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German Pages 156 [168] Year 2021
Britta Lange, Martin Roeber, Christoph Schmitz-Scholemann (Hrsg.) Verbrechen und Sprache Juristische Zeitgeschichte Abteilung 6, Band 56
Juristische Zeitgeschichte Hrsg. von Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. Thomas Vormbaum (FernUniversität in Hagen, Institut für Juristische Zeitgeschichte)
Abteilung 6: Recht in der Kunst – Kunst im Recht Mithrsg. Prof. Dr. Gunter Reiß (Universität Münster) Prof. Dr. Anja Schiemann (Deutsche Hochschule der Polizei, Münster-Hiltrup)
Band 56 Redaktion: Katharina Lukoschek
De Gruyter
Britta Lange, Martin Roeber, Christoph Schmitz-Scholemann (Hrsg.)
Verbrechen und Sprache Tagung im Nordkolleg Rendsburg vom 13. bis 15. September 2019
De Gruyter
ISBN 978-3-11-074408-8 e-ISBN (PDF) 978-3-11-074415-6 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-074423-1
Library of Congress Control Number: 2021938378 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Inhaltsverzeichnis MARTIN ROEBER Vorwort .................................................................................................... VII UTA FÖLSTER Grußwort ..................................................................................................... 1 REGULA VENSKE Sprache als Verbrechen – Die Unterdrückung von Literatur und der Kampf des PEN für die Freiheit des Wortes .................................. 5 MUSTAFA TEMMUZ OĞLAKCIOĞLU Im Netz ist alles erlaubt ............................................................................. 29 GIGI DEPPE Recht, Bild, Sprache .................................................................................. 43 HERMANN WEBER Poesie des Frauenmords? – Georges Rodenbach, Dichterjurist unter den Dichterjuristen des belgischen Symbolismus ............................ 55 TONIO WALTER Das Verbrechen in der Sprache des Gesetzes ............................................ 75 BURGHARD KREFT Bach als Justiz-Subjekt .............................................................................. 89 MARKUS HIRTE Mordballaden – vom Schinderhannes zu Rammstein und Nick Cave ..... 109
ANHANG AUTORENVERZEICHNIS .................................................................................. 139 PROGRAMMANKÜNDIGUNG ZUM KONZERT ................................................... 140
Vorwort Verbrechen und Sprache Was haben Sie am 19. Oktober 2001 gemacht? Ich weiß es noch ganz genau! Damals habe ich mein erstes Wochenende in Rendsburg beim Nordkolleg am Rande eines Naturschutzgebietes zwischen dem Fluss Eider und dem Nord-Ostsee-Kanal verbracht. Der Tagungsort ist die pure Idylle: Apfelbäume und herbstliche, späte Blütenpracht. Außerdem – nicht zu unterschätzen – ein engagiertes Küchenteam, das einen Ruf zu verteidigen hat. Es war die erste Tagung zum Thema „Literatur und Recht“, veranstaltet von Prof. Hermann Weber. Nach dem großen Erfolg entschloss sich Weber, diese Veranstaltung zusammen mit dem Nordkolleg als „Biennale“ weiterzuführen. „Literatur und Recht“ hat inzwischen zwei Jahrzehnte auf dem Buckel und hat sich Dank des Wissens und der nicht nachlassenden Neugierde Webers frisch gehalten. Zu feiern war jetzt die zehnte Auflage. Dass es nie langweilig wurde, verdanken wir den ständigen Öffnungen und der sich ständig weiternden thematischen Vielfalt des Unternehmens. Es gab Recht und Kunst, Recht und Musik, Architektur und sogar „Recht und Juristen hinter Literatur und Kunst“ (2011). Dieser Titel inspirierte Uta Fölster, Präsidentin des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts, die auch in diesem Jahr ein Grußwort beisteuerte, zu der für sie typischen frechen Bemerkung „das klingt wie Borussia Dortmund hinter Bayern München“. Als Patin für das diesjährige Generalthema „Verbrechen und Sprache“ und dem darin steckenden wohlüberlegten Kalauer darf die große Übersetzerin Svetlana Geier stehen. Sie hat eine ganze Reihe der Romane von Fjodor Dostojewskij neu übersetzt, mit ungeahnten Konsequenzen. Aus dem ja klassisch gewordenen, moralisierenden Titel „Schuld und Sühne“ wurde bei ihr jetzt das sachlich-plastische „Verbrechen und Strafe“. Einer der größten Kriminalromane der Weltliteratur wurde so aus der Moralphilosophie ins Strafrecht verrückt... Und dass es uns mit dem abgewandelten Titel „Verbrechen und Sprache“ ernst ist, beweist schon die Tatsache, dass wir drei Autorinnen und einen Autoren eingeladen haben, die eine ganze Reihe von Kriminalromanen veröffentlicht
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Vorwort
haben. Im ersten Vortrag am Freitagabend zeigte die Präsidentin des PENZentrums Deutschland, wie mancherorts Sprache als Verbrechen geahndet wird. Regula Venske kennt aus eigener Erfahrung die Unterdrückung von Literatur und den Kampf des PEN für die Freiheit des Worts. Aber neben diesem Ehrenamt hat sie natürlich auch einen ordentlichen Beruf. Sie schreibt Krimis. Und die sind voller Ironie und Skurrilitäten. Ein Krimiautor im Nebenberuf ist Prof. Tonio Walter von der Universität Regensburg. Er lehrt dort Strafrecht und ist Richter am OLG in Nürnberg. Bei unserer letzten Tagung im September 2017, war er als Autor zu erleben, der seine mysteriös verrätselte Novelle „Am sechsten Tag – Protokoll einer Vernichtung“ vorstellte. Er hat aber auch eine wunderbare „Kleine Stilkunde für Juristen“ vorgelegt, ein äußerst unterhaltsames Werk, aus dem auch Nichtjuristen anhand vieler Beispiele lernen können, einigermaßen geradeaus zu formulieren. Allein das prädestinierte Walter für sein Rendsburger Thema „Das Verbrechen in der Sprache des Gesetzes“. Muss das in gender-gerechter Sprache erfolgen, in „einfacher Sprache“? Zwei Autorinnen, nicht nur von Krimis, aber auch... konnten wir für die abschließende traditionelle Lesung am Sonntagvormittag gewinnen. Da ist zunächst Esmahan Aykol, geboren 1970 in Edirne in der Türkei. Sie studierte Jura und arbeitete als Journalistin für verschiedene türkische Zeitungen und Radiosender. Nach einem Intermezzo als Barkeeperin ist sie jetzt als Autorin tätig. Vor allem ihre Krimis um die Hobbydetektivin Kati Hirschel sind echte Kultbücher über Istanbul. Sie lebt in Berlin und Istanbul und ist eigens für unsere Tagung aus der Türkei eingeflogen. Für die Rechtsanwälte im Publikum hier ein Zitat aus ihrem Kati-Hirschel-Roman „Bakschisch“: „Was ist das doch für eine tolle Sache, einen Anwalt zum Liebhaber zu haben. Was sind doch Anwälte für nützliche Menschen. Und was ist ein Anwalt, der den Namen seiner Geliebten zum Paßwort macht, doch für ein toller Partner. Liebt und ehrt eure Anwälte.“
Unsere zweite Autorin kommt aus Baden-Baden, wo sie beim SWR als Dramaturgin für die Hörspielabteilung arbeitet. Geboren wurde Uta-Maria Heim 1963 im finstersten Schwarzwald. Die Liste ihrer Bücher ist endlos; nach 20 habe ich aufgehört zu zählen. Aber es sind genau 16 Kriminalromane darunter. Über beide Schriftstellerinnen erfuhren die Tagungsteilnehmer am Sonntagvormittag vor der Lesung in kurzen Gesprächen eine Fülle von Details.
Vorwort
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Am Freitagabend ging der erste Teil unserer Jubiläumstagung zu Ende mit dem Vortrag von Mustafa Temmuz Oğlakcıoğlu, Akademischer Rat am Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Erlangen. Bei der Tagung 2017 überfiel er die nicht gerade juvenilen Teilnehmer mit harten Videos. Sein Thema: „Gangsta-Rap: Lyrische Kunstform oder strafwürdiges Verhalten?“ 2019 ging es um „Die Sanktionierung von Sprechakten im Zeitalter einer verrohenden Kommunikationskultur“ – Motto: Das wird man doch wohl noch sagen dürfen... John Austin hat in seinem Büchlein „Zur Theorie der Sprechakte“ gezeigt, was man mit Worten alles anrichten kann. Beliebtes Beispiel: Wenn jemand sagt „Der Hund ist bissig“ – kann das je nach Situation eine Warnung sein, oder die Empfehlung eines Hundeverkäufers, auch die Charakterisierung einer bestimmten Rasse, oder sogar eine akute Bedrohung. Der Ausdruck „Vogelschiss“, den AfD-Chef Alexander Gauland in die historisch-politische Debatte eingeführt hat, ist ja so ein bissiger Hund. Erst als Sprechakt entfaltet er seine ganze, fatale Bedeutung. Oğlakcıoğlus Rendsburger Vortrag wird man demnächst als Teil seiner Habilitationsschrift nachlesen können. Für den Tagungsband hat er uns aber seinen bislang unveröffentlichten Vortrag „Im Netz ist alles erlaubt“ zur Verfügung gestellt. Am Samstagvormittag ging es weiter mit einem Vortrag von Prof. Rupprecht Podszun von der Universität, die nach einem großen Juristen und Sprechaktkünstler benannt ist. Also: Prof. Podzun lehrt an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, und zwar Bürgerliches Recht, deutsches und europäisches Wettbewerbsrecht und Kartellrecht. Was will der in Rendsburg? Fragt man sich... Aber zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören auch Rechtsfragen des Theaters. Also: Recht und Kunst / Literatur – Rendsburg! Kennen Sie den Unterschied zwischen Prof. Podszun und Mustafa Temmuz Oğlakcıoğlu? Der eine hört mit seinen Studentinnen und Studenten Gangsta-Rap, der andere geht mit seinen juristisch Anvertrauten in die Oper und beschäftigt sich mit Madama Butterfly! Beide klopfen ihre jeweiligen Musikrichtungen aber durchaus auf juristische Fragen ab...
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Vorwort
Es gibt noch einen Grund, warum wir uns freuen durften, Prof. Podszun bei unserem Rendsburger Treffen dabei zu haben: Er ist ein preisgekrönter, bei den Studenten höchst beliebter Lehrer. Davon zeugen Auszeichnungen wie der Preis für gute Lehre des Freistaats Bayern 2015, der Michael-Althen-Preis der FAZ 2015 und der Ars legendi-Fakultätenpreis Rechtswissenschaften 2016. Dass man ihn durchaus als „Rampensau“ (Sie verzeihen diesen durchaus höchst positiven Begriff aus der Theatersprache) bezeichnen darf, zeigte sein Vortrag am Samstagmorgen. Das Thema lautete „Theater und Recht – Neue Dramen, alte Rechte“; so zumindest die Ankündigung. Aber Podszun verweigerte die strikte Einlösung des Themenversprechens und lieferte ein rhetorisches Feuerwerk über – wie er es nannte – „den Sinn des Lebens“; witzige Einblicke zum Thema Recht und Literatur inklusive. Leider liegt dieser weitgehend improvisierte Vortrag schriftlich nicht vor. Wir empfehlen aber Prof. Podszun, so möglich, live zu erleben: Es lohnt sich! Direkt anschließend ging es am Samstagvormittag von der analogen Bühne zu den inzwischen fast vollständig digital organisierten Medien. Recht, Rechtspolitik und Justiz medial zu verbreiten und zu erklären, damit habe ich selbst mit großer Freude über dreißig Jahre mich und meine Familie ernährt – ist ja keine Schande. Es gibt aber eine Juristin, die wie kaum eine andere dieses Geschäft für Zeitungen, Zeitschriften, auf WEB-Seiten, im Fernsehen und im Hörfunk betrieben hat: eine mediale Allzweckwaffe. Gigi Deppe ist Leiterin der ARDRechtsredaktion für den Bereich Hörfunk beim SWR in Karlsruhe. Ihr Vortrag lebte vor allem aus den völlig unterschiedlichen technischen Möglichkeiten der Darstellung von Recht in gedruckter, hörbarer und bildhafter Form. Weiter ging es am Samstagvormittag zu dem Vortrag, der aus verschiedenen Gründen für mich im Mittelpunkt unserer Jubiläumsveranstaltung stand. Prof. Hermann Weber, Gründervater, spiritus rector und guter Geist von „Recht und Literatur am Nord-Ostsee-Kanal“, hat sich breitschlagen lassen und referierte über die „Poesie des Frauenmordes“. Der Titel ist echt scharf und klingt etwas sensationsheischend, wiewohl er phantastisch zum Motto „Verbrechen und Sprache“ passt. Prof. Weber breitete wieder einmal eine ganze Fülle von literarisch-rechtlichen, kulturhistorisch höchst interessanten Entdeckungen und Rechercheergebnissen aus. Der Untertitel lautet „Georges Rodenbach, Dichterjurist unter den Dichterjuristen des belgischen Symbolismus“. Da hatten wir wieder den ganzen Prof. Weber: Deutschland ist ihm zu klein, er wildert in ganz Europa. Es ging auch um Musik; um die Oper „Die tote Stadt“
Vorwort
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von Erich Wolfgang Korngold, uraufgeführt 1920 in Köln und Hamburg. Das Libretto basiert auf der Novelle „Bruges la morte“ von George Rodenbach. Am Samstagnachmittag nach der Kaffeepause wurde der Altersschnitt der 10. Rendsburger Tagung drastisch gesenkt. Keine Ü-60-Party mehr! Wie schon vor zwei Jahren hat Dr. Mustafa Temmuz Oğlakcıoğlu Studentinnen und Studenten aus Erlangen mitgebracht, die er in seinem Proseminar mit dem passenden Thema traktiert hat. Motto „Ausprägungen von pönalisierten Sprechaktverboten im StGB und ihrer Zweckmäßigkeit“. Sie konnten – wie schon vor zwei Jahren – ihre Erkenntnisse in Rendsburg präsentieren: Wie schon 2017 eine intelligente, erfrischende Aktion! Zum Schluss noch ein paar Worte zum Thema „Musik“. Am Samstagabend ging es in die Kirche; nicht um zu beichten, sondern um einen Vortrag von Burghard Kreft zu hören, der Johann Sebastian Bach als Justiz-Objekt vorstellt. Das wurde nicht so ganz harmlos. Das Arbeitsrecht zu Bachs Zeiten war durchaus fähig, renitente Bedienstete im Knast festzusetzen. Näheres dazu gab es, unterfüttert mit Musik Bachs, in der Rendsburger Christkirche zu erfahren und zu erhören... Krefts lebendiger Vortrag erscheint hier gedruckt ohne Fußnoten. Dass er die einschlägigen klassischen Nachschlagewerke über den großen Thomaskantor zurate gezogen hat, ist selbstverständlich. Die arbeitsrechtlichen Ausführungen sind ohnehin „auf seinem Mist gewachsen“. Übrigens: Über die geheimen Zusammenhänge von Musik und Recht informiert uns der große Claudio Magris in seinem kulturhistorischen Standardwerk „Die Donau“. Er schildert die Probleme bei der Richterwahl im Banat in der Baranya. Dort gab es den Volksstamm der Schokatzen: Hervorragende Schweinezüchter, die die Kunst des Schreibens und Lesens ihren Frauen überließen. Der reiche Schweinezüchter Zsupán in Johann Strauß „Zigeunerbaron“ beweist das singenderweise: ...ja das Schreiben und das Lesen ist nie mein Fall gewesen... Magris: „Man erzählt, dass in der Baranya ein Kandidat für das Amt des Richters, der von der zuständigen Kommission befragt wurde, ob er lesen und schreiben könne, antwortete: ʻLesen und Schreiben kann ich nicht, aber singenʼ.“
Und noch eine letzte Abschweifung zum Thema „Musik und Recht“. Wir gedenken in diesem Jahr des 200. Geburtstags eines ebenso unbekannten wie großen Komponisten, der fast ein Jurist geworden wäre.
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Vorwort
Kennen Sie die Oper „Der Cid“ des im Juli 1819 bei Saarbrücken geborenen Louis Théodore Gouvy? Er war ein Komponist der Romantik – deutsch-französisch – irgendwie durchs nationale Raster gefallen, das manche heute gerne wiederbeleben wollen. Die Gouvys führten eine Eisenhütte östlich von Saarbrücken. Der höchst musikalische Louis Théodore hatte sich dem Druck der Familie gebeugt und in Paris ab 1836 Jura studiert. So ein toller Jurist scheint er nicht gewesen zu sein. Denn, als er sich zum Exmanen melden wollte, bemerkte er, dass seine Geburtsstadt Goffontaine kurz vor seiner Geburt aufgrund des zweiten Pariser Friedens an Preußen gefallen war. Also besaß er die französische Staatsbürgerschaft nicht. Die Zulassung zum Juraexamen wurde ihm verweigert. Gouvy wurde Musiker – notgedrungen, aber auch freiwillig. Und er wurde ein großartiger Komponist, gelobt von Berlioz. Im Jubiläumsjahr gab es zumindest im Elsaß viel Gelegenheit, seine Musik zu hören. Er war lange vergessen, inzwischen wird er wiederentdeckt – Gottseidank als Musiker, nicht als verhinderter Jurist... Und nur, um zu beweisen, wie breitgestreckt das Rendsburger Spektrum von justizinfiltrierter Musik ist, gab es am Sonntagvormittag Markus Hirtes Vortrag zum Thema „Mordballaden – vom Schinderhannes zu Rammstein und Nick Cave“. Also ein musikalisches Spektrum von Bach über Gangsta-Rap, Rammstein und Nick Cave bis zu Wolfgang Korngold; dabei geht es in Rendsburg auch – das wollen wir nicht vergessen, um eine juristische Veranstaltung. Markus Hirte ist wie kaum jemand für die Thematik prädestiniert. Er ist Jurist, Rechtshistoriker, arbeitete als Anwalt in Stuttgart, Berlin und London und ist seit 2013 Direktor des Mittelalterlichen Kriminalmuseums in Rothenburg ob der Tauber. Ich erinnere mich noch gut an die Ausstellung „Mit dem Schwert oder festem Glauben – Luther und die Hexen“; eine für gute Protestanten etwas verstörende Präsentation. Aber Luther passt natürlich gut zum Thema Verbrechen und Sprache: Als Sprachkünstler, Antisemit, Komponist und Moraltheologe... Und danach schloss sich am Sonntag der Kreis: Am Ende ging es ans Eingemachte! Wir lauschten zwei Dichterinnen, im Gespräch und in einer Lesung. Und dabei sollten wir uns immer bewusst sein: Krimis sind große Literatur, wenn sie denn gut sind!
Vorwort
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Sie schlagen den Bogen vom Verbrechen (also vom Recht) über die Sprache zur Ästhetik! Und so zitiere ich zum Schluss den grundlegenden Satz des großen Schriftstellers und Denkers Thomas de Quincey über den Zusammenhang zwischen Verbrechen, Sprache und Ästhetik aus seinem Klassiker „Der Mord als eine schöne Kunst betrachtet“: „Ein Mord kann mehr oder weniger geschmackvoll ausgeführt werden als der andere. Wie Statuen, Gemälde, Oratorien, Kemeen und Schnitzwerke, so unterscheiden sich auch Morde durch feine, künstlerische Nuancen.“
Wie bei Esmahan Aykol und Uta-Maria Heim... Rendsburg, 13. September 2019
Martin Roeber
1. Uta Fölster
Grußwort Sehr geehrte Damen und Herren, haben Sie Dank, dass ich auch in diesem Jahr ein Grußwort sprechen darf – das Jahr, in dem die von Ihnen, lieber Herr Prof. Weber begründete Tagungsreihe „Literatur und Recht“ zum 10. Mal stattfindet. Ich freue mich, zur Eröffnung dabei sein zu dürfen! Ich muss allerdings einräumen, dass ich auch nach mehr als 13 Jahren Präsidentin eines Gerichts nicht wirklich begriffen habe, welche Vorgabe sich hinter dem Format „Grußwort“ verbirgt. Eine zeitliche kann es nicht sein, denn im wirklichen Leben können Grußworte zwischen drei und 60 Minuten dauern. Eine inhaltliche kann es auch nicht sein, denn ich habe unter der Ankündigung „Grußwort“ schon alles von durchaus freundlichen Belanglosigkeiten bis zur Vorwegnahme eines Festvortrages gehört – die Annahme der Vorwegnahme war allerdings stets eine irrige. Ich will mich aber über die mangelnde Orientierungskraft des Begriffs heute nicht beklagen, sondern ganz im Gegenteil, jedenfalls die inhaltliche Beliebigkeit schamlos nutzen und Ihnen ein paar Gedanken zum Thema „Verbrechen und Sprache“ vorstellen – Gedanken, die keinen Anspruch auf Ordnung und logische Verknüpfungen erheben, sondern mir bei der Vorbereitung auf dieses Grußwort aus ganz unterschiedlichen Zusammenhängen in den Sinn gekommen sind – leider etwas dunkle Gedanken. Soweit es die Dauer betrifft, möchte ich zur Fortdauer Ihrer Entspannung beitragen: Länger als zehn Minuten werde ich nicht sprechen.
Verbrechen und Sprache Mir fällt als erstes ein, welche „Verbrechen“ an unserer Sprache begangen werden. Sie scheint mir nicht länger ein Kulturgut zu sein, das mit Blick auf ein gedeihliches Miteinander auf Hege und Pflege angewiesen ist. Das mich erschütternde Ergebnis schulischer Vermittlung von regelgerechtem Spre-
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Uta Fölster
chen und Schreiben präsentiert sich auch in der Justiz – ein Berufsfeld, von dem man kaum sagen kann, dass derartige Fähigkeiten zu vernachlässigen sind. Lassen Sie mich ein Beispiel nennen: Bewerberinnen und Bewerber um eine Ausbildung zum Beruf des Rechtspflegers (überwiegend Abiturientinnen; 3-jähriges Hochschulstudium) müssen auch einen Rechtschreibtest bestehen (eine DIN-A 4 Seite Text; es sind 100 Fehler eingebaut, die gefunden werden müssen; im Durchschnitt werden 60 Fehler gemacht – Nichterkennen von Fehlern, Beanstandung vermeintlicher Fehler).
Juristen und Sprache Ich ärgere mich alltäglich über mir unverständliche IT-Sprache und empfinde ihre Verhunzung der deutschen Sprache als Zumutung. Ich finde es aber auch völlig nachvollziehbar, wenn man uns Juristinnen und Juristen mit einem solchen Vorwurf konfrontiert. Der Verdacht, wir würden absichtlich so sprechen, um weiter unsere Kreise ungestört im Elfenbeinturm ziehen zu können, ist mindestens ein begründeter Anfangsverdacht. Ich war viele Jahre Pressesprecherin und bin nach wie vor fest überzeugt davon, dass es vornehmlich Aufgabe der Justiz selbst ist, zu erklären, was, wie und warum sie etwas tut. Aber ich fühle mich auf den Plan gerufen, wenn ich Sätze höre wie etwa: Drückt Euch bitte so aus, dass Euch der juristische Laie versteht. Das mag ein hehres Ziel sein, es ist aber nicht erreichbar. Dafür sind sowohl die Lebenssachverhalte als auch die juristischen Fragestellungen zu komplex. Bisweilen so komplex, dass selbst ich nach aufmerksamer Lektüre beispielweise einer EuGH-Entscheidung ratlos dasitze und mich frage, was ich da gelesen habe. Noch mehr frustriert hat mich die Lektüre der DSGVO – nicht wegen ihres Inhalts, sondern weil der Text eine sprachliche Zumutung und scheinbar auf das Ziel ausgerichtet ist, nicht verstanden zu werden. Der einzige Artikel, den ich sofort begriffen habe, ist Art. 12 Abs. 1, der auszugsweise lautet: „Der Verantwortliche trifft geeignete Maßnahmen, um der betroffenen Person alle Informationen … die sich auf die Verarbeitung beziehen, in präziser, transparenter, verständlicher und leicht zugänglicher Form in einer klaren und einfachen Sprache zu übermitteln; dies gilt insbesondere für Informationen, die sich speziell an Kinder richten.“
Wenn ich schon derartige Probleme habe, wie gedemütigt muss sich das Exemplar „juristischer Laie“ wohl vorkommen, wenn ihm in überheblich anmutender Nachsicht gesagt wird, dass die Erklärung jetzt in einfachsten Worten erfolge und er trotzdem nichts versteht. Ein erreichbares Ziel kann es nur sein, mithilfe auch kluger Journalistinnen und Journalisten Grundzüge zu
Grußwort
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erklären und darauf zu hoffen, dass sich die Adressaten auch durch eigenes Anstrengen die Chance auf Verstehen geben. Auf das sich in diesem Zusammenhang anbietende unerfreuliche Thema „Rechtskundeunterricht an Schulen“ will ich jetzt nicht näher eingehen, nur so viel: Ich begreife überhaupt nicht, weshalb gerade in der heutigen Zeit das Angebot der Justiz, einen solchen Unterricht zu organisieren, glatt ignoriert wird.
Sprache Wäre ich Pessimistin, würde ich prophezeien, dass wir bald sowieso nicht mehr sprechen (müssen) – jedenfalls nicht im Sinne einer wie auch immer gewinnbringenden Kommunikation von Angesicht zu Angesicht. Schauderhafte Abkürzungen und sogenannte Emojis prägen die Korrespondenz in den digitalen Medien, vollständige Sätze versetzen den Adressaten – wie mir mein Neffe neulich nachsichtig-höflich zu verstehen gegeben hat – in Erstaunen. Dabei bestimmt die Digitalisierung mittlerweile alle Lebensbereiche, natürlich auch die beruflichen. Die Justiz ist auf dem Weg zur elektronischen Akte, die man selbstverständlich bequem auch zu Hause bearbeiten kann; Stichwort: Mobiles Arbeiten / Homeoffice. Vielleicht sind die Gerichte in absehbarer Zeit menschenleer, weil ja auch Verhandlungen digital geführt werden können. Und ein kollegialer Austausch ist ebenfalls verzichtbar, weil Legal Tech die Rechtsberatung und -findung übernimmt – es bedarf nur noch verständiger Programmierung, die selbst lernende und selbst denkende Androide erschafft. Für mich ein Schreckensbild, aber ich befürchte, wenn wir die Entwicklung von KI weiter nur unter dem Aspekt der technischen Machbarkeit und der möglichen Einsatzszenarien diskutieren, bestimmt tatsächlich nicht länger der Mensch den Lauf der Welt, sondern nicht mehr beherrschbare Algorithmen schaffen uns ab. Unser IT-Referent hat mir neulich deutlich zu verstehen gegeben, dass es mir als Führungskraft und Vorbild verboten sei, derart zu unken – ich habe Besserung gelobt, weil er natürlich recht hat. Als Präsidentin hat man viele Aufgaben – Demotivierung gehört sicher nicht dazu. Aber heute hört ja auch niemand aus der Justiz SH zu. Und ich kann einfach nicht verhehlen, dass mich die Entwicklung ernsthaft besorgt. Wo kommen wir hin, wenn schon heute die KI bei Schach und Go den Menschen besiegt und mittlerweile besser als Wissenschaftler in der Lage ist, dreidimensionale Proteinstrukturen zur Krebsbekämpfung zu entwickeln.
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Und außerdem soll KI, wie ich neulich von einem fachkundigen Referenten erfahren habe, auch schon in der Lage sein, selbst ausgedachte Witze zu erzählen – der von dem Referenten als Beleg zitierte war zum Glück ein schlechter, da hat KI noch Potential. Erlauben Sie mir, dass ich Ihnen abschließend einen von einem echten Menschen ersonnen, nach meinem Dafürhalten guten Witz erzähle – schon um das zuvor so düster gezeichnete Bild etwas aufzuhellen und die Zunft der Juristen ins ihnen gebührende rechte Licht zu stellen: „Bushaltestelle / 10 Personen steigen ein An der nächsten steigen 11 Personen aus Ein Biologe, ein Physiker, ein Mathematiker und ein Jurist sollen erklären. Biologe: Die haben sich während der Fahrt vermehrt Physiker: 10% Messtoleranz ist akzeptabel Mathematiker: Wenn jetzt einer einsteigt, ist der Bus leer Jurist: Der Busfahrer ist mit ausgestiegen.“
2.
Regula Venske
Sprache als Verbrechen – Die Unterdrückung von Literatur und der Kampf des PEN für die Freiheit des Wortes In einem früheren Leben habe ich Kriminalromane und -erzählungen geschrieben, schwarze Komödien zumeist, in denen, wenn ich über den Zusammenhang von Sprache und Verbrechen nachdenke, die Verbrechen meist aus einer gewissen Sprachlosigkeit begangen wurden, so wie im richtigen Leben wohl oft auch so mancher Mord aus einer tiefen Kommunikationslosigkeit und verzweifelten Sprachlosigkeit heraus geschieht. Heute aber ist unser Thema „Sprache als Verbrechen“. „Die Unterdrückung von Literatur und der Kampf des PEN für die Freiheit des Wortes“, so lautet der Arbeitsauftrag meines Vortrages. Das sind viele große Worte und Begriffe, lauter Abstrakta – Sprache, Verbrechen, Unterdrückung, Literatur, Kampf, Freiheit – ich möchte deshalb vorausschicken, dass wir doch letztlich immer über uns, über Männer, Frauen, Kinder, über Menschen sprechen. Zu den eindrücklichsten und bewegendsten Begegnungen dieses Sommers gehörte für mich ein Treffen mit Liu Xia, der Witwe des chinesischen Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo. Und damit möchte ich beginnen. Sie erinnern sich, Liu Xiaobo setzte sich als Schriftsteller für ein demokratisches China ein und galt in den Augen des Regimes deshalb als Staatsfeind. 1989 hatte er eine Vortragsreise in den USA abgebrochen, um die Studenten bei ihrem Protest auf dem Platz des Himmlischen Friedens zu unterstützen. Der friedliche Protest kostete ihn nicht nur seine Karriere als Literaturwissenschaftler; was folgte, waren – mit kurzen Unterbrechungen – Jahre der Haft und „Umerziehung durch Arbeit“ im Lager. Nach seiner Entlassung aus dem Lager Dalian im Oktober 1999 waren Liu Xiaobo und Liu Xia zunächst ein paar gemeinsame Jahre vergönnt, produktive Jahre, in denen beide künstlerisch tätig waren. U.a. gründete Liu Xiaobo mit seinen Mitstreitern ein Unabhängiges Chinesisches PENZentrum – das war im Jahr 2001 – und verfasste, inspiriert durch das Vorbild Václav Havels und dessen Charta 77, die Charta 08, ein Manifest zum Schutz
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universeller Menschenrechte und für demokratische Reformen in China. Am 8. Dezember 2008 wurde der Lyriker und Menschenrechtsaktivist erneut verhaftet und schließlich wegen „Anstiftung zur Untergrabung der Staatsgewalt“ zu einer elfjährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Im Jahr 2010 wurde Liu Xiaobo mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Da er aufgrund seiner Gefängnisstrafe nicht an der Preisverleihung in Oslo teilnehmen konnte, wurde er durch einen leeren Stuhl repräsentiert. Im selben Jahr erhielt er zudem den Hermann-Kesten-Preis des deutschen PEN. Meine damals verantwortlichen Kollegen hatten diese Wahl übrigens schon vor der Nobelpreisentscheidung getroffen; überflüssig zu erwähnen, dass die chinesischen Behörden unser Ehrenmitglied auch zu diesem Anlass nicht ausreisen ließen und dass sein Stuhl auch in Darmstadt, wo der deutsche PEN seinen Sitz hat, leer blieb. Seit damals, seit der Verleihung des Nobelpreises 2010, stand Liu Xiaobos Frau Liu Xia unter Hausarrest, ohne dass je Anklage gegen sie erhoben worden wäre. Ihr einziges ʻVerbrechenʼ war, die Ehefrau Liu Xiaobos zu sein. Kennengelernt hatten sich die beiden übrigens während der Studentenproteste 1989; Liu Xia, heute ja meist als ʻFrau vonʼ oder ʻWitwe vonʼ apostrophiert, war bereits selbst eine junge Künstlerin und Dichterin. Hören wir zunächst einmal in ihren eigenen Worten, wie diese Liebe begann: 2. Juni 1989 – für Xiaobo – „Dies ist kein gutes Wetter, sagte ich zu mir selbst, als ich unter der prallen Sonne stand. Ich stand hinter dir. Und streichelte deinen Kopf. Dein Haar sträubte sich, stichelte in meine Hand. Und fühlte sich so fremd an. Es blieb mir überhaupt keine Zeit, auch nur ein Wort mit dir zu wechseln. Ein Medienereignis warst du geworden. Es war zermürbend, zu dir aufzuschaun wie alle andern. Mir blieb nichts übrig, als an den Rand der Menge zu drängen, wo ich einfach eine Zigarette rauchte und den Himmel betrachtete.
Sprache als Verbrechen – Die Unterdrückung von Literatur
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Ein neuer Mythos war vielleicht geboren, aber die Sonne schien so hell, dass ich ihn nicht erkennen konnte.“1
Soweit das Kennenlernen. Selbst die Umstände der Heirat spiegeln die widrigen Bedingungen, unter denen diese große Dichterliebe von Anfang an stand und denen zum Trotz sie sich so tapfer bewährte. Da eine erste Heirat am Frühlingsfest 1996 von den Behörden nicht anerkannt wurde – Liu Xiaobo war zuvor aus Peking ausgewiesen worden und daher nicht polizeilich gemeldet –, musste eine zweite Hochzeit 1998 im Lager von Dalian stattfinden, eine wichtige Voraussetzung für das Besuchsrecht dann während der Haft. Liu Xia hat diesem Hochzeitstag ein trauriges Gedicht gewidmet: „Gott war nicht unser Zeuge. Wir pflanzten unseren Baum in den Sand. Unser Hochzeitszimmer in einer Zelle. Wir umarmten und küssten uns Unter den Blicken der Gefängniswärter.“2
Unter diesen Blicken hat sich ein großer Teil des Ehelebens von Liu Xiaobo und Liu Xia abgespielt. Und nicht nur das. Selbst noch sein Tod fand in Unfreiheit und öffentlich statt. Vielleicht haben Sie die anrührenden Fotos in Erinnerung, die im Sommer 2017 im Netz zu sehen waren – (und immer noch zu finden sind) – nachdem Liu Xiaobo wegen einer unheilbaren Leberkrebserkrankung aus der Haft entlassen worden war. Aus der Haft entlassen, aber eben nicht in die Freiheit, sondern in ein Krankenhaus: Zum Sterben. Seit seinem Tod im Juli 2017 hofften wir, China würde nun wenigstens Liu Xia ausreisen lassen. Doch der Hausarrest dauerte an, Liu Xia blieb weiterhin zu einer Einsamkeit verdammt, die wir uns in ihrem alltäglichen Vollzug schwerlich vorstellen können. Ihr ʻVerbrechenʼ nun: die Witwe des Friedensnobelpreisträgers zu sein.
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Zit. n. Herbert Wiesner: „Der erstickte Schrei – ein Leben im Arrest“, in: Sascha Feuchert, Hans Thill und Regula Venske (Hrsg.): „Hinauf in das winzige Zelt von Bla“: Writers in Prison / Writers at Risk, die horen 61. Jg., Heft 261, Göttingen: Wallstein Verlag 2016, pp. 106–115, pp. 97–106, hier p. 100 f.; siehe zu Liu Xiaobo außerdem den Essay von Josef Haslinger im selben Band: „Die Verantwortung des Überlebenden“ ebd., pp. 106–115 sowie die Biographie seines Freundes und Weggefährten Bei Ling, auf die sich beide beziehen: Bei Ling: Der Freiheit geopfert. Die Biographie des Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo, Übersetzung aus dem Chinesischen von Martin Winter, Yin Yan und Günther Klotz, München: riva Verlag 2011. Empfehlenswert außerdem: „The Journey of Liu Xiaobo. From Dark Horse to Nobel Laureate“, hrsg. v. Joanne Leedom-Ackerman, Potomac Books: University of Nebraska Press 2020. Zit. n. Herbert Wiesner, a.a.O., p. 104.
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Im Dezember 2017 gelangte ein an die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller gerichtetes Gedicht von Liu Xia an die Öffentlichkeit, in dem es u.a. heißt: „Ich rede mit mir selbst / Ich werde verrückt / Zu einsam / Ich habe nicht das Recht zu sprechen / Laut zu sprechen / Ich lebe wie eine Pflanze / Ich liege da wie eine Leiche.“3
Nachdem sich in der ersten Hälfte des Jahres 2018 die Hoffnung auf eine unmittelbar bevorstehende Ausreise Liu Xias mehrmals leider nicht bewahrheiten sollte –, durfte Liu Xia im Juli 2018 China endlich verlassen und lebt seitdem in Berlin. Aber ist sie frei? Einen Großteil der zweieinhalb Stunden, die wir miteinander verbrachten, hat sie bitterlich geweint. Die langen Jahre des Hausarrestes wirken nach, zudem steht seit ihrer Ausreise ihr jüngerer Bruder in China unter Hausarrest und ist nun die Geisel, das Unterpfand, mit dem die chinesische Regierung sie unter Druck setzt. Um ihn nicht weiter in Gefahr zu bringen, muss sie sich mit kritischen öffentlichen Stellungnahmen zurückhalten – der lange Arm des Regimes hat sie auch im Exil noch im Griff. Wenn wir über die Freiheit des Wortes nachdenken, so tun wir dies im Bewusstsein, dass es nicht um abstrakte Dinge geht, sondern gedenken mit Hochachtung eines so tapferen Menschen wie Liu Xiaobo, der sich die Freiheit des Wortes nahm und teuer dafür bezahlte. Und der die Größe hatte, in seiner letzten Stellungnahme vor seiner Verurteilung 2008 gegenüber der Staatsmacht, die ihn als ihren Feind auf die Anklagebank zerrte und ihn seiner Freiheit beraubte, zu erklären: „Ich habe keine Feinde, ich kenne keinen Hass“. Auf der sogenannten Case-List, die der internationale PEN alljährlich herausgibt, nimmt China seit langem einen traurigen vorderen Platz ein. Sicher haben Sie in den vergangenen Wochen und Monaten mit besonderer Spannung die Demonstrationen von Hongkong in den Medien verfolgt. Um unsere Solidarität mit der Demokratiebewegung in Hongkong zum Ausdruck zu bringen, die sich unter anderem gegen Auslieferungen von Regimekritikern ans chinesische Festland, gegen polizeiliche und militärische Gewalt und für die Freilassung von politischen Gefangenen richtet, haben das Internationale Literaturfestival Berlin und das PEN Zentrum Deutschland für den 21. September 2019 zu einer deutschlandweiten Lesung aufgerufen, Germany reads for Hongkong. Daran kann sich jeder ganz einfach beteiligen, Informationen finden Sie auf der Seite des Berliner Literaturfestivals4. Einladen möchte ich Sie auch, sollten Sie am 3
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„Dear Herta / I curl into a ball / As somebody knocks at the door / My neck starts to stiffen / But I can not leave / I speak to myself / I’m going mad / Too solitary / I have not the right to speech / To speak loudly / I live like a plant / I lie like a corpse…“. Zit. n. Liao Yiwu, https://www.facebook.com/yiwu0619/posts/998575786985880. http://www.literaturfestival.com/aktuelles/germany-hongkong.
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Messedonnerstag auf der Frankfurter Buchmesse sein, zur Demonstration „Free Speech Now! Mit Regenschirmen für Meinungsfreiheit“. Auch da wollen wir unsere Solidarität zeigen und rufen gemeinsam mit dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels und anderen Partnern dazu auf, mit aufgespanntem Regenschirm, dem Symbol der Hongkonger Freiheitsbewegung, ein Zeichen für die Meinungsfreiheit zu setzen. Insbesondere fordern wir die Freilassung des schwedisch-hongkonger Autors, Verlegers und Buchhändlers Gui Minhai, der seit vier Jahren willkürlich in China in Haft ist. Bei der Aktion „Germany reads for Hongkong“ werden wir u.a. Gedichte von Tammy Lai-Ming Ho vortragen, Dichterin, Akademikerin und Präsidentin des PEN Hong Kong. Zurzeit werden sie ins Deutsche übersetzt. Eines ihrer Gedichte haben Sie auf Ihren Plätzen gefunden. „This Moment“ bezieht sich auf den Piloten von Cathay Airways, der beim Landeanflug Ende Juli die Passagiere auf die friedlichen Demonstranten in der Flughafenhalle vorbereitete. Er schloss seine Ansprache über Lautsprecher mit einigen Worten in Kantonesisch: „Pour it on, Hong Kong people! And be careful out there!” („Pour it on“= „add oil“, „Vorwärts“) Die Schlusszeile dieses Gedichtes lautet „At this Moment, everyone is a revolution“ – sicher keine Zeile, die Carrie Lam oder den Machthabern in Peking gefällt.
„This Moment“ – Tammy Ho, July 28, 2019 „At this moment an airplane is landing. The pilot makes the usual announcement before explaining to passengers about the peaceful protesters at the airport dressed in black. He switches from English to Cantonese to say the most heartfelt words. At this moment a family is going to Disneyland. A little boy is oblivious to teargas and rubber pallets, thinking only of Mickey Mouse and Winnie the Pooh. May he grow up to never know the fear of being caned. At this moment train stations are transformed into battlegrounds, blood of citizens on floor like abstract calligraphy. The trains take no one to nowhere until someone makes some right decisions. This moment a people is angry. They carry on with their lives barely. How many more days to endure for a government to listen and show remorse? At this moment, everyone is a revolution.“5
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Zit. n. https://blog.lareviewofbooks.org/poetry/moment-everyone-revolution-poems-tammy-ho-lai-ming-hong-kong-crisis/; vgl. außerdem https://www.theglobeandmail.com/ arts/books/article-hong-kong-writers-resort-to-poetry-amid-protests-to-express-the/?fbclid =IwAR3RS4wYchLW8z4Y4tgjhMYUxNquHC9G4fWvvo1hbPCSu4sSeSji2Pz5egA.
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Das Land aber, das zurzeit das größte Gefängnis für Autoren und Journalisten weltweit darstellt, ist die Türkei. Es heißt, hier seien derzeit mehr Autoren inhaftiert als in China, Äthiopien und Eritrea zusammen. Die Zahlen, die genannt werden, sind natürlich cum grano salis zu betrachten, nicht sind alle Fälle zeitnah dokumentiert. Man kann aber davon ausgehen, dass nach dem gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli 2016 binnen eines Jahres -
mindestens 145.000 Beamte entlassen wurden,
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mehr als 47.000 Menschen unter überwiegend absurden Anklagen, die einer rechtsstaatlichen Beweisführung nicht standhalten, inhaftiert wurden und 100.000 Fälle vor dem Verfassungsgericht anhängig sind,
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mindestens 165 Journalisten verhaftet und
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mindestens 160 Verlags- und Medienhäuser geschlossen wurden,
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mindestens 1.300 Verbände und Organisationen verboten wurden.
Wohlgemerkt, die Zahlen beziehen sich nur auf den Zeitraum des ersten Jahres – inzwischen sind einige Jahre vergangen und die Zahlen sind entsprechend nach oben zu korrigieren. Gegen den Abbau demokratischer Strukturen und die Unterdrückung der Meinungsfreiheit in der Türkei haben wir uns im Deutschen wie auch im internationalen PEN stark engagiert. Zum Beispiel für – und mit! – Can Dündar, den Journalisten, Dokumentarfilmer, Buchautor und ehemaligen Chefredakteur der Zeitung Cumhuriyet. Bereits vor dem Putschversuch im Mai 2016 wurde er zu fünf Jahren und zehn Monaten Haft verurteilt, sein Kollege Erdem Gül, der vormalige Leiter des Hauptstadtbüros der Zeitung, zu fünf Jahren. Als Grund für die Anklagen diente den Behörden ein Bericht in Cumhuriyet über Waffenlieferungen der Türkei an syrische Extremisten. Als die beiden Journalisten im November 2015 festgenommen wurden, lauteten die Vorwürfe auf „Spionage“ und „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“, zudem wurde ihnen vorgeworfen, Staatsgeheimnisse verbreitet zu haben. Staatspräsident Erdoğan stellte persönlich Strafanzeige und wurde zusammen mit dem türkischen Geheimdienst als Nebenkläger zugelassen. Inzwischen drohen Dündar in der Türkei bis zu 15 Jahre Haft, er lebt in Deutschland im Exil und konnte unseren Preis so persönlich entgegennehmen, als der deutsche PEN Can Dündar und Erdem Gül im November 2016 für ihr mutiges Engagement mit dem HermannKesten-Preis ehrte. Freilich musste er dies auch stellvertretend für seinen Kollegen mit übernehmen, da Erdem Güls Pass konfisziert worden war und er daher nicht ausreisen konnte – ein Schicksal, das auch Can Dündars Frau Dilek Dündar geteilt hat. Auch dies, wie im Falle Liu Xias, ein klarer Fall von Sip-
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penhaft. Wie Sie sicher gelesen haben, ist Dilek Dündar im Sommer 2019 die Ausreise aus der Türkei gelungen – eine wagemutige Frau!6 „Die Türkei“, so las ich vor einiger Zeit in einem Pressebericht über Can Dündar, „ist unter Präsident Erdogan kein sicherer Ort für kritische Journalisten“. Bleibt nur zu hoffen, dass das Exil ein sicherer Ort ist. Alle Veranstaltungen mit ihm haben unter strengstem Polizeischutz stattfinden müssen. Eine sichere Zuflucht in Deutschland7 hat seit 2017 hoffentlich auch die türkische Schriftstellerin Asli Erdogan gefunden, die zunächst ein Stipendium im Rahmen des Programms „Städte der Zuflucht“ in Frankfurt innehatte und die nun Gast im Writers-in-Exile-Programm des deutschen PEN ist. Mit diesem Programm können wir seit nunmehr 20 Jahren mit Unterstützung der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien inzwischen neun Kolleginnen und Kollegen in verschiedenen deutschen Städten Zuflucht in Deutschland bieten und sie ein Stück des Weges beim Start in ein neues Leben fern der Heimat begleiten. Im August 2016 war Asli Erdogan wegen „Volksverhetzung“ und „Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation“ in Istanbul verhaftet worden; mit letzterem war ihre Solidarität mit der kurdisch-türkischen Zeitung Özgür Gündem gemeint, für die sie seit 2011 Kolumnen verfasst hatte. Man könnte sagen, ihr ʻVerbrechenʼ war die Solidarität mit unterdrückten Minderheiten, mit den Schwarzen in Istanbul, mit Armeniern, mit den Kurden. Und so stand es auch auf den Spruchbannern und handgemalten Plakaten, als ich Anfang September 2016 gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen vom internationalen PEN und anderer Organisationen vor dem Frauengefängnis Bakirköy in Istanbul für die Freilassung Asli Erdogans sowie der Sprachwissenschaftlerin Necmiye Alpay demonstrierte: „Solidarity is no crime“ und „Peace is no crime“. Unter dem Titel „Nicht einmal das Schweigen gehört uns noch“ sind Asli Erdogans Essays in Deutschland erschienen, zunächst nur auf Deutsch, dann noch einmal in einer sehr schönen zweisprachigen, türkisch-deutschen Ausgabe; ich möchte Ihnen die Lektüre wärmstens empfehlen. Ihre Texte zeichnen sich – und hierin sind sie den Gedichten Liu Xias durchaus vergleichbar – durch eine radikale Subjektivität aus, eine Subjektivität, mit der sie freilich der Verletzlichkeit, der Brutalität und Trauer, aber auch der Schönheit und Solida6 7
Die gute Nachricht heute Morgen: https://www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-urteilehaftstrafen-gegen-fuenf-journalisten-nach-142-tagen-aufgehoben-a-1286570.html. So der Titel des von Josef Haslinger und Franziska Sperr, herausgegebenen Sammelbandes mit Texten verfolgter Autoren des Writers-in-Exile-Programms des PEN, Frankfurt: Fischer Taschenbuch, 2017.
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rität, die der Condition Humaine eignen, näherkommt als jede ʻobjektiveʼ Reportage es wohl je vermöchte. „Texte, die zunächst persönlich wirken, um sich dann ins Allgemeine zu öffnen. (...) Ist schon mal einer deiner Söhne ermordet worden?“8
Das ist ihr Schreibprogramm: „Sätze aneinanderreihen. Sich Mördern stellen, Opfern Sprache verleihen. Von einer Dunkelheit in die andere schauen, aufbrechen in einen weiteren Kreis der Hölle. Schreiben über die Tode auf der Tagesordnung statt über die verdrängten. Dabei muss man, um vom Leben eines einzelnen Menschen zu reden, von einer großen Welt erzählen...9 Diese Formulierung erinnert an eine Reflektion Heinrich Heines, die zu meinen Lieblingssätzen dieses Dichters gehört; auch seine Worte seien hier zitiert, bilden sie doch den Grundton für unser Thema: „Aber ach! jeder Zoll, den die Menschheit weiterrückt, kostet Ströme Blutes; und ist das nicht etwas zu teuer? Ist das Leben des Individuums nicht vielleicht ebenso viel wert wie das des ganzen Geschlechtes? Denn jeder einzelne Mensch ist schon eine Welt, die mit ihm geboren wird und mit ihm stirbt, unter jedem Grabstein liegt eine Weltgeschichte ...“10
Soweit Heinrich Heine, der selbst vor der Zensur fliehen und nach Frankreich ins Exil gehen musste. Bei allen leiderfüllten Lebenswegen, auf die wir heute Abend, dem Thema geschuldet, zu sprechen kommen, dürfen wir uns doch immer wieder auch daran erinnern, dass die Sprache, die Freiheit, die Menschen in ihr finden und die Schönheit der Worte uns auch ein Trost sind. Autorinnen und Autoren wie den genannten ist zum einen gemeinsam, dass sie wichtige Tabugrenzen in ihren jeweiligen Ländern verletzt und sich in Tabuzonen hineingewagt haben. Liu Xiaobo, indem er z.B. die Forderung nach einem föderalen Bundesstaat erhob. Can Dündar, indem er die Verstrickung der Regierung in illegale Waffenlieferungen aufdeckte – und wir wissen ja: In einem Krieg stirbt als erstes die Wahrheit. Asli Erdogan, indem sie über die Massaker an Armeniern und Kurden schrieb. Gemeinsam ist ihnen außerdem, 8
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Asli Erdogan: „Verschwundene, Verlorene“, geschrieben anlässlich der „Woche der Verschwundenen“, die seit 1981 in der letzten Maiwoche international begangen wird. Aus dem Türkischen von Oliver Kontny, in: Nicht einmal das Schweigen gehört uns noch. Essays. Mit einer Einführung von Cem Özdemir, München: Albrecht Knaus Verlag 2016, p. 165 u. 168. Asli Erdogan: „So haben wir denn Abschied genommen“, ebd., p. 182. Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe. Reisebilder 3. Teil, Reise von München nach Genua 1830, Vorabdruck 1828; http://gutenberg.spiegel.de/buch/reisebilder-393/67.
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dass sie sich, indem sie die Tabus verletzten, mit der jeweiligen Staatsmacht angelegt haben und dass es der Staat ist, der seine Geschütze auffährt, Legislative, Exekutive, Judikative, die ganze staatliche Gewalt. Oder denken Sie auch an Stella Nyanzi aus Uganda. Die Akademikerin, Frauenrechtsaktivistin und Regierungskritikerin wurde am 1. August 2019 in Kampala aufgrund eines Gedichtes, in dem sie den Präsidenten Yoweri Museveni (und dessen Mutter) beleidigt hat, zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt; neun von ihnen hat sie bereits in Untersuchungshaft verbracht. Die Anklage lautet auf „cyber harassment“ und das ist durchaus wichtig für uns, im Hinterkopf zu behalten, wenn wir uns über Hassrede im Netz Gedanken machen und darüber, wie man sie unterbinden kann. Denn so gern wir oft selbst solche Posts, die wir als hasserfüllt, verleumderisch und beleidigend empfinden, unterbinden würden, so sollten wir doch auch gewärtig sein, dass die Straftatbestände Verleumdung, Üble Nachrede und Beleidigung in Diktaturen vorrangig dazu benutzt werden, kritische Stimmen mundtot zu machen. So bezeichnete Richter Kamasanyu bei der Urteilsverkündigung den betreffenden Post denn auch als „vulgär, skandalös, obszön and äußerst beleidigend“. Und vielleicht werden Sie ihm, wenn Sie das Gedicht lesen, sogar zustimmen? Dr. Nyanzi aber, die starke Kritikerin des Präsidenten, praktiziert mit ihrer „radical rudeness”, ihrer radikalen Unverschämtheit und Grobheit, bewusst eine traditionelle ugandische Strategie, die Taktik der öffentlichen Beleidigung. Das muss man zum besseren Verständnis wissen, wenn man ihr Gedicht liest, in dem sie impliziert, dass es ihrem Land besser ginge, wenn der Präsident bei der Geburt gestorben wäre; dabei enthält ihr Gedicht, wie Sie nachlesen können, ziemlich drastische Anspielungen auf den Geburtskanal der Mutter des Präsidenten11. Immer wieder erlebe ich es übrigens bei Diskussionen um die Meinungsfreiheit, dass durchaus liberale Kolleginnen und Kollegen, Deutsche, die das Recht auf freie Meinungsäußerung hierzulande für sich selbstverständlich reklamieren und als gegeben annehmen, wenn es dann darum geht, jemanden wie Stella Nyanzi zu verteidigen, mit literarischen Kriterien argumentieren und sich auf Ästhetik und guten Geschmack berufen. Jan Böhmermanns Invektive gegen Erdogan war ein schlechtes Gedicht, heißt es dann etwa, oder: Stella Nyanzis Verse sind doch wirklich unappetitlich. Aber beim Recht auf freie Meinungsäußerung geht es nicht um literarische Qualität und guten Geschmack. Gerade auch an trivialen oder kruden Erzeugnissen findet die Nagel11
https://ugmirror.com/index.php/2018/09/17/stella-nyanzis-poem-on-president-musevenisbirthday-you-wont-like-what-she-wrote/; vgl. außerdem https://pen-international.org/ news/uganda-writer-and-academic-stella-nyanzi-convicted-and-sentenced-to-18-monthsimprisonment.
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probe statt, wie es um die Meinungsfreiheit in einem Land – oder auch in unserem Bewusstsein – bestellt ist. Aber nicht genug damit, dass Stella Nyanzi ihren Facebook-Post mit 18 Monaten im Gefängnis bezahlt. Eine Woche nach ihrer Verurteilung verkündete die Uganda Communications Commission, dass sogenannte „Influencer“ in den sozialen Medien eine Gebühr bezahlen und sich zwecks Überwachung registrieren lassen müssen. Schon seit vorigem Jahr wird eine Steuer auf die Benutzung von Facebook, Twitter oder WhatsApp erhoben, was innerhalb der ersten drei Monate bereits zu deutlichen Rückgängen an Benutzern (um insgesamt 1 /3) führte. Kritiker sehen darin eine weitere Unterbindung der freien Meinungsäußerung in einem Land, in dem das Internet der letzte verbliebene Ort für Versammlungsfreiheit ist12. Zunehmend sind es denn auch Blogger, für die wir uns im internationalen PEN einsetzen. Erinnert sei hier an den saudi-arabischen Blogger Raif Badawi, der seit dem 17. Juni 2012, in Haft sitzt. Wegen angeblicher „Beleidigung des Islams“ und der „Gründung einer liberalen Webseite“ – dem ʻNetzwerk saudischer Liberalerʼ – wurde er am 29. Juli 2013 zunächst zu einer siebenjährigen Gefängnisstrafe und 600 Peitschenhieben verurteilt, dann, am 7. Mai 2014, zu einer zehnjährigen Haftstrafe, einer hohen Geldstrafe, einem zehnjährigen Reiseverbot, einem zehnjährigen Medienverbot sowie 1000 Peitschenhieben. 50 Hiebe wurden am 9. Januar 2015 exekutiert, der Rest der Strafe ist seitdem aus medizinischen Gründen – und aufgrund der weltweiten Proteste – ausgesetzt. Die internationale Aufmerksamkeit ist für Badawi überlebenswichtig. Dass wir lange nichts von ihm gehört haben, ist daher doppelt beunruhigend. So stammen die letzten Posts auf der Webseite der Raif Badawi-Foundation aus dem Jahr 2017. Sicher hätte Badawis Frau Ensaf Haidar, die mit den gemeinsamen Kindern im kanadischen Exil lebt und diese Stiftung zur Förderung der Meinungsfreiheit in der arabischen Welt mitgegründet hat, der Welt mitgeteilt, wenn es Nachrichten von ihrem Mann gäbe13. Auch Badawis Anwalt Waleed Abu al-Khair muss im Zusammenhang mit seiner friedlichen Aus12 13
https://www.worldpoliticsreview.com/articles/28159/uganda-expands-its-internet-clampdown-stifling-the-last-space-for-free-spech?fbclid=IwAR2tMK2svwKfWJrWXiu5Od T8 irGKF5E0UbWTSEKejSZuYt6bdkY53ssysw. http://www.raifbadawifoundation.org/; Stand September 2019. Gemeinsam mit der deutschen Journalistin Andrea C. Hoffmann verfasste Ensaf Haidar ein Buch über ihr Leben mit Raif Badawi, das einen interessanten und – da es sich um eine Liebesgeschichte handelt – auch anrührenden Einblick in die Binnenperspektive einer zunächst ganz angepassten und sich dann allmählich emanzipierenden saudi-arabischen Frau vermittelt: Raif Badawi, die Liebe meines Lebens, Köln: Bastei Lübbe 2015.
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übung des Rechts auf freie Meinungsäußerung eine 15-jährige Gefängnisstrafe verbüßen. Natürlich haben Sie alle die Nachrichten über die Ermordung des saudiarabischen Journalisten Jamal Kashoggi im saudi-arabischen Konsulat in Istanbul mit verfolgt. Noch immer ist diese grausame außergerichtliche Hinrichtung nicht restlos aufgeklärt, geschweige denn geahndet. Laut der UNOSonderberichterstatterin und Menschenrechtsexpertin Agnès Callamard gibt es „glaubhafte Beweise“ dafür, dass der saudi-arabische Kronprinz Mohammed bin Salman letztlich verantwortlich sei. Dies müsse dringend weiter untersucht werden. Indes hat man sich in der internationalen Politik anscheinend dazu entschieden, wieder zur Tagesordnung überzugehen. Anfang dieser Woche verlautbarte, dass Deutschland die nach dem Mord an Khashoggi eingestellte Polizeiausbildung in Saudi-Arabien wieder aufnehmen will. „Es gehört eindeutig zu unseren Interessen, dass im arabischen Raum Grenzen sicher sind und nicht für Terroristen durchlässig“, begründete Regierungssprecher Steffen Seibert am vergangenen Montag die Entscheidung. Die deutsche Außenpolitik ist eben „nicht nur werte-, sondern auch interessengeleitet“14. Ein weiterer Fall aus Saudi-Arabien, an den ich hier noch erinnern möchte, ist der des als staatenloser Palästinenser in Saudi-Arabien geborenen Dichters und Kunstkurators Ashraf Fayadh. Er wurde wegen angeblichen „Abfalls vom muslimischen Glauben“ in Saudi-Arabien zum Tode verurteilt. Berichten zufolge wurde dieses Urteil gegen Fayadh in einem Wiederaufnahmeverfahren im November 2015 verhängt, nachdem er im Mai 2014 zunächst zu vier Jahren Gefängnis und 800 Peitschenhieben verurteilt worden war. Mittlerweile wurde das Urteil auf acht Jahre Haft und 800 Peitschenhiebe „abgemildert“ – was dennoch eine katastrophale Strafe für Fayadh darstellt. Stein des Anstoßes war sein Gedichtband ʻInstructions Withinʼ (dt. etwa: Gebrauchsanweisung inliegend). Außer Blasphemie und der Verbreitung von Atheismus warf man ihm übrigens auch illegale Beziehungen zu Frauen vor; Beweismittel waren Fotos, die er auf seinem Handy gespeichert hatte und die ihn an der Seite von Künstlerinnen zeigten – was Wunder, schließlich hatte Fayadh, der auch Mitglied der britisch-saudischen Kunstorganisation „Edge of Arabia“ ist, im Jahr 2013 die Ausstellung ʻRhizoma (Generation in Waiting)ʼ, Saudi-Arabiens Beitrag zur Biennale in Venedig kuratiert, wobei Werke von 26 im Westen weitgehend unbekannten Künstlern gezeigt wurden. Seine Anzeige wegen angeblicher
14
https://www.onvista.de/news/deutschland-nimmt-nach-khashoggi-mord-ausgesetzte-ausbildung-saudischer-grenzschuetzer-wieder-auf-272872217, 9.9.2019.
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Gotteslästerung soll von der Regierung in Auftrag gegeben worden sein – welch ein Hohn! Eine andere Form, und man kann wohl sogar sagen, eine andere Ära der Unterdrückung des freien Wortes wurde im Februar 1989 eingeläutet, als der politische und religiöse Führer der Islamischen Republik Iran, Ajatolla Chomeini, eine Fatwa aussprach, in der er alle gläubigen Muslime aufforderte, den britischen Schriftsteller Salman Rushdie, Verfasser des Romans „Die Satanischen Verse“ sowie alle an der Verbreitung des Romans Beteiligten – das betrifft also Verleger, Verlagsmitarbeiter, Übersetzer, Buchhändlerinnen... – zu töten. Der Roman verunglimpfe den Islam und kränke die religiösen Gefühle aller Muslime. Als kurz darauf eine iranische Stiftung auch noch ein Kopfgeld in Höhe von einer Million US-Dollar auf Rushdie aussetzte, veränderte sich sein Leben, wie Sie wissen, für immer – er lebte fortan unter Polizeischutz, in Verstecken und konnte an Veranstaltungen nur als der Öffentlichkeit vorher nicht bekannt gegebener Überraschungsgast teilnehmen. So zum Beispiel, als sich zum 70. Geburtstag von Günter Grass zahlreiche Schriftsteller im Hamburger Thalia-Theater versammelten, darunter Nadine Gordimer, John Irving „und die gesamte deutsche Literaturszene“, wie Rushdie es retrospektiv in seinem Nachruf auf Günter Grass schrieb (Bei dieser Einschätzung irrte er vielleicht, aber ich hatte das Glück, im Publikum dabei sein zu dürfen). In seinem sehr lesenswerten Essay mit dem Titel „Zivilisierte Verachtung. Eine Anleitung zur Verteidigung unserer Freiheit“ hat der Schweizerisraelische Philosoph und Existenzialpsychologe Carlo Strenger die Fatwa gegen Rushdie als „Testfall“ für den Westen analysiert, bei dem manche Reaktion enttäuschte15. Die Proteste seien gedämpft ausgefallen, und dies nicht nur auf Seiten der Politiker, die von Amts wegen oftmals zu Kompromissen und diplomatischer Sprache verpflichtet sind. Enttäuschend sei vor allem die Reaktion vieler Schriftstellerkollegen gewesen; selbst im internationalen PEN habe man sich anfangs schwer damit getan, eindeutig Stellung zu beziehen. Dann allerdings hat man es entschieden getan; Susan Sontag, der damaligen Präsidentin des amerikanischen PEN-Zentrums, ist der Impetus für Solidaritätsaktionen in den USA wohl zu verdanken. Die britische Boulevardpresse hingegen rechnete ihrer Leserschaft vor, was der Personenschutz Rushdies die britischen Steuerzahler koste und kein Geringerer als der große John Le Carré sprach sich in einem Leserbrief gegen eine Veröffentlichung der Taschenbuchausgabe aus: Niemand habe „das gottgege15
Vgl. hier und im Folgenden Carlo Strenger, Zivilisierte Verachtung. Eine Anleitung zur Verteidigung unserer Freiheit, Berlin: Suhrkamp Verlag 2015.
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bene Recht, eine großartige Weltreligion zu beleidigen und dann ungestraft veröffentlicht zu werden“16. Ungestraft? Hat John Le Carré seine Worte, wie es ein Schriftsteller – zumal seines Formats – sollte, auf die Goldwaage gelegt? Wollte er wirklich die angedrohte Todesstrafe, vollzogen durch wen auch immer, der gerade Lust hat, zu töten und dabei en passant eine Million Dollar zu kassieren, wollte Le Carré dies, wenn nicht befürworten, so doch achselzuckend in Kauf nehmen als quasi logische Konsequenz? Hätte er mit derselben Verve, sagen wir, die britische Komiker-Gruppe Monty Python einer Fatwa preisgegeben, gegen deren Film „The Life of Brian“ zehn Jahre zuvor insbesondere christliche, aber auch jüdische Vereinigungen scharf protestiert hatten, weil sie ihre Gefühle verletzt sahen? Sie alle kennen sicher die Schlussszene des Films, in der die mit dem als Messias verehrten Titelhelden Brian Gekreuzigten sich am Kreuz ein Liedchen pfeifen: „Always Look on the Bright Side of Life“. Ich darf gestehen, auch für mich war das damals – 1979, ich war 24 Jahre alt – starker Tobak; ich musste erst einmal schlucken und tief durchatmen, bevor ich lachen konnte. Aber natürlich wäre ich niemals auf die Idee gekommen, die Todesstrafe für Monty Python zu fordern – und auch die protestierenden Gruppen beschränkten sich damals auf die Forderung nach Aufführungsverboten oder Boykott. „Die Idee der liberalen Demokratie und die Grundwerte der Aufklärung“, so Carlo Strenger, „können von dem Recht, intellektuelle Kritik zu üben und Satire zu veröffentlichen, nicht getrennt werden; dass dabei mitunter die Gefühle der Kritisierten verletzt werden, lässt sich nun mal nicht vermeiden ...“17
Auf den Punkt brachte es auch Zineb El Razhoui, die als Redakteurin der Satirezeitschrift Charlie Hebdo dem Anschlag auf ihre Redaktion am 7. Januar 2015 nur zufällig entkam, weil sie zu der Zeit in Marokko war. Es gebe wohl ein Recht auf freie Meinungsäußerung, sagte sie bei der Writers-in-PrisonTagung des internationalen PEN im Mai 2015 in Amsterdam; vom Recht darauf, sich nicht beleidigt zu fühlen, habe sie hingegen noch nie gehört. Was für ein Satz! (Muss ich übrigens erwähnen, dass man den Hörsaal, in dem Zineb El Razhoui sprach, nur nach strengen Sicherheitskontrollen betreten durfte? Bald nach dem Überfall auf ihre Redaktion hatte sie selbst Morddrohungen auf Twitter erhalten, Morddrohungen, die sich auch auf ihre Schwester und ihren Ehemann
16 17
Ebd., p. 24; vgl. auch Salman Rushdie, Joseph Anton. A Memoir, New York: Random House 2012, pp. 150 ff. u. 260 f. Ebd., p. 29.
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erstreckten; sie selbst spricht von einer Fatwa 2.0 und auch ihr Leben hat sich seitdem gründlich verändert.) Auch El Razhouis Kritik zielt auf die teils laschen, teils doppelzüngigen Reaktionen im Westen, auf solche Stimmen – sie wurden auch in meinem Umfeld laut, auch im deutschen PEN – man habe es bei Charlie Hebdo aber auch übertrieben, sei zu weit gegangen und habe die Ermordung quasi selbst provoziert, indem man eine unterdrückte Minderheit vorsätzlich kränkte usw. Für Zineb Razhoui stellt dieses Messen mit zweierlei Maß eine spezifische Form des Rassismus dar, wie sie insbesondere bei der Linken verbreitet sei. Man habe solche Angst davor, womöglich des Rassismus oder der Islamophobie bezichtigt zu werden, dass man die Unterdrückung und Misshandlung von Frauen und Kindern „bei den anderen“ (ʻamong the othersʼ) akzeptiere und sich lieber zurückhalte. Genau das aber sei Rassismus: „approving differential treatment“18. Die einzige Lebensform, die es ermögliche, dass Menschen in derselben Gesellschaft zusammenleben können, auch wenn sie verschieden sind, so Zineb Razhoui, sei der Säkularismus. Der Islam aber müsse lernen, sich dem Säkularismus unterzuordnen. Und außerdem müsse er einen Sinn für Humor entwickeln19. Die Schonung aus falsch verstandener Höflichkeit, vielleicht auch aus Feigheit, stellt aber nicht nur eine spezifische Form des Rassismus dar (schlimm genug!). Im Gewand der ʻPolitical Correctnessʼ, die es verbietet, andere Kulturen zu kritisieren, trägt sie letztlich auf fatale Weise zur Unterdrückung der Freiheit des Wortes bei. Diesen Zusammenhang hat Carlo Strenger in seinem bereits erwähnten Essay über „Zivilisierte Verachtung“ sehr gut aufgezeigt: Mit dem Insistieren auf der politischen Korrektheit sei ein fundamentales Prinzip der Aufklärung über Bord geworfen worden, „nämlich dass nichts und niemand über Kritik erhaben sein darf.“ Ich zitiere: „Die Ideologie der politischen Korrektheit stellt (...) eine groteske Verzerrung des aufklärerischen Toleranzprinzips dar. Dieses zielte darauf ab, das Individuum vor staatlichen oder kirchlichen Eingriffen in ihre Gewissens- oder Religionsfreiheit zu schützen; als Generalabsolution für alle religiösen, weltanschaulichen und kulturellen Praktiken war dieses Prinzip nie gedacht. Indem sie es jedoch in letzterem Sinne umgedeutet haben, haben sich viele Linke selbst entmachtet, denn: Wenn andere Kulturen nicht kritisiert werden dürfen, kann man die eigene nicht verteidigen.“20 18 19 20
Aften Posten, 2.4.2015, zit. n. https://en.wikipedia.org/wiki/Zineb_El_Rhazoui. Islam „needs to submit to secularism and it also needs to get a sense of humour“, zit. n. Woods, Allan (26.1.2015). „Charlie Hebdo journalist urges western resolve to fight religious fundamentalists“. The Star. Vgl. hier und im ff. Strenger, a.a.O., pp. 18 ff.
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Die Konsequenz sei die absurde Situation, „dass der vorgeblich tolerante, faire und für kulturelle Unterschiede sensibilisierte Westen selbst zum Opfer jener Intoleranz geworden ist, die mit der Idee der politischen Korrektheit bekämpft werden sollte. Das nenne ich ein phänomenales Eigentor.“ Muslimische Prediger und ultraorthodoxe Rabbiner, so Strenger, hätten schließlich „überhaupt kein Problem damit, den säkularen Liberalismus als leere, unmoralische und sinnlose Lebensform zu diffamieren“. Hingegen zeigten sie sich gegenüber Kritik an ihren Dogmen und Lebensformen höchst empfindlich und fänden nichts dabei, wenn ihre Anhänger darauf mit Gewalt reagierten. Und noch eine fatale Konsequenz hat uns die Doktrin der Political Correctness beschert: „Im Endeffekt läuft (es) darauf hinaus, dass die Verteidigung unserer Kultur an die politische Rechte outgesourct wird.“ Ich komme noch darauf zurück. An dieser Stelle darf ich Sie herzlich einladen, sich den 7. November vorzumerken. Dann werden wir in den Kammerspielen des Staatstheaters Darmstadt den diesjährigen Hermann-Kesten-Preis an den französischen Schriftsteller und Journalisten Philippe Lançon verleihen. Er überlebte den Angriff auf seine Redaktion Charlie Hebdo schwer verletzt. In seinem auch literarisch eindrucksvollen Buch „Der Fetzen“ hat er als Überlebender über den Anschlag geschrieben und sich gegen Zensur als „paranoide Form der Kritik“ gewandt: „Wir waren den effizientesten Zensoren zum Opfer gefallen, denen, die alles ausradieren, ohne eine einzige Zeile gelesen zu haben.“ Schreiben lässt sich bei Lançon als „Akt des Widerstandes begreifen, als ein ermutigendes Signal auch für andere Autoren, das jede Leserin, jeden Leser ergreift und tief bewegt. Seine Haltung der Selbstreflektion statt blindwütiger Empörung ist vorbildlich für uns alle“, so hat mein Kollege Ralf Nestmeyer es in unserer Presseerklärung formuliert21. Und wenn Sie es nicht einrichten können, nach Darmstadt zu kommen, so lesen Sie doch unbedingt Philippe Lancons kluges und bewegendes Buch. Das Land, das uns aufgrund gehäufter Akte von brutaler Selbstjustiz, die auf das Konto religiöser Terroristen gehen, besondere Sorgen bereitet, ist Bangladesch. Im April 2016 wurde der Universitätsprofessor Rezaul Karim Siddique auf dem Weg zur Arbeit von unbekannten Angreifern mit Macheten attackiert und getötet. Der Islamische Staat reklamierte die Tat für sich. Im November 21
https://www.pen-deutschland.de/de/2019/07/31/hermann-kesten-preis-an-philippelan-con/; Philippe Lançon: Der Fetzen. Aus dem Französischen von Nicola Denis, Stuttgart: Tropen 2019.
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2016 wurden acht Mitglieder einer verbotenen militanten islamistischen Gruppierung namens Jamaat-ul-Mujahideen mit dem Mord in Verbindung gebracht; drei von ihnen sind inzwischen tot. Auf der Case-list von PEN International firmiert der Fall unter den Stichworten: „Killed: Impunity“, also: Tötungsdelikt / Straflosigkeit. Die Ermordung Siddiques – er schrieb Gedichte und Kurzgeschichten und gab eine Literaturzeitschrift heraus – ist leider kein Einzelfall. Schon ein Jahr zuvor, im Februar 2015, wurde Avijit Roy, als er gemeinsam mit seiner Frau auf dem Rückweg von einer Buchmesse nahe der Universität von Dhaka war, von einer Gruppe mit Macheten bewaffneter Männer angegriffen. Er wurde getötet, seine Frau schwer verletzt. Da Roy, ein humanistischer Freidenker und Rationalist, neben der bengalischen auch die amerikanische Staatsbürgerschaft besaß, bot das FBI Unterstützung bei der Aufklärung des Mordes an. Es hat einige Verhaftungen gegeben; wir warten auf den Ausgang des Verfahrens. Ananta Bijoy Dash, ein Blogger und Herausgeber einer vierteljährlich erscheinenden Zeitschrift, der sich besonders mit den Themen Rationalismus, Atheismus und Naturwissenschaft, Schwerpunkt Biologie / Evolutionstheorie beschäftigte und sowohl den Islam als auch den Hinduismus kritisch analysierte, wurde am 12. Mai 2015 ebenfalls von einer maskierten Gang mit Macheten zu Tode gehackt. Besonders tragisch ist, dass Dash, der bekanntermaßen auf Todeslisten stand und sich versteckt hielt, bereits Anfang April eine Einladung des schwedischen PEN erhalten hatte. Leider aber verweigerte ihm die schwedische Botschaft (am 22. April) das Visum. Die Angst, dass uns, genauer gesagt unserer Schutzbefohlenen Arpita Roychoudhury ein ähnliches Schicksal widerfahren könnte, begleitete uns im deutschen PEN in der zweiten Jahreshälfte 2017. Da hatten wir der bengalischen Bloggerin einen Platz im Rahmen unseres Writers-in-Exile-Programms angeboten. Arpita Roychoudhury – ihr eigentlicher Name war Tomalika Singh, aber die bekennende Atheistin, die über die Diskriminierung von Frauen und Minderheiten schrieb, veröffentlichte ihre Texte unter Pseudonym. Trotz dieser Vorsichtsmaßnahme war sie in ihrer Heimat extrem gefährdet und musste sich 2016 nach schweren Gewalterfahrungen über ein Jahr lang in Indien versteckt halten. Im Sommer 2017 kehrte sie nur nach Dhaka / Bangladesch zurück, um das Visum für die Ausreise nach Deutschland zu beantragen. Seit August wartete sie und hofften wir darauf, dass die deutsche Botschaft in Dhaka ihr endlich das nötige Visum für Deutschland erteilen würde. Aber aus unerfindlichen Gründen warteten und bemühten wir uns zunächst vergeblich – während sie Todesdrohungen erhielt. Endlich konnten wir sie am 23. Dezember am Flughafen Tegel in Empfang nehmen – für uns damals ein
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Weihnachtsgeschenk. Ein Jahr lebte sie im Berliner Exil, eine zarte, aber doch auch couragiert und stark wirkende junge Frau, die uns alle bei unserer Jahrestagung 2018 in Göttingen, als wir einen Abend zu Bangladesch mit ihr und unserem anderen bengalischen Stipendiaten, Zobaen Sondhi, veranstalteten, nachhaltig beeindruckte. Umso mehr musste uns die Nachricht von ihrem Tod im Dezember 2018 erschüttern. Sie starb in ihrer Wohnung unter letztlich nicht ganz geklärten Umständen, allerdings konnte aufgrund der kriminalpolizeilichen und rechtsmedizinischen Untersuchungen ein Fremdverschulden klar ausgeschlossen werden. Dessen ungeachtet kursierte im Internet schnell die Behauptung, es handle sich um einen „religiös motivierten Mord“. Es war ekelhaft zu sehen, wie der Tod unserer Stipendiatin in manchen Foren sogleich politisch und ideologisch instrumentalisiert wurde; zugleich konnte man sich wundern, wie viele Menschen, denen es nicht um Hetze geht, trotzdem ebenfalls vorschnell irgendwelche Behauptungen und Falschmeldungen im Netz „teilten“. In Memoriam Arpita Roychoudhuri, sie lebte von 1995–2018, möchte ich sie selbst sprechen lassen: „Wie viele andere Menschen träumte auch ich von einem normalen Leben. Aber ich hatte nur die Wahl, entweder diesen Kampf weiterzukämpfen oder bis zu meinem Tod immer wieder unterdrückt und erniedrigt zu werden. Mein Leben, das ich mir so nicht gewünscht hatte, hat mich gezwungen, mutig zu sein.“
Vielleicht ist es überzogen und zu plakativ, von einer „staatlich tolerierten Selbstjustiz“ in Bangladesch zu sprechen. Es bleibt jedoch die alarmierende Tatsache, dass der bengalische Staat zu schwach ist – Korruption und Patronage sind die Stichworte, die hier zu nennen wären – um diese barbarischen Taten islamistisch motivierter Extremisten angemessen zu verfolgen. Eine ʻUnheilige Dreifaltigkeitʼ von Korruption, Gewalt und Straffreiheit existiert in Staaten wie Mexiko oder Honduras. Hier sind die Akteure der Staat, die organisierte Kriminalität und die Wirtschaft. Der frühere Präsident von PEN International, John Ralston Saul, fasste diesen Zusammenhang nach einer PEN-Mission nach Mexiko im Frühjahr 2015, bei der wir u.a. den Außenminister und andere hochrangige Politiker trafen, anschaulich zusammen: „Auf den ersten Blick ergibt es keinen Sinn. Was man sieht, ist eine hochgebildete Elite, eine bemerkenswerte Kultur. Wunderbare Kunst. Schöne Häuser, tolles Essen, Stil. (...) Hightech in Hülle und Fülle. Aber wenn man näher hinsieht, zeigt sich, dass Korruption ganz allmählich die gesamte Gesellschaft durchdringt. Das organisierte Verbrechen, politische Parteien, Polizeikräfte, Militär, Gerichtshöfe und Unternehmen sind irgendwie durch diese Korruption miteinander verwoben, was Gewalt möglich und Straffreiheit unvermeidbar macht. (...) Und mittendrin re-
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Regula Venske cken Schriftsteller ihre Köpfe in die Luft, schreiben etwas, sagen etwas und werden ermordet. Niemand wird angeklagt. Es gibt kaum Untersuchungen ...“22
Ist die Türkei das größte Gefängnis für Autoren und Journalisten weltweit, so ist Mexiko das gefährlichste Land für Medienschaffende. John Ralston Sauls Nachfolgerin als Präsidentin des internationalen PEN, die frühere Präsidentin des mexikanischen PEN Jennifer Clement, brachte es kurz und traurig auf den Punkt: „In Mexico, we donʼt have writers in prison. We have writers in graves.“ Sie sei eine „noch Lebende“, so sagte unsere ehemalige Writers-in-ExileStipendiatin Ana Lilia Pérez, eine der renommiertesten Reporterinnen Mexikos, bei einer Veranstaltung auf der Frankfurter Buchmesse 2013. Eine noch Lebende – sie war damals 37 Jahre alt. Ana Lilia Pérez, deren Themen die Korruption in ihrem Land, Geldwäsche und Menschenhandel, das organisierte Verbrechen und ganz besonders die heillose Verstrickung von Politikern und Wirtschaftsunternehmen mit der Mafia sind, war von Juli 2013 bis Juni 2014 unsere Stipendiatin. Dann kehrte sie nach Mexiko zurück, um ihre Arbeit dort fortzusetzen. Als ihr Buch „Kokainmeere. Die Wege des weltweiten Drogenhandels“ 2016 auch auf Deutsch erschien, erzählte sie im Spiegel-Interview, dass sie aus Sicherheitsgründen derzeit alle sechs Monate umziehe und es vielleicht noch öfter tun solle23. Auch sie ist einer der mutigen Menschen, vor denen ich mich mit Hochachtung verneige und die wir in unsere Fürbittengebete aufnehmen sollten. Sehr geehrte Damen und Herren, lassen Sie uns einen Moment innehalten – ich habe Sie, fürchte ich, mit Zahlen, Daten, Fakten und Lebensgeschichten ziemlich bombardiert. Danke, dass Sie mir bis hierhin gefolgt sind. Über drei verschiedene Akteure, Instanzen, Arten und Weisen, wie die Freiheit des Wortes unterdrückt, verfolgt, getötet wird, haben wir bislang gesprochen: -
Die Verfolgung durch staatliche Instanzen,
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die Verfolgung durch religiös-politisch motivierte Extremisten,
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die Verfolgung durch eine unheilige Allianz zwischen staatlichen Akteuren und der Wirtschaft / dem organisierten Verbrechen, woraus die ʻUnheilige Dreifaltigkeitʼ zwischen Korruption, Gewalt und Straflosigkeit resultiert.
Aber China, Bangladesch, Mexiko, selbst die Türkei – all dies ist doch vergleichsweise weit weg, auch wenn wir natürlich alle gemerkt haben, dass die 22 23
John Ralston Saul, „Die neue Optimierung des Autoritarismus“. Aus dem Englischen von Inga Wilhelm, in: Feuchert / Thill / Venske, a.a.O., pp. 9–16, hier p. 11. Pantheon Verlag 2016; http://www.spiegel.de/kultur/literatur/mexikanische-enthuellungsjournalistin-ana-lilia-perez-ueber-drogenkartelle-und-korruption-a-1090404.html.
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Einschläge näher rücken. Doch wie steht es um die Freiheit des Wortes in unserem Lande – in uns selbst? Wissen wir unsere Freiheit(en) zu schätzen? Nutzen wir sie? Verteidigen wir sie? Oder tragen wir, vielleicht ganz unbeabsichtigt und ohne es zu wollen, zu ihrer Einschränkung bei? „Die Meinungsfreiheit gilt absolut“, sagte ein Gesprächspartner zu mir bei einer Podiumsdiskussion. Das ist kernig formuliert und klingt natürlich gut. Aber stimmt es auch? Ein Blick in unser Strafgesetzbuch zeigt, dass es sehr wohl Einschränkungen gibt. Beleidigung, Verleumdung, Üble Nachrede sind Straftatbestände, die die Meinungsfreiheit einschränken und vermutlich denken die meisten von uns, zu recht. Dem internationen PEN gelten diese sogenannten „Defamation Laws“ hingegen als ʻschlafende Hundeʼ in den westlichen Demokratien. In autoritären Staaten dienen nämlich genau diese Straftatbestände, ich sagte es schon, dazu, unliebsame Journalisten, die etwa über die Korruption der politischen Klasse schreiben, hinter Gitter zu bringen. Die Causa Böhmermann hat uns, freilich auf etwas kuriose Weise, daran erinnert, dass auch wir noch obsolete Paragraphen in unserem Strafgesetzbuch haben (bzw. hatten), die an die Verschränkung von Thron und Altar in längst vergangenen Zeiten erinnern. Aber während wir in Deutschland noch darüber stritten, ob wir dieses Gedicht, das manche als geschmacklos empfanden, denn unbedingt verteidigen müssten, schrieb mir eine englische Kollegin: Darum gehe es doch! Gerade an ʻtrivialenʼ Werken zeige sich, wie es um die Meinungsfreiheit bestellt sei und wie ernst man es damit meine. Die Forderungen im internationalen PEN zielen demnach konsequent darauf ab, all diese Straftatbestände aus den Strafgesetzbüchern zu streichen und Verleumdung, Beleidigung usw. rein zivilrechtlich zu regeln – was die betroffenen Journalisten und ihre Verlage noch teuer genug zu stehen kommen kann. Auch der sogenannte ʻBlasphemieparagraphʼ wäre hier zu nennen, wenngleich jener § 166 des Strafgesetzbuches, der die „Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen“ zum Thema hat, im strengen Sinne nicht ʻBlasphemieʼ, sondern die Gefährdung des öffentlichen Friedens unter Strafe stellt. Während konservative Theologen wie der Bamberger Erzbischof Ludwig Schick, aber auch der Schriftsteller Martin Mosebach sogar noch eine Verschärfung dieses Paragraphen fordern, plädieren andere Stimmen in Politik und Gesellschaft wie auch der Justiz für dessen Abschaffung: Das Rechtsgut des ʻöffentlichen Friedensʼ werde bereits durch § 130 StGB zur ʻVolksverhetzungʼ geschützt.
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Regula Venske „Lasset alle Hoffnung fahren, ihr Salafisten, Jesuiten und Calvinisten, dies sei der Einstieg in die Rache Gottes auf Erden! Der öffentliche Friede ist ein durch und durch menschliches, soziales Rechtsgut. Er ist, wenn man es recht versteht, sogar ein Gut, welches die Absolutheit des Göttlichen in eine brutale Relativität des Sozialen auflöst: eine begriffliche Quintessenz der Aufklärung.“
So der Strafrechtswissenschaftler Thomas Fischer, ehemaliger Vorsitzender Richter des 2. Strafsenats des Bundesgerichtshofs und Verfasser eines jährlich überarbeiteten Standard-Kurzkommentars zum Strafgesetzbuch. Und weiter: „Wenn man sogenannte Religionsbeschimpfung auf ihren rationalen (und für uns daher überhaupt nur akzeptablen) Kern zurückführt, so handelt es sich um nicht mehr als eine spezielle Art der sogenannten ʻVolksverhetzungʼ.“
Nach dem § 130 des Strafgesetzbuchs (ʻVolksverhetzungʼ) wird unter anderem bestraft, wer zu Hass oder Gewalt gegen ʻTeile der Bevölkerungʼ aufruft. Das kann jede abgrenzbare, durch bestimmte Eigenschaften verbundene Gruppe der inländischen Bevölkerung sein, wenn sie ausreichend bestimmt ist: ʻdie Juden in Deutschlandʼ, ʻdie Schwulenʼ, ʻdie Asylbewerberʼ und zahllose andere. Selbstverständlich auch ʻdie Katholikenʼ, ʻdie Muslimeʼ, ʻdie Buddhistenʼ in Deutschland. Religionszugehörigkeit, Berufszugehörigkeit, Wohnort und vieles andere sind im Sinne von § 130 StGB Eigenschaften, die „Teile der ʻBevölkerungʼ kennzeichnen können. Wenn religiöse Gruppen oder Weltanschauungsgemeinschaften aber in diesem Umfang vom Strafrecht ohnehin geschützt sind, bedarf es keines privilegierten Religionsschutzes mehr.“ Mir erscheint dies sehr plausibel – und übrigens bringt § 166 einen in arge argumentatorische Nöte, wenn man z.B. mit sich religiös legitimierenden Vertretern etwa aus dem Iran diskutiert. „Warum kritisiert ihr uns – bei euch ist es doch auch verboten“, heißt es dann. Der Straftatbestand der Volksverhetzung ist in besonderer Weise der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts geschuldet. Das Unverständnis, auf das ich insbesondere bei Kollegen treffe, die im angelsächsischen Rechtssystem sozialisiert worden sind, wenn ich mit ihnen darüber diskutiere, ist für mich eine der besonderen Herausforderungen in internationalen Diskussionen über die Meinungs- und Pressefreiheit. So haben manche internationalen Kollegen, darunter auch eine britische Nachfahrin deutsch-polnischer Juden, offenbar keine Probleme damit, selbst einen David Irving und dessen Auschwitzlüge zu verteidigen. Für sie rangiert das auf derselben Ebene wie die Behauptung, dass die Erde eine Scheibe sei, und sie sehen die größere Bedrohung in einer Kultur, in der eine hohe Bereitschaft existiert, sich andauernd gekränkt und beleidigt zu fühlen. Aber auch im internationalen PEN sieht man die Meinungsfreiheit nicht absolut wie sich in der Charta von PEN International spiegelt. Darin verpflichten
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sich die Mitglieder nicht nur „jeder Art der Unterdrückung der freien Meinungsäußerung“ entgegenzutreten, sondern auch, „mit äußerster Kraft für die Bekämpfung jedweder Form von Hass“ – wie Rassen-, Klassen- und Völkerhass sowie Hass aufgrund des Geschlechtes oder der sexuellen Orientierung – „und für das Ideal einer einigen Welt und einer in Frieden lebenden Menschheit zu wirken.“ Die Freiheit der Meinungsäußerung, die Freiheit der Kunst bedeuten eben keinen Freibrief für Hass und Hetze, sondern sind – wie jede Freiheit – ohne Verantwortung nicht zu denken. Diese Dialektik, ja, die Widersprüche zwischen diesen beiden Polen – Freiheit einerseits, Verantwortung und also auch (Selbst-)Beschränkung andererseits – gilt es immer wieder auszuloten und zu hinterfragen. Ich denke, die Widersprüche gehen mitten durch uns hindurch. 2018 feierten wir im deutschen PEN besonders und gedachten der 70 Jahre zurückliegenden Neugründung des „P.E.N.-Centrum Deutschlands“ nach dem Zweiten Weltkrieg 1948 in Göttingen. Zu den 20 (international bestätigten) Gründungsmitgliedern zählten Autoren aus Ost und West, auch Rückkehrer aus der Emigration; u.a. waren dabei Johannes R. Becher, Axel Eggebrecht, Hans Henny Jahnn, Erich Kästner, Hermann Kasack, Elisabeth Langgässer, Theodor Plievier, Anna Seghers, Dolf Sternberger und Günter Weisenborn; seiner „Göttinger Kantate“ entnahmen wir unser Tagungsmotto für Göttingen: „Denken Sie Ihre Gedanken zu Ende!“ In der Präambel des Gründungsprotokolls betonten die Versammelten damals die besondere Verpflichtung deutscher Autoren, Antisemitismus zu bekämpfen. Auch der Aufruf zu Friedenspolitik lag ihnen – „Im Zeitalter der Atombombe“ und „kaum drei Jahre nach Beendigung des letzten Völkermordens“ – besonders am Herzen und sie verpflichteten sich, „gegen jede Völkerverhetzung und für die Völkerverständigung zu wirken, für die Achtung alles dessen, was Menschenantlitz trägt“24. Dass diesen Mahnungen 70 Jahre später immer noch und wieder traurige Aktualität eignet, erfüllt mit Scham und Zorn. Wie gehen wir um mit den allerorten wieder erstarkenden Menschenverächtern, den Nationalisten, rassistischen Hetzern und Provokateuren finsterer Mächte? Sollen wir „mit Rechten reden“, damit die Feinde der Demokratie 24
Siehe hierzu den Beitrag nebst Anhängen von Christina Malende, Nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft. Wiederbegründung und Teilung des deutschen PEN als Folge des Kalten Krieges (1946–1951), in: Dorothée Bores / Sven Hanuschek (Hrsg.): Handbuch PEN. Geschichte und Gegenwart der deutschsprachigen PENZentren, 2014, pp. 168–222.
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sich selbst entlarven und wir sie quasi in diskursiver Umarmung elegant kaltstellen können? Oder entlarven wir uns selbst – im besten Fall als hoffnungslos altmodisch, im schlimmsten Fall in den Augen mancher als intolerant –, wenn wir nach wie vor einem kämpferischen – parteilichen – Toleranzbegriff anhängen, wie wir ihn vor Jahren bei Herbert Marcuse lernten? „Das Telos der Toleranz ist Wahrheit“, schrieb Marcuse 1965 in seinem Essay über „Repressive Toleranz“: „Zur Wahrheit gehört wesentlich die Anerkennung des erschreckenden Ausmaßes, in dem Geschichte von den Siegern gemacht und für sie aufgezeichnet wurde...“
Geschichte, von den Siegern gemacht und für sie aufgezeichnet: Auch deshalb habe ich hier die Lebenswege einiger verfolgter und drangsalierter Autorinnen und Autoren exemplarisch beleuchtet. Sie alle haben für ihre – unterdrückte – Wahrheit gekämpft und gelitten. Wenn es uns gelingt, hierfür Öffentlichkeit herzustellen, waren ihre Opfer nicht vergeblich – und für inhaftierte Kollegen ist es ein Signal der Ermutigung: „Ihr seid nicht vergessen!“ Wie steht es aber um die Freiheit des Wortes hierzulande? „Wir haben in Deutschland im Jahr 2018 mindestens 22 gewalttätige Angriffe auf Journalisten gezählt, im Vorjahr waren es 16. Das ist im Vergleich zu Mexiko natürlich lächerlich, aber bei dieser Diskussion ist ein ʻWehret den Anfängenʼ wichtig.“
So äußerte sich der Geschäftsführer der deutschen Sektion von Reporter ohne Grenzen gestern Morgen im Interview mit der Süddeutschen Zeitung. Und weiter: „Vor dem Aufkommen von Pegida hatten wir solche Zahlen nicht. Und noch eines muss man dabei deutlich machen: Es gibt auch linke Gewalt wie rund um den G-20-Gipfel in Hamburg gegen Medienvertreter, aber in der Summe haben wir vor allem eine Zunahme rechter Angriffe auf Journalistinnen und Journalisten zu verzeichnen.“25
Einer Studie des European Centre for Press & Media Freedom in Leipzig zufolge besteht in der Tat ein klarer Zusammenhang zwischen dem Erstarken rechtspopulistischer Bewegungen wie etwa Pegida und der Zunahme von Angriffen auf Journalisten etwa im Kontext rechtsgerichteter Demonstrationen. So gingen im Jahr 2016 18 von 19 Angriffen auf das Konto rechter Demonstranten, 2015 waren es sogar 41 von 43 tätlichen Übergriffen26. Dies ist keineswegs hinnehmbar. Wir haben deshalb auf dem 84. internationalen PEN-Kongress, der vom 25.–29. September 2018 in Pune stattfand, eine 25 26
Interview am Morgen: Pressefreiheit, Juri Auel im Gespräch mit Christian Mihr: https://www.sueddeutsche.de/medien/pressefreiheit-deutschland-reporter-1.4596872?fbclid. www.ecpmf.eu.
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Resolution dazu eingebracht, die Sie auf der Webseite des internationalen PEN nachlesen können27. Diese Angriffe auf Journalisten und die sogenannte ʻLügenpresseʼ gehen uns alle an, sie richten sich gegen die Grundfesten unserer Demokratie. Auch hier haben wir es mit dem Paradox zu tun, dass sich ausgerechnet diejenigen auf die Meinungsfreiheit berufen und für sich natürlich das Recht auf Versammlungsfreiheit und freie Meinungsäußerung in Anspruch nehmen, die diese Freiheiten anderen nicht zugestehen und sie als erstes abschaffen würden – oder abschaffen werden, wenn wir ihnen nicht Einhalt gebieten. Die Pressefreiheit sowie die damit einhergehende Informationsfreiheit respektieren diese Gruppierungen ganz offensichtlich nicht. Es ist an der Zeit, noch einmal auf Carlo Strengers Anleitung zur Verteidigung unserer Freiheit: „Zivilisierte Verachtung“ zurückzukommen. Strenger – Philosoph und Existenzialpsychologe – definiert zivilisierte Verachtung als eine „Haltung, aus der heraus Menschen Glaubenssätze, Verhaltensweisen und Wertsetzungen verachten dürfen oder gar sollen, wenn sie diese aus substanziellen Gründen für irrational, unmoralisch, inkohärent oder unmenschlich halten.“
Die Verachtung muss sich allerdings gegen die Meinungen richten und nicht gegen die Menschen, die sie vertreten: „Zivilisierte Verachtung ist die Fähigkeit, zu verachten, ohne zu hassen oder zu dehumanisieren. Das ist das Prinzip der Menschlichkeit“28. Eine Kultur der zivilisierten Verachtung beruhe allerdings auf Selbstdisziplin, der Notwendigkeit, sich zu informieren und sich auf der Grundlage von Fakten – nicht Emotionen oder Stimmungen – eine Meinung zu bilden: „Zivilisierte Verachtung ist dann angebracht, wenn Menschen sich diesen Anforderungen entziehen, weil sie es bequemer finden, Tatsachenbehauptungen zu akzeptieren, die zu ihren emotionalen oder weltanschaulichen Präferenzen passen (...). Eine solche Tendenz zur kognitiven Verzerrung ist in allen Lagern zu finden.“29
Ich gebe zu, ich habe mit dem Begriff der ʻVerachtungʼ Probleme und neige dazu, ihn durch ʻKritikʼ oder auch ʻAblehnungʼ zu ersetzen. Dennoch lege ich Ihnen Carlo Strengers ʻAnleitung zur Verteidigung unserer Freiheitʼ wärmstens ans Herz. Sein Konzept kann einen Kompass geben in allen Diskussionen,
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In-session resolution on attacks against Journalists and the rise of xenophobia in Germany, https://pen-international.org/defending-free-expression/policy-advocacy/resolutions-2018-pune. Strenger, a.a.O., p. 21. Ebd., p. 51.
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bei denen man es mit extremistischen oder fundamentalistischen Richtungen zu tun hat. Meine Damen und Herren, nun ist die Zeit schon weit fortgeschritten und noch nichts gesagt habe ich zur Bedrohung der Freiheit des Wortes durch die Internetgiganten, die sogenannte GAFA-Connection: Google, Apple, Facebook und Amazon; nichts zur großen, weltweiten Überwachungsmaschinerie, nichts zum umstrittenen Netz-DG, dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz, nichts zu den Trollfabriken in St. Petersburg und anderswo, die uns mit ʻFakenewsʼ bombardieren; hier ist das Wort einmal angebracht, man kann aber auch ganz altmodisch von Propaganda sprechen. Nichts habe ich gesagt zum Zusammenhang zwischen Aufklärung und Urheberrecht – auch dieses ja ein Resultat der Aufklärung – und darüber, wie es im Zeitalter des Internets so gestaltet werden kann, dass Autoren und Urheberinnen nicht weiter in grandiosem Stil enteignet werden, nichts zum Thema der ʻZensurʼ durch Marktmechanismen. Die Liste ließe sich noch fortsetzen – aber eh uns schwindlig wird vor der Fülle der Themen, die sich unter dem Rubrum „Freiheit des Wortes“ auftun, lassen Sie uns lieber gemeinsam eine Verabredung treffen: Dass wir uns da, wo es nötig ist, stark machen werden für die Freiheit des Wortes – und für die Verantwortung, die mit dieser Freiheit einhergeht. Wir alle können etwas bewirken, jede und jeder einzelne von uns. Dabei wünsche ich uns allen gutes Gelingen sowie stets die nötige Portion Heiterkeit und Gelassenheit.
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Mustafa Temmuz Oğlakcıoğlu
Im Netz ist alles erlaubt I. Hinführung Sehr geehrte Damen und Herren, bei einem ersten gespannten Blick auf das Programm mag sie meine Themenstellung – Im Netz ist alles erlaubt – etwas irritiert haben. Was haben Fragen erlaubter, verbotener oder gar strafbarer Verhaltensweisen im Internet mit „Literatur“ als Oberbegriff dieser Fachtagung zu tun? Nun, die Antwort dieser Frage steckt bereits in den bisherigen Vorträgen: Das „Kulturgut Buch“ ist vom Aussterben bedroht, dem Medium Internet wird hierfür zumindest eine Mitschuld gegeben. Umgekehrt kann im world wide web eine jener „blühenden Landschaften“ mit großem Potential gesehen werden, die es zu fördern gilt. Im Netz ist alles möglich. Das Publizieren der eigenen Biographie (vielleicht in Form aneinandergereihter Bilder von der letzten Abu Dhabi-Reise), das Abfassen eines Rechtsblogs, das Kundtun der politischen Meinung, das Betreiben investigativen Journalismus. Literatur 2.0 ist schon längst keine Randerscheinung des Literaturbetriebs mehr, Literatur mit „Online-Ursprüngen“ findet sogar den Weg zurück zum Buchdruck, man denke an die Bierdeckelgeschichten, die sich erst aus dem 140-Zeichen-Twitter-Format herausentwickelten. Oğlakcıoğlu war erleichtert. Sein Vortrag zur Schuldfähigkeit im Thüringer Landtag kam an. Als er das Podium verließ, klatschten die Roboter frenetisch weiter. Florian Meimberg hatte ja für derartige Tiny Tales 2010 den Grimme Online Award erhalten. Das ist die Sonnenseite der Literatur 2.0 und zugegebenermaßen auch die naheliegendere Assoziation, welche der Begriff „Internet“ beim Literaten auszulösen vermag. Ich will ihnen heute die andere, unangenehme Seite der Online-Literatur näherbringen, freilich ausgehend von einem weiten Begriffsverständnis der Literatur, welches alle mündlich oder schriftlich fixierten, sprachlichen Zeugnisse erfasst. Und damit können Sie – auch in Anbe-
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tracht der ketzerischen Formulierung des Themas – bereits vermuten, worum es im Folgenden gehen wird. Schließlich sind en vogue Begrifflichkeiten angesprochen, an denen keine neuere geisteswissenschaftliche Abhandlung vorbeikommt, die das Internet zum Gegenstand hat. Hatespeech. Wir durchleben im Zeitalter des Web 2.0 die Etablierung einer vollständig neuen, zum „analogen“ Gespräch parallel verlaufenden Kommunikationskultur: Befreit von den Maulkörben der Gesellschaft. Keine Tabus, keine Moral. Und jeder, der es vernehmen will, vernimmt es. Das Individuum kann falsche Tatsachen verbreiten, es kann gegen Juden, Muslime und Christen hetzen, kann Prominente und Spitzenpolitiker diffamieren, und kann kompromittierendes Bildmaterial vom Nachbarn, vom Schuldirektor oder vom Bundespräsidenten veröffentlichen. Im Folgenden werden wir uns mit diesen Schattenseiten des Internets näher beschäftigen, also mit jenem berüchtigten „rechtsfreien“ Raum, in dem sich das Grundrecht der Meinungsfreiheit (Art. 5 I GG) in ein anarchisches, faktisch schrankenlos gewährleistetes Recht auf „alles sagen zu dürfen, was man will“ umzuwandeln scheint. Dass die Wendung „im Netz ist alles erlaubt“ nicht als Befund gewählt wurde, dürfte trivial anmuten. Umso mehr muss überraschen, dass derart häufig darauf hingewiesen wird, dass das Internet kein rechtsfreier Raum sei. Die Überschrift gibt also ein anscheinend bestehendes Empfinden der Internetnutzer wider, was sich darin manifestiert, dass man im Netz tagtäglich mit Äußerungen konfrontiert wird, die der Nutzer im echten Leben wohl nicht zu tätigen wagte. Die damit verbundenen subjektiven Rechtsverletzungen sind nicht das einzige Problem: Nicht selten droht auch eine Beeinträchtigung des gesellschaftlichen Klimas durch Hetze, aber auch durch Falschmeldungen eben zum Zweck der Manipulierung öffentlicher Meinungsbildung. Welche Antworten stellt unsere Rechtsordnung auf derartige Rechtsverletzungen und gesellschaftsgefährdende Verhaltensweisen bereit? Und was sind die Ursachen dafür, dass Floskeln wie „im Internet ist alles erlaubt“ überhaupt existieren, mithin das Internet also doch – zumindest partiell – als rechtsfrei empfunden wird? Diese Fragen sollen im Folgenden beantwortet werden, wobei nach einer kurzen begrifflichen Einordnung von Hatespeech, Straftatbestände dargestellt werden, welche bei den unterschiedlichen Erscheinungsformen von Hatespeech einschlägig sein könnten. Anhand der prominentesten Straftatbestände in diesem Kontext, namentlich der Beleidigung einerseits, der Volksverhetzung andererseits werden dann die materiell-rechtlichen wie auch rechtstatsächlichen Schwierigkeiten der strafrechtlichen Verfolgung von Hatespeech im Internet illustriert. In einem letzten Schritt wird das aktuelle Bestre-
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ben des Gesetzgebers beleuchtet, in Form des NetzDG dem Phänomen beizukommen. Dabei beschränkt sich der Vortrag auf das Phänomen „Hatespeech“, während die strafrechtliche Erfassung von „Fakenews“ ausgeblendet wird, auch diese nicht selten dieselbe Zweckrichtung aufweisen bzw. zur Untermauerung oder Vorbereitung von Hatespeech dienen. Ihre Abhandlung würde hier den Rahmen sprengen, da die Reaktion auf Fakenews gänzlich andere Fragen aufwirft – namentlich auch diejenige, ob die „Wahrheit“ reguliert, geschützt werden kann bzw. überhaupt schützenswert ist.
II. Strafrechtliche Einordnung von Hatespeech Wenn man sich der Frage annähern will, inwiefern das geltende Recht, insbesondere das Strafrecht das Phänomen Hatespeech erfasst, ergibt es Sinn, zunächst den Begriff selbst zu definieren.
1. Begriffsdefinition Schnell wird man merken, dass in der allgemeinen Debatte der Begriff „Hatespeech“ weniger der wissenschaftlich-präzisen Einordnung dient, denn als aufgeladenes Schlagwort fungiert, mit dem bestimmte Äußerungen aus dem politischen Diskurs als indiskutabel ausgegrenzt werden sollen. In der Sache also vergleichbar wäre eine gleichsam harte Ausgrenzung von Hatespeech aus dem Literaturbegriff im engeren Sinne, ich greife das aufgrund meines (inzwischen vielleicht krampfhaft anmutenden) Versuchs auf, den Bezug zwischen Internet – Strafrecht – und Literatur herzustellen. Eine rechtliche Definition findet sich in der deutschen Rechtsordnung nicht, was schon im Hinblick darauf, dass es sich um einen Anglizismus handelt nicht überraschen darf. Verwendet wird der Begriff im Europarecht, genauer durch den Europarat, um ablehnungswürdige und vom Schutzbereich der durch die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) ausgeschlossene Aussagen zu charakterisieren. Demnach handele es sich bei Hatespeech um jede Form von Äußerung, die Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus oder andere Formen von auf Intoleranz basierendem Hass rechtfertigt oder befördert. In der Sprachwissenschaft diskutiert man darüber, was sprachlich „Hass äußern“ bedeutet, von welcher Perspektive dies zu ermitteln ist und inwiefern formulierter und empfundener Hass auseinanderfallen können. Ganz ähnlich tauchen diese Fragen in der Rechtswissenschaft wieder auf, allerdings erst im Kontext potentiell einschlägiger Strafdelikte.
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Die Definition kann bei der Suche nach einschlägigen Delikten behilflich sein. Versteht man nämlich Hatespeech als eine besondere Form der Äußerung mit letztlich feindseligem bzw. menschenfeindlichen Charakter, muss ein „Delikt“ bzw. ein Verbot, dass dieses Phänomen – soweit es mit den Mitteln eines Verbots unterbunden werden soll – so beschaffen sein, dass es die (feindselige und wohl auch feindselig gemeinte) Äußerung als solche verbietet.
2. Überblick und Systematik Tatsächlich enthält das deutsche Recht zahlreiche solcher „Sprachverbote“, die allein an die Behauptung einer Tatsache oder den Ausspruch eines Werturteils oder einer Haltung anknüpfen. Soweit diese Verbote im StGB verortet, also durch das Strafrecht aufgestellt werden, ist auch von Äußerungsdelikten die Rede. Das Eintippen und Abgeben eines Statements, sei es als „Status“, sei es als „Tweet“ oder auch nur als Kommentar bzw. Retweet ist dann die Kundgabe als universelle Tathandlung derartiger Delikte (auch wenn der Begriff der Kundgabe nicht als „Tathandlung“ auftaucht, da die Art der Kundgabe meist bereits verbal präzisiert wird, um damit das Unrecht der Tat zu konturieren. Ganz einfach zur Veranschaulichung: Es heißt ja nicht: „Wer eine Beleidigung kundgibt“, sondern „Die Beleidigung wird bestraft“). Damit ist zugleich gesagt: Ob und ggfls. welchen Tatbestand die jeweilige Äußerung erfüllt, hängt von ihrem Inhalt ab. Bezieht sie sich auf eine ganz konkrete Person, kommen Delikte in Betracht, die Einzelinteressen schützen, während bei allgemein gehaltenen, nichtsdestotrotz „hetzerischen“, menschenfeindlichen Aussagen auch über individuelle Interessen, nämlich das „friedliche Miteinander“ betroffen sein können. Daher macht es auch Sinn, derartige Verbote nach ihren Schutzrichtungen zu kategorisieren. Zunächst existieren sprachliche Verbote, die ausschließlich Individualinteressen (insbesondere Ehre und Entscheidungsfreiheit) schützen. Das bekannteste Äußerungsdelikt dürfte insofern die Beleidigung darstellen, welche Angriffe auf die Ehre des Individuums unter Strafe stellt. Auch nur die Person, namentlich deren Psyche und Entschließungsfreiheit schützt die Bedrohung gem. § 241 StGB, durch die neuerlichen Modifikation des § 238 StGB lässt sich nunmehr auch die Nachstellung zu den Äußerungsdelikten zählen. Die Legitimation derartiger Delikte ergibt sich daraus, dass der Täter mit seiner Äußerung eine Einzelperson in ihren rechtlich geschützten Interessen unmittelbar angreift. Im Falle der Beleidigung wird die Strafverfolgung allerdings auch in die Disposition des Opfers gestellt, es handelt sich um ein absolutes Antragsdelikt. Freilich muss die Äußerung eine bestimmte „rechtsgutsverletzende“ Qualität haben, im Falle der Beleidigung muss sie eben ehrverletzend sein.
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Gerade diese Überprüfung kann aber – wie sich noch zeigen wird – besondere Schwierigkeiten bereiten. Schließlich gibt es Verbote, die bloße Äußerungen ohne eine bestimmte Angriffsrichtung erfassen. Meist handelt es sich dabei um Delikte, welche die Aufrechterhaltung des status quo der öffentlichen Sicherheit und Ordnung bezwecken. Hierzu zählen etwa die Volksverhetzung gem. § 130 StGB, die Anleitung zu (noch im Vagen bleibenden) Straftaten gem. §§ 91, 130a StGB, die Gewaltdarstellung gem. § 131 StGB, die Beschimpfung von Bekenntnissen gem. § 166 StGB, aber auch verbotene Werbung (für den Drogenkonsum gem. § 29 Abs. 1 Nr. 8 BtMG oder für den Abbruch der Schwangerschaft gem. § 219a StGB). Diese strafrechtlichen Verbote betreffen Äußerungen mit „Bekenntnischarakter“, die wir in unserer Rechtsgemeinschaft „nicht hören wollen“. Sie enthalten eine mehr oder minder starke Aufforderung zu verbotenem und sogar strafbarem Verhalten, aber eben keinen für eine Erfassung als Teilnahme hinreichend konkreten Straftatbezug. Es scheint also auf nahezu jede denkbare Form von Hatespeech, eine passende Strafnorm zu geben und in Anbetracht der tangierten Belange erscheint dies auch nachvollziehbar. Die vergleichsweise schwache Ausprägung und v.a. die Interpretationsabhängigkeit der bloßen Äußerung, die gerade keinen konkreten Erfolgsbezug hat und – wie alle Sprechakte – ihre Bedeutung nicht unmittelbar in sich selbst tragen kann, sondern immer mehr oder minder stark „im Auge des Betrachters“ liegt, macht sie aber zugleich problematisch. Äußerungsdelikte sind – soweit sie eben auch öffentliche Belange schützen sollen – Instrumente eines wehrhaften Rechtsstaats und einer wehrhaften Demokratie, laufen aber zugleich Gefahr, die für eine Demokratie nötigen und vom Rechtsstaat zu schützenden Freiheit und Pluralität unverhältnismäßig einzuschränken. Sie stehen in unausweichlichen Konflikten insbesondere zu Meinungs-, Glaubensund Gewissensfreiheit (Art. 4, 5 GG). Einige dieser Delikte sind „politisch aufgeladen“ und das ist auch wegen des damit verbundenen hohen Maßes an Unbestimmtheit unabhängig davon problematisch, wie widerwärtig die inkriminierte Haltung sein mag und wie begrüßenswert ihre Bekämpfung im gesellschaftlichen und politischen Diskurs. Die in solchen Delikten enthaltenen „einschränkenden“ Voraussetzungen, dass z.B. die Äußerung „geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören“, liefern die Anwendung der Vorschriften in besonderem Maße Wandlungen des Zeitgeistes aus.
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III. Problematik der strafrechtlichen Erfassung von Hatespeech am Beispiel der Tatbestände der Beleidigung und Volksverhetzung Speziell anhand der zentralen Tatbestände der Beleidigung einerseits und der Volksverhetzung andererseits, will ich dies näher illustrieren:
1. Beleidigung Der Straftatbestand des § 185 StGB lässt sich kurz und bündig auf die Aussage „Die Beleidigung wird bestraft“ konzentrieren. Dieser knappe Normbefehl birgt freilich zahlreiche und spezifische Streitfragen: Sind auch Kollektive (wie juristische Personen) vom Ehrschutz erfasst? Wann bezieht sich eine Beleidigung überhaupt auf das Kollektiv als solches, wann auf einzelne oder alle Mitglieder einer klar umgrenzten Gruppe, wann nur vage auf eine strafrechtlich so nicht schutzfähige unspezifische Personenmehrheit? Gewährt § 185 StGB auch postmortalen Ehrschutz? Muss der potenziell Beleidigte die Äußerung akustisch wahrgenommen haben, muss er sie auch inhaltlich nachvollziehen können („Du hässliches, dummes, türkisches Baby“)? Wie weit reichen „beleidigungsfreie Sphären“, die einen offenen Gedankenaustausch innerhalb besonderer Vertrauensbeziehungen gestatten? All diese Fragestellungen können bei einzelnen Posts, Kommentaren und privaten Chats auf sozialen Netzwerken ebenso eine Rolle spielen. Ihre Behandlung im Einzelnen braucht an dieser Stelle nicht dargestellt zu werden; vielmehr sollte lediglich demonstriert werden, welche rechtlichen Fragen sich im Kontext einer potentiellen Beleidigung stellen können. Geht man beispielweise davon aus, dass die Beleidigung unter einer Kollektivbezeichnung nur unter engen Voraussetzungen angenommen werden kann, ist es den Nutzern möglich, beleidigende Inhalte in eine „allgemein“ diffamierende Äußerung zu verpacken (Alle Feuerwehrmänner in Bayern sind Versager). Übrigens erfasst gerade der Tatbestand der Volksverhetzung – zumindest partiell – die in diesem Kontext entstehenden Lücken, knüpft aber hierfür auch noch an weitere, qualitativ nicht vergleichbare Voraussetzungen, Sie werden es gleich sehen.
a) Kundgabe der Nicht- und Missachtung Und Ihnen ist es sicherlich aufgefallen: Es wurde noch nicht einmal die zentrale Frage aufgeworfen, wann überhaupt eine Beleidigung – häufig nochmals umschrieben als Kundgabe der Nicht- oder Missachtung – anzunehmen ist. Dies muss wiederum durch Auslegung der jeweiligen Äußerung ermittelt
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werden, wobei den Begleitumständen der Äußerung und dem Sprachgebrauch der jeweiligen Bevölkerungsgruppe besondere Bedeutung zukommt. Im Kontext der Social-Media-Kommunikationskultur womöglich also auch der veränderte Sprachgebrauch (man denke an allgemeine Höflichkeitsregeln, Syntax, Grammatik etc., „Hallo i bims ein Habilitant vong Niceigkeit her“). Jedenfalls lassen diese Grundsätze Strafgerichten und Verfolgungsbehörden erheblichen Interpretationsspielraum. Solange keine Formalbeleidigung vorliegt, der Täter das Opfer also insbesondere nicht mit Kraftausdrücken belegt, wird von den genannten Faktoren auch abhängen, ob eine Äußerung überhaupt als „böswillig“ (und vorsätzlich) angesehen wird. Denn das Gericht kann dem Täter ja nicht „in den Kopf sehen“, sondern muss Indizien würdigen. Zu durchaus wesentlichen Aspekten „korrekter“ bzw. maßgeblicher Interpretation bestehen dabei weder gesetzliche Vorgaben – noch Einigkeit in Rechtsprechung oder Lehre. In der Praxis führt das regelmäßig zu „Gesamtbetrachtungen“ ohne besondere Methode. Nicht einmal die Perspektive, aus der die Bedeutung zu bestimmen ist, ist geklärt. Ein Beispiel für daraus folgende Probleme liefern Bezeichnungen, die nach den Wertungen unserer Rechtsordnung neutral sind, vom Täter aber u.U. pejorativ verwendet werden (z.B. „Du bist doch homosexuell!“, „Du bist ja behindert!“). Auf Basis der in Rechtsprechung und Lehre verbreiteten vagen Vorstellung einer „der Äußerung innewohnenden“ und durch Interpretation „objektiv zu ermittelnden“ Bedeutung würde die Einordnung von derlei Attributionen als Beleidigung voraussetzen, dass man die jeweiligen Eigenschaften in diskriminierender Weise als „minderwertig“ einordnet (was gegen Art. 3 GG verstieße). Bei genauerer Betrachtung ist allerdings auch zu berücksichtigen, dass Diskriminierungsverbote gerade deshalb sinnvoll sind, „weil in der Bevölkerung die Abweichungen zwischen dem Regelfall der sexuellen Ausrichtung usw. und der Minderheit verbreitet als beachtlich betrachtet wird“, sprachliche Bedeutung und rechtliche Wertvorgaben also auseinanderfallen. Anders ausgedrückt: Der Sprecher und nicht unbedingt auch der den Sprecher Verurteilende begibt sich in einen Konflikt mit dem Gleichheitssatz. Die Schwierigkeiten der Auslegung potenzieren sich, sobald die Aussage einen „meinungspolitischen“, künstlerischen oder gesellschaftskritischen Bezug aufweist. Strafrecht und Strafprozessrecht sind nicht selten „geronnenes Verfassungsrecht“. Die Dogmatik der Beleidigungsdelikte ist indes keineswegs in größerem Detail ausgearbeitet als die betreffenden Grundrechte, vielmehr müssen diese grundsätzlich sub specie der verfassungsrechtlichen Garantien, insbesondere aus Art. 5 GG (Meinungs- und Kunstfreiheit) angewendet werden. Und dieser gebietet für Zweifelsfälle zwischen der Herabwürdigung einer
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Person und aktiver politische Teilhabe, sachbezogener (wenn auch u.U. drastischer) Kritik bzw. Kunstform eine Auslegung in einem der letzteren Sinne. Das war nur ein kurzer Einblick in die Tiefen des Beleidigungstatbestands.
b) Rechtstatsächliche Schwierigkeiten bei der strafrechtlichen Verfolgung Diese Unwägbarkeiten bereits im Kontext der Beleidigung mögen erklären, dass trotz zigtausendfacher Verstöße gegen § 185 StGB am Tag, statistisch (jedenfalls bis dato) kein merklicher Anstieg der Verurteilung wegen Beleidigungsdelikten zu verzeichnen ist. Die Mechanismen des Marktes scheinen einen Rückgriff auf das Strafrecht auch insoweit durchaus entbehrlich zu machen. Man darf auch nicht aus den Augen verlieren, dass es sich bei § 185 StGB um ein absolutes Antragsdelikt handelt: Der Internetnutzer hat es also in der Hand, ob es zu einer Strafverfolgung kommt. In den auslegungsbedürftigen Fällen wird per se ein Antragshemmnis bestehen, sei es weil man die Aussage nicht als Beleidigung bzw. an sich adressiert empfindet, sei es weil sich der Erklärende hinter Mehrdeutigkeiten oder in einen vorgeblich scherzhaften / süffisanten Ton versteckt und derjenige, der sich angegriffen fühlt selbst davon ausgeht, dass das für eine Beleidigung nicht ausreicht. Selbst in den eindeutig gelagerten Fällen der Formalbeleidigung wird das Anzeigeverhalten aufgrund unterschiedlicher Faktoren gehemmt. Teils wird schlicht und einfach zurückbeleidigt (und das genügt dann für die eigene Genugtuung), teils gibt der „Klügere nach“. Partiell dürfte einem die Anstrengung eines Strafverfahrens zu aufwendig sein, häufig wird auch die Anonymität im Internet (auch im Hinblick auf die Zurückverfolgung des Beleidigenden) – jedenfalls vom Nutzer – überschätzt, soweit es sich um einen „undurchsichtigen“ Account handelt. In solch einem Fall mag der ein oder andere Nutzer aber auch schlicht dazu geneigt sein, seinen Feind in der digitalen Welt belassen zu wollen. Wollen Sie sich mit dieser Person anlegen bzw. abgeben?
2. Volksverhetzung und sonstige Delikte gegen die öffentliche Sicherheit Noch größere Schwierigkeiten bringt indessen die Deutung der Delikte gegen die öffentliche Sicherheit bzw. der „allgemeinen Hass- und Hetzdelikte“, u.a. die bereits genannte Volksverhetzung. Ich habe drei dieser Delikte nebeneinander an die Wand geworfen, damit man sieht, dass sich diese Delikte in ihrer
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Struktur ähneln und man insofern auch erahnen kann, dass sie hinsichtlich ihrer Verfolgung auch ähnliche Schwierigkeiten aufwerfen. Die Bezugsobjekte – hier grün markiert – mögen relativ leicht ausgemacht werden können (Gruppen, Einzelne der Gruppe, rechtswidrige Taten, religiöse Bekenntnisse), etwa Özoguz als Deutschtürkin im Hinblick auf ihre ethnische Herkunft. Die Probleme beginnen aber bereits bei den Tathandlungen: Alle drei Tatbestände knüpfen an eine qualifizierte Form der Kundgabe (hier rot markiert), also Aufstacheln bzw. Auffordern, Billigen sowie Beschimpfen. Bereits hier stellen sich selbstverständlich ähnliche Auslegungsprobleme wie im Kontext des Beleidigungstatbestands. Die Interpretation einer Aussage als volksverhetzend ist nicht selten von den eigenen Wahrnehmungen, politischen Einstellung, Weltanschauung und Erfahrungen durchtränkt. Für das Mitglied einer privilegierten Gruppe kann es u.U. an der Empathie für die diskriminierte Gruppe schlicht fehlen, umgekehrt kann sich aufgrund einer grundsätzlichen Diskriminierung eine Übersensibilisierung beim einzelnen Adressaten entwickeln, der nun neutrale Aussagen (und zwar auch in der überwiegenden Meinung der betroffenen Gruppe) als herabwürdigend empfindet. Zum Teil nimmt sich der Erklärende diskriminierende Aussagen als Teil dieser Gruppe gerade gegenüber der Gruppe selbst heraus. Gerade im Bereich der Politik und öffentlichen Meinungsbildung wird in diesen Zeiten häufiger auf das weniger elegante Stilmittel der Polemik zurückgegriffen, um damit auch Volksnähe zu signalisieren. Klare Kante. Die Abgrenzung zwischen noch zulässiger Polemik und dem Aufstacheln zum Hass wird dann wiederum dem Rechtsanwender überlassen, der darüber hinaus – und damit bin ich beim letzten – universellen Merkmal darüber zu befinden hat, ob die Aussage geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören. Die in erläuternden Kommentaren zu findende Umschreibung des Begriffs, wird hier selten weiterhelfen. Demnach ist eine Tat geeignet, den öffentlichen Frieden zu stören, wenn sie nach Art und Inhalt der tatbestandserheblichen Äußerung sowie den sonstigen relevanten konkreten Umständen des Falles derart beschaffen ist, dass bei einer Gesamtwürdigung die Besorgnis gerechtfertigt ist, es werde zu einer Friedensstörung kommen. Die höchstrichterliche Rechtsprechung kann dem Rechtsanwender (und auch dem Rechtsadressaten) hier nur Kriterien für die vorzunehmende Eignungsprüfung geben, sowie den Inhalt und Intensität des Angriffs, Empfänglichkeit der Öffentlichkeit für die betreffenden Angriffe, latent bestehende Gewaltpotentiale, aber v.a. auch die Breitenwirkung der fraglichen Äußerung. Diese normativen Einfallstore für den Einzelfall legitimieren erst die Delikte als solches, weil sie auch eine differenzierte Behandlung von Äußerungen im
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Internet (oder im Rahmen einer politischen Rede) ermöglichen. Andererseits lassen sie gerade die Anwendung der Straftatbestände im Einzelfall als komplex erscheinen und erschweren auch tatsächlich die Verfolgung derartiger Delikte. Dies wiegt vor dem Hintergrund der ohnehin bestehenden allgemeinen Schwierigkeiten der Strafverfolgung am Tatort Internet besonders schwer. Ich erinnere an die grundsätzliche Überforderung der Strafjustiz bei massenhafter Deliktsbegehung. Probleme des Anwendungsbereichs nationalen Strafrechts treten hinzu. (Beispiel: Kommt das deutsche Strafrecht zur Anwendung, wenn Kim Kardashian ein pornographisches Bild von sich auf Instagram postet, das in Deutschland wie überall sonst auf der Welt abrufbar ist, sonst aber keinen besonderen Inlandsbezug aufweist?) Diese rechtstatsächlichen Schwierigkeiten führen aus dem Blickwinkel der Legitimation des Äußerungsverbots, spezifisch meine ich nun die Hetzdelikte, zu einem Teufelskreis. Denn sie machen die Delikte anfällig für eine Funktionalisierung, also eine Anwendung nach Opportunitätsgesichtspunkten. Ich hatte es angedeutet: dass von den tausenden volksverhetzungsverdächtigen Inhalten auf Facebook und Co, nur einem Bruchteil nachgegangen wird, hat selbstverständlich auch mit den Ressourcen der Strafverfolgung zutun, aber eben auch mit der Person des Äußernden und deren Followeranzahl. Obwohl der Tatbestand keine bestimmte Reichweite voraussetzt, mag man dann eben dazu geneigt sein, die Störung des öffentlichen Friedens – zumindest faktisch – erst ab einer bestimmten Reichweite anzunehmen. Derartige Unwägbarkeiten, werden durch die echte Opportunität im Strafprozessrecht potenziert, also durch die Möglichkeit, das Strafverfahren bei Vergehen ohne hoher Straferwartung einzustellen. Dem Rechtslaien sind dann die Unterschiede im Einzelfall bzw. eine unterschiedliche Behandlung augenscheinlich vergleichbarer Fälle in ihrer Gesamtheit kaum (jedenfalls nicht in 140 Zeichen) vermittelbar. Man nehme etwa die vertretbare Subsumtion der Redewendung „Entsorgen“ im jeweiligen Einzelfall unter den § 130 StGB durch einen Bundesrichter. Juristen können nun darüber – freilich auf hohem Niveau – fachsimpeln, ob die jeweiligen Tatbestandsmerkmale erfüllt sind. Der Laie nimmt sich dies allerdings ebenfalls heraus, was dann eine Destabilisierung des Normbefehls zur Folge hat. Von „enttäuschten“ Normadressaten, die von einer Ungleichbehandlung ausgehen, werden jene Unwägbarkeiten funktionalisiert und zur Bekräftigung ihres Standpunkts (namentlich, es läge jedenfalls eine Ungleichbehandlung vor) herangezogen. Self fulfilling Prophecy sei hier ein weiteres Stichwort, das im Kontext der Social-Media-Kommunikationskultur m.E. noch zu selten fällt.
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IV. Rechtsdurchsetzung In einem letzten Punkt will ich dann noch auf diejenigen Fälle eingehen, in denen sich eine angegriffene Person dann doch zur Beschreitung des Rechtswegs „durchringen“ kann. Hier sieht er sich dann mit dem Problem der Rechtsdurchsetzung (etwa des Anspruchs auf Löschung beleidigender Inhalte) in sozialen Netzwerken konfrontiert. Freilich betrifft diese Problematik Beleidigung und Hatespeech im Übrigen gleichermaßen. Zwar sind Betreiber von Social-Media-Plattformen gem. § 10 TMG für rechtswidrige Inhalte „verantwortlich“, wenn sie ihnen bekannt sind und sie nicht „unverzüglich tätig“ geworden sind (d.h. Provider müssen beleidigende Inhalte löschen und können andernfalls zivilrechtlich zur Verantwortung gezogen werden). Doch vergeht bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung u.U. viel Zeit, währenddessen die Äußerung in der (virtuellen) Welt bleibt und von anderen geteilt und „geliked“ werden kann. Mit dem am 30. Juni 2017 in Kraft getretenen NetzDG hat der Gesetzgeber auf diese unbefriedigende Situation reagiert und eine originäre Rechtspflicht (und nicht lediglich aus drohenden Schadensersatzansprüchen entstehende faktische Pflicht) zur Löschung von beleidigenden oder volksverhetzenden Inhalten geschaffen, die auch ordnungswidrigkeitenrechtlich flankiert wird. Nach § 2 NetzDG müssen die Betreiber sozialer Netzwerke die im Kalenderjahr mehr als 100 Beschwerden über rechtswidrige Inhalte erhalten, halbjährlich einen deutschsprachigen Bericht über den Umgang mit Beschwerden über rechtswidrige Inhalte zu erstellen und im Bundesanzeiger sowie auf der eigenen Homepage binnen eines Monats nach Ende des Halbjahres zu veröffentlichen. Die diskussionsträchtige Hauptpflicht des NetzDG findet sich hingegen in § 3 Abs. 1 NetzDG, namentlich die Schaffung eines für Nutzer zugänglichen Beschwerde-Management-Systems, in dem gewährleistet ist, dass der Anbieter des sozialen Netzwerks unverzüglich von der Beschwerde Kenntnis nimmt und prüft, ob der in der Beschwerde gemeldete Inhalt rechtswidrig und zu entfernen oder zu sperren ist. Nach § 3 II Nr. 2 NetzDG ist sicherzustellen, dass offensichtlich rechtswidrige Inhalte innerhalb von 24 Stunden, sonst rechtswidrige Inhalte in der Regel innerhalb von sieben Tagen entfernt oder gesperrt werden. Anders als vom ursprünglichen Entwurf vorgesehen, knüpft der Ordnungswidrigkeitentatbestand ausschließlich an „Organisationsverschulden“, also an das fehlende Betreiben des Systems, nicht an „fehlerhafte Löschungen“. Der Vortrag hat nicht die Zweck- und Verfassungsmäßigkeit des NetzDG zum Gegenstand, daher will ich mich an dieser Stelle kurzhalten.
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Es dürfte im Rahmen meiner Ausführungen deutlich geworden sein, dass die Antwort auf die Frage der Deliktsverwirklichung mehrere Auslegungsprozesse durchläuft, deren Ergebnis auch von der Person des Interpretierenden abhängig ist. Und gerade aus diesem Grund – und nicht weil man Hausjuristen keine ebenso gute Auslegung zutraut, wie einem ehemals vorsitzenden Richter des Zweiten Strafsenats – waren die Bedenken, die Verantwortung umzuschichten bzw. zumindest auch auf die privaten Institutionen zu verteilen, berechtigt. Eine per se „strenge“ Handhabung der im NetzDG aufgestellte Maßstäbe wäre mit der aufgesetzten „Compliance-Brille“ nicht nur nachvollziehbar, sondern aus Sicht des Normadressaten sogar zwingend; die Gefahr eines Overblockings also einer pflichtgemäßen Umsetzung der vom NetzDG statutierten Pflichten gerade immanent. Das Problem an der Quelle anpacken zu wollen, zeigt legislativ guten Willen, kann aber die verfassungsrechtlichen Bedenken einer Erodierung der „Meinungsfreiheit“ durch die Flucht ins Privatrecht nicht ausräumen. Sie wurden durch den Umstand, dass an der falschen Entscheidung zumindest kein Bußgeld hängt, aber wesentlich abgemildert.
V. Fazit Ich komme zum Fazit. Ein Blick auf das geltende Recht macht deutlich, dass das materielle Strafrecht zahlreiche Delikte bereitstellt, welche die verschiedensten Ausprägungen des Hatespeech erfassen, beginnend bei Individualbeeinträchtigungen durch Ehrverletzungen und Bedrohungen hin zu allgemein hetzerischen Aussagen. Während in den klaren Beleidigungsfällen das Anzeigeverhalten und die typischen Verfolgungsschwierigkeiten im Internet die Strafverfolgungspraxis bestimmen, treten hinsichtlich der reinen Hassdelikte wie Volksverhetzung, Bekenntnisbeschimpfung usw. weitere Auslegungsschwierigkeiten gerade hinsichtlich ihrer unrechtskonturierenden Merkmale hinzu, wobei eine als „ungleich“ postulierte Behandlung von augenscheinlich vergleichbaren Äußerungen den Normbefehl destabilisiert. Was in diesem Vortrag vollkommen wurde, ist die kriminalpolitische Grundsatzfrage der Regulierung der Sprache: Was soll gesagt werden dürfen? Die Art und Weise unserer Kommunikation gestern, heute und morgen betreffen letztlich die Zweckmäßigkeit einer Regulierung von Sprechakten. Erst wenn geklärt ist, ob eine Regulierung von Sprache gewollt sein kann und unter welchen Voraussetzungen ein Sprachverbot überhaupt regulierend wirkt, kann über die strafrechtstheoretische und verfassungsrechtliche Legitimität von Äußerungsdelikten nachgedacht werden. Die Lösungsansätze, die Differenzierungskriterien und die maßgeblichen Faktoren finden sich nicht im Strafrecht,
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sondern in anderen geisteswissenschaftlichen und empirischen Disziplinen, namentlich in der Kommunikationswissenschaft und Sozialpsychologie von heute. Sollte sich tatsächlich eine neue Kommunikationskultur herausgebildet haben, muss man sich die Frage stellen, wie die Rechtsordnung hierauf zu reagieren hat, inwiefern die geltenden Sprechverbote legitim und zweckmäßig sind und auf welche Weise Verstöße gegen diese zu sanktionieren ist. Dabei sind auch gesellschaftsphilosophische Grundsatzfragen angesprochen: Braucht die Rechtsgemeinschaft einen Archetypen des „guten Bürgers“ und manifestiert sich in Sprechverboten ein „Feindstrafrecht“ des kleinen Mannes? Vermeiden wir den Klassenkampf, indem wir den Menschen unterbinden, ihre (freien) Gedanken nach außen zu tragen? Zensieren wir oder unterbinden wir die tausendfache Affirmierung (durch Likes und Retweets) von Gedankengut, das in einer wehrhaften Demokratie keinen Platz hat? Dies sind nur einige Fragen, die aber doch erahnen lassen, welch fundamentales Potential bereits minimale Formen der Regulierung von Sprechakten in sich tragen.
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Recht, Bild, Sprache Ich möchte Sie mitnehmen an den Schreibtisch eines Fernsehredakteurs. Bitte stellen Sie sich ein ganz normales Büro vor, ein oder zwei Computerbildschirme mit der normalen Software, die Sie auch so kennen. Es geht darum, der Redakteur hat einen Auftrag bekommen. Machen Sie doch mal bitte einen Film über Versicherungen. Ein Ratgeber-Format, also zum Beispiel... Worauf muss man bei einer Scheidung achten, wie geht man da mit dem Thema Versicherung um? Jetzt bitte mal kurz innehalten. Sie wollen also das Thema Versicherung illustrieren. Bloß – wie macht man das? Versicherungen kann man nicht anfassen. Sie haben keine Farbe, man kann sie nicht streicheln, man kann nichts riechen, gar nichts. Natürlich gibt’s den Vertrag aus Papier oder am Bildschirm. Aber setzen Sie das mal mit der Kamera ins Bild. Da schalten alle Zuschauer sofort um oder wechseln zu einem anderen Youtube-Video, das ist sterbenslangweilig, so ein Papier im Bild. Mehr als drei Sekunden hält das niemand aus. Also bitte: Wie macht man Versicherungen sichtbar? Vielleicht noch der Ordner. Oder das Versicherungsgebäude. Aber Versicherungsgebäude sind in der Regel auch nicht besonders attraktiv. Langweilig. Und das Bild sagt auch nicht viel aus. Zuschauer sind schnell überfordert, sie können schlecht abstrahieren, weil so viele Reize auf sie einstürzen. Deswegen gibt es ganz schlichte handwerkliche Regeln im Fernsehen: Das Bild spricht eine stärkere Sprache als der Text. Will ich etwas vermitteln, achte ich vor allem auf das Bild. Mache ich dabei Fehler, nützt mir der schönste Text nichts. Schnell gibt es eine so genannten „TextBild-Schere“, das heißt, Bild und Text gehen auseinander, das Bild sagt etwas anderes als der Text. Und da ist die Medienwissenschaft ganz unbarmherzig: Sie sagt. Ganz klar folgen Zuschauer dem Bild und nicht dem Text. Also Vorrang hat das Bild. Beim Bild gebe Dir Mühe. Also, zurück zur Versicherung. Haben Sie inzwischen eine Idee, wie Sie das Thema Versicherung bebildern wollen? Vielleicht Mann und Frau, die sich über ihre Versicherungen unterhalten am Tisch.
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Ich sage Ihnen eines: Die Zuschauer merken sich Mann und Frau. Unterhaltung. Sie merken sich eher sommerliche Atmosphäre. Aber die Versicherung bleibt weiter ein unsichtbares Gespenst. Man könnte durch die Grafikabteilung irgendwelche Blasen auf das Bild aufmalen, Blasen, die die beiden Personen verbinden und die dann, wegen der Scheidung sich in zwei getrennte Blasen aufspalten. Im Zweifel, wenn der Mensch auf dem Sofa auch noch sein Handy bedient (der Fachausdruck ist „Second Screen“, haben Sie vielleicht schon gehört, dass sehr viele Menschen mittlerweile in ihrem Wohnzimmer zwei Bildschirme gleichzeitig betreiben), im Zweifel bekommt der Zuschauer nicht mit, was die Blase repräsentiert. Jetzt könnte man darüber nachdenken, den Charakter der Versicherung zu illustrieren. Haftpflichtversicherung z.B.: also einblenden, wie die Frau aus Versehen mit dem Fahrrad ein Auto beschädigt. Die Zuschauer sehen Unfall. Sie sehen nicht: Entschädigung, Ausgleich, Geld dafür. Wenn ich dann nämlich anfange, den Versicherungsmitarbeiter zu zeigen, die einen Überweisungsträger ausfüllt, hat das auch wieder etwas von Holzhammer. Zumal es vermutlich nicht der Wirklichkeit entspricht. In der Wirklichkeit wird der Mitarbeiter am Computer sitzen und dort irgendwelche Software ausfüllen, womit die Überweisung beim Geldinstitut angewiesen ist. Auch das ist ein extrem undankbares, weil uninteressantes Bild. Da könnte man jetzt auch wieder das Bürobild vom Anfang zeigen. Und die Katze beißt sich in den Schwanz. Sie haben das Gefühl, die Aufgabe ist unlösbar? Richtig so. Das ist mein vorrangiges Ziel, bei Ihnen Mitleid auszulösen. Mitleid mit den Journalisten, die das Recht bebildern müssen. Recht bedeutet vorrangig abstrakte geistige Konstruktionen, und das macht keinen Spaß, geistige Vorgänge zu bebildern. Ich habe immer die Sportkollegen beneidet, die können den Ball, das Tor und den Fußball zeigen, wie der Ball ins Tor fliegt. Niemand braucht eine Erläuterung. Jeder versteht: Hier wurde ein Tor erzielt. Oder Reisereportagen. Das können Sie bestimmt sofort nachvollziehen: Bei einer Reisereportage passiert etwas im Bild, da rauscht das Meer, die Sonne geht unter, Seevögel fliegen, vielleicht schwimmt auch ein Delphin vorbei. Dieser Journalismus ist ganz leicht. Unserer dagegen schwer. Es gibt eine ständige Diskussion unter meinen Journalistenkollegen, wie erkläre ich am besten? Wie sieht eine geschmackvolle und unaufdringliche Berichterstattung aus, die Menschen wirklich informiert, so dass die Information hängen bleibt? Sie werden es vielleicht auch schon etwas gemerkt haben, die
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Tendenz geht zur Grafik. Wir sehen uns mal eine an: #kurzerklärt, auf tagesschau.de, kommt auch öfter im linearen Programm: https://www.tagesschau.de/faktenfinder/kurzerklaert/parteispenden-115.html
Welche Regeln gelten für Parteispenden? Was ist aus meiner Sicht gelungen an diesem Video? Was nicht? Die Spendenbüchse am Anfang. Auch wenn Sie gerade bügeln sollten, vielleicht denken Sie zuerst an Spenden für Tiere, aber die Aufkleber sind ja dann schön eindeutig. Nett auch das rythmische Klappern, die Büchse und die Bundestagskuppel. Das Thema wird schnell sinnlich erfahrbar. Dann reicht jemand Geld, verstärkt mit Grafik rechts. Dann der Scheck, allerdings mit akustischem Signal „Kasse“ – finde ich verwirrend. Ebenso, als der Koffer zugeworfen wird. Ich stelle mir gleich die Frage – vielleicht geht es Ihnen auch so: Passen da überhaupt 50.000 Euro rein? Oder umgekehrt: Ist der Koffer nicht zu groß? 50 1000er Scheine, dafür braucht man doch keinen Koffer. Und während ich das denke, bin ich schon mit meiner Aufmerksamkeit weggeglitten. Weiter geht’s: Wieder akustisches Signal, als Martin Schmidt auf eine Spalte drückt – völlig unlogisch für mich, weil es das Geräusch in Wirklichkeit ja ganz bestimmt nicht macht. Aber Sie sehen: Das ist eine aktuelle Mode, es muss immer Geräusche geben. Die Sehgewohnheiten der Menschen sind von der Comicwelt sehr beeinflusst. Warum es dann so gewaltsam rauscht, als Mensch und Unternehmen auf die Hände fallen, erschließt sich mir auch nicht. Wenn es so schwer ist, was herunterfällt, dann müssten die Hände ja deutlich mehr nach unten gedrückt werden. Überhaupt steht der Autor des Films etwas künstlich da – Geschmacksfrage. Der Hintergrund ist ganz schlicht, die Gestaltung bewusst reduziert – damit kann ich persönlich aber leben, ich finde das eher angenehm. Aber es ist die Frage, ob der Zeitgeist dabeibleibt, ob das nicht in zehn Jahren ganz anders gesehen wird… „Im Parteiengesetz gibt es auch Verbote…“ Das finde ich etwas dämlich getextet. Sechs Worte, ohne besonderen künstlerischen Anspruch. Aha. Da gibt es auch Verbote. Warum jetzt dieser Punkt? Aber der schlichte Satz hat seinen Grund. Ich habe in meiner journalistischen Ausbildung mal gelernt: Menschen, die nicht studiert haben, verstehen nur Sätze mit maximal sieben Worten. (Warnhinweis: Das gibt es alles medienwissenschaftlich belegt, aber ich will Ihnen hier keinen wissenschaftlichen Vortrag halten, sondern einen handwerklichen, so wie im journalistischen Alltag gedacht und gesprochen wird, unter Kollegen.)
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Gut, jetzt noch das Stück zu Ende gesehen, Kritik ist ja gut, wenn die am Schluss auch noch vorkommt, das obligatorische Akkordeon, wenn es um Frankreich geht, finde ich persönlich etwas abgedroschen. Dass der Autor nun auch im französischen Parlament sitzt, ist ein kleiner Gag, kann aber auch ablenken. Also, Sie sehen, man kann viel rummäkeln. Vielleicht nehmen Sie es einfach als Beleg dafür, dass wir intern wirklich viel überlegen, wie kann man erklären, was ist den Menschen zumutbar? Wovon haben sie am ehesten etwas? Zum Beleg, dass es doch eine kulturelle Entwicklung gibt, einen Fortschritt, zeige ich Ihnen jetzt noch mal einen anderen Film, einen, den ich 1995 für den ARD Ratgeber Recht gemacht habe. Sie werden feststellen. Es ist knapp 25 Jahre her, und damals war die Erklärwissenschaft noch auf einem anderen Stand, hatte auch einen anderen Geschmack. Vermutlich geht es Ihnen so wie mir, man ist gerührt. Über das langsame Tempo, über die altmodische Kleidung, über die Sparsamkeit der Mittel (gelbe Aufkleber). Und es gibt einen ganz klassischen Fehler, eine große TextBildschere. Haben Sie sie bemerkt? Richtig: Das Geld hochwerfen. Ein viel zu intensives Bild, das die Gedanken wegführt, sie ablenkt. („Wie viel Geld wird da hochgeworfen? Was passiert, wenn es im Garten weggeblasen wird? so viel Geld hat doch niemand bar rumliegen? So ein Luftikus ist doch eher sympathisch…“).
Ich weiß nicht, ob es Ihnen aufgefallen ist, wir reden die ganze Zeit über Sprache, allerdings über eine spezielle Gattung, die Bildsprache. Das ist etwas, was mir an meinem Beruf immer wieder Spaß macht – darüber nachzudenken, welche Sprache ich verwenden sollte, um meine Empfänger zu erreichen. Und die Bildsprache hat es in sich, sie ist sehr basal. Wir kommen nicht umhin, das zur Kenntnis zu nehmen. Das ist kein akademisches Verstehen, kein besonders intellektueller Vorgang, da geht’s um Gefühle. Ich sehe etwas, ordne das ein und entwickele ein Verhältnis dazu. Da gibt es z.B. im Journalismus die Faustregel: Mann vor Büchern – Reflex zum Umschalten. Ich vermute, dass es Ihnen nicht so geht. Aber die Medienwissenschaft hat das angeblich festgestellt, ich kenne die Untersuchungen nicht, weiß nur, was man sich unter Kollegen zuraunt: Experte vor Büchern – lass das sein. Das langweilt die Leute, und – ich weiß nicht, ob das wissenschaftlich festgestellt wurde: Aber es kann auch sein, dass Mann vor Büchern Angst macht. Ein fremdes Wesen, so ein Wichtigtuer, der sich mit Geschriebenem auskennt.
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Es gibt auch – etwas harmloser – den Rat, eine Sache eher draußen spielen zu lassen als drinnen. Auch dazu kenne ich keine Untersuchung konkret, aber den deutlichen Rat von erfahrenen Kollegen, wenn etwas draußen spielt, bleiben die Menschen eher dabei. Hier zeigt sich endgültig, wie basal die Kommunikationsvorgänge bei der Bildsprache sind. Die Wahrnehmung funktioniert schnell und lässt sich kaum steuern. Bei der Berichterstattung über das Recht sind das alles zusätzliche Hürden. Wie häufig brauche ich eine Expertin oder einen Experten. Natürlich bin ich schnell dabei, den vor ein Bücherregal zu platzieren. Und eine Aufnahme im Grünen bietet sich an, wenn es um Rechte der Spaziergänger im Wald geht. Aber sobald es um Inkasso oder Steuerrecht geht, gibt es wenige Gründe, draußen zu drehen. Wir leben bei der Berichterstattung über das Recht in einem Zwiespalt. Wir müssen seriös sein, aber wir langweilen schnell. Das heißt, wir müssen so sinnlich werden wie möglich, um im Konkurrenzkampf mit den anderen Themen überhaupt wahrgenommen zu werden, aber wir dürfen unsere Glaubwürdigkeit nicht verlieren. Fragt sich, wie emotional wir werden dürfen. Natürlich dürfen wir offiziell überhaupt nicht emotional werden. Wir machen sachliche Berichte über das Recht und da ist doch gar kein Platz für Emotionen, oder? Ich zeige Ihnen einen Tagesschau-Bericht, den ich 2014 über eine Entscheidung des EuGH gemacht habe. https://www.tagesschau.de/multimedia/sendung/ts-3370.html
Da ging es um verpflichtende Sprachtests für Türken, die in die EU einreisen wollen. Und ich zeige Ihnen zunächst den Text, damit Sie eine Vorstellung davon bekommen, wie kurz die Texte sind, die im Fernsehen gesendet werden. Dieser Beitrag ist genau anderthalb Minuten lang, wurde in der Ausgabe um 20 Uhr gesendet. Anderthalb Minuten sind lang. Typischerweise sind die Tagesschau-Texte eigentlich nur 1 Minute und 20 Sekunden lang. Also, wenn die Faustregel gilt: 15 Zeilen sind eine Minute Text (im Fernsehen spricht man eher langsamer), dann wissen Sie, wie wenig Zeilen das sind. 1.30 ist da schon lang. Sie sehen hier, ich habe extra Pfeile an den Rand gemacht, damit Sie die einzelnen Bausteine klarer voneinander unterscheiden können:
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Grün heißt Einstieg, hier geht es um Appetit machen, auf den Tag beziehen, tatsächlich konnte ich Bilder von draußen verwenden und auch solche mit Sonnenlicht. Das war schon mal schön. Und dann kommt braun, einen Abschnitt, den ich betiteln möchte mit: Herr X hat ein Problem. Hier geht es um einen Sprachstudent, der von der Mühe berichtet, nach Deutschland zu kommen, weil die Kurse teuer sind. Dann – roter Pfeil – es wird emotional, ein sehr kritischer O-Ton, der Missstand wird sehr deutlich beschrieben. Dann erst geht es um das Urteil, blauer Pfeil, nur zwei Sätze, um das Urteil und seine Begründung wieder zu geben. Kürzer geht es kaum. Und dann, gelb, was das für die Zukunft heißt. Sie spüren hoffentlich meine Frustration: Das Ganze ist so kurz, dass es schmerzt. Aber ich habe schon 10 Sekunden mehr als gewöhnlich bekommen. Es wird um jede Sekunde gerungen. Liefere ich fünf Sekunden zu viel ab, werde ich gerügt. Natürlich: Denn wenn die Sendung nicht länger als 15 Minuten sein darf, können die Macher der Sendung in die Bredouille kommen, wenn jeder Beitrag fünf Sekunden zu lang ist, dann überziehen sie am Ende eine Minute und bekommen ihrerseits Ärger. So, jetzt sehen wir mal den Beitrag als Fernsehbeitrag. Sie haben die verschiedenen Bestandteile wiedererkannt? Sie können sich vorstellen, dass man nicht viel Spielraum hat. Oft ist ein großes Ärgernis, dass man O-Töne bekommt, die nicht zum Thema, zum Konzept passen. Gerade bei
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Juristen gibt es sehr häufig viele Substantivierungen, in dem Bemühen möglichst vollständig zu sein, macht der Interviewpartner zu viele Nebensätze, das Ganze wird uferlos. Oft macht man die Interviews auch nicht selbst. Andere Kollegen fahren los, weil sie örtlich näher dran sind, und befragen den O-TonGeber. Und dann hängt es sehr davon ab, wie eingelesen die sind, oder auch wie motiviert die sind. Oder auch wie gründlich sie nachhaken. Hier in diesem Beispiel sind beide O-Ton-Geber entschieden, sie haben eine klare Position, sie sind verständlich, „schikanös“ ist ein sehr deutliches Wort, kann einem nicht gefallen. Aber man versteht den Vorsitzenden der Türkischen Gemeinde, die Botschaft kommt an. Bei diesem Film zeigt sich allerdings, wie wenig Platz wir haben. Wir können gestalten durch die Auswahl der Interviewten. Ansonsten können wir oft nur gestalten durch eine sehr bewusste Wortwahl. Ich kommentiere nicht, denn es ist nicht meine Aufgabe zu kommentieren. Ich soll ja nur berichten. Aber, Sie haben alle schon davon gehört. Vom „Framing“. Welche Worte ich benutze, wie aufgeladen diese sind und wie ich damit Assoziationen weitergebe, bestimmte politische Ideen transportiere, darüber muss ich mir im Klaren sein. Es ist mir fast unangenehm, hier noch einmal darauf hinzuweisen, denn ich vermute, dass Sie alle schon mal darüber nachgedacht haben, es also Selbstverständlichkeiten sind. „Asylflut“, „volles Boot“, „Ansturm auf Europa“, Flüchtlingswelle – das macht die Menschen zu Gegenständen. Beschwört die Urgewalten, den Verlust an Steuerbarkeit. Oder in der Kriminalitätsberichterstattung der „Clan.“ Ganz klar, das ist ein Unheil, das von außerhalb kommt. Man könnte auch von einer kriminellen Bande sprechen, auch weil z.B. nicht alle Mitglieder einer Familie (Kleinkinder, Großeltern) tatsächlich kriminell sind. Aber Clan ist so schön griffig. Oder auch das Wort „Opfer“. „Das Opfer war verletzt.“ Mann, Frau, Kind? Problem: Der Betroffene wird weiter geschädigt, er war nicht nur Objekt von Gewalt oder Diskriminierung. Schnell ist auch die Assoziation Hilflosigkeit oder Versagen mit dabei. Es gibt viele Beispiele, viele Themen, in vielen Bereichen, und ich will nicht behaupten, dass ich das immer richtig mache. Ich will hier an dieser Stelle gestehen, dass ich 2011 auch ganz zu Anfang in der Berichterstattung nach Aufdeckung des NSU den Begriff „Döner-Mörder“ verwendet habe. Es war in der Hitze des Gefechts, ich hatte nicht genug nachgedacht, wie abwertend dieser Terminus war. Außerdem war es das Schlagwort, unter dem all die Jahre die Ermittler firmierten. Daran, so dachte ich zunächst, muss ich anknüpfen, um überhaupt die Sache einzuordnen. Aber dann ging eine rügende Mail
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von Kollegen ein – und natürlich hatten diese Recht. Nicht ganz so schlimm war mein Versagen in den neunziger Jahren, als ich von den Patienten eines Frauenarztes sprach. Auch da bekam ich einen rügenden Anruf – auch die Anruferin hatte Recht. Es waren natürlich durchweg Patientinnen. Die weibliche Form war wirklich angebracht. Das geschah nun mir, die ich im Studium immer darunter gelitten hatte, dass ich als Frau völlig unbedeutend war. Ich hatte noch einen Strafrechtsprofessor erlebt, der im Hörsaal auf und ab ging und immer „Meine Herren“ rief. Oder, Sie kennen das vielleicht noch, da gab es auch einen Professor, der immer seien Fälle mit August Geil und Frieda Lüstlein bildete. Aber ich verliere mich. Zurück zum Thema. Entscheidend für die richtige Wortwahl ist auf jeden Fall die Debatte unter den Journalisten, die nur stattfinden kann, wenn es Kaffeepausen oder ausgeruhte Konferenzen gibt, damit alle diese Dinge auf den Tisch kommen. Und da schlage ich dann gleich die Brücke zu den Finanzen. Richtige Wortwahl findet nur statt, wenn es eine lebendige Debatte gibt. Und die findet nur statt, wenn der Verleger oder die Rundfunkanstalt trotz Sparwut die Arbeitsabläufe so gestaltet, dass Luft zum Atmen bleibt. In meinem Haus ist z.B. die Kantine abgeschafft worden – zugegeben, das Essen war schlecht, und viele Kollegen hatten keine Lust, dort zu essen. Aber es entfällt eine Möglichkeit im Alltag, miteinander zu reden, über die Beiträge zu sprechen, über Dinge, die man im Fernsehen oder im Radio konsumiert hat. Was Kollegin X oder Kollege Y besser machen könnte. Oder auch direktes Lob oder auch direkte Kritik. Apropos Radio. Ich habe jetzt die ganze Zeit über Fernsehen gesprochen, und mein Kollege Martin Roeber, der mich ja hierhergeholt hat, damit ich ein vollständiges Bild vom Journalismus male, der wäre bestimmt unzufrieden, wenn ich nicht noch über das Radio spräche. Vieles vom Gesagten gilt natürlich auch fürs Radio. Auch beim Radio müssen wir davon ausgehen: Die wenigsten, die uns hören, haben studiert. Die wenigsten haben Lust auf Fremdwörter. Die wenigsten wollen belehrt werden, sie schalten das Radio vor allem in ihrer Freizeit ein, weil sie unterhalten werden wollen. Also sind wir auch hier gehalten, kurze Sätze zu bilden. Möglichst nicht länger als sieben Worte. Wir sind dazu angehalten, einfache Hauptsätze hintereinander zu reihen, wie das in der Alltagssprache üblich ist. Maximal ein Nebensatz. Und wir dürfen auch öfter das Verb auslassen, so wie in der Alltagssprache üblich. Oder das Verb sollte zumindest vorn stehen. Ich spiele Ihnen noch mal ein Negativbeispiel vor. Oder besser gesagt, es ist kein Negativbeispiel, weil es einfach damals so üblich war. Erhard Becker,
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unser Vorgänger-Kollege, der nach dem Krieg die Hörfunkredaktion übernommen hatte, berichtete vom Bundesverfassungsgericht. Und damals war es einfach nicht üblich, all das, was wir heute den jungen Journalisten einbläuen. Kurze Sätze. Nicht zu viel Substantivierungen. All das kannten die Kollegen in den fünfziger Jahren nicht – hören Sie selbst, ich spiele nur einen Ausschnitt vor. Auch hier sind wir wieder gerührt, was man damals den Hörerinnen und Hörern zugemutet hat. Es zeigt sich: Journalismus in den elektronischen Medien unterliegt deutlich einem Wandel; in den Formulierungen und im Satzbau. Ich hatte und habe mich mit den Beschränkungen des Journalismus abgefunden. Es gibt ja auch eine Rechtfertigung für das Schlichte: Das demokratische Element. Ich möchte, dass Menschen, die nicht studiert haben, etwas vom Recht verstehen. Nur so können alle, auch die Schwachen, evtl. ihre Rechte ausüben. Also bin ich gehalten, sie als meine Peer-Group anzuerkennen – und nicht z.B. die wissenschaftlichen Mitarbeiter des Bundesverfassungsgerichts. Aber die Geschichte ist nicht zu Ende. Der Journalismus verändert sich weiter. Jetzt heißt es „online first“ – die meisten konsumieren mittlerweile Nachrichten und andere Informationen auf dem Handy. Das können wir nicht ignorieren. Und so haben wir Fortbildungen und diskutieren weiter ganz viel in den Redaktionen – und haben das Gefühl, dass es uns jetzt ganz arg erwischt hat. In den Zeiten des Online-Journalismus ist es vorbei mit den kreativen, blumigen Überschriften. Seid so schlicht und so deskriptiv wie möglich, lautet der Rat der erfahrenen Onliner. Nur dann findet euch der Algorithmus und die Suchmaschine. SEO Search Engine Optimization. Sie haben schon davon gehört. Wenn die Überschrift im Netz lautet: „Was Apple, Hähnchenbrustfilets und Streber gemeinsam haben“ findet sie nie jemand. Also nicht titeln: „Das Genie des Jahrtausends“, wenn es um einen berühmten Dirigenten geht. Besser ganz schlicht Sir Simon Rattle oder wen auch immer Sie beschreiben wollen. Oder besser nicht: „Fünf Gründe, warum du kein Brot mehr essen solltest.“ Besser: „Fünf Gründe, warum Brot deine Fitness zerstört, dick macht und dein Gehirn verlangsamt.“ So schlägt es mir jedenfalls ein Online-Ratgeber vor. Sie merken, Sie brauchen den Artikel gar nicht mehr zu lesen. Die Überschrift muss schon alles Wichtige verraten. Sie spüren bei mir einen gewissen Defaitismus. Auch ich bin natürlich überfüttert mit Informationen, im Online-Zeitalter erst recht. Also wird sich unsere Art, Sprache zu gebrauchen, weiter verändern müssen. Den Bildzeitungsstil in Fernsehen und Radio, den kann ich rechtfertigen. Aber mit der Oberflächlichkeit der Online-Texte hadere ich noch. Der jüngere Online-Kollege sagt: „Eure Texte werden nicht mehr gelesen, ihr müsst euch anpassen.“ Ich debattiere mit
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ihm. Sage, mein Ehrgeiz ist es gar nicht, auf den Top-Internetseiten vertreten zu sein, wenn ich da nicht mehr als drei Sätze veröffentlichen kann. Dann sagt er zu mir: „Du willst doch aber gelesen werden. Und du weißt doch: Im Netz wird zuerst das Bild wahrgenommen. Dann vielleicht noch das Video. Aber dann kommt lange nichts. Text vielleicht noch. Aber Audio-Datei – da kannst du dir sicher sein, die Mühe macht sich keiner.“ Dann habe ich schon mal das Gefühl vom Untergang des Abendlandes. Erst Recht, wenn es darum geht, mit dem Algorithmus von Facebook zu kämpfen. Sie wissen, nicht alles wird ausgespielt, wenn jemandem einem bestimmten Profil folgt. Es wird in der Intensität ausgespielt, in der Facebook vermutet, dass es allgemein interessiert. Je mehr andere Leute das schon angeklickt haben, umso eher wird es auch ausgespielt. Das heißt für uns RechtsJournalisten: Wenn wir einen Text über Staatsanleihen auf Facebook stellen, wird der gar nicht an viele Menschen verteilt. Und wenn wir in der Vergangenheit häufiger trockene Texte auf Facebook gestellt haben, werden wir auch noch bestraft, wenig Klicks heute heißt noch weniger Verbreitung morgen. Auch das ist eine ständige Diskussion. Der Onliner sagt: „Nö, den Text von Dir, den will ich gar nicht haben, der macht mir die Abnahme für die Zukunft kaputt.“
Also veröffentlichen wir ganz viele Texte über: Wann muss man Schnee fegen, wie verhält man sich, wenn ein Einsatzfahrzeug kommt? Das Video über eine Rettungsgasse war bei uns lange Zeit auf unserer Facebook-Seite der Renner. Damit ich jetzt aber nicht ganz pessimistisch ende, will ich noch von einer positiven Entwicklung berichten, die wir auch viel diskutieren, von der Sie sicher auch schon gehört haben – von der Podcast-Welt. Das lässt uns immer wieder verwundert blinzeln. Tatsächlich explodieren die Zahlen der PodcastNutzer. Nicht unbedingt die unserer Podcast, da steigen die Zahlen brav. Aber es zeigt sich, es gibt einen Markt. Eine große Menge an Menschen, die nicht nur Videos im Netz bei Youtube sehen wollen, sondern die auch Interesse am Wort, am gesprochenen Wort haben. Also machen wir uns da schlau – und nehmen mit Interesse zur Kenntnis: Die Hörerinnen und Hörer wollen gar nicht unbedingt den geschliffenen Text. Da gibt es natürlich eine vorinformierte Hörergruppe, die schon immer Bildungssendungen wie „SWR2 Wissen“ gehört haben (eine tägliche halbstündige Bildungssendung). Aber es kommen andere dazu. Und die wollen gerne Gequatsche am Küchentisch oder auf dem Sofa. (Z.B. „Fest und Flauschig“, von Jan Böhmermann, vielleicht haben Sie es schon gehört.) Also gehen wir da in uns, versuchen einen Weg zu finden –
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und das kennen Sie jetzt schon: einerseits seriös, andererseits aber auch so hemdsärmelig wie möglich. Die gute Nachricht ist: Der Informationshunger der Menschen ist noch da, nur er verlangt nach anderen Wegen. Darauf gehen wir ein, darauf müssen wir eingehen. Auch wenn es nicht ganz einfach ist…
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Hermann Weber
Poesie des Frauenmords? – Georges Rodenbach, Dichterjurist unter den Dichterjuristen des belgischen Symbolismus* I. Einleitung Nun also „Poesie des Frauenmords? – Georges Rodenbach, Dichterjurist unter den Dichterjuristen des belgischen Symbolismus“ – ein Vortragstitel, wie ich Ihnen nicht verschweigen will, nicht ganz unbeeinflusst von der Tagungsregie: Mein Versuch, Ihnen den belgischen Dichterjuristen Georges Rodenbach ein wenig näher ans Herz zu legen, fügt sich so besser ins Gesamtgefüge unserer Tagung ein, die nun einmal unter dem Gesamttitel „Verbrechen und Sprache“ steht. Ich hoffe freilich auf Ihr Verständnis, wenn der Frauenmord nur einen, wenn auch einen wichtigen Aspekt meines Vortrags – und nicht dessen alleiniges Zentrum – bilden wird. Lassen Sie mich beginnen mit einigen kurzen Vorbemerkungen zu den Angelpunkten des Vortragstitels:
1. Belgien im ausgehenden 19. Jahrhundert Zunächst Belgien: Wir befinden uns im ausgehenden 19. Jahrhundert im noch jungen Königreich Belgien. Nach dem Wiener Kongress (1815) waren die zuvor habsburgischen Teile der Niederlande zunächst einmal an Holland gelangt. Erst die belgische Revolution von 1830 hatte fünfzehn Jahre später zur Entstehung des selbständigen Belgien und zur Inthronisation des deutschen Prinzen Leopold Georg Christian von Sachsen-Coburg als König der Belgier (künftig Leopold I.) geführt. Sprachlich und kulturell waren die Eliten des Landes auch in der im flämischen Sprachbereich gelegenen Hauptstadt Brüssel im ganzen 19. Jahrhundert an Frankreich orientiert, obwohl „eine knappe Mehrheit der Belgier schon damals Niederländisch sprach“. Erst 1898, also *
Vortrag auf der Tagung „Verbrechen und Sprache – Die 10. Tagung zu Literatur und Recht im Nordkolleg Rendsburg“ am 14.9.2019.
https://doi.org/10.1515/9783110744156-005
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ganz am Ende des Jahrhunderts, wurde Niederländisch durch Gesetz zur gleichberechtigten Amtssprache erhoben; zuvor war es 1873 bzw. 1878 bereits als Gerichts- und Verwaltungssprache zugelassen worden1. Auch die Literatur der flämischen Landesteile war im 19. Jahrhundert eng mit Frankreich verbunden: Fast alle wichtigen Autoren aus dem flämischen Sprachraum haben in der genannten Zeit ihre Werke nicht in ihrer Muttersprache, sondern auf Französisch geschrieben. Das hat diesen Werken zwar breitere internationale Resonanz, ihren Autoren aber „in Flandern nicht nur Beliebtheit“ eingebracht2. Selbst das flandrische Nationalepos, der Roman „Die Legende von Ulenspiegel und Lamme Goedzak“ (1867) von Charles de Coster (1827–1879, auch er ein Dichterjurist) ist, wie schon der Originaltitel („La légende et les aventures héroiques et joyeuses d’Ulenspiegel et Lamme Goedzak aux pays des Flandres et ailleurs“) zeigt, auf Französisch geschrieben. Die Zeit einer bedeutenden flämischsprachigen Literatur kam erst später, im 20. Jahrhundert. Die Präponderanz der französischsprachigen Landesteile bestand in der fraglichen Zeit aber nicht nur kulturell, sondern auch ökonomisch: Belgien war im 19. Jahrhundert eines der am stärksten industrialisierten Länder Europas und eine der wichtigsten Wirtschaftsmächte der Welt. Die Industrialisierung war aber ganz überwiegend Sache der wallonischen Landesteile, insbesondere der dortigen Montanregion mit dem Städtedreieck von Charleroi, Lüttich und Mons. Flandern mit seinen historisch bedeutenden Städten wie Brügge und Gent lag dagegen noch in einer Art Dämmerschlaf abseits der rasanten Wirtschaftsentwicklung des übrigen Landes3.
2. Der literarische Symbolismus Als nächstes der literarische Symbolismus: Im Gegensatz zu dem bis ins 18. Jahrhundert zurückreichenden Symbolismus in der bildenden Kunst, insbesondere in der Malerei, hat sich der Symbolismus in der Literatur erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts voll herausgebildet. Den Vorreiter machte dabei die französische Literatur. Von Frankreich aus hat sich der literarische 1 2 3
Vgl. zum Ganzen den Abschnitt „Belgien seit der Unabhängigkeit“ im Wikipedia-Artikel „Geschichte Belgiens“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_Belgiens), abgerufen am 2.9.2019; dort auch das Zitat. So Josef Dvorak in seinem Nachwort zu: Georges Rodenbach, Das tote Brügge und andere Novellen. Einzige autorisierte Übersetzung aus dem Französischen von Friedrich von Oppeln-Bronikowski, Berlin, Verlag Clemens Zerling, 1987, S. 131–141 (134). Vgl. noch einmal den Abschnitt „Belgien seit der Unabhängigkeit“ und zudem den Abschnitt „Wirtschaftlicher Aufschwung und Kolonialpolitik“ im Wikipedia-Artikel „Geschichte Belgiens“ (o. Fußn. 1).
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Symbolismus rasch über nahezu die gesamte Weltliteratur ausgebreitet und ist schnell zu einer der wichtigsten Vorstufen der modernen Literatur geworden. Sein Kennzeichen ist die Abkehr von Realismus und Naturalismus, die Abwendung aber auch von allen außerkünstlerischen Zielen der Kunst und damit die entschiedene Proklamation des Prinzips der l’art pour l’art. Wichtiges Stilmittel symbolistischer Texte ist die Parallelisierung äußerer und innerer Vorgänge, und damit verbunden der Gebrauch von Schauplätzen der Handlung als Symbol für einfühlsam geschilderte psychologische Vorgänge – am Beispiel der aus der damaligen Gegenwart gefallenen Stadt Brügge bei Rodenbach wird uns das noch detailliert begegnen. Wie gesagt, ist Frankreich das Ursprungsland des literarischen Symbolismus. Zu dessen wichtigsten Repräsentanten in Frankreich gehören etwa Charles Baudelaire (1821–1867), Stéphane Mallarmé (1842–1898), Paul Verlaine (1844–1896) und Arthur Rimbaud (1854–1891), allesamt Wegbereiter der modernen französischen Lyrik. Die enge Verbindung der belgischen Literatur des 19. Jahrhunderts mit der Literatur Frankreichs zeigt sich auch darin, dass der französischsprachige Symbolismus maßgeblich nicht zuletzt von einer beträchtlichen Zahl französisch schreibender Flamen geprägt worden ist. Genannt seien hier nur Emile Verhaeren (1855–1916), Iwan Gilkin (1858–1924), Maurice Maeterlinck (1862–1949), Nobelpreisträger für Literatur im Jahre 1911, und schließlich auch Georges Rodenbach (1855–1898) – allesamt (wie noch viele weitere Vertreter des belgischen Symbolismus der Zeit) Dichterjuristen4. Nur im deutschen Expressionismus der Jahre vor dem Ersten Weltkrieg gibt es noch einmal eine solche Dichte als Poeten wirkender Juristen wie unter den französisch schreibenden flämischen Symbolisten in der Zeit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert5.
3. Georges Rodenbach Und damit schließlich Georges Rodenbach: Der Name Rodenbach ist – anders als die Namen der genannten Franzosen, anders aber auch als die seiner Landsleute Verhaeren und Maeterlinck – deutschen Literaturfreunden kaum mehr ein Begriff, obwohl der Dichter mit seinem wichtigsten Prosawerk, dem Roman „Bruges-la-morte“ (1892, deutsch von Friedrich von Oppeln-Bronikowski 4 5
Weitere Namen von Dichterjuristen des belgischen Symbolismus bei Hermann Weber, Juristen als Schriftsteller nichtdeutscher Sprache: Georges Rodenbach, NJW 2018, 749–753 (749). S. vor allem Lovis Maxim Wambach, Die Dichterjuristen des Expressionismus. 2002, S. 277–376, mit der Schilderung der Lebensläufe von nicht weniger als 45 Dichterjuristen aus der Zeit des deutschen Expressionismus.
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unter dem Titel „Das tote Brügge“, 1902), ein Buch vorgelegt hat, das von Literaturkritik und Romanistik mit einigem Recht als „einziger symbolistischer Roman von Weltrang“6 gerühmt worden ist. Martin Roeber, Mitorganisator unserer Tagung, hat mir im November vergangenen Jahres zu meinem Vortrag geschrieben: „Unser Freund Rodenbach kommt mir immer näher. Seine ʻDramatischen Werke’ habe ich in einer hinreißenden antiquarischen Erstausgabe erworben und mit Vergnügen studiert. Die Bühnenfassung von Bruges la morte wurde übrigens übersetzt von Siegfried Trebitsch, dem großen österreichischen Literaten und Shaw-Übersetzer. Und so eröffnet Rodenbach ein Panorama europäischer Kulturgeschichte: direkter Nachkomme von Christoph Martin Wieland, einem meiner Lieblingsdichter, belgischer Dichter und Jurist, Beiträger zur französischen Literaturgeschichte, und Begründer des mystischen Ruhmes der flämischen Stadt Brügge, die dem Sohn der Stadt ein Denkmal verweigerte, weil der Meister auf französisch publizierte.“7
Diese kurze Eloge mit ein wenig mehr Anschauung zu füllen, wird Aufgabe meines Vortrags sein8.
4. Der Frauenmord Es fehlt freilich noch ein Stichwort: der Frauenmord. Erläuternde Ausführungen, worum es dabei geht, sind hier sicher nicht nötig – ich kann Ihnen aber versprechen, dass auch dieser Aspekt nicht zu kurz kommen wird, wenn es auch durchaus zweifelhaft sein mag, ob es sich bei dem noch zu schildernden, der poetischen Phantasie Rodenbachs entsprungenen Kriminalfall bei näherer Betrachtung wirklich um einen Mord (und nicht nur um einen Totschlag im Affekt) gehandelt hat.
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So etwa Gero v. Wilpert, Lexikon der Weltliteratur, Bd. I. Autoren, 3. Auflage 1988, Artikel Rodenbach, Georges, S. 1282. E-Mail von Martin Roeber an den Autor vom 29.11.2018. Die folgenden Hauptteile des Vortrags (II–IV) beruhen in wesentlichen Teilen auf meinen folgenden früheren Publikationen: Hermann Weber, Georges Rodenbach – Dichterjurist, Symbolist und flämischer Autor französischer Sprache, in: Pirmin Spieß / Christian Hattenhauer / Michael Hettinger (Hrsg.), Homo heidelbergensis. Festschrift für Klaus-Peter Schroeder zum 70. Geburtstag, Neustadt an der Weinstraße 2017, S. 209–237; ders., Juristen als Schriftsteller nichtdeutscher Sprache: Georges Rodenbach, NJW 2018, 749–753, jeweils mit weiteren Literaturangaben.
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II. Das kurze Leben von Georges Rodenbach9 1. Der familiäre Hintergrund Georges-Raymond-Constantin Rodenbach wurde am 16. Juli 1855 in Tournai an der belgischen Westgrenze als drittes Kind seiner Eltern in eine eng mit der französischen Sprache und Kultur verbundene flämische Patrizierfamilie geboren. Wenige Tage nach seiner Geburt wurde er in der Kirche Sainte-MarieMadeleine in Tournai getauft. Die damals noch bestehende tiefe Verankerung der Region in einem traditionell-konservativen Katholizismus hat später den Hintergrund für große Teile von Rodenbachs Werk geliefert. Der namengebende Vorfahr der Familie, Ferdinand Rodenbach, ein Rheinländer aus Andernach, war gegen Ende des 18. Jahrhunderts, als das heutige Belgien noch von den Habsburgern regiert wurde, als Militärarzt in österreichischen Diensten nach Flandern eingewandert. Rodenbachs Großvater Constantin und drei von dessen fünf Brüdern haben in den Jahren vor 1832 bedeutende Rollen im Kampf um die Befreiung des späteren Belgien von der holländischen Herrschaft gespielt10. Der Großvater selbst war mit Louise Pauline Wieland verheiratet – entgegen mancher Überlieferung11 wohl keine Enkelin, sondern eine Großnichte12 des Dichters Christoph Martin Wieland und selbst eine Dichterin, die „Verse geschrieben und in regem Briefwechsel mit den bedeutendsten Geistern ihrer Zeit, wie Victor Hugo, Lamartine und Mi-
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Die folgenden Ausführungen beruhen vor allem auf den Darstellungen in den umfangreichen Biographien Rodenbachs von Pierre Maes, Georges Rodenbach 1855–1898, 2. Auflage, Gembloux 1952, und Paul Gorceix, Georges Rodenbach (1855–1898), Paris 2006 (mit tabellarischem Lebenslauf S. 251 ff.). Ergänzungen unter anderem bei Kurt Glaser, Georges Rodenbach. Der Dichter des toten Brügge, Marburg 1917. Auf Detailnachweise – mit Ausnahme des Nachweises wörtlicher Zitate – wird weitgehend verzichtet. Ausführlich dazu vor allem Pierre Maes (o. Fußn. 9), S. 11 ff. So etwa Siegfried Trebitsch, Georges Rodenbach, in: Georges Rodenbach, Die dramatischen Werke, München 1913, S. V–XII (VI), und Josef Dvorak (o. Fußn. 2), S. 133. So etwa Kurt Glaser (o. Fußn. 9), S. 3. Für diese Angabe spricht insbesondere, dass Louises Vater Auguste Wieland aus Basel (1765–1833), den Rodenbachs Großvater, Militärarzt in Napoleons Armee, auf dem Rückzug der Armee in Richtung Westen nach der Völkerschlacht bei Leipzig kennen gelernt und anschließend in seinem Haus in Basel besucht hat, wo er zum ersten Mal auf Louise getroffen ist (vgl. zum Ganzen Maes o. Fußn. 9, S. 15–17), im Wikipedia-Artikel zu Wieland (https://de. wikipedia.org/wiki/Christoph_Martin_Wieland), abgerufen zuletzt am 10.10.2019, im Abschnitt „Familie“ nicht unter dessen zahlreichen dort erwähnten Kindern (und damit Louise auch nicht unter den Enkeln) des Dichters genannt wird.
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chelet gestanden hat“13. Sein Sohn, mit Rufnamen wiederum Constantin, geboren in Brügge am 24. Januar 1824, wurde der Vater des Dichters. Auch dessen Mutter stammte aus einer alten belgischen Familie, diesmal aus Tournai. Dort hatten sich die späteren Eltern Rodenbachs während einer kurzen beruflichen Tätigkeit des Vaters in der Stadt kennen gelernt. Der Vater, Verwaltungsjurist, hatte damals den Posten eines „vérificateur des poids et mésures“ in Tournai inne. Schon wenige Monate später wurde er in gleicher Funktion nach Gent versetzt. In Gent ist Georges Rodenbach in einer rein flämischsprachigen Umgebung aufgewachsen. Die Familie bewohnte lange Jahre ein traditionelles Bürgerhaus an einem der alten Kanäle der damals noch mittelalterlichen Stadt. Der Kanal führte unmittelbar nach Brügge, der Geburtsstadt (und zugleich der lebenslangen Lieblingsstadt, dem „kleinen Vaterland“14) des Vaters. Die Stadt hat Georges schon bei Verwandtenbesuchen in seiner Jugendzeit stark beeindruckt; sie sollte sein literarisches Werk später maßgeblich prägen.
2. Jugend und Schulzeit in Gent 1866 bezieht Georges Rodenbach nach Besuch der Mittelschule das von Jesuiten geleitete Collège Sainte-Barbe in Gent, dessen Schüler später auch Maurice Maeterlinck werden sollte. In seiner kurzen Erzählung „Au Collège“ schildert Rodenbach die melancholische Atmosphäre der Schule: „Aber die großen Priesterschulen in der Provinz, wie traurig sind sie und wie öde! Die meine war abgeschlossen wie ein Seminar. Und ringsum lag die tote Stadt in ihrer Schwermut, von den tränenweichen Klängen ihrer Glocken durchzittert. In der Mitte lag ein Hof, kahl und eben wie eine Sanddüne, an der die Meeresflut all ihren Kummer zurückgelassen hat. Nicht ein Baum, der ihn mit etwas Leben erfüllte. Nur das erbarmungslose Zifferblatt der großen Uhr in einem Giebel. Die Zeiger suchten und flohen sich, und der Stundenschlag scholl dumpf herab; wie ein Schatten legte er sich auf unser Leben.“15
Rodenbach war von seinen ersten Schuljahren an bis zum Schlussexamen 1874 ein vorbildlicher Schüler des Collège. Einer seiner Klassenkameraden war von 1868 an Emile Verhaeren, der später zu einem der namhaftesten Dichter nicht nur des belgischen Symbolismus werden sollte. Beide freundeten sich rasch an, und Verhaeren blieb ein Leben lang ein enger Freund Rodenbachs.
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Siegfried Trebitsch (o. Fußn. 11), S. VI. Pierre Maes (o. Fußn. 9), S. 32. Georges Rodenbach, In der Schule, übersetzt von Friedrich von Oppeln-Bronikowski, in: Rodenbach, Im Zwielicht, Weimar 1913, S. 137–145 (137 f.). Im französischen Originalwortlaut wird der zitierte Text wiedergegeben bei Gorceix (o. Fußn. 9), S. 21.
Poesie des Frauenmords? – Georges Rodenbach, Dichterjurist
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3. Studium und erste Pariser Zeit Im Oktober 1874 beginnt der frisch gebackene „gradué ès lettres“ sein Jurastudium in Gent, das er knapp vier Jahre später, im Juli 1878, mit dem Doktorat abschließt. Rodenbachs Vater legt Wert darauf, dass dieser seine Ausbildung entsprechend der Familientradition mit einem Studienjahr in Paris beendet. Vom Oktober 1878 bis zum Juli 1879 hält sich Rodenbach in der französischen Hauptstadt auf. Er arbeitet bei einem Anwalt, besucht Vorlesungen über Philosophie an der Sorbonne, daneben ist er regelmäßiger Gast in der Oper und kommt in Kontakt mit den Dichtern des Tages. Zudem nutzt er die Gelegenheit zu einem Debüt als Journalist: Er publiziert regelmäßig „Briefe aus Paris“ („Lettres Parisiennes“) in der Brüsseler katholischen Halbmonatsschrift „La Paix“ – oft recht ausführliche Berichte, deren Ziel es ist, das Brüsseler Publikum über das Leben, vor allem das kulturelle Leben in Paris zu informieren. Auch erste literarische Erfolge stellen sich ein: Französische Zeitschriften veröffentlichen Gedichte Rodenbachs, und der Verlag von A. Lemerre in Paris bringt die erste bedeutendere Sammlung seiner Lyrik („Les Tristesses“, 1879)16 heraus.
4. Berufsjahre in Gent und Brüssel Im Juli 1879 kehrt Rodenbach nach Gent zurück. 1880 beginnt er seine juristische Tätigkeit als Rechtsanwalt. Neben dem Beruf arbeitet er weiter intensiv journalistisch, publiziert in belgischen und französischen Zeitungen und Zeitschriften17 und veröffentlicht 1881 einen weiteren Gedichtband („La Mer élégante“). Im selben Jahr wird er Mitarbeiter der damals neu gegründeten Zeitschrift „La Jeune Belgique“. Um die Zeitschrift versammelt sich ein Kreis jüngerer, meist akademisch (und nicht selten juristisch) ausgebildeter Literaten, die sich als Avantgarde einer neuen, nicht schulgemäß festgelegten belgischen Literatur verstehen. Rodenbach beteiligt sich von Anfang an mit Enthusiasmus an Entstehung und Fortführung der Zeitschrift, veröffentlicht in ihr von 1881 an gelegentlich, ab 1883 regelmäßig wichtige Artikel und wird bald zum Wortführer der hinter ihr stehenden Gruppe von Autoren. Ende 1886 freilich kühlen sich Rodenbachs Beziehungen zu „La Jeune Belgique“ ab. Es kommt zunehmend zu Streitereien und schließlich zu Auflösungserscheinungen im Kreis um die Zeitschrift und 1887 zum endgültigen Bruch. 16 17
Zuvor war 1877 – im Verlag von V. Palmé und G. Lebrocquy in Paris und Brüssel – bereits die Sammlung „Le Foyer et les Champs“ erschienen. Detaillierte Aufzählung aller Zeitungs- und Zeitschriftenartikel Rodenbachs bei Maes (o. Fußn. 9), S. 312–323 (zur hier dargestellten Zeit S. 313).
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Auch im persönlichen Leben Rodenbachs vollzieht sich eine wichtige Änderung: 1883 wird ihm das Leben in Gent endgültig zu eng, und er zieht in die Hauptstadt, nach Brüssel. Auch dort arbeitet er zunächst als Rechtsanwalt, lässt sich dadurch aber ebenso wenig wie früher an seiner schriftstellerischen Tätigkeit hindern. Es erscheinen zwei neue Gedichtbände: 1884 „L’ Hiver mondain“, 1886 „La Jeunesse Blanche“, das Buch, das Rodenbach später als sein erstes Werk von literarischer Bedeutung ansieht. Die juristische Tätigkeit befriedigt Rodenbach immer weniger; auch ihre wirtschaftlichen Resultate bleiben bescheiden. So entschließt er sich 1886, den Anwaltsberuf aufzugeben und sich ganz seinen literarischen und journalistischen Neigungen zu widmen. Die wirtschaftliche Grundlage bietet ihm eine Anstellung als Sekretär der Zeitschrift „Progrès“, für die er auch eine Vielzahl eigener Texte schreibt, darunter – in Parallele zu seinen früheren „Lettres Parisiennes“ – regelmäßige Chroniken („Chroniques Bruxelloises“) zum Leben in der belgischen Hauptstadt.
5. Späte Jahre in Paris und Lebensende dort Als „Le Progrès“ Anfang 1888 aus Geldmangel eingestellt werden muss, bedeutet das das Ende der Tätigkeit Rodenbachs in der Redaktion. Zu seinem Glück bietet ihm das „Journal de Bruxelles“ – die damals wohl renommierteste katholische Tageszeitung Belgiens – an, die Stelle des ständigen Korrespondenten der Zeitung in Paris zu übernehmen – ein Angebot, das Rodenbach sofort akzeptiert „wie ein Ertrinkender nach einer ihm von der Vorsehung gereichten Planke greift“18. Am 26. Januar 1888 bricht er von Brüssel nach Paris auf, am 14. Mai desselben Jahres bezieht er für den Rest seines Lebens eine Wohnung im XVII. Arrondissement der französischen Hauptstadt. Einige Monate später heiratet er Anna-Maria Urbain, eine Landsmännin aus dem wallonischen Hennegau, die er wenige Monate zuvor bei Freunden in Brüssel kennen gelernt hat. Nach Paris zurückgekehrt, kommt Rodenbach schnell wieder in Kontakt zum literarischen und künstlerischen Leben in Frankreich. Vom Februar 1888 an bis zu seinem Tode schreibt er erneut regelmäßige „Briefe aus Paris“ („Lettres Parisiennes“, gelegentlich auch „Chroniques Parisiennes“) für ein vor allem belgisches Publikum19. Dazu kommt eine umfangreiche journalistische Tätigkeit für zahlreiche, vor allem französische Tageszeitungen und Zeitschriften, 18 19
Zitiert nach Maes (o. Fußn. 9), S. 154, dort Zitat ohne nähere Quellenangabe (Übersetzung vom Verfasser). Glaubt man Maes (o. Fußn. 9), S. 164 Fußn. 1, dann hat Rodenbach in den genannten Jahren 481 Lettres et Chroniques Parisiennes veröffentlicht, davon 330 im „Journal de Bruxelles“, 16 im „Journal de Genève“ und 135 in „Le Patriote“.
Poesie des Frauenmords? – Georges Rodenbach, Dichterjurist
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eingeleitet mit dem Debüt Rodenbachs im „Figaro“ – einer bemerkenswerten, ab Juni 1888 im „supplément littéraire“ der Zeitung unter dem Titel „Agonie der Städte“ publizierten Reihe von vier Essays über die holländische Insel Walcheren (heute durch Dammbau nur noch eine Halbinsel) und die im Lichtschatten der damaligen Welt dahindämmernden alten Städte Flanderns, unter ihnen Gent und Brügge20. Die melancholische Atmosphäre dieser Städte prägt immer intensiver auch das literarische Werk Rodenbachs. Dabei fällt ein Wechsel der literarischen Gattungen ins Auge: Hatte sich Rodenbach bisher so gut wie ausschließlich seiner lyrischen Produktion gewidmet, favorisiert er nun die Prosa und veröffentlicht neben einigen wenigen weiteren Lyrikbänden vor allem Romane und Erzählungen. 1892 erscheint der Roman „Bruges-la-morte“, der zum wichtigsten (und erfolgreichsten) Werk Rodenbachs wird; ihm folgen rasch weitere Prosawerke. Daneben stehen noch einmal Lyriksammlungen und einige wenig erfolgreiche dramatische Versuche. Aus seiner Arbeit wird Rodenbach Ende 1898 im Alter von nur 43 Jahren durch einen schnellen Tod herausgerissen: Schon längere Zeit fühlte er sich nicht gesund; am 25. Dezember 1898 erliegt er einer akuten Blinddarmentzündung. Wenige Tage später wird er auf dem Friedhof Père Lachaise in Paris beigesetzt; sein Grabmonument gehört bis heute zu den eindruckvollsten Grabdenkmälern des Friedhofs. Die Errichtung eines bereits entworfenen Denkmals in Brügge verwehrt ihm die Stadt, deren literarischen Ruhm er begründet hat; das Monument wird schließlich in Gent aufgestellt. Was Grund der Zurückhaltung war – Rodenbachs Kampf gegen die ersten Planungen für den später gebauten neuen Hafen der Stadt in Zeebrügge oder sein Schreiben in französischer (und nicht in flämischer) Sprache – beide Gründe werden in der Literatur genannt21 – lässt sich heute wohl nicht mehr abschließend klären. Vielleicht hat auch beides eine Rolle für die Zurückhaltung der Bürger in Brügge gespielt.
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Alle vier Essays sind abgedruckt bei Georges Rodenbach, Les essais critiques d’un journaliste. Choix de textes precédés d’une étude par Paul Gorceix, Paris 2007, S. 299–340. Vgl. einerseits Gorceix (o. Fußn. 9), S. 236–237, andererseits Siegfried Trebitsch (o. Fußn. 11), S. XI.
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III. Georges Rodenbach als Jurist22 Nur am Rande erwähnt wurden bisher die juristische Ausbildung Rodenbachs und seine Berufsjahre als Anwalt in Gent und Brüssel. Was wir davon heute noch wissen, wird umfassend in der klassischen, in letzter Auflage 1952 publizierten Biographie Rodenbachs von Pierre Maes überliefert. Auf ihn kann sich die folgende Darstellung weitgehend stützen23.
1. Jurastudium und Anwalt in Gent Wie erwähnt, bezog Rodenbach im Oktober 1874 die Universität Gent, um dort sein Jurastudium aufzunehmen. Die Alma Mater wird ihm die „wahre Mutter der intellektuellen Freiheit“ (Maes, S. 42). Trotz mancher Freiheiten, die er sich nimmt, ist er ein ebenso guter Student wie er im Collège ein vorbildlicher Schüler gewesen ist. Er brilliert in den Prüfungen, besteht alle Examina mit Auszeichnung und beendet sein Studium am 10. Juli 1878 mit der Proklamation zum Doktor juris. Unmittelbar danach schreibt er sich beim Barreau in Gent ein und leistet am 15. Oktober 1878 den Amtseid. Bevor Rodenbach freilich seine Tätigkeit als Anwalt aufnimmt, bricht er erst einmal nach Paris auf. Sein Vater begleitet den frisch gebackenen Doktor juris, stellt ihn einer Reihe alter Freunde, unter ihnen vor allem Maître Oulif, vor – einem Advokaten, in dessen Kanzlei Rodenbach arbeiten und der ihn in die Sitten und Gebräuche des Pariser Justizpalasts einführen soll. Kaum ist der Vater nach Gent zurückgereist, lässt sich Rodenbach freilich mehr im Theater als beim Barreau sehen. Vom Leben im Justizpalast ist er wenig entzückt. In seiner Unerfahrenheit „staunt er über das banale Spektakel der Advokaten, die sich in ihren Plädoyers nicht immer liebenswürdige Epitheta an den Kopf werfen und anschließend den Justizpalast gemeinsam wie die besten Freunde der Welt verlassen“ (Maes, S. 54). Stiche von Daumier treten einem hier unausweichlich vor die Augen. Nach Rückkehr nach Gent feiert Rodenbach dort beim Barreau erste Erfolge: Auf Strafverfahren vor der – für die kleinere Kriminalität zuständigen – Cour correctionelle folgen Verteidigungen vor der – in etwa dem deutschen Schwurgericht entsprechenden – Cour d’ Assisses. Rodenbachs Plädoyer in seinem ersten Fall dort, einem nächtlichen Einbruchdiebstahl, wird zum gro22 23
Der folgende Abschnitt ist im mündlichen Vortrag nur stark gekürzt vorgetragen worden. Maes (o. Fußn. 9), Seitenzahlen ohne weitere Angaben im Text zu den wörtlichen Zitaten beziehen sich auf diese Biographie; die Übersetzungen stammen durchweg vom Verfasser.
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ßen Erfolg, obwohl die Angeklagten am Ende verurteilt werden. Zwei weitere Fälle vor der Cour d’ Assisses sind uns überliefert: das Verfahren gegen ein junges Bauernmädchen, das angeklagt war, seine Dienstherrin, eine alte Frau vom Lande, ermordet zu haben, und der Fall eines alten, schon mehrfach wegen Diebstahls vorbestraften Halunken, der einen Bauernhof in Brand gesteckt und Pächter und Pächterin „ein wenig gewürgt“ haben sollte24. Insgesamt sind die Anfänge Rodenbachs als Anwalt vielversprechend. Auch jetzt noch gelingt es ihm freilich nur schwer, sich der Routine des Barreau zu beugen. Immer wieder weigert er sich, Angeklagte zu verteidigen, die seinem Verständnis nach eine Verurteilung verdient haben (oder gar nach einer solchen rückfällig geworden sind), und nach wie vor sattelt er sehr viel lieber den Pegasus als das Kampfross für den Streit vor den Schranken der Cour correctionelle oder der Cour d’ Assisses.
2. Letzte Anwaltsjahre in Brüssel Bald wird Rodenbach die Atmosphäre in der Provinz endgültig zu eng, das als öde empfundene Leben in den Anwaltskreisen in Gent nimmt ihm den Atem, und er begibt sich nur noch unwillig auf den gewohnten Weg in den Justizpalast. Den Wechsel nach Brüssel empfindet er als Befreiung. In der Hauptstadt hofft er, den Durchbruch als Anwalt zu schaffen. Mit diesem Ziel tritt Rodenbach in die Kanzlei von Edmond Picard ein, in der damals bereits zwei andere flämische Dichterjuristen, Rodenbachs Freunde Émile Verhaeren und Iwan Gilkin, beschäftigt sind25. Picard gehört nicht nur zu den renommiertesten Anwälten der Stadt, als Begründer des „Journal des Tribunaux“ und als Rechtsprofessor ist er einer der bekanntesten Juristen Belgiens. Damit nicht genug: Picard ist auch Sozialist der ersten Stunde, Deputierter und später Senator, bekannter Schriftsteller, Mäzen von Auguste Rodin und einer der Gründer der Kulturzeitschrift „L’ Art Moderne“, die dezidiert auf den sozialen Funktionen der Kunst besteht und damit eine klare Gegenposition zu „La Jeune Belgique“ und deren Prinzip der „l’ art pour l’art“ bezieht. Mit alledem ist Picard eine bedeutende Größe im Brüsseler und darüber hinaus im belgischen Kulturleben. Juristisch arbeitet Rodenbach „Seite an Seite“ mit Picard an „Le Palais“, der Zeitschrift des jungen Barreau. Er besucht regelmäßig dessen Sitzungen und Konferenzen, trifft sich mit Berufskollegen, geht im Justizpalast ein und aus und hört dort in den Verhandlungen die Plädoyers der großen Anwälte. Über 24 25
Näheres zu allen genannten Fällen bei H. Weber, Festschrift Schroeder (o. Fußn. 8), S. 223–225. Gorceix (o. Fußn. 9), S. 35.
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seine eigene anwaltliche Tätigkeit ist nicht viel bekannt. Maes jedenfalls hat kaum Spuren zu ihr außer zu einigen von Rodenbach geführten, damals Aufsehen erregenden literarischen Prozessen gefunden26. Vorangegangen und gefolgt sind diesen Verfahren wohl nur noch einige kleinere Fälle, die Rodenbach nicht viel eingebracht haben. Sein Schriftstellerkollege Camille Lemonnier, auch dieser ein Dichterjurist und zugleich Rodenbachs Mandant in einem der genannten literarischen Prozesse, hat das in einer zugespitzten Formulierung auf den Punkt gebracht: Rodenbachs Brüsseler Anwaltshonorare hätten sich „auf acht graue Zylinder beschränkt, die ihm ein Brüsseler Hutmacher anstelle eines Honorars für einen ihm anvertrauten Fall gegeben hat“ (Maes, S. 127). 1886, mit Übernahme seiner Redaktionstätigkeit bei „Le Progrès“, gibt Rodenbach – der trotz seiner soliden Ausbildung wohl nie zu einem wirklich glänzenden (und schon gar nicht zu einem begeisterten) Juristen geworden ist – die Anwaltstätigkeit endgültig auf. Das hindert ihn freilich nicht, sich in Brüssel mit Berufskollegen zu treffen, regelmäßig Gerichtsverhandlungen zu besuchen und sich weiter publizistisch mit dem Recht und seinen Adepten zu befassen: In den Brüsseler Chroniken berichtet er immer wieder über die Verhandlungen im Justizpalast; eine dieser Chroniken (die vom 17. Oktober 1886) ist ausschließlich den Ereignissen dort und zum Teil brillanten Portraits der damaligen Häupter des Barreau gewidmet – alles Dinge, die man in den Jahren seines späteren Lebens in Paris vergeblich suchen wird.
IV. Das literarische Werk Im literarischen Werk Rodenbachs haben seine juristische Ausbildung und seine berufliche Tätigkeit als Jurist nur wenige erkennbare Spuren hinterlassen. Eine Ausnahme bilden Schilderungen aus dem Universitätsleben und der Anwaltstätigkeit in Rodenbachs – in weiten Teilen autobiographischem – Erstlingsroman „L’ Art en Exil“, in denen seine Genter Studienzeit und sein späterer Anwaltsberuf durchschimmern. Dass darüber hinaus in Rodenbachs Büchern – wie Maes (S. 131) meint – generell „ein gewisser Rundblick juristischen Geistes erkennbar wird“, mag man (schon wegen des in aller Regel nicht rational realistischen, sondern symbolistischen Ansatzes seiner Bücher) mit guten Gründen bezweifeln. Bemerkenswert im Werk Rodenbachs sind vor allem seine Lyrik sowie seine Romane und Erzählungen. Wichtig sind aber auch seine Briefe (vor allem der 26
Näheres auch zu diesen Prozessen bei H. Weber, Festschrift für Schroeder (o. Fußn. 8), S. 226–227.
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Briefwechsel mit Mallarmé) und seine journalistischen und essayistischen Arbeiten; auf all das kann hier aus Zeitgründen nicht näher eingegangen werden.
1. Lyrik Die frühe, stark von Baudelaire beeinflusste Lyrik Rodenbachs aus den Jahren von 1877 bis 1884 gilt heute als eher zweitrangig und epigonal. Auch Rodenbach selbst betrachtet erst den 1886 erschienenen Band „La Jeunesse blanche“, in dem er die Landschaft Flanderns mit ihren Kanälen, ihren Beginenhäusern, ihren Herbstnebeln, ihren Glocken und Glockentürmen heraufruft, als eine echte literarische Leistung27. Im Zentrum der lyrischen Aussage steht jetzt erstmals die (später auch für seine Romane so bedeutsame) „Analogie zwischen der seelischen Gestimmtheit des Ichs und der Welt Flanderns, eines Flanderns, das jenseits alles vordergründigen Lokalkolorits zu einem nordischen und katholischen Mythos erhoben wird“ – eine Analogie, mit der sich Rodenbach jetzt deutlich von der Tradition der französischen Lyrik abhebt28. Als Gipfelpunkt seiner Lyrik gilt der Gedichtband „Les vies encloses“ aus dem Jahre 1896, in dem die Technik der Analogie äußerer und seelischer Vorgänge – diesmal vor allem der Analogie von Wasser in stehenden Gewässern, von Glas und Spiegeln einerseits und seelischer Ein- und Abgeschlossenheit andererseits – zur Vervollkommnung gebracht wird29.
2. Der Roman „Bruges-la-morte“ Im Mittelpunkt des Prosawerks von Georges Rodenbach steht dessen einziger Bestseller, der erstmals 1892 in Paris erschienene, rasch in zahlreiche Sprachen übersetzte und noch heute gelesene Roman „Bruges-la-Morte“ (deutsch erstmals 1902 als „Das tote Brügge“). Auf dem aktuellen deutschen Buchmarkt ist das Buch gleich in zwei Übersetzungen lieferbar30, wobei ich nach 27 28 29 30
Gorceix (o. Fußn. 9), S. 253. Eduard Klopfenstein, Teilartikel „Das Lyrische Werk“ unter Georges Rodenbach, in: Kindlers Neues Literatur-Lexikon (KLL), Bd. XIII, Stuttgart u.a. 2009, S. 767, dort auch das Zitat. So wiederum Eduard Klopfenstein, a.a.O. Georges Rodenbach, Das tote Brügge, übersetzt von Friedrich von OppelnBronikowski. Mit allen Fotografien der Erstausgabe, Berliner Ausgabe 2016, ohne Ort, Holzinger; dasselbe, übersetzt von Dirk Hemjeoltmanns mit Nachwort von Rainer Moritz, Stuttgart, Reclam Taschenbuch, 2011, mit 17 Abbildungen aus der 1904 bei Flammarion in Paris erschienenen französischen Ausgabe des Romans. Beide Ausgaben enthalten auch die in älteren deutschen Drucken oft weggefallene, ganz knappe (nicht einmal eine Druckseite umfassende) Vorbemerkung Rodenbachs zu seinem Roman.
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wie vor die klassische Übertragung von Friedrich von Oppeln-Bronikowski bevorzuge (und im Folgenden bei den Zitaten auch verwende). Der Witwer Hugues, Hauptfigur des Buches, hat einige Jahre vor Beginn der Erzählung unerwartet seine über alles geliebte Frau verloren. Nach ihrem Tod hat er sich in die schwermütige Atmosphäre der altertümlichen Stadt Brügge zurückgezogen, wo er in Einsamkeit und Zurückgezogenheit in einem der zahlreichen alten Bürgerhäuser lebt. Er wird betreut von seiner frommen, zur Bigotterie neigenden alten Haushälterin Barbe, hat aber sonst keinen Kontakt zu den Menschen in der Stadt. Stattdessen widmet er sich der Erinnerung an seine Frau, bewahrt in seiner Wohnung alles, was ihm von ihr geblieben ist – von Möbeln und Nippsachen bis hin zu all den Kleidern, die sie in den gemeinsamen Jahren ihrer Ehe getragen hat. Mittelpunkt des von ihm in seiner „Kirche des Gewesenen“ betriebenen Reliquienkults ist eine Flechte des bernsteinfarbenen Haares seiner Frau, die er ihr auf dem Totenbett abgeschnitten hat und die er nun („noch ungebleicht“) in einem durchsichtigen Schrein auf dem seit dem Tod seiner Frau verstummten Klavier bewahrt – einer „Kristallglocke, unter der die Flechte nun sichtbar ruhte und in der sie jeden Tag den Tribut seiner Verehrung empfing.“ Hugues’ einsames Leben wird jäh unterbrochen, als ihm eines Tages im Abenddämmer am Quai eines der alten Kanäle eine Unbekannte begegnet, in der er seine geliebte Tote wieder zu erkennen glaubt. Hugues gelingt es, Kontakt zu der Unbekannten aufzunehmen. Sie entpuppt sich als Jane Scott, Tänzerin aus Lille, die mit ihrer Truppe regelmäßig im Theater von Brügge auftritt. Es entwickelt sich eine Liebesbeziehung zwischen beiden. Hugues’ Liebe gilt freilich in keiner Sekunde Jane als eigener Person, sondern in ihr stets nur dem Bild seiner toten Frau. Umgekehrt werden im Verhalten von Jane je länger, desto deutlicher vulgäre Züge, aber auch eigennützige, insbesondere finanzielle Beweggründe (bis hin zu Spekulationen auf den Nachlass) als eigentliches Movens ihres Verhältnisses zu Hugues erkennbar. All das kulminiert beim ersten, von Jane ertrotzten Besuch in Hugues’ Wohnung. Anlass für den Besuch, vor dem Barbe unter Protest gegen die Liebschaft ihres Dienstherrn diesen und mit ihm seine Wohnung verlässt, ist die in Brügge – wie alle Jahre – gefeierte Heilig-Blut-Prozession, die von Hugues’ Wohnungsfenster aus bequem zu beobachten ist. Als Jane nach Vorbeizug der Prozession erst die Bilder der Toten verhöhnt und dann deren Haarflechte aus ihrem Glaskasten zieht, sie auseinanderrollt, mit ihr in die Luft schlägt, sie an ihren Mund führt und schließlich um ihren Hals wickelt „wie die Boa eines goldenen Vogels“, wird Hugues rasend, stürzt sich auf Jane, reißt ihr die Haarflechte aus der Hand und erwürgt sie mit dieser.
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Aber nicht diese äußere Handlung (und letztlich auch nicht der in ihr kulminierende Frauenmord) ist das Entscheidende des Buchs: Wie in der Lyrik Rodenbachs ist es die durchgängige Parallelisierung der „großen Schwermut“ der Stadt mit dem Grau ihrer Straßen, mit ihren Glocken und Glockentürmen, mit ihren Kirchen, ihren Klöstern und Heiligenschreinen und den hie und da einsam vorbeihuschenden Beginen, mit ihren Kanälen, Brücken und Grachten, Schwänen und Pappelreihen, aber auch mit ihrem Nebel und ihrem „feinen unaufhörlichen nordischen Regen“ auf der einen und des Seelenzustands des Protagonisten auf der anderen Seite, die den Roman nach Stéphane Mallarmé zum „Gipfelpunkt symbolistischer Prosa“31 werden lässt.
3. Die übrige Prosa Auch die weiteren Prosawerke Rodenbachs lohnen eine nähere Betrachtung32. Auch für sie fehlt leider hier die Zeit. Erwähnt seien daher nur noch zwei wichtige Arbeiten. a) Der zweitwichtigste Roman Rodenbachs, „Le Carillonneur“ (Der Glockenspieler, 1897)33 liegt – wie die meisten Prosawerke des Dichters – bis heute nicht in deutscher Übersetzung vor. Auch er, eine Dreiecksgeschichte, spielt in Brügge. Hauptfigur ist der Architekt Joris Bourluut, Glockenspieler in Brügge, der auch als Restaurator arbeitet und sich bemüht, die alte Schönheit der Stadt wieder zu beleben. Joris steht zwischen den Schwestern Barbe und Godelieve: seiner Frau Barbe, die er unter dem Einfluss der Inschrift auf einer seiner Glocken auf dem Belfried geheiratet hat, und seiner Geliebten Godelieve – sinnlich barock die eine, mystisch in sich gekehrt die andere. Als Barbe seinen Ehebruch mit Godelieve entdeckt, diese sich in ein Beginenhaus zurückzieht und Joris zudem seine Stellung als Architekt verliert, sieht er als einzigen Ausweg den Tod und erhängt sich unter der genannten Glocke. Auch hier bildet den Hintergrund die melancholische Atmosphäre des alten Brügge. Anders als in „Bruges-la-Morte“ geht es aber auch um Kunst und Religion, um Kunst und Ökonomie und um den Konflikt von Ästhetik und Pragmatik; im Engagement des Architekten gegen den Bau eines neuen Hafens finden sich darüber hinaus erste Ansätze des Einbruchs einer neuen Zeit in die im Dunstkreis ihrer Vergan-
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Zitiert nach Ulrich Prill, Teilartikel „Bruges-la-morte“ unter „Georges Rodenbach“, in: KLL Bd. XIII, S. 768–769 (768). Eine gute Analyse aller Prosawerke Rodenbachs bietet Kurt Glaser (o. Fußn. 9), S. 15–49. Die folgende Inhaltsangabe beruht in Teilen auf Prill, Teilartikel „Le Carillonneur“, unter „Georges Rodenbach“, KLL XIII, (o. Fußn. 28), S. 769.
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genheit dahindämmernde Stadt (und nicht zuletzt auch ein Hinweis auf Rodenbachs eigenen Einsatz im Streit um den Hafenbau in Zeebrügge). b) Zu nennen ist schließlich noch die in Rodenbachs posthumem Prosaband „Le Rouet des brumes“ (1901, in deutscher Übersetzung wiederum von Friedrich von Oppeln-Bronikowski als „Im Zwielicht“, erstmals 1905) enthaltene Skizze „Die Stadt“. Sie nimmt erneut – in fast noch radikalerer Form – die Thematik von „Bruges-la-morte“ auf: Ein Liebespaar, beide unglücklich mit anderen Partnern verheiratet, flieht von Paris nach Brügge, um dort endlich „frei von Lügen und Verheimlichungen“ in einem „neuen Land ein neues Leben“ zu leben. Die Liebenden kommen sich vor „wie junge Eheleute“, sie mieten sich in einem alten Gasthaus am Marktplatz gegenüber dem Belfried ein, „erobern“ sich und beginnen „sich gegenseitig zu erfassen“. Doch bald wirkt die morbide Atmosphäre der Stadt: „Sie schlenderten an den Kanälen entlang, in denen ein lebloses Wasser träumt. … Eine tiefe Schwermut herrschte überall. Und ihre Liebe bekam etwas davon ab, sie wurde matter und zärtlicher. Es war etwas von der Liebe, wie man sie vor der Trennung fühlt. … Eine Liebe, die durch die Nähe des Todes herausgefordert wird … Denn hier herrschte der Tod. … Selbst in den Nächten, in denen Kuß auf Kuß sich folgte, erschraken sie bisweilen über das Glockenspiel, das alle Viertelstunden vom Belfried herüberschallte. … Auch das Glockenspiel wirkte entmutigend, wie die Nähe des Todes.“34
„Nichts hatte Anstoß gegeben, kein Streit war entstanden“. Die einst überschäumende Leidenschaft indessen kühlt sich von Tag zu Tag ab, und bald stellen beide fest, dass sie sich nicht mehr lieben. Sie sagt „Lüge nicht, du liebst mich nicht mehr. Du willst fort.“ Er versucht nicht zu leugnen und seufzt „Ja, die Stadt ist daran schuld“, und sie stimmt ein: „Es ist nicht unsere Schuld. … Der Tod ist hier stärker als die Liebe“.
V. Zum Schluss: Die Musik Ich komme zum Schluss und damit noch zu einem weiteren Thema – der Musik. Trotz aller seiner Qualitäten ist Rodenbach in Deutschland seit langem allenfalls ein Geheimtipp. Einen Anstoß für seine Wiederentdeckung könnte die seit einiger Zeit zu beobachtende Renaissance von Erich Wolfgang Korngolds spätromantischer Oper „Die tote Stadt“ liefern, deren Libretto (wenn auch in ziemlich freier Form) auf Rodenbachs „Bruges-la-Morte“ beruht und die damit eines von vielen Beispielen der Inspiration musikalischer Werke vor allem des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts durch die französischspra34
Zitiert nach der Ausgabe Weimar (Kiepenheuer), 1913, S. 58–66 (60–62).
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chige symbolistische Dichtung gerade auch Belgiens bietet. Genannt seien hier nur Claude Debussys Meisterwerke „Pelléas et Mélisande“ und „Prélude à l’ après-midi d’ un faune“ (Libretto für das erste ein Drama von Maurice Maeterlinck, Vorlage für das zweite eine Dichtung von Stéphane Mallarmé, dieser freilich kein Belgier) und die Vertonungen von Albert Girauds schönem Gedichtzyklus „Pierrot Lunaire“ unter anderem durch Arnold Schönberg, Max Kowalski und Roger Marsh – Martin Roeber hat auf der letzten Tagung dazu vorgetragen35. Hinzuzufügen wären noch Paul Dukas’ in neuerer Zeit allmählich wiederentdeckte, auf dem gleichnamigen Drama Maurice Maeterlincks beruhende Oper „Ariane et Barbe-Bleue“ aus dem Jahre 1907 (Aufführungen zuletzt wieder in Frankfurt am Main 2007 und in Graz 2018) und Aribert Reimanns von der Deutschen Oper 2017 in Berlin uraufgeführte Trilogie lyrique „L’Invisible“ (Textgrundlage drei kleine Stücke wiederum von Maurice Maeterlinck). Zurück aber zu Korngold und seiner Oper (und damit zurück zum Frauenmord). Grundlage des Librettos ist „Le Mirage“, eine Dramenfassung des Romans, die sich im Nachlass Rodenbachs gefunden hat und die erstmals im April 1900 in der „Revue de Paris“ und kurz danach, 1901, auch als Buch gedruckt worden ist. Schon 1902 ist unter dem Titel „Die stille Stadt“ die deutsche Übersetzung von Siegfried Trebitsch gefolgt. In dieser deutschen Fassung ist das Stück 1903 mit wenig Erfolg bei Kritik und Publikum an einem Berliner Theater uraufgeführt worden – ob am Deutschen oder am Lessingtheater, ist in der Literatur uneinheitlich überliefert36. 1913 hat Trebitsch seine Übersetzung in der von Martin Roeber erworbenen, im Georg Müller Verlag in München erschienenen bibliophilen Ausgabe der dramatischen Werke Rodenbachs – nun unter dem Titel „Das Trugbild“ – noch einmal drucken lassen37. Trebitsch war es auch, der den Text dem Rechtsanwalt und Musikkritiker Julius Korngold, dem Vater des damals noch sehr jugendlichen Komponisten, als Grundlage für ein Opernlibretto empfohlen hat. Julius Korngold war 35
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Vgl. dazu Martin Roeber, „Pierrot Lunaire“ – Juristen pflastern seinen Weg“, abgedruckt in: Britta Lange / Martin Roeber / Christoph Schmitz-Scholemann (Hrsg.), Grenzüberschreitungen: Recht, Normen, Literatur und Musik. Tagung im Nordkolleg Rendsburg vom 8.–10.9.2017, Berlin / Boston 2019, S. 51–66 mit Abdruck des Textes von Girauds Gedichtzyklus in der Übersetzung von Erich Hartleben im Anhang, S. 120–122. Dass die Uraufführung im Deutschen Theater stattgefunden hat, wird bei Gorceix (o. Fußn. 7), S. 154, überliefert; Maximilian Hagemeyer (Dramaturg an der Komischen Oper Berlin), Träume vom Gestern, Leben im Präteritum, in: Programmheft zur Aufführung der Oper „Die tote Stadt“ an der Komischen Oper im Jahre 2018, S. 13–18 (15), verlegt die Uraufführung dagegen ins „Berliner Lessingtheater“. Georges Rodenbach, Die dramatischen Werke (o. Fußn. 11), S. 1–110.
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sofort „Feuer und Flamme“ und verfasste schließlich anstelle des zunächst vorgesehenen Autors selbst zusammen mit seinem Sohn das unter dem Pseudonym „Paul Schott“ (neuer Vorname der Hauptfigur Hugues in der Oper und Familienname des Musikverlegers) publizierte Libretto38. Schon Rodenbachs Drama „Das Trugbild“ unterscheidet sich wesentlich von dem ihm zugrunde liegenden Roman: Ein entscheidendes Moment, das Stimmungsgebundene, die Parallelisierung der Atmosphäre der in ihre Vergangenheit versunkenen Stadt mit dem von Schwermut gezeichneten Seelenzustand der Figuren, ist weithin entfallen; der Text konzentriert sich sehr viel stärker auf den Handlungsablauf, die psychologischen Interaktionen zwischen den Hauptpersonen und hier vor allem auf die doppelte Beziehung des Haupthelden zu seiner toten Frau einerseits, deren Andenken er in seiner Wohnung, der „Kirche des Gewesenen“, zelebriert, und der von ihm an ihre Stelle gesetzten Doppelgängerin Jane andererseits, die im Fortschreiten der Beziehung eher noch gröber und unsympathischer wirkt als im Roman. Ganz neu ist eine zentrale Szene, in der die Tote Hugues in einer Vision als Traumbild erscheint. Am Ende bittet er seine Frau „Lass mich zu ihr [zu Jane] gehen“. Die Umwandlung der Vorlage, die nahezu ohne Gespräche der Beteiligten auskommt, in eine Theaterfassung erfordert darüber hinaus einschneidende formale Änderungen, insbesondere die Darbietung der Handlung in bühnengerechten Dialogen. Mit Joris Borlunt, einem alten Freund von Hugues, der im Fortgang des Dramas immer stärker als Mahner gegen dessen Versenkung in das Vergangene in Erscheinung tritt, rückt eine gegenüber dem Roman ganz neue Figur ins Bild (deren Namen uns freilich in Rodenbachs Roman „Le Carillonneur“ bereits einmal ähnlich begegnet ist). Sie ermöglicht Rodenbach die Verwandlung so mancher Schilderung in Wechselrede. Der Schluss freilich bleibt unverändert derselbe: Jane besucht Hugues in seiner Wohnung, um die Heilig-Blut-Prozession zu sehen. Sie provoziert Hugues, treibt ihren Spott mit den Bildern und schließlich auch mit dem Haar seiner toten Frau. Was dann folgt, sei hier wörtlich zitiert: Hugues: „Gib mir das zurück, das ist Heiligenschändung.“ Jane: „Die meinigen sind aber viel feiner. … “ Hugues: „Nimm dich in acht, das gehört einer Toten. Die Tote wird sich rächen.“ Jane: „Schenk mir dies Haar.“ Hugues: „Unantastbar. … Die Tote hat es gesagt. … Willst Du hergeben?“ Jane: „Nein!“ Hugues: „Nimm dich in acht, das Haar rächt sich. … Gib es mir wieder, du siehst doch dass du sonst büssen musst.“ 38
Vgl. zu alledem Maximilian Hagemeyer (o. Fußn. 36), S. 14 f.; dort auch das Zitat.
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Jane: „Nein … Aber du tust mir weh, du bist verrückt.“ Hugues – der die Flechte um ihren Hals wie einen Strick zusammenzieht: „Jetzt habe ich Dich aber … Ich werde dich töten, ich werde meine Sünde töten … Töten, töten … Lieben – und lachen.“39
Als Barbe, die ihn verlassen hat, unmittelbar danach noch einmal in Hugues’ Wohnung zurückkehrt, um einen vergessenen Korb zu holen, erblickt sie mit Schrecken die Leiche, erklärt ihren Herrn für wahnsinnig, und dieser schließt das Drama mit den Worten „Nicht ich hab’s getan, ihr Haar, ihr Haar…“. Das Libretto der beiden Korngolds40 folgt weithin dieser Version des Stoffs, wenn auch die Figuren ihre Namen geändert haben: Aus Hugues wird Paul, aus Jane Marietta, Hugues’ Freund Joris heißt bei Korngold Frank, Hugues’ Hausgehilfin Barbe Brigitta. Ganz neu ist eine Szene, in der Marietta mit ihrer Theatertruppe im Mondschein an einem „öden, einsamen Kai“ in Brügge in ironischer Form eine Szene aus Giacomo Meyerbeers Oper „Robert der Teufel“ singt und tanzt – einer Oper, die zu Beginn von Rodenbachs Roman unter Beteiligung von Jane am Theater in Brügge gegeben und dort von Hugues besucht wird. Noch stärker als im Drama wirkt in der Oper die dieser Szene vorausgehende Vision Pauls, die Erscheinung seiner toten Frau, die hier den Namen Marie trägt. Es folgt all das, was auch in Roman und Drama die weitere Handlung bestimmt: das zunehmende Zerwürfnis Pauls mit Marietta, deren Besuch bei Paul zur Heilig-Blut-Prozession, die Provokationen Mariettas mit Bildern und Haarflechte der Verstorbenen und das grausame Ende im Frauenmord. Zu einer völlig überraschenden Wende kommt es freilich in der letzten Szene: Paul erwacht bei der Rückkehr von Brigitta aus dem Schlaf, sucht vergeblich nach der Getöteten, und auch Brigitta findet keine Leiche, sondern berichtet „Die Dame von vorher, Herr Paul – Sie kehrte an der Ecke um“. Alles, was auf die Erscheinung Mariens gefolgt ist, bis hin zum Frauenmord war nichts anderes als ein wüster Traum, mit dem es Paul letztlich gelungen ist, seine exaltierte Bindung an die Vergangenheit, an seine verstorbene Frau, zu lösen und sich auch innerlich von Jane (hier: Marietta) freizumachen, der er zuvor keinen Augenblick um ihrer selbst willen, sondern ausschließlich als einem Erinnerungsbild an die Tote verbunden war. Die vermeintliche Poesie des Frauenmords (oder – um mit dem Titel des berühmten Romans von Thomas de Quincey zu sprechen – der „Mord als schöne Kunst betrachtet“) wird so zu einem – ich zitiere noch einmal Martin Roeber – 39 40
Georges Rodenbach, Die dramatischen Werke (o. Fußn. 11), S. 106–108. Im Buchhandel lieferbar: Erich Wolfgang Korngold, Die tote Stadt. Textbuch. Oper in drei Bildern frei nach G. Rodenbachs Schauspiel „Das Trugbild“ („Bruges la Morte“) von Paul Schott, Mainz u.a. (Schott), o.J. (erstmals 1920).
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„psychoanalytisch verbrämtem Traum“41 und zugleich zur künstlerischen Darstellung eines Vorgangs psychologischer Selbstbefreiung. Paul Gorceix, ein weiterer Biograph Rodenbachs, resümiert: „Dieser dritte Wechsel von Fach und Stimmlage zeigt die künstlerische Wandelbarkeit und den Reichtum des von Rodenbach in seinem Roman behandelten Themas.“42
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A.a.O. (o. Fußn. 7). Paul Gorceix (o. Fußn. 7), S. 155 (Übersetzung vom Verfasser).
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Das Verbrechen in der Sprache des Gesetzes 1. Das Verbrechen – was ist das eigentlich? Wer wissen will, wie die Sprache des Gesetzes Verbrechen in Worte fasst, muss zunächst einmal sagen, was er mit dem Wort „Verbrechen“ bezeichnet. Noch im Mittelhochdeutschen war ein Verbrecher schlicht jemand, der das Gesetz – irgendein Gesetz – gebrochen hatte. Erst im 17. Jahrhundert wandelte sich der Begriff in der Sprache der Juristen zu einem Wort für besonders schwere Straftaten1. Dabei ist es bis heute geblieben: Das Strafgesetzbuch unterscheidet in §2 12 zwischen zwei Arten von Straftaten, einmal den leichteren Vergehen und dann den schwereren Verbrechen. Bei ihnen handelt es sich um Straftaten, bei denen das Gesetz als Minimum ein Jahr Freiheitsstrafe androht. Beispiele sind Raub und natürlich Mord und Totschlag. Hingegen sind beispielsweise Diebstahl, Sachbeschädigung und Beleidigung lediglich Vergehen. Der Diebstahl kann aber zum Verbrechen werden, und zwar wenn bei ihm in eine Privatwohnung eingebrochen wird (§ 244 Abs. 4) und in bestimmten Fällen eines Bandendiebstahls (§ 244a).
Die Unterscheidung von Verbrechen und Vergehen stammt aus dem französischen Recht. Dort unterscheidet man crimes et délits und als dritte, noch leichtere Kategorie die contraventions, zu Deutsch „Übertretungen“. Die gab es auch einmal im deutschen Recht – bis sie 1975 abgeschafft wurden, indem man die fraglichen Tatbestände entweder ganz gestrichen oder zu Ordnungswidrigkeiten gemacht hat. Der Unterschied von Verbrechen und Vergehen spielt rechtlich eine nicht unerhebliche Rolle: Bei Verbrechen ist der Versuch stets strafbar, bei Vergehen nur zum Teil, bei Verbrechen kann auch die nur versuchte Anstiftung bestraft werden – und anderes mehr. Wichtig ist vor allem im Prozessrecht, 1 2
Der Duden, Band 7, Das Herkunftswörterbuch, 5. Auflage 2014, S. 186 (unter „brechen“). Im Folgenden sind §§ solche des Strafgesetzbuches, sofern nichts anderes angegeben wird.
https://doi.org/10.1515/9783110744156-006
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dass nur bei den Vergehen eine Einstellung des Verfahrens gegen Auflagen – meist eine Geldzahlung – möglich ist. In der strafrechtlichen Dogmatik wird das Wort Verbrechen übrigens an einer Stelle noch immer stellvertretend für sämtliche Straftaten gebraucht: in dem Begriff der „allgemeinen Verbrechenslehre“, in der es um besonders allgemeine und oft abstrakte Fragen geht (etwa darum, ob der Vorsatz zu dem Begriff des Unrechts oder zu jenem der Schuld gehöre). Auch im Folgenden benutze ich das Wort „Verbrechen“ als Stellvertreter für sämtliche Straftaten. Das Strafgesetzbuch verwendet als allgemeinen Begriff für alle Straftaten noch die Wendungen „strafbare“ oder „mit Strafe bedrohte Handlung“ – die auch in einem Unterlassen bestehen kann – und eben „Straftat“. In der strafrechtlichen Literatur schreibt man oft auch das Fremdwort „Delikt“. Das hat man sich allerdings mit dem Zivilrecht zu teilen – in dem ein Delikt jedoch auch eine schädigende Handlung sein kann (und oft ist), die strafrechtlich irrelevant bleibt.
2. Das Verbrechen gibt es überhaupt nur in der Sprache des Gesetzes a) Strom ist keine „Sache“ – Das Gesetzlichkeitsprinzip Zentral ist im deutschen Strafrecht das sogenannte Gesetzlichkeitsprinzip. Es steht, weil es so wichtig ist, sowohl im Grundgesetz als auch im Strafgesetzbuch – und dort gleich an allererster Stelle, im § 1. Er lautet: „Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.“ Im Grundgesetz findet sich exakt der gleiche Satz im Abs. 2 des Artikels 103. Dieses Gesetzlichkeitsprinzip hat vier Ausformungen, von denen an dieser Stelle nur eine Beachtung finden soll: das sogenannte Analogieverbot. Es besagt, dass ein Verhalten nur dann bestraft werden kann, wenn es vom Wortlaut eines Straftatbestandes noch erfasst wird. Ist dies nicht der Fall, darf der Straftatbestand auch dann nicht entsprechend angewendet werden, wenn dies offensichtlich sinnvoll wäre und dem Willen des Gesetzgebers entspräche. Das Reichsgericht hat das einmal anhand eines Stromdiebstahls vorexerziert. Da hatte jemand eine fremde Stromleitung angezapft, um Energiekosten zu sparen. Damals war Elektrizität noch ein neues Phänomen, und der Gesetzgeber hatte sich damit noch nicht befasst. Sein Strafgesetzbuch enthielt nur eine Norm zum gewöhnlichen Diebstahl; praktisch dieselbe, die dort noch immer steht, auch mit derselben Paragrafen-Nummer (§) 242. Dort heißt es: „Wer
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eine fremde bewegliche Sache wegnimmt [und so weiter]“. War Strom eine „Sache“? Nein, meinte das Reichsgericht: Sachen seien nur körperliche Gegenstände, Strom hingegen sei etwas unsichtbar Körperloses. Daher sah sich das Gericht außerstande, das Verhalten des Stromdiebes zu bestrafen – auch wenn allen Beteiligten klar war, dass dieses Verhalten wertungsmäßig das gleiche war wie ein gewöhnlicher Diebstahl, und wenn ebenso klar war, dass der Gesetzgeber auch das Anzapfen von Stromleitungen ausdrücklich unter Strafe gestellt hätte, wenn er nur schon im Jahre 1871, als er das Reichsstrafgesetzbuch in Kraft setzte, an eine solche Handlung gedacht hätte. Das hat der Gesetzgeber dann natürlich sofort nachgeholt. Die neue – heute natürlich auch schon wieder alte – Vorschrift findet sich jetzt im § 248c. Dieser Straftatbestand hat die Überschrift Entziehung elektrischer Energie. Dieses Analogieverbot, das sich das Reichsgericht so vorbildlich zu Herzen genommen hat, führt dazu, dass es Verbrechen im technischen, strafrechtlichen Sinne überhaupt nur in der Sprache des Gesetzes gibt: Wo die Sprache des Gesetzes einen Sachverhalt nicht mehr zu erfassen vermag, wo der Sachverhalt also, wie man es auch dreht und wendet, außerhalb der Wortlautgrenzen des Gesetzes liegt – da bleibt das Verhalten straffrei, da ist es keine Straftat, kein Verbrechen im Sinne des Strafrechts. Das hat man auch schon in jener Epoche so gesehen, der wir das Gesetzlichkeitsprinzip mit seinem Analogieverbot verdanken, der Epoche der Aufklärung. Damals fasste man das Gesetzlichkeitsprinzip in eine lateinische Sentenz: nulla poena, nullum crimen sine lege. Heißt: Keine Strafe, kein Verbrechen ohne Gesetz. Erst das Gesetz kann ein Verhalten zum Verbrechen machen. Franz von Liszt – nicht der Komponist, sondern ein Cousin von ihm und berühmter Strafrechtslehrer – hat das in eine weitere anschauliche und vielzitierte Formel gefasst: Das Strafgesetz sei die „Magna Charta des Verbrechers“3. Will sagen: So, wie sich die Engländer einst eine Einschränkung ihrer Freiheitsrechte nur gemäß der Magna Charta Libertatum von 1215 gefallen lassen mussten, kann sich in Deutschland jeder Bürger auf den Wortlaut des Strafgesetzes berufen, wenn ihn der Staat für ein Verhalten bestrafen will, das dieser Wortlaut nicht erfasst.
3
Von Liszt, Franz, Über den Einfluss der soziologischen und anthropologischen Forschungen auf die Grundbegriffe des Strafrechts, in: Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, Band 2, 1905, S. 75–93 (80).
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b)…und Bierdeckel sind keine „Urkunden“ – wirklicher Sprachgebrauch statt Wörterbuch und Fachsprache Entscheidend ist dann, wie man die Grenzen dieses Wortlautes definiert. Deutsche Gerichte tun dies mit Hilfe von Wörterbüchern und eigener Sprachkompetenz. Dabei suchen sie Belege dafür, dass das fragliche Verhalten in der Sprachgemeinschaft bereits mit jenem Wortlaut bezeichnet worden ist und wird, der im Gesetz steht. Und sie überlegen, ob sie dies auch selbst täten. Diese Methode hat allerdings Schwächen. Sie bestehen darin, dass eine solche Suche auch vom Zufall abhängt, und vor allem darin, dass sie den gesamten Sprachgebrauch in den Blick nimmt, also nicht darauf achtet, von wem ein Wortgebrauch stammt. Das führt leicht dazu, dass ein Sachverhalt noch innerhalb der Wortlautgrenzen verortet wird, weil er in einer Fachsprache, insbesondere der juristischen, noch mit dem Wortlaut erfasst wird. So kommt es etwa dazu, dass Strafgerichte meinen, das Wort „Urkunde“ im Straftatbestand der Urkundenfälschung erfasse auch Fahrgestellnummern und Bierdeckel mit Bleistiftstrichen4. Das widerspricht aber einem ganz wichtigen Grundsatz, den auch das Bundesverfassungsgericht hochhält: dem Grundsatz, dass die Wortlautgrenzen des Strafrechts mit Blick auf die Allgemeinsprache zu ziehen sind, das heißt jene Sprache, die normale Menschen sprechen, und zwar in unserer heutigen Zeit5. Abhilfe schafft eine neue Methode, um die Wortlautgrenze zu definieren, und zwar die Korpuslinguistik6. Sie zieht eine möglichst große und repräsentativ zusammengestellte Textmenge heran, das sogenannte Textkorpus, und ermittelt dann mit der Suchfunktion eines Rechners, wie dort die Wörter verwendet werden7. Das ist die eine Möglichkeit der – so der Fachbegriff – empirischen 4 5
6
7
BGHSt. 9, 235 (240) (Fahrgestellnummer); RG DStrZ 1916, 77 (Bierdeckel). BVerfGE 130, 1 (43); 71, 108 (115). Für das Schrifttum Eser / Hecker in Schönke / Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, bearbeitet von Albin Eser u.a., 29. Auflage 2014, § 1 Rn. 54; Roxin, Claus, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band I, 4. Auflage 2006, § 5 Rn. 26 ff., 28. Im Anschluss an Mouritsen, Stephen C., The Dictionary Is Not a Fortress: Definitional Fallacies and a Corpus-Based Approach to Plain Meaning, BYU Law Review, Vol. 2010 Nr. 5, S. 1915–1979, obergerichtlich erstmals in In re Baby E.Z., Utah 266 P. 3d 702; später obergerichtlich in People v. Harris, Michigan 885 N.W. 2d 832. Vgl. Hamann, Hanjo, Der „Sprachgebrauch“ im Waffenarsenal der Jurisprudenz, in: Friedemann Vogel (Hrsg.), Zugänge zur Rechtssemantik. Interdisziplinäre Ansätze im Zeitalter der Mediatisierung, 2015, S. 184–204; Vogel, Friedemann, Pötters, Stephan, und Christensen, Ralph, Richterrecht der Arbeit – empirisch untersucht. Möglichkeiten und Grenzen computergestützter Textanalyse am Beispiel des Arbeitnehmerbegriffs, 2015, S. 72–79.
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Sprachgebrauchsanalyse. Die zweite Möglichkeit sind umfrageartige Erhebungen zum Sprachverständnis (demoskopische Methode). Natürlich fragt sich, welche Anforderungen an demoskopische Erhebungen zu stellen sind und welche an die Zusammenstellung und Größe untersuchter Textkorpora. Ferner wird man Mindesthäufigkeiten festlegen müssen, da es für einen rechtlich relevanten Sprachgebrauch nicht genügen kann, dass ihn irgendwer irgendwann einmal praktiziert hat. Doch diese Schwierigkeiten lassen sich bewältigen, und insgesamt erscheint eine empirische Ermittlung des Sprachgebrauchs heute als der plausibelste Weg, um die Grenzen eines Wortlauts abzuschreiten.
3. Guck mal, wer da spricht – von wem stammt die Sprache des Gesetzes? Auf den ersten Blick ist diese Frage leicht zu beantworten: Die Sprache des Gesetzes stammt vom Gesetzgeber. Aber wer ist das eigentlich? Soweit es die Sprache des Gesetzes betrifft, besteht der Gesetzgeber vor allem in jenen Referenten in den Ministerien, von denen die Gesetzentwürfe verfasst werden. Sie schreiben nicht, wie ihnen der Schnabel (oder die Schreibhand) gewachsen ist, sondern wie es lang gepflogener Übung entspricht. Dafür gibt es Wörter- und Formulierungslisten sowie ein dickes Handbuch der Rechtsförmlichkeit8. Was es leider nicht gibt, ist das, was in der Schweiz die Verwaltungsinterne Redaktionskommission (VIRK) ist. Sie achtet darauf, dass schweizerische Gesetzestexte übersichtlich, verständlich und sprachökonomisch werden. Und das funktioniert auch. Etwas ähnliches versucht in Deutschland die Gesellschaft für deutsche Sprache mit ihrem „Redaktionsstab beim Deutschen Bundestag“9. Sie hat damit indes kaum Erfolg. Ursache ist, dass sie erst im parlamentarischen Verfahren tätig wird, das heißt wenn die Gesetzentwürfe die Ministerien bereits verlassen haben. Das ist zu spät – denn danach ändert sich der Wortlaut nur noch marginal, wenn überhaupt, und ist niemand mehr bereit, die Dinge sprachlich noch einmal gründlich zu überdenken und auf den Prüfstand zu stellen. Wer den Ergebnisunterschied der Tätigkeit der VIRK einerseits und des „Redaktionsstabes“ andererseits einmal deutlich vorgeführt haben will, vergleiche eine beliebige Norm der schweizerischen Strafprozess8 9
Siehe Handbuch der Rechtsförmlichkeit, herausgegeben vom Bundesministerium der Justiz, 3. Auflage 2008, abrufbar unter https://www.bmjv.de/DE/Themen/RechtssetzungBuerokratieabbau/HDR/HDR_node.html, abgerufen am 10.10.2019. Siehe https://gfds.de/ueber-die-gfds/redaktionsstab-im-bundestag/, abgerufen am 7.9.2019.
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ordnung von 2009 mit einer solchen der deutschen StPO, vorzugsweise einer Norm neueren Datums.
4. Wertewandel gleich Stilwandel gleich Sprachwandel – das Strafgesetzbuch im Wandel der Zeit Unser Strafgesetzbuch stammt in seinem Besonderen Teil, der die einzelnen Straftaten definiert, aus dem Jahr 1871. Damals trat es – noch unter dem Namen Reichsstrafgesetzbuch – in Kraft. Dessen Allgemeiner Teil wurde dann 1975 vollständig durch eine Neufassung ersetzt. Der Besondere Teil hingegen blieb in Kraft – wenn auch in zigfach veränderter Fassung: alte Tatbestände wurden gestrichen oder geändert, neue kamen hinein. Wirklich aus dem Jahre 1871 stammen daher heute nur noch die allerwenigsten Formulierungen. Beispiele sind die Fassung des Grundtatbestandes des Diebstahls, § 242 StGB, und der Beleidigungstatbestand. Andere Tatbestände aus der Startbesetzung des Strafgesetzbuches sind längst gestrichen worden. So der Tatbestand der Kuppelei, früher § 180 und § 181 RStGB, sowie der frühere § 179 RStGB, der 1871 lautete: „Wer eine Frauensperson zur Gestattung des Beischlafs dadurch verleitet, daß er eine Trauung vorspiegelt, oder einen anderen Irrthum in ihr erregt oder benutzt, in welchem sie den Beischlaf für einen ehelichen hielt, wird mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren bestraft.“
Dieser Straftatbestand gibt nicht nur ein schönes Beispiel dafür, welche kognitiven Fähigkeiten und geistigen Leistungen man seinerzeit „Frauenspersonen“ zutraute, sondern auch eines für den sprachlichen „Sound“ jener Epoche. Nach dem Kaiserreich, in der Weimarer Zeit, änderte sich daran nicht viel; im Sprach- und Wortgebrauch kam es zu keinem Umbruch, der so fundamental gewesen wäre wie jener in der Staatsverfassung des Reiches. Und so sprach das Jugendgerichtsgesetz von 1923 für Jugendliche zum Beispiel davon, sie statt ins Gefängnis „in die Zucht der Erziehungsberechtigten oder der Schule“ zu „überweisen“, wenn eine herkömmliche Strafe entbehrlich erschien. Diese Wortwahl hat sich in dem Begriff der „Zuchtmittel“ bis auf den heutigen Tag erhalten. Das ist jener Begriff des Gesetzes, der noch immer einen Teil der nicht bestrafenden Sanktionen bezeichnet, zum Beispiel Verwarnungen und die Auflage, Arbeitsleistungen zu erbringen. Allerdings dürfte heute den meisten – auch den meisten Juristen – dieses Wort „Zuchtmittel“ als sprachlich etwas aus der Zeit gefallen erscheinen. In der Sache war das Jugendgerichtsgesetz bei seinem Inkrafttreten ein hochmodernes Gesetz, das in der Tat mit einer Tradition des Kaiserreiches brach, indem es für junge Straftäter den Erzie-
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hungsgedanken an die Stelle des reinen Vergeltungs- und Abschreckungsdenkens setzte. In der Nazi-Zeit wurde das Verbrechen in der Sprache des Gesetzes ungenauer und pauschaler bezeichnet. Einen Mord beging nun zum Beispiel jemand, der einen anderen „aus niedrigen Beweggründen“ tötete, für die Nötigung kam es darauf an, dass die Handlung als „verwerflich“ erschien, und für die Körperverletzung bei einer Einwilligung darauf, ob die Tat trotz der Einwilligung gegen „die guten Sitten“ verstieß. Das passte dazu, dass auch das Gesetzlichkeitsprinzip mit seinem Analogieverbot fiel. Bestraft werden durfte ab 1935, „wer eine Tat begeht, die das Gesetz für strafbar erklärt oder die nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach gesundem Volksempfinden Bestrafung verdient.“(§ 2 RstGb)
Nach dem Krieg wurde es nüchterner. Ein Beispiel liefert das erste Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität von 1976 (1. WiKG). Es führte unter anderem den Straftatbestand des Subventionsbetruges neu ein, das ist – auch heute noch – der § 264 StGB. Er zählt in seinem ersten Absatz (von heute neun) in vier Nummern einzelne Tatvarianten auf, von denen nur die erste lautet: „Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer [Nr. 1] einer für die Bewilligung einer Subvention zuständigen Behörde oder einer anderen in das Subventionsverfahren eingeschalteten Stelle oder Person (Subventionsgeber) über subventionserhebliche Tatsachen für sich oder einen anderen unrichtige oder unvollständige Angaben macht, die für ihn oder den anderen vorteilhaft sind […].“
Zum Vergleich der klassische Betrugstatbestand von 1871, der unverändert fortgilt: „Wer in der Absicht, sich oder einem Dritten einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen, das Vermögen eines anderen dadurch beschädigt, daß er durch Vorspiegelung falscher oder durch Entstellung oder Unterdrückung wahrer Tatsachen einen Irrtum erregt oder unterhält, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“
Das ist zwar auch nicht so klar, wie es sein könnte – aber doch etwas farbiger und leichter lesbar als die jüngere Norm. Angehalten hat seit den 70er Jahren die Tendenz, die Tatbeschreibungen immer länger und verästelter werden zu lassen und auf mehrere Nummern eines Straftatbestandes zu verteilen. Es gibt aber auch Ausnahmen. Eine ist der neue § 217 StGB, der die geschäftsmäßige Beihilfe zum Suizid unter Strafe stellt10. Dort heißt es schlicht: 10
Diesen Straftatbestand hat das Bundesverfassungsgericht mittlerweile kassiert, siehe sein Urteil vom 26.2.2020, Aktenzeichen 2 BvR 2347/15 (und andere).
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Leider ist diese Vorschrift zugleich ein Beispiel für etwas, das man einen Etikettenschwindel nennen könnte. Denn mit dem Wort „geschäftsmäßig“ wollte der Gesetzgeber – entsprechend juristischem Fachsprachgebrauch – lediglich sagen, dass der Handelnde die Absicht haben muss, eine solche Unterstützungsleistung zu einem wiederkehrenden Teil seiner Tätigkeit zu machen. Verkauft worden ist der Straftatbestand der Öffentlichkeit hingegen mit dem moralisch eingängigen Slogan „keine Geschäfte mit dem Tod!“ – also der Suggestion, es ginge darum, nur Sterbehelfer mit wirtschaftlich-finanziellem Interesse, also gewerbsmäßig handelnde Personen zu erfassen. Außerdem ist der Begriff des „Geschäftsmäßigen“ ein Beispiel, um die Möglichkeiten zu zeigen, die das korpuslinguistische Verfahren für die Definition der Wortlautgrenzen bietet (oben 2 b). Denn nach einer Studie, die ein mir persönlich bekannter Sprachwissenschaftler mit seinen Mitarbeitern durchgeführt hat, wird das Wort „geschäftsmäßig“ in der Allgemeinsprache mit einer ganz anderen Bedeutung gebraucht, als der Gesetzgeber im Sinn gehabt hat; so anders, dass die Autoren der Studie deren Ergebnis pointiert wie folgt zusammenfassen: „Aus den beiden letztgenannten Beobachtungen könnte man vorsichtig die (zugespitzte) These ableiten, dass sich die fachsprachlich-terminologischen und gemeinsprachlichen Bedeutungen von ʻgeschäftsmäßigʼ tendenziell gegenseitig ausschließen.“
Nun wäre es wohl ein Irrtum, von dieser Erkenntnis umweglos darauf zu schließen, dass kein Bürger verstehen könne, was § 217 StGB unter Strafe stellen wolle. Denn bei einem Versuch, dies zu tun, ginge auch ein normaler Mensch davon aus, dass der Begriff des Geschäftsmäßigen in einer juristischen Norm nicht zwingend die gleiche Bedeutung habe wie in der Allgemeinsprache – wo er so viel heißt wie „nüchtern, sachlich, emotionslos“. Aber er käme nicht auf die Idee, dass dieser Begriff nur eine qualifizierte Wiederholungsabsicht bezeichnen soll – ohne jeden Bezug zum Wirtschaftlichen und Finanziellen. Und daher dürfte es jenes „Verbrechen“, das der Gesetzgeber in § 217 StGB unter Strafe stellen wollte, in der Sprache des Gesetzes tatsächlich gar nicht geben; weil diese (analogiefeindliche) Sprache in § 217 StGB etwas anderes erfasst, und zwar, wie schon gesagt, die gewerbsmäßige Suizidassistenz.
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5. Stilmerkmale gesetzlicher Tatumschreibungen Kommen wir noch zu einigen Stilmerkmalen gesetzlicher Formulierungen von Straftaten.
a) Die Sprache des Gesetzes ist deutsch § 184 Satz 1 des Gerichtsverfassungsgesetzes bestimmt: „Die Gerichtssprache ist deutsch“. Und § 23 Abs. 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes sagt: „Die Amtssprache ist deutsch“. Aber dass auch die Gesetzessprache deutsch sei, steht in keiner Rechtsnorm (wohl aber im Handbuch der Rechtsförmlichkeit)11. Gleichwohl ist sie dies, und zwar mit großer Konsequenz. Man mag den Redakteuren unserer Gesetze einiges vorhalten können, aber sicher nicht, dass sie vorschnell zu englischen Wörtern oder Fremdwörtern griffen. Sie tun das nur äußerst selten; auch dort, wo es naheläge. Und so heißt zum Beispiel „Stalking“ im Gesetz „Nachstellung“ (§ 238 StGB), und der „Computer“ begegnet uns in § 100b StPO (zur Online-Durchsuchung) als „informationstechnisches System“ (anders aber in § 263a StGB).
b) Sprechen Sie StGB? Typisches Gesetzesdeutsch Apropos Stalking, will sagen Nachstellung: Wie genau umschreibt denn das Gesetz dieses Delikt in § 238 StGB? So: „Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer einer anderen Person in einer Weise unbefugt nachstellt, die geeignet ist, deren Lebensgestaltung schwerwiegend zu beeinträchtigen, indem er beharrlich 1. die räumliche Nähe dieser Person aufsucht, 2. unter Verwendung von Telekommunikationsmitteln oder sonstigen Mitteln der Kommunikation oder über Dritte Kontakt zu dieser Person herzustellen versucht, 3. unter missbräuchlicher Verwendung von personenbezogenen Daten dieser Person a) Bestellungen von Waren oder Dienstleistungen für sie aufgibt oder b) Dritte veranlasst, Kontakt mit ihr aufzunehmen, oder 4. diese Person mit der Verletzung von Leben, körperlicher Unversehrtheit, Gesundheit oder Freiheit ihrer selbst, eines ihrer Angehörigen oder einer anderen ihr nahestehenden Person bedroht oder 5. eine andere vergleichbare Handlung vornimmt.“
11
Handbuch der Rechtsförmlichkeit (Fußn. 7) Rn. 68.
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Das ist ein typisches Beispiel moderner, oder sagen wir besser aktueller Strafgesetzgebung, und zwar insofern der Gesetzgeber mit höchstem Einsatz versucht, auch noch die letzte mögliche oder irgendwie denkbare Handlung zu erfassen, die zum Repertoire eines Stalkers gehören mag. Am Schluss gibt es dazu sogar noch eine ausdrückliche Analogie-Erlaubnis; also eine Erlaubnis zu dem, was eigentlich streng verboten ist (oben 2 a). Wenn es der Gesetzgeber aber selbst gestattet, kann dagegen nur noch eingewandt werden, das Gesetz werde durch die analogieoffene Formulierung zu ungenau. Das indes ist nach herrschender Ansicht nicht der Fall, wenn die übrigen Tatbestandsalternativen hinreichend klar erkennen lassen, um welche Art Tathandlung es bei den Analogien gehen wird12. Das mag man zwar für § 238 StGB bezweifeln13. Ich vermute indes, dass das Bundesverfassungsgericht der Vorschrift seinen Segen gäbe – wenn man es denn je zu ihr befragt. Zur weiteren Veranschaulichung nun noch die gesetzlichen Formulierungen zweier weiterer Straftaten: Vergewaltigung und Schwarzfahren. Der Begriff der Vergewaltigung gehört zur juristischen Fachsprache und wurde vom Gesetzgeber sogar ausdrücklich definiert; das nennt man eine Legaldefinition. Ihr zufolge liegt eine Vergewaltigung vor, wenn jemand an einem anderen gegen dessen erkennbaren Willen sexuelle Handlungen vornimmt oder von ihm vornehmen lässt, und zwar in der Form, dass er … „… mit dem Opfer den Beischlaf vollzieht oder vollziehen lässt oder ähnliche sexuelle Handlungen an dem Opfer vornimmt oder von ihm vornehmen lässt, die dieses besonders erniedrigen, insbesondere, wenn sie mit einem Eindringen in den Körper verbunden sind (Vergewaltigung).“
Wir verdanken diese Definition der Reform des Sexualstrafrechts durch eine Gruppe engagierter Bundestagsabgeordneter. Dass die Definition nicht aus der Gesetzeswerkstatt eines Ministeriums stammt, ist an mindestens zwei Schwächen erkennbar. Zum einen bleibt unklar, wie jemand einen anderen etwas gegen dessen erkennbaren Willen „vornehmen lassen“ kann – wenn dabei weder Gewalt angewendet noch gedroht wird, und dass dies nicht zu geschehen braucht, ist gerade der Hauptwitz der Reform gewesen (wenn Gewalt angewendet oder mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben gedroht wird, erfüllt dies einen Qualifikationstatbestand, der die Tat auch im technischen Sinne zu einem Verbrechen macht, § 177 Abs. 5 StGB). Zum zweiten ist es 12 13
Stellvertretend König, in: Heinrich Wilhelm Laufhütte, Ruth Rissing van Saan und Klaus Tiedemann (Hrsg.), Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch, 12. Auflage 2006 ff., § 315 Rn. 40 ff. m.w.N. Vgl. Kühl, in: Kristian Kühl und Martin Heger, Strafgesetzbuch. Kommentar, 29. Auflage 2018, § 238 Rn. 5 m.w.N.
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zumindest sprachlich schief, wenn der Täter mit dem Opfer den Beischlaf vollziehen „lässt“; gemeint ist natürlich, dass der Täter den Beischlaf mit dem Opfer vollzieht oder ihn von dem Opfer vollziehen lässt. Das für Laien Gewöhnungsbedürftigste ist aber wohl, dass eine Vergewaltigung auch ohne jeden Geschlechtsverkehr auskommt. Es reicht, dass der Vorgang besonders erniedrigend ist. Und dazu genügt es auch schon – ist aber nicht einmal zwingend erforderlich –, dass der Täter mit irgendetwas irgendwie und irgendwo in den Körper des Opfers eindringt. Diese Weite der Formulierung hat zur Folge, dass man zum Beispiel überlegen muss, ob auch ein Zungenkuss als Vergewaltigung im Sinne des Gesetzes zu betrachten sei. In den Niederlanden hatte die Rechtsprechung dies bei ähnlicher Gesetzeslage ab 1998 bejaht und das erst 2013 revidiert. Die Vergewaltigung ist glücklicherweise kein besonders oft begangenes Delikt. Von 5.555.520 in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) erfassten Straftaten entfielen im letzten Jahr 9.234 auf Fälle von Vergewaltigung und sexueller Nötigung in einem besonders schweren Fall, das sind 0,17%. Anders schaut das bei dem Delikt aus, das von folgender gesetzlicher Formulierung zum Ausdruck gebracht wird: „Wer die […] Beförderung durch ein Verkehrsmittel […] in der Absicht erschleicht, das Entgelt nicht zu entrichten, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft […].“ (G 265 a)
So klingt also die Sprache des Gesetzes für das, was ein normaler Mensch „Schwarzfahren“ nennt; Juristen sagen „Beförderungserschleichung“. Umstritten ist, was das Verb „erschleichen“ heißt. Die Gerichte lassen genügen, dass jemand ohne gültigen Fahrschein fährt und sich den „Anschein ordnungsgemäßen Verhaltens“ gibt14. Eine Minderheit von Autoren hingegen meint, dass dieses Wort ein Umgehen oder Überwinden von Sicherungsvorrichtungen bedinge; etwa von solchen mechanischen Schranken, wie man sie von der Pariser Metro und den U-Bahnen anderer Städte im Ausland kennt. Dabei geht es erstens wieder um den Grundsatz, dass es das Verbrechen nur in der Sprache des Gesetzes gibt: Wenn das gewöhnliche Schwarzfahren kein „Erschleichen“ im Sinne des Gesetzes ist, dann ist es auch keine Straftat. Zweitens hat das Ganze auch einen wirtschaftlichen Hintergrund: Setzt die Strafbarkeit das Überwinden von Sicherungsvorrichtungen voraus, müssen die Verkehrsunternehmen solche Vorrichtungen installieren, um von der abschreckenden Wirkung der Strafdrohung zu profitieren; und das kostet Geld. 14
BGHSt. 53, 122 (125); OLG Frankfurt a.M., NStZ-RR 2001, 269 (ebd.); OLG Hamburg NStZ 1991, 587 (588).
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c) Farbiges Der Begriff des „Erschleichens“ ist außerdem ein schönes Beispiel dafür, dass manche ältere Tatbestandsfassung noch eine Farbigkeit hat, die neueren Formulierungen fehlt; etwa der des Stalking-Tatbestandes. Weitere Beispiele sind das „Verunglimpfen“ des Andenkens Verstorbener (§ 189), das „Quälen“ und „rohe“ Misshandeln von Schutzbefohlenen (§ 225), die „Schlägerei“, an der sich jemand strafbar beteiligt (§ 231), die „Mordlust“ (§ 211) und das „Vereiteln“ der Strafverfolgung zugunsten eines anderen (§ 258). Zuzugeben ist allerdings, dass dies manchmal – etwa beim rohen Misshandeln – zu Einbußen bei der tatbestandlichen Bestimmtheit führt. Aber die gibt es leider auch in den allermodernsten Tatbeständen. Derzeit plant das Justizministerium zum Beispiel einen neuen Straftatbestand, bei dem jemand in „grob anstößiger Weise“ Fotos von Unfallopfern macht15. Es mag sinn- und aussichtlose Nostalgie sein, aber ich bedaure das ängstliche Besorgtsein um die eigene sprachliche Dignität, das ich in vielen neueren, umständlichen und abstrakten Tatbestandsformulierungen zu erkennen meine.
d) Verstaubtes Auch als Nostalgiker stören mich auf der anderen Seite allzu antiquierte Begriffe des Gesetzes, zum Beispiel der des „Beischlafs“ – der auch noch bei der jüngsten Reform des Sexualstrafrechts beibehalten wurde. So spricht heute kein Mensch mehr, nirgends. Dann sollte dies auch das Gesetz nicht mehr tun. Ähnliches gilt für den „hinterlistigen Überfall“ in § 224 (Gefährliche Körperverletzung) und die „gemeine Gefahr oder Not“ in § 323c (Unterlassene Hilfeleistung). Rundum gute Gesetze müssen auch sprachlich zeitgemäße Gesetze sein.
e) Missglücktes Eine andere – und unangenehmere – Form des Missglückens von Straftatbeständen sind unklare und schwer verständliche Formulierungen. Unklar sind vor allem vage und weite Begriffe wie die bereits erwähnten „niedrigen Beweggründe“ in § 211 (Mord), die „Verwerflichkeit“ in § 240 StGB (Nötigung) und die „guten Sitten“, deren Missachtung bei einer Körperverletzung die Einwilligung des Opfers unbeachtlich macht (§ 228). In einem Punkt sind solche Formulierungen eigentlich klar: Sie verletzen das Bestimmtheitsgebot
15
Der Bundestag hat dieses Gesetz am 20.7.2020 beschlossen.
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(Art. 103 Abs. 2 GG). Aber eben nur eigentlich, denn das Bundesverfassungsgericht nimmt an ihnen bislang keinen Anstoß. Ein Beispiel für eine schwer verständliche Formulierung liefert § 352, das ist der Straftatbestand der sogenannten Gebührenüberhebung. Und um zu verstehen, was das ist, muss man diese Norm mindestens zweimal lesen. Sie lautet: „Ein Amtsträger, Anwalt oder sonstiger Rechtsbeistand, welcher Gebühren oder andere Vergütungen für amtliche Verrichtungen zu seinem Vorteil zu erheben hat, wird, wenn er Gebühren oder Vergütungen erhebt, von denen er weiß, daß der Zahlende sie überhaupt nicht oder nur in geringerem Betrag schuldet, mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.“
Ursache der Unverständlichkeit ist das leidige Satzgeschachtel, also das Ineinanderschieben von Sätzen, deren Einzelteile dann auseinandergerissen werden und vom Leser nur durch gedankliche Verrenkungen wieder zusammengefügt werden können. Das gelingt den Wenigsten bereits beim ersten Lektüredurchgang16.
f) Der Verbrecher in der Sprache des Gesetzes – und die Verbrecherin? Zum „Gendern“ im Strafrecht Geschlechtergerechtigkeit ist dem aktuellen Gesetzgeber ein überragend wichtiges Anliegen, was er auch sprachlich zum Ausdruck bringen will. Ich halte die meisten – nicht alle – seiner Versuche, dies zu tun, für unnütze und nervtötende Verschlimmerungen der Gesetzessprache. Darum soll es hier aber gar nicht gehen17. Hier möchte ich nur darauf hinweisen, dass diese Versuche das Strafrecht bislang sehr weitgehend verschonen – und dass mir auch keine Stimmen bekannt sind, die das zu ändern verlangten. Jedenfalls habe ich noch nicht gehört, dass gefordert worden wäre, im Strafgesetzbuch nicht nur von „dem Mörder“ zu sprechen, sondern auch von der Mörderin – und der Räuberin, der Gehilfin, der Anstifterin und ganz allgemein von der Täterin. Und auch mit Blick auf den neuen Straftatbestand der Nachstellung, vulgo Stalking, regt sich niemand darüber auf, dass es heißt: „wer einer anderen Person […] nachstellt, […], indem er beharrlich (die räumliche Nähe dieser Person aufsucht etc.). Das gleiche Bild liefert uns die Strafprozessordnung. Sie kennt ausschließlich grammatisch männliche Beschuldigte – und dann konsequent auch nur den Zeugen, den Richter, den Beschwerdeführer und so fort. Das hat der Gesetzgeber bewusst so belassen und setzt es bei Gesetzesänderungen fort, und zwar 16 17
Zu diesem Thema näher meine Kleine Stilkunde für Juristen, 3. Auflage 2017, S. 78 ff. Näher in meiner Stilkunde (Fußn. 15), S. 231 ff.
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mit der Erwägung, es gehe bei diesen Begriffen doch eher um „Prozessrollen“ denn um konkrete Menschen18. Das ist sehr zutreffend – gilt allerdings für sämtliche Gesetze. Denn alle Gesetze sind abstrakt-generelle Regelungen, die nicht von realen und konkreten Menschen handeln, sondern von Ämtern, Rollen und Funktionen: von Menschen in ihrer Rolle als Bürger, Bauherr, Antragsteller, Elternteil – und was man sonst noch so in unserer Rechtsordnung sein kann.
6. Die Sprache des Gesetzes als Verbrechen Diese Überschrift fällt in die Kategorie der Ideen, die dann doch nicht ausgeführt wurden. Ursprünglich hatte ich vor, sie einem Abschnitt voranzustellen, der die übelsten Sprachsünden in gesetzlichen Straftatbeständen aufspießen sollte. Aber das habe ich jetzt immerhin auf kleiner Flamme bereits getan (oben 5 e). Und für ein noch umfangreicheres Gesetzgeber-Bashing ist mir dieser Beitrag dann doch zu schade gewesen. Denn das Thema bietet interessantere Facetten. Das hoffe ich nun zumindest angedeutet zu haben. Und den Veranstaltern unserer Tagung danke ich dafür, dass sie mit diesem Thema einverstanden gewesen sind und mir seine Behandlung vor illustrem Publikum ermöglicht haben!
18
BR-Drucks. 256/06 – in der Begründung unter A6.
7.
Burghard Kreft
Bach als Justiz-Subjekt Arie „Heil und Segen“ aus der Ratswahlkantata 1730 Text: „Heil und Segen Soll und muss zu aller Zeit Sich auf unsre Obrigkeit In erwünschter Fülle legen, Dass sich Recht und Treue müssen Miteinander freundlich küssen.“
Man kann füglich daran zweifeln, ob Bach selbst davon ausging, Heil und Segen hätten sich schon in ausreichender Fülle auf seine unmittelbare Obrigkeit gelegt...
I. Allgemeines Hätte Bach die Streitereien, die er mit seinen Dienstvorgesetzten durchaus hatte, vor Gerichten ausgetragen – was er nicht hat, und wäre die Gerichtsbarkeit in Deutschland vor dreihundert Jahren schon so organisiert gewesen wie heute – was sie in gar keiner Weise war, dann wäre Bach teilweise wohl bei einem Arbeitsgericht vorstellig geworden, soweit man ihn nämlich als Arbeitnehmer in Diensten einer Kirchengemeinde oder eines Herzogtums ansehen müsste, teilweise wäre er aber wohl bei den Verwaltungsgerichten am richtigen Platz gewesen, soweit er nämlich möglicherweise als Beamter einer Stadt wie Leipzig anzusehen wäre, dort bestellt auf Lebenszeit – und zwar im natürlichen Sinne und nicht wie heute, wo die „Lebenszeit“ von Beamten und von Richtern mit 65, demnächst 67 Jahren ja abrupt beendet wird. So richtig klar geschieden waren die beiden Typen von Dienstverhältnissen – privatrechtliches Arbeitsverhältnis und öffentlich-rechtliches Beamtenverhältnis – seinerzeit aber noch nicht – wir reden von den Jahren nach 1700 –, ebenso wenig wie es die Gerichtsbarkeiten damals waren: Es gab weder Arbeitsgerichte, noch gar Verwaltungsgerichte im heutigen Sinne.
https://doi.org/10.1515/9783110744156-007
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Das möchte ich für Nicht-Juristen ganz kurz erläutern: In der Bundesrepublik Deutschland gibt es fünf eigenständige, organisatorisch und institutionell klar voneinander getrennte Gerichtsbarkeiten. Sie kennen die Namen alle: -
Ordentliche Gerichte = Zivil- und Strafgerichte Arbeitsgerichte Verwaltungsgerichte Sozialgerichte Finanzgerichte.
Zu Bachs Zeiten gab es gleichsam nur die ordentliche Gerichtsbarkeit: Es gab in den Territorien Gerichte, vor die Streitigkeiten über private Rechte – etwa aus Verträgen, aus Eigentum, aus Erbschaften aus Privilegien – gebracht werden konnten, und es gab die Strafrechtspflege. Oberster Gerichtsherr im jeweiligen Territorium war der jeweilige Landesherr – und das oft nicht nur in einem formellen Sinne als Souverän, in dessen Namen Recht gesprochen wurde, so wie noch heute jedes Urteil im Namen des obersten Souveräns gesprochen wird, nämlich „Im Namen des Volkes“ –, sondern nein, die Landesherren sprachen manchmal auch inhaltlich das letzte Wort, insbesondere, wenn sie selbst irgendwie betroffen waren... Wir müssen bedenken, dass wir mit Blick auf Bach über eine Zeit der frühen oder auch Voraufklärung sprechen: Erst 1690 war in England John Lockes „Zwei Abhandlungen über die Regierung“ erschienen, Montesquieus „De lʼesprit des lois“, also „Vom Geist der Gesetze“, in dem er die Notwendigkeit der staatlichen Gewaltenteilung und damit der absoluten Unabhängigkeit der Gerichte darlegte, war noch gar nicht erschienen, das tat er erst 1748 in Genf – zwei Jahre vor Bachs Tod – und unterfiel außerdem sofort der Zensur... Immerhin gab es in Deutschland, d.h. im ja noch bis 1806 existierenden Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, dem alle deutschen Territorien angehörten, seit 1495 das Reichskammergericht – ab 1527 in Speyer, von 1689 bis zu seinem Ende 1806 in Wetzlar, wo, wie wir alle wissen, ja nicht zuletzt der Lizenziat der Rechte Goethe von Mai bis September 1772 auf Wunsch seines Vaters ein Praktikum absolvierte. Am Reichskammergericht war ab 1555 der sogenannte Untertanenprozess möglich. Untertanen eines der Reichsstände – also Untertanen eines der mehr als 300 geistlichen und weltlichen Fürsten, Prälaten, Grafen, sonstigen Herren, eines Ritterordens, einer Freien Stadt oder einer Reichsstadt, die Sitz und Stimme im Reichstag besaßen, Menschen wie wir also – konnten sich vor dem Reichskammergericht gegen Eingriffe ihrer jeweiligen Obrigkeit in eigene „wohlerworbene Rechte“ und Privilegien wehren; das Gericht war außerdem letzte Appellationsinstanz
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gegen Urteile der territorialen Gerichte, falls nicht der um seine Souveränität besorgte Landesherr beim Kaiser das „privilegium de non appallando“ erwirkt hatte: Das Privileg, dass gegen die Urteile der eigenen Gerichte gerade nicht zum Gericht des Reiches appelliert werden konnte. Das soll aber jetzt als kleine justizielle Duftnote der Bach-Zeit ausreichen, denn wie gesagt: Bach selbst zog, soweit bekannt, nicht vor Gericht, auch wenn das nicht am Mangel an Konflikten lag... Bach war also, wenn Sie so wollen, im engeren Sinne gar kein Justiz-Subjekt, er war nur ein RechtsSubjekt, wie wir alle, und vielleicht war er ein Streit-Subjekt – das werden wir sehen...
II. Arnstädter „Verdrießlichkeiten“ Im August 1703 trat der – 18-jährige – Bach seine erste Stelle in Arnstadt (bei Erfurt) an. „Bestallungsurkunde“ vom 9. August 1703: Demnach der hochgebohrne Unser Gnädigster Graff und Herr Herr Anthon Günther, der vier Graffen des Reiches Graff zu Schwarzburg und Hohnstein, Herr zu Arnstadt, Sondershaußen Leütenberg, Lohra und Clettenberg, Euch Johann Sebastian Bachen zu einem Organisten in der Neüen Kirchen annehmen und bestellen laßen, ... (Ihr sollet) insonderheit ... Euch in Eürem anbefohlnen Ambte, Beruff, Kunstübung und Wißenschafft fleißig und treülich bezeigen in andere Händel und verrichtungen Euch nicht mengen, zu rechter Zeit an denen Sonn- und Fest- auch andern zum öffentlichen Gottes dienst bestimbten Tagen in obbesagter Neüen Kirchen bey dem Eüch anvertrauten Orgelwercke Euch einfinden, solches gebührend tractiren, darauff gute Acht haben, und es mit allem Fleiß verwahren, da etwas daran wandelbar würde es bey Zeiten melden und daß nöthige reparatur beschehe, Erinnerung thun, Niemanden ohne vorbewust des Herrn Superintendenten auf selbiges (Orgelwerk) laßen und insgemein Euch bester Möglichkeit nach angelegen seyn laßen, damit Schaden verhütet, und alles in guten weßen und Ordnung erhalten werde, gestalt Ihr Euch denn auch sonsten in Eurem Leben und wandel der Gottesfurcht, Nüchterkeit und verträglichkeit zubefleißigen, böser Gesellschafft und Abhaltung Eures beruffs Euch gäntzlich zu erhalten, und übrigens in allen, wie einem Ehrliebenden Diener und Organisten gegen Gott, die Hohe Obrigkeit und vorgesetzten, gebühret, treulich zuverhalten.
Das war vielleicht nicht immer der Fall...
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1. „Zippelfagottist“... Sachverhalt: Am 5. August 1705 wird Bach bei dem Konsistorium – wenn man so will: seiner Anstellungsbehörde – vorstellig, um einen Vorfall anzuzeigen, bei dem er des Nachts zuvor auf dem Marktplatz von dem Schüler Johann Heinrich Geyersbach beschimpft und schließlich tätlich angegriffen worden sei, weshalb er zu seiner Verteidigung nach seinem Degen habe greifen müssen. Er bitte: „unthertänigst gedachten geyersbachen zu verdiente straffe zu ziehen, und ihme deswegen genügliche Satisfaction thun zu laßen, auch selbigen v. anderen zu imponieren, daß sie ihn führo hin ohngeschimpfet und geschlagen passiren laßen müssen“.
Was war geschehen? Aufgrund der durch das Konsistorium durchgeführten Vernehmungen des Beschuldigten Geyersbach sowie – als Zeugen – eines der bei dem Vorfall anwesenden Schüler namens Hoffmann und von Barbara Catharina Bach, der ihn begleitenden Cousine, auf deren Zeugnis sich Bach berufen hatte, falls dieses Zeugnis „alß das einer Weibesperson sufficient erkannt würde“, lassen sich folgende Feststellungen zum Tathergang treffen: Johann Sebastian Bach befand sich am 4. August 1705 zusammen mit eben seiner Cousine Barbara Catharina Bach spät abends auf dem Heimweg von Schloss Neideck, wo er wohl bei Hof musiziert hatte. Am Marktplatz stießen sie auf eine Gruppe von Schülern, die zuvor bei einer Tauffeier ein Ständchen dargeboten hatten, und nun vor dem Rathaus auf einem Steintisch beisammensaßen. Als einer von ihnen, der (fast 23-jährige) Schüler Johann Heinrich Geyersbach, den (20-jährigen) Organisten Bach erblickte, lief er diesem nach, vertrat ihm den Weg und fragte ihn, warum Bach ihn beschimpft habe. Bachs Entgegnung, er habe ihn nicht beschimpft, sondern sei friedlich seines Weges gegangen, ließ Geyersbach nicht gelten, sondern erklärte, Bach habe sehr wohl kürzlich sein Fagott „geschimpfet“, wer aber „seine Sachen schimpffte der schimpffte ihn“, Bach solle eingestehen, ihn einen „Zippel Fagottisten geheißen zu haben“. Dann ging Geyersbach, der einen Stock bei sich trug, mit erhobener Hand auf Bach los und schlug nach dessen Gesicht. Bach konnte dem Schlag weder ausweichen noch ihn abwehren. Bei dem folgenden Handgemenge zwischen dem Geyersbach und Bach, kamen beide ins Straucheln. Dabei verlor Geyersbach seinen Stock, was Bach offenbar nicht bemerkte, vielmehr griff Bach nun zu seinem Degen, den er zur Hofkleidung trug, um sich gegen weitere Stockschläge, besser verteidigen zu können. Bevor er seinen Degen noch verwenden konnte, gelang es den herbeigeeilten anderen Schülern sowie Barbara Catharina Bach, beide Kontrahenten zu trennen.
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„Zippel-Fagottist“: Maarten tʼHaart – der holländische Biologe, Schriftsteller und Bach-Kenner – stellt voller Begeisterung fest: „Das erste verbürgte Wort aus dem Munde Bachʼs“... Aber was ist ein Zippel-Fagottist? Das Deutsche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm führt diesen Begriff nicht auf. Allerdings lassen sich dort zwei andere Begriffe finden die einschlägig sein könnten, nämlich „Zippel“ und „Zippeler“. „Zippel“: Ein großer, ungelenker, etwas dummer Mensch...; danach allgemein übertragen auf minderwertige geistige und sittliche Eigenschaften: Zipfel unbeholfener, einfältiger, dummer Mensch, stärker: ...Dummkopf...; Schimpfwort Zipfel. „Zippeler“: Der mittelhochdeutsche Ausdruck für „Schüler, Jünger ...das lat. discipulus, discipula fortsetzend“. Dann stünde der Ausdruck „Zippel-Fagottist“ wohl eher für „schülerhaftes Spielen auf einem Fagott“ und würde vielleicht nur den sozialen Unterschied zwischen dem jungen, aber fertigen Organisten Bach und dem zwar älteren, aber noch unfertigen Schüler herausstellen. Da Geyersbach selbst erklärt hat, Bach habe seine Sachen beschimpft – und dadurch ihn, könnte der zusammengesetzte Begriff auch nur der Bezeichnung des Instruments gedient haben, das – ähnlich einer Schülergeige – eben ein einfacheres gewesen sei und deshalb beim Spielen höheren (klanglichen) Ansprüchen nicht genügt habe. Vielleicht war es wirklich nur ein einfaches – meist zur Verstärkung der Chorbässe eingesetztes – „Chorist-Fagott“ oder auch „Dulzian“ (Holzinstrument, Vorläufer des Fagott; dulcis = süß). Falls Beleidigung von Geyersbach: Vertragsverstoß, da Beziehung zum Dienst Ist „Degen-Tragen“ normal? So normal wie Waffentragen in den USA sicher nicht, aber auch nicht unüblich, jedenfalls nicht für den Adel und bei Hofe – und von da kam Bach... Was war seinerzeit die Konsequenz? Da widersprüchliche Aussagen vorlagen, wurden die beiden Streithähne beschieden, sie würden sobald „ein Bescheid abgefasset“, Nachricht erhalten. Aus den Akten ergibt sich nicht, ob es zu je zu einem Bescheid kam. Geyersbach wurde jedenfalls nicht etwa der Schule relegiert und ging ein Jahr später auf Universität in Jena... Bach blieb auch, was er war... Eine Kündigung wäre das aus heutiger Sicht wohl auch nicht wert gewesen.
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Während der an mehreren Tagen stattfindenden Vernehmungen kam es allerdings durchaus zu Vorhaltungen. Bach hätte die Äußerung besser sein lassen sollen, „...dazumahlen er ohne dem in dem ruff daß mit denen Schühlern er sich nicht vertrüge vnd vorgebe, er sey nur auff Choral, nicht aber musicalische stücke bestellet, welches doch falsch, denn er müste alles mit musiciren helffen.“
Darauf entgegnet Bach: Er weigere sich nicht, „wann nur ein Director musices da wehre“. Daraufhin das Konsistorium: „Mann lebe mit imperfectis und müsste er sich mit den Schühlern vergleichen – auch eines dem andern das Leben nicht sauer machen“;
das wäre Bach möglicherweise auch von einem heutigen Arbeitsgericht gesagt worden... Zu allem bemerkt Friedrich Blume, Musikwissenschaftler und Bachkenner: „...das Maß an Geduld, über das Bach verfügte, ist in seinem ganzen Leben nie sehr groß gewesen.“
2. Urlaubsüberschreitung Im November 1705 erbat Bach bei seinem unmittelbaren Vorgesetzten, Superintendent Johann Gottfried Olearius, einen vierwöchigen Urlaub. Der wurde ihm gewährt; er hätte dann zu Weihnachten wieder zur Verfügung gestanden. Bach wollte nach Lübeck, um dort den Organisten an der Marienkirche, Dietrich Buxtehude, landesweit berühmt, zu hören und „umb daselbst ein und anderes in seiner Kunst zu begreiffen“. Für eine Fußreise, und die trat Bach an, war dieser Zeitraum sehr knapp, Bach hätte sich dann nur wenige Tage in Lübeck aufhalten können. Aus den vier Wochen wurden denn auch etwa drei Monate; Bachs Anwesenheit in Arnstadt ist erst wieder zum 7. Februar 1706 belegt. In Lübeck machte man sich übrigens Gedanken über eine Nachfolge für den schon recht betagten Buxtehude. Allerdings knüpfte dieser an eine Nachfolge die Bedingung, der Nachfolger müsse seine Tochter Anna Margaretha heiraten, weshalb schon 1703 u.A. Georg Friedrich Händel dankend abgelehnt haben soll... Während seiner Abwesenheit ließ sich Bach in Arnstadt durch seinen Cousin Johann Ernst Bach an der Orgel vertreten, der später nach Bachs Wechsel nach Mühlhausen auch sein Nachfolger werden sollte. Bach verteidigt vor dem Konsistorium seine Überziehung des Urlaubs damit, er habe sich doch anständig vertreten lassen. Er habe hoffen dürfen,
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„das orgelschlagen würde unterdeßen von deme, welchen er hiezu bestellet, dergestalt seyn versehen worden, daß deßwegen keine Klage geführet werden können.“
Aber: § 613 BGB... Grund zur Kündigung gegeben, bei dieser Dauer von Fernbleiben: wohl selbst zur fristlosen...
3. Ungewöhnliches Musizieren Für das Konsistorium stand bei Bachs Anhörung wohl eher ein anderes Problem der Bachʼschen Dienstausübung im Vordergrund: Es ging um Bachs Musizierstil, nämlich die „fremden Töne in der Musik“ und das „zu lange bzw. zu kurze Präludieren“. Man hält Bach vor, „daß er bißher in dem Choral viele wunderliche variationes gemachet, viele frembde Thone mit eingemischet, daß die Gemeinde darüber confundiret worden. Er habe ins künfftige wann er ja einen tonum peregrinum mit einbringen wolte, selbigen auch außzuhalthen, und nicht zu geschwinde auf etwas anderes zu fallen, oder wie er bißher in brauch gehabt, gar einen Tonum contrarium zu spiehlen.“
Bach wird also vorgeworfen, zu oft die Tonart zu wechseln, dissonante Begleitakkorde zu spielen und mit ungewöhnlichen Tönen die Gemeinde zu verwirren. Das würden wir jetzt gerne einmal mit Ihnen zusammen nachvollziehen:... Choralvorspiel „Allein Gott in der Höhʼ sei Ehrʼ“ Bei der Anhörung in Arnstadt folgen weitere Vorhaltungen zum Fehlen der Aufführung eigener Kompositionen und von Figuralmusik, außerdem zur Zusammenarbeit mit dem Schülerchor. Es wird der Chorpräfekt – ein den Chor stellvertretend leitender Schüler – angehört, und zwar „wegen der Disordres so bißher in der Neüen Kirche zwischen denen Schühlern und dem Organisten passiret“. Dieser erzählt, „der Organist Bach habe bißhero etwas gar zu lang gespiehlet, nachdem ihm aber vom Herrn Superint[endenten] deswegen anzeige beschehen, wäre er gleich auf das andere extremum verfallen, und hätte es zu kurtz gemachet.“
Heutige Rechtslage: Angestellt als Organist; keine inhaltlichen Vorgaben erkennbar; grundsätzlich Weisungsrechte des Arbeitgebers aus § 106 GewO; aber künstlerische Freiheit durch Weisungsrechte schwer zu begrenzen, welche Lieder und Choräle: ja; wie aber zu spielen: wohl nein.
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Bach wird außerdem vorgeworfen, er sei „letztverwichenen Sonntags unter der Predigt in Weinkeller gangen“. Bach gibt das zu, es tue ihm leid und solle nicht mehr geschehen. Hinzu kommt die Anschuldigung, er habe eine „frembde Jungfer“ – vermutlich seine spätere Ehefrau Maria Barbara – auf die Orgelempore geführt und dort singen lassen – zu einer Zeit, als Frauen das Singen in der Kirche noch untersagt war... Bach wurde seinerzeit abgemahnt: „Er müsse sich künftig gantz anders und beßer als bißher er gethan, anstellen, sonst würde das guthe, so man ihm zugedacht, wieder eingezoegn werden.“
III. Weimar (1708–1717) – davor Divi Blasii in Mühlhausen 1707 geht Bach in die Freie Reichsstadt Mühlhausen, um dort Organist der Kirche Divi Blasii zu werden. Er komponiert hier u.a. einige seiner frühen Meisterwerke, vor allem die ersten erhaltenen Kantaten („Aus der Tiefen“, „Gott ist mein König“). Nach nur einem Jahr übersiedelt er nach Weimar, wo er Hoforganist wird – vielleicht ein bisschen undankbar, denn die Stadt Mühlhausen war gerade abgebrannt...
1. Bewerbung als Organist an der Liebfrauenkirche Halle, Dezember 1713 Bach ist zunächst mit seiner Stellung in Weimar zufrieden, will aber offenbar mehr, nämlich eine „regulirte Kirchenmusik zu Gottes Ehre“ schaffen, also Kapellmeister sein und Kirchenmusik komponieren. Zu diesem Zweck arbeitet er zielstrebig an seiner Karriere und bewirbt sich 1713 um die Stelle eines Organisten an der Liebfrauenkirche in Halle. Das kommt dort der Stelle des städtischen Musikdirektors gleich. Bach macht ein Probespiel und bietet Ende 1713 sogar eine Probekantate dar; er wird gewählt und erhält seine schriftliche Bestallung. Die nimmt er jedoch nicht an und bestreitet bald darauf, sich überhaupt beworben zu haben... Der Zweck könnte erklärbar sein: Sein Verhandeln mit Halle führt in Weimar zur Ernennung in das für ihn geschaffene Amt als „Konzertmeister“ und damit zur Verpflichtung, monatlich eine ein neues Stück – eine Kantate – aufzuführen und zu nicht unbeträchtlicher Gehaltserhöhung – auf insgesamt etwa 450 Gulden = etwa 230 Reichstaler; das sind bei aller Vorsicht, unter Berücksichtigung der Kaufkraft gleichwohl nicht mehr als etwa 12.000,00 Euro im Jahr; es kommen freilich 30 Scheffel Korn, vier Klafter Floßholz und 30 Eimer Bier im
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Jahr noch dazu...; zudem ist die Miete wohl frei und sind Nebeneinkünfte möglich... Gegen den Vorwurf aus Halle, er habe nur taktiert, wehrt sich Bach in einem langen Brief vom 19. März 1714 vehement. Man darf in der Tat vermuten, dass es ihm mit einem Stellenwechsel zunächst ernst war, weil in Weimar auch die „musikalische Atmosphäre“ unter dem Dauerstreit der beiden Souveräne litt, die durchaus denselben Musikern verboten, jeweils für den anderen zu spielen: In Dauer-Fehde lagen der ältere Onkel Herzog Wilhelm Ernst – und der jüngere Neffe – Herzog Ernst August; der letztere war großer Musikfreund, der erstere auch, aber mehr interessiert an der Jagd und deshalb an der Jagdmusik... Herzog Wilhelm Ernst, der Onkel, war der eigentlich regierende starke Mann. Er hat Bach wohl schlicht nicht nach Halle fortgelassen, immerhin aber befördert... (Erst 1728 folgt der Neffe dem Onkel nach dessen Tod als Alleinregent nach). Heutige Rechtslage: Im Verhältnis zu Halle: Solange Vertrag nicht geschlossen, keine Verpflichtung; insbesondere nicht, wenn über bestimmte Punkte noch gar keine Einigkeit, wie hier etwa über das Gehalt. Allerdings ein Schuldverhältnis, aus dem gegenseitige Rechte und Pflichten entstehen können, wird schon durch die Aufnahme von Vertragsverhandlungen begründet, § 311 Abs. 2 BGB – damit kommt immerhin ein möglicher sogenannter Vertrauensschaden der Gemeinde in Halle in Betracht... Im Verhältnis zu Weimar: Seinerzeit könnte schon das Ersuchen um Entlassung aus dem herzoglichen Dienst – zu dem es nicht kam – als unbotmäßig angesehen worden und gefährlich gewesen sein. Das zeigt der Fall des Waldhornisten Adam Andreas Reichhardt: Der wollte mehrfach weg, wurde jedes Mal zu 100 Schlägen und Gefängnis verurteilt, ging schließlich heimlich von Hofe weg, wurde für vogelfrei erklärt, wurde gefasst – und tatsächlich gehängt! Gleichsam als musikalischen Gegenentwurf zu dieser Willkür könnte man die Arie „Schafe können sicher weiden“ von 1713 verstehen...
2. Bewerbung nach Anhalt-Köthen 1717 1716 stirbt in Weimar Kapellmeister Johann Samuel Drese. Bach rechnet mit der Nachfolge, Herzog Wilhelm Ernst will aber – nicht ganz verbürgt – Telemann. Der sagt jedoch ab und erzählt Bach davon – man kennt sich: Georg Philipp Telemann ist Pate von Sohn Carl Philipp Emanuel Bach, geb. 1714.
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Bach wird gleichwohl übergangen, wohl zugunsten des Sohnes von Drese. Nachdem er keine Audienz erhalten und der Herzog ihm auch noch die Lieferungen von Notenpapier gestrichen hatte, hört Bach aus Trotz auf zu komponieren. Im Sommer 1717 bewirbt Bach sich nach Anhalt-Köthen. Er war dort womöglich von Neffe Herzog Ernst August als dem Ehemann der Schwester des in Anhalt regierenden Fürsten, schon um den Onkel damit zu treffen, empfohlen worden... Bach wurde in Köthen von Fürst Leopold freudig engagiert und unterzeichnete bei erneut höherer Entlohnung einen Einstellungsvertrag als Hofkapellmeister im Rang eines Hofoffiziers mit Wirkung schon vom 1. August 1717. Erst danach hat er um Entlassung aus den herzoglichen Diensten in Weimar ersucht. Wilhelm Ernst verweigert seine Zustimmung und lässt Bach am 6. November 1717 im Turm des Weimarer Schlosses einsperren. Trotzdem erfolgt schließlich im Dezember 1717 die Amtsübernahme in Köthen, nachdem Bach am 2. Dezember aus der Haft in der sogenannten Landrichter-Stube entlassen worden war. Dazu heißt es amtlich: „eod. die 6. Nov. (1717) ist der bisherige Concert-Meister und Hof-Organist, Bach, wegen seiner Halsstarrigen Bezeügung und zu erzwingenden dimission auf der LandRichter-Stube arretiret, und entlich den 2. Dezember darauf, mit angezeigter Ungnade, Ihme die Dimission durch den Hofsekretär angedeütet, und zugleich des arrests befreyet worden.“
Rechtslage heute: Beamtenverhältnis: § 33 BBG: Entlassung auf Verlangen (1) 1Beamtinnen und Beamte sind zu entlassen, wenn sie gegenüber der zuständigen Behörde schriftlich ihre Entlassung verlangen. 2Die Erklärung kann, solange die Entlassungsverfügung noch nicht zugegangen ist, innerhalb von zwei Wochen nach Zugang bei der zuständigen Behörde zurückgenommen werden, mit Zustimmung der zuständigen Behörde auch nach Ablauf dieser Frist. (2) 1Die Entlassung kann jederzeit verlangt werden. 2Sie ist für den beantragten Zeitpunkt auszusprechen. 3Sie kann jedoch so lange hinausgeschoben werden, bis die Beamtin oder der Beamte die ihr oder ihm übertragenen Aufgaben ordnungsgemäß erledigt hat, längstens drei Monate.
Richterverhältnis: § 21 DRiG: Entlassung aus dem Dienstverhältnis ... (2) Der Richter ist zu entlassen, ... 4. wenn er seine Entlassung schriftlich verlangt
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Arbeitsverhältnis: Kündigung jederzeit möglich – unter Einhaltung der Kündigungsfrist nach § 622 BGB.
Die Vorstellung, wegen Entlassungswunsches oder wegen Kündigungsabsichten in Haft genommen zu werden, ist abenteuerlich... Aber zu Bachs Zeiten befinden wir uns im vorkonstitutionellen Zeitalter des Absolutismus... Man vermutet, dass das folgende Präludium aus dem Wohltemperierten Klavier in der Landrichterstube entstanden ist – gleichsam aus Langeweile... Aus Köthen gibt es Konflikte nicht zu melden. Man hat sich offenbar gut verstanden. Bach wird jedenfalls nach Leipzig, seiner nächsten Station, mit einem äußerst guten „Arbeitszeugnis“ entlassen...
IV. Leipzig (1723–1750) Zuständig für die Regierungsgeschäfte in der etwa 16.000 (nach anderen Quellen bis 30.000) Einwohner zählenden Stadt ist der Leipziger Stadtrat. Der Rat besteht aus etwa 15 Mitgliedern, die vom sächsischen Kurfürsten mit Hof in Dresden auf Lebenszeit in dieses Amt berufen werden. Es gibt drei Bürgermeister. Jeweils für ein Jahr übernimmt einer der Herren den Vorsitz, dann wird gewechselt. Entscheidungen werden immer im Konsens getroffen. Die Universität Leipzig wurde 1409 gegründet und erhielt 1543 die Gebäude des ehemaligen Klosters St. Pauli und die Kirche als Erweiterung. Die „Alma mater lipsiensis“ zählt im 18. Jahrhundert zu den größten Hochschulen Deutschlands. Wichtigster Bereich ist die Theologische Fakultät. Die Universität untersteht direkt dem Land Sachsen, nicht der Stadt und ihre Mitglieder zahlen auch keine Steuern an Leipzig. Das Verhältnis zwischen Hochschule und Rat ist nicht das beste; es ist geprägt durch Rivalitäten und Misstrauen. Man kontrolliert genau, dass der jeweils andere sich nicht zu viel herausnimmt... Leipzig, 1723: Der alte Thomaskantor Johann Kuhnau starb bereits im Sommer 1722 und das Amt ist damit seit fast einem Jahr unbesetzt. Die Benennung eines neuen Thomaskantors ist Sache des Rates. Die Herren Bürgermeister hätten am liebsten einen Leipziger oder wenigstens einen, den man in Leipzig kennt. Für die Stelle favorisiert wird (auch hier...) Georg Philipp
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Telemann, Kantor und Musikdirektor der vier Hauptkirchen in Hamburg, „weil er nun wegen seiner Music, in der Welt bekant wäre“, so das Ratsprotokoll. Telemann sagt ab, nachdem sein Lohn in Hamburg um 400 Taler erhöht wird. Also wird das Amt zunächst Johann Christoph Graupner angeboten, Kandidat Nummer zwei für den Rat; „man kenne H. Graupner zwar nicht spezial, jedoch mache er eine gute Gestalt und schiene ein feiner Mann zu sein, glaube auch, daß er ein guter Musicus wäre.“
Doch Graupner muss ebenfalls absagen, er wird von seinem Dienstherrn nicht entlassen... In der näheren Wahl sind jetzt noch der in böhmischen Diensten stehende Kapellmeister Johann Friedrich Fasch und der Organist der Neuen Kirche Georg Balthasar Schott – und eben der hochfürstliche Kapellmeister zu Köthen, Johann Sebastian Bach. Das gerne zitierte Wort von Ratsherr Abraham Christoph Plaz: „Da man nun die Besten nicht bekommen könne, so müße man mittlere nehmen, es sey von einem zu Pirna ehmals viel Gutes gesprochen worden,“
zielt vielleicht zwar nicht direkt auf Bach, sondern vermutlich auf einen weiteren Mitbewerber, den Schulmeister Christian Heckel, es zeigt aber, dass sich die Begeisterung des Rates über die noch zur Verfügung stehenden Bewerber in Grenzen hält... Am 19. April 1723 unterschreibt Bach einen Revers, in dem er sich bereit erklärt, im Fall seiner Wahl einen Entlassungsschein aus seiner alten Stelle mitzubringen, seine Lehrtätigkeit an der Thomasschule gewissenhaft zu verrichten, nach Bedarf Gesangsunterricht zu erteilen, kein zusätzliches Geld zu fordern, falls er sich beim Lateinunterricht vertreten lassen würde, kein Universitätsamt anzunehmen und Leipzig nicht ohne ausdrückliche Erlaubnis des Rates zu verlassen. Außerdem erteilt der Rat die Auflage, „zu Beybehaltung guter Ordnung in den Kirchen die Music dergestalt einrichten, daß sie nicht zulang währen, auch also beschaffen seyn möge, damit sie nicht opernhafftig herauskommen, sondern die Zuhörer vielmehr zur Andacht aufmuntere.“
Drei Tage später, am 22. April, wählt der Rat einstimmig Bach zum Thomaskantor. Am 5. Mai 1723 wird er in der großen Schulstube in sein neues Amt eingeführt. Zuvor musste sich der neue Kantor gegenüber dem Konsistorium in einer Glaubensprüfung als sicher in orthodoxer Theologie erweisen. Besonderen Wert wird in Leipzig auf die Abgrenzung gegenüber dem Kalvinismus gelegt. Kalvinismus bedeute Irrglaube und Ketzerei. Dem stimmt Bach, der bis vor
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wenigen Tagen am Hofe eben eines solchen Ketzers angestellt war zu und unterschreibt die sogenannten sächsischen Visitationsartikel, streng anticalvinistische Vorschriften, die allen Kirchen- und Staatsbeamten des Landes vorgelegt wurden. Bei Verstoß droht Entlassung – wovon wir auch heute unter bestimmten Umständen bei Kirchenangestellten noch nicht gänzlich entfernt sind... Die Thomasschule ist eine Armenschule mit Internat und gerade vor Bachs Dienstantritt in einem erbärmlichen Zustand. Sein Vorgänger Kuhnau klagte, dass alle Schüler die Krätze hätten und der Chorgesang darunter leiden müsse. Seit über 200 Jahren wurde an dem Gebäude nichts gemacht – der Rat überlässt es seinem langsamen Verfall. Immerhin: Zumindest die Kantorwohnung, die sich in der Schule befindet, lässt der Rat vor Bachs Dienstantritt renovieren... Bachs Dienstaufgaben bestehen auch im Unterricht: Die Schüler müssen am Vormittag von 7:00–10:00 Uhr und nachmittags von 12:00–15:00 Uhr in Musik und Kirchenlatein unterrichtet werden. Montags, dienstags und mittwochs kommen noch jeweils zwei Stunden Gesangslehre hinzu und freitagmorgens besucht der Thomaskantor mit seinen Schülern den Gottesdienst. In jeder vierten Woche hat er Aufsicht. Zusätzlich zu den Lehrtätigkeiten ist Bach für die Musik in den vier Leipziger Kirchen verantwortlich und muss jede Woche eine Kantate einstudieren und sonntags aufführen. Des Weiteren hat er für die Musik bei städtischen Feierlichkeiten – Taufen, Hochzeiten und Begräbnissen – zu sorgen und, wie im Vertrag vereinbart, bei Bedarf für die Ratsmitglieder zu musizieren. Zur Seite stehen ihm ein paar Stadtmusiker (vier Bläser, drei Streicher und ein Geselle) und seine Präfekten (Thomasschüler, die den Kantor beim Dirigieren vertreten). Aus dieser ersten Zeit stammt die Arie „Hasse nur, hasse mich recht“, vielleicht eine späte „Abrechnung“ mit Weimar...
1. „Falsche“ Kirche 1724 plant Bach anlässlich des Osterfestes sein bisher umfangreichstes Werk, die Passionsmusik nach Johannes, aufzuführen – in der Thomaskirche, weil diese die bessere Orgel hat und mehr Platz für Chor und Orchester bietet. Damit setzt er sich bewusst über einen Ratsbeschluss von 1721 hinweg, wonach die Passionsmusik im jährlichen Wechsel in St. Thomas und St. Nikolai stattzufinden hat und 1724 war St. Nikolai dran...
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Zufällig kommt seinem vorgesetzten Superintendenten ein Einladungszettel zu Gesicht. Bach wird vier Tage vor der Aufführung vor das Konsistorium geladen und erhält eine Rüge. Bach gibt zu: „daß er geirret, hoffe aber man werde ihm als einen frembden, so hiesiger Gewonheiten nicht kundig, perdonieren. Künfftig wolle er sich beßer in achte nehmen, und in dergleichen Dingen mit mir seinem Superintendenten communiciren, welches ihm auch ernstlich iniungiret worden.“
Bach muss neue Ankündigungen drucken lassen, die darauf verweisen, dass die Passionsmusik nun doch in der Nikolaikirche aufgeführt werde. Ihr Text lautet kurz und knapp: „Danach verfertigtem Druck der Passionstexte vom Hochedlen und Hochweisen Rat beliebt worden, daß die Aufführung künftigen Freitag in der Kirche St. Nicolai geschehn soll, so hat man es denen Herrn Zuhörern hiermit wissend machen wollen.“
2. Bezahlung der Musik in Universitätsgottesdiensten In die gleiche Zeit fällt sein Streit mit der Universität um die Bezahlung für den Neuen Gottesdienst. In der zur Universität gehörenden Paulinerkirche wurde ursprünglich nur an hohen Feiertagen Gottesdienst gehalten, der sogenannte Alte Gottesdienst. Die Musik des Alten Gottesdienstes war und ist traditionell Sache des Thomaskantors. Mittlerweile und das schon seit dreizehn Jahren vor Bachs Einstellung wird die Kirche an jedem Sonntag genutzt. Die musikalische Verantwortung für diesen ʻNeuen Gottesdienstʼ liegt bei Universitätsmusikdirektor Johann Valentin Görner. Bach will und soll ebenfalls Aufführungen im ʻNeuen Gottesdienstʼ leiten. Wegen der studentischen Unterstützung bei den Kantatenaufführungen ist Bach auf ein gutes Verhältnis mit der Hochschule auch angewiesen. Doch Geld bekommt er für diese Arbeit nicht, da sie nirgendwo in seinem Vertrag festgeschrieben ist. Nach mehreren Monaten ohne Honorar fragt Bach bei der Universitätsleitung nach und wird abgewiesen. Nach einem weiteren Jahr, am 14. September 1725 wendet er sich daraufhin mit einer Eingabe an seinen König und „Churfürsten“, Friedrich August II. Bach muss für die Ernährung seiner großen Familie um jedes zusätzliche Einkommen kämpfen. Außerdem zahlt er an den Konrektor der Thomasschule Teile seines Lohns, damit dieser den lästigen und zeitraubenden Lateinunterricht übernimmt. Aus Dresden bekommt die Universität die Anweisung, Bachs Beschwerde stattzugeben, nach zwei weiteren Briefen erhält er tatsächlich seinen Lohn.
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Dass sich der König persönlich für den Thomaskantor einsetzt, zeigt, dass Bach am Hof beträchtliche Wertschätzung genießt.
3. Musik bei Trauerfeier für die Königin- / Kurfürstenmutter – 1727 Nicht nur beim König, auch bei den Studenten ist Bach beliebt. Am 6. September 1727 stirbt Kurfürstin Christiane Eberhardine, die Frau von August dem Starken. Aus diesem Anlass fragt der Student Hans Carl von Kirchbach nicht Görner, sondern Bach, ob er die Musik für eine Trauerfeier ausrichten könne. Bach erhält zwölf Taler (etwa 700,00 Euro) für die Komposition und Aufführung einer Trauerode. Doch Musikdirektor Görner erhebt bei der Universität Einspruch. Die Leitung lädt Kirchbach vor und verlangt, statt Bach Görner zu beauftragen. Görner ist Leipziger und ist studiert, Bach ist keines von beidem... Zunächst weigert sich von Kirchbach und droht die ganze Feier abzusagen, doch schließlich gibt er nach und zahlt Görner ebenfalls 12 Taler – fürs Nichtstun... Dazu passt die Arie „Deposuit potentes“ aus dem „Magnificat“. Direkt danach folgt ein Instrumentalstück, wahrscheinlich Satz 3 aus der „Pastorale“ BWV 590. Heutige Rechtslage:
„Nebeneinkünfte“: Darf man überhaupt Nebentätigkeiten annehmen? Beamte / Richter heutzutage nur mit Nebentätigkeitsgenehmigung; Arbeitnehmer häufig ebenfalls; aber Art. 12 GG; wenn nichts dagegenspricht, besteht Anspruch auf Genehmigung. Bei Bach waren Nebeneinkünfte offensichtlich als solche kein Problem; sie waren absolut üblich. Darf man sich für Nebentätigkeiten bezahlen lassen? Beamte / Richter: Wenn das ohnehin zu den Dienst-, wenn auch nicht zu den Hauptpflichten zählt, dann nicht; andernfalls schon, aber begrenzt auf Höchstbeträge. Bei Bach war auch dies offensichtlich ebenfalls kein Problem, nur wollte der Rat selbst auf keinen Fall mehr als das Grundgehalt bezahlen... Das Gehalt war aber auf die Einnahme von sogenannten accidentia wohl sogar angelegt... Auch heute nicht unüblich, gerade in der (Kirchen-)Musik; Berufe mit Trinkgeld-Einnahmen... Aber Bach ist insgesamt mit seinen Einkünften unzufrieden! Das zeigt der „Erdmann-Brief“ vom 28. Oktober 1730; Erdmann ist ein alter Schulfreund
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von 1702 aus der Zeit des gemeinsamen Besuchs des Gymnasiums in Ohrdruf bei Gotha: Lieber Freund, Sie werden einen alten Freund entschuldigen, der sich die Freiheit nimmt, Sie mit diesem Brief zu belästigen. Es sind bald vier Jahre vergangen, seit Sie meinen letzten Brief beantwortet haben. Nach meiner Erinnerung baten Sie mich über meine Schwierigkeiten zu berichten, was ich nun gerne tun will: Seit unserer Jugend kennen Sie meinen Lebenslauf, bis zu meiner Veränderung zum Kapellmeister in Köthen. Dort fand ich einen menschlichen und kompetenten Fürsten als meinen Arbeitgeber vor und empfand meinen Dienst als künftige Lebensstellung, jedoch heiratete mein Fürst eine Prinzessin und hatte für Musik keine Lust oder Zeit mehr – vielleicht auch deswegen, weil sie von Musik nicht so viel hielt wie er – und es ergab sich eine Stelle als Musiklehrer am ThomasGymnasium in Leipzig. Obwohl ich eigentlich nicht vom Hofkomponisten zum Musiklehrer absteigen wollte, weswegen ich auch drei Monate die Entscheidung herauszögerte, wurde mir diese Stelle so schmackhaft gemacht, dass irgendwann (weil meine Söhne ja auch studierten wollten) ich in Gottes Namen nah Leipzig fuhr, vorspielte, diese Stelle bekam und sie bis heute noch habe. Weil diese Stelle aber einerseits bei weitem nicht so viel einbringt wie man mir vorher beschrieben hat, es andererseits kaum Zulagen gibt, außerdem die Lebenshaltungskosten immens sind, und der Dienstherr an Musik wenig Interesse hat, ich außerdem auch noch gemobbt werde, suche ich nun – mit Gottes Hilfe – eine andere Stelle, egal, wo. Sollten Sie für einen alten Freund in Ihrer Nähe eine akzeptable Stelle wissen oder finden, bitte ich darum mich zu empfehlen, an meinen Arbeitswillen wird es nicht mangeln und ich werde mich bestmöglich um Akzeptanz bemühen. Mein jetziges Gehalt beträgt 700 Reichtaler und wenn mehr Leute sterben, gibt es auch mehr Nebenverdienste durch die Beerdigungen, sind die Leute gesund, so gibt es auch weniger zu verdienen, so habe ich letztes Jahr über 100 Reichstaler weniger verdient. In Thürigen kann ich mit 400 rthl. weiter kommen, als hier , weil die Lebenshaltungskosten hier so hoch sind. Nun will ich auch etwas Privates berichten: Mittlerweile bin ich zum zweiten Mal verheiratet, nachdem meine erste Frau in Köthen gestorben war. Aus erster Ehe leben noch drei Söhne und die Tochter, die Sie vor Jahren in Weimar gesehen haben. Aus zweiter Ehe leben ein Sohn und zwei Töchter. Mein ältester Sohn studiert Jura, die anderen beiden gehen noch zur Schule, einer in der Prima , der andere in der Sekunda Die Kinder aus der zweiten Ehe sind noch klein, der Älteste ist sechs. Sie sind alle künftige Musiker – ich versichere, daß ich mit meiner Familie schon ein Konzert mit Chor und Orchester aufführen kann, besonders meine zweite Frau singt einen schönen Sopran und die älteste Tochter ist auch nicht schlecht. Ich wäre unhöflich, wenn ich nun mehr erzählen würde, daher beschließe ich den Brief mit allem Respekt und bleibe Ihr, verehrter Freund, in Dankbarkeit
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4. „Präfektenstreit“ Im Juli 1730 erhält die Thomasschule einen neuen Rektor. Der alte Schulleiter Johann Heinrich Ernesti war im Oktober des letzten Jahres gestorben. In den sieben Jahren, die Bach unter ihm diente, war er seinem Kantor keine große Hilfe. Weder das marode Schulgebäude, noch der veraltete Lehrplan werden in dieser Zeit modernisiert. Der Rektor kümmert sich vermutlich lieber um seine Arbeit als Universitätsprofessor für Poesie. Zu seinem Begräbnis am 20. Oktober 1729 führt Bach die Motette „Der Geist hilft unser Schwachheit auf“; sie folgt an späterer Stelle... Der neue Rektor Johann Matthias Gesner, ein Pädagoge und klassischer Philologe, war bis 1728 als Konrektor am Gymnasium in Weimar tätig, wo er Bach und seine Musik bereits kennen und schätzen gelernt hatte. Das Klima zwischen dem Thomaskantor und seinem als geselligen und liebenswürdigen Menschen beschriebenem Vorgesetzten ist gut – und was noch wichtiger ist: Gesner sorgt sich um seine Thomasschule. In den Jahren 1731 und 1732 wird das Gebäude endlich renoviert, die gefährlichen Treppen mit Geländern ausgestattet und auch die Wohnung des Kantors, in der Bach bis dahin fünf Kinder gestorben waren, wird von Grund auf in Stand gesetzt. Gesner räumt den Lehrplan auf und macht die Thomasschule zu einer der fortschrittlichsten Einrichtungen des Landes. Ab sofort werden Mathematik und naturwissenschaftliche Fächer gelehrt. Das Zeitalter der Aufklärung treibt seine ersten Knospen... Gesner sorgt dafür, dass der Kantor von seiner Verpflichtung entbunden wird, Latein zu unterrichten. Damit spart Bach die Kosten für die Vertretung. Um den Rat nicht länger mit den musikalischen Umtrieben seines aufsässigen Thomaskantors zu belasten, wird dieser in allen Belangen direkt dem Rektor unterstellt. Bach kann sich ganz auf seine Musik konzentrieren. Aber schon 1735 zieht der Rektor weg nach Göttingen, als Professor im diplomatischen Rang. Auch in Leipzig interessierte er sich nämlich auch für ein Lehramt an der Hochschule, was dem Rat nicht passte. Als Gesner daraufhin sogar bereit ist, für die Professur sein Rektorenamt an der Thomasschule aufzugeben, interveniert die Universitätsleitung, da er „ein zu enger Freund des Rates“ sei. Nachfolger von Gesner wird Konrektor Johann August Ernesti, mit seinem Vorvorgänger nicht verwandt – nach anderer Quelle freilich sein Neffe – ein Leipziger, ehrgeizig und kühl. Über seine Universitätsvorträge äußert sich ein Zeitgenosse eher verhalten: „Kürze und Deutlichkeit empfahlen dieselben, Lebendigkeit zeichneten sie nicht aus.“
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Mit seinem Kantor kommt der neue Rektor nicht gut zurecht. Bach ist bei den Schülern beliebt, das passt dem nüchternen Schulleiter nicht. Wer beim Kantor den Musikunterricht besucht, wird von Ernestis Schulstunden ausgeschlossen... Ein handfester Streit entzündet sich Anfang Juli 1736, als Bachs Generalpräfekt, gleichsam sein Oberassistent, Gottlieb Theodor Krause bei einer Hochzeitsmesse einem vorlauten Chorschüler, wie man so schön sagt, die Hose strammzieht. Dieser, Sohn des Freiberger Bergakzise-Direktors Kastner, beschwert sich beim Rektor. Ernesti hat damit eine Möglichkeit, seinem Kantor zu zeigen, wer der Herr im Hause ist. Krause muss sich entschuldigen und wird zu Stockschlägen vor versammelter Thomasschule verurteilt. Obwohl körperliche Züchtigungen im 18. Jahrhundert durchaus üblich sind, hat Ernesti ein außergewöhnlich hohes Strafmaß verhängt. Krauses Ehre wäre nach der öffentlichen Demütigung verloren. Krause wählt die Flucht. Bachs größte musikalische Stütze verschwindet in der Nacht aus der Thomasschule... Daraufhin setzt der Rektor eigenmächtig einen anderen Krause als Nachfolger ein: Johann Gottlob Krause. Der neue Präfekt erweist sich jedoch als faul, unfähig und ist überhaupt nicht interessiert mit seinen Schülern das Singen zu üben. Bach erklärt dem neuen Krause, dass alleine er, der Kantor, für die Einstellung der Präfekten zuständig sei, setzt ihn ab und ersetzt ihn durch seinen zweiten Präfekten Kittler. Krause ruft die Herren Ernesti und Deyling – den Superintendenten – zu Hilfe und diese machen Bachs Rauswurf wieder rückgängig. Bach zieht es womöglich deshalb vor, für den König / Kurfürsten in Dresden zu komponieren...Wir hören die Arie „Jede Woge meiner Wellen“. In den folgenden Wochen kommen die Chorproben fast zum Erliegen, weil Bach sich weigert Krause dirigieren zu lassen und von den übrigen Schülern keiner wagt, das Präfektenamt zu übernehmen. Bach verfasst mehrere Briefe an den Rat, in denen er sich über den selbstherrlichen Eingriff seines Rektors beschwert, doch der ignoriert die Eingaben. Bach zieht sich daraufhin zunehmend aus der Thomasschule zurück. Er lässt für seine eigenen Kinder einen Hauslehrer kommen und ist nicht mehr bereit, die monatliche Schulaufsicht zu übernehmen. Als im Mai 1737 dann auch noch in der von Johann Adolph Scheibe verlegten Fachzeitung „Critischer Musicus“ eine anonyme Kritik gegen Bachs Musikstil erscheint, gibt er die Leitung des Collegium Musicum auf und bleibt zu Hause bei Frau und Kindern. Das Dienstverhältnis kam auf diese Weise 13 Jahre vor Bachs Tod im Jahr 1750 faktisch zum Erliegen...
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Dazu könnte passen die Arie „Geduld, Geduld. Wenn mich falsche Zungen stechen“ aus der Matthäuspassion. Heutige Rechtslage: Unklare Stellenbeschreibung? Was sind die Kompetenzen des Thomaskantors? Unklarheiten-Problem kann heute genauso auftreten, wenn nicht eine klare Stellenbeschreibung und Kompetenzregelung vertraglich vereinbart wird...
V. Resümmée Bach ist kein „hoffnungsloser Fall“; auch aus heutiger Sicht sind seine dienstrechtlichen Konflikte eher ganz normal... Und überhaupt: Offenbar wussten alle Beteiligten nicht wirklich, mit wem sie es da zu tun hatten... Bach-Witz: „Zwei Freunde streiten (in vorgerücktem Alter...) darüber, welche Musik im Himmel gespielt wird: Bach oder Mozart? Sie versprechen sich, einander – je nachdem, wer es zuerst erfährt – Bescheid zu geben. Als der überzeugte Bach-Verehrer als erster stirbt und in den Himmel kommt, hört er von weitem schon – Mozart! Er schaut so betrübt drein, dass der HERR sich erbarmt und nach seiner Bekümmernis fragt. „HERR“, sagt er, „ich war so fest davon überzeugt, dass im Himmel Bach gespielt würde, ich habe sogar darauf gewettet, und nun höre ich stattdessen Mozart!“ Nach einigem Schweigen antwortet langsam die Stimme des HERRN: „ICH B I N BACH!“
Es folgen die Schlussstücke: Die Arie „Wohl Dir, Du Volk der Linden“ aus: „Preise, Jerusalem, den Herren“, BWV 119 und „Du heilige Brunst, süßer Trost“, der Schlusschoral aus der Motette „Der Geist hilft unser Schwachheit auf“, BWV 226; aufgeführt anlässlich des Begräbnisses von Johann Heinrich Ernesti, des 1729 verstorbenen Schulrektors.
8.
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Mordballaden – vom Schinderhannes zu Rammstein und Nick Cave A) Der Bänkelsang als Kunstform Wenig reizt den Menschen mehr als das Verbrechen1. Mit Interesse betrachtet er das Geschehen. Die dahinterstehenden Triebe und Motive sind – abstrakt betrachtet – wohl niemandem fern. Aber auch die im Geschehen wurzelnde Spannung, der Ruch des Verbotenen, vermittelt einen fast magischen Reiz. Es verwundert daher wenig, dass sich auch die Kunst, die Musik, bereits früh besonders spektakulärer Verbrechen annahm. Ortsansässige Liedersänger oder fahrende Dichter dürften das ganze Mittelalter hindurch die Bevölkerung mit Liedern unterhalten haben, die auch Gewalttaten zum Gegenstand hatten. Die Reichweite dieser Lieder war indes – bis auf wenige Ausnahmen – recht begrenzt. Dies sollte sich mit dem 15. Jahrhundert ändern im Kontext einer Medienrevolution2. Im Zuge der Medienrevolution des Buchdrucks etablierte sich ein regelrechter Buchmarkt. Die neuen Vervielfältigungstechniken beschränkten sich nicht nur auf das geschriebene Wort. Auch Bilder ließen sich mit Druckmaschinen vervielfältigen, etwa in Form von Holzschnitten oder Kupferstichen. Musste das Mittelalter noch mit verhältnismäßig wenig Büchern und Bildern auskommen, bricht sich mit dem 16. Jahrhundert eine wahre Buch- und Bilderflut Bahn.
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Der Beitrag wurde bereits erstveröffentlicht in: Markus Hirte (Hrsg.), Rock, Rap, Recht. Beiträge zu Musik, Recht und Geschichte, Darmstadt 2019, S. 16 ff. Vgl. zum ersten Absatz Jacobs, Rainer: Das Verbrechen im Film, in: Becker, Jürgen / Lerche, Peter / Mestmäcker, Ernst-Joachim (Hrsg.): Wanderer zwischen Musik, Politik und Recht. Festschrift für Reinhold Kreile zu seinem 65. Geburtstag, Baden-Baden 1994, S. 307. Vgl. Müller-Waldeck, Gunnar, Unter Reu’ und bitterm Schmerz. Bänkelsang aus vier Jahrhunderten. Rostock 1977, S. 265; Riedel, Karl Veit, Der Bänkelsang. Wesen und Funktion einer volkstümlichen Kunst, Hamburg 1963, S. 18.
https://doi.org/10.1515/9783110744156-008
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Zehntausende Werke entstanden. Diese wurden begierig erworben und waren ein lukratives Geschäft. Gleichwohl konnten bis zum Jahr 1600 nicht einmal drei Prozent der Bevölkerung lesen3. Was die drei Prozent der Alphabeten jedoch mit den 97 Prozent der Analphabeten teilten, war ein evolutionärer Urtrieb, der allen eingeprägt ist – die Neugier4. Die Gier nach Neuem oder wissenschaftlich ausgedrückt: „Das als ein Reiz auftretende Verlangen, Neues zu erfahren und insbesondere Verborgenes kennenzulernen.“5 Des Lesens nicht Mächtige waren zum Stillen der Neugier auf Kommunikation angewiesen. Kommunikationszentren waren seit jeher Wirtshäuser und Märkte. Hier unterhielten (fahrende) Sänger die Besucher. Als Bühne dienten häufig Tische oder Bänke, Bänkel; weshalb sich die Bezeichnung Bänkelsänger lexikalisierte6. Die Bänkelsänger machten sich die neuen Massenmedien des 16. Jahrhunderts zu Nutze, die Flugblätter. Zunehmend besangen sie Geschichten, die bereits auf Flugblättern gedruckt waren. Durch den Verkauf dieser Blätter erschlossen sie sich eine zweite Einnahmequelle. Häufig führten sie bebilderte Tafeln mit sich. Während des Vortrags wiesen sie mit einem Stab kommentierend auf das jeweilige Bild und zeichneten so den Verlauf des Geschehens nach. Der Bänkelsänger bot also public viewing in Reinform – ein kollektives (Fern-)Seherlebnis. Leseunkundigen dienten die während des Vortrags feilgebotenen bebilderten Flugblätter überdies als Gedächtnisstütze. So machte die leseunkundige – oft weibliche – Bevölkerung einen großen Teil der Zuschauer und Käufer aus7. Der Bänkelsang lässt sich als eine populäre Kunstform des Jahrmarkts einordnen8. Als audiovisuelles Medium vereinte er die Kunstgattungen Literatur, Musik und bildende Kunst in sich9 – ein volksnahes Gesamtkunstwerk in Form 3 4 5 6 7 8 9
Vgl. Mortzfeld, Benjamin, Der unstillbare Hunger nach Bildnachrichten, in: Koschnick, Leonore / Mortzfeld, Benjamin (Hrsg.): Gier nach neuen Bildern. Flugblatt, Bilderbogen, Comicstrip, Darmstadt 2017, S. 12 (14). Ebd., S. 12 (12). Hoffmeister, Johannes: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Hamburg 1955, Lemma Neugier. Mit Hinweis auf die religiösen Wurzeln des Bänkelsangs vgl. Brednich, Rolf Wilhelm: Liedkolportage und geistlicher Bänkelsang. Neue Funde zur Ikonographie der Liedpublizistik, in: Jahrbuch für Volksliedforschung. 22. Jahrgang Berlin 1977, S. 71 (76 f.) m.w.N. Vgl. Cheesman, Tom: The Shocking Ballad Picture Show. German Popular Literature and Cultural History, Oxford / Providence USA 1994, S. 18. Vgl. Weimar, Klaus (Hrsg.): Reallexikon der Deutschen Literaturwissenschaft, Band 1., Berlin 3. Auflage 1997, Lemma Bänkelsang. Vgl. Eichler, Ulrike: Einführung. Bänkelsang und Moritat, in: Staatsgalerie Stuttgart (Hrsg.): Bänkelsang und Moritat. Stuttgart 1975, S. 11 (11).
Mordballaden – vom Schinderhannes zu Rammstein und Nick Cave 111 der Reportage. Bänkelsänger waren bedeutende Nachrichtenüberbringer der prätelegraphischen Epoche und damit wichtig für die öffentliche Meinungsbildung. Sie operierten in einem Grenzbereich zwischen mündlicher und schriftlicher Tradition. Die Stücke, Blätter und Lieder der Bänkelsänger entsprangen jedoch keinem Furor poeticus und keinem künstlerischen Plan – es ging den Bänkelsängern ausschließlich um den Gelderwerb10.
B) Die Moritat Mit dem Durchbruch der Zeitungen im 17. Jahrhundert änderte sich die Situation des Bänkelsangs11. Die Printmedien informierten umfassender und schneller über aktuelle Ereignisse. Mit dieser Geschwindigkeit konnten fahrende Sänger nicht mithalten. Sie mussten auf echte Aktualität verzichten, womit sich ihr Nachrichtenstoff verengte12. In den Mittelpunkt rückten nun Skandale und Verbrechen, das Grauenerregende und Rührselige13. Nur die geschäftstüchtigsten Bänkelsänger überlebten. Die Schilder wurden greller und bunter; die Gesänge lauter und die Geschichten spektakulärer. Schreckliche Gewalttaten, garstige Räuberstücke, blutige Hinrichtungen, tragische Liebesgeschichten, entfesselte Naturgewalten. Der Abstieg des Sängers vom wichtigen Nachrichtenübermittler zum Schausteller begann. Mord und Totschlag bestimmten immer stärker den Bänkelsang. Der Siegeszug der Moritat nahm seinen Lauf14. Die sprachwissenschaftliche Herleitung (Etymologie) des Begriffs Moritat ist umstritten15. Einige leiten ihn von Mordtat ab; andere vom Lateinischen mors / mori (Tod / sterben), vom Französischen la moralité (Moral / Sittlichkeit) oder gar aus einer geheimen Gaunersprache, dem Rotwelsch. Dort stand more für Händel oder Lärm. Neben der Verknappung des Informationsmarktes machte den Bänkelsängern die große Konkurrenz von Händlern, Bettlern und Jahrmarktartisten das Leben 10 11 12 13 14 15
Vgl. Schenda, Rudolf: Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770–1910, Frankfurt a.M. 3. Auflage 1988, S. 155 f. Vgl. Müller-Waldeck: Unter Reu’ (wie Anm. 2), S. 274. Vgl. Petzoldt, Leander: Bänkelsang. Vom historischen Bänkelsang zum literarischen Chanson, Stuttgart 1974, S. 11. Vgl. Bänsch, Gabriele: Bänkelsang. Kulturanthropologische Aspekte, Norderstedt 2013, S. 6. Dem Bänkelsang wird auch die Moritat zugerechnet, vgl. Riedel: Bänkelsang (wie Anm. 2), S. 7. Vgl. dazu und folgend: Lemma Moritat, in: Burdorf, Dieter / Fasbender, Christoph / Moenninghoff, Burkhard (Hrsg.): Metzler Literatur Lexikon, Stuttgart 3. Auflage 2007, S. 513.
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schwer. Haupterwerbsquelle wurden zunehmend die das Lied bebildernden Flugblätter16, weshalb es die Zurschaustellung der Ware zu attraktivieren galt. Es sind mehrere bildliche Darstellungen überliefert, auf denen die Kolporteure zum Teil über und über mit Druckerzeugnissen behängt sind, sich diese gar an den Hut stecken17. Das Sprichwort, „sich etwas an den Hut stecken können“, rührt daher. In anderen Fällen ließen die Bänkelsänger ihre Kinder oder Frauen während des Vortrags die Flugblätter verkaufen.
I. Zensur im Bänkelsang Die Obrigkeit beargwöhnte die Rolle der Bänkelsänger als Nachrichtenvermittler und ungebetene Berichterstatter18. Zensur, Überwachung und Verbote waren deshalb – vor allem im 18. / 19. Jahrhundert – allgegenwärtig; teilweise herrschte gar Konzessionspflicht19. So wundert es nicht, dass die Moritaten der jeweiligen Ideologie genügen wollten und die Gerichte priesen20. Viele Moritate zeichnen sich durch einen moralischen Rigorismus aus, ein unreflektiertes Gerechtigkeitsgefühl, das der volkstümlichen Rechtsauffassung recht nah kam21. Man zielte sie auf bestimmte moralische Lehren, ermahnte und belehrte. Dies trug dem Bänkelsänger rasch das Verdikt eines Sittenrichters ein. Die Moral ermöglichte zwar das öffentliche Auftreten. Aber nur ein besonderes Spektakel versprach einen merkantilen Mehrwert. Dies zeigt sich neben der Themenwahl auch in der Sprachverwendung. So zeichnen sich Bänkellieder durch einen signifikant hohen Anteil an Eigenschaftswörtern und drastische Übertreibungen aus22. Eine Kindsmörderin wird als liederlich, unnatürlich, gefühllos und töricht apostrophiert; ein Hauseinsturz hinterlässt „über 40 Leichen […], zum Theil jämmerlich gequetscht und verstümmelt, mit zermalmten Schädeln und blutig zerfetzten Leibern“. Die Anhäufung drastischer Epitheta 16 17 18 19
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Riha, Karl: Moritat, Bänkelsong, Protestballade. Zur Geschichte des engagierten Liedes in Deutschland, Frankfurt a.M. 1975, S. 19 ff. Vgl. dazu und zum ganzen Absatz Brednich: Liedkolportage (wie Anm. 6), S. 71 (75 m.w.N.). Vgl. Hirschberg, Ludwig: Moritat und Justiz, in: Staatsgalerie: Bänkelsang (wie Anm. 9), S. 28 (28). Vgl. Riedel: Bänkelsang (wie Anm. 2), S. 19 ff. m.w.N; Petzoldt: Bänkelsang (wie Anm. 12), S. 21 f. m.w.N. sowie Thiel, Paul: „Dies Gewerbe ist aber eigentlich nichts anders, als eine Bettelei…“, in: Staatliche Museen zu Berlin (Hrsg.): Schilder, Bilder, Moritaten. Sonderschau des Museums für Volkskunde im Pergamonmuseum 25.9.1987–3.1.1988, Rostock 1987, S. 5 (8 f.) m.w.N. Vgl. Hirschberg: Moritat (wie Anm. 18), S. 28 (30). Vgl. Petzoldt: Bänkelsang (wie Anm. 12), S. 68. Vgl. dazu und folgend: ebd., S. 89 f.
Mordballaden – vom Schinderhannes zu Rammstein und Nick Cave 113 und Hypertrophierung weiterer sprachlicher Elemente erhöhte jedoch weniger die Anschaulichkeit, als dass es die Aussagen standardisierte und damit trivialisierte. Oft überzeichneten die Vortragenden derart, dass die Moritat zur Parodie avancierte. Dass sich die Bänkelsänger um hochgestochene Reflexionen und eine gewählte Sprache bemühten, mit pseudopoetischen Bildern um sich warfen, machte es nicht besser23.
II. Kunstgehalt der Moritat Um die Mitte des 18. Jahrhunderts kam es zu einer folgenreichen Verbindung des Bänkelsangs mit der Literatur24. Der Bänkelsang übernahm zeittypische literarische Motive (die hartherzigen Eltern, die Kindsmörderin, der kühne Räuber), nachdem er selbst beträchtlichen Einfluss auf die Romanzen- und Balladendichtung der Vorklassik genommen hatte. Gleichwohl galten Moritaten als etwas anrüchiges, unseriöses25. Der Bänkelsänger als schlechter Dichter, der ein Geschäft daraus macht, gemeine Gegenstände auf gemeine Art zu besingen26. Auch dem Dichterfürsten Goethe galt Moritatenhaftes als Synonym für heuchlerisch und niedrig27. Vor allem die Attitüde des Sittenrichters entlarvte den Bänkelsang als verlogen. Moritaten lassen sich als einfache Jahrmarkt-Bänkellieder über Tragisches und Mordtaten resümieren. Hinzu kamen Moralisierungen und das Bemühen um hochgestochene Reflexionen. Damit rückten die Moritaten unfreiwillig ein Stück weit ins Parodistische und Sarkastische. Hintergrund von Zensur und Verbot war ein befürchteter schädlicher Einfluss dieser volkstümlichen Kunst. Volkskundliche Untersuchungen ergaben jedoch, dass diese Befürchtungen bereits seinerzeit nicht gerechtfertigt waren und die allgemeine Meinung in dieser Hinsicht sehr übertrieb28.
III. Räuber im Bänkelsang – Der Schinderhannes Das 19. Jahrhundert gilt als Blütezeit des Bänkelsangs und der Moritaten. Die Lieder wurden begeistert aufgenommen und gesungen, die Drucke vielfach 23 24 25 26 27 28
Vgl. Müller-Waldeck: Unter Reu’ (wie Anm. 2), S. 277. Vgl. dazu und zum ganzen Absatz Riedel: Bänkelsang (wie Anm. 2), S 20. Vgl. Petzoldt: Bänkelsang (wie Anm. 12), S. 4 ff. Vgl. Müller-Waldeck: Unter Reu’ (wie Anm. 2), S. 264 m.w.N. Vgl. Braungart, Wolfgang (Hrsg.): Bänkelsang. Texte – Bilder – Kommentare, Stuttgart 1985, S. 389. Vgl. dazu und folgend Riedel: Bänkelsang (wie Anm. 2), S. 67 ff. m.w.N.
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verkauft. Die mit der französischen Revolution einsetzenden gesellschaftlichen Umwälzungen spiegelten sich auch in dieser Kunstform wider. Vermehrt erschienen nun auch politische Motive. Sie verbanden sich rasch mit literarischen Motiven und kristallisierten besonders in den Räubergeschichten29. Räuber beherrschten lange Zeit die Straße, die Lieder über sie nicht weniger30. Die Sympathie, die feigen Mördern versagt war, genossen die Räuber und Wildschützen. Sie waren die Helden ihrer Zeit – wurden heroisiert und romantisiert. Johannes Bückler – der Schinderhannes – galt in des Volkes Augen als Rebell gegen Fremdherrschaft und Fürstenwillkür. Diesen Ruhm konnte selbst der Mainzer Prozess gegen ihn nicht zerstören31. Hier hielten es die Bänkelsänger wie Friedrich Schiller in „Die Räuber“. Schinderhannes war bei den Bänkelsängern so beliebt, weil seine Herzenskönigin ihren Kreisen entstammte. Julchen Bläsius hatte, als sie 17-jährig ihm in die Welt folgte, schon eine Karriere als Geigerin und Kassiererin bei einem Jahrmarktsänger hinter sich. Nach der Hinrichtung des Schinderhannes ehelichte sie allerdings einen hessischen Gendarmen mit Pensionsberechtigung. Von der Geliebten des Räuberhauptmanns zur Ehefrau eines Polizisten – ein Abstieg, den ihr die Welt und vor allem die Unterwelt nie verzieh. Dem Renommee des Schinderhannes tat dieser Skandal jedoch keinen Abbruch. Bereits 1802 – noch zu seinen Lebzeiten – erschien das erste Bänkellied unter dem Titel „Ächte und wahrhafte Beschreibung von der Verhaftung des längst berüchtigten Anführers einer großen Räuberbande, genannt Schinderhannes, nebst einem Anhang von seinem Leben und Thaten.“ Folgend ein Auszug: „Hier kann man von dem Schinderhanns Und seinen Thaten lesen, Der ein verruchter Teufelspflanz Von Jugend auf gewesen. Ein Spitzbub war er frühe schon Und eines reichen Bauern Sohn, Am Niederrhein gebürtig.
[…] Groß sind die Schrecken auf dem Land, Erschrecklich die Geschichten, Wovon die Bauern allerhand 29 30 31
Vgl. ebd., S. 21, 48. Vgl. dazu und zum ganzen Absatz Janda, Elsbeth / Nötzoldt, Fritz: Die Moritat vom Bänkelsang oder das Lied der Straße, München 1959, S. 27 ff. Vgl. zum Strafverfahren auch Scheibe, Mark: Die Strafjustiz in Mainz und Frankfurt a.M. 1796–1803. Unter besonderer Berücksichtigung des Verfahrens gegen den Serienstraftäter Johannes Bückler, genannt Schinderhannes, 1802 / 1803, Kelkheim 2009.
Mordballaden – vom Schinderhannes zu Rammstein und Nick Cave 115 Mit Angst und Furcht berichten; Denn es behauptet jedermann: Der dicke Schinderhannes kann Noch hexen gar und zaubern.
[…] Nachdem ihm seine Streiche noch Sind lange angegangen, So wurde er am Ende doch Ganz unverhofft gefangen. Jetzt ist er in dem Diebsarrest, Man kann ihn auf der Hauptwach vest In Frankfurt sitzen sehen.“32
Themenwahl, Sprachverwendung und moralisierende Aussagen kennzeichnen dieses Werk unzweifelhaft als Moritat. Deutlich bekannter dürfte heute eine Version der Schinderhannes-Moritat sein, die von Carl Zuckmayer für das 1927 uraufgeführte Schinderhannes-Schauspiel gefertigt wurde33. Zuckmayer stilisiert seinen Landsmann Schinderhannes zu einem Bühnenhelden. Das Lied vom Schinderhannes aus diesem Schauspiel gilt als typische Moritat. Dies wird bereits in den ersten Strophen deutlich: „Im Schneppenbacher Forste, Da geht der Teufel rumdibum, De Hals voll schwarzer Borste, Und bringt die armen Kaufleut um! Das ist der Schinderhannes, Der Lumpenhund, der Galgenstrick, Der Schrecken jedes Mannes, Und auch der Weiberstück. Im Soonewald, im Soonewald Steht manche dunkle Tann, Darunter liegt begraben bald Ein braver Wandersmann.“34
Moritatenhaft an dem Stück sind das Thema und die Sprachverwendung. Im Gegensatz zu den Jahrmarktmoritaten ist Zuckmayers Werk jedoch ein Bühnenstück. Auch die Moral am Ende des Stückes weicht vom Rigorismus frühe-
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Zitiert nach Janda / Nötzoldt: Moritat (wie Anm. 30), S. 29. Vgl. dazu Fähnders, Walter: Volksstück mit letalem Ausgang. Carl Zuckmayers Schinderhannes in der Theaterkritik, in: Nickel, Gunther (Hrsg.): Carl Zuckmayer und die Medien, Beiträge zu einem internationalen Symposion, Teil 1. St. Ingbert 2001, S. 155 ff. Zuckmayer, Carl: Der fröhliche Weinberg. Schinderhannes. Zwei Stücke, Frankfurt a.M. 23. Auflage 2004, S. 75 f.
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rer Jahrhunderte ab. Diese Entwicklung wird besonders deutlich in der folgenden Moritat.
IV. Die Moritat „Sabinchen war ein Frauenzimmer“ Die Moritat von Sabinchen tauchte erstmals im Jahr 1848 in den Musenklängen aus Deutschlands Leierkasten auf35. „Das Lied geht zwar auf eine Originalmoritat zurück, erscheint aber eindeutig satirisch-parodistisch. Es wurde offensichtlich mit der Absicht veröffentlicht, ähnliche moralisierende und volkserzieherische lyrische Produkte dieser Zeit zu verulken.“ 36
Es erzählt die schauderhafte Begebenheit von der Dienstmagd Sabine, die vom berühmten Treuenbrietzener Schuster entleibt wurde, wie folgt: „Sabinchen war ein Frauenzimmer, Gar fromm und tugendhaft. Sie diente treu und redlich immer Bei ihrer Dienstherrschaft. Da kam aus Treuenbrietzen Ein junger Mann daher, Der wollte so gerne Sabinchen besitzen Und war ein Schuhmacher. Sein Geld, das hat der ganz versoffen Beim Schnaps und auch beim Bier! Da kam er zu Sabinchen geloffen Und wollte welches von ihr; Sie konnt’ ihm keines geben, Denn keines war zur Stell, Da stahl sie ihrer Dienstherrschaft Sechs silberne Eßlöffel. Doch schon nach achtzehn Wochen, Da kam der Diebstahl raus! Da jagte man mit Schimpf und Schande Sabinchen aus dem Haus.
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Vgl. Janda / Nötzoldt: Moritat (wie Anm. 30), S. 224 ff. m.w.N.; weitere Literatur dazu Boock, Barbara: „Sabinchen war ein Frauenzimmer…“. Ein Lied mit Geschichte in: Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Musik und Leben. Freundesgabe für Sabine Giesbrecht zur Emeritierung. Osnabrück 2003, S. 22–27 sowie Weismann, Anabella: Die merkwürdige Geschichte vom Schuster und seiner Sabine: Revolutionssatire – Dienstmädchenmoral – „lustiges Lied“ in: Heister, Hanns-Werner u.a. (Hrsg.): Zwischen Aufklärung & Kulturindustrie. Festschrift für Georg Knepler zum 85. Geburtstag, Band 3: Musik / Gesellschaft. Hamburg 1993, S. 119 (127, 129). Müller-Waldeck: Unter Reu’ (wie Anm. 2), S. 263.
Mordballaden – vom Schinderhannes zu Rammstein und Nick Cave 117 Sie rief: „Verfluchter Schuster, Du rabenschwarzer Hund!“ Da nahm der Schuster sein Schuhmachermesser Und schnitt ihr ab den Schlund. Ihr Blut zum Himmel spritzte, Sabinchen fiel gleich um; Der böse Schuster aus Treuenbrietzen, Der stand um ihr herum. In einem Kellerloche, Bei Wasser und bei Brot, Da hat er endlich eingestanden Die grausig’ Moritot! Und die Moral von der Geschicht’: Trau keinem Schuster nicht! Der Krug, der geht so lang zu Wasser, Bis daß der Henkel abbricht!37
Mit dem sehr bildlich beschriebenen Mord des Treuenbrietzener Schusters an der Dienstmagd Sabinchen, die aus Liebe zu ihm sechs Silberlöffel stahl, was sie erst die Anstellung und dann das Leben kostete, handelt es sich thematisch wieder um eine Moritat, eine einfache Jahrmarktvolksweise um Verbrechen und Mord. Allerdings ist diese eigentlich traurige Geschichte unterhaltsam aufgebaut und mit amüsanten Effekten versehen. Zudem ist sie in einem ironischen Grundgestus gehalten. Die Moral wird nämlich bewusst falsch gezogen wenn es heißt: Trau keinem Schuster nicht. Das Lied parodiert also die Moritat und ist noch heute „eine der bekanntesten und beliebtesten Moritatenparodien“ 38.
V. Das Ende des Bänkelsangs? Um die Wende des 19. zum 20. Jahrhunderts setzt der rasche Niedergang von Bänkelsang und Moritaten ein. Hauptgrund dürfte die übermächtige Konkurrenz durch Rundfunk, Film und Illustrierte gewesen sein, die Bänkelsang und Moritat innerhalb kurzer Zeit vom Markt drängte. In seiner Mischung von Wort, Bild und Musik wird der Bänkelsang nun einerseits vom Schlager, andererseits von der illustrierten Zeitung und Sensationspresse abgelöst. Entgegen Karl Veit Riedel dürften die polizeilichen Verbote dem Gewerbe jedoch weniger geschadet haben, als angenommen, und somit eher nachrangig 37 38
Zitiert nach Janda / Nötzoldt: Moritat (wie Anm. 30), S. 246 f.; leicht abweichender Text in: Hansen, Walter (Hrsg.); Sabinchen war ein Frauenzimmer, Moritaten und Jahrmarktlieder, München 1996, S. 94 ff. Stemmle, R.A. (Hrsg.): Herzeleid auf Leinewand, Sieben Moritaten, München 1962, S. 15.
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als Grund des Niederganges des Bänkelsangs anzusehen sein39. Meines Erachtens unterschätzt die Fachliteratur zudem die mittlerweile fast flächendeckende Lese- und Schreibfähigkeit beiderlei Geschlechts auf den Niedergang des Bänkelsangs um die Jahrhundertwende. Wo nahezu jedermann selbst die Neuigkeiten lesen konnte, bedurfte es nicht mehr der audiovisuellen Vermittlung durch Bänkelsänger. Bereits in den 1930ern findet man Bänkelsänger nur noch vereinzelt auf Jahrmärkten und Messen. „Bänkelsang und Moritat starben eines sanften Todes, den sie so oft und in so wechselhafter Form besungen haben. Volkskundler, Literaturhistoriker und Theaterwissenschaftler kamen zum Begräbnis zu spät“40. Es gibt nur spärliche wissenschaftliche Hinweise in der Literatur. Bei der Allgemeinheit gerät diese Kunstform langsam in Vergessenheit. Dass sie nicht völlig verschwand, ist einer weiteren Metamorphose zu verdanken und vor allem der Person Bertolt Brechts.
C) Die Transformation der Moritat bei Bertolt Brecht Es waren die modernen Autoren des frühen 20. Jahrhunderts, die sich dem niedergehenden historischen Bänkelsang annahmen. Sie entkleideten dessen trivialen Gehalt und dessen Form von allem Ulk und aller Parodie. Übrig blieb ein tragisches – oft schockierendes – Protestlied des kleinen Mannes. Vor allem Bertolt Brecht nutzte die Moritat als Mittel der Gesellschaftskritik41, etwa in den die Hauspostille eröffnenden Schockmoritaten oder den schmutzaufwirbelnden, provozierenden und denunzierenden Bänkelsongs der Dreigroschenoper. Hier entlarvte er die herrschende Moral als Moral der Herrschenden; konfrontierte mit Hunger, Elend, Ausbeutung und Entrechtung. Ein gutes Beispiel dafür finden wir am Ende des 2. Aktes in der Ballade über die Frage, wovon lebt der Mensch: Ihr Herrn, die ihr uns lehrt, wie man brav leben Und Sünd und Missetat vermeiden kann Zuerst müsst ihr uns was zu fressen geben Dann könnt ihr reden: damit fängt es an. Ihr, die ihr euren Wanst und unsre Bravheit liebt 39
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Wenn Riedel: Bänkelsang (wie Anm. 2), S. 24 richtigerweise darauf hinweist, dass die Behörden nach dem ersten Weltkrieg duldsamer gegen die Bänkelsänger wurden, ist nur schwer nachvollziehbar, dass die (gelockerten!) Verbote den Niedergang des Gewerbes beschleunigten. Stemmle: Herzeleid (wie Anm. 38), S. 3 f. Vgl. dazu und folgend Riha: Moritat (wie Anm. 16), S. 18 f., Zu Brecht und Bänkelsang, vgl. auch McLean, Sammy: The Bänkelsang and the Work of Bertolt Brecht, Berlin 2019.
Mordballaden – vom Schinderhannes zu Rammstein und Nick Cave 119 Das eine wisset ein für allemal: Wie ihr es immer dreht und wie ihr’s immer schiebt erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.42
Mit gezielt und effektiv gesetzten Schockeffekten entwickelt Brecht die Moritat weiter. Am bekanntesten ist die „Moritat von Mackie Messer“ zu Beginn der Dreigroschenoper. In der Szenenanmerkung heißt es: „Jahrmarkt in Soho. Die Bettler betteln, die Diebe stehlen, die Huren huren. Ein Moritatensänger singt eine Moritat.“43 Und der Haifisch, der hat Zähne und die trägt er im Gesicht und Macheath, der hat ein Messer doch das Messer sieht man nicht. Ach, es sind des Haifischs Flossen rot, wenn dieser Blut vergießt. Mackie Messer trägt ’nen Handschuh drauf man keine Untat liest. An ’nem schönen blauen Sonntag liegt ein toter Mann am Strand und ein Mensch geht um die Ecke den man Mackie Messer nennt. Und Schmul Meier bleibt verschwunden und so mancher reiche Mann und sein Geld hat Mackie Messer dem man nichts beweisen kann. Jenny Towler ward gefunden mit ’nem Messer in der Brust und am Kai geht Mackie Messer der von allem nichts gewußt. Und das große Feuer in Soho sieben Kinder und ein Greis in der Menge Mackie Messer, den man nicht fragt und der nichts weiss. Und die minderjährige Witwe deren Namen jeder weiss wachte auf und war geschändet Mackie, welches war dein Preis? Wachte auf und war geschändet Mackie, welches war dein Preis?
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Zitiert nach Brecht, Bertolt: Die Dreigroschenoper, Berlin 45. Auflage 2017, S. 69. Ebd., S. 7.
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„Mackie Messer“ unterscheidet sich von der Form typischer Moritaten und Balladen früherer Zeiten durch die Anzahl der Geschichten, einen Refrain sowie atypischen Beginn (fehlendes comm-all-ye) und atypisches Ende (keine Moral, sondern ironische Frage)44. Auch inhaltlich ist ein deutlich stärkerer Fokus auf Gesellschaftskritik zu konstatieren. Durch Brecht und andere Literaten überlebt die Moritat den Untergang des Bänkelsangs im neuen Gewand der literarischen Gesellschaftskritik45. Gegen eine solche Kontinuität wenden sich zwar Stimmen in der Literatur mit Hinweis auf die Unterschiede zwischen dem volkstümlichen Bänkelsang beziehungsweise kommerziellen Moritaten sowie deren „hochliterarischen“ Pendants46. Hierbei handelt es sich jedoch um eine künstliche Unterscheidung über verschiedene Epochen. Nach dem Zweiten Weltkrieg fokussiert sich die Gesellschaftskritik der Moritaten auf das Innerliterarische, aufs formale gegen den Strom Schwimmen, wie es Brecht nennt, und die Aufgabe, den literarischen und ästhetischen consensus infrage zu stellen47. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird die Moritat als Kunstform von Liedermachern wie Wolf Biermann und Konstantin Wecker sowie in Protestsongs der Friedens- und Anti-Atomkraft-Bewegungen ebenso genutzt, wie in den humoristischen Seiten von Magazinen wie Stern, Spiegel und anderen48. Diese Moritaten zeichnen sich durch klare gesellschaftskritische Aussagen aus. Resümiert man die Entwicklung des Gewalt- und Mordmotivs in der (volkstümlichen) Vokalmusik, lässt sich ein Entwicklungsstrang aufzeigen. An der Wende zur Frühen Neuzeit dominierte noch der musikalische Zeitungsbericht – eher sachlich neutral. Später setzte sich die moralisierende Moritat auf den Jahrmärkten durch, oft unfreiwillig sarkastisch oder parodistisch. Mit dem Niedergang des Bänkelsangs eingangs des 20. Jahrhunderts nahm sich die Hochliteratur der Moritat an (Bertolt Brecht) und entkleidete sie von Ulk, Klamauk und Parodie. Das moralisierende Element ist folglich kein Wesensmerkmal der Moritat. Es gesellte sich in der Frühen Neuzeit zeitweilig zu dieser Kunstform, um der Zensur zu entgehen und einen musikalischen Vortrag erst möglich zu machen. Es ergab sich also aus den historischen Umständen.
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Vgl. Cheesman: Shocking (wie Anm. 7), S. 32 f. Vgl. dazu und folgend Riha: Moritat (wie Anm. 16), S. 23 f. Vgl. Cheesman: Shocking (wie Anm. 7), S. 25 sowie zum folgenden ebd., S. 2, 25. Vgl. Riha: Moritat (wie Anm. 16), S. 28. Vgl. Cheesman: Shocking (wie Anm. 7), S. 30 f.
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D) Rammstein und das Album „Liebe ist für alle da“ (2009) Auch die zeitgenössische Populärmusik bespielt das Mord- und Gewaltmotiv extensiv. Als Beispiel soll eine der bekanntesten und umstrittensten deutschen Bands dienen, die sechsköpfige Formation Rammstein. Sie vereint eine kreative Mischung verschiedener Musikstile, etwa Techno, Punk, Heavy-Metal und Industrial49. Martialisches Auftreten, extensive Verwendung von stimmhaften alveolaren Vibranten (gerolltes „R“) sowie mehrdeutige Texte und Videoclips trugen Rammstein in den 90ern zeitweilig den Ruf einer rechtsnationalen Gesinnung ein50. Dies führte zu mehreren deutlichen Klarstellungen der Band; sowohl verbal in den Medien51 als auch mit künstlerischen Mitteln, etwa im Song „Links 2-3-4“. Im Vorfeld des Releases der ersten Single „Deutschland“ des neuen Studioalbums im Frühjahr 2019 heizten Auszüge aus dem Videoclip die öffentliche Diskussion wieder an. Anstoß erregte eine Szene, in der die Bandmitglieder in KZ-Häftlingskleidung am Galgen kurz vor der Hinrichtung zu sehen sind52. In vielen Rammstein-Songs findet sich das lyrische Ich im Kontext von Straftaten. Bereits das Debutalbum „Herzeleid“ (1995) thematisierte Pädophilie, Nekrophilie, Mord und Stalking, das zweite Album „Sehnsucht“ (1997) dann unter anderem Eifersuchtsmord, Vergewaltigung und Missbrauch Schutzbefohlener. Das dritte Album „Mutter“ (2001) widmet sich Raubüberfall, Terrorismus und Drogenmissbrauch. Diese Tendenz ist auch für das vierte Album „Reise, Reise“ (2004) und das fünfte Album „Rosenrot“ (2005) zu konstatieren. Aus dem sechsten Studioalbum „Liebe ist für alle da“ (2009) lässt sich exemplarisch der Song „Wiener Blut“ anführen, der dem österreichischen Kriminalfall „Josef Fritzl“ nachempfunden ist. Bereits die Themensetzungen Beziehung, Schmerz, Vergänglichkeit und seelische Verarmung lassen eine Nähe zu professioneller Literatur erkennen53. Ferner integrieren Rammstein in vielen Liedern Elemente der klassischen Lyrik (etwa Strophenform, Versmaße und Reimung). Eine reichhaltige Bildersprache, expressive und klare Metaphorik, Oxymora, Anaphern und Parodien sind mittlerweile ein Wesensmerkmal 49 50 51 52 53
Vgl. Spisla, David: Die Songtexte der Band Rammstein aus dem Blickfeld der Literaturwissenschaft, München 2006, S. 3. Zum Medienecho vgl. Mühlmann, Wolf-Rüdiger: Letzte Ausfahrt Germania, Ein Phänomen namens Neue Deutsche Härte, Berlin 1999, S. 20 ff. Vgl. dazu m.w.N. Spisla: Rammstein (wie Anm. 49), S. 8 ff. Vgl. zum Medienecho etwa Hornuff, Daniel: Rammstein – Kann dich lieben, will dich hassen, in Zeit Online – Kultur vom 29.03.2019, https://www.zeit.de/kultur/musik/ 2019-03/rammstein-video-deutschland-holocaust (Aufruf am 13.5.2019). Vgl. dazu und zum ganzen Absatz Spisla: Rammstein (wie Anm. 49), S. 15 ff.
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der Formation. Gleiches gilt für besondere musikalische Elemente, etwa die Relativierungen oder Unterstreichungen einzelner Textpassagen durch Instrumentierung und Lautstärke. Immer wieder greift die Formation aktuelle Ereignisse auf. So ist der Song „Haifisch“ auf dem Album „Liebe ist für alle da“ zu verstehen als Stellungnahme zu den wiederholten Trennungsgerüchten. Der Videoclip verarbeitet jedoch zugleich auch seinerzeitige Medienereignisse, etwa kirchliche Missbrauchsskandale. Musikalisch und inhaltlich lehnt sich der Refrain gar an Brechts „Moritat von Mackie Messer“ an, wenn es heißt: Und der Haifisch, der hat Tränen Und die laufen vom Gesicht Doch der Haifisch lebt im Wasser So die Tränen sieht man nicht.54
Im Gegensatz zum Bänkelsänger früherer Jahrhunderte genießen Gegenwartskünstler einen deutlich höheren Freiheitsgrad. Meinungs-, Presse- und Kunstfreiheit sind verfassungsrechtlich geschützt (Art. 5 GG). Eine Zensur im Sinne einer Vorzensur55 findet nicht statt (Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG). Dies bedeutet jedoch nicht, dass diese Freiheiten schrankenlos sind. Die Meinungs- und Pressefreiheit findet ihre Grenzen in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre (Art. 5 Abs. 2 GG). Die Kunstfreiheit wird zwar nach Sicht der BVerfG im Gegensatz zur Meinungsfreiheit vorbehaltlos gewährt56 (Art. 5 Abs. 3 GG), jedoch ebenfalls nicht schrankenlos. Ihre Grenzen findet die Kunstfreiheit in anderen ebenfalls verfassungsrechtlich geschützten Werten, etwa der Ehre Dritter oder dem Schutz der Jugend57, die gegebenenfalls durch einfaches Gesetzesrecht (Strafgesetzbuch, Jugendschutzgesetz) bestimmt und konkretisiert werden58. Deshalb verwundert es nicht, dass auch
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Zitiert nach Rammstein: Liebe ist für alle da, Booklet der CD, Universal 2009, S. 2 f. Vorzensur sind „einschränkende Maßnahmen vor der Herstellung oder Verbreitung eines Geisteswerkes, insbesondere das Abhängigmachen von behördlicher Vorprüfung und Genehmigung seines Inhalts“, Wendt, Rudolf, in: von Münch, Ingo / Kunig, Philip (Hrsg.): Grundgesetz-Kommentar, München 6. Auflage 2012, Art. 5 Rn. 62. BVerfG, Beschl. v. 24.02.1971 – 1 BvR 435/58, BVerfGE 30, S. 173 (192); BVerfG, Beschl. v. 17.07.1984 – 1 BvR 816/82, BVerfGE 67, S. 213 (228). Vgl. Wendt: von Münch / Kunig (wie Anm. 55), Art. 5 Rn. 97–99. Mit der Entscheidung „Josefine Mutzenbacher“ erkannte das BVerfG den Jugendschutz als Wert von Verfassungsrang an mit der Folge, dass dessen einfachgesetzliche Konkretisierung im Jugendschutzgesetz eine Abwägung mit der Kunstfreiheit ermöglicht, vgl. BVerfG, Beschluss vom 27.11.1990 – 1 BvR 402/87, BVerfGE 83, 130.
Mordballaden – vom Schinderhannes zu Rammstein und Nick Cave 123 aktuelle Vokalmusik, zum Beispiel Alben, Booklets und Songs der Band Rammstein, Gegenstand von Verwaltungs- und Gerichtsverfahren waren.
I. Differenzierung Jugendschutz und Strafrecht In den öffentlichen Debatten um polarisierende Kunst werden Indizierung, Verbot, Zensur, Jugendschutz und Strafrecht häufig vermengt, was die sachliche Auseinandersetzung erschwert. Wie bereits ausgeführt, genießt die Kunstfreiheit Verfassungsrang. Einschränkungen erfährt sie beispielsweise im Ehrschutz anderer (§§ 185 ff. StGB – Beleidigung, Verleumdung), dem öffentlichen Frieden (§ 131 StGB – Gewaltdarstellung; § 166 StGB – Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgemeinschaften und Weltanschauungsvereinigungen) oder der sexuellen Selbstbestimmung (§ 184 StGB – Verbreitung pornographischer Schriften59). Von diesen strafrechtlichen Bestimmungen zu unterscheiden ist der Jugendschutz. Das Jugendschutzrecht soll Gefährdungen von Kindern und Jugendlichen fernhalten oder vermeiden60. Es ist seit 2003 besonders geregelt im Jugendschutzgesetz (JuSchG). Zwar wäre eine Differenzierung zwischen Strafrecht und Jugendschutzrecht nach der Schutzgruppe Allgemeinheit bzw. Kinder / Jugendliche zu pauschal. Schließlich sanktioniert auch das Strafgesetzbuch besonders sozialschädliches Verhalten gegenüber Kindern und Jugendlichen, etwa § 174 StGB (sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen). Für den hier vorliegenden Bereich der Medien mag diese Differenzierung jedoch ein erster Ansatz sein, da das JuSchG insoweit spezielle Regelungen bereithält. So sieht § 17 JuSchG eine Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien vor (folgend „BPjM“), welche über eine Aufnahme von Medien in die Liste jugendgefährdender Medien entscheidet (sogenannte Indizierung). Dieses Indizierungsprinzip ist in § 18 JuSchG besonders geregelt. Einmal indiziert, unterliegen die Trägermedien umfassenden Verbreitungs- und Werbebeschränkungen (§ 15 JuSchG).
II. Indizierungsverfahren bei Rammstein Wie die Bänkelsänger und Brecht nutzen Rammstein die Grenzüberschreitung als Stilmittel und erregen Aufmerksamkeit, auch bei Verwaltung und Justiz. So wundert es nicht, dass die ersten sechs Studioalben der Band Gegenstand von 59 60
Vgl. zum Streit um den Schutzzweck von § 184 StGB auch Fischer, Thomas: Strafgesetzbuch mit Nebengesetzen, München 66. Auflage 2019, § 184 StGB Rn. 2–3b. Vgl. Nikles, Bruno W. / Roll, Sigmar / Spürck, Dieter / Umbach, Klaus, Jugendschutzrecht, Kommentar, München 2. Auflage 2005, S. 6 Rn. 9.
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Indizierungsverfahren der BPjM waren61. Eine (kurzzeitige) Indizierung erfolgte jedoch erst beim sechsten Studioalbum „Liebe ist für alle da“ (2009). Indizierungsrelevant waren der Song „Ich tu Dir weh“ und einer farbige ganzseitige Booklet-Abbildung einer nackten Frau, die über dem Knie eines Mannes liegt, der im Begriff ist, ihr einen Schlag mit der Hand auf ihr Gesäß zu geben62. Heute scheint dies – dank „Fifty Shades of Grey“ – zum Grundrepertoire der Fantasiewelt in deutschen Schlafzimmern zu gehören. 2009 hingegen ordnete die Bundesprüfstelle Text und Abbildung als verrohend, unsittlich und sadistischen Tendenzen Vorschub leistend ein. Das Album wurde kurzzeitig indiziert und auf Konzerten durfte „Ich tu Dir weh“ nicht gespielt werden63. Das Verwaltungsgericht Köln folgte der Auffassung des BPjM nicht und hob die Indizierung auf.
1. Entscheidung der BPjM Rechtsgrundlage für die umstrittene Entscheidung der BPjM war § 18 Abs. 1 S. 1 JuSchG, wonach Träger- und Telemedien, die geeignet sind, die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen oder ihre Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu gefährden, von der BPjM in eine Liste jugendgefährdender Medien aufzunehmen sind. Zu diesen jugendgefährdenden Medien zählen nach § 18 Abs. 1 S. 2 JuSchG vor allem unsittliche, verrohend wirkende sowie zu Gewalttätigkeit, Verbrechen oder Rassenhass anreizende Medien. Die Booklet-Abbildung eines sitzenden Mannes, der im Begriff ist, eine über seinem Knie liegende nackte Frau zu schlagen, übe eine verrohende Wirkung auf Kinder und Jugendliche aus64. Verrohend wirken Medien, wenn sie geeignet sind, bei Kindern und Jugendlichen negative Charaktereigenschaften wie Sadismus und Gewalttätigkeit, Gefühllosigkeit gegenüber anderen, Hinterlist und gemeine Schadenfreude zu wecken oder zu fördern, etwa wenn mediale Darstellungen Brutalität fördern beziehungsweise ihr entschuldigend das Wort reden, was vor allem dann gegeben ist, wenn Gewalt ausführlich und detailliert gezeigt wird und die Leiden der Opfer ausgeblendet beziehungsweise sie als ausgestoßen, minderwertig oder Schuldige dargestellt werden.
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Entscheidung Nr. 5513 der BPjM vom 10.10.2007. Entscheidung Nr. 5682 der BPjM vom 5.11.2009. Vgl. VG Gelsenkirchen, Urteil vom 29.02.2012 – 7 K 943/10, BeckRS 2012, 50607. Vgl. dazu sowie zum folgenden Absatz Entscheidung Nr. 5682 der BPjM vom 5.11.2009, S. 18, 19 m.w.N.
Mordballaden – vom Schinderhannes zu Rammstein und Nick Cave 125 Im Lied „Ich tu Dir weh“ würden in befürwortender und rücksichtsloser Art und Weise drastische Gewaltanwendungen gegen eine andere Person präsentiert, die in hohem Maße geeignet seien, Kinder und Jugendliche gegenüber dem Leiden anderer gleichgültig werden zu lassen. Zudem werde sadistischen Tendenzen Vorschub geleistet. Zusätzlich sei das Lied auch als unsittlich einzustufen, da in Zusammenhang mit der Gewaltanwendung sexuelle Stimulation und damit sadomasochistische Handlungen präsentiert würden, die eindeutig dem Erwachsenenbereich vorbehalten seien. Für Jugendliche sei in dem Lied auch nicht erkennbar, dass es sich hier nicht um eine von mehreren normalen Varianten der Liebe handele, die man kennenlernen solle. Forschungsergebnisse würden zeigen, dass die Verknüpfung von Sex und Gewalt generell in hohem Maße jugendgefährdend sei.
2. Entscheidung des Verwaltungsgerichts Köln Das Verwaltungsgericht Köln teilte in seinen beiden Entscheidungen die Einschätzung der BPjM nicht65. Es bezweifelt die verrohende Wirkung beziehungsweise Unsittlichkeit von Song und Abbildung66. Im Song „Ich tu Dir weh“ werden gerade keine wirklichkeitsnahen Gewaltexzesse wiedergegeben. Die Gewaltelemente werden lediglich in Satz- und Wortfetzen angedeutet oder surreal übersteigert („Stacheldraht im Harnkanal“, „führ Dir Nagetiere ein“). Auch der Vorwurf einer befürwortenden Darstellung von gefühllosen Schmerzzufügungen sei nicht hinreichend belegt. Zum einen unterlasse die BPjM die Rückbeziehung auf das immer wieder betonte Stilmittel Rammsteins, ihre Texte aus der Sicht des Bösen wiederzugeben, ohne das Böse zu propagieren. Zum anderen wird sowohl der gegenläufige Inhalt der fünften Strophe völlig ausgeblendet (Beziehungsebene von „Täter“ und „Opfer“) als auch deren abweichende musikalische Umsetzung (geringere Tonstärke, weitgehender Verzicht auf Schlagzeug und Gitarren, zurückhaltender Gebrauch stimmhafter alveolarer Vibranten). Gerade Letzteres unterstreiche die nachdenklicheren Aussagen. Auch von der umstrittenen Abbildung im Booklet dürften wohl nur schwerlich verrohende Einflüsse ausgehen, da der „künstliche“ Charakter der Darstellung überwiegt. Letztlich lässt das Verwaltungsgericht die abschließende Bewertung der jugendgefährdenden Wirkung
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VG Köln, Beschluss vom 31.05.2010 – 22 L 1899/09 (Einstweiliger Rechtsschutz), MultiMedia und Recht (MMR) München 2010, S. 578 m. Anm. Schade, Peer Boris / Ott, Sebastian sowie VG Köln, Urteil vom 11.10.2011 – 22 K 8391/09 (Hauptsacheverfahren), MMR München 2012, S. 346 m. Anm. Ott, Sebastian. Vgl. dazu und zu den folgenden Absätzen VG Köln: Urteil vom 11.10.2011 (wie Anm. 65).
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offen, da die Entscheidung der BPjM den weiteren an eine rechtmäßige Indizierung zu stellenden Anforderungen offensichtlich nicht genügt. Ein Medium darf gemäß § 18 Abs. 3 Nr. 2 JuSchG unter anderem dann nicht in die Liste jugendgefährdender Medien aufgenommen werden, wenn es der Kunst dient. Die Bundesprüfstelle hat den Kunstcharakter der indizierten CD bejaht und den Kunstgehalt als überdurchschnittlich hoch eingestuft67. Allein der Kunstcharakter eines Mediums steht jedoch seiner Indizierung noch nicht entgegen. Vielmehr sind im Sinne einer praktischen Konkordanz der Belange des Jugendschutzes einerseits und der Kunstfreiheit andererseits beide Belange im Einzelfall gegeneinander abzuwägen, und zwar unabhängig davon, ob es sich um ein schlicht jugendgefährdendes oder um ein schwer jugendgefährdendes Medium handelt68. Eine fehlerfreie Abwägung setzt dabei eine umfassende Ermittlung der beiden widerstreitenden Belange voraus69. Diesen Anforderungen genügt die vorliegende Entscheidung der Bundesprüfstelle nicht, so das Gericht. Weder hinsichtlich der auf der Seite des Jugendschutzes noch der der Kunst einzustellenden Abwägungskriterien enthält sie im Blick hierauf eine hinreichend ausdifferenzierte Bewertung. Ausgehend von dem auch nach Auffassung der BPjM überdurchschnittlich hohen Kunstwert der indizierten CD hätte es einer eingehenden und alle Erkenntnismöglichkeiten nutzenden Ermittlung und Gewichtung der für die auf beiden Seiten der Waagschalen anzusetzenden verfassungsrechtlichen Schutzgüter Jugendschutz und Kunstfreiheit bedurft, die vorliegend von der Bundesprüfstelle nicht geleistet worden ist. Weder wird begründet, warum bereits die bloße Darstellung sadomasochistischer Handlungen für sich genommen geeignet sein könnte, mit den Texten und der Musik von Rammstein konfrontierte Jugendliche in ihrer sexuellen Entwicklung zu beeinträchtigen. Noch wird die künstlerische Bedeutung des indizierten Mediums konkret gewichtet (Berücksichtigung der Reaktionen von Publikum, Kritik und Wissenschaft auf das Kunstwerk) sowie die Gesamtkonzeption des Kunstwerks außer Acht gelassen. Dem folgte auch das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen im Berufungsverfahren70.
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Entscheidung Nr. 5682 der BPjM vom 5.11.2009, S. 24. Vgl. BVerfG, Beschluss vom 27.11.1990 – 1 BvR 402/87, BVerfGE 83, S. 130 (143); BVerwG, Urt. v. 26.11.1992 - 7 C 22/92, Neue Juristische Wochenschrift (NJW) München 1993, S. 1490 (1490 f.). Vgl. BVerwG, Urteil vom 18.02.1998 – 6 C 9/97, NJW München 1999, S. 75 (76). OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 18.03.2015 Aktenzeichen: 19 A 2556/11, MMR München 2016, S. 140.
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3. Desiderat einer stärkeren Einbeziehung historischer Aspekte Im Ergebnis ist den Entscheidungen der Gerichte im Fall Rammstein beizupflichten. Eine genauere Betrachtung der Entscheidungen zeigt, dass sowohl Prüfstelle als auch Verwaltungsgericht in ihre Abwägungen kunstgeschichtliche Aspekte einfließen ließen. Eine musikgeschichtliche Einordnung sucht man indes vergebens. Dies scheint kein Sonderfall. Soweit ersichtlich, befassen sich die jüngeren Entscheidungen von BPjM sowie Gerichten bei der Behandlung von Musikstücken mit Gewaltbezügen kaum mit dem größeren historischen Kontext. Wie aufgezeigt, findet sich das Gewaltmotiv fast durchgehend in der Vokalmusik. Wir haben es bei den Moritaten mit einer eigenständigen Kunstform zu tun, die ähnlich wie Satire, Karikatur, Western und Splatter über spezifische Eigenarten verfügt. Diese gilt es auch bei der Abwägung zwischen Jugendschutz und Kunstfreiheit stärker zu beachten. Indizieren Diskographie, Album oder Song, dass der Künstler auf die Form der Moritat rekurriert, ist dies bei der Abwägung besonders zu berücksichtigen. Da detaillierte Darstellungen von Gewalt in der musikalischen Darbietung von Kriminalfällen wesenstypisch und seit Jahrhunderten Bestandteil der Vokalmusik sind, sind a limine höhere Anforderungen an die widerstreitenden Interessen des Jugendschutzes anzulegen. Ob und inwieweit ein moralisierendes Element in dem Werk zu finden ist, spielt für die Einordnung nur eine untergeordnete Rolle. Historisch gesehen hielt es im Schlepptau von Zensur Einzug in die Gattung. Als Indiz mag gelten: Je solitärer die Gewaltdarstellung steht, desto gewichtiger sind die widerstreitenden Interessen des Jugendschutzes.
III. Zwischenergebnis Gewalt findet sich auch in der Vokalmusik der Gegenwart in vielfältiger Form. Überzogenes Moralisieren, Ulk und Klamauk wie in den Moritaten alter Zeit sind vergleichsweise selten. Mangels Zensur bedarf es dieser „Absicherung“ heute nicht mehr. Moritaten sind in Deutschland heute gefeit vor Vorzensur. Sofern sie als Kunst im verfassungsrechtlichen Sinne einzuordnen sind, genießen sie besonderen Schutz. Eine Schranke kann im Jugendschutz liegen. Bei der konkreten Indizierungsentscheidung ist der Kunstgehalt des Werks konkret zu beleuchten und zu werten. Hier sollte auch musikhistorisch gearbeitet werden und Eigenheiten der Kunstform der Moritat Berücksichtigung finden. Der hohe Kunstgehalt bei Werken der Formation Rammstein erklärt auch deren ver-
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gleichsweise geringe Indizierungshäufigkeit, verglichen mit Vertretern anderer Musikrichtung, etwa dem Gangsta-Rap, Rechtsrock oder Death-Metal71.
E) Nick Cave and the Bad Seeds und das Album „Murder Ballads“ (1996) Nach den bei Rammstein aufgezeigten jugendschutzrechtlichen Implikationen soll abschließend das Spannungsverhältnis von zeitgenössischer Moritat und Strafrecht skizziert werden. Als Beispiel dient der weltweit wohl am engsten mit der Moritat verknüpfte Künstler Nick Cave. Der Australier gilt in der Musikpresse als „Fürst der Finsternis“72 und das 1996 erschienene Album „Murder Ballads“ (Balladen über Morde) – mittlerweile das erfolgreichste Album der Band Nick Cave and the Bad Seeds – als Inbegriff der Moritaten73.
I. Inhalt des Albums Das Album ist in der Landessprache des Künstlers aufgenommen. Zur Erleichterung der inhaltlichen Betrachtung werden deshalb zunächst die einzelnen Stücke kurz in Deutsch zusammengefasst. Im ersten Lied – „Song of Joy“ – findet ein Ehemann seine Frau Joy und seine drei kleinen Töchter Hilda, Hattie und Holly, mit Isolierband gefesselt, geknebelt und – von Messerstichen durchbohrt – tot in ihren Schlafsäcken. Täter war ein unbekannter Besucher, den die Frau in die Wohnung gelassen hatte. Mit dem Blut der Opfer beschmierte der Mörder die Zimmerwände, Zitate aus John Miltons (1608–1674) „Paradise Lost“ (1667) verwendend. Der Ehemann verlässt daraufhin seine Heimat und reist umher. Am Ende des Songs steht er vor der Tür eines anderen Familienvaters und bittet um Einlass.
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Zum Gangsta-Rap vergleiche Oğlakcioğlu, Mustafa Temmuz / Rückert, Christian: Anklage ohne Grund, Ehrschutz contra Kunstfreiheit am Beispiel des sogenannten Gangsta-Rap, in: Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht (ZUM). München 2015, S. 876 ff. und zum Rechtsrock Melz, Joanna / Bielecki, Alice Anna / Zielinska, Claudia: „Verbotene“ Lieder? Ein Überblick über strafrechtlich kontroverse Musik in Deutschland, in Plywaczewski, Emil W. / Guzik-Makaruk, Ewa M. (Hrsg.): Current Problems of the Penal Law and Criminology. Warschau 2017, S. 145 ff. https://www.nrz.de/staedte/duesseldorf/tanz-mit-dem-fuersten-der-finsternis-id2122 27699.html;https://www.deutschlandfunkkultur.de/nick-cave-in-concert-der-meisterder-duesterenballaden.2165.de.html?dram:article_id=319146;https://www.zeit.de/20 13/12/Nick-cave -Push-The-Sky-Away-Rezension (Aufruf am 14.5.2019). https://www.rollingstone.de/nick-cave-zum-60-geburtstag-die-kunst-des-daemmers-134 8713/ (Aufruf am 14.5.2019).
Mordballaden – vom Schinderhannes zu Rammstein und Nick Cave 129 Der zweite Track – „Stagger Lee“ – ist eine von vielen Versionen der Geschichte um den Mörder Lee Shelton, einem schwarzen Kutscher und Zuhälter aus St. Louis, der am Heiligabend des Jahres 1895 seinen Freund Billy tötete. Caves sehr freie Interpretation dieser Geschichte strotzt vor Stolz und Gewalt, Häme und Mitleid und verzichtet auf jegliche gesellschaftskritischen Anmerkungen. Letzteres wäre indes gut möglich, gilt die Geschichte von Lee Shelton doch als Stereotyp eines kalten schwarzen Killers oder vice versa als Widerstand der Schwarzen gegen die Weißen. Im dritten Song – „Henry Lee“ – ersticht eine unglücklich verliebte Frau Henry Lee, als dieser ihr seine Liebe zu einer anderen Frau gestand. Das vierte Stück – „Lovely Creature“ – thematisiert die „Große Liebe“, mit der man um die Welt reisen möchte; sie ist jedoch leider nicht mehr am Leben. Die Liebe wird durch den Tod gefunden und verloren. Der fünfte Track, das mit Kylie Minogue aufgenommene Duett – „Where the Wild Roses Grow“ – umschreibt die traurige Geschichte der Jungfrau Elisa Day (Kosename Wild Rose), die sich in den „Sänger“ verliebt. Dieser erschlägt sie beim dritten Date mit einem Stein am Ufer eines Gewässers, wo wilde Rosen wachsen. Dazu singt er „All beauty must die“ und legt ihr eine Rose in den Mund. Die Interpretation der Motivation des lyrischen Ichs ist offen. Im sechsten Song – „The Curse of Millhaven“ – zieht die blonde 14-jährige Lottie mordend durch die Kleinstadt Millhaven und verschont in ihrem Blutrausch weder jung noch alt, arm noch reich. Das Arsenal der Hinrichtungsformen erinnert an Märtyrerlegenden und den frühneuzeitlichen Strafenkanon. Lebenslänglich verurteilt und eingeliefert in die Psychiatrie verzweifeln die Ärzte an Lotties untherapierbarer Mordlust und ihrem lärchenhaften Trällern. Der siebte Track – „The Kindness of Strangers“ – kommt der Stilform der Moritat am Nächsten. Ihre Gutgläubigkeit wird der jungen Weltenbummlerin Mary Bellows zum tödlichen Verhängnis. Der Song resümiert moralisierend: „Also, Mütter, behaltet eure Mädchen daheim – Lasst sie nicht auf eine Reise allein.“ Im achten Song – „Crow Jane“ – rächt sich ein Vergewaltigungsopfer blutigst an 20 Minenarbeitern und im neunten Song („O’Malley’s Bar“) wird eine komplette Bar niedergemetzelt. Das Bob-Dylan-Cover „Death is Not the End“ schließt das Album beinahe friedlich, kommt doch darin niemand ums Leben. Das Album umschreibt eine Vielzahl von Verbrechen und nicht weniger als 64 Tötungen, was für seine Einordnung unter die Kunstform Moritat spricht. Zwar sucht man plakatives Moralisieren im Stil der Moritat früherer Jahrhunderte auch in „Murder Ballads“ vergeblich. Dies ist jedoch nicht konstitutiv für die Einordnung eines Albums oder Liedes in diese Gattung. Überdies lassen
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sich mehrere Stücke bei näherem Hinhören durchaus gesellschaftskritisch interpretieren74. „Murder Ballads“ ist folglich ein Moritatenalbum. Nach dieser musikhistorischen Einordnung stellt sich die Frage möglicher strafrechtlicher Implikationen. Diese sollen exemplarisch an dem längsten – und die Grundlage des Albums bildenden – Song beleuchtet werden, „O’Malley’s Bar“.
II. „O’Malley’s Bar“ als Gewaltdarstellung im Sinne von § 131 StGB „OʼMalley’s Bar“ ist nur spärlich mit Klavier, Orgel und dezentem Schlagzeug instrumentiert. Das Stück lebt hauptsächlich von der Geschichte und damit dem Text und Gesang. Wie immer besingt Nick Cave auch diese Geschichte eines Amoklaufes in einer Bar extrem bildhaft, so dass § 131 StGB (Gewaltdarstellung) einschlägig sein könnte. Fraglich ist zunächst, ob deutsches Strafrecht anwendbar ist, schließlich ist der Künstler australischer Staatsbürger. Auch wurde das Album in Melbourne (Australien) und London (Großbritannien) aufgenommen. Das StGB folgt dem Territorialitätsprinzip (§§ 3, 9 StGB). Danach gilt für in Deutschland begangene Taten das deutsche Strafrecht (Begehungsort). Anknüpfungspunkt für den Tatort können der Ort der Handlung oder der Ort des Erfolges sein (sogenanntes Ubiquitätsprinzip)75. Bei Erfolgsdelikten wie der Beleidigung (§ 185 StGB) kann also eine in Deutschland über Radio, Fernsehen oder Internet vernommene Beleidigung auch dann die Strafbarkeit begründen, wenn sie im Ausland aufgenommen oder abgesetzt wurde76. Fraglich ist, wie ein im Ausland begangenes abstraktes Gefährdungsdelikt, etwa die Gewaltdarstellung (§ 131 StGB)77, zu behandeln ist, da diese Deliktskategorie typischerweise keinen Erfolgsort aufweist. Diese – vor allem bei durch das Internet vermittelten Straftaten – virulente Problematik muss im vorliegenden Fall indes nicht entschieden werden, da das Album 74 75 76 77
Etwa Track 1 (Mitleidlosigkeit), Track 6 (Medienberichterstattungen über Amok-Läufe), Track 7 (Aufsichts-, Erziehungspflichtverletzung), Track 8 (sexuelle Gewalt gegen Frauen), Track 9 (Vereinsamung). Vgl. Heger, Martin, in: Lackner, Karl / Kühl, Kristian (Hrsg.): Strafgesetzbuch-Kommentar, München 29. Auflage 2018, § 9 StGB Rn. 1 ff. Vgl. BGH, Urt. v. 12.12.2000 – 1 StR 184/00, BGHSt 46, S. 212 (225) – Verbreitung der Auschwitzlüge im Internet. Vgl. Schäfer, Jürgen, in: Joecks, Wolfgang / Miesbach, Klaus (Hrsg.): Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch. München 3. Auflage 2017, § 131 StGB Rn. 8, a.A. Stein, Ulrich, in: Wolter, Jürgen (Hrsg.): SK-StGB Systematischer Kommentar zum StGB, Köln 9. Auflage 2019, § 131 StGB Rn. 4.
Mordballaden – vom Schinderhannes zu Rammstein und Nick Cave 131 „Murder Ballads“ in Deutschland vertrieben wird und seine Songs hier gespielt werden, mithin mehrere Handlungsvarianten des § 131 Abs. 1 StGB erfüllt sind.
1. Gewaltdarstellung § 131 StGB Gemäß § 131 Abs. 1 StGB ist unter anderem das Verbreiten einer Schrift (§ 11 Abs. 3 StGB) zu ahnden, die grausame oder sonst unmenschliche Gewalttätigkeiten gegen Menschen oder menschenähnliche Wesen in einer Art schildert, die eine Verherrlichung oder Verharmlosung solcher Gewalttätigkeiten ausdrückt oder das Grausame oder Unmenschliche des Vorgangs in einer die Menschenwürde verletzenden Weise darstellt. In erster Linie dient diese Norm dem öffentlichen Frieden, vor allem jedoch dem Jugendschutz; der Einzelne soll geschützt werden vor einer aggressionsbedingten Fehlentwicklung78. Zwar spricht § 131 Abs. 1 S. 1 StGB von Schriften, verweist jedoch sogleich auf § 11 Abs. 3 StGB, der Tonträger den Schriften gleichstellt. Die CD „Murder Ballads“ ist ein Tonträger, weshalb § 131 StGB anwendbar ist.
a) Grausame oder sonst unmenschliche Gewalttätigkeiten gegen Menschen Die erste Tatbestandsvariante von § 131 Abs. 1 StGB fordert die grausame oder sonst unmenschliche Schilderung von Gewalttätigkeiten gegen Menschen. Dabei muss es sich nicht um ein reales Geschehen handeln; fiktive Geschichten reichen aus79. Gewalttätigkeit ist ein aggressives, aktives Tun, durch das unter Einsatz oder Ingangsetzen physischer Kraft unmittelbar oder mittelbar auf den Körper eines Menschen in einer dessen leibliche oder seelische Unversehrtheit beeinträchtigenden oder konkret gefährdenden Weise eingewirkt wird80. „O’Malley’s Bar“ schildert in einem erdachten, western-ähnlichen Szenario die Tötung von zwölf Menschen in einer Bar. Neun Menschen werden erschossen, zwei Frauen erwürgt / ertränkt und ein Mann mit einem großen Aschenbecher erschlagen. Diese Vorgänge sind mithin Gewalttätigkeiten im Sinne von § 131 Abs. 1 StGB.
78 79 80
Vgl. Ostendorf, Heribert, in: Kindhäuser, Urs / Neumann, Ulfrid / Paeffgen, HansUllrich (Hrsg.): Strafgesetzbuch – Kommentar, Baden-Baden 5. Auflage 2017, § 131 StGB Rn. 3. Vgl. Sternberg-Lieben, Detlev / Schittenhelm, Ulrike, in: Schönke, Adolf / Schröder, Horst (Hrsg.): Strafgesetzbuch-Kommentar, München 30. Auflage 2019, § 131 StGB Rn. 8. Vgl. Ebd., Rn. 6.
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Weiterhin müssen diese Gewalttätigkeiten grausam sein, worunter die Zufügung besonderer Schmerzen oder Qualen körperlicher oder seelischer Art aus gefühlloser und unbarmherziger Gesinnung zu subsumieren ist81. Das Erwürgen / Ertränken der Barfrau in der schmutzigen Spüle mit Speiseresten erfüllt das Tatbestandsmerkmal der Grausamkeit. Auch das Tatbestandsmerkmal der Unmenschlichkeit, das eine menschenverachtende, rücksichtslose, rohe oder unbarmherzige Tendenz fordert82, ist bei der Mehrzahl der Tötungen in „O’Malley’s Bar“ zu bejahen. Der Barkeeper beispielsweise wird aus reiner Freude am Töten hingerichtet (was den Täter auch sexuell stimulierte: „And my dick felt long and hard“), Caffey, weil er aufstand, Frau Holmes, weil sie entsetzt schrie, deren Mann, weil er den Täter anschrie als „evil man“, Mr. Brooks, weil er den Täter an den heiligen Franz von Assisi erinnerte und der junge Richardson, weil er dem heiligen Sebastian ähnelte. Die letzte Hinrichtung erfolgte „executioner style“ mit der Waffe am Kopf des sitzenden Vincent West.
b) Verherrlichende oder verharmlosende Schilderung Die vorbenannten grausamen Gewalttätigkeiten müssen gemäß § 131 Abs. 1 Var. 1 StGB in einer Art geschildert werden, die eine Verherrlichung oder Verharmlosung ausdrückt. Verherrlicht werden Gewalttaten, wenn sie als etwas Werthaltiges gezeigt werden, als verdienstvoll, als abenteuerlich erstrebenswert, als Bewährungsprobe83. Dies ist bereits für die erste Erschießung („O’Malley“) zu bejahen („When I shot him, I was so handsome“). Eine Verharmlosung, das heißt das Bagatellisieren der Gewaltakte als übliche, akzeptable, zumindest nicht verwerfliche Konfliktlösung84, ist bei der lapidaren Beschreibung des Zertrümmerns von Jerry Barlows Schädel mit einem großen Aschenbecher ebenfalls zu bejahen. Entscheidend ist allerdings sowohl für die Verherrlichungs- als auch die Verharmlosungstendenz, inwieweit die allgemein anerkannten Grenzen eines bestimmten Genres eingehalten werden und sich im Rahmen sozialer Adäquanz bewegen85. Die Literatur erklärt Gewaltverherrlichung bei Schilderun-
81 82 83 84 85
Vgl. Schäfer: MüKo-StGB (wie Anm. 77), § 131 StGB Rn. 23. Ebd., § 131 StGB Rn. 24. Rackow, Peter in von Heintschel-Heinegg, Bernd (Hrsg.); BeckOK-StGB, 41. Edition 2019, § 131 StGB Rn. 13 m.w.N. Ebd. Rn. 15. Vgl. ebd. Rn. 12.1 sowie Erdemir, Murad: Gewaltverherrlichung, Gewaltverharmlosung und Menschenwürde, in: Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht (ZUM), München 2000, S. 699 (700).
Mordballaden – vom Schinderhannes zu Rammstein und Nick Cave 133 gen in Western-, Krimi- und Actionfilmen für tatbestandslos86. „O’Malley’s Bar“ lehnt sich an ein Westernszenario an (Saloon). Mit der Abführung des Täters am Ende des Songs sind auch Anleihen an das Krimi-Genre offenkundig. Vor allem aber die musikalische Einordnung als Moritat und deren genretypischen Übertreibungen lassen die Tatbestandsmäßigkeit auf dieser Ebene scheitern. Die Moritat lebt geradezu von exzessiven Gewaltdarstellungen. Die erste Tatbestandsvariante von § 131 Abs. 1 StGB scheidet damit aus.
c) Menschenwürdeverletzende Darstellung Folglich ist die zweite Tatbestandsvariante von § 131 Abs. 1 StGB zu prüfen, nämlich ob diese geschilderten Gewalttätigkeiten das Grausame und Unmenschliche des Vorgangs in einer die Menschenwürde verletzenden Weise darstellen. Selbiges wird bei Darstellungen angenommen, die darauf angelegt sind, beim Betrachter eine Einstellung zu erzeugen oder zu verstärken, die den fundamentalen Wert- und Achtungsanspruch leugnet, der jedem Menschen zukommt; der Mensch zum bloßen Objekt degradiert wird87. In diesen Fällen ist auch keine Rechtfertigung über die Kunstfreiheit Art. 5 Abs. 3 GG mehr möglich. Der Menschenwürdevariante unterfallen vor allem Splatter-Filme, in denen ohne dramaturgisches Korsett Scheußlichkeiten aneinandergereiht werden88. Nach den Gesetzesmaterialien geht es hier um „exzessive Schilderungen von Gewalttätigkeiten, die unter anderem gekennzeichnet sind durch das Darstellen von Gewalttätigkeiten in allen Einzelheiten, zum Beispiel das (nicht nur) genüssliche Verharren auf einem leidverzerrten Gesicht oder den aus einem aufgeschlitzten Bauch herausquellenden Gedärmen“89. Prima facie sprechen dafür Nick Caves sehr bildhafte Beschreibung der Hinrichtungen und der Reaktionen der Opfer. Bei der Frage, ob dabei die Stufe zur selbstzweckhaften Übersteigerung überschritten ist, muss jedoch auch auf den Gesamtzusammenhang abgestellt werden, in den die Gewaltbeschreibung eingebettet wurde. Der Song endet mit der Verhaftung des Täters und dessen Reflektion über seine Taten. Ferner integriert Nick Cave gesellschaftskritische Aspekte, etwa bei der Umschreibung der Tötung von Vincent West („Did you know I lived in your street?“). Im Kontext der Tötung von Richard Holmes sinniert der Täter gar über seine eigene 86 87 88 89
Vgl. Schäfer: MüKo-StGB (wie Anm. 77), § 131 StGB Rn. 30. Vgl. ebd., Rn. 37 f. Vgl. Rackow: BeckOK-StGB (wie Anm. 83), § 131 Rn. 17.1. Vgl. Sternberg-Lieben / Schnittenhelm: Sch / Sch (wie Anm. 79), StGB § 131 Rn. 11.
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Willensfreiheit („If I have no free will then how can I be morally culpable, I wonder“). Die Gewaltdarstellungen sind folglich gerade nicht selbstzweckhaft übersteigert, weshalb auch diese Tatbestandsvariante zu verneinen ist.
2. Zwischenfazit und Bewertungsmaßstab bei Moritaten Der Song „O’Malley’s Bar“ von Nick Cave ist keine tatbestandliche Gewaltverherrlichung. Die exemplarische Betrachtung des Songs zeigt zugleich die engen Grenzen der Strafbarkeit nach § 131 StGB bei Vokalmusik. Wird der Straftatbestand der Gewaltverherrlichung im Kontext von Moritaten diskutiert, sollte ein besonderer Prüfungsmaßstab angelegt werden. Moritaten leben schon entwicklungsgeschichtlich von sehr bildhaften und expliziten Gewaltdarstellungen. Streitgegenständliche Werke sind deshalb besonders intensiv zu prüfen, inwieweit sie moralisierende oder gesellschaftskritische Interpretationen zulassen. Diese müssen keine Offenkundigkeit im Sinne der Moritaten älteren Typus an den Tag legen. Es reichen dafür auch sehr feinfühlige und angedeutete Indizien, wie etwa in „OʼMalley’s Bar“ oder „Song of Joy“, „The Curse of Millhaven“, „The Kindness of Strangers“ oder „Crow Jane“.
III. Exkurs – Einfluss von Gewaltdarstellung auf Individualpersonen Zum Ende dieses Beitrags soll kurz auf ein – im gesellschaftlichen Diskurs immer wieder angeführtes – Argument eingegangen werden: die Auswirkungen von Gewaltdarstellungen auf Menschen. Diese Frage ist seit Jahrhunderten umstritten. In der Gegenwart stehen sich verschiedene wissenschaftliche Ansichten gegenüber. Nach der Lerntheorie können Gewaltdarstellungen nachgeahmt, gelernt werden und damit eine Gewöhnung eintreten (Habitualisierungshypothese)90. Die Stimulationstheorie geht noch einen Schritt weiter, wenn sie davon ausgeht, dass Gewaltdarstellungen sogar Kriminalität verursachen, sie originär stimulieren können91. Dem stehen die Inhibitions- und die Katharsistheorie gegenüber. Nach ersterer identifiziert sich der Zuschauer mit dem Opfer, empfindet Mitleid und Angst, womit eine Aggressionsentstehung verhindert wird92. Die Katharsistheorie behauptet die Reinigung von bestehender
90 91 92
Vgl. Ostendorf: Kindhäuser (wie Anm. 78), § 131 Rn. 6 m.w.N. Vgl. Green, R. / Berkowitz, L.: Name-mediated aggressive cue properties, Journal of Personality, 34 (3). 1966, S. 456–465. Vgl. Berkowitz, L. / Rawlings, E.: Effects of film violence on inhibitions against subsequent aggression, The Journal of Abnormal and Social Psychology, 66 (5). 1963, S. 405–412.
Mordballaden – vom Schinderhannes zu Rammstein und Nick Cave 135 Gewaltlust, indem die Gewaltvorführung Stellvertretungscharakter erhält93. Nach dem aktuellen Forschungsstand ist die unmittelbar kriminalitätsverursachende Wirkung von Gewaltdarstellungen auf Individuen eher restriktiv zu beurteilen94. Vor diesem Hintergrund sollte auch das strafrechtliche Instrumentarium eher restriktiv gehandhabt werden. Bei Kindern und Jugendlichen konnte jedoch eine Festigung und Stärkung des Aggressionspotentials festgestellt werden, wenngleich die Wirkung der Gewaltdarstellungen in einem soziokulturellen Kontext zu sehen ist und der „Konsum“ nicht monokausal zur Aggression führt95. Eine solche einübende Gewöhnung an Gewalt mag in besonderen Konfliktsituationen zu einer tatsächlichen Gewalteskalation, zu einem Gewaltmassaker beitragen. Es müssen allerdings weitere Faktoren hinzukommen wie frustrierende Niederlagen in der persönlichen oder beruflichen Sphäre, ein leichter Zugang zu – kompensierenden – Gewaltmitteln, ein Ausbleiben einer kommunikativen Selbst- und Fremdkontrolle. Für den Jugendschutz müssen deshalb andere Maßstäbe angelegt werden und präventive Maßnahmen ergriffen werden.
F) Zusammenfassung Mit den „Murder Ballads“ – den Moritaten von Nick Cave –, schließt sich der Rundgang durch ein halbes Jahrtausend Gewalt und Mord in der Musik. Folgendes bleibt festzuhalten: 1. Das Motiv des Verbrechens zieht sich durch die Geschichte der Musik. Anfangs noch als musikalischer Zeitungsbericht, also eher sachlich neutral. Später dann als moralisierende Moritat auf den Jahrmärkten, oft unfreiwillig sarkastisch oder parodistisch. Mit dem Niedergang des Bänkelsangs eingangs des 20. Jahrhunderts nimmt sich die Hochliteratur der Moritat an (Bertolt Brecht) und später auch die Populärmusik. Bislang unterschätzt wird von der Literatur die fast flächendeckende Lese- und Schreibfähigkeit um 1900 für den Niedergang des Bänkelsangs, wohingegen die Bedeutung der polizeilichen Verbote vom Schrifttum überbewertet wird. 2. In der Musikjournalistik werden Songs, die sich mit Mord beschäftigen, häufig als Moritat bezeichnet, auch wenn das moralisierende Element fehlt oder nur in Ansätzen erkennbar ist. Meines Erachtens ist dieses Element nicht 93 94 95
Vgl. Feshbach, S.: The drive-reducing function of fantasy behavior, The Journal of Abnormal and Social Psychology, 50 (1), 1955, S. 3–11. Vgl. Ostendorf: Kindhäuser (wie Anm. 78), § 131 StGB Rn. 6 m.w.N. Vgl. ebd.
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konstitutiv für die Einordnung eines Werkes unter diese Gattung. Das moralisierende Element gesellte sich in der Frühen Neuzeit zeitweilig zur Moritat, um der Zensur zu entgehen und einen musikalischen Vortrag erst möglich zu machen. Es ergab sich also aus den historischen Umständen. 3. Grenzüberschreitungen sind ein Wesensmerkmal der volkstümlichen Vokalmusik zu Gewalt und Verbrechen. Die Bänkelsänger griffen aus merkantilen Gesichtspunkten auf dieses Stilmittel zurück. Mit Brecht wurde die Grenzüberschreitung dann in die Hochkunst übernommen und später in die Unterhaltungsmusikindustrie. Überzogenes Moralisieren, Ulk und Klamauk sind mangels Vorzensur und Dank der Kunstfreiheit für – das Gewaltmotiv bearbeitende – Gegenwartskünstler nicht mehr notwendig. 4. Am Beispiel Rammsteins und den Indizierungs- sowie Gerichtsverfahren gegen die Band konnten die Einschränkungen der Kunstfreiheit durch den Jugendschutz aufgezeigt werden. Bislang wird bei konkreten Indizierungsentscheidungen zu wenig auf die Eigenheiten der Moritat als Kunstform geachtet. Dieser sind bereits wesensmäßig sehr bildliche Darstellungen inhärent. Deshalb sprechen auch weniger offensichtliche moralisierende oder gesellschaftskritische Indizien gegen eine Indizierung. Dies sollte bei künftigen Indizierungsentscheidungen stärkere Beachtung finden. 5. Am Beispiel Nick Caves Album „Murder Ballads“ konnten die engen Grenzen aufgezeigt werden, innerhalb derer Vokalmusik als strafbare Gewaltverherrlichung (§ 131 StGB) einzuordnen ist. Auch hier ist bei Abwägungen mit anderen Verfassungsgütern, etwa der Kunstfreiheit, ein stärkeres Gewicht auf die historischen Eigenheiten der Kunstform Moritat zu legen. Ob deren Wesensmerkmals der übertriebenen Darstellung sprechen auch versteckte gesellschaftskritische Interpretationsmöglichkeiten gegen eine Strafbarkeit. 6. Angesichts des Forschungsstands zur unmittelbar kriminalitätsverursachenden Wirkung von Gewaltdarstellungen auf Individuen muss das Strafrecht bei Moritaten ultima ratio bleiben. Historisch betrachtet lebt diese Gattung seit Jahrhunderten von plastischst geschilderten Verbrechen. Staatliches Reglement trug den Moritaten oft unfreiwillig das sarkastische, parodistische Element ein. Gesungen wurden die Lieder dennoch. Erfolgversprechender für die Demokratien des 21. Jahrhunderts sind deshalb weder Verbot noch das Damoklesschwert des Strafrechts, sondern ein gesellschaftlicher Diskurs.
ANHANG
Autorenverzeichnis DEPPE, GIGI Erste Vorsitzende des Verbands der Justizjournalisten in Deutschland und Leiterin der ARD-Rechtsredaktion / Hörfunk beim SWR in Karlsruhe. FÖLSTER, UTA Richterin und erste Pressesprecherin des Bundesverfassungsgerichts sowie Präsidentin des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichtes. HIRTE, MARKUS Jurist, Rechtshistoriker, Rechtsanwalt in Stuttgart, Berlin und London, Direktor des Mittelalterlichen Kriminalmuseums in Rothenburg an der Tauber. KREFT, BURGHARD Deutscher Jurist und Vorsitzender Richter am Bundesarbeitsgericht (a.D). LANGE, BRITTA Fachreferentin für Literatur & Medien und Leitungsmitglied der Tagungen zu „Literatur und Recht“ am Nordkolleg. OĞLAKCIOĞLU, MUSTAFA TEMMUZ Dr. jur., Akademischer Rat auf Zeit am Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtsphilosophie an der Universität in Erlangen. ROEBER, MARTIN Rechtsredakteur beim SWR (a.D.), freier Musikkritiker und Leitungsmitglied der Tagungen zu „Literatur und Recht“ am Nordkolleg. SCHMITZ-SCHOLEMANN, CHRISTOPH Richter am Bundesarbeitsgericht (a.D.) und Vorsitzender des Thüringer Literaturrats e.V., Mitglied des Deutschen P.E.N. Zentrums, Leitungsmitglied der Tagungen zu „Literatur und Recht“ am Nordkolleg. VENSKE, REGULA Dr. phil., freie Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin, Präsidentin des deutschen PEN und Mitglied des Präsidiums von PEN International. WALTER, TONIO Prof. Dr., Professor für Strafrecht an der Universität Regensburg, Richter am Oberlandesgericht Nürnberg und stellvertretendes Mitglied des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs. WEBER, HERMANN Prof. Dr., Rechtsanwalt für Staats-, Verfassungs- und Kirchenrecht (a.D.), ehem. Herausgeber der JuS-Schriftenreihe und Schriftleiter der Neuen Juristischen Wochenschrift. https://doi.org/10.1515/9783110744156-009
Programmankündigung zum Konzert Gesprächskonzert mit Werken von Johann Sebastian Bach im Rahmen der zehnten Tagung „Literatur und Recht“ Samstag, 14. September 2019 | Rendsburg | Christkirche | 20:00 Uhr
Bach als Justiz-Subjekt ...................................................................................... Florian Sievers –Tenor ........................................................................................ Hans Christian Martin – Orgel ............................................................................ Burghard Kreft – Moderation Musikalisches Programm .................................................................................... JOHANN SEBASTIAN BACH (1685–1750) ................................................... Kantate „Gott, man lobet dich in der Stille“ BWV 120 ...................................... Aria „Heil und Segen“ ........................................................................................ Choralvorspiel „Allein Gott in der Höh sei Ehr“ BWV 715 ............................... Kantate „Was mir behagt, ist nur die muntre Jagd“ BWV 208 ........................... Aria „Schafe können sicher weiden“ ..................................................................
https://doi.org/10.1515/9783110744156-010
Programmankündigung zum Konzert
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Das wohltemperierte Klavier, Band I .................................................................. Präludium C-Dur BWV 846................................................................................ Kantate „Die Himmel erzählen die Ehre Gottes“ BWV 76................................. Aria „Hasse nur, hasse mich recht“..................................................................... Magnificat BWV 243 ......................................................................................... Aria „Deposuit potentes“ .................................................................................... Pastorale F-Dur BWV 590 .................................................................................. 3. Satz „Aria à 2 Clav“ ........................................................................................ Kantate „Schleicht, spielende Wellen“ BWV 206 .............................................. Aria „Jede Woge meiner Wellen“ ....................................................................... Matthäuspassion BWV 244................................................................................. Aria „Geduld, Geduld! Wenn mich falsche Zungen stechen“ Kantate „Preise, Jerusalem, den Herren“ BWV 119 ........................................... Aria „Wohl Dir, du Volk der Linden“................................................................. Motette „Der Geist hilft unser Schwachheit auf“ BWV 226............................... Choral „Du heilige Brunst, süßer Trost“ Burghard Kreft stammt aus Gütersloh in Westfalen und ist aufgewachsen in Karlsruhe / Baden. Seit 1984 war er Richter, zunächst an den Arbeitsgerichten Berlin und Dortmund, dann am Landesarbeitsgericht Hamm. Von 1998 bis 2016 war er Richter, später Vorsitzender Richter am Bundesarbeitsgericht. Im Jahr 2000 zog er, einige Monate später als das Gericht, mit seiner Familie nach Erfurt. Bach ist er nicht zuletzt als Sänger der Erfurter Augustinerkantorei sehr verbunden. Der Tenor Florian Sievers ist in Hamburg geboren und sammelte seine ersten sängerischen Erfahrungen bei den Chorknaben Uetersen. Er studierte zunächst Schulmusik, bevor er ein Gesangsstudium bei Prof. Berthold Schmid an der Leipziger Hochschule für Musik und Theater aufnahm, welches er 2018 mit Auszeichnung abschloss. Florian Sievers ist heute ein im In- und Ausland vielseitig gefragter Solist, vorwiegend im Konzert- und Oratorienfach. Engagements führen ihn regelmäßig zum Thomanerchor Leipzig und dem Gewandhausorchester unter Gotthold Schwarz und zum Leipziger Bachfest, zum Heinrich-Schütz-Musikfest und zum ORIGEN Festival (Schweiz). Im Eröffnungskonzert des Musikfests Stuttgart sang der Tenor kürzlich unter Hans-Christoph Rademann Bachs Johannespassion, unter Matthias Janz Beethovens 9. Symphonie mit dem Sønderjyllands Symfonieorkester in Sønderborg (Dänemark) und Flensburg und in verschiedenen Produktionen das Weihnachtsoratorium.
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Anhang
1–6, u.a. mit Concerto Köln, dem Vocalensemble Rastatt unter Holger Speck und dem Wunderkammer Ensemble Berlin. Hans Christian Martin wurde 1986 in Zwickau geboren. Am Robert-Schumann-Konservatorium in seiner Heimatstadt erhielt er ab 1991 seine erste musikalische Ausbildung in Musiktheorie, Komposition, Violine und Klavier. Von 2006 bis 2014 studierte er in Dresden und Weimar Kirchenmusik. Das Fach Orgel-Improvisation belegte er dabei bei Prof. Michael Kapsner, Unterricht in Orgel-Literatur erhielt er bei Prof. Martin Strohhäcker und Prof. Silvius von Kessel, Cembalounterricht bei Raphael Alpermann, Chorleitung bei Prof. Christfried Brödel und Prof. Jürgen Puschbeck. Weitere künstlerische Anregungen erhielt er bei Meisterkursen u.a. von Olivier Latry (Paris) und Wolfgang Zerer (Hamburg). Von 2010 bis Anfang 2017 war er Kantor der Weimarer Jakobskirche und Titularorganist an der Schlosskirche Ettersburg bei Weimar. Seit dem Wintersemester 2013 ist er Lehrbauftragter an der Hochschule für Musik „Franz Liszt“ Weimar und Orgellehrer am Musikgymnasium Schloss Belvedere in Weimar. Hans Christian Martin ist Mitglied der „Gaechinger Cantorey“ und des „Bach Ensemble Helmuth Rilling“. Seit September 2017 ist er Assistenzorganist an der Hildebrandt-Orgel von 1746 in der Stadtkirche St. Wenzel, Naumburg. „Gott, man lobet dich in der Stille“ BWV 120.................................................... Aria „Heil und Segen“ ....................................................................................... Heil und Segen .................................................................................................... Soll und muss zu aller Zeit ................................................................................. Sich auf unsre Obrigkeit ..................................................................................... In erwünschter Fülle legen, ................................................................................. Dass sich Recht und Treue müssen Miteinander freundlich küssen. „Was mir behagt, ist nur die muntre Jagd“ BWV 208 ........................................ Aria „Schafe können sicher weiden“ .................................................................. Schafe können sicher weiden, ............................................................................ Wo ein guter Hirte wacht. ................................................................................... Wo Regenten wohl regieren, .............................................................................. Kann man Ruh und Friede spüren Und was Länder glücklich macht. ................ „Die Himmel erzählen die Ehre Gottes“ BWV 76 Aria „Hasse nur, hasse mich recht“ Hasse nur, hasse mich recht, Feindlichs Geschlecht! ......................................................................................................... Christum gläubig zu umfassen, Will ich alle Freude lassen.
Programmankündigung zum Konzert
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Magnificat BWV 243 .......................................................................................... Aria „Deposuit potentes“ ................................................................................... Deposuit potentes de sede .................................................................................. et exaltavit humiles. „Schleicht, spielende Wellen“ BWV 206 Aria „Jede Woge meiner Wellen“ Jede Woge meiner Wellen Ruft das goldne Wort August! Seht, Tritonen, muntre Söhne, Wie von nie gespürter Lust Meines Reiches Fluten schwellen, Wenn in dem Zurückeprallen Dieses Namens süße Töne Hundertfältig widerschallen. Matthäuspassion BWV 244 Aria „Geduld, Geduld! Wenn mich falsche Zungen stechen“............................. Geduld, Geduld, .................................................................................................. Wenn mich falsche Zungen stechen, Leid ich wider meine Schuld ................... Schimpf und Spott,.............................................................................................. Ei, so mag der liebe Gott ..................................................................................... Meines Herzens Unschuld rächen. ...................................................................... „Preise, Jerusalem, den Herren“ BWV 119 Aria „Wohl dir, du Volk der Linden“ ................................................................. Wohl dir, du Volk der Linden, ............................................................................ Wohl dir, du hast es gut! ..................................................................................... Wieviel an Gottes Segen ..................................................................................... Und seiner Huld gelegen, .................................................................................... Die überschwenglich tut,..................................................................................... Kannst du an dir befinden. „Der Geist hilft unser Schwachheit auf“ BWV 226 Choral „Du heilige Brunst, süßer Trost“ ............................................................. Du heilige Brunst, süßer Trost, ........................................................................... Nun hilf uns fröhlich und getrost ........................................................................ In deinem Dienst beständig bleiben, die Trübsal uns nicht abtreiben. ................ Oh Herr durch dein’ Kraft uns bereit’ und stärk’ des Fleisches Blödigkeit, dass wir hier ritterlich ringen, ..................................................................................... durch Tod und Leben zu dir dringen. Halleluja! Halleluja!
Juristische Zeitgeschichte
Herausgeber: Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. Thomas Vormbaum, FernUniversität in Hagen
Abteilung 1: Allgemeine Reihe
1 Thomas Vormbaum (Hrsg.): Die Sozialdemokratie und die Entstehung des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Quellen aus der sozialdemokratischen Partei und Presse (1997) 2 Heiko Ahlbrecht: Geschichte der völkerrechtlichen Strafgerichtsbarkeit im 20. Jahrhundert (1999) 3 Dominik Westerkamp: Pressefreiheit und Zensur im Sachsen des Vormärz (1999) 4 Wolfgang Naucke: Über die Zerbrechlichkeit des rechtsstaatlichen Strafrechts. Gesammelte Aufsätze zur Strafrechtsgeschichte (2000) 5 Jörg Ernst August Waldow: Der strafrechtliche Ehrenschutz in der NS-Zeit (2000) 6 Bernhard Diestelkamp: Rechtsgeschichte als Zeitgeschichte. Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts (2001) 7 Michael Damnitz: Bürgerliches Recht zwischen Staat und Kirche. Mitwirkung der Zentrumspartei am Bürgerlichen Gesetzbuch (2001) 8 Massimo Nobili: Die freie richterliche Überzeugungsbildung. Reformdiskussion und Gesetzgebung in Italien, Frankreich und Deutschland seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts (2001) 9 Diemut Majer: Nationalsozialismus im Lichte der Juristischen Zeitgeschichte (2002) 10 Bianca Vieregge: Die Gerichtsbarkeit einer „Elite“. Nationalsozialistische Rechtsprechung am Beispiel der SS- und Polizeigerichtsbarkeit (2002) 11 Norbert Berthold Wagner: Die deutschen Schutzgebiete (2002) 12 Milosˇ Vec: Die Spur des Täters. Methoden der Identifikation in der Kriminalistik (1879–1933), (2002) 13 Christian Amann: Ordentliche Jugendgerichtsbarkeit und Justizalltag im OLGBezirk Hamm von 1939 bis 1945 (2003) 14 Günter Gribbohm: Das Reichskriegsgericht (2004) 15 Martin M. Arnold: Pressefreiheit und Zensur im Baden des Vormärz. Im Spannungsfeld zwischen Bundestreue und Liberalismus (2003) 16 Ettore Dezza: Beiträge zur Geschichte des modernen italienischen Strafrechts (2004) 17 Thomas Vormbaum (Hrsg.): „Euthanasie“ vor Gericht. Die Anklageschrift des Generalstaatsanwalts beim OLG Frankfurt/M. gegen Werner Heyde u. a. vom 22. Mai 1962 (2005) 18 Kai Cornelius: Vom spurlosen Verschwindenlassen zur Benachrichtigungspflicht bei Festnahmen (2006) 19 Kristina Brümmer-Pauly: Desertion im Recht des Nationalsozialismus (2006) 20 Hanns-Jürgen Wiegand: Direktdemokratische Elemente in der deutschen Verfassungsgeschichte (2006) 21 Hans-Peter Marutschke (Hrsg.): Beiträge zur modernen japanischen Rechtsgeschichte (2006) 22 Katrin Stoll: Die Herstellung der Wahrheit (2011)
23 Thorsten Kurtz: Das Oberste Rückerstattungsgericht in Herford (2014) 24 Sebastian Schermaul: Die Umsetzung der Karlsbader Beschlüsse an der Universität Leipzig 1819–1848 (2013) 25 Minoru Honda: Beiträge zur Geschichte des japanischen Strafrechts (2020) 26 Michael Seiters: Das strafrechtliche Schuldprinzip. Im Spannungsfeld zwischen philosophischem, theologischem und juridischem Verständnis von Schuld (2020)
Abteilung 2: Forum Juristische Zeitgeschichte 1 Franz-Josef Düwell / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Themen juristischer Zeit geschichte (1) – Schwerpunktthema: Recht und Nationalsozialismus (1998) 2 Karl-Heinz Keldungs: Das Sondergericht Duisburg 1943–1945 (1998) 3 Franz-Josef Düwell / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Themen juristischer Zeit geschichte (2) – Schwerpunktthema: Recht und Juristen in der Revolution von 1848/49 (1998) 4 Thomas Vormbaum: Beiträge zur juristischen Zeitgeschichte (1999) 5 Franz-Josef Düwell / Thomas Vormbaum: Themen juristischer Zeitgeschichte (3), (1999) 6 Thomas Vormbaum (Hrsg.): Themen juristischer Zeitgeschichte (4), (2000) 7 Frank Roeser: Das Sondergericht Essen 1942–1945 (2000) 8 Heinz Müller-Dietz: Recht und Nationalsozialismus – Gesammelte Beiträge (2000) 9 Franz-Josef Düwell (Hrsg.): Licht und Schatten. Der 9. November in der deutschen Geschichte und Rechtsge schichte – Symposium der Arnold-Frey muthGesellschaft, Hamm (2000) 10 Bernd-Rüdiger Kern / Klaus-Peter Schroeder (Hrsg.): Eduard von Simson (1810– 1899). „Chorführer der Deutschen“ und erster Präsident des Reichsgerichts (2001) 11 Norbert Haase / Bert Pampel (Hrsg.): Die Waldheimer „Prozesse“ – fünfzig Jahre danach. Dokumentation der Tagung der Stiftung Sächsische Gedenkstätten am 28. und 29. September in Waldheim (2001) 12 Wolfgang Form (Hrsg.): Literatur- und Urteilsverzeichnis zum politischen NSStrafrecht (2001) Sabine Hain: Die Individualverfassungsbeschwerde nach Bundesrecht (2002) 13 14 Gerhard Pauli / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Justiz und Nationalsozialismus – Kontinuität und Diskontinuität. Fachtagung in der Justizakademie des Landes NRW, Recklinghausen, am 19. und 20. November 2001 (2003) 15 Mario Da Passano (Hrsg.): Europäische Strafkolonien im 19. Jahrhundert. Internationaler Kongreß des Dipartimento di Storia der Universität Sassari und des Parco nazionale di Asinara, Porto Torres, 25. Mai 2001 (2006) 16 Sylvia Kesper-Biermann / Petra Overath (Hrsg.): Die Internationalisierung von Strafrechtswissenschaft und Kriminalpolitik (1870–1930). Deutschland im Vergleich (2007) 17 Hermann Weber (Hrsg.): Literatur, Recht und Musik. Tagung im Nordkolleg Rendsburg vom 16. bis 18. September 2005 (2007) 18 Hermann Weber (Hrsg.): Literatur, Recht und (bildende) Kunst. Tagung im Nordkolleg Rendsburg vom 21. bis 23. September 2007 (2008) 19 Francisco Muñoz Conde / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Transformation von Diktaturen in Demokratien und Aufarbeitung der Vergangenheit (2010)
20 Kirsten Scheiwe / Johanna Krawietz (Hrsg.): (K)Eine Arbeit wie jede andere? Die Regulierung von Arbeit im Privathaushalt (2014) 21 Helmut Irmen: Das Sondergericht Aachen 1941–1945 (2018)
Abteilung 3: Beiträge zur modernen deutschen Strafgesetzgebung. Materialien zu einem historischen Kommentar 1 Thomas Vormbaum / Jürgen Welp (Hrsg.): Das Strafgesetzbuch seit 1870. Sammlung der Änderungen und Neubekanntmachungen; fünf Textbände (1999–2017) und drei Supplementbände (2005, 2006) 2 Christian Müller: Das Gewohnheitsverbrechergesetz vom 24. November 1933. Kriminalpolitik als Rassenpolitik (1998) 3 Maria Meyer-Höger: Der Jugendarrest. Entstehung und Weiterentwicklung einer Sanktion (1998) 4 Kirsten Gieseler: Unterlassene Hilfeleistung – § 323c StGB. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870. (1999) 5 Robert Weber: Die Entwicklung des Nebenstrafrechts 1871–1914 (1999) 6 Frank Nobis: Die Strafprozeßgesetzgebung der späten Weimarer Republik (2000) 7 Karsten Felske: Kriminelle und terroristische Vereinigungen – §§ 129, 129a StGB (2002) 8 Ralf Baumgarten: Zweikampf – §§ 201–210 a.F. StGB (2003) 9 Felix Prinz: Diebstahl – §§ 242 ff. StGB (2003) 10 Werner Schubert / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Entstehung des Strafgesetzbuchs. Kommissionsprotokolle und Entwürfe. Band 1: 1869 (2002); Band 2: 1870 (2004) 11 Lars Bernhard: Falsche Verdächtigung (§§ 164, 165 StGB) und Vortäuschen einer Straftat (§ 145d StGB), (2003) 12 Frank Korn: Körperverletzungsdelikte – §§ 223 ff., 340 StGB. Reformdiskussion und Gesetzgebung von 1870 bis 1933 (2003) 13 Christian Gröning: Körperverletzungsdelikte – §§ 223 ff., 340 StGB. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1933 (2004) 14 Sabine Putzke: Die Strafbarkeit der Abtreibung in der Kaiserzeit und in der Weimarer Zeit. Eine Analyse der Reformdiskussion und der Straftatbestände in den Reformentwürfen (1908–1931), (2003) 15 Eckard Voßiek: Strafbare Veröffentlichung amtlicher Schriftstücke (§ 353d Nr. 3 StGB). Gesetzgebung und Rechtsanwendung seit 1851 (2004) 16 Stefan Lindenberg: Brandstiftungsdelikte – §§ 306 ff. StGB. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870 (2004) 17 Ninette Barreneche†: Materialien zu einer Strafrechtsgeschichte der Münchener Räterepublik 1918/1919 (2004) 18 Carsten Thiel: Rechtsbeugung – § 339 StGB. Reformdiskussion und Gesetz gebung seit 1870 (2005) 19 Vera Große-Vehne: Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB), „Euthanasie“ und Sterbehilfe. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870 (2005) 20 Thomas Vormbaum / Kathrin Rentrop (Hrsg.): Reform des Strafgesetzbuchs. Sammlung der Reformentwürfe. Band 1: 1909 bis 1919. Band 2: 1922 bis 1939. Band 3: 1959 bis 1996 (2008)
21 Dietmar Prechtel: Urkundendelikte (§§ 267 ff. StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870 (2005) 22 Ilya Hartmann: Prostitution, Kuppelei, Zuhälterei. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870 (2006) 23 Ralf Seemann: Strafbare Vereitelung von Gläubigerrechten (§§ 283 ff., 288 StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870 (2006) 24 Andrea Hartmann: Majestätsbeleidigung (§§ 94 ff. StGB a.F.) und Verunglimpfung des Staatsoberhauptes (§ 90 StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit dem 19. Jahrhundert (2006) 25 Christina Rampf: Hausfriedensbruch (§ 123 StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870 (2006) 26 Christian Schäfer: „Widernatürliche Unzucht“ (§§ 175, 175a, 175b, 182, a.F. StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1945 (2006) 27 Kathrin Rentrop: Untreue und Unterschlagung (§§ 266 und 246 StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit dem 19. Jahrhundert (2007) 28 Martin Asholt: Straßenverkehrsstrafrecht. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts (2007) 29 Katharina Linka: Mord und Totschlag (§§ 211–213 StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870 (2008) 30 Juliane Sophia Dettmar: Legalität und Opportunität im Strafprozess. Reformdiskussion und Gesetzgebung von 1877 bis 1933 (2008) 31 Jürgen Durynek: Korruptionsdelikte (§§ 331 ff. StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit dem 19. Jahrhundert (2008) 32 Judith Weber: Das sächsische Strafrecht im 19. Jahrhundert bis zum Reichsstrafgesetzbuch (2009) 33 Denis Matthies: Exemplifikationen und Regelbeispiele. Eine Untersuchung zum 100-jährigen Beitrag von Adolf Wach zur „Legislativen Technik“ (2009) 34 Benedikt Rohrßen: Von der „Anreizung zum Klassenkampf“ zur „Volksverhetzung“ (§ 130 StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit dem 19. Jahrhundert (2009) 35 Friederike Goltsche: Der Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches von 1922 (Entwurf Radbruch) (2010) 36 Tarig Elobied: Die Entwicklung des Strafbefehlsverfahrens von 1846 bis in die Gegenwart (2010) 37 Christina Müting: Sexuelle Nötigung; Vergewaltigung (§ 177 StGB) (2010) 38 Nadeschda Wilkitzki: Entstehung des Gesetzes über Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG) (2010) 39 André Brambring: Kindestötung (§ 217 a.F. StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870 (2010) 40 Wilhelm Rettler: Der strafrechtliche Schutz des sozialistischen Eigentums in der DDR (2010) 41 Yvonne Hötzel: Debatten um die Todesstrafe in der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis 1990 (2010) 42 Dagmar Kolbe: Strafbarkeit im Vorfeld und im Umfeld der Teilnahme (§§ 88a, 110, 111, 130a und 140 StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit dem 19. Jahrhundert (2011) 43 Sami Bdeiwi: Beischlaf zwischen Verwandten (§ 173 StGB). Reform und Gesetzgebung seit 1870 (2014)
44 Michaela Arnold: Verfall, Einziehung und Unbrauchbarmachung (§§ 73 bis 76a StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit dem 19. Jahrhundert (2015) 45 Andrea Schurig: „Republikflucht“ (§§ 213, 214 StGB/DDR). Gesetzgeberische Entwicklung, Einfluss des MfS und Gerichtspraxis am Beispiel von Sachsen (2016) 46 Sandra Knaudt: Das Strafrecht im Großherzogtum Hessen im 19. Jahrhundert bis zum Reichsstrafgesetzbuch (2017) 47 Michael Rudlof: Das Gesetz zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung (§ 217 StGB nF.) (2018) 48 Karl Müller: Steuerhinterziehung (§§ 370, 371 AO). Gesetzgebung und Reformdiskussion seit dem 19. Jahrhundert (2018) 49 Katharina Kühne: Die Entwicklung des Internetstrafrechts unter besonderer Berücksichtigung der §§ 202a–202c StGB sowie § 303a und § 303b StGB (2018) 50 Benedikt Beßmann: Das Strafrecht des Herzogtums Braunschweig im 19. Jahrhundert bis zum Reichsstrafgesetzbuch (2019) 51 Josef Roth: Die Entwicklung des Weinstrafrechts seit 1871 (2020) 52 Arne Fischer: Die Legitimität des Sportwettbetrugs (§ 265c StGB). Unter besonderer Berücksichtigung des „Rechtsguts“ Integrität des Sports (2020)
Abteilung 4: Leben und Werk. Biographien und Werkanalysen 1 Mario A. Cattaneo: Karl Grolmans strafrechtlicher Humanismus (1998) 2 Gerit Thulfaut: Kriminalpolitik und Strafrechtstheorie bei Edmund Mezger (2000) 3 Adolf Laufs: Persönlichkeit und Recht. Gesammelte Aufsätze (2001) 4 Hanno Durth: Der Kampf gegen das Unrecht. Gustav Radbruchs Theorie eines Kulturverfassungsrechts (2001) 5 Volker Tausch: Max Güde (1902–1984). Generalbundesanwalt und Rechtspolitiker (2002) 6 Bernd Schmalhausen: Josef Neuberger (1902–1977). Ein Leben für eine menschliche Justiz (2002) 7 Wolf Christian von Arnswald: Savigny als Strafrechtspraktiker. Ministerium für die Gesetzesrevision (1842–1848), (2003) 8 Thilo Ramm: Ferdinand Lassalle. Der Revolutionär und das Recht (2004) 9 Martin D. Klein: Demokratisches Denken bei Gustav Radbruch (2007) 10 Francisco Muñoz Conde: Edmund Mezger – Beiträge zu einem Juristenleben (2007) 11 Whitney R. Harris: Tyrannen vor Gericht. Das Verfahren gegen die deutschen Hauptkriegsverbrecher nach dem Zweiten Weltkrieg in Nürnberg 1945–1946 (2008) 12 Eric Hilgendorf (Hrsg.): Die deutschsprachige Strafrechtswissenschaft in Selbstdarstellungen (2010) 13 Tamara Cipolla: Friedrich Karl von Strombeck. Leben und Werk – Unter besonderer Berücksichtigung des Entwurfes eines Strafgesetzbuches für ein Norddeutsches Staatsgebiet (2010) 14 Karoline Peters: J.D.H. Temme und das preußische Strafverfahren in der Mitte des 19. Jahrhunderts (2010)
15 Eric Hilgendorf (Hrsg.): Die ausländische Strafrechtswissenschaft in Selbstdarstellungen. Die internationale Rezeption des deutschen Strafrechts (2019) 16 Hannes Ludyga: Otto Kahn-Freund (1900–1979). Ein Arbeitsrechtler in der Weimarer Zeit (2016) 17 Rudolf Bastuck: Rudolf Wassermann. Vision und Umsetzung einer inneren Justizreform (2020) 18 Eric Hilgendorf (Hrsg.): Die deutschsprachige Strafrechtswissenschaft in Selbstdarstellungen II (2021)
Abteilung 5: Juristisches Zeitgeschehen. Rechtspolitik und Justiz aus zeitgenössischer Perspektive Mitherausgegeben von Gisela Friedrichsen („Der Spiegel“) und RA Prof. Dr. Franz Salditt 1 Diether Posser: Anwalt im Kalten Krieg. Ein Stück deutscher Geschichte in politischen Prozessen 1951–1968. 3. Auflage (1999) 2 Jörg Arnold (Hrsg.): Strafrechtliche Auseinandersetzung mit Systemvergangenheit am Beispiel der DDR (2000) 3 Thomas Vormbaum (Hrsg.): Vichy vor Gericht: Der Papon-Prozeß (2000) 4 Heiko Ahlbrecht / Kai Ambos (Hrsg.): Der Fall Pinochet(s). Auslieferung wegen staatsverstärkter Kriminalität? (1999) 5 Oliver Franz: Ausgehverbot für Jugendliche („Juvenile Curfew“) in den USA. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit dem 19. Jahrhundert (2000) 6 Gabriele Zwiehoff (Hrsg.): „Großer Lauschangriff“. Die Entstehung des Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes vom 26. März 1998 und des Gesetzes zur Änderung der Strafprozeßordnung vom 4. Mai 1998 in der Presseberichterstattung 1997/98 (2000) 7 Mario A. Cattaneo: Strafrechtstotalitarismus. Terrorismus und Willkür (2001) 8 Gisela Friedrichsen / Gerhard Mauz: Er oder sie? Der Strafprozeß Böttcher/ Weimar. Prozeßberichte 1987 bis 1999 (2001) 9 Heribert Prantl / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Juristisches Zeitgeschehen 2000 in der Süddeutschen Zeitung (2001) 10 Helmut Kreicker: Art. 7 EMRK und die Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze (2002) 11 Heribert Prantl / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Juristisches Zeitgeschehen 2001 in der Süddeutschen Zeitung (2002) 12 Henning Floto: Der Rechtsstatus des Johanniterordens. Eine rechtsgeschichtliche und rechtsdogmatische Untersuchung zum Rechtsstatus der Balley Brandenburg des ritterlichen Ordens St. Johannis vom Spital zu Jerusalem (2003) 13 Heribert Prantl / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Juristisches Zeitgeschehen 2002 in der Süddeutschen Zeitung (2003) 14 Kai Ambos / Jörg Arnold (Hrsg.): Der Irak-Krieg und das Völkerrecht (2004) 15 Heribert Prantl / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Juristisches Zeitgeschehen 2003 in der Süddeutschen Zeitung (2004) 16 Sascha Rolf Lüder: Völkerrechtliche Verantwortlichkeit bei Teilnahme an „Peacekeeping“-Missionen der Vereinten Nationen (2004)
17 Heribert Prantl / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Juristisches Zeitgeschehen 2004 in der Süddeutschen Zeitung (2005) 18 Christian Haumann: Die „gewichtende Arbeitsweise“ der Finanzverwaltung. Eine Untersuchung über die Aufgabenerfüllung der Finanzverwaltung bei der Festsetzung der Veranlagungssteuern (2008) 19 Asmerom Ogbamichael: Das neue deutsche Geldwäscherecht (2011) 20 Lars Chr. Barnewitz: Die Entschädigung der Freimaurerlogen nach 1945 und nach 1989 (2011) 21 Ralf Gnüchtel: Jugendschutztatbestände im 13. Abschnitt des StGB (2013) 22 Helmut Irmen: Stasi und DDR-Militärjustiz. Der Einfluss des MfS auf Militär justiz und Militärstrafvollzug in der DDR (2014) 23 Pascal Johann: Möglichkeiten und Grenzen des neuen Vermögenschabschöpfungsrechts. Eine Untersuchung zur vorläufigen Sicherstellung und der Einziehung von Vermögen unklarer Herkunft (2019) 24 Zekai Dag˘as¸an: Das Ansehen des Staates im türkischen und deutschen Strafrecht (2015) 25 Camilla Bertheau: Politisch unwürdig? Entschädigung von Kommunisten für nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen. Bundesdeutsche Gesetzgebung und Rechtsprechung der 50er Jahre (2016)
Abteilung 6: Recht in der Kunst – Kunst im Recht Mitherausgegeben von Prof. Dr. Gunter Reiß und Prof. Dr. Anja Schiemann 1 Heinz Müller-Dietz: Recht und Kriminalität im literarischen Widerschein. Gesammelte Aufsätze (1999) 2 Klaus Lüderssen (Hrsg.): »Die wahre Liberalität ist Anerkennung«. Goethe und die Juris prudenz (1999) 3 Bertolt Brecht: Die Dreigroschenoper (1928) / Dreigroschenroman (1934). Mit Kommentaren von Iring Fetscher und Bodo Plachta (2001) 4 Annette von Droste-Hülshoff: Die Judenbuche (1842) / Die Vergeltung (1841). Mit Kommentaren von Heinz Holzhauer und Winfried Woesler (2000) 5 Theodor Fontane: Unterm Birnbaum (1885). Mit Kommentaren von Hugo Aust und Klaus Lüderssen (2001) 6 Heinrich von Kleist: Michael Kohlhaas (1810). Mit Kommentaren von Wolfgang Naucke und Joachim Linder (2000) 7 Anja Sya: Literatur und juristisches Erkenntnisinteresse. Joachim Maass’ Roman „Der Fall Gouffé“ und sein Verhältnis zu der historischen Vorlage (2001) 8 Heiner Mückenberger: Theodor Storm – Dichter und Richter. Eine rechts geschichtliche Lebensbeschreibung (2001) 9 Hermann Weber (Hrsg.): Annäherung an das Thema „Recht und Literatur“. Recht, Literatur und Kunst in der NJW (1), (2002) 10 Hermann Weber (Hrsg.): Juristen als Dichter. Recht, Literatur und Kunst in der NJW (2), (2002) 11 Hermann Weber (Hrsg.): Prozesse und Rechtsstreitigkeiten um Recht, Literatur und Kunst. Recht, Literatur und Kunst in der NJW (3), (2002)
12 Klaus Lüderssen: Produktive Spiegelungen. 2., erweiterte Auflage (2002) 13 Lion Feuchtwanger: Erfolg. Drei Jahre Geschichte einer Provinz. Roman (1929). Mit Kommentaren von Theo Rasehorn und Ernst Ribbat (2002) 14 Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius. Roman (1928). Mit Kommentaren von Thomas Vormbaum und Regina Schäfer (2003) 15 Hermann Weber (Hrsg.): Recht, Staat und Politik im Bild der Dichtung. Recht, Literatur und Kunst in der Neuen Juristischen Wochenschrift (4), (2003) 16 Hermann Weber (Hrsg.): Reale und fiktive Kriminalfälle als Gegenstand der Literatur. Recht, Literatur und Kunst in der Neuen Juristischen Wochenschrift (5), (2003) 17 Karl Kraus: Sittlichkeit und Kriminalität. (1908). Mit Kommentaren von Helmut Arntzen und Heinz Müller-Dietz (2004) 18 Hermann Weber (Hrsg.): Dichter als Juristen. Recht, Literatur und Kunst in der Neuen Juristischen Wochenschrift (6), (2004) 19 Hermann Weber (Hrsg.): Recht und Juristen im Bild der Literatur. Recht, Literatur und Kunst in der Neuen Juristischen Wochenschrift (7), (2005) 20 Heinrich von Kleist: Der zerbrochne Krug. Ein Lustspiel (1811). Mit Kommentaren von Michael Walter und Regina Schäfer (2005) 21 Francisco Muñoz Conde / Marta Muñoz Aunión: „Das Urteil von Nürnberg“. Juristischer und filmwissenschaftlicher Kommentar zum Film von Stanley Kramer (1961), (2006) 22 Fjodor Dostojewski: Aufzeichnungen aus einem Totenhaus (1860). Mit Kommentaren von Heinz Müller-Dietz und Dunja Brötz (2005) 23 Thomas Vormbaum (Hrsg.): Anton Matthias Sprickmann. Dichter und Jurist. Mit Kommentaren von Walter Gödden, Jörg Löffler und Thomas Vormbaum (2006) 24 Friedrich Schiller: Verbrecher aus Infamie (1786). Mit Kommentaren von Heinz Müller-Dietz und Martin Huber (2006) 25 Franz Kafka: Der Proceß. Roman (1925). Mit Kommentaren von Detlef Kremer und Jörg Tenckhoff (2006) 26 Heinrich Heine: Deutschland. Ein Wintermährchen. Geschrieben im Januar 1844. Mit Kommentaren von Winfried Woesler und Thomas Vormbaum (2006) 27 Thomas Vormbaum (Hrsg.): Recht, Rechtswissenschaft und Juristen im Werk Heinrich Heines (2006) Heinz Müller-Dietz: Recht und Kriminalität in literarischen Spiegelungen (2007) 28 29 Alexander Puschkin: Pique Dame (1834). Mit Kommentaren von Barbara Aufschnaiter/Dunja Brötz und Friedrich-Christian Schroeder (2007) 30 Georg Büchner: Danton’s Tod. Dramatische Bilder aus Frankreichs Schre ckensherrschaft. Mit Kommentaren von Sven Kramer und Bodo Pieroth (2007) 31 Daniel Halft: Die Szene wird zum Tribunal! Eine Studie zu den Beziehungen von Recht und Literatur am Beispiel des Schauspiels „Cyankali“ von Friedrich Wolf (2007) 32 Erich Wulffen: Kriminalpsychologie und Psychopathologie in Schillers Räubern (1907). Herausgegeben von Jürgen Seul (2007) 33 Klaus Lüderssen: Produktive Spiegelungen: Recht in Literatur, Theater und Film. Band II (2007) 34 Albert Camus: Der Fall. Roman (1956). Mit Kommentaren von Brigitte Sändig und Sven Grotendiek (2008)
35 Thomas Vormbaum (Hrsg.): Pest, Folter und Schandsäule. Der Mailänder Prozess wegen „Pestschmierereien“ in Rechtskritik und Literatur. Mit Kommentaren von Ezequiel Malarino und Helmut C. Jacobs (2008) 36 E.T.A. Hoffmann: Das Fräulein von Scuderi – Erzählung aus dem Zeitalter Ludwigs des Vierzehnten (1819). Mit Kommentaren von Heinz Müller-Dietz und Marion Bönnighausen (2010) 37 Leonardo Sciascia: Der Tag der Eule. Mit Kommentaren von Gisela Schlüter und Daniele Negri (2010) 38 Franz Werfel: Eine blaßblaue Frauenschrift. Novelle (1941). Mit Kommentaren von Matthias Pape und Wilhelm Brauneder (2011) 39 Thomas Mann: Das Gesetz. Novelle (1944). Mit Kommentaren von Volker Ladenthin und Thomas Vormbaum (2013) 40 Theodor Storm: Ein Doppelgänger. Novelle (1886) (2013) 41 Dorothea Peters: Der Kriminalrechtsfall ,Kaspar Hauser‘ und seine Rezeption in Jakob Wassermanns Caspar-Hauser-Roman (2014) 42 Jörg Schönert: Kriminalität erzählen (2015) 43 Klaus Lüderssen: Produktive Spiegelungen. Recht im künstlerischen Kontext. Band 3 (2014) 44 Franz Kafka: In der Strafkolonie. Erzählung (1919) (2015) 45 Heinz Müller-Dietz: Recht und Kriminalität in literarischen Brechungen (2016) 46 Hermann Weber (Hrsg.): Das Recht als Rahmen für Literatur und Kunst. Tagung im Nordkolleg Rendsburg vom 4. bis 6. September 2015 (2017) 47 Walter Müller-Seidel: Rechtsdenken im literarischen Text. Deutsche Literatur von der Weimarer Klassik zur Weimarer Republik (2017) 48 Honoré de Balzac: Eine dunkle Geschichte. Roman (1841). Mit Kommentaren von Luigi Lacchè und Christian von Tschilschke (2018) 49 Anja Schiemann: Der Kriminalfall Woyzeck. Der historische Fall und Büchners Drama (2018) 50 E.T.A. Hoffmann: Meister Floh. Ein Mährchen in sieben Abentheuern zweier Freunde (1822). Mit Kommentaren von Michael Niehaus und Thomas Vormbaum (2018) 51 Bodo Pieroth: Deutsche Schriftsteller als angehende Juristen (2018) 52 Theodor Fontane: Grete Minde. Nach einer altmärkischen Chronik (1880). Mit Kommentaren von Anja Schiemann und Walter Zimorski (2018) 53 Britta Lange / Martin Roeber / Christoph Schmitz-Scholemann (Hrsg.): Grenzüberschreitungen: Recht, Normen, Literatur und Musik. Tagung im Nordkolleg Rendsburg vom 8. bis 10. September 2017 (2019) 54 Wolfgang Schild: Richard Wagner recht betrachtet (2020) 55 Uwe Scheffler u.a. (Hrsg.): Musik und Strafrecht. Ein Streifzug durch eine tönende Welt (2021) 56 Britta Lange / Martin Roeber / Christoph Schmitz-Scholemann (Hrsg.): Verbrechen und Sprache. Tagung im Nordkolleg Rendsburg vom 13. bis 15. September 2019 (2021)
Abteilung 7: Beiträge zur Anwaltsgeschichte Mitherausgegeben von RA Dr. Dieter Finzel (†), RA Dr. Tilman Krach; RA Dr. Thomas Röth; RA Dr. Ulrich Wessels; Prof. Dr. Gabriele Zwiehoff 1 Babette Tondorf: Strafverteidigung in der Frühphase des reformierten Strafprozesses. Das Hochverratsverfahren gegen die badischen Aufständischen Gustav Struve und Karl Blind (1848/49), (2006) 2 Hinrich Rüping: Rechtsanwälte im Bezirk Celle während des Nationalsozialismus (2007) 3 Dieter Finzel: Geschichte der Rechtsanwaltskammer Hamm (2018)
Abteilung 8: Judaica 1 Hannes Ludyga: Philipp Auerbach (1906–1952). „Staatskommissar für rassisch, religiös und politisch Verfolgte“ (2005) 2 Thomas Vormbaum: Der Judeneid im 19. Jahrhundert, vornehmlich in Preußen. Ein Beitrag zur juristischen Zeitgeschichte (2006) 3 Hannes Ludyga: Die Rechtsstellung der Juden in Bayern von 1819 bis 1918. Studie im Spiegel der Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten des bayerischen Landtags (2007) 4 Michele Sarfatti: Die Juden im faschistischen Italien. Geschichte, Identität, Verfolgung (2014)
Abteilung 9: Beiträge zur modernen Verfassungsgeschichte 1 Olaf Kroon: Die Verfassung von Cádiz (1812). Spaniens Sprung in die Moderne, gespiegelt an der Verfassung Kurhessens von 1831 (2019)