie der Urwald und vergäße, dass es möglich sei, das Andere zu sein, das den Urwald hört und sich fürchtet. Meine Freundin, glaub mir, ich will ja nur dies.« 49 Antoine Fabre d’Olivet: La musique expliqu8e comme science et comme art et consid8r8e dans ses rapports analogiques avec les mystHres religieux, la mythologie ancienne et l’histoire de la terre, Paris 1828; zit. n. Silke Pasewalck: Die Maske der Musik. Zu Rilkes Musikauffassung im Übergang zum Spätwerk. In: Hans Richard Brittnacher, Stephan Porombka, Fabian Störmer (Hg.): Poetik der Krise. Rilkes Rettung der Dinge in den »Weltinnenraum«. Würzburg 2000, S. 210–229, hier S. 212, Anm. 16. Zur Bedeutung Fabre d’Olivets für Rilke vgl. auch Herbert Deinert: Rilke und die Musik. Diss. Yale 1959, Yale 1973 (http://courses.cit. cornell.edu/hd11/Rilke-und-die-Musik.pdf), S. 70–76; Winfried Eckel: Musik, Architektur, Tanz. Zur Konzeption nicht-mimetischer Kunst bei Rilke und Val8ry. In: Manfred Engel, Dieter Lamping (Hg.): Rilke und die Weltliteratur. Düsseldorf 1999, S. 236–259, hier S. 248–255; Egel: »Musik ist Schöpfung«, S. 121–127. 50 RMR an Marie von Thurn und Taxis, 17. November 1912. In: RMR, Marie von Thurn und Taxis: Briefwechsel, Bd. 1, S. 235f., Hervorhebung durch RMR. 51 Ebd., S. 236.
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mitten durch das musikalische Kunstwerk hindurchgreift.«52 Auf diese Weise dient der metaphysische Bezugspunkt der Musik als Legitimation für die sinnliche Überwältigung, die, für sich genommen, keinen Anspruch auf Wahrheit erheben kann.53 In den Sonetten an Orpheus verwendet Rilke das Konzept der Zweiseitigkeit (Vorder- und Rückseite) von Musik, um der Vorstellung Ausdruck zu verleihen, dass der Tod die Rückseite des Lebens darstellt und somit als dessen integraler Bestandteil zu verstehen ist. Beide Seiten sind hier über das Prinzip der orphischen Verwandlung miteinander verbunden: Ein Diesseitiges, Sicht- bzw. Hörbares wird in ein Jenseitiges, Unsichtbares bzw. Stilles verwandelt. Die Auffassung von dem Verhältnis zwischen Leben und Tod, die Rilke in dem oben bereits angeführten Brief an Witold Hulewicz vom 13. November 1925 äußert, zeigt auffallende Ähnlichkeiten mit seiner Vorstellung von den beiden Seiten der Musik: »Der Tod ist die uns abgekehrte, von uns unbeschienene Seite des Lebens: wir müssen versuchen, das größeste Bewußtsein unseres Daseins zu leisten, das in beiden unabgegrenzten Bereichen zu Hause ist, aus beiden unerschöpflich genährt …«54 Diese Gegenwart des Todes im Leben, das Zusammenspiel von Vorder- und Rückseite des Lebens, wird in den Sonetten immer wieder am orphischen Gesang exemplifiziert, so etwa im neunten Sonett des ersten Teils: Nur wer die Leier schon hob auch unter Schatten, darf das unendliche Lob ahnend erstatten. Nur wer mit Toten vom Mohn aß, von dem ihren, wird nicht den leisesten Ton wieder verlieren.55
Die poetische Funktionalisierung des orphischen Gesangs illustriert einmal mehr den Zusammenhang von Unfähigkeit und Metaphysik in Rilkes Musikalität. Auf der Basis seiner Auseinandersetzung mit Nietzsche, dem ertaubten Beethoven und Fabre d’Olivet entwickelt Rilke eine Vorstellung von Musik, die es ihm ermöglicht, Sinn und Wert einer Kunst, deren praktisch-technischer Seite er hilflos gegenübersteht, metaphysisch zu bestimmen. Zugleich bietet dieses 52 Beda Allemann: Zeit und Figur beim späten Rilke. Ein Beitrag zur Poetik des modernen Gedichts. Pfullingen 1961, S. 164. 53 Die poetologischen Konsequenzen dieser Musikauffassung untersucht Eckel: Musik, Architektur, Tanz, S. 249f. 54 RMR an Witold Hulewicz, 13. November 1925. In: RMR: Briefe aus Muzot 1921–1926, S. 332f., Hervorhebung durch RMR. 55 KA II, S. 245.
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Musik-Konzept die Möglichkeit, die Vorstellung von einem Leben zu gestalten, das erst im Austausch mit dem Tod Sinn und Wert gewinnt. In den Sonetten wird diese Möglichkeit durch den orphischen Gesang realisiert, der sich ganz und gar in Rilkes Musikalität fügt. Die Gedichte verraten zwar nicht, wie es klingt, wenn Orpheus singt; an der Wahrhaftigkeit dieses Gesangs aber lassen sie keinen Zweifel: »In Wahrheit singen, ist ein andrer Hauch. / Ein Hauch um nichts. Ein Wehn im Gott. Ein Wind.«56
4.
Rilkes musikalische Unfähigkeit im Kontext der Moderne
Der Blick auf Rilkes Umgang mit der Musik bestätigt, »dass die Musik Rilkes grundlegender poetologischer Begriff ist […].«57 Rilkes Unfähigkeit im Umgang mit der technisch-praktischen Seite der Tonkunst steht weder im Gegensatz hierzu noch ist sie durch die herausragende Bedeutung der Musik für sein Werk zu relativieren. Sie stellt vielmehr einen produktiven Impuls dar, der maßgeblich an der Konstitution von Teilen dieses Werkes mitwirkt. Ebenso wie Rilkes Auseinandersetzung mit der Musik nicht auf eine persönliche Haltung einzuschränken, sondern in verschiedenen Kontexten der Zeit (Symbolismus, Nietzsche, Sprachkritik) zu sehen ist, fügt sich auch die ihr zugrundeliegende Unfähigkeit in verschiedene Traditionen und zeitgenössische Strömungen, in denen sie nicht einfach nur als Mangel an Talent erscheint, sondern auch ästhetische Produktivität entfaltet. Dies gilt etwa für den avantgardistischen Versuch, die technischen Grenzen der Tonkunst zu überwinden: Rilkes Unfähigkeit im Umgang mit der technischen Seite der Musik stellt sich hier als Unabhängigkeit von ästhetischen Zwängen dar. Ferruccio Busoni erklärt in seinem Entwurf zu einer neuen Ästhetik der Tonkunst: »[I]n Deutschland macht man eine Ehrensache daraus, ›musikalisch‹ zu sein, das heißt, nicht nur Liebe zur Musik zu empfinden, sondern hauptsächlich sie in ihren technischen Ausdrucksmitteln zu verstehen und deren Gesetze einzuhalten.« Genau hierin sieht Busoni das Problem, das er ästhetisch überwinden will: Tausend Hände halten das schwebende Kind und bewachen wohlmeinend seine Schritte, daß es nicht auffliege und so vor einem ernstlichen Fall bewahrt bleibe. Aber es
56 Ebd., S. 242 (SaO I/3). 57 Egel: »Musik ist Schöpfung«, S. 16.
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ist noch so jung und ist ewig; die Zeit seiner Freiheit wird kommen. Wenn es aufhören wird, »musikalisch« zu sein.58
Busoni behauptet ferner, »daß die Entfaltung der Tonkunst an unseren Musikinstrumenten scheitert«,59 denn: »Die Instrumente sind an ihren Umfang, ihre Klangart und ihre Ausführungsmöglichkeiten festgekettet, und ihre hundert Ketten müssen den Schaffenwollenden mitfesseln.«60 Als Konsequenz hieraus fordert Busoni die Überwindung sämtlicher durch »Erschöpftheit« charakterisierter Elemente der Musik hin »zum abstrakten Klange, zur hindernislosen Technik, zur tonlichen Unabgegrenztheit. Dahin müssen alle Bemühungen zielen, daß ein neuer Anfang jungfräulich erstehe.«61 Busonis Forderung nach musikalischer Jungfräulichkeit erinnert an Rilkes eingangs zitierten Vergleich seines Gehörs mit der Fußsohle eines Säuglings. Nun aber erscheint die kindliche Unfähigkeit im Licht jungfräulicher Reinheit, denn der Unfähige läuft gar nicht erst Gefahr, in dem von Busoni attackierten Sinne »musikalisch« zu sein. »Jenseits der Pforte ertönt Musik. Keine Tonkunst«:62 Busonis Vision klingt wie Maltes Beschreibung von Beethovens Musik. Auch die Aufhebung der Grenze zwischen Ton und Geräusch, die bei Rilke als Ausdruck der Unfähigkeit erscheint, mit der technischen Seite der Tonkunst umzugehen, fungiert in der Musikästhetik als avantgardistischer Impuls. Sechs Jahre vor Entstehung des Ur-Geräuschs proklamierte Luigi Russolo in seinem futuristischen Manifest L’arte dei Rumori die Befreiung der Musik aus den Grenzen der Tonalität: »WIR MÜSSEN ÜBER DIESEN ENGEN KREIS DER REINEN TÖNE HINAUSGEHEN UND DIE UNENDLICHE VIELFALT DER ›GERÄUSCH-TÖNE‹ HINNEHMEN.«63 Ebenso wie Rilke, der in dem »Ur-Ge58 Beide Zitate: Ferruccio Busoni: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. Mit Anmerkungen von Arnold Schönberg und einem Nachwort von H. H. Stuckenschmidt. Frankfurt a. M. 1974, S. 34. 59 Ebd., S. 43. 60 Ebd., S. 44. Auf die romantische Tradition der Instrumentenkritik kann hier nur hingewiesen werden; sie darzustellen, könnte auch mit Blick auf die Avantgarde-Bewegungen des 20. Jahrhunderts nicht uninteressant sein. Die romantische Musikalisierung der Poesie ging damit einher, dass die technische Seite der Tonkunst entwertet wurde. Um den metaphysischen Wert der Musik zu betonen, wurde die physikalische Seite der Tonkunst gezielt desavouiert. So findet Wackenroders und Tiecks genialischer Musiker Berglinger in den Phantasien für die Kunst, S. 206f., auf dem, was Rilke die Vorderseite der Musik nennen würde, »nichts, als ein elendes Gewebe von Zahlenproportionen, handgreiflich dargestellt auf gebohrtem Holz, auf Gestellen von Darmsaiten und Messingdrath. – Das ist fast noch wunderbarer, und ich möchte glauben, daß die unsichtbare Harfe Gottes zu unsern Tönen mitklingt, und dem menschlichen Zahlengewebe die himmlische Kraft verleiht. –« 61 Busoni: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst, S. 45. 62 Ebd., S. 61. 63 Luigi Russolo: Die Geräuschkunst. In: Hansgeorg Schmidt-Bergmann (Hg.): Futurismus. Geschichte, Ästhetik, Dokumente. Reinbek bei Hamburg 1993, S. 237, Hervorhebung durch
Musikalische Unfähigkeit als produktiver Impuls
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räusch« etwas Geheimnisvolles vermutet, »offenbart sich« bei Russolo »das Geräusch, das verworren und unregelmäßig aus dem unregelmäßigen Gewirr des Lebens zu uns dringt, niemals ganz und hat zahllose Überraschungen für uns bereit.«64 Freilich unterscheidet sich Russolos futuristischer Entwurf in zentralen Punkten grundlegend von Rilkes Überlegungen, denn er konzentriert sich in hohem Maße auf die technischen Bedingungen der neuartigen Geräuschkunst; so denkt Russolo etwa ausgiebig über die »Herstellung der Instrumente« nach, die im Rahmen eines »futuristischen Orchesters« Geräusche generieren und formen sollen.65 Dennoch demonstriert er, dass musikalische Unfähigkeit in seinem futuristischen Neuentwurf als avantgardistischer Impuls begriffen wird. So weist Russolo am Ende seines an den futuristischen Komponisten Balilla Pratella gerichteten Manifests musikalische »Inkompetenz« als eigentliche Stärke seiner Überlegungen aus: »Ich bin ein futuristischer Maler, der seinen Wunsch, alles zu erneuern, auf eine ihm sehr liebe Kunst übertragen möchte. Deshalb bin ich kühner, als es ein Komponist von Beruf sein könnte, und meine scheinbare Inkompetenz kümmert mich nicht.«66 Schließlich ist noch auf einen weiteren Kontext hinzuweisen, in dem sich Rilkes musikalische Unfähigkeit als produktiv erweist. In einem viel zitierten Brief an Sidonie N#dherny´ von Borutin vom 13. November 1908 erklärt Rilke: Einmal ja, wenn ich wissen werde, daß ein Kern von Dasein in mir ist, den es nichtmehr mitreißt aus mir hinaus und von Weltraum zu Weltraum ; wenn ich mich schwer genug fühlen werde diesem Anheben und Hinnehmen gegenüber, das Musik für mich ist: dann werd ich es durch mich durchschwingen lassen, so daß meines Körpers Umriß undeutlich wird für mich, und mein sicheres Innere werd ich hineinhalten, wie in flüssiges Gold, und es strahlend herausholen aus dem rückfluthenden Bad. – Aber bis dahin ist Musik eine Gefahr für mich ; süß, wie der Tod süß ist für einen Trostlosen ; von jener ermüdenden, alles versprechenden Süße, die der meiden muß, der überleben will.67
Auch in Rilkes literarischen Texten tritt die Musik an verschiedenen Stellen als »Gefahr« auf, etwa in der Abelone-Szene, in der Malte bekennt, dass er »schon als Kind der Musik gegenüber so mißtrauisch war (nicht, weil sie mich stärker als alles forthob aus mir, sondern, weil ich gemerkt hatte, daß sie mich nicht wieder
64 65 66 67
L. R. Einen guten Überblick bietet Johannes Ullmaier : Nachwort zu: Luigi Russolo: Die Kunst der Geräusche. Aus dem Italienischen von Owig DasGupta. Hg. u. m. einem Nachwort vers. v. Johannes Ullmaier. Mainz 2000, S. 80–106. Russolo: Geräuschkunst, S. 239. Ebd. Ebd., S. 241. RMR an Sidonie N#dherny´ von Borutin, 13. November 1908. In: RMR, Sidonie N#dherny´ von Borutin: Briefwechsel. 1906–1926. Hg. u. kommentiert v. Joachim W. Storck unter Mitarb. v. Waltraud u. Friedrich Pfäfflin. Göttingen 2007, S. 91, Hervorhebung durch RMR. Zur Interpretation dieses Briefes vgl. Egel: »Musik ist Schöpfung«, S. 86–89.
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dort ablegte, wo sie mich gefunden hatte, sondern tiefer, irgendwo ganz ins Unfertige hinein) […]«,68 und in dem Gedicht Musik aus dem Buch der Bilder, in dem sich die Seele des Knaben »in den Stäben der Syrinx« »verfing«, denn […] Der Klang ist wie ein Kerker, darin sie sich versäumt und sich versehnt; stark ist dein Leben, doch dein Lied ist stärker, an deine Sehnsucht schluchzend angelehnt. –69
In diesen Passagen zeigt sich nicht nur einmal mehr Rilkes sachferner Zugriff auf die Musik; sie erscheint als »Anheben und Hinnehmen«, als Kunst, die »forthob« und »ablegte«, als Lied, »an deine Sehnsucht schluchzend angelehnt«. Es zeichnet sich vielmehr auch ein wichtiger Grund für den Gefahren-Status der Musik ab: Dem musikalisch Unfähigen fehlt das Vermögen, sich begrifflich und reflektiert mit der Musik auseinanderzusetzen; er kann sich ihr nur überlassen bzw. sich von ihr gefangen nehmen lassen. Wer die musikalischen Techniken und Verfahren, die etwa Beethoven verwendet, um seine Sinfonien zu gestalten, nicht kennt und nicht reflektiert, wird von der Musik einfach fortgehoben. So sehen sich Rilke, Malte und der Knabe von einer Kunst bedroht, die sie weder analytisch noch kreativ bändigen können, weil ihnen hierzu das Wissen und die Fertigkeit fehlen; sie sind der Musik schutzlos ausgeliefert. Rilkes Auffassung von Musik als Gefahr fügt sich allerdings nicht nur in den Kontext seiner persönlichen Unfähigkeit, sondern auch in den einer um 1900 weitläufig rezipierten Kulturphilosophie. In der Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik hatte Nietzsche das Dionysische als Prinzip der »unbildlichen Kunst der Musik« und Kunstwelt des »Rausches« bestimmt;70 es ist charakterisiert durch die »wonnevolle Verzückung«, die durch das »Zerbrechen des principii individuationis aus dem innersten Grunde des Menschen, ja der Natur emporsteigt […].«71 Rilkes Vorstellung, dass die Musik das Ich in Gefahr bringt, indem sie es überwältigt, fügt sich nahtlos in Nietzsches dionysischen MusikBegriff. Nietzsche setzt diese Kunst zwar affirmativ ein, um sein Tragödienideal zu begründen, während Rilke ihr skeptisch begegnet, weil er sich von der Auflösung des Ich bedroht sieht; prinzipiell aber handelt es sich hierbei um zwei Seiten derselben Medaille. Denn wer das »Zerbrechen« der eigenen Identität fürchtet, dem liefert Nietzsches Philosophie gute Gründe dafür, die »Gefahr« der Musik zu meiden.72 68 69 70 71 72
KA III, S. 542. KA I, S. 264. Nietzsche: Geburt der Tragödie, S. 21. Ebd., S. 24, Hervorhebung durch F. N. Zu fragen wäre, wie sich Rilkes Auffassung von der Überwältigung durch die Musik zu einer literarischen Tradition verhält, in der Musik und Wahnsinn eng beieinander liegen. Beispiele
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Ganz gleich, ob Rilkes musikalische Unfähigkeit metaphysische Überlegungen oder Skepsis gegenüber der Musik stimuliert: Sie wirkt stets an einem produktiven Zugriff auf die Musik mit und prägt auf diese Weise einen nicht unwesentlichen Teil von Rilkes Werk. Es wäre daher verfehlt, diese Unfähigkeit mit Unmusikalität gleichzusetzen, oder sie einseitig als ein Versagen des Autors zu verstehen. Beides würde bedeuten, den kreativen Impuls zu verkennen, der von dieser Unfähigkeit ausgeht und der im ästhetischen Kontext der Moderne eben auch ein musikalischer ist.73 Durch seine Distanz zum praktischen Umgang mit der Tonkunst, der sich zwangsläufig in den technischen Grenzen der Musik bewegen müsste, ist Rilke in seinen Entwürfen einer musikalischen Metaphysik umso freier. Zugleich entwickelt er durch seine Metaphysik ein wirksames Mittel, um die Gefahr der Überwältigung durch die Tonkunst in das Vertrauen auf eine stumme Ordnung in deren Hintergrund zu verwandeln. In beiden Fällen erweist sich »die dichteste Unfähigkeit selber« als wichtiger Impuls für Rilkes Musikalität.
hierfür sind etwa Wackenroders und Tiecks Berglinger und E.T.A. Hoffmanns Kreissler bis hin zu Hofmannsthals Elektra und Kafkas Forscherhund. Zum Zusammenhang von Musik und Wahnsinn vgl. John T. Hamilton: Musik, Wahnsinn und das Außerkraftsetzen der Sprache. Aus dem Amerikanischen übersetzt v. Andrea Dortmann. Göttingen 2011 (Manhattan Manuscripts, Bd. 5); im Original: Music, Madness, and the Unworking of Language. Columbia 2008. 73 Dies gilt in auffallend ähnlicher Weise auch für Franz Kafka, der ebenfalls seine musikalische Unfähigkeit betont und der Musik in einigen seiner literarischen Texte, wie z. B. Forschungen eines Hundes und Josefine, die Sängerin, einen herausragenden Stellenwert verleiht. Vgl. Verf.: Kafka and Music. In: Carolin Duttlinger (Hg.): Kafka in Context. Cambridge 2017, S. 128–136. Ebenfalls interessant, wenn auch anders gelagert, ist das Verhältnis von musikalischer Unfähigkeit und Musikalität bei Hugo von Hofmannsthal, der in zwei Briefen an Richard Strauss vom 13. Dezember 1912 und vom 22. März 1923 seine Unfähigkeit mit musikalischer Empfänglichkeit in Einklang bringt: »Nun bin ich ja ein musikalischer Analphabet, Idiot – was Sie wollen. Aber Stilgefühl, das Gefühl für Kongruenz und Inkongruenz habe ich […]«; »[…] ich bin für das musikalische Schöne, trotzdem ich eigentlich unmusikalisch bin, sehr empfänglich […].« In: Richard Strauss, Hugo von Hofmannsthal: Briefwechsel. Hg. v. Willi Schuh. Lizenzausgabe München (Piper), Mainz (Schott) 1990, S. 205 u. S. 491.
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Rilke hört Musik und schreibt. Zur Genese der Neuen Gedichte Für H.G. – dorogoij moij
»Ich habe noch nie so viel Heimweh nach Rußland gehabt. – » schreibt Rilke am 17. Oktober 1902 aus Paris an Arthur Holitscher.1 Am 27. Oktober 1902 schreibt Rilke aus Paris an Rodin, dass dessen Werk »die Stadt« sei, in der er »lebe«, »die Stimme«, die er »höre« und die »Stille«, die ihn umgebe.2 Er erwarte, dass sich diese »rätselhafte Zeit Schönheit für Schönheit« in seinen »Versen erheben« werde.3 In seinen Silvesterbriefen zum Jahreswechsel 1902/03 berichtet Rilke freudig, dass seine Monographie über Rodin fertiggestellt sei und im Frühjahr erscheinen werde. Die Auftragsarbeit, die viel mehr geworden ist als das, ist glücklich abgeschlossen. Es ist aber nicht das – zumindest nicht nur das –, was Rilke meint, wenn er damit rechnet, dass »der schwere Reichtum«, der ihm durch das Werk Rodins auf das »Herz gelegt« sei, eines Tages als »Schönheit« in seinen »Versen« auferstehen würde. Rilke wird die Bedeutung Rodins für sein dichterisches Werk, insbesondere für die Neuen Gedichte/Der Neuen Gedichte anderer Teil später wieder und wieder betonen. Jetzt, im Herbst 1902, liegt von den in beiden Zyklen gesammelten 189 Gedichten4 eines vor: Der Panther. Wahrscheinlich am 5. und 6. November 1902 entstand dieses berühmteste von Rilkes Gedichten.5 In den Briefen ist es eingerahmt von »Heimweh nach Rußland« und der Vollendung der Rodin-Monographie. 1 RMR an Arthur Holitscher, 17. Oktober 1902. In: RMR: Briefe in zwei Bänden. Erster Band. 1896-1919. Hg. von Horst Nalewski. Frankfurt a. M., Leipzig 1991, S. 141. 2 RMR an Auguste Rodin, 27. Oktober 1902. In: Der Briefwechsel und andere Dokumente zu Rilkes Begegnung mit Rodin. Hg. von Rätus Luck. Frankfurt a. M., Leipzig 2001, S. 61. 3 Ebd. 4 Anders als Brigitte L. Bradley : Rainer Maria Rilkes »Der Neuen Gedichte anderer Teil.« Entwicklungsstufen seiner Pariser Lyrik. Bern 1976, S. 5, zähle ich nicht 191, sondern 189 Gedichte (83 in Neue Gedichte und 106 in Der Neuen Gedichte anderer Teil). 5 KA I, S. 933. Die dort geäußerte Vermutung zum Entstehungsdatum stützt sich auf die Angabe in Ingeborg Schnack: Rainer Maria Rilke. Chronik seines Lebens und seines Werkes. 1875–1926. Erweiterte Neuausgabe. Hg. von Renate Scharffenberg. Frankfurt a. M., Leipzig 2009, S. 163 und die dort vermerkte Abschrift mit Entstehungsdatum. Ein weiteres Indiz für die Entstehung am 5./6. November liefert RMR: Tagebuch Westerwede und Paris. 1902. Ta-
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Nun haben wir ja alle gelernt, dass sich Rilke mit dem Umzug nach Paris von seinem Frühwerk abwendet und sich das mittlere Werk erarbeitet. Das ist auch richtig. Aber, wie das im Leben so ist, sind die Brüche, die es bereithält, immer auch von Kontinuitäten geprägt. Und so ergreift Rilke hier, mitten in Paris, mitten in seinem neuen, der Arbeit und der Einsamkeit gewidmeten Leben, »Heimweh nach Rußland«. Das ist eine Metapher. Was ihn ergreift, ist Sehnsucht nach Lou Andreas-Salom8. Der Panther, so will ich hier zeigen, ist ein Gedicht aus Liebeskummer. DER PANTHER Im Jardin des Plantes, Paris Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe so müd geworden, daß er nichts mehr hält. Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt. Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte, der sich im allerkleinsten Kreise dreht, ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte, in der betäubt ein großer Wille steht. Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille sich lautlos auf – . Dann geht ein Bild hinein, geht durch der Glieder angespannte Stille – und hört im Herzen auf zu sein.6
Dieses Gedicht entstand in der Zeit, in der Lou Andreas-Salom8 und Rainer Maria Rilke sich keine Briefe schrieben. Der Briefwechsel zwischen beiden schenbuch Nr. 1. Faksimile der Handschrift und Transkription. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Hella Sieber-Rilke. Frankfurt a. M., Leipzig 2000, S. 30f.: Unter dem Datum des 5. und 6. November liest man, auf den 5. November bezogen: »Frühstück. Jardin des plantes. […] Die Thiere. Der Seehund, eilig, tauchend, schreiend mit erhobenem Kopf. Die Pelikane mit ihren großen Flügeln und Schnäbeln. Der reiche Goldfasan mit dem goldenen Kopf, dem grünen Kragenschild, der rothen Brust und dem blauen Ende der Schwungfedern. Und wie das roth unter dem laubbraun gefleckten Schwanze hin verläuft. Der Panther ; der Bär, auf dem Rücken liegend, das Mark eines Knochens trinkend, in tiefer unstörbarer Vergnüglichkeit. Der Löwe. Die Löwin mit ihrer ausdauernden unheimlichen Ungeduld. Ein anderer schlafender Löwe. Tiger, die im Schatten liegen. – Schlafende Schlangen. Schlafende Krokodile; ihr schwerer Schlaf, der wie viele Jahre alt scheint. – Rückfahrt auf der Seine. Goldenes Grauwerden des Abends im Luxembourg. Verse, Verse auf und ab.« Ein ganzer Tag im Jardin des plantes, mittendrin, lakonisch, »Der Panther«. Am Abend ein Schreibrausch. Die Tatsache, dass Rilke Jahre später [= 1907] auf einer Abschrift das Entstehungsdatum vermerkt (vgl. Schnack, Rilke-Chronik, S. 163), spricht dafür, dass ihm dieser produktive Tag im Zoo wichtig geblieben war. Dabei scheint der 5. November wahrscheinlicher als der 6., denn diesen 6. November hält er als einen »Wartetag« fest, auch den 7. November (vgl. RMR: Tagebuch Westerwede/Paris, S. 32f.). 6 KA I, S. 469.
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dauert bekanntlich von der ersten Begegnung 1897 bis zu Rilkes Tod. In seinem letzten Brief an Andreas-Salom8 verabschiedet sich Rilke auf Russisch mit den Worten: »dorogaja moja« (»Meine Liebe«). Es war eine Lebensliebe, die beide verband. Aber zurück. In diesem lebenslang geführten Briefgespräch gibt es eine signifikante Lücke. Zwischen dem 26. Februar 1901 und dem 23. Juni 1903 herrscht Stille. Rilke heiratet in dieser Zeit, richtet sich einen Hausstand ein, wird Vater und flieht nach Paris, wo alles neu anfangen soll. Er trifft Rodin und er schreibt den Panther als, so möchte ich zeigen, spätes Echo auf den Trennungsschmerz von »Lou«.7 In ihrem »letzten Zuruf« vom 26. Februar 1901 schreibt sie zum Abschied von Rilkes »zugleich lahme[m] Willen neben jähen, nervösen Willenseruptionen«,8 und in Rilkes Abschiedsgedichten an seine »So-geliebte«9 liest man: I Ich steh im Finstern und wie erblindet, weil sich zu Dir mein Blick nicht mehr findet. Der Tage irres Gedränge ist ein Vorhang mir nur, dahinter Du bist. Ich starre drauf hin, ob er sich nicht hebt, der Vorhang, dahinter mein Leben lebt, meines Lebens Gehalt, meines Lebens Gebot – und doch mein Tod – .10
Der fast »erblindete« Blick, der wie durch einen »Vorhang« durch das »Gedränge« auf sein zu lebendes Leben schaut, kehrt im »müd geworden[en]« Blick des Panthers wieder, der durch die »Stäbe« wie durch einen »Vorhang« sieht. Während das Ich im Abschiedsgedicht darauf wartet, dass dieser »Vorhang« sich »hebt«, schiebt »der Vorhang der Pupille« im Panther sich »lautlos auf« und das halbbetäubte Tier blickt hinüber und sieht ein »Bild«, das mitten ins Herz trifft. Der Panther ist ein dionysisches Symbol.11 Mit Dionysos ist die MUSIK als Ursprungskunst angesprochen.12 Die zweite Strophe thematisiert nun dieses 7 Wie präsent das Russische in dieser Pariser Zeit für Rilke war, und dass es für die sehnsuchtsvolle Erinnerung an die Zeit mit »Lou« steht, sieht man unter anderem an einem Eintrag im Tagebuch am 7. November 1902, also zwei Tage nach Entstehung des Panther : »Auch russische Verse. Garschin, Volkslieder. Tausend Erinnerungen liegen für mich im Klang dieser Sprache und ein Wissen um Vieles:« Dann folgt, in Russisch und in kyrillischen Buchstaben, der Ausruf: »Wie wäre das schön: ein russisches Tagebuch zu schreiben!« (Übersetzung A. E.). 8 RMR an Lou Andreas-Salom8, 26. Februar 1901. In: RMR, Lou Andreas-Salom8. Briefwechsel. Hg. von Ernst Pfeiffer, Frankfurt a. M. 1989, S. 54. 9 Orpheus. Eurydike. Hermes. In: KA I, S. 502, V. 47 u. V. 56. 10 RMR an Lou Andreas-Salom8, undatiert. In: RMR, Andreas-Salom8: Briefwechsel, S. 53. 11 Vgl. Jochen Schmidt/Ute Schmidt-Berger (Hg.): Mythos Dionysos. Texte von Homer bis Thomas Mann. Stuttgart 2008, S. 32.
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zurückgehaltene, vom Willen bestimmte, dionysische und also musikalische Leben, das sich auf einen Miniradius der Bewegungsmöglichkeiten zurückgeworfen sieht: »Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte, / der sich im allerkleinsten Kreise dreht, / ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte, / in der betäubt ein großer Wille steht.« Wenn man bedenkt, dass nicht lange vorher (im September 1899) ein Gedicht entstanden war wie dieses: »Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen, / die sich über die Dinge ziehn. / Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen, / aber versuchen will ich ihn«,13 wird klar, welche innere Reduktion sich hier vollzogen hat.14 Das Bild eines Lebens, das kontinuierlich größere Kreise zieht, hat sich verwandelt in eines vom »allerkleinsten Kreise«, in dem die ganze schöpferische Kraft (der »Wille«) befangen bleibt.15 Es ist dieselbe Kraft, die sich einmal frei und das andere Mal gefangen zeigt. Diesen Charakter teilen viele der Neuen Gedichte. Die sogenannten DingGedichte zeugen in ihrer Formkraft und Durchgestaltung immer auch von dem musikalischen Tiefenstrom, der sie – wie alle Dichtung Rilkes – trägt.16 Der Panther, das von allen Gedichten der beiden Zyklen am frühesten entstandene Gedicht, reicht als Repräsentant von Rilkes Ding-Dichtung in die noch gar nicht lange vergangene Zeit von Berlin und Worpswede zurück, die unter anderem angefüllt war mit musikalischen Erlebnissen. Und gerade einmal zwei Jahre ist es her, dass Rilke in seinen Marginalien zu Friedrich Nietzsche sich mit weitreichenden Folgen über die Musik als Ursprung aller Kunst verständigt hat. Hier ist von der Inspirationskraft der Musik die Rede und davon, dass der Dichter ein dieser Kraft entsprechendes Gefäß sein soll.17 Die Erinnerung an ein Konzert im »Weißen Saal« des Barkenhoffs in Worpswede führt zu der prägnanten Gedichtzeile: »Musik ist Schöpfung«.18 Im zweiten Stück der Trilogie von Trennungsgedichten an Lou Andreas-Salom8 erscheint sie als diese schöpferische Kraft selbst: 12 Verf.: »Musik ist Schöpfung«. Rilkes musikalische Poetik. Würzburg 2014 (Klassische Moderne, Bd. 23), insbesondere S. 57–92. Mit der dort erläuterten Unterscheidung von MUSIK als Ursprungskraft, die über die Musik als hörbare Kunst hinausreicht und in alle anderen Künste hineinreicht, arbeite ich auch in dem hier vorliegenden Text. 13 KA I, S. 157. 14 Wiederum im Tagebuch Westerwede/Paris hält Rilke am 24. August 1902, einen Brief an Aleksandr Benja zusammenfassend (der Name ist im Tagebuch mit kyrillischen Buchstaben wiedergegeben), fest: »[…] ich habe gar keine Verbindungen mit Menschen, nehme an keinem Kreis, keiner Bewegung antheil: bin mein eigener Kreis und eine Bewegung nach Innen: so lebe ich […].« Vgl. dazu Claire Y. Van den Broek: How the Panther Stole the Poem. The Search for Alterity in Rilke’s Dinggedichte. In: Monatshefte für deutschsprachige Literatur und Kultur 109, H. 3 (2017), S. 357–368, hier S. 235. 15 Vgl. auch Bradley : Rilkes Neue Gedichte, S. 74. 16 Verf.: »Musik ist Schöpfung«, S. 318–344. 17 Vgl. ebd.: S. 57–92. 18 SW III, S. 705.
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II Du schmiegtest Dich an mich, doch nicht zum Hohn, nur so, wie die formende Hand sich schmiegt an den Ton. Die Hand mit des Schöpfers Gewalt. Ihr träumte eine Gestalt – da wurde sie müde, da ließ sie nach, da ließ sie mich fallen, und ich zerbrach.19
Rilke versteht sich hier als von Andreas-Salom8 geformt. Wie ein Töpfer den Ton formt, so sei er durch sie geformt worden. Ganz Nietzscheanisch ist die Gestalt, die aus dem Ungeformten hervorgehen soll, geträumt. Der poietische Vorgang ist ein Zusammengehen von halbbewusstem Gestalten, das nicht gegen das zu formende Material angeht, sondern mit dessen Eigenarten umgeht. Der Prozess bricht hier freilich ab. Die formende Hand zieht sich zurück, ohne dass das Gefäß fertig wäre, das allerdings schon genug getrocknet war, um zerbrechen zu können. Ich halte dieses Gedicht für poetologisch aufschlussreich, weil Rilke sich hier als formbares Material gibt, das auf halbem Wege seiner Formung nicht nur stehengeblieben, sondern ganz kaputt gegangen ist. Es ist diese Erfahrung des Abgebrochenen und des Zerbrochenen, das die nächsten Jahre seines Lebens prägen wird. Und es ist auch ein Bruch mit der unmittelbaren Verbindung zu seiner ersten Inspirationsquelle, der MUSIK, die er versucht, hinter sich zu lassen und die doch das Grundlegende seiner Kunst bleibt. »Heimweh nach Rußland«20 ist Sehnsucht nach Lou Andreas-Salom8, und Sehnsucht nach Lou Andreas-Salom8 ist Sehnsucht nach dem unmittelbaren Zugang zur Nietzscheanisch verstandenen MUSIK. Die zeitlich nächstentstandenen Gedichte, nämlich die in Rom Anfang 1904 begonnenen und in Furuborg im Herbst desselben Jahres fertiggestellten Gedichte Orpheus. Eurydike. Hermes und Geburt der Venus21 sowie das in Rom geschriebene Gedicht Hetären-Gräber22 hat Rilke ans Ende des Zyklus Neue Gedichte gestellt. Alle drei Gedichte sind ausgesprochen lang und verweisen damit bereits auf die Duineser Elegien. Innerhalb der Neuen Gedichte nehmen sie allein schon durch ihre Länge eine Sonderstellung ein. Sie fallen aus dem Programm der Verknappung und des Ansichhaltens der Neuen Gedichte in gewisser Weise heraus. Sie lassen also dem musikalischen Sprachfluss ungehemmter Raum als manche ihrer Geschwister. Inzwischen war der Briefwechsel mit Lou Andreas-Salom8 wieder in vollem Gange und intensiver als je zuvor. Im wieder 19 RMR an Lou Andreas-Salom8, undatiert. In: Rilke/Andreas-Salom8, S. 53. 20 RMR an Arthur Holitscher, 17. Oktober 1902. In: RMR: Briefe in zwei Bänden. Erster Band. 1896-1919. Hg. v. Horst Nalewski. Frankfurt a. M., Leipzig 1991, S. 141. 21 Vgl. KA I, S. 953 u. S. 955. 22 Vgl. ebd., S. 952.
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aufgenommenen Briefgespräch gibt Rilke selbst Anlass, die oben behauptete Kontinuität im Schaffensprozess anzunehmen. Er schickt sein Rodin-Buch an Andreas-Salom8 mit den Worten: »denn ich schrieb Vieles darin an Dich und im Bewußtsein dessen, daß Du bist«.23 Erst, nachdem »Lou« das Buch gelesen und es für »groß«24 befunden hat, erst, nachdem sie aufgrund dieser Lektüre geschrieben hat, »daß ich uns Verbündete glaube in den schweren Geheimnissen von Leben und Sterben, eins im Ewigen was die Menschen bindet«,25 erst jetzt, durch das »Jasagen«26 von Andreas-Salom8, hält Rilke seinen Rodin für »vollendet« und »gut«.27 In den Briefen, die nach der Briefpause, in der Der Panther entstanden ist, geschrieben werden, vollzieht sich jene berühmte Selbstverständigung Rilkes über das eigene Tun am Vorbild Rodins. An diesem Vorbild und vor den lesenden Augen Lou Andreas-Salom8s, auf die Rilke sich »von nun ab […] verlassen kann«,28 erzieht er sich zum »Arbeiten«.29 Das Maß, das Rilke an Rodin nimmt, ist, anders als man vermuten könnte und anders, als ein Forschungskonsens lange behauptet hat, nicht nur, vielleicht sogar gar nicht hauptsächlich ein visuelles. Vielmehr beobachtet Rilke Rodin genau auch darin, wie der Meister mit der Musik umgeht. Wie er auf die Geräusche der Natur hört, wie er aufgeführter Musik im Konzertsaal lauscht oder der Orgel in der Kathedrale standhält. Und wie aus diesen akustischen Eindrücken Werk wird. Die Hinwendung zur Ding-Dichtung und später die zum Sachlichen Sagen ist keine Abkehr von der Inspirationsquelle der Musik, sondern eine andere Art des Umgangs mit ihr.30 Wenn wir nun fragen: was hat Rilke gehört, bevor er das eine oder das andere der Neuen Gedichte schrieb, so gilt immer, dass das vorgängig Gehörte mitgenommen wird – die Hörerfahrung der Missa Solemnis in Berlin etwa liegt gerade einmal zwei Jahre zurück, als Rilke den Panther schreibt. Dazwischen hörte er Mozarts Zauberflöte, etliche Liederabende in Worpswede und andere Kammermusik.31 Natürlich ist bekannt, dass Rilke in der oben genannten Selbstverständigung über die neue Schaffensphase versucht, die Musik aus dieser Poetik zu verbannen. Er schreibt an Andreas-Salom8 über die Musik, sie sei der »Gegensatz der Kunst«, ein »Nicht-ver-dichten«, eine »Versuchung zum Aus-
23 RMR an Lou Andreas-Salom8, 1. August 1903. In: RMR, Andreas-Salom8: Briefwechsel, S. 83, Hervorhebung durch RMR. 24 Lou Andreas-Salom8 an RMR, 7. August 1903. In: Ebd., S. 87. 25 Andreas-Salom8 an RMR, 8. August 1903. In: Ebd., S. 90. 26 RMR an Lou Andreas-Salom8, 10. August 1903. In: Ebd., S. 102. 27 Ebd. 28 Andreas-Salom8 an RMR, 8. August 1903. In: Ebd., S. 90. 29 RMR an Lou Andreas-Salom8, 10. August 1903. In: Ebd., S. 103. 30 Vgl. Verf.: »Musik ist Schöpfung«, S. 163–181. 31 Vgl. ebd., S. 191, S. 202, S. 220–222.
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fließen« und so fort.32 Es ist aber Lou Andreas-Salom8, die ihn sogleich zurückpfeift, mit den Worten: »du bist momentan ungerecht gegen sie [= die Musik; A. E.]«.33 Das wird dem Dichter zu denken gegeben haben. Und schauen wir genau hin, wie die Neuen Gedichte entstehen und wie sie mit dem Motiv der Musik umgehen, ergibt sich ein erstaunliches Bild. Das Gedicht Hetären-Gräber zum Beispiel nimmt Motive aus jenem Gedicht auf, das Rilke in Erinnerung an einen musikalischen Abend im »Weißen Saal« des Barkenhoffs in Worpswede geschrieben hat. Jenes Gedicht, in dem es von der Musik heißt, sie sei »Schöpfung« und in dem die Musik als dasjenige angesprochen wird, das in den Dingen »gefangen« sei, und jenes Gedicht, in dem die Musik aufgefordert wird, »verrollte Perlen« wieder »auf Schnüre« zu locken: STROPHEN […] Von vielem klingt die Stille um mich her. Musik! Musik! Ordnerin der Geräusche, nimm, was zerstreut ist in der Abendstunde, verrollte Perlen locke du auf Schnüre… In jedem Ding ist ein Gefangener. Geh hin, Musik, zu jedem Ding und führe aus jedes Dinges jeder Türe, die lange bange waren, – die Gestalten. […] Ich bin bei euch, ihr Lauschenden des Klanges, der immer ist, für den wir manchmal sind; wir wurden furchtlos jedes Unterganges. Musik ist Schöpfung. Seele des Gesanges, du machst aus vielen Dingen einen Bau, indem du steigst in diese vielen Dinge.34
Hetären-Gräber, Anfang 1904 in Rom entstanden, ist wie eine späte Antwort auf die hier gefundenen Motive: So liegen sie mit Dingen angefüllt, kostbaren Dingen, Steinen, Spielzeug, Hausrat,
32 RMR an Lou Andreas-Salom8, 8. August 1903. In: RMR, Andreas-Salom8: Briefwechsel, S. 94. 33 Andreas-Salom8 an RMR, 10. August 1903. In: Ebd., S. 100. 34 SW III, S. 705, Hervorhebung durch RMR, vgl. zum ganzen Gedicht Verf.: »Musik ist Schöpfung«, S. 53–56.
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zerschlagnem Tand (was alles in sie abfiel), und dunkeln wie der Grund von einem Fluß.35
Unter diesen »Dingen« werden drei Mal im Gedicht »gelbe Perlen« hervorgehoben: Und Blumen, gelbe Perlen, schlanke Knochen, Hände und Hemden, welkende Gewebe über dem eingestürzten Herzen. Aber dort unter jenen Ringen, Talismanen und augenblauen Steinen (Lieblings-Angedenken) steht noch die stille Krypta des Geschlechtes, bis an die Wölbung voll mit Blumenblättern. Und wieder gelbe Perlen, weitverrollte, – […] Und wieder Blumen, Perlen, die verrollt sind, die hellen Lenden einer kleinen Leier.36
Diese Perlen erhalten zwei Mal das Attribut »verrollt«. Musik, so lernen wir aus Strophen, lockt »verrollte Perlen« auf Schnüre – sie fasst das Zerstreute ordnend zusammen. Sie macht, so lernen wir an anderer Stelle in Strophen, aus Ferne Nähe und aus Einsamkeit Verbundenheit, indem sie beides, Ferne und Nähe, Einsamkeit und Verbundenheit, Zerstreuung und Ordnung in sich aufnehmen kann.37 So bergen die in den Gräbern angehäuften Dinge das fragil ordnende Prinzip der Musik. Nicht von ungefähr wird die Leier, das Attribut des Orpheus, genannt. Die Sprachmusik dieses Gedichtes – das Spiel der Vokale und der fließende Rhythmus des Gedichtes erinnern einerseits an das Stunden-Buch und andererseits an die Sonette an Orpheus – bringt diese unscheinbaren Dinge buchstäblich zum Klingen. Diese Musik öffnet den Raum, sie macht »Ferne« (V. 3) sinnfällig. Am Ende des Gedichtes Hetären-Gräber stehen »Himmel, die sich nirgends schlossen« (V. 53). Und es folgt mit Orpheus. Eurydike. Hermes Orpheus’ Reise in die Unterwelt – die Reise in den Bereich, in dem die Trennung zwischen Tod und Leben nicht mehr gilt. Orpheus. Eurydike. Hermes ist auch in Rom begonnen, dort aber nicht fertig geworden. Es scheint, als sei die noch aus Worpswede und Berlin mitgebrachte, musikalische Inspiration in Hetären-Gräber verbraucht gewesen. Erst nach neuen musikalischen Erfahrungen kann Rilke die beiden in Rom begonnenen Gedichte, dann in Schweden, vollenden. Untätig war Rilke in Rom nicht. Es entstand, wie wir wissen, zwischen den beiden begonnenen Gedichten 35 KA I, S. 500. 36 KA I, S. 499. 37 Vgl. Verf.: »Musik ist Schöpfung«, S. 53–65.
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der Anfang des Malte.38 Die Briefe aus Rom künden dennoch von Unproduktivität und Unpässlichkeit, das ändert sich auch nicht auf der Reise über Neapel und Düsseldorf nach Kopenhagen, es ändert sich in dem Moment, in dem Rilke allein – ohne seine Familie und ohne Clara Rilke-Westhoff – in Schweden Zuflucht gefunden hat. Zuerst bei Ernst Norlind, der ihm auf seiner Geige vorspielen konnte,39 dann bei den Gibsons in Furuborg, von deren Gästen er ganz besonders eine Pianistin, Florence Waern, hervorhebt.40 Vielleicht konkret gehörte Musik in dieser Zeit verbindet sich mit poietischem Aufnehmen der Geräusche der Natur. Das Hören auf die Musik in der Natur jedenfalls wird hier einmal mehr als Schaffens-Impuls deutlich: Und wir sitzen beisammen und sind voller Nachklang unseres Gehens und voll Erinnerung an Föhren und Fichten und Wege und Wasserläufe; das Durcheinanderklingen der herbstlichen und herbstlicheren Farben lebt noch in uns und die Schwere schwarzer Fichtenäste und einer goldenen Birke spielende Leichtigkeit geht uns noch nach. Lang war dieser Gang, wie ein ganzes Leben so voll von Erfahrung und Fügung, Ferne und Nähe… […] Sie wissen, wie Ihr lieber Freund […] zu lauschen versteht; er war der Stillste unter uns, der Wissendste, der uns führte; erst zu dem grossen Geräusch, das durch die Wipfel der erwachsenen Bäume geht, dann, den ganzen fallenden Bach entlang, zu den kleinen Stimmen die, da und da und da – neue bei jeder Wendung – aus dem wandernden Wasser kommen. Stille. Und mit einer leisen Gebärde breitete er den zartesten Stoff vor uns aus, der aus allen diesen Lauten gewoben ist, – das unendlich weiche Gewebe, das den ganzen Wald zusammenhält. Da erwachte in mir das Gedicht.41
Es ist in dieser neugewonnenen musikalischen Atmosphäre, dass Rilke seine in Rom begonnenen Gedichte vollendet. Eine gelungene, also produktive Arbeitsatmosphäre ist für Rilke dann gegeben, wenn er in Einsamkeit und in Ruhe mit ausgeruhten Augen und angeregten Ohren sein kann. Musik ist für Rilke in vielen Äußerungen direkt mit der Einsamkeit verknüpft. MUSIK als Inspiration kann sich nur in der Einsamkeit einstellen, weshalb er ein ganz ausgesprochenes Ohr für das ihm exklusiv dargebotene Privatkonzert hat. Hier können nämlich Musik und Einsamkeit gefahrlos aufeinandertreffen, und über die gehörte Musik kann die in ihr enthaltene MUSIK unmittelbar in Dichtung umgesetzt werden.42 Diese musikalische Poetik Rilkes zeigt sich nicht zuletzt an den Neuen Gedichten, wie wir bis hierhin an drei Beispielen sehen konnten. Nun könnte man mit Recht einwenden, alle Beispiele seien früh entstandene Gedichte des Zyklus und also zeitlich noch näher am musikalisch geprägten Frühwerk. Abgesehen 38 Vgl. KA III, S. 867. 39 Vgl. Verf.: »Musik ist Schöpfung«, S. 216f. 40 Vgl. RMR an Ellen Key, 19. Oktober 1904. In: RMR. Briefwechsel mit Ellen Key. Hg. v. Theodore Fiedler. Frankfurt a. M., Leipzig 1993, S. 111. 41 RMR an Ellen Key, 2. Oktober 1904. In: Rilke/Key, S. 105f. 42 Verf.: »Musik ist Schöpfung«, S. 127–148, S. 213–257.
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davon, dass es auch für einige der Neuen Gedichte, die später entstanden sind, musikalische Urszenen gibt, wie gleich zu zeigen ist, spricht die Anordnung dieser frühen Gedichte, die Rilke im Zyklus traf, gegen eine solche chronologisch bestimmte Zuordnung. Der Panther steht zentral, nicht ganz in der Mitte des Zyklus Neue Gedichte und wird eingerahmt von Der Gefangene I und II und von Die Gazelle.43 Die Gazelle ist eines der musikalischsten Gedichte im Zyklus überhaupt:44 Ihr Sprung wird mit einem Akkord (»Einklang«, V. 1) verglichen, der jeder Sprachmusik voraus ist, die Gazelle bringt so »Laub und Leier« (V. 4) hervor, das betrachtende Ich lässt das Lesen und verlegt sich aufs »Horchen«, das es der Gazelle abschaut (V. 7 und V. 12). Die anderen beiden hier besprochenen Gedichte (Hetären-Gräber und Orpheus. Eurydike. Hermes) stellt Rilke ans Ende des Zyklus. Sie weisen heraus aus dem geschlossenen Kreis der hier versammelten Gedichte, sie machen jene dann in den Elegien und vor allem in den Sonetten an Orpheus realisierte Sprachmusik schon ahnbar. Wie Rilke sich an diese Sprachmusik des Spätwerks heranarbeitet, kann man nicht zuletzt nachvollziehen, wenn man sich die Entstehung der Neuen Gedichte genau ansieht. Die Gazelle zum Beispiel ist am 17. Juli 1907 entstanden,45 also fünf Jahre nach dem Panther. Rilke ordnet nicht nur beide Gedichte hintereinander an, sondern es scheint, liest man sie hintereinander, fast so, als sei Die Gazelle jenes Bild, das im »Herzen« (Der Panther, V. 12) eingeschlossen worden war und nun wieder heraustritt. Und beide Gedichte verbindet ihr Ursprung in der Beschäftigung mit Rodin als einem Meister im Umgang mit der Musik. Die Gazelle entsteht wenige Tage nach der Vollendung eines anderen Rodin-Textes Rilkes, bekannt als Ein Vortrag.46 In diesem Text sagt Rilke noch deutlicher als in seiner Rodin-Monographie, dass Rodin im Schaffen von Skulpturen und von Zeichnungen mit der aller Kunst zugrundeliegenden Musik umgeht.47 Dass dies nicht nur Theorie ist, zeigt sich an den Briefen, die Rilke Ende 1905 an Clara Rilke-Westhoff schreibt. Am 30. November 1905 schreibt er ihr darüber, dass er morgens um 6 Uhr Rodin im Garten hat singen hören, und schließt: »So froh ist ihm jetzt, daß er mitten in seinen Mühsäligen Tagen aufstehen und laut singen muß […]«.48 Am 2. Dezember 1905 erzählt er ihr, dass er gemeinsam mit Rodin Orgel und Sopran-Gesang in Notre-Dame gehört habe, und er bewundert Rodin, der, diese Klänge hörend, so »verloren ging« und »doch so da« gewesen
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KA I, S. 469. Vgl. Verf.: »Musik ist Schöpfung«, S. 327. Vgl. KA I, S. 934. Vgl. Schnack: Rilke-Chronik, S. 274. Vgl. Verf.: »Musik ist Schöpfung«, S. 163f. RMR an Clara Rilke-Westhoff, 30. November 1905. In: Briefwechsel zu Rilkes Begegnung mit Rodin, S. 138.
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sei.49 Dies setzt sich fort in der Beschreibung eines gemeinsam mit Rodin besuchten Konzertes bei der Geographischen Gesellschaft Paris, von dem Rilke seiner Frau am 8. Dezember 1905 erzählt: »Die ganze Zeit saß er [= Rodin; A. E.] aufrecht da, ein wenig vorgeneigt, die Hände etwas über den Knieen ruhen lassend, ganz aus einem Stück, ohne Augen nach außen und überall gleich, wie ein Ding im Regen.«50 Die Arbeit, die Rilke bei Rodin lernt, ist nicht zuletzt ein Hörenlernen. An Arthur Holitscher schreibt Rilke am 13. Dezember 1905: Und wir haben fast nichts zu tun als zu hören; denn die Arbeit selbst kommt aus diesem Hören, man muß sie herausheben mit beiden Armen, denn sie ist schwer. Meine Kräfte versagen oft, aber Rodin hebt alles und hebt es über sich hinaus und stellt es in den Raum. Und das ist ein namenloses Beispiel. Ich glaube an das Alter, lieber Freund. Arbeiten und Altwerden, das ist es, was das Leben von uns erwartet. Und dann eines Tages alt sein und noch lange nicht alles verstehen, nein, aber anfangen, aber lieben, aber ahnen, aber zusammenhängen mit Fernem und Unsagbarem, bis in die Sterne hinein. Ich sage mir : wie gut, wie köstlich muß das Leben sein, wenn ich diesen alten Mann so groß davon sprechen, so rauschend davon schweigen höre.51
In dieser von Musik und von Reflexionen über das Hören geprägten Zeit entstehen in Meudon die Gedichte Eranna an Sappho und Sappho an Eranna, Grabmal eines jungen Mädchens, Opfer, Abisag I und II, David singt vor Saul, Buddha, Das Einhorn, Sankt Sebastian, Der Schwan, Der Dichter, im Frühjahr vermutlich dort Der Gefangene I–II, Die Genesende und Abschied.52 Die eben zitierte Briefstelle spiegelt sich am deutlichsten in der Trilogie David singt vor Saul: DAVID SINGT VOR SAUL I König, hörst du, wie mein Saitenspiel Fernen wirft, durch die wir uns bewegen: Sterne treiben uns verwirrt entgegen, und wir fallen endlich wie ein Regen, und es blüht, wo dieser Regen fiel. Mädchen blühen, die du noch erkannt, die jetzt Frauen sind und mich verführen; den Geruch der Jungfraun kannst du spüren, und die Knaben stehen, angespannt schlank und atmend, an verschwiegnen Türen.
49 50 51 52
RMR an Clara Rilke-Westhoff, 2. Dezember 1905. In: Ebd., S. 139. RMR an Clara Rilke-Westhoff, 8. Dezember 1905. In: Ebd., S. 143. RMR an Arthur Holitscher, 13. Dezember 1905. In: Ebd., S. 144, Hervorhebung durch RMR. Vgl. KA I, S. 922f., S. 924f., S. 925f., S. 929, S. 933, S. 935, S. 937, S. 938, S. 939, S. 941.
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Daß mein Klang dir alles wiederbrächte. Aber trunken taumelt mein Getön: Deine Nächte, König, deine Nächte, – und wie waren, die dein Schaffen schwächte, o wie waren alle Leiber schön. Dein Erinnern glaub ich zu begleiten, weil ich ahne. Doch auf welchen Saiten greif ich dir ihr dunkles Lustgestöhn? – II König, der du alles dieses hattest und der du mit lauter Leben mich überwältigest und überschattest: komm aus deinem Throne und zerbrich meine Harfe, die du so ermattest. Sie ist wie ein abgenommner Baum: durch die Zweige, die dir Frucht getragen, schaut jetzt eine Tiefe wie von Tagen welche kommen –, und ich kenn sie kaum. Laß mich nicht mehr bei der Harfe schlafen; sieh dir diese Knabenhand da an: glaubst du, König, daß sie die Oktaven eines Leibes noch nicht greifen kann? III König, birgst du dich in Finsternissen, und ich hab dich doch in der Gewalt. Sieh, mein festes Lied ist nicht gerissen, und der Raum wird um uns beide kalt. Mein verwaistes Herz und dein verworrnes hängen in den Wolken deines Zornes, wütend ineinander eingebissen und zu einem einzigen verkrallt. Fühlst du jetzt, wie wir uns umgestalten? König, König, das Gewicht wird Geist. Wenn wir uns nur aneinander halten, du am Jungen, König, ich am Alten, sind wir fast wie ein Gestirn das kreist.53
In David und Saul stellt Rilke einen »Jungen« und einen »Alten« einander gegenüber. Der Ältere ist der Erfahrenere, der Jüngere der Freiere. Der Jüngere ist der Musiker, der Ältere der Liebeskranke. Die initiale Aufforderung richtet David 53 KA I, S. 455f.
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an Saul: »König, hörst du«. Das Saitenspiel, die Musik also, »wirft Fernen« – sie schafft Raum, in dem beide, Sänger und König, sich bewegen. Zwischen den Sternen begegnen sie anderen Raumbewohnern (»verwirrt[en]« Sternen und Regentropfen). Als Regen fallen beide zurück und bringen zum Blühen. Nicht etwa die Erde, sondern die besuchten »Mädchen« und »Knaben«. Die zweite Strophe beschwört eine halbwegs angenehme und geheim gehaltene erotische Sphäre zwischen »Mädchen«, »Frauen«, »Jungfraun« und »Knaben«. David will das alles im »Klang« einfangen – doch es ist eine Atmosphäre, die nicht »Klang«, sondern nur »Getön« hervorbringt. Die Fülle, in billige erotische Vergnügungen abgelenkt, kann so nicht dem »Schaffen« fruchtbar werden. Davids Harfe, so die letzte Strophe, kann das »Erinnern« von Saul begleiten, sie weiß sich aber keinen Reim auf »Lustgestöhn« zu machen als eben das unschöne »Getön«.54 In David singt vor Saul II wird der König als gewaltsamer Lebenslehrer angesprochen, der als solcher aber unerreichbar bleibt. Das Instrument, solcher Art für unbrauchbar erklärt, soll nun gänzlich zerbrochen werden. Das Instrument, zur Freude des Sängers und des Königs gebraucht, verliert seine Funktion vor der scheinbar stärkeren Macht der Erotik. Die »Oktaven eines Leibes« scheinen dem Sänger, vom »Leben« des Königs »überwältigt« und »überschattet«, attraktiver als die Intimität mit dem Instrument. Das Gedicht endet mit einer rhetorischen Frage des aufmüpfig gewordenen Jüngeren. David singt vor Saul III kehrt die Verhältnisse um. Jetzt ist nicht der König per se der Mächtigere, sondern David hat ihn »in der Gewalt«. Und zwar durch seine Musik, das »feste Lied«. Es ist ein Raum, in dem beide sich finden, und der ist beiden gleichermaßen gewogen oder nicht, er wird »um uns beide kalt«. Die Zusammengehörigkeit der beiden Figuren wird jetzt drastisch und anschaulich beschrieben. Ein Herz ist hier aus zwei Herzen geworden. Durch verbissenen Streit sind sie »zu einem einzigen verkrallt«. Dies wird zur Voraussetzung einer Verwandlung. Einer lernt hier am andern, nicht der Jüngere vom Älteren oder umgekehrt, sondern wechselseitig: »du am Jungen, König, ich am Alten«. So, in der widersprüchlichen Zweieinigkeit, wird aus »Gewicht« »Geist« und beide kreisen dioskurenhaft im Raum (»wie ein Gestirn«). Diesem Flug durch den Raum setzt Rilke allerdings ein »fast« hinzu. Irgendetwas ist hier falsch. Musik ist seit dem Frühwerk für Rilke verbunden mit der Ferne, mit dem Raum. Dies ist auch in der gerade besprochenen Gedichttrilogie so, und so ist es auch, und diesmal richtig, also ohne die erotischen Nebengeräusche, in Buddha:
54 Vgl. dazu und zum Gedicht insgesamt Brigitte L. Bradley : R.M. Rilkes Neue Gedichte. Ihr zyklisches Gefüge. Bern 1967, S. 38–41, hier S. 39: »Getön im Gegensatz zu Klang« bezeichne »Davids unvollkommene Wiedergabe«.
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BUDDHA Als ob er horchte. Stille: eine Ferne… Wir halten ein und hören sie nicht mehr. Und er ist Stern. Und andre große Sterne, die wir nicht sehen, stehen um ihn her. O er ist Alles. Wirklich, warten wir, daß er uns sähe? Sollte er bedürfen? Und wenn wir hier uns vor ihm niederwürfen, er bliebe tief und träge wie ein Tier. Denn das, was uns zu seinen Füßen reißt, das kreist in ihm seit Millionen Jahren. Er, der vergißt was wir erfahren und der erfährt was uns verweist.55
Musik, so Rilke in den Marginalien zu Friedrich Nietzsche, schwebt über unseren Häuptern, als ob wir nicht wären.56 Musik ist »Strömung« und »Inspiration«,57 sie ist »die Ferne vor den Fenstern«,58 sie ist das Fremdeste, das man sich denken kann, und so der Anspruch an die eigene Kunst, ihre Grenzen beständig zu erweitern.59 Etwas Uraltes erfüllt die hier betrachtete Buddha-Figur gerade so, wie die Orgelmusik in Notre-Dame Rodin erfüllt hat. Dem Ansturm der inspiratorischen Musik gegenüber muss der Schaffende sich schwer machen, damit er nicht »hingerissen« wird. In diesem Sinne schreibt Rilke im November 1908 an Sidonie N#dherny´ von Borutin, die nach ihrer ersten Begegnung mit Rilke im April 1906, also nicht lange nach der Entstehung der eben besprochenen Gedichte, in ihrem Tagebuch über den »jüngeren Herr[n], Schriftsteller« festhält, »liebt Beethoven«:60 dünne weite gespannte Himmel, darin die Sterne gläsern und spröd aneinanderklangen. Die Kiesterrasse […] war wie aus einem Stück Mond, so voll von Leere, daß sie unbetretbar schien, es sei denn für eine langverstorbene Frau […]. Denn völlig leicht hätte man sein müssen, durchscheinend und ohne Anspruch auf den geringsten 55 56 57 58
KA I, S. 462. Vgl. KA IV, S. 161. Vgl. Verf.: »Musik ist Schöpfung«, insbesondere S. 62–71. RMR an Clara Rilke-Westhoff, 28. September 1902. In: RMR: Briefe 1902–1906. Hg. v. Ruth Sieber-Rilke u. Carl Sieber. Leipzig 1930, S. 50. Die Formulierung in diesem Brief, in dem selbst nicht von Musik die Rede ist, kehrt in Variationen wieder, wenn es um die Verknüpfung von »Ferne«, »Inspiration« und »Musik« geht. Vgl. Verf.: »Musik ist Schöpfung«, S. 88 u. S. 239. 59 Vgl. Verf.: »Musik ist Schöpfung« insgesamt. 60 Sidonie N#dherny´ von Borutin: Tagebuchaufzeichnung vom 26. April 1906. In: RMR, Sidonie N#dherny´ von Borutin: Briefwechsel 1906–1926. Hg. v. Joachim W. Storck. Göttingen 2007, S. 537.
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Schatten, um über dieses wesenlose Weiße sich hinzuwagen, das wie der Mond selber war, kalt und unbewohnt seit Jahrtausenden und für immer unbewohnbar.61
Zum Glück, so Rilke weiter, trennte ihn das große Bogenfenster des Palais Biron von dieser uferlosen Nacht, anders als noch einen Monat früher, als das Fenster noch hinaus zur lauen herbstlichen Nacht [gehörte], in die er [= der Mond; A. E.] sich lautlos hinaushob aus noch verdeckenden Parkkronen. Sie hätten gefühlt, wie nah an Musik das war. Für mich war es schon Musik selbst; denn verwirklichter, ausgeführter kann ich sie nicht ertragen, noch Jahrelang nicht. Einmal ja, wenn ich wissen werde, daß ein Kern von Dasein in mir ist, den es nichtmehr mitreißt aus mir hinaus und von Weltraum zu Weltraum; wenn ich mich schwer genug fühlen werde diesem Anheben und Hinnehmen gegenüber, das Musik für mich ist: dann werd ich es durch mich durchschwingen lassen, so daß meines Körpers Umriß undeutlich wird für mich, und mein sicheres Innere werd ich hineinhalten, wie in flüssiges Gold, und es strahlend herausholen aus dem rückfluthenden Bad. –62
Diese oft zitierte Briefstelle ist ein Echo auf das im Sommer desselben Jahres geschriebene und von Rilke ans Ende des Zyklus der Neuen Gedichte Anderer Teil gesetzte Gedicht BUDDHA IN DER GLORIE Mitte aller Mitten, Kern der Kerne, Mandel, die sich einschließt und versüßt, – dieses Alles bis an alle Sterne ist dein Fruchtfleisch: Sei gegrüßt. Sieh, du fühlst, wie nichts mehr an dir hängt; im Unendlichen ist deine Schale, und dort steht der starke Saft und drängt. Und von außen hilft ihm ein Gestrahle, denn ganz oben werden deine Sonnen voll und glühend umgedreht. Doch in dir ist schon begonnen, was die Sonnen übersteht.63
Wenn man bedenkt, dass Rilke in den Marginalien zu Friedrich Nietzsche schreibt, es gelte, die immerströmende Musik wie ein Gefäß aufzunehmen, so figuriert er hier, in der Buddha-Figur jenen »Kern von Dasein«, jenes »sichere Innere«, das es braucht, um dieser immerströmenden Musik etwas entgegenzusetzen, so dass die Musik nicht einfach vorbeiströmt, sondern einverwandelt wird. Und mehr noch. Die Metapher vom aufnehmenden Gefäß erfährt hier, in 61 RMR an Sidonie N#dherny´ von Borutin, 13. Novmeber 1908. In: Ebd., S. 69. 62 Ebd. 63 KA I, S. 586.
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Buddha in der Glorie eine Umkehrung: Das aufnehmende Gefäß wird umgewendet und kann also das Aufgenommene verwandelt wieder zurückgeben. Aus MUSIK ist Musik geworden, aus der inspiratorischen Kraft dichterisches Werk. In den Sonetten an Orpheus wird diese Verwandlungskraft gelassen ausgesprochen und praktiziert. »Ist dir Trinken bitter, werde Wein«, heißt es dort.64 Selbst Musik zu werden, das ist Rilkes lebenslanges Projekt. Sein Werk lebt durchgängig von der Spannung, wie weit es sich der tendenziell auflösenden Kraft der MUSIK hingeben kann, ohne dabei seine Form zu verlieren. Die Neuen Gedichte sind sicherlich der spannungsreichste Austrag dieser Verhältnisbestimmung zwischen fließender Musikalität und klar, bisweilen hart geformter Fassung. Wie immer hat Rilke selbst die schönsten Worte für diesen Sachverhalt gefunden: Es sei eine »riesige […] Konzentration [gewesen], die die Neuen Gedichte durchsetzte«,65 schreibt er an Lou Andreas-Salom8, der er erneut versichert, »Adieu, liebe Lou; Gott weiß, Dein Wesen war so recht die Thür, durch die ich zuerst ins Freie kam«66 und »Du siehst, wie wenig sich verändert hat« und nach der er sich täglich sehnt.67 Der Bruch, den man gerne zwischen dem Frühwerk und der Zeit der Ding-Gedichte sehen möchte, ist nicht da.68 Es geht Rilke, mit den Neuen Gedichten zumal, um den richtigen Umgang mit der MUSIK im Sinne seiner Marginalien zu Friedrich Nietzsche. Damit folgt er seinem »frühste[n] Instinkt«, der »der endgültige« war.69 Die Frage, die Rilke umtreibt, ist nicht die Frage nach dem Was, sondern die Frage nach dem Wie der Kreativität. In den Neuen Gedichten hat er die ungestalte Kraft der MUSIK zu seiner eigenen Zufriedenheit, aber unter enormer Kraftanstrengung, in Dichtung verwandelt: »Mit einer Art Beschämung denk ich an meine beste pariser Zeit, die der Neuen Gedichte, da ich nichts und niemanden erwartete und die
64 KA II, S. 272 (SaO II/29). 65 RMR an Lou Andreas-Salom8, 10. Januar 1912. In: RMR, Andreas-Salom8: Briefwechsel, S. 245. 66 RMR an Lou Andreas-Salom8, 28. Dezember 1911. In: Ebd., S. 242. 67 RMR an Lou Andreas-Salom8, 10. Januar 1912. In: Ebd., S. 244. 68 Schon Bradley : Rilkes Neue Gedichte Anderer Teil, S. 5, schreibt: »Vergleicht man die Entstehungsdaten der einzelnen Gedichte mit der Biographie Rilkes, so zeichnet sich eine Aufteilung ab, die mit Veränderungen in den Lebensverhältnissen des Dichters korrespondiert, auch wenn sie nicht genau damit übereinstimmt und Überschneidungen einschließt.« Es handele sich daher um »zwei Entwicklungsphasen in derselben Werkstufe.« Die Kontinuität, die Bradley innerhalb der Werkstufe Neue Gedichte ausmacht, lässt sich, wie gezeigt, ausweiten. Die frühere »Werkstufe« des Stunden-Buchs ist viel enger verknüpft mit der der Neuen Gedichte, als gemeinhin angenommen wird. Vielleicht sollte man sich vom Begriff »Werkstufe« in diesem Zusammenhang verabschieden. Werke entstehen doch in aller Regel nicht analog zum Treppensteigen. 69 Ebd.
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ganze Welt mir immer mehr und nur noch als Aufgabe entgegenströmte und ich klar und sicher, mit purer Leistung antwortete.«70
70 RMR an Lou Andreas-Salom8, 28. Dezember 1911. In: RMR, Andreas-Salom8: Briefwechsel, S. 240.
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»Herr der Heerschaaren«. Rilke und Beethoven
Anzumerken, dass Rilke unmusikalisch war, bedeutet nichts Neues. Er hatte ein schlechtes musikalisches Gehör, sang nicht und lernte nie ein Musikinstrument. Er interessierte sich eher für die Musik als kulturelles oder ästhetisches Phänomen als für die musikalische Praxis, sogar als Zuhörer, dessen Aufmerksamkeit von einzelnen Komponisten und Werken geweckt wurde.1 Von einer Ausnahme abgesehen, stammen im Briefwechsel mit Marie von Thurn und Taxis sämtliche der vielen begeisterten Verweise auf Konzertaufführungen von Beethovens Werken von der Fürstin; Rilke hingegen erwähnt nur ein einziges Konzert, das er verpasst hatte.2 Katharina Kippenberg bestätigt den Eindruck, dass er kaum Interesse an »live« aufgeführter Musik zeigte. Sie berichtet davon, wie gerne er Museen und Ausstellungen besichtigte, »während man nie gehört hat, daß er Konzerte anders als etwa um einer Begleitung willen besuchte«.3 Rilkes Mangel an Musikalität ist zum Teil auf eine gewisse Besorgnis über die Auswirkungen von Musik auf ihn zurückzuführen, auf die Angst davor, dass sie etwas auszudrücken vermag, das jenseits seines Verständnisses liegt und ihm unerreichbar bleiben muss. Diese Auffassung äußert er mit eindrucksvoller Aufrichtigkeit gegenüber Sidonie N#dherny´ von Borutin: »Gestern hörte ich Musik; Beethovens drittes Quartett mit Joachims letzter Geige. Aber es war wie immer : Musik ist schon viel zu viel für mich: ein Jenseits; sie übersteigt alle meine Sinne.«4 Ein Mensch wie Rilke, dessen Art und Weise, die Welt zu erfahren und zu deuten, so tief im Visuellen verwurzelt ist, findet in dem Akustischen eher 1 Vgl. Christoph Petzsch: Musik. Verführung und Gesetz (aus Briefen und Dichtungen Rilkes). In: Germanisch-romanische Monatsschrift 10 (1960), S. 65–85; George C. Schoolfield: Rilke and Music. A Negative View. In: James McGlathery (Hg.): Music and German Literature. Their Relationship since the Middle Ages. Columbia 1992, S. 269–291. 2 Vgl. RMR an Marie von Thurn und Taxis, 31. Oktober 1912. In: RMR, Marie von Thurn und Taxis: Briefwechsel. Band 1. Hg. v. Ernst Zinn. Zürich 1951, S. 216 u. S. 230. 3 Katharina Kippenberg: Rainer Maria Rilke. Ein Beitrag. Leipzig 1948, S. 175. 4 RMR an Sidonie N#dherny´ von Borutin, 18. Dezember 1907. In: RMR, Sidonie N#dherny´ von Borutin: Briefwechsel 1906–1926. Hg. v. Joachim W. Storck unter Mitarb. v. Waltraud u. Friedrich Pfäfflin. Göttingen 2007, S. 38.
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eine Bedrohung als eine Ergänzung seiner Wahrnehmungsgewohnheiten. In seinen um 1900 verfassten Marginalien zu Nietzsches Geburt der Tragödie schreibt Rilke über die Musik, sie sei »freie, strömende, unangewandte Kraft, von welcher wir mit Schrecken wahrnehmen, dass sie nicht in unsere Werke steigt, um sich in der Erscheinung zu erkennen, sondern sorglos, als ob wir nicht wären, über unseren Häuptern schwebt«.5 Trotzdem besteht eine gewisse Verwandtschaft zwischen Rilke und Beethoven, dem Komponisten, den er in seinen Werken und Briefen am häufigsten erwähnt oder auf den er anspielt. Beethoven lässt sich eindeutig mit spezifischen Positionen in Rilkes dichterischer Laufbahn verbinden, und seine Bedeutung für Rilke kulminiert in der ihm gewidmeten 24. Aufzeichnung des Malte Laurids Brigge. Rilke verbindet Beethoven häufig mit verhältnismäßig oberflächlichen Werturteilen, wie zum Beispiel aus einem Brief an Clara vom 3. November 1909 hervorgeht. Hier erzählt Rilke von einem Besuch bei Rodin, auf dessen neuem Phonographen die anwesende Gesellschaft eine Platte mit alten gregorianischen Gesängen hörte: Durch meine Unvorsichtigkeit kam […] nochmals ein gregorianisches Lied, ein ungeheueres; nur in Russland hab ich Ähnliches gehört; auch die Gesänge der armenischen Kirche waren noch neumodisch und verschwächt gegen diese erste, unüberlegte Musik: ich meine, nicht einmal Beethoven könnte gleich darauf ertragen werden.6
Dies deutet darauf hin, dass Beethoven hier bloß als Musterbeispiel eines großen Künstlers mit universellem Reiz dient. Rilkes erster schriftlicher Hinweis auf Beethoven im Jahre 1898 vermittelt seine Enttäuschung darüber, dass im alltäglichen Leben in der Toskana die unmittelbare Präsenz der vielen großen Künstler nicht ausreichend wahrgenommen wird: »das Volk ist nicht anders wie der Mann, der neben Schubert oder Beethoven gewohnt hat: erst stört ihn die beständige Musik, dann ärgert sie ihn, und endlich: merkt er sie nicht mehr.«7 In seinen Briefen erscheinen auch relativ banale Beschreibungen von musikalischen Veranstaltungen (»sie haben uns Beethoven gespielt […] es war unbeschreiblich«8) oder Vergleiche mit bestimmten Werken (»welches Land hat soviel Einzelheiten in so großem Zusammenhang; es ist wie der Schlußsatz einer 5 KA IV, S. 161. Vgl. Jacob-Ivan Eidt: Rilke contra Wagner. Rilke’s Early Concept of Music and the Convergence of the Arts around 1900. In: Studia theodisca 18 (2011), S. 35–54, vor allem S. 45–48; Rüdiger Görner : »…und Musik überstieg uns…«. Zu Rilkes Deutung der Musik. In: Blätter der Rilke-Gesellschaft 10 (1983), S. 50–67; ders.: Rilkes »Musik des Hintergrunds«. In: Universitas 40 (1985), S 327–332. 6 RMR an Clara Rilke, 3. November 1909. In: RMR: Briefe. Band 1. Hg. v. Horst Nalewski. Frankfurt a. M. 1991, S. 335. 7 RMR: Tagebücher aus der Frühzeit. Hg. v. Ruth Sieber-Rilke, Carl Sieber. Leipzig 1942, S. 51. 8 RMR an Phia Rilke, 1. Mai 1914. In: RMR: Briefe an die Mutter 1896 bis 1926. Band 2. Hg. v. Hella Sieber-Rilke. Frankfurt a. M. 2009, S. 874.
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Beethoven-Symphonie«9). Wenn Magda von Hattingberg von Rilkes »angespanntester Aufmerksamkeit« beim Zuhören einer musikalischen Aufführung schreibt (»der große ausdrucksvolle Mund […] ist fast schmerzhaft zusammengepreßt, seine ganze schmale […] Gestalt scheint zu horchen«, wobei Rilke zur »lauschenden Weltseele selbst« wird10), dann sollte nicht vergessen werden, dass aufgrund ihres Verhältnisses zu dem Geliebten mit Übertreibungen zu rechnen ist. Von Beethovens Taubheit allerdings ist Rilke ehrlich und zutiefst ergriffen. Im November 1916 schreibt er an Sidonie N#dherny´ von Borutin: »So rührende Briefe Beethovens lese ich, der so sehr unter seinem beginnenden […] Ohrenleiden leidet.«11 Dabei zitiert er ausführlich aus einem Brief Beethovens, wahrscheinlich aus der 1912 im Insel-Verlag von Albert Leitzmann besorgten Ausgabe. In diesem Brief leugnet der Komponist, von Natur aus »feindselig, störrisch oder misanthropisch« zu sein, und legt nahe, dass ein angeborenes »zartes Gefühl des Wohlwollens« manchmal von seinem »feurigen lebhaften Temperament« und den isolierenden Auswirkungen seiner Taubheit überschattet wird: »[Ich musste] früh mich absondern, einsam mein Leben zubringen, wollte ich auch zuweilen mich einmal über alles das hinaussetzen.«12 1908 liest Rilke Rodin eine Passsage aus Bettine von Arnims Briefwechsel mit Goethe vor, in der ein weiteres Zitat von Beethoven vorkommt: Keinen Freund hab ich, ich muß mit mir allein leben; ich weiß aber wohl, daß Gott mir näher ist wie den andern in meiner Kunst, ich gehe ohne Furcht mit ihm um, ich hab ihn jedesmal erkannt und verstanden, mir ist auch gar nicht bange um meine Musik, die kann kein bös [sic!] Schicksal haben, wem sie sich verständlich macht, der muß frei werden von all dem Elend, womit sich die anderen schleppen.13
Die Vereinsamung und Abgeschiedenheit, die ihm durch seine Taubheit auferlegt wurden, und die Entschlossenheit, mit der er diese tragische Lage behandelte, übten jahrelang eine gewisse Faszination auf Rilke aus. Es liegt nahe, dass ein Musiker, der seine eigene Musik sowohl fühlen als auch denken musste, anstatt sie einfach zu hören, eine besonders anziehende Wirkung auf einen wenig musikalischen Menschen wie Rilke haben konnte. 9 RMR an Nanny Wunderly-Volkart, 15. Juli 1921. In: RMR: Briefe an Nanny WunderlyVolkart. Bd. 1. Hg. von Rätus Luck. Frankfurt a. M. 1977, S. 510. 10 Magda von Hattingberg: Rilke und Benvenuta. Ein Buch des Dankes. Wien 1943, S. 133. 11 RMR an Sidonie N#dherny´ von Borutin, 5. November 1916. In: RMR, Sidonie N#dherny´ von Borutin: Briefwechsel, S. 287. 12 Ebd. 13 Bettine von Arnim an Goethe, 28. Mai 1810. In: Bettine von Arnim: Werke und Briefe in vier Bänden. Band 2. Hg. v. Walter Schmitz u. Sibylle von Steinsdorff. Frankfurt a. M. 1992 (Bibliothek deutscher Klassiker, Bd. 76), S. 346. Vgl. auch RMR an Clara Rilke, 3. September 1908. In: RMR: Briefe, S. 307.
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Rilkes Vorliebe für Beethoven währt bis an sein Lebensende; so hörte er bei seinem letzten Konzertbesuch den Pianisten Walther Kerschbaumer »dont le Beethoven lui [= Rilke] fut une r8v8lation« (»dessen Beethoven-Aufführungen auf ihn wie eine Offenbarung wirkten«).14 Dieses besondere Interesse scheint zuerst um 1900 neben einer langsam wachsenden Zuneigung zur Musik im Allgemeinen entstanden zu sein; tatsächlich schreibt Marie von Thurn und Taxis diesen generellen musikalischen »Übertritt« dem spezifischen Einfluss Beethovens zu: »je crois que Beethoven le convertit, car je remarquai qu’il jouissait le plus des œuvres du ma%tre incomparable« (»ich glaube, dass Beethoven ihn bekehrte, denn ich merkte, wie er sich an den Werken des unvergleichlichen Meisters am meisten erfreute«).15 In einem Brief an seine Mutter verweist Rilke 1900 auf ein Konzert, das er zwar nicht besuchen konnte, an dem jedoch eine Angehörige einer ihr bekannten angesehenen Prager Familie teilnahm, wobei seine in diesem Zusammenhang artikulierte Begeisterung etwas Neues darstellt: »Ich habe dieses Konzert nicht gehört, obwohl ich jetzt oft Musik höre, modern – Richard Strauss z. B., vor allem aber Beethoven.«16 Am 24. März 1900 hörte Rilke in Berlin Beethovens Missa solemnis in einer Aufführung der Berliner Philharmoniker unter der Leitung von Friedrich Gernsheim;17 die Aufführung beeindruckte ihn nicht nur tief, sondern er hatte auch gespannt darauf gewartet. Ein viel zitierter Tagebucheintrag für den folgenden Tag lautet: »Gestern abends Beethovens ›Missa solemnis‹ gehört – Besonders herrlich fand ich den Jubel im Credo und im Gloria. Die Erziehung zum Jubel.« Ein Gedicht, das er vor dem Konzert verfasst hatte (»Laß dich von den Lauten nicht verleiten«) zeugt hingegen von der Angst, die er vor dem bevorstehenden Ereignis spürte und die vielleicht auf seine musikalische Unerfahrenheit zurückzuführen war.18 Weniger bekannt ist der Brief an seine Mutter, der eine detailliertere Beschreibung desselben Konzerts enthält: Sonnabend habe ich Beethovens »Missa solemnis« (festliche Messe) von guten Solokräften mit Orchesterbegleitung exekutieren gehört und wenn ich sie auch nicht als direkt religiöse Musik empfand und nicht so tief erschüttert wurde (wie etwa bei Bach oder bei meinem geliebten Händel) so ergriff mich doch die große glänzende Schönheit des 2 und 4 Satzes. Wie da im »Gloria« der Jubel losbricht, erst elementar, fast rücksichtslos – und wie sich langsam die Engelsstimmen anschließen, die das Irdische 14 Marie von Thurn und Taxis-Hohenlohe: Souvenirs sur R. M. Rilke. Paris 1936, S. 175. Diese und alle folgenden Übersetzungen aus dem Französischen stammen von dem Verfasser. 15 Ebd., S. 67. 16 RMR an Phia Rilke, 20. November 1900. In: RMR: Briefe an die Mutter, Bd. 1, S. 215. 17 Vgl. Ingeborg Schnack (Hg.): Rilke-Chronik. Erweiterte Neuausgabe von Renate Scharffenberg. Frankfurt a. M. u. a. 2009, S. 106, und George Schoolfield: Young Rilke and his Time. Rochester, New York 2009, S. 359. 18 RMR: Tagebücher aus der Frühzeit, S. 213. Vgl. auch SW III, S. 677.
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allmählich aus dieser rauschenden Seeligkeit verdrängen, bis eine himmlische silberne Freude schwebend leicht über dem Dunkel der Orgelbegleitung bleibt: das muß einen starken Eindruck verursachen, wenngleich mehr einen festlichhellen, als einen wirklich religiösen. –19
Das Gedicht Aus dem hohen Jubelklanggedränge wurde gleich nach dem Konzert geschrieben und reflektiert die hohen Töne oder »steilen Stimmen« der Soprane sowie die unerwarteten Intensitätsverschiebungen der Musik: »auf einmal sind die Stürme still«.20 Im vorliegenden Zusammenhang zeigt sich die Bedeutung dieses frühen Versuches darin, dass hier die durch die Aufführung eines musikalischen Meisterwerkes ausgelösten Emotionen erfasst werden; Rilke spricht von »Mädchen sanften Angesichtes«, die spüren, »wie die Liebe silbern sie vereint«,21 was vielleicht die Unschuld des »Jungfräulichen unbeschlafenen Ohrs« am Ende der Beethoven-Aufzeichnung in Malte Laurids Brigge vorwegnimmt.22 Der Name Beethovens wird in dem an Paula Modersohn-Becker adressierten Briefgedicht Ich bin bei euch, ihr Sonntagabendlichen, das am 21. Oktober 1900 niedergeschrieben wurde, als Refrain benutzt. Das Gedicht wurde von den regelmäßigen Worpsweder Sonntagabendkonzerten angeregt, an denen Rilke aufgrund seines Umzugs nach Berlin nun nicht mehr teilnehmen konnte. »Beethoven sprach« kommt in den ersten beiden Strophen dreimal vor : Ich weiß euch lauschen: eine Stimme geht, und Sonntag-Abend ist im weißen Saal. Die Stille, die um meine Stirne steht, wird welk und fahl. Ich möchte noch einmal euch horchen hören um ein Klanggebet. – Beethoven sprach … mir zittern noch die Sinne, und alles Dunkel in mir rauscht noch nach – … wir waren Kinder, Lebensanbeginne, und saßen sanft und mit gesenktem Kinne: Beethoven sprach … Wir wuchsen aus dem Kindsein seltsam steil in eine Reife, die uns reich umgab; alles war groß, – das Leben war ein Teil, wir waren breiter als das Grab und heil … 19 RMR an Phia Rilke, 27. März 1900. In: RMR: Briefe an die Mutter, Bd. 1, S. 164f., Hervorhebung durch RMR. 20 Schoolfield: Young Rilke, S. 353, ist der Meinung, dass dieser Vers auf den Übergang vom Allegro zum Adagio im Credo hinweist. 21 SW III, S. 677. 22 KA III, S. 509.
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fast mütterlich schien alles Ungemach – Beethoven sprach.23
Der Schwerpunkt liegt hier auf der Gemeinschaft der Hörer, aus der sich der Dichter jetzt ausgeschlossen fühlt, an die er aber schöne Erinnerungen hat. In der nächsten Strophe werden diese Erinnerungen mit Rilkes gegenwärtiger Isolation in seinem ärmlichen Zimmer in Schmargendorf kontrastiert. Der Strophenanfang lautet »Ich bin allein. Das Haus ist laut und feind«, und das freundliche »Wir« der ersten beiden Stophen ist jetzt einem radikal verwaisten »Ich« gewichen.24 Herbert Deinert kommentiert dies wie folgt: Die zu Beginn der Musik »Kinder« sind, wachsen unter ihrem Bann in eine jähe Reife, in eine Fülle des Lebens, die über das Leben selbst hinausgeht und es als »ein Teil« sehen läßt; eine Fülle, die den Tod nicht kennt, an der gemessen das negative »Ungemach« sich beinahe in sein positives Gegenteil verwandelt: aus dem Ungemach wird »fast« Wohltat, aus der Besorgnis wird »fast« Umsorgtsein.25
Allerdings dient der Name Beethovens in Rilkes Gedicht lediglich als Schlagwort für eine gewisse nachdenkliche Stimmung, die durch das Konzert erzeugt wurde, und wird nicht aus spezifisch musikalischen Gründen angeführt. Trotz dieser und weiterer Erfahrungen, die dem Freundschaftskreis in Worpswede entstammen, entwickelte sich Rilkes Musikauffassung in den nächsten Jahren nicht wesentlich weiter, was wohl dem Einfluss von Rodin und Rilkes Studium der bildenden und plastischen Künste geschuldet ist. Im Gegenteil: Als Rilke kritisch über die Musik als Kunstform nachdachte, legte er eine auffallende Intoleranz an den Tag, die in einem Brief an Lou Andreas-Salom8 sogar in offene Feindseligkeit umschlug. In diesem Brief schreibt Rilke zunächst über Rodin, um dann gegen die Musik zu argumentieren: Seine [= Rodins; R. V.] Kunst war von allem Anfang an Verwirklichung (und das Gegentheil von Musik, als welche die scheinbaren Wirklichkeiten der täglichen Welt verwandelt und noch weiter entwirklicht zu leichtem, gleitendem Scheinen. Weshalb denn auch dieser Gegensatz der Kunst, dieses Nichtverdichten, diese Versuchung zum
23 SW III, S. 703, Hervorhebung durch RMR. 24 Ebd., S. 704. 25 Herbert Deinert: Rilke und die Musik. Diss. Yale 1959, Yale 1973 (http://courses.cit.cornell. edu/hd11/Rilke-und-die-Musik.pdf), S. 35. Vgl. auch Schoolfield: Young Rilke, S. 353f. Die Wendung »das Leben ist ein Teil« erinnert wohl bewusst an die letzten Zeilen von Hofmannsthals berühmtem Gedicht Manche freilich: »Und mein Teil ist mehr als dieses Lebens / Schlanke Flamme oder schmale Leier«; Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke. Hg. v. Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt a. M. 1979–80, Gedichte. Dramen I, S. 26.
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Ausfließen soviel Freunde und Hörer und Hörige hat, soviel Unfreie und an Genuß Gebundene, nicht aus sich selbst heraus Gesteigerte und von außen her Entzückte).26
Lous Antwortbrief zeugt davon, dass sie die wechselhaften Konturen von Rilkes Gedanken und die verschiedenartigen Einflüsse, unter denen sich diese von Zeit zu Zeit änderten, sehr wohl kennt. Sie tritt diskret für die Musik ein, für »die Kunst des Wortlosen, die dennoch ebenso strenge Wirklichkeit giebt, indem sie die rhythmischen Gesetze der Dinge anklingen läßt stofflos (– Du bist momentan ungerecht gegen sie, weil Du sie einst kurze Zeit überschätztest, metaphysisch einschätztest)«.27 Einzelne Aspekte dieser Reaktion, etwa die Mahnung daran, dass die Musik auch »Gesetze« kennt, scheinen ebenfalls Einfluss auf die Beethoven-Aufzeichnung im Malte Laurids Brigge gehabt zu haben. Trotz seiner Skepsis war Rilke ein gelegentlicher Konzertbesucher, und zu seinem Freundeskreis gehörten einige, die es liebten, für ihn zu singen oder zu spielen, darunter die ältere Frau von Nostitz, »eine Tochter des einstigen Pariser Botschafters, Fürsten Münster […] sie singt mir fast jeden Nachmittag Beethoven und alte Italiener«.28 Während hier das gehobene soziale Milieu der Frau von Nostitz vielleicht noch eine bedeutendere Rolle spielt als die Musik selbst, wandelt sich Rilkes Haltung gegenüber der Musik 1914 grundlegend im Kontext seines Verhältnisses mit der Pianistin Magda von Hattingberg, einer Schülerin Ferruccio Busonis. Nach dem ersten persönlichen Zusammentreffen in Berlin Ende Februar 1914 bemühte sich von Hattingberg, den Dichter in die Welt ihrer Lieblingsmusik einzuführen. Rilke mietete ein Zimmer an der Hubertusallee, nicht weit vom Bismarckdenkmal entfernt, und, was noch wichtiger war, in der Nähe von Hattingbergs Haus in Grunewald. In ihren Memoiren über ihre Beziehung zu Rilke erzählt von Hattingberg, dass sie ihm sofort einen Flügel bei der Firma Ibach bestellte, damit sie ihm »Beethoven spielen [konnte], Bach und Schumann und alles, was schön ist!«29 Am 17. März begleitete sie ihn zu einem Konzert von Busoni, der Beethovens 5. Klavierkonzert, op. 73 in Es-Dur (im Englischen auch unter dem Titel »Emperor« bekannt), spielte und dessen Interpretation Rilke als »über alle Begriffe erhaben« beschreibt.30 Am darauffolgenden Tag ging er während eines Spazierganges im Tiergarten näher darauf ein: »… wie begriff ich, daß Beethoven einsam sein mußte, um solches zu schaffen; um seiner Musik willen ward ihm in seinem Gehör auch noch das letzte Gegenüber ge26 RMR an Lou Andreas-Salom8, 8. August 1903: In: RMR, Lou Andreas-Salom8: Briefwechsel. Hg. v. Ernst Pfeiffer. Frankfurt a. M. 1979, S. 85. 27 Lou Andreas-Salom8 an RMR, 10. August 1903. In: Ebd., S. 92. 28 Schnack: Chronik, S. 432. Vgl. auch RMR an Phia Rilke, 31. Juli 1913. In: RMR: Briefe an die Mutter, Bd. 2, S. 230f. 29 Hattingberg: Rilke und Benvenuta, S. 55. 30 Ebd., S. 63.
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nommen, damit er nur noch rausche wie der Urwald und vergäße, daß es möglich sei, das andere zu sein, das den Urwald hört und sich fürchtet …«31
Der Einfluss »Benvenutas« auf Rilkes musikalische Erziehung war von großer Bedeutung. Sie schenkte ihm ein Exemplar von Busonis Entwurf einer Neuen Ästhetik der Tonkunst (1907), das er interessiert las; er empfahl es sogar seinem Verleger Anton Kippenberg für die Insel-Bücherei, in der es auch 1916 mit einer Widmung Busonis an den Dichter erschien: »Dem Musiker in Worten Rainer Maria Rilke verehrungsvoll und freundschaftlich dargeboten.«32 Manche Erfahrungen erwiesen sich hingegen als weniger erfreulich: Auf dem Programm eines Konzertes, das Rilke am 4. April 1914 in Begleitung von Magda in der Scuola Cantorum in Paris besuchte, standen neben Beethovens Elegischem Gesang, op. 118, auch Pergolesis Stabat Mater und Mozarts Requiem. Beide Konzertgänger berichten von ihrer »schmerzlichen Enttäuschung«, trotz der »ehrwürdigen Stätte« und der »berühmten Vereinigung«.33 Zwischen Rilkes abwertenden Bemerkungen über die Musik in seiner Worpswede-Monographie sowie in Briefen an Lou Andreas-Salom8 und seiner musikalischen ›Erweckung‹ durch Magda von Hattingberg bleibt Beethoven stets präsent. Im Januar 1909 wurde Rilke Arthur Symons’ Studies in Seven Arts von Jessie Lamont geschenkt, worin er das Kapitel über Beethoven gelesen haben mag, auch wenn ihm das Niveau seiner Englishkenntnisse nicht erlaubte, den Text mühelos zu verstehen.34 Das Buch traf ein, kurz nachdem Rilke seinen konzentriertesten Text über Beethoven verfasst hatte: die 24. der Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge.35 Rilke schickte den Roman Ende Januar 1910 an den Verlag; es ist zu vermuten, dass die Beethoven-Passage im Herbst des Jahres 31 Ebd. Vgl. auch Schnack: Chronik, S. 464. Hattingberg: Rilke und Benvenuta, S. 192, zitiert die gleichen Phrasen im Zusammenhang mit der Aufführung eines späten Streichquartettes von Beethoven in Schloss Duino, die im Mai 1914 stattfand. 32 Ferruccio Busoni: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. Leipzig 1916, S. 2. Vgl. Schnack: Chronik, S. 462. 33 Hattingberg: Rilke und Benvenuta, S. 136. Vgl. auch RMR an Marie von Thurn und Taxis, 7. April 1914. In: RMR, Marie von Thurn und Taxis: Briefwechsel, S. 372f. 34 Schnack: Chronik, S. 321. 35 Die Rilke-Forschung zitiert relativ häufig und in verschiedenen Kontexten aus dieser Aufzeichnung, auch wenn der vollständige Text bisher weniger wissenschaftliches Interesse auf sich gezogen hat als andere historischen Skizzen in dem Roman, wie etwa diejenigen, die Eleonora Duse, Henrik Ibsen, Papst Johannes XXII. oder den Mitgliedern des französischen Adels gewidmet sind. Anthony Stephens: Rilkes Malte Laurids Brigge. Strukturanalyse des erzählerischen Bewusstseins. Bern u. a. 1974, schreibt in seiner detaillierten Untersuchung der Strukur von Malte Laurids Brigge einen längeren Abschnitt über Ibsen, aber fast nichts über Beethoven, der nur »ein Zeichen des Scheiterns« (ebd., S. 192) sei. Eine kurze Lektüre der 24. Aufzeichnung bietet Bernhard A. Kruse: Auf dem extremen Pol der Subjektivität. Physiologische Hermeneutik und orpheische Ästhetik in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge von Rilke. Wiesbaden 1994, S. 131–133.
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1908 entstanden ist.36 Mit ihren etwa anderthalb Seiten in modernen Ausgaben ist die 24. Aufzeichnung zwar relativ kurz, aber Rilke war anscheinend viel an ihr gelegen, da er sich minutiös mit ihrer Übersetzung ins Französische und ins Dänische beschäftigte. Rilkes detaillierte Reaktionen auf die von Maurice Betz verfertigte französische Version sind erhalten und geben Aufschluss über Rilkes genaue Wortwahl und die hinter einigen vielschichtigen Formulierungen liegenden Absichten.37 In der 24. Aufzeichnung wird der Komponist niemals beim Namen genannt. Diese rhetorische Strategie ist vielleicht dem Brief Bettine von Arnims an Goethe entlehnt, den Rilke Rodin vorlas und in einem Brief an Clara zitiert; hier findet der Leser die Identität des Subjekts erst nach einer langen und ausführlichen Beschreibung eines Gesprächs mit Beethoven heraus.38 Rilke las Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde im September 190839 und wies in einem Brief an Mathilde Vollmoeller im November 1908 auf den betreffenden Brief hin: »[den] schönen Brief […], der von Beethoven handelt und anfängt: ›Wie ich diesen sah, von dem ich Dir jetzt sprechen will, da vergaß ich der ganzen Welt –‹.«40 Er kannte auch die drei Briefe, die Beethoven vermeintlich an Bettine geschrieben hatte, aus ihrer Publikation in von Arnims Ilius Pamphilius und die Ambrosia.41 Trotz der im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert häufig vorgetragenen Zweifel an der Authentizität zweier dieser Briefe, insbesondere des sogenannten Teplitzer Briefs von 1812, der über Beethovens Begegnung mit Goethe Auskunft gibt,
36 Rilkes »Arbeitsliste« für den Malte (vgl. KA III, S. 869f.) soll im Dezember 1908 angefertigt worden sein (vgl. ebd., S. 872). Sie enthält keine Episoden aus der ersten Hälfte des Romans: »Das kann nichts anderes heißen, als daß Rilke in dem Moment, wo er die Liste anlegte, die im verlorengegangenen ersten Manuskriptteil behandelten Zusammenhänge für abgeschlossen hielt« (ebd., S. 871). Die Beethoven-Passage ist deshalb wohl im Zusammenhang mit Rilkes Lektüre von Goethes Briefwechsel mit einem Kinde im September 1908 entstanden. Vgl. hierzu S. 85 u. S. 92 des vorliegenden Beitrags. 37 Es mag sein, dass sich Rilke hauptsächlich deshalb so intensiv mit der Übersetzung dieser Aufzeichnung auseinandersetzte, weil sie den ersten Teil von Betz’ Manuskript darstellte, den er zu sehen bekam. Vgl. Gerald Stieg: Rilkes Kritik an Maurice Betz’ Übersetzung der Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. In: Blätter der Rilke-Gesellschaft 30 (2010), S. 91–104, hier S. 94f. 38 Bettine von Arnim an Goethe, 28. Mai 1810. In: Bettine von Arnim: Werke, Bd. 2, S. 344f. Vgl. S. 85 des vorliegenden Beitrags. 39 Vgl. RMR an Clara Rilke, 3. und 4. September 1908. In: RMR: Briefe aus den Jahren 1907 bis 1914. Hg. v. Ruth Sieber-Rilke u. Carl Sieber. Leipzig 1933, S. 40–49. 40 RMR an Mathilde Vollmoeller, 9. November 1908. In: »Paris tut not«. RMR und Mathilde Vollmoeller – Briefwechsel. Hg. v. Barbara Glauert-Hesse. Göttingen 2001, S. 48. 41 Vgl. RMR an Magda von Hattingberg, 21. Februar 1914. In: RMR, Magda von Hattingberg: Briefwechsel. Mit Magda von Hattingberg »Benvenuta«. Hg. v. Ingeborg Schnack, Renate Scharfenberg. Frankfurt a. M. 2000, S. 161.
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vertraute Rilke auf Bettines Redlichkeit.42 Bis 1914 also – und damit auch, als er die 24. Malte-Aufzeichnung schrieb – kannte Rilke Beethovens Biographie haupsächtlich »through Bettine’s eyes«.43 In den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge ist eine Kopie von der Totenmaske des Komponisten, die der Mouleur neben seiner Tür ausgehängt hat, Anlass für Maltes rhapsodischen Exkurs über Beethoven.44 Dies ist charakteristisch für die Art und Weise, in der Rilke auf Musik und Musiker reagiert: Der Auslöser für die Beethoven-»Vision« ist visueller Natur. Als Rilke seine Abneigung gegen Brahms rechtfertigte, kam er nicht umhin, eine Bemerkung über dessen Gesicht hinzuzufügen: »›Diese Musik kommt mir teils leer, teils überfüllt vor‹, sagte er, ›und denk dir, das Gesicht von Brahms, wie ich es zuweilen auf Bildern sehe, ist mir fremd wie seine Musik‹.«45 Im Vergleich zu der anderen vor der Tür ausgestellten Maske (derjenigen der berühmten »inconnue de la Seine«, deren Gesicht »so täuschend lächelte, als wüßte es«46) ist das Gesicht Beethovens im wahren Sinne »wissend«.47 Was dieses Wissen tatsächlich bedeutet, geht aus den nächsten Zeilen hervor: es ist ein »Knoten aus fest zusammengeworfenen Sinnen«, eine »Selbstverdichtung« der Musik (die nicht mehr das »Nichtverdichten« verkörpert, über das Rilke sich 1903 in dem oben zitierten Brief an Lou Andreas-Salom8 beschwerte48), aber auch das Wissen um den Tod. Die Maske ist »das Antlitz dessen, dem ein Gott das Gehör verschlossen hat, damit es keine Klänge gäbe, außer seinen. Damit er nicht beirrt würde durch das Trübe und 42 Die Briefe wurden von Alfred Kalischer in seine Ausgabe von 1907 (2. Auflage 1910) als authentisch einbezogen. Seinem Brief an Hattingberg, 21. Februar 1914. In: RMR, Magda von Hattingberg: Briefwechsel, S. 161, kann man entnehmen, dass Rilke keine der Briefausgaben vor 1914 kannte. Eine ausführliche Analyse der Fakten und Spekulationen findet man bei C. Edward Walden: The Authenticity of the 1812 Beethoven Letter to Bettine von Arnim. In: The Beethoven Journal 14.1 (1999), S. 9–15. Waldens Meinung, dass der Brief authentisch ist, wird nicht allgemein akzeptiert. Die Standardausgabe enthält nur den Brief vom 10. Februar 1811. Vgl. Ludwig van Beethoven: Briefwechsel. Gesamtausgabe. 8 Bde. München 1996, Band 2. Hg. v. Sieghard Brandenburg, S. 177f. 43 Alison Cairns: Rilke and Music. Unveröffentlichte Doktorarbeit, Universität Edinburgh, 1968, S. 109. 44 Alle Zitate aus der 24. Aufzeichnung befinden sich in KA, III, S. 507–509 und werden im Folgenden nicht einzeln nachgewiesen. 45 Hattingberg: Rilke und Benvenuta, S. 134. 46 Die Leiche der nicht identifizierten jungen Frau wurde in den späten 1880er Jahren aus der Seine geborgen; als Todesursache vermutete man Selbstmord. Wegen des Gesichtsausdrucks lächelnder Gelassenheit wurden Kopien der Totenmaske in Frankreich und Deutschland oft als objets d’art ausgestellt. Sie inspirierte viele literarischen Werke, u. a. »Die Unbekannte aus der Seine«, eine Geschichte von Rilkes ehemaliger Geliebter Claire Goll aus dem Jahr 1936. 47 Rilke bestand darauf, dass Maurice Betz’ Übersetzung der Beschreibung von Beethovens Maske (»sein wissendes Gesicht«: ursprünglich »[le] visage qui savait«) unbedingt ein Verb im Präsens brauchte. Vgl. Stieg: Rilkes Kritik an Maurice Betz’ Übersetzung, S. 95. 48 RMR an Lou Andreas-Salom8, 8. August 1903: In: RMR, Lou Andreas-Salom8: Briefwechsel, S. 85.
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Hinfällige der Geräusche.« Das akustisch Irrelevante ist ausgeschieden worden. Rilke schreibt absichtlich »ein Gott« und nicht »Gott«, und als er Betz’ Übersetzung las (»/ qui Dieu a ferm8 l’ou"e«), bestätigte er, dass der unbestimmte Artikel erforderlich ist, was an Apollo als Gott der Musik oder an Orpheus denken lässt, an den christlichen Gott aber wohl nicht.49 Rilkes Evokation des Komponisten verbindet topographische und theologische Elemente, um Beethoven als Schablone für eine Landschaft vor dem Sündenfall erscheinen zu lassen, eine »gespannte, wartende Welt, unfertig, vor der Erschaffung des Klanges«, die ihm nur durch »die tonlosen Sinne« vermittelt wird, ohne durch die unreinen Geräusche anderer kontaminiert zu sein. Beethoven ist auch »Weltvollendender«, eine Figur also, die fast messianische Kräfte besitzt, um die absteigende Flugbahn des menschlichen Verfalls durch den Einsatz der Musik umzukehren: »so erhob sich aus dir der Aufstieg unserer Niederschläge und umwölbte die Welt mit Musik«. Der Schwerpunkt der Bildsprache in diesem Absatz liegt auf dem Wasser, insbesondere dem Regen: Im Wort »Gewässer« klingt die Sintflut an; innerhalb von zwei Textzeilen wird das Wort »fallen« mehrfach variiert (»fällt«, »nachlässig niederfällt, zufällig fallend«), bevor andere Variationen zum Thema »steigen« in Erscheinung treten (»aufsteht«, »steigt«, »erhob sich«). Die beiden Themen vereinen sich, um das Erlösende an Beethovens Musik zu evozieren: »so erhob sich aus dir der Aufstieg unserer Niederschläge« (Hervorhebung durch R. V.). Das menschliche Elend wird in etwas verwandelt, das nicht mehr als schmerzhaft empfunden wird, sondern »froh von Gesetz« wirkt.50 Dieser Teil der Aufzeichnung erinnert an den Brief Beethovens, den Rilke Rodin vorlas und in dem der Komponist behauptet, »wem sie [= die Musik; R. V.] sich verständlich macht, der muss frei werden von all dem Elend, womit sich die anderen schleppen«.51 Hier werden auch Paradoxien der Duineser Elegien vorweggenommen: einerseits aus den letzten Zeilen der zehnten Elegie (»Und wir, die an steigendes Glück / denken, empfänden die Rührung, / die uns beinah bestürzt, / wenn ein Glückliches fällt«), und andererseits die Verwandlung des Schmerzes in die Seligkeit in der neunten (»Zeig ihm […] wie selbst das klagende Leid rein zur Gestalt sich entschließt«).52 Malte glaubt jedoch, dass Beethovens Musik ihr Potential nicht erfüllen kann, und fordert klagend, »daß sie hätte um die Welt sein dürfen; nicht um uns.« Später stellt er den ursprünglich universellen Möglichkeiten dieser Musik die Erniedrigung von Beethovens Talent durch das kommerzielle Konzertleben gegenüber. Wäre sie doch stattdessen ganz abgesondert unter Königsgräbern und 49 50 51 52
Vgl. Stieg: Rilkes Kritik an Maurice Betz’ Übersetzung, S. 95. Vgl. S. 97 des vorliegenden Beitrags. Zit. n. Deinert: Rilke und die Musik, S. 65. Vgl. auch S. 85 des vorliegenden Beitrags. KA II, S. 234 u. S. 229.
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den Wohnstätten von Einsiedlern in der ägyptischen Wüste entstanden: »Daß man dir ein Hammerklavier erbaut hätte in der Theba"s; und ein Engel hätte dich hingeführt vor das einsame Instrument, durch die Reihen der Wüstengebirge, in denen Könige ruhen und Hetären und Anachoreten. Und er hätte sich hochgeworfen und fort, ängstlich, daß du begännest.« Die Theba"s ist die südlichste Region des alten Ägypten am oberen Nil um Theben und Karnak; außer dem Tal der Könige ist dort nur Wüste. In frühchristlichen Zeiten, um das 4. und 5. Jahrhundert n. Chr., wurde die Theba"s zum Ziel der eremitischen Abgeschiedenheit.53 Sogar der Engel, der in Maltes Einbildung Beethoven und sein Klavier in die Wüste bringt, zieht sich »ängstlich« zurück, damit der Musiker in voller Einsamkeit anfangen darf. Die Wüste ist unangetasteter Raum, ein Ort, der die Möglichkeit symbolisiert, Potential zu erfüllen, »ungewiß, ohne Ende und ohne Anfang, wie Ungeschaffenes…dieses Eine, Uneinbegriffene: die Wüste«, wie Rilke sie in einem Brief an Clara beschreibt.54 Ihre Formlosigkeit ist das nötige Gegengewicht zur »Kontur«,55 die der Nil umreißt. Sie spiegelt auch Beethovens Einsamkeit wider, die ihm seine Taubheit auferlegt. Hier mag Rilke erneut von Bettine von Arnim inspiriert worden sein, die über Beethoven schreibt: »er allein erzeugt frei aus sich das Ungeahnte, Unerschaffene, was sollte diesem auch der Verkehr mit der Welt.«56 Angst und Besorgnis, die hier zutage treten, können mit denselben Eigenschaften verbunden werden, die Rilke in Beethovens Briefen fand, jedoch besteht in der Wüste auch eine ganz andere Form von Furcht, die Befürchtung nämlich, dass Reinheit und Kraft der Musik zerstört werden könnten. Die Löwen, die man sich unter diesen Umständen als Ursache der Angst vorstellen mag, bangen um die Auswirkungen der Musik auf sich: »Einzelne Löwen nur hätten dich weit bei Nacht umkreist, erschrocken vor sich selbst, von ihrem bewegten Blute bedroht.« Das Einsamkeitsbedürfnis wird im Text wiederholt unterstrichen, und als Betz in seiner französischen Übersetzung des Malte die Passage »Die Beduinen wären in der Ferne vorbeigejagt, abergläubisch« ausließ, sah sich Rilke gezwungen einzugreifen: »Man darf nicht
53 Dass Rilke die »Hetären« in der Wüste erwähnt, deutet darauf hin, dass er Anatole Frances Roman Tha"s (1890) gelesen hatte, in dem Sankt Paphnutius die Hetäre Tha"s erfolgreich zum christlichen Glauben bekehrt, während er selbst von ihrer weltlichen Existenz so fasziniert wird, dass er seinen eigenen Glauben aufgibt. Vgl. hierzu Michael Hulses Anmerkung zu: RMR: The Notebooks of Malte Laurids Brigge. Translated by Michael Hulse. Harmondsworth 2009, S. 171. In dieser Passage wird auch auf Beethovens Klaviersonate Nr. 29 B-Dur op. 106, die sogenannte »Hammerklaviersonate«, angespielt. Zu Rilkes Interesse an Ägypten vgl. Paul Bishop: »An solchen Dingen hab ich schauen gelernt«. Rilke’s Visit to Egypt and the Duineser Elegien. In: Austrian Studies 12 (2004), S. 65–79. 54 RMR an Clara Rilke, 20. Januar 1907. In: RMR: Briefe, S. 232f. 55 Ebd. 56 Bettine von Arnim an Goethe, 28. Mai 1810. In: Bettine von Arnim: Werke, Bd. 2, S. 345.
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›in der Ferne‹ vergessen, denn niemand ist sichtbar um den Spielenden«.57 Nur dann, »ungehört«,58 konnte »der Strömende« »ausströmen«, »an das All zurückgebend, was nur das All erträgt.« Mit der Wüste etabliert Rilke einen Ort der Vereinsamung, an dem sich die Welt nach innen wendet, einen imaginären Raum, in dem Beethovens Musik in angemessener Weise ertönen kann. Er beendet die Aufzeichnung mit einem extremen Kontrast, einer zornigen Reflexion über die verwerfliche Rezeption der großen Kunstwerke durch »Ohren […], die lüstern sind[.]« Es sei jetzt unmöglich, schreibt Malte, jene Musik aus den Musiksälen zurückzuholen von den »Käuflichen mit dem unfruchtbaren Gehör, das hurt und niemals empfängt[.]« Die kühne sexuelle Metaphorik deutet darauf hin, dass alle künstlerische Tätigkeit, die selbstgefällig bleibt, ohne je wahrhaftig »zeugungsfähig« zu werden, korrumpiert ist. Mittels einer außergewöhnlich drastischen sexuellen Anspielung setzt Rilke den in modernen Konzerthallen gespielten Beethoven mit Selbstbefriedigung gleich: »da strahlt Samen aus, und sie halten sich unter wie Dirnen und spielen damit, oder er fällt, während sie daliegen in ihren ungetanen Befriedigungen, wie Samen Onans zwischen sie alle.« Damit beruft er sich auf 1. Mose 38,9: »Aber da Onan wußte, daß der Same nicht sein eigen sein sollte, wenn er einging zu seines Bruders Weib, ließ er’s auf die Erde fallen und verderbte es, auf daß er seinem Bruder nicht Samen gäbe.«59 Beethoven selbst wird nicht angegriffen; der Angriffspunkt liegt vielmehr im Publikum, wie aus einer Erklärung der Phrase »in ihren ungetanen Befriedigungen« hervorgeht, die Rilke seiner dänischen Übersetzerin Inga Junghanns im Juli 1917 anbot: »Sie lassen sich, unverdient gewissermaßen, von der Musik befriedigen, ohne die ungeheure Aufnahme, die die Musik verlangt, eigentlich zu leisten.«60 Die 24. der Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge schließt mit einer komplementären Sexualmetapher : »Wo aber, Herr, ein Jungfräulicher unbeschlafenen Ohrs läge bei deinem Klang […].« Indem Malte den Komponisten mit »Herr« anredet und ihn damit fast vergöttlicht, und indem Rilke hier eine weitere Anspielung auf Bettine von Arnims Beschreibung von Beethovens Werk macht,61 wird der Tod als eine mögliche Reaktionen auf eine reine Erfahrung von Beet57 RMR, zit. nach Stieg: Rilkes Kritik an Maurice Betz’ Übersetzung, S. 95. 58 Ebd. erklärt Rilke: »[qui] ne veut pas dire ›unerhört‹: inou", mais textuellement, sans que personne t’aurait 8cout8, l/, au d8sert« (»was nicht ›unerhört‹ im übertragenen Sinne bedeutet, sondern wörtlich: ohne dass dir da in der Wüste jemand zuhört«). 59 Martin Luther : Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments. Stuttgart 1912. 60 RMR an Inga Junghanns, 4. Juli 1917. In: RMR, Inga Junghanns: Briefwechsel. Hg. v. Wolfgang Herwig. Wiesbaden 1959, S. 42. 61 Bettine von Arnim an Goethe, 28. Mai 1810. In: Bettine von Arnim: Werke, Bd. 2, S. 345: »gewiß dann läßt er den Schlüssel zu einer himmlischen Erkenntnis in unseren Händen, die uns der wahren Seligkeit um eine Stufe näher rückt.«
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hovens Musik identifiziert: »er [= der Jungfräuliche; R. V.] stürbe an Seligkeit oder er trüge Unendliches aus und sein befruchtetes Hirn müßte bersten an lauter Geburt.« Die Unschuld des jungen Mannes geht verloren, und der starke »Samen«, der Beethovens Musik vertritt, befruchtet das empfängliche Gefäß, das »Hirn«, das dann vor reiner Kreativität zerplatzt. Seither ist Beethoven des Öfteren Ziel provokativ sexualisierter Interpretationen geworden. 1987 löste die amerikanische Musikwissenschaftlerin Susan McClary heftige Kontroversen mit folgender Analyse aus: The point of recapitulation in the first movement of the Ninth is one of the most horrifying moments in music, as the carefully prepared cadence is frustrated, damming up energy which finally explodes in the throttling murderous rage of a rapist incapable of attaining release.62
Während einige Kritiker diesen Vergleich als anstößig empfanden, war der Pianist Charles Rosen mit McClarys Interpretation zwar aus musikanalytischen Gründen nicht einverstanden, bot aber eine andere ebenso sexuell inspirierte, wenngleich gewaltfreie Metapher an: To continue the sexual imagery, I cannot think that the rapist incapable of attaining release is an adequate analogue, but I hear the passage as if Beethoven had found a way of making an orgasm last for sixteen bars. What causes the passage to be so shocking, indeed, is the power of sustaining over such a long phrase what we expect as a brief explosion.63
Diese Musikwissenschaftler teilen mit Rilke die sexuelle Metaphorik, sie unterscheiden sich aber dadurch von ihm, dass ihre Vergleiche den Versuch darstellen, die möglichen Auswirkungen dieser Musik einer sachunkundigen Leserschaft zu erklären, die sie ebenso gut mit anderen Vergleichen oder Metaphern hätten erreichen können. Rilkes Metaphorik hingegen, die sich über fast ein Dutzend Textzeilen erstreckt, hat verfolgt das Ziel, einen tiefen Ekel über die Erniedrigung der Musik durch die Gesellschaft auszudrücken; das Sexuelle ist 62 »Das Einsetzen der Reprise im ersten Satz der neunten Symphonie ist einer der schreckenerregendsten Momente in der Musik überhaupt, die sorgfältig vorbereitete Kadenz bleibt in frustrierender Weise unerfüllt, was Energie aufstaut, die schließlich in der strangulierenden und mörderischen Wut eines Vergewaltigers explodiert, der unfähig ist, Befriedigung zu erlangen.« Susan McClary : Getting Down off the Beanstalk. The Presence of a Woman’s Voice in Janika Vandervelde’s Genesis II. In: Minnesota Composers Forum Newsletter, Januar 1987, o. S. Der Vergewaltigungsvergleich wurde aus der späteren Publikation des Aufsatzes in McClarys Monographie Feminine Endings entfernt. 63 »Um mit der sexuellen Bildsprache fortzufahren, kann ich mir nicht denken, dass das Analogon des der Befriedigung unfähigen Triebtäters geeignet ist, aber ich höre diese Passage anders, als ob Beethoven ein Mittel gefunden hätte, die Dauer eines Orgasmus auf sechzehn Takte auszudehnen. Was an dieser Passage so schockiert, ist eben die Fähigkeit, das, was als kurze Explosion zu erwarten ist, so lange auszudehnen.« Charles Rosen: Critical Entertainments. Music Old and New. Cambridge MA 2000, S. 266.
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Teil dieses Ekels und keineswegs bloß ein Mittel zur Erregung von Aufmerksamkeit. In diesem Kontext mag es überraschend wirken, dass Rilke seine Inspiration wiederum aus den Briefen Bettine von Arnims bezog. Ihr schon mehrmals zitierter Brief an Goethe vom 28. Mai 1810 weist eine ähnliche, wenn auch diskretere Metapher auf. Bettine besteht darauf, dass die Musik der Seele »sinnliche Nahrung« anbietet: »was der Geist sinnlich von ihr empfindet, das ist die Verkörperung geistiger Erkenntnis«, die nur einigen wenigen gewährt wird, »denn so wie Tausende sich um der Liebe willen vermählen und die Liebe in diesen Tausenden sich nicht einmal offenbart, obschon sie alle das Handwerk der Liebe treiben, so treiben Tausende einen Verkehr mit der Musik und haben ihre Offenbarung nicht.«64 Hier lauert verhaltene Sexualität, und obwohl man davor zurückscheut, gewisse Wendungen, wie z. B. »vermöge dieser Gesetze den eignen Geist bändigen und lenken, daß er ihre Offenbarungen ausströme«, als »orgastisch« zu beschreiben, sind die von Rilke anschaulich dargestellten Empfindungen von Anspannung und Entspannung dennoch vorhanden. Maltes Beethoven vergeudet seinen Samen onanistisch vor einer korrupten Öffentlichkeit. Bettine erinnert ein wenig dezenter daran, dass »das fest verschloßne Samenkorn […] des feuchten, elektrisch warmen Bodens [bedarf], um zu treiben, zu denken, sich auszusprechen. Musik ist der elektrische Boden […]. Alles elektrische regt den Geist zu musikalischer, fließender, ausströmender Erzeugung.«65 Cairns, die eine detaillierte Analyse der Sexualbilder umgeht, stellt in diesem Zusammenhang treffend fest: »wenn Rilke diese Passage [aus von Arnims Brief, R. V.] nicht gelesen hätte, dann hätte Beethoven keinen Platz in Maltes Aufzeichnungen gefunden.«66 Rilkes Brief an Magda von Hattingberg vom 1. Februar 1914 weist einige Gemeinsamkeiten mit Maltes 24. Aufzeichnung auf und gibt überdies Aspekte von Rilkes Musikauffassung zu erkennen, die über das literarische Werk hinausgehen. Er verdient eine detaillierte Auslegung nicht zuletzt deshalb, weil er den oft vernachlässigten Kontext für Rilkes am häufigsten zitierten Verweis auf Beethoven abgibt, in dem der Komponist mit dem »Herrn der Heerschaaren« verglichen wird.67 Rilke beschreibt hier ein ergreifendes Erlebnis, das er hatte, als er sich nachts allein neben der Sphinx von Gizeh befand. Die Beschreibung dieses Erlebnisses ist – wie zu erwarten – überwiegend visuell geprägt: Der 64 65 66 67
Bettine von Arnim an Goethe, 28. Mai 1810. In: von Arnim: Werke, Bd. 2, S. 348f. Ebd., S. 349, Hervorhebung durch B. v. A. Cairns: Rilke and Music, S. 100. Ausnahmen hierzu bieten Silke Pasewalck: »Die fünffingrige Hand«. Die Bedeutung der sinnlichen Wahrnehmung beim späten Rilke. Berlin u. a. 2002, S. 291–297, und Antonia Egel: »Musik ist Schöpfung«. Rilkes musikalische Poetik. Würzburg 2014 (Klassische Moderne, Bd. 23), S. 109–111.
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Vollmond steigt hinter den Pyramiden im »Abendroth« auf und blendet ihn beinahe mit seiner »Fluth von Schein«. Hockend, »in meinen Mantel gehüllt«, gibt Rilke zu, »erschrocken« zu sein: »Ich weiß nicht, ob mir jemals mein Dasein so völlig zum Bewusstsein kam, wie in jenen Nachtstunden, in denen es allen Werth verlor: denn was war es gegen dies alles?«68 Der Anblick der Sphinx erzeugt ein Gefühl der Erhabenheit.69 Die Bildwelt des Sehens beherrscht fast den ganzen Erinnerungsbericht (»der Blick«, »überschauen«, »betrachten«, »[ich] schloss die Augen«70), und Rilke stellt sich vor, welchen Effekt eine plötzliche Enthüllung der Szene gehabt hätte, wenn er mit verbundenen Augen dorthin gebracht worden wäre, und wie lange er gebraucht hätte, um sich an die Gesichtszüge der Sphinx zu gewöhnen. Als er auf einmal die Wange der Sphinx wahrnimmt, geschieht jedoch etwas Unfassbares: da wurde ich plötzlich, auf eine unerwartete Weise ins Vertrauen gezogen, da bekam ich sie [= die Wange; R. V.] zu wissen, da erfuhr ich sie in dem vollkommensten Gefühl ihrer Rundung.[…] Hinter dem Vorsprung der Königshaube an dem Haupte des Sphinx war eine Eule aufgeflogen und hatte langsam, unbeschreiblich hörbar in der reinen Tiefe der Nacht, mit ihrem weichen Flug das Angesicht gestreift: und nun stand auf meinem, von stundenlanger Nachtstille ganz klar gewordenen Gehör der Kontur jener Wange, wie durch ein Wunder, eingezeichnet.71
Das Visuelle in Rilkes Wahrnehmung der Statue weicht allmählich dem Akustischen,72 obwohl es mit Ausdrücken wie »Kontur« und »eingezeichnet« so scheint, als würde Rilke sein Erlebnis immer noch visuell skizzieren. Ein ähnlicher Übergang findet in der zehnten Duineser Elegie statt, welche dieselbe Szene rekapituliert: Nicht erfaßt es [= das Antlitz] sein [= der Menschen Gesicht] Blick, im Frühtod schwindelnd. Aber ihr Schaun, hinter dem Pschent-Rand hervor, scheucht es die Eule. Und sie, streifend im langsamen Abstrich die Wange entlang, jene der reifesten Rundung, zeichnet weich in das neue
68 Alle Zitate: RMR an Magda von Hattingberg, 1. Februar 1914. In: RMR: Briefwechsel mit Magda von Hattingberg, S. 28f. 69 Pasewalck: »Die fünffingrige Hand«, S. 289f., legt überzeugend dar, dass es sich hier um eine bewusste Reminiszenz an den Anfang von Jean Pauls Titan handelt. 70 RMR an Magda von Hattingberg, 1. Februar 1914. In: RMR: Briefwechsel mit Magda von Hattingberg, S. 29. 71 Ebd., S. 30, Hervorhebung durch R. V. 72 Vgl. Winfried Eckel: Musik, Architektur, Tanz. Zur Konzeption nicht-mimetischer Kunst bei Rilke und Val8ry. In: Manfred Engel, Dieter Lamping (Hg.): Rilke und die Weltliteratur. Düsseldorf 1999, S. 236–259, hier S. 249f.
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Totengehör, über ein doppelt aufgeschlagenes Blatt, den unbeschreiblichen Umriß.73
In dem Brief an von Hattingberg wird die räumliche Präsenz der Sphinx erst durch das »Gehör« wahrgenommen bzw. »gewusst«; das Verb »wissen«, das Rilke hier verwendet, erinnert an die Evokation der Totenmasken am Anfang der 24. Malte-Aufzeichnung. In der Elegie wird die Kontur der Wange mittels einer komplexen Metapher, die die Berührung einer menschlichen Hand von einem Gesicht nachahmt, »in das neue / Totengehör« eingeschrieben. Die ausgeweitete Schilderung des Sphinx-Erlebnisses scheint Rilke absichtlich verwendet zu haben, um Magda von Hattingberg die Bedeutung der Musik in seinem bisherigen Leben verständlich zu machen (auch wenn das, was Rilke in jener Nacht erlebt hatte, nicht »Musik« in der konventionellen Bedeutung des Wortes war, sondern »Geräusch«): »So war bisher, wenige Ausnahmen abgerechnet, meine Musik; andere fürchtete ich fast, wenn sie nicht in einer Kathedrale vor sich ging, geradenwegs an Gott hinan, ohne sich bei mir aufzuhalten […].«74 Für Rilke bedeutete die Musik offensichtlich nicht so sehr die Hörerfahrung eines Werkes von diesem oder jenem Komponisten, sondern eine abstraktere Form der Signifikanz, die eines religiösen oder geistlichen Kontexts bedurfte, um ihre Bedeutung freizusetzen – eine Kathedrale etwa oder im Falle des Sphinx-Erlebnisses die »höhere Szene« der Sternbilder am nächtlichen Himmel in der Wüste, »auf der ein Gestirn und ein Gott sich schweigend entgegenweilten.«75 In dem Brief an Magda erklärt Rilke weiter, dass er während seines Aufenthaltes in Ägypten erfuhr, dass die Musik in der Antike dem Volk vorbehalten war und nur »vor dem Gotte« aufgeführt werden durfte, der alleine sein »Übermaß und die Verführung ihrer Süße« ertragen konnte, »als ob sie jedem Minderen tötlich [sic!] sei« – als ob er also dem Reich der Engel in den Duineser Elegien angehörte. Rilke fährt fort mit den Fragen: »Ist sie’s nicht, meine Freundin? Wissen Sie denn, was sie ist? Und Sie haben sich schon als Kind zu diesem vertraulich 73 KA II, S. 233, Erläuterungen durch R.V. 74 RMR an Magda von Hattingberg, 1. Februar 1914. In: RMR: Briefwechsel mit Magda von Hattingberg, S. 30. Eine Bestätigung für Rilkes Angst vor der Musik findet man nicht nur in Malte Laurids Brigge (»sie [legte] mich nicht wieder dort ab, wo sie mich gefunden hatte, sondern tiefer, irgendwo ganz ins Unfertige hinein«; KA III, S. 542), sondern auch in vielen Briefen. So schreibt Rilke etwa an Sidonie N#dherny´ von Borutin am 13. November 1908. In: RMR, Sidonie N#dherny´ von Borutin: Briefwechsel, S. 69, über die Musik, »daß sie ganz furchtbar und reißend ist mir gegenüber und mich anfällt, wo ich ihr begegne.« An Mary und Antoinette Windischgraetz schreibt Rilke am 15. Juli 1924, zit. nach Pasewalck: »Die fünffingrige Hand«, S. 323: »Denken Sie, wenn Musik nicht allein ein Gemüth, eine Seele zu erschüttern vermöchte, sondern sogar Macht hätte, einen Körper umzubilden, ein Gesicht zu verändern.« 75 RMR an Magda von Hattingberg, 1. Februar 1914. In: RMR: Briefwechsel mit Magda von Hattingberg, S. 29.
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gefühlt und gingen zwischen den Löwen und Engeln dieses Elements herum, sicher, dass es Ihnen nichts thue?«76 – zwischen Beethoven in der Wüste und den Engeln der Elegien also. In diesem Brief wird der Tod eng mit der Musik verknüpft, ein Tod aber, der als Tor zu einem höheren Leben verstanden wird, ein alchemistischer Vorgang sozusagen, in dessen Verlauf das Individuum durch das Feuer im Schmelzofen aufgelöst oder verzehrt wird, um sein reines Inneres zu hinterlassen: Oder ist Musik die Auferstehung der Toten? stirbt man an ihrem Rand und geht strahlend in ihr hervor, nicht mehr zu zerstören? Aber hat mein Herz schon die Stärke, ganz darin zu sterben, damit es ganz wieder hervorgehe? Sehen Sie, ich musste mich so von innen heraus bilden, dem innerlich Blinden nachgebend, denn alle äußeren Stimmen waren fremd, feindsälig [sic!] lange Jahre […].77
Der Brief erreicht seinen Höhepunkt mit einer Anspielung auf die unwiderstehliche Kraft der Musik, die tödliche Kraft eines Geigentons etwa, der sein [= eines Menschen; R. V.] ganzes Wollen ablenkte ins dichterische Schicksal hinein. Wenn ich mich erinnere, was an unmittelbare Gewalt anstand in irgend einem Stück abgebrochener uralter Musik […] so kommt mir Beethoven wie der Herr der Heerschaaren vor, der Macht hat über die Mächte und der die Gefahren aufreißt, um die Brückenbogen strahlender Rettungen drüber zu werfen.78
Der Ausdruck »Herr der Heerschaaren«, den Rilke benutzt, um Beethoven zu beschreiben, ist biblischen Ursprungs; »Jehova Zebaoth« erscheint mehr als zweihundertfünfzigmal im Alten Testament, besonders bei den Propheten, wenn das Volk Israel bedroht wird. Rilke war jedoch nicht der erste, der diesen Namen auf Beethoven bezog, denn die Fürstin von Thurn und Taxis hatte ihn ein paar Wochen vor Rilkes Schreiben an Magda von Hattingberg selbst in einem Brief an Rilke benutzt: ich spiele Beethoven – denken Sie sich – ich die seit 30 Jahren und mehr das Clavier nicht berührte – Es ist wie eine Raserei über mich gekommen […] übrigens haben wir eine andere Auffassung von Beethoven – für mich ist er ein verheerender, unerbittlicher wunderbarer Orkan – Le dieu, le dieu des Arm8es –79
76 Alle Zitate ebd., S. 30, Hervorhebung durch RMR. 77 Ebd., S. 30f. 78 Ebd., S. 31. Egel: »Musik ist Schöpfung«, S. 111, meint zu Recht, dass was hier über Musik gesagt wird, auch Rilkes eigener Wortkunst gilt: »Die dichterische Verwandlungsfähigkeit, die Umgestaltung der Fülle der Welt zum Kunstwerk ist ein Sterben, das zugleich eine Auferstehung ist. Das ist nicht ›stirb und werde‹, sondern stirb und sei.« 79 Marie von Thurn und Taxis an RMR, 21. Dezember 1913. In: RMR, Marie von Thurn und Taxis: Briefwechsel, Bd. 1, S. 339.
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Nachdem das Verhältnis mit Magda von Hattingberg 1914 beendet war, äußert sich Rilke nur noch selten in seinen Briefen über Beethoven, und wenn, dann meistens nur, um auf Gedanken aus früheren Jahren zurückzukommen. Im Jahre 1920 war er sehr daran interessiert, ein Exemplar von Hofmannsthals Rede auf Beethovens 150. Geburtstag zu finden, die in der Neuen Zürcher Zeitung vom 19. Dezember gedruckt worden war : »Ich fahnde nach Hofmannsthal Beethoven-Conf8rence, von der ich sofort begriff, wie sehr schön sie gewesen sein muß.«80 Es gelang ihm, ein Exemplar zu finden, das er an Baladine Klossowska weiterreichte, wobei er ihr begeistert empfahl, »Lisez aux enfants le Beethoven de Hofmannsthal« (»Lesen Sie den Kindern den Beethoven-Aufsatz von Hofmannsthal vor«).81 Hofmannsthal schreibt als Dichter, nicht als Musiker oder Musikwissenschaftler, und setzt Beethoven in den Kontext seiner stürmischen literarischen Epoche neben Rousseau, Goethe, Schiller und Herder – »in dies von Blitzen schwangere Kräftefeld trat Beethoven hinein« – als Symbol des höchsten menschlichen Potentials und als den besten Vermittler zwischen Gott und der Menschheit: »Beethoven allein ist da, vor Gott zu reden für die Menschen.«82 Die ganze Rede ist religiös gefärbt, und es sind Anklänge an Maltes Auffassung von Beethoven zu erkennen, nicht zuletzt durch die kriegerische Rhetorik: Da wird er, einsam mit seinem Gott, aus unzerbrochenem, frommem Gemüt Schöpfer einer Sprache über der Sprache. Da redet er nicht zum Volk, auch nicht für das Volk – aber doch für jeden einzelnen und noch für die Geschlechter, die da kommen werden. […] Da bricht in einzelnen zornmütigen oder stolzen, aber immer naiven Worten das Gefühl seine Heldenhaftigkeit hervor.83
Hofmannsthals Beethoven hat »eine heldenhafte Gegenwart, ein Etwas, eine heroische Materie«, und wie Rilkes Beethoven führt auch er »in starrender Einsamkeit dies tönende Gespräch mit dem eigenen Herzen.«84 Cairns verzeichnet eine letzte Anspielung auf Beethoven, die Rilke während eines Spazierganges in der Nähe von Muzot gegenüber seinem jungen Bekannten Jean Rudolf von Salis gemacht haben soll: »[Rilke] bewundert wieder, wie in diesem Land so viele Einzelheiten in so großem Zusammenhang vorkommen, es erscheint ihm, sagt er, wie die Welt am Tage nach der Schöpfung, oder wie der
80 RMR an Carl Burckhardt, 21. Dezember 1920. In: RMR: Briefe an Schweizer Freunde. Eine Auswahl. Hg. v. Rätus Luck. Frankfurt a. M. 1990, S. 133. Vgl. auch RMR an Nanny WunderlyVolkart, 21. December 1920. In: RMR, Nanny Wunderly-Volkart: Briefwechsel, Bd. 1, S. 364. 81 RMR an Baladine Klossowska, 4. Februar 1921. In: RMR et Merline: Correspondance 1920–1926. Hg. v. Dieter Bassermann. Zürich 1954, S. 175. 82 Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke. Reden und Aufsätze. Bd. 2. Berlin 1914–1924, S. 74 u. S. 76. 83 Ebd., S. 79. 84 Ebd., S 69 u. S. 78. Das Wort »einsam« bzw. »Einsamkeit« wird insgesamt elfmal benutzt.
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Schlußsatz einer Beethoven-Symphonie.«85 Rilke war wieder auf die eher oberflächliche Einstellung gegenüber Beethoven zurückgekommen, die seine frühesten Reaktionen gekennzeichnet hatte. Obwohl das Bild des »Tages nach der Schöpfung« Gemeinsamkeiten mit Maltes Auffassung von Beethovens Welt als »gespannt, wartend […], unfertig, vor der Erschaffung des Klanges« aufweist, mangelt es dem späteren Vergleich völlig an der Energie von Rilkes konzentriertesten Reflexionen über den Komponisten.
85 Jean Rudolf von Salis: Rilkes Schweizer Jahre. Frauenfeld 1952, S. 99.
Lothar van Laak
Rauschen, Klang und Stille. Zur Musikalität von Literatur am Beispiel von Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge
1.
Vorüberlegungen
Die Rede über das Phänomen der Musikalität von Literatur ist der über ihre Anschaulichkeit, Bildlichkeit, Plastizität oder Sinnlichkeit vergleichbar.1 Denn sie muss in literaturtheoretischer Hinsicht präziser und konkreter sein als eine Metapher und mehr leisten als nur die Thematisierung von Musik als dem Motiv eines Texts. Es geht um eine sinnliche Dimension von Literatur und ihrer Rezeption, die im literarisch inszenierten Spiel von Einbildungskraft und Reflexion als eine musikalische Qualität erscheint und in der ästhetischen Erfahrung die Literatur wie Musik wirken lässt.2 Die heuristischen Kategorien, mit denen sich diese spezifischen sinnlichen Dimensionen von Literatur erfassen lassen, sind zudem für die Großgattungen zu differenzieren. Für die Lyrik sind hierbei an den metrischen und sprachlichen Rhythmus, an Klanglichkeit und Melodik zu
1 Das Arbeitsfeld von Musik und Literatur erschließen aktuell grundlegend und in umfassender Weise: Nicola Gess/Alexander Honold (Hg.): Handbuch Literatur und Musik. Berlin u. Boston 2017 (Handbücher zur kulturwissenschaftlichen Philologie, Bd. 2). Zu den verschiedenen als sinnlich aufzufassenden Erfahrungen der Qualität von Literatur vgl. Verf.: Hermeneutik literarischer Sinnlichkeit. Historisch-systematische Studien zur Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts. Tübingen 2003 (Communicatio, Bd. 31), insbes. Kap. II; sowie an einem lyrischen und darstellungstheoretischen Beispiel des 18. Jahrhunderts: Sprachbildlichkeit und Musikalität. Zur ästhetischen Erfahrung bei Klopstock. In: Kevin Hilliard, Kathrin M. Kohl (Hg.): Wort und Schrift: Das Werk von F. G. Klopstock. Tübingen 2008, S. 221–239. Vgl. auch die grundlegenden Überlegungen von Gerhard Kurz: Art. ›Bild/ Bildlichkeit‹. In: Walther Killy (Hg.): Literatur-Lexikon. Gütersloh, München 1988ff., Bd. 14, S. 109–115; ders.: Macharten. Über Rhythmus, Reim, Stil und Vieldeutigkeit. Göttingen 1999; Gottfried Willems: Anschaulichkeit. Zu Theorie und Geschichte der Wort-Bild-Beziehungen und des literarischen Darstellungsstils. Tübingen 1989. 2 Das Verhältnis von Literatur und Musik als Problemzusammenhang bei Rilke entfaltet Rüdiger Görner : Musik. In: Manfred Engel (Hg. unter Mitarb. v. Dorothea Lauterbach): RilkeHandbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar 2004, S. 151–154.
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denken sowie nicht zuletzt an die Vertonbarkeit.3 Für die beiden anderen Großgattungen Epik und Dramatik ist das Unterfangen schwieriger, auch wenn man den Prosarhythmus als Qualität von Erzähltexten herausstellen kann und das Drama als wesentlich performative Gattung Segmentierungen in Bewegungsabläufe zeigt, die man als Darstellungsrhythmen bestimmen könnte. All das ist schwierig, weil man neben den Gattungsspezifika immer auch die grundlegende mediale Differenz zwischen Musik und Literatur mit zu bedenken hat. Deshalb erscheint es sinnvoll, die Musikalität von Literatur zuerst vor allen Gattungs- und Mediendifferenzierungen in den Blick zu nehmen, wozu im Folgenden drei Aspekte der Musikalität von Literatur herausgestellt werden: Rauschen, Klang und Stille. Erst in einem anschließenden Schritt soll dann auf die Besonderheiten von Gattungen und Medien geblickt werden. Die drei Aspekte einer Musikalität von Literatur sind paradigmatisch in drei Modellen von Lyrik zu fassen, deren gattungshistorische Reihe ich mit Rilke enden lassen will. Ihre Tauglichkeit wäre mit Blick auf die Lyrik und die Literatur nach Rilke, so z. B. für Paul Celan und Ingeborg Bachmann oder auch Thomas Kling, noch weiter zu diskutieren. Die drei Modelle möchte ich – ganz vorläufig und vor allem zur Verdeutlichung des Problemzusammenhangs – mit den Autorpositionen von Clemens Brentano4 und Stefan George5 für den Klang, von Joseph Freiherr von Eichendorff für das Rauschen und von Friedrich Hölderlin für die Stille akzentuieren.6 Brentano und vor allem George haben den Klang der Lyrik in besonderer Weise zu ihrem musikalischen Gestaltungsmittel gemacht. Wie Eichendorff den romantischen Klang Brentanos dann zum Rauschen transformiert hat, hat Adorno in bestechender Weise herausgearbeitet und so die Modernität dieses Lyrikers aufscheinen lassen, der zuvor nur als waldromantisch-katholischer 3 Mögliche Kriterien von Musikalität von Literatur entwickelt Boris Previsˇ ic´ : Klanglichkeit und Textlichkeit von Musik und Literatur. In: Gess, Honold (Hg.), Handbuch Literatur und Musik, S. 39–56. 4 Vgl. zu Brentano, auch mit Blick auf Rilke, Stephan Jaeger : Theorie lyrischen Ausdrucks. Das unmarkierte Zwischen in Gedichten von Brentano, Eichendorff, Trakl und Rilke. München 2001; Ralf Simon: Die Bildlichkeit des lyrischen Textes. Studien zu Hölderlin, Brentano, Eichendorff, Heine, Mörike, George und Rilke. München 2011. 5 Siehe zu dieser Dimension von Georges Lyrik die folgenden Beiträge in: Achim Aurnhammer, Wolfgang Braungart, Stefan Breuer, Ute Oelmann (Hg.): Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch. Berlin, Boston 22016: Wolfgang Braungart: II.1.4. Hermeneutik, S. 533–545; Dieter Martin: III.4. Musikalische Rezeption, S. 939–961. 6 Siehe zu Hölderlin Thomas E. Ryan: Hölderlin’s Silence. New York u. a. 1988; Otto Lorenz: Schweigen in der Dichtung: Hölderlin – Rilke – Celan. Studien zur Poetik deiktisch-elliptischer Schreibweisen. Göttingen 1989; mit Blick auf die spätesten Gedichte: Christian Oestersandfort: Immanente Poetik und poetische Diätetik in Hölderlins Turmdichtung. Tübingen 2006.
Rauschen, Klang und Stille
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Dichter rezipiert worden war.7 Klang und Rauschen sind damit aufeinander bezogen. Ihre volle musikalische Präsenz gewinnen sie aber erst durch die Stille, die die beiden anderen Aspekte modelliert und durch Zäsur und Begrenzung konturiert.8 Derjenige, der in vielleicht grundlegendster Weise aus der Stille heraus gedichtet hat, ist Friedrich Hölderlin, dessen Rezeption im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts einen entscheidenden Aufschwung nimmt und der in engen Bezug zu Rilke zu bringen ist.9
2.
Lärm, Geräusch und Stille in Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge
Klang, Rauschen, Stille, wie sie sich in diesen exemplarisch genannten Modellen von Lyrik zeigen, müssen nun den Gattungs- und Medienwechsel hin zum Erzählen von Rilkes Prosabuch der Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge vollziehen. Dieses Problem will ich nach einem nun folgenden ersten Durchgang durch den Prosatext in einer zweiten Argumentationsbewegung noch einmal aufgreifen und dann gattungs- und medienbezogen noch einmal nachvollziehen.10 Rilke spannt in seinen Erzähltext eine Fülle von Reflexionen von Klanglichkeit ein. Sie thematisieren Musik, Klänge, Geräusche und die Stille. Zentral dabei ist, dass diese in einer spezifischen Weise miteinander in Beziehung stehen, d. h. sie werden als verwoben und einander konstituierend betrachtet. Es geht im Folgenden also nicht um ein Referieren dessen, wie im Malte diese Aspekte von Musikalität thematisiert werden. Vielmehr werden die ausgewählten Passagen in ihrer impliziten poetologischen Bedeutung analysiert, um diese dann im abschließenden Argumentationsschritt auf die grundlegende Frage nach der Musikalität von Literatur zu beziehen. Was Töne des Lärms sind, beschreibt Malte am Fallen eines Blechdeckels:
7 Theodor W. Adorno: Zum Gedächtnis Eichendorffs. In: Ders.: Noten zur Literatur. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M. 1974, 31981, S. 69–94. 8 Vgl. dazu Previsˇ ic´ : Klanglichkeit und Textlichkeit. 9 Die Vermittlung Hölderlins in die Moderne durch Norbert von Hellingrath arbeiten heraus: Jürgen Brokoff/ Joachim Jacob/Marcel Lepper : Norbert von Hellingrath und die Ästhetik der europäischen Moderne. Göttingen 2014. 10 Siehe hierzu Abschnitt 3 dieses Aufsatzes. Der medientheoretische Zusammenhang wird noch stärker beleuchtet in: Verf.: Stille als medienästhetisches Problem in Ingmar Bergmans Das Schweigen (1963) und Jane Campions Das Piano (1993). In: Heinz-Peter Preußer (Hg.): Sinnlichkeit und Sinn im Kino. Zur Interdependenz von Körperlichkeit und Textualität in der Filmrezeption. Marburg 2015, S. 94–102.
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Beinah jeder kennt den Lärm, den irgendein blechernes, rundes Ding, nehmen wir an, der Deckel einer Blechbüchse, verursacht, wenn er einem entglitten ist. Gewöhnlich kommt er gar nicht einmal sehr laut unten an, er fällt kurz auf, rollt auf dem Rande weiter und wird eigentlich erst unangenehm, wenn der Schwung zu Ende geht und er nach allen Seiten taumelnd aufschlägt, eh er ins Liegen kommt. Nun also: das ist das Ganze; so ein blecherner Gegenstand fiel nebenan, rollte, blieb liegen, und dazwischen, in gewissen Abständen, stampfte es. Wie alle Geräusche, die sich wiederholt durchsetzen, hatte auch dieses sich innerlich organisiert; es wandelte sich ab, es war niemals genau dasselbe.11
Die Schlussfolgerung ist interessant, weil der bloße Lärm dadurch eine Struktur gewinnt, dass er eine ›innerliche Organisation‹ erhält, d. h. sich wiederholt, dabei aber variiert und somit »niemals genau dasselbe« ist. Schon früh im Text wird über die Geräusche näher ausgeführt, dass sie in besonderer Weise auf die Stille hin gespannt sind: Das sind die Geräusche. Aber es giebt hier etwas, was furchtbarer ist: die Stille. Ich glaube, bei großen Bränden tritt manchmal so ein Augenblick äußerster Spannung ein, die Wasserstrahlen fallen ab, die Feuerwehrleute klettern nicht mehr, niemand rührt sich. Lautlos schiebt sich ein schwarzes Gesimse vor oben, und eine hohe Mauer, hinter welcher das Feuer auffährt, neigt sich, lautlos. Alles steht und wartet mit hochgeschobenen Schultern, die Gesichter über die Augen zusammengezogen, auf den schrecklichen Schlag. So ist hier die Stille.12
Die Stille ist furchtbarer als die Geräusche, sie ist »ein Augenblick äußerster Spannung«, eine Lautlosigkeit, die »den schrecklichen Schlag« in sich birgt. Auch die Stille ist damit »des Schrecklichen Anfang«,13 und diese Qualität verbindet sich mit der Fülle,14 die aus ihr hervorgehen kann. Dieser Beschreibung der Stille parallel ist die Darstellung der Tapisserie der Dame mit dem Einhorn, die heute im Mus8e Cluny zu sehen ist. In der Darstellung der Dame / la Licorne wird die Stille als Ort der Erwartung der Musik gesehen: Mußte nicht Musik kommen in diese Stille, war sie nicht verhalten schon da? Schwer und still geschmückt, ist sie (wie langsam, nicht?) an die tragbare Orgel getreten und spielt, stehend, durch das Pfeifenwerk abgetrennt von der Dienerin, die jenseits die Bälge bewegt. So schön war sie noch nie.15 11 12 13 14
KA III, S. 578f. Ebd., S. 456. So die berühmte Wendung in Rilkes erster Duineser Elegie, KA II, S. 201. Die – aus der rhetorischen Tradition stammende – ästhetische Kategorie der Fülle (›ubertas‹) spielte bei der Begründung der Ästhetik im 18. Jahrhundert durch Alexander Gottlieb Baumgarten noch eine Rolle, hat aber in der Ausdifferenzierung der modernen Ästhetik einen Bedeutungsverlust erlitten, der einmal aufschlussreich zu rekonstruieren wäre. 15 KA III, S. 545.
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Die sich aus der Stille entfaltende Musik zeigt die Schönheit, »so schön war sie noch nie«. Die Stille versetzt auch in die Lage, Schmerz zu stillen: Und nun (ja, wie soll ich das beschreiben?), nun wurde es still. Still, wie wenn ein Schmerz aufhört. Eine eigentümlich fühlbare, prickelnde Stille, als ob eine Wunde heilte. Ich hätte sofort schlafen können; ich hätte Atem holen können und einschlafen. Nur mein Erstaunen hielt mich wach. Jemand sprach nebenan, aber auch das gehörte mit in die Stille. Das muß man erlebt haben, wie diese Stille war, wiedergeben läßt es sich nicht.16
In die Stille »gehörte mit«, dass »nebenan« »Jemand sprach«. Die Stille ist ein besonderes Erlebnis, fühlbar. Sie ist singulär, es ist nicht wiederzugeben, »wie diese Stille war«. Besonderes Augenmerk verdienen noch zwei Stellen. Zum einen ein Lobpreis der Stille im Malte Laurids Brigge, wenn er die Stille hymnisch besingt: »O Nacht ohne Gegenstände. O stumpfes Fenster hinaus, o sorgsam verschlossene Türen; Einrichtungen von alters her, übernommen, beglaubigt, nie ganz verstanden. O Stille im Stiegenhaus, Stille aus den Nebenzimmern, Stille hoch oben der Decke.«17 Diese Stille wird durch die Mutter, die dann angerufen wird, »verstellt«: O Mutter : o du Einzige, die alle diese Stille verstellt hat, einst in der Kindheit. Die sie auf sich nimmt, sagt: erschrick nicht, ich bin es. Die den Mut hat, ganz in der Nacht diese Stille zu sein für das, was sich fürchtet, was verkommt vor Furcht. Du zündest ein Licht an, und schon das Geräusch bist du.18
Die Mutter »verstellt« die Stille, indem sie die Stille »auf sich nimmt«. Sie rückt in die Stelle der Stille ein. Sie nimmt dem Kind damit die Furcht. Das Eintreten in das Dunkel der Stille ist das Anzünden eines Lichts. So wie aber die Furcht vertrieben wird, so wird aus der Stille der Mutter, der Stille, die die Mutter ist, das Geräusch. Zwischen Geräusch und Stille besteht ein Wechselverhältnis, das man so bestimmen kann, dass die Mutter Darstellung, Mimesis der Stille ist, sie vergegenwärtigt und vermittelt, und dadurch, dass sie diese Leistung vollbringt, macht sie die Stille nicht nur bewusst, in der Darstellung begrenzt sie sie auch wieder durch das Geräusch. Dieser Prozess taucht auch noch an einer anderen, deutlich späteren Stelle der Aufzeichnungen auf. Hier sind es nicht die Stille und die Mutter als ihre Mittlerin, sondern die Stille und die Musik, dargeboten in einem Lied: Aber da wurde es mit einemmal still. Eine Stille ergab sich, die eben noch niemand für möglich gehalten hätte; sie dauerte an, sie spannte sich, und jetzt erhob sich in ihr die 16 Ebd., S. 581. 17 Ebd., S. 507. 18 Ebd.
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Stimme. (Abelone, dachte ich. Abelone.) Diesmal war sie stark, voll und doch nicht schwer ; aus einem Stück, ohne Bruch, ohne Naht. Es war ein unbekanntes deutsches Lied. Sie sang es merkwürdig einfach, wie etwas Notwendiges.19
Auch hier wiederum spannt sich die Stille, bis dann eine Stimme zu vernehmen ist. Nachdem das Lied gesungen worden ist, heißt es dann: »Wieder die Stille. Gott weiß, wer sie machte. Dann rührten sich die Leute, stießen aneinander, entschuldigten sich, hüstelten. Schon wollten sie in ein allgemeines verwischendes Geräusch übergehen, da brach plötzlich die Stimme aus, entschlossen, breit und gedrängt[.]«20 Das Ausbrechen der Stimme überrascht: »Alle standen gleichsam geduckt unter dieser Stimme.«21 Auch die Stimme des Gesangs korreliert mit der Stille, die sie erst heraustreten lässt. Die Beobachtungen an den Textstellen lassen sich so zusammenfassen: Zum einen wird deutlich, dass Geräusch und Stille, Musik und Stille, konstitutiv miteinander verbunden sind. Zum anderen schließt sich an die Übergängigkeit von Geräusch und Stille ein grundlegendes darstellungstheoretisches Problem an.22 Dieses wurde an der internen Strukturiertheit deutlich, die den Lärm zum Geräusch und zum Klang werden lässt und als eine variierte Wiedergabe, als Wiederholung und dann auch als Wieder-Holung des Dings erscheint. Diese mimetische Leistung von Darstellung, Wiederhervorbringung und Konkretisierung zeigt sich an der Imago der Mutter, die die Stille nicht nur darstellt, sondern in Existenz setzt. Deren Kehrseite wird dann aber wieder das Geräusch, das die Stille begrenzt und aufhebt. Was Rilke in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge damit also leistet, ist eine implizite poetologische Reflexion dessen, was die darstellungstheoretischen Bedingungen der Möglichkeit sind, von einer Musikalität von Literatur zu sprechen: Es sind das prinzipielle Eingelassensein in die Stille und das produktive Besetzen der Stille. Beides ist für Literatur charakteristisch, sie macht das Eingelassensein in die Stille deutlich, und sie setzt sich im sprachlichen Vollzug an die Position der Stille. Das ist die Basis für die Musikalität von Literatur.
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Ebd., S. 627. Ebd. Ebd., S. 628. Siehe zum Problemzusammenhang von Mimesis, Darstellung und Darstellungstheorie: Christian L. Hart Nibbrig (Hg.): Was heißt »Darstellen«? Frankfurt a. M. 1994; Inka MülderBach: Im Zeichen Pygmalions. Das Modell der Statue und die Entdeckung der »Darstellung« im 18. Jahrhundert. München 1998.
Rauschen, Klang und Stille
3.
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Literatur als Medium der Stille
Das möchte ich nun noch weiter entfalten, von der poetologischen Reflexion bei Rilke hin zum systematischen darstellungs-, gattungs- und medientheoretischen Zusammenhang. Hierzu lässt sich noch einmal beim vorletzten Textbeispiel ansetzen: »Aber da wurde es mit einemmal still. Eine Stille ergab sich, die eben noch niemand für möglich gehalten hätte; sie dauerte an, sie spannte sich, und jetzt erhob sich in ihr die Stimme. (Abelone, dachte ich. Abelone.)«23 Das Ich erinnert sich in dieser Szene seiner Abelone. Aufschlussreich ist diese Erinnerung deshalb, weil sie die Liebe in die Konstellation von Stille und Geräusch einfügt. Teil der Erinnerung ist auch, dass Abelone nicht erzählen konnte, als sie Malte über Mamans Jugend erzählen sollte. Aber dafür wusste sie zu berichten: »Der alte Graf Brahe soll es noch gekonnt haben. Ich will aufschreiben, was sie davon wußte.«24 Das sind keine marginalen Details. Vielmehr stehen sie für die Bedeutung der Erinnerung und für die elementare Verbindung von Erzählen und Stille. Anders als in Walter Benjamins Essay vom Erzähler,25 kommt das Erzählen im Malte Laurids Brigge damit also nicht von weither – dies höchstens noch in zeitlicher Perspektive. Vielmehr ist die Stille an die Stelle des Erzählens getreten: »Daß man erzählte, wirklich erzählte, das muß vor meiner Zeit gewesen sein. Ich habe nie jemanden erzählen hören.«26 Auch in dieser Hinsicht ist Rilkes »Prosabuch« also kein Roman. Aber eben auch kein episches Erzählen von weither und in zeitlicher Dignität. Die Aufzeichnungen, die im medialen Sinn als Aufzeichnungen, nicht als episches Erzählen zu sehen sind,27 sind stattdessen der immer wiederholte, immer wieder neu ansetzende Versuch, aus der Stille herauszuführen, die Erinnerung zu konkretisieren, die Stille mimetisch aufzuheben, indem das Erzählen das Erzählte an seine Stelle rückt. Es ist ein Modell kontemplativer Praxis, einer Kontemplation über die Zeit, über die Dinge, über das Leben.28 23 KA III, S. 627. 24 Ebd., S. 557f. 25 So die grundlegende Bestimmung bei Walter Benjamin: Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1972–1977. Bd. II.2: Aufsätze, Essays, Vorträge. Frankfurt a. M. 1977, S. 438–465, hier S. 442–444. Siehe dazu ausführlicher : Verf.: Medien und Medialität des Epischen in Literatur und Film des 20. Jahrhunderts: Bertolt Brecht – Uwe Johnson – Lars von Trier. München 2009, S. 124–128. 26 KA III, S. 557. 27 Hierin zeigt sich auch die serial auffassbare, prinzipiell mediale Qualität des Texts, der nicht über die Macht des Erzählens verfügen kann, sondern dessen Darstellung sich in der Aufzeichnung der Wirklichkeit vollzieht. 28 Siehe zur Kontemplation im Prozess der ästhetischen Erfahrung Martin Seel: Eine Ästhetik der Natur. Frankfurt a. M. 1996.
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Lothar van Laak
Für die Musikalität der Literatur hat dies systematische Konsequenzen. Sie muss vor aller Gattungsspezifik ihren Ausgangspunkt von der Stille nehmen und diese dann mimetisch entfalten. Aus diesem mimetischen Entfaltungsprozess resultiert die Musikalität: Sie ist zu fassen als eine Flüchtigkeit, die aus der Stille zur Konkretion findet und mit dieser dann wieder vergeht. Eine Stelle im Malte, die diese produktive Negativität verdeutlicht, bringt dies treffend auf den Punkt: »Es ist, als hätten sie im voraus die Worte vernichtet, mit denen man sie fassen könnte.«29 Diese Flüchtigkeit, die die Grundlage literarischer Musikalität ist, schreibt sich in den Prosarhythmus der Aufzeichnungen ein: Man muß zurückdenken können an Wege in unbekannten Gegenden, an unerwartete Begegnungen und an Abschiede, die man lange kommen sah, – […] an Kinderkrankheiten, die so seltsam anheben mit so vielen tiefen und schweren Verwandlungen, an Tage in stillen, verhaltenen Stuben und an Morgen am Meer, an das Meer überhaupt, an Meere, an Reisenächte, die hoch dahinrauschten und mit allen Sterne flogen, – und es ist noch nicht genug, wenn man an alles denken darf.30
Das Zitat wird durch das »zurückdenken können an« rhythmisiert, um in der letzten Pause der Aufzählung als nicht genug, als ungenügend wieder bestimmt zu werden, selbst »wenn man an alles denken darf.« All das, was sich in der Erinnerung des Zurückdenkens konkretisiert, wird damit wieder aufgehoben, als vorläufig, als nicht ausreichend verdeutlicht. Eine ähnliche Bewegung der Flüchtigkeit findet sich auch in der berühmten Eingangsstelle, die sich den Geräuschen der Stadt widmet und die furchtbare Stille beschreibt. Im Kontrast zu ihr stehen die Geräusche der Stadt, die sich schließlich in den Rufen von Hund und Hahn auflösen: Daß ich es nicht lassen kann, bei offenem Fenster zu schlafen. Elektrische Bahnen rasen läutend durch meine Stube. Automobile gehen über mich hin. Eine Tür fällt zu. Irgendwo klirrt eine Scheibe herunter, ich höre ihre großen Scherben lachen, die kleinen Splitter kichern. Dann plötzlich dumpfer, eingeschlossener Lärm von der anderen Seite, innen im Hause. Jemand steigt die Treppe. Kommt, kommt unaufhörlich. Ist da, ist lange da, geht vorbei. Und wieder die Straße. Ein Mädchen kreischt: Ah tais-toi, je ne veux plus. Die Elektrische rennt ganz erregt heran, darüber fort, fort über alles. Jemand ruft. Leute laufen, überholen sich. Ein Hund bellt. Was für eine Erleichterung: ein Hund. Gegen Morgen kräht sogar ein Hahn, und das ist Wohltun ohne Grenzen. Dann schlafe ich plötzlich ein.31
Die Flüchtigkeit zu Gehör zu bringen, das ist der gemeinsame Aspekt von Musik und Literatur, das ist das Grundlagenmodell der Musikalität von Literatur. Dass auch die Plastik die Flüchtigkeit zu Gesicht bringen kann, in der Aneignung des 29 KA III, S. 549. 30 Ebd., S. 466f. 31 Ebd., S. 455f.
Rauschen, Klang und Stille
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Lichts und der Erfüllung des Raums, das macht Rilke an der Plastik Rodins deutlich. Aber das wäre eine andere Perspektivierung dessen, wie Literatur Sinnlichkeit erfahrbar machen und als Erfahrung reflektieren kann.
Winfried Eckel
Landschaft als Klangraum. Zum Soundscape des Wallis in Rilkes später Lyrik
1.
Begehbares Kunstwerk und Grenze des Anschauens
Zusammen mit den Weiten Russlands, der Tiefebene um Worpswede, der französischen Provence oder der zerklüfteten Gegend Toledos gehört das Wallis zu den Landschaften, die Rilke maßgeblich geprägt haben. Auf bemerkenswert unterschiedliche Weise legen seine Briefe und seine Lyrik davon Zeugnis ab. Nachdem der Dichter im Oktober 1920, noch immer auf der Suche nach einem Ort für den Abschluss seines Elegien-Projekts, das Wallis erstmals entdeckt hatte, wurde er nicht müde, in einer Fülle von Briefen immer wieder die gewaltigen Dimensionen des Rhonetals zu rühmen: Ich sah unter den schönen Thalschaften der Schweiz noch keine, die geräumiger gewesen wäre; das Valais ist eine Ebene, die es weit hat bis zu den Bergen; und diese selbst sind nichts als Hintergrund, keine Schwere hereinwirkend und von einer solchen Duftigkeit der Abhänge, daß sie zuzeiten immaginär [sic!] wirken wie die Bergbilder einer Spiegelung.1
Unter den vielfältigen Vergleichen, die Rilke in der Folge zur Charakteristik der Gegend bemüht, stechen vor allem zwei hervor, die beide in den Briefen geradezu topische Qualität gewinnen: die Erinnerung zum einen an die Genesis, die Schöpfung der Welt, zum anderen an die kosmischen Distanzen zwischen den Sternen. Beide Vergleiche, die bei Rilke zuvor auch schon in Bezug auf andere Landschaften zum Einsatz gekommen waren,2 greifen jeweils auf ihre Weise, in 1 RMR an Hans von der Mühll, 12. Oktober 1920. Zit. n. der Zusammenstellung brieflicher Äußerungen zum Wallis in KA V, S. 500–511, hier S. 500. 2 Vgl. etwa nur die im Tagebuch festgehaltene Beschreibung der Wolgalandschaft aus einem Brief (31. Juli 1900): »Mir ist, als hätte ich der Schöpfung zugesehen« (RMR: Tagebücher aus der Frühzeit. Hg. v. Ruth Sieber-Rilke, Carl Sieber. Frankfurt a. M. 1973, S. 196), oder die Briefbemerkung über die Landschaft von Toledo: »so sehr sternisch ist die Art dieses ungemeinen Anwesens gemeint, so hinaus, so in den Raum« (RMR an Marie Taxis, Allerseelentag 1912. In: RMR, Marie von Thurn und Taxis: Briefwechsel. Besorgt durch Ernst Zinn. Frankfurt a. M. 1986, Bd. 1, S. 218).
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Winfried Eckel
zeitlicher bzw. räumlicher Hinsicht, zum Äußersten. Gemeinsam betonen sie den dynamisch raumbildenden Charakter der Landschaft, der sich vor allem dem Spaziergänger erschließt: Sein [= des Rhone; bei Rilke, wie im Frz., männlich; W. E.] Thal ist hier so breit und so großartig mit kleinen Anhöhen ausgefüllt im Rahmen der großen Randgebirge, daß dem Blick ein Spiel der reizvollsten Veränderungen, gewissermaßen ein Schachspiel mit Hügeln, fortwährend bereitet ist. Als würden noch Hügel verschoben und vertheilt –, so schöpfungshaft wirkt der Rhythmus der mit dem Standpunkt jedesmal erstaunlich neuen Anordnung des Angeschauten – […] der unbeschreibliche (fast regenlose) Himmel nimmt von weit oben her an diesen Perspektiven theil und beseelt sie mit einer so geistigen Luft, daß das besondere Zueinanderstehen der Dinge, ganz wie in Spanien, zu gewissen Stunden jene Spannung aufzuweisen scheint, die wir zwischen den Sternen eines Sternbilds wahrzunehmen meinen.3 […] als ginge aus diesem großartigen Entfaltet- und Aufeinanderbezogensein der Einzelheiten Raum hervor […].4
Vergleicht man diese Landschaftsbeschreibungen mit Rilkes später, teils deutsch-, teils französischsprachiger Lyrik, die ihrerseits auf das Wallis Bezug nimmt, fällt auf, was sonst vielleicht keiner Erwähnung für Wert gehalten würde, weil es für Landschaftsbeschreibungen grundsätzlich charakteristisch scheint: dass nämlich die Beschreibungen der Briefe sich vornehmlich auf den visuellen Aspekt der Landschaft konzentrieren und unter den Sinnen primär dem Sehsinn verpflichtet sind, während die Lyrik vor allem auch auf den Hörsinn rekurriert. So wird in den Briefen von den »optischen Spielen« der für den Wandernden sich scheinbar verschiebenden Häuser und Burgen gesprochen,5 oder die Berge im Hintergrund erscheinen dem Betrachter wie bloße »Spiegelbilder von Hängen«, vor denen sich die »Stickerei der Weinberge« deutlicher abhebt.6 Wenn die unter immer neuen Aspekten sich präsentierende Landschaft hier einmal mit dem »Schlußsatz einer Beethoven-Symphonie« verglichen wird,7 ist zu erkennen, dass der eine bestimmte Bewegtheit und Rhythmik indizierende Vergleich auf die Illustration von etwas Optischem, nicht Akustischem zielt – nicht anders als die Rede von den wie »Seidenbänder« um die Hügel geschwungenen Wegen.8 Im Vergleich mit einer »Rodin’schen Skulptur«, die »eine eigene Geräumigkeit in sich mitbringt und um sich ausgiebt«, erscheint das Rhonetal insgesamt
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RMR an Marie Taxis, 15. Juli 1921. Zit. n. KA V, S. 503. RMR an Nora Purtscher-Wydenbruck, 17. August 1921. Zit. n. ebd., S. 504. RMR an Marie Taxis, 15. Juli 1921. Zit. n. ebd., S. 503. RMR an Nanny Wunderly-Volkart, 10. Oktober 1921. Zit. n. ebd., S. 501. RMR an Nanny Wunderly-Volkart, 15. Juli 1921. Zit. n. ebd., S. 502. RMR an Gertrud Ouckama Knoop, 16. November 1921. Zit. n. ebd., S. 506.
Landschaft als Klangraum
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als ein ebenso sichtbares wie begehbares Kunstwerk.9 Sofern hier neben dem Auge noch ein anderer Sinn Bedeutung erlangt, ist es nicht der Hörsinn, sondern der mit dem Sehsinn eng verknüpfte Bewegungssinn, der es erlaubt, die gemäß dem wandernden Blickpunkt immer neuen Konstellationen der im Raum verteilten Dinge, die dynamisch sich verändernden Distanzen und Spannungen zwischen ihnen, wahrzunehmen. Akustische Qualitäten der Walliser Landschaft werden in den Briefbeschreibungen höchst selten notiert. Tatsächlich gilt der Umstand, dass Landschaften sich erst im Auge eines Betrachters konstituieren, als ein ästhetiktheoretischer Gemeinplatz: »Landschaft«, so definiert Joachim Ritter in einem berühmten Aufsatz, »ist Natur, die im Anblick für einen fühlenden und empfindenden Betrachter ästhetisch gegenwärtig ist«.10 Und Rainer Piepmeier meint: »Natur als Landschaft schwindet, wenn das ›landschaftliche Auge‹ fehlt, das sie konstituiert.«11 Zu dieser scheinbar selbstverständlichen Bezugnahme auf den Sehsinn passt, dass Landschaft als ästhetischer Gegenstand in der Neuzeit vor allem durch die Malerei entdeckt worden ist. Auch Rilke ist maßgeblich durch diese Tradition beeinflusst. Von seinem frühen Aufsatz Von der Landschaft (1902), der ersten Fassung der Einleitung zum Worpswede-Buch, bis hin zu seinen Briefen aus Spanien (1912/13) bleibt er der Auffassung, dass Landschaft, nicht anders als isolierte Dinge, vor allem durch intensives »Schauen« zu »leisten« sei: Aus »Schauen und Arbeit« seien die Bilder der Landschaftsmalerei entsprungen, heißt es in Von der Landschaft.12 »Schauen und Arbeit« ist dann in den Pariser Jahren auch die Formel für Rilkes literarische Produktion: Das Vor-der-Natur-Sitzen und genaue Beobachten des Gegebenen gehören in dieser Zeit zu seinem Programm wie seiner täglichen Praxis. In Bezug auf einzelne fassliche Dinge bewährte sich dieses Konzept bekanntlich glänzend in den Neuen Gedichten, die zwischen 1902 und 1908 im Zeichen einer bewussten Orientierung an der bildenden Kunst entstanden. Auf 9 RMR an Xaver von Moos, 2. März 1922. Zit. n. ebd., S. 508. Schon die Rodin-Monografie (1902/07) reflektiert auf das besondere Verhältnis der Rodin’schen Plastiken zum Raum. Vgl. KA IV, S. 443f., S. 463 und passim. 10 Joachim Ritter : Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft (1962). In: Ders.: Subjektivität. Frankfurt a. M. 1974, S. 141–163, S. 172–190, hier S. 150. Die Orientierung am Bildcharakter der Landschaft zeigt sich Ritter noch in der Werbung der Tourismusindustrie: »Das für Landschaft ästhetisch konstitutive ›Schauen‹ kann etwa in dieser Form wiederkehren: ›Highways bring the finest landscape within easy reach of your camera.‹« (S. 184). 11 Rainer Piepmeier: Landschaft (Teil »III. Der ästhetisch-philosophische Begriff«). In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. Joachim Ritter, Karlfried Gründer. Bd. 5. Darmstadt 1980, Sp. 15–28, hier Sp. 16. Noch Weber erklärt: »Die Landschaft verdankt sich einer Ästhetik des Blicks.« Kurt-H. Weber : Die literarische Landschaft. Zur Geschichte ihrer Entdeckung von der Antike bis zur Gegenwart. Berlin 2010, S. 170. 12 KA IV, S. 212.
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den großen Reisen, die Rilke 1910/11 durch Nordafrika, 1912/13 durch Spanien führten, geriet der Ansatz allerdings erstmals massiv in die Krise. Nicht Dinge, sondern Landschaften waren es, von denen sich der Dichter herausgefordert sah. Aus Ronda beispielsweise schreibt er angesichts einer erhaben wirkenden Gegend: »jetzt sitz ich da und schau und schau, bis mir die Augen weh tun, und zeig mirs und sag mirs vor, als sollt ichs auswendig lernen, und habs doch nicht und bin so recht einer, dems nicht gedeiht.«13 Was hier den Blick überfordert, ist eine Landschaft, die, wie später das Wallis, durch gewaltige Dimensionen, innere Spannungen und dramatische Kontraste gekennzeichnet ist.14 Von daher überrascht es nicht, wenn 1914 das vielzitierte Gedicht Wendung erkennt: »des Anschauns, siehe, ist eine Grenze«, und erklärt: »Werk des Gesichts ist getan, / tue nun Herz-Werk.«15 Es ist vor dem Hintergrund dieser Einsicht in die »Grenze« des Anschauens bemerkenswert, dass auch die späteren Briefe aus dem Wallis noch einmal so deutlich auf den Sehsinn setzen. Doch schärft die Erinnerung an die Krise des Dinggedichtansatzes zugleich die Aufmerksamkeit dafür, dass diese Briefbeschreibungen über die dem Sehen inhärenten Begrenzungen gleichsam hinausdrängen: Der Gefahr der Reduktion des Raums auf ein Bild, der Landschaft auf ein Ding beugen sie dadurch vor, dass der Blickpunkt des Betrachters als ein sich bewegender erscheint. Weil an die Stelle des Sitzens vor der Natur das Gehen in ihr getreten ist, scheinen sich die Dinge selbst zu bewegen und durch ihre Bewegung Raum allererst zu produzieren.16 Als tönende begegnen sie dagegen in der Regel nicht. 13 RMR an Lou Andreas-Salom8, 19. Dezember 1912. In: RMR, Lou Andreas-Salom8. Briefwechsel. Hg. v. Ernst Pfeiffer. Frankfurt a. M. 1975, S. 274. 14 Ein zwei Tage zuvor verfasster Brief nennt »die unvergleichliche Erscheinung dieser auf zwei steile Felsmassen, die eine enge tiefe Flußschlucht trennt, hinaufgehäuften Stadt […]; es ist unbeschreiblich, um das Ganze herum ein geräumiges Thal, beschäftigt mit seinen Feldflächen, Steineichen und Ölbäumen, und drüben entsteigt ihm wieder, wie ausgeruht, das reine Gebirge, Berg hinter Berg, und bildet die vornehmste Ferne« (RMR an Marie Taxis, 17. Dezember 1912. In: RMR, Marie von Thurn und Taxis: Briefwechsel, Bd. 1, S. 246). 15 KA II, S. 101f. 16 Dass die leibhaft durchschrittene Landschaft in der bloß gesehenen sich nicht erschöpft, betont Bernhard Waldenfels: Gänge durch die Landschaft. In: Manfred Smuda (Hg.): Landschaft. Frankfurt a. M. 1986, S. 29–43. Martin Seel: Eine Ästhetik der Natur. Frankfurt a. M. 1991, macht auf die Bedeutung der Sinne für die Landschaftserfahrung aufmerksam: »Solange der See, solange die ganze Landschaft des Sees hinter dem geschlossenen Fenster nur für das Auge da ist, behält auch sie einen Dingstatus bei; sie bleibt als abgegrenzte Ansicht vor der Wahrnehmung liegen. Der Augenblick des Hinzutretens der anderen Sinne – wenn das Fenster geöffnet, wenn der See aufgesucht wird, wenn wir unter dem Baum im Mondlicht stehen – korrigiert dieses Bild. Unter Anleitung oder Führung des Auges beginnen die anderen Sinne den Raum ihrer Tätigkeit kontemplativ zu erkunden« (S. 54, Hervorhebungen durch M. S.). »Allein im Sehen können wir so radikal ›zum Gegenstand‹ abstrahieren; das Dingbewußtsein unserer tastenden Hand erkundet immer unsere Beziehung zum Gegenstand mit, das Ohr reagiert ohnehin nicht auf Dinge, sondern auf ungenau lokalisierte
Landschaft als Klangraum
2.
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Akustischer Gabenraum
Das ist in der späten Landschaftslyrik durchaus anders, und man wird in diesem Umstand das Ergebnis einer bewussten Entscheidung sehen können. Zwar begegnet auch hier eine Reihe von Motiven der primär visuell orientierten Briefe, aber diese werden massiv ergänzt durch Motive aus dem Bereich des Auditiven. Statt das Sehen nur zu begleiten, hat das Hören in nicht wenigen Gedichten sogar eindeutig die Führung unter den Sinnen übernommen.17 Diese Öffnung für die Welt des Akustischen geht einher mit der Öffnung Rilkes für das Französische als Sprache seiner Produktion, wenngleich man sagen muss, dass die Orientierung am Hörbaren auch die deutschsprachige Landschaftslyrik erfasst. In den Quatrains Valaisans,18 einer kleinen Folge von 36 Landschaftsgedichten, die im Sommer 1924 entstanden und 1926 als eine Art Anhang zu der gleichfalls französischsprachigen Gedichtsammlung Vergers publiziert wurden (die neben andersgearteten Stücken ihrerseits auch einige Landschaftsgedichte enthält), erscheint die Landschaft des Wallis auffallend durchsetzt von Geräuschen und Klängen: vor allem von dem Rauschen und Plätschern der Gewässer sowie dem Glockenklang der Carillons. Dabei wird, wie oft schon in der Romantik,19 das Geräusch immer wieder mit einem Gesang (»chant«) identifiziert. Überdies wirkt die Landschaft beherrscht von einer fast allgegenwärtigen Stille, Ereignisse im Raum. Sobald wir die Isolation des optischen Bewußtseins aufgeben, verwandelt sich unsere Wahrnehmung in die Erfahrung von Dingen-im-Raum, von Dingen, die ihre Bewegtheit für die Anschauung aus ihrer und unserer Stellung im Raum erhalten« (S. 55). Kritik an einer Konzeption der Landschaft allein vom Sehsinn her übt auch Michel Collot: Landschaft. In: Handbuch Literatur & Raum. Hg. v. Jörg Dünne, Andreas Mahler. Berlin 2015, S. 151–159, hier S. 156. 17 Gegen die etwas pauschale Formulierung von Seel (siehe Anm. 16). 18 KAV, S. 78–109. Verweise auf einzelne der durchnummerierten Gedichte im Folgenden unter Verwendung der Sigle QV. 19 Während Tieck in eher theoretischer Absicht die Geräusche der Natur von den Tönen der Musik streng unterscheidet (Phantasien über die Kunst, 1799; Zweiter Abschnitt, Kap. »VIII. Die Töne«), wird von den literarischen Texten der Romantik diese Differenz im Zeichen des Wunderbaren immer wieder nivelliert. Paradigmatisch ist die Holunderbaumszene in E.T.A. Hoffmanns Der goldene Topf (1814), in der für Anselmus das Rascheln der Blätter, das Zischeln der Schlangen und der »Dreiklang«, die »lieblichen Akkorde« von Kristallglocken ununterscheidbar werden (Erste Vigilie); wiederholt kann der Student später vom »Gesang« der Schlangen sprechen (Zweite, Neunte Vigilie). Im Hinblick insbesondere auf das Rauschen der Wälder und Bäche ist das Überspielen der Differenz auffällig auch in der Lyrik, für die sich das Wunder dort vollzieht, wo, vermittelt durch das Wort, auch Geräusche als eine Musik erscheinen: »die Welt hebt an zu singen, / Triffst du nur das Zauberwort« (Eichendorff, Wünschelrute, 1835). »Summen, murmeln, flüstern, rieseln« beispielsweise können so als »Lied« begriffen werden (Brentano, Lureley, vermutl. 1806). Es ist nicht richtig, wenn Pasewalck die Romantik pauschal auf die Unterscheidung von Ton und Geräusch festlegt, um Rilke davon abzusetzen. Silke Pasewalck: »Die fünffingrige Hand«. Die Bedeutung der sinnlichen Wahrnehmung beim späten Rilke. Berlin/New York 2002, S. 223f. und S. 255f.
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die durch die genannten akustischen Phänomene weniger unterbrochen als überhaupt erst recht wahrnehmbar zu werden scheint. Als gesteigerte Stille wird nicht die reine oder absolute begriffen, sondern jene, die von leisem Rauschen und Klingen durchzogen bleibt. Ein Gedicht apostrophiert das Wallis als ein Land, das ebenso singt wie schweigt, wobei der Gesang der aus der Erde entspringenden Wasser ausdrücklich nur ein Übermaß (»excHs«) des Schweigens sein soll: Pays qui chante en travaillant, pays heureux qui travaille; pendant que les eaux continuent leur chant, la vigne fait maille pour maille. Pays qui se tait, car le chant des eaux n’est qu’un excHs de silence, de ce silence entre les mots qui, en rythmes, avancent. (Land, das singt, wenn es arbeitet; glückliches Land, das arbeitet; während die Wasser fortfahren mit ihrem Gesang, macht der Weinstock Masche und Masche. Land, das schweigt, denn der Gesang der Wasser ist nur ein Übermaß an Schweigen, dieses Schweigens zwischen den Wörtern, die, rhythmisch, voranschreiten.)20
Die Differenz zwischen Geräusch und Ton (oder physikalisch gesprochen: zwischen nicht-periodischen und periodischen Schwingungen21) wird hier ebenso eingeebnet wie die zwischen Verlautbarung und Schweigen. Wenn der Gesang des Wassers nur eine Übertreibung des Schweigens sein soll, wird das Schweigen selbst als verminderter Gesang und Stimme der Erde begreifbar, und das Wallis kann konsequenterweise als »Pays […] aux voix d’eau et d’airain« (»Land […] mit Stimmen von Wasser und Erz«) angesprochen werden.22 Interessant ist, dass im zitierten Gedicht (QV 28) das Schweigen der Erde gleichgesetzt wird mit der Stille zwischen den rhythmisch voranschreitenden Worten. Das Sprechen des lyrischen Subjekts wird so verschränkt mit dem 20 KA V, S. 100, Übers. S. 101 (QV 28). 21 Vgl. die Unterscheidung zwischen Geräuschen und Klängen bei Hermann Helmholtz: Die Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage für die Theorie der Musik. Braunschweig 1863: »Das Sausen, Heulen und Zischen des Windes, das Plätschern des Wassers, das Rollen eines Wagens sind Beispiele der ersten Art, die Klänge sämmtlicher musikalischer Instrumente Beispiele der zweiten Art des Schalles« (S. 14); »Die Empfindung eines Klanges wird durch schnelle periodische Bewegungen der tönenden Körper hervorgebracht, die eines Geräusches durch nicht periodische Bewegungen« (S. 15f.). Helmholtz räumt ein, dass sich »Geräusche und Klänge in mannichfach wechselnden Verhältnissen […] vermischen und durch Zwischenstufen ineinander übergehen« können, besteht aber darauf, dass »ihre Extreme […] weit voneinander getrennt« seien (S. 14). 22 KA V, S. 80, Übers. S. 81 (QV 2).
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Schweigen der Landschaft: In den Lücken und Pausen zwischen den Worten soll etwas von der Stille der ländlichen Umgebung vernehmbar werden. Ein anderes Gedicht ergänzt diesen Gedanken durch die Vorstellung, dass sich die Laute der Gewässer als tönende Vokale zwischen die an sich stummen Konsonanten des lyrischen Subjekts (»tes dures consonnes« / »deine harten Konsonanten«) schieben und dem Subjekt so allererst zur Verlautbarung verhelfen: Pays silencieux dont les prophHtes se taisent, pays qui pr8pare son vin; […] Pays dont les eaux sont presque les seules nouvelles, toutes ces eaux qui se donnent, mettant partout la clart8 de leurs voyelles entre tes dures consonnes! (Stilles Land, dessen Propheten schweigen, Land, das seinen Wein bereitet; […] Land, dessen Wasser fast die einzigen Neuigkeiten sind, alle diese Wasser, die sich geben, überall die Klarheit ihrer Vokale setzend zwischen deine harten Konsonanten!)23
Nicht nur die Stille zwischen den Worten, auch deren Lautsubstanz scheint so das lyrische Subjekt aus der umgebenden Landschaft zu beziehen. Was es selbst mitbringt, scheint sich auf die den Lautstrom gliedernden Konsonanten zu beschränken. Zu dieser abhängigen Position des Subjekts passt die Tatsache, dass es selbst eher unauffällig markiert wird; es begegnet zurückgenommen ins unpersönlichere »nous« oder »on« (z. B. QV 16) oder in der Selbstanrede der 2. Person (z. B. QV 6). Wie in vielen anderen Naturgedichten des späten Rilke24 erscheint die Landschaft in den Quatrains Valaisans als ein umfassender Klangraum, in den das lyrische Subjekt rezeptiv eingelassen ist. Werden mit dem Plätschern und Rauschen des Wassers Geräusche der gleichsam zeitenthobenen Natur thematisiert, so mit den Carillons, den landestypischen Glockenspielen der Kirchtürme, Klänge der Kultur, mit denen sich die Erfahrung der Zeit assoziiert. Während die Geräusche des Wassers kontinuierlich andauern, ist den Carillon-Klängen eigen, dass sie zu bestimmten 23 Ebd., S. 84, Übers. S. 85 (QV 6). Die Formulierung »tes dures consonnes« / »deine harten Konsonanten« kann statt als Selbstanrede des lyrischen Subjekts gewiss auch als Apostrophe des Landes verstanden werden. Doch legt der Wechsel von der dritten Person des Possessivpronomens in Zeile 2 (»pays qui pr8pare son vin« / »Land, das seinen Wein bereitet«) in die zweite Person in der Schlusszeile des Gedichts die hier vorgeschlagene Lesart nahe, denn auch die dritte Person (»ses dures consonnes« / »seine harten Konsonanten«) wäre am Ende möglich gewesen. 24 Vgl. nur die Frühlingsstrophe von Anfang Mai 1924, Muzot: »[…] / Wie sich die gestern noch stummen / Räume der Erde vertonen; / nun voller Singen und Summen: / Rufen und Antwort will wohnen. // […]« (KA II, S. 320).
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Zeitpunkten intervenieren. Zum einen dient das Geläut der Zeitgliederung: »< bonheur de l’8t8: le carillon tinte / puisque dimanche est en vue« (»O Glück des Sommers: das Glockenspiel klingt, weil Sonntag in Sicht ist«).25 Zum anderen kommt mit ihm eine Vergangenheitsdimension ins Spiel: »Contr8e ancienne, aux tours qui insistent / tant que les carillons se souviennent« (»Alte Landschaft, mit den Türmen, die beharren, solange die Glockenspiele sich erinnern«).26 Doch ist dieser Gegensatz von Natur und Kultur, Zeitlosigkeit und Zeit kein absoluter. Der Hinweis auf den Sommer und den Sonntag sowie die Verknüpfung von Erinnerung und Beharrung machen klar, dass hier nicht von einer linearen, sondern einer zyklischen Zeitordnung auszugehen ist, die der Natur nahesteht.27 Vor allem die metaphorische Annäherung des Carillons an die Beeren einer Traube, die in der Sonne reifen (»Beere für Beere ins Ohr«,28 heißt es schon in einem Brief), zeigt, wie sehr seine Klänge als gleichsam natürliche Hervorbringungen der Landschaft begriffen werden: Le clocher chante: Mieux qu’une tour profane, je me chauffe pour m0rir mon carillon. […] Chaque dimanche, ton par ton, je leur [= aux Valaisannes; W. E.] jette ma manne; […] […] samedi soir dans les channes tombe en gouttes mon carillon aux Valaisans des Valaisannes. (Der Glockenturm singt: Besser als ein weltlicher Turm, wärme ich mich, um mein Glockenspiel reifen zu lassen. […] Jeden Sonntag, Ton für Ton, gieße ich mein Manna über sie [= die Walliserinnen; W. E.] aus; […] […] am Samstagabend in den Schenken zerfällt in Tropfen mein Glockenspiel für die Walliser der Walliserinnen.)29
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KA V, S. 84, Übers. S. 85 (QV 8). Ebd., S. 82, Übers. S. 83 (QV 4). Ähnlich Manfred Engel im Abschnitt »Deutungsaspekte«, ebd., S. 517. RMR an Gertrud Ouckama Knoop, 16. November 1921. Zit. n. ebd., S. 506. Ebd., S. 88, Übers. S. 89 (QV 12).
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Erscheint der Glockenklang hier als Gabe des Himmels, als göttliches Manna für die Waliserinnen und als sehr irdischer guter Tropfen für die Waliser, soll er sich zugleich auch umgekehrt eignen, den Himmlischen selber als Opfergabe dargebracht zu werden: »La Vierge mÞme b8nirait la m0re / offrande, 8grainant son carillon« (»Die Jungfrau selbst würde die reife Opfergabe segnen und ihr Glockenspiel klingen lassen«).30 Die Grenze zwischen dem Irdischen und dem Himmlischen soll so in beiden Richtungen überschritten werden können. Natur und Kultur, das Profane und das Heilige, das Zeitlose und die Zeit scheinen im Klang des Carillons zum Ausgleich zu kommen und Eines zu werden. Es ist klar, dass die Klanglandschaft oder das Soundscape des Wallis bei Rilke nicht einfach das Ergebnis einer nüchternen Beschreibung des Gegebenen, sondern Resultat einer bewussten ästhetischen Gestaltung und Stilisierung ist.31 Weder die ausgewählten Geräusche und Klänge noch ihre semantische Aufladung scheinen Zufall. Die Glockenschläge der Carillons zusammen mit dem Plätschern der Gewässer sind die hervorstechenden »soundmarks«32 einer Region, in der die besondere Zeit- und Naturerfahrung der Moderne, die Abkoppelung der Geschichte von der Natur und die mit der technischen Beherrschung der Natur einhergehende Entfremdung von dieser, noch nicht Platz gegriffen haben. Statt als Objekt ökonomischer Ausbeutung oder wissenschaftlicher 30 Ebd., S. 86, Übers. S. 87 (QV 10); »8grainer«: entkörnen, Beeren abstreifen, abzählen, herunterspulen, Rosenkranz abbeten. 31 Der kanadische Komponist und Klangforscher R. Murray Schafer hat in The Soundscape. Our Sonic Environment and the Tuning of the World, Rochester (Vermont) 1977, in Analogie zum Begriff der Landschaft (»landscape«), zur Kennzeichnung der nicht visuellen, sondern akustischen Umgebung (»sonic environment«) den Begriff »soundscape« (Klanglandschaft) vorgeschlagen. Ausgehend von einem erweiterten Musikbegriff, der es erlaubt, »to conceive of the soundscape as a huge musical composition«, hat er zugleich die Frage nach den Möglichkeiten eines gezielten »acoustic design« gestellt, »by which the aesthetic quality of the acoustic environment or soundscape may be improved« (alle Zitate S. 271). Der Soundscape-Begriff oszilliert so zwischen einer deskriptiven und einer ästhetisch-normativen Verwendungsweise. In beiden Bedeutungen aber geht es Schafer um reale Klanglandschaften, nicht um rein imaginäre, wie sie die Literatur entwerfen mag. Literatur interessiert ihn nur insofern, als sie Auskunft über Klanglandschaften der Vergangenheit zu geben vermag, die tatsächlich existiert haben: »It is a special talent of novelists like Tolstoy, Thomas Hardy and Thomas Mann to have captured the soundscapes of their own places and times, and such descriptions constitute the best guide available in the reconstruction of soundscapes past« (S. 9). Dass in solchen literarischen Beschreibungen allerdings immer schon ein »acoustic design« im Sinne einer ästhetischen Gestaltungsabsicht wirksam ist, weil Literatur ihre eigene Wirklichkeit neben die bestehende setzt, gerät hier tendenziell aus dem Blick. 32 »The term soundmark is derived from landmark and refers to a community sound which is unique or possesses qualities which make it specially regarded or noticed by the people in that community. Once a soundmark has been identified, it deserves to be protected, for soundmarks make the acoustic life of the community unique.« Schafer : The Soundscape, S. 10. In dieser Definition lässt ›soundmark‹ neben landmark auch an trademark denken.
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Neugier, die beide der Natur etwas abzugewinnen versuchen, was diese auf Anhieb oder von sich aus nicht hergibt, begegnet die Natur in den Quatrains ästhetisch als Landschaft. Sie erscheint als ein Gegenüber, das sich dem wahrnehmenden Subjekt mitteilt, und zugleich als ein Raum, der sich bereitwillig öffnet und den Zugang erlaubt. Nicht Mangel wird in ihr empfunden, sondern Fülle, ein Reichtum an Gaben. Dieser Reichtum aber ist nicht zuletzt akustischer Natur: die an Brot und Wein erinnernden Klänge der Carillons für die Bewohner des Wallis, die Stille und Laute des Landes und seiner Gewässer als Elemente der Sprache (»silence entre les mots«, »voyelles«) für das lyrische Subjekt. Die Landschaft als Raum der Gaben und des Beschenktwerdens ist wesentlich Klanglandschaft.33
3.
Aufhebung des Lärms
Was in dem akustischen Profil des Wallis, wie Rilke es in den Quatrains Valaisan entwirft, zu fehlen scheint, das ist eine bestimmte Geräuschqualität, die vom Stunden-Buch über die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge bis hin zu den Sonetten an Orpheus nicht aufgehört hat, den Dichter zu irritieren, und die er zuletzt mit dem Phänomen der modernen Technik in Verbindung gebracht hat: der Lärm. Zielte das Buch vom mönchischen Leben (1899) noch auf seinen Ausschluss, um den Gottesbezug nicht zu gefährden,34 bemühten sich die Sonette zuletzt um seine Integration: »Uns wird nur das Lärmen angeboten. / Und das Lamm erbittet [!] seine Schelle / aus dem stilleren Instinkt.«35 In der Rede vom Angebot ist auch hier die Idee der Gabe erkennbar. Das Lärmen erscheint, in einer an Heideggers Vorstellung der Seinsgeschichte als Geschick erinnernden Weise, als das uns Verhängte und deshalb zu Bejahende und zu Übernehmende. In den Quatrains Valaisans scheint der Lärm, dem Genre des Landschaftsgedichts gemäß, erneut ausgeschlossen zu werden. Doch findet er Erwähnung 33 Meine Beobachtungen stützen die These Honolds, wonach die vielsprachige »Schweiz für den Dichter die Bedeutung eines Klangkörpers annimmt, eines natürlichen und kulturellen Resonanzraumes, den Rilke sich für die Ausarbeitung einiger charakteristischer Züge seines poetischen Spätwerks zunutze macht«. Alexander Honold: Ur-Geräusch und Felsenkessel. Die Schweiz als Klangkörper. In: Blätter der Rilke-Gesellschaft 32 (2014), S. 68–90, hier S. 72. Auf die akustische Modellierung des Wallis in den Quatrains geht Honold nicht ein. 34 »Wer seines Lebens viele Widersinne / versöhnt und dankbar in ein Sinnbild faßt, / der drängt / die Lärmenden aus dem Palast, / wird anders festlich, und du bist der Gast, / den er an sanften Abenden empfängt. // Du bist der Zweite seiner Einsamkeit, / die ruhige Mitte seinen Monologen; / und jeder Kreis, um dich gezogen, / spannt ihm den Zirkel aus der Zeit« (KA I, S. 165, Hervorhebung durch RMR). Der Lärm wird hier assoziiert mit Tag, Geselligkeit und Zeit, die Stille dagegen mit Abend, Einsamkeit und der Zeitlosigkeit. Der Ausschluss von Lärm und Zeit erscheint als Ideal. 35 KA II, S. 265 (SaO II/16), Hervorhebung durch RMR.
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zumindest am Rande, in einem Gedicht, das die sich versilbernde Abendstunde feiert als die Rückkehr einer musikalischen Stille (»calme musical«) nach den zerstreuten Geräuschen des Tages (»bruits 8pars«). Diese Geräusche erinnern an Lärm insofern, als sie als aufzuhebende Störung empfunden werden, von der offenbar auch das Wallis während des Tages nicht ganz verschont ist. Indes entspricht es der ausbalancierten Welt der Quatrains, dass diese Aufhebung immer wieder gelingt. Die Störgeräusche werden am Abend gleichsam aufgesogen vom Plätschern der Gewässer, in welchem sie sich ordnen (»se rangent«) und ihr Beunruhigendes verlieren: Voici encor de l’heure qui s’argente, mÞl8 au doux soir, le pur m8tal et qui ajoute / la beaut8 lente les lents retours d’un calme musical. […] Les bruits 8pars, quittant le jour, se rangent et rentrent tous dans la voix des eaux. (Hier ist wieder etwas von der Stunde, die sich mit Silber überzieht, gemischt in den sanften Abend, das reine Metall, und die der langsamen Schönheit die langsamen Heimkehrungen einer musikalischen Stille hinzufügt. […] Die verstreuten Geräusche, die sich vom Tag lösen, ordnen sich und kehren alle zurück in die Stimme der Wasser.)36
Zwischen der abendlichen Stille und dem Sprechen oder Singen des Wassers (»voix des eaux«) besteht hier kein sich ausschließender Gegensatz.37 Wohl dagegen besteht ein solcher Gegensatz zwischen den »bruits 8pars« des Tages und diesem Sprechen oder Singen, dem Plätschern des Wassers. Das Plätschern stellt zwar seinerseits ein Geräusch dar, gleichwohl aber kein zerstreutes, sondern ein irgendwie strukturiertes. Die Bedingung für die Rückkehr der zerstreuten Geräusche in die musikalische Ruhe des Abends ist ihre Ordnung (»rangent«). Als störender Lärm wirken die Geräusche nur, solange sie vereinzelt und zerstreut sind. Geordnet und im Zusammenhang dagegen erscheinen sie als eine Art Musik. Rilke variiert hier seine alte Vorstellung von der Musik als »Ordnerin der Geräusche«, die er erstmals 1900 in einem Briefgedicht an Paula Becker formuliert: »Musik! Musik! Ordnerin der Geräusche, / nimm, was zerstreut ist in der Abendstunde, / verrollte Perlen locke du auf Schnüre […].«38 Schon hier 36 KA V, S. 98, Übers. S. 99 (QV 24). 37 Vgl. ebd., S. 100, Übers. S. 101 (QV 28): »[…] le chant des eaux / n’est qu’un excHs de silence« (»[…] denn der Gesang der Wasser ist nur ein Übermaß an Schweigen«). 38 SW III, S. 705.
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begegnet der Gegensatz von Zerstreuung und Ordnung, schon hier die Vorstellung, dass Musik und Geräusch sich nicht ausschließen. Hier auch schon der Hinweis auf den Abend als die Zeit, in der die Integration der zerstreuten Geräusche zu einem Werk möglich ist. Im Bild der »Perle« wird das Geräusch explizit valorisiert und als konstitutives Element einer Kette begriffen, die als implizites Sinnbild einer Komposition fungiert. Ihre prominenteste Formulierung hat die Idee der Musik als geordneter Geräusche oder domestizierten Lärms in den Sonetten an Orpheus gefunden: Du aber, Göttlicher, du bis zuletzt noch Ertöner, da ihn der Schwarm der verschmähten Mänaden befiel, hast ihr Geschrei übertönt mit Ordnung, du Schöner, aus den Zerstörenden stieg dein erbauendes Spiel.39 […] Ordne die Schreier, singender Gott! daß sie rauschend erwachen, tragend als Strömung das Haupt und die Leier.40
Gesang und Geschrei, Ton und Geräusch, Ordnung und Ordnungsprengendes stehen in den Sonetten an Orpheus nicht abstrakt einander gegenüber, sondern die Ordnung hebt das sie Störende dialektisch in sich auf, es tilgend und bewahrend zugleich. Erstaunlich und ein Ausweis seiner musikästhetischen Modernität ist es, wie nahe Rilkes Idee an avantgardistische Musikkonzepte herankommt: von Luigi Russolos L’arte dei Rumori über die musique concrHte eines Pierre Schaeffer bis zu den Arbeiten von Edgar VarHse (»what is music but organized noises?«).41 Die Welt der Geräusche, die bis Beginn des 20. Jahrhunderts aus der Kunst weitestgehend ausgeschlossen war, wird in all diesen Konzepten ästhetisch produktiv gemacht.
4.
Die »présence absente« des Göttlichen in der Stille
Joachim Ritter hat das ästhetische Verhältnis des Betrachters zur Landschaft streng unterschieden, sowohl von dem Verhältnis zur Natur, wie es, mit Blick auf praktischen Nutzen, etwa der Landwirt oder der Brückenbauer unterhalten, als 39 KA II, S. 253 (SaO I/26). 40 Ebd., S. 271 (SaO II/26). 41 Edgar VarHse: The Liberation of Sound. In: Perspectives of New Music 5 (1966), S. 11–19, hier S. 18. Vgl. Thomas Martinec: »Ur-Geräusch«. Rilkes Betrachtungen eines Unmusikalischen. In: Sylvia Mieszkowski, Sigrid Nieberle (Hg.): Unlaute. Noise/Geräusch in Kultur und Medien seit 1900. Bielefeld 2017, S. 219–238. Martinec bringt Rilkes »Öffnung des traditionellen Musikbegriffs hin zum Geräuschhaften« (S. 236) damit in Zusammenhang, dass das Interesse des Dichters an der Musik primär »einer lautlosen Kraft, die sich in ihr äußert, nicht aber der sinnlichen Äußerung selbst« (S. 219) gilt.
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auch von dem Verhältnis des Wissenschaftlers, dem es vielleicht nicht unmittelbar um Ausbeutung und technische Beherrschung gehe, dem aber die Natur unter dem analytischen Zugriff in bloße Einzelheiten zerfalle.42 Demgegenüber verweise die ästhetische Betrachtung der Natur zurück auf die aristotelische Tradition der ¢eyq¸a toO jºslou (theo¯r&a to0 kjsmou), der denkenden Betrachtung des Kosmos, bei der sich der Geist unabhängig von Erwägungen des Nutzens »dem alles umgreifenden ›Ganzen‹ und ›Göttlichen‹ zuwendet«.43 Als einen Beleg unter anderen zitiert Ritter den Werther (Erstes Buch, Brief vom 10. Mai 1771): »Wenn das liebe Tal um mich dampft, und die hohe Sonne an der Oberfläche der undurchdringlichen Finsternis meines Waldes ruht, und nur einzelne Strahlen sich in das innere Heiligtum stehlen« und »wenn’s dann um meine Augen dämmert, und die Welt um mich her und der Himmel ganz in meiner Seele ruhn«, dann »fühle (ich) die Gegenwart des Allmächtigen, der uns nach seinem Bilde schuf, das Wehen des Alliebenden, der uns in ewiger Wonne schwebend trägt und erhält.«44
Ritters These von der Einheit religiöser und ästhetischer Naturerfahrung, die die Defizite eines technisch-wissenschaftlichen Umgangs mit der Natur kompensieren soll, ist in der Forschung nicht unwidersprochen geblieben. Mag sie unter den spinozistischen Voraussetzungen des jungen Goethe Plausibilität besitzen, so ist sie als These zur neuzeitlichen Erfahrung der Landschaft überhaupt wohl kaum zu halten. In einem auch auf zahlreiche literarische Zeugnisse, unter anderen Rilkes, abgestützten Versuch hat Martin Seel gezeigt, dass eine Ästhetik der Natur auch unter dezidiert nachmetaphysischen Voraussetzungen möglich ist, nämlich als »profane Apologie des Naturschönen«.45 Die Natur als Raum sinnfreier Kontemplation, als korrespondierender Ort unserer Lebensgestaltung und als Schauplatz einer von der Kunst inspirierten Imagination seien die drei Grundformen eines ohne Metaphysik auskommenden ästhetischen Naturverhältnisses. Seels polemische Schlussfolgerung: »Metaphysische Nostalgie ist keine notwendige Bedingung für landschaftliches Bewußtsein.«46 Bei Ritter dagegen werde die Komplexität und Vielgestaltigkeit von Landschaftserfahrung verkannt und der »größere Raum der freien Natur zum uniformen Sakralbau eines verschwundenen Allgemeinen.«47 42 Vgl. Ritter : Landschaft, S. 150–152. 43 Ebd., S. 144. Vgl. auch Joachim Ritter : Die Lehre vom Ursprung und Sinn der Theorie bei Aristoteles (1953). In: Ders.: Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel. Frankfurt a. M. 1969, S. 9–33. 44 Ritter : Landschaft, S. 147. Ritter arrangiert hier Satzteile Goethes etwas eigenwillig neu. 45 Seel: Eine Ästhetik der Natur, S. 9. 46 Ebd., S. 228. 47 Ebd., S. 229.
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Gleichwohl scheint die Behauptung Ritters auf den ersten Blick geeignet, ein Spezifikum der Landschaftserfahrung Rilkes auf den Begriff zu bringen.48 Denn auch bei Rilke erscheint die Landschaft immer wieder als Metapher für Ganzheit, und auch bei ihm erhält sie immer wieder eine geradezu sakrale Qualität.49 Gerade die Quatrains Valaisans sind voll von Vorstellungen eines in der Landschaft verteilten Göttlichen: Quelle d8esse, quel dieu s’est rendu / l’espace, pour que nous sentions mieux la clart8 de sa face. Son Þtre dissous remplit cette pure vall8e du remous de sa vaste nature. […] nous entrons dans son corps et dormons dans son .me. (Welche Göttin, welcher Gott hat sich in den Raum hineinbegeben, damit wir die Klarheit seines Gesichts besser fühlen. Sein aufgelöstes Wesen erfüllt dieses reine Tal mit dem Wirbel seiner mächtigen Natur. […] wir treten in seinen Körper und schlafen in seiner Seele.)50
Mit dem Konzept der Landschaft als Klangraum ist diese Idee des im Raum aufgelösten Göttlichen durch die vermittelnde Vorstellung verknüpft, dass die Präsenz des Göttlichen vor allem in der Stille erfahren werden kann, nicht in der Stille schlechthin, wohl aber in jenem Übermaß der Stille (»excHs de silence«), als das hier der Gesang der Gewässer erscheint, oder in jener musikalischen Ruhe (»calme musical«) des Abends, wie sie durch die sich ordnenden Tagesgeräusche ermöglicht wird.51 Hinter dem nächtlichen Plätschern des Wassers etwa soll die Gegenwart einer Nymphe spürbar werden: 48 Vgl. Jutta Wermke: Landschaft als ästhetische Konstruktion zur Überwindung der ›gedeuteten Welt‹. Ein Interpretationsansatz für Rainer Maria Rilke. In: Jahrbuch des freien deutschen Hochstifts 1990, S. 252–307. Im Anschluss an Ritter betont Wermke bei Rilke die kompensatorische Funktion der Landschaft im Hinblick auf moderne Erfahrungen von Entfremdung und Fragmentierung. 49 Vgl. etwa die Spanien-Briefe über Toledo: »eine Stadt Himmels und der Erden«, »für die Augen der Verstorbenen, der Lebenden und der Engel« (RMR an Marie Taxis, 15. November 1912. In: RMR, Marie von Thurn und Taxis: Briefwechsel, Bd. 1, S. 226f.). 50 KA V, S. 104, Übers. S. 105 (QV 32). 51 Diese Semantisierung der Stille kontrastiert aufs schärfste mit derjenigen zu Beginn des Malte-Romans. Nach einer Schilderung der aggressiven Großstadtgeräusche heißt es dort:
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Quel calme nocturne quel calme nous p8nHtre du ciel. […] La petite cascade chante pour cacher sa nymphe 8mue… On sent la pr8sence absente que l’espace a bue. (Welch nächtliche Ruhe, welche Ruhe durchdringt uns vom Himmel her. […] Der kleine Wasserfall singt, um seine bewegte Nymphe zu verbergen… Man spürt die abwesende Präsenz, die der Raum getrunken hat.)52
Die Anwesenheit des Göttlichen im Raum impliziert seine Ungreifbarkeit an einer Stelle und ist darum paradoxerweise zugleich eine Form der Abwesenheit. Das Numinose teilt sich mit im Entzug. Eine ähnliche Struktur entwirft bereits das Eingangsgedicht Petite cascade. Die an die Stille gebundene »pr8sence pure« der Nymphe bleibt dort verborgen hinter den Geräuschen des dahineilenden Wassers, ist das Bleibende »derriHre tant de fuite« (»hinter so viel Flucht«).53 »Pr8sence pure« und »pr8sence absente« des Göttlichen erweisen sich als identisch.54 Der stille Gesang der Natur als eine Manifestationsform des Numinosen: Auch dies ist eine Vorstellung des späten Rilke, die in seinem Werk weit zurückreicht. Am nächsten verwandt ist sicher die Vorstellung der Sonette an Orpheus, wonach der Gesang des Gottes dessen physisches Zerrissenwerden durch die Mänaden in der Natur überdauert:
»Aber es giebt etwas hier, was furchtbarer ist: die Stille.« Und nach der sich anschließenden Beschreibung einer kurz vor dem Umsturz stehenden Mauer nach einem Brand: »Alles steht und wartet mit hochgeschobenen Schultern, die Gesichter über die Augen zusammengezogen, auf den schrecklichen Schlag. So ist hier die Stille« (KA III, S. 456). Auch diese präapokalyptische Stille allerdings enthält den Hinweis auf etwas Göttliches, den Moment einer Offenbarung. Zum Phänomen der Stille in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge vgl. den Beitrag von Lothar van Laak in diesem Band. 52 KA V, S. 92, Übers. S. 93 (QV 16). 53 KA V, S. 80, Übers. S. 81 (QV 1). 54 Vgl. Bernhard Böschenstein: Antike Gottheiten in den französischen Gedichten Rilkes. In: Rilke heute. Der Ort des Dichters in der Moderne. Redaktion: Vera Hauschild. Frankfurt a. M. 1997, S. 214–235, der den Quatrains Valaisans leider nur wenige Zeilen widmet. Böschensteins Urteil über die Götter des französischsprachigen Werks insgesamt, »sie fliehen vor dem, was sie festhalten möchte, sie kommen nur, um zu verschwinden« (S. 215), scheint mir eine problematische Verallgemeinerung, die wenigstens für die Quatrains nicht gilt. Die Götter der Quatrains kommen nicht und fliehen auch nicht, denn sie sind längst entflohen und aufgegangen in den Raum. Dort aber werden sie paradoxerweise als bleibend erfahren.
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Schließlich zerschlugen sie dich, von der Rache gehetzt, während dein Klang noch in Löwen und Felsen verweilte und in den Bäumen und Vögeln. Dort singst du noch jetzt. O du verlorener Gott! Du unendliche Spur! Nur weil dich reißend zuletzt die Feindschaft verteilte, sind wir die Hörenden jetzt und ein Mund der Natur.55
Aber man kann bis zum Buch von der Armut und vom Tode (1903), dem dritten Teil des Stunden-Buchs zurückgehen, an dessen Ende vom Leben und Sterben und vom unsterblichen Gesang des heiligen Franziskus die Rede ist. Franziskus überlebt seinen eigenen Tod, sein Aufgehen in die Natur, in Form seines überall verteilten singenden Samens: Und als er starb, so leicht wie ohne Namen, da war er ausgeteilt: sein Samen rann in Bächen, in den Bäumen sang sein Samen und sah ihn ruhig aus den Blumen an. Er lag und sang. […]56
Die Idee der Landschaft als Klangraum ist also schon lange vor den Quatrains Valains entwickelt. Eine konkrete Umsetzung erfährt diese Idee allerdings erst in der späten Landschaftslyrik, die davon Abstand nimmt, Landschaft primär im Paradigma des Visuellen zu beschreiben. Das Hörbare verdrängt hier nicht einfach das Sichtbare, aber wird gegenüber diesem nachdrücklich aufgewertet. Die Quatrains gehen aus von der Erfassung konkreter Geräusche und Klänge, die sie in einem zweiten Schritt mit Bedeutsamkeit aufladen. Indem sie sie auf eine geheimnisvolle Stille des Hintergrunds beziehen, behaupten sie eine verborgene Nähe des Göttlichen. Sie knüpfen damit an den Topos der sprechenden Natur und die platonistisch-christliche Logos-Tradition an, die seit der Antike die Natur als eine von göttlichem Geist durchwaltete begriff.
5.
Musik als »Entwurf / innerer Welten im Frein«
Ist Ritters kompensationstheoretischer These also doch zuzustimmen? Ja und Nein. In seinen frühen Überlegungen zur Landschaft und zur Landschaftsmalerei, die Rilke 1902 im Kontext der Worpswede-Monografie angestellt hat, bleiben wenig Zweifel, dass er in symbolistischer Tradition und im Horizont seiner eigenen Vorwand-Ästhetik die Natur als nicht mehr denn eine Art Bildspender betrachtet hat, um höchst individuelle Geständnisse zum Ausdruck zu 55 KA II, S. 253 (SaO I/26). 56 KA I, S. 252.
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bringen, die in der konventionellen Alltagssprache ungesagt bleiben müssten. Wie schon Baudelaire beruft er sich gern auf den Ausspruch Delacroix’: »La nature est pour nous un dictionnaire, nous y cherchons des mots« (»Die Natur ist für uns ein Wörterbuch, wir suchen in ihr Wörter«).57 In demselben Zusammenhang betont Rilke zugleich, scheinbar paradox, die radikale Alterität der Natur, die sich in ihrem An-sich-Sein allen menschlichen Sinnzumutungen entzieht und diesen gegenüber »das Andere, das Fremde, das nichteinmal Feindliche, das Teilnahmslose« bleibt.58 Im Aufsatz Von der Landschaft wird der Fortschritt der Landschaftsmalerei seit der Renaissance entsprechend darin gesehen, dass in ihr die Landschaft als ein »Fernes und Fremdes« begriffen wird, das »sich ganz in sich vollzieht«,59 im Unterschied etwa zur antiken Malerei, die sich für landschaftliche Elemente nur in ihrer gleichsam lebensweltlichen Bedeutung mit Bezug auf den Menschen interessiert habe, und im Unterschied auch zur christlichen Kunst, die in der Landschaft immer nur das äußere Zeichen für den Himmel oder die Hölle erkannt habe. Diese ästhetische Ausstellung von Fremdheit reflektiert dabei nur eine Fremdheit, die der Natur auch außerhalb ihrer künstlerischen Darstellung eigen sein soll. Gerade auf die vermeintliche Paradoxie kommt es Rilke an: »Nur weil sie [= die Natur ; W. E.] uns so sehr verschieden, so ganz entgegengesetzt ist, sind wir imstande, uns durch sie auszudrücken.«60 Nicht um eine feste Kodierung geht es ihm, sondern um eine Verwendung, durch die der Landschaft aus dem jeweiligen Kontext ein einmaliger und sehr persönlicher Wert zuwächst.
57 KA IV, S. 349. Sofern nicht anders angegeben, stammen die Übersetzungen von dem Verfasser. Charles Baudelaire: Œuvres complHtes. Texte 8tabli, pr8sent8 et annot8 par Claude Pichois. Bd. II. Paris 1976, zitiert diese Äußerung im Kap. IV (»Le gouvernement de l’imagination«) des Salon de 1859 und erläutert: »Tout l’univers visible n’est qu’un magasin d’images et de signes auxquels l’imagination donnera une place et une valeur relative; c’est une espHce de p.ture que l’imagination doit dig8rer et transformer« (S. 627; »Das ganze sichtbare Universum ist nur eine Vorratskammer von Bildern und Zeichen, denen die Einbildungskraft einen Platz und relativen Wert geben muss«). Im Kap. VII: »Le Paysage« heißt es entsprechend: »Si tel assemblage d’arbres, de montagnes, d’eaux et de maisons, que nous appelons un paysage, est beau, ce n’est pas par lui-mÞme, mais par moi, par ma gr.ce propre, par l’id8e ou le sentiment que j’y attache« (S. 660; »Wenn eine solche Zusammenstellung von Bäumen, Bergen, Gewässern und Häusern, die wir eine Landschaft nennen, schön ist, dann ist sie dies nicht durch sich selbst, sondern durch mich, von meinen eigenen Gnaden, durch die Idee oder das Gefühl, das ich ihr beilege«). Dass hier die Möglichkeit negiert wird, die Natur könne aus sich heraus schön sein, bedeutet den Bruch mit der Logos-Tradition. Vom Gegenstand idealisierender Nachahmung, die den inneren Sinn der Natur zu erkennen gibt, verfällt die Natur bei Baudelaire zum bloßen Material ästhetischer Transformation. Vgl. die Anmerkungen von Ernst Zinn in: SW VI, S. 1282–1284. 58 KA IV, S. 349. 59 Ebd., S. 211. 60 Ebd., S. 350.
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Die Einleitung zum Worpswede-Buch führt die Überlegung fort mit dem Gedanken, dass das Bedeutsamwerden der Landschaft in der Kunst immer nur scheinhafter Natur sein kann: Es ist nicht der letzte und vielleicht eigentümlichste Wert der Kunst, daß sie das Medium ist, in welchem Mensch und Landschaft, Gestalt und Welt sich begegnen und finden. In Wirklichkeit leben sie nebeneinander, kaum voneinander wissend, und im Bilde, im Bauwerk, in der Symphonie, mit einem Worte in der Kunst, scheinen sie sich, wie in einer höheren prophetischen Wahrheit, zusammenzuschließen.61
Damit ist im Grunde gesagt, dass die wiederholte Beschwörung eines in der Landschaft verteilten Göttlichen nicht einfach zum Nennwert zu nehmen und als die Bekundung eines naturreligiösen oder neopaganistischen Dichters zu verstehen ist. Auch die in den Quatrains Valaisans inszenierte Begegnung zwischen einem lyrischen Subjekt und der Natur gehört in die Sphäre ästhetischen Scheins. Die numinose Qualität der Natur, durch die diese den Status einer Inspirationsinstanz für das Ich der Gedichte erhält, verdankt sich ja, nüchtern betrachtet, allein textuellen Zuschreibungen. Und es sind diese Zuschreibungen, durch die im Sinne des Delacroix-Diktums die Walliser Landschaft zu einem Ausdrucksmedium des lyrischen Subjektes wird. Der Abstand zur überkommenen Naturmetaphysik ist also deutlich. Andererseits aber bleiben unbeschadet dieser Indienstnahme der Natur als Metapher metaphysische Lektüren der Quatrains selbstverständlich möglich. Darüber, dass der Schein »genügt«,62 war sich Rilke wie Nietzsche im Klaren. Die Quatrains selber reflektieren ihren Zuschreibungscharakter in gelegentlichen Andeutungen. So an den zwei bereits zitierten Stellen, die oben zunächst als Beleg für eine rezeptive Haltung des lyrischen Subjekts gegenüber der Landschaft verstanden wurden, die im gegenwärtigen Kontext allerdings auch eine geradezu gegenläufige Deutung zulassen: […] le chant des eaux n’est qu’un excHs de silence, de ce silence entre les mots qui, en rythmes, avancent. ([…] der Gesang der Wasser ist nur ein Übermaß an Schweigen, dieses Schweigens zwischen den Wörtern, die, rhythmisch, voranschreiten.)63
Und: Pays dont les eaux sont presque les seules nouvelles, toutes ces eaux qui se donnent, 61 Ebd., S. 311, Hervorhebung durch W. E. 62 KA II, S. 246 (SaO I/11). 63 KA V, S. 100, Übers. S. 101 (QV 28).
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mettant partout la clart8 de leurs voyelles entre tes dures consonnes! (Land, dessen Wasser fast die einzigen Neuigkeiten sind, alle diese Wasser, die sich geben, überall die Klarheit ihrer Vokale setzend zwischen deine harten Konsonanten!)64
Die Gleichungen, die in diesen beiden Schlussstrophen zwischen landschaftlichen und sprachlichen Phänomenen hergestellt werden, lassen sich nicht nur in dem Sinne lesen, dass das Schweigen bzw. die Verlautbarung der Gedichte dem Schweigen bzw. den Klängen der Landschaft nachfolgt, indem das lyrische Subjekt die akustischen Erscheinungen der Landschaft gleichsam aufnimmt und wiedergibt, sondern auch in dem umgekehrten Sinne, dass das Schweigen bzw. die Verlautbarung der Gedichte den entsprechenden Phänomenen der Landschaft vorausgeht, weil erst durch das lyrische Subjekt die Landschaft als eine singende bzw. schweigende begreifbar wird, oder schärfer : die Attribute des Singen- und Schweigenkönnens beigelegt bekommt.65 Vom Aufsatz Von der Landschaft und vom Worpswede-Buch her ist der letzteren Lesart sicher der Vorzug zu geben. Während man an der zuerst zitierten Stelle (QV 28) den Gedanken der Zuschreibung zumindest implizit angedeutet finden kann, kann man von der zweiten Stelle (QV 6) sagen, dass die hier vorliegende faktische Zuschreibung offengelegt wird dadurch, dass mit der Rede von Vokalen und vielleicht sogar Konsonanten66 der Natur der Topos von der sprechenden Natur stark verfremdet, weil auf überraschende Weise wörtlich genommen wird. Der im Rahmen der Quatrains expliziteste Hinweis auf die Überformung der Natur durch die Kunst findet sich in einem der abschließenden Gedichte, das, sei es auch nur in einer Frage, die Göttlichkeit der Natur mit der Tradition der Hirtendichtung zusammenbringt. Es gibt so zu erkennen, dass die durch persönliche Erfahrung motivierten Zuschreibungen nicht zuletzt auch durch Kunst und Literatur der Vergangenheit genährt sein können:
64 Ebd., S. 84, Übers. S. 85 (QV 6). 65 Diese Zweideutigkeit bemerkt auch Charlie Louth: Pastorale Variationen in Rilkes später Lyrik. In: Karen Leeder, Robert Vilain (Hg.): Nach Duino. Studien zu Rainer Maria Rilkes späten Gedichten. Göttingen 2010, S. 153–167. Zur Schlussstrophe von QV 28 notiert Louth: »Wie auch der Reim von ›eaux‹ und ›mots‹ andeutet, kann man in den letzten Zeilen nicht sagen, ob die Landschaft wie eine Verszeile oder die Verszeilen wie die Landschaft rhythmisiert sind« (S. 167). Und zur Schlussstrophe von QV 6: »Ein schönes Gleichgewicht herrscht hier zwischen der Beschreibung der Landschaft und der Andeutung, daß sie nur in Gestalt der Worte des Gedichts existiert« (S. 166). In der in den Quatrains sich zeigenden »Kontinuität zwischen Welt und Wort« (S. 167) erkennt Louth ein Spezifikum von Rilkes besonderer Variante der Pastoraldichtung. 66 Wenn man die Wendung »tes dures consonnes« nicht als Selbstanrede des lyrischen Subjekts, sondern als Apostrophe des Landes versteht. Vgl. oben Anm. 23.
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Ce ciel qu’avaient contempl8 ceux qui le loueront pendant l’8ternit8: bergers et vignerons, serait-il par leurs yeux devenu permanent, ce beau ciel et son vent, son vent bleu? Et son calme aprHs si profond et si fort, comme un dieu satisfait qui s’endort. (Dieser Himmel, den die betrachtet hatten, die ihn loben werden in Ewigkeit: Hirten und Winzer, sollte er durch ihre Augen dauerhaft geworden sein, dieser schöne Himmel und sein Wind, sein blauer Wind? Und seine Ruhe danach, so tief und so stark, wie ein befriedigter Gott, der einschläft.)67
Dass die Natur ihre Göttlichkeit nicht nur den Augen (»yeux«) der sie rühmenden Hirten und Winzer verdankt, sondern auch deren Gehör, deutet sich hier darin an, dass neben dem Himmel erneut auch die Ruhe (»calme«) erwähnt wird. Deutlicher noch ist die Reflexion auf den wirklichkeitsmodellierenden und -schaffenden Charakter der Kunst in anderen Spätgedichten. Sofern die Natur tatsächlich »das Andere, das Fremde, das nichteinmal Feindliche, das Teilnahmslose« ist, wie Rilke sagt, muss sie künstlerisch verwandelt werden, wenn sie für den Menschen bedeutsam werden soll. Interessant ist zu sehen, dass als die Macht, die zu dieser Verwandlung in besonderer Weise imstande ist, weil sie die Natur mit einer göttlichen Qualität auszustatten vermag, im Werk Rilkes vor allem die Musik erscheint. Gemeint ist damit weniger die Einzelkunst als ein allgemeines ästhetisches Prinzip, eine Musik, die als eine transformierende Kraft nicht nur in der Musik als Tonkunst, sondern nach Ausweis des Florenzer Tagebuchs (1898) auch »in allen anderen Künsten drin« ist.68 Das zwei Jahrzehnte später entstandene Gedicht An die Musik (1918) erkennt die so verstandene 67 KA V, S. 104/106, Übers. S. 105/107 (QV 33). 68 RMR: Tagebücher aus der Frühzeit, S. 49. Dass seit den Marginalien zu Nietzsches Geburt der Tragödie Rilkes Musikbegriff im Sinne der Unterscheidung ästhetisches Prinzip/Einzelkunst grundsätzlich »zwiefältig« ist, hat Antonia Egel in ihrer groß angelegten Studie »Musik ist Schöpfung«. Rilkes musikalische Poetik, Würzburg 2014 (Klassische Moderne, Bd. 23), gezeigt.
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Musik entsprechend in Plastik, Malerei und Poesie: als »Atem der Statuen«, »Stille der Bilder« und »Sprache wo Sprachen / enden«.69 Diese eigentlich unhörbare, weil nicht notwendig in Tönen oder Geräuschen sich manifestierende Musik eröffnet für Rilke eigene Räume, im Spätwerk insbesondere Räume des Numinosen.70 Die prägnantesten Formulierungen für dieses Konzept finden sich wiederum in den Sonetten an Orpheus: »die Musik, immer neu, aus den bebendsten Steinen, / baut im unbrauchbaren Raum ihr vergöttlichtes Haus.«71 Sofern sie im Medium nicht von Farbe oder Stein, sondern tatsächlich von Tönen oder Geräuschen sich artikuliert, schafft sie »Tempel im Gehör«.72 Auf thematischer Ebene lässt sich, wenn man will, auch der numinose Klangraum des Wallis als ein solcher »Tempel im Gehör« begreifen oder, mit der eigentlich kritisch gemeinten Formulierung Martin Seels, als »Sakralbau eines verschwundenen Allgemeinen«. Entscheidend in unserem Zusammenhang ist, dass mit dem Hinweis auf die Konstitutionsleistung der Musik die in Bezug auf das Wallis vorgenommene Setzung eines von einer göttlichen Substanz durchtränkten Landschaftsraums als ästhetische Setzung reflektiert wird und damit der Neopaganismus-Vorwurf in sich zusammenfällt. Das Gedicht An die Musik spricht deutlich von der Projektion einer menschlichen Gefühlsqualität nach außen. Die Musik wird hier apostrophiert: […] O du der Gefühle Wandlung in was? –: in hörbare Landschaft. Du Fremde: Musik. Du uns entwachsener Herzraum. Innigstes unser, das, uns übersteigend, hinausdrängt, – heiliger Abschied: da uns das Innre umsteht als geübteste Ferne, als andre Seite der Luft: rein, riesig, nicht mehr bewohnbar.73
69 KA II, S. 158. 70 In negativer Akzentuierung begegnet die Vorstellung von der raumschaffenden Macht der Musik schon im Frühwerk. Vgl. das 1899 entstandene Gedicht Musik (»Was spielst du, Knabe […]«) aus dem Buch der Bilder : »Siehe deine Seele / verfing sich in den Stäben der Syrinx. // Was lockst du sie? Der Klang ist wie ein Kerker, / darin sie sich versäumt und sich versehnt« (KA I, S. 264). 71 KA II, S. 262 (SaO II/10). 72 Ebd., S. 241 (SaO I/1). 73 Ebd., S. 158.
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Es ist deutlich zu sehen, wie sehr die Vorstellung der Landschaft als Klangraum, um dessen Inszenierung die Quatrains Valaisans bemüht sind, konvergiert mit der Vorstellung der Musik als Eröffnung von Raum und Entwurf einer »hörbaren Landschaft«. Beide Konzepte bewegen sich von unterschiedlichen Seiten aufeinander zu, zugleich aber widerstreiten sie einander. Denn was in den Quatrains zumeist wie eine objektive Gegebenheit erscheint, wird in An die Musik als ästhetische Hervorbringung begriffen und in transzendentalpoetischer Wendung auf die Bedingungen seiner Möglichkeit hin reflektiert. Das gilt insbesondere auch für die numinosen Qualitäten der Landschaft. Wenn in An die Musik die Musik als »heiliger Abschied« angesprochen wird,74 erscheint die von ihr geschaffene Landschaft, wie die Landschaft der Quatrains, mit einem Attribut des Göttlichen versehen. Deutlicher noch werden diese Zusammenhänge im sieben Jahre später verfassten Gong-Gedicht (1925), das Grundgedanken von An die Musik erneut aufgreift. Der Gongklang heißt dort: […] Entwurf innerer Welten im Frein…, Tempel vor ihrer Geburt, Lösung, gesättigt mit schwer löslichen Göttern…: Gong!75
Die Landschaft als numinoser Klangraum, der in den Quatrains das lyrische Subjekt in sich aufnimmt, rückt hier in die Position eines erhabenen Gegenübers und wird zum Gegenstand hochkondensierter Nennungen. Nicht zufällig wird das aus der Landschaftsdichtung bekannte Bild vom »Þtre dissous« der Götter in Gong wieder aufgegriffen. Im Unterschied zu den Quatrains aber wird der Klangraum mitsamt seinen metaphysischen Bedeutungen nun ganz unmissverständlich als Effekt von Kunst reflektiert. Die Voraussetzungen für die metaphysische Lesart der späten Landschaftslyrik werden so zurückgenommen oder wenigstens erschüttert.
6.
Der Klangraum als Metapher
Blickt man zurück auf die sog. »Krise des Anschauens«, die nach Abschluss der Neuen Gedichte und des Malte-Romans auf Rilkes Reisen Anfang der 1910er Jahre zum Ausbruch kam, lässt sich die werkgeschichtliche Bedeutung ermessen, 74 »Toute musique est un d8part / non vers nous, vers l’espace…« / »Alle Musik ist ein Weggehen, nicht zu uns hin, zum Raum hin …« (KA V, S. 485, Übers. ebd.) heißt es in einer Vorstufe zu dem in die Vergers aufgenommenen Gedicht »Le sublime est un d8part » / »Das Erhabene ist ein Weggehen« (KA V, S. 46, Übers. S. 47). 75 KA II, S. 396.
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die sich mit der Umstellung des poetischen Paradigmas vom Sehen zum Hören oder zumindest mit der Aufwertung des Akustischen im Spätwerk verbindet. Das intensive Anschauen als Grundlage lyrischer Beschreibungen hatte sich bewährt in der Begegnung mit einzelnen ruhenden Dingen. Aber die raumhaften Dimensionen der Landschaften, die Rilke faszinierten, konnten so poetisch nur unzureichend »geleistet« werden. Die schon erwähnte Gefahr lag darin, dass die Landschaft auf ein Ding und der Raum auf ein Bild reduziert würde. Andererseits musste die lyrische Evokation von Raum dadurch, dass ein Einzelgedicht oder eine Folge von Gedichten gemäß der in den Wallis-Briefen beschriebenen Erfahrung einen wandernden Blickpunkt suggerierte, sich als schwierig erweisen, da dies einen stabilen Bezugsrahmen vorausgesetzt hätte.76 Die Konzeption der Landschaft als Klangraum antwortet auf diese komplexe Problemlage auf eine genial einfache Weise und eröffnet dadurch dem Dichter neue Möglichkeiten.77 Das erklärt auch, warum diese Konzeption, obwohl der Idee nach schon früh entwickelt, erst spät poetisch verwirklicht wird. Nur der Klang, nicht ein Bild, erscheint den Quatrains Valaisans als angemessene Übersetzung des von der Bewegung des Blicks durchmessenen Raums: Lorsqu’un regard s’8lance: quel vol par ces distances pures; il faut la voix du rossignol pour en prendre mesure. (Wenn ein Blick sich emporschwingt: welch ein Flug durch diese reinen Entfernungen; es braucht die Stimme der Nachtigall, um ihr Maß zu nehmen.)78
Damit wird klar, dass das Gedicht Wendung, das bereits 1914 von der »Grenze« des Anschauens sprach und das »Werk des Gesichts« für getan erklärte, die Neuorientierung allenfalls einleitete und eher nur als Diagnose der Krise, nicht so sehr als deren Überwindung bedeutsam ist. Denn die »geschautere Welt«, die »in der Liebe gedeihn« sollte und in die es zum Zweck des geforderten »HerzWerks« vorzustoßen befahl, blieb als Welt erinnerter »Bilder« noch ganz mit dem 76 Man kann versuchen, die Abfolge der Quatrains in diesem Sinne zu lesen, aber ein Eindruck von Raumhaftigkeit, wie ihn die Landschaftsbriefe beschreiben, dürfte sich schwerlich einstellen. 77 Wie die Beiträge von Antonia Egel und Lothar van Laak in diesem Band belegen, waren diese Möglichkeiten in der Pariser Zeit bereits angelegt. Sie blieben aber angesichts der programmatischen Orientierung am Sehen weitgehend verdeckt und ungenutzt. Vgl. auch meinen Aufsatz: Hinter den Kulissen der Neuen Gedichte. Zur werkgeschichtlichen Bedeutung von Rilkes Capreser Lyrik. In: Lectures d’une œuvre: Œuvres po8tiques / Gedichte de Rainer Maria Rilke. Collectif coordonn8 par Marie-H8lHne Qu8val. Nantes 2004, S. 109–124, der zeigt, wie sehr die im Rücken der Neuen Gedichte sich vorbereitende Poetik des Spätwerks schon in den mittleren Jahren aus einer Auseinandersetzung mit der Landschaft erwächst. 78 KA V, S. 98, Übers. S. 99 (QV 23).
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Sehsinn verbunden.79 Von hier aus mochte ein Weg zu den noch ausstehenden Elegien, nicht aber zu dem mit den Sonetten anhebenden Spätwerk im Zeichen des Hörens führen. Die Quatrains bedienen sich vor allem der Möglichkeit, durch die Betonung des Auditiven im Unterschied zum Visuellen Landschaft nicht nur als etwas Gegenüberstehendes, sondern als einen umfassenden Raum zu modellieren, der das Subjekt in sich aufnimmt. Anders als die spanische Landschaft, die Rilke als die sichtbar gewordene »Sprache der Engel«80 begriff, die ihm fremd gegenüberstand und die zu sprechen ihm selber versagt blieb, teilt sich das Wallis in seinen Bächen und Carillons bereitwillig mit, so wie Rilke selbst in seinen Gedichten sich mitteilt. Die Produktivität des Dichters spiegelt sich so in der der Landschaft. Während die Briefe aus Spanien immer wieder auf eine akut empfundene Sprachnot verweisen, lässt ihn das Rhonetal zwölf Jahre später ganz unvorhergesehen zum Wort finden. Rilke selbst hat die Quatrains als »Überraschung und Beschenkung« bezeichnet und in Bezug auf sie vom »in mir Sprachewerden des Lands« gesprochen.81 An anderer Stelle schreibt er : Ob ich gleich sonst selten unmittelbar aus den Anlässen der Umgebung heraus tönend geworden war –, hier brachte es nun mein lebhafter und freudiger Anschluß, neben der völligen Abgeschiedenheit meines Lebens, mit sich, daß ich in der Sprache, die mich umgibt, und die nicht zufällig die dieser Weinhügel ist, Verse aufschrieb, die Folge jener »Quatrains Valaisan«, um die herum sich nach und nach andere französische Gedichte, im unabweisbarsten Diktat, anordneten. Ich sah keinen Grund, dieses ursprüngliche, sich mir rein auftragende Klingen abzuwehren.82
Man kann in der Vergöttlichung der Landschaft in den Quatrains einen Reflex dieser Erfahrung erkennen. Weit entfernt davon, im Medium der Poesie eine metaphysische Aussage über die Natur treffen zu wollen, verwendet Rilke in dieser Lesart Natur als Metapher, um im Sinne des Delacroix-Diktums dem Gefühl des Aufgehobenwerdens in einen Raum der Gaben und der Erfahrung des Inspiriertwerdens Ausdruck zu verleihen. So wie ihm Jahre zuvor beim Schreiben des Malte vor allem Paris die »Vokabeln seiner Not« geliefert hatte,83 so entnahm er nun dem Wallis die Vokabeln der Fülle und des Gelingens. Die Stilisierung der Landschaft zum Klangraum war damit notwendig verknüpft. Doch es gibt natürlich auch eine andere Lesart. Denn es lässt sich nicht leugnen, dass die Natur in diesen Landschaftsgedichten nicht nur Metapher und 79 KA II, S. 101f. 80 RMR an Marie Taxis, Allerseelentag 1912. In: RMR, Marie von Thurn und Taxis: Briefwechsel, Bd. 1, S. 218. 81 RMR an Nanny Wunderly-Volkart, 13. September 1924. Zit. n. KA V, S. 511. 82 RMR an Arthur Fischer-Colbrie, 18. Dezember 1925. Zit. n. ebd., S. 512f. 83 RMR an Witold Hulewicz, 10. November 1925. In: RMR: Briefe in zwei Bänden. Hg. v. Horst Nalewski. Frankfurt a. M., Leipzig 1991, Bd. 2, S. 373.
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Bild – in der Sprache des Frühwerks: Vorwand für ein Geständnis – ist, sondern dass die Gedichte daneben oder davor auch ganz wörtlich Bezug nehmen auf eine bestimmte, im Titel der Quatrains sogar beim Namen genannte Landschaft, deren unverwechselbare Physiognomie sie visuell und vor allem akustisch zu erfassen versuchen. Die Möglichkeit, auch die Rede von den im Raum gelösten Göttern beim Wort zu nehmen, bleibt deshalb bestehen.
7.
Soundscape zwischen Natur und Kunst
Die Schwierigkeit, die Idee der göttlichen Natur in den Quatrains ihrer Ambivalenz zu entheben und entweder eindeutig metaphorisch oder eindeutig wörtlich zu verstehen, führt zurück auf Rilkes zweideutiges Verhältnis zur Logos-Tradition. Einerseits betont er in Übereinstimmung mit der modernen Kunstverherrlichung seit Baudelaire die Fremdheit der Natur und den weltstiftenden Charakter der Kunst, die Tatsache, dass Kunst das Gegebene nicht nachahmt, sondern verwandelt und ihre eigenen Ordnungen entwirft. Andererseits finden sich immer wieder auch Hinweise, wonach diese Ordnungsleistungen der Kunst nur aufnehmen und temporär zu klarerem Ausdruck bringen, was gemäß der überlieferten Idee der Mimesis die »dumpf ordnende Natur«84 immer schon begonnen hat.85 Aber man muss aus den uneindeutigen Äußerungen Rilkes nicht unbedingt einen inneren Widerspruch seiner Dichtung konstruieren. Weist ihn sein Einspruch gegen den metaphysischen Naturbegriff als einen Dichter der Moderne aus, so ist die Vorstellung der singenden und von Göttern bewohnten Natur, der Landschaft als numinoser Klangraum, doch nicht nur ein gleichsam im Zitat mitgeführter Restbestand der Tradition. Man kann in dieser Vorstellung vielmehr einen Vorbehalt gegenüber einer gewissen Spielart der Moderne selbst erkennen, die im Anschluss an Mallarm8 und Nietzsche an die Stelle der Metaphysik der Natur einfach eine Metaphysik der Kunst setzt. Denn so wenig wie die Natur kann nach Rilke die Kunst allein von sich aus für die Ordnung der Welt im Ganzen aufkommen, diese Ordnung in sich repräsentieren oder gar produzieren.86 Unter den Vorzeichen der Moderne, die sich vom Mimesis-Gedanken verabschiedet, bleiben alle Ordnungsentwürfe der Kunst kontingent und partikular, selbst wenn diese, wie bei Rilke so oft, explizit auf eine Vorstellung ›des Ganzen‹ 84 KA II, S. 271 (SaO II/28). 85 Vgl. Verf.: Musik, Architektur, Tanz. Zur Konzeption nicht-mimetischer Kunst bei Rilke und Val8ry. In: Manfred Engel, Dieter Lamping (Hg.): Rilke und die Weltliteratur. Düsseldorf 1999, S. 236–259. 86 In Anlehnung an Seel: Eine Ästhetik der Natur, S. 16f.
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zielen. Zudem bleibt für Rilke auch die moderne autonome Kunst auf Natur angewiesen, und zwar nicht nur auf Natur als Material, das sie dann erst ordnen würde, sondern auf die Ordnungsansätze der Natur selbst. Das muss keinen Rückfall in die Metaphysik der Natur bedeuten. Denkt man die Natur nicht als Reflex einer göttlichen Ideenwelt, bedarf es lediglich eines vorgängigen Begriffs von Kunst, um die Ordnungsmomente der Natur als Anfang von Kunst wahrnehmen zu können.87 Aber der Kunstbegriff seinerseits mag von zufälligen Erfahrungen mit der Natur inspiriert worden sein. Von ihren metaphysischen Totalitätsansprüchen entlastet, können Natur und Kunst, zumal in der Landschaftskunst, in ein zwangloses Verhältnis wechselseitigen Austauschs treten. Die Alternative einer Projektion der Kunst oder einer natürlichen Gegebenheit im Sinne eines strengen Entweder/Oder erweist sich so als obsolet. Arbeitet die Musik als »Ordnerin der Geräusche«, kommt ihr die Natur insofern entgegen, als ihre Geräusche scheinbar sich selbst ordnen können (»Les bruits 8pars […] se rangent«). In der Idee des Soundscapes als »a huge musical composition«88 verschränken sich Wirklichkeit und Imagination, ohne dass eine Seite für sich einen Primat beanspruchen könnte. Die Vorstellung der Walliser Landschaft als numinoser Klangraum verdankt sich Natur und Kunst gleichermaßen.
87 Als »commencement d’art« (»Anfang von Kunst«) bezeichnet der Erzähler in Prousts Recherche die Natur rückblickend, nachdem er das Prinzip metaphorisch-metonymischer Verknüpfung von Sinneseindrücken als Grundgesetz seines zu schreibenden Romans entdeckt hat. Marcel Proust: f la recherche du temps perdu. Pdition publi8e sous la direction de Jean-Ives Tadi8. Bd. IV. Paris 1989, S. 468. 88 Schafer : The Soundscape, S. 271.
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Zu Rilkes Gong-Gedichten
Das bekannte deutsche Gedicht Gong wird in der Forschung oft herangezogen, um Überlegungen zu verschiedenen Themen bei Rilke abzuschließen. Nicht nur wenn von Musik die Rede ist, wird das Gedicht gerne zitiert, um exemplarisch aufzuzeigen, was Rilke mit einer »Sprache wo Sprachen / enden«, beabsichtigt und geleistet hat.1 Das französische Gong-Gedicht steht 1972 als letzter Text in Paul de Mans einflussreicher französischer Ausgabe von Rilkes Lyrik, und beide Gedichte, das französische wie das deutsche, werden am Ende des noch einflussreicheren (und in vieler Hinsicht problematischen) Aufsatzes angeführt, der im Deutschen als Tropen bekannt ist und ursprünglich als Einleitung zu dieser Ausgabe diente.2 Dort kann man lesen, dass Rilke im deutschen Gedicht »le retournement ultime« (»die äußerste oder letzte Umkehr«) gelingt.3 Dem stimmt Ulrich Fülleborn zu, wenn er in den Anmerkungen zu der Kommentierten Ausgabe feststellt, dass Gong »das wichtigste Resultat von Rilkes letzter poetologischer ›Wendung‹« ist.4 Manfred Engel lässt sein Rilke-Buch mit dem Gedicht ausklingen, das vollständig zitiert wird, wobei ihm keine erschöpfende Interpretation, sondern nur ein rühmendes Deuten auf seine unaufhebbaren Paradoxien vorausgeht. Das Sprechen dieses Gedichts nimmt »sich selbst zurück, indem es sein Ende vorwegnimmt«, ist von »symbolistisch[er] Perfektion«, und seine »Hermetik« ist »nicht zuletzt Chiffre unerreichbarer Versöhnung«.5 Im Rilke-Handbuch, in dem das Gedicht knapp, aber zutreffend kommentiert wird, findet Engel »in diesem formal äußerst avancierten Beispiel« dann einen wichtigen Vertreter der sogenannten »›sprachmagischen‹ Gedichte des spätesten 1 An die Musik. In: KA, II, S. 158. 2 RMR: Po8sie (Œuvres II). Hg. v. Paul de Man. Paris 1972, S. 41f.; Paul de Man. Tropen. In: Allegorien des Lesens. Aus dem Amerikanischen v. Werner Hamacher und Peter Krumme. Frankfurt a. M. 1988, S. 52–90. 3 de Man: Einleitung zu RMR: Po8sie, S. 41. 4 KA II, S. 856. 5 Manfred Engel: Rilkes »Duineser Elegien« und die moderne deutsche Lyrik. Zwischen Jahrhundertwende und Avantgarde. Stuttgart 1986, S. 224f.
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Werkes«.6 Winfried Eckel beschließt seine Ausführungen zu den späten Gedichten, »die eine Art Beschwörung durch kalkulierte Magie darstellen«, und damit seine Studie »zum Prozeß der poetischen Reflexion im Werk Rilkes« mit einer eingehenden Lektüre des deutschen Gong-Gedichts.7 Auch Raoul Walisch folgt diesem beinahe schon rituellen Verfahren, indem er am Ende seines RilkeBuches dem Gedicht »eine eingehende Einzelinterpretation auf die Thematik der gedeuteten Welt hin« widmet.8 Und Peter Por betrachtet im zuletzt erschienenen Band seiner Rilke-Untersuchungen das Gedicht als »das letzte in der Reihe der selbstthematisierenden Musik-Gedichte«. Er behauptet, dass Rilke dort »die letzte mögliche Bedeutung seines Ideals bedichtet«, das er charakterisiert als »das musikalische Wesen einer dichterischen Komposition, die durch die Setzung außersinnlich-außerkosmogonisch aufeinander bezogener wie einander entzogener elementarer Wort-Zeichen sich selbst stets zum Tragen wie auch stets zum ›Sturz‹ bringt«.9 Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass das Gedicht (vor allem das deutsche) in der Forschung als das non plus ultra des Rilkeschen Schaffens erscheint, als ein Äußerstes, dem ein quasi sakraler Charakter bescheinigt wird. Die beiden Gong-Gedichte befinden sich unter den sogenannten Doppelgedichten aus den letzten Jahren von Rilkes Schaffen, Gedichten also, die im Deutschen wie im Französischen dasselbe Motiv behandeln und dabei verschiedene Möglichkeiten des zweisprachigen Dichtens untersuchen. Bei den Doppelgedichten handelt es sich in erster Linie um fünf Gedichtpaare: Das Füllhorn und Corne d’Abondance, Der Magier und Le Magicien, Eros und das zweite Gedicht aus dem französischen Klein-Zyklus Pros, Handinneres und Paume und eben Gong und Gong.10 Auch hier steht Gong also am Ende. Danach schreibt Rilke keine Doppelfassungen mehr. Auch sonst behauptet das GongPaar einen Sonderstatus unter den Doppelgedichten. Während die ersten drei Paare alle in demselben Monat, im Februar 1924, entstehen und bewusst als experimentelle Untersuchung verschiedener Möglichkeiten des zweisprachigen Dichtens konzipiert werden – jedes dieser drei Paare wird mehr oder weniger gleichzeitig geschrieben –, und während Handinneres schon sein Pendant 6 Manfred Engel: Deutschsprachige Einzelgedichte 1922–1926. In: Ders. (Hg. unter Mitarb. v. Dorothea Lauterbach): Rilke-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2004, S. 424– 434, hier S. 431 u. 430. 7 Winfried Eckel: Wendung. Zum Prozeß der poetischen Reflexion im Werk Rilkes. Würzburg 1994, S. 224–232. 8 Raoul Walisch: »daß wir nicht sehr verläßlich zu Haus sind in der gedeuteten Welt«. Untersuchung zur Thematik der gedeuteten Welt in Rilkes »Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge«, »Duineser Elegien« und spätester Lyrik. Würzburg 2012, S. 415. 9 Peter Por : »Als wärst du ein Zeichen«. Zur Poetik von Rilkes Spätlyrik. Bd. 2: Das nachelegische Werk. Heidelberg 2016, S. 407f. 10 Vgl. KA II, S. 304f., S. 306, S. 314f., S. 382, S. 396 u. KA V, S. 18, S. 204, S. 26, S. 14, S. 306f.
Zu Rilkes Gong-Gedichten
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Paume heraufruft, weil, wie Rilke Andr8 Gide gegenüber bemerkte, ein eigenes Wort dafür im Deutschen fehlt,11 verhält es sich mit Gong anders: Das Gedicht wird im November 1925 zunächst auf Deutsch geschrieben, und die französische Fassung folgt erst im März des folgenden Jahres; beide Gedichte gehen nicht nur von demselben Gegenstand aus, sondern auch von demselben Wort, das eigentlich weder deutsch noch französisch, sondern ursprünglich malaiisch ist, und in gewissem Sinne sogar kein Wort, sondern Klang. Man könnte also die These wagen, dass Rilke mit Blick auf die Gong-Gedichte nicht so sehr interessierte, wie die Sprachen auseinandergehen, sondern wie sie ineinanderfließen und als reiner Klang die Sprachunterschiede verwischen und poetisches Material werden. Aber bevor wir uns mit den Gedichten näher befassen, stellt sich zunächst die Frage nach ihrer Beziehung zur Musik. Für Beda Allemann steht der Bezug zur Musik fest, wenn er auch unter Musik etwas anderes als die Tonkunst, als die »selbständige Kunstgattung« versteht.12 Mit Bezug auf die Gong-Gedichte insgesamt schreibt er, Rilke habe »das Phänomen der Musik auf den großen GongSchlag reduziert und damit von jedem nur-musikantischen Mißverständnis endgültig befreit. Das urtümliche Schlagen des Gonges ist höchste Intensivierung und Vereinfachung des für Rilke Wesentlichen in der Musik, denn nirgends ist die höhere Stille, auf die es ankommt, so hörbar wie vor dem Dröhnen des Gongs«.13 Diese These, so Allemann weiter, lasse sich auch umgekehrt formulieren, da die Gong-Gedichte »sich thematisch auf die letzte Verdichtung und Reduktion der Wesenheit ›Musik‹ im Dröhnen konzentrieren«.14 In Antonia Egels wichtigem Buch über Rilkes »musikalische Poetik« dagegen wird Gong kaum beachtet, auch nicht abschließend.15 Selbst wenn man berechtigte Zweifel daran haben kann, dass der Gong-Klang als Musik aufzufassen ist, sollte man doch der Tatsache Rechnung tragen, dass sich verschiedene Wendungen aus dem Gedicht An die Musik zumindest annäherungsweise auf das Gong-Erlebnis beziehen lassen: nicht nur die »Sprache wo Sprachen / enden«, sondern auch die »hörbare Landschaft«, »Du uns entwachsener / Herzraum«, »heiliger Abschied« und »andre / Seite der Luft: / rein, / riesig, / nicht mehr bewohnbar«.16 Zu den Gedichten selbst. Es gibt eigentlich nicht zwei, sondern drei GongGedichte. Ende Oktober 1925 schreibt Rilke zuerst ein kleines Gedicht, das ge11 KA II, S. 842. 12 Beda Allemann: Zeit und Figur beim späten Rilke. Ein Beitrag zur Poetik des modernen Gedichtes. Pfullingen 1961, S. 165. 13 Ebd. 14 Ebd., S. 166. 15 Antonia Egel: »Musik ist Schöpfung«. Rilkes musikalische Poetik. Würzburg 2014 (Klassische Moderne, Bd. 23). 16 KA II, S. 158.
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wöhnlich als »Entwurf«17 oder »fragmentarische […] Vorstufe«18 bezeichnet wird, obwohl es durchaus als eigenständiges Gedicht gelten könnte, da es in mancherlei Hinsicht ganz anders verfährt als das gleichnamige deutsche Gedicht: GONG Klang, nichtmehr mit Gehör meßbar. Als wäre der Ton, der uns rings übertrifft, eine Reife des Raums.19
Im November desselben Jahres schreibt Rilke dann das bekannte längere deutsche Gedicht, das, obwohl es meist als »vollendet« gilt und auch von Zinn in seiner Ausgabe so eingeordnet wird, von Rilke in der Handschrift eingeklammert wurde, was Ingeborg Schnack als Zeichen »innerer Vorbehalte« deutet:20 GONG Nicht mehr für Ohren . . . : Klang, der, wie ein tieferes Ohr, uns, scheinbar Hörende, hört. Umkehr der Räume. Entwurf innerer Welten im Frein . . . , Tempel vor ihrer Geburt, Lösung, gesättigt mit schwer löslichen Göttern . . . : Gong! Summe des Schweigenden, das sich zu sich selber bekennt, brausende Einkehr in sich dessen, das an sich verstummt, Dauer, aus Ablauf gepreßt, um-gegossener Stern . . . : Gong! 17 18 19 20
In Zinns Ausgabe, SW II, S. 506, steht dieses Gedicht unter den »Entwürfen«. So Fülleborn in KA II, S. 856. SW II, S. 506. In die KA nicht aufgenommen. Das Gedicht wurde von Rilke in den »braunen Band« eingetragen, den er am 9. Juni 1926 an Katharina Kippenberg schickte und im Begleitbrief als ein Heft bezeichnete, »in das ich, vorlängst schon, wie michs der Zufall aufblättern ließ, älteres und neues zusammenschrieb.« Dieses Heft wurde von Ingeborg Schnack unter dem Titel Aus Taschen-Büchern und MerkBlättern 1925, Wiesbaden 1950, herausgegeben. Hier erschien das Gedicht Gong zum ersten Mal (S. 71); den Hinweis auf die Umklammerung findet man auf S. 83 dieser Ausgabe. Interessanterweise steht in dieser Erstausgabe das Wort »Gong!« jeweils am Strophenende kursiv (»Gong!«), was sicher auf die Handschrift zurückgeht, aber in andere Drucke nicht übernommen wurde – warum, lässt sich nicht sagen. Kursiv deutet das Wort offensichtlich viel eher auf den Klang als auf das Instrument, was nicht ohne Belang ist für die Interpretation des Gedichts.
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Du, die man niemals vergißt, die sich gebar im Verlust, nichtmehr begriffenes Fest, Wein an unsichtbarem Mund, Sturm in der Säule, die trägt, Wanderers Sturz in den Weg, unser, an Alles, Verrat . . . : Gong!21
Vier oder fünf Monate später, also im März 1926, entsteht das französische Ensemble, das man als dreiteiliges Gedicht betrachten kann, oder vielleicht auch als drei Gedichte: GONG pour Suzanne B …….. 1 Bourdonnement 8pars, silence perverti, tout ce qui fut autour, en mille bruits se change, nous quitte et revient: rapprochement 8trange de la mar8e de l’infini. Il faut fermer les yeux et renoncer la bouche, rester muet, aveugle, 8bloui: l’espace tout 8branl8, qui nous touche ne veut de notre Þtre que l’ou"e. Qui suffirait? L’oreille peu profonde d8borde vite –, et ne penche-t-on contre la sienne, pleine de tous les sons la vaste conque de l’oreille du monde? 2 Comme si l’on 8tait en train de fondre des Dieux d’airain, pour y ajouter encor des Dieux massifs, tout en or, qui en bourdonnant se d8font. Et de tous ces Dieux qui s’en vont en de flambants m8taux, s’8lHvent d’ultimes sons royaux!
21 KA II, S. 396.
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3 (. . . Arbres d’airain, qui dans l’ou"e font m0rir les fruits ronds de leur sonore saison . . . . .) (GONG für Suzanne B …….. 1 Verstreutes Gesumme, verkehrte Stille, alles, was rundum war, verwandelt sich in tausendfaches Geräusch, verläßt uns und kehrt wieder : seltsames Nahen der Gezeiten der Unendlichkeit. Man muß die Augen schließen und auf den Mund verzichten, stumm bleiben, blind, geblendet: der gänzlich erschütterte Raum, der uns berührt, will von unserem Sein nur das Gehör. Wer würde genügen? Das Ohr, wenig tief, läuft rasch über –, und legt man nicht an seines, voll von allen Tönen, die geräumige Muschel des Ohrs der Welt? 2 Wie wenn man im Begriff wäre, die ehernen Götter zu schmelzen, um dort noch massive Götter, ganz aus Gold, hinzufügen, die im Gesumme sich auflösen. Und aus all diesen Göttern, die entschwinden in flammende Metalle, erheben sich äußerste, königliche Töne! 3 (… eherne Bäume, die im Gehör die runden Früchte ihrer sonoren Jahreszeit reifen lassen …..))22
Den drei Gedichten gemeinsam ist freilich der Titel, der im Grunde unaussprechbar ist, da er gleichermaßen das Instrument und dessen Klang bezeichnet. Das heißt, man müsste ihn sachlich benennend sagen können (»Gong«) und zugleich emphatisch, in Nachahmung des Klangs (»Gong!«). Genau gesehen, funktioniert das Wort nicht nur als Bezeichnung des Instruments und lautmalerische Nachahmung eines Tons, sondern auch als Wort, das diese beiden Funktionen hat. Schon für sich genommen, hat es etwas Magisch-Unfassbares, wobei das Fremdartige des Wortes als Klang gewordener Sinn und Sinn gewordener Klang eine wichtige Rolle spielt. Man darf annehmen, dass Rilke vom 22 KA V, S. 306/308, Übers. S. 307/309. Der Übersetzung von »bourdonnement« durch »Gesumme« möchte man, wie Gerald Stieg es tut, »Dröhnen« vorziehen. Gerald Stieg: Rilkes späteste Gedichte auf deutsch und französisch. Ein Vergleich am Beispiel von »Gong«. In: Karen Leeder, Robert Vilain (Hg.): Nach Duino. Studien zu Rainer Maria Rilkes späten Gedichten. Göttingen 2010, S. 168–178, hier S. 169. »Sausen« wäre eine weitere Möglichkeit.
Zu Rilkes Gong-Gedichten
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Wort selbst genauso fasziniert war wie vom Klang des Gongschlags; soweit mir bekannt, weiß man übrigens nichts von einer besonderen Begegnung Rilkes mit einem Gong, obwohl anzunehmen ist, dass es eine solche Begegnung in irgend einer Form gegeben hat. Wenn man etwa bei der Lektüre der ersten Zeilen des langen deutschen Gedichts das Wort »Gong« anstelle des Gong-Klangs ins Auge fasst, so entsteht durchaus Sinn: »Nicht mehr für Ohren . . .: Klang, / der, wie ein tieferes Ohr, / uns, scheinbar Hörende, hört.« Man hört hier nicht nur die Worte des Gedichts, sondern das Gedicht hört uns, oder scheint uns zu hören, indem wir in den Resonanzraum des Gedichts und speziell des Wortes »Gong« eintreten und ihn erweitern und verfeinern. Auch beim kurzen ersten Gedicht könnte man das erste Wort »Klang« als Klang des Wortes und nicht nur als Klang des Instruments deuten. Freilich richtet das Gedicht den Fokus in erster Linie auf den erzeugten Ton, der aber immer schon Bestandteil und sogar Ursprung des Wortes ist. Dieses erste Gedicht sät vieles, das in den anderen Gedichten wächst, wie die »Reife« im letzten Vers, die in den »fruits ronds«, die auf den »arbres d’airain« am Ende des französischen Gedichts reif werden, wiederkehrt, oder das »rings«, das eine Brücke zu »tout ce qui fut autour« schlägt. Vom ersten Vers einmal abgesehen, fällt aber insgesamt auf, wie wenig doch von dem ersten Entwurf in den späteren Gedichten zu finden ist. Das Wort »Ton« zum Beispiel finden wir nicht wieder, und vor allem fehlt in »Nicht mehr für Ohren…« die ausdrückliche »als ob«Konstruktion, die dann im französischen Gedicht erneut auftaucht. Wo das erste Gedicht zaghaft nahelegt, dass der Ton »eine Reife des Raums« »wäre«, geht das zweite Gedicht ohne Bedenken vor und formuliert direkt eine Reihe von Bildern, die in ihrer Paradoxie dem Erlebnis des Gongklangs bzw. seines Absterbens Rechnung zu tragen sucht. Denn es ist gut denkbar, dass, wie Silke Pasewalck vorgeschlagen hat, die Formulierung »nichtmehr mit Gehör« wörtlich zu nehmen ist, dass hier also ein »Klang« gemeint ist, der nicht mehr existiert.23 Unter der Voraussetzung dieser Annahme spricht das Gedicht nicht nur davon, dass der Gongklang mit seiner Vibration unseren Gehörsinn übertrifft und unseren eigenen Körper in Schwingung versetzt, sondern es meint präziser noch den Moment, in dem das Gehör keinen spürbaren Klang mehr aufnimmt, man sich aber dennoch der Wirkung des Gongschlags in der Luft noch bewusst bleibt.24 Dieses Phänomen als »eine Reife [!] des Raums« zu bezeichnen, ist gewiss ein Bild, aber ein Bild, das unsere Erfahrung sinnvoll zu ergänzen scheint. Wie und wann ist man ei23 Silke Pasewalck: »Die fünffingrige Hand«. Die Bedeutung der sinnlichen Wahrnehmung beim späten Rilke. Berlin, New York 2002, S. 284. 24 Angela Leighton: Hearing Things. The Work of Sound in Literature. Cambridge (Mass.), London 2018, S. 4, erinnert daran, dass »it is only the human ear’s very narrow range of hearing which gives us the imaginary blessing of silence.«
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gentlich im Stande, zu sagen, dass die vom Gong erzeugte Vibration aufgehört hat? Kann es nicht einfach sein, dass sich das Geschehen jenseits unseres Wahrnehmungsvermögens fortsetzt? Welchen Anteil hat unsere Imagination an der Wahrnehmung des Vorgangs? Und wo genau liegt die Grenze zwischen dem, was man noch mit den Sinnen auffängt, und dem, was unserer Vorstellungskraft noch denkbar ist? In älteren Zeiten, etwa bei den Romantikern, waren derlei Fragen mehr oder weniger metaphysisch umrahmt: Keats macht bekanntlich einen Unterschied zwischen »the sensual ear«, dem »heard melodies« süß sind, und »the spirit«, dem »those unheard« noch süßer sind.25 Obwohl Rilke in gewissem Sinne noch als Romantiker anzusehen ist26 und übrigens auch von der »Süße« der Musik spricht,27 denkt er, wie seinem Aufsatz Ur-Geräusch zu entnehmen ist, technischer. Rilke weiß, dass das, was er »die fünffingrige Hand der Sinne« nennt, immer zu kurz greift, dass das Phänomen der Welt immer nur partiell gefasst wird. Die Welt beinhaltet viel mehr, als von unseren Sinnen wahrgenommen werden kann, oder, um mit dem Gedicht zu sprechen, sie »übertrifft« uns. Sich der Ganzheit der Welt zu nähern, ist also nur dann möglich, wenn man »am entscheidendsten an einer Erweiterung der einzelnen Sinn-Gebiete arbeitet […].«28 Dazu bedarf es nicht nur einer Verfeinerung der Sinne und einer Einschränkung der Abhängigkeit von dem Sehsinn, sondern auch einer Beschäftigung der Imagination als einer Art sechsten Sinns, auch wenn Rilke sich nicht so ausdrückt. In seinem Aufsatz schlägt er vor, dass der moderne europäische Dichter viel von »arabischen Gedichten« zu lernen hat,29 weil dort alle fünf Sinne, vor allem der von der westlichen Tradition vernachlässigte Gehör-, Geruchs-, Tast- und Geschmackssinn, eine größere Rolle in der Wahrnehmung der Welt spielen. Dieser Idee war Rilke dann vor allem in den Sonetten an Orpheus nachgegangen, die auch ein helles Bewusstsein für die Grenzen unserer Wahrnehmung demonstrieren und darauf abzielen, diese zu erweitern. Allerdings sieht man durchaus, dass die Faszination, die der Gong auf ihn ausübt, daher rührt, dass der Gongklang die Grenze zwischen dem Wahrnehmbaren und 25 John Keats: Ode on a Grecian Urn. In: The Poems of John Keats. Hg. v. Ernest de Selincourt. London 1920, S. 194f. 26 Egel: »Musik ist Schöpfung«, S. 453–459, schließt ihre Ausführungen über Rilkes musikalische Poetik mit einer Antwort auf die Frage »War Rilke ein Romantiker?« ab. 27 Rilke an Sidonie N#dherny´ von Borutin, 13. November 1908. In: RMR, Sidonie N#dherny´ von Borutin: Briefwechsel 1906–1926. Hg. v. Joachim W. Storck unter Mitarb. v. Waltraud u. Friedrich Pfäfflin. Göttingen 2007, S. 69, Hervorhebung durch RMR: »Musik [ist] eine Gefahr für mich; süß, wie der Tod süß ist für einen Trostlosen; von jener ermüdenden, alles versprechenden Süße, die der meiden muß, der überleben will.« 28 KA IV, S. 704. Vgl. zu diesem Essay Thomas Martinec: »Ur-Geräusch.« Rilkes Betrachtungen eines Unmusikalischen. In: Sylvia Mieszkowski, Sigrid Nieberle (Hg. unter Mitarb. v. Innokentij Kreknin): UNLAUTE. Noise/Geräusch in Kultur und Medien seit 1900. Bielefeld 2017, S. 219–238. 29 KA IV, S. 702.
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dem Nicht-Wahrnehmbaren konkret vor Ohren führt. Und vielleicht besteht im Phänomen des ja ursprünglich asiatischen Gongs auch eine lose Verbindung zu der Idee des Orientalischen als Erfahrungsraum, in dem alle Sinne beansprucht werden, so wie bei den »arabischen Gedichten«. Auf jeden Fall ist es wichtig, bei keinem der Gong-Gedichte zu übersehen oder zu vergessen, dass Rilke mit dem Gong oder dessen Klang etwas ganz Bestimmtes behandeln will und dass er sich auf ein ganz spezifisches Phänomen konzentriert, das fähig ist, seine poetische Erschließung der Wirklichkeit weiterzubringen. Es handelt sich dabei nicht etwa darum, eine Art absolute Poesie zu schreiben, sondern vielmehr um ein poetisches Experiment und um eine Untersuchung der Grenzen unserer Erfahrung in der Welt; beides geht Hand in Hand. Wenden wir uns nun dem zweiten Gedicht zu, das natürlich viel komplexer ist als die sogenannte Vorstufe. Vieles ist nicht ohne Weiteres zu erklären; andererseits handelt es sich hier um ein Gedicht, das im Grunde keiner Erklärung bedarf. Die verschiedenen Gestaltungen des Klangs und seine Übersetzung in erläuternde Formeln, die eine sprachliche Entsprechung zu einem akustischen und überakustischen Vorgang suchen, funktionieren, so scheint mir, ohne dass es nötig wäre, sie präzise auszulegen. Natürlich werde ich auf die Deutung nicht ganz verzichten können, aber zunächst möchte ich die metrische Gestalt des Gedichts ansprechen, denn sie ist hochinteressant und trägt maßgeblich zur Gesamtwirkung des Textes bei. Die Metrik des Gedichts ist, soweit ich sehe, noch nie untersucht worden.30 Wie noch zu zeigen sein wird, ist sie aber grundlegend für ein Verstehen sowohl des Textes als auch seiner Wirkung. Wenn man sich für die Musikalität des Gedichts interessiert, so lässt sich dessen metrischer Aspekt nicht ausblenden. Ich werde die Metrik ausführlich behandeln, nicht nur weil mir dies mit Blick auf die Gong-Gedichte lohnenswert erscheint, sondern auch weil die Rilke-Forschung metrische Fragen gerne vernachlässigt. Das deutsche Gong-Gedicht ist metrisch sehr konsequent komponiert. Von seinen insgesamt einundzwanzig Versen haben fünfzehn genau dieselbe Form, was bereits ungewöhnlich ist: – – –. In der griechischen Metrik wird diese Form als Hemiepes bezeichnet; der Hemiepes ist die erste Hälfte eines klassischen Hexameters, kommt in der griechischen Lyrik aber auch selbständig vor. Er stellt ein merkwürdig geschlossenes Gefüge dar : stabil und im Gleichgewicht, sicher, hinten und vorne fest, quasi gegen die Welt abgedichtet.
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30 Eine partielle Ausnahme bildet Walisch: »daß wir nicht sehr verläßlich zu Haus sind in der gedeuteten Welt«, S. 421f. Aber auch er geht kaum auf die Besonderheiten der Metrik ein und sieht in ihr, ebd., S. 422, seinem Thema entsprechend, vor allem einen »Hinweis auf die Elegienform […] und damit immanent auf die Thematik der gedeuteten Welt der ›Duineser Elegien‹.«
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Von den sechs Versen, die von diesem Grundschema abweichen (Verse 1, 3, 6, 8, 14 und 21), weichen nur zwei ganz sicher und unbestreitbar ab: der letzte Vers der zweiten Strophe (»um-gegossener Stern . . . : Gong!« [– – – … –]) und der letzte Vers der dritten Strophe und damit auch des gesamten Gedichts (»unser, an Alles, Verrat . . . : Gong!« [– – – … –]). Das sind die einzigen Verse, die ganz sicher vier Hebungen zählen. Die weiteren vier abweichenden Verse, die alle in der ersten Strophe auftauchen, sind entweder als leichte Variationen des Grundschemas zu verstehen, wie in dem metrisch identischen ersten (»Nicht mehr für Ohren…: Klang«) und letzten (»löslichen Göttern…: Gong!«) Vers, in dem die fehlende Senkung durch die drei Punkte ersetzt wird (– – … –), was auch rhythmisch nachvollziehbar ist; oder aber sie sind nicht eindeutig zu skandieren, wie im dritten Vers, wo man statt des naheliegenden »uns, scheinbar Hörende, hört« (– – – –) auch »uns, scheinbar Hörende, hört« (– – –) lesen könnte, und im sechsten Vers (»Tempel vor ihrer Geburt« [– – –]), in dem die dritte Silbe (»vor«) nicht unbedingt mit einer Hebung auszusprechen ist: »Tempel vor ihrer Geburt« (– – –). Bei der Skandierung dieser Verse spielt auch der metrische Kontext des Gedichts eine wichtige Rolle: Die dominante Form des Hemiepes zieht schwächere, ungewissere Kola in ihren Bann, auch wenn eine natürlichere Betonung naheliegt. Zusammenfassend kann man also feststellen, dass von den sechs abweichenden Versen nur zwei ganz eindeutig als irregulär zu bezeichnen sind: Vers 14, der letzte der zweiten Strophe, und Vers 21, der letzte der dritten Strophe. Überdies lässt sich auch hier beobachten, dass der letzte Vers eigentlich aus einem Hemiepes besteht, dem nach drei Punkten eine zusätzliche Hebung folgt. Metrisch notiert sieht das Gedicht also so aus (zu zweideutigen Versen wird die Alternative angegeben):
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Um die metrische Geschlossenheit des Gedichts zu betonen, könnte man also behaupten, dass von 21 Versen nur zwei von dem Hemiepes-Muster abweichen, oder aber, wenn man strenger skandiert, nur vier ; dabei handelt es sich um diejenigen Verse, die entweder mit »Klang« oder mit »Gong!« enden, jeweils mit vorangehenden drei Punkten und Doppelpunkt (V. 1, 8, 14 und 21). Alle Verse beginnen ohne Auftakt mit einer Hebung und klingen auch immer mit einer Hebung aus. Man kann auch einfach Silben zählen und darauf hinweisen, dass alle Verse sieben Silben haben außer dem ersten und letzten der ersten Strophe und dem letzten des Gedichts. Generell scheint die Zahl Sieben für das Gedicht zentral zu sein: Die dritte Strophe hat sieben Verse, und auch die acht Verse der ersten sowie die sechs Verse der zweiten Strophe ergeben im Mittel sieben. Was hat dieses metrische Gefüge zu bedeuten? Zunächst sieht man sofort, dass sich das Gedicht metrisch ganz anders gebärdet als der vierzeilige Entwurf, der so aussieht: –– ––
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Hier findet sich kein einziger Hemiepes. Im Vergleich zu dem kurzen GongGedicht ist das lange fast mathematisch aufgebaut. Vielleicht dient diese strenge Struktur dazu, dem Gedicht seinen beschwörenden, bannenden Charakter zu verleihen: Jeder Vers fällt unerbittlich oder unvermeidlich als weiteres Glied in dem Versuch, das Wesen des Gongklangs mit Worten zu umreißen, wird aber endlich abgelöst vom Klang selbst, der sich immer in einem Vers ereignet, in dem das metrische Grundschema nicht mehr gültig ist, als ob es vor der Wirklichkeit des unerreichbaren Tons weichen müsste. Jeder dieser Endverse hat eine andere metrische Gestalt, was bei der sonstigen metrischen Gleichheit auffällig ist. Im Allgemeinen bewirkt in diesen Versen die Pause, die metrisch nicht fassbar ist, eine Art Verwirrung, Zögern oder Unterbrechung, als ob das Gedicht stolperte, vielleicht als Vorwegnahme der Passage »Wanderers Sturz in den Weg«. Man könnte die streng durchgeführte Metrik auch als eine Art Äquivalent für die technische Beschaffenheit des Gongs ansehen. Wie das Instrument eine feste Struktur hat, eine bestimmte Erscheinungsform, die sich beim Geschlagen-Werden in Klang auflöst, so bildet die
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sorgfältig aufgebaute Form des Gedichts die Grundlage einer Erfahrung, die jeweils im letzten Vers einer Strophe moduliert, ja zersetzt wird. Die Metrik legt nahe, dass Rilke die Wirkung seines Gedichts sehr genau im Blick hatte. Aber obwohl sich jeder Hemiepes mit derselben Folge von Hebungen und Senkungen gleich darstellen lässt, ist er nicht völlig mit sich identisch: Verglichen mit der Variation, die von jeder besonderen Wortfügung bewirkt wird, bleibt das metrische Grundschema allzu grob. Jeder Hemiepes ist in Wirklichkeit leicht variiert, da die jeweiligen Worte das Grundschema auf subtil unterschiedliche Weise artikulieren. Man kann sogar sagen, dass das Schema als solches nie ganz realisiert wird, sondern im Hintergrund bleibt als eine Art Gespenst, das nie ganz erscheint. Dies entspricht auch der Bedeutung des Gedichts, da auf metrische Weise nahegelegt wird, dass ein Phänomen, das immer präsent bleibt, doch nie ganz zu fassen, nie ganz wahrzunehmen ist. Indem das Gedicht damit einsetzt, dass der Gongklang »nicht mehr für Ohren« ist, und sogar zu dem Gedanken überleitet, dass er uns »wie ein tieferes Ohr […] hört«, bekommt unser Ohr natürlich eine Tiefe, die dem Gedicht und seinem Thema angemessen ist. Indem wir als »scheinbar Hörende« eingestuft werden, trachten wir immer mehr danach, den Vorgang des Gedichts zu hören, den richtigen Hörraum dafür zu schaffen. Unser Auf-das-Gedicht-Hören reagiert auch auf die Metrik und wird von deren Insistenz intensiviert. Unser inneres Ohr ist eigentlich bestrebt, einen Ton wiederherzustellen, der im Gedicht als vergangen oder vergehend dargestellt wird. Wir hören, wenn wir lesen, ohne die Ohren zu betätigen: Wir hören, ohne dass eigentlicher Klang entstehen muss, d. h. wir hören Unhörbares, Klangloses, Stille.31 So nimmt unser Hören an der Paradoxie teil, die das ganze Gedicht beherrscht, wo Tempel noch vor ihrer Geburt doch irgendwie gegenwärtig sind, oder ein angesprochenes Du sich im Verlust gebären kann. Die wachsenden Ringe von Sinn, die das Gedicht stiftet, kommen nie ganz an, so wie das Unhörbarwerden des Klangs nicht dessen Verschwinden bedeutet. Es ließe sich natürlich viel mehr über das Gedicht sagen, aber, wie bereits erwähnt, muss man die Verse nicht unbedingt näher analysieren. Zwar fordern sie in ihrer Rätselhaftigkeit zur Deutung auf, aber sie weisen diese auch in demselben Maße ab, vor allem dadurch, dass jede Strophe in »Gong!« (oder »Gong!«) mündet; so wird jeder Deutungsversuch letztlich vereitelt. Anders gesagt: Der Leser wird als Hörer immer wieder, nämlich am Ende jeder Strophe, auf den Gedichtanfang, d. h. auf den Titel, verwiesen. Das Gedicht kehrt zu seinem Anfangspunkt zurück, kommt in gewissem Sinne nicht über ihn hinaus. Es verwirklicht den Klang des Gongs, d. h. den Effekt dieses Klangs auf die 31 Auf solche Fragen geht Angela Leighton in Hearing Things ein. Als Motto zur Einleitung, S. 1, zitiert sie sogar Rilkes Gong, ohne aber Näheres dazu zu sagen.
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Hörend-Gehörten, und versucht zugleich eine Annäherung an ihn, eine Erforschung seiner Kraft. Es verwirklicht diesen Klang, indem es diese Annäherung nur ungenügend bewirkt. Als klares Zeichen dafür kann man den Anfang der dritten Strophe nehmen, »Du, die man niemals vergißt, / die sich gebar im Verlust« (V. 15f.): Durch das unvermittelte Femininum, das sich auf nichts Eindeutiges bezieht, bleiben diese Worte undeutbar. Natürlich kann man verschiedene Vorschläge machen, aber das Rätsel ist letztlich nicht zu lösen. Winfried Eckel weist auf die wiederholten Feminina der ersten und zweiten Strophe hin und schlägt vor, dass man das »Du« »mit besonderem Recht auf die unmittelbar vorangegangene ›Dauer‹, im Prinzip aber auch auf die anderen Feminina zurückbeziehen« kann.32 In seiner Anmerkung zu dieser Stelle in der Kommentierten Ausgabe behauptet Ulrich Fülleborn ohne Zögern und daher mit geringerem Anspruch auf Berechtigung, dass »die ›im Voraus / verlorne Geliebte‹« angesprochen wird, »die nun als die ›im Verlust‹ geborene erscheint«.33 Dass die Deutungen so weit auseinandergehen, spricht für sich. Man tut gut daran, das geheimnisvolle Sprechen des Gedichts gelten zu lassen.34 Kommen wir zum französischen Gong-Gedicht, das ganz anders verfährt als sein deutsches Pendant. Zunächst bemerkt man, dass das Gedicht an jemanden gerichtet ist, nämlich an »Suzanne B……..«, die die Kommentierte Ausgabe als Suzanne Bertillon entschlüsselt;35 die acht Punkte entsprechen also, wie fast immer bei Rilke, den acht fehlenden Buchstaben des Namens. Damit bekommt das Gedicht einen sozialen Aspekt und steht nicht beschwörend allein wie das deutsche Gedicht. Hierdurch wird es zwar nicht gleich zur Bagatelle, aber ihm geht doch eine gewisse Feierlichkeit ab. Das Gedicht hat mehr den Charakter einer Erklärung mit größerer Distanz zu dem im Zentrum stehenden Phänomen. Das sieht man auch am Fehlen des Wortes »Gong«, das ja nur im Titel vorkommt; dort, aus diesem Grund und weil es nie ein Ausrufezeichen bekommt, wirkt es eher als Bezeichnung des Instruments und weniger als Nachahmung des Klangs. Anstatt das Dröhnen in poetische Bilder umzuwandeln, fängt das französische Gedicht beschreibend an (»Bourdonnement 8pars«) und richtet die Aufmerksamkeit mit fast naturwissenschaftlichem Blick auf die Wirkung des Gongs in seiner Umgebung. Der Gong selbst wird in seinen Klang aufgelöst, und die Schwingungen, die von ihm aus- und in die Dinge übergehen, scheinen auch diese Dinge aufzulösen. Das, was da war, wird tausendfaches Geräusch, es wird 32 Eckel: Wendung, S. 230. 33 KA II, S. 857. Fülleborns Hinweis auf das Gedicht Du im Voraus / verlorene Geliebte (KA II, S. 89) aus dem Winter 1913/14 erscheint wenig plausibel. 34 Ähnlich bei Walisch: »daß wir nicht sehr verläßlich zu Haus sind in der gedeuteten Welt«, S. 447, für den »das ›Du‹ gerade nicht mehr auf ein bestimmtes Einzelnes bezogen ist, da dadurch der Bezug selbst wiederum der Deutung unterliegen würde.« 35 KA V, S. 673.
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fließend, wie die Gezeiten (»la mar8e«), die dem Unendlichen zugeschrieben werden. Das Dröhnen teilt sich sogar den Atomen mit, und die Welt scheint zitternd zwischen Werden und Vergehen zu stehen. Verglichen mit dem deutschen Gedicht hat das französische eine viel diffusere Gestalt, weil es keine bestimmte metrische Einheit aufweist. Dafür tritt der Reim ein, gewissermaßen um den fehlenden Gong-Klang zu ersetzen. Der Laut »on« ist nicht nur der am häufigsten wiederkehrende Reimlaut – er ist in jedem der drei Teile zu finden und tritt in der letzten Strophe emphatisch auf (»font« / »ronds« / »saison«) –, sondern er kommt zudem sehr oft mitten im Vers vor, auch leicht variiert als »an«, also mit »a« oder »e« geschrieben, wie in »l’espace tout 8branl8« (V. 7) oder »de flambants m8taux« (V. 19). Trotz dieser merkwürdigen Sonorität scheinen die so verstreuten Laute mehr an das Dröhnen des Gongs zu erinnern, als es heraufzubeschwören. Das Gedicht hat nichts Magisches. In den letzten vier Versen des ersten Gedichts wird der Gong mit dem Ohr verglichen, aber das scheint auf die gemeinsame runde Form zu deuten – er hört uns nicht. Im zweiten Gedicht wird das Ganze dann von einer als-ob-Konstruktion gesteuert, das Mythische der »Lösung, gesättigt mit schwer / löslichen Göttern« wird ferngehalten. Statt dessen finden wir die Götter nur noch als metaphorische »Dieux d’airain«, die dann um »des Dieux massifs, tout en or« ergänzt werden; diese werden in einem Vorgang eingeschmolzen, der, wie Gerald Stieg bemerkt, einer »zivilisatorischen Umkehr« gleichkommt: Bilder werden nicht mehr geformt, sondern ins Flüssige, Formlose zurückverwandelt.36 Dieser Prozess wird zwar von einem Dröhnen begleitet, bleibt aber in dem Ausdruck eine mimetische Vermutung, um diesem Dröhnen einen möglichen Inhalt, eine mögliche Reichhaltigkeit zu geben. In dieser Vermutung wird immer eine Distanz beibehalten. Der Anfang einer Frage, zwischen den ersten beiden Teilen des französischen Gedichts skizziert – »Est-ce des Dieux en fuite / que r8sonne le sol« (»Erdröhnt von Göttern auf der Flucht die Erde«)37 – wurde vermutlich aufgegeben, weil er, wenn auch nur als Frage, im französischen Kontext zu direkt wirkt. Mit dem letzten Gedicht schließlich, das an das allererste anknüpft und darüber hinaus dem ersten der Sonette an Orpheus eine Idee entlehnt, so wie das erste mit der »oreille du monde« entfernt an das »Ohr der Erde« aus dem 15. Sonett des zweiten Teils erinnert,38 scheint Rilke eine Art Nachspiel zu schreiben. Zwar bietet es ein verführerisches (Klang-) Bild an, es scheint aber allzu sehr eine
36 Stieg: Rilkes späteste Gedichte, S. 175. Rilke knüpft hier an weit zurückliegende Vorstellungen von Musik als flüssigem Gold an. Siehe z. B. den schon zitierten Brief an Sidonie N#dherny´ von Borutin vom 13. November 1908. 37 KA V, S. 308, Übers. S. 309. 38 Vgl. KA II, S. 241 u. S. 265.
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lyrische Idee zu sein, fast eine Übung, eher »exercice« als »8vidence«, um den Titel der Sammelhandschrift aufzugreifen, zu der das Gedicht gehört. Am Ende kann man sagen, dass in diesem Fall das französische Gedicht ein nüchterner Versuch ist, das Ereignis des deutschen Gedichts, vielleicht eher als das Ereignis des Gong-Phänomens selber, erinnernd-kommentierend wieder zum Tragen zu bringen, ohne aber etwas Vergleichbares erzeugen zu wollen. Es bleibt ein Echo, und als solches eignet es sich kaum als Beispiel, an dem man das Eigentümliche von Rilkes französischer Lyrik in den Griff bekommen könnte.
Eva-Tabea Meineke
»Brückenbogen strahlender Rettung«. Musikalität und Gesang in der surrealistischen Rilke-Rezeption (Alberto Savinio und Louis Aragon)
Die Bedeutung der Musik, Musikologie und Musikalität für den französischen Surrealismus ist lange Zeit unerforscht geblieben. Uwe Schneede schrieb in Die Kunst des Surrealismus: Malerei, Skulptur, Dichtung, Fotografie, Film, erschienen 2006, noch, dass die Musik bei den Surrealisten kaum eine Rolle spielte.1 Dies geht auf die Äußerungen des Wortführers der surrealistischen Bewegung Andr8 Breton zurück, der sich in seiner der Malerei gewidmeten Schrift Le surr8alisme et la peinture für die »contemplation silencieuse« (»stille Kontemplation«) und gegen »l’expression musicale, celle-ci de toutes la plus profond8ment confusionnelle« (»den musikalischen Ausdruck, der von allen der zutiefst verwirrendste ist«), aussprach.2 Die »auditiven Bilder« seien, im Gegensatz zu den visuellen in der Malerei – wenn dies auch den Musikliebhabern nicht gefalle – nicht dazu geeignet, die »Idee von menschlicher Größe zu stärken«: »En effet les images auditives le cHdent aux images visuelles non seulement en nettet8, mais encore en rigueur et, n’en d8plaise / quelques m8lomanes, elles ne sont pas faites pour fortifier l’id8e de la grandeur humaine.«3 Yves Bonnefoy erklärt in seinem Aufsatz Le surr8alisme et la musique (1989), dass Breton aus einer »attitude sans compromis« (»kompromisslosen Haltung«) heraus sowohl klassische Musik als auch die neuen musikalischen Formen seiner Zeit zurückgewiesen habe.4 Die Musik aus fernen Ländern wie Neu-Guinea oder Amazonien hätte die Surrealisten interessieren können, doch sei sie, im Gegensatz zu den Kunstgegenständen dieser Regionen, erst viel zu spät nach Eu1 Vgl. Uwe Schneede: Die Kunst des Surrealismus: Malerei, Skulptur, Dichtung, Fotografie, Film. München 2006, S. 60. 2 Andr8 Breton: Le surr8alisme et la peinture. Paris 1965, S. 11f. Sofern nicht anders angegeben, stammen die Übersetzungen von der Verfasserin. 3 Ebd., S. 12. »In der Tat stehen die auditiven Bilder den visuellen nicht nur an Klarheit nach, sondern auch an Unerbittlichkeit und, zum Missfallen einiger Melomanen, sind sie nicht dazu geschaffen, die Vorstellung menschlicher Größe zu stärken.« 4 Yves Bonnefoy : Le Surrealismus et la musique. In: Ders.: Entretiens sur la po8sie. Paris 1990, S. 157–167, hier S. 161.
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ropa gelangt.5 Breton messe allein den Schreien von Seevögeln der Insel Bonaventure oder der Bretagne surrealistisches Potential bei, die er an den Grenzen von Ausdruck und Lärm verorte (»aux confins de l’expression et du simple bruit«; »an den Grenzen von Ausdruck und bloßem Lärm«).6 Diese kompromisslose Ablehnung der Musik schlage sich, Bonnefoy zufolge, weiterhin sowohl in Bretons Arbeit an den Wörtern als auch der Prosodie nieder, sein Vers sei »totalement non-musical« (»vollkommen unmusikalisch«).7 Nicolas Castin betont in Der Surrealismus und die Musik, ein ohrenbetäubendes Missverständnis in Anlehnung an Bonnefoys These von der »Kompromisslosigkeit« Bretons, dass ab Juni 1920 »eine methodische Ausgrenzung betrieben [wurde]«, und geht auch auf die abwesende Musikalität – insbesondere bei Breton und Aragon – ein.8 Die »akustische Phänomenologie des Surrealismus« sei darin so einzigartig, »dass sie darauf abzielt, mit der eingesetzten Auflösung der Strukturen ein aus der Zeit vor Form und Ordnung stammendes und noch nichts bedeutendes ›Lautuniversum‹ oder genauer eine ›Lautmasse‹, also ein in Wesen und Körper verwurzeltes vorperzeptives Ereignis zu erreichen.«9 Im Rhythmus sieht Castin eine erste Brücke […] zwischen der Musik und den theoretischen und praktischen Forderungen, die die Welt des Surrealismus kennzeichnen: Ohne den Zwang einer Struktur, ohne die Erfordernis einer Komposition und ohne von oben herab den ungeschliffenen Ausdruck des Menschen oder die radikale Spontaneität seiner Erscheinung zum Erstarren zu bringen, vermittelt der Rhythmus im besten Sinne das unstete Auftreten eines nicht verbalisierenden Triebes.10
S8bastien Arfouilloux hat in seiner Schrift Que la nuit tombe sur l’orchestre – Surr8alisme et musique gezeigt, dass die Musik – entgegen den plakativ vorgebrachten Äußerungen Bretons hinsichtlich einer Hierarchisierung der Künste – eine wesentliche Rolle für die surrealistische Ästhetik spielte und einen entscheidenden Beitrag zum »surrealistischen Geist« leistete. Arfouilloux spricht vom »int8rÞt ind8niable d’Andr8 Breton tout au long de son œuvre pour le thHme de l’audition« (»unleugbaren Interesse Bretons durch sein ganzes Werk hindurch für das Thema des Hörens«).11 5 6 7 8
Ebd. Ebd. Ebd., S. 162. Nicolas Castin: Der Surrealismus und die Musik, ein ohrenbetäubendes Missverständnis. In: Werner Spies (Hg.): Surrealismus 1919–1944. Düsseldorf, Ostfildern-Ruit 2002, S. 409–415, hier S. 409; zu Breton und Aragon vgl. ebd., S. 410. 9 Ebd., S. 410. 10 Ebd., S. 411. 11 S8bastien Arfouilloux: Que la nuit tombe sur l’orchestre – Surr8alisme et musique. Paris 2009, S. 9. Vgl. auch ders. (Hg.) : Le silence d’or des surr8alistes. Ch.teau-Gontier 2014.
Musikalität und Gesang in der surrealistischen Rilke-Rezeption
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Die intermediale Grenzüberschreitung zwischen Literatur und Musik zieht über diese These hinaus eine nationalkulturelle Erweiterung nach sich, indem die französischen Surrealisten durch den Einbezug der Musik eine Verbindung zu dem für die Musikgeschichte bedeutenden Italien herstellten. Dies ist bei Louis Aragon stärker nachzuweisen als beim deutlich nationalistischer eingestellten »Pape du surr8alisme« Andr8 Breton, der im Hinblick auf die verschiedenen Grenzüberschreitungen in sich widersprüchlich erscheint: Der Surrealismus ist nämlich per se grenzüberschreitend.12 Die Anbindung an die italienische Musik erfolgt bei Louis Aragon u. a. durch den Einbezug verschiedener Epochen der Musikgeschichte. So zeigt sein Prosawerk des Paysan de Paris (1926) beispielsweise zum Teil explizite Bezüge zur Oper als italienischem Genre par excellence, das sich stadtgeschichtlich am Pariser Th8.tre Italien, später Com8die Italienne, festmachen lässt – das wohl berühmteste Kapitel des Paysan de Paris trägt den Titel »Le Passage de l’Op8ra«; implizit spielt bei Aragon aber auch die Rezeption zeitgenössischer italienischer Künstler der Avantgarde eine Rolle. Unbedingt zu nennen sind hier die universalkünstlerisch ausgerichteten Brüder de Chirico und vor allem der jüngere Andrea de Chirico, der sich in Paris den Künstlernamen Alberto Savinio verlieh. Louis Aragon legt seiner surrealistischen Ästhetik des Paysan de Paris die Überschreitung nationaler und medialer Grenzen zugrunde. Dies gilt für Europa und insbesondere das Dreieck, das Italien und Deutschland mit Frankreich bilden, aber auch für außereuropäische Nationen und Länder wie beispielsweise die USA. Was die intermedialen Bezüge angeht, spielt hier die Musik eine wesentliche Rolle als Abgrenzung zum eher visuell ausgerichteten Surrealistenkollegen Andr8 Breton. Louis Aragon befindet sich im Winter 1918, unmittelbar nach dem Kriegsende, in Deutschland; er kauft und liest dort während des Hochwassers am Rhein Werke von Rilke.13 Er steht zu diesem Zeitpunkt – der als historischer Entstehungsmoment der 8criture automatique ausgemacht werden kann – bereits in engem Kontakt mit Breton. Im Mai und Juni 1919 verfasst der Wortführer der Surrealisten zusammen mit Philippe Soupault den Großteil der Champs magn8tiques, die im Frühsommer 1920 als erstes Werk in der neuen Schreibweise erscheinen.14 Aragon ist überaus fasziniert von der 8criture automatique, jedoch auch enttäuscht darüber, nicht persönlich am literaturgeschichtlichen Meilenstein der Champs magn8tiques beteiligt gewesen zu sein. Dies ist darauf zu12 Zu den folgenden Thesen vgl. Verf.: Rivieras de l’irr8el – Surrealismen in Italien und Frankreich. Würzburg 2019. 13 Vgl. Olivier Barbarant: Chronologie. In: Louis Aragon: Œuvres po8tiques complHtes, vol. I. Paris 2007, S. LIV. Rilke wird im umfangreichen Namensregister bei Arfouilloux nicht aufgeführt. 14 Vgl. Marguerite Bonnet: Chronologie. In: Andr8 Breton: Œuvres complHtes, vol. I. Paris 1988, S. XXXVIII–XLI.
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rückzuführen, dass er in der Entstehungszeit derselben nicht in Paris vor Ort, sondern als Arzt in Saarbrücken und später in Boppard am Rhein stationiert war.15 Rosowsky weist mit Bezug auf die historische Darstellung der Bewegung durch Pierre Daix darauf hin, dass Aragon […] aus verschiedenen Gründen und durch äußere Umstände (Ferien, Reisen, Liebesgeschichten) in den entscheidenden Momenten der surrealistischen Entdeckung nicht anwesend und daher, wie es der Zufall so will, nicht in die ersten Erfahrungen mit dem automatischen Schreiben und der Hypnose eingebunden [war].16
Die Vorarbeiten für die Entwicklung der neuen Schreibtechnik hatte er jedoch gemeinsam mit seinen Dichterkollegen auf den Weg gebracht. Karlheinz Barck verortet die »surrealistische Keimzelle« seit 1917 in der »Dreiergruppe BretonAragon-Soupault«.17 Aragon selbst beschreibt die Anfänge des Surrealismus wie folgt: Le surr8alisme, pour l’appeler ainsi, en r8alit8, commence / la fin du printemps 1919. Seulement alors, il ne porte pas ce nom pour nous. Quand je suis revenu de l’arm8e en [juin] 1919, Breton est venu me montrer des textes de Soupault et de lui, lesquels ont constitu8 dans les mois suivants le manuscrit d’un livre, Les Champs magn8tiques. […] Et ce sont ces textes, comme Pluard et moi nous attach.mes / notre tour / en 8crire, que nous appelions entre nous des textes surr8alistes. Le mot surr8aliste n’avait pour nous que ce sens.18
Bezeichnenderweise ist die 8criture automatique in Aragons Prosawerk – dem Manifest Une vague de rÞves und dem Paysan de Paris – deutlich stärker und fließender spürbar, als in Bretons zwei Jahre später konsequent nach der image surr8aliste, dem zweiten ästhetischen Prinzip des Surrealismus, strukturierten autobiographischen Roman Nadja (1928).19 15 Vgl. Barbarant: Chronologie. S. LV. 16 Giuditta Isotti Rosowsky : Savinio, Frankreich und der Surrealismus. In: Andrea Grewe (Hg. unter Mitarb. v. Sabine Kleymann): Savinio europäisch. Berlin 2005, S. 69–82, hier S. 70. Rosowsky unterstreicht in Anlehnung an Pierre Daix: La vie quotidienne des surr8alistes 1917–1932. Paris 1993, wie heterogen der französische Surrealismus war, dass sich jedoch Aragon den Vorgaben Bretons beugen musste. Vgl. ebd. S. 71. 17 Karlheinz Barck: Differenzierung der Beziehungen zwischen künstlerischer und politischer Avantgarde. Blickrichtung: französischer Surrealismus. In: Ders. (Hg.): Künstlerische Avantgarde: Annäherungen an ein unabgeschlossenes Kapitel. Berlin 1979, S. 191–219, hier S. 207. 18 Louis Aragon zit. nach Pierre Daix: La vie quotidienne des surr8alistes, S. 63–64. »Der Surrealismus, um ihn so zu nennen, beginnt gegen Ende des Frühjahrs 1919. Jedoch trug er damals für uns noch nicht diesen Namen. Als ich [im Juni] 1919 von der Armee zurückkam, zeigte mir Breton Texte von Soupault und sich selbst, die in den darauffolgenden Monaten das Manuskript eines Buches, der Champs magn8tiques, bildeten. […] Und diese Texte, wie auch Pluard und ich sie unsererseits zu schreiben begannen, sind es, die wir unter uns surrealistische Texte nannten. Der Begriff surrealistisch hatte für uns nur diesen einen Sinn.« 19 Vgl. Verf.: Surrealismen in Italien und Frankreich.
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1919, in dem Jahr der Entstehung der Champs magn8tiques,20 ist auch der Essay Ur-Geräusch erschienen, in dem Rilke der Vorstellung nachgeht, der Kranznaht eines Schädels mit Hilfe eines Phonographen Töne zu entlocken. Jeder Mensch habe dementsprechend eine eigene Musik in seinen Körper eingeschrieben: Wie nun, wenn man diesen Stift [eines Phonographen; E.-T. M] täuschte und ihn, wo er zurückzuleiten hat, über eine Spur lenkte, die nicht aus der graphischen Übersetzung eines Tones stammte, sondern ein an sich und natürlich Bestehendes –, gut: sprechen wirs nur aus: eben (z. B.) die Kronen-Naht wäre –: Was würde geschehen? Ein Ton müßte entstehen, eine Ton-Folge, eine Musik…21
Rilke kommt des Weiteren zu der Überlegung, allein die Liebe ermögliche die »zugleich einsetzende Befähigung und Leistung aller Sinne«, wobei er das Gehör unbedingt einschließt; in der Zeichnung, mit Hilfe derer er sich »das [sic!] gesamte Erfahrungsbereich der Welt, auch seine uns übertreffenden Gebiete, in einem vollen Kreise dar[stellt]«, wird ersichtlich, dass die »schwarzen Sektoren«, »die das Unerfahrbare bezeichnen«, deutlich größer sind.22 Somit zeigt auch Rilke Tendenzen, die Realität zu erweitern und dem Geheimnisvollen durch Poesie und Musikalität zum Ausdruck zu verhelfen. Die Zusammenführung von wissenschaftlichem Experiment und Empfindung, Organischem und Mechanischem/Artifiziellem, Visuellem und Auditivem23 und das Zusammenfallen von Kunst und Leben stellen in dieser Schaffensphase Rilkes wichtige Analogien zum Surrealismus dar. Es soll im Folgenden der These nachgegangen werden, dass die Rilke-Lektüre die Entwicklung Louis Aragons zum surrealistischen Autor entscheidend beeinflusst hat. Insbesondere spielen bei der außerordentlich gelungenen Umsetzung der 8criture automatique in seinem Manifest Une vague de rÞves – 1924 kurz vor Bretons offiziellem surrealistischen Manifest erschienen – ebenso wie in seinem Paysan de Paris Musikalität und Gesang eine wesentliche Rolle; diese sind auf die Rezeption Rilkes und der musikalisch ausgerichteten deutsch-italienischen Avantgarde zurückzuführen. Es lässt sich folglich die in Wechselwirkung stehende deutsch-italienische Einflussnahme auf die Entwicklung des 20 Rüdiger Görner verdanke ich den Hinweis, dass das Magnetfeld im Kontext der wissenschaftlichen Diskurse der Zeit in Analogie zum Sonanzfeld betrachtet werden kann. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Rüdiger Görner in dem vorliegenden Band. 21 KA IV, S. 702. 22 Ebd., S. 703. 23 Vgl. Katherine Hirt: When Machines Play Chopin. Musical Spirit and Automation in Nineteenth-Century German Literature. Berlin 2010, S. 146: »The phonograph experiment […] mixes sight and sound, two of the five senses, as well as technology and art, and imagines a resulting music from the phonograph’s funnel that goes back to the original sound of nature and Rilke’s ›melody of the background‹, encompassing all things – organic and artificial.«
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Surrealismus in Paris ausmachen, der dadurch – entgegen aller nationalen Zuschreibungen – als dezidiert europäisches Phänomen zu betrachten ist. Umgekehrt erscheint auch Rilkes Musikalität, aus der Richtung des Surrealismus betrachtet, in einem neuen Licht.
1.
Rilke und die Avantgarde
Im März 1914 lernt Rilke durch Vermittlung der Pianistin Magda von Hattingberg, mit der er unter dem italienischen Namen »Benvenuta« 1913/14 einen für sein Musikverständnis wichtigen Liebesbriefwechsel geführt hatte, den deutschitalienischen Komponisten Ferruccio Busoni in Berlin kennen. Dieser hatte bereits 1907 seinen avantgardistischen Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst in deutscher Sprache zuerst in Berlin, dann in Triest herausgegeben. In italienischer Sprache wurde der Entwurf erst 1913 in Rom veröffentlicht.24 Die umgearbeitete und ergänzte zweite Auflage dieses Manifests erschien auf Empfehlung Rilkes 1916 im renommierten Leipziger Insel-Verlag. Busoni widmete sie dem »Musiker in Worten – Rainer Maria Rilke – verehrungsvoll und freundschaftlich«.25 Rüdiger Görner zufolge habe den Dichter insbesondere »die Vorstellung des Komponisten, die Moderne aus Bach und Beethoven abzuleiten«, aber auch die Vermittlung des musikalischen Kunstwerks »zwischen Zeit und Nicht-Zeit«,26 Klang und Stille beeindruckt. Busonis Werk wurde außer von Rilke auch von Filippo Tommaso Marinetti und seiner vorrangig in Mailand angesiedelten futuristischen Bewegung geschätzt. Fiamma Nicolodi zufolge, die die Beziehung Busonis zum italienischen Kontext erforscht hat, seien sogar Auswirkungen von Busonis Entwurf im Manifesto tecnico della musica futurista (1911) von Francesco Balilla Pratella auszumachen. Sie führt die Übereinstimmungen auf den Zeitgeist zurück, schließt aber eine Rezeption des Entwurfs von Seiten Pratellas nicht aus. Busoni selbst distanziert sich von den ungestümen Futuristen, die er sogar als Sekte bezeichnet;27 in seinem Offenen Brief an Hans Pfitzner weist er dessen im Pamphlet
24 Vgl. Fiamma Nicolodi: Busoni und die italienischen Musiker der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – Weitere Überlegungen. In: Albrecht Riethmüller (Hg.): Busoni in Berlin: Facetten eines kosmopolitischen Komponisten. Stuttgart 2004, S. 207–230, hier S. 211. 25 Ferruccio Busoni: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. Mit Anmerkungen von Arnold Schönberg und einem Nachwort von H. H. Stuckenschmidt. Frankfurt a. M. 1974, S. 5. 26 Rüdiger Görner : Musik. In: Manfred Engel (Hg. unter Mitarb. v. Dorothea Lauterbach): Rilke-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar 2004, S. 151–154, hier S. 151. 27 Vgl. Nicolodi: Busoni und die italienischen Musiker, S. 218.
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Futuristengefahr 1917 vorgebrachten Vorwurf der Zugehörigkeit Busonis zu der Mailänder Bewegung dezidiert zurück.28 Im Hinblick auf die Entwicklung der 8criture automatique fallen zwei scheinbar gegensätzliche Strömungen der Avantgarde ins Gewicht: auf der einen Seite die Grenzgänger Busoni und sein Geistesverwandter Alberto Savinio, auf der anderen der nationalistisch ausgerichtete Futurismus um Filippo Tommaso Marinetti (ironischerweise auch ein Grenzgänger!). In Andr8 Bretons surrealistischer Ästhetik lassen sich mit einem Verzug von fünfzehn Jahren (1909– 1924) wörtliche Anklänge an Marinettis Manifesto del futurismo ablesen, allen voran die futuristische »immaginazione senza fili«, die zur surrealistischen »imagination sans fil«29 wird, und die Verkettung der Bilder (»catena delle analogie«).30 Beide ästhetischen Prinzipien des Surrealismus, die 8criture automatique und die image surr8aliste, sind bei Marinetti schon angelegt, der auch bereits auf eine psychische Dimension zielt (»psicologia intuitiva della materia«31). Dass sich Rilke für Busoni interessierte und ihn auch schätzte,32 zeigt seine Verbundenheit mit der Musik der nicht dem Futurismus verschriebenen Avantgarde. Marinetti, der in seinem Manifesto tecnico u. a. proklamativ behauptete: »Il calore di un pezzo di ferro o di legno H ormai piF appassionante, per noi, del sorriso o delle lagrime di una donna«, oder »[…] vinceremo l’ostilit/ apparentemente irriducibile che separa la nostra carne umana dal metallo dei motori«,33 dürfte den feinsinnigen Rilke wohl eher abgeschreckt haben. Busoni vergleichbar ist hingegen die bereits erwähnte, nationale Grenzen überschreitende Kunst Alberto Savinios, der wie Busoni italienischer Abstammung war, in 28 Vgl. Rüdiger Görner : »Das sich öffnende Gitter« – zur Moderne: Ferruccio Busonis Ästhetik der Tonkunst, Hans Pfitzners Futuristengefahr und Schönbergs Kommentar. In: Carsten Dutt (Hg.): Figurationen der literarischen Moderne. Helmuth Kiesel zum 60. Geburtstag. Heidelberg 2007, S. 108–117, hier S. 113. 29 Andr8 Breton: Point du Jour (1934). In: Ders.: Œuvres complHtes, vol. II, Paris 1992, S. 265. 30 Filippo Tommaso Marinetti: Manifesto tecnico della letteratura futurista. 11 maggio 1912. In: Luciano de Maria (Hg.): Teoria e invenzione futurista. Milano 1968, S. 49 u. S. 53, Hervorhebung durch E.-T. M. Die »immaginazione senza fili« spielt auf die im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts entwickelte drahtlose Kommunikation, die Funktelegrafie, an, die der Italiener Guglielmo Marconi 1896 präsentierte und für die er im Erscheinungsjahr des futuristischen Manifests (1909) den Nobelpreis erhielt. Vgl. Martina Heßler : Kulturgeschichte der Technik. Frankfurt a. M. 2012, S. 131. 31 Marinetti: Manifesto tecnico della letteratura futurista, S. 52, Hervorhebungen durch E.-T. M. 32 Über seine Eindrücke vom Frühjahr 1914 in Berlin schrieb Rilke an Lou Andreas-Salom8 am 9. März 1914: »Und die seltsamsten Fügungen und Musik –, herrliche durch Busoni.« RMR: Briefwechsel. Zürich 1952, S. 332. Vgl. Görner: Musik, S. 151. 33 Marinetti: Manifesto tecnico della letteratura futurista, S. 51 u. S. 54. »Die Wärme eines Metall- oder Holzstücks ist für uns nunmehr leidenschaftlicher als das Lächeln oder die Tränen einer Frau«; »[…] wir werden die scheinbar irreduzible Feindschaft überwinden, die unser menschliches Fleisch vom Metall der Motoren trennt«.
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Griechenland geboren wurde und aufwuchs und dann, bevor er nach Paris gelangte, ab 1906 in München bei Max Reger Kompositionsstunden nahm. Reger bezog sich ebenso wie Busoni auf Bach und gilt in der Musikgeschichte sowohl als Spätromantiker als auch als Komponist zwischen Historismus und Moderne. In Savinios surrealistischen musikalischen Werken sind dabei klare Bezüge zu Reger zu erkennen. Mit Bach und Beethoven, die als Bezugspunkte dieser Modernen gewählt wurden, wird der Autor als Subjekt ins Zentrum gerückt. Beide bieten zudem Formen an, die den Aspekt der künstlerischen Freiheit einbinden, indem sie überlaufen werden.34 Diese Spannung ist auch in der surrealistischen Ästhetik angelegt: Die frei fließende 8criture automatique steht hier im Wechselverhältnis mit der strukturierenden image surr8aliste.
2.
Brückenbögen und (Klang-)Teppiche. Rilke, Busoni, Savinio, Aragon
In seinem Rilke gewidmeten Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst von 1916 deutet Busoni bereits auf die surrealistische Freiheit voraus, die einem kindlichen Geist entspringt. Man beachte das Erscheinungsjahr mitten im Ersten Weltkrieg und damit die Bestätigung der wesentlichen Bedeutung der Kriegsschrecken für die Herausbildung des Surrealismus. So jung es ist, dieses Kind, eine strahlende Eigenschaft ist an ihm schon erkennbar, die es vor allen seinen älteren Gefährten auszeichnet. Und diese wundersame Eigenschaft wollen die Gesetzgeber nicht sehen, weil ihre Gesetze sonst über den Haufen geworfen würden. Das Kind – es schwebt! Es berührt nicht die Erde mit seinen Füßen. Es ist nicht der Schwere unterworfen. Es ist fast unkörperlich. Seine Materie ist durchsichtig. Es ist tönende Luft. Es ist fast die Natur selbst. Es ist frei. Freiheit ist aber etwas, das die Menschen nie völlig begriffen noch gänzlich empfunden haben. Sie können sie nicht erkennen noch anerkennen. Sie verleugnen die Bestimmung dieses Kindes und fesseln es. Das schwebende Wesen muß geziemend gehen, muß, wie jeder andere, den Regeln des Anstandes sich fügen; kaum, daß es hüpfen darf – indessen es seine Lust wäre, der Linie des Regenbogens zu folgen und mit den Wolken Sonnenstrahlen zu brechen.35
Im Surrealismus wie bei Rilke handelt es sich um eine – unterschiedlich gewichtete – Gratwanderung zwischen Freiheit und Form. Rilke schreibt am 1. Februar 1914 an Magda von Hattingberg, und man achte auf die Nähe zu Busoni in der Wortwahl: 34 Diese Hinweise verdanke ich Gesa zur Nieden. Mit Bezug auf George Barths The pianist as Orator erklärt zudem Hirt: When machines play Chopin, S. 129: »Beethoven’s playing style left much to the performer’s sense of the ›form of feeling‹ (52), following the performance traditions of his time.« 35 Busoni: Neue Ästhetik der Tonkunst, S. 10f., Hervorhebungen durch E.-T. M.
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Wenn ich mich erinnere, was an unmittelbarer Gewalt anstand in irgend einem Stück abgebrochner uralter Musik, wie ich dergleichen in Italien oder Spanien, auch im südlichen Russland manchmal, zu hören bekam –, so kommt mir Beethoven wie der Herr der Heerschaaren vor, der Macht hat über die Mächte und der die Gefahren aufreißt, um die Brückenbogen strahlender Rettungen drüber zu werfen.36
Busoni und Rilke verbinden in diesen Texten das »Strahlen« und die »Bögen«, die durchaus auch an eine Partitur denken lassen: Haltebögen, Legato-Bögen, Bögen, die Phrasen anzeigen etc. In Louis Aragons 1924 kurz vor dem offiziellen surrealistischen Manifest erschienener Programmschrift Une vague de rÞves kommen die Brückenbögen ebenfalls vor. Dort heißt es: Il m’arrive de perdre soudain tout le fil de ma vie: je me demande, assis dans quelque coin de l’univers, prHs d’un caf8 fumant et noir, devant des morceaux polis de m8tal, au milieu des all8es et venues de grandes femmes douces, par quel chemin de la folie j’8choue enfin sous cette arche, ce qu’est au vrai ce pont qu’ils ont nomm8 le ciel.37
Hier wird deutlich, dass die Brücke bei Aragon anders als bei Rilke die »strahlende Rettung« nicht mehr leistet, sondern im Gegenteil das Ich, das plötzlich den »Faden seines Lebens« verliert, sich von sinnlichen Eindrücken in der Stadt – das hier erwähnte »m8tal« ist auch für die futuristische Ästhetik von wesentlicher Bedeutung – und den passions verführen lässt; unter einem Brückenbogen erleidet es letztlich Schiffbruch und geht unter. Sich an die veränderten Bewusstseinszustände und damit auch an die 8criture zu verlieren, ist bei den Surrealisten Programm. Die surrealistische Wahrnehmung widersetzt sich jeglichem Freiheitsentzug und stellt im folgenden Textbeispiel den bindenden Fesseln die »airs que parfois je fredonne« (»Melodien, die ich manchmal summe«) ebenso entgegen wie die Luft, den Luftzug oder den Wind, in die die Bedeutung von »air« überzugehen scheint: Mais entre tous les airs que parfois je fredonne, il en est un pourtant qui me donne aujourd’hui une libre illusion du printemps et des pr8s, une illusion de la libert8 v8ritable. Cet air je l’ai perdu, et puis je le retrouve. Libre, libre: c’est l’heure oF la cha%ne aux anneaux clairs du vent par les moires du ciel s’envole, c’est l’heure oF le boulet
36 RMR an Magda von Hattingberg, 1. Februar 1914. In: RMR, Magda von Hattingberg: Briefwechsel mit Magda von Hattingberg »Benvenuta«. Hg. v. Ingeborg Schnack, Renate Scharffenberg. Frankfurt a. M. 2000, S. 31, Hervorhebungen durch E.-T. M. 37 Louis Aragon: Œuvres po8tiques complHtes, vol. I, S. 83, Hervorhebungen durch E.-T. M. »Es geschieht, dass ich plötzlich den ganzen Faden meines Lebens verliere: Ich frage mich, in irgendeinem Winkel des Universums sitzend, bei einem dampfenden schwarzen Kaffee, vor glänzenden Metallstücken, mitten im Kommen und Gehen großer zarter Frauen, durch welchen Weg des Wahnsinns ich schließlich unter diesem Brückenbogen untergehe, welche in Wirklichkeit die Brücke ist, die sie Himmel genannt haben.«
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devient l’esclave des chevilles, oF les menottes sont des bijoux. Il arrive qu’aux murs du cachot le reclus taille une inscription qui fait sur la pierre un bruit d’ailes.38
Rilke fürchtet hingegen das »Überwältigtwerden« und kompensiert es durch die Form sowie die andere Seite der Musik: die Stille. Was die beiden Dichter, Rilke und Aragon, jedoch verbindet, ist die aus der Freiheit gewonnene Musikalität der Dichtung, die bei beiden motivisch durch Wellenbewegungen angedeutet ist, wie der Titel von Aragons surrealistischem Manifest Une vague de rÞves es im Wortlaut nachempfindet. In den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge tritt diese Wellenbewegung in der Beschreibung der Teppiche der Dame / la Licorne auf, und zwar in der Beschreibung desjenigen Teppichs, der dem Gehör gewidmet ist. Betont wird die Wellenbewegung durch die signifikante Positionierung am Schluss der Beschreibung: Mußte nicht Musik kommen in diese Stille, war sie nicht schon verhalten da? Schwer und still geschmückt, ist sie (wie langsam, nicht?) an die tragbare Orgel getreten und spielt, stehend, durch das Pfeifenwerk abgetrennt von der Dienerin, die jenseits die Bälge bewegt. So schön war sie noch nie. Wunderlich ist das Haar in zwei Flechten nach vorn genommen und über dem Kopfputz oben zusammengefaßt, so daß es mit seinen Enden aus dem Bund aufsteigt wie ein kurzer Helmbusch. Verstimmt erträgt der Löwe die Töne, ungern, Geheul verbeißend. Das Einhorn aber ist schön, wie in Wellen bewegt.39
Die Musik tritt hier auf intradiegetischer Ebene beim Rezipienten Malte wie auch auf extradiegetischer Ebene beim Leser jeweils nur in der Imagination auf; Gleiches gilt für die Performanz, die Rilke wenige Jahre später bei der Pianistin Magda von Hattingberg, seiner Benvenuta, beeindruckte. Die der Musik zugeschriebene Wellenbewegung findet sich jedoch motivisch in den Fäden wieder, mit denen der Teppich geknüpft ist; sie wiederum spiegeln sich in Rilkes fließender Prosa, die zugleich ein reiches, teilweise auch in sich gegensätzliches Bildmaterial freilegt (beispielsweise der Löwe und das Einhorn).40 Der Teppich trägt Beides in sich: Zeit und Nicht-Zeit, Schwere und Bewegung, Musik und Stille, leichtes Fließen und schwere Form. Angesiedelt ist die Szene der Dame / la 38 Ebd., S. 96, Hervorhebungen durch E.-T. M. »Aber unter allen Melodien, die ich manchmal summe, gibt es immerhin eine, die mir heute eine freie Vorstellung des Frühlings und der Wiesen schenkt, eine Vorstellung von der wahrhaftigen Freiheit. Diese Melodie habe ich verloren und finde sie dann wieder. Frei, frei: Das ist die Stunde, wenn die Kette aus hellen Ringen aus Wind durch die Moiren des Himmels verfliegt, das ist die Stunde, wenn die Eisenkugel zum Sklaven der Knöchel wird, wenn die Handschellen Schmuckstücke sind. Es geschieht, dass der Abgeschiedene eine Inschrift in das Gemäuer des Kerkers meißelt, die auf dem Stein den Laut eines Flügelschlags hinterlässt.« 39 KA III, S. 545, Hervorhebungen durch E.-T. M. 40 Zur Interpretation der Teppiche vgl. Verf.: »Gewebe, Teppich, Shawl in den Berner Gedichten und im Malte«. In: Blätter der Rilke-Gesellschaft 32 (2014), S. 29–40.
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Licorne auf einer Insel, von der es heißt, dass sie »schwebend im zurückhaltend roten Grund« sei, dass sie »im letzten Teppich« ein wenig aufsteige, »als ob sie leichter geworden sei«.41 Die Insel legt ein sie umfließendes Meer von Verknüpfungen, Assoziationen und Analogien nahe. Im Surrealismus fungiert das Meer als Symbol par excellence für das Unbewusste. Dass sich Malte mit der abwesenden Abelone über die Teppiche unterhält und Abelone eine Art Mutterersatz, aber auch eine Geliebte für ihn darstellt, zeigt aus surrealistischer Perspektive die Grenzerfahrungen von Geburt bzw. Leben, Liebe und Tod auf. Allerdings bleibt bei Rilke die künstlerische Form als Rahmen erhalten; es findet keine überwältigende Einheit von Kunst und Leben statt, wie sie der Surrealismus propagiert. Castin schreibt in Bezug auf den Surrealismus: Und schließlich ist es die Stille, die aus der Konfrontation von musikalischer Erfahrung und surrealistischem Schub hervorzugehen scheint; eine Stille, die allein dazu in der Lage ist, das Ohr mit dem nicht auszudrückenden Zauber ihrer Tiefe in ihren Bann zu ziehen. […] Es ist nicht die architektonische Stille Beethovens und auch nicht die reine Präsenz, die den Ton in den Werken Debussys gestaltet, sondern die Stille als Abwesenheit, genauer gesagt als »Marge« wie es Eluard bei seinem Vortrag anlässlich der Ausstellung der Surrealisten 1936 in London betonte.42
Die Abwesenheit kennzeichnet die großen Liebenden Rilkes, wie hier Abelone, und ist Bedingung ihres schöpferischen Potenzials. Auch bei Aragon werden die Fäden aufgegriffen ebenso wie die »tapisserie«, die sich poetologisch ausdeuten lässt. Der Paysan erkennt die Frauenerscheinungen im Passage de l’Op8ra als Teppich an: »Tapisserie humaine et mobile, qui s’effiloche et se r8pare.«43 Des Nachts verwandelt sich die Passage dann in eine Meereslandschaft, womit auch hier die Wellenbewegung gegeben ist. Motivisch taucht im Paysan außerdem auch immer wieder die den Faden verarbeitende Handarbeit auf. Die Concierge näht, als hingen ihr Leben und das ganze Universum davon ab; sie schlägt, indem sie den Faden mechanisch verarbeitet, die Zeit tot, »verschleißt« ihr Leben; positiv klingt dabei die Hingabe an die 8criture automatique,44 an ihren Klang-Teppich, an: »[…] ces deux vieillards qu’on aperÅoit, usant leur vie, lui / fumer et elle / coudre, / coudre encore, inlassablement coudre, comme si, de cette couture, d8pendait le sort de l’univers.«45 Ein 41 KA III, S. 544. 42 Castin: Der Surrealismus und die Musik, S. 412. 43 Louis Aragon: Le paysan de Paris. Paris 1926, renouvel8 en 1953, S. 48. »Menschlicher beweglicher Teppich, der sich zerfasert und den man ausbessert«. 44 Vgl. Daniel Bougnoux: Notice. In: Louis Aragon: Œuvres po8tiques complHtes, vol. I. Paris 2007, S. 1256. 45 Aragon: Le paysan de Paris, S. 27. »[…] diese beiden Alten, die man sieht, wie sie ihr Leben verschleißen, er rauchend, sie nähend, und wieder nähend, unermüdlich nähend, als ob von diesem Nähen das Schicksal des Universums abhinge«.
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deutlich an Rilkes Dame / la Licorne erinnerndes surrealistisches Textbeispiel taucht im Prosawerk Alberto Savinios auf, seiner Tragedia dell’infanzia (1919 verfasst), die wiederum Louis Aragon als konkrete Vorlage diente, wie man an seiner Wortwahl im Paysan ablesen kann.46 Auch hier steht der Teppich mit den Einhörnern im Zusammenhang mit lebensspendender Musikalität. Im Kapitel »Leonidas« aus Savinios Roman geht es um einen kleinen Vogel, der aus dem Nest in der »grondaia sonora«, der »klangvollen Dachrinne«, fällt, in der »es zwitscherte und piepste, weil dort die Vögel nisteten«;47 nachdem der Vogel gepflegt wurde, fliegt er davon. Der Vogel antizipiert die Genesung des kranken Kindes, das über den Teppich den Wiedereinstieg ins Leben und dessen vitalen Rhythmus wagt. Grandi sorprese mi aspettavano al primo giorno che mi alzarono dal letto. Il tappeto della mia camera era istoriato di liocorni affrontati, i quali reggevano tra corno e corno una rosa grande come un cavolfiore, ed erano chiusi dentro rami di alloro che al sommo si annodavano a fiocco. Questo tappeto col suo motivo araldico ripetuto all’infinito, era il campo preferito dei miei viaggi immobili e meravigliosi. Ma era il medesimo di prima?48
Rilkes Musikalität ist im Beispiel des Teppichs der Dame / la Licorne, der das Gehör thematisiert, in der abwesenden Anwesenheit begriffen. Es wird eine Distanz gewahrt, die eine subtile Wahrnehmung suggeriert, die Musik vor dem Hintergrund der Stille evoziert. Sie entstammt der Imagination des Betrachters und schlägt sich in der Prosa nieder, die das Fließen mit der Form verbindet. Das Setting der Insel bleibt bis zum letzten Teppich bestehen. In den Texten Aragons und Savinios hingegen steigert sich die Musikalität bis hin zum vollkommenen, überwältigenden Einbezug des Subjekts; die freiheitliche Hingabe an die 8criture automatique erfordert den Selbstverlust und letztlich den Untergang in den Wogen des Meeres. Der subtilen Performanz der Dame / la Licorne an der Orgel stellte sich in der Pariser Realität der Vorkriegszeit der avantgardistische Savinio auf extreme Weise entgegen. Am 24. Mai 1914 präsentierte er sich in den Räumlichkeiten der Zeitschrift Soir8es de Paris mit einer einmaligen Performance seiner Chants de la mi-mort am Klavier vor den Zuschauern der Pariser 46 Vgl. Verf.: Surrealismen in Italien und Frankreich. 47 Savinio: Tragedia dell’infanzia, S. 26; Tragödie der Kindheit, Übers. v. Anna Leube. Frankfurt a. M. 1999, S. 20; Leube übersetzt »grondaia sonora« nicht wörtlich. 48 Savinio: Tragedia dell’infanzia, S. 28, Hervorhebungen durch E.-T. M., Übers. v. Leube, S. 22: »Große Überraschungen erwarteten mich am ersten Tag, als man mich aufstehen ließ. Der Teppich in meinem Zimmer war geschmückt mit Einhörnern, die einander gegenüberstanden und zwischen dem einen und dem anderen Horn eine Rose trugen, so groß wie ein Blumenkohl; sie waren eingeschlossen zwischen Lorbeerzweigen, die an der Spitze eine Schleife bildeten. Dieser Teppich mit seinem unendlich wiederholten heraldischen Motiv war das bevorzugte Terrain meiner wunderbaren, im reglosen Zustand unternommenen Reisen. Aber war er noch der von vorher?«
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Avantgarde und setzte sich damit ein provokatives Denkmal, das auch Andr8 Breton nachhaltig beeindruckte; dieser nimmt in den 1940er Jahren in seiner Anthologie de l’humour noir darauf eindrücklich Bezug:49 Nous ne saurions, 8crit / ce propos le critique des Soir8es de Paris, passer sous silence la faÅon dont M. Savinio interprHte ses œuvres au piano. Ex8cutant d’une ma%trise et d’une force incomparables, ce jeune compositeur, qui a en horreur le veston, se tient devant son instrument en bras de chemise, et c’est un singulier spectacle que de le voir se d8mener / l’extrÞme, hurler, fracasser les p8dales, d8crire des moulinets vertigineux, lancer des coups de poing dans le tumulte des passions, du d8sespoir, des joies d8cha%n8es… AprHs chaque morceau on 8tanchait le sang qui maculait les touches. Deux mois plus tard, la guerre 8clatait.50
3.
Gesang und Stille. Die Sirene bei Rilke, Savinio und Aragon
Abschließend soll anhand des Motivs der Sirene auf die unterschiedliche Bedeutung des Gesangs und der Stille bei Rilke, Savinio und Aragon hingewiesen werden. Heinz Politzer untersucht das Motiv der Sirene in der deutschsprachigen Literatur und arbeitet mehrere Aspekte heraus, die dem Grundgedanken des Surrealismus entsprechen. Beispielsweise erklärt er in Bezug auf Kafka, dass das Schweigen seiner Sirenen »wie ihr Gesang dem Unbewußten, Vorbewußten« entstamme. Außerdem betont er, dass sich die »Verbindung von Weib und Wasser« als fruchtbar erwiesen habe, »wenn es darum ging, dem Geheimnis unter dem Wort, dem Mysterium der Mitteilung, das gemäße Bild zu finden.« Die Nähe der Sirene zur Sphinx und ihr orakelhaftes Wissen führt Politzer hingegen auf eine Entgrenzung zurück, nämlich darauf, »daß sich ihr Bewußtsein ins Visionäre gesteigert hat, so daß es mehr wahrnimmt, als es fassen kann.«51 In Rilkes Gedicht Die Insel der Sirenen, entstanden 1907 in Paris und veröffentlicht in den Neuen Gedichten anderer Teil, fällt das Zusammenspiel von Stille und Meerestosen bzw. Gesang ins Auge. 49 Vgl. Verf., Gesa Zur Nieden: Der »Halbtod« eines Europäers. Kunst und Krieg bei Alberto Savinio. In: Zibaldone 57 (2014), S. 19–32, hier S. 19–21. 50 Andr8 Breton: Œuvres complHtes, Vol. II, S. 1124. »Wir könnten die Art, wie M. Savinio seine Werke am Klavier vorträgt, nicht mit Stillschweigen übergehen, so schreibt diesbezüglich der Kritiker der Soir8es de Paris. In der Ausführung ohnegleichen meisterhaft und stark steht dieser junge Komponist, der den Rock verabscheut, in Hemdsärmeln vor seinem Instrument, und es ist ein einzigartiges Spektakel, ihn aufs Äußerste um sich schlagen zu sehen, zu schreien, die Pedalen niederzuschmettern, schwindelerregende Armbewegungen zu beschreiben, Faustschläge zu verteilen im Tumult der Leidenschaften, der Verzweiflung, der entketteten Freuden… Nach jedem Stück stillte man das Blut, das die Tasten befleckte. Zwei Monate später brach der Krieg aus.« 51 Heinz Politzer : Das Schweigen der Sirenen. Studien zur deutschen und österreichischen Literatur. Stuttgart 1968, S. 16, 18, 19.
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DIE INSEL DER SIRENEN Wenn er denen, die ihm gastlich waren, spät, nach ihrem Tage noch, da sie fragten nach den Fahrten und Gefahren, still berichtete: er wußte nie, wie sie schrecken und mit welchem jähen Wort sie wenden, daß sie so wie er in dem blau gestillten Inselmeer die Vergoldung jener Inseln sähen, deren Anblick macht, daß die Gefahr umschlägt; denn nun ist sie nicht im Tosen und im Wüten, wo sie immer war. Lautlos kommt sie über die Matrosen, welche wissen, daß es dort auf jenen goldnen Inseln manchmal singt –, und sich blindlings in die Ruder lehnen, wie umringt von der Stille, die die ganze Weite in sich hat und an die Ohren weht, so als wäre ihre andre Seite der Gesang, dem keiner widersteht.52
Die Gefahr schlägt um, ist nicht mehr im »Tosen und im Wüten« des Meeres begriffen, sondern im Anblick der goldenen Inseln, die sich zum Blau des Meeres komplementär verhalten – das entspricht dem Konstruktionsprinzip einer image surr8aliste – und auf denen manchmal ein Gesang ertönt, der einem Automatismus zu entspringen scheint: »›es‹ singt dort auf den Inseln«.53 Das Gedicht verführt folglich, analog zum Surrealismus, mit Hilfe seiner Musikalität und Bildlichkeit; gleichzeitig betont es aber die Lautlosigkeit und Stille, die als andere Seite des Gesangs einen ekstatischen Zustand verwehrt, den sich hingegen der Surrealismus zum Ziel setzt: »Diese Meeresstille herrscht so innen wie außen und verwandelt den Außenraum in Innenraum, Weltinnenraum.«54 Die goldenen Inseln deuten, interpretiert man sie vom Surrealismus kommend, auf Inseln der Zeitlosigkeit im Meer der Kontinuität hin. Bretons Motto, das auch auf seinem Grabstein auf dem CimetiHre des Batignolles in Paris zu lesen ist, lautet »Je cherche l’or du temps« (»Ich suche das Gold der Zeit«).55 Im »Gold der Zeit« 52 KA I, S. 515f. 53 Politzer : Das Schweigen der Sirenen, S. 39. Das »es« evoziert den Kontext der Psychoanalyse und das Unbewusste. 54 Ebd. 55 Breton: Point du jour, S. 265.
Musikalität und Gesang in der surrealistischen Rilke-Rezeption
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kann sich der Mensch als Ganzes erleben, verdrängte Bereiche dürfen gleichberechtigt zur Geltung kommen. Bei Rilke wechselt die allumfassende Stille mit dem unwiderstehlich vereinnahmenden Gesang, der jedoch nur andeutungsweise – oder vielleicht ganz materiell durch das Gedicht selbst? – evoziert wird. In Alberto Savinios Tragedia dell’infanzia wird im Kapitel Nel fondo del mare, das den Höhepunkt des Werks markiert, der kindliche Protagonist von einer ambigen Figur, einem Hermaphroditen, auf den Meeresboden entführt. Dort macht er die Erfahrung des Todes, der allumfassenden Stille und Immobilität, aber auch der Initiation eines neu erwachenden, sich steigernden, intensiven Rhythmus’ und einer ganz neuen, originellen Perspektive und Bildlichkeit. Bevor dies geschieht, wird mit Hilfe eines lyrischen Einschubs in die Prosa die Stimme der Sirene entkräftet und der eigentliche Antrieb, das Verlangen, nach innen in die Bereiche des Unbewussten verlagert. Taci e riposa Qui si spegne il canto Della tua vita Dell’antico pianto Torna piF grave l’eco affievolita In questa sosta in cui l’incanto Muore Cedi alla serena Pace la fronte in cui si smaga La voce di sirena.56
Im Anschluss kommt es zur sich rhythmisch gestaltenden, ekstatischen Vereinigung mit der Göttin, die mit Hilfe einer dynamischen Prosa erzählt wird. Die erotische Ekstase ist typisch für die surrealistische Poetik, sie entsteht aus der elektrisierenden Zusammenführung gegensätzlicher Pole und verkörpert das Leben als Gegenstück zur Gleichförmigkeit des Todes. Louis Aragons Sirene taucht hingegen plötzlich im Schaufenster des Spazierstockladens auf, das sich im Passage de l’Op8ra befindet. Sie impliziert Sinnlichkeit, aber auch die Erinnerung des Protagonisten an Liebe und Prostitution an der Saar während des Krieges, insbesondere an eine Deutsche namens Liesel, die nachts sang und nun im Schaufenster mit ausgezehrten Zügen erscheint. Die Legende von der Lore Lay liegt nah, die hier im französischen Kontext evoziert wird. Von Bedeutung ist das wörtliche Vorhandensein des Gesangs, des »chant«, in der surrealistischen Verzauberung, dem »enchantement«, auch wenn der Gesang der Liesel durch die Glasscheibe hindurch eigentlich nicht vernehmbar ist und sich mit dem mechanischen, monotonen 56 Savinio: Tragedia dell’infanzia, S. 113, Hervorhebung durch E.-T. M. Diese Verse werden von Leube nicht übersetzt, sondern im Original in die Übersetzung eingefügt. »Schweige und ruhe Hier erlischt der Gesang / Deines Lebens Der alten Klage / Kehrt schwerer zurück das verebbte Echo / In dieser Pause in der der Zauber / Stirbt Gib dem heiteren / Frieden die Stirn, auf der sich entzaubert / Die Stimme der Sirene.«
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Geräusch vermischt, das als die Stimme des in das Schaufenster verdrängten Unbewussten auszumachen ist. Castin erläutert das »Geräusch« als »dieses formlose Etwas« mit seinem gesamten beunruhigenden und herrlichen Gefolge, das von den in dieser Hinsicht vorausahnenden Seiten der Champs magn8tiques an zunehmend auftaucht, in denen die ›herrlichen Geräusche der vertikalen Katastrophen und der historischen Ereignisse‹ losbrechen.«57 Je ne revenais pas encore de cet enchantement quand je m’aperÅus qu’une forme nageuse se glissait entre les divers 8tages de la devanture. Elle 8tait un peu au-dessous de la taille normale d’une femme, mais ne donnait en rien l’impression d’une naine. Sa petitesse semblait plutit ressortir de l’8loignement, et cependant l’apparition se mouvait tout juste derriHre la vitre. Ses cheveux s’8taient d8faits et ses doigts s’accrochaient par moments aux cannes. J’aurais cru avoir affaire / une sirHne au sens le plus conventionnel de ce mot, car il me semblait bien que ce charmant spectre nu jusqu’/ la ceinture qu’elle portait fort basse se terminait par une robe d’acier ou d’8caille, ou peutÞtre de p8tales de roses, mais en concentrant mon attention sur le balancement qui le portait dans les z8brures de l’atmosphHre, je reconnus soudain cette personne malgr8 l’8maciement de ses traits et l’air 8gar8 dont ils 8taient empreints. C’est dans l’8quivoque de l’occupation insultante des provinces rh8nanes et de l’ivresse de la prostitution que j’avais rencontr8 au bord de la Sarre la Lisel qui avait refus8 de suivre le repli des siens dans le d8sastre, et qui chantait tout le long des nuits de la Sofienstrasse des chansons que lui avait apprises son pHre, capitaine de v8nerie du Rhin.58
Auch hier ist es die innere Stimme, die obsiegt und den betrachtenden Paysan in die Szene hineinzieht, wäre da nicht die Glasscheibe. Der Gesang der Sirene mischt sich mit dem Rauschen der Brandung, und beide steigen zusammen auf, bis zur Spiegeldecke. Der Paysan ist davon emotional eingenommen (»trouble«; 57 Castin: Der Surrealismus und die Musik, S. 410. 58 Aragon: Le paysan de Paris, S. 31f., Hervorhebungen durch E.-T. M., Übers. v. Lydia Babilas: Der Pariser Bauer. Frankfurt a. M. 1996, S. 27f.: »Ich war noch ganz von diesem Zauber gefangen, als ich sah, daß eine schwimmende Gestalt sich zwischen die verschiedenen Etagen des Schaufensters gleiten ließ. Sie hatte nicht ganz die normale Körpergröße einer Frau, wirkte aber keineswegs wie eine Zwergin. Der Eindruck ihrer Kleinwüchsigkeit schien sich eher aus der Entfernung zu ergeben, und doch bewegte sich die Erscheinung unmittelbar hinter der Glasscheibe. Ihre Haare hatten sich gelöst, und ihre Finger hielten sich momentweise an den Stöcken fest. Ich hätte geglaubt, es mit einer Sirene im herkömmlichsten Sinn dieses Wortes zu tun zu haben ; mir schien nämlich, daß diese zauberhafte, bis zu dem recht tief sitzenden Gürtel nackte Erscheinung in einem Stahl- oder Schildpattkleid oder vielleicht in Rosenblättern endete, aber als ich meine Aufmerksamkeit auf das Hin- und Herschwingen konzentrierte, das sie in die von Streifen durchzogene Atmosphäre trug, erkannte ich plötzlich diese Person wieder, trotz der abgezehrten Züge und des verstörten Ausdrucks, die ihr Gesicht zeichneten. In der Zweideutigkeit der schmählichen Besetzung der Rheinprovinzen und des Taumels der Prostitution war ich am Ufer der Saar der Liesel begegnet, die es abgelehnt hatte, dem Rückzug der Ihren in die Katastrophe zu folgen, und die in der Sophienstraße ganze Nächte lang Lieder sang, die ihr ihr Vater, ein rheinischer Jägermeister, beigebracht hatte.«
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»Verwirrung«) und verbalisiert seinen Eindruck mit den Worten: »L’id8al!« (»Das Ideal!«). Körperliches und geistiges Erleben, Akustisches und Visuelles fallen in eins. Als die Sirene dem Paysan ihre Arme entgegenstreckt, wird das Schaufenster von einer »convulsion g8n8rale« (»allgemeinen Konvulsion«) erfasst.59
4.
Fazit
Der Surrealismus gestaltet sich bei Alberto Savinio und Louis Aragon als dezidiert grenzüberschreitende Ästhetik, die sowohl verschiedene Kulturen und Sprachen als auch Medien einbezieht. Die als Universalsprache geltende Musik spielt bei der Entwicklung der surrealistischen Ästhetik eine wesentliche Rolle, auch wenn der Wortführer der Bewegung Andr8 Breton sich dagegen verwehrt. Rilkes dichterische Musikalität hat womöglich sowohl zur Entwicklung der fließenden Ästhetik in den Avantgarden – dies geht aus seinem Verhältnis zu Busoni hervor – als auch in einem Wechselspiel mit den Rheinimpressionen und -mythen zu Louis Aragons 8criture automatique beigetragen. Während Rilke allerdings die Form wahrt und ganz im Sinne Beethovens die »Brückenbogen strahlender Rettungen« anstrebt,60 wohl wissend um die Gefahr der Überwältigung durch die Sinnlichkeit von Musik, gehen die Surrealisten mit der 8criture automatique an die Grenzen der Erfahrung. Blickt man vom Surrealismus aus auf Rilke zurück, kann man allerdings umso stärker die stille Präsenz des Unbewussten bemerken und dessen Beitrag zur Musikalität verfolgen. Der ekstatische Ausbruch der »Mächte« und »Gefahren«, die sich unterhalb der rettenden Brückenbögen befinden, wird zwar vom Dichter mit Hilfe seiner geschliffenen und formstarken Musikalität unterbunden, trotzdem bleiben sie – die Mächte und Gefahren des Unbewussten – latent vorhanden. Antonia Egel zufolge ist die Musik bei Rilke »das Außen, das das Innen einerseits gefährdet und andererseits zu seinen weitesten Möglichkeiten antreibt.«61 Aus surrealistischer Perspektive müssen hier die Regungen des Unbewussten inkludiert werden, die bei Rilke, analog zur 8criture automatique, neue musikalisierte Formen hervorbringen.
59 Übers. v. Babilas, S. 28f. Vgl. zur »convulsion g8n8rale« Bretons Ideal von der »beaut8 convulsive«, das am Ende von Nadja (1928), in: Œuvres complHtes, vol. I. Paris 1988, S. 753, das Subjekt sowohl auditiv als auch visuell vollkommen einnimmt. 60 RMR an Magda von Hattingberg, 1. Februar 1914. In: RMR, Magda von Hattingberg: Briefwechsel, S. 31. 61 Antonia Egel: »Musik ist Schöpfung«. Rilkes musikalische Poetik. Würzburg 2014 (Klassische Moderne, Bd. 23), S. 16.
Personenregister
Adorno, Theodor W. 104f. Andreas-Salom8, Lou 7f., 18f., 42, 66–71, 80f., 88–90, 92, 116, 161 Aragon, Louis (d. i. L. Andrieux) 13f., 155–159, 162–167, 169–171 Arnim, Bettine von 12, 85, 91f., 94f., 97 Bach, Johann Sebastian 19, 30, 47, 50, 86, 89, 160, 162 Baudelaire, Charles 129, 137 Baumgarten, Alexander Gottlieb 106 Beethoven, Ludwig van 12, 18–20, 23–26, 30f., 33–35, 40, 42, 47f., 56–58, 60, 62, 78, 83–97, 100–102, 114, 160, 162f., 165, 171 Benja, Aleksandr 68 Benjamin, Walter 109 Benvenuta s. Magdalena von Hattingberg Bertillon, Suzanne 151 Betz, Maurice 91–95 Boisser8e, Sulpiz 33f. Brahms, Johannes 92 Brentano, Clemens 104, 117 Breton, Andr8 13, 155–159, 161, 167f., 171 Burckhardt, Carl 101 Busoni, Ferruccio 10f., 13, 18–21, 47, 59f., 89f., 160–163, 171 Cahill, Thaddeus 20f. C8zanne, Paul 51 Delacroix, EugHne 129f., 136 Dufourt, Hugues 23
Eckermann, Johann Peter 33 Eichendorff, Joseph Freiherr von 104f., 117 El Greco s. Greco Pluard, Paul 158
15,
Fabre d’Olivet, Antoine 10, 57f. Fischer-Colbrie, Arthur 136 France, Anatole 94 George, Stefan 104 Gernsheim, Friedrich 86 Gide, Andr8 141 Goethe, Johann Wolfgang von 11f., 16, 22, 29–35, 37–42, 85, 91, 94f., 97, 101, 125 Goll, Claire 92 Greco, El (d. i. Domenikos Theotokjpulos) 19 Händel, Georg Friedrich 30, 50, 86 Hattingberg, Magdalena (Magda) von (›Benvenuta‹) 7, 11f., 18f., 47, 49, 54, 57, 85, 89–92, 97–101, 160, 162–164, 171 Hellingrath, Norbert von 18, 105 Helmholtz, Hermann von 54, 118 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 35, 37, 40, 63, 117 Hofmannsthal, Hugo von 12, 45, 63, 88, 101 Hölderlin, Friedrich 11, 18, 104f. Holitscher, Arthur 65, 69, 75 Horaz 48 Hulewicz, Witold 54, 58, 136
174 Junghanns, Inga
Personenregister
95
Kafka, Franz 55, 63, 167 Kant, Immanuel 36, 38 Kassner, Rudolf 16 Kerschbaumer, Walther 86 Key, Ellen 73 Kippenberg, Anton 90 Kippenberg, Katharina 83, 142 Klossowska, Baladine (d. i. Elisabeth Dorothee K.) 101 Knoop, Gertrud Ouckama 114, 120 Leitzmann, Albert
85
Mann, Thomas 29f., 42 Marinetti, Filippo Tommaso 160f. Mendelssohn-Bartholdy, Felix 30 Modersohn-Becker, Paula 87 Moos, Xaver von 115 Mozart, Wolfgang Amadeus 30, 47, 70, 90 Mühll, Hans von der 113 N#dherny´ von Borutin, Sidonie 61, 78f., 83, 85, 99, 146, 152 Naumann, Johann Gottlieb 24 Nietzsche, Friedrich 7, 10f., 17, 29f., 34–42, 46, 52, 55f., 58f., 62, 68, 78–80, 84, 130, 132, 137 Norlind, Ernst 73 Nostitz, Helene von 89
Rilke, Phia 84, 86f., 89 Rilke-Westhoff, Clara 73–75, 78 Rodin, Auguste 11f., 20, 41, 49, 51, 65, 67, 70, 74f., 78, 84f., 88, 91, 93, 111, 114f. Runge, Philipp Otto 34 Russolo, Luigi 11, 60f., 124 Saint-Sa[ns, Camille 20 Salis, Jean Rudolf von 101f. Savinio, Alberto 13f., 155, 157f., 161f., 166f., 169, 171 Schaeffer, Pierre 124 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 39f. Schiller, Friedrich von 16, 101 Schlegel, Friedrich von 37, 39 Schönberg, Arnold 21, 60, 160f. Schopenhauer, Arthur 17, 29, 35f., 38, 40, 56 Schubert, Franz 84 Shelley, Percy Bysshe 16 Soupault, Philippe 157f. Strauss, Richard 63, 86 Symon, Arthur 90 Thurn und Taxis, Marie von 49f., 57, 83, 86, 90, 100, 113, 116, 126, 136 Thurn und Taxis, Pauline von 24 Tieck, Ludwig 40, 52, 60, 63, 117 VarHse, Edgar 124 Vollmoeller, Mathilde 51, 91
Pergolesi, Giovanni Battista 49, 90 Pfitzner, Hans 21, 160f. Platon 36 Pratella, Francesco Balilla 61, 160 Proust, Marcel 19f., 138 Purtscher-Wydenbruck, Nora 114
Wackenroder, Wilhelm Heinrich 52, 60, 63 Waern, Florence 73 Wagner, Richard 9, 36–38, 46, 48, 84 Walter, Bruno 29 Wasnezow, Viktor Michailowitsch 51 Wunderly-Volkart, Nanny 50, 85, 101, 114, 136
Reger, Max 162
Zelter, Carl Friedrich
Oliva, Baron Franz von
33f.
30f., 41