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German Pages 306 [305] Year 1990
Religion und Kult in ur- und frühgeschichtlicher Zeit
HISTORIKER-GESELLSCHAFT der DDR XIII. Tagung der Fachgruppe Ur- und Frühgeschichte vom 4. bis 6. November 1985 in Halle (Saale)
Religion und Kult in ur- und frühgeschichtlicher Zeit Im Auftrag der Historiker-Gesellschaft der DDR herausgegeben von Friedrich Schlette und Dieter Kaufmann
mit 68 Textabbildungen
Akademie-Verlag Berlin 1989
Redaktion : F. Schiette, D. Kaufmann
I S B N 3-05-000662-5 Erschienen im Akademie-Verlag Berlin, Leipziger Straße 3—4, Berlin, D D R - 1086 © Akademie-Verlag Berlin 1989 Lizenznummer: 202 • 100/94/89 P r i n t e d in t h e German Democratic Republic ' Gesamtherstellung: V E B Druckerei »Gottfried Wilhelm Leibniz«, 4450 Gräfenhainichen • 7076 L e k t o r i n : Ursula Diecke Umschlaggestaltung: M. B u b n e r L S V 0225 Bestellnummer: 7548014 (9077) 02400
Religion u n d K u l t • Berlin 1989 • Seiten 5 - 6
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
7
SCHLETTE, F r i e d i i o h / K I B S C H K E ,
Siegfried
Religion u n d K u l t in der f r ü h e n Menschheitsgeschichte
.
11
Bemerkungen zu K u l t u n d Religion in ur- und frühgeschichtlicher Zeit von Seiten der Ethnologie
25
GUHR,
Günter
BRÜGGEMANN, J ü r g e n
Epistemologische Diskussion in der Religions- u n d Mythenforschung der bürgerlichen K u l t u r - u n d Sozialanthropologie
45
ULLRICH, H e r b e r t
Kannibalismus im P a l ä o l i t h i k u m
51
BOSINSKI, G e r h a r d
Gravierungen u n d figürliche K u n s t im Paläolithikum
73,
KLiMA, Bohuslav Figürliche Plastiken aus der paläolithischen Siedlung von P a v l o v (ÖSSR) HARTWIG, W e r n e r A .
Schamanismus und Medizinwesen
HOITMANN,
. . . .
81 91
Edith
Die Anfänge des B r a n d r i t u s — Versuch einer D e u t u n g
99
KAUFMANN, D i e t e r
Kultische Äußerungen im F r ü h n e o l i t h i k u m des Elbe-Saale-Gebietes WINKELMANN,
111
Ingeburg
R i t e n bei Bodenbauern — A g r a r k u l t e
141
GÖBEL, P e t e r
Z u m A h n e n k u l t in Afrika
147
ARNOLD, B e r n d
A h n e n k u l t u n d höfische K u n s t in Afrika
155
5
BAHN, B e r n d
W.
E i n e Grube der Baalberger K u l t u r mit kultischem B e f u n d von Melchendorf, K r . Erfurt-Stadt BACH, A d e l h e i d / B R u c H H A u s ,
Horst
D a s Skelettmaterial aus der neolithischen Grube von Melchendorf, K r . E r f u r t PODBORSKY,
165
. .
171
Vladimir
Neolithische K u l t s i t t e n der Bevölkerung im mährischen Gebiet SCHRÖTER,
175
Erhard
Die „ S c h a l k e n b u r g " bei Quenstedt, Kreis H e t t s t e d t , eine frühneolithische Rondellanlage NORDBLADH,
Jare
Bronzezeitliche Felsritzungen in Schweden: Verbreitung — D a t i e r u n g — D e u t u n g GEDIGA,
193
.
203
Boguslaw
Methodische Probleme bei der Auswertung archäologischer Quellen f ü r die Rekons t r u k t i o n urgeschichtlicher Religionen HORST,
211
Fritz
Jungbronzezeitliche K u l t p l ä t z e des Nordischen Kulturbereiches H E I D E L K - SCHACHT,
219
Sigrid
Jungbronzezeitliche und früheisenzeitliclie Kultfeuerplätze im N o r d e n der D D R
.
.225
Der jungbronzezeitliche Opferplatz von Zauschwitz, Ot. v. Weideroda, K r . B o r n a .
241
HRALA,
245
VOGT,
Heinz-Joachim
K u l t b r ä uJcihMe im Bestattungswesen der Knovizer K u l t u r GRIESA, S i e g f r i e d
Früheisenzeitliche K u l t p l ä t z e MAKIEWICZ,
Tadeusz
Tieropfer und Opferplätze der vorrömischen und römischen Eisenzeit in Polen PESCHEL,
251
. .
Karl
Zur kultischen Devotion innerhalb der keltischen Kriegergemeinschaft LETJBE,
261 273
Achim
Kultische H a n d l u n g e n auf Siedlungen der römischen Kaiserzeit im Gebiet zwischen E l b e u n d Oder
283
r LASER,
Rudolf
Einige Hinweise auf kultische Vorgänge in spätkaiserzeitlichen Siedlungen Westthüringens MÜLLER,
Hanns-Hermann
Schnittspuren a n Wirbeln frühgeschichtlicher Pferdeskelette und ihre kulturgeschichtliche I n t e r p r e t a t i o n ICKE-SCHWALBE,
293
Lydia
R i t u a l und B e d e u t u n g des Pferdekultes im Alten I n d i e n
6
289
297
Religion und Kult • Berlin 1989 • Seiten 7 - 9
Vorwort
Vom 4. bis 6. November 1985 führte die Fachgruppe Ur- und Frühgeschichte der Historiker-Gesellschaft der DDR ihre X I I I . wissenschaftliche Konferenz in Zusammenarbeit mit dem Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle (Saale) durch. Mit dem Thema „Religion u n ( 5 Kult in ur- und frühgeschichtlicher Zeit" sollte eine Problematik behandelt werden, die in den letzten Jahren meist nur im Zusammenhang mit anderen Fragen der Ur- und Frühgeschichte diskutiert worden ist, obwohl ihre Bedeutung für das Gesamtgeschichtsbild über die älteste Gesellschaftsformation allgemein anerkannt wird. Religion ist ein besonderer Bereich des gesellschaftlichen Bewußtseins. Zwischen religiösen und künstlerischen Äußerungen in ur- und frühgeschichtlicher Zeit besteht eine enge Wechselwirkung. So bilden die Erzeugnisse urgeschichtlicher Kunst eine wichtige, oft unmittelbar mit Religion und Kult verbundene Quellengattung. Das Anliegen der Tagung sollte vordergründig nicht so sehr im Zusammentragen von archäologischen Einzelfakten bestehen, die oft unterschiedliche Auslegungen ermöglichen, sondern- in dem Versuch, einen Beitrag zum Weltbild der unter urgesellschaftlichen Bedingungen lebenden Menschen zu leisten. Dabei galt es zu zeigen, daß die illusionäre Scheinwelt nicht oder zumindest nicht durchweg den gesellschaftlichen Fortschritt verzögert, sondern durch die gegenseitige Bedingtheit von Sein und Bewußtsein letzteres eine sehr aktive Rolle eingenommen hat. „Das Bewußtsein kann nie etwas Andres sein als das bewußte Sein, und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozeß." (K. M A R X / F . E N G E L S , Die deutsche Ideologie, [1845] MEW 3, 1969, 26) Die geistige Aneignung der Umwelt vermittels der Arbeit als Stoffwechselprozeß zwischen Mensch und Natur formt die menschliche Persönlichkeit ebenso wie die menschliche Gesellschaft (die Sippe, den Stamm usw.). Die jeweilige Ideologie unterstützt ganz wesentlich einen engeren Zusammenschluß der Gemeinschaft. Außerdem dringt der Mensch immer tiefer in das Wesen der Welt ein, erkennt Regelmäßigkeiten und erfaßt schließlich Gesetzmäßigkeiten. Schon aus diesen wenigen Andeutungen über den bekannten Zusammenhang von Sein und Bewußtsein, von Religion und produktiver Praxis wird deutlich, daß die Thematik nicht allein von Archäologen zu behandeln ist, sondern in interdisziplinärer Zusammenarbeit vor allem mit Philosophen und Ethnographen. Besonders letztere beschäftigen sich mit dem gleichen Objekt, eben der Religion und dem Kult von neuzeitlichen, unter ähnlichen gesellschaftlichen Bedingungen lebenden Völkerschaften. Deren Quellengrundlage ist insofern ungleich günstiger, als Religion und Kult noch in Funktion sind bzw. waren, die Menschen beobachtet und befragt werden können bzw. konnten. Eine Übertragung der von der Ethnographie gewonnenen Erkenntnisse allein auf Grund äußerer Ähnlichkeiten auf urgeschichtliche Verhältnisse kann 7
nur mit quellenkritischer Vorsicht erfolgen. Für die jüngeren ur- und frühgeschichtlichen Perioden kurz vor dem Übergang zur Klassengesellschaft oder bei der Berührung mit ihr können die Ergebnisse anderer Disziplinen wie der Alten Geschichte, der Mediävistik, der Orient- und klassischen Archäologie und weiterer gesellschaftswissenschaftlicher Bereiche herangezogen werden. Zur Interpretation der archäologischen Quellen bedürfen wir auch auf diesem Gebiet der Mitarbeit von Paläoanthropologen und Archäozoologen. Bei der inhaltlichen Vorbereitung der Konferenz ergab sich die Notwendigkeit einer räumlichen und zeitlichen Begrenzung der Thematik. So wurde der an sich so interessante Übergang von der Urgesellschaft zur Klassengesellschaft bzw. der Urreligionen zu Staats- und Weltreligionen ausgeklammert, so daß die oben erwähnte Zusammenarbeit mit den entsprechenden Disziplinen für diese Konferenz entfallen konnte. Diese Übergangsperiode soll in den Mittelpunkt einer späteren Konferenz gestellt werden. Für den mitteleuropäischen Raum wurde aus dem gleichen Grund die spätgermanisch-slawische Zeit mit dem Übergang zum Christentum nicht in die Diskussion einbezogen. Die archäologischen Beiträge stützen sich vorwiegend auf Quellen zu Kult und Religion Mitteleuropas. Dabei wurde das Bestattungswesen ausgeklammert, das zweifellos wichtige Erkenntnisse über die religiöse Vorstellungswelt der Menschen — wenn auch nur in einer gewissen Richtung - vermittelt. Diese Problematik ist ebenfalls einer späteren Konferenz vorbehalten, deren Vorbereitung inzwischen begonnen hat und die bei Erscheinen dieses Bandes bereits durchgeführt sein dürfte. Auf Grund dieser konzeptionellen Vorstellungen ergab sich die Gliederung des Bandes. Zum eigentlichen Konferenzthema führt der erste gemeinsam von einem Philosophen und einem Archäologen erarbeitete Beitrag, in dem vor allem auch methodische und theoretische Fragen sowie die Quellen und deren Aussagemöglichkeiten erörtert werden. Es folgt eine Studie des Ethnographen, ergänzt durch einen philosophischen Beitrag zu einem speziellen Komplex. Die weiteren Aufsätze sind nach zeitlichen Gesichtspunkten geordnet. So steht an erster Stelle das Paläolithikum mit der Problematik des Kannibalismus und den umfangreichen Kunstäußerungen, erweitert durch die Ethnographie zum Komplex des Schamanismus. Dann folgen Beiträge zu kultischen Äußerungen der frühen Bodenbauer im Neolithikum, ergänzt wiederum durch entsprechende Beobachtungen aus dem ethnographischen Bereich. Eine größere Zahl von Studien beschäftigt sich mit Opferplätzen der Bronze- und vorrömischen Eisenzeit sowie der Römischen Kaiserzeit. Zum Abschluß wird ein spezielles Thema behandelt, der Pferdekult aus der Sicht des Archäozoologen und des Ethnographen (am Beispiel Altindiens). Eine Exkursion führte die Teilnehmer am 6. 11.1985 zu den Großsteingräbern in den Kreisen Bernburg und Kothen sowie zur Ausgrabung des Landesmuseums Halle im Bereich eines spätstichbandkeramischen „Ringheiligtums" auf der „Schalkenburg" bei Quenstedt, Kr. Hettstedt. Die Konferenz und somit auch der vorliegende Band konnten nur einige, wenn auch nicht unwesentliche Aspekte früher Religionen in das Blickfeld rücken. Hier dürften sie den derzeitigen Stand der Forschung widerspiegeln. Es werden aber sowohl die vielleicht niemals ganz zu überwindenden Grenzen der Aussagekraft archäologischer Quellen sichtbar, als auch die Möglichkeiten, ja Notwendigkeiten weiterer Forschungen in diesem Bereich der frühen Geschichte. Wenn Konferenz und Protokollband hier anregend gewirkt haben, so wäre ein wesentlicher Zweck erreicht. 8
Die Herausgeber haben den Mitarbeitern des Landesmuseums für Vorgeschichte Halle (Saale) für ihre Unterstützung bei technischen Arbeiten zu danken. Frau H. R I C H TER und Frau Chr. FRICKE übernahmen einen Großteil der Schreibarbeiten. Frau E. W E B E R und Frau I . B I E L E R fertigten zahlreiche Zeichnungen bzw. Umzeichnungen an. Sie alle haben großen Anteil am Zustandekommen dieses Bandes.
DIETER KAUFMANN
FRIEDRICH SCHLETTE
Religion und Kult • Berlin 1989 • Seiten 1 1 - 2 4
Religion und,Kult in der frühen Menschheitsgeschichte — Philosophisch-archäologische Überlegungen — V o n FRIEDRICH SCHLETTE u n d SIEGFRIED KIRSCHKE
Fragen der Religion und des Kultes in der frühen Menschheitsgeschichte sind allein aus den Quellen, welche die Archäologie anbieten kann, nicht zu beantworten. Eine wertvolle Ergänzung stellen die ethnographischen Beobachtungen über jene Völkerschaften dar, deren sozial-ökonomischer Entwicklungsstand bestimmten urgeschichtlichen Perioden und Kulturen entspricht. Denn wir können davon ausgehen, daß gesetzmäßige Zusammenhänge zwischen der jeweiligen sozial-ökonomischen Basis und diesem Teil des Überbaues — nämlich den Ideen und Anschauungen der verschiedensten Art, seien es politische, juristische, philosophische, moralische, künstlerische oder eben auch religiöse — bestehen. Diese Tatsache zeigt aber auch die Notwendigkeit der Zusammenarbeit mit einer dritten Wissenschaft, der Philosophie, insbesondere mit jenem Bereich, der die Probleme der Religion untersucht. Während sich die Ethnographie in den folgenden Beiträgen dieses Bandes mehrfach zu grundlegenden und zu speziellen Fragen äußern wird, schien es empfehlenswert zu sein, den Philosophen in einem gemeinsam mit einem Archäologen erarbeiteten Beitrag zu Wort kommen zu lassen. Die materialistische Geschichtsauffassung, nach der die Produktionsweise des materiellen Lebens den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt bedingt, nach der es nicht das Bewußtsein der Menschen ist, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt ( M A R X 1 8 5 9 , 8f.), wurde durch die wissenschaftliche Analyse der kapitalistischen Gesellschaftsformation gewonnen. Seither konnte ihre prinzipielle Gültigkeit für die erste Phase der kommunistischen Gesellschaftsformation ebenso erwiesen werden wie f ü r die dem Kapitalismus vorausgegangenen Klassengesellschaften. Die materialistische Geschichtsauffassung bewährte sich auch als Grundlage für die Erforschung der Eigenheiten und Wechselbeziehungen des materiellen und geistigen Lebensprozesses der Urgesellschaft. Dieser älteste und längste Abschnitt der Menschheitsentwicklung wirft jedoch wegen des Fehlens schriftlicher Überlieferungen, der lückenhaften archäologischen und paläanthropologischen Materiallage und der erforderlichen Zurückhaltung beim Heranziehen ethnographischer, linguistischer, psychologischer und verhaltenswissenschaftlicher Erkenntnisse zum Vergleich nicht geringe Probleme auf. Im folgenden ist nicht beabsichtigt, aus philosophischer Sicht das von zahlreichen Disziplinen erarbeitete Faktenmaterial zu Religion und Kult in der frühen Menschheitsgeschichte — auch nicht in gedrängter Form — vorzustellen. Vielmehr sollen einige methodologische Fragen nach den Wurzeln, dem Wesen und den sozialen Funktionen charakteristischer Formen urgesellschaftlichen Bewußtseins und Verhaltens erörtert werden, und zwar vorwiegend gestützt auf philosophisch verarbeitete einzelwissenschaftliche Erkenntnisse. 11
Während der vergangenen zwei Jahrzehnte wurde unter Berücksichtigung von Intelligenzleistungen nicht-menschlicher Primaten die Rolle der Arbeit bei der Menschwerdung genauer bestimmt. Vor allem wurde die ausschlaggebende Bedeutung der fortschreitenden Vergegenständlichung von Erfahrungen und Wissen der altpaläolithischen Jäger, Sammler und Fischer in ihren Arbeitsmitteln deutlicher erkannt. Da in den materiellen Gegenständen der Arbeitstätigkeit die Neuerungen in der Auseinandersetzung mit der Natur bewahrt werden konnten, wurde auch die stetige Weiterentwicklung der materiell-gegenständlichen und der geistigen Aneignung der Lebensumwelt durch die frühen Menschen gewährleistet. Bereits die altpaläolithischen Menschengruppen erwiesen sich ihren nichtmenschlichen Vorfahren dadurch als überlegen, daß sie — selbstverständlich in den engen Grenzen ihrer praktischgegenständlichen Tätigkeit — über zutreffendes Wissen von den sie umgebenden Objekten verfügten, das ihrer praktischen Tätigkeit unmittelbar diente. Für diese Ebene des Bewußtseins der Menschen des Paläolithikums wird der Ausdruck empirisches Bewußtsein (UGRINOWITSCH 1982, 114) verwendet. Zahlreiche Fakten bestätigen, daß der Mensch dieser Zeit durchaus gewandt und klug war, wenn es um die wichtigsten Lebensfragen ging, zu denen erfolgreiches Jagen, Sammeln und Fischen, Einstellung auf periodisch wechselnde klimatische Bedingungen und Aufrechterhaltung der Stabilität der Beziehungen innerhalb der Urhorde gehörten. Insgesamt aber überwog sicher noch ein starkes Angepaßtsein an die gegebenen Lebensbedingungen und dadurch eine große Abhängigkeit von ihnen. Dieser Zustand war zugleich Chance und Gefahr. Unter einigermaßen gleichbleibenden Lebensumständen war dieses Angepaßtsein eine günstige Voraussetzung für die Sicherung der Lebensansprüche der Gruppe. Sobald jedoch ungewöhnliche natürliche oder soziale Ereignisse eintraten (wie Dürreperioden oder Überschwemmungen, Krankheiten, Überfälle anderer Horden), wurde diese Angepaßtheit zu einer Gefahr und konnte unter Umständen das Fortbestehen der Gruppe in Frage stellen. Es ist anzunehmen, daß die durch den Entwicklungsstand des empirischen Wissens und praktischen Vermögens relativ eng gezogenen Grenzen von den paläolithischen Menschengruppen schon frühzeitig als reale Ohnmacht erlebt wurden. Zwar war die Ohnmacht ihrer nicht-menschlichen Vorfahren gegenüber der Natur objektiv noch größer, aber dieser Zustand war mit dem Unvermögen gepaart, sich dessen überhaupt bewußt zu werden. Mit der sich entwickelnden Fähigkeit dieser Menschen, über die erlebte Ohnmacht zu reflektieren, wurde außer dem empirischen Bewußtsein noch eine andere Bewußtseinsebene möglich, das mythologische Bewußtsein. Dieses ist eine spezifische Erscheinungsform des religiösen Bewußtseins, das F. ENGELS (1878, 294) bezeichnete „als die phantastische Widerspiegelung, in den Köpfen der Menschen, derjenigen äußern Mächte, die ihr alltägliches Dasein beherrschen, eine Widerspiegelung, in der die irdischen Mächte die Form von überirdischen annehmen. In den Anfängen der Geschichte sind es zuerst die Mächte der Natur, die diese Rückspiegelung erfahren und in der weiteren Entwicklung bei den verschiedenen Völkern die mannigfachsten und buntesten Personifikationen durchmachen". Im gleichen Sinne bemerkte K. MAKX (1867, 93), daß die Natur- und Volksreligionen durch „befangene Verhältnisse der Menschen innerhalb ihres materiellen Lebenserzeugungsprozesses, daher zueinander und zur Natur" bedingt waren. Und W. I. LENIN (1905, 70) schrieb, daß „die Ohnmacht des Wilden im Kampf mit der Natur den Glauben an Götter, Teufel, Wunder usw. erzeugt". Mit diesen Charakterisierungen wird einerseits zum Ausdruck gebracht, daß reli12
giöses Bewußtsein eine phantastische Widerspiegelung der Wirklichkeit ist. Zum anderen wird erklärt, weshalb diese Widerspiegelung entsteht und reproduziert wird, nämlich weil die natürlichen und (in den antagonistischen Klassengesellschaften auch) sozialen Mächte, die den Menschen beherrschen, von ihnen nicht erkannt werden können. Demzufolge befinden sich die Hauptursachen des religiösen Bewußtseins weder in der Natur noch im Bewußtsein des einzelnen Menschen, sondern in den sozialen Beziehungen der Menschen zur Natur und (in den vorsozialistischen Klassengesellschaften auch) zueinander. Daß im Zusammenspiel sozialer Bedingungen mit gnoseologischen und psychologischen Voraussetzungen religiöse Glaubensvorstellungen entstanden, ist erstmals für Gruppen von Neandertalern (Homo sapiens neanderthalensis) durch entsprechende archäologische Zeugnisse sicher nachgewiesen. Ethnographische Untersuchungen legen nahe, seit der Jungsteinzeit mit verschiedenen Formen urreligiösen Bewußtseins zu rechnen. Dazu gehört der Fetischismus, der Glaube an übernatürliche Eigenschaften materieller Dinge (Talismane, Amulette etc.). Im Totemismus geht es um den Glauben an übernatürliche Beziehungen der Menschengruppe zu einem Totem, meist einem Tier, seltener einer Pflanze oder einem nicht lebenden Gegenstand, das als Urahn der Sippe oder des Stammes angesehen wird; alle Angehörigen einer Totemgruppe sind blutsverwandt. Mit den verschiedenen Formen der Magie (Zauberei) wurde versucht, mittels übernatürlicher Kräfte geheimnisvolle Wirkungen hervorzubringen. Was charakterisiert nun das religiöse Bewußtsein, das in diesen oder anderen Formen auftritt, als Teil des gesellschaftlichen Bewußtseins? Vor allem ist zu beachten, daß es im religiösen Bewußtsein nicht allein um V o r s t e l l u n g e n von übernatürlichen Kräften geht, sondern um den G l a u b e n an das Übernatürliche. Der religiöse Glaube an Übernatürliches hat stets drei wichtige Eigentümlichkeiten. Erstens geht es um den Glauben an die objektive Existenz übernatürlicher Eigenschaften, Kräfte und Wesen. Zweitens enthält der religiöse Glaube immer emotionale Beziehungen zu den Gestalten des Übernatürlichen. Das hob auch F. E N G E L S (1878, 294f.) hervor mit der Bezeichnung des religiösen Glaubens als „unmittelbare, das heißt gefühlsmäßige Form des Verhaltens der Menschen zu den sie beherrschenden fremden, natürlichen und gesellschaftlichen Mächten". Drittens ist der Gläubige auch davon überzeugt, daß zwischen ihm und dem Übernatürlichen besondere praktische Beziehungen bestehen, die sich in Kulthandlungen realisieren. Wenn bisher zur genaueren Kennzeichnung des empirischen und des mythologischen Bewußtseins ihre Unterscheidung im Vordergrund stand, so ist jetzt darauf hinzuweisen, daß die Differenzierung in zwei Bewußtseinsebenen zu einer Zeit, in der die Trennung der geistigen von der körperlichen Arbeit noch nicht vollzogen war, nur keimhaft existieren konnte und es viel häufiger vorkam, daß sich beide Ebenen überlagerten und gegenseitig durchdrangen. Aus ethnographischen Studien ist beispielsweise bekannt, daß auf empirischem Wege gefundene Mittel gegen Krankheiten mit verschiedenen Zaubereien verbunden wurden oder bei der Abwendung von Gefahren für die Gruppe erst alle empirischen Erkenntnisse zur Anwendung kamen, bevor zu Mythos und Kult Zuflucht gesucht wurde. Die Kulthandlung bzw. der Ritus ist eine besondere Form der sozialen Handlung. Im Unterschied zu den sonstigen menschlichen Tätigkeiten wird mit der Kulthandlung nicht direkt ein materiell-gegenständliches Ergebnis bezweckt. Ihr Sinn besteht vielmehr darin, in konkreten Handlungen bestimmte gesellschaftliche Vorstellungen, Ideen und Normen zu verkörpern und dadurch gemeinschaftliche Erlebnisse hervor13
zurufen (UGRINOVIÖ 1 9 7 5 ) . In der frühesten Zeit waren die entsprechenden Handlungen unmittelbar mit magischen, später mit anderen mythologischen Vorstellungen verschmolzen. In den Kulthandlungen wurden die Mythen objektiviert und konnten so von Generation zu Generation weitergegeben werden. In den frühesten Kulturen waren die rituellen Handlungen gegenüber anderen Abschnitten des praktischen Lebensprozesses noch nicht verselbständigt, sondern unmittelbare Fortsetzung der menschlichen Alltagspraxis. Erst später erhielten auch die Kulthandlungen - wie die Mythen - Symbolcharakter. Mit D. M. U G R I N O W I T S C H (1982, 120) sind wir der Ansicht, daß es sachlich nicht berechtigt erscheint, ¡nach dem Primat von Mythos bzw. Ritus zu fragen, denn beide „entstanden gleichzeitig und waren ursprünglich eine Ganzheit. Die Keime des mythologischen Bewußtseins bildeten sich in der Genese der Riten heraus. Die Riten ihrerseits entstanden als spezifische Art der sozialen Handlung in dem Maße, wie sie zu der Form wurden, in der sich das mythologische Bewußtseins objektivierte". Indem die Angehörigen einer Gentilgemeinschaft (Sippe oder Stamm) ihre Wünsche und Erwartungen im Kult realisierten, schufen sie als Gemeinschaft den Mythos. Ursprünglich waren die Mythen also Produkte des kollektiven Bewußtseins der Gruppe. Das kommt auch in ihrem Inhalt zum Ausdruck, der sich auf die Entstehung und das Schicksal der Sippe, des Stammes oder der Totemgruppe bezieht und sowohl die Einbettung der Gruppe in größere Zusammenhänge erklärt, als auch die innerhalb der Gruppe bestehende soziale Über-, Neben- und Unterordnung begründet. Überhaupt waren im mythologischen Bewußtsein des urgesellschaftlichen Menschen über lange Zeiträume lebenspraktische, religiöse, moralische und ästhetische Bestandteile eng verknüpft (Synkretismus). Soziale Bräuche, Riten und Tabus galten als Erscheinungen einer sakralen einheitlichen Ordnung. Demzufolge wurden auch utilitäre, ethische und ästhetische Wertungen (u. a. „nützlich/schädlich", „gut/ böse", „schön/häßlich") nicht differenziert. In Abhängigkeit von der Entwicklung der Urgesellschaft, insbesondere ihrer materiellen Praxis sowie der Sippen- und Stammesbeziehungen, entwickelte sich auch das mythologische Bewußtsein. In den späteren mythologischen Gedankensystemen entstanden Vorstellungen von Geistern (Animismus), die von den damaligen Menschen für real existierend gehalten wurden. Zugleich symbolisierten diese phantastischen Wesen bestimmte Naturerscheinungen oder -kräfte sowie bestimmte Eigenschaften und Tätigkeiten von Menschen. Die sinnliche mythische Gestalt wird zum symbolischen Repräsentanten bestimmter natürlicher oder gesellschaftlicher Dinge und Erscheinungen. Im weiteren Verlauf dieses „Abstraktionsprozesses" wird das Symbol zur Metapher, zum bildhaften Vergleich, mit dem schließlich der Glaube an die Realität des verwendeten Bildes aufgehoben wird. Erwähnt werden muß auch die später einsetzende Separierung der verschiedenen mythischen Gestalten, gewissermaßen ihre Aufgabenteilung. Aus Gestalten, die sowohl Schöpfer als auch Kulturbringer waren, werden beispielsweise getrennte Wesen. Die Schöpfer werden zu Geistern und Göttern, die den Menschen als Herrscher gegenübertreten. Damit gehen auch veränderte Vorstellungen einher, in denen gewandelte Lebensbedingungen reflektiert werden. Anfangs — also bei Jägern, Sammlern und Fischern — wird z. B. der Schöpfungsakt als materieller Vorgang der Umwandlung eines Objekts in ein anderes aufgefaßt; später — bei Ackerbauern, Viehzüchtern und Handwerkern — werden die Objekte von übernatürlichen Schöpfern aus rohem Material geschaffen, noch später entsteht die Vorstellung einer Erschaffung aus dem Nichts durch Denken oder durch das Wort. 14
Eine andere Tendenz der Veränderung der urgesellschaftlichen Mythologie ist die Verherrlichung der prometheischen Kulturbringer als Heroen mit übernatürlichen Kräften, die erfolgreich gegen Ungeheuer, die das Chaos symbolisieren, kämpfen und den Menschen Handwerke, Kultur und Sitten bringen. Zweifellos kamen in solchen phantastischen Gestalten und ihren Taten die Wünsche und das Streben der Menschen zum Ausdruck, die Naturkräfte zu meistern, von denen sie einstweilen noch überwiegend beherrscht wurden. Die untereinander verbundenen sozialen Funktionen der verschiedenen Formen der Urreligion, von denen vorstehend die Rede war, lassen sich folgendermaßen zusammenfassen (vgl. U G K I N O W I T S C H 1980, 48—55): Die urgesellschaftliche Religion kann erstens als illusorische Ergänzung der Hilflosigkeit der Menschen gegenüber bestimmten natürlichen Mächten, die als fremd und bedrückend empfunden wurden, charakterisiert werden (Kompensationsfunktion). Durch die phantastische Überwindung realer Schwierigkeiten erhielten die Angehörigen der urgesellschaftlichen Gruppe vor allem die subjektive Gewißheit, auch komplizierte Lebenssituationen bewältigen zu können. In einer Zeit, in der die Abhängigkeit der Menschen von ihren Lebensbedingungen entmutigend groß war, wird diese auf den Glauben an übernatürliche Unterstützung gegründete Zuversicht von kaum zu überschätzender Bedeutung für den sozialen Lebensprozeß gewesen sein, da sie mit dazu beitrug, menschliche physische und psychische Kräfte in sicher beträchtlichem Ausmaß zu mobilisieren. Zweitens besaß bereits die urgesellschaftliche Religion eine weltanschauliche Funktion. Wenn auch das von ihr entworfene Bild der Wirklichkeit unvermeidlich phantastisch und verzerrt war, so befriedigte es doch das Bedürfnis der Menschen nach einer über das unmittelbar Erlebte hinausreichenden Weltsicht sowie nach Antworten auf Fragen, die die Herkunft und Zukunft der Gruppe, Leben und Tod und andere Probleme betrafen. Diese Funktion der Urreligion war jedoch nicht einseitig auf die Beantwortung verstandesmäßiger Fragen gerichtet, sondern befriedigte auch vielfältige emotionale Bedürfnisse, die aus dem individuellen und gemeinschaftlichen Leben der Menschen und ihrer Stellung in der Welt erwuchsen. Drittens übte die Urreligion in der Gemeinschaft auch eine Normierungsfunktion oder Regulierungsfunktion aus. Sie beeinflußte bzw. prägte also nicht nur das geistige Leben der urgesellschaftlichen Menschen, sondern auch deren Handeln. Mit verschiedenartigen Normen und Werten regulierte die urgesellschaftliche Religion das praktisch-geistige Verhältnis der Menschen zu ihrer sozialen und natürlichen Umwelt. Bezeichnend war der enge Zusammenhang zwischen den Normen und Werten und dem religiös-mythologischen Bewußtsein, der sich u. a. in der Vorrangstellung der religiösen Pflichten äußerte. Schließlich ist noch die Integrationsfunktion der Urreligion zu nennen, die auf dem urgesellschaftlichen Entwicklungsniveau deshalb besonders wirksam war, weil die jeweilige Gentilgemeinschaft mit der religiösen Gemeinschaft identisch war. Als einigendes geistiges Band, das durch gemeinsame Kulthandlungen verfestigt wurde, erhöhte die betreffende Religion die innere Stabilität der Menschengruppe und grenzte sie gegenüber Gruppen, die andere Mythen und Riten besaßen, ab. Daß Angehörige derselben biologischen Art als gruppenfremd angesehen und behandelt werden, konnte bereits bei zahlreichen Biosozietäten, in jüngerer Zeit auch bei nicht-menschlichen Primaten, überzeugend nachgewiesen werden. Diese Erscheinung erhielt jedoch mit der Herausbildung des gruppenspezifischen geistigen Lebens der frühen Menschheit eine neue Dimension. Solche vermuteten Verhaltensweisen, wie ritueller Kannibalis15
mus, könnten damit in Zusammenhang stehen. Andererseits konnte die Idee eines einheitlichen Ursprungs, das Erkennen gemeinsamer Interessen u. ä. eine wichtige Voraussetzung für freundlichen Umgang und Austausch zwischen verschiedenen Menschengruppen werden. Aus den bisherigen Ausführungen wird erkennbar, wo die Möglichkeiten, aber vor allem auch die Grenzen der Interpretation archäologischer Quellen liegen. Während sich das empirische Bewußtsein erheblich gegenständlicher im archäologischen Material niedergeschlagen hat, ist das religiöse Bewußtsein nicht so_ unmittelbar faßbar. Nur in seinen Wirkungen, soweit diese sich in irgendeiner Form materiell ausdrücken konnten, wird der mythologisch-religiöse Hintergrund, wenn nicht sichtbar, so doch spürbar. Immer wieder haben sich Archäologen mit Fragen der geistigen Welt allgemein und der religiösen Vorstellungen im besonderen beschäftigt. Meist waren die Ausführungen auf eine Zeitepöche, eine Kultur, eine Völkerschaft oder ein bestimmtes Problem beschränkt. Zahlreiche Darstellungen gehen von einer subjektiv-idealistischen bzw. subjektivistisch-positivistischen Grundhaltung aus. Ohne Hypothesen werden wir zwar oft nicht auskommen, sie dürfen aber nicht ein Produkt vielleicht geistreicher, aber durch nichts zu beweisender Gedanken sein. Es fehlt auch nicht an Versuchen einer Gesamtdarstellung der Religion in ur- und frühgeschichtlicher Zeit, entweder allein aus der Sicht des Archäologen oder aus der Sicht des Ethnographen, in einigen Fällen auch durch Interpretation archäologischer und ethnographischer Quellen gemeinsam. 1 Insgesamt wird deutlich, daß Archäologie und Ethnographie allein nicht Fragen der Religion beantworten können, sondern daß die Philosophie ein großes Gewicht bei der Interpretation archäologischer Quellen besitzt. Schließlich muß quellenkritisch berücksichtigt werden, daß wir mit einem gegenüber der einstigen Realität verschwindend geringen Überlieferungsgrad rechnen müssen; und oft sind die Funde und vor allem die Fundumstände — besonders von der älteren Forschung — unzureichend erkannt und dokumentiert worden. Wir gehen also davon aus, daß nicht das religiöse Bewußtsein durch die materiellen Quellen der Archäologie überliefert ist, sondern nur der mit dem mythologisch-religiösem Bewußtsein in einem ursächlichen Zusammenhang stehende Kult. In erster Linie kommen drei Fundgattungen in Frage, einmal der spätestens seit der Zeit des Neandertalers überlieferte Bestattungskult, zum zweiten alle jene materiellen Objekte, die wir unter dem Begriff der Kunst subsumieren. Eine dritte, aber seltener auftretende Quellengattung möchten wir unter der Bezeichnung „Kultplatz" erfassen. Alle drei Quellengattungen können sich verständlicherweise vielfach berühren, wenn beispielsweise die altsteinzeitliche Felsbildkunst im Kontext mit der Höhle als Kultplatz gesehen werden muß oder wenn der Bestattungsplatz zugleich den Kultplatz der Gemeinschaft darstellte. Beginnen wir mit den Kultplätzen! Vor allem sind es die Opferplätze aus verschiedenen urgeschichtlichen Zeiten. In der Mehrzahl der Fälle kann ein Kultplatz nur durch die dort angetroffenen Funde als solcher interpretiert werden. Ausnahmen bilden solche Anlagen, die schon von der Form her oder auf Grund bautechnischer Details keine andere Deutung erlauben. Wir verweisen auf die neolithischen Ringanlagen (Rondelle), wie sie aus verschiedenen Gebieten Mitteleuropas bekannt sind, 2 und die Wood- und Stone-Henge-Bauten in England. Mitunter war und z. T. auch noch ist die Abgrenzung zu fortifikatorischen Bauten nicht immer unumstritten. Auch das fast klassische Kothingeichendorf ist erst nach Luftbildaufnahmen und weiteren Untersuchungen in seiner ganzen Funktion erkannt worden, nämlich als 16
eine Befestigung mit einem Kultplatz im Inneren (CHRISTLEIN, BEAASCH 1 9 8 2 , 1 1 4 , 214). Sowohl die wie nach einem Kanon immer wieder gewählte Form von mehreren fast kreisförmig konstruierten Graben- bzw. Palisadenringen, die vom fortifikatorischen Gesichtspunkt her mitunter unsinnige Lage im Gelände, fehlende Wohnbauten im Inneren u. a. sprechen wohl eindeutig für kultische Anlagen. Oder ein anderes Beispiel! Unser Wissen um die Religion der keltischen Stämme, die ohnehin durch die schriftliche Überlieferung der Antike und das Nachleben in der keltisch-irischen Literatur gut bekannt ist, wurde durch die Deutung der sog. Viereckschanzen als Kultplätze erheblich bereichert (SCHWARZ 1 9 5 9 ; BITTEL 1 9 7 8 ) . Opferschächte, Grundrisse von Um gangstempeln, die immer wiederkehrende gleiche Gestaltung u. a. lassen am kultischen Charakter dieser Anlagen keinen Zweifel aufkommen. Sie zeigen darüber hinaus — jedenfalls für Süddeutschland — das dichte Netz derartiger Kultplätze, anscheinend dichter als das der Oppida, was darauf hinzudeuten scheint, daß auch dörfliche Ansiedlungen über ihren eigenen Kultplatz verfügten. Aus anderen Perioden der Ur- und Frühgeschichte kennen wir eine derartige Fülle zwar nicht, aber das Bedürfnis nach derartigen Plätzen dürfte nicht viel geringer gewesen sein, und wir müssen auch in anderen urgeschichtlichen Perioden mit Kultplätzen rechnen, deren Spuren sich nur nicht erhalten haben. Dafür kommen in Frage Quellen, markante Geländeabschnitte, Felsgruppen und dann vor allem die Moore, aber auch nur, wenn sich in ihnen die Opfergaben wie Waffen, Schmuck, die Knochen der geopferten Tiere u. ä. erhalten haben (JANKUHN 1970). Oberdorla ist auf dem Gebiet der D D R das überzeugendste Beispiel (BEHM-BLANCKE 1 9 8 3 ) . Die Spuren ausgesprochener Kulthäuser sind leider selten. Wir verweisen auf die slawischen Tempel, wie sie von Groß Raden (SCHULDT 1985) und bei Parchim (KEILING 1984) auf dem Gebiet der D D R bekannt sind. Ob die bronzezeitlichen Totenhäuser aus Niedersachsen auch eine über das unmittelbare Totenzeremoniell hinausgehende kultische Funktion hatten, sei dahingestellt (WEGEWITZ 1 9 4 9 , 1 5 6 - 1 6 3 ; WILHELMI 1981).
Nur eins verraten die Kultplätze nicht, was für unsere Thematik wichtig wäre: Welche Kulthandlungen und in welcher Form wurden diese vollzogen? Wem \£urde geopfert? Welche Vorstellungswelt stand dahinter? Erst wenn schriftliche Quellen dazutreten oder Rückschlüsse aus jüngeren Perioden erlaubt sind, können Aussagen in dieser Richtung gemacht werden. Für Mitteleuropa sind das also die keltischen, germanischen, römischen und slawischen Zeiten. Soweit zum Komplex „Kultplätze". Nun ist zu prüfen, ob die beiden anderen genannten Quellengattungen uns einer Beantwortung solcher Fragen näherführen. Man möchte meinen, daß wir über die mit dem Tode eines Menschen verbundenen Vorstellungen in ur- und frühgeschichtlicher Zeit gut unterrichtet sind. Aber auch hier sind die Aussagen beschränkt. Es bleibt letztlich bei den Erkenntnissen, wie der Leichnam bestattet wurde, oder daß nach dessen Verbrennung die Asche in einer Urne, einem inzwischen vergangenen Beutel oder auch frei der Erde beigesetzt wurde, oder in welcher Form und welchem Umfang die Hinterbliebenen dem Toten Schmuck, Waffen, Gefäße (sicherlich mit Inhalt) mitgegeben haben. Sehr detailliert kennt man den Grabbau, von der einfachen Grabgrube bis zum monumentalen Großsteingrab oder Grabhügel. Es lassen sich kulturelle Beziehungen zwischen verschiedenen Regionen und archäologischen Kulturen erkennen. Die unterschiedliche Haltung des Toten bietet Möglichkeiten zu weiteren Schlußfolgerungen, vor allem wenn man sich nicht mit solchen allgemeinen Feststellungen begnügt wie „rechter bzw. linker Hocker", „gestrecktes Ske2 Religion und Kult
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Jett", Orientierung des Skelettes nach der Himmelsrichtung, sondern alle Details und vor allem Kombinationen der verschiedenen Merkmale berücksichtigt. 3 Sie bieten aber nur geringe Möglichkeiten, zum religiösen Hintergrund vorzustoßen. Immerhin werden aber die beiden emotional bestimmten Motive für eine Beisetzung erkennbar, die Angst und Furcht vor dem Toten und die Ehrfurcht und Liebe ihm gegenüber. Sorgfältige, anscheinend liebevolle Bestattung auf der einen Seite, Fesselung des Toten auf der anderen Seite mögen das Hervortreten des einen oder des anderen Beweggrundes zeigen. Die weit verbreitete Lagerung der männlichen Toten auf der rechten Seite und der weiblichen auf der linken Seite läßt sich auch kaum mit den einstigen Vorstellungen vom Leben nach dem Tode erklären. So kann die aus den ethnographischen, aber auch historisch-volkskundlichen Überlieferungen gewonnene Feststellung, daß ganz allgemein die rechte Seite die männliche, die linke Seite die weibliche sind, wohl nur als Fakt genommen werden und läßt sich kaum mythologisch-religiös erklären ( H Ä U S L E E 1966). Auch die Deutung des Blickes nach dem Osten als der zur aufgehenden Sonne bereitet dort Schwierigkeiten, wo bei einer geschlechtlich differenzierten Körperlage diese Interpretation dann nur für ein Geschlecht zuträfe. Die Schlußfolgerungen aus der Sitte von Mehrfachbestattungen in einem Grabe, der gemeinsamen Bestattung von Mann und Frau, von Frau (Mutter) und Kind, auch von Mann und Kind, von zwei und mehr Männern oder gar von Massenbestattungen zielen alle nur in soziologische Richtung. Abnorme Bestattungen wie Teilbestattung, Schädelbestattung, Bauchlage, unnatürliche Lage des Skelettes werden ebenfalls oft auch nur soziologisch erklärt, dürften aber doch ihren religiösen Hintergrund besitzen. Teil- und Schädelbestattungen setzen zunächst eine Bestattung an anderer Stelle, meist im Freien (auf Felsen, Bäumen, besonderen Gerüsten, in Höhlen) voraus. Derartiges kennen wir aus der Ethnographie. In diesem Zusammenhang muß die Sitte der Deponierung des Totenschädels im Hause oder des Mitführens durch Angehörige, etwa durch die Witwe, genannt werden, was archäologisch kaum zu belegen ist; eine Ausnahme wäre der Fund eines Schädels im Bereich des Hauses oder im Grab des später verstorbenen Angehörigen. In diesem Zusammenhang muß die Sitte des kultischen Kannibalismus genannt werden.4 An dieser Stelle wären auch längere Ausführungen zum Ahnenkult zu machen, der in gewissem Maße identisch ist mit dem Totenkult. Ebenso sind die Art und Zahl der Beigaben weniger durch die Vorstellungen vom „Jenseits" als vielmehr durch erbrechtliche und soziologische Normen bestimmt gewesen. Die vielfach erfolgte Zerstörung der Beigaben gilt es zu erklären. Sollten sie mit dem Toten ebenfalls „sterben" ? Sollten sie — vor allem die Waffen - nie mehr in die Hand eines anderen Menschen gelangen? Oder die zu gewissen Zeiten und in bestimmten Kulturen zu beobachtende Sitte einer enorm hohen Zahl von Gefäßen als Beigabe verlangt nach einer Erklärung. Es klingt unwahrscheinlich, daß dies mit der Vorstellung zusammenhänge, der Tote benötige einen derartig großen Geschirrsatz im Jenseits. Vielmehr mag der Fakt aus dem Brauch heraus zu erklären sein, daß jeder der Trauergemeinde ein Gefäßchen — meist sind es j a kleine — dem Toten ins Grab stellte, vergleichbar dem bei uns üblichen Nachwerfen von Blumen. Über ein wichtiges Phänomen ist viel geschrieben worden, ohne über Vermutungen und Möglichkeiten der Deutung hinausgekommen zu sein. Warum ist der Mensch zur Brandbestattung übergegangen und dann auch wieder zur Körperbestattung zurückgekehrt? Hier müssen doch in erster Linie Veränderungen im Vorstellungsbild eingetreten sein, die später dann zwar auch soziologische Auswirkungen bzw. Ursachen 18
gehabt haben können. Die Begründung mit einer besseren Konservierung oder Transportfähigkeit scheint uns zu profan zu sein. War es nun die Angst vor der Rückkehr des Toten? Oder sollte der Seele der Austritt aus dem Körper ermöglicht bzw. erleichtert werden? In beiden Fällen sollte man meinen, daß derartige Vorstellungen bei allen Angehörigen einer Gemeinschaft, einer Sippe, eines Stammes vorhanden sind. Es ist aber bemerkenswert, daß doch vielerorts und in verschiedenen Perioden auf einem Gräberfeld — also doch in einer begrenzten Zeitspanne — Brand- und Körperbestattungen zusammen vorkommen, mindestens schon seit dem frühen Neolithikum. 5 Überhaupt begegnen uns immer wieder auf einigermaßen vollständig ausgegrabenen Gräberfeldern doch sehr unterschiedliche Grab- und Bestattungsarten. Hierfür kommen eher geschlechts-, alters- und standesspezifische Ursachen als Erklärung in Frage als religiöse. Oder sollten die Vorstellungen vom Leben nach dem Tode für die einzelnen Altersklassen, Geschlechter und sozialen Schichten so unterschiedlich gewesen sein? So lassen sich auch für diese Quellengattung zwar gewisse Rückschlüsse auf die einst durchgeführten Bestattungszeremonien ziehen, aber nur wenig über die Vorstellungswelt, die mit dem Tod verbunden war. Wir bleiben auf Vermutungen angewiesen oder stellen Vergleiche mit dem ethnographischen Quellenmaterial an. So begnügen wir uns meist mit Formulierungen wie die vom „lebenden Leichnam", von einem Weiterleben in anderer Gestalt und an anderer Stelle. Auf den damit im Zusammenhang stehenden Seelenglauben wird noch einzugehen sein. Die Vorstellung vom Weiterleben innerhalb der Gemeinschaft scheint tatsächlich dort bestanden zu haben, wo die Toten innerhalb der Siedlung oder gar des Hauses beigesetzt waren. Aber auch bei Bestattungen auf von der Siedlung räumlich getrennten Friedhöfen kann eine derartige Vorstellung sehr wohl vorhanden gewesen sein. Die Ethnographie dürfte das bestätigen. Man sollte auch nicht übersehen, daß die Friedhöfe zu bestimmten Zeiten — beispielsweise im Neolithikum — fast immer höher liegen als die Siedlungen. Sollte das damit im Zusammenhang stehen, daß die Toten bzw. ihre Seelen in einen höher gelegenen Raum (sozusagen einem Himmel) einkehren ? Kommen wir schließlich zu jenen materiellen Quellen, die wir — meist unabhängig von ihrem tatsächlichen künstlerischen Wert — als Kunst bezeichnen. Damit gelangen wir zugleich in jenen wissenschaftlichen Bereich, der sich mit ästhetischen Fragen beschäftigt. Die Ästhetik hat sich als Wissenschaft bereits in den Klassenstaaten des Vorderen Orients in Vorformen entwickelt und erhielt materialistische Ansätze bei den Griechen, so bei Aristoteles, der in seiner „Poetik" aussprach, daß die Kunst die Aufgabe hat, nicht nur Erscheinungen, sondern das Wesen der Dinge darzustellen. Er hat ihr eine große Rolle für die „sittliche, tugendhafte Vervollkommnung" des Menschen zugewiesen. Mit diesem Hinweis auf Aristoteles — und man könnte diese Gedanken bis in die Neuzeit weiterführen — sei nur auf den engen Zusammenhang jeder künstlerischen Darstellung mit sittlich-moralischen, religiösen und anderen Bewußtseinsformen und selbstverständlich auch der ökonomischen und sozialen Basis hingewiesen. Jedenfalls ist die Kunst eine spezifische Form des gesellschaftlichen Bewußtseins, eine besondere Form der geistigen Aneignung der Welt. Die Kunst kann nie Selbstzweck sein, sie erwächst aus der Auseinandersetzung der Menschen mit der natürlichen und gesellschaftlichen Umwelt. Das gilt ebenso für die älteste und die gesamte ur- und frühgeschichtliche Kunst. Für unsere Thematik ist die Erkenntnis wichtig, daß sich in dieser ältesten Kunst ästhetisches und mythologisch-religiöses Bewußtsein miteinander verbinden. Viel2*
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leicht kann man es auch so ausdrücken, daß mythologische Vorstellungen in ästhetische Darstellungsformen umgesetzt bzw. vergegenständlicht werden. Ästhetisches Empfinden kann sehr weit, bis an den Anfang der Menschheitsgeschichte, zurückgehen. Freude und Angst, Gefühl für Harmonie und Disharmonie, Aufruhr in der Natur, Sonne und Regen, Blitz und Donner, Geburt und Tod und viele andere Erscheinungen werden nicht nur rational, sondern — stärker als heute — emotional erfaßt und drängen zur Darstellung. Nicht unbedeutend ist der schon den Tieren und gerade besonders den Primaten innewohnende Spieltrieb, der sozusagen gesteuert wird durch das Emotionale. Insofern können einfache Ritzungen als Vorformen einer Kunst betrachtet werden. Nun bestand ja die urgeschichtliche Kunst nicht nur aus Darstellungen in Form von Malereien, Gravierungen, Plastiken — und auch hier fehlen uns jene auf bzw. aus vergänglichem Material (Holz, Textilien, Körperschmuck) —, sondern eine gleiche und vielleicht noch größere Bedeutung hatte die Musik, das gesprochene Wort und der Tanz. Das sind alles Formen, für die uns die Quellen überwiegend fehlen, von Pfeifen, Flöten, Schwirrhölzern, von neolithischen Trommeln, von metallenen Blasinstrumenten und wenigen Darstellungen abgesehen. Und auch diese bleiben im eigentlichen Sinne des Wortes stumm. Gerade die Musik und der Tanz könnten uns viel über das ästhetische, aber auch mythologisch-religiöse Bewußtsein aussagen. Hier kann die Ethnographie auch nur Eindrücke vermitteln, oder über möglichen Inhalt und mögliche Formen von Musik und Tanz in der urgeschichtlichen Zeit Andeutungen machen. Deren Beobachtungen lassen sich nicht einfach auf die Jahrtausende der frühen Menschheit übertragen. So verbleiben uns als Quellen zur Erforschung des ästhetischen und religiösen Bewußtseins nur die Szenen- und Einzeldarstellungen sowie die Symbolsprache an Höhlen- und Felswänden, auf Schmuck, Geräten und Waffen, auf der Keramik und Metallgefäßen, auch einmal an den Wänden der Grabkammern und auf Steindenkmalen sowie die Plastiken. Es kann nicht Aufgabe dieses Beitrages sein, alle oder auch nur eine größere Zahl von Einzelfragen, die mit unserer Problematik in Verbindung stehen, hier zu behandeln. Einige immer wiederkehrende Schwerpunkte und Schlüsselfragen sollen angedeutet werden; manche werden in den folgenden Beiträgen noch einer näheren Betrachtung unterzogen. Ein Ausgangspunkt, Vorstellungen zu vergegenständlichen, war vielfach das dem Menschen innewohnende Gefühl der bereits skizzierten Ohnmacht gegenüber der Natur, die im Laufe der Zeit und besonders mit Aufkommen der Wissenschaften seit dem Altertum immer mehr abgebaut wurde. Dabei verbanden sich sehr rationale und empirisch gewonnene Erkenntnisse und daraus entwickelte Praktiken mit irrationalen Handlungen. Für den Jäger ergab sich die Notwendigkeit, einen Einfluß auf erfolgversprechende Jagd, damit also auf das Tier zu gewinnen, für den Bodenbauer das Gebot, für eine gute Ernte Sorge zu tragen. Das ist bekannt, und auch die Völkerkunde bietet hinreichende Beispiele. 6 Sobald wir aber ins konkrete Detail vo'rstoßen wollen und dabei die urgeschichtliche Kunst als einzige unmittelbare Quelle heranziehen, treten die Schwierigkeiten zu Tage, und wir müssen uns etwa im Paläolithikum zunächst mit Vorstellungen einer Jagdmagie, eines Jagdzaubers begnügen, wofür es ja zahlreiche Hin- oder gar Beweise gibt: von Pfeilen oder Speeren getroffene Tierbilder wie überhaupt die ganze Kunst der Höhlenmalereien, Beschwörungsszenen, die Fußspuren von Tänzern oder Schamanen im Ekstasezustand. Oft ist man über diese Interpretation hinausgegangen, etwa in Richtung eines Animismus, worüber weiter unten noch kurz gesprochen wird. Ob man soweit gehen kann, wie es 20
A. L E R O I - G O U R H A N (1973) getan hat, der auf Grund immer wiederkehrender Kombinationen ein ganzes religiöses System entwickeln will, dem ein gewisser Dualismus (männliches und weibliches Element, Leben und Tod) zugrunde liegt, sei dahingestellt. Es war aber auch nicht allein der Wunsch nach einer erfolgreichen Jagd, sondern auch nach einer ständigen Mehrung und nach stetem Nachwuchs der Tierwelt, was später bei Viehhaltern, -Züchtern und -nomaden noch stärker zum Ausdruck kommt. So spielt schon von sehr früher Zeit an der Fruchtbarkeitsgedanke eine sehr große Rolle in der Religion und im Kult, nicht nur auf die Tiere bezogen, sondern auch auf den Menschen selbst, da eine ausreichende Nachkommenschaft die Existenz einer jeglichen Gemeinschaft mindestens von dieser Seite her absicherte. Hier sind es ja die Frauenstatuetten, die dafür als Belege seit eh und je gelten und die dann f ü r neolithische Zeiten als Verkörperung der Mutter Erde, der Magna Mater oder der Beherrscherin der Tierwelt interpretiert werden. Denn diese Frauenstatuetten standen nicht nur im Dienste einer Fruchtbarkeitsmagie für das menschliche Leben, sondern sollten auch die Vermehrung von Tier und Pflanze — sozusagen stellvertretend — fördern. Dort zwar, wo das Erotische stärker betont ist, kann es sich um Zeichen einer Liebesmagie handeln. Für die Verbindung von Mensch und Tier im Fruchtbarkeitskult wird gern die Darstellung einer hochschwangeren Frau unter einem stehenden Rentier von Laugerie-Basse angeführt. Alle diese Vorstellungen waren durchdrungen von der des Animismus, dem Glauben von einer Beseeltheit der belebten, aber auch der unbelebten Natur. Geister guter und böser Art sollten das Geschehen in der natürlichen, später auch der gesellschaftlichen Umwelt regulieren. Träume und im Ekstasezustand auftretende Bilder bestärkten derartige Vorstellungen. Mit einem vermutlich vielfältigen Kult versuchte man Einfluß auf diese Geister zu gewinnen. Auch hier vermittelt die Ethnographie die verschiedensten Formen, mit denen auch in urgeschichtlicher Zeit gerechnet werden kann. Wir möchten den Animismus nicht f ü r eine eigene geistige Entwicklungsphase halten, sondern als eine Erscheinung ansehen, die zu verschiedenen Zeiten das religiöse Bewußtsein durchdrungen hat. Die vorhin angesprochene ideelle Verbindung von Mensch und Tier wurde noch durch die Vorstellung einer Seele gefördert. Der Zeitpunkt ist schwer zu bestimmen, in welcher der Mensch außer der sichtbaren und faßbaren Materie etwas Unsichtbares, vielleicht Hörbares oder mit anderen Sinnen Aufzunehmendes oder zu Spürendes in seiner Umgebung oder auch an weit entfernter Stelle vermutete. Vielfach wurde die Seele mit dem Atem gleichgesetzt, der beim Tode aussetzt, die sterbliche Hülle verläßt, sich in eine unbekannte Ferne begibt und nach einiger Zeit in die körperliche Hülle eines anderen, eines neuen Menschen, oder auch eines Tieres zurückkehrt. Die Völkerkunde zeigt, daß bereits bei Jägergemeinschaften die Vorstellung einer Seele bestand, so bei den australischen Ureinwohnern, die an ein Entweichen der Seele aus dem Körper des Verstorbenen glaubten, die dann auf eine Wiedergeburt wartet, indem sie dann als „Geistkind" in den Leib der Mutter gelangt ( R O S E 1 9 7 6 , 6 0 ) . Dies Entweichen der Seele wird vielfach mit dem Vogelflug verbunden, so daß Vogeldarstellungen (Plastiken, auch solche, wo Frau und Vogel sich vereint finden, oder auf Darstellungen von Lascaux) als Hinweise auf einen Seelenglauben und eine Seelen Wanderung genommen werden. Es sei auf die „Röntgenbilder" verwiesen, die Menschen anscheinend mit ihrem Skelettbau und inneren Organen darstellen, so daß letztere auch die angebliche Seele verkörpern könnten. Die Gedanken um die Seele spielten später in der Philosophie eine bedeutende Rolle. In ihr, der Psyche, sahen die Griechen die eigentliche Bewegungskraft, bei Plato gilt 21
sie als unsterblich. Seelenglauben, Ahnenkult und Totemismus verbinden sich miteinander. So gilt bei den australischen Aranda die Tjurunga, eine mit dem Bild des Totem versehene Platte, als die Verkörperung der unsterblichen Seele und K r a f t des Totemahnen (Völkerkunde 1966, 325f.). Von ihr gehen schöpferische Kräfte aus. Man könnte bei ähnlich aussehenden prähistorischen Objekten an eine gleiche oder verwandte Funktion denken. Geister, Dämonen und andere mythische Gestalten sind lange in der Vorstellungswelt der Menschheit geblieben, auch noch in Zeiten, als Klassengesellschaften bestanden und Staatsreligionen die Glaubenswelt bestimmten. Es erhebt sich die Frage, in welcher Periode wir mit dem Glauben an Götter rechnen können, also überirdische Gestalten, die sich der Mensch anthropomorph, im allgemeinen mit menschlichen Eigenschaften und Verhaltensweisen, zu denen noch unnatürliche, überirdische Fähigkeiten treten, und mit bestimmten Funktionen im Weltgeschehen und in einer der sozialen Ordnung auf Erden adäquaten Rangordnung vorstellte. Von den bereits im Lichte schriftlicher Quellen stehenden Völkerschaften (also f ü r Mitteleuropa etwa seit der Mitte des letzten J t . v. u. Z.) wissen wir, daß Götter einen festen Platz im religiösen Glauben der Menschen einnahmen. Man kann mit ihnen aber vermutlich bereits vorher rechnen. Nicht jede männliche oder weibliche Gestalt auf Erzeugnissen der Kunst beweist einen Gott. Umgekehrt müssen wir den Umstand berücksichtigen, daß vielfach eine Abneigung, ja ein Verbot zur Darstellung der Götter bestanden hat, so daß auch in diesem Falle aus dem Bereich der Kunst keine Hinweise auf die Existenz von Göttern zu erwarten sind. Es liegt nahe, daß der Gedanke an Götter etwa gleichzeitig mit Vorstellungen über die Herkunft des Menschengeschlechts und der Welt auftrat, wobei Ahnenkult und in gewissem Maße auch der Totemismus mit eine Rolle gespielt haben. In unserem engeren europäischen Raum werden gern einige Menschengestalten auf den skandinavischen Felsbildern der Bronzezeit als Götterbilder interpretiert, weil sie größer als die anderen sonst dargestellten Menschen oder gegenüber den Schiffsbildern erscheinen und mit charakteristischen Attributen wie Speer, Hammer, Axt abgebildet sind, die rd. 1000 Jahre später bestimmten germanischen Göttern eigen sind. Jedenfalls dürfte der Götterglaube nicht gleichzeitig mit Beginn von Bodenbau und Viehhaltung aufgetreten sein, sondern erst in einer späteren, schon der beginnenden Auflösungsphase der Urgesellschaft. Abschlie'ßend kann wohl gesagt werden, daß die eingangs getroffene Feststellung sich bestätigt findet, wonach die archäologischen Quellen für sich allein nur als materielle Auswirkungen eines Kultes zu verstehen sind, aber unter Zuhilfenahme ethnographischer Ergebnisse und unter Berücksichtigung der Erkenntnisse einer dialektischmaterialistischen Philosophie manche Erweiterung in unserem Wissen gewonnen werden kann. Nur am Rande wurden weitere Disziplinen erwähnt, die zu unseren Fragen noch beisteuern könnten, wie etwa die Verhaltensforschung, die Linguistik, die Psychologie. Auch manches andere Problem und Phänomen konnte nicht berührt werden. Es sollte ja nur eine Art Bestandsaufnahme gemacht, aber zugleich angeregt werden, diesen Fragen des mythologisch-religiösen Bewußtseins eine angemessenere Beachtung einzuräumen. Denn trotz der Beschränkung in der Aussagefähigkeit der archäologischen Quellen können wir zu weiteren Aussagen kommen.
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Anmerkungen 1 G e n a n n t seien in Auswahl folgende A r b e i t e n : J . MARINGER (1956), der sich aber n u r a u f die s t e i n z e i t l i c h e E p o c h e b e s c h r ä n k t ; E . 0 . JAMES (1957, 1960); E . PATTE (1960),
der n u r unwesentlich über das Paläolithikum hinausgeht; das gilt auch f ü r A. LEROIGOURHAN
(1964);
V . F . ZYBKOVEC ( 1 9 5 9 ) , d e r d e n
Versuch
macht,
alt- u n d
mittel-
paläolithische Verhältnisse mit der Religion der Tasmanier in einer „vorreligiösen E p o c h e " zu verbinden (vgl. a u c h 1967); zu nennen sind mehrbändige Ausgaben über die Religionen der W e l t : CH. M. SCHRÖDER (Hrsg.) „Religionen der Menschheit" (1961 ff.); „ H a n d b u c h der Religionsgeschichte" (1971). E s sei auch auf den Sammelband eines Symposiums von Valcamonica 1972 (1975) hingewiesen. Aus der Sicht des E t h n o g r a p h e n wären weitere Arbeiten zu nennen, von denen vor allem das Werk von S. A. ToKABEW (1965, 1972) zu erwähnen ist, der auch die archäologischen Befunde mit einbezieht. 2 Vgl. die Beiträge von V. PODBOBSKY (S. 175ff.) und E . SCHBÖTER (S. 193ff.) in diesem Band. 3 Dazu sei vor allem auf die zahlreichen Arbeiten von A. HÄUSLER (zuletzt 1985) hingewiesen. 4 Vgl. den Beitrag von H.ULLRICH in diesem B a n d (S. 51 ff.). Zum Schädelkult vgl. L . SCHOTT (1982).
5 Vgl. zu dieser P r o b l e m a t i k den Beitrag von E . HOFFMANN in diesem Band (S. 99ff.). 6 Beispiele mit entsprechenden Literaturhinweisen finden sich im Beitrag von G. GUHR in diesem B a n d (S. 25ff.).
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Religion und Kult • Berlin 1989 • Seiten 2 5 - 4 4
Bemerkungen zu Kult und Religion in ur- und frühgeschichtlicher Zeit von Seiten der Ethnologie V o n GÜNTER GUHK
I. Wenn die Ethnographie nach den Problemen von Kult und Religion gefragt wird und gewissermaßen als Ergänzung und Ausfüllung des archäologischen Stoffes dienen soll, dann muß als erstes auf die zwei Kernfragen ethnographisch-archäologischen Zusammenwirkens, das seine Kritiker und Befürworter hat, hingewiesen werden. Zunächst ist auf die unterschiedliche Zeitstellung beider Quellengruppen zu verweisen. Die ethnographischen Quellen hauptsächlich aus der Zeit vom 16. bis 20. J h . und die Quellen der prähistorischen Archäologie in der allgemeinen Urgeschichte vor dem 3. Jahrtausend v. u. Z. klaffen weit auseinander. Doch geben die ethnographischen Quellen sogenannter schriftloser Völker Zeugnis lokaler frühgeschichtlicher Abläufe und Verhältnisse, die die Darstellung ihrer konkreten Urgesellschaften ermöglichen. Im methodischen Verfahren des Vergleichs der einzelnen Urgesellschaften miteinander zur Erkenntnis der allgemeinen Struktur, Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten ist es möglich, vom wesentlichen Inhalt und typischen äußeren Erscheinungsbild archäologische und ethnographische Ergebnisse zum Gesamtbild der Urgesellschaft und der Urgeschichte zusammenzufassen. Diese methodischen Prinzipien beruhen auf den gesellschaftlichen Grundgesetzen über Bau und Entwicklung der Gesellschaft, wodurch auch die Möglichkeit gegeben ist, zur Erkenntnis von Kult und Religion in der Urgeschichtsforschung ethnographisch-archäologisch zusammenzuwirken. Die gesellschaftlichen Gesamtzusammenhänge und ideologischen Funktionen, die diese bedeutenden Erscheinungen des gesellschaftlichen Bewußtseins einnehmen, sind zu berücksichtigen. Von grundlegender Bedeutung ist die zeitliche und evolutive Zusammenordnung archäologisch und ethnologisch erforschter Sachverhalte, die nach den ökonomisch-sozialen Typen der Urgesellschaft nicht vor die jungpaläolithische Jäger-Fischer-Sammler-Stufe reicht. Die ethnographischen Untersuchungen stellen, auf die Urgesellschaft und die frühen Klassengesellschaften bezogen, einen eigenen Zweig der Ur- und Frühgeschichtsforschung dar. I n diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß die Erforschung von Kult und Religion allgemein und der Religionsformen im einzelnen ein umfangreiches Gebiet der ethnographischen Wissenschaft darstellt, das auch als Religionsethnologie bezeichnet wird. Dieses Gebiet zeichnet sich durch Spezialisten und eine umfangreiche Literatur spezieller und allgemeiner Untersuchungen aus. Darüber hinaus muß sich wohl jeder Ethnograph, der mit einzelnen urgesellschaftlichen Stämmen und Völkern befaßt ist, auch mit Fragen ihres Kultes und ihrer Religion beschäftigen. Bedauerlicherweise besteht in der DDR-Ethnographie kein besonderes Spezialistentum zur Religionsethnologie. 1 25
Mit der Frage an die Ethnographie nach der urgeschichtlichen Religion ist auch die bekannte Frage nach den unterschiedlichen gesellschaftlichen Qualitäten von Urgeschichte und Geschichte verbunden. Diese ist von der marxistischen Geschichtsund Gesellschaftswissenschaft grundsätzlich gelöst worden mit der Charakterisierung der auf Gemeineigentum beruhenden urgesellschaftlichen und der vom Privateigentum beherrschten klassengesellschaftlichen Formationen, deren Organisationsweise einerseits die Gentilgesellschaft und andererseits die Staatsgesellschaft bildet. Da in der Urgesellschaft die Anfänge, frühen Ausbildungen und Entwicklungen von technischen, ökonomischen, organisatorischen und ideologischen Erscheinungen der Menschengesellschaft liegen, die auch in späteren Entwicklungsperioden, wenn auch unter qualitativ anderen Bedingungen, fortbestehen, werden in der marxistischen Ethnographie, Geschichts- und Gesellschaftswissenschaft entsprechende Probleme der unterschiedlichen Qualitäten diskutiert. Das betrifft etwa die Fragen von Recht in der Gentilgesellschaft und in der Klassengesellschaft, den Charakter von privater Verfügung über Gemeineigentum und von Privateigentum in der frühen Klassengesellschaft, den Charakter gentilgesellschaftlicher Abgaben und vorkapitalistische Abschöpfung des Mehrproduktes als Klassenausbeutung u. a. m. Dazu gehört eben auch das Problem der Religion in der Gentilgesellschaft und in der Klassengesellschaft. Der Begriff „Religion" ist heute in der marxistischen Wissenschaft auch für die religiösen und kultischen Erscheinungen und Einrichtungen der Gentilgesellschaften in Gebrauch. 2 Doch wäre es günstig, eine begriffliche Unterscheidung treffen zu können, da die Religionen der Gentilgesellschaften und der Staats-Klassengesellschaften in Systemen und vor allem in der sozialen Funktion weit auseinanderklaffen. Wenn sich in der Ethnographie auch für andere ideologische Erscheinungen, wie etwa für Kunst, bereits unterscheidende Begriffsbildungen abzeichnen, so mit „Volkskunst" und „Kunst" oder „Stammeskunst" und „Kunst", sollte es unsererseits zunächst bei „Religion" auch f ür die Urgesellschaften belassen bleiben. 3 Wir stoßen ja mit vielen unserer Begriffe auf weite umfassende Anwendungen (z. B. „König" oder „Reich"). Über die Religion der Gentilgesellschaften und frühen Klassengesellschaften liegen verhältnismäßig viele Beschreibungen und auch Sachsystematisierungen vor. Geringer ist die ethnographische Erkenntnis in der Wesensbestimmung als eines Teiles der Struktur des gesellschaftlichen Bewußtseins und der Ideologie. Trotz gleichartiger blutsverwandtschaftlicher und gemeineigentümlicher Grundlagen richtet sich eine derartige Wesensbestimmung auf ganz unterschiedliche ökonomisch-soziale Typen von solchen des Jäger-Sammlertums über verschiedene Ackerbauer-Viehzüchterstufen bis zum Nomadenwesen und zu den frühen archaischen Staatswesen und Reichen. Die strukturell-funktionale Bestimmung der einzelnen Religionsformen und Kulte im Rahmen des jeweiligen gesellschaftlichen Gesamtsystems — dem Urgeschichtler sind beispielsweise Jagdmagie, Tier- und Agrarkulte gut bekannt — kann bei historisch-materialistischer Arbeitsweise weiter ausgebaut werden. Verkehrte Widerspiegelung und die bekannten Phantasmagorien überhaupt können dem Ethnologen hilfreiche Mittel zur Wesens- und Funktionserforschung sein, sie reichen aber bei weitem nicht aus, um zu eruieren, wie trotz illusionärer Praktiken reale Erfolge in der Gentilgesellschaft erzielt werden können. Die progressiven Wirkungen der Religion in revolutionären Umwälzungen, beispielsweise im Übergang von der Gentilgesellschaft zur Staats-Klassengesellschaft, als Teil sozialer bewegender Ideologie ist eine Seite, die Herausbildung des Priestertums als ausbeutende Klasse — immer verbunden mit der religiösen Vorstellungswelt und dem System — ist eine zweite Seite der ethnologischen Religionsforschung. 26
Die Religion ist nur aus den materiellen und sozialen Bedingungen und Lebensumständen erwachsen, die der Mensch durch sein Denken, Empfinden, Einbilden und seine Tätigkeit in Gedankengebäuden, Formen, Systemen und Einrichtungen hervorbringt. Von diesen Bedingungen werden die religiösen Erscheinungen weitergetragen, abgeworfen und neugestaltet. Entwicklung und Geschichte der Religion und eben auch der der Gentilgesellschaften verlaufen nur mit der ihrer Gesellschaft. Soziologisch exakt hat Religion wie jede andere ideologische Erscheinung keine eigene Entwicklung und Geschichte ( M A R X , E N G E L S 1845 [1965], 26f., 46f.). Doch stellen die religiösen Erscheinungen einen gesellschaftlichen Lebensbereich dar, der über die ganze Spanne urgeschichtlicher und geschichtlicher gesellschaftlicher Existenz einen bestimmten Platz im Gebäude der ideologischen Systeme einnimmt. Daher können sich Zusammenhänge religiöser Vorstellungen oder Einrichtungen über verschiedene Entwicklungsperioden hinweg zu erkennen geben. Wir finden deshalb die Wurzeln zahlreichen Gedankenmaterials und vieler Kultformen der Religion fortgeschrittener Gesellschaften — sogenannter Hochreligionen — in den Religionen gentilgesellschaftlicher Stämme und Völker. Erweist sich einerseits Kontinuität und Wachstum derartiger ideologischer Erscheinungen/ 1 zeigen sich andererseits Wandlungen und Neuerungen der Vorstellungen und Empfindungen, der Organisationen und Institutionen. Die bedeutsamen qualitativen Unterschiede zwischen dem Charakter der Gentilgesellschaften und bereits der frühen Staats-Klassengesellschaften sind auch in den Religionen vorhanden. Totemismus und Sippen- und Stammeskulte gehören ausschließlich den Gentilgesellschaften an, staatlich organisierte Gesellschaften erweisen insbesondere Götter- und Gottvorstellungen, Glauben und Verehrung über Stammesund Lokalgottheiten hinaus. Einen gewöhnlich staatsgesellschaftlich umfassenden zwingenden Kultus und entsprechende Lehre, erlösendes Hoffen, hilfesuchendes Erbitten, eine berufsmäßige Priesterschaft als Teil oder Funktionär der herrschenden Klassen, Gotteshäuser, Pyramiden sind charakteristisch. Sind die religiösen Vorstellungen und Praktiken in den Gentilgesellschaften auf Hilfen in der Bewältigung des Lebens ausgerichtet und von Gentilfunktionären geleitet, so funktionieren sie in der antagonistischen Klassengesellschaft nur über die Herrschaft der herrschenden Klassen und sind deren Instrument. Ihre Bewegungen aber vollziehen sich im Zuge der Klassenauseinandersetzungen, in denen sie Ideologie sowohl der herrschenden wie unterdrückten Klassen sind. Verschiedene Arbeitsgebiete gehören in den Bereich der ethnographischen Erforschung der Religion. Aus den zahlreichen konkreten ethnographischen Berichten und Beschreibungen sind die verschiedenen Religionsformen systematisiert. Diese sind in der Regel mit Kultausübungen verbunden. Zwar ist nicht jeder Kult von religiösem Charakter (beispielsweise soziale Betragensweisen, Grußformen) und auch nicht jede religiöse Vorstellung mit Kultausübungen verbunden (beispielsweise reine Geistervorstellung oder alleiniger Gottesglauben), doch gehören Kult und Religion untrennbar zusammen, weil sich im Kult die religiöse Anschauung, das Glaubenssystem, manifestiert, materialisiert. Gewöhnlich irgendwann erfunden und in einer reglementierten, nach Sitte und Brauchtum festgeschriebenen Weise - kanonisiert — ausgeführt, bildet der Kult einen sichtbaren Ausdruck als Aktion des religiösen Menschen bzw. der Gentilgemeinschaft meistens in aktiver, seltener in passiver Art, um Wirkung zu erzielen und Bekräftigung des Geistigen, Emotionalen und Bewußtseinsmäßigen zu erreichen. Das gesprochene bzw. geschriebene Wort, das Symbol, der Naturgegenstand und das Kulturobjekt, die Körperlichkeit des ergriffenen Menschen bilden in Funktion der vielfältigen Kultausübungen formale Mittel der gentilen 27
Religion: Tanz und Musik und die dramatische Vorführung sind wohl die ursprünglichsten, bildliche Kunst verschiedener Materialien spielt eine große Rolle, Anrufung, Beschwörung, Opfer, Rituelles zu Geburt, Reife, Tod, Bestattung, Reinigung mit Feuer oder Wasser, Kult mit Körperteilen wie Schädel, Phallus u. a., Personenkult, Personifizierung, Tier- und Pflanzenverehrung, z. B. der Bär, Leopard oder der Baum, Stein- und Pfahlkult, das vielgestaltige Maskenwesen, Verehrung terristischer Objekte wie Fels, See, Hain oder von Naturerscheinungen, so des Regens, Windes, der Gestirne usw., vielfältiges Ritualgerät, aber auch Gebrauchsgegenstände und Werkzeuge, auf die Produktion bezogene heilige Handlungen wie Jagd- und Agrarkulte und Fruchtbarkeitsriten, Bauten verschiedener Art bis zu Kulthaus bzw. Pyramide. Kultische Handlungen und Vorhaben werden gewöhnlich von einem Kundigen, dem sogenannten Medizinmann, geleitet oder auch ausgeführt, doch finden auch individuelle Handlungen besonders im Erfolg- oder Geistsuchen statt. In der ethnographischen Feldforschung werden die Kulte und Vorführungen eher bekannt, beobachtet, als das dahinter verborgene gedankliche und emotionale System, welches ohne einheimische Sprachkenntnisse bzw. -mittlung schwierig zu ergründen ist. Die von der ethnographischen Forschung erkannten und definierten urtümlichen religiösen Erscheinungen sind zu wissenschaftlichen Begriffen auch der archäologischen Urgeschichtsforschung geworden (ähnlich den sozialwissenschaftlichen Gens, Gentilordnung, Dualsystem, Exogamie u. a.): Animismus, Fetischismus, Totemismus, Dynamismus, Manismus, Schamanismus, Präanimismus, Animalismus, Animatismus, Gestirnverehrung, Urheberkult u. a. Auch auf die konkreten Begriffe, die teils in den allgemeinen subsummiert sind, wie Mana, Manitu, Dema, Nagual, Tabu u. a., sei hingewiesen. Dem Bewußtseinsstand der Gentilvölker entsprechen die zahlreichen und verschiedenen Zauberhandlungen, die mit Religiösem und Kultischem zusammenhängen können, aber auch von eigenen Denkvorstellungen veranlaßt und in Wirkung gebracht werden. Die K r a f t der Magie, die von zauberkundigen Personen auf Wetterbildung, Jagd- und Feldbauerfolge, auf Viehzüchtung, Krankenheilung, auf Schadenbringen und Abwehr gerichtet wird, arbeitet dabei mit einer ganzen Reihe irrealer, illusionistischer und unlogischer Vorstellungen, die von Erkenntnissen der Erscheinung, nicht aber des Wesens einer Sache ausgehen. Als weiteres Arbeitsgebiet ist die Erforschung der urgeschichtlichen Evolution der Religionsformen zu nennen, in dem verschiedene Entwicklungsfolgen aufgestellt worden sind. Sie sind entweder als sachliche Einzelreihen typologisch bzw. psychologisch angeordnet oder gehen gewöhnlich, doch nicht immer, parallel mit den wirtschaftlich-sozialen Stufen oder Kulturschichten der Gentil- und Stammesvölker. Schließlich ist auf die Arbeiten zu verweisen, die sich dem Anfang bzw. Ursprung der Religion zugewendet haben und alle nicht ohne Retrospektive und in gewisser Weise ohne hypothetische oder spekulative Momente auskommen, da — wie erwähnt — eine heuristisch gesicherte Parallele des Ethnographischen nicht vor das Jungpaläolithikum gesetzt werden kann. Oft aber sind ethnographische Erscheinungen bis in die Anfänge des Menschengeschlechts gesetzt worden, wobei nicht zuletzt die weltanschauliche Position und Zielsetzung des Forschers eine Rolle spielt — materialistische und idealistische Geister und im besonderen Atheisten und Theisten scheiden sich hier. Die Bemühungen um den Nachweis eines Urmonotheismus mit Uroffenbarung (SCHMIDT 1938) gehören hierher, auch die generelle Annahme einer psychischen Anlage des Menschen für religiöses Denken und Empfinden überhaupt. Nicht ohne Grund ist die evolutionistische Richtung, die bestrebt war, die Entstehungsursache für die Religion naturwissenschaftlich beweisbar aufzuzeigen, von kirchlichen 28
bzw. von religiös motivierten Nachfolgern aufs heftigste bekämpft worden. Doch gehört dieses Für und Wider nicht nur der Vergangenheit an, es wird belebt, wo immer atheistische bzw. theistische Interpretationen an das ethnographische Material und an die ethnologisch erarbeiteten Religionsformen gesetzt werden. Für den theistischen Religionsethnologen ist es letztlich eine Glaubenssache, da er sich einbildet, die Erfahrung von Religion in seinem inneren Bewußtsein zu besitzen und von daher Ursprung und Wesen außersinnlich herleiten zu können. Der „Nichtgläubige rede von Religion wie der Blinde von Farben", eine Auffassung von Pater W. SCHMIDT, die sich E . E . EVANS-PKITCHABD (1938, 170f.) zu eigen macht. Die katholische ethnologische Schule hatte die natürliche Entstehung des körperlichen Menschen anerkannt, doch mit der Auffassung von der Uroffenbarung, der Eingebung des Geistes durch Gott, die Schöpfung erklärt.. Demgegenüber geht der Theismus in der Biologie heute noch weiter. Der göttliche Schöpfungsakt sei der biologischen Evolution immanent. Die Vorgänge, die zur Entstehung neuer Arten führen, die naturwissenschaftlich beweisbar sind, seien Akte der Schöpfung. Von der Entstehung des Lebens bis zur höchsten Form, dem Menschen, sollen sich immer wieder neue Schöpfungen vollzogen haben, und man wisse nicht, wie es weitergehe. 5 Entgegen derartigen Bemühungen erweist das ethnographische Tatsachenmaterial über die Religion der Gentilvölker und frühen Staatsgesellschaften, daß es sich um Bewußtseins- und Kulturerscheinungen handelt, die vom Menschen selbst erdacht und ausgearbeitet worden sind. In allen Fällen sind direkt oder indirekt die gesellschaftlichen bzw. natürlichen Abbilder der individuellen und gemeinschaftlichen Auseinandersetzung mit der Umwelt, der gesellschaftlichen und natürlichen, zu erkennen und zu erschließen. Diese Erkenntnis ist der Mehrheit der ethnographischen Wissenschaftler, auch der bürgerlichen, gemein. Und wenn sie eine biologische, psychologische oder soziologische Theorie darüber abgefaßt haben, ohne den Seelen, Geistern und Göttern Realität eingeräumt zu haben, dann haben sie dennoch keine „Theorie über die Dummheit der Menschen" aufgestellt, wie E. E . EVANS-PBITCHARD (1968, 170) ihnen anlasten möchte, der diese Geistwesen selbst als Realität gelten lassen will. Vorstellungsgabe und Einbildungskraft des menschlichen Geistes können beträchtlich sein, weshalb eine Diskussion über Glauben und Unglauben die Ethnologie kaum weiterbringt. Was zählt, ist die Geschichtserkenntnis, und der Gottesbeweis liegt im Gebiet der Theologie. II. Die ethnographische Religionsforschung ist untrennbar mit dem Namen Edward B . TYLOR, dem Mitbegründer der modernen englischen Anthropologie, verbunden. E r hat 1871 mit seiner Animismus-Theorie 6 und der stufenmäßigen Entwicklung der Religionsformen bis zum Monotheismus das wesentliche Fundament gelegt. Gegen die bis dahin auf der Mythologie begründeten Forschung ursprünglicher Religion setzte er die ethnographische Entwicklungskonzeption der Urgesellschaft, erklärte die Religion als eine Erfindung des menschlichen Geistes im Ursprung und in langwährenden Entwicklungsstufen. Seine Definition einfachster oder geringster Religion war der Glaube an geistige Wesen. So nahm er Anima, die Seele, zur Grundlage der allem religiösen Fühlen und Denken zugrundeliegenden Vorstellungen vom Geistigen innerhalb des einzelnen Menschen und der entsprechenden Projektion nach außen. Anima ist gewissermaßen der Kern, aus dem und mit dem sich alle weiteren Religionsformen aufbauen, weshalb er den grundlegenden Begriff Animismus prägte. E r war bemüht, den psychischen Entstehungsprozeß der Seelenvorstellung des 29
Menschen zu rekonstruieren, eine materialistische Erklärung, die ihm auch scharfe Kritik eingebracht hatte. Aus dem Traumerleben, in dem man sich selbst oder bekannte Personen als Traumbild wahrnimmt und auch bereits Verstorbene erblickt, sie Handlungen verrichten sieht oder sogar ihr Sprechen vernimmt, sei die Vorstellung von einem geistigen Sein des Menschen und einer Zweiheit von Körper und Seele erwachsen. Die Belebtheit, die dem toten Körper mangelt, wurde dieser als außerkörperliches Abbild, als Schatten, Hauch, Atem gedeuteten Seele zugewiesen, d. h. schlechthin das Leben, das in geistiger Form überlebt. Das ist und bleibt nach E . B. T Y L O R die Grunderkenntnis der gedachten Trennung von Körper und Geist und der besonderen Rolle, die unter religiösem oder philosophischem Aspekt dem Geistigen zugeschrieben wird.7 Mit dieser psychologischen Methode deutete E. B. T Y L O R die einfachste Form der Religion, die am Anfang religiöser Vorstellungen steht und die auch in allen entwickelteren Religionsformen enthalten ist. E r stellte in Auswertung umfangreichen ethnographischen und historischen Materials die folgende Entwicklungsreihe auf: Seelen — Geister von Menschen; Geister von Tieren, Pflanzen, Objekten — Totems; Geister von Toten — Ahnenkult; reine Geister oder Geistwesen; darauf beruhend die Magie — schwarze und weiße; Fetischglauben; von Geistern zu Göttern — Abschnittsgötter — Naturkulte; Allgemeinbeseelung — Mana, Dynamismus; Polytheismus — Ganzheit von Teilgöttern; Götterhierarchie; Monotheismus. T Y L O R S Animismustheorie war zu seiner Zeit allgemein angenommen worden, nicht aber unbedingt die von ihm dargelegte Abfolge der Religionsformen. Der schon früher als älteste Religionsform verstandene Fetischismus (SCHULTZE 1871) wurde beispielsweise weiterhin von A. B A S T I A N und J . L U B B O C K als solche aufgefaßt. Nach J . L U B B O C K war der Fetischglauben ursprünglich, der auch in höheren Religionen die Formen mitbaue. Nach seiner Auffassung stünden die Götter im Fetischismus unter den Menschen, im Totemismus über ihnen, und erst auf einer weit höheren Stufe der geistigen Entwicklung, zunächst im Schamanismus, würden sie allgemeiner und auch überirdisch gedacht. Er kennzeichnete den Totemismus als eine Vergötterung von Gattungen, während der Fetisch ein Individuelles sei. 8 Der Übergang vom Polytheismus zum Monotheismus galt und gilt als allgemeine Erscheinung. Dieser Übergang vom Glauben an eine Vielgötterwelt oder Götterhierarchie zum Eingottglauben ist nach den Erzählungen der alten Völker aus der mythologischen Stufe in die frühgeschichtliche erfolgt. Die Quellen der Mythologie der alten Völker sind Schriftwerke und Kunstdenkmäler und damit an die Forschung der Philologie und kunstgeschichtlichen Archäologie geknüpft. Die Erkenntnis von Mythenschichten und Erarbeitung der mythischen Perioden — besonders der Griechen, Römer, Inder — erfolgte seit Ende des 18. J h . auf der Grundlage der sich formierenden historischvergleichenden Sprachwissenschaft. Mit der Begründung der vergleichenden Mythenforschung durch A. K U H N und weitere Pioniere der indogermanischen Sprachwissenschaft, besonders M. MÜLLER, wurde die mythologische Stufe als Stufe der Religionsentwicklung der Kulturvölker gefestigt und allgemein anerkannt. Die Erkenntnis von der Personifizierung von Natur- und Kulturerscheinungen, kosmischer und gesellschaftlicher Vorgänge in Form einer vielgestaltigen Götterwelt, Heroen und Kulturbringer und -Schöpfer war als wesentliche Seite mythischer Religionsauffassung allgemeines Ergebnis geworden.9 Allerdings waren die Interpretationen über den Entwicklungsgang nicht unbedingt identisch mit der in den Sagen von Göttern, Dämonen und Helden vorgezeichneten Schichtenfolge, die von der Vielgötterwelt zum Eingottglauben und vom mythischen zum heroischen Zeitalter führt.
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Die Degeneration sauffassung, von G . de C U V I E R in Erd- und Naturgeschichte vertreten, wurde Anfang des 19. J h . auch auf die Mythologie angewendet. Sie besagte beispielsweise, daß die reine Gotteserkenntnis von einem Urvolk des Orients unter die weniger entwickelten Völker, wozu die Griechen gehörten, getragen wurde und dort wegen der geringen Bildung in einer absichtlichen allegorischen Weise, in Form des Mythos wiedergegeben wurde. Die abstrakte Lehre der Urreligion habe sich in den geheimen Mysterien erhalten ( S C H L E G E L 1808, 159f.; 174ff.; v. G Ö R R E S 1810). Die Degeneration der Gottesvorstellung wurde von philosophischer Seite von F. W. J . SCHELLTNG vertreten. Von der Einheit eines einzigen, geistigen, unsichtbaren Urgottes, der sich der frühen Menschheit mehr und mehr offenbarte, vollzog sich mit der Entstehung der Vielgötterei, die mit der astralen Religion begann, der Rückschritt in der Religionserkenntnis der Menschheit. J0 Nicht als Rückschritt, sondern vielmehr als Fortschritt sah die vom naturwissenschaftlichen Evolutionismus beeinflußte mythologische Religionstheorie die Entwicklung und das Anwachsen der religiösen Ideen, Handlungen und Einrichtungen. Und schon in der Urzelle, aus der die Menschen mit ihrer Begabung hervorgegangen sind, sei auch die Anlage zum Gottesbewußtsein mitgegeben worden ( M I N C K W I T Z (1874), XVIIIf.). Mit der weiteren Ausdehnung der Mythenforschung auf die ethnographisch erforschten schriftlosen Völker, auf ihr orales Erzählgut, erhielt sie entwicklungsgeschichtliche Tiefe. Es zeigte sich, daß Mythenbildung, mit religiösen Vorstellungen verknüpft, nicht nur den alten Kulturvölkern eigen ist, d. h. nicht nur an frühhistorische Schriftvölker gebunden, sondern auch bei allen Gentilvölkern verschiedener Entwicklungsstufen von den einfachen Jäger-Sammlern über Bodenbauer-Viehzüchter bis zu den frühen Hochkulturen zu finden ist. Ihre Ausgestaltung und Ausstattung ist sowohl an die jeweilige eigene Naturumwelt als auch an die wirtschaftliche, gesellschaftliche und geistige Entwicklungshöhe gebunden. In der Regel enthalten die Mythen Stoff aus der „Urzeit" der jeweiligen Stämme und Völker, und ihre Helden und Geist- oder Götterwesen sind Gestalten der entsprechenden Vorstellungswelt, totemistische, manistische, naturistische. Gleichzeitig aber spiegeln sich reale soziale Verhältnisse wider, die mythologisch ihre ideologische Begründung finden (OPPITZ 1984, 255f.). Die Ausweitung der Mythenforschung in das ethnographische Gebiet 1 1 führte auch zur Befestigung der Erkenntnis von Schichten in den Erzählkomplexen der Altvölker, die sowohl ältere Sozialzustände als auch historische Vorgänge (Vorbevölkerung, Wanderungen, Kriege, Überschichtungen) beinhalten, die selbst bis zu totemistischen Straten reichen können. 12 Mythenschichten bis zur jüngsten verifizierbaren Strate des Heroenzeitalters und des Anschlusses an die Frühgeschichte der antiken Völker erbrachten lokale hypothetische Urgeschichten, noch bevor Ethnographie und Archäologie mit fundierten Ergebnissen auf den Plan treten konnten. Eine wesentliche Kritik der Tylorschen Theorie oder besser der weitere Ausbau der Theorie ursprünglicher Religion und damit ihre Weiterentwicklung erfuhr sie mit dem Begriff des Prä-Animismus oder Animatismus durch R. R. M A R E T T 1899. 13 Er stellte viele Erscheinungen und Vorkommnisse zusammen, bei denen Angehörige von Gentilvölkern ihre Einflußnahme auf die Außenwelt — etwa daß ein Medizinmann gegen einen Wirbelsturm anschreit — ausübten, als ob es sich bei den Vorgängen um die Wirkung von Personen mit Willen handele, eben nicht um Geister oder Geistwesen. Es existiere das Bemühen einer Wirkkraft, ohne daß ein Geist oder eine Seele vorhanden bzw. zu beeinflussen sei. K. T. PREUSS, der der Aufassung von R. R. M A R E T T folgte, verbreitete den Begriff des Präanimismus. In seiner frühen Arbeit (1904/05) brachte er viele Beispiele für Zauberglauben, die sich im Brauch31
tum manifestieren. In welcher Weise dabei Geistiges dahintersteht, muß so oder so offen bleiben. In diese Interpretation „voranimistischer" oder vorreligiöser Zustände ist auch die Auffassung J . G. F R A Z E R S über die Magie zu stellen. J . G. F R A Z E R trennte Magie und Religion. 14 Für ihn stellte die Magie eine Art falscher Wissenschaft dar, mit deren Hilfe der Mensch der Gentilgesellschaft die Natur zu kontrollieren und auf sie einwirken zu können glaubte. Mißerfolge hätten ihn zum Bitten bei gedachten überirdischen Mächten, zur Religion, geführt, die überall der Magie nachfolge. Anders, aber auch in der Erweiterung und dem Ausbau der ursprünglichen Seelen- und Geistertheorie zu sehen, ist die von R. H. CODRINGTON und W. H. R. R I V E R S klargelegte Mana-Auffassung der Bodenbau treibenden Melanesier, die ähnlich dem von E. L. H E W I T T erörterten Orenda der Irokesen als sogenannter Kraftglauben oder Dynamismus verstanden wird (ein von A. van G E N N E P geprägter Begriff). Mit Kraft, imaginärer Fähigkeit beladen ist beispielsweise der Schädel eines hervorragenden Feindes, die — besiegt man den Feind und erbeutet seinen Schädel — man sich für sein eigenes Wirken, für das Wirken seiner eigenen Gens aneignet. Hier ist die Wirksamkeit mit dem Objekt oder Subjekt verbunden, und der Gewinn eines solchen Objektes, beispielsweise eines Speeres oder eines Ahnenschädels, ist zugleich der Gewinn der K r a f t . Derartige K r a f t am lebenden Häuptling oder Medizinmann erforderte ein Tabu, ein Verbot, ihm nahe zu kommen, ihn zu berühren, da sie sonst Schaden bei dem anderen Menschen bewirken würde. Ahnlich dem Gewinnen oder Bannen von Mana oder Zauberwirkung ist die sympathetische Rolle, die Fetischen zugedacht wird. Mit ihnen ist ein Glauben verbunden, der teils auch Geistervorstellungen einbeziehen kann. Er wurde schon früh, 1760, von Ch. de B R O S S E S aus Afrika im Vergleich mit altägyptischer Religion erkannt und war lange Zeit als unterste Stufe religiöser Entwicklung angesehen worden und auch noch im Beginn der klassischen Periode der Völkerkunde im 19. Jahrhundert. Der Fetisch ist in der Regel ein Objekt, oft eine anthropomorph gestaltete Figur, das mit der Kraftwirkung identisch ist und von seinem Besitzer häufig wegen des Erfolges bei Unternehmungen mitgeführt wird. I n die Gruppe der Fetische sind viele verschiedene Objektarten und Gegenstände unterschiedlichster Art zu stellen, u. a. die Medizinbündel nordamerikanischer Indianer oder Fischereigötzen der Sibirier, und bis in den europäischen Volksglauben treten als ein Überrest der Fetischart Amulett und Talisman auf. 15 Bringt ein Fetisch nicht die erwartete Wirkung, kann er gescholten oder selbst weggeworfen werden. Der Totemglauben oder Totemismus, eine andere frühe Form religiöser Äußerung und Vorstellung — der Begriff war bereits 1 8 6 7 von J . F. M C L E N N A N geprägt worden —, fand seine gründliche Erkenntnis durch die Australienforscher B. S P E N C E R und F. J . G I L L E N und seine materialmäßige umfangreiche Ausarbeitung und erste Systematisierung durch J . G. FRAZER, den berühmten Verfasser des zwölf bändigen Werkes „The golden bough" (Der goldene Zweig), des umfassendsten Berichts über die magischreligiösen Ideen und Praktiken und ihre Überreste in der ur- und frühgeschichtlichen Menschheit. Wesen des Totemglaubens und -kults ist die ideelle Tier-Mensch-Identifizierung, die mit dem Verwandtdenken eine sozial-ideologische Erfahrung nach außen trägt und so eine irreale Widerspiegelung besitzt. Als Ideologie die soziale Gruppenbildung einerseits und die Wirtschaftsführung der Jäger-Sammler-Gemeinschaft andererseits fördernd, sind mit dem Totemismus völlig reale Zielsetzungen verbunden. Heilige Objekte und Zeremonien sind zwecks Wirksamkeit mit ideeller Kraftentfaltung, wie sie ähnlich auch im Jagdkult zu erkennen ist, in Gebrauch. 16 Tötungsoder Speisetabus gegenüber dem Totemtier einer Gemeinschaft sind in dem voll 32
ausgeprägten Totemismus in der Regel auszuüben. Diese sowie andere Maßnahmen stellen pflegerische Momente der Jägergesellschaft dar. Von E. D Ü R K H E I M ( 1 9 1 2 ) ist im Zusammenhang mit dem Totemismus eine ganze soziologische Theorie ausgearbeitet worden. Er sah ihn als die ursprünglichste Form der Religion an und verstand ihn als geistiges Moment, als Ideologie der sozialen Gruppenbildung in der Urgesellschaft. Gedachte Tier-Mensch-Beziehungen sind nicht nur an den Totemismus gebunden. Sie kommen in dem sogenannten Individualtotemismus und dem Nagualismus oder im Alter- ego-Glauben ebenso vor. Der schicksalhafte Zusammenhang, der zwischen Tier, Pflanze oder Objekt gedacht wird, findet sich auch im pflanzerischen Tierkult ( H A U S E K - S C H Ä U B L I S T 1 9 8 4 ) oder im europäischen Volksglauben wieder, beispielsweise im Baumkult. Anders aber verhält es sich mit dem jägerischen Tierkult, etwa dem Bärenkult der Nordasiaten, der auch gruppen-totemistischen Charakter zeigt ( S T E I N I T Z 1 9 3 8 ; A L E X E J E N K O 1 9 6 3 ) . Er weist sowohl Kennzeichen der Gentilordnung als auch Vorstellungen der Mensch-Tier-Verwandtschaft, der animalistischen Menschenidentität und kultischen Verehrung mit pflegerischen Momenten auf. Mit dem Totemismus wurde gelegentlich der Ahnenkult verknüpft, da mit ihm der Gedanke der Abstammung in bestimmter Weise verbunden ist. Man verstand ihn als eine frühe oder besondere Erklärung über die Herkunft der Menschen. Als ein Vorläufer von Ahnenkult wurde er angesehen, zumal auch bei Bodenbauvölkern totemistische Tierarten noch als Gentilembleme dem Stammvater oder der Stammmutter zugeordnet werden. Jedoch bildete sich ein Manismus 17 im eigentlichen Sinne hauptsächlich bei Bodenbau-Viehzucht-Völkern aus, die auf Grund ihrer Wirtschaftslage mit dem Boden dauerhaft verbunden sind. Seßhaftigkeit und die Notwendigkeit zu beständiger Wirtschaftsführung lassen die Abstammungsverwandtschaft der Gens über Generationen zählen und Erfolge und Beständigkeit dem Wirken der Vorväter und Vormütter zuschreiben. Der erste Roder, Pflüger, Pflanzer oder Landnehmer, ob real noch in Erinnerung oder bereits ins Nebulöse gerückt, nur noch als ideelle Figur, als Stammvater der Gens oder Gentilliiiie, ist in das Überirdische gesetzt worden. Die gedachte Anwesenheit der Ahnen bei den Lebenden ist mit dem Seelen- oder Totengeisterglauben ( L E V Y - B E U H L 1956, 140ff.) verbunden, sei es, daß man glaubt, die Seele bleibe am Ort, wo der Körper verblieben ist, oder kehre zu bestimmten Zeiten dorthin oder in die ehemalige Wohnstätte, in einen Baum, einen Felsen oder ähnliches zurück, oder sei es, daß die Lebenden den Ahnengeistern eine Heimstatt geben im präparierten Leichnam oder Schädel oder in einer künstlerischen Ahnenfigur, die im Kulthaus aufbewahrt wird. Man will die Ahnen bei sich haben, und in Maskenform führt man sie oft vor. Dieses ständige „Mit-den-Ahnensein" zeichnet den intensiven Ahnenkult aus, der glaubensmäßig die Lebenden beherrscht, bei dem sie durch Zeremonien und Kulthandlungen bestrebt sind, das Wirken der Geister zum Wohle der Lebenden zu erreichen ( H A U S E K - S C H Ä T J B L I N 1984, 359). In Ausführung des Ahnenkultes erfahren wir erstmals ein echtes Bitten oder Anrufen personaler Geister um Hilfe für die Menschen. Soziologisch gesehen bietet der Ahnenglaube mit Stammutter und Stammvater bei fortschreitender Häuptlingsmacht eine der Grundlagen für die Häuptlingsgenealogien und die Gentil- und Stammesgötter, die sich in den Mythologien wiederfinden lassen. Der Ahnenglaube trägt das Stammwesen noch weit in die Klassengesellschaft hinein. Der Schamanismus 18 war durch die Forschungsreisenden des 18. und frühen 19. Jahrhunderts bereits von sibirischen Stämmen bekannt geworden und hatte Eingang in die wissenschaftlichen Betrachtungen gefunden. Die frühesten Berichte kämen von G . W . S T E L L E K und S. P . K R A S C H E N I N N I K O W über Kamtschadalen, von A . G. S C H R E I T E : 3 Religion und Kult
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über Samojeden (Nenzen), von M . A. CASTEEN über verschiedene sibirische Völker und von A. R E G U L E Y über Westsibirier (Glaubenswelt). Er hat sich als eine sehr weit verbreitete Keligionsform, besonders auch in Südamerika, feststellen lassen, deren Grundlage ein weitestgehend ausgearbeiteter Geisterglaube ist. Zu ihm gehören : Geister in verschiedener Gestalt, Seelen, Schatten, Geister von lebenden bzw. verstorbenen Menschen, von Tieren und Objekten, Geister der vielfältigen Naturobjekte, freie Geister des Luftraumes, des Himmels und der Unterwelt, Geister mit guter und böser Wirkung für den Menschen und schließlich persönliche Schutzgeister, deren Rolle für den Einzelnen ähnlich dem Fetischobjekt zu verstehen ist. Seine einfachste Form ist ohne Zweifel mit an den Anfang urgesellschaftlicher Religion zu stellen, und seine zauberischen Zielsetzungen und Handlungen stehen äußerlich den präanimistischen nahe. Ursprünglich konnte die Geisterbeschwörung und -bewältigung von einfachen Gentilmitgliedern, weisen Frauen und Männern, ausgeübt werden, ehe sie speziell nur noch von Medizinleuten betrieben wurden zur Austreibung von Krankheiten, zur Abwehr von Schaden oder Erlangung von Erfolgen. Da das Lebensprinzip als Seele, Schatten, andere Körperlichkeit oder persönlicher Geist gedacht wird, wird jede Beeinträchtigung des normalen und gesunden Lebens auf eine Unstimmigkeit der Seele durch Einfluß eines fremden oder feindlichen Geistes, eines Dämons durch Fremdzauber oder die Entfernung der Seele aus dem Körper angesehen. Krankenheilungen und auch Totenbehandlung gehen von diesem SeelenGeist-Prinzip aus. Die Wahrnehmung von Geistern und ihre Beherrschung sind aufs engste mit Traum- und Trancezuständen verbunden, die beispielsweise zur Erwerbung eines persönlichen Schutzgeistes bei nordamerikanischen Indianern führen. Im ausgebildeten Schamanismus, bei dem häufig ein kultischer Geschlechtswandel geübt wird, in dem der Medizinmann bereits einen Beruf einnimmt, hat dieser die Berufung auf Grund seiner seherischen Fähigkeit durch seinen Schutzgeist erhalten. Er ist Diener dieses Schutzgeistes, der ihn in seinen Zauberhandlungen leitet, zu deren Ausführung ihm die verschiedenen Hilfsgeister zur Verfügung stehen. Die eigene Seele des Schamanen in seherischer Funktion aus seinem Körper hinauszusenden in ferne Gegenden zu Lande, Wasser oder in der Luft, in die Unterwelt, in Vergangenheit oder Zukunft verlangt Trance und Ekstase, die in verschiedener Weise erreicht wird (Trommel und Tanz, Bewegungslosigkeit, Fliegenpilzaufguß, Tabakgenuß, Schwitzbäder) ( N I O B A D Z E 1925; F I N D E I S E N 1957). Die Verbindung des einfachen Gentilmitgliedes mit den Geistern, in die es ursprünglich selbst eingehen konnte, geschah nur noch über den Schamanen. Eine soziale Schichtung hatte sich damit herausgebildet, aber noch kein eigentlicher Priesterstand. Gehört der ausgebildete Schamanismus mit seinem Geisterkult dem späten Jägerund Fischertum (bes. Sibirien) und den einfachen Bodenbauern (bes. Südamerika) an, so formte sich die Geistervorstellung unter den Bedingungen von Ackerbau und Viehzucht in besonderer Weise aus. Die für die Erzeugung von Pflanzen und Tieren und Erlangung reichlicher Erträge notwendigen Naturbedingungen und Naturvorgänge werden religiös-kultisch im Agrar- und Tierkult erfaßt. Geistwesen, Naturgötter und Abschnittsgötter werden erdacht, die alle die notwendigen Vorgänge bewirken und bewegen. Um sie in ihren Handlungen günstig zu stimmen, sind diese Kulte und bestimmte Betragensweisen durchzuführen und zu beachten. Erde und Himmel, Sonne und Mond, Wind und Regen, Korn, Knolle und Baum sowie Vieh, Widder und Stier usw. stellen diese gewöhnlich personifizierten Geist- oder Gottwesen dar, die zum Nutzen oder auch zum Schaden wirken können. In Analogie der menschlichen Er34
fahrungen von Zeugen, Geburt, Wachsen, Reife, Sterben, Tod und Neu- oder Wiedergeborenwerden und aus Furcht und Ehrfurcht werden Verehrung und Kulte gestaltet - Fruchtbarkeits- und Naturkulte. Das Menschenopfer versinnbildlicht das Sterben der Natur. In den Mythologien der alteuropäischen und altasiatischen Völker sind diese Naturgottheiten neben den aus der Gesellschaft widergespiegelten Göttern und ihrer Hierarchie — teils auch Gestalt derselben — die älteste Mythenschicht, weshalb Naturreligion und Naturkult, von den schrifthistorischen Völkern gewonnen, als früheste Religion angesehen wurde. Dies galt bis in die klassische Periode der Ethnographie, als mit Fetischismus, Animismus und Schamanismus die Religionserscheinungen schriftloser Völker systematisiert worden waren. Unter die frühesten Formen oder Anfänge der Religion ist nicht nur in der mythologischen, sondern auch in der ethnologischen Forschung der Hochgottglaube gestellt worden. A. L A N G ( 1 8 9 8 ) , ein Schüler von E. B . T Y L O R , wandte sich vor allem nach Studien der Mythologie gegen die psychologische Begründung und die Entwicklungstheorie seines Lehrers, die er vorher selbst vertreten hatte. Schon bei den rohesten Völkern, so meint A. LANG, sei die Idee des Hochgottes, Schöpfers und Beschützers — im Kern die Repräsentanz des einen Gottes — zu finden. Dieser Hochgott müsse kein geistiges Wesen sein, sondern lediglich als ein hochverehrter, nicht natürlicher Mensch verstanden werden. Die Vorstellung vom Hochgott und der Glaube an ihn stelle eine unabhängige Entwicklungslinie dar. Für A. L A N G bildeten die gedachten Wesen, die australische Ureinwohner in den Himmel oder an erhabene Plätze versetzten, eine entscheidende Grundlage seiner Aussage, die jedoch von den Feldforschern verworfen wurde. 19 Der urgesellschaftliche Hochgottglaube, der ursprünglich offenbart worden sein soll, datiert in der ethnographischen Berichterstattung schon aus der ersten Hälfte des 1 8 . Jahrhunderts, als der Jesuitenpater J . F. L A F I T A U 2 0 einen solchen bei den Irokesen entdeckt zu haben glaubte. An A. L A N G anknüpfend war die katholische Wiener Ethnologen schule unter Pater W. SCHMIDT bemüht, Nachweise eines ursprünglichen Monotheismus bei primitiven Völkern zu entdecken. W. SCHMIDT setzte die Pygmäen und andere einfache Jäger-Sammler-Völker auf die unterste Stufe einer Entwicklungsreihe und definierte sie als älteste Völker. Bei ihnen würde mit einem Himmelswesen,'dem Anrufen desselben und Opfer (des eigenen Blutes) der ursprüngliche offenbarte Glaube an den einen Gott noch klar zu erkennen und so erwiesen sein. Diese Uroffenbarung 21 habe sich mit Totemismus, Geister- und Götzenglauben, Polytheismus immer mehr verdunkelt, und damit habe die urgesellschaftliche Religion eine Degeneration erfahren. Erst die Christusoffenbarung habe wieder die Reinheit des Glaubens hergestellt. III. Die hier aus ihren ethnographisch wissenschaftlichen Anfängen heraus angeführten frühen Religionsformen haben sich als die ursprünglichen erwiesen. Sie sind in Materialien und Systematisierungen bis heute weiter ausgearbeitet worden. Keine dieser Formen ist — entgegen der Auffassung von W. E. MÜHLMANN — überholt. 22 Jede einzelne hat ihren Platz, aber nicht in den bisher versuchten Entwicklungsanordnungen. Ihre Abfolge kann nur im Zusammenhang mit der Abfolge ökonomisch-sozialer Entwicklungsstufen gesehen werden, da die Religion als Bewußtseins- und Ideologiebereich daran gebunden und daraus erwachsen ist. Den drei großen Entwicklungsstufen sind auch jeweils bestimmte Formen zuzuordnen. Der Jäger-Sammler-Gentilgesellschaft ist der Totemismus eigen, aus ihr ist er hervorgegangen, zu ihr gehört ursprünglich auch der Jagd- und Jagdtierkult. Der Bodenbau-Viehzüchter-Gentil3
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gesellschaft ist der Manismus mit Herausbildung der genealogischen Wertung erwachsen. Agrarkult- und Tierverehrung in naturkultischer Form bildet sie aus, mit Schädelkult und Kopfjagd ist Mana verbunden. Der soziale Polytheismus beruht auf historischer Verschlingung der Stämme der späten Gentilgesellschaft (Militärischen Demokratie) und frühstaatlichen Klassengesellschaften bei monotheistischen Tendenzen und Schaffung eines lebenden Gottes. Menschen werden geopfert, zunächst kultisch, später zur Befestigung der Herrschaft als Tribut und aus Terror. Die Priesterschaft als Klasse bildet sich hier heraus. Ansonsten treten die frühen Religionsformen komplex in Erscheinung, dazu ein Beispiel: Die zentralaustralischen Jäger-Sammler-Stämme ( S P E N C E R und G I L L E N 1899) üben sowohl den Totemismus aus, operieren mit Kraftglauben im Zusammenhang mit ihren heiligen Objekten, den Tschuringas, glauben an Geistwesen in Gestalt der Tiervorfahren an hervorragenden heiligen Naturplätzen. Ihnen legen sie auch ätiologisch die Schaffung sozialer Organisierung und Naturstätten zu. Fetischartige Wirkung besitzen „altehrwürdige" Speere, Bumerangs, Schilde und andere Objekte. Mit der Auffassung von den Ratapas, den Kinderkeimen, verbindet sich eine bestimmte Seelen- und Wiedergeburtsvorstellung. Aleheringa, die sogenannte Traumzeit, stellt eine totemistische Mythologie dar, in der die Totemwesen Taten vollbringen, Wanderungen durchführen, jagen, fischen, geschlechtlich umgehen usw., ganz so, wie es auch die Lebenden tun. Diese Kängeruh-, Wallaby- oder andere Totemvorfahren werden bei nächtlichen Himmelsbetrachtungen in das eine oder andere Sternbild gesetzt, und es wird von ihrem Leben erzählt. Schwarze und weiße Magie wird von weisen Alten durchgeführt, oft erfolgreich, damit ein Feind getötet oder ein Mitglied der eigenen Gemeinschaft geheilt, weil die psychische Wirksamkeit des Dynamismus für die Menschen eine Realität darstellt. Leben und Tod sind von geistiger K r a f t getragen, so daß es keine natürliche Todesursache geben kann. Die Seele oder das Geistige verläßt den Körper, stirbt aber zunächst nicht, sondern führt ein Leben im Reich der Abgeschiedenen, hat Verbindung mit der wirklichen Welt als Geistwesen (Ratapa) —, bis es ganz verlischt. Die mit den frühen Religionsformen verknüpften Ideologien stellen Bewußtseinsformen dar, mit deren Hilfe der Angehörige der Gentilgesellschaft seine natürliche und gesellschaftliche Außenwelt seinem Leben gemäß zu bewältigen bzw. zu beherrschen strebt, wie er es gleichermaßen mit dem praktischen Denken in seinen Arbeitsprozessen tut. Zu dieser geistigen Bewältigung dienen vor allem die in verschiedener Gestalt erfolgenden Materialisierungen des Gedankengutes, vor allem die aktiver Zauberhandlungen, die von Gesang, Beschwörung und Musik, Mimik und Tanz, Körperschmuck, von natürlichen und gestalteten Objekten, Malerei und Plastik unterstützt werden. Die Gentilkunst ist weitgehend Ausdruck und Mittel dieser religiösen Vorstellungen. Aktives Handeln kennzeichnet Zauber und Magie, Zeremonie, Kult und Brauchtum dieser frühen Religionsformen der Urgesellschaft, nicht Passivität, wie sie mit Gebet, Gelübde und Opfer der späteren Religionen der Urgemeinschaft und ersten Klassengesellschaften angehört, die von den entstandenen gesellschaftlichen Widersprüchen hervorgebracht worden sind (Eroberung und Unterwerfung fremder Stämme, Kriegsideologie, Despotenkult, Menschenopfer, Priestertum, Götterverantwortlichkeit, Theokratie usw.). Die viel besprochene Übernatürlichkeit der frühen Religionsformen, die immer wieder „Göttlichkeit" präjudiziert, ist nicht vorhanden. Der Mensch der einfachen Urgesellschaft sieht seine Erfahrung, die praktische wie die Gefühls- und Ideenwelt, als natürlich existierend an. Er stülpt gewissermaßen seine eigene Individual- und 36
Gesellschaftserfahrung um, überträgt das eigene Sein nach außen und stellt bewußtseinsmäßig etwas Ähnliches oder gleichartig Gedachtes „hinter die Dinge", „hinter die Erscheinungen", weshalb es zur irrealen Widerspiegelung kommt, die aber für ihn als realgilt, und zwar in Form von Kraftglauben, Seelen- und Geistvorstellungen, Tier-Mensch-Verwandtschaft, Wiedergeburtsglauben, Kinderkeim Vorstellungen, Weiterleben der Ahnen, personales Wirken in Naturerscheinungen, Götzen und Göttern. Als Vermittler zwischen dem eigenen Sein und dem nach außen getragenen Bewußtsein ist ein ganzer Katalog von Mitteln des religiös-magischen Denkens dabei entwickelt worden, die im Glauben, bei den Zauberhandlungen und in den religiösen Bräuchen Anwendung finden und auch im täglichen Leben zu berücksichtigen sind: Abbild, Analogie, Äthiologie, alter ego, pars pro toto, Mimikry, Nachahmen, Bannen, Besprechen, Beschwören, Zeichen suchen und deuten (Mantik), Böser Blick, Abwehrformel und Abwehrhaltung, Traumdeuten, Verwünschen, Beschreien usw. Dem Ziel entsprechend aktiv auf die Außenwelt einzuwirken, sind die Kulthandlungen orientiert und ausgearbeitet. Am eindeutigsten wird das an den wirtschaftlich bedingten Handlungen deutlich, dem Jagdzauber oder den Agrarkulten, und den Krankenheilungen, die in großer Zahl geübt werden. Wenn beispielsweise die ObUgrier dem erlegten Bären eine Reihe Holzstückchen auf Brust und Bauch legen, das Fell von Holz zu Holz aufschneiden, als wenn sie seinen Mantel aufknöpften, ihn mit „Alter" ansprechen, ihn einladen, bei ihnen zu verweilen, so zeigt sich die personale Übertragung — wahrscheinlich ein Überrest des Totemismus —, die eine günstige Haltung der Tierart gegenüber den Menschen bewirken soll (PATKANOW 1897/1900). Wenn beispielsweise bei den Kiwai in Südneuguinea ein älteres Ehepaar vor der Feldbestellung zeremoniell auf dem Acker kohabitiert, so erweist das einen Fruchtbarkeitskult, dem die Analogie von Zeugen—Gebären und Pflanzen—Ernten zugrunde liegt (LANDTMAN 1927). In der Krankenbehandlung und Totenpflege geben Seelenund Geisterglauben die Grundlage ab, da das geistige Element als eigentlicher Faktor des Lebens angesehen wird. Beispielsweise sind für die Chocö-Indianer (Kolumbien) die Krankheiten durch Hexerei, Seelenraub oder Besessenheit verursacht, und der Medizinmann bemüht, die bösen Geister zu bannen, die geraubte Seele wiederzufinden oder den verhexten Gegenstand aus dem Körper des Kranken zu saugen (NOHDENSKIÖLD
nach
BIRKET-SMITH
1956, 451).
Die
Zusammengehörigkeit
von
Seele und Geist mit dem Körper und ihre angenommene Trennung beim Tode ist Ursache für die verschiedenen Arten der Totenbehandlung und Bestattungen. Körperbestattung und Mumifizierung weisen darauf hin, daß der Leichnam weiter als Seelensitz gedacht wird oder daß zumindest die Seele dort einkehren kann und nicht ruhelos wird. Bedeutungsvoll als Ausdruck gesellschaftlicher Widersprüche, beispielsweise zwischen verfeindeten Nachbarstämmen, ist die schwarze Magie, mit deren Hilfe dem Feind Schaden zugefügt wird. J . E. LIPS (1951, 437) beobachtete beispielsweise, wie ein Ojibwa-Medizinmann eine zauberische Muschel in den Feind über eine größere Entfernung „hineinschießt". Abschließend ist zusammenzufassen: Die aktive Rolle, die diese frühen Religionsformen im Leben der Gentilgesellschaft spielen, weist sie als ein Teil des Überbaus der Gesellschaft aus. In ihnen werden Erkenntnisstufen im Zusammenhang der irrealen Widerspiegelung und der realen Wirkungen deutlich. Die Beziehung zu den gesellschaftlichen Normen, zum Gentilrecht, zeigt sich in vielen der magischen Handllingen. Zu unterscheiden sind drei Bereiche: einerseits diejenigen Religionsformen, die ein eigenes System bilden, wie der jägerische Totemismus, der bäuerliche Ahnenkult oder die frühklassengesellschaftliche polytheistische Götterhierarchie; anderer37
seits die bestimmten Glaubensvorstellungen wie Kraftglauben, Seelen- und Geistervorstellungen, Götterglauben; schließlich die religiös-magischen Denkprinzipien wie Abbild, Analogie, alter ego, Ätiologie usw.
Anmerkungen 1
I N die D D R - L i t e r a t u r ist die b e k a n n t e ü b e r s e t z t e A r b e i t v o n S . A. T O K A R E W „Die Religion in der Geschichte der Völker" einbezogen worden, die in der E t h n o g r a p h i e allgemein A n w e n d u n g f i n d e t . I n den e t h n o g r a p h i s c h e n F a c h o r g a n e n f i n d e n sich gelegentlich E i n z e l a u f s ä t z e zu Religionsfragen gentilgesellschaftlicher S t ä m m e . Die Religion als U b e r b a u e r s c h e i n u n g ist in die G e s a m t a n a l y s e einbezogen in der „ B u g a n d a M o n o g r a p h i e " von W . RUSCH. K a u m A n w e n d u n g u n d W e i t e r f ü h r u n g h a b e n e t h n o graphische U n t e r s u c h u n g e n zu F r a g e n u r s p r ü n g l i c h e r Religion von H . E I L D E R M A N N , d a z u G. P A T S C H , v o n W . R Ü B E N (darin S c h a m a n i s m u s ) u n d U . S C H L E N T H E R g e f u n den. — F ü r eine e r s t e O r i e n t i e r u n g seien kulturgeschichtliche V ö l k e r k u n d e n a n g e g e b e n :
u . a . J . E . LIPS, K . DITTMER, K . BIRKET-SMITH, d i e i n d e n e n t s p r e c h e n d e n A b s c h n i t t e n
viel M a t e r i a l u n d eindrucksvolle D a r s t e l l u n g e n sowie L i t e r a t u r b i e t e n . K u r z e einf ü h r e n d e S a c h o r d n u n g u n d u m f a n g r e i c h e L i t e r a t u r bei J . H A E K E L , a u c h J . F . T H I E L , beide V e r t r e t e r der k a t h o l i s c h e n E t h n o l o g e n s c h u l e . — N e u e s t e ethnologische D a r s t e l l u n g e n zur Religion der Völker siehe die R e i h e : Die Religionen der Menschheit. H r s g . C. M. SCHRÖDER, S t u t t g a r t ; d a r i n n e u e r e ethnologische R e l i g i o n s d a r s t e l l u n g e n a u s d e r F e d e r b e k a n n t e r F a c h V e r t r e t e r : B d . 3 N o r d e u r a s i e n u n d a r k t i s c h e s A m e r i k a von I . P A U L S O N , H . H D L T K E A N T Z , K . J E T T M A R ; Bd. 4 , 1 Hindukusch von K. J E T T M A R ; B d . 5 , 1 I n d o n e s i e n v o n W . S T Ö H R , P . Z O E T M U L D E Ä ; B d . 5 , 2 Südsee u n d A u s t r a l i e n von
K . NEVERMANN, E . A. WORMS, H . I'ETRI;
Bd. 6 Afrika
v o n E . DAMMANN;
Bd. 7
A l t a m e r i k a von W . K R I C K E B E R G , H . T R I M B O R N , W . M Ü L L E R , O . Z E R R I E S . 2 A u c h M A R X u n d E N G E L S v e r w e n d e n d e n Begriff Religion i m allgemeinen, u m f a s s e n d e n Sinn. D a s e r l ä u t e r t die sehr schöne F o r m u l i e r u n g v o n M a r x ü b e r geistige A n e i g n u n g s weisen u n d F o r m e n des D e n k e n s , die er i m Z u s a m m e n h a n g der E r l ä u t e r u n g des logischen, wissenschaftlichen D e n k e n s g i b t : „ D a s Ganze, wie es i m K o p f e als G e d a n k e n ganzes erscheint, ist ein P r o d u k t des d e n k e n d e n K o p f e s , der sich die W e l t in der i h m einzig möglichen Weise a n e i g n e t , einer Weise, die verschieden ist von der k ü n s t l e r i s c h e n , religiösen, praktisch-geistigen A n e i g n u n g dieser W e l t " ( M A R X 1 8 5 7 / 5 8 , 632f.). Die R e l i g i o n s d e f i n i t i o n v o n ENGELS a u s d e m „ A n t i - D ü h r i n g " (1976—78), d i e d i e d a m a l i g e
F a c h e r k e n n t n i s der evolutionistischen u n d m y t h o l o g i s c h e n R i e b t u n g e n d u r c h s c h i m m e r n läßt u n d gewöhnlich a n g e w e n d e t wird, sei hier z i t i e r t : „ N u n ist alle Religion n i c h t s a n d e r e s als die p h a n t a s t i s c h e Widerspiegelung, in d e n K ö p f e n der Menschen, d e r j e n i g e n ä u ß e r n M ä c h t e , die i h r alltägliches D a s e i n b e h e r r s c h e n , eine Widerspiegelung, in der die irdischen M ä c h t e die F o r m v o n ü b e r i r d i s c h e n a n n e h m e n . I n d e n A n f ä n g e n der Geschichte sind es zuerst die M ä c h t e d e r N a t u r , die diese R ü c k s p i e g e l u n g e r f a h r e n u n d in der weiteren E n t w i c k h i n g bei d e n verschiedenen Völkern die m a n n i g f a c h s t e n u n d b u n t e s t e n P e r s o n i f i k a t i o n e n d u r c h m a c h e n . Dieser e r s t e P r o z e ß . . . d u r c h die vergleichende Mythologie . . . zurück verfolgt. . . . Die P h a n t a s i e g e s t a l t e n , in denen sich a n f a n g s n u r die geheimnisvollen K r ä f t e d e r N a t u r widerspiegelten, e r h a l t e n d a m i t gesellschaftliche A t t r i b u t e , w e r d e n R e p r ä s e n t a n t e n geschichtlicher M ä c h t e . Auf einer noch weiteren E n t w i c k l u n g s s t u f e w e r d e n sämtliche n a t ü r l i c h e n u n d gesellschaftlichen A t t r i b u t e der vielen G ö t t e r auf einen a l l m ä c h t i g e n G o t t ü b e r t r a g e n , der selbst wieder n u r d e r R e f l e x des a b s t r a k t e n Menschen ist. So e n t s t a n d der Monot h e i s m u s . . . " ( M A R X , E N G E L S 1 9 5 8 , 118f.; M E W 20, 2 9 4 f . ; vgl. a u c h M E W 21, 303—306). Zur K r i t i k a n E n g e l s ' A u f f a s s u n g , die a u s der m y t h o l o g i s c h e n F o r s c h u n g gewonnen, siehe H . C U N O W (1924, 16). 3 Ich erinnere mich noch der Diskussion in d e n 50er J a h r e n bei uns, als wir als j u n g e
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E t h n o g r a p h e n d a r ü b e r m i t Philosophen u n d Rechtshistorikern berieten, inwieweit B e g r i f f e wie P o l i t i k , R e c h t , R e l i g i o n , d e r e n A n w e n d u n g f ü r K l a s s e n - u n d S t a a t s g e s e l l s c h a f t e n f e s t g e l e g t w o r d e n w a r e n , a u c h a u f G e n t i l g e s e l l s c h a f t e n a n w e n d b a r seien. Beispielsweise sollte „ K u l t ' - begrifflich f ü r religiöse E r s c h e i n u n g e n d e r Gentilgesells c h a f t s t e h e n , ä h n l i c h wie „ N o r m " f ü r j u r i s t i s c h e a n s t e l l e „ R e c h t " zu f u n g i e r e n h a b e . B e g r i f f e wie „ N a t u r r e l i g i o n " (Thiel), „Religion d e r s o g e n a n n t e n N a t u r v ö l k e r " ( H a e k e l ) i m U n t e r s c h i e d zu H o c h r e l i g i o n o d e r d a s E n g l i s c h e „ p r i m i t i v e r e l i g i o n " ( E v a n s P r i t c l i a r d ) s c h l e p p e n n u r schiefe u n d ü b e r h o l t e U n t e r s c h e i d u n g e n m i t , d a b e i d i e v o n N a t u r - u n d K u l t u r v ö l k e r n . S . A . T O K A B E W ( 1 9 6 8 , 1 7 f.) h a t k e i n e b e g r i f f l i c h e U n t e r s c h e i d u n g v o r g e n o m m e n , vgl. a u c h d e n T i t e l „Die R e l i g i o n i n d e r G e s c h i c h t e d e r V ö l k e r " . E r s p r i c h t d a s eine o d e r a n d e r e Mal v o n „Religion z u r ü c k g e b l i e b e n e r Völk e r " . — U n s t i m m i g k e i t ü b e r d e n B e g r i f f R e l i g i o n ist n i c h t s N e u e s . W o h l jede W i s s e n s c h a f t l e r g e n e r a t i o n d i s k u t i e r t i h n . A u s u n s e r e r klassischen P e r i o d e vgl. H . Scliurtz bei T . A C H E L I S 1 8 9 6 , A n m . 1 . — W e s e n t l i c h ist, d a ß es n i c h t die R e l i g i o n e b e n s o wie beispielsweise den K ö n i g g i b t , ein B e g r i f f , d e r v o n d e r U r g e s e l l s c h a f t bis in die Gegenw a r t f ü r v e r s c h i e d e n e soziale u n d politische S y s t e m e u n d G e s c h i c h t s s t u f e n V e r w e n d u n g findet und im Grunde stets etwas Anderes besagt. „Die ä l t e r e n G l a u b e n s v o r s t e l l u n g e n bilden a u c h d i e W u r z e l n d e r H o c h r e l i g i o n e n : Aus dem D y n a m i s m u s wurde das Erlebnis der Heiligkeit und übernatürlichen Macht g e s c h ö p f t u n d w u r d e n zu d e r e n B e h a n d l u n g g e s c h a f f e n ; U r h e b e r g l a u b e u n d M a n i s m u s s t e u e r t e n die P e r s o n i f i z i e r u n g g ö t t l i c h e r W e s e n (einschließlich d e r G e s t i r n e ) bei als S c h ö p f e r , A l l v a t e r , W e l t h e r r s c h e r u n d H e i l b r i n g e r ; a u s d e m A n i m i s m u s w u r d e n die V o r s t e l l u n g e n G o t t e s als eines geistigen W e s e n s u n d d e r u n s t e r b l i c h e n Seele als G r u n d lage d e r I n d i v i d u a l i t ä t ü b e r n o m m e n " (DITTMEE 1954, 119 f.). — I n d e m v o n d e m Relig i o n s w i s s e n s c h a f t l e r F . H e i l e r h i n t e r l a s s e n e n L e b e n s w e r k m i t den u m f a s s e n d e n u n d reichen, u n t e r theistisohen Gesichtspunkten vorgenommenen Zusammenstellungen der v e r s c h i e d e n e n r e l i g i ö s e n E r s c h e i n u n g e n f i n d e n wir bei d e n S a c h s t i c h w o r t e n sowohl die e n t s p r e c h e n d e n N a c h w e i s e a u s u r - u n d f r ü h g e s c h i c h t l i c h e n G e n t i l g e s e l l s c h a f t e n als a u c h a u s allen s p ä t e r e n G e s e l l s c h a f t e n u n d G e s c h i c h t s e p o c h e n m i t e n t s p r e c h e n d e n L i t e r a t u r s t e l l e n a n g e f ü h r t , die sich z u m l e x i k a l i s c h e n G e b r a u c h a n b i e t e n . E i n e a u s f ü h r l i c h e r e b z w . geschlossene D a r s t e l l u n g g e n t i l g e s e l l s c h a f t l i c h e r R e l i g i o n s f o r m e n wird d o r t a l l e r d i n g s n i c h t g e g e b e n . E v o l u t i o n u n d S c h ö p f u n g . Z w e i t e s D e u t s c h e s F e r n s e h e n , 16. 1. 1986. E . B . TYLOJI 1871; 1883, 4 1 2 f f . (Die G e i s t e r w e l t ) . Beispiele d e r A n w e n d u n g d e r T h e o r i e siehe J . L I P P E B T 1881; bes. W . W U N D T , 1912, 8 1 f f „ 2 0 3 f f . E N G E L S griff beispielsweise d i e a u s d e n e t h n o g r a p h i s c h e n Quellen e r k a n n t e Seelenv o r s t e l l u n g (ob d i r e k t v o n T Y L O R ist u n b e k a n n t ) a u f , u m die E n t s t e h u n g d e r idealistischen p h i l o s o p h i s c h e n A u f f a s s u n g e i n e r T r e n n u n g v o n D e n k e n u n d Sein in seiner A r b e i t „ L u d w i g F e u e r b a c h " (1886) zu e r k l ä r e n : „Die g r o ß e G r u n d l a g e aller, speziell n e u e r e n P h i l o s o p h i e ist die n a c h d e m V e r h ä l t n i s v o n D e n k e n u n d Sein. Seit d e r s e h r f r ü h e n Zeit, wo die M e n s c h e n , noch in g ä n z l i c h e r U n w i s s e n h e i t ü b e r i h r e n e i g e n e n K ö r p e r b a u u n d a n g e r e g t d u r c h T r a u m e r s c h e i n u n g e n , auf d i e V o r s t e l l u n g k a m e n , i h r D e n k e n u n d E m p f i n d e n sei n i c h t eine T ä t i g k e i t i h r e s K ö r p e r s , s o n d e r n einer b e s o n d e r e n , in d i e s e m K ö r p e r w o h n e n d e n u n d i h n b e i m T o d e v e r l a s s e n d e n Seele — seit dieser Zeit m u ß t e n sie ü b e r d a s V e r h ä l t n i s dieser Seele z u r ä u ß e r e n W e l t sich G e d a n k e n m a c h e n . . ." (MARX-ENGELS 1958, 181 f . ; M E W 21, 274, 2 7 4 A n m . 275).
J . L U B B O C K 1 8 7 5 , 2 8 1 , 2 8 5 ; vgl. a u c h J . M I N C K W I T Z ( 1 8 7 4 ) , X X I I ; T. A C H E L I S 1 9 0 9 , 1 4 2 f f . 9 Die klassische Philologie u m r i ß v e r h ä l t n i s m ä ß i g f r ü h d a s m y t h i s c h e E r z ä h l g u t als A u s d r u c k einer v o r g e s c h i c h t l i c h e n Z e i t s t r a t e , i n d e r die P h a n t a s i e d e r Poesie d e n G ö t t e r n u n d H e l d e n m e n s c h l i c h e s u n d soziales L e b e n n a c h d e m r e a l e n L e b e n i h r e r eigenen Zeit g e g e b e n h a t (MOBITZ 1795, 10); zu d e n S t u f e n i m E r z ä h l g u t u n d K u n s t d e n k m a l b e r e i t s a u f d a s indische ü b e r g r e i f e n d (Creuzer, N . Müller). D i e i n d o g e r m a n i s c h e n Forschungen und Übersetzungen weiteten das mythische Material bedeutend aus (Schlegel, v. G ö r r e s , M. Müller). Sie w a r e n V o r a u s s e t z u n g f ü r v e r g l e i c h e n d e A r b e i t e n 8
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über die Mythen der alten europäischen und asiatischen Kulturvölker (Kuhn, Vollh a i d t , Minckwitz), aber auch die deutsche Mythologie (Grimm) u n d die der anderen nichtantiken europäischen Völker, dabei Arbeiten volkskundlichen Charakters (Kuhn, Mannhardt), füllen hier weiter auf. Uber die europäischen u n d altasiatischen Mythologien hinaus t r e t e n mehr u n d mehr indianische (Brinton), ozeanische (Gill, Bastian) in das Licht der vergleichenden Forschung ( V O L L M E S . 1 8 7 4 ) . 10 Von Interesse ist die K r i t i k des jungen E N G E L S (1842) über die Offenbarungsauffassung von Schelling, die den K e r n seines Ursprungsbeweises von Gott t r i f f t , der auch der Mythologieinterpretation zugrunde liegt. Leider h a t Engels die „Philosophie der Mythologie" nicht mehr behandelt, die erst nach dem Tode von Schelling (1854) erschienen ist. — Zur K r i t i k S C H E L U N G S u n d seiner U r g o t t a u f f a s s u n g J . M I N C K W I T Z (1874), bes. XXVII, XLIII. 11 P . EHRENREICH 1905 u n d 1 9 1 0 ; H . BAUMANN 1 9 3 6 ; A . E . J E N S E N 1951; vgl. A n m . 9.
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Aus der gegenwärtigen Mythenforschung: Anthropologist; Literaturethnologie. 12 Man denke bei der Entstehungssage R o m s an die von der Wölfin genährten R o m u l u s und R e m u s als totemistischen U b e r r e s t ; a n die hohen biblischen Alter im Alten Testament als Wiedergabe von Geschlechterlinien und nicht von I n d i v i d u e n ; an d a s geschlachtete Tier aus dem Ziegengespann Thors, dessen Knochen nicht verletzt werden d u r f t e n , als ein alter jägerischer religiöser Brauch der Gentilgesellschaft; an die Ätiologie der Couvade in den altirischen Sagen u n d d a m i t an ehemals mutterrechtliche Verhältnisse u. a. m. 13 E r t r u g diese Auffassung 1899 vor, die in Folk-Lore 1900 veröffentlicht w u r d e ; Wiedera b d r u c k in R . R . M A R E T T 1909; zitiert nach T. K . P E N N I M A N 1952, 187; vgl. auch R . R . MARETT
1936.
14 Diese Trennung möchte auch J . H A E K E L 1958, 57, sehen, ohne forschungsgeschichtlichen Hinweis auf J . G . F R A Z E R . Inwieweit aber religiöser K u l t und K u l t h a n d l u n g e n ohne zauberische W i r k k r a f t verstanden sein sollen — selbst die katholische Liturgie ist davon nicht frei —, d ü r f t e wohl nicht zu beweisen sein. Vgl. forschungsgeschichtlich zu Voranimismus T. K . P E N N I M A N 1952, 194, 316f.; W . E . M Ü H L M A N N 1968, 205; 'S. A. TOKAEEW 1968,
13f.
Siehe o b e n : J . L U B B O C I C , A. B A S T I A N . Auch in der mythologischen Religionsforschung f i n d e t m a n den Fetischismus als unterste Stufe, so bei J . M I N C K W I T Z (1874), X X I I , als Evolutionsstufe, bei M . M Ü L L E R als unterste Degenerationsstufe ( A C H E L I S 1896, 4 5 9 ) . Von S. A. T O K A E E W (1968, 189f.) wird er als junge Erscheinung, nur auf Westa f r i k a bezogen, angesehen. 16 Totemismus abgeleitet von o t e m aus einer Algonkin-Sprache Nordamerikas, was Familie, Sippe, Gemeinschaft bedeutet. — McLennan f ü h r t e diesen Begriff im Zusamm e n h a n g mit der E r ö r t e r u n g sozialer Gruppen ein: „Totemism" in Chamber's Encyclopaedia 1 8 6 7 ( P E N N I M A N 1 9 5 2 , 1 5 8 ) . — Eine verständliche allgemeine Kennzeichnung u n d inhaltliche B e s t i m m u n g des Totemismus in unserer L i t e r a t u r bei S. W E S T P H A L H E L L B U S C H ; auch H . R E I M 1 9 6 6 ; ein konkretes Beispiel bei W . S T E I N I T Z . — C. L E V I S T R A U S S gelingt es nicht, im positiven Sinne die Erkenntnisse der Ethnologie weiterzubauen und sieht den Totemismus und alle Erscheinungsformen, die als solcher bisher gedeutet worden sind, als Illusionen der ethnologischen Forschung an. 17 Manen — altlat. die Guten, die Seelen der Toten, die Ahnen. 18 Schamane von tungusisch saman oder schaman, ein erregter, erhobener Mensch. 1 9 Siehe T . K . P E N N I M A N 1 9 5 2 , 1 8 6 . — Grundlage f ü r A. L A N G gaben die Berichte von A. W . H O W I T T über die Südostaustralier, in denen er von einem in den H i m m e l versetzten Gentilalten oder Stammesalten spricht. Auch W . S C H M I D T zog immer wieder die südostaustralischen Ureinwohner als Nachweis heran. A. W . H O W I T T ist später ( 1 9 0 4 , 5 0 6 f f . ) wegen dieser monotheistischen I n t e r p r e t a t i o n nochmals darauf zurückgekommen, h a t den Zusammenhang untersucht und festgestellt, daß dieser sog. „Allf a t h e r " keine göttliche N a t u r besitzt und daß ihm alle die Qualitäten zugelegt werden, die einem erfolgreichen Gentilführer zukommen. 15
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F ü r J . F . L A F I T A T J liegen zu Beginn des 1 8 . J h . die Bedingungen f ü r die E r u i e r u n g eines Hochgottglaubens völlig anders als f ü r die E t h n o g r a p h i e des ausgehenden 19. J h . Verschiedene Gedankengänge des Aufklärungszeitalters fließen bei i h m zusammen. Zunächst m u ß t e er die I n d i a n e r als Menschen bestimmen. F ü r Menschsein bildete damals schlechthin die Religion das Kriterium. W a r e n sie ohne Religion, waren sie der weiteren Willkür der Kolonisten und der A u s r o t t u n g preisgegeben. Durch die Beobachtungen, die sein Gewährsmann, P a t e r Garnier, und er selbst machten, konnten religiöse Anschauungen und entsprechendes B r a u c h t u m e r k a n n t werden, welches viele Ähnlichkeiten mit der Mythologie und den Mysterien der alten Griechen aufwies. D a m i t h a t t e er den Z u s a m m e n h a n g der Einwohner der Neuen Welt mit der Alten Welt hergestellt. Als N a c h k o m m e n der zehn verlorenen S t ä m m e Israels h a t t e m a n die I n d i a n e r schon f r ü h e r gelten lassen. Sie waren somit an die biblische Urgeschichte und letztlich an die ursprüngliche Schöpfung und das erste Menschenpaar angeschlossen. I h r e Religion b a r g daher — wenn auch verdunkelt — in ihrem K e r n u n d in Mysterien den ursprünglichen Eingottglauben, so wie er ihn als Geistlicher der christlichen Lehre v e r s t a n d . 21 P a t e r W . S C H M I D T S Arbeiten zum ethnographischen Nachweis eines uranfänglichen, Schöpfung verursachenden einen Gottes, der sich den Menschen o f f e n b a r t h ä t t e , richteten sich vor allem gegen die evolutionistischen Theorien der Völkerkunde, in denen Religion, H e r k u n f t u n d Entwicklung der Menschheit naturwissenschaftlichmaterialistisch erklärt wurden. Schließlich war die A n h ä n g e r s c h a f t der Darwinschen, Tylorschen u n d Morganschen Auffassungen in der zweiten H ä l f t e des 19. J h . recht groß geworden, besonders auch im deutschen Sprachraum. Der in der ethnographischen Forschungsgeschichte schon s t e r e o t y p herausgestellte Z u s a m m e n h a n g A. L A N G u n d W . S C H M I D T zeichnet ein völlig unzureichendes Bild, da der ursprüngliche H o c h g o t t glaube von Vertretern der mythologischen R i c h t u n g ständig vertreten wurde, ob vom Gesichtspunkt der Degeneration oder Evolution. Diese bildete ein Basisfeld, aus dem W . Schmidt schöpfen konnte, schließlich h a t A. L A N G dort auch a n g e k n ü p f t . — Der ethnographische Nachweis eines Urmonotlieismus ist außer bei der engeren Anhängers c h a f t W . Schmidts im fachwissenschaftlichen Bereich niemals a n e r k a n n t worden (vgl. beispielsweise A C H E L I S 1896, 381f.; 1909, 14; P E N N I M A N 1952, 327ff.; B I R K E T - S M I T H 1956, 403f.; D I T T M E R 1954, 9 8 f f . ; M Ü H L M A N N 1968, 206). Auch die Anwendung der kulturhistorischen Methode — sein Schöpfer F . G R Ä B N E R wehrte sich gegen die Verwendung durch die katholische ethnographische Schule —, die die Pygmäenvölker an den A n f a n g des Menschengeschlechts stellen sollte, wurde verworfen (vgl. generell: Diskussion mit F A H R E N E O R T ; T O K A R E W 1960; P E N N I M A N , 329; E V A N S - P R I T C H A R D 1968, 148-151; W U N D T 1912, 78ff., 349f.). 22 W . E . M Ü H L M A N N 1968, 205; ähnlich E . E . E V A N S - P R I T C H A R D (1968, 36, 170f.), der aber die Periode der H e r a u s a r b e i t u n g der f r ü h e n Religionsformen als notwendig ane r k e n n t ; anders J . H A E K E L (1958, 67), der an einem ursprünglichen Hochgottglauben festhalten möchte. 20
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Religion u n d K u l t • Berlin 1989 • Seiten 4 5 - 5 0
Epistemologische Diskussion in der Religions- und Mythenforschung der bürgerlichen Kultur- und Sozialanthropologie V o n JÜRGEN BRÜGGEMANN
Die konjunkturelle Zunahme epistemologischer Fragestellungen, wie sie seit längerem in der Ethnologie und Anthropologie Westeuropas und der USA zu beobachten ist, gehört nach TH. S. KUHN (1969 [1970] \ 88F.) zu den Symptomen eines bevorstehenden Paradigmawechsels, also der Krise einer Wissenschaft. Dies bedeutet auch und vor allem einer Krise der gegenständlichen, erkenntnistheoretischen, methodologischen und weltanschaulichen Voraussetzungen der betreffenden Wissenschaft. Der entscheidende wissenschaftsexterne Faktor zur Auflösung der Krise der Ethnologie und Anthropologie ist die der Dekolonialisierung folgenden Auflösung des Gegenstandes. Sie wird begleitet von einer antikolonialistisch motivierten Abwehr der Forschung und Ablehnung des Forschungsmonopols der Ethnologie aus den entwickelten Industrieländern. Von den methodologischen Voraussetzungen her wird die Krise der Feldforschung (SZALAY 1975) und die Untauglichkeit der vorherrschenden Ahistorizität zur Erfassung des Wesens der Kultur (HYMES 1969, 33f.) beklagt. Eine neue Standortbestimmung setzt auch die Berücksichtigung der veränderten gesellschaftlichen Anforderungen voraus. Sie werden zugespitzt deutlich in der Herausforderung durch die globalen Probleme und den sich immer deutlicher Geltung verschaffenden Zweifeln am kulturellen und zivilisatorischen Anspruch der bürgerlichen Gesellschaft mit ihrer Wissenschaft und Technik. Dies bezieht sich auch direkt auf das Verhältnis der Wissenschaft zu den Mythen und Religionen der Stammesgesellschaften. So schreibt P. FEYEEABEND (1979, 177): „Einige Wissenschaftler studierten die Stammesideologie: aber sie hatten Vorurteile, sie waren für ihre Aufgabe nur schlecht vorbereitet und so gelang es ihnen nicht, Evidenz für die Überlegenheit oder selbst die Gleichheit ,primitiver' Ideen zu finden. Wiederum siegten die Wissenschaften nicht auf Grund der Forschung, sondern auf Grund von politischen, institutionellen, selbst militärischen Druckmaßnahmen." Diese kritische Selbstreflektion leitet in der Religions- und Mythenforschung unmittelbar zum Streit über den Gegenstand, zur Sichtung des methodischen Arsenals und einer daraus motivierten wissenschaftshistorischen Besinnung über. Die gegenwärtig relevanten Diskussionsrichtungen formierten sich in der kritischen Überwindung des evolutionistischen Paradigmas. Für dieses stehen als klassische Vertreter E. B. TYLOR und I . G . FEAZER.
Der evolutionistische Ansatz bei E. B. TYLOR (1871 [1958]) zeigt sich in der Darstellung des Entwicklungsganges von den Mythologien zu den „Hochreligionen". Mythen sind nach seinem Verständnis Versuche eines im wesentlichen rationalen Weltverständnisses auf kindlicher unreifer Stufe. Als entscheidend für die Ausprägung religiösen Bewußtseins wird der Animismus, also der Seelen- und Geisterglauben, verbunden mit Reinkarnationsvorstellungen, angesehen. Weitere Entwick45
lungsstufen stellen dann dei' Übergang zum Dämonen- und Götterglauben, der Anthropomorphismus, verbunden mit dem Polytheismus, und schließlich der Übergang von der Vorstellung eines Obergottes zum Monotheismus dar. Die wissenschaftshistorische Bedeutung Tylors besteht nach R. G I R T L E R ( 1 9 7 9 ) in der Darstellung des Monotheismus als- Ergebnis eines historischen Prozesses. Damit wird das Offenbarungsdogma und die Hypothese eines Urmonotheismus ausgeschlossen. Bereits von E. B. Tylor beeinflußt war J . G . F R A Z E R - ( 1 8 9 0 [ 1 9 0 7 ] ) in seiner evolutionistischen Konzeption. Der Ursprung der Religion liegt für ihn in der Magie. An diesem Punkt entzündete sich die heftigste Kritik an evolutionistischer Religionsdeutung. Magie und magische Rituale gehen nach J . G . F R A Z E R aus der Überzeugung hervor, daß es möglich sein könne, Naturvorgänge zu manipulieren. Es wird eine Kausalbeziehung zwischen der rituellen Handlung und dem gewünschten Ergebnis konstruiert. Dagegen sollen im religiösen Ritual höhere Mächte dazu bewogen werden, im Sinne der Bittsteller zu handeln. Religion steht auf einer höheren Evolutionsstufe, weil die Einsicht in die eigene Ohnmacht einen höheren Entwicklungsstand des Selbstbewußtseins voraussetze. Die Wirkung J . G. F R A Z E R S ist sehr vermittelt und im 2 0 . Jahrhundert vor allem unter dem Gesichtspunkt der Kritik an J . G. F R A Z E R ZU sehen. Der erste Höhepunkt der Kritik am Evolutionismus war die Kulturkreislehre. Allerdings spielen in der gegenwärtigen Diskussion weder die diffusionistischen Ansätze ( F R O B E N I U S 1 9 2 1 ) noch die kulturmorphologischen Ansätze ( J E N S E N 1 9 4 8 ) eine nennenswerte Rolle. Es sind im wesentlichen drei epistemologische Ansätze, die die Diskussion bestimmen : a) der funktionalistische Ansatz von E . D U R K H E I M , M . M A U S S und G . B A L A N D I E R ; b) der strukturalistische von C . L É V I - S T R A U S S und sprachanalytische Ansatz von L. W I T T G E N S T E I N und P. W I N C H und c) die phänomenologisch-hermeneutischen Ansätze von E . C A S S I R E R , M . E L I A D E und J . H A B E R M A S . a) E. D U R K H E I M ( 1 8 9 9 ; 1 9 1 2 [ 1 9 7 0 ] ) und unter seinem Einfluß M. M A U S S ( 1 9 0 2 - 0 3 [ 1 9 7 4 ] ) betrachten Mythos und Religion als soziale Tatsachen, die als solche wiederum nur aus sozialen Tatsachen erklärt werden können. Die einzelnen sozialen Tatsachen und Institutionen sind im sozialen Organismus über ihre Funktion miteinander verbunden. Deshalb ist es unzulässig, einzelne soziale Tatsachen und Institutionen aus der Gesamtstruktur des jeweiligen Gesellschaftstyps herauszulösen ( M A U S S 1 9 2 5 [ 1 9 8 3 ] , 1 3 9 ) . E . D U R K H E I M und M. M A U S S betonen den kollektiven Charakter von Religion und von religiösem Verhalten. Im religiösen Verhalten beziehen sich die sozialen Glieder auf die „heiligen Dinge". Der Kult als praktischer Ausdruck religiösen Verhaltens trägt wesentlich symbolischen Charakter. Über die Symbole werden Wertund Sinninhalte vermittelt und damit die Kontinuität an Religion gebundenen sozialen Handelns garantiert. Die Betonung des kollektiven und sozialen Charakters durch den Funktionalismus, der durch die Möglichkeit der Ahndung von Verstößen gegen die religiösen Normen noch unterstrichen wird, schließt von vornherein eine politische Dimension ein. Die Verquickung von staatlicher Macht und Religion wird besonders von G. B A L A N D I E R ( 1 9 6 7 [ 1 9 7 6 ] , 1 1 8 ) hervorgehoben. „Die Verwandtschaft zwischen dem Sakralen und dem Politischen ist ganz eindeutig in Gesellschaften, die nicht auf die Beherrschung der Natur ausgerichtet, sondern mit ihr verbunden sind und in ihr sich fortgesetzt und widergespiegelt sehen." Die Parallelität von Politischem und Sakralem wird durch den Begriff der Ordnung vermittelt. Die implizierten Verhältnisse und Prinzipien in der Politik und in der Religion entsprechen und bedingen einander. Offensichtlich wird dies, wenn die Religion zum Instrument der Macht, eine Garantie 46
ihrer Legitimität und ein im politischen Kampf verwendetes Mittel wird. G. B A L A N D I E R beruft sich auf B. M A L I N O W S K I , wenn er in ähnlicher Weise Mythen als historische Herleitung und rechtliche und moralische Begründung einer bestehenden Ordnung bestimmt. Faßte doch B. M A L I N O W S K I ( 1 9 3 6 ) Mythen als ein gesellschaftliches Grundgesetz und als Werkzeug in den Händen der Mächtigen, Privilegierten und Eigentümer auf. In G. Balandiers „Politischer Anthropologie" wird wohl die funktionalistische Konsequenz, soziale Tatsachen wie hier Religion und Mythos auf ihren instrumentellen Charakter zu reduzieren, besonders deutlich. b) Die strukturalistische Sprachanalyse zielt auf Aufhellung von Strukturen des Unbewußten. C. L É V I - S T R A U S S (1958 [1967], 34f.) kritisiert dabei an Malinowskis Sprachhandlungstheorie die sekundäre Rationalisierung und Neuinterpretation. Darüber hinaus vermißt er bei B. M A L I N O W S K I wie auch bei Boas eine wirkliche Sprachanalyse. Dies heißt in seinem Verständnis, aus den Wörtern die phonetische Wirklichkeit des Phonems zu ziehen und aus dieser wiederum die logische Wirklichkeit differentieller Elemente. Die Strukturen des Unbewußten werden in symbolischen Codes, wie sie in Mythologie und in der Wissenschaft verwandt werden, sichtbar. Diese Überbetonung der Struktur führt zu einer Dichotomie zwischen Struktur und Zeit. „Der zeitlichen Abfolge im mythischen Text wird keine strukturelle Bedeutung zugeschrieben, die paradigmatische Anordnung der Sätze transzendiert ihre syntagmatische Einordnung." ( A N D B I O L O 1981, 286) Eine zeitliche Aneinanderreihung einzelner Ereignisse im Mythos vergleicht C. L É V I - S T R A U S S (1958 [1967], 234) mit der Übertragung einer Orchesterpartitur in eine kontinuierliche melodische Reihe. E r sieht im Mythos einen Versuch, mittels des Intellekts Natur und Gesellschaft zu verstehen. Im Unterschied zum wissenschaftlichen Denken sei das mythische Denken bestrebt, auf kürzestem Weg zu einem allgemeinen und totalen Verständnis des Universums zu gelangen. Die Wissenschaft führe zur Fähigkeit,-die Natur zu beherrschen. Dagegen bestehe die Bedeutung des Mythos in einer Illusion des Verständnisses des Universums ( L É V I - S T R A U S S 1977 [1980], 28f.). Die Bedeutung der Wissenschaft gegenüber dem Mythos besteht darin, daß sie uns in die Lage versetzt, „zu verstehen, was in diesem Mythos enthalten ist" ( L É V I - S T B A U S S 1977 [1980], 36). So voraussetzungslos akzeptiert L. W I T T G E N S T E I N (1967 [1975]) die Bedeutung der Wissenschaft für das Verstehen fremder Kulturen nicht. Er expliziert seine sprachanalytische Wissenschaftskritik an J . G. Frazers „The Golden Bough". J . G. F B A Z E E S Darstellung magischer und religiöser Anschauungen „primitiver Gesellschaften" als Irrtümer, des Verständnisses der Magie als falscher Physik, falscher Heilkunst etc. gehe auf eine Übertragung des eigenen, konkret-historisch bestimmten Rationalitätsund Realitätsbegriffes zurück ( W I T T G E N S T E I N 1967 [1975], 44 u. 50). „Welche Enge des seelischen Lebens bei Frazer! Daher: Welche Unmöglichkeit, ein anderes Leben zu begreifen, als das englische seiner Zeit!" ( W I T T G E N S T E I N 1967 (1975], 42). Auch P. W I N C H (1972 [1975]) geht von der Unterschiedlichkeit der Rationalitätsbegriffe in unterschiedlichen Kulturen aus. Die Möglichkeit für ein Verstehen fremder Kulturen liege im „ethischen Raum", in der Alternative von „Gut" und „Böse" und in den anthropologischen Konstanten Geburt, Sexualität und Tod. Es gilt der epistemologische Grundsatz, Religion und Mythen fremder Kulturen nur aus diesen selbst heraus zu erklären und ihnen nicht nur eine andere Weise der Wirklichkeitsbewältigung, sondern auch eine andere Wirklichkeit zuzugestehen. So greift H.-P. D U E E B auf L. W I T T G E N S T E I N S Sentenz : „Und wenn ein Löwe spräche, wir könnten ihn nicht verstehen" und auf Feyerabends Inkommensurabilitätsthese, wonach unterschiedliche Lebenssysteme nach rationalistischem Muster nicht vergleichbar seien, 47
zurück und schlußfolgert aus Castanedas Erfahrungsberichten: „Und wenn ein Zauberer sich in eine Krähe verwandelte und flöge, wir könnten ihn nicht sehen." ( D U E R R 1981, 325f.) Die in der sprachanalytischen Philosophie und Wissenschaftstheorie auf ihre logischen Strukturen zurückgeführte Verstehensproblematik wird in der Phänomenologie und Hermeneutik zum erkenntnistheoretischen und methodologischen Dreh- und Angelpunkt. c) „,Phänomenologisch' nennen wir . . . eine Methode, die die Lebenswelt des Menschen unmittelbar durch ,ganzheitliche' Interpretation alltäglicher Situationen versteht" ( S E I F E E R T 1 9 8 3 , 4 1 ) . In diese Bemühungen ordnet sich E. C A S S I R E R ( 1 9 2 5 ) ein, der in seiner „Philosophie der symbolischen Formen" Religion und Mythos neben der Sprache, der Ökonomie und der Kunst als Ausdrucksformen menschlicher Aktivität ansieht. Es handelt sich um symbolbildende Prozesse, in denen der Mensch den Dingen einen Sinn und/oder Wert verleiht, die diese an sich nicht besitzen. Daraus erwächst ein Eigenleben dieser Dinge, aus dem ursprünglichen Gestaltprinzip wird ein Realitätsprinzip. Als Werkzeuge der Wirklichkeitsbewältigung in geistiger und praktischer Hinsicht besitzen die Mythen darüber hinaus instrumentellen Charakter. Die aktuelle Rezeption der Ideen E. C A S S I R E R S in der Religionsethnologie betrifft nicht nur dessen Epistemologie, sondern auch die konsequente Vermeidung eines jeden Ethnozentrismus. R. G I R T L E R ( 1 9 7 9 , 2 1 3 ) weist darauf hin, daß das Christentum nicht als eine Vervollkommnung der Religionen, sondern als eine Religion unter anderen untersucht wird. Eine Anwendung der phänomenologischen Methode in der Religions- und Mythenforschung finden wir auch bei M. E T J A D E (1954a). E r interpretiert religiöse Phänomene in ihrem historischen Kontext, durchaus nach Maßgabe des Historismus lebensphilosophischer Hermeneutik Diltheyscher Provenienz, um diese dann als losgelöste Singularität behandeln zu können. Das Ziel besteht allerdings in einer „Morphologie und Geschichte" (ELIADE 1954 b, 3), die das Ergebnis einer Synthese der Interpretationen der Singularitäten zu einer Ganzheit zu sein hat. In dieser Synthese gelte es, überzeitliche Gesichtspunkte religiöser Phänomene sichtbar zu machen. J . H A B E R MAS (1981, 88) legitimiert die hermeneutische Methode in der Religions- und Mythenforschung aus einer in Ubereinstimmung mit Winch vorgetragenen Kritik an den „viktorianischen Anthropologen", „vermeintlich allgemeine Rationalitätsstandards der eigenen Kultur fremden Kulturen bloß überzustülpen". E r sieht die Lösung in einer Zusammenführung der hermeneutisehen Methode mit einer Handlungstheorie. Entscheidend sei dafür die kommunikative Bedeutung des aus der Phänomenologie Husserls stammenden Begriffs „Lebenswelt". Der Mythos verhält sich zur Lebenswelt einer bestimmten sozialen Gruppe interpretativ. Das heißt, durch ein mythisches Weltbild „wird die Last der Interpretation dem einzelnen Angehörigen . . . abgenommen" (HABERMAS 1981, 108). Für die Darstellung der Religionsgeschichte übernimmt J . H A B E R M A S Webers Rationalisierungstheorie. Es handele sich um einen Prozeß religiöser Rationalisierung von den mythischen Anfängen bis zum Weltverständnis der Moderne, der vom Problem der Theodizee ausgehe und sich in Richtung eines entzauberten, von magischen Vorstellungen gereinigten Weltverständnisses vollziehe (HABERMAS 1981, 275). Interessant ist die Feststellung der Gleichgerichtetheit in allen Weltreligionen, wobei aber trotzdem, aus externen Ursachen, der Prozeß nur in der abendländischen Traditionslinie konsequent zu Ende geführt würde. Der Inhalt sei überall die gleiche ethische Grundproblematik, die religiöse Erklärung der herrschenden Ungerechtigkeiten. In dieser soziologischen Herangehensweise wird in der hermeneutischen Religionsdeutung erstmalig auch eine soziale Dimension sicht48
bar. Die Stammeskulte seien auf die Bewältigung kollektiver Notlagen zugeschnitten gewesen und nicht auf individuelle Schicksalbewältigung (HABERMAS 1981, 277, 280). Die Diskussion epistemologischer Grundlagen in der nichtmarxistischen Religionsund Mythenforschung zeigt auf der einen Seite eine aus d e m Methodenpluralismus erwachsende theoretische Hilflosigkeit, aber auf der anderen Seite auch methodologische Überlegungen, denen weiterzufolgen es lohnen würde. Eine Überwindung der eingangs skizzierten Krise setzt ein höheres Maß an Theoriefähigkeit voraus, sei das Motiv nun die H o f f n u n g , eine Rückkehr zu den Stammesreligionen könne zur Lösung der globalen Probleme beitragen, oder die 'Überzeugung, daß eine Lösung der E n t wicklungsprobleme auch eine wissenschaftliche Ergründung des Wesens m y t h i s c h e n und religiösen D e n k e n s zur Voraussetzung hat.
Anmerkungen 1 Das in eckige K l a m m e r n gesetzte Erscheinungsjahr bezieht sich stets auf die von mir b e n u t z t e Ausgabe.
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Religion und Kult • Berlin 19S9 • Seiten 5 1 - 7 1
Kannibalismus im Paläolithikum 1 V o n H E R B E B T ULLRICH
Als Kannibalismus oder Anthropophagie wird die „Sitte einiger in der Vorklassengesellschaft lebender Menschengemeinschaften, Menschenfleisch auf rituelle Weise zu verzehren, um sich die Kräfte des Toten, nicht selten eines getöteten Feindes, anzueignen" (Meyers Neues Lexikon Bd. 7, Leipzig 1973) bezeichnet. Der rituellkultische Kannibalismus — die wohl am meisten verbreitete Form — umfaßt außer dem Verzehr von Menschenfleisch ebenfalls den von Gehirn, Knochenmark und anderen Teilen des menschlichen Körpers. Kannibalismus geht in seiner Bezeichnung offenbar auf Kolumbus zurück 2 und ist in den vergangenen Jahrhunderten durch Entdeckungs- und Forschungsreisende für mehrere, noch unter urgeschichtlichen Verhältnissen lebende Jäger-SammlerGemein schatten wahrscheinlich gemacht worden. Bereits H E R O D O T , der Vater der Geschichtsschreibung, berichtet um 430 v. u. Z., daß einige Völkerschaften ihre Toten nicht einmal berühren, andere es dagegen unverständlich finden, daß es Völker gibt, die ihre Toten nicht aufessen. Über diese menschenessenden Stämme ist sehr viel berichtet und geschrieben worden — meist aber nur vom Hörensagen und in vielem stark übertrieben und sensationell aufgemacht. Da es nur ganz wenige zuverlässige Berichte über Kannibalismus im ethnographischen Bereich gibt, gehen die Ansichten darüber heute sehr weit auseinander. Über Kannibalismus im Paläolithikum ist ebenfalls viel geschrieben und debattiert, noch mehr jedoch spekuliert worden. Bereits 1 8 8 0 hielt es H. S C H A A F H A U S E N anhand des Unterkieferbruchstücks eines Neandertalerkindes aus der Sipka-Höhle in Mähren ( C S S R ) für möglich, daß Kannibalismus anzunehmen sei. Vor allem aber die in den Jahren 1 8 9 9 — 1 9 0 5 in Krapina bei Zagreb (Jugoslawien) geborgenen Neandertalerreste haben sehr wesentlich dazu beigetragen, die Diskussion um den Kannibalismus in paläolithischer Zeit zu beleben. Bereits zu Beginn der Ausgrabungen in Krapina äußerte K. G O R J A X O V I C - K R A M B E R G E R ( 1 9 0 1 , 1 9 6 ) die Vermutung, daß „der diluviale Mensch unter Umständen Cannibalismus trieb;'denn das gleichzeitige Vorkommen von zerbrochenen Knochen verschieden alter Individuen im Feuerherde kann man schwierig anders erklären, als daß . . . man ihre Leichen verbrannte und ihre Knochen zertrümmerte, um sie in analoger Weise, wie man dies mit Bos and anderen Thieren that, zu verzehren". K. G O E J A N O V I C - K E A M B E E G E E ( 1 9 0 9 ; 1 9 2 6 ) hat diese Vermutung später durch zahlreiche Befunde bekräftigt und dahingehend erweitert, daß eine „Überrumplung der Krapinaer Höhlenbewohner durch eine fremde Horde tatsächlich stattgefunden" ( 1 9 0 4 , 1 9 9 ) habe. Aus dieser Deutung K. G O R JAKOVIC-KRAMBERGERS sind in der Folgezeit sehr weitreichende spekulative Schlußfolgerungen gezogen worden, die von einer „Schlacht bei Krapina" ( K L A A T S C H 1920) bis zu der Annahme reichen, daß der Neandertaler von Krapina „vom Homo 4*
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sapiens irgendwelcher Rasse besiegt und offenbar aufgegessen wurde" (SKERLJ 1939,113). Kannibalismus ist in der Folgezeit für zahlreiche paläolithische Fundstellen beschrieben worden. Dazu zählen die Homo erectais-Lokalitäten von Zhoukoudian in China ( W E I D E N R E I C H 1 9 4 3 ) , Ngandong auf J a v a (v. K O E N I G S W A L D 1 9 3 7 ) und Bilzingsleben in der DDR (MANÍA, D I E T Z E L 1 9 8 0 ) sowie die Neantertalerfundstätten von Steinheim/BRD ( G I E S E L E R 1 9 7 4 ) , Circeo/Italien ( B L A N C 1 9 6 1 ) und WeimarEhringsdorf/DDR ( W E I D E N R E I C H 1 9 2 8 ; B E H M - B L A N C K E 1 9 6 0 ) ebenso wie zahlreiche jungpaläolithische Funde - z. B. Döbritz/DDR (GRIMM und U L L R I C H 1 9 6 5 ) . Gleichzeitig sind jedoch wiederholt auch Auffassungen vertreten worden (z. B. B I N F O R D 1 9 8 1 ) , die Kannibalismus in paläolithischer Zeit grundsätzlich in Frage stellen bzw. ablehnen. '
Kannibalismus im Meinungsstreit Kannibalismus im Paläolithikum ist in jüngster Zeit immer mehr zum Gegenstand eines Meinungsstreites geworden. Nicht nur Anthropologen und Archäologen beteiligen sich daran, sondern auch Vertreter anderer Fachdisziplinen haben Argumente für und wider geliefert. Im wesentlichen stehen sich heute zwei Meinungen gegenüber. Bereits in den fünfziger und sechziger Jahren sind Zusammenstellungen von paläolithischen Menschenresten mit Schädelverletzungen bzw. Gewalteinwirkungen publiziert worden (COURVILLE 1 9 5 0 ; F R I E S I N G E R 1 9 6 3 ; R O P E R 1 9 6 9 ) und diese als Hinweise auf gelegentliches intrahumanes Töten bzw. Kannibalismus interpretiert worden. Auch wurde versucht, in Analogie zu den für den ethnographischen Bereich herausgestellten Formen des Kannibalismus 3 entsprechende Überlegungen' für den Kannibalismus in paläolithischer Zeit anzustellen ( B E H M - B L A N C K E 1 9 6 0 ; H E L M U T H 1 9 6 8 ) . Eine Vielzahl von Literaturbelegen ließe sich aus den folgenden Jahren beibringen und damit die bis in die jüngste Zeit hinein von zahlreichen Forschern vertretene These belegen, daß die Menschen des Paläolithikums „in rituellem Denken befangen, sich über die Körperlichkeit die physischen und geistigen Potenzen des überwundenen Gegners oder des verschiedenen Mitglieds der eigenen Sozialgruppe glaubten aneignen zu können" ( H E R R M A N N 1 9 8 4 , 1 6 7 ) , d. h. rituellen Kannibalismus praktizierten. Spezielle Arbeiten zu dieser Thematik sind jedoch nur sehr spärlich erschienen ( L E M O R T 1981; U L L R I C H 1978a, b, 1982a, b, 1986; W H I T E 1986a, b). Kannibalismus im Paläolithikum wurde bereits von L. B R A C E ( 1 9 6 4 ) in Frage gestellt, und auch T. J A C O B ( 1 9 7 2 ) hat ihn ebenso wie Kopfjagd anhand der indonesischen Fossilfunde für nicht erwiesen, sondern lediglich für eine sensationelle Hypothese gehalten. W. A R E N S ( 1 9 7 9 ) versucht, den Nachweis zu führen, daß alle Angaben über Kannibalismus aus dem ethnographischen Bereich fraglich bzw. zweifelhaft erscheinen und demzufolge jeglicher wissenschaftlicher Grundlage entbehren. Auch anhand der Fossilfunde gäbe es keine gesicherten Hinweise auf Kannibalismus, so daß dieser als reiner Mythos zu betrachten sei. In diese Richtung tendieren ebenfalls Untersuchungen, welche die auf Manipulationen am Leichnam bzw. auf Kannibalismus hinweisenden artifiziellen Defekte als auf natürliche Weise entstandene bzw. durch Tiere verursachte Defekte (Fraßspuren, Trampelmarken u. a.) interpretieren ( B I N F O R D 1 9 8 1 ; B I N F O R D and Ho 1 9 8 5 ; COOK 1 9 8 6 ) . Dabei wird allein schon aus der Tatsache, daß an Tierknochen Trampelspuren den Schnittmarken sehr ähnlich sein können ( A N D R E W S and COOK 1 9 8 5 ; B E H R E N S M E Y E R et. al. 1 9 8 6 ) , geschlußfolgert, 52
daß Schnittmarken an fossilen und frühgeschichtlichen Menschenresten die gleiche Ursache haben könnten und Kannibalismus lediglich ein „psychologisches Phänomen d e r A n t h r o p o l o g e n "(BIRD 1986, 20) sei.
Der um den Kannibalismus im Paläolithikum entbrannte Meinungsstreit spiegelt sich auch in kontroversen Auffassungen hinsichtlich ein und desselben Fundortes wider. Ein Beispiel dafür sind die fossilen Menschenreste aus Krapina, die im Jahre 1977 erstmals eingehend im Hinblick auf artifizielle Defekte und unter der Fragestellung von Kannibalismus untersucht worden sind ( U L L R I C H 1978a, b). Der Verfasser gelangte seinerzeit zu der durch eine Vielzahl von Befunden zu belegenden Auffassung, daß für die Neandertaler von Krapina Kannibalismus und Leichenzerstückelung anzunehmen sind und konnte damit die schon von K . GORJANOVICK R A M B E R G E R (1901, 1904, 1909 u. a.~) geäußerte Vermutung — der sich in jüngster Zeit auch K . TOMIC-KAROVIC (1970) und F. S M I T H (1976) angeschlossen haben bestätigen. Diese Auffassung wurde nach der Untersuchung weiterer umfangreicher fossiler Fundmaterialien aus Europa später dahingehend präzisiert, daß Kannibalismus im Paläolithikum nur in engem Zusammenhang mit bestimmten Totenriten praktiziert worden sein dürfte ( U L L R I C H 1986) und sich außer Krapina lediglich wenige Lokalitäten aufzeigen lassen, für die Kannibalismus wahrscheinlich ist. F. L E M O R T (1981) hat ebenfalls die Funde aus Krapina eingehend studiert und eine Vielzahl artifizieller Defekte und Mannipulationen am Leichnam nachweisen können. Sie möchte jedoch Kannibalismus f ü r Krapina ausschließen und allein Totenriten und -praktiken dafür verantwortlich machen. E. T R I N K A U S (1985) versucht dagegen — ohne selbst Spezialuntersuchungen in dieser Hinsicht an den Fundobjekten durchgeführt zu haben —, alle bisher für Kannibalismus beim Neandertaler von Krapina beigebrachten Hinweise in Frage zu stellen und allein durch Vergleiche der Repräsentation des Skelettmaterials mit frühgeschichtlichen Serien wahrscheinlich zu machen, daß es sich in Krapina um Reste von Körperbestattungen handelt. Der fragmentarische und defekte Zustand der Knochen sowie die verstreute Lage zwischen Tierknochen werden mit nicht näher beschriebenen „geologischen und biologischen Aktivitäten unter dem Felsdach unmittelbar nach und wahrscheinlich auch während der Bestattungszeit" ( T R I N K A U S 1985, 213; Übersetzung H. U.) erklärt. Unter völliger Verkennung der Fundsituation und auch der Stratigraphie wird Krapina als einer der ältesten und zugleich größten Bestattungskomplexe interpretiert. Neue Ergebnisse zum Kannibalismus im Paläolithikum In den vergangenen Jahren sind an einer Vielzahl von fossilen Menschenresten aus Europa systematische Untersuchungen im Hinblick auf Kannibalismus, Schädelkult und Bestattungsritus in paläolithischer Zeit durchgeführt worden. 4 Die dabei erzielten Ergebnisse haben nicht nur zu neuen Interpretationen der am Fundmaterial in großer Anzahl vorhandenen artifiziellen Defekte geführt, sondern auch hinsichtlich der Totenriten neue Deutungsmöglichkeiten erschlossen. Für den Kannibalismus im Paläolithikum ergeben sich ebenfalls neue Befunde, die bisher nicht vermutete Zusammenhänge erkennen lassen. Artifizielle Defekte an fossilen Menschenresten Artifizielle Defekte — d. h. mittels Artefakten (Geräten, Werkzeugen) oder anderen Gegenständen zufällig oder absichtlich und bewußt von Menschenhand herbeigeführte 53
Defekte (vgl. ULLRICH 1986; - sind 'an einer Vielzahl von fossilen Menschenresten diagnostiziert worden. Sie können zu Lebzeiten (intravital) oder nach dem Tode des Individuums (postmortal) entstanden sein. Intravitale artifizielle Defekte sind meist in Form von Hiebverletzungen mit oder ohne Heilung am Schädel lokalisierbar. Sie sind entweder bei kämpferischen Auseinandersetzungen oder mit der Absicht herbeigeführt worden, das betreffende Individuum zu töten. Nur in wenigen Fällen läßt sich anhand des Fundmaterials wahrscheinlich machen, daß unverheilte intra vitale Schädelverletzungen das Ergebnis absichtlicher Tötungen sind. Dazu zählen der Neandertaler Circeo I (Italien) ebenso wie das jungpaläolithische Kind von Balla Ungarn) und die Funde Mladec V (ÖSSR) und Cioclovina (Rumänien) (Abb. 1).
Abb. 1 Unverheilte intravitale Impressionsfraktur auf dem rechten Scheitelbein des Schädels aus Cioclovina (Rumänien)
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Postmortale artifizielle Defekte sind an fossilen Menschenresten besonders häufig zu diagnostizieren. 5 Diese umfassen: 1. Schnittmarken, 2. Kratzspuren, 3. Defektmuster im Gelenkflächen- und Muskelansatzbereich, 4. Schädelbasisdefekte, 5. Bruchflächen an den Knochen als Ergebnis absichtlicher Zertrümmerung, 6. längs aufgespaltene Diaphysen der Langknochen, ' 7. Gruben, flache Eindellungen und ähnliche Strukturen, 8. Knochenrandglättungen, 9. Perforationen der Zähne, 10. Feuereinwirkung an Knochen. Nach den vorliegenden Befunden ist mit größter Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß die postmortalen artifiziellen Defekte im allgemeinen an den Skeletten von Individuen ausgeführt wurden', die eines natürlichen Todes gestorben sind, und nur in Ausnahmefällen auch an absichtlich getöteten Individuen. Manipulationen am Leichnam Die an fossilen Menschenresten erkennbaren postmortalen artifiziellen Defekte sind das Ergebnis umfangreicher Manipulationen am Leichnam in urgeschichtlicher Zeit.
V
SM
SM
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Abb. 2 Schnittmarken auf der Dorsalfläche beider Humeri des jungpaläolithisehen Kindes aus Balla (Ungarn)
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Abb. 3 Defektmuster im Bereich der Muskelansatzstellen und Gelenkfläohen an den distalen Humerusbruchstücken aus Krapina (Jugoslawien)
An dieser Erkenntnis läßt sich aufgrund zahlreicher eindeutiger Befunde heute nicht mehr zweifeln. Schnittmarken unterschiedlicher Größe und Form, vielfach parallel und stufenförmig-linear in Gruppen angeordnet (Abb. 2), finden sich zwar vorwiegend an post56
kranialen Knochen, doch sind sie auch im Bereich des Hirn- und Gesichtsschädels keineswegs selten. Meist sind sie an den Ursprungs- und Ansatzstellen von Muskeln und Bändern sowie an Knochenkanten lokalisiert. Besonders dadurch wird deutlich, daß die Schnittmarken beim gewaltsamen Abtrennen der Haut sowie der Muskeln, Sehnen und Bänder von den Knochen entstanden sein müssen. Eine Vielzahl fossiler Menschenknochen läßt im Gelenkflächen- und angrenzenden Bereich sowie an distalen bzw. proximalen Anheftungsstellen von Muskeln/Sehnen in Form und Größe weitgehend übereinstimmende Defekte erkennen (Abb. 3), die nicht verwitterungsbedingt entstanden sein können, sondern artifiziellen Ursprungs sind. Solche Defektmuster sind erstmals für die Funde von Krapina beschrieben und dokumentiert worden ( U L L R I C H 1978 a). Da die entsprechenden Knochen vielfach auch zahlreiche Schnittmarken aufweisen, läßt sich sehr wahrscheinlich machen, daß derartige Defektmuster durch eine gewaltsame Sprengung der großen und kleinen Körpergelenke bzw. durch ein gewaltsames Abtrennen von Knochenpartien an Muskel/Sehnen-Anheftungsstellen entstanden sind. Solche Manipulationen können allein dem Ziel gedient haben, den Körper des Leichnams zu zerstückeln. Entsprechende Defektmuster am Schädel (Gelenkflächen der Hinterhauptskondylen, Warzenfortsätze) und Unterkiefer (Gelenkrolle und Muskelfortsatz des Unterkieferastes, Astwinkel) können zugleich darauf hindeuten, daß dabei auch der Kopf gewaltsam vom Körper und der Unterkiefer vom Kopf abgetrennt worden sind. Leichenzerstückelung kann für eine Vielzahl von paläolithischen Menschenfunden wahrscheinlich gemacht werden. Für die Funde von Krapina konnte sogar die Technik rekonstruiert werden, die bei der Sprengung des Ellbogengelenkes zur Anwendung kam ( U L L R I C H 1978 a). Manipulationen am Leichnam, die ein gewaltsames Abtrennen der Weichteile am Körper und Kopf sowie in vielen Fällen anschließend eine Leichenzerstückelung zur Folge hatten, dürften wohl kaum darauf ausgerichtet gewesen sein, ausschließlich Menschenfleisch für kannibalische oder andere rituelle Zwecke zu gewinnen. Dazu würden jeweils wenige kräftige Schnitte ausgereicht haben, um die wichtigsten Muskelpakete zu entfernen. Dementsprechend dürften auch an den Knochen nur wenige Schnittmarken erkennbar sein, die im Bereich der Ursprungs- und Ansatzstellen der kräftigen Muskeln lokalisiert sein müßten. Dieses ist im allgemeinen jedoch nicht der Fall. Vielmehr lassen Anordnung und Anzahl der Schnittmarken auf den Knochen erkennen, daß meist auch die kleinen Muskeln sehr sorgfältig abgetrennt worden sind. Dieser Befund und der Nachweis der Leichenzerstückelung lassen es wahrscheinlich erscheinen, daß die Manipulationen am Leichnam in paläolithischer Zeit in erster Linie zu dem Zweck ausgeführt worden sein dürften, Knochen von auserwählten verstorbenen Hordenmitgliedern für bestimmte rituelle Zeremonien zu erlangen. Dafür sprechen auch Manipulationen, die direkt am Knochen ausgeführt worden sind. Manipulationen am Knochen Die meisten paläolithischen Menschenreste liegen in Bruchstücken vor. Die Fragmentation der Knochen kann auf natürliche Weise oder intentioneil erfolgt sein. Oft ist eine Entscheidung nur schwer zu treffen, obwohl prinzipielle Unterschiede im Bruch verlauf und in der Bruchflächenbeschaffenheit zwischen in frischem (fettreichem, relativ geschmeidigem) und in trockenem (fettarmem, sprödem) Zustand fragmentierten Knochen bestehen, vor allem bei Röhren- und Schädelknochen. Ein weiterer Hinweis auf intentionelle Fragmentation der Knochen sind in Form und Größe weitgehend ähnliche bzw. übereinstimmende Bruchstücke der jeweiligen 57
Knochenelemente (bei Krapina z. B. von Humeras, Radius, Ulna, Clavicula, Scapula, Fémur, Fibula). Sie lassen auf eine einheitliche Methode der Fragmentation der Knochen schließen. In einigen Fällen konnten an Schädeln auch Hiebmarken festgestellt werden, die eindeutig postmortal mit dem Ziel ausgeführt worden sind, den Schädel zu zertrümmern (z. B. in Krapina). Auch Schnittmarken auf der Tabula interna von Hirnschädelbruchstücken (Külna, Weimar-Ehringsdorf) sprechen dafür, daß Schädel unmittelbar nach dem Entfernen der Kopfweichteile zerschlagen worden sind. Eine Vielzahl fossiler Menschenreste weist außer Schnittmarken auch Kratzspuren auf, die auf eine sorgfältige Säuberung der Knochen von anhaftenden Weichteilresten hindeuten. Eine solche Manipulation ermöglichte dem paläolithischen Menschen, unmittelbar im Anschluß an die Manipulationen am Leichnam (gewaltsames Abtrennen der Muskeln, Sehnen und Bänder; Leichenzerstückelung) weitgehend von Weichteilen befreite Knochen bzw. nach einer Fragmentation Knochenbruchstücke zu erhalten und diese eine Zeitlang aufbewahren zu können.
Abb. 4 S c h n i t t m a r k e n , K r a t z s p u r e n sowie i n t e n t i o nelle K n o c h e n m a r k i e r u n g e n (Reihe g r u b e n f ö r m i g e r V e r t i e f u n g e n u n d dreieckige K e r b e ) auf d e m S c h ä d e l B r n o I I ( Ö S S R )
Manipulationen am Knochen umfassen auch intentionelle Markierungen auf Knochen. So wurden auf dem jungpaläolithischen Schädel Brno I I (Abb. 4) eine Reihe flacher Vertiefungen und eine dreieckige tiefe Einkerbung festgestellt ( U L L R I C H 1982b), und ein menschlicher Zahn aus der Siedlung von Dolni Vcstonice weist eine rundliche Durchbohrung auf (weitere perforierte Zähne sind aus Frankreich bekannt vgl. L E M O E T 1981). Knochenrandglättung ist ebenfalls nachgewiesen worden (Unterkiefer des Neandertalers von Ochoz). 58
Manipulationen und Totenriten Manipulationen am Leichnam und am Knochen sind vom paläolithischen Menschen in mannigfacher Weise ausgeführt worden (Abb. 5). Eine Vielzahl von Belegen läßt sich dafür aus dem Alt-, Mittel- und Jungpaläolithikum Europas ( U L L R I C H , Manuskript) beibringen. Aber auch aus Afrika (z. B. Bodo in Äthiopien - W H I T E 1986a, b), Vorderasien (Tabun C) und Ostasien (Zhoukoudian) sind derartige Manipulationen bekannt. Die ältesten Hinweise liegen aus der Zeit des späten Homo erectus vor. Zu ihnen zählen die etwa 350000-300000 Jahre alten Funde von Vertesszöllös, Bilzingsleben und Petralona in Europa, Bodo und Kabwe (ehemals Bröken Hill) in Afrika und Zhoukoudian in China. Die neuesten Forschungsergebnisse aus Bilzingsleben (G. B E H M B L A N C K E 1987) lassen es angezeigt erscheinen, für den späten Homo erectus ein geistiges Entwicklungsstadium annehmen zu dürfen, das über den täglichen, lebensnotwendigen Aktionsradius hinaus Handlungen erlaubte, die mit der Einritzung von „Zeichen" und eines Tierumrisses auf Knochen verbunden waren — Handlungen, die auf hochentwickelte Denkprozesse mit fortgeschrittener sprachlicher Kommunikation schließen lassen. Die vom paläolithischen Menschen am Leichnam und am.Knochen vorgenommenen Manipulationen waren offensichtlich nur auf das eine Ziel ausgerichtet, Knochen bzw. Knochenbruchstücke, und zwar vorwiegend vom Schädel, von Verstorbenen für bestimmte rituelle Zeremonien zu erhalten. Nur unter einer solchen Interpretation erscheinen die Manipulationen in ihrer Gesamtheit verständlich und sinnvoll. Es ist naheliegend, die Aneignung von menschlichen Knochen bzw. Knochenbruchstücken mit bestimmten Totenriten- des paläolithischen Menschen in Verbindung zu bringen. Eine genaue Analyse der Fundumstände fossiler Menschenreste zeigt, daß diese vor ihrer Einbettung in die Fundschichten eine sehr unterschiedliche Behandlung erfahren haben. Vielfach sind die Knochenbruchstücke einfach weggeworfen worden und auf diese Weise zwischen die Tierknochen gelangt. Dieses trifft für die Neandertalerreste von Krapina und Vindija ( U L L R I C H und M A L E Z 1 9 8 3 ) ebenso zu wie für die Urmenschenreste aus Zhoukoudian. Auch der Homo erectus von Bilzingsleben hat Bruchstücke von zerschlagenen Menschenschädeln und Zähne einfach auf die Rastplatzfläche zwischen die Behausungen und Arbeitsplätze geworfen, einige Teile aber auch — offenbar mit stärkerer ritueller Motivierung — in den am Rastplatz vorbeifließenden Bach. Die Schädelbruchstücke (Schnittmarken und Kratzspuren sind erkennbar) und Zähne —postkraniale Reste wurden bisher ebenso wie beifast allen anderen europäischen Homo erecte-Funden nicht entdeckt! — stammen mit Sicherheit von mehreren, mindestens 4—5 Individuen. Es ist deshalb wenig wahrscheinlich, daß die Schädel der verstorbenen Bilzingslebener Hordenmitglieder auf dem Rastplatz zerschlagen worden sind. Für eine Reihe von paläolithischen Menschenresten ist charakteristisch, daß sie an bestimmten Stellen des Fundplatzes (unter Steinen, in Nischen, an der Basis von Höhlenwänden oder an anderen exponierten Stellen) offenbar absichtlich niedergelegt worden sind. Schädel wurden auch rituell bestattet. Die entsprechenden Funde weisen artifizielle Defekte auf, die auf umfangreiche Manipulationen am Leichnam, zuweilen auch am Knochen, schließen lassen, so daß hinreichend gesichert erscheint, daß wirklich nur Schädel (ohne Weichteile) bestattet worden sind. Schädelbestattungen sind aus Petralona in Griechenland ( U L L R I C H 1984), Cicero in Italien und von anderen mittel- und jungpaläolithischen Fundplätzen bekannt. , Für eine Vielzahl von mittel- und jungpaläolithischen Menschenresten wird an59
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genommen, daß ursprünglich Körperbestattungen vorgelegen haben ( Q U E C H O N 1976; H A K R O L D 1980 u. a.). Diese seien später durch Verwitterung, Raubtier verbiß oder andere äußere Einwirkungen zerstört worden, so daß nicht mehr vollständige Skelette, sondern lediglich noch Teile davon gefunden werden konnten. Der Fund von Brno II, eines Mannes im mittleren Alter, wird ebenfalls dazu gerechnet. Untersuchungen haben jedoch eine große Anzahl von Schnittmarken und Kratzspuren auf dem gesamten Hirnschädel ergeben. Außerdem sind auf dem Stirnbein in einer Reihe angeordnet mehrere grubenartige Vertiefungen und eine tiefe Kerbe von dreieckiger Form vorhanden. Dieser Befund spricht eindeutig für umfangreiche Manipulationen am Leichnam mit dem Ziel, den Schädel (und einige postkraniale Reste) eine Zeitlang aufzubewahren. Während dieser Zeit sind offenbar auch die intentioneilen Knochenmarkierungen angebracht worden ( U L L R I C H 1982a). Der Schädel und einige post-
Abb. 6 Schädel und einige postkraniale Reste des Neandertalerkindes von Tesik-Tas (Usbekistan), umgeben von 5 Paar Hörnern der Sibirischen Bergziege — ein Beispiel für rituelle Teilbe • stattung Abb. 5 Artifizielle Defekte und Manipulationen am Leichnam und an Knochen in paläolithischer Zeit. Knochen und Knochenbruehstücke von Verstorbenen für bestimmte Totenriten waren offenbar das Ziel solcher Manipulationen
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kraniale Reste (Teile beider Oberschenkelknochen, eines Oberarmknochens und Schlüsselbeins sowie Rippenbruchstücke) sind später mit Ocker bestreut und unter einem Mammutschulterblatt zusammen mit über 600 Dentalia, einer bearbeiteten Rengeweihstange, 2 großen Steinringen, 1-1 kleinen Scheiben aus Stein, Elfenbein und Knochen sowie einer männlichen Elfenbeinfigur bestattet worden. Das reiche Grabinventar deutet auf eine besondere soziale Stellung des Mannes Brno I I hin. Der gesamte Fundkomplex von Brno I I ist als Teilbestattung (von Knochen und nicht von Leichenteilen) zu bezeichnen. In diese Bestattungsform ist ebenfalls das Neandertalerkind von Tesik-Tas in Usbekistan (Sowjetunion) einzuordnen. Innerhalb eines Kreises aus fünf Hörnerpaaren der Sibirischen Bergziege sind nicht — wie fälschlicherweise bis heute meist angenommen wird — der ganze Körper des Knaben, sondern nur der Schädel und einige postkraniale Knochen (einige andere liegen außerhalb dieses Kreises) bestattet worden (Abb. 6). Auf eine solche Teilbestattung hat der Verfasser bereits 1958 hingewiesen (ULLRICH 1958). Neuere Untersuchungen haben zahlreiche Schnittmarken, vor allem an der Tibia, ergeben und somit Manipulationen am Leichnam des Knaben wahrscheinlich machen können. Körperbestattungen stellen in der Evolution der Totenriten (Abb. 7) und -praktiken eine sehr späte Erscheinung dar. Sehr sporadisch werden sie erstmals am Ende der Neandertalerzeit im Würm I/II-Interstadial und Würm Ii-Stadial in Westeuropa und A ^ o r d e r a s i e n faßbar. Aus Mittel-, Ost-, Südost-und Südeuropa sind Neandertalerbestattungen dagegen nahezu unbekannt. Lediglich in Kiik-Koba und Starosel'e auf der Krim wurden die Leichname von Kindern in Hockerstellung bzw. gestreckter Lage bestattet. Im Jungpaläolithikum Europas wurden Körperbestattungen etwas häufiger vorgenommen. Sie bleiben zahlenmäßig im Vergleich zur bekannten Gesamtindividuenzahl aus jener Zeit jedoch gering (weniger als 10 Prozent). Daraus muß geschlußfolgert werden, daß eine solche Bestattungsweise offenbar nur auserwählten Sippenmitgliedern zuteil geworden ist. Körperbestattungen aus dem Jungpaläolithikum sind in gestreckter und angehockter Lage sowohl mit als auch ohne Beigaben bekannt. Die an solchen Skeletten (z. B. Sungir, Kostenki, M a P t a i n der Sowjetunion) durchgeführten Untersuchungen haben keinerlei Hinweise auf artifizielle Defekte und damit auch nicht auf Manipulationen an den Leichnamen ergeben. Bemerkenswert erscheint lediglich, daß in Sungir sich in dem Grab mit den beiden Kinderbestattungen ein'größeres Schaftbruchstück eines adulten menschlichen Femur als Grabbeigabe befand. Totenriten und Kannibalismus Der paläolithische Mensch als Jäger und Sammler verweilte nur zeitweilig auf Rastplätzen (Freilandstationen, Höhlen, Abris). Viele solcher Rastplätze wurden mehrmals, vielleicht von derselben Horde bzw. Sippe aufgesucht, doch nicht ständig besiedelt. Deshalb ist nicht zu erwarten, daß die Menschen des Paläolithikums auf Gräberfeldern beigesetzt worden sind; diese treten erst vom Mesolithikum/Neolithikum an in Erscheinung und sind aufs engste mit dem Übergang zum Seßhaftwerden verbunden. Der paläolithische Mensch kannte jedoch eine Vielzahl von Totenriten und dürfte diese in unterschiedlicher Weise zelebriert haben. Bei der größtenteils umherschweifenden Lebensweise ist es sehr wahrscheinlich, daß die meisten Menschen auf der Jagd, Abb. 7 Toteiiriten und Bestattung im Paläolithikum. Die angeführten Beispiele stammen groß tenteils aus den Untersuchungen des Verfassers 63
während des Sammeins oder auf der Suche nach neuen Rastplätzen gestorben sind. Da die Leichname am Orte des Sterbens zurückgelassen werden mußten, sind offenbar dort bereits bestimmte Totenrituale vollzogen worden. Bestandteil dieser Totenriten dürften auch die am Leichnam ausgeführten Manipulationen gewesen sein. Die im Rahmen dieser Manipulationen gewonnenen Knochen bzw. Knochenbruchstücke konnten dann von den Hordenmitgliedern zum Rastplatz mitgenommen werden. Dabei dürfte Schädelknochen eine besondere, herausragende Bedeutung beigemessen, aber auch hinsichtlich der postkranialen Reste eine Auswahl getroffen worden sein. Die Befunde in Krapina und auch an anderen Lokalitäten lassen eine solche Selektion deutlich erkennen und zeigen zugleich, daß die Manipulationen am Leichnam nicht auf dem Rastplatz (Halbhöhle) durchgeführt worden sein können. Die vom paläolithischen Menschen zum Rastplatz zurückgebrachten, nach bestimmten Vorstellungen ausgewählten Schädel- und/oder anderen Knochenteile der Verstorbenen werden dann sehr wahrscheinlich Gegenstand weiterer Totenrituale gewesen sein, die nunmehr im Kreis der gesamten Horde bzw. Sippe vollzogen wurden. Nach Abschluß dieser Zeremonien sind die Knochen entweder einfach weggeworfen, an bestimmten Stellen des Rastplatzes deponiert oder rituell bestattet worden. Es ist sogar wahrscheinlich, daß einige Höhlen allein zum Zwecke von rituellen Handlungen, einschließlich von Totenriten, aufgesucht worden sind und keine Rastplätze im eigentlichen Sinne darstellen, wie bisher allgemein vermutet wurde. Der unmittelbare Zusammenhang von artifiziellen Defekten, Manipulationen am Leichnam und Totenriten in paläolithischer Zeit läßt sich durch eine Vielzahl von Funden und Befunden überaus wahrscheinlich machen. Weitaus schwieriger zu beantworten ist dagegen die Frage, inwieweit auch rituelle kannibalische Handlungen Bestandteil dieser Totenriten gewesen sein können. Die bis in die jüngste Zeit hinein vertretene These, daß artifizielle Defekte in Form von Schnittmarken Hinweise auf Kannibalismus seien, läßt sich angesichts des aufgezeigten Zusammenhangs derartiger Manipulationen mit bestimmten Totenriten nicht mehr länger aufrecht erhalten. Angebrannte Knochenbruchstücke vom Menschen können angesichts der Seltenheit solcher Befunde (in Krapina zeigen nur 0,5 Prozent der postkranialen Reste Feuereinwirkung) ebenfalls nicht mehr als direkte Hinweise auf das Rösten von Menschenfleisch und damit auf Kannibalismus gewertet werden. Andere Manipulationen, wie Leichenzerstückelung, Fragmentation und Säuberung von Knochen sowie das Anbringen von intentionellen Knochenmarkierungen, lassen sich im Zusammenhang mit Kannibalismus in keiner Weise sinnvoll erklären. Verletzungen am Schädel, die durch intravitale Gewalteinwirkung entstanden sind und zum Tode des Individuums geführt haben, sprechen zwar für eine absichtliche Tötung, doch braucht diese nicht im Hinblick auf Kannibalismus erfolgt zu sein, sondern kann aus einer kämpferischen Auseinandersetzung herrühren. Die Vermengung von Tier- und Menschenknochen in den Fundschichten auf Rastplätzen ist vielfach ebenfalls als Hinweis auf Kannibalismus gedeutet worden, da darin ein Ausdruck gleicher Behandlungsweise der Knochen als Nahrungsüberreste gesehen wurde. Aber auch hier ergeben sich, wie gezeigt werden konnte, ganz andere Interpretationsmöglichkeiten. Die auf zahlreichen Fundplätzen unverkennbare Selektion von Knochen kann gleichfalls nicht als Indiz für Kannibalismus in Anspruch genommen werden, da es sich bei den Fundstücken überwiegend um Schädelteile und solche postkranialen Knochenbruchstücke handelt, die nicht die für eine Kannibalenmahlzeit geeigneten Muskelpartien enthalten haben. Aus der Vielzahl der an paläolithischen Menschenresten im Zusammenhang mit
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Manipulationen am Leichnam erkennbaren artifiziellen Defekte erscheinen somit lediglich zwei Kriterien für eine Kannibalismus-Diagnose relevant: 1. gewaltsam eröffnete Schädelbasis, 2. longitudinal aufgeschlagene Langknochen. Erstere können mit größter Wahrscheinlichkeit im Sinne einer Entnahme und eines Verzehrs des Gehirns, letztere von Knochenmark interpretiert werden. Für den Verzehr von Menschenfleisch gibt es dagegen keine zuverlässigen Hinweise anhand des Knochenmaterials. Kannibalismus läßt sich anhand der aufgezeigten Kriterien nur für wenige paläolithische Fundorte wahrscheinlich machen. Aus dem Untersuchungsgebiet des Verfassers sind es u. a. Krapina und Circeo sowie Cioclovina und Mladeö. Aus Krapina liegen zahlreiche längs aufgespaltene Knochenbruchstücke von Femur und Tibia (Abb. 8), einige auch von Humerus sowie ein gespaltener Radius vor. Die Bruchstücke
Abb. 8 Longitudinal aufgespaltener linker Tibiaschaft mit Sehnittmarken aus Krapina
lassen meist Schnittmarken, auch Kratzspuren, erkennen. Hinweise auf ein gewaltsames Öffnen der Schädelbasis gibt es für Krapina nicht, wohl aber solche auf ein Zertrümmern des Schädels in bereits trockenem Zustand. Weitere Manipulationen am Leichnam der Neandertaler von Krapina umfassen Handlungen, die nicht mit Kannibalismus, jedoch mit bestimmten Totenriten in Verbindung stehen: totale Leichenzerstückelung, Fragmentation fast aller Knochen und Auswahl der in die Halbhöhle gebrachten Knochen bzw. Knochenbruchstücke. Der männliche Schädel Circeo I (ohne Unterkiefer) weist im Bereich der rechten Gesichtshälfte und der Schläfe einen gewaltigen alten Defekt auf, der offenbar intravitfilen Ursprungs ist und zum Tode des Individuums geführt haben dürfte. Die Schädelbasis ist beiderseits des Hinterhauptsloches weiträumig eröffnet worden. Schnittmarken konnten am Schädel nicht festgestellt werden. Der Schädel ist in einer Höhle innerhalb eines intentioneil errichteten Steinkreises bestattet worden (Abb. 9). Aus Cioclovina ist nur ein männlicher Hirnschädel bekannt. Auf dem rechten Scheitelbein befindet sich eine intravitale Impressionsfraktur, die mit Sicherheit den v Tod des Individuums verursacht hat. Die Schädelbasis ist linksseitig und vor dem 5
Eeligion und Kult
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Abb. 9 Der Schädel Circeo I (Italien) wurde innerhalb eines in der Höhle intentionell errichteten Steinkreises gefunden — ein Beispiel für Kannibalismus innerhalb von Totenriten
Foramen magnum gewaltsam eröffnet worden (Abb. 10). Defektmuster im Bereich der beiden Warzenfortsätze und der rechten Hinterhauptskondyle deuten auf eine Abtrennung des Kopfes vom Rumpf hin; Schnittmarken sind auf dem Hirnschädel ebenfalls vorhanden. Die Fundumstände machen eine absichtliche Deponierung des Hirnschädels in der Höhle von Cioclovina sehr wahrscheinlich (ULLRICH 1 9 7 9 ) .
Abb. 10 Eröffnete Schädelbasis und Defektmuster im Bereich der Warzenfortsätze und rechten Hinterhauptskondyle am Schädel aus Cioclovina
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Der Schädel des maturen Mannes Mladec V läßt im mittleren linken Stirnbereich, auf dem rechten Scheitelbein und in der linken Hinterhauptsgegend größere unverheilte Impressionsfrakturen mit zahlreichen Frakturlinien erkennen. Diese Hiebverletzungen sind dem Individuum offenbar unmittelbar vor dem Tod beigebracht worden. Der ausgedehnte hintere Schädelbasisdefekt entspricht in Ausdehnung und Form weitgehend dem am Schädel Circeo I. Der linke Warzenfortsatz fehlt vollständig, der rechte ist defekt, so daß sich Hinweise auf Leichenzerstückelung ergeben. Ebenso wie die Skelettreste weiterer Individuen ist auch der Schädel Mladec V nach Abschluß der kannibalischen Handlungen im Rahmen der Totenrituale durch den Kamin in die Höhle von Mladec geworfen worden. Die Befunde in Krapina und an den Schädeln Circeo I, Cioclovina und Mladec V haben gezeigt, daß Kannibalismus im Paläolithikum existiert hat. Er war jedoch kein universelles Attribut des paläolithischen Menschen, sondern dürfte lediglich im Rahmen ritueller Totenhandlungen — und nur innerhalb solcher Handlungen! — an einigen Lokalitäten eine gewisse Rolle gespielt haben. Weit verbreitet waren dagegen Manipulationen am Leichnam, doch sind diese — wie die Befunde erkennen lassen — nicht vordergründig auf rituellen Kannibalismus aiisgerichtet gewesen, sondern im Zusammenhang mit bestimmten Totenritualen ausgeführt worden. Dabei ist natürlich nicht auszuschließen — aber auch nicht nachzuweisen —, daß die bei den auf die Gewinnung von Knochen ausgerichteten Manipulationen abgetrennten Muskelteile hin und wieder auch gegessen worden sein mögen.
Kannibalismus — „Aggressionstrieb" — „Menschenfresser-Komplex" Die in der Literatur anhand einiger paläolithischer Menschenreste gelegentlich wahrscheinlich gemachten Hinweise auf Kannibalismus in urgeschichtlicher Zeit sind vor allem seit Beginn der sechziger Jahre wiederholt von publizistischer Seite zu sehr weitreichenden und verantwortungslosen Spekulationen über die Natur und das Wesen des Menschen mißbraucht worden. Kannibalismus wurde nicht nur als universelle Erscheinungsform im Paläolithikum herausgestellt, sondern sogar — gestützt auf den von K . L O R E N Z (1963) f ü r den Menschen postulierten sog. Aggressionstrieb (inzwischen ist L O R E N Z von seiner Aggressionstrieblehre weitgehend abgerückt) — bis weit in die vormenschliche Zeit zurückreichen. R. D A R T (1956) hatte an Australopithecinenschädeln Südafrikas Frakturen festgestellt und daraus auf eine „mörderische und kannibalische Lebensweise" dieser Vormenschen geschlossen. Obwohl sich diese Schlußfolgerung später als unhaltbar erwiesen hat, ist sie von dem USamerikanischen Publizisten R. A R D R E Y (1961) begeistert aufgegriffen, weiter ausgebaut und in mehreren Büchern popularisiert worden. Nach Ansicht von R. A R D R E Y stammt der Mensch von „Mörderaffen" ab und sein „Mordtrieb" treibe ihn dazu, mit der Waffe zu töten, um seine Existenz zu erhalten. Unter dem Einfluß von R. A R D R E Y S Killer-„Philosophie" sind zahlreiche Rekonstruktionen von Lebensbildern der Australopithecinen entstanden, die „Mörderaffen" bzw. „Raubaffen" (wie sie der englische Verhaltensforscher MORRIS, 1968, nennt) im Kampf zeigen. Dieser erfundene Kampf wird vielfach zugleich als „Krieg in vormenschlicher Zeit" kreiert. Der Sektenvorsteher 0 . K i s s MAERTH, der sich selbst „Amateuranthropologe" nennt, ist der Ansicht, daß die Vorfahren des Menschen alle Kannibalen waren. I n seinem Buch „Der Anfang war das Ende" (1971) vertritt er die These, daß Intelligenz eßbar und vererbbar sei und schlußfolgert daraus, daß der Kannibalismus in ur5»
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geschichtlicher Zeit durch den Verzehr von Gehirn die Intelligenz und Sexualität der Menschheit in ihrer Entwicklung beschleunigt habe. Der Mediziner und Publizist M. R O S E N T H A L ( 1 9 7 9 ) hält es für erwiesen, daß die Vorfahren des heutigen Menschen nur auf einer bestimmten Entwicklungsstufe Kannibalen gewesen seien. Kannibalismus sei eine entscheidende Triebkraft in der Evolution des Menschen gewesen und habe den Fortbestand und den Fortschritt der Menschheit bestimmt. In der modernen Zivilisation - so argumentiert M. R O S E N T H A L sei das Stadium der „Menschenfresserei" überwunden, doch seien in unserer Seele noch Triebe davon vorhanden: der „Menschenfresser-Komplex" als Nachfolger des „Menschenfresser-Instinkts". Der „Menschenfresser-Komplex" wird als seelische Krankheit der Menschheit diagnostiziert und zugleich als der wahre Grund aller Kriege bezeichnet. Wenn diese latente seelische Krankheit, der „Mordinstinkt" in das akute Stadium eintrete, erzeuge er Mord, Totschlag und Kriege. Deshalb müsse diese seelische Krankheit der gesamten Menschheit medizinisch bekämpft werden. M. R O S E N T H A L empfiehlt eine zwangsweise Behandlung zunächst großer Bevölkerungsgruppen, dann der ganzen Menschheit, mit sog. Friedenstranquilizern über das Trinkwasser, die Lebensmittel, die Luft und mittels sog. Friedensbomben. Mit dem „Menschenfresser-Komplex" werden nach Ansicht von M. R O S E N T H A L auch die Kriege aus der Menschheit verschwinden. Derartige spekulative und exzentrische Anschauungen reihen sich ein in das ganze Spektrum von Versuchen bestimmter Kreise, von den wahren, nämlich gesellschaftlichen Ursachen von Kriegen abzulenken und sie für unabwendbar, weil angeblich im menschlichen Erbgut verankert, zu erklären. Solche Vorstellungen, wie sie M. ROS E N T H A L äußert, liegen auch ganz auf einer Ebene mit Empfehlungen für eine genetische Verbesserung der Menschheit, wie sie in bestimmten bürgerlichen Medien immer wieder vertreten und gefordert wird. Ausgangspunkt für alle Spekulationen über „Mörderaffen"-Verwandtschaft, „Mordinstinkt" sowie „Menschenfresser-Komplex" des Menschen sind ebenso wie bei der von einigen bürgerlichen Forschern noch heute vertretenen „Aggressionstheorie der Menschwerdung" letzten Endes bestimmte Befunde an paläolithischen Menschenresten, die zur Vermutung oder Deutung von Kannibalismus in urgeschichtlicher Zeit geführt haben und von bestimmten Kreisen in unverantwortlicher Weise für ihre Anschauungen mißbraucht worden sind. Dieser Zusammenhänge sollte man sich unbedingt auch bewußt sein, wenn über Kannibalismus im Paläolithikum gesprochen wird. Ritueller Kannibalismus als Teil bestimmter Totenrituale im Paläolithikum spiegelt nicht nur die enge Verbindung von Leben und Tod, sondern auch der Lebenden zu den Toten wider. Bereits der späte Homo erectus dürfte über sich, seine Stellung in der Gemeinschaft sowie über Leben und Tod nachgedacht und dieses in bestimmten rituellen Handlungen zum Ausdruck gebracht haben. Für einen Nahrungskannibalismus im Paläolithikum, wie er gelegentlich auch heute noch postuliert wird, gibt es allerdings ebensowenig Hinweise wie für kannibalische Handlungen außerhalb von Totenritualen.
Anmerkungen 1 Die vorliegende Manuskriptfassung wurde gegenüber dem Vortrag in wesentlichen Teilen ergänzt und erweitert.
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2 Als K o l u m b u s 1493 von einem Menschenfleisoh essenden S t a m m , den Karaiben, berichtet wurde, sind offenbar durch einen Hörfehler d a r a u s die Bezeichnungen Kailiben u n d d a v o n abgeleitet K a n n i b a l e n e n t s t a n d e n (SPIEL 1972). 3 Aus ethnographischer Sicht werden als H a u p t f o r m e n meist E n d o - u n d Exokannibalism u s unterschieden. Eine weitere Differenzierung in rituell-kultischen, funeralen und kulinarischen K a n n i b a l i s m u s ist ebenso möglich wie die Unterteilung in verschiedene Entwicklungsstufen (vgl. dazu B E H M - B L A N C K E 1 9 6 0 ) . 4 Die 1977 begonnenen systematischen Untersuchungen a n fossilen Menschenresten im Hinblick auf Kannibalismus, Schädelkult und B e s t a t t u n g s r i t u s in urgeschichtlicher Zeit umfassen die F u n d m a t e r i a l i e n in Jugoslawien, R u m ä n i e n , U n g a r n , CSSR, D D R , Sowjetunion sowie Griechenland, Italien u n d Großbritannien. Die Ergebnisse werden in einer Monographie publiziert. 5 P o s t m o r t a l e artifizielle D e f e k t e sind eindeutig nur an den Originalfundstücken diagnostizierbar u n d können u n t e r U m s t ä n d e n S t r u k t u r e n sehr ähnlich sein, die durch Verwitt e r u n g , Erosion, Pflanzenwurzeln, Zähne von R a u b t i e r e n u n d Nagern usw. hervorgerufen wurden. Zu diesem Themenkomplex existieren auch umfangreiche Kontrollexperimente, auf die in diesem R a h m e n jedoch nicht n ä h e r eingegangen werden k a n n .
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Religion und Kult • Berlin 1989 • Seiten 7 3 - 8 0
Gravierungen und figürliche Kunst im Paläolithikum V o n GEBHARD BOSINSKI
Die paläolithische Kunst ist seit 120 Jahren bekannt. Das 1864 von E. L A B T E T und H. CHRISTY in La Madeleine entdeckte Mammut ( L A R T E T und CHRISTY 1864,1865-75) spielte eine mitentscheidende Rolle im Streit um die Gleichzeitigkeit von „Mensch und Mammut". Seither sind das Material und die Literatur sehr umfangreich geworden. Nach der Anbringung unterscheiden wir zwischen den ortsfesten Höhlenbildern und der beweglichen Kleinkunst. Schwere Steinblöcke mit Darstellungen stehen vermittelnd zwischen diesen beiden Gruppen. J e nach Art handelt es sich um Malereien, Gravierungen, Reliefs und Statuetten sowie um alle Kombinationen dieser Techniken. Erhalten sind nur Darstellungen auf oder aus Stein, Elfenbein, Geweih und Knochen sowie ausnahmsweise fossilem Holz und Bernstein. Nicht überliefert sind dagegen Kunstwerke aus Holz oder Leder, die in völkerkundlichen Sammlungen einen wichtigen Platz einnehmen und sicher auch im Paläolithikum zahlreich waren. Themen der paläolithischen Kunst sind die damals lebenden Tiere, Menschen und Symbole. Von ganz besonderem Interesse sind sodann phantastische Tiere und Wesen mit Attributen verschiedener Tiere und des Menschen, die in der Natur nicht vorkommen und ihren Ursprung in der damaligen Vorstellungswelt haben. Als wichtigste Interpretationen der paläolithischen Kunst begegnen uns das ästhetische Wollen, die Vart pour l'art am Ende des vorigen Jahrhunderts und besonders in den Arbeiten von E. P I E T T E (1907), die magische Notwendigkeit in einer von Zwängen bestimmten, aber durch Darstellungen beeinflußbaren Welt in den Arbeiten eines S. REINA.CH (1903, 1912, 1913) und H. B B E U I L (CARTAILHAC und B R E U I L 1906; B R E U I L 1952) im ersten Teil unseres Jahrhunderts, sowie gegenwärtig die Wiedergabe einer stark durch den Dualismus männlich—weiblich geprägten Mythologie im Rahmen einer Bildergeschichte bei A. L A M I N G - E M P E R A I R E (1962, 1970) und A. L E R O I G O U R H A N (1971). Es ist nicht notwendig, die Einbettung dieser Theorien in die geistesgeschichtlichen Strömungen der jeweiligen Zeit und Gesellschaft besonders herauszuarbeiten. Wichtig für jegliches Verständnis des Phänomens „Eiszeitliche K u n s t " ist die Kenntnis des wirtschaftlichen Hintergrundes. Es handelt sich um eine Kunst von Jägerkulturen in einer offenen, wildreichen Graslandschaft. Eine wichtige Rolle spielt hier die Lößsteppe, deren Trockenklima mit immer blauem Himmel durch den starken Gegensatz zwischen warmen Sommern und sehr kalten, aber schneearmen Wintern gekennzeichnet ist. Der große Unterschied zwischen Sommer und Winter führte zu jahreszeitlichen Wanderungen großer Tierherden, die die Graslandschaft zu festgelegten Zeiten auf immer gleichen Wegen zwischen den Sommerweiden und den geschützteren Wintereinständen durchzogen. Die große tierische Biomasse und die rhythmischen Wanderungen großer Herden 73
erlaubten eine weitgehende Organisation des Jägerlebens. Dies gilt im Prinzip schon f ü r das Mittelpaläolithikum, d. h. die Zeit des Neandertalers. I m Jungpaläolithikum, zwischen 35000 u n d 10000 v. u. Z., ermöglichte eine deutlich verbesserte Bewaffnung, vor allem die E r f i n d u n g der Speerschleuder, eine optimale N u t z u n g dieser U m weltverhältnisse und f ü h r t e zur Herausbildung grandioser Jägerkulturen, in denen der Lebensunterhalt f a s t mühelos gedeckt werden konnte. Die Siedlungen lagen a n geschützten, zum gesamten Sonnenbogen offenen Stellen. Hier lebte eine größere Menschengruppe mehrere Monate lang und wurde von J a g d lagern aus, die J ä g e r g r u p p e n am Wanderweg der Tierherden anlegten, versorgt. Das ganze System von Siedlung u n d Jagdlagern wurde d a n n im jahreszeitlichen Wechsel innerhalb eines größeren Territoriums verlegt. Dies ist der Hintergrund der paläolithischen K u n s t . Als die offene Graslandschaft in der Allerödzeit a b 10000 v. u. Z. in einem feuchteren Klima durch Gehölze abgelöst wurde, in denen die J a g d auf Hirsch, Elch und Biber und die Sicherung des Lebensunterhaltes trotz der neuen W a f f e Pfeil und Bogen weit schwieriger war, verschwinden die großen J ä g e r k u l t u r e n und die paläolithische K u n s t . Diese wenigen Sätze zeigen deutlich, d a ß es gefährlich und k a u m s t a t t h a f t ist, die K u n s t losgelöst von Umwelt, W i r t s c h a f t und Gesellschaft zu betrachten. Dies u m so mehr, als die Emanzipation der K u n s t gegenüber der Religion und das Loslösen beider aus der Gesamtheit der Lebensäußerungen erst eine Folge der neuesten Zeit ist. Weil wir relativ viel über Umwelt u n d Lebensweise wissen, habe ich f ü r eine detailliertere Behandlung meines Themas zwei Jägersiedlungen aus dem Rheinland gewählt, die ich selbst ausgegraben habe. Gönnersdorf und Andernach liegen am Nordausgang des Neuwieder Beckens einander gegenüber am Rhein. Der Strom war zur Besiedlungszeit seeartig breit mit einzelnen Inseln. Beide Siedlungen sind auch im engeren Sinne gleichzeitig und bestanden in der Böllingzeit um 10500 v. u. Z. Wirtschaftliche Grundlage war die J a g d in der Lößsteppe. Dabei war die Pferdejagd besonders wichtig. Die Behausungen waren rund, mit einem Durchmesser von 6—8 m, h a t t e n zwei Eingänge und einen mit Steinen, vor allem mit Schieferplatten gepflasterten Fußboden (BOSINSKI 1979 a ; VEIL 1982 a). Auf diesen F u ß b o d e n p l a t t e n befinden sich Darstellungen. Eine erste Feststellung ist, d a ß m a n k a u m etwas sieht. W e n n das P l a n u m sauber geputzt ist, fallen Linien auf den Schieferplatten auf, mehr nicht. H . SCHAAFFHATTSEN (1888), der den Andernacher F u n d p l a t z bereits 1883 untersuchte, h a t die gravierten Schieferplatten im Abraum liegenlassen, wo wir sie bei unseren neuen Grabungen f a n d e n . H ä t t e er die P l a t t e n damals gewaschen und die Darstellungen e r k a n n t , so h ä t t e die Forschungsgeschichte unseres Faches in Deutschland vermutlich einen anderen Verlauf genommen. Die Gravierungen waren n u r u n m i t t e l b a r nach ihrer Anbringung durch den hellen Gravierstaub in den Rillen gut sichtbar. Ähnlich den Schreibversuchen f r ü h e r e r Schulanfänger auf Schiefertafeln haben wir n u r die durchgedrückten Linien der mit L a p p e n und Schwamm abgewischten Figuren. Allerdings haben die Stichel den Schiefer stärker geritzt als die Griffel der Schüler. Hieraus folgt zunächst, d a ß es sich nicht um Bilder zum Betrachten handelte. Es ist möglich, d a ß die Anfertigung der Darstellungen wichtiger war als das fertige Bild. Wenn der helle Gravierstaub und damit das Bild verschwunden war, h a n d e l t e es sich wieder um eine gewöhnliche Schieferplatte der Fußbodenpflasterung, die auch erneut graviert werden konnte. So erklären sich die zahlreichen vielgravierten P l a t t e n , 74
die uns die Arbeit so schwer machen: Diese Beobachtungen gelten nicht nur f ü r gravierte Platten, sondern auch f ü r Gravierungen in den Höhlen. Die Lage der gravierten Platten innerhalb der Fußbodenpflasterung ist in Gönnersdorf und Andernach regellos. Es gibt auch keinerlei Ordnung zwischen gravierten Ober- und Unterseiten, und oft sind beide Seiten graviert. Nach den Ausführungen zur Sichtbarkeit und Bilddauer war auch nichts anderes zu erwarten. Ein weiterer Punkt ist die Größe der gravierten Platten. Das Zusammensetzen zeigte, daß der Schiefer in großen Platten zur Siedlung gebracht wurde. Diese großen Platten sind auch graviert worden und tragen große Bilder von teilweise mehr als 0,50 m Länge, die allerdings erst nach dem Zusammensetzen erkennbar sind. Die große Ausgangsplatte ist dann während der intensiven und wiederholten Besiedlung vielfach zerbrochen. Diese Zertrümmerung betrifft den Schiefer als Konstruktionsmaterial, vor allem für die Fußböden, und ist ganz unabhängig von den Gravierungen. Die Einzelteile der Platte liegen oft weit voneinander entfernt — in Gönnersdorf bis zu 30 m — und auch in verschiedenen Behausungen. Die entstandenen Bruchstücke sind erneut graviert worden. Dies gilt auch f ü r kleine Stücke von der Größe eines Fünfmarkstückes. Da der Schiefer auch horizontal aufspaltet, können die Platten oft nicht zusammengeklebt werden, da sich die Darstellungen dann auch im Platteninneren befinden. Die Größe einer Platte ist also nur ein Durchgangsstadium. Die Darstellungen auf der schließlich zusammengesetzten Ausgangsplatte sind zu verschiedenen Zeiten und in unterschiedlichen Zertrümmerungsstadien angebracht worden und haben in der Regel keine Beziehung zueinander. Eine Gesamtkomposition, wie sie A. L E R O I GOURHAJST (1971) im Sinne eines Sanctuaire en plaquettes vermutet, gibt es hier nicht. Die Anfertigung der Gravierungen ist mühelos. Man kann auf den Schieferplatten mit dem Stichel genau so leicht zeichnen und schreiben wie mit dem Griffel auf den Schiefertafeln in der Schule. Die Übereinstimmung reicht bis zum Geräusch. Die Gravierungen konnten also schnell hergestellt werden und unterscheiden sich hier von farbigen Höhlenbildern und von Statuetten aus Stein oder Elfenbein. Die nächste Frage ist, wer diese Zeichnungen angefertigt hat. Ich halte es für ausgeschlossen, daß damals jeder die detailreichen Tierbilder zeichnen konnte. Wir versuchen, einzelne Handschriften zu analysieren, und sind dabei besonders bei den Frauenfiguren, aber auch bei Mammuten und Pferden schon etwas vorangekommen. Besonders schwierig ist es natürlich, einzelne Handschriften bei unterschiedlichen Tieren zu erkennen und dann noch bei den schematisierten Frauendarstellungen zu verfolgen. Wie sich feststellen ließ, wurden die Gravierungen von mehreren, in Gönnersdorf vielleicht in 10 Handschriften, angefertigt. Da es sich in Gönnersdorf und Andernach um wiederholt bewohnte Siedlungen handelt, ist es nicht ausgeschlossen, daß während eines Aufenthaltes nur eine Person zeichnete. Besonders die Tierbilder setzen eine Übung voraus. Im vorliegenden Material gibt es kaum einmal verzeichnete Bilder. Das Zeichnen muß also an anderer Stelle — oder auf anderem Material — erlernt worden sein. Das Vorhandensein ausgeschriebener Handschriften spricht auch f ü r eine Übung und das häufige Zeichnen dieser Personen. Man muß mit aller Deutlichkeit ausschließen, daß hier gelegentlich irgendjemand zum Stichel griff. Bei den Tieren ist in Gönnersdorf und Andernach das Pferd am häufigsten dargestellt. In Gönnersdorf folgt dann das Mammut. Mit einigem Abstand und selten mehr als mit 10 Beispielen kommen dann Nashorn, Rinder, Hirsch, Seehund und Schildkröte. Umfangreicher ist die Gruppe der Vögel, bei denen es sich aber um ver75
schiedene Arten - Schneehuhn, Laufvögel, Wasservögel, Kolkrabe — handelt. Nur mit Einzeldarstellungen sind Fische sowie Wolf und Löwe vertreten. Die meisten Tiere sind auch im Knochenmaterial der Siedlung belegt, allerdings mit sehr abweichenden Anteilen. So spielt das in Gönnersdorf häufig dargestellte Mammut in der Jagdbeute praktisch keine Rolle. Andere in den Knochenabfällen vertretene und manchmal häufige Tiere — Ren, Eisfuchs, Schneehase — sind nicht dargestellt. Schließlich gibt es mit Seehund und Schildkröte Bilder von Tieren, die unter den Knochen nicht vorkommen. Diese Aufstellung zeigt die auch von anderen Fundplätzen, so Lascaux, bekannte Tatsache, daß die Tierbilder keinen Querschnitt durch die Jagdbeute geben. Der Stil der Tierdarstellungen ist durch die direkte Hinwendung zum natürlichen Vorbild gekennzeichnet ( B O S I N S K I und F I S C H E R 1980). Die Pferde- und Mammutbilder sind untereinander sehr verschieden; es gibt nicht das Gönnersdorfer Pferd oder Mammut. Sie stimmen jedoch in der naturgetreuen Wiedergabe von Einzelheiten des Tieres überein. Beim Pferd läßt sich dies durch einen Detailvergleich von Nüstern, Augen, Ohren, Mähne, Ganasche, Hufen und Schweif mit dem Przewalski-Pferd belegen. Stärker behaarte Pferde zeigen das Tier im Winterfell. Beim Mammut führt der Vergleich mit den Mammutkadavern Sibiriens zum gleichen Ergebnis. Außer Einzelheiten, wie dem Aussehen von Rüsselende, Auge, Pony, Ohrhaarbüschel und Schwanz, können erwachsene Tiere mit einer deutlichen Einsattlung zwischen Kopf und Rücken und abfallender Rückenlinie sowie stark behaarte Jungtiere mit kugeligem Rücken erkannt werden ( B O S I N S K I 1979b). Insofern liegt hier ein auch paläozoologisch wichtiges Material vor. Dieser Stil der Tierdarstellungen ist charakteristisch für die Magdalenienkunst im zweiten Teil der Böllingzeit und findet sich auch in Les Combarelles (CAPITAN, B R E U I L und P E Y E O N Y 1924). Er unterscheidet sich deutlich vom Baukastenprinzip vorangegangener Abschnitte, der es dann erlaubt, „das Pferd" von Roc de Sers, Lascaux oder Gabillou zu definieren. In Gönnersdorf gibt es manchmal Szenen mit Tierdarstellungen: Gruppen von Mammut-Jungtieren, erwachsenes Mammut mit Jungtier. Am wichtigsten ist hier eine Szene, in der ein Pferd mit zwei Vorderbeinpaaren wiedergegeben ist. Ein Beinpaar trabt, das andere galoppiert. Unter dem Pferd sind zwei Vögel gezeichnet, die ebenfalls in rascher Bewegung nach rechts dargestellt sind. Im Schweifbereich des Pferdes ist ein Phantom mit zwei großen Augen graviert. Dieses Wesen wäre nach der Interpretation von G. F I S C H E R ( 1 9 7 9 a) die Ursache für die wilde Flucht der Tiere. Interessant ist die Verteilung der Tierdarstellungen auf der Gönnersdorfer Grabungsfläche. Während die Pferde überall vorkommen, treten die Mammute, Nashörner und Seehunde nur in der Behausung 1 im Südostteil der Siedlung auf. ( B O S I N S K I und F I S C H E R 1980). Es handelt sich hier um eine Winterbehausung, in der z. B. mehrfach Fötalknochen von ungeborenen Pferden gefunden wurden (POPLnsr 1976). Dagegen sind die Darstellungen von Vögeln in Gönnersdorf an die Behausung 2, die im Sommer bewohnt war und in der viele Hufe von Fohlen vorkommen, gebunden. Diese Beobachtung könnte so interpretiert werden, daß der Zusammenhang zwischen Darstellung und Tier sehr direkt war: Im Winter kamen Mammut, Nashorn und Seehund ins Rheinland und wurden gezeichnet, im Sommer Vögel. Wahrscheinlicher ist aber, daß es unterschiedliche Mensehengruppen waren, von denen wir nach dem Gestein der Steinartefakte wissen, daß sie zu anderer Jahreszeit mehr als 100 km im Nordosten (Behausung 1) bzw. mehr als 100 km im Nordwesten (Behausung 2) lebten 76
( F R A N K E N und V E I L 1983). Die Darstellungen unterschiedlicher Tiere möchte man deswegen eher mit unterschiedlichen Überlieferungen erklären. Unter den Menschendarstellungen herrschen schematisierte Frauenfiguren weit vor ( B O S I N S K I und F I S C H E K 1974). Trotz der Zeitgleichheit der Bilder gibt es sehr verschiedene Abkürzungsgrade, die bei der Wiedergabe des Oberkörpers von ausführlichen Zeichnungen mit Arm und Brust bis a i m einfachen Strich der Rückenlinie oder des Oberkörpers reichen. Proportionsanalysen belegen jedoch einen kontinuierlichen Übergang zwischen den unterschiedlichen Abkürzungsgraden und damit die Inhaltsgleichheit des Dargestellten. Dargestellt sind Frauen und Mädchen. Mit jeweils einer Ausnahme sind Kopf und Füße nicht wiedergegeben. Die ausführlicheren Zeichnungen lassen erkennen, daß die Arme halb erhoben und die Hände nach vorne gerichtet sind. # Die Figuren stehen nicht aufrecht, sondern befinden sich in der Halbhocke mit gebeugten Knien. Diese Körperhaltung bedingt das betonte Gesäß und die kontinuierliche Linie vom Gesäßmaximum hinab zu den Kniekehlen. Diese Figuren kommen auf den Platten einzeln vor, meist sind sie jedoch gruppiert. Oft sind die Gestalten zu zweit oder zu mehreren hintereinander aufgereiht. Auf einer noch fragmentarischen Platte begegnen uns bis zu neun Figuren hintereinander und drei Reihen untereinander. Eine andere Szene beinhaltet zwei einander zugewandte Gestalten. Innerhalb dieser Gruppen sind die Figuren einander ähnlich und von gleicher Hand gezeichnet. Sehr wahrscheinlich handelt es sich um die Wiedergabe von Tanzszenen. Auf einer anderen Platte sind vier Frauen hintereinander gezeichnet. Die zweite Figur von rechts hat hinter dem Rücken eine kleine, andersherum orientierte Gestalt, die durch mehrere Linien mit ihr verbunden ist. Der vorgebeugte Oberkörper der großen Gestalt vermittelt den Eindruck, als trüge diese Frau eine Last auf dem Rücken. Wir sehen hierin eine Frau, die auf ihrem Rücken in einer Trage ein Kleinkind trägt. Diese in der paläqlithischen Kunst bisher einmalige Darstellung widerspricht nicht unbedingt der Interpretation als Tanzszene, da berichtet wird, daß auch Frauen mit Kleinkindern an Tänzen teilnehmen. Die Statuetten aus Elfenbein, Geweih und Schiefer zeigen zwar das gleiche Formprinzip und vergleichbare Abkürzungsgrade wie die gravierten Frauenfiguren, sind aber doch in mancherlei Hinsicht anders zu werten. Zunächst ist für ihre Herstellung viel mehr Arbeit notwendig. Sodann haben die Statuetten eine permanente Bildwirkung. Eine Gönnersdorfer Statuette ist durchbohrt und konnte als Anhänger getragen werden. Diese Statuetten sind im Ursprung kein Bestandteil der Magdalenienkunst. Ihre Verbreitung zeigt, daß sie dem späten Jungpaläolithikum Osteuropas entstammen und ihre Westgrenze am Rhein liegt ( B O S I N S K I 1982). Ein gravierter Doppelwinkel auf dem Oberkörper einer sehr großen Andernacher Elfenbeinstatuette (VEIL 1982b) unterstreicht diese Verbindung mit Mezin und Meziric. Das günstigere Klima der Böllingzeit erlaubte erstmals seitdem Statuettenhorizont des mittleren Jungpaläolithikums wieder Verbindungen zwischen Ost-, Mittel- und Westeuropa nordwärts der Alpen. Der Erhaltungszustand der Statuetten in Gönnersdorf und Andernach richtet sich nach ihrer Fundstelle. Die Stücke aus Gruben oder anderen geschützten Plätzen sind vollständig, die aus dem freien Siedlungshorizont zerbrochen und beschädigt. Es gibt keine Argumente für ein absichtliches Aufbewahren der Statuetten in Gruben. I n den Gruben findet sich vor allem Abfallmaterial, das nach deren Funktion, z. B. als Kochgruben, dort hineingelangte ( B O S I N S K I 1979 a). Auch die Statuetten scheinen unbeab-
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sichtigt in die Gruben geraten zu sein, waren hier dann allerdings vor späterer Zerstörung geschützt. Neben den vorherrschenden Frauendarstellungen gibt esin Gönnersdorf vereinzelte Bilder von Männern mit behaarten Beinen. Außerdem begegnen uns runde Gesichter mit großen Augen, die als „Phantome" bezeichnet werden. Die Gönnersdorfer Phantome haben auf dem Scheitel einen zipfligen Fortsatz (wie Moritz bei Wilhelm Busch). Dieses Attribut finden wir auch bei den Phantomen von Les Combarelles, so daß auch hier die Ähnlichkeit dieser Höhle mit Gönnersdorf und Andernach unterstrichen wird. Die Phantome stehen nach der Ausarbeitung von G. F I S C H E B (1979 a, 1979 b) in ihrer nur angedeuteten, skizzenhaften Form für ein übermenschliches Wesen, den „großen Jäger" in der Szene mit Pferd und Vögeln, das nur in dieser Weise und nicht vollständiger dargestellt wurde oder werden durfte. In ihrer nur vage faßbaren Form vermitteln diese Kreisgesichter zur letzten Gruppe der Darstellungen auf den Gönnersdorfer und Andernacher Schieferplatten, den Symbolen. Es handelt sich um Liniengruppen, Linienbündel, Gittermuster, Kreise und Kreisgruppen, die sich nicht vom Gegenständlichen ableiten lassen und deren Bedeutung nur im damaligen Traditionskreis bekannt war. Nur einmal ist anscheinend eine Vulva mit eingeführtem Penis gemeint, und es ist dann möglich, diese Bedeutung von Koppelung männlich/weiblich auch für Dreiecke und ähnliche Zeichen mit beigeordnetem Strich abzuleiten (BOSZNSKI 1 9 8 1 ) . ' Wie allgemein in der paläolithischen Kunst fällt auch in Gönnersdorf und Andernach das Nebeneinander von drei Darstellungsgruppen auf, die für drei Ebenen der paläolithischen Kunst und der damaligen Vorstellungswelt, dem damaligen Bewußtsein, stehen. Die Tierdarstellungen, die unschwer das gemeinte Tier und oft viele seiner Merkmale in naturnaher Weise erkennen lassen, stehen für die natürliche Ebene. Die lebenden Tiere in einer durch traditionelle Uberlieferung bestimmten Auswahl kennzeichnen diese Dimension. Die stets interpretierten, übertriebenen oder abgekürzten, mit einem Wort von Z. ABKAMOVA (1966) „verschlüsselten" Menschendarstellungen charakterisieren die zweite, und zwar menschliche Ebene. Hier geht es nicht um das Abbild der lebendigen Natur, sondern um das Selbstverständnis und die sozialen Bezüge des Menschen selbst. Die andere Darstellungsform kennzeichnet die Eigenständigkeit dieser Dimension. Die Phantome vermitteln zwischen den Menschen und den Symbolen, die die gedankliche Ebene ausfüllen. Sie sind das Ergebnis von Überlegungen und Erklärungen und durch die Tradition überliefert. Das Nebeneinander dieser drei Ebenen in der paläolithischen Kunst spiegelt auch deren abgestufte Bedeutung in der Mythologie wider. In der Plakettenkunst von Gönnersdorf und Andernach läßt sich die Rangfolge schwer fassen, doch in den Höhlen macht die räumliche Anordnung der Darstellungen die Wertigkeit der einzelnen Ebenen klarer. In weitem Panorama entrollt sich hier die natürliche Ebene mit ihren Tierdarstellungen, die oft durch Symbole erläutert werden. Am Rande oder in der Mitte, weit weniger auffallend, finden wir die Menschen. Zentral, aber in einem Schacht (Lascaux, Rouffignac) oder engen Gang oder Loch verborgen (Font-de-Gaume, Cougnac, Niaux) sind Symbole, Phantome oder verfremdete Menschen dargestellt, und nach der Topographie der genannten Plätze ist es nicht zweifelhaft, daß an diesen zentralen, aber verborgenen Plätzen das Wichtigste abgebildet ist. Aus dieser Anordnung in den Höhlen kann man die herausragende Bedeutung der menschlichen und vor allem der 78
gedanklichen Ebene gegenüber der umgebenden Natur erschließen. Die Position an den Höhlenwänden zeigt aber auch die Zusammengehörigkeit und unauflösbare Einheit der drei Dimensionen, in denen man ein Bild des Universums aus damaliger Sicht sehen muß. Literaturverzeichnis 1 9 6 6 : I z o b r a z e n i j a celoveka v paleoliticeskom iskusstve E v r a z i i . Moskau — Leningrad BOSINSKI, G. 1 9 7 9 a : Die A u s g r a b u n g e n in Gönnersdorf 1968—1976 u n d die Siedlungsb e f u n d e d e r G r a b u n g 1968. D e r M a g d a l é n i e n - F u n d p l a t z Gönnersdorf 3. W i e s b a d e n — 1979 b : T h e M a m m o t h E n g r a v i n g s of tlie Magdalenian Site Gönnersdorf ( R h i n e l a n d , G e r m a n y ) . I n : L a c o n t r i b u t i o n de la zoologie et de l'éthologie à l ' i n t e r p r é t a t i o n de l ' a r t des peuples chasseurs préhistoriques. Koll. Sigriswil 1979, 295—322 (erschienen F r i b o u r g 1984) — 1981: Kreise, Ovale u n d Dreieckszeichen u n t e r den Gönnersdorfer Gravierungen. I n : K ö l n e r J a h r b u c h f ü r Vor- u n d F r ü h g e s c h i c h t e 1 5 (Festsohr. H . S C H W A B E D I S S E N ) ,
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Religion u n d K u l t • Berlin 1989 • Seiten 8 1 - 9 0
Figürliche Plastiken aus der paläolithischen Siedlung von Pavlov (CSSR) V o n BOHUSLAV K L I M A
Die jungpaläolithische Siedlung im Löß an den Abhängen der Pollauer Berge bei Pavlov in Südmähren ist heute der Fachwelt als ein wichtiges Denkmal der urgesellschaftlichen Jäger gut bekannt. Dies ist besonders auf eine Reihe außergewöhnlicher Fundgegenstände und Befunde „urückzuführen, obwohl manche Resultate der langjährigen Grabungen des Archäologischen Institutes der CSAV (1952—1974) bisher nur teilweise ausgewertet und publiziert sind (KLIMA 1955). Zu den allerwichtigsten E n t deckungen gehört eine sehr reiche Steingeräteindustrie, die annähernd eine Million Stücke umfaßt und die durch ihren Typenreichtum und insbesondere ihren mikrolithischen Gerätebestand gekennzeichnet ist, ferner eine bemerkenswert entwickelte Knochengeräteindustrie, gearbeitet aus Rengeweih, Knochen und Mammutelfenbein, darunter mannigfaltige verzierte Objekte sowie verschiedene Kunsterzeugnisse. Die Furidumstände selbst bezeugen einen langfristigen steten Aufenthalt mit mehrmals aufgebauten zeltartigen Behausungen, die mit backofenartigen Herdstellen ausgestattet sind und Anhäufungen von Tierknochen enthalten. Alle diese Fakten haben dazu beigetragen, daß dieser Lagerplatz zu einer eponymen Fundstelle geworden ist. Die Gruppe typischer Mammutjägerrastplätze in der Zeit vor 27000 bis 23000 Jahren, die dem gravettoiden Kulturkomplex in Mitteleuropa angehört, wird daher als Pavlovien bezeichnet (KLIMA 1959). Einen besonderen Platz unter dem umfangreichen Fundgut nehmen die anthropomorphen Figuren ein, die hauptsächlich aus Mammutelfenbein geschnitten oder aus Lehm modelliert und dann gebrannt sind. An erster Stelle steht eine einfache Frauenfigur von kleiner Dimension (Abb. 1 a). Sie ist weitgehend stilisiert und aus drei Hauptteilen der menschlichen Gestalt aufgebaut, die durch Einschnürungen getrennt sind: der obere Körperteil ohne Absonderung des Kopfes, der mittlere Teil mit dem Bauch und Gesäß und der untere nur in der Vorderansicht länglich geteilte Gliedmaßenstumpf. In der Brustpartie weist die Statuette Beschädigungen auf. Trotzdem sind an deren Basis eine Reihe von kleinen Einschnitten zu erkennen. Flache und hängende Brüste können eindeutig erkannt werden, ebenfalls der aufgewölbte Bauch und die mächtigen Hüften. Die äußeren Geschlechtsorgane sind durch eine kleine Furche angedeutet. Die größeren aus Elfenbein geschnittenen Statuetten sind nur als Fragmente erhalten geblieben. Von einer vollkommen modellierten Figur stammt ein flaches Stück, dessen Oberfläche von mehreren kurzen Einschnitten bedeckt ist (Abb. l b ) . Zwei davon kreuzen sich direkt in der Mitte des Bruchstücks und kennzeichnen damit eine Brustwarze. Das Geschlecht eines weiteren Bruchstücks einer zerstörten Figur kann nicht bestimmt werden. Es handelt sich um ein kugelförmiges Köpfchen (Abb. 1 c), das durch eine tiefe Einkerbung vom Körper abgetrennt ist. Die grobe Schnitzarbeit ohne nachträgliche Glättung läßt vermuten, daß die Gestaltung der Figur nicht abgeschlossen worden ist. Man kann aber ebenso 6 Religion und Kult
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Abb. 1 P a v l o v (CSSR). A u s M a m m u t e l f e n b e i n hergestellte Menschendarstellungen
die Möglichkeit nicht ausschließen, daß sie nur aus einem Stoßzahnendstück mit abgesetztem Kopfteil bestand, ähnlich wie drei weitere Objekte (Abb. 1 d—f). Besonders das erstere ist ein gutes Beispiel stilisierter Menschenstatuetten, die manchmal auch als phallische Darstellungen bezeichnet werden (VOLKOV 1913). Als bätons perces
phalliques kommen sie besonders im westeuropäischen Kulturbereich des Magdalénien vor (Bruniquel, Isturitz, La Madeleine,,Farincourt, la Pileta, el Pendo u. a.), sind aber auch als Elfenbeinschnitzereien in Ost- und Mitteleuropa vertreten (Willendorf, Molodova, Mezin, Avdeevo, Mezeric u. a.). Für alle ist der zweiteilige Aufbau charakteristisch. Auf dem Kopf der Plastik aus Pavlov sind intensive Schlagspuren sichtbar, die als Beschädigung oder durch die Verwendung als Schlagstock gedeutet werden könnten. In der gleichen Art und Weise sind auch Miniaturen aus Mammutelfenbein stilisiert. Es handelt sich um schmale walzenförmige oder flache Stäbchen, deren Kopfende kugelartig abgerundet und durch Einkerbung von dem länglichen Teil getrennt ist (Abb. 1 g-i). Sie sind ebenfalls zweiteilig gegliedert. Ihnen stehen mehrere Kunstobjekte aus verschiedenen europäischen Fundstellen, zum Beispiel aus Trou Magrite, Vogelherd, Gagarino, Buret, Brassempouy u. a., nahe. Unter dem Material von Pavlov gibt es zwei flache Stücke (Abb. 1 h, i), deren Basis breit und in einem Falle sogar durchlocht ist. Mit einem Loch versehen sind auch zwei morphologisch verwandte Anhänger, die ebenso als anthropomorphe Plastiken gelten dürfen (Abb. l k , 1). Der erstere ist in diesem Sinne mit dem Loch nach unten dargestellt. Der zweite unterstreicht wiederum den dreiteiligen Aufbau des menschlichen Körpers, ganz ähnlich wie es auch die kleine Frauenfigur zum Ausdruck brachte. Es handelt sich in diesem Falle um eine Reliefplastik, die die stilisierte Umrißlinie nicht respektiert. Sie ist durch drei gleichgroße Wülste gekennzeichnet. In die Reihe stark stilisierter anthropomorpher Figuren gehört auch eine schmale Statuette, die aus einer Kalksteinschieferplatte gearbeitet ist (Abb. 1 m). Ihre Vorderseite ist von feinen Schnittspuren in Querrichtung bedeckt. Mit dem nach hinten erweiterten Kopf und besonders mit dem dachförmig aufgewölbten Hinterteil erinnert sie deutlich an die bekannten Plastiken bzw. gravierten Darstellungen aus Gönnersdorf, Nebra, Avdeevo, Pekârna und anderen Fundstellen. Diese Darstellungen sind früher als Typus Petersfels oder Nebra bezeichnet worden. Sie bilden ein Charakteristikum des jüngsten Paläolithikums. Im Unterschied zu dem dreiteiligen Anhänger, der die Körperlichkeit betont, jedoch wenig gegliedert ist, hat die Siedlung bei Pavlov zwei bemerkenswerte Menschendarstellungen geliefert, die in der Technik des Halbreliefs geschnitten sind und rückwärts nur den Umriß wiedererkennen lassen (Abb. 2a, b). Die einzelnen Teile der Gestalt präsentieren sich als runder Kopf, länglicher Körper und untere Gliedmaßen. Von einer weiteren Bearbeitung oder einer inneren Zeichnung ist nichts zu erkennen. Trotzdem kann man nicht daran zweifeln, daß beide Reliefplastiken auf hoher Stufe stehende stilisierte Menschenstatuetten darstéllen, wie es auch ihr zweifaches Auftreten in der gleichen Form als Beweis des Duplizitätsgesetzes bestätigt. Es läßt sich nicht übersehen, daß die zweiteiligen Formen der äußeren Morphologie nach löffelartigen Gegenständen sehr ähnlich sind, so daß öfters auch Bedenken gegen die anthropomorphe Deutung geäußert wurden. Bei ihrer Beurteilung spielt schon die Orientierung eine Rolle, ebenso die Tatsache, ob sie einen abgesetzten Kopf aufweisen oder nicht. Dieser ist sogar an einigen östlichen Exemplaren, wie zum Beispiel aus Kostjenki ( J e f i m e n k o 1 9 5 8 , Abb. 1 1 3 — 1 1 6 ) , verschiedentlich auch mit eingravierten Gesichtszügen versehen. In der Kollektion mannigfaltiger löffelartiger Gegenstände aus Mammutelfenbein im Fundgut aus Pavlov ist es tatsächlich möglich, Exemplare zu belegen, die im starken Grade stilisierte Statuetten darstellen könnten. Diese Deutung könnte besonders f ü r die abgebrochenen runden, kopfartigen Fragmente (Abb. 2 c, d), die gut geglätteten oder gravierten Bruchstücke und einige komplette Stücke zutreffen (Abb. 2e, f, g, h). 6»
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Abb. 2 P a v l o v (CSSR). Reliefplastiken aus Mammutelfenbein, a—b e—h löffelartige Gegenstände als mögliche Menschenskulpturen
Menschendarstellungen,
In der Übersicht über die anthropomorphen Plastiken aus Pavlov dürfen auch diejenigen nicht fehlen, die den Eindruck von unvollendeten oder beschädigten Kunstarbeiten erwecken. Es sind massive Formen ohne deutliche zwei- oder dreiteilige Gliederung, deren länglicher Körper sich an einem Ende auffallend verjüngt (Abb. 3). Nur an drei Exemplaren kann man dies als Kopf oder als halsförmigen Ansatz für den
Abb. 3 Pavlov (OSSR). Anthropomorphe Statuetten. Unvollendete und zerbrochene Schnitzarbeiten aus Mammutelfenbein Kopf betrachten (Abb. 3a—c). Nur selten weisen sie auch eine weitere Modellierung des Körpers selbst auf, wobei besonders die Andeutung von Gliedmaßen auffällt (Abb. 3 c—e). E s handelt sich keineswegs um natürliche Gebilde, die die regelmäßige Elfenbeinstruktur manchmal verändern und verschiedene beabsichtigte Formen entstehen lassen können. Vergleichsstücke zu diesen Formen liegen hauptsächlich von den osteuropäischen Fundstellen Mezeric, Molodova, Gagarino und anderen vor (ABRAMOVA 1 9 6 2 ) .
Die zweite Gruppe anthropomorpher Figuren bilden Plastiken aus gebranntem Lehm. Dieses Material ist für die Fundstellen des mährischen Pavlovien sehr charakte85
Abb. 4 P a v l o v (ÖSSR). Menschendarstellungen u n d F r a g m e n t e aus g e b r a n n t e m L e h m
ristisch und belegt die zufällige Erfindung der Keramik schon in dieser Zeit. Auch in dieser Gruppe stehen neben den größeren Figuren kleinere. Die großen sind leider durch keine kompletten Exemplare vertreten. Nur deren Bruchstücke ermöglichen uns eine Vorstellung von ihrem Aussehen. An erster Stelle steht ein schmales Köpfchen, das von einer größeren Figur abgebrochen ist (Abb. 4a). Eine solche Deutung des
Gegenstandes ermöglicht besonders der gewölbte hintere Kopfteil, der in drei horizontalen Reihen von feinen Einstichen verziert ist. Auf solche Art und Weise sind gewöhnlich Haare auch an anderen Statuetten angedeutet. An der linken Seite wurde ein Auge plastisch angedeutet. Das Profil der Gesichtspartie selbst ist deutlicher modelliert. Auffallender als diese beiden Merkmale deutet eine schmale Leiste um die obere Kopfpartie mit parallelen Einschnitten verziert ein Diadem oder eine Haarspange an. Aus Mammutelfenbein geschnitten, sind solche Gegenstände in einer größeren Anzahl und in verschiedener Ausführung f ü r Pavlov sehr charakteristisch. Ein solches schmales Stück wurde 1932 im bekannten Grab des Jünglings vom sibirischen Fundort Malta unmittelbar in der Stirngegend gefunden (GERASIMOV 1935, 119). Nun stellt sich die Frage, ob damit bestimmte und bedeutende Personen bezeichnet werden sollten oder ob es nur Spangen für kräftiges Frauenhaar waren und ob auch Männer diese für den Haarputz benutzten. Auf ähnliche Art sind nämlich auch Figuren verziert, die nicht eindeutig Frauen darstellen. Aus der Reihe von drei gleichen Objekten (Abb. 4b—d) läßt sich das erste und zugleich größte am besten beurteilen. Es ist ein kegelförmiges Gebilde, dessen Kopfende abgerundet und dessen Basis wulstartig verdickt ist. Diese Verdickung geht in einen kurzen Hals und unmittelbar danach in einen breiten walzenförmigen Körper über. Die Gestaltung einer anthropomorphen Figur läßt sich nicht übersehen. Zugleich liegt aber auch eine andere Vorstellung sehr nahe. Für diese spricht die flach modellierte ventrale Seite des unregelmäßigen Kegels und sogar auch die schmale Leiste mit vertikalen Einschnitten am Übergang des Halses zum Körper. Sie findet eine gewisse Entsprechung in der Morphologie der Hinterhaut des männlichen Gliedes und muß deshalb nicht ausgerechnet ein Halsband oder die Verzierung am Halse einer Figur darstellen. Es darf jedoch auch nicht unerwähnt bleiben, daß sie aiich Parallelen in Kopfbedeckungen von Darstellungen besitzen, die besonders durch Gravierungen, aber auch in plastischer Form aus der ältesten Kunst bekannt sind. Die Deutung, ob es sich also um einen Kopf oder um einen Phallus handelt, läßt sich nicht eindeutig entscheiden. Immerhin wäre dies zusammen mit den phallischen Darstellungen aus Mammutelfenbein ein weiterer Beleg für rituelle Zeremonien der Initiation, bei denen Jünglinge und Jungfrauen in das Geschlechtsleben vielleicht auch durch Penetration und Beschneidung eingeführt wurden. Eindeutig als ein abgebrochenes Köpfchen ist ein kleines kugelartiges Gebilde zu erklären (Abb. 4e). Dafür sprechen besonders die horizontalen Reihen von Einstichen. Sie geben eine gute Vorstellung von der Zurichtung der Haare, und zwar in der gleichen Art und Weise, wie es die Venus von Willendorf und noch einige Beispiele aus den östlichen Gebieten zu erkennen geben. Es stehen nicht nur Köpfe, sondern auch andere Teile von größeren Statuetten zur Verfügung: so eine an den Knien und am Unterleib abgebrochene robuste Figur (Abb. 4f), drei verschiedene Fragmente von Brustpartien (Abb. 4g—i) und das Bruchstück von einem Fuß (Abb. 4k). Sein aufgewölbter Rist und der Einstich an der Stelle des Knöchels lassen keinen Zweifel darüber, daß es sich tatsächlich um einen Fuß handelt, also um jenen Teil anthropomorpher Plastiken, der in den Darstellungen der paläolithischen Kunst nur sehr selten herausgearbeitet worden ist. Auch die stark ausgezogene und mächtige Brustwarze auf einem flachen Bruchstück (Abb. 4h) fällt auf, die in der Regel an anderen Statuetten gar nicht angedeutet ist. Das größte Brustfragment ist wieder an der Basis von der üblichen Verzierung begleitet (Abb. 4i). Eine solche zeigt ebenfalls ein flach modelliertes Klümpchen, dessen Bedeutung schwer zu erkennen ist (Abb. 41). 87
Die kleinen Figuren bilden zwei verschiedene Gruppen. Die erste besteht aus Plastiken mit realistisch wiedergegebenen Körperteilen und die zweite aus sehr stark stilisierten, besonders kleinen Figuren. In die erste Gruppe gehören ein Torso (Abb. 4m) und eine unvollständige Frauenfigur, die mit mächtigen Schenkeln und merkwürdigerweise in sitzender Position wiedergegeben worden ist (Abb. 4n). Ihre hochgewölbte Bauchpartie verrät fortgeschrittene Schwangerschaft und verbirgt zugleich die linke Hand. Beide Figuren weisen die übliche plastische Verzierung auf: die erstere um die untere Körperpartie herum, die zweite unter dem linken Knie. Man darf vermuten, daß diese Motive Teile der Bekleidung, vielleicht eine Schürze und ein Strumpfband, darstellen sollen. In diesem Sinne stellen die Plastiken aus Kostenki, Lespugue, Brassempouy und von anderen Fundstellen gute Parallelen dar. Die zweite Gruppe von kleinen Figuren aus gebranntem Lehm wird durch eine komplette Statuette (Abb. 4o) und zwei weitere Fragmente (Abb. 4p, q) repräsentiert. Die Stilisierung erreichte dabei einen Höhepunkt und erlaubte keine weitere Modellierung mehr. An der kompletten Figur trennt nur eine leichte Kerbe an der Basis beide Beine voneinander. Die Anzahl der figuralen Menschenplastiken im Fundgut von Pavlov ist zwar verhältnismäßig groß, um allgemeine Schlüsse ziehen zu können, doch können keine verwertbaren Aussagen über ihre Fundumstände mitgeteilt werden. Einzelne Stücke beider Gruppen lagen über die freigelegte Fläche verstreut ohne irgendwelche Konzentrationen. Sie kamen jedoch häufig im Bereich der jüngeren Siedlungsphase vor. Auch die Beziehungen zu anderen Fundgattungen lassen sich nicht restlos rekonstruieren. Ganz allgemein ist zu bemerken, daß sieh die Frauenfiguren am Rande von Feuerherden oder direkt in den Aschenplätzen befanden und auch mehrmals in der Nähe des Grabes zutage kamen. Die Fragmente aus gebranntem Lehm liegen regelmäßig in Begleitung von weiteren modellierten Lehmklümpchen. Wollen wir die Bedeutung anthropomorpher Figuren aus Pavlov einschätzen, wäre dies nur im Vergleich mit ähnlichen Kunstäußerungen aus der benachbarten Siedlungsstätte bei Dolni Vestonice möglich. Auf dieser Fundstelle barg K. ABSOLON 1925 die bekannte Figur, die inzwischen in den Lehrbüchern einen festen Platz gefunden hat (ABSOLON 1938, Tab. XII). Sie ist nicht allein geblieben. Im Jahre 1979 folgten ihr der Torso einer ähnlichen Statuette und ein abgebrochener Kopf, ebenfalls mit vier Aushöhlungen — in der Quadratform angebracht — am Kopfende (KLIMA 1983, 177). Beide Kunstwerke sind gleich groß wie das Stück aus dem Jahre 1925 und weisen auch die gleichen Fundverhältnisse auf. Sie lagen im Bereich einer ausgedehnten Aschenfläche, die durch längere Aufbewahrung des Feuers in einem aufgebauten Feuerherd und durch dessen wiederholte Ausräumung entstanden ist. Schon in den Jahren 1933—34 erbrachte eine nahegelegene Behausung acht Kleinfiguren ebenfalls aus gebranntem Lehm, die als einfache künstlerische Abstraktionen oder schematische Darstellungen anzusehen sind (KLIMA 1981, Abb. 42). Mit Ausnahme einer einzigen, dazu noch männlichen Figur, besitzt keine Figur primäre Geschlechtsmerkmale. Auch Brüste fehlen, die an den meisten paläolithisehen Venusstatuetten mit Vorliebe betont werden. Es sind nur die sekundären Geschlechtskennzeichen angedeutet, wie schräg nach abseits fallende Falten im Rücken, der tiefe, horizontale beidseitige Fettwulst im unteren Körperteil oder die mächtig aufgewölbte und Schwangerschaft verratende Bauchpartie, die den weiblichen Charakter zum Ausdruck bringen. Alle sind nach dem Vorbild der ersten Figur vom Jahre 1925 und in Serie offensichtlich als Arbeitsergebnis desselben Künstlers geformt. Auch diese Miniaturen zeigen einige bemerkenswerte Einzelheiten. Neben den sekundären Ge88
schlechtsmerkmalen sind es kleine nebeneinander angebrachte Einschnitte, die nicht nur Verzierung, sondern auch Tatauierung oder farbige Körperbemalung andeuten können. Es ist auch nicht uninteressant, daß sich in derselben Behausung noch zwei Löwenköpfe und eine Bärenskulptur befanden, also Darstellungen jener Raubtiere, zu denen man engere kultische Beziehungen der Siedlungsbewohner voraussetzen darf. Die Serie von acht Figuren in der Behausung von Dolni Vestonice bildete nicht nur durch die Fundumstände, sondern auch im Sinngehalt eine Einheit. Die Anwesenheit eines männlichen Elements durfte deshalb in einer solchen natürlich nicht fehlen. Im Vordergrund dieser Einheit stand eine bedeutende weibliche Person, die durch eine größere und sorgfältig modellierte Statuette wiedergegeben wurde. Zu dieser gesellten sich kleinere Figuren, die keine sexuellen Merkmale tragen und die wahrscheinlich nichterwachsene Mitglieder oder untergeordnete Individuen darstellen könnten. Die Zusammensetzung ist aber zu auffallend und verlangt eine nähere Untersuchung und Erklärung. Die Gruppe stellt keinesfalls die Bewohner der Behausung dar, scheint jedoch den Aufbau des damaligen grundlegenden Gesellschaftsmodells in einer überirdischen Welt widerzuspiegeln. Es ist zu vermuten, daß diese mythologische Lebewesen und Personen waren, die einer Gottheit, übernatürlichen Geistern oder personifizierten Kräften entsprechen sollten. Eine solche Interpretation stände jenen Gedanken und Vorstellungen der urgeschichtlichen Jägergemeinschaften nahe, die als Grundlage des Totemismus als der allgemein religiösen Weltanschauung schon in eine so weit zurückliegende Zeit führten. Die Figuren von Pavlov bekräftigen und erweitern die bisherigen Erkenntnisse. Sie zeigen, daß diese Siedlung zahlreiche und mannigfaltige figürliche Darstellungen erbracht hat. Dies entspricht ihrer fortgeschrittenen und progressiven materiellen Kultur, die in mancher Hinsicht den weiteren Entwicklungsweg aufzeigt. Die plastischen Darstellungen sind in zwei Größen belegt. Es gibt größere Plastiken, die echte Kunstwerke sind und bedeutende oder sogar konkrete Personen weiblichen Geschlechts darstellen, und daneben Miniaturplastiken, die einer unbekannten Gottheit, mythischen Lebewesen und Mächten Ausdruck verleihen sollen. Auf beide unterschiedliche Gruppen wurde in den letzten Jahren besonders von sowjetischen Wissenschaftlern hingewiesen (FORMOZOW 1961, ABKAMOVA 1966, F I L I P O V 1972). Die großen Figuren werden dabei als realistische Formen bezeichnet, die kleinen als Ergebnisse eines primitiven Schematismus. Beide Kategorien sind auf mehreren Fundstellen als gute, aber nur als vereinzelte Vergleiche nachgewiesen. In Pavlov sind die Figuren mit einem höheren Abstraktionsgrad gestaltet, wobei eine Zwei- oder Dreiteilung der Gestalt als Prinzip beim Aufbau des menschlichen Körpers deutlich wird. Die primären, häufig auch die sekundären Geschlechtsmerkmale sind an manchen Figuren nicht nachzuweisen. Ihre Abstraktion ist dafür nicht verantwortlich zu machen. Häufiger als früher erscheint auch die Verzierung an den Statuetten, die aus einfachen, in Reihen geordneten Einstichen besteht und manchmal auch in plastischen Leisten ausgeführt ist. Als ein Komplex von einer einzigen Fundstelle zeigen die Fundstücke aus Pavlov, daß die anthropomorphen Figuren des Jungpaläolithikums keinesfalls einheitlich sind und daß sie in verschiedenen Formen auftreten: 1. Das Vorbild einer totemistischen Urmutter oder einer Gebärerin ist stets größer und deutlicher geformt und tritt in der Regel als Einzelstück auf. 2. Es folgen kleinere Nachbildungen, manchmal in demselben Stil und in Serie von ein und derselben Hand hergestellt. 89
3. Hier erscheinen noch andere anthropomorphe Figuren, die verschiedene künstlerische Ausprägungen aufweisen und die offensichtlich auch eine andere Rolle zu übernehmen hatten. Die Figuren beider Gruppen beziehen sich auf andere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens und dessen Milieu. Sie sind eindeutig weiblich, ihr Geschlecht ist nicht betont, mehrmals gar nicht angedeutet und war deshalb für die Beurteilung dieser Skulpturen auch nicht von Bedeutung. Alle drei Kategorien lassen sich zwar auf Grund des zahlreicheren Fundmaterials von einer einzigen Fundstelle gut aussondern, doch ihr Sinn ist nur schwer zu erklären. Man kann nur vermuten, daß jedç von ihnen unterschiedliche Bedeutung oder sogar einen ganz anderen Zweck im täglichen Leben hatte. Es ist möglich, daß diese plastischen Kunstwerke den geritzten oder gemalten Bildern des Höhlenmilieus in der folgenden Periode vorausgegangen sind und daß sie durch diese später ersetzt wurden. Auf Grund der gelnachten Beobachtungen muß man davon ausgehen, daß diese scheinbar nur nebensächlichen Figuren irgendwelche oder sogar konkrete mythologische Lebewesen einer übernatürlichen Welt darstellen sollen, einer Welt, die zwar erst später in festen Umrissen ins Leben gerufen wurde, die aber durch ihre Uranfänge die fortgeschrittenen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnissein der letzten Phase des Jungpaläolithikums widerspiegelt.
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R e l i g i o n u n d K u l t • B e r l i n 1989 • S e i t e n 9 1 - 9 8
Schamanismus und Medizinwesen V o n W E R N E S A . HARTWIG
Generationen von Gelehrten haben sich dem Phänomen des Schamanismus gewidmet, ganze Berge von Material zusammengetragen, Ideen entwickelt und Thesen vertreten. Ganze Bibliotheken und reich gefüllte Museumsmagazine stehen heute vergleichender Untersuchung, an der sich Spezialisten verschiedenster Fachrichtungen beteiligen, zur Verfügung. Von der Relevanz ethnographischen Materials für die Interpretation archäologischer Fakten sei hier die Rede, von einigen gesetzmäßigen Zusammenhängen zwischen Basis- und ideologischen Überbauerscheinungen, die geeignet sein könnten, das archäologische Material auch in ideologischer Hinsicht mehr zum Sprechen zu bringen. Der Begriff „Schamane" stammt bekanntlich aus der tungusisch/ewenkischen Sprache, wo er „erregter, ruhelos hin- und herspringender Mensch" bedeutet. In verwandten Turksprachen der Völker im Altai-Sajan entspricht dem das Wort „kam" (HARVA 1938, 449), von dem im Russischen „kamlenie" (Schamanieren) abgeleitet ist. Erste schriftliche Nachrichten in europäischen Reiseberichten aus Sibirien stammen a u s d e m 1 7 . J h . J . G . GMELIN ( 1 7 5 2 ) w a r a u f G r u n d s e i n e r l a n g e n E r f a h r u n g e n m i t
sibirischen Schamanen in der 1. Hälfte des 18. J h . davon überzeugt, daß sie weder Böses im Schilde führten noch mit dem Teufel im Bunde stünden oder gar mit dessen Hilfe Dinge verrichten könnten, die der Natur zuwiderlaufen. Doch J . G. GEORGI (1775) erkannte bereits zur gleichen Zeit ein wesentliches Merkmal des Schamanismus, als er schrieb: „Die Schamanenreligion gehört zu den ältesten Glauben. Sie ist im Osten am ältesten und wird für die Wurzel der lamaistischen, brahmanistischen und anderer heidnischer Religionen gehalten." Ähnliche Ansichten äußerte der deutsche Orientalist
W . SCHOTT ( 1 8 4 6 )
und
der
burjatische
Forscher
D . BANZAROV ( 1 8 9 1 ) ;
sie
leiteten über zum evolutionistischen Denken J . LUBBOCKS (1875), der im Schamanismus ein bestimmtes Stadium der religiösen Entwicklung sah, das alle Völker einmal durchlaufen haben. Und nach S. A. TOKAREV (1958) ist das Schamanentum „ein bestimmtes Entwicklungsstadium, das die religiösen Anschauungen einer ganzen Reihe von Völkern aller Erdteile charakterisiert". Auf Grund einer Anzahl historischer Ursachen konnte der Schamanismus bei den Völkern Sibiriens allerdings eine ausgeprägtere, spezialisiertere Form annehmen als bei anderen Völkern. Diese Besonderheiten zeigten sich — im Vergleich z. B. mit dem Schamanismus indianischer Völker Südamerikas — vor allem in einem bestimmten Typ der Kleidung, der Trommel mit Schlägel und in bestimmten Zeremonien. Folgende, von dem jakutischen Ethnographen KSENOEONTOV noch 1925 in seiner Heimat aufgezeichnete Schilderung des leidvollen Werdens eines Schamanen erschließt den Zugang zu psychologisch-religionsgeschichtlichen Hintergründen des 91
Schamanismus: „Ehe Menschen zu Schamanen werden, sind sie lange Zeit krank. Sie werden mager, sind nur noch Haut und Knochen. Sie verlieren den Verstand, reden unvernünftiges Zeug, klettern immer wieder in die Wipfel von Lärchenbäumen. Dabei schwatzen sie Unsinn, als ob ihnen die Augen ausgestochen würden, ihr Körper zerschnitten würde, sie zerteilt und gegessen würden, man ihnen neues Blut eingieße usw. Man erzählt, daß das Gesicht des Schamanen in dieser Zeit ganz blutig werde" (FEIEDEICH, BUDDRTJSS 1955, 150). Ebenfalls noch aus der 1. Hälfte unseres Jahrhunderts stammt eine Erzählung der Ketschua-Indianer aus der Gegend von Andahuaylillas (Depto. Cuzco) in den peruanischen Anden: „Ein Donner trifft einen jungen Mann, seltener ein Mädchen, dreimal. Beim ersten Mal tötet er den Menschen, beim zweiten Mal skelettiert er ihn und trennt ihm den Kopf und die Extremitäten vom Rumpf, und beim dritten Mal vereinigt er alle getrennten Teile und belebt den Menschen aufs Neue. Danach kann er in die Lehre zu einem erfahrenen Pakko gehen und selbst Pakko werden. Dieser ist dann fähig, die Zukunft vorauszusehen und den Geistern zu opfern" (BAEE 1969, 287).
So müssen wir im Schamanismus einen Komplex religiöser Vorstellungen und Praktiken sehen, denen der Glaube an die besondere Fähigkeit bestimmter Menschen zugrunde liegt, sich durch Lärmen, Singen und Tanzen in Ekstase versetzen und während des Trancezustandes mit Geistern in unmittelbare Beziehung treten zu können. Durch die noch relativ geringe Entfaltung der Produktivkräfte standen die Menschen in urgeschichtlichen Zeiten den Kräften und Erscheinungen der sie umgebenden rauhen Natur fast hilflos und ohnmächtig gegenüber; sie waren nicht Beherrscher der Natur, sondern in sehr hohem Maße von ihr abhängig, ihren Unbilden ausgesetzt. Das gilt auch noch für die Bodenbau treibenden Ketsehua, von denen soeben die Rede war und die ständig mit der Gefahr von Naturkatastrophen (Erdbeben, Bergrutschen, Über-' schwemmungen) lebten. Die Vorstellungen, die die Menschen unter solchen Bedingungen von der Natur hatten, beruhten auf den allmählich anwachsenden Erfahrungen und Kenntnissen, die sie seit Generationen durch die unmittelbare Berührung mit der Natur und durch die speziellen Formen der Gewinnung der zum Leben notwendigen Dinge gesammelt hatten. Das relativ niedrige Niveau des allgemeinen Erkenntnisprozesses brachte es mit sich, daß sie nur in sehr begrenztem Umfang in die Geheimnisse der sie unigebenden Natur einzudringen vermochten, und oft sahen sie nicht die ursächlichen Zusammenhänge und konnten sich viele Erscheinungen nur ungenau erklären. Wo ihr exaktes Wissen um die Ursachen und Zusammenhänge der Erscheinungen aufhörte, begannen die Vermutungen, und der Phantasie blieb breiter Raum. So kannte man z. B. keinen qualitativen Unterschied zwischen der belebten und der unbelebten Natur. Die gesamte sie umgebende Natur war ihren Vorstellungen zufolge von lebenden Wesen erfüllt. F. ALBERT (1956, 182), der die kleinen Völker im fernöstlichen Ussuri-Gebiet erforschte, berichtete: „Der Udedeer sieht um sich herum nur lebende Wesen, die mit denselben Eigenschaften wie er selbst ausgestattet sind. Alle Tiere und Pflanzen sind lebende Wesen wie er. Auch die nach unseren Begriffen unbelebte Natur besteht aus lebenden Wesen. Er schaut auf das rasch dahinströmende Wasser des Flusses und sieht in ihm eine lebendige Kraft, die sich hier ruhig vorwärts bewegt, dort einen Kahn mit reissender Gewalt treibt, Felsen zerstört, kräftige alte Bäume bricht und sie weit fortträgt." Galten die Naturerscheinungen in den Vorstellungen der sibirischen Völker als die Tätigkeiten oder Eigenschaften der personifizierten Naturelemente, so nimmt es nicht wunder, daß erst recht die Tiere in ihrer Glaubenswelt einen besonderen Platz ein92
nahmen — hatten doch in der Vergangenheit alle sibirischen Völker auf Grund ihrer jeweiligen Wirtschaftsform stets eine enge Beziehung zu bestimmten Tieren, sei es zu den jagdbaren Tieren der Taiga, der Tundra und der arktischen Küstengewässer, sei es zu den Haustieren (wie Ren, Pferd, Rind und Schaf). Es waren vor allem zwei Wirtschaftsformen, Jagd und Fischfang, die die Glaubensvorstellungen der sibirischen Völker in viel stärkerem Maße und weitaus eindrucksvoller beeinflußt hatten als die Ren- und die Großviehzucht. Den wichtigsten, ja den Grundkomplex im Glauben der sibirischen Völker bildeten die „jägerischen" Züge, die Vorstellungen von der allgemeinen Beseeltheit der Tiere. Diese Ansicht äußerte sich insbesondere in der Beachtung bestimmter Riten in Vorbereitung, vor allem aber in verschiedenen Zeremonien nach der Jagd. Man glaubte, daß nach Erlegung des Tieres dessen Seele, die man sich als Schatten vorstellte, aus dem Körper entwich. Da sie angeblich weiterexistierte, galten ihr die anschließenden Zeremonien. Dem Zweck, das Jagdglück weiterhin zu sichern, diente die besondere Behandlung des Skeletts oder zumindest des Schädels und einiger anderer Knochen des Wildes (FEIEDEICH 1943). Um nicht den Zorn der Seele des getöteten Tieres hervorzurufen, waren die Jäger bemüht, alles das, was sie nicht selbst gebrauchen konnten, aufzubewahren, und vielerorts galt der strenge Brauch, die Knochen nicht zu zerbrechen oder anderweitig zu beschädigen. Die Jukagiren glaubten, daß das Tier, wenn sie dessen Knochen vollständig und sorgfältig aufbewahrten, wieder zu neuem Leben erwachen könnte. Damit die Überreste auch nicht von Raubtieren beschädigt oder verschleppt würden, bewahrte man sie — ganz ähnlich der Bestattung Verstorbener — in Bäumen oder auf besonderen Plattformen auf (HAEVA 1938, 434 ff.). Einen bevorzugten Platz in der Tierverehrung der sibirischen Völker hatte der Bär inne (CASTREN 1 8 5 6 , 2 2 6 ; DYEENKOVA 1 9 2 8 ; PAPROTH 1 9 6 2 ) .
Bis hierher haben wir es noch nicht unbedingt mit schamanistischen Vorstellungen zu tun. Es ist im wesentlichen die allgemein jägerische Glaubenswelt der Völker Nordasiens, der wir hier begegnen. Materielle Manifestationen solcher jägerischen Glaubensvorstellungen, zusammen mit den entsprechenden Erklärungen ihres jeweiligen Sinngehalts durch jene, die sich selbst für bestimmte religiös motivierte Handlungen benutzten, finden wir in Museen und in ethnographischen Feldberichten in großer Zahl. Es sind dies Behandlung und Aufbewahrung von Tierknochen, zoomorphe Plastiken, geschnittene Rindenfiguren, Zeichnungen und sogar mimische Darstellungen (unter Verwendung von Masken). Besonders untersucht sind diese Fragen bei den ob-ugrischen Völkern und den Keten in West-Sibirien (ALEXEJENKO 1963, 206). Bevor die Keten den bei der Jagd erlegten Bären ablederten, schnitten sie ihm — da sie glaubten, die Seele des Tieres sei die Seele eines Verstorbenen, der seinen Verwandten in Gestalt dieses Bären erscheine — die rechte Vordertatze ab. Durch Emporwerfen derselben wollten sie feststellen, welcher tote Verwandte zu ihnen gekommen sei. Die Frage war so formuliert, daß die Antwort nur ja (Innenseite nach oben) oder nein zu lauten brauchte. Wesentlicher Bestandteil des darauffolgenden Bärenfestes war^die Anfertigung des „Bärenbildes" bei den Keten oder die Aufbahrung des Felles einschließlich des Kopfes (bei Chant-en und Mansi). Das Bärenbild in Gestalt einer Rindenzeichnung sollte die Seele des Bären für die Zeit des Festes als Aufenthaltsort dienen. Pantomimische Vorführungen schilderten den Jagdverlauf, sollten die Seele des Tieres ehren und neues Jagdglück und Wohlergehen für die Gemeinschaft sichern. Trotzdem trugen die Darsteller bei den Mansi aus Furcht, von der Bärenseele erkannt zu werden, Masken aus Birkenrinde vor dem Gesicht. Zum Abschluß des Festes brachte der Jäger das Bären93
bild (die nun zusammengerollte Rindenzeichnung), den Schädel und die Knochen in die Taiga. Hier klemmte er die Rindenrolle in eine Baumkerbe. Die Knochen bewahrte man bei den Keten in einem hohlen Baum auf, während die Chanten den Schädel auf einer Lichtung auf einen Pfahl steckten. War die Rinde mit dem Bärenbild allmählich getrocknet und zu Boden gefallen, glaubte man, der Bär hätte ein neues Leben begonnen. Besondere Behandlung von Tierknochen und Darstellungen von Tierseelen waren so wesentliche Bestandteile der „jägerischen" Glaubenswelt. Die Vorstellung von der Existenz vielzähliger „Herrengeister" (HARVA 1938, 386ff.), wie etwa dem schon erwähnten „Herrn der Taiga" oder einem „Herrn des Flusses", dem „Herrn des Feuers", des „Hauses" oder auch des „Bootes", komplettiert- das Bild der sibirischen Völker von der Allbelebtheit ihrer Welt, die man für ein Gebilde hielt, das aus Himmel, Erde und Unterwelt bestand. Der Himmel, aber auch die Unterwelt sollten aus mehreren Schichten bestehen (RADLOFF 1885). In allen drei Teilen der Welt sollten sich zahlreiche Geister tummeln; die einen brachten den Menschen Nutzen, die anderen schadeten ihnen. Die Geister sollten aus den Seelen Verstorbener entstanden oder Naturgeister sein. Die Ewenken stellten sich den Geist Charchi mit großen feurigen hervorstehenden Augen, einer platten Nase und einem fürchterlichen Kopf vor; Haar und Bart waren schwarz und glichen der vom Sturmwind zerzausten Taiga. E r trug schwarze Kleidung und verwandelte sich zum Schaden der Menschen in verschiedene Gestalten. Auf einer solchen Vorstellungswelt basierend, blühte der Schamanismus. Die Menschfen glaubten sich von den Geistern bedrängt, baten sie andererseits um Hilfe. Die Geister beeinflußten lind bestimmten das gesamte Leben der. Menschen, zumal sie für einen gewöhnlichen Sterblichen unsichtbar waren. Nur den besonders veranlagten Personen erschienen oder zeigten sich die Geister. Lange prüften sie den von ihnen Auserkorenen auf seine Tauglichkeit zum Umgang mit ihnen, verwandelten sie ihn in einen Schamanen ( K S E N O F O N T O V ; nach F R I E D R I C H , B U D D R U S S 1 9 5 5 , 9 5 ff.). Der Umgang mit den Geistern war aber auch für den Schamanen nicht ohne Gefahren. Die Möglichkeiten des Zusammenstoßens mit übelgesinnten Geistern waren recht zahlreich. Deshalb war der Schamane bemüht, sich die Hilfe bestimmter Geister zu sichern. J e mehr Hilfsgeister ihm zur Verfügung standen, desto wirksamer sollten seine Aktionen sein. Um sich besser gegen die Angriffe der bösen Geister schützen zu können, legten bei vielen Völkern die Schamanen zum Schamanieren eine besondere Kleidung an. Diese trug einerseits Knochendarstellungen (HARTWIG 1957) als Zeichen für die bestandenen Eignungsprüfungen durch die Geister der verstorbenen Schamanen und war andererseits mit zahlreichen eisernen Anhängseln in Form von Rentiergeweihen, Schwänen, Gesichtern, anthropomorphen Figuren — also Darstellungen seiner persönlichen Hilfsgeister (PAULSON 1 9 6 2 , 1 2 8 f f . ) -
bedeckt.
Während des Schamanierens nahmen entweder die herbeigerufenen Geister in der Trommel, dem wichtigsten Teil der Ausrüstung der nordasiatischen Schamanen, Platz oder gingen in den Körper des .Schamanen ein, oder die Seele des Schamanen begab sich auf die Reise ins Jenseits, wobei ihr ein Ren (in Gestalt der Trommel) oder ein Vogel als Reittier diente. Um den Gefahren und Beschwernissen dieser Jenseitsreise begegnen und die Kämpfe mit den ihm übel gesinnten Geistern besser bestehen zu können, sollte die Seele des Schamanen auch in der Lage gewesen sein, sich bald in einen Vogel, bald in ein Insekt, bald in ein größeres Tier verwandeln zu können. Welchem — im weitesten Sinne — gesellschaftlichen Zweck dienten in den Augen 94
der dieser „schamanistischen" Glaubenswelt Verhafteten die Handlungen des Schamanen ? Mit Hilfe der Geister sollte der Schamane u. a. verlorengegangene Gegenstände zurückbringen, Diebe ausfindig machen, bei Wohnsitzwechsel und alltäglichen Sorgen lind Schwierigkeiten gute Ratschläge erteilen, den Zorn mächtiger Geister offenbaren und abwehren sowie die richtigen Opfertiere auswählen. Eine der wesentlichsten Funktionen der Schamanen bestand jedoch in der Behandlung von Kranken ( S E L E N I N 1936). 1 Den angenommenen Krankheitsursachen entsprachen die Behandlungsarten des Schamanen. Als erste Ursache galt das Eindringen schädlicher Geister in den Körper der Menschen, wo sie an den Eingeweiden nagten und Blut tranken, so daß die betreffenden Personen erkrankten. Diese Krankheitsgeister stellte man sich halb materiell vor, die — um existent sein zu können — Nahrung zu sich nehmen mußten. D. SELENIN glaubte in dieser Vorstellung die Weiterentwicklung eines älteren Ideenkomplexes feststellen zu können. Danach sollte eine Krankheit durch das Eindringen eines bestimmten lebenden Tieres in den menschlichen Körper hervorgerufen worden sein. Die Niwchen glaubten, daß Kröten und Eidechsen dem Schlafenden durch den Mund in den Magen kriechen und dadurch das Leiden erzeugen. Die Itelmenen führten eine gefährliche, in ihrer Gegend aufgetretene Krankheit darauf zurück, daß eine Laus durch die Poren der Haut in den Leib eingedrungen sei. Dem Schamanen kam nun die Aufgabe zu, das in den Körper eingedrungene Tier bzw. später den die Krankheit verursachenden Geist auszutreiben. Das geschah verschiedentlich durch „Aussaugen" oder dadurch, daß der Geist höflich gebeten wurde, gegen Entgelt den siechen Körper zu verlassen. Zu dieser Art der Heilung war es jedoch notwendig, daß dem Schamanen spezielle Hilfsgeister zur Seite standen, die er sich zuvor beschafft hatte. Bei den Burjaten und Tuwinen waren es Hilfsgeister in Gestalt von getrockneten Tierfellen bzw. ausgetrockneten Tierkadavern. Die entsprechenden Krankheitshilfsgeister der Nanaier-Schamanen im Amur-Gebiet zeigten sich als kleine Holzfigürchen, die besondere Krankheitsmerkmale trugen, wie die Gliederschnitzereien zur Behandlung von Gelenkschmerzen oder eine dickbäuchige Figur zur leichteren Entbindung oder mit einem Loch durch die Brust gegen Brustschmerzen oder mit betonter Darstellung der Rippen gegen Schwindsucht. Eine zweite Krankheitsursache erblickten manche sibirischen Völker darin, daß böse Geister die Seele eines Menschen aus dem Körper entführten und sie an der Rückkehr hinderten. Nach Ansicht der Altaier begab sich in einem solchen Falle die Seele des Schamanen auf den Weg in die Unterwelt, um die Seelen der Kranken zurückzuholen. Während des Schamanierens „berichtete" der Schamane seinem glaubenden Zuhörerkreis von den Ereignissen und den Gefahren, die seiner Seele auf der Reise ins Jenseits begegneten. Nachdem sie durch dunkle Wälder und über hohe Berge gewandert und an den Gebeinen der früher auf dem Wege umgekommenen Schamanen vorübergegangen war, kam sie endlich zu einem Erdloch, dem Tor zur Unterwelt. Nun schilderte der Schamane durch Worte und Gebärden Marterorte, an denen die Seelen gequält wurden, und berichtete schließlich von der Unterredung seiner Seele mit dem grimmigen, furchtbaren und nur durch Opfer zu beschwichtigenden Geist der Unterwelt. Dabei erreichte die Schamanenzeremonie ihren Höhepunkt. Während die Seele des Schamanen mit der des Erkrankten die Rückreise antrat, beruhigte sich der Schamane wieder und erwachte langsam aus seinem Trancezustand. Sollten die Rückkehrenden allerdings erneut von bösartigen Geistern aufgehalten worden sein, dürfte die Genesung des Kranken ernsthaft in Frage gestanden haben. 95
Es ist überliefert, daß Schamanen, die über längere Zeit hinweg den Attacken der bösen Geister nicht widerstanden, ihr Ansehen in der Gemeinschaft einbüßten, bis schließlich die Geister der verstorbenen Schamanen einen anderen Kandidaten erwählten. Altaiische Schamanen begaben sich (d. h. deren Seelen) jedoch nicht nur im Falle der Krankenheilung ins Jenseits. Sie traten eine gleichfalls beschwerliche Himmelsreise an, um die Seele des Opfertieres zu den erzürnten Geistern zu bringen. Ewenkische Schamanenseelen machten sich auf in die Unterwelt, um die Seele eines Verstorbenen zu den Ahnen zu begleiten, wobei sie die Gebiete feindlicher Sippen passieren und Kämpfe mit diesen bestehen mußten. Zeichnerische Darstellungen solcher schamanistischen Begebenheiten sind von den Ewenken (ANISIMOV 1958, 207ff.) bekannt, während die Trommeln der Schamanen aus dem Altai-Sajan-Gebiet häufig die Darstellung des schamanistischen Weltbildes des betreffenden Volkes tragen, wobei nicht selten der Schamanenbaum als die Verbindungsachse zwischen Unterwelt, Erde und Himmel erscheint und die Trommel selbst als Sammelplatz der Geister ein verkleinertes Abbild dieser Welt darstellt. Die materiellen Manifestationen der schamanistischen Glaubensinhalte sind Legion, allein schon, wenn man die Vielfalt der Geister — Naturgeister, Schamanenschutzgeister (der Hauptschutzgeist ist die Seele des Tieres, aus dessen Haut das Trommelfell geschnitten wurde; vgl. F R I E D R I C H , B U D D R U S S 1 9 5 5 , 7 6 ) , Krankheitshilfsgeister im Auge hat. Hinzu kommen die Teile der Ausrüstung des Schamanen (neben der Trommel die Kopfbedeckung und die schützenden bzw. helfenden Elemente der Kleidung, wie die Knochendarstellungen, die Himmelsleitern u. a.) und nicht zuletzt die markanten Elemente des schamanistischen Weltbildes. Viele dieser Elemente haben ihre Wurzeln in älteren Vorstellungen, doch schamanistisch sind sie eben nur in der ganzen Komplexität des Schamanismus, dessen essentielle Merkmale 1. die Vorstellung von der Allbeseeltheit, 2. die Mittlerfunktion des Schamanen zwischen Menschen und Geistern und 3. das Schamanieren als religiöse Praktik sind. Zu Recht erhoben Forscher, wie auch A. L O M M E L (1965, 8) die Forderung, den Schamanismus nicht nur von ethnographischer und soziologischer, sondern auch von psychologischer Seite aus zu untersuchen. Obwohl er darauf verweist, daß der Schamanismus viele Elemente „im Laufe der Zeit von den Hochkulturen übernommen", also vielfach historische Veränderungen erfahren habe, läßt er gerade den historischen Aspekt bewußt außer acht ( H A R T W I G 1968). Er widmet sich ausschließlich den „frühen Jägern" — warum eigentlich nur diesen ? Wo doch die schamanistischen Jakuten TaigaGroßviehzüchter, die Nenzen Tundra-Großrenzüchter, Burjaten und Mongolen Steppennomadenviehzüchter, die Chanten und die Amurvölker seßhafte Fischer und schamanistische Indianer in Südamerika auch tropische bzw. Bergbodenbauer waren! Da er diese frühen Jäger fast nur unter psychisch-künstlerischem Aspekt betrachtet, möchte er solche „Gruppen von Eingeborenen" mit einem Termitenstaat vergleichen, um daraus zu folgern: „Das Leben eines solchen Termitenstaates hört auf, wenn man die Königin entfernt. Ebenso erlischt das Leben unter den Eingeborenen, wenn sie ihren Schamanen verlieren oder dieser seine Fähigkeiten einbüßt"; unter „Erlöschen des Lebens" versteht A. LOMMEL eine nicht näher erläuterte „völlige Degeneration". Seiner undialektischen, ahistorischen Methode entspricht auch, wenn er jakutische Schamanengeschichten als Beleg f ü r den angeblich schamanistischen Charakter der Tierkampfszenen im eurasiatischen Tierstil heranzieht. Doch hier handelt es sieh im Prinzip immer um den Überfall eines Raubtieres auf ein Huftier, während in den 96
jakutischen Erzählungen die aufeinandertreffenden Rivalen immer in gleicher Gestalt, als Stiere, auftreten. Es sind die in Stiere verwandelten Seelen von Schamanen, die Sippenkämpfe austragen ! Geradezu ein Beispiel dafür, wie ethnographisches und historisches Material zum Phänomen Schamanismus nicht zur Interpretation archäologischer Fundbestände gebraucht werden sollten, ist die Abhandlung „Zur Ur- und Vorgeschichte des Schamanismus" von H . M I Y A K A W A und A. K O L L A U T Z . ( 1 9 6 6 ) . Es scheint einleuchtend, wenn sie schreiben : „Die mit starken schwarzen Strichen markierten Teile des Felsbildes (des „Zauberers" aus der Höhle) von Trois Frères sollen auf seinem vorauszusetzenden Fellkostüm die Knochen des Skeletts andeuten, die man sich auf seine Tracht aufgemalt zu denken hat, wie stets bei den Kostümen heutiger Schamanen" ( M I Y A K A W A , K O L L A U T Z 1 9 6 6 , 1 6 3 ) . . Doch aus unserer Sicht kann es nicht darum gehen, Knochen schlechthin darzustellen, es müßten schon — im schamanistischen Sinne — die richtigen Knochen des Schamanen am rechten Platz belegt werden. Im Falle des „Zauberers" wären die Schamanengeister, die den Kandidaten gerade in dieser Richtung — zwar nicht auf „Herz und Nieren", sondern auf „Knochen und Gelenke" — geprüft hatten, mit der Tracht des Schamanen nicht einverstanden gewesen sein. So ist der Schamanismus in allen seinen Erscheinungen, in seiner Komplexität und in seinen wesentlichen, diese Komplexität ergebenden Einzelheiten, nur dann richtig zu verstehen und zu beurteilen, wenn er in seinen historisch bedingten, gesellschaftlichen und eben schamanistisch-phänomenologischen Zusammenhängen untersucht wird.
Anmerkungen 1 Auf die echten Heilpraktiken, das mitunter umfangreiche Wissen der Schamanen über die Heilwirkung verschiedenster Pflanzen soll in diesem Zusammenhang nicht eingegangen werden.
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Religion und Kult • Berlin 1989 • Seiten 9 9 - 1 1 0
Die Anfänge des Brandritus — Versuch einer Deutung V o n E D I T H HOFFMANN
Zu den zahlreichen, bis zum heutigen Tage ungeklärten Fragen aus dem Bereich der geistigen Vorstellungsweit des urgeschichtlichen Menschen zählt auch die nach dem Aufkommen der Brandbestattung. Nach unserem gegenwärtigen Erkenntnisstand fehlt sie noch als fest umrissener Grabritus im Paläolithikum und im Mesolithikum, wenn es aus dieser Zeit auch Spuren von Leichenverbrennung gibt. Lange bekannt sind z. B. mit Holzkohle und Asche vermischte verkohlte Knochenstücke in der OfnetHöhle in Württemberg neben den konzentrischen, in Ocker gebetteten Schädelsetzungen ( S C H M I D T 1910, 56). Auch A. H Ä U S L E E (1971, 107) f ü h r t vereinzelte Belege an, so z. B. zwei Anhäufungen von kleingebrannten Menschenknochen auf einem Fund platz am linken Ufer des unteren Bug, und hält es nur f ü r eine Frage der Zeit, bis Brandbestattungen aus dem Jungpaläolithikum und Mesolithikum in größerer Zahl bekannt werden, womit er sicherlich recht behält. Andere Befunde, so ein unter einem mesolithischen Wohnplatz von Vedbaek in Dänemark angetroffener, sorgfältig vergrabener und mit Sand bedeckter Haufen verbrannter Menschenknochen, lassen keine sichere Deutung als Brandgra;b zu ( B R Ö N D S T E D 1960, 378f.), ebensowenig die verbrannten menschlichen Schädel- und Extremitätenknochen im Grab 4/04 des Flachgräberfeldes von Ostorf, Kr. Schwerin ( B A S T I A N 1961, 75). Ausgeklammert werden sollen aus diesem Beitrag auch die Brandbestattungen bei jenen subneolithischen Jägern und Fischern Nordeurasiens, die die Traditionen des Epipaläolithikums und Mesolithikums weiterführen, so z. B. in Westsibirien, im Südural und an der oberen Lena ( H Ä U S L E R 1962, 1151 ff.). Die von A. H Ä U S L E R angeführten Beispiele lassen jedoch erkennen, daß Totenfeuer im Grab, Ganz- und Teilbrandbestattungen nicht an bäuerliche Kulturen gebunden sind, sondern ebenso bei Jäger- und Fischergruppen, über weite Gebiete verstreut, mehr sporadisch als konzentriert, vorkommen. Davon abgesehen, sind die bisher ältesten eindeutigen Brandgräber der Kultur der Bandkeramik zuzurechnen. Vor fast 50 Jahren schrieb W. B U T T L E R (1938, 19f.), daß sich ganz vereinzelt in der „Donaukultur" Brandbestattungen fänden; nur in der Wetterau in Rheinhessen wären sie in der jüngeren Linienbandkeramik die vorherrschende Bestattungsart. Beide Feststellungen sind inzwischen überholt. Die Zahl der seither bekannt gewordenen Brandgräber ist sprunghaft angestiegen, und die Wetterauer Brandgräber erkannte G. L O E W E (1958) überzeugend als Fälschung. Bereits 1905 war ein stichbandkeramisches Brändgrab in Dresden-Lockwitz gefunden worden, dem sich 1910 ein zweites hinzugesellte. Aus dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts stammen zwei weitere stichbandkeramische Brandgräber von Grödel, Kr. Riesa ( D E I C H M Ü L L E R 1910,28). 1931 berichtete A. M I R T S C H I N über 5 stichbandkeramische Brandgräber in Riesa-Göhlis, und 1937 kamen auf einer Baustelle in Kotitz, Kr. Meißen, drei weitere derartige Grabfunde zutage ( B I E R B A U M 1940). Damit 7«
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waren allein aus dem sächsischen Elbtal bis zum Beginn des zweiten Weltkrieges 12 stichbandkeramische Brandgräber von vier verschiedenen Fundorten bekannt, die in ihrer Anlage weitgehend den böhmischen entsprachen. Dort war es vor allem das von L . HOBÄKOVA-JANSOVÄ ( 1 9 3 4 , 28ff.) veröffentlichte stichbandkeramische Gräberfeld von Prag-Bubenec mit 16 Brandgräbern, das zu einem Vergleich herausforderte. Im Gegensatz dazu fehlen bisher in den Bezirken Halle und Magdeburg eindeutige bandkeramische Brandgräber. Wohl zu recht vermutet D : K A U F M A N N auf den Fundorten Schkölen und Reinstedt nicht erkannte derartige Bestattungen ( K A U F M A N N 1976, 72). Als nicht sichere Brandgräber können gleichfalls ein linienbandkeramischer Fund aus einer Sandgrube in Halle-Trotha und ein stichbandkeramischer aus einer Lehmgrube in Ballenstedt gelten ( H O F F M A N N 1973, 76f.). Leider stammen die einzigen Beobachtungen über sehr wahrscheinlich linienbandkeramische Brandgräber in einem Ortsteil von Naumburg, Altenburg (früher Almrich), von einem Amateurarchäologen aus dem Jahre 1913 und sind so unvollständig, daß nicht einmal die Anzahl der Gräber feststeht ( H O F F M A N N 1973, 74ff.). H. BUTSCHKOW (1935, 125f.) spricht in diesem Falle zwar von einem Brandgräberfeld, U. F I S C H E E (1956, 259) jedoch nur von angeblichen Brandgräbern. Festeren Boden betritt man hingegen im Hinblick auf das 1940 publizierte Gräberfeld von Arnstadt, Bez. Erfurt, eines birituellen Bestattungsplatzes mit mindestens sieben Brandgräbern — sechs linienbandkeramischen und einem stichbandkeramischen, den ersten in Thüringen aufgefundenen ( N E U M A N N , W I E G A N D 1940). Aus Süd- und Westdeutschland waren mit Ausnahme eines 1919 bei Göttingen entdeckten Grabes sichere Brandgräber bis zu diesem Zeitpunkt kaum bekannt (SCHUCHHAEDT 1920, 513), sieht man von den spektakulären „Wetterauer Brandgräbern" ab, die W. B U T T L E E ZU der oben zitierten Bemerkung veranlaßten ( W O L F F 1911). Fast ein halbes Jahrhundert nach ihrer Entdeckung gelang es G. LOEWE, sie als Fälschung des pfiffigen Vorarbeiters G. BAUSCH ZU entlarven, nachdem schon vorher verschiedentlich an deren Echtheit gezweifelt worden war (LOEWE 1958). Die zwischen 1907 und 1920 gefundenen, etwa 100 Brandgräber mit ihren aufsehenerregenden Beigaben — ganzen Colliers aus Kiesel-, Schiefer-, Scherben- oder Knochenanhängern sowie Tonperlen — sind zeitlich und räumlich so untrennbar mit dem Wirken G. BAUSCHS verbunden, daß G. L O E W E S Meinung, alles rühre von dessen geschickten Händen her, überzeugt. Wir müssen die Wetterauer Brandgräber wohl aus unserer Bestandsaufnahme streichen, da inzwischen weitere Untersuchungen G. L O E W E S Erkenntnis untermauerten. Insgesamt kann man folglich feststellen, daß die Brandgräber im Vergleich zu den zahlreichen bandkeramischen Körperbestattungen bis dahin tatsächlich eine Ausnahme darstellten. Die nach dem zweiten Weltkrieg allerorten verstärkt einsetzende Ausgrabungstätigkeit veränderte das Bild vom Vorkommen bandkeramischer Brandgräber jedoch maßgeblich. Einen Meilenstein stellte dabei die Ausgrabung des zur Siedlung Elsloo in Südlimburg gehörenden linienbandkeramischen Gräberfeldes dar (MODDEEMAN 1970). Das gemeinsame Vorkommen von linienbandkeramischen Körper- und Brandgräbern im Verhältnis 65:47 sowie allein schon-diese Größenordnung eröffnete neue Perspektiven. Als Brandgrab zählte f ü r die Ausgräber eine Konzentration von kalzinierten Knochen. Vielleicht war die ursprüngliche Zahl der Brandgräber sogar noch höher, denn allein zehn der zu den Körperbestattungen gerechneten Grabgruben sowie drei Leichenschatten enthielten gleichfalls kalzinierte Knochen; sie wurden als Verunreinigung der Grubenfüllung gedeutet. Besonders auffällig war die im Vergleich zu den Körpergräbern durchweg ärmere Ausstattung der Brandgräber; nur weniger als 100
die Hälfte enthielten Schuhleistenkeile, Feuersteingeräte bzw. -abschlage, Hämatitstücke oder verzierte Scherben. Vollständige Gefäße bzw. zusammensetzbare Scherbenanhäufungen fehlten völlig. Diese Feststellung ist um so wichtiger, als man ja gewöhnlich bei den älteren Funden bei einer Deutung als bandkeramisches Brandgrab in der Regel von der beigegebenen datierenden Keramik ausging, die allein eine kulturelle Zuweisung erlaubte. Zwar ließen auch die böhmischen, sächsischen und thüringischen Brandgräber die Sitte erkennen, daß die Tongefäße nicht als Urne dienten, sondern die Leichenbrände in geringer Tiefe als Häufchen aufgeschüttet oder ausgebreitet, vielleicht auch in Behältnissen aus organischem Material niedergelegt wurden. Meistens war es jedoch den beigegebenen Keramikgefäßen, die entweder aufrecht auf dem Leichenbrand standen oder umgestülpt darüber lagen, zu danken, daß ein Grab überhaupt entdeckt wurde. Die Befunde von Elsloo machen zwingend darauf aufmerksam, wieviel stärker a_ls bisher mit beigabenlosen Brandgräbern gerechnet werden muß. Ihre geringe Tiefenlage und ihre Unscheinbarkeit mögen bewirkt haben, daß sie oft übersehen und unerkannt zerstört wurden. Das Fehlen in den großen, schon frühzeitig unplanmäßig ausgegrabenen linienbandkeramischen Gräberfeldern von Flomborn, Rhein-Dürkheim, Höhnheim-Suf fei weyersheim u. a. könnte eventuell darauf zurückzuführen sein. Auch ist die Frage erlaubt, ob wirklich alle in der Wetterau gefundenen Brandgräber, was den Leichenbrand und nicht die Beigaben betrifft, tatsächlich Fälschungen sind, zumal G. L O E W E beigabenlose Brandgräber, die G. W O L F F als neolithisch bezeichnete, bewußt bei ihren Recherchen unberücksichtigt ließ ( L O E W E 1 9 5 8 , 4 2 8 , Anm. 2 8 ) . Auch trifft eines ihrer Argumente, nie und nirgends sei eine so große Zahl von Brandgräbern wie in der Wetterau zutage gekommen, inzwischen nicht mehr zu (LOEWE 1958, 432). Bei Untersuchungen zur neolithischen Besiedlung der dem Braunkohlentagebau zum Opfer fallenden Aldenhovener Platte, etwa 50 km westlich von Köln, stießen die Ausgräber südwestlich des Ortes Niedermerz, Kr. Düren, auf ein von der älteren bis zur jüngeren Linienbandkeramik belegtes Gräberfeld (Phase I b , Flomborner Typ, bis I I c , Kölner Typ). Von 123 Gräbern — einige unsichere Befunde eingeschlossen — werden von M. D O H R N - I H M I G (1983, 65ff.) zehn als Brandgräber bzw. unter Vorbehalt als solche gedeutet. Sie verweist ausdrücklich auf die Schwierigkeit des Erkennens von Brandgräbern, die nur durch Beigaben, Holzkohle- und Knochenpartikel auffallen und in ganz geringer Tiefe liegen. Wo das Gelände seit bandkeramischer Zeit stark erodiert wurde, sind daher überhaupt keine mehr zu erwarten. Unter diesem Gesichtspunkt wird für das Gräberfeld Niedermerz 3 sogar die Frage aufgeworfen „ob hier nicht die Ausnahme der eigentlichen damaligen Bestattungssitte, der Brandbestattung, erfaßt worden ist, wobei die nur wenig eingetieften, unscheinbaren Brandgräber im wesentlichen der Erosion zum Opfer gefallen und im anderen Falle nur schwer aufzufinden sind" ( K T J P E R , L Ö H E , L Ü N I N G , S T E H L I 1974, 500). Die Keramik der Brandgräber Nr. 20, 114 und 115 mit Bögenbändern in Parallelschraffurverzierung, stich- und stichreihengefüllten Bögenbändern und doppelt gestaffelten Stichreihen als Randbegrenzung sowie umlaufenden Winkelbändern gehört der dortigen mittleren bis jüngeren Linienbandkeramik an; unter der Grobkeramik fallen Zipfelschalen und vertikale Leistenverzierungen unterhalb des Gefäßrandes auf (Abb. 1 und 2). Nur vier von den zehn Brandgräbern konnten durch ihre Beigaben chronologisch eingeordnet werden: Grab 83 in die Stufe I d , die Gräber 20 und 114 in die Stufe I I a , Grab 115 in die Stufe IIc. Folglich wäre Grab 83 von diesen das älteste; es besteht aus einer kaum erkennbaren Grube mit hellgeflecktem Boden und Knochensowie Holzkohlepartikeln, von der Ausgräberin mit „evtl. Brandgrab" bezeichnet. Die 101
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Grab 115 Abb. 1 Niedermerz, Kr. Düren. Keramik aus bandkeramischen Brandgräbern (nach DohrnI h m i g 1983)
Grube wurde durch die Grabgrube 84 überschnitten, die den Rest einer in die Stufe I d zu datierenden Flasche enthielt, verziert mit drei K n u b b e n , drei Stichreihen unter dem R a n d , am Bauch verziert mit sechsschleifigem Bogenband aus Ritzlinien, gefüllt mit zwei bis drei Stichreihen (Abb. 2). Nach Meinung der Ausgräberin gehöre dieses Gefäß zu Grab 83 und sei bei der Anlage von Grab 84 in dieses hineingeraten (DohrnI h m i g 1983, 69f.). 102
Abb. 2 Niedermerz, Kr. Düren.
Keramik aus bandkeramischen Brandgräbern (nach
DOHBN-
IHMIG 1 9 8 3 )
F ü r die absolute D a t i e r u n g des Gräberfeldes N i e d e r m e r z 3 s t a n d e n n i c h t m e h r als n e u n P r o b e n zur V e r f ü g u n g , d a meist keine Holzkohle v o r h a n d e n bzw. d e r e n Menge zu klein war. Leider s t a m m t keine der P r o b e n a u s einem B r a n d g r a b . Sieben d e r n e u n P r o b e n liegen zwischen 4330 u n d 3850 v. u. Z., also in e i n e m Z e i t r a u m von r u n d 450 J a h r e n , d e m e t w a die Belegungsdauer des Gräberfeldes e n t s p r e c h e n d ü r f t e . Mit 103
Ausnahme des unsicheren Brandgrabes Nr. 83 gehören die drei anderen mit Beigaben versehenen Brandgräber 20,114 und 115 in die Stufen I I a und I I c , also in einen mittleren bzw. jüngeren Abschnitt des Gräberfeldes. Mindestens seit der mittleren Linienbandkeramik ist folglich im Rheinland das Verbrennen der Toten ausgeübt worden. Die wenigen vorhandenen chronologischen Anhaltspunkte weisen etwa auf die Zeit um 4000 v. u. Z. ( D O H R N - I H M I G 1983, 47f.; 95f.). Außer aus dem Rheinland wurden nach dem zweiten Weltkrieg linienbandkeramische Brandgräber auch aus Baden, Mannheim-Seckenheim ( D A U B E R , G R O P E N G I E S S E R , H E U K E M E S , SCHÄAB 1 9 6 7 , 4 0 ; GROPENGIESSER 1 9 6 5 , 19f.) und stichbandkeramische aus Bayern, Wallerfing, Kr. Vilshofen (SIEGROTH, W A G N E R , , Z I E G E L M A Y E R 1 9 7 2 , 1 1 7 ) , bekannt. Eines der größten bandkeramischen Gräberfelder überhaupt konnte in den Jahren von 1 9 7 5 — 1 9 8 1 in Niederbayern bei Aiterhofen-Ödmühle im Landkreis Straubing-Bogen auf einem Areal von HO m Länge und 100 m Breite vollständig freigelegt werden. Das Ergebnis waren 160 Körper- und 69 Brandgräber. Eine Konzentration der Brandgräber im mittleren und nordwestlichen Teil des Gräberfeldes ließ zunächst ein plötzliches Einsetzen dieser Gräber vermuten. Es stellte sich jedoch heraus, daß der Brandritus schon zu Beginn des Gräberfeldes auftrat, sich jedoch erst am Ende der Belegungszeit endgültig in den typischen Brandgräbergruben durchsetzte (OSTERHAUS 1 9 8 1 , 58f.). Man darf auf die Publikation dieses Gräberfeldes, das sich außerdurch seine Biritualität noch durch reiche Beigabenausstattung, vor allem Spondylusschmuck, auszeichnet und Gräbergruppen erkennen läßt, gespannt sein. Erwähnt sei schließlich noch ein Gräberfeld der mittelneolithischen Gruppe Oberlauterbach von Haimbuch, Gemeinde Mötzing, Landkreis Regensburg, mit sechs Körper- und elf Brandgräbern. In ihrer Anlage und Art der Beigabenausstattung, indem z. B. Tongefäße umgestülpt über dem Leichenbrand standen, erinnern sie auffällig an die bandkeramischen Brandgräber. Nach einer ersten anthropologischen Analyse scheint es sich bei den Körpergräbern ausschließlich um Frauen- und Kindergräber zu handeln. Die Ausgräber erwägen daher, die Brandgräber für Männergräber und die unterschiedliche Bestattungsweise für geschlechts- und altersspezifisch zu halten, was bei der geringen Anzahl der Gräber jedoch nicht mehr als eine Vermutung darstellen kann ( R I E D M E Y E R - F I S C H E R , P L E Y E R 1983, 36ff.). Zeitlich ist die in Südostbayern, in Niederbayern und der Oberpfalz südlich der Donau vertretene Oberlauterbacher Gruppe zwischen dem Ende der Linienbandkeramik in Niederbayern und dem Beginn der Münchshöfener Gruppe einzuordnen; absolute Daten liegen nicht vor. I n der ersten Phase lassen sich Beziehungen zur Hinkelsteingruppe erkennen, die zweite Phase ist mit der Großgartacher Gruppe und der mittleren Stichbandkeramik zu parallelisieren, während die jüngste Einflüsse der späten Stichbandkeramik und aus der Lengyel-Kultur aufweist ( B A Y E R L E I N 1985, 99). Auf dem Gebiet der ÖS SR zählte man Mitte der 50er Jahre 26 stichbandkeramische Brandgräber (STEKLA 1956), denen sich inzwischen weitere hinzugesellten, so in Melnik-Mlazice (SKLENÄR 1969) und Libechov, Bez. Melnik ( L I C K A 1981) sowie auf dem jüngerlinienbandkeramischerf Gräberfeld von Nitra in der Slowakei. In einem vorläufigen Zwischenbericht über 76 Gräber erwähnt J . P A V U K (1972, 39) mindestens acht Gruppen verbrannter menschlicher Knochen zusammen mit Scherben der jüngeren Linienbandkeramik und der älteren Zeliezovce-Gruppe, verteilt auf einer verhältnismäßig kleinen Fläche, die jedoch bei der Abdeckung der oberen Erdschichten durch Bulldozer zerstört wurde. Damit soll der gewiß nicht lückenlose Überblick über die inzwischen bekannt gewordenen linien- und stichbandkeramischen Brandgräber beendet sein. Er sollte als 104
Beleg für die Erkenntnis dienen, daß die Totenverbrennung als verbreiteter Bestattungsritus erstmals in der Linienbandkeramik auftritt und Brandgräber gegenüber den Körpergräbern nach unserem heutigen Wissensstand im frühen Neolithikum zwar zahlenmäßig noch immer unterlegen, aber doch keinesfalls mehr als Ausnahme zu bezeichnen sind wie ehedem. Das wird nicht zuletzt besonders eindrucksvoll durch den in Thüringen entdeckten birituellen Begräbnisplatz von Wandersleben, Kr. Gotha, unterstrichen. Auf dem 1981—1982 ausgegrabenen Gräberfeld der mittleren Linienbandkeramik konnten 179 Körpergräber festgestellt werden; die Zahl der Bestatteten ist noch etwas höher, da sich bei der anthropologischen Untersuchung herausstellte, daß mancher mehr oder weniger verstreute Fundkomplex Teile mehrerer Individuen enthält, und zudem einige Gräber durch den Ackerbau, vor allem aber durch die Planierraupe vernichtet sind. Davon abgesehen ist das Gräberfeld vollständig ausgegraben worden. Die Körpergräber verteilen sich unregelmäßig über eine Fläche von 65 m in N-S-Richtung und rund 30 m in O-W-Richtung. Im südlichen, nur spärlich belegten Teil, bis etwa in die Mitte streuend, konzentrieren sich auf einer Länge von rund 30 m in W/NW-S/SORichtung und einer Breite von rund 15 m 132 Brandgräberkomplexe. Die Zahl der beigesetzten verbrannten Individuen war sicherlich weit größer, denn die meisten Gräber liegen sehr flach unter der Erdoberfläche und sind dementsprechend in vielen Fällen zerstört worden; außerdem wird nicht selten der Leichenbrand völlig vergangen sein. Nach dem derzeitigen Untersuchungsstand ist wahrscheinlich, daß zumindest eine Zeitlang Körper- und Brandbestattungen nebeneinander üblich waren. Die Frage, ob sich darin die Existenz von zwei Bevölkerungsgruppen mit unterschiedlichen Bestattungssitten oder der Übergang von der einen zur anderen Sitte ausdrückt, kann zur Zeit nicht beantwortet werden. 1 Zur Frage, wo innerhalb des Verbreitungsgebietes der Bandkeramik erstmals Brandbestattungen auftreten, gab es von Anfang an unterschiedliche Auffassungen (HOITMANI* 1973, 71 f.). Auch die gegenwärtige Quellerisituation erlaubt es noch nicht, zu absolut schlüssigen Folgerungen zu gelangen. Verfn. neigt dazu, sich vorläufig den Auffassungen von M. Zapotocka (STEKLA 1956, 722; ZAPOTOCKA 1967, 78f.; 1970, 45f.) und S. V E N C L (1961, 114) anzuschließen, die das Aufkommen der Leichenverbrennung mit dem Übergang von der Linien- zur Stichbandkeramik in Böhmen in Zusammenhang bringen. Eine plausible Erklärung fände dann auch das Auftreten von Brandgräbem im sächsischen Elbegebiet. Durch enge Beziehungen von im Flußtal siedelnden stichbandkeramischen Bevölkerungsgruppen zu den böhmischen wurde der neue Ritus übernommen. Schwieriger wird es hingegen, eine Begründung für die Anlage der Brandgräber auf den Gräberfeldern von Arnstadt und Wandersleben zu finden, die aus der mittleren bis jüngeren Linienbandkeramik Thüringens stammen. Sollte sich hier die Entwicklung so verzögert haben, daß das, was wir — ausschließlich aus stilistischen Erwägungen — für mittel- bis spätlinienbandkeramisch halten, gleichzeitig mit den Hinterlassenschaften von Gentilkollektiven war, die in Böhmen und Sachsen bereits den Übergang zur Stichbandkeramik vollzogen hatten? Für das Elster-Saale-Gebiet rechnen auch D. K A U F M A N N und K.-H. Y O R K ( 1 9 8 5 , 8 5 ) mit einer zeitlichen Überschneidung von jüngster Linien- und früher Stichbandkeramik. Indem sie auf Grund von Neufunden einen bestimmten Verzierungsstil der jüngsten Linienbandkeramik, der auch in älteren Arbeiten mehrfach als Sondererscheinung Beachtung fand, in einen größeren Zusammenhang stellten, eröffneten sie zugleich eine neue Sicht auch auf die Frage nach der Herkunft des Brandritus. Wenn es sich künftig noch deutlicher erweist, daß der besondere Verzierungsstil in dem Gebiet zwischen Saale, Weißer 105
Elster und Pleiße auf Impulse aus dem Bereich der östlichen Linienbandkeramik, speziell der Zeliezovce- und Bükk-Gruppe, zurückgeht, und die böhmische und mährische Linienbandkeramik, insbesondere die Sarka-Tonware, als mögliche Mittler in Betracht zu ziehen sind (KAUFMANN/YORK 1985, 87), dann könnte die neue Bestattungssitte in diesem Zusammenhang in das Elbe-Saale-Gebiet gelangt sein, zumal J . PAVTJK — wie bereits dargelegt — auf dem Gräberfeld von Nitra in der Slowakei Brandgräber zusammen mit Scherben der jüngeren Linienbandkeramik und der älteren ¿eliezovce-Gruppe beobachten konnte. Bei ihrem Versuch einer historischen Deutung ziehen D. KAUFMANN und K . - H . YORK (1985, 90) bei aller gebotenen Vorsicht wohl zu Recht die Möglichkeit in Betracht, daß eingewanderte Bevölkerungsteile auf einheimischer Grundlage als Schöpfer des neuen Verzierungsstiles gelten dürfen. Es wäre verwunderlich, hätten sie darüber hinaus nicht noch mehr mitgebracht, z. B. auch bisher unbekannte Ideen und Vorstellungen. So gesehen wäre in den ehemaligen Ländern Sachsen-Anhalt und Thüringen unter Umständen der Brandritus tatsächlich noch vor dem Auftreten der Stichbandkeramik mit der jüngeren Linienbandkeramik zu verbinden (KAUFMANN 1976, 72), vermutlich in einer Zeit, da in Böhmen und Sachsen der Übergang zur Stichbandkeramik bereits vollzogen war Ungeachtet vieler Unsicherheiten kann jedoch bei der gegenwärtigen Quellensituation erwogen werden, daß die neue Bestattungssitte im Zusammenhang mit dem Übergang von der Linien- zur Stichbandkeramik gestanden und sich in verschiedenen Wellen auf unterschiedlichen Wegen über einen längeren Zeitraum hinweg verbreitet haben dürfte, so wie auch andere typische Elemente der materiellen Kultur und der geistigen Vorstellungswelt. Der Brandritus gehört inzwischen zu jenen kulturellen Erscheinungen in der Bandkeramik, die in fast allen wesentlichen Siedlungszentren dieser ältesten neolithischen Bauernbevölkerung vorhanden sind. Der weitgehend komplexe Charakter der bandkeramischen Kultur über weite Strecken hinweg läßt eine unabhängige Entstehung in den einzelnen Siedlungsgebieten als weniger glaubhaft erscheinen, darf aber trotzdem nicht völlig aus dem Auge gelassen werden. Auch die Annahme seiner autochthonen Entstehung etwa auf dem Gebiet der ÖSSR ist vorläufig nicht mehr als eine Arbeitshypothese, d i ausreichende Belege aus dem Frühneolithikum Südosteuropas, vor allem aus den östlichen Gruppen der Bandkeramik, für eine eventuelle Herleitung von dort bisher ausstehen (HOFFMANN 1973,88ff.). Die auf stilistischen Beobachtungen beruhenden Parallelisierungen der verschiedenen älteren und jüngeren bandkeramischen Gruppen des weiträumigen östlichen und westlichen Verbreitungsgebietes (Abb. 3 ; BAYERLEIN 1985, 1 0 0 ; LICHARDUS 1972, 121) sind notwendig und auch bis zu einem bestimmten Grade aussagekräftig, aber eben doch nur Hilfskonstruktionen. Sie und alle auf dieser Grundlage gezogenen Schlußfolgerungen, auch die über das erste Auftreten des Brandritus, bedürfen der kritischen Überprüfung, sobald absolute Daten vorliegen, wie z. B. jetzt für das Gräberfeld Niedermerz 3. Eine C''-Datierung dieser Brandgräber in die Zeit um 4 0 0 0 v. u. Z. würde unseren Vorstellungen vom Entstehen der neuen Bestattungssitte am Übergang von der jüngeren Linienbandkeramik zur Stichbandkeramik nicht widersprechen, da sich dieser Übergang in den zentralen Teilen Mitteleuropas um 4000 bis 3800 vollzogen haben dürfte (QUITTA 1967, 116) und sich Ideen relativ schnell ausbreiten können. In der gegenwärtigen Quellensituation, obgleich sich diese in den letzten Jahrzehnten wesentlich verbesserte, fehlen uns noch immer schlüssige Antworten auf viele Fragen, besonders aber auf die zentrale Frage nach dem Motiv des Übergangs zum Brandritus. Wer waren diejenigen, die sich vom Althergebrachten lösten, und 106
wer jene anderen, die an der Körperbestattung festhielten ? Unterschieden sie sich — wenn überhaupt — nur durch verschiedenartige Vorstellungen von Tod und Jenseits, oder gab es darüber hinaus auch Trennendes im Diesseits ? Warum hat sich die neue Sitte nicht ganz durchgesetzt? Wie ist die außer in Böhmen und Mitteldeutschland relativ ärmliche Ausstattung der Brandgräber, von Ausnahmen abgesehen, zu erklären ? Seit dem Erscheinen der Arbeit von U. S C H L E N T H E K (1960) über Verbreitung und Ursachen der Leichenverbrennung liegt eine zusammenfassende Darstellung des entsprechenden ethnographischen und archäologischen Materials außereuropäischer Völker vor, das jedoch f ü r die Zeit vor der Einflußnahme der großen Weltreligionen wie z. B. Buddhismus und Hinduismus recht spärlich ist. Von einer sehr schmalen Basis her sind jedoch mit gebotener Vorsicht bestimmte Verallgemeinerungen erlaubt. So besteht keine Bindung der Brandbestattung an einen bestimmten wirtschaftlichkulturellen Typ oder an eine Klimazone; sie fand Anwendung bei Jägern und Sammlern, z. B. in Tasmanien, Australien, Patagonien und den asiatischen Gebieten der UdSSR, sowie bei bäuerlichen Kulturen und solchen, die bereits Merkmale einer frühen Klassengesellschaft aufweisen — praktisch also bei sehr vielen Völkern, ohne eine Gesetzmäßigkeit hinsichtlich ihrer Verbreitung erkennen zu lassen ( T O K A E E W 1968, 33f.). Dabei scheint es wenige Gruppen gegeben zu haben, bei denen die Verbrennung zumindest zeitweise die einzige Bestattungsart war, wie z. B. in den ältesten Kulturen Patagoniens und in der Hohokam-Kultur im Südwesten Nordamerikas. Meist stehen wenige Brandbestattungen einer weitaus größeren Anzahl von Körperbestattungen mannigfaltigster Art gegenüber. Auf Erscheinungen wie die europäische Urnenfelderkultur, die für Jahrhunderte den Grabritus fast ganz Europas und über dessen Grenzen hinaus bestimmte, ist man bisher in den außereuropäischen Erdteilen in der Vorklassengesellschaft jedoch noch nicht gestoßen. Die Brandbestattung stellt also in der Urgesellschaft ein Element der geistigen Kultur bzw. des Überbaus dar, das auf der ganzen Welt und zu allen Zeiten bei Menschengruppen unterschiedlicher Entwicklungsstufen auftrat. Aus den ethnographischen Quellen wird zugleich deutlich, welche Fülle von Motiven der Totenverbrennung zugrunde liegen kann. Häufig besteht ein Zusammenhang zwischen Brandbestattung und sozialer Differenzierung, indem herausragende Persönlichkeiten verbrannt wurden, um den höheren Rang über den Tod hinaus zu manifestieren, so in Ozeanien, Afrika, Mittel- und Südamerika bei Priestern, Adel, Königen und deren Familienmitgliedern. Nicht zuletzt wurden Zauberer und Schamanen verbrannt, um mit dem Körper zugleich ihre Zauberkraft zu zerstören. Verbrannt wurden in Mikronesien an einer ansteckenden Krankheit Verstorbene mit Haus und Habe, in Melanesien unheilbar Kranke, oft auf eigenen Wunsch, und in Australien Alte und Kranke, die dem Stamm nicht auf seiner Wanderung folgen konnten. Bei einigen australischen Stämmen sollen nur Frauen und Kinder verbrannt worden sein. In allen außereuropäischen Erdteilen gibt es die Sitte, auf Kriegszügen Gefallene einzuäschern und die Asche mit in die Heimat zu nehmen. In Afrika verbrannte man erfolglose Zauberer sowie Ordaltote und vollzog auch häufig die Todesstrafe durch Verbrennen. Schließlich ist in Südamerika die Verbrennung der Toten Bestandteil endokannibalischer Riten, indem die Asche in einem Getränk zu sich genommen wurde. Doch kehren wir zurück in das urgeschichtliche Europa. Schon in den Anfangsjahren der Urgeschichtsforschung beschäftigten sich nicht wenige Fachvertreter mit den Hintergründen des Totenkultes. Mehrfach wurde die Auffassung vertreten, daß der Zufall zur Entstehung der Brandbestattung geführt habe: Die in den Gräbern 107
angezündeten Feuer hätten bei der Enge des Raumes vielfach zur Ve;kohlung der Leiche geführt. Von dieser unbeabsichtigten Nebenwirkung bis zum vorsätzlichen Ganzbrand sei es dann nur noch ein kleiner Schritt gewesen, indem das Zufällige zum Gewohnheitsmäßigen wurde. Dem hielt jedoch schon M. EBERT (1922, 16) entgegen, durch Herdfeuer verkohlte Leichen fänden sich bereits zahlreich im Paläolithikum, ohne daß daraus die Sitte der Brandbestattung entstanden sei, da die geistige Disposition dafür noch nicht vorhanden war. Auch wies er Vorstellungen zurück, im frühen Totenkult bereits eine Unterscheidung zwischen Körper und Seele als getrennte und doch geheimnisvoll einander verbundene Bestandteile des menschliche]] Ichs, zwischen Materie und Geist, annehmen zu müssen. Wir möchten dieser Auffassung zustimmen und vermuten, daß es in der Vorstellungswelt der Bandkeramiker einen Dualismus zwischen Leib und Seele noch nicht gab und der Brandritus noch nicht Ausdruck des Glaubens an eine unsterbliche Seele war, wie es später weltweit zu beobachten ist. Ethnographische Quellen vermelden weit verbreitet, aber besonders häufig in Afrika, eine Furcht vor dem Wiedergänger, die Angst vor der Rückkehr des Toten, um die Hinterbliebenen zu erschrecken oder ihnen gar Unglück zu bringen. Trotz des Erlöschens der Lebensfunktionen rechnet man mit seiner Weiterexistenz als „lebender Leichnam", von dessen Belästigungen man sich nur durch Ausgraben der sterblichen Überreste und der Verbrennung der Knochen als Sitz der Lebenskraft befreien kann. Auch bei den europäischen Völkern waren solche Vorstellungen weit verbreitet, wovon die Volkskunde zu berichten weiß. Dürfen wir ähnliche Gedankengänge unseren Bandkeramikern unterstellen, in deren Körperbestattungssitten E r scheinungen wie Bauchbestattung, Fesselung oder Zerstückelung meist als Ausdruck von Totenfurcht interpretiert werden (KAIILKE 1954, 128f.)? Die Hoffnung, durch die Verbrennung des Körpers die Wiederkehr des Toten gänzlich unmöglich zu machen, könnte ein Motiv beim Übergang zur Brandbestattung gewesen sein. Sollte die Erkenntnis, daß es sich dabei um ein ebenso untaugliches Mittel wie die anderen Versuche handelt, eine stärkere Ausbreitung des neuen Ritus verhindert haben? Niemals werden wir erfahren, ob Angst oder Pietät gegenüber dem Toten die ursprünglichere Empfindung war. Bis zum heutigen Tage, aber wohl besonders stark in der Urgesellschaft, werden die Gefühle für die Toten von einer starken Zwiespältigkeit geprägt. Einerseits weicht man vor ihnen als vor etwas Lebensfeindlichem und Grauenerweckendem instinktiv zurück, aber andererseits fühlt man sich mit ihnen weiterhin untrennbar verbunden. Einmal mag diese Vorstellung die Oberhand gewinnen, einmal jene, geprägt von der Zwiespältigkeit des Gefühls für den verstorbenen Freund oder Verwandten. E i n solches dialektisches Verhältnis von Verehrung und Furcht, wofür wir j a im Deutschen das treffende Wort „Ehrfurcht" besitzen, dürfen wir vielleicht auch den Bandkeramikern zubilligen. Schließen möchte Verfn. mit den Worten S. A. TOKAKEWS (19G8, 681 f.): „Aus den obigen Ausführungen geht hervor, daß die irdischen Wurzeln einer religiösen Vorstellung oder Zeremonie durchaus nicht immer leicht zu entdecken sind; manchmal gelingt es überhaupt nicht. Aber es ist nicht deshalb unmöglich, weil solche irdischen Wurzeln nicht vorhanden sind, sondern deshalb, weil sie häufig in ferner Vorzeit zu suchen sind. Sehr oft erschweren es der Mangel an Tatsachenmaterial oder auch die Unzuverlässigkeit der vorhandenen Informationen, bis zu den Quellen einer Glaubensvorstellung, eines Dogmas, eines Rituals vorzudringen. In diesen Fällen müssen wir uns einstweilen mit einer Hypothese begnügen, die wir aber keinesfalls als gesicherte Wahrheit ausgeben dürfen, oder wir müssen sogar die Frage einfach offenlassen." 108
Anmerkungen 1 Diese I n f o r m a t i o n über das noch unveröffentlichte Material verdanke ich dem Direktor des Museums f ü r Ur- u n d Flühgeschichte Thüringens, H e r r n Dr. habil. R . F E U S T E L .
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110
Religion u n d K u l t • Beilin 1989 • Seiten 111-139
Kultische Äußerungen im Frühneolithikum des Elbe-Saale-Gebietes Von Dieter Kaufmann
Wie kaum ein anderer Bereich zeigt die Erforschung der Sphäre geistig-religiöser Vorstellungen in urgeschichtlicher Zeit die begrenzten Möglichkeiten, die der Archäologie zu Gebote stehen. Und doch sind gerade in den letzten Jahrzehnten auch auf diesem Gebiete große Fortschritte erzielt worden. Bezogen auf die Linienbandkeramik formulierte N . N I K L A S S O N (1925, 79) vor 60 J a h r e n : „Nirgends in Europa und außerhalb des Balkans sind meines Wissens Tonidole zusammen mit Linienbandkeramik angetroffen worden." Und dreizehn Jahre später schrieb W. B U T T L E E (1938, 31): „Plastik und figürliche Darstellungen sind der deutschen Bandkeramik von Haus aus fremd. Damit steht unsere Kultur im Gegensatz zu den südosteuropäischen Gruppen der Donaukultur, in denen plastische Gebilde, augenscheinlich als Kultidole, überaus reichlich vorkommen." . Wie unzureichend die Quellenlage vor 60 Jahren war, verdeutlicht vor allem die Aussage von R . STIMMING ( 1 9 2 5 , 3 5 ) , der nach der Bergung von vereinzelten Menschenknochen in Verbindung mit linienbandkeramischen Funden feststellte: „Nach diesem Befund vermute ich, daß die Träger des bandkeramischen Kulturkreises Menschenfresser waren." Diese und ähnliche Aussagen haben lange Zeit unser Bild über die religiöse Vorstellungswelt der frühen Bodenbauer und Viehhalter des 5. und 4. Jahrtausends v. u. Z. im Elbe-Saale-Gebiet nicht unwesentlich beeinflußt. Obwohl gerade in den vergangenen zwei Jahrzehnten die Zahl der Funde und Befunde zum frühneolithischen Kult beträchtlich gewachsen ist, und in Abhängigkeit von der Quellenlage auch zahlreiche Studien und Materialvorlagen veröffentlicht worden s i n d e r l a u b e n diese Quellen hinsichtlich ihrer religionsgeschichtlichen Ausdeutung nicht die Möglichkeit, ein annähernd gesichertes Bild religiöser Vorstellungen der frühneolithischen bäuerlichen Bevölkerung zu zeichnen. Letztlich ist diese Situation auch Ausdruck der nach wie vor unzureichenden Zahl an großflächigen Ausgrabungen, mit deren Hilfe neue Funde und Befunde zu kultischen Vorstellungen aus jener Zeit gewonnen werden können. Mit Hilfe dieser Funde, dem Vergleich mit entsprechenden Befunden vor allem in Südosteuropa, aber auch der Einbeziehung klein- und vorderasiatischer Analogien, deren geistesgeschichtlicher Hintergrund vor allem auch wegen der ungleich günstigeren Erhaltungsbedingungen erkennbar ist, sowie völkerkundlichen Vergleichen, wobei gerade hier auf Grund nicht in jedem Falle übereinstimmender gesellschaftlicher und ökologischer Bedingungen mit quellenkritischer Vorsicht zu Werke gegangen werden sollte, ist der Versuch zu unternehmen, die religiösen Vorstellungen der bäuerlichen frühneolithischen Bevölkerung zu erschließen. Eine zusammenhängende Arbeit steht noch aus. Ethnographische Parallelen sind immer wieder herangezogen worden (beispielsweise B E H M - B L A N C K E 1958; J A M E S 111
1960; TOKAREW 1976). Spätestens jedoch seit den umfangreichen Ausgrabungen im mediterranen Raum (etwa Qatal Hüyük in Anatolien; vgl. MELLAART 1967) und dem Nachweis aufsehenerregender Opfer- und Kultbefunde auf dem Balkan und in Mitteleuropa 2 sowie nach Vorliegen methodischer Beiträge aus religionskundlicher und archäologischer Sicht 3 ist es mehr denn je notwendig geworden, den gegenwärtigen Stand in der Erforschung religiöser Vorstellungen im Frühneolithikum zu umreißen, um die neuen Aufgaben formulieren zu können. Diese Forderung soll an einem Beispiel verdeutlicht werden: So wichtig es ist, alle Funde und Belege zum frühneolithischen Fruchtbarkeitskult vorzulegen und detailliert zu behandeln, ist es unzulässig, die tönernen anthropomorphen und zoomorphen Plastiken, geritzten, gestochenen und Reliefdarstellungen, Applikationen und Gefäße in den Vordergrund derartiger Untersuchungen zu stellen und dabei die weitaus aussagekräftigeren Befunde kultisch bedingter Anthropophagie und menschlicher Opfer zu vernachlässigen. In der vorliegenden Arbeit können selbstverständlich auch nicht alle materiellen Ausdrucksmittel der frühneolithischen Religiosität (hierzu allgemein MAKINGER 1956, 45) behandelt werden, doch soll dieser Beitrag dazu anregen, möglichst in naher Zukunft alle entsprechenden Quellen in ihrer geistesgeschichtlichen Verzahnung zusammenfassend zu behandeln. Welche archäologischen Quellen, die Aussagen über die religiösen Vorstellungen der frühneolithischen Bevölkerung im Elbe-Saale-Gebiet ermöglichen, stehen uns zur Verfügung ? Es lassen sich folgende Quellengruppen unterscheiden' 5 : 1. Plastische und halbplastische anthropomorphe und zoomorphe Darstellungen, Amulette sowie Anhänger, darunter auch anthropomorphe und zoomorphe Gefäße, Altärchen, Gefäße mit Protomen bzw. tierköpfigen Applikationen sowie mit ovaler Formgebung; schildförmige Amulette, „sternförmige" Anhänger; evtl. gehören hierher auch anthropomorph gestaltete Knochenspatel. 5 Erwähnenswert ist der Neufund eines Idolfragmentes bei Bilzingsleben, Kr. Aitern 6 , das auf Grund seiner Gestaltung (Abb. 1) wichtige Hinweise für die Beeinflussung der linienbandkerarnischen „Idolatrie" durch "Südosteuropäische Kulturgruppen vermittelt. Es ist bereits an anderer Stelle darauf aufmerksam gemacht worden (KAUFMANN 1976b, 88, Tab. 2), daß ein Großteil der walzenförmigen Idole auf Vorbilder aus der Körös-Kultur zurückzuführen ist. Der
Abb. 1 Bilzingsleben, Kr. Arte rn. Idolfragment der mittlörön Linienbaiidkerainik. 11 1 112
Neufund des Idoltorsos von Bilzingsleben besitzt seine Vorbilder in der Vinca-Kultur, deren flache Idole ebenso wie das Stück von Bilzingsleben rechtwinklig abgehende Armstümpfe aufweisen ( H Ö C K M A N N 1 9 6 8 , 5 0 , Taf. 2 1 u . a . ; M Ü L L E R - K A R P E 1 9 6 8 , Taf.
144-145).
Aus dem Elbe-Saale-Gebiet liegt kein vollständig erhaltener Kultgegenstand dieser Quellengruppe vor (KAUFMANN 1976b, 90). Das trifft auch für das gesamte Verbreitungsgebiet der Linienbandkeramik zu (HÖCKMANN 1972, 190). Nicht nur der Hinweis auf das allgemeine Vorkommen zerschlagener oder zerbrochener Idole, sondern auch das von 0 . H Ö C K M A N N (1972, 190) angeführte Beispiel, daß sich von den weit über 1000 Idolen auf der Fundstelle Vinca nur ein verschwindend kleiner Bruchteil aus Fragmenten ergänzen ließ, obgleich ein nicht kleiner Teil der Siedlung ausgegraben worden ist, sprechen dafür, daß es sich hier nicht um zufällig fragmentierte, vielmehr um intentioneil zerbrochene Idole handelt (siehe auch M A R I N G E R 1979, 762). Dagegen müssen auch nicht die an einzelnen Idolfragmenten festgestellten Spuren einer Reparatur oder Bearbeitung für eine Zweit- oder Erneutverwendung sprechen (KAUFMANN 1976b, 90; M A U R E R 1982, 59; H Ö C K M A N N 1985, 94). Möglicherweise zerbrachen diese Idole zufällig vor dem Zeitpunkt ihrer absichtlichen kultischen Brechung. In diesem Zusammenhang ist auch auf separat modellierte Kopf- und Körperteile von Idolen hinzuweisen ( D O B I A T 1975, 41 f.; H Ö C K M A N N 1985, 93f.). Auf den geistesgeschichtlichen Hintergrund der separaten Modellierung, vor allem jedoch der intentioneilen Brechung von Idolen ist noch einzugehen. Idolfragmente sind bislang niemals als Grabbeigabe beobachtet worden (HÖCKMANN 1972, 190). Die meisten Statuetten stellen Frauen dar, wenn auch an der Existenz von männlichen Idolfiguren nicht zu zweifeln ist (HÖCKMANN 1972, 189f.). Für die Deutung der Idole ist zudem von Belang, daß etwa im Gegensatz zu den weitgehend kanonisch gestalteten Idolen der Vinca-Kultur im Verbreitungsgebiet der Linienbandkeramik des Elbe-Saale-Gebietes die unterschiedlichsten Idolformen auftreten (KAUFMANN 1976b, 86f.), ja man kann sogar so weit gehen festzustellen, daß keines der bisher gefundenen Idole einem anderen weitgehend gleicht. Aus dieser Feststellung ergibt sich zwangsläufig die Frage, was oder wer in diesen Idolen dargestellt oder verkörpert sein soll. R . P I T T I O N I ( 1 9 8 0 , 2 0 ) schreibt: „Es scheint, daß man bereits zur Zeit der Linearkeramik einer weiblichen Fruchtbarkeitsgottheit gehuldigt hat." Von dieser Überlegung ist es nur noch ein kleiner Schritt bis zu dem Gedanken, daß die weiblichen Idolfiguren diese Gottheit darstellen könnten ( M A R I N G E R 1 9 5 6 , 2 4 2 ) . Dagegen spricht jedoch einmal die nicht einheitliche Gestaltung der weiblichen Statuetten, deren Übereinstimmung am ehesten in der Wiedergabe der primären und sekundären Geschlechtsmerkmale besteht, zum anderen die Vielfalt aller materiellen Äußerungen, die verschiedene Riten im Rahmen des Fruchtbarkeitskultes vermuten lassen. 7 K.-H. O T T O ( 1 9 7 9 , 3 4 ) spricht im Zusammenhang mit den Kultbefunden von Qatal Hüyük davon, daß „die Frau als Muttersymbol, als Gebärende, als verehrungswürdiges Symbol der Fruchtbarkeit, auch im Hinblick auf die organischen Erzeugnisse eine große Rolle gespielt hat". 8 Man wird also nicht fehlgehen, wenn man die weiblichen Statuetten, deren Kopf-, vor allem Gesichtsdarstellung weitgehend abstrakt erfolgte, eher als personifizierte Fruchtbarkeitssymbole denn als Wiedergabe einer personifizierten Fruchtbarkeitsgöttin deutet (vgl. auch M A R I N G E R 1956, 240). Sicherlich läßt es sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht beweisen, ob eine solche Gottheit verehrt wurde oder ob diese „Verehrung" im weitesten Sinne nur der Fruchtbarkeit allgemein galt. Die religiösen Vorstellungen der frühneolithischen Bevölkerung sind ein — freilich 8
Religion und Killt
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verzerrtes — Spiegelbild der Wirtschaftsweise, des täglichen Lebens und der Beobachtung vom Werden und Vergehen der Umwelt. Dieses Weltbild umfaßt vor allem die Spanne zwischen den beiden Polen Saat und Ernte bzw. Absterben der Vegetation und damit auch zwischen Geburt und Tod (MARINGER 1956, 224). Dieses Weltbild drückt sich letztlich in irrationaler Form in der religiösen Vorstellungsweit, in den Riten und Kulten und deren materiellen Äußerungen aus. Selbstverständlich schließen diese Vorstellungen die Tierwelt, vor allem die Haustiere, und die Grabsitten, aber auch den Gedanken des Opfers an diejenigen Kräfte mit ein, die das Schicksal, das Werden und Wachsen der menschlichen Gemeinschaft, der Haustiere und der Kulturpflanzen wesentlich beeinflussen können. Gegenüber den weiblichen und wenigen männlichen Tonstatuetten sind die zoomorphen Plastiken und Gefäße, wenn wir einmal von zoomorphen Applikationen und Protomen absehen, realistischer gestaltet. Unter den zoomorphen Darstellungen, bei denen es sich in erster Linie um Haustiere handelt, fallen das vogelförmige Gefäß von Zauschwitz, Kr. Borna (KAUFMANN 1976b, 71, Abb. 7c), und die halbplastischen Schlangendarstellungen in Gefäßen der Zselizer Gruppe (PAVUK 1964, 5ff.) und der späten Stichbandkeramik von Piskowitz, K r . Meißen, auf (BAUMANN 1976, 99f. und Abb. 2 - 3 ) , die nicht so recht in das Bild des frühneolithischen Fruchtbarkeitskultes passen wollen. Möglicherweise sind sie mit dem Totenkult in jener Zeit in Verbindung zu bringen. In Anlehnung an Darstellungen in Kulträumen von Qatal Hüyük, in denen Geier nach kopflosen Menschen hacken (MELLAART 1967, 197ff., Abb. 1 4 - 1 5 und 47, Tai. 45 und 48—49), könnte der Vogel in der religiösen Vorstellungswelt auch der Bandkeramiker mit dem Totenkult in Zusammenhang gebracht werden. Die Schlange wird als Symbol chothnischer Gottheiten und des Wassers gedeutet (MARINGER 1979, 765). Tatsächlich dürfte das Wasser im Fruchtbarkeitskult der frühbäuerlichen Bevölkerung eine nicht unbedeutende Rolle gespielt haben (MARINGER 1973, 705ff.; ders. 1974, 309ff.), wie Figural- und Figurengefäße, etwa von Erfurt-Rankestraße ( B E H M - B L A N C K E 1964, 39ff.; zuletzt W A M S E R 1980, 26ff.), belegen. Dabei kommuniziert in der Regel ein kleines vor der Brust des Figurengefäßes gehaltenes Gefäß mit diesem, dessen Inhalt als Libation oder das gesamte Figurengefäß samt Inhalt als symbolische Opfergabe zu verstehen ist. Es ist kaum anzunehmen, daß alle diese genannten Erscheinungsformen frühneolithischer Religiosität in Verbindung mit den noch zu besprechenden kultischen Äußerungen, klammern wir einmal den Totenkult aus, sich auf eine Gottheit beziehen sollen. Wenn überhaupt davon auszugehen ist, daß Gottheiten oder übernatürliche Kräfte damals verehrt wurden, dann wird man bei den Bandkeramikern am ehesten einen Polytheismus vermuten wollen. In diesem religiösen Weltbild dürften Fruchtbarkeits- und Totenkult die dominierende Rolle gespielt haben, mit denen bestimmte Mythen verbunden waren. Das erklärt auch die Verbreitung dieser Kulte über große Teile Europas im Frühneolithikum. 2. Geritzte und gestochene anthropomorphe (QUITTA 1957, 51 ff.) und szenische Darstellungen sowie Symbolzeichen in Form einer Ideenschrift (KAUFMANN 1976b, 81 ff., Abb. 13—15), Sinnzeichen bzw. Chiffren für Vorstellungen aus Religion oder Magie, wie es 0 . HÖCKMANN (1972, 187) formulierte. Das Gros dieser Quellengruppe ist zweifellos mit dem Fruchtbarkeitskult in Verbindung zu bringen. So treten Symbolzeichen an südosteuropäischen Idolen auf (HÖCKMANN 1968, u. a. Taf. 36). Einige geritzte bzw. gestochene Menschendarstellungen, so von Naumburg und Königsaue, Kr. Aschersleben (KAUFMANN 1969, 276ff.), symbolisieren den Gebärvorgang. Auf einer spätstichbandkeramischen Schale von Helbra, Kr. Eisleben, ist eine szenische 114
Darstellung eines Paares beim Tanz oder Koitus zu erkennen (KAUFMANN \ 976 a, 84, Taf. 3 1 , 3 ) . Die jüngstlinienbandkeramische Miniaturbutte von Königsaue, Kr. Aschersleben, weist eine Fülle gestochener und geritzter kultischer Darstellungen auf ( K A U F M A N N 1969, Taf. 2 5 - 2 6 ) , u. a. die Darstellung eines Gebärvorganges, auf der gegenüberliegenden Seite ein sanduhrförmiges Muster. Dieses Muster tritt noch einmal in Verbindung mit scheinbar radial angeordneten Stichreihen auf, offensichtlich die Sonne oder das Sonnenlicht symbolisierend. Auf der gegenüberliegenden Seite könnten untereinanderliegende horizontale Stichreihen den Regen wiedergeben. Aus diesen Darstellungen ist die Verehrung der Sonne und des Regens im Rahmen von Naturkulten zu erschließen. Wie die Miniaturbutte von Königsaue, aber auch weitere linien- und stichbandkeramische Gefäße mit geritzten und gestochenen anthropomorphen Darstellungen auf der Innen- und Außenseite belegen, sind sie im Unterschied zu den plastischen und halbplastischen Kultgegenständen in der Regel unversehrt oder zumindest weitgehend erhalten. Ein Teil dieser Gefäße mit entsprechenden Darstellungen stammt, soweit gesicherte Fundbeobachtungen vorliegen, aus Gräbern. Es ist bereits an anderer Stelle darauf hingewiesen worden ( Q U I T T A 1957, 76; K A U F M A N N 1976b, 90), daß am Übergang von der Linien- zur Stichbandkeramik zumindest im Zusammenhang mit den geritzten und gestochenen Darstellungen ein Wandel in den religiösen Vorstellungen erfolgte. Da einige der jüngstlinienbandkeramischen anthropomorphen Darstellungen den Gebärakt verdeutlichen, wird man den Symbolgehalt dieser Gefäße schwerlich mit dem Totenkult verbinden können, obwohl stichbandkeramische Gefäße mit anthropomorphen Darstellungen als Grabbeigaben geborgen worden sind. Diese Darstellungen, nunmehr weitgehend stilisiert, sind auch auf der Außenwandung von Gefäßen als Ornament aneinandergereiht (KAUFMANN 1976 a, Taf. 34, 10; 38, 8). 9 3. Regulär auf Gräberfeldern versenkte Körper- und Brandbestattungen als Ausdruck der Bestattungssitten (vgl. F I S C H E R 1956; H Ä U S L E E 1964; ders. 1966) und zugleich des Totenkultes der frühneolithischen Bevölkerung. Die Gräber, die in der Regel Beigaben enthalten (Glauben an ein Weiterleben nach dem Tode) und offensichtlich strengen Regeln nach Totenlage und Orientierung unterworfen waren ( K A H L K E 1954), heben sich deutlich von den sog. Siedlungsbestattungen ab. Diese Form der Bestattung im Bereich der Siedlung, abseits des Gräberfeldes, und ohne Beigaben war sowohl bei den Linien- als auch bei den Stichbandkeramikern üblich ( F I S C H E R 1956, 28; KAUFMANN? 1976a : , 76/78). Unseres Wissens hat erstmals K . B U C H T E L A (1899, 4) auf frühneolithische Siedlungsbestattungen aufmerksam gemacht. In dieser besonderen Form der Bestattung hat man soziale Unterschiede zu den regulär Bestatteten sehen wollen. Zuletzt hat E . L E N N E I S (1981, 28) darauf hingewiesen, „daß den Bestattungen in Siedlungsgruben ganz bestimmte magisch-rituelle Vorstellungen zugrundeliegen", obwohl beispielsweise an Siedlungsbestattungen, leider ist nur eine sehr geringe Zahl anthropologisch untersucht worden, bisher keine Spuren einer gewaltsamen Tötung zu erkennen gewesen sind. In Verbindung mit der Deutung von Reibsteinen als Kultobjekte (MAKKAY 1978, 13ff.) bietet sich nunmehr die Möglichkeit, zunächst diejenigen Siedlungsbestattungen mit Reibeplatte unter dem Kopf als kultisch bedingte Bestattungen zu deuten. Sie sind bislang nur für die Linienbandkeramik belegt, und zwar von Königsaue, Kr. Aschersleben (KAUPMANN 1969, 271, Abb. 1); Minsleben, Kr. Wernigerode, und evtl. Halle-Trotha (FISCHER 1956, 28f.). Die Sitte, den Toten mit dem Kopf auf einer Reibeplatte zu bestatten, ist jedoch beispielsweise auch für reguläre Gräber vom linienbandkeramischen Gräberfeld Sondershausen bekannt. So ruhte der Kopf einer Frau in Grab 8 auf einer Reibe8*
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platte aus Sandstein mit roten Farbspuren (KAHLKE 1954, 23, Abb. 6 und Taf. 6). Die weibliche Bestattung in Grab 10 besaß als Beigabe eine Reibeplatte, auf der die Füße der Toten lagen (KAHLKE 1954, 25/26, Abb. 8, Taf. 7). In Grab 20 lagder Kopf des männlichen Toten auf einer Reibeplatte (KAHLKE 1954, 35f., 126ff., Abb. 17, Taf. 14). 4. Grubenanlagen, „die nach ihrer Beschaffenheit oder nach Aussage der in ihnen gefundenen Gegenstände nicht befriedigend mit 'profanen' Aufgaben erklärt werden können" (HÖCKMANN 1972, 187). Die Deutung „nichtprofaner" Gruben schließt selbstverständlich die Klärung der Frage mit ein, ob die Gruben unmittelbar mit kultischen Handlungen in Zusammenhang zu bringen sind oder nur mittelbar Verbindungen zu kultischen Zeremonien bestanden haben, beispielsweise als Depositgruben für die „Abfälle" kultischer Opferhandlungen. Dabei spielen freilich auch die Form der Grube und ihr Inhalt eine besondere Rolle. Aus dem Elbe-Saale-Gebiet sind einige linien- und stichbandkeramische Gruben bekannt, die vor allem auf Grund ihres Inhalts mit kultischen Manipulationen im Kontext gesehen werden müssen. Abgesehen von den schlitzförmigen Gruben des entwickelten Neolithikums(?) von Erfurt-Gispersleben (GALL 1975, 34ff.)," die entsprechend analogen Befunden aus einer Siedlung der entwickelten Lengyelkultur von Branc, u. a. Schlitzgrube mit dem Schädel eines Urs (VLADAR 1969, 506f., Abb. 6-7), kultisch gedeutet werden können, die jedoch andererseits profan, nämlich im Zusammenhang mit der Gerberei, erklärt worden sind, fehlen bisher die von 0 . HÖCKMANN (1972, 197) beschriebenen Ringgruben. Überhaupt kann nur eine Grube wegen ihres Inhalts, weniger ihrer Form, direkt mit kultischen Handlungen in Verbindung gebracht werden. Es handelt sich um eine Grube von Zauschwitz, Kr. Borna (COBLENZ 1962a, 67ff.), in der sich die absichtlich zerschlagenen menschlichen Knochen von mindestens fünf Individuen, darunter auch Kindern, Tierknochen, ein Mahlstein(!), Feuersteinreste und Keramik befanden. Form und Grad der Knochenzertrümmerung sowie Brandspuren verbinden diesen Befund eindeutig mit kultisch geübtem Kannibalismus. Natürlich schließt der Befund auch nicht aus, daß diese Grube nur als Depositgrube gedient hat, wie die im folgenden angeführten Objekte. Dazu zählen sicherlich Gruben mit den Resten von Rindergehörnen bzw. -Schädeln von Barleben, Kr. Wolmirstedt (Linienbandkeramik; L I E S 1965, 13), Zauschwitz, Kr. Borna (Stichbandkeramik; COBLENZ 1962b, 74f.), undDeersheim, Kr. Halberstadt (Stichbandkeramik; K A U F M A N N 1976a, 88). Weitere Opfer- und in Verbindung mit kultischen Manipulationen stehende Depositgruben nennt W. BATJMANN (1976, 104—106) von Zauschwitz und Dresden-Nickern, die zerbrochene Tonplastiken, Tierknochen, aber auch Kulturpflanzenreste enthielten. Das trifft analog für Gruben von Barleben, Kr. Wolmirstedt, zu (LIES 1963, 9 f f . ; 1965, 10ff.), die einen anthropomorph gestalteten Knochenspatel, eine zerbrochene menschliche Reliefplastik, eine Flasche mit Gesichtsdarstellung, Tierknochen, Reibeplatten u. a. m. enthielten. Auch die Niederlegung eines Ferkels in einer Grube von E r f u r t ( B E H M - B L A N C K E 1964, 45), zu Recht mit dem Opfer eines Ferkels in der Jungfernhöhle bei Tiefenellern in Verbindung gebracht (HÖCKMANN 1 9 7 2 , 1 9 6 ) , muß mit kultischen Vorstellungen der Linienbandkeramiker in Konnex gesehen werden. Obwohl die Zahl derartiger Opfer- oder Depositgruben insgesamt noch sehr gering ist, scheinen sich weniger von der Form dieser Gruben als vielmehr von der Zusammensetzung ihres Inhalts Übereinstimmungen abzuzeichnen, die nicht zufällig sein können, vielmehr auf indirektem Wege Einblick in kultische Manipulationen der frühneolithischen Bevölkerung ermöglichen. Immer wieder begegnen uns Fragmente tönerner 116
Kultgegenstände, Tierknochen, vereinzelt auch Menschenknochen, Mahlsteine und — wie es scheint — auch Kulturpflanzenreste. 5. Opfer- und Voti vgaben in Form von Depotfunden beispielsweise von Felsgesteingeräten. H. Q U I T T A (1955,20ff.) hat die frühneolithischen und ältermittelneolithischen Verwahrfunde, bestehend aus Feuerstein-, vor allem jedoch Felsgestein geraten, -halbfabrikaten und -rohstücken behandelt. Bei der Deutung dieser inzwischen durch zahlreiche Neufunde verhältnismäßig großen Zahl von Verwahrfunden konnte sich H. Q U I T T A (1955, 50) auf eine essentielle Arbeit von K. SCHUMACHER (1914, 29ff.) stützen, der diese Fundgruppe in Hausschätze (Versteckfunde), Werkstattfunde, „Handelsdepots" und Votivfunde unterteilt hatte. H. Q U I T T A (1955, 57) schließt eine kultisch bedingte Verwahrung von Steingeräten a priori nicht aus. Er vertritt folgende Auffassung: „Im allgemeinen scheint aber dem donauländischen Kreis ursprünglich jene zu einer kultischen Verwahrung Anlaß gebende Vorstellungswelt zu fehlen. Jedoch ist es möglich, daß im Verlauf der späten Entwicklung, vor allem bei der Berührung mit anderen Kulturgruppen, diese neuen Ideen aufgenommen wurden." Klammern wir einmal die Frage der Beeinflussung durch räumlich und zeitlich benachbarte archäologische Kulturen aus, so wäre zu prüfen, ob der Gedanke der Verwahrung von Steingeräten sich vor allem auf das Verbreitungsgebiet der westlichen Linienbandkeramik beschränkt. Inzwischen liegen Verwahrfunde vor, die eine kultisch bedingte Niederlegung von Steingeräten nahelegen ( S C H M I D T 1959, 797f.; M Ü L L E R K A R P E 1968, 346). Stellvertretend für andere Verwahrfunde sollen zwei Hortfunde aus einer bandkeramischen Siedlung von Dresden-Nickern angeführt werden, die W. B A U M A N N (1962, 69ff.) mit kultischen Vorstellungen in Verbindung bringen möchte. E r modifiziert die Auffassung von H. QUITTA, wenn er schreibt: „Das kultische Moment bei der Verwahrung von Steingeräten scheint der Bandkeramik gar nicht so fremd zu sein, . . . " ( B A U M A N N 1962, 74). 6. Schädel- und Stückelbestattungen sowie vereinzelte menschliche Knochen in Siedlungsgruben. Mit dieser Problematik hat sich ausführlich E. H O P E M A N N (1971, l f f . ) beschäftigt. Mißt man die von ihr (und von K A U E M A N N 1976a, 88, f ü r die Stichbandkeramik) beschriebenen Befunde mit menschlichen Knochen an den von H . J A N K U H N (1968, 59ff.) und R . R O L L E (1970, 47) vertretenen methodischen Bedenken, so bleibt von 13 Befunden, wobei hier die „Schädelbestattungen" von Quedlinburg und Taubach einmal außer acht gelassen werden sollen, nur der von Zauschwitz, K r . Borna (COBLENZ 1962a, 67ff.; H O F F M A N N 1971, 23/24), als Beleg f ü r kultisch geübten Kannibalismus. Erst eine subtile anthropologische Untersuchung wird unter Beachtung der von H . J A N K U H N und R. R O L L E postulierten Kriterien ausweisen müssen, ob die von E. H O F F M A N N (1971) und D . K A U F M A N N (1976a) angeführten Funde vereinzelter menschlicher Knochen als Beleg für kannibalische Riten in der Linien- und Stichbandkeramik in Anspruch genommen werden können. Die von E. H O F F M A N N zitierten „Schädelbestattungen" von Quedlinburg und Taubach (vgl. hierzu zuletzt K A U F M A N N 1976a, 88/89) dürften als „Opfer im Rahmen der Fruchtbarkeitsmagie" zu deuten sein. Auf Grund des Alters muß auch der Schädel von Taubach als Beleg für eine mögliche Ahnenverehrung ausscheiden (demgegenüber H O F F MANN 1971, 21). Sehen wir einmal von den Beobachtungen D . K A H L K E S (1954,131 ff.) auf dem linienbandkeramischen Gräberfeld von Sondershausen ab (intentioneile „Zerstörung" von Skeletten in den Gräbern 13 und 14; Fehlen der linken Hand und des linken Unterarmes am Skelett in Grab 18), so stehen uns nur wenige gesicherte Befunde zur Auswertung zur Verfügung. Für das Elbe-Saale-Gebiet sind noch die Funde eines menschlichen Schädels in einer bandkeramischen Grube bei Zauschwitz, 117
Kr. Borna (KAHLKE 1954, 130), und des Skeletts eines etwa 8—10jährigen Mädchens ohne Kopf von Nerkewitz, Kr. J e n a (HOFFMANIT 1971, 12), nachzutragen. Auch aus den benachbarten Gebieten liegen Nachrichten über die Bestattung von Menschen vor, denen Köpfe oder Gliedmaßen fehlten. 1 0 7. Eine wichtige Quellengruppe zur religiösen Vorstellungswelt der linien- und stichbandkeramischen Bevölkerung ist im Elbe-Saale-Gebiet noch nicht nachgewiesen, nämlich Opfer- und Kultplätze. W. BAUMANK (1976, 104f.) hat „Opfergruben" in bandkeramischen Siedlungen von Zauschwitz, Kr. Borna, Barleben, K r . Wolmirstedt, und Dresden-Nickern als Teile bandkeramischer Opferplätze gedeutet. Doch ist hier insofern Vorsicht geboten, als nicht gesichert ist, ob es sich tatsächlich um „Opfergruben" oder nur um Depositgruben mit Resten kultischer Zeremonien handelt. Es bedarf weiterer Faktoren, die eine Stelle als Opferplatz ausweisen. C. COLPE (1970, 31 ff.) hat drei Kriterien genannt, die bei der Deutung solcher Anlagen in Betracht gezogen werden müssen: 1. Es muß die Wiederholung von Opferhandlungen oder anderen kultischen Riten an ein und der gleichen Stelle nachweisbar sein (Kategorie der Wiederholung); 2. der urgeschichtliche Mensch hat ein „Heiligtum" nicht gemacht oder dessen Stätte nicht „gewählt", sondern, er hat diesen sakralen Ort „entdeckt" (Kategorie der Entdeckung); 3. die Kategorie der Außergewöhnlichkeit eines solchen Platzes. „Wichtig f ü r die Opferstätte war es, wo man sich den Aufenthaltsort der Gottheit dachte: War es die Erde, in der namentlich die Mutter-Göttin ihren Sitz hatte, so wurde das Opfer ganz vergraben. Dachte man sich die Götter thronend in lichten Höhen, so wurden Berggipfel bevorzugte Opferstätte" (KÖTTIKG 1984, 46). Auch wenn man nicht davon ausgehen möchte, daß die frühneolithischen Siedler in ihrer religiösen Vorstellungswelt personifizierte Gottheiten „geschaffen" hatten, wird man nicht fehlgehen anzunehmen, daß sie an solchen Plätzen opferten, „wo sich die göttliche Macht aktuell und furchterregend gezeigt h a t t e " (Blitz, Beben, Überschwemmung — überall, wo Zerstörungen erfolgten; KÖTTING 1984, 46) oder wo sie den Sitz der „übernatürlichen" K r ä f t e wähnten. Das konnten „auffällige Gestaltungen der Landschaft, Berge, Bäume, Gewässer, Haine, Stellen" sein, „an denen eine Naturkatastrophe, Blitzeinschlag usw. stattgefunden h a t " (COLPE 1970, 30). Zu ergänzen wären noch Moore und Höhlen, also solche Stellen, um die sich alsbald wegen ihrer Außergewöhnlichkeit und mit ihrer Entdeckung Mythen rankten (COLPE 1970, 30). Mythen, die, tradiert von einer Generation zur nächsten, dazu beitrugen, daß schließlich auch die Kategorie der Wiederholung von Opferhandlungen zur Regel wurde, und eine „entdeckte" Stelle zum Heiligtum einer Gemeinschaft machten. Solche frühneolithischen Opferplätze und Heiligtümer stellen beispielsweise die Jungfernhöhle bei Tiefenellern, Kr. Bamberg/BRD (KUNKEL 1955; 1958; MÜLLERKARPE 1968, 346) u n d die „Berglitzl" von G u s e n / O b e r ö s t e r r e i c h d a r (PERTLWIESER
1975, 299ff.). Wir gehen mit H. MÜLLER-KARPE (1968, 347) weitgehend konform, wenn wir meinen, daß in den neolithischen Siedlungen vor allem Mitteleuropas sich kaum Bauwerke belegen lassen, „die als reine Kultbauten gedeutet werden könnten", im Gegensatz etwa zu den Kulträumen von Qatal Hüyiik. Das t r i f f t ebenso f ü r Teile von K u l t s t ä t t e n oder von Kultobjekten, etwa Altären, in Wohnhäusern zu. Vor allem in den Kulturlandschaften des Elbe-Saale-Gebietes, in denen die alte neolithische Oberfläche durch landwirtschaftliche Überprägung und dadurch bedingte Erosionsvorgänge weitgehend zerstört ist, bedarf es schon eines glücklichen Umstandes, um 118
noch Überreste von kultischen Anlagen zu finden (vgl. auch M Ü L L E R - K A R P E 1968, 347). Am ehesten erhalten sich Opferplätze und damit auch einzelne Kultobjekte, wie etwa Altäre, in Höhlen. Dazu gehört eine merkwürdige Altaranlage der Bükker Kultur in der Höhle von Aggtelek (Nordostungarn), die durch eine Sinterschicht erhalten geblieben ist (MAKKAY 1975, 172; L I C H A R D U S 1974, 53f.). Während altarähnliche Sockel neben kuppelofenähnlichen Anlagen in Siedlungen der TripoljeKultur und verwandter Kulturgruppen verschiedentlich belegt sind ( M Ü L L E R - K A R P E 1968, 347), ist der Nachweis einer altarähnlichen Anlage in einer Siedlung der Notenkopf-Linienbandkeramik bei Herrn bau m garten, p. B. Mistelbach/Niederösterreich ( F E L G E N H A U E R 196-5, 1 ff.), nur den günstigen Erhaltungsbedingungen zu verdanken. Der aus 8 Tonplattenlagen mit einer Gesamthöhe von 25—30 cm bestehende Altar wurde in etwa 0,30 m Tiefe angeschnitten. Teilweise unter dem Sockel wurde eine langgestreckte Grube freigelegt. Der nördliche Quersockel hatte eine Größe von etwa 1 0 0 x 5 0 cm, der südliche Sockel besaß mit ca. 7 5 x 5 0 cm einen annähernd quadratischen Grundriß. Auf den einzelnen Tonplatten, in den Tonplatten selbst und in den Zwischenschichten befanden sich die für derartige Opferplätze typischen „Rückstände" : Keramik, Knochen und pflanzliche Reste. Getreidereste, aber auch Schädelreste von drei bis vier Menschen wurden ebenfalls in Verbindung mit einem Altar und zwei Gruben von Eggenburg/Niederösterreich in einer bandkeramischen Siedlung gefunden ( H Ö C K M A N N 1972, 195). Während möglicherweise auch eine reichverzierte zerbrochene Tonplatte aus . Plaidt, Kr. Mayen/BRD, als Teil eines tönernen Plattenaltars gedeutet werden könnte (MEIERA R E N D T 1969, 16, Abb. 4, 1 und 5; H Ö C K M A N N 1972, 195), kann ohne Autopsie der von H . L I E S (1965, 12) angeführten „gebrannten und zweiseitig glattgestrichenen Lehmbrocken" aus einer linienbandkeramischen Grube von Barleben die Existenz zumindest von Fragmenten eines linienbandkeramischen „Altars" f ü r das ElbeSaale-Gebiet nicht hinreichend bestätigt werden. Bei großflächigen Ausgrabungen im Bereich früh- und mittelneolithischer befestigter Siedlungen und Plätze bei Eilsleben, Kr. Wanzleben, und Quenstedt, Kr. Hettstedt, gelang es in den vergangenen Jahren, wichtige Funde und Befunde zu bergen, die unser bisheriges Wissen um die religiöse Vorst ellungs weit der frühbäuerlichen Bevölkerung im Elbe-Saale-Gebiet nicht nur relativieren, sondern in einigen Fällen beträchtlich erweitern bzw. sogar korrigieren, ohne selbst die Existenz eines Frucht barkeits- und eines Totenkultes im Rahmen der religiösen Vorstellungen der frühneolithischen Bodenbauer und Viehhalter anzweifeln zu wollen. 1. Auf der „Schalkenburg" bei Quenstedt (s. auch SCHRÖTER, S. 193ff.) konnte ein fünfgliedriges Ringpalisadensystem mit Öffnungen nach Nordwesten, Südosten und Osten ausgegraben werden, das auf Grund entsprechender Funde und zeitgleicher Analogien in der 0SSR, in Niederösterreich und in der B R D in die späte Stichbandkeramik datiert wird. Die Fundumstände, Überlegungen der Astronomen und die Deutung analoger kreisförmiger Anlagen sprechen dafür, daß mit diesem Befund die erste umfassend ausgegrabene Kultstätte am Übergang vom Frühneolithikum zum älteren Mittelneolithikum nachgewiesen werden konnte. 2. Im Bereich einer 150000 m 2 großen Siedlungsfläche und vor allem eines 40000 m 2 Innenfläche messenden ErdWerkes der Linienbandkeramik konnte seit 1974 bei Eilsleben ein Areal von annähernd 10000 m 2 untersucht werden. Dabei kamen zahlreiche kultisch zu deutende Funde und Befunde zum Vorschein. a) Da in der untersuchten Fläche Funde und Befunde sowohl der ältesten als auch der jüngsten Linienbandkeramik gleichanteilig vertreten sind, können die kultisch 119
zu interpretierenden Objekte im quantitativen Verhältnis beider Kulturen zueinander als repräsentativ gelten. Es überrascht, daß insgesamt 14 tönernen Kultgegenständen der ältesten Linienbandkeramik (dazu kommen 11 unsichere Fragmente) nur 2 jüngstlinienbandkeramische Kultgegenstände (bei nur einem unsicheren Fragment) gegenüberstehen. Unter den ältestlinienbandkeramischen Kultgegenständen aus Ton befinden sich 4 Idolfragmente und eine halbplastische figúrale Applikation, 3 Fragmente von Tiergefäßen sowie Fragmente bzw. Teile von 5 „Altärchen" (Abb. 2-4).
CID Abb. 2 Eilsleben, K r . Wanzleben. I d o l f r a g m e n t e (a, c) u n d a n t h r o p o m o r p h e Applikation (b) der ältesten Linienbandkeramik, Idoltorsi der jüngsten Linienbandkeramik (d—e) u n d profilierter Knochenspatel (f). 1 : 2
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Abb. 3 Eilsleben, Kr. Wanzleben. Fragmente von zoomorphen Plastiken und Gefäßen der ältesten Linienbandkeramik aus Ton (a—b, d) und Sandstein (c, e). 1 : 2 Je ein Fragment eines ältest- und eines jüngstlinienbandkeramischen Idoles bestehen aus schwach gebranntem Ton (vgl. Abb. 2a, e). Analoge Beobachtungen sind für Idole der Jordansmühler Kultur von Wulfen, K r . Kothen, überliefert, von denen einige während der Bergung sogar zerfielen (SCHULZE 1930, 39f.). Ungebrannte Tonfiguren sind auch für Vorderasien nachgewiesen (MELLAAIIT 1961, 59). b) Zu den Kultgegenständen'der ältesten Linienbandkeramik gehören außerdem ein beschädigtes Köpfchen einer Rinderplastik aus Sandstein und wohl auch ein konisch zugeschliffenes Sandsteinstück (Abb. 3 c, e; KAUFMANN 1981, 133, Abb. 2, 1-2). c) Unter dem mehrere tausend Keramikfragmente der jüngsten Linienbandkeramik umfassenden Fundmaterial ist bislang nur das Bruchstück einer Zipfelschale mit eingeritztem sanduhrförmigem Muster belegt. Es fehlen geritzte oder gestochene anthropomorphe oder szenische Darstellungen. d) Aus dem über 170 m in O-W-Erstreckung verfolgten Sohlgraben der ältesten Linienbandkeramik, der eine maximale Breite von 3,50 m und eine Tiefe (ab heutiger Oberfläche) von 0,70 bis 1,00 m aufwies, wuiden folgende Kultgegenstände der ältesten Linienbandkeramik geborgen: mehrere Teile eines verzierten Altärchens 121
Abb. 4 Eilsleben, K r . Wanzleben. Fragmente von „Altärchen" (f—h) und Kultgegenständen der ' ältesten Linienbandkeramik. 1 : 3
(Abb. 4 h), ein Tonfragment wohl kultischer Bedeutung, ein konisch zugeschliffenes Sandsteinstück (Abb. 3 c) sowie ein linker Hornzapfen eines weiblichen Hausrindes 11 mit zwei Lochreihen (Abb. 5). Inwieweit Kultfunde unter den wenigen ältestlinien122
Abb. 5 E i l s l e b e n , K r . W a n z l e b e n . L o c h r e i l i e n v e r z i e r t e s H o r n eines H a u s r i n d e s a u s d e m G r a b e n der ältesten Linienbandkeramik. 1 : 3
bandkeramischen Hinterlassenschaften des Sohlgrabens auf dessen Nutzung etwa bei kultischen Zeremonien o. ä. schließen lassen, kann nicht mit hinreichender Sicherheit geklärt werden, sollte jedoch bei der Diskussion über die Funktion dieses Grabens Beachtung finden. e) Gegenüber der Abnahme tönerner Kultgegenstände in der jüngsten Linienbandkeramik ist eine Zunahme an Siedlungsbestattungen, Teil- und Schädelbestattungen sowie an menschlichen Opferfunden in diesem Zeitabschnitt zu verzeichnen. Einige Befunde deuten auf die Existenz von offensichtlich einmalig genutzten Kultstellen oder Opferplätzen hin. f) Für die älteste Linienbandkeramik können folgende Befunde mit menschlichen Skelettresten in Anspruch genommen werden: 2 Teilbestattungen eines Mannes (Grube 3/74) und einer Frau (Grube 4/74) 12 aus dicht nebeneinanderliegenden Gruben unmittelbar nördlich des jüngstlinienbandkeramischen und etwa 6—7 m nördlich des ältestlinienbandkeramischen Grabens; dazu eine Siedlungsbestattung sowie ein mit Beigaben versehenes Grab der ältesten Linienbandkeramik. Im Westteil der Grube 9/79 wurde ein linker menschlicher Fuß, westlich davon das Stück einer menschlichen Schädelkalotte und südöstlich am Fuß das Gesäßteil eines ältestlinienbandkeramischen Idols geborgen (Abb. 2a). Über der Grube wurden eine menschliche Tibia und eine Fibula gefunden. Ein zerstörter Grabfund ist jedoch auszuschließen, am 123
ehesten könnten die Unterschenkelknochen senkrecht oder schräg im Boden gestanden haben ( K A U F M A N N 1983, 1,91, Abb. 4). g) In die jüngste Linienbandkeramik sind folgende Befunde zu datieren: 3 SiedIungsbestattungen, 4 Schädelbestattungen, eine einmalig benutzte kombinierte Kultund Opferstelle im jüngstlinienbandkeramischen Graben mit Brandstätte, Mahlsteinfragmenten, einem Schädel eines weiblichen Urs mit Schlag Verletzung in der Stirn und abgeschlagenen Hornzapfen. 1 3 20 cm unter diesem Befund, der durch '''C-Datierung für 3953 + 60 B. C. ausgewiesen ist, lag das extrem gehockte (möglicherweise gefesselte) Skelett einer 17- bis 19jährigen Frau. 1 4 Ferner drei linke Hände übereinander im Verband von mindestens zwei weiblichen Individuen 1 5 in Grube 7/76; mehrere Teile von mindestens drei menschlichen Schädelkalotten, die wohl als Schädelbecher verwendet wurden; ein im Verband liegender menschlicher Fuß aus Grube 3/77 und ein geopfertes menschliches Skelett in der 1 , 2 0 m im Durchmesser mit einer Tiefe von 1,70 m ab Planum (also etwa 2,50 m ab neolithischer Oberfläche) runden Schachtgrube 3/84. Es hatte den Anschein, als sei das Opfer mit an die Unterschenkel gefesselten Armen in die Grube geworfen worden. Dieser Befund könnte als einmalig genutzter Opferschacht oder Opferplatz gedeutet werden. Der Opferplatz im Graben der jüngsten Linienbandkeramik verbindet einen Urschädel mit dem Skelett einer offensichtlich geopferten jungen Frau sowie mit 9 fragmentierten Teilen von 8 Reibeplatten bzw. Schleifsteinen. J . M A K K A Y (1978, 13ff.) hat unlängst auf die Bedeutung des rituellen Mahlens hingewiesen, in dessen Verlauf die Reibeplatten aus kultischen Gründen zerschlagen wurden. In engem-Zusammenhang damit sind Siedlungsbestattungen in bandkeramischen Siedlungen zu sehen, deren Köpfe auf Reibeplatten ruhten ( K A U F M A N N 1969, 271, Abb. 1; ders. 1976 a, 7 6 ; FISCHER 1 9 5 6 , 29).
h) Von 1974 bis einschließlich 1 984 sind auf der „Vosswelle" bei Eilsleben 19 Gräber und Siedlungsbestattungen der ältesten und jüngsten Linienbandkeramik, der Glockenbecherkultur und der Aunjetitzer Kultur sowie 5 weitere vermutete Reste bzw. Stellen von Körpergräbern freigelegt worden. Darüber hinaus wurden als Lesefunde und als Funde aus den 5 m-Quadraten 20 Einzelknochen oder Komplexe mit mehreren menschlichen Knoche]: erfaßt. Während in ungestörten Gruben der ältesten Linienbandkeramik bisher keine Menschenknochen angetroffen wurden, stammen dagegen einzelne oder mehrere menschliche Knochen in insgesamt 29 Fällen aus Gruben- und Graben befunden der jüngsten Linienbandkeramik. Dazu kommen Menschenknochen aus 5 Gruben bzw. Palisadengräbchen der Bernburger Kultur, zweimal wurden Menschenknochen ans Gruben mit Funden der Linienbandkeramik und der Bern burger Kultur sowie mit jüngster Linienbandkeramik und Tonware der Bernburger sowie der Aunjetitzer Kultur geborgen. In einem Falle konnte die Grube nicht- datiert werden. Lassen wir einmal die relativ große Zahl an Einzelfunden von der „Vosswelle" bzw. aus den Deckschichten der Qiiadrato außer acht, so könnte die Zahl der vereinzelten Menschenknochen in übe)- 37 Fällen aus Gruben und Gräben der auf die älteste Linienbandkeramik folgenden archäologischen Kulturgruppen tatsächlich zu der Annahme verleiten, daß die Träger der jüngsten Linienbandkeramik und der Bernburger Kultur „Menschenfresser" waren, wie dies R. STIMMING (1925) drastisch formulierte. Dazu muß jedoch festgestellt werden, daß nach dem bisherigen Stand unseres Wissens, ohne Befragung des Anthropologen und des Archäozoologen j 6, keiner dieser Belege auf Kannibalismus schließe)) läßt. Damit wollen wir keineswegs kannibalische Riten, für deren Existenz es gesicherte Befunde von anderen Fund124
platzen (beispielsweise Zauschwitz) gibt, bei den Bandkeramikern leugnen. Es fällt auf, daß in Eilsleben sich gerade in den Grabungsflächen 1981—1983 Menschenknochen in Siedlungsgruben häufen, also in Bereichen, aus denen die meisten Skelettbefunde stammen, die auch in Eilsleben nicht sehr tief (teilweise nur 0,35 m) unter der heutigen Oberfläche liegen. In 16 Fällen befanden sich einzelne menschliche Knochen in den verschiedenen Gräben des Erdwerkes. Keiner dieser Menschenknochen lag im Sohlbereich der Gräben, die meisten von ihnen stammen aus dem Bereich Planum bis 0,45 m Tiefe. Nur in einem Falle wurde ein allerdings auch nicht hinlänglich durch den Anthropologen bestimmter Knochen in einer Tiefe zwischen 1,10 bis 1,35 m ab Planum geborgen.17 Der Fakt, daß eine nicht unerhebliche Zahl an Gräbern zerstört worden ist, sollte uns in Verbindung mit demographischen Berechnungen anhand von Gräberfeldern zu denken geben. Welche Erkenntnisse können aus diesen Fakten gewonnen werden? Zunächst ist festzustellen, daß frühneolithische Religion und Kulte mehr als die Summe der entsprechenden archäologischen Belege sind. Es muß also die Aufgabe gegenwärtiger und künftiger Forschung über frühe religiöse Vorstellungen sein, die mit archäologischen Methoden und mit den Mitteln der Nachbardisziplinen erschließbare Vielfalt religiöser und kultischer Ausdrucksformen zu erfassen und zu beschreiben. Dabei wird es nicht möglich sein, wenn nicht von der Ethnologie analoge Befunde übernommen werden können, das gesprochene Wort oder den religiösen Gedanken, das heißt die von Generation zu Generation tradierte religiöse Vorstellungswelt, einschließlich der Mythen, und Zeremonialhandlungen zu erfassen, um die archäologischen Belege religionsgeschichtlich einordnen zu können. Wie eingangs angedeutet, besteht die Möglichkeit, manchen der außergewöhnlichen Funde und Befunde, oftmals scheinbar ohne Zusammenhang zum Gesamtbefund oder den mitgeborgenen Funden, auf Grund vor allem von Analogiebefunden deuten zu können. Überhaupt sollten die kultisch zu interpretierenden Funde und Befunde von einer Siedlung nicht isoliert betrachtet werden. Aus den Kultbefunden von Eilsleben ergeben sich folgende allgemeine Aussagen für das Elbe-Saale-Gebiet: 1. Bislang ist weder ein Heiligtum noch ein wiederholt aufgesuchter und „genutzter" Opferplatz aus der linienbandkeramischen Kultur bekannt geworden. Die Befunde von Tiefenellern und „Berglitzl" bei Gusen scheinen dafür zu sprechen, daß mindestens jede Siedlung (nach KUNKEL 1958, 60, liegt die nächste linienbandkeramische Siedlung von der Jungfernhöhle bei Tiefenellern etwa 500 m entfernt), auf jeden Fall wohl doch jede sich zusammengehörig fühlende größere Bevölkerungsgemeinschaft ihren Opferplatz, eventuell sogar ihr eigenes Heiligtum besaß (PERTLWIESEE 1975, 309).
2. Ob darüber hinaus in den Wohnhäusern der bandkeramischen Bevölkerung kleinere Altärchen und Idolfiguren standen, kann immer noch nicht befriedigend beantwortet werden. Der Altar der Bükker Kultur in der Höhle von Aggtelek/ Nordostungarn (MAKKAY 1975, 172, Abb. 101) könnte von einer Gemeinschaft genutzt worden sein. Die Altärchen von Herrnbaumgarten und Eggenburg sowie Plaidt (HÖCKMANN 1 9 7 2 , 1 9 5 f . ) könnten sowohl Bestandteil eines gemeinschaftlichen Heiligtums als auch einer Kultanlage aus einem oder im Zusammenhang mit einem bandkeramischen Wohnhaus gewesen sein. Unzweifelhaft dürfte jedoch sein, daß in jedem Wohnhaus ein oder mehrere Idole existierten, möglicherweise sogar von einem Mitglied der Familie selbst hergestellt (HEODEGH 1923, 2 0 2 ; MARINGER 1956, 2 4 1 , 312).
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3. Neben den wiederholt aufgesuchten Opferplätzen und Heiligtümern hat offensichtlich auch die einmalig genutzte Opfer- und Kultstelle eine nicht unbedeutende Rolle gespielt (Befund im jüngstlinienbandkeramischen Graben von Eilsleben mit Brandstelle, Reibeplattenfragmenten, Urschädel und Skelett einer 17- bis 19jährigen Frau). 4. Da abgesehen von kultisch zu interpretierenden Funden in Höhlen bisher keine anderen Orte für die Niederlegung von Opfern bekannt geworden sind, darf die Opfergrube als dominierende Stätte der kultischen Niederlegung gelten. J. M A K K A Y (1975, 162) hat zwei Typen herausgestellt: a. die echte Opfergrube, in der blutige und/oder unblutige Opfer dargebracht wurden, b. Gruben, sog. Depositgruben, für Abfälle der Opferhandlungen. Es sollen hier nicht alle Ergebnisse der Untersuchungen von J . M A X K A Y (1975, vor allem 166f.) kommentiert werden, doch muß hervorgehoben werden, daß in beiden Grubenformen überwiegend immer die gleichen oder weitgehend gleichen Materialien enthalten sind. Die nicht mehr als Zufall zu bezeichnende Ubereinstimmung mit Hinterlassenschaften von anderen Kultplätzen („Jungfernhöhle" und „Berglitzl", Eilsleben — Grabenbefund u. a. m.) spricht dafür, daß bei Opfern das Feuer, der tönerne Kultgegenstand, Tierskelette und Menschenskelette bzw. Teile von diesen, Kulturpflanzen, Gefäße und Mahlsteine eine besondere Rolle spielten. Dabei stellen das tierische und das menschliche Opfer den blutigen, die Kulturpflanzenreste den unblutigen Teil der Opferhandlung dar. Die Siedlungsbestattung als „Siedlungsopfer" könnte zusammen mit dem Grubenoder Höhlenopfer als einer Form des „Versenkungsopfers" in der Erde ( M A I E R 1977, 31) mit der Verehrung chthonischer Kräfte, der Mutter Erde,.aber auch zugleich des Todes in Verbindung stehen ( M A K K A Y 1975, 168). Es wurden also die Opfergaben dort niedergelegt, wo man die „Gottheiten" oder übernatürlichen Kräfte wähnte. Nach J . M A K K A Y (1975, 171) war jedoch das Grubenopfer nicht die einizige Opferform. So wurden zum Beispiel in einem anthropomorphen Gefäß der Körös-Kultur von Gorzsa die Reste eines verbrannten Menschenschädels geborgen. 5. Unter den Opfern spielt offensichtlich das Primitialopfer eine besondere Rolle ( G L A D I G O W 1984, 32). Aus archäologischer Sicht hat J. M A K K A Y (1978,13ff.) bei der Behandlung des rituellen Mahlens in urgeschichtlichen Opferzeremonien auf dieses Opfer hingewiesen, bei dem offensichtlich das „erste" Getreide im gemahlenen Zustand geopfert wurde. Das schließt auch das Opfer des ersten Tieres, aber auch des erstgeborenen Kindes mit ein ( K O T T I N G 1984, 45). Es ist zu prüfen, ob Kinderopfer und als pars-pro-toto-Opfer auch Schädel von Kindern mit diesem Primitialopfer in Verbindung gebracht werden können. Der enge Zusammenhang von blutigem und unblutigem Opfer schließt das letztere Opfer nicht unbedingt aus. Inwieweit man andere Opfer, etwa die Votivgabe, inhaltlich vom Primitialopfer trennen kann, müssen neuere Befunde ergeben. Als Beispiel sei in diesem Kontext der Fund einer zerbrochenen Reibeplatte dicht unter der Pflugschicht in der Grabungsfläche 1975 bei Eilsleben angeführt, unter der zwei Felsgesteingeräte, eines davon zerbrochen, sowie unmittelbar daneben unverzierte jüngstlinienbandkeramische Siedlungskeramik lagen, darunter ein großes Bruchstück einer tiefen Schüssel mit eingeritztem sanduhrförmigem Symbol in der Innenwandung. Anstelle tierischer und menschlicher Knochen wurden hier die Felsgesteingeräte geborgen, aber in Verbindung mit der Reibeplatte und mit einem Gefäß, das ein kultisches Symbol trägt(!). 6. Die vorstehenden Bemerkungen werfen die Frage nach dem eigentlichen Opfer und einem möglichen Substitutopfer auf. Es war schon allgemein auf die Bestandteile des frühneolithischen Opfers hingewiesen worden. Die Befunde aus der „Jungfern126
höhle" bei Tiefenellern und auf der „Berglitzl" bei Gusen, aber auch die zahlreichen Befunde von Eilsleben sprechen dafür, daß offensichtlich das Menschenopfer in den Kulthandlungen der frühneolithischen Bevölkerung eine bedeutende, wenn nicht sogar die dominierende Rolle gespielt hat. Das Menschenopfer ist nicht in jedem Falle in toto erfolgt. 18 Es liegen vielmehr auch Stückelbestattungen, pars-pro-toto-Opfer, darunter einzelne Schädel sowie Hand- und Fußknochen, aber auch Schädelbecher vor. Das Menschenopfer mit allen seinen Erscheinungsformen steht quantitativ an erster Stelle, weniger häufig scheint dagegen der kultisch geübte Kannibalismus belegbar zu sein. 13 Das Menschenopfer — auch das pars-pro-toto-Opfer — ist in besonderen Fällen sicherlich nicht vom kultischen Kannibalismus zu trennen. Man kann nicht über Menschenopfer schreiben, ohne die Frage zu beantworten, welche Menschen getötet und geopfert wurden. 0 . KUNKEL (1958, 62) schreibt über die annähernd 40 in der „Jungfernhöhle" bei Tiefenellern aufgefundenen Individuen: „Soweit die trümmerhaften Knochen anthropologische Merkmale hergeben, entsprechen sie nicht den bisher aus sicher ,bandkeramischen' Gräbern gewonnenen Vorstellungen. Eher erinnern sie an die mesolithischen Ofnet- und an mitteldeutschcromagnide Typen." Es ist zu bezweifeln, ob heute noch ein Anthropologe anhand eines trümmerhaften Knochenmaterials und angesichts der nach wie vor geringen Vergleichsserie an mesolithischen Skeletten eine derartige absolute Schlußfolgerung treffen würde. Im übrigen müßte man annehmen, daß die Bandkeramiker, da zweifelsohne mehr Opferplätze als nur der in und vor der „Jungfernhöhle" im bandkeramischen Verbreitungsgebiet existiert haben, regelrecht „Kopfjagd" auf die zahlenmäßig geringeren mesolithischen Gemeinschaften betrieben, um ihrer Opfer für die jährl i c h e n ^ ) , auf jeden Fall regelmäßig stattfindenden Kult- und Opferhandlungen habhaft zu werden. Innerhalb kurzer Zeit hätten die Bandkeramiker die mesolithische Bevölkerung vernichtet oder besser „geopfert". Sicherlich wird man sich in dieser Form nicht den Neolithisierungsprozeß vorstellen dürfen, er war ungleich komplizierter, vielschichtiger, auch unter Einschluß mesolithischer Populationen. Vielmehr wird man davon ausgehen müssen, daß die Bandkeramiker sich selbst als Opfer in ihre Kulthandlungen einbezogen. Dabei fällt auf, daß vorrangig Frauen und Kinder geopfert wurden (siehe auch HÄUSLER 1966, 64ff.). Unter den 38 in der „Jungfernhöhle" geopferten Individuen befinden sich nur zwei Männer, ansonsten nur Frauen und Kinder, allein 23 Kinder im Alter unter einem J a h r bis zu 7 Jahren, 5 Jugendliche im Alter von 12 bis 14 Jahren und nur 10 Erwachsene über 18 bis 20 Jahre. Auch auf dem Opferplatz bei Gusen scheinen Frauen- und Kinderskelette zu dominieren. Das trifft auch f ü r die bandkeramische Siedlung Eilsleben zu. 20 Inwieweit die Dominanz von Frauen und Kindern unter den Geopferten bereits für die frühneolithische Gesellschaft patriarchalische Verhältnisse voraussetzt, soll in diesem Zusammenhang nur als marginale Frage gestellt werden. Natürlich muß sich bei der Betrachtung der offensichtlich gar nicht so seltenen Menschenopfer im Frühneolithikum zwangsläufig die Frage ergeben, ob bei jeder kultischen Zeremonie Menschen geopfert wurden. Sicherlich konnte sich keine bandkeramische Gemeinschaft bei Gefahr ihrer eigenen Vernichtung erlauben, jede Kulthandlung mit einem Menschenopfer zu verbinden. 21 Es wäre also zu untersuchen, inwieweit Menschenopfer bei gemeinschaftlich veranstalteten Kulthandlungen dargebracht wurden und ob bei Kulthandlungen im kleineren Kreise, etwa in familia, Substitutopfer anstelle des menschlichen Opfers dargebracht wurden. R. ROLLE (1970, 47) schreibt aufgrund völkerkundlicher Parallelen: „Trägt eine solche Opferhandlung kannibalistische Züge, dann repräsentiert der geopferte Mensch während des eigent127
liehen Festes, häufig aber schon längere Zeit vorher, ein höheres Wesen oder die Gottheit selbst" (ähnlich auch HÖCKMANN 1985, 106). In anderem Kontext verweist J . MAKKAY (1978, 34f.) auf die Tötung des „Gottes der Fruchtbarkeit", die auch durch das rituelle Mahlen des Getreides symbolisiert werden kann. Nach I. W I N K E L M A N N (1989) verglich man in rezenten völkerkundlich überlieferten Riten bei Bodenbauern das blühende Getreidefeld „mit einer schwangeren Frau, die nicht gestört werden durfte". 2 2 Von diesen Vorstellungen ist der Schritt nicht mehr weit bis zum Substitut opfer. Warum also sollen nicht die intentionell zerschlagenen tönernen „Idole", die allgemein, soweit sie weibliche Figuren darstellen, die Fruchtbarkeit personifizieren, ferner tönerne Tierfiguren, anthropomorphe und zoomorphe Gefäße u. a., zwar nicht in jedem Falle, aber doch hauptsächlich, als Substitutopfer für menschliche und tierische Opfer gedient haben (vgl. auch HÖCKMANN 1972, 194)? Nur am Rande sei vermerkt, daß der Anteil der weiblichen Menschenopfer offensichtlich auch in den überwiegend weiblichen Idolen aus Ton ( = Substitutopfer) seine Widerspiegelung findet. Überhaupt sind die Substitutopfer aus Ton offensichtlich analog den menschlichen Teilopfern behandelt (zerbrochen, geteilt) und an unterschiedlichen Stellen „versenkt" bzw. vergraben worden. B. GLADIGOW (1984, 35ff.) verweist explizite auf die Ersetzbarkeit bzw. Austauschbarkeit eines Opfers: „Substitution einerseits in dem Sinne, daß ein ursprünglich für ein Opfer vorgesehener Mensch durch einen anderen ersetzt wird. Andererseits in dem Sinne, daß ein Mensch durch ein Tier, eine Puppe, Backwerk und schließlich ein ,Bild' ersetzt werden kann. Für Bedingungen, bei denen nur archäologische Zeugnisse zur Verfügung stehen, zieht jene Substituierbarkeit einen zusätzlichen Fragenkomplex nach sich: Ist der Fund das eigentliche Opfer', oder ,nur' Ersatz für ein zu dem Zeitpunkt nicht zu leistendes Opfer?". Da die frühneolithischen Siedler die figurale Tonplastik, die Bildwerke „offenbar als lebende Wesen verstanden" (HÖCKMANN 1965, 23), ist von dieser Vorstellung bis hin zur Darbringung der tönernen „Idole" als Substitutopfer für Menschen, der tönernen Tierplastiken als Substitutopfer für Tiere nur ein kleiner Schritt. 0 . H Ö C K MANN (1972, 190) hat anhand der weit über 1000 tönernen „Idole" der Fundstelle Vinca belegen können, daß nur ein verschwindend kleiner Prozentsatz mit Hilfe aufgefundener Bruchstücke ergänzt werden konnte. Immer wieder ist die Beobachtung gemacht worden, daß tönerne Kultgegenstände intentioneil zerschlagen wurden und die dabei entstandenen Fragmente an verschiedenen Stellen deponiert wurden. Möglicherweise wurden sie zur „magischen Befruchtung" im Acker vergraben (HÖCKMANN 1965, 3f.; 1972, 190; 1985, 94; K A U F M A N N 1976b, 90). Inzwischen wird anhand von Idol-Neufunden von Marburg-Schröck (DOBIAT 1975, 41f., Abb. 13,2) und von Rockenberg, Wetteraukreis/beide B R D (HÖCKMANN 1985, 94, Abb. 1), berechtigt die Ansicht vertreten, daß sogar die einzelnen Idolteile, etwa der Kopf, getrennt vom Körper, geformt und mittels Paßstiften miteinander verbunden wurden, um so das intentioneile „Töten"/Zerbrechen der Toriplastik gezielt manipulieren zu können (HÖCKMANN 1985, 94). Wenn K. D O B I A T (1975, 41) zwischen dem intentionellen Zerbrechen von Tonfiguren und Bestattungen mit amputierten Händen und Füßen einen Zusammenhang vermutet, so ist auch hier der Schritt bis zum Vergleich intentioneil zerbrochener Tonfiguren und dem pars-pro-toto-Opfer (Deponierung von menschlichen Schädeln, Händen, Füßen u. a. in bandkeramischen Siedlungen) und schließlich zur Annahme, daß die Tonfiguren überwiegend als Substitutopfer anstelle von „echten" Menschen- und Tieropfern gedient haben, nicht sehr groß. 0 . H Ö C K MANN (1985, 106f.) nähert sich mit seinen Gedanken weitgehend der hier vorgetragenen Überlegung, ohne jedoch offen die Wechselwirkung zwischen dem Menschen128
lind Tieropfer auf der einen Seite sowie dem Substitutopfer in Form von tönernen Plastiken u. a. auf der anderen Seite auszusprechen. Möglicherweise spielt hier die Trage eine Rolle, ob die Tonfiguren „Gottheiten" darstellen (HÖCKMANN 1 9 8 5 , 1 0 2 ) oder ob hier nur allgemein die Fruchtbarkeit personifiziert oder aber in manchen Fällen sogar nur die Frau bzw. in selteneren Fällen der Mann wiedergegeben worden ist. Die oben angedeutete enge Verbindung zwischen Fruchtbarkeit und dem Getreidefeld, die Erhöhung des als Opfer vorgesehenen Menschen, die intentioneile „Tötung" der Fruchtbarkeitsgottheit u. a. m. lassen vermuten, daß in den irrationalen religiösen Vorstellungen der frühneolithischen bäuerlichen Bevölkerung offensichtlich die Grenzen zwischen „Gottheiten" (wenn es sie überhaupt in der Vorstellungswelt dieser Bodenbauer und Viehhalter gegeben hat!), der Erde, der Fruchtbarkeit, dem menschlichen Opfer und dem Substitutopfer in Form u. a. einer Tonfigur sehr verschwommen waren. Das schließt nicht aus, daß ganz bestimmte Tonplastiken und figurale Gefäße eine andere Bedeutung hatten und nicht als Substitutopfer gedacht waren. B. GLADIGOW (1984, 38f.) hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, daß ein wichtiges Merkmal der Opfergabe in seiner Zerstörung liegt. Zerstörung und ihre Deponierung bzw. Vergrabung in sakral geschützten Bereichen (Höhlen, Gruben u. a.) bedeuten, daß die Gabe nicht mehr zurückgenommen, also nicht mehr profanen Zwecken zugeführt werden kann und mit Sicherheit nicht zurückgeführt werden darf. Es könnte aber ebenso bedeuten, daß der „Gottheit" die Möglichkeit genommen werden soll, die Gabe abzuweisen, und verpflichtet zur Gegenleistung. Neben der Zerstörung des Opfers (menschliches pars-pro-toto-Opfer, zerbrochene Tonfigur u. a.) steht jedoch nach Ansicht von B. GLADIGOW (1984, 38) gleichberechtigt auch die Deposition des Opfers „unter Bewahrung des ursprünglichen Zustandes" (das Menschenopfer in toto; vielleicht gehören hierher auch die „Siedlungsbestattungen"). Im folgenden sollen noch einmal die verschiedensten Opfergaben und Gegenstände, die zur Durchführung von Kulthandlungen verwendet wurden, getrennt aufgeführt werden, auch wenn anzunehmen ist, daß zwischen allen Opferfunden und Kultgegenständen ursächliche Zusammenhänge bestehen: Das Opfer a. Menschenopfer in toto. Es tritt uns im Opferbefund im jüngstlinienbandkeramischen Graben von Eilsleben mit der Niederlegung des Skelettes einer 17- bis 19jährigen Frau entgegen. Möglicherweise sind auch die Siedlungsbestattungen als „Siedlungsopfer" (MAIEB 1977, 31) hier einzuordnen. b. Die Stückelbestattung oder das zerstückelte Opfer. Es war, wie die Befunde von Eilsleben beweisen, bereits seit der ältesten Linienbandkeramik üblich. Darüber hinaus gibt es zahlreiche Angaben über Teilbestattungen auf regulären Gräberfeldern ( K A H L K E 1 9 5 4 , 1 3 1 f f . ; KALICZ, MAKKAY 1 9 7 7 , 8 3 , 1 7 8 , A b b . 2 6 ;
MÜLLER-KAKPE
1968, 365f.) und über einzelne Teilbestattungen (etwa die Bestattung eines 8— lOjährigen Mädchens von Nerkewitz ohne Kopf; vgl. H O F F M A N N 1971, 12). c. Das pars-pro-toto-Opfer. Es ist in Eilsleben in verschiedenen Formen belegt, so als Schädelopfer, als Handopfer (vgl. MARINGER 1980a, 48f.) und als Fußopfer. Auf die möglichen religionsgeschichtlichen Hintergründe, auch im Zusammenhang mit dem intentioneilen Zerbrechen von tönernen Figuren ist hingewiesen worden. Die Teilbestattung, das Stückelopfer und das pars-pro-toto-Opfer sind eng miteinander verbunden. Das Fehlen etwa von Köpfen und Extremitäten bei regulär Bestatteten 9 Religion und Kult
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( M Ü L L E R - K A R P E 1 9 6 8 , 3 6 6 u. a.) findet seine Erklärung im Nachweis der pars-prototo-Opfer in der bandkeramischen Siedlung von Eilsleben und in anderen Siedlungsplätzen. M. P E R T L W I E S E R ( 1 9 7 5 , 2 9 9 f f . ) hat die vielfältigen Manipulationen an menschlichen Skeletten auf dem Opferplatz auf der „Berglitzl" bei Gusen ausführlich beschrieben. In vielen Arbeiten wird, ohne daß hier im einzelnen darauf eingegangen werden kann, die Verehrung menschlicher Körperteile hervorgehoben, etwa der Zähne 2 3 , des Kopfes 2 4 , vor allem aber des Unterkiefers, der z. B. nach völkerkundlichen Analogien zur Erinnerung an nahestehende Verstorbene ständig mitgeführt wurde. 25 So überrascht es in diesem Zusammenhang keineswegs, wenn bei Schädelopfern oder Schädelniederlegungen oftmals die Unterkiefer fehlen, beispielsweise in Taubach, Kr. Weimar ( K A U F M A N N 1976a, 88), oder in der jüngstlinienbandkeramischen Grube 25/77 von Eilsleben. Auch andere Autoren verweisen im Zusammenhang mit Opfer- und Kulthandlungen im Frühneolithikum auf die offensichtlich bevorzugte Behandlung oder das nicht zufällige Fehlen von Unterkiefern. 2 6 d. Von den Stückelopfern oder -bestattungen und den pars-pro-toto-Opfern kaum oder noch nicht deutlich genug abzugrenzen ist der kultische Kannibalismus, der in Eilsleben bislang noch nicht mit Sicherheit nachgewiesen ist, der aber für die Bandkeramik durch den Grubenbefund von Zauschwitz, Kr. Borna (COBLENZ 1962a), und den Opferbefund aus der „Jungfernhöhle" bei Tiefenellern (KUNKEL 1955; 1958), auf der „Berglitzl" bei Gusen ( P E R T L W I E S E E 1975) sowie von anderen Plätzen eindeutig belegt ist ( F R I E S I N G E R 1963, l f f . ; H O F F M A N N 1971, 1 ff.). Allerdings sollte künftig bei Beachtung aller methodischen und quellenkritischen Überlegungen (JANK U H N 1968; R O L L E 1970 u . a . ) mit Bedacht eingeschätzt werden, ob menschliche Reste in Gruben oder allgemein in Siedlungen, Höhlen u. a. als Opfer oder Reste kultisch bedingter Anthropophagie anzusprechen sind (vgl. allgemein zu kannibalischen und fruchtbarkeitskultischen Riten B E H M - B L A N C K E 1958). e. Teil des blutigen Opfers ist neben dem menschlichen Opfer auch die Darbringung des tierischen Opfers. Die bisherigen Befunde sprechen dafür, daß beide zusammen, möglicherweise, wie aus der griechischen Mythologie überliefert (KUNKEL 1955, 65), vermischt dargebracht wurden. Leider sind in den wenigsten Fällen die Tierknochen derartiger Opferbefunde archäozoologisch untersucht und bestimmt worden ( F E L G E N 27 HAUER 1965, 6), so daß allgemeine Schlußfolgerungen noch nicht möglich sind. Die einmalig benutzte Opferstelle im jüngstlinienbandkeramischen Graben von Eilsleben erbrachte inmitten der Reibeplattenfragmente und über dem vollständigen Skelett einer 17- bis 19jährigen Frau den Schädel eines weiblichen Urs mit abgeschlagenen Hornzapfen und Schlag Verletzungen in der Stirn. Aus der Existenz frühneolithischer männlicher Tierplastiken ist auf Grund der Analogiebefunde Vön Qatal Hüyük — Wechselverhältnis von „Muttergottheit" und Stier sowie Widder (MELLAART 1967, 105, 237) — die männliche Tierplastik bisher als maskuline Komponente im frühneolithischen Fruchtbarkeitskult gedeutet worden (MARINGER 1956, 246; K A U F MANN 1976a, 79). Sprechen wir jetzt jedoch die Tierplastiken vorwiegend als Substitutopfer an, so ist selbstverständlich insgesamt eine Neubewertung dieses Problemkomplexes unumgänglich. Insofern überrascht die Tatsache keineswegs, daß über dem Skelett der jungen Frau im jüngstlinienbandkeramischen Graben von Eilsleben der Schädel eines weiblichen Urs deponiert worden ist. Nunmehr wird jedoch die Parallelität des weiblichen Geschlechtes der geopferten Frau mit dem Urschädel und mit der offensichtlich als weibliches Wesen personifizierten Fruchtbarkeit deutlich. In diesem Zusammenhang ist auch der mit zwei Lochreihen verzierte linke Hornzapfen eines weiblichen Hausrindes aus dem ältestlinienbandkeramischen Sohlgraben von Eilsleben zu sehen.
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f. Auch über das unblutige Opfer, die Verwendung von Getreide o. ä., gibt es bislang nur wenige Angaben, die sich in erster Linie auf indirekte Belege, nämlich die Verwendung von Mahlsteinen für das kultische Mahlen beziehen. I n Verbindung mit den „Altären" von Herrnbaumgarten und Eggenburg ist allgemein von organischen Resten (auch in den Altarplatten von Herrnbaumgarten) und von Weizenkörnern die Rede ( H Ö C K M A N N 1972,195; F E L G E N H A U E R 1965, 6ff.). In diesem Zusammenhang gewinnt auch die kürzlich publizierte Beobachtung von 0 . H Ö C K M A N N (1985, 92ff.) an Gewicht, wonach das Idolfragment von Rockenberg offensichtlich bewußt mit grobem Mehl gemagert war ( H Ö C K M A N N 1985, 103ff.). Wahrscheinlich ist hier symbolisch in Form des Substitutopfers das blutige mit dem unblutigen Opfer verbunden worden, wie es in praxi tatsä.chlich auch in einem Opfergang dargebracht wurde. g. Als Opfergabe haben nunmehr, da wir den überwiegenden Teil der figuralen Tonplastik als Substitutopfer gedeutet haben, auch die anthropo- und zoomorphen Idole, Gefäße u. a. m. zu gelten. 28 Da bereits eingehend auf diese Problematik hingewiesen worden ist, sollen nur noch einige ergänzende Bemerkungen angefügt werden. Das intentioneile Zerschlagen von figuralen Tonplastiken ist bereits seit langem in Verbindung mit Opferzeremonien gesehen worden ( H Ö C K M A N N 1972; MAKKAY 1978, 30). Auch von diesem Standpunkt ist es kein großer Schritt bis zur Deutung eines großen Teils der Tonplastiken als Substitutopfer. Dagegen könnten jedocli zwei Beobachtungen sprechen: einmal die Tatsache, daß unter den menschlichen tönernen Idolen sich auch männliche befinden ( H Ö C K M A N N 1972, 189f.), zum anderen die Beobachtung, daß verschiedentlich Idole wieder repariert worden sind ( K A U F M A N N 1976b, 90). Die unbestrittene Existenz männlicher Idole könnte dafür sprechen, daß sie nicht in jedem Falle die Fruchtbarkeit als Abstraktum oder als „Fruchtbarkeitsgottheit" dargestellt haben. Da sich, wie am Beispiel der „Jungfernhöhle" bei Tiefenellern belegt (KUNKEL 1955; 1958), auch einige wenige Männer unter den Geopferten befanden, könnte die geringere Zahl an männlichen Tonplastiken ( = Substitutopfern) auch den Anteil männlicher Opfer im Kult widerspiegeln. Die Reparatur von Idolen ließe sich auch damit erklären, daß sie unbeabsichtigt vor ihrer eigentlichen kultischen Zerschlagung zerbrochen sind. h. Lebensmittel, Kultgefäße, wie Erfurt-Rankestr., Steingeräte als Weihe- bzw. Votivfunde (vgl. auch M A R I N G E B 1956, 314f.). Kultgegenstände In Verbindung mit den vielfältigen Opfergaben und Opferhandlungen stehen einige Kultgegenstände, die als Mittler bei den Opferzeremonien zu betrachten sind. Diese Gegenstände können primär profane Verwendung gefunden haben, aber in Verbindung mit der Kulthandlung zu sakralen Gegenständen geworden sein, die nicht mehr für profane Zwecke genutzt werden durften ( M A K K A Y 1 9 7 8 , 1 9 , 3 1 ) . In diesen Fällen wurden sie entweder vollständig oder zerschlagen in Opfer- oder Deposit gruben, in Höhle oder auf Opferplätzen u. a. niedergelegt und vergraben. Dazu gehören Mahlsteine, die bei der Zubereitung des pflanzlichen Teils des Opfers eine bedeutende Rolle spielten (MAKKAY 1 9 7 8 ) . Uns begegnen in vielen Gruben und anderen Befunden, die in irgendeiner Weise mit dem Kult in Verbindung zu bringen sind, Mahlsteine. Es seien für das Elbe-Saale-Gebiet nur einige Belege genannt: Barleben (Reibeplatten auf der Sohle von Gruben, mit Scherben sorgfältig abgedeckt; L I E S 1 9 6 3 , 1 5 ) ; Zauschwitz (COBLENZ 1962a, 6 8 ) ; Eilsleben (9 Fragmente von zerbrochenen Reibeplatten in Verbindung mit dem Opfer einer jungen Frau und eines weiblichen TJrschädels 9»
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im jüngstlinienbandkeramischen Graben). Zu den Mittlern bei Kulthandlungen ist u. E. auch das Feuer zu zählen. Auf beinahe allen beschriebenen Opferplätzen (Tiefenellern; Gusen; Grube von Zauschwitz; Opferfund von Eilsleben mit Brandstelle im jüngstlinienbandkeramischen Graben) wird die Verwendung des Feuers bei den Kultund Opferhandlungen überliefert. Inwieweit Schädelbecher als Kultgegenstände bei Opferhandlungen und Kultzeremonien Verwendung fanden, kann nicht mit Sicherheit bewiesen, allenfalls aus jüngeren Analogiebefunden erschlossen werden. Aus Grube 7/76 der linienbandkeramischen Siedlung von Eilsleben stammen die Teile oder Reste von mindestens drei menschlichen Schädelbechern. Es gibt zwar aus der Linien- und Stichbandkeramik des Elbe-Saale-Gebietes keine Parallelen, dafür jedoch aus dem Verbreitungsgebiet der Linienbandkeramik. Am bekanntesten dürfte wohl der Fund von insgesamt 18 menschlichen Schädelkalotten aus einer linienbandkeramisuchen Grube vom Taborac bei Draßburg/Burgenland sein (MOSSLEE 1949, 123ff.), die zusammen mit Keramik, Lehmbewurf und Mahlsteinen(!) geborgen wurden. Bei den künstlich zu Schädelbechern zugerichteten Kalotten handelt es sich um solche von jugendlichen männlichen(!) Individuen mit einem Alter unter 30 Jahren. Während G. M O S S L E E (1,949, 132) diese Schädelbecher nicht unbedingt mit kultischen Manipulationen in Verbindung bringen möchte, spricht ein metallzeitlicher Befund aus der Byöi-skalaHöhle bei Brno in Mähren, 1872 unter Leitung von H. W A N K E L ausgegraben, eindeutig f ü r die Verwendung von Schädelbechern bei Opferzeremonien, wobei zunächst einmal weniger von Belang ist, ob aus diesen Schädelbechern getrunken wurde oder ob sie (auch) als Opferschalen mit Resten vegetabilischen Inhalts Verwendung fanden 29 ( K E E N N 19)29, 86ff.). Auch in der Byci-skäla-Höhle war das blutige Opfer mit dem unblutigen verbunden (Getreide, goldene und andere Schmuckstücke und Gegenstände; R O L L E 1970, 49). K. K E E N N (1929, 73ff.), der in einer umfassenden Studie alle ihm seinerzeit bekannten Schädelbecher erfaßt und in seine Auswertung einbezogen hat, sieht den Schädelbecher durchaus als ein „Kultobjekt". Seiner Meinung nach ist der Brauch, Schädelbecher zu verwenden, „nichts anderes als ein abgeschwächter oder verfeinerter Kannibalismus . . . und ein Mittelglied zwischen Kannibalismus und Schädelkult" (KEENN 1929, 121). Auch von anderen, wenn auch metallzeitlichen Opferplätzen, stammen Schädelbecher, so aus der Schachthöhle „Felsen-Loch" im Veldensteiner Forst in der Fränkischen Alb/BRD (MAIEB 1977, 25, Taf. 5, 7, 8), so daß es sicherlich nicht unberechtigt ist, den Schädelbecher mit Opferzeremonien und Kulthandlungen in Verbindung zu bringen, ohne davon ausgehen zu müssen, daß es sich um eine Opfergabe als vielmehr um einen Kultgegenstand handelt (vgl. hierzu auch von K O E N I G S W A L D 1975; 1976; 1977a und b; 1978; 1979). I m Rahmen der religiösen Vorstellungen der Bandkeramiker kann gegenwärtig nur allgemein ein Fruchtbarkeitskult, verbunden mit Naturkulten (Verehrung der Erde als abstraktes Fruchtbarkeitssymbol sowie von Sonne, Regen und anderen natürlichen, die Fruchtbarkeit beeinflussenden Ereignissen; vgl. J A M E S 1 9 6 0 , 2 2 0 ) , und ein Totenkult unterschieden werden. Von größter Bedeutung ist die Überlegung, von wem die verschiedenartigen Riten, Opfer- und Kulthandlungen vorgenommen wurden. Selbstverständlich gibt es dafür kaum Anhaltspunkte. Die große Zahl beispielsweise an tönernen Kultfiguren aus der ältestlinienbandkeramischen Siedlung von Eilsleben läßt vermuten, daß möglicherweise in jedem Haus ein sakraler Bereich, eventuell ein altarähnlicher Platz existiert hat, an dem beispielsweise auch tönerne Kultgegenstände aufgestellt waren. Da in den seltensten Fällen derartige eben- oder überebenerdige Plätze erfaßt werden können, 132
bleibt unser Wisset) sehr lückenhaft. Man wird jedoch davon ausgehen können, daß Substitutopfer in Form anthropo- und zoomorpher Kultfiguren in kleinerem Kreise, vielleicht im Rahmen einer Familie, zu den verschiedensten Anlässen dargebracht wurden. Dagegen wird man sich wohl der Ansicht von C. COLPE (1970, 38/39), der sich ebenfalls mit der Frage beschäftigt, welche Gemeinschaften hinter den Opferpraktiken stehen, anschließen können, wenn er schreibt: „Es kann ein einzelner einen anderen geopfert haben, aber dies läßt der einzelne Leichnam nicht mehr erkennen. Wo man aber konstatieren darf, daß ein Leichnam ein Opfer ist, da sagt man zugleich, daß eine Gruppe ihn darbrachte." Diese Feststellung bekräftigt eigentlich nur noch einmal unsere Überlegung, daß das menschliche Opfer nur von einer größeren Gemeinschaft, etwa von der Größe einer Siedlung oder darüber hinaus, und sicherlich bei wichtigen religiösen Anlässen in größeren Abständen dargebracht wurde. Sollte unsere Überlegung zutreffen, könnte man davon ausgehen, daß Kulthandlungen in der bandkeramischen Gesellschaft auf zwei Ebenen s t a t t f a n d e n ; einmal durch die gesamte Gemeinschaft das (jährliche?) Opfer in Verbindung mit Kulthandlungen und -Zeremonien in feierlicher und zugleich festlicher Form, zum anderen auf niedrigerer Ebene vielleicht innerhalb der Familie die Darbringung des Substitutopfers. Man wird noch nicht davon ausgehen können, daß die Durchführung der Opfer- und Kultzeremonien bereits in der Hand einer nur f ü r diese Handlungen vorgesehenen Gruppe lag, daß sich die Kulte, wie etwa in Vorder- und Kleinasien, möglicherweise auch schon in Südosteuropa, innerhalb des gesellschaftlichen Aufbaus institutionalisiert hatten oder mit anderen Worten an eine bestimmte Menschengruppe gebunden waren. 30 Auch die fehlende kanonische Typisierung der „Idole" in der mitteleuropäischen Bandkeramik, ihre Herstellung durch Mitglieder der Familie und Verwendung als Substitutopfer innerhalb der Familie sprechen dagegen, daß die Ausübung des Kultes oder der Kulte nur in der Hand privilegierter Stammesmitglieder lag. Kulthandlungen einer größeren Gemeinschaft wurden sicherlich von führenden und angesehenen Persönlichkeiten der Siedlung oder eines größeren Verbandes geleitet. Es ist anzunehmen, daß niemand unter den erwachsenen Mitgliedern der Gemeinschaft von diesen Kulthandlungen ausgeschlossen war. Abgesehen von dem spätstichbandkeramischen „Ringheiligtum" von Quenstedt fehlt bisher für die Linienund Stichbandkeramik ein langzeitig genutzter Kult- oder Opferplatz im Elbe-SaaleGebiet. Dagegen sind, wie die vorliegende Studie ergeben hat, bereits mehrere einmalig genutzte Kult- oder Opferstellen bekannt geworden (Eilsleben, Barleben, Zauschwitz). Der Fruchtbarkeitskult der Bandkeramiker wurde nicht nur von der bäuerlichen Bevölkerung zelebriert, sondern die Bandkeramiker bezogen sich selbst auch als Opfer in den gesamten Kultprozeß mit ein. Der frühe Bodenbauer und Viehhalter war so nicht nur handelndes Subjekt im Kult, sondern zugleich auch Objekt der Kulthandlungen. Offensichtlich konnte in bestimmten Fällen nur ein Menschenopfer die vermeintlich übernatürlichen Kräfte im Sinne der bäuerlichen Gemeinschaft beeinflussen. Bleibt noch die Frage, wem die religiöse Verehrung, die Kult- und Opferhandlungen galten. Sicherlich ist diese Frage zu früh gestellt, jedoch sollte sie nicht aus den Augen verloren oder vergessen werden. Wie andere Archäologen auch (etwa PODBORSKY in diesem Band) vertreten wir nicht die Auffassung, daß die frühneolithische bäuerliche Bevölkerung bereits personifizierte Gottheiten verehrte. Nach C. COLPE (1970, 38) könnte es f ü r die Archäologie hilfreich sein, „Niederlegung oder Darbringung zu konstatieren, ohne dafür eine Gottesvorstellung postulieren zu müssen." In diesem 133
Sinne wäre am ehesten an die Verehrung der Fruchtbarkeit gemeinhin, möglicherweise als weibliches Wesen personifiziert, und hier an die Mutter Erde selbst zu denken, in der die Bandkeramiker sicherlich zuerst den engen Zusammenhang von Geburt Fruchtbarkeit und Wachstum sowie Vergehen und Tod verkörpert sahen (siehe auch M A R I N G E R 1 9 5 6 , 2 4 0 ) . Dafür könnte sprechen, daß die Opfer und Rückstände von Opferhandlungen immer wieder in der Erde vergraben worden sind ( K Ö T T I N G 1 9 8 4 , 46). Das schließt die Verehrung von Sonne, Regen o. ä. keineswegs aus. Besitzen wir für die späte Stichbandkeramik eine zentrale Kultstätte in dem „Ringheiligtum" von Quenstedt, das sicherlich von den Gemeinschaften der umliegenden Siedlungen benutzt wurde, so steht eine solche von einer größeren oder von mehreren Gemeinschaften über einen längeren Zeitraum genutzte Kultanlage f ü r die Linienbandkeramik im Elbe-Saale-Gebiet noch aus. Angesichts des Nachweises von linienbandkeramischen Opferplätzen in der „Jungfernhöhle" bei Tiefenellern und auf der „Berglitzl" bei Gusen, aber auch der nach wie vor unzureichenden Quellenbasis wäre es jedoch verfrüht, wollten wir aus dem Fehlen von linienbandkeramischen Heiligtümern noch eine engere Bindung des Fruchtbarkeitskultes an die linienbandkeramische Familie und deren Produktionssphäre ablesen, ehe sich im Verlauf der Lengyelkultur und der späten Stichbandkeramik mit der Anlage zentraler Kultstätten auch eine allmähliche Trennung des Kultes von der Familie abzuzeichnen beginnt und möglicherweise in die Hände dafür Auserwählter übergeht. Zeichnungen: E. WEBER, Landesmuseum für Vorgeschichte Halle (Saale)
Anmerkungen 1 HÖCKMANN 1 9 6 5 ; 1 9 6 8 ; 1 9 7 2 ; 1 9 8 5 ; BAUMANN 1 9 7 6 ; KAUFMANN 1 9 7 6 a ; 1 9 7 6 b ; WÄMSER 1 9 8 0 ; MAURER 1 9 8 2 u . a . 2 K R E N N 1 9 2 9 ; MOSSLER 1 9 4 9 ; K U N K E L 1 9 5 5 ; 1 9 5 8 ; FRIESINGER 1 9 6 3 ;
FELGENHAUER
1 9 6 5 ; H O H M A N N 1 9 7 1 ; PERTLWIESER 1 9 7 5 ; MAKKAY 1 9 7 5 ; 1 9 7 8 ; ZALAI-GAÄL 1 9 8 4 . 3 J A N K U H N 1 9 6 8 ; R O L L E 1 9 7 0 ; COLPE 1 9 7 0 ; GLADIGOW 1 9 8 4 u . a .
4 Im einzelnen sollen hier nicht noch einmal die bekannten Funde und Befunde beschrieben weiden, da sie bis auf wenige Neufunde bereits veröffentlicht worden sind. Soweit sie jedoch für die Argumentation in diesem Beitrag von Bedeutung sind, erfolgen entsprechende Hinweise. 5 V g l . BEHM-BLANCKE 1 9 6 4 ; BAUMANN 1 9 7 6 ; KAUFMANN 1 9 7 6 a u n d 1 9 7 6 b .
6 Das Idolfragment wurde im Bereich einer ausgedehnten linienbandkeramischen Siedlung auf der „Steinrinne", etwa 300 m nördlich der bekannten Fundstelle des Homo erectus (im Steinbruch) bei Bilzingsleben, Kr. Artern, als Lesefund geborgen. Die Verzierung auf der Rückseite datiert das Idolbruchstück frühestens in die mittlere Stufe der linienbandkeramischen Entwicklung. H. (noch) 4,7; gr. Br. (noch) 4,15; D. 1,55 cm. 7 Dazu gehört u. a. die Verehrung von Sonne und Regen ebenso, vgl. KAUFMANN 1969, 276—282, Taf. 25—26, wie die Wiedergabe der geschlechtlichen Vereinigung, vgl. PODBORSKY 1983, Taf. 10, 1; ders. 1985, 211, T a f . 109, 1, 2 ; MARINGER 1956, 243, oder desG e b ä r a k t e s , v g l . KAUFMANN 1969, 281.
8 V. G. CHILDE (1959, 106) äußerte sich folgendermaßen: „Aber ähnliche Figuren, jetzt gewöhnlich in Ton geformt, sind in neolithischen . . . Siedlungen sehr häufig. Sie werden oft als 'Muttergöttinnen' bezeichnet. Wurde die Erde, deren Mutterschoß das junge Korn entsprießt, wirklich in dem Gleichnis einer Frau begriffen, deren Fortpf'lanzungsfunktioiien dem Menschen sicherlich am Herzen lagen?"
134
R . A . M A I E R ( 1 9 6 4 , 2 3 , 1 5 8 ) h a t die A n e i n a n d e r r e i h u n g a n t h r o p o m o r p l i e r Motive als A h n e n - o d e r C l a n r e i h e n g e d e u t e t (vgl. a u c h H Ö C K M A N N 1 9 7 2 , 1 9 3 ) . 10 K A H L K E 1954, 1 3 2 f . ; R . A . M A I E R 1962, 9 ; M Ü L L E R - K A R P E 1968, 3 6 6 ; H Ä U S L E R 1964, 9
6 6 ; K . DOBIAT 1975, 4 1 ; MAKKAY 1978, 2 3 f f . ; ZALAI-GAÄL 1984,
39.
11 12 13 14 15
N a c h d e r B e s t i m m u n g v o n H . - J . DÖHLE, H a l l e ( S a a l e ) . N a c h d e r a n t h r o p o l o g i s c h e n B e s t i m m u n g v o n A . BACH, J e n a . S i e h e A n m e r k u n g 11! S i e h e A n m e r k u n g 12! S i e h e A n m e r k u n g 12! 1 6 H . - J . D Ö H L E h a t in 1 0 Fällen u n t e r d e m T i e r k n o c h e n m a t e r i a l verschiedener K o m p l e x e d e r J a h r e 1974 b i s 1980 n o c h e i n z e l n e M e n s c h e n k n o c h e n a u s s o n d e r n k ö n n e n . 17 H i e r w ä r e i m ü b r i g e n a u c h n i c h t a u s z u s c h l i e ß e n , d a ß e s sich u m d e n R e s t e i n e s b e i m B a u des Grabens gestörten älteren Skeletts handelt. 18 E t w a d e r B e f u n d i m j ü n g s t l i n i e n b a n d k e r a m i s c h e n G r a b e n m i t d e m S k e l e t t e i n e r 17bis 19jälirigen F r a u ; hier sind möglicherweise a u c h die „ S i e d l u n g s b e s t a t t u n g e n " anz u s c h l i e ß e n , o b w o h l H i n w e i s e f ü r g e w a l t s a m e T ö t u n g n o c h a u s s t e h e n , vgl. L E N N E I S 1981, 28. 19 B e f u n d von Zauscliwitz, COBLENZ 1 9 6 2 a, 6 7 f f . , a b e r in relativ g r o ß e m U m f a n g in der „ J u n g f e r n h ö h l e " bei Tiefenellern, K U N K E L 1 9 5 5 ; 1 9 5 8 , u n d auf der „Berglitzl" bei G u s e n , I'EUTLWIESE» 1975, 2 9 9 f f .
20 S ä m t l i c h e S i e d l u n g s b e s t a t t u n g e n sind b i s h e r a l s w e i b l i c h b e s t i m m t w o r d e n ; O p f e r f u n d m i t 17- b i s 1 9 j ä h r i g e r F r a u i m j ü n g s t l i n i e n b a n d k e r a m i s c h e n G r a b e n ; d i e d r e i l i n k e n H ä n d e v o n „ m i n d e s t e n s zwei w e i b l i c h e n I n d i v i d u e n " sowie v i e r S c h ä d e l v o n K i n d e r n u. a. 21 D e r V e r f a s s e r ist sich d e s h y p o t h e t i s c h e n I n h a l t s s e i n e r G e d a n k e n b e w u ß t . D o c h sollen sie l e t z t l i c h d a z u b e i t r a g e n , k ü n f t i g e A u s g r a b u n g s e r g e b n i s s e a u c h a u f d i e liier geä u ß e r t e M ö g l i c h k e i t zu ü b e r p r ü f e n . 2 2 E . H O F F M A N N ( 1 9 7 1 , 19) f ü h r t weitere völkerkundliche Parallelen an, und G . G U H R ( 1 9 8 9 ) s e h r e i b t : „ D a s Menschenopfer versinnbildlicht das S t e r b e n der N a t u r " ; vgl. h i e r z u a u c h V . G . C H I L D E ( 1 9 5 9 , 106f.). 23 M A R I N G E R 1 9 8 0 b , 6 9 f f . ; L . W A M S E S (1978, 3 2 0 f f . , A b b . 4 a u f S. 309) b e s c h r e i b t e i n e linienbandkeramische Grube von Zeuzleben, Gemeinde Werneck, Landkr. Schweinfurt, a u s d e r u . a . 29 d u r c h b o h r t e m e n s c h l i c h e Z ä h n e g e b o r g e n w u r d e n . B e i d e n i m W u r z e l b e r e i e h d u r c h b o h r t e n Z ä h n e n h a n d e l t es sich u m 6 S c h n e i d e z ä h n e , 9 E c k z ä h n e , 5 P r ä m o l a r e n u n d 7 M o l a r e n (2 Z ä h n e k o n n t e n n i c h t b e s t i m m t w e r d e n ) . E i n T e i l d e r Z ä h n e , n ä m l i c h 10, k ö n n t e v o n K i n d e r n i m A l t e r v o n 10 b i s 11 J a h r e n s t a m m e n . N a c h d e n Z ä h n e n k a n n d i e M i n d e s t i n d i v i d u e n z a h l m i t d r e i , d a r u n t e r w e n i g s t e n s zwei K i n d e r n , d i e M a x i m a l i n d i v i d u e n z a l i l m i t 29 a n g e g e b e n w e r d e n . A b n u t z u n g s s p u r e n l a s s e n d a r a u f s c h l i e ß e n , d a ß die Z ä h n e m i t a n d e r e n G e g e n s t ä n d e n , m ö g l i c h e r w e i s e M u s c h e l n o d e r Schnecken, an einer K e t t e getragen worden sind. 2 4 FRIESINGER 1963, 2 9 ; z u l e t z t m i t A n g a b e n d e r w i c h t i g s t e n L i t e r a t u r ZALAI-GAÄL 1984, 3 f f . ; allgemein zur V e r e h r u n g des Schädels u n d z u m Schädelkult v o n K O E N I G S W A L D 1975, 2 2 9 f f . ; 1976, 3 2 3 f f . ; 1 9 7 7 a , 41 ff'.; 1977b, 2 8 5 f f . ; 1978, 1 2 5 f f . ; 1979, 6 5 f f . 2 5 J A M E S 1 9 6 0 , 1 1 9 ; M A R I N G E R 1 9 8 0 , 6 9 ; H O F F M A N N 1 9 7 1 , 1 9 ; auf die besondere Verehrung des Unterkiefers verweist auch von K O E N I G S W A L D 1 9 7 5 , 2 3 1 ; ders, 1 9 7 8 , 1 2 5 f f . ; a u s d e r B r o n z e z e i t ist ein als A m u l e t t v e r w e n d e t e r v e r z i e r t e r m e n s c h l i c h e r U n t e r k i e f e r v o n J e n a - W ö l l n i t z b e k a n n t , vgl. H E I N R I C H , L E P F E R o h n e J a h r , 8 6 f . , A b b . 9 . 26 P E R T L W I E S E R 1975, 3 0 2 f f . ; M A R I N G E R 1956, 2 4 9 ; H O F F M A N N 1971, l f f . , v o r a l l e m 18; FRIESINGER 1963,
16.
27 D a ß d i e a r c h ä o z o o l o g i s c h e B e s t i m m u n g d e s T i e r k n o c h e n m a t e r i a l s a u s O p f e r b e f u n d e n zu ü b e r r a s c h e n d e n E r g e b n i s s e n f ü h r e n k a n n , b e l e g e n e r s t e T e i l e r g e b n i s s e d e r U n t e r suchungen durch den Archäozoologen H.-J. D Ö H L E an entsprechendem Material von Eilsleben. 28 D i e Z u n a h m e d e r T i e r o p f e r i n p o s t l i n i e n b a n d k e r a m i s c h e r Z e i t (in d e r S t i c l i b a n d k e r a -
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mik mit häufigerem A u f t r e t e n von tönernen Tierplastiken und -gefäßen verbunden) ist weniger als Beweis f ü r ein Ubergewicht der Viehzucht zu sehen (etwa bei H Ö C K M A N N 1965, 26), als vielmehr d a f ü r , d a ß das Tieropfer verstärkt a n die Stelle des Menschenopfers rückt. E s stellt u. E . zunächst selbst eine F o r m des Substitutopfers .dar, ehe es im Verlaufe der Trichterbecherkultur zur dominierenden Opferform wurde (vgl. auch HÖCKMANN 1972, 194 u n d
196).
29 Über 40 Skelette von meist weiblichen I n d i v i d u e n u n d Teile von P f e r d e s k e l e t t e n ; auf dem A l t a r zwei abgehauene F r a u e n h ä n d e , einschließlich der Unterarme(!), die abgeschlagene rechte H ä l f t e eines menschlichen Schädels. 30 Dagegen spricht auch das Fehlen von Heiligtümern u n d K u l t r ä u m e n wie in Qatal H ü y ü k , wenngleich letztere auch von Familien u n t e r h a l t e n worden sein können.
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Religion und Kult • Berlin 1989 • Seiten 141-146
Riten bei Bodenbauern — Agrarkulte (am Beispiel der Völker des Wolga-Kama-Gebietes) V o n INGEBURG WINKELMANN
Zur Genese der Agrarkulte, ihrer Einordnung in die Gesellschaftsentwicklung sowie deren Inhalt steht uns eine Vielzahl von Publikationen zur Verfügung. Ihre systematische Erforschung begann im 18., insbesondere im 19. Jahrhundert. Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen haben sich in Vergangenheit und Gegenwart mit dieser Problematik befaßt, so daß insgesamt eine breite Materialbasis vorhanden ist. Von besonderem Wert sind f ü r uns als Ethnographen die Publikationen des sowjetischen Wissenschaftlers S . A . T O K A R E W über frühe Religionsformen und die Darstellung der „Religion der Völker" (1964,1976). Die Herausbildung der Agrarkulte erfolgte mit dem Übergang von der aneignenden zur produzierenden Wirtschaftsform, d. h. sie sind untrennbar mit der agrarischen Produktion verbunden und in der Vergangenheit bei allen Bodenbauvölkern verbreitet. Ihre Wurzeln sind ebenso wie bei anderen frühen Glaubensvorstellungen in der Ohnmacht der Menschen gegenüber der sie umgebenden Natur zu sehen. Gleichzeitig stellen sie einen Versuch dar, sie mit phantastischen Mitteln zu überwinden und aktiven Einfluß auf die Naturerscheinungen zu nehmen. Wenn auch Fruchtbarkeitskulte bereits bei frühen Bodenbauern feststellbar sind, so sind die Agrarkulte in ihrer entwickelten Form f ü r einen späteren historischen Zeitraum charakteristisch. S. A. T O K A R E W spricht von einer spezifischen „Ackerbaureligion", die sich mit der Dorfgemeinschaft herauskristallisiert und eine ihrer ideologischen Grundlagen bildet. Die Dorfgemeinschaft fungiert danach als sozialer Träger der Agrarkulte. Diese Kulte beinhalten ebenso wie andere Religionen feststehende Riten, verbindliche Zeremonien, Opfer, Verbote und Tabus. Darüber hinaus gehören zu ihnen Moral und Rechtsauffassungen, die den Normen des gesellschaftlichen Zusammenlebens in der Dorfgemeinschaft entsprechen bzw. Ausdruck der Gemeinordnung sind. Die Agrarreligion widerspiegelt,somit auf spezifische Art den Charakter der Dorfgemeinde als einer gesellschaftlichen Einrichtung, in der, wie K . M A R X nachgewiesen hat, sowohl Elemente der Vorklassen- als auch der Klassengesellschaft enthalten sind. Dieser Dualismus kommt in den Kulthandlungen, Opfer-. Zeremonien, Gebeten sowie in der Art und Weise der Ausübung des Rituals zum Ausdruck. Neben Kultfesten, an denen die gesamte Gemeinde Anteil hat und bei denen das Zeremoniell in der Regel vom Dorfältesten geleitet wird, gibt es nicht wenige Kulthandlungen, die auf den Kreis der Familie begrenzt sind und insbesondere im Zusammenhang mit Zerfallserscheinungen der Dorfgemeinschaften an Bedeutung gewinnen. I n späteren E t a p p e n orientiert die Agrarreligion auf den Erhalt der Dorfgemeinschaftsordnung. Sie ist, wie S. A. T O K A R E W formuliert, „ein Werkzeug der 141
Selbstverteidigung der Gemeinden in ihrem Kampf gegen die herrschenden Klassen" (1964, 387). Der Begriff „Agrarreligion" schließt m. E. neben den Agrarkulten, die zweifellos ihren wesentlichsten Inhalt bilden, verschiedene andere Glaubensvorstellungen ein, so z. B. den Ahnenkult. Die Personifizierung von Naturkräften und -erscheinungen und deren Verehrung, insbesondere solcher, die auf irgend eine Weise mit der Landwirtschaft verbunden sind, stellt die Ideengrundlage der Agrarreligion dar. Zu den religiösen Vorstellungen gehört der Glaube an zahlreiche Götter und Geister beiderlei Geschlechts, die entweder den Menschen wohlgesinnt oder auch bösartig sein können, wobei erstere in der Regel als die bedeutenderen und mächtigeren angesehen wurden. Das trifft zumindest auf den europäischen Raum zu. Hier nahm neben der Sonne die „Mutter Erde" einen zentralen Platz ein. Von den Naturgottheiten erwarteten die Menschen Unterstützung bzw. versuchten, sie zu besänftigen, um Unheil abzuwenden. Die Darbringung von Opfern bildete einen festen Bestandteil des Rituals. Gleichzeitig war man bemüht, mit Hilfe vielfältiger magischer Handlungen selbst aktiv auf die Natur einzuwirken mit dem Ziel, Einfluß auf die Erhöhung der Bodenfruchtbarkeit und das Ernteergebnis zu nehmen sowie Schaden abzuwenden. Da der Ackerbau immer in bestimmtem Umfang mit der Viehzucht kombiniert war, orientierte ein Teil der Riten auf Erhalt des Viehs, seine Gesundheit und Produktivität. Als ein weiterer Bestandteil der Agrarkulte ist die Mantik zu sehen. Sie diente dazu, das in Erfahrung zu bringen, was auf natürlichem Weg zum gegebenen Zeitpunkt nicht möglich war. Aus Naturerscheinungen versuchte man bestimmte Dinge abzuleiten und zog daraus Schlußfolgerungen über die Zukunft. Teilweise spielten hierbei insbesondere bei Wettervorhersagen, aber auch bei einigen anderen Bauernregeln, empirische Erkenntnisse eine gewisse Rolle, die jedoch vielfach mit irrationalen Vorstellungen verknüpft waren. Eine Spezifik der Agrarkulte besteht darin, daß sie nach dem Jahreslauf und entsprechend dem Kalender der landwirtschaftlichen Arbeiten gegliedert sind. Wir unterscheiden zwischen Frühlings-, Sommer-, Herbst- und Winterbräuchen, wobei die Übergänge zum Teil fließend sind und einzelne sowohl den Frühlings- als auch den Sommer- bzw. Herbstkulten zugeordnet werden .können. Hinzu kommt, daß in Abhängigkeit vom Wetterablauf des Jahres zeitliche Variationen auftreten. Der konkrete Inhalt von Kulthandlungen und Festen entsprach dem Saisoncharakter der landwirtschaftlichen Arbeit. Neben solchen, die in jedem J a h r und zum gleichen Zeitpunkt in Zusammenhang mit der produktiven Tätigkeit entweder vor Beginn oder nach Abschluß bestimmter Arbeiten ausgeübt wurden, existierten Riten, die unregelmäßig bzw. nur im Bedarfsfall, z. B. bei Dürre oder anderen Naturkatastrophen, praktiziert wurden. Ihre Anzahl ist bedeutend geringer als die der ersten Kategorie. Kulte bzw. Bräuche mit ihren Symbolhandlungen stellten ein wesentliches Moment der Feier- und Festgestaltung dar. Höhepunkte im Jahreslauf bildeten bei vielen Völkern Frühlings- und Sonnenwendfeste, wobei mitunter das Fest der Wintersonnenwende gleichzeitig als das des Frühlings begangen wurde. Relikte von Agrarkulten, insbesondere Prophezeiungen, Bauernregeln, aber auch einzelne Bräuche magischen Charakters, vor allem bei Ackerbaufesten praktiziert, sind in europäischen Ländern bis ins 20. Jahrhundert zu finden. Zu den Teilen Europas, in denen Agrarkulte bis fast in unsere Tage erhalten blieben, zählt die Wolga-Uralregion. I m folgenden dazu einige Beispiele von den in diesem historisch-ethnographi142
sehen Gebiet ansässigen, zur finnischen Sprachgruppe gehörenden Völkern Mari, Mordwinen und Udmurten. Ich stütze mich dabei auf Publikationen russischer und sowjetischer Autoren, verschiedene Dokumente von Verwaltungsorganen, Zeitungsberichte um die J a h r hundertwende sowie auf eigene Feldforschungsergebnisse bei den Mari Mitte der 50er Jahre. Die Zählebigkeit früher Religionsformen auf dem gesamten Territorium erklärt sich aus der sozialökonomischen Entwicklung bis zur Oktoberrevolution. Ein extensiver, mit primitiver Technik ausgeübter Pflugackerbau, kombiniert mit einer schwach entwickelten Viehzucht, bildete die Grundlage f ü r eine wenig ertragreiche Landwirtschaft, der Hauptform des Nahrungserwerbs. Starke Überreste der Dorfgemeinschaft und Sippenordnung prägten das Gemeinschaftsleben. Intensive Bemühungen der russisch-orthodoxen Kirche, meist mit gewaltsamer Christianisierung verbunden, das trifft vor allem f ü r das 18. und 19. Jahrhundert zu, konnten ehemalige Glaubensvorstellungen, unter denen die Agrarkulte eine entscheidende Rolle spielten, nicht verdrängen. Im Gegenteil, als Ausdruck des Protestes gegen die Politik des Zarismus, kam es teilweise zu einer Intensivierung und Belebung der Kulte. Fehlende Verkehrsverbindungen und daraus resultierende Isolierung einzelner Gegenden begünstigten ebenfalls das Weiterbestehen früher Religionsformen. Hinzu kommt als weiterer Faktor das insgesamt niedrige Kulturniveau, ca. 80 % der Bevölkerung waren Analphabeten. Wenn auch Ende des 19. Jhs. Agrarkulte mit ihren dazugehörigen Festen insgesamt noch einen festen Platz im Leben der Dorfbevölkerung innehatten und die Lebensweise entscheidend prägten, so verloren doch einzelne, vornehmlich unter dem Einfluß der christlichen Religion, ihren ursprünglichen Charakter. Eine typische Erscheinung war, daß alle bedeutenden Feste an einem christlichen Feier- bzw. Namenstag von Heiligen veranstaltet wurden. Verschiedentlich verwendete man f ü r Naturgottheiten Namen christlicher Heiliger. Auch bei der inhaltlichen Ausgestaltung von Kultfesten vollzog sich ein sichtbarer Wandel. So fanden z. B. Kerzen, mitunter auch Ikonenbilder Eingang in das Zeremoniell, und in Gebeten wandte man sich nicht nur an die ursprünglichen Götter, Sondern auch an christliche Heilige (als Schutzpatronen). Nicht selten leitete ein Priester der russisch-orthodoxen Kirche die Kulthandlungen der Gemeinde. Insgesamt reduzierte sich die Anzahl der jährlichen Opferfeste, und ihre Ausstattung war bescheidener geworden. Vor allem wurden Tieropfer nur noch vereinzelt dargebracht. Sicher spielten hierbei auch andere Faktoren, wie die Verschärfung der ökonomischen Lage sowie die Zuspitzung der Widersprüche im zaristischen Rußland, eine Rolle. I m Jahreszyklus der Agrarkulte wiesen diese Veränderungen eine unterschiedliche Intensität auf. Von den ehemaligen Winterkulten blieben hauptsächlich zahlreiche Bauernregeln und abergläubische Wahrsagereien, insbesondere zur Weihnachtszeit bzw. Jahreswende ausgeübt, erhalten. Sie sollten Auskunft über das im kommenden J a h r zu Erwartende geben. Die Menschen bestimmten auf diese Weise nicht nur den Termin für die Aussaat, den zu erwartenden Ernteertrag, sondern trafen auch Wetterprognosen, wobei sich empirische Erfahrungen mit irrationalen Handlungen vermischten. So halbierten die Mordwinen sechs Zwiebeln, die die zwölf Monate symbolisierten, streuten auf jede Hälfte etwas Salz. J e nachdem wieviel Wasser sich bildete, wurde die Niederschlagsmenge f ü r den entsprechenden Monat vorhergesagt. Die Mari vertraten die Auffassung, daß heftiger Sturm am 25. Dezember starken Regen im Juli zur Folge hätte. Da die Jugend bei diesen Wahrsagereien aktiven Anteil hatte, 143
schlössen die Prophezeiungen in der Regel auch zu erwartende Veränderungen im persönlichen Leben, wie Hochzeit etc., ein. Als Rudiment ehemaliger Viehzuchtkulte kann die rituelle Speisung des Viehs am 25. Dezember angesehen werden. Allgemein war es üblich, daß man Weihnachten und den Jahreswechsel, ebenso Ostern entsprechend dem christlichen Glauben gestaltete. Im Unterschied dazu blieb bei anderen Frühlingsfesten der vorchristliche Charakter weitgehend erhalten, wie überhaupt die Kulthandlungen in dieser Jahreszeit am vielseitigsten waren und ihnen die größte Bedeutung zugemessen wurde. Die Frühjahrsbestellung erfolgte nach strengen, für alle verbindlichen Regeln. Den Termin für den Beginn der Feldarbeiten legten die Alten fest, sie bestimmten ihn nach der Größe von Hühnereiern oder dem Quaken der Frösche. Als glückliche Tage galten bei den Mari Montag, Mittwoch und Sonntag. Das erste Mal begaben sich alle Männer der Dorfgemeinde nach gründlicher Körperreinigung und in sauberer Kleidung, möglichst weiß, vor Sonnenaufgang aufs Feld. Die Bergmari kehrten wieder um, wenn sie unterwegs einer Frau begegneten, besonders dann, wenn diese einen leeren Eimer bei sich hatte, woraus man auf eine Mißernte schloß. Bei den Mordwinen war es üblich, am Tag der Aussaat nichts zu verkaufen oder zu verschenken. Mit der Aussaat sollte ein junger, gesunder und möglichst reicher Mann beginnen. In die erste Furche kamen neben Getreidekörnern einige hartgekochte gelbgefärbte Eier. In manchen Gegenden wurden sie zusammen mit den ersten Samenkörnern aufs Feld geworfen. Später sammelten sie junge Mädchen oder auch Kinder auf. Außerdem veranstaltete man kleine Familienopferfeste. In der Regel fanden sich mehrere verwandte Familien zur Kulthandlung. Bei den Mordwinen beteiligten sich daran, letztlich als Ausdruck der patriarchalen Sippenordnung, nur ältere Männer. I m Zusammenhang mit der Frühjahrsbestellung spielten diese Brauchformen jedoch nur eine untergeordnete Rolle. Von weitaus größerer Bedeutung waren Opferfeste, an denen die gesamte Gemeinde teilnahm und die entweder vor Beginn oder unmittelbar nach Beendigung der Frühjahrsarbeiten auf einem eigens dafür ausgewählten Feld, bei den Mordwinen auch am Flußufer, stattfanden. Gemeinde-Kulthäuser waren nicht bekannt. Diese Feste fanden immer unter freiem Himmel, meist im „heiligen Hain" statt. Als Familienkultstätte diente eine kleine fensterlose Hütte, die auch als Sommerküche oder Hochzeitshütte genutzt wurde. Zu den rituellen Speisen gehörten Plinsen, Piroggen, Quarkschnecken, Buchweizengrütze, selbstgebrautes Bier, Honig und Eier. Jedes Mitglied der Gemeinde beteiligte sich an den Kosten, und alle Frauen bereiteten die Speisen gemeinsam zu. Sollte ein Tier geopfert werden, wurde es auf Kosten der Gemeinde gekauft. Das aufwendigste Frühlingsfest, das gewöhnlich drei Tage dauerte und in der Ausgestaltung trotz unterschiedlicher Bezeichnungen bei Mari, Mordwinen und Udmurten, aber auch Tschuwaschen eine große Einheitlichkeit aufwies, war das Fest des Pfluges. Magische Handlungen, verknüpft mit abergläubischen Vorstellungen, sollten zur Erhöhung der Ernteerträge beitragen und nahmen, wie auch bei anderen Ackerbaufesten, einen wichtigen Platz im Festbrauchtum ein. Gebete und Opferspeisen vervollständigten ebenso wie Festmahl, sportliche Wettspiele und andere Lustbarkeiten dieses Frühlingsfest. Am Vorabend unterzogen sich groß und klein beiderlei Geschlechts einer gründlichen Körperreinigung. Am frühen Morgen des ersten Festtages versammelten sich alle Einwohner des Dorfes in sauberer Kleidung mit den vorbereiteten Speisen auf dem Kultplatz. Das Mahl wurde auf weißen Tüchern, die mit Kerzen und Fichten144
zweigen geschmückt waren, ausgebreitet. Die Bewohner des Dorfes stellten sich hinter den Speisen — in vorderer Reihe die Männer — auf. Vor Beginn der Feierlichkeiten wurde ein Scheiterhaufen errichtet, f ü r den jährlich eine andere Familie die Verantwortung trug. Das Feuer konnten Männer und Frauen anzünden. Danach sprach der Dorfälteste oder auch ein Priester das Gebet, das konkrete Forderungen auf reiche Ernteerträge, gesundes Vieh, Schutz vor Naturgewalten u. a. beinhaltete. Feste Normen f ü r Länge, Form und Inhalt gab es nicht; in der Regel wandte m a n sich an alle guten Götter. Nach Beendigung seiner Rede nahm der Priester ein Gefäß mit Bier und schüttete dieses zusammen mit einigen Speisebrocken ins Feuer. Seinem Beispiel folgten alle Anwesenden. Ein Teil des Essens wurde auf dem Feld, gedacht als Nahrung für die Mutter Erde oder auch für die Verstorbenen, vergraben. Hier zeigt sich die enge Verknüpfung von Agrar- und Ahnenkult. Die Mordwinen hängten außerdem einen Korb mit Brotstücken und verschiedenen Sorten von Getreidekörnern sowie etwas Entenfleisch und ein Gefäß mit Bier an einem hohen Baum auf. Nach diesem Zeremoniell besprengten bei den Mari einige Frauen und Mädchen die übrigen Anwesenden mit Wasser, um so die Saat vor Dürre zu schützen. Ein gemeinsames Festmahl bildete den Abschluß. Am zweiten und dritten Tag folgten nach individuellen Opfergebeten fröhliche Gelage. Die Jugend vergnügte sich bei sportlichen Wettkämpfen; verbreitet waren verschiedene Spiele mit Eiern. Mari und Udmurten veranstalteten außerdem Pferderennen. Letztere fütterten an diesem Tag das Pferd mit einem roh geschlagenen Ei und erwiesen ihm Aufmerksamkeit wie einem hochgeschätzten Menschen. Nach Beendigung der Frühjahrsbestellung begann der Sommerzyklus der landwirtschaftlichen Arbeiten und der damit verbundenen Riten, die im Unterschied zu denen im Frühjahr weitaus bescheidener waren. Große Feste wurden nicht veranstaltet. Zahlreiche Tabubestimmungen sollten die heranreifende Ernte vor Unheil schützen. Das blühende Getreidefeld verglich man mit einer schwangeren Frau, die nicht gestört werden durfte. So war es u. a. nicht gestattet, mit Lärm verbundene Arbeiten auszuführen. Die Kulthandlungen und Opferfeste galten vor allem der Gesundheit des Viehs. Frauen durften bei diesen Zeremonien nicht anwesend sein. » Eine Ausnahme bildeten in Dürrejahren magische Bräuche, die das Ziel hatten, Regen herbeizuzaubern. Bei den Mari zogen die Frauen des Dorfes zum Fluß, unter ihnen eine im Hochzeitsstaat. Sie hatte die Aufgabe, die Mutter des Wassers um Regen zu bitten. Anschließend tauchte sie einen Birkenstrauß in das Wasser und bespritzte damit alle Anwesenden. Weit verbreitet war auch der Brauch, sich bei lang anhaltender Trockenheit gegenseitig ins Wasser zu stoßen. Ähnlich wie bei der Aussaat begann man mit den Erntearbeiten an einem von dem Dorfältesten bestimmten Tag. Mit der Getreidemahd wurden die Herbstbräuche eingeleitet. Bei den Mari schnitt die erste Garbe immer eine alte, von allen geachtete Frau. Kulthandlungen und Opfergebete aus Anlaß der Ernte fanden ausschließlich im Familienkreis statt. Den Göttern galt der Dank. Bei den Herbstriten spielte die Frau ähnlich wie im Frühjahr eine aktive Rolle. Das erklärt sich vor allem aus ihrer Stellung im Produktionsprozeß. Größere Feste wurden im Herbst ebenfalls nicht veranstaltet. Nach Abschluß der Erntearbeiten beging man das Fest des neuen „Breies" bzw. des neuen „Brotes". Aus diesem Anlaß bereitete man Speisen aus dem neuen Getreide. Vorher durfte es nicht angerührt werden. Auch dieses Fest trug familiären Charakter. f- Nach Beendigung des Druschs veranstalteten Mari und Udmurten ein weiteres familiäres Opferfest, bei dem im Unterschied zum vorangegangenen neben Getreideprodukten Fleisch zu den rituellen Speisen gehörte. 10 Religion und Kult
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Trotz dieser jahreszeitlich bedingten Spezifik, die sich aus der jeweils konkreten Zielstellung ergab, wiesen die magischen Handlungen einen relativ einheitlichen Charakter auf. In der Gegenwart sind Bräuche mit religiös-magischem Charakter verschwunden. Die ehemaligen Kultfeste sind mit Ausnahme des Festes des Pfluges in Vergessenheit geraten, und nur wenige Alte erinnern sich noch an Einzelheiten. Beim Fest des Pfluges, das jährlich an einem Sonntag im Juni gefeiert wird, haben sich Inhalt und Charakter grundlegend gewandelt und entsprechen der sozialistischen Lebensweise. An dem Volksfest, das mehrere Dörfer gemeinsam veranstalten, beteiligen sich Angehörige aller dort lebenden Nationalitäten. An diesem Tag tragen Frauen und Mädchen in der Regel ihre Nationaltracht oder wenigstens einige Teile davon. Breiten Raum nehmen Sportwettkämpfe und Spiele ein. Verschiedene traditionelle Bräuche geben dem Fest eine besondere Note. In den letzten Jahren nimmt das Fest des Pfluges mehr und mehr den Charakter eines Nationalfeiertages an. Es wird am Tag der Verkündigung der Autonomie sowohl auf dem Dorfe als auch in den Städten begangen. Vielfältige zentrale Veranstaltungen, z. B. Sportwettkämpfe und Kulturausscheide, bilden den Hauptinhalt.
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Religion u n d K u l t • Berlin 1989 • Seiten 147-154
Zum Ahnenkult in Afrika V o n P E T E R GÖBEL
Was mit dem Begriff „Ahnen" in Verbindung gebracht wird, ist sehr vielgestaltig. Einerseits sind die Ahnen Wesen, die mit dem Präfix Ur- versehen, also Urahnen, zu Stammesmüttern, Stammesbegründern, Stammeseltern u. a. avancierten, meist in freier vielgestaltiger anthropomorpher Darstellung, deren Leben und Wirken in mythischen Urzeiten stattfand. Dann sind es auch Ahnen, die zu ihren Lebzeiten dem Ausübenden eines Ahnenkultes gut bekannt, verwandt und befreundet waren, deren plastische Formungen f ü r kultische Belange meist auffallend einfach und oftmals überhaupt nicht anthropomorph sind. Schließlich können Ahnen auch ehemals bekannte und bis in die Gegenwart bekannte Persönlichkeiten der Geschichte afrikanischer ethnischer Gruppen ganz unterschiedlicher soziologischer Struktur sein. Auch diese Gruppe von Ahnen genießt oftmals antropomorphe Darstellung. Dabei handelt es sich nicht um naturalistische Darstellungen im Sinne eines Porträts, sondern um Typisierungen und meist auch nicht um die Darstellung des Ahnen, sondern eher um eine plastische Ausformung einer temporären Aufenthaltsmöglichkeit des Ahnen. Die Zeit ihres Wirkens liegt unterschiedlich lange zurück. So vielgestaltig diese Vorstellungen auch sein mögen, eindeutig lassen sie sich von einem Totenkult im engeren Sinne (Begräbniskult) trennen. Bei der Definition des Ahnenkultes selbst wird ebenfalls wieder enger oder weiter verfahren. Der Begriff „Ahnenkult" und auch die Definition als „Verehrung verstorbener Vorfahren durch Gebete, Rituale und Opfer mit dem Ziel, sie als Geber von Fruchtbarkeit und Erhalter der Ordnung günstig zu stimmen und ihre Macht und die ihnen zugeschriebenen Fähigkeiten zum Wohle des Stammes bzw. der Gesellschaft zu nutzen" (Lexikon früher Kulturen I, 27 u. a.) sowie die verabsolutierende einseitige Anwendung blieben in letzter Zeit, vor allem auch von afrikanischer Seite her, nicht unwidersprochen. In seinem Buch „African Religions and Philosophy" führt der afrikanische Religionswissenschaftler J . S . M B I T I den Begriff Ahnenkult bis auf H. S P E N C E R zurück und bringt einige der wichtigsten Anmerkungen zum Gebrauch des Begriffes: „In his book, Principles of Sociology (1885), the anthropologist Herbert Spencer used the phrase ancestor worship to describe his speculation that 'savage' peoples associated the spirits of the dead with certain objects, and in order to keep on good terms with the spirits of their ancestors, people made sacrifices to them. Other writers have borrowed. this term and applied it almost to anything that Africans do in the way of religious ceremonies. Many books speak of 'ancestor worship' to describe African religions. Certainly it cannot be denied'that the departed occupy an important place in African religiosity; but it is wrong to interpret traditional religions simply in terms of 'worshipping the ancestors'. . . the departed, whether parents, brothers, sisters or children, from part of the family, and must therefore be kept in touch with their surviving
relatives. Libation and the giving of food to the departed are tokens of fellowship, hospitality and respect; the drink and food so given are symbols of family continuity and contact. 'Worship' is the wrong word to apply in this situation; and Africans themselves know very well that they are not 'worshipping' the departed members of their family. It is almost blasphemous, therefore, to describe these acts of family relation ships as 'worship'. Furthermore, African religions do not end at the level of family rites of libation and food offerings. They are deeper and more comprehensive than that. To see them only in terms of 'ancestor worship' is to isolate a single element, which in some societies is of little significance, and to be blind to many other aspects of religion" (MBITI 1969, 8 - 9 ) . 1 Möglichst wenige Aspekte der Religion bei einer Erforschung zu vergessen, kann nur Ziel entsprechender Untersuchungen sein. Es ist vielleicht das, was F. SCHLETTE auf unserer Konferenz als „den Vorstoß zum religiösen Hintergrund im K u l t " formulierte. Mit der Darlegung eines Kultes erschöpft sich nicht das Feld der Religion einer Gemeinschaft. Über die Religion und ihre soziale Einbettung kann man zum Weltbild gelangen, das mit der Religion koinzidieren kann, aber nicht braucht. Ein Vorteil der Arbeit von S. A. T O K A K E W , „Die Religion in der Geschichte der Völker", ist der, daß er auf ganz unterschiedlichen historischen und sozialökonomischen Ebenen ein Freidenkertum bereits erwähnt. Universalgeschichtlich stehen die religiösen Vorstellungen, mit denen der Ahnenkult verbunden ist, mit der Herausbildung Bodenbau treibender Sippen verbände innerhalb der Urgesellschaftsordnung in Zusammenhang (Lexikon früher Kulturen I, 27). Diese Herausbildung der Ahnenvorstellung sieht S. A. TOKAREV (1964, 277) folgendermaßen: „Die Gestalt des verehrten Ahnen ist deshalb vom ideologischen Gesichtspunkt, d. h. nach seinem Inhalt, das Produkt der Kontamination dreier ursprünglicher Vorstellungen: der Ideen von der Seele des Toten, der totemistischen Ahnen und eines familial-gentilen Schutzwesens. Jeder dieser drei Bestandteile hinterläßt auf komplizierte Art und Weise seine Züge: Die Ideen der Seele des Toten erhält die Anthropomorphität, die individuelle Bestimmtheit des verehrten Ahnen, seine Lebensnähe; die Idee des Totemahnen steht dagegen entsprechend der Schattierung nebelhafter Entlegenheit, Altertum, gibt ihm halbmythische Züge; schließlich bestimmt die Idee eines familial-gentilen Schutzgenius' die Rolle des Ahnenwesens als Erhalter und Wohltäter der Familie, ihres übernatürlichen Patrons". In der weiteren Entwicklung der Urgesellschaft, ihrem Zerfall und der Herausbildung von Klassenverhältnissen, war der Ahnenkult, der ursprünglich von allen für die Gemeinschaft wichtig war, immer mehr zu einem Ahnenkult herausragender Persönlichkeiten geworden, die man allgemein als besonders wichtig für die Erhaltung der Gesellschaft ansah. Der Ahnenkult lebte so in den Klassengesellschaften weiter, und er ist auch heute in sehr differenzierter Form in Afrika anzutreffen. Diese Vorstellungen des Ahnenkultes als Ergebnisse und Stadien einer historischen Entwicklung zu sehen, ist eine Notwendigkeit, die oftmals vergessen wird. Waren früher — und bei der Verwendung entsprechender Quellen muß das wohl beachtet werden — die Anlässe für entsprechende Untersuchungen der Vorstellungen von Ahnenverehrung die Darlegung evolutionistischer Gedankengänge — auch das vorhin zitierte Werk von H. S P E N C E R gehört zu die sei» Kategorie — so gab es auch rein praktische Anlässe. So waren nicht wenige dieser Untersuchungen mit der Ubersetzung der Bibel verbunden, wo es um die möglichst entsprechende und verständliche Ubersetzung von religiösen Begriffen ging. „Wo das Niveau der mensch148
liehen Natur und des gesellschaftlichen Fortschrittes am allemiedrigsten steht, da finden wir gewöhnlich verbunden mit dem Mangel an religiösen Ideen im allgemeinen auch einen Mangel oder wenigstens eine sehr geringe Ausbildung der Ahnenverehrung." S P E N C E R führt als Beispiel einen Stamm an, „von dem die Beschreibung sagt, dass sie kein Wort für Gott, keine Idee von einem künftigen Zustande, keine religiösen Ceremonien hätten", wozu noch die Bemerkung gefügt wird, daß sie „auch keinen Begriff von einer Verehrung ihrer Vorfahren besässen" (SPENCER, I , 1876, 346). Und der gleiche Autor beginnt sein Kapitel über die Ahnenverehrung im allgemeinen mit folgenden Worten: „Aus den verschiedensten Theilen der Welt und von Zeugen der verschiedensten Nationen und der mannigfaltigsten Glaubensansichten erhalten wir die Belege dafür, dass es Völkerstämme giebt, welche entweder ganz der Vorstellungen von übernatürlichen Wesen entbehren, oder deren Ideen hie von wenigstens ausserordentlich unbestimmt sind." E r berichtet nun von einer Missionsschilderung aus dem Jahre 1776. „Der gute Pater fand das Feld vollständig unbearbeitet, denn im Wörtervorrath dieser Völker fand sich kein Wort für Gott, Engel oder Teufel; sie hatten keine Theorie über ihren Ursprung noch über ihre Bestimmung" (SPENCER, I, 1876, 344). Es ist für die Anhänger einer theozentrischen Religion (Christentum) nicht einfach, die Terminologie auf eine soziozentrische Religionsform zu übertragen, wie es der Ahnenkult darstellt (THIEL 1980, 138). So liegen heute zu diesem Thema spezielle Untersuchungen vor, beispielsweise von der Ahnenverehrung bei den Bulsa in Nordghana, bei denen katholische Missionare einen Vergleich zwischen Ahnen als Mittler zwischen den Lebenden und einer Hochgottvorstellung sowie den katholischen Heiligen vornehmen. Diese Studie über die Spezifik der Ahnenopfer mit sehr exakten Beachtungen religiöser, sozialer und ökonomischer Aspekte liefert zwar ausgezeichnetes Material, die Zielstellung kann aber für uns nicht relevant sein (KRÖGER 1982). Für einen Benutzer von Primärund Sekundärquellen, auch Handbüchern, ist also eine ständige Klärung der Begriffe vorzunehmen, um Fehler zu vermeiden, neue Fragestellungen aufzuwerfen und zu neuen Erkenntnissen zu kommen. Auch gilt es unbedingt, sich vor sogenannten „sweeping generalizations" zu hüten. Eingedenk dieser Schwierigkeiten und des Mangels an umfassenden historisch orientierten Werken über afrikanische Religionen ist ein früher Abriß von C . M E I N H O F (1926) erwähnenswert. Die beste Darstellung ist immer noch die Arbeit von B . I. S A R E V S K A J A (1964). Wichtige Überblickswerke wurden mehr und mehr phänomenologisch orientiert, wohl beginnend mit der Untersuchung von E . DAMMANN (1963). Oder die Autoren lassen Afrikaner selbst zu Worte kommen, um mit diesen religiösen Texten das Problem elegant zu lösen (THOMAS et LTJNEATT 1969). Rufen wir uns das eingangs gebrachte Zitat von J . S . M B I T I ins Gedächtnis zurück. Selbst bei der Klärung solcher zunächst selbstverständlich scheinenden und als gültig geltenden Begriffe wie Vergangenheit werden wir Aufschlüsse über afrikanischen Ahnenkult erhalten. Gerade heute ist es wichtig, die semantischen Felder der Wortbegriffe aufzuklären, als Voraussetzung für gerechtfertigt« Verallgemeinerungen. Bei der Erforschung der Begriffssysteme ist noch eine riesige Arbeit zu leisten, und das betrifft nicht nur die Religionsgeschichte! Das wiederum ist erst die Voraussetzung für die gleichberechtigte Wertschätzung von Kulturen und für eine Betrachtungsweise einmal nicht mehr aus der europazentrischen Sicht. Daß das nicht leicht sein wird und auch Gefahren in sich birgt, wird schon aus dem gewählten Beispiel sichtbar werden. J . S. M B I T I sieht das afrikanische Konzept der Zeit als einen Schlüssel zum Ver149
ständnis der Grundlagen von Religion und Philosophie an, trotz der Wichtigkeit ein wenig bearbeitetes Thema, zu welchem er weitere Forschungen anregt. So unterscheidet er „potential time" und „actual time". Im traditionellen Leben ist in Afrika „Zeit" eine Komposition von Ereignissen, die sich ereignet haben, solchen, die sich jetzt ereignen, und solchen, die sicher eintreten werden. Was sich nicht ereignet hat und das, was keine Wahrscheinlichkeit hat, sich zu ereignen, fällt in die Kategorie „Nicht-Zeit". Was sich sicherlich ereignet oder was in den Rhythmus der Naturerscheinungen fällt, gehört zur Kategorie der unvermeidlichen oder „potential time". Die zwingendste Schlußfolgerung ist für J . S. M B I T I , daß „Zeit" entsprechend der traditionellen Vorstellung ein zweidimensionales Phänomen ist mit einer langen Vergangenheit, einer Gegenwart und im Grunde genommen keiner Zukunft. „Actual time" ist deshalb etwas, was gegenwärtig und was vergangen ist. Die Zeit läuft rückwärts statt vorwärts, und man orientiert sich nicht an zukünftigen Dingen, sondern daran, was hauptsächlich in der Vergangenheit passierte. J . S. M B I T I hat diese Vorstellungen getestet, u. a. auch an der Vorstellung vom Futur in mehreren afrikanischen Sprachen. Auch in der sehr unterschiedlichen Zeitrechnung bezieht man sich weitestgehend in Afrika auf das konkrete Ereignis und nicht auf eine Zahlenskala (Tageszeiten, Monate, Jahreszeiten usw.). Infolge des „Schweigens der Zeit" außerhalb eines zukünftigen Zeitraumes von wenigen Monaten, schlägt J . S. M B I T I vor, statt des europäischen Sprachgebrauches von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft die Swahili-Termini „Sasa" und „Zamani" zu gebrauchen (eigentlich „Gegenwart" und „Zeit/Zeitalter/Epoche"). Sasa ist die „Jetzt-Zeit", hat die Bedeutung von Unmittelbarkeit, Nähe, Jetzt, es ist der Bezugszeitraum für die Menschen, wann und wo sie existieren. Was man als „Zukunft" bezeichnen könnte, ist äußerst kurz. Ereignisse, die die Zeit ausmachen, also Ereignisse der (Sasa-Periode, müssen gerade beginnen zu geschehen, müssen ablaufen oder bereits verwirklicht sein. Je älter eine Person ist, desto länger ist ihre Ä?,s«-Periode. Auch die Gemeinschaft hat ihre Sasa, die noch größer ist als die eines Individuums. Sasa wird als die Mikro-Zeit bezeichnet. Die Mikro-Zeit ist für ein Individuum oder eine Gemeinschaft nur von Bedeutung, wenn man sie erlebt hat, wenn man an ihr teilgenommen hat, wenn man sie erfahren hat. Zamani ist dagegen nicht etwa das, was wir als Vergangenheit bezeichnen würden. Sie hat ihre eigene Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, aber in einem viel weiteren Maßstab. Man könnte sie als Makro-Zeit bezeichnen. Sasa und Zamani überschneiden sich und sind nicht exakt voneinander getrennt. Sasa füttert Zamani oder verschwindet darin. Bevor jedoch Ereignisse in Zamani inkorporiert werden, müssen sie in der iSVisa-Periode verwirklicht werden. „So Zamani becomes the period beyond which nothing can go. Zamani is the graveyard of time, the period of termination, the dimension in which everything finds its halting point. It is the final storehouse for all phenomena and events, the ocean of time in which everything becomes absorbed into a reality that is neither after nor before" ( M B I T I 1969, 23). Entsprechend dieser Vorstellungen ist auch die Konzeption der Geschichte. Die Geschichte verläuft von Sasa nach Zamani, von einer Zeit intensiven Erlebens in eine Periode, jenseits derer nichts stattfinden kann. „In traditional African thought, there is not concept of history moving 'forward' towards a future climax, or towards an end of the world" ( M B I T I 1 9 6 9 , 2 3 ) . Diese Feststellung könnte sehr schwerwiegende Folgerungen auf unterschiedlichsten Ebenen 150
zur Folge haben. „The centre of gravity for human thought and activities is the Zamani period, towards which the Sasa moves. People set their eyes on the Zamani, since for them there is no 'World to Come', such as is found in Judaism and Christiani t y " (MBITI 1969, 23).
Der Hauptorientierungspunkt liegt also nicht in der Zukunft, sondern in der Za«larw-Periode. „In any case, oral history has no dates to be remembered. Man looks back from whence he came, and man is certain that nothing will bring this world to a conclusion. According to this interpretation of African view of history, there are innumerable myths about Zamani, but no myths about any end of the world, since time has no end. African peoples expect human history to continue forever, in the rhythm of moving from the Sasa to the Zamani and there is nothing to suggest that this rhythm shall ever come to an end: the days, months, seasons and years have no end, just as there is no end to the rhythm of birth, marriage, procreation and d e a t h " (MBITI 1969, 24).
Das menschliche Leben hat einen anderen unzerstörbaren Rhythmus. Er beginnt mit der Geburt des Individuums, geht über Pubertät, Initiation, Heirat, Zeugung, Alter, Tod, Eintritt in die Gemeinschaft der Verstorbenen (Abgeschiedenen) und schließlich in die der Geister. Für die Gemeinschaft ist dieser Rhythmus der des Wirtschaftszyklus. Wichtige Ereignisse werden durch religiöse Riten und Zeremonien markiert, desgleichen gewissermaßen mit umgekehrten Vorzeichen die Störungen dieses Rhythmus'. Während seines Lebens geht ein Mensch von Sasa langsam nach Zamani über. Seine Geburt kann eine lange Zeit beanspruchen, und es kann sein, daß ein Mensch erst richtig nach der Heirat oder der eisten Zeugung geboren sein kann. Damit ist er ein vollwertiger Mensch. Ebenso ist der Tod ein langer Prozeß, der ebenfalls den Menschen von Sasa nach Zamani gehen läßt. „After the physical death, the individual continues to exist in the Sasa period and does not immediately disappear from it. He is remembered by relatives and friends who knew him in this life and who have survived him. They recall him by name . . . they remember his personality, his character, his words and incidents of his life. If he 'appears' (as people believe), he is recognized by name. The departed appear mainly to the older members of their surviving families, and rarely or never to children. They appear to people whose Sasa period is the longest. This recognition by name is extremely important. The appearance of the departed, and his being recognized by name, may continue for up to four or five generations, so long as someone is alive who once knew the departed personally and by name. When, however, the last person who knew the departed also dies, then the former passes out of the horizon of the Sasa period; and in effect he now becomes completely dead as far as family ties are concerned. He has sunk into the Zamani period. But while the departed person is remembered by name, he is not really dead: he is alive, and such a person I would call the living-dead. The living-dead is a person who is physically dead but alive in the memory of those who knew him in his life as well as being alive in the world of the spirits. So long as the living-dead is thus remembered, he is in the state of personal immortality. This personal immortality is externalized in the physical continuation of the indi vidua! through procreation so that the children bear the traits of their parents or progenitors. From the point of view of the survivors, personal immortality is expressed or externalized in acts like respecting the departed, giving bits of food to them, pouring out libation and carrying out instructions given by them either while they lived or when they appear" (MBITI 1969, 25/26). 151
Aus dem Gesagten ist ersichtlich, wie wichtig es ist, diesen Rhythmus nicht zu unterbrechen, und es weist auf die auch religiöse Bedeutung von Heirat und Kinderreichtum hin. „The acts of pouring out libation (of beer, milk or water), or giving portions of food to the living-dead, are symbols of communion, fellowship and remembrance. They are the mystical ties that bind the living-dead to their surviving relatives. Therefore these acts are performed within the family. The oldest member of the familiy is the one who has the longest Sasa period, and therefore the one who has the longest memory of the departed. He it is who performs or supervises these acts of remembrance on behalf of the entire family, addressing (when the occasion demands it) the symbolic meal to all the departed (living-dead) of the family, even if only one or two of the departed m a y b e mentioned b y n a m e or position (e.g. father, grandfather.) There is nothing here about so-called 'ancestor worship', even if these acts may so seem to the outsiders who do not understand the situation" (MBITI 1969, 26). Haben wir hiermit also von afrikanischer Seite her einen negativen Bescheid zum Thema, so soll noch kurz überprüft werden, inwieweit diese Konzeption auch ermöglicht, die im Anfang zum weiteren Ahnenbegriff zu rechnenden Vorstellungen und Wesenheiten unterzubringen. Mit dem Zeitpunkt des Sterbens des letzten Nachlebenden, der sich seiner erinnerte und ihn mit Namen kannte, ist, wie geschildert, der Prozeß des Sterbens abgeschlossen. Aber der living-dead hört damit nicht auf zu existieren: Er erreicht jetzt das Stadium der kollektiven Unsterblichkeit. Dies ist das Stadium der Geister, die nicht länger formelle Mitglieder von menschlichen Familien sind. Die Menschen pflegen nur lose Kontakte mit ihnen zu haben. Sie gehören zu den Geistern. Wenn sie den Menschen erscheinen, kennt sie niemand mit Namen, und sie können Angst und Furcht verursachen oder bewirken. Ihre Namen können von menschlichen Wesen genannt werden, speziell in Genealogien, aber es sind leere Namen, die mehr oder weniger ohne Persönlichkeit sind oder bestenfalls mit einer mythologischen Persönlichkeit versehen sind, um die sich Dichtung und Wahrheit rankt. Diese Geister haben keine persönlichen Kontakte mit menschlichen Familien; in einigen Gesellschaften können sie durch Medien sprechen oder Beschützer eines Klans oder einer Nation werden oder können genannt oder angerufen werden in religiösen Riten von lokaler oder nationaler Bedeutung. In anderen Gesellschaften können solche Geister in die Gruppe der Mittlerwesen zwischen Gott oder Göttern und den Menschen aufgenommen werden. Die menschlichen Wesen nähern sich Gott durch sie oder erbitten so Hilfe. Über diesen Zustand von Geistern hinaus kann kein ehemals menschliches Wesen nach afrikanischen Vorstellungen gelangen. „African religious activities are chiefly focused upon the relationship between human beings and the departed; which really means that m a n tries to penetrate or project himself into the world of what remains of him after this physical life. If the living-dead are suddenly forgotten, this means t h a t they are cast out of the Sasa period, and are in effect excommunicated, their personal immortality is destroyed and they are turned into a state of nonexistence. And this is the worst possible punishment for anyone. The departed resent it, and the living do all they can to avoid it because it is feared that it would bring illness and misfortunes to those who forget their departed relatives. Paradoxicalla, death lies 'in front' of the individual, it is still a 'future' event; but when one dies, one enters the state of personal immortality which lies not in the future but in the Zamani" (MBITI 1969, 27). Ausgehend von den uns gebräuchlichen Vorstellungen eines Ahnenkultes wurde 152
hier einmal in enger Anlehnung an die afrikanischen Formulierungen ein Bild oder besser ein kleiner Ausschnitt geboten, der vielleicht auf den ersten Blick dem einen als durchaus althergebracht erscheint. Wem es zu abstrakt ist, dem sei versichert, daß die Basis dafür afrikanische Gemeinschaften sind, auf deren Verhältnissen diese Schilderungen aufbauen. Selbst das sehr entwickelte, hierarchisch gegliederte und vielgestaltige Pantheon der Yoruba Nigerias ließe sich solcherart deuten, ehemals wohl auf einer Identität von lineage und orisha-Kultgemeinschaft basierend, die jedoch weitestgehend erweitert wurden. In unserem Sprachgebrauch wird angenommen, daß es sich bei den Verstorbenen, den Ahnen, um Angehörige einer Generation handelt, die bereits Nachkommen hat. Daß die Vorstellungen jedoch auch Verstorbene anderen Alters betreffen können, geht aus den Überlieferungen hervor, die eben bei den Yoruba Nigerias als ibejiKult bekannt sind und die die obigen Schilderungen ebenfalls illustrieren. Bei den Yoruba galten Zwillingsgeburten als großes Glück. Sie galten als Geschenk des orisha ibeji (ib = gebären; eji = zwei). Seinem Schutz unterstanden die Zwillinge auf Erden, und er konnte jederzeit einen oder beide zu sich zurückrufen. Geschah dies, fand einer oder fanden beide Zwillinge den Tod, wurden eine oder zwei kleine Figuren geschnitzt. L. F R O B E N I U S (1926, 28) konnte zu diesen Figürchen folgendes in Erfahrung bringen: „Solche Holzfigur ist meist nach einem bekannten alten Schema verfertigt, aber durch entsprechende Opfer wird das Ibedjibild geeignet, dem verstorbenen Kinde zum Aufenthaltsort zu dienen. Die Mutter trägt von dem Tage an das Ibedjibildnis immer mit sich herum und gibt von jeder, auch der bescheidensten Mahlzeit dem Figürchen mit großer Treue sein unscheinbares Anteilchen ab. Erst wenn das überlebende Geschwisterkind groß genug ist, um selbst diese zarte Opferung weiterzuführen, hört die Mutter damit auf, übergibt diesem das Bild des Zwillirigsschwesterchens oder -brüderchens und schließt so ihrerseits mit diesem Erlebnisse ab. Die neue Wärterin des kleinen Bildwerkes sorgt dann aber mit gleicher Sorgfalt f ü r den Kultus. Er oder sie nimmt es überall hin mit sich, gibt ihm immer von jeder Nahrung ab, hegt es daheim in der Schlafkammer oder neben dem Kaufstande auf dem Markte. Es ist aber sehr wohl zu erkennen, daß sie den Toten in keiner Weise mit dem Holzwerke identifizieren, daß sie diese grobe Gestalt vielmehr nur als Wohnort des Toten annehmen, den dieser jeden Augenblick verlassen und mit einem neuen vertauschen kann. Denn sie sind bereit, die Holzfigur zu verkaufen, schaffen dann eine neue an, der sie reichlich opfern, entsprechende Umzugsgebete halten und dann die gleiche Sorgfalt erweisen wie vordem der alten, nun weggegebenen. So rührende Teilnahme wird dem toten Ibedji bis zum Hinscheiden des überlebenden Zwillings erwiesen, und erst mit seinem Tode und wenn auch die gemeinsame Mutter im Grabe ruht, verfällt der kleine Tote der Vergessenheit, die Figur ohne Nachfolgerschaft dem alten Gerumpel". Zieht man diese Schilderung mit in Betracht, so ist verständlich, warum von afrikanischer Seite Bedenken gegen manche im europäischen Sprachgebrauch üblichen Bezeichnungen gehegt werden, und es wird deutlich, daß man, wie in anderen Zweigen der Wissenschaft und Kunst, auch in der Religionsgeschichte die afrikanischen Stimmen nicht entbehren kann, was nicht nur für Ethnographie und Urgeschichte, sondern auch f ü r das Verstehen gegenwärtiger Prozesse und Probleme von Nutzen ist.
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Anmerkungen 1
I m vorliegenden B e i t r a g wurde E x a k t h e i t zu gewährleisten.
J. S.'MBITI
in englisch zitiert, u m größtmögliche
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Religion und Kult • Berlin 1989 • Seiten 155-163
Ahnenkult und höfische Kunst in Afrika (am Beispiel des Kameruner Graslandes) V o n B E R N D ARNOLD
Die Bewohner des sogenannten Graslandes im Inneren der Vereinigten Republik Kamerun waren im 19. J h . und zu Beginn des 20. J h . die Träger einer der bedeutendsten Kunstprovinzen Westafrikas (vgl. A R N O L D 1980). Hier flössen viele technologische und gestalterische Traditionen West- und Zentralafrikas zusammen, so daß ein beeindruckend vielfältiges Kunstensemble entstand. Den Vorrang genoß das Schnitzen in Holz, selten beschnitzte man die wertvollen Elfenbeinzähne. Außerdem verstand man, kleine verzierte Gegenstände in Bronze zu gießen, wobei jedoch eine solche Meisterschaft wie in Benin (SW-Nigeria) nicht erreicht wurde. Auf ähnliche Weise wie die Wachsmodelle f ü r den Bronzeguß modellierte man auch Tabakspfeifen in Ton. Geschickte Hände fügten böhmische Glasperlen zu flächendeckenden Überzügen zusammen. Zu den Aufgaben der Schmiede gehörte auch das Belegen einiger Schnitzwerke mit Zinnfolie. So entstanden Masken und Figuren, die Menschen und Tiere darstellten, sowie mit solchen Motiven verziertes Kult- und Gebrauchsgerät, u. a. Häuptlingshocker, Betten, Türrahmen und Hauspfeiler, Hausrat, Schmuck, Waffen und Tabakspfeifen. Fast ohne Ausnahme befanden sich alle verzierten Gegenstände im Besitz der politischen Oberhäupter oder anderer Vornehmer, so daß sich die Grasland-Kunst durch einen ausgeprägt höfischen Charakter auszeichnete. In der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen erfuhr die Grasland-Kunst eine Renaissance, der ihr Fortbestehen bis in die Gegenwart zu verdanken ist. Meine Ausführungen beziehen sich nur auf die vorkoloniale Zeit und auf den frühen Kolonialismus, als die Autorität der traditionellen politischen Oberhäupter noch weitgehend ungebrochen war. Wenn nun eine Deutung der Kunstäußerungen und der ihnen zu Grunde liegenden religiösen Anschauungen versucht werden soll, muß vorausgeschickt werden, daß hinsichtlich psychoethnologischer Grundlagenforschungen zur afrikanischen Religion und Kunst in der D D R ein genereller Nachholebedarf besteht. Mit dem Eingehen auch auf diese Problematik wollte der Verfasser das Denken der Afrikaner, das ihr kultisches Handeln bestimmte, zumindest anklingen lassen, um so weitere Forschungen mit psychoethnologisehen Fragestellungen anzuregen. Im Kameruner Grasland sind „verschiedene äußere Mächte", so F. E N G E L S ( 1 8 8 5 , 294), erkennbar, die in Form überirdischer Mächte eine Widerspiegelung, wenn auch eine „phantastische", in der Religion erfuhren. Als Bauern hingen die Bewohner des Graslandes von der Allmacht „Natur" ab, besonders das Ausbleiben des Regens konnte das materielle Fortbestehen der Gemeinschaften erheblich gefährden. Weiterhin flößten Raubtiere den Menschen Furcht ein, weil ihnen ein Individuum meist hilflos ausgeliefert war. Der Mangel an Wissen über die Ursachen bestimmter Krankheiten, den erst die moderne Medizin überwand, trug das Seinige zu einer gewissen 155
Ohnmachtserkenntnis der Menscheil gegenüber der N a t u r bei. I m Grasland kompensierten sie diese Ohnmachtserkenntnis, indem sie ihren Ahnen die Einwirkungsmöglichkeit auf die N a t u r zusprachen; eine vermeintliche empirische Erkenntnis, die sie als Rückkopplung ihres kultischen Handelns gewannen. Somit sind es im bäuerlichen Grasland vorwiegend gesellschaftliche Verhältnisse, die sich in der Religion widerspiegeln: die gerontokratisch-patriarchale Verwandtschafts- und Familien Verfassung der Gentilgesellschaft in ihrer Auflösungsphase und die Herrschaftsverhältnisse im Übergang von der „militärischen Demokratie" zu einer militärischen Despotie, d. h. zu ersten Staatswesen. Vom Grundprinzip her reflektiert der Sippen-Ahnenkult 1 die gerontokratischpatriarchale Gentilverfassung, die in Afrika auch unter den Bedingungen der Klassengesellschaften teilweise wirksam geblieben ist, ziemlich genau. In der sich auflösenden Urgesellschaft wurden nicht mehr alle Gemeindemitglieder gleich behandelt und bewertet. Als ausschlaggebend f ü r das hohe oder geringe soziale Ansehen eines Menschen erachtete man Alter, Reichtum, vornehme Abstammung und Verdienste um die Gemeinschaft, in gewissem Maße auch sein Geschlecht. Frauen erwarben Verdienste beispielsweise durch die M u t t e r s c h a f t ; die Mutter eines Herrschers gehörte zu den einflußreichsten Persönlichkeiten im Lande. Männer zeichneten sich u. a. aus durch W a f f e n t a t e n wie durch ihre soziale Funktion als Sippenoder Familienoberhaupt und Häuptling. Hohes Ansehen war jedoch ohne entsprechenden Reichtum undenkbar. Unterschiede im sozialen Ansehen f a n d e n im Grasland ihren Ausdruck in der Zugehörigkeit der Männer zu verschiedenen Rängen der Männerbünde, wobei die höheren Ränge ihren Mitgliedern mit Privilegien verbundene „Titel" verliehen. Das Prestige-Denken f ü h r t e dazu, auch das Ansehen der Verstorbenen und damit deren Macht und Einwirkungsvermögen unterschiedlich zu bewerten. Dies f ü h r t e letzten Endes zur Bevorzugung der Herrscherahnen im Häuptlings- und Königskult. I m 19. J h . löste die militärische Expansion der nördlich des Graslandes wohnenden Völker im Grasland politische Zentralisationsbestrebungen aus, die zu einer S t ä r k u n g der Häuptlingsmacht f ü h r t e n . I m Falle von B a m u m e n t s t a n d sogar ein Staatswesen. Die politischen Oberhäupter vereinigten in sich eine gewaltige ökonomische, politische, militärische und kultische Macht. Der Häuptlings- bzw. Königskult, auf dem die Grasland-Kunst ideologisch basierte, entwickelte sich zur wesentlichen Stütze des sakralen Herrschertums. Die in den Herrscherkult integrierten Glaubensformen Ahnenkult, K r a f t - und Seelenglaube, Tierkult bzw. Totemismus finden sich weltweit. Am regionalen ethnographischen Material des Graslandes scheinen deshalb historische Erörterungen zur Herausbildung dieser Glaubensformen müßig zu sein. Sichtbar werden jedoch f ü r die „phantastischen" Elemente der Glaubensformen einige Denkschemata, die wahrscheinlich auf Verallgemeinerungen von vermeintlichen empirischen Erkenntnissen einer vorwissenschaftlichen Gesellschafts- und N a t u r b e t r a c h t u n g beruhen. Nach den traditionellen Ansichten der Afrikaner bildete der Mensch eine Einheit verschiedener Teile — des Leibes und mehrerer Seelen, von denen nach der Pars-prototo-Vorstellung jeder Teil das Ganze repräsentieren konnte. Eine der Seelen existierte nach dem Ableben des Körpers fort, sie ließ sich mehr oder weniger ortsgebunden in der N a t u r nieder. Der Glaube an das Weiterleben der Seele als Alter-ego eines Menschen wurde beispielsweise durch Träume genährt. Die selbständig existierende Seele erfuhr eine Aufladung mit immaterieller sakraler K r a f t . Dieser Vorgang scheint die Anerkennung des besonders erhöhten sozialen Ansehens bestimmter Personen noch zu 156
deren Lebzeiten seitens der Gemeinschaft widerzuspiegeln. Mit Hilfe dieser K r a f t gewann die Seele — man kann auch sagen: der Ahnengeist — Einfluß auf die Natur und auf die Nachkommen der repräsentierten Menschen, wobei man das Wohlwollen der Ahnen durch Opfer, die als verpflichtende Geschenke an die Ahnen galten, zu erreichen dachte. Der Häuptlings- bzw. Königskult basierte auf der rituellen Zuständigkeit der Herrscherahnen f ü r das gesamte Herrschaftsgebiet und f ü r alle, also auch für die nicht mit dem Häuptling verwandten Untergebenen. Dies setzte in der Realität einen globalen Eigentumsanspruch des Herrschers am Boden voraus und rechtfertigte ihn gegenüber den Untergebenen. Als Nachkomme wird der Herrscher selbst teilhaftig der sakralen K r a f t der Ahnen und damit selbst sakral. Um ein unbeabsichtigtes Einwirken des mit K r a f t geladenen Häuptlings zu vermeiden, mußte er sich in einigen afrikanischen Gesellschaften isolierenden Meidungen unterziehen. Für das Grasland ist dies nicht nachweisbar. Mit seiner sakralen K r a f t schuf der Herrscher gleichsam ein Kraftfeld, das Land und Leute gegen schädliche Einwirkungen schützte. In einigen Gebieten Afrikas folgerte man beim Ausbleiben des Regens, bei Mißernten, Epidemien und militärischen Niederlagen, daß ein „sakraler Königsmord" Platz f ü r einen geeigneten Nachfolger schaffen müsse. Diese Sitte bestand im Grasland möglicherweise vor dem 19. J h . Wenn sich ihre frühere Existenz bestätigen sollte, könnte ihre Abschaffung im Zusammenhang damit gestanden haben, daß der Herrscher mit der Ausweitung seiner weltlichen Macht auch immer mehr Einfluß auf die Männerbünde errang, deren Führer den „sakralen Königsmord" bestimmten und durchführten. Der Herrscherkult erzeugte eine Abhängigkeit des Untergebenen vom Oberherrn, wie sie keine obrigkeitliche Verfügung schaffen konnte. Die entsprechende Ideologie mußte jedoch dem Untergebenen Immer wieder bildlich erlebbar vor Augen geführt werden? Kultische Handlungen, das sichtbare Aufstellen der Kunstwerke und vor allem die Maskentänze bezweckten ein fortwährendes Erinnern an die Macht der Ahnen des Häuptlings und damit an seine eigene. Sie erweckten Assoziationen und Emotionen und bewirkten so eine Veranschaulichung der herrschenden Ideologie, die besagte, daß die mächtigen Ahnen den schwachen Menschen Schutz und Hilfe angedeihen lassen, aber dafür Verehrung, Opfer und Gehorsam verlangen. Die Masken einschließlich der zugehörigen Kostüme gehörten genau genommen den Bünden, deren Gleichschaltung zur Häuptlingsmacht im Grasland des 19. J h . jedoch fast gänzlich erfolgt war. Maskenträger verkündeten Weisungen des Herrschers, sie überwachten Arbeiten auf seinen Feldern und traten als Tänzer bei Totenfeiern, Ahnenopfern und verschiedenen Festen auf. Sogar der Sultan von Bamum, Nschoya, tanzte persönlich anläßlich des jährlichen Erntefestes vor versammeltem Volk unter einer Maske. Die Identifizierung vieler anthropomorpher Figuren und Masken als Ahnenabbilder hat schon seit langem in der Kunstethnologie Anerkennung gefunden. Wie steht es aber mit den tiergestaltigen Darstellungen ? Das meist stark stilisierte Motiv einer in der Erde lebenden Spinnenart geht auf deren postulierten unmittelbaren K o n t a k t zu den Ahnen zurück. Andere Tiermotive, u. a. der Leopard, der Elefant, der Büffel, die Riesenschlange, sollen offenbar Klantotems darstellen, wobei nach der Pars-pro-toto-Vorstellung das Totemzeichen des Klans f ü r den Ahnen steht. Die Relikte des Totemismus sind in Afrika wahrscheinlich schon im Zusammenhang mit dem Übergang zum Bodenbau in den Ahnenkult integriert worden. Die Ursprungsmythen f ü r Klantotems sprechen nicht von einer Verwandtschaft zwischen Mensch und Tier. Sie variieren das Thema des helfenden Tieres. Beispielsweise hätten 157
Abb. 1 a Sultan Xsclioya von B a m n n i auf seinem Perlenthron, J a n . 1912. K a m e n m e r G rosi u n d : B a m u m , F u i n b a n (nacli TjroiiUKCK'E 1914)
Abb. 2 a Gesichtsmaske mit Kopfputz, Holz, um 1910. Kameruner Grasland, Höhe: 55 cm (Staatl. Museum f. Völkerkunde Dresden, 31 474) Abb. 2 b Halsschmuck. Auf einen Eisenreifen sind 17 gegossene Köpfe in Maskenform aufgeschoben um 1910. Kameruner Grasland: Bamum, Durchmesser: 27,5 cm (Staatl. Museum f. Völkerkunde Dresden, 57 716) '
Abb. 1 b Ein Würdenträger vor seinem beschnitzten Türrahmen, um 1950. Kameruner Grasland: Bandjun (nach B E D O U I N , H U E T 1950) Abb. 1 c Plastik einer Häuptlingsfrau mit Kind, Holz, um 1905. Nördliches Kameruner Grasland, Höhe: 98 cm (Staatl. Museum f. Völkerkunde Dresden, 28 024) 159
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Abb. 5 a Häuptlingshocker mit Leopardenmotiv, Perlenüberzug auf Holz und Gewebe, um 1910. Kameruner Grasland: B a m u m , H ö h e : 52 em (Staatl. Museum f. Völkerkunde Dresden, 49 173) Abb. 5 b Tabakspfeifenkopf in F o r m eines Elefantenhauptes mit vier Stoßzähnen, Gelbguß, um 1910. Kameruner Grasland: B a m u m , Höhe des Tabaksbehälters: 7 cm (Staatl. Museum f. Völkerkunde Dresden, 47 240)
Abb. 3a Modellierter Tabakspfeifenkopf mit Ahnen- und Spinnenmotiv, Ton, um 1910. Kameruner Grasland, H ö h e : 30 cm (Staatl. Museum f. Völkerkunde Dresden, 31 502) Abb. 3 b Tabakspfeifenkopf in F o r m einer doppelköpfigen Riesenschlange, Gelbguß, um 1910. Kameruner Grasland, H ö h e : 18,5 cm (Staatl. Museum f. Völkerkunde Dresden, 31 512) Abb. 4 a Büffelmaske,, Holz, u m 1910. Kameruner Grasland: B a m u m , H ö h e : 7 3 , 5 c m (Staatl. Museum f. Völkerkunde Dresden, 54 661) Abb. 4 b Häuptlingssessel, Holz, um 1910. Kameruner Grasland: B a m u m , H ö h e : 73 cm (Staatl. Museum f. Völkerkunde Dresden, 52 464) 11 Keligion und Kult
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zwei Riesenschlangen einem Häuptling, der vor seinem Feind fliehen mußte, als lebende Brücke das Überschreiten eines Flusses ermöglicht. Aus Dankbarkeit verbot er seinen Nachkommen, Riesenschlangen zu töten. Wie es sich bei den kultisch verehrten Ahnen eines Herrschers nicht nur um dessen tatsächliche Blutsverwandte handeln konnte, sondern auch um fiktive Vorfahren, sozusagen integrierte Stammesahnen, so nahm auch der Herrscherkult viele Totems in sich auf, womit deren sakrale K r a f t auf den Herrscher übertragen und er bestimmten mächtigen Tieren ebenbürtig wurde. Eine große Bedeutung kam in weiten Teilen Afrikas dem Leoparden als Alterego des Häuptlings zu. I m Grasland mußte ein J ä g e r die Felle erlegter Leoparden an den Herrscher abliefern. Außerdem sprach man dem Häuptling und seiner Hauptfrau sogar die Fähigkeit zu, als Leopard das Land durchstreifen zu können und dabei Übeltäter zu strafen. Deshalb durfte nur ein Häuptling einem getöteten Leoparden in das Antlitz schauen, um so den Menschen zu erkennen, dessen Seele in das Tier eingegangen war. Auch solche totemistisch anmutende Vorstellungen dem Ahnenkult zuzuordnen, könnte eine Information aus Ostafrika nahe legen, wonach man dort den Leoparden als „Hund" der Ahnen, sprich Vollstrecker ihres Willens, betrachtete. 2 Aus dem F a k t der Monopolisierung der Kunstwerke seitens der Herrscher, die nur durch „Titel" ausgezeichnete Würdenträger daran teilhaben ließen, kann man schließen, daß auch die Abbilder von Ahnen und ihnen gleichgestellte Symbole als mit sakraler K r a f t ausgestattet gedacht wurden, womit sie ebenfalls sakralen Charakter erhielten. Folglich konnte zwar der sakrale Herrscher bestimmte Gegenstände und Motive, die dem Königskult und dem ihm angeschlossenen Bundwesen entstammten, auch für den profanen Gebrauch durch seine „geheiligte" Person entlehnen, die Mitglieder anderer Stände jedoch ausschließen. Dies bewirkte den generell höfischen Charakter der traditionellen Grasland-Kunst. Andererseits erforderten die Absicht der ideologischen Beeinflussung und der Zwang zur Wahrung des Herrscherprestiges die zumindest zeitweise öffentliche Schaustellung der Kunstwerke. Im Rahmen von Festen vereinten sich Volk und Herrscher, und Bewirtung, • Geselligkeit, Tanz und Musik schufen temporär ein kollektives Kunsterlebnis, wie es früher für die Gentilgesellschaft üblich gewesen war. Fotos: S. WEIDEL, Staatliches Museum für Völkerkunde Dresden Anmerkungen 1 Die Teilnahme am gemeinsamen Ahnengebet galt als Zeichen der Zugehörigkeit von Individuen zu einer „Lineage", die etwa fünf Generationen umfaßte. Personen, deren Lineages das gleiche Totem besaßen, waren im gewissen Umfange untereinander zur Solidarität verpflichtet; sie bildeten einen häufig über weite Gebiete verbreiteten „Klan". 2 Die Information bezieht sich auf die Landschaft Ibungu in SW-Tansania. Archiv der Evangelischen Brüderunität Herrnhut: Bericht des Vorstehers der Missionsstation Ileya über das 1. Quartal 1910, S. 3. Literaturverzeichnis 1 9 1 8 : Totenkult und Seelenglaube bei afrikanischen Völkern. In: Zeitschrift für Ethnologie 60, 89-153 AHNOLD, B . 1 9 7 6 : Das Menschenbild in der Frühen Klassengesellschaft: West- und Zentral-
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Religion und Kult • Berlin 1989 • Seiten 165-170
Eine Grube der Baalberger Kultur mit kultischem Befund von Melchendorf, Kr. Erfurt-Stadt V o n BEBUD W . BAHN
Am Südrand des Stadtgebietes von E r f u r t wurde 1982—1984 im Baugelände f ü r ein großes Neubaugebiet ein umfangreiches Gräberfeld der Urnenfelderzeit untersucht. Dabei traf man in der Fläche des Gräberfeldes auch auf neolithische Siedlungsgruben, die sich nach dem wenigen keramischen Fundgut der Baalberger Kultur zuordnen lassen. Da es im Gräberfeld außerdem älterurnenfelderzeitliche Siedlungsgruben gibt (die von Gräbern häufig überschnitten werden), ist bei vielen fundleeren Gruben eine Zuweisung nicht möglich. Auf jeden Fall befand sich in dem Gelände, einem schwach nach Süden fallenden Talhang, zunächst eine Siedlung der Baalberger Kultur. Sie lag vor dem Ausgang eines engen Kerbtales, das aus der Muschelkalkhochfläche herausführt, am Fuß eines Keuperrückens, der hier stark mit Löß überdeckt ist. Wahrscheinlich breitete sie sich beiderseits eines Bachlaufes aus, der heute wenige Dutzend Meter südöstlich verläuft, dessen alter Lauf aber während der Ausgrabung erkannt werden konnte. Während der letzten Grabungsetappe im Mai 1984 wurde im Südostteil des Gräberfeldes, und zwar dicht südöstlich neben dem prähistorischen Bachlauf, eine Anhäufung kleinerer Steine und Stückchen gebrannten Lehms im Planum angetroffen, die sich als oberste Lage der Füllung einer fast kreisrunden Grube erwies. Etwa 1 m südlich der Grube verlief bereits vor Entdeckung des Gräberfeldes ein ca. 5 m breiter Baggergraben, so daß f ü r das südwärts anschließende Gelände keine Aussage mehr möglich ist. Man kann aber davon ausgehen, daß die neolithische Siedlung beiderseits des damaligen Baches angelegt war. Daß der Bach in neolithischer Zeit Wasser führte, ist archäologisch nicht belegbar, aber anzunehmen; fest steht nur, daß er zur Urnenfelderzeit verfüllt war, denn er wird von mehreren Gräbern überschnitten, wogegen es keine Überschneidungen mit neolithischen Befunden gibt. Die Baugrube wurde aufgrund des sofort erkannten komplizierten Aufbaus in Straten von 10—15 cm abgetragen. Trotz sorgfältiger Beobachtung 1 wurde allerdings nicht bemerkt, daß die Grubenfüllung von einer urnenfelderzeitlichen Grabgrube f ü r ein etwa 2jähriges Kind gestört worden war. Offensichtlich ist das Aushubmaterial samt keramischen Resten unverändert wieder eingefüllt worden, so daß erst die anthropologische Untersuchung der Kinderskelettreste und ein dabei am Schädel aufgefundener kleiner Bronzedrahtring erkennen ließ, daß dieser Komplex nicht primär zur Grube gehört haben kann. Der gewonnene Grabungsbefund läßt sich wie folgt darstellen (vgl. Abb. 1 u. 2). Etwa in Höhe des Grabungsplan ums — das entspricht einer Tiefe von ca. 60—70 cm ab heutiger Oberfläche — war die Grubenfüllung mit kleinen Steinplatten, meist Muschelkalk, und großen Bruchstücken dickwandiger Gefäße abgedeckt worden. Mehr zum Rand der Grube hin lagen etwas tiefer größere Steine von 10—25 cm Kantenlänge, etwa in einem Ring angeordnet, den eine Fläche 165
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von Keramikstücken und braunen Keupersteinen ausfüllte. Während im Nordteil dicht über der Grubensohle Beinknochen eines Erwachsenen sowie zwei nierenförmige Gebilde aus schwach gebranntem Ton angetroffen wurden, füllte die gesamte Grubenmitte ein mächtiger Steinblock aus; es ist weinroter weicher und bröckliger Keuper in den Abmessungen von ca. 50 cm Länge, 40 cm Breite und 25 cm Höhe, dessen Oberseite wie bei einem Getreidereibstein sattelförmig eingeschliffen ist. Darauf lagen Rippen und Wirbel des Individuums, aber auch ein Rinderknochen. Nach Abtragen aller deckenden Steine fanden sich alle weiteren Skeletteile um den Block herum auf der Grubensohle, so am Westrand eine Beckenhälfte, am Südrand der Unterkiefer, zu dem aber der übrige Schädel fehlt; auch lagen westlich neben dem Block größere Teile der Wirbelsäule. Am Nordostrand sowie am Südwestende zeigte sich unten auf der Sohle eine Brandschicht mit gebranntem Lehm, dabei auch ein Stück Wandbewurf mit Stangenabdrücken. Nach Entnahme des Steinblockes erschien darunter die dunkle Schicht mit Holzkohlepartikeln und gebranntem Lehm, dazu eine Kniescheibe. Ein Profilschnitt durch den letzten Teil der Grube ergab in der Mitte eine kleine runde Fläche von ca. 30 cm Durchmesser, die nur noch 1 —2 cm tiefer reichte als die Grubensohle. Überlegungen zur Anlage und zur Füllung der Grube verbinden sich von Anfang an mit der Frage nach Sinn und Zweck des Ganzen. Dabei dominiert auch jetzt noch der während der Grabung gewonnene Eindruck, wonach der gesamten Erscheinung allein eine — wie auch immer zu deutende — kultische Bestimmung zuzuerkennen ist. Es läßt sich diese Abfolge wie folgt rekonstruieren. Die runde Grube ist mit senkrechten Wänden im Löß bis zu einer Tiefe von 100—120 cm bei ca. 120 cm Durchmesser ausgehoben worden. Von der ebenen Sohle wurde konzentrisch ein Mittelteil mit ca. 65 cm Durchmesser etwa 10 cm eingetieft und deren Mittelteil nochmals konzentrisch mit ca. 31 cm Durchmesser um 1 —2 cm tiefer. In dieser so gestuften Vertiefung dürfte zunächst ein Feuer gebrannt haben, das vielleicht mit einer Lößabdeckung gelöscht wurde; dadurch war die gesamte Sohle wieder eben geworden, und es konnte der große Steinblock mittig hineingesetzt werden. Das Feuer könnte dem Zweck gedient haben, die Grube vorher auszuräuchern bzw. zu weihen. Nun ist über den Block der Körper eines Erwachsenen gelegt worden — mit dem Oberkörper auf die mahlsteinartig bearbeitete Fläche von 50—60 cm Länge. E r war sehr wahrscheinlich bereits tot, vermutlich sogar schon mit teilweise vergangener Weichteilsubstanz. Zu den Details der anatomischen Zusammengehörigkeit ist auf den nachfolgenden Beitrag ( B A C H , B E U C H H A U S ) ZU verweisen. Wesentlich für die Rekonstruktion des einstigen Hergangs ist die Feststellung, daß trotz aller nichtanatomisehen Lagerung einzelner Knochen die Gesamtlagerung des Individuums gegeben war und daß Schnittspuren nicht festgestellt werden konnten. Zudem fehlt der Schädel, ohne daß wiederum die Unterkieferenden Schnittspuren erkennen ließen. Während neuzeitliche Störungen auszuschließen sind, können zwei Stadien von Veränderungen in prähistorischer Zeit festgehalten werden. Das eine ist die genannte Eintiefung eines urnenfelderzeitlichen Kindergrabes, wodurch sich aber nur die Störung der Knochen auf dem Steinblock erklären läßt, also im
Abb. 1 Melchendorf, K r . E r f u r t - S t a d t . Fundstelle Wiesenhügel I I I . Grube der Baalberger Kultur, a. Befund nach E n t n a h m e der Abdeokschichten und Freilegen des peripheren R a u m e s bis zur Grubensohle, b. Schrägaufsicht. Die Oberseite des großen Steinblockes ist freigelegt
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Abb. 2 Melchendorf, K r . E r f u r t - S t a d t . Grube der Baalberger K u l t u r . Letztes Freilegungsstadium mit den Skeletteilen, dem Gefäßboden, den nierenförmigen Gegenständen u n d weiteren Steinen auf der Grubensohle (vgl. auch die Zeichnung z u m Beitrag B A C H , B R U C H H A U S in diesem Band)
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Bereich von den Schultern bis zum Becken. Tiefer als bis zur Oberkante des Steinblocks kann diese urnenfelderzeitliche Störung nicht gereicht haben; sie erklärt folglich nicht die Lage von Teilen der Wirbelsäule am Fuß des Blockes auf der Grubensohle. Das gleiche gilt f ü r den Unterkiefer, und das Fehlen des übrigen Schädels, der doch wohl mit dem Unterkiefer zusammen auf der Grubensohle gelegen hat, dürfte auf eine bewußte Entnahme in neolithischer Zeit zurückzuführen sein. Auch die Lage der Beinknochen ist nur erklärbar, wenn entweder der Tote in bereits stark vergangenem Zustand, vielleicht sogar schon in Teilen, in die Grube gelangte, oder aber bestimmte Handlungen am Körper vorgenommen worden wären. Gegen letzteres spricht aber das Fehlen jeglicher Schnittspuren wie auch der Umstand, daß in der Grube um den Steinblock herum viel zu wenig Platz für eine derart handelnde Person (Medizinmann o. ä.) gewesen wäre. Erwogen wurde auch ein längeres Offenliegen der Grube mit dem Toten, doch bietet etwa die Störung durch Tiere am verwesenden Leichnam nicht die Erklärung, wie sie f ü r die angetroffene Lagerung der einzelnen Skeletteile erforderlich wäre. Auch scheinen sich vorerst keine geeigneten völkerkundlichen Vergleiche finden zu lassen, so daß wir von einer endgültigen schlüssigen Deutung des damaligen Vorganges zunächst noch absehen müssen. Der Befund lehrt aber, daß ein beabsichtigtes Abdecken der Reste des Toten vorgenommen wurde. Am Nordende wurden die — ebenfalls vorerst nicht deutbaren — nierenförmigen Gebilde niedergelegt, und man überdeckte alles, auch die auf der Grubensohle liegenden Teile, mit den Scherben von wahrscheinlich vorher zerschlagenen Gefäßen. So lag bei dem Teil der Wirbelsäule am Nordwestende ein ganzer Gefäßboden eines großen Behälters. Bei aller Keramik, die teils zu vollständigen Gefäßen rekonstruiert werden konnte, handelt es sich zweifelsfrei um Tonware der Baalberger Kultur, wie etwa das typische Trichterrandgefäß. Eine chronologisch feinere Einstufung läßt die grob gearbeitete Siedlungsware nicht zu. Die Abdeckung endet nach oben ca. 10—15 cm oberhalb des Grabungsplanums, d. h. 60—70 cm unter der heutigen Geländeoberkante, mit dickwandigen Scherben, Stücken gebrannten Lehmbewurfs und einigen Tierknochen von Bind, Schwein und Schaf oder Ziege. 2 Darüber befand sich steinfreier Lößlehm. Die Grube ist also nach Deponieren des Toten planmäßig verfüllt und verschlossen worden. Sie kann auf keinen Fall als Bestattung im üblichen Sinne gelten. Es ist der Form nach eine Siedlungsgrube — die sich auch im Gelände einer Siedlung befand —, in der jener große Steinblock niedergelegt wurde, um danach den Körper eines Menschen zusammen mit den beiden nierenförmigen Gebilden aufzunehmen. Da keine Abtrennung von Gliedmaßen nachweisbar ist, kann der Tote auch zuvor einige Zeit außerhalb der Grube aufgebahrt gewesen sein. Dies würde die Lage der nicht im anatomischen Verband befindlichen Extremitäten erklären können. Der Raum in der Grube um den Steinblock herum kann mit organischer Substanz (Laub, Heu, Kissen) ausgefüllt gewesen sein. Damit ließe sich ein nachträgliches Herabfallen des Schädels von der Steinblockkante, der die Schulterpartie auflag, erklären. Die Frage nach der Vorstellungswelt des neolithischen Menschen, die einen solchen Deponierungsakt f ü r einen sicherlich sozial herausgehobenen Vertreter der Gentilgesellschaft veranlaßte, müssen wir freilich vorerst unbeantwortet lassen. Der unseres Wissens bisher einmalige Befund sei deshalb hiermit zur Diskussion gestellt. 3
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Anmerkungen 1 H i e r f ü r ist besonders dem langjährigen Ausgräber H . - J . BAKTHEL, Weimar, zu danken. Die U n t e r s u c h u n g verdanke ich Kollegen H . - J . B A H T H E L . 3 E s ist vorgesehen, die F r a g m e n t e der Baalberge-Siedlung im Bereich des urnenfelderzeitlichen Gräberfeldes vor der endgültigen Bearbeitung desselben in nächster Zeit gesondert zu veröffentlichen. 2
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Religion und K u l t • Berlin 1989 • Seiten 1 7 1 - 1 7 4
Das Skelettmaterial aus der neolithischen Grube von Melchendorf, Kr. Erfurt V o n A D E L H E I D BACH u n d H O B S T BRUCHHAUS
Das uns zur Bearbeitung übergebene Skelettmaterial aus der von B . B A H N (in diesem Band S. 165 ff.) als zur Baalberger Kultur gehörend eingestuften Grube im Bereich des urnenfelderzeitlichen Gräberfeldes Melchendorf, Kr. Erfurt, stammt von einem Kind der Altersgruppe Infans I und einem erwachsenen Individuum. Von dem Schädel des kindlichen Skeletts, das nach Angabe von B . B A H N offenbar zentral, oberhalb des sich auf der Sohle der Grube befindlichen Keuperblockes gelegen hatte, sind das Stirnbein, die Scheitelbeine, die rechte Partie des Hinterhauptbeines und davon isoliert die Kondylenbereiche sowie Reste des Keilbeines und des rechten Schläfenbeines vorhanden. Vom postkranialen Skelett liegen vor: Atlas, Axis und die Pars acromialis des rechten Schlüsselbeines, der größte Teil des linken Darmbeines, der proximale Abschnitt der rechten Speiche und beide Ellen sowie die distale Epiphyse des linken Oberschenkelbeines. Nach den Längen der Ellen kann das Kind um das 2. Lebensjahr verstorben sein. Hinterhauptskondylenbereiche, Atlas, Axis und die Epiphyse des Oberschenkelbeines weisen eine deutliche Grünfärbung auf. Der detaillierte anthropologische Befund des quantitativ und in der Knochensubstanz relativ gut erhaltenen Skeletts des erwachsenen Individuums wird zusammen mit einigen weiteren Individuen der Baalberger Gruppe vorgelegt. Hier sollen nur die in diesem Zusammenhang besonders interessierenden Befunde erläutert werden. Es fehlen das Calvarium, von der Wirbelsäule der Übergang Hals-Brust-Wirbelsäule (C6 u. 7 , T h t u. 2 ), die linken Hand- und Fußwurzelknochen, einige Rippen, Mittelhand-, Mittelfuß-, Finger- und Zehenknochen. Einige der vorhandenen Knochen weisen postmortale Defekte auf. Auf Grund des gut erhaltenen rechten Hüftbeines mit enger Incisura ischiadica und kleinem Schambeinwinkel (kein Sulcus praeauricularis) sowie der Robustizität der langen Knochen des postkranialen Skeletts ist die Diagnose „männlich" relativ eindeutig. Mit einer Körperhöhe nach E . B E E I T I N G E R (1937) von 169,0 cm war der Mann verhältnismäßig groß (Mittelwerte: Bandkeramiker 165,8 cm, WalternienburgBernburger 167,1 cm; B A C H 1978). Anhand des Symphysenreliefs sowie der Dichte der Spongiosa in den proximalen Enden des Humerus, Femur und im Bereich des Ramus inferior und Ramus superior des Schambeins ( S C H A D E B E R G , S C H M I D T 1987) hatte das Individuum das 40. Lebensjahr offenbar noch nicht erreicht. Der Befund am Unterkiefer ordnet sich mit der für Neolithiker typischen relativ geringen Abrasion der Molaren ( B A C H 1985; 1 . - 3 . Grad nach Martin, S A L L E R 1957), der fast völligen Abtragung der Kronen der Schneidezähne (Reizdentin im Pulpencavum) und einer mittleren Atrophie des Alveolarrandes in den oben genannten Bereich ein. Der Tod könnte Anfang des 4. Dezenniums eingetreten sein. 171
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Abb. 1 Erfurt-Melchendorf, Lage der Skeletteile in der Grube der Baalberger Kultur (nach Fotodokumentation). 1 re. Hüftbein, 2 Ii. Schienbein, 3 re. Schienbein, 4 re. Oberschenkelknochen, 6 Ii. Oberschenkelknoehen, 6 Ii. Hüftbein, 7 Ii. Elle, 8 re. Oberarmknochen, 9 Ii Schulterblatt, 10 re. Schlüsselbein, 11 re. Schulterblatt, 12 Ii. Schlüsselbein, 13 Ii. Speiche Zeichnung:
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V. NEE
Die Fotodokumentation der Lage des Skeletts durch B. BAHN (vgl. BAHN Abb. 1 - 2 ) gibt die Position der rechten Schulter und des rechten Armes in relativem Zusammenhang wieder. Allerdings zeigt.das rechte Schulterblatt mit dem Angulus inferior nach cranial, d. h., es ist, wie auch das rechte Schlüsselbein, verlagert . Das linke Schulterblatt liegt ebenfalls im Bereich der rechten Schulter. Die Position des linken Schlüsselbeines könnte „Rückenlage", die des linken Schulterblattes und des rechten Armes einen „rechten Hocker" andeuten, was aber wegen der allgemeinen Störung des Schultergürtels nicht mehr zu entscheiden ist. Das rechte Schulterblatt, der proximale Teil des rechten Oberarmknochens, der größte Teil der Rippen, ein Brustwirbel, die linke Elle und das linke Hüftbein liegen auf dem ca. 67 X 45 cm großen Steinblock. Der Unterkiefer befand sich in der sich aus dem Vorhergehenden ergebenden möglichen Lage des Schädels neben dem Stein, am südwestlichen Grubenrand (Abb. 1). Das Vorhandensein des 1. —5. Wirbels der Halswirbelsäule, an denen sich keine Schnittoder Hackspuren befinden, und die ebenfalls ohne Manipulationsspuren erhaltenen Processus articulares des Unterkiefers weisen darauf hin, daß der Schädel erst im skelettierten Zustand vom übrigen Skelett getrennt und abhanden gekommen war. Die Lage der Knochen des Rumpfes, des linken Armes und der unteren Extremitäten ist stark gestört. Lediglich 5 Wirbel aus dem Übergang Brustwirbelsäule-Lendenwirbelsäule und das Kreuzbein mit L 4 u. 5 sind noch im Verband, allerdings auch in sekundärer Lage neben dem Stein, wo sich auch das rechte Hüftbein befindet. Der Verstorbene hätte sich in der im Durchmesser ca. 120 cm messenden Grube nicht in gestreckter Lage befinden können. Die beiden Schienbeine liegen nebeneinander, mit ihren proximalen Enden zum Grubenrand weisend, gegenüber dem möglichen Schädelbereich neben dem Stein. Sollten sie sich noch einigermaßen in ursprünglicher Lage befunden haben, wären straff angehockte Ober-Unterschenkel denkbar, die von den Hüftgelenken aus etwa 100° nach links weisend gelegt waren (Abb. 1, punktiert). Die Größe des Steines reichte als Unterlage für den Rumpf aus. Unter der Annahme einer rechten Hockerlage wäre der mittlere Abschnitt der Wirbelsäule in relativer Situposition, das rechte Hüftbein geringfügig verschoben und das prominenter anzutreffende linke Hüftbein und die unteren Extremitäten verlagert, was auch für das Kreuzbein als Bestandteil des Beckens zutrifft. Die wenigen Anhaltspunkte für die Lagerung des Toten lassen Rückenlage mit stark nach links angehockten Beinen oder rechte Hockerlage zu. Insbesondere die Lage der Hüftbeine und der Knochen der unteren Extremitäten zeigt, daß die Störung nicht allein durch einen Tiergang im Erdreich zustande gekommen ist. Die allgemeine Situation weist darauf hin, daß die Verlagerung der Skeletteile erst nach der Verwesung bzw. abgelaufenen Fäulnisprozessen erfolgte. Möglicherweise war die Grube längere Zeit unverfüllt und dadurch zugänglich, oder die Störung ist z. B. durch die spätere Bestattung des Kindes entstanden. Eine maximal 1 m lange Grabgrube, die auch bei gestreckter Lage für ein zweijähriges Kind ausreicht, brauchte den Rand der ursprünglichen Grube nicht anzuschneiden. In diesem Zusammenhang kann auch der Schädel des Erwachsenen entnommen worden sein. Unserer Meinung nach wäre dies die wahrscheinlichste Erklärung für die Lage der Skeletteile des Erwachsenen. Diese sind zwar nicht mehr im anatomischen Verband (außer re. Ellenbogen und 2 Wirbelsäulenabschnitten), doch ist die anatomische Stratigraphie der Körperbereiche erhalten. Leider sind nicht alle vorhandenen Skelettteile in ihrer ursprünglichen Lage im Grubenbereich dokumentiert. Anzeichen, daß der Tod des erwachsenen Mannes mit intra vitam vorgenommenen Eingriffen in Zusammenhang gestanden hat oder daß unmittelbar post mortem 173
Manipulationen vorgenommen worden sind, läßt das Skelettmaterial nicht erkennen. Besondere kultische oder therapeutische Handlangen könnten allenfalls aus der ungewöhnlichen Lagerung auf der etwas muldenförmigen steinernen Unterlage abgeleitet werden, wogegen aber wiederum der relativ geringe Raum in der Umgebung des Skelettes auf der Grubensohle spricht.
Literaturverzeichnis BACH, A. 1978: Neolithische Populationen im Mittelelbe-Saale-Gebiet. Weimar — 1985 Stomatologische Untersuchungen an ur- und frühgeschichtlichen Bevölkerungen aus dem Mittelelbe-Saale-Gebiet. I n : Ethnol.-Archäol. Zeitschr. 26, 259—280 BREITINGER, E . 1937: Zur Berechnung der Körperhöhe aus den langen Gliedmaßenknochen. I n : Anthrop. Anzeiger 14, 249—274 MARTIN, R . , und SALLER, K . 1957: Lehrbuch der Anthropologie. Stuttgart S C H A D E B E B G , S . T und S C H M I D T , U . 1987: Altersbedingte Veränderungen am Hüftbein und Bestimmung des biologischen Alters von Skelettindividuen anhand des Symphysenreliefs der Ossa pubica. Med. Dipl.-Arbeit, J e n a
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Religion und Kult • Berlin 1989 • Seiten 175-191
Neolithische Kultsitten der Bevölkerung im mährischen Gebiet V o n VLADIMIR P O D B O R S K Y
Die Kultsitten der mährischen Neolithiker können in den archäologischen Quellen einerseits auf der Basis der Befundverhältnisse (Kultstätten, Bestattungsbräuche, Belege von Menschenopfern), andererseits auf Grund des Studiums sogenannter Kultgegenstände verfolgt werden, die einen wichtigen Aussagewert besitzen können. Die Interpretation etwaiger sakraler Stellen sowie der „kultischen" Ausstattung ist selbstverständlich von den Vorstellungen des Forschers über das geistige Leben der entsprechenden Zivilisationen und vom Stand der Erkenntnisse über die jeweilige E t a p p e der Entwicklung der Menschheit abhängig. Die Kultsitten bilden einen Bestandteil des religiösen Lebens der Menschheit. Sie sind in den archäologischen Quellen auch leichter erfaßbar als die eigentliche Religionsdoktrin (Ideologie). Die Kultseite ist jedoch mit der Religionstheorie direkt verbunden, sie bildet ihre praktische und organisatorische Seite ( P O N I A T O W S K I 1965, 25).
I n meinem Beitrag über die Kultsibten der mährischen Neolithiker möchte ich nach der deduktiven Erkenntnismethode vorgehen; von den synthetischen Erkenntnissen über die neolithische Religion zu konkreteren Erscheinungen des Kultlebens, über die die Archäologie bisher verfügen kann. Die dokumentierten Kultbräuche versuche ich, im Rahmen der allgemeinen Naturreligionsdoktrin zu interpretieren. Es sei mir gestattet, die ganze Problematik auf die Kultur mit mährischer bemalter Keramik (MBK) des jüngeren Neolithikums und vor allem auf die Lokalität bei Tesetice-Kyjovice, Kr. Znojino (Südmähren, CSSR), zu reduzieren. Wenn wir auf die Allgemeingültigkeit des Entwicklungsmodells frühreligiöser Vorstellungen der urzeitlichen Menschheit (Manismus — Animismus — Dämonismus — Theismus; F B A Z E E 1 9 7 7 ; E L I A D E 1 9 6 6 ; P O N I A T O W S K I 1 9 6 5 ) eingehen, dann identifizieren wir das geistige Leben der Neolithiker höchstwahrscheinlich mit der animistischdämonischen Ära. Ich setze f ü r die Träger des mitteleuropäischen Neolithikums schon den Glauben an eine immaterielle Seele sowie die Verehrung der Vorfahren (jedoch noch nicht die allgemeine Verehrung der Toten) und die Personifizierung der Grunderscheinungen der Natur (Sonne, Mond, Regen, Gewitter usw.) voraus. Es ist sehr wahrscheinlich, daß sich auch (vor allem im höchsten Stadium des Neolithikums) undeutliche Vorstellungen über übernatürliche Wesen herauszubilden begannen, aber zur Schaffung eines göttlichen Olymps kann es noch nicht gekommen sein; falls das Neolithikum f ü r den Zeitpunkt „der Geburt und des Todes" vieler Götter (B^BEL 1978, 249) gehalten wird und falls diese Version glaubwürdig ist, dann zeugt dies von einem anfänglichen, unbestimmten, noch nicht gefestigten Stand der Ideen von übernatürlichen Wesen. Nach dem Entwicklungsmodell für das vorderasiatische und mediterrane Neolithikum kann vorausgesetzt werden, daß sich im 175
Abb. 1 Kreisgrabenanlagen („Rondelle") des jüngeren Neolithikums in Europas a Bulhary, Mähren; b Tesetice-Kyjovice, Mähren; c Künzing-Unternberg, Niederbayern; d Ramsdorf, Niederbayern; e Kothingeichendorf, Niederbayern; f Kamegg, Niederösterreieh; g Bylany, Böhmen; h Friebritz, Niederösterreich 176
Neolithikum der Glaube an eine universelle weibliche Gottheit (die Mutter Erde, die Große Mutter) geformt hat, deren Symbol eine abstrakte weibliche Gestalt, aber noch keine konkrete Göttin gewesen ist. Nun zu den Kultstätten, die bisher aus dem mährischen Neolithikum bekannt sind. Aus dem älteren Neolithikum gibt es keine eindeutigen Belege. Als Kultstätten können jedoch mit Recht die kreisförmigen befestigten Areale des jüngeren Neolithikums aufgefaßt werden, für die auf der Konferenz in Poysdorf in Österreich 1983 die Bezeichnung „Rondelle" vereinbart worden ist. Das am besten durchforschte Rondell in Mähren ist das von Tésetice-Kyjovice (Abb. 1 b; Taf. 1 u. 2), welches aus der Literat u r schon bekannt ist (PODBORSKY1974 ; 1976; 1984; 1985). Seine Ausgrabung erfolgte in den siebziger Jahren, und zur Zeit wird die Untersuchung seines äußeren Palisadenringes abgeschlossen. Heute ist schon ausreichend bekannt, daß sich ähnliche Objekte auch in vielen anderen MBK-Siedlungen befinden. Der Rest eines architektonisch sehr komplizierten Rondells(?) dürfte vor Jahren schon von R. TICHY in Krepice, Kr. Znojmo, festgestellt worden sein (TICHY 1976; PODBORSKY 1984, 116, Taf. 1, C). Die Spuren eines anderen, wahrscheinlich mit einem Pfosten bau innerhalb eines befestigten Areals, stammen aus Bulhary, Kr. Bfeclav (Abb. l a ; vgl. Dostál et al. 1 9 7 9 ; MÉKÍNSKY-STUCHLÍK 1980). I n j ü n g s t e r Zeit e n t d e c k t e J . KOVÁRNÍK (1986)
mit Hilfe von Luftbildaufnahmen einige weitere Kreisgräben auf neolithischen Siedlungen in Rasovice, Kr. Vyskov, in Vedrovice, Miroslav und Nemcice, K r . Znojmo. Weitere mögliche Rondelle befinden sich offensichtlich in der Gemarkung von Diváky, Kr. Bfeclav (KosTURik, UNGER 1985). Es besteht kein Zweifel daran, daß die E n t deckung weiterer ähnlicher Objekte nur eine Frage der Zeit ist. Bei Vedrovice begann V. ONDRUS schon mit Untersuchungen im Rondell der Bevölkerung mit MBK. 1 Eine Reihe der festgestellten kreisförmigen Areale sind bisher nicht datierbar. Lediglich dort, wo eine Terrainforschung durchgeführt wurde, zeigt es sich, daß diese Objekte aus der ältesten MBK-Phase (Ia) stammen, d. h. aus der Zeit vor 4000 v. u. Z. Diese Feststellung entspricht der Situation in den benachbarten Gebieten (Slowakei, Ungarn, Niederösterreich, Böhmen). 2 Viele ähnliche Rondelle sind auch aus Niederb a y e r n (BOELICKE 1 9 7 7 ; ENGELHARDT, SCHMOTZ 1984) u n d a u s d e m
Rheinland
(LÜNING 1984) bekannt. 3 Das erste neolithische „Woodhenge" wurde schließlich auch im Elbe-Saale-Gebiet bei Quenstedt, Kr. Hettstedt, entdeckt (BEHRENS, SCHRÖTER 1979; 1980, 9 3 - 9 8 ) .
Es ist offensichtlich, daß die kreisförmigen Areale in den Siedlungen der Bevölkerung der Lengyel-Kultur bzw. der Stichbandkeramik der jüngeren Stufe oder in den Siedlungen dieses chronologischen Horizontes Europas eine allgemeine, nicht vereinzelte Erscheinung darstellen. In Mähren ist die Zeit ihrer Errichtung und ihrer Dauer auf das Anfangsstadium der MBK-Kultur beschränkt. Betrachten wir jetzt die Situation des Rondells von Tésetice-Kyjovice. Das Kreisareal liegt auf der höchsten Stelle des nach Südost orientierten Lößhanges. Das innere Rondell wird durch den Graben und zwei Innenpalisaden mit vier Tordurchlässen gebildet (Abb. l b ; Taf. 1). Der Außendurchmesser des Grabens beträgt 64X58 m (es handelt sich also um einen mäßig, vor allem auf der südlichen Seite abgeflachten Kreis mit der Achse in der Richtung grob Nord—Süd). In den Haupthimmelsrichtungen führen vier Eingänge in die Kreisgrabenanlage. Eine merkliche Verschiebung der Eingänge gegenüber den geographischen Richtungen kann bei fast allen bekannten Rondellen konstatiert werden und muß vom paläoastronomischen Standpunkt beurteilt werden. Der Graben ist an der Oberfläche ca. 6 m breit, durchschnittlich 3,50 m tief und 12 Religion und Kult
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zeigt ein trichterförmiges Profil mit einer ca. 0,50 m breiten Stumpfspitze (Taf. 2). Er war mit zahlreichen Einschwemmungen gefüllt. Für die Datierung des Grabens sind vor allem die unteren Schichten der Füllung entscheidend. Sie enthielten zahlreiche Fragmente der bemalten Keramik der Ia-Phase der MBK, viele Fragmente von Menschenfiguren des Strelicer Typs und weiteres Inventar (PODBOBSKY 1976; 1984). Der Graben und das gesamte Rondell wurden wahrscheinlich in einem Zuge bald nach der Ankunft der Bevölkerung mit MBK in Südmähren angelegt. Der Graben Verlor seine Funktion noch vor der Entstehung der Phase Ib der MBK. Die Zeitdauer der Funktion des Rondells kann man auf etwa 30—40 Jahre schätzen. Die innere Fläche des Kreisareals zeigte keine größere Bebauung. Es wurden dort keine Spuren größerer oberirdischer Architektur festgestellt. Nur 12 Gruben enthielten Fundinventar der Kultur mit MBK. Dem inneren Rondell folgt die Außenpalisade (Abb. 1 b). Bisher konnten wir diese Außenpalisade im südlichen, östlichen und nordöstlichen Teil ihres Verlaufes verfolgen. Sie zieht sich ein wenig unregelmäßig in einer Entfernung von 37—45 m längs des Grabens hin und schließt wahrscheinlich eine Fläche von ca. 145x125 m Durchmesser ein. Vor dem südlichen und östlichen Eingang in das Grabenareal befinden sich auch in der Außenpalisade entsprechende Unterbrechungen mit Spuren der Pforten. Eine Verbindung dieser Tore mit dem Grabeneingangssystem sowie Funde der Keramik und der Menschenplastik der Ia-Phase der MBK im Gräbchen der Außenpalisade bezeugen die Gleichzeitigkeit des ganzen Fortifikationssystems. Für die Interpretation des Objektes von Tésetice können sowohl einige detaillierte Fundumstände als auch die Funde der materiellen Kultur herangezogen werden. An erster Stelle ist hier eine Grube innerhalb des Rondells (Objekt Nr. 151) zu betrachten, in der außer gelb-weiß-rot bemalter Keramik und Bruchstücken einer großen Menschenfigur auch ein isolierter menschlicher Schädel gefunden wurde; das Objekt kann offenbar als Opferobjekt bezeichnet werden (Abb. 2a). Noch überzeugender weist die Getreidegrube auf Menschenopfer hin, die sich in unmittelbarer Nähe des Rondellgrabens befindet, und zwar auf seiner Nordwestseite: In diesem Abschnitt des Terrains befanden sich insgesamt 6 große Getreidegruben — wohl Zentralsilos der ganzen Gemeinde — und in einer von ihnen lag auf dem Grubengrund das Skelett einer jungen Frau; die Knochen zeigten eine starke Hocklage, der Schädel dieser Frau war jedoch vom Körper abgetrennt und unter die Wand der Getreidegrube gelegt. Die anthropologische Untersuchung beider Skelette ist bisher noch nicht beendet, aber schon jetzt kann festgestellt werden, daß es sich in beiden Fällen um eindeutige Belege von Menschenopfern handelt. Übrigens sind solche Belege nicht vereinzelt. Aus dem gesamten mitteldonauländischen Lengyel-Bereich waren sie schon früher bekannt; neue Belege menschlicher (kindlicher) Opfer veröffentlichte in Ungarn I. ZALAI-GAAL ( 1 9 8 4 , 3 7 - 4 2 ) . In Niederösterreich wurde unlängst ein Fund eines getöteten Mannes und einer ebenfalls getöteten Frau (Pfeilspitzen in den Lenden) aus dem Bereich des Rondells in Friebritz (NEUGEBAUEE-MAEESCH 1983, 4 ; NEUGEBAUER 1984, 178) b e k a n n t . I n Mähren
selbst sind schon früher einzelne menschliche Knochen, Schädel oder Skeletteile in einer Reihe von MBK-Siedlungen gefunden, es wurde ihnen jedoch durchweg nicht die gebührende Aufmerksamkeit gewidmet. Menschenopfer im Raum des Rondells von Tésetice stellen also einen der wichtigen Beweise der sakralen Funktion der gesamten Anlage dar. Ein weiterer Beweis dieser Funktion ist die große Konzentration von anthropomorpher und zoomorpher Figural178
Abb. 2 Tësetice-Kyjovice, Kr. Znojmo. Grundriß und Querschnitt der Objekte Nr. 151 und 159 plastik im Areal des Rondells. Auf der bisher aufgedeckten Fläche der Siedlung in Tësetice-Kyjovice wurden 314 Tonplastiken entdeckt, und zwar 286 Fragmente selbständiger menschlicher und 12 Tierfiguren sowie weitere applizierte Plastiken. Nach unserer Ansicht ist die Verbreitung der Plastiken in den einzelnen Teilen der Siedlung wichtig: Im Raum des inneren Rondells (d. h. auf der inneren Fläche und in der Ausfüllung des Grabens) wurden insgesamt 153 Stücke figuraler Plastik gefunden; im übrigen bisher durchforschten Territorium der Siedlung 161 Stück. Die Konzentration der Plastiken im Areal des Rondells wird besonders deutlich, wenn man die bisher ausgegrabenen Flächen beider Teile der Siedlung vergleicht: Die Fläche des inneren Rondells beträgt ca. 3000 m2, das Gebiet außerhalb des Rondells ca. 10500 m 2 ( P o d b o r s k y 1985, 21-36). Aus diesem Vergleich geht hervor, daß die Konzentration der Plastik im Areal des Rondells 3,5 mal größer ist als auf der bisher ausgegrabenen Fläche der übrigen Siedlung. Figurale, vor allem anthropomorphe Plastiken sind in den Siedlungen der LengyelKultur eine übliche Erscheinung, vor allem in Mähren und Niederösterreich. Aus dem gesamten mährischen Gebiet sind gegenwärtig von 95 Lokalitäten etwa 1400 Stück selbständiger anthropomorpher und etwa 205 Stück zoomorpher Plastiken bekannt. Fragmente menschlicher Plastiken liegen aus allen bisher sondierten Rondellen vor; das Verhältnis der Funde aus den Rondellen und den entsprechenden Wohnteilen der Siedlungen kann allerdings bisher nur in Tësetice-Kyjovice verfolgt werden. Es ist jedoch sehr wahrscheinlich, daß einerseits die Plastiken — vor allem die großen — ein Arrangement der Sakralstätten innerhalb der Rondelle bei den 12*
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Abb. 3 Schematische Entwicklung der menschlichen Plastik der MBK-Kultur, a, b, d, e, h Stfelice; c Tesetice-Kyjovice; f, i, 1, m, o, p, u Hlubokö Masüvky; g Brno-Malomerice; k JezeranyMarsovice; n Lesünky; q, s, t Kramolin; r Nemojany; v Vycapy-Stepänovice
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Zeremonien bildeten, die mit dem Kult der vegetativen Naturkräfte verbunden waren, andererseits — vor allem die kleinen Plastiken — von den Siedlern als Votivgaben hierhergebracht und dann unter Umständen rituell zerschlagen wurden. Der fragmentarische Zustand der Plastiken könnte dies andeuten, wenn wir auch direkte Eingriffe an den Plastiken bisher nicht gefunden haben. Belege einer Abtrennung des Kopfes und der Arme einer Plastik veröffentlichte H. M A U R E R (1982, 79) aus dem Rondell Kamegg. Rücksichtsloses Umgehen mit neolithischer Figuralplastik wird übrigens in der archäologischen Literatur allgemein behandelt. Die ersten, wenig zahlreichen anthropomorphen und zoomorphen Plastiken sind aus Mähren schon aus dem älteren Neolithikum bekannt, im großen Umfange treten sie jedoch erst während der MBK auf, also zu Beginn des jüngeren Neolithikums, irgendwann vor 4000 v. u. Z. Das Vorkommen der keramischen Plastiken dauert fast bis zum Ende der Lengyel-Kultur. Vor allem die Menschenplastik zeigt eine wichtige typologisch-chronologische Entwicklung. Nach dem Typ der Arme unterscheide ich (Abb. 3): 1. Plastiken mit waagerechten Armstümpfen - Typ Strelice — Phase MBK Ia (Taf. 3f—h, k, m), 2. Plastiken mit schräg nach oben orientierten Armstümpfen — Typ Malomerice — Phase MBK Ib (Taf. 3i), 3. Plastiken mit vollständigen Armen in Bewegung vor dem Körper — Typ Masüvky — Phase MBK Ib - IIa, 4. Plastiken mit hochgestreckten Armen — Typ Stepanovice — Phase I b - IIb, 5. Plastiken mit prismatischem Körper, oft ohne deutlich ausgeführte Arme („säulenartige Plastiken") - Typ Kramolin - Phase I b - IIb. Eine selbständige Kategorie bilden die sitzenden Frauenplastiken. Aus dem Bereich der MBK-Kultur stammen 31 Belege der sitzenden Figuren, einschließlich des Paares aus Kramolin ( P O D B O R S K Y 1985,47-48, Abb. 1 0 9 , 1 , 2 ) . Die sitzenden Figuren wurden, und zwar schon in der Phase Ia, mit plastisch geformten Händen modelliert. Die Hände sind entweder vor den Körper ausgestreckt oder wenigstens reliefartig an der Oberfläche der Figur angedeutet. Die Figuren mit den plastischen Händen vor dem Körper finden sich in Mitteleuropa selten. In dieser Hinsicht gelten die Plastiken vom Typ Masüvky als Unikat. Was die Größe anlangt, unterscheide ich 5 Kategorien von Plastiken: 1. 2. 3. 4. 5.
große, d. h. über 351 mm hohe, größere, d. h. 251-350 mm hohe, Standardplastiken, d. h. 121—250 mm hohe, kleine, d. h. 61—120 mm hohe, Miniaturplastiken, d. h. niedriger als 60 mm.
Im gesamten Inventar der MBK-Plastik gibt es nur 17 große Figuren. Bisher ist kein Fall bekannt, wo aus einer Lokalität mehr als zwei Exemplare dieser Größenkategorie stammen. Das weist auf ein seltenes Vorkommen hin und wohl auch auf eine besondere Funktion der großen Plastiken. Am häufigsten vertreten sind die Standardplastiken — etwa 50 % der gesamten stehenden Menschenfiguren. Die figurale, vor allem die anthropomorphe Plastik ist also eine bemerkenswerte Erscheinung der neolithischen Siedlungen des Volkes mit MBK; in Gräbern treffen wir sie nicht an. Bisher finden wir sie nicht direkt in den Behausungen (es sind allerdings erst verhältnismäßig wenige Häuser der MBK bekannt), und deshalb kann nicht gesagt werden, welche 181
Abb. 4 A n t h r o p o m o r p h e Gefäße (d, g—i) u n d Bruchstücke von Gefäßen des „Svodiner" T y p s (a—c, e, f) der M B K - K u l t u r , a, b Jaromërice n / R ; c Prstice; d Strelice; e D u k o v a n y ; f Vedrovice; g, i Strelice; k H l u b o k é Masuvky; 1 : 4
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Rolle diese Plastik gespielt haben könnte. Jedenfalls besaßen vor allem die Menschenfiguren eine besondere Bedeutung im System der Kultzeremonien. Ähnlich dürfte es mit den zoomorphen Plastiken gewesen sein, aber hier könnte es sich in einer Reihe von Fällen um bloße Spielereien oder Kinderspielsachen gehandelt haben. Eine besondere Form der figuralen Plastik sind anthropomorphe und zoomorphe Gefäße. Sie treten in Mähren während des gesamten Neolithikums auf, sind jedoch keinesfalls zahlreich. Die Komposition einer sitzenden Frau mit einem Zeremonialgefäß im Schoß (Möhelnice: T I C I I Y 1958) ist altneolithisch, aus dem MBK-Milieu ist sie bisher nicht bekannt. Aus dem Lengyel-Bereich stammen vor allem anthropomorphe Gefäße des Svodiner Typs (Abb. 4 a - c , e—f); die menschlichen Arme, die aus den Seitenwänden dieser Gefäße in Adoranten-Geste herausragen, sind gewöhnlich mit einem Ring abgeschlossen ( K A L I C Z 1985,101, Abb. 74,1), der als symbolisches Opfergefäß gedeutet wird (PAVTJK 1981, 49). Aus Mähren sind 7 Gefäßfragmente dieses Typs bekannt, alle aus der älteren MBK-Stufe. Es erscheinen allerdings auch andere Gefäße, vor allem Pokale auf einem menschlichen Fuß (Abb. 4h), Schüsseln mit menschlichen Masken ( P O D B O R S K Y , V I L D O M E C 1972, Taf. G 4) bzw. auch andere Gefäße mit eingetiefter (Abb. 4i) oder plastischer (Abb. 4 g ; vgl. P O D B O R S K Y 1985, 115—120, Taf. 121—123) Applikation einiger Teile des menschlichen Körpers. Zoomorphe Gefäße sind in Mähren erst aus der Lengyel-Kultur (insgesamt 16 Exemplare) bekannt (Abb. 5). Sie stammen aus den jüngeren Entwicklungsphasen (Ib, Ila-Phase der MBK). Auf dem Exemplar aus Jaromcfice n/R (Taf. ,4s) sind Spuren roter und gelber Bemalung erhalten geblieben, die ähnlich dem bekannten Gefäß aus Abraham in der Slowakei (VLADAE 1979, 31) als Symbol des Regens interpretiert werden kann. Es würde sich hier um einen direkten Beleg des Regenzaubers handeln, der in den Rahmen der Kulte der vegetativen Naturkräfte gehört. Ebenfalls anthropomorphe und zoomorphe Gefäße dürften bei großen Fruchtbarkeits- und Ernteriten verwendet worden sein, am ehesten als Behälter von Opfergaben und auch als Attribut der Magie der Fülle. Im Unterschied zur selbständigen Plastik waren sie wohl nicht Gegenstand absichtlicher Zerstörung. Sie dürften im Gegensatz dazu unter einem gewissen „Schutz" gestanden haben und wurden als Beigaben auch in Gräber gelegt (Aszöd, Svodin). Für die Deutung der zoomorphen Gefäße bietet sich darüber hinaus noch eine ausgezeichnete ethnographische Quelle a n : Die vorkolumbianischen Indianer legten in ähnliche theriomorphe Gefäße Pflanzenblätter mit anregender Wirkung, Maiskörner oder ein wenig des gegorenen Getränkes „Tschitschi" - Opfergaben, die eine gute Ernte sichern sollten ( K U R L A N D 1975, Abb. 258; P O D B O R S K Y 1985, 169). Kehren wir nun zur Interpretation des Rondells von Tesetice-Kyjovice zurück. Die dritte bemerkenswerte Tatsache, die auf eine besondere Funktion der Anlage hinweist, ist ihre geographische bzw. astronomische Orientierung. Die Stelle, wo sich das Rondell befindet, bietet sehr gute Möglichkeiten für die Beobachtung des Aufganges mancher Himmelskörper, in beschränktem Maße auch deren Untergangs im Sommer. Mit dem Studium der Azimute des Auf- und Unterganges von Sonne und Mond befaßte sich Z . W E B E R ( 1 9 8 5 ) unter Berücksichtigung des geographischen Breitengrades und der historischen Möglichkeiten für die Berechnung der Bewegung der Himmelskörper. Er zog den Schluß, daß sowohl die Form des Rondells (ein in südlicher Richtung leicht abgeflachter Kreis) als auch der Verlauf der inneren Palisaden und wahrscheinlich auch einige Objekte innerhalb des Areals den Richtungen der Mondaufgänge entsprechen. Die Nord-Süd-Hauptachse des Rondells war in der Zeit seiner Entstehung wahrscheinlich auf einen Stern im zirkumpolaren Sternbild 183
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Abb. 5 Zoomorphe Gefäße der MBK-Kultur. a Jezerany-Marsovice; b Hluboke Masüvky; e Klentnice; d Lesünky; e Jaromerice n/R; f Horäkov; g Stfelice; h Postoupky-Hradisko; i Bosovice; 1 : 4
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des Dracheiis orientiert. Dieser Stern war der „Polarstern" des voll entwickelten Neolithikums und deutete in dieser Zeit die Richtung des Nordpols an (WEBER 1985). Die ganze Konstruktion des Rondells von Tesetice-Kyjovice ermöglichte einfache astronomische Beobachtungen (Sonnenwenden, Tag- und Nachtgleichen, Mondzyklen). Das Objekt hatte also neben sakraler Bedeutung auch einen astronomischinformativen Wert. Diese Funktion zielte schon mehr auf die praktische Seite des Lebens der Siedler hin und konnte auch eine Bedeutung für die Stammesverwaltung besitzen. Ich möchte also zusammenfassen: Das Rondell von Tesetice-Kyjovice kann als sakrales und wohl auch als Verwaltungszentrum der Siedlung gedeutet werden, in dem im Zusammenhang mit den Grundzyklen des Landwirtschaftsjahres religiöse Zeremonien des Stammes zu Ehren der vegetativen Naturkräfte bzw. der allgemeinen Gottheit der Fruchtbarkeit und der Ernte stattgefunden haben. Diese Zeremonien dürften — als Hypothese formuliert — zweimal jährlich vollzogen worden sein, und zwar anläßlich des Erwachens der Natur und des Endes des Landwirtschaftsjahres. Dazu gehörten auch blutige (sowohl menschliche wie tierische) und unblutige (Naturalien) Opf§r. Die Figuralplastik spielte in diesen Zeremonien eine bedeutende Rolle. Es ist auch wahrscheinlich, daß im Zusammenhang mit den angeführten Riten die Organe der Verwaltung des Stammes („Rat der Ältesten") auch die leitenden und organisatorischen Grundfunktionen ausübten, die mit Feldarbeiten bzw. anderen ergänzenden Tätigkeiten verbunden waren. Die Rondelle der jungneolithischen Siedlungen waren also Kult- und Verwaltungszentren der einzelnen Siedlungen, möglicherweise auch von blutsverwandten Siedlungen („Klans"); in Mähren hat es nämlich mit Sicherheit auch Siedlungen ohne befestigte Rondelle gegeben. Hier gelangen wir aber in den Bereich der Hypothese, da die Terrainforschungen bei weitem noch nicht erlauben, die gegenseitigen Beziehungen der Rondelle und der Siedlungen in größerem Ausmaß zu verfolgen. Mit der Interpretation des Rondells von Tesetice-Kyjovice kann der Fund zweier Körpergräber in einem verschütteten Graben im Zusammenhang stehen. In Hocklage wurden hier zwei Tote aus der Phase I I a der MBK bestattet (PODBORSKY 1976, 137, Abb. 5,2), d. h. mindestens 300 Jahre nach dem Verfall des Rondells, jedoch noch in einer Zeit, in welcher eine Senke im Verlauf des Grabens die ursprüngliche Lage des Rondells angezeigt haben könnte. Der Bestattung der Toten in der Kultur mit MBK war während der gesamten Zeit des Bestehens dieser Zivilisation wenig Bedeutung beigemessen worden, und ich bin der Ansicht, daß rituell nur bedeutende Persönlichkeiten beigesetzt wurden. Wenn zwei Mitglieder des Stammes im Bereich des längst aufgegebenen Rondells bestattet wurden, ist es wahrscheinlich, daß sich in der mündlichen Überlieferung des Volkes immer noch das Bewußtsein an die Existenz der sakralen Anlage erhalten hat. Abschließend seien mir einige Worte über den Bestattungsritus der mährischen Neolithiker gestattet. Das Körpergräberfeld bei Vedrovice, Kr. Znojmo, weist auf eine feste Verehrung der Toten sowie auf einen ausgeprägten Bestattungsritus der Bevölkerung der Linearbandkeramik hin/ 1 Nur als absolute Ausnahme im älteren Neolithikum Mährens erschien ein Brandgrab vom selben Fundort (SKUTIL 1946, 113). Es handelt sich um den ältesten Beleg des Brandbestattungsritus in Mähren. Systematisch bediente sich später die Bevölkerung der Stichbandkeramik der Brandbestattung (in Mähren gibt es bisher noch keine überzeugenden Belege). Die Angehörigen der MBK besaßen 185
Taf. 1 Tesetice-Kyjovice, K r . Znojmo. Ausgrabung der inneren Fläche des Rondells
Taf. 2 Tesetice-Kyjovice, Kr. Znojmo. Profil des Grabens des „Rondells" a m östlichen Eingang
Taf. 3 Menschliche Figuralplastiken des Volkes m i t mährischer bemalter Keramik, a, c, e J a r o merice n / R ; b Brno-Bystrc; d H l u b o k e M a s ü v k y ; f — i Strelice; k B r n o - O b r a n y ; 1 Krepice; m Tesetice-Kyjovice
187
Taf. 4 Tierplastiken des Volkes mit mährischer bemalter Keramik, a Prsstice; b Znojino; c, i, k Boskovstejn; d, e Lesünky; f—Ii, s Jaromerice n / R ; 1 Stielice; m—o Hluboke Masüvky; p—r Tesetice-Kyjovice; t Horäkov
188
keinen ausgeprägten Bestattungsritus. Im Westteil des Lengyel-Bereiches sind bisher größere Gräberfelder nicht bekannt. In den Siedlungen (z.B. Strelice, TeseticeKyjovice, Pavlov, Hodonice) erscheinen nur einzelne rituelle (TRNÄCKOVÄ 1962), häufiger jedoch nicht-rituelle Körpergräber (VILDOMEC 1929, 37, Abb. 1 3 ; PODBORSKY 1969, 5 8 0 , A b b . 6 , 1 ; KUNDESA 1 9 8 0 , 2 2 - 2 3 , T a f . 3 , 2 ; RAKOVSKA, STUCHLIK 1 9 8 0 , 1 2 )
und seit der Phase Ib auch einzelne Brandgräber (KOSTUMK 1980). Während der gesamten, fast tausendjährigen Dauer der Kultur mit MBK kam es in dieser Hinsicht zu keiner Entwicklung. Die Toten Verehrung war folglich nicht Bestandteil der Ideologie dieser Menschen. Eine Reihe anomaler Erscheinungen (Massengräber von Menschen, gemeinsam mit Tieren; rituelle unvollständige menschliche Skelette; häufige Funde einzelner Menschenknochen in den Siedlungen; PODBORSKY, VILDOMEC 1970, 5, Taf. 3) weist dagegen auf erst entstehende, bisher unbestimmte Bestattungsriten hin. Bemerkenswert sind in dieser Hinsicht Bestattungen oder Funde von Schädeln, die häufig von Kindern stammen. Sie sind aus Ungarn (ZALAI-GAÄL 1984, 37—42), Niederösterreich (RUTTKAY 1984, 229) sowie aus Mähren 5 bekannt und haben immer wieder Anlaß zu Überlegungen über die Existenz von Kannibalismus, Schädelkult oder sogar von Kopf jagd entstehen lassen. Streng genommen gibt es bisher aus Mähren aber nur sehr wenige verläßliche Belege von Manipulationen an Menschenschädeln. Anmerkungen 1 Für die freundliche Mitteilung danke ich Kollegen Dr. Vladimir ONDRUS v o m Mährischen Museum in Brno. 2 S l o w a k e i : B u c a n y ( B U J N A , ROMSAUER 1 9 8 1 ; 1 9 8 2 ) , S v o d i n
(NEME.TCOVÄ-PAVÜKOVA
1 9 7 5 ) ; U n g a r n : A s z o d (KALICZ 1 9 8 5 , 1 0 ) , S e (KÄROLYI 1 9 8 4 ) ; N i e d e r ö s t e r r e i c h : K a m e g g (MAURER 1 9 8 2 , 1 0 0 ) ( A b b . l f ) , F r i e b r i t z (NEUGEBAUER 1 9 8 4 ; NEUGEBAUER-MARESCH
1983) (Abb. 1H) und Dutzende weitere (WINDL 1982); B ö h m e n : B y l a n y (ZÄPOTOCKÄ 1 9 8 3 , FALTYSOVÄ, MAREK 1 9 8 3 ) ( A b b . l g ) , V o c h o v (PAVLÜ 1 9 8 2 ) , T u e h o r a z , L o c h e n i o e , H o l o h l a v y (PAVLÜ 1 9 8 4 ; VAVRA 1 9 8 5 ) .
3 Niederbayorn: Viecht, Gneiding, Ramsdorf (Abb. l d ) , Schmiedorf, Künzing-Unternberg (Abb. l c ) , Kothingeichendorf (Abb. l e ) ; Rheinland: Bochum-Harpen, JülichWelldorf. 4 D a s Gräberfeld von Vedrovice, Kr. Znojmo (ca. 100 Körpergräber der Linienbandkeramik), wurde in den 70er Jahren durch die Prähistorische Abteilung des Mährischen Museums in Brno (Leiter: Dr. V. ONDRU§) freigelegt (bisher nicht publiziert). 5 Oslavany (KNIES 1896, 66); Blucina (TIHELKA 1956 a, b); Tesetice-Kyjovice (siehe o b e n ) ; D o b s i c e (GEISLER, KOVARNIK 1 9 8 3 ,
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191
Religion und Kult • Berlin 1989 • Seiten 193-201
Die „Schalkenburg" bei Quenstedt, Kreis Hettstedt, eine frühneolithische Rondellanlage V o n ERHARD SCHRÖTER f
Als eine t a f e l b e r g ä h n l i c h e H ö h e e r h e b t sich die „ S c h a l k e n b u r g " bei Q u e n s t e d t e t w a 25 Meter ü b e r d e m H e n g s t b a c h t a l . Auf h a l b e m Wege zwischen d e n K r e i s s t ä d t e n Aschersleben u n d H e t t s t e d t gelegen, g e h ö r t diese E r h e b u n g a u s geologischer Sicht n o c h z u m H a r z . Bereits seit J a h r z e h n t e n w u r d e n n a c h P f l u g a r b e i t e n i m Bereich d e r l a n d w i r t s c h a f t l i c h e n N u t z f l ä c h e auf d e m ca. 1 h a großen Gelände der „ S c h a l k e n b u r g " F u n d e verschiedener urgeschichtlicher P e r i o d e n geborgen (Abb. 1).
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Abb. 1 „Sehalkenburg" bei Quenstedt, Kr. H e t t s t e d t . Ansicht von Südosten Die v o m L a n d e s m u s e u m f ü r Vorgeschichte H a l l e (Saale) in zwei J a h r z e h n t e n d u r c h g e f ü h r t e n A u s g r a b u n g e n e r b r a c h t e n eine Fülle a n F u n d m a t e r i a l , d a s zwei Siedlungsh o r i z o n t e n u n d drei u n t e r s c h i e d l i c h e n G r ä b e r g r u p p e n z u g e o r d n e t w e r d e n k a n n . N e b e n d e n B e f u n d e n a u s einer Siedlung d e r neolithischen B e r n b u r g e r K u l t u r u n d a u s 13 Religion und Kult
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einer Siedlung der jüngeren Bronzezeit traten auch Bestattungen mit Beigaben der Baalberger und der schnurkeramischen Kultur sowie frühbronzezeitliche Grabanlagen ( B E H R E N S , SCHRÖTER 1980) zutage. Bereits in den ersten Grabungsjahren wurden schmale palisadenähnliche Verfärbungen von etwa 0,30 m Breite und maximal 0,80 m Tiefe, vom freigelegten Planum aus gemessen, im gewachsenen Boden entdeckt, die, in leichten Bögen verlaufend, über längere Strecken zu verfolgen waren. Sie lagen parallel zueinander im Abstand von 5,0 bis 6,0 m. Nach Abschluß der Untersuchungen bietet sich folgendes Bild (Abb. 2). Das auf dem Gipfelplateau der „Schalkenburg" liegende fünfgliedrige ovale Palisadenringsystem hat einen inneren Durchmesser von min. 35 und max. 44 m. Der größte Durchmesser konnte mit 95 m erschlossen werden. I m Norden und Osten der Anlage sind die Ringverfärbungen durch die mit dem Bau der jüngeren Befesti-
Abb. 2 „Schalkenburg" bei Quenstedt, Kr. Hettstedt. Das Palisadenrondell innerhalb der ausgegrabenen Fläche. 1 =Planquadrate mit stichbandkeramischen Scherben, 2 = Rössener Scherbe
194
gungsanlagen verbundenen Erdbewegungen stark gestört. Die ovale Rondellanlage, womit wir den f ü r derartige Objekte eingebürgerten Begriff übernehmen, liegt auf dem Gipfelplateau der „Schalkenburg" und greift nur im Norden und Osten leicht in die Hanglage des zum Vorgelände leicht abfallenden dreieckigen Bergspornes über. Am südöstlichen Steilhang verringert sich der Abstand der Ringe zueinander auf 4,0 bis 5,0 m. Im Nordwesten sind am 4. Ring zwei apsis- oder bastionsartige „Anbauten" vorhanden, deren Funktion noch nicht geklärt werden konnte. Die Verfärbung dieser „Anbauten" entspricht der des 4. Ringes; beide sind gleichzeitig. An drei Stellen befinden sich in einer Linie verlaufende Durchgänge durch die Ririge. Die nach innen weisenden Öffnungen bilden an den Eingängen Seitenwangen, die von einem stärkeren Pfosten flankiert werden. I m 2. Ring des südöstlichen Einganges fehlen die Wangen, dafür standen in der Durchgangsöffnung 2 Pfähle mit der lichten Durchgangsbreite von 0,70 bis 0,80 m. Die Breite der übrigen Durchgänge liegt zwischen 0,60 und 1,50 m. I m nordöstlichen Eingang des 3. Ringes wurde eine durchgehende schwellenähnliche Verfärbung festgestellt. Die Gräbchen sind unterschiedlich tief in den verwitterten felsigen Untergrund angelegt worden. Durch die mehrere Jahrhunderte erfolgte Beackerung der „Schalkenburg" sind oberflächennahe Teile bereits weitgehend abgepflügt. Das mag vorhandene Lücken in den einzelnen Ringen erklären. Von spärlichen Verfärbungsresten, die im Ausgrabungsplanum erfaßt wurden, schwankt die Tiefe bis maximal 0,80 m. Wenn man dazu noch etwa 0,20 bis 0,30 m abgepflügten Bodens bis zur nicht mehr erhaltenen ehemaligen Oberfläche rechnet, dann könnte man bei ca. 1,00 m Ein-
Abb. 3 „Schalkenburg" bei Quenstedt, Kr. Hettstedt. Rekonstruktionsversuch der hölzernen Rondellanlage 13»
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grabungstiefe der Holzpfosten eine mindestens 2,00 bis 3,00 m freistehende Plankenwand der einzelnen Ringe erschließen. Die homogenen Verfärbungen der Palisadengräbchen erbrachten keine Aufschlüsse über ehemalige Pfostenkonstruktionen. Nur im Nordosten der Anlage unter den Resten des aufgeschütteten jungbronzezeitlichen Holz-Erde-Walles konnten auf der Sohle der Gräbchen runde Standspuren erkannt werden. Die aufgeschütteten Erdmassen konservierten offensichtlich die humushaltigen Pfostenverfärbungen. Diese Beobachtung ermöglicht folgende zeichnerische Rekonstruktion des Palisadenrondells (Abb. 3). Auf 1,00 m Gräbchenlänge wurden bis zu 5 Standspuren von Pfosten festgestellt. Bei einer überschlägigen Berechnung ist f ü r den Verlauf der Palisadenringe mit ca. 5000 Baumstämmen zu rechnen, die f ü r den Bau bereitgestellt werden mußten. Eindeutig datierbare Funde aus den Palisaden Verfärbungen konnten nicht geborgen werden. Holzkohlereste aus dem 3. Ring ermöglichten eine ^'C-Datierung. Die zwei Proben wurden im Abstand von zwei Jahren in verschiedenen Labors gemessen. Sie ergaben unterschiedliche Zeitbestimmungen. Als konventionelle Daten liegen vor: 3710 + 65 B. C. (KN 2864) und 2750 + 70 B. C. (Bin 2813). Die Differenz von 1000 Jahren zeigt die Unzulänglichkeit der Messungen an geringem Probenmaterial. Während der Ausgrabungen auf der „Schalkenburg" wurden einige stratigraphische Befunde dokumentiert, mit deren Hilfe Hinweise für die Datierung des Rondells gewonnen werden konnten. Mehrfach wurde die Anlage von Gruben der Bernburger Kultur und solchen der jüngeren Bronzezeit geschnitten. Auch vier der Aunjetitzer Gräber überlagerten eindeutig die Verfärbungen des Rondells. Demnach ist die Anlage in einer Zeit vor der Bernburger Kultur entstanden. Hält man nach älterem Fundmaterial Ausschau, so fallen zunächst die beiden Baalberger Grabanlagen auf, die in der Innenfläche des Rondells auf dem höchsten Punkt der „Schalkenburg" untersucht wurden ( S C H R Ö T E R 1976). Ein aus dem Skelettmaterial gewonnenes 14 C-Datum erbrachte 2 6 8 0 + 4 0 B. C. (Bin 2005). Im Westen der Anlage wurde im Bereich des 3. Ringes, etwa in Höhe des freigelegten Planums, eine Henkelscherbe gefunden, die der Baalberger Kultur zuzuordnen ist (Abb. 4,a). Über die Bedeutung dieser Scherbe in Verbindung mit dem zuerst genannten 14 C-Datum aus dem gleichen Palisadenring hat sich bereits H. B E H R E N S (1984) geäußert. Das jüngere ^C-Datum war zu diesem Zeitpunkt noch nicht bekannt. Nach Abschluß der Ausgrabungen und nach Durchsicht des gesamten Fundmaterials muß nun auf einen weiteren Zeithorizont, der f ü r die Datierung des Rondells von Bedeutung ist, aufmerksam gemacht werden. Aus verschiedenen Planquadraten der „Schalkenburg" liegen einzelne stichbandkeramische Scherben vor, die sich über die gesamte Fläche des Rondells verteilen (Abb. 2). Neben mehreren Randscherben verschiedener Gefäßtypen sind es verzierte Wandungsscherben sowie drei Bodenscherben eines Standringgefäßes (Abb. 4 , c—ab), die nach D. K A U F M A N N ( 1 9 7 6 , 1 6 5 ) der Stufe I I der Stichbandkeramik zuzuordnen sind. Eine einzelne Scherbe mit einem flächendeckenden Ornament, wie es f ü r die Rössener Kultur typisch ist, lag in der Nähe des 3. Ringes im Südosten der Anlage (Abb. 4b). Sie fand sich als Einzelfund zu Füßen eines Kinderskelettes in der Füllerde der Grabgrube 11. Die Grabanlage gehört zu einer schnurkeramischen Gräbergruppe (BEHRENS, SCHRÖTER 1 9 8 0 , 1 4 6 ) .
Die wenigen stichbandkeramischen Scherben reichen nicht aus, um von einer Besiedlung in dieser Zeit auf der „Schalkenburg" sprechen zu können. Sie deuten aber 196
auf eine häufigere Nutzung des Berges als nur auf eine sporadische Begehung des Geländes hin. Selbst die Erbauer des Rondells müßten sich längere Zeit a m Objekt aufgehalten haben, wobei mitgeführte Keramik durchaus zu Bruch gegangen sein kann. Wenn man das Rondell als Kultstelle betrachtet, so könnte diese Nutzung ohne Keramikverwendung erfolgt sein. Für die vergleichbaren Ringanlagen aus Niederbayern ( E N G E L H A R D T , SCHMOTZ 1983-1984), Niederösterreich ( N E U G E B A U E B 1983-1984) und Mähren ( P O D B O B S K Y 1983-1984) sind jeweils gleichzeitige Siedlungen nachgewiesen. Das Rondell „Schalkenburg" scheint dagegen völlig isoliert auf dem Bergsporn gelegen zu haben. Erst in jüngster Zeit sind durch intensive Bodendenkmalpflegetätigkeit im Umfeld der „Schalkenburg" zwei Siedlungsstellen entdeckt worden, die Fundmaterial der jüngsten Linienbandkeramik und der Stichbandkeramik erbracht haben. 1 Die eine Siedlung befindet sich 700 m nordöstlich der Schalkenburg am Rande der jetzigen Ortslage von Quenstedt. Beim Bau von Wirtschaftsgebäuden der LPG wurde neben Gruben der jüngeren Bronzezeit eine Stelle mit Keramik und Tierknochen der Stichbandkeramik entdeckt. Jenseits der „Schalkenburg", 400 m südöstlich, sind bei Meliorationsarbeiten des Hengstbaches Siedlungsgruben der jüngsten Linienbandkeramik und Stichbandkeramik gefunden worden. Bei beiden Siedlungen könnte es sich um die gleichzeitigen Wohnplätze der Erbauer und Nutzer der Rondellanlage gehandelt haben. Von der Höhe der Rondellanlage sind die beiden Siedlungsplätze gut einzusehen. Mit 215 m über NN bietet sich von der „Schalkenburg" eine kilometerweite Sicht, die besonders nach Nordosten bis weit in das Harzvorland reicht. Das Rondell auf der „Schalkenbürg" kann eine zentrale Funktion für ein größeres Gebiet gehabt haben. Eine Höhenlage ist bei den meisten Anlagen zu beobachten. Für Niederösterreich ist die erhöhte Hanglage typisch ( R U T T K A Y 1983-1984, 232), um weithin sichtbar zu sein. Der ovale Grundriß der Anlage könnte mit der Unterbringung auf dem dreieckigen Bergsporn zusammenhängen, wobei die Verringerung der Abstände der einzelnen Ringe an der Südost-Seite mit der Ausnutzung des vorhandenen Raumes bis zur Steilhangkante zu erklären ist. Möglicherweise führten aber auch Konstruktionsmängel beim Bau der Anlage zu diesem ovalen Grundriß. Auf alle Fälle war man bemüht, keinen der Ringe am Steilhang auslaufen zu lassen. Die Ringe greifen auch nur unmerklich in die sanfte Böschung zur nordöstlichen Hochfläche hinein. Das Gelände ist allerdings durch Relikte jüngerer archäologischer Kulturen stark gestört. Alle vergleichbaren Rondellanlagen weisen einen oder mehrere ringförmige Gräben auf, die meist von parallelen Palisaden begleitet werden. Das Fehlen derartiger Gräben auf der „Schalkenburg" könnte mit der extremen Spornlage des Rondells erklärt werden. Der 25 m hohe Steilhang hat diese möglicherweise entbehrlich gemacht. Das Rondell von Quenstedt ist mit drei Eingangsöffnungen versehen. Es stellt gegenüber den Vergleichsbeispielen mit einem, zwei oder vier Durchlässen einen Ausnahmefall dar. Schon vor Jahren wurden an die Ausrichtung der Eingangswege Überlegungen geknüpft und Deutungsversuche unternommen. Eine Stellungnahme der Astronomen des Raumflugplanetariums Halle (Saale), welche die astronomischen Vermessungen durchführten, wurde bereits von H. B E H R E N S ( 1 9 8 4 , 2 6 1 ) diskutiert. Es ist zunächst auffallend, daß der südöstliche Eingang unmittelbar am Steilhang ausläuft, was eine Nutzung als Durchgang unmöglich macht. Es bietet sich hier die Deutung an, daß dieser Eingang als Beobachtungsrichtung in der Art einer Visur197
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linie genutzt wurde. Die beiden Pfähle in der zweiten Durchgangsöffnung könnten ebenfalls dafür sprechen. Neuerdings ist eine weitere Interpretationsmöglichkeit von den Astronomen J . L I C H T E N E E L D und G . S C H Ö N des Raumflugplanetariums Halle (Saale) hinsichtlich der Richtung dieses Einganges erörtert worden. Mit Hilfe der Technik des Planetariums war es möglich, den beweglichen Himmelsnordpol um ca. 6000 Jahre zuriickzu verlegen (Präzession), etwa in die angenommene Bauzeit der Rondellanlage. Es zeigte sich, daß zum Zeitpunkt der Sommersonnenwende nach Sonnenuntergang als erstes Sternbild das Sommerdreieck, gebildet von den Ecksternen Deneb, Wega und Atair, mit der unteren Spitze hoch über dem südöstlichen Eingang steht. Durch diese Polverschiebung war es zum gleichen Zeitpunkt möglich, in der Morgendämmerung das in unseren Breiten heute nicht mehr sichtbare Kreuz des Südens flach über dem Horizont im südöstlichen Eingang zu beobachten. Diese von den Astronomen geäußerten Gedanken stellen Arbeitshypothesen dar, an die sich noch weiterreichende Überlegungen werden anknüpfen müssen. Das Rondell auf der „Schalkenburg" bei Quenstedt steht im Neolithikum des Mittelelbe-Saale-Gebietes bisher einmalig da. Fortifikatorische Merkmale, außer der Spornlage, sind nicht erkennbar. Durch die stichbandkeramischen Einzelfunde von der Rondellfläche und die gleichzeitigen Siedlungen in der Nähe der Anlage scheint eine frühe Datierung gegeben, auch wenn das jüngere ^'C-Datum dagegen spricht. Die Anlage läßt sich mit zeitentsprechenden Objekten in der CSSR, in Österreich und der B R D vergleichen. Die Richtungen der Eingangswege und die darauf basierenden Interpretationen von astronomischer Seite unterstreichen den Charakter des Rondells als Kultstätte, die für die landwirtschaftlich orientierte Bauernbevölkerung des Neolithikums von besonderer Bedeutung gewesen sein muß. Mit weiteren Anlagen dieser Art ist im Elbe-Saale-Gebiet zu rechnen.
Anmerkungen 1 Wir danken den Bodendenkmalpflegern H e n r i e t t e u n d T r u t z FT.ADUNG, H e t t s t e d t , sowie Gabriele W O Y T A S , Quenstedt, f ü r die Überwachung der B a u m a ß n a l i m e n und die sachgemäße U n t e r s u c h u n g der Siedlungsgruben.
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Religion und Kult • Berlin 1989 • Seiten 2 0 3 - 2 1 0
Bronzezeitliche Felsritzungen in Schweden: Verbreitung — Datierung — Deutung V o n JABL NOBDBLADH
Ich kann voraussetzen, daß die Dokumentations- und Forschungsgeschichte der schwedischen Felsritzungen in großen Zügen bekannt ist. Auf dem europäischen Kontinent hat man mit Interesse die Entwicklung auf diesem Gebiet mitverfolgt. Die Forschung ist — aus historischer Perspektive betrachtet — stoßweise und ohne zentrale Planung betrieben worden. Hierbei haben die persönlichen Leistungen eine weitaus wichtigere Rolle gespielt als jene Arbeiten, die im Rahmen eines Projekts durchgeführt wurden. I m Ergebnis dessen erhielt man in Schweden unterschiedliche Dokumentationsmethoden. Die Felsritzungsforschung mit ihren Problemen und Resultaten hat bislang nicht vermocht, andere Bereiche der Archäologie in die Diskussion einzubeziehen. O S C A B M O N T E L I U S und C A B L - A X E L M O B E E G sind vielleicht die einzigen Archäologen, die sich f ü r diese Forschung engagiert haben. Keiner von beiden hat jedoch die Diskussion bis zur Aussage von eigenen Deutungsvorschlägen geführt. Ihr Interesse für die Felsritzungsforschung ist eher einem kollegialen Wissenschaftsinteresse zuzuschreiben. Das Zentralamt f ü r Denkmalpflege veranlaßt« spezielle Bestandsaufnahmen von Felsritzungen, unter anderem in Uppland, Bohuslän und Östergötland. Dabei ergab sich ein der Wirklichkeit besser entsprechendes Bild von der Verbreitung und vom Inhalt der Felsritzungen. Dieses Material ist aber zum größten Teil unbearbeitet. Die Bestandsaufnahmen auf staatlichem und privatem Boden sowie die archäologischen Ausgrabungen haben das Verständnis über die Felsritzungen verändert. Als Beispiel kann angeführt werden, daß man völlig neue Figurentypen entdeckt hat, so in Släbo nahe der mittelschwedischen Stadt Nyköping (BosTBÖMet al. 1985) (Abb. 1). Weiterhin hat man neue Verbindungen zwischen Grabmonumenten und Felsbildern in Sagaholm bei Jönköping nachweisen können ( W I H L B O E G 1 9 7 7 — 7 8 ) . Schließlich ist ein neues Verbreitungsgebiet eines zweiten Bildtyps der Felsmalereien hinzugekommen. Man hat jetzt Felsmalereien inmitten bekannter Felsritzungsgebiete an der schwedischen Westküste entdeckt ( C U L L B E E G 1 9 8 2 ) . Da ich mich hier thematisch mit den Felsritzungen der Bronzezeit befasse, werde ich nicht weiter auf die Ritzungen in den nördlichen Regionen Schwedens eingehen. Diese werden allgemein einer älteren Periode zugeordnet und nicht der nordischen Bronzezeit. Eine bemerkenswerte Ausnahme in diesem Zusammenhang bildet der große Felsrifczungsplatz Nämforsen im südlichen Norrland. Man geht davon aus, daß die dortigen Felsritzungen funktionsmäßig ein Bindeglied zwischen nördlichen und südlichen Elementen darstellen. Mit den neuen Funden von Felsbildern, den Malereien, die zahlenmäßig eine Verdopplung des schwedischen Bestandes ausmachen, wird es kompliziert, ein geographisches Trennungsprinzip zwischen den zwei Gruppen beizubehalten. Es muß auch berücksichtigt werden, daß diese neuen Bilder nicht mit 203
»Ir M " Abb. 1 A u s s c h n i t t der F e l s r i t z u n g v o n Släbo, Schalgruben
N y k ö p i n g , m i t m e h r als 330 F i g u r e n
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Sicherheit datiert sind oder eindeutig K u l t u r e n zugeordnet werden können. F ü r einen Großteil dieser Bilder h a t m a n ein Alter von u n g e f ä h r 8000 J a h r e n v. u. Z. vorgeschlagen, einige wenige sind in die Bronzezeit d a t i e r t worden. Meiner Meinung nach ist die Datierung unsicher — m a n k a n n allerdings feststellen, d a ß die Malereien „mesolithischen" Charakter besitzen. Wichtig in diesem Z u s a m m e n h a n g ist folgendes: Vor der Bronzezeit u n d ihrem speziellen Bildsystem existierten vermutlich andere Bildsysteme. Deshalb müssen die bronzezeitlichen Felsritzungen nicht unbedingt als ein isoliertes, geschlossenes System, sondern n u r in Verbindung mit der bronzezeitlichen Gesellschaft b e t r a c h t e t werden. Ein p a a r Bemerkungen zum S t a n d u n d den Möglichkeiten der Publikationen. Zu D o k u m e n t a t i o n e n in Buchform m u ß ich hier die etwas pessimistische Prognose aufstellen, d a ß alle schwedischen Felsbilder niemals publiziert werden können. Dazu ist die Aufgabe zu umfangreich u n d wäre zu kostenaufwendig. Weiterhin wäre es zu kompliziert, sich über einen entsprechenden S t a n d a r d zu einigen, u m die Publikationen wirklich n u t z e n zu können. Allerdings sind während der letzten J a h r e bedeutende wissenschaftliche Leistungen vorgelegt worden, d a r u n t e r Ä . F K E D S J Ö S umfassende D o k u m e n t a t i o n des Kreises Kville, südlich von T a n u m in Bohuslän. Ä. F R E D S J Ö begann seine Arbeit 1936 (1937) als eine Art Berichtigung von L. B A L T Z E R S grundlegender Arbeit von 1874 bis 1908 204
über die Felszeichnungen von Bohuslän ( F R E D S J Ö 1 9 6 6 — 1 9 7 0 ) . 3 5 Jahre später ist die Arbeit über eine Gemeinde fertig geworden und 10 Jahre später alle drei Gemeinden im Kreis Kville ( H Ä L L R I S T N I N G A R i Kville 1 9 7 1 ; 1 9 7 5 ; 1 9 8 1 ) . Es bleiben also 16 Kreise mit insgesamt 65 Gemeinden! Unter den übrigen herausgegebenen lokalen Publikationen möchte ich nennen J . P E T T E R S S O N S zwei Bände über die Insel Tjörn nordwestlich Göteborg ( P E T T E R S S O N und K R I S T I A N S S O N 1 9 7 7 ; P E T T E R S S O N 1 9 8 2 ) sowie K . ß . S V E N S S O N S Publikation ( 1 9 8 2 ) über Felsritzungen in der Provinz Älvsborgs län. Zu den Publikationen mit mehr regionalem Charakter gehören E. K J E L L E N S und Ä. H Y E N S T K A N D S Arbeiten von Uppland ( K J E L L E N 1 9 7 6 ; K J E L L E N und H Y E N S T R A N D 1 9 7 7 ) sowie G. B U R E N H U L T S Dokumentation v o n G ö t a l a n d ( 1 9 7 3 ) . Als technisches Experiment haben P. H A S S E L R O T S Nachtphotographien von Felsritzungen, vorgelegt zusammen mit Ä. O H L M A R K S in dem Buch „Hällristningar", eine gewisse inspirierende Bedeutung gehabt ( H A S S E L ROT u n d OHLMARKS 1 9 6 6 ) .
Jede wissenschaftliche Tätigkeit setzt voraus, daß die Arbeit veröffentlicht wird. Archäologie ohne Veröffentlichungen ist wissenschaftlich sinnlos. Deshalb sollten hohe Anforderungen an die Qualität gestellt werden, insbesondere bezüglich der Bildwiedergabe. Dies ist besonders wichtig, da die Forschung größtenteils auf der Grundlage der dokumentierten Felsritzungen und nicht am Original erfolgt. Publikationen über Felsritzungen sind sehr unterschiedlich, und es erfordert viel Arbeit, wenn man gleichzeitig mehrere Publikationen benutzen will. Außerdem verlangt es eine quellenkritische Haltung. Diese und ähnliche Fragen sind von mir in einer vergleichenden Dokumentationsstudie über Felsritzungen behandelt worden ( N O R D B L A D H 1 9 8 1 ) . K L A S - G Ö R A N S E L I N G E hat kürzlich in einem kritischen Artikel über die Dokumentations- und Präsentationstechnik unter besonderer Berücksichtigung der Felszeichnungen in Östergötland geschrieben ( S E L I N G E 1 9 8 5 ) . 1980 befaßten sich gleichzeitig zwei Dissertationen mit dem Thema. Beide gingen von lokalen und regionalen Studien aus ( B U R E N H U L T 1 9 8 0 ; N O R D B L A D H 1 9 8 0 ) . Dies war ein ungewöhnliches Ereignis, denn die bis dahin letzte Dissertation auf diesem Gebiet hatte es 35 Jahre vorher gegeben. Weitere Dissertationen sind im Entstehen, so über Religion und Gesellschaft in Bohuslän während der Bronzezeit ( I . H E D E N G R E N an der Stockholmer Universität) und außerdem eine Arbeit, die unter anderem Felsritzungen zum Ausgangspunkt nimmt, um wirtschaftliche Systeme und soziale Territorien der westschwedischen Bronzezeit zu behandeln (U. B E R T I L S S O N , auch aus Stockholm). Außer den genannten Dissertationen sind mehrere wissenschaftliche Arbeiten zum Thema Felsbilder erschienen ( W E L I N D E R 1 9 7 4 ; M A L M E R 1 9 8 0 ) . Es gibt gegenwärtig keine Organisation oder Institution in Schweden, die die Felsritzungsforschung leiten und koordinieren könnte. Die schwedischen Studien an sich reichen nicht aus, um die Traditionen weiterzuführen. Die älteren Forscher wie C . - A . A L T H E N und Ä. F R E D S J Ö sowie der Privatforscher F. G U D J T I T Z leben nicht mehr. B. A L M G R E N , der seit langem einen zentralen Platz innerhalb der skandinavischen Felsritzungsforschung einnimmt, ohne größere Arbeiten publiziert zu haben, ist emeritiert. Deshalb ist die Felsbilderforschung heute stark von Kontakten mit anderen Wissenschaftlern abhängig. Ohne einen Austausch, vor allem mit norwegischen Forschern, wären spezielle Studien über Felsritzungen unmöglich. Dieser forschungsgeschichtliche Abriß sollte dazu beitragen, die Felsritzungsforschung mit ihren Existenzbedingungen zu charakterisieren. I m folgenden werde ich einige Fragen der Verbreitung und der Datierung behandeln und dann zum wichtigsten Problem übergehen, den Deutungsfragen. 205
Die hauptsächliche Verbreitung der Felsritzungen ist seit 100 Jahren und mehr bekannt. Umfassende Bestandsaufnahmen haben nur frühere Auffassungen bestätigt. Bei den neuen Funden gilt es vor allem festzustellen, wie dicht die Ritzungen zueinander liegen. Man kann die regionale Verbreitung an Hand der Mikrolandschaft studieren; denn die Lage der Felsbilder im Verhältnis zur Umgebung, in der sie sich befinden, ist bedeutungsvoller geworden. Am gewöhnlichsten sind Schalengruben, die häufig im südlichen und mittleren Schweden vorkommen. Ikonische Bilder, das heißt Figuren, gibt es vor allem in Uppland, Östergötland, Västervik in Smäland, in der Umgebung von Simrishamn in Skane sowie in Bohuslän und Dalsland (Karte 1'). Das gesamte schwedische Felsritzungsmaterial ist enorm groß, schätzungsweise gibt es 3000 Plätze mit vielleicht 30000 Figuren und Zeichen. Wie aus der Karte hervorgeht, ist die Verbreitung der beiden Bildkategorien geographisch unterschiedlich. Die Ritzungsplätze von Bohuslän zeigen verbindende Elemente zu den Felsbildern von Südnorwegen. Die dänischen Felsritzungen sind mehr begrenzt und finden sich vor allem auf einzelnen Felsblöcken sowie auf Megalithgräbern. Aus Finnland schließlich kennen wir keine Felsritzungen, nur Malereien. Das neue große Gebiet mit Felsritzungen in Nord-
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